»Nun, Meister Schwan, für diesmal ist Er christlich durchgekommen, straf mich Gott! Ohne Willkomm und Abschied! Herr Gott von Dinkelsbühl, tut mir fast leid, daß ich Ihm nicht ein paar aus dem ff auf Sein gesundes Leder aufmessen darf, aus purer Freundschaft. Und dazu bloß ein halb Jahr! Aber ich hoff, so ein heißgrätiger Bursch wie Er wird bald wieder das Heimweh nach unserer lustigen Kartaus bekommen. Aufs Frühjahr spätestens, wenn die Bäum ausschlagen, werden wir wieder die Ehre haben. Ich will derweil ein paar tüchtige Haselstöcke ins Wasser legen, damit sie den gehörigen Schwung und Zug kriegen zum Willkomm, wenn's heißen wird: ›des Ebersbacher Sonnen wirts sein Gutedel ist wieder da.‹ Adjes, Meister Schwan, glückliche Reise und nichts für ungut.«
Es war unter dem Tore des Ludwigsburger Zucht-und Arbeitshauses, wo einer der
Aufseher einem jungen Menschen dieses spöttische Lebewohl sagte. Dem untersetzten
stämmigen Burschen konnte niemand im Ernste den Meistertitel geben, denn er schien
kaum zwanzig Jahre alt zu sein. Auch sah er sehr sauer zu der Ehrenbezeigung, die
nicht gerade aus wohlwollendem Herzen kam; sein breites rotwangiges Gesicht
spannte sich zu einem trotzigen Ausdruck, den eine tiefe Schramme auf der Stirne
Eben wollte er mit einer Gebärde, welche ein nichts weniger als anständiges, aber um so aufrichtigeres Gesinnungsbekenntnis enthielt, dem Zuchthause den Rücken kehren, als er, noch einmal umschauend, einen Gegenstand gewahrte, der den Haß auf seinem derben lebhaften Gesichte plötzlich in das entschiedenste Widerspiel verwandelte. Es war ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über den Hof gegangen kam; er trug schwarze Kleidung, und die beiden weißen Überschlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf der Brust spielten, bezeichneten seinen geistlichen Stand. Seine Erscheinung machte einen sichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die ausgelassensten Züchtlinge verstummten, als er im Vorübergehen einen Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufseher wich ihm von weitem aus. Jedem bot er seinen zuvorkommenden Gruß; er war immer der erste, der das schwarze Käppchen über den spärlichen weißen Haaren lüpfte, und doch sollte es ihm offenbar dazu dienen, sein greises Haupt vor der Herbstluft zu schützen; denn neben dem Käppchen trug er den dreieckigen Hut unter dem Arm.
»Mit Verlaub!« stammelte er, – »ich wollte nur dem Herrn Waisenpfarrer Adieu sagen, weil der Herr Waisenpfarrer immer so gut gegen mich gewesen ist – ich hätt ja nicht fortgehen können ohne das.«
Der Waisenpfarrer – denn dieser war es, dem die Seelsorge im Zuchthause oblag – neigte sich mit freundlichem Lächeln zu ihm. Er hatte aus den verlegenen, halb verschluckten Worten des sonst sehr anstelligen Burschen den rechten Kern herausgehört. »So ist Er denn also jetzt frei, Friedrich?« sagte er zu ihm. »Ich wünsch Ihm von Herzen Glück. Nun gebrauche Er aber auch seine Freiheit so, wie man eine Gottesgabe gebrauchen muß.«
Bei diesen Worten wies er mit dem Daumen über die Schulter nach dem Gebäude, das er soeben verlassen hatte, und seine weißen Zähne blinkten lachend zwischen den kirschroten Lippen hervor.
»Ja, so ist's, mein Freund«, versetzte der Geistliche. »Man pflegt wohl zu sagen: ich nehme mir die Freiheit, das und das zu tun. Das ist nur so eine höfliche Redensart. Mancher aber nimmt sich mehr Freiheit, als er einem andern gönnt, und tut einem andern etwas, was er sich selbst nicht angetan wissen will. Das aber ist zu viel Freiheit, und Er weiß wohl, was zu viel ist, das ist vom Übel. Eigentlich sollten wir unsere Freiheit bloß dazu anwenden, um einander lauter Liebes und Gutes zu tun; denn wenn die Menschen alle einander dienen würden, dann wäre ja ein jeglicher so wie ein Diener auch wieder ein Herr, und dann wäre die wahre Freiheit in der Welt.«
»Mein Sohn«, sagte der alte Geistliche, »man hat den Verstand dazu, daß man der Faust nicht ihren Willen läßt. Und es kommt nur darauf an, daß man einem Menschen seine gute Seite abgewinnen lernt. Eine gute Seite hat auch der Schlimmste. Wenn man aber einmal diese gefunden hat, so ist's, als hätte man den Schlüssel zu einer sonst verschlossenen Türe, und wenn man hineingeht, so trifft man oft auf Dinge, die man gar nicht hinter dieser Türe gesucht hätte. Da ist zum Exempel ein gewisser Friedrich Schwan. Den hat man mir geschildert als einen rohen, verworfenen Burschen, dessen Herz keiner guten Regung fähig sei – Faust in Sack! Die Leute urteilen eben nach der Außenseite – und wie ich ihn nun selber kennenlernte, da fand ich in ihm einen Menschen, dessen Herz wie ein wild aufgeschossenes Reis ist, trotzig und aufrührisch gegen jedes rauhe Lüftchen, weich und geschmeidig gegen jeden freundlichen Sonnenstrahl, einen Menschen, der gegen harte Worte und Behandlungen störrisch bleibt und den man mit Güte um den Finger wickeln kann. Ist's nicht so?«
»Nun, das ist aber auch keine Kunst, gegen Gute gut zu sein. Wenn's weiter nichts wäre als das, so würden wir ja durch die breite Pforte in den Himmel eingehen, statt durch die schmale.«
»Das ist wahr, Herr Waisenpfarrer«, erwiderte der junge Mensch bedenklich. »Aber wenn alle Menschen unterdiensthaft gegeneinander wären, wie Sie vorhin gesagt haben, so wäre es gerade dasselbe Ding.«
»Allerdings. Aber da die Menschen im allgemeinen bis jetzt nicht geneigt sind, uns die Himmelspforte so breit und bequem zu machen, so dürfen wir deshalb der schmalen nicht untreu werden. Wir müssen gegen unsere Nebenmenschen gerade so liebreich und dienstfertig sein, wie sie eigentlich gegen uns sein sollten, unangesehen, ob sie es sind oder nicht. Vielleicht gewinnen wir sie dadurch und bewegen sie, unser Beispiel nachzuahmen.«
»Ja, ja, Herr Waisenpfarrer«, fiel der junge Mensch lebhaft ein, »das ist gerade, wie wenn ein ungebautes Stück Feld umgebrochen werden soll. Da kommt es nur drauf an, daß einmal ein Anfang gemacht wird, der für den Fortgang und fürs Fertigwerden Bürgschaft gibt, und ist also ein kleines umgepflügtes Flecklein fast schon so wichtig wie das ganze künftige Neubruchland.«
»Er hat mich gar wohl gefaßt«, versetzte der alte Herr mit freundlichem Lächeln.
»Wenn das Reich Gottes auf Erden erscheinen und ihm die Stätte bereitet
Der Jüngling, der irgendeinen Widersacher im Geiste vor sich stehen sehen mochte, trat bei dieser Zumutung betreten einen Schritt zurück. Die Größe der Aufgabe war ihm augenscheinlich schwer aufs Herz gefallen. – »Aber«, sagte er, »da wird mancher denken, wie es im Evangelium heißt: das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?«
Der Greis lächelte. »Mein junger Freund ist sehr bibelfest«, versetzte er, »ich
bemerke das heut nicht zum erstenmal. Die besten Kernsprüche, die schönsten
Liederverse hat er fest im Kopfe behalten, aber ob auch in einem feinen Herzen?
Das ist nun die Frage. Diese schönen Stellen, welche die Jugend in den Schulen
auswendig lernt und oft recht gedankenlos dahersagt, sind Samenkörnern zu
vergleichen.
Ein Geräusch unterbrach ihn, das ihm den frommen Scherz aufs kläglichste verbitterte. Unzweideutige Schläge hallten von dem untern Stockwerk her, dem der Geistliche und sein aufmerksames Beichtkind nahe standen. Sie folgten mit unerbittlicher Regelmäßigkeit aufeinander, so daß der Greis die schwache Hand ausstreckte, als ob diese abwehrende Gebärde der Grausamkeit ein Ende machen könnte. Man hörte kein Geschrei, sondern nur ein dumpfes Knurren, in welchem jedoch der menschliche Ton zu unterscheiden war. Dieses Knurren, das sich in Zwischenräumen wiederholte, machte den Vorgang weit unheimlicher, als wenn die lautesten Wehklagen ihn begleitet hätten.
Der junge Friedrich ballte die Faust gegen das Gebäude. »Diese Prügelhunde!« rief er, »es ist ihnen nur wohl, wenn sie zuschlagen können.«
Der Waisenpfarrer legte ihm wieder die Hand, die aber diesmal zitterte, auf die
Schulter. »Mein Sohn«,
Die Schläge hallten dazwischen fort. Der Greis brach mit einem tiefen Seufzer die Unterredung ab. »Nun lebe Er wohl, mein lieber Friedrich«, sagte er. »Gott sei mit Ihm auf allen Seinen Wegen. Denke Er an das, was ich Ihm gesagt habe, damit wir uns fröhlich und ebendarum niemals mehr an diesem Orte wiedersehen.«
Er drückte ihm die Hand und wankte, so eilig als er es vermochte, an seinem Stabe dahin. Zwar hatte auch er die Meinung seinerzeit ausgesprochen, daß durch grausame Züchtigungen der Wille Gottes erfüllt und sein Kommen vorbereitet werde, aber er schien doch nicht gern dabei zu sein und hatte es in diesem Augenblick wohl tief empfunden, daß das Reich Gottes, so wie er es verstand, noch sehr ferne sei.
Der junge Friedrich aber blieb unter den Fenstern des Zuchthauses stehen und lauschte dem Geräusch der Pein, vor welchem sein ehrwürdiger Beichtiger entflohen war. Er fühlte zwar nicht geringe Entrüstung über die Gewalt, die hier einem Menschen angetan wurde, aber der Schmerz des Armen verursachte ihm, der selbst schon manchen derben Puff ausgehalten hatte, kein besonders zartes Mitgefühl.
Die Schläge hörten endlich auf. Bald hernach öffnete sich die Türe, und von einer
unsichtbaren Hand geschleudert, kam ein Mensch herausgeflogen.
»Ich glaub, sie haben dich mit ungebrannter Asche gelaugt, und das scharf«, sagte Friedrich, als er an ihm vorüberkam.
»Ich glaub auch«, war die trockene Antwort des Zigeuners, der einen Blick aus seinem scheelen Auge über den Frager hinlaufen ließ und sich von dannen machte.
Friedrich, der auf den Burschen neugierig geworden war, folgte ihm von weitem nach. Aber erst als sie Ludwigsburg mit seinen vornehmen regelrechten Straßen hinter sich hatten, wagte er, die Gesellschaft des verachteten Zigeuners aufzusuchen. Dieser schien nachlässig vor sich herzuschlendern, und doch hatte er Mühe, gleichen Schritt zu halten und ihn endlich einzuholen.
»He, wohinaus, Landsmann?« schrie er ihn an.
»Dem Hohenstaufen zu«, antwortete der Zigeuner seitwärts herüber, ohne sich in seinem Gange aufhalten zu lassen.
»Dann haben wir ja schier gar einen Weg«, sagte
»Da können wir wenigstens eine Strecke weit beisammenbleiben«, erwiderte der Zigeuner.
Die beiden jungen Burschen gingen nun mit wackeren Schritten durch die Ebene und dann jenseits des Neckars über die Anhöhen hin, welche zwischen diesem und der Rems liegen, und machten nach einer tüchtigen Wanderung bei einem einsamen Wirtshäuschen halt, wo Friedrich seinen Gefährten zu Gaste lud. Eine Flasche vom Saft des Apfels und ein Rettich, der den Sommer überlebt hatte, war alles, was ihm ein paar gesparte Pfennige aufzutischen erlaubten. Die vorgerückte Jahreszeit ließ sich so mild an, daß die beiden Wanderer im Freien auf der verwitterten Bank unter dem alten Apfelbaum ihr Mahl verzehren konnten. Hungrig und durstig griffen sie zu und ließen sich's nach der Weise der Jugend schmecken.
Wie lustige Sperlinge genossen sie der wiedererlangten Freiheit, schalten auf das Gefängnis, von dem sie herkamen, spotteten über die Schwachheiten der Aufseher und erzählten sich lose Streiche, womit sie deren Wachsamkeit umgangen hatten. Unter Plaudern und Lachen war die Flasche nur allzubald geleert. Sie kehrten alle Taschen um, bis sie in der erdenklich kleinsten Münze, aber auch mit dem erdenklich größten Jubel die nötige Summe zusammengebracht hatten, um eine zweite zu bestellen.
»Wie bist du denn eigentlich«, fragte Friedrich unter dem Einschenken, »in den
Gasthof zur Kardätsche
»Nein«, erwiderte der Zigeuner unbefangen, »ich hab krumme Finger gemacht.«
»Pfui«, rief Friedrich, »Stehlen, das ist was Hundsgemeines, heißt das, wenn –«
»Von z'wegen was seid Ihr hineingekommen?« unterbrach ihn der Zigeuner etwas rasch. Ungeachtet des Ärgers über die biderbe Bemerkung vergaß er nicht, daß sein Genosse der herrschenden Nation angehörte und daß er den größeren Teil der Zeche bezahlt hatte: Grund genug, ihn in der majestätischen Mehrzahl anzureden. – »Man wird Euch auch nicht bloß um der Kostbarkeit willen hinter Glas und Rahmen aufgehoben haben.«
»Ich hab einen durchgeprügelt und das lederwindelweich. Der Heuchler gab dann vor, er könne den Arm nicht mehr gebrauchen. Es war aber erlogen, und so schickten sie mich eben auf ein halb Jahr an das Örtchen, von dem man nicht gern red't.«
Der Zigeuner machte ein unbefriedigtes Gesicht. »Und habt Ihr Euch niemals an fremdem Eigentum vergriffen«, fragte er, »daß Ihr da so auf dem höchsten Gaul sitzen könnt? Seid Ihr niemals einem andern in die Äpfel gegangen oder in die Kirschen? Denn«, setzte er eifrig hinzu, »Stehlen ist Stehlen, das sag ich.«
»Ja, meinem Vater bin ich wohl über die Kirschen gegangen und auch über die
Geldlade. Aber das ist
»Wenn bei uns einer«, versetzte der Zigeuner höhnisch, »seine Eltern bestehlen würde, so könnte seines Bleibens nicht mehr sein; der ärgste Spitzbube würde ihn verachten und anspeien. Bei uns ist es Sitte, daß man die Eltern ehrt und liebt und daß man ihnen eher zubringt, als daß man sie bestiehlt. Dafür lassen sie es aber auch an ihren Kindern nicht fehlen, sie geben ihnen den letzten Bissen vom Munde weg, und des halb ist es gar nicht möglich, daß so etwas bei uns vorkommt. Ist mir auch eine ganz besondere Lebensart, daß ich einen Fremden schonen soll, der mich nichts angeht, und soll mich dagegen an meinem Vater vergreifen, der mir der Nächste ist in der Welt. Das bring mir ein anderer in den Kopf, mir ist es zu hoch. Kommt mir gerade vor, wie wenn im Krieg einer sich von den Feinden abwenden wollte und auf seine Freunde schießen.«
Friedrich war betroffen. Sein gesunder Verstand sagte ihm, daß etwas Wahres an
dieser Ansicht sei, und doch konnte er sie nicht zugeben, da sie den Sitten und
Gewohnheiten, unter denen er aufgewachsen, völlig widersprach. Die beiden jungen
Leute stritten eifrig und konnten sich lange nicht verständigen. Darin waren sie
zwar einer Ansicht, daß auf die »Herrschaft« keine strengen Begriffe von Eigentum
anzuwenden, daß die Tiere im Walde, die Fische im Wasser eigentlich Gemeingut
seien; aber über den
»Stehlen und Stehlen ist zweierlei«, rief Friedrich zuletzt. »Geh du nach Ebersbach und frag von Haus zu Haus, ob die Leut nicht einen Unterschied machen, und die Leut müssen doch auch wissen, was sie tun. Überall gilt's für eine größere Schande, wenn einer einem Fremden was stiehlt, als wenn er's den Eigenen nimmt; denn da bleibt's ja in der Familie.«
»Dann sollte man ihn auch in der Familie abmurxeln«, sagte der hartnäckige Zigeuner, »und jedem davon ein Stück zum Kochen geben, wenn eure Gesetze so schlecht sind, daß sie bloß den einen Diebstahl strafen, den andern aber nicht.«
»Oha«, sagte Friedrich, »umgekehrt ist auch gefahren. Selbiges ist anders. Die Gesetze, die sind so überzwerch wie du, die behaupten auch, Stehlen sei Stehlen. Wie es herauskam, daß ich meinem Vater ein paar hundert Gulden genommen hatte, die er mir nicht gutwillig geben wollte, um in die Fremde zu gehen, da taten sie mich geschwind nach Ludwigsburg zum Wollkardätschen, ob ich gleich erst ein unverständiger vierzehnjähriger Bube war. Damals hab ich auch gelernt, was der Willkomm und Abschied für höfliche Komplimente sind, und hab empfunden, wie es patscht, wenn Haselholz und Hirschleder zusammenkommen.«
Der Zigeuner schlug ein lustiges Gelächter auf. »Aber nicht wahr«, rief er
triumphierend, »mit einem solchen Leibschaden noch stundenlang drauflos
»Nun, nun«, entgegnete Friedrich, »man merkt's dessenungeachtet wohl, wo du dermalen deine schwache Seite hast. Du sitzt ja so windschief da, als wenn das Bänkchen unter dir brennte, die armen Seelen in der Hölle, die auf dem Glufenhäfelein sitzen, können nicht öfter wechseln und nicht possierlicher den Fuß an sich ziehen. Aber das muß man dir lassen: mannlich hast du dich gehalten. Wenn ich nur noch ein paar übrige Kreuzer hätt, so ließ ich dir einen Kirschengeist zum Einreiben kommen.«
»Einreiben! Wer wird auch die Gottesgabe so sündlich verschwenden! Den Kirschengeist muß man innerlich brauchen, von innen heraus kuriert er noch einmal so schnell.«
»Das glaub ich dir!« lachte Friedrich. »Überhaupt hab ich schon oft gedacht, ihr Zigeuner müsset ein gutes Fell haben, stich- und kugelfest. Man könnt's, schätz ich wohl, zum Überzug für ein schwaches Gewissen brauchen.«
»Es dient oft auch dazu. Ja, eine gute Haut, die muß der Zigeuner haben, und
hartgesotten muß er sein, wenn er solch mühseliges Leben aushalten soll. Frost und
Hitze muß ihm gleichviel gelten. Halbnackt muß er gehen können, wenn ihm der
gefrorne Schnee unter den Füßen kracht, und die schwerste Bürde muß ihm wie ein
Flaum sein, wenn ihn die Sonne mittags auf die Glieder sticht. Sein Lager ist
unter Gottes freiem Himmel, und in böser
»Herr Gott«, rief Friedrich mit rauher Rührung, »ich kann doch auch was vertragen, aber so ein Leben muß ja den besten Mann umbringen! Mußt du nicht selber sagen, daß es vernünftiger wäre, wenn ihr das Heidenleben aufgäbet, eine christliche Ordnung anfinget und ließet euch mit andern ehrlichen Christenmenschen in Handel und Wandel ein? Wer ein paar tüchtige Arme hat und einen Kopf, der sie regiert, der wird nicht sobald mit leerem Magen ins Bett gehen und nicht im kalten Regen schlafen dürfen.«
»Wir sind so gute Christen wie ihr«, versetzte der junge Zigeuner eifrig, »es mag
sich fragen, ob wir nicht besser sind? Aber wie wollten wir denn mit euch leben?
Ihr stoßt uns ja aus und wollt keine Gemeinschaft mit uns haben. Wie kann der
Zigeuner, dem ihr mit Verachtung die Türe weiset, sein ehrlich Brot bei euch
verdienen? Ich bin aus einer Familie, die schon seit zweihundert Jahren hier im
Württembergischen, dann im Deutschherrischen drunten und in den beiden
Markgrafschaften am Rheine drüben hin und wieder zieht. Nun fehlt es uns zwar dort
nicht an Bekanntschaften, aber ich möchte doch auch in all diesen Landen einen
einzigen Menschen sehen, wenn unsereiner z.B. käme
»Mir zweifelt's gar nicht!« lachte Friedrich. – »Aber jetzt kann ich auch auf
einmal begreifen, warum du es für so schandhaft hältst, wenn von euch einer seinem
eigenen Vater etwas nehmen würde, und an diesem Beispiel wird mir's klar, daß du
eigentlich Ehr im Leibe hast. Denn die Moral ist bei euch im
Mit diesen Worten, die zwar keine klare Anschauung des Standpunkts, aber doch eine gewisse Ahnung desselben verrieten, suchte er die obschwebende Streitfrage zu lösen. »Aber es wird spät«, fuhr er fort, »und wenn wir die Buttel auch auswinden wie ein Leintuch in der Wäsche, so pressen wir doch keinen Tropfen mehr raus. Weißt was? Komm du mit mir über Ebersbach, ich will dir einen heidenmäßigen Kirschengeist einschenken zur inwendigen Kur. Ob du links am Staufen vorbeigehst oder rechts, das ist gehopft wie gesprungen.«
»Ja, es ist am End ein Ding«, entschied sich der Zigeuner, »und auf eine Stunde soll mir's nicht ankommen.«
Die beiden jungen Burschen erhoben sich und stiegen die gelinden Anhöhen hinab, an deren Fuße das Filstal sich gegen den Neckar öffnet. Wohlgemut schlenderten sie die Straße an dem Flüßchen aufwärts; der Zigeuner pfiff gellende Weisen, Friedrich aber schwieg still, und unter seiner breiten Stirne schien ein mächtiger Gedanke zu arbeiten. Die Worte des Waisenpfarrers gingen ihm im Sinne herum; das Vertrauen des ehrwürdigen alten Mannes hatte ihn stolz gemacht, und es war ihm zumute, als ob er gar nichts nötig hätte als ein bißchen guten Willen, um ein großes Werk zustande zu bringen.
Sie waren wohl eine gute Stunde so zugeschritten, ohne ein Wort miteinander zu
reden, als Friedrich
Der andere hatte ihn anfangs mit seinem scheelen Auge verwundert angesehen; die
Zuversichtlichkeit seiner Rede schien aber jedes Bedenken bei dem Zigeuner
verwischt zu haben, und er tat, wie ihn sein Gefährte hieß. Friedrich erwiderte
seinen Handschlag mit einem noch kräftigeren, und zufrieden, wie wenn sie einen
guten Markthandel abgeschlossen hätten, setzten sie ihren Weg miteinander fort.
Der Tag begann sich eben zu neigen, da breitete sich das Ziel ihrer Reise, ein
beträchtlicher Flecken,
»Frau Sonnenwirtin, jetzt ist's an mir!« rief der ältere von zwei Männern in hellblauen Wämsern, die am Wirtstische saßen. »Bringt nur gleich zwei Bouteillen auf einen Streich. Und wenn das Vermögelein draufgehen sollte, der Friede muß stet und fest sein. Man sagt ja, ein Prozeß sei etwas Fettes. Nun gut, auf etwas Fettes muß man brav trinken, damit's einem den Magen nicht verdirbt.«
»Nach Befehl!« erwiderte die Wirtin, eine große schlanke Frau, aus deren gelblichem Gesichte starke Knochen hervortraten; und die Flaschen auftragend fuhr sie fort: »G'segn's Gott, ihr zwei Müller, Ober und Unter! Das ist das wahre Wasser auf eure Mühlen und wird sie besser treiben als das Haderwasser, dem ihr einige Zeit her den Zugang verstattet habt. Ja ja, ich gratulier! Ein fetter Vergleich ist besser als ein magerer Prozeß. Das Sprichwort sagt's zwar umgekehrt, aber ich hab doch recht. Auch ist's gescheiter, das Geld in die Sonne zu tragen, als zum Advokaten, denn bei dem wär't ihr doch nicht so 'ring durchgekommen, wie mit so ein paar Bouteillen Zehner.«
Die beiden Zunftgenossen, welche einen über ihre Gerechtsame entstandenen
Streithandel noch beizeit geschlichtet hatten, ließen ihrer guten Laune
vollen
Die Frau schoß einen scharfen Blick aus ihren grauen Augen auf den Necker, stieß ihn mit einem halb scherzhaft, halb ernstlich gemeinten Scheltwort zurück und verließ, ihren Geschäften nachgehend, das Wirtszimmer.
»Ich glaub, Euch juckt's schon wieder nach einem Prozeß, Vetter!« sagte der jüngere Müller lachend. »Paßt nur auf, die da versteht keinen Spaß. Ihr werdet wohl wissen, daß man ihr kein gebrannteres Herzeleid antun kann, als wenn man sie an ihre Kinderlosigkeit erinnert.«
»Weiß wohl«, entgegnete der andere, »und ebendarum hab ich's getan, weil ich die neidige, gelbe, giftige Kröte noch gelber sehen will, als unser Herrgott sie geschaffen hat. – Komm her, Peter«, unterbrach er sich, einem Eintretenden zurufend, »du hast treulich mit zum Frieden geraten, nun ist's billig, daß du auch mit uns trinkst. Ihr werdet nichts dagegen haben, Vetter, wenn ich meinem Knecht einschenke? Hol dir ein Glas und geh her.«
Der Knecht tat, wie ihm geheißen wurde, und setzte
»Der gelbe Neidteufel!« fuhr der obere Müller fort. »Man darf nur den Sonnenwirt vergleichen, was er unter seinem ersten Weib für ein Mann war, und was er unter dem dürren Rippenstück für einer geworden ist. Damals war er aufgeweckt und kameradschaftlich und gar nicht b'häb in Handel und Wandel und Geldsachen. Jetzt ist er schwach und hat keinen eigenen Willen mehr, dabei aber gegen andere Leute ein wahres Untier an Geiz und Hochmut. Der alte Kerl, er trägt den Kopf wie ein Edelmann und meint wahrhaftig, er sei aus anderem Teig gebacken als wie unsereiner.«
»Das macht eben der Reichtum«, sagte der Knecht von seiner Bank herüber.
»Ja, er ist grausig reich«, versetzte der untere Müller. »Der Holzschlegel rindert ihm auf der Bühne. Er wird wohl auf zwölftausend Gulden geschätzt. Aber freilich, wie Ihr sagt, Vetter, so verhält sich's: er ist b'häb und faßt das Tuch an fünf Zipfeln.«
»Ja, und guckt in neun Häfen zumal«, fiel der andere ein.
»Wo der gedroschen hat, darf man kein Korn mehr suchen«, ergänzte der Knecht.
»Ihr trefft den Nagel auf den Kopf, Vetter?« rief der jüngere Müller mit mürrischem Lachen. »Wie? oder wißt Ihr's nicht? Hat ein blindes Schwein eine Eichel gefunden?«
»Nun, was ist's denn?«
»Habt Ihr den Laubfrosch noch nie aus und ein gehen sehen? Wißt Ihr denn nicht, was man für Werg an der Kunkel hat?«
Der andere schüttelte den Kopf.
»Das Ausrufungszeichen in dem froschgrünen Rock!« fuhr der jüngere hitzig fort. »Er sieht akkurat aus, wie Ihr ihn gestempelt habt. Seid Ihr denn heut ganz auf den Kopf gefallen?«
»Was, der Bartkratzer, der sogenannte Herr Chirurgus, der Heuchler, der
Kopfhänger, die magere Kuh
Damit erhob er sein Glas. »Ich will's ausstehen«, erwiderte der andere mit
sauersüßer Miene, kam ihm mit dem seinigen entgegen, und sie stießen miteinander
an. Nachdem der Knecht durch einen Wink beschieden worden war, den Dreiklang voll
zu machen, lehnte sich der ältere Müller in seinen Stuhl zurück und fuhr
verwundert fort: »Ei so guck einer! Der Alte schlägt seine Mädchen doch recht
unterm Preis los, denn die paar Fußbreit Grundherrschaft, die der grüne Darmfeger
besitzt, werden justement einen Sack Erdbirnen ausgeben, und was er jahraus,
jahrein mit seiner Rasiererklinge aus den hiesigen Schweinsborsten und
Igelsstacheln heraussticht und schabt, das wird ihn auch nicht gerade fett machen.
Die Figur gibt's. Aber der Alte trifft zwei Fliegen mit einem Schlag. So ein
Schlucker darf kein groß Heiratgut fordern; da behält der Schwäh'rvater seine
Kronentaler brav in der Truhe und hat noch den Profit, daß ihm der fromme
Schwiegersohn, so oft er den Morgen- und Abendsegen liest, um ein baldsanftseliges
Ende betet. Seine erste Tochter wird auch nicht viel mitbekommen haben, wie er sie
hinausgegeben hat; denn ich seh just nicht, daß ihr Eh'krüppel sonderlich stark
spekuliert, weder in Käs noch in Schwefelhölzlen. Ekonträr, im Gegenteil, seine
Firma geht einen sehr bedächtlichen Gang und blüht wie die späten Obstsorten; ich
glaub, er hat's aufs langsam reich werden
»Meinthalben Rosinen und Zibeben!« fuhr der jüngere auf. »Habt Ihr mich auf der Muck? Wollt Ihr mich ins Gered bringen? Ihr schwätzt mir da recht hinterfür heraus, wie ein Mann ohne Kopf! Was will ich von dem Mädle? Habt Ihr wo läuten hören? Bin ich dem Sonnenwirt auf irgendeine Art oder Weise zu Hof geritten? Zwar, es fragt sich noch, wenn er einen wohlfeilen Schwiegersohn finden will, ob ihm nicht einer so gut ist wie der andere. Wenn's im Abstreicht geht, darf auch ein Bettelmann zur Auktion kommen, und das ist doch just nicht meine Nummer, wie Ihr selber am besten wißt. Übrigens kann mir die ganze Sippschaft gestohlen werden. Macht mir nichts vor! In dem Punkt versteh ich keinen Spaß.«
»Ja, und mancher böse Auftritt wär unterblieben und mancher Lärm und Spektakel bei Tag und auch bei Nacht, der die Sonne mehr in Finsternis als in Glanz brachte bei der Gemeinde. Und die Hauptsonnenfinsternis wär gewiß auch nicht so schwarz ausgefallen unter dem linden Regiment der rechten Mutter.«
»Was meint Ihr damit? Ja so, jetzt geht mir auf einmal ein Licht auf. Ihr sprecht vom Gutedel, vom jungen Sonnenwirtle. Mag leicht sein, daß der mit Verstand und Güte gradgebogen worden wäre, der knorrige Hagbuchenstock. Zwar ist es schwer zu sagen, ob das Mutterherz den rechten Weg gefunden hätte nachmals, wie es nötig wurde; denn die selige Sonnenwirtin war eben die gute Stunde selber und den Stab Wehe hat sie nimmermehr zu führen verstanden. Der Sonnenwirt sah dem Früchtlein auch in allweg zuviel durch die Finger, solang sie lebte und solang der Erbprinz die Nüsse noch mit den Milchzähnen knackte. Er hielt ihn zwar fleißig zur Schule an und sah auch sonst zum Rechten; aber ich weiß nicht, es hat eben doch an etwas gefehlt.«
»Ja«, lachte der jüngere Müller, »wohlgezogen, aber übel gewöhnt, das war er von Anfang an.«
»Ist denn ein Sohn da?« fragte der Müllersknecht von seiner Bank herüber.
»Wo ist er denn?« fragte der Knecht.
»Er ist an einem Örtlein, wo du nicht gern hinkämst«, war die Antwort, und die beiden Müller brachen in ein Gelächter aus. »Jetzt rat einmal.«
Die Tür ging abermals auf, und ein Mensch in hohen Wasserstiefeln trat herein. Er trug einen Kübel, den er vorsichtig auf einen Stuhl setzte. »Ist die Frau nicht da?« fragte er.
»So, du bist's, Fischerhanne?« rief der obere Müller. »Was hast denn da? Du gehst ja mit dem Kübel so sachte um, wie wenn du Perlen in der Fils gefunden hättest.«
»Guten Abend, ihr Mannen«, sagte der Fischer. »Tut's so? ist's schon Feierabend? Nein, die Perlen geraten nicht hierzuland, außer in der Glasfabrik. Forellen sind's, frisch aus dem Bach, ich hab sie nur geschwind im Kübel hergetragen.«
»Was meint Ihr, Vetter? Wie wär's, wenn wir so ein paar Silberfischlein in die
Küche schicken täten?
»Ich kann keine davon hergeben«, sagte der Fischer. »Die Alte tät mich mit dem Besen zum Haus hinausjagen. Sie hat morgen ein Pfarrerskränzlein, und da braucht sie die Fusch alle.«
»So, so, die hochwürdigen Herren begnügen sich nicht mit dem geistlichen Fischzug und wollen daneben auch leibliche Gräten beißen?«
»Ihr lebet ja auch nicht vom Wasser allein, obgleich Ihr Müller seid«, erwiderte der Fischer, indem er trotz seiner abschlägigen Antwort den Kübel herüberholte und mit seinen zappelnden Insassen auf den Tisch setzte.
»Pflanz dich nur her«, sagte der andere. »Du gehörst ja in ein Element mit uns. Ein Glas Wein für den Fisch! Willst nicht? Und meinethalb noch einen Freitrunk drüber, daß der Weinkauf richtig ist.«
»So macht nur geschwind, daß die Alte nicht dazu kommt«, erwiderte der Fischer. »Aber mehr als einen auf den Mann kann ich nicht hergeben, und hier könnet ihr sie auch nicht essen, denn die Sonnenwirtin darf beileib nichts davon wissen.«
»Freilich, 's ist ein halber Kirchenraub!« rief der ältere Müller lachend, fuhr in den Kübel, griff mit sicherer Hand eine große schöne Forelle heraus, zu welcher der Fischer gewaltig sauer sah, schlug sie mit dem Kopf gegen die Tischecke und steckte sie eilig in die Tasche. Der jüngere war ebenso schnell seinem Beispiel gefolgt.
Er klingelte am Glase, um noch eine Flasche zu bestellen. »Aber jetzt ist's recht«, rief er, als die Türe aufging; »jetzt kommt auch einmal die Oberkellnerin, die Magdalene. Komm her, du Hübsche und du Feine, da gibt's schmachtende Herzen zu laben.«
Das Mädchen, das auf den Ruf der durstigen Sturmglocke erschienen war, konnte man nicht ansehen, ohne ihr freundlich gesinnt zu werden. Sie trug auf einem wohlgewachsenen Körper ein rundes, unschuldiges, gutmütiges Gesichtchen, ein weiblich mildes Abbild von den derben Zügen ihres Bruders und zugleich eine Bürgschaft, daß auch hinter dieser rauhen Schale ein guter Kern verborgen sein könnte. »Hab ich's nicht gesagt?« rief der ältere Müller, »und es verlohnt sich der Müh, es zweimal zu sagen; wiewohl wir nicht in der Mühle sind! Das Mädle gäb einen staatsmäßigen Arm voll, nicht zu viel und nicht zu wenig, für einen braven Junggesellen.«
Er blickte dabei mit einer Spaßvogelsmiene auf den andern. »Wenn Ihr sie zu Eurer
Käther hin heiraten wollt, so müßt Ihr eben ein Türk werden«,
»Und wie sie so leibhaftig geht und steht!« rief der erste, der nicht müde werden konnte. »O du Milch und Blut!«
Magdalene erschien nicht wieder. Statt ihrer kam die Hausfrau, stellte die gefüllte Flasche auf den Tisch und nahm die Forellen, die der Fischer indessen auf den Stuhl zurückgebracht hatte, mit hinaus.
»Da trink, Fischer!« rief der jüngere Müller einschenkend. »Der treibt die Seelenmühle, vielleicht treibt er dir auch ein wenig Blut in die farblosen Backen.«
»Ja, das ist wahr, du siehst aus, wie wenn du's mit einer Wasserjungfer hättest«, sagte der ältere.
»Und so alt bist du geworden, Kerl!« fügte der jüngere hinzu.
»Wenn man sich tagtäglich im Wasser hetzen und verkälten muß und hat magere Bissen dabei«, entgegnete der Fischer unmutig, »so ist's kein Wunder, wenn der Firnis abgeht.«
»Wie alt bist denn, Fischerhanne? Du siehst aus, wie wenn du schon das Schwabenalter erreicht hättest, und bist doch, glaub ich, mit dem Sonnenwirtle aus der Schul gekommen.«
»Er wird seine Zeit jetzt so ziemlich abgesessen haben.«
»Was, der Sonnenwirt hat einen Sohn im Zuchthaus?« rief der Müllerknecht aus voller Lunge herüber. Er hatte die frühere Antwort nicht recht begriffen.
»Sachte, Peter, sachte mit der Braut!« sagte sein Herr und hielt ihm die Flasche hin, um einzuschenken. »Mußt nicht so laut schreien. Im Haus des Gehenkten ist nicht gut vom Strick reden.«
»Aber wie ist so was möglich? Guter Leute Kind im Zuchthaus!« sagte der Knecht leise, auf den äußersten Rand seiner Bank vorrückend, die Hände auf den Knien und den Kopf soweit als möglich vorgestreckt.
»Es ist just kein Wunder«, versetzte der Fischer.
»Er ist eben ein heißgrätiger, unbändiger Bursch«, sagte der jüngere Müller.
»Ei, du kennst ihn ja am besten, Fischerhanne«, rief der ältere. »Gib acht, Peter, der kann's dir sagen, der ist mit ihm in die Schul gangen.«
»Da wirst du wenig Gut's von ihm zu hören bekommen«, lachte der jüngere Müller.
»Wenn der Sonnenwirtle am Jüngsten Tag dem Fischerhanne
»Wahr ist's«, sagte der Fischer, »ich kann ihn nicht leiden und hab ihn nie leiden können. Wir sind einander von Anfang an spinnenfeind gewesen. Ich weiß eigentlich selbst nicht recht, wie's gekommen ist, 's ist weiter nichts Besonderes zwischen uns vorgefallen. Die Buben hadern und raufen viel miteinander und werden doch nachher oft die besten Freunde. Aber bei uns hat der Haß immer tiefer gefressen; es ist, als ob's uns von Natur eingepflanzt gewesen wäre. Das erstemal, daß wir einander zu Gesicht kriegten, sah er mich mit bösen Augen an, und ich war wider ihn und er wider mich.«
»Da ist auch kein Wunder dran«, meinte der untere Müller. »Ob seine Augen, die er an dich hingemacht hat, so bös gewesen sind, das weiß ich nicht, er ist nicht gerade besonders gezeichnet in den Augen. Aber er war ein Muttersöhnchen, hatte immer was zu beißen und zu knacken; mit den Gröschlein und Sechserlein von den Döten und Dotinnen konnte er allzeit den großen Hansen machen; und in der Schule saß er beständig obenan, denn das Spruchbuch und den Katechismus lernte er wie's Wasser.«
»Ich weiß schon, wo du hinauswillst, Georg«, versetzte der Fischer, ohne Gesicht
oder Augen zu erheben. »Es ist wahr, ich bin ein armer Teufel, und ein Bub, der im
Wachsen ist, hat einen starken Appetit, und es mag sein, daß mir die überflüssigen
»Aber womit hat er dir's denn angetan?«
»Warum stellen sich Hund und Katze wider einander, wenn sie einander ansichtig werden? Warum gibt's Leute, die manche Tiere nicht leiden können? Gerade so geht's auch dem Menschen mit dem Menschen. Ein Gesicht gefällt einem, ein anderes ist einem zuwider. Übrigens hat er's nicht an tätlichem Anlaß fehlen lassen. Er war ein stolzer, übermütiger Bub, der keinen was neben sich gelten ließ. Beim Soldätlesspiel war er der General, und wenn man Räuberles spielte, mußte er der Hauptmann sein. Kommandieren und die andern herumpudeln, das war sein Pläsier. Die ihm recht untertänig waren, denen spendierte er, was er nur aufbringen konnte. Mir hat er nie was geschenkt.«
»Das muß man ihm lassen«, sagte der ältere Müller, »gutherzig und freigebig ist er allezeit gewesen.«
»Ja, aber da hat der Fischerhanne doch recht«, fügte der jüngere hinzu, »am gutherzigsten war er eben gegen solche, die seinem Stolze am besten hofieren konnten.«
»Gutherzig?« rief der Fischer. »Eine eigene Art
»Und noch mehr darauf, daß die Blitzkröte schon so ein guter Schütz war«, fiel der jüngere Müller ein. »Das war's ja eben! Durch die Nachsicht, die man ihm schenkte, und durch den Beifall der Speichellecker, die bei den Eltern einen Stein im Brett gewinnen wollten, wurde er immer noch mehr verhetzt, und so kam er von einem Schabernack zum andern. Die ärgsten Streiche erfuhr der Alte gar nicht, die sind von der Mutter vertuscht worden. Da ist mancher Sechsbätzner, mancher Krug Wein als Schmerzensgeld hinter seinem Rücken aus der Sonne gewandert.«
»Wenn man dem Ding nachdenkt«, sagte der obere Müller, »so hat es mit so einem verzogenen Söhnle eigentlich nicht anders kommen können. Ich glaub, ein anderer war auch so geworden.«
»Vielleicht lauft er sich die Hörner noch ab«, versetzte der jüngere. »Wiewohl, es
wird schwer halten. Er ist eben einmal an die Gewalttätigkeit gewöhnt. Wenn man
ihm irgendwie einen Riegel vor die Tür
»Ja, und sein Hochmut wird ihn auch nicht anders werden lassen«, sagte der Fischer, »denn das ist der Hauptteufel, der ihn reitet.«
»Der steckt in der ganzen Sippschaft. Ist die Magdalene vorhin wieder hereingekommen? Nein, weil man sich einen kleinen Spaß mit ihr herausgenommen hat, so hat sie den Wein durch die Mutter geschickt.«
»Aha!« sagte der ältere Müller leise, dem Fischer zuwinkend, »hast ihn hören trappen?«
»Immer hat er sich für was Besonderes gehalten«, fuhr dieser fort, ohne auf die
Bemerkung achtzugeben. »Ha, wenn ich nur daran denke, was er mir einmal für eine
Zumutung gemacht hat! Das war das einzige Mal, daß ich was Apartes in die Schule
mitbrachte, wo ich mir was drauf zugut tun konnte. Der Herzog war eben vorher
durch den Flecken gefahren, und da fand meine Mutter auf der Straße ein kleines
Stück hellblauen Sammet, Gott weiß, woher und wie er auf den Boden gefallen war.
Meine Mutter wußte nicht, was damit tun, nun zerschnitt sie's in Läpplein und
machte mir eine Windmühle, wißt ihr, wie's die Buben an Stecken haben; wenn sie
damit springen, so dreht sich's herum. Das Ding sah hoffärtig aus, und die ganze
Schule hatte Respekt davor. Den Sonnenwirtle aber verdroß es, daß er mir's zum
erstenmal nicht gleichtun konnte; er ließ sich aber nichts anmerken, sondern
verspottete mich und schalt mich den herzoglichen
»Und hatte er wirklich die Windmühle gestohlen?«
»Nein, ich fand sie hernach wieder; ich hatte sie nur verlegt. Auch hätt ich's nicht so schwer genommen, nicht einmal die Prügel bekümmerten mich, wiewohl er immer eine harte Tatze hatte. Nein, aber der Hochmut, daß er den fürnehmen Herrn spielen wollte und sich duellieren, wie ein Edelmann, das hat mir ihn zuwider gemacht. Und er war dazumal ein Bub von zehn Jahren. Wenn das am grünen Holz so ist, wie wird's am dürren werden?«
»Duellieren hat er sich wollen, wie ein Offizier?« rief der Knecht. »Ei, so verreck!«
»Da hat sich das adelige Blut frühzeitig geregt«, sagte der jüngere Müller lachend.
»Wenn die selige Sonnenwirtin nicht so ein kreuzbraves
»Und was ist denn sein Vater Großes?« fuhr der Fischer eifrig fort. »Er mag meinethalb für ein paar Batzen hochmütig sein, aber alles hat seine Grenzen. Er ist Wirt, muß den Leuten für ihr Geld Kratzfüße machen; er ist Viehhändler, patscht jedem Roßkamm in die Hand; er ist Metzger, muß den Ochsen und Säuen im Gedärm herumfahren.«
»Es müßt's nur das Metzgerhandwerk machen«, sagte der ältere Müller, »damit übt er eine Art von Blutbann aus, und das ist doch was Adeliges.«
»Ja«, rief der andere, »und darin stehst du ihm nach, Fischerhanne. Denn du und die, über deren Leben und Tod du Gewalt hast, haben kein Blut.«
»Oder nur weißes.« Die andern lachten.
»Sorget nur nicht für mich!« sagte der Fischer etwas ärgerlich. »Meine Untertanen haben auch Blut.«
»Ja, und Galle.«
»Ja, und beißen können sie auch.«
»Aber der Ochs hat Hörner.«
»Wenn er zu hitzig stoßt, so brechen sie ab.«
»Wenn sie nur schon abgebrochen wären!« sagte der ältere Müller. »Aus dem Burschen könnt noch was Tüchtig's werden. Ich wollt, man tät ihn mir anvertrauen, ich zög ihn durchs Kammrad, daß er geschlacht würde.«
»Nichts Gewisses weiß man nicht, – heißt's im Sprichwort«, erwiderte der jüngere.
»Wenigstens mutwillig und unbändig«, versetzte der ältere Müller. »Unter allen Streichen, die ich von ihm weiß, hat mir einer immer am besten gefallen. Da war vor ein Jahr sieben oder achten ein Hausknecht hier in der Sonne, wißt ihr, der Mathes – ich seh ihn heut noch vor mir, 's ist so ein persönlicher langer Kerl gewesen, und etwas langsam im Geist. Der wollte gescheiter sein als der Frieder, und das konnte mein Frieder nicht vertragen. Was tut er also? Um Mitternacht schleicht er aus dem Bett, die Stiege hinunter, bricht den Fuhrleuten in die Güterwagen vor dem Haus auf der freien Straße ein und bringt den Raub seinem Vater übers Bett. Der Knecht, den andern Tag, der ist natürlich schön ausgelacht worden ob seiner Wachsamkeit. Und das hat der stolze Bub mehr als einmal getan, und der gute Mathes konnt ihn nie erwischen. Das Ding hat ihm das Leben so sauer gemacht, daß er's nicht in der ›Sonne‹ aushalten konnte. Es trieb ihn aus dem Dienst, ich glaub, er dient jetzt in Beutelsbach drüben, das alte Beuteltier.«
Der Müllerknecht hatte Mund und Augen aufgesperrt. »Verfluchter Bub!« sagte er endlich. »Das hat der ›Sonne‹ gute Kundschaft bringen können. Ich wär auch eingekehrt und hätt mich zum Spaß berauben lassen, pur aus Fürwitz.«
»Es ist doch eine gefährliche Übung«, sagte der Fischer. »Wenn die Katze das
Mausen verschmeckt hat, so läßt sie nicht mehr davon, und was eine
»Was?« rief der Knecht. »Ist er im Ernst eingebrochen?«
»Pst, Peter, schrei leis!« erwiderte sein Herr. »Ja, aber nur bei seinem Vater, und der hat's ja.«
»Vierhundertunddreißig Gulden sind doch keine Kleinigkeit«, sagte der Fischer.
»Vierhundertunddreißig Gulden!« rief der Knecht. »Da wundert's mich nicht, daß er im Zuchthaus sitzt. Und sein eigener Vater hat ihn hineinsperren lassen?«
»Er konnte es nicht vertuschen, wenn er auch gewollt hätte. Übrigens ist's nicht seine diesmalige Zuchthausstrafe, denn das ist schon die zweite. Damals aber war er erst vierzehn Jahr alt.«
»Das ist aber doch auch hart«, meinte der Knecht, »einen vierzehnjährigen Buben ins Zuchthaus zu schicken.«
»Laßt mich reden, ihr Mannen!« sagte der jüngere Müller, »ich kann am besten erzählen, wie die Sach zugegangen ist, ich hab ja auch einen Spieß in selbigem Krieg getragen. Wahr ist's, und was wahr ist, das muß wahr sein, dem Frieder hat sich das Blättlein übel gewendet, wie ihm Gott seine Mutter nahm. Von der Stund an hatte alles, was er tat, eine andere Farbe.«
»Das ist eben der Unterschied«, fiel der ältere Müller ein, »ob man etwas mit
Liebe ansieht oder mit Haß. Und den Haß, den hat das Ripp, die jetzige
»Verzogen war er, das ist richtig«, fuhr der jüngere fort. »Aber es kommt nur drauf an, was man dem Kind für einen Namen gibt. Vormals hieß man's artig, witzig, aufgeräumt; nachher hieß man's übermütig, tückisch, boshaft. Und wo man früher Anzeichen von Mannhaftigkeit gelobt hatte, da sah man jetzund nichts mehr als den hellen lautern Teufelstrotz.«
»Mir ist's von Anfang an so vorgekommen, selbiges Kind«, sagte der Fischer.
»Da sind deine Augen just für die Stiefmutter recht gewesen, Fischerhanne. Ich glaub auch, sie hat dir die Augen abgekauft; ich will davon schweigen, aber du hast immer einen Stein bei ihr im Brett gehabt, und ich weiß nicht, ob die Fische, die du ihr zugetragen hast, immer aus dem klaren Wasser gekommen sind.«
»Selbige Augen«, unterbrach ihn der andere Müller, »hat sie dann auch dem Sonnenwirt eingesetzt, und da hat der alte Esel seinen Sohn gleich in einem andern Lichte gesehen.«
»Freilich, weil er immer ärger geworden ist«, sagte der Fischer.
»Mach kein' so krummen Kopf! Narr, er ist ärger geworden, weil man ihn ärger gemacht hat. Und das muß man sagen, für seine Schwestern hat er sich ritterlich gewehrt und hat nicht leiden wollen, daß man sie wie Stallmägd behandle.«
»Ja, und dann hat's eben wüste Auftritte gegeben.«
»Wenn er ihr doch nur ein Dutzend Rippen eingeschlagen hätte!« versetzte der ältere Müller. »Brauchst 's ihr aber nicht wieder zu sagen, Fischerhanne«, setzte er etwas erschrocken hinzu, »oder 's ist aus mit der Freundschaft. Du weißt, ein Mensch hat allezeit den andern nötig.«
»Wie kam er denn aber zum Stehlen?« fragte der Knecht.
»Ich will's dir sagen«, fuhr der jüngere Müller fort. »Wie er sah, daß er doch immer den kürzern zog, weil sein Vater auf seiten der Stiefmutter war, so wollte er in die Fremde gehen und begehrte einen Zehrpfennig nach Amerika.«
»Nach Amerika?« rief der Knecht. »Das ist ja ein Weltskerl!«
»Der Alte aber«, fuhr der Müller fort, »war dazumal schon b'häb geworden und behielt die Schlüssel zur Geldtruhe fest im Sack; auch meinte er, der Bub, der erst vierzehn Jahr alt war, sei noch zu jung zum Reisen, und darin hatte er gänzlich recht, denn der Bub ist nachher richtig auch nicht gar weit gekommen und nicht gar lang fortgeblieben. Der aber meinte, was man ihm nicht gutwillig gebe, das könne er ja mit Gewalt nehmen, und beerbte seinen Vater vor der Zeit, noch eh ihm der Alte aus der Helle gegangen war.«
»Oder aber«, sagte der ältere Müller, »er hat als sein eigener Richter seine Jahr und seine Taschen vollgemacht und eben sein Mütterliches eingesackt.«
»Vierhundertunddreißig!« fiel der Fischer ein.
»Mein'twegen vierhundertunddreißig, wenn das Sündenregister voll sein muß. Du mußt's ja wissen, denn du bist der erste gewesen, Fischerhanne, der ihn des Einbruchs zieh.«
»Hab ich gelogen?« fragte der Fischer.
»Ja, die Wahrheit hast du gelogen.«
»Dann ist er durchgegangen?« fragte der Knecht.
»Ja, aber er kam nicht nach Amerika, sondern bloß bis Heilbronn. Dort ließ er sich bei den kaiserlichen Husaren anwerben als Freiwilliger. Pferd und Montur bezahlte er flott von seinem eigenen Geld. Wenn er nur bei ihnen geblieben wär!«
»Ist erst noch wahr!« rief der ältere Müller. »Der Kerl hätt's zu was bringen können. Der? der hätt General werden können.«
»Ist er denn desertiert?« fragte der Knecht.
»Nein, aber nach zehn Wochen stach ihn der Fürwitz, ob man ihn zu Ebersbach
vergessen habe, und da kam er mit einem Urlaubspaß als Husar angeritten. Das war
ein Aufsehen! Dem Amtmann trotzte er ein Attestat ab, daß er von ehrlichen Leuten
geboren sei. Beweisen konnte man ihm nichts, wiewohl das Geschrei und der Verdacht
wegen der vierhundert Gulden allgemein war, und niemand wagte, ihn
»Das ist ja ein Mordkerl!« rief der Knecht. »Aber hat es Euch und den andern Schützen keine Ungelegenheit gemacht«, fragte er weiter, »daß ihr der Obrigkeit so mir nichts, dir nichts ins Handwerk gegriffen habt?«
»Und seitdem«, fragte der Knecht, »sitzt er im Zuchthaus?«
»Ich hab dir's ja gesagt«, erwiderte sein Herr, »daß er jetzt zum zweitenmal drin ist.«
»Was? Ist er seinem Vater abermals über den Geldkasten gegangen?«
»Nein, in dem Fach hat er ein Haar gefunden und hat ihm abgesagt.«
»Man kann ihm nichts Böses nachsagen«, versetzte der Fischer, »bis auf das, was man nicht weiß. In einem Wirtshaus läßt sich manches verschleppen, man kann da nicht so nachrechnen, wo die Sachen hinkommen. Ich möcht doch auch wissen, aus welchem Beutel er auf dem Tanzboden immer so dick getan hat.«
»Ich glaub, er hat dem Herzog hier und da einen Hirsch weggebüchst«, sagte der jüngere Müller.
»Ja, ja«, rief der Fischer, »die Flinte, die er als Bub von seinem Vater kriegte, hat ihre Früchte getragen. Das ist die zweite gefährliche Kunst, die er schon gelernt hat, eh er hinter den Ohren trocken war.«
»Nu, wenn's weiter nichts ist«, sagte der ältere Müller, »so wollt ich nur, er tat
alles wegbüchsen, was mit Geweih und Hauer in Wald und Feld spaziert. Das wär ein
Verdienst, für das man ihm, weiß Gott,
»Freilich«, stimmte der Knecht ein, »Wildern ist keine Sünd, nur darf's nicht herauskommen.«
Und gegen diesen festen Glaubenssatz wagte selbst der hartnäckig grollende Fischer nichts einzuwenden.
»Was hat ihn denn zum zweitenmal in das Ding da, das man nicht gern beim Namen nennt, gebracht?« fragte der Knecht weiter.
»Seine Gewalttätigkeit«, antwortete der Fischer.
»Eine Prügelei«, erwiderte der jüngere Müller gleichmütig.
»Was die Prügelei betrifft, da kann ich nicht wider ihn sein«, sagte der ältere. »Gib acht, Peter, das mußt dir erzählen lassen, das ist ein Staatsstückle. Der Kreuzwirt – den kennst du ja, er hat seinen Namen nicht umsonst, denn er ist gar ein frommer Kreuzträger und eine wahre Kreuzspinne dabei – der hatte von jeher ein scheeles Aug auf den Frieder gehabt.«
»Auf den Alten auch. Der verzeiht's ihm heut noch nicht, daß er ihn beim Kirchenkonvent angebracht, weil er einen Ochsen geschlachtet hatte am Sonntag. Der Sonnenwirt wurde damals um ein Pfund Heller gestraft.«
»Auch den Frieder«, fuhr der ältere Müller fort, »hat er einmal bei seinem Vater verschwätzt, so daß er Hiebe von ihm kriegte. Der Alte hat nachher selber eingestanden, er habe dasmal seinem Sohn unrecht getan.«
»Ja«, fiel der jüngere ein, »ich hab's mit meinen
»Und dies ist auch gekommen«, fuhr der ältere fort. »Denn so eine Teufelsgelegenheit bleibt niemals aus. Nun, was geschieht? Auf dem Heimweg vom Kirchheimer Markt trifft der Frieder mit dem Kreuzwirt zusammen, und der fängt an, ihn zu hänseln und zu rätzen, denn so gottselig er sich stellt, das Necken und das Kratzen kann er nicht lassen. Zuletzt, wie er noch nicht genug hatte, kommt er auch auf die Zuchthausstrafe, die der Frieder durchgemacht hatte, und sagt zu ihm: ›Du bist ein ganz geschickter Kerl, dir kann's nicht fehlen, du verstehst ja zwei Handwerk, das Metzgen und das Wollkardätschen; wenn dir's in einem fehlschlägt, so kannst du dich auf das andere werfen.‹ – Er das sagen, und der Frieder ihn am Kragen nehmen und zu Boden werfen, das war eins. Der hat Prügel gekriegt! Nun, der Fischer weiß ja, was der Bub für eine Tatze hat.«
»Es ist ihm recht geschehen«, sagte der jüngere Müller. »Einen Gefallenen muß man aufheben undnicht noch tiefer niederdrücken.«
»Paß nur auf, Peter, jetzt kommt erst der Hauptspaß«, fuhr der ältere fort. »Wie
er ihn genug geprügelt hatte und ausschnaufen mußte, so sagt er zu ihm, er solle
ihm jetzt versprechen, daß er dessentwegen nicht klagbar werden wolle. Der
Kreuzwirt, am Boden, verspricht's mit Ach und Krach und schwört's ihm hoch und
teuer. Der Frieder
»Das ist ja ein Fetzenkerl!« rief der Knecht mit ungeheuchelter Bewunderung aus.
»Der Kreuzwirt klagte auch richtig beim Amt, und da kam eben mein Frieder noch einmal auf ein halb Jahr nach Ludwigsburg.«
»Es heißt von ihm wie vom Esau«, sagte der Fischer: »›Seine Hand war wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn.‹«
»Hast das fromme Sprüchle vom Kreuzwirt gelernt?« spottete der jüngere Müller. »Nein«, fuhr er fort, »dem haben seine Prügel gebührt, und ich bin dem Frieder nicht feind darum. Wenn nur die Schand nicht wär, denn Zuchthaus ist eben einmal Zuchthaus.«
»Meint Ihr, Vetter?« rief der ältere. »Es kommt auch darauf an, von wegen was man ins Zuchthaus kommt. Und wenn einer sonst guter Leute Kind ist, so kann man so einen Unschick wieder vergessen. Wenn er jetzt unter eine tüchtige Hand käm und gehobelt würde – in zehn Jahren könnt er der angesehenste Mann sein und tat kein Hahn mehr darnach krähen, daß er in seinen jungen Jahren hat das Wollkardätschen erlernen müssen.«
Ein rascher Hufschlag unterbrach das Gespräch. Der jüngere Müller trat ans
Fenster. »Was der Sonnenwirt noch stet auf dem Gaul sitzt«, bemerkte er. »Er
Nun kam die Hausfrau herein mit einem weißen Tuch auf dem Arm. Ihr folgte Magdalene mit dampfenden Schüsseln. Ein Tisch in der andern Ecke des Zimmers wurde gedeckt und das Essen aufgetragen. Das Gesinde erschien, Knechte und Mägde. Draußen hörte man die befehlende Stimme des Hausherrn. Endlich trat er selber ein, untersetzt und etwas beleibt, in Gestalt und Angesicht seinem Sohne ähnlich. Aus seinen Gesichtszügen sprach derselbe Trotz, derselbe Eigensinn, nur daß dieser Ausdruck bei ihm, dem gebietenden Herrn des Hauses, mehr das Bewußtsein der anerkannten Rechtmäßigkeit und eben darum auch mehr herrische Strenge hatte. Wenn man jedoch sein Gesicht näher prüfte, so fand man, daß die innere Naturkraft nicht so groß war als das Ansehen, das er sich geben zu müssen glaubte. Er grüßte die Gäste kurz und setzte sich ohne viel Umstände mit seinen Hausgenossen zu Tische. Für ihn wurde besonders aufgetragen, und ein Teller mit Besteck lag vor ihm, während die andern alle, die Hausfrau nicht ausgenommen, gemeinsam aus der Schüssel speisten.
Unter dem Geklirr der Löffel flüsterten die Gäste zusammen, und manche bittere Bemerkung, manche boshafte Spottrede wurde den Essenden, ohne daß sie es hörten, als Tischsegen zugeworfen.
»Der Sonnenwirt meint, man müsse es für eine Gnad halten, wenn man nur in seinem Haus noch trinken dürfe«, sagte der ältere Müller.
»Seht nur die Alte, Vetter!« sagte der ältere und stieß ihn an. »Seht, wie sie ihren Leuten auf die Mäuler guckt, wie sie ihnen die Bissen zählt, wie sie dem Löffel, der aus der Schüssel kommt, mit den Augen nachfolgt. Was sie für ein Gesicht macht, wenn sie meint, es hab eins zu vollgeladen oder komm zu oft angefahren.«
»Halt, jetzt ist die Sippschaft erst vollständig, jetzt kommt der Freier!« unterbrach ihn der jüngere, verstohlen mit dem Finger auf einen Mann mit spitzem, knochigem Gesichte deutend, der, mit einem hellgrünen Leibrock angetan, ins Zimmer trat und sich nach einer stattlichen Begrüßung an einen Tisch zunächst dem Speisetisch setzte.
»Schau, schau! Der grüne Chirurg!« erwiderte der andere. »Der macht Kratzfüß! Was
die Alte ihr Spinnengesicht umwandelt, als ob sie Honig und Marzipan gefressen
hätt. Sogar der Sonnenwirt nickt ihm freundlich zu, die Sache muß richtig sein.
Aufgepaßt, Vetter! Seht Ihr, wie ihm die Alte ein
»Er will eben von der Gelegenheit profitieren, solang sie da ist. Er weiß wohl, daß nicht alle Tag Kirchweih ist. Wenn er einmal ernstlich angebissen hat, so wird man ihm das Gasthütlein schon herunterziehen, und dann kann er die Finger darnach lecken.«
»Ihr könnt die Leute recht heruntermachen«, sagte der Fischer. »B'hüt Gott beieinander, ich will nur heimgehen, sonst werd ich noch angesteckt.«
»Gut Nacht, Fischerhanne, und halt reinen Mund.«
»Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!« versetzte der Fischer etwas zweideutig und wandte sich mit einem »G'segn' Gott«, das er dem Speisetische zurief, nach der Türe.
In diesem Augenblick ging die Türe auf, und herein trat der Sohn des Hauses. Aus
seinem von der Wanderung geröteten Gesichte leuchtete das verklärende Gefühl einer
guten Tat, einer Tat, welche dem Himmel die erste Genugtuung für bisher begangene
Fehltritte darbieten sollte. Dieser Ausdruck gab seinem Gesicht eine auffallende
Ähnlichkeit mit den Zügen seiner Schwester. Da stieß er unter der Türe auf den
Fischer, der ihm wie ein böses Vorzeichen entgegentrat, und sein Gesicht
verfinsterte sich. Einen Augenblick maß er ihn schweigend mit den Augen. »Du auch
da, Giftmichel?« sagte er, indem
Friedrich blieb ein wenig stehen, um sich zu sammeln; dann näherte er sich dem Tische und trat zu seinem Vater, der bereits durch einen Wink der Frau auf ihn aufmerksam gemacht worden war und ihm schweigend entgegensah.
»Grüß Gott, Vater!« redete er ihn an. »Da bin ich wieder und versprech Euch, daß es mit Gottes Hilfe nun anders werden soll, denn ich bin nun kein Kind mehr, und wenn ich Euch bisher oft durch meinen Unverstand betrübt habe, so hab ich mir jetzt vorgenommen, Euch hinfüro ein treuer, gehorsamer Sohn zu sein.«
»Mach nicht so viel Redensarten!« sagte der Alte. »Wenn dir's Ernst ist, so tu's, ohne davon zu reden; aber versprich nichts, was du nicht halten kannst. Setz dich und iß.«
»Ja, Vater, aber ich hab zuvor eine großmächtige Bitte«, fuhr Friedrich fort, ohne sich durch den Empfang irremachen zu lassen. »Ich möcht eine Seele vom Verderben retten, und das kann ich nicht, wenn Ihr mir nicht dazu helft.«
Der Alte erhob sein Gesicht. Die Stiefmutter sah ihn mit gespannter Neugier und finsterer Miene an. Er hatte sie noch nicht gegrüßt, er hatte nur für seinen Vater Augen gehabt.
»Ihr meint gewiß, Vater«, sprach er weiter, »da, wo ich herkomme, hab ich nur
lauter schlechtes Zeug gelernt. Aber so ist's nicht, vielmehr bin ich in gute
Hände geraten und hab Christentum gelernt.
»Wo will denn das hinaus?« fragte der Alte barsch.
»Vater, ich hab Euch einen Menschen mitgebracht, der keine Heimat hat, eine vater- und mutterlose Waise, denn das ist er, und wenn auch seine Eltern noch leben. Und ich bitt Euch, so lieb Euch Euer Sohn sein mag, der Euch freilich schon Kummer und Verdruß gemacht hat – so lieb es Euch sein mag, daß der ungeratene Sohn noch was Ordentliches in der Welt werde, so hoch bitt ich Euch, Vater: laßt den Menschen, den ich mitbringe, als Euren Knecht in Eurem Hause sein.«
»Wo ist er denn?« fragte der Alte ungeduldig.
»Er wartet hinterm Haus am Garten.«
Die Stiefmutter gab dem Chirurgus einen Wink, und er schlich sich unbemerkt hinaus.
»Wer ist er denn?« fragte der Alte weiter.
Friedrich schwieg eine Zeitlang in sichtlicher Verlegenheit; die siegesfrohe Zuversicht, die er bei seinem Eintreten gezeigt hatte, war allmählich von ihm gewichen. »Vater«, hob er endlich an, »Ihr werdet in Eurem Herzen nicht sogleich die Stimme finden, die für ihn spricht. Man hat gegen diese Leute manches einzuwenden, und das ist auch kein Wunder, denn man behandelt sie auch danach.«
»Mach's kurz und gut«, rief der Alte und schlug auf den Tisch. »Was ist das vor
eine Manier? Wenn's
Indessen war der Chirurg wieder eingetreten. »Es ist ein Zigeuner«, sagte er langsam und nachdrücklich, indem er zu dem Tisch trat.
»Ein Zigeuner?« rief die Stiefmutter und schlug ein gellendes Gelächter auf. Die beiden Müller und der Knecht, welche aufmerksam zugehört hatten, lachten aus vollem Halse mit. Auch das Gesinde am Tische stimmte in das Gelächter ein, doch nur allmählich und schüchtern, da der Sonnenwirt nicht mitlachte, sondern die Stirne in dräuende Falten gelegt hatte. Magdalene war mit einem wehmütigen Blick auf den Bruder hinausgegangen.
»Ich weiß wohl, Vater, daß es eine Zumutung ist«, fuhr Friedrich unerschrocken fort. »Aber soll's denn der arme Teufel büßen, daß seine Eltern Zigeuner gewesen sind?«
Der Chirurgus unterbrach ihn. »Das hängt vielleicht«, sagte er mit etwas näselnder Stimme, »das hängt vielleicht mit der Prädestination zusammen, die der Herr Pfarrer predigt.«
»Ich red mit meinem Vater und nicht mit Ihm!« warf Friedrich stolz von der Seite
dem Chirurgus zu. »Wie kann man denn verlangen, daß diese Leute ehrlich werden
sollen, wenn man nicht endlich einen Anfang mit ihnen macht? Und wie kann man denn
anders anfangen, als mit dem christlichen Zutrauen, das man in einem christlichen
Hause einem von diesen armen Leuten schenkt? Wenn man dann in
Die Stiefmutter hatte inzwischen Blick und Winke mit dem Chirurgus ausgetauscht. »Wie sieht er denn aus?« fragte sie jetzt mit dem Tone der Neugier.
»Er schielt auf einem Aug' und sieht aus wie ein leibhaftiger Galgenvogel«, antwortete der Chirurgus.
»Was will denn Er?« fuhr Friedrich erzürnt herum. »Wenn man Ihn auf ein Erbsenfeld setzen tät, so könnt man vor den Spatzen sicher sein.«
Der alte Sonnenwirt fuhr auf und versetzte seinem Sohne eine derbe Ohrfeige: »Ich will dir unartig gegen meine Gäste sein. Man muß dir die Äste abhauen, wenn du zu krattelig wirst. Halt's Maul jetzt und pack dich. Ich will dich heut nicht mehr vor Augen haben. Das käm mir geschlichen, einen Zigeuner ins Haus zu nehmen. Das wär eine Gesellschaft für dich.«
Friedrich sah seinen Vater an. Einen Augenblick hatte seine Hand gezuckt; dann aber wandte er sich ruhig nach der Tür. »Ich glaub, ich wollt, ich wär wieder im Zuchthaus«, sagte er, während er hinausging.
Die beiden Müller zahlten ihre Zeche und standen auf. Der Sonnenwirt, der sich ebenfalls erhoben hatte, wünschte ihnen, freundlicher als zuvor, gute Nacht. »Der Bursch ist doch ziemlich mürb geworden«, sagte er zu dem älteren, »er hat nicht gegen die Ohrfeige rebelliert, und es hat den Anschein, als ob er jetzt das vierte Gebot in Ehren halten wollte.«
In dem Gesicht des Alten, das erst ganz wohlgefällig ausgesehen hatte, zog allmählich der Ausdruck unendlichen Spottes auf. Er sah den Müller mit halb zugekniffenen Augen an, so daß dieser in Verlegenheit geriet und die Hände aus den Wamstaschen, wo sie während seiner Rede gesteckt hatten, hervorholte. »So, meint Ihr?« erwiderte er trocken und stieß dann ein hochmütiges Gelächter aus.
»Nichts hab ich gemeint!« rief der Müller wütend. »Ihr könnt meinethalben Euren
Galgenstrick verknöpfeln und verbandeln, wo Ihr wollt.« Er ging
Indessen war Friedrich zu dem Zigeuner hinabgegangen, der, verabredetermaßen seines Bescheides harrend, an dem Gartenzaune lehnte. Er reichte ihm ein Fläschchen, ein Brot, eine Wurst und ein Stückchen Geld. Das letztere hatte er sich unterwegs von seiner Schwester geben lassen; bei den Lebensmitteln mochte ihm in etwas uneigentlicher Form die Lehre des Waisenpfarrers vorgeschwebt haben. »Da nimm, iß und trink«, sagte er mit einer sonderbaren Hast und Heftigkeit, »und dann mach, daß du zum Teufel kommst.«
Der Zigeuner griff gleichmütig zu, dann heftete er sein scheeles Auge auf den Wohltäter. »Was, und mit dem Dienste ist's nichts?« sagte er.
»Schweig still und mach mich nicht scheu! Ich bin so schon wild genug. Trink deinen Kirschengeist! Sieh, ich hab dir Wort gehalten, soviel an mir gewesen ist.«
Der Zigeuner schnitt eine höhnische Fratze: »Blitz und Mord!« rief er, »so wohlfeile Versprechen kann mir ein jeder tun und mich ein paar Stunden umführen. Ich seh schon, wie's steht. Das Christentum hat, scheint's, auf einmal ein Loch gekriegt und, nach dem einen feurigen Backen zu schließen, gar noch einen Plätz auf das Loch.«
Friedrich stieß einen Schrei aus, wie nur der tollste Jähzorn ihn eingeben kann,
warf sich über den Zigeuner her und ließ ihn seine Faust aus Leibeskräften fühlen.
Der Zigeuner war bloß darauf bedacht,
Bei diesem Lachen hielt Friedrich betroffen inne. »Hund, was lachst?« fragte er zornig.
Der Zigeuner schüttelte sich. »Herzensbruder«, sagte er, »ich muß lachen, daß dich das Mitleid und der Jammer zum Prügeln treibt. So was ist mir noch nie vorgekommen.«
Er leerte das Fläschchen auf einen Zug, schleuderte es mit einem »Juhu« hoch empor, und während es klirrend zu Friedrichs Füßen niederfiel, schallte das Jodeln des Zigeuners schon aus einiger Ferne herüber. Verblüfft starrte ihm Friedrich nach.
Es war inzwischen dunkel geworden. Friedrich wollte eben ins Haus zurückkehren,
als er eine Gestalt herausschlüpfen sah, in der er seine Schwester Magdalene
erkannte. Sie ging in das Gärtchen, und er hörte sie dort am Brunnen Wasser
pumpen: denn es ist eine unlöbliche Gewohnheit der Leute, das Wasser, das sie
morgens frisch haben könnten, abends zu holen und über Nacht stehenzulassen. Bald
aber hielt sie in dieser Verrichtung inne und fing leise zu weinen an. Er wollte
zu ihr treten, da kam jemand aus dem Hause nachgegangen, horchte eine Weile umher,
fuhr, ohne ihn zu bemerken, ins Gärtchen
Magdalene antwortete mit stockender und gedrückter Stimme.
»Was? Ich will nicht hoffen, daß du heulst!« fuhr die Stiefmutter sie an.
Das Mädchen schwieg.
»Was hast du denn?« fragte die Alte hart und lieblos weiter. Als das Mädchen abermals keine Antwort gab, rief sie: »Das muß was Besonders sein. Der Herr suche mich nicht so schwer heim und lasse mich's nicht erleben, daß du dich am End gar vergangen haben wirst.«
»Oh, Mutter«, rief Magdalene, die hier plötzlich ihre Stimme fand, »wie könnt Ihr mich so verschänden! Ihr solltet Euch der Sünde fürchten, so etwas so laut vor der Nachbarschaft zu sagen, da Ihr doch wißt, wie ungerecht Euer Gerede ist. Ihr müßt's ja selber am besten wissen, daß ich Euch niemals aus den Augen gekommen bin.«
»Nun, nun, ich will ja weiter nichts gesagt haben, als daß das Heulen und Aunxen überflüssig ist, wenn man ein gut Gewissen hat.«
»Mein Gewissen ist gut«, erwiderte Magdalene unmutig. »Wenn nur auch alles andere so gut wäre.«
»Ei was, es steht alles gut. Mach jetzt nur, daß du ins Bett kommst. Du mußt morgen mit hellen Augen und roten Backen aufstehen, weißt wohl, warum.«
»Oh, Mutter, seid barmherzig und bringt den Vater
»Still mit den Narreteien da!«
»Mutter, ich hab einen Abscheu vorm Heiraten. Ichwill Euch bei den höchsten drei Namen schwören, ledig zu bleiben mein Leben lang.«
»Damit wär mir gedient!« rief die Stiefmutter mithöhnischem Lachen. »Was ein recht's Mädle ist, dashat eine wahre Begier aufs Heiraten und kann nicht bald genug eine eigene Haushaltung überkommenwollen, um darin tätig und fleißig zu sein nacheigenem Sinn. Ein recht's Mädle sucht seinen Elternvom Hals zu kommen, sobald es kann, und willnicht als eine unnütze Brotesserin zu Haus auf derfaulen Haut liegen.«
»Lieg ich auf der faulen Haut?« entgegnete Magdalene vorwurfsvoll. »Werd ich nicht gepudelt vom frühen Morgen bis in die späte Nacht? Hab ich dasbißle Essen nicht so gut verdient, wie wenn ich Eure Magd wär?«
»Nun, so sei froh, daß du jetzt bessere Tage kriegst.«
»Ich will keine bessere Tage, ich bin ja zufrieden. Ich will noch härter arbeiten, will Euer Kehrbesen sein und Eure Ofengabel, will schlumpen und pumpen, nur laßt mich bleiben wie ich bin.«
»Das wär ein Kunststück! Bin ich eine Hex? Kann ich dich halten, daß du bleibst, heut wie gestern, und morgen wie heut? Kann ich's verhindern, daß du eine alte Jungfer wirst?«
»Ja, aber durchs Nebentürle. Und jetzt hör auf mit dem Geschwätz. Es ist eine Ehr für dich, daß dich der Chirurgus nehmen will, so ein Herr! Wart, wenn du an seinem Arm daher stratzen kannst, das wird eine Hoffärtigkeit sein! Du verdienst's gar nicht, daß es so hoch hinaus soll mit dir!«
»Freilich verdien ich's nicht! Er soll eine andere nehmen, meinetwegen die verwitwete Herzogin, die tät vielleicht besser für ihn passen.«
»Was hast du gegen den Chirurgus?« rief die Sonnenwirtin zornig. »Was kannst du wider ihn sagen?«
»O Mutter«, begann das Mädchen nach einer Weile mit bebender Stimme, »denkt an Eure eigene Jugend zurück – er ist so alt – und so –«
»Du wüste Strunz du!« rief die Sonnenwirtin. »So, da liegt der Has im Pfeffer? Der Ehstand ist eine christliche Anstalt, dem Herrn zum Preis, und nicht für Üppigkeit und Fleischeslust. Wenn du so liederliche Gedanken hast, so bet, daß sie dir vergehen, oder behalt sie wenigstens bei dir und schäm dich. Wenn die Leut wüßten, daß du so fleischlich denkst, sie täten mit Fingern auf dich zeigen.«
Magdalene schluchzte: »O Mutter, Mutter!«
»Ja, Mutter!« spottete jene. »Ich weiß wohl, was Jesus Sirach einer Mutter
einschärft im Sechsundzwanzigsten: ›Ist deine Tochter nicht schamhaftig, so halte
sie hart, auf daß sie nicht ihren Mutwillen treibe, wenn sie so frei ist. Wie ein
Fußgänger, der durstig ist, lechzet sie und trinket das nächste
»Paßt das auf mich? Ich will ja lieber gar keinen?« rief Magdalene laut weinend.
Ohne sich irremachen zu lassen, fuhr die Sonnenwirtin fort: »Ich bin auch jung gewesen, aber in der Furcht Gottes, und so freches Zeug ist mir nicht im Schlaf eingefallen, geschweige daß es mir über die Lippen gekommen wäre. Dein Vater, wie ich ihn genommen hab, ist auch kein heurig's Häsle mehr gewesen. Im Gegenteil, dein Bräutigam ist dir noch näher im Alter. Wo ist der Mensch, dem's in der Welt nach seinem Kopf geht? Ein Christ muß sich in das schicken, was unser Herrgott über ihn verhängt. Jetzt heul, soviel du willst, heut mein'thalben die ganze Nacht da unten. Aber morgen hat's ein Ende mit dem Heulen, oder wenn's dich zu sauer ankommt, so wird dir dein Vater schon ein freundliches Gesicht herausbringen helfen, du weißt, er hat Mittel und Wege. Jetzt gut Nacht, Jungfer Braut.«
Die Alte schoß aus dem Gärtchen in das Haus zurück, wie ein unheimlicher Nachtvogel. Friedrich eilte, sich zu seiner Schwester zu gesellen, denn, dachte er, die kann's brauchen. Sie wär in der Dunkelheit leicht zu finden; er durfte nur dem Schluchzen nachgehen, das ihren jungfräulichen Busen zu zersprengen drohte. Stillschweigend faßte er ihre Hand.
Sie hatte ihn nicht kommen hören; erschrocken und
»Gut Freund, Schwesterle. Hat der gelbe Drach wieder Gift gespien? Was ist denn das für ein Bräutigam, dem du die alten Knochen wärmen sollst?«
»Ach Gott, der Chirurg!«
»Was! der Zaunstecken?« – Und nun folgte eine Flut von Scheltwörtern, die immer drolliger wurden, so daß das arme Mädchen zuletzt selbst darüber lachen mußte. Plötzlich aber fiel sie in das vorige Weinen und Schluchzen zurück und warf die Arme um den Hals des lustigen Trösters: »O lieber Bruder!« rief sie – sie mochte nicht Frieder sagen wie die andern, und Friedrich klang ihr zu vornehm, zu gewagt – »lieber Bruder, ich wollt, ich wär bei unserer Mutter! Sieh, ich bin dir die ärmste Kreatur auf der ganzen Gotteswelt! Morgen soll der Verspruch sein, und das ist mein Tod. Ich kann ihn nicht ansehen, er ist mir zu arg zuwider!«
»Soll ich ihn zerbrechen?« fragte er grimmig durch die Zähne.
»Um Gotteswillen, fang keine Händel an! Du würdest mich nur aus dem Regen in die Traufe bringen.« Sie schwieg eine Weile und fuhr dann verzagend fort: »Es gibt nur ein einziges Mittel, um aus dem Jammer hinauszukommen.«
»Vermutlich. Was denkst du?«
»Ich spring in die Fils, und das noch heut nacht.«
Friedrich lachte überlaut. »Du arm's Närrle! Das
»Du bist ein leidiger Tröster.«
»Ja sieh, Kind, es steht ganz bei dir, und du hast's in der Hand, ob das Mittel zuverlässig sein soll oder nicht. Kannst du dich auf dich selbst verlassen?«
Er sprach diese letzten Worte mit besonderer Stärke, und es lag dabei etwas Geheimnisvolles in seiner Stimme, so daß seine Schwester ihn verwundert ansah. »Ich weiß nicht, wo du hinaus willst«, sagte sie.
»Der Mensch kann alles, was er will«, hob er an. »Heißt das, ich hab mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Der Mensch kann nicht alles, was er will, denn ich mag wollen, so viel ich will, so kann ich z.B. nicht Tag aus Nacht machen.« Er schwieg eine Weile, um seine Gedanken auf der ungewohnten Spur zu sammeln.
»Ja, das kann ich auch nicht«, sagte Magdalene dazwischen, mit einem Tone, welcher deutlich verriet, daß ihr das eine brotlose Weisheit dünke.
»Wart nur, ich bin noch nicht auf dem rechten Trumm. Ich hätt eigentlich sagen sollen: der Mensch kann alles, was er nicht will.«
»Jetzt hör auf!« rief Magdalene unwillig. »Du bist dem Narren übers Säckle kommen. Wenn du mir keinen bessern Rat weißt als solches Kauderwelsch, so muß ich ungetröstet ins Bett gehen.«
»Ich schwitz wie ein Magister«, sagte er. »Ich möcht dir das Ding recht glatt
eingeben und bring's nicht
»Da, halt uns den Regen vom Leib, weil du so ein überstudierter Kopf bist«, sagte Magdalene spottend.
Es fing nämlich soeben zu tröpfeln an.
»Gegen den Regen sind Schirme gewachsen, oder auch zum Beispiel die Laube dort. Komm, wollen uns drin bergen, denn es macht nicht bloß naß herunter, sondern auch recht kühl, und ich bin noch lang nicht fertig.«
Die beiden Geschwister gingen miteinander nach der Laube. Sie wär noch sommerlich genug überrankt, um vor dem Regen zu schützen, der jetzt in größeren Tropfen auf die Blätter niederschlug.
»Den Regen kann man sich allerdings vom Leib halten, wenn man irgendwo unterzustehen vermag«, fuhr Friedrich fort. »Aber ich seh jetzt doch, daß mein Gleichnis nicht auf alles paßt. Denn, wenn mich zum Beispiel ein Blitz trifft, so kann ich ihn nicht –«
»Behüt uns Gott!« unterbrach ihn seine Schwester. »Unberufen, unberufen, unberufen!« – Nachdem sie sich beeilt hatte, diese Zauberformel gegen böse Einflüsse und Vorbedeutungen dreimal auszusprechen, machte sie ihm lebhafte Vorwürfe wegen seiner sündlichen Rede.
»Das ist nur so figürlich gesagt«, erwiderte er. »Ich hab dir bloß zeigen wollen,
daß es Dinge in der Welt gibt, die man sich nicht vom Leib halten kann, wo man
konträr wollen muß, man mag wollen
»Gott Lob und Dank, endlich kommst du doch auf den rechten Text. Aber sag nur einmal, wie?«
»Du nimmst ihn eben nicht.«
»Aber wenn der Vater sagt: du mußt?«
»Dann sagst du: ich will nicht.«
»Kann ich mir dann auch die Streich vom Leib halten?«
»Ja sieh, lieb's Kind, das ist's eben, darauf hab ich von Anfang an hinaus gezielt, und jetzt ist der Text vollständig. Vogel friß oder stirb! das ist der Text. Wenn aber das Vögele nicht fressen will, und es will eben um keinen Preis nicht, so muß es zwar sterben, aber die Sach ist doch nach seinem Schnabel gegangen. Das Leben ist der höchste Preis, den ein Vogel oder ein Mensch einsetzen kann, und mehr als das Leben kann man einem auch nicht nehmen. Wenn einer nun seinen Sinn fest darauf richtet, daß er denkt: die und die Nuß will ich nicht beißen! so muß ihm zum allerersten das Leben wohlfeiler sein als der Schnabel. Dann wird's aber auch ganz gewiß nach seinem Schnabel gehen und wird oft nicht einmal das Leben kosten. So sagst du jetzt, du mögest den Dürren nicht.«
»Für mein Leben nicht!« rief das Mädchen leidenschaftlich.
»Just, wie ich sagen wollte! Du bekennst also selber, daß dir dein Leben nicht so
lieb ist, als es dir lieb
»Ja, ich auch.«
»Du wirst sie aber doch nicht so fürchten, wie den Tod.«
»Nein, das gerade nicht.«
»Nun sieh, jetzt kannst du an dir selbst die Probe machen, ob's ein Ernst ist oder eine bloße Redensart mit dem, was du gesagt hast. Die Menschen brauchen viel leere Redensarten. Da sagt einer: Das und das lass' ich mir ums Leben nicht gefallen! Und nachher, wenn's drauf und dran kommt, läßt er sich's gefallen um des Esaus Linsengericht oder auch noch um weniger, oder weil er einen Buckel voll Schläg fürchtet. Nimm dir einmal die Sach genau in Augenschein. Was kann dir der Vater tun? Umbringen wird er dich nicht, du bist ja sein eigen Fleisch und Blut. Aber puffen wir er dich, dessen kannst du gewiß sein, und mach dir nur keinen blauen Dunst darüber.«
Magdalene seufzte.
»Auch sonst wird's dir übel gehen; du wirst ein wahres Hundeleben haben, mehr noch
als bisher. So leid mir's tut, dir das für gewiß zu sagen, so
Magdalene seufzte abermals.
»Ich glaub's gern«, fuhr er fort, »daß es dir schwer eingeht, aber dennoch mußt
du's recht genau ins Aug fassen. Übrigens kannst du dir dabei voraus denken, wie
du bei jedem scheelen Blick, bei jedem Streich, an jedem Hungertag sagen wirst:
ist mir doch lieber, als wenn ich bei dem Zaunstecken sein müßte, den ich nicht
mag. Und dann, wie lang wird's dauern? Nur so lang, als sie meinen, daß sie dich
zwingen können. Wenn deine Geduld größer ist als ihre Bosheit, so wird ihre
Bosheit zunichte. Der schlanke Freiersmann macht am Ende den Kuhhirten von Ulm,
oder es find't sich unterdessen eine andere Gelegenheit, die dem Vater in die
Augen sticht, so daß er ihm selber den Laufpaß gibt. Zeit gewonnen, ist alles
gewonnen. Mit dem Teil Ungemach, das du dir nicht vom Leib halten kannst, kaufst
du dein junges Leben los von größerem Ungemach und behältst es unverschandiert, so
daß dir der grüne Schleicher sein Lebtag nicht ins Bett kommen kann. Ich sag dir,
Magdalene, was ich da gesprochen habe – es ist zwar gar nichts Neues, und viele
reden desgleichen, aber sie wissen nicht, was sie sagen; denn es ist ein
Geheimnis! Wer's aber recht versteht, der kann Wunder damit tun, und Wunder sind
auch schon damit getan worden! Mit drei einfältigen Wörtlein: Ich tu's nicht! und
ich tu's eben nicht! Damit kann ein rechter Kerl – Mannskerl oder Weibskerl gilt
gleich viel – einen
Die Schwester trat fest und aufrecht vor den Bruder hin. »Und ich tu's eben nicht!« rief sie, seinen Ton nachahmend, indem sie dabei auf den Boden stampfte.
»So gefällst du mir«, sagte er lachend. »Komm, setz dich wieder. Sei nur standhaft und laß dir sonst weiter keine graue Haar wachsen. Ich bin ja um den Weg. Wenn sie dir den Futterkasten gar zu arg versperren, so will ich dein Rabe sein, und wenn des Alten Hand zu schwer wird über dir, so will ich dazwischen springen und die schwersten Streiche auffangen. Du weißt ja, er ist leicht abzuleiten: wenn er Hist töbert, so braucht man ihm nur mit einem ungäben Wort zu kommen, dann läßt er Hist fahren und tobt Hott. Laß mich nur machen, ich will dir den Regen mit dem Dachtrauf vom Leib halten, ich hab ja ein dickes Fell.«
Magdalene wurde vollends ganz zuversichtlich, während sie dieses Schutz- und Trutzbündnis verabredeten. »Verlaß dich nur auf mich«, sagte sie, »ich will zäh sein wie eine Katze.«
»Recht so«, erwiderte Friedrich. »Was will das bißle Ungemach heißen, wenn die Alte sich dafür das Gallenfieber an den Hals ärgert. Es ist doch ein wüst's Weibsbild, und was sie für abscheuliche Reden führt!«
»Freilich darfst du's sagen, und ein recht's Mädle darf wohl ein Aug auf ein Mannsbild haben und lugen, ob was Wohlgefälliges an ihm ist oder nicht. Die Heuchlerin, die! Glaub mir nur, wenn eine so verdammlich und augenverdreherisch redet und so den Willen Gottes vom Zaun bricht, die ist gewiß ein fauler Apfel.«
»Ach geh, du wirfst das Beil auch gleich zu weit hinaus. Nachsagen kann man ihr nichts, und sie hat dem Vater immer genau Haus gehalten, nur gar zu genau.«
»Meinetwegen, aber was sie da von ihrer Jugend schwätzt, das ist die lautere pure Heuchelei, und eh ich's ihr glaube, eher glaub ich, daß sie ein Hufeisen verloren hat. Für was braucht sie bei dir gleich auf so schandliche Gedanken zu kommen? Es sucht keiner den andern hinterm Ofen, er sei denn selber dahinter gesteckt. Bleib du bei deiner Art und schäm dich nicht. Der lieb Gott hat nichts dawider, wenn dir ein frischgrüner Apfelbaum besser gefällt als eine dürre Pappel. Was, Dummheit! Gleich und gleich gesellt sich gern.«
»Mit den Alten werd ich's niemals halten, soviel ist gewiß. Jetzt möcht ich nur mein Schwesterle recht anständig versorgt sehen. Wart einmal, wir haben ja die Auswahl unter den jungen Burschen, wollen geschwind Musterung halten.«
»Ach, schwätz nicht so überzwerch heraus.«
»Mit welchem soll ich denn gleich anfangen? Ja, da ist zum Exempel heut abend der untere Müller dagewesen, der Georg.«
Er bemerkte ein leichtes Zucken an seiner Schwester und drehte ihr Gesicht zu sich herum. »Was?« rief er, »hab ich gleich auf den rechten Busch geklopft? Es ist nur schad, daß ich in der Dunkelheit nicht sehen kann, wie du dazu aussiehst.«
»Laß mich zufrieden«, sagte sie. »Ich hab was Nötigeres zu tun jetzt, als nach den jungen Burschen auszuschauen. Behalt deinen Spott bei dir.«
»Wenn dir's Ernst mit ihm ist, morgiges Tages bring ich ihn herbei, und wenn ich den Kälberstrick dazu nehmen müßte! Ich bin ihm ohnehin noch eine Rache schuldig. Er hat mich einmal helfen liefern, und wiewohl ich ihm das nach Gestalt der Sachen nicht sonderlich nachtrage, so wär mir's doch zweimal recht, ihn zur gnädigen Straf an eine lebenslange Kette zu legen.«
»Still, still!« rief sie und hielt ihm, übrigens erst, nachdem er ausgesprochen hatte, die Hand auf den Mund. »Komm, es ist schon so spät, wir müssen ins Bett. Der Vater könnt lärmen.«
»Auch wider den untern Müller hätt ich eigentlich nichts einzuwenden«, hörte er seinen Vater sagen.
»Wie kommst du denn auf den?« fragte die Sonnenwirtin dagegen.
»Mir deucht's seit einem Vierteljahr oder so etwas her, daß er ein Aug auf das Mädle hat. Er hat mir schon so eine Art Wink gegeben, freilich nicht mit dem Holzschlegel, denn er hat gar einen besonderen Stolz. Aber er ist ordentlich, bringt sein Sächle vorwärts und tät auch sonst besser für ein jungs Mädle passen als so ein alter Krachwedel.«
»Ei, Alterle, wie tust du doch so jung!« erwiderte die Sonnenwirtin. »Übrigens hab ich ebenmäßig nichts wider den Müller, und dem könntest du außerdem einen großen Gefallen erweisen. Ich hör, er will bauen, und da werden ihm ein paar tausend Gulden eine Frau erst recht wert machen.«
»Dann wird er wenig Lust haben«, sagte sie. »Zum Bauen hat er das Geld nötig. So wacker er ist, so ist er doch noch zu jung, als daß ihm jemand so viel leihen tät! Also muß er's erheiraten.«
»Soll anders wohin gehen.«
»Der Chirurgus dagegen sagt, es sei eine Schande für einen Mann, wenn er beim Heiraten aufs Geld sehe. Er begehrt nichts dazu, er sagt, deine Tochter wär ihm lieb, und wenn sie nackt und bloß zu ihm käme, er wolle sie schon ernähren.«
»Nu, wenn sich kein anderer meldet, so kann er sie haben.«
»Ja sieh, aber er pressiert eben und wird auch nicht gerad warten wollen, bis es uns gefällig ist. Mit dem Probieren ist's so eine Sach. Die Mannsleut sind nicht so uninteressiert heutzutag. Wenn nun kein anderer käm, und der Chirurgus ging sonstwo auf die Brautschau, so blieb eben das Mädle sitzen, und das wär doch ein Spott und eine Schand.«
»Hm!« brummte der Sonnenwirt.
»Der Habich ist besser als der Hättich«, fuhr die Frau fort, »und wenn man einmal
etwas tun will, so tut man's besser gleich, damit's nachher nicht zu spät ist. Mir
kann's zwar soweit einerlei sein; es ist dein Kind und nicht meins. Was geht's
mich an, wenn sie eine alte Jungfer werden will? Meinetwegen kann sie in der
Wirtschaft bleiben, solang
»Fragen!« brauste der Sonnenwirt auf. »Man wird so ein Ding noch lange fragen. Sie soll froh sein, wenn man sie versorgt. Nun ja, der Haue muß ein Stiel gedreht werden. Also, wenn kein anderer um den Weg ist, so mag's mein'thalben der Chirurgus sein. Aber da soll er sich nur das Maul abwischen: bar Geld kriegt er keins von mir.«
»Sei ganz ruhig. Bis wann soll denn die Sach jetzt richtig werden?«
»Das laß ich dir über.«
»Sieh, Schwan«, hob die Sonnenwirtin mit einem freundlichen und überzeugenden Tone an, »ich hab das schon vorausbedacht, denn ich muß ja doch an alles denken. Weißt, morgen ist ja der Monatstag, da kommen die geistlichen Herren wieder zusammen.«
»Hm«, brummte der Sonnenwirt.
»Der Amtmann wird auch dabei sein, vielleicht sogar der Vogt von Göppingen.«
»Hm, ja.«
»Und weil unser Haus eigentlich doch auch ein wenig über den Leisten geschlagen
ist, so könnte man dem Ding einen Anstrich geben, daß es ein
Der Sonnenwirt hatte immer beifälliger gebrummt. »Dabei soll's bleiben!« sagte er endlich. »Aber jetzt laß mich schlafen, hast mir die Zeit lang genug gemacht.«
Auch Friedrich hatte genug gehört. Leise, wie er gekommen wär, schlich er hinaus und begab sich auf seine Kammer, wo er lange nicht schlafen konnte.
Als er in der Frühe seiner Schwester auf der Treppe begegnete und sie ihm guten Morgen sagte, klang ihre Stimme gar nicht so entschlossen wie vergangene Nacht. »Du machst ja ein Gesicht wie die Katz, wenn's donnert«, raunte er ihr zu; »stell dich krank, Magdalene, stell dich krank und mach, daß du nur über den Tag hinüberkommst.«
»Es wär keine Verstellung«, erwiderte sie, »wenn ich mich wieder legte.«
»Tu's, tu's!« rief er und sprang die letzten acht Staffeln mit einem Satz hinab.
Er ging den Fußweg am Bache hin, der mitten durch den Flecken läuft. Die Gänge der
Mühle klapperten ihm eifrig entgegen. Von der Brücke aus sah er den jungen Müller
im Hofe beschäftigt, allerlei Holz zusammenzusägen. Er blieb unschlüssig stehen,
als aber jener aufblickte, setzte er sich in
»Guten Morgen«, rief er in den Hof hinein.
»Schön Dank.«
»Treibt's gut um?«
»So so, la la«, war die verdrossene Antwort.
»Ich glaub, an dir ist ein Zimmermann verloren gangen«, sagte Friedrich, indem er näher trat und sich gegen die Mauer lehnte.
»Hm, 's ist nur so ein wenig gebosselt.«
»Man sagt ja, du wollest bauen, Georg?«
»Willst mir dabei an die Hand gehen, Frieder?«
»Ja, ich! Was hätt'st du von mir? Soll ich dir Steine zutragen?«
»Hm, ja, aber solche, wo der Karl Herzog drauf geprägt ist.«
»Oder der alt Kaiser? Du hast's gut vor, Brüderle, solche Bausteine sind mir zu schwer, die muß ich liegen lassen.«
Die beiden sahen einander an, und ihre scheinbar gleichgültigen Mienen spielten ein langes stummes Frag- und Antwortspiel.
»Ich muß eben sehen, wie ich ein Dukatenmännle ins Hauskrieg«, sagte der Müller endlich. »Vielleicht wissen mir die Zigeuner eins.«
»Oder ein Bettelmädle mit ein paar tausend Gulden«, entgegnete Friedrich, den Stich verbeißend.
»Weißt mir eine?« fragte der Müller und sah ihn forschend an.
Friedrich schlug die Augen nieder und wühlte mit dem Fuß im Sägmehl, das am Boden
lag. »Ist denn
»Justement so nötig, als dein Geschwätz unnötig ist«, war die Antwort.
»Oh, ich will nicht lang mit dir ränkeln, du zuckerigs Bürschle, du. Bau du mein'twegen so hoch, wie der babylonisch Turm gewesen ist.«
Dieses brummend, nahm er einen verdeckten Rückzug, das heißt, er setzte den eingeschlagenen Weg an der Mühle vorüber fort, um in einem weiten Bogen wieder nach Hause zu kommen.
Der junge Müller sah ihm verwundert und ärgerlich nach. »Ich glaub, der hat Maulaffen feil«, brummte er, indem er wieder zur Säge griff.
»Die Katz maust links, die Katz maust links!« sagte Friedrich zu sich, mit bedenklichem Gesichte seine Schritte fördernd. »Ich wollt nur, daß der Tag im Kalender durchgestrichen wär.«
Von Not und Eifer getrieben rannte er dahin, obgleich er eigentlich nicht wußte,
warum er zu eilen habe; es wär eine Aufregung in ihm, die seinem Gesicht in diesem
Augenblick ein besonders kräftiges Aussehen gab. Die Leute, die auf der Straße
oder an den Fenstern waren, mußten ihn unwillkürlich mit Wohlgefallen betrachten,
und ein Mädchen, das ihm begegnete, grüßte ihn auf eine Weise, die trotz seiner
gedankenvollen Selbstvergessenheit nicht unbemerkt von ihm blieb. Es wär ein
schlankes Mädchen mit gelben Zöpfen, noch sehr jung und von auffallend hellen
Gesichtszügen; in ihren Mienen lag eine eigentümliche Mischung von Zutraulichkeit
Nach dem Essen, als er Gelegenheit fand, einen Augenblick mit seiner Schwester allein zu sein, fragte er sie: »Ist dir's noch wie gestern?«
Friedrichs Beklemmung stieg immer höher. Der Geist der Gewalttätigkeit begann in
ihm wach zu werden. Er ging unruhig durch das Haus und suchte ein Brett, das ihm
gerecht wäre. Dann stieg er auf den Boden, um Erbsen zu holen. Er wollte dem
Chirurgus einen halsbrechenden Empfang bereiten. »Wenn sie mich auch wieder nach
Ludwigsburg schicken«, dachte er, »was tut's!« Als er aber mit seinen
Vorbereitungen fertig wär, fiel es ihm ein, daß die geistlichen Herren, die heute
ihr »Kränzchen« in der ›Sonne‹ hatten, mit nächstem anrücken würden, und er
entsagte seinem Attentat. Vor der Klerisei hatte er einen wohlbegründeten Respekt.
Denn, dachte er in seiner rohen Weise, statt des Chirurgen könnt mir auch einer
von den Pfarrern abe hageln, und das tät mir schlimmer gedeihen, als wenn ich
meinem Vater einen Strick um den Hals gemacht hätt und hätt ihn an den Schild
hinausgehenkt. Nicht lange, so erschienen die ersten der erwarteten Ankömmlinge.
Von ihren weitschößigen schwarzen Röcken umrauscht, stiegen sie ernsthaft die
Treppe empor, und ihre weißen Bäffchen oder Überschlägchen, wie man dieses
geistliche Würdezeichen
Friedrich war mit der Aufwartung im gewöhnlichen Wirtszimmer bei den Fuhrleuten
betraut worden, erhielt aber nach einiger Zeit durch Vermittlung seiner Mutter,
die ihm doch nicht recht traute, vom Vater den Befehl, in den Stall zu gehen und
die Pferde zu füttern. Die unschuldigen Tiere mußten sich dabei manchen Puff
gefallen lassen. Als er wieder heraufkam, sah er, was ihm sein Verstand schon
gestern abend hätte voraussagen können, seine Schwester als »glückliche Braut«.
Der Vater hatte sich inzwischen die Freiheit und die Ehre genommen, sie als solche
im Kabinett vorzustellen, das man, um der Sache mehr Öffentlichkeit und Ansehen zu
geben, gegen das Wirtszimmer offengelassen hatte. Die Herren wünschten Glück,
stießen mit den Gläsern an und machten etliche versteckte skurrile Witze, alles
das, wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt. Magdalene knixte mit
ängstlichem Lächeln und zwang die Tränen zurück, die freilich sehr nahe waren,
aber wie hätte sie vor so gewaltigen Herren wagen können, einen Willen geltend zu
machen? Der Chirurgus stand neben ihr, ganz grün vor Seligkeit. Die Sonnenwirtin
freute
Friedrich redete den ganzen Abend kein Wort mit seiner Schwester. Als sie ihn einmal lange schüchtern und bittend ansah, antwortete er mit einem Blick, der ihr deutlich sagte, daß er, wenn er Gelegenheit hätte, seinen tollen Jähzorn tätlich an ihr auslassen würde. Sie vermied es deshalb, allein mit ihm zusammenzutreffen. Da man ihr jetzt keinen Zwang mehr antat und ihr Bräutigam, geduldig auf besseres Wetter wartend, sich beizeiten nach Hause gemacht hatte, so ging sie noch vor dem Abendessen zu Bette.
Der Jüngling, dessen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu verfolgen unternommen
haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder betrat, über eine jener
unsichtbaren Grenzen geschritten, welche
Während er auf diese Weise teils gleichgültig, teils in dumpfer Lustigkeit
dahinlebte, kehrten auch seine äußeren Umstände ganz in das gewöhnliche Geleise
zurück. Zu Hause ging er unangefochten aus und ein und stand mit der Stiefmutter
in jenem mürrischen Verkehr, wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in
der Gemeinde wär er geduldet; niemand zeigte sich ihm widerwärtig, mancher blickte
ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, schien nicht gedacht zu
werden. Ihm selbst war nicht wohl und nicht wehe; mit dem Zuchthause hatte er auch
den Waisenpfarrer vergessen. Ein strenges Gesicht machte ihm niemand mehr als der
Amtmann. Aber dies hatte wenig zu sagen, denn der Amtmann galt persönlich nicht
sehr viel bei der
Unter diesen Umständen wär er eines Morgens mit seinem Korbe ins Amthaus eingetreten. Die Amtmännin prüfte den Inhalt und sagte wohlgefällig: »Das gibt ein schönes Brätchen, ich hab alle Konsideration vor Seines Vaters Geschmack, sag Er ihm einen Gruß, und ich sei wohl zufrieden.«
»Oh, ich hab's selber ausgewählt, Frau Amtmännin«, erwiderte Friedrich.
»Um so besser, so darf Er's auch selber in die Küche tragen. Geh Er, mein Sohn, und bring Er's der Kathrine hinaus. Daß Er sich aber nicht untersteht, dem Mädchen zu flattieren; ich habe mir sagen lassen, daß Er ein galanter Junker sei.«
Friedrich lachte und trug das Fleisch in die Küche. »Da, Jungfer«, sagte er, »und die Frau hat mir einen Kuß aufgetragen als Zugabe.«
Das Mädchen ließ mit einem leisen Schrei den Korb fallen und flüchtete sich hinter den Herd. Sie hatte etwas Demütiges und Gedrücktes in ihrem Wesen und sah, obwohl noch jugendlich und nicht unschön, doch blaß und verblüht aus. Sie war eine Verwandte der Amtmännin, die sie unter dem Namen einer Hausjungfer, eigentlich aber als Dienstmagd, zu sich genommen hatte.
»Es ist nicht so ernstlich gemeint, Jungfer«, lachte
Er hob das Fleisch vom Boden auf, warf es ihr auf den Herd und verließ die Küche, indem er brummte: »Was sich die nicht einbildet, und ist nur so ein Flügel.«
Als er wieder ins Zimmer kam, um zu fragen, was die Frau Amtmännin auf morgen zu befehlen habe, fand er ein Glas Wein eingeschenkt, zu dem er sich nicht lange nötigen ließ.
»Hat's draußen was abgesetzt?« fragte sie. »Ich meinte einen Fall zu hören.«
»Oh, der Jungfer ist nur ein kleiner Poss passiert. Darauf hab ich weiter gar nichts gesagt als ›Sachte mit der Braut!‹, und da ist sie gleich ganz schiefrig geworden.«
Die gestrenge Frau lachte recht gnädig. »Es kommt ja nur auf den Mosje Friedrich an«, sagte sie, »ob er aus dem Sprichwort Ernst machen will. Das Mädchen ist aus einer sehr guten, aber während der Minderjährigkeit des Herzogs unterdrückten und herabgekommenen Familie. Nun, dafür hat sie sich desto besser in der Welt fortbringen gelernt; das ist auch eine Aussteuer. Sie ist schon bei einem adeligen Geheimenrat in Diensten gewesen und weiß, was Mores sind. Das gäb eine Wirtin, die den vornehmsten Gästen gewachsen wäre.«
Sie sagte dies alles auf eine scherzhafte Weise, in welcher gleichwohl etwas
Aufmunterndes lag. »Aber freilich«, fügte sie hinzu, »Wirte sehen mehr auf
»Konträr, im Gegenteil«, versetzte der junge Mensch, »ich seh bei einem Mädle aufs Herz und nicht auf die Batzen. Liebreich ist über hübsch, und hübsch ist über reich. Aber Exküse, Frau Amtmännin, mein Sinn steht darauf, daß, wenn ich einmal heiraten tu, so muß es ein freies Mädle sein. Ich will mein Weib nicht aus der Dienstbarkeit holen. Arm darf sie wohl sein, aber keine solche, die schon auf der Adelsbank herumgerutscht und in vornehmen Häusern herumgepudelt worden ist.«
Die Amtmännin fuhr aus dem Armsessel auf, und ihre Kontusche von Perse rauschte wie eine Windsbraut durch das Zimmer. »Er Flegel, der Er ist!« schrie sie, »meint Er denn, ich werde meine Perlen vor solche Schweine werfen! Eine Zigeunerin wird Er noch kriegen oder des Seilers Tochter, wenn's hoch kommt, wozu alle Aussicht vorhanden ist! Reis Er sich auf der Stelle, und laß Er sich's nicht beigehen, mir wieder unter die Augen zu treten.«
Friedrich hatte eben das Glas ergriffen, um zur Bekräftigung seiner Rede einen
herzhaften Schluck zu tun, als dieser unerwartete Sturm bei vermeintlich heiterem
Himmel ausbrach. Er setzte verblüfft das Glas auf den Tisch, ergriff seinen Korb
und machte sich rücklings gegen die Türe, wobei er den eben eintretenden Amtmann
empfindlich auf den Fuß trat. Dieser neue Fehltritt wär nicht geeignet, ihm seine
Fassung wiedergewinnen zu helfen; vielmehr
»Aber die kann einem den Marsch machen!« sagte er verwundert zu sich, als er auf der Straße war. Er trug langsam seinen Korb nach Hause, ohne sich recht erklären zu können, wodurch er die Frau so plötzlich gegen sich aufgebracht habe. Desto deutlicher stand ihm die doppelte Tatsache vor Augen, daß er um eine nicht zu verachtende Gönnerschaft ärmer und um einen furchtbaren Feind reicher geworden sei. Er verabredete hinter dem Rücken seines Vaters mit einem Knecht, daß dieser künftig statt seiner das Fleisch ins Amtshaus tragen solle; aber trotz dieser Auskunft machte ihm der Vorgang nicht wenig zu schaffen. Verschüttet Öl ist nicht gut aufheben, sagte er den ganzen Tag bedenklich mit dem Sprichwort zu sich.
Was konnte er unter dem Gewichte dieser Betrachtung Besseres vornehmen, als die Flasche aufzusuchen, in welcher der Deutsche, der Jüngling wie der Greis, der gemeine Mann wie der vornehme, schon so manche Verlegenheit ersäuft oder erst recht großgezogen hat! Sein Vater war ausgeritten, Ochsen zu kaufen, und wurde erst in später Nacht zurückerwartet; die Stiefmutter aber stand nicht in so hohem Ansehen bei ihm, um ihretwegen die Hausordnung einzuhalten. Er erlaubte sich, das Nachtessen zu umgehen, und besuchte dafür ein Bäckerhaus, wo er gerne einzusprechen pflegte.
Die Stube war halbdunkel, als er sie betrat. Auf
Ein Licht wurde gebracht und vor ihn gestellt, ohne daß er den Kopf erhob. Gleich
darauf stellte dieselbe Hand den begehrten Wein im Schoppenglase vor ihn auf den
Tisch. Ohne aufzusehen, wurde er doch der Hand gewahr, die mit dem Glase vor
seinen Augen erschien. Sie hatte, trotzdem daß sie nichts weniger als glatt und
geschont aussah, etwas Zartes; die wohlgedrechselten Fingerchen schlangen sich
allerliebst um das Glas, und an die Hand schloß sich ein zierlicher, runder,
voller Arm. Eben wollte er verwundert fragen, wie die beleibte Bäckersfrau zu so
anmutigen Gliedmaßen komme, als ein fremdes feines Stimmchen das in den
Wirtshäusern übliche »Wohl bekomm's« dazu sprach. Er tat die Hand von den Augen,
sah hin, ließ den Arm auf den Tisch fallen, hob den Kopf und starrte mit freudigem
Schrecken die Erscheinung an. Es wär niemand anders als das hübsche Mädchen mit
den gelben Zöpfen, das ihm neulich bei seinem unglücklichen
»Ei«, sagte er lustig, »heut hätt ich eigentlich einen schwarzen Strich in den Kalender machen sollen, jetzt mach ich aber einen roten dafür. – Was ist denn das, Beckin?« rief er der eintretenden Frau entgegen. »Habt Ihr Euch eine Kellnerin aus dem himmlischen Reich verschrieben?«
»Das ist keine Kellnerin«, entgegnete sie, »es ist mein Dötle (Patchen), das mir ein bißle im Haushalt und in der Wirtschaft aushilft.«
»Wie heiß'st denn, du Herzkäferle?« fragte er.
»Christine«, antwortete das Mädchen mit schüchternem Lächeln und trat einige Schritte von ihm weg, indem sie zugleich jenen hingebenden Blick auf ihn fallen ließ, der ihm schon einmal durch die Seele gedrungen wär.
»Bist du von hier?«
»Ja wäger ist sie von hier«, sagte die Bäckerin, »sie ist ja des Hirschbauern Tochter.«
»Daß dich der Strahl!« rief er. »Ich hätt geglaubt, ich sollt Kind und Kegel im Flecken hier kennen. Ja, dort hinaus bin ich freilich in Jahr und Tag nicht gekommen.«
»Arme Leut sind unwert«, versetzte die Bäckerin, »denen läuft niemand nach.«
»Oh, Beckin, redet nicht so! Ihr wißt wohl, daß es mir anders ums Herz ist. Aber«, wandte er sich zum Mädchen, »wo steckst denn du, du Zuckerstengele, daß ich dich noch kein einzig's Mal ins Aug gefaßt hab? Man sollt dich ja wahrhaftig für eine Fremde halten.«
»Es ist heut nicht das erst'mal«, sagte Christine leise und freundlich.
»Ja, gelt?« erwiderte er lebhaft, »neulich sind wir einander auch begegnet?«
»Das ist wiederum nicht das erst'mal gewesen.«
»Ja, das Mädle hat Euch noch einen Dank abzustatten von lang her, für etwas, da Euer Herz nicht mehr dran denkt. Geh, erzähl's ihm, Christinele.«
»Ich nicht!« rief das Mädchen und zog sich kichernd hinter den Ofen zurück. »Erzählet Ihr's, Dotel«
»Muß ich das Maul für dich auftun, du Dichele?« sagte diese. »Nun also! Ich will
anfangen, wie man ein Märlein anfängt. Es ist einmal ein klein's Mädle gewesen,
hat Bäcklein gehabt wie Milch und Blut, das Spruchbuch hat's unterm Arm getragen,
und ein großer Apfel, so rotbackig wie es selber, der hat ihm aus dem
Schürzentäschle herausgeguckt. So ein Apfel unter der Schulzeit – Ihr werdet's
wohl noch wissen –, das ist für ein Schulkind so viel oder noch mehr als für einen
jungen Burschen ein Schoppen Wein im Beckenhaus. Kommt so ein barfüßiger Flegel
daher, ein paar Jahr älter als das Kind, und sagt: ›Gleich gibst mir dein' Apfel,
oder ich schlag dir ein paar Zähn in Hals!‹ Mein Christinele schreit und rennt,
was gilt's, was hast! Aber der Bub hintendrein und faßt sie am Fittich und
schüttelt sie und will ihr den Apfel nehmen. Da kommt aber einer über ihn, und wer
anders als der
»Gott's Blitz!« rief er fröhlich lachend, »jetzt geht mir ein Licht auf. Das ist ja der Fischerhanne gewesen, ja, ja, den hab ich einmal durchgeliedert, weil er ein Kind mißhandelt hat, wie ein Räuber und Buschklepper.«
»Ja, und dann habt Ihr dem Kind noch ein Brot dazu gegeben. Da, nimm, habt Ihr gesagt, damit dir der Apfel kein' öden Magen macht.«
»Kann sein«, sagte er, »das weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist's gern geschehen. Was, und das Kind bist du gewesen, du Engele, du goldig's?« rief er hinter den Ofen.
»Freilich«, erwiderte die Bäckerin. »Aus Kindern werden Leute und so weiter, Ihr wißt ja, wie das Sprichwort sagt. Aber die Guttat, die hat Euch mein Christinele in einem feinen Herzen nachgetragen, beides, das Brot und daß Ihr meinen Apfel verteidigt habt, – denn von mir ist er gewesen.«
Er hatte nicht mehr ganz ausgehört. »Ist's wahr«, rief er, indem er das Mädchen, das sich sträubte und anmutig lachte, hinter dem Ofen hervorzog, »ist's wahr, daß du mich noch kennst und hast selbiges Stück im Herzen behalten?«
»Ja, es ist wahr«, antwortete sie, »und ich hätt gern –«
Sie lachte überlaut. »Heimgegeben hätt ich's gern.«
»So, du möchtest mir die Laib heimgeben?« Er schlang den Arm um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß jetzt die beste Gelegenheit zu einer ihm anständigen Belohnung wäre. Die Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann schlief auf der Ofenbank. Er drückte sie an sich und suchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm abzuwenden, und wie er sie am Kinn fassen wollte, um das unbotmäßige Köpfchen in festen Verwahrsam zu nehmen, kam sie ihm plötzlich mit den Lippen zuvor. Sein Wunsch wär in Freiheit gewährt, ehe er zu Zwangsmitteln schreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend wär ihm an den Mund geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten nur einen Augenblick; im selben Augenblick war sie ihm unter dem Arm durchgeschlüpft und huschte in die Küche hinaus.
Mit diesem Kusse wär der Würfel über sein künftiges Schicksal geworfen.
In der ersten Aufwallung seiner Leidenschaft wollte er dem Mädchen nacheilen, aber
eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte in dem hellen, freundlichen
Gesichte, obgleich es fast noch unmündig aussah, einen Zug zu erkennen, der keine
Zudringlichkeit aufkommen ließ, und besorgte, daß er die gute Meinung, die das
Mädchen seit den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte,
Die Stube füllte sich allmählich mit Gästen. Was auf dem Dorfe Wirtshausbesucher sind, die bilden so ziemlich denselben unveränderten Kreis und wechseln nur den Ort. Heute findet man sie in der ›Sonne‹, morgen geben sie dem ›Dreikönig‹ etwas »zu lösen«, übermorgen sind sie beim ›Becken‹, überübermorgen in der ›Krone‹, donnerstags gehen sie zum, wütigen Esel', freitags kriechen sie zum ›Kreuz‹, und am Sonnabend tut ihnen die Wahl weh zwischen dem Dutzend von Wirtshäusern, die noch übrig sind.
Friedrich nahm sich den Abend zusammen, um seinen Herzenszustand nicht zu
verraten. Er verriet ihn aber jeden Augenblick. Er trank ein Glas um das andere,
um Christinens Gegenwart zu genießen und etwa ihre Hand beim Darreichen zu
berühren. Hierzu mußte er jedesmal den Augenblick wählen, wo sie gerade im Zimmer
anwesend war, und dies nötigte ihn, oft einen starken Rest mit einem einzigen Zuge
zu leeren. Die andern hatten sein Treiben schnell durchschaut und gaben ihr
mutwilliges Ergötzen bald durch einen Augenwink, bald durch ein schiefgezogenes
Maul zu erkennen. Die Gläser, die er aus Christinens Hand empfing, stiegen ihm
nach und nach in den Kopf. Er sang, lachte, schwatzte viel und ließ- seine gute
Laune an einem und dem andern der Anwesenden aus, endlich aber
Er ging mit eiligen Schritten ans Ende des Fleckens, wo etwas abgesondert das Häuschen ihres Vaters lag. Seine Tritte hallten durch die Nacht. Er umging das Haus, aber kein Licht war zu sehen. Er lehnte sich lange an den Backofen, der wie ein großer Bauch aus dem Hause hervorragte. Dann setzte er sich auf die Deichsel des Wagens, der unter dem Schupfe stand. Im Hause war alles stille, nirgends ein Laut, weder ein Tritt in einer Kammer, noch das Krachen einer Treppenstufe zu vernehmen. »Du leichtfüßig's Vögele du«, sagte er, »bist schon ins Bett geschlupft und schlafst. Gut Nacht, Christinele, gut Nacht, Schatz! Mein mußt du werden, und wenn ich die Stern vom Himmel reißen müßt!«
»Ich glaub, der hat 'n Leibschaden unterm Hut«, fing einer an.
»Schätz wohl, und unterm Brusttuch desgleichen«, sagte ein anderer.
»Der hat dem Dr– 'n Ohrfeig geben!« versetzte ein dritter.
»Reitet der das Maul spazieren, oder das Maul ihn?«
»Ja, der reitet sich selber hinein.«
»Und die Augen sind auch mit ihm durchgegangen.«
»Ich glaub, die hat's ihm angetan.«
»Beckin, ich glaub, Euer Dötle kann hexen. Sie gäb übrigens eine zierliche Sonnenwirtin, heißt das, wenn ihm der Alte, nach Gestalt der Sachen, die Regierung übergibt.«
»Oh, ihr Leut, redet doch nicht so gottlos!« sagte die Bäckerin lachend dazwischen.
»Der wird ankommen, wie die S– im Judenhaus.«
»Er ist und bleibt halt des Sonnenwirts sein Frieder.«
»Ja, ja!« riefen alle zusammen, und nachdem sie in
Der trotzigste Bursche in ganz Ebersbach war mit einem Schlage so umgewandelt, daß
ihn sein eigener Vater nicht mehr erkannte. Er zeigte sich demütig, dienstfertig
und zu allem willig; seine angeborene Gutherzigkeit brach siegreich hervor, wie
wenn nach langem Unwetter der Himmel wieder blau erscheint. Sein Vater wurde
täglich zufriedener mit ihm: denn einmal ersparte ihm Friedrich ein paar Knechte,
so fleißig und anstellig war er jetzt; dann tat er der Kundschaft sichtlichen
Vorschub, sowohl in der Metzig, wo der weibliche Teil des Fleckens die
Fleischeinkäufe am liebsten bei ihm besorgte, als auch in der Schenke, wo seine
heitere Laune an die Gäste, während er selbst sich des Schlemmens enthielt, manche
Flasche mehr absetzte; und endlich konnte es dem Alten doch auch nicht ganz
gleichgültig sein, den einzigen Sohn, in dessen Hände dereinst die ›Sonne‹ kommen
sollte, so einschlagen und in sich gehen zu sehen. Von dem Vorfall mit der
Amtmännin erfuhr er nichts, denn diese hatte ihre Pille stillschweigend
verschluckt; und als es ihm nach einiger Zeit auffiel, daß Friedrich kein Fleisch
mehr ins Amthaus trug, so entschuldigte dieser sein Wegbleiben damit, daß die
Amtmännin nicht undeutlich
Inzwischen waren Friedrichs Versuche, Christinen in den nächsten Tagen nach jener Begegnung im Bäckerhause wieder anzutreffen, vergeblich gewesen, und nach einem unangenehmen Auftritt mit dem obern Müller, der aus Groll, daß er ihn nicht unter seine schwiegerväterliche Aufsicht bekommen konnte, sich einige Anzüglichkeiten gegen ihn erlaubte, gab er diese Versuche völlig auf. Nicht daß er das Feld als Besiegter geräumt hätte, denn der Müller war sowohl mit der Zunge als mit der Faust zu kurz gekommen, aber er vermochte es nicht zu ertragen, seine Herzensangelegenheit zum Gegenstand roher Scherze gemacht zu sehen. Er hätte der ganzen Welt verbieten mögen, ein Wort davon zu reden; wußte er doch nicht, daß es für die menschliche Zunge, wie sie nun einmal bei vielen seiner Nachbarn beschaffen war, keinen köstlicheren Genuß gab, als eine Liebschaft zu verarbeiten, und daß ihr solch ein Festmahl um so süßer schmeckte, je mehr Gift und Bitterkeit sie beimischen konnte.
Da er Christinen nirgends zu Gesicht bekam und die Entfernung von ihr nicht länger
aushalten zu können meinte, so beschloß er endlich, geradezu in die Familie seiner
Geliebten einzudringen, ein Unternehmen,
Der Hirschbauer sah sein Weib eine Weile in stiller Verwunderung an, während Christine sich wieder auf die Seite machte, um wenigstens dem ersten Anlauf etwaiger Erörterungen auszuweichen, wobei sie jedoch wohlweislich die Türe ein wenig offen ließ.
»Das hätt'st du auch können bleiben lassen«, sagte er endlich verdrießlich, »es kommt mir grad vor, wie wenn man dem Marder den Schlüssel zum Taubenschlag ausliefert.«
»Wenn du dich nur nicht auf Gesichter verstehen wolltest«, entgegnete sie. »Hast ihm denn nicht in die Augen gesehen? Der meint's ehrlich.«
»Ein Sohn aus einem fürnehmen Haus!«
»Ei, hat nicht auch der reiche Boas die Ruth geheiratet, die arme Ährenleserin?«
»Man lebt jetzt nicht mehr im Alten Testament.
»Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Die Zeit bringt nicht bloß Rosen, sie bringt auch Disteln.«
»Je nachdem man's pflanzt. Das Sprichwort sagt: Mädchen müssen nach einer Feder über drei Zäune springen. Von den armen gilt das zweimal.«
»Ich will mein Kind keinem nachwerfen«, fuhr er auf.
»Davon ist auch nicht die Red«, sagte sie. »Nachwerfen und Versorgen ist nicht einerlei. Wenn du das aber so sicher hast, wie den Weck auf'm Laden, so kannst du freilich sitzen und warten, bis ein Freier aus Schlaraffenland angeritten kommt, um sich die vollen Kisten und Kasten zu besehen.«
»Schwätz du dem Teufel ein Ohr weg«, sagte er, der Türe zugehend. »Ich aber will keine Unehr und keinen Unfrieden von der Sach haben.«
»Du bist kurz angebunden«, warf sie ihm nach, »und aber, was du sagst, gibt auch noch kein' langen Faden. Denk nur auch dran, daß das fürnehm Füllen einen großen Fleck hat, der's nicht schöner macht. Der Sonnenwirt muß ja selber wissen, daß er nicht mehr den höchsten Preis daraus löst. Aber was zum Reitpferd verdorben ist, gibt oft noch ein gutes Ackerpferd, und einem geschenkten Gaul guck ich nicht ins Maul.«
Der Alte blieb in der Türe stehen. Die letzten Bemerkungen
Die Mutter rief Christinen, die gar nicht weit gewesen war. »Mach, daß du an die Kunkel kommst, Sonnenwirtin«, sagte sie. »Meinst du, es sei schon so weit und du könnest Feierabend machen?«
»Mutter«, erwiderte das Mädchen, auf die grobe Füllung der Kunkel deutend, »ich weiß wohl, das gibt kein Hochzeitskleid.«
»Unser Herrgott hat die Welt aus nichts erschaffen und den Menschen aus einem Erdenkloß. Die Amtmännin ist, just wie ihre Kathrine, eine arme Hausjungfer gewesen bei einer großen Herrschaft, und jetzt ist sie eine allmächtige Frau, die einen ganzen Flecken regiert, und wie! Laß du nur den lieben Gott walten. Aber das sag ich dir«, rief die alte Bäuerin mit erhobener Stimme, indem sie dicht vor ihre Tochter trat und ihr die geballte Faust vor das Gesicht hielt, »das sag ich dir, daß du mir keinen dummen Streich machst, sonst lass ich kein ganzes Glied an dir.«
Christine antwortete nichts, sie spann emsig fort und ließ die Spindel nur leise auf dem Boden tanzen.
Während dieser Zeit war es ihren Brüdern im Bäckerhause, wohin Friedrich sie
geführt, nicht wenig wohlgegangen. Wein war eine seltene Kostbarkeit für sie, und
die Kameradschaft des Sonnen
Im Weggehen wandte er sich an den einen von seinen beiden neuen Freunden. »Tätest mir einen Gefallen, Jerg?«
»Zwei für ein', Frieder.«
»Ich hab eine schöne Pirschbüchse«, sagte er lächelnd, »die mir unwert geworden
ist. Sei so gut und trag sie morgen nach Rechberghausen zum Krämerchristle; der
wird dir dafür geben, was recht und billig ist. Erinnere ihn, daß er mir
versprochen habe, sie wieder zurückzunehmen, wenn ich sie nicht mehr wolle. Ich
muß morgen meinem Vater einen Gang nach Eßlingen tun und kann's also nicht selbst
besorgen. Auf die Nacht, wenn's dunkel ist, geb ich dir das Gewehr, und morgen
abend, wenn
»Gern.«
»Der dreiäugig Spitzbub!« rief er am andern Abend, als er das Geld zählte, mit welchem ihn sein Freund vor dem Flecken an der Straße erwartete, »der nimmt ja einen Heidenprofit und milkt mich wie eine Kuh, aber ich will ihn schon dafür kriegen. Was hat er denn gesagt?«
»Er hat gesagt, er hab dir freilich versprochen, er wolle die Büchse wiedernehmen, aber nur für den Fall, daß sie dir nicht gut genug sei, und das könnest du selbst nicht sagen; aber daß die Katze je vom Mausen lassen könnte, das hab er nicht geglaubt und auch kein Versprechen darauf getan.«
Friedrich lachte überaus lustig. »Der Galgenstrick!« sagte er, »so, der will mich noch dafür strafen? Nun«, setzte er mit ernstem Tone hinzu, »ich hoff, das soll meine letzte Strafe gewesen sein. Auf dem Weg, den ich geh, kann ich keine Strafe mehr brauchen.«
Es war ein doppelter Zweck, den er mit diesem Geschäft erreichen wollte. Erstens
hatte er nun wieder etwas Klingendes in der Tasche, denn es wäre ihm unerträglich
gewesen, mit leeren Händen zu lieben. Zweitens aber – und das war der Grund, warum
er Christinens Bruder mit dem Verkauf des Jagdgewehres beauftragt – hatte er sein
Mädchen in verdeckter Weise wissen lassen, daß er um ihretwillen nicht bloß auf
den Pfad der Tugend zurückkehren, sondern auch jeden andern Weg meiden
Immer häufiger wurden die Besuche und heimlichen Berichte, die der Fischer der Sonnenwirtin abstattete und für die er nicht nur manche Guttat aus Küche und Keller nach Hause trug, sondern auch das Versprechen erhielt, daß es ihm dereinst, wenn sie durch allfällige Ereignisse zur ausschließlichen Herrschaft im Hause gelangen würde, noch viel besser gehen solle. Denn wer hinderte sie zu hoffen, daß, wenn der einzige Sohn aus der Art schlüge und sich selbst um die Erbschaft betröge, sie durch ein Testament ihres Mannes, dem sie im Alter ziemlich weit nachstand, in die Führung der Wirtschaft eingesetzt werden könnte, zu welcher sie sich für tüchtiger erkannte als die beiden Tochtermänner, den Chirurgus und den Handelsmann.
Aber auch unter den Mitbürgern des jungen Mannes erregte das neue Leben, das ihm
aufgegangen war, ein großes Gemurmel. Man konnte der Familie des Hirschbauern
nichts vorwerfen als ihre Armut, allein diese Eigenschaft genügte, um den Umgang
eines Wohlhabenden mit ihr für die öffentliche Meinung des Fleckens, und zumal in
den Augen des städtisch gekleideten Teils desselben, höchst verwerflich zu machen.
Gestern hatte man sie noch mit einer Mischung
Die Sonnenwirtin würde zweifelsohne nicht unterlassen haben, von diesem Vorfall in
täglichen und nächtlichen Gesprächen mit ihrem Manne erschöpfen den Gebrauch zu
machen, allein sie mußte es bei einer kurz und hart hingeworfenen Mitteilung der
Neuigkeit bewenden lassen, welche auf den Sonnenwirt diesmal einen beinahe nur
oberflächlichen Eindruck machte, weil ihm selbst ein viel schlimmerer Handel auf
den Hals gekommen war, infolgedessen zwischen den beiden Eheleuten wochenlang
außer dem Nötigsten nur wenig, und auch dieses Wenige nicht in Güte gesprochen
wurde. Gegen den Sonnenwirt hatte nämlich eine jener liebreichen Basen, die es
überall gibt und die niemals reichlicher blühten als in der sogenannten guten
alten Zeit, natürlich
Vielleicht wäre sie ihm zuteil geworden und hätte den Wildbach seines Schicksals
in ein fortan friedliches Bette geleitet. Doch wer kann dies sagen? Vielleicht
wäre es auch dein Vater in dieser milden Stimmung gelungen, den Sohn, der guten
Worten so zugänglich war, andern Sinnes zu machen, bevor er sich unwiderruflich
gebunden hätte. Allein der Sonnenwirt berührte den Gegenstand nicht mehr, weil er
nach seiner Sinnesart nicht daran dachte, daß es seinem Sohne mit dieser
Liebschaft Ernst sei, und diesem fehlte immer noch die Hauptbedingung, die ihm die
Zunge lösen konnte, nämlich das Jawort des Mädchens, das er liebte. Er hatte von
der Erlaubnis, nach seinem Lamm zu sehen, möglichst fleißigen Gebrauch gemacht, er
hatte Christinen durch Vermittlung ihrer Brüder, denen er das Geld dazu gab, in
den Lichtkarz und auf den Tanzboden gebracht, er hatte keine Gelegenheit versäumt,
mit ihr zusammenzutreffen, aber seine Wünsche waren noch weit von ihrem Ziel. Beim
Heimgehen von einem Tanze, wo er sie begleitete und eine Strecke hinter ihren
Brüdern blieb, flüsterte er ihr alles Liebe und Schmeichelnde zu, was ihm sein
Herz zu dieser Stunde eingab; sie ging still und vor sich blickend neben ihm her,
und als er heftig beteuerte, er müsse noch ihr Schatz werden, er tue es nicht
anders, oder er gehe weit fort nach Amerika, antwortete sie lachend: »Mein Schatz,
das kannst du schon sein, aber damit bin ich der deine noch nicht;
Friedrich strafte sie mit achttägigem Wegbleiben. Es kam ein großer Markttag und
mit ihm der letzte Tanz vor der geschlossenen Zeit, die von Weihnachten bis
Neujahr dauert. Sonst hatte er immer dafür gesorgt, daß sein Mädchen zum Tanze
kam; diesmal tat er keinen Schritt. Auch er war entschlossen, nicht hinzugehen;
als er aber von weitem die bekannten Töne des Ländlers vernahm, spiegelte er sich
vor, er wolle seinen Unmut vertanzen und vertrinken. Gesagt, getan; aber das
erste, was ihm beim Eintritt in die Augen fiel, war Christine, die anscheinend
sehr wohlgemut mit einem jungen Burschen tanzte. Er hätte laut aufschreien und
dreinschlagen mögen, aber er bezwang sich und wählte schnell eine Tänzerin.
Christinen zum Trotz tanzte er unaufhörlich, ohne sie ein einziges Mal
aufzufordern. Aber auch sie blieb nicht verlassen sitzen, denn die Buben, wie man
die jungen unverheirateten Männer nennt, kümmerten sich wenig um das, was man im
Flecken über ihre Familie sprach, und hatten Wohlgefallen an ihrer Jugend und
Schönheit. Sie war jedoch darauf bedacht, mit keinem zweimal nacheinander zu
tanzen, und auch er wechselte seine Tänzerinnen fleißig, denn so gerne er ihr
einen eifersüchtigen Verdruß bereitet haben würde, so
Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beschieden. Er zerbrach sich vergebens den
Kopf, was die Ursache dieser Vorladung sein möge. Der Pfarrer, ein dürres kleines
Männlein, kanzelte ihn heftig ab, daß er sich der Kinderlehre entziehe und dadurch
so göttliche als fürstliche Gebote übertrete; bis ins vierundzwanzigste Jahr habe
ein lediger Bursche die Kinder lehre zu besuchen, schärfte er ihm ein und
eröffnete ihm, es sei vom löblichen Kirchenkonvent beschlossen worden, künftig
strenger auf die Befolgung der Vorschrift zu halten und jedes Wegbleiben
unnachsichtlich mit einem Sechser »in den Heiligen«, bei längerem verstockten
Beharren aber sogar mit Einsperrung ins »Zuchthäuslen« zu bestrafen; wenn er sich
wieder beigehen lasse, die Kinderlehre zu schwänzen, so werde er, der Pfarrer, ihn
unfehlbar aufschreiben lassen und bei dem Herrn Amtmann und den Konventsrichtern
den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er seinen Bescheid und durfte
Hiermit war er in der Reihenfolge seiner Gedanken auf einen Gegenstand geraten, der ihm, so wie die Sachen zwischen ihm und Christinen standen, wenig Trost einflößen konnte.
Friedrich hatte traurige Feiertage, obgleich es ihm äußerlich gar nicht übel ging. Sein Vater bedachte ihn am Weihnachtsabend mit einem stattlichen Geldgeschenk, zum sichern Zeichen, daß alles wieder im alten Geleise sei. Er war nie so reich gewesen, aber gerade dies machte ihn unglücklich, denn das Geld erinnerte ihn nur daran, daß er es jetzt nicht mehr zu dem Zwecke brauchen konnte, zu welchem allein es ihm früher erwünscht gewesen wäre, nämlich Christinen seine Liebe durch Geschenke zu beweisen.
Er würde sich wohl schnell über die Gesinnung des Mädchens beruhigt haben, wenn er ein Gespräch angehört hätte, das eines Abends zwischen ihr und ihrer Mutter stattfand, während er eben auf dem Wege von Hohenstaufen her, wohin sein Vater ihn geschickt hatte, auf das Haus zugeschritten kam.
»Jetzt hab ich aber die stillen Seufzer überlei«, sagte die Mutter. »Du bist selber schuldig, greifst dein Sach ganz verkehrt an.«
»Mutter, habt Ihr nicht gesagt –?«
»Weiß wohl, was du meinst, aber man muß alles mit einer Art tun, nicht oben'naus
und nirgends'nein. Wenn eine arm ist, wie du, so soll sie nicht die hochmütig
Jungfer machen, sondern die kluge im Evangelium, die ihre Lampe mit Öl füllt und
dem Bräutigam entgegengeht. Sie muß sich 'runtergeben können und muß sich etwas
gefallen lassen, aber freilich mit Maß. Zu lützel und zu viel verderbt allzeit das
Spiel. Narr, ich hab deinen Vater
»Was soll ich denn tun?« fragte Christine.
»Tu, was du willst«, sagte die Mutter zornig, »steck mein'twegen der Katz das Heu auf, dumm genug wär'st dazu, nur geh, daß ich das Geseufz und Geheul nicht länger hören muß.«
Christine verließ die Stube und trat schauernd vor das Haus in die Nacht hinaus, wo sie im gleichen Augenblick zu ihrem freudigen Schrecken beim Schein der Sterne, die in der Kälte hell funkelten, den Gegenstand der Unterredung und ihres Kummers auf sich zukommen sah. Sie glaubte, es sei seine Absicht, in ihrer Nähe umherzustreichen und zu spähen, und eine frohe Hoffnung zog in ihr Herz ein. Wie er aber näher kam, so schien es, als ob ihn bloß der Zufall diesen Weg führe, denn er sah sich nicht einmal um. Sie rief ihm einen Gruß zu und fragte, eingedenk der Lehre, die ihr so eben die Mutter gegeben: »Willst nicht auch einmal wieder nach deinem Lamm sehen?« – Da der Schatz, wie sie ihm erlaubt hatte, sich zu nennen, keine Antwort gab, obwohl er unschlüssig stehengeblieben war, so fuhr sie etwas vorschnell fort: »Oder magst 's nicht wenigstens holen, wenn du nichts mehr von uns willst?«
Friedrich hörte aus diesen Worten nichts als spöttische Ablehnung heraus. »Es ist
schon so gut wie
Dieser starre Trotz verdroß sie, und sie rief ihm nun mit nicht sehr glücklichem Spotte nach: »Da wird man dem Herrn wenigstens das Fell herausgeben müssen und die Wolle.«
Sein Blut kochte, denn er glaubte eine Anspielung zu vernehmen, an die das Mädchen entfernt nicht dachte. Von der Wolle hörte er nun einmal gar nicht gerne reden. »Das Fell behalt Sie, Jungfer«, sagte er, »und die Wolle kann Sie an die vielen Dörner stecken, an denen Sie letzt hangenblieben ist.« Damit ging er fort. Sie lehnte sich an den Türpfosten und blieb noch lange, bitterlich weinend und vor Kälte zitternd, stehen, bis die Tritte ihres Vaters und ihrer Brüder, die von einem Geschäft nach Hause kamen, sie vertrieben.
Mit den beiden letzteren setzte Friedrich den gewohnten Umgang fort. Wie aber zwischen ihm und ihnen von der Herzensangelegenheit nie gesprochen worden war und selbst die Verabredungen, wonach sie ihre Schwester da oder dorthin bringen sollten, immer in gleichgültiger Form gemacht worden waren, so wurde auch der Störung des Verhältnisses nicht erwähnt. Nur einmal sagte Friedrich mit deutlicher Beziehung: »Ich merk's eben wohl, man vergißt mir meine Strafen nicht, man sieht mich für gezeichnet an.« Worauf jene ruhig antworteten: »Wird doch das nicht sein.«
Unmut und Unruhe trieben ihn umher, und auch in ruhigeren Stunden, wenn dann und
wann der
In dieser Verlassenheit und Vernachlässigung mußten alle Richtungen einer so
kräftig angelegten Seele in einen unbezähmbaren Willensdrang verschmelzen, der in
seiner dumpfen Ungeduld überall auf
Das Jahr ging zu Ende. Am letzten Tage saß Friedrich in einer müßigen Stunde am
runden Tische in der großen Wirtsstube und las in der Bibel, die mit ihren
Heldensagen und Abenteuern der Phantasie des Volkes eine von der Kirche erlaubte
Unterhaltung und einen Ersatz für die verschütteten heimischen Überlieferungen
bot. Er las eigentlich nicht, sondern blätterte nur, denn er wußte alle diese
Geschichten auswendig, die in der Predigt und Kinderlehre geistlich gedeutet
wurden, beim unbefangenen Lesen zu Hause aber mit ihren guten und bösen Beispielen
einen ganz natürlichen Eindruck machten. Da waren Geschichten von Erzvätern, die
sich betranken, Kebsweiber hielten und verstießen, durch Schelmenstreiche reiche
Familienhäupter wurden oder in fremdem Hofdienste sich gegen das Volk zu
Finanzkünsten hergaben, welche einen Württemberger
Er dachte nicht daran, wie oft er zu sich gesagt, daß er die Knabenschuhe
vertreten habe, sondern schlich sich, als es dunkel wurde, zu einem Invaliden, der
nicht weit von der ›Sonne‹ auf Leibgeding wohnte, und dem er schon manchen Bissen
und Trunk gespendet
Und abermals krachten die schweren Schüsse, in welchen der törichte Knabe seinen Unmut und sein Pulver verschoß.
Eben hatte er wieder seine Davidsharfe brummen lassen und eilte in schnellen
Wendungen durch Zwischengäßchen vor den Wächtern davon; da führte ihn sein Weg an
dem Bäckerhause vorbei, wo er
»Jetzt hast genug hasseliert, Schütz!« rief ein Mann mit verwogenem und zugleich verfallenem Gesicht, das den Ausdruck einer grämlichen Lustigkeit hatte und blutige Spuren trug, als ob es auf irgendeine Weise zerschunden oder zerkratzt worden wäre. »Komm, schwenk dir die Gurgel aus, hast dich ja ganz heiser geschrien. Hier hältst vor der unrechten Schmiede: von denen, die hier sitzen, ist seit mindestens einer Stunde keiner aus der Stube kommen. Bist aber auch ein rechter Leichtfuß, heißt das, du mußt nicht besonders fest auf den Füßen sein, daß dich ein blinder Schuß gleich zum Purzeln bringen kann. Da sieh den Profosen an, der ist ein anderer Kerl, den haben sie um einen Fuß kürzer gemacht, und doch steht er auf seine anderthalb anders hin als du auf deine zwei ganze. Den schmeißt keiner so leicht um, weder mit einer blindgeladenen Kanone noch mit einer scharfgeladenen Büttel. Laß das Hasselieren sein, sag ich, und komm her, ich bring dir's. Es vertreibt dir den Schnapsgeruch.«
Der Invalide, der an der Tischecke saß, hatte alsbald
»Dein gut's Wohlsein, Küblerfritz!« sagte der Schütz, das dargebotene Glas annehmend und auf einen Zug leerend, mit einer Mischung von Freundlichkeit und Spott, »es scheint, du machst jetzt Feuerkübel und verlegst dich aufs Löschen. Wünsch Glück dazu. Lösch aber nur zuerst den Brand in deinem eigenen Haus, du Mann im Feuerofen. Wiewohl, dein Feuerteufel, deine Margret, ist heut abgekühlt worden; sie hat ganz krumme Finger gehabt und hat laut geschnattert, wie ich sie wieder aus dem Häusle herausgelassen hab, wegen der großen Kälte ist sie nur auf ein paar Stunden dreingesprochen worden.«
»Was? ist dein Weib heut eingesperrt worden, Kübler?« fragte der Invalide.
Der Kübler nickte mürrisch. »Ihr wisset ja, wie sie ist und wie sie mein Mädle von
meinem ersten Weib plagt und den Waisen, den ich aus dem Heiligen in der Kost hab.
Zu dem sagt sie immer: ›Du Bettelhund! du Herrenhund! du schlappohriger Hund!‹ und
schlägt ihn zwischen die Löffel, zwischen die am Kopf, mein ich, wenn er den
Löffel in der Schüssel zu voll macht. Er ißt freilich schier mehr, als er
einträgt, das Kostgeld ist so mager. Ihr könnt auch in meinem Gesicht sehen, wie
sie mich diese Feiertage gezeichnet hat. Vor Weibernägeln ist auch der Stärkste
nicht sicher. Ich hab sie aber durchgewalkt,
»Hat sie dich denn verklagt?«
»Nein, das läßt sie wohl bleiben. Der Pfarrer hat eben von irgendeiner guten Nachbarschaft gehört, daß es wieder einmal Händel bei uns gegeben hat, und hat dann die Sach vor Kirchenkonvent gebracht. Sie haben gemeint, sie müssen heut noch eine Sitzung halten, die Herren, und das ganze Kutterfaß vom alten Jahr ausleeren. Es sind noch viele vorgeladen gewesen.«
»Haben sie dich gestraft?«
»Nein, wiewohl ich die Schläg nicht abgeleugnet hab, aber meines Weibes Bosheit ist eben Gott und der Welt bekannt. Doch bin ich auch nicht ungerupft davongekommen. Sie hat über mich geklagt, ich sei ein Faulenzer und verdiene nichts ins Haus. Jetzt sagt selbst, ihr Mannen, ob das wahr ist?«
»Nein, nein!« riefen alle zusammen, »das kann man dir nicht nachsagen.«
»Ich weiß wohl«, fuhr der Kübler fort, »es geht knapp bei uns her, und Armut ist
eine Haderkatz. Wenn man vollauf hat, so kommt man viel leichter miteinander im
Frieden aus. Aber meine Schuld ist's nicht, wenn's manchmal sogar am Kreuzer
fehlt. Mein Weib mit ihrem abscheulichen Fluchen, wegen dessen sie gestraft worden
ist, und mit dem Spektakel, den sie immer mit meinem Kind hat, schreckt die Leut
ab, daß sie nicht gern ins Haus
»Ja«, lachte Friedrich, »wer vor Kirchenkonvent kommt, kriegt immer eine Vermahnung auf den Weg und eine Salbung, wenn sie auch gar keine Heimat hat. Für was wären denn die Herren da?«
»Das Ding hat mich so erzürnt«, sagte der Kübler, »daß ich's gar nicht loswerden kann. Ich wär vielleicht heut abend zu Haus geblieben, denn ich hätt's wohl nötig, bin nicht mehr der lustig und durstig Küblerfritz, der ich in meinen ledigen Jahren und bei meinem ersten Weib gewesen bin. Aber der Pfarrer hat mir's angetan, der ist schuld, daß ich die Batzen in Wein aufgehen lass, anstatt zu sparen. Ich spür's in allen Gliedern, heut nacht muß noch ein Rausch getrunken sein. Juhu! Komm, Frieder, stoß mit mir an. Du bist auf eine Art auch im gleichen Spittel krank mit mir.«
»Du bist übrigens heut noch nicht am schlecht'sten wegkommen, Kübler«, sagte der Schütz, der inzwischen, von dem Invaliden und dann von Friedrich gleichfalls mit einem Glase Wein begrüßt, sich am Tische seßhaft gemacht hatte, teils, weil es ihm bedünken mochte, hier sei's gut Hütten bauen, teils, weil er im Sitzen seine angehende Trunkenheit besser verbergen zu können glaubte. Dies gelang ihm auch, und er wurde sehr gesprächig, wobei er freilich zuweilen stark mit der Zunge anstieß, auch seine Amtsstimme über die Gebühr anstrengte, was jedoch auf dem Lande, wo jeder im Reden ein wenig schreit, nicht besonders aufzufallen pflegt. »Dem Küfer da drüben ist's nicht so gut gegangen«, fuhr er fort, »den werdet ihr heut abend noch nirgends gesehen haben.«
»Nein, er ist ein stiller Mann«, sagte der Bäcker, der sein Glas stehend am Ofen trank und seine Frau dann und wann ein wenig in der Bedienung ablöste; »man sieht ihn nie außerm Haus, als wenn ihn das Geschäft hinausführt, und am Fenster läßt er sich auch selten blicken. Er ist eingezogen, wie nicht leicht einer.«
»Absonderlich heut!« lachte der Schütz. »Da wär's eine Kunst für ihn, sich an seinem eigenen Fenster sehen zu lassen, und wo er jetzt ist, wird er freilich nicht gern ans Fenster gehen.«
»Was? Ich will nicht hoffen!« rief der Invalide.
»Ist er denn –«
»Der Küfer ist eingesteckt?« riefen alle zusammen.
»Ach, er sitzt eben ein wenig bei mir im Hauszins«, sagte der Schütz, »und frieren tut's ihn nicht, denn ich hab ihm einen guten warmen Ofen gemacht; sonst tät er's nicht aushalten die vierundzwanzig Stunden im Turm.«
»Der Küfer im Turm!« rief alles. »Was hat er denn getan?« fragte der Bäcker. »Der tut ja keinem Hühnle weh und ist so ein ruhiger Mann, daß es viel ist, wenn man nur in der Nachbarschaft merkt, ob er zu Haus ist, oder nicht.«
»Was hat er gebosget?« fragte der Kübler.
»Er muß sein Weib doch sehr leis geschlagen haben, wenn Ihr nichts davon gehört habt, Beck«, sagte der Schütz.
»Ja was, so hab ich's nicht gemeint«, sagte der Bäcker; »natürlich, Stuß gibt's überall, auch in der stillsten Haushaltung.«
»Ein Weib prügeln, das ist doch keine so besondere Sach«, riefen die andern durcheinander. »Und die Küferin«, meinte einer, »hat's eben auch dann und wann nötig.«
»Die Weiber«, bemerkte der Bäcker, »müssen iebott (zuweilen) Streich han, sonst meinen sie, man hab sie nicht lieb.«
»Aha, Beckin«, riefen die Gäste, »hat er Euch seine Liebe auch schon bewiesen?«
»Nein, der Mein macht nur Spaß«, sagte sie, »mich hat er noch nie geschlagen.«
»Bewahre!« antwortete der Schütz, »bloß vor Kirchenkonvent. Sein Schwäher, der Schneider, hat ihn beim Herrn Pfarrer verklagt, daß er, wie der Herr Pfarrer mir erzählt hat, sein Weib um nichtswürdiger Ursachen willen jämmerlich traktieret hab. Also hat mich der Herr Pfarrer zum Herrn Amtmann geschickt. Der hat aber gleich gesagt, da werde es etwas setzen, denn der Küfer sei zwar in seinem Handwerk fleißig und kein übler Haushälter, aber sonst ein eigensinniger, hartnäckiger Gesell. Es ging auch so, wie der Herr Amtmann gesagt hatte, denn obwohl man mich zweimal zu ihm schickte, denn ich muß eben alles ausrichten, weil der Herr Amtmann den Amtsknecht fast ganz ins Haus braucht, als seinen Leibdiener, so kam er doch nicht, so daß ich ihn zuletzt mit zwei Männern hab holen müssen. Das hat er aber wohlweislich vorausgesehen und sich ins Sternwirts Keller etwas zu schaffen gemacht, damit ihm der Spektakel nicht in seinem Haus über den Hals käm.«
»Und darum ist er in Turm kommen?« wiederholte der Müllerknecht.
»Nein, er hat dann böse Reden geführt, denn so still er sonst sein mag, so hat er
vor Konvent das Maul weit aufgetan. Wie man ihm fürgehalten hat, warum er
ungehorsam gewesen sei, hat er gesagt, er habe vor dem Kirchenkonvent nichts zu
schaffen, es sei ihm solches ein Schimpf, sein Weib hab die Schläg nötig, der
vorige Pfarrer und Amtmann
Alles lachte zusammen.
»Zuletzt ist's dann vollends faustdick kommen«, fuhr der Schütz fort. »Da hat er sich vernehmen lassen, es geh hier viel Unordnung vor, so nicht gestraft werd, der Pfarrer melier sich mit hiesigen Weibern, die Leute reden ihm viel nach. Ich hab vor der Tür nicht alles verstanden, denn vorher hat er ein wenig geschrien, das Schärfst aber hat er nicht mehr so laut gesagt, er wird gedacht haben, es schalle auch so noch deutlich in die Ohren. Den Herr Pfarrer aber hat man nachher verstehen können, der hat ihn angeschrauen, er sei ein liederlicher Gesell, was er denn von ihm sagen könne? Und man müsse die Sache ans löbliche Oberamt nach Göppingen berichten. Der Herr Amtmann aber hat ihn einstweilen in Turm sperren lassen.«
»Wenn er da bleiben muß, bis von Göppingen Bescheid kommt«, sagte Friedrich, »dann kann er lang sitzen.«
»Wird nicht so gefährlich sein«, sagte der Schütz, »er behält sein frei Logis ein
Tag oder zwei, bis die
»Was kann ihm denn blühen?« fragte der Müllerknecht.
»Ich wollt eine Wette drauf eingehen«, antwortete der erfahrene Diener der Obrigkeit, »er kriegt nicht mehr denn einen Ordinari-Frevel, und natürlich muß er deprezieren. In Göppingen sieht man eben drauf, daß es am Gehorsam und schuldigen Respekt nicht mankiert, aber auf das Geschwätzwerk selber läßt sich der Vogt nicht ein, er nimmt's nur so überhaupt, wie der Teufel die Bauern.«
Alle lachten über diese Bemerkung, welche besagen sollte, daß der Oberbeamte derlei Dinge in Bausch und Bogen abzumachen pflege.
»Vielleicht«, äußerte Friedrich, »denkt er auch, das Geschwätz habe einen Grund; denn um drei Gulden fünfzehn Kreuzer wär's billig geschimpft. Ist denn was dran? Ich hab doch nie gehört, daß man dem Pfarrer mit Weibsbildern etwas nachsagt.«
»Nein«, versetzte der Kübier, »das hat auch der Küfer nicht sagen wollen von dem
alten Krattler. Aber das ist wahr, daß er sich Schwätzereien zutragen läßt von
jeder Magd am Brunnen und von jedem bösen Weibermaul. Die stecken sich hinter die
Pfarrerin und schleichen zu ihr in die Küche; von ihr erfährt's dann er, und auf
die Art ist's eine beständige Spionerei im Flecken, durch die eine Menge
nichtsnutziges, läppisches Zeug an die Obrigkeit gebracht wird und vieles, was
eher der Müh wert wär, unbeachtet bleibt. So ist eigentlich die
»Zu was wären sie denn sonst da?« bemerkte Friedrich.
Der Invalide stieß ihn an und flüsterte: »Sei Er doch politisch und laß Er den Kübler allein das Maul brauchen. Der steckt in Schuhen, woran nichts mehr zu flicken ist. Aber Ihm könnt's Schaden bringen, denn der Schütz ist ein Kalfakter; er schmarotzt, soviel man ihm gibt, und nachher trägt er alles, was er dabei gehört hat, seinen Herren wieder zu.«
»Und was ist denn noch mehr heut vorgekommen bei der Kirchenzensur?« fragte der Invalide den Schützen, um das Gespräch abzulenken.
»Oh, mehr als viel«, sagte dieser, »die Sitzung hat noch nie so lang gedauert, es ist mir ganz schwach worden vom langen Warten im Öhrn. Zuerst«, begann er mit einer Amtsmiene, »sind Kirchenstuhlstreitigkeiten unter den Weibern abgemacht worden; das ist ja ein stehender Artikel bei allen Konventssitzungen. Dann hat man junge Bursche vorgefordert, die aus der Kinderlehre weggeblieben sind, und hat sie mit Vermahnung wieder springen lassen.«
Friedrich biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts, um nicht den Spott der Gesellschaft gegen sich herauszufordern.
»Dann hat man eine Separatistin fürgehabt, die in Jebenhausen drüben bei der gnädigen Frau in die Stund gangen ist.«
Der Gesellschaft war dies so gleichgültig, daß sie nicht einmal nach dem Namen fragte.
»Ferner hat man die alte Anna fürgenommen, die mit dem krummen Fuß, die mit ihren drei Waisen dreißig Kreuzer wöchentlich hat. Der ist fürgehalten worden, daß sie als ein altes baufälliges Weib gleichwohl etlichmal nach Zell hinunter in die Kirche gegangen sei, mit Verachtung des hiesigen Gottesdienstes, und habe sich deshalb die Bürgerschaft über sie beschwert.«
»Ja, die Bürgerschaft!« rief der Kübler. »Ein paar alte Weiber werden zum Pfarrer
geloffen sein, und
»Was ist ihr geschehen?« fragte der wohlwollende Invalide, in der Absicht, seinen Liebling nicht auch wieder in diesen Ton verfallen zu lassen.
»Sie hat sich verantwortet, sie hab's nur drei- oder viermal getan und sei sie allweg von andern Leuten hinuntergeschickt worden, weil sie eben unerachtet ihrer Gebrechlichkeit sehen müsse, wie sie etwas verdiene, und dann sei sie, um wenigstens das Wort Gottes zu hören, dort in die Kirche gegangen. Man hat dann beschlossen, daß man ihr von den dreißig Kreuzern, die sie aus dem Almosen hat, zehn nehmen und künftig nur noch zwanzig geben wolle, und ihr bedeutet, wenn sie ferner nach Zell in die Kirche gehe, so werde man ihr das Almosen gar nehmen. Sie hat mich gedauert, denn sie hat schrecklich geheult.«
»Predigt man denn in Zell ein anderes Wort Gottes als hier?« rief Friedrich, indem er wild mit der Faust auf den Tisch schlug. »Das ist doch überaus, wenn so ein – er besann sich vor dem Schützen einen Augenblick –, wenn so ein Pfarrer meint, man dürf keinen anderen hören als ihn, und nimmt einem armen alten Weib darum das Brot! Und was man in den Kirchen hört, das ist doch meistens nur um der Einkünfte willen gepredigt. Wenn sie's umsonst tun müßten, wie im Evangelium, und dem Volk noch Brot dazu geben, ei, wie geschwind stünden die Kanzeln leer.«
Ein Gemurmel durchlief die Gesellschaft; es schien
»Allerlei Sabbatentheiligungen sind abgerügt worden«, fuhr er fort. »Einer ist am Sonntag ins Feld gangen, ein anderer hat gedroschen, und des Kühlers sein Bruder ist auch vorgewesen, der hat am Sonntag eine Bettlade angestrichen, und so noch andere mehr. Die sind ein jedweder um ein halb Pfund Heller in Heiligen gestraft worden.«
»Nächstens wird man am Sonntag nicht einmal mehr einen Bissen zu sich nehmen dürfen«, murrte Friedrich.
»Ja«, rief der Kühler, »du hast vielleicht gar nicht weit daran vorbeigeschossen, denn der Pfarrer in Hattenhofen drüben hat sich bereits verlauten lassen, man sollt eigentlich den Tag des Herrn mit Fasten zubringen.«
Die Gesellschaft lachte unwillig.
»Die Obrigkeit macht aber doch auch billige Ausnahmen«, sagte der Schütz zu Friedrich. »Wie Sein Vater verwichenes Jahr um Ostern angebracht worden ist, daß er am Sonntag mit einem Wagen Haber nacher Stuttgart gefahren sei, da ist ihm nichts geschehen, weil er sich hat verantworten können, der Haber gehöre der Herrschaft und habe zur Gottesdienstzeit in Stuttgart sein müssen.«
»Jawohl!« lachte Friedrich bitter, »wenn's für die Herrschaft ist, dann ist's
keine Sund! Ich hab geglaubt,
»Und letzten Sommer hat man Seinen Schwager auch entschuldigt, weil er an einem Sonntag Garben eingeführt hat, die von den wilden Schweinen übel zugerichtet gewesen sind. Da hat der Konvent ein Einsehen gehabt und hat judiziert, es sei ein Notwerk gewesen.«
»Ja, was!« sagte ein Bauer, »bei so fürnehme Leut hat man freilich ein Einsehen.«
»Ich will doch nicht hoffen«, rief ein anderer, »daß der Kirchenkonvent auch noch den wilden Säuen den Kopf heben sollt, die uns das Feld verderben und die beste Frucht wegfressen! Unsereins muß sich das ganze Jahr hindurch schinden und plagen, damit man in Stuttgart in Saus und Braus leben kann, und man sollt nicht einmal seine Frucht eintun dürfen, eh die Beester sie vollends ruiniert haben?«
»Man hat nicht bloß mit dem Sonnenwirt und solchen Leuten ein Einsehen«, bemerkte der Schütz dem vorigen Redner, »sondern auch mit dem gemeinen Mann. Wie im Heuet das Gewitter auf unsere Markung geschlagen hat, Göppingen zu, und ein Hochwasser zu befürchten gewesen ist, hat nicht da der Herr Amtmann am Sonntag früh ausschellen lassen, die Leute sollen und müssen ihr Heu sogleich heimtun, daß und damit es nicht vom Wasser fortgenommen werde?«
»Das war dazumal«, sagte einer aus der Gesellschaft lachend, »wo der Blitz dem Käsbalthes sein Paar Ochsen erschlagen hat. Ich seh ihn noch immer, wie er dagestanden ist und eine Faust gegen den Himmel gemacht und geschrien hat: ›Jetzt soll aber auch unserm Herrgott sein bestes Paar Engel verr–.‹«
Ein schallendes Gelächter folgte auf diese Erzählung. »Das dürft auch nicht beim Kirchenkonvent vorkommen«, bemerkte einer.
»Ei, so schlag!« rief der Müllerknecht, immer von neuem in Lachen ausbrechend und das verpönte Wort in unschuldigerer Wendung wiederholend: »so, unserm Herrgott soll sein bestes Paar Engel kapores gehn?«
»Ja, und dem Herzog sein schönstes Paar Tänzerinnen!« knirschte der Kübler, indem er das Glas auf den Tisch stieß.
In der Wirtsstube wurde es plötzlich so still, daß man eine Fliege summen hörte, die sich in der Tag und Nacht gleichen Wärme des Bäckerhauses lebendig erhalten hatte.
»Oh, daß ich könnte ein Schloß an meinen Mund legen und ein fest Siegel auf mein Maul drücken!« sagte die Bäckerin mit biblischer Betonung.
Friedrich sah unwillkürlich nach dem Schützen hin.
»Vor Kirchenkonvent wenigstens dürft so etwas nicht bekannt werden«, sagte der Müllerknecht, der soeben noch eine Verwünschung der Engel Gottes weit minder verfänglich gefunden hatte als einen Fluch über die Tänzerinnen des Herzogs.
Der Schütz, dem der Blick des jungen Burschen nicht entgangen war, versetzte: »Ich denk, der Herr Amtmann und der Herr Pfarrer werden froh sein, wenn sie nichts davon erfahren. Es ist besser, eine solche unverständige Red bleibt in der Gemeind, denn wenn sie weiter käm, so könnt sie einen an Leib und Seel zeitlebens unglücklich machen.«
Der Kübler, dem der Wein mehr und mehr in den Kopf stieg, brummte einiges dagegen, und der Schütz, etwas steif von Trunkenheit und Autoritätsbewußtsein, schien nicht geneigt, ihm eine Antwort schuldig zu bleiben, so daß der Invalide sich abermals ins Mittel legen zu müssen meinte. »Ich hab die Kirchenkonventsgeschichten satt bis oben herauf«, sagte er leise zu Friedrich, »und doch weiß ich dem Kerl das Maul nicht anders zu stopfen, denn daß ich ihn aus der Schul schwatzen laß; das kitzelt seinen Hochmut.« Und zum drittenmal fragte er ihn, »was sonst noch verhandelt worden sei«. »Ein Husarentanz«, sagte der Schütz.
»Was?« riefen die andern und sperrten Maul und Augen auf.
»Dummes Geschwätz!« entgegnete der Schütz. »Dem Herrn Amtmann war angezeigt worden, daß in einem Lichtkarz bei der kropfigen Lisabeth Kuchen gegessen worden seien und daß des Xanders Bäsle, die bei ihm dient, den Husarentanz dabei getanzt habe, wobei auch ledige Bursche zugegen gewesen seien. Die Tänzerin und die Lisabeth, weil die den Karz ohne Erlaubnis gehalten, sind jede ein paar Stunden ins Häusle gesprochen und mit einem Weiberfrevel gestraft worden, und von dem Weibsgeziefer, das im Karz Kuchen gessen hat, ist jede um elf Kreuzer gestraft worden, so auch der Beck, der neben der Lisabeth wohnt und die Kuchen backen hat.«
Friedrich horchte hoch auf: dies war der Karz, in welchen Christine durch seine Vermittlung eingeführt worden war. Er hütete sich aber wohl zu fragen, ob Christine unter den Gestraften gewesen sei.
»Der Husarentanz?« fragte der Müllerknecht, »was ist denn das für ein Tanz?«
»Kein besonders anständiger«, antwortete ihm Friedrich.
»Der Husarentanz«, sagte der Schütz, »nun, das ist eben der Husarentanz. Wer wird denn den nicht kennen?«
»Der Schütz«, rief der Kübler, »stellt sich doch, als ob er alles wüßt! Ich bin euch gut dafür, daß er ihn selber nicht kennt.«
»Nein, ich wett, was du willst.«
»Ein Flasch Wein!«
»Eingeschlagen!«
Und ohne an seine Amtswürde zu denken, sprang der Schütz vom Stuhl auf, setzte den Hut verkehrt auf den Kopf, nahm die Rockzipfel zwischen die Zähne und führte einen seltsamen Tanz mit plumpen Sprüngen auf, die sich um so abscheulicher ausnahmen, da er im wachsenden Rausche seines Körpers nicht mehr mächtig war. Wenn das Mädchen, von dem er erzählte, nur zum zehnten Teil so häßlich getanzt hatte, so hatte Friedrich mit seiner Bezeichnung vollauf recht gehabt. Die Gesellschaft brüllte vor Lachen, aber in den Augen der Männer malte sich zugleich die Verachtung, welche die Bäckerin noch deutlicher ausdrückte, indem sie, ohne lachen zu können, mitleidig nach dem Lustigmacher hinsah. »Da tanzt unsere Obrigkeit!« sagte der Kübler.
»So, das ist der Husarentanz!« keuchte der Schütz, indem er atemlos auf seinen Stuhl zurückfiel. »Jetzt eine Halbe dem Küblerfritz!«
Das Gelächter dauerte noch lange fort, während er sich schon den Preis seiner Schaustellung schmecken ließ. Er wurde mit zweideutigen und spöttischen Lobsprüchen überschüttet, und der Invalide sagte ihm, er sollte sich beim Ballett in Stuttgart anstellen lassen, da würde er am besten hintaugen.
Diese Aufnahme seiner künstlerischen Produktion
»Ein Hexenprozeß? Was? Wird wieder einmal eine Hex verbrennt?«
»Nein, dazu bietet die Obrigkeit nimmermehr die Hand. Aber doch ist's ein Hexenprozeß gewesen, und das ein saftiger. Ich hab schon gemeint, die Sitzung geh zu End, die Herren haben nur noch ein wenig von wegen der Kirche und Schule diskuriert – der Wetterhahn ist lahm worden, und die Schulmeisterin will eine Küche und mag sich nicht mehr mit dem schlechten Verschlag zum Kochen behelfen – da kommt auf einmal der Franzos den Gang herangestiegen, wie ein welscher Hahn, und den Hut hat er ganz schief aufgehabt, so daß ich gleich gedacht hab, da sei bös Wetter im Anzug.«
»Wer ist der Franzos?« fragte der Müllerknecht.
»Man heißt ihn so, weil er ein Jahr im Elsaß das Sattlerhandwerk gelernt hat und
davon ein wenig welscht. Er hat eine Hammelayin zum Weib. Ich hab ihn gleich
müssen bei Konvent anmelden, und weil ich neugierig gewesen bin, hab ich die Tür
ein wenig offengelassen. Da hat er schrecklich getan und immer mit den Händen dazu
gefochten und hat den Schmiedhannes verklagt, daß er heut in Gegenwart des ganzen
löblichen Magistrats, just vor der Konventssitzung, in einem Streit wegen eines
»So was muß man eben auch nicht auf seine Nebenmenschen bringen, wenn man's nicht beweisen kann«, bemerkte der Müllerknecht, »das ist doch das Allerärgste, was man einem nachsagen kann.«
»Die Obrigkeit nimmt ja so etwas gar nicht mehr an«, sagte einer der Bauern, die in der Gesellschaft saßen, verdrießlich. »Da können alle Greuel geschehen, man fragt nichts darnach, und wenn einer das Maul drüber auftut, so wird er noch gestraft. Die Herren glauben's nicht oder tun wenigstens so, und man sagt, auch der Herzog hab's nicht gern. Wer weiß, was dabei im Spiel ist, daß man dem Teufel so den freien Lauf läßt. Vorzeiten ist das anders gewesen.«
»Also wenn's nach Euch ging«, sagte Friedrich, »so müßt man die alten Weiber wieder schwemmen und an der Leiter aufziehen und verbrennen. Saubere Zeiten sind das gewesen! Wenn ich irgend etwas an der Obrigkeit lob, so ist es das, daß sie solchem dummen Geschwätz kein Gehör mehr gibt.«
»Was?« schrien die in der Gesellschaft anwesenden Bauern zusammen, »das soll
dummes Geschwätz sein? Heißt's nicht in der Bibel: ›Die Zauberer und Greulichen
sollst du mit Feuer verbrennen?‹ Und das soll ein dummes Geschwätz sein? Soll's
denn
»Ich hab wenigstens noch keinen gesehen«, bemerkte Friedrich kalt.
»Der glaubt gar nichts!« rief einer, und die anderen sahen den Gegenstand dieses Verwerfungsurteils mit einem gewissen Abscheu an.
»Oder«, sagte ein anderer, »ist er vielleicht –? Ich weiß nur nicht, wie ich's angreifen soll, denn man wird ja gleich gestraft, wenn man seine Wort nicht auf die Goldwaag legt.«
»Soll ich vielleicht selber ein Hexenmeister sein?« lachte Friedrich. »Nur herzhaft raus mit der Farb! Ich lauf deswegen nicht sogleich vor Kirchenkonvent, ich bin nicht so empfindlich, auch hat man seiner Lebtag keinen Esel einen Hexenmeister gescholten, denn dumme Leut kann der Teufel, scheint's, nicht brauchen.«
»Was die alte Hammelayin betrifft«, sagte der Invalide, um das Gespräch von dieser Klippe ab wieder in ruhigeres Fahrwasser zu leiten, »so ist es gewiß und wahrhaftig, daß sie eine mächtige Raffel unter der Nas sitzen hat.«
»Ja«, sagte ein anderer, »sie hat aber nicht bloß ein bös Maul, sondern es ließ
sich sonst noch allerlei über sie sagen. Wißt ihr noch, wie ihre ältere Tochter,
die jetzt den Schneider hat, wie die mit dem Diegelsberger hat Hochzeit gehabt?
Die Hochzeit ist im ›Hecht‹ angestellt worden, und der Bräutigam, dem's schon um
acht Uhr weh gewesen ist, nachts
»Nun ja, was wird's gewesen sein?« sagte Friedrich, »ein Steck- und Schlagfluß.«
»Ja, so hat man bei Amt auch gesagt und hat ihn mit einer Leichenpredigt auf dem Kirchhof begraben. Ich weiß noch, wie sie angefangen hat: ›Hui, hui, sagt der Tod, der starke Held, ich kann auch mittanzen.‹ Aber es gibt Leut, die wollen's besser wissen, die sagen – Nun, ich will nichts gesagt haben, aber so viel ist gewiß, daß der Alten die Heirat von Anfang an nicht nach ihrem Gusto gewesen ist. Die Junge hat erschrecklich getan und hat sich nicht trösten lassen wollen. Nachmals aber hat sie den Schneider genommen; ich weiß noch, auf ihrer Hochzeit ist grad die Nachricht ankommen, daß ihr Schwager, der Goldstein, der sein Weib mit drei Kindern hier hat sitzen lassen, in Speier die Religion schangschiert hab und eine Katholische geheiratet und sei mit ihr nach Pennsylvanien gangen.«
»Von der Alten erzählt man ein feines Stücklein aus ihren jungen Jahren, wo sie
bei Seines Pflegers Vater im Dienst gewesen ist«, hob ein anderer, zu Friedrich
gewendet, an. »Damals hat sie's mit einem Balbierersgesellen gehabt aus Adelberg.
Er hat ihr zu Familie verholfen, eine Tochter ist's gewesen, ich
»Die Frag ist nur, ob der Barbier auch richtig wiederkommen ist«, bemerkte Friedrich.
»Nein, kommen ist er nicht mehr«, sagte der Erzähler.
»Dann will ich's gern glauben!« rief Friedrich mit hellem Lachen. »So kann ich
auch hexen. Ich sag
»Vielleicht ist der Balbierer doch innerlich verbronnen«, stammelte der Schütz.
Friedrich lachte ihn aus. »Ja«, sagte er, »wenn er Schnaps gesoffen hat.«
»Mir hat doch einmal ein Zimmermann erzählt«, fiel der Müllerknecht ein, »es hab ihn nachts eine Hex gedrückt und gepeinigt, daß er schier erstickt sei. Er sei dann aufgewacht und hab die Unholdin in Gestalt einer schwarzen Katz auf ihm liegen sehen. Da hab er mit der letzten Kraft nach der Axt neben seinem Bett gegriffen und hab nach der Katz gehauen. Die sei mit einem lauten Schrei davongefahren und hab ein Stück von der Vorderpfot dahinten gelassen. Morgens sei zwar nichts mehr davon dagewesen, wohl aber Blut auf'm Bett und an der Axt. Drauf hab er seine Gedanken auf ein altes Spittelweib geworfen und sei in den Spittel gangen, um nach ihr zu sehen. Man hab ihm aber gesagt; er könn sie nicht sehen, sie liege todkrank im Bett. Er sei aber dennoch zu ihr gedrungen und hab sie mit Gewalt aufgedeckt, und da habe sich's gezeigt, daß ihr die linke Hand gefehlt habe, die sei ihr von seiner Axt abgehauen gewesen.«
»Hu, mir gräuselt's!« rief einer um den anderen
»O Peter, glaub doch kein so Ding!« sagte Friedrich. »Was wird sich denn ein Weib in eine Katz verwandeln können? Wenn du dir von jedem Zimmermann solche Spän aus'm Verstand hauen läßt, so wirst bald so dumm, daß man Riegelwänd mit dir hinausstoßen kann.«
Der Streit gegen den hartnäckigen Ungläubigen brach abermals aus, und diese Leute, die ein derbes Wort über Pfarrer und Kirche ertrugen, wurden ganz wild darüber, daß es mit Hexen und Gespenstern nichts sein sollte, und verteidigten mit einer wahren Glaubenswut ihr Dogma, daß der Teufel bösen Menschen die Macht verleihe, auf wunderbare Weise Schaden zu tun, und daß Gott abgeschiedenen Geistern, guten wie bösen, von Zeit zu Zeit aus dem Grabe an die Oberfläche der Erde heraufzusteigen erlaube.
»Nun ja«, sagte Friedrich endlich einlenkend, »ich will ja nicht dawider sein, daß sich's andrer Orten vielleicht so verhält, wie ihr saget, denn das weiß ich ja nicht. Aber hier bei uns gibt's keine Hexen und keine Geister, das behaupt ich.«
»Und warum denn nicht?« rief einer.
»Weil mir noch keine Hex beikommen ist, und es gibt doch ganz gewiß solche, die mich zu Tod drücken täten, wenn sie könnten, aber sie können eben nicht.«
»Und warum keine Geister?« fragte ein anderer.
»Weil ich noch keine gesehen hab! Und was ihr von euch erzählet, daß euch schon
vorgekommen sei, das
»Andere Leut sind aber doch anders beschaffen«, sagte der Müllerknecht. »Es gibt Sonntagskinder.«
»Ich bin auch am Sonntag geboren«, erwiderte Friedrich, »und hab zeit meines Lebens nie was geschaut. Ich weiß ganz gewiß«, fuhr er mit wachsender Wärme fort, denn der Wein stieg ihm nach und nach in den Kopf, »wenn ein Verstorbenes wieder zu den Menschen kommen könnt, so wär ich so gut ein Geisterseher wie irgendeiner in der Welt.«
»Warum das? Woso?«
»Meine Mutter«, sagte der junge Mensch, indem er trotz seiner Lebhaftigkeit die Stimme dämpfte, »meine Mutter würde sich's nicht nehmen lassen, nach mir zu sehen, wenn das ihr gestattet würde. Und warum sollt ihr's nicht verstattet sein wie den andern Geistern? Aber eben das, daß sie nicht zu mir kommt, ist mir ein Beweis, daß die anderen auch nicht können.«
»Narr, sie will dich eben nicht erschrecken«, lallte der Kübler, dessen Augen allmählich gläsern wurden.
»Sie weiß recht gut, daß ich nicht an ihr erschrecken kann, mit welchem Aussehen
sie mir auch erscheinen mag. Oft«, fuhr er nachdrücklich fort, nachdem er einmal
die Scheu überwunden hatte, von diesem Gegenstande zu reden, »oft hab ich um
Mitternacht, wenn ich ganz allein gewesen bin, ihren
»Gott steh uns bei!« hatten die anderen während dieser Erzählung gerufen, die ihnen fremd und seltsam deuchte.
»Das ist ein grausamer Mensch!« sagte der eine, womit er die Grauenhaftigkeit dieses Treibens bezeichnen wollte.
»Der glaubt an gar nichts!« wiederholte der andere. »Der kommt einmal in den Himmel, wo die Engel schwarz sind und Wauwau singen.«
»Jetzt soll einmal die Beckin erzählen, ob sie schon einen Geist gesehen hat!« rief der Invalide, fortwährend bemüht, das Gespräch in einem ungefährlichen Gange zu erhalten.
»Ja, die Beckin soll erzählen!« riefen ihm mehrere Stimmen nach.
Die Bäckerin richtete den Kopf im Sorgenstuhle auf, worin sie den ganzen Disput verschlafen hatte. Man mußte ihr erst erklären, um was es sich handle. »Ha, daß es Hexen und Geister gibt«, sagte sie gähnend, »das leidet keinen Zweifel, aber zu mir ist noch keine Hex gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht, und keinen Geist hab ich auch noch nie gesehen.«
»Ja, ja!« rief der Müllerknecht. »Letzten Sonntag hab ich mich auch an der Beckin ihrem ruhigen Gemüt erbaut unter der Predigt. Der Herr Pfarrer hat geschrauen, daß man's in Reichenbach hätt hören können, aber die Beckin hat sich nicht verrührt, sie hat ganz klein ausgesehen in ihrem Stuhl, und der Kopf ist ihr zwischen den Achseln eingesunken gewesen wie ein Schnitz, der oben in einem Hutzelbrot steckt.«
»Ach was!« entgegnete die Frau unschuldig, »man muß sich die ganz Woch leiden, wenn man auch noch das bißle Kirchenschlaf nicht hätt, so wär's ja nicht zum Prästieren.«
Die Gesellschaft brach in ein wieherndes Gelächter aus, das lange kein Ende nehmen wollte, bis endlich der Bäcker seine Frau aufmerksam machte: »Du, Weib, da klopft's am Küchenfenster.« Sie horchte hin, ohne daß etwas zu hören war; nach einer Weile aber klopfte es wiederholt und vernehmlich.
»Aha, das ist ein Geist!« rief der Müllerknecht.
»Machet mir nicht angst«, rief die Bäckerin. »Ich will's übrigens mit ihm aufnehmen«, setzte sie hinzu und ging in die Küche.
»Warum nicht?« schrien die Bauern eifrig.
»Weil mein Glas schon eine ganze Ewigkeit leer dasteht und sich nicht füllen will. Wenn's Hexenwerk gäb, so müßt's von selber voll werden.«
Der Kübler, der kaum mehr die nötige Kraft zum Reden besaß, obgleich er unermüdlich zu trinken fortfuhr, schob dem Nimmersatt sein Glas hin.
»Jetzt möcht ich aber doch nächstens aus der Haut fahren über die Hungermuck, die einem da den ganzen Abend hinhockt!« sagte der Invalide leise zu seinem jungen Nachbar. »Wenn ich doch nur auch ein Mittel wüßt, wie man ihn fortbringen könnt, den Halunken.«
»Da wird bald geholfen sein«, flüsterte Friedrich und wußte sich vom Tisch und zur Stube hinauszumachen, ohne daß sein Weggehen jemand in die Augen fiel.
Der Invalide, der nichts von seinem Vorhaben ahnte, erdachte inzwischen gleichfalls einen Kunstgriff, um den beschwerlichen Schmarotzer fortzubringen. »In der ›Sonn‹ ist's heut lustig«, sagte er, »der Sonnenwirt hat die Spendierhosen an und läßt eine Flasch um die andere springen; ich hab gehört, er hab einen Fahnen auf'm Hut wehen.« – Friedrich hatte ihm anvertraut, daß sein Vater den Wein etwas spüre und guter Dinge sei.
»Das kommt selten vor, daß der Sonnenwirt 'n Spitzer hat«, sagte der Müllerknecht.
»Wahr ist's aber:
Auf den Schützen wirkte die Mitteilung sichtbar beunruhigend. Er wußte nicht recht, wie er es angreifen solle, um alsbaldigen Gebrauch von ihr zu machen. Endlich siegte doch die Lockung über die Furcht, daß man seine Absicht merken könnte. Er behauptete stotternd, er müsse im Flecken nachsehen, ob keine Ungebühr vorgehe, wünschte umständlich gute Nacht und schwankte zur Türe hinaus, während der Invalide und der Müllerknecht einander heimlich anlachten.
»Der hat auch schwer geladen«, sagte der Müllerknecht hinter ihm drein. »Der hätt nicht noch mehr nötig.«
Kaum war er draußen, so kam Friedrich wieder herein. »Alle Teufel!« flüsterte er dem Invaliden zu, indem er sich geschwind wieder zu ihm setzte, »warum habt Ihr ihn fortgelassen? Wo ist er hin?«
»Ist er Ihm denn nicht begegnet?« fragte der Invalide, der das sonderbare Benehmen seines jungen Freundes nicht begriff.
»Ich hab mich hinter die Tür versteckt. Wo ist er denn hin?«
»Rechts hinunter, der ›Sonne‹ zu.«
»Ruft ihn, ruft ihn zurück!« sagte Friedrich mit größter Hast, ohne zu bedenken, daß dazu ein hölzernes Bein nicht das tauglichste war. »Es ist zu spät«, murmelte er in kalter Bestürzung, »gebt acht, jetzt fliegt er.«
»Hat's dir etwas getan?« fragte er verzweiflungsvoll.
»Nein, es ist nur der Schreck«, antwortete sie. »Es ist mir in alle Glieder gefahren und hat mich so angegriffen, daß ich weinen muß.«
»Gott sei Lob und Dank!« flüsterte er. »Da hätt ich eine schöne Dummheit anrichten können.«
»So?« sagte sie, noch immer weinend, »jetzt weiß
Der Brauskopf, der soeben noch bereit gewesen wäre, sie fußfällig um Verzeihung seiner unsinnigen Torheit zu bitten, war plötzlich umgewandelt. »Du tust ja, wie wenn's dich mitten auseinandergerissen hätt«, sagte er kalt. »Sei du froh, daß dir's nichts getan hat, und lauf nicht rum bei der Nacht, dann widerfährt dir nichts.«
»Ich kann ja heimgehen«, erwiderte sie tiefbeleidigt. »Den Gang hätt ich mir ersparen können. Ich will mir's merken. Gut Nacht!« Sie bog um das Haus und war verschwunden.
Er wandte sich trotzig und ging zurück. Die Gesellschaft hatte indessen den
Schützen wieder in die Wirtsstube gebracht. Auch an ihm war die Gefahr glücklich
vorübergegangen, und nur der Knall hatte ihn anfangs bis zur Sinnlosigkeit
betäubt. Doch führte er noch etwas verwirrte Reden und versicherte, er habe einen
Geist gesehen, einen weiblichen Geist, der ihn durch den Blitz des Feuers mit
großen Augen angestarrt habe. Es wurde lebendig in der Wirtschaft. Die Scharwache
kam, um vergebliche Untersuchungen nach dem Urheber der gefährlichen Mine
anzustellen; auch hatte der Lärm Gäste aus anderen Wirtshäusern hergelockt.
Friedrich ließ Wein heraufschaffen, zunächst für den Schrecken, wie er sagte, den
der Schütz gehabt; aber es fanden sich auch noch andere Abnehmer. Man sprach und
schrie über den Vorfall; die einen
Mitten im Tumult zupfte ihn die Bäckerin am Arm und gab ihm ein Zeichen. Er folgte ihr in die Küche. »Es ist ein absonderlicher Briefträger dagewesen«, sagte sie und gab ihm einen Brief: »Das Christinele hat gesagt, es hab den ganzen Abend keinen Menschen finden können, der ihm den Brief fortgetragen hätt, und in die ›Sonne‹ hab es nicht mit ihm gehen mögen; da hab es eben versucht, ob das Briefle nicht hier an seinen Mann zu bringen wär, und richtig, es hat keinen Metzgergang getan. Ich bin nur froh, daß dem Kind nichts geschehen ist; denn kaum ist es fort gewesen, so ist der teufelhäftig Knall losgegangen. Die Jugend wird immer schlimmer. Ich wollt, man tät den Malefizkerl, der den Mordschlag gelegt hat, an den Ohren kriegen und tüchtig schütteln, das wär ihm gesund.«
»Dem Mädle ist nichts widerfahren«, sagte Friedrich etwas verlegen, »ich hab draußen nachgesehen, es ist kein Mensch verunglückt. Was steht denn in dem Brief?«
»Weiß ich das?« entgegnete sie mit schlauem Lächeln, »kann ich wissen, was ihr für
Geschäfte
Sie ging in die Stube. Friedrich erbrach mit bebender Hand den Brief und las ihn bei der trüben Küchenampel. Christine bat ihn um Verzeihung und rief ihn zu sich zurück! In seinem Entzücken dachte er nicht daran, daß seit der Ankunft dieses Briefes schon wieder eine neue Wolke zwischen ihn und sie getreten war, er stand wie von einer Flamme umgeben, drückte den Brief ans Herz und jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erscholl auch in der Stube ein Jauchzen und Gläsergeklirr. Die Glocke vom Turm hatte den neuen Zeitabschnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Sekunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl sich mit ihm verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menschen macht, und nach alter Sitte stießen die Leute mit den Gläsern an und riefen einander Glückwünsche auf das neue Jahr mit seinen noch verschleierten Geschicken zu.
Friedrich eilte in die Stube, ergriff sein Glas und stieß mit an.
»Prosit's Neujahr!« rief ihm der Invalide zu. »Es lebe das Jahr Siebenzehnhundertneunundvierzig!« antwortete er.
»Siebenzehnhundertfünfzig!« schrie man ihm von allen Seiten entgegen, und der
Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurechtgewiesen. »Der will das Neujahr
leben lassen und kann nicht hinein!« spottete einer. »Fünfzig schreibt man jetzt,
und das zehn Jahr lang, mußt dich dran gewöhnen«,
»Mag leicht sein«, sagte Friedrich halblaut, so daß nur der Invalide es hören
konnte, »in dem Jahrzehnt, das sich mit vierzig schreibt, hat meine rechte Mutter
noch gelebt, und da ist es wohl zu begreifen, daß mir die Zahl wie eine alte
Heimat ist, aus der man nicht gern heraus mag. Also das Jahr
Siebenzehnhundertfünfzig soll leben!« rief er, nochmals das Glas erhebend, und in
seinem Herzen setzte er hinzu: »das Jahr, das mir Ersatz geben soll!« Es war ihm,
als ob er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der
Gesellschaft mehr aus. Es war still und sanft in ihm geworden, und diese innere
Glückseligkeit taugte nicht zu dem, was um ihn her vorging. Das Lachen und Johlen
nahm überhand, und zwar um so ungestörter, als die Polizei sich selbst daran
beteiligte. Der Schütz, der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war,
hatte die neue Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte schon
wieder Riesenfortschritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von seinen fünf
Sinnen keinen einzigen mehr ganz beisammen und belustigte die Gesellschaft durch
die grunzenden Laute, die er von sich gab. »Bringet die Noten im Kübel her, die S–
will singen!« rief der Schütz, aber während er sich über seinen Genossen lustig
machen wollte, stürzte er auf einmal mitsamt dem Stuhl zu Boden und stand nicht
mehr auf. Das wilde Gelächter über diesen Auftritt schallte noch
Zu Hause fand er seinen Vater noch wach und noch immer von Gesellschaft umgeben. Er brummte über sein langes Ausbleiben, doch mehr, wie es schien, aus väterlichem Wohlwollen, daß er sich ihm an einem so heiteren Abend entzogen hatte, als aus Mißmut darüber, daß er seiner Pflicht nicht nachgekommen war. Noch in später Stunde waren Fuhrleute angelangt; sie fluchten wacker über den langen Aufenthalt, der ihnen durch verschiedene Zufälle und am meisten durch den Eßlinger Zoll verursacht worden war. Friedrich widmete sich mit Eifer ihrer Bedienung, und ihre Scherzreden bewiesen, daß er von lange her bei ihnen wohl angeschrieben sei. »Er geht so leichtfüßig einher, als ob er in der Luft wandeln tät«, sagte einer derselben von ihm, und die Bezeichnung war richtig, denn das Gefühl, das ihn seit dem Empfang von Christinens Brieflein beseelte, hatte ihm gleichsam Flügel an die Sohlen geheftet.
Er ging als ein glücklicher Mensch zu Bette, trunken von Liebe und auch ein wenig
vom Wein. Da er nicht sogleich einschlafen konnte, so hörte er noch den
Neujahrswunsch der armen Kinder, die, mit Lichtern umherziehend, vor den Häusern
zu singen pflegten. Es war ein einziger Vers, der für jedes Mitglied der Familie,
und wenn sich ihre Zahl noch so hoch belief, besonders wiederholt wurde. Zuerst
traf die Reihe den Hausvater, dann die Mutter;
Der erste Gegenstand, mit welchem er sich bei seinem Erwachen am Neujahrsmorgen
beschäftigte, war der Brief, der ihn gestern nacht so glücklich gemacht hatte. Er
zog ihn unter dem Kopfkissen hervor und las ihn aber und abermals. Dabei konnte er
freilich eine Wahrnehmung, die ihm im ersten Jubel so gut wie entgangen war, nicht
ganz unterdrücken. Der Brief war ziemlich abscheulich geschrieben, sowohl was die
Handschrift, als was die Rechtschreibung betraf; jene stellte in Unbehilflichkeit
und Verworrenheit das gerade Gegenteil von der
Christinens Brief ist infolge von Begebenheiten, zu
»Geliebter Schatz, es ist mir von Herzen leid, daß ich dich so erzürnet habe, ich bitte dich, verzeihe es mir wieder, ich will's nimmer tun. Wenn es sein kann, so komm du noch einmal zu mir, daß ich mündlich mit dir reden kann. Weiter weiß ich nicht zuschreiben, als daß du seiest von mir zu tausendmal gegrüßt und in den Schutz Gottes befohlen. Ich verbleibe dein getreuster Schatz bis in den Tod. Meinen Namen will ich nicht nennen, wenn du mich lieb hast, wirst du mich wohl kennen. Datum diesen Tag. Nehme fürlieb mit dieser schlechten Handschrift, ich kann vor Traurigkeit nicht besser schreiben.«
»Gelieder Satz, du seie von mir zu tausendmal geschriet und in den Sutz Gottes befohlen!« wiederholte Friedrich halb entzückt, halb lachend, als wär das Mädchen gegenwärtig und müßte sich wegen ihres schülerhaften Schreibens von ihm necken lassen. Dabei machte er eine Bewegung, wie wenn er ihre gelben Zöpfe fassen wollte, einer Glockenschnur ähnlich, an der man läutet, damit oben jemand zum Fenster heraussehe, um nachbarlichen Verkehr zu pflegen oder ein Almosen zu spenden.
Mitten in diesen zärtlichen Träumereien fiel es ihm jedoch ein, daß er die
Schreiberin des Briefes für ihre doppelte Mühe gar schlecht belohnt habe. Er hatte
ihr mit harten Worten ihr nächtliches Umherstreichen vorgeworfen, dessen Zweck
doch nur der
Kaum hatte er sich aber diese Selbsterleichterung von der Beschwerde des Körpers
und den Vorwürfen der Seele verschafft, so überfiel ihn das Bedenken, ob auch
Christine ihn so schnell zu absolvieren
Daß er Christinen diesen Vormittag allein zu Hause finden würde, hatte ihm ihr Brief klar gesagt, obgleich es nicht mit Worten darin zu lesen stand: denn wozu würde sie sich gestern nacht so viele Mühe gegeben haben, den Brief noch in seine. Hände zu bringen, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeste alle in die Kirche gehen würden.
Die Glocke hatte schon das zweite Zeichen geläutet, als er die ›Sonne‹ verließ und
mit einer Bedächtigkeit, welcher man seinen inneren Zustand nicht angesehen haben
würde, verschiedene Seitengäßchen
Sie mußte jedoch nicht so vertieft gewesen sein, als sie scheinen wollte, denn als er zur Türe eintrat, saß sie nicht mehr am Tisch, sondern stand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein so eifrig sie darin zu lesen schien, so zeigte sich doch in ihren Mienen eine Spannung und Bewegung, welche deutlich verriet, daß ihre Gedanken ganz anderswo als bei einem geistlichen Liede waren. Sie war ihm nie so schön vorgekommen: ihr helles Gesicht, obgleich heute nicht so rotwangig wie sonst, blinkte von Morgenfrische, und die gelblichblonden, streng gescheitelten Haare umschlossen es mit einem freundlichen Rahmen; ein feuchter Schimmer schwamm in den niedergeschlagenen Augen; durch das schwarze Gesangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte, erhielt das gleichfalls schwarze Wams, das sonst ein alltäglicher Anblick ist, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erscheinung dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen Schürze beinahe ganz zugedeckt.
Sein Herz klopfte, während er im langsamen Eintreten die liebreizende Gestalt mit den Augen verschlang. »Ist's erlaubt?« sagte er, an der Türe stehen bleibend.
»Ich kann's nicht verwehren«, antwortete sie, und ihre Augen verirrten sich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand des Buches.
»Sie trutzt mit mir«, dachte er.
Beide schwiegen geraume Zeit still, dann begann er
»Das ist auch meine Absicht gewesen«, sagte Christine, »aber wie ich den Brief geschrieben hab und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine Brüder nicht hab drum wissen lassen wollen, und hab nicht früher fortkommen können, als bis alles im Bett gewesen ist, da hab ich nicht gewußt, daß es mir so aufgenommen wird und so ausgelegt. Es ist mich sauer genug ankommen, denn ich hab mir wohl sagen können, daß sich so etwas nicht schickt. Deswegen bin ich nun auch bitter gestraft dafür und seh's jetzt vollends ganz ein, daß ich's hätt nicht sollen tun.«
»Der Brief gilt also nichts?« fragte er.
Sie sah in ihr Gesangbuch, ohne zu antworten. Abermals folgte ein langes Stillschweigen.
»Wenn's so steht zwischen uns«, hob er wieder an, »so hätt ich auch können daheim bleiben.«
Sie legte das Buch auf den Tisch. »Es ist nicht meine Schuld«, sagte sie. »Ich hab's ja nicht so haben wollen. Aber ich möcht mich an keinen hängen, der schlecht von mir denkt und mich eine Nachtläuferin heißt. Ich hab noch niemand Anlaß geben, etwas Unrechts von mir zu glauben, am allerwenigsten –« Sie stockte, denn das Du wollte ihr nicht über die Lippen.
»Hab ich denn wissen können, daß du meinetwegen unterwegs bist?« rief er.
»Nun ja«, versetzte er, »wenn ich gewußt hätt, was für einen Botengang du tust, so hätt ich ja gewiß nichts dergleichen gesagt.«
»Das glaub ich«, bemerkte sie, unmutig über diese leichte Entschuldigung.
»Jetzt laß es aber gut sein!« rief er, auf sie zugehend. »Bis du austrutzt hast und auspredigt, ist der Pfarrer mit der Predigt auch zu End.«
»Nicht so geschwind!« rief sie und wich rasch vor ihm zurück.
»So? da kann ich also heimgehen?« sagte er, erbittert über den ernstlichen Ton, mit dem sie ihn zurück gewiesen hatte.
Sie gab keine Antwort.
»So kann's nicht zwischen uns fortgehen!« rief er, allmählich wild werdend. »Jetzt sag's grad raus und laß mich nicht lang warten: wie hast's mit mir?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich glaub, wir taugen nicht recht zusammen, wir zwei
beide. Ich will nicht von den vielen Haken reden, die die Sach hat und die mich
schon oft traurig gemacht haben. Aber wer mein Schatz sein will, der darf mich
nicht so anfahren und darf mich nicht gleich beschuldigen, daß ich auf unrechten
Wegen sei, eh er sich nur Zeit
Obgleich er sich gestehen mußte, daß das Mädchen vollkommen recht habe, und obgleich sie ihm in diesem Augenblicke mit ihrer ganzen Art zu denken und zu reden unsäglich gefiel, denn das war nicht mehr das schüchterne, kindische Wesen, das andere Leute für sich reden ließ, so gestattete ihm doch sein starrer Trotz nicht, aus ihren Worten etwas anderes als einen bittern Bescheid herauszulesen. »Wenn man mir so ausbietet«, sagte er, »dann will ich nicht überlästig sein.«
Sie schwieg, ohne aufzublicken.
»Es ist also Ernst?« wiederholte er. »Ich soll gehen?«
»Wer mir's so macht, den werd ich nicht bleiben heißen«, antwortete sie entschlossen, aber zugleich drangen ihr die Tränen in die Augen.
»Nein!« rief er wild, und die seinigen rollten, während er das Messer zog. »So geh
ich nicht fort! Hie auf dem Platz muß es sich zwischen uns entscheiden. Sag ja
oder nein, willst du mich, oder willst du mich nicht? Wenn du mich willst, so
versprech ich dir, daß dergleichen Dummheiten, wie gestern
Christine war einen Augenblick starr und bleich vor Schrecken dagestanden, wie er
mit dem funkelnden Messer auf sie zuschritt. Bald aber änderte sich ihr Gesicht.
Im Gegensatz zu ihm, der in ihren Reden nur Bitterkeit fand, sog sie aus den
seinigen nur den Honig heraus. Aufgelöst durch das Übermaß von Feuer und Liebe,
das aus dieser fürchterlichen Liebeserklärung hervorbrach, und ohne sich durch die
rohe, gewalttätige Beimischung von neuem abstoßen zu lassen, warf sie sich ihm,
als er geendet hatte, so heftig an den Hals, daß sie ihm kaum noch Zeit
»Ist's wahr?« rief er. »Willst mein sein? Sag'snoch einmal.«
»Meinst du's auch ehrlich mit mir?« fragte sie, indem sie den Kopf aufhob und ihm in die Augen sah.
Er schwur es mit tausend Eiden, wovon einer den andern an Kraft und Derbheit übertraf. »Bist jetzt mein?« fragte er dann abermals.
»Ja!« schrie sie unter dem Druck seiner Arme, die sie wie eiserne Klammern preßten.
»Ganz mein?«
»Ganz! Du kannst mich sieden oder braten, nur erstick mich nicht.«
Er ließ sie einen Augenblick los, aber nur, um sie im nächsten desto fester in die
Arme zu fassen, und die Sinne vergingen ihr unter dem Ungewitter der Leidenschaft,
das über sie losbrach. Es war, als ob der Pfarrer mit den Liebenden im Bunde wäre,
»Jetzt will ich gern sterben«, seufzte Friedrich, als er aus dem Rausche des Entzückens endlich wieder zu sich kam. »Noch einmal will ich dir's geschworen haben, daß ich nimmer von dir lassen will, was auch kommen mag, und will dir treu sein bis in den Tod.«
»Du mußt jetzt nicht vom Sterben reden«, sagte ihm Christine leise ins Ohr, indem sie den Kopf verschämt an seine Schulter lehnte, »ich hab's jetzt doppelt nötig, daß du für mich lebst.«
»Ja, ich will, und Müh will ich mir geben, daß ich immer den richtigen Weg geh und daß du keine Unehr von mir hast und keine Sorgen um mich. Gelt, das ist doch eigentlich Ursach gewesen, daß du dich so lang besonnen hast? Gesteh's nur frei heraus, ich nehm's dir nicht übel.«
»Nein«, sagte sie, »ich hab mich nie zum Richter über dich aufgeworfen und hab's ja wohl gewußt, wie gut du bist und daß in deinem Herzen kein fauler Butzen ist und kein falscher Blutstropfen in deinen Adern. Meinst du denn, sonst hätt ich dir so getraut?«
»Warum hast du mich dann aber so lang zappeln lassen und hast mir soviel böse Stunden gemacht?«
»Ei, bin ich's nicht wert, daß du dich ein wenig um mich hast verleiden müssen?«
»Freilich bist du's wert. Ich mein nur, wenn du so große Stück auf mich hältst,
wie ich's in meinen Augen nicht verdien, und hast zugesehen, wie ich
»O du!« sagte sie und schlug ihn mit dem Finger auf die Lippen.
»Ich will den Baum nicht loben, der auf den ersten Streich fällt, aber du hast mir's doch ein wenig gar zu arg gemacht, hast mich ja am ewigen Feuer braten lassen. Hättest's dir selber nicht zuleid tun sollen. Jetzt sag's nur: warum bist so unbarmherzig gewesen gegen mich und dich?«
»Ich kann's nicht sagen«, kicherte Christine wie damals, als sie sich im Bäckerhause hinter dem Ofen versteckte.
»Ich küss dich so lang, bis du's sagst, denn ich merk jetzt schon, daß es was zu bedeuten hat.«
»Da kannst lang küssen.«
»Oder ich drück dich, bis dir der Atem ausgeht.«
»Dann sterb ich in deinem Arm.«
»Wart, ich will dir schon zeigen, wer Herr ist. Willst du Daumenschrauben kennenlernen?«
Kaum hatte er ihre Finger etwas zwischen den seinigen gepreßt, so schrie sie: »Halt! Laß nach! Ich will ja alles gestehen!« Sie legte den Mund an sein Ohr und sagte: »Sieh, meine Mutter hat zu mir gesagt, wenn ich einen dummen Streich mache, so schlage sie mir alle Glieder entzwei, und –«
»Ja? Und?«
»Ach, du brauchst nicht alles zu wissen.«
Er erhaschte ihre Finger und wiederholte die vorige
Er lachte aus vollem Herzen. »So?« sagte er, »du hast also so ein gut's Zutrauen zu mir gehabt, daß du gleich gedacht hast, du werdest dich bei mir vor einem dummen Streich nicht behüten können?«
»Ach, ich hab dich eben von Anfang an so lieb gehabt, du böser Bub du!«
»O du mein lieb's Weible du!« rief er, indem er sie in seine Arme zog und ihren Kopf an sein Herz legte.
»Aber das hör ich gern!« rief sie. »Das tut mir wohl! Oh, sag noch einmal so!«
»Mein lieb's Weible! Und jetzt will ich dich auch recht um Verzeihung bitten, daß ich dir's so wüst gemacht hab, absonderlich gestern nacht, wo du meinetwegen ausgewesen bist und ich dir noch schnöde Reden dafür geben hab. Gelt, du verzeihst mir's? Sieh, es ist mir von ganzem Herzen leid.«
»So, jetzt kommst endlich, du Hinterfürhühnle? Hast Ursach genug gehabt, das gleich zu sagen, aber der hochmütig Herr hat sich nicht runter geben wollen.«
»Ja, sieh, um Verzeihung bitt ich niemand, als einen recht guten Freund, und von dir hab ich vorhin noch nicht gewußt, ob du Freund oder Feind mit mir bist.«
»Oh, geh du! Du hast wohl gewußt, daß ich dir
Er beteuerte ihr diesen Glauben mit wiederholten Liebkosungen.
»Was hast denn zu meinem Brief gesagt?« fragte sie nach einer Weile. »Gelt, du hast gewiß gesagt: jetzt kriecht sie endlich zu Kreuz?«
»Ich hab denkt: so, jetzt ist sie endlich in sich gangen und bereut's, daß sie so unchristlich gewesen ist und sich und mir das Leben so sauer gemacht hat.«
»Was nicht sauret, das süßet auch nicht. Aber was hast du denkt, daß ich so wüst geschrieben hab? Ich hab's schier im Finstern tun müssen.«
»Schreib du, wie du willst, mir ist alles recht, was du schreibst. Wirst's schon noch besser lernen, bis du Sonnenwirtin bist, und die Rechnungen und Geschäftsbriefe kann ich ja einmal selber schreiben.«
»Ja, das glaub ich, daß es noch eine gute Zeit anstehn wird, bis ich Sonnenwirtin bin.«
»Nun ja, du wirst doch meinem Vater nicht um den Tod beten?«
»Gott behüt und bewahr mich!« rief Christine eifrig. »Gelt, das ist nicht dein Ernst? Nein, ich gönn ihm und wünsch ihm noch ein langes Leben –«
»Und Enkel genug?«
Sie schlug ihn auf den Mund. »Ich hab nur sagen wollen, es wird noch manches
Wässerlein den Bach hinunterlaufen, bis man uns zusammenläßt. Ach, ich bin eben
ein gering's Mädle und von armen Eltern, und die deinigen sind reich und
hoffärtig;
Er ging mit starken Schritten vor ihr in der Stube hin und her. »Ich will dir
nichts vormachen, was nicht wahr ist«, sagte er. »Ich kann zwar im jetzigen
Augenblick, glaub ich, viel auf meinen Vater bauen, aber so leicht wird's nicht
gehen, daß ich sagen kann: ich darf nur blasen. Er wird vielleicht ein wenig
aufgucken, wenn ich ihm sag, was ich vorhab; sein Leibstückle ist's nicht, denn
das hat einen anderen Klang. Wir müssen uns also darauf gefaßt machen, daß man uns
ein paar Berg in Weg wirft, und falsche Zungen können auch dazwischenkommen. Aber,
wie gesagt, ich steh jetzt mit meinem Vater so, daß ich hoffen kann, wenn er
meinen Ernst sieht, so gibt er nach. Die Hauptsach aber ist: ich hab dich lieb und
will dich, und mir bist du recht, und darum mußt auch allen anderen gut genug
sein. Ich will doch sehen, wer mir das über den Haufen wirft, was ich mir einmal
fürgenommen hab. Ich bin fest überzeugt und weiß ganz gewiß, wenn ein Mensch
seinen Willen ernstlich auf etwas setzt, und es ist nichts Unrechts, so führt er's
auch durch. Ich aber hab meinen Sinn fest darauf
Christine beruhigte sich oder beschwichtigte wenigstens ihre Unruhe im Anschauen und Anschmiegen an ihren Freund. Er gefiel ihr gar zu gut; er kam ihr so männlich vor und war unter dem zuversichtlichen Reden gleichsam gewachsen.
»Nun hast du mein Herz und meine Hand und meinen Eid«, fuhr er fort. »Jetzt mußt du mir aber auch versprechen, daß du mir treu sein willst, denn ich muß dir nur gestehen, das Rumschwanzen und Lustigtun mit den ledigen Burschen auf'm Tanzboden, das muß jetzt ein End haben, und die Husarentänz im Karz stehen mir auch nicht an.«
»Was, Husarentänz? Ich weiß nicht, was du willst. Seit wir nicht mehr gut miteinander gestanden sind, bin ich gar nicht in Karz kommen, und daß ich selbigsmal auf den Tanzboden gangen bin, das hätt dir doch dein Herz sagen sollen, warum das geschehen ist.«
»Du hast ja aber gar nichts mit mir gemacht.«
»Hätt ich kommen und vor dich hinknien sollen?«
»Aber gelacht und geschwätzt hast mit den andern, wie wenn ich gar nicht da wär.«
»Ich hab doch nicht schreien und heulen können, wiewohl mir das nah genug gewesen ist; es ist mir schwer ankommen, mich so zu verstellen, nachdem ich hingangen bin, bloß um dich zu sehen, und du gar nichts von mir gewollt hast.«
Sie wußte von nichts. Er mußte ihr den Vorgang erzählen. In ihrem abgelegenen Häuschen hatte sie von der Geschichte gar nichts gehört.
»Jetzt ist's recht«, sagte er lachend. »Aber jetzt möcht ich erst einmal den Husarentanz von dir sehen. Wie, mach mir ihn einmal vor.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Sag das nicht noch einmal«, entgegnete sie ernsthaft. »Es wär mir leid, wenn's dein Ernst wär!«
»Nein«, sagte er und nahm sie in die Arme, »ich hab dich bloß ein wenig necken wollen. Ich hab dich lieb und wert, und verlaß dich drauf, daß ich dich immer in Ehren halten werd. Aber das mit den ledigen Buben, das hast du mir noch nicht versprochen.«
»Du wirst mich noch bös machen!« sagte sie. »Was will ich von den ledigen Buben! Aber ich will dir's schwören, damit die arm Seel Ruh hat. Da, sieh, ich schwör's! Und jetzt wollen wir sehen, wer seinen Eid am längsten hält, du oder ich.«
Auch er gab sich nun seinerseits zufrieden. Sie plauderten zutraulich miteinander
und malten sich ihr künftiges häusliches Leben aus, wobei es nicht an Scherzen und
Neckereien fehlte. Während sie so Arm in Arm in der Stube herumgingen, rief
Christine auf einmal: »Hu, wie kalt geht's an mich hin! Was ist denn das?« Auch er
empfand jetzt den kalten Luftstrom, und beide untersuchten, woher derselbe komme.
Eine von den runden Fensterscheiben
Sie waren noch im Reden und Raten über den Vorgang begriffen, und Christine hatte ihre Verstörung noch keineswegs überwunden, als die große Glocke auf dem Turme anschlug. »Horch, die Betglock!« rief sie, »die Kirch ist aus, jetzt mach, daß du fortkommst!«
Sie küßten und herzten einander, während Christine ihn beständig forttrieb.
»Heut abend kommen wir zusammen, nicht wahr?« sagte er.
»Ja, sobald meine Leut im Bett sind, und das ist ziemlich früh.«
»Ich treff dich hinterm Haus, und dann spazieren wir ins Feld. Der Boden ist mit lauter Zucker bestreut. Meinst nicht, es werd dir zu kalt sein?«
»Mich friert's nicht, wenn ich bei dir bin, aber jetzt mach dich fort.«
Sie wollte ihn bereden, das Haus durch die hintere Türe zu verlassen. »Nein«, sagte er, »vorn, wo ich herein bin, da will ich auch wieder hinaus. Ich red ohnehin nächster Tag ganz frei und offen mit deinen Eltern.«
»Laß es nur noch ein wenig anstehen«, sagte sie, »es ist mir so angst.«
»Und wenn sie fragen, ob jemand unter der Kirch bei dir gewesen sei, so sagst ohne weiteres ja, ich sei dagewesen.«
Sie versprach alles und trieb ihn wiederholt zur
Er hatte seinen guten Grund, das Haus auf der Vorderseite zu verlassen. Es sollten nicht doppelte Fußstapfen hinterbleiben, die vielleicht ein endloses Gewirr von Vermutungen wachgerufen haben würden. Er trat sorgfältig in die vorhandenen Spuren und folgte ihnen, um auf diese Weise etwa herauszubringen, wer vor dem Fenster gewesen sein möchte. Die Spuren führten an den äußersten Häusern des Fleckens hin und dann kreuz und quer durch einige Gäßchen, wo sie sich aber bald mit anderen Fußstapfen vermischten. Er mußte seine Nachforschung als fruchtlos erkennen und ging kopfschüttelnd seines Weges. Die Leute kamen eben aus der Kirche. Er konnte es nicht vermeiden, manchem verwunderten und neugierigen Blick zu begegnen; da er sich aber ruhig in den Zug mischte, so brachte dies viele, die sich mehr mit Anhörung der Predigt als mit Musterung der Zuhörer beschäftigt hatten, auf den Glauben, daß er gleichfalls aus der Kirche komme.
In der ›Sonne‹ wurde der Neujahrstag mit einem Familienessen gefeiert. Die beiden
Schwiegersöhne hatten sich mit ihren Frauen nach der Kirche zur Gratulation
eingefunden und blieben nach hergebrachter Weise zu Tische da. Als Friedrich nach
Hause kam, fand er schon die ganze Familie versammelt.
Solange das Gesinde, das diesmal an einem besonderen Tische speiste, sich in der Stube befand, wurde von der Witterung und von der heutigen Predigt gesprochen, welche sich der mit einem guten Gedächtnis begabte Chirurg sehr ausführlich anzueignen gewußt hatte. Nachdem aber Knechte und Mägde sich entfernt und auch die Kinder auf Befehl ihres Vaters, jedes ein Stückchen Kuchen in der Hand, die Stube verlassen hatten, begann dieser mit mutwilligem Blinzeln: »Ist der Schwager heut auch in der Kirche gewesen?«
Friedrich wurde rot. »Ich hab Gott anders gedient«, sagte er.
»Vielleicht zu Haus eine schöne Predigt gelesen oder ein Stück in Arndts ›Wahrem Christentum‹?«
Friedrich schwieg, der inquisitorische Ton, aus welchem eine geheime Bosheit sprach, machte ihm das Blut, aber jetzt nicht aus Scham, nach dem Kopfe steigen.
Der Sonnenwirt, der noch mächtig am Braten arbeitete, hielt einen Augenblick inne, um zu schauen, wo die Sache hinaus wolle, und sah bald den Tochtermann, bald den Sohn mit fragenden Blicken an.
Der Krämer kicherte und riß einige Witze, die Friedrich beinahe außer sich brachten; aber er schwieg noch, denn die plötzliche Entdeckung, daß er nicht bloß, wie ihm schon zuvor klar gewesen, verraten, sondern daß sein Geheimnis in die schlimmsten Hände überliefert sei, hatte ihn etwas seiner Fassung beraubt.
»Wer hat dir denn die Sach hinterbracht?« fragte der Sonnenwirt seine Frau.
»Das darf ich nicht sagen«, antwortete sie, »ich hab Stillschweigen angeloben
müssen, kannst dir
»Und doch möcht ich raten«, sagte der Chirurg mit einem wohlwollenden Blicke auf seinen jungen Schwager, »solchen unbekannten Personen nicht allzuviel zu trauen. Man muß einen nicht gleich auf eine bloße Delation hin verdammen.« – Der Chirurg war weltklug: er wollte es mit der angegriffenen Partei nicht verderben; auch hatte er, seit sein Ziel erreicht war, seiner Schwiegermutter mehrfach gezeigt, daß er nicht ganz und gar in ihr Hörnlein zu blasen gesonnen sei. Dabei mochte er ein wenig von der Abneigung seiner Frau angesteckt worden sein, gegen welche er sich oft über die Unselbständigkeit und Untertänigkeit des Krämers lustig machte.
Die Sonnenwirtin hatte inzwischen in dem Gesichte ihres Stiefsohnes gelesen. »Was brauchen wir weiter Zeugnis?« rief sie. »Er leugnet's ja selber nicht, daß er sich mit dem schlechten Mensch eingelassen hat.«
Der Sonnenwirt hatte eben die Gabel mit einem Stücke Braten erhoben; es war aber
in Gottes Ratschluß vorgesehen, daß er dasselbe nicht in den Mund bringen sollte,
denn Friedrich fuhr auf, durch das böse Wort aus seiner Befangenheit
herausgerissen, und rief: Ȇber mich kann man sagen, was man will, das will ich
alles geduldig tragen, aber auf das Mädle laß ich nichts kommen, denn das Mädle
ist brav, und wer schlecht von ihr reden will, der kann sich vor mir in acht
nehmen; ich leid's von niemand, selbst von Vater und Mutter nicht!
Ein starres, sprachloses Staunen hatte sich der Familie auf dieses unumwundene
Geständnis bemächtigt; der Sonnenwirt hatte die Gabel mit dem Braten auf das
Tischtuch fallen lassen, wo sie, über den Rand hinausragend, keinen Halt fand und,
der Sonnenwirtin unterwegs das Taffetkleid beschmutzend, ihren Fall auf den Boden
fortsetzte. Die Anstifterin des Auftrittes konnte deshalb an dem ersten Geräusche
der Explosion keinen Anteil nehmen; sie schoß mit einem wütenden Blicke auf ihren
ungeschickten Eheherrn hinaus, um die Flecken an ihrem Kleide womöglich zu
vertilgen. Nachdem die bestürzten Geister sich wieder etwas gesammelt hatten,
machten sich die Gefühle über das unerhörte Unterfangen des jungen Menschen in
verschiedener Weise Luft. Der Krämer stieß ein schrillendes Gelächter aus, das dem
Geheul eines jungen Hundes nicht unähnlich klang, und seine kleinen Äuglein
verschwanden in den Fettbergen, womit sie umgeben waren. Seine Frau, Friedrichs
älteste Schwester, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und lamentierte.
Der Sonnenwirt hatte gleichfalls einige Zeit gebraucht, um aus einer Art von Erstarrung zu sich zu kommen. Als er sich erholt hatte, streckte er den Finger gebieterisch gegen seinen Sohn aus. »Laß dir im Hirn verganten!« rief er, »vor allem aber reis dich, daß ich dich heut nicht mehr sehen muß, und hörst? komm mir ein paar ganze Tag gar nicht vors Angesicht.«
Friedrich stand gelassen auf, um dem Gebote seines Vaters zu gehorchen. »Ihr werdet noch besser von der Sach denken lernen, Vater«, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte.
»Still!« rief der Alte, »sei ganz still, red gar nichts, denn jedes Wort, das aus deinem Munde geht, ist ein Nagel zu meinem Sarg.«
Der Sohn schwieg und ging schnell zur Türe hinaus.
»Es ist doch schrecklich«, jammerte die Krämerin, »daß sich der Bub gar nicht geben will. Kaum meint man, man hab ihn auf dem rechten Weg, so kommt wieder ein ärgerer Streich.«
»Ja«, sagte der Krämer, »das gäb eine Eh, die man aus dem Heiligen verhalten müßt.«
»Freilich, wie die Lumpensippschaft, aus der das liederlich Ding abstammt«, ergänzte seine Frau.
»Eine schöne Partie für uns!« rief die Krämerin. »Der Bub ist einmal im Kopf nicht richtig. Bei seiner Tauf ist der vorig Amtmann zu Gevatter gestanden, und jetzt will er uns ein solches Bauernmensch in die Familie bringen.«
»Ich möcht nur wissen, mit was sie ihm's angetan hat!« seufzte die Chirurgin, die bisher seine Lieblingsschwester gewesen war.
»Pah!« lachte der Krämer, »sie handelt mit kurzer War, und da beißt so ein Unverstand gleich an.«
»Ja«, sagte seine Frau, »Schwarz ist auch eine Farb.«
»Für den Liebhaber!« fiel die Sonnenwirtin ein, die eben wieder in die Stube getreten war. »Der Geschmack verbirgt sich nicht. Es heißt nicht umsonst: Sage mir, mit wem du umgehst, so will ich dir sagen, wer du bist. Diese Liebschaft bringt's einmal recht an den Tag. Da kann man wohl auch sagen: Hudel find't Lumpen, Hutsch find't sein Hätsch.«
Der Sonnenwirt, dem es bei all seinem eigenen Verdrusse doch durch die Seele
schnitt, seine Frau in seiner Gegenwart so von seinem Sohne reden zu hören, sagte
unmutig zu ihr: »Das Zeugnis muß ich dir geben, daß du mir da ein schönes Zugemüs
angerichtet hast. Hättest's nicht besser anbringen können, als just überm Essen.
Wem du den Neujahrsschmaus
»Da muß ich freilich sehr um Verzeihung bitten«, entgegnete sie, »wenn ich gewußt hätt, daß dir das Essen wichtiger ist als der Lebenswandel deines Sohnes, so hätt ich geschwiegen; aber ich hab eben gemeint, ich müss' reden, solang's noch Zeit ist und eh er vollends ganz in den Abgrund taumelt. Wiewohl, ich hab's auch früher nicht an Ermahnungen fehlen lassen, und die Sach ist dir schon lang sehr nah gelegen; wenn's ein Wolf gewesen wär, er hätt dich gefressen.«
Der Sonnenwirt trommelte am Fenster. »Hab ich mir denken können«, schnauzte er nach einer Weile herum, »daß der Bub so aus der Art schlagen und mit der dummen Liebschaft Ernst machen würd? Jetzt muß man freilich mit ihm Ernst machen«, fuhr er gegen den Chirurgen fort, dem er noch am liebsten ein Wort gönnen mochte, »und wenn man zu den schärfsten Mitteln greifen müßt, so ist das Unglück nicht so groß, als wenn man der Sach den Lauf läßt. Hier muß man mit der Katz durch den Bach.«
Der Chirurgus, der bis jetzt das Reden den andern überlassen und sich dadurch
seine Meinung freibehalten hatte, räusperte sich und erwiderte: »Das ist gar kein
Zweifel, Herr Vater, diese Liebschaft ist ein Übel, eine Art Geschwür, das man um
keinen Preis aufkommen lassen und im Notfall mit Schneiden oder Brennen beseitigen
müßte. Jedennoch möcht ich unmaßgeblich raten, nicht allsofort zum
»Ja«, setzte seine Frau mit einem Seitenblick auf
Die Sonnenwirtin hatte die anzüglichen Bemerkungen ihres abtrünnigen Tochtermannes mit einem giftigen Lächeln verschluckt und einen Blick mit dem Krämer zu wechseln versucht, der aber, in der Erkenntnis, daß er es aus zu großer Dienstbarkeit gegen die Schwiegermutter mit dem Schwiegervater verschüttet habe, die Augen verlegen zu Boden schlug. Als jedoch ihre Stieftochter daran zu erinnern wagte, daß Friedrich seine Schwestern gegen sie in Schutz genommen, fuhr sie auf. »So?« rief sie, »das soll ihm noch als eine Tugend angerechnet werden, daß er den häuslichen Frieden untergraben hat und Hader angestiftet und hat seine ruchlose Hand gegen seine Mutter aufgehoben? Und darob lobt man mir ihn ins Gesicht, wie wenn ich nicht die Frau im Haus mehr wär?«
»Still jetzt!« rief der Sonnenwirt auf den Tisch schlagend, »ich hab genug an dem Neujahrsschmaus, will nicht auch noch einen Nachtisch dazu!«
Die Familie ging mit einem sauren Abschied auseinander. Der Sonnenwirt lehnte eine Einladung des Krämers ziemlich trocken ab, nahm seinen Hut und schloß sich im Weggehen dem Chirurgen an, der ihn ins Freie zu begleiten versprach.
Abends zur verabredeten Zeit traf Friedrich, mit Christinen zusammen. »Hat's was gegeben?« fragte er. Sie verneinte es. »Bei mir hat's schon eingeschlagen!« sagte er und erzählte ihr den Auftritt, den es über Mittag abgesetzt hatte, wobei er jedoch die grellen Farben desselben sehr zu mildern Sorge trug. Christine weinte und sagte: »Ich hab's wohl vorausgesehen, daß ich den Deinigen nicht recht sein werd. Ach Frieder, wie wird's mir gehen? Da liegen viel Berg und Täler dazwischen, bis wir zwei zusammenkommen.«
»Reut's dich?« fragte er. »Mich reut's nicht.«
»Solang du so gegen mich bist, wie jetzt, reut's mich auch nicht. Aber wir werden eben viel zu leiden haben miteinander, das gibt schon der Anfang. Es ist kein gut's Zeichen, daß es uns gleich am ersten Tag so hinderlich gehen muß. Ich möcht nur auch wissen, was für ein Neidhammel uns bei deiner Mutter verraten hat.«
»Das möcht ich auch herausbringen«, sagte er. »Hat dich vielleicht einer von den ledigen Buben gesehen gestern nacht, wie du den Brief ins Beckenhaus tragen hast?«
»Mit deinen ledigen Buben!« spottete sie. »Du meinst immer, das ganz ledig Mannsvolk sei hinter mir auf dem Strich.«
»Ich sag's nicht aus Eifersucht«, entgegnete er. »Aber es ist ja wohl möglich, daß
dich einer auskundschaftet hat und hat dich vielleicht mit mir
»Ich bin keinem begegnet«, sagte Christine, »und wenn mich je einer gesehen hätt, hätt er mich nicht erkannt, so flink bin ich gewesen. Nur einer fällt mir ein, der hat mir ins Gesicht gesehen und könnt mich möglicherweis erkannt haben. Den rechnet man aber kaum zu den ledigen Buben, und er wird dich nicht eifersüchtig machen. Der Fischerhanne ist's gewesen; der ist vor seinem Haus gestanden und hat, scheint's, auf das Schießen gehorcht, hat aber dabei geschnattert vor Kälte.«
»Der Fischerhanne!« rief Friedrich. »Jetzt weiß ich, wo ich dran bin. Der weißblütig Neidteufel hat mich von jeher verfolgt. Da ist gar kein Zweifel, der ist dir gestern nacht nachgeschlichen – wenn ihn nur der Mordschlag troffen hätt! – und hat auch heut meinem Gang nachgeforscht. Dem möcht ich jetzt für die zerbrochene Scheib eins von seinen Gesichtsfenstern ausstoßen oder ein Eck von seinem siebeneckigen Kopf wegschlagen.«
»Nein, du wilder, gewalttätiger Bub!« sagte Christine, »laß du ihn lieber in Frieden, sonst würdest nur aus Übel Ärger machen.«
»Es ist auch wahr«, erwiderte er. »Und zudem, seit du mein bist, ist mir's so
wohl, daß ich der ganzen Welt in Fried und Freundschaft die Hand geben möcht. Ich
muß mich eigentlich zwingen, dem Fischerhanne gram zu sein, wie er's ja doch
verdient. Auch meinem Vater hab ich heut kein bös Wort geben können, wiewohl's
nicht recht von ihm
»Bleib du immer so«, sagte Christine, »und wie du lieb gegen mich bist, so sei's auch gegen deine Nebenmenschen. Wir müssen die Hindernisse, die man uns in den Weg wirft, durch Liebe zu überwinden suchen.«
»Aber dem Racker tu ich doch noch einmal einen Tuck«, bemerkte Friedrich. »Es gibt Menschen, mit denen man in Liebe und Güte nicht fertig wird, sonst fressen sie einen aufm Sauerkraut.«
»Du solltest eher auf das denken, wie du ihn gewinnst, damit er uns nicht weiter verschwätzt.«
»Dafür ist schon gesorgt: meine Frau Mutter hat zu verstehen gegeben, sie hab ihn abgefunden, damit er dem Pfarrer nichts zutrage. Der schreit schon, wenn einer am Sonntag eine Bettlad anstreicht. Wie würd er erst einen Lärm machen, wenn er erführe, was wir für einen Gottesdienst miteinander gehalten haben.«
»Red doch nicht so gottlos heraus!« unterbrach ihn Christine. »Es ist ja eine Sünd und eine Schand, wie du schwätzt!«
»Was? Wenn ein Bub sein Mädle in Arm nimmt, die unser Herrgott füreinander geschaffen hat? Da müßtest du ja Reu und Leid tragen für jeden Kuß, den du mir heut unter der Kirch geben hast!«
»Ach, Gott verzeih mir's! Ich hab dich eben so lieb, und darum hab ich's getan.
Aber recht ist's
»Du Annemergele, du! Aber wir wollen nicht streiten. Komm, wollen lieber küssen.«
»Mein'twegen, die Kirch ist ja schon lang aus.«
Sie gingen, sich küssend und umschlingend, weit ins beschneite Feld, ohne dem
Frost eine Gewalt über ihr Jugendfeuer zu gönnen; ja, sie warfen einander, wenn
sie sich müde geküßt hatten, mit Schneeballen, und traf er sie mit einem gar zu
derben Wurfe, so gab dies wieder Anlaß zu Söhnungsbitten und neuen Liebkosungen.
Dazwischen zerstreute er ihre stets auftauchenden Besorgnisse wegen der Zukunft
durch die bündigsten Versicherungen und Schwüre. Der Mond sank erblassend gegen
Westen hinab, und die ersten Schauer der Morgenkälte wehten über die Flur, als sie
sich endlich trennten. Immer später kam in den nächsten Nächten die abnehmende
Sichel auf den Schauplatz, und immer noch traf sie das Paar und beleuchtete eine
Glückseligkeit, die sich um die Welt nichts kümmerte. Wenn aber je Christine
wieder zu sorgen und zu zagen begann, so wußte Friedrich sie zugleich zu necken
und zu trösten. »Ich glaub, der Mut verfriert dir«, sagte er, »wir werden uns in
der Hüterhütte bergen müssen. Sieh, du bist mein Weib vor Gott, ich werd nicht von
dir lassen und nicht eher ruhen, bis du es auch vor den Menschen bist. Ich hab
einmal gesagt: Ich will! und das Wollen in eigner Sach ist viel stärker, als das
Nichtwollen in fremder Sach. Wenn ich eher den Kopf hergeb als meinen Willen und
Zu dem Gantverfahren, das der alte Sonnenwirt seinem Sohne angeraten hatte, schien er ihm volle Zeit und Muße verstatten zu wollen; denn er ließ ihn seine Tage und Nächte ungestört nach seinem Gutdünken hinbringen. Friedrich befolgte das Gebot seines Vaters, ihm nicht vors Angesicht zu kommen, buchstäblich, und obgleich seine Stiefmutter täglich über die gestörte Hausordnung seufzte, wenn er sich das Essen durch die Dienstboten auf seine Kammer bringen ließ, so wußte sie doch nichts dagegen einzuwenden, weil er sich auf den unmittelbaren Ausspruch des Familienoberhauptes berufen konnte. Dabei ließ er sich's jedoch angelegen sein, mit seinen Dienstverrichtungen immer da einzugreifen, wo er den Vater nicht gegenwärtig wußte. Die Nächte widmete er den Zusammenkünften mit seiner Geliebten, und da er mit allen Gängen und Schlichen vertraut war, so machte es ihm keine Schwierigkeit, beim Heimgehen wieder in das verschlossene Haus zu kommen. Es schien ihm beinahe, als ob sein Vater, nachdem er einmal seine Willensmeinung ausgesprochen, den Dingen ohne weiteres Einschreiten den Lauf lassen wollte.
Hierin täuschte er sich aber sehr. Der Sonnenwirt
Die Amtmännin nahm das Geschenk und die Mitteilung der Sonnenwirtin mit
Wohlgefallen auf. Sie gestand ihr offen, daß es ihr jedesmal übel werde,
Nach dieser vorläufigen Verlässigung begab sich der Sonnenwirt mit dem Chirurgus
zum Amtmann, dem er mit Hilfe des letzteren vortrug, er habe, wie dem Herrn
Amtmann wohl bewußt sein werde, einen Sohn, der unerachtet aller väterlichen
Bemühungen und trotzdem daß er viel Geld auf seine rechtliche und christliche
Erziehung verwendet, bis jetzt nicht habe einschlagen wollen und ihm nun gar noch
das Kreuz mache, in seiner Minderjährigkeit an eine ganz ungleiche Heirat mit
einer Bauerntochter, die nichts sei und nichts habe, zu denken. Da nun das
Sprichwort mit Recht sage: »Wohl aus den Augen, wohl aus dem Sinn«, so habe er
sich resolviert, ihn in die Fremde zu schicken. Er habe in Frankfurt, oder
vielmehr in Sachsenhausen, welches gleich daneben überm Mainstrom liege, einen
leiblichen Bruder, der daselbst gleichfalls Wirt zur ›Sonne‹ und in jungen Jahren
durch eine Glücksheirat mit einer Witwe in den Besitz derselben gekommen sei. Dem
wolle er seinen Sohn zuschicken, in der Hoffnung, daß derselbe unter einem fremden
Himmel und bei andern Leuten seine Torheit vergessen und sich vielleicht den Kopf
auf eine zuträgliche Art verstoßen und die Hörner ablaufen werde. Er habe sich nun
die Freiheit nehmen wollen zu fragen, was der Herr Amtmann von der Sache denke.
Der Amtmann erwiderte, der Gedanke habe seinen ganzen Beifall, denn fremde Städte
und fremde Menschen sehen,
Darauf empfahl sich der Sonnenwirt nebst seinem Schwiegersohne unter vielen
Danksagungen und berief zu Hause sogleich seinen Sohn zu einer Unterredung in
Ernst und Güte, nach welcher Friedrich mit väterlicher Einwilligung in das Haus
des Hirschbauern ging, um von Christinen Abschied zu nehmen. Nur unter dieser
Bedingung hatte er sich dem Willen seines Vaters gefügt. Bei dieser Fügsamkeit
waren allerdings die Drohungen des Amtmanns, von
Nachdem er diese gleichgültigeren Angelegenheiten abgetan hatte, trat er den
schweren Gang zu Christinen an. Diesmal suchte er keine Nebengäßchen, sondern ging
den geraden Weg bis ans Ende des Fleckens und sah dabei allen Begegnenden herzhaft
und freundlich ins Gesicht. Als er aber die Treppe soweit unter sich hatte, um im
Hinaufsteigen einen Blick durch das Fenster werfen zu können, stieß er
»Das könnt ich brauchen«, polterte der Hirschbauer, »daß mir einer meine Tochter verführt und noch dazu in meinem Haus den Meister spielen will. Weiß wohl, wo die Häglein niedrig sind, da drüber steigt man gern; aber mich soll Armut und Niedrigkeit nicht so weit bringen, daß ich Mutwillen mit mir und den Meinigen treiben lass.«
»Es ist von keinem Mutwillen die Red«, sagte Friedrich, »und ich bin kein Verführer. Ich will Eurer Tochter alle Ehr und alle Treu erweisen, und meine Absicht ist auf nichts anders gerichtet, denn daß wir als Ehleut zusammen kommen.«
»Und dazu geht man in die Fremde?« rief die Bäuerin mit zornigem Lachen. »Ja, ja, weit davon ist gut für 'n Schuß!«
»So, das ist auch schon ausgeschwätzt?« sagte Friedrich. »Wer hat Euch denn das hinterbracht?«
»Seine Mutter ist dagewesen«, erwiderte die Bäuerin, »Er braucht nichts zu leugnen.«
»Ich will auch nichts leugnen, begreif's aber wohl, daß Unsamen hier ausgestreut
worden ist. Wahr
Der Hirschbauer und sein Weib sahen einander an; diese Erklärung lautete ganz anders als das, was die Sonnenwirtin ihnen geringschätzig und spöttisch vorgesagt hatte, um sie gegen ihre Tochter und deren Liebhaber aufzureizen.
»Seine Mutter«, hob der Hirschbauer wieder an, »hat uns gesagt, daß Er mit
leichtem Herzen fortgeh und selber froh sei, der Fessel wieder ledig zu werden.
Und wenn nun das auch nicht so ist und Er andere Absichten hat, so wird Er mir
doch nicht
»Laßt das gut sein, Vetter«, sagte Friedrich. »Die Sach ist nicht mehr anders zu machen. Das Mädle will mich, und ich will sie; uns zwei reißt niemand mehr auseinander. Also handelt, wie ein rechtschaffener Vater an seinem Kind handeln soll, und tretet nicht auch noch zu unsern Feinden.«
Die beiden Alten eiferten und schalten heftig über diese eigenmächtige Art, eine Liebschaft anzufangen, und namentlich meinte die Hirschbäuerin, ihre Tochter hätte wohl eine Züchtigung dafür verdient. Auch beteuerte sie, sie habe nie daran gedacht, daß er darum in ihr Haus gekommen sei, um durch ein Liebesverhältnis mit ihrer Tochter seinen Eltern Verdruß zu machen, und wälzte jede Verantwortlichkeit dafür feierlich von sich ab. Allein ungeachtet des polternden Tones waren beide sichtbar besänftigt durch die Offenheit, mit welcher der junge Mann seine Gesinnung ausgesprochen hatte. Sie gaben sich jedoch Mühe, dies nicht merken zu lassen, und der Hirschbauer sagte: »Man spricht aus, daß Er so gewalttätig sei und daß man von Ihm nichts als Ungelegenheit haben werde; Er soll ja haben verlauten lassen, wenn Er Seinen Willen nicht durchsetze, so werde Er alles über einen Haufen stechen und den Flecken anzünden.«
»Das ist nicht wahr!« rief Friedrich entrüstet, »es ist kein solches Wort aus meinem Mund gangen. Wer hat das gesagt? Er soll sich stellen und mich überführen.«
»Ich weiß schon«, fuhr Friedrich fort. »Meine Stiefmutter – Ihr müßt sie nicht meine Mutter heißen –, die sucht mich auszurotten, sie gönnt mir das Schwarze unterm Nagel nicht. Aber saget selber: wie stimmen ihre Reden zusammen? Wie kann sie denn behaupten, ich möcht über alle Berg und aus diesen Banden los sein, wenn sie hinwieder von mir sagt, ich sei auf meinen Willen so versessen, daß ich sengen und brennen woll, wenn ich Eure Tochter nicht krieg? – Ohne die hätt ich bei meinem Vater ein leichteres Spiel. Wenn meine Schwester und ihr Mann, der Chirurgus, nicht wären, so ging ich gar nicht fort, denn sie tät mich in meiner Abwesenheit vollends ganz untergraben, aber ich hoff, die zwei werden mich verteidigen.«
»Vielleicht«, sagte der Hirschbauer nach einigem Besinnen, »ließ sich ein Wort mit Seinem Herrn Schwager reden und auch mit dem Herrn Pfarrer. Wenn die beiden Herren etwas bei Seinem Vater ausrichten, so könnt man ja noch einmal von der Sach reden. Aber so, wie's jetzt steht, kann ich nicht nur so ohne weiteres meine Einwilligung geben, denn ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich mich mit den Meinigen in eine Familie eingedrungen hab, wo wir überlästig sind.«
»Redet mit dem Pfarrer und dem Chirurgus, wenn ich fort bin«, sagte Friedrich,
»denn fort muß ich jedenfalls auf einige Zeit, das tut mein Vater nicht anders.
Und füget mir's dann zu wissen, wie die Unterredung ausgefallen ist. Jetzt aber
bin ich die
Er gab dem Bauer und der Bäuerin die Hand zum Lebewohl, und sie ließen es
schweigend geschehen, daß er sein Mädchen am Arme nahm und mit sich aus der Stube
zog. Ein Seufzer der Bäuerin, den man verschieden auslegen konnte, und ein
Kopfschütteln des Bauern, das schon nicht so viele Deutungen
Christine fiel ihm draußen laut weinend um den Hals. »Wenn mich nur mein Vater geschlagen hätt«, schluchzte sie, »vielleicht wär mir's leichter geworden. Sieh, es hat mir Stich auf Stich durchs Herz geben, wie ich gehört hab, daß du fortgehst; mein Herz hat sich ganz zusammengezogen, und seitdem tut mir's fortwährend weh. Ach Gott, was soll aus mir werden, wenn ich dich nicht mehr hab!«
»Mach mir das Herz nicht schwer«, sagte er. »Sieh, es ist mir ja schrecklich, daß
ich von dir gehen muß, aber es kann nicht anders sein, und ich bin bei dir und du
bei mir, wo ich auch sein mag in der Welt. Es ist wohl weit weg, aber doch nicht
so gar weit, daß wir nicht einander schreiben oder sogar zueinander kommen
könnten, wenn's nottut. Denk dir alle Möglichkeiten der Reih nach, so muß es uns
doch zuletzt nach Wunsch und Willen gehen. Entweder gibt mein Vater nach, wenn er
unsere Beständigkeit sieht, dann ist ja alles recht und gut; oder wir müssen
warten, bis er das Zeitliche segnet, dann ist's zwar schlimm, aber doch besser als
gar nichts; oder er verstoßt mich, wenn er mir den Sinn nicht brechen kann, dann
kann er mir aber auch nichts mehr verbieten, und heißt's eben: Mann, nimm deine
Hau, ernähr deine Frau; oder find ich vielleicht in der Fremde bei meinem
Vatersbruder oder sonstwo eine Heimat, man kann ja nicht wissen, wie's geht in der
Welt, dann laß ich dich nachkommen; wenn's vielleicht fürs erst nur ein Dienst
»Ja, aber da drunten gibt's gewiß schöne Jungfern, die mich bei dir ausstechen.«
»Sorg du nicht für mich, hab du vielmehr acht, daß du mich nicht von den Ebersbacher Buben aus deinem Herzen vertreiben läßt.«
»Ei, so laß doch endlich das Geschwätz mit den Buben sein!« sagte sie schmollend.
»Was dir recht ist, muß mir billig sein«, erwiderte er. »Such du mich nicht hinterm Ofen, dann guck ich auch nicht, ob du dahinter steckst. Jetzt laß uns aber die letzten Stunden nicht mit Zank und Trutz verderben, es ist ja doch keinem von uns beiden Ernst damit.«
Nachdem sie noch längere Zeit in solchen Wechselreden verbracht, sagte Friedrich: »Ich muß jetzt gehen, ich hab noch Geschäfte mit meinem Pfleger. Ich nehm aber jetzt nicht Abschied von dir, denn ich tu's nicht anders, ich komm heut zu dir in deine Kammer, nachdem's jetzt mit deinen Eltern so gut wie richtig ist.«
»Sei aber vorsichtig«, sagte sie, »und mach kein Geräusch, sonst könntest bald sehen, daß es nicht so richtig ist, wie du meinst.«
»Hab du keine Angst«, erwiderte er.
Er begab sich zu seinem Vormund, einem im Flecken angesehenen Ratsherrn, um ihm
einen Abschiedsbesuch
Er ließ aber im Bäckerhause nichts von seiner Verlegenheit merken, sondern
plauderte treuherziger und fröhlicher, als es ihm eigentlich um das Herz
Lachend gingen seine Gesellen mit ihm fort. Auf dem Wege eröffnete er ihnen, daß er diese Nacht in ihrem Hause bei ihrer Schwester zuzubringen gesonnen sei. Sie fanden das in der Ordnung und ließen ihn mit sich ein.
»Und nun den letzten Kuß!« sagte Friedrich, als kaum der Morgen graute. »Das Scheiden und Meiden ist ein schlechtes Handwerk, und der bös Gott woll's dem behüten, dem's zuerst eingefallen ist, aber es muß nun einmal sein.«
»Wenn ich nicht Sorg hätte, mein Vater oder Mutter könnt aufwachen, so ließ ich dich noch nicht fort«, sagte Christine, unwillkürlich seinen Arm umklammernd. »Es hat sich ja noch nicht einmal ein Hahnenschrei hören lassen.«
»Sie werden bald krähen, und dann währt's nicht lang mehr, so wird's lebendig im
Ort, und ich kann nicht mehr unbeschrien fortkommen, was mir unlieb wär, weil ich
des Geschwätzes mit den Leuten
»Wann wirst auch du wieder zu mir kommen?« seufzte Christine.
»Am Sankt Nimmerlestag, wo die Eulen bocken. Frag nicht so schäckig, weißt ja doch selber wohl, daß ich komm, wenn ich kann und darf. Soll ich dir denn alles wieder herleiern, was ich dir gesagt hab und worauf unsre Hoffnung steht? Ich müßt mich ja heiser predigen.«
Christine schluchzte überlaut. »Mein Herz sagt mir, wir sehen einander nie wieder, und ich werd in Schand und Not verlassen sein.«
»Und mir sagt das mein das Gegenteil. Welches hat nun recht? Da bleibt nichts übrig, als daß wir die zwei Herzen gegeneinander wetten. Gib acht, auf die Art kannst keinsfalls in Nachteil kommen. Gewinn ich's, so sehen wir uns wieder; wenn ich aber die Wett verlier, so bleibt dir doch mein Herz, und dann kannst auch nie verlassen sein.«
»An dir ist ein Advokat verloren gangen«, sagte Christine, »du machst, daß ich in all meinem Jammer wieder lachen muß.«
»Zieh du dein Herz besser«, erwiderte er, »dann wird's dir auch bessere Reden
geben. Und wenn du
»O Jemine!« rief Christine kichernd, »die tät mir das Fell schön vergerben!«
»Jetzt aber genug«, versetzte er. »Alles hat seine Zeit, sagt Jesus Sirach, und alles muß ein End haben, sag ich. Lachen und Weinen, Reden und Küssen, alles hat sein gesetztes Maß und Ziel, und wenn ich jetzt nicht endlich von dir geh, so kann ich ja auch nicht wieder zu dir kommen. Also b'hüt dich Gott, herztausiger Schatz!«
»Wart noch ein wenig!« sagte sie. »Wir müssen erst noch einen Denkzettel voneinander haben. Hast dein Messer nicht bei dir?«
»Willst mich abschlachten und einsalzen, daß ich gleich ganz bei dir bleib?«
»Nein. Ich hab vor etlich Wochen im Karz gehört, wie man's machen muß, wenn eins dem andern aus der Ferne ein Zeichen geben will, daß man aneinander denkt. Komm, streif dein linken Arm auf.«
Er entblößte den Arm. Sie machte ihm mit dem Messer eine kleine Wunde daran und sagte: »Jetzt laß mir geschwind an meinem Goldfinger ein wenig Blut heraus.«
»Das kann ich nicht«, sagte er, »ich kann dir nicht weh tun.«
»Es ist kein Wehe so groß als Herzeleid, sagt dein Jesus Sirach«, erwiderte sie.
»Wenn du aber nicht willst, so muß ich's eben selber tun.« Sie tat's und tropfte
ihm ihr Blut in seine Wunde, die sie alsbald
»Jetzt sind wir ja ganz blutsverwandt«, bemerkte er.
»Das ist's nicht allein«, erwiderte sie. »Wenn's wieder verheilt ist, so brauch ich nur mit der Nadel drin zu stüren, dann gibt's dir einen Stich in Arm, da, wo du mein Blut drein empfangen hast, und ebenso umgekehrt, wenn ich einen Stich da spür in meinem Arm, so weiß ich, daß du mir an dem deinigen ein Zeichen gibst, und seh daraus, daß mein Schatz in dem Augenblick an mich denkt.«
Er lachte. »So lang die Narben frisch sind«, sagte er, »mag's wohl sein, daß sie hie und da ein wenig stechen. Aber ich werd auch ohne das oft genug an dich denken.«
»Wenn's nun aber sein muß«, versetzte Christine, »so mach in Gottes Namen, daß du fortkommst, und geh recht leis mein Katzenstiegele hinunter, damit niemand im Haus aufwacht.«
Sie herzten und küßten einander, daß Friedrichs Ausspruch, »alles müsse ein Ende
haben«, beinahe darüber zuschanden geworden wäre, und nachdem er manchen
vergeblichen Versuch gemacht, den Strom ihrer Tränen durch Abtrocknen zu hemmen,
schlich er so leise, daß man kein Geräusch hören konnte, die schmale steile Treppe
hinab und kam mit Hilfe
Nachdem er sich noch mehrmals umgekehrt und manchen Blick nach dem Schauplatze
seines Glückes zurückgesendet hatte, ging er der Sonne zu, um sein Reisebündel zu
holen. Alles schlief noch; ungehört betrat und verließ er sein väterliches Haus.
Aber auch von diesem, so wenig Gutes er in letzter Zeit daselbst erlebt zu haben
meinte, fühlte er sich noch eine geraume Weile festgehalten und starrte mit
feuchten Augen nach den Fenstern hinauf, hinter welchen seine Mutter ihn geboren
und mit so unendlicher Liebe aufgezogen hatte, hinter welchen der Mann waltete,
der doch immer sein Vater war. Sein rauhes Herz war von einer unsäglichen Wehmut
ergriffen, in welcher die innerste Seele des Volksstammes, dem er angehörte, sich
spiegelte. Der Schwabe, obgleich er eines der unstätesten Völker ist und
vielleicht sogar seinen Namen vom Schweben und Schweifen hat, ist doch darum dem
Heimtum nicht minder als dem Wandertriebe verfallen. Während viele jahraus,
jahrein entlegene Länder durchziehen, kleben andere an ihrer Heimstätte fest, als
ob sie mit ihr verwachsen wären, – ja, man erzählt von einer alten Frau, die in
Tübingen auf der Ammerseite wohnte, sie habe nie in ihrem Leben den Neckar gesehen
–, und selbst von jenen reißt sich mancher erst nach vergeblichen Versuchen und
nur um den Preis des bittersten Heimwehs von der heimischen Scholle los, mag aber
auch freilich, wenn einmal das Heimweh überwunden ist, an sich erleben,
Friedrich wischte sich die Augen mit der Hand aus, stieß seinen Wanderstecken hart auf den Boden und ging in entschlossenem Reiseschritt die Straße hinab; da räusperte sich jemand über ihm, und eine Stimme rief: »Wo naus schon, Frieder, wo naus?«
Er blickte ärgerlich in die Höhe und erkannte seinen Invaliden, der nach der Weise alter Leute nicht lange schlafen konnte und zu dieser frühen Stunde aus seinem Ausgedingstübchen zum Fenster heraussah. »In die Fremde«, antwortete er, einen mutigen Ton in seine Stimme legend.
»Weiß schon«, erwiderte der Invalide, »und weiß eigentlich auch, warum.«
»Ja freilich!« entgegnete Friedrich lachend, »es gibt kein Warum, das nicht auch sein Darum hätt. Übrigens sagt man: die Fremde macht Leut.«
»Ich streit's nicht. Wer nie hinauskommt, kommt auch nie hinein. Und was das
Heimweh betrifft, so hat selbiger Schwab in der Fremde gesagt: ›Schwaben ist ein
gut Land, ich will aber nit wieder heim: grob Brot, dünn Bier und große Stunden!‹«
»Er hat aber doch 'n kuriosen Zwilch an Seinem Kittel«, hob der Invalide wieder an. »Läßt sich da um ein Weibsbild von Haus und Hof fortschicken. Ist sie denn auch soviel wert?«
Friedrich schwang den Stecken um seinen Kopf, daß es durch die scharfe Morgenluft pfiff. »Profos«, sagte er, »wenn ich Euch gut zum Rat bin, so redet mit mehr Respekt von ihr, denn ich versteh kein' Spaß in dem Punkt. Oder könnt Ihr vielleicht etwas von ihr sagen, das nicht recht wär?«
»Das kann ich nicht und will's auch nicht«, erwiderte der Invalide. »Nun nicht so hitzig! Das Mädle kann brav sein, ich will ihr gar nichts tun, aber darum fragt sich's doch noch zehnmal, ob sie zu Ihm taugt. In meinen jungen Jahren, ach, was hab ich mich nicht verleiden müssen um mein Weib, bis ich sie gehabt hab, und nachher, wiewohl ich nichts weniger als schlecht mit ihr gehauset hab, hab ich oft denken müssen, ich hätt grad ebensogut eine andere nehmen können. Wenn man einander einmal innen und außen kennt, dann sieht man erst ein, daß man nicht bloß für die Kürze, sondern auch für die Länge hätt sorgen und auf das und jenes hätt sehen sollen, was nicht bloß in die Augen sticht; denn die Schönheit vergeht und die Jugend mit, und das Leben ist oft so gar lang.«
»Das Sprichwort hat nicht immer recht, sonderlich je nachdem die Hochzeit gewesen ist.«
Friedrich grub nachdenklich mit dem Stecken im Schnee.
»Wenn ich Er wär«, fuhr der Invalide fort, »so würd ich da draußen die Zeit und die Vernunft walten lassen und meinem Vater nachgeben; auch blieb ich nicht zu lang in der Fremde, denn viel Rutschen macht böse Hosen, das sieht Er an meinem Fuß.«
»Ihr, ein alter Soldat, werdet mir doch nicht zumuten, daß ich mein Wort breche?« fuhr Friedrich auf. »Ich hab mich mit heiligen Eiden verschworen, und dabei bleibt's.«
»Wenn's so steht«, erwiderte der Invalide, »so will ich weiter nichts gesagt haben als: 's wär eben gut, wenn alle junge Leut könnten vor alt werden, eh sie jung würden.«
»Das mag sein«, entgegnete Friedrich, »weil's aber unser Herrgott anders hat haben wollen, so kann ich nicht wider ihn streiten und muß eben der Natur ihren Lauf lassen.«
Damit verabschiedete er sich von dem Invaliden, der ihm noch lange voll Teilnahme nachsah, wie er ausschritt und der Schnee unter seinen kräftigen Tritten krachte.
Er hatte die letzten Häuser hinter sich und meinte nun recht einsam in die Welt
hinauszuwandern, als ihn auf einmal ein Wurf, nicht ganz sanft, an die
»Ei!« rief er, »ich hätt gute Lust, mit dir zu zanken. Ich hab geglaubt, du stecktest tief im warmen Nest, und jetzt laufst hinter mir drein, erkältest dich und verbitterst mir das Scheiden noch einmal.«
»Schiltst schon wieder auf mein Geläuf?« sagte sie, sich an seinen Arm hängend. »Sei ruhig, ich kann nicht mehr weinen, die Kälte treibt mir die Tränen zurück. Ich werd doch auch mein' Schatz noch ein wenig begleiten dürfen.«
»Ein paar Schritt mein'twegen. Dann aber machst links um und läßt mich ›in den Schutz Gottes befohlen sein‹.«
»Du Spottvogel! Ja, erst noch will ich dich in unsers Herrgotts Schutz empfehlen und all Stund für dich beten, daß dir's gehen mög wie dem Handwerksburschen, der in der Fremde so wunderbar behütet worden ist.«
»Wie ist denn das gewesen?«
»Hast nie was davon gehört? Mir ist's einmal im Karz erzählt worden. Ein Handwerksbursch ist, weit von seiner Heimat weg, abends spät in eine fremde Stadt kommen und hat nach der Herberg gefragt. Er ist arg müd gewesen, und in den vielen krummen und buckligen Gassen hat er sich auch noch die Füß auf dem Pflaster verstoßen müssen. Gelt? Ach Gott, so wird's dir auch gehen auf deiner Wanderschaft.«
»Mach nur fort.«
»Donnerwetter!« unterbrach er sie, »da hätt ich aber dreingeschlagen!«
»Nein! Wart nur, 's kommt ganz anders, du G'walttätle du! Der Handwerksbursch hat vielleicht auch geflucht oder wenigstens im Schrecken einen Laut von sich geben; denn auf einmal sieht er einen Lichtschein vor sich in der Tiefe, und eine Stimme ruft von unten herauf: ›Um Jesu Christi willen, gehet keinen Schritt weiter oder Ihr seid des Todes!‹ Wie nun das Licht näher kommen ist, da hat er erst gesehen, daß er vor der Kelleröffnung steht, und tief unter ihm steht der Wirt mit dem Licht in der Hand und heißt ihn warten, bis er heraufkomme und die Falltür zumache. Drauf hat er sich umgesehen nach dem Freund, der ihn vor dem jähen Sturz bewahrt hat, aber da ist niemand weit und breit gewesen. Wer kann's also anders gewesen sein als der Engel, der ihn zu seinem Schutz begleitet hat? Sieh, und einem solchen Engel möcht ich dich auch anempfohlen haben, daß er keinmal von dir wiche und ließe dir kein Leid geschehen.«
»Wie der, der mit dem jungen Tobias auf die Wanderschaft gangen ist? Ich ließ mir's auch gefallen, wenn du der Engel wärst.«
»Ach, wenn ich mit dir könnt! Ich wollt gewiß nie über Müdigkeit klagen.«
»Oh, wenn ich dran denk«, rief Christine, von einem plötzlichen Schauer ergriffen, »daß ich dich nimmer säh – und alles, was dann über mich käm –, ich tät mir einen Tod an.«
»Wie meine Schwester? Die hat auch gesagt, sie spring in die Fils, und den Tag drauf hat sie meinen Schwager genommen. Damit jedoch die arm Seel Ruh hat, will ich dir jeden Trost und jede Hoffnung und jeden Schwur, alles von A bis Z noch einmal runtersagen.« Nachdem er dies unter wiederholten Liebkosungen getan, schob er sie sanft einige Schritte in rückwärtsgekehrter Richtung auf der Straße fort und sagte dann: »Jetzt tu mir's zulieb und sieh dich nicht mehr um; ich will mich auch nicht mehr umsehen.«
Er wandte sich und schlug rasch seinen kräftigen Wanderschritt wieder an. Kaum hatte er sich ein wenig entfernt, so rief sie: »Frieder, nur noch ein einzigen Blick!«
Er blieb stehen.
»Nur noch ein einzig's Wort!« rief sie. »Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb. Nicht wahr?«
»Ja, lieb's Weible«, antwortete er. »Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb. Jetzt
aber geh heim. Der Morgen kommt, es wird empfindlich kalt. Willst
Sie lief lachend eine Strecke weit davon. Als sie haltmachte und sich nach ihm umsehen wollte, war er schon hinter der nächsten Biegung der Straße verschwunden, und schluchzend deckte sie die Augen mit der Schürze zu.
Selten wohl hat ein deutscher Hausknecht dem Fürsten Reichserbpostmeister in so
kurzer Zeit soviel zu verdienen gegeben als der junge Schwabe, der in der ›Sonne‹
zu Sachsenhausen eingetreten war. In Ebersbach fragte man sich noch, ob er jetzt
wohl sein Reiseziel erreicht haben werde, da kam schon ein Brief von ihm »An die
ehrbare und bescheidene Jungfer Christina Müllerin, in beliebigen Händen zu
eröffnen, in Ebersbach, cito, cito, franco.« Der Brief lautet so: »Gott zum Gruß
und Jesum zum Beistand. Hertzgeliebter Schatz, ich muß Dich mit einem betrübten
Hertzen beschreiben, und diese Zeilen werden Dich, wie ich in meinem Hertzen
glaub, betrübet antreffen. So will ich Dein Hertz erleichtern und Dich mit
ernsthaftem Hertzen berichten: Liebe Christina, glaube Du, daß mein Hertz nicht
wanckhen wird und Dir noch jederzeit treu verbleiben, so lang noch Gott eine Ader
in meinem Leib laßt. Wann Du andere Buben entlaßst und Dich ihrer entläßst, und
ich erfahre, daß Du Dich so
Noch ehe Christine sich zu dem großen Unternehmen entschließen konnte, einen Brief
von der Fils nach dem Main zu schreiben, der doch auch die Postgebühr
In diesem zweiten Briefe schrieb er: »Gottes Segen zum Gruß und Jesum zum
Beistand. Hertzgeliebter Schatz, hertzgeliebte Christina, ich kann es nicht
unterlassen, vor lauter Sorgen und Bekümmernus und Gedanken Dich zu beschreiben,
und ich kann Tag und Nacht nicht ruhen, bis ich eine Antwort von Dir hab. Bitte
Dich um Gotteswillen, schreibe Du mir, wie es Dir geht und wie es mit Dir sey. Ich
kann Tag und Nacht nicht ruhen vor lauter Seuftzen und Sorgen. Wann Du mir etwas
zu melden hast, so schreib mir es gleich, ich will Dich nicht verlassen so lang
ich leb. Übrigens schick ich Dir hier einen kleinen Gruß; wann Du mir schreiben
tust, so will ich Dir ein Mehreres schicken. Ich hab nicht Zeit, Dir mein gantzes,
mein gantzes Hertz
Der eingelegte Brief an den alten Hirschbauer, den sie lesen sollte, erhielt Versicherungen seiner unwandelbaren Gesinnung, wie folgt: »An meinen Vetter Müller. Ich kann nicht unterlassen, an Euch zu schreiben, weilen Er so viele Müh an sich genommen und unterschiedliche Sachen wegen Seiner Tochter Namens Christina mit mir geredt hat: so will ich Ihm redlich schreiben wie ichs gegen ihr meine, daß ich keine Andre mehr begehre als sie, und ich sobald ihrer nicht vergessen kann. Wann es seyn kann, wie Er mit mir geredt hat, daß Er mit dem H. Pfarrer und mit dem Chirurgus reden könnt, daß man uns zahmen (zusammen) lassen will, so bin ich gleich resolvirt, sie zu nehmen, denn so leicht kann ich Sie nicht lassen, und Sie mich nicht. Ich lasse auch mein Leben, eh ich sie entlassen oder verlassen will: so bitte ich Ihn nur herzlich, die Christina ein halb Jahr bei ihm zu behalten.«
Auch der Invalide erhielt einen Brief »in beliebigen Händen zu eröffnen«, welcher seine Zweifel wegen des Verhältnisses zu Christinen nicht sowohl widerlegen als einfach in folgenden Schlußworten niederschlagen sollte: »– So lang ich einen Blutstropfen im Leib hab, so will ich mich ihrer annehmen. Hiemit will ich beschließen und schließe Euch in die Vorsorg Gottes.«
Der Invalide schüttelte zu Friedrichs Beteuerungen hartnäckig den Kopf und sagte beim Wein zu der Bäckersfrau: »Wenn so ein junger Mensch verliebt ist, so meint er, es gebe in der Welt nichts als seinen Gegenstand, und wenn er einmal zehn Jahr und drüber verheiratet ist, so kann er oft gar nicht begreifen, warum er grad die genommen hat, da's doch soviel andere gegeben hätte.«
»Beständigkeit ist doch eine Tugend«, erwiderte die Bäckerin. »Aber arg ist mir's
einmal, daß der erste Funke zu dem Brand in meinem Haus hat angehen müssen. Wenn
ich das vorausgesehen hätt, so hätt ich mich lieber ohne mein Dötle beholfen, und
dann
»Wider das Schicksal ist kein Kraut gewachsen«, versetzte der Invalide. »Das ist im Leben wie in der Schlacht: an einem fährt's vorüber, und den andern trifft's.«
Es kamen noch weitere Briefe von Friedrich, die sich alle um einen und denselben Angelpunkt drehten. Von seinem eigenen Ergehen schrieb er kein Wort, auch nicht von dem, was er im fremden Lande zu sehen und zu hören bekam. Dagegen zeigten seine Briefe die Merkwürdigkeit, daß er fortwährend mit der Jahreszahl auf gespanntem Fuße stand. Seine Hand schien einen unbezwinglichen Widerwillen gegen dieselbe zu empfinden. In allen diesen Briefen hatte er immer zuerst die falsche Zahl hingeschrieben, dann ausgestrichen und die richtige darübergesetzt; in einem war sogar das falsche Datum unberichtigt stehengeblieben. Allerdings ein unerheblicher Umstand für ein Mädchen, das kein andres Datum kannte als »diesen Tag«, an welchem sie ihrem Liebsten schrieb.
Christinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater hatte den Weg zum
Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht gefunden, da verbreitete sich eines
Tages im Flecken das Geschrei, des Sonnenwirts Frieder sei wieder da oder
wenigstens im Anzuge begriffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit
selbst zu dem entlegenen Hause des Hirschbauers, und einer von Christinens Brüdern
machte sich sogleich auf, um Kundschaft einzuziehen. Es verhielt sich wirklich so,
wie das Gerücht sagte. Ein Fuhrmann, der in der ›Sonne‹ einkehrte, hatte den Erben
derselben unterwegs, und zwar in ziemlich abgerissenem Zustande, angetroffen; zur
Bestätigung, daß er die Wahrheit sage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der
Wanderer mitgegeben hatte, um es an denjenigen seiner beiden Schwäger, zu welchem
er noch das meiste Vertrauen hatte, zu bestellen. Es ging soeben sehr lebhaft in
der ›Sonne‹ zu, weshalb die Neuigkeit wie ein Lauffeuer sich verbreitete. Der
Fuhrmann erzählte noch, er habe den Frieder aufsitzen heißen; derselbe habe sich
aber geweigert, da er nicht nach Hause kommen wolle, bis er wisse, wie er
aufgenommen werde. Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus
hinübertrug. Dieser ließ nach einer Weile dem Sonnenwirt sagen, es sei endlich
Nachricht von seinem
Auf den andern Tag wurde in der ›Sonne‹ ein Familienrat zusammenberufen, welchem
der Chirurgus den Brief seines jungen Schwagers vorlas. Derselbe lautete gleich
eingangs so über alle Maßen niedergeschlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirtin
einmal über das andere in ein triumphierendes Gelächter ausbrach. »Geliebter
Schwager«, las der Chirurg, »ich weiß mir nicht mehr zu helfen, so will ich Ihn um
Gottes Willen gebeten haben, mir einen Rath zu ertheilen, denn ich laufe in der
Irr, als wie ein verlornes Schaf; so rufe ich zu Gott, er möchte mir einen Hirten
senden, der mich wieder auf den rechten Weg bringen sollte. Meine Reise ist nicht
bestanden, wie ich geglaubt hab: mein Herr Vetter hat des Gerichtsschreibers Sohn
von Boll zum Knecht, und hat ihn nicht fortschicken können, weil er auch ein
Freund von ihm sei. So bin ich diesesmal in mich selber gangen und mußt erst
erkennen, was ich bei meinem Vater vor gute Tag gehabt hab und ihm nicht gefolgt,
so bitt ich nur noch diesesmal zu helfen und mich nicht zu verlassen. Meine Eine
Bitt an die Meinen ist, mir nur noch so viel zu helfen, daß ich nur einer von
seinen Taglöhnern sein möchte. Ich werde gewiß meinem Vater in allen Stücken
gehorsam sein; wann ich es nicht tue
»›Rad‹ schreibt er«, unterbrach sich der Chirurg im Lesen: »er kann doch sonst besser schreiben und hat das Wort weiter oben auch richtig geschrieben.«
»Seine Hand weiß mehr als er und hat das Rechte troffen«, bemerkte die Sonnenwirtin, »der Weg, den er geht, führt wohl noch zu Galgen und Rad.«
»Ist der Brief aus?« fragte der Sonnenwirt.
»Ich hab das Vertrauen zu Ihm«, fuhr der Vorleser fort, »und glaub in meinem
Hertzen, daß Er des Herrn Amtmanns sein Hertze am besten erweichen
»Es muß ein wenig konfus in seinem Kopf hergehen«, fügte der Chirurg hinzu, »denn er lebt mit dem Datum noch im vorigen Jahr.«
»Er kann eben in gar nichts ordentlich sein«, bemerkte die Sonnenwirtin.
»Jetzt, was ist zu tun?« fragte der Chirurg.
Der Krämer, der nicht wieder die Mißgriffe von neulich begehen wollte, half sich mit Achselzucken, Händereiben und Lächeln nach allen Seiten hin.
Die Sonnenwirtin sagte: »Entweder ist er der Landstreicherei obgelegen, hat sein Geld vertan und ist gar nicht bei dem Vetter gewesen, oder hat er drunten gleich zum Einstand schlechte Streich gemacht und ist wieder fortgejagt worden. Wenn sein Gewissen gut wär, tät er nicht so erbärmlich und so untertänig schreiben. Das ist sonst sein Sach nicht.«
»Soviel ist richtig«, sagte der Sonnenwirt nach einigem Nachdenken, »daß der
Gerichtsschreiber in Boll drüben einen Sohn in die Fremde geschickt hat, und das
erst ganz kürzlich, denn ich hab's erst vor ein paar Tagen gehört, nur hab ich
nicht sagen hören, wohin. Weil er aber allerdings zu unsrer Gefreundschaft gehört,
und mein Bruder in Sachsenhausen
»Es kommt natürlich alles darauf an, ob die Angabe wahr ist«, bemerkte der Chirurg.
»Wenn's wahr ist«, sagte der Sonnenwirt, »so müssen die beiden schier miteinander bei meinem Bruder drunten angekommen sein.«
»Man muß eben hinunterschreiben«, meinte Magdalene.
»Ja, aber was fangt man derweil mit dem Buben an, bis Antwort kommt?« fragte die Krämerin. »In Plochingen, von wo er schreibt, kann man ihn doch nicht liegenlassen, daß er dort eine rechte Zech hinmacht.«
»Und wenn man ihn ohne weiters wieder ins Haus nimmt«, sagte die Sonnenwirtin, »so setzt er sich fest und fangt das alt Lied wieder an und ist dann nicht mehr fortzubringen, wenn's auch zehnmal von Sachsenhausen kommt, daß all sein Vorgeben verlogen sei.«
In diesem Augenblicke hörte man ein Posthorn und gleich darauf den Knall einer
Peitsche. »Der Postreiter hält vorm Haus, der Hausknecht soll ihm das Pferd
halten«, sagte der Sonnenwirt, der ans Fenster getreten war. Es freute ihn
jedesmal, wenn Briefe für den Flecken in der ›Sonne‹ abgegeben wurden oder wenn
Postpferde zur Einkehr genötigt waren, weil er den Beweis darauf zu gründen
hoffte, daß eine Zwischenpost hier errichtet werden sollte.
Der Sonnenwirt hatte den Brief erst zu Ende gelesen, als der Postknecht schon wieder zu Pferde saß und blasend gen Göppingen weiter ritt. »Der Bub hat nicht gelogen«, sagte er, »es verhält sich vielmehr alles so, wie er behauptet. Mein Bruder schreibt mir da, er hätt ihn gern behalten, aber er habe dem Gerichtsschreiber in Boll für dessen Sohn bereits zugesagt gehabt. Als Gast wär er ihm willkommen gewesen, solang er hätte bleiben mögen, auch habe alles im Haus den Vetter gern gehabt; der aber habe sich nicht halten lassen, sondern sei nach etlichen Tagen wieder fort.«
»Und hat sich, Gott weiß wie lang, in der Welt herumgetrieben«, sagte die Sonnenwirtin.
»Nicht gar lang, dem Datum nach«, entgegnete der Chirurg, dem der Sonnenwirt den Brief hingereicht hatte.
»Es ist zwar dumm von dem Buben«, versetzte der Sonnenwirt, »daß er auf die
Einladung nicht länger blieben ist; man hätt sich unterdessen für ihn umsehen und
ihn anderswo unterbringen können. Aber verdenken kann ich's ihm doch grad auch
nicht, daß er seinen Verwandten nicht als unnützer Brotesser
»Ja«, bemerkte Magdalene, »das Sprichwort sagt: Zwei Tag ein Gast, den dritten ein Überlast.«
»Von seiner Liebschaft schreibt er gar nichts«, sagte die Sonnenwirtin. »Soviel gute Wörtlein er sonst gibt, so spricht er doch nicht mit einer Silbe davon, daß er in dem Stück nachgeben wolle.«
»Er schreibt aber, er wolle in allen Stücken gehorsam sein und nicht das geringste mehr anstellen«, entgegnete der Chirurgus. »Man kann ihn also beim Wort nehmen und ihm beweisen, daß er auch das versprochen habe.«
»Recht degenmäßig schreibt er, das muß man sagen«, bemerkte die Krämerin. »Ich hätt gar nicht glaubt, daß der Strobelkopf, der störrig, so mürb werden könnt.«
»Der hat sich in der Fremde die Hörner verstoßen«, sagte der Sonnenwirt behaglich lachend; »das sieht man jedem Wort an, das er schreibt. Jetzt weiß er nimmer, wo aus und wo ein. Ja, ja, es ist eben ein ganz anders Leben da drunten als bei uns. Die Leut sind dort viel alerter und aufgeweckter, und wenn auch bei manchem nicht viel dahinter ist, so ist's eben doch unsereinem, wie wenn er der Garnichts dagegen wär.«
»Das glaub ich«, sagte der Chirurg, »das kann solch einem trutzigen, stutzigen Schwabenkopf spanisch vorkommen.«
»Ich bin ja selbst auch schon drunten gewesen«, fuhr der Sonnenwirt fort. »Ja was!
Bis unsereiner
»Der Herr Vater ist also der Meinung, ihn wieder anzunehmen?« fragte der Chirurg.
»Dann kann er gleich den alten Tanz wieder anfangen«, sagte die Sonnenwirtin.
»Dafür kann man ihm tun«, entgegnete er. »Eh er nicht ausdrücklich versprochen hat, daß er sich mit der Person weder mündlich noch schriftlich mehr einlassen will, kommt er mir nicht ins Haus.«
»Ich will ihm das nach Plochingen schreiben«, erbot sich der Chirurg.
»Braucht nichts zu schreiben«, versetzte der Sonnenwirt. »Zuerst muß man ja doch mit dem Amtmann reden, daß der seiner Heimkunft keine Schwierigkeit in den Weg legt, nachdem er nun einmal die Hand in der Sach hat. Dann ist's überhaupt besser, man gibt dem Buben gar keine Antwort und läßt ihn zappeln, er wird dadurch nur um so mürber.«
»Wart, du wirst eine schöne Rechnung vom Plochinger Bärenwirt kriegen«, lachte die Sonnenwirtin.
»Ich hab ihn nicht heißen in den Plochinger Bären hinliegen.«
»Irgendwo muß er aber doch sein«, bemerkte die Frau des Chirurgen schüchtern.
»Warum ist er nicht gleich hierhergekommen?« entgegnete der Sonnenwirt. »Wenn ich ihn auch nicht ohne weiters angenommen hätt, so hätt man doch dafür sorgen können, daß er eine Weile wo unterkommen wär.«
»Mir scheint's auch das nötigste, daß man sich zuerst mit dem Amt verständigt«, sagte der Chirurg.
»Wenn nur auch der Herr Amtmann seinen Konsens gibt«, bemerkte der Krämer, der die Notwendigkeit fühlte, im Familienrat endlich etwas, das einer eigenen Meinung glich, zu äußern.
»Es liegt ja nichts Sonderliches wider ihn vor«, versetzte der Sonnenwirt.
»Wenn's dem Herrn Vater geliebt«, sagte der Chirurg, »so bin ich erbötig, ins Amthaus mitzugehen. Ich muß nur erst einen andern Kittel anziehen, damit ich ein wenig amtsmäßiger aussehe.«
»Ja, wir wollen die Sach lieber gleich abmachen«, erwiderte der Sonnenwirt.
Als der Chirurg mit seiner Frau nach Hause ging, um sich »amtsmäßig« anzuziehen, sagte diese zu ihm: »Wenn du nichts dagegen hast, so will ich meinem Bruder nach Plochingen schreiben, will ihm auch etwas Geld schicken, daß er seine Rechnung dort zahlen kann, und will ihn nach Hattenhofen hinüber zum Vetter gehen heißen; der behält ihn schon etliche Zeit, und dort ist er auch mehr abseits, daß ihn nicht so viele Menschen sehen.«
»Tu das meinetwegen«, sagte ihr Mann.
Die beiden Männer gingen ins Amthaus und trugen dem Amtmann ihr Anliegen vor.
Derselbe machte ein bedenkliches Gesicht und sagte: »Ich hätte rebus sic stantibus
nichts Erhebliches dagegen einzuwenden, daß der halb und halb exilierte junge
Mensch,
Nach einigen Tagen kam der Amtsknecht, um den Sonnenwirt zum Amtmann zu berufen. Der Sonnenwirt schickte nach seinem Beistand. »Der Schwager hat schon wieder geschrieben«, sagte dieser, als sie miteinander nach dem Amthause gingen. »Diesmal schreibt er aus Hattenhofen, wohin er von Plochingen gegangen ist.«
»Ich hab mir's wohl gedacht, daß er sich's nicht getrauen wird, zu Plochingen im Wirtshaus liegenzubleiben«, versetzte der Sonnenwirt lächelnd. »Was schreibt er denn?«
»Er schreibt beinahe noch lamentabler als das letztemal. Übrigens scheinen ihm
unterm Warten kuriose Gedanken aufgestiegen zu sein, und er traut dem Landfrieden
nicht recht; denn er schreibt im Verlauf
Der Sonnenwirt lachte äußerst behaglich. »Er hat Angst«, sagte er, »und da wird, hoff ich, auch die Zucht Eingang bei ihm finden.«
»Gott geb's«, erwiderte der Chirurg. »Diesmal hat er auch das Datum richtig geschrieben; vielleicht ist das ein Omen, daß er auch sonst wieder in die Ordnung kommen wird.«
»Gott geb's«, sagte der Sonnenwirt.
»Nun, Sein Gutedel ist ja wieder da, Herr Sonnen wirt«, begann die Amtmännin, welche diesmal zugegen war, mit saurem Gesicht. »Der hat nicht lang gut getan.«
»Es ist bei meinem Bruder kein Platz für ihn gewesen, mit Ihrem Wohlnehmen, Frau Amtmännin. Der hat einen halbstudierten Hausknecht angenommen. Will auch sehen, was da noch draus wird. Aber was will ich jetzt machen? Es ist doch mein eigen Fleisch und Blut, das ich nicht in der Irre laufen lassen kann. Ich nehm ihn aber nicht eher an, als bis er versprochen hat, daß er die unverständige Liebschaft aufgeben will.«
»Meinetwegen«, sagte die Amtmännin. »Aber mir soll der Grobian nicht wieder ins
Haus kommen, ich will mir keine Unverschämtheiten mehr von ihm machen lassen, und
wenn ich nicht eine Wäsche gehabt hätte an dem Tag, wo mein Mann nach
Göppingen
Der Sonnenwirt verlor einen guten Teil seiner Behaglichkeit beim Anblick dieser fortdauernden Ungnade der Amtmännin gegen seinen Sohn, obgleich er die Ursache dieses Grolls in seinem Herzen gebilligt hatte.
»Die Antwort vom Herrn Vogt ist angekommen«, sagte der Amtmann, der dieselbe als
eine Art Schutzwaffe gegen seine Frau betrachten mochte. Er nahm den Brief zur
Hand, entfaltete ihn langsam, räusperte sich mit Wichtigkeit und las, während der
Sonnenwirt und sein Schwiegersohn eine ehrerbietige Haltung annahmen, mit
nachdrücklicher Betonung wie folgt: »Wohledler, insonders vielgeehrter Herr
Amtmann! Weilen mit einem jungen Menschen ich jedesmal viel lieber überflüssige
Geduld haben als mit der äußersten Strenge fürgehen will, solang noch Hoffnung
vorhanden sein kann, es werde einer in sich gehen, mithin in bessere Wege und so
obrigkeitlichen als väterlichen Gehorsam zurücktreten: so will ich nicht darwider
sein, daß den jungen Schwahnen sein Vater wieder auf- und annehme. Es ist aber
jenem mit allem Ernst zu bedeuten, daß, so der geringste neue Fehltritt wider ihn
werde herauskommen, man solchenfalls Altes und Neues zusammennehmen und wider ihn
mit aller Schärfe verfahren werde. Ich verharre damit unter göttlichen Schutzes
Erlassung des Herrn Amtmanns dienstwilligster« etcetera. »Also wonach sich zu
achten!« fügte der Amtmann der Vorlesung bei. »Da nun meine Frau
Der Sonnenwirt versprach, seinem Sohn das Nötige zu sagen, sowie auch dafür zu sorgen, daß er das Amthaus meide, es wäre denn, daß er besonders vom Herrn Amtmann vorgeladen würde. Der Amtmann pries die Milde und Menschenfreundlichkeit des Vogts, wobei die Amtmännin einfließen ließ, die gutmütigsten Menschen seien gemeiniglich diejenigen, die sich nicht gern viel zu schaffen machen. Hierauf hielt der Chirurg in rednerischer Unterstützung des Sonnenwirts eine lange und wohlgesetzte Danksagung für die große Mühewaltung, welche der Herr Amtmann auf sich zu nehmen die Güte gehabt. Die Amtmännin ermahnte den Sonnenwirt, künftig den Stab Wehe zu gebrauchen, damit man von seinem Früchtlein nicht noch mehr Mühe habe. Der Sonnenwirt versprach das beste, und die beiden Männer empfahlen sich in Unterwürfigkeit.
»So, schon alles im reinen?« sagte die Sonnenwirtin, als sie Bericht über ihren Gang erstatteten. »Nun ja, da kann man jetzt gleich den Verspruch mit der Jungfer Hirschbäuerin folgen lassen.«
»Das hat gute Weg«, entgegnete der Sonnenwirt. »Wie ich gesagt hab, dabei
bleibt's. Wenn der Bub
»Soll ich nach Hattenhofen schreiben?« fragte der Chirurg.
»Wie wär's denn?« sagte die Sonnenwirtin, die ihm zum Schabernack wenigstens eine kleine Ungemächlichkeit aufladen wollte. »Der Herr Sohn hat ja heut seinen Schabes nicht. Wie wär's, wenn Er des Schuhmachers Rappen vorspannen tät und tät sich selber nach Hattenhofen auf den Weg machen? Er kann's ja doch nicht erwarten, bis Er Sein räudig's Schaf wieder in der Kur hat. Übrigens denket an mich, ihr beide: solang man singt, ist die Kirch nicht aus. Ihr werdet's noch erleben, das ich recht behalt.«
»Ich hab ohnehin ein Geschäft draußen«, erwiderte der Chirurg, der ihr die Befriedigung nicht gönnte, daß er bloß auf ihre Veranlassung einen Weg von ein paar Stunden machen sollte. »Ich muß eine Weibsperson dort schneiden, die ein Geschwür im Munde hat. Für böse Mäuler gibt's kein probateres Mittel als unsre Instrumente.«
Der Sonnenwirt lachte und nahm sein Erbieten an, persönlich mit dem Flüchtling zu reden, ihm förmlich das von dem Vater ausbedungene Versprechen abzunehmen und ihn dann gleich aus seinem Zufluchtsorte mitzubringen.
»Du bist doch recht brav«, sagte seine Frau zu ihm, als er sich zu Hause
anschickte, über Feld zu gehen.
»Quod medicamenta non sanant –«, murmelte der Chirurg vor sich hin und hielt wieder inne. Dann wandte er sich zu seiner Frau: »Solang man singt, ist die Kirche nicht aus«, hat deine Mutter gesagt, »und mir hat ein Vögelein gepfiffen, sie werde wohl recht haben. Zwar, wenn dein Bruder jetzt Vernunft annimmt, so will ich ihm alles Gute gönnen und will gerne dazu geholfen haben. Aber die Kugel, die bergab geht, rollt gemeiniglich so fort ohne Aufenthalt. Ohnehin, wenn dein Vater heut stirbt, so nimmt er morgen sein Bauernmensch. Meinst du, du würdest nicht besser zu einer Sonnenwirtin taugen? Und sollt ich zum Wirtschaften nicht so gut Geschick haben als zum Rasieren? Deine Mutter ist so giftig und höhnisch, daß sie meinen Rasiertag meinen Schabes heißt. Ei, mir stände es gar wohl an, einen Ruhetag aus ihm zu machen, wenigstens was das Bartschaben betrifft.«
Er ging, und Magdalene sah ihm seufzend nach. Dieser Seufzer mochte wohl mancherlei zu bedeuten haben.
Kaum war es am nächsten Tage Abend geworden, als im Bäckerhause jemand eilfertig
in die Stube hereinschlüpfte. Die Bäckerin war allein; sie saß im Großvaterstuhle
und hatte die Hände schlaff in den Schoß gelegt. Sie blickte den Eintretenden
scharf
»Grüß Gott, Bas«, sagte eine bekannte Stimme.
»Herrjeses, der Frieder!« rief sie. »Was, schon wieder aus der Fremde da? Was ist denn das? Wie geht denn das zu?«
»Schrecklich ist's«, erwiderte der Ankömmling, »wenn man alt und jung, Kind und Kegel immer auf die nämlich Frag Antwort geben soll. Wo ich geh und steh, greift man mich mit Fragen an und verlangt Rechenschaft von mir, warum ich schon wieder da sei. Ich will's Euch nachher alles haarklein sagen, aber zuerst hab ich eine Bitt an Euch. Tut mir die Liebe, Bas, und gehet, so groß und schwer Ihr seid, den Abend noch hinaus zum Hirschbauer und saget einem von der Christine ihren Brüdern, am liebsten dem Jerg, denn der ander ist hinter den Ohren nicht trocken, daß ich notwendig mit ihm zu reden hab. Ich kann mich keinem Menschen sonst anvertrauen als Euch, denn der Profos hat's in den Gliedern, heißt das, soweit sie nicht hölzern sind.«
»Ach Friederle«, seufzte die Frau, »ich tät's gewiß gern, aber bei mir ist's auch mit dem Springen vorbei. Ich kann dem Profosen mit seinem Gliederweh Gesellschaft leisten: seit ein paar Tagen weiß ich, warum ich immer so müd bin, ich hab geschwollene Füß.«
»Wird doch das nicht sein. Sollen denn meine beste Freund in so kurzer Zeit presthaft werden?«
»Meine Mutter ist an der Wassersucht gestorben«,
»Ach, Bas, Ihr machet mir das Herz schwer. Es wird doch so schlimm nicht sein.«
»Wie Gott will. Wo soll sich der Jerg einfinden?«
»Man paßt mir auf jedem Schlich auf. Saget meinem Schwager und vergesset ja nicht, ihn so zu heißen, morgen um Vesperzeit oder etwas später, wenn der Tag sich neigt, woll ich ihn unter den Linden an der Schießmauer treffen. Den Grund, warum ich nicht zu ihm ins Haus kommen kann, und alles andere will ich ihm mündlich sagen.«
»Kann mir's schon denken. Es soll pünktlich ausgerichtet werden. Heut abend muß er noch zu mir kommen.«
Hierauf erzählte er ihr, wie seine Reise abgelaufen und unter welcher Bedingung er in sein väterliches Haus zurückgekehrt sei. Dann sprach er ihr von den Vorsätzen, an welchen er gleichwohl in betreff seiner Liebsten festhalten werde, unterbrach sich aber bald mit den Worten: »Ich seh wohl, Ihr habt Ruh nötig, und ich darf nicht lang ausbleiben. Gott tröst Euch, Bas, ich dank vielmals für die Freundschaft und will bald wieder nach Euch sehen.«
»So so, la la«, antwortete Friedrich. »Die Leut wären schon recht, aber 's ist
eben alles ganz anders als bei uns. Da schnurrt jedermann nur so an einem vorbei
und läßt einem das Nachsehen; und wenn einer so im Vorbeischießen was an dich
hinwelscht, – bis dir eine Antwort eingefallen ist, ist der schon über alle Berg.
Dann können sie doch auch wieder recht gesellschaftlich sein, sonderlich die in
Sachsenhausen; und wenn sie dich gern haben, so geben sie dir die gröbsten
Schimpfreden, über die's bei uns zu Mordhändeln käm. Bei ihnen aber ist das aus
Freundschaft gered't, und wenn sie dich ein schlechts Luder heißen, so ist das
lauter Liebe und Güte. Die in Frankfort, die auch viel rüber kommen sind, und wir
zu ihnen nüber, die sind feiner, aber sie hänseln und föppeln einen gern, und in
ihrer schnellen, spitzigen Sprach kann dir das in die Nas fahren wie ein Pfeil.
Wiewohl, ich bin ihnen auch nichts schuldig blieben. Einmal haben sie mich
gefragt, wie man denn im Schwabenland die Holderküchle – Holderküchelche sagen sie
– macht. Ich hab aber gleich gemerkt, daß sie bloß ihren Spott mit mir
Jerg lachte unmäßig. »Wenn sie das glaubt haben, so müssen sie rechtschaffen dumm sein.«
»Nein, dumm sind sie grad nicht. Sie haben eben arg drüber gelacht. Jetzt wollen wir aber von andern Dingen reden, Jerg, denn wir sind hier nicht zusammen kommen, daß ich dir Späß vormach, sondern mir ist's Ernst, und das bitterer. Sieh, ich bin noch ganz der nämlich gegen euch, wie da ich gangen bin, aber die Sach ist ein wenig anders worden. Zuerst, und vor allem andern muß ich dir sagen, daß ich der Christine mein Wort halt, der Schein mag sein, wie er will.«
»Das kannst ihr ja selber sagen, Frieder«, sagte Jerg mit schlauem Lächeln.
»Nein, Jerg, das ist's ja eben. Sieh, ich will und muß dir's frei heraus bekennen, daß ich hab versprechen müssen, mit deiner Schwester weder mündlich noch schriftlich etwas zu haben.«
»Das ist freilich ein ander Ding«, sagte Jerg.
»Hör mich voraus. Wenn ich nichts mehr von ihr wollt, so hätt ich mir's ersparen können, mit dir zu reden; aber darum grad hab ich dich ja hieher bestellt, denn mit dir ist mir's nicht verboten.«
»So red, daß man weiß, wie man mit dir dran ist.«
»Sieh, Jerg, wie ich die Stell bei meinem Vetter
Er stockte. »Von wegen deiner Liebschaft?« meinte Jerg.
»Nein«, sagte Friedrich und ließ die Stimme sinken, »er hat's ihm vielleicht gesteckt, ich sei nicht ganz hautrein und sei schon in Ludwigsburg gewesen.«
»Das wär aber liederlich, das wär schlecht!« sagte Jerg.
»Ich trau so einem Schreiberssöhnle nicht viel Guts zu; er hat vielleicht besorgt,
ich könnt ihm doch vielleicht noch den Rang ablaufen, und das wär auch keine Kunst
für mich gewesen. Kurzum, ich bin auf einmal wie an der Welt End gestanden, wo sie
mit Brettern vernagelt ist, und hab mir sagen müssen, daß da eben nichts
übrigbleibt, als umkehren und gute Wort geben. Wie ich dann vollends bedacht hab,
was das einen Spott und ein Gelächter geben wird, wenn ich schon wieder komm, und
hab's doch nicht anders machen können, wenn ich nicht alle Brücken zwischen mir
und meinem Schatz hab abwerfen wollen, da ist mir der Mut ganz und gar gesunken,
und hab nichts mehr vor Augen gesehen, als daß ich eben jetzt alle Schmach muß auf
mich nehmen und zu Kreuz kriechen. Herr Gott, wie ich noch ein Bub gewesen bin und
hab Schläg kriegt, da hab ich nicht gemuckst und hab sagen können: ›Ich will noch
mehr!‹ daß mein Vater schier verzweifelt ist. Und jetzt, wo ich groß bin, hab ich
dir Brief nach Haus geschrieben – Brief – ich sag dir, Jerg, der jämmerlichst
Bettler schreibt nicht
»Und was soll ich ihr jetzt sagen?« fragte Jerg.
»Was ich meinem Vater versprochen hab, das halt ich ihm, aber ich halt auch, was
ich deiner Schwester versprochen hab, und das geht vor, denn es ist ein älteres
Versprechen. Auch hab ich keineswegs geschworen, daß ich sie in alle Ewigkeit
nicht mehr sehen, noch ihr schreiben wolle, und noch weniger hab ich gesagt, ich
wolle mein Herz von ihr abziehen und ihr mein Wort brechen. Zwischen uns bleibt
alles im alten Recht. Sag ihr nur, sie solle etliche Zeit Geduld haben, wie ich
mich auch gedulden muß. Ich muß erst wieder festen Boden unter den Füßen haben,
damit ich in Ruh sehen kann, wie Has lauft, und kann Zeit und Gelegenheit walten
lassen. Vielleicht wächst der Axt von selber ein Stiel. Sag ihr, jedenfalls nehm
ich keine andere, und wenn ich Haus und Hof dahinten lassen müßt oder müßt alt und
grau mit ihr werden, bis wir vor den Altar kommen. Das muß ihr für jetzt genug
sein. Und deinem Vater sag, es bleib bei
»Bleib's dabei«, sagte Jerg.
»Und jetzt sag mir noch eins, offen, Aug in Aug: glaubst du meinen Worten und willst du dich bei den Deinigen und bei deiner Schwester für mich verbürgen, daß ich's noch so treulich mein wie sonst, trotzdem daß der Schein gegen mich ist? Die Hand drauf, Schwager, Bruderherz?«
»Ja, ich glaub dir, da hast meine Hand.«
»So, jetzt geh ich mit leichterem Herzen heim. Gut Nacht, und grüß mir mein' Schatz vieltausendmal.«
Bald genug sollte Friedrichs Ahnung, daß der natürliche Gang der Dinge von selbst zwischen zwei widerstreitenden Versprechen entscheiden werde, in Erfüllung gehen.
In der Stellung des dienenden Sohnes, in die er zurückgetreten, waren ihm ein paar
Monate leer und trüb dahingegangen, ohne daß seine Herzensangelegenheit einen
weiteren Zusammenstoß zwischen ihm und seinem Vater verursachte. Diesem genügte
Allmählich begann auch im Flecken ein neues Gemurmel umzulaufen, das zuerst von den jungen Mädchen aufgebracht und bald auch durch die Pfarrmagd vom Brunnen in den Pfarrhof überliefert wurde. Man stichelte und spottete, daß Christine nicht mehr aus dem Hause zu gehen wage, woran sie doch sehr klug tat, denn sie hatte, als sie sich zuletzt auf der Straße blicken ließ, bemerkt, daß man mit Fingern hinter ihr herdeutete. Der Fischer aber hatte niemals ein so reiches Geschenk aus der Sonne heimgetragen, als an dem Tage, wo er der Sonnenwirtin berichtete, was über die Tochter des Hirschbauers gezischelt und gemunkelt wurde.
Eines Abends kam der Bäckerjunge zu Friedrich in die ›Sonne‹ und hinterbrachte ihm heimlich, der Jerg sei im Bäckerhause und lasse ihm sagen, daß er doch gleich hinkommen möchte, denn er habe etwas Dringendes mit ihm zu reden.
»Du, 's ist Feuer im Dach«, – mit diesen Worten empfing ihn sein Geselle, als
Friedrich sich zu ihm
»Gottlob!« rief Friedrich, »jetzt kommt's doch endlich zum Treffen! Sag ihr nur, ich werd noch heut bei ihr sein.«
Er trank schnell aus und eilte nach Hause zurück. Da er seinen Vater mit Essen beschäftigt fand, so setzte er sich in eine dunkle Ecke, wo er wartete, bis derselbe fertig sein würde.
»Was hast? Was guckst? Hast Hunger?« fragte dieser, den seines Sohnes auf ihn gerichteter Blick beunruhigte.
»Nein, Vater, ich muß Euch etwas sagen und will Euch nicht überm Essen stören, weil ich weiß, daß Ihr das nicht leiden könnt.«
Der Alte, der etwas neugierig war, beschleunigte seine Mahlzeit. »Nun, was ist's?« fragte er dann vom Tische aufstehend.
Friedrich stand gleichfalls auf. »Vater«, sagte er, »ich hab Euch versprochen, mit der Christine keinen Verkehr mehr zu haben, weder schriftlich noch mündlich, und hab das auch streng gehalten bis daher. Jetzt aber ist an der Sach ein anders Trumm aufgangen, die Christine ist vor Kirchenkonvent zitiert –«
»Liederlicher Hund!« schrie der Alte und hob die Hand auf, ließ sie aber alsbald
wieder sinken, da er gewahrte, daß sein Sohn, ohne einen Schritt vor dem Schlage
rückwärts zu weichen, in drohender, entschlossener Haltung vor ihm stand. Es kam
ihm erst jetzt klar zum Bewußtsein, daß er eigentlich
»Inkommodiert Euch nicht, Vater«, sagte Friedrich, »über das bin ich hinausgewachsen, und was das Schimpfen anbetrifft, so weiß ich, daß Ihr auch jung gewesen seid – Ihr werdet mich verstehen.«
»Sprichst du so mit deinem Vater?« schrie der Sonnenwirt, der wütend und zugleich in einiger Verwirrung durch die Stube hin und her lief. Seine Frau hatte ihm von ihrer ausgekundschafteten Neuigkeit nichts mitgeteilt, sei es, daß sie eine für den Stiefsohn besonders ungünstige Gelegenheit abwarten oder daß sie ihren Mann von dem amtlichen Verlauf der Sache überraschen lassen wollte.
»Mein Sprechen«, sagte Friedrich, »hat keine weitere Absicht, als daß mein Vater ein billig's Einsehen haben soll, und wenn auch nur in dem Punkt, daß ich notwendig mit dem Mädle reden muß, eh sie vor die Herren kommt, denn sonst weiß ich ja gar nicht, was sie dort aussagt.«
Der Alte hielt in seinem Toben inne. »Wenn du das Mensch dahin bringen kannst, daß sie nicht auf dich aussagt«, versetzte er, »so kannst mit ihr reden, so viel du willst. Aber das wiederhol ich dir und will dich erinnert haben, daß ich dir's schon einmal gesagt hab, glaub nur nicht, ich hätt einen Kreuzer übrig, um dir aus solchen Streichen herauszuhelfen. Find du sie ab, wie du kannst, und friß aus, was du mit ihr eingebrockt hast, – ich helf dir nicht dabei.«
»Fürs Abfinden wär ja noch mein Mütterlich's da«,
»Da wird viel übrig sein«, höhnte der Alte, »wirst weit damit springen nach solchen Sprüngen, die du schon gemacht hast.«
»Ich will jetzt nicht darüber streiten«, sagte Friedrich, »ich bin zufrieden, daß Ihr mir mein Wort zurückgegeben habt und daß ich mit dem Mädle reden kann, ohne wortbrüchig zu werden.«
Er brach schnell ab, um weitere Erörterungen zu vermeiden. Als er sich entfernt hatte, erzählte der Sonnenwirt seiner Frau, die aus der Küche kam, was zwischen ihm und seinem Sohn verhandelt worden war.
»Du hast den Gaul am Schwanz aufgezäumt«, sagte sie, »daß du ihm sein Wort zurückgibst. Jetzt geht das alt Luderleben wieder an. Und dazu den Schimpf und die Schand!« – Sie wußte so gut zu lamentieren, wie er vorhin zu toben gewußt hatte.
»Er hat versprochen, das Mädle rumzubringen, daß sie nicht auf ihn aussagt«, erwiderte der Sonnenwirt.
Seine Frau trat voll Verwunderung einen Schritt zurück. Sie hatte besser von ihrem Sohne gedacht und fühlte sich durch diese Mitteilung sonderbar überrascht. »Wär's möglich?« sagte sie. »Aber sieh zu, das sind am End faule Fisch.«
»Gelogen hab ich nicht«, murmelte Friedrich bei sich, während er den lange nicht betretenen Weg zu Christinen einschlug. »Was kann ich dafür, daß mein Vater mit so schlechten Gedanken umgeht.«
»So bleib im Tal«, erwiderte er.
»Jetzt treibt er noch sein Gespött mit uns«, sagte der Alte mit dumpfer, sinkender Stimme.
»Nein, alter Vater«, erwiderte Friedrich, indem er, Christinen um den Leib
haltend, zu ihm trat und seine Hand mit Gewalt faßte, »'s ist mir jetzt eben nicht
spöttisch zumut, aber ich seh nur nicht ein, was es für ein Jammer sein soll, daß
ich jetzt endlich vor den Herren und vor der ganzen Gemeinde erklären kann, daß
ich mich mit der Christine in allen Treuen versprochen hab und sie heiraten will.
Und das sagst du morgen vor Kirchenkonvent, Christine, und gibst alles an, wie's
wahr ist, und sagst unverhohlen, ich sei der Vater zu dem Kind, das du unterm
Herzen trägst. Heulet doch nicht so«, wandte er sich zu der Alten, die bei diesen
Worten
»Er ist doch ein sündhafter Mensch«, sagte der Hirschbauer, den übrigens Friedrichs Reden sichtlich aufgerichtet hatten. Die Alte aber verharrte in ihrer Trostlosigkeit und schalt ihn heftig, daß er es mit einer so wichtigen Sache, wie das Ehrenkränzlein, so leichtfertig nehme.
»Ja, wenn mein Kind schellenwerken müßt«, sagte der Bauer, »das tat mich vollends unter den Boden bringen.«
»Dafür bin ich noch da«, versetzte Friedrich. »Ihr werdet doch nicht glauben, solang ich noch einen Kreuzer hab, werd ich's zulassen, daß mein künftig's Weib die Straf mit dem Karren abverdienen muß.«
»Wenn Er nur auch auf Seinem Sinn bleibt!« seufzte die Alte, die sich nach und nach gleichfalls ein wenig zufrieden gab.
Er tat seine reiche Schatzkammer von Schwüren und Beteuerungen auf und spendete
nicht karg daraus. Sein zuversichtliches Wesen beruhigte die Familie allmählich,
wie seine Erscheinung Christinen schon längst beruhigt hatte. Ungescheut zog er
sie zu sich nieder und saß am Tische, als ob er nach längerer Abwesenheit sich mit
seinem Weibe auf Besuch bei den Schwiegereltern befände. Er ließ Wein kommen und
steckte mit Hilfe desselben alle durch seine muntere Laune an. Der alte
Hirschbauer, wenn er auch noch von Zeit zu Zeit den
Morgens in aller Frühe war Friedrich schon wieder bei Christinen, um ihr die
Stunden der Angst bis
Die gefürchtete Stunde war endlich angebrochen. Er nahm Christinen an der Hand und
führte sie mit tröstlichen Worten von ihren Eltern fort. Arm in Arm ging er mit
ihr durch den Flecken, und die lachende Frühlingssonne, die zu dem Gange schien,
bestärkte ihn in dem Glauben, daß die himmlischen Mächte ob dieser Liebe nicht
zürnten. Er trat aufrecht wie ein Sieger neben Christinen einher, die mit
niedergeschlagenen Augen an seiner Seite ging, und die Leute, die ihnen
begegneten, machten zwar verwunderte Gesichter, wagten aber doch erst, nachdem das
Paar vorüber war, die Köpfe zusammenzustecken und einander ihre spöttischen
Bemerkungen mitzuteilen. Am Rathause ließ er ihren Arm los: »So, jetzt mußt dein'
Strauß allein ausfechten«, sagte er, »aber wenn ich gleich nicht dabei sein darf,
so hab nur guten Mut, du weißt ja, daß ich nicht weit bin und dir nachher im
Protokoll beispringen werd; hier unten will ich deiner warten.« – »O Frieder, wie
ist mir das Herz so schwer, und ich schäm mich so vor den Herren«, erwiderte sie.
– »Hätt fast was gesagt!« rief er und trieb sie die
Er wartete lange unter dem Rathause. Da er sich den neugierigen Blicken der
Pfarrerin ausgesetzt sah, die von ihrem Fenster auf ihn herabschaute, so wechselte
er seinen Standort, doch so, daß er immer die Türe des Rathauses im Auge behielt.
Allein er mußte von manchem Vorübergehenden neugierige Fragen aushalten, denn auf
dem Lande steht man nicht ungestraft an einer Ecke ruhig still, und beinahe hatte
er die Geduld verloren, als nach einer vollen Stunde Christine auf der
Rathausstaffel erschien und sich nach ihm umsah. Er winkte ihr. »Du hast aber lang
gemacht«, sagte er verdrießlich, »ich glaub, du hast alles, was sich seit deiner
eigenen Geburt zugetragen hat, gebeichtet.« – »Was kann denn ich dafür?« erwiderte
sie. »Halt dich nur parat, der Büttel folgt mir auf'm Fuß, ich hab's noch gehört,
wie er Befehl erhalten hat, dich vorzuladen.« – »Wart am Bach drüben auf mich«,
sagte er, »da gehen nicht so viel Leut.« – Sie eilte von ihm weg, froh, aus der
Nähe des Rathauses zu entkommen. Kaum war sie verschwunden, so kam der Schütz
heraus und winkte ihm. »Er erspart mir einen Gang«, sagte er. – »Und einen
Schoppen?« lachte Friedrich. – »In der, ›Sonne‹«, erwiderte der Schütz grinsend,
»hätt ich, schätz wohl, heut keinen bekommen, das Geschäft trägt's nicht aus.
Übrigens ist hier keine Zeit nicht zu verlieren, Er ist vor löbliches
Als er an der Türe des Rathauszimmers auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, trat
er mutig ein und wünschte einen guten Morgen, blieb jedoch an der Türe stehen. An
dem Tische mit geschweiften Füßen, über welchem ein neugemaltes Bild der Justitia
hing, saß der Pfarrer obenan, neben ihm der Amtmann, dann der Anwalt, der als
Untergeordneter des Amtmanns die Schulzenstelle versah, nach diesem ein Mitglied
des Gemeindegerichts und zuletzt der Heiligenpfleger. Diese zusammen bildeten das
gemischte Kollegium der Kirchenzensur, dessen vorherrschend geistlicher Charakter,
ungeachtet der weltlichen Beimischung, in seinem Namen und im Vorsitze des
Pfarrers zu erkennen ist. Das Magistratsmitglied, das über dem Heiligenpfleger
saß, blickte den Eintretenden besonders finster an: es war sein Vormund, der sich
nicht wenig schämte, seinen Pflegesohn unter solchen Umständen im Verhör zu
erblicken. Der Pfarrer räusperte sich. »Tret Er näher daher«, sagte er. Friedrich
trat einige Schritte vor. »Es ist mir«, begann der Pfarrer, »von christlich
denkenden Leuten, welchen Ärgernis in der Gemeinde leid ist, fürgebracht worden,
wie daß die Christina, des Hans Jerg Müllers, Bauren, Tochter, im Geschrei sei,
daß sie mit einem Kinde gehe. Als sie daher vor dieses löbliche Zensurgericht
fürgeladen worden, hat sie ihre Schwangerschaft nicht leugnen können, und auf
Befragen, mit wem sie
»Ja, Herr Pfarrer und ihr Herren Richter!« sagte Friedrich mit fester Stimme, so daß alle einander betroffen ansahen und dann mit Abscheu auf den jungen Menschen blickten, der mit einem so unerhörten Tone seine Schuld bekannte. Die Freudigkeit, die aus seiner Stimme klang, wurde von diesen Männern, die in den herkömmlichen Bräuchen und Sitten aufgewachsen waren, als eine schamlose Frechheit angesehen.
»Hat Er keinen Verdacht«, fuhr der Pfarrer fort, »daß sie vielleicht noch mit andern Burschen zugehalten hat?«
»Nein, Herr Pfarrer, das hat meine Christine nicht getan.«
»Seine Christine!« sagte Friedrichs Vormund unwillig und höhnisch zum Heiligenpfleger.
»Sie gibt an«, fuhr der Pfarrer fort, »Er habe ihr die Ehe versprochen. Ist das wahr?«
»Ja, Herr Pfarrer, und mit heiligen Eiden.«
»Saubere Eide!« sagte der Pfarrer und las aus dem vor ihm liegenden Protokoll: »›Er habe ihr die Ehe mit vielen Verpflichtungen versprochen; wenn er sie nicht behalte, so solle das erste Nachtmal ihm das Herz abstoßen.‹ Ist dem so?«
»Ja, Herr Pfarrer, akkurat so hab ich gesagt«, antwortete Friedrich ganz vergnügt, daß Christine durch diese Aussage seine redliche Absicht so klar dargelegt hatte.
»Für Sein Fluchen und Schwören«, nahm der Amtmann, gegen Friedrich gewendet, das Wort, »ist Ihm hiemit ein Pfund Heller angesetzt, unangesehen der andern Strafe, die Ihn für sein Vergehen trifft.«
Der Pfarrer beeilte sich, den Strafsatz ins Protokoll einzutragen und dem Heiligenpfleger aufzugeben, daß er das Geld von dem Kontravenienten richtig einziehe.
»Ich muß es leiden«, sagte Friedrich gelassen, »aber mein Herz hat nichts Böses dabei gedacht, ich hab nicht fluchen und nicht schwören wollen, sondern bloß ein recht festes Versprechen ablegen.«
»Das tut man nicht in so ruchlosen Ausdrücken, die Gott betrüben müssen«, versetzte der Pfarrer.
»Wie kannst du, Lump«, fuhr jetzt sein Vormund gegen ihn auf, »wie kannst du ein Versprechen geben und ein Ehverlöbnis eingehen ohne Einwilligung deines Vaters, da du doch minderjährig bist?«
»Das wird sich auch bei der Strafe finden, Herr Senator«, bemerkte der Amtmann.
»Wenn sponsalia clandestina gewesen sind oder ein minderjähriger Bursche sich vor
erlangter Dispensation verlobt, so ist laut Resolution vom« – er blätterte eine
Weile
Friedrich, der den Sinn dieser Rede ungeachtet der eingestreuten lateinischen Brocken gar wohl verstanden hatte, nahm das Wort und sprach: »Ihr Herren, man kann mich strafen, so viel und hoch man will, darum laß ich doch nicht von meinem Schatz, und wenn man uns auch ansieht, als ob wir wie unehrbare und verrufene Personen wider das sechste Gebot gesündigt hätten, so weiß ich doch, daß nichtsdestoweniger mein Schatz ein ehrlich's Mädle ist und so sittsam wie nur einem von den Herren seine Frau sein kann.«
Die Konventsrichter hatten eine Weile ihren Ohren nicht getraut und ihn deshalb
ruhig sprechen lassen, dann aber entstand ein Aufruhr am Ratstische. »Will Er
schweigen?« rief der Pfarrer. »Man hat Ihn vorgeladen, damit Er sich verantworte«,
herrschte ihm der Amtmann zu, »und nicht, damit Er sein böses Maul brauche.« »Ich
möcht dich zerbrechen«, schrie sein Vormund, »bist noch nicht hinter den Ohren
trocken und schwätz'st so frech's und ungesalzen's Zeug.« »So einer ist mir noch
gar nie
»Und lästert göttliche Gebote«, hob der Pfarrer wieder an. »Und fürstliche Verordnungen«, fügte der Amtmann hinzu. Der Anwalt sagte gar nichts, der unerhörte Auftritt hatte lähmend auf seinen Geist gewirkt.
Friedrich wollte abermals sprechen. »Still!« riefen der Pfarrer und der Amtmann. »Still!« schrien die andern Mitglieder hinterdrein.
Friedrich biß die Zähne übereinander und schwieg.
»Wie kannst du's vor deinem rechtschaffenen Vater verantworten«, fuhr ihn sein Vormund an, »daß du dich hinter seinem Rücken in eine solche Lumpenliebschaft eingelassen hast, und was glaubst du, daß er dazu sagen wird, daß du ohne sein Wissen dich mit einem Ehversprechen gebunden hast, und willst jetzt behaupten, du lassest nicht davon? Das will ich von dir hören.«
»Es ist mir ja verboten zu reden«, erwiderte Friedrich störrisch.
»Nein, nein!« befahl der Pfarrer, »darüber darf und soll Er sich verantworten, daß Er den kindlichen Gehorsam so gänzlich hintangesetzt und sich eigenmächtig in eine Verbündnis eingelassen hat, die ein junger Mensch, wenn der Segen Gottes dabei sein soll, nur unter ausdrücklichem Konsens seiner Eltern nach deren reiflicher Erwägung und in der Zucht Gottes schließen soll.«
»Das sind sündliche, eigenwillige, aufrührerische Reden!« rief der Pfarrer, »Er wird's noch an Galgen bringen, wenn Er so fortfährt, nach Seinem Kopf zu leben und elterliche, obrigkeitliche und göttliche Autorität zu verachten.«
»Herr Pfarrer, was werden wir uns lange mit dem rechthaberischen Tunichtgut
herumstreiten?« sagte der Amtmann. »Die Obrigkeit gibt sich viel zu sehr herunter
und büßt an ihrem Ansehen ein, wenn sie sich mit den Untertanen in Disputationen
einläßt, absonderlich mit einem Buben, der der Rute noch nicht entwachsen ist.
Hier liegen die Gesetze und
»Ich glaube auch, daß es verlorene Worte sind, die man an ihn verschwendet«, versetzte der Pfarrer.
»Ja, ich hab das öd Geschwätz ganz satt«, sagte der Anwalt, welcher schwerlich damit die Reden des Pfarrers und des Amtmanns meinte, es aber doch im Dunkeln ließ, wem diese verdrießliche Bezeichnung galt.
»Fort mit ihm! Fort!« schrien der Richter und der Heiligenpfleger.
»Einen Augenblick Geduld noch!« rief der Pfarrer. »Seine Aussage ist also, daß Er der Christina Müllerin die Ehe versprochen habe und sie heiraten wolle, wenn Sein Vater das Jawort dazu gibt?«
»Ja«, antwortete Friedrich, »mit der Einwilligung gleich jetzt, und ohne die Einwilligung später, wenn ich mein eigener Herr bin.«
Der Pfarrer wiederholte die vorigen Worte murmelnd, während er sie ins Protokoll schrieb. »Er kann gehen«, herrschte er dann und klingelte. »Den Sonnenwirt!« rief er dem eintretenden Schützen zu.
Christine stand am Bach und weinte, aber ihr Gesicht klärte sich alsbald auf, als
sie ihren Freund kommen sah. »Es hat den Kopf nicht gekostet«, sagte er lachend.
»Sie haben mir zwar schandlich getan, und zuletzt haben sie mich gar fortgejagt,
weil sie nicht Meister über mich worden sind, aber sie haben mir's eben doch
Schwarz auf Weiß zu
Als er ihr dann erzählte, daß er wegen seines Schwures noch extra gestraft worden, war sie sehr betreten und sagte: »Ach Gott, wenn ich das gewußt hätt, so hätt ich dich nicht verraten.«
»Sei nur zufrieden«, entgegnete er, »sie wissen jetzt um so gewisser, daß ich dir Wort halt.«
»Oh, du bist brav«, sagte sie, sich an ihn anschmiegend. »Sieh, das richtet mich immer wieder auf, wenn mich das Elend zu Boden drücken will. Aber das sind wüste Leut, die Herren«, fuhr sie fort, »ich hätt gar nicht glaubt, daß es so herging bei ihnen. Hat der Pfarrer auch so wüst's Zeug an dich hingeschwätzt?«
»Dumm's Zeug g'nug, aber nichts Wüst's. Was hat er denn gesagt?«
Sie drückte sich noch näher an ihn an und wagte ihm nur ins Ohr zu flüstern. »Denk nur«, sagte sie, »›Wann ist die böse Tat geschehen? Wo ist die böse Tat geschehen? Wie ist die böse Tat geschehen?‹ Das hat er mich alles nacheinander gefragt, und es hätt not getan, daß ich ihm noch mehr gesagt hätt, als ich gewußt hab. Ich bin schier in Boden gesunken, so hab ich mich geschämt. Auch hat er wissen wollen, ob's an einem Sonntag geschehen sei? Du kannst dir aber wohl denken, was ich darauf geantwortet hab.«
»Man sollt's nicht glauben«, sagte Friedrich, »was so ein alter geistlicher Hirt
vor seinen Lämmern Sprung machen kann. Spricht der von der bösen
»Freilich, ein Gesicht hat er dazu gemacht, als wenn's ihm recht übel wär.«
»Ja, aber protokolliert eine ganze Stund fort und kann gar nicht loskommen von der bösen Tat und wärmet sich dran, wie der König David an der jungen Dirne, von der in der Bibel geschrieben steht. Wenn er's für eine Sund und ein Laster hielt, so blieb er nicht so lang dabei stehen. Mich hätt er so was fragen sollen! Ich hätt ihn an seine Frau verwiesen: die soll's ihm erzählen, wenn er's nicht mehr wisse. Etwas Ähnlich's hab ich ihnen ohnehin gesagt.«
»Du bist aber keck!« versetzte Christine. »Hast du denn nicht auch Abbitt tun müssen?«
»Ich, abbitten? Ich will nicht hoffen, daß du so schmählich gewesen bist.«
»Was hab ich denn machen können? Der Pfarrer hat immer auf mich hineingefragt, ob
mir die böse Tat nicht leid sei. Anfangs hab ich darauf geschwiegen, dann hat er
geschimpft und gepredigt, und zuletzt hab ich eben zu allem Ja gesagt. Dann hat er
unterm Protokollschreiben vor sich hingebrummelt: ›Sie sagt, sie trage Reue und
Leid vor Gott und den Menschen, und solle ihr gewiß nicht wieder fürkommen, und
bitte Gott und die liebe Obrigkeit um Verzeihung und um eine gnädige Straf!‹ Du
weißt ja, er sagt das, was er schreibt, immer vor sich hin, es ist dann so gut wie
vorgelesen. Aber meine eigene Wort sind's nicht, sondern er hat sich's eben aus
»Geh«, sagte er, »das gefällt mir nicht, daß du dich hast so runtertun lassen. Hättest besser hinstehen sollen.«
»Du darfst mich auch noch schlecht machen«, maulte sie. »Wie du bist aus der Fremde kommen und deines Vaters Haus ist dir verschlossen gewesen, gelt, da hast dich auch runtertun lassen und hast brav versprochen, du wollest nichts mehr von mir?«
»Das hab ich nicht versprochen«, entgegnete er, »und der heutig Tag kann's dir am besten beweisen, daß ich's weder versprochen noch gehalten hab.«
»Ja, das ist wahr«, sagte sie und streichelte ihn.
»Recht hab ich aber doch«, fuhr er fort, »das spür ich in meinem Herzen. Die's
trifft und die vor Konvent kommen, müssen Buße tun und Strafe leiden, und sind
doch um nichts schlechter als die andern. Ich weiß gewiß, die wenigsten sind
sauber, und viele, die nicht vorgeladen und nicht gestraft werden, haben noch viel
ärgere Sachen aufm Gewissen, und wenn vollends unser Herrgott Umgang hält und
sieht nach den Gedanken, so möcht ich doch auch wissen, wer vor ihm besteht. Wenn
ich dann vollends an die Offizier und Hofkavalier und an den Herzog selber denk –
der treibt, was der Welt Brief ausweist, vor dem ganzen Land, und das ganz Land
»Bitt dich um Gottes willen!« sagte Christine, die
»Ich sag's ja nur dir«, entgegnete er, »und der Bach da wird's auch nicht ausschwätzen. Aber der Pfaff soll einmal vor den Herzog treten und ihn fragen, was er zu der bösen Tat sage und ob er nicht Gott und die liebe Obrigkeit um Verzeihung bitten wolle.«
»Ich muß jetzt heim«, sagte Christine, »begleit mich noch ein, wenig.«
»Komm, Frau Friederin. Wenn du jetzt auch noch nichts weiter bist als das, so bist du doch mehr als des Herzogs Damen alle miteinander. ›Kebsweiber‹, sagt die Bibel, wenn sie's noch gnädig macht. Aber der Salomo ist ein Judenkönig gewesen und kein Herzog Karl zu Württemberg und Teck samt seinen Resolutionen.«
»Lausbub, liederlicher!« schrie der Sonnenwirt seinem Sohne bei dessen Heimkunft entgegen, »lügst mich an, als ob du bemüht wärst, Schimpf und Schand von mir abzuwälzen, und tust in gleicher Zeit das Gegenteil, machst schlechte Anschläg mit deiner Person zusammen, gibst bei Kirchenkonvent vor, du habest ein Ehverlöbnis eingegangen, um mich dadurch, wie du vermeinst, zu meiner Einwilligung zu zwingen, und sprengst mich selber vor die Herren, daß ich deine Schandtaten ausbaden soll.«
Der Sonnenwirt tobte und ergoß sich in Verwünschungen über die Zuchtlosigkeit und
dazwischen in Klagen über die unehrerbietige Aufführung seines Sohnes. Die
Sonnenwirtin, welche zugegen war, freute sich innig über diese Stichelreden und
schürte
»Dann steh ich wenigstens vor aller Welt gerechtfertigt da, wenn's ein Unglück gibt«, antwortete Friedrich.
»Und was das Rabenkind Geld kostet!« wandte sich der Sonnenwirt zu seiner Frau.
»Denk nur auch, der Amtmann tut's nicht anders, als daß die Straf in Geld bezahlt
werden soll. Fünfundzwanzig Gulden fordert er für den Fehltritt. Ich hab gebeten,
man soll's den Burschen abverdienen lassen, wie andere seines Gelichters auch, die
man in die herzoglichen Gärten nach Stuttgart und Ludwigsburg zum Arbeiten
schickt; Schimpf und Spott ist er ja schon gewohnt. Aber der Amtmann hat gesagt,
es sei nicht zu machen, und hat mir eine Verordnung vorgelesen, worin es heißt,
die Beamten sollen besser auf das herrschaftliche Interesse sehen und, wo möglich,
die Delinquenten künftig an den Beutel hängen, statt sie ihre Strafen in
öffentlichen Arbeiten abverdienen zu lassen; ja, wenn auch nur die Terz, Quart
oder die Hälfte der Strafe in Geld bezahlt werden könne, so müsse das geschehen
und könne dann der Rest, wenn es absolut nicht anders herauszuschlagen sei, in
eine Arbeitsstrafe verwandelt werden; sogar wenn einer nur eine Erbschaft zu
erwarten habe, so müsse darüber an die Regierung berichtet
»Da ist's kein Wunder«, bemerkte die Sonnenwirtin, »daß die Zucht immer mehr aus der Welt verschwindet. In der guten alten Zeit, wo man noch auf Sittsamkeit und Gottesfurcht gehalten hat, hat man die Sünder zu einer schimpflichen Haft, ja bei Wasser und Brot, verurteilt, damit sie auch gewußt haben, wie's tut, und nur in Ausnahmefällen bei gebrechlichen Personen hat man die Verwandlung der Straf in Geld verstattet. Jetzt aber ist die Ausnahm zur Regel worden, und auch wer nicht zahlen kann, der muß wenigstens der Herrschaft den Vorteil durch Arbeiten einbringen, damit sie ja nichts verliert. Lieber Gott, was ist das für eine Welt! Der Reich legt das Geld hin und lacht dazu, und der Herzog, als ob's an den Steuern nicht genug wär, lebt noch von den Sünden seiner Untertanen.«
»Und geht ihnen mit einem guten Beispiel voran«, lachte Friedrich. »Zürnen wird er ohnehin keinem drüber, denn es trägt ihm ja Geld ein, woran's ihm immer fehlt.«
»Schweig du still!« gebot der Sonnenwirt. »Ich hab dann den Amtmann bitten
wollen«, fuhr er gegen seine Frau fort, »er solle dem Buben attestieren, daß er
abhängig sei und über kein Vermögen zu verfügen hab. Der Amtmann aber hat mich
ausgelacht
»Und von dem Mütterlichen«, sagte Friedrich, »wird die Strafe bezahlt, dann könnt Ihr Euch nicht beklagen, Vater, daß ich Euch Unkosten verursach.«
»Du wirst dein Mütterlich's bald eingebrockt haben, du Lump, wenn du so fort machst«, versetzte der Sonnenwirt.
»Vater«, sagte Friedrich, »gebet mir die Christine und gebet mir mein Mütterlich's dazu, daß ich 'n Anfang hab, dann will ich's Euch schriftlich geben, daß ich Euch nicht bloß mit keiner weiteren Anforderung beschwerlich fallen will, sondern will auf alles Erbteil an Euch verzichten.«
»Du hast ohnehin kein Recht darauf«, erwiderte der Sonnenwirt. »Ich kann erben lassen, wen ich will, und wenn du dich nicht besserst, so laß ich dich ganz aus meinem Testament.«
»Vater«, versetzte Friedrich, »wenn's durch Eure Härte dahin kommt, daß ich vielleicht noch vor Euch sterben muß, dann wird Euch gewiß dieses Wort gereuen.«
»Es wär dir vielleicht besser, du führst noch bei guter Zeit in die Grube, eh das
Unglück größer wird«, entgegnete der Alte. »Du kannst dich ja doch in nichts
schicken. Mach nur so fort und verschenk Erbschaften, eh du sie hast. Du scheinst
mir's
Friedrich fuhr auf, und der Zank drohte noch heftiger auszubrechen, als man über die Straße ein großes Geschrei vernahm, das demselben ein Ende machte. Es war ein Lärm und ein Zusammenlaufen, dessen Ursache man bald erfuhr. Während in der ›Sonne‹ Vater und Sohn in bösem Wortwechsel begriffen waren, hatte sich in der Nachbarschaft noch ein ärgerer Auftritt zugetragen. »Der Kübler hat sich leiblos gemacht!« rief man von allen Seiten. So war es auch. Der Kübler, der schon lange mit seinem Weibe im Unfrieden gelebt, hatte ihr zum Abschied Arndts ›Wahres Christentum‹ ein paarmal um den Kopf geschlagen und sich dann mit einem stumpfen Messer den Hals abgeschnitten. Da solche extreme Begebenheiten unter der zahmen Bevölkerung ziemlich selten waren, so geriet der ganze Flecken in Aufregung, und jeder andere Handel schwieg über dem unehrlichen Grabe des Selbstmörders, den man nach Vorschrift bei Nacht in einer Waldklinge verscharrte.
Wenige Tage nach diesem Vorgang traf Friedrich, der sich nun an kein Verbot mehr
gebunden fühlte, die Familie Christinens in großer Bestürzung an.
»Das kommt von meiner Frau Stiefmutter her, die hat sich hinter den Pfarrer gesteckt«, sagte Friedrich bitter. »Aber wartet nur, Vetter, es kommt gewiß noch eine Gelegenheit, wo ich's dem Höllenpfaffen eintränken kann, daß er einem Vater zumuten will, er solle dazu mithelfen, seine eigene Tochter um ihre Ehre zu bestehlen.«
»So lang's am Sonnenwirt fehlt«, versetzte der Hirschbauer, »ist's eigentlich
gleichgültig, ob ich meine Einwilligung geb oder nicht, und das hab ich auch dem
Pfarrer gesagt. Aber es hat mir schier das Herz auseinandergerissen, daß man arme
Leut so unterdrückt. Ich soll aus Hochmut Ihm die Tür zu meiner Tochter
offengelassen haben, ich soll auf
»Ich hoff vielmehr, Ihr sollt auf die Trübsal noch Freud an uns erleben«, sagte Friedrich, dem die Worte des alternden, gebeugten Mannes ins Herz schnitten.
»Da müßt's gar anders kommen«, erwiderte der Hirschbauer. »Für jetzt ist ein Tag schwärzer als der ander. Nach dem Pfarrer hat mich der Amtmann erfordert und hat gefragt, wie es denn mit der Christine ihrer Straf steh.«
»Die zahl ich!« unterbrach ihn Friedrich. »Das versteht sich von selbst. Das Geld kann ich freilich jetzt nicht geschwind herhexen, aber der Amtmann muß eben ein Einsehen haben.«
»Der tut arg pressant«, sagte der Hirschbauer. »Daß ich das Geld nicht aufbringen
kann, hat er gleich von selber anerkannt und gesagt, ich müsse eben
»Das sind appetitliche Geschäfte zum Teil«, bemerkte Friedrich.
»Und außerdem soll sie dem Amtmann oder vielmehr der Amtmännin im Feld und Garten schaffen.«
»Hat er das gesagt?« rief Friedrich ganz erfreut.
»Wenn's nicht anders sein kann«, fuhr der Hirschbauer fort, »so wär das freilich nicht das Schlimmst, wiewohl michs hart ankommt, das Mädle gleich von jetzt an, sechs Wochen lang, denn so lang will's der Amtmann, in meinem bißle Feld entbehren zu sollen, so daß ich mit meinen Buben nicht so viel wie sonst im Taglohn verdienen könnt.«
»Jetzt hab ich ihn!« rief Friedrich voll Freude.
»Dem will ich's vertreiben, aus meiner Christine einen Fleckensträfling zu machen, der den Gefangenen ausmisten soll. Habt nur ein wenig Geduld, die Trübsal soll schnell vorübergehen!«
Er stürmte fort, ohne der erstaunten Familie zu erklären,
»Ich hab Ihm noch nichts unterschlagen, Herr Vetter«, bemerkte Friedrich.
»Sollst's auch wohl bleiben lassen«, erwiderte der Richter.
Friedrich blieb einen Augenblick stehen und besann sich. Zwar sagte er sich voraus, daß ein Versuch, auch das Geld zur Bezahlung von Christinens Strafe zu erlangen, ein ganz vergeblicher sein würde, aber doch meinte er ihn machen zu müssen. Der Unglaube, mit dem er seine Bitte vorbrachte, wurde jedoch vollkommen gerechtfertigt, denn der Vormund hielt ihm eine derbe Strafrede und meinte, es werde für sie ganz gesund sein, wenn sie auf einige Zeit nach Ludwigsburg komme, um sich alldorten alle dummen Gedanken vergehen zu lassen. Friedrich wünschte ihm einige tausend Teufel auf den Hals und empfahl sich.
Mit dem Gelde versehen, ging er in das Amthaus, wo er den Amtmann allein in seinem Zimmer traf. »Hier«, sagte er, indem er das Geld auf den Tisch legte, »will ich dem Herrn Amtmann das Strafgeld für mein' Schatz überbringen.«
Der Amtmann lachte. »Und wo ist denn das Seinige?« fragte er.
»Er ist ein Querkopf«, sagte der Amtmann, die Stirne schnell wieder in Falten legend. »Das sind Flausen, man kennt Seine Vermögensumstände und die ihrigen. Das ist ja«, fuhr er sehr verdrießlich fort, das Geld auseinanderlegend, »das sind ja dieselben Sorten, die ich Seinem Pfleger heut geschickt habe. Es scheint, dem ist mein Geld nicht gut genug, daß er die erste Gelegenheit benutzt, es mir wieder zurückzuschicken; mit ein wenig Geduld und Umsicht hätt er's wohl loswerden können. Nun ja, das ist also die Strafe für Ihn, die Er ritterlicherweise für Seine Amaryllis hat einsetzen wollen. Für diese hätte es nicht soviel ausgemacht, ich taxiere sie nicht so hoch.« Er zählte das Geld und sagte: »Sein hochwohlweiser Herr Vormund muß den Beutel noch einmal auftun, er hat im Rechnen manquiert. Das ist nur die Strafe; dazu gehört aber noch das Surplus, von jedem Gulden drei Kreuzer für das Zuchthaus in Ludwigsburg, ferner drei Kreuzer Tax vom Gulden und endlich von zehn Kreuzern ein Kreuzer Schreibgebühr.«
Friedrich erbot sich, das Fehlende gleich zu holen. »Das sind Blutigel!« sagte er unterwegs zu sich. Aber es ergötzte ihn, obgleich der Spaß auf seine eigenen Kosten ging, das lange Gesicht seines Vormundes zu sehen, als derselbe sich eines Irrtums in der Rechnung überführt sah und noch einmal in die Kasse greifen mußte, was ihm sogar bei fremdem Gelde schwerzufallen schien.
Als Friedrich den Nachtrag gebracht und der Amtmann
»Was geht das Ihn an?« sagte der Amtmann.
»Wir gehen einander nun doch einmal näher an«, erwiderte Friedrich, »und da wird man's nicht anders als billig und christlich finden, wenn ich mich um sie bekümmere. Ich hab gehört, der Herr Amtmann wolle sie ihre Strafe hier bei Amt und mit Feld- und Gartenarbeit abverdienen lassen.«
»Und wenn dem so wäre?« sagte der Amtmann, nach und nach aufmerksam werdend.
»Es wär mir nicht lieb, wenn sie vor dem ganzen Flecken Strafarbeit verrichten müßt –«
»Wer fragt denn darnach, ob's Ihm lieb ist oder nicht?«
»Und zudem, Herr Amtmann, sind das keine herrschaftlichen Geschäfte.«
Der Amtmann richtete sich hoch auf, und sein sonst gutmütiges Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an. »Ich glaub, Er will den Advokaten machen!« sagte er.
»In dem Punkt wär ich nicht ganz untauglich dazu«, antwortete Friedrich. »Es gibt
nichts in der Welt, Herr Amtmann, das nicht seine gute Seite hätte. So auch das
Zuchthaus. Dort bin ich mit einem zusammengewesen, der hat mir erzählt, ein
Amtmann habe ihn, wie er einmal zum Schellenwerken verurteilt gewesen sei, statt
dessen in seinen eigenen Privatgeschäften arbeiten lassen; es sei jedoch
Der Amtmann wurde blaurot im Gesicht, so daß man bei seiner nicht eben magern Gestalt einen Augenblick einen gefährlichen Anfall befürchten konnte. Es ging aber vorüber, und er sagte verächtlich: »Ihm, einem Züchtling, einem vielfältigen Facinoroso, wird man viel Glauben schenken, wenn Er etwas wider mich vorbringen will.«
»Der Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »vergißt, daß ich nicht allein darum weiß.«
»Es ist wahr«, versetzte der Amtmann, »ich habe aus gutem Herzen dem alten Müller
angeboten, seine Tochter die Strafe auf eine leichte und gelinde Art abbüßen zu
lassen. Dabei war es nicht sowohl mein als meiner Frau Gedanke, sie in unserer
Privatökonomie nebenher zu beschäftigen; es ist aber nicht mit einem Wort die Rede
davon gewesen, daß sie das im Strafwege tun solle, sondern sie hätte Geld dabei
von uns verdient, das wir jetzt Würdigeren zukommen lassen werden. Die
Amtsgeschäfte aber, die ich ihr zur Abverdienung ihrer Strafe habe auferlegen
wollen, sind allerdings herrschaftliche Geschäfte. Doch darüber brauche ich mit
Ihm nicht zu streiten. Das Gesindel ist nicht wert, daß man humane Absichten mit
ihm hat. Sein Weibsbild kommt jetzt nach Ludwigsburg in den Herrschaftsgarten, muß
dort sechs Wochen lang arbeiten, wird
»Es ist mir immer noch lieber, als wenn sie vor dem ganzen Flecken Strafarbeit verrichten soll«, erwiderte Friedrich trotzig. »Was in Ludwigsburg vorgeht, sieht man in Ebersbach nicht. Übrigens hat ihr Vater doch noch Freund, daß er vielleicht die Straf in Geld aufbringen kann. Und auch in dem Punkt bin ich wieder ein Advokat: Ich weiß, daß der Herr Amtmann das Geld nicht zurückweisen darf, weil er für das fürstliche Interesse besorgt sein muß.«
»Es steht aber bei mir, wie lange ich zusehen will«, entgegnete der Amtmann. »Meine Nachsicht wird nicht lange dauern. Und nun sorg Er, daß Er mir aus den Augen kommt. Es geht mir wie meiner Frau mit Ihm. Laß Er sich nicht wieder im Amthaus betreten, ohne daß ich Ihn verlangt habe.«
Den andern Abend spät erschien Friedrich beinahe atemlos in der Stube des Hirschbauern. »Hier ist das Geld für die Straf«, sagte er, die blanken Münzen auf den Tisch legend.
»Wie kommt Er zu dem Geld?« fragte der Hirschbauer, »sein Vater hat's Ihm gewiß nicht gegeben.«
»Nein«, antwortete Friedrich, »aber ich hab's auf eine Art erworben, daß ich's
verantworten kann, das
Er war nicht zum Geständnis zu bewegen, wie er zu dem Gelde gekommen sei, sondern wiederholte beharrlich seine vorige Versicherung, schärfte jedoch dem Hirschbauer ein, er solle, wenn der Amtmann frage, nicht angeben, von wem er das Geld habe, weil das nur neue Weitläufigkeiten zur Folge haben würde; er solle sagen, es sei ein für den äußersten Notfall gespartes Schatzgeld oder was ihm sonst Gescheites einfalle.
Als der Hirschbauer aus dem Amthause zurückkam, erzählte er mit bedenklicher Miene, der Amtmann habe das Geld zwar genommen, dabei aber bemerkt, das sei ein bedenklicher Reichtum, nach dessen Quelle er bei Gelegenheit forschen wolle.
Von der ›Sonne‹ war aller Friede und alle Freude gewichen. Beinahe täglich gab es
zwischen Vater und Sohn stachlige Reden, Wortwechsel, Geschrei und heftige
Auftritte, und wenn Handlungen vermieden wurden, die das letzte Band der Liebe in
einer Familie zerreißen, so kam dies bloß daher, daß der Sonnenwirt die
entschiedene Erklärung seines Sohnes, ein herabwürdigendes Schimpfwort gegen
Christinen werde ihn zu den äußersten Schritten treiben, sich zu Herzen genommen
hatte. Auch würde er der Achtung, welche der Mann dem Manne durch
Da die Sonnenwirtin sowohl ihren Mann als seinen Sohn sehr genau kannte, so wußte
sie auch bessere Regungen, die eine endliche Ausgleichung des Zwistes hätten
herbeiführen können, zu ihren Zwecken auszubeuten. So war es ihr gar nicht
unwillkommen, als ihr Mann eines Tages zu ihr sagte: »Es ist mir doch nicht lieb,
daß er mich drum ansieht, als ob ich ihm sein Mütterlich's vorenthalten wollt.
Wenn der dumm Bub absolut in sein Unglück rennen will,
»Sie werden sich um ihn reißen«, bemerkte sie, »er ist ein guter Brocken, verschreit wie er ist.«
»Ach was!« entgegnete er, »das wär bald vergessen, wenn er nur einmal nicht mehr so üherzwerch wär. Aber ich geb allmählich die Hoffnung auf, daß er wird wie ein anderer Mensch. Er hat eben gar keine Ehr im Leib. So einem Lumpenmensch zulieb auf sein Eigentum verzichten wollen und eine Zukunft in die Schanz schlagen, um die ein anderer tausend Stunden weit auf'm Kopf lief – ich kann's nicht begreifen. Aber wenn er mit Gewalt vom Herren zum Knecht werden will, so kann ich ihn nicht anders machen. Des Menschen Will ist sein Himmelreich.«
»Ja«, sagte sie, »man kann freilich am End nicht wissen, was unser Herrgott mit ihm vorhat. Was einmal Gottes Will ist, da kann man nicht wider den Stachel lecken. Und wenn er nun einmal durchaus drauf versessen ist, sich mit seinem Mütterlichen abfinden zu lassen, wie er sagt, und dir und andern als Knecht zu dienen, unter der Bedingung, daß du ihm seine herzige Hirschkuh gibst, so wär grad jetzt eine gute Gelegenheit vorhanden, wo man sie miteinander hineinsetzen könnt. Du weißt ja, des Küblers Häusle will kein Mensch, und sein Weib sitzt im Elend da und tät's schier umsonst hergeben.«
»Was, der? Das ist ja ein Aufgeklärter. Der macht sich nichts draus, und wenn der Teufel selber drin gehauset hätt.«
Friedrich schien auch anfangs mit dem Vorschlage nicht unzufrieden zu sein, als er, wie dies in solchen Fällen häufig geschieht, aus dem Munde der Nachbarsleute erfuhr, mit welchem Gedanken sein Vater umgehe. Aber eine Unterredung mit Christinen änderte seinen Sinn.
»So!« rief sie, als er ihr den Plan mitgeteilt, »ich soll in ein Haus ziehen, wo sich einer den Hals abgeschnitten hat und als Geist laufen muß!«
»Dummes Geschwätz!« erwiderte er, »der Küblerfritz schläft ruhig im Kirnberg draußen und ist froh, daß er vor seiner bösen Ripp Ruh hat. Der lauft nimmer.«
»Das mag sein, wie's will, aber mir graust's davor. Und das Haus ist eben einmal unehrlich. Was meinst, was die Leut sagen werden, wenn wir drin wohnen? Da wird's heißen: die beiden hat man hineingesetzt, weil das Haus für jedermann sonst zu schlecht gewesen ist und weil man glaubt, daß es mit ihnen ein gleiches End nehmen wird.«
Seit diesem Augenblicke sprach Friedrich von dem Gegenstande ganz anders. Die
wilden Reden, die er gegen die Nachbarn, wenn sie denselben berührten, fallen
ließ, wurden seinem Vater alsbald wieder hinterbracht, und die Stiefmutter sorgte
dafür, daß sie eher gemehrt als gemindert wurden. Hieraus erfolgten neue Auftritte
zwischen Vater und Sohn, die sich um so bitterer entluden, da die Verachtung, die
der letztere gegen den Urheber seiner Tage hegte, seit er ihn auf der Zumutung
betreten hatte, sein Mädchen mit ihrem Kinde im Stich zu lassen, durch den seinem
Gefühl nach in herabwürdigender Absicht gemachten Vorschlag, das Haus des
Selbstmörders zu beziehen, noch geschärft worden war. Auch wurde er in seiner
Auffassung dieser elterlichen Absicht durch die öffentliche Meinung im Flecken
bestärkt, obgleich dieselbe, nach der Weise einer unter jahrhundertlangem Drucke
lebenden Bevölkerung, sich nur heimlich zu seinen Gunsten aussprach. Einer um den
andern ließ sich verlauten: »Es ist doch nicht recht vom Sonnenwirt, daß er seinen
eigenen Sohn in die Hütte des Halsabschneiders setzen will, aber ich will nichts
gesagt haben.« Gleichwohl war ein halbes Dutzend von denen, die so gesprochen
hatten, nachher gleich bei der Hand, um über die unbesonnenen Reden des Jähzorns,
die
Es war wieder einmal Kirchenkonventssitzung, und die Mitglieder, die etwa insgeheim Freude am Skandal hatten, konnten diesmal ihre Lust wirklich büßen. Vor dem Konvent standen der Sonnenwirt als Kläger und sein Sohn als Beklagter. So weit hatte es die Stiefmutter durch ihre Verhetzungen gebracht. Beide wurden konfrontiert. Der Pfarrer als Vorsitzender des Gerichts hielt dem Sohn in Beisein des Vaters vor: »Sein Vater klagt wider Ihn, daß, nachdem er, wiewohl ungern, sich erklärt, daß er Ihm die Christina Müllerin, mit der Er sich vergangen habe, lassen wolle, und vermeint, er könne bei Ihm dadurch etwas Gutes zuweg bringen, so sei Er nur immer ärger, brauche gegen ihn die allerschnödesten und schimpflichsten Reden, stoße allerhand gefährliche Drohworte gegen ihn, Seinen Vater, wie auch gegen Seine Mutter und andere Leute aus, also daß er niemals in seinem eigenen Haus sicher sei.«
»Kann mein Vater sagen, daß ich mich an ihm vergriffen habe?« wendete Friedrich ein.
»Schweig Er still«, befahl der Pfarrer, »ich werde die Punkte der Ordnung nach
vornehmen.« Er kramte, durch die Einrede etwas aus dem Konzept gebracht, eine
Weile in seinen Notizen und fuhr dann fort: »Pro primo, so sagt Sein Vater, Er
habe Geld von ihm gefordert, und da er Ihm gesagt, Er habe ja erst ein
Jahrmarktstrinkgeld von ihm bekommen, sechzehn Batzen, warum Er es vertrunken? So
habe Er gesagt, Er habe recht getan, und
»Ich muß mich wundern«, sagte Friedrich, »daß mein Vater so elende Händel vor Kirchenkonvent bringt. Er weiß wohl, daß ich mehr Geld von ihm verlangt hab und nicht zum Trinken; statt dessen hat er mich mit einem Trinkgeld abfinden wollen, und dem hab ich dann mit guten Freunden sein Recht angetan und hätt's mit einem größeren auch so gemacht, weil mich ein Lumpengeld nichts geholfen hätt.«
»So sagen alle Verschwender«, bemerkte der Vormund halblaut.
»Item«, fuhr der Pfarrer fort, »wie Er erfahren hat, Sein Vater wolle Ihm des Kühlers Häusle kaufen, habe Er gesagt, der Donner solle ihn erschlagen, wenn er's Ihm kaufe, so zünde Er es an, sollten auch der Nachharn Häuser mit verbrennen, und wenn Sein Vater Ihm nicht dazu helfe, daß Er das Weib bekomme, so wolle Er noch einen größeren Tuck tun. Das gibt nicht bloß Sein Vater an, sondern ich kann Ihm eine stattliche Reihe von Zeugen stellen, die ich habe kommen lassen und die mir solches bezeuget haben.«
»Es sind vermutlich die nämlichen, die mich aufgesteifet haben, ich soll mir's
nicht gefallen lassen«, antwortete Friedrich. »Was ich im Zorn gesagt hab, weiß
ich nicht mehr. Die Reden, die der Mensch im Zorn führt, muß man nicht auflesen,
sondern liegen lassen, dann sind's Funken, die schnell wieder auslöschen. Man hat
mich schon viel böse Reden führen
»Frecher Bub«, fuhr sein Vormund auf, »du solltest froh sein, daß dein Vater hat für dich sorgen wollen. Des Küblers Häusle ist noch viel zu gut für dich.«
»So klein und schlecht es ist«, sagte Friedrich, »so wär ich für meine Person damit zufrieden gewesen. Aber der Herr Vetter weiß wohl, in welchem Geruch das Häusle bei dem ganzen Flecken steht, und daß ich mit meiner Christine nicht hineinziehen kann. Ja, wenn mir die Herren den Küblerfritz im Wald wieder ausgraben lassen und lassen ihn auf'm Kirchhof in ein ehrlich's Grab legen, dann will ich in sein Häusle einziehen. Das wär zudem ein Werk, das die Herren verantworten könnten, denn was er auch mit Gottes Zulassung getan hat, er ist fürwahr kein schlechter Mensch gewesen.«
»Der Herr Vetter zeigt den richtigen Weg an«, versetzte Friedrich. »Wenn ich in das Häusle einzög, so tät mich mancher, wie jetzt der Herr Vetter, dann den neuen Kübler heißen. Nun bleib ich zwar dabei, daß er besser gewesen ist, als man ihn ausgibt, aber darum will ich doch nicht mit meiner Christine in dem Häusle wohnen und so angesehen sein wie der Kübler mit seinem Weib. So wird's gewiß jedem andern auch gehen, und daran können die Herren abnehmen, ob's mein Vater ehrlich mit mir meint, wenn er sagt, er woll mir das Häusle kaufen. Wiewohl, ich glaub gar nicht, daß der Gedank in seinem Kopf gewachsen ist.«
»Item«, hob der Pfarrer wieder an, »soll Er gesagt haben, Sein Vater henke sein Geld lieber an die Stallmägde, als daß er Ihm helfe.«
»Das ist verlogen!« fuhr Friedrich auf. »Mein Vater sollt sich schämen, daß er sich solche Flöh in die Ohren setzen läßt, da er doch recht gut wissen könnt, woher sie kommen.«
»Item«, fuhr der Pfarrer fort, »habe Er mit Gewalt von Seinem Vater Geld haben wollen, daß Er Dispensation wegen Seiner Minorennität bekomme.«
»Ja, das hab ich von ihm haben wollen«, fiel Friedrich ein, »und deswegen ist mir
das Trinkgeld, mit dem er mich hat abspeisen wollen, viel zu wenig gewesen.
»Er soll dabei gesagt haben, wenn Er nur Geld habe, so brauche Er keinen Pfarrer und keinen Amtmann dazu. Summa Summarum klagt Sein Vater, Er folge ihm nicht, schaffe ihm nichts, gehe nur müßig, sei in der Nacht draußen, und erst am Sonntag habe Er gesagt, der Teufel solle das Geschäft holen, Er wolle ihm keine Arbeit mehr tun, er helfe Ihm ja nicht. Es bittet anbei sein Vater, weil er vor Ihm niemals, weder Tag noch Nacht, sicher sei, so möchte man ihm Sicherheit verschaffen vor Ihm und Ihn also verwahren, daß Er sich an niemand vergreifen und niemand schaden könne.«
»Mein Vater ist kein Mann, wenn er das behauptet«, erwiderte Friedrich. »Ich hab noch nie in meinem Leben Hand an ihn gelegt, ich hab mich nicht einmal, seit ich aus den Bubenjahren herausgewachsen bin, soviel ich auch Ursach hätt, an meiner Stiefmutter vergriffen. Vom Schaffen sag ich gar nichts.«
»Wie kannst du sagen, dein Vater sei kein Mann!« rief der Vormund.
»Er ist kein rechter Mann, ich behaupt's noch einmal.
»Hat Er das vierte Gebot ganz vergessen«, rief der Pfarrer, »daß Er im Beisein Seines Vaters und vor uns so verächtliche Reden wider ihn ausstößt und den kindlichen Respekt ganz hintansetzt? Aber freilich, Er macht's der Obrigkeit auch nicht besser, Er sagt ja, wenn Er Geld habe, so brauche Er keinen Pfarrer und keinen Amtmann, um Seinen Kopf durchzusetzen.«
Friedrich warf einen Blick ingrimmiger Verachtung auf den Pfarrer. »Der Herr
Amtmann«, sagte er, »wird wohl wissen, daß seine Macht nicht über die ganze Welt
reicht und daß auch noch eine Obrigkeit über ihm ist. Was aber Sie, Herr Pfarrer,
anbelangt, so haben Sie meinem Schwäh'rvater mit Drohungen das Versprechen
abgepreßt, daß er seiner Tochter und mir die Einwilligung verweigere. Sie nennen
das, was zwischen zwei jungen Leuten vorgeht, die einander lieb haben, eine böse
Tat. Ist ein Seelsorger nicht dazu da, daß er böse Taten in der Gemeinde gutmachen
hilft? Ist er nicht dazu da, daß er die Gefallenen wieder aufrichtet? Ist er nicht
dazu da, daß er den unterstützt, der den guten Willen hat, das Geschehene
ungeschehen oder doch
Er wollte fortfahren, aber der allgemeine Tumult übertäubte ihn. Mit Ausnahme des Amtmanns, der behaglich sitzen blieb, war der ganze Konvent aufgestanden und donnerte auf den frechen Redner hinein. Besonders heftig eiferte der Pfarrer, dessen kleine, magere Gestalt sich seltsam von dem wohlbeleibten Umfange seines weltlichen Mitbeamten neben ihm unterschied. Da er in dem Geschrei der übrigen Mitglieder, welche ihn gegen die Lästerungen des Angeklagten in Schutz nehmen zu müssen glaubten, mit seiner Stimme nicht durchdringen konnte, so setzte er sich schnell wieder, ergriff die Feder und schien sich heftig schreibend im Protokoll Recht verschaffen zu wollen.
Als der Tumult verstummte, sagte der Amtmann zum Pfarrer: »Haben Sie auch im Protokoll angemerkt, Herr Pfarrer, wie rechtfertig er ist?«
»Jawohl, Herr Amtmann«, antwortete der Pfarrer mit großer Befriedigung und zeigte ihm das Protokoll. »Sehen Sie, hier steht's schon geschrieben: ›Bei aller seiner äußersten Bosheit will er immer noch recht haben.‹«
»Schweig Er nur jetzt still«, sagte der Amtmann ruhig. »Sein Maß wird nachgerade ziemlich voll sein. Übrigens bin ich der Meinung, Herr Pfarrer, daß der Kläger zum Schluß aufgefordert werden solle, zu erklären, ob er denn seinen Konsens zu der Heirat noch nicht geben wolle.«
»Jawohl«, sagte der Pfarrer, »die Frage ist der Form wegen notwendig, und ich stelle sie hiermit an den Herrn Sonnenwirt.«
Der Sonnenwirt war bestürzt darüber, daß die beiden Vorgesetzten, deren Ansichten er doch hauptsächlich bis jetzt gefolgt war, sich gegen ihn einer Fragestellung bedienten, die ihn gleichsam im Stiche ließ. Er kratzte sich hinter dem Ohr und stotterte endlich: »Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich sehe eben nichts anderes voraus, als daß es sein Verderben ist.«
»Gut«, sagte der Pfarrer. »Es können nunmehro beide abtreten, und wird das alles ans Oberamt berichtet werden.«
Vater und Sohn gingen miteinander vom Rathause fort und nach Hause, ohne unterwegs ein Wort miteinander zu reden.
Sie waren nicht mehr weit von der ›Sonne‹ entfernt, als eine Stimme über ihnen
rief: »Herr Sonnenwirt, schämt er sich nicht, Seinen Sohn vor Kirchenkonvent
Sie blickten in die Höhe. Es war der Invalide, der sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder am Fenster sehen ließ.
»Auch wieder einmal unters Gewehr getreten?« rief Friedrich hinauf.
»Und Er«, sagte der Invalide zu ihm, »hätt's auch nicht so weit kommen lassen sollen. Ich hab's Ihm schon einmal gesagt.«
»Damals war's schon zu spät«, lachte Friedrich. »Auf Wiedersehen!«
Sein Vater war, ohne dem Invaliden zu antworten, vorausgegangen. Unter der Haustüre wartete er auf ihn. »Willst du dein Mütterlich's nehmen und nach Amerika gehen?« sagte er zu ihm.
»Ich will mit meiner Christine drüber reden«, antwortete Friedrich und machte sich unverweilt auf den Weg.
Nach einer halben Stunde kam er heim und brachte die Antwort. »Sie will nicht«, sagte er, »sie erklärt, sie wolle sich in Ebersbach nicht nachsagen lassen, sie habe so unrechte Dinge getan, daß sie habe nach Amerika gehen müssen, wo bloß die schlechten Leute hinwandern. Ihr Wahlspruch sei: Bleibe im Lande und nähre dich redlich.«
»Es steht geschrieben, das Weib soll dem Mann folgen«, sagte der Sonnenwirt.
»Das müßt sie auch, wenn mir's Ernst wär«, erwiderte Friedrich. »Aber ich bin mit
mir selber nicht im klaren, wie's mit dem Amerika ist, ich
»Da siehst du's: sie hängt wie ein Radschuh an dir und hindert dich überall am Fortkommen.«
»Und wenn sie mir jetzt schon ganz verleidet wär – ich hab ihr mein Wort gegeben, und das halt ich ihr.«
Heu und Frucht waren eingetan, und alles ging seinen gewöhnlichen Gang, nur in
Friedrichs Heiratsangelegenheit wollte keine Bewegung kommen. Alles, was er bisher
getan hatte, um dieselbe ins Werk zu setzen, war wie ein Schlag ins Wasser
gewesen. Längst hatte er seine Supplik an die Regierung eingereicht und als
Minderjähriger um Heiratserlaubnis gebeten. Damals war er sehr vergnügt von
Göppingen zurückgekommen und hatte Christinen erzählt, der Vogt, dem er die
Schrift zum Beibericht gebracht, habe ihm zwar scharfe Vermahnungen gegeben, aber
den Ausspruch getan, wenn ein Bursche sein Mädchen ehrlich machen wolle, so müsse
man ihn eher aufmuntern als abschrecken. Er hatte also nicht mit Unrecht darauf
vertraut, daß die höhere Behörde sein Anliegen nicht aus dem engen Gesichtskreise
der Fleckenregierung betrachten werde. Leider aber wurde der Vogt bald hernach auf
ein anderes Oberamt versetzt, und sein Nachfolger ließ
Um diese Zeit lief die Sonnenwirtin eines Tages ins Amthaus, um der Amtmännin zu
erzählen, daß ihre älteste Tochter, die Krämerin, wenn der Herr Amtmann sie nur
vernehmen wollte, Greueldinge von dem ungeratenen Bösewicht aussagen könnte. Der
Amtmann versammelte, von seiner Frau angetrieben, seine beiden Urkundspersonen und
ließ die Krämerin rufen, welche weinend vor ihm erschien. »Ihr Bruder«, gab sie zu
Protokoll, »habe drei Gulden gefordert, damit er sein Memorial und Bericht zu
Göppingen bekomme. Darauf habe sie ihm gesagt, sie wolle nicht zum Vater gehen,
weil sie wisse, daß er sich bloß darüber erzürne; er solle seinen Pfleger
schicken. Nun habe er aber angefangen zu toben: er sehe wohl, daß er's verloren
habe, morgen wolle
Nachdem der Amtmann das Protokoll aufgenommen und die Angeberin entlassen hatte, sagte einer der beiden Gerichtsbeisitzer: »Es wird doch nötig sein, daß man den Frieder auch verhört.«
»Wozu?« versetzte der Amtmann. »Ich weiß schon zum voraus, was der sagen würde, der Advokat. Ich schicke eben einfach den Bericht nach Göppingen, und wenn von dort wieder nichts kommt, wie auf die Kirchenkonventsverhandlung, so kann mir's gleichgültig sein. Wiewohl, der neue Vogt wird es vielleicht mit dergleichen komminatorischen und kalumniösen Redensarten etwas schärfer nehmen. Vielleicht läßt er auch die Sachen ad cumulum zusammenkommen; denn mir ahnt's, daß noch mehr bevorsteht und daß ich noch weitere Protokolle und Berichte schreiben muß.«
Indessen schien es doch, daß Friedrichs Drohungen nicht auf unfruchtbaren Boden
gefallen seien, denn unerwartet gab ihm sein Vater, der etwa unruhig geschlafen
haben mochte, das Geld zu seiner Werbung
Abermals liefen die Weiber im Flecken zusammen und erzählten sich von gräßlichen Reden, die er ausgestoßen haben sollte; ja man legte ihm die Versicherung in den Mund, er wolle den nächsten besten, der ein paar Gulden im Sack habe, über den Haufen stechen, um mit dem Geld nach Stuttgart gehen zu können. Allein ungeachtet dieser rohen Worte waren und blieben die Straßen sicher vor ihm, und er gelangte auf diesem Wege so wenig in den Besitz des unentbehrlichen Geldes, als er es diesmal von der unstet hin und her schwankenden Gesinnung seines Vaters herauszubekommen vermochte.
Christine riet ihm, sich in dieser Verlegenheit an die Bäckerin zu wenden; sie
selbst hatte nicht das Herz dazu. Mit der Geduld, welche eine fortwährende
Vereitelung eines fieberhaft betriebenen Planes manchmal einflößen kann, begab er
sich zu Christinens Base, deren Krankheit soweit fortgeschritten war, daß sie den
ganzen Tag regungslos im Lehnstuhle saß, und sprach sie um ein Darlehen an. Die
Da er aber nun einmal die Mittel in der Hand hatte, seine Sache in Stuttgart zu
betreiben, so versäumte er es nicht, davon schleunigen Gebrauch zu machen.
Christine war ihm an dem Abend, wo sie ihn zurückerwartete, einige Schritte vor
den Flecken entgegengegangen. An derselben Stelle, wo sie auf beschneitem
Christine seufzte.
»Und der Herzog vollends«, fuhr er fort, »der lebt
»Versteht er denn sein Handwerk?« fragte Christine.
»Was weiß ich? Aber herrlich und in Freuden lebt er, und anderen verbietet er, was ihm selber schmeckt. Denk nur, ich hab auch die Herzogin gesehen. Aber die ist schön, und noch so jung, aber mächtig stolz. Mich wundert's nur, daß sie die ** leidet, die er neben ihr hält, und was meinst, die baden im Burgunderwein.«
»Pfui«, sagte Christine, »da möcht ich nicht davon trinken.«
»Oh, es gibt Leut, die ihn nachher kaufen, weil man ihn natürlich wohlfeil haben kann. Und vor acht Tagen hat er in Ludwigsburg ein Feuerwerk geben und hat dabei für fünfmalhunderttausend Gulden in die Luft aufgehen lassen. Man spricht noch heut in Stuttgart in allen Wirtshäusern davon, aber sie schimpfen, weil's in Ludwigsburg gewesen ist. Ich hätt's doch auch sehen mögen.«
»Ich nicht«, sagte Christine. »Es ist sündlich, das Geld so hinauszuschmeißen.
Rechne nur auch einmal aus, wie lang arme Leut davon hätten leben können. Aber ich
kann dir auch eine Neuigkeit
»So, mein Vater? Es ist zwar nicht viel, aber es freut mich doch an ihm. Hat er sie dir geschickt?«
»Nein, er hat eben sagen lassen, da schick er's. Es ist mir um der Meinigen willen lieb, denn du hast keinen Begriff davon, was ich von ihnen schlucken muß. In deiner Gegenwart lassen sie's nicht so heraus, aber du wirst doch auch selber schon gemerkt haben, was wir ihnen wert sind. Besonders meine Mutter und mein Hannes, die haben gemeint, sie werden Ehr und Vorteil von uns ernten, und statt dessen haben sie mich eben immer noch auf'm Hals. Meine Mutter hat gleich zu brotzeln und zu backen angefangen, du weißt ja, wie sie ist; sie hat gesagt, sie mach's für meinen Vater, aber der hat nichts davon gessen, und dann hat sie's für sich behalten und hat denkt: selber essen macht fett.«
»Hab noch die paar Tag Geduld«, sagte er. »Jetzt kommt ja die Resolution, und dann hat alles Jammern ein End! Dann werden wir zusammen getraut, und das ist die Hauptsach, wenn's auch ohne Kränzle und am Mittwoch geschieht. Der Mittwoch ist auch ein Tag. Und wenn ich mein Mütterlich's hab und Händ und Füß für meine eigene Haushaltung regen kann, dann will ich dich schon wieder rausfüttern, dich und dein Kind.«
»Ja«, sagte Christine, »und unser Herrgott wird weiter sorgen.«
Tag um Tag verging, aber keiner brachte die ersehnte herzogliche Resolution. Die Tage wurden zu Wochen, und eine reihte sich an die andere, ohne dem Harrenden das Versprechen zu erfüllen, das er sich in Stuttgart mit fremdem Gelde erkauft hatte. Träg und eilig zugleich ging ihm die unbarmherzige Zeit; während sie ihn endlos auf die Gewährung, die er von der Menschenwelt forderte, warten ließ, zeigte sie ihm jeden Tag den unaufhaltsamen Fortschritt, welchen die Natur machte, um ihm ein Geschenk zu bringen, das jener Gewährung nicht zuvorkommen durfte, wenn es nicht den Stempel des Unglücks und der Schande tragen sollte.
»So kann die Sach nicht fortgehen«, sagte Christine eines Tages zu ihm. »Ich möcht naus, wo kein Loch ist. Die Meinigen haben mir ausgeboten, der Sommerverdienst sei zu End, und mit dem Winter geh das Hungerleiden vollends ganz an. Sogar mein Jerg, der mir immer noch ein wenig den Kopf gehebt hat, sagt, es sei in der ganzen Welt der Brauch, wer die Gais angebunden hab, der mög sie auch hüten.«
»Weiß wohl«, bemerkte er finster, »der Bauer tut alles gern, wenn er muß.«
»Aber bedenk auch, wie sie auf'm dürren Bäumle sind. Ich selber schäm mich, daß
ich ihnen fort und fort hinliegen muß, und du solltest dich auch schämen. Ich
weiß, was ich tu: wenn meine Zeit
Dieser bittere Spott der Verzweiflung schnitt ihm glühend ins Herz. »Hat er seitdem nichts geschickt«, fragte er, »kein Brot, nicht einmal eine Schüssel Mehl?«
»Nichts«, erwiderte sie, »kannst dir wohl denken, daß ich dir's gesagt hätt.«
Er knirschte mit den Zähnen. »Wohl, wenn er's nicht sichtbar geben will, so soll er's unsichtbarlich geben. Ruf deinen Jerg, er muß uns behilflich sein, ich will mit ihm deines Vaters Wagen rüsten, und du schaffst Säck her, wenn's dran fehlt, so entlehnst du in der Nachbarschaft.«
»Was willst denn auf dem Wagen führen?« fragte sie schüchtern.
»Die Säck!« rief er noch barscher als zuvor.
»Und was willst in die Säck tun?«
»Fressen!« antwortete er. Seine Augen funkelten, die Narbe in seinem Gesicht war blutrot geworden, und sein ganzes Aussehen erschien so wild, daß sie nicht weiter zu fragen wagte.
Jerg, der kein Mann von vielen Worten war und sich unbedingt an seinen natürlichen
Schwager anschloß, sowie er diesen tatkräftig auftreten sah, half ihm den Wagen
zurechtmachen, während Christine unter der hinteren Türe saß und die Säcke
flickte, wo sie Löcher an ihnen entdeckte. Niemand fragte, was dieses Vorhaben
bedeuten solle. Der Vater lag oben im Bett und sah meist stillschweigend an die
Wand oder nach der Decke hinauf, und die Mutter befand
Als es Nacht wurde, mußte Jerg die Kuh aus dem Stalle führen, und Friedrich half ihm sie an den Wagen spannen. Dann befahl er Christinen, eine Laterne anzuzünden und mitzunehmen. Sie kam mit der Laterne, blieb aber stehen und sagte: »Um Gottes willen, Frieder, was hast vor? Mir ist's, als sei's nichts Gut's.«
»Hörst den Teufel schon Holz spalten?« sagte er. »So gut du dein Kind in meines Vaters Haus tragen kannst, so gut kann ich ihm auch Futter draus holen.«
»Ach Gott«, seufzte sie, »das ist eine unrechte und gewagte Sach. Ich will nichts davon.«
»Du läßt mir ja keine Ruh!« rief er, und der Grimm klang aus seiner gedämpften Stimme heraus. »Vorwärts!«
Er ergriff sie am Zopfbändel und zog sie fort. Sie verbarg die Laterne unter der Schürze und folgte willig. Der Wagen fuhr langsam durch den Flecken. Es war überall still, kein Mensch begegnete ihnen. Vor der ›Sonne‹ hielten sie an. Auch dort lag alles im Schlafe. – »Ihr beide bleibt da unten«, sagte Friedrich, »für euch ist's ein fremdes Haus, man soll euch keinen Einbruch vorwerfen können. Ich bin hier in meinem eigenen, das weiß sogar der Hund, die unvernünftig Kreatur, denn sehet, er rührt sich nicht.«
Er öffnete einen Laden und verschwand mit einem Sack, den er bald schwerer, als er
zuvor gewesen war, wiederbrachte. So trug er mit starker Hand
Christine, die sich in das Unternehmen gefunden zu haben schien und dem seltsamen Tone Friedrichs entgegenwirken zu müssen meinte, bemerkte scherzend: »Du kommst mir vor, wie ein Räuberhauptmann, der über seine Bande hinein befiehlt.«
»Was nicht ist, kann noch werden«, murmelte er dumpf.
Als sie den Wagen abluden, überzählte er die ungleich gefüllten Säcke. »Es werden zirka sechs, sieben Scheffel sein«, sagte er mit der Sicherheit des Kenners.
»Was ist's für Frucht?« fragte Jerg.
»Dinkel und Haber.«
»Da wär ja für Menschen und Vieh gesorgt.«
»Es ist an dem für die Menschen genug. Den Haber betracht ich als bar Geld.«
»Hab mir's wohl vorgestellt.«
»Wollen's gleich auseinander tun. Die Säcke da enthalten Dinkel, die schlachtet ihr ins Haus, ihr brauchet nicht alle, könnt mir noch ein oder zwei davon lassen.«
»Ja, ist denn die Frucht für uns?« fragte Jerg.
Jerg lachte verschmitzt.
»Merkst was?« fragte Friedrich.
»Mir ist's immer, als müßt ich wieder einen Gang für dich nach Rechberghausen tun«, sagte Jerg.
»Hast's troffen.«
»Zufällig weiß ich, daß der Christle morgen runter kommt.«
»So nimm ihn zu dir da raus. Ich will dann auch kommen, daß wir mit ihm handelseins werden.«
»Wenn nur dein Vater nicht erfährt, was du ihm für einen Besuch gemacht hast!« seufzte Christine, die nachgerade wieder unruhig wurde.
»Der erfährt's freilich«, erwiderte er. »Der Knecht, der neben der Frucht liegt, ist aufgewacht, hat sichein wenig auf'm Ellenbogen aufgerichtet und hatmich anglotzt. Der schweigt nicht.«
»Jesus, Jesus! Und das sagst du erst jetzt.«
»Es kommt immer noch früh genug. Gut ist's aufalle Fäll, wenn die Sach mit dem Christle morgengleich ins reine kommt. Jetzt aber fort ins Bett undlaß dir von vollen Schüsseln träumen.«
Am folgenden Morgen gab es in der ›Sonne‹, sobaldder Sohn des Hauses sich blicken
ließ, einen jenerstürmischen Auftritte, welche der Nachbarschaft sooft verrieten,
wie es um den Frieden desselbenstand. Sein Vater empfing ihn mit einer Flut
von
»Wenn Ihr mich ins Zuchthaus bringen wollet, Vater, so steht's Euch frei«, sagte Friedrich. »Ihrhabt's ja schon einmal getan. Freilich haben die Leut verschiedentlich drüber geurteilt, daß Ihr Eurem eigenen und einzigen Sohn zum Ankläger worden seid.«
»Das ist nicht wahr«, entgegnete der Sonnenwirt. »Die Sach ist damals ohne meine Schuld offenkundig worden, und ich hab's nicht hindern können, daß sie vor Amt kommen ist.«
»Also wollt Ihr jetzt nachholen, was Ihr damals versäumt habt?«
»Gib raus, was du mir gestohlen hast.«
»Es ist weit fort, Ihr findet's nicht, und wenn Ihr alle Eure Stallaternen anzündet. Laßt mich majorenn werden und gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann will ich mit Euch abrechnen und will Euch den Schaden ersetzen, daß nicht ein Kreuzer dran fehlen soll, und wenn der Fruchtpreis derweil anzieht, so soll der Gewinn Euer sein. Dann könnt Ihr von Stehlen sagen, so viel Ihr wollt, 's glaubt 's Euch niemand.«
»Hast du deinem Weibsbild davon gebracht?«
»Ihr könnt in und unterm Bett bei ihr suchen, Ihr
»Was?« fuhr der Sonnenwirt auf, »ich hab schon öfter gesagt, daß man hinausschicken soll.«
»Dann ist's unterwegs in irgendein Loch gefallen«, versetzte Friedrich.
Der Sonnenwirt schwieg unschlüssig. Es machte ihn betroffen, obwohl er es sich bei den bekannten Gesinnungen seiner Frau leicht erklären konnte, daß seine Befehle nicht vollzogen worden waren, und unter diesen Umständen glaubte er, bei seinem reichen Fruchtvorrate, den von dem Knecht angegebenen Verlust ohne Geschrei ertragen zu sollen. Er ging zur Stube hinaus und ließ seinen Sohn in Ungewißheit, was er tun werde.
»Hast dein' Hausdieb im Verhör gehabt?« fragte seine Frau draußen.
»Woher weißt du's denn?«
»Du schreist ja so laut, daß man's in Göppingen hört. Und jetzt willst immer noch in deiner Langmut zusehen?«
Der Alte kratzte sich hinter dem Ohr. »Das Stehlen will ich ihm vertreiben«, sagte er. »Du aber sagst mir weder im Pfarrhaus noch im Amthaus ein Wort davon, sonst ist's zwischen uns aus, und ich laß ihn morgen heiraten und nehm alle beide ins Haus zu mir.«
»So hitzig?« maulte sie.
»Erstens«, erklärte er, »hätt ich ihn zwar gern in
Der Tag verging ruhiger als er begonnen hatte. Friedrich wußte zwar immer noch nicht, wessen er sich zu versehen habe; auch ließen ihn gewisse Anspielungen seiner Stiefmutter, welche von der Notwendigkeit sprach, Schlösser und Riegel ausbessern zu lassen, nichts Gutes ahnen; doch meinte er aus dem Betragen seines Vaters schließen zu dürfen, daß seine eigenmächtige Pfändung ohne Folgen bleiben werde.
Zur verabredeten Stunde ging er in des Hirschbauern Haus. Der Erwartete war bereits da, ein Mann mit rundem, schelmisch lächelndem Gesicht und einem sogenannten Hörn auf der Stirne, das in der Mitte über beiden Augen saß und so groß war, daß Friedrich es im Scherz ein drittes Auge nennen konnte. »Bist schon da, Dreiäugiger?« sagte er, die Hand bietend. Die Alte hieß ihn sehr freundlich willkommen und bedankte sich bei ihm für den stolzen Küchengruß, den er gesandt habe; sie vermied es klüglich zu fragen, wie er eine so bedeutende Beisteuer aufgebracht. Man schwatzte eine Weile von gleichgültigen Dingen, ohne daß der Hirschbauer, der in der Stube zu Bette lag, sich in das Gespräch mischte. Dann gingen die drei miteinander fort, um unter dem Hause ihr Geschäft miteinander abzumachen.
»Es ist gut merken gewesen, Frieder«, sagte Jerg. »Seit einiger Zeit hast du immer das link Aug von Zeit zu Zeit zugedrückt und hast mit dem rechten grad vor dich hingesehen, so daß ich immer hab denken müssen: der tut in Gedanken zielen. Es ist mir dabei eingefallen, was der Krämerchristle von dir gesagt hat: die Katz läßt das Mausen nicht.«
Alle drei lachten. »Ich will dir beweisen, daß ich noch ein scharfsinnigerer Kopf bin als der da«, sagte Christle. »Tut's dir nicht and nach deiner schönen Buchs?«
»Ja, wenn ich die wiederhaben könnt!« rief Friedrich.
»Bruderherz, kannst sie haben! Ich hab dir sie aufgehoben, weil ich wohl gewußt hab, daß du wieder nach ihr fragen wirst.«
Sie lachten noch stärker. »Heißt das«, setzte Christle hinzu, »bei der Hand hab ich sie nicht, sondern ich hab sie in Gmünd versetzt, aber dort kann ich sie jeden Augenblick wiederhaben. Und damit du siehst, daß ich nicht bloß scharfsinnig, sondern auch ehrlich gegen dich bin – wie?« unterbrach er sich, zu Jerg gewendet, »was hat er denn zu dem Geld gesagt, das ich ihm für das Gewehr geschickt hab? Hat er mich nichts geheißen?«
»Ei ja, 'n dreiäugigen Spitzbuben.«
»Siehst, um das nämlich Geld kannst dein Gewehr
»Bist ein Biedermann«, sagte Friedrich.
»Was, du, der best Schütz weit und breit, hast dich zur Ruh setzen wollen? Du könntest's ja vor den Bauern nicht verantworten. Und ein paar Fährten hab ich dir ausgewittert, ich sag nichts, aber das Herz wird dir im Leib lachen. Nun, du kommst doch zu mir und holst die Büchs, dann gehen wir miteinander.«
»Aber Geld hab ich keins«, sagte Friedrich. »Kannst Haber brauchen und etwas Dinkel?«
»Das führ ich nach Gmünd, freilich, und bring gleich das Gewehr mit zurück.«
»Da beim Jerg kannst die Frucht fassen, je eher, je lieber, aber in der Stille muß es sein.«
»Heut abend noch will ich sie holen. Auf Wiedersehen, du verlorner und wiedergefundener Sohn.«
»Der hat gut uneigennützig sein«, sagte Friedrich, nachdem jener sich verabschiedet hatte. »Wenn ich eine glückliche Hand hab, so hat er den Vorteil davon und keine Gefahr. Er weiß die beste Schlich im Wald und die beste Schlich im Handel, aber den gefährlichen Teil überläßt er andern, und wenn's zum Klappen kommt, so hat er nichts getan. Aber wo ist denn meine Christine?«
»Im Beckenhaus«, antwortete Jerg. »Der Beckenbub hat sie in aller Eil geholt. Ich weiß nicht, was dort los ist. Da kommt sie ja!«
Christine kam atemlos herbei. »Weißt was Neu's, Frieder?« rief sie schon von weitem.
»Die Resolution ist da, du bist schon seit vierzehn Tag majorenn und weißt nichts davon.«
»Was Teufel! Wie kommt denn das, und woher hast denn du's?«
»Von der Dote; die hat mich holen lassen. Aber von wem's die hat, das bringst du nicht raus, und wenn ich dich raten laß, bis die Kuh 'n Batzen gilt.«
»Nu, so sag's.«
»Die Kathrine aus dem Amthaus ist's.«
»Was! Das wär!«
»Ja, die Kathrine ist zu der Dote geschlichen und hat sie ums Tausendgott'swillen bittet, sie soll sie nicht verraten, aber seit vierzehn Tag sei der Bescheid von Stuttgart da und lieg auf des Amtmanns Schreibtisch. Es hab ihr schier das Herz abdruckt, daß wir nichts davon wissen sollen. Du könnest herzhaft auftreten und die Proklamation verlangen. Aber wenn's rauskäm, daß sie's ausgeschwätzt hat, so wär sie unglücklich.«
»Nein, nein, da muß man ganz still sein. Brav ist's von dem Mädle, das muß ich sagen, aber so viel seh ich auch bei der Gelegenheit, daß es keine einem nachträgt, wenn man sie einmal hat küssen wollen.«
»So, du Lümple, was muß ich hören? Ist's beim Wollen blieben? Hat sie dich heißen um ein Haus weiter gehen?«
»Ich hab mir nicht Müh gnug geben. Aber was denkt der Amtmann? Getraut sich der,
fürstliche Resolutionen zu unterschlagen? Da steckt gewiß die
»Ja, ja«, sagte Jerg vergnügt, »man spricht 's ganz Jahr von der Kirbe (Kirchweih), endlich ist sie.« Er ging und ließ die beiden allein.
»Wenn ich gestern gewußt hätt, was ich heut weiß«, sagte Friedrich, »so hätt mein Vater seinen Dinkel und Haber noch. Jetzt darf ich mein Mütterlich's fordern und brauch dich keine Not mehr leiden zu lassen. Wiewohl, ich will's ihm bei Heller und Pfennig zahlen. Aber hätt'st dein Geheul auch noch ein paar Tag unterwegs lassen können.«
»Wenn man eben alles wüßt, dann wär man reich«, versetzte Christine.
»Und hätt ich's nur eine Stund früher gewußt«, fuhr er fort, »dann hätt ich den Handel mit dem Christle nicht gemacht.«
»Was hast denn mit dem gehandelt?«
»Meine Büchs will ich wieder von ihm zurückkaufen. Um deinetwillen hab ich sie von mir getan, und um deinetwillen nehm ich sie wieder an mich. Es ist auch so noch immer möglich, daß ich sie einmal brauch, um Weib und Kind zu verhalten. Doch ist's nur für den äußersten Fall, und besser wär's, ich hätt sie ihm noch gelassen, denn so ein Teufelshirsch kann einen bis ins Zuchthaus führen.«
»Laß du das Wildern sein«, sagte Christine, »und denk auf andere Weg, wie du Weib
und Kind ernähren willst. Wiewohl, es geht nicht immer so schlimm aus. Hab ich
dir's nie von unsrem Haus erzählt? Es ist ein altes Sagen in unserer Familie,
»So?« sagte Friedrich. »Da kommt wahrscheinlich auch der Nam Hirschbauer her?«
»Mag sein, ich weiß nicht«, erwiderte sie.
»Jetzt aber laß uns drauf denken, wie wir unser Haus bauen. Majorennitätserklärung, Proklamation, Kopulation, das muß wie Blitz und Donner aufeinander gehen. Voran, voran, eh's der Teufel erfährt und Unsamen streut!«
Gleich noch am nämlichen Abend ging Christine in das Pfarrhaus, um im Auftrag
ihres Verlobten, der auf sie wartete, den Herrn Pfarrer zu bitten, daß er
»Gleich morgen gehst zum Amtmann«, sagte Friedrich, »denn jetzt ist er auf der Jagd. Es ist besser, du gehst, weil er mir gesagt hat, ich soll nicht ungeboten vor ihn kommen.«
»Ja«, sagte sie, »und wenn du kämst, könnt's leicht Häupeleien geben, weil du so strobelig bist. Wir müssen jetzt trachten, daß wir vollends im Frieden durchkommen. Lieber geh ich, ich fürcht mich nicht mehr so vor den Herren. Aber was soll ich denn dem Amtmann sagen, woher wir wissen, daß die Resolution da ist? Die Kathrine dürfen wir nicht verraten, die ist unser guter Engel.«
»Sagst, ich wiss es von Stuttgart her, daß die Resolution vor einigen Wochen schon abgangen sei. Gib acht, das wird ihm Füß machen.«
»Das ist der Red noch einmal wert«, rief Christine und lachte; »jetzt meint er, du habest ihn verklagt, und kriegt Angst.«
»Laß ihn nur nicht schlupfen, weder links noch rechts«, sagte er. »Bekennen muß er. Morgen ist Samstag, und am Sonntag müssen wir das erstmal proklamiert sein.«
Mit lachendem Munde kam Christine den andern Morgen aus dem Amthause. »Ich hätt
nicht glaubt«,
»So, nichts Pressantes? Ich wollt, das Wasser ging ihm einmal bis an Hals, und ich stünd dabei und könnt sagen: ›'s pressiert gar nicht, Herr Amtmann, mit Ihrem Wohlnehmen.‹«
»Es hat ihm aber doch rechtschaffen pressiert«, fuhr sie fort. »Sieh, da ist die Schrift, die soll ich dem Pfarrer bringen, daß es mit dem Proklamieren weiter kein' Anstand hab.«
»Lauf, Christinele, lauf tapfer! Du arm's Weib du, mußt dich halbtot springen um unsere Heirat, und trägst doch den Ehkontrakt mit Brief und Siegel an dir.«
»Ich wollt, du müßtest ihn tragen«, maulte sie, »damit du auch wüßtest, wie das beschwerlich ist.«
»Halt's der Pfarrer auch nicht für pressant?« fragte er, als sie wiederkam.
»Er hat gesagt, es sei eine Sünd von dir, daß du deinem Vater nicht gehorchest, und er sag mir's ins Gesicht, daß so eine ungleiche Heirat eine rechte Dummheit sei und auch ein bös End nehmen werd, aber er hab jetzt sein Gewissen salviert und uns gewarnt; morgen werd er uns proklamieren.«
»Er soll uns ausrufen und einsegnen, nachher mag er schwätzen, soviel er will. Jetzt ist's gewonnen.«
Als er von ihr wegging, begegnete er seiner Schwester
»Ach Gott, ist's so weit?« rief sie. »Ja, wenn ich kann, will ich gehen.«
»Können!« sagte er, »ich hab noch nie gehört, daß die Weibsleut nicht in die Kirch gehen können, sonderlich, wenn's Neuigkeiten drin gibt.«
»Weiß 's denn der Vater schon?« fragte sie. »Grad will ich zu ihm.«
»Er erfährt's jetzt gleich. Wir haben einen Weg.«
»So, du bist also jetzt majorenn, und ich hab dir nichts mehr zu befehlen?« sagte der Sonnenwirt, als sein Sohn ihm die Neuigkeit angekündigt hatte. »Nun, jetzt kannst du freilich tun, was du willst, aber ich bin jetzt auch nicht mehr verantwortlich dafür.«
»Vater«, sagte die Chirurgin, »der Bruder fragt, ob ich morgen in die Kirch geh. Gehet Ihr?«
»Es wär schon not, daß man für ihn beten tät«, sagte die Sonnenwirtin, die sich der Antwort bemächtigte; »aber ich sorg nur, die Leut könnten's so ansehen, als ob wir unsre Billigung dazu gäben, und der Vater wälzt ja selber alle Verantwortung von sich ab.«
»Ich sag nicht, du sollest daheim bleiben«, antwortete der Sonnenwirt seiner Tochter, »und dein Mann kann's dir auch nicht verbieten, in die Kirch zu gehen. Auch wär's christlich, wenn's einmal sein soll, daß wenigstens eins von der Familie dabei wär.
»Aus Christenpflicht ging ich auch gern dazu«, nahm wieder die Sonnenwirtin das Wort, »aber ich könnt's nicht prästieren, den Blicken so ausgesetzt zu sein, denn natürlich, die ganz Gemeind guckt uns an, wenn wir gegenwärtig sind. Ich weiß nicht, mit was ich die Straf verdient haben sollt, ich hab mich nicht vergangen.«
»Das ist wahr«, seufzte die Chirurgin, »ich könnt die Augen nicht auftun und tät's doch spüren, wie ich die Zielscheib wär, und alle Andacht wär mir verdorben.«
Die Türe ging auf, und der Krämer trat mit seiner Frau herein. »Ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte er, »daß ich in meinen Hauspantoffeln komm, aber es läßt mir keine Ruh. Weiß's denn der Herr Vater schon? Es ist im ganzen Flecken herum, daß der Schwager morgen mit seiner Jungfer Christine proklamiert werd. Ist's denn wahr? Was, und die Familie erfährt so was zuletzt?«
»Das wird aber morgen ein Geläuf sein!« rief die Krämerin. »Mein Mann, der los Vogel, hat gesagt, wir könnten einen hübschen Profit machen, wenn wir unsern Kirchenstuhl vermieten täten. Gebt acht, morgen gibt's am heiligen Ort Händel, denn's fehlt an Platz.«
»Wir reden eben davon, ob wir auch gehen sollen«, sagte die Sonnenwirtin, »aber die Chirurgussin und ich, wir meinen, wir könnten's nicht aushalten, wenn einen alles so ansieht.«
»Schad ist's aber doch, wenn wir drum kommen«, sagte der Krämer. »So ein Paar sieht man nicht alle Tag. Er ist so mager und sie so dick.«
»Sie wird mich schon pflegen, daß ich wieder zu Kräften komm«, versetzte Friedrich, der alle diese Stiche mannhaft verbiß. Doch war er froh, sich mit einem Scherzwort loskaufen zu können, und beurlaubte sich von der Familie, ohne die Bitte, die er an ein sonst geliebtes Mitglied derselben gerichtet hatte, bei den andern zu wiederholen.
Er brachte den Rest des Tages bei seiner Braut und den Ihrigen zu, wo es ungeachtet des Mangels und der Ungewissen Aussicht in die Zukunft sehr heiter zuging. Der Hirschbauer sprach an diesem Tage zum erstenmal wieder seit langer Zeit und konnte aufrecht im Bette sitzen. Aus jedem Worte aber, das der Bräutigam redete, gab sich das befriedigte Selbstgefühl zu vernehmen. Er konnte jetzt seinem Mädchen und ihrer Familie Wort halten.
Als er abends heimkam, nahm ihn sein Vater auf die Seite. »Laß mit dir reden«,
sagte er. »Jetzt hast du alles noch in der Hand. Ein Wort beim Pfarrer, und die
Proklamation unterbleibt. Ich will dir was sagen: wenn du zurücktrittst, so soll
dein Diebstahl ungeschehen und begraben sein. Bis jetzt ist nicht
»Schwätzet doch nicht immer von Diebstahl«, sagte Friedrich. »Was ich aus meinem Mütterlichen ersetzen kann, das ist mein'twegen genommen, aber nicht gestohlen.«
»Wie meinst du, daß man's vor Amt ansehen werd?«
»Weiß ich das? Ich hab das Gesetz nicht gemacht, und Ihr auch nicht.«
»Du hast's, scheint's, vergessen, wohin dich dein Husarengriff geführt hat.«
»Nein, ich weiß noch recht gut, daß man mir damals eröffnet hat, das Einsacken könnt man vielleicht meiner Jugend und Unverstand nachsehen, aber nach einem alten Reskript – ich weiß nicht mehr, die Jahreszahl ist noch aus dem vorigen Jahrhundert gewesen – sollen ungeratene, unartige Kinder, bei denen der Eltern Zucht nicht anschlage, in Sprengen und eisernen Banden zu öffentlichen Arbeiten angehalten werden, und sonach sei das Zuchthaus eigentlich eine Begnadigung für mich. Wenn Ihr es also meint, so könnt Ihr mich beim Amtmann und Vogt verklagen, wie Ihr mich beim Kirchenkonvent verklagt habt.« – »Du schreckst mich nicht«, dachte er bei diesen Worten, mit festem; Auge den unsichern Blick seines Vaters festhaltend.
»Sind das artige Kinder«, fragte dieser, »die ihren Eltern das Korn im Sack aus dem Haus tragen?«
»Wisset Ihr nicht, Vater? der Crispinus hat Leder gestohlen, um den Armen Schuh
draus zu machen,
»Wir sind lutherisch. Da gelten keine solche Späß.«
»Nun, so machet doch endlich Ernst und bringet mich ins Zuchthaus. Dann muß eben die Hochzeit aufgeschoben werden, bis ich wieder rauskomm.«
»Ich sag noch einmal, tritt zurück, so lang's noch Zeit ist.«
»Nein, eher will ich mich stocken und blocken lassen. Entweder setzt mich ins Zuchthaus, wenn Ihr nichts Besseres wisset, oder gebet mir mein Mütterlich's heraus, damit die Sach auf ein oder die ander Art endlich in Ordnung kommt.«
»Zu deinem Hochzeitstag kannst's haben, wenn du von deinem Tugendspiegel nicht lassen willst, und kannst dann gleich auch Tauf davon halten. Ich möcht nur auch wissen, was du an ihr find'st. Ich will nicht weiter mit dir streiten, ob du dich mit dem Crispinus vergleichen kannst, aber wenn du das sein willst, so sag nur selber, was du von deiner Crispina hältst, die sich gestohlene Sachen zutragen läßt; denn das leid't kein Zweifel, da machst mir nichts weiß.«
»Angenommen, es sei so, wisset Ihr denn, ob sie's weiß, woher ich's hab?«
»Sie wird wohl denken, es sei dir in der Hand gewachsen?«
»Vater, wenn sie reich war, so möcht sie tun, was sie wollt, Ihr würdet anders von
ihr denken. Jetzt ist sie einmal mein, und das Kind, das sie unterm Herzen trägt,
ist mein Kind und muß zu seiner
»So renn in dein Verderben, wenn du nicht anders willst«, sagte der Alte, nahm das Licht und ging in seine Kammer.
Richtig, das muß man sagen, hatte die Krämerin prophezeit. Nie war seit Jahren in
dem doch so christlich gesinnten Flecken die Kirche so gefüllt gewesen wie an dem
Sonntag, an welchem Friedrich mit Christinen proklamiert wurde. Außer den Kranken
und Gebrechlichen blieb niemand zurück, von den Gesunden fehlte nur die Familie
des Sonnenwirts. Der alte Hirschbauer hatte alle die Seinigen in die Kirche
geschickt: »die Mucken werden mich derweil nicht fressen«, hatte er gesagt. Selbst
der kleine Wollkopf hatte in dem Weiberstande neben seiner Mutter und Schwester
Platz gefunden und hörte andächtig der Predigt zu. Wohl gab es ein Zischeln und
Murmeln, und alles steckte die Köpfe zusammen, als der Pfarrer vor dem Segen die
Verlesung der Paare, die in den heiligen Stand der Ehe treten wollten, begann,
aber Friedrich blickte mutig nach der Kanzel und zugleich aufmerksam, ob der
Pfarrer in seiner Verkündigung nicht vielleicht irgendein Zeichen seiner Abgunst
einfließen lassen werde. Es geschah jedoch nichts dergleichen, und er konnte es
höchstens auffallend finden, daß der Pfarrer unter den zu verkündigenden Paaren
ihm
Beim Herausgehen aus der Kirche stieß Friedrich auf den Invaliden. »Was, Ihr seid auch in der Kirch gewesen, Profos? Hätt nicht geglaubt, Eure mürbe Knochen täten Euch so weit tragen. Aber 's ist mir eine Freud und eine Ehr. Nur wundert's mich, denn Ihr habt ja auch Mäus dagegen gehabt.«
»Es bleibt dabei, daß Er nicht recht gescheit ist«, sagte der Invalide. »Aber zu Seiner Hochzeit soll nichtsdestoweniger meine alte Lise krachen.«
Friedrich drückte ihm die Hand und begab sich zu den Seinigen, die vor der Kirchentür warteten. Er führte seine Braut am Arme, reichte dem kleinen Buben die andere Hand, und die neue Familie setzte sich, die Mutter und beide Söhne voraus, das Brautpaar hinter ihnen, in Bewegung. Wer von der Gemeinde den gleichen Weg hatte, ging spöttisch lächelnd an ihnen vorbei: auch konnten sie allerlei Bemerkungen hören. Doch schienen die Leute wenigstens das in der Ordnung zu finden, daß das Paar sich heute am Arme führte; daß er, ohne gültig verlobt zu sein, Arm in Arm mit ihr durch den Flecken zu der Kirchenkonventsverhandlung gegangen war, hatte bei der herrschenden Sitte noch größeren Anstoß gefunden als ihre vorzeitige Mutterschaft.
So langsam sie wegen dieses Zustandes gingen, so
»Die da sind weiß wie ein Ofenloch«, sagte seine Braut.
»Es gibt auch schwarze«, fuhr der Bräutigam fort. »Ich hab's einmal von einem Reisenden gehört, dem ich den Weg auf den Staufen hab zeigen müssen. Ist ein kurioser Herr gewesen und hat viel Kauderwelsch durcheinander geschwätzt. Sie seien aber eine große Rarität, hat er gesagt.«
»Es wird gut für den Flecken sein«, bemerkte die Braut, »wenn die da gleichfalls eine Rarität bleiben.«
»Kann denn der Schwan auf trockenem Boden laufen?« fragte der andere Bräutigam.
»Freilich«, versetzte der erste, »aber es macht ihm Müh, er wackelt schier gar so schwer daher, wie die da.« Er deutete auf Christinen, und alle vier brachen in ein rohes Gelächter aus.
Friedrich machte seine Arme los und kehrte sich um. »Ihr Spitzruten«, sagte er,
»ist ein Ehrentag ein Tag zum Gassenlaufen? Aber gut, wenn ihr's nicht anders
haben wollet, so möget ihr's haben. Du Michel, grüner Tralle«, wandte er sich an
den einen, »du bist so dumm, daß man Riegelwänd mit dir nausstoßen könnt und daß
dein Mädle zu dir
Die Hirschbäuerin, die mit ihren Söhnen etwas vorausgegangen war, kam eilig zurück, um abzuwehren; aber weder ihre Ermahnung, noch das vielleicht kräftigere Einschreiten der beiden Söhne war vonnöten, denn die Getroffenen zogen mäuschenstille ab und wagten erst in weiter Entfernung wieder zu schimpfen und zu spotten.
Friedrich aber sagte zu seiner Braut: »Christine,
»Sei doch ruhig«, erwiderte sie, »das hat keine Not.«
»Der Kuckuck hat's gesehen«, fuhr er fort, »daß man sich dreimal proklamieren lassen muß. Gleich das erst'mal sollt man von der Kanzel vor den Altar kommen, damit einem die Welt keinen Prügel mehr in den Weg werfen könnt.«
»Das wär doch nicht gut«, meinte Christine dagegen. »Da könnt ja kein arm's Mädle mehr Einspruch tun, wenn ihr Schatz sie sitzen ließ und ließ sich mit einer andern zusammengeben.«
»Ist auch wahr«, sagte er. »Um der Untreu der Menschen willen müssen die Treuen mitleiden. Übrigens möcht ich nichts mehr von einem, der mich einmal verkauft und verraten hätt, und was den Einspruch betrifft, so wird eine Arme wunderselten dadurch ihr Recht erlangen, weil gleich alles zusammenhilft, daß sie geschweigt wird.«
»Darum ist's eben das best, wenn man sich aufeinander verlassen kann«, sagte Christine, »dann sind die drei Wochen Aufschub auch nicht zu lang.«
»Gott geb's«, erwiderte er, »aber ich wollt, sie wären vorbei.«
Die zweite Proklamation, die am nächstfolgenden Sonntage stattfand, machte schon
nicht mehr so viel Aufsehen wie die erste; denn die Menschen fügen
An diesem Tage begehrte Friedrich von seinem Vater eine Unterredung, die er die ganze Woche schüchtern aufgeschoben hatte. Er stellte ihm vor, daß es jetzt höchste Zeit sei, an die Einrichtung eines kleinen Hauswesens zu denken, und daß er zu diesem Zwecke sein mütterliches Vermögen heraushaben müsse.
»Nun, nun«, sagte der Alte, »es hat ja noch Zeit. Ich seh überhaupt nicht ein, wozu du so viel Geld brauchst. Du hast ja selbst gesagt, du wollest froh sein, wenn du mir als Knecht dienen dürfest.«
»Ich bin's zufrieden«, entgegnete der Sohn, »aber ich muß doch wenigstens eine Stube haben, wo ich mit meinem Weib drin wohnen kann.«
»Als Knecht kannst du bei mir wohnen wie bisher.«
»Ja, wollt Ihr denn mein Weib auch zu Euch ins Haus nehmen?« fragte der Sohn mit einem Freudenschimmer in den Augen.
»Das kommt noch aufs Wohlverhalten an«, antwortete der Vater mit einem spöttischen Blick. »Am End wär's freilich das best, ich nähm euch beide unter Aufsicht; ihr könntet's vielleicht brauchen.«
Der Alte ging seinen häuslichen Verrichtungennach, ohne sich zu einer bestimmten
Erklärung bringen zu lassen. Ein paar weitere Versuche seines Sohnes
Unterdessen war die Sonnenwirtin nicht müßig gewesen, im Wege der Gunst wie des Hasses auf ihre Gönnerin, die Amtmännin, und durch diese auf den Amtmann einzuwirken. »Es wäre ja doch schrecklich«, sagte sie, »wenn so ein eigensinniger, gewalttätiger Trotzkopf vernünftige Leute abzwingen könnte.« Der Amtmann, der sich gleichfalls von ihm überrumpelt sah, hatte, nachdem die erste kirchliche Handlung durchgesetzt war, doppelte Lust gewonnen, die Heirat doch noch am Ziele zu hintertreiben. Er schalt auf die Regierung, welche viel zu liberal sei und das junge Volk, wenn es nur brav Dispensgelder bezahle, ins Blaue hinein heiraten und den Gemeinden zur Last fallen lasse; übrigens, meinte er, der Sonnenwirt brauche nur den Taugenichts aus dem Hause zu jagen und jede Verbindung mit ihm abzubrechen, dann habe er allen Boden unter den Füßen verloren, und wenn ihn die Regierung zehnmal für volljährig erkläre, so nehme ihn eben die Gemeinde nicht an. »Dafür laß Sie nur mich sorgen, Frau Sonnenwirtin.«
»Wenn nur mein Mann nicht so schwach war!« erwiderte
»Jedenfalls«, bemerkte der Amtmann, »ließe sich dieser Streit in die Länge ziehen, ich sehe jedoch nicht ein, zu was das in der Hauptsache führen sollte, denn wenn der Sonnenwirt seinem ungeratenen Sohne die Existenz garantiert, so kann ihn niemand am Heiraten hindern. Übrigens will ich mir die ganze Sachlage noch einmal in Revision nehmen und sehen, ob noch etwas zu machen ist.«
Unter solchen Beratungen war die zweite Proklamation vorübergegangen, und der Vorteil des unabänderlichen Laufes der Dinge schien ganz auf Friedrichs Seite zu sein, als der Amtmann die Sonnenwirtin rufen ließ. »Gratuliere, Frau Sonnenwirtin«, sagte er, »zur leibeigenen Schnur!«
»Was? leibeigen?« rief die Sonnenwirtin. »Und davon hat das schlecht Gesindel gar nichts gesagt? Das hebt ja alle Verpflichtungen auf!«
»Dann«, rief die Sonnenwirtin mit einem Strahl von Hoffnung, »ist's doch möglich, daß der stolz Bub sein Kopf noch ändert. Eine Leibeigene wird er nicht zur Frau haben wollen.«
»Diese Verhältnisse ließen sich ja mit Geld abkaufen«, bemerkte der Amtmann, »denn
dazu ist gnädigste Herrschaft stets geneigt. Ohnehin bestund es, in neuerer Zeit
wenigstens, aber schon seit lange, in einer jährlichen Geldabgabe. Früher mögen
schwerere körperliche Leistungen erfordert worden sein: da es mich nicht
interessiert hat, so habe ich auch nicht nachgeschlagen. Die prästierende Abgabe
wurde dem Hans Jerg Müller schon vor geraumer Zeit ob summam paupertatem, wie er
ja auch schon von der Gemeinde ex pio corpore Unterstützung genossen hat, auf sein
untertänigstes Ansuchen nachgesehen, daher es leicht möglich, daß er sich der
Verhältnisse selbst nicht klar erinnert. Das einfältige Volk weiß ja niemals, wie
es dran ist, noch auf welchen Füßen es steht: die Beamten müssen es ihm sagen, was
es zu leisten schuldig ist, und müssen ihm zur Not noch Bittschriften machen, wenn
es einige Linderung seiner Lage erzielen möchte. So habe ich auch diesem die
betreffende Supplik aufgesetzt, um ihm das Geld zu ersparen, das er einem
Advokaten für
Der Amtmann wischte sich den Schweiß von der Stirne; seine Auseinandersetzung schien ihn etwas angegriffen zu haben. Doch lächelte er zufrieden, denn der Vortrag war nunmehr hinlänglich zu Faden geschlagen, um mit der nötigen Geläufigkeit vor dem Magistrat gehalten werden zu können. Die Sonnenwirtin hatte zwar, trotz der Andacht, mit der sie der Rede zugehört, schon der eingestreuten lateinischen Brocken wegen, sehr viel davon nicht verstanden; doch begriff sie vollkommen, daß der Heirat ihres Stiefsohnes noch ein Riegel vorgeschoben werden könne. Sie ließ sich über die beiden Hauptpunkte, auf die es ankam, noch einmal belehren und verließ das Amthaus in vollem Triumphe, nachdem sie es übernommen hatte, ihrem Manne und ihrem Sohne die amtliche Eröffnung, welche der erstere sich zu holen aufgefordert wurde, im voraus mitzuteilen. »Ihren Stiefsohn«, rief ihr der Amtmann nach, »lasse Sie mir nur aus dem Haus, mein alter Anwalt sagt immer von ihm, und mit Recht, er führe eben ein ödes Geschwätz, das gar keine Heimat habe.«
Aus dem Munde der Stiefmutter erfuhr denn Friedrich, welches neue Gewitter gegen
ihn heraufbeschworen worden war. Zuerst nahm er die Nachricht, daß Christine
leibeigen sei, mit Gleichmut auf und erklärte, dies ändere nichts in seinen
Gesinnungen;
»Was!« rief der Sonnenwirt, »ich soll Bürgschaft stellen für die Bezahlung einer Abgab, die mich mit Haut und Haar nichts angeht? Ich bin froh, wenn ich meine eigene Schuldigkeit abgetragen hab, bin hoch genug besteuert, kann mich nicht auch noch um anderer Leut ihre Abgaben annehmen.«
»Vater«, sagte Friedrich, den diese Äußerung zuerst nur ärgerte, »ich glaub, Ihr werdet altersschwach. Es handelt sich ja gar nicht drum, daß Ihr vom Eurigen etwas zahlen sollet. Gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann leg ich das Geld dem Amtmann selber hin.«
»Du tust immer, als ob du von deinem Mütterlichen die halb Welt kaufen könntest, und hast doch schon genug davon vertan. Du wirst dich wundern, wenn ich einmal mit dir abrechne.«
»Nun, so rechnet ab, und wenn Ihr so viel Zeit brauchet, bis Ihr wisset, was Ihr alles in die Rechnung schreiben wollet, so müsset Ihr eben derweil die Bürgschaft leisten.«
»Ich nicht. Das Sprichwort sagt: den Bürgen soll man würgen. Und wie kann man denn
von mir verlangen, daß ich noch einen weiteren Revers ausstellen soll von wegen
deines Fortkommens? Ich hab dir zwar wohl versprochen, daß ich dich bei mir
behalten will, und ich will auch dabei bleiben, wenn
Friedrich legte den Kopf eine Weile auf beide Hände, die er auf dem Tische liegen hatte. Als er das Gesicht wieder erhob, war alle Farbe daraus gewichen. »Jetzt seh ich erst, daß es eine abgekartete Sach ist«, sagte er mit einem Blick auf die Stiefmutter und verließ die Stube.
Christine weinte bitterlich über dieses neue Hindernis. »Das ist eine Welt!« sagte der Hirschbauer und kehrte sich nach der Wand. Die Bäuerin heulte und schrie, daß man arme Leute so unterdrücke, die Söhne fluchten, und der kleine Weißkopf, der heute die Welt gar nicht verstand, saß bestürzt und furchtsam in der Ecke. Friedrich aber glaubte zu bemerken, daß der abermals in Zweifel gestellte Erfolg seiner ehrlichen Bemühungen auf die Würdigung seiner Absicht oder wenigstens auf die Schätzung seiner selbst zurückwirke. Die Hirschbäuerin wenigstens schien ihn bereits mit minder günstigen Augen anzublicken; als sie ausgeheult hatte, machte sie ein Gesicht und gönnte ihm beim Abschiede kaum ein Wort. Christine aber nahm ihm wiederholt das Versprechen ab, auch diese Prüfung womöglich durch Geduld und Gehorsam zu überwinden.
Schon die folgenden Tage zeigten ihm, daß er sich
Rasselnd und donnernd fuhren eines Vormittags mehrere Jagdequipagen die Straße
herauf. Mitten im vollen Jagen hielt die vorderste vor der Sonne und nötigte
dadurch die andern zu einem ebenso plötzlichen Halt. In der Sonne gab es ein
Rennen und Jagen treppauf und -ab. Der Herzog Karl selbst war es, der in der
ersten Kalesche saß und im raschen Vorbeijagen nach dem Schurwald einen Trunk vom
Besten begehrte. Die Ehre war groß, noch größer aber die Eile, mit welcher der
Befehl ausgeführt werden mußte, denn es war bekannt, daß der Herr nicht gern
wartete und weder im Großen noch im Kleinen ein Hindernis seines Willens gelten
ließ. Der Sonnenwirt flog daher wie ein Jüngling von achtzehn Jahren, und wenig
fehlte, so wäre er die Treppe hinabgefallen; doch brachte er den alten
»Wer wird denn dastehen und gucken, wenn's alle Händ voll zu tun gibt!« rief eine Magd, die in die Stube stürzte. »Die Herren in den andern Kutschen wollen auch Wein. Fort! im Hausgang drunten stehen schon Butellen g'nug, 's fehlt nur an Händen, um sie nauszutragen.«
Er eilte hinunter, ergriff mechanisch ein paar Flaschen
Friedrich war sogleich in das Haus zurückgekehrt, während sein Vater noch im Vollgenuß der gehabten Ehre mit den Nachbarn sprach, wobei er nicht unterließ, sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Flecken früher eine Post gehabt habe, von welcher er behauptete, daß sie mit der ›Sonne‹ verbunden gewesen sei.
»Wo hast dein' Goldvogel?« fragte er seinen Sohn vergnügt, als er mit dem Knechte heraufkam, um zu Mittag zu essen. »Der Johann sagt, es sei ein Goldstück gewesen, was dir der Herzog zugeworfen hab.«
»Ich hab's nicht aufgehoben«, antwortete Friedrich.
»Was? Bist von Sinnen?« schrie der Sonnenwirt.
»Hast's so übrig?« fragte der Vater, indem er den Löffel niederlegte, den er mit dem besten Appetit zu handhaben begonnen hatte. Das Essen wollte ihm nicht mehr recht schmecken. »Du bist mir der Recht zum Obenaussein«, setzte er hinzu.
»Dann hätt das Geld wenigstens mir gehört«, maulte der Knecht, »denn ohne mein' Beistand kann man nicht wissen, wie das Ding ausgegangen wär.«
»Warum hast's nicht genommen?« sagte Friedrich. »Ich hätt's dir nicht mißgönnt.«
»Such, Johann, such!« rief der Sonnenwirt. Aber der Knecht war schon aufgesprungen, und man hörte ihn die Treppe hinunterpoltern. Nach einer guten Weile kam er finster zurück und sagte: »Ich hätt mir's schon denken können, daß so was nicht lang liegenbleibt. Wer's aber genommen hat, ist ein Dieb. Der soll mir kommen. Ich werd's schon rausbringen, wer den gelben Vogel im Käfig hat. Der Fischerhanne, der ist, glaub ich, am nächsten dabei gestanden. Dem wassergrünen Spitzbuben werd ich aufpassen.«
»Schäm dich, Johann«, sagte Friedrich, »daß du dein' Nebenmenschen schlecht
machst, eh du weißt, ob er's ist. Der Fischerhanne ist nicht mein Freund und
wird's auch nicht werden, aber ich tät mich
Der Knecht sah ihn giftig an und murmelte halblaute Flüche in seine Suppe hinein.
»Das Aufheben wär an dir gewesen, du hochmütiger Herr«, sagte der Sonnenwirt zu seinem Sohne. »Du nimmst, wo du nichts anrühren sollt'st, und läßt liegen, was dein ist.«
Friedrich schwieg. Er hatte einem Advokaten in Göppingen geschrieben, ob er sich nicht seiner annehmen und seine Sache gegen seinen Vater führen wolle. Inzwischen gedachte er jeden unnützen Streit mit diesem zu vermeiden und sich, solange er ihm sein mütterliches Erbe nicht herausgab, als Kind von ihm ernähren zu lassen, was er ihm durch seine Dienste hinlänglich zu vergelten glaubte; denn wenn er auch mitunter, von Zorn und Überdruß ergriffen, in seiner Arbeit nachließ, so meinte er sich doch das Zeugnis geben zu dürfen, daß sein Vater mit Unrecht über solche Unterbrechungen klage, die im Vergleich mit seinem sonstigen Fleiß und Eifer kaum in Rechnung zu bringen seien.
Der Sonnenwirt schwieg gleichfalls und beschäftigte sich wieder mit dem Essen. Im
ganzen hatte er doch keinen Grund, sich den Appetit vergehen zu lassen. Sein Sohn
hatte dem Herzog einen nicht unbedeutenden Dienst geleistet, der jedenfalls der
Sonne zustatten kommen mußte. Konnte dieses Ereignis aber nicht vielleicht auch
das Glück des jungen Menschen
Während der Sonnenwirt solchen Gedanken nachhing und dazwischen wieder dem Essen
zusprach, dachte sein Sohn an nichts, als daß morgen der dritte Sonntag sei, an
welchem er hätte proklamiert werden sollen, und daß heute die Antwort auf seinen
Brief aus Göppingen eintreffen müsse. Um dieselbe geheimzuhalten, hatte er nicht
die Post, sondern einen Bekannten benützt, der in Geschäften droben war und zu
dieser Stunde zurückkommen sollte. Er stand vom Essen auf und ging die Straße hin,
um den Brief in Empfang zu nehmen, mit welchem er sodann unter die Erlen an dem
Flüßchen eilte. Der Advokat schrieb, er mische sich nur höchst ungern in Händel
zwischen Kindern und Eltern, zudem scheine ihm die Sache sehr verwickelt, der
Er war dort heute nichts weniger als überflüssig. Dieselbe Straße, auf welcher des Herzogs leichte Kaleschen den Staub aufgewirbelt hatten, kamen jetzt schwere Frachtwagen langsam vor die Sonne dahergefahren. Friedrich half die Pferde ausschirren und versorgen. Dann ging es an die leibliche Pflege der Fuhrleute, die keine geringen Ansprüche machten und mehr Geld sitzenließen, als der Herzog samt seinem ganzen Hof. Hier war die Sonnenwirtin an ihrem Platze. Sie wußte nicht bloß das Bedürfnis und den Geschmack der Gäste zu befriedigen, sondern auch eine Unterhaltung mit ihnen zu pflegen, bei welcher wenigstens der Verstand nicht zu kurz kam, so daß einst ein Fuhrmann zu seinen Gefährten sagte: »So lieb mir Herz und Nieren sind, so möcht ich doch der Sonnenwirtin ihr Herz nicht fressen, denn warum? Sie hat eben kein Kalbsherz, aber ihr Hirn, das tät mir, glaub ich, schmecken, und bin doch dem Kalbskopf feind.«
Kaum waren die Fuhrleute bedient und zum Teil nach ihren Rossen zu sehen gegangen,
so kamen abermals Gäste, und zwar diesmal zu ungewohnter Stunde aus dem Flecken
selbst. Es war der junge
»Ihr habt heut 'n Glückstag gehabt, Herr Sonnenwirt«, begann der Bräutigam, als die Gesellschaft, den Wirt und seine Frau mit eingeschlossen, an dem runden Tische Platz genommen hatte. »Ich bin nicht dabei gewesen, hab's aber gehört. Und der Frieder, das ist ja ein Kerl wie ein Löw! Nun, der hat die Wurst nach der Speckseit geworfen; der Herzog wird sich's hinter die Ohren geschrieben haben.«
Der Sonnenwirt erzählte unmutig, wie sein Sohn das ihm zugeflogene Goldstück verschmäht habe. Die Gesellschaft hörte mit Verwunderung und Kopfschütteln zu. Die junge Braut lachte überlaut. Dies ärgerte zwar den Sonnenwirt ein wenig, doch glaubte er darin ein Zeichen von vielem Menschenverstand erkennen zu müssen.
»Ja, er ist sein Lebtag ein besonderer Kopf gewesen«, sagte der Bräutigam. »Aber das muß man ihm doch lassen, hilfreich ist er und meint's vielmals gut. Denkt's Euch noch, wo er die Schramm her hat, die man immer noch auf seiner Stirn sieht? Da ist einmal der Totengräber mit seinem Weib und seinem Mädle am Burggarten runtergefahren, haben ein Wägele mit Heu, glaub ich, geführt, und wie eben die Leut vergeßlich sind, oder vielleicht auch aus Armut, haben sie keine Kette bei sich gehabt und ein mageres Kühle vorgespannt, und haben die Weibsleut den Radschuh machen müssen, wie's auch sonst im Leben oft vorkommt.«
»Über das«, fuhr der Müller fort, »ist das Wägele in Schuß kommen, das Kühle hat's nicht mehr verheben können, und wer weiß, wie's gangen wär, da kommt auf einmal der Frieder des Wegs daher, sieht den Unstern und springt bei, er ist schier kaum sechzehn Jahr alt gewesen. Anhalten hat er das Wägele auch nicht mehr können, aber rum hat er's samt dem Kühle gerissen, so daß das Rad am Mäuerle aufgefahren ist und am Vorsprung festgesessen. Kuh und Wagen und Leut, keinem hat's was getan, aber den Frieder hat's mit der Stirn an die Mauer hingeschlenkert, daß man ihm hätt mit einer Latern in Kopf hineinzünden können.«
»Ja, ich weiß wohl noch, wie man mir den gottlosen Buben halbtot ins Haus bracht hat«, sagte der Sonnen wirt.
Die Türe ging auf, und Friedrich erschien mit den Flaschen. Der Müller, der sich entweder sehen lassen oder auch vielleicht das Gespräch noch länger fortsetzen wollte, rief: »Was, das ist alles? Gleich wieder in Keller! Der ganz Tisch muß vollgepfropft sein. Kann dir nicht helfen, Friederle, heut muß ich dir müde Füß machen.«
»Oh, ich tu's ja gern«, rief Friedrich und eilte wieder in den Keller.
»Im guten oder im bösen«, erwiderte der Sonnenwirt. »Ich hab's auch schon gedacht, daß er nichts Halb's werden will. Seit einiger Zeit aber hat er sich ganz auf die eine Seit geneigt. Ihr wisset's ja selber, wie er mir Verdruß und Bekümmernis macht.«
»Darin will ich ihm den Kopf nicht heben«, sagte der junge Müller, indem er seine Braut zärtlich ansah. »Besser ist besser, das weiß ich. Aber wenn die Sach eben einmal so weit ist, wie bei dem Frieder – ich sag's ganz unmaßgeblich, Herr Sonnenwirt, ich red bloß von mir – wenn ich 'n Sohn hätt, und er ging in solchen Schuhen und wollt eben um Gottes oder 's Teufels willen seinem Schatz Wort halten und sein Kind vor Elend bewahren – ich weiß nicht, was ich tät, aber soviel müßt ich mir doch immer sagen: das Kind, das ist dein Enkel.«
»Unser Herrgott wird davor sein, daß dir so was zustoßt«, sagte die dicke Frau, welche die Sprecherin machte, mit scharfbetonter Mißbilligung. »Hätt'st wenigstens gleich dazu sagen sollen: Unbeschrien! An einem Tag, wie der heutig, mußt kein so Ding reden.«
Der Bräutigam wurde gewahr, daß er einen großen Bock geschossen. Er wandte sich zu
seiner Braut, welche blutrot geworden war, und flüsterte ihr unausgesetzt gute
Worte zu, ohne weiteren Anteil an dem Gespräch zu nehmen. Anfangs schien sie etwas
»Das wär mir eine neue Erziehung«, nahm die Sonnenwirtin nach der Tadlerin das Wort, »wenn des Menschen Eigensinn Gottes Will heißen müßt. Des Teufels Will, ja, das ist recht gesagt.« – Sie sah sich im Kreise um und begegnete, wenigstens bei den weiblichen Mitgliedern desselben, lauter beifälligen Gesichtern.
»Herr Sonnenwirt!« begann ein alter Fuhrmann, der beinahe unbeachtet in der Ecke
am anderen Fenster saß und dem Gespräche sehr aufmerksam zugehört hatte: »Lasset
ein Wort mit Euch reden und gebet Eurem Sohn das Mädle, daß das Geschrei unter den
Leuten einmal aufhört. Bei Kannstatt drunten hab ich einen ähnlichen Fall erlebt.
Da hat auch ein Wirtssohn eine arme Taglöhnerstochter geheiratet, und die ganz
Verwandtschaft ist dagegen gewesen, aber er hat's durchgesetzt, warum? Weil er
Herr im Haus gewesen ist nach seines Vaters Tod. Es ist aber ganz gut geraten.
Anfangs, freilich, hat man auch dem Teufel ein Bein brechen müssen, denn die jung
Frau hat ein wenig hochmütig sein wollen auf ihr fein's Gesicht und ihren neuen
Stand und hat dabei natürlich von der Wirtschaft nichts verstanden und der
Schwieger nicht folgen wollen; aber der Mann ist gescheit gewesen und hat zu
seiner Mutter gehalten und sein Weib links und rechts hinter die Ohren geschlagen,
bis sie pariert hat. Jetzt
»Das paßt wie eine Faust auf ein Aug«, lachte die Sonnenwirtin. »Freilich, wenn ein Vater tot ist, da kann ihm sein Sohn sein Sach und seinen Namen verschimpfieren, und niemand fragt danach. Aber solang der Vater am Leben ist, wird er doch auch noch dreinreden dürfen, wenn ihm der Sohn Schimpf und Schand ins Haus bringen will.«
»Herr Sonnenwirt!« sagte der hartnäckige Fuhrmann, ohne die Einrede der Frau zu beachten, »Ihr müsset ja doch einmal abfahren, und dann kutschiert Euer Sohn. Wollet Ihr ihm auf dem Bock sitzen bleiben und ihn sein Leben lang spazieren führen? Das geht ja doch nicht an, drum gebet nach, so lang's noch Zeit ist und eh's zum Äußersten kommt. Denn ich kenn euch beide: 's hat jeder von euch ein Sperrholz im G'nick.«
»Recht so!« sagte die Sonnenwirtin, »also soll der Sohn dem Vater das G'nick brechen!«
Der Sonnenwirt, der eine Weile etwas unschlüssig dreingeschaut hatte, fuhr auf.
Vom Sterben hörte er gar nicht gern reden, eine Rüge war auch nicht nach seinem
Geschmack, und der etwas herbe Ton des alten Mannes, den er zwar seit vielen
Jahren kannte, reizte ihn so, daß es nur einer kleinen Nachhilfe von seiner Frau
bedurfte, um ihn in Harnisch zu jagen. »Ich brauch das Geschwätz nicht«, sagte er
kurz angebunden, »brauch mir in
»Adje, Herr Sonnenwirt«, antwortete der Alte, indem er sich mit gemessener Eile erhob und der Türe zuging, »'s gibt noch mehr Wirtshäuser in Ebersbach.«
»Mein'twegen!« rief der Sonnenwirt.
Der Alte ging hinaus, nachdem er der Gesellschaft »Adje beisammen!« zugerufen hatte. Draußen traf er auf Friedrich, der die Treppe langsam und nachdenklich heraufkam. »Frieder«, sagte er zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, »wir kennen einander schon lang, ich hab dich oft rumtragen, wie du noch klein gewesen bist, und hab dich auf meine Gäul sitzen lassen.«
»Ha freilich, Bot!« erwiderte Friedrich aufgeheitert. »Wir sind immer gut Freund gewesen. Wißt Ihr's nimmer? Ich hab Euch ja einmal den Wagen ausplündert, dem langen Mathes, dem Knecht, zum Torten.«
»Weiß wohl, Friederle, dir ist aber auch mancher Tort gespielt worden, und mein kleiner Finger sagt mir, es stehen dir noch ärgere bevor. Komm, Frieder, komm du mit mir. Alt bin ich, kein Kind hab ich nicht, mein Handwerk kennst du – ich will dich annehmen. Ich spür's, deines Bleibens ist nicht mehr in dem Haus da, es tut nicht lang mehr gut. Komm mit mir, sag ich. Du kennst mich: ich halt dich rauh, wie ich selber bin und wie's bei meinem Wesen hergeht, aber ich halt dich wie ein Vater.«
»Botenjakob!« stammelte Friedrich betreten und
»Mein Fuhrwesen«, sagte der Alte, »trägt dich und mich, aber ein Haus voll Kinder trägt's nicht mehr, seit die Straß durchs Remstal verbessert ist, und du kannst mir nicht zumuten, daß ich in meinem Alter noch Hunger leiden soll.«
»Wie könnt Ihr mein Fragen so auslegen?« unterbrach ihn Friedrich tief verletzt. »Haltet Ihr mich im Ernst für so undankbar und unverschämt?«
»Nein, nein!« versetzte der Alte mit sanfterer Stimme. »Mußt nicht gleich so auffahren wie dein Vater. Man red't ja nur. Deine Christine wirst freilich nicht mitnehmen können, aber wenn ich einmal sterb, so sitz'st in meinem ganzen Brot und kannst sie holen. Sag dir's selber, ob du hier auch nur so viel voraussehen kannst.«
Friedrich hielt seine Flaschen krampfhaft fest. Es arbeitete mächtig in ihm. Der Vorschlag, das erkannte er wohl, war ein rettender Ausweg, aber er wurde so plötzlich und unvorbereitet damit überrascht, daß sein sonst schneller Geist wie gelähmt war. Wohl hatte er mit leichter Zunge von Verzicht auf seines Vaters Haus und Erbe gesprochen, aber jetzt, wo die Wirklichkeit ihn auf die Probe stellte, schien ihm der Schritt doch ziemlich schwer.
Der Alte, der seinen Kampf beobachtet hatte, fuhr fort: »Wenn du nicht willst, so hilf mir wenigstens meine Gäul aus dem Stall bringen.«
»Ich bleib auch noch im Ort«, murrte der Alte.
»Was?« rief Friedrich, der erst jetzt den Sinn der Rede begriff, »Ihr wollet die ›Sonne‹ aufgeben, wo Ihr mehr als zwanzig Jahr lang Gast gewesen seid? Wer vertreibt Euch denn?«
»Die ›Sonne‹ scheint mir zu heiß für meine alte Tag, ich will's im ›Stern‹ probieren. Mach nur vorwärts, ich will mir nicht zum zweitenmal ausbieten lassen in dem Haus da. Ich schwätz viel zu lang, hab in acht Tag nicht soviel Wort gemacht.«
»Nein, Jakob«, sagte Friedrich, »so gern ich Euch in allem zu Willen wär, das tu ich nicht. Hat mein Vater Euch beleidiget oder gar Euch das Haus verboten, und vielleicht um meinetwillen, denn so was schwebt mir vor, so will ich wenigstens keinen Finger dazu rühren, daß mein Haus um einen Freund ärmer wird. Wenn Ihr durchaus fort wollet oder müsset, was Ihr selber am besten verstehen werdet, so müsset Ihr den Knecht zu Hilf nehmen. Ich führ Euch keinen Gaul aus'm Stall – und Ihr werdet mir glauben, daß mir's dabei nicht um den Nutzen ist.«
Der Alte fuhr sich mit dem rauhen Rücken der Hand über die Augen. »So eine
abschlägige Antwort«, sagte er, »muß ich mir gefallen lassen. Aber ich wiederhol's
noch einmal: komm mit mir, und komm gleich. Nicht daß mich's nachher reuen könnt,
aber ich spür, 's ist ein Unglück im Anzug. Du
Friedrich lächelte ein wenig, denn er glaubte sich zu erinnern, daß nicht alle
Unglücksprophezeiungen des Alten eingetroffen seien. Auch glaubte er kaum zweifeln
zu können, daß zu der guten Gesinnung, die derselbe gegen ihn selbst hegte, sich
einige Rachelust gegen seinen Vater gesellt habe. – »Jakob«, sagte er, »in ›Stern‹
mit Euch zu gehen, daraus würd ich mir unter anderen Umständen gar nichts machen,
denn der ›Stern‹ ist mir ein ganz honett's Haus. Aber bedenket: wenn ich Euch nach
dem, was zwischen Euch und meinem Vater vorgefallen sein muß, gleichsam aus der
›Sonne‹ in den ›Stern‹ ausziehen hilf und vom ›Stern‹ aus mit Euch fortzög, um
meinem Vater und Vaterhaus gleichfalls Valet zu sagen – wie arg tät man mir das
rumdrehen! Euer Anerbieten, ich sag's noch einmal, ist tausend Danks wert und
verdient alle Überlegung, und daß ich gern bei Euch bin, das wisset Ihr ja schon
lang. Aber so im Hui kann ich nicht mit. Ich kann den Wein nicht auf den Boden
schütten, wie ich heut schon einmal getan hab, denn ich hätt jetzt nicht so viel
Geld, um ihn zu zahlen, und möcht Euch doch auch nicht gleich zum Anfang für mich
in unnötige Kosten
»Er tut's nicht«, brummte der alte Mann, während er die Treppe hinunterstieg. »Der Stolz läßt's ihm nicht zu. Es ist einer wie der ander.«
Es war hohe Zeit, als Friedrich mit den Flaschen in die Stube geeilt kam; denn der
Vorrat von vorhin war bereits ausgetrunken. Doch fand er die Gesellschaft in
munterer Unterhaltung begriffen. Sein Vater hatte den Familienpokal geholt, aus
welchem der Herzog heute getrunken; derselbe ging von Hand zu Hand und mußte dann
noch einmal gefüllt die Runde machen, da jedes einen gewissen Reiz dabei empfand,
das Gefäß, das die landesherrlichen Lippen berührt hatten, an den Mund zu setzen.
Von dem Herrn selbst sprach man in verdeckten Wendungen und halben Andeutungen,
wie jung er noch sei und wie lebenslustig, und wieviel man noch von ihm hoffen
könne, wenn er einmal älter sein werde; denn die Menschen bauen ja stets auf die
Zukunft: bei der Jugend bauen sie auf das Alter und beim Alter auf die Jugend
derer, die dem folgenden Geschlecht
Wie es gerade in lebhafteren Gesellschaften nicht selten vorkommt, war nach einer Reihe ernsthafter Gespräche und lustiger Späße auf einmal die Unterhaltungsspule abgelaufen, und es entstand jene Stille, während welcher jedes Mitglied sich den Kopf zu zerbrechen pflegt, um womöglich einen neuen Stoff zur Verarbeitung aufzutischen. Der Sonnenwirt, der den Wein gleichfalls spürte, hielt sich vor allen als Wirt und Hausherr verpflichtet, in die Lücke zu treten, und der Anlaß zu einer Äußerung lag ihm nur allzunahe. Hatte ihm der Bräutigam vorhin, mehr aus Höflichkeit als Überzeugung, wie ihn deuchte, seinen Sohn gelobt, so glaubte er diese schmeichelhaften Reden jetzt im entgegengesetzten Sinne erwidern zu müssen. »Das muß ich sagen«, begann er, »so ein fein's Brautpaar hab ich lang nicht an meinem Tisch gehabt; da muß einem ja das Herz im Leib drob lachen!« Dann sprach er die vorteilhafte Meinung aus, die er von den beiden jungen Leute hegte, und spendete besonders der Braut ein derbes Lob, das sie mit Erröten, jedoch keineswegs unwillig, hinnahm. Nun aber wendete er sich gegen seinen Sohn. »Da kannst jetzt sehen«, sagte er zu ihm, »wieviel Freud, anstatt soviel Verdruß, du mir hätt'st machen können, wenn du mir so ein brav's Weibsbild ins Haus bracht hätt'st, statt dem Mensch, mit dem du dich vergangen hast.«
»Es muß eben auch Schatten in der Welt geben«, bemerkte die Sonnenwirtin spöttisch, »sonst tät man ja« – bei diesen Worten deutete sie auf die Braut – »das Licht nicht sehen.«
»Lasset's gut sein, Herr Sonnenwirt und Frau Sonnenwirtin!« sagte der Bräutigam begütigend. »Wir sind ja so vergnügt beieinander. Komm, Frieder, stoß an mit mir: dein Wohl und unser Leben lang lauter gut Ding!«
»G'segn dir's Gott, Georg!« erwiderte Friedrich. »Obwohl du ein Kind des Lichts bist«, setzte er bitter lächelnd hinzu, »so will ich doch in meiner Finsternis auf dein und deiner Braut Wohl trinken und will dir wünschen, daß sie dir immer so lieb bleiben mög, wie meine Christine mir.«
Die Braut machte ein saures Gesicht. Die Sonnenwirtin stieß ein grelles Gelächter aus, in das der weibliche Teil der Gesellschaft halblaut einstimmte, indem sie einander unwillig ansahen.
»Ich laß meine Gäst nicht beleidigen!« fuhr der Sonnenwirt zornig auf.
»Ich hab niemand beleidiget«, erwiderte sein Sohn mit kalter Stimme, während seine blauen Augen immer wilder blitzten.
»So eine Vergleichung«, rief die Sonnenwirtin mit aufreizendem Tone, »die soll
keine Beleidigung sein!« Die Weiber nickten ihr lebhaft zu. Der Bräutigam schwieg
verlegen; er sah ein, daß er den Freund, mit dem er soeben noch angestoßen,
»Was!« schrie der Sonnenwirt, »so eine rechtschaffene Person vergleichst du in meinem Haus mit einer –«
»Vater!« unterbrach ihn Friedrich mit dem Tone der Verzweiflung und stand auf, »ich bitt Euch um Gotteswillen, seht Euch vor und hütet Eure Zung! Ich hab's einmal für allemal erklärt und geschworen, daß ich sie nicht runtersetzen und schlecht machen laß, weder von Vater noch Mutter. Sie ist mein Weib vor Gott, und was ich geschworen hab, das halt ich, müßt man auch in Ebersbach etwas erleben, dergleichen seit Menschengedenken nicht geschehen ist.«
»O du blutrünstiger Heiland, er droht seinem leiblichen Vater!« rief die Sonnenwirtin, indem sie die Hände zusammenschlug. Die Weiber stießen Laute des Grauens und Entsetzens aus.
Der Sonnenwirt, der sich gleichfalls erhoben hatte, stand in Ungewisser Haltung an die Stuhllehne angeklammert, schoß aber wütende Blicke nach seinem Sohne. Er fürchtete ihn, weil er ihn zu allem fähig glaubte, und eben diese Furcht erhöhte seine Wut.
»Vater«, begann Friedrich wieder, nach der Wand deutend, wo neben dem Bilde des
Herzogs das Bild des Gekreuzigten hing, und seine Stimme, die er zu mildern
suchte, zitterte: »Vater, sehet Ihr Ihn, der nicht schalt, da er geschlagen ward,
und nicht dräuete, da er litt? Ich will ihm ja gern nachfolgen,
»Der kann predigen!« zischelte die Braut mit unterdrücktem Kichern gegen ihren Bräutigam hin. Friedrich, der es gehört hatte, warf ihr einen Blick der Verachtung zu.
»Man sollt schier gar glauben«, sagte die Sonnenwirtin mit ätzendem Spott, »wir haben da den lieben unschuldigen Heiland in unserer Mitte – verzeih mir Gott die Sünd. Ich hab aber nirgend in der Bibel gelesen, daß er so zu seinem Vater geredt hat.«
Der Sonnen wir t war eine Zeitlang sprachlos und außer sich. Die Anrufung der
Religion, als Anklägerin
Seine Stimme überschnappte, und zugleich erstarb ihm noch aus einer anderen
Ursache das Wort im Munde, denn mit weitgeöffneten Augen zurückbebend, sah er, daß
sein Sohn das Messer gezogen
Friedrich kam wie aus einer langen Betäubung zu sich und gewahrte, daß er mit dem Knecht allein in der Stube war. Er hatte das Messer noch immer in der Hand. »Da nimm's«, sagte er zu dem Opfer seines Jähzorns, »und stich mich über den Haufen, du tust ein gut's Werk.«
Der Knecht wies das dargebotene Messer zurück. »Ich bin kein Mörder wie du«, sagte er, während seine gläsern gewordenen Augen sich nach und nach wieder belebten.
»Peter! Um Gottes willen! Hat's dir was getan?« rief Friedrich, dem seine Tat erst jetzt zum klaren Bewußtsein kam. »Laß mich sehen, komm, ich will dich verbinden, du verblut'st dich ja.«
Der Knecht stieß ihn zurück. »Ist schon recht«, murmelte er, »'s ist recht, ja, ja – sein' Wohltäter stechen – ist eine neue Art, seine Schulden zu zahlen – 's ist aber schon recht – ich will dich finden – ja, ja! 's ist recht, ist ganz recht.« – Er wiederholte diese Worte wohl ein dutzendmal, während er langsam aus der Stube ging und erst jetzt daran dachte, seinen verwundeten Arm mit der anderen Hand zusammenzuhalten.
Friedrich blieb allein und wie verhext in der Stube zurück. Er blickte auf den
Tisch, der soeben noch voll Menschen gewesen war, dann auf das Messer in
Indessen blieb ihm wenig Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Der Lärm vor dem
Hause wurde stärker, und die Anzahl der Stimmen mehrte sich. Er hörte den Knecht,
dessen Betäubung allmählich in Wut überzugehen schien, aus den anderen Stimmen
herausbrüllen: »Er ist nicht bloß ein Mörder, er ist auch ein Dieb! Sein eigener
Vater hat ihn 'n Dieb geheißen!« – »Ja«, schrie die gellende Stimme der
Sonnenwirtin, »er hat seinem Vater Frucht gestohlen und an sein Mensch gehängt.« –
»Man muß
Der Sonnenwirt, der sich halbtot schämte, hatte sich mit dem verwundeten Knechte zu seinem Schwiegersohne, dem Chirurgen, zurückgezogen und schickte diesen, ob er dem schmählichen Auftritte nicht auf irgendeine Weise ein Ende machen könne. Der Chirurg, nachdem er die Wunde des Knechts untersucht und verbunden, drängte sich durch die Menge, wurde von dem Amtmann, der ratlos, was er befehlen sollte, in der Haustür der Sonne stand, herbeigewinkt und mit einem heimlichen Auftrage versehen, drängte sich wieder in die Straße durch und gab Zeichen nach dem Dache, um die Aufmerksamkeit seines jungen Schwagers auf sich zu ziehen. Friedrich, der ihn mit seinen Falkenaugen schon längst bemerkt und angerufen hatte, ohne in dem Tumult vernommen zu werden, schrie mit einer Stimme, die alle übertönte: »Still da drunten!« Ein zorniges Gelächter der Menge antwortete ihm. Der Chirurg aber bat und beschwor die Umstehenden so lange, bis wenigstens in der Nähe der Lärm sich etwas legte und eine notdürftige Stille entstand. »Herr Schwager!« rief jetzt Friedrich herab, »was macht der Peter?«
»Er ist den Umständen nach ganz wohl!« antwortete der Chirurg durch die
vorgehaltenen Hände, mit
»Gott sei Lob und Dank!« rief Friedrich und schlug die Hände erfreut zusammen.
»Gib doch acht! Sei nicht so frech!« schrien einige von denen, die ihm wohl wollten.
»Das hat kein Not!« antwortete er und drehte sich wie der Blitz herum, so daß er, die Knie schnell wieder an das Dach anstemmend, nach der entgegengesetzten Seite gerichtet saß. Das tolldreiste Kunststück, das er in der Freude seines Herzens machte, rief bei der Menge einen Schrei des Entsetzens hervor, welchem ein schallendes Gelächter folgte. »Grad wie ein Aff auf einem Kamel!« schrien sie.
»Schwager, geh Er herunter!« rief der Chirurg.
»Wenn mir der Herr Schwager sicheres Geleit verspricht!« antwortete Friedrich, »sonst tut sich's ganz wohl da oben!«
»Ich gebe Ihm mein Ehrenwort, daß Ihm nichts zuleid geschieht!« rief der Chirurg hinauf.
»Sein Ehrenwort?«
»Mein Ehrenwort!«
Er verließ seinen luftigen Sitz mit einem leichten Ruck, der unten von einem
Schrei des Schreckens und zugleich der Bewunderung begleitet wurde. »Der sitzt vom
Dachgrat ab wie ein Reiter von seinem Gaul!« schrie die Menge. Im nächsten
Augenblick hatten sie Ursache, ihn mit einer Katze zu vergleichen, so leicht sah
man den behenden Burschen auf Händen und Füßen am Dach herabrutschen,
Nach wenigen Sekunden verriet eine Bewegung der in und vor der Haustüre stehenden
Leute, daß in dem verlassenen Hause sich etwas Lebendiges regte und die Treppe
herunterkam. Der Amtmann flüchtete sich in den dichtesten Schwärm heraus. »Der
Bursche hat heut vormittag schon gezeigt, was er für ein gefährlicher Kerl sein
kann!« sagte er und versammelte alsbald eine Schar handfester Männer um sich,
worunter der obere Müller nicht fehlte, der durch das Geschrei, daß des
Sonnenwirts Frieder seinen Knecht gestochen habe, herbeigezogen worden war. Jetzt
erschien der Held des Tages, von niemand um seinen Lorbeer beneidet, in der
Haustüre. Ruhig, als ob er nicht begreifen könne, warum die Leute so
zusammengelaufen, kam er heraus und suchte mit den Augen seinen Schwager, auf den
er sodann zuging. Man ließ ihn vorbei. »Da bin ich«, sagte er zu dem Chirurgen,
»ein Mann, ein Wort.« – »Ich halte, was ich versprochen habe«, entgegnete der
Chirurg mit schlauem Lächeln. – »Du bist kein Mann, du bist ein Bub!« schrie ihn
der dabeistehende Richter an, »dir braucht man nicht Wort zu halten!« – »Greift
ihn!« befahl der Amtmann, und ehe der zuversichtliche Bursche sich's versah,
befand er sich unter der Gewalt von mehr als zehn Fäusten. Er wehrte sich wie ein
Eber, schimpfte,
»Das ist aber ein Mensch, Kreuzwirt!« sagte eine der auswärtigen Frauen von der
Brautgesellschaft, die sich jetzt dem Schauplatze näher wagte, zu einem dort
stehenden leibarmen Manne mit kleiner spitzer Nase, den wir aus der Unterredung
der beiden Müller bei ihrem Friedenstrunke als den geschlagenen Ursächer von
Friedrichs zweiter Zuchthausstrafe
»Ja, ja, Adlerwirtin«, antwortete der Angeredete mit näselnder Stimme, »das hat man damals auch gesehen, wie er mich auf seines Vaters Anstiften, recht wie ein Erzspitzbub und Mörder, auf dem freien Feld ohne eine einzige Ursach angefallen hat und so behandelt, daß ich außerstand bin, lebenslang einen Batzen zu verdienen, ohne meine tägliche viele Schmerzen, wodurch ich und mein Weib und Kind in die äußerste Armut versetzt und samtlich verderbt worden sind.«
»Nu, nu, Kreuzwirt«, sagte die Adlerwirtin aus der Nachbarschaft, »so gar arg ist's doch grad nicht, wenn man die Leut hört. Weiß wohl, die Zeiten sind hart; man kann sich auch ein bißle verspekulieren, wenn man den Nagel gar zu b'häb auf den Kopf treffen will. Und mit der Bresthaftigkeit ist's auch nicht so schlimm: Ihr seid von jeher ein dünns Pappelbäumle gewesen, und 's kann ja auch nicht jeder ein Eichenbaum sein.«
»Ja, aber mein Arm!« klagte der Kreuzwirt. »Der Mordbub hat mir ihn halb auseinandergeschlagen. Da sehet selber, Adlerwirtin, wie er mir geschweint (geschwunden) ist.«
Die Frau streifte ihm ohne Umstände den schlotternden
»Ihr seid ja ein ganzer Doktor«, sagte der Kreuzwirt. »Ja, ja«, lenkte er wieder
in das vorige Gespräch ein, »der Sonnenwirt hat heut ein' sauren Tag erlebt. Dem
sitzt gewiß kein Storch mehr aufs Dach. Aber die Zuchtrut ist ihm gesund, er soll
nur fein demütiger werden, er hat's nötig. Das ist mir ein Christentum, wenn man
durch eigennützige Konzession im Metzgerhandwerk seinen Mitmenschen das Brot vom
Maul wegnimmt, durch Geld und Arglist mehr Freiheit im Handwerk an sich reißt als
ein anderer ehrlicher Meister. Nun zeigt sich's, was das fruchtet. Der Gewinner,
sagt das Sprichwort, muß einen Vertuner haben. Das Auge Gottes siehet alles, höret
alles, straft alles zu seiner Zeit. Das Wort des großen Gottes geschähe zu dem
Propheten Eli: ›Darum, daß du nicht sauer gesehen hast zu dieser deiner Kinder
Bosheit, so soll die Missetat an dem Hause Eli nicht versöhnet werden, weder mit
Speisopfer noch Rauchopfer ewiglich, im ersten Buch Samuelis, im dritten.‹ An den
Früchten erkennet man den Baum. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder
Feigen von den Disteln?
»'s ist eben e' Welt«, antwortete diese, welche sich nicht näher in kitzliche Erörterungen einlassen wollte. »Jetzt kann ich mich aber nicht länger aufhalten, denn es will Abend werden, heißt's im Evangelium, und der Tag hat sich geneigt. Meine Leut werden ungeduldig, sie wollen fort. Ja, ja, ich komm ja!« winkte sie gegen ein Häuflein der Umstehenden hin, worunter sich die Ihrigen befanden. »B'hüt Gott, Kreuzwirt, Ihr wisset ja, der Mensch will eben heim.«
Unterdessen hatte man den gefangenen Wildling in das Rathaus geschleppt, wo man
ihn gebunden, wie er war, in ein Gelaß warf und liegen ließ. »Der Bursche scheint
mir ziemlich betrunken zu sein«, sagte der Amtmann, »er mag seinen Rausch
ausschlafen, dann will ich ihn morgen vormittag verhören. Der Herr Pfarrer wird
nichts dagegen haben, wenn man einmal am Sonntag Justiz ausübt und ein nötiges
Exempel statuiert. Nun wollen wir aber gleich heute noch mit dem Allernötigsten
beginnen.« – Er ließ zwei Urkundspersonen rufen und begann sofort eifrig zu amten;
denn wie der Staat im Fürsten, so war in ihm die Gemeinde aufgegangen, ja noch
weit mehr. Gleichwie ein absterbender alter Baum, dessen Stamm nach unten schon
mürbe und hohl geworden ist, doch in manchem Frühling durch seinen grünen Wipfel
zeigt, daß die Wurzel noch frischen Saft nach der Krone zu treiben
Die nämlichen, die in ihrem Feuereifer für das Gesetz ihren verhaßten Gegner
geschlagen, niedergeworfen und gebunden hatten, drängten sich jetzt bereitwillig
in das Verhör, um anzugeben, was sie Böses von ihm zu sagen wußten oder was ihnen
an ihm zuwider war. Jedes ungeschickte Wort, das er im Zorne ausgestoßen, wurde
zum Ankläger gegen ihn, und die gefährliche Gesinnung, die in diesen unbedachten
Worten zu liegen schien, erhielt ihre ergänzende Bestätigung durch die Gewalttat,
welcher er sich heute schuldig gemacht hatte. Der gestochene Knecht, obgleich
seine Wunde sich als unbedeutend erwies, schnaubte unversöhnliche Rache und war
über die Absicht, die er der Tat unterlegte, noch weit mehr aufgebracht als über
diese selbst. Schon auf der Straße hatte sein Geschrei zu vernehmen gegeben, daß
gegen den Gefangenen noch eine weitere Untat vorliege, und auf Befragen des
Amtmanns erzählte er nun, die eigenen Eltern desselben haben ihn mehr oder weniger
unverblümt eines Diebstahls bezichtigt. Hierauf verhörte der Amtmann den
Sonnenwirt. Dieser entschuldigte sich, daß er die Tatsache teils um der Schande
seines Hauses willen, teils wegen der Geringfügigkeit des Betrages habe vertuschen
wollen, gab aber, durch das heutige Betragen seines Sohnes und durch das Zureden
seiner Frau vollends aufgestachelt, zu verstehen, daß nach den neueren Aussagen
des Knechtes der Diebstahl wohl beträchtlicher gewesen sein möge. Der Amtmann
Der Amtmann nahm die Briefe und legte sie zu den Akten, um hiermit sein heutiges Tagwerk zu beendigen, welches mit einem Verhör der Sonnenwirtin schloß oder vielmehr zu einer vertraulichen Unterredung mit derselben in Gegenwart der Amtmännin überging. Die Sonnenwirtin hatte es jetzt ganz in der Hand, die Wetterwolke, die ihr Stiefsohn über sein Haupt heraufbeschworen, in der gewünschten Richtung zu entladen, und sie benutzte die Gelegenheit so eifrig, daß sie darauf bestehen wollte, auch gewisse verfängliche Reden, die ihr Sohn gegen den jungen Herzog geführt haben sollte, ins Protokoll zu bringen.
Hier machte jedoch der Amtmann ein sehr ernsthaftes Gesicht. »Na, na, Frau
Sonnenwirtin«, sagte er, »man muß doch nicht ganz alle Bonhommie hinter sich
werfen. Zum cumulus brauchen wir das nicht, es ist cumulus genug da, ein Berg, an
dem er mindestens ein paar Jahre abzutragen haben wird. Die Sache hat aber noch
eine andere Seite. Wenn ich in meinem Bericht an die Herrschaft, denn vom Oberamt
geht er nach Stuttgart ab, dieses delikate
»Und da wir just unter uns Pfarrerstöchtern sind, wie man zu sagen pflegt«, setzte
die Amtmännin hinzu, »so will ich erst noch den Herzog in Schutz nehmen. Wenn eine
Frau meint, sie habe sich über ihren Mann zu beklagen, so fragt sich's oft, ob
nicht sie den ersten Anlaß gegeben hat. Die Hoffart, sagt das Sprichwort, muß
etwas leiden. Man mag von ihm sagen, was man will, er hat etwas, das ihn von
vielen anderen großen Herren unterscheidet: er neigt sich zur Landesart, hat etwas
Populäres in seinen Manieren und schämt sich nicht, mit dem Untertan auf einer
espèce von gleichem Fuß zu stehen. Gerade das geht aber ihr völlig ab, sie hält
»Jetzt seh ich erst«, sagte die Sonnenwirtin listig lächelnd, »welch ein groß Zutrauen die Frau Amtmännin zu ihrem Herrn haben muß, denn die Kathrine wär doch kein ganz übler Bissen.«
Die Amtmännin lachte aus vollem Halse. »Ich bin nicht eifersüchtig«, rief sie. »Mein Mann ist ein großer Jäger vor dem Herrn, ein Nimrod, der hat ein Herz von Marmor und geht lieber auf was Wildes als auf was Zahmes aus.«
Dem Amtmann kam die Wendung des Gespräches gleichfalls höchst spaßhaft vor, und unter lautem Gelächter wurde die Sonnenwirtin entlassen.
Am Sonntagmorgen berief der Amtmann, innerlich vergnügt über diese gute
Gelegenheit, die Predigt seines geistlichen Mitbeamten zu schwänzen, seine beiden
Skabinen oder Gerichtsbeisitzer, welche als amtliche Zeugen bei dem
Untersuchungsverfahren, das sie bewachen sollten, aber häufiger beschliefen, den
faulsten Überrest der alten Volksgerichtsbarkeit
»Er ist von dar ganzen Burgerschaft wie auch von Seiner eigenen Familie wegen gemeingefährlicher Aufführung, dann auch wegen mörderischen Attentats gegen einen Seiner Nebenmenschen und wegen Diebstahls an Seinem leiblichen Vater angeklagt und hat sich allhier zu verantworten«, begann der Amtmann, nachdem er den Eingang des Protokolls geschrieben hatte.
Friedrich blickte auf seine Ketten und schwieg.
Der Amtmann, der ihn eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, hielt ihm in Kürze die Hauptpunkte der Anklage vor und fragte: »Was hat Er hierauf zu erwidern?«
»Muß ich Ihn durch Prügel zum Geständnis bringen?« fuhr der Amtmann auf.
Ein Zucken lief über den Körper des Gefangenen, so daß seine Kette klirrte, aber er tat den Mund nicht auf.
»Dich sollt man im Mörser zerstoßen!« rief Friedrichs unvermeidlicher Vormund, der neben einem kleinen Spezereigeschäft allerlei mehr oder minder einträgliche Ämtchen bei der Gemeinde und darunter auch das eines Gerichtsbeisitzers versah.
Friedrich blickte ihn verächtlich an.
»Laß Er mich nur machen«, sagte der Amtmann verweisend zu der eifrigen
Urkundsperson. Dann hielt er eine eindringliche Rede an den Gefangenen. Er fragte
ihn, wie er es vor seinem Vater, vor seiner Mutter, die sich im Grab umkehren
müsse, vor seiner ehrbaren Verwandtschaft, ja vor ihm selbst, dem Nachfolger
seines Paten, verantworten könne, so viel Unruhe über die Gemeinde zu bringen und
noch obendrein dem Gerichte durch seine Halsstarrigkeit zu schaffen zu machen.
»Und was soll ich Seiner hochfürstlichen Durchlaucht antworten«, fuhr er fort,
»wenn Hochselbige sich herabläßt, sich nach dem jungen Menschen zu erkundigen, der
vor den höchsten Augen eine unleugbare Bravour bewiesen hat? Wenn die Antwort
lautet, er habe Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, endlich sogar seinem Richter
die schuldige Ehrerbietung verweigert und durch bösartigen Trotz sich selbst noch
tiefer in Schaden
»Ich hab kein' Lohn begehrt«, erwiderte der Gefangene trotzig. Es waren die ersten Worte, die er sprach.
»Nun, so vergrößere Er wenigstens Seine Strafe nicht«, sagte der Amtmann, der das Eis gebrochen sah und rasch auf der gewonnenen Bahn fortfuhr. »Er hat es in der Hand, vielleicht schwerere Bezichte von sich abzuwälzen. Mir geschieht es sauer genug, ein hiesiges Burgerskind criminaliter prozessieren zu müssen. Aber so viel wird Er selbst einsehen: wenn die ganze Burgerschaft klagt, so kann ich doch die Sache nicht vor Ohren gehen lassen.«
Friedrich lächelte bitter. »Es mögen wohl viele hier sein«, sagte er, »die mich gern am Galgen sehen möchten, aber alle nicht. Wenn's aber doch mit mir aus soll sein, und ich soll kein ehrlicher Mann werden können – vor dem Flecken draußen steht ja das Hochgericht, also machen Sie vorwärts, Herr Amtmann! Je kürzer der Prozeß, desto besser für mich.«
Der Amtmann lachte. »So kurzen Prozeß kann ich nicht machen«, sagte er. »Stock und
Galgen haben wir wohl noch, aber der Stab ist etwas abgekürzt. Der Oberstab ist in
Göppingen, wo Er Sein Urteil empfangen wird. Deshalb will ich Ihn in Güte darauf
hingewiesen haben, daß Er sich nicht das Protokoll durch weitere Hartnäckigkeit
selbst verdirbt.
»Ich hab meinem Schatz versprochen, daß ich sie und ihr Kind zu Ehren bringen will«, murrte Friedrich mit einigem Unmut, daß er nicht verstanden worden war. »Solang ich mein Wort nicht halt, bin ich auch kein ehrlicher Mann, und man leid't's ja nicht, daß ich's halten soll.«
»Ja so, das ist's«, versetzte der Amtmann. »Das scheint die Ursache gewesen zu sein, nicht wahr, daß Er die verschiedenen Redensarten ausgestoßen hat, die ich Ihm jetzt vorhalten muß?«
Mit dem befriedigenden Bewußtsein, durch seine Bonhommie dem trotzigen Delinquenten das Band der Zunge gelöst zu haben, zählte ihm der Amtmann die Sünden dieser Zunge auf, welche seine Ankläger zu Protokoll gegeben hatten. Friedrich gab einige als möglich, andere als wirklich zu, wieder andere zog er in Abrede. »Das sind mir Klagen!« sagte er. »Dergleichen Redensarten kann man von jedem Kind in Ebersbach hören. Aber man sollt meinen, der ganz Flecken red französisch, und ich allein schwätz deutsch.«
Der Amtmann protokollierte, während seine Beisitzer gähnten und der Gefangene
gelangweilt das Bild der Justitia betrachtete. Nachdem der Amtmann kunstgerecht
das Gebäude der Aussagen zusammen getragen
»Es tut mir leid«, sagte Friedrich, »daß der Peter so verbost auf mich ist. Ich hab ihn um Verzeihung gebeten, wiewohl vergeblich, und würd's gern noch einmal tun, wenn ein guts Wort eine gute Statt bei ihm fänd. Ich seh wohl ein, daß es nicht recht gewesen ist, aber ich hab's, weiß Gott, nicht so bös gemeint, ich hab's eben in der Hitz aus Unvorsichtigkeit und Übereilung getan, und wie ich gehört hab, daß ihm's nichts geschadt hat, so ist mir's gewesen, als wär ich aus Ketten und Banden erlöst. Er sollt aber jetzt auch keinen solchen Kessel überhängen. Was! das bißle Aderlaß ist ihm gesund gewesen, er ist ja ein Kerl wie ein Ochs.«
»Nun ja, Er darf freilich Gott danken, daß die Sache so gut abgelaufen ist«, sagte der Amtmann etwas zutraulich, »mit Blutvergießen ist nicht zu spaßen, da geht's gleich um den Kopf. Aber«, fügte er hinzu, »wenn Er in der Rage zugestoßen hat, so hat Er doch nicht so gewiß wissen können, ob der Stoß nicht tiefer oder bis ans Leben gehen werde.«
»Ich bin freilich in der Rage gewesen«, antwortete Friedrich, »aber ich hab ihm doch nicht viel tun können, denn er hat mich ja am Arm gepackt gehabt, und also hab ich eigentlich gar nirgends anders hinstoßen können als nach seinem Arm.«
»Glaubt Er«, forschte der Amtmann, »Er habe das
»Ja, gezielt hab ich freilich nicht«, erwiderte Friedrich, »und hab mir auch nicht fürgenommen, wie tief es gehen soll. Ich hab ja schier nicht gewußt, daß ich nur gestochen hab. Wenn ich kein Messer in der Hand gehabt hätt, so hätt ich ihm eben die Faust zu Gemüt geführt.«
»Da hätte Er ja aber auch das Messer vorher weglegen können«, sagte der Amtmann.
»Ja was! wenn man im Zorn ist, so denkt man an nichts und stoßt eben zu. Wenn man je was denkt, so denkt man höchstens im Unsinn: Kerl, hin mußt sein!«
»Hin?« fragte der Amtmann, die Gerichtsbeisitzer anblickend und rasch der neuen Fährte folgend.
»Das ist einem aber nicht Ernst«, verbesserte der Gefangene, dem es nachgerade schien, er sei im Begriffe, zu viel zu sagen. »Man ist nachher heilig froh, wenn's nichts getan hat.«
Der Amtmann protokollierte fleißig drauflos, während dem Gefangenen eine dunkle
Ahnung verraten mochte, seine Vorsicht komme zu spät und er habe wohl schon viel
zuviel gesagt. Auch reichte seine Vernehmlassung vollkommen hin, um die Anklage
wegen eines Attentats zu begründen, bei welchem er eine Tötung, wo nicht
beabsichtigt, so doch auch nicht geflissentlich vermieden, jedenfalls aber
eine
Zufrieden mit dem bisherigen Erfolge der Untersuchung, legte der Amtmann die Feder nieder und nahm das Verhör wieder auf. »Jetzt kommen wir an den Fruchthandel«, sagte er. »Er wird nicht in Abrede zu ziehen gemeint sein, daß es ein etwas einseitiger Handel ist, wenn man Frucht einsackt, ohne Bezahlung dafür zu leisten. Pro primo aber, um die Aussagen unter sich in Einklang zu bringen, muß ich fragen: wieviel ist's denn eigentlich gewesen?«
»Herr Amtmann«, antwortete Friedrich, »ich hab meinem Vater gleich im ersten Augenblick erklärt, daß er durch den Handel um keinen Kreuzer kommen solle, und wenn's jetzt an dem ist, daß er aus meinem Mütterlichen schadlos gehalten werden soll, so will ich kein Körnle verschweigen. Natürlich hab ich's in der Nacht und in der Eil nicht so akkurat abzählen können, auch ist in einem Sack mehr gewesen und im anderen weniger, aber ich tu meinem Vater gewiß nicht unrecht, wenn ich's im ganzen auf ein Scheffel sechs oder sieben schätz, Dinkel und Haber, ungefähr zu gleichen Teilen – ganz genau kann ich das natürlich jetzt nicht mehr sagen.«
»Sechs bis sieben Scheffel Dinkel und Haber«, sagte der Amtmann, den Kopf auf die
Hand stützend. »Ja, ja, das müssen wir so praeter propter berechnen. Wo sind die
pretia rerum?« fragte er, in den auf dem Tische liegenden Akten kramend. »Ja so,
meine Frau wird die Zeitung haben. Herr Senator,
Der Richter ging und brachte das amtliche Landesblatt, auf dessen Rückseite die Frucht-, Wein-, Holz-und Salzpreise verzeichnet waren. Der Amtmann nahm das Folioblatt, legte es vor sich auf den Tisch, stärkte sich zuvor durch eine Prise und suchte dann mit dem Finger im Schrannenzettel. »Da steht's«, sagte er, »Göppinger Schranne, Dinkel drei Gulden dreißig, Haber zwei Gulden dreißig.«
»Ja«, sagte der andere Gerichtsbeisitzer verdrießlich, »seit der Ernt hat der Dinkel um dreißig Kreuzer abgeschlagen, im August hat er noch vier Gulden kost't.«
Der Amtmann rechnete mit dem Bleistift auf einem Stück Sudelpapier. »Vier Scheffel Dinkel«, murmelte er, »tut vierzehn Gulden; drei Scheffel Haber, tut sieben Gulden dreißig, beides nach jetzigem Preis. Zusammen also einundzwanzig Gulden und dreißig Kreuzer. Ist Er mit der Taxation zufrieden?«
»Herr Amtmann«, antwortete Friedrich, »ich hab zu meinem Vater gesagt, wenn der Fruchtpreis bis zur Abrechnung anziehe, so solle das sein Nutzen sein; also sollt's eigentlich mir zugut kommen, wenn der Preis unter der Zeit gefallen ist, weil mein Vater ja doch damals nicht hat verkaufen wollen. Aber ich bin nicht so interessiert. Machen Sie nur das Ungerade voll und rechnen Sie zweiundzwanzig Gulden, daß die Zahl rund ist.«
»Richtig, Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »aber Sie haben vier Scheffel Dinkel und drei Scheffel Haber angenommen, und es können ebensogut vier Scheffel Haber und drei Scheffel Dinkel gewesen sein, oder auch gradaus halb und halb.«
»Ist mir das eine Strohhalmspalterei!« rief der Amtmann verdrießlich. Die beiden Gerichtsbeisitzer lachten. »Wenn's hoch kommt, so macht's 'n Gulden Unterschied, und 'n halben Gulden will er ja selber dreingeben«, sagte der eine. »Kommst endlich ins Rechnen?« rief Friedrichs Vormund, »'s wär wohl Zeit, daß du dran dächtest; hätt'st aber schon früher anfangen sollen.«
»Damit Er sieht, daß Ihm kein Unrecht geschieht, so will ich's Ihm vorrechnen«, sagte der Amtmann und griff wieder zum Bleistift.
»Ach, mir ist's ja nicht ums Geld!« sagte Friedrich zugleich ärgerlich und
beschämt. Ihn hatte bloß das verdrossen, daß man von den möglichen Grundlagen der
Berechnung die ungünstigste angenommen hatte. Während der Amtmann noch rechnete,
hörte man vor der Türe, die der Schütz aus Neugier ein wenig offen gelassen hatte,
einen schweren Tritt, der von wiederholtem Räuspern des Kommenden begleitet war,
dann einen Wortwechsel mit dem Schützen, welcher endlich sagte: »Wenn Er mit
Gewalt nausgeschmissen sein will, so probier Er Sein Glück.« Darauf klopfte es an
der Türe erst leise und demütig,
»Still!« gebot der Amtmann. »Hab jetzt keine Zeit!« rief er dem Ankömmling zu. »Sieht Er denn nicht, daß hier etwas Dringendes verhandelt wird? Und wie kann Er sich unterstehen, am Sonntag zu kommen?«
»Exküse, Herr Amtmann«, sagte jener, schon halb auf dem Rückzuge begriffen, »'s ist ja eben wegen der Sach.«
»Halt!« rief der Amtmann. »Herein da! Hat Er etwas wider den Angeklagten vorzubringen?«
»Ach nein, Herr Amtmann, wenn Sie's erlauben«, antwortete der Mann etwas weinerlich, »ich verklag ihn nicht, gewiß nicht, und was er von mir hat, das hat er aus gutem freien Willen, und ich will aber auch hoffen, daß ich wieder zu meinem Sach komm.«
»Also eine Schuldklage!« rief der Amtmann enttäuscht.
»Der ist pfiffig!« sagte der Gefangene lachend, »der weiß den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Ich möcht aber nicht haben, daß er in der Sorg wär, er könnt durch mich um etwas kommen, und weil wir ohnehin just an der Abrechnung von meinem Mütterlichen sind, so ist mir's lieber, wenn das auch gleich dazugeschrieben wird.«
»Ich hab's ihm aus gutem freien Willen gelassen, Herr Amtmann«, wiederholte der Vetter, erfreut über die Willfährigkeit des Gefangenen, indem er sich zugleich, dem Befehl des Beamten gehorchend, aber so langsam, daß er jeden Augenblick zurückgerufen werden konnte, nach der Türe zurückzog.
»Gelassen? aus gutem Willen gelassen?« sagte der Amtmann stutzend. »Was ist denn das?«
Der Mann zuckte die Achseln verlegen lächelnd und blieb an der Türe stehen.
Der Amtmann sah den Gefangenen scharf an. »Ich hab's ihm von meinem Mütterlichen zurück versprochen«, sagte dieser.
»Halt!« rief der Amtmann. »Er bleibt da! Bring Er Seine Sache vor! Ich muß wissen, wie es sich damit verhält.«
»Ich will's selber sagen«, nahm der Gefangene das Wort. »Ich hab ja gleich mit
rausrücken wollen, sobald ich meinen Vetter gesehen hab. Also, wie sich's um das
Strafgeld für meine Christine gehandelt hat, und der Herr Amtmann hat mir die Höll
heiß gemacht und all die Unehr und Schmach fürgestellt,
»Und ist der Vetter bei dem Besuch auch selbst zugegen gewesen?« fragte der Amtmann, immer aufmerksamer werdend, den Vetter von Hattenhofen.
»Neinle, neinle, Herr Amtmann, ich bin nicht dabeigewesen«, antwortete dieser mit seinem verlegenen Lächeln.
»Das ist aber ein Galgenvogel!« schrie der Richter auf. »Also noch so ein Stück! Wenn man dem die Schublad aufmacht, so springen lauter Einbrüch 'raus!«
»Still!« befahl der Amtmann. »Kann Er behaupten, daß Sein Vetter Ihn eingeladen oder aufgenommen habe, und was hat Er bei Nacht in dem fremden Haus getan?«
»Es ist mir kein fremdes Haus gewesen, Herr Amtmann«, sagte der Gefangene, »und wenn mich auch mein Vetter selbigsmal nicht hat einladen können, weil er just zu der Zeit geschlafen hat, so hab ich doch von früher gewußt, daß er sein Haus nicht vor mir verschließt.«
»Ja freile, freile!« sagte der Mann von Hattenhofen eifrig bekräftigend. »Mir ist ja die ›Sonne‹ auch nicht verschlossen, und ein Ehr ist der andern wert.«
»Und was hat Er in dem Haus getan?« wiederholte der Amtmann.
»Also hat er Ihm Geld genommen?« fragte der Amtmann den Mann vom Lande.
»Beileib net, Herr Amtmann, b'hüt uns Gott!« sagte dieser, »bloß e bissele Zwetschgen und e bissele Trilch und e bissele Garn und e bissele Flachs, und aber über alles das hat er mir eine Quittung geben.«
»Hat Er die Quittung da?«
»Ha freile, Herr Amtmann«, rief der Nichtkläger, dem die Freude, sein Anliegen so geschickt anbringen zu können, aus den Augen blinzelte, und reichte die Quittung mit weit vorgebeugtem Leib und ausgestrecktem Arm dem Amtmann hin.
»Hat Er die Quittung in jener Nacht zurückgelassen?« fragte der Amtmann den Gefangenen.
»Nein, Herr Amtmann, damals hat mir's zu arg pressiert. Ich hab dann gleich den Tag darauf das Sach verhandelt und das Geld meiner Christine gebracht, damit's mit der Straf in Richtigkeit kommen soll. In etlichen Tagen hernach bin ich aber wieder hinaus und bin meinem Vetter abermals ins Haus kommen und hab ihm die Quittung ehrlich und redlich auf den Tisch gelegt, er kann's selber nicht anders sagen. Und wiewohl ich rechtschaffen Hunger gehabt hab, so hab ich doch für mich nichts angerührt.«
»Ja, der Frieder ist recht, das muß man ihm lassen«, sagte der Vetter unter
fortwährendem leisen Gelächter der beiden Gerichtsbeisitzer. »Ich wär auch
Der Amtmann selbst konnte das Lachen kaum verbeißen. »Hat Er denn nach dem ersten Besuch Sein Haus nicht besser verwahrt, daß Ihm der ungeladene Gast noch einmal hat hineinkommen können?« fragte er.
»Freile«, antwortete der Vetter vom Lande. »Aber wo der nein will, da hilft kein Verwahren nichts. Dem ist nichts zu hoch und nichts zu tief, er kommt eben hin.«
»Ein schönes Prädikat«, bemerkte der Amtmann. Darauf fragte er beide, ob sie mit der Quittung und der darin enthaltenen Schätzung der auf so ungewöhnliche Weise entlehnten Gegenstände einverstanden seien. Friedrich erwiderte, er habe mehr angesetzt, als er bei dem Verkaufe, mit dem es geeilt, erlöst habe. Auch der Vetter ließ sich die Preise sehr gerne gefallen und erklärte: »Wenn mir's der Frieder abkauft hätt, ich hätt's ihm grad so geben. Wir sind ja immer ein Kuch und ein Muß gewesen, gelt du, Friederle?«
»Es will mir auch so vorkommen«, sagte der Amtmann mit einer gewissen Strenge. »Er
sucht mir da Seinem Konsorten behilflich zu sein und dem Streich den Nimbus eines
freiwilligen Anlehens zu geben.
Der Mann von Hattenhofen erschrak ins Herz hinein: er glaubte, seine Sache unübertrefflich gut gemacht zu haben, und sah sich jetzt dennoch in der Gefahr, von einem der vielen Rädchen der Justizmaschine, dem er vielleicht zu nahe gekommen, erfaßt zu werden. Doch nahm er sich zusammen und erwiderte: »Wenn's der Herr Amtmann nicht ungütig nehmen will, mein Herz weiß nichts davon, und ich versteh auch kein Wörtle, warum ich gestraft werden soll.«
»Dafür«, sagte der Amtmann, »daß Er Schleichereien macht und die Leute, ja selbst die Obrigkeit irreführen hilft.«
»Mit Verlaub, Herr Amtmann«, hob der vormundschaftliche Gerichtsbeisitzer an, der einen Stein im Brett zu haben glaubte, während der Beamte ihm vielmehr die Zurücksendung seiner Geldsorten nachtragen mochte. »Wenn man fragen darf, woher hat denn das Ding seinen Namen? Das Wort lautet sogar kurios und kommt einem so oft vor. Ich hab schon etliche mal fragen wollen.«
Der Amtmann wurde etwas rot. »Ich kann's Ihm schwarz auf weiß zeigen, wenn Er zweifelt«, sagte er und ging nach einem Aktenständer, auf welchem mehrere seinen Inzipienten gehörige Bücher aufgestellt waren.
»Ich hab ja kein Zweifel, gewiß nicht!« rief der Gerichtsbeisitzer in wahrer Verzweiflung. »Ich glaub ja alles aufs Wort, wie mir's der Herr Amtmann sagt.«
Der Amtmann, dem eine stille Ahnung sagen mochte, daß er mit seiner
Gesetzesanwendung denn doch bei den eigentlichen Juristen durchfallen könnte,
protokollierte nun ein langes und breites, ließ dann den von Hattenhofen
unterschreiben und schickte ihn fort. Da dieser aus Respekt das Türschloß nicht in
die Klinke fallen zu lassen wagte, so hörte man, wie er draußen im Weggehen leise
vor sich hinpfiff. Denn dies ist die Art des Landbewohners: wenn er zu einer
Verhandlung mit Herren oder sonst zu einem wichtigen Handel kommt, so räuspert er
sich,
»Wir kommen nun auf das vorige Chapitre zurück«, begann der Amtmann wieder. »Er ist also geständig, außer dem hier verhandelten, bei Seinem Vater einen Diebstahl, den er auf zweiundzwanzig Gulden anschlägt, begangen zu haben?«
»Herr Amtmann«, sagte der Gefangene, »ich kann mir's nicht gefallen lassen, daß man das einen Diebstahl heißt. Ich bin in meinem Eigenen gewesen und hab ja meinem Vater gleich geofferiert, daß ich's ihm aus meinem Mütterlichen wieder ersetzen will.«
»Davon nachher«, erwiderte der Amtmann. »Wer sind Seine Helfershelfer gewesen, und wo hat Er das Geld hingebracht?«
»Ich hab die Frucht ganz allein auf meines Vaters Bühne geholt, es ist kein Mensch mit mir droben gewesen«, antwortete der Gefangene, den Sinn der Frage durch den Wortlaut seiner Aussage umgehend. »Man hat Verdacht, daß Seine Person und einer ihrer Brüder Ihm dabei behilflich gewesen sein werden«, inquirierte der Amtmann.
Friedrich wiederholte seine Versicherung und erbot sich, einen Eid zu schwören,
daß keines von den beiden auf seines Vaters Speicher gekommen sei.
»Wie hat Er das Geld verwendet?« fragte der Amtmann, immer schärfer in ihn dringend.
»Wie hat Er's vertan?« rief der Amtmann wild.
»Versoffen!« antwortete er trotzig.
»Du Hallunk!« schrie sein Vormund, während der Amtmann erschöpft in den Sessel zurücksank. Nachdem dieser etwas Atem geschöpft, richtete er sich wieder auf und sagte gleichmütig: »Ich muß und will annehmen, daß Er die Wahrheit sagt; in diesem Fall kommt eben zu Seinen anderen Reaten auch noch der Punkt des asotischen Lebenswandels hinzu. Ich hab's Ihm ja erklärt, daß es ganz bei Ihm stehe, wie Sein Protokoll ausfallen werde.«
Der Amtmann war im ganzen nicht unzufrieden mit dem Ergebnis der Untersuchung, das ihm ziemlich ausgiebig erschien. Er hielt dem Gefangenen seine Hauptvergehen vor und ging schließlich in den Ton der Rüge und Ermahnung über. »Hat Er denn ganz vergessen«, rief er, »was ich Ihm damals so eindringlich gesagt habe, als Er das erstemal auf seinen bösen Wegen betreten wurde, und was ich Ihm dann wieder gepredigt habe, als Er von Seiner ersten Strafe zurückkam?«
»Nein, Herr Amtmann, ich weiß es noch«, antwortete der Gefangene, »Sie haben gesagt, das Zuchthaus sei eine Schule des Lasters, und ich solle mich wohl in Obacht nehmen, daß ich nicht wieder hineinkomme.«
»Und was hat Er von sich selbst denken müssen, daß Er doch wieder hineingekommen
ist, und was muß Er heute von sich denken, daß Er abermals,
»Ich hab gedacht und denk, für einen jungen Menschen, an dem noch nicht alles verloren sein kann, sei es doch hart, wenn er in die Schule des Lasters getan wird, wie Sie's ja selber nennen.«
»So?« rief der Amtmann zornig, »wenn Ihm das Zuchthaus nicht gut genug ist, so kann man ihn ja für Seine Mord- und Diebstaten auf die Schandbühne und von da auf die Galeere bringen, vermittelst des Vertrags, den gnädigste Herrschaft mit der Republik Venedig geschlossen hat!«
Den Gefangenen überlief es, daß seine Kette klirrte. »Ich muß freilich ausessen, was man mir kochen will«, sagte er, »ich bin ja schon mehr dabei gewesen und weiß jetzt, wie man's macht, aber ich hab weder eine Mordtat, noch einen Diebstahl begangen.«
»Diebstahl mit nächtlichem Einbruch!« rief der Amtmann, mit der Spitze des Fingers auf das Protokoll klopfend.
»Da drinnen steht's vielleicht so«, entgegnete Friedrich, »aber in meinem Herzen heißt's anders, wenn ich Weib und Kind mit dem, was mir mein Vater schon als Vater schuldig wär, vom Hungertod erretten muß.«
Der Amtmann milderte seinen Ton etwas. »Wenn Er mit dieser Auslegung
durchzudringen hofft, so gratulier ich Ihm dazu«, sagte er. »Bei Gericht aber
nimmt man die Dinge nicht nach der Auslegung, sondern wie sie sind. Angenommen, es
habe einer
»Dawider will ich nicht streiten, Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »'s hat alles Händ und Füß, was Sie sagen. Aber, nicht wahr? wenn ich meinen Vater bei Ihnen verklagt hätt, daß er meiner Christine nichts zu ihrem Unterhalt gibt, so hätt sie lang verhungern können, bis ich hätt Recht bei Ihnen gefunden.«
»Halt Er Sein Maul, Er ewiger Rechthaber!« schrie der Amtmann entrüstet. »Er steht als Angeklagter hier und nicht als Advokat!«
Er griff wieder zu der Feder und schrieb eifrig und zornig fort. Friedrich sah ihm eine Weile zu. »Ich seh wohl, was Sie schreiben«, sagte er dann: »Unerachtet seiner äußersten Bosheit will er immer noch recht haben.«
Der Amtmann fuhr zurück, daß ein Teil der Akten zu Boden fiel. »Ist der Kerl vom Teufel besessen?« murmelte er vor sich hin. Die Gerichtsbeisitzer sahen ihn erschrocken an. Friedrich lächelte. »Ich kann mir's nämlich denken«, fügte er hinzu, da er die Worte von der Kirchenkonventsverhandlung her im Gedächtnis behalten hatte.
»Heb Er mir die Akten auf«, befahl der Amtmann dem einen Gerichtsbeisitzer. »Den
Schützen!« rief er dem anderen zu. »Er führt den Arrestanten vorläufig in sein
Loch zurück und holt mir den
Das auf Grund der Akten von dem Vogt zu Göppingen eingeleitete Verfahren war bald
abgetan und endigte damit, daß eine eingeholte hochfürstliche Resolution dem
jugendlichen Übertreter der Gesetze wegen seiner verschiedenen Verbrechen – puncto
diversorum criminum, hieß es in der amtlichen Anzeige – eine anderthalbjährige
Zuchthausstrafe gnädigst zuerkannte, wobei er allerdings die Wahl hatte, ob er
sich unter dem Zentnergewicht der Anschuldigungen für die gnädige Strafe bedanken
oder in dieser eine Verurteilung der Anklage erblicken wollte. Zugleich mit ihm
wurde der ältere Bruder Christinens nach dem Zuchthause gebracht, bei welchem der
halberwiesene Verdacht des Bienendiebstahls und der unerwiesene Verdacht der
Teilnahme an dem Fruchtdiebstahl zu einer Strafe von einigen Wochen hingereicht
hatte. Die Bewohnerschaft des Zuchthauses aber bestand nach den gleichzeitigen
öffentlichen Bekanntmachungen teils in »freiwilligen Armen« ohne Strafe, teils in
Züchtungen und Sträflingen, und die Gesellschaft der beiden letzten Ordnungen
bildeten Räuber. Diebe, so viel ihrer nicht gehenkt oder gerädert waren,
Falschmünzer, Fälscher, Betrüger, Asoten, Verschwender, Vaganten, Heiligenstürmer,
verunglückte Selbstmörder, Ehebrecher, Mädchen, die sich zum drittenmal vergangen,
Auf dem Wege nach Ludwigsburg benutzte Friedrich einen Augenblick, wo der bewaffnete Begleiter, ein armer Bürger von Göppingen, der einen Fluchtversuch der beiden rüstigen jungen Burschen zu verhindern unfähig gewesen wäre, ein wenig dahinten blieb. »Häng kein so dummes Maul runter«, sagte er zu seinem Unglücksgefährten, »was kann denn ich dafür, daß dich die Immen hintendrein gestochen haben? Immenvater bist ja doch gewesen, das kannst nicht leugnen. Und bedenk auch, Schwager, daß die Deinigen dich leichter ein paar Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber missen, denn der ist doch am kleinen Finger mehr als du am ganzen Leib.«
Der andere schwieg stöckisch. Der Wächter kam wieder herbei, und die Wanderung wurde fortgesetzt.
Als sie in Ludwigsburg einzogen und sich dem Zuchthause näherten, fanden sie den
Weg durch eine große Menschenmenge gesperrt. Ein Leichenzug kam daher, umgeben von
zahlreichen Zuschauern und Zuschauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde
blicken ließen. Hinter dem Sarge ging zunächst eine Schar von Waisenkindern in
ihrer grauen Tracht; ihnen
»Wen begräbt man hier?« fragte der Führer der beiden einzuliefernden Sträflinge eine sich herzudrängende Frau.
»Den alten Waisenpfarrer«, war die Antwort.
Friedrich drückte die Hände gegen die Brust. So manchmal, wenn es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er sich nach dieser Heimat, die man in der Welt eine Schule des Lasters nannte, zurückgesehnt, und nun war der gute Geist, der darin waltete, auf immer dahin. Die Welt schien ihm ausgestorben. Er kehrte sich ab und weinte bitterlich. Niemand sah diesen Schmerz, welchen er bei seinem Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an sein Weib und sein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen Gleichgültigkeit verbarg.
Ein stiller Herbstabend breitete seinen Frieden über die Welt. Vom Brunnen, wo sie
sich satt getrunken, wurden Pferde und Kühe heimgetrieben, wobei einige Füllen und
Kälber munter um sie her sprangen und wohl auch hie und da eine Kuh, deren
»Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefängnis, aus der Welt, aus der Heimat – woher du willst!« antwortete er fröhlich.
»Daß du von Hohentwiel entkommen bist«, sagte sie, »ist das letzt, was ich von dir weiß.. Das hat einen solchen Lärmen durch's Land geben, daß ich's sogar im Zuchthaus erfahren hab. Kannst dir vorstellen, wie mich's gefreut hat.«
»Im Zuchthaus!« versetzte er. »Ich weiß, daß sie
»Sie haben gesagt, sonst werd eine erst beim dritten Kind so gestraft, mir aber müß man's schon beim zweiten andiktieren, für meinen Umgang mit dir, weil du dich so aufgeführt habest, daß man dich lebenslänglich hab auf die Festung sperren müssen.«
Er lachte wild.
Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann sah sie sich scheu um, ob niemand ihr Tun bemerkt habe. Hierauf fragte sie hastig: »Und von Ebersbach kommest, sagst? Was machen meine Kinder?«
»Sie sind ganz wohl«, antwortete er: »das Kleine hat all seine Zähn, du mußt's ja gesehen haben, wie du letzt dort gewesen bist, und lauft ganz allein; und der Groß hat vorgestern zum erstenmal in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich solle die Mutter schön grüßen.«
Sie schluchzte. »Aber ich vergeß mich ganz«, sagte sie dann erschrocken. »Meine Herrschaft ist im Pfarrhaus, sie sind oft nach'm Nachtessen dort, und die Kinder sind allein. Die Schulmeisterin tät mir's nicht verzeihen, und ich möcht's ihr auch nicht zuleid tun, daß einem von den Kindern etwas geschah.«
»Hat die Kathrine Kinder?« fragte er, sie aufhaltend.
»Ha, was meinst?« antwortete sie, »drei, und das ältest davon ist schier fünf Jahr alt.«
»Was man nicht erleben kann!« sagte er: »ist mir's doch, als hätt sie erst gestern
noch im Ebersbacher
»Es ist auch in die sechs Jahr, daß sie den Schulmeister hier geheiratet hat. O Frieder, das Weib hat den Himmel an mir verdient. Aber jetzt laß mich, nur 'n Augenblick laß mich, ich komm wieder! Sieh, wenn den Kindern etwas zustieß, die sie mir anvertraut hat, es wär mein Tod.«
»Gleich laß ich dich gehen«, sagte er und faßte sie an der Hand. »Wenn du aber wiederkommst, bleibst dann bei mir und ziehst mit mir fort? Ich leid's nicht, daß mein Weib im Dienst ist. Sieh, bloß um deinetwillen bin ich von Frankfurt hergewandert, um dir zu halten, was ich dir versprochen hab. Meines Bleibens ist im Ländle nicht, kannst dir wohl denken, warum, aber draußen können wir das und jenes probieren, werden uns schon durchschlagen, und das ehrlich, hoff ich. Auch ist jetzt leichter in der Welt fortkommen: es ist Krieg, und der bringt manchen Verdienst unter die Leut. Der König von Preußen ist in Sachsen eingefallen, es geht alles drunter und drüber.«
»Ja, man spricht hier auch davon«, versetzte sie. »Ach Gott, was ist das für eine Welt!«
»Gehst mit mir? und das gleich?« fragte er dringender.
»Soweit ich seh!« rief sie, ihm noch einmal um den Hals fallend. »Aber von meiner Schulmeisterin muß ich Abschied nehmen, sie meint's so gut mit mir.«
Sie eilte mit dem Wasser fort. Er trank in gierigen Zügen am Brunnen, ging dann den Fußweg hin und wartete an dem bezeichneten Orte. Nach einer Viertelstunde kamen hastige Schritte. Sie war's; an ihrer Hand schwankte ein kleines Bündelein, das er ihr sogleich abnahm. »Ich hab nich! Abschied nehmen können«, sagte sie; »sie sind noch im Pfarrhaus, es ist Besuch ankommen, und da wird der Schulmeister immer eingeladen, denn er gilt beim Pfarrer viel. Weil du nun so pressierst, so hab ich die Kinder einer Nachbarin übergeben und hab meiner Frau sagen lassen, meine Mutter sei plötzlich krank worden, der Bot hab mich am Brunnen troffen, und ich hab ohne Verzug mit ihm fort müssen. Sie wird wohl von selber draufkommen, wie sich's in Wahrheit verhält, und damit sie's um so eher erraten kann, so hab ich mit dem Griffel auf die Schieferplatt im Tisch geschrieben: ›Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb‹.«
»Das ist die rechte Parole«, sagte er. »Das hat mich auch wieder ins Land geführt.«
»Jetzt aber erzähl einmal«, sagte sie. »Wenn wir immer so durcheinander schwätzen, so erfährt kein's vom andern was recht's.«
»Ja, wo naus willst du, Herr Landfahrer?« fragte sie.
»Das versteht sich doch: nach Ebersbach und die Kinder holen, denn ohne die ziehen wir nicht in die Welt hinaus.«
»Jetzt freut mich mein Leben erst!« rief sie entzückt und schritt rüstig in der Dunkelheit voran. Er folgte. »Mir ist's, als wärst du kräftiger worden«, sagte er hinter ihr her, »du trittst ja auf wie eine Burgemeisterin, auch kommst du mir viel runder vor wie ehedem.«
»Ich hab auch ein besseres Leben gehabt in der letzten Zeit«, antwortete sie, immer vorwärts eilend, »kann sein, daß ich mich wieder ein wenig rausgemacht hab. Aber wenn du mich morgen bei Tag siehst, da wirst finden, daß ich nicht mehr das glatt Gesicht von ehedessen hab. Ach Frieder, Sorgen und Not machen den Menschen alt vor der Zeit. Ich fürcht, ich werd dir nicht mehr so gut gefallen.«
»Schwätz mir nicht so verkehrt raus!« erwiderte er. »Daß du nicht siebzehn Jahr
alt bleiben kannst, das hab ich gewußt, wie ich dich liebgewonnen hab, und hab
mir's auch sagen können, wie ich, gleichfalls aus dem besten Leben raus, fort bin,
um dir das Wort zu halten, das ich dir zugeschworen hab.
Sie hatten unter diesen Gesprächen ein Gewirr sich kreuzender Feldwege, welchen sie oft eine Strecke folgen mußten, längs des Dorfes hin durchschritten. Hie und da bellte ein Hund, aber sie verfolgten unangefochten ihren Weg. Von einem Rain, an welchem der Fußsteig steil emporkletterte, flog sie mit einem leichten Sprung auf die Straße hinab und er ihr nach. Er faßte sie eng um den Leib, sie ihn desgleichen, und so wanderten sie in der Nacht zusammen hin. Sie drückte ihn noch einmal fester an sich: »so, jetzt erzähl!« sagte sie.
»Also!« begann er. »Wie ich vor drei Jahren nach Hohentwiel kommen bin, das weißt du. Ich wär aber doch begierig, ob du auch weißt, was dein Hannes, mein hochachtbarer Herr Schwager, dazu beitragen hat. Gelt, das wird er dir nicht gesagt haben?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte sie, »als daß du den Tag, nachdem wir uns das
letztmal gesehen haben, in der ›Sonne‹ bist gefangen genommen worden und daß es da
wieder einen Kampf und ein Getümmel geben hab, wie vor sechs Jahr, wo du vom Dach
ins Zuchthaus geflogen bist, und daß man dich dann weit fortgebracht hat, nach
Hohentwiel. Kannst dir selber sagen, was mir das gewesen ist, daß ich dich
zeitlebens nicht mehr sehen soll, und dazu zwei unversorgte Kinder, von denen eins
noch nicht einmal
»Der hat eine Pique auf mich gehabt, von damals her, wo er mit mir ins Zuchthaus kommen ist, und du weißt doch selber am besten, wie unschuldig ich daran gewesen bin. Wie's nun Lärm geben hat wegen der Dummheit im Pfarrhaus –«
»Du sagst recht«, unterbrach sie ihn: »freilich ist's eine Dummheit gewesen. Weißt noch, was ich zu dir gesagt hab, wie du mir nachts mit den Sachen übers Bett kommen bist? ›Bist denn immer noch ein Bub? willst denn gar nie kein Mann werden?‹ hab ich gesagt. Und warum hast denn nicht, wie du mir doch versprochen hast, den Kelch gleich wieder ins Pfarrers Garten geworfen? Ich hab dir doch gesagt, das sei ja der Krankenkelch, werd wohl hundert Gulden wert sein, und wenn's auf dich bekannt werd, so kommest an Galgen.«
»Sei doch vernünftig!« sagte er. »Ich hab ja nicht können. Wie ich mich wieder gegen das Pfarrhaus hingeschlichen hab, hat mich der Nachtwächter gesehen, und da hab ich nimmer trauen dürfen. Ich hab dann eben die Sachen zu Haus im Stroh versteckt, und da hat's am Morgen der Knecht gefunden und meinem Vater bracht, und der hat in der Todesangst alles dem Pfarrer geschickt. Er hat gemeint, man könnt ihn selber als Hehler beim Kopf nehmen, und die Frau Stiefmutter hat ihm natürlich die Höll noch heißer gemacht.«
»Hättst aber auch den Spaß können bleiben lassen!« eiferte sie. »Wenn du nur ein
klein bißle Grütz im
»Das ist wahr«, versetzte er, »außer der silbernen Sackuhr, dem goldenen Ring und den paar Batzen Geld ist an der ganzen Lumperei nichts echt gewesen. Das andere Ührle war von Messing und zerbrochen, und dein kostbarer Nachtmahlskelch, den du hast auf hundert Gulden taxieren wollen, was ist er gewesen? von Kupfer und ein wenig verguld't.«
»Drum eben!« sagte sie noch eifriger. »Und doch hast bei der Lumperei nicht bedacht, daß es um den Hals gehen oder, wie sich's nachher auch zeigt hat, eine Lebenslänglichkeit dabei rausspringen kann.«
»Du hast gut reden«, entgegnete er verdrießlich. »Bin ich darum aus meiner sichern Freistatt zu dir kommen, um mir gleich von dir vorpredigen zu lassen? Du hast, scheint's, ganz vergessen, wie man's uns gemacht hat –«
»Das hätt freilich den besten Mann verzürnen können«, unterbrach sie ihn begütigend.
»Zuerst«, fuhr er heftig fort, »stecken sie mich um nichts und wieder nichts auf
anderthalb Jahr ins Zuchthaus. Wie ich das überstanden hab und ins bürgerliche
Leben zurückkehren will, so nimmt kein Hund mehr ein Stück Brot aus meiner Hand.
Da hab ich erst gesehen, daß meine beide frühere
»Ach freilich hab ich's gesagt«, seufzte sie, »aber ich bin eben auch ganz außer mir gewesen vor Jammer und Verzweiflung und vor Zorn über so ein un geistlich's Betragen gegen die Armen. Aber mein Herz hat nicht dran denkt, daß du das tun würdest, was ich im Zorn rausgeschwätzt hab. Vom Gedanken bis zur Tat ist doch noch ein weiter Weg, und besser hätt'st doch getan, wie du jetzt selber einsiehst, wenn du noch einmal ans Oberamt gangen wär'st.«
»Geh mir weg mit dem Oberamt!« murrte er. »Das eine Mal hören sie einen an, und
das andre Mal jagen sie einen fort, sonderlich wenn man oft kommt. Was du gedacht
und gesagt hast, das hab ich getan; 's ist just so weit, wie der Weg vom Weib zum
Mann. Um Geld und Geldswert ist mir's weniger zu tun gewesen, als um dem
hartherzigen Pfaffen zu zeigen, daß ich mehr kann als er und daß er keine Stunde
in seinem eigenen Hause sicher ist, wenn ich's nicht haben will. Er mag seine
Türen
»Ich weiß ja wohl«, sagte sie, immer ihn zu besänftigen bemüht, »daß das alles ist, was man dir aus der ganzen traurigen Zeit vorwerfen kann. Du hast leben müssen wie der Vogel aufm Zweig, nur mit dem Unterschied, daß der Vogel leicht sein Futter findet, und ich möcht wohl auch sehen, wie viel sich in so einer Lag ehrlich durchschlügen, ohne sich am Eigentum des Nächsten zu vergreifen. Denn das bißle Gewildschießen mit dem Krämerchristle kann dir kein Mensch als ein Verbrechen andichten, und 's ist ja auch nicht rauskommen. Der einzig Streich mit dem Pfarrer hat dir den Hals brochen. Aber daß mein Bruder dabei gegen dich mitgeholfen haben soll, das will mir nicht ein. So viel denkt mir allerdings noch, daß er dazumal just in Ebersbach gewesen ist. Weißt, er hat sich ja gleich vom Zuchthaus aus unters Militär anwerben lassen und ist nicht mehr heimkommen, bis unser Vater gestorben ist – ach Gott, wenn ich an den Tag denk! – und vor drei Jahr, um die Zeit, wo man dich gesetzt hat, ist er wieder im Urlaub dagewesen.«
»Komm«, sagte er, »du wirst doch nicht im Freien über Nacht bleiben wollen. Ich
weiß auf unserem Weg einen kleinen Weiler, wo wir sicher sein werden.
Sie verließen die harte, unebene Straße und schlugen einen gemächlichen Waldpfad
ein, auf welchem sie in der bisherigen Weise sich umschlingend nebeneinander gehen
konnten. »Wie mein Vater am anderen Morgen dem Pfarrer seine Sachen wieder
geschickt hat«, fuhr er fort, »da hab ich gleich gemerkt, daß Mohren ist – ja so,
das lautet böhmisch für dich – ich will eben sagen, ich hab gemerkt, daß Feuer im
Dach ist, daß das Ding Lärm macht, hab mir also den Kopf nicht lang zerbrochen,
sondern hab ihn zwischen die Füß genommen und mich in der ›Sonne‹ verborgen, bis
ich etwas Luft hätt, um durchzukommen. Das war ein Rennen und Laufen den ganzen
Tag, ich hab alles von meinem Versteck aus angehört und mich nicht gerührt.
Möglich ist's, daß die Frau Sonnenwirtin in ihrem witzigen Hirn draufkommen ist,
hinter den alten Fässern und dem Rumpelzeug im hundertjährigen Staub könnt was
Lebendiges stecken, aber gradaus ist sie mir nicht zu Leib gegangen, das ist
überhaupt ihr Genie nicht. Gegen die Nacht, während ich eben denk, jetzt könnt ich
bald entschlüpfen, hör ich an meinem Versteck herumtappen, klopfen und Frieder!
rufen. An der Stimm erkenn ich deinen Hannes, geb aber nicht gleich Antwort. Drauf
fährt er fort, ich solle mich doch nicht so verstellen, er sei mit etlichen
Kameraden im Urlaub da, sie haben
»Großer Gott!« rief sie jammervoll: »also mein eigener leiblicher Bruder hat dich ans Messer geliefert, und ich hab kein Wort davon gewußt! Es ist mir nur lieb, daß er jetzt weit weg in Garnison liegt. Und an mir willst du's nicht auslassen, daß mein Bruder so eine Schlechtigkeit an dir begangen hat?«
»Wär ich sonst so weit her zu dir kommen?« antwortete er.
Sie gab ihm ihre Dankbarkeit durch warme Liebkosungen zu erkennen. »Aber gelt«,
sagte sie, »ich hab auch nicht lang gefragt, wie ich dich gesehen
»So ist's recht«, versetzte er. »Wir sind ja Mann und Weib. An Gottes Segen ist alles, an der Pfaffen Segen gar nichts gelegen.«
»Jetzt erzähl weiter«, drängte sie.
»Auf Hohentwiel«, fuhr er fort, »hab ich keine gute Zeit gehabt. Harte, schwere
Arbeit und liederliche Kost tagaus tagein, immer das nämliche Leben zwei Jahre
lang, und dazu die Aussicht, daß es in alle Ewigkeit so bleiben soll. Da kann
einem der Spaß vergehen. Ich hab aber den Mut nicht sinken lassen, und gleich ein
paar Wochen nach meinem Eintritt hab ich mich zu salvieren versucht. Das ist aber
nicht so leicht wie im Zuchthaus, von wo mir's ein Kinderspiel war, dich ein
paarmal zu besuchen. Sie haben mich zum Festungsbau gebraucht, denn an ihrer
unüberwindlichen und unübersteiglichen Festung, wie sie's heißen, bauen sie
beständig fort, wie am Turm zu Babel, um sie immer noch unüberwindlicher und
unübersteiglicher zu machen. Wenn ich eine Armee gegen sie zu führen hätte, ich
wollt ihnen ventre à terre im Nest sitzen, eh sie's merkten, denn ich weiß, wo ihr
berühmtes Kleinod schadhaft ist. Das erstemal ist mirs aber schlecht geraten, da
hab ich noch im Bubenunverstand und im Desperationsfieber gehandelt, bin nur grad
mitten in die Freiheit hineingesprungen, wo sie am breitsten und aber auch am
tiefsten war, von einer großen Höhe herunter, aber dann auch keinen Schritt weiter
mehr. Die Wachen haben gleich nach mir
»Jenisch?« unterbrach sie ihn. »Was ist denn das?«
»Pass auf!« sagte er. »Die Kochern scheften grandig in Käfer Märtine, schaberen bei der Ratte in Kitteren, fegen Schrenden, Klaminen und Hansel, holchen auf Gschock, tschoren Sore, zopfen Kies aus Rande, kasperen Gasche, achlen und schwächen toff mit nickligen Schicksen, josten im Flach um Jack, schmusen und schmollen, aber kistig holchen Niescher, zopfen sie krank, kistig schupfen sie Schiebes, wenn sie aber in der Leke scheften und ihre Massematte maker werden, bestieben sie Makes Makoles, holchen kistig kapore, werden talcht, an die Nelle geschniert, gekibeset oder getelleret.«
»Wie kannst du denn sagen, es sei rotwelsch, wenn du's nicht verstehst?«
»Grad deswegen! Was man nicht versteht, das heißt man so.«
»Du weißt nicht, daß du ein wahres Wort gesprochen hast, denn rotwelsch und jenisch, das ist die nämliche Zunge.«
»Du mein Heiland!« sagte sie betreten, »das sprechen ja aber nur die –«
»Kochem!« ergänzte er, da sie stockte. »Wenn du willst, kannst du sie auch Jauner, Diebe, Spitzbuben und dergleichen heißen, denn das sind ihre Namen bei den andern Leuten; sie selbst aber nennen sich Kochem. Dies ist die Gesellschaft, in die man mich zu Ludwigsburg und auf Hohentwiel getan hat.«
»Ach Gott, ach Gott!« seufzte sie. »Ich bin doch auch im Zuchthaus gewesen, aber ich hab gottlob keine Gelegenheit gehabt, das Jenische zu erlernen. Ich hab meistens bei einer Aufseherin arbeiten müssen, die mich zu sich genommen hat, und da hab ich, ich kann nicht anders sagen, manches Nützliche gelernt, was ich vorher nicht gewußt hab.«
»Das ist Glückssache«, sagte er. »Früher hat man mich in Ludwigsburg auch etwas
apart gehalten, der selige Waisenpfarrer hat's damals nicht anders gelitten; das
drittemal aber bin ich unter den großen Troß gestoßen worden. Wiewohl, es war mein
Glück,
»Was heißt denn das, was du da hergesagt hast?« fragte sie.
»Es ist nur eine Probe«, sagte er, »und bedeutet so viel als: ›die Kochem sind groß an Mannschaft im Schwabenland, brechen bei Nacht in die Häuser, leeren Stuben, Kammern und Kästen, gehen auf Märkte, rapsen Ware, ziehen Geld aus Taschen, schnellen die Leute, essen und trinken gut mit ihren hübschen, tanzlustigen Weibsbildern (denn daran rühmen sie sich reich zu sein), liegen auf dem Feld ums Feuer, schwatzen und lachen, aber oft kommen Streifer, nehmen sie gefangen, oft machen sie sich davon, wenn sie aber ins Gefängnis geraten und ihre Sachen an Tag kommen, kriegen sie Schläge und Prügel, müssen auch oft sterben, werden gemalefitzt, an den Galgen gehenkt, geköpft oder gerädert‹.«
»B'hüt uns Gott!« rief sie, »und solche Reden gehen aus ihrem eigenen Mund?«
»Das sind Dinge, von denen sie täglich reden, um sich recht an den Gedanken zu gewöhnen, gleichwie der Amalekiter König Agag zu Samuel sprach: Also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben.«
»Für 'n Amalekiter mag das schon recht sein, aber es sind doch schreckliche, greuliche Ding, und man kann's nicht verantworten, daß man dich so jung mit so Leut zusammengepfercht hat. Ach, Frieder, ich bitt dich, laß du sie links ziehen und halt dich nicht zu ihnen.«
»Bei der Flucht von Hohentwiel also sind sie deine Kameraden gewesen? Ich kann mir's jetzt schon denken.«
»Mit Hilfe des Jenischen«, fuhr er in seiner Erzählung fort, »brachte ich bald
heraus, welche von den Gefangenen die tauglichsten waren und meinem Gefängnis am
nächsten lagen. Zum größten Glücke hatte ich zwei Nachbarn, ganze Kerls, mit denen
ich den Teufel aus der Hölle schlagen wollte. Uns zu verständigen, das war uns
eine Kleinigkeit. Im Vorbeigehen etwas hingemurmelt, oder im Sprechen mit der
Schildwacht oder dem Aufseher ein paar jenische Brocken eingestreut und dabei dem
eigentlichen Adressaten den Rücken zugekehrt – das ist für einen Kochem soviel wie
ein ganzes Buch; aus zwei, drei Worten, die von einem andern fast ohne
Mundbewegung an ihn hergesäuselt kommen, studiert er sich alles raus, was er nötig
hat. Freilich braucht's auch manchmal längere Verständigungen. Da kommt man dann
am besten mit Singen fort. Ein Gesetzlein aus einem Gassenhauer, wenn die
Schildwacht gutmütig und selber lustig ist, oder wenn man nicht trauen darf oder
gar einander ein langes und breites zu sagen hat, ein Kirchenlied, das hilft einem
weit. Wie hab ich's nicht meinem alten Schulmeister gedankt, daß er mir die
Choräle so ferm eingetrichtert hat! Die Soldaten haben oft
»Was bist du für ein Mensch!« rief sie. »Man sollt oft meinen, du seiest mehr als ein Mensch.«
»Du kannst dir denken, wie oft mir da die Finger geblutet haben, und dann hab
ich's sehr gefühlt, daß ich ein Mensch bin, und wenn ich ans Freiwerden und an
dich und unsre Kinder gedacht hab, da hab ich auch wieder gewußt, daß ich einer
bin. Um es kurz zu machen, nach einer vierteljährigen
»Oh, du kannst alles, was du willst«, sagte sie mit
»Natürlich!« lachte er, »drum bin ich in der Welt drein gewest, und das doppelt.
Einmal am Main und Rhein drunten lernt man einen ganz andern Schick, und bei
meinem Vatersbruder, obgleich in seinem Haus nichts Neumodisches zu finden ist,
kehren gar stattliche Kunden ein, weil er den Wein noch nach der alten Mode
schenkt, ungestritzt und wohlbehandelt und dabei billig, so daß Wirt und Gäste
bestehen können. Da kommen dir Leute von Welt hin, feine Köpfe, und wenn man auf
ihre Reden aufpaßt, so bleibt was an einem hängen. Sie haben mich freilich auch
manchmal ein wenig ins Gebet genommen und mir zu verstehen gegeben, man merke mir
den Schwaben an, eh ich nur den Mund auftue; aber aus welchem Käfig der Vogel
ausgeflogen war, das haben sie mit all ihrem Witz doch nicht ergründet. Dann aber
ist auch das Zuchthaus und die Festung eine Welt, die ihre Leute bildet, nicht
bloß, wie du meinst, zum Stehlen und Rauben – ei nein, jedes Handwerk, ob es gut
oder schlecht sei, erfordert Fertigkeiten und Kenntnisse, die dem Menschen Ehre
machen. So ein Stromer oder Jauner, der in den Landen umherzieht, Fuchs und Has
zugleich ist, der weiß und kann dir Dinge, die einem gewöhnlichen Ofenhocker nicht
im Traum
»Wenn aber so Leut so geschickt sind«, wendete sie ein, »dann sollt's ihnen ein Leicht's sein, sich ehrlich und redlich zu nähren.«
»Ist bald gesagt«, erwiderte er. »Diese Leute sind meistenteils von Kindesbeinen
auf heimatlos, gehören zu einem verachteten, verworfenen Menschenschlag und würden
zu ehrlichen Hantierungen im bürgerlichen Leben gar nicht angenommen, sind auch,
was ich zugeben will, teils schon durch ihre Eltern dazu verdorben oder sie sind
mit und ohne ihre Schuld aus dem bürgerlichen Leben hinausgestoßen worden – denk
nur dran, wie's uns gangen
»Das ist freilich schrecklich«, seufzte sie. »Es ist eben eine arge Welt und eine böse Zeit. Aber so froh ich bin, daß du mit ihnen von der Festung entkommen bist, so ist mir's doch noch viel lieber, daß du dich wieder von ihnen losgeschält hast. Ist's auch gewiß wahr?«
»Freilich ist's wahr, so gewiß, als es von Hohentwiel einen Weg nach Sachsenhausen gibt. Ich hab freilich nicht immer den gradsten genommen; 's ist mir gangen wie bei der Erzählung da, wo du mich fort und fort auf Um- und Nebenwege drängst.«
»Wie wir mit unseren Vorbereitungen endlich fertig gewesen sind, haben wir uns an
den steilen roten Felsen hinabgelassen. War aber wenig davon zu sehen, denn wie du
dir denken kannst, haben wir eine stürmische Regennacht gewählt. Einer voran, ich
in der Mitte und einer zuletzt, wie wir eben drangekommen sind, so sind wir an
unserem armseligen Seil hinuntergerutscht. Wir zwei vorderen haben uns nicht lang
besonnen, haben's auch nicht geachtet, daß unsere Hände halb durchgeschnitten
wurden, sondern sind hinabgesaust wie der Teufel, wenn er mit einer armen Seel zur
Hölle fährt. Dem letzten aber ging's nicht so gut. Hat er sich zu schwer gemacht,
die Hände zu sehr geschont, oder ist das Seil durch uns schon abgenutzt gewesen,
ich weiß es nicht: auf einmal kracht's, bricht, und neben uns geschieht ein
mächtiger Fall. Es war ein Glück, daß er uns nicht auf die Köpfe fiel. Ob er sich
den Hals abgestürzt hat, weiß ich heut noch nicht. Gott tröst ihn! aber für uns
war keine Zeit zu verlieren. Der Fall hatte die Wachen oben rebellisch gemacht,
man hört zusammen schreien, und kaum sind wir einen halben Büchsenschuß seitwärts,
so brummt schon die Lärmkanone durch die finstere Nacht. Die stand uns aber
treulich bei, und wir sagten lachend: ›Kanoniert und trommelt ihr, soviel ihr da
droben wollt, Gott befohlen, Hohentwiel!‹ Die Aussicht ist übrigens schön für den
Liebhaber, besonders wenn er sich nur ein paar Tage zu
»Ja«, sagte sie, »du hast ihn bei deinem Vater als Knecht anbringen wollen, und der hat dir dafür eine Ohrfeig hingeschlagen.«
»Richtig, und der war mein Kamerad beim Ausfliegen. Ich hab ihn auf der Festung
wiedergefunden. Der ist aber unter der Zeit flügg worden; das ist ein ganz
Ausgelernter. Wiewohl, er war schon damals viel schlimmer, als ich ihn dafür
angesehen hab. Was meinst, daß er zu mir gesagt hat? Es hab
»Das ist aber ein schlechter Kerl!« rief sie zornig. »Dem hast mit deiner Bärenfaust eins gesteckt, gelt?«
»Lieb's Weib«, sagte er bedächtig, »wenn man miteinander aus Numero Sieben
fortwill, so nimmt man's nicht so streng mit dem Glauben; da denkt man: du hilfst
mir, und ich helf dir. Ich hab gerlacht und hab ihm gesagt, den Gedanken mit der
›Sonne‹ soll er sich vergehen lassen, da seien viel Leute drin und viel Leute in
der Nachbarschaft, und an großen, starken Hunden sei auch kein Mangel – ich hab
noch ein paar dazugemacht. Der scheele Christianus, so heißt man ihn, hat's in
seiner Art gut mit mir gemeint und hat mich mit Gewalt mitnehmen wollen, hat mir
auch das beste Leben versprochen und hat's nicht begreifen können, daß ich nach
Ebersbach wolle, wo ich ja vogelfrei sei; aber ich bin fest dabei blieben, und so
hat er mich zuletzt, ich muß sagen, recht ungern ziehen lassen, hat mir auch guten
Rat und Anleitung geben zum Fortkommen, was ohne einen Zehrpfennig keine
Kleinigkeit ist, und endlich hat er mir noch seinen Zinken, das heißt, sein Wappen
oder Wahrzeichen, dergleichen jeder von ihnen sein eigenes führt, anvertraut. Es
könnte ja doch sein, daß wir einmal einander brauchten, hat er gemeint, hat mir
auch
»Das ist sinnreich«, sagte sie, »aber lieber ist mir's doch, du guckst nicht nach den Wahrzeichen.«
»Sei ruhig«, erwiderte er, »er wird nicht so leicht wieder ins Land kommen, der
Geschmack an Ludwigsburg und Hohentwiel ist ihm vergangen. Nachdem wir auseinander
waren, hab ich mich nach und nach Ebersbach zu geschlagen, um zu hören, wie es um
dich steht. Vom scheelen Christianus hatte ich Unterweisung, daß ich, soviel
möglich, bloß in einsamen Höfen und Häusern einkehren solle, denn dort seien sie
gutwillig gegen fahrende Leute, fürchten den roten Hahn von ihnen aufs Dach
gepflanzt. Ich hab aber nicht nötig gehabt, ihnen sonderlich zuzusetzen, denn sie
haben mir überall gern gegeben, und nur mit dem Nachtlager haben sie sich
»Weiß nicht«, sagte sie.
»Hab nur noch ein wenig Geduld«, versetzte er, »wir sind bald am Ziel. Daß ich auf Lebenszeit verurteilt und von der Festung entsprungen sei, hab ich den Leuten natürlich nicht sagen können, hab auch gedacht, sie werden's nicht grad wissen wollen. Ich hab ihnen gesagt, ich sei am See in Arbeit gestanden, hab wieder heim gewollt, sei von Spitzbuben ausgeraubt worden und müsse jetzt eben sehen, wie ich nach Weilerstadt zurückkomme, wo ich bürgerlich sei; dort sind sie nämlich auch katholisch. Das hat gezogen, und bis ich ins Ländle kommen bin – das Hohentwiel liegt nämlich in fremdem Gebiet, was auch sehr bequem zum Entkommen ist – da hab ich so viel Geld und Lebensmittel im Tuch gehabt, daß es gereicht hat bis Ebersbach. Dort bin ich vierzehn Tag in der ›Sonne‹ gelegen und hab leider gehört, jetzt seiest du in Numero Sieben.«
»Was?« rief sie. »In der ›Sonne‹? Hat man dir denn dort Unterschlupf geben?«
»Ich hab mit dem Herrn Sonnenwirt Deutsch gesprochen und Fraktur mit der Frau
Sonnenwirtin; denn solches ist nötig bei einem Weib, das kein Kind hat und nicht
weiß, wie man sich gegen seine Kinder verhalten soll. Mitten in der Nacht bin ich
ihnen vorm Bett gestanden, daß sie vor Schrecken schier gestorben sind, und hab
ihnen gesagt, wo sie ein Geräusch machen oder mich verraten würden,
In der ersten Frühe weckte Friedrich Christinen und las ihr das Heu aus den
Kleidern und aus den Haaren, wohin es da und dort unter dem Kopftuche eingedrungen
war. Nachdem er mit ihrer Hilfe sein Äußeres gleichfalls etwas in Ordnung gebracht
hatte, ermunterte er sie zum Fortgehen, ehe die Hausbewohner erwachten; denn,
sagte er, wenn man den Leuten nachts in die Scheuer einbricht, und wär's auch nur,
um ein wenig Nachtruh zu erbeuten, so hat man gleich den Kredit bei ihnen
eingebüßt. Sie verließen den kleinen Weiler, der aus einigen ärmlichen Häuschen
bestand, und schlugen einen schmalen Waldsteig ein. Der taufeuchte, frische
Herbstmorgen machte Christinen vor Kälte zittern. Friedrich suchte einen freien
Platz im Walde und hatte bald aus Reisern und dürrem Holze, das er hin und wieder
abbrach, ein behagliches Feuer angemacht, neben welchem er das Weib seines Herzens
auf seine Knie zog und so ihr ein hequemes Lager bereitete. »Das Frühstück«, sagte
»Laß dich einmal besehen«, sagte sie, aufschauend und munter werdend. »Siehst ja ganz proper aus, man sollt dich für 'n zünftigen Meister in irgendeinem Handwerk halten, das sein' goldenen Boden hat. Mußt die schönen Kleider schonen und nicht in Scheuern übernachten.«
»Das kommt anders«, versetzte er, »wenn wir einmal zum Land draußen sind.«
»Und recht mannhaft bist worden«, fuhr sie fort. »Hast ein gut's Gestell, so postiert und voll und dabei doch nicht zu breit. Dem Gesicht freilich sieht man an, daß manches drüberhin gangen ist wie ein schwerer Pflug. Man sollt dich für viel älter halten, als du bist. Wenn ich nicht wüßt, daß du kaum über siebenundzwanzig sein kannst, ich tät dich mindestens auf sechsunddreißig schätzen. Schad ist's, daß du oft auf einmal ein bißle wild und bös aussehen kannst, so daß man sich schier fürchten könnt. Aber ich darf freilich gar nichts sagen. Sieh mich an, was ich alt worden bin. Ach, ich muß oft denken, du könnest an meinen Runzeln keinen großen Gefallen mehr haben.«
Er hatte sie bereits betrachtet und in der Stille die Veränderungen wahrgenommen,
die Zeit und Schicksal an ihr hervorgebracht hatten. Nicht eben Runzeln,
»Du bist die Mutter meiner Kinder«, sagte er, »kannst nicht ewig jung bleiben. Diese Furchen sind mein Werk, denn du hast viel um mich leiden müssen; aber du siehst nicht so alt aus, wie du meinst, und wenn du einmal eine glückliche Hausmutter bist, so wirst du wieder jünger werden.«
»Gott geb's«, erwiderte sie, »denn so wie ich jetzt bin, bin ich doch zu alt für
dich. – Ach, wenn ich dran denk, wie der Friederle auf die Welt kommen ist, 's
sind jetzt bald sechs Jahr, wie bin ich damals in einem Umsehen so elend und
wieder so reich gewesen! Wie ich gemerkt hab, daß mein Stündle kommen will, hab
ich meinem Jammer kein End gewußt, bin allein auf der Bühne gelegen, mein
»Ja«, sagte er, »darum hab ich auch ruhig wieder in mein Ludwigsburger Heimwesen
zurückkehren können. Aber heut noch reut's mich, daß ich mich in Göppingen
gestellt hab! Berichtet der Vogt nach Ludwigsburg, er habe den mittels Ausbruchs
echappierten Gefangenen wiederum gefänglich zur Hand gebracht und schicke ihn hier
wieder ein. Ausgebrochen war ich allerdings, das ist wahr, denn man hat mir keine
Brücke gebaut; aber daß ich mich
»Dein zweiter Besuch«, versetzte sie, »ach, der ist traurig gewesen.«
»Ja«, sagte er, »schon wie ich das Tal heraufkommen bin, bei Reichenbach, ich weiß nicht, ob du's einmal bemerkt hast, da ist in den Anhöhen eine Lücke, durch die der Staufen hereinschaut, und der hat damals so grau und trüb ausgesehen, daß ich gedenkt hab: ›Alter, bist auch traurig und hast mir eine Trauermär zu verkünden?‹ Wie ich aber nach Ebersbach kommen bin, hab ich deinen Vater wenigstens noch am Leben gefunden, und das wird mir wohltun, so lang ich leb. Christine! Respekt vor dem Mann! Der ist gestorben wie ein Patriarch! Er ist sein Leben lang in Armut und Demut und im Staub dahergegangen und hat selber nicht gewußt, was in ihm steckt, aber in der Todesstunde ist ihm der Geist mächtig auf die Zunge getreten.«
»Weißt noch, wie er uns gesegnet hat«, rief sie,
»Und dann seine letzten Worte!« rief er. »Wo hat man vom alten Pfarrer, der zu gleicher Zeit mit ihm gestorben ist, je etwas Ähnliches gehört! Und vollends vom jetzigen? Ja, wenn er nur ein einzigmal aus seinem Mund einen Hauch hätte gehen lassen von jenem Geist, ich hätte ihn und seinen Kelch und seine Hostien ungekränkt gelassen!«
»›Nicht bloß im Sonnenwirtshaus‹« – so versuchte Christine aus der Erinnerung nachzusprechen – »›auch unter der großen Weltsonn ist nicht alles, wie es sein sollt, und Gottes unerforschlicher Ratschluß läßt es zu, daß sein Will auf Erden nicht geschieht. Neid und Stolz regiert die Welt, und das Gericht wird hereinbrechen –‹«
»›Sie nennen sich seine Kinder‹« – unterbrach er sie, um die Erinnerung voller wiederzugeben – »›und sind doch nicht Brüder und Schwestern untereinander. Neid und Gewalt, Stolz und Habsucht regiert die Welt, und Gottes Ebenbild wird in der Armut unterdrückt. Die Welt liegt im argen, und ihr Maß steigt auf bis zum Rand, und unversehens wird ein Gericht hereinbrechen, das den Unschuldigen samt dem Schuldigen trifft, wie zur Zeit der großen Flut, wo der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar‹.«
»›Ich aber‹« – fiel Christine mit den Schlußworten
Eine übermächtige Rührung überkam das so vieler Verwilderung preisgegebene Gemüt des Mannes, der sich nicht gescheut hatte, heilig gehaltene Geräte des Gottes, zu dem er betete, anzutasten. Er ließ sein Weib zur Erde gleiten, erhob sich in die Knie und rief, die Arme gegen den blauer werdenden Morgenhimmel ausgebreitet, unter strömenden Tränen: »Himmlischer Vater, gib uns deinen Segen um jenes Gerechten willen! Du bist ja mit den unvernünftigen Geschöpfen, die unter deiner Sonne wimmeln, und gibst ihnen Nahrung und Kleidung auf ihre Zeit. Trag und erhalt auch uns, die wir deine Kinder sind, und gib uns unser Brot, uns und unsern armen Kleinen. Führ uns aus diesem Land, wo Vater und Mutter hart sind, in ein milderes, das du uns verheißen mögest, laß uns vor dir wandeln und behüte uns, daß wir nicht mehr in Anfechtung fallen.«
Christine kniete neben ihm und schluchzte laut. Nachdem er geendet hatte, blieben
beide noch lange auf den Knien liegen. Das Feuer sank allmählich in
»Jetzt komm, Christine, wollen aufbrechen, die Sonne ist herauf, und die Kälte läßt nach«, sagte Friedrich, ihr Bündel ergreifend. Sie zogen schweigend und voll Gedanken durch die Wälder hin, die vom Fuße der Alb zwischen dem Neckar- und Filstal in das Land hineinlaufen. Hie und da führte der Pfad an einem einsamen Hofe vorüber, schlängelte sich aber gleich wieder dem Walde zu. In einem dieser abgelegenen Gehöfte wagten sie sich mit gestandener (saurer) Milch und etwas Schwarzbrot zu erquicken, hielten sich aber, da sie von den Leuten mißtrauisch angesehen wurden, nicht lange auf. Als sie wieder auf der Wanderschaft waren, sagte er endlich: »Jetzt ist das Erzählen an dir, Christine.«
»Das ist kurz beieinander«, versetzte sie, »mir ist nicht so viel vorkommen wie dir. Nach deiner Gefangennehmung, wo du nach Hohentwiel kommen bist, hat man mich auch ein wenig eintürmt.«
»Aber nichts auf dich bringen können, das weiß ich schon von deiner Mutter.«
»Nachher ist's eben wieder das alt Lied gewesen. Sie haben mich vor Kirchenkonvent zitiert und haben mich gefragt, wer der Vater zu dem Kind sei, mit dem ich geh.«
»Dann hast du gesagt, dein Mann?«
»Durch solche Reden hätt ich sie nur noch mehr
»Er ist ein versoffener Lump«, sagte Friedrich, »aber er ist doch besser als mancher, der in der Tugend und in der Wolle sitzt. Wie's dem Armen zumut ist, das begreift doch nur wieder der Arme, aber eben darum können sie einander nicht viel helfen. Ich glaub, der Schlucker hat ein paar unerzogene Kinder.«
»Viere!« sagte Christine. »Er hat aber gesagt, du habest ihm hie und da einen
Schoppen eingeschenkt, und das werd er dir gedenken. Die Herren haben mir nichts
geben als böse Wort. Sie haben mir bedeutet, ich dürf mich nicht aus dem Flecken
entfernen, weil die Sach ans löbliche Oberamt berichtet werden müss', von wegen
deines bösen Lebens. Dort sind sie auch bald mit mir fertig gewesen. Ich hab mein
Kind vor dürfen zur Welt bringen und ein
»Auf zwei Jahr!«
»Nein, denk nur, auf unbestimmte Zeit, bis die Aufseherin mir das Zeugnis geben hat, ich sei jetzt so, daß man mich entlassen könn, und das ist bloß daher kommen, daß ich gehört hab, du seiest von Hohentwiel ausgeflogen, denn unartig bin ich zwar nie gegen sie gewesen, aber immer still, bis die Freud über mich reinbrochen ist, und dann hab ich ihr alles getan, was ich ihr an den Augen abgesehen hab, und zuletzt ist sie für mich gut gestanden, daß man mich hat springen lassen, weil ich jetzt ganz bessert sei.«
»Die Art gefällt mir erst noch«, bemerkte er. »Würd im Zuchthaus immer väterlich
und mütterlich regiert, so daß das Haus seinen Namen verdiente und die Leute darin
zur Zucht gebracht würden, so wär's das beste, sie auf unbestimmte Zeit
hineinzutun, bis der Zuchtvater oder die Zuchtmutter sie wieder freisprechen
würden, und bekäm das vielleicht manchem gut, der jetzt andere zum Zuchthaus
verdammt. Und dann möcht man einen, der nicht gut tut, meinetwegen auf
lebenslänglich drin lassen; nur weiß ich keinen Menschen, dem ich ein solches
Urteil anvertrauen möchte, als höchstens meinem seligen Waisenpfarrer. Aber die
gewöhnliche Art von Zuchthausstrafen – für das und das Vergehen soundsoviel Wochen
oder Monate oder Jahre – das kommt mir immer vor wie ein Schneider, der einem
soundsoviel Ellen zu seiner leiblichen
»Wie ich wieder aus'm Zuchthaus kommen bin«, fuhr Christine fort, »hab ich gehört, du seiest dagewesen, aber seiest wieder fort in die weit Welt. In der ›Sonn‹ hat man nicht davon geschnauft, wo du bist Ich hab selber einmal angefragt, da hat mir die Sonnenwirtin ein Stückle Brot hingelegt und hat gesagt, du seiest ganz verschollen, und 's tät für mich und alle das best sein, du bliebest's auch. Ich hab das Brot liegen lassen und bin fort. Mein Jerg ist grad dazumal nicht zu Haus gewesen, und mein Mutter hat mich nicht behalten wollen, weil ich ihr eine unnütze Brotesserin sei, wiewohl sie eigentlich uns ihr Brot verdankt, denn sie ißt's eben mit unseren Kindern, die man ihr in Verpflegung geben hat.«
»Nein, so spendabel ist der Heilig nicht. Da hat's geheißen: ›Herr Sonnenwirt, Er ist ein reicher Mann, und die Kommun kann da nicht eintreten, also zahlt Er das Kostgeld für Seine Enkel‹.«
»Ist wahr, er hat mir einmal geklagt, die Kinder kosten ihn so viel Geld, und deswegen könne er das Geld zur Auswanderung nicht so geschwind aufbringen.«
»Solang mein Jerg dagewesen ist, hat's den Kindern an nichts gefehlt, seit der
aber mehr und mehr fort ist, hat man anders für sie sorgen müssen. Wie nun mein
Mutter mir hat zu verstehen geben, daß ich ihr überlästig sei, hab ich meine
Kinder mit tausend Schmerzen küßt und hab das Herz in beide Händ genommen und bin
nach Denzlingen gangen zur Schulmeisterin. Die ist zum Glück grad in der größten
Verlegenheit gewesen und hat gesagt, ich hätt ihr nicht geschickter kommen können,
sie hab eben eine Magd aus'm Dienst gejagt, die ihr gestohlen hab. Drauf hat sie
zu ihrem Mann gesagt: ›Sieh, mit der äußerlichen Frömmigkeit sind wir angeführt
gewesen, jetzt folg mir und hilf mir's auch einmal mit dem Weltkind da probieren;
die ist kein Heilige und hat viel durchgemacht, aber vielleicht wird ihr auch viel
verziehen, und ehrlich ist sie auf alle Fäll.‹ Er ist's dann zufrieden gewesen. Ob
sie ihm alles von mir gesagt hat, weiß ich nicht, es ist nie zwischen uns die Red
davon gewesen, aber ich hab in dem Haus gelebt wie im Paradies. Die Leut sind
fromm, nicht bloß mit Morgenund
»Das muß aufhören«, sagte er. »Heut abend sind die Kinder da, wo sie hingehören:
bei uns. Jetzt ist
»In den Mond, wenn's nicht anders sein kann«, erwiderte sie. »Die Hauptsach ist, daß wir beieinander sind, wir und die Kinder, drum hat's mir auch kein' Augenblick zweifelt, was ich tun soll. Aber hör, wenn's dein Vetter so gut mit dir meint, wie du sagst, könnten wir denn nicht bei dem ein Plätzle finden, oder tät er uns nicht zu einem verhelfen, daß wir nicht so weit fliegen müssen und unterwegs vielleicht die Flügel verstauchen?«
»Ja sieh«, antwortete er, »der Vetter hat's freilich gut mit mir vor, aber Welt ist überall Welt, er sieht auch aufs Greifbare und fragt nicht danach, ob's Motten und Rost fressen. Darum hätt ich ihm nicht meine ganze Absicht anvertrauen mögen, weil er mir mit einem einzigen Wort dazwischen hätt fahren können. Wenn ich aber mit dir und den Kindern da bin, so kann er auf keinen Fall verlangen, daß ich euch wieder heimschicken soll; und wenn alle Sträng brechen, nun, dann ziehen wir eben weiter, bringen uns im Krieg mit Marketendern fort oder gehen übers Meer.«
Sie sah ihn zweifelhaft an und schwieg, aber der heitere Schimmer von Hoffnung,
der ihr Antlitz neu zu beleben begonnen hatte, wich allmählich wieder aus ihm, und
jener Zug leidender Geduld und
Der Wald öffnete sich, und vor den beiden Wanderern lag die Alb, an deren Fuße sich eine schmale Straße hinzog. »Wollen uns dem Bergsträßle da anvertrauen«, sagte er. Sie taten es, indem sie die Ortschaften, die ihnen in den Weg kamen, auf den durch die Felder führenden Fußpfaden umgingen. Die Sonne begann für einen Herbsttag ungewöhnlich heiß zu brennen, und ihre scheitelrechte Stellung zeigte den Mittag an. »Ich wollt, ich hätt was zu trinken«, seufzte Friedrich, »und wär's auch nur ein Schoppen Most oder Äppelwein, wie sie am Main drunten sagen.«
»Und mir tät ein Löffele Warm's noch nöter«, seufzte Christine ebenfalls.
»Gelt, arm's Weible«, sagte er, »dir ist's ungewohnt, mit langem kalten Magen zu wandern? Da hast Geld, geh du in das Ort da hinein und laß dir eine Suppe geben, kannst mir dann etwas zu trinken und ein Brot dazu herausbringen, das genügt für mich. Das Geld, das ich mir in dem halben Jahr zu Sachsenhausen erspart hab, muß für uns und die Kinder reichen. Ich will mich derweil unter den Baum in Schatten legen.«
»Meinst, es hab kein Gefahr«, fragte sie.
»Ich kenn mich so weit in der Gegend aus«, erwiderte er, »daß der Berg da über uns
die Teck ist. Da herum sind wir ja ganz unbekannt. Du siehst aus, wie wenn du aus
der Nachbarschaft wärst, und
Er gab ihr Geld und seine leere Feldflasche und streckte sich bequem unter dem
Baum aus, indem er sein dreieckiges Hütchen neben sich legte. In diesem
Augenblicke kam ein Mann vorüber, der den gleichen Weg mit ihnen zu haben schien.
Er blickte das fremde Paar mißtrauisch an und mäßigte seinen Gang, so daß er
Christinen, die jetzt auf das Dorf vor ihnen zuschritt, immer auf dem Fuße folgte.
Friedrich sah nach, und die Begegnung wollte ihm nicht recht gefallen; doch schien
sie auch keine ernste Besorgnis einflößen zu können. Seine Augen begleiteten
Christinen, bis sie in dem Dorfe verschwunden war: auch ihren Nachfolger
verdeckten jetzt die Häuser. Er legte sich auf den Rücken zurück, sah in das falbe
Laub und durch dieses zum blauen Himmel empor. Dabei vergegenwärtigte er sich, wie
Christine auf ihre Suppe wartete, wie sie dann dieselbe empfing und wie sie sich
endlich mit der gefüllten Flasche auf den Weg machte. Jetzt mußte sie wieder an
den äußersten Häusern erscheinen: er sah hin, aber er hatte die Zeit zu kurz
gemessen und sich verrechnet. Er legte sich wieder zurück und wartete geduldig; er
hatte ja das Warten gelernt; aber endlich deuchte es ihm doch ziemlich lang. Er
sah wieder hin: sie kam noch nicht. Nun zählte er bis auf eine bestimmte Zahl, die
er sich vornahm, und da er zu schnell gezählt zu haben glaubte, so wiederholte er
dieses Geduldspiel ein paarmal, jedoch umsonst. Endlich zählte er ununterbrochen
Er knirschte, biß sich in die Finger, daß seine Zähne blutige Spuren hinterließen,
und blickte anklagend
Der Tag hatte sich tief geneigt, als er auf diesen verborgenen Umwegen, todmüde
vor Hunger und Anstrengung, auf einer vorspringenden Höhe herauskam und unter sich
in der Breite des Tales die Stadt liegen sah, von wo aus er so oft in die
Gefangenschaft gesendet worden war und wo nun auch Christine abermals ihr
Schicksal erwarten sollte. Ihr freundlicher Anblick stimmte schlecht zu der
Unglücksbedeutung, die sie für ihn und die Genossin seines irren Lebens angenommen
hatte. Seine Blicke, von Erschöpfung verschleiert, schweiften unstät in die
dämmernde Landschaft hinaus. Plötzlich taumelte er zurück, von einem Schreck
ergriffen, der ihm das Blut in den Adern stocken machte. Was war es, das ihm vor
die Augen getreten war? Es sah aus wie der Schatten eines aufgehobenen
Riesenfingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nieder, rieb
sich die Augen aus und
Der wunderschlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgespenst geworden. Auch mit ihm glaubte er in seinem anklägerischen Wahne rechten zu dürfen. »Was willst du mich warnen?« fragte er; »bin ich denn auf bösen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und meinen Kindern sein!«
Er lachte verächtlich. »Ist just die rechte Zeit zum Gespenstersehen«, sagte er. »Gespenster hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Gesellschaft zu leisten. Nur herzu, wenn's beliebt.«
Er warf sich zu Boden und rang mit der Empörung seiner Pulse und seiner Gedanken, bis endlich ein später Schlaf sich des gehetzten Wildes erbarmte.
Der Amtmann von Ebersbach saß im Armstuhl vor seinem Schreibtisch zurückgelehnt,
so daß sein Schlafrock von Damast mit großen Blumen auseinandergefallen war und
die lange goldbordierte Weste nebst dem goldenen Uhrgehänge über dem stattlichen
Leibe sehen ließ. Er war bis zu den seidenen Strümpfen und den
Silberschnallenschuhen herab so vollständig angekleidet, daß er nur den Schlafrock
wegzuwerfen und in den Tressenrock zu schlüpfen brauchte, um eine Staatsvisite zu
machen
Die Amtmännin trat in der Hausjacke und Morgenhaube herein. »Schauderhaft!« rief sie und beeilte sich, den anarchischen Haarbeutel wieder in die Schranken der Ordnung zurückzubringen. Dann legte sie die Hand auf die Stuhllehne und blickte ihren Gatten aufmerksam an. »Du bist nicht gut bei Laune, mein Schatz«, begann sie endlich.
»Man kann nicht immer bei Laune sein, mein Schatz«, erwiderte der Amtmann, dem die Verbesserung seines Kopfputzes unbequem gewesen sein mochte, obgleich er dabei stillgehalten hatte.
»Und dein Gesicht«, fuhr sie fort, »nimmt neuerdings eine gewisse blaurötliche Färbung an, die mir Besorgnis einflößt. Du solltest dir mehr Bewegung machen, du steckst noch so tief in den Wintergewohnheiten. Der Schnee ist weg, das Wetter macht sich leidlich: soll ich dir nicht deine Jagdstiefeln bringen lassen?«
Der Amtmann wendete sich unmutig ab. »Du könntest mich ebensogut vergiften, Sibylle«, sagte er, »als mir einen solchen Rat geben.«
»Ich kann dich nicht kapieren, Daniel!« erwiderte sie befremdet und scharf, denn
sie war dieses Tones
Der Amtmann, der das Nachgeben mehr durch die Leitung als durch das eigene Beispiel seiner Frau gelernt hatte, dämpfte seinen Ton ein wenig und sagte erläuternd: »Du scheinst nicht daran zu denken, daß der vermaledeite Bursche, der Sonnenwirtle, in den Wäldern haust. Sonst sollte mich der Winter nicht von der Jagd abgehalten haben. Mein ganzer Chagrin rührt ja einzig und allein von diesem Lotterbuben her.«
»Er hat noch niemand angefallen«, sagte die Amtmännin. »Er holt sich hie und da Viktualien, wo er sie findet. Das ist alles. Und du kannst ja Mannschaft genug mitnehmen.«
»Du bedenkst gar nicht, daß er auf mich eine spezielle Pike hat«, versetzte der Amtmann.
»Ich halte ihn nicht für so rachsüchtig«, erwiderte sie. »Bei seiner Kühnheit, Stärke und Verschlagenheit hätte er sonst hier, wo er doch manchen haßt, schon das größte Unheil anrichten können.«
»Wer steht dir dafür, daß es nicht noch geschieht?« rief der Amtmann. »Solang
seine Konkubine in Göppingen gefangen sitzt, wird er sich hüten, die Strenge des
Gesetzes gegen diese Geisel herauszufordern. Wenn sie aber einmal frei ist, und
ewig
»Nun, diese gibt's wenigstens in unserer Gegend nicht.«
»Sie sind überall und nirgends: wenn sie heute ausbleiben, so sind sie dafür morgen da. Diese politischen Blutigel, die sich auf mehrere Tausende belaufen mögen, scheinen eine inexstirpable Landeskalamität zu sein. Sie kosten der Gesamtheit der verschiedenen Dominien in Schwaben jährlich Hunderttausende von Gulden, teils an Erbetteltem und Gestohlenem, teils an Unkosten, die gegen sie aufgewendet werden müssen. Ich glaube auch nicht, daß man eher mit ihnen fertig wird, als bis statt der ohnmächtigen General streifen des schwäbischen Kreises einmal das ganze Land in Masse wider sie aufsteht, sie auf einen Punkt zusammentreibt und alles über die Klinge springen läßt. Und ich habe eine Ahnung, dieses Scheusal von einem Menschen wird sie uns noch auf den Hals ziehen, um sein Mütlein an uns zu kühlen.«
»So benutze die Zeit, eh sie kommen, zu einer Erholungsreise, wenn dir kleinere Ausflüge nicht zusagen.«
»Hat sich was zu reisen!« rief er ärgerlich. »Dieser Auswurf der Menschheit hält
mich ja wie einen Hund an der Kette fest. Alles zittert vor ihm:
»Er ist seinerseits in der nämlichen üblen Lage wie du«, bemerkte die Amtmännin, »wenn der Wildfang sich sehen läßt, so schreit der ganze Flecken zusammen, dann bist du genötigt, einen Bericht nach Göppingen zu schicken, und das nötigt dann wiederum den Vogt, sich den Kopf zu zerbrechen, um auf den Bericht mit irgendeiner neuen Maßregel zu dienen. Auf diese Weise macht man sich gegenseitig das Leben sauer.«
»Und wie!« rief der Amtmann, der in seiner Erbitterung über den Vorgesetzten die vorübergehende Aufwallung gegen seine Frau vergaß und wieder zutraulich wurde. »Ich mag von den Wischen aufschlagen, welchen ich will, immer ist ein Stich für mich darin.«
»Sapperment!« rief der Amtmann dazwischen, »wenn der Einfaltspinsel von Fischerhanne ihm hinterbracht hätte, der Schurke stecke drin, so würde er eben auch Haussuchung gehalten haben, bis er ihn gefunden oder – nicht gefunden hätte. Was hilft mich's aber, das Haus zu überfallen, wenn ich ihn nicht drinnen weiß.«
›Es wolle dahero‹ – fuhr sie fort zu lesen – ›der Herr Amtmann die bisherige
nächtliche Patrouille abgehen lassen und dagegen ein paar vertraute Mann als
Spionen bestellen, die etwan Nachbarn von dem Müllerischen Haus und in der Stille
auf des Schwanen Aus- und Eingang Achtung geben, und alsdann in tempore davon
Anzeige machen lassen. Da mir auch ferner bekannt, daß sich der Schütz fast
täglich berausche‹ – »das ist wahr«, bemerkte sie dazwischen – ›mit versoffenen
Leuten aber nichts zu richten, sondern durch deren Ungeschicklichkeit alles, zumal
bei einem solchen Böswicht, verraten
»Den Schützen habe ich tüchtig abgekapitelt«, sagte der Amtmann. »Bei einem solchen Geschäft könnte übrigens der Solideste aus der Art schlagen lernen, geschweige der alte Zapf von Haus aus. Da er noch von allen am meisten vertragen kann, so wird er dazu gebraucht, in den Wirtshäusern umherzuspionieren, ob man's nicht irgendwo in der Stille mit dem Verbrecher halte. Da muß er nun überall pro forma seinen Schoppen trinken – ich selbst hab ihm schon Geld dazu gegeben – und so kommt er gewöhnlich in einem Sarras und rapportiert, der Spitzbub sei just vor ihm dagewesen, er habe ihn aber nicht mehr angetroffen.«
Die Amtmännin nahm sich die Freiheit, in den Ausschreiben zu kramen und einzelne Stellen halblaut zu lesen. ›Um den Flecken Posten ausstellen‹, las sie, ›sämtliche Metzger mit ihren Knechten dazu beordern, mit Gewehren in Händen, wozu insonderheit des Schwanenwirts zu ziehen.‹
Sie blickte den Amtmann fragend an. »Freilich!« lachte dieser, »weil der
Sonnenwirt Schwan heißt, so schreibt er immer: der Schwanenwirt.« – Er
»Darin ist er kein Prophet gewesen«, sagte die Amtmännin lachend. Sie las weiter: ›Dafern sie etwas Verdächtiges vermerken, die Hunde laufen lassen, und mit Behutsamkeit anhetzen.‹ »Das ist wirklich komisch!« rief sie, und beide brachen in ein schallendes Gelächter aus. ›Verspreche mir übrigens wenigen Effekt‹, las sie weiter und setzte hinzu: »Ich auch.«
»Natürlich«, sagte der Amtmann, »schon deswegen, weil der abgefeimte Schurke mit allen Hunden im Flecken auf dem besten Fuße steht. Ich weiß nicht, was er für Jaunerkünste dabei anwendet.«
Die Amtmännin griff nach einem anderen Schreiben und las: ›Bei der geringsten Spur wiedermalen Sturm schlagen lassen‹ –
»Das ist nonsens!« rief der Amtmann. »Das tu ich nicht. Das brächte mir den Flecken vollends bei der ganzen Umgegend in Mißkredit. Sie kämen ja, weiß Gott, mit Spritzen angefahren, wenn sie die Sturmglocke hören würden, und wenn sie dann erführen, daß es sich um den einzigen Höllenbrand handelt, so wäre des Gelächters kein Ende.«
›Allen Burgern‹, las sie weiter, ›bei hoher und Leibesstraf
»Sehr obligiert!« bemerkte der Amtmann und sah halb spöttisch, halb wehmütig nach dem Fenster, um welches milde Sonnenstrahlen spielten, die nach der Wintergefangenschaft zum Genuß der Freiheit einluden.
»Du solltest ihn auf eine Jagdpartie bitten«, bemerkte die Amtmännin. »Was schreibt er denn da? Das scheint mir lateinisch zu sein: ›more solito negligiret‹.«
»Er wirft mir vor«, sagte der Amtmann im höchsten Unmut, »als hätte ich die Sache in gewohnter Manier gehen und liegen lassen. Das ist nicht nur eine Unwahrheit, das ist eine hämische Kalumnie. Er hat's nötig, dergleichen Reprimanden einfließen zu lassen. Wer die Sache auf eine negligeante Art behandelt, das ist er. Das eine Mal hat mir der Postillon geklagt, er sei abends vor sechs Uhr in Göppingen eingetroffen, habe aber zwei Stunden warten müssen, bis er vorgelassen worden sei. Ein andermal hab ich den Expressen um zwei Uhr von hier abgefertigt und den Bescheid erst nachts nach neun Uhr erhalten. Ich habe mir aber alle diese more-solito-Negligenzien in margine notiert, damit ich mich gegen ihn rechtfertigen kann, wenn er mich zu Stuttgart ins schwarze Register bringen will.«
»Da haben sie jetzt an andere Dinge zu denken«,
»Nein, nein!« rief der Amtmann. »Das verstehst du nicht, so spitzfindig du bist. Gerade dann sind sie am aufgelegtesten, einen einzelnen Beamten als Sündenbock zu massakrieren, um zu beweisen, daß die Schreier unrecht haben.«
»Da würd ich doch zuerst trachten, mich mit dem Vogt in eine bessere entente zu setzen«, sagte sie. »Ein Vorgesetzter behält gar zu leicht das letzte Wort. Ich kann ihn durchschauen und gebe dir völlig recht: hinter dem ganzen bruit von Regieren und Ordonnieren steckt nichts als die Angst vor diesem Teufelsbraten, dem Sonnenwirtle. Es ist ihm nicht wohl, solange er seine Chloe in Verwahrung hat.«
»So soll er sie ins Henkers Namen laufen lassen!« polterte der Amtmann, der in seinem Ärger sich nicht bewußt war, wie sehr dieser Rat seiner kaum zuvor ausgesprochenen Besorgnis widersprach. »Wenn ich vorausgesehen hätte«, seufzte er dann, »daß mir die Vereitelung dieser einfältigen Heirat solch maß- und zahllose Inkommoditäten zuziehen würde, ich hätte selbst den Brautführer oder wenigstens den Vermittler beim Sonnenwirt gemacht. Vielleicht wäre der Bursche doch noch eingeschlagen.«
»Sie würden nie füreinander gepaßt haben«, versetzte die Amtmännin mit entschiedenem Tone. »Sie ist zu schwerfällig für ihn, und hoch hinaus hätt er jedenfalls immer gewollt.«
»Bei alledem«, fuhr die Amtmännin fort, »hat die unüberwindliche Anhänglichkeit an diese Person, die eigentlich das Unglück seines Lebens ist, etwas Chevalereskes. Ich muß oft denken: Schade um den Menschen! Unter anderen Umständen würde vielleicht etwas Importantes aus ihm geworden sein. Gestehen wir uns nur: ein Bursche, der einen ganzen Flecken samt Amtmann und Vogt im Schach hält, der sich nicht bloß in der Nacht, sondern am hellen Tag, wenn's ihm konveniert, im feindlichen Lager blicken läßt, in die Wirtshäuser sitzt und allen aufgewendeten Maßregeln zum Hohne in keine Schlinge geht, der ist kein gewöhnlicher Mensch, der hat etwas von einem coeur de lion an sich.«
»Wenn meine Frau Gemahlin jünger wäre«, bemerkte der Amtmann beißend, »so könnte mich nahezu der Argwohn befallen, sie wünschte seine Christine zu werden, damit dann zwei hochstrebende Geister beieinander wären. Falls du übrigens Lust hast, den Löwen in seiner Höhle zu besuchen, so will ich nicht eifersüchtig sein, andererseits aber auch keine Verantwortung übernehmen.«
»Es fragt sich, ob die Gefahr so groß wäre«, erwiderte sie scherzend.
Man hörte einen Hufschlag, und bald darauf trat der Amtsknecht in das Zimmer und übergab ein Schreiben mit den Worten: »Von Göppingen durch Expressen.«
»Schon wieder!« seufzte der Amtmann verzweiflungsvoll.
»Das Raffinement ist übrigens doch nicht so gänzlich aus der Luft gegriffen«, bemerkte die Amtmännin, welche aufmerksam zugehört hatte. »Und zwar könnten wir vielleicht noch einen Schritt weiter gehen. Daß er seine Kinder bei der Großmutter fleißig besucht, obgleich es bis jetzt nicht gelungen ist, ihn daselbst aufzuheben, darüber kann nach seinem ganzen Temperament und Charakter kein Zweifel sein. Nun käme es nur darauf an, ob man nicht das alte Muster, statt sie durch einen zweifelhaften Versuch mißtrauisch zu machen, ins Komplott ziehen sollte.«
»Meinst du?« fragte der Amtmann überrascht.
»Natürlich müßte man da sehr reserviert zu Werke gehen. Wenn es aber gelänge, so dürften der Herr Vogt und Expeditionsrat alle ihre erlassenen Nasen wieder einziehen, und sollte ihnen dero hohes Haupt darüber zu einem Gebirg anschwellen. Über die Hauptfrage kann vielleicht am besten der Schwanenwirt, wie der gestrenge Herr sich sonst auszudrücken beliebt, Auskunft geben.«
»So sende nach ihm.«
»Auf den Abend.«
Während sie sprach, klopfte es schüchtern an die Türe. »Herein!« rief der Amtmann
gebieterisch im Gefühl seiner Amtswürde und der erlittenen Störung. »Ah!« sagte
er, als die Türe aufging, »wenn
Der Eintretende sah aber keinem Teufel, oder wenigstens, wenn das Bild auf ihn passen sollte, einem armen Teufel ähnlich, nicht nach seiner äußeren Erscheinung, denn diese zeigte den wohlhabenden Bürger und Meister, wohl aber nach seinem niedergeschlagenen, sorgen- und kummervollen Aussehen. Es war niemand anders als der Sonnenwirt selbst. Er war alt, grau, dünnhaarig und gegen seine Oberen womöglich noch demütiger geworden. »Wenn's der Herr Amtmann nicht ungütig nehmen«, begann er nach einer tiefen Verbeugung und angelegentlicher Erkundigung nach dem beiderseitigen Wohlbefinden, »so hätte ich eine Beschwerde wider den Kreuzwirt anzubringen. Es ist doch arg, wenn sich ein rechtschaffener Burgersmann von seinem Mitbürger und Mitmeister so unrechte und ungebührliche Sachen sagen lassen soll, wie der Kreuzwirt in dem Brief da schreibt.«
Der Amtmann überflog den Brief, den ihm der Sonnenwirt reichte, und las halblaut murmelnd einzelne Stellen ab: »›Es will hiermit Unterzogener gegen den Sonnenwirt Schwanen nicht allein seine Grausamkeit erinnern, die er vor etlichen Jahren durch seinen eigenen Sohn an meiner Person ausüben lassen.‹ – Das alte Lied!« bemerkte der Amtmann dazwischen.
»Er behauptet immer, er sei damals zum Krüppel geschlagen worden«, sagte der Sonnenwirt, »und es ist doch alles nicht wahr.«
»Das murmelt er beständig an alle Nachbarn hin, wie mir erzählt worden ist«, sagte der Sonnenwirt.
»›Dieses Postrittprästieren‹«, las der Amtmann weiter, »›zeugt von seines Herzens
heimlicher Bosheit; der Sohn zeugt vom Vater; da dieser damals im Beisein meiner
sagen dörfen, sein Sohn habe mir recht getan, so möchte ich nun wissen, ob er auch
recht getan, da er vor etlich Jahren seines Vaters Haus bestiegen, sich noch
rühmte, wie künstlich und
»Aufzuwarten, Herr Amtmann, ich sag meinen gehorsamen Dank«, antwortete der Sonnenwirt und verbeugte sich.
»Hat Er ihn denn zum Reiten beordert?«
»Da der Herr Amtmann befohlen haben, daß ein für allemal auf jeden Tag in der Woche ein berittener Mann als Expreßpostillon parat sein solle, so hab ich als Obermeister dem Kreuzwirt den nächsten Ritt auferlegt.«
»Da er eine wenig erbauliche Figur zu Pferd machen wird, so ist er dieser Prästation zu entlassen«, verfügte der Amtmann.
»Wenn's der Herr Amtmann nicht ungnädig nehmen wollten«, wagte der Sonnenwirt einzuwenden, »es ist auch das eine von meinen vielen Sorgen und Verlegenheiten. Die ganze Metzgerzunft wird mir aufsässig wegen des beständigen Reitenmüssens, so daß ich nächstens nicht mehr weiß, wem ich den Tag ansetzen soll. Sie klagen, es koste sie so gar viele Zeit und bringe sie im Verdienst zurück. Ein mancher kommt gar nicht mehr zu mir zur Zech, und das ist mir ein empfindlicher Verlust.«
»Es ist aber auch keine geringe Last für die Leute«, sagte der Amtmann. »Darin hat
der Kreuzwirt
Der Sonnenwirt fühlte sich wie zu Boden geschmettert. Derselbe Mann der Autorität, der sich so durchgreifend gegen diese Heirat erklärt und seinen Arm zu ihrer Hintertreibung hergeliehen hatte, machte ihm jetzt Vorwürfe, daß er seinem Sohne nicht den Willen gelassen habe. Er sah den Amtmann mit einer flehenden Jammermiene an, verstummte aber unter der Bürde, die ihn niederdrückte.
Die Amtmännin kam ihm zu Hilfe und erinnerte ihren Mann, daß, wenn sein Vorwurf begründet wäre, er ihn nach seinem eigenen Geständnis ebensogut und noch stärker treffen würde als den Sonnenwirt.
»Ach Gott!« sagte dieser, dankbar für den Beistand, »wenn Sie erlauben, Herr Amtmann und Frau Amtmännin, ich hab überhaupt schon lange Zeit keine gute Stunde mehr in meiner Familie. Seit mein Sohn amtlich für einen Erzböswicht erklärt worden ist und jetzt natürlich nichts mehr an mir erben kann, wenn ich ihn auch einsetzen wollt, seitdem ist der Hader zwischen meinem Weib und meinen Tochtermännern los. Sie liegt mir immer an, ich soll ein Testament zu ihren Gunsten machen, und das müssen die beiden anderen, der Chirurgus voran, gemerkt haben.«
»Sie hat ja keine Kinder«, bemerkte der Amtmann.
»Da würde ich vor allen den Chirurgus bedenken«, riet der Amtmann. »Der Mann hat savoir vivre, gibt einen gewandten Wirt und wäre wohl am meisten geeignet, die ›Sonne‹ im Flor zu erhalten.«
Der Sonnenwirt versprach, diesen guten Rat in Erwägung zu ziehen, gegen welchen die Amtmännin keine Einsprache tat. Als er sich empfehlen wollte, hieß ihn der Amtmann noch bleiben und unterredete sich mit ihm über den Hauptzweck, wegen dessen er ihn hatte rufen lassen wollen. Er teilte ihm den Inhalt des oberamtlichen Schreibens mit und forderte ihn auf, sich zuvörderst darüber auszusprechen, ob die Hirschbäuerin wohl dazu zu bringen wäre, einen Verrat an ihrem Schwiegersohne zu begehen.
»Die ist eine Schmotzampel an Leib und Seel«, antwortete der Sonnenwirt, »die verkauft ihren Herrgott, wenn sie nur Geld sieht. Das ist auch ein Grund gewesen, warum ich meinen Sohn nicht hab in die Familie heiraten lassen wollen.«
»Mir kommt da ein guter Einfall«, sagte der Amtmann. »Ich hatte neulich in alten
Akten und Urkunden zu stöbern und machte dabei zufällig die Entdeckung, wie es mit
dem Leibeigenschaftsverhältnis der Hirschbauernfamilie bewandt ist. Der erste des
Namens hat das Haus als eine Art Wildhüter zu Lehen erhalten mit der
ausdrücklichen Bedingung, Jagd auf die Wilderer zu machen. Da nun gar kein Zweifel
sein kann, daß Sein Sohn neben
»Für den Notfall«, erwiderte der Sonnenwirt, »kann diese Drohung nichts schaden, aber sie wird kaum vonnöten sein. Auf den Abend will ich das alt Weib zu mir kommen lassen und hoff, in kurzem dem Herrn Amtmann erwünschte Antwort zu bringen.«
Er wünschte einen glückseligen Tag und ging, ohne sich zu fragen, ob das Vorhaben, das er der Hirschbäuerin gegen ihren Schwiegersohn zutraute und um dessenwillen er sie verurteilte, ein anderes sei als das Vorhaben, das er gegen seinen eigenen Sohn bereits auszuführen im Begriffe war.
Auch der Amtmann und seine Frau dachten an eine solche Vergleichung nicht. »Wenn der Sonnenwirt die ›Sonne‹ dem Chirurgus zuwendet«, sagte der erstere lachend, »so stirbt die Sonnenwirtin, sobald sie etwas vom Testament erfährt, am Gallenfieber.«
»Das wäre dem Mann je eher je lieber zu gönnen«, versetzte die Amtmännin. »Er hat nicht zum besten mit ihr gelebt, und sie ist auch in der Tat, so wie man sie näher kennenlernt, eine herzlose, neidische, maliziöse Kreatur.«
Der Himmel weiß, womit die sonst so kluge Sonnenwirtin es bei der gestrengen Frau verschüttet haben mochte.
Schon am nächsten Morgen ritt eine Staffette nach
»Gesegnete Mahlzeit beieinander! Das ist ja schön, daß man die Ahne und die Kinder bei der Gottesgabe findet, die Leib und Seel zusammenhält.«
Mit diesen Worten trat der Geächtete durch die Türe ein, deren Schwelle er so manchmal in Glück und Leid überschritten hatte. »Was speist man denn?« fragte er heiter.
»Rübelessupp und Grundbirn!« antwortete der Knabe, der mit der Großmutter und seinem kleinen Schwesterlein zu Tische saß und mit seinem Löffel der gemeinsamen Schüssel wacker zusprach.
»Will Er's nicht mithalten?« fragte die Hirschbäuerin, ohne sich in ihrer eifrigen Beschäftigung stören zu lassen.
»Danke! was für drei gekocht ist, ist nicht für vier; man muß keine Deichsel an die Suppenschüssel machen. Im Gegenteil bring ich hier ein paar Brätlein. Wenn Ihr's nicht essen wollt, so könnt Ihr's unter der Hand zu Geld machen.« Er hielt ihr ein paar Hasen hin. Bei diesem Anblick legte sie schnell den Löffel auf den Tisch, ergriff das Geschenk und trug es in eine Ecke der Stube, wo sie einen leeren Korb darüberdeckte.
Der Ankömmling setzte sich an den Tisch, holte einen hölzernen Löffel aus der
Schublade und fütterte das Kleine, das erwartungsvoll nach der Großmutter
»Wo ist denn der Lobele blieben?« fragte die Alte, sich wieder an den Tisch setzend.
»Mein weißköpfigs Schwägerle«, erwiderte er, »hab ich in Rechberghausen beim Christle gelassen. Ich hab einen weiten Umweg machen müssen« – er warf einen Blick nach der Ecke, wo die Hasen lagen – »wo ich ihn nicht hab mitnehmen wollen, und ihn allein heruntergehen zu lassen, dazu ist mir's zu spät gewesen. Morgen früh ist er wieder da. Ist's richtig, was er mir ausgerichtet hat? Mein Vater will sich also zu einem gütlichen Abkommen mit mir verstehen?«
»Ja«, sagte sie, »er hat mich kommen lassen und hat so mit mir geredt, daß ich glauben muß, es sei sein Ernst. Vierhundert Gulden will er Ihm geben, wenn Er mit der Christine und den Kindern nach Pennsylvanien geht, die Hälfte bar und die Hälfte drüben, aber das Bare nicht eher, als bis mit der Abreis alles im reinen sei. Bis dahin will er sorgen, daß den Kindern nichts abgeht.«
»Wenn nur die Christine frei wär, dann ging ich gleich«, versetzte er. »Wißt Ihr nichts von ihr?«
»Nein.«
»Einundzwanzig Wochen sind es jetzt, daß ich ihr Gefängnis umschwärme«, sagte er.
»Was ich in dieser Zeit durchgemacht hab, wird nicht bald einem
Die Alte lächelte schlau. »Beim Krämerchristle«, sagte sie, »hat's doch gewiß nicht an Loschement gefehlt.«
»Beim Christle«, sagte er, »kann ich meinen kleinen Schwager unterbringen, wenn er
mir eine Botschaft tut und ich ihn nicht in der Nacht heimlassen will, und vom
Christle nehm ich's an, wenn er, wie ein paarmal geschehen ist, in meiner
Abwesenheit meinem Weib oder meinen Kindern etwas schickt, zumal wenn das« – er
sah die Alte scharf an – »nicht für die Schleckerei, sondern für die bittere
Notdurft ist. Beim Christle und sonst da und dort bin ich selber auch ein paarmal
über Nacht gewesen, wenn man ein gemeinsames Geschäft vorgehabt hat, bei dem der
Nutzen zum kleinsten Teil auf meiner Seite gewesen ist. Aber wenn gleich
Rechberghausen nicht dem Herzog von Württemberg, sondern dem Grafen von Preysing
gehört, so hätt ich doch dem Christle nicht zumuten mögen, einem vogelfreien
Menschen, wie ich bin, nach dem man über jede Grenze streifen darf, einen
beständigen Aufenthalt zu geben. Nein, Schwieger, ich bin in diesen einundzwanzig
Wochen das wenigste Mal unter Dach und Fach gekommen, und wenn ich nur in einer
Scheuer hab unterkriechen können, so ist das ein Festtag für mich gewesen. Die
meiste Zeit aber hab
Der Knabe warf seinen Löffel auf den Tisch und aß nicht weiter, während sein Vater unter dem Reden den Löffel fleißig nach dem Munde des kleineren Kindes führte.
»Da wär's in Pennsylvanien doch besser«, bemerkte die Alte.
»Meint Ihr nicht, der Jerg ging mit?« fragte er und setzte schnell hinzu: »daß wir Euch nicht allein zurückließen, versteht sich von selbst.«
»O du mein Heiland, Er hat's gut mit mir vor«, sagte sie. »Sollt ich auf meine alte Tag noch so weit übers Meer? Und der Jerg, der ist jetzt zu Stuttgart im Dienst als Packer bei einem Kaufmann und meint, er könn's sein Leben lang nicht besser kriegen. Nächstens will er mir all Woch ein Geldle schicken.«
»Mein letzte Stütz sollt ich hergeben oder gar selber mitgehen und vielleicht unterwegs, wie der Jonas, von einem Fisch gefressen werden?«
»Ahne, der Fisch hat ihn ja wieder ausgespien«, bemerkte der Knabe dazwischen.
»Und das Reis'geld«, fuhr sie fort, ohne auf die Bemerkung zu achten, »wär für uns alle zusammen nicht gnug.«
»Ob mein Vater die vierhundert Gulden auf einmal hergibt oder auf zweimal, kann ihm gleichgültig sein, wenn's ihm überhaupt mit dem Anerbieten Ernst ist. Glaubt Ihr wirklich, Schwieger, daß er's ehrlich meint?«
»Daß er's anders tut, als er gesagt hat, glaub ich nicht, dagegen das glaub ich, daß ihm zu trauen ist, denn warum? er möcht Ihn eben fort han, weil er sich vor Ihm fürchtet und weil der ganz Fleck in Ängsten vor Ihm ist.«
Der Geächtete lachte stolz.
»Ich glaub ferner auch«, fuhr sie zutraulich fort, »daß der Amtmann mit unter der Sach steckt; denn dem wär's ebenmäßig wohl, wenn er nichts mehr mit Ihm zu tun hätt.«
»Der Amtmann?« sagte er. »Wenn das der Fall ist, so muß man sich vor Finten hüten.
Der arbeitet an einem doppelten Plan. Mag leicht sein, daß er fürlieb nimmt, wenn
er mich über alle Berg weiß, aber noch lieber ist's ihm, wenn er mich wieder
»Ich vermut's ja nur«, sagte sie. »Mein Herz denkt an nichts Args. Wer wird denn auch gleich so ängstlich sein?«
»Ängstlich!« rief der Geächtete, und sein ganzer Stolz flammte auf: »wer kann mir nachsagen, daß ich jemals Angst hab blicken lassen?«
»Nu, nu, man redt ja nur. Eins ist so wenig nutz wie das ander. Wer alle Stauden will fliehen, kommt nie in Wald, und hinwiederum, dem Trauwohl hat man den Gaul weggeritten. Für heut hat's jedenfalls kein Gefahr, denn kein Mensch weiß, daß Er da ist.«
»Doch will ich nicht über Nacht bleiben.«
»Ja, und wenn sie dann wieder mitten in der Nacht Haussuchung halten wollen, so läßt Er ihnen wieder das Nachsehen. Denn besser in der Acht als in der Hacht, besser der Nam als der Leib am Galgen.«
»Wenn man durch meinen Vater mit dem Amtmann unterhandeln könnt, daß die Christine frei würd, unter der Bedingung, mit mir nach Pennsylvanien zu gehen, so könntet Ihr mir ja an einen sichern Ort Meldung tun. Aber ohne den Jerg ist's nur halb gelebt. Ein Mann wie mein Schwager wär mir mehr wert als ein Kapital in dem großen wüsten Land, wo man Wälder ausstocken und mit den Wilden kämpfen muß.«
»Vater«, sagte der Knabe jetzt, der lange auf einen Augeinblick, wo er auch etwas reden durfte, gewartet hatte, »Vater, ich hab mich so lang drauf gefreut, bis Er auch einmal wiederkommt.«
Die helle Stimme des Knaben tat dem Geächteten tief im Herzen wohl. »So, Friederle«, sagte er, »hast dich auf den Vater gefreut? Sieh, ich hab euch auch was mitgebracht.« Mit diesen Worten zog er aus der Tasche allerlei Spielzeug, das er in müßigen Stunden künstlich geschnitzt hatte. »Die Docken gehören deinem Christinele, die gibst ihr morgen früh, wenn sie aufwacht.« Er legte das Kind, das in seinem Arme eingeschlafen war, auf das Bett und brachte aus seinen anderen Taschen noch mehr der Herrlichkeiten hervor. »Da sind für dich Soldaten, Fußvolk und Reiter, auch etliche Kanonen dabei, weil's jetzt Krieg ist, und damit deine Schulkameraden nicht sagen können, du habest nicht so schöne oder nicht schönere Spielsachen als sie. Lernst auch brav? Erzähl mir einmal, was heut in der Schule vorgekommen ist.«
»Die Geschicht vom Simson ist gelesen worden«, antwortete der Knabe.
»Hast du mitlesen dürfen?« fragte der Vater. »Kannst lesen?«
»Noch nicht ganz gut«, sagte der Knabe, »'s kommt nur hie und da ein kleiner Vers
zum Lesen an mich. Aber die Geschicht hat mir mächtig gut gefallen,
»Du gibst ja recht acht«, sagte der Vater freundlich. »Möchtest vielleicht auch ein Simson werden?«
Der Knabe sah ihn verwundert an.
»Gelt, das verstehst du nicht? Was möchtest denn werden?«
»Ich möcht werden, was mein Vater ist.«
»Was ist denn dein Vater?«
Der Knabe sah ihn starr an und antwortete auf wiederholtes Fragen: »Ich weiß nicht.«
»Warum sagst du denn, du möchtest werden, was dein Vater ist, und weißt es nicht?«
»Ha, so sagt jeder Bub, wenn man ihn fragt, was er werden wöll.«
»So! Wie heißen sie denn deinen Vater?«
»Er sei söllig stark, so daß alles Angst vor ihm haben müß.«
»So? und was sagen sie sonst von ihm?«
Der Knabe schwieg.
»Wie gehen denn deine Kameraden in der Schule mit dir um? Sag's, ich will's wissen.«
»Sie lassen mich nicht ins Buch neingucken, so daß mir der Schulmeister schon oft
eine besondere Bibel geben hat, und einmal, wo sie wüst gegen mich gewesen sind,
hat der Schulmeister zu ihnen
»Für was?«
Der Knabe schwieg.
»Ich befehl dir's, ich will wissen, was sie von deinem Vater gesagt haben.«
Er mußte seinen Willen im gebietendsten Tone geltend machen, bis der Knabe endlich schüchtern und zögernd antwortete: »Sie sagen – Er hab – gestohlen.«
»Und wenn das wahr ist, so willst du dennoch werden, was dein Vater ist?«
»Ja.«
»Was ist einer, der stiehlt?«
Er bedurfte abermals der größten Anstrengung, um aus dem Knaben die Antwort herauszubringen: »Ein Dieb.«
»Ein Dieb also willst werden?«
»Ja.«
»Wart, ich will dir einen Denkzettel geben! Ahne, wo ist die Rute?«
Er gewahrte nicht, daß die Alte nach langer Abwesenheit erst in diesem Augenblick
wieder in die Stube trat und die Türe ein wenig hinter sich offen ließ. Sie bat
für den Knaben, als sie hörte, um was es sich handle, und suchte dem unglücklichen
Vater bemerklich zu machen, daß das Kind sich nicht auszudrücken vermöge und daß
er ihm noch keine Unterscheidung zumuten dürfe. »Nein«, sagte er unerbittlich,
»man soll mir nicht nachsagen, daß ich den Buben zu solchen Gedanken angeleitet
oder
Er zog den Knaben zwischen die Knie und patschte ihn mit seiner kräftigen Hand so nachdrücklich, daß derselbe mit offenem Mund schnaubte und schnappte; doch gab er keinen Laut des Schmerzes von sich.
»Was heulst nicht, du Krott?« fragte der Vater, in seinem wenig überlegten Besserungsgeschäfte innehaltend.
»Ich hab immer gehört, mein Vater hab nie geheult, wenn man ihn auch noch so arg geschlagen hab«, antwortete der Knabe, nicht trotzig, aber mit entschiedenem Tone und seinem Vater ruhig ins Auge sehend.
Dieser ließ die Hand sinken und zog den Knaben in seine Arme. »Ach, Friederle, mein Kind, mein lieb's Kind«, rief er, »ich hätt dich ja gewiß nicht geschlagen, wenn ich allezeit bei dir wär und dich im Guten unterweisen könnt. Aber ein Dieb sollst und darfst du mir nicht werden, das verbiet ich dir hoch und teuer. Glaubst du, daß ich's gut mit dir mein?«
»Ja«, sagte der Knabe, indem er ihn mit seinen blauen Augen aufrichtig ansah.
»Willst mir's nachtragen, daß ich dich geschlagen hab?«
»Nein.«
»Willst mir versprechen« – er drückte ihn immer heftiger an sich und schrie ihm
die Worte ins Ohr: »Werd brav! werd rechtschaffen! Du mußt nicht
Die Stimme brach ihm, er schlug die Hände vor die Augen und legte den Kopf auf den Tisch. Es wurde ganz still, nur daß man tief aus seiner Brust herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte. Die Alte sah sich einen Augenblick um, setzte sich dann so, daß sie dem Tische und der Türe den Rücken zukehrte, und begann hierauf mit einer Stimme, die abscheulich lautete, das geistliche Lied zu singen: »Valet will ich dir geben, du arge falsche Welt.«
Der Geächtete hatte seinen Empfindungen eine kurze Zeit freien Lauf gelassen, da weckte ihn ein durchdringendes Geschrei seines kleinen Sohnes: »Vater! Vater! Philister über dir, Simson.«
Er fuhr auf und starrte, die Augen voll Tränen, in die Stube, aber die Bewegung
hatte nur dazu gedient, seinen Kopf einer Schlinge preiszugeben, die im gleichen
Augenblicke fest um seinen Hals zugezogen wurde. Die Stube war voll bewaffneter
Der Knabe war außer sich, und die Nachbarn, welche halb teilnehmend, halb
neugierig hinter den Häschern in die Stube gedrungen waren, versuchten
In diesem Augenblicke kam der Schütz, zu spät, um an der Gefangennehmung, zu welcher er beordert war, teilzunehmen, aber früh genug, um der Alten eine Nachricht zu bringen, die sie ganz darniederschmetterte. »Wisset Ihr auch, Hirschbäurin«, sagte er, »daß Euer zweiter Sohn in Stuttgart hat Soldat werden müssen? Er hat einem Soldaten zur Desertion geholfen, und der Oberst Rieger, der dem Herzog sein Kriegsvolk zusammenwirbt, hat darauf gemeint, er sei ihm als Stellvertreter ebensogut oder noch lieber.«
Sie warf sich zu Boden und raufte ihre Haare. Diesmal war ihr Schreien und Heulen ernstlich gemeint. »Jetzt hab ich mein Stecken und Stab verloren!« jammerte sie.
»Paß auf, Beck!« sagte der obere Müller, mit seinem Knecht eintretend, im Hausgang
zu dem Bäcker,
Der Bäcker lachte und stieß statt der Antwort die Türe auf, durch die man die Stube bereits überfüllt von Gästen sah. »Der Müller meint, er sei der erst zur Metzelsupp!« rief er diesen zu. Ein allgemeines Gelächter empfing den verspäteten Gast. »Mach nur, daß du hersitzst!« riefen einige, indem sie zusammenrückten und ihm und dem Knechte Platz machten: »'s ist eine Staatssau gewesen, aber kannst froh sein, wenn du nur noch das Schwänzle von ihr triffst!«
Ungeachtet dieser Drohung, die nicht so ernstlich gemeint war, ließen sich's der Müller und sein Knecht trefflich schmecken, während die Gäste den Bäcker lobten, der seit dem schon lange erfolgten Tode seiner Frau keine Metzelsuppe gegeben hatte, und sich zugleich darüber freuten, daß man bei den guten Aussichten auf das heurige Jahr auch einmal wieder einen billigen Wein trinken könne.
Nachdem der Müller seinen Magen gefüllt, sah er sich im Kreise der Gäste um. »Was, der Profos ist auch da?« rief er. »Ich hab gemeint, Ihr lieget am Gliederweh darnieder und könnet kein' Fuß und nächstens kein' Zahn mehr regen.«
»Die alten Knochen sind's Leben gewohnt«, erwiderte der Invalide. »Ich hab auch
glaubt, ich
»Lasset nur den Wein tapfer durch die Gurgel laufen, alter Kriegsknecht, der wird Euch die Flüß schon 'naustreiben. Daß dich! aber jetzt muß ich mich verwundern, daß der Fischerhanne auch so viel Courage hat und ins Wirtshaus geht! Nun, du darfst dir heut schon was gönnen: hast gewiß bei dem gestrigen Fang etwas Schön's verdient, gelt?«
Der Fischer schmunzelte. »Wenn man sich für den Flecken in Gefahr begibt«, sagte er, »so könnt man, denk ich, mehr ansprechen, als die paar Gulden, aber doch ist's immer besser als gar nichts.«
»Die Gefahr muß nicht so groß gewesen sein«, bemerkte der Müller: »wie ich hör, habt Ihr ihn mit der Schling gefangen?«
»Ja!« rief ein anderer. »Die Schling ist ein Einfall vom Fischerhanne gewesen. Das ist das sicherste Mittel: wenn einer nicht weich geben will, so zieht man eben zu, dann vergeht ihm die Kraft, und er wird zahm wie ein Lamm.«
»Ich hätt zugezogen, bis er hingewesen wär«, versicherte der Fischer, »denn wenn der loskommen wär, so möcht ich doch auch sehen, wer mir behaupten könnt, es hab kein Gefahr gehabt.«
»Gottlob«, sagte der Müller, »daß der Kerl aufgehoben
»Nein«, erwiderte dieser, »für ihn selber wär's das best, er blieb gefangen, wie er ist. Was kann ihm die Freiheit wert sein, wenn die ganz Welt immer mit Stecken und Stangen auf ihn aus ist, um ihn zu fangen? Ich mein nur, 's ist halt doch kurios, daß ein ganzer Flecken mit so viel starken Männern vor dem einzigen Menschen zittert. Und was hat er eigentlich getan?«
»Was er getan hat?« schrie alles zusammen. »Ist er nicht von Hohentwiel ausbrochen?«
»Nun ja«, sagte der Invalide, »das tät jeder von uns auch, wenn ihm das Gefängnis entleidet wär, und er wär so geschickt wie er, um eine halbe Unmöglichkeit zu vollbringen.«
»Und zweimal aus dem Zuchthaus!« sagte der Müller.
»Und hat sich beidemal freiwillig wieder gestellt«, entgegnete der Invalide. »Dazu gehört doch ein gutes Gewissen.«
Ein unwilliges, höhnisches Gelächter war die Antwort auf diese Bemerkung.
»Der Profos hat immer ein wenig zu ihm gehalten«, bemerkte der Fischer.
»Er hat auch immer eine gute Seit gehabt«, versetzte der Invalide. »Wenn man
übrigens kein' anderen
»Hat er denn sonst nichts getan?« schrie der Müller. »Ich will die Diebstähl, die er bei seinem Vater begangen hat, nicht so hoch anschlagen: aber ist er nicht erst kurz verwichen dem Lammwirt in Metzig und Keller einbrachen und hat ihm Fleisch, Brot und Wein genommen?«
»Requiriert«, sagte der Invalide.
»Was?« schrien die andern.
»Requirieren heißt man das bei den Soldaten«, erläuterte der Invalide ruhig. »In
der Kampagne, wenn's nichts zu beißen und zu brechen gibt, kommt man zum Bauern in
die Visit und holt sich Fleisch, Brot, Wein, Hühner, Gäns, Eier, kurz, was man
finden kann, und wenn das ein Verbrechen wär, so müßt vom General bis zum Gemeinen
runter alles gehenkt werden. Der fürnehmst Offizier schämt sich nicht dran. Und da
geht's oft zu, daß mir's in der bloßen Erinnerung weh tut. Der Frieder ist noch
bescheiden, nimmt nicht mehr, als er für den Hunger und Durst braucht, und hat dem
Lammwirt doch nicht das übrig Fleisch zu Fetzen verhauen und den Wein in Keller
laufen lassen, wie's der Soldat oft und viel tut. Es ist jetzt ohnehin Krieg in
der Welt; denket euch, der Feind komm in den Flecken, oder auch der Freund, denn
's macht's einer wie der ander, dann tätet ihr die Hundert oder Tausend gern gegen
den einzigen Marodeur
»Das ist was anders«, sagte der Müller. »Der Krieg verlangt's eben einmal so, er muß die Leut ernähren.«
»Wenn man mich lebenslang auf die Festung setzt und mich nach meinem Entkommen überall verfolgt und mein Weib einsperrt, das ist auch eine Art Krieg. Sag jeder von euch, was er tät, wenn er so 'nausgestoßen wär wie ein wild's Tier. Man kann doch nicht immer Rüben fressen, und im Winter wachsen nicht einmal Rüben. Und wenn er auch gar nichts nähm als eure Rüben, so tätet ihr doch auch sagen, es sei gestohlen.«
Seine Worte hatten, wenigstens vorübergehend, einen unverkennbaren Eindruck gemacht. Der Invalide fuhr, auf denselben bauend, fort: »Es ist, wie wenn die Leut ein bös Gewissen hätten, das sie an dem Menschen auslassen müßten. Er raubt nicht, er mordet nicht, und doch hat der Fleck eine Angst vor ihm, daß es eine wahre Schand ist. Noch eh er jemand außer seinem Vater ein Stückle Brot genommen hat, ist ein Schreck von ihm ausgangen, und wenn's geheißen hat: der Sonnenwirtle kommt, oder er ist da, so ist alles auf und davon, wie man sich vor einem wütenden Tier salviert. Und der Nam ist vor ihm hergangen wie ein schwarzer Schatten, und mich sollt's nicht wundern, wenn er dem Schatten endlich folgt und in seine Fußstapfen tritt.«
»In was für Fußstapfen«, fragte der Fischer, »ist er denn gangen, wie er beim
Pfarrer einbrechen
»Für selbiges Stückle hätt ich ihm das Fell recht brav vergerben mögen«, sagte der
Invalide, »und dennoch hat sich's anders damit verhalten als man's nennt. Ich frag
jeden, der das Ding mit seinen fünf Sinnen ansieht, ob etwas Abgefeimt's dran ist,
wie man's dafür ausgeben hat. Der Pfarrer verweigert ihm die Kopulation, weil er
sie nicht zahlen kann. Darüber kann jeder andächtige, in Jesu Christo geliebte
Zuhörer, wie man uns von der Kanzel anredet, denken, wie er will; ich find in der
Bibel nichts davon, daß das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit bloß gegen
Bezahlung zu haben sei und anders nicht; aber, wie gesagt, das geht mich nichts
an, das kann jeder mit sich selbst ausmachen. Der Bub drauf – denn ein Bub ist er
gewesen, wie mancher sonst, der im dreiundzwanzigsten Jahr heiratet, ebenmäßig ein
Bub ist und erst von seinem Weib gezogen wird – der Bub, sag ich, bricht in der
nächsten Nacht dem Pfarrer ein, ohne allen Schlachtplan, rafft zusammen, was er
erwischt, natürlich Kleinigkeiten, läßt auch noch den Kelch samt Hostien mitlaufen
und steckt die Sachen in seines Vaters Stroh, damit sie gleich am andern Morgen
dem Knecht ganz gewiß in die Hand fallen müssen. Daß er Grütz im Kopf hat, das
leugnet ihm sein ärgster Feind nicht ab. Heißt aber das Grütz, wenn man eine Tat
tut, von der am andern Tag jedes Kind sagen muß: das hat niemand anders getan, als
des Sonnenwirts Frieder! Heißt das Grütz, wenn man
»Auf die Art«, bemerkte der Fischer mürrisch, »kann man alles Lumpenpack in Schutz nehmen, bis man zuletzt selber ihresgleichen wird. Grad so hat der Sonnenwirtle auch angefangen: der hat zuerst sein'm Vater 'n Zigeuner ins Haus schleifen wollen, und nachher hat er sich mit dem Hirschbauren und seiner Tochter gemein gemacht, und so ist er von einem bösen Trappen auf den andern kommen.«
»Mir wird's ganz übel«, rief der Invalide, »wenn ich's mit anhören muß, wie einer,
der selber arm ist, arme Leut verwirft. Wenn ein paar Arme beieinander sind, so
klagen sie, man laß die Armut nicht gelten, und in der Kirch singen Arm und Reich
miteinander, die Menschen seien alle gleich; sowie einer aber einmal darnach leben
will, so fallen
Während der Invalide so die einzelnen Einwendungen, die ihm gemacht wurden, niederschlug, hörte er nicht, wie das Murmeln und Murren um ihn her immer stärker wurde. »Von was für einem Ausbund ist denn da die Red?« rief der Müllerknecht erbittert, »man sollt meinen, das wär ein Muster, nach dem sich ein jedes richten müßt, und wenn man nach dem Namen fragt, so ist's ein Mörder, der seinem Nebenmenschen ohne weiteres das Messer in Arm sticht!«
»Das ist auch ein wüster Streich gewesen«, sagte der Invalide, der sich nicht irre
machen ließ: »aber mit'm Zuchthaus ist er doch, mein ich, hart genug abbüßt
worden. Zum Messer greifen freilich nicht alle, denn da gehört schon ein wenig
mehr Mut dazu, aber mit'm Prügel oder mit'm Stuhlfuß ist jeder gleich bei der
Hand, wenn der Wortwechsel hitzig wird, und es fällt ihm nichts Gescheit's mehr
ein, und da schlagen sie einander so über die Köpf, daß man sich nicht wundern
darf, daß es so viel dumme Leut gibt. Streit und Certat muß sein in der Welt,
sonst ist's langweilig, aber wohl wär's besser, die Menschen täten witzig
miteinander fertig werden statt spitzig, einander tupfen statt stechen,
»Es scheint, da muß sich die Obrigkeit verantworten!« warf der Fischer bissig dazwischen.
»Ich hab mein jährlichs Gratial vom Haus Östreich«, sagte der Invalide stolz: »die Obrigkeit kann mir nichts geben und nichts nehmen. Ich sag nichts wider sie, aber ich red, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«
»Ja, für'n wild's Tier, das dem Flecken täglich mit Mord und Brand droht hat!« schrie der Müller, der den Wein zu spüren begann.
»Um dieser Reden willen hätt ich auch wieder 'n Stecken für ihn in Bereitschaft«,
sagte der Invalide, der nach langer Krankheit wieder einmal ausgegangen war und
sich hinter dem Glase so behaglich fühlte, daß er aufgelegt war, seine Meinung
standhaft gegen Feind und Freund durchzufechten. »Und zwar tät ich ihn darum
züchtigen, weil er mit solchen Reden sich selber am meisten schad't. Aber er hat
sich nicht schlecht dagegen verantwortet schon vor sechs Jahr, wie der Schütz
einmal aus'm Verhör erzählt hat. ›Reden denn die andern französisch?‹ hat er
gesagt. Und das ist die Wahrheit. Wo man hinhört, wie die Leut voneinander reden,
so hört man: ›Den Kerl mach ich kalt, ich hau ihm 'n Flügel vom Leib, hin muß er
sein, nicht lebendig soll er mir vom Platz kommen‹, oder: ›die ganz
Das Murren war allmählich zum Geschrei gestiegen, und einige Stimmen riefen bereits: »Schmeißet ihn 'naus!«
»Redet ihr feiner?« fuhr der Invalide mit erhobener Stimme fort. »Ihr seid auch grob wie ungespalten Holz, aber ihr wisset's nicht, weil ihr euch selber vor eurem eigenen Schreien nicht höret. Ihn aber höret ihr, weil er mit seiner Bärenstimm Manns genug ist, euch alle ins Stroh zu schreien, und weil er noch trotziger und wilder und wüster als ihr reden kann, wenn er verzürnt ist. Das nehmet ihr dann als bare Münz, wiewohl er euch den Flecken noch lang nicht anzünd't hat, aber was Guts an ihm ist, das wollet ihr nicht für bar gelten lassen.«
Der Invalide blickte ruhig in den jetzt ausbrechenden Sturm, auf nichts als seine
Gebrechlichkeit vertrauend, obgleich wenig darauf zu wetten war, ob er mit heiler
Haut davonkommen würde: denn nicht nur war das Geschrei gegen ihn zum tobenden
Gebrüll geworden, sondern es hatten sich auch Fäuste gegen ihn erhoben, und
darunter die beiden
»Mir scheint's, man muß den Flecken noch besser säubern«, schrie der Fischer, dessen Stimme nur noch in der nächsten Umgebung zu verstehen war. »Wenn ein Fleckenräuber so Freund im Ort selber hat, so ist's kein Wunder, daß er sich bei Tag und Nacht ohne Gefahr hier aufhalten kann.«
»Er ist in der ganzen Zeit nicht ein einigsmal bei mir gewesen«, entgegnete der Invalide, der sich gleichfalls nur noch seinem Gegner und den Zunächstsitzenden vernehmlich machen konnte. »Er weiß wohl, daß ich ein alter hilfloser Mann bin und daß er mich nicht in Verlegenheit bringen will, wiewohl er weiß, daß ich ihm nicht feind bin, das ist auch noch nobel von ihm.«
»Nobel!« schrie der Fischer giftig. »B'hüt uns Gott vor Gabelstich, dreimal gibt neun Löcher!«
Der Aufruhr in der Gesellschaft hatte den höchsten Gipfel erreicht, als der Schütz
eintrat und durch sein Erscheinen wie ein Wetterableiter wirkte. Nicht der Anblick
des Stückes Obrigkeit, sondern sein Aussehen war es, was den Sturm beschwor. Die
listig zusammengekniffenen Augen, die blinzelnd auf der rotglühenden Nase
hafteten, und die schalkhaft herausgepreßten Lippen verrieten es, daß ihn ein
Geheimnis drückte, das neben einem Teil Verlegenheit viel Spaßhaftes enthalten
mußte. Die Blicke der
»Was ist's? Was gibt's?« schrien die andern.
»Im Amthaus hat man's seit heut vormittag schon gewußt«, fuhr der Schütz halblaut, doch so, daß die andern es hören konnten, gegen den Invaliden fort. »Dort ist ein Jubeln und Lachen drüber, daß dem gestrengen Herren so eine Eul aufgesessen ist. Wer Nasen wachsen sehen will, der muß jetzt nach Göppingen gehen, da ist eine ganze Kultur davon, wie ein junger Wald, alle so lang. Dasmal hat man's durch kein' Expressen runter vermelden lassen, sondern durch eine stille Gelegenheit.«
»Was ist denn geschehen?« fragte der Müller, dem Schützen sein Glas anbietend, da er dies für das geeignetste Mittel hielt, ihn zum Reden zu bringen.
Der Schütz trank es vergnüglich aus und antwortete dann: »Man darf's eigentlich noch gar nicht sagen, das Oberamt hat's bei Kopfabhauen verboten, denn dort schämen sie sich schwarz.«
Andere folgten dem Beispiel des Müllers, da der Schütz entschlossen schien, seine Neuigkeit so gut als möglich zu verwerten.
»Was ist denn los?« fragte endlich der Fischer den Invaliden.
Der Schütz sah den Fischer, der seinen Wein an ihm gespart hatte, eine Weile stillschweigend an, gleichsam um die Wirkung seiner Worte vorzubereiten. »Er ist durch!« sagte er dann geheimnisvoll.
Das blasse Gesicht des Fischers, der die Wahrheit bereits geahnt haben mochte, wurde einen Augenblick kreideweiß. Die andern begriffen noch nicht recht, um was es sich handelte, und starrten den Schützen mit aufgerissenen Augen an. »Wer ist durch?« fragte der Müllerknecht.
»Wer?« rief der Schütz. »Gibt's denn zwei so? Der von Hohentwiel über alle Mauern
und Felsen fortgeflogen ist, hat dem Göppinger Käfig die Ehr auch nicht lassen
wollen. Wie er gestern eingeliefert wor den ist, schon spät in der Nacht, hat man
ihn auf die Hauptwacht gesetzt, hat ihm ein eisern Halsband und den Hosenträger
angelegt und hat ihn mit einer Kette an die Wand angefesselt, so daß er drei, vier
Schritt hat in der Stub rumgehen können. Auch hat man ihm zween Mann beigegeben,
die ihn die ganz Nacht hätten verwachen sollen. In der Nachmittnacht ist der ein
Wächter fort und hat eins geschrien; wie er aber zurückkommt, find't er sein
Kameraden eingeschlafen – der behauptet, es müß ihm angetan worden sein – und kein
Sonnenwirtle ist nimmer dagewesen. Er hat den Göppingern ihren Geschmuck mit fort,
Halsband und Hosenträger, wahrscheinlich hat er's zum Andenken behalten wollen.
Und sein Christine wird jetzt auch
»Wie's Teufels ist er denn aber von der Kette kommen?« fragte der Müller.
»Du hast schon den rechten Namen genannt«, schrien ihm mehrere zu. »Kannst dir wohl denken, wer ihm allemal forthilft.«
»Jetzt muß wieder der Teufel im Spiel sein!« sagte der Invalide lachend.
»Wisset ihr nicht mehr«, rief einer der Gäste, »wie er in der Stub da – an dem Platz, wo jetzt der Peter sitzt, ist er gesessen« – der Knecht rückte bei diesen Worten etwas betreten den Stuhl – »wie er da gesagt hat, er glaub an gar nichts? Ich hab gleich bei mir denkt, es werd sein' guten Grund han, daß er nichts zugeben will. Denn sich aus Ketten und Banden nur so rausschälen und über Mauern und Felsen runterkommen – Mannen! das sind Ding, die nicht natürlich zugehen.«
Der Redner sah sich unwillkürlich um, ob nichts Unheimliches hinter ihm sei. Die andern murmelten: »Gott sei bei uns!«
Der Invalide hatte inzwischen dem Schützen zugehört, der ihm erzählte: »Man hat
auf seiner Britsch 'n Nagel gefunden, den er draus rausgezogen
»Wer hätt' sich's auch träumen lassen«, begann einer, »daß die Metzelsupp so ausging! Sie hat so lustig angefangen.«
»Es kann noch Blutwurst regnen«, fiel ein anderer ein. »Jetzt kann's der Fleck büßen müssen, daß man ihm so nachgestellt hat und erst noch vergeblich.«
»Es ist auch nicht recht«, sagte ein dritter, »daß man einen Menschen zu seinen Kindern lockt und bei ihnen überfällt. So was sollt man ja dem unvernünftigen Tier nicht zuleid tun.«
»Ja, 's ist wider die Natur«, sagte ein vierter. »Ich will nichts davon, und wenn ich auch drunter mitleiden muß, so weiß ich doch wenigstens, daß mich's unschuldig trifft.«
Er sagte dies so laut, daß man es in jeder Ecke der Stube hören konnte. »Nun, wenn er etwa unsichtbar zugegen ist«, bemerkte der Invalide lachend, »so hat er's sicherlich gehört und wird sich darnach richten.«
Der Fischer, der bei der veränderten Lage der Dinge die öffentliche Meinung von sich abfallen sah, sagte ingrimmig: »Die Göppinger können warten, bis ich ihnen wieder einen fang und mir für sie die Finger verbrenn.«
»Ja«, versetzte der Müller, »und meinen sie denn,
»Auf die Länge läßt's sich natürlich nicht verbieten«, sagte der Schütz. »Der Befehl ist aber, man solle vorderhand kein unzeitig Geschrei machen, wenn er aber so verwegen sei, daß er sich abermals in die hiesige Gegend ziehe, so solle man unverweilt und mit der größten Öffentlichkeit einen Preis von hundert Gulden auf seinen Kopf setzen.«
»Hundert Gulden?« rief der Fischer. »Auf sein' Kopf?« rief der Müller.
»Hundert Gulden, wer ihn bringt, lebendig oder tot«, antwortete der Schütz.
Der Fischer schlug die flachen Hände auf den Tisch. »Den Preis will ich verdienen«, sagte er.
»Ich auch!« rief der Müller.
»Und ich!« rief der Knecht, dem die Gespensterfurcht zu vergehen schien, seinem Meister nach.
Die anderen Gäste tranken schweigend aus, und ihre langen Gesichter verrieten, daß
das Gelübde der drei sie nicht sonderlich im Glauben an die Sicherheit des
Fleckens befestigt habe. Bei dem allgemeinen Aufbruch waren der Invalide und der
Schütz die letzten. »Gelt, Beck, hast auf eine größere Zech abgehoben?« sagte
dieser zum Bäcker, »und jetzt ist auf einmal ein Haar in dein' Wein gefallen. Ich
will dich wenigstens einigermaßen schadlos halten. Gib mir ein paar Schoppen mit,
das Amt soll's zahlen. Es muß heut nacht etliche Mannschaft auf'm Rathaus wachen,
für alle Fäll. Der Herr will ruhig schlafen können, denn 's ist ihm doch nicht
ganz
Er empfing den verlangten Wein und ging mit dem Invaliden fort. Der Bäcker, der
jetzt allein war, zündete eine Küchenampel an, löschte die Lichter aus und setzte
sich in den hinterlassenen Lehnstuhl seiner verstorbenen Frau, um hier die nahe
Backstunde abzuwarten, vielleicht auch in der Hoffnung, an die Wachmannschaft auf
dem Rathause noch etwas von seinem Wein abzusetzen. Er schlief ein, glaubte aber
noch nicht lange geschlafen zu haben, als er, durch ein Geräusch oder eine innere
Beunruhigung erweckt, die Augen aufschlug. Mit offenen Augen glaubte er zu
träumen, denn am Wirtstische saß in dieser späten Stunde eine Gestalt, die den
großen Krug vor sich aufgepflanzt, eine Flasche daraus gespeist hatte und den Wein
aus dem gefüllten Glase bedächtig kostete. Der Bäcker schloß die Augen und öffnete
sie wieder, aber die Erscheinung war noch immer da und schien greifbare
Wirklichkeit zu sein. Durch den Wald von Kopf- und Barthaaren, die das trotzige
Gesicht beinahe ganz bedeckten und ihm für einen unter lauter glatten Gesichtern
aufgewachsenen Menschen ein fürchterliches Aussehen gaben, erkannte er ihn bei dem
armseligen Schein der Ampel, den Gefürchteten, den Schrecken der Gemeinde, des
Amtmanns und des Vogts. Sein Blick ruhte mit spöttischem Ausdruck
»Er steht schon den ganzen Abend im Krug«, sagte der Bäcker schüchtern. »Ich will frischen holen.«
»Tu das und komm bald wieder, denn ich hab eine Erquickung nötig.«
Der Bäcker ging. Sowie die Türe sich hinter ihm geschlossen hatte, eilte der
seltsame Gast hinzu und horchte. Bald hörte er, wie die Haustüre ging und der
Schlüssel langsam und leise darin umgedreht wurde. »Ich hab's von dem Schubjack
nicht anders erwartet, als daß er mich verraten werde«, sagte er und sah sich in
der Stube um. Der große tiefe Wandschrank schien ihm zu gefallen: er schloß ihn
auf, leuchtete einen Augenblick hinein und stellte dann die Ampel wieder genau
dahin, wo sie gestanden war. »Schlechte Maus, die nur ein Loch weiß, aber es wird
genügen«, sagte er, schlüpfte in den Schrank und zog die Türe desselben hinter
sich zu. Er war noch nicht lange darin, als die Haustüre mit dem Geräusch
aufgeschlossen wurde und die Wachmannschaft, den Bäcker an der Spitze, in die
Stube stürzte. Sie sahen sich um. »Wo ist er denn?« schrien alle wie aus einem
Munde. »Da ist
»Das ist noch das Vernünftigst, was dir den ganzen Abend durch den Schädel gangen ist«, sagte der Schütz. »Und da wir einmal da sind, so wollen wir eben so frei sein und des Sonnenwirtles sein Wein versuchen. Sein Wohl! Ich wünsch ihm, daß er weit von hier sein guts Brot finden und uns nichts mehr zu schaffen machen möcht.«
Er trank und ließ die Flasche weitergehen. »Du
»Ja, du hast deine beste Züg im Hals«, bemerkte ein dritter.
Nachdem die Flasche geleert war, sprachen sie auch noch dem Kruge zu, scherzten über die Geisterseherei des Bäckers und begaben sich endlich wieder auf ihren Posten zurück. Der Bäcker begleitete sie, schloß die Haustüre hinter ihnen sorgfältiger als jemals ab und ging wieder in seine Stube. Aber wer vermag sein Entsetzen zu beschreiben, als er seinen furchtbaren Gast an derselben Stelle und in der gleichen Haltung wie vorhin am Tische sitzen sah. Langsam und ruhig, aber mit dem strengen Blicke eines Richters, wendete dieser sein Gesicht nach ihm hin. »Elender Hund«, sagte er, »hab ich dir je in meinem Leben etwas zuleid getan? Kannst du's vor deinem Weib verantworten, daß du den Verräter an mir gemacht hast? Sie würde dich nicht mehr ansehen, wenn sie noch lebte. Geh, du bist nicht wert, in dem Stuhl zu sitzen, der so oft ihr Schmerzenslager gewesen ist.«
Der Bäcker zitterte und hatte alle Fassung verloren.
Der Gast schlug ein Gelächter auf, das dem Wirt durch Mark und Bein ging. »Was seid ihr doch für er bärmliche Dummköpfe!« rief er. »Ihr habt mich gesehen, angerührt und in der Hand gehalten und habt mich doch mit allen euren Lichtern nicht gefunden.«
Der Bäcker starrte ihn mit irren Blicken an. Der
»Dummer Tropf! da, in der Bouteille bin ich gesteckt!« rief jener endlich höhnisch.
Der Bäcker fiel auf die Knie, streckte die Hände, wie um Gnade flehend, nach ihm aus und war feig genug, zur Verminderung seines eigenen Kerbholzes, ihm zu verraten, welches Gelübde der Fischer, der Müller und dessen Knecht getan.
»Jetzt hol mir frischen Wein, hast mich lang genug warten lassen. Ich will dich noch einmal auf die Probe stellen, aber ich folge dir unsichtbar. Wenn du mir einen falschen Tritt tust, so sitz ich dir im Nacken und will dich reiten, daß du nach Gott schreien sollst. Und misch mir den Wein nicht, Schuft, oder du sollst mir keines natürlichen Todes sterben.«
Diesmal brauchte er nicht an der Türe zu lauschen, denn der Bäcker hatte sie weit
offengelassen. Er hörte ihn den richtigen Weg nach dem Keller einschlagen, aus
welchem er bald wieder zurückkam, fast wahnsinnig vor Angst, die sich erst etwas
legte, als er das Gespenst nicht mehr hinter sich vermuten mußte, sondern
leibhaftig vor sich am Tische sitzen sah. Der Unhold stellte ihm die mißliche
Aufgabe, sich zu besinnen, welche Strafe er durch seinen Verrat verdient habe, und
trank, während der Bäcker alle Qualen der Todesangst ausstand, seinen Wein langsam
und behaglich aus. Dann erhob er sich mit
Der Geächtete ging nach der einzigen Heimat, die er noch in seinem Vaterorte hatte, obwohl auch diese für ihn unzuverlässig geworden war. Er drückte den Riegel der Hintertüre, den Finger durch die Türspalte drängend, leise zurück, und nach wenigen Augenblicken stand er vor dem Bette seiner Schwiegermutter. Auch dieser drang ein eisiger Schreck durch die Gebeine, als sie, plötzlich erwachend, in ungewissem Sternenlichte eine geisterhafte Gestalt mit aufgehobenem Finger vor sich stehen sah und alsbald ihren verratenen Schwiegersohn erkannte.
»Welchen Judaslohn habt Ihr für die Auslieferung gekriegt?« fragte er.
Sie vermaß sich mit den höchsten Schwüren, daß sie weder etwas bekommen noch etwas
verdient
»Da siehst, Friederle, daß dein Vater frei ist. Brauchst dich nicht zu grämen. Willst mit?«
»Er wird doch nicht das Kind durch die Wälder rumschleifen wollen!« rief die Alte lebhaft. »Ein Vater kann sein' Buben in dem Alter noch nicht pflegen.«
»Er hat ja seine Mutter«, antwortete er. »Sie ist frei und wohl aufgehoben.«
»Gott sei Lob und Dank!« rief die Alte, sei es, daß eine menschliche Regung sie erfaßt hatte oder daß sie ihn in guter Laune zu erhalten trachtete. »Aber wenn auch!« fuhr sie fort, »das ist kein Leben für ein Kind, und mein Hühneraug sagt mir, daß noch einmal Schnee fällt. Laß Er mir nur den Buben da, ich geb ihn nicht her.«
Sie kannte ihn wohl und hatte die rechte Saite getroffen. »Wenn Ihr eine gute Ahne seid«, sagte er, »so will ich fünfe grad sein lassen. Aber fahret mir säuberlich mit den Kindern, das sag ich Euch. Wo ich auch bin, mein Aug zielt immer daher, und ich weiß immer, wie's bei Euch steht, so gut als wenn ich gegenwärtig wär.«
Er küßte die Kinder, von welchen das kleinere ruhig fortschlief, und wandte sich zum Gehen.
»Ich will noch einmal mit dem Sonnenwirt wegen
»Schon recht, aber erst tu ich noch einen Tuck«, antwortete er und war verschwunden. Die Alte fuhr unter die Decke und murmelte ein langes Dankgebet für ihr glückliches Entrinnen.
Am anderen Tage geriet der Flecken in eine unaussprechliche Aufregung, als man die
Begebenheiten der verflossenen Nacht erfuhr. Außer dem Besuche bei dem Bäcker, der
infolge der erlittenen Schrecknisse krank darniederlag, hatte der Sonnenwirtle
noch ein weit tolleres Stück verübt. Er war auf unerklärliche Weise in das Haus
seines Todfeindes, des Fischers, eingedrungen, hatte diesen nebst dessen Frau aus
ihrem zweischläfrigen Bette aufgescheucht, sich's auf demselben bequem gemacht und
das Ehepaar mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen, ihm die ganze Nacht Gesellschaft
zu leisten. Kochend vor Wut, hatte der Fischer es gleichwohl nicht wagen dürfen,
einen Fuß zu rühren oder einen Laut von sich zu geben, und war der Gewehrmündung
des schwergereizten Feindes, so wie einem bitter höhnenden Witze eine endlose
Nacht hindurch preisgegeben gewesen, während nicht weit davon auf dem Rathause für
die allgemeine Sicherheit gewacht wurde. Vor Tagesanbruch hatte der
Von diesem Tage an wurde der ausgestoßene Sohn des Sonnenwirts von dem im Banne
des tiefsten Aberglaubens befangenen Volk zum Helden einer Sage erhoben, welche
sein wunderbares Entkommen aus Mauern und Banden dem Bunde mit der Hölle
zuschrieb. Der Amtmann war in Verzweiflung, da dieser Hexenglaube vollends alle
Tatkraft lähmte und den zur Rache entflammten Flüchtling, dessen hellem Geiste
sich hier ein neues Schreckmittel darbot, zum unumschränkten Herrn des Fleckens zu
machen drohte. Der Fischer und der Müller, dem sein Knecht blindlings folgte,
erholten sich zuerst von den Schrecken jener Nacht, indem bei ihnen die Wut über
den Aberglauben siegte. Besonders wurde der Fischer durch die Spöttereien des von
ihm herausgeforderten Invaliden aufgestachelt, welcher keine Gelegenheit
vorüberließ, auf die heimlichen Gastfreunde, die der Sonnenwirtle im Flecken habe,
anzuspielen; und er beteuerte
Aber auch dem Geächteten konnten selbst seine erbittertsten Feinde mildere
Herzensregungen nicht absprechen. Es war eben um jene Zeit, daß ein Eßlinger
Metzgerbursche, der auf den Einkauf von Schlachtvieh in die Dörfer der Umgegend
ausgesandt war, abends spät noch halb tot vor Schrecken nach
Wie ein böser Geist schweifte er um seinen heimatlichen Flecken umher, und wenn er Leute traf, so verhörte er sie, was man in Ebersbach von ihm sage, wobei er niemals unterließ, die grausamsten Drohungen auszustoßen, so daß ihm die Sage bereits eine Menge Greueltaten andichtete, ehe er eine einzige begangen hatte. Sein von Groll und Rache umhergetriebenes Gemüt sann die wildesten Taten aus; aber das angeborene bessere Gefühl hielt seine Hand zurück.
Der letzte Schnee des Winters war gefallen und wieder gegangen. Der Frühling hatte den Wald mit dem Jauchzen der Vögel erfüllt und das Feld mit dem lichten Meere seiner Blüten überflutet; die Blüten waren gefallen, und der Waldgesang war immer dünner geworden. Die Sonne brannte stärker, und der anbrechende Sommer verhieß der harrenden Welt die Fülle seines Segens, so daß es unmöglich schien, daß inmitten des überall aufschießenden Reichtums Armut, Not, Hunger und Gier nach der Habe des Glücklicheren in der Welt vorhanden sein sollte.
Auf einem abgelegenen Hofe, der zwischen dem Hohenstaufen und dem Filstal mitten
in den Wäldern von einem spärlichen Stück Feldes umgeben lag, saß eines Tages der
Erbe der ›Sonne‹ von Ebersbach bei dem Weibe, um dessen Besitz er so lange mit der
Welt gestritten hatte, bis ihm selbst jeder Anspruch auf ein Eigentum und eine
Heimat in der Welt verlorengegangen war. Mit Hilfe des Krämerchristle, der nach
seinem Vornamen und einem kleinen
Nach einem langen trüben Stillschweigen warf sie einen Blick auf seinen abgenutzten Rock, sah aufmerksam hin und rief: »Daß Gott erbarm! Du hast ja Blut am Ärmel.«
»Kann sein«, erwiderte er, »es hat dich schon einmal unnötig erschreckt.«
»Das ist aber im Winter gewesen. Frieder, Frieder, sag mir's, hast du jemand erschossen?«
»Just wie damals, wo du mich das erstemal gefragt hast. Damals hab ich gesagt: ›Dumme Seel, freilich hab ich einen erschossen, draußen im Wald liegt er, hat ein ledern Röcklein an und einen zackigen Hut auf'm Kopf‹; und dasselbe sag ich dir heut wieder.«
»Ja, ist denn schon wieder die Zeit, daß man einen Hirsch schießen kann?«
»Schlechte Aussicht!« sagte sie. »Und ich spür's hier wohl, daß du nicht viel ins Haus bringst.«
»Sind sie wüst gegen dich?«
»Das grad nicht, sie sind freundlicher als auf den andern Höfen, wo du mich hinbracht hast. Deine Verbindung mit dem Christle tut mir gut bei ihnen, aber doch lassen sie mich's merken, daß du das Kostgeld die Zeit her schuldig blieben bist.«
»Mach dich jetzt auf, Christine, mußt mir die Hirschhaut den Wald hinuntertragen, abgezogen hab ich sie schon, und in der Teufelskling verstecken, damit sie der Christle mitnehmen kann. Er kommt morgen von Rechberghausen aus dort hinab, und von da mußt du mit ihm den Waldsteig nach Gmünd gehen.«
»Das geschieht mir sauer«, wendete sie weinerlich ein.
»Du kannst mir nicht vorwerfen, daß ich dich plage«, entgegnete er. »Ich hab dich
ein einzigsmal diesen Winter zur Jagd mitgenommen und hab gemeint, du könntest mir
am Wald vorstehen und das Wild zurücktreiben. Wie du aber wehleidig getan hast,
hab ich dich gleich gehen lassen und nie wieder mitgenommen. Diesmal aber muß es
sein, die
Sie seufzte. »Du mußt dich aber vor rasieren«, sagte sie verdrossen. »Jetzt hast schon wieder ein achttägiges Stoppelfeld, und ich leid's nicht, daß du dir den Bart wachsen läßt, denn du siehst so arg wild drin aus, und wenn dir jemand begegnet, so muß er wunder was von dir denken.«
»Meinetwegen!« brummte er, griff ohne Umstände nach dem Rasierzeug des Hofbesitzers und kam ihrem Begehren nach, worauf sie den Hof verließen und den Weg nach dem Walde einschlugen.
»Ist denn gar keine Möglichkeit, aus dem Leben da fortzukommen?« fragte sie im Gehen mit kummervoller Miene. »Du hast mir versprochen, du wollest mich nach Frankfurt mitnehmen, oder in den Krieg, hast auch von Amerika gesagt. Ich ging überall mit dir hin, wenn ich nur aus dem Leben draußen wär und die Kinder bei mir hätt'.«
»Warum hast dich in Dettingen fangen lassen!« versetzte er unwirsch. »Während
deiner Gefangenschaft ist mein Erspartes von Sachsenhausen draufgangen, mein Vater
tut keinen Zug, um sein Versprechen zu halten, und wie kann ich denn als ein
vogelfreier Mensch etwas erwerben, damit wir zu
»Um Gotts willen nur nichts so!« rief sie.
»So sagst du immer, aber dabei willst in einem fort Geld und Lebensmittel und bekümmerst dich nicht drum, wo ich's hernehmen soll. So hast du mich auch gequält, bis ich meinem Vater die Frucht geholt hab, und dann wieder, bis ich dem Pfarrer ins Haus gestiegen bin, und hintennach ist dir's dann doch wieder nicht recht gewesen.«
»Es ist auch nicht recht«, sagte sie.
»Gelt, weil's zu bösen Häusern führen kann? Wenn du das nicht willst, so schick dich eben in die Zeit, nur mach mir nicht den Kopf mit deinem Lamento warm.«
»Ach!« seufzte sie, »ich hab mir eben ein ganz anderes Leben fürgestellt, wie wir von Neckardenzlingen miteinander fort sind. Da hab ich schon gemeint, ich werd wieder jung, und hab alles gern dahinten gelassen.«
»Machst mir das zum Vorwurf? Bin ich nicht auch im Rohr gesessen und hätt' mir Pfeifen schneiden können, und hab ich nicht um deinetwillen auf alles verzichtet?«
»Wärst lieber blieben, bis sich etwas für uns gemacht hätt'. Hätt'st mir ja derweil schreiben können.«
»Man kriegt ja keine Antwort von dir. Und hab
»Ich will nichts mehr sagen«, versetzte sie, »du wirst gleich so wild.«
Sie gingen lange Zeit stillschweigend hin. »Was siehst du denn immer auf den Boden?« fragte sie, da ihr sein Benehmen auffiel.
»Da ist wieder einer!« rief er, sich bückend und etwas aufhebend. Es war ein frisch abgebrochener gabelförmiger Zweig. Er betrachtete ihn von allen Seiten, schüttelte den Kopf, da er nichts weiter daran fand, und legte ihn sorgfältig wieder auf den Boden. Dann sah er sich an den Bäumen um, blickte scharf von Stamm zu Stamm, schüttelte den Kopf abermals, als fände er nicht, was er erwartete, und setzte den Weg wieder fort. Sie waren eine weitere Strecke gegangen, da lag ein neuer Zweig von gleicher Form, den er aufmerksam betrachtete, worauf er den eingeschlagenen Weg verließ und einen schmalen Seitenpfad zur Rechten betrat. Christine folgte. Mit zufriedenem Kopfnicken fand er dort bald wieder einen Zweig von der vorigen Art und weiterhin noch mehrere. Sie waren einer wie der andere an der Seite des Weges schief hingelegt, so daß von den beiden Spitzen der Gabel, deren eine geknickt war, die andere unversehrte in gleicher Richtung mit dem Wege vorwärts deutete.
»Das sind Zeichen«, bemerkte Christine, welche den Zweigen und seiner Beobachtung
derselben eine gespannte
»Wenn er da wär, so hätt' er mir seinen Zinken irgendwo hinterlassen«, versetzte er, »es ist aber nirgends nichts zu sehen.«
Nachdem sie noch ein wenig fortgegangen, kamen sie auf einen freien Platz, welcher sich nach einem Waldabhang senkte und einen weiten Blick über endlose Waldung tun ließ, die in reicher Abwechslung von Höhen und Tiefen sich um den Hohenstaufen lagerte, gegen das Remstal abwärts und nach den jenseitigen Hügeln strich. Die Zeichen, wenn es solche waren, schienen hier aufzuhören. Christine setzte sich müde auf den Boden. Friedrich schaute achtsam in die Waldgegend hinein, als ob er in der Ferne hinter jedem Busch ein Wild oder etwas anderes aufspüren müßte. Auf einmal blieb sein Auge an einer Waldecke unter dem Hohenstaufen hängen. Ein leichter, bläulicher Rauch ging dort kräuselnd aus den Spitzen der Bäume hervor und schien sich hinter einigen höheren Wipfeln zu verlieren. Er blickte unverwandt hin; der Rauch verschwand, kam wieder zum Vorschein und verschwand wieder. Sein Entschluß war gefaßt. Er rief Christinen vom Boden auf. »Siehst dort den Waldspitzen herwärts von Wäschenbeuren?« sagte er, »dort kannst mich nachher treffen oder auf mich warten, dort will ich anstehen, ob ich vielleicht noch einen glücklichen Fang tue.«
Christine machte sich schwer seufzend auf ihren Weg. »Wie anders hätt' ich's, wenn ich bei meiner Schulmeisterin blieben wär!« sagte sie zu sich, »und meine Kinder wären nicht schlechter versorgt als jetzt auch.«
Unterdessen hatte er sich der erspähten Stelle wieder zugewendet und bald fand er,
daß seine Vermutung richtig sein müsse. Der eingeschlagene Pfad führte ihn über
einen rauhen Fahrweg, auf welchem wieder ein Zweig von der beschriebenen Gattung
lag. Das Gabelende, das den Wegzeiger bildete, wies scharf über die Straße nach
einer Waldfurche hin. Er folgte der Richtung und gewahrte nach wenigen Schritten
bei einem Durchblick, daß sie gerade auf jene Waldecke zu führte, wo jetzt ein
stärkerer Rauch aus den Bäumen emporwirbelte. Nun suchte er nach keinem weitern
Zeichen am Boden mehr, sondern schritt rüstig waldein, waldaus nach der Stelle, zu
der es ihn zog. »Wenn er selbst nicht da ist«, sagte er zu sich, »so treffe ich
seinesgleichen, die mir sagen können, wo er ist; denn solche Zeichen hat weder ein
Bauer noch ein Jäger ausgestreut. Ich bin fertig mit der Welt, eine Staffel um die
andere haben sie mich herabgestoßen, jetzt bin ich auf der letzten. Er hat mir
richtig prophezeit: ›Wenn du keinen Aus- und Eingang mehr weißt,
Die Sonne brannte glühend über den öden Gipfel des schlanken Berges herab, als er
an dessen Fuß auf die Waldecke zuschritt. Er eilte in ihren Schatten. Das geladene
Gewehr mit gespanntem Hahn für alle Fälle zum Anschlagen fertig haltend, sei es
gegen ein Tier, sei es gegen einen Angriff von Menschenhand, schlug er sich
langsam durch die Bäume vorwärts. Bald hörte er Stimmen und Gelächter und ging dem
Schalle nach. »Steck mir vom Balo!« hörte er sagen, als er näher kam, und zu
gleicher Zeit drang der Geruch eines gebratenen Schweines zu ihm, um ihm den
Ausdruck, wofern dies nötig gewesen wäre, zu verdolmetschen. Er hatte keinen
Zweifel mehr: wo jenische Laute sich vernehmlich machten, war weniger Gefahr für
ihn, als wo deutsch oder gar das römisch-deutsche Rotwelsch des Gesetzes
gesprochen wurde. Wer auch die Schmausenden sein mochten, in seiner verzweifelten
Lage brauchte er weder ihre Feindschaft noch ihre Freundschaft zu fürchten. Er
brachte den Hahn in Ruh, behielt aber die Büchse in der Hand und ging entschlossen
vorwärts. Auf einmal stand er, zwischen den Bäumen hervortretend, auf einer
kleinen Waldwiese, wo eine lustige Gesellschaft um ein Feuer lagerte. Sie bestand
aus drei Männern und drei Frauen, welche sämtlich so anständig gekleidet waren,
daß er, ein Mißverständnis besorgend, zurücktreten wollte. Aber schon war er
bemerkt worden und sah ein paar Gewehrläufe auf sich gerichtet,
»Willkommen!« rief er und streckte ihm die Hand entgegen. »Hab ich's nicht gesagt, wir sehen unswieder?«
»Grüß dich Gott, Christianus!« erwiderte Friedrich und schüttelte ihm die Hand. »Hab da auf einen Hirsch anstehen wollen, und jetzt treff ich noch ein ganz anderes Stück Hochwild. Du wärst aber schwer zu finden gewesen, wenn ich dich hätte suchen wollen, denn deinen Zinken hab ich nirgends gesehen.«
»Was ist denn mit deinem Aug passiert?« fragte Friedrich weiter.
»Ich hab eine kleine Ungelegenheit gehabt«, antwortete der Zigeuner ausweichend, »und da hab ich den queren Scheinling eingebüßt.« »Aber komm«, unterbrach er sich, »ich muß dich der Gesellschaft vorstellen.«
Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn gegen das Feuer, an welchem ein ganzes Schwein briet und einen Duft ausströmte, der einen Hungrigen wohl in Versuchung führen konnte. »Merkt auf, ihr Männer, und spitzt die Ohren, ihr Weiber!« rief er, »hier bring ich euch einen Freund, nach dessen Bekanntschaft ihr euch schon lang gesehnt habt. Das ist«, fuhr er mit erhobener, beinahe feierlicher Stimme fort, »das ist der Mann, dessen Name in jedem Walde zwischen Rhein und Donau mit Hutabziehen genannt wird, obgleich er seinen eigenen Wert nicht kennt, der Mann, vor dem ein ganzes Amt zittert, der Mann, dessen Genie die Festungswerke von Hohentwiel zu einem Kinderkartenhäuschen gemacht hat –«
»Ah!« riefen die drei weiblichen Mitglieder der Gesellschaft, die im Begreifen den Männern vorauseilten.
»Mit einem Wort«, vollendete der Zigeuner, indem
Mit einem Schrei der freudigsten Überraschung sprangen alle auf und umringten den Ankömmling, der kaum wußte, wie ihm geschah. Er glaubte zu träumen. Ausgestoßen, gehaßt und verachtet, wie er war, hatte er bis jetzt höchstens die traurige Befriedigung genossen, sich gefürchtet zu sehen, und durch seine Geschicklichkeit im Wildern hatte er sich bei den Hofbesitzern und Bauern eine gewisse eigennützige Teilnahme erworben; aber die Freundschaft, Achtung, Bewunderung, ja Ehrerbietung, die ihm hier als einem jungen Manne, der schon so Großes geleistet, erwiesen wurden, und zwar von Leuten, durch deren, wie es ihm schien, ungewöhnliche Bildung und Redeweise er sich zugleich gehoben und gedemütigt fühlte, diese Erzeigungen waren ihm unbekannt, und während seine Bescheidenheit sich gegen das Übermaß des Lobes und Preisens sträubte, tat doch die ungeheuchelte Anerkennung, die sich darin äußerte, nicht bloß seiner Eitelkeit, sondern auch seinem Herzen wohl.
»Nun will ich dir die Gesellschaft vorstellen«, fuhr der Zigeuner fort. Er deutete
auf einen großen Mann, dessen freundliches Gesicht, unterstützt durch einen
feinen, weißblauen Rock, einen günstigen Eindruck machte, nur daß um den
lächelnden Mund ein spöttischer Zug lauerte und die etwas gemeine Barchentweste
weder zu den silbernen Knöpfen, mit welchen sie besetzt war, noch zu dem feinen
Rock recht passen wollte. »Das ist mein Freund Bettelmelcher«,
Der Mann mit dem abstoßenden Namen reichte dem Gaste die Hand und bewillkommte ihn mit so zierlich gesetzten Worten, daß der widersprechende Eindruck, den sowohl sein Gesicht als seine Kleidung hervorbrachten, bei einem Neuling schnell ausgeglichen wurde.
»Und dieser«, sagte der Zigeuner, indem er den andern am Arme nahm, »ist mein Freund Schwamenjackel, ein sehr ernsthafter Kerl, wenn er anfängt, denn da heißt's bei ihm: ›Nix Pardon!‹ aber seinen Freunden treu und anhänglich; wenn er einen einmal zum Freunde angenommen hat, so geht er durch's Feuer für ihn – ein grundehrlicher Kerl!«
Der also Geschilderte zerdrückte dem Ankömmling die breite, starke Hand, daß dieser das Blut in den Fingerspitzen fühlte, und sagte mit heiserer Stimme: »Wollen gut Freund sein.« Dann räusperte er sich, als ob die paar Worte ihm die Kehle angegriffen hätten, und nickte stumm dazu.
Er war eine kurze Gestalt, noch etwas unter Friedrichs Größe, aber dicker. Sein
Gesicht war leserlicher als das seines Gefährten, aber es bedurfte einiger
Überwindung, um darin zu lesen. Ein starker schwarzer Bart, an den unteren Haaren
ins Gräuliche streifend, gab den groben Zügen den Ausdruck einer ungeschlachten
Verwogenheit; hinter den buschigen Augenbrauen lagen ein paar bösblickende Augen
wie in tiefen Höhlen; die niedrige Stirne
Hierauf stellte ihm der Zigeuner den weiblichen Teil der Gesellschaft mit den Worten vor: »Das ist meine Mutter Anna Maria, eine betagte Witwe, die viel erlebt und erlitten hat, und das sind meine Schwestern Margareta und Katharina, die sich dir schon selbst zu empfehlen wissen werden.«
Der Gast machte einen verlegenen Kratzfuß; es war ihm in seinem Leben noch nicht
begegnet, daß er so förmlich einer weiblichen Gesellschaft vorgestellt wurde. Aber
die Anwesenheit der beiden bildhübschen Mädchen, die er vom ersten Augenblick an
unwillkürlich immer wieder hatte ansehen müssen, erhöhte den anziehenden Eindruck
des Empfanges nicht wenig für ihn. Sie waren, wie ihre Mutter, von Kopf bis zu Fuß
schwarz gekleidet und trugen, während jene ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen
hatte, breitrandige Strohhüte von geschmackvoller Form, die ihnen ein freies,
kühnes Aussehen gaben. Die ältere sah gar nicht wie eine Zigeunerin aus, sie hatte
hellbraune Haare und ein Gesicht wie Milch und Blut, aus welchem ein Paar
hellgraue Augen keck und lustig hervorblitzten; über ihrer vollen Brust wogte eine
silberne Kette auf und ab, und ihre Finger strotzten von Ringen. Die jüngere, die
ihr Bruder Katharina geheißen, war ohne allen Schmuck, bis auf ein brennend rotes
Halstuch, das der Farbe ihres Gesichts und Halses verführerisch zu Hilfe kam; denn
wenn sie auch so wenig wie ihre Schwester einer Zigeunerin gleich sah, so
»Es ist uns eine große Ehre, den Herrn Sonnenwirt bei uns zu sehen«, sagte die
Alte, indem sie die Vorstellungsfeierlichkeit
»Bitt Ihnen!« stammelte der Gast verlegen und bescheidentlich. »Ich bin nicht Sonnenwirt. Mein Vater ist immer noch auf der Wirtschaft. Man hat mich in meinem Ort eben den Sonnenwirtle geheißen, wie man des Anwalts Sohn den Anwältle heißt, und wie man des Amtmanns seinen, wenn der nämlich einen hätt, den Amtmändle heißen würde. Weiter ist's nichts.«
Alle lächelten, und selbst der rauhe Schwamenjackel verzog den Mund ein wenig.
»Nun sitz dich endlich, Bruder Sonnenwirt!« sagte der Zigeuner lachend. »Wir sind freie Leute; was kümmern uns Rang und Titel in dieser einfältigen Welt! Wenn's dir aber nicht genehm ist, deines Vaters Titel zu führen, nach dem du freilich kein großes Verlangen verspüren wirst, so wollen wir dir seinen Namen geben. Reicht dem Friedrich Schwan die Hände, Mädels, und das mit Respekt, und nun wieder zu unserm Geschäft!«
Die beiden Mädchen nebst der Mutter gaben dem Gast die Hände, wobei die ältere
Schwester ein warmes Fingerspiel mit unterlaufen ließ, die jüngere aber sich auf
einen kurzen Handschlag ohne irgendeinen Druck beschränkte. Er wurde zwischen die
beiden Schönen gesetzt, und die Mahlzeit nahm ihren Fortgang, wobei ein köstlicher
Wein aus einem Fäßchen,
Der »Balo« war unter Scherzen und Erzählungen verspeist, wobei die Geschichte des
Ausbruchs von Hohentwiel, der einem der drei Kühnen das Leben gekostet hatte, den
Hauptgegenstand bildete, und das auf einem Baumstumpf aufgelegte Fäßchen war schon
geneigt, als der Zigeuner zum Beweise für die Schlechtigkeit der Welt die
Lebensgeschichte des neuen Freundes zu erzählen begann und ihn dadurch zu
Berichtigungen und Ergänzungen nötigte. Die Mitteilung wurde mit der lebhaftesten
Teilnahme aufgenommen, und selbst Schwamenjackel bemerkte, es sei scheußlich, so
mit einem Menschen umzugehen.
»Wißt ihr das Stückchen vom Leutnant Löw und seinem Louisd'or?« fragte die jüngere
der beiden Zigeunermädchen, und auf Verneinen der anderen erzählte sie: »Eine arme
Frau mit einem Kind steht weinend an der Kirche. Begegnet ihr ein Jud und
Die Gesellschaft brach in ein unbändiges Gelächter aus, in welchem sich Schwamenjackels Stimme durch ein eigentümliches Grunzen unterschied. Bettelmelcher lachte, daß ihm die Tränen in den Augen standen.
»Leutnant Löw?« fragte der Gast, als man sich müde gelacht hatte. »Unter welchem Militär gibt's denn jüdische Offiziere?«
Das Gelächter brach von neuem so heftig aus, daß er, in der Überzeugung, ungeschickt gefragt zu haben, mitlachen mußte.
»Diese Art Militär«, belehrte ihn der Zigeuner, »ist bei Mergental zu Hause, steht
aber nicht im Dienste des deutschen Ordens, obwohl unter allen Ländern dort am
besten zu leben ist, denn der Deutschmeister
»Das war auch nicht recht«, bemerkte Bettelmelcher, »denn der Jägerkasperle ist zwar nicht groß, aber ein solch rahner, flüchtiger, gewandter Bursch, daß er's mit dem Teufel aufnimmt, freilich mehr in List als Gewalt. Er lobt besonders den Welzheimer Markt. Ich freue mich sehr auf den lustigen Bürsten-und Kehrwischhändler, der sich die Leute durch so hohe Preise vom Leib zu halten versteht, daß ihm gewiß niemand seinen nötigen Vorrat abnehmen wird. Auch auf sein kleines sauberes Frauele freu ich mich: sie ist eine treffliche Bemutter und wird nicht leicht eine so geschickt einen Beutel wegzustibitzen wissen.«
»Jawohl«, sagte der Zigeuner. »Diese Juden«, fuhr er in seiner unterbrochenen Rede
fort, »sind ganz verfluchte Kerls. Sie haben ein Regiment und Staat errichtet,
dergleichen zwischen Rhein und Donau nirgends ein ähnliches existiert, und die
Sache wär wohl der Nachahmung wert. Sie müssen einen unbegreiflichen
»Da wird's für einen Anfänger nötig sein, sich ein hebräisches Wörterbuch anzuschaffen«, bemerkte die alte Zigeunerin mit wohlmeinendem Tone gegen denselben, »denn das Jenische reicht bei ihnen nicht ganz aus, sie mischen mehr hebräische Wörter darunter. Übrigens«, wendete sie sich gegen ihren Sohn, »sehe ich nicht ein, warum man den Juden in ihren Sack arbeiten soll. Und wie lang werden sie's noch mit ihren Gewalttaten treiben? Ich bin überhaupt nicht für diese Art von Arbeit. Diese Einbrüche machen einen großen Lärm weit umher, verderben das Terrain, mißlingen oft und tragen im besten Fall nicht viel ein, weil der Gewinn in zu viele Teile geht. Ich lobe mir die stillen sichern Marktunternehmungen, wie sie in unserer Familie bisher gebräuchlich gewesen sind. Kennt unser Gast die Fuhre? Ich denke, wir dürfen ihn als einen Kochum, das heißt, wenigstens als einen vertrauten Mann betrachten?«
»Ich bürge für ihn«, rief der Sohn, während der Gast erwiderte, daß die Fuhre ihm bis jetzt ein unbekanntes Wesen sei.
»Die Fuhre«, belehrte ihn die alte Zigeunerin, »ist eine zweckmäßige Kleidung für
den Marktgang –«
»Richtig, und ist. eine sehr sinnreiche Mode –«
»Für die Weiber«, sagte Schwamenjackel. Die jungen Leute lachten zusammen.
»Für die Weiber«, fuhr die Alte geduldig fort, indem sie jedoch zugleich einen stechenden Blick nach dem Unterbrecher sendete. »Ober- und Unterkleid, welche sehr weit und faltig sind, werden am unteren Saum rings mit einem Faden zusammengezogen, der innen auf beiden Seiten bis zu den hohlen Taschenöffnungen heraufgeht. Auf diese Weise bildet das Kleid einen großen Sack, in den eine tüchtige Schottenfellerin zwei, drei Ballen von je zwanzig Ellen und mehr nacheinander hineinpraktizieren kann, ohne daß jemand eine Spur davon sieht. Ist das Gepolster zu groß, so deckt man's mit dem breiten Strohhut zu. Der Krämer muß sich's gefallen lassen, daß man vor seine Bude tritt und seine Waren prüft. In der Regel hütet er nur die kleineren Stücke und denkt nicht daran, daß ihm so ein großer Pack verschwinden kann. Wenn er aber etwas merkt, so zieht man nur den Faden auf, daß die Ware durch die Säume auf den Boden fällt, hebt sie auf, als ob man sie zufällig vom Tische gestreift hätte, und überreicht sie mit dem größten Anstände von der Welt, so daß er noch höflich danken muß.«
»Das Schottenfellen«, bemerkte der Gast, »scheint mir also bloß ein Geschäft für die Frauenzimmer zu sein. Da haben ja die Männer das Zusehen.«
»Ein rechtes Frauenzimmer wird sich's stets als ein
»Die Weiber sind flinker und gescheiter als die Männer«, bemerkte die jüngere stolz. »Was die mit ihren plumpen Fingern bei einem Einbruch davontragen, reicht oft nicht, um einen Tag zu leben, während ich auf einem guten Markt, wie sie am Rhein drüben sind, ein paar hundert Gulden an einem einzigen Tag verdienen will.«
»Vom Weibsverdienst zu leben, das war nicht nach meinem Geschmack«, versetzte der Gast.
»Und ich«, erwiderte sie, »möcht mich nicht von einem Mann erhalten lassen. Lieber will ich ihn erhalten, wenn mir einer gefällt.«
»Die Männer sind nicht so müßig dabei, wie man meint«, sagte die Alte. »Sie haben auf dem Markt einen wichtigen Dienst zu versehen. Einmal müssen sie ihren Schottenfellerinnen die Waren in Sicherheit bringen, damit diese, wenn gerade ein guter Tag ist, wieder ihrer Arbeit nachgehen können. Dann müssen sie den Markt bewachen, nicht bloß gegen die Fleischmänner, die dort Aufsicht halten, sondern oft auch gegen Bekannte, die sich einen Anteil vom Ertrag nehmen wollen und vorgeben, man habe ihnen den Markt verderbt. Ein Mann hat also oft alle Hände voll zu tun, wenn der Markt glücklich ausfallen soll, und einer allein ist nicht immer Manns genug, denn wenn's Lärmen gibt, die Fleischmänner über die Weiber herfallen und sie gefangen nehmen wollen, so müssen die Männer sie oft mit Gefahr ihres Lebens befreien.«
»Ja«, fiel der Zigeuner ein, »da ist im Pfälzischen drüben so ein vermaledeiter Kerl, der Kastor, der's mit der Kostenbärbel und ihrer Tochter hält. Der führt eine schöne Polizei auf den pfälzischen Märkten, läßt die beide Canaillen unter seiner Aufsicht stehlen, soviel sie wollen; aber andern ehrlichen Leuten, die ein Geschäft machen wollen, paßt er um so schärfer auf und jagt ihnen alles wieder ab, nicht für das Amt, sondern für seinen eigenen Sack. Auf dem Bruchsaler Markt, weißt, Margarete, wie wir einmal miteinander dort gewesen sind, da hat er mich auf einmal mit meinem Namen angeredet und hat mir mit Verhaftung gedroht, wenn ich ihm nicht sechs Karolin gebe. Unser ganzes Vermögen bestand damals in einem Schwerttaler und einem Stückchen Wollendamast. Das hat er uns alles abgejagt und der Margarete noch obendrein ihre Haube mit feinen Spitzen, die nicht einmal vom Markt und wenigstens fünf Guldenwert war, und hat uns versprochen, daß er's uns auf dem Germersheimer Markt wiedergeben wolle, wenn wir uns gut halten und ihm die Hälfte unseres dortigen Ertrages abtreten wollen. Hätt ich einen einzigen entschlossenen Mann bei mir gehabt, wie ihr drei seid, da hätten dem infamen Kerl die Ohren sausen sollen.«
»Bei einem Nachtgang«, bemerkte Schwamenjackel, »ist doch mehr Mannhaftigkeit und auch mehr Spaß.«
»Die Mutter meint ja nicht, daß man die Branche ganz aufgeben soll. Zur
Abwechslung kannst du dir immer wieder einen Spaß machen. Aber recht hat sie: es
kommt nicht viel dabei heraus und macht ein
»hänfenes Ende!« ergänzte Bettelmelcher.
»Das hat keine Gefahr, beim Schottenfellen am allerwenigsten«, entgegnete der Zigeuner.
»Nein, nein, das Projekt ist gut«, versetzte Bettelmelcher.
»Wo aber die Kunden herbekommen, an die man die Waren absetzen müßte?« fragte der Neuling. »Den Kattun oder Damast kann man doch nicht essen oder trinken.«
»Das laß deine geringste Sorge sein«, erwiderte der Zigeuner lachend.
»In ganz Franken und Schwaben«, sagte seine jüngere Schwester, »gibt's Pfarrer,
Schultheißen, Wirte und sonst honette Leute genug, die bei einem wohlfeilen
Einkauf ein Auge zudrücken. Alle Welt verwünscht
»Davon hab ich eben reden wollen«, versetzte die Zigeunermutter, »aber meine
Christ – meine Katharine« – verbesserte sie sich, »kommt mir mit ihrem schnellen
Geist zuvor. Dieser Handel müßte jedoch großenteils in Person betrieben werden, da
man von den meisten Unterkäufern, wie wir aus Erfahrung wissen, doch nur betrogen
wird und sich nicht hinlänglich gegen sie schützen kann. Ihr könnt euch jetzt
schon denken, wo ich hinaus will. Wir müßten mit unsern Reisen zugleich einen
wandernden Kramhandel für gemeinschaftliche Rechnung verbinden, der sich ganz
offen in die Karten sehen lassen und viel ehrlicher betrieben werden müßte, als es
bei den honettesten Krämern der Fall ist: überall Patente gelöst, jedes Stückchen
Ware aufs pünktlichste verzollt, gegen das Gesetz und das kaufende Publikum durch
und durch reell und dabei Preise, die jede Konkurrenz schlagen müssen! Das können
wir. Es fehlt gar nichts, als daß wir in der Gesellschaft ein Mitglied haben
–«
»Das will ich ja gerade sagen!« rief die Alte eifrig. »Man darf unsern Freund nur ansehen. Wenn er Sonnenwirt wäre an seines Vaters Statt oder sonst ein offenes Geschäft hätte, oder mit einer Kramkiste umherreiste, wie ja fürnehme Krämer mit den kostbarsten Waren hausieren – wer würde einem Mann von solch aufrichtiger Physiognomie, von solch leutseligem und bescheidenem Betragen nicht sein Vertrauen schenken?«
»Schönes Kompliment!« rief Bettelmelcher lachend. »Das heißt mit andern Worten: wir sehen aus wie Spitzbuben und er wie ein Biedermann.«
»Alles in seiner Art«, sagte die Alte, »und jeder an seinem Platz! Was kann unser Freund für sein Gesicht? Er sagt, er sei um sein Mütterliches gebracht worden. Oh, das ist ein großer Irrtum! Sein Mütterliches guckt ihm aus dem Gesicht heraus. Die meisten Menschen sehen bloß ihrem Vater ähnlich, und die Männer verhärten sich im Leben, das kann nicht anders sein. Wenn aber einer etwas von seiner Mutter hat, so braucht man die Frau gar nicht gekannt zu haben, man sieht's auf den ersten Blick, und wenn er noch so finster und grimmig dreinschaut. Ich verstehe mich auf Physiognomien. Das ist ein Gesicht, mit dem es alle, die sich ehrliche Leute nennen, gern zu tun haben, denn man merkt ihm gleich den Deutschen und, was noch mehr sagen will, den Schwaben an.«
Die Augen der Alten ruhten bei diesen Worten mit
»Die Mutter hat zwei Deutsche zu Männern gehabt«, sagte der Zigeuner lächelnd zu seinen Gesellen. »Das verbirgt sich nicht. Aber ihr Vorschlag scheint mir gut.«
»Très bon«, sagte Bettelmelcher, »das Projekt ist insidiös.«
Schwamenjackel sagte nichts, sondern schaute gedankenvoll durch die leere Flasche, die er sich vor die Augen hielt. Die stumme Kundgebung bewog seinen Genossen, dem versäumten Schenkendienste gewissenhaft wieder obzuliegen.
»Was sagst du zu dem Antrag, Bruder Schwan?« wendete sich der Zigeuner an den Gast.
»Ich rechne mir euer Zutrauen zur Ehre«, antwortete dieser, »aber ich weiß nicht, ob ich auf den Posten tauge.«
»Zweifel und Bedenken über deine Fähigkeit lassen wir nicht gelten, da gib dir nur
gar keine Mühe«, erwiderte der Zigeuner. »Es fragt sich bloß, ob du Lust und Liebe
hast, dich zu einem gemeinsamen Geschäftsbetrieb mit uns zu verbinden, und ich
denke, die Antwort sollte dir nicht schwer werden. Du weißt, ich hab dich schon
von Hohentwiel aus mitnehmen
Der Gast warf einen unwillkürlichen Blick auf seine abgetragenen Kleider, der dem Redner gestand, daß er ihm recht geben müsse.
»Hanf aber«, fuhr dieser fort, »kannst du dabei gerade so viel spinnen, wie bei
den schönsten Unternehmungen, die sich der Mühe und Gefahr wenigstens verlohnen.
Meinst du, wenn sie dich kriegen, so werden sie mit ihren lateinischen Ausdrücken,
die auf
»Ist denn das zum Beispiel hier der Fall?« unterbrach ihn der Gast.
»Freilich!« rief der Zigeuner. »Die Frage beweist, wie wenig du die Welt noch
kennst. Hier sitzen wir auf edelmännischem Boden und sind so sicher, wie das Kind
im Mutterleib, während du in deiner Unkenntnis mit ein paar Schritten ins
Württembergische taumelst, wo die Leute dumm sind und die Beamten, wie du selbst
erzählst, sich kein Gewissen daraus machen, einem seine eigenen Kinder als
Lockwürmer an die Angel zu stecken, um den Fisch damit zu fangen. Auch haben wir
überall unsere vertrauten Leute, die uns Nachricht geben, wenn etwas gegen uns los
ist. Und wenn je einmal eins von uns den Fuß übertritt und in die unrechten Hände
gerät, so gibt es auch Mittel und Wege, ihm wieder aus der Falle zu helfen. Das
alles geht dir ab, solang du wie ein Irrlicht allein und auf eigene Faust
umherflackerst Und was für Ehre hast du davon, dein kümmerliches Leben immer und
ewig um dein einfältiges Ebersbach herum zu fristen, wo alles schreit: ›Der Dieb,
der schlechte Kerl, der Sonnenwirtle ist wieder einmal dagewesen und hat dies und
das gestohlen!‹ Wenn du in unsere Gesellschaft
»Das ist sehr wahr!« rief der Gast, von dieser Bemerkung ergriffen.
»Bei uns findest du keinen Brotneid, keine Unterdrückung, wie in der honetten Welt draußen. Du bist uns mit deinem Kopf und Arm willkommen, und wir bedürfen deiner, wie du unserer bedarfst. Unsern Ertrag teilen wir ehrlich und redlich, und wenn einer vor den andern eine besondere Mühe auf sich genommen hat, so wird ihm ein verhältnismäßig größerer Anteil zuerkannt. Einen Leutnant, der das Beste an sich reißt und die andern als seine Untergebenen behandelt, gibt es nicht bei uns. Wer die beste Meinung geltend machen kann, dessen Anschlag wird befolgt, und was gemeinsam beschlossen ist, wird in strenger Ordnung ausgeführt. Außerdem aber leben wir als freie Leute auf gleichem Fuß miteinander.«
»Und immer in Floribus!« fiel Bettelmelcher ein, indem er die Flasche schwang und dem Gaste reichte.
»Leuchtet dir aber die Wahrheit deines Sprüchleins
Schwamenjackel grunzte, und die andern brachen in ein Gelächter aus.
»Sollten jedoch beide keine Gnade vor deinen Augen finden«, setzte der Zigeuner
hinzu, »so dürfen sie dir kein saures Gesicht machen, wenn du eine andere wählst.
Ich hab dir's ja schon früher gesagt: in Bickesheim bei Rastatt, am großen
Wallfahrts- und Jahrmarktstage, da kannst du alles beisammen finden, was zu
unserer Verwandtschaft gehört, und noch viel andere mehr, den Hannobel, den
Josephle, den Tonele, den Frischholz, die Bebe, das Suphile, die Lisa, den
Leopold, den Baron Stihl, den Buchdrucker und seine Hammelschwänzin, den Peter
Paul, den Jägerkasperle,
»Den kenn ich von Ludwigsburg her«, sagte der Gast.
»Ja, sie haben ihn um etlicher Kalamitäten willen ins Zuchthaus gesteckt und seitdem, wie ich höre, unter ein Grenadierbataillon gestoßen.«
Die Mädchen lachten.
»Der wird eine schöne Figur machen«, sagte die jüngere.
»Er hat freilich weder das Pulver erfunden, noch wird er's gern riechen«, bemerkte der Gast. »Übrigens ist er sonst ein guter Kerl.«
Die ältere begann über die abwesende Lisa, in der sie eine Mitbewerberin fürchten mochte, hämische Äußerungen auszustoßen, die aber von der jüngeren kräftig abgewehrt wurden. Dieser trat auch die Mutter bei und erklärte mit Lebhaftigkeit, die Geschmähte sei ihre Schwestertochter, sie habe sie so lieb wie ihre eigenen Kinder und wünsche sie so gut wie diese mit einem wackeren Manne, wie Herr Schwan, versorgt zu wissen.
»Hoho!« rief ihr Bruder, »auf einen Puff gehört ein Kuß, das ist in den Wäldern so gut wie in Städten und Dörfern Sitte, und damit der Feuerteufel von einem Weibsbild keinen Ausweg hat, so schlage ich vor, daß wir jungen Leute mit diesem Gaste Bruder- und Schwesterschaft trinken.«
Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall, die Flasche ging in die Runde, und der Freundschaftsbund wurde von den Männern mit einem Handschlag, von den beiden Mädchen je mit einem Kusse besiegelt. So feurig aber die ältere diese Gelegenheit benutzte, um ihre Wünsche kundzutun, so deuchte den Gast der rasche Kuß, mit welchem die jüngere einen Augenblick seine Lippen zusammenpreßte, weit inniger zu sein, und ein heißer Strahl aus ihren dunkeln Augen sagte ihm, daß sie der Bezeichnung, die ihr Bruder ihr soeben gegeben, zu entsprechen vermöge. Doch riß sie sich gleich wieder von ihm los und setzte sich ruhig auf ihren Platz.
»Eine solche Buße«, sagte er, »kann ich mir für die
Er konnte es nicht unterlassen, diese Eröffnung mit einem spähenden Blick auf seine Nachbarin zu begleiten, und hatte die Genugtuung, zu sehen, daß sie ihr Gesicht nicht so völlig in der Gewalt hatte, um die unwillkommene Überraschung ganz verbergen zu können.
»Das ist freilich was anderes«, versetzte der Zigeuner. »Bis jetzt ist die Vielweiberei bei uns nicht im Schwang gewesen. Die Männer würden sich vielleicht gar nicht ungern dazu verstehen, aber die Weiber finden sie nicht nach ihrem Geschmack. Übrigens ist es schade, daß du uns nichts von der Ankunft deiner Frau gesagt hast: wir haben ja beinahe nichts mehr übrig, was man ihr anbieten könnte. Da du unser Gast bist, so darfst du dich nicht bemühen. Freund Bettelmelcher ist gewiß gern so galant, sie abzuholen und in unsre Mitte einzuführen.«
Christinens Freund empfand eine seltsame Verlegenheit. »Sie sieht aus, wie die Leute aus der Umgegend«, sagte er, nachdem er einen Augenblick vergebens nach einer passenderen Beschreibung gerungen hatte.
»Geh nur, Schelm!« rief der Zigeuner lachend. »Meinst du denn, du werdest einen Markt voll Weiber vor dem Walde finden? – Wir müssen eben einmal die Probe mit ihr machen, wie sie sich bei uns gefällt«, fuhr er fort, nachdem jener sich entfernt hatte. »Wir beweisen dir eine große Rücksicht, Bruder, und gehen weit von unseren gewohnten Grundsätzen ab, wenn wir deine Frau in unsere Gesellschaft aufnehmen. Was die Männer betrifft, so halten wir's nicht gar streng mit den Deutschen, selbst wir Zigeuner nicht, die wir uns noch am meisten abzuschließen pflegen. Meine Mutter ist, wie du weißt, mit Deutschen verheiratet gewesen. Unsre beiden Freunde hier sind gleichfalls Deutsche, wenigstens dem Aussehen nach, denn ihr Stammbaum ist ihnen selbst nicht recht bekannt. Welche Aufnahme du bei uns gefunden hast, das weißt du selbst. Gegen die deutschen Weiber aber besinnen wir uns dreimal, bis wir eine zulassen.«
»Aber nicht, weil wir eifersüchtig sind!« rief seine jüngere Schwester trotzig dazwischen.
»Nein, das sind wir nicht!« stimmte die ältere mit einem spöttischen Gelächter ein.
»Die deutschen Weiber«, sagte die Alte, »sind nicht zu unserem Leben erzogen und taugen deshalb selten dazu.«
Es rauschte im Walde, und man hörte das Zirpen einer Grille, das der Zigeuner mit dem gleichen Laut beantwortete. Gleich darauf erschien Bettelmelcher, eine Frau am Arme führend oder vielmehr nach sich ziehend. Es war Christine, die ihm ängstlich und mit sichtbarem Mißtrauen folgte. Sie machte große Augen, als sie ihren Frieder zwischen den beiden Schönheiten sitzen sah, von welchen ihr Begleiter vermutlich nichts gesagt hatte. Dieser rechtfertigte das Lob, das der Zigeuner ihm zuerkannt hatte: er führte seine Anbefohlene mit fratzenhafter Galanterie herbei und sagte kratzfußend, indem ein leises, aber unbeschreiblich boshaftes Lächeln in seinen Mundwinkeln stand: »Habe die Ehre, Madame Schwan der Gesellschaft zu präsentieren.«
Christine zog ihren Arm aus dem seinigen und trat zu ihrem Manne. »Wo steckst denn so lang?« fragte sie weinerlich. »Läßt mich eine geschlagene Stund vor'm Wald da warten, daß ich schier am Umsinken bin,«
»Nun, so setz dich«, erwiderte er etwas unmutig, »bist ja jetzt bei mir.«
Die jüngere Zigeunerin rückte zuvorkommend und zog Christinen zu sich nieder, so
daß sie zu ihrem Manne zu sitzen kam. Freilich war der Platz nach der anderen
Seite hin nicht sehr vorteilhaft für sie, sofern sie die Vergleichung mit ihrer
jüngeren, schöneren und reizend gekleideten Nachbarin aushalten
Aus Rücksicht auf den neuen Gast wurde die Unterhaltung, zu welcher man sich bisher der jenischen Mischsprache, untermengt mit modischen Brocken, bedient hatte, nun ganz deutsch geführt, wollte aber nicht recht in Gang kommen. Man bot Christinen, deren schlaffe Züge Müdigkeit und Hunger verrieten, von den Überbleibseln des Essens an; sie genoß einige Bissen, stieß aber bald die Speise zurück und klagte über Übelkeit. Der dienstfertige Mundschenk bot ihr die Flasche; sie trank gierig, fand aber den Wein zu stark, lehnte sich an ihren Mann und klagte, der Kopf schwindle ihr. Der Zigeuner suchte ihr eine bequeme Lagerstelle aus, breitete ein Tuch zur Unterlage für den Kopf auf den Boden und redete ihr zu, sich zur Ruhe zu legen. Sie betrachtete den Pfühl mit kaum verhehltem Widerwillen, entschloß sich aber doch, sich seiner zu bedienen, legte sich hin und war oder schien bald eingeschlafen.
»Du hast's also nicht zur Kopulation bringen können, Bruder?« fragte Bettelmelcher, als die Gesellschaft wieder vertraulich, wie nach einer überstandenen Störung, beisammen saß.
»Nein«, antwortete der Gast und erzählte ausführlicher als vorhin die Geschichte seiner vergeblichen Bemühungen um den kirchlichen und hiemit zugleich bürgerlichen Segen für sein eheliches Band.
»Dafür weiß ich Rat«, sagte sein neuer Freund;
»Wo ist er?« rief der Gast voll Feuer und Flamme. Das Wort hatte bei ihm eingeschlagen wie ein Blitz, und über der Aussicht auf ein Ziel, dem er so lange umsonst nachgejagt, auf die Möglichkeit, dem ganzen Flecken Ebersbach nebst Pfarrer und Amtmann zum Trotz den Eid zu halten, wegen dessen er einst vom Kirchenkonvent gestraft worden war, und seine Heirat zu vollziehen, über dieser Aussicht vergaß er alle Reize, die ihn zum Eintritt in eine neue Welt lockten und die unscheinbar gewordene erste Liebe verdunkelten. »Wo ist der Pfarrer, Bruder?« fragte er wiederholt den Freund, der durch ein so nahes Verhältnis zu einem Manne von ehrwürdiger Stellung in seinen Augen nicht wenig gestiegen war.
»Wurst wider Wurst!« antwortete Bettelmelcher, den der Zigeuner still angesehen hatte, mit schlauem Lächeln. »Wenn du einmal der unsrige bist, so hab ich kein Geheimnis mehr vor dir.«
»Nein!« rief der Zigeuner mit dem Tone der Billigkeit, »man muß einem Menschen nicht Hände und Füße binden. Wir sind freie Leute, und wenn er zu uns treten will, so soll es sein eigener freier Wille sein. Du mußt deinen Preis annehmlicher stellen.«
»Wohlan also«, sagte Bettelmelcher nach einem verstohlenen Blick auf Christinen,
die wirklich schlief, »wenn du uns zu der ersten größeren Unternehmung,
»Es gilt!« rief der Gast aufspringend, »hier ist mein Wort und meine Hand!«
Die drei andern Männer sprangen ebenfalls auf die Beine, und einer nach dem andern empfing seine dargereichte Hand zu einem kräftigen Druck.
»Und ich«, rief der Zigeuner, »leiste hiemit Bürgschaft für ihn, daß er sein Wort halten wird. Wenn das geschehen ist«, wandte er sich zu ihm, »so bist du nicht weiter gebunden, und es steht ganz in deinem Belieben, ob du bei uns bleiben willst oder nicht. Auch sollst du dich zu keinem Unternehmen verpflichtet haben, das nicht nach deinem Sinn wäre.«
Sie setzten sich wieder, und zur Besiegelung des Gelübdes kreiste noch einmal die Flasche mit der Neige aus dem Fäßchen, das nun völlig auf dem Kopfe stand.
»Den Pfarrer, von dem ich dir gesagt habe«, vertraute nun Bettelmelcher dem Gaste, als er bemerkte, daß dieser ihn erwartungsvoll ansah, »den triffst du in Dinkeltheim bei Schwäbisch Hall.«
»Gut! Ich habe mit meinem Weib morgen einen Handel in Gmünd zu machen, und von da
wollen wir gleich den Stab weiter setzen. Sowie ich zurückkomme, steh ich euch zu
Diensten. Ob's ein Marktgang ist oder ein Unternehmen, wo man das Fell einsetzt
und die Haar davonfliegen, gilt mir gleich. Nur eins beding ich mir aus: einem
Unschuldigen will ich nichts zuleid tun, aber gebt mir eine Gelegenheit, daß ich
dieser
»Bravo, Bruder Schwan!« rief der Zigeuner. »So denken wir auch!«
»Die Gelegenheit sollst du haben!« rief Bettelmelcher. »Meinst du, du seiest allein unterdrückt? Ich könnte jetzt so gut Pfarrer sein, wie der Pfaff, der dir die Kopulation abgeschlagen hat, ich hatte schon ein wenig zu studieren angefangen, da hat mich ein betrügerischer Vormund um all mein Hab und Gut gebracht.«
»Ich hab auch noch mit einem solchen abzurechnen!« rief das halbgeworbene Mitglied der Bande.
»Was sind Bedrückungen des einzelnen gegen die Verfolgungen, die mein ganzer Stamm
erfahren hat!« hob die alte Zigeunerin an. »Vor ein paar hundert Jahren sind
unsere Vorfahren aus fernen Landen weit im Osten durch Krieg und Not in dieses
Land gekommen, wo eine blässere Sonne scheint. Sie haben sich friedlich in den
Wäldern aufgehalten, haben von den Leuten geheischen, was sie zu ihrer Notdurft
brauchten, und haben in guter Freundschaft mit ihnen gelebt. Dann haben böse
Menschen Mißtrauen und Hader gesät, und seit mehr als hundert Jahren wird unser
Stamm verfolgt, so daß keins von uns sein Haupt ruhig auf den Boden legen kann.
Jedes friedliche Fortkommen ist uns abgeschnitten, als ob wir nicht auch Christen
und Kinder Gottes wären, die gelebt
Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz saß sie da, die Hekuba
eines geächteten Stammes. Der Gast konnte kein Auge von ihr wenden, wie sie die
Blicke vor sich in den Boden bohrte. Weit entfernt, in ihren Erlebnissen ein
abschreckendes Beispiel zu sehen, fühlte er eine tiefe Teilnahme für sie und die
verwaisten Mädchen, die schon so früh den versengenden Frost des Lebens
kennengelernt. Freilich verschwieg sie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne
eigene Schuld in den deutschen Landen Schutz und Gastfreundschaft verwirkt hatte;
daß zwei ihrer
»Laßt mich reden!« rief Schwamenjackel, seine Worte mit heiserer Stimme kurz hervorstoßend. »Mein Vater, der mich erzogen und geboren hat –«
Ungeachtet des furchtbaren Ernstes, den die Unterredung angenommen, kämpfte ein unterdrücktes Lachen in der Brust der Mädchen, die das Gesicht abwandten, und die Männer bissen sich auf die Lippen, um ihren Gefährten nicht durch einen unzeitigen Ausbruch zu stören.
»Mein Vater«, fuhr Schwamenjackel fort, »ist zu Alpirsbach auf dem Schwarzwald
gerädert worden, und ich hab als ein zwölfjähriger Bube hart dabei zusehen müssen
und bin nachher ins Zuchthaus gesteckt worden. In meinem ganzen Leben vergeß ich's
nicht und will's auch nie vergessen. Ich übe mein Gedächtnis mit Fleiß, daß es mir
die Stöße des schweren, mit Blei ausgefüllten Rades und das Krachen der Glieder
immer wieder als gegenwärtig vorstellen muß: erst den rechten Fuß und den linken
Vorderarm, dann den linken Fuß und den rechten Vorderarm, dann den rechten
Schenkel und den linken Oberarm, dann den linken Schenkel und den rechten Oberarm,
und endlich, wenn sie's leidlich machen, den Gnadenstoß auf die Brust. Meinem
Vater ist's aber nicht so gut
Ein entsetzlicher Schrei unterbrach ihn. Alle sprangen auf und sahen sich um. Es war Christine, die unruhig geschlafen und, von der rauhen Stimme Schwamenjackels erweckt, seine Worte noch halb gehört hatte. »Mein Herz!« rief sie, ihre Hände auf der Brust zusammendrückend, »mein Herz! Das ist ja zu gräßlich! Es bringt mich um.«
»Sei ruhig, Christine!« rief Friedrich, der selbst etwas bleich geworden war, und eilte zu ihr. Sie sah ihn wild an und erholte sich erst allmählich. »Es ist ja nur von vergangenen Dingen die Rede«, sprach er ihr zu. »Sieh, ich bin bei dir, und meine Freunde haben mir einen Pfarrer genannt, der uns trauen will. Sei munter, jetzt geht's endlich zur Hochzeit!«
»Hochzeit?« sagte sie, »ich hab gemeint, es sei – von etwas anderem die Rede. Hab ich denn so schrecklich träumt?«
Er wiederholte ihr, daß er gleich am nächsten Tage mit ihr zur Trauung wandern werde. Ihr Angesicht belebte und erheiterte sich nach und nach. »Ist's denn wirklich wahr?« sagte sie, »soll ich endlich einmal mit dir vor den Altar kommen?«
»Sieben Jahre so lang wird's jetzt sein, daß wir das
»Gelt, und darüber bin ich zur Lea worden?« sagte sie, einen scheuen Blick um sich werfend. Sie starrte die Gesellschaft an, wie wenn sie sie noch nie gesehen hätte, und drängte ängstlich fort. Er erklärte sich bereit, mit ihr zu gehen.
»Wir wollen jetzt auch zur Ruhe«, versetzte die Alte.
»Der Hitzling ist hinab«, sagte ihr Sohn, gen Himmel deutend, »die Glanzer sind aufgegangen.«
»Und der Jaim ist geschwächt«, setzte Bettelmelcher hinzu, indem er das Fäßchen mit einem Fußtritt auf den Boden schleuderte.
Beim Abschied wurde der Gast in jenischer Sprache aufgefordert, sich bald wieder auf dieser Stelle einzufinden, wo er die Gesellschaft noch eine Zeitlang gelagert finden werde. Er gab sein Wort. Der Zigeuner bot ihm Kleider an, da ihre Garderobe reich versehen sei und er den kleinen Vorschuß bei Gelegenheit wieder erstatten könne. Er nahm das Anerbieten an und wurde alsbald mit einer vollständigen Kleidung versehen, die ihm für die Hochzeitsreise sehr zustatten kam. Christinen wurde nichts angeboten, und er scheute sich, etwas für sie anzusprechen. Bettelmelcher gab ihm noch genauere Anweisung über den Pfarrer, der ihn trauen sollte; er nannte ihm seinen Namen und beschrieb ihm seine Wohnung so genau, daß er nicht fehlen konnte.
Als das Paar sich miteinander entfernt hatte, blickte
»Woher weißt du denn, daß ich ihn will?« fragte seine jüngere Schwester.
Er lachte.
»Was er für einen großen Kopf hat!« sagte sie.
»Das Bild der Tatkraft!« rief er. »Verstelle dich nur nicht, ich hab in deine Augen gesehen und auch in die seinigen. Du mußt das Band werden, das ihn an uns fesselt.«
»Eine Messe laß ich lesen, wenn's gelingt und du wieder einmal versorgt bist«, sagte die Alte.
»Amen«, erwiderte ihr Sohn und bekreuzte sich andächtig.
»Die Altmutter hat recht«, bemerkte Bettelmelcher, »er hat etwas Solides in seinem Aussehen und könnte treffliche Geschäfte für uns machen.«
»Ich bin ihm nicht feind«, versetzte der Schwamenjackel, »und doch ist in seinem Gesicht etwas, das mir nicht ganz gefällt. Ich weiß nicht, was in dem Mütterlichen für ein Vorzug liegen soll. Was die Deutschen von ihren Müttern haben, das ist in der Regel eine butterherzige Dummheit, und ich will deshalb nur wünschen, die Altmutter möge diesmal fehlgeschossen haben. Habt ihr's nicht gesehen, wie er über der Beschreibung des Räderns erblaßt ist?«
»Ich kenne ihn«, erklärte der Zigeuner mit entschiedenem Tone. »Er steht am Graben
und besinnt sich.
»Und ein tüchtiges Probestück«, versetzte Bettelmelcher, »müssen wir ihm vorlegen, daß die Haar davon fliegen, wie er selber sagt. Ich weiß nicht mehr, welcher König es war, der über Meer in ein fremdes Land einfiel: als er gelandet hatte, verbrannte er seine Schiffe hinter sich, damit seinen Leuten das Heimweh verging.«
»Ja, auf diese Weise bringen wir ihn am besten aus der Gegend fort, dann wird er lustiger anbeißen.«
»Um den Preis will ich mich zu einer Ausnahme von meiner Regel verstehen«, sagte die Alte. »Hier herum werfen die Märkte ohnehin nicht so viel ab, daß ich Lust hätte, bald wiederzukommen und Sohn und Tochter zu riskieren, für die hier keine gesunde Luft ist.«
Während sie so miteinander redeten, führte der Gegenstand ihrer Gespräche Christinen nach dem Hofe, wo er ihr einen Aufenthalt verschafft hatte. Er wußte sie unterwegs notdürftig über die Gesellschaft, in der sie ihn getroffen, zu beruhigen, was ihm diesmal leichter gelang, wie die Aussicht, endlich sein rechtmäßiges Weib zu werden, in ihr alles andere überwog. Auch ihm gab dieser Gedanke neue Schwungkraft: er konnte endlich sein Wort halten, seinen Willen durchsetzen. Aber freilich, um welchen Preis!
Querfeldein über Berg und Tal schweifend, pilgerte gleich am nächsten Tage das
schon so lange verbundene und immer noch nach dem Segen der Kirche dürstende Paar
dem Kochertale zu, in dessen Umgebung ihm sein Wunsch erfüllt werden sollte. Wem
man aber gesagt hätte, daß die beiden auf einem Brautgang begriffen seien, der
würde sie verwundert angeschaut haben: der Hochzeiter war, wenn auch sein Gesicht
von den Mühseligkeiten des Lebens zeugte, in der Blüte der Mannesjahre und schritt
im blauen Rock, im rot-, blau- und grüngestreiften kalaminkenen Brusttuch (Weste),
in den schwarzen Lederbeinkleidern, weißen Strümpfen und neuen Schuhen mit
blanken, stählernen Schnallen gar stattlich einher, während aus der verschossenen,
von Hause aus farblosen und ärmlichen Bauerntracht der Hochzeiterin ein
verblühtes, müdes Gesicht hervorsah. Bald waren sie wieder auf dem Rückwege von
Thüngenthal, denn so schreibt sich der Name des Ortes, den der eigensinnige
Volksmund in Dinkeltheim verwandelt hat, gleichwie ihm umgekehrt die Residenz des
deutschen Ordens, welche Mergentheim geschrieben wird, zu einem Mergenthal
geworden ist. Am Abend des ersten Tages, da sie wieder in der Richtung nach der
Rems wanderten, kehrten sie in einem Dorfwirtshause ein, um daselbst über Nacht zu
bleiben. Sie waren die einzigen Gäste in der Wirtsstube, wo der Wirt ab- und
zuging; im Kabinett saßen drei geistliche Herren, die miteinander tranken und
redeten, ohne ihnen Aufmerksamkeit
Erst jetzt blickte ihn Christine näher an und erkannte mit Staunen einen der Männer aus dem Walde von Wäschenbeuren. Es war in der Tat Bettelmelcher.
»Ganz gut«, antwortete Friedrich, »aber sehr einfach. Es war eine Hauskopulation, die dein Pfaff in seiner Stube vorgenommen hat, er wird wohl wissen warum, und der ganze Akt bestand darin, daß er uns geheißen hat, wir sollen einander die Hände darauf geben, daß wir einander in Lieb und Leid nicht verlassen wollen.«
»Nun, ist das nicht genug?« versetzte Bettelmelcher mit gerührter Stimme und spitzbübischem Augenzwinkern.
»Dann hat er uns einen Kopulationsschein ausgestellt und hat ihn auf mein Verlangen noch um ein Jahr weiter zurückdatiert, so daß unsere Ehe jetzt schier für achtjährig gilt. Der tut alles, was man haben will. Deinen Gruß hab ich ihm ausgerichtet. Drauf hat er gelacht und gesagt: ›So ist der Spitzbub immer noch ungehenkt?‹«
Bettelmelcher lachte.
»Ich hab dir ja seine Wohnung angegeben«, unterbrach ihn Bettelmelcher, immer noch lachend.
»Ja freilich, dann hat sich's herausgestellt, daß er nicht der rechte Pfarrer ist, sondern ein abgedankter. Er hat mir selber erzählt, er hab nur ein klein's Späßle gemacht und sei deswegen gleich weggeschmissen worden. Nun möcht ich doch wissen, ob ein abgedankter Pfarrer auch noch kopulieren kann.«
»Willst du dich denn in Ebersbach häuslich niederlassen und dem Amt deinen Trauschein vorzeigen?« fragte Bettelmelcher spöttisch.
»Nein, das just nicht.«
»Nun, so gib dich zufrieden und sei froh, daß du's schwarz auf weiß hast. Das Papier kann dir unter Umständen viel nutzen, es kann dir statt eines Passes dienen, und wenn du dich mit deiner Frau einmal in einem fremden Lande irgendwo setzen willst, so kannst du dich damit legitimieren. Meinst du denn, man frage überall so genau darnach?«
»Ja, wenn's nur ein bißle etwas ist«, bemerkte Christine, die es als eine große Genugtuung empfand, endlich einmal urkundlich, wie auch die Urkunde beschaffen sein mochte, verheiratet zu sein.
Friedrich beruhigte sich. Sie zahlten ihre Zeche und gingen bald darauf zu Bette.
Beim Fortgehen schlug Bettelmelcher den entgegengesetzten Weg ein, gesellte sich aber bald auf der Straße wieder zu ihnen. »Nun muß man doch auch auf ein Hochzeitsgeschenk für die junge Frau mit dem achtjährigen Kopulationsschein denken«, sagte er lächelnd. »Was wär denn etwa nach ihrem Gusto?«
Christine lachte, nicht ungeschmeichelt, und erwiderte, man dürfe sich ihretwegen nicht in Unkosten stürzen. Als er aber freundlich in sie drang, zu sagen, ob sie in ihrem neuen Stande nicht irgend etwas wünsche, versetzte sie, weniger gegen ihn als ihren Mann gewendet: »E Bißle erquickt en Äderle; ich brauch nicht viel; wenn ich nur ein klein's Pfännle hätt, daß ich mir hier und da etwas Warm's machen könnt.«
»Das ist ein bescheidener Wunsch!« erwiderte Bettelmelcher lachend, »und doch muß
man, wenn man sich auch nur bescheidentlich fortbringen will, die Augen offen
haben und in viele Sättel gerecht sein.
»Oh, ich hab auch meine Augen«, sagte Christine, die sich durch den Zweifel an ihrer Beobachtungsgabe verletzt fühlte; »ich habe wohl gesehen, wie der Wirt seine Löffel in ein Schublädle getan hat, nachdem sie ausbraucht gewesen sind, und wie er das Geld von uns und von den drei Herren in ein Glas in dem nämlichen Schublädle getan hat, hab auch gesehen, daß ein Goldstück in dem Glas gewesen ist.«
Bettelmelcher sah sie erstaunt mit einem gewissen Ausdruck von Achtung an. »Wahrhaftig, die Frau ist nicht so – träumerisch, wie sie aussieht«, sagte er, »sie kann noch brauchbar werden.« Er schlug bald nachher einen anderen Weg ein, um, wie er sagte, seinen Geschäften nachzugehen.
Das Paar setzte seine Wanderung bis in den Nachmittag fort, da stand ein alter
Bettler mit weißem Bart und lang herabhängenden weißen Haaren am Wege und bat um
ein Almosen. »Wir haben ja selber nichts!« fuhr ihn Christine verdrießlich an,
während ihr Mann nach einer Kupfermünze suchte. »Wenn
»Du Spitzbub!« rief Friedrich lachend, »diesmal hast du mich selbst getäuscht; ich hätte dich an keinem Zug erkannt, nicht einmal an deinen nichtsnutzigen Augen.«
Bettelmelcher stieß ein lustiges Gelächter aus und sprach dann eine Weile jenisch mit ihm, wobei Christine verwundert auf die fremden, seltsamen Ausdrücke hörte. Hierauf entfernte sich Bettelmelcher, und die beiden gingen weiter, bis sie ein einsames Wirtshaus am Saume eines Waldes erreichten, wo Friedrich etwas Essen und Trinken kommen ließ. Christine hatte sich schon mehrmals über Ermüdung beklagt. Nachdem er einige jenische Worte mit dem Wirt gewechselt, eröffnete er ihr, sie könne hier der Ruhe pflegen, er werde die Nacht über auf dem Anstande sein und sie den andern Morgen wieder abholen.
»Ach, Frieder!« sagte sie erschreckend, »du gehst auf kein' Hirsch aus. Ich seh's wohl, du bist nicht in den besten Händen, du hast dich mit dem Spitzbuben, dem Bettelmelcher, in etwas eingelassen.«
»Wenn ich dir sage, ich geh auf den Anstand, so hast du nichts weiter zu fragen«, entgegnete er streng. »Ich werd am besten wissen, was ich zu tun hab.«
»Mein Herz sagt mir, du hast nichts Gut's vor!«
Er trank sein Glas aus und ging rasch fort.
»Frieder! Frieder!« rief sie, ihm auf die Straße nachlaufend.
Er blieb unwillig stehen.
»Frieder«, sagte sie ihm ins Ohr, »wenn du etwas tun willst, was dir Gott verzeihen mög, so tu doch wenigstens schwarze Strümpf an, deine weiße Strümpf machen dich sichtbar in der Nacht!«
Er lachte, hieß sie ohne Sorge sein und entfernte sich auf dem Wege, den sie hergekommen waren.
Den andern Vormittag erschien er versprochenermaßen wieder in dem Wirtshause, zahlte die Zeche und führte Christinen weiter. »Meine Freunde haben mir ein Hochzeitsgeschenk für dich verehrt«, sagte er unterwegs und überreichte ihr ein paar silberne Löffel nebst einem silbernen Besteck.
Sie besah die Löffel aufmerksam. »Die kenn ich!« rief sie, »das sind die Löffel, mit denen wir gestern früh die Milchsupp gessen haben. Du, für das Geschenk dank ich, das ist nicht auf richtige Art in deine Händ kommen. Oh, Frieder, du bist bei dem Wirt zu Heseltal einbrochen!«
»Ich hab ihm das Haus mit keinem Fuß betreten«, erwiderte er.
»Heb mir die Sachen auf«, entgegnete er mit einem Tone, der jede fernere Erörterung abschnitt. »Wenn du sie nicht willst, so gehören sie mir. Du meinst gleich, der Teufel hole dich darüber; wenn du in Ebersbach wärest, so sprängest du schon dem Amtmann zu.«
Sie nahm die Löffel und das Besteck in Verwahrung und sagte nichts mehr. Nachdem
sie stillschweigend bis gegen Mittag gewandert waren, sah Christine einen Berg vor
ihnen, auf dessen Gipfel eine Kirche stand, und nun fand sie sich wieder in
bekannter Gegend. Es war der Rechberg. Friedrich wandte sich demselben zu und
schlug den Weg nach der Höhe ein. Sie folgte ihrem Manne ohne zu fragen. Als sie
den Gipfel erstiegen hatten, begaben sie sich in das der Kirche gegenüber gelegene
Pfarrhaus, mit welchem von jeher zum Besten der frommen Wanderer eine Wirtschaft
verbunden war. Beim Eintritt rief Christine überrascht: »Ei, da sind ja –« Er
stieß sie in die Seite und bedeutete sie, zu schweigen. Um den runden Tisch am
Fenster saßen drei Mitglieder der Gesellschaft vom Walde, Bettelmelcher,
Schwamenjackel und die jüngere Zigeunerin, welche in aller Ruhe miteinander
zehrten. Der Wanderer begrüßte sie, wie man Fremde grüßt, mit welchen man sich an
einem einsamen Orte zusammengeführt sieht, und entschuldigte sein Weib, die sich
von irgendeiner Ähnlichkeit habe hinreißen lassen, einen Augenblick Bekannte in
ihnen zu sehen.
Sie nahmen ihren Weg über den schmalen Grat, der, einem Messerrücken ähnlich, vom Hohenrechberg nach dem Hohenstaufen führt. Friedrich und Christine waren die vordersten in der wandernden Gesellschaft. Er zankte sie tüchtig aus, daß sie in dem Pfarrhause so unvorsichtig herausgefahren sei, und gebot ihr, in Zukunft ihre Zunge besser zu hüten.
»Wie hab ich denn wissen können, daß ich die Leut gar nicht kennen darf!« maulte sie. »Da weiß man ja gar nicht mehr, wie man sich betragen soll.«
»So sei künftig ganz still und wart, bis man dich reden heißt!« sagte er zornig.
Sie verschluckte die Antwort, die sie im Unmute geben
»Was?« rief Bettelmelcher, »ich will nicht hoffen, daß es gleich nach der Hochzeit zu Ehedissidien kommt.«
»Das ist sehr oft der Fall«, erwiderte er lachend, »wenn der Pfaff einmal die Garantie übernommen hat, so meinen die Leute gewöhnlich, sie brauchen für sich selbst nichts mehr dazu zu tun. Übrigens ist's bei uns nicht so gefährlich: ich hab meiner Frau bloß ein wenig Behutsamkeit im Weltleben eingeschärft, und jetzt scheint sie ihren Katechismus ungestört lernen zu wollen.«
»Das wird sehr gut sein«, versetzte Bettelmelcher. »Soll ich ihr nicht ein wenig dabei helfen?«
»Kann nichts schaden.«
»Dir fehlt's indessen nicht an Gesellschaft«, setzte jener hinzu, auf die herankommende Zigeunerin deutend, welche ganz allein die Nachhut bildete. Mit diesen Worten ging er rasch seines Weges, und Schwamenjackel folgte ihm, so daß Friedrich nur die Wahl hatte, auf seine schöne Freundin vom Walde, die den Fingerzeig gesehen hatte, zu warten, oder mit sichtbarer Geflissenheit ihre Gesellschaft zu meiden. Er fand keinen Grund, ihr diese Beleidigung zuzufügen, wohl aber hundert Gründe, das Gegenteil zu tun.
»Komm, Katharina«, sagte er, am Wege stehen bleibend.
»Du heißt also wie meine Frau?« rief er erstaunt. »Warum haben dir denn die Deinigen einen falschen Namen gegeben?«
»Um meiner Sicherheit willen«, antwortete sie. »Ich bin aller Länder, außer Frankreich, Sachsen und Ungarn, verbannt, hab überall Urfehde schwören müssen, und wenn ich mich betreten ließe, so ging mir's um den Hals.«
»Noch so jung und schon so viel erlebt!« sagte er.
»Von Kindesbeinen an bin ich in der Welt herumgehetzt und hab früh lernen müssen auf eigenen Füßen stehen, denn meine Mutter kann mir raten, aber nicht helfen, sie ist eben eine uralte Frau.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie betet ein Pater und Ave Maria ums andere, damit unser nächstes Vorhaben gelingen möge.«
»Das kommt mir sonderbar vor«, bemerkte er. »So gut stehen wir Lutheraner nicht mit dem Himmel, daß wir so frei wären, ihm zuzumuten, er solle uns bei – solchen Dingen noch behilflich sein.«
»Warum denn nicht?« versetzte sie ruhig. »Deine honetten Spießbürger, die Ketzer wie die katholischen Christen, beten auch täglich zu Gott, daß er sie in ihrer Hantierung segnen möge, und was ist ihre Hantierung? Einander bestehlen, betrügen, unterdrücken, den guten Namen morden. Geh in den Landen umher und zähle die Leute, die im wahren Sinn des Wortes ehrlich sind und also allein zu beten berechtigt wären. Du wirst keine große Tafel zum Aufschreiben brauchen.«
Sie gingen einige Zeit stumm nebeneinander, während welcher er es nicht unterlassen konnte, wiederholt ihre Augen zu suchen.
»Du scheinst mir nicht recht aufgeräumt zu sein«, begann sie nach einer Weile. »Es gefällt dir nicht bei uns.«
»Was das betrifft«, erwiderte er mit einem mehr als freundschaftlichen Blicke, »so glaubst du wohl selbst nicht, was du sagst. Aber wahr ist's, es hat mich verdrossen, daß ich nur als Schmarotzer mitlaufen und außen Wache stehen soll, während die anderen die Gefahr auf sich nehmen. Das halbe Sündigen ist mir in Tod zuwider: entweder ganz oder gar nicht! Auch liegt ein Mißtrauen drin: ich merk's wohl, man will mich nur probieren.«
Sie lächelte freundlich und zutraulich mit einem Ausdruck von Achtung, den er tief empfand. »Du irrst dich«, versetzte sie. »Es hätte sich nicht geschickt dich stärker in Anspruch zu nehmen, wo es sich darum handelte, ein Geschenk für dich aufzutreiben. Auch hast du dich ja nur zu einem einzigen Unternehmen anheischig gemacht, brauchst also das von heute nacht nicht zu rechnen. Wenn du so ehrenhaft denkst, selbst Hand anlegen zu wollen, statt andere für dich arbeiten zu lassen, so soll's dir nicht lang an Gelegenheit fehlen.«
»Nur zu!« rief er, mit finsterer Entschlossenheit die Stirne faltend.
»Du scheinst mir aber doch nur mit halber Seele dabei zu sein«, setzte sie hinzu,
»denn du sprichst von
Der überlegene Ton, der ihn von einem Manne abgestoßen haben würde, machte aus diesem Munde einen mächtigen Eindruck auf ihn. Er fühlte sich gedemütigt und angezogen zugleich.
»Wenn du aber der Sünde, wie du's heißt, ganz absagen willst«, fuhr sie lachend fort, »so kann ich dir in meiner eigenen Familie ein Musterbild von Tugend und Ehrbarkeit aufstellen. Lache nicht, es ist buchstäblich wahr. Ich habe noch eine zweite Schwester, die sich am Tode so vieler Verwandten ein Exempel genommen hat und sich mit ihrem Manne, einem Scherenschleifer, ehrlich und redlich fortbringt. Sie ist nicht besonders schön, dabei etwas schmierig und schlampig, wie es auch bei ihrer armseligen Lebensart nicht anders sein kann. Wir haben zwar keinen großen Geschmack aneinander, aber wenn du eine Empfehlung willst, um das Scherenschleifen zu lernen, so steh ich zu Diensten.«
»Es hat wohl eine Zeit gegeben«, sagte er, »wo mir dieses verachtete Handwerk gut
genug gewesen wäre; aber jetzt bin ich freilich dazu verdorben. Du hast
»Ich bin auch zur Hälfte deutsch«, erwiderte sie. »Mein Vater Schettinger, den die deutschen Mordhunde vor zwanzig Jahren in Weingarten umgebracht haben, ist so gut ein Deutscher gewesen wie sie und wie du.«
»Nun, vielleicht ist's auch eine Zeitlang nachgegangen«, versetzte er.
»Du kennst deine eigenen Landsleute nicht«, sagte sie. »Komm, ich will dir sie zeigen. Wir haben noch Zeit genug, zu den anderen zu stoßen.«
Sie winkte ihm und flog zur Linken den Berg hinunter. Er eilte ihr nach. Als sie im raschen Laufe unten angekommen waren, sagte sie, weiter eilend: »Du mußt dir's aber gefallen lassen, daß ich dich für meinen Mann ausgebe, sonst findest du da, wo ich dich hinführe, keinen Kredit.«
»Das will ich gern annehmen!« rief er lustig, ihr
»Laß das!« sagte sie, da er den Arm um sie zu schlingen suchte, »dazu ist jetzt keine Zeit. Den Arm kannst du mir geben, so, damit wir wie ein Ehepaar aussehen. Verheiratete Leute sind bekanntlich nicht so zärtlich miteinander, du scheinst mir das bereits aus eigener Erfahrung zu wissen.«
Nachdem sie eine Strecke im Walde zugeschritten, erreichten sie einen der vielen
dort hin und her zerstreuten Höfe. Derselbe war ihm nicht unbekannt, denn er hatte
ihm bei seinem Wilderersberufe mehr als einmal günstige Aufnahme gewährt. Wie
erstaunte er aber über die Freudenbezeugungen, mit welchen seine Begleiterin von
der ganzen Familie aufgenommen wurde! Wie horchte er hoch auf, als er hier, weit
unverblümter, denn in ihrem eigenen Kreise, von dem Gewerbe seiner neuen Freunde
reden hörte! Die Leute drückten ihre Freude aus, seine Begleiterin wieder
verheiratet zu sehen, und bestürmten sie mit Fragen, ob ihr neuer Mann auch so
viel Geschick zeige als der vorige. Sie prangte mit ihm und seinen Taten und
bezeigte sich so glücklich in seinem Besitz, daß ihm das Herz flammte, während
zugleich die letzten Reste bürgerlicher Ehrbarkeit sich in ihm empörten, ohne in
dem verwandten bürgerlichen Kreise, der ihn umgab, eine gleichartige Stimme zu
finden. Im Gegenteil sah er bald ein, daß er, was er früher nie geahnt, hier erst
in die rechte Gaunergegend gekommen sei, denn die Frau des Hauses zählte ihm
geläufig eine
»Nun?« fragte sie auf dem Rückwege.
»Es ist mir, als ob neben der Welt, die ich bisher gekannt habe, noch eine andere Welt herginge und als ob diese Welt die wahre wäre«, antwortete er.
»Du kannst in dem Tal da«, erwiderte sie, »von Hof zu Hof, von Ort zu Ort hinuntergehen, du triffst vertraute Leute genug, lauter Deutsche und keine Vagabunden, lauter seßhafte Leute.«
Er sprach lange kein Wort. Was er gehört und gesehen, hatte sich ihm offenbar tief eingeprägt, und sie hütete sich wohl, die stille Arbeit dieses Eindrucks zu stören.
»Du hast also schon einen Mann gehabt?« fragte er nach einem langen Stillschweigen.
»Ich hab ihm den Laufpaß gegeben«, antwortete sie,
Er schwieg. Die Entdeckung, daß sie Witwe sei, war ihm nicht sehr nach seinem Sinn, und doch mußte er sich gestehen, daß dieses Weib durch Schönheit und Geisteskraft einen mächtigen Zauber auf ihn auszuüben beginne.
»So, jetzt bist du aus dem Ehejoch entlassen!« sagte sie, als sie den Fuß des Berges wieder erreicht hatten, und flog lachend hinan, da sie sah, daß er sich Mühe gab, sie einzuholen.
»Mir ist's nicht so eilig mit der Scheidung!« rief er hinter ihr drein und gab sich alle Mühe, an ihre Seite zu kommen, aber sie war immer einige Schritte voraus.
»Und mir pressiert's nicht mit dem Heiraten!« rief sie, als sie die Höhe erreicht hatte, lustig gegen ihn hinab, und ihre Stimme spielte dabei so leicht und ruhig, als ob die Anstrengung ihren Atem gar nicht bewegt hätte; aber ein sprühender Blick aus ihren schwarzbraunen Augen strafte ihre Worte Lügen.
Mit einem heftigen Ansatz hatte er die letzte Höhe vollends erstiegen und wurde dort von einem derben Gelächter männlicher Stimmen empfangen. Bettelmelcher und Schwamenjackel lagen auf dem Boden und erwachten soeben aus einem Schlafe, den sie sich zur Erholung von der überstandenen Nachtwache gegönnt hatten.
»Und gleichfalls mit einer Christine«, antwortete er lachend, »aber mit einer schwarzen.«
»So, sie hat dir ihren Namen gestanden?« rief Schwamenjackel. »Da muß es mit der Vertraulichkeit schon ziemlich weit gekommen sein.«
»In der Tat«, sagte die Zigeunerin Christine, »wir sind Mann und Weib miteinander gewesen, aber nur vor den Leuten.«
»Wo ist denn mein Weib«, fragte Schwan.
»Auf und davon!« antwortete Bettelmelcher. »Der Eifersuchtsteufel hat sie ergriffen. Obgleich ich mein Äußerstes aufgeboten habe, sie zu unterhalten, hat sie sich doch nicht fesseln lassen. Sie hat mir nicht einmal bekannt, wo sie zu finden sei. Ich geh dahin, wo ich herkommen bin, hat sie gesagt, und weg war sie. Vermutlich denkt sie, du werdest wissen, wo du sie suchen müssest.«
»Dummes Zeug!« sagte er ärgerlich.
»Neuigkeiten!« rief eine bekannte Stimme von weitem, und der scheele Christianus kam, den anderen wohl nicht unerwartet, von der entgegengesetzten Seite herbeigeeilt. »Es hat eine Soldatenmeuterei gegeben im Lager bei Geislingen, der Herzog von Württemberg ist heut früh selbst hinaufgefahren und hat achtzehn erschießen lassen.«
»Eine Meuterei!« rief der Bürgerssohn von Ebersbach, »das ist ja was Unerhörtes im württembergischen Militär.«
»Du hast eben in den letzten Wochen nicht viel erfahren,
»Was Teufels!«
»Dein Herzog«, sagte die Zigeunerin, »hat seine Soldaten an die Krone Frankreich verkauft, gegen den König von Preußen, und nun wollen sie nicht ziehen.«
»Ja«, setzte ihr Bruder hinzu, »man ist den Leuten nachts in die Häuser eingebrochen und hat sie aus dem Bett gerissen, um die Regimenter vollzumachen, aber in Stuttgart sind sie alle wieder auseinandergelaufen. Darauf hat ein General, ich weiß nicht, wie er heißt, einen Generalpardon ausgeschrieben, und auf diesen haben sich eine Menge Ausreißer gestellt; aber der Herzog ist auf die Nachricht aus dem Feld zurückgeeilt, hat den Pardon nicht gehalten und viele von ihnen henken lassen. Jetzt ist der Teufel bei Geislingen wieder losgegangen, und da hat er heut vor den Toren anderthalb Dutzend erschießen lassen. Es ist ein Schrei der Wut im Lande.«
»So hält man Wort! So geht man mit den Leuten um!« rief Schwamenjackel.
»Das geschieht in deinem gepriesenen Württemberg«, sagte seine Führerin.
»Und uns heißt man Spitzbuben!« setzte Bettelmelcher hinzu.
»Ich besorge nur, die Gegend könnte für uns unsicher werden«, bemerkte
Christianus. »Gewiß haben sich viele Deserteurs in die Waldungen da herum
geworfen,
»Ich glaube nicht, daß uns das in Verlegenheit bringen wird«, versetzte Christine. »Der Herzog muß eilen, sein Volk außer Lands zu bringen, denn wenn er mit ihnen liegen bleibt, so laufen sie ihm wie Quecksilber davon. Auf alle Fälle ist es aber gut, wenn wir auch nicht lange mehr dableiben; es sind ohnehin bloß noch ein paar Tage bis zum Schorndorfer Markt!«
»Also nur nichts aufgeschoben!« sagte der Zigeuner.
»Ja, ich möchte gleich über das nächste Nest da herfallen und ihnen die Hundeseelen austreiben!« rief Schwamenjackel, seinen kurzen dicken Stock gegen das an dem Bergkegel vor ihnen liegende Dorf schwingend.
»Das laß du bleiben!« lachte Bettelmelcher. »Das ist das Dorf Hohenstaufen, wo sie seit alter Zeit große Freiheiten haben und wie Männer zusammenstehen. Wenn du einen angreifst, so hast du gleich den ganzen Schwarm auf dem Hals. Das ist in den edelmännischen Ortschaften anders: dort wohnt meist Bettelvolk, das sich die Haut voll lacht, wenn einem vermöglichen Nachbar ein Malheur passiert.«
»In den alten Schlössern mag man doch sicherer gewohnt haben«, bemerkte der Zigeuner, nachdenklich auf die Steintrümmer blickend, die den naheliegenden Gipfel des Berges bedeckten und die Abendsonne durch ihre Risse und Lücken scheinen ließen. »Das mag wohl auch schon lang her sein. Wer hat wohl vorzeiten hier gehauset?«
»Blitz! das war kein übles Geschäft!« rief Schwamenjackel: »da kann man auf einen Zug einen guten Fang tun. Möcht wohl auch einmal dabei sein.«
»Gelt, wenn die reichen Augsburger und Ulmer auf die Frankfurter Messe ziehen?« fragte Bettelmelcher.
»Oho!« lachte der Ebersbacher Bürgerssohn. »Da laß dir nur die Lust vergehen. Ich hab's oft mit angesehen, wie die mit ihrem Geleite das Filstal herunterziehen. Von Ulm werden sie an Württemberg überliefert und von einer stattlichen wohlbewaffneten Mannschaft in die Mitte genommen. Da könntest du dir die Zähne ausbeißen.«
»Ja, ja, so ist es immer!« bemerkte der Zigeuner. »Den großen Dieben ist nicht beizukommen.«
»Es gibt auch mittlere«, versetzte Bettelmelcher. »Komm«, sagte er, den neuen Freund bei der Hand nehmend, und führte ihn auf die andere Seite des Berges. Die übrigen folgten und sammelten sich um sie. »Du siehst das Dorf da drunten, links über Wäschenbeuren hinaus?«
»Wohl, das ist Börtlingen.«
»Dort«, fuhr Bettelmelcher fort, »wohnt ein Schultheiß, den du in dein Gebet
einschließest, sooft du über die Falschheit der Welt fluchst. Er ist ein Heuchler,
ein Kopfhänger, ein Wucherer, und das ist die beste Seite an ihm, denn er hat brav
Geld. Von seiner
»Ich halte mein Wort«, erklärte Friedrich mit entschiedenem Ton, die Stirn zusammenziehend.
»Das Haus steht in den Gärten, es sind nur drei Personen drin, er, seine Frau und seine Magd. Wenn man alert drauf losgeht, so ist wohl beizukommen. An Händen fehlt es nicht, für den Fall, daß im Dorf Lärm entstehen sollte. Wir sind unsrer sieben Genossen, und einige Vornehme darunter, die du noch nicht kennst. Ich darf dir nur einen verraten, das ist der Amtmann von Adelberg –«
»Was?« rief der Angeworbene lustig lachend. »Den Börtlingern bricht ihr eigener Amtmann ein? Das geht ja noch über den Pfarrer von Dinkeltheim. Geh, es wird auch wieder ein abgedankter sein.«
»Es ist der abgekommene Amtmann Hallwachs von Adelberg, den man wegen eines Rests oder so was abgesetzt hat. Du wirst ihn mit eigenen Augen sehen.«
»Gleichviel, ich hab's einmal versprochen und bin dabei, wenn auch der Amtmann von Ebersbach selber dazu käme.«
»Um zehn Uhr heut nacht wollen wir im Walde beim Wäschenschlößchen zusammenkommen und von dort den Zug antreten«, sagte Bettelmelcher zu den anderen. »Ist's euch recht?«
»Denk doch dran, daß du die ganze Nacht aufgewesen bist«, sagte die schwarze Christine zu ihm. »Gönn dir doch ein wenig Schlaf.«
Bettelmelcher witzelte über diesen Zuspruch.
»Oh, ich weiß wohl, wo er hingeht!« rief sie.
»Die Liebe brennt heiß«, sagte Bettelmelcher, »aber das Feuer der Eifersucht ist noch weit größer.«
»Ich eifersüchtig?« rief sie und war mit einem Sprung verschwunden. Man hörte sie den Berg hinunter lachen.
»Um zehn Uhr stoß ich zu euch«, sagte er zu den drei Männern, welche hierauf gleichfalls den Berg hinabstiegen.
Er wählte einen Fußweg, der, ohne das unter dem Gipfel liegende Dorf zu berühren,
am Hohenstaufen hinführte und nach dem Walde hinablief. Unterwegs mußte er von
Zeit zu Zeit unwillkürlich stehenbleiben und nach dem Orte hinblicken, der diese
Nacht der Schauplatz einer Tat sein sollte, welche sich, das fühlte er wohl, von
allen seinen bisherigen Übertretungen stark unterschied. Das bedrohte Dorf lag,
von Obstbäumen umgeben, wie im Schoße des Friedens zwischen waldigen Anhöhen, und
der Rauch aus den
Er eilte am Berge hinab, durchmaß rasch den Wald und befand sich mit Anbruch der Nacht auf dem Hofe, wo er die blonde Christine, jetzt nicht mehr die einzige Christine, wußte. An dem langen Wege, den er heute ohne der Rast zu bedürfen, gemacht, konnte er am besten die innere Unruhe ermessen, die ihn trieb.
Man war eben im Begriff, zu Bett zu gehen, als er eintrat. Christine war da, wie er vorausgesetzt hatte. Er zahlte das schuldige Kostgeld, welches mit freundlichen Augen angenommen wurde. Die Gegenwart der Familie ließ keine vertrauliche Unterredung aufkommen. Christine war heiter, aber ihre Laune schien ihmerzwungen zu sein.
»Komm mit mir«, sagte er, »ich bin da, um dich zuholen.«
Sie entschuldigte sich mit Müdigkeit.
»Dann muß ich allein wieder fort«, entgegnete er.
»Gehst zu deiner Zigeunerin?« fragte sie.
»Versteht sich«, antwortete er.
»Bist ein Kerle wie ein Pfund Lumpen!« rief sie inihrer volkstümlichen Scherzweise und bemühte sichzu lachen.
Die Frau vom Hofe ging gleichfalls in diesen Ton ein und neckte sie, daß sie als neuverheiratete Frau schon mit ihrem Manne eifere.
»Schwan, kleb an!« sagte Bettelmelcher pfiffig lächelnd zu Christianus, als jener mit der schwarzen Christine den Waldversteck verließ, wo die sogenannte Gesellschaft lagerte. Die Bande hatte das Lager im Walde unter dem Hohenstaufen nicht mehr sicher gefunden und sich tiefer in die Wälder zurückgezogen.
Christianus nickte und lächelte ebenfalls.
Die beiden gingen zusammen fort, während jedes gegen das andere tat, als ob es nur zufällig um diese Zeit und nach dieser Richtung aufgebrochen wäre. Auch sprachen sie lange nichts miteinander, bis endlich Friedrich, als es ihm schien, die Zigeunerin trachte nach einem anderen Wege abzubiegen, das Stillschweigen brach. »Gelt«, sagte er, »dich hat's erzürnt, daß ich deine Schwester brav zerpeitscht habe?«
»Bewahre«, antwortete sie lachend, »daran hast du ganz recht getan. Du mußt's ihr
aber nicht nachtragen, daß sie dich bei der Verteilung betrogen hat.
»Du auch?«
»Ich glänze ja nicht, ich bin dunkel. Meine Schwester glänzt, aber ich bin ihr nicht gram drum. Doch muß ich immer denken, daß sie gut zu dir passen würde, denn du hast ein feines weißes Gesicht, wie sie.«
»Sehr verbunden! Aber sie kommt mir vor wie die liebe Sonne, die offenbaret ihr Feuer bald und scheinet über Gerechte und Ungerechte.«
Sie lachte. »Darin sind doch die deutschen Männer alle einander gleich«, sagte sie, »daß sie von einem Weib verlangen, sie solle immer zu Boden schauen, wie wenn sie nicht auch von Fleisch und Blut wäre. Freie Augen wollen sie keinem Weib verstatten, die wollen sie für sich allein behalten. Du Narr, ich kann auch frech sein, frecher vielleicht als meine Schwester« – sie gab ihm eine Probe, indem sie die Augen wie zwei Feuerströme, die aus dunklem Schlunde hervorbrechen, so bohrend auf ihn warf, daß es ihn fieberheiß durchzuckte –, »aber«, fuhr sie fort, »ich bin es nur gegen den einen, der mir gefällt, und besinne mich lang, bis ich so ein nichtsnutziges Mannsbild in mein Herz kommen lasse.«
»Würdest du einem trauen, der ein paar Tage nach der Hochzeit sein Weib verläßt, dir zu Gefallen?«
»Warum nicht, wenn ich sehe, daß sie nicht zusammen taugen, und besonders wenn die
Bekanntschaft
Er lachte laut. »Du wärst imstande, einen bis in die Hölle zu führen«, sagte er.
»Warum nicht, wenn ich ihn der Müh wert halte«, erwiderte sie.
Er blieb lange stumm. »Wo willst du denn eigentlich hin?« fragte sie. »Es sieht ja aus, als ob du wieder einmal nach Ebersbach wolltest.«
»Ich hätte wohl Lust dazu und zu fragen, was die Ebersbacher von mir sagen.«
»Da würdest du viel Schönes hören. Mein Weg führt übrigens nicht dorthin, ich muß dich allein ziehen lassen.«
»Nein, bleib bei mir, wir wollen nur ein wenig umherschweifen, ich muß Gesellschaft haben.«
»Hast ja dein Gewehr«, sagte sie, blieb ihm übrigens zur Seite, während er hastig längs einer Schlucht hinanstieg.
Sie waren auf einem kleinen, tief im Dickicht fortlaufenden Pfade lange gegangen,
als Christine in einer Vertiefung, durch die derselbe führte, den Schritt anhielt
und sich über die schwüle Luft beklagte. Sie bog die Zweige auseinander und ging
einem Plätschern nach, das sich seitwärts hören ließ. Er folgte ihr. Ein Bächlein
rieselte durch den Wald und bildete, etwa mannshoch über Felsen springend, wenige
Schritte vom Wege, aber tief verborgen, einen kleinen Wasserfall,
»Du bist müd, deine Augen brennen vor Schlaflosigkeit«, sagte sie. »Zwei Nacht hast du jetzt nicht geschlafen und den ganzen Tag nicht geruht.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab auf dich acht gehabt. Leg dich hier schlafen, hier ist Schatten und Frische! Ich will bei dir wachen, daß dich niemand stört.«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte er.
Sie spritzte ihm von dem Schaume des Wassers ins Gesicht.
»Das Wasser tut mir wohl«, sagte er und tauchte gleichfalls die Hand ein, um sich die Augen zu kühlen.
»In dir geht etwas vor«, sagte sie.
»Wenn sich der Mensch umkehren soll wie ein Handschuh«, erwiderte er, »so ist das nicht auf einmal geschehen.« Er stützte den Kopf in die Hand und brütete vor sich hin.
»Wie meinst du das?« fragte sie.
Er richtete sich wieder auf. »Die Habsucht von ihrem Überfluß erleichtern«, hob er
nach einer Weile an, »gegen harte Menschen streng auftreten, dazu kann sich der
Mensch mit Leichtigkeit entschließen. Aber die Leute quälen und martern, wie die
Henker, das geht mir wider die Natur. Es sind diese Nacht bei dem Schultheißen
Dinge geschehen, die mir am Herzen
»Du redest recht schultheißenmäßig«, sagte sie. »Möchtest du jetzt vielleicht noch Schultheiß von Ebersbach werden?«
»Nein, ich rede keinem Schultheißen das Wort, aber foltern soll man ihn nicht.«
»Hast du nicht selbst gesagt, daß diese deutschen Henker das den Unsrigen tun?«
»Ich will's ihnen lassen.«
»Was? Und man soll's ihnen nicht vergelten, den Ungeheuern? Weißt du nicht mehr, welche Reden du gegen deine Ebersbacher geführt hast? Hast du nicht gesagt, dein Herz werde keine Ruhe finden, bis du den ganzen Flecken zusammenbrennen sähest, den Magistrat mit Pfarrer und Amtmann an der Spitze möchtest du hinschlachten, deinen eigenen Vater nicht verschonen und den schwangeren Weibern den Leib aufschneiden? Nun, die ungeborenen Kinder sind doch gewiß unschuldiger als der Schultheiß von Börtlingen.«
Er starrte unmutig vor sich hin.
»Prahlst du mit Worten«, fuhr sie fort, »und schrickst recht deutsch und feig vor einem bißchen Gequiek und Geschrei zurück? Du Maulheld, geh zu deiner Ebersbacherin und laß dich mit ihr ins Zuchthaus sperren.«
Er sprang auf wie ein gereizter Tiger, und seine rotumsäumten Augen funkelten. »Weibsbild!« schrie er, »ändere deine Zunge, oder du sollst den Maulhelden spüren, bis du mürb wirst.«
Mit einem Schrei der Wut stürzte er sich auf sie und suchte sie zu ergreifen, aber mit Erstaunen mußte er sich bekennen, daß ihm dieses Weib gewachsen sei. Sie zeigte ihm eine unerhörte Muskelkraft und dabei eine Behendigkeit, mit der sie ihm wie eine Flamme unter den Händen durchschlüpfte; dann hielt sie ihm wieder beide Hände fest, daß er der äußersten Anstrengung bedurfte, um sich loszureißen und den Kampf von neuem zu beginnen, wozu sie ihn durch ein fortwährendes Hohnlachen reizte. Lange hatten sie miteinander gerungen, bis er sie endlich bemeisterte und zu Boden warf, daß ihr die Glieder knackten.
»Willst du degenmäßig werden?« schrie er.
»Nein!« antwortete sie und suchte sich wieder emporzuringen.
»Willst du mich für deinen Herrn erkennen?«
»Nein!«
»Parieren mußt du!« schrie er, drückte sie zwischen seine Knie, daß sie nach Luft schnappte, und zog das Messer. Sie stöhnte, aber nicht vor Angst. Ihre Augen spien Feuer, ihr heißer Atem durchglühte ihm die Wange, und ihre braune Haut brannte von dem Blute, das ihr die Anstrengung in Gesicht und Hals hervorgetrieben hatte. Er kämpfte bebend mit der Gewalt ihrer Schönheit, aber entschlossen setzte er ihr das Messer auf die Brust und rief: »Willst du dich unterwerfen?«
»Was fällt dir ein?« rief er stolz sich zurückbeugend. »Du traust mir zu, an was mein Herz nicht denkt.«
»Was willst du denn?« fragte sie.
»Respekt, sonst gar nichts!« antwortete er mit seltsam strengem Tone. »Du mußt versprechen, daß du nie in deinem Leben mehr solche Ausdrücke wider mich brauchen willst.«
»Wenn's nichts weiter als das ist!« rief sie lachend. »Der Respekt ist schon von selbst da, und ich will tun, was du haben willst. Aber erst steck dein Messer ein, denn damit bringst du mich zu nichts, ich hab im Gefängnis schon den ersten Grad der Tortur überstanden, und sie haben nichts aus mir herausgebracht.«
Er stand auf und steckte sein Messer ein. Mit wunderbarer Schnellkraft schoß sie vom Boden auf: »Ich habe meinen Meister gefunden«, rief sie, »so hätte keiner von den anderen gehandelt! Dafür will ich dich auch achten und ehren und will dir leibeigen sein und mit meiner Hand dich ernähren mein Leben lang.« Sie ließ sich zu Boden, umfaßte seine Knie und sah zärtlich zu ihm empor.
»Horch!« sagte er. Ein Donnerschlag ging über ihre Häupter und rollte langhin
durch den Wald. Ein zweiter folgte, und schwere Tropfen klatschten über ihnen auf
die Blätter. Das schattige Plätzchen war dunkel geworden; das Stück Himmel, das
man sehen konnte, zeigte sich mit schweren schwarzen Wolken
»Das musiziert drauf los!« sagte er behaglich, während das Gewitter mit heftigen Schlägen sich entlud und der Regen auf den Wald niederrauschte. »Hast du Angst?« fragte er, als Christine sich beim grellen Lichte eines Blitzes unwillkürlich bekreuzte.
»Nein!« sagte sie. »Überhaupt hab ich in meinem Leben keine Angst mehr als vor dir und um dich.«
Sie schmiegte sich an ihn wie ein Lamm. Ihre Augen suchten die seinigen und kehrten scheu in sich zurück; denn er sah unverwandt in die Höhe und seine Seele schien sich an dem Aufruhr in der Welt umher zu laben.
Das Gewitter hatte endlich ausgetobt, und der Regen hörte auf. Er erhob sich und kehrte auf den verlassenen Pfad zurück. Christine schlich mit gesenktem Kopfe traurig neben ihm her; noch gestern hatte er ihr leicht zu erkennende Beweise seiner wachsenden Zuneigung gegeben, und heute war er still und kalt gegen sie. Da sie seinen Jähzorn kennengelernt hatte, so wagte sie es nicht, ihn durch neuen Trotz zu reizen.
Sie waren lange nebeneinander hergegangen, da getraute sie sich endlich zu fragen: »Wo gehst du denn eigentlich hin?«
»Nach meinem Weibe sehen«, war die Antwort.
»Ich zweifle«, antwortete er, »aber ich muß doch zuerst wissen, wie ich mit ihr dran bin. Das muß alles ganz offen abgemacht werden.«
Sie atmete auf, und es fiel ihr wie ein Stein vom Herzen; denn jetzt begriff sie sein Betragen.
»Wenn sie sich drein fügt und mitgeht«, setzte er hinzu, »so muß es jedermann recht sein, und ich werd's nicht leiden, daß man ihr etwas zuwider tut oder sagt.«
»Ich tu ihr gewißlich nichts zuleid«, versetzte sie schüchtern. »Wenn sie aber nicht will, und du wirst doch auch nicht mit ihr nach Ebersbach zurück wollen, so darfst du sie nicht nackt und bloß von dir lassen.«
»Wenn sie von mir geht«, sagte er, »so hat sie mit ihren Kindern nichts zu beißen und zu brechen.«
»Ich will dir für alle Fälle was sagen«, wendete sie sich zutraulich zu ihm. »Ich hab ein paar hundert Gulden im Zins stehen bei einem sicheren Mann im Fränkischen. Nun will ich dir weder zu- noch abreden: ob sie zu uns taugt, das ist deine und ihre Sache. Wenn's aber, wie du jetzt selbst für möglich hältst, zwischen euch zur Trennung kommt, so kannst du Geld von mir haben, soviel du willst, damit du sie nicht entblößt ziehen lassen mußt und damit deine Kinder nicht in Not verlassen sind.«
Sein Gesicht verwandelte sich, und er blickte sie so freundlich an, daß es ihr
durch das Herz ging. Mit der Teilnahme an seinen Kindern, welchen er nicht
Sie kamen aus dem Walde heraus und hatten freies Feld vor sich, durch welches mehrere Wege führten. Da er ohne Aufenthalt vorwärts ging, so legte sie ihre Hand auf seinen Arm und fragte: »Getraust du dir den Weg zu machen? Ein kleiner Bogen durch den Wald wäre besser. Die Gegend ist nicht sicher, und für dich am wenigsten.«
»Bleib du zurück«, sagte er. »Ich gehe grad auf dem Weg hier fort nach dem Waldsaum da drüben.«
»Wo du dich hintraust«, versetzte sie, »da geh ich mit. Ich begleite dich bis an den Hof und überlasse dich dort deinem Stern oder deinem Unstern.«
Sie gingen zusammen weiter. Er befand sich allerdings in einer Gegend, die für ihn
nicht sicher war, die er sehr gut kannte. Eine kurze Wanderung auf der sich gegen
den Talrand senkenden Anhöhe würde ihm sein Heimattal gezeigt haben. Er erkannte
es an dem jenseitigen Höhenzuge, von welchem der obere bewaldete Teil zu sehen
war. Er warf einen finsteren Blick nach der Stelle, wo unsichtbar für das Auge
sein Vaterort drunten lag, und wandte sich zum Weitergehen, als er bemerkte, daß
Christine, jeder Besorgnis Trotz bietend, auf einer steinernen Ruhebank Platz
genommen hatte. Ihre Augen flogen wie trunken ins Weite. Er folgte mit seinem
Blick und sah jetzt erst den wundervollen Anblick, der sich ihnen
Er wußte nicht, ob er wachte oder träumte; die Welt war ihm neu, und er glaubte,
sie, obgleich kaum eine Stunde von seinem Geburtsorte entfernt, zum erstenmal zu
sehen. Er heftete den Blick wieder auf seine Genossin, durch deren Augen er dieses
Liebesspiel der Sonne mit einem Fleck der Erde, den er seine Heimat nannte,
erschaut hatte, und siehe, auch sie hatte der
»Auch ich?« fragte er verwundert.
»Wir sind bei der Frau Sonne zu Gaste«, sagte sie, »wir Kinder des Waldes haben darin viel vor den anderen Menschen voraus. Aber komm, es muß nun einmal sein.«
Sie gingen dem gegenüberliegenden Walde zu und verfolgten einen durch denselben gehenden Weg, bis sie in der Nähe des Hofes angelangt waren, wo er die blonde Christine untergebracht hatte.
»Hier scheiden sich unsere Wege«, sagte die schwarze Christine. »Und nun hör noch eins. Ich weiß, daß du mich lieb hast und dein Herz schwer von mir losreißen wirst; deshalb will ich dich nicht an mich locken, wie ich wohl könnte. Aber dein Herz wird dir selbst sagen, wie es um uns steht. In ihr hast du nur dich selbst geliebt, deinen eigenen Willen, in ihr hast du nur dir selbst Wort gehalten. In mir liebst du etwas anderes.«
»Ja, den Teufel!« murmelte er. »Und doch bist du mir soeben wie ein Engel des Lichtes erschienen.«
»Nenn's, wie du willst. Wenn du sie zu uns mitbringst, so wirst du bald sehen, daß
du auf mich vor allen bauen kannst. Folgt sie dir nicht in das neue Leben, dessen
Türe du, wie dir selbst bewußt sein wird, unwiderruflich aufgestoßen hast, folgt
sie dir nicht, wie das Weib dem Manne folgen soll, und du gibst deinem
Sie grüßte leicht mit der Hand und war im Wald verschwunden.
Christine war nicht da. Sie sei diesen Nachmittag fortgegangen, hörte er von ihrer
Wirtin, und habe gesagt, sie müsse nach ihrem Manne sehen und ihre Kleidungsstücke
holen. Sie habe vorher eine Zeitlang in der Bibel gelesen, und sei dann auf einmal
aufgebrochen. Er setzte sich verdrossen vor das noch aufgeschlagene Buch und las
mühselig in der Dämmerung: »Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele
liebt; ich suchte, aber ich fand ihn nicht.« Es war das hohe Lied, das in dunkler,
aber zündender Sprache von zwei verbundenen Herzen, die sich suchen und
wiederfinden, erzählt. Obgleich die von der Kirche hinzugefügten Überschriften
diesem berauschenden Klag- und Jubelliede eine ganz andere Auslegung gaben, so
schienen doch seine Flammenworte Christinens Herz in der Einsamkeit ergriffen und
mit jenem Weh angefüllt zu haben, von welchem das Lied selbst sagt: »Liebe ist
stark wie der Tod, und Eifer ist fest wie die Hölle; ihre Glut ist feurig und eine
Flamme des Herrn, daß auch viel Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die
Ströme sie ersäufen.« Er
Er legte das Buch wieder hin und ging, um sein Weib aufzusuchen. Er war in dem schon nächtlich dunklen Walde noch nicht weit gegangen, als er eine weibliche Gestalt gegen sich kommen sah, die bei seinem Anblick zaudernd stehenblieb. Er erkannte sie erst, als er sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte. Es war die blonde Christine, die ihn vergebens im Walde gesucht hatte und nun auf der Rückkehr begriffen war. Sie befand sich aber in einer Laune, die nicht nach den Würzgärten Salomos schmeckte. »Deine Zigeunerin hat mir schon gesagt, wo du seiest«, warf sie mürrisch hin, »sie ist mir begegnet.«
»Sie wird dir gesagt haben, daß ich dich hab besuchen wollen.«
»Läßt mich den halben Tag um dich 'rumlaufen.«
»Nun, jetzt hast mich ja.«
»Bist mit deiner Zigeunerin 'rumzogen?«
»Ja.«
»Gib mir nur mein Halstüchle, mein Müffle und mein' Schurz wieder. Ich brauch's.«
Gereizt durch ihren zänkischen Ton, öffnete er den Büchsenranzen und gab ihr die
gepfändeten Gegenstände zurück. »Ich hab dir auch einen getüpfelten Schurz
mitgebracht«, setzte er verdrießlich hinzu,
»Ich brauch ihn nicht«, sagte sie trutzig.
»Nein, du mußt ihn nehmen«, rief er. »Man kann ja nirgends mit dir hin in deinem schwarzen leinenen Schurz; wo du hinkommst, sehen dich die Leut für ein Baurenmensch an.«
»Ich bin dir in meinen Kleidern lang gut gnug gewesen«, sagte sie und zog die Hand zurück.
Er warf ihr das Geschenk über die Schulter.
»Ich will nichts von deinen gestohlenen Sachen haben!« rief sie und warf es zu Boden.
»Wart, ich will dir so unartig sein!« rief er zornig und hob die Hand gegen sie auf. »Ich sollt dich nur –«
»Schlag mich nur in dem Zustand, in dem ich bin!« rief sie, in Weinen ausbrechend. »Die Liebe ist dir ja doch vergangen. Laß du mich heim, ich kann schaffen und dienen, ich hab nicht nötig, gestohlen Brot zu essen. Geh du, wo dich dein Herz hinzieht, zu deinem Zigeunermensch.«
»Wenn du mir's so machst«, erwiderte er, »so kann mir die Wahl nicht weh tun. Aber bis jetzt hast du keinen Grund zur Eifersucht, das kann ich dir schwören. Übrigens ist die Zigeunerin christlicher gesinnt als du. Sie sagt, wenn du mit mir zu ihnen übertretest, so wolle sie dich wie eine Schwester halten, und nur, wenn du durchaus nicht mit mir gehen wollest und nach Haus begehrest, wolle sie mir Geld für dich geben, damit du nicht Not leiden müssest.«
»Ich will kein Geld von ihr, um mich abfinden zu
»So schimpf wenigstens nicht über sie, denn sie tut nichts, um dich zu verdrängen, und meint's ehrlich mit dir. Daß es aber zwischen uns endlich zu einer Entscheidung kommen muß, das wirst du selbst einsehen.«
Während dieses unfreundlichen Wortwechsels ging Christine ohne Aufenthalt immer vorwärts, und er folgte ihr.
»Bist du heut nacht mit dabei gewesen in Börtlingen?« fragte sie nach einer Weile.
»Woher weißt du was von Börtlingen?«
»Heut früh schon hat man's auf dem Hof gehört, es sind Leut dort vorbeikommen, und heut nachmittag sind mir Leut im Wald begegnet, denn wenn ich allein bin, so brauch ich mich nicht zu fürchten und kann die Straß gehen. In der ganzen Gegend ist ein Geschrei: eine Räuberbande sei bei lichtem hellem Mondschein zu Börtlingen eingefallen und der Sonnenwirtle sei ihr Hauptmann gewesen und hab die Leut schwer mißhandelt und den Schultheißen am Feuer geröstet.«
»Und gefressen wie einen Schöps!« setzte er lachend hinzu. »So arg ist's nicht.«
»Also in der Hauptsach ist's wahr?«
»Dir leugn' ich's nicht«, antwortete er.
Sie waren bei diesen Worten wieder in der Nähe des Hofes angekommen. »Wart ein
wenig«, sagte sie, »ich will nur geschwind meine Sachen holen, denn ich muß eilen,
wenn ich noch nach Ebersbach kommen
»Ist dir's Ernst?« fragte er düster.
»Ich weiß mir kein' andern Weg.«
»Ich laß dich nicht!« rief er, und seine Stimme verriet, daß es in ihm zu kochen begann.
»Wir können ja unterwegs streiten, wenn du streiten willst«, erwiderte sie und ging hinein. Nach kurzer Frist kam sie mit ihrem kleinen Bündel zurück und sagte: »Da drinnen meinen sie auch, es sei das best für mich, ich geh wieder heim. Sie sind arg betrübt, daß der Christle heut abend ins Ottenbacher Tal 'nüber ist, um deine Kameraden aufzusuchen.«
»Das ist das rechte Klima!« versetzte er. »Wenn er sie nicht antrifft, so kann er sie dort jedenfalls erfragen. Was willst du aber machen, wenn dich deine Mutter nicht behält, wie sie schon einmal getan hat?«
»Dann probier ich's wieder mit der Schulmeisterin zu Denzlingen, oder auch, wenn alle Sträng brechen, mit meiner Zuchthausaufseherin. Es ist hohe Zeit für mich, daß ich wieder in ein anders Leben komm.«
Sie schritt unaufhaltsam dahin, so daß er wohl oder übel mitgehen mußte. »Wie ist's denn in Börtlingen gangen?« fragte sie.
»Wir sind sieben Mann stark mit der Margarete dem Schultheißen ins Haus gedrungen.
Einer, der eine dunkle Kappe mit Augenöffnungen über das Gesicht gezogen hatte,
ist unser Anführer gewesen; sie sagen, es sei der abgedankte Amtmann von Adelberg.
Es war noch ein zweiter Unbekannter dabei, in einem schwarzen Kamisol und weißen
Zwilchkittel, mit ganz
»Und mit den Lichtern habt ihr den Schultheißen brennt?«
»Ich hab ihm weiter nichts getan als ihn binden helfen, hab ihn am Hals und um den Leib hart gehalten, einen alten Heuchler geheißen und angeschrien, er solle gestehen, wo er sein Geld habe, oder er müsse sterben. Zugleich ist die Magd in ihrem Schrecken nackend die Stege herunterkommen; der Christianus hat ihr die Zöpfe abgeschnitten, die Hände und Füße damit zusammengebunden und sie in der Frau Bett geworfen, weil sie geklagt hat, es friere sie so. Denn die Frau ist auf dem Boden gelegen, der Melcher hat ein Deckbett über sie geworfen. Die Magd hat gewimmert: hier stehe der Kupferhafs, sie sei ein armer Wais, man solle ihr nichts tun. Zugleich hat der Schultheiß gesagt, es sei Geld genug in der Kammer drin. Die anderen aber haben aus der Kammer gerufen: Wir haben das Möges schon, nämlich das Geld. Auf einmal hat die Margarete, die vielleicht Leute auf der Gasse gehört, Gaif! Gaif! gerufen und hat mir zugeschrien, ich solle hinunter und Feuer auf sie geben. Darauf hab ich unter dem Haus mit dem in der Kappe Wache gehalten und mich an nichts mehr beteiligt.«
»Dann haben die anderen den Schultheißen mißhandelt?«
»Jesus! Jesus!« schrie Christine. »Das ist ja schrecklich.«
»Sie haben aber nichts mehr von ihm bekommen als den Nachtmahlskelch nebst Zubehör. Er hat alles andere richtig angegeben und nur diese Sachen hat er verheimlichen wollen, weil sie seiner Gemeinde gehören.«
»Wie ist's denn bekannt worden, daß du dabei gewesen bist?« fragte sie. »Hättest du dich nicht auch vermummen können?«
»Der Bettelmelcher«, erwiderte er, »hat immerfort geschrien: Kennt ihr mich? Ich bin der Sonnenwirtle.«
»Die Spitzbuben!« rief sie empört: »damit haben sie dich absichtlich 'neinreiten wollen! Und ich steh dafür, den gefährlichsten Teil vom Raub, den Kelch, haben sie sicherlich dir geben.«
»Daß sie alle Mittel anwenden, um mich völlig in ihre Gesellschaft zu ziehen, ist natürlich«, erwiderte er. »Ich kann ihnen das nicht einmal übelnehmen. Und was bleibt mir sonst übrig?«
In diesem Augenblicke kamen sie aus dem Walde auf das freie Feld heraus, das noch
vom letzten Tageslicht erhellt war. Sie sah ihm schmerzlich und schüchtern
»Du hast's nötig, so zu reden!« rief er wild. »Wer hat sich denn Essen und Trinken und Kleider von mir bringen und das Kostgeld für sich bezahlen lassen? Wer hat vom Melcher ein Pfännle verlangt? Hast du geglaubt, der Bettelmelcher werde es kaufen? Und wer hat diesem Dieb und Räuber von Profession die Gelegenheit in Heseltal beschrieben und ihm angegeben, wo der Wirt sein Geld hingetan hat?«
»Ach Gott!« rief sie weinend, »du hast freilich recht! Ich sag ja, es sei hohe Zeit für mich, in ein anders Leben zu kommen. Da siehst, wie man in der Gesellschaft wird. Sie lachen ein' so spöttisch aus und stellen ein' so miserabel hin, daß man's nicht aushält und ihnen vor lauter Ärger zeigen muß, daß man auch Augen im Kopf hat, so gut wie sie. Ich glaub, wenn ich bei ihnen wär, ich tät bald mit ihnen wetteifern, nur nicht in Börtlinger Geschichten, denn so viel wird dir dein eigenes Herz sagen, daß das etwas ganz anders ist, als alles, was du früher getan hast. Die Leut sagen schon lang von dir, du habest einen Bund mit dem Teufel. Ich hab's nie glaubt; auch müßt er nicht besonders spendabel sein, wenn's wahr wär. Aber bei so Unmenschen mußt du dem Teufel verfallen.«
»Ich hab nur mitgetan, weil mich ein gegebenes Wort gebunden hat«, erwiderte er. »Ich tu's nicht mehr. Es gibt andere Mittel und Wege.«
Sie waren an der Ruhebank angekommen. Sosehr
Er fühlte dies und kämpfte dagegen an. Er wollte dem Weibe seiner Jugend Wort halten, und wenn er die Unmöglichkeit selbst überwinden müßte. Leidenschaftlich rang er mit ihrem Entschlusse, bat, drohte, tobte, fluchte. Sie blieb fest. »Du kannst mich erschießen«, sagte sie, »aber ich tu's meinem rechtschaffenen Vater unter dem Boden nicht zuleid, daß ich zu dem Gesindel ging.«
»Du weißt«, sagte er grollend, »daß mir die Welt nach allen anderen Seiten hin verbaut ist, und jetzt auf dem einzigen Wege, den ich noch gehen kann, willst du mich verlassen! Ist das deine Liebe zu mir?«
Sie fiel ihm laut weinend um den Hals und zog ihn auf die Steinbank zu sich
nieder. »O Frieder!« rief sie, »ich hab dich liebgehabt wie kein' Menschen sonst
in der Welt und hab dich heut noch lieb. Sieh, ich weiß wohl, ich bin dein Unglück
gewesen von Anfang an. Wenn ich nicht gewesen wär, so wärst nie auf die Weg
kommen. Aber deine Liebe und Treue zu mir hat dich ins Verderben geführt, immer
tiefer
»Nie!« rief er. »Wenn du bei mir bleibst, so sollst du sehen, daß mir keine andere an die Seite kommt. Aber das erklär ich dir offen: wenn du von mir abfällst, so schlag ich mich zu der anderen Christine, denn sie heißt wie du und hat mich lieber als du.«
»Tu's nicht, Frieder, tu's nicht!« rief sie ihn umklammernd. »Ich säh dich ebensogut in der Hand deiner Stiefmutter. Ich will nicht sagen, sie mein's nicht in ihrer Art gut mit dir, aber wohin wirst du an ihrer Hand geraten? Sieh, wenn du ein Schritt hundert oder zweihundert von der Bank da vorgehst, so siehst so weit ins Tal, daß du den Ebersbacher Galgen ins Aug fassen kannst. Wie lang meinst du denn, daß du's auf die Art treiben könnest? Eins, zwei, drei Jahr, wenn's hoch kommt, und dann nimmt's ein schrecklich's End. Oh, Frieder! Frieder! daß ich das voraussehen muß! Gibt's denn gar sonst kein' Ausweg mehr für dich?«
Sie faßte seinen Kopf mit beiden Händen und küßte ihn unter fortwährendem
Schluchzen, das ihr die Brust zu zersprengen drohte, so inbrünstig, wie er nie
einen Kuß von ihr empfangen zu haben glaubte, und
»Drauf! Drauf!« schrie es hinter ihnen. Sie fuhren auf und sahen sich von
Streifmannschaft umringt, welche aus dem Walde hervorgebrochen war, und rechts und
links auf sie eindrang. »Halt dich fest zu mir!« rief er, hatte im Nu die
schwächste Seite der Angreifer, die ihm nach dem Walde zu entkommen erlaubte,
ausgespäht und warf sich mit angeschlagenem Gewehr ihnen entgegen. Sie wichen
erschrocken auseinander, und er stürzte mitten hindurch. Ein paar Schüsse knallten
hinter ihm, die er verlachte. Als er aber den Schutz des Waldes erreicht hatte und
sich umsah, war keine Christine hinter ihm. Er brach tollkühn wieder hervor und
sah sie als leichte Beute in den Händen der Streifer. »Laßt sie los«, schrie er,
»oder –!« Ein Teil eilte mit ihr geradeaus den Berg hinab, so daß sie bald mit ihr
verschwunden waren, ein anderer Teil stellte sich gegen ihn auf. »Und wenn der
Teufel selber bei ihm wär«, rief die Stimme des Fischers, den er jetzt erkannte,
»so wird man doch mit ihm fertig werden können.« Abermals blitzte ein
Als er sich in Sicherheit wußte, ließ er es seine erste Sorge sein, die treulose
Begleiterin, die ihm den Dienst verweigert hatte, wieder instand zu setzen. Zu
diesem Behufe ging er nach dem Hofe zurück, von wo er mit Christinen gekommen war,
weckte die Leute, die schon zu Bette lagen, forderte Licht und erzählte mit
verbissenem Grimme, was sich zugetragen. Man war ihm schweigsam zu Willen, wie man
eben in abgelegenen
Nach kurzer Zeit versuchte er von anderer Seite her eine Annäherung an den Flecken. Nicht weit vom Hochgerichte, vor welchem Christine ihn gewarnt hatte, ging er zu der Hütte eines Feldhüters und gebot diesem herauszukommen. Es war ein Schulkamerad von ihm, der als ein armer Mann das Amt übernommen hatte, bei Nacht die Frucht zu hüten. »Erschrickst du vor mir?« fuhr er ihn an.
»Nein«, antwortete der Hüter, »ich hab nur so spät niemand erwartet, es ist schon zehn Uhr vorbei.«
»Wie steht's?«
»Nicht zum besten. Der Hagel hat heut stark auf der Markung geschlagen. Wenn's so fortgeht, wird bald nichts mehr zum Hüten da sein.«
»Weißt du nichts von meiner Christine?«
»Ja, eh ich heraus bin, hab ich gehört, daß sie gefänglich eingebracht worden sei. Sie sitzt auf'm Rathaus und wird morgen mit dem frühsten nach Göppingen geliefert. Alles sagt, sie werd ins Zuchthaus kommen.«
Er knirschte mit den Zähnen.
»Die alt Müllerin hat doch recht Unglück mit ihren Kindern. Weißt du's mit dem Jerg?«
»Was?«
»Freilich weiß ich's.«
»Nun, und da ist deiner Christine Bruder auch darunter gewesen.«
Er stieß einen Schrei des schmerzlichsten Zornes aus und wütete gegen die ganze Welt, den Herzog an der Spitze.
»Nimm dich doch in acht!« sagte der Hüter, »du kannst dich mit solchen Reden um den Kopf bringen.«
»Was liegt daran!« erwiderte er.
Man hörte Schritte, und im Mondlicht kamen Soldaten zum Vorschein.
»Wer da?« rief er mit wilder Stimme, hervortretend und das Gewehr anlegend.
»Die tun dir nichts«, sagte der Hüter, »die sind in Urlaub und lassen sich's wohl sein, weil man wegen der unruhigen Zeit dem Soldaten ein wenig durch die Finger sieht, haben den ganzen Tag viel getrunken und wollen den Geist verluften; wenn sie vielleicht auch gesagt haben, daß sie auf dich streifen wollen, so ist's ihnen nicht Ernst damit.«
»Ist des Jergs Bruder, der Hannes, unter ihnen?«
»Nein«, sagte der Hüter und nannte ihm ihre Namen.
Er trat den drei bewaffneten und mit Gewehren versehenen Reichskriegern entgegen; mit der einen Hand hielt er sein Gewehr, mit der anderen klopfte er auf die Lederhosen und rief: »Nur her da, ich hab schon lang auf euch gewartet, ich bin der Sonnenwirtle!«
Er lachte unbändig hinter ihnen her. Über dem spaßhaften Anblick und über der Befriedigung seines Stolzes hatte er, für einen Augenblick wenigstens, alles vergessen, was ihn drückte.
»Hab ich's nicht gesagt, die tun dir nichts?« sagte der Feldhüter. »Die könnt man mit keinem Pferd mehr einholen.«
»Hol mir Wein.«
»Gern, aber weißt, damit ich vor Amt schwören kann, du habest mich gezwungen, so mußt mir's anders befehlen.«
»Gut.« Er klopfte an sein Gewehr. »Du mußt mit mir da hinein und zu trinken holen, und wenn du nicht willst, so mußt du.«
»Sehr wohl.«
Sie gingen zusammen bis nahe an den Flecken. Dort gab er ihm Geld und wartete mit angezogenem Gewehre auf seine Zurückkunft.
Der Hüter kam allein, denn er wußte wohl, daß eine Verräterei ihn außer stand setzen würde, je wieder seinen Dienst bei Nacht zu tun. Hierauf gingen sie in das Feld zurück.
Der Hüter mußte den Wein tragen und durfte dafür nachher mit ihm trinken.
»Sie haben gottsträflich Angst vor dir.«
Er lachte und ließ nicht ab mit Fragen, bis ihm der Hüter die gleiche Antwort wohl sechsmal in verschiedenen Wendungen wiederholt gegeben hatte.
»Aber die Börtlinger Geschicht macht bös Blut, es wird allenthalben nach dir gestreift, und es ist da herum nicht mehr gut wohnen für dich.«
Er lachte noch lauter und fing nun mit diesem Einbruch, den er vor wenigen Stunden
mit manchem Gewissensbiß erzählt, heillos zu prahlen an. Dabei machte er sich mit
dem Amtmann von Adelberg und anderen vornehmen Personen groß, indem er so das
Märchen, das vielleicht seine Genossen zu seiner eigenen Aufmunterung ersonnen
hatten, weiter verbreitete. Indessen erreichte er seine Absicht, denn der Hüter
bemerkte, wenn solche Leute mit in der Verschwörung seien, so werde der Schrecken
in der ganzen Gegend um so größer werden. Hierauf befahl er ihm, den Amtmann von
ihm zu grüßen, er habe eine schöne Flinte, die dem Herrn Amtmann gewiß anständig
wäre, sie sei recht leicht; warum er denn gar nicht mehr auf die Jagd komme? Zu
diesen Hohnreden fügte er Drohungen gegen seine Verfolger, seinen Vormund und den
ganzen Flecken. Nach der Ernte, wenn die Scheuern voll seien, sagte er, sei es
besser, die Häuser anzuzünden, es brenne leichter und gebe eine größere Freude.
Der Hüter wagte bescheidentlich einzuwenden, er gehe ja selbst nach Brot und werde
doch der Gottesgabe nicht so mitspielen wollen. »Ei
Zuletzt kam er wieder auf den Schultheißen von Börtlingen zu sprechen und sich zu rühmen, wie er diesen für seine Heuchelei und Ungerechtigkeit bestraft habe. »So muß man's machen«, sagte er, »ist's nicht recht so?«
»Unser Pfarrer«, sagte der Hüter ausweichend, »schimpft auch auf ihn und sagt, jetzt habe er's, daß er nicht mehr Vorsicht anwende und alles dem Himmel überlassen wolle; er verderbe dem geistlichen und weltlichen Amt das Spiel, verschmähe allen erlaubten Profit, hänge sein Geld an die Armen, die dadurch nur immer begehrlicher werden, und opfere sich auf eine einfältige Art für seine Gemeinde auf, so daß ihm's kein Pfarrer und niemand nachmachen könnte, der sich nicht zugrunde richten wollte.«
»So?« sagte der Räuber und versank in stummes Nachdenken. So verwandelt und entstellt sein ursprünglich gutes Gemüt war, so konnte er sich doch dem Eindringen der Wahrheit nicht entziehen, die aus diesen Worten hervorleuchtete: die erste größere Rachetat, womit er die von der bürgerlichen Gesellschaft erlittenen Unbilden zu vergelten meinte, hatte einen Gerechten getroffen.
Er sprach wenig mehr und überließ den Hüter bald der ohne Zweifel willkommenen Einsamkeit, indem er sich wieder in den Wald aufwärts zog.
Ruhig lag die Welt, wie ein eingewiegtes Kind. Das Gewitter hatte den schwülen Druck des Sommers hinweggenommen, und in der freundlichen Kühle atmete alles Wesen auf. Die Felder ruhten von des Tages Hitze, und durch die Blätter des Waldes ging ein frischer, sanfter Hauch, daß sie nur leise wie im Traume zitterten. Die Menschen schlürften in bewußtloser Wonne den Segen dieser milden Nacht, die selbst dem Fieberkranken wieder einmal Ruhe und Frieden schenken konnte.
Einer aber schlief nicht. Er bettete sich unter dem dichtesten Gesträuch, wo nicht
einmal ein Wild hinkam, legte den Arm über eine Baumwurzel und bereitete sich so
sein Kopfkissen; aber der Schlaf, den er hundertmal auf rauherem Lager gefunden
hatte, wollte ihn nicht besuchen. Er drückte die brennenden Augen in das feuchte
Moos, aber sein von langer Schlaflosigkeit gequälter Kopf hörte nicht zu summen
und zu dröhnen auf. Das Flüstern der Blätter störte ihn; es war ihm, als ob sie
sich etwas von ihm erzählten. Er brach wie ein gescheuchtes Wild durch die Zweige,
floh aus dem Walde heraus und irrte durch die Äcker und Wiesen, die am Abhang der
Anhöhe lagen. An einer Stelle setzte er sich auf den Markstein, an einer anderen
legte er sich in das kühle Gras, wo es noch nicht von der Sense berührt war, denn
seine Glieder waren von Ermattung wie zerschlagen; aber sein Körper fand die Ruhe
nicht, die seiner Seele fehlte. Er hörte vom Tale herauf den
Sein ganzes Schicksal zog in dieser Nacht an seiner Seele vorüber; die
Vergangenheit schmerzte, stachelte ihn, und die Zukunft hing wie eine
wetterschwangere Wolke vor seinem Auge. Es sah wüst und wild in seinem Innern aus.
Vermöge seiner Anlagen und seiner Erziehung wußte er recht wohl zu unterscheiden,
was gut und böse sei, und diese Erkenntnis redete zu ihm in der Sprache der
überlieferten Religion, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte. Obwohl er mit
der Kirche oder vielmehr mit dem Pfarrer haderte und das Maulchristentum der
meisten um ihn her verachtete, so war er doch kein Freigeist; woher hätte er auch,
der ungeschulte Denker, das Zeug dazu nehmen sollen? Er glaubte fest an seinen
Heiland, wie alles um ihn her, und seine von Not und Schuld gepeinigte Seele
schrie oft gen Himmel auf; aber er war das Kind eines aus hartem Stoffe
geschaffenen Volkes, das oft das zarteste Gebet und den rohesten Fluch beinahe in
einem Atem auf die Lippen bringt. Ein beißender Witz, ein Anreiz zur Lebenslust
oder eine Wallung des Zornes konnte die erschütterndste Wirkung
In dieser schweren Nacht gedachte er an jene biblische Erzählung von dem Erzvater,
der im Traume eine Leiter auf der Erde stehen sah, die mit der Spitze bis an den
Himmel reichte; die Engel stiegen daran auf und nieder, und Gott selbst stand oben
darauf. Ihm nahm das Traumgesicht die entgegengesetzte Richtung: er sah endlose
Stufen in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr
abgeschnitten; schon war er weit hinuntergestiegen, und jetzt reichten ihm seine
Genossen die Hände und tanzten lustig lachend immer tiefer mit ihm hinab. Die
verführerische Gestalt der Gefährtin seines Verderbens winkte ihm, die Tochter
einer gesetzlosen Welt erschien ihm wie eine schöne Tigerin, die mit heißer Zunge
an seinem Herzen leckte. Mitten im Grausen der Verworfenheit
Er schweifte in weiten Kreisen vom Felde in den Wald und vom Walde in das Feld zurück; aber weder im Feld noch Wald wuchs das Kraut, das den fieberischen Aufruhr seines Blutes heilen konnte.
Der Morgen kam, und endlich ging auch die Sonne über den Bergen auf. Höher
steigend schien sie in das breite Tal hinein und trocknete den Tau von dem
gemähten Heu, das in großen Haufen auf dem Felde lag, so daß bald ein süßer Duft
sich mit den Morgenlüften mischte, jener Duft, der vor allen anderen den Men schen
mit heimatlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete sog ihn gierig ein, und
Tränen traten in seine müden Augen. Wie oft hatte er da unten als Knabe mit
anderen Knaben, die jetzt sich verabscheuend von ihm wandten oder mit der
Mordwaffe seine Spur verfolgten, in dem aufgeschichteten Heu sich gewälzt und vor
Freude gejauchzt! Von dem Vorsprung, auf dem er stand, konnte er in seinen Flecken
hineinsehen und die Giebel der Häuser erkennen, an welchen seine Erinnerungen
hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, stand das Haus, das ihn
geboren, das nach dem rechten Laufe der Dinge ihn als Erben hätte behalten sollen.
Hier, am Ende des Fleckens, stand das Haus der Armut, wo seine Kinder waren, wo er
den schwarzen Faden angeknüpft hatte, der sich auf seinem Lebenswege immer fester
um seine Füße wand. Und dort weiterhin sah er den
Doch war es nicht dies allein, was seinen Blick an die grauen Giebel fesselte: es war der wunderbare Zug nach der Heimat, den seine heimatlosen Gesellen nicht verstanden. Seltsamer Drang des Herzens! Keine heimische Geschichte, vom Mund des Großvaters auf den Enkel fortgepflanzt, keine alte Volkssitte lebte in diesem nüchternen Orte, woraus das Gemüt des Knaben Nahrung und dankbare Anhänglichkeit hätte schöpfen können, und doch zog es den reifenden Mann aus der Öde der Verbannung immer wieder nach der kargen Heimat zurück. Sie hatte ihn ausgestoßen und von sich gespien, sie fürchtete sich vor ihm wie vor dem wilden Tiere, das aus den Wäldern hervorbricht; er fluchte ihr und drohte ihr mit Mord und Brand: und doch kam er immer wieder nach ihr zu schauen, und in seiner kindisch unverdauten Weise war er mehr als auf jede Kriegs- oder Friedensneuigkeit darauf erpicht, zu wissen, was man in Ebersbach von ihm sage, obgleich er sich die Antwort selbst geben konnte, die ihn immer wieder mit Wut und Haß gegen die Menschheit erfüllte.
Er ging in den Wald und zog aufmerksam spürend einen großen Bogen, der ihn zuletzt
wieder, eine gute Strecke unterhalb seines Vaterortes, gegen das Tal herausführte.
Er befand sich hier an einer steilen Bergseite über einem ganz engen
Seitentälchen, das in der Urzeit nur eine Schlucht gewesen war. Ein dünnes
Bächlein rieselte durch den Grund nach dem größeren Tale hinaus, und neben dem
Bächlein lief ein schmaler Weg hin, kaum für kleine Fuhrwerke befahrbar. Das
Bächlein und der Weg füllten den Grund des kleinen Einschnittes völlig aus; über
dem Bächlein hing der steile Bergwald, wie eine beinahe gerade Wand, und von dem
Rande des schmalen Weges an stieg die entgegengesetzte Wand, sich sanfter
zurücklehnend, nach der Anhöhe empor, die das
Er zog sich an der steilen Bergseite hin und geriet in eine Vertiefung, die von oben nach dem Tälchen herablief, wie sie, vom Volke Klingen genannt, in den vielfach eingeschnittenen Bergwäldern sich häufig finden. Ein Erdaufwurf, mit Moos und Waldgras bewachsen, hinderte seinen Schritt. Er blieb stehen und besann sich. »Richtig!« sagte er, »hier am Kirnberg, weit ab von ihrer Gemeinschaft, haben sie dich eingescharrt, armer Küblerfritz! Wenn einer des Wegs daherkommt, so geht er gewiß scheu vorüber und denkt in seinem Herzen: Herr, ich danke dir, daß ich kein, solcher bin. Bei Nacht wird sich vollends gar keiner herwagen, und doch bleibst du sicherlich auf deinen trotzigen Ellbogen ruhig liegen, denn der Kirnbach da drunten ist viel zu klein für deinen Durst. Schlaf du ruhig fort im kühlen grünen Wald. Hier ist dir's wohler, als auf dem Kirchhof neben den anderen mit ihrem ›Wahren Christentum‹. Hätt ich dran gedacht, so war ich heut nacht bei dir eingekehrt, alter Kamerad. Dafür will ich dir jetzt ein wenig Gesellschaft leisten.«
Er zog das Gewehr wieder an sich und blickte lange auf den Menschen, der so oft
das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben, der vor wenigen Stunden noch aus Haß
und Geldgier seine Kugel auf ihn abgeschossen hatte. In diesem unbedeutenden
Menschen sah er alle versammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleise
gedrängt und endlich von der Bahn seiner rechtmäßigen Ansprüche hinabgestoßen
hatten. Er sah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens schmausen und sich
selbst in die Wildnis hinausgestoßen. Und waren die Unschuldigen, welche seiner
rettungslosen Verzweiflung noch zum Opfer fallen sollten, von welchen einer
bereits den Reigen begonnen hatte, waren sie nicht eines Schuldopfers wert? Hier
stand einer seiner Kugel preisgegeben, der sich über und über mit Schuld an ihm
bedeckt hatte. Wenn der Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren
denkende Mensch sich wünscht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten
Gesellschaft
Viermal zielte er, und viermal setzte er wieder ab.
Der Mensch, wer er auch sei, trifft Stunden in seinem Leben, wo er tief in sich
blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des Wahnsinns in ihm schlummert, die
zuzeiten erwacht. Es steht einer im Gebirge an einer jähen, schwindelnden
Felsenwand, da taucht plötzlich die Stimme in ihm auf und sagt ihm: Spring da
hinab. Oder er hat einen Freund bei sich, der ihm nie etwas zuleid getan, der sich
ihm als feuerfest erwiesen hat; die Stimme sagt: Gib ihm einen Stoß, daß er
hinunter fliegt. Die menschliche Gesellschaft, die für ihren Bestand zu sorgen
hat, macht mit Recht den Menschen verantwortlich, damit er dieser Stimme nicht
gehorcht. Wer in seiner gesunden Kraft wandelt, der kämpft sie leicht nieder und
lächelt über sie, wie der Mensch über die Sprünge seines tierischen Zerrbildes
lächelt. Wo aber Leidenschaft, wo Haß und Rache die Stimme beflügeln, da wird der
Kampf schwerer. Und doch wird jeder, der in den dunkelsten Stunden seines Lebens
sein menschlich Teil gerettet oder verloren hat, Zeugnis geben, daß eine innere
Bewegung mit der Gewalt einer unsichtbaren Macht eingegriffen und seiner Hand ein
Halt geboten hat. Selbst im Kriege, besonders wenn
Kampf und Wut und Schrecken umnebelten den Geist des ausgestoßenen Sohnes der Gesellschaft, der sich vergebens beredete, daß er mit kaltem Blute in dem Kriege, welcher gegen ihn geführt wurde, seinen Feind niederschießen könne. Seine Rachegedanken waren ihm wüst und unklar durch die Seele gegangen; sie schwanden hin, und gänzliche Verwirrung seiner Sinne blieb zurück, in welcher nichts von Haß und Rache, nichts von Bewußtsein mehr war, in welcher nur jene dunkle Stimme fort und fort flüsterte: »Tu's! Tu's! Du mußt es tun!«
Der Schuß krachte über das Tal hinüber, der Hirsch war mit einem Satze
verschwunden, und der Rauch, der von dem Gewehr aufstieg, verhüllte den friedlich
blauen Himmel einen Augenblick. Obgleich von oben nach unten versendet, hatte der
Schuß nicht gefehlt. Der Mörder hörte und sah, während der Rauch sich verzog, wie
sein Opfer aus der gebückten Stellung sich aufrichtete, die Hand auf den Unterleib
drückte und ausrief: »Oh, du verfluchter Hund – er hat mich getroffen!« Der
Gefährte des Fischers eilte hinzu und riß ihn, noch erschrockener als der
Getroffene, mit sich an den Weg hinab, auf welchem er, beständig den Kopf geduckt
haltend, mit ihm fortrannte. Der Mörder
Es wurde still in dem engen Tal des Todes, so still, daß alle Hirsche des Waldes sich darin hätten versammeln können. Nach einiger Zeit kam eine Kuh langsam aus dem Walde den Weg daher. Sie mochte sich von einer nahen, im Walde gelegenen Weide hierher verloren haben. Sie lief auf die Wiese, wo der Fischer den Todesschuß erhalten hatte, und begann sich an dem von der Sense verlassenen Grase zu ergötzen.
Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des Tälchens den schmalen Weg dahergegangen, eine vom Alter gebeugte und gebrochene Gestalt. Es war der Sonnenwirt, der in dieser frühen Stunde auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeschlossen hatte und jetzt dem Tale zuging, um auf den Wiesen im Vorübergehen nach seinen Mähern zu sehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes Gesicht verriet, daß seine guten Tage gezählt waren.
Er schritt, kummervoll zu Boden blickend, seinen Weg dahin. Da rief eine Stimme über ihm, wie mit Donnerton: »Sonnenwirt von Ebersbach!«
»Sonnenwirt von Ebersbach!« rief er, auf sein Gewehr gestützt, »wo hast du deinen Sohn?«
Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.
»Sieh her«, fuhr die Erscheinung fort, auf ein junges Bäumchen deutend, das ohne
Stütze überhing, und dann auf einen knorrig verkrüppelten Baum daneben: »sieh,
wenn ich den jungen Schößling in die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, so
wächst er aufrecht und lustig fort, aber an dem alten Knorren, der in seiner
Jugend versäumt worden ist, ist alle Kunst verloren. Du hast deinem Sohn gesagt,
du wollest ihm die Äst abhauen, wenn er zu krattelig werde. An dem alten,
verwachsenen Knorren kannst du sehen, wie weit du es gebracht hast. Du hast deinen
Schößling üppig aufwachsen lassen, da ihm strenge Zucht nötig war, und zur Zeit
des freien Wachstums hast du ihn zu Schanden geschnitten. Dein Bub ist jetzt ein
Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. – Laß dein Weib nicht für mich beten,
wie sie einmal gesagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft. Wenn du aber glaubst, alter
Mann, daß du dir mit deinem Handel und Wandel eine Ansprache im Himmel eröffnet
habest, dann bete du für mich. – Meine Zeit ist um, Vater, Ihr braucht keine Angst
mehr vor mir zu haben, denn es riecht hier nach Blut. Der Abgrund hat sich
aufgetan,
Die Knie zitterten dem alten Manne, und er mußte sich an dem Rande des Weges zu Boden setzen. Erst nach langer Zeit wagte er in die Höhe zu blicken. Die furchtbare Erscheinung war verschwunden. »Ist das mein Sohn gewesen oder –? Was er predigen kann! Hätt ich ihn denn vielleicht einen Pfarrer werden lassen sollen? Dummes Geschwätz! Wenn er ein Räuber und Mörder ist, wie er sagt, so ist er ein schlechter Prediger. Aber ich hab's ja immer gesagt: er ist im Kopf nicht recht.«
Mit diesen Worten hatte er sich wieder zurechtgefunden. Er erhob sich, schüttelte den Schrecken aus den Gliedern und schickte sich an, das Tälchen, in welchem er von demselben überfallen worden war, eilig zu verlassen, als er die Kuh bemerkte, die sich auf dem Eigentum eines Mitbürgers gütlich tat. Er jagte sie aus dem Grase heraus und trieb das unvernünftige Tier sorgfältig auf dem Wege vor sich her, während sein verlorener Sohn sich den Berg hinaufzog, um unwiderruflich einem Leben zu verfallen, das ihm selbst als die Hölle erschien.
Obwohl frei ohne jedes andere Maß und Ziel, als das sie selbst sich setzt, folgt
doch die Dichtung gern dem
Drei Jahre waren seit dem Tode des Fischers verflossen, der den Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den Meuchelmörder in Bewegung gesetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel erteilt, weil man, wie er sich in seinem Reskripte ausdrückte, den vorgesetzten Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürstlichen Rechte und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Autorität und zu solcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieses vielmehr in seinem Wert, besonders gegen Fremde, um ein Großes herabsetze.
So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz seit einem Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen mit dem folgenden begann:
»Vayhingen. Actum den 7. Martii 1760, vor dasigem Oberamt, in Gegenwart der beeden
Gerichtsverwandten
So war denn der Verbrecher aus verlorener gesellschaftlicher Stellung nach kaum dreijähriger Laufbahn ein lebensmüder Gefangener und Verräter seiner Mitschuldigen geworden. Dieser letztere Zug darf am wenigsten übergangen werden, denn es handelt sich hier nicht darum, durch den Aufputz eines Helden der Vorstellung des Lesers zu schmeicheln, sondern die innere Welt eines Menschen aus dem Volke darzulegen, damit, wer da will, sich daran spiegeln möge.
Zum Glück ist das Protokoll des Oberamtmanns von Vaihingen nicht die einzige
Quelle hiefür. Er war, im Geiste seiner Zeit, ein gewissenhafter Beamter,
persönlich ein Menschenfreund und Ehrenmann, dessen Nachkommen noch heute stolz
darauf sind, daß er nicht wie fast alle Regierungsdiener um ihn her, seine Stelle
vom Herzog erkauft habe, sondern eher den Dienst aufgegeben als sich zum
»Schatullieren« erniedrigt haben würde; aber eine innerliche Auffassung des
Lebensbildes, das die Untersuchung vor ihm entrollte, in den Akten niederzulegen,
war nicht seines Amtes, und gleich das erste Protokoll zeigt, daß er Inquirent
genug war, sich das überraschend freiwillige Entgegenkommen seines Gefangenen –
dem er nicht so leicht beigekommen wäre, wenn dieser nicht selbst, gebrochenen
Gemüts, ihm seine Seele in die Hände gelegt hätte – nach den Quadrangeln des
Inquisitionsprozesses
Der Oberamtmann hatte einen Sohn, der den Verbrecher täglich, wenn er ins Verhör
geführt wurde, sah, die allgemeine Teilnahme der Stadt an den vielen freundlichen
Seiten im Wesen des Unglücklichen mitempfand und sich häufig mit ihm unterhielt.
Die Familiensage erzählt von ihm, daß er schon als Knabe, wie später noch im
Mannesalter, für Cato und Brutus, als die größten Männer, geschwärmt habe. Aus dem
Munde dieses Knaben erfuhr der gefallene Sohn des Volkes ohne Zweifel zum
erstenmal in seinem Leben, daß es in der Geschichte Bürger gegeben habe, welche
die Retter oder Verderber ihres Vaterlandes wurden. Als der Knabe ein Mann
geworden war und an der hohen Schule seines Herzogs junge Männer bilden half,
erinnerte er sich des armen Friedrich Schwan und zeichnete nach der Erinnerung
seine Geschichte auf, wie er sie aus seinem Munde und aus der Nacherzählung
erwachsener Männer vernommen hatte. Seine römischen Helden schwebten ihm auch bei
dieser Aufzeichnung vor, und er beginnt die ersten Zeilen derselben mit den
Worten, der junge Friedrich sei mit außerordentlichen Anlagen des Geistes
ausgestattet gewesen, habe den Keim jeder großen Tugend und jedes großen Lasters
in sich getragen, und nur von der äußerlichen Lage habe es abgehangen, ob er
Brutus oder Catilina werden sollte. Ach, die äußerliche Lage war, wie auch die
Umstände beschaffen sein mochten, jedenfalls von der Art, daß er
Der scharfsinnige Plan, der an der Waldecke bei Wäschenbeuren gefaßt wurde, war
nur sehr unvollkommen ausgeführt worden. Das Sprichwort, daß nicht alles Gold ist,
was glänzt, hatte sich auch bei dem Eintritte Schwans in die Genossenschaft der
Gauner bewährt. Es ist nicht wahr, daß die Spitzbuben ehrlich gegeneinander sind
und daß sich auf diese Eigenschaft eine feste gesellige Ordnung unter ihnen
gründen ließe. Neid, gegenseitiger Betrug und nie ruhender Verdacht, selbst unter
Verwandten, verbitterten ihm das von Hause aus arglose Gemüt gegen diese neue Welt
bald noch stärker als gegen die alte, die ihn ausgestoßen hatte. Er zog meist mit
der schwarzen Christine, die er sich beigesellte, allein in den Landen umher.
Dieses ungewöhnliche Weib, von welcher der Geschichtschreiber »eines Räubers« und
»einer Räuberin« sagt, sie habe alle Gaben der Natur in reichem Maße besessen und
mit einer sehr schönen Körperbildung eine große Tätigkeit und Anlage des Geistes
verbunden, hing an ihm mit einer Leidenschaft, wie sie die alten Sagen jenen
Hünenweibern beilegen; aber sie quälte ihn durch eine unbändige Eifersucht, und
als die blonde Christine, trotzdem daß
Ein Jahr nach dem Tode des Fischers, um Ostern, wagte er sich wieder in die Gegend
von Ebersbach, schickte die schwarze Christine in die ›Sonne‹ und trug ihr auf,
seinem Vater zu sagen, sie habe einen Unbekannten auf der Straße getroffen, der
ihn grüßen lasse. Als er in den folgenden Tagen wieder mit ihr zusammentraf,
erfuhr er von ihr, daß sein Vater seine Kinder zu sich genommen habe. Inzwischen
aber hatte er sich selbst in Ebersbach zu Gaste geladen und hiedurch den Tod eines
Menschen veranlaßt, dem er nichts weniger als übel wollte. In der Gegend
umherschweifend, war er am Rechberg hinter einer Hecke hervor, unvermutet von
einem Kameraden, dem sogenannten Jägerkasperle, angeschrien worden, der ihm
klagte, er habe keinen Kreuzer hinter sich und vor sich, und ihn fragte, ob er
keine Gelegenheit wisse. Da fiel ihm sein Vormund ein, mit dem er noch ein
Hühnchen zu pflücken hatte. Schon die nächste Nacht fand die beiden Spießgesellen
in dessen Laden. Während
Dennoch sollte der Räuber, so sehr er seine Hand rein von Blut zu erhalten strebte, noch einen dritten Mord, den zweiten und letzten, den er selbst beging, auf seine Seele laden.
Im Löwen zu Jöhlingen, einem Dorfe in der unteren badischen Markgrafschaft, hatte
er einst mit der schwarzen Christine nebst einem Knecht und einer Magd, die das
Paar bei sich im Dienste hatte, Herberge genommen. Sooft er seinen Stern mit
Christinens Stern verband, konnte er im Wohlstande leben. Der Knecht war ein
gelernter Gauner und in die Unternehmungen seiner Herrschaft eingeweiht; die Magd
aber, die anfänglich als Wärterin für ein inzwischen wieder gestorbenes Kind
Christinens angenommen war, hatte bloß häusliche Dienste zu verrichten und alles
eigenmächtige Stehlen war ihr von ihrem Herrn strengstens untersagt worden, weil
sie, wie er sich ausdrückte, als ein Mensch von schlechter Kleidung und Person
leicht darüber ins Unglück kommen
Arm an Hoffnung und bald auch an Barschaft schleppte er sich den Winter über hin und wagte während dieser Zeit nur einige wenige Unternehmungen, die ihm mehr Gefahr als Beute brachten. Er war überall und nirgends, aber von seinen hastigen Streifzügen kehrte er immer wieder nach einem vertrauten Hofe in der Nähe des Amtsfleckens zurück, wohin Christine abgeliefert worden war. Auf und bei diesem Hofe, der zugleich ein Vergnügungsort für die Honoratioren der Umgegend war, hielt er sich wochenlang auf und erlauschte eines Tages von der Küche aus die Kunde, die der Amtsschreiber den anderen Gästen im Wirtszimmer mitteilte, der Knecht und die Magd werden bald loskommen, das Weib aber scheine ein tüchtiger Fang zu sein; neulich sei ihr das Spiel von den Fleischmännern garstig versalzen worden, sie habe ausbrechen wollen und dann dem Amtmann auf seinen Vorhalt hierüber zur Antwort gegeben, ein grüner Wald sei ihr lieber als ein gemalter Turm.
In dieser Zeit wurde einst zu Steinbach bei Baden in einer Scheune eine nächtliche
Gaunerversammlung gehalten, zu welcher sich die Zigeuner, die in den
Der Verbrecher, der seinen Vaterort täglich durch Drohungen mit Mord und Brand
geängstigt hatte, verließ mit Abscheu die Versammlung, die der Ausführung solcher
Taten fähig war, und enthüllte in dem Briefe, den wir bereits kennen, dem Amtmann
von
Er erhielt jedoch von dem Amtmann keine Antwort, merkte aber bald, daß derselbe ihm auf der Spur sei, denn als er nach dem Hofe bei Stein zurückkehrte, vernahm er, daß das Gerücht von seiner Anwesenheit verbreitet sei, und hatte Not, sich durch die aufgebotenen Streif wachen durchzuschleichen. Unstet und flüchtig irrte er nach anderen Gegenden.
Nach dem vergeblichen Schritte bei dem Amtmann von Stein faßte er den noch
abenteuerlicheren Gedanken, in der Residenz des Deutschmeisters, auf neutralem
Boden also, wie er meinte, vor seinem aus dem Felde heimkehrenden Herzog zu
erscheinen und zu versuchen, ob er nicht sein Herz rühren könne. Dieser Einfall
verrät eine Treuherzigkeit, die man einem Gauner und Räuber fürwahr nicht zutrauen
sollte.
Zuerst aber drängte es ihn wieder nach dem Hofe bei Stein. Die Gegend schien
sicherer geworden zu sein, und er blieb wieder einige Zeit dort stille liegen, bis
die Not ihn aufscheuchte, um das Anerbieten der Juden bei herannahender Frist
anzunehmen. Von Christinen, nach welcher er sich in Gestalt eines Hanfhändlers
erkundigte, war nichts Tröstliches zu vernehmen; vielmehr schien das Gericht
Verdacht gefaßt zu haben, daß sie sein Weib sei, und in diesem Falle mußte er eine
ewige Trennung von ihr gewärtigen. Seine geistige Kraft war noch früher als die
körperliche gebrochen, obgleich auch diese durch Entbehrungen jeder Art auf eine
harte Probe gesetzt war. Daß er sich der nahen württembergischen Grenze zuwandte,
einer Gegend seines Vaterlandes, die ihm unbekannt war und wo er sicher zu sein
hoffte, beweist, daß der trotzige Mut, mit dem er allen Gefahren seines
Im großen Hagenschießwalde, der sich von Pforzheim in das Württembergische
erstreckt, traf er unversehens auf einem abgelegenen Holzwege, wo ein einzelner
Soldat nicht leicht zu marschieren pflegt, einen herzoglichen Grenadier, der noch
überdies, um das Sonderbare der Erscheinung zu vermehren, zu Pferde saß und seine
weiße Grenadiermütze tief über das Gesicht gezogen hatte. Beide erkannten sich
sogleich. Der Grenadier war sein Landsmann durch Abstammung und sein Verwandter
durch Wahl, der sogenannte Schneidermichel, der eine Base Christinens sich
beigelegt hatte, von ihr aber wegen seines zu friedliebenden Gemütes verlassen
worden war. Dasselbe hatte ihn unter dem zweiten Grenadierbataillon, in das man
ihn aus dem Zuchthause »gestoßen« hatte – der Ausdruck ist amtlich – in die
sogenannte Fuldaer Schlacht begleitet, in welcher er keinen Vorwurf auf sich lud,
da er das Schlachtfeld gleichzeitig mit der ganzen Armee, soweit sie nicht
gefangen war, und mit dem Kriegsherrn verließ. Nur hatte der Soldat der
Reichsarmee, während seine Kameraden in den Wintergarnisonen unterkamen, bis zu
diesem Tage die Flucht nicht eingestellt. Er bekannte seinem Freunde, daß er
herzoglich württembergischer Deserteur sei, zu seinem besseren Fortkommen das
Pferd, das er reite, dem Adlerwirt in Flehingen aus dem Stall genommen habe, und
sich nach Hechingen zu wenden willens sei. Dies redete ihm der Sonnenwirtle aus
und sagte, er sei zu Hechingen nicht sicher, er solle lieber
Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus Gutmütigkeit angenommen, um dem andern aus der Verlegenheit zu helfen, gar nicht angesehen hatte, denn sonst würde er es wohl schwerlich bestiegen haben. Seine sonst so schnellen Augen wachten nicht für ihn, und er muß an diesem verhängnisvollen Tage ganz in schwere, tiefe Gedanken versunken gewesen sein.
In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas Wein. Als er weiter
ritt, neigte sich die Hochebene und der Weg teilte sich in drei Pfade, die von
keinem Wegweiser bezeichnet waren. Er wählte den mittleren geraden, der ihn steil
ins Tal hinunterführte. Eine Stadt mit Mauern und Toren, von einem Schlosse
überragt, lag vor seinen Augen, als das Ziel des Weges, den er ritt. Er kann sie
unmöglich gesehen haben, denn der erste Blick hätte ihm gezeigt, daß es
vernünftiger sei, sie zu umgehen. Eine Brücke trug ihn über die Enz – er befand
sich vor dem Tore. Nun stutzte er freilich einen Augenblick, aber der Torwächter,
dem die Langeweile an diesem selten betretenen Tore den Blick geschärft haben
mochte, hatte vom kleinen Fenster aus sein Stutzen bemerkt. Wäre er zu Fuße
gewesen, so würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten und den Schritt
gewendet haben. Des Reitens seit langer Zeit ungewohnt, ließ er das Pferd gehen,
und so wurde dieses zum Werkzeug seines Schicksals, dessen Hand lähmend auf seinem
Geiste lag. Seine Uhr war abgelaufen, das Pferd
Die Geschichte der Verhaftung selbst hat der Oberamtmann bereits erzählt; aber sein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die in Verbindung mit dem, was aus sonstigen Stellen der Akten hervorgeht, aufbewahrt zu werden verdienen. Derselbe erzählt, sein Vater habe die Pässe des Fremden, an welchen der Torwächter gezweifelt, ganz richtig befunden, und Schwan sei nun schon so gut wie frei gewesen, aber ein kleiner Umstand habe ihm Freiheit und Leben gekostet: er sei nämlich auf einem sehr elenden Pf erde gesessen, das mit seinem eigenen trotzigen und kühnen Anstände – und, wie aus den andern Quellen hervorgeht, mit seiner durchaus ehrbaren Kleidung – einen höchst lächerlichen Widerspruch gebildet habe, und dieser Umstand, sowie das auffallende Gesicht des Mannes, habe gemacht, daß der Oberamtmann mit Aufmerksamkeit bald auf dem Pferde, bald auf ihm verweilt sei. Diese Aufmerksamkeit sei dem Reiter nicht entgangen, der nun habe annehmen müssen, das gestohlene Pferd sei bereits steckbrieflich geschildert, und deshalb, da der Oberamtmann eine Veränderung in seinem Gesichte zu erblicken glaubte und ihm abzusteigen befahl, die Flucht zu ergreifen gesucht habe.
Gleichwohl würden nach seiner Vergewaltigung durch einige mutige Vaihinger Bürger,
die, wie der Vorgang von Jöhlingen beweist, ihr Leben dabei wagten, die
Wer seinen Mutterwitz und seine offenherzige Leutseligkeit für die einzigen von
seiner Mutter ererbten Eigenschaften hielt, hatte sich garstig in ihm verrechnet,
und teuer mußten die Genossen seiner Übeltaten diesen Rechnungsfehler büßen. Das
hauptsächlichste Erbe, das er von seiner Mutter überkommen, das heißt, vermittelst
ihres Einflusses sich in sein Herz eingeprägt hatte, war die Religion, wie sie in
den Liedern seiner Landeskirche, in den Sprüchen der Lutherschen Bibel und in den
Fragen und Antworten des protestantischen Katechismus niedergelegt war. Die Art,
wie er diese Religion in der Welt ausüben sah, hatte ihn oft über sie spotten
machen, und der Beifall, den seine Witze fanden, hatte ihn in seinen Spöttereien
bestärkt. Aber was sein Geschichtschreiber aus seinem Mund erzählt, beweist, daß
sie dennoch die Heimat seines innersten Gemüts geblieben war, und der nämliche
Erzähler, dem es gar nicht
Die schwarze Christine bekannte sich zu der katholischen Kirche. Sie hatte mit
ihrem Geliebten gleich nach ihrer Verbindung eine Wallfahrt zu der schwarzen Maria
von Einsiedeln gemacht, um sich trauen zu lassen, daselbst auch Bereitwilligkeit
gefunden, die
Die katholische Kirche, die sich die allgemeine nennt und es zu werden strebt,
macht dem Menschen den Eintritt in ihre allezeit offenen Tempel leichter und legt
ihm kein so schweres Opfer auf wie ihre Schwesterkirche. Da sie alles unter ihre
Flügel versammeln will, so muß sie wie eine gütige nachsichtige Mutter verfahren,
die dem Kinde je nach dem Maße seiner Gaben nicht das Schwerste zumutet, sondern
sich mit der Andeutung des guten Willens begnügt. Daher erklärt es sich, daß ihre
opferfreudigen Sendboten unter den kindlichen Völkern einer jüngeren Welt, wie bei
den aus Indien nach Europa eingewanderten Zigeunern, welche großenteils den
Grundstock der Heimatlosen des vorigen Jahrhunderts abgegeben haben, im Pflanzen
und Ernten glücklicher gewesen sind als ihre Nebenbuhler von der anderen Kirche.
Diese strengere Mutter weist die bloß äußerliche Andeutung zurück, sie duldet es
nicht, daß der Mensch an seiner Statt Gott einen guten Mann sein lasse, sondern
legt ihm selbst, unter Verheißung des göttlichen Beistandes zwar, die Riesenarbeit
auf, sich die Geheimnisse des Glaubens anzueignen und das eigene Ich zu
überwinden. Da sie selbst die Größe die ser Forderung sich nicht verbergen kann,
so sagt sie, es sei nur Auserwählten möglich, dieselbe zu erfüllen, während sie
zugleich, da sie so wenig wie die andere Kirche
Die schwarze Christine tat sich auf ihre pflichtmäßigen Religionsübungen nicht
weniger zu gut als die ehrbare Protestantin, welche sonntäglich zur Kirche geht,
um die Predigt zu hören, vielleicht auch in der andächtigen Gemeinde gesehen zu
werden, und das mit einem gewissen Recht: denn unter den Leuten, welche nicht
durch die Schulen der Philosophen, sondern bloß durch ihre Konfessionsschule,
unmittelbar oder mittelbar, gegangen sind, gilt es für eine Brandmarkung, keine
Religion zu haben, weil diese eben das unverstandene, aber eben darum desto mehr
mit der Ahnung festgehaltene Wahrzeichen ist, daß man einem Menschen im Verkehr
mit seinesgleichen trauen könne. Sooft sie auch sich selbst und andere schon mit
diesem Wahrzeichen getäuscht haben, sie halten immer wieder daran fest, nicht mit
dem Verstande, der die geheimnisvolle Kammer der Glaubensschätze
Aber die innere Erkenntnis des Menschen hat ohne eine Unterstützung von außen
nicht so leicht die Gewalt, sein äußeres Leben augenblicklich umzugestalten, schon
deshalb nicht, weil seinen schönsten und edelsten Empfindungen immer wieder die
menschliche Schwachheit sich anhängt und weil er die besten Vorsätze sehr oft in
Stunden äußerer Not und Bedrängnis faßt, so daß, wenn diese vorüber sind, das
frohe Gefühl des Glückswechsels ihm auch den guten Vorsatz nur als ein Erzeugnis
der schwachen Stunde erscheinen läßt. Hiefür liefert gerade die Geschichte der
Offenburger Verhaftung, wie sie Schwan ohne den religiösen Zwischenvorgang zu den
Akten gegeben hat, einen so deutlichen Beleg, daß dieselbe, die auch sonst
merkwürdige Züge darbietet, hier nicht übergangen werden darf. Nach verschiedenen
Abenteuern mit eigennützigen Polizeimännern und nachlässigen Obrigkeiten, welche
sich den Schutz der ihnen anvertrauten bürgerlichen Gesellschaft so schlecht
angelegen
Dennoch ließen diese Anwandlungen nicht von ihm ab, und jetzt wird es begreiflich, wie sie in Vaihingen so plötzlich zum Durchbruch kommen konnten. Zugleich aber lernt man auch deutlicher zwischen den Zeilen des Vaihinger Protokolls lesen, wenn man sich den Auftritt von dem Sohne des Oberamtmannes erzählen läßt.
»Den zweiten Tag«, sagte er, »erschien Schwan wieder. Der Beamte schlug nun den
entgegengesetzten
Hisce praemissis ist das Bekenntnis des Räubers nicht mehr so sehr überraschend,
wie es in dem Protokoll des Oberamtmanns überrascht und wie dieser selbst, der
freilich im Protokoll dies wenig merken läßt, nebst Stadt und Land davon
überrascht gewesen ist. Hätte er sein Inquisitionsschema, wie er es in das
Protokoll schrieb, angewendet, so würde er wohl lange auf diese überfließende
Offenheit haben warten dürfen; denn dieses Schema, das auch den redlichsten
Beamten ohne seine Schuld zu einer gewissen Unwahrheit
Mit diesem Bekenntnis nun, das gleich in den ersten Worten den Stab über sein
verwüstetes Leben brach, halte er sich nicht bloß in die Hand der Obrigkeit,
sondern auch in die Hand seiner Kirche ergeben, welche ihre Diener sandte, um
dieses Leben zu einem bußfertigen und seligen Ende zuzubereiten. Ohne Zweifel
haben dieselben nach der Sitte der Zeit ausführliche Beschreibungen dieses
geistlichen Prozesses veröffentlicht; aber unter den vielen Schwarten von
hochfürstlichen Geburts-, Hochzeits- und Leichenfeierlichkeiten in dem
öffentlichen Bücherschatze, den der Herzog später anlegte, als er für ein
gleichfalls verfehltes Leben Ersatz in der Erziehung der Jugend suchte, haben jene
Schriften keinen Platz gefunden, und das Lebensbild, aus welchem nicht ein Zug
hätte verlorengehen sollen, muß auch auf dieser Seite halbvollendet bleiben. Doch
hat einer der beiden Geistlichen dem Sohne des Oberamtmanns einzelne Züge aus
jenem Bekehrungsgange mitgeteilt, welche uns in der Erzählung desselben
aufbehalten sind. Bei seinem
An den Genossen eines verbundenen Lebens, wie es auch zugebracht worden sein mag,
zum Verräter zu werden, ist ein Malzeichen, vor welchem selbst der Leichtfertigste
ein wenig stutzt. Die Rechtfertigung dieser Tat wäre in dem Falle, der uns
vorliegt, selbst für die natürliche Betrachtung gar nicht schwer; denn einer
Bande, die arglosen Menschen nachts in die Häuser bricht, die Bewohner aus den
Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet, ist niemand die
Treue schuldig, die sie der Menschheit und sich selbst nicht hält. Aber es handelt
sich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in so günstiger Beleuchtung
aufzustellen, daß der geschmeichelte Leser
Die strenge Folgerichtigkeit der Buße verlangte aber mehr von ihm. Die schon in
der Freiheit versuchten Enthüllungen über die mordbrennerischen Pläne der
überrheinischen Zigeuner konnten ihm nicht besonders schwer werden, denn dieses
Gesindel ging ihn nicht näher an. Aber wenn seine Beichte vollständig sein sollte,
so mußte er nähere Genossen, mußte er seine Nächsten in das Verderben, wenigstens
in das zeitliche, mit hineinreißen. Nach seiner ganzen Beschaffenheit mußte ihn
dies einen Kampf kosten, über dessen Schwere man sich durch die bei dem
Naturmenschen in jeder Lage des Lebens möglichen Augenblicke der Lustigkeit nicht
täuschen lassen darf. Die beiden Haupttriebräder seiner ganzen Lebensentwickelung,
Liebe und Stolz, mußten in diesem Kampfe
Die Folge seiner Geständnisse war, daß beide Christinen an den Sitz des Gerichts geholt wurden, die eine aus ihrer Gefangenschaft, die andere aus der Dunkelheit ihres Dienstes, in welchem sie sich, wie ihr Geschichtschreiber sagt, ordentlich aufgeführt hatte.
Die schwarze Christine, die ihn durch und durch kannte und sich ohne Zweifel
sagte, daß sie verloren sei, wenn es der Oberamtmann verstanden habe, ihn an
seiner schwachen Seite zu fassen, leugnete hartnäckig, schalt über Ungerechtigkeit
und drohte – aber der Oberamtmann hatte sein gezähmtes Wild bei der Hand und wußte
es zum Fang des ungezähmten zu gebrauchen. Er hatte seinen Gefangenen hinter einer
spanischen Wand verborgen und ließ ihn, da sie einen Sonnenwirtle jemals gesehen
zu haben leugnete, plötzlich auf ein gegebenes Zeichen hervortreten. »Seine ganze
Seele«, erzählt der Geschichtschreiber, »ward bei ihrem Anblick bewegt, er zerfloß
in Tränen der Liebe und des Schmerzes. Auch sie war bei seinem unerwarteten
Anblick erschüttert, doch faßte sie sich plötzlich wieder und nahm die
gleichgültigste Miene, wie gegen einen unbekannten oder kaum einmal gesehenen
Menschen an. Schwan ließ sich nicht abschrecken. Er näherte sich ihr mit den
zärtlichsten Liebkosungen, die um so rührender waren, da sie sich zum erstenmal in
einer so traurigen Lage und unter noch traurigeren Aussichten wiedersahen. Aber
sie
So erzählt der Sohn des Oberamtmanns, der jenen Vorgängen nahestand. Der spätere
Sammler der Vaihinger Überlieferungen fügt aus unbekannter Quelle hinzu, die
württembergische Behörde habe es für zweckdienlich gefunden, ihr den neunwöchigen
Säugling
Freilich hatte ihr Mitschuldiger seinem Richter vorausgesagt, daß er einen schweren Stand mit ihrem verstockten Herzen haben werde, da sie oft erklärt habe, daß sie sich lieber auf den Tod foltern, als zum Spektakel der Welt durch den Henker hinrichten lassen wolle. Auch ließ er sie durch die Wächter bitten, zu gestehen und nicht sich und ihm nutzlos die Leiden der Gefangenschaft zu verlängern. Sie ließ sich endlich zum Geständnis der leichteren Fälle herbei, die sie ihrer Jugend und der Verführung ihres Mannes zuschrieb; aber als sie zu gestehen begann, war sie bereits längst überwiesen, und die Waagschale ihrer Verbrechen sank unter dem Druck der gebrochenen Urfehde, welche das christliche Gesetz seinem heimatlosen Feinde bei dessen erster Betretung und Ausweisung aufzuerlegen pflegte, um ihn bei der Wiederbetretung, die ihn ja dann des Meineides schuldig zeigte, desto fester fassen und nötigenfalls am Leben strafen zu können.
Auch die blonde Christine ergab sich nicht gutwillig in das Schicksal, das ihr
umgewandelter Geliebter ihr bereitete. Der Sohn des Oberamtmanns beschreibt das
Lange hatte er sich gegen das Bekenntnis der Vergehen gesträubt, an welchen die
Genossin seines fruchtlosen Kampfes mit der Gesellschaft in der Halbheit ihres
Umher seh Wankens zwischen Rat und Tat Anteil genommen; aber seiner wachsenden
Aufrichtigkeit kam der natürliche Verlauf der Dinge zu Hilfe: denn nachdem das
Gericht einmal seinen Namen wußte, kannte es auch einen guten Teil seiner
Geschichte und wurde durch Mitteilungen aus seiner Heimat in den Stand gesetzt,
die einschlagenden Fragen
Allerdings ein harter Lohn für so viel Liebe und Aufopferung, die in dem Protokoll
mit dem amtlichen Kunstausdruck praematurus concubitus abgefertigt wird! In zwei
brandmarkenden Worten die Geschichte eines siebenjährigen Kampfes voll Weh und
Treue erschöpft! Und dabei war der Oberamtmann noch billiger als das Gesetz, das
ein ohne elterliche Einwilligung geschlossenes Liebesband mit einem noch härteren
Aber die Rachsucht, mit welcher der Unglückliche so oft über diesen Erinnerungen
gebrütet hatte, war mit seinem Stolze gebrochen. »Er selbst«, erzählt der Sohn des
Oberamtmanns, »hielt die abgeschlagene Heirat mit Müllerin für die Ursache seines
Unglücks, und brannte daher während seines ganzen Lebens von Wut
Diesem Hauche des Friedens entsprechend malt der Geschichtschreiber seine ganze
übrige Gemütsstimmung. »Nichts aber«, sagt er, an das Vorige anknüpfend, »war
jetzt so lebhaft, als die niemals ganz verbannten Empfindungen der Liebe. Sein
ganzes Herz hing an seinen beiden Frauen, und vorzüglich an seinem Kind. Man
schickte ihm nichts zu essen, von dem er nicht diesen mitteilte. Besonders aber
war er für ihren Seelenzustand so bekümmert, daß er ihnen, wo er nur konnte, auf
das nachdrücklichste zusprach, daß er stets sich nach ihren Gesinnungen erkundigte
und sowohl dem Oberamtmann als den Geistlichen die Methode anzugeben suchte, wie
man ihren Herzen am besten beikommen könnte. Eine solche Gemütsverfassung gab ihm
Mut in Augenblicken und unter Umständen,
Unter allen diesen Stimmungen aber ging die Arbeit ununterbrochen fort, nicht bloß jene Arbeit der Buße, sondern die geistige Arbeit einer treuen Zeichnung der Welt, in der er gelebt hatte. Diese Zeichnung ist in den Untersuchungsakten niedergelegt. Wohl selten ist ein so dickes Protokoll in der Zeit von so wenigen Monaten vollendet worden. So hohe Anerkennung man dem Fleiße und der Berufstreue des Beamten schuldet, der der Verwaltung und Rechtspflege seines Bezirks zugleich vorzustehen hatte, mit der Person seines Gefangenen eine in halb Süddeutschland verzweigte Untersuchung in die Hände bekam, und neben den fortdauernden Verhören einen durch diese veranlaß ten sehr ausgebreiteten Verkehr mit einheimischen und auswärtigen Behörden führen mußte – so enthüllt sich doch zugleich aus diesen Akten das Bild eines Angeklagten, der ungezwungen und in rasch fließendem Vortrage, gleichsam als die leitende Seele der Untersuchung, seine Angaben diktiert, so daß der Richter sich zusammennehmen muß, um mit dem Geiste und mit der Feder zu folgen.
Für den prüfenden Leser zerfällt das Protokoll somit in zwei Bestandteile von
nicht ganz gleichem Gehalte: der eine gehört – sagen wir nicht dem Oberamtmann,
sondern dem Lebenskreise, dem er angehörte, und der
Er hat aber außer diesen mündlichen Angaben noch ein schriftliches Denkmal hinterlassen, wozu er selbst die Feder oder vielmehr den Bleistift in die Hand nahm und, unabhängig von dem Stil des Oberamtmanns, sich in seiner eigenen Weise gehen ließ. Er hatte schonungslos die Genossen seiner Übeltaten ans Messer geliefert, als es ihm in der Einsamkeit seines Gefängnisses einfiel, daß das Werk nur halb getan sei, wenn er nicht auch die Hehler angebe, die das Bestehen einer so weithin gegliederten Kette von Feinden der Gesellschaft möglich machten und immer wieder ergänzten.
»Es treiben mich die Bewegungen meines Herzens« – mit diesen Worten begann er in
carcere, wie der Oberamtmann in seinem Protokoll bemerkt, mit dem ihm vergönnten
Schreibmaterialien einen mehrere Bogen langen Aufsatz, mit kräftiger, klarer
Handschrift, nach der Schreibweise seiner Zeit, in welcher sich die Ungebildeten
von den Gebildeten darin unterschieden, daß jene den ererbten Sprachschatz der
In diese Zeit, deren Sitte, Geist und Bildung sich so gänzlich vom Bestehenden
nicht nur, sondern auch vom Rechten abgewendet hatte, daß nur eine große
Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorene Geleise zurückbringen konnte,
fielen die Enthüllungen des Ebersbacher Bürgersohnes wie ein Wetterschlag – nicht
in die Lesewelt, denn sie blieben bei den Akten des Gerichts begraben und würden
den modischen Lesehunger schlecht befriedigt haben, sondern in die »alerte« Welt
des Verbrechens und in die schlaffe Welt des Gesetzes. Sie haben nicht von Grund
aus die Gaunerei ausrotten, nicht von Grund aus die Redlichkeit im bürgerlichen
Leben zu Kräften bringen können, aber sie haben ein Großes zur Herstellung der
öffentlichen Sicherheit getan, und beinahe ein Menschen alter ist vergangen, bis
wieder eine stärkere Bande zwischen dem Rhein und der Donau sich zu sammeln wagte.
Die Geständnisse des Räubers gaben den Behörden nicht bloß die Mittel an die Hand,
den ersten jener planmäßigen Schläge zu führen, welchen die von der Hehlerei
unterstützte Gaunerei, wenigstens in der hochgefährlichen Gestalt, die sie um die
Mitte des Jahrhunderts angenommen hatte, nach und nach erlag, sondern sie
entdeckten ihnen auch gewisse Fachgeheimnisse des Räuberhandwerks, die sie instand
setzten, ihre Angehörigen künftig
Daß bei der Aufzählung jener schmutzigen Biedermänner,
Man wird dieser Klage, welche auch auf der Nachtseite der alten Gesellschaft – nach heutiger Weise gesprochen – die Arbeit vom Kapital unterdrückt zeigt, und aus welcher man die Verwünschungen der Verfasser jener Räuberromane über ihre Verleger widerklingen zu hören meint, ihre menschliche Berechtigung um so weniger absprechen, wenn man bedenkt, daß der Unglückliche aus seinem eigenen Beispiel sich die Aufforderung entnehmen mußte, so manchen andern, der auf Irrwegen wandelte, durch die Zerstörung dieser Diebsnester vor ähnlichem Verderben zu bewahren. Man wird zwar, seinen eigenen Worten zufolge, nicht ganz unbedingt gelten lassen, was er bei seinem Geschichtschreiber, dem Sohne des Oberamtmanns, über diese Angaben sagt: »Gott weiß, daß nicht der geringste Groll darunter verborgen liegt, wenn ich jemand entdecke; ich habe im Gegenteil viele von meinen Freunden, manche, die aus ihren Betten aufgestanden sind, um mich darin liegen zu lassen –, nur um das Böse zu verhindern, verraten; ich gestehe es, daß mir dieses selbst sehr wehe tut.«
»Dermalen« – so schließt die merkwürdige Aufzeichnung – »soll nun die Obrigkeit
betrachten, was ich in den kurzen etlichen Jahren schon an Aufenthalten gemeldet
habe, und das wird unter den tausend Aufenthalten kaum ein Teil sein, was nämlich
die, welche
Nur um eine kleine Andeutung zu machen, wie mir's in denen Häusern selbst gepassieret ist: als meine erste Frau, die Christina Müllerin, in Verhaft gekommen, und mich diese Christina Schettingerin durch ihre liebliche Redensarten zu sich gezogen und mir die Gelegenheit und solche Aufenthalte gewiesen, die mir nicht bekannt waren, und wie ich nun von einem Haus in das andere gegangen, und zum ersten kam, sprach er:
›Hat Christina wieder geheiratet?‹ – Sie sprach: ›ja!‹
›Ist er aber auch ein so guter Räuber wie euer erster?‹ – Sie antwortete: ›ja!‹
Hätte sie gesagt: nein, so war ich schon nicht wohl daran gewesen. Sie sprach im Haus herum: er hat bald eine Sau geholet, bald ein Schaf, bald dies bald das.
›Er hat uns sehr viel Gutes getan, wenn ihr nur auch so gut werdet.‹ – Das eine
sprach: ›ich bin heut über Feld gewesen, ich habe da und dort was von Tierfleisch
gesehen; ich habe auch die Schäferpferche auf der Brache gesehen – holet das
Fleisch oder holt ein
Und so sind alle diese Aufenthalte. Eine manche Weibsperson, die auf dem Lande gehet, hat schon bis drei oder vier am Galgen; sie führet noch einen aus einem Dorf heraus, der nur ein Liebhaber des schönen Frauenzimmers ist; sie bringt ihn an solche Örter hin; er höret solche Reden; was dieses Mensch nicht Böses genug an ihm vollbringen könnte, das wird ihm da vollends eingepflanzt und er mit Gewalt zum Stehlen gereizet und gelocket.
Bei mir aber, da war schon ein kleines Fünklein zum Stehlen aufgegangen gewesen;
aber bei einem solchen Menschen, die zeit- und taglebens nichts anderes getan, und
in solchen Häusern, wo nichts als von Rauben und Stehlen geredet und täglich an
einem gepflanzt und geschüret wird, da muß ein großes Feuer daraus werden, und
nicht mehr nachlassen, bis er dem Henker unter die Hände fällt. Und so geht es mit
einem manchen. Das sind die ärgsten Schelmen, die Aufenthalt geben, und sie
bleiben doch ehrliche Leute, haben auch den größten Nutzen und Genuß, und der
Kleine wird gehenkt und die Großen läßt man laufen – man fürchtet, sie möchten
ausgerottet werden.
29. Juli 1760.
Arrestant in Vaihingen:
Joh. Friedr. Schwan.«
Das gerichtliche Verfahren nahm unter dieser Zeit beständig seinen Gang, ja es
wurde sehr beschleunigt, da man in Stuttgart fürchtete, der Seelenzustand des
Gefangenen möchte nicht für die Dauer haltbar sein. Nach geschlossener
Untersuchung trat jetzt eine andere Rechtsform ein, welche, in der Verfassung und
im Tübinger Vertrage begründet, bei peinlichen oder sehr schweren Fällen, deren
sich ein Landesangehöriger schuldig gemacht, angewendet wurde, und einen Schatten
der alten selbstherrlichen Volksgerichtsbarkeit enthielt. Der in Stadt und Amt
allmächtige Beamte, nachdem er an die Regierung berichtet und von ihr die nötigen
Weisungen erhalten, verwandelte sich jetzt in einen bescheidenen Ankläger, der bei
der Stadtgemeinde, die er sonst regierte, als Fiskal im Namen des Staates oder
vielmehr des Herzogs gegen seinen Inquisiten Recht suchte. Als solcher mußte er
den gewohnten Vorsitz in der obersten Gemeindebehörde, dem Gerichtskollegium,
abtreten und mit der Gemeinde, an die jetzt der Gerichtsstab vorübergehend
zurückgekommen war, erhielt auch ihr ursprünglicher Vorsteher, der Bürgermeister,
ebenso vorübergehend seine alte Bedeutung wieder, indem er als Stabhalter den
Vorsitz im Stadtgerichte übernahm. Dieses lud nun die beiden ungleichen Parteien
vor und beraumte ihnen die Tagfahrt an. Da jedoch die
Das Urteil, das die Juristenfakultät gefunden und der Herzog bestätigt hatte,
verhängte über Friedrich Schwan die Todesstrafe in der schwersten Form, welche die
Zeit kannte, und ohne alle Milderung. Christine Schettinger wurde zum Strang
verurteilt. Die Magd, ein bitterarmes Geschöpf auf der untersten Stufe der
gesellschaftlichen Rangordnung, dessen eigenmächtige Diebstähle sich auf zwei
Hemden,
»Schwan«, sagt sein Geschichtschreiber über die Verkündigung im Gefängnis, »hörte
mit unveränderter Miene die schrecklichen Worte, keine Träne entfloß seinen Augen,
kein unwilliger Seufzer seinem Munde. ›Wenn sie meine Beine in tausend Stücke
zerstoßen‹, sagte er, ›so können sie mich doch nicht von meinem Heiland reißen.‹
Allein diese Ermannung, fügte er hinzu, habe ihn die ganze Anstrengung seiner
Kräfte, den ganzen Schwung seiner Seele gekostet, und sobald diese nachließen, sei
Furcht an die Stelle des Mutes getreten und er habe sich einige Stunden hernach
beklagt,
Indessen fuhr er mit unveränderter Gesinnung in seinen Denkwürdigkeiten fort, die er an jenem Tage noch nicht beendigt hatte. Bald auch, sagt sein Geschichtschreiber, habe er sich selbst wegen seiner Zaghaftigkeit bestraft und seine vorige Stärke wieder erlangt, und den folgenden Tag habe er dem ihn gleich morgens besuchenden Geistlichen zugerufen: »Nur noch einen einzigen Tag bis zur Ewigkeit, und gottlob zur frohen Ewigkeit! Lange habe ich nicht so sanft geschlafen als in dieser Nacht.«
An diesem Tage erfolgte zwischen ihm und der schwarzen Christine ein
Versöhnungsauftritt, den ihr gemeinschaftlicher Geschichtschreiber sehr rührend
nennt. »Lange schon«, erzählt er in seiner Geschichte des Räubers, »waren Schwan
und sein zweites Weib sehr gegeneinander erbittert, lange schon hatte die letztere
ihn der Lieblosigkeit, der Lügen und der Verräterei beschuldigt, jetzt brannten
sie beide vor Begierde, sich zu versöhnen und dann auf ewig voneinander
Aber die Wahrheit des Sprichworts, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, bewährte
sich auch hier wieder an der Frage, ob Christine ihm in seinen Himmel folgen
würde, wie er mit ihr in die Hölle gegangen war. Denn in seiner »Geschichte einer
Räuberin« beschreibt der Sohn des Oberamtmanns das Verhalten der Zigeunerin
vollständig so: »Schrecken und Wut durchdrang sie, da sie ihr Todesurteil anhörte;
sie stand eine Zeitlang starr vor Entsetzen, dann brach sie in die
fürchterlichsten Flüche aus und wütete so lange, bis sich ihre Kräfte gänzlich
erschöpft hatten. Man wird ohne Zweifel begierig sein, wie das boshafte Weib nun,
da sie ihrer Laster überwiesen war und nichts als gewissen Tod zu erwarten hatte,
sich betrug. Die katholischen sowohl, als die lutherischen Geistlichen suchten,
jeder auf seine Art, Reue über ihre Verbrechen ihr beizubringen und sie auf
bessere Wege zu führen. Schwan selbst gab sich die äußerste Mühe, und versuchte
bald durch die zärtlichste Liebe, bald
Ihr glücklicherer Genosse, der sein altes Kindesherz wiedergefunden hatte, um sich
in diesen schweren Tagen daran aufzurichten, fühlte sich durch das Verlieren der
kaum wiedergefundenen Geliebten in seinem Glücke schmerzlich gestört; allein ihm
winkte nun der Pfad, den jeder Mensch für sich allein antreten muß, und er
klammerte sich mit ganzer Kraft an den Stab, den er erwählt hatte, den ihm seine
Kirche reichte. Er nahm das Abendmahl, von dem er einst, wie seine Heimatsbehörde
von ihm aufgezeichnet, gesagt hatte, es solle ihm das Herz abstoßen, wenn er nicht
Wort halte. Er war dabei aufs innigste gerührt und erklärte überhaupt diesen
Vormittag, wie sein Geschichtschreiber erzählt, für einen der glücklichsten seines
Lebens. »Ich kann nicht aussprechen«, so drückte er sich selbst hierüber aus,
»welch einen glücklichen Vormittag ich heute gehabt habe. Mein Herz wallete vor
Liebe zu meinem Heilande. Zu dem
An diesem christlichen Heldentum, das die Geschichte in unschuldigen Märtyrern wie in reuigen Verbrechern tausendfach als unverfälschte Gesinnung aufgewiesen hat, soll niemand mäkeln. Wohl aber hat jedes Heldentum, nicht bloß für die gemeine Anschauung, die es niedriggesinnt in den Staub zu ziehen sucht, sondern auch für eine würdigere Betrachtung, die aber nicht anders als mit menschlichem Maße messen mag, seine menschliche Seite, und es kann der Menschenwürde des Bekehrten, den wir hier durch seine letzten Stunden begleiten, keinen Eintrag tun, wenn wir aus den Worten, die seinen Beichtvater beseligten, doch auch den menschlichen Seufzer heraushören, daß die scheußliche, auch ein frommes Herz mit den Krallen der Verzweiflung und der Hölle zerfleischende Marter, die in den ersten Frühstunden beginnen sollte, um die Zeit, wo glücklichere Menschen ihrem Schöpfer danken und seine Gaben genießen, doch hoffentlich überstanden sein werde.
Man fühlt sich unwillkürlich von seinem verwahrlosten, aber darum nicht minder
lebendig grübelnden Verstande die Frage vorgelegt, warum denn die Menschen einem
Mitmenschen, der eine solche Höhe geistlicher
So erfuhr auch dieser Geist, was jeder Geist in seinem Ringen nach Klarheit
erfährt, daß die Seele den gewaltsam ergriffenen Besitz nicht ungestört
festzuhalten vermag, daß ihr die Stunden räuberisch in das Gut einbrechen, das sie
schon sicher geborgen zu haben glaubte. Denn die Seele des Menschen rollt
beweglich mit seiner großen Mutter dahin, die, wie uns die Himmelskundigen in
ihrer Sprache gelehrt haben, in beständiger Revolution begriffen ist. Sie faßt, im
Gebiet des Geistes umherspürend, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Erkenntnis,
die ihr plötzlich in blendendem Licht auftaucht, und will in alle Welt
hineinjubeln, jetzt sei die Wurzel gefunden, die alles Verschlossene aufsprengen,
alles Kranke heilen müsse. Aber die Stunden bringen und nehmen. Andere
Erkenntnisse, andere Wahrheiten oder Irrtümer drängen sich in die Seele ein und
verdunkeln das erste Licht, und was die Seele festzuhalten
Am Tage vor dem letzten hatte der Sterbende sein weltliches Vermächtnis für die
Obrigkeit zu Ende geschrieben. Kein Lohn, nicht einmal mehr der arme Trost einer
Linderung winkte ihm, als er es hinterließ, und hierin liegt die Bürgschaft, daß
ihn, wenn auch unter menschlichen Schwächen, die reine Absicht leitete, die Jugend
künftiger Tage vor seinem Lose zu bewahren. Seine Blätter enthalten nichts von
seiner inneren Lebensführung, nichts von dem Gange seiner Seele durch die Stürme
des Lebens, aus Tag in Nacht; denn dies war kein Gegenstand für seine Obrigkeit.
Wohl aber darf die Nachwelt, die sich an der Geschichte eines rohen Mannes aus dem
Volke oft besser belehren könnte als an verwickelten Staats- und
Fürstengeschichten, wohl darf sie den Pfarrer seiner Heimat anklagen, daß er, dem
die Pflege der Geister vertraut war, keine Chronik seiner Gemeinde, keine
Aufzeichnung über den Lebensgang des Jünglings hinterlassen hat, der nach dem
Zeugnis befähigter Zeitgenossen außerordentliche Gaben des Geistes und Herzens
besaß, keine Rechtfertigung der mit mehr als väterlicher Gewalt ausgerüsteten
geistlichen und weltlichen Behörde, wie es kommen konnte, daß ein solcher Mensch
aus dem Schöße der Gesellschaft heraus, so tief in Elend, Verbrechen, Schmach und
jede Erniedrigung der Seele stürzte. Und doch hat jener Pfarrer sein ganzes
Lebensschicksal mit angesehen und hat ihn lange überlebt. Er fand nichts
aufzuzeichnen
Das war die Todesstrafe, die ein christlicher Staat unter dem Beistande einer
christlichen Kirche an einem Menschenbilde, das sie Gottes Ebenbild nannten,
vollzog, indem er sich für so arm an leiblichen und geistigen Mitteln bekannte,
daß er mit einem, wenn auch noch so tief gefallenen Menschen nichts
Menschlicheres, nichts Christlicheres zu tun wußte, als ihm das Leben zu rauben,
und für so beschränkt in Menschenkenntnis, daß er meinte, durch eine recht
ausgesuchte grausame Strafe werde er andere vom Wege des Verbrechens abschrecken.
Und doch hätte gerade dieser ihn vor tausend anderen belehren können, wie irrig
eine solche Voraussetzung ist. Er war vor anderen mit Verstand begabt, um sich zu
sagen, wohin sein Leben zuletzt führen müsse, und wenn er es je vergessen hätte,
so sagten es ihm seine schrecklichen Genossen, die sich täglich auf den Gedanken
an ein solches Ende einübten, verkleidet den Hinrichtungen beiwohnten, einander
den Hergang bei denselben beschrieben und bei ihren Gelagen sich gegenseitig einen
leichten Tod zutranken. Nicht einmal sein Mut machte ihn zu einer Ausnahme, an der
die Abschreckung verloren war, denn sein Geschichtschreiber
Er war unser.
Noch einmal den Vorhang auf und nun das letzte Bild.
Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittsommertagen ist, wölbte sich der
Morgenhimmel über der alten winkeligen Stadt. Die Sonne brannte schon in den
ersten Morgenstunden und verkündigte einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem
Rathause stand die Menge dicht gedrängt, in gedankenloser Neugier ein trauriges
Schauspiel erwartend, das ihr Ersatz für die geistigen Bedürfnisse bieten sollte,
die sie durch die sonntägliche Predigt und durch die spärlichen bürgerlichen
Vorkommnisse nicht zureichend befriedigt fühlte. Sie konnte nicht nach ihrer Weise
hin und her wogen, denn es waren ihrer zu viele, die in festgekeilter Masse
geduldig ausharren mußten und nach den Rathausfenstern emporsahen. Endlich glaubte
man an den Fenstern eine Bewegung wahrzunehmen, und die Bewegung teilte sich
alsbald der Menge mit,
Eine noch stärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das Geräusch der Kommenden aus dem Innern des Rathauses vernahm. Sie wich zurück, denn die ersten, die herauskamen, waren Gerichtsdiener, die sie barsch und grob auf die Seite trieben. Auf diese folgte, von Wachen umgeben, gefesselt und gebunden, der arme Sünder, der aber nicht wie ein solcher aussah. Sein Gang war ruhig, wie der eines Bürgers, der seinen Geschäften nachgeht, seine Haltung aufrecht, aber nicht gezwungen, und nur die Blässe seines Angesichts und der eigentümliche Glanz seiner Augen verriet, daß etwas in ihm vorging, wovon die Menschenmenge, die ihn neugierig betrachtete, nach ihrer Art kaum eine Ahnung haben mochte. Fest und kühn blickte er in die Augen der Kopf an Kopf geschichteten Menschen, durch deren Reihen er den letzten düstern Weg zur Freiheit gehen sollte. Er blieb stehen, um seine Schicksalsgenossen zu erwarten.
Wiederum machte sich ein Geräusch von der inneren Rathaustreppe vernehmlich, und
die Blicke der Menschen ließen von ihm ab, um über die neue Beute, die
»Christine!« rief Friedrich, dem bei dem jammerwürdigen Anblick das Herz blutete, obgleich er Anlaß genug hatte, jetzt nur noch an sich selbst zu denken: »Christine, klammere dich nicht so fest an diese schnöde Welt! Wende dein Herz dem Himmel zu, der dir allein noch helfen kann!«
Sie fuhr zurück und sah ihn mit einem Blicke an, für den es nur dann eine
Vergleichung gäbe, wenn irgendwo in der Welt, wie im menschlichen Herzen, wo die
unmittelbarsten Gegensätze nebeneinander wohnen, glühendes Eis zu finden wäre.
»Verräter!« sagte sie, »finde du dich mit deinem Himmel ab, wie du dich mit der
Welt abgefunden hast. Ich hab dich geliebt und alles für dich getan, und das ist
nun mein Lohn! Wenn ich's nur gewiß wüßte, ob du in den Himmel oder in die Hölle
kommst! Sieh mich nicht so an mit deinen Augen – ich wär schwach genug, dir zu
folgen, aber ich kann es nicht! Meine Mutter hat sich im Gefängnis erhängt aus
Verzweiflung über das
Auf einen Wink des Oberamtmannes, der indessen aus dem Rathause getreten war, rissen sie die Henker herum.
Sie wehrte sich. »Ist denn kein Pardon da?« rief sie.
Der Oberamtmann gab keine Antwort. »Nein!« rief ein Henker.
»Wer hat denn nun recht?« rief sie. »Der eine sagt so, der andere anders.« Ihr Auge bohrte in die Menge hinein, ob dort nicht befreundete Hände bereit seien, sie zu retten. »Ist denn kein katholischer Christ da?« rief sie unter das Volk. »Wenn einer da ist, so gebe er mir doch ein Zeichen.«
Niemand gab ein Zeichen. Sie sank halb zusammen, und die braune Farbe ihres Gesichtes wurde immer gelber. Noch einmal raffte sie sich empor, um mit der Wut einer Tigerin, die ihre Freiheit und ihr Leben nicht freiwillig hergibt, eine Kraftanstrengung zumachen.
»Fort!« befahl der Oberamtmann, während man ihm sein Pferd vorführte, hinter
welchem die städtischen Richter in ihren schwarzen Mänteln, vom Zwange ihrer
Amtswürde befreit, geschwind vorüberschlüpften,
Die Henker griffen kräftig zu und eröffneten den Zug mit ihr. Sie warf noch einen Blick auf ihren Todesgefährten und wurde mehr geschleppt und getragen als davongeführt.
»Bitterer Kelch, geh vorüber!« sagte er, in den Boden starrend.
»Frieder!« rief eine sanfte Stimme neben ihm.
Er blickte auf und sah die blonde Christine, die den Zug beschließen sollte.
Die ganze Liebe seiner Jugend wallte in seinem Herzen auf. »Meine Christine!« rief er: »hast du mir auch gewiß verziehen?«
»Von ganzem Herzen und von ganzer Seel«, antwortete sie, »und ich hoff gewiß, daß wir einmal in einer schöneren Welt wieder zusammenkommen, wo uns nichts mehr trennen wird. Sag mir auch noch einmal, daß du mir verzeihst.«
»Soll ich dir verzeihen, daß du mich lieb gehabt hast? Was hab ich dir denn außer Kleinigkeiten zu verzeihen? Die sind alle längst vergeben.«
»Kannst noch etwas von der Welt hören?«
»Von unseren Kindern?«
»Ja. Die beiden jüngsten nimmt die Magdalene, die deinem Vater Haus gehalten hat,
in ihren neuen Ehstand mit. Sie heiratet den Müller, weißt, den Georg. Sie haben
ja beide früher ein Aug aufeinander gehabt, aber es hat nicht sein mögen, und
keinem von beiden ist's gut gangen in der Eh. Jetzt sind sie beide
»Und du?«
»Wenn ich's überleb, so soll ich deinem Vater Haus halten, und wenn's der alt Mann nimmer so lang macht, so will mich die Magdalene auch zu sich nehmen.«
»Nun sterb ich gern!« rief er, »nun weiß ich doch dich und die Kinder versorgt. Sag meinem Vater oder tu ihm's zu wissen, ich laß ihn viel tausendmal grüßen und um Gottes willen bitten, er solle dem Buben doch streng sein. Auch den Georg und die Magdalene laß ich grüßen, aber sie sollen darüber wachen, daß der Großvater nicht zu viel in den Buben hineinsieht. Siehst du die vielen Ebersbacher, Christine?« unterbrach er sich. »Sie sind heut herbeigeströmt, wie da mals zu unserer Proklamation.«
»Und auch ich, auch ich soll zusehen!« rief sie. Sie schlug die freigelassenen Hände vor das Gesicht und begann krampfhaft zu schluchzen.
»Brich mir das Herz nicht vor der Zeit!« gebot er ihr. »Sei stark, Christine, und denke daran, daß die Trübsal zeitlich und die Freude ewig ist.«
Sie nahm die Hände von dem Gesicht und machte eine Bewegung, ihm um den Hals zu fallen. Die Stadtknechte traten dazwischen.
Friedrich suchte das Auge des Oberamtmanns, der sich an dem Zeuge seines Pferdes
zu schaffen machte, um die flüchtige Zeitspanne dieser letzten Unterredung
»Und nun vorwärts in Gottes Namen!« rief Friedrich, als es geschehen war.
Auch er sollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn als einen Hauptverbrecher stand die Schleife bereit. Er legte sich, und der Henker band ihn an. »Nun, der ist barmherzig«, sagte er. »Er hätte mich härter binden können – er erspart mir doch einige Schmerzen. Selig sind die Barmherzigen.«
Der Zug setzte sich in Bewegung über den Marktplatz. Das Opfer des Verbrechens und
des Gesetzes blickte mit seinen hellen Augen in die Menge, welche der Zug
durchschnitt, und lächelte da und dort einem bekannten Gesichte zu. Dann erhob er
die Augen und blickte still in den blauen Himmel hinein, bis die zusammentretenden
Häuser und die mit Menschen besetzten Fenster der schmalen Straße, in welche der
Zug einlenkte, ihn daran verhinderten. Ein menschliches Geschrei, oder vielmehr
ein Geheul, schlug an sein Ohr. Er wußte, was es bedeutete, und sein Auge ward
düster. Als er die Stelle erreichte, von wo der Ton zu vernehmen gewesen war,
blickte er an einem Hause empor, wo die Leute mit einem in das Tragkissen
gehüllten Kinde am Fenster standen. Es war sein Kind, das hier untergebracht war,
und der Schrei von vorhin war der letzte Schrei des Mutterherzens gewesen, das der
verkümmernden kleinen Menschenpflanze jetzt entrissen werden sollte. Er blickte
mit
Die Fahrt ging langsam weiter durch die endlos lange Straße, die er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Massen von Menschen hindurch, die sich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenstern sahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Tor erreicht, wo er gefangengenommen worden war. Er lächelte, da er es sah, und pries es gegen seine Begleiter als den glücklichsten Ort, den er in seinem Leben betreten, da hier seine Rettung aus Nacht und Grausen begonnen habe.
Der Zug ging durch das Tor, und jetzt sah man die außerhalb im Freien wogenden Menschen, eine zahllose Menge, wie wenn das ganze Herzogtum versammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von höchstem Gewichte zu beraten und beraten zu sehen.
Vor dem Tore stand ein alter Mann, auf seinen Krücken lehnend. Die Tränen flossen ihm in den Stoppelbart, und er sah dem Verurteilten, der eben gegen ihn herankam, in das Gesicht. Auch dieser erblickte ihn jetzt und winkte freundlich mit den Augen. Er hatte seinen Invaliden erkannt, von dem er sich wohl sagen konnte, daß er nicht aus bloßer Neugierde den weiten und für seinen gebrechlichen Körper auch im Fahren beschwerlichen Weg hieher gekommen sei.
»Oh, wo 'naus, Frieder, wo 'naus?« rief der Alte traurig.
»Dem Himmel zu!« antwortete er mit der hellen Kommandostimme, die bei so manchem Einbruch erschollen war.