»Das nenn' ich in der That ein eigenthümliches Spiel des Zufalls, Cornelia, daß ich Sie hier wiedertreffen muß!« – rief ein junger Mann in elegantem Reisekostüm auf der Promenade des deutschen Bades Pr---t einer nicht minder elegant, aber weniger geschmackvoll gekleideten Dame zu, deren ganze Erscheinung den Eindruck machte, als wollte sie den natürlichen Reiz der Jugend, welcher den Zügen ihres Gesichts bereits entflohen war, durch künstliche Mittel mit Gewalt an sich fesseln.
»Des Zufalls, lieber Baron? des Glücks, wollen Sie sagen. – Wahrhaftig des Glücks, für mich wenigstens« – setzte sie mit halb aufrichtiger, halb ironischer Stimme hinzu, während ein eigenthümliches Lächeln um ihren farblosen, dünnen Mund spielte.
Bekanntlich hat der Mensch vor den Thieren – den Affen etwa ausgenommen – unter
vielen anderen
Corneliens Lachen hatte besonders das Eigenthümliche, daß die übrigen Züge außer dem Munde meistens ganz unberührt davon blieben. So zeigte sich auch jetzt auf ihrem Gesichte nicht die geringste Veränderung weder in Ausdruck noch in der Farbe.
Der Baron von Landsfeld – so hieß der junge Mann – bot ihr lachend den Arm. »Seid wie
lange sind Sie aus Venedig zurück, Cornelia? Ich erinnere mich, daß Sie bei unserem
letzten Zusammentreffen dort
»Lassen wir das, Baron« – sagte sie freundlich. »Ueberhaupt möchte ich Ihnen einen
Kontrakt vorschlagen für die Dauer unseres hiesigen Beisammenseins, im Falle Sie
nämlich gesonnen sind, längere Zeit hier zu verweilen. Ich gebe Ihnen in voraus die
Versicherung, daß für das kleine Opfer, welches Sie mir bringen müssen, Ihnen
reichliche Entschädigung werden soll. Es giebt hier unglaublich viel Namen, resp.
Menschen mit Eitelkeit und Pedanterie im Kopfe oder Wärme im Herzen, an denen Sie Ihr
Müthchen kühlen können. Doch davon später. Was mich betrifft, so gestehe ich Ihnen
offen, daß mir an Ihrer Gesellschaft viel, sehr viel gelegen ist, daß ich trotzdem
aber entschlossen bin,
Die letzten Worte sprach Cornelia mit einem gewissen Zögern, indem sie zugleich die Stimme etwas sinken ließ.
Der Baron ließ ihren Arm los und sah ihr mit unverkennbarem Erstaunen, aber auch mit unverhehlter Freude in's Gesicht.
»Ist's möglich, Cornelia? Sie fangen an, Empfindung zu bekommen? Sie gestehen ein, daß auch Sie der Schonung bedürftig sind, daß Sie folglich verletzt werden können? Nun wahrhaftig, wenn das kein wunderbares Naturspiel ist, dann weiß ich nicht, ob es noch etwas Anderes sein kann, als ein eben so wunderbares Meisterstück – der Kunst.«
»Sie irren sich in Beidem. Ich bin weder aufgelegt, sentimental zu werden, noch die Sentimentale zu spielen. Die einfache Thatsache ist die, daß ich einmal Vergnügen daran finde, aufrichtig zu sein – natürlich nur gegen Sie.«
»Sehr verbunden,« sagte der Baron, indem er ihren Arm wieder in den seinigen legte.
»Und womit habe ich diese unschätzbare Gunst verdient, wenn die Frage gestattet ist?«
»Es ist weder eine Gunst, lieber Baron, noch wüßte ich, womit Sie sie verdient
hätten, wäre es eine. Nein, nein. Sie sind in dieser Rücksicht,
»Allerdings, in so fern ich wohl mit Recht vermuthen darf, daß Sie mich in die weiteren und positiven Zwecke Ihrer Aufrichtigkeit zu mir nicht einweihen werden.«
»Ich bewundere eben so wohl Ihren Scharfsinn, Baron, als Ihr Zartgefühl, und danke Ihnen, daß Sie mir eine abschlägige Antwort erspart haben.«
»Gut« – erwiederte Landsfeld nach einer kurzen Pause, in der er über Etwas nachzusinnen schien – »ich nehme die Bedingung an; schon deshalb, weil auch ich Ihren nähern Umgang schmerzlich vermissen würde. Aber die Entschädigung – sprachen Sie nicht davon?«
Cornelia lachte.
»Wie plump gebehrdet Ihr Männer Euch doch, so bald Ihr zu heucheln versucht. So haben
Sie an meinem Umgange also doch nicht genug? Sie sind so wenig galant, dafür noch
eine besondere Belohnung zu verlangen, daß ich Ihnen Gelegenheit gebe, Ihre
malitieuse
Cornelia fühlte es an dem leisen Zittern seines Arms, daß der abgeschossene Pfeil sein Ziel nicht verfehlte. In der That wäre selbst dem unbefangenen Zuschauer seine Bewegung nicht entgangen. Sein Gesicht überflog eine schnelle, fieberhafte Röthe. Doch im nächsten Augenblicke antwortete er mit großer Ruhe:
»Ich würde sagen, daß es eine abscheuliche Lüge ist.«
»Auch wenn ich Sie versichere –«
»Eben deshalb« – erwiederte er mit einer Lebhaftigkeit, die ihm von neuem das Blut in's Gesicht trieb.
»Fangen auch Sie an, Empfindung zu bekommen, Sie armer Freund« – sprach Cornelia in mitleidig ironischem Ton, während ihre Züge theils den Ausdruck tiefen Hasses, theils dämonischer Schadenfreude annahmen.
»Wir sind nun quitt, Baron, und bedürfen meines Erachtens jetzt keines Kontrakts mehr. Indeß täuschen Sie sich diesmal über meine Absicht, wie Sie sich nachher überzeugen werden. Jetzt aber will ich Ihnen erzählen, warum ich nicht nach Palermo gegangen; vielleicht wird das Ihr Blut so weit abkühlen, daß Sie im Stande sind, anderweitige und für Sie interessantere Mittheilungen anzuhören, ohne mir den Dank in Sottisen abzutragen. Seien Sie ruhig, ich schweige schon« – fügte sie beschwichtigend hinzu, als sie seine Stirn sich in drohende Falten legen sah – »und nun hören Sie:
Sie wissen, daß ich kein Hehl aus dem eigentlichen
»Man will wissen, daß Sie sich einmal doch im Theater trafen, ich glaube der ›Liebestrank‹ wurde gegeben« – sagte der Baron mit hervorgehobenem Accent.
Cornelia warf einen stechenden Blick auf ihren Begleiter »Schweigen Sie, bis ich zu Ende bin. –«
Der Baron lachte. »Das sind die Folgen davon, wenn man einen Kontrakt vorschlägt, und ihn zuerst bricht. Jetzt fahren Sie fort, ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.«
Cornelia unterdrückte eine Antwort, die ihr auf der Zunge lag und erzählte weiter:
»Nach vielen vergeblichen Versuchen hatte ich mein Vorhaben fast aufgegeben, als ich
zufällig in einer Gesellschaft davon reden hörte, Schattenfrei werde zur
Wiederherstellung seiner Gesundheit eine Reise nach Palermo
Endlich war meiner Berechnung nach der Zeitpunkt gekommen, an dem Schattenfrei eintreffen mußte. Alle Vorbereitungen waren getroffen. So bald er das Thor passiren würde, sollte ich davon benachrichtigt werden. Aber vergeblich harrte ich auf die frohe Botschaft. Zwei Tage waren schon über den Termin hinaus vergangen, da kamen Sie mit Frau von Rosen nach Venedig. Auch Sie wußten mir Nichts über den Erwarteten mitzutheilen. Meine Unruhe nahm von Stunde zu Stunde zu. Sie hielten mich und Alice damals für die innigsten Freundinnen.« –
»Und Sie waren es nicht?« – fragte der Baron erstaunt.
»Im gewissen Sinne allerdings, in so fern wir uns redlich in Rücksicht auf unsere
besondern Pläne in die Hände arbeiteten. Außerdem aber haßten wir uns
»Und warum das?«
»Theils aus rein künstlerischem Vergnügen, theils auch, um uns in Uebung zu erhalten, damit wir uns vor Andern, besonders vor Ihnen, nicht durch ein unvorsichtiges Wort oder eine impertinente Miene kompromittirten.«
»Vor mir?«
»Freilich. Hören Sie nur weiter. Alicen lag viel daran, Sie auf eine kürzere oder längere Zeit aus Venedig zu entfernen.«
»Wahrhaftig?« – fragte der Baron ironisch – »und wozu, wenn ich bitten darf?«
»Einen Augenblick Geduld. Wie war das zu machen, ohne Ihren Verdacht zu erregen und
ohne an Ihrer Weigerung zu scheitern. Alice zeigte sich also sehr bekümmert über
meine Unruhe, die auf den höchsten Grad gestiegen war, als ich die Nachricht erhielt,
Schattenfrei habe die Tour über Genua eingeschlagen, um von dort zur See nach Palermo
zu gehen. Zugleich aber war die Nachricht zu wenig verbürgt, als daß ich auf's
Gerathewohl Venedig verlassen konnte. In dieser Noth wandte sich die über meine
verzweifelte Lage sehr betrübte
»Sie fühlte die sittliche Verpflichtung, in diesem Falle die Liebe auf kurze Zeit der Freundschaft zu opfern – und wollte Sie in dieser angstvollen Stimmung nicht allein lassen.«
Cornelia lachte höhnisch. – »Wie waren Sie damals blind, armer Baron. Im Grunde ihrer
Seele war Alice über Nichts erfreuter, als über meine Angst, und sie hätte nicht
einen Finger gerührt, mich davon zu befreien, hätte es nicht in ihrem Plan gelegen. –
Sie reis'ten ab und kurz nach Ihnen machte Alice mit dem Herrn Berger, der ihr,
unbemerkt von Ihnen, aber nicht von ihr, bis nach Venedig gefolgt war, einen Ausflug
ins Tyroler Gebirge. Beim Abschiede bat sie mich, alle Briefe an Sie von Venedig aus
zu befördern. So war jeder möglichen Entdeckung ihrer Entfernung vorgebeugt. Es
vergingen abermals acht Tage. Schattenfrei kam immer noch nicht, Ihnen wurde in Genua
die Zeit lang, Alicen wurde sie in Tyrol kurz: der Augenblick nahte, den wir zur
Wiedervereinigung bestimmt hatten. Aber ich wartete vergeblich. Weder Sie, noch Alice
kehrten
Mit dem Baron war während dieser Erzählung eine große Veränderung vorgegangen. Zwar schien in diesem Augenblicke keine bestimmte Leidenschaft seine Seele erfüllt zu haben, weder Haß noch Liebe, weder Verachtung noch Hohn zeigte sich in seinen Mienen, aber eine Todtenblässe hatte seinem Gesicht einen Ausdruck gegeben, der auf ein tiefes inneres Leiden schließen ließ. Eine Art geistiger Lähmung schien sich seiner bemächtigt zu haben, als er mit tonloser Stimme sprach:
»Ich kam nach Venedig an demselben Tage, wie Schattenfrei. Ich suchte ihn auf, um ihn sogleich zu Ihnen zu führen; aber vergebens forschte ich nach Ihrer neuen Wohnung, denn ich konnte nicht auf den Gedanken gerathen, daß Sie Venedig verlassen hätten.
Schattenfrei war erfreut, Sie in Venedig zu wissen, und bedauerte es ernstlich, daß er Sie nicht finden konnte.«
»Uebrigens beruhigen Sie sich wegen des hinterlistigen Streiches Seitens Alicens. Die Sache verhält sich anders. Sie hat mir selber geschrieben, daß sie einen Ihrer beiderseitigen Bekannten in Berlin zu dieser unschuldigen Mystifikation bereden wolle, um Ihnen dann durch das wirkliche Erscheinen Schattenfrei's eine desto größere Ueberraschung zu bereiten.«
»Und Sie haben es natürlich für Wahrheit gehalten.«
»Warum nicht? – Sie sollten glauben gemacht werden, Alice hätte jenen Brief geschrieben, was aber nicht der Fall war.«
»Wäre es gewesen, wie Sie sagen, so können Sie sich darauf verlassen, daß es aus der Absicht geschehen ist, entweder mich in April zu schicken – oder aber zu einer Rückkehr nach Deutschland zu veranlassen, die ich nachher zu bereuen hätte, wenn ich die Wahrheit hörte.«
»Sie scheinen in der That den Charakter Alicens gut zu kennen« sagte der Baron mit einer tiefen Bitterkeit – »und weiter haben Sie Nichts von ihr und – ihm gehört?«
»Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, daß sie hier ist.«
»Wahr!«
»Und er?«
»Auch!«
Mit leuchtenden Blicken sah er umher, als suche er den Gegenstand seiner Rache. Cornelia faßte ihn beim Arm.
»Kommen Sie!« – sagte sie leise und bedeutungsvoll.
Sie führte ihn bei diesen Worten in einen schmalen Seitenweg ein, der tiefer in die Mitte des Parks hineinführte. Schweigend und schnellen Schrittes gingen sie neben einander daher, ohne auf die sie umgebenden reizenden Anlagen auch nur einen flüchtigen Blick zu werfen.
Ein klarer Bach, dessen Quelle nur einige Stunden weiter im Gebirge hinauf lag,
durchströmte in mannichfachen Windungen den Park, auf beiden Ufern mit den
herrlichsten Erlen- und Trauerweiden-Grup pen eingefaßt. Zuweilen schimmerten auch
anmuthig geschwungene Brückenbogen mit durchbrochenem weißen Geländer durch das grüne
Laubwerk, oder es klang das eintönige Rauschen einer kleinen bald natürlichen, bald
künstlichen Cascade in das Ohr des einsamen Spaziergängers. Der
Ganz anderer Art mochten die Gedanken der beiden
Der Baron von Landsfeld konnte im Sinne gewisser Frauen für einen schönen Mann
gelten. Hoch und schlank gewachsen, prägte sich in seine ganze Gestalt das Bewußtsein
von Mannhaftigkeit aus. Sein schöner Kopf, obwohl in diesem Augenblicke etwas
gesenkt, als wenn die Gedanken drinnen durch ihre Last ihn gebeugt hätten, zeigte
selbst in dieser Biegung des Nackens die Gewohnheit, ihn stolz und aufrecht zu
tragen. Wenn sein Haar nicht mehr die Elasticität und Fülle der ersten Jugend besaß,
so war es doch glänzend und von schöner dunkelbrauner Farbe. Dasselbe Gepräge von
Energie lag auch auf der breiten hochgewölbten Stirn und auf der edel, fast zu scharf
hervorspringenden Nase. Der zartgeformte und kleine Mund wurde fast ganz bedeckt von
dem kräftigen und sorgfältig gepflegten Barte, unter dessen dunklen Wellen das Kinn
völlig verschwand. Sein Auge war von eigenthümlichem Glanze und tiefer
durchdringender Schärfe. Die Farbe war schwer zu bestimmen, da sie mit der größeren
oder geringeren Stärke der augenblicklichen Empfindung zu wechseln schien. Im ruhigen
Gespräch hätte man es für ein mattes aber
Der Baron trug gegenwärtig einen enganschließenden Reitüberrock von dunkelgrünem
Tuch, der die muskulösen aber biegsamen Formen seines graziös gebaueten Körpers
vortheilhaft hervortreten ließ. Seine weißen weiten Beinkleider fielen in natürlichen
Falten bis auf den eleganten Stiefel herab, der eben so wie die eben bezeichneten
Kleidungsstücke eine Abneigung gegen die Herrschaft der Mode bekundete, ohne indeß
den Geschmack des Trägers irgend wie zu kompromittiren. Im
So isolirt er durch diese Richtung seines Innern der Welt überhaupt gegenüber stand,
so gab es doch einen Menschen, der mit ihm in diesem sittlichen Skepticismus
sympathisirte und gerade gegen diesen fühlte er sonderbarer Weise noch größere, noch
tiefere Verachtung, als gegen die gewöhnlichen Menschen. Aber diese Verachtung hatte
ihren Grund nicht darin, daß er das, was er an sich selbst für unwürdig hielt, an
Andern noch abscheulicher fand – sondern weil jener Andere ein Weib war; denn beim
Weibe schließt die Verachtung der Idealität noch größere Würdelosigkeit in sich, als
beim Mann. Außerdem fehlte ihr jede Spur von Enthusiasmus, der wenigstens beim Baron
die Quelle seines
Cornelia von Hohenhausen hatte eine kleine, zartgebaute Gestalt. Ihre Bewegungen
waren trotz der Magerkeit ihrer Arme, ihres Nackens und Halses doch weder eckig
steif, noch kokett und manirirt, sondern so durchaus gefällig und graziös, daß man
darüber bei längerm Umgange die natürlichen Unvollkommenheiten leicht vergessen
konnte. Der Ausdruck in ihren Zügen war für gewöhnlich nicht besonders auffallend und
charakteristisch. Es giebt jedoch eine Art von Gesichtern, deren charakteristische
Merkmale weniger in den Hauptzügen, als in scheinbar unwichtigen Nebenlinien liegen,
die, weil sie weniger in die Augen fallen, sich auch unbewachter und gleichsam
unabhängiger vom Bewußtsein des Menschen selbst entwickeln und gestalten.
Hauptsächlich ist dies bei geistig begabten aber unedlen Naturen der Fall; denn edle
Naturen sind zu stolz für eine solche Ueberwachung der Mienen Seitens des
Bewußtseins, und einfältige Menschen haben nicht die geistige Kraft und Stärke der
Reflexion dazu. So sprach sich auch die dämonische Natur Corneliens nicht in dem
allgemeinen Schnitt des Gesichts und in den einzelnen Hauptzügen aus, die vielmehr
einen
Cornelia trug an diesem Tage ein Kleid von schwerer hellgrüner Seide, dessen weiter Ausschnitt dem Auge vollkommene Freiheit ließ, nach den Reminiscenzen früherer Fülle und Schönheit des Halses zu suchen. Ein italienischer Strohhut, mit einer Straußfeder geschmückt, – Cornelia trug nur diesen Putz – ein chinesischer Sonnenschirm und eine weiße Atlas-Mantille bildeten das übrige Kostüm.
»Treten Sie leiser auf« – sagte Cornelia zum Baron, als sie eben in eine Kreisallee
eintraten, die, wie man schon aus den hier und dort zwischen den Gipfeln der Bäume
durchbrechenden breiteren Lichtstellen schließen konnte, einen freien Platz umgab.
Nur auf einem schmalen Steige, der die eine Seite der dichten, aus jungen Buchen
bestehenden Allee durchbrach, gelangte man in das Rondel selbst und überzeugte sich
dann, daß das, was man für einen freien Platz gehalten hatte, ein kleiner Teich war,
der von einem in seiner Mitte sich erhebenden Springbrunnen gespeißt wurde. Rings um
das Bassin, dessen Ufer nur mit einer niedrigen Rosenhecke eingefaßt war, lief ein
schmaler Fußweg. An der äußeren Wand der Buchenhecke standen quarreeartig geordnet
vier gußeiserne, grün angestrichene Ruhebänke, von
»Bleiben Sie hier einen Augenblick stehen und geben Sie mir das Versprechen, kein Lebenszeichen von sich zu geben, was Sie auch sehen mögen.«
Der Baron nickte mit dem Kopfe. Er hatte jetzt, wo der entscheidende Moment gekommen war, seine ganze Besonnenheit wieder erlangt. Mit übereinander geschlagenen Armen stand er an einen Baum gelehnt und wartete, bis Cornelia, die sich auf die andere Seite begeben hatte, zurück kehrte.
Mit triumphirender Miene winkte sie ihm.
»Allzugroße Vorsicht ist nicht nöthig« – sagte sie. »Das Geplätscher des Springbrunnens dämpft jedes Geräusch bis zur Unhörbarkeit. Doch vorher eine Frage: Was gedenken Sie zu thun?«
»Sie werden es sehen, wenn ich gesehen habe Haben Sie indeß keine Furcht« – setzte
der Baron mit
Auf der schräg gegenüber liegenden Bank saß, halb noch vom Wasserstaub des Springbrunnens verdeckt, ein junger Mann von sehr einnehmendem blühenden Aeußern, das echte Bild der jugendlichen Frische und Anmuth. Er starrte jetzt vor sich auf den Boden nieder, in dem sein Spazierstock allerlei Arabesken und Namenszüge eingrub. Neben ihm saß eine sehr bleiche, nicht mehr ganz jugendliche Dame, deren schöngeformter Kopf von einer Menge kurzer anmuthig geordneter Locken umgeben war, welche die einzelnen Züge um so weniger klar erkennen ließen, als sie sich auf ein Buch niederbeugte, aus dem sie dem jungen Manne etwas vorzulesen schien. Obgleich ihr Oberkörper in halb sitzender halb liegender Stellung bis an die Rücklehne der Bank zurückgebeugt war, konnte man doch die graziösen Formen ihrer Gestalt bemerken.
Sie ließ jetzt das Buch sinken und sah den jungen Mann, der diese Bewegung nicht zu bemerken schien, eine Weile schweigend an.
Erschreckt wie aus einem Traume fuhr er empor, dann strich er sich über die Augen.
»Ach, Alice« – entgegnete er mit einer Art von Wehmuth im Ton, »ich dachte eben darüber nach, wie so klein ich Dir erscheinen muß; wie es möglich sei, daß ich Dir, dem hochherzigen, die ganze Menschenwelt mit Liebe umfassenden Weibe mit meiner engherzigen Empfindung genügen kann. Ich fühle wohl, daß gerade in meiner Verehrung für Dich, in dem Kultus meines Herzens für Deine Größe mein größter Stolz, und in dem Bewußtsein, in Deinem schönen Körper Deine ganze schöne Seele zu umfassen, mein höchstes Glück liegen muß – und doch liegt zugleich mein größter Schmerz darin.«
»Schmerz?« fragte Alice mit demselben sanften, halb melancholischen Ton, der ihr eigen zu sein schien.
»Ja, Schmerz, rasender Schmerz« – rief der junge Mann aufspringend. »Begreifst Du nicht den Schmerz, welcher in dem Gedanken, ganz Liebe und Hingebung zu sein, in dem Gedanken, daß Du mein Gott, meine Welt, mein All bist, und Du –«
»Nun? und ich?« – sagte Alice, ebenfalls sich erhebend.
Sie waren indeß Beide an das Bassin getreten. Arthurs Gesicht glühte, während er sprach; und Alice fütterte die Goldfische, welche schaarenweise auf die hingeworfenen Brocken zuschwammen.
»Du bist ungenügsam, Freund« – sagte sie sanft – »und wenn ich so sagen dürfte,
undankbar. Soll ich, um Dich von der Wahrheit meiner Liebe zu überzeugen, Dich an die
Opfer erinnern, die ich Dir gebracht, an – –.« »Verzeih mir, Verzeihung Alice« – rief
Arthur mit Thränen in den Augen, indem er Alicens Hand heftig an die Lippen preßte
und dann an die Brust drückte. »Du hast Recht. Ich bin
»O mein Geliebter« – rief plötzlich Alice, indem sie beide Arme um seinen Hals schlang und seinen Kopf an ihren Busen preßte. »Ruhig, mein Arthur, ruhig« setzte sie nach einer Pause hinzu, indem sie den Glühenden sanft von sich abwehrte – »wir könnten belauscht werden – gieb mir den Arm. Wir wollen in den Kursaal gehen.« Indem sie ihren Arm in den seinigen legte, traten sie in die Allee ein.
»Geben Sie mir den Arm, Cornelia,« sagte der Baron ruhig. Sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein, so daß sie nothwendig auf der andern Seite der Kreisallee, an dem Punkte, wo der schmale Ausgang war, zusammentreffen mußten.
»Was Teufel, Alice, Du hier? und so gut versehen. – Ich wünsche guten Appetit, mein Herr!«
Nach diesen, mit launigem Ton und unbefangenem Lachen begleiteten Worten, welche der
Baron dem andern Paare schon auf sechs Schritt zurief, zog er mit ironischer
Courtoisie den Hut und ging mit Cornelia gemächlich,
»Sie sind ein grausamer und, was mehr ist, ein gefährlicher Mensch, Baron; die arme Alice! Wie blaß wurde sie bei Ihrem Anblick. Und der junge Seladon mit seinem Liebesschmerz – – haben Sie sein Gesicht gesehen? – hatte es nicht die frappanteste Aehnlichkeit mit einem Schulknaben, der bei ungerechter Strafe zwischen seinem Ehrgefühl und der angeborenen Pietät schwankt? – – Ich bin neugierig, ob er die Sache so ruhig nehmen wird. – – – Was gedenken Sie zu thun, Baron? – Aber mein Gott, so sprechen Sie doch! Warum antworten Sie denn nicht. Sind Sie etwa gerührt? Fühlen Sie Gewissensbisse ob Ihrer Barbarei?« –
»Schweigen Sie, Cornelia, ich bitte Sie dringend. Was sollen jetzt diese Kindereien? Denken Sie daran, daß wir gehört und gesehen werden können, und daß wir schon in der nächsten Minute einer höflichen Anrede von Herrn Arthur entgegen sehen dürfen.«
»Sie haben Recht. Lassen Sie uns von gleichgültigen Dingen sprechen. Blicken Sie einmal nach dieser Richtung hin. Sehen Sie dort in der Seitenallee die junge Dame, die eine ältere am Arme führt?«
»Nun?«
Der Baron konnte als Kenner in dieser Beziehung gelten, und doch mußte er es sich selbst gestehen, eine so durchaus anmuthige Erscheinung war ihm noch niemals zu Gesicht gekommen. Die zarteste Weiblichkeit und gefühlstiefste und dennoch völlig ahnungslose Unschuld lag über den lieblichen Zügen dieses reizenden, halb kindlichen, halb jungfräulichen Gesichts ausgebreitet. Sie blickte, als der Baron mit Cornelia nahe gekommen war, unbefangen auf, schlug aber wie innerlich zusammenschaudernd vor dem bleichen, leidenschaftlichen Ausdruck des Ersteren schnell die Augen zu Boden, während eine tiefe Röthe ihr halbabgewandtes Gesicht und ihren Hals bedeckte.
»Sie liebt ihn, glauben Sie?« fragte der Baron.
»Wie es allgemein heißt und scheint, ja.« – erwiederte Cornelia.
»Desto besser. – Wie heißt sie? – Ich will nur den Vornamen wissen.«
»Lydia. – Warum wollen Sie nicht ihre Familie kennen lernen?«
»Ueberflüssig? Ich sollte meinen, daß sie eine so anziehende Persönlichkeit hat, die schon der Annäherung werth ist?«
»Eben darum.«
»Ich verstehe Sie nicht?«
»Ich brauche ihren Familiennamen nicht zu wissen, weil sie ihn nach einem Vierteljahre doch verlieren wird.«
»Sie sprechen in Räthseln.«
»Nun, zum Teufel! Sie wird dann meine Frau sein. Ich werde sie heirathen; rede ich jetzt deutlich genug?«
Cornelia sperrte diesmal vor wirklichem Erstaunen die Augen weiter auf, als gewöhnlich. Indessen blieb ihr keine Zeit, ihrem Herzen Luft zu machen, da in demselben Augenblicke die Stimme des jungen Mannes, dessen Gespräch mit Alicen sie belauscht hatte, neben ihr sich vernehmen ließ.
»Mein Herr, ich wünschte zu wissen, ob Sie die Absicht gehabt haben, die Dame, welche in meiner Begleitung war, oder mich selbst persönlich zu beleidigen.«
»Haben Sie darin eine Beleidigung gefunden, so kann ich das weder Ihnen, noch jener Dame wehren. Uebrigens pflege ich meine Absichten für mich zu behalten.«
Das Bad Pr – – – t, welches eine weniger zahlreiche, aber mehr ausgewählte
Gesellschaft, als die meisten deutschen Bäder in seinem lieblichen Thale zu
vereinigen pflegte, hatte eine überaus reizende Lage am obern Abhange des Gebirges,
an dessen Fuß es sich gleich einer Perlenschnur hinschlang. Dieser Vergleich war um
so passender, als die meisten der kleinen, durch Gärten getrennten Häuser weiß
angestrichen waren, was dem aus der Ferne kommenden Reisenden einen gar erquicklich
heitern Anblick gewährte. Es besaß nur eine Straße, die, der Böschung des Gebirges
folgend, in mancherlei Windungen zwischen Gärten und Häusern hinlief, und etwas
aufsteigend zu dem höher gelegenen eigentlichen Bade hinführte, welches aus zwei
Brunnenhäusern und den dazu gehörenden Nebengebäuden bestand und durch den großen
Park, welchen wir schon im vorigen Kapitel kennen gelernt, von dem noch höher hinauf
bis
Langsam und gemächlich schlendernd nach Art anderer Spaziergänger – denn er wußte
wohl, daß er in einem Bade durch Nichts so sehr die Aufmerksamkeit erregt hätte, als
durch einen hastigen Gang – schlug Landsfeld die Richtung nach dem Rondel ein, was
er, durch seinen vorzüglichen Ortssinn unterstützt, bald erreichte. Er schritt durch
den kleinen Durchgang und blieb an der Bank stehen, auf dem das von ihm belauschte
Paar gesessen hatte. Darauf setzte er sich selbst und versank in ein tiefes
Nachsinnen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, über der er die Arme verschlungen hielt;
sein Blick ruhte starr und theilnahmlos auf dem Bassin, aus dessen stets bewegter
Oberfläche dann und wann ein Goldfisch seinen kleinen rothen Kopf neugierig oder um
Luft zu schöpfen herausstreckte. Außer dem einförmigen Plätschern des Springbrunnens,
dessen herabfallender Wasserstrahl durch eine schön gearbeitete marmorne Muschel
aufgefangen wurde, von der das Wasser in eine zweite größere einfloß, um endlich von
dem Bassin aufgenommen zu werden, hörte man keinen Laut. Die Sonne durchglänzte nur
noch die höchsten Gipfel der Bäume, denn obwohl es noch nicht spät war, nahte der
Abend diesem Thale doch früher als selbst den tiefer gelegenen
Eine Viertelstunde schon mochte Landsfeld in der bezeichneten Stellung gesessen haben, ohne daß irgend eine Bewegung verrieth, daß Leben in ihm sei, hätte nicht ein fast unmerkliches krampfhaftes Zucken der rechten Hand, die der linke Arm umfaßte, einen Beweis vom Gegentheil gegeben.
»Auch dieß Weib« – murmelte er zwischen den Zähnen, indem er aufsprang. Er warf einen forschenden Blick umher, als fürchtete er beobachtet zu werden. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst, aber in seinen Augen brannte eine dunkle verzehrende Glut. Wie um die ihn störenden Gedanken zu verscheuchen, strich er sich das über die Stirn herabgefallene Haar aus dem Gesicht und richtete sich frei und hoch auf.
Als er sich noch einmal nach dem eben verlassenen Sitz umwandte, als wollte er noch einen letzten Abschiedsblick auf ihn werfen, fiel ihm ein weißes Blatt in die Augen, welches wahrscheinlich zwischen den Fugen der Bank durchgefallen und beim Fortgehen von einer der hier früher anwesenden Personen vergessen worden war. Rasch nahm er es auf. Es war ein Billet, wie es schien von einer Damenhand geschrieben. Die Adresse fehlte. Landsfeld sah nach der Unterschrift.
»Lydia« – sagte der Baron. »Das ist ein Wink
Einen Augenblick später erschien an dem Durchgange der junge Mann, welchen wir unter dem Namen Arthur Berger kennen gelernt haben. Er schien etwas zu suchen, denn er bückte sich unter die Bank, die so eben der Baron verlassen hatte, ging dann noch mit zur Erde gerichteten Blicken um den Teich herum und verließ endlich auf demselben Wege das Rondel. Landsfeld trat aus seinem Versteck hervor. Ein triumphirendes Lächeln lag auf seinen Zügen.
»Ich werde Dich lehren, Freund, in meinem Gehege zu jagen« sagte er, ihm nachsehend. »Unbegreiflich bleibt es mir doch, daß Alice mich um diesen blonden Schäfer aufgeben konnte. Aber sie sollen es Beide büßen« – setzte er mit einem Ausdruck innerlicher Wuth hinzu, der seinen Zügen einen wahrhaft unschönen Charakter verlieh.
Mit schnellen Schritten verließ er jetzt den Platz und schlug durch den immer dichter
werdenden Park, ohne die gebahnten Fußwege, die in großen Krümmungen einander
durchkreuzten, zu berücksichtigen, die Richtung nach dem Gebirge ein. Bald hatte er
die Grenze des Parks,
Mit sicherem Fuß und festen Blick betrat er den schlüpfrigen Pfad und ging ruhig, ohne Zögern und ohne Schrecken hinüber. Ohne einen Blick zurück zu werfen, stieg er nun bergan. Nach halbstündigem Steigen gelangte er auf einen schmalen, wohl nur von Hirten betretenen Fußsteig, der ihn in kurzer Zeit auf des Berges höchsten Punkt führte.
Welche Bilder hatten sich seitdem durch seine Seele gedrängt, welche Reihe von
Gedanken seinen Geist bestürmt!
Aber die Erinnerung weckte die Leichen in seiner Brust und in seinem Herzen. Wie Schatten zogen sie vor seinem innern Gesicht her, die heitern Bilder, die ihn traurig und die düstern, die ihn bitter stimmten. Ein unendliches Gefühl des Alleinseins ergriff ihn; eine Seele wollte er haben, in die er sich ergießen, aus der er Hoffnung und Trost schöpfen könnte.
Hoffnung, worauf? Trost, wofür?
Noch war in Landsfeld die Sehnsucht nach dem lebendigen Ideal nicht untergegangen.
Ja, in dieser Erinnerung an seine Jugend selbst konnte er die Gewähr dafür schöpfen.
Aber er sagte zu sich: »Wohl ist die Erinnerung das ewig mit sich selbst ringende,
ewig an sich selbst zweifelnde Bewußtsein des Ideals, aber gepaart mit der
Ueberzeugung, daß seine Erreichung unmöglich sei. Denn warum wäre sie sonst
schmerzlich, auch bei sogenannten guten Menschen? Sie ist nicht die Vorstellung eines
wirklich gehabten Genusses, sondern das zwecklose Idealisiren desselben, das unwahre,
selbsttrügerische Reinigen desselben von allem Materiellen, Unbequemen, Hinderlichen,
Er wandte sich um. Eine Thräne, vielleicht von dem Strahl der jetzt völlig
verschwundenen Abendsonne in sein Auge gelockt, zitterte in seiner Wimper. Mit Unmuth
wischte er sie ab und sah hinab in das Thal. Das Bad lag vor ihm. Er schritt weiter
auf dem Rücken des Berges, zur Rechten den Gebirgskamm, der nur noch wie eine graue
Nebelmasse am Horizonte lag, zur
»Wir wollen sehen, Lydia, ob Du mir den Glauben an Weiblichkeit wirst wiedergeben können. Du wirst eine harte Probe zu bestehen haben, armes Kind. Aber ich kann sie Dir nicht ersparen Möge Dein guter Engel geben, daß Du fest bleibst, so will ich Dich verehren und zu Dir beten.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und nahte sich dem hellerleuchteten Fenster, das von außen mit einem Blumenbrett versehen war, worauf verschiedene Gewächse in zierlich weißen und rothen Töpfen standen.
An dem hellen Scheine des Lichts schrieb er mit Bleifeder ein paar Worte auf das weiße Blatt, wickelte darin das Billet, welches er heute im Rondel gefunden hatte, hinein, und schob Beides zwischen zwei Blumentöpfe, überzeugt, daß die liebliche Bewohnerin des Hauses, wenn sie am andern Morgen ihre Lieblinge versorgen würde, es finden müßte.
Noch einen Blick warf er in das Fenster und entfernte sich dann schnell, um sich nach
seiner Wohnung
»Es hat Jemand nach Ihnen gefragt, Herr Baron« – sagte sein Bedienter, indem er seinem Herrn den rothsammetnen Schlafrock reichte.
»Ein Herr oder eine Dame?«
»Ein Herr. Er würde wieder kommen, meinte er. Hier ist die Karte.«
»Arthur Berger« sagte der Baron für sich. »Gut. Das Spiel hat begonnen. Jetzt heißt es geschickt die Karten mischen.«
Von dem weiten Spaziergange ermüdet und den mancherlei Aufregungen ermattet, warf Landsfeld sich in die Ecke des Sophas, um durch einige Augenblicke der Ruhe die Klarheit und Ruhe des Geistes wieder zu erlangen, welche er zum Empfange des erwarteten Besuchs nöthig zu haben glaubte.
»Karl« – sagte er zu seinem Bedienten, der eben beschäftigt war, einen brennenden Fidibus an die Cigarre zu halten, deren aromatischen Duft sein Herr mit sybaritischem Behagen einzog, indem er die Füße auf dem untergeschobenen Tabouret ausstreckte.
»Was befehlen der Herr Baron?«
»Du hast heute Abend und morgen früh Deine fünf Sinne zusammen zu nehmen.«
»Weder auf ein gutes Trinkgeld noch auf eine hübsche, schnippische Kammerzofe Jagd zu machen.«
»O, Herr Baron.« –
»A propos, Karl. Ich glaube bemerkt zu haben, daß Du Dir schon ein Liebchen angeschafft hast. Wie stehts damit?«
»Seit gestern schon? Der Herr Baron scherzen?«
Landsfeld fixirte ihn.
»Also nicht? hm, das thut mir leid« – sagte er vor sich hinmurmelnd.
»Das heißt, gnädiger Herr – ich könnte wohl sagen – ich wünschte vielleicht – hm, hm!!« –
»Hast Du den Schnupfen?«
»Nein. Ich wollte nur sagen, daß ich hier in der Nähe, da am Ende des Dorfes unten ein allerliebstes Kind –«
»Allerliebstes Kind?« – fragte Landsfeld, sich halb aufrichtend. – »Bist Du des Teufels, Karl? Du unterstehst Dich? –«
»Der Herr Baron befahlen doch« – erwiederte kleinlaut der erschreckte Diener, einen Schritt zurücktretend.
»Du hast Recht,« sagte Landsfeld sich besinnend und in seine frühere bequeme Stellung
zurücksinkend. »Fahr nur fort, – fahr fort in's Teufels Namen!«
»Ja sehen Sie, – gnädiger Herr, als ich da so herunterschlenderte, um – um –«
»Um die Gegend etwas anzusehen,« half gutmüthig der Baron nach.
»Richtig, um mir die Gegend etwas anzusehen, da war ich schon bis an's Ende des Dorfs gekommen – und wollte eben wieder umkehren –«
Der Baron lachte. »Denn außer dem Dorfe gab es natürlich für Dich keine Gegend mehr, nicht?«
»Nun gut. Also da kam aus dem letzten Häuschen, wissen Sie, links, wo die großen Kastanienbäume vor der Thüre stehen –«
»Schon gut.«
»kam eine junge Dame heraus, mit einer Gießkanne in der Hand. Aber sie mußte wohl kein Wasser drin haben, denn sie drehte sich wieder um und rief in's Haus hinein: Linchen, Linchen! – Schön, dachte ich bei mir, jetzt wirst du was zu sehen kriegen. Und richtig. Ein allerliebstes Kind.«
»Wie sah denn die Dame aus?«
»Ja, danach habe ich nicht gesehen. Aber Linchen –«
»War noch eine andere Dame dabei?«
»Wahrscheinlich? woraus schließt Du das?«
»Nun, sie nannte sie liebes Kind und Lydia. Es mag wohl ihr Vorname gewesen sein – ein kurioser Vorname – aber das –«
»Ich glaube, es hat geschellt; sieh' einmal nach, Carl. – Ist es der Herr von vorhin, so wird er mir angenehm sein. – Noch Eins. Besorge zwei Flaschen Rothwein und drei Gläser.«
»Sie wollen sagen: zwei Gläser.«
»Thue, was ich Dir befohlen; und schnell.«
Ein Paar Sekunden später trat Berger ein. Landsfeld sprang vom Sopha auf und ging ihm einige Schritte entgegen.
»Ich habe bedauert,« sagte er mit freundlicher Urbanität im Ton und Wesen, »daß Sie mich schon einmal vergeblich aufgesucht. Darf ich fragen, was mir die Ehre Ihres Besuchs verschafft?«
Hätte die geringste Andeutung von Spott oder Ironie im Tone des Barons gelegen, so
würde dieß absichtliche Ignoriren des heutigen Vorfalls ein Grund mehr für Berger
gewesen sein, auf den frühern Geliebten Alicens erbittert zu sein. Als er diesen
daher mit ruhiger, unbefangener Höflichkeit sich entgegen treten sah, wußte er
»Mein Herr, Sie haben heute Morgen mich und noch mehr die Dame, deren Begleiter zu sein ich die Ehre hatte, beleidigt –«
Landsfeld verbeugte sich schweigend.
»Ich habe kein Recht, nach dem Grunde dieses Betragens zu fragen, obwohl ich gestehen muß, daß es mir um so auffallender war, als ich mich nicht erinnere, jemals das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft gehabt zu haben.«
»Da bin ich glücklicher gewesen. Denn ich bin der festen Ueberzeugung, daß ich, obwohl unbewußt, schon lange der Ehre theilhaftig war, von Ihnen gekannt zu sein.«
Berger erröthete.
»Ich irre wohl nicht, wenn ich bei Ihnen die Absicht, zu beleidigen, voraussetze?«
Landsfeld verbeugte sich abermals, als ob ihm eben die größte Schmeichelei gesagt worden.
Abermalige Verbeugung.
»Bestimmen Sie gefälligst die Waffen.«
»Erlauben Sie mir eine scheinbar indiskrete, aber, wie ich Sie auf mein Ehrenwort versichere, in der wohlmeinendsten Absicht gestellte Frage. – Sind Sie auf Säbel eingeschlagen?«
»Nein, – weshalb?«
»So wollen wir Pistolen wählen.«
»Herr Baron, ich hoffe, daß Sie mit neuen Beleidigungen bis nach Tilgung der ersten warten werden Was soll diese Schonung und Großmuth bedeuten?«
»Mein lieber Herr« – sprach der Baron mit herzlichem Ton – »Sie irren sich in mir. Ich will Ihnen die Gründe sagen, weshalb ich Pistolen vorziehe. Der Säbel ist meine Lieblingswaffe. Wählte ich ihn, so würden Sie den Mangel an Kunst in der Führung durch die Methode zu ersetzen suchen, die man Naturalisiren zu nennen pflegt. Sie würden blind darauf los schlagen. Unter solchen Umständen ist Hundert gegen Eins zu wetten, daß Einer von uns lebensgefährlich verwundet wird.«
»Glauben Sie denn, daß wir ein Possenspiel aufführen wollen?«
»Das nicht. Aber ich bekenne Ihnen aufrichtig, daß ich weder Lust habe, einen Stich
in den Leib zu
Das Gespräch wurde durch das Eintreten des Dieners unterbrochen, der seinem Herrn einige Worte leise ins Ohr flüsterte.
»Gut.« – sagte der Baron – »Ich lasse bitten, im Vorzimmer einige Augenblicke zu verziehen. – Sieh' zu, Carl,« fügte er leiser hinzu – »daß dieser Herr nichts bemerkt. Wenn er fort ist, werde ich rufen.«
»Ich muß gestehen« – sagte Berger zum Baron – »daß Sie eine eigenthümliche Anschauung dieser Angelegenheit haben. Weshalb schlagen wir uns denn?«
»Das frage ich Sie. Ich sehe keinen Grund dazu. Aber da Sie behaupten, von mir beleidigt zu sein, so bin ich bereit, Ihnen das Vergnügen zu machen, vorausgesetzt, daß wir es Beide nicht mit zu großen Opfern bezahlen.«
»Sie sind ein merkwürdiger Mensch« – bemerkte Berger, der nicht wußte, was er dazu
sagen sollte, da er sich vergeblich Mühe gegeben hatte, der Sache ein feierliches
Ansehen zu geben, und sein ganzes Vorhaben jetzt fast lächerlich fand. Am liebsten
wäre er ganz davon abgestanden, wenn er die Sache nicht noch zu verschlimmern
gefürchtet hätte. Außerdem gab es noch einen Gedanken in seiner Seele, der ihn davon
zurückhielt. Alice. Nicht als wenn
»Gut« – sagte er nach einer Pause, während deren er von Landsfeld, der dem Gange seiner Gedanken gleichsam mit den Augen zu folgen schien, scharf beobachtet wurde – »ich nehme Ihren Vorschlag an. Auch steht mir ja ohnehin keine Wahl zu. Bestimmen Sie das Weitere.«
»Dreißig Schritt Distance und zehn Schritt Barrière, wenn's Ihnen so recht ist. Wir
wechseln Jeder zwei
»Und die Sekundanten?«
»Ich glaubte, da Sie Ihren eigenen Cartelträger abgaben, würden Sie auch in Verlegenheit um einen Sekundanten sein?«
»In der That, ich wüßte nicht –«
»Nun wohl. Was bedürfen wir der Zuschauer. Auch ich habe keinen Bekannten hier, der mir diesen Dienst leisten könnte. Aber was meinen Sie dazu, daß wir unsere beiden Damen, die ohnehin schon Zuschauer der Scene gewesen sind, welche unseren Kampf hervorgerufen hat, bäten, diese Funktion zu übernehmen. Daß sie sich darauf verstehen und ihre Sache gut machen werden, dafür bürge ich Ihnen.« –
Der letzte Zusatz berührte Berger unangenehm, da er eine Anspielung auf die frühere genaue Bekanntschaft des Barons mit Alicen enthielt. Indeß gab er freudig seine Zustimmung, weil er dann unter den Augen Alicens kämpfen würde.
»Nun bleibt noch die Zeit und der Ort zu bestimmen übrig.«
»Morgen in der Frühe um 6 Uhr, wenn's Ihnen gelegen ist. Wozu langer Aufschub?«
Berger eilte seiner Wohnung zu, um noch einen Brief an Lydia zu schreiben – und dann in die Arme Alicens.
Einen Augenblick blieb Landsfeld, nachdem ihn Berger verlassen, regungslos auf derselben Stelle sitzen. Dann stürzte er schnell ein Glas Wein hinunter und sprang auf. Nach einigen raschen Gängen durch das Zimmer trat er vor den Spiegel und studirte einige Sekunden die Züge seines Gesichts. Das Resultat seiner Forschungen schien nicht allzugünstig zu sein.
»Verdammte Bewegung« – murmelte er vor sich hin, »die ich noch immer nicht bemeistern
kann. Was ist doch die menschliche Willenskraft für ein erbärmliches Ding, wenn sie
trotz aller Uebung nicht einmal diesen Linien und Falten gebieten kann, daß sie eine
beliebige Form und Wendung nehmen, gleichviel ob es im Innern stürmt oder Windstille
ist. Und was bewegt mich so, was weckt in meiner Brust die schlummernde Windsbraut,
daß sie die Blutwogen durch die Adern peitscht, als sollte die rothe Brandung alle
Ufer durchbrechen? – Ein Weib – nur ein Weib! Richard, wie klein bist du. Fühlst du
es nicht, daß es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist? Hüte dich vor
dem
Die Thüre öffnete sich. Landsfeld war überrascht, als er statt seiner frühern Geliebten eine männliche Gestalt über die Schwelle schreiten sah. Ein zweiter schärferer Blick überzeugte ihn jedoch, daß er sich in seiner Erwartung nicht getäuscht habe. Es war Alice. Sie war in Männerkleidern, über die sie einen weiten, faltigen Mantel geworfen. Schweigend wies Landsfeld auf das Sopha. Sie ließ den Mantel fallen und stand vor ihm da in jener geschmackvoll phantastischen Tracht, die Landsfeld für sie in Venedig nach eigener Erfindung hatte fertigen lassen und in der sie so oft mit ihm Ausflüge auf die Lagunen gemacht.
Eine dunkelblaue, kurze, mit goldenen Schnüren besetzte Sammetkasawaika, die, durch
einen schmalen goldenen Gürtel gehalten, den schlanken Leib umschloß, reichte bis zu
dem vollen biegsamen Hals hinauf, der von einem einfach, aber sehr fein gestickten
Brüsseler Kragen umschlossen war, und sich glatt, aber ungezwungen über das blaue
Kleid legte. Weite und faltenreiche
Als sie die Wachsmaske abnahm, die ihr Gesicht bedeckte, wäre ein Maler vielleicht überrascht worden durch die Bemerkung, daß die Schönheit ihrer Züge keinesweges der Anmuth und antiken Grazie ihrer Formen entsprach, denn sie zeichneten sich weder durch Regelmäßigkeit, noch durch eine besonders auffallende geistige Harmonie aus. Zwar war Alles in diesem Gesicht klein und zart, aber zugleich von so eigenthümlichem Schnitt, daß dadurch, und durch die Mischung von Sanftheit und Energie in ihren strahlenden Augen, alle ihre Züge einen etwas unbestimmten, proteuischen Charakter annahmen. Wenn auch die erste jugendliche Frische dieses Gesicht bereits verlassen hatte, so war es doch von großer Weiße und Feinheit der Zeichnung und gewann durch die an beiden Seiten es beschattenden kurzen braunen Locken einen höchst interessanten Ausdruck.
Sie legte die Maske auf den Tisch und folgte der Einladung des Barons, welcher ihr mit große Ruhe eine Cigarre bot und ein Glas Wein präsentirte.
»Du hast mich erwartet, Richard?« – fragte sie mit dem ihr eigenthümlichen mollartigen Tone, indem sie die Cigarre in Brand setzte.
Sie wies auf die drei Gläser. Landsfeld biß sich auf die Lippen.
»Ich habe Cornelien erwartet« – sagte er.
»Ich wünsche guten Appetit, mein Herr« – lachte Alice, indem sie den Baron mit seinen eigenen Worten persiflirte. »Das war kein kluger Streich von Dir, Richard« – fuhr sie mit melancholischer Stimme fort – »den armen Berger so zu kränken; und inhuman ohnehin.«
Landsfeld zuckte die Achseln.
»Du kennst ja mein aufbrausendes Wesen, Alice. Du hättest mich nicht so früh aus Deiner Schule entlassen sollen, denn wo hätte ich die Humanität besser und praktischer lernen können, als bei Dir?«
»Du bist bitter, Richard. Hast Du so wenig Erhabenheit der Seele, um dem guten Arthur sein kurzes Liebesglück nicht zu gönnen, und was mehr ist – so wenig Stolz, um in ihm einen wirklichen Nebenbuhler zu sehen? Du bist eifersüchtig, mein Freund, und das ist schmachvoll.«
»Du bist hinterlistig, meine theure Freundin, und das ist mehr als schmachvoll, es ist –«
Entweder warst Du ein blinder Thor, als Du mich liebtest, denn ich habe Dir meine Ansichten über die Autonomie der Liebe nie verhehlt, ja ich bin überzeugt, daß Du mich dieser Freiheit wegen selbst geliebt hast – oder Du bist ein eitler Egoist, der nur dann für allgemeine Ideen sich enthusiasmiren kann, so lange er sich als den Mittelpunkt dieses Universums weiß.«
»Vielleicht bin ich Beides, Alice« – sagte der Baron mühsam lächelnd, da er sich getroffen fühlte.
»Was gedenkst Du zu thun? Berger hat Dich gefordert?« sagte Alice nach einer Pause.
»Wir werden uns morgen in der Frühe schlagen. Er wird Dich bitten, ihm zu sekundiren.«
»Das wird nicht gehen. Denn ich habe Cornelien gefordert; wir duelliren uns um dieselbe Zeit.«
Landsfeld schlug ein schallendes Gelächter auf. – »Das ist ja eine wundervolle Idee. Und Cornelia hat die Forderung angenommen, natürlich.«
»Ich habe noch keine Antwort, aber ich zweifle nicht daran.«
»O, sie muß. Ich will sogleich an sie schreiben.«
»Du kannst sie ja morgen abholen, wenn's Zeit ist.«
»Auf Hieber. Es war dies eben auch ein Grund, weswegen ich so spät noch zu Dir komme. Kannst Du mir ein Paar besorgen?«
»Leider besitze ich solche nicht, aber ein Paar kurze Stoßrappiere stehen zu Deiner Disposition.«
»Gut, – doch – was gedenkst Du zu thun mit Berger?«
»Es thut mir leid, Deine Unruhe nicht beschwichtigen zu können. Du wirst es morgen selbst sehen.«
»In der That bin ich in Unruhe um ihn. Denn er ist ein Mensch von seltener Reinheit und Tiefe des Gemüths. Du solltest ihn näher kennen lernen, Richard. Ich wette, Du würdest ihn liebgewinnen.«
»Möglich« – sagte der Baron kalt.
»Kennst Du noch diesen Anzug?« – fragte Alice, indem ein plötzliches Feuer in ihren Augen aufloderte.
»Wie oft hat Dich der blonde Schäfer darin bewundert?« gegenfragte Landsfeld, indem er seine Lippen zu einem sybaritischen Lächeln zwang, das jedoch nicht völlig frei von Bitterkeit war.
»Nie« – erwiederte Alice melancholisch – »aber ich werde mich morgen darin schlagen.«
Es lag eine solche Wahrheit in der tragischen Ruhe, mit der Alice diese Worte
aussprach, daß selbst Landsfeld
Sie bot einen verführerischen Anblick dar.
Er warf einen langen, glühenden Blick auf sie. Sein Herz pochte. Er hatte dies Weib übermenschlich geliebt, er war ein Gott in ihren Armen gewesen. Jetzt war nur noch die Wahl, ob er den Göttersitz, von dem sie ihn selbst um eines Andern Willen verstoßen – ihn verstoßen, wieder einnehmen oder ihn zertrümmern müsse. Es war ein Augenblick des gewaltigsten Kampfes, indem alle Mächte seiner Seele gleich Titanen gegen den Olymp seiner Energie anstürmten. – Seine Lippe zitterte, sein Auge glühte und eine fahle Blässe bedeckte sein Gesicht. Er stand auf. Alice öffnete die Augen, halb träumerisch, halb verlangend war ihr feuchter Blick auf Landsfeld gerichtet. – Aber der Kampf war in ihm bereits ausgekämpft. Seine Lippe zitterte nicht mehr und seine Züge hatten ihren gewöhnlichen Ausdruck und ihre natürliche Farbe wieder erlangt. Nur in seinen Augen loderte noch die Glut des innern Ringens nach.
»Es ist spät, Alice« – sagte er mit großer Besonnenheit. »Ich habe noch zu thun. Und auch Du –.« Er vollendete nicht die Bitterkeit, welche auf seinen Lippen lag, als er Alicen erblassen und in einen Strom von Thränen ausbrechen sah.
Sie warf den Mantel um und legte die Maske vor das Gesicht.
»Auf Wiedersehen morgen früh, oder vielmehr heute früh, denn Mitternacht ist wohl längst vorüber. Lebe wohl, Richard.« Sie reichte ihm die Hand. »Laß uns ohne Groll scheiden. – Du hast mir sehr, sehr wehe gethan, aber ich schwöre es Dir bei Gott – nein, das ist eine Redensart – bei der Seele meines Kindes – das Du so oft auf Deinem Schooße gewiegt, ich werde Dich nie, nie hassen können. Denn Du bist der einzige Mann, den ich als Mann kennen gelernt. Lebe wohl.«
Ehe noch Landsfeld ihren Abschiedsgruß erwiedern konnte, hatte sie bereits das Zimmer verlassen. Er öffnete das Fenster. Eben trat sie auf die Straße. Ihr faltenreicher schwarzer Mantel, unter dem zuweilen die weißen Beinkleider hervorblickten, flatterte noch lange im Scheine des hellen Mondlichtes und verschwand endlich den Blicken des Nachsehenden.
Landsfeld trat vom Fenster zurück. Er fuhr sich
»Ich will eine Entscheidung« – sagte er im lauten Selbstgespräch – »der letzte
mögliche Beweis muß geprüft werden. Soll ich mich ewig mit der quälenden Ungewißheit
foltern, ob es sich lohnt, an die Menschen zu glauben oder nicht? Soll ich immer
wieder aus der Seelenruhe gleichgültiger Verachtung aufgestört werden durch die
heuchlerische Hoffnung, es sei doch wohl ein Irrthum von mir, mit jeder Wahrheit in
der Menschenbrust abschließen zu wollen? – Ich will Gewißheit haben, ich will ganz
versöhnt sein mit den Menschen – und ich bin es, sobald ich Einen finde, von dessen
Wahrheit ich so fest überzeugt bin, daß auch die Möglichkeit eines Zweifels undenkbar
wird – oder ich will für immer das Recht haben, überall Schein zu sehen! – Darum,
Alice, mußten wir uns trennen, Du giebst mir nur halben Glauben, bei Dir wird meine
Sehnsucht nach der lautern und ungeschminkten Reinheit des weiblichen Herzens nur
brennender und qualvoller. Aber Du kannst diesen Durst nicht löschen; und ich will
Es giebt keine Quelle der Wahrheit in dem Weibesherzen.«
Er setzte sich, um ein Billet an Cornelien zuschreiben, worin er ihr sagte, daß sie sich um 5 Uhr früh bereit halten sollte. Er siegelte es und rief seinen Diener.
»Carl, Du gehst sogleich nach dem Gasthof zum weißen Strauß, weckst den Portier, wenn er schon schläft, und giebst ihm dieses Billet mit der Weisung, es entweder gleich oder noch vor Sonnenaufgang an seine Adresse zu geben.«
Dann schrieb Landsfeld noch einen andern Brief, an Lydia, worin er sie bat, sich um
das etwaige Ausbleiben ihres Verlobten nicht zu ängstigen. Er gab als Grund das Duell
an, da sie doch möglicher Weise durch einen Dritten davon hören könne, und dann ihre
Unruhe noch größer sein würde; versicherte ihr aber auch zugleich auf sein Ehrenwort,
daß er fest entschlossen sei, seinem Gegner kein Haar zu krümmen. Sie könne folglich
ohne Sorge sein. Der Ton des Briefes ging in keiner Weise über die Forderungen
conventioneller Höflichkeit hinaus.
Als er mit dem Schreiben und der Schließung des Briefes fertig war, hatte sich auch bereits sein Diener des Auftrags an Cornelia entledigt.
Er hatte die Letztere noch sprechen können, und das Billet selbst übergeben.
»Sie würde zu jeder Stunde bereit sein, da sie sich gar nicht zur Ruhe begeben würde« – war ihre Antwort.
»Jetzt kannst Du ein Paar Stunden schlafen. Um vier Uhr mußt Du bereit sein, mich auf einem Spaziergange zu begleiten. Gute Nacht.«
Schon lange bevor die Sonne am östlichen Horizont, der die in weißlich grauen Dunst
eingehüllte Ebene begrenzte, ihre ersten Blitzstrahlen gegen die dichte Nebelmasse
ausgesandt und ihr Nahen nur erst durch einen breiten, langen, aber schwachen
Purpurstreifen, der zuweilen durch den, wie zum Widerstande sich scheinbar immer mehr
verdichtenden Nebelflor verwischt wurde, glänzten die im Westen gelegenen Spitzen des
Gebirges in dunkelrother Glut, die sich immer tiefer und tiefer senkte. Endlich
erschien auch auf der entgegengesetzten Seite ein blutrother feuriger Streifen. Immer
höher und höher sich erhebend, gestaltete er sich zuletzt zum leuchtenden Feuerball,
welcher auf der scharf hervortretenden Linie des Horizonts tanzend zu schweben
schien. Es war ein wundervoller Anblick, wie ihn nur der verstehen und nachempfinden
kann, der ihn einmal in seiner ganzen
Als die Strahlen des sich höher aufschwingenden Sonnenballs auf die Dächer des noch größtentheils im tiefen Schlaf ruhenden Dorfes fielen, und nur erst einzelne Badegäste, denen der Arzt einen frühen Spaziergang als Kur verschrieben hatte, gähnend und fröstelnd sich zu diesem unbequemen Geschäfte bereit machten, öffneten sich auch die grünen Läden des letzten weißen Häuschens, über dessen Dach die, uns aus der Beschreibung Carls schon bekannten mächtigen Kastanienbäume ihre schützenden Zweige ausstreckten.
Sie seufzte tief, ohne wohl zu wissen, warum. Denn was konnte dieses Kindesherz schon
getroffen haben, daß es von Schmerz erfüllt war? Ein unbestimmtes Sehnen nur war es,
was ihre Brust bewegte und zugleich erweiterte. Denn es war ihr, als müßte sie alles
das Schöne, Herrliche und Große, was sich da draußen vor ihren Blicken entfaltete,
hineinziehen in die Brust, oder als müßte sie selbst sich hinausstürzen und sich
auflösen in die allgemeine Seligkeit der Natur. Ein innerlich tiefer, aber lautloser
Jubel durchzog zugleich ihr ganzes Wesen – sie weinte, ob vor Schmerz oder vor Wonne,
sie wußte es selbst nicht. Eine Thräne fiel auf ihren vollen, weißen Busen herab, der
in ungestümen Wallungen sich unter dem lose befestigten Nachtkleide hervorgedrängt
hatte, als wolle er sich in dem thaufeuchten Balsam
In diesem Augenblicke kam Landsfeld, in Begleitung Corneliens und des nachfolgenden Dieners, der die Waffen unter dem Mantel trug, um die Ecke. Lydia sprang schnell vom Fenster zurück, doch hatte bereits der scharfe Blick des Barons sie erreicht, was er indeß durch keine Bewegung verrieth. Vielmehr ging er ruhig und wie in ein eifriges Gespräch mit seiner Begleiterin versenkt, ohne einen zweiten Blick nach dem Fenster zu werfen, vor demselben vorüber.
Lydia holte tief Athem, ihre Farbe, die einen Augenblick das Gesicht völlig verlassen
hatte, kehrte allmählig wieder zurück. Ueber ihren eigenen Schreck lächelnd, trat sie
wieder an das Fenster, indem sie jedoch vorher noch einen Blick in den Spiegel warf,
um sich von der Ordnung ihrer Toilette zu überzeugen. In der That hatte sie zu einer
so ängstlichen Flucht keine Veranlassung, denn das sehr reizende Morgenhäubchen,
welche das kindlichreine Oval ihres Gesichts umschloß, war eben so untadelhaft, wie
das lange faltige, blendend weiße Morgenkleid,
Diesmal wurde sie von Niemandem beunruhigt. Nachdem die Laden befestigt waren, begann sie die in die Stube gestellten Töpfe wieder an ihren früheren Platz zu stellen, als sie zwischen den beiden mittelsten Töpfen der unteren Reihe ein zusammengewickeltes Blatt Papier bemerkte. Sie zog es neugierig hervor, und öffnete es. Da erblickte sie auf der Einlage ihre eigene Schrift. Als sie das Blatt entfaltete, erkannte sie ein Billet, das sie vor einigen Tagen an ihren Verlobten geschrieben.
Um so neugieriger ergriff sie nun das andere Blättchen, in dem jenes eingeschlagen war, und las unter wachsendem Erstaunen folgende mit Bleifeder geschriebenen Worte:
Unsere Freuden sind wie Stäub chen, die von den Rädern des Le benswagens
Eine ihr selbst unerklärliche Angst ergriff Lydia bei diesen Worten; es war ihr, als sei ein großes Unglück geschehen, und doch hatte sie keine Vorstellung davon, was es eigentlich sei, das sie so in Furcht setzte. Es lag in den Worten des Zettels – das fühlte sie wohl – etwas Düsteres, Unheil Andeutendes, das sie zur Resignation und Fassung aufforderte. Zuweilen schien ihr eine Art melancholischen Trostes darin zu liegen, für einen großen unbekannten Verlust, der ihr drohte, oder der sie gar schon betroffen hatte. – Eine unnennbare Unruhe ergriff sie. Sollte sie die mit Bleistift geschriebenen Worte mit dem Inhalt des Billets in Verbindung setzen, das sie an ihren Verlobten geschrieben? Oder hatte den Letzteren ein Unfall getroffen? Der Gedanke trieb alles Blut nach ihrem Herzen. Wieder und wieder las sie die räthselhaften Worte, ohne den tieferen Sinn, den sie darin vermuthete, zu begreifen. Sie eilte in das Nebenzimmer, um zu sehen, ob ihre Mutter, zu der sie ein unbedingtes, schrankenloses Vertrauen hatte, schon wach geworden. Diese wollte sie um Rath fragen.
»Liebes Kind« – sagte die würdige und liebenswürdige Frau, nachdem sie mit
Aufmerksamkeit beide Zettel durchlesen – »Du beunruhigst Dich, wie es mir
Die Ruhe, mit der die Mutter sprach, wirkte auf Lydia wohlthätig ein. Sie wurde
ebenfalls ruhiger und begriff zuletzt nicht, wie sie sich einer so kindischen Furcht
habe hingeben können. Bald war von der ganzen Unruhe weiter kein Gefühl in ihr
zurückgeblieben, als das der Erwartung und Neugierde, wie sich bei Bergers Erscheinen
die Sache aufklären würde. Sie eilte leichten Schrittes in den Garten hinter dem
Hause hinab, um die Blumen zu tränken, ehe die Sonne zu hoch gestiegen. Mit einem
halb wehmüthigen, halb freudigen Blicke sah
Indessen hatte Lydia ihre Beschäftigung im Garten beendet, und war im Begriff, ihren Vogel, dessen Bauer sie bereits zwischen den Blumentöpfen des nach dem Garten hinaussehenden Fensters aufgestellt hatte, mit Nahrung zu versehen, als ihre Mutter sie rief.
»Ich glaube, es wird jetzt Zeit sein, daß wir uns ankleiden, liebes Kind. Die Stunde, da ich zur Quelle muß, naht heran, und im Fall Du nicht vorziehest, zurückzubleiben –«
»Ach nein, laß mich mit Dir gehen, liebe Mutter. Du wirst so leicht müde, wenn Du keinen Begleiter hast, auf den Du Dich stützen kannst. Ich mag auch heute nicht allein zu Hause bleiben, mir ist so bange, ich weiß selber nicht warum.«
»Furchtsames Kind, Du« – lächelte die Mutter, der im Grunde nicht minder bange zu Muthe war.
Nach einer halben Stunde war die Toilette der Damen beendet. Arm in Arm traten sie
aus dem Hause und begaben sich langsam nach der ziemlich entfernten Quelle. Da diese
an dem entgegengesetzten Ende des Dorfs höher hinauf am Abhange des Berges gelegen
Still wanderten sie neben einander her, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Durch instinktartige Furcht davon abgehalten, vermieden sie es, über das heutige Ereigniß zu sprechen, obwohl sie Beide ahnen mochten, daß dies gerade der gemeinschaftliche Gegenstand ihres Nachdenkens und die Ursache ihres Schweigens war. Als sie über die Hälfte des Wegs zurückgelegt, hörten sie plötzlich in weiter Ferne einen Schuß fallen, der vom Gebirge herabzutönen schien. Ein schnelles, aber rasch unterdrücktes Zittern des Arms ihrer Mutter, der sich auf den ihrigen stützte, bewies Lydia, daß ihre Mutter durch den Schuß erschreckt worden war. Sie erblaßte.
»Still, mein Kind. Es war eine bloße Schwäche.«
Ein zweiter Schuß fiel, aus derselben Richtung herüberschallend. Die innere Aufregung Lydiens nahm zu. Ihre Mutter hatte die Fassung völlig wieder erlangt, aber nicht ohne eine gewaltsame innere Anstrengung, die dem milden Ernst, welcher gewöhnlich auf ihren regelmäßigen und feinen Zügen lag, einen Charakter von Erhabenheit und Seelengröße verlieh.
Nach einer längern Pause fiel ein dritter und unmittelbar darauf ein vierter Schuß. –
Die Schritte der bei den Damen wurden schneller, als wollten sie dem unheimlichen
Eindruck, den das Schießen auf sie hervorbrachte, entfliehen. Erhitzt und fast
athemlos, ob mehr vor innerer Bewegung oder von der körperlichen Aufregung war schwer
zu entscheiden, langten sie im Brunnenhäuschen an, um das sich bereits eine große
Zahl von Trinkenden versammelt hatte. Das Geräusch und die gleichgültigen, zuweilen
vom munteren Gelächter unterbrochenen Gespräche wirkten beruhigend auf ihre
aufgeregten Gemüther. Lydia wurde von einigen jungen Mädchen, die ihr in der
Residenz, wo sie mit ihrer Mutter die letzten beiden Winter nach dem Tode ihres
Vaters, des Forstraths von Dornthal, zugebracht hatte, bekannt waren, umringt und
vergaß bald
»Kommen Sie, lieber Freund« – sagte sie, ihren Arm in den seinigen legend. »Ich möchte Sie um Ihren Rath in einer Angelegenheit bitten, die mir große Sorge macht.«
»Sprechen Sie, theuerste Räthin, sprechen Sie – mein Rath, meine Hülfe, das wissen Sie ja, kann Ihnen niemals entgehen, wenn ich sie zu geben im Stande bin.«
Sie schlugen einen weniger betretenen Seitenweg ein.
Die Forsträthin theilte ihm unverholen ihre ganze Besorgniß in Betreff Bergers mit,
indem sie ihn zugleich bat, ihr Alles, was er aus glaubwürdiger Quelle, oder aus
eigener Wahrnehmung über die Bekanntschaft zwischen Lydiens Verlobten mit Frau von
Rosen wüßte, mitzutheilen. Eine halbe Stunde mochten sie im eifrigsten Gespräch
begriffen gewesen sein, das nur durch einen öfter wiederholten Gang zum Brunnen
unterbrochen
In den ersten Minuten war die Forsträthin nicht im Stande, weder eine Frage zu thun,
noch ihrer Tochter eine wirksame Hülfe zu leisten. Glücklicherweise war der Badearzt
in der Nähe. Seinen Bemühungen gelang
»Haben Sie Etwas über die Ursache von Lydiens Unwohlsein erfahren können?« – fragte der Hofrath, der zu derartigen Erkundigungen keine Zeit gehabt.
»Es wurde nur von einem kleinen Knaben gesprochen, der auf Lydia zugegangen sei, als kenne er sie schon lange, und ihr einen Brief überreicht habe. Sie habe ihn sogleich mit sichtlicher Bewegung erbrochen und, nachdem sie einen Blick hineingeworfen, sei sie sofort bewußtlos niedergesunken.«
»Vielleicht ist dieß der unselige Brief« – äußerte der Hofrath, auf das zerknitterte Papier in der rechten Hand Lydiens deutend.
Rasch griff die Forsträthin danach, nachdem der Hofrath mit Mühe die zusammengepreßte Hand geöffnet und den Zettel herausgenommen hatte.
Ein Thränenstrom, der ihrer bisher zurückgehaltenen Angst Luft machte, stürzte aus ihren Augen. »Lesen Sie« – setzte sie hinzu, dem Hofrath das Papier hinreichend, indem sie sich ermattet in die Wagenecke zurücklehnte.
Als Alice von Rosen nach dem früher geschilderten Gespräch mit dem Baron in jener Nacht in ihre Wohnung zurückgekehrt war, warf sie hastig die Männerkleidung von sich und rief ihrem Mädchen.
»War Jemand hier, Marie?« –
»Nein, gnädige Frau« – antwortete das junge Mädchen, indem sie ihrer Herrin das Nachtkleid überwarf.
»Desto besser« – sagte Alice zu sich selbst. – »Bringe mir ein Glas recht kühles Wasser und eine Cigarre, dann kannst Du zu Bett gehen.«
Als sie allein war, ging sie mit schnellen, aber ungleichen Schritten im Zimmer auf und nieder. Die düster brennende Lampe warf ein unsicheres Licht auf die Wand, an der der Schatten Alicens wie ein Nachtgespenst hin und niederfuhr.
Er war kalt, kalt wie Eis. Er kann kein Herz haben, dieser Mann – Herz?« – Sie lächelte bitter. »Hab' ich denn ein Herz? – Aber Du täuschest Dich, Richard, wenn Du meinst, daß ich den Kampf schon aufgegeben.« – Sie richtete sich stolz auf bei diesen Worten. Ihre Augen blitzten und eine flammende Röthe bedeckte ihr Gesicht. – Nach einer Pause, in der sie einigemal durch das Zimmer geschritten war, blieb sie plötzlich stehen, als hätte ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregt. »Es ist Berger« – sagte sie langsam, indem eine Falte des Unmuths auf ihre Stirn sich lagerte. »Du wählst eine unpassende Zeit, lieber Freund.«
Sie warf sich, wie in dumpfer Resignation, auf das Sopha und bedeckte die Stirn mit der Hand.
Berger öffnete leise die Thür. Er sah blaß und niedergeschlagen aus. Erstaunt blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen, als Alice ihm nicht entgegen kam.
»Bist Du krank, theure Alice?« – fragte er besorgt, indem er näher trat. »Dein
Gesicht ist erhitzt,
»Es ist nichts, Arthur; beruhige Dich. Ein wenig Kopfschmerz – die Aufregung vom Morgen.« Sie machte eine Anstrengung, um die verlorene Besonnenheit wieder zu erlangen. – »Weißt Du, was ich in Deiner Abwesenheit gethan?« fragte sie plötzlich mit heiterem Ton. »Ich habe Cornelien gefordert.« Sie fing an zu lachen.
»Du hast sie wirklich gefordert? Und darüber lachst Du?«
»Warum soll ich nicht darüber lachen? Ich freue mich schon im Voraus auf einen Gang mit ihr. Uebrigens führt sie eine gute Klinge und ist fürchterlich erbittert auf mich. Ach, wenn wir nur erst auf der Mensur ständen« – fügte Alice mit der gewöhnlichen melancholischen Weichheit im Ton hinzu, den ihre Stimme gerade dann am meisten annahm, wenn der Inhalt ihrer Worte ganz entgegengesetzter Natur war.
»Du bist ein Heldenweib, Alice!« – sagte Berger, mit einer Art von schwärmerischer
Andacht zu ihr aufblickend. »So groß, so herrlich, wie nie ein
Er verbarg seinen Kopf in ihrem Schooße. Alice sah mit einer Mischung von Freude und Mitleid auf ihn herab, wie man auf ein gutes Kind herabsieht. Unmerklich schweiften ihre Gedanken zu Landsfeld; sie verglich seine Kälte und Zurückhaltung mit der tiefen Wärme und Hingebung Bergers. Wunderbar. Ein Gefühl von Haß und Verachtung durchzuckte ihre Seele, aber dieser Haß traf nicht den, der sie gekränkt, sondern den hingebenden, in Liebe für sie aufgehenden Schwärmer, der zu ihren Füßen lag.
Als Berger wieder aufsah, fuhr er erschreckt empor über den Ausdruck von unheimlicher Kälte in ihren Zügen.
Er erblaßte.
»Laß mich« – sagte sie halb abgewandt und sich aufrichtend. »Ich bin erschöpft. – In
einigen Stunden gehen wir auf die Berge. Du wirst mich abholen, Arthur, nicht wahr?«
Sie zwang ihre Stimme zu einem
»Wir bedürfen Beide noch der Ruhe« – wiederholte er mit tonloser Stimme. »Du hast Recht, Alice. Ruhe! O, wer zur Ruhe käme! – Wohl« – sagte er dann mit stiller Resignation. »In drei Stunden werde ich bei Dir sein. Lebe wohl.«
Er sprang auf und wollte forteilen.
»Arthur!« – rief Alice, die über seinen tiefen Schmerz bekümmert war. Sie breitete die Arme nach ihm aus. Weinend stürzte er hinein. Sie drückte einen heißen Kuß auf seinen Mund.
Da brach seine ganze bisher verhaltene Ruhe in lichte Flammen aus. Mit starkem Arm umfaßte er sie. Sein Athem glühte, sein Blut stürmte durch die Adern. Immer fester umschlangen sie seine Arme, immer glühender brannten seine Küsse auf ihren Wangen, auf ihrem Halse, auf ihrem Busen.
»Arthur!« – zürnte sie, heftig gegen seine Leidenschaftlichkeit ankämpfend. »Bist Du
so wenig Mann, so wenig Herr Deiner Gefühle, daß Du Dich nicht beherrschen kannst,
wenn ich Dich um Schonung bitte. –
Als der Baron nebst seiner Begleiterin die Spitze des Berges erreicht hatte, trafen sie das andere Paar, das, um nicht Lydiens Wohnung passiren zu müssen, von der entgegengesetzten Seite heraufgestiegen war, schon wartend.
»Entschuldigen Sie unser längeres Verweilen« – sagte Landsfeld, nachdem er mit seinem Gegner eine stumme Begrüßung gewechselt. »Wir vermutheten nicht, daß Sie uns zuvorkommen würden. – Darf ich Sie bitten, mir zu folgen« – fuhr er fort. – »Wir müssen noch einige hundert Schritte weiter in den Wald hinein, wenn wir ungestört sein wollen.«
Schweigend folgten ihm die Andern. Der Thau lag voll und glänzend auf dem buschigen
Haidekraut, das sie durchwaten mußten, und drang durch die Schuhe und Strümpfe der
beiden Damen. Landsfeld schien es nicht zu bemerken. Mit langen Schritten
vorausgehend
»Wir sind zur Stelle« – sagte Landsfeld. Er nahm dem nachfolgenden Diener die Waffen ab und legte sie vorsichtig auf einen umgestürzten Baumstamm, der den Platz der Länge nach durchschneidend, ihn in zwei fast gleich große Hälften theilte. »Du kannst jetzt gehen, Carl« – wandte er sich an diesen, indem er mit ihm einige Schritte bei Seite trat. »Hier ist ein Brief, den Du sogleich an seine Adresse abzugeben hast; aber mit Vorsicht, daß es nicht zu sehr auffällt.«
»Und soll ich nicht wieder herkommen, Herr Baron?« – fragte der treue Mensch, seinen Herrn mit ängstlichen Blicken ansehend.
»Wenn ich in einer halben Stunde nicht zu Hause bin, dann bittest Du den Brunnenarzt sich hierher zu bemühen und bestellst zugleich einen Wagen. Adieu, Carl, und daß Du nichts auf Deinen Kopf hinthust.«
»Da ein doppelter Kampf stattfinden wird« – wandte sich Landsfeld an die Andern, »so bleibt uns noch zu bestimmen übrig, welche Partei den Anfang machen soll, die männliche oder die weibliche.« –
»Ich werde das Zeichen geben« – sagte der Baron. »Wenn ich das Tuch schwinge, macht Fräulein von Hohenhausen den ersten Ausfall. –
Auf die Mensur, meine Damen« – rief er kommandirend. Die beiden Gegnerinnen kreuzten die Rappiere.
»Los« – rief der Baron das Schnupftuch schwingend. In demselben Augenblicke flog die Spitze von Alicens Rappier in die Höhe.
Die Klinge ihrer Gegnerin streifte die linke Seite ihres goldenen Gürtels.
Durch die gewaltsame Art, mit der Cornelia ihr
Berger, der, auf der andern Seite stehend, die Verwundung Alicens nicht bemerken konnte, hatte sein Auge auf Cornelien geheftet. In dem Augenblicke, als es ihr gelungen war, die Spitze ihres Rappiers frei zu machen, war die Waffe ihrer Gegnerin bereits einige Zoll tief in ihre rechte Brust gedrungen. Als sie daher durch die erwähnte Wendung die Klinge Alicens fortschlug, trennte ein langer Schnitt, der sich von rechts nach links über die ganze Brust der Unglücklichen erstreckte, ihr Kleid auf, aus dem nun zwar kein Strom warmen Blutes – – aber eine Menge Watte hervorquoll. Ein Schrei, als hätte sie Alicens Klinge im Herzen gefühlt, entfuhr ihrem Munde, indem sie zwei Schritte zurücksprang. Mit erneuter Wuth wollte sie jetzt von Neuem auf ihre Gegnerin sich werfen, als Landsfeld mit eigener Lebensgefahr zwischen die Kämpferinnen sprang.
»Genug,« – rief er mit gebieterischer Stimme. »Jetzt kommt die Reihe an uns. Sie
haben beiderseits Wunden empfangen und gegeben. Sie können befriedigt sein.« Halb mit
Gewalt nahm er Cornelien das Rappier
Berger hatte indeß, so gut es gehen wollte, die Wunde Alicens, welche durchaus unbedeutend war, da eigentlich nur die Haut geritzt war, mit einem leinenen Taschentuche verbunden.
»Sehen Sie, meine Herrn« – sagte sie, als auch der Baron zu ihr trat, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen – »sehen Sie dort die trauernde Maria auf den Trümmern Carthago's. Ist es nicht ein tragisches Schauspiel?« Sie zeigte auf Cornelien.
»Spotte nicht, Alice« – sagte Berger, während Landsfeld die Pistolen aus dem Kästchen
nahm. Er untersuchte die beiden Doppelläufe jedes Gewehrs noch einmal sorgfältig und
setzte auf den Piston jedes derselben ein Kupferhütchen. Darauf maß er in der Mitte
des Platzes eine Strecke von dreißig Schritten ab, deren äußerste Enden er durch
einen langen Querstrich bezeichnete. Sodann theilte er diesen Zwischenraum in drei
»Wählen Sie!« sagte er zu Berger, indem er ihm die Waffen verkehrt entgegen hielt. Statt einer Antwort begab sich Berger auf das eine Ende. Alice näherte sich dem Baron. Sie hielt den Arm in einer improvisirten Binde und sah sehr bleich und angegriffen aus.
»Was gedenkst Du zu thun?« – fragte sie leise den Baron.
»Ich habe Dir schon erklärt, daß Du es sehen wirst. Doch da Dir die Aufregung schaden könnte, so richte Deinen Blick auf jenen Knorren.« Er zeigte auf einen Baum im Rücken Bergers. »Das ist mein Ziel.« Berger sah anscheinend theilnahmlos auf die Beiden herüber. Aber in seinem Innern erwachte jetzt plötzlich wieder ein Verdacht, der ihn schon heute Nacht, als er Alicen verließ, durch die Seele gezogen war, ohne jedoch länger, als einen Augenblick, darin gehaftet zu haben. Dieß gab ihm mit einem Male die Sicherheit und Bestimmtheit zurück, welche ihn seit dem Gespräch mit dem Baron fast ganz verlassen hatte.
»Ist's gefällig, Herr Baron?« – sagte er mit einer ruhigen Kälte, die Landsfeld auffiel.
»Ich bin bereit, mein Herr« – antwortete dieser,
Langsam, aber mit festen Schritten, näherte sich Berger dem zweiten Strich, während Landsfeld nur einen Schritt ihm entgegen trat. Fast in demselben Augenblicke richteten Beide ihre Waffen auf einander. Berger feuerte zuerst. Er war noch achtzehn Schritte von seinem Gegner entfernt. Der Baron stand unverrückt. Jetzt ging dieser bis zur äußersten Grenze vor. Nur zehn Schritte lagen zwischen ihnen. Berger kreuzte die Arme.
Landsfeld drückte los. Alice blickte nach dem Knorren. Er war verschwunden. Nur
einige Holzsplitter zeigten die Stelle, an der die Kugel in den Baum gedrungen war.
Die beiden Kämpfer begaben sich auf ihre Plätze zurück. Abermals schritten sie
langsam auf einander zu. Berger schien warten zu wollen, bis der Baron gefeuert
hätte. Dieser aber wünschte gleichfalls den letzten Schuß zu haben. So hatten sich
Beide der Grenze genähert. Endlich entschloß sich Berger zum Feuern. Landsfeld wankte
einen Augenblick, faßte sich aber sogleich wieder. Sein rechter Arm hing schlaff
herab, das Pistol war auf den Boden gefallen. Er ergriff es mit der linken Hand. Da
er aber mit dieser jenes Kunststück nicht zu wiederholen
»Es ist nichts Bedeutendes« – sagte er – »wenn's nur nicht der rechte Arm wäre. Verdammter Zufall.« Er riß die Weste und das mit Blut befleckte Hemd auseinander. Die Kugel hatte die innere Seite des Arms gestreift und, wie es schien, eine Sehne zerschnitten. Die Wunde blutete stark. Alice, die ihrer eigenen Verwundung wegen ihm wenig Dienste leisten konnte, rief Berger. Aber jener schien, obwohl unverwundet, gänzlich unfähig, irgend wie hülfreiche Hand anzulegen. Wie im Traum trat er näher und blickte theilnahmlos auf den Sitzenden. Landsfeld stopfte sich sein Taschentuch unter den Arm und drückte es fest an, um eine Verblutung zu verhindern.
»Wenn nur der Arzt bald käme« – sagte er.
Cornelia hatte die ganze Zeit über, in ihren Mantel eingehüllt, lautlos dagesessen. Jetzt sprang sie plötzlich auf. »Ich werde ihn zur Eile antreiben!« – rief sie dem Baron zu, indem sie forteilte.
»So kommen Sie schnell!« antwortete sie, ohne ihre Schritte zu hemmen. Sie verließen den Platz und eilten, so schnell sie konnten, den Berg herab.
»Können Sie mir darüber Aufklärung geben, Fräulein von Hohenhausen,« – sagte Berger – »aus welchen Motiven der Baron mich beim zweiten Schusse hat schonen wollen?« –
»Beim zweiten? – bei beiden, Verehrtester. Haben Sie nicht bemerkt, daß er nicht nach Ihnen, sondern nach dem hinter Ihnen stehenden Baume zielte?«
»Und Alice wußte es, wahrscheinlich. – Daraus kann ich mir auch ihre Ruhe erklären. – Ich habe ihr also doch Unrecht gethan, als ich es für Theilnahmlosigkeit hielt.«
»Er mag's ihr wohl heute Nacht gesagt haben« – bemerkte Cornelia, indem sie mit Freude die Wirkung dieser Worte beobachtete.
»Heute Nacht?« – Der junge Mann erbleichte. – »Das ist nicht wahr« – sagte er drohenden Tones.
»Sie müßten das besser wissen, meinen Sie« – fuhr Cornelia mit einer Mischung von verhaltener Wuth und cynischer Ironie im Ton fort. »Den Gegenbeweis, mein Herr, wenn ich bitten darf!«
»Ich weiß es, mein Herr, um 2 Uhr. Doch müssen Sie am besten wissen, ob Sie Grund haben, damit zu renommiren. Das Rendezvous war kurz, so viel ich weiß.«
»Martern Sie mich nicht!« – bat Berger. – »Sagen Sie es heraus: hat der Baron Alicen heute Nacht besucht?«
»Nein!« –
»Nun also!« Der junge Mann athmete tief auf.
»Aber sie ist bei ihm gewesen« – schloß Cornelia. –
Das war ein fürchterlicher Schlag. Berger schwankte. Jetzt konnte er sich den Widerstand Alicens erklären. Von innerem Schmerz fast vernichtet, stieg jetzt nicht mehr der leiseste Zweifel an der Wahrheit des eben Gehörten in ihm auf.
»Kommen Sie! wir dürfen uns nicht aufhalten.« – Halb mit Gewalt zog sie seine Hände nieder, mit denen er die Augen bedeckt hatte. »Mein Gott! so ermannen Sie sich doch. Wollen Sie ein Zaubermittel, das Ihren Schmerz lindern und Ihnen die Kraft zurückgeben wird?«
»Doch, doch« – versicherte sie. »Ein Wort wird Sie kuriren. Dieß Wort heißt« – sie näherte ihren Mund seinem Ohre, indem sie leise, aber mit energischem Accent sagte: »Rache!«
Berger fuhr empor. Seine Augen rollten. Krampfhaft ergriff er den Arm Corneliens, so daß diese fast aufgeschrieen hätte vor Schmerz. »Sie haben Recht. – Rache! Rache!« –
Er sprach dies Wort langsam und mit Nachdruck, als wolle er den Wohllaut jedes einzelnen Buchstaben genießen. –
Mit beschleunigten Schritten eilten sie jetzt den Berg hinab. Da erblickten sie den Wagen, welcher eben gemächlich den Berg hinanfuhr.
»Der Baron ist verwundet!« – rief Cornelia dem Diener Landsfelds zu, als sie den
Wagen erreicht hatten, in dem sich der Arzt befand, der nun dem Kutscher befahl, die
Pferde zu größerer Eile anzutreiben. Bald war der Wagen ihren Blicken entschwunden.
Als sie in's Bad kamen, trennten sie sich. »Auf Wiedersehen!« – sagte Cornelia
beziehungsvoll beim Abschiede, indem sie ihrem neuen Gefährten die Hand gab. »Vor
allen Dingen lassen Sie sich zu keiner unüberlegten
»O, ich bin unsagbar unglücklich« – jammerte er, sein Gesicht mit den Händen bedeckend, während er in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach. – »Warum hast Du mir das gethan, Alice? Hast Du mich nur so hoch erhoben, um mir den Sturz in die Tiefe desto fühlbarer zu machen?« –
Wenn ein geistiger Schmerz sich in Thränen auflöset, so wird die Seele milde gestimmt. Auch Berger fühlte bald den wohlthätigen Einfluß solcher Thränen auf seine Stimmung. Er wurde still und resignirt. Rasch beendete er jetzt seinen Anzug und schritt langsam dem Hause unter den Kastanienbäumen zu.
Auch hier war unterdessen der Schmerz eingekehrt, aber ihm fehlte das bitterste, das qualvollste Element: das Bewußtsein der eigenen Schuld. Lydia lag auf dem Sopha ausgestreckt. Ihre Züge waren durch den plötzlichen Schreck blaß und angegriffen, aber ruhig.
Als sie jenen Brief, der ihr auf der Promenade zugestellt wurde, erhielt, war sie
zuerst durch die Gleichheit der Schriftzüge mit denen des Zettels, den sie heute
»Vortrefflich. Hier ist Alles auf gutem Wege. – Indeß kann's immerhin nicht schaden, wenn wir dem Kinde ein kühlendes Tränkchen verordnen. Haben Sie Papier und Dinte, gnädige Frau?« – Er sah mit bezeichnendem Blicke auf die Thür des Nebenzimmers. Die Forsträthin verstand ihn.
»Wollen Sie sich hier herein bemühen« – sagte sie, die Thüre öffnend.
Der Hofrath stellte sich an's Fenster und trommelte mit dem Finger auf die Scheiben.
»Sie werden mich entschuldigen, gnädige Frau« – sagte der Arzt – »daß ich nicht früher gekommen. – Ich bin dort oben gewesen.« Er wies mit dem Finger auf die Berge, welche sich auf dem blauen Hintergrunde des Himmels scharf abzeichneten.
»Ich dachte es mir« – erwiederte die Forsträthin.
»Sie wissen also, mit wem sich Berger geschlagen hat? – Mit dem Baron von Landsfeld« – fuhr er fort, als Jene mit dem Kopfe schüttelte.
»Und der Grund?« – fragte die Forsträthin zögernd.
»Wegen einer Frau von Rosen, die der Baron früher, glaub' ich, gekannt und in Berger's Gegenwart gestern auf der Promenade beleidigt hatte. Die nähern Umstände sind mir unbekannt.«
»Also doch« – sagte Frau von Dornthal vor sich hin. »Fahren Sie fort.«
»Das Wichtigste ist, daß Berger völlig unverwundet geblieben. Ja, aus einer Andeutung von Frau von Rosen –«
»Sie war auch dort?«
»Ein merkwürdiges Frauenzimmer« – brummte der Arzt, den Kopf hin und her wiegend. »Sie hat sich auch geschlagen, und zwar auf Stichwaffen.«
»Sie scherzen« – bemerkte die Forsträthin mit halb erstaunter, halb ungläubiger Miene.
»Nichts weniger, als das« – erwiederte er seufzend.
»Aber mit wem hat sie sich duellirt? Mit dem Baron natürlich.«
»Nein, mit einer anderen emancipirten Dame, – einem Fräulein von Hohenhausen. Aber, was ich sagen wollte – ja, aus einer Andeutung von Frau von Rosen schloß ich sogar, daß der Baron mit Willen fehlgeschossen.«
»Das war mir nicht unbekannt« – erwiederte sie zum großen Erstaunen des Doctors. »Lesen Sie hier« – fuhr sie fort, ihm den Brief Landsfelds reichend.
»Hm, hm« – sagte er, seinen Kopf wiegend – »ein merkwürdiger Mensch. Es wäre Schade um ihn gewesen.«
»Wie?« – rief Frau von Dornthal erbleichend, indem sie ängstlich die Hand des Arztes faßte. – »Er ist verwundet?«
Der Doctor wollte eben antworten, als der Hofrath an die Thüre klopfte.
»Berger kommt eben die Straße herab,« sagte er, als er auf das »Herein« der Forsträthin eingetreten war.
»Ruhig, ruhig, gnädige Frau. Uebereilen Sie nichts. Wir kennen die tieferen Motive bei diesem ganzen Vorfall nicht hinlänglich, um von einer eigentlichen Schuld des jungen Mannes sprechen zu können. Ueberlassen Sie es mir, darüber in's Klare zu kommen. Ist es eine bloße jugendliche Verirrung, die ihn zu diesem extremen Schritte verleitet, so dürfen Sie nicht zu strenge gegen ihn sein; vorausgesetzt, daß Lydia an seinem Gefühle nicht irre, und in dem ihrigen nicht schwankend geworden. Wenn sie stark genug ist, um ihn jetzt sehen zu können, so möchte ich Sie bitten, einer solchen Zusammenkunft nichts in den Weg zu legen. Dabei wird die Wahrheit am ersten an's Licht kommen.« Nach diesen Worten begab sich der Doctor, ohne eine Antwort abzuwarten, zu Lydia. Die Andern folgten. In demselben Augenblicke klopfte es an die Thüre. Der Hofrath warf einen fragenden Blick auf den Doctor, der sich neben Lydia gesetzt hatte, welche sich indeß aufgerichtet.
»Das ist Arthur,« sagte sie, indem eine flüchtige Röthe über ihre Wangen flog. »Es ist gut, daß er kommt. Ich habe Manches mit ihm zu reden.«
Ein bittender Blick auf die Mutter sagte dieser, daß
Der junge Mann öffnete die Thüre und blieb, von innerer Bewegung überwältigt, einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Lydia hatte sich erhoben. Im entscheidenden Augenblicke war ihre volle Besonnenheit zurückgekehrt.
»Du hast Dich geschlagen, Arthur« – sagte sie, einen Sessel neben das Sopha stellend, indem sie ihn einlud, sich zu setzen. Jetzt erst sah sie die Verstörtheit in seinen Zügen. Wieder durchflog eine Ahnung von einem großen Unglücke, wovon sie sich keine Rechenschaft geben konnte, ihre Seele.
»Sag' mir, Arthur,« bat sie mit sanftem Ton, indem sie seine Hand ergriff, die eiskalt war, »warum?«
»Du weißt also Alles?« – fragte er mit zu Boden geschlagenen Augen.
»Nichts weiß ich, Arthur, und würde auch nichts haben wissen wollen, als was Du mir sagen konntest. Nicht wahr, Du wirst mir Alles erzählen, Alles aufklären? Ein Paar Worte werden genügen, um mich zu beruhigen.«
»Lydia, ich bin dieses Vertrauens nicht werth. –
»Was soll ich Dir verzeihen?« – sagte sie bebend, indem sie unmuthig ihre Hand zurück zog. Diese Sprache erschien in ihren Augen, wenn nicht als Zeichen eines Schuldbewußtseins, so doch der Unmännlichkeit.
Er sprang auf. »Nein, Du kannst mir nicht verzeihen. Ich fühle es – Lebe wohl, Lydia.« –
»Bleib' Arthur!« – rief das arme Mädchen, deren Angst zunahm. »Beruhige Dich doch! Was ist denn Grausiges geschehen, daß Du es mir nicht sagen kannst. – Hast Du ihn getödtet?« – fragte sie mit bebender Stimme.
»O, hätte ich –« Er sprach nicht aus. Aber der Ausdruck von Unmuth, welcher plötzlich über sein Gesicht flog, ergänzte das Uebrige. – Lydia schauderte, denn sie dachte an den Edelmuth seines Gegners.
Eine ungewohnte Kälte zog durch ihre Brust. Sie, die so warm und innig mit jedem Menschen empfand, fühlte mit einem Male die Möglichkeit, daß sie hassen könnte. Stolz und fremd war ihr Ton, als sie mit entschiedener Ruhe sagte:
»Noch einmal, Arthur, frage ich Dich, ob Du mir den Grund sagen willst?«
Lydia fuhr mit der Hand nach dem Herzen. Einen Augenblick schwankte sie.
»Unsere Freuden sind wie die Stäubchen, die von den Rädern des Lebenswagens fliegen, um sich einen Augenblick in der Sonne zu spiegeln« – sprach sie leise vor sich hin, indem eine Thräne in ihrem Auge glänzte.
»Verzeihung, Lydia, Verzeihung!« – rief Berger mit flehender, gebrochener Stimme, indem er aber mals zu ihren Füßen sank und ihre Kniee umklammerte.
Dies gab dem jungen Mädchen ihre ganze Kraft zurück. Sich losreißend und vom Sopha aufspringend, trat sie einen Schritt zurück. Eine dunkle Röthe bedeckte Stirn und Wangen; als sie, sich hoch aufrichtend, mit fester Stimme zu dem Unglücklichen sprach: »Mein Herr, wir haben hinfort Nichts mehr mit einander zu thun.«
Berger wurde durch die Kälte in dem Ton Lydiens noch mehr, als durch die Worte vernichtet. Eine fahle Blässe überzog sein Gesicht. Vergeblich rang er nach Worten. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut wurde hörbar. Als könne er den Anblick Lydiens nicht mehr ertragen, stürzte er aus dem Zimmer.
»Veruhige Dich, mein theures, mein geliebtes Kind« – sagte diese, das junge Mädchen nach dem Sopha geleitend. Dem Jünger Aeskulaps, welcher das ganze Gespräch mit angehört, standen die Thränen in den Augen. »Ein merkwürdiges Mädchen« – bemerkte er, den Kopf schüttelnd, indem er näher trat. »Lassen Sie sie nur weinen« – fuhr er laut zur Forsträthin gewendet fort. »Das erleichtert ihre Brust. – Kommen Sie, Verehrtester, begleiten Sie mich zu meinem neuen Patienten. Ein merkwürdiger Mensch – der! – ein höchst merkwürdiger Mensch!« Er nahm den Hofrath ohne Weiteres beim Arm und wollte ihn mit sich fortführen.
Lydia machte eine Bewegung, als wollte sie sprechen. Der Arzt wandte sich wieder zurück.
»Ist er verwundet?« – fragte sie leise. Der Doctor verstand sie wohl.
»Allerdings. Ich werde meine Noth mit ihm
Auf diese Weise schwatzte der Mann fort, bis Beide in's Zimmer des Barons traten. Sie fanden ihn auf dem Sopha sitzen, den verwundeten Arm in der Binde.
»Nun?« – fragte Langhals, dies war, wie durch einen ironischen Zufall, der Name des kugelrunden Doctors – »wie stehts? Sind wir hübsch munter. – Merkwürdiges Mädchen! – Was sagen Sie dazu, Hofrath?«
»Wer ist ein merkwürdiges Mädchen?« – fragte Landsfeld.
»Wer wird's sein, als die kleine Lydia« – fuhr der redselige Doctor fort, der erfreut
über die Frage des Barons war, weil sie ihm Gelegenheit zum Antworten gab. »Eine
Freude war's, wie sie den winselnden
Die plötzliche Unterbrechung hatte ihren Grund darin, daß der Hofrath, aus Furcht vor der Indiscretion des Doctors, ihn leise am Rockschoß gezupft hatte, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Indeß konnte er ihn doch nicht davon abhalten, das Resultat der Reflexionen und Bemerkungen, die er in Begriff gewesen war, von sich zu geben, mitzutheilen, was er mit den Worten that: »Na, der wagt auch nicht mehr, den Fuß auf ihre Schwelle zu setzen.«
Ein Lächeln der Siegerfreude flog über das Gesicht des Barons.
»Ich bitte Sie, meine Herren, der Frau von Dornthal nebst ihrer Fräulein Tochter meinen innigsten Kummer darüber mitzutheilen, ihnen so viel Sorge und Unruhe verursacht zu haben. Sobald ich es im Stande bin, werde ich mir die Freiheit nehmen, sie persönlich deshalb um Verzeihung zu bitten.«
»Gut« – sagte Langhals. »Sie werden wissen, was Sie zu thun haben. Aber der Berger macht mir Sorgen« – wandte er sich zum Hofrath. »Ich dächte, wir suchten ihn auf. Er wird am Ende sonst des Teufels ganz und gar. – Nachmittag bin ich wieder hier, lieber Baron. Leben Sie wohl.«
Die kurze, runde Figur des Doctors nahm sich neben dem langen, hagern Hofrath so eigenthümlich aus, daß Landsfeld sich eines Lachens nicht erwehren konnte.
Mehrere Tage waren seitdem verflossen, als eines Morgens der Doctor Langhals mit triumphirender Miene zum Baron kam. »Endlich habe ich sie so weit gebracht!« – rief er, sich die Hände reibend und im Zimmer auf und ab trippelnd – »aber es hat Mühe gekostet. – Doch ein prächtiges Mädchen, die Kleine. Was sagen Sie dazu, Baron?«
»Wozu?« – fragte dieser zerstreut. Er hatte die Worte des Doctors, an dessen Art er sich schon gewöhnt hatte, ganz überhört.
»Kleiden Sie sich an, das heißt, lassen Sie sich ankleiden, denn aus der Binde darf der Arm noch nicht heraus. Wir machen heute unsern ersten Spaziergang, denn wir sind genesen, vollkommen genesen. Nun, was denken Sie dazu, Verehrtester?« –
»Fehlgeschossen, theuerster Freund, gänzlich fehlgeschossen. Im Gegentheil, ich bin so nüchtern wie ein Küchlein, das eben das Ei verläßt.« Bei diesen Worten schenkte er sich ein Glas Wein ein, das der Baron, der seine Schwachheit kannte, stets für ihn bereit hielt. »Aber eilen Sie, eilen Sie; sonst kommen wir zu spät. Die Damen waren schon im Begriff, nach Hause zurückzukehren.«
»Die Damen?« – fragte Landsfeld mit schlecht verhehltem Interesse, indem er seinem Diener klingelte.
»Nun freilich, die Forsträthin mit ihrer Tochter. Die verdammte Geschichte mit dem
Berger muß dem armen Kinde doch sehr zu Herzen gegangen sein. Kein Wunder freilich.
Sind mit einander aufgewachsen. Sie wissen wohl, daß die Eltern der beiden Leutchen
in demselben Orte wohnten. Bergers Vater war Prediger. Als der starb, ging seine
Mutter mit ihm nach Wien, um ihm Gelegenheit zu geben, sein wirklich bedeutendes
musikalisches Talent auszubilden. Unterdeß war auch Lydiens Vater gestorben und die
Forsträthin mit ihrer Tochter nach Berlin gezogen, wohin sich denn auch zuweilen der
junge Berger begab. Dort hat er sich mit ihr vor einem Jahre verlobt. Bald nach der
Verlobung
»Nein. Schon in Berlin, vor seiner Verlobung« – berichtigte Landsfeld, der mit großem Interesse die Erzählung des Doctors anzuhören schien. »Und Sie glauben, daß Lydia noch immer –«
»O« – unterbrach ihn Langhals – »im Gegentheil! Als ich ihr heute erzählte, daß ich einen Brief von Berger aus Wien erhalten –«
»Was natürlich ein Scherz war« – bemerkte der Baron.
»Herr, was denken Sie? Ich scherzen? und auf so profane Weise mit diesem herrlichen Mädchen!«
»Nun, nun« – beschwichtigte Landsfeld den Aufgeregten, der wirklich diesmal böse war. »Es war nur ein Scherz von mir.«
»Schöner Scherz!« brummte der Medikus grollend. »Nun gut. – Als ich ihr also das mittheile – was glauben Sie, daß sie sagte?«
»Nun?« – fragte Landsfeld, dem es von
Da sagte sie, tief Athem schöpfend: »Gott sei Dank!« und setzte alsbald kalt hinzu: »Ich konnte es mir wohl denken. Er hatte nicht einmal dazu Kraft genug.« – Verstehen Sie etwas davon? Ich habe mir schon den Kopf darüber zerbrochen, was sie eigentlich damit gemeint haben mag. Doch ich sehe eben, daß Sie fertig sind. Nun, lassen Sie uns denn gehen. – Geben Sie mir den linken Arm.«
Als sie auf der Promenade anlangten, richteten sich Aller Blicke neugierig auf den
bleichen jungen Mann, dessen Duellgeschichte bereits allgemein bekannt war. Als sie
in eine Seitenallee einbogen, standen sie plötzlich vor Lydia, ihrer Mutter und deren
unzertrennlichem Begleiter, dem Hofrath. Vielleicht mochte es gerade in dem scheinbar
Unvorbereiteten und Unerwarteten liegen, daß dies erste Zusammentreffen Lydiens mit
dem Baron weniger peinlich war, als es Beide gefürchtet hatten. Zwar färbten sich
ihre bleichen Wangen plötzlich mit einem zarten Roth, das auch nicht wieder
verschwand. Aber ohne dies Zeichen einer innern Bewegung hätte man nicht vermuthet,
daß durch das Erscheinen Landsfelds irgend eine Veränderung in ihr vorgegangen. Mit
unbefangner Anmuth erwiederte sie die stumme, ernste
»Wir schulden Ihnen vielen Dank« – sagte diese, nachdem sie einige mehr gleichgültige, obwohl hier nicht blos conventionelle Fragen nach ihrem gegenseitigen Befinden gewechselt – »daß Sie auf Gefahr ihres eigenen Lebens den jungen Mann verschonten.«
»Schlagen Sie mein Verdienst dabei nicht zu hoch an« – erwiederte er bescheiden. »Berger war von Leidenschaft verblendet – ich konnte vermuthen, daß er keine sichere Hand haben und wahrscheinlich fehlschießen würde. Die Kräfte waren also ungleich vertheilt. Außerdem wollte ich mein Bewußtsein nicht mit einer That beschweren, deren Erinnerung nur qualvoll sein kann. Ich haßte den jungen Mann nicht, obwohl mir, als ich unmittelbar nach dem Wortwechsel, der die Ursache des Duells war, Ihnen und Ihrer Fräulein Tochter begegnete, seine Verirrung unbegreiflich erschien. Denn ich kannte die Dame, welche ihn so bezaubert hatte.«
»Sie kannten sie?« – fragte Frau von Dornthal in einem Ton, der wie eine Aufforderung
zur weiteren Erklärung klang. Landsfeld warf einen forschenden Blick
»Schon seit mehreren Jahren« – erwiederte er mit ruhiger Unbefangenheit. »Zuerst lernte ich sie in Berlin kennen. Die Richtung, welche damals meine innere Entwicklung genommen, begünstigte den mächtigen Eindruck, den sie auf mich machte. Ich glaubte gefunden zu haben, wonach ich mich schon so lange gesehnt hatte, einen weiblichen Charakter, in dem sich die innerliche Freiheit des Menschengeistes mit der zarten Selbstbeschränkung edler Weiblichkeit zur lebendigsten Harmonie zusammenschlösse, und der Widerspruch zwischen der Ueberwindung aller Schranken des Vorurtheils und des Aberglaubens mit der energischen Aufrechthaltung sittlicher Würde gelöst hätte.« – Landsfeld schwieg.
»Und Sie wurden in Ihrer Erwartung getäuscht?« – fragte mit sichtbar wachsendem Interesse die Forsträthin, die selber einen für die Idealität menschlicher Größe und Würde schwärmenden Sinn besaß.
»Mein Bedürfniß, sie verwirklicht zu sehen, war zu groß, als daß ich nicht jeden sich
allmählig geltend
Landsfeld gehörte zu jenen eigenthümlichen Charakteren, die sich in eine willkührlich erzeugte Vorstellung so hinein zu leben im Stande sind, daß sie den Mitteln, welche sie zur Aufrechterhaltung des Scheins in Anwendung bringen, gegen sich selbst eine Macht einräumen, deren Kraft und Wirkung der der Wahrheit völlig gleich ist. Als er jene Worte sagte, schlug er unwillkührlich die Augen zu Boden und eine flüchtige Röthe bedeckte seine Stirn. Es lag eine solche Wahrheit in dieser scheinbaren Bewegung, daß die Forsträthin seine Hand ergriff und mit Herzlichkeit drückte. Sie glaubte jetzt alles Uebrige zu verstehen, bis auf die Beleidigung der Dame, welche sie sich bisher nur aus einem unedlen Charakterzuge des Barons hatte erklären können. Sie begriff die Bitterkeit, welche nach einer solchen Enttäuschung die Brust eines Mannes, wie Landsfeld ihr erschien, erfüllen mußte, wenn sie auch einen derartigen Ausbruch derselben nicht billigen konnte. Sie wandelten eine Zeit lang schweigend neben einander her.
Landsfeld schien in tiefe Gedanken verloren.
»Ich habe mich noch wegen der unüberlegten Art und Weise zu rechtfertigen, gnädige Frau, mit der ich Ihre Fräulein Tochter auf die Ihnen Beiden bevorstehende Gemüthsbewegung vorbereiten wollte. Daß ich nur die Absicht hatte, Ihre Besorgniß wo möglich zu heben, werden Sie wohl aus der Ungeschicklichkeit, womit ich die Sache anfing, selbst erkannt haben.
Jenes Billet, das ich den Abend vorher zwischen die Blumentöpfe steckte, hatte ich
unter der Bank gefunden, auf welcher der junge Berger mit Frau von Rosen kurz vor
meinem Zusammentreffen mit ihnen gesessen hatte. Ich weiß nicht, welches Gefühl mich
damals zwang, jene Worte auf den Zettel zu schreiben, in den ich das Billet
einwickelte. Es geschah, nachdem ich mich lange Zeit auf den Bergen umhergetrieben,
in dem Augenblicke, als ich an Ihrem Hause vorbei kam. Erst als ich in meiner Wohnung
angelangt war, fiel mir das Unpassende meiner Handlungsweise ein, und ich war eben im
Begriff, wieder umzukehren und den Zettel zu zerreißen, als Berger zu mir kam, um mir
in eigener Person seine Forderung zu überbringen. Da erschienen mir jene, durch den
Augenblick hervorgerufenen Worte wie von einer höhern Ahnung eingegeben
»In der That« – sagte die Forsträthin zögernd, der es peinlich war, diesen Punkt berührt zu sehen, welcher ihr damals einen noch größeren Beweis für die Taktlosigkeit des Barons abgegeben hatte, als seine Beleidigung gegen Frau von Rosen.
»Lassen Sie mich mit einem Worte diese Sache aufklären. Ich wußte Ihren Namen noch nicht, gnädige Frau, da ich erst denselben Morgen angekommen. Berger ging erst gegen eilf Uhr Abends von mir. Erkundigungen konnte ich also nicht mehr erst einziehen. Am andern Morgen um fünf Uhr war das Zusammentreffen auf den Bergen angesetzt. Gesprächsweise erfuhr ich von Berger, den ich unmöglich direct da nach fragen konnte, den Vornamen Ihrer Fräulein Tochter. Sobald er mich verlassen, schrieb ich jenen Brief an Fräulein Lydia und gab ihn am andern Morgen meinem Diener mit dem Befehl, ihn auf der Promenade abzugeben.«
»Gnädige Frau« – erwiederte Landsfeld mit ernster Miene – »es würde mich tief betrüben, sollten Sie das Gefühl, welches mich zu den obigen Aufklärungen gedrängt hat, mit einem Mangel an Discretion und Zartgefühl verwechseln. Auch ohne Ihren ausdrücklichen Wunsch wäre diese erste Erörterung auch die letzte gewesen, da sie nur den Zweck hatte, mein Benehmen in Ihren Augen zu rechtfertigen.«
»Es war nicht meine Absicht, Sie kränken zu wollen« – sagte die Forsträthin mit halb
bittendem Tone. »Nicht ein Mißtrauen gegen Ihr Zartgefühl, Herr Baron, nur die Sorge
gegen meine schon von so vielen Aufregungen angegriffene Tochter trieb mich zu jener
Bitte, die ich indeß sicherlich unterdrückt haben
Der Baron verbeugte sich, zum Zeichen, daß er hierdurch völlig zufrieden gestellt
sei. Und in der That konnte er es auch in anderem Sinne sein. Denn dadurch, daß er
die Mutter Lydiens zu einer Art von Entschuldigung gegen ihn gebracht hatte, war
seine Stellung ihr gegenüber eine in jeder Beziehung selbstständige und freie
geworden. Daß er diese ausgezeichnete Frau richtig beurtheilt hatte, bewies ihm die
ganze Art und Weise, mit der sie ihn behandelte, jene von einem Dritten gar nicht
wahrnehmbare Innigkeit im Tone, wie sie nur zwischen Charakteren möglich ist, deren
gegenseitige Achtung aus einem innern, auf ideeller Sympathie gegründeten Verständniß
stammt. Und doch ist gerade hier die Täuschung am leichtesten. Denn Derjenige, dessen
Herz von idealer Schwärmerei erfüllt ist, und folglich an sich selbst und an die
Wahrheit seiner Empfindung glaubt, ist gegen Trivialität und Schlauheit eben so
sicher gewappnet, als gegen die ideellen Phantasiemenschen schutzlos; denn da er
nicht den Unterschied zwischen der ideellen Wahrheit des Herzens und dem ideellen
Schein der Phantasie verstehen kann, so begreift er auch nicht die Möglichkeit einer
Täuschung durch den letzteren. Landsfeld hatte die
»Ein merkwürdiger Mann« – sagte die Forsträthin, wie in Gedanken vor sich hinsprechend, als sie am Arm ihrer Tochter den Rückweg nach Hause antrat. »Warum lachst Du?« – fuhr sie zu Lydia gewandt fort.
»Ich dachte daran, daß der Doctor schon öfter denselben Ausspruch gethan« – erwiederte diese fast bitter. »Dasselbe sagte er aber auch über Andere.« –
Diese Anspielung auf Frau von Rosen hatte besonders durch den Ton, mit dem sie gemacht wurde, etwas Verletzendes in sich, welches der Forsträthin wehe that. Sie schwieg jedoch, weil sie fürchtete, daß eine Vertheidigung des Barons das Vorurtheil, welches Lydia gegen ihn zu haben schien, nur verstärken möchte.
Am folgenden Tage, als sie Beide die Seitenallee langsam auf und ab wandelten, sagte
nach längerem Schweigen die Forsträthin: »Es ist nun Zeit, liebes
Lydia erschrak über den Entschluß ihrer Mutter, doch, als wenn sie sich selber für diese Bewegung, die sie sich nicht erklären konnte, strafen wollte, sagte sie schnell: »Du hast Recht, liebe Mutter; es ist hohe Zeit, daß wir nach Hause kommen. Es verlangt mich sehr danach. Pr---t hat für mich auch keinen Reiz mehr, seit –«
In diesem Augenblicke kam hastigen Schrittes der Doctor auf sie zu. »Wissen Sie schon, Verehrteste – ein merkwürdiger Mensch – der! – hm! Fataler Zufall!« –
Lydia erschrak abermals, aber sie schwieg.
»Was ist's? Wovon sprechen Sie?« – fragte die Forsträthin. Der Doctor lächelte über
das ganze breite Gesicht, denn er hatte eine Frage zu beantworten und begann mit
pathetischem Tone und in seiner gewöhnlichen abgebrochenen Weise zu erzählen, wie der
Baron gestern Nachmittag trotz seines ausdrücklichen Verbots auf die Berge gestiegen
und bis tief in die Nacht in den Wäldern umhergeirrt. Dadurch sei die
»Das thut mir leid« – bemerkte die Forsträthin – »um so mehr, als wir nun wohl das Vergnügen entbehren werden, ihn noch einmal zu sehen.« –
Lydia befand sich seit mehreren Tagen schon in einer Stimmung, die ihr selbst
unheimlich und drückend war, da sie mit ihrer klaren und tiefen Natur in vollem
Widerspruch stand. Sie war sich selbst ein Räthsel. Dies machte sie unruhig, und, was
ihrem sonstigen Wesen ganz fremd war, launisch. Sie fühlte über Bergers
Handlungsweise jetzt keinen Schmerz mehr, nur wenn sie in einsamen Stunden der
vergangenen Zeit dachte, an ihre Heimath, an die süße Gewohnheit eines vertraulichen
unbefangenen Umgangs mit dem jungen Mann, als sie mit ihrer Mutter nach Berlin
übersiedelt war, an seine Lieder, die er für sie componirt – dann überfiel sie wohl
ein Gefühl der Wehmuth, und ihre Thränen strömten die innere Trauer ihrer Seele aus.
Doch bald überkam sie in solchen Augenblicken eine andere, bittere Empfindung; wie
ein frostiger Hauch durchschauerte ihr Herz der Gedanke an die Zerrissenheit und
Unwürdigkeit
Eines Tages, es war der zweite vor ihrer Abreise, als sie eben von ihrer Morgenpromenade zurückgekehrt waren, klopfte es an der Thüre und Landsfeld trat herein. Sein Arm ruhte noch immer in der Binde und sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich. Auch Lydia erbleichte, und hatte kaum die Kraft, sich vom Stuhle zu erheben. Die Forsträthin lud ihn mit großer Herzlichkeit zum Sitzen ein.
»So sind Sie also noch nicht fort?« – sagte er hastig, indem er tief Athem schöpfte.
»Der Doctor Langhals sagte mir, Sie reisten heute ab. – Sie entschuldigen meinen
Besuch« – setzte er alsbald mit einer so natürlichen Verwirrung über seine Hast
hinzu, daß
»Wir hatten allerdings die Absicht« – sagte sie – »aber theils Furcht für die noch immer angegriffene Gesundheit meiner Tochter –«
»Sie sind unwohl, Fräulein?« – unterbrach sie Landsfeld, indem er sich mit einer Mischung von herzlicher Theilnahme und ernster Zurückhaltung an Lydia wandte. Es waren die ersten Worte, welche er an sie richtete. So allgemein ihr Inhalt war, so vielbedeutend klangen sie ihr durch den Ton, mit dem sie gesprochen wurden.
Sie erröthete sanft, indem sie erwiederte, daß sie sich bereits kräftig genug fühle,
um ohne Gefahr in zwei Tagen die Reise antreten zu können. »Ueberdies« – setzte sie
mit etwas mehr Lebhaftigkeit hinzu – »glaube ich, daß die schädliche Nachwirkung von
Gemüthsleiden durch den Wechsel des Orts an Stärke verliere. Man sagt ja immer, daß
das Reisen zerstreue, und verordnet es sogar als Heilmittel bei Gemüthsleiden.« Das
Letztere sprach sie mit einem Anflug von Bitterkeit im Tone, die jetzt fast immer die
wenigen Gedanken begleitete, welche sie äußerte. Landsfeld war überrascht von dem
hellen Glanz, welcher in diesem Augenblick aus
Landsfeld bemerkte die Wirkung, welche er diesmal wider seinen Willen hervorgebracht. Er wandte seinen Blick von Lydia ab und bemerkte, sich mehr zur Forsträthin wendend, in ruhigerem Ton: »Ich habe mich oft über die Ansicht gewundert, daß man reisen müsse, um sich von seinem Schmerze zu zerstreuen. Aber ist der nicht glücklicher, welcher bleibt, wenn der Geliebte scheidet? gewiß, denn er hat zu Gefährten die mitfühlenden Plätze, die Denkmäler seiner Liebe. Unglücklicher der, welcher scheidet, um an fremdem Orte zu erwachen. Er hat nur sich und seinen Schmerz, in dem er sich ewig spiegelt, in den er, wenn fremde Mißtöne sein Herz zerreißen, zurückflieht, um ihn ewig wieder auf's Neue zu fühlen.«
»Sie haben Recht« – erwiederte Frau von Dornthal – »wenn Sie von einer Trennung sprechen, die durch äußere Umstände oder durch die Gewalt eines Dritten herbeigeführt worden, ohne daß einer der Getrennten selbst daran Schuld ist.«
Der Baron hatte geflissentlich jede Anspielung auf Berger vermieden, und Lydia wußte
ihm Dank dafür. »Ich glaube« – fuhr er daher fort – »daß die Ursache des Schmerzes
für die Wirkung mehr oder weniger
»Jeder geistige Schmerz« – fragte Lydia – »wäre also nach Ihrer Ansicht etwas Edles?«
»Gewiß« – erwiederte Landsfeld. »Wenigstens wird er es mit der Zeit. Er trägt sogar immer einen größeren Adel in sich, als die Freude, möge diese noch so schuldlos und rein sein. Wohl Jeder macht wenigstens einmal in seinem Leben die Erfahrung an sich, daß das schmerzliche Gefühl ein wahres Element unserer geistigen Existenz ist und mit dem Edelsten in unserer Natur harmonirt. Es liegt ein Genuß darin, sich in den Schmerz zu versenken, davon die tiefste Tiefe zu erschöpfen und die bitteren Tropfen mit wehmüthiger Wollust zu schlürfen. Der Schmerz ist das eigentlich geistige Element der Hoffnung oder Erinnerung. Und jeder ideelle, inmaterielle Genuß ist entweder Hoffnung oder Erinnerung. Der Schmerz ist das Flügelschlagen unserer Seele an die Stäbe des Kerkers, die Klage des gefesselten Prometheus, an dessen Leber der Adler frißt; die Rache des unendlichen Ideals an dem beschränkten Menschengeist.«
»Daher kommt es, daß wir weit mehr von den wehmüthigen Zügen eines schönen Gesichts, von der Rührung der Freude, der die Thränen an den Wimpern hangen, angezogen werden, als von dem fröhlichen Anblick eines heiter lachenden Profils. Deshalb dringt das melancholische Moll tief in unsere Empfindung und setzt die innersten geheimsten Saiten unseres Gefühls in nachhallende Schwingungen, während das hüpfende heiter versöhnende Dur nur die Oberfläche unserer Seele durchdringt und mehr unsern Geschmack, als unser Herz befriedigt. Ja, in ganzen Völkern zeigt sich dieser Drang nach dem Schmerzlichen, vorzüglich in der Musik; z.B. bei den Polen, Ungarn, wogegen den Franzosen und Engländern dieser Nationalzug ganz fremd ist.
Woher nun dieser Drang nach dem Wehmüthigen, woher die Furcht vor der Versöhnung?
Woher dieses Gefühl des Erhabenen, Edlen, Idealen im Schmerze und in der Wehmuth,
welche Nicht ist, als der Genuß des Schmerzes. Nur der Mensch ist der Wehmuth fähig.
Das Thier fühlt nur Freude oder Schmerz, im materiellen
Weil der Mensch nur diese ewig mit sich selbst ringende Natur hat. Habe ich also nicht Recht, wenn ich behaupte, daß der Schmerz ein wesentliches Element des wahrhaften Menschenseins ist?
Darum ist er es, weil er etwas Göttliches ist, oder doch aus ihm stammt, nämlich aus dem unendlichen, nie ganz gestillten Drange nach der Freiheit des Geistes. Nie gestillt – darin liegt seine Quelle. Denn die Freiheit ist ein unerreichbares Ideal.
Der Schmerz ist deshalb etwas Göttliches, weil er die Empfindung ist, daß wir nicht Götter sein können, und doch Götter sein wollen. – Er ist das ›Mich dürstet‹ des Gottes, den wir in uns haben, und den wir in uns selbst kreuzigen, weil wir ihn nicht verstehen.«
Landsfeld sagte diese Worte mit dem Ausdruck einer tiefen Trauer auf seinem Gesicht,
als fühle er den Schmerz der ganzen Menschheit selber in seinem Innern wühlen. Lydia
war in eigenthümlicher Bewegung. Als wäre plötzlich ihre bisherige Welt aus ihren
Angeln gehoben und eine andere, unendlichere an ihre Stelle gesetzt, so überwältigend
drangen seine Worte in ihre Seele, so tief erschütterten sie sie bis in ihre letzten
»Ihre Anschauungsweise, Herr Baron, ist mir zwar neu, doch glaube ich Sie vollkommen
verstanden zu haben. Ich gebe Ihnen zu, daß der geistige Schmerz die Seele adelt,
weil er selbst etwas Edles ist. Auch das glaube ich nicht falsch aufzufassen, was Sie
unter der Idealität des Genusses begreifen. Wie Sie aber diese Idealität nur in der
Erinnerung und in der Hoffnung, also immer doch in der Entbehrung, im Mangel finden,
das verstehe ich nicht. Haben Sie nie Augenblicke gehabt, wo sie, von einer durchaus
reinen, edlen Empfindung, oder einem schönen und großen Gedanken durchdrungen, sich
gestehen mußten, daß die Gegenwart und ihr Bewußtsein auch ideelle Genüsse gewähren
könne? – Ist dies aber so, so kann man dem Schmerz wohl nicht allein das Vorrecht
zuerkennen, edler als Empfindungen anderer Art zu sein. Ich meine, daß es
Eben wollte Landsfeld antworten, als der Hofrath Rupf eintrat. »Es ist mir lieb, daß Sie kommen,« sagte die Forsträthin zu diesem – »ich möchte mit Ihnen über unsere Reise sprechen.« Sie führte ihn in's Nebenzimmer, indem sie den Baron wegen dieser Unterbrechung um Entschuldigung bat.
»Ich vermuthe« – sagte dieser lächelnd zu Lydia, indem er das frühere Gespräch wieder aufnahm – »daß Sie in der Vertheidigung der Freude an den idealen Eindruck denken, den eine großartige oder schöne Naturerscheinung auf uns hervorbringt. Aber denken Sie zurück an die Art dieser Eindrücke? Ist es wirklich Freude gewesen, nur Freude, was Sie in solchen Augenblicken erfüllte? Hat kein Gefühl der eigenen Beschränktheit, keine Sehnsucht nach der unendlichen Freiheit diese Freude getrübt? Ich bezweifle es. Je tiefer sich der Blick in die Ferne verliert, je höher er in den ewigen Himmel aufsteigt, desto beklemmter wird die Brust, desto unendlicher die Sehnsucht, die Schranken der Gegenwart zu durchbrechen und sich in die absolute Tiefe zu versenken.«
Lydia dachte an jenen Morgen, an dem sie mit so
»Ich denke nicht, daß diese Entbehrung so groß ist. Denn was liegt zwischen
Erinnerung und Hoffnung? Dasselbe, was zwischen Vergangenheit und Zukunft: die
Wirklichkeit, die Gegenwart. So sagt man, ohne zu bedenken, daß, wenn man anders
unter Wirklichkeit und Gegenwart das Bewußtsein davon versteht, die Wirklichkeit
nicht gegenwärtig und die Gegenwart nicht wirklich ist. Wie die Gegenwart der Punkt
ist, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammentreffen, und der ewig fließt, so ist
die Wirklichkeit der Punkt, in dem sich Erinnerung und Hoffnung berühren. Dieser
Punkt ist aber in der That gleich Null. Alle Gefühle, die unsere Seele rührten, alle
Empfindungen, die unsern Geist erhoben, beziehen sich entweder auf etwas hinter ihnen
oder vor ihnen Liegendes. Und wollte er auch das Gegenwärtige sich zum Bewußtsein
bringen, so wäre
Es lag eine solche Trostlosigkeit in dem leisen und wehmüthigen Tone, mit dem Landsfeld diese Worte sprach, daß Lydia ihre Thränen nicht zurückhalten konnte. Wie erstaunt und erfreut war sie daher, als plötzlich Landsfelds Blicke zu leuchten begannen, und eine edle Begeisterung auf seinem Gesichte glänzte, als er folgendermaßen schloß:
»Aber Eines giebt es, was nicht dem Wechsel erliegt, was weder mit der bloßen Wirklichkeit noch mit der Unwirklichkeit im Widerspruche steht, was man weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft zu suchen braucht: es ist das Bewußtsein dessen, was man will, das Gefühl dessen, was man glaubt, und das Vertrauen zu dem, was man liebt – und die Quelle von diesen dreien: Die Ueberzeugung von der Wahrheit des Guten und Schönen in sich selbst und in denen, die man liebt.«
Er stand bei diesen Worten auf, faßte Lydiens Hand und drückte einen warmen, innigen
Kuß darauf.
Er entfernte sich schnell, als fürchte er bei längerem Bleiben nicht Herr seiner Empfindung zu bleiben.
Als Frau von Dornthal wieder eintrat, fiel ihr Lydia weinend um den Hals.
»Was ist's? Was fehlt Dir, Lydia?« – fragte sie erschreckt.
»O, Nichts, Nichts, theure Mutter. Aber laß uns bald abreisen.«
»Beruhige Dich nur. Morgen gehen wir ganz bestimmt. – Der Baron ist schon fort?«
»Er wollte Dich wohl nicht stören.« – Lydia erröthete über diese erste Unwahrheit gegen ihre Mutter. Denn sie glaubte recht wohl den eigentlichen Grund seines hastigen Abschiedes zu kennen.
Ein feuchter Nordwestwind wehte die ersten gelben Blätter von den Platanen und Linden, welche in zwei Doppel-Reihen jene berühmte Straße Berlins, die vom Opernplatz bis zum Brandenburger Thor sich erstreckt, in eine dreifache Allee verwandeln. Nur wenige Fußgänger ließen sich in der großen Mittelallee erblicken, welche auch sonst meist nur von Spaziergängern und Obstverkäuferinnen betreten zu werden pflegt. Dagegen drängt es sich auf den an beiden Seiten der Häuser hinziehenden Trottoirs von geschäftig Eilenden aller Art, und die Wagen rasselten daneben.
Vor einem der Schaufenster der vielen reich ausgestatteten Kunstläden unter den
Linden hatten sich trotz des unfreundlichen Wetters eine Anzahl Neugieriger
versammelt, die mit emporgerecktem Halse die neuen Kupferstiche
»Das muß sie gemalt haben« – murmelte er vor sich hin. – »Ich kenne ihre Manier. Es ist das Haus unter den Kastanienbäumen mit der Aussicht auf die Berge. Kein Zweifel, daß sie es gemalt hat. So ist sie also wirklich wieder in Berlin. Ich muß suchen, ihre Wohnung zu erfahren.« Er sprach die letzten Worte ziemlich laut und wendete sich zum Weitergehen.
»Wenn Sie Fräulein von Dornthal meinen, so kann ich Ihnen vielleicht dazu behülflich sein« – redete ihn plötzlich ein elegant gekleideter junger Mann mit höchst geistvollen und charakteristischen Zügen an. –
Jener fuhr zurück, als hätte er auf eine Schlange getreten. Seine Hand griff
krampfhaft unter die Falten des Mantels und ein Ausdruck unnennbarer sprachloser Wuth
malte sich in seinem Gesicht. – Ein Paar Secunden starrte er so in die lächelnden
Mienen und das ruhige Auge des Andern, der mit gekreuzten Armen vor ihm stand, um
seine Antwort zu erwarten. Eben öffnete
»Armseliger Thor« – sagte Landsfeld, dem Forteilenden nachblickend, vor sich hin. »Wage es, den Löwen in seinem Lager aufzusuchen.« – Festen Schrittes ging er nach der entgegengesetzten Seite der Straße hinab. Als er das Opernhaus erreicht hatte, blieb er vor dem unter dem Portal ausgehängten Theaterzettel stehen, um zu sehen, was gegeben wurde. »Othello, der Mohr von Venedig.«
Indem er diese Worte in halb fragendem, halb sinnendem Tone langsam vor sich hin sprach, klopfte ihn Jemand auf die Schulter.
»Guten Abend, lieber Baron.« Es war ein hübscher, mit kleinen schwarzen Augen heiter in die Welt hineinschauender Mann, von ungefähr 40 Jahren. »Sie überlegen, wie ich sehe, ob Sie in's Theater gehen sollen. Nun, der Mühe lohnte sich's schon, besonders heute, wo die Rolle der Desdemona und des Mohren – da fällt mir ein, daß heute Salon bei Cornelien ist. Sie wissen, daß ich sonst nie hingehe. Aber wenn Sie von der Partie sind, möchte ich wohl einmal in den sauern Apfel beißen.«
»Halten Sie einen solchen Charakter für möglich?«
»Freilich, es gehört einige Menschenkenntniß dazu, um diese seltsame Person ganz zu ergründen. Ich habe einen gewaltigen Respect vor ihr, obwohl oder vielmehr weil sie mir leider vorzugsweise gewogen ist.«
»Von wem sprechen Sie denn eigentlich, Schattenfrei? Ich verstehe kein Wort davon.«
»Nun von wem anders, als von Cornelien, zum Henker« – setzte er hinzu, als Jener ihn noch immer verwundert anschaute. »Werden Sie nicht auch heute Abend ihren Salon verherrlichen helfen?« – Landsfeld machte eine abwehrende Bewegung. »Schämen Sie sich, Sie fangen wohl auch an, den Sentimentalen zu spielen?«
»Wer wird denn dort sein?« fragte Landsfeld, um doch Etwas zu sagen. Seine Gedanken waren noch bei Desdemona und Lydia.
Schattenfrei nahm seinen Arm. »Ich werde Ihnen das unterwegs erzählen. Kommen Sie nur. Zuerst« – fuhr er fort, nachdem es ihm gelungen war, Landsfeld in Bewegung zu setzen – »Frau von Rosen – fällt Ihnen das auf? Sie ist ja die vertrauteste Freundin von Cornelien.
Sodann Salomo nebst seinem Waffenträger; die
»Berger?« – fragte Landsfeld, durch diesen Namen aus seiner Träumerei emporfahrend. »Wissen Sie das gewiß?«
»Nun ich denke, das versteht sich von selbst, wenn Alice von Rosen da ist.« –
»Weiter haben Sie zu Ihrer Vermuthung keinen Grund?«
»Auch sagte er es mir selbst vor ungefähr einer halben Stunde, als ich ihm im Thiergarten begegnete.« –
»Wahrhaftig?« – lachte Landsfeld höhnisch. »Nun vielleicht hat er seine Meinung bis dahin geändert« –. Er sah nach der Uhr. »Leben Sie wohl,« – fuhr er fort, sich halb mit Gewalt losreißend. – »Ich habe noch vorher einen nothwendigen Gang zu thun.«
»So werde ich Sie doch aber sicher dort treffen?«
»Ja. Aber ich bitte Sie, Nichts davon zu erwähnen. Vielleicht komme ich erst etwas spät.«
»Der ist in kurioser Laune« – sagte Schattenfrei, dem Forteilenden nachblickend. »Er
hat alle Anlage dazu, den Salon heut' zu einem der interessantesten Cirkel zu
machen.« Sich die Hände vor Vergnügen reibend, stieg er in eine Droschke:
»Lindenstraße Nr. 45« –
An einem mit verschiedenen Zeichnenmaterialen bedeckten Tischchen, das ganz in der
Nähe der Balkenthüre stand, saß, dem Baron halb den Rücken zugekehrt, ein junges
Mädchen, das, wie es schien, eifrig mit Zeichnen beschäftigt gewesen war, denn eben
legte sie den Zeichnenstift nieder, lehnte sich zurück an den Sessel
»Könnte ich doch in ihr Herz sehen« – dachte Landsfeld. »Was gäb' ich darum, kennte ich den Gegenstand ihres Nachsinnens.« Er sah jetzt, daß die Balkonthüre nur angelehnt war. Er öffnete sie leise und trat hinein. Das junge Mädchen schien ihn nicht zu bemerken.
»Du wirst Dir die Augen verderben, Lydia« – sagte er mit sanfter Stimme.
Wie von freudigem Schreck erbebend, war sie beim Ton seiner Stimme aufgefahren. Abwechselnd erblassend und erröthend, vermochte sie noch nicht zu antworten. Plötzlich sprang sie vom Stuhle auf.
»Du bist's, mein Richard?« – Sie flog an seinen Hals und preßte einen glühenden Kuß auf seinen Mund. Aber als schäme sie sich selbst wegen ihrer Leidenschaftlichkeit, fuhr sie, einen Schritt zurücktretend, mit vor Bewegung zitternder Stimme fort: »Wie kannst Du mich so erschrecken, Richard! Du weist ja, wie mich das angreift.«
»Sei nicht böse, mein liebes Kind« – erwiederte er liebevoll, indem er sie an seine
Brust zog und,
»Aber ich bitte Dich, Lydia« – fuhr er fort – »nicht mehr so spät zu zeichnen. Du mußt Deine Augen mehr schonen – für mich« – setzte er leise hinzu. »Versprich es mir!«
»Ich verspreche es Dir, Richard. – Ich war so sehr einsam und wußte nicht, was ich anfangen sollte. Denn wenn ich spiele, werde ich immer traurig und möchte weinen.«
Landsfeld zuckte mit der Hand. Er dachte an Berger, mit dem Lydia oft zusammen gespielt und gesungen. Er war zu stolz zur Eifersucht – wenigstens glaubte er es zu sein. – Aber in solchen Augenblicken tauchten alle Zweifel wieder in seiner Seele auf und machten ihn hart und ungerecht gegen die Geliebte. Ja er freute sich selbst über diese Härte, denn sie war ihm Bürge dafür, daß er seine Selbstständigkeit noch nicht eingebüßt. Seine Stimme hatte ihre Sanftheit ganz verloren, als er, Lydia zum Sopha führend, sagte: »Traurig? Warum bist Du traurig? Du hast Anlage zur Sentimentalität, glaube ich.«
Nichts schärft den Instinkt der Beobachtung mehr,
»Du magst Recht haben, Richard, ich bin ein thörichtes Mädchen. Aber wenn ich erst immer mit Dir lebe, dann werden diese albernen Launen, die Dich ärgern, ganz verschwinden.«
Landsfeld verstand entweder den Zwang, den Lydia sich anthat, um heiter zu scheinen und den er wohl herausfühlte, wirklich anders, oder er wollte ihn gegen seine bessere Ueberzeugung anders verstehen, weil sie doch möglicherweise einen andern Grund dazu haben konnte. Dem äußern Anschein nach, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, in der That aber, um jenem Grunde nachzuspüren, sagte er in gewöhnlichem Conversationstone: »Rathe einmal, wem ich heute begegnet bin? Ein alter Bekannter von uns, besonders von Dir.« –
Sie sann vergebens nach.
»Der junge Berger« – fuhr er in demselben Tone fort, indem er Lydien forschend ansah.
»Berger!« – stammelte sie erschreckt, indem sie das Gesicht mit den Händen bedeckte.
»Warum erschrickst Du darüber so?« –
Lydia antwortete nicht, aber ein krampfhaftes
»Antworte mir, Lydia« – bat er mit seinem frühern sanften Ton, indem er sie näher zu sich zog. »Was fürchtest Du von ihm?«
»Ach, Richard« – sagte sie weinend – »Wenn ich nur wüßte, woher dieser fürchterliche Widerspruch in Dir. Du ahnst nicht die Qualen, welche mich verzehren, wenn Du so anders bist, als sonst, so fremd Deinem eigenen Wesen. Mir ist zuweilen, als zweifeltest Du an meiner Liebe. Mein Gott, Richard! Du weißt ja, daß ich nur Dir gehöre, Dein Geschöpf bin, denn Du hast mein ganzes Inneres wie durch ein Zauberwort umgeschaffen.« Wie selbst erschreckend vor dem, was sie jetzt sagen wollte, fuhr sie leise fort: »Manchmal glaube ich sogar, daß Du mich nicht liebst. Denn wie könntest Du sonst zweifeln an meiner Liebe?
Richard, wäre das nicht schrecklich? – Aber nein, nein, verzeih mir, Geliebter. Ich glaube an Deine Liebe. Denn glaubte ich nicht mehr daran« – – Sie riß sich aus seinen Armen los und sprang auf.
»Nun?« – fragte er, über ihre fast drohende Stellung erstaunt.
»Dann würde ich an Nichts mehr glauben, denn
Sie sprach diese Worte mit vollkommener Ruhe.
Landsfeld war von der tiefen Wahrheit, welche in dieser Ruhe lag, tief erschüttert. Mit schwer verhaltener Leidenschaft ergriff er ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. – Mit einem seelenvollen Lächeln blickte sie auf ihn herab. Die Gewißheit seiner Liebe kehrte wie ein neuer Frühling in ihre Brust ein.
»Du bist ein böser Mann, Richard,« sagte sie, sich wieder an seine Seite niederlassend. »Warum quälst Du mich so grausam?« –
Er antwortete nicht. Mit einer Heftigkeit, die sie an ihm noch nicht gekannt, zog er sie an sich. Sie war zu glücklich, als daß sie seinen Küssen, deren Glut sie auf ihrem Nacken und auf ihrem Gesichte fühlte, zu wehren versucht hätte, aber sie zitterte in seinen Armen. »Richard,« – stammelte sie endlich mit leisem Vorwurf: »Dein Athem fiebert.« – Als er, seine Gefühle niederkämpfend, wieder ruhiger geworden war, fuhr sie fort:
»Ist es wirklich wahr, daß Du Berger begegnet bist, Richard?«
»Ja, es ist wahr. Ich traf ihn vor Deinem Bilde, das er aufmerksam zu studieren schien.«
Er erzählte ihr sein Zusammentreffen mit ihm und fuhr dann fort: »Aengstige Dich nicht, theures Kind. Er ist viel zu feig, um wirklich Etwas zu wagen.«
Lydia schien worüber nachzusinnen. Endlich sagte sie: »Erkläre mir, Richard, woher es kommt, daß der Gedanke an ihn mich immer wieder mit einer mir sonst ganz fremden Bitterkeit erfüllt, obwohl es mir doch schon damals, als ich Dich im Park erblickte, klar war, daß ich ihn nicht liebte, weil ich erst in jenem Augenblicke überhaupt zu ahnen begann, was Liebe sei. Also woher noch immer jenes Gefühl der Bitterkeit, wenn ich seinen Namen höre?« Sie sah bei diesen Worten offen und mit kindlichem Vertrauen zu ihm empor.
»Vielleicht daher, daß er Dir durch seine Verirrung den Glauben an die idealen Träume der Jugendzeit geraubt.«
»Ich weiß nicht, ob das der Grund ist. Vielleicht kommt es auch daher, weil mir sein ganzes Wesen zu wenig männlich und energisch erschien. Denn glaube mir, Richard,« fuhr sie mit wichtiger Miene fort, »ein liebendes Weib läßt sich von einem selbstständigen Mann lieber quälen, als von einem unselbstständigen liebkosen.«
»Du bist eine kleine liebenswürdige Philosophin, Lydia« – lächelte Landsfeld
gutmüthig, indem er einen
»Mein Gott, wie konnt' ich das vergessen« – rief sie erschreckt, indem sie, schnell aufspringend, der Aufforderung Genüge leistete. »Du weißt noch nicht, Richard,« fuhr sie darauf von ihrer Mutter sprechend fort, »daß der Arzt die beste Hoffnung giebt. Sie ist heute wieder aufgestanden und ein wenig im Garten spazieren gegangen, so lange die Sonne schien. Jetzt ruht sie in ihrem Zimmer. Ich will gleich einmal nachsehen.« Sie hatte indeß die Lampe angezündet und schlich, leise die Thür zum Nebenzimmer öffnend und die Hand vor das Licht haltend, damit der Schein nicht so blendend sei, auf den Zehen hinein. – Bald kam sie zurück.
»Sie schläft noch« – sagte sie flüsternd, indem sie die Lampe auf den Tisch vor dem Sopha stellte. »Ich will Dir nun auch zeigen, wie fleißig ich gewesen bin.« Mit diesen Worten trug sie aus ihrem Pult ein Paar Mappen herbei und öffnete sie.
»Jetzt muß ich aufbrechen« – sagte Landsfeld, nachdem er eine geraume Zeit ihre Zeichnungen besehen, gelobt und getadelt hatte.
»Es ist halb zehn Uhr, – Lydia. Hast Du« – fuhr er nach einer Pause fort, »mit Deiner Mutter gesprochen?«
Sie erröthete leicht. »Sie will durchaus, daß es in nächster Woche sein soll; ihr Unwohlsein sei zu gering, um ein Hinderniß abzugeben, meint sie; und der Gedanke, daß sie dadurch unser Glück verzögere, mache sie nur noch kränker.«
»Du hast eine vortreffliche Mutter, Lydia« – sagte Landsfeld.
»Ach, ich weiß es, Richard. Sie ist unendlich gut; ich verdanke ihr und Dir Alles, was ich bin.« Als wolle sie ihre Rührung verbergen, fuhr sie, durch die Thränen lächelnd, fort: »Ich überlasse es Dir, Richard, den Tag zu bestimmen. Ich bin, Du weißt es ja, bereit zu Allem.« Sie umschlang seinen Hals.
»So werde ich Dich Morgen abholen, mein Herz, um Dir unsere neue Wohnung zu zeigen.«
»Ach, wie freue ich mich auf unsere Wohnung, Richard« – sagte sie, das Wort mit einem
gewissen Pathos wiederholend. – »Leb' wohl, mein Richard. Leb' wohl.« Sie begleitete
ihn noch bis zum Pferde, das ungeduldig den Boden mit den Hufen aufscharrte.
Als er an seiner Wohnung anlangte, schloß sich ihm Carl an, der schon seit einer Stunde gewartet hatte. In schnellem Trabe ritten sie durch das Thor in die Stadt ein und hielten nach einer Viertelstunde vor einem großen Hause in der Lindenstraße still.
»Führe die Pferde zum Hôtel d'Angleterre und bestelle das Zimmer Nr. 19., oder wenn das besetzt sein sollte, Nr. 20. für mich« – befahl er. »Wenn es geschehen, so benachrichtige mich davon.« Nach diesen Worten sprang er schnell die Treppe hinauf.
Fräulein Cornelia von Hohenhausen empfing ihn im höchsten Staate und mit aufrichtiger Freude, da sie in einen Gedanken alle die Verwicklungen und Verwirrungen zusammenfaßte, welche das Erscheinen des Barons hervorbringen konnten.
»Ich habe eben eine heftige Philippika gegen Sie gehalten, mein Verehrtester. Sie werden sich über die verlegenen und erstaunten Visagen wundern, die Ihnen sogleich entgegen treten werden.«
Sie wandte sich an die Gesellschaft. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen einen meiner ältesten und vertrautesten Freunde vorstelle. Es ist der Baron von Landsfeld.«
Der sogenannte Salon, in den Landsfeld hiermit wieder eingeführt war, bestand aus zwei aneinanderstoßenden elegant möblirten Zimmern, von denen das erstere größere durch ein Paar schöne Astrallampen sehr hell erleuchtet war, während das zweite vermittelst einer rothen Ampel in ein magisches Halbdunkel versetzt wurde. In Beiden hatten lebhafte Conversationen stattgefunden, die durch das Erscheinen des Barons ein paar Minuten unterbrochen, aber nicht gestört wurden.
Landsfeld warf einen raschen Blick über die Gesellschaft und wandte sich dann an eine Gruppe, aus jüngeren und älteren Männern bestehend, die sich um den Ofen postirt hatten.
»Und worin finden Sie die Unsittlichkeit, ich bitte Sie? Etwa darin, daß sie die Ehe nur als etwas Aeußerliches betrachtet, da sie einmal officiell dazu gezwungen ist?« – sagte ein Mann von etwa 35 Jahren mit interessanten, aber verlebten Zügen.
»Gewiß« – antwortete sein Gegner, in dem
»Unter der Bedingung, daß sie nach ihrem Instinkt handelt und in ihrer Empfindung Wahrheit ist« – fügte Landsfeld hinzu.
»So wäre Ihr Ideal etwa eine Isabella oder Lola?« – fragte Jener.
»Ob das mein Ideal wäre, ist gleichgültig« – sagte Landsfeld kalt. »Aber für
sittlicher, als manche andere, über sie die Nase rümpfende, halte ich die Beiden
allerdings. Ich möchte noch mehr behaupten« – fuhr er, seine Stimme erhebend, fort. –
Denn er hatte in einer Fensternische des halb dunklen Nebenzimmers zwei Gestalten
bemerkt, deren eine er als Cornelia erkannte, während die andere große Aehnlichkeit
mit Berger zu haben schien. »Alle Gegensätze sind reiner und tadelloser, als die
sogenannten Mittelstraßen, mit denen sich nur die Dummen oder die Heuchler begnügen
»Sie wissen, theurer Freund, daß wir in allen Dingen sympathisiren.« – Sie lachte. Landsfeld ebenfalls und fuhr fort:
»In der weiblichen Natur findet dasselbe Verhältniß statt.«
»Wollen Sie dies Verhältniß nicht durchführen?« – bemerkte die Sängerin G----z, eine
feine
»Von Herzen gern. Nur müssen Sie mir eine böse Angewohnheit zu gute halten, die nämlich, daß ich zuweilen stark individualisire.«
»So wird Ihre Vergleichung desto pikanter werden« – erwiederte sie muthig.
Landsfeld lächelte. »Es giebt manche Frauen, bei deren erstem Anblick man bewundernd
ausruft: Es giebt nichts Schöneres, nichts Verführerisches. Aber eine Schönheit, die
verführt, ist keine reine, ist eine Unnatur. Es liegt allerdings etwas Dämonisches,
darum Unwiderstehliches in diesem prunklosen Glanz, in dieser flammenden, eleganten
Einfachheit, in dieser frivolen Bescheidenheit und raffinirten Unschuld. Eine simple
jugendliche Landdirne, deren Herz jungfräulich ist, und deren Gedanken keusch sind –
und eine Priesterin der modernen Mylitta mit unverhülltem Busen und kurzem Rock –.
Das sind Extreme, es ist wahr; aber jede zeigt wenigstens, was sie ist, sie
verheimlichen nichts, die Eine, weil sie nichts zu verheimlichen hat, die Andere,
weil sie nichts verheimlichen will. Denn auch das Verbrechen hat seinen Stolz. Es ist
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in Beiden. Engel und Teufel. Gut, aber wenn der Teufel
–
Landsfeld hatte durch diese Standrede sich vielleicht ein Paar Feinde mehr in der Welt erworben, aber er machte sich nichts daraus. Indessen war eine dampfende Bowle aufgetragen worden. Man sammelte sich um den ovalen Mahagonytisch, der vor dem mit dunkelgrünem Sammet überzogenen geschmackvollen Rockokosopha stand. In diesem Augenblicke wurde Landsfeld abgerufen. Es war Carl, der ihn von der Ausrichtung seines Auftrags unterrichten wollte. Als Carl ihm referirte, daß Nr. 19. schon bestellt gewesen sei, sagte Landsfeld zu sich: »Ich dachte es mir wohl, – aber Nr. 20.« –
»Ist für Sie reservirt.« –
Als der Baron wieder eintrat, war bereits die ganze Gesellschaft um den Tisch
versammelt. Auch Berger hatte seine Fensternische verlassen, und neben Alicen Platz
genommen. Der junge Musiker sah geisterhaft bleich aus. Seine frühere Frische der
Farbe und jugendliche Fülle war fast ganz verschwunden. Landsfeld machte ihnen, als
er bei ihren Plätzen vorbeikam, eine höfliche Verbeugung, die von Seiten Alicens
durch ein unbefangen freundliches Nicken, von Seiten Bergers durch eine halb
verlegene, halb zornige Wendung des Kopfes erwiedert
»Herr Assessor Tieftrunk ist, wie ich mit Bedauern bemerkt habe, heute nicht hier« – sagte er mit einschmeichelndem Tone. »Oder kommt er vielleicht noch später?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen,« – erwiederte sie kalt, aber freundlich. – »Ich glaube jedoch nicht.«
»Darf ich in diesem Falle um die Erlaubniß bitten, Sie nach Hause zu geleiten?« fragte er mit Herzlichkeit.
Sie erröthete. »Sie sind zu gütig, Herr Baron. Ich habe mich bereits versagt.« Fast
hätte sie hinzugesetzt »leider,« aber ein halber Blick auf Berger setzte ohnehin den
Baron sogleich von der Lage der Sache in Kenntniß. Er beschloß einen neuen Sieg über
seinen ehemaligen Gegner zu feiern. Doch gab es noch einen
»Sie werden mich für verwegen halten« – fuhr er mit leiser Stimme, aber mit einer Intensität im Tone, die ihre Wirkung auf das erregbare Temperament der schönen Sängerin nicht verfehlte, fort, indem er seine Hand, an der ein feuriger Rubin strahlte, auf die Sophalehne legte – »wenn ich dennoch die Ueberzeugung ausspreche, daß Sie mich zu Ihrem Begleiter erwählen werden.«
Es lag eine solche Sicherheit in dem, was er sagte, und zugleich eine solche Zartheit in dem, wie er es sagte, daß sie einen Augenblick in Verlegenheit gerieth. Vielleicht trug selbst der Umstand, daß er ihr zu trotzen gewagt, dazu bei, ihm seinen Sieg zu erleichtern. Eben öffnete sie die Lippen, um ihm zu antworten, als Alice, ihr bis zum Rande gefülltes Glas erhebend, die Gesellschaft folgendermaßen anredete:
»Meine Herren und Damen! Es ist so vielfältig und auch heute in unserm Kreise schon
öfters von dem wahren Wesen der Frauen-Emanzipation gesprochen worden, ohne daß man,
wie es mir schien, eigentlich darüber klar gewesen, weder wozu die Emanzipation
diene, noch wozu man darüber spricht. Erlauben Sie mir hierbei die Bemerkung, daß
gerade der männliche Theil der
Ein allgemeiner Jubel folgte diesen mit sanfter Stimme und jenem melancholischen Pathos, der Alice eigen war, vorgetragenen Worten. Nachdem der Sturm des Beifalls durch Leerung der Gläser etwas beschwichtigt war, fuhr sie in demselben Tone fort:
Das ist mein Wahlspruch, meine ganze Philosophie. Es würde mir ein Vergnügen machen, diesen Satz zu vertheidigen, wenn sich ein Angreifer fände.« Sie setzte sich. Nach einigen Sekunden, während welcher die bisher beobachtete Stille nicht unterbrochen wurde, erhob sich jener Mann mit interessanten Zügen, in dessen Gespräch mit Schattenfrey sich Landsfeld gemischt hatte.
Landsfeld konnte beim hellen Schein der Lampen die Züge dieses Mannes deutlicher
beobachten. Es war
»Wenn ich Sie recht verstehe, so wollen Sie sagen, daß das Weib nur wahrhaft lieben kann, wenn und in so fern es frei ist, und nur dann wahrhaft frei ist, wenn es liebt.«
»Ja; – doch unter der Bedingung, daß Sie unter der Freiheit nicht blos Freiheit, das heißt Unbeschränktheit in der Empfindung, sondern Freiheit überhaupt, sociale Freiheit begreifen.«
»Was nennen Sie sociale Freiheit?«
Alice dachte einen Augenblick nach: »Freiheit der Individualität« – sagte sie endlich. »Vergessen Sie nicht, daß wir von der Emanzipation der Frauen sprechen. Aber selbst ganz im Allgemeinen genommen, läßt sich diese Erklärung rechtfertigen. – Das wahrhaft Menschliche muß überall triumphiren. Daß es nicht so ist' liegt in der Verkehrtheit unserer socialen Verhältnisse.«
»Vielleicht läßt sich jene Erklärung eben deshalb nicht auf Frauen-Emanzipation anwenden, weil sie zu allgemein ist. Denn mir scheint in der Forderung, die weibliche Individualität zu emanzipiren, ein Widerspruch zu liegen.«
»So meinen Sie also, daß das Weib dazu verdammt
»Nicht Herrschsucht der Männer, sondern die Natur« – erwiederte er ruhig.
»Das sagen Sie, aber ich fordere einen Beweis. Ist das Weib etwa weniger Mensch als der Mann, bildet es etwa eine Zwischenstufe zwischen Mensch und Affe. Freilich, die Männer möchten es gern so darstellen.«
»Der Mann hat seine Schranke, das Weib die seinige; und in beiden Fällen führt die Natur den Beweis am deutlichsten beim Weibe.«
»Oh, ich ahne, was Sie sagen wollen. Aber ich finde darin keinen Beweis. Denn daß diese Schranke überwunden werden kann, zeigen Beispiele genug.«
»Alle Schranken können, wenn auch nicht überwunden, so doch durchbrochen werden, auch die Schranken der Natur. Aber zeigt sich der Barbar als ein Meister des Kunstwerks, wenn er es zerschlägt?«
»So beantworten Sie mir die Frage, woher es kommt, daß gerade die edelsten
gebildetsten Frauen die sogenannte Pflicht des Weibes am meisten vernachlässigen?
Nach ihrer Ansicht wäre ein recht kräftiges Landmädchen, wenn es ›die Pflichten der
Gattin und Mutter‹ nur recht treu erfüllte, und den Kochlöffel und das
Ein allgemeines Gelächter belohnte sie für die argumentatio ad hominem, welche ihr einen vollkommenen Sieg errungen hatte.
Denn Frauen können im Streite mit Männern nur dann siegen, wenn sie entweder auf ihr »Gefühl« sich berufen oder aber, wenn sie hierzu zu stolz sind, ihren Gegner lächerlich machen. Das Letztere ist jedenfalls das Sicherste, weil diese Waffe nicht gut gegen sie selbst gekehrt werden kann. Alice hatte ihren Gegner allerdings zum Schweigen gebracht; aber ein kaltes, bitteres Lächeln, woraus neben dem Bewußtsein seiner Ueberlegenheit noch die Ironie über die Art seiner Niederlage hervorleuchtete, schwebte auf seinen Lippen, als er, sich tief verbeugend, sprach: »Ich erkenne mich für überwunden.«
»So werde ich Ihren Kampf fortsetzen« – sagte plötzlich Landsfeld, der, bisher mit der schönen Sängerin beschäftigt, der Unterhaltung gar keine Aufmerksamkeit gewidmet zu haben schien.
»Und ich den Ihrigen« – nahm Berger, zu Alicen gewendet, das Wort.
»Dann muß ich meinen Vorsatz aufgeben, denn
Berger erblaßte. »Wie verstehen Sie das, Herr Baron?« fragte er in leidenschaftlicher Aufregung?
»Ich fürchte einen Kampf mit Ihnen.« – Er lächelte zweideutig. »Sie müssen das aus Erfahrung wissen. Ich bitte Sie, mich zu schonen, schon aus Gegengefälligkeit.«
Berger schwieg, aber die ohnmächtige Wuth, welche, im Gegensatz zu Landsfelds kalter Ruhe, aus seinem krampfhaft verzogenen Gesicht sprach, hatte die ganze Gesellschaft hinlänglich über die tiefe Feindschaft, welche zwischen diesen beiden Männern herrschte, aufgeklärt, und eine allgemeine Verstimmung hervorgebracht. Man theilte sich wieder in Gruppen.
»Sie sind ein fürchterlicher Mensch« – sagte die Sängerin, welche mit Erstaunen diesem kurzen Wortwechsel zugehört. »Was hat Ihnen der arme Mensch gethan, daß Sie ihn so demüthigen?«
»Er hat es gewagt« erwiederte Landsfeld ausweichend, mit verführerischem Lächeln ihre Hand küssend – »seine Blicke auf Sie zu werfen. Das verdient noch weit härtere Züchtigung.«
»Sie sind ein Heuchler« – sagte sie halb zornig, halb geschmeichelt.
»Ich weiß es nicht. Es ist ein göttliches Weib. – Aber dieser Mensch, ist er nicht mein böser Genius? Tritt er mir nicht überall in den Weg, wo ich im Begriff bin, mein Ziel zu erreichen? Auch Alice« –
»Lassen wir das ruhen. Sie wissen, daß ich ihn Ihretwegen hasse, mehr als je. – Wann werden Sie zurück sein?«
»Kann man das Glück nach Minuten berechnen? Ich weiß es nicht.«
»Wenn Laura nun aber ihre Meinung geändert hätte? Wenn Landsfeld –« fragte sie leise.
»So ermorde ich ihn in ihren Armen,« sagte er flüsternd, aber vor Wuth zitternd.
»Das werden Sie nicht thun. Auch hülfe es uns nichts. Kennen Sie keine süßere Rache? denken Sie an Lydia?« –
»Sie haben Recht. Ich werde mich bezwingen. – Betrachten Sie diese Koketterie, diese lüsternen Blicke« – fuhr er fort, mit dem Blicke auf Landsfeld deutend, der zwei Schritte weit von ihnen sich auf die Lehne des Sessels stützte, worauf Laura in verführerischer Stellung saß.
»Jetzt ist der Augenblick gekommen« – flüsterte
Die Sängerin wandte ihren schönen Kopf nach Berger um und winkte ihn zu sich. Er setzte sich neben sie. »Sie werden böse sein, Arthur« – sagte sie leise – »aber ich fordere vor Allem Vertrauen von Ihnen.« – Er schwieg. »Sie können mich heute nicht begleiten,« – fuhr sie, durch sein Schweigen in Verlegenheit und durch diese Verlegenheit in Zorn gesetzt, fort. Er wollte aufstehen. »Bleiben Sie. Sein Sie kein Thor, Berger. Ich habe wirklich einen triftigen Grund, den ich Ihnen morgen mittheilen werde.«
»Ich zweifle nicht an der Triftigkeit Ihrer Gründe« – sagte er bitter. »Laura« – fuhr er nach einer Pause, seinen Ton verändernd, fort – »seien Sie barmherzig, haben Sie Mitleid mit mir! Sie werden mich zur Raserei bringen.«
Sie zog den Shawl, der ihr von den Schultern gefallen war, fest zusammen.
»Es hilft Ihnen nichts« – flüsterte Berger, der diese unwillkührliche Bewegung
verstand. – »Ein Blick aus Ihrem Auge ist hinreichend, um mich in eine Hölle von
Sehnsucht und Verlangen zu stürzen.« Er ergriff
»Es kann nicht sein, Arthur, wirklich nicht. – Glaubst Du denn, daß es mich keine Ueberwindung kostet, zu entsagen?«
Berger ließ in tiefer Muthlosigkeit den Kopf sinken. »Wohl« – sagte er, wie zu sich selbst sprechend – »es wäre auch zu viel Seligkeit gewesen. Ein Wahnsinniger nur konnte das für möglich halten.«
Sie hatte wirkliches Mitleid mit ihm, aber die Wurzeln, welche das Mitleid in ihr trieb, verdrängten die, welche die Leidenschaft für den jungen Mann darin geschlagen hatten. Jetzt hatte sie nur noch ein Gefühl von peinlicher Befangenheit, und den Wunsch, dieser unangenehmen Scene bald ein Ende zu machen.
Landsfeld ahnte ihre Stimmung. Mit großer Leichtigkeit und liebenswürdiger Courtoisie trat er heran und bot ihr seinen Arm. »Wenn's Ihnen jetzt gefällig ist, mein Fräulein, so gehen wir« – sagte er, ohne Berger eines Blickes zu würdigen.
Cornelia nahm ihre Stelle ein.
»Nun, habe ich Recht gehabt?« fragte sie leise.
Berger saß noch immer in der zusammengeknickten Stellung, als hätte er die Entfernung Laura's gar nicht bemerkt. Durch den Ton Corneliens aufgeschreckt, blickte er sie plötzlich wild an, und flüsterte ihr in's Ohr: »Und ich darf ihn wirklich nicht ermorden?«
»Und Lydia?« – fragte sie in derselben Weise.
»Sie haben Recht!« er stand auf und wollte forteilen, als Alice auf ihn zutrat mit der Frage, ob er sie begleiten wolle.
»Ich habe Dir etwas Wichtiges mitzutheilen« – sagte sie. Er zeigte sich bereit. »So komm!«
In wenigen Minuten hatte die ganze Gesellschaft den Salon verlassen, um sich nach Hause zu begeben.
In einem kleinen, aber mit orientalischer Pracht ausgestatteten Zimmer finden wir nach einer Stunde Landsfeld wieder. Er saß auf einem niedrigen Divan, an der Seite Laura's, die in reizendem, aber ziemlich ungeordneten Negligée darauf ausgestreckt lag, und spielte mit ihren seidenen Locken. Ihr voller und blendend weißer Arm ruhte unter ihrem Haupte, das in träumerischem Ermatten zurückgesunken war.
»Sie sind schläfrig, Laura« – sagte Landsfeld. – »Es wird Zeit sein, daß ich Sie verlasse.«
Sie öffnete die halbgeschlossenen Augen und lächelte. »Noch einen Kuß, mein
Geliebter« – sagte sie leise, ihren linken Arm um seinen Hals legend. Er bog sich zu
ihr nieder und küßte sie. »Dein Athem ist glühend wie das Wehen des Sirokko,
Geliebter,« sagte sie, indem
»Sagen Sie mir nur noch Eins, Baron. – Aber die Wahrheit. Trieb Sie nur die Lust dazu, über Berger einen Sieg davon zu tragen, daß Sie mir Ihre Begleitung anboten?« – Sie sah mit ihrem großen Auge tief in das seinige.
Nach einer Pause erwiederte er: »Ich will aufrichtig sein, Laura. Anfangs allerdings. Aber es war nicht der einzige Grund. Ich hatte Sie gekränkt, absichtlich gekränkt, und dazu hatte ich kein Recht. Deshalb näherte ich mich Ihnen. Später aber war es weder das Erste, noch das Zweite, sondern Etwas, was ich seit langer Zeit nicht mehr gekannt: Wärme der Empfindung. Ich bin Ihnen dankbar dafür, Laura, daß Sie mich wieder mit der Liebe versöhnt haben.«
Sie lächelte. »Es ist gut, daß Sie aufrichtig waren. Mehr hiefür, als für die Wärme, als deren Urheberin Sie mich darstellen wollen, will auch ich mich dankbar erweisen.« – Mit geheimnißvoller Stimme fuhr sie fort: »Nehmen Sie Lydia in Acht!«
Er erschrak. Wie kam dieser Name in dieses Zimmer?
»Es ist etwas im Werke gegen sie.« –
»Berger! und noch Jemand, den ich nicht kenne.«
Landsfeld sann einen Augenblick nach. Dann küßte er herzlich ihre Hand und sagte mit einer Innigkeit, zu der ihn die schöne Sängerin durch ihre süßesten Liebkosungen nicht hatte bringen können: »Das vergesse ich Ihnen nie, Laura. – Leben Sie wohl.«
Sinnend ruhte ihr Blick noch einige Minuten auf der Stelle, wo er gestanden. »Ich möchte das Mädchen kennen lernen, das einen solchen Mann so erfüllen kann« – sagte sie halblaut, indem sie aufstand, um sich zur Ruhe zu begeben.
Landsfeld eilte nach dem Gasthofe. »Wenn es nur nicht zu spät sein wird« – dachte er. »Sollte Alice wirklich so niedrige Gesinnung haben? Ich kann es nicht glauben. So wenig Herz sie hat, so viel Edelmuth und hohen Sinn traue ich ihr zu. – Aber wer sollte es sonst sein? – Berger fürchte ich nicht. Doch diese Frauen führen selbst den Teufel an, wenn sie es darauf anlegen.«
Während dieses Selbstgesprächs hatte er den Gasthof erreicht. Schnell ließ er sich
den Schlüssel zu seinem Zimmer geben. Jede Begleitung zurückweisend, nahm
»Sollten sie ein anderes Zimmer gewählt haben?« fragte er sich, weil sich nicht das geringste Geräusch hören ließ. »Oder sollten sie mein Kommen gehört haben?«
Nach einiger Zeit schien es, als ob in dem Nebenzimmer eine weibliche Stimme flüsterte. Landsfeld behielt ruhig seinen Platz.
»Ich begreife Deine Verzweiflung vollkommen« – sagte die Stimme, »und finde sein Betragen grausam und unedel obendrein. Aber giebt Dir das ein Recht, auch grausam und unedel zu sein? Und gegen wen? Gegen ein Wesen, das an der ganzen Sache völlig schuldlos ist. Nein, Arthur, das ist Deiner unwürdig.«
»Nenne mir ein anderes Mittel« – erwiederte eine dumpfklingende männliche Stimme – »so will ich es mit Freuden ergreifen. Wo ist dieser Mensch zu verwunden? Ich kenne keine Stelle als diese. Und dann, ist sie gegen mich nicht auch grausam gewesen? Hat sie mich nicht von sich gestoßen, als ich verzweifelnd zu ihren Füßen lag?«
Eine lange Pause trat ein. Dann sagte die männliche Stimme: »So willst Du also nicht die Hand dazu bieten?«
»Nein!« –
»So leb' wohl! – Doch noch Eins. Du wirst uns nicht verrathen?«
»Uns?« –
»Mich – wollt' ich sagen.«
»Das hängt von den Umständen ab. Aber ich werde Euern oder Deinen Plan vereiteln.« –
Er schlug ein lautes Gelächter auf: »Gieb Dir keine Mühe. Es wird Dir zu Nichts helfen. – Leb' wohl!« –
Landsfeld hörte eine Thüre öffnen, schließen und von Innen verriegeln. Männliche Schritte erschallten auf dem Korridor – die Treppe hinab – die Hausthüre öffnete sich – dieselben Tritte tönten von der Straße herauf – dann ward's still. –
Landsfeld erhob sich und öffnete einen Kleiderschrank,
»Alice« – sagte er sanft.
Erschreckt hob sie den Kopf und sprang, als sie die verhüllte männliche Gestalt erblickte, mit einem Satz empor, indem sie einen raschen Griff in ihren Busen that.
»Laß ihn stecken, Alice« – er meinte den Dolch, den Alice stets bei sich zu tragen pflegte – »hast Du den Ton meiner Stimme schon vergessen?« –
»Das will ich Dir ein anderesmal erzählen. Jetzt hab' ich etwas Wichtigeres. Berger war bei Dir. Was beabsichtigt er?«
»Wenn Du weißt, daß er bei mir war, so wirst Du auch wissen, was er mir davon gesagt hat.« –
»Nein, ich bin erst vor wenigen Minuten zurückgekommen und habe nur das Ende Eures Gesprächs gehört. – Was beabsichtigt er? – Warum antwortest Du nicht?« –
»Weil ich nicht will. Du täuschest Dich in mir, Richard, wenn Du glaubst, ich sei ein Weib, wie andere Weiber, und zu lenken, wie sie. Habe ich Verpflichtungen gegen Dich? Hast Du noch Ansprüche auf meine Erkenntlichkeit? – Ich sage Nichts.« –
Darauf hatte Landsfeld nicht gerechnet; und doch war es ihm klar, daß er um jeden Preis das Geheimniß erfahren mußte; aber durch welche Mittel? Durch Furcht war Alice eben so wenig als durch Versprechungen zu gewinnen, und an seine Liebe würde sie nicht glauben.
»Warum willst Du es mir nicht sagen, Alice?« fragte er endlich.
Landsfeld war in tiefe Gedanken versunken, aber er antwortete Nichts. Alice fuhr fort:
»Sieh, Richard, das ist der Grund, weshalb Du auch mich nicht verstanden hast. Dein Egoismus wurde durch meine Art zu lieben verletzt; Du begriffst nicht, daß mir die Persönlichkeit des Geliebten nur der zeitweilige Träger meines Liebeideals sein konnte. So glaubtest Du von mir hintergangen zu sein, als ich fand, daß Du dies Ideal nur nach einer Seite hin verwirklichtest, also die unbedingte ausschließliche Liebe, welche Du fordertest, nicht verdientest. Berger, wie er damals war, sein reines, kindliches Gemüth zog mich gerade durch den Gegensatz zu Dir an. Und dennoch hätte ich an Dir festgehalten, wärst Du nicht kleinlich genug gewesen, auf ihn eifersüchtig zu sein. Schon deshalb war es ein Akt der Humanität, ihn glücklich zu machen. – Daß ich es ohne Dein Wissen und Willen that, daran warst Du selbst schuld. Du zwangst mich dazu durch Deine despotische Eifersucht, denn –
unbedingte Herrschaft kann ich meiner Natur nach keinem Manne einräumen. –
Doch ich will darüber schweigen, denn die Zeiten
Diese mit völlig leidenschaftsloser Freundlichkeit und ruhiger Herzlichkeit
gesprochenen Worte machten einen tiefen Eindruck auf Landsfelds aufgeregtes Gemüth.
Er fühlte sich hier zum erstenmale einem weiblichen Charakter gegenüber, der, an
Selbstständigkeit und Festigkeit dem seinen so nahe verwandt, ihm ein
unwillkührliches Gefühl der Achtung abzwang. Er glaubte merkwürdiger Weise diesmal an
die Wahrheit dessen, was er so eben gehört, und grade diesmal wurde er, wenn auch
nicht ganz, so doch theilweise getäuscht. Alice liebte ihn wirklich noch, und
vielleicht glühender als je; aber mit jenem Scharfblick, der nur Frauen eigenthümlich
ist, hatte sie den einzigen möglichen Weg, auf dem sie sein Vertrauen, und dadurch
vielleicht seine Liebe wieder erwerben konnte, richtig erkannt und mit großer
Selbstverläugnung eingeschlagen. Nur dadurch, daß sie eine völlig unbefangene,
selbstständige Stellung ihm gegenüber einnahm, war es möglich – das fühlte sie – ihn
zur Verlassung der
»Ich kann Dich nicht zwingen, Alice« – sagte er mit einer Art von Resignation, die diesem starken Menschen einen Ausdruck von Sanftmuth verlieh, welcher das Herz Alicens zu verdoppelten Schlägen trieb. »Doch noch habe ich selbst Kraft genug, um mein Heiligthum vor Entweihung zu schützen. Wehe dem, der es wagt, Lydia mit einem Worte zu verletzen. Wehe auch denen, die schwiegen, als sie reden konnten.«
»Reden werd' ich nicht, Richard. Aber daß ich nicht handeln wollte, wenn's Zeit dazu ist, habe ich Keinem versprochen. – Jetzt lasse mich allein, der Morgen dämmert schon.« Sie reichte ihm die Hand, er drückte sie herzlich.
Landsfeld eilte in den Hof hinab, bestieg sein Pferd,
Etwa acht Tage nach den oben erzählten Scenen standen zwei tiefverhüllte Gestalten an der langen Mauer, welche die eine Seite der Anhalt-Straße bildet und blickten aufmerksam nach der Bel-Etage eines der reizenden Häuser dieser schönen Straße hinüber. Ein dichter feiner Regen verdüsterte die Luft und schien selbst den hellerleuchteten Gaslaternen ihren flammenden Athem zu benehmen. Eben schlug es eilf Uhr; ein langanhaltendes immer stärker werdendes Pfeifen durchschnitt die Luft. Es war das Ankunfts-Signal des letzten Zuges der Anhaltischen Eisenbahn. Mit unverwandten Blicken schaueten die Beiden hinüber nach den Fenstern. Endlich sagte die kleinere, dem Anschein nach weibliche Gestalt:
Ein tiefer krampfhafter Seufzer war die Antwort. – Nach einer Pause erwiederte eine männliche Stimme:
»Gehen Sie immer hin, Sie Glückliche, die Sie noch nicht verlernt haben sich zu langweilen.«
Das tragische Pathos, mit dem diese Worte gesprochen wurden, mußte etwas Komisches enthalten, denn Jene lachte, als sie mit demselben pathetischen Accent erwiederte:
»Sie Glücklicher, der Sie verlernt haben, sich zu langweilen« – und fuhr dann mit verändertem Tone fort: »Aber ernsthaft gesprochen: Sie sind ein Narr, daß Sie sich so selber quälen, nehmen Sie mir den Ausdruck nicht übel. – Apropos. Wie weit sind Sie mit Laura gekommen?« – Es lag ein solcher Ausdruck von boshafter Schadenfreude in der Art, wie diese Frage gethan wurde, daß der Andere zornig, aber mit leiser Stimme erwiederte:
»Sie sind ein wahrer weiblicher Mephisto, Cornelia; Sie verstehen sich vortrefflich darauf, den moralischen Henkersknecht zu spielen.« –
»Mäßigen Sie sich, theurer Freund, den ich gern
»Schweigen Sie und reizen Sie mich nicht zum Aeußersten! Ich bin gerade in der Stimmung, um Sie dahin zu schicken, wohin Sie eigentlich gehören: in die Hölle.«
»Das werden Sie bleiben lassen, Berger,« erwiederte sie ruhig. »Wer würde dann den gutmüthigen Narren spielen, der seine Pfote hergiebt, Ihnen die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen?«
»Es ist wahr!« – erwiederte er, ohne daran zu denken, welche arge Beleidigung er damit sagte.
Als Erwiederung für seine Aufrichtigkeit setzte sie höhnisch hinzu: – »Aber nicht eher, mein Freund, nicht eher stecke ich die Pfote in's Feuer, als bis die Kartoffeln tüchtig gebraten und gar sind. Ha, ha!«
»Weib!« – rief er zähneknirschend, indem er sie wüthend an der Schulter packte. – »Bringe mich nicht zum Rasen, sag' ich. Ich möchte bei Gott vergessen, daß – –« die Wuth erstickte seine Stimme.
»Daß ich Dich noch gebrauchen kann« – ergänzte sie ruhig. »Meinten Sie nicht das? –
Nun gut; ich
»Einen Augenblick noch« – bat er, indem er seine Aufregung bekämpfte. »Sehen Sie« – setzte er zitternd hinzu. »Die Lichter werden schon ausgelöscht.« –
In der That nahm die Helligkeit drüben sichtbar ab. Endlich schien nur noch ein Licht in dem Zimmer zurückgelassen zu sein. Da trat ein Mann an's Fenster und blickte hinaus.
»Er ist es« – flüsterte Berger, den Athem anhaltend.
Jetzt wandte sich der Mann oben um, als spräche Jemand zu ihm. Gleich darauf wurde eine weibliche Gestalt sichtbar. Sie lehnte sich an ihn an, er drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn.
»Hölle und Teufel« – knirschte Berger halblaut.
Der Mann am Fenster schien etwas gehört zu haben. Denn noch einmal lehnte er sich aus
dem Fenster und blickte forschend auf die Straße. Aber der Nebel war zu dick, auch
hatte sich Berger mit Cornelien hinter die Gaslaterne postirt, deren Schein ihn
blenden mochte. Er zog den Kopf zurück und schloß das Fenster. Jetzt schien er, zu
der jungen Dame gewendet, etwas zu sprechen. Denn plötzlich fiel sie ihm um den
Berger starrte noch immer zu dem Fenster empor, als sei er überzeugt, daß es sich noch einmal erhellen müsse. Aber er wartete vergeblich. – Wie aus einem schweren Traum erwachend, fuhr er sich über die Stirn und sagte mit gebrochener Stimme:
»Sie hatten doch Unrecht, Cornelia, als Sie mich davon abhielten, ihn zu ermorden.« –
»Morgen werden Sie das Vernünftige meines Raths selbst einsehen.«
Sie ergriff ihn beim Arm und führte ihn fast willenlos fort.
– – – – – – – – – –
Es war der Hochzeitstag Landsfelds und Lydia's. Sie hatten ihn ganz in der Stille gefeiert, weil Lydiens Mutter noch zu schwach war, um das Geräusch und die Aufregung, welche eine große Gesellschaft stets mit sich bringt, ertragen zu können. Nur der Hofrath und eine Jugendfreundin der Forsträthin, welche zugleich als Zeugen der Trauungsceremonie beigewohnt hatten, waren bei diesem Feste zugegen gewesen, hatten sich jedoch bald nach zehn Uhr von der Forsträthin und dem jungen Paare verabschiedet.
Landsfeld, welcher fühlte, daß er in diesem Augenblick die beiden Frauen einander überlassen müsse, stand auf und ging in das Nebenzimmer, in welchem er die noch brennenden Lichter eines nach dem andern bis auf's letzte auslöschte und, dann an's Fenster tretend, auf die Straße hinabsah. Lydia folgte ihm nach einigen Minuten.
»Die Mutter ist nach ihrem Zimmer gegangen« – sagte sie, sich an ihn schmiegend. – »Sie grüßt Dich herzlich.«
»So laß uns auf die unseren gehen« – erwiederte er, sie umfassend. – »Komm, Geliebte, komm, jetzt gehören wir ganz einander an. Verstehst Du, Lydia, was das heißt?« –
Statt aller Antwort umschlang sie weinend seinen Hals und lehnte ihre Stirn an seine Brust.
Einen Augenblick betrachtete er sie aufmerksam, und leise den Kopf schüttelnd; dann führte er sie mit sich fort, indem er das letzte Licht auf dem Tische mit sich nahm.
Das Schlafzimmer der Neuvermählten lag nach dem
Um die Mutter nicht zu stören, gingen sie, statt direkt durch den Speisesaal, durch das Arbeitszimmer Landsfelds.
»Geh', Geliebte« – sagte Landsfeld, sie mit Innigkeit umschlingend, nachdem sie das letztgenannte Zimmer betreten. – »Geh', laß Dich von Gertrud entkleiden.« –
Gertrud war Lydiens Amme gewesen und jetzt als Wirthschafterin in den neuen Hausstand mit eingetreten. –
»Bist Du nicht allzu müd', mein Herz, so komme ich noch auf ein paar Minuten mit Dir zu plaudern.«
Wieder ruhte nach diesen mit unbefangener Herzlichkeit gesprochenen Worten sein
forschender Blick auf dem Gesicht seiner jungen Gattin. Vielleicht hoffte er, daß sie
ihm antworten werde, aber auch diesmal umarmte
Er blickte ihr lange sinnend nach, als suche er den Grund von Etwas, das er sich nicht erklären könne.
»Wer mir doch Gewißheit geben könnte« – sagte er vor sich hin. »Zwar erstaunte sie nicht über das, was ich ihr sagte, sie schien es ganz natürlich zu finden – aber warum erröthete sie denn? – Und endlich frage ich: Kann eine solche Unschuld, wie sie sie zu haben scheint – vielleicht nur scheint – möglich sein bei einem Mädchen von 19 Jahren? Ist es denkbar, daß der Zufall sie vor jedem zweideutigen Worte, vor jeder verschleierten Anspielung, vor jedem –« Bilde, wollte er sagen, aber er sprach das Wort nicht aus, sondern schloß mit einem bittern Lachen, da ihm einfiel, daß man sich durch dergleichen Fragen in der keuschen Residenz, dem züchtigen Berlin – nur lächerlich machen könnte. Und dennoch that er ihr durch diese Zweifel unrecht.
Lydiens Phantasie war in der That völlig rein und fleckenlos. Noch hatte sie keine
Ahnung – oder doch gewiß keine Vorstellung von einer andern als wie geistigen und
gemüthlichen Gemeinschaft und Einigung der Gatten. Vielleicht war es nicht klug
gehandelt von der Forsträthin, daß sie ihre erwachsene Tochter über die
»Ach, Gertrud« – sagte sie zu ihrer Amme, »sag' mir nur, warum mir so angst ist. – Fühl' einmal, wie mir das Herz schlägt.« Bei diesen Worten nahm sie die trockene, harte Hand Gertruds, welche sie bereits entkleidet hatte und eben im Begriff war, ihr das Nachtkleid überzuwerfen, und legte sie unter ihre linke jugendliche Brust.
»Laß nur gut sein, Lydchen« – erwiederte Gertrud lächelnd, welche das Recht hatte,
ihre junge Herrin noch als ihr Pflegekind zu behandeln. – »Laß nur gut sein. Ich
kenne das, bin auch mal jung gewesen und habe gezittert und gebebt, als sie mir in
der Kammer den Brautkranz aus dem Haare nahmen. Aber
»Richard kommt ja noch zu mir; Gertrud!« –
»Kommt er noch!« – erwiederte Gertrud, wie verwundert über diesen Grund, mit fast ironischem Tone.
»Freilich, Gertrud. Er hat es mir ja versprochen« – sagte Lydia treuherzig.
»Hat er wirklich?« – fragte Gertrud wie vorhin, indem sie den Kopf schüttelte.
»Nun ja. Was fällt Dir dabei auf, Gertrud? – ist er nicht mein Mann?« – Sie erröthete, als sie mit schamhaftem Lächeln von ihrem »Manne« sprach. Die Alte schüttelte noch immer fort.
»Du bist ja heut' ganz wunderlich, Gertrud. – Geh' nur – Richard wird gleich kommen.«
Gertrud drückte sie mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Feierlichkeit an das Herz; – zündete dann die in einer Glocke von rosafarbenem Glase hängende Nachtlampe an und entfernte sich langsam und leise auftretend durch den Corridor nach ihrem Schlafzimmer neben dem Zimmer der Forsträthin.
Lydia hatte sich in die Ecke des kleinen mit weißseidenem Zeuge überzogenen Sopha's
geworfen, und saß,
»Er ist's« – sagte sie fast athemlos zu sich, indem sie beide Hände über den ungestüm wallenden Busen legte, als fürchte sie, die Bewegung möchte ihre Brust zersprengen. Sie hatte weder die Kraft, zu rufen, noch einen Schritt zu thun. Ein zweites stärkeres Klopfen gab ihr endlich ihre Kraft zurück.
»Richard« – rief sie mit bebender Stimme.
Landsfeld trat herein. Er war mit einem einfarbigen grünen sammetnen Morgenrock bekleidet, welcher durch eine dicke Seidenschnur von gleicher Farbe um den Leib gehalten, bis auf die feinen Morgenstiefel herabfiel. Sein Hals war frei und nur mit einem weißen Hemdkragen umgeben, der sich leicht und glatt über den Shawlkragen des Morgenrocks legte.
»Du schliefst schon, Geliebte« – sagte er lächelnd, auf sie zu tretend, indem er einen langen aber sanften Kuß auf ihre Stirn drückte.
»Ach nein, Richard, ich schlief nicht. Dein Klopfen – ich weiß nicht warum – nahm mir die Kraft – die Stimme versagte mir« – Er sah ihr tief, tief in das glänzende Auge, welches sie mit offner Liebe zu ihm aufgeschlagen hatte.
Er umschlang sie mit der einen Hand und zupfte mit der andern an den Bändern des zierlich gestickten Nachthäubchens, welches Lydiens Haar gefangen hielt. »Ich liebe das nicht« – flüsterte er kosend – »ist nicht die Natur überall schöner als die Kunst, besonders wenn diese dazu dienen soll, die erstere zu verhüllen.« Ohne ein Wort zu erwiedern, löste Lydia die Bänder und warf das Häubchen von sich. Voll und glänzend fielen wie ein dunkelgoldiger Strom die entfesselten Locken über ihre Schultern und ihren Nacken.
»Wie weich und elastisch ist Dein Haar, Lydia!« – Er ließ es spielend durch die Finger gleiten. Weißt Du, wie schön Du bist? Sag' mir das, Lydia!«
»Welche Frage, Richard! Wie schön man ist, das kann man wohl nicht wissen, sollte ich denken. Daß ich manchmal, wenn ich vor dem Spiegel gestanden, mich darauf angesehen, ob ich hübsch bin, will ich nicht läugnen – aber« –
»Nun?« –
»Aber ich that es doch immer im Gedanken an Dich. Ich dachte dann: kann er Dich wohl
hübsch finden? Und dann freute ich mich; denn Richard, ich will es Dir nur gestehen,
ich antwortete dann gewöhnlich
Es lag eine solche Kindlichkeit und Harmlosigkeit in dem, was Lydia sagte, daß ein
Mann von so eisernem Willen und so titanischer Selbstüberwindung, wie Landsfeld, dazu
gehörte, um dem einmal gefaßten Entschluß, das höchste Glück sich zu versagen, so
lange treu zu bleiben, bis durch längere Beobachtung seine Ueberzeugung von der
Wahrheit dieses weiblichen Herzens eine unerschütterliche Festigkeit erreicht hatte.
Je mehr er gerade jetzt geneigt war, zu glauben, desto mehr fühlte er gegen sich die
Verpflichtung, sich nicht eher diesem Glauben hinzugeben, als bis jede Möglichkeit
von Zweifel verschwunden war. – Aber diese Entsagung wurde ihm schwerer, als er es
geahnt hatte. Wäre Lydia ein Weib wie Laura gewesen, so würde er eine Art
egoistischen Triumphs darin gefeiert haben, ihre Sehnsucht ungestillt zu lassen. Denn
die Macht sinnlicher Reize, obwohl er selbst feurigen und leidenschaftlichen
Temperaments war, konnte doch die Energie seines Geistes, seinen Stolz nicht
erschüttern. Aber sie war keine solche Macht, die ihn nur zum Widerstande hätte
reizen können. Ein seiner Reize selbst unbewußtes, sich vertrauensvoll an ihn
schmiegendes Kind war es, was nicht des eigenen Genusses wegen, sondern aus Liebe zu
ihm, sich ihm überließ,
»So hältst Du mich also nicht für eitel?« – sagte sie heiter lächelnd, ohne Ahnung von dem Sturme, der in diesem Augenblick seine Brust durchwühlte. »Das freut mich, Richard. Denn ich glaube, daß Du das besser wissen mußt, als ich selbst.« Nachdenklich fuhr sie fort: »Man weiß wohl eigentlich selten, wie es im Grunde hier aussieht; meinst Du nicht auch, Richard?« – Sie legte den Zeigefinger auf dieselbe Stelle, auf der vorhin Gertruds Hand gelegen. So stürmisch es damals dort pochte, so ruhig war es jetzt.
Landsfeld wußte nur noch zwei Mittel, um den künstlichen Damm, welchen er um seine Empfindung gezogen hatte, vor dem Durchbruch zu bewahren. Das eine war schleunige Flucht. Aber er schämte sich vor sich selber, als er daran dachte. »Ich will's wagen« – sagte er zu sich, das andere Mittel erwägend.
»Das ist der ewige Widerspruch im Menschen« – sagte er ernst. »Die Gegenwart ist
gerade das, wovon man am wenigsten weiß. Daher fürchtet man
»Es ist wahr, Richard« – sagte sie erglühend. »Welches Gefühl es war, welches es auch jetzt ist, ich weiß es nicht, ich kann es nicht beschreiben – unnennbar, – überwältigend – tief beseligend – angsterfüllend. – – – – Richard!« – Das letzte Wort sprach sie mit einem zugleich flehenden, zugleich hingebenden Tone.
Landsfeld hielt mit der Rechten ihre Taille umschlungen. Mit der Linken zog er die Busennadel, welche ihr Nachtkleid über der Brust zusammenhielt, heraus. – »Bist Du nicht mein Weib?« – flüsterte er, sich fester an sie schmiegend, mit jenem Vibriren der Stimme, das sie nur in der tiefsten Leidenschaft anzunehmen im Stande ist. »Fühlst Du nicht selber Sehnsucht, mein zu sein, Lydia – ganz mein zu sein?« –
Mit ängstlicher Erwartung blickte er ihr in das
Ein feuchter Glanz schimmerte in ihren Blicken, aber es war nicht jenes verschwimmende, in eigener Gluth erstickende Feuer des Verlangens, nein, es war eine reine Thräne, die das ungewisse Bangen der Jungfräulichkeit, die Angst der mädchenhaften Schüchternheit ihr entpreßte.
»Bin ich nicht ganz Dein« – sagte sie bebend – »Dein Weib? Kann ich es mehr sein, als ich es bin? Gehöre ich nicht ganz Dir, bist Du mir nicht Alles, mein Himmel, meine Seligkeit?« Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und preßte sein Haupt an ihren Busen. Landsfeld fühlte sein Wogen, er hörte die verdoppelten Schläge ihres Herzens, und er konnte zu sich sagen:
»Ist das nur Liebe? Sollte kein sinnliches Verlangen in diesem ungestümen Pochen sprechen?« – Der Gedanke machte ihn kalt.
Er glaubte das richtige Mittel gefunden zu haben. – Sanft löste er ihre Arme und schaute sie lange, lange an.
»Nicht wahr, Lydia,« – sagte er – »Du gewährst mir Alles, warum ich Dich bitte – und gern?«
»Und gern?« – fragte er dringend.
Eine flüchtige Ahnung durchflog ihre Seele, daß sie noch mehr gewähren könnte, als was sie schon gewährt hatte. Unter tiefem Erröthen senkten sich ihre Blicke. –
»Und gern?« – fragte er noch dringender. –
»Und gern« – antwortete sie kaum hörbar, ohne recht zu wissen, was sie damit sagte. –
Er erblaßte, ein Zweifel stieg wieder in ihm auf. Aber er wollte Ueberzeugung. Seine
Hand zitterte, als er leise die ihrige faßte, womit sie die keusche Brust bedeckte,
deren stürmische Wellen das entfesselte Nachtkleid fortgeschoben. Sie zögerte. Aber
ein Blick aus seinem Auge, worin eine tiefe innige Bitte glänzte, zwang sie fast
wider Willen zum Nachgeben. Sie nahm die Hand von ihrer Brust und deckte sie vor das
Auge. Er beugte sich nieder und drückte einen langen, glühenden Kuß auf ihren Busen.
Eine nie geahnte Seligkeit durchzuckte ihn. Er hätte weinen mögen vor unnennbarer
Lust. Und was er nie sich geträumt, vielweniger erlebt: es mischte sich in dieses
Gefühl, das ihn bis in seine innersten Tiefen erschütterte, keine unreine Empfindung,
kein sinnliches Verlangen. Wie geläutert durch
Und Lydia? –
Als sie seinen heißen Athem auf ihrem Busen fühlte, durchrieselte ein Fieberfrost ihren ganzen Körper. Sie war sich keines bestimmten Gefühls bewußt, sie fühlte auch seinen Kuß nicht mehr – nur eine Empfindung hatte sie, die eines anhaltenden, ihr ganzes Wesen erschütternden Schauers. Als er aufblickte, lag noch immer die Hand vor ihren Augen und zwischen den Fingern hindurch tropften einige brennende Thränen. Als er mit sanfter Gewalt ihre Hand von dem Gesichte herabzog, erschrak er über ihre Blässe. Mit einem halblauten Schrei sank sie an seine Brust.
»Was ist Dir, Lydia?« – fragte er weich. –
»Jetzt bin ich Dein« – antwortete sie endlich, unter Thränen zu ihm aufblickend. »Keine Macht der Erde, keine Gewalt des Himmels kann mich von Dir reißen, Richard! – O Richard, sag' mir, welche geheime Macht in Dir ist, die mich so Dir zu eigen machen kann? Geliebter, weißt Du, welchen Wunsch ich in diesem Augenblick habe?«
»Mit Dir, an Deiner Brust zu sterben« – sagte sie leise, indem sie schwärmerisch lächelnd zu ihm aufblickte.
»Und weißt Du« – sagte er athemschöpfend – »welchen Wunsch ich habe?«
»Vielleicht denselben?« –
»Im Gegentheil: Mit Dir, an Deiner Brust zu leben« – erwiederte er, sie küssend. – »Jetzt aber« – setzte er schnell hinzu, als sie lächelnd die Augen niederschlug, als fürchte er in dem Kampfe, in dem er diesmal glücklich Sieger geblieben war, zu erliegen: »Jetzt wollen wir uns trennen. Vorher aber muß ich doch die Ordnung, die ich selber gestört, wieder herstellen.« Er versuchte, das Nachtkleid wieder mit der Nadel zusammenzustecken.
»O – Du stichst mich ja, Unartiger« – rief sie, ihm auf den Finger klopfend. »Siehst Du, wie es blutet?«
Sie öffnete jetzt selber mit rührender Unbefangenheit das Kleid. In der That quoll an der Stelle, worauf sein Mund so lange geruht, ein Purpurtropfen.
»Laß ihn mich aufküssen« – bat er. Sie erlaubte
»Gute Nacht, Geliebter« – sagte sie endlich, ihn fortdrängend.
Noch einen Blick warf er auf sie. Dann entfernte er sich schnell und eilte nach seinem Zimmer.
Je tiefer das Gefühl durch eine Idee bewegt wird, desto energischer ist natürlich auch der Enthusiasmus, desto lebendiger das Interesse für dieselbe, aber auch desto leichter die Gefahr der Einseitigkeit im Urtheil über dieselbe. Denn Unpartheilichkeit im Urtheil ist selten ein Beweis von Energie und Interesse, wogegen Einseitigkeit häufig das Merkmal eines energischen, kraftvollen Charakters ist, und nur ein angeborener Takt des Gefühls kann einen solchen vor dem Extrem darin bewahren. Kälte und Klarheit des Urtheils stehen sehr häufig in Wechselbeziehung, daher gehört ein gewisser Fond von Egoismus dazu, alle Gegenstände, selbst diejenigen, welche uns selbst alteriren könnten, in der gehörigen Entfernung und Sehweite festzuhalten, damit sie nicht verhältnißmäßig zu große Dimensionen annehmen.
Die völlig inmaterielle Liebe, welche das Wesen dieses unnatürlichen Verhältnisses zwischen den beiden Gatten ausmachte, übte indeß einen Einfluß auf ihr Gemüth aus, der demjenigen auf Landsfelds Empfindung ganz entgegen gesetzt war. Während der Letztere durch Beschränkung seines Egoismus, welche eine natürliche Folge von Lydiens reiner Weiblichkeit war, zur Ruhe, zur Einheit mit sich selbst und zur Versöhnung mit der Welt zurückgebracht wurde, versetzte der feine Aether jener platonischen Seelengemeinschaft Lydia in einen Wechsel nervöser An-und Abspannung, der zuletzt nachtheilig auf ihre Gesundheit wirkte. Ihre Gesichtsfarbe wurde allmählich bleicher, der frische Glanz ihres schönen Auges schwächer: ihr ganzes Wesen erhielt den Ausdruck einer tiefen ihres eigenen Ursprungs unbewußten Schwermuth, die sich in unbewachten Augenblicken zuweilen sogar in Thränen Luft machte.
Frau von Dornthal beunruhigte sich nicht allzusehr über diese Veränderung in Lydiens
Wesen, da sie sie aus ganz natürlichen Gründen sich erklärte, und Lydia überdies,
wenn sie von ihrer Mutter gefragt wurde, ob sie sich glücklich fühle, stets von
Verehrung und Liebe für Landsfeld überströmte. Landsfeld hätte wohl am ersten
»Es muß wohl sein, weil ich Dich zu sehr liebe, Richard. Es ist mir manchmal, als ob diese Liebe von meinem Herzblut sich nähre.« – »Sollte man an Liebe sterben können, Richard?« – fragte sie einmal, statt auf seine Frage zu antworten. »So ist mir zuweilen.«
Landsfeld machte ihr den Vorschlag, häufiger in Gesellschaften zu gehen.
Da sie in Alles willigte, was er über sie bestimmte, so hatte sie auch hiergegen Nichts einzuwenden. Aber das Uebel nahm dadurch nur eher zu als ab. Selbst ihre Freundinnen aus der Pension, von denen einige ebenfalls verheirathet, und ein »Haus« machten, konnten in ihr die frühere Sympathie nicht wieder erwecken. Häufig ereignete es sich auch, daß sie Abends, wenn sie mit Landsfeld in ihrer Behausung wieder angelangt war, noch in sich gekehrter erschien als gewöhnlich. Wenn er sie dann fragte, was der Grund ihrer nachdenklichen Stimmung sei, so antwortete sie entweder ausweichend oder sie bekannte selber den Grund davon nicht zu wissen.
»Was ist Dir begegnet, Lydia?« – sagte er, in ihr Schlafzimmer tretend, als sie einmal von der glänzenden Hochzeitsfeier einer ihrer Freundinnen zurückgekehrt waren. »Du bist heute wieder so einsylbig und niedergeschlagen.«
»Ich weiß es nicht – und suchte eben selbst darüber klar zu werden. – Hilf mir, Richard. Ich verstehe mich selbst nicht mehr und die Andern noch weniger.«
»Die Andern?« –
»Erkläre Dich deutlicher, Lydia. – Ich verstehe Dich nicht.« –
»Das ist's ja eben, was mich drückt. Aber Du, Richard, solltest mich doch eigentlich verstehen.« –
Sie blickte ihm fast bittend in's Auge. Er verstand sie recht gut, aber sie über sich selbst aufzuklären, wagte er kaum noch. Mit einer wahren Angst hatte er schon oft daran gedacht, wie er in der Schranke, die er willkührlich zwischen sich und Lydia gesetzt, sich eine Macht geschaffen, deren Besiegung ihn vielleicht noch größeren inneren Kampf bereiten würde, als ihm ihre Aufstellung gekostet hatte. War er vor drei Monaten – so lange waren sie jetzt verheirathet – in Verlegenheit um die Mittel gewesen, seiner eigenen Leidenschaftlichkeit zu widerstehen, so war er es jetzt vielleicht noch mehr um die Mittel, diesen Widerstand, der für ihn fast zu einem moralischen Zwange geworden war, auf geeignete Weise aufzuheben. Und gerade diese ganze Umkehrung der Verhältnisse hatte seiner allmählig erwachenden wahrhaften Liebe zu ihr eine Intensität gegeben, die ihm jene Schranke zu einer drückenden Fessel umschuf. Landsfeld war in der That unglücklicher noch als Lydia.
»Das ist's, Richard – ja, unklar geblieben ist mir Manches, schon früher, aber ich habe es immer meiner eigenen Unwissenheit zugeschrieben; und da es meistens Dinge betraf, die ich nicht gut – die ich möglicherweise ganz falsch verstanden – um die ich Dich nicht fragen wollte, aus –«
»Nun? aus – –«
»Aus Furcht, etwas Unpassendes zu sagen, Richard.«
»Daran hast Du unrecht gehandelt, Lydia. – Wie kannst Du so etwas fürchten bei mir? Ich weiß ja, daß Du Vertrauen zu mir hast, nicht wahr?« –
»Unbegrenztes, mein Richard.«
»Nun, also –«
»Heute zum Beispiel – ich sprach mit Theresen über unsere häusliche Einrichtung – Du
erinnerst Dich wohl, daß sie ungefähr eben so lange verheirathet ist, als ich, etwas
länger noch – da sie jetzt in Potsdam mit ihrem Manne wohnt, so hatte ich sie seitdem
nicht gesehen – heute also fragte sie mich, ob –
Landsfeld erschrak. »Es ist die höchste Zeit« – dachte er. – »Wenn eine indiskrete Freundin den Schleier lüftet, den ich selbst noch nicht gehoben, dann ist mein ganzes Werk vernichtet.« –
»Warum solltest Du mir nicht sagen können, was eine Freundin zu Dir zu sagen wagte?« – fragte er laut.
»Mißverstehe mich nicht, Richard; Therese meinte es gewiß nicht böse. – Sie fragte, ob – wir ein und dasselbe Zimmer bewohnten?« – Eine flammende Röthe überdeckte ihr Gesicht, als sie nach einem kurzen aber heftigen Kampfe diese Worte herausgebracht hatte.
Landsfeld athmete etwas freier.
»Und was weiter?« – fragte er mit einem Lächeln, das ihr neuen Muth gab.
»Als ich ihr mein Mißfallen über das Unzarte ihres Benehmens zu erkennen gab,
erwiederte sie: das wäre bloße Ziererei und ich thäte gerade so, als ob ich noch ein
Mädchen wäre. Das kränkte mich, Richard, da ich nicht begreifen kann, warum eine Frau
weniger Zartsinn haben sollte, als ein Mädchen; ich stand auf und verließ Theresen,
um mich zu ihrer älteren Schwester zu setzen. – Aber diese war mir gefolgt
»Sie mag wohl nicht ganz unrecht gehabt haben – doch lasse sie reden und kümmere Dich nicht darum« – setzte er schnell hinzu. – »Sie haben sich wohl nur einen Scherz machen wollen.«
»Das dachte ich auch anfangs, aber – –« Lydiens Stimme drückte von Neuem eine so mädchenhafte Zaghaftigkeit aus, daß Landsfelds Besorgniß wieder rege wurde.
»Noch mehr?« fragte er aufmerksam.
Lydia wollte eben antworten, als sie plötzlich, nach dem Fenster zeigend, ausrief:
»Mein Gott, was ist das? Sollte die Mutter kränker geworden sein? Was bedeutet das Licht auf dem Korridor?«
»Bleibe hier, liebe Lydia« – sagte Landsfeld, sie sanft zurückdrängend, da sie das
Zimmer verlassen
Bei diesen Worten verließ er das Zimmer und ging leise den Korridor hinab. Am Ende desselben traf er Gertrud, welche eben im Begriff war, das Zimmer der Forsträthin zu öffnen.
»Was giebt's, Gertrud?« fragte er.
»Ach, gnädiger Herr – 's steht gar nicht gut mit der Frau Mutter, glaub' ich.« –
»Still, Gertrud« – wir wollen dem Himmel nicht vorgreifen. Und vor allen Dingen lassen Sie meiner Frau nichts von Ihren Befürchtungen merken!« –
»Behüte der Himmel, gnädiger Herr.«
Landsfeld kehrte zu Lydia zurück, die in ängstlicher Spannung am Fenster seiner harrte. Nachdem er sie mit einigen Worten beruhigt hatte, drang er von Neuem in sie, ihre Mittheilungen fortzusetzen.
Lydia war durch diesen Zwischenfall zu sehr aus ihrer früheren Stimmung gebracht, als daß sie seiner Bitte mit der nöthigen Unbefangenheit hätte genügen können.
»Morgen« – sagte sie bittend.
»Wie Du willst, liebes Kind. Morgen Abend dann; ich reite schon früh fort und werde
nicht zu Tische kommen. Du weißt, daß ich morgen zur Jagd geladen
Als Karl dem ihm gewordenen Auftrage gemäß gegen fünf Uhr an die Thüre seines Herrn klopfte, fand er denselben bereits angekleidet am Sekretair mit dem Siegeln eines Briefes beschäftigt.
»Dies Billet« – sagte er – »giebst Du an Gertrud, um es meiner Frau zu überreichen, sobald sie aufgestanden.«
»Sehr wohl, Herr Baron.«
»Jetzt hole mir das Frühstück und dann mach' Dich selbst und die Pferde fertig.«
Als der Diener das Zimmer verlassen, nahm Landsfeld das Licht vom Tische und begab sich mit leisen Schritten nach dem Schlafzimmer Lydiens. Behutsam öffnete er die Thüre und schloß sie eben so. Es rührte sich nichts. Dann stellte er das Licht auf die Console, und verdeckte es durch einen Lichtschirm, um seinen hellen Schein etwas zu dämpfen.
Darauf trat er vor das Lager seiner Gattin, und versank in eine lange und stumme Betrachtung.
Lydiens Schlaf schien nicht ruhig gewesen zu sein. Ihr linker Arm hing unbedeckt über
die Bettlehne heraus, während der andere eine Hand breit unterhalb ihres Busens
ruhte. Der kleine weiße Fuß von vollendeter
Landsfelds Blicke ruhten mit stiller Wehmuth auf diesen Reizen, ohne daß sich in ihm ein Verlangen irgend einer Art regte. Fast schmerzlich war der Ausdruck seines Gesichts, als er, in tiefes Sinnen verloren, vor dem Lager stand. Plötzlich wurde er aufmerksam. Lydia bewegte die Lippen. Er bog sich sanft über sie.
»Richard« – sagte sie leise. – »Geliebter! warum fliehst Du mich?« –
Vielleicht war es nur im Traume, ohne Bezug und deutungslos. Und dennoch veränderte sich der Ausdruck in Landsfelds Gesicht; ein freudiges Lächeln erheiterte seine düsteren Züge.
»Diese Qual soll enden« – sagte er halblaut theils zu sich, theils zu Lydia. – »Ja, Lydia, ich werde Dich nicht mehr fliehen. Denn ich glaube an Dich mit voller Brust, in tiefster Seele. – Nein, unter diesem schönen Busen kann kein unreiner, kein falscher Gedanke geboren werden.«
Er hatte wie in Selbstvergessenheit bei diesen Worten die Hand auf ihr Herz gelegt. Sie zuckte einen Augenblick zusammen. Dann zog ein lächelndes Erröthen über ihre Wangen und Lippen.
Landsfeld war niedergekniet und drückte einen Kuß auf ihr Herz. Dann stand er leise auf, hob die herabgefallene Decke vom Boden und breitete sie leicht über den schönen Körper der holden Schläferin. Auch den herabgesunkenen Arm legte er vorsichtig auf die Decke und verließ dann, nachdem er noch einen Kuß auf ihre Stirn gedrückt hatte, eben so behutsam, als er gekommen war, das Zimmer. – Rasch verzehrte er sein Frühstück und eilte, als ihn Carl benachrichtigte, daß Alles bereit sei, hinunter. Es war ein kalter, aber heller Dezembermorgen, obgleich die Sterne noch an dem tiefblauen Himmel funkelten. Landsfelds Schritte knarrten auf dem festgetretenen Schnee, welcher sich über Nacht mit einer leichten, frischen Flockenschicht bedeckt hatte. Er schwang sich auf's Pferd und ritt, gefolgt von seinem Diener, dem Anhaltischen Thore zu.
»Hier ist ein Brief vom gnädigen Herrn, Lydchen« – sagte die alte Gertrud, als sie einige Stunden später in das Zimmer ihres geliebten Pflegekindes trat, die eben die Augen aufgeschlagen.
»Gieb schnell« – sagte diese, mit der Hand sich über das vom Schlaf geröthete Gesicht
fahrend – »was mag er mir schreiben? Er ist wohl schon lange
»Was schreibt er Dir denn, Lydchen?« fragte die neugierige Alte.
»Daß er erst spät wiederkommen werde, wahrscheinlich erst morgen. Ich möchte mich deshalb nicht ängstigen und die Zeit benutzen, einige Besuche zu machen, die ich mir schon lange vorgenommen. Sonst nichts von Bedeutung. Was macht die Mutter, Gertrud? hat sie gut geschlafen? – Ich will gleich hinüber zu ihr. Wir wollen zusammen frühstücken.«
Gegen Mittag, als Lydia mit ihrer Mutter plauderte, trat Gertrud wiederum mit einem Briefe in der Hand, der abermals an ihre junge Gebieterin gerichtet war, herein.
»Er ist von Theresen« – sagte die letztere, zu ihrer Mutter gewendet. Sie durchflog das, wie es schien, eilig geschriebene Blatt und sagte dann: »Sie bittet mich, heute nach Potsdam zu kommen. Sie sei unwohl und sehne sich sehr nach mir. – Was soll ich thun, liebe Mutter? Das geht doch unmöglich; auch habe ich seit gestern alle Lust verloren, unser früheres Freundschaftsbündniß zu erneuern.«
Auf die Frage der Forsträthin, was der Grund dieser plötzlichen Kälte sei, erwiederte
Lydia ausweichend
»Glaubst Du denn, daß es Landsfeld nicht angenehm sein würde, wenn Du allein hinführest?« fragte die Forsträthin. »Du kannst ja Gertrud mitnehmen.«
»O, ich fürchte mich nicht, liebe Mutter. Und Richard hat mich ja selbst zu Besuchen aufgefordert. Auch schreibt mir Therese, daß am Bahnhofe ihr Wagen mich erwarten werde, und daß sie darauf rechne, daß ich die Nacht bei ihr bleiben werde. Aber gerade das möchte ich nicht gern.«
»Ich sehe wirklich keinen Grund, warum Du diese freundliche Bitte ablehnen willst, liebes Kind. Ich bin ganz wohl, wie Du siehest, Landsfeld kommt auch erst morgen.« –
»Wahrscheinlich« – verbesserte Lydia.
»Nun, das heißt wohl diesmal so viel als bestimmt. Es ist auch nicht gut möglich, daß er nach einer ermüdenden Jagd noch den weiten Ritt nach Hause macht, und nicht lieber auf dem Gute seines Freundes bleibt, der ihn eingeladen.«
Lydia gab zuletzt der Ueberredungskunst der Mutter
»Ist sie da?« – fragte eine männliche Stimme.
»Ja, – aber nicht allein,« war die Antwort. »Steigen Sie schnell aus.«
»Nicht allein? doch er nicht?«
»Nein, ein altes Weib. – Ich sehe sie eben auf den Perron treten. Beeilen Sie sich!«
Der Mann war indeß ausgestiegen und befahl dem Kutscher vor dem Perron vorzufahren, während er selbst, sich tief in den Mantel hüllend, zu Fuß nach der Stadt eilte.
»Habe ich die Ehre zu Frau Baronin von Landsfeld zu reden?« – sagte die Verschleierte, welche selbst den Wagen bestiegen, zu Lydia, die sich nach allen Seiten umsah, um die versprochene Equipage ihrer Freundin zu suchen.
»Allerdings« – erwiederte Lydia. – »Ist dies
»Ja wohl« – erwiederte die Erstere. »Frau von Rebenstock läßt sich entschuldigen, daß sie nicht selbst –«
»Ich weiß, sie ist unwohl.«
Arglos stieg sie mit Gertrud in den Wagen, dessen Seitenfenster indeß wieder aufgezogen waren. Die Wagenthüre wurde zugeworfen, und Lydia rollte an der Seite der Verschleierten auf dem unebenen Pflaster Potsdams rasch dahin. Anfangs war's ihr, als hätte sie die allerdings durch den Schleier unkenntlich gemachten Züge der ihr unbekannten Gesellschafterin Theresens – dafür glaubte sie sie halten zu müssen – schon einmal irgendwo gesehen. Da ihre Stimme ihr aber völlig fremd erschien, so glaubte sie, es sei eine Täuschung, deren sie sich durch eine indiskrete Frage nicht versichern wollte.
»Frau von Rebenstock bewohnt also auch im Winter ihr Sommerhaus?« fragte sie, als der Wagen vor einem einzeln stehenden ziemlich eleganten Hause außerhalb des Thores hielt.
»Sie liebt die Einsamkeit, gnädige Frau« – erwiederte die Gesellschafterin, indem sie
Lydia beim Aussteigen behülflich war, ironisch, was Jener nicht entging. »Erlauben
Sie, daß ich vorangehe« – fuhr sie fort,
Sie hatten indeß ein behaglich erwärmtes und sehr geschmackvoll möblirtes Zimmer betreten, dessen Fenster auf den Garten hinauslagen, welcher jetzt in seinem winterlichen Schmuck einen melancholischen Anblick gewährte. Lydia legte die warmen Oberkleider ab und fragte nach Gertrud.
»Befehlen Sie, daß sie heraufkommen soll« – fragte die zuvorkommende Gesellschafterin, und entfernte sich nach empfangener bejahender Antwort. Bald darauf ließ sich ein leises Klopfen an der Thür vernehmen. Auf Lydiens »Herein« öffnete sich die Thüre, aber statt der erwarteten Pflegemutter erschien zu ihrem größten, sprachlosen Erstaunen – – Berger.
»Ich habe der Gesellschaft eine kostbare Ueberraschung bereitet« – sagte der Major von Maienberg, in dessen Wäldern die Jagd stattfinden sollte, zu dem eben angekommenen Landsfeld. »Ich verlasse mich auf Deine Diskretion, wenn ich Dir das Geheimniß mittheile. – Frau von Rosen« setzte er leise hinzu – »wird an unserer Jagd Theil nehmen. – Sie hat zugesagt und mich wundert nur, daß sie noch nicht hier ist.«
Landsfeld war es nicht unlieb, Alicen, die er lange nicht gesehen, – einmal wieder zu sprechen, und seine Freude, die er über dies »Geheimniß« zu erkennen gab, war diesmal aufrichtig.
»Eure Liaison ist wohl ganz aufgehoben;« – fuhr Jener fort. »Du warst einmal verteufelt vernarrt in sie.«
»Nun, desto unbefangener wird Euer heutiges Zusammentreffen sein.«
Indessen hatten sich die übrigen Theilnehmer an der Jagd nach und nach eingefunden. Nur Alice fehlte noch. Nachdem Herr von Maienberg zwei volle Stunden auf sie gewartet hatte, gab er, an ihrem Kommen überhaupt zweifelnd, das Zeichen zum Aufbruch. Als die Sonne ihren höchsten Standpunkt erreicht hatte, sammelten sich die Jäger zu einer kurzen Rast auf einem zuvor dazu bestimmten Platze und nahmen ein für die Umstände ziemlich glänzendes Frühstück ein. Nach einigen Minuten hörte man ein deutliches Pferdegetrappel, das sich dem Sammelplatz zu nähern schien.
»Sie ist's« – flüsterte der Major Landsfeld in's Ohr.
Er hatte sich nicht geirrt. Im schwarzen Amazonenkleide, den Hut keck in die Locken gedrückt, sprengte Alice, von einem Reitknecht gefolgt, auf die Gesellschaft zu. Ihr Gesicht glühte und alle ihre Bewegungen verriethen eine ihr sonst ungewöhnliche fieberhafte Hast.
»Ist der Baron von Landsfeld hier?« war ihre erste Frage an Herrn von Maienberg,
nachdem sie
»Sehen Sie dort an jenem Baume, Verehrteste. Er ist eben im Begriff aufzusteigen.«
Alice trat rasch auf Landsfeld zu.
»Ich habe Dir einst gesagt, daß ich handeln würde, wenn's Zeit ist, Richard. Die Zeit ist da.«
»Was ist geschehen, sprich!« – fragte er, sich zur Ruhe zwingend.
»Lydia wird oder ist vielleicht schon entführt.«
»Entführt?« – fragte er in einem Tone, als verstünde er die Bedeutung des Worts gar nicht.
»Ja, sie ist durch einen untergeschobenen Brief, der sie zu einer Freundin nach Potsdam einlud, fortgelockt worden.«
Landsfeld schwieg, aber die fahle Blässe, welche sein Gesicht bedeckte, und das Zittern, welches durch seinen ganzen Körper bebte, kündeten hinlänglich seine innere Bewegung an.
»Höre mich ruhig an, Richard« – fuhr Alice fort, »denn nur durch Ruhe ist hier
Abhülfe möglich zu machen. Du warst gestern mit Deiner Frau auf der Hochzeit bei
Krengs. Dort waren, außer Rebenstocks und andern Bekannten Deiner Frau, auch einige
Freundinnen Corneliens, wovon die eine, zuvor instruirt,
Landsfeld stieß einen dumpfen Seufzer aus.
»Noch ist nichts verloren, Richard. Jetzt ist es Mittag. Um zwei Uhr kannst Du zu Hause sein. Dann kommst Du noch zur rechten Zeit. Sollte sie jedoch schon fort sein, so komme gleich zurück, dann reiten wir zusammen nach Potsdam; ich habe eine Vermuthung, wo sie dort sein könnte, aber es ist zu weitläufig, jetzt alles Einzelne auseinanderzusetzen. Bist Du in vier Stunden nicht wieder hier, so nehme ich an, daß Du Deine Frau noch getroffen hast. Eile, eile so schnell Du kannst.«
Aber Landsfeld gehorchte nicht. Stumm und mit gebeugtem Haupte stand er neben Alicen. Seine Kraft schien völlig gebrochen.
»Richard« – rief Alice ängstlich – »hörst
Als hätte ein Blitz vor ihm in den Boden geschlagen, so fuhr Landsfeld bei diesem Namen in die Höhe. Mit einem Ruck riß er sein erschrecktes Pferd herum, drückte tief die Sporen in seine Weiche, daß es sich zuerst hoch bäumte und sprengte dann in rasender Carriere durch den Wald.
Lange sah ihm Alice nach, ein tiefer Seufzer drängte sich aus ihrer Brust empor. Dann wandte sie ihr Pferd nach der entgegengesetzten Seite und ritt langsam auf der Spur, welche die Jagdgesellschaft auf dem Schnee zurückgelassen hatte, weiter.
Nach drei Stunden schon war Landsfeld zurück. Dieser Zwischenfall wäre von der übrigen Gesellschaft gar nicht bemerkt worden, wenn nicht die furchtbare Veränderung in Landsfelds Zügen und sein schweißtriefendes Pferd Zeugniß abgelegt, daß ihm irgend etwas Bedeutendes zugestoßen sein mußte.
»Was Teufel ist Dir begegnet?« – fragte der Major von Maienberg.
»Nichts« – erwiederte er mit harter heiserer Stimme. Ein ander Mal werde ich Dir
ausführlich Rede stehen. Jetzt gieb mir ein frisches
Nachdem Landsfeld die Pferde gewechselt, suchte er Alice auf.
»Ich bin zu spät gekommen. Sie war bereits auf den Bahnhof gefahren, wo ich gerade zur rechten Zeit anlangte, um den Zug abfahren zu sehen. – Jetzt löse Dein Versprechen, Alice.«
»Ich bin bereit« – erwiederte sie, ihre Reitgerte brauchend und ihr Pferd umwendend.
In der ersten halben Stunde wechselten sie kein Wort. Nur das Schnauben der galloppirenden Rosse, so wie der regelmäßige Aufschlag ihrer Hufe auf den harten, nur mit einer dünnen Schneekruste bedeckten Boden unterbrachen die sonst lautlose Stille.
»Wie erfuhrst Du es?« unterbrach endlich Landsfeld das Schweigen.
»Berger war gestern Abend bei mir nebst einigen andern jungen Männern, die ich zum
Thee eingeladen, als gegen Mitternacht Cornelie in's Zimmer trat und Berger einen so
siegestrunkenen Blick zuwarf, daß ich Verdacht schöpfte, der späterhin noch dadurch
verstärkt wurde, daß Beide in eine Fensternische traten und ein eifriges, aber leises
Gespräch mit einander führten. Wie ich seinen Inhalt erfahren, Richard, darüber
»Nur das Eine wußte Berger nicht, wohin Lydia durch Cornelie gebracht werden sollte. Indessen habe ich, wie schon gesagt, eine Vermuthung, die mich diesmal wahrscheinlich nicht täuschen wird. Cornelie hat nämlich eine Cousine in Potsdam, die dort ein einsames Landhaus besitzt, welches ohne Zweifel jetzt leer steht. Dorthin wird sie gebracht sein. Ist dies aber der Fall, dann müssen wir die größte Vorsicht anwenden.«
»Rede nicht von Vorsicht und Klugheit, Alice. Jetzt habe ich nur noch Einen Gedanken, die Nichtswürdigen in meine Gewalt zu bekommen.«
»Wenn's an der Zeit ist, magst Du handeln. Willst Du aber Alarm schlagen und Deine Frau zum Stadtgespräch machen?«
»Wahr, wahr!« – erwiederte Landsfeld.
»Du mußt mich allein gehen lassen. Mich werden sie nicht zurückweisen, theils weil ich einmal um das Geheimniß weiß, theils weil sie mich fürchten.«
»Verzeihe mir.« Eine Thräne glänzte in seinem Auge.
Alicens Hand bebte in der seinigen. »Mich frierts« – sagte sie, sie zurückziehend – »laß uns eilen, die Sterne stehen schon am Himmel.«
»O Gott,« rief Landsfeld, »wenn's nur nicht zu spät ist – das arme, arme Mädchen.«
»Mädchen?« – fragte Alice erstaunt. »Von wem sprichst Du?«
»Von meiner Frau« – gab er rasch zur Antwort. »Es ist die gerechte Strafe für meinen Unglauben! – Und doch – es wäre fürchterlich.«
»Besinne Dich, Richard, Du sprichst im Fieber.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist rein, und unentweiht wie ein ahnungsloses Kind.«
Der Ausdruck der Wahrheit, welcher in diesen Worten lag, erschütterte Alicen auf's tiefste.
»Und der Grund?« – fragte sie.
Er lachte bitter. – »O, der triftigste – ich wollte den Grad ihrer Weiblichkeit kennen lernen.«
Jetzt verstand ihn Alice vollkommen.
»Ich weiß es« – erwiederte er in derselben Weise, und schweigend ritten sie weiter.
Als Berger so unvermuthet in das Zimmer getreten war, blieb Lydia anfangs von Schreck gelähmt ruhig auf dem Sopha sitzen. Sie glaubte in einer heillosen Täuschung befangen zu sein und fuhr unwillkührlich mit der Hand über die Augen, um das vermeintliche Schattenbild ihrer Phantasie zu verscheuchen. Aber vergeblich. Als sie die Hand von den Augen nahm, fiel wiederum ihr Blick auf die unheimliche Gestalt ihres ehemaligen Verlobten.
»Ich bin's wirklich, Lydia« – sagte Berger langsam, indem er einen Schritt auf sie zutrat. Lydia stieß beim ersten Laute seiner Stimme einen leisen Schrei aus; dann sagte sie mit fremdem und kaltem Tone:
»Sie haben sich wohl in der Thüre, vielleicht gar im Hause geirrt, mein Herr.«
Lydia erbleichte, aber noch immer war sie über die eigentliche Lage, in der sie sich befand, vollkommen unbewußt.
»Ich wüßte nicht, wie Sie mich hier sollten erwartet haben. – Ich muß Sie bitten, sich zu entfernen, da ich jeden Augenblick zu meiner Freundin gerufen zu werden hoffe.«
Berger lachte.
»Mein Herr, was soll das Alles bedeuten?« – sagte jetzt Lydia mit wirklicher Angst. »Wo ist Frau von Rebenstock? Ich will zu ihr.«
»Bemühen Sie sich nicht.« – Er hielt eine Weile, während welcher er sich zugleich an ihrer Angst und ihrer Schönheit zu weiden schien, inne. Dann trat er noch einen Schritt vor und sagte mit hochmüthigem Tone:
»Hier werden Sie keine Freundin, sondern nur einen Freund sehen, der Freund bin ich.«
Lydia schloß die Augen, denn die ganze Umgebung schien sich plötzlich mit ihr im
Kreise zu drehen. Als sie sie wieder öffnete, war Berger verschwunden. »War es doch
nur ein Traum?« – fragte sie sich. Ihre Gedanken verwirrten sich immer mehr. Ihr war,
als sei sie plötzlich in ein Labyrinth gerathen, in dem sie
Einige Minuten darauf trat Cornelia ein.
»Bleiben Sie zurück, Berger« – sagte sie rückwärts sprechend, als sie Lydia erblickte, indem sie den linken Arm wie abwehrend nach hinten streckte.
»Was ist mit ihr geschehen?« – fragte dieser – »ist sie entflohen?«
»Nein, wenigstens ihr Körper nicht.« – Ein cynisches Lächeln begleitete diese Worte.
»Lassen Sie mich hinein« – rief Berger, sie auf die Seite schiebend. »Himmel, sie ist todt!« – setzte er erbleichend hinzu, als auch er Lydiens ausgestreckten Körper vor sich sah.
Endlich erhob Cornelia ihren Kopf und sagte: »Diesmal kommen Sie mit dem bloßen Schrecken davon. Sie ist nur in Ohnmacht gefallen, doch helfen Sie mir, es ist keine Zeit zu verlieren.«
Berger richtete Lydia empor und umfaßte sie mit seinen Armen. Er zitterte heftig, als er durch die von Cornelien geöffnete Thüre schreitend sie eine Treppe höher in ein anderes Zimmer trug, wo er sie auf ein Sopha niederlegte.
»Jetzt entfernen Sie sich, Berger.«
Er warf noch einen Blick auf die bleichen Züge seiner ehemaligen Braut und entfernte sich schweigend. Cornelie schloß die Thüre hinter ihm ab, und lösete Lydiens Kleider. Die ideale Form dieses schönen Leibes, die seelenvolle Harmonie des Ganzen, welche ihr daraus wie lebendige Poesie entgegen leuchtete, übte einen wunderbaren Eindruck auf das verhärtete Gemüth Corneliens. Sie konnte ihr Auge von diesem Anblick nicht losreißen. Da störte ein leises Klopfen sie aus ihrem tiefen Sinnen auf.
»Berger« – rief sie wie erwachend aus, indem sie unwillkührlich eine Bewegung machte,
als wollte sie
»Was will ich denn? Freilich, freilich. Dieser Jammermensch verdient es nicht. – Aber ist meine Rache nicht desto größer? Jetzt sollen Sie erfahren, Herr Baron, was es heißt, um das Ziel seiner Hoffnungen betrogen werden.«
Schnell warf sie einen Mantel über Lydia und öffnete die Thüre. Wie erstaunte sie, als anstatt Bergers ihr Alicens hohe Gestalt entgegen trat. Ohne einen Blick auf die erbleichende Cornelia zu werfen, trat Alice zu dem Lager Lydiens, welche eben die Augen aufschlug. Sie sah die beiden Frauen verwundert an. Beide Gesichter waren ihr nicht unbekannt, aber sie konnte sich nicht entsinnen, wo sie sie schon gesehen.
»Wo bin ich?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Was ist mit mir geschehen?«
»Beruhigen Sie sich« – nahm Alice das Wort. »Sie sind bei Freunden.«
Das Wort »Freund« rief Lydia plötzlich die kurze Scene mit Berger zurück. Sie fuhr empor und sagte leise, mit scheuem Blick umhersehend:
»Ist er fort?« – Als sie Niemand außer den beiden Damen erblickte, fiel sie wieder
ermattet zurück und sagte fast lächelnd und die Augen vor
Berger, der das Gespräch gehört hatte, klopfte abermals. Alicens Herz schlug hörbar, während Cornelia nach der Thüre ging. Berger trat stürmisch herein.
»Jetzt oder nie gilt es zu handeln« – sagte Alice zu sich, indem sie rasch ihren Dolch zog und den Schlüssel der Thüre, durch die Berger eingetreten war, umdrehte und abzog. Ehe es die andern Beiden verhindern konnten, hatte sie eben so schnell ein Fenster geöffnet und ein paar Worte hinausgerufen. Da begriff Berger, warum es sich handelte. Wie ein Tiger sprang er auf sie zu, aber ruhig hielt sie ihren Dolch ihm entgegen. Als die beiden Schuldigen die Schritte eines Mannes auf dem Korridor hörten, da überzog eine Leichenblässe ihre Gesichter. »Fort« – rief Alice mit gebietender Stimme, als Cornelia instinktartig auf die Thüre zueilte, während Berger, zitternd vor Wuth und Angst, mitten im Zimmer wie angebannt stehen blieb. Ruhig ging Alice auf die Thüre zu, öffnete und verschloß sie hinter sich, als sie das Zimmer verlassen.
»Komm, Richard« – rief sie, seine Hand im Dunkeln ergreifend. »Doch halt – schwöre mir, ihn nicht zu tödten.«
»Du wirst es, wenn Du willst. Schwöre!«
»Ich schwöre es Dir.«
»Gut.«
Es war in der That die höchste Zeit. Gegen Alicens Erwartung wollte Berger die wenigen Augenblicke, aus einer Art von Verzweiflung und im Bewußtsein, daß die nächsten Minuten ihm den Tod bringen konnten, nützen. – Er trat vor Lydia und sah diese mit verwilderten Blicken an.
»Was wollen Sie von mir?« – fragte sie erbebend.
»Dich selbst. – Weißt Du nicht mehr, wie Du mich von Dir gestoßen, als ich zu Deinen Füßen um Verzeihung flehte, in einen Abgrund. Du hast mein Leben vergiftet. – So will ich das Deinige vergiften.«
»Willst Du mich morden?« – Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Morden?« – sagte Berger lachend. »Nein. Ich will Dich nicht morden. Mein sollst Du sein, ganz mein!«
»Mein sein, ganz mein« – wiederholte sie mechanisch; sie dachte an ihre Brautnacht und an die Worte, welche damals Richard zu ihr gesprochen.
Als Berger sich über sie beugte – fühlte er eine starke Hand auf seine Schulter, welche ihn rücklings in eine Ecke schleuderte.
»Verruchter« – schrie Landsfeld – »Du hast es gewagt –«
Er konnte nicht mehr sprechen. Seine keuchende Brust rang vergeblich nach einem Laute. Endlich rief er mit donnernder Stimme: »Hinaus, wenn ich Dich nicht ermorden soll!«
Berger gehorchte. Die Frauen folgten ihm.
»Ich habe noch eine Schuld an Dich abzutragen, Arthur« sagte Alice, »deshalb magst Du gehen, obgleich ich das Versprechen gegeben, Dich nicht fortzulassen. Jetzt sind wir quitt. Lebe wohl.« Sie schloß ihm die Thüre zum Corridor auf. Er stürzte hinaus.
Landsfeld war, nachdem Berger das Zimmer verlassen, schweigend und todesmüde vor dem
Lager Lydiens niedergesunken, die beim ersten Laute seiner Stimme aus ihrer
unnatürlichen Scheinohnmacht in wirkliche Bewußtlosigkeit zurückgefallen war. Nach
einer langen Pause
»Lydia« – sagte er mit sanfter Stimme. »Geliebte, erwache!«
Wie durch ein Zauberwort öffnete sie ihr Auge. Mit einem lauten Schrei sprang sie auf an seine Brust und umschlang ihn krampfhaft.
»Ich wußte ja, Du konntest mich nicht verlassen, Richard« – sagte sie endlich mit einem wunderbaren Lächeln auf den bleichen Lippen.
Ein langer tiefer Seufzer hob Landsfelds Brust. »So kam ich noch zur rechten Zeit« – sagte er zu sich selbst, indem er aufstand und die Thüre öffnete. »Alice! – Alice – ich danke Dir.« Ein Thränenstrom entstürzte seinen Augen.
Alice zitterte. »Laß es gut sein, Richard. – – Führe mich jetzt zu ihr.« – Lydia reichte ihr weinend die Hand.
»Wo ist Cornelia?« – fragte er.
»Auf ihrem Zimmer, es ist das letzte am Corridor.«
Als er die Thüre öffnete und ins Zimmer trat, wurde er durch den Anblick, der sich ihm darbot, in Verwunderung gesetzt.
»Ihr Plan ist diesmal gescheitert, verehrte Freundin« – sagte er mit der kalten Ironie, welche ihm gegen Cornelia geläufig war.
»Diesmal« – erwiederte sie lakonisch.
»Hätten Sie Lust, einige Jahre die innere Einrichtung eines jener wohlthätigen Staatsinstitute kennen zu lernen, die man im gewöhnlichen Leben Zucht-, respektive Spinnhäuser nennt?«
»Für den Fall, daß Sie, verehrtester Freund, Sehnsucht danach haben, Ihre Frau Gemahlin an den Pranger der öffentlichen Meinung zu stellen, mit Vergnügen.«
Landsfeld biß sich auf die Lippen.
»Was hat Sie zu dieser That veranlaßt?« – fragte er ernst.
»Zuerst die reine Idee selbst. Sie müssen gestehen, daß sie zu pikant ist, um nicht zur Ausführung zu reizen. Dann – doch wozu soll ich Sie mit meinen Gründen unterhalten?«
»Es wäre mir doch interessant.«
»Wenn ich Ihnen wirklich damit ein Vergnügen mache, von Herzen gern. Also, wenn Sie
es denn wissen wollen« – sie stand auf und sagte, ihm starr
»Gegen wen, wenn ich fragen darf?« – sagte er kalt.
»Gegen Sie; oder halten Sie mich etwa für so bornirt, um jene Fabel zu glauben, die Sie mir in Pr--- t erzählten? so albern, um nicht zu wissen, daß Sie, Sie allein Schattenfrey von meinem Wege in Italien entfernten?«
»Sie irren sich, verehrte Freundin« – erwiederte er mit derselben kalten Ruhe. »Ich war es nicht. Hab' ich nicht mit Schattenfrey Sie selbst in Venedig aufgesucht?«
»Ja, als Sie wußten, daß ich es bereits verlassen.«
»Sie sind in einem beklagenswerthen Irrthum, Cornelia.«
»Beklagenswerth? für Sie, das geb' ich zu, und es freut mich, daß Sie das erkennen; aber für mich? daß ich nicht wüßte.«
Er war im Begriff, noch etwas zu sagen; indeß besann er sich und wandte sich nach der Thüre.
»Sie können das Haus verlassen, Cornelia.«
»Ich weiß es, aber ich fühle keine Lust dazu.
»Das Weib besitzt eine göttliche Unverschämtheit« – sagte er halblaut und ging hinaus.
Als er zu Lydia kam, fand er sie bereits völlig angekleidet neben Alicen auf dem Sopha sitzen. »Bist Du stark genug, mein theures Kind, um die Fahrt nach Hause zu ertragen?«
»Zu Allem bin ich stark genug, nur nicht um länger hier zu bleiben.«
»So will ich Alles in Bereitschaft setzen. Wo ist Gertrud?«
»Ich weiß es nicht.«
Alice ging hinaus und kam bald mit ihr zurück. Sei hatte ruhig wartend in einem der unteren Zimmer gesessen, verwundert, daß sich Niemand um sie bekümmerte. Sie wurde sogleich nach einem Wagen geschickt. In einer Stunde waren alle Vier in Berlin. Hier trennte sich Alice von ihnen, weil sie, wie sie sagte, zu angegriffen sei, um nicht der Ruhe zu bedürfen. Landsfeld führte Lydia sogleich in ihr Schlafzimmer, indem er Gertrud beauftragte, sie bei der Forsträthin zu entschuldigen.
»Wie ist Dir, meine Lydia?« – fragte er
»Richard, es war ein Augenblick, wo ich fühlte, daß ich dem Wahnsinn nahe sei. – Jetzt ist mir besser. Ich bin ruhig sogar, denn ich habe Dich wieder. Das Erlebte ist nur noch wie ein Traum, oder wie eine lange Vergangenheit in meinem Gedächtniß. Ich bin nur verwirrt und abgespannt, aber nicht unwohl. – Morgen wirst Du mir Manches erklären müssen, Richard; aber heute nicht – heute nicht mehr.«
Landsfeld beobachtete sie mit ängstlichem Schweigen. Als Gertrud kam, stand er auf. »Gute Nacht, theure Lydia.« – Sie reichte ihm ihren Mund, auf den er einen herzlichen Kuß drückte.
»Was soll ich ihr zur Erklärung sagen?« – fragte er sich, als er allein auf seinem Zimmer war, in dem er mit langen Schritten auf- und abging. »Sie wird mich nicht verstehen. – Sie muß Zeit haben, sich zu erholen.«
Ein Klopfen störte ihn in seinen Reflexionen. Es war Gertrud. »Was giebt's?« – fragte er erschreckend über den Ausdruck von Angst in ihren Zügen. »Ist meine Frau unwohler geworden?«
»Meine Schwiegermutter? – Was ist mit ihr?«
»Sie wird vielleicht kaum den morgenden Tag erleben.«
»Das wolle der Himmel nicht« – sagte Landsfeld ernst. »Ihre Angst wird wohl die Gefahr etwas übertreiben, Gertrud.«
»Ach nein, gnädiger Herr« – erwiederte die Alte, sich die Thränen mit der Schürze trocknend. »Der Herr Doktor haben es auch gesagt. Er ist noch bei ihr. Sprechen Sie selbst mit ihm.«
»Das würde das Maaß von Lydiens Leiden voll machen« – sagte Landsfeld laut zu sich selbst sprechend.
»Bitten Sie den Herrn Doktor auf einige Augenblicke zu mir zu kommen« – sagte er zu ihr.
»Ist wirklich Gefahr, lieber Freund« – sagte er zu diesem – »sprechen Sie ohne Hehl.«
»Ja, es ist Gefahr und sehr große. Sie müssen sich auf Alles gefaßt machen. Eine Krisis, die ich schon lange befürchtet, ist eingetreten. Es kann sehr schnell zu Ende sein.«
»Ich danke Ihnen. Gehen Sie, ich bitte dringend,
Es gehörte eine körperlich wie geistig so riesenkräftige Natur dazu, wie sie Landsfeld besaß, um den ungeheuren Anstrengungen der letzten 24 Stunden nicht schon erlegen zu sein. Aber jetzt war auch seine Kraft erschöpft. Bis zum Tode ermattet, war er nicht mehr im Stande, selbst die eigene kritische Lage, den ganzen Umfang der Gefahren, die sein ganzes Lebensglück in diesem Augenblick bedrohten, zu ermessen. Er sank unausgekleidet auf das Sopha, und verfiel in einen tiefen, todtähnlichen Schlaf, aus dem ihn erst gegen 6 Uhr ein lautes Pochen an seiner Thüre er weckte.
Karl trat ein. – »Gnädiger Herr – erschrecken Sie nicht – es ist ein Unglück –« Landsfeld bedeckte sich das Gesicht mit den Händen. »Die gnädige Frau Mutter –«
»Ist todt?«
Karl antwortete nicht, aber er trat zu seinem Herrn und küßte seine Hand. »Sie müssen
nicht den Muth
Diese einfachen Worte enthielten eine Wahrheit, die ihren Eindruck auf Landsfeld nicht verfehlte. Er drückte seinem treuen Diener die Hand und sprang auf. –
Als er in Lydiens Schlafgemach und an ihr Lager trat, sah sie ihn mit großen Augen an, ohne etwas auf seinen Morgengruß zu erwiedern. Auf ihrem Gesicht flammte eine brennende Röthe.
»Was ist Dir, Lydia?« – fragte er, von neuen Ahnungen erschreckt.
»Nicht wahr« – erwiederte diese – »Therese wird sich freuen, wenn ich sie besuche. Warum soll ich auch nicht? Richard hat mich selbst dazu aufgefordert.«
Sprachlos starrte Landsfeld auf die Phantasirende. Dann verließ er das Zimmer, um den Arzt aufzusuchen, als dieser ihm auf dem Corridor begegnete.
»Sie wissen es schon, Herr Baron?« – fragte er.
»Ich weiß es« – sagte Landsfeld tonlos. »Aber kommen Sie. Ich glaube meine Frau bedarf jetzt mehr, als irgend ein Anderer Ihrer Hülfe.«
»Es ist ein nervöses Fieber« – sagte er endlich. »Vorläufig noch keine Gefahr, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten.«
Wieder waren mehrere Monate vergangen. Lydia hatte indeß die langwierige Krankheit überstanden, welche durch die Nachricht von dem Tode ihrer Mutter, der ihr nicht verheimlicht werden konnte, eine gefährliche Höhe erreicht hatte. Der Winter hatte bereits den milden Lüften des erwachenden Frühlings weichen müssen. Draußen regte und bewegte sich Alles in neuer Frische und jugendlicher Kraft, während auf den Straßen Berlins die weiße reinliche Schneedecke mit ihrem Schlittengeläute und geputzten Pferden durch einen dicken Schlammüberzug, in dem sich nur bescheidene Droschken und klappernde Hundekarren hineinwagten, ersetzt worden war.
Als Lydia sich stark genug fühlte, bezog Landsfeld auf Anrathen des Arztes mit seiner
jungen Gemahlin
Vielleicht hätte er noch länger geschwiegen, obwohl
Gegen Ende des Maimonats war ihre Freundin Therese in Begleitung ihres Gemahls von
Potsdam zum Besuche herübergekommen, um sich nach langer Trennung persönlich von dem
Befinden ihrer Jugendfreundin zu überzeugen. Es war natürlich, daß Lydia jener
unglücklichen Fahrt nach Potsdam gegen Niemand, am wenigsten aber gegen die
schuldlose Theilnehmerin an jenem Complott, die leiseste Erwähnung gethan hatte, und
auch fest entschlossen war, darüber zu schweigen. Indessen konnte sie die tiefe
Aufregung, in die sie durch den Anblick Theresens gesetzt wurde, weil ihr plötzlich
jene Scene lebendiger in die Erinnerung zurückkehrte, vor den Blicken der Freundin
schwer verbergen. Therese deutete aber den halb traurigen, halb forschenden Blick,
den Lydia auf sie warf, ganz anders. Sie erwartete in zwei Monaten ihre Niederkunft
und glaubte daher den schmerzlichen Ausdruck im Auge Lydiens aus dem Umstande
erklären zu müssen, daß sie selbst sich dieser
Aber Lydia war weit entfernt davon, Alles, was sie eben gehört, für Wahrheit zu halten, theils weil die Weise, in der es ihr vorgestellt wurde, ihr reines Gefühl zu sehr beleidigte, theils weil, wäre es ihr auch in anderer zarterer Weise dargelegt worden, sie nie hätte glauben können, daß Richard, ihr Richard, dem sie sich mit so grenzenlosem Vertrauen hingegeben, wirklich so hätte handeln können, wie es ihre indiskrete Freundin sie glauben machen wollte.
Mit vor edlem Zorn hochroth gefärbten Wangen sprang sie von der Bank auf, auf der sie neben Theresen auf dem Balkon gesessen hatte.
»Schweige, ich bitte Dich ernstlich und zum letzten Male« – rief sie. »Willst Du, daß unsere Freundschaft bestehen soll, so darf ich nie wieder ein derartiges Wort von Dir hören, Therese!«
»Armes verblendetes Kind« – entgegnete diese, sie mitleidsvoll betrachtend. – »Doch
ich will schweigen, wenn Du es verlangst. Denn Du hast vielleicht jetzt mehr als je
meine Freundschaft nöthig. Aber –« In diesem Augenblicke kehrten die Männer aus
dem
»Laß uns hineingehen, Richard« – sagte sie zitternd. »Es wird schon kühl draußen.«
Es konnte hierin eine indirekte Mahnung an ihre Gäste liegen, daß es Zeit sei, sich zu entfernen. Wenigstens wurden die Worte Lydiens so verstanden. Denn Therese brach augenblicklich auf, um nach Hause zurückzukehren.
Als die beiden Gatten allein waren, herrschte eine lange Pause. Lydia rang vergeblich
nach Worten, in denen sie ihr Gefühl hätte ausdrücken können; und Landsfeld wagte es
nicht, diesem Gefühle, dessen Grund und Wesen er wohl kannte, Worte zu geben, aus
Furcht, daß dadurch Lydiens Schmerz nur vergrößert werden würde, wenn sie sähe, wie
gut sie verstanden werde.
»Meine theure Lydia, ich glaube, es wird gut sein, wenn Du Dich bald zur Ruhe legst,
Du scheinst sehr angegriffen. Ob es der ungewöhnlich lange Besuch war, der Dich so
aufgeregt, oder ob Dich etwas Anderes beunruhigt hat, darüber wollen wir morgen
sprechen.« Landsfeld stand bei diesen Worten auf und rief Gertrud, der Lydia auch
sogleich fast willenlos in ihr Schlafgemach folgte. Landsfeld ging mit gesenktem
Haupte auf und nieder. Bald wollte er Theresen nacheilen, um Sie zu fragen, was sie
mit Lydia gesprochen, bald legte er die Hand auf den Griff der Thüre, die zu Lydiens
Zimmer führte, um sie aus dieser tiefen Niedergeschlagenheit durch die Versicherung
seiner unwandelbaren Liebe herauszureißen und in einer vollständigen innigen
Versöhnung jeden Nebel, der sich am Horizonte ihrer gegenseitigen Liebe zu lagern
drohte, zu verscheuchen, und die Morgenröthe der vollen ganzen Einheit wahrhafter
Gattenliebe heraufzuführen. – Aber
»Nicht wahr?« – sagte er – »Du hast Vertrauen zu mir, Du glaubst an meine Liebe?«
»Gewiß, gewiß – Richard« – rief sie, ihn umschlingend. »Den Glauben kann mir Niemand rauben, als Du selbst.«
Beruhigter fuhr er fort: »Und hat ihn Dir Jemand zu rauben versucht, Lydia?«
»Sage mir nur Eins, mein Richard – ich frage nur, um mit dem einen Worte, das Du mir
sagen
»Wie kommst Du auf diese Frage?« – fragte er ausweichend.
Sie schüttelte den Kopf, und verbarg das Gesicht in die Hände.
Landsfeld wünschte der Wiederholung jener Frage zuvor zu kommen, da er begreiflicherweise sie weder bejahen, noch verneinen konnte, weil er in dem einen Falle die Schranke zu einer ewigen gemacht, im andern ihr mit einem Worte den Glauben an ihn zerstört hätte. Er umfaßte sie mit tiefer Innigkeit und preßte einen heißen Kuß auf ihre Lippen. »Lydia, konntest Du je an meiner Liebe zweifeln?«
»Verzeih, verzeih, Richard!«
»Als ich Dich kennen lernte, Lydia« – fuhr er fort, da er jetzt die Unmöglichkeit
einsah, die Erklärung, welche er ihr nothwendigerweise einmal geben mußte,
aufzuschieben, um jenen Zweifel ganz zu ersticken. – »Als ich Dich kennen lernte,
hatte ich den Glauben an weibliche Reinheit und Liebe verloren. Ich war in meinen
liebsten Hoffnungen getäuscht, in meinen theuersten Wünschen betrogen und alle meine
Ideale hatten sich als leere Schattenbilder erwiesen. Da sah ich Dich –
Er schwieg.
Lydia hörte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, denn Landsfeld hatte sich über sein Inneres, über die Kämpfe, die früher darin getobt hatten, nie gegen sie so aufrichtig und klar geäußert.
»Du warst wohl recht unglücklich damals, Richard« – sagte sie liebevoll.
»Sehr unglücklich, ja, das war ich – ja, ich bin es theilweise noch. Denn – mißdeute mich nicht, – ich habe ein Unrecht gegen Dich, oder vielmehr gegen mich zu büßen; dies Unrecht war, daß ich mich gegen jene Ueberzeugung zu lange gesträubt habe, daß ich fast aus Furcht, mein Ideal wieder zu verlieren, dagegen angekämpft habe; dies Unrecht lastet auf meiner Seele und läßt mich noch heute mein Glück nicht vollständig genießen.«
»Aber als Du nun jene Ueberzeugung erlangt hattest, Richard, da sträubtest Du Dich doch nicht mehr gegen sie? Wie hättest Du sonst Dich entschließen können, Dich mit mir zu verbinden, wenn nicht jene Ueberzeugung in Dir schon feste Wurzel geschlagen?«
Diese, den eigentlichen Kern der Immoralität ihrer bisherigen Ehe berührende Reflexion, welche unmittelbar aus Lydiens reinem natürlichen Gefühl stammte, machte Landsfeld zittern. Gerade diesen Punkt war er zu verdecken bemüht gewesen, und nun wurde er mit Gewalt zur Entscheidung getrieben. Jetzt blieb ihr nur noch ein Ausweg, um zum Ziele zu kommen, und das war gerade jener, den er am meisten gescheut hatte: der Weg der Leidenschaft.
»Lydia« – rief er, aus tiefster Brust aufathmend, indem er ihren Kopf zwischen seine Hände nahm und ihr lange und tief in das blaue Auge schaute. Seine Stimme versagte ihm fast, als er, halb vor Verzweiflung halb aus wirklicher, tiefer, überströmender Liebe, endlich in die Worte ausbrach: »Du weißt nicht, wie unendlich, wie unsagbar meine Liebe zu Dir ist.«
In diesem Augenblicke ging in Lydiens Innern eine ungeheure, ihr ganzes Wesen bis in
die kleinsten Empfindungsfasern tief erschütternde Umwandlung vor, indem plötzlich
die Erinnerung an jene furchtbare Scene mit Berger in ihr auftauchte. Ein Schauder
durchrieselte wie Todesfrösteln ihre Glieder, als der Gedanke in ihr lebendig wurde,
daß – Therese Recht gehabt habe. Ihr Herz durchzuckte der tiefe brennende Schmerz
einer unendlichen Trostlosigkeit, die sie in einem Nu an den Rand der Verzweiflung
schleuderte. »Er hat Dich nicht geliebt« – so tönte es wieder und immer wieder in
ihrer Seele. »Du bist Ihm nichts gewesen als eine Puppe, mit der er gespielt, als ein
Instrument, mit dem er kalte und berechnende Versuche angestellt.« Sie fühlte sich
erniedrigt, gedemüthigt, bis im innersten Lebenskeime verwundet, und das unnennbare
Weh' betrogner Liebe zog wie Ahnung des Todes durch ihre Brust. Hätte sie die
physische Kraft gehabt, so würde sie den im Taumel schrankenloser Leidenschaft
Fortgerissenen von sich gestoßen
Hätte sie widerstehen können, wäre ihr Stolz hinlänglich durch ihre physische Kraft
unterstützt worden, um seine Empörung wenn auch nur durch den Versuch eines
Widerstandes bethätigen zu können, dann würde ihre verrathene Liebe sie vielleicht
einem frühen Tode zugeführt haben. Aber da Landsfeld, theils weil er selbst zu sehr
durch eigene Leidenschaft verblendet war, theils weil Lydia seinem Ungestüm nicht den
geringsten Widerstand
Als Landsfeld aus seinem Rausche erwachend, den Kopf erhob und sein liebender Blick
den ihrigen suchte, war er durch die fahle Blässe und ausdruckslose Schlaffheit ihrer
Züge überrascht. Ihr Auge war weit geöffnet, aber ohne lebendigen Glanz, ohne jene
Bestimmtheit der Richtung und Sehweite, welche man Blick nennt, starrte es
empfindungs- und gedankenlos in ein leeres Nichts. – »Lydia« – sagte er sanft und
innig. Sie hörte nicht – »Lydia« wiederholte er ängstlich flehend. – Vergebens.
Dieser Ton, der sie einst aus der tiefen Bewußtlosigkeit geweckt, in welche sie Angst
und Abscheu in den Armen Bergers versenkt hatte, er hatte seine Zauberkraft auf immer
für sie verloren. Landsfeld sprang
»Schrecklich wär's« – fügte er mit furchtbarem Hohn gegen sich selbst nach einer Pause hinzu, »in dem Moment, wo das Glück beginnen soll, den Tod im Arm zu halten. Ich will Wahrheit« – schrie er, den Arm ausstreckend – sein Finger zuckte – mit abgewandtem Gesicht suchte er die Stelle des Herzens – – –
Da erhob sich Lydia. Als hätte er einen Geist erblickt, so trat Landsfeld einen
Schritt zurück, denn Lydia
»Lydia« – rief er. Sie zuckte einen Augenblick zusammen, aber sie ging weiter. Da eilte er ihr nach und umschlang sie mit seinen Armen. Ein herzzerreißender dumpfer Schrei drang aus ihrer Brust und lös'te sich endlich, als Landsfeld sie noch heftiger umfaßte, in lautes Schluchzen auf. »Mutter, Mutter« – rief sie mit einer Stimme, die die höchste Angst ausdrückte – »Hülfe« –
Gertrud, die den ängstlichen Hülferuf gehört hatte, eilte vor Schrecken bleich herzu. Mit übermenschlicher Kraft riß sich Lydia aus der Umschlingung Landsfelds und stürzte in die Arme ihrer alten Amme. »Mutter« – rief sie weinend, indem sie ihr Gesicht an Gertruds Brust versteckte – »rette, rette mich vor ihm!«
Jetzt faßte Landsfeld sie mit starken Armen und trug sie auf ihr Lager zurück. Es wurde sofort ein Wagen nach der Stadt geschickt, um den Arzt herauszuholen.
Eine Stunde wohl hatte Landsfeld am Bette Lydiens gesessen und jeder Bewegung, jedem
Athemzuge der Unglücklichen gelauscht. Was in dieser Stunde in seiner Seele vorging,
welche Angst, welche Ahnungen in ihm stürmten, kann man nicht in Worten ausdrücken.
Kurz
Während eines solchen Kampfes war es, als der Arzt eintrat. Sobald sie ihn erblickt hatte, stürzte sie auf ihn zu, und rief ihm flüsternd und geheimnißvoll ins Ohr: »Er hat mich nie geliebt. – Ich bin entehrt.«
Landsfeld verbarg sein bleiches Gesicht in die Hände, und sank verzweiflungsvoll auf einen Stuhl.
Ein sanfter Druck auf der Schulter weckte ihn aus seiner Betäubung. »Sie armer Mann!« – sagte der Arzt, »Ihre Frau ist wahnsinnig.« –
Lautlos stürzte Landsfeld zu Boden.
Auf dem Balkon eines der geschmackvollen und eleganten Villen, welche das sanft aufsteigende, mit Reben bedeckte rechte Ufer der Elbe unterhalb Dresden schmücken, saß an einem milden Juniabend eine Dame von etwa acht und zwanzig Jahren, den gedankenvollen Blick auf die Zeilen eines Briefes gerichtet, den sie mit der rechten, sehr zarten und weißen Hand hielt, während die Linke nachlässig über die Balkonlehne hinabhing. Als sie das Ende des Briefes erreicht hatte, ließ sie die Hand auf den Schooß sinken.
»Es konnte nicht anders kommen« – sagte sie halblaut. – »Und doch – wer kann's wissen, ob schon alle Hoffnung verloren. Sie oder Ich – vielleicht Beide.«
»Mein Gott, gnädige Frau, wie bleich sehen Sie aus! Was ist geschehen?«
»Wann ist der Brief abgegeben?« – fragte die Dame, ohne auf die Aeußerungen des jungen Mädchens Rücksicht zu nehmen.
»Schon heute Vormittag, als Sie eben fortgeritten waren.«
»So kann ich ihn jeden Augenblick erwarten« – sagte Jene vor sich hin, indem eine flüchtige Röthe ihre Wangen färbte.
Einige Minuten später öffnete ein Mann die Thüre des Gartens, auf den der Balkon hinausging und näherte sich mit langsamen Schritten dem Hause. Die Dame war aufgestanden, um den Nahenden zu bewillkommnen.
Ihr Herz schlug fast hörbar, und eine tiefe Beklommenheit schien sich in den ängstlichen Blicken und dem schnellen Auf- und Abwogen ihres Busens kund zu geben.
Endlich standen Beide einander gegenüber und betrachteten sich einige Sekunden mit großer Aufmerksamkeit.
»Du hast Dich sehr verändert, Richard« – sagte die Dame sanft.
»Findest Du das? – Um so mehr freue ich mich darüber, wie gut Du Dich konservirt hast, Alice.«
Nun lud sie ihn zum Sitzen ein. Nach einer langen Pause, während welcher Beide sich ihren Betrachtungen überlassen zu haben schienen, sagte endlich Landsfeld mit bebender Stimme:
»Ich komme vom Sonnenstein –«
»Wie befindet sie sich? – ist keine Aenderung in ihrem Zustande sichtbar?«
»Keine – seit zwei Jahren, das heißt seit zwei maßlosen Ewigkeiten – keine!«
»Hat sie Dich gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte den Abscheu, der sie bei meinem Anblick zu ergreifen pflegt, nicht mehr ertragen. – Aber – lassen wir ruhen, was begraben ist. Ich habe unsagbar gebüßt, und muß Ruhe haben – Ruhe. – Im Sturm des Oceans, wenn die Windsbraut die Elemente in einander jagte und ihr Geheul anstimmte zu der Vermählung des Himmels mit dem Meere: da war mir auf Augenblicke wohl – aber nur auf Augenblicke. Ich habe dem Tode in's Angesicht gesehen, aber die Erlösung fand ich nicht.«
Stumm stand Alice auf und führte ihn, seine hand ergreifend, in das Haus hinein. Nachdem sie durch mehrere Zimmer geschritten, öffnete sie endlich durch den Druck einer verborgenen Feder eine Tapetenthür und sagte, in's Innere hineinweisend: »dort.«
Es war ein kleines, überaus lieblich geschmücktes Gemach, welches durch die buntgemalten Fenster mit einem sanften warmen Schein erfüllt wurde. Gerade der Thüre gegenüber stand eine kostbar gearbeitete Wiege, und darin lag, von einer weißseidenen Decke bis zur Brust verhüllt, ein junges, sehr zartes Kind, die kleinen Händchen über der Brust gefaltet. – Landsfeld trat näher. Eine Thräne – seit zwei langen Jahren die erste – trat in sein Auge, als er sich über die Wiege beugte, um einen Kuß auf die weiße Stirn des schlafenden Engels zu drücken. Aber als hätte er eine Natter berührt, so fuhr er zurück. Sein Haar sträubte sich, seine Augen rollten fürchterlich, als wollten sie ihre Höhlen verlassen, seine Lippen stammelten unartikulirte Laute.
Sie hatte ihn bei diesen Worten in ein anderes Zimmer geführt.
Mit fahlen Zügen und zitternden Lippen, den irren Blick auf einen Punkt gerichtet, hörte er die Worte Alicens, aber keine Veränderung in seinen Mienen bewies, daß er sie verstanden. Endlich sagte er mit leiser und gebrochener Stimme, indem er die Hände verzweiflungsvoll vor das Gesicht schlug: »Todt – todt – Alles gemordet – Alles.«
Alice sah mit kummervollen Blicken auf den Verzweifelnden. Sie fühlte, daß er nie mehr glücklich werden könne, daß sein Leben ihm nur eine ewige Last sein werde.
»Lasse es mich noch einmal sehen, Alice« – sagte er endlich – »nur einmal noch, ehe ich scheide.«
Sie zauderte einen Augenblick – dann drückte sie auf's Neue an der Feder und die Thüre öffnete sich wie das erstemal.
Landsfeld kniete an der Wiege nieder und blickte
»Was würdest Du an meiner Stelle thun, Alice?«
»Sterben« – sagte diese ruhig.
»Das dachte ich auch – aber darf ich hier sterben?« – Er wies auf die Wiege.
»Ja!«
Alice wandte sich zum Gehen.
»Alice« – rief er noch einmal. Er hatte ihr beide Hände entgegengestreckt. Da vermochte sie sich nicht länger zu halten. Weinend stürzte sie in seine Arme und drückte einen langen – langen Scheidekuß auf seine kalten Lippen.
Er wandte sich sanft aus ihren Armen und blickte sie flehentlich an.
Sie stürzte hinaus und schloß die Thüre, neben der sie sich auf den Boden niederkauerte.
Nach einigen Minuten erfolgte eine Explosion. Sie sprang empor und trat ein.
Landsfeld lag über der Wiege ausgestreckt. Die Kugel war ihm mitten durch das Herz gegangen. Alice stürzte sich über ihn.
»O, Richard« – stöhnte sie schluchzend. –
Eine tiefe Ohnmacht lagerte sich wie ein Schleier über ihre Sinne.
Abermals war eine halbe Stunde verflossen, Alice saß, noch halb betäubt, in ihrem Wagen. Die Fahrt ging zum Sonnenstein. Sie verlangte den Arzt der Irrenanstalt zu sprechen, welcher Lydia in der Kur hatte. Nach einem langen Gespräch, während dessen der Irrenarzt, ein noch junger, sehr bleicher Mann, mit raschen Schritten das Zimmer auf- und abgeschritten war, trat eine Minutenlange Pause ein.
»Sie können vielleicht Recht haben« – sagte endlich der Arzt, auf dessen Gesicht sich ein tiefer, innerer Kampf abzuspiegeln schien, zu Alicen.
Jetzt erhob sich auch Alice. Außer der Marmorweiße auf ihrer Stirn und Wange deutete keine Spur auf die vergangene furchtbare Scene, die sie kurz zuvor erlebt. Ihr Auge glänzte mit demselben Feuer wie vorher, und ihre Stimme hatte ihren gewöhnlichen melodischen sonoren Klang.
»Und glauben Sie denn« – wandte sie sich zu dem Unentschlossenen – »daß dies Wagestück, wie Sie es nennen, wirklich so bedenkliche Folgen haben kann? Ich glaube es nicht. Gewiß wird der Anblick auf sie gar keinen oder einen wohlthätigen Eindruck hervorbringen.«
»Wohlthätig? – Was kann wohlthätiger für die Arme sein, als der Mangel des Bewußtseins, und vollends jetzt? Indeß ist es möglich, daß, da sie den Lebenden nicht kannte, der Todte sie noch weniger erschüttern wird. Verweilen Sie hier einen Augenblick, ich werde sogleich zum Direktor der Anstalt gehen, um persönlich die Erlaubniß auszuwirken.«
Als Alice allein war, ließ sie sich wieder auf den Sessel nieder und stützte das
Haupt leidenschwer auf die Hand. Gedanken der widersprechendsten und vielfältigsten
Art mußten sie durchkreuzen, denn bald rollte
Der Direktor hatte die Bitte gewährt.
Rasch eilten sie Beide dem Flügel zu, in welchem Lydiens Gemach lag, wie alle Behausungen dieser Art halb Kerker, halb Krankenstube. Bei ihrem Eintreten fanden sie die Unglückliche auf dem Boden sitzend, den Schooß mit einer Menge von Blumen angefüllt, aus denen sie Kränze zu flechten versuchte.
Eine beklemmende Empfindung bemeisterte sich Alicens, als sie auf Lydia zutrat und einen forschenden Blick auf ihre Züge warf. Es war keine sehr bemerkbare Veränderung darauf zu sehen. Nur als ihr glanzloser und scheuer Blick dem Auge Alicens begegnete, las diese darin die Vernichtung dessen, was den Menschen über das Thier erhebt – des Bewußtseins.
Ein irres, halb verwundertes Lächeln glitt über ihre bleichen Lippen, als sie das
fremde Gesicht erblickte,
Nachdem Alice einige Minuten im Wagen zugebracht, erschien Lydia am Arme ihres Arztes, in der Ferne von einem Wärter gefolgt. Sie stiegen ein und rollten, nachdem der Wagen fest verschlossen war, auf der Straße nach Dresden hin. Während der ganzen Fahrt sprach Niemand von den Dreien ein Wort, aber als sie vor der Gitterpforte des Gartens hielten, ergriff Alice des Arztes Hand und sagte mit bebender Stimme:
»Muth, Muth!«
Langsam gingen sie den Fußsteg hinauf, den noch wenige Stunden zuvor Landsfeld betreten hatte und standen zitternd nach wenigen Schritten vor der Thüre, die die Lösung dieses furchtbaren Räthsels verschloß.
Jetzt war durch eine merkwürdige Verwandlung, die plötzlich in Alicens Seele
vorgegangen war, ihre ganze geistige Kraft zurückgekehrt. Mit sicherer Hand drückte
sie die Feder, während sie mit der andern Lydiens Arm ergriff, um sie halb mit Gewalt
in's Zimmer zu drängen. Eine geraume Zeit herrschte eine lautlose
Sein bleiches Gesicht, aus dem der Tod jede Falte des Grams verwischt hatte, war ihrem Blicke offen zugekehrt.
In sprachloser Angst starrten die Beiden auf jede ihrer Bewegungen, und es schien Anfangs nicht, als ob die Befürchtungen des Arztes und die Hoffnungen Alicens sich verwirklichen wollten. In einem gegenüberhängenden Spiegel konnten sie genau den irren Blicken der Wahnsinnigen folgen, die zuerst wild im Zimmer umherschweiften und sich endlich auf den Todten senkten.
Da fuhr es wie ein eisiger Schauer durch ihren Körper, aber kein Schrei, kein Laut drang aus ihrem Munde und wie gefesselt wurzelten ihre Füße auf dem Boden, doch in demselben Augenblicke erhielten auch ihre Blicke ihre bestimmte Richtung wieder, während sie immer fest und starr auf die Züge des Todten geheftet blieben.
»Sehen Sie diesen Blick?« – sagte der Arzt zu Alicen. »Noch zwei Minuten und sie ist entweder todt oder bei Bewußtsein.«
In der That konnte man fast von Sekunde zu Sekunde wahrnehmen, wie das erwachende
Bewußtsein in
Einen Monat später fuhr ein schwer bepackter Reisewagen durch das Kärnthner Thor in Wien ein.
Zwei Frauen in tiefe Trauer gekleidet sahen theilnahmlos aus demselben auf das fröhliche Treiben der Kaiserstadt. – Es waren Alice und Lydia auf dem Wege nach Italien.