Vorwort
Das Leben ist fragmentarisch; die Kunst soll ein Ganzes schaffen!
Diese Blätter gehören in Dichtung und Wahrheit dem Leben an, und machen nicht
Anspruch auf künstlerischen Werth! Darum sind sie fragmentarisch, wie diese ganze
moderne Welt, aus deren gährenden Elementen sie hervorgegangen, ein Beitrag zur
Charakteristik unseres Lebens! Wer den reichen Zauber der Gestaltung besitzt, und die
Idee zu bannen versteht in ewige Formen: der wird nach Maß und Regeln der Schönheit,
auch dies zersplitterte, moderne Leben zu einem harmonischen Kunstwerk
zusammenfassen, ihm dauernde Bedeutung geben und sich selbst mit ihm unsterblich
machen! Wir andern aber können nur einzelne Blätter, vielleicht Früchte von den
Lebensbäumen dieser Zeit pflücken! Wir schreiben flüchtige Zeilen; aber wir schreiben
sie mit unserem Herzblut! Findet dies Fragment Anklang, hat der Kern dieses Lebens
und sein Schicksal eine allgemeine Bedeutung: so schließt sich vielleicht ein zweites
Fragment daran, das manche Entwicklungen weiter führt, und manche »confessions«
vollendet.
Hamburg, im März 1847.
Louise Aston.
1
Eine alterthümliche Pfarrerwohnung gilt von jeher für das heimathliche Reich der
Idylle. Hier quartiert, seit Vossens Louise, die gemüthliche Phantasie der Dichter
ihre behaglichen Gestalten ein, welche in dem Comfort eines stillen, in sich
befriedigten Lebens das letzte Ziel und den ganzen Werth der Existenz zu erschöpfen
wähnen. Etwas Lindenschatten und Abendroth, Mittagessen und Gebet, eine Promenade
durch die Kornfelder, die Bereitung des Kaffees und wenn es hoch kommt, eines
Hochzeitbettes – das genügt dieser friedlichen Poesie, welche die breite Prosa des
Lebens in ihre langathmigen Verse übersetzt. Doch der idyllische Kuhreigen hat in
unserer Litteratur ausgetönt, da die Beschränktheit solcher Existenzen auch
nicht auf Natur und Wahrheit Anspruch machen kann; sondern mit Recht als ein
affectirtes Ignoriren des Lebens in der Welt und ihrer Geschichte angesehen wird, das
Utopien einer spießbürgerlichen Phantasie. Diese Genrebilder ohne Perspective und
Hintergrund finden kein Publikum mehr; denn sie sind poetische Grillen, welche der
Wirklichkeit fern liegen. Selbst in das abgeschlossenste Pfarrhaus hinein dringt das
Leben mit seinen Beziehungen und Gegensätzen, mit seiner Noth und Bedeutsamkeit;
dringt der Zeitgeist mit seinen Kämpfen und seinen Zielen. In eine solche
Pfarrwohnung, die nur äußerlich den idyllischen Frieden zur Schau trägt, während in
ihrem Innern das moderne Leben seine socialen Schlachten schlägt, versetzen wir jetzt
die Phantasie unserer Leser.
Die ersten Strahlen der Maiensonne drangen verstohlen durch zwei kleine, runde
Schiebfenster, über welche dichtbelaubte Kastanienbäume die ehrwürdigen Schatten
warfen, in ein traulich enges Gemach, und beleuchteten hier eine eigenthümliche
Scene. Auf einem altmodischen mit großblumigen Kattun überzogenen Sopha saß ein
Greis mit finstern, unheimlichen Zügen. Die kleinen, grauen Augen, der stechende
Blick kontrastirten unangenehm mit dem silberweißen Haar, und störten den Eindruck
des ehrwürdigen Alters. Vor diesem Greise knieete ein liebliches Mädchen von
siebenzehn Jahren. Lichtbraune Locken fielen noch ungeregelt auf den weißen Hals und
Nacken nieder, und gaben dem zarten Oval des Angesichts eine süße, träumerische
Färbung. Die großen blauen Augen sahen in tiefem Schmerz zu dem Greis empor, während
ihre Hände krampfhaft gefaltet auf dem Busen ruhten, als wollten sie den heftigen
Schlag des Herzens hemmen. Die ganze Erscheinung des Mädchens hatte etwas Rührendes;
denn ihre Züge waren von jener eigenthümlichen Schönheit, deren Reiz durch den
Ausdruck des Schmerzes erhöht wird, denen der Menschenkenner schon im Voraus
prophezeiht, daß sie einst den Stempel tiefen Leidens tragen werden. – Die
Einrichtung des Gemachs entsprach dem Sinn der Bewohnerinn. Sie war einfach und klar,
und entbehrte aller unnützen Zierrathen, mit denen sich sonst die Eitelkeit der
Damen zu umgeben pflegt. Ein blankgebohnter Nußbaumtisch, drei geflochtene kleine
Rohrsessel, ein Spiegel in Duodezform bildeten mit dem Sopha das ganze Meublement. In
einer Ecke lehnte eine Harfe, mit einem halbverwelkten Immortellenkranz geschmückt,
während auf dem niedrigen Fenstergesimse wie zum Hohn für das abgestorbene Bild der
Unsterblichkeit üppig blühende Geranien und Rosen prangten. Die Wände des Zimmers
waren blendend weiß, nur hin und wieder mit schwarzen Kreidezeichnungen dekorirt,
denen Nußbaumholz zum rohen Rahmen diente, wahrscheinlich Reminiscenzen aus der
frühesten Jugend des Mädchens. Mitten in dieser Einfachheit that es dem Auge fast
weh, auf dem Roccoco-Tisch Gegenstände des feinsten Luxus zu finden. In chaotischer
Unordnung lagen die kostbarsten Preciosen umher. Ein elegantes, rothes Saffian-Etui
ließ einen prachtvollen Rubinschmuck hervorschimmern; Blonden und Kanten blickten
neugierig aus ihren halbgeöffneten Kartons zu einem Atlas-Kleid hinüber, das über der
Sophalehne hing, gleich als ob sie sich sehnten, an dem schweren, weißen Gewand
als blendender Schmuck zu prangen.
»Es ist fest und unwiderruflich, Johanna,« sprach der Greis mit heiserer Stimme;
»heute wirst Du die Gattin des Herrn Oburn. Ich habe mein Wort gegeben; ich halte
mein Wort. Der Mann ist reich, sehr reich; Du wirst ein glänzendes, vielfach
beneidetes Leben führen, da vergißt sich rasch die sentimentale Jugendliebe, das
Spiel einer müssigen Phantasie, das vor dem Ernst des Lebens verschwinden muß. Du
wirst es mir später Dank wissen, daß ich Dein Geschick gewählt.«
»Mir schaudert, Vater,« entgegnete das Mädchen, »wenn ich an den Mann nur denke, von
dem man so viel Unheimliches sagt, dessen ganzes Wesen mir widerwärtig ist. Aus
seinen Zügen spricht ein Geist, der mir ewig fremd bleiben wird, den ich nicht
verstehe, nicht verstehen will, der mir wie eine feindliche Macht gegenübertritt und
mein Gefühl empört. Nie, nie könnte ich diesem Manne angehören! D'rum, laß mir mein
Glück, meinen Frieden, Vater! Sieh', ich bin noch so jung! Du hast mich so oft Deine
holde Blume genannt! O laß' mich hier fortblühen ungestört bei Dir, und wachsen
und werden, was der innere Trieb gebietet. Dort muß ich verwelken, verdorren – ich
fühl's – dort ist meine Heimath nicht. Und dann,« fuhr sie fort mit lieblicher
Schüchternheit, »Du weißt es ja mein Vater, ich liebe, heiß und innig, habe dem
Geliebten das Wort gegeben, ihm allein auf immer anzugehören. Und Du willst mich
zwingen, meineidig zu werden, Du, ein Diener des Herrn? Du mußt es ja wissen, wie
fluchwürdig eine Untreue vor Gott ist.«
Der Greis hörte in höchster Aufregung die Worte der Tochter an; doch er bekämpfte die
Aufwallung seines Innern, die aus seinen feurigen Blicken und seinen Zügen sprach,
und erwiederte ruhig: »Höre aufmerksam zu, Johanna! Was ich Dir jetzt sage, wird Dir
jede weitere Einrede ersparen. Ich tadle Dich nicht; denn auch mir war die Liebe, als
ich noch jung war, das Höchste, das einzig Begehrenswerthe, dem man jedes Opfer
willig bringen muß. Ich war sehr arm, hatte früh die Eltern verloren, und stand unter
der Aufsicht eines Vormundes, eines redlichen, aber strengen Mannes, der mich
für den Handwerkerstand bestimmte, weil mir die Mittel zu einer höheren Ausbildung
fehlten. Doch ich traute mir Kraft und Talente zu, eine andere Laufbahn zu wählen:
und brachte es durch eifriges Studium dahin, daß ich die Universität zu H. beziehen
konnte. Ohne Geld, ohne Connexionen, mit dem bittersten Mangel kämpfend, verlebte ich
meine Studienjahre. Die Freuden der Jugend, das Glück eines frischen Lebens, die
ungehemmte Freiheit der Existenz – mir war das alles unbekannt. Ich suchte diesen
Verlust zu verschmerzen, in eifrigem Studium, in begeistertem wissenschaftlichen
Streben Ersatz zu finden für ein sonst freudloses Dasein. Aber auch die Schätze der
Wissenschaft sind der Armuth verschlossen; und nur das Gold ist die Zaubersalbe des
Abdallah, welche den Zutritt zu ihnen öffnet, und dem Auge erlaubt, in ihre Tiefen zu
schauen. Mit großer Mühe mußte ich mich durchkämpfen zu den Quellen des Wissens,
welche den begüterten Studenten mühlos und leicht zuflossen. Da schien mir dieses
Metall eine Zaubermacht, gegen die anzukämpfen, nutzlos ist, mit der man sich
verbünden muß, um das Leben zu besiegen. Seit jener Zeit ist mir der Reichthum ein
hohes Gut, das ich gehaßt und doch mit Gier erstrebt; dem ich nachjagte, während es
mich floh, wie mein eigener Schatten. Du, mein Kind, kennst die Noth und den Hunger
nicht! Das waren die Gefährten meiner Jugend, die mich von Tag zu Tag hetzten durch
ein Leben, das keinen andern Zweck kannte, als den, sich selbst zu behaupten, sich
selbst fortzufristen. Wie oft schlich ich mich des Nachts auf die Aecker der
begüterten Bürger, um mit den Früchten des Feldes, dem fremden Eigenthum, mich vor
dem Hungertod zu erretten. – Doch auch diese qualvolle Zeit ging vorüber. Ein
glänzendes Examen, das ich nach dreijähriger Studienzeit zurücklegte, verschafte mir
die Gunst und Empfehlung eines Professors und durch dieselbe eine Hauslehrerstelle in
einer gräflichen Familie. Ein achtjähriger Knabe wurde meiner Sorgfalt anvertraut,
während ich der fünfzehnjährigen Tochter nur Musikunterricht ertheilen sollte. Hier
in diesem Hause war ich täglich den empfindlichsten Demüthigungen ausgesetzt.
Die ungebildete, hochmüthige Familie behandelte mich, den Erzieher ihres Kindes,
gleich einem Domestiken. Wenn ich oft nahe daran war, das Haus zu verlassen – da
tödtete der Gedanke an meine Armuth, an eine Zukunft ohne Mittel und Aussicht, den
freien Entschluß. Allmählig fand ich in meinen Zöglingen Ersatz für die bittern
Kränkungen, welche die Eltern mir zufügten. Elise, die Tochter des Hauses, machte mir
das Leben zum erstenmale wünschenswerth. Unsere gegenseitige Neigung wurde bald zur
Liebe; die Liebe zur heftigsten Leidenschaft, die nicht nur über mich, sondern auch
über die Schülerinn maßlosen Jammer brachte. Die Mutter, eine herzlose Kokette,
eifersüchtig auf die Reize der Tochter, entdeckte bald mein Verhältniß zu Elisa. Ich
wurde in einer entehrenden Weise, die meinen Namen an den Pranger stellte, aus dem
Hause gejagt. Ohne eine andere Stellung zu finden, irrte ich lange Zeit in der Welt
umher, im Herzen verzehrende Liebe, von Noth und Sorge treu begleitet. Die
bewegtesten Schicksale waren an mir vorübergegangen; – Jahre voll Arbeit und
Mühe lagen hinter mir; – ich hatte tüchtig mit dem Leben gerungen, bis ich diese
Pfarrstelle erhielt, ein bescheidenes Loos, das meine Existenz sicherte; ohne mein
Streben nach höheren Lebensgenüssen jener Welt, die der Reichthum zu schaffen vermag,
zu befriedigen. Meine Liebe war nicht erloschen – unter allen Kämpfen des Lebens
dachte ich mit Sehnsucht an den kurzen Traum meines Glücks. Sechs Jahre lang hatte
ich nichts von der Gräfinn gehört; ich glaubte sie längst vermählt, und hätte ihr
keinen Vorwurf daraus gemacht, wenn sie mir ihr gegebenes Wort gebrochen. Da hörte
ich von einem Freund, daß, jedem Zwang, allen Mißhandlungen zum Trotz, mir die
Geliebte treu geblieben und mein in unveränderter Liebe gedenke. Diese Nachricht
machte mich unaussprechlich glücklich. So geliebt, um seines Selbst wegen so geliebt
zu sein, ist für den Mann ein berauschendes Glück, das mir alle Ruhe und Ueberlegung
raubte. Ich fand Mittel, mich der Gräfinn zu nahen. Sie wollte mein Weib werden, mir
der Eltern Liebe, Rang und Reichthum zum Opfer bringen; und ich war nicht edel
genug, dies Opfer abzulehnen. Ohne den Segen der Eltern wurde Elise meine Gattinn –
Deine Mutter.« – Erschöpft hielt hier der Greis einige Augenblicke inne; dann fuhr er
bewegter fort: »Aus großer, alles bezwingender Liebe war diese Ehe geschlossen
worden; dennoch war sie nicht glücklich. Glaube mir, Mädchen, Liebe beglückt nur auf
kurze Zeit! Deine Mutter ist edel und liebenswürdig; – dennoch waren wir Beide elend;
deine Mutter, weil sie alle gewohnten Annehmlichkeiten des Lebens entbehren mußte;
ich, weil ich nicht im Stande war, sie ihr zu verschaffen. So sind uns freudlose
Jahre vorübergegangen, welche mir die traurige Lehre gaben, daß unter bedrückten
äußern Verhältnissen jede Hoffnung auf Glück getäuscht wird. Das Glück kehrt nur bei
den Glücklichen ein! Du bist mein einziges Kind – die Erfahrung meines Lebens soll
Dir zum Heile werden! Du sollst einer jugendlichen Täuschung nicht den wahren Genuß
des Daseins opfern! Ich muß Dich schützen vor all' dem Jammer, den Deine Mutter
erlebt.«
Mit sichtlicher Spannung hatte Johanna den Worten des Vaters gelauscht, und
schien in einer kurzen Pause über ihren Inhalt nachzudenken. Aus ihren Zügen sah man,
daß dies Denken ein Erleben war, das ihr Wesen in seinen innersten Tiefen faßte; daß
sich in diesem Augenblick die ganze Zukunft bedeutsam in ihr zusammen drängte.
Plötzlich begann sie mit jener Entschiedenheit, welche, wie mit einem gewaltsamen
Ruck, alle Zweifel abschüttelt:
»Deine Geschichte, Vater, paßt nicht auf mich! Ich bin keine Gräfinn, bin an
Entbehrungen gewöhnt. Mir wird ein einfaches Leben genügen. Und dann –« fuhr sie fast
feierlich fort, – »meine Mutter war Dir treu; auch ich werde meiner Liebe treu sein,
als ihre echte Tochter. Ich lasse mich nicht verhandeln gegen schnödes Gold; ich
kenne etwas Edleres, als dies Metall – meine Liebe! Ich schwöre Dir's – nie werd' ich
Oburns Gattin!« Alle Heftigkeit, die der Greis bisher bezwungen, kam nun bei ihm zum
Ausbruch. »So wagst Du, mit mir zu sprechen, thörichtes Kind? Bist Du nicht
mein Geschöpf? Ist nicht mein Wille Dir Gesetz? Du mußt ihm gehorchen; denn ich bin
Herr über Dich! Es bleibt dabei: heute Abend wirst Du dem Herrn Oburn ehlich
angetraut! Ich will es und befehle es!« Bei diesen Worten blitzte es im Auge der
Tochter dämonisch auf; das blühende Antlitz wurde marmorbleich; doch fest und ruhig
erhob sie sich; sah den Vater durchdringend scharf an, und sprach mit Bestimmtheit:
»Aber ich – ich will es nicht! So weit gehen die Rechte eines Vaters nicht, einer
flüchtigen Laune die Jugend, ja das ganze Leben eines Kindes zu opfern. Hier hört der
Gehorsam auf, und mir allein gebührt die Entscheidung. O sieh' mich nicht so zornig
an, als zöge ich mit diesen Worten auf ewig eine Scheidewand zwischen unsere Herzen!
Ich bin jung – noch sehr jung – kenne die Welt und ihre Freuden nicht; dennoch ahnt
es mir, daß es ein Glück geben muß, ein Glück der Liebe und des Genusses, in das sich
zu versenken höchste Befriedigung ist! Und ich will glücklich sein, mein Herz hat die
Kraft dazu, die Kraft, in der Seligkeit aufzugehn. Das fühl' ich jetzt, denn Du
verurtheilst mich, des Lebens unschätzbarste Güter einem ungeliebten Manne
hinzuopfern, dessen verlebte Züge nur das Todesurtheil aussprechen über meine Jugend.
Mich reizt nicht all' diese Pracht der äußern Existenz, die seelenlos auch der Seele
nichts zu bieten vermag, sie nur fesseln kann in blendender Sklaverei. Nie werde ich
diese Fesseln ertragen!« Bei diesen Worten nahm sie mit zitternder Hand eine schwere
goldene Kette vom Tisch; und ihre zarten Finger rüttelten und spielten gedankenlos
mit den Ringen und Gliedern des prächtigen Geschmeides. Doch über den Greis kam der
Sturm des Unwillens, und unterbrach gewaltig die kurze Pause sprachlosen Erstarrens,
in das ihn die Rede der Tochter versetzt. Die unbeherrschte Leidenschaft triumphirte!
An dem braunlockigen Haar riß er die Tochter wild hin und her, und stieß sie dann mit
den Füßen von sich, in maßlosem Zorn ausrufend: »Ungerathene! Ich fluche Dir!«
Erschöpft, todesmatt, mit blauen Lippen und festgeschlossenen Augen sank der Greis,
nach diesem Ausbruch der Wuth, ohnmächtig auf das Sopha zurück. Der gellende
Schrei: »Mein Vater ist todt,« tönte in dem sonst so stillen Pfarrhaus wider.
2
Es war Mittag geworden. Schwüler drangen die Sonnenstrahlen durch die Fenster, die
sie des Morgens nur angenehm erhellt hatten. Todtenstille herrscht in dem Gemach.
Noch liegt der Kranke bewußtlos da. Eine Matrone steht vor ihm, reibt die erstarrten
Hände, küßt die blauen Lippen, um sie zu erwärmen, und sieht, nach dem vergeblichen
Versuch, trostlos zum Himmel empor. Der Arzt steht neben ihr, und prüft ruhig nach
seiner goldenen Cylinderuhr den Pulsschlag des Kranken. Dann unterbricht er das
Schweigen; »Es war ein Nervenschlag, verehrte Frau, der ihren Gatten getroffen. Doch
hoffen Sie – seine Erstarrung wird nachlassen; er wird zum Leben zurückkehren; nur
fürchte ich, mit einer Lähmung mancher edeln Organe!«
Mit einem seligen Lächeln schaute die Frau den glückverheißenden Arzt an. So traurig
auch das Ende seiner Rede war – sie hatte es überhört; und nur die Worte: »er
wird zum Leben zurückkehren«, freudig aufgefaßt und ihrem Gedächtniß eingeprägt.
Sorgsam nahm sie ihre Hand aus der kalten Hand des Greises, schlich leise in eine
Ecke des Zimmers, wo die Tochter lang ausgestreckt auf dem Estrichboden lag. Segnend
legte sie die Hand auf des Mädchens Haupt, und sprach weich: »Johanna, mein Kind,
wache auf! Dein Vater wird nicht sterben – Gott ist uns gnädig! Er läßt diesen Kelch
an Dir vorübergehen. Doch bete, bete, Kind, daß auch die Lippen noch den Fluch
zurücknehmen, den sie über Dich ausgesprochen; denn Vaterfluch ist eine schmerzliche
Mitgift für's Leben.« Mit irren Mienen richtete sich das junge Mädchen auf, strich
sich die ungeordneten, thränenfeuchten Locken von der Stirn, und erwiederte klanglos:
»Was soll ich thun, Mutter? Soll ich beten – soll ich heute noch Oburns Weib werden?
Mein Muth, mein Herz ist gebrochen. Dieser unselige Morgen hat mich willenlos
gemacht. Ich bin bereit – laß' die Hochzeitglocken läuten – flicht mir den
Brautkranz!« Zitternd an allen Gliedern sank sie zurück in ihren Stumpfsinn;
und kein äußeres Zeichen gab den innern Kampf der Seele kund. Wieder waren einige
bange Stunden vorübergegangen, Stunden, die ein ganzes Leben voll Freude quitt
machen. Da hob der Greis matt die Augenlieder auf; die Lippen regten sich; er
versuchte zu sprechen; – doch die Zunge war auf immer gelähmt!
3
Ein fröhliches Posthorn schmetterte in der Ferne. Näher kam's und näher, zum einsamen
Pfarrhaus hinan. Bald hielt ein eleganter englischer Reisewagen, den vier prächtige
schwarze Rosse zogen, vor demselben still, Herr Oburn, der glückliche Bräutigam,
sprang jugendlich keck aus dem Wagen, und stürzte auf das Zimmer seiner Braut zu, wie
ein Raubvogel auf seine Beute. Am Abende dieses Tages standen die Thüren der
altmodischen Dorfkirche weit offen. Der mit hölzernem Schnitzwerk verzierte Altar war
reich mit Kränzen und mit frischem, grünen Laube geschmückt; zwei Wachskerzen
brannten auf kolossalen Messingleuchtern. Eine Bibel, in schwarzem Sammet
eingebunden, lag auf dem Betpult, vor dem zwei rothe, dem Anschein nach neu
angeschaffte Sammetsessel standen. An dem Weg von der Kirche bis zum Pfarrhaus, der
mit weißem Sand und Blüthen bestreut war, bildeten die festlich geputzten
Dorfbewohner ein Spalier, durch welches das Brautpaar nach alter Observanz, hindurch
gehen mußte. Jetzt ertönte das Geläute der einzigen Glocke; ein Zeichen, bei dem sich
alle Blicke nach der Thüre der Pfarrwohnung richteten. Gravitätisch überschritt Herr
Oburn die Schwelle, und überschaute das Volk mit triumphirendem Blick. Seine
Persönlichkeit gab der Menge zu mancherlei Bemerkungen Veranlassung, in denen der
idyllische Witz der Landleute sich mit vielem Behagen erging. Herr Oburn war ein Mann
von 50 Jahren, klein und fett, mit einem würdevollen Hängebauch, einem vollen,
aufgedunsenen, dunkelrothen Gesicht, mit einer unförmlichen, großen Nase, neben der
sich eine zweite kleinere, wie eine Tochterloge, etablirt hatte. Beide waren mit den
Farben von Burgunder und Rum malerisch schattirt. Die Stirne, gewiß von der Natur
dazu bestimmt, in diesem Gesicht die beste Parthie zu sein, war durch veilchenblaue
Adern, die dick hervorquollen und sich kreuzten, wie Heereszüge auf strategischen
Karten, unangenehm entstellt. Um den gemeinen breiten Mund zog sich ein Lächeln
grober Sinnlichkeit, das an ein thierisches Grinsen erinnerte. Um das Gesicht würdig
einzurahmen, fiel spärliches rothes Haar, genial vernachlässigt, von dem ziemlich
kahlen Scheitel auf die Schläfe herab. Dies Meisterwerk der Natur war durch eine
modisch-elegante Kleidung verhüllt. Der schwarze, feine Anzug, die Weste und Kravatte
von weißem Atlas, suchten nach Kräften mit dem Gesichtsteint zu harmoniren, dem das
feste Zuschnüren der Halsbinde zu der traurigen Aehnlichkeit mit einem gekochten
Krebse verhalf. Das ganze Bild erinnerte an den Mann im feurigen Ofen, obgleich jeder
Anstrich alttestamentlicher Salbung fehlte.
An der Seite dieses Feuerkönigs schwankte ein bleiches Engelsbild, ein Mädchen mit
dem höchsten Liebreiz geschmückt, voll Harmonie und Ebenmaaß. Ein echter Madonnenkopf
mit unaussprechlich schönen Augen, einer kleinen, feingeschnittenen Nase, und einem
Munde, den die Grazien um sein Lächeln hätten beneiden können; eine hohe, schlanke
Figur, an der dennoch jede Form, rund und weich, eine selbstständige Vollendung
erstrebte; Hals, Hand und Fuß von seltener Schönheit – alles das schien diesem Wesen
von der Natur mitgegeben, auf daß es beglückend in Liebe glücklich sei. Darum empörte
der Anblick des Zerrbildes, das, wie ein wahrer Popanz, an der Seite dieses schönen
Menschenbildes, einhertrottirte. Heute war das feine Roth, das sonst die jugendlichen
Wangen zierte, verschwunden, der Mund festgeschlossen, und das Auge blickte starr und
regungslos umher. Ein weißes Atlaskleid umgab in malerischen Falten die frischen,
edeln Glieder; ein Kranz von blühenden Myrthen schmückte die hohe Stirn – sonst war
alles an ihr schmucklos und einfach. Während das ungleiche Brautpaar der Kirche
zuschritt, sprach sich in den verschiedensten Aeußerungen, in Lauten der Bewunderung
und des Spottes, die Stimme des Volkes aus. Ein pietistischer Prediger, den man rasch
aus der Nachbarschaft herbeigeholt, hielt eine salbungsvolle Traurede, durchdrungen
von überschwänglichem Christenthum; und suchte besonders die große Güte des lieben
Gottes nachzuweisen, die sich der Braut so sichtbar offenbarte, indem sie ihr einen
mit Glücksgütern vielfach gesegneten Ehegemahl zu Theil werden ließ. Als
endlich die Ceremonie zu Ende war, und der Prediger nach christlichem Gebrauch die
Worte der Bibel vorlas: »und er soll dein Herr sein,« da zuckte es schmerzhaft um die
Lippen der Braut; und als sie das ewigbindende Ja! aussprach, da richtete sie die
Augen gegen den Himmel, ein Blick, aus dem das verzweiflungsvolle Bewußtsein sprach,
daß sie mit diesem Wort ihr Leben zu einem ununterbrochenen Opferfeste mache. Die Ehe
war geschlossen.
Es war ein schöner, warmer Maiabend; der Vollmond stand groß am Himmel, die Blumen
dufteten stärker und zarter; Nachtigallen sangen süße Lieder der Liebe; die Natur war
still und ruhig, und schwelgte in ihren ewiggleichen Harmonieen, als wäre sie bewußt
des sichern Gesetzes, das ihren wandellosen Kreislauf beherrscht. Was kümmerte es
sie, daß ein Herz gebrochen, ein junges Leben gemordet war?
Eine Stunde später hielt der Reisewagen des Herrn Oburn vor der Thüre. Koffer und
Schachteln, mit Garderobe und Weißzeug, der einzigen Aussteuer der eben
vermählten Madame Oburn, wurden in den bequemen Wagen gebracht. Herr Oburn sah den
Vorkehrungen gemüthlich zu, rieb sich seelenvergnügt die weichlichen und doch
unzarten Hände, spielte mit der übermäßig dicken Uhrkette, und sah mit widerlichem
Lächeln von Zeit zu Zeit auf seine Uhr. »Gott sei Dank,« murmelte er vor sich hin,
»der langweilige Tag neigt sich zu Ende, und näher kommt die Stunde, in der mein Weib
ganz mein eigen wird. Wie will ich schwelgen in ihren jungfräulichen Reizen!
Wahrhaftig, sie ist schön, und werth, meine Frau zu sein!« Und sich zum Diener
wendend, fuhr er fort: »James, höre! Du giebst dem Postillon dreifaches Trinkgeld,
wenn er mich rasch, sehr rasch zur nächsten Station führt; Du nimmst ein Pferd,
reitest meinem Wagen voraus; jage, so rasch Du kannst, wenn auch das Pferd drauf geht
– darauf kommt es nicht an – nur schnell, schnell wie der Teufel! Bestelle im Hotel
Zimmer zur Nacht für mich und meine Frau; hörst Du, James, so schön wie möglich! Ich
hab' ja Geld; ich kann's bezahlen! Nur schnell, schnell! Ich komme gleich nach mit
meiner Frau!« Während dieses Gesprächs verweilte die Heldinn unserer Erzählung
allein in dem stillen, freundlichen Gemach, in welchem wir ihre erste Bekanntschaft
gemacht haben. Ihr Auge haftet unverwandt auf der Stelle, wo am Morgen der alte Vater
den Fluch über sie ausgesprochen. Sie wirft sich auf die Kniee, faltet die Hände und
will beten; doch ihr fehlen die Worte – sie kann es nicht; ihr Elend ist zu groß
selbst für die Gnade des Himmels. Thränenlos sieht sie sich um in den unbegränzten
Räumen, die sie seit frühester Jugend bewohnt. Hier hatte sie ein kurzes, ideales
Liebesglück genossen; und durch die Reihe der Jahre hindurch verfolgte sie
träumerisch alle Wünsche und Hoffnungen, die hier in traulicher Dämmerstunde ihre
Brust geschwellt. Nun lag alles hinter ihr – abgeschlossen, ein Paradies, aus dem sie
verbannt war. Sie blätterte in dem Buch dieser schönen Vergangenheit, in welches das
Leben noch nicht seine ehernen Lettern geprägt! Noch war es ein Stammbuch voll
duftiger, zarter Blätter, Blumen der Freundschaft und Liebe; auch manches
unbeschriebene Blatt mit bedeutungsvollen Zeichen, über das die Ahnung hinaus
in die unbestimmte Ferne zog! Dies Buch war geschlossen auf immer; das Evangelium
ihrer Jugend durfte nur noch in der Erinnerung leben! »O, könnte ich nur weinen!«
seufzt sie, und schlägt mechanisch einige Töne auf der Harfe an, als könnte sie
dadurch eine mildere Stimmung heraufbeschwören, und bewußtlos geht sie dann in eine
ihr unendlich theuere Melodie über. Diese Töne versetzen sie außer sich; ihr ganzer
Körper zittert krampfhaft; jede Fiber bebt; ihr Wesen ist im Innersten erschüttert –
und doch bleibt das Auge trocken; keine Thräne kühlt die innere, verzehrende Glut.
Noch einmal faltet sie ihre Hände zum Gebet – dann springt sie unheimlich rasch auf,
und ruft: »Beten kann ich nicht – wohlan so will ich fluchen. Es giebt keinen Gott
der Liebe; warum leide ich sonst: Wenn die Gnade des Himmels nicht allgemein ist, wie
sein Regen und sein Sonnenschein; wenn sie nicht auch zu mir und meinen Schmerzen
segnend herniedersteigt: dann ist sie ja nichts, als ein Traum der Glücklichen,
die ihr süßes Vorrecht in so schöne Bilder kleiden. Ich will nicht länger zu diesen
Träumen schwören. Meine Träume hat die Wirklichkeit zertrümmert, die Wirklichkeit
dieser Welt und ihre eherne Macht! Wohlan, so will ich sie anerkennen, und mit ihr
kämpfen um jeden Fuß breit Landes, den ich mir umschaffen will in ein Paradies.«
»Für die Welt, die den Sieg davongetragen über mein Herz,« fuhr sie feuriger fort,
»für die Welt nur will ich leben. Das Geld, mit dem der Seelenhandel getrieben wird,
dem ich die Ideale meiner Jugend geopfert, ist ja der Schlüssel zu dem Reich dieser
Welt, zu allen Quellen des Genusses und der Freude! Geld war mein Verhängniß – es
soll mein Verhängniß bleiben, dem ich willig folge; gegen das ich länger nicht
thöricht kämpfe! Ich gelobe es mir fest in dieser qualvollen Stunde; und breche mit
den frommen Träumen und heiligen Gelübden meiner Jugend.«
Das Aeußere der jungen Frau war wie umgewandelt durch den innern Kampf. Mit stolzer,
fester Haltung erhob sich die früher so weiche, kindliche Gestalt, und
überschritt mit einer Entschiedenheit, welche auffallend gegen den frühern,
schwankenden und zögernden Gang abstach, die Schwelle, um von ihren Eltern den
letzten Abschied zu nehmen. Der Vater lag, zwar lebend, doch für immer der Sprache
beraubt, ermattet auf seinem Bette. Bei dem Eintritt der Tochter erhob er mit großer
Anstrengung seine Hände und legte sie auf ihr Haupt, das noch immer mit dem
bräutlichen Kranze geschmückt war; doch die Lippen bewegten sich nicht und konnten
den Fluch nicht zurücknehmen. Mutter und Tochter hielten sich darauf, einige Minuten
lang, fest umschlungen; das Haupt der Tochter ruh'te an dem eingefallenen Busen der
Matrone, wie eine geknickte Blume an dem mütterlichen Erdreich; und ihre Thränen
vermischten sich. Ihr Schmerz war stumm – noch ein Kuß auf die heißen Lippen der
Mutter, auf die eiskalten des Vaters – und rasch stürzte sie zum Pfarrhaus hinaus.
Herr Oburn hob mit geckenhafter Galanterie seine Gattin in den Wagen. Die Thür wurde
zugeschlagen; der Postillon blies das alte Lied: »Welche Lust gewährt das
Reisen!« und schnell entschwand der Zug dem schmerzlich nachblickenden
Mutterauge.
4
Die Saison des Jahres 18** war glänzender, als alle früheren des an Pracht gewöhnten
Karlsbad. Drei gekrönte Häupter waren hier versammelt, nicht, um Genesung zu suchen
für irgend ein Leiden, sondern um über das Wohl ganzer Nationen zu entscheiden. Von
Karlsbad aus wurde schon einmal das Schicksal der Welt bestimmt, als die mürrische
Diplomatie über die jugendlichen Freiheitsbestrebungen der Völker den Stab brach, und
alle, der neuen Entwicklung günstigen Paragraphen, mit feinen Wendungen aus der
Bundesakte hinaus interpretirte. Damals strömten in Karlsbad alle gewandten
Vertheidiger und Anhänger des status quo zusammen, welche aus den nationalen
Bewegungen der Jugend das revolutionaire Element herauswitterten, das den bestehenden
Mächten und ihrem wohlgeordneten System Gefahr drohte. Die ganze Camarilla des
Absolutismus, die Diplomaten mit der eleganten Beweisführung, die aus juristischen,
historischen und theologischen Fetzen dem gottesgnädigen Königthum den Mantel
zusammenschneiderte, die heilige Legitimität proklamirte, das unwandelbare Gesetz der
politischen Welt; die Aristokraten jeder Art, welche ihre alten Rechte zu wahren
hatten, gegenüber den Anforderungen einer neuen Zeit – alle schienen hier ein Schutz-
und Trutzbündniß zu schließen, eine heilige Ligue des neunzehnten Jahrhunderts. Doch
auch in dem Jahre, in dem unser sociales Drama spielt, hatte die Zusammenkunft des
Kaisers von Rußland, des Königs von Preußen und des Königs von Hannover alle treuen
Vasallen dieser Potentaten in Karlsbad versammelt. Der ganze Ort wimmelte von Fürsten
und Grafen. Wem daher nicht ein sehr großer Reichthum zu Gebote stand, der konnte in
diesem Sommer nicht daran denken, in Karlsbad ein Unterkommen zu finden. – An einem
drückendheißen Juli-Morgen, an dem die Natur in Glutgedanken zu träumen schien, war
die höchste Aristokratie auf der weltbekannten Wiese versammelt. Unter den
schönen, blühenden Lindenbäumen hatten sich Coterieen gebildet, die Chocolade
schlürften, Blätter lasen, oder durch leichtes Plaudern die Stunden verkürzten, die
sich vom Brunnentrinken bis zum Diner träg und langweilig dahinschleppten.
Schönheiten aller Art, bleich und blühend, im ersten und letzten Stadium, junge,
reiche Wittwen, interessante, geschiedene Frauen, Mütter mit mannbaren Töchtern –
alles war wie noch heute, auf diesem Markt der Schönheit anzutreffen. – Auf der
Promenade von der Wiese zum Freundschaftssaal lustwandelten zwei junge Männer von
höherem Rang, in lautem Gespräch, das für sie ein besonderes Interesse zu haben
schien. Plötzlich unterbrach der Eine seine Rede, mit dem Ausruf: »ach, da kommt
sie!« Diese begeisterten Worte galten keiner berühmten Persönlichkeit, keiner
Prinzessin oder Schauspielerin, sondern einer jungen Frau in einfacher eleganter
Kleidung, die rasch an den Herren vorüberging, als wollte sie ihre frechen Blicke
fliehen. »Ich möchte nur wissen, wer sie eigentlich ist,« sprach Graf Reitzenstein zu
seinem Gefährten, dem Baron Stein, »sie läßt sich Madame Oburn nennen: aber ich
glaube nicht an das Mährchen. Dies Gesicht, diese Tournüre, diese Toilette, Baron –
ma foi, das paßt nicht zu einer spießbürgerlichen Madame! Und lebt sie nicht
fürstlich? Sie hat vor ihrem Wagen die schönsten Pferde, die ich je gesehen, Pferde,
in die der Fürst Metternich gänzlich vernarrt ist, die er als diplomatische
Flügelrosse gern vor seinen Triumphwagen spannen möchte. Er bot ihr tausend Dukaten;
doch Madame antwortete mit Stolz: ›Durchlaucht, ich will so gut wie Sie, edle Pferde
vor meinem Wagen haben.‹ Ma foi, hier werden nicht alle Trümpfe ausgespielt! Ich
möchte wohl in die Karten sehen können! Hier muß irgend ein Coeur-König Trumpf sein,
Baron! wer weiß, was hinter dem unscheinbaren Namen steckt!« Stein erwiederte nichts
auf diese Vermuthungen, sah nur der schönen Frau mit glühenden Blicken nach, bis er
den Entschluß faßte, ihr mit dem Grafen zu folgen. Die junge Dame hatte von alle dem,
was um sie vorging, nichts gemerkt; theilnahmlos und der Außenwelt unzugänglich,
schwebte sie auf kleinen Füßchen mit großer Schnelligkeit weiter. Nur in der
Nähe des Freundschaftssaals sah sie sich ängstlich um, ob Niemand ihren Schritten
folge, verließ dann plötzlich den gewöhnlichen, breiten Weg, und schlug einen
Seitenweg ein, der durch eine Nebenpforte zu dem großen, parkähnlichen Garten führt,
welcher zu diesem beliebten Etablissement gehört. Hier saß in einer blühenden
Fliederlaube, die fast undurchdringlich von dem grünen Gezweig umschlungen war, ein
schöner, ernster Mann von 30 Jahren, in dessen regelmäßigen, römischen Zügen sich
deutlich die Ungeduld der Erwartung und ihre ängstliche Spannung malte. Als er die
Pforte leise öffnen hörte, sprang er auf, stürzte mit ausgebreiteten Armen aus der
Laube, umschloß mit unbeschreiblicher Leidenschaft das junge Weib, das eben
eingetreten, und sagte mit dem Ton der glühendsten Liebe: »meine Johanna, Du kommst!
O ich danke Dir!« Dann zog er sie zärtlich in die Laube, nahm ihr den feinen Strohhut
ab, strich die vollen Locken, die sich zu üppig vorgedrängt, von der Stirn, kniete
dann zu ihren Füßen nieder, preßte die kleinen Hände fest in die seinen, und drückte
lange, brennende Küsse auf ihre Lippen. So saßen sie stumm eine geraume Zeit –
alles war still und heimlich; kein fallendes Blatt unterbrach die Ruhe rings um. Es
war jene Mittagsstille in der Natur – das orientalische Brüten, die Ruhe, die sich
selbst genießt, welche die Fühlhörner des Lebens zurückzieht und ihre großen Wünsche,
die in fernen Blitzen aufzucken am Horizont, in schwülen Schlummer wiegt. Doch des
Menschen Herz hat den rastlosen Pulsschlag des Lebens; und mächtiger wird sein heißes
Begehren, wenn alles ringsum wünschelos und regungslos schlummert. Die Blicke des
jungen Weibes zogen den Zauberkreis immer enger um den Geliebten. Er flüsterte:
»Sieh' mich nicht so an, – das ertrag' ich nicht! Du willst mir nicht gehören; du
willst nicht mein werden – o so laß' Deinen Blick sanft sein wie den Blick der Taube,
ein stilles, argloses Glück spiegeln, die Idylle der Unschuld, den süßen Wahn der
Kindheit! Laß' ihn ohne Verlangen sein, wie die stille, abendliche Flut, die keinen
Sturm und keine Brandung kennt! Doch selber glühend, weckst Du meine Glut, die mich
verzehrt, die mich ringen macht nach Deinem Besitz!«
»Und Du siehst es nicht, daß ich Dich besitzen will, besitzen muß!« – Er sprang
auf, wie von bachantischer Wuth erfaßt, von dem Taumel des Gottes ergriffen, drückte
krampfhaft die Frau an sich – küßte Busen und Schultern in flammender Leidenschaft.
»Franz, vernichte mich nicht! Du weißt es ja, wie ich Dich liebe! Jede Fiber sehnt
sich nach Dir, jeder Nerv zuckt nach Vereinigung. Ach, ich möchte Dir ja alles geben,
was Dich glücklich macht; und doch flehe ich zu Dir: schütze mich vor mir selbst,
schütze uns Beide. Du bist der Stärkere! Deinem Schutz muß ich vertrauen! O warum
bist Du so heftig? Nun ist's das letzte Mal, daß ich Dich hier gesehn! Unterbrich
mich nicht – laß' mich ganz ausreden! Ich muß Dir jetzt Alles sagen, was mich schon
lange gequält. Seit ich Dich gesehen, liebe ich Dich, mein Leben – bis dahin ohne
Gehalt und Bedeutung, hat in Dir seine wahre Erfüllung gefunden. Ich habe mich diesem
berauschenden Glück überlassen, ohne zu fragen: wie kann, wie soll das enden? Jetzt
aber sehe ich klar – wie unrecht ich daran gethan, wie gefährlich uns Beiden dieser
Dämmerzustand des Herzens geworden. Als ich vor vier Jahren gezwungen wurde,
meinen Gatten zu heirathen, wider meine Neigung – da glaubte ich zu lieben, ein süßer
Irrthum, in dem jedes junge Mädchen befangen ist. Schon damals unterdrückte ich dies
Gefühl; nicht aus moralischen Grundsätzen; nicht aus Pflichtbewußtsein; sondern aus
Stolz. Ich war die Frau eines Andern; ich wollte, den Menschen gegenüber,
vorwurfsfrei dastehen. Seit ich Dich kenne – weiß ich wohl, daß ich früher nie
geliebt. Und die Seligkeit zu lieben, so mit aller Kraft lieben zu können, hat mir
nie Zeit gelassen zur Reue. Und ich werde es nie bereuen, Dir die ganze Stärke meiner
Leidenschaft offen gezeigt zu haben. Ich bin keine von den christlichen Hausfrauen,
welche die heißen Wünsche ihres Herzens, aus Furcht vor moralischer Abkanzelung oder
ewiger Strafe, unterdrücken, und in ihrem Tugendbewußtsein reichlichen Ersatz für
alles geopferte Glück finden. Ich bin nichts weiter – als stolz – ich will keine
Seligkeit, die ich mir stehlen, über die ich vor der Welt erröthen müßte. Darum und
darum allein – gehöre ich Dir nicht ganz in Liebe an. Erschwere mir nun durch
kein Wort, keine Bitte, mein Opfer! Beklage mich auch nicht – ich bin durch die Liebe
zu Dir so selig gewesen, als eine Sterbliche sein kann. Was sie auch für Schmerzen in
ihrem Gefolge haben mag – ich scheue sie nicht; ich werde Dir ewig für das höchste
Glück meines Lebens dankbar sein.« Eine Pause folgte diesen Worten. Den Kopf fest in
die Falten des Kleides gedrückt, saß der Mann unbeweglich da. Als er das Gesicht
erhob, war es bleich zum Erschrecken, doch ruhig. Seine Hand zitterte sichtbar, als
er die andere, ihm so theure Hand erfaßte. Doch fest stand er auf, und erwiederte:
»Ich verstehe Dich, Johanna, wir müssen uns trennen! Ich habe in Dir gefunden, was
mir von Jugend an vorgeschwebt, als das Ideal des Weibes! Und wenn der Traum eines
ganzen Lebens zur Wirklichkeit geworden – so verrauscht er nicht mit den andern
flüchtigen Wellen der Zeit; sondern er prägt sich tief ein in das innerste Wesen mit
ewig bleibender Bedeutsamkeit. So standest Du vor mir – so wirst Du immer vor mir
stehen, in dem schalen Marionettenspiel aufgeputzter Puppen mit dem Hauch des Lebens
und seiner Würde! Doch daß auch die Weiblichkeit, die sich selbst behauptet,
die nimmer herabsteigt zu unedlem Thun und Treiben, und dem Pariathum trotzt, zu dem
das Gesetz dieser Gesellschaft die Frau verurtheilt – daß auch diese Weiblichkeit der
rohen Gewalt verfällt, und schmachvoller Mißhandlung, daß ein roher Wüstling Macht
hat über eine Seele, deren Heiligthum ihm verschlossen ist, deren unendlichen
Reichthum er nicht ahnt – das empört mein Innerstes gegen dies unverständige Gesetz
der Welt, das solche Frevel zu heiligen Rechten, und solche Tempelschänderei zu einem
gottgefälligen Wandel stempelt!
O wie viel wirst Du noch leiden müssen unter den Menschen, die Deines Wesens
Bedeutung nicht verstehn! Und ich, der ich sie verstehe, der ich werth bin sie zu
verstehn, der ich, beseligt von jeder neuen Offenbarung, auch aus dem kleinsten Zug
seine ganze Tiefe herausfühle; der ich Dich, wenn die verständnißlose Kälte der Welt
Dich eisig anhaucht, mit meinem Odem erwärmen, mit meinen Pulsen beleben möchte – ich
– kann nichts thun – als Dich fliehn!«
Der Schmerz des Mannes mußte groß sein: denn eine Flut schwerer Thränen
entstürzte seinen Augen; doch er schämte sich dieser Zeichen seiner Qual, drückte
noch einen innigen Kuß auf die Augenlieder seiner Geliebten, und verschwand
rasch.
Sie selbst saß starr und unbeweglich, so lange sie noch die verhallenden Tritte hören
konnte. Dann bedeckte sie noch einige Minuten mit beiden Händen die Augen – und erhob
sich plötzlich mit entschiedener Willenskraft. Nur den verstörten Zügen war es
anzusehn, daß sie erst nach schwerem Kampf diesen Sieg über ihr Gefühl errungen. Mit
fester Haltung, das Haupt kühn und frei erhebend, ging sie dann nach ihrer Wohnung,
dem lieblichen Wiesenthale.
»Wieder einmal ein Schäferspiel gratis, ohne Entrèe, eine rührende Scene,« ließ sich
die kreischende Stimme des Grafen Reitzenstein vernehmen; »was sagen Sie dazu, Baron?
Irgend eine wohlmeinende Fee führt uns a tempo herbei, wenn von dem Gott der Liebe
eine Episode in Scene gesetzt wird. Doch zum Teufel, wer war denn der Glückliche, der
diesen Schäfer spielen und im Schatten dieses Paradieses flott d'rauflos lieben
konnte? Ein beneidenswerthes Loos! Im Salon dürfen wir armen Weltkinder die Liebe nur
mit Glacéhandschuhen anfassen; hier in Gottes freier Natur wird die Aktion lebhafter;
es arrangirt sich alles ungenirter, wie weiland im seligen Olympos. Doch wer mag der
Kavalier gewesen sein, der in diesem romantischen Irrgarten herumtaumelte, bis er
seiner Dulcinea an's Herz sank? Ich muß ihn schon irgendwo gesehen haben – es ist
eins von jenen Kupferstich-Gesichtern, die an den Läden zu hängen pflegen – etwas
Apartes, was den Weibern gefällt; etwas in seinem Wesen, was sich nicht nach dem
gewöhnlichen Versmaaß unserer Salons skandiren läßt! Ach, nun fällt mir ein! Es ist
ja der Leibarzt des Prinzen C., ein sehr liebenswürdiger Doktor, der schon manche
recht glückliche Kuren, besonders bei den Frauen gemacht haben soll! – Aber
wahrhaftig, Stein, die Oburn ist süperb! Wie trefflich sie die kleine Tugendhafte
spielte! Man hätte fast glauben können, es wäre ihr damit Ernst! Doch ich möchte wohl
sehen, wie weit ihr gerühmter Stolz ausreichen würde, wenn unser Prinz selbst
einmal mit dem Leibarzt die Rollen vertauschte!« –
»Glauben Sie an die Tugend dieser Frau? Heuchelei, nichts als Heuchelei! Die Tugend
einer Frau, das perpetuum mobile, die Unsterblichkeit der Seele – das sind so
verschiedene Variationen zu dem unerschöpflichen Thema der Chimären; lauter
Erfindungen müßiger Köpfe, patentirter Unsinn! Wie wär' es, lieber Stein, wenn wir
selbst unser Glück versuchten? Sollte es uns so schwer werden, ihr Trost zu spenden
und ihrem Stolz ein wenig unter die Arme zu greifen?« Kühn und siegsgewiß strich der
Graf nach dieser Philippika seinen Schnurrbart, trällerte eine beliebte Opernmelodie
und spielte mit der Reitgerte. Doch Stein entgegnete empfindlich: »Ich muß Sie
bitten, ein für allemal über diese Dame in einem andern Ton mit mir zu sprechen. Nach
dem Auftritt, dessen Zeugen wir eben waren, achte ich sie sehr hoch, wer sie auch
sein mag; und wenn Sie es wagen sollten, über diese Scene, die wir unritterlich genug
waren, zu belauschen, frivole Klatschereien zu verbreiten, so werde ich die Ehre der
Dame zu vertreten wissen.« »Aha, steht es so mein Freund? Nun ich gratulire,
und wünsche besseren Erfolg, als Daphins der Erste erlangt,« entgegnete hämisch Graf
Reizenstein.
5
Am Abende dieses Tages gab der Großfürst Constantin von Rußland der haute-volée
Karlsbads einen glänzenden Ball. Dieser Ball war ein Ereigniß für die Badewelt, die
sich in mancherlei spöttischen und geistvollen Bemerkungen über die persönlichen
Beziehungen des Fürsten, über sein Familien- und Herzensleben erging. Denn diese
Verhältnisse waren keinem der Karlsbader Gäste ein Geheimniß. Sah man doch seine
Gemahlin, die edle Fürstinn Helene, täglich bleicher und kränker am Brunnen
erscheinen, während das Auge ihrer Hofdame, der üppig schönen Gräfinn Sidonie von
Lichtenfels jeden Morgen freudiger strahlte, wenn es den flammenden Blick des Fürsten
traf. Daraus schloß denn die natürliche Logik der Karlsbader Gesellschaft, daß dieser
Ball von dem Fürsten, weniger zu Ehren der kranken Gemahlin, als zur Unterhaltung der
Gräfinn Sidonie gegeben wurde, welche den Tanz leidenschaftlich liebte.
Da Schönheit und Reichthum sich überall Geltung verschaffen, so war auch Madame Oburn
mit zu diesem Feste geladen. Es war nicht Leichtsinn, daß sie erschien, nach so
tiefen schmerzvollen Erlebnissen des Herzens: es war der Stolz, der weder andern,
noch sich selbst einräumen wollte, daß sie unendlich litt.
Als sie am Morgen ihre Wohnung wieder erreicht, schloß sie ihr Gemach, ließ die
Vorhänge nieder, drückte das Gesicht tief in die Kissen des rothseidenen Divans, und
preßte die Hände fest an das Herz. Das war die Feierstunde, in der sie alle Bilder
der Seele heraufbeschwor, den Schmerz walten ließ mit aller Macht, bis die wilden,
zerreißenden Akkorde allmählich übergingen in sanftere Melodien, bis sie schwelgen
konnte in diesen phantastisch-süßen Uebergängen, und so den Schmerz besiegte, indem
sie sich ganz ihm hingab. Als die Zeit der Toilette kam, erhob sie sich ruhig,
klingelte ihrem Kammermädchen, und ließ sich zum Ball schmücken. Gleichgültig
betrachtete sie in dem hohen Mahagoni- Spiegel ihr Bild. Und wenn sie auch ohne
Eigenliebe sich zugestehen konnte, daß es reizend war – so konnte dieß Geständniß
doch kein Lächeln der Befriedigung hervorrufen. Ein echtes Weib ist nur dann eitel,
wenn sie den Geliebten durch ihre Reize beseligen will. Was lag ihr Heute an ihrer
Schönheit, da ihr Geliebter sie nicht bewundern konnte?
Ihr Anzug war einfach, aber schön. Sie trug ein weißes Blondenkleid, mit Rosa-Atlas
gefüttert, einen Kranz von natürlichen Rosen in den langen braunen Locken, und um den
marmorweißen Hals eine Schnur echter Perlen. »O Madame, wie engelsschön sind Sie
heute,« sprach die treue Lisette, die schon Jahrelang die Dienste einer Kammerjungfer
versah; dabei musterte sie die holde Erscheinung von allen Seiten. »Wie werden die
alten, häßlichen, vornehmen Damen noch häßlicher werden vor Neid, und gelber, als sie
schon jetzt sind; und wie glücklich werden all' die schönen, feinen Fürsten und
Grafen sein, wenn sie nur einen Blick von Ihnen erhaschen.« »Schweig doch, Lisette,
mit diesen albernen Reden; Du weißt es ja zu gut, wie traurig mein Herz unter
diesem Atlas schlägt. Ich bin wohl kindisch, daß ich solche Angst habe; doch ich
fürchte mich fast, allein in diese Gesellschaft zu gehn. Der heutige Tag steht so
bedeutsam vor meiner Seele, als müßte er ein Wendepunkt meines Geschickes sein, der
mich unvermeidlich in ein neues Verhängniß hineinreißt.« Sinnend und ernst sah sie
sich darauf noch einige Sekunden im Spiegel mit prüfendem Blick an – ließ sich dann
die weiße Spitzen-Mantille um den edlen Nacken legen, sprang graziös in den Wagen,
und rief mit jugendlich heller Stimme dem Kutscher zu: »Zum Palais des Großfürsten
Constantin!«
Hier saß im Empfangzimmer die Fürstinn auf sammetnem Divan, neben ihr die ältesten
und vornehmsten Damen, und hatte für jeden der ankommenden Gäste ein
freundlich-gewinnendes Lächeln in Bereitschaft. Doch hinter diesem Lächeln, hinter
all' dem Glanz, der sie umgab, lauerte der schadenfrohe Dämon, welcher den Großen
dieser Welt auf der Ferse folgt.
Noch am Abend waren die Augen der Fürstinn trübe und geschwollen durch anhaltendes
Weinen! Vergebens umstrahlte sie die Pracht der Diamanten; vergebens borgten
ihre eingefallenen Wangen von der Schminke einen lügnerischen Glanz. Ihr unseliges
Schicksal sprach allzu beredtsam aus ihrem Blick. Der jüngere Theil der Damen ging
indeß gruppenweise, auf die ersten Töne des Orchesters sehnsüchtig harrend, im Saale
auf und nieder. Unter den jugendlichen Gestalten zeichnete sich die Gräfinn
Lichtenfels auffallend aus. Es war eine Junonische Figur, mit tiefschwarzen Locken,
brennenden großen, braunen Augen und strengregelmäßigen Zügen. Ihr Teint war
blendendweiß, ätherisch gehoben durch ein feuerrothes Creppkleid, das den üppigen
Busen, die Schultern und Arme frei ließ. Aehren von Diamanten waren überreich in die
Locken genestelt und zeugten von dem feinen Geschmack und dem Reichthum der Dame. Mit
herausforderndem, frechem Blick musterte sie durch die geöffneten Flügelthüren die
Herren, die in dem nächsten Salon versammelt waren. Bei aller Schönheit war diesem
Wesen doch der Stempel einer Sinnlichkeit aufgedrückt, die jedes geistige Element
ausschloß, und sich, im vollen Bewußtsein ihrer alleinigen Berechtigung breit
zu machen suchte. Unangenehm berührt wandte die reine Fürstinn ihr gekränktes Auge
von ihr, so oft sie eine unfreiwillige Zeugin von der heißen Glut war, mit der ihr
Gemahl an jeder Bewegung dieser Circe hing. – Ein Geräusch im Vorzimmer verkündete
den Eintritt eines neuen Gastes. Die Herren hielten ihre Lorgnetten unverschämt vor
die blöden Augen, und nahmen die widerlich süßesten Minen an. Auch Gräfinn Sidonie
wandte ihr schönes Köpfchen dorthin, und ein unangenehmer, höhnischer Zug um den
kirschrothen Mund ließ errathen, daß die neue Erscheinung gerade keinen erfreulichen
Eindruck machte. Mit großer Verachtung, die sich besonders im Ton der Stimme
aussprach, wandte sich die Gräfinn zu einer neben ihr stehenden Dame mit den Worten:
»Nein, das ist empörend; das ist zu arg! Sehen Sie nur – da erscheint sogar die
Madame Oburn in unserem Kreis. Ich begreife wirklich nicht, wie der Fürst die
Rücksichten, die er der Gesellschaft und seinem Range schuldig ist, so sehr vergessen
kann, daß er diese Bürgerliche hier einführt. Aber so sind die Männer! Wo sie
ein hübsches Lärvchen entdecken, da übersehen sie die fehlenden Ahnen, und ergehen
sich noch in lächerlichen Phrasen, in denen die guten und bösen Geister eine
Hauptrolle spielen, der gute Zeitgeist, der den bösen Kastengeist besiegt, und wie
die schönen Redensarten alle heißen. Ich werde aber nie vergessen, was ich mir
schuldig bin. Auf denn, meine Damen, wir wollen uns gegen diese Toleranz der Herren
opponiren, und für den heutigen Abend auf die Freude des Tanzes verzichten, wenn wir
sie mit Madame Oburn theilen sollen. Sie muß es fühlen, daß sie in diese Gesellschaft
nicht gehört, und uns künftigen Skandal ersparen.« »Sehen Sie nur, sehen Sie nur,«
zischelte es von vielen süßen Lippen, »wie unbeholfen und ängstlich sie scheint; wie
haltlos sie nach Rath und Hülfe sucht! Und welche gewöhnliche Schönheit – ein
frisches Landgesicht, wie man's bei der Heuernte dutzendweise sieht; nichts weiter!
Und darüber machen die Kavaliere so viel Geschrei, daß man in allen Gesellschaften
von dieser obskuren Person hören muß!« Die junge Frau, welche den hochadligen Damen
so großes Aergerniß verursachte, schien indeß nichts weniger als verlegen. Mit
einer Sicherheit, als sei sie von Jugend auf an so prächtige Räume und an so geistlos
vornehme, nichtssagende Physiognomien gewöhnt, schritt sie stolz durch das Vorzimmer
in den Empfangssalon der Fürstinn Helene, sah die unglückliche Frau mit lieben,
unschuldsvollen Augen so bittend, so verständnißinnig an, daß sie bei ihr
augenblicklich das regste Mitgefühl erweckte. Die Fürstinn verließ ihren Platz, trat
der Oburn einen Schritt entgegen, reichte ihr freundlich, wie zum Schutze die Hand,
und zog sie neben sich auf ein leeres Tambourett nieder. Die Hofgesichter wußten
nicht, wie sie bei diesem unerwarteten Anblick ihre Mienen zurecht legen sollten. Zum
Glück für sie wurden jetzt die Thüren des Ballsaals geöffnet und ein rauschender
Walzer des in jenem Sommer so beliebten Componisten Labitzki überhob sie aller
Zweifel. Die beatlasten Füßchen der Damen trippelten vor Ungeduld, ob der Vornehmste
der Gäste, Prinz C**, nicht das Signal zum Tanze geben werde! Alle hatten den
großartigen Entschluß, mit einer ahnenlosen Frau nicht in die Reihen zu treten,
über der verführerischen Melodie vergessen. Gräfinn Sidonie stand graziös in stummer
Erwartung; denn es handelte sich um die Frage, mit welcher Dame wohl der Prinz den
Reigen eröffnen werde. Obgleich sie die erklärte Geliebte des Großfürsten war, hatte
sie doch alle ihre Koketterieen angewandt, während der Saison die Aufmerksamkeit des
Prinzen auf sich zu ziehen, dessen Empfänglichkeit für weibliche Schönheit keineswegs
zu den Mysterien Carlsbads gehörte. Bis jetzt hatte er allen ihren Lockungen ein kalt
höfliches Benehmen entgegengesetzt, und ihren Hochmuth dadurch bitter gekränkt.
Gerade deßhalb war sie bereit, zu dieser Eroberung alle ihre Kräfte aufzubieten, und
hoffte viel von dem heutigen Abend, weil sie die Königinn dieses Festes war, welcher
der Prinz, nach allen Regeln der Etikette, sich nähern mußte. Schon eine geraume Zeit
hindurch ertönte die Musik, und noch immer stand der Prinz, vornehm nachlässig, in
der Salonthüre, den reich und bunt geschmückten Frauenkreis mit gleichgültigem Blick
übersehend. Endlich ging er, dem Ceremoniell gemäß, langsam auf die
Großfürstinn zu, um mit ihr, als der Dame vom Hause, die Polonaise aufzuführen. Als
er ganz nahe vor ihr stand, blieb er plötzlich, wie verzaubert, stehen – ein
unbeschreiblicher Ausdruck der Ueberraschung und des Entzückens überflog seine Züge.
Starr blickte er einige Sekunden die Madame Oburn, die neben der Fürstin saß, an;
ging, wie bewußtlos, zu ihr, und bat sie fast schüchtern um das Glück mit ihr zu
tanzen. Freundlich reichte sie ihm den Arm, und, von den Wellen der Musik getragen,
schwebte das schöne Paar durch den Ballsaal. Das Geflüster der Medisance, aufgeregt
durch so unerhörten Vorfall, zischelte rechts und links. Nur wenige Herren,
namentlich der Großfürst, räumten ein, daß der Prinz ganz vernünftig handle, wenn er,
unbekümmert um Rang und Etikette, mit der Dame tanze, die ihm am besten gefalle. Zu
jener Zeit war der Prinz C** ein verführerischer Mann, mit einem schönen Kopf,
geistreichen Augen, einer edeln griechischen Nase, einem überaus feinen Mund, der bei
dem eigenthümlich-angenehmen Lächeln zwei Reihen auffallend kleiner, weißer Zähne
blicken ließ, mit einer eleganten, großen und schlanken Figur. Auch lag in
seinem Wesen eine Ritterlichkeit, deren Zauber durch echt modernen esprit erhöht
wurde und dem Prinzen da, wo es ihm darauf ankam, all' die brillanten Pointen seiner
Persönlichkeit zusammen zu fassen, unwiderstehlich machte. Zum ersten Male in seinem
Leben war dieser feine Weltmann befangen, und um Worte verlegen. Dieser Frau
gegenüber wollte ihm eine gewöhnliche Ball-Conversation nicht gelingen. Er fühlte
wohl, daß er hier andere Saiten berühren müsse. Mit leidenschaftlichem Blicke
versenkte er sich in das reizende Formenspiel dieser Frau, fester, als es die Sitte
des Tanzes verlangt, umschlang er ihre zarte Taille; für alles andere waren seine
Sinne verschlossen. Er bemerkte weder die boshaften Blicke der Gräfinn Sidonie, noch
die ängstlich-besorgten der Fürstinn Helene; frei und ohne Zwang überließ er sich
seinem Gefühl. Doch seine Tänzerinn verrieth deutlich die Angst, die sie über diese
sichtbare Auszeichnung fühlte. Sie entzog sich ihm, wo es nur irgend möglich war,
obgleich der Prinz sie fast keinen Augenblick verließ. In höchster Bedrängniß irrte
ihr Auge umher, Schutz suchend bei irgend einem befreundeten Wesen. Doch alle
Gesichter waren ihr fremd – alles sah sie an mit lauernd kaltem Blick; Niemand tanzte
mit ihr, aus Respekt vor dem Prinzen, dessen Gewalt sie ganz anheim gegeben schien,
und so Reden ruhig anhören mußte, die ihr das Blut immer heißer in die Wangen
trieben. Endlich, als der Prinz sich einen Augenblick entfernt, um ihr ein Glas Eis
zu holen, trat ein ernster junger Mann, der Baron Stein zu ihr und bat sie um einen
Tanz. Freudig, als sei sie erlöst von einer großen Qual, sah sie ihn an, und schloß
sich, als der Prinz wieder eintrat, fester an seinen Arm. Der junge Mann verstand
dies stumme Zeichen der Furcht und flüsterte ihr zu. »Vertrauen Sie mir; ich schütze
Sie, und müßte ich mein Blut für Sie opfern!« Mit großer Heftigkeit drängte sich der
Prinz an den Baron Stein heran – versuchte auf jede Art, ihn zu reizen – und gerieth
fast außer sich, als er die Ruhe bemerkte, mit der Stein sich selbst bezwang. Den
nächsten Tanz eröffnete er wieder mit der Oburn. Unter dem Vorwand, sie müsse sich in
einem kühlen Zimmer durchaus etwas erholen, zog er sie in ein kleines Gemach,
über das Orangenblüthen ihren Duft und eine dunkelrothe Kristall-Ampel ihr dämmerndes
Licht ausgoß, führte sie zu einem Atlas-Divan, und nahm neben ihr Platz. Stumm saßen
beide da; ihr Busen flog heftig; die Hände bebten; sie hatte nicht den Muth, in seine
flammenden Augen zu sehen. Stürmisch sprang er auf, kniete vor ihr nieder, und rief
in höchster Extase: »Sie sind das göttlichste Weib, das ich je gesehen! Ich liebe
Sie, liebe Sie wahnsinnig, will Sie besitzen um jeden Preis! Wohin Du auch gehst,
süßes Weib, ich werde Dir folgen; ich werde nicht eher ruhn, bis ich Deine Liebe
errungen! Das schwöre ich Dir bei meiner fürstlichen Ehre!« Mit leiser, aber fester
Stimme erwiederte die Frau, ohne ihre innere Bewegung zu verrathen: »Was hab' ich
Ihnen gethan, mein Prinz, daß Sie es wagen, mich so tief zu kränken; mir Worte
zuzurufen, aus denen ich nur sehe, wie tief Sie mich verachten. Mögen Sie Ihre
galanten Phrasen an Damen von Stande richten, die das zu würdigen verstehen; mir ist
eine Liebe, wie sie aus Ihren Worten spricht, gänzlich unverständlich. Sie
kennen mich nicht; was lieben Sie denn an mir? O, Sie profaniren die heilige Liebe,
denn das, weßhalb ich vielleicht werth wäre, geliebt zu werden – das ahnen Sie nicht.
Sie lieben die flüchtigen, jungen Reize meines Körpers; und darin liegt die Schmach
und Entwürdigung für mich.« Nach diesen Worten wollte sie sich erheben; doch er hielt
sie gewaltsam zurück, und rief leidenschaftlich: »Weib, so darst Du nicht von mir
gehen, um Gottes Willen, Weib, so nicht. Sieh, ich bin reich; ich bin Fürst; allen
Glanz, alles Glück der Erde lege ich zu Deinen Füßen nieder. Du sollst Herrinn werden
über alles, was ich besitze – nur liebe, liebe mich! Und wenn Dein zögernder Muth Dir
nicht hinweghilft über alle Schranken und Hemmnisse zu raschem Entschluß – o so laß
mir wenigstens die Hoffnung, daß ich einst nach Wochen, Monaten – oder selbst nach
Jahren Dich besitzen werde.« Mit einem prächtigen, stolzen Blick sah die junge Frau
den Prinzen an, und erwiederte nur: »Ich verachte Ihren Glanz – und Sie selbst von
Herzen!« Außer sich vor Leidenschaft, umklammerte der Prinz Ihre Kniee und drückte
heftige Küsse auf ihr Gewand. In diesem Augenblicke wurde die Thüre leise
geöffnet und das schöne, doch maliciöse Gesicht der Gräfinn Lichtenfels schaute
hinein. Ein spöttisches Lächeln verklärte gleichsam ihre Züge und bildete den besten
Commentar zu ihren Worten: »Entschuldigen Ew. Königl. Hoheit, wenn ich störe; ich
wünschte nur, mich hier an diesem kühlen Ort etwas von der Hitze des Balles zu
erholen.« –
Gräfinn Sidonie sorgte, nach den Grundsätzen der christlichen Liebe und weiblichen
Ritterlichkeit dafür, daß nach wenigen Minuten die ganze Ballgesellschaft über die
Liebesscene im Klaren war. Ueberall flüsterte man von der zärtlichen Attitüde, in der
Prinz C** mit Madame Oburn im einsamen Gemach betroffen worden, und fügte natürlich
hinzu, daß die Frau den Bewerbungen des Prinzen ein williges Ohr geschenkt. Die
Stimmung in der Gesellschaft war hierüber sehr verschieden. Die jungen Fräuleins,
nebst den altadligen Müttern, konnten es einer Bürgerlichen nimmer vergeben, zu der
Ehre einer fürstlichen Maitresse, nach der sie alle selbst strebten, erhoben zu
werden. Darum sprach man das Anathem über sie aus; aus Neid wurde sie geächtet.
Bei den Männern hatte die Frau dadurch an Ansehen gewonnen; und man war nur
unschlüssig, wie man das Betragen gegen sie einrichten müsse, um die hohe Gnade des
Prinzen nicht zu verscherzen. Doch auch nicht einem Einzigen in der Gesellschaft
schien es möglich, daß eine bürgerliche Frau zu stolz sein könne, Maitresse zu
werden. Nur Baron Stein entgegnete dem Grafen Reizenstein, der sich auf seine
Prophezeihungen viel zu Gute that: »Nach dem, was ich heute Morgen gehört, werde und
kann ich nimmer glauben, daß die Oburn, dem Prinzen gegenüber, sich nur das Geringste
vergeben habe; es ist ein Etwas in dieser Erscheinung, was mich durchaus an eine edle
Natur glauben läßt.«
Fürstinn Helene hatte sich, ihrer Kränklichkeit wegen, früh in ihre Privatzimmer
zurückgezogen – Gräfinn Sidonie, geärgert und gelangweilt, war weniger liebenswürdig,
als sie es sonst zu sein pflegte, und folgte bald dem Beispiel der Fürstinn. Dies war
das Signal zum allgemeinen Aufbruch; und zeitig trennte sich die Gesellschaft. Prinz
C** führte die Oburn zu ihrem Wagen, hob sie scheinbar vertraut hinein, wurde
aber von zwei nervigen Armen unsanft zurückgeschoben, als er sich selbst ohne
Umstände mit hinein setzen wollte. Er wandte sich um; und ihm entgegen blitzten die
zornigen Augen des Baron Stein, der ihm die Worte: »Du Schurke« verständig ins Ohr
flüsterte. –
Im Innersten aufgeregt und erschüttert, betrat die Oburn ihr trauliches Gemach. »O
das war ein böser, böser Tag für mich,« sprach sie zu ihrer vertrauten Lisette, froh,
ein Wesen zu finden, dem sie alles mittheilen konnte, was auf ihrem Herzen lastete;
»ach wäre ich doch fort, weit fort von hier, fort von allen diesen Erinnerungen! Wie
reizend dachte ich mir als Kind das Leben der Welt; wie verwebten sich stets in alle
meine Träume Bilder des Glanzes und Glücks – und nun? Wie fade erscheint mir alles;
wie hat doch so Nichts von all' dem Glück mich befriedigt! Ich bin doch recht elend,«
fuhr sie in einem Tone fort, der für die Wahrheit der Worte die beste Bürgschaft war;
»so jung und so freudlos hinsterben zu müssen; mein Herz so heiß – und nirgends
Erquickung; die Eltern todt – und mein Mann – o mein Mann – das ist ja gerade
mein Elend! denn in meiner Ehe fühle ich mich am einsamsten, weil ich nie verstanden
werde; weil mein Herz, mit all' seinem glühenden Ringen nach einem edeln Leben, hier
an Gemeinheit und Bosheit scheitert – o das ist wohl ein tiefes Unglück!« Einzelne
Thränen entströmten den schönen Augen; dann fuhr sie leise, doch leidenschaftlich
fort: »Vergieb mir, Franz! Nein, ich bin nicht elend; ich habe Dich ja gefunden, und
die Liebe zu Dir ist Erlösung von all' der Noth, von all' dem Schmerz des Lebens!
Welche Seligkeit liegt darin, den Mann, den man liebt, in jeder Beziehung edel und
groß zu wissen! Ob ich ihn wohl lieben könnte,« sprach sie träumerisch weiter, »wenn
diese Größe eine erlogene wäre, zu der ihn die Sophistik eines vielgewandten Geistes
emporgeschwindelt oder die trunkene Phantasie meiner Liebe? Ob ich ihn lieben könnte,
wenn ich ihn verachten müßte?« Ahnungsvoll hielt sie hier inne, bedeckte die Augen
mit der Hand, als wolle sie ein Bild verhüllen, das unheimliche Angst in ihr
erwecke!
Bei dem Auskleiden übergab ihr Lisette einen Brief ihres Mannes. Er
lautete:
»Meine liebe Johanna!
Es freut mich herzlich, daß Dir das Leben in Carlsbad auch ohne mich gefällt. Wie ich
höre, sollst Du und unsere schönen Pferde allgemeines Aufsehen bei den Männern
machen. Mir ist das recht! Sehen doch die Leute daraus, daß ich einen guten Geschmack
habe. Meine Frau muß bemerkt werden; das verlange ich – denn ich bin ein reicher
Mann. Daß Du mein Vertrauen nicht täuschest, das ich, in Betreff Deines Umgangs mit
den Männern in Dich setze, weiß ich sehr gut; denn ich kenne ja Deine platonische
Liebe, von der ich nichts verstehe und nichts verstehen will, weil sie dummes Zeug
ist. Adieu, liebe Frau! Morgen reise ich von hier ab, um Dich zurückzuholen, und
hoffe, Dich recht blühend und kräftig anzutreffen.
Dein Dich liebender Mann.
David Oburn.«
Seufzend legte die Frau das zarte Billet wieder zusammen; und suchte auf ihrem
einsamen Lager Schlaf – und Vergessenheit!
6
Das Wiesenthal bei Karlsbad ist eine überaus nette, kleine Meierei, und zugleich ein
sehr beliebter Vergnügungsort der Kurgäste. Es liegt ungefähr 1/8 Meile von der Stadt
entfernt, dicht unter dem Kreuzberge, in einer entzückenden Umgebung. Ein sehr,
schöner, großer Garten mit den reichsten Blumenpartieen und dichtverwachsenen
Laubgängen, durch den sich die Eger gleich einem Silberbande schlängelt, umgiebt das
freundliche Wohngebäude. Alles war hier so friedlich und still, und bildete einen
schneidenden Contrast mit all' den Leidenschaften der Menschen, die das bewegte
Karlsbad umschloß. Madame Oburn mit ihrer Dienerschaft bewohnte in diesem Sommer die
für Badegäste eingerichteten Zimmer der Meierei. Mit den Fremden, die Nachmittags
dort herauskamen, um ihre Tasse Kaffee mit Schmellen und Hörnchen zu trinken, kam sie
in keine weitere Berührung. Nur an Concerttagen öffnete sie wohl die
Flügelthüren ihres Gartensaales oder setzte sich in die Geisblattlaube, die eigens zu
ihrem Logis gehörte. Doch sah man sie gewöhnlich allein. Nur dann und wann ließ sie
einen Musiker, bei dem sie ein bedeutendes Talent entdeckte, zu sich einladen. Weil
sie Musik leidenschaftlich liebte, zeigte sie sich, solchen Künstlern gegenüber,
stets artig und generös, und wurde in manchen Kreisen die Beschützerin der Kunst
genannt. Auch kam sie in den Ruf eines beispiellosen Reichthums. Die Besitzerin der
Meierei, eine gewisse Frau Meier, war ein originelles Weib, das eine nähere
Charakteristik verdient. Von ihrem wahren Namen und ihrer Herkunft wußte man nichts.
Der Sage nach war sie vor vielen Sommern mit einem polnischen Grafen, der sie seine
Frau nannte, nach Carlsbad gekommen. Obgleich ziemlich roh, hatte sie doch während
der Saison die Aufmerksamkeit vieler stattlichen Cavaliere auf sich gezogen, und da
sie glänzend lebte, war sie sogar eine von den Damen geworden, welche den Ton in der
Gesellschaft angaben. Eines Morgens war der Graf plötzlich verschwunden, und
die trauernde Gattinn blieb allein zurück, ohne Geldmittel dem allgemeinen Hohn
preisgegeben. Doch die Pseudo-Gräfinn faßte sich kurz, verkaufte ihre Juwelen und
kostbaren Gewänder, und erstand für das daraus erlöste Geld die Meierei Wiesenthal,
die gerade zum Verkauf ausgeboten wurde. Hier lebte sie nun schon seit 10 Jahren
still und zurückgezogen von der übrigen Welt – eine echte Philosophinn, ruhig weiter,
bis sie, durch die vielen Fremden, die dort eifrig die Gegend durchstreifen,
vielfältig dazu aufgefordert, ihr kleines Eldorado zu einem öffentlichen Lustort
umschuf. Zu den schwächsten Seiten dieser Frau gehörte eine große Schwatzhaftigkeit,
die besonders mit vielem Behagen bei den Thaten ihrer Jugend, und all' den
Eroberungen, die sie gemacht, verweilte. Die jungen Herren, die namentlich in diesem
Sommer sehr häufig zu ihr herauskamen, hatten diese Schwäche bald bemerkt, hörten mit
übergroßer Geduld Stundenlang den Erzählungen ihrer Erlebnisse zu, bis es ihnen
gelang, ganz unvermerkt die Rede auf die jetzige Einwohnerin der Meierei, die Madame
Oburn, zu bringen. So hatten sie glücklich entdeckt, daß die junge Frau sehr
unglücklich sein müsse, daß sie viel, viel weine, und ihr Mann in einigen Tagen
erwartet werde, um seine Gemahlinn zurück zu holen. Diese Notizen genügten den
neugierigen Forschern, um selbstgefällige Hoffnungen und Folgerungen daran zu
knüpfen, wie es junge Männer immer thun, wenn sie von einer unglücklichen Ehe
hören.
Es war schon spät am Morgen, als Madame Oburn nach jener Ballnacht erwachte. Ihr
fieberhaft geröthetes Antlitz, ihr wogender Busen, zeugten von keiner süß
durchträumten Nacht. Im Zimmer war es unerträglich schwül; rasch zog sie die grün
seidenen Vorhänge zurück, öffnete das Fenster, und sah, ungenirt, noch im weißen
Nachtkleide und Schlafhäubchen, in den blühenden Garten hinaus. Der frische, von
Blumenduft durchwehte Morgen that ihr unendlich wohl, die Brust athmete geregelter;
die unnatürliche Röthe wich ihrer gewöhnlichen, gesunden Farbe. Heiter, wie ein Kind,
schlug sie die tiefinnigen Augen bald zum Himmelsgewölk auf; bald ließ sie den
Blick auf einer durch die Nacht erschlossenen Blume haften. Da plötzlich schrack sie
sichtbar zusammen: sie erblickte den Prinzen C**, der höchst leutselig im eifrigen
Gespräch mit Frau Meier, im Hauptgang des Gartens auf und ab promenirte. Wie ein
gescheuchtes Reh sprang sie vom Fenster, und zog sich in die entfernteste Ecke des
Zimmers zurück. Der gestrige, bewegte Abend, den sie noch vor wenigen Minuten, wie
einen bangen Traum ansah, stand lebendig vor ihr; verworrene Ahnungen eines nahen und
großen Unheils ergriffen sie; und als wollte sie dem eigenen, dunklen Verhängniß
entfliehen, vertiefte sie sich in die Lektüre der »Indiana.« Während sie andächtig
alle Empfindungen und Leidenschaften nachfühlte, die in diesem Buche so hinreißend
geschildert sind; während sie in dem Geschick der »Indiana« das Walten derselben
Mächte erkannte, die ihre Gegenwart beherrschten und mehr noch ihrer Zukunft
verhängnißvoll zu werden drohten: wurden in dem Nebenzimmer, mit geschäftiger Hast,
die Waffen geschmiedet zu ihrem Verderben. Das dicke, morchelartige Gesicht der Frau
Meier strahlte vor Wonne und Glück. Geschäftig lief sie hin und her, blieb dann
vor ihrem Schenkmädchen, einer verschmitzten Wienerin, stehen, und sprach mit Mund
und Händen: »Therese! Schnell! Spute Dich! Prinz C** wollen höchsteigen heute Mittag
hier speisen. Schlachte die Hühnel, pflücke Schoten, oder rühr' lieber erst die
Mehlspeise ein! Nur rasch, rasch, Mädchen! Wir haben wenig Zeit, und der Prinz wird
viele Gerichte essen wollen. Gott,« fuhr sie mit komischem Pathos fort, »ist das ein
liebenswürdiger Prinz! Therese, denke nur! Se. Durchlaucht haben lange mit mir
gesprochen, und finden alles so schön bei mir, daß Sie hier häufig diniren wollen!
Das ist noch ein Prinz, so familiair, so leutselig; an dem sollten alle Kavaliere
sich ein Muster nehmen! Es ist recht schade, meinen der Prinz, daß mein Logis schon
vermiethet ist, sonst würden Sie es gern bewohnen; doch vertreiben wollen Sie die
Oburn nicht, um keinen Preis! Nun, das ist wahr, sie zahlt auch gute Miethe – doch,
nicht wahr, Therese, schöner würde es klingen, Prinz C** nebst Gefolge logiren im
Wiesenthal, als Madame Oburn nebst Dienerschaft. Doch es ist nun einmal so; und
weil es dem Prinzen hier gar so sehr gefällt, und er doch inkognito leben will, so
habe ich ihm mein eigenes Wohnzimmer abgetreten. Therese! Ich verbiete Dir, darüber
zu sprechen, am wenigsten mit der zimperlichen Jungfer Lisette; denn wenn die Oburn
das erführe, wäre sie im Stande, gleich abzureisen. Bei Tage wollen Se. Durchlaucht
auch gar nicht hier sein; nur des Nachts, um hier ruhiger zu schlafen, als in der
geräuschvollen Stadt. So kann es auch Niemand erfahren. Wenn Du klug bist und
schweigst, haben Dir der Prinz 3 Friedrichsd'or Trinkgeld versprochen; – danach
richte Dich, Mädchen!« Mit einer sehr bezeichnenden Pantomime gelobte die würdige
Gehülfinn der Frau Meier Verschwiegenheit; und beide fuhren eifrig in ihrem Gespräche
fort. Ganz vertieft in dasselbe, hatten sie die leisen Fußtritte eines Mannes nicht
gehört, und erschracken gewaltig, als der Baron Stein mit lauter Stimme um eine Tasse
Chokolade bat. In lebhaftestem Selbstgespräch schritt er hierauf dem Garten zu:
»Ist's Dir und allen Deines Gelichters nicht genug, euch zu nähren von dem Schweiß
und Blut der geknechteten Völker; müßt ihr auch noch tief hineingreifen in das
Allerheiligste der Herzen, und Seelen vergiften, Seelen, deren innerstes Leben ein
Gottesdienst ist aller großen und edeln Gedanken? Und jetzt, da Rang, Schönheit und
Geld machtlos sind, gegenüber dieser innern, stillschaffenden Gewalt der Seele, die
an sich selber ein unwandelbares Gesetz hat – jetzt verbindest Du Dich,
Nichtswürdiger, mit einer Kupplerinn, um das Weib, das Dich stolz verschmäht hat,
durch List und Gewalt zu besiegen. Doch solchem frechen Beginnen will ich
entgegentreten; und beglücken soll es mich, wenn Du Schiffbruch leidest mit Deinen
nackten Hoffnungen und Wünschen, und die Qual unbefriedigter Liebe Dich aufzehrt! –
Die Oburn soll nichts erfahren von dem Gewölk, das sich an ihrem Himmel
zusammenzieht! Sie schlafe in Frieden; ich selbst will ihren Schlummer bewahren!« Zum
erstenmale besuchte Baron Stein heute das Wiesenthal; und es gefiel ihm, in seinen
Phantasieen diesen bedeutungsvollen Zufall einem dunkeln Beruf zuzuschreiben, der ihn
zum Schutzgeist der Oburn bestimme. Der Zug der Sympathie führte ihn in die
Geisblattlaube; hier saß er träumerisch, und schrieb Hieroglyphen in den gelben Sand,
der die Erde bedeckte. Nachdem Madame Oburn sicher war, daß ihr Schreckbild, der
Prinz C**, den Garten verlassen, nahm sie Buch und Handschuhe und ging ihrer Laube
zu. Verwundert und zögernd blieb sie einen Augenblick stehen, als sie den fremden,
jungen Mann, dessen Anblick die Erinnerung an den letzten, verhängnißvollen Abend in
ihr erweckte, darin sitzen sah. Dann trat sie jedoch rasch ein, und sprach, als sie
bemerkte, daß er sich entfernen wolle, freundlich zu ihm: »O bleiben Sie doch, wenn
Ihnen der Platz gefällt. Ich verdränge Niemanden von da, wo es ihm wohl ist!« Dann
setzte sie sich dem jungen Manne gegenüber, und las, ohne die geringste Notiz von
seiner Gegenwart zu nehmen, ruhig in ihrem Buche weiter. Regungslos saß Stein da; in
seinen Zügen wechselten Farbe und Ausdruck; er wollte gehen; aber es hielt ihn mit
unsichtbaren Händen zu rück. Was ihn so magisch hinzog zu dieser Frau: war es Liebe,
war es Mitleid? Er wünschte, sie möchte zu ihm sprechen; denn die Lieblichkeit ihres
Wesens gewann durch den geistigen Ausdruck, der bei'm Sprechen ihre Züge
verklärte; und ihre Worte klangen so einfach und innig, ein Evangelium des
Herzens.
Es war eine liebenswürdige Eigenthümlichkeit der Oburn, mit den fremdesten Menschen,
sobald sie mit sicherem Blick einen geistig verwandten Zug in ihnen entdeckt, so
vertraut umzugehen, als sei sie längst mit ihnen befreundet, ohne die Furcht, dies
off'ne Entgegenkommen könne mißverstanden werden. So sah sie auch hier den ihr
gegenübersitzenden Mann traulich an, und sprach, während sie das Buch fortlegte und
einige Geisblattblüthen zerpflückte: »Ich las eben in der Indiana, und bin von der
lebenswahren Schilderung der Leidenschaft und des Schmerzes so ergriffen, daß ich
heute nicht weiter lesen kann.«
»Im Glücke, gnädige Frau,« entgegnete Stein, »muß man ein solches Buch nicht lesen,
so schön es auch sein mag. Sie begehen damit ein Unrecht an sich selbst! Eine edle
Natur muß ein reines, ungetrübtes Glück genießen; und wie ein gerechtes Geschick den
Schmerz und die Trauer von ihr fern halten würde, so muß sie selbst jede
Berührung mit diesen unheimlichen Gewalten vermeiden, gleich als würde sie dadurch
entweiht und herabgezogen.«
»Das sind ideale Träume! Und wissen Sie denn so sicher, ob ich glücklich bin; ob
nicht ich gerade ein Recht habe, alle Schmerzen der Indiana mitzufühlen?«
Stein sah ihr mit prüfendem Blick, den sie nicht vermied, in das thränenfeuchte
Auge:
»Wohl, ich will glauben, daß Sie leiden; und bin gewiß, daß Sie werth sind, solche
Schmerzen zu ertragen!«
»Nun, das klingt sonderbar,« entgegnete sie mit erzwungener Heiterkeit; »Sie wünschen
mir Kummer und Elend, so ernsthaft, so von Herzen, wie die gewöhnliche Welt Freude
und Glück zu wünschen pflegt.«
»Wenn ich einer Frau Schmerzen wünsche, wie sie Georges Sand die Indiana fühlen läßt,
heilige Schmerzen über die Entwürdigung des Weibes und ihre modernste Knechtschaft –
dann muß ich diese Frau sehr hoch stellen, und ihr große Kraft und eine alles
bezwingende Liebe zutrauen.«
Wiederum trat eine längere Pause ein, die beiden gleich peinlich war. Sie
fühlte nur zu gut, daß die innerste Quelle ihrer Leiden entdeckt sei, und er
erkannte, daß es nicht in seiner Macht stehe, diese Schmerzen zu heilen. Sie reichte
ihm stumm und ohne Ziererei die Hand; es war ein geistiges Verständniß, das diese
edeln Naturen einander näher führte.
»Es thut mir wirklich leid,« brach die Oburn das Schweigen, »daß uns das Schicksal
erst jetzt, kurz vor meiner Abreise zusammengeführt; wir hätten doch manche
gemüthliche Stunde verplaudern können! Wie habe ich mich während der ganzen Zeit
meines hiesigen Aufenthalts nach einem echten, wahren Menschen gesehnt! Diese Puppen
und Zerrbilder, dies ganze Marionettenspiel einer innerlich hohlen Gesellschaft,
diese platten, indifferenten Gesichter, denen eine Spur zurückzulassen der Gedanke
und das Gefühl, der Schmerz und die Freude, wie aus gerechtem Stolz verschmähn: das
alles mattet mich innerlichst ab, und läßt mich an der menschlichen Natur
verzweifeln!«
»Sie wollen Carlsbad wirklich so bald verlassen?« fragte Stein gepreßt.
»In einigen Tagen wird mich mein Gatte von hier abholen,« erwiederte sie leise.
»Und gehen Sie gern von hier? O verzeihen Sie diese unbescheidene Frage, gnädige
Frau! Nicht wahr, Sie sehnen sich nach der Heimath, nach dem Familienleben! Wohl kann
ich mir denken, wie Sie dort vermißt werden, welchen Segen Sie über Ihre Umgebungen
verbreiten!«
»Ich habe keine Heimath; ich kenne kein Familienleben,« entgegnete sie tonlos;
»überall stehe ich allein! deßhalb ist es mir gleichgültig, wo ich lebe! Vielleicht
würde ich mich, wenn mir die Wahl frei stünde, gerade für Carlsbad entscheiden; denn
hier hatte meine Seele auf kurze Zeit eine Heimath gefunden.«
Stein fühlte zu zart, um hierauf etwas zu erwiedern; er bemühte sich nur, den
Trübsinn der Frau durch eine leichte Unterhaltung zu verscheuchen. Als er bemerkte,
daß sie sich entfernen wolle, bat er sie innig um die Erlaubniß, sie in diesen Tagen
noch öfter sehen zu dürfen, er wolle eine theure Erinnerung mit fortnehmen:
dies zu gewähren, sei ihr so wenig, ihm so unendlich viel!
»Gern gewähre ich das,« entgegnete sie lächelnd; »und damit Sie sehen, wie ernst es
mir damit ist, bitte ich Sie, mit mir heute Nachmittag nach meinem Lieblingsplatz
Schlackenwerth zu reiten!« Bei diesen Worten erhob sie sich, und ging auf ihren Salon
zu. Hier wandte sie sich noch einmal um, und rief freundlich: »Bitte, Sie
Unbekannter, Ihr Name?« – »Eduard von Stein!« – »Das klingt ja ritterlich genug; und
erinnert an die ganze, reichsunmittelbare Romantik! Also auf Wiedersehen, mein lieber
Ritter!« Der junge Mann sah ihr in stillem, Entzücken nach. Diese Erscheinung übte
eine Macht über ihn aus, der er sich nicht entziehen konnte. Gerade die
liebenswürdige Kindlichkeit, vereinigt mit einem tiefsinnigen Zug, der Zauber einer
seltenen Harmonie, der, alle Gegensätze versöhnend, über ihr ganzes Wesen
ausgebreitet war, mußten einen Mann fesseln, den Denken und Leben in allen
Widersprüchen herumgeworfen; der gerade nach einer Harmonie suchte, in der die
schreienden Mißklänge aufgelöst würden. Doch daß sie selbst nicht glücklich war, sie,
die zum Glücke berufen schien, die den Mann ihrer Liebe zum Gott beseligen mußte: das
war ein neuer, schmerzlicher Riß in der harmonisch vollendeten Schöpfung, die er im
flüchtigen Traume dieser seligen Minuten sich zusammenphantasirt!
7
Um vier Uhr hielten die gesattelten Reitpferde vor dem Wiesenthale. Madame Oburn sah
reizend aus in ihrem stahlgrünen, enganschließenden Reitkleide, mit dem keck in die
Locken gedrückten schwarzen Sammetbarett. Sie ritt sicher und kühn, mit Grazie in
jeder Bewegung. Stolz auf seine Begleiterinn ritt Stein ihr zur Seite. Unter
leichten, scherzhaften Gesprächen, den Eingebungen des Augenblickes, erreichten sie
den Schloßgarten Schlackenwerths. Leicht sprang die Reiterinn vom Pferde, übergab es
dem Diener und warf sich nachlässig auf eine geflochtene Weidenbank, die in der alten
Kastanienallee, unter dem Schatten hoher Bäume, stand. »Hier ist mir wohl und
heimlich,« rief sie aus; »hier erinnert mich alles an meine Jugendzeit! Drüben die
alte Dorfkirche, das kleine trauliche Pfarrhaus. O welches friedliche Glück mag jene
engen Räume bewohnen! Wie thöricht, sich immer hinauszusehnen in's Weite,
während allein in dem nächsten Kreis, in enger Umgränzung wahre Befriedigung möglich
ist!«
»Sie sind auf dem Lande erzogen, gnädige Frau? O schildern Sie mir Ihre Kindheit!
Meine aufrichtige Theilnahme macht mich ihres Vertrauens werth.«
»Mein Vater war Prediger auf dem Lande; ich sein einziges Kind! Aus den engen
Lebensverhältnissen sehnte ich mich hinaus und vor meiner Seele stand, als einzig
erstrebenswerth, ein bewegtes Leben mit allen Freuden der Welt: Ich war bis zu meinem
sechszehnten Jahre fast nie über die Gränzen unseres Dorfes hinaus gekommen; nur
meine Phantasie, deren angeborene Glut durch mannigfache Lektüre genährt war, schuf
mir, jenseits des idyllischen Bereichs, ein Eldorado voll unbestimmten Glückes. Jedes
Posthorn, das von ferne her durch die einsame Gegend schmetterte, entlockte mir
Thränen der Sehnsucht. Ich wollte in die Welt; ich wollte glücklich sein! Jetzt« –
fuhr sie bewegter fort; – »jetzt habe ich die Welt, und was darin Glück heißt,
kennen lernen; Reichthum, ein glänzendes Leben hat mir das Schicksal geschenkt, und
nun ich alles das erreicht, alles genossen – nun ist es mir werthlos – hat in
Wahrheit nie für mich Werth gehabt. Das habe ich mir längst mit Schmerz bekannt, und
fühle es stündlich drückender! Und so sehne ich mich jetzt zurück nach der
friedlichen Heimlichkeit engumschlossener Verhältnisse, die ich einst in jugendlicher
Hast zu durchbrechen wünschte!«
»Sie sind ungerecht gegen sich, gegen andere, gnädige Frau! Ein freundliches
Schicksal hat sie in die Welt geführt – uns allen zum Heil! Es liegt in Ihrem Wesen
etwas Freies und Frisches, das Erlösung bringt von all' den verknöcherten morschen
Verhältnissen, von all' der Heuchelei einer in sich zerfallenen Gesellschaft! Und ist
es nicht lohnender Beruf genug, auch nur einzelne Geister erquickend aufzurichten,
welche in der allgemeinen Erschlaffung und Zerrüttung sonst rathlos untergehen
würden! Solche Erlösung haben Sie mir gebracht; solche Erlösung werden Sie noch
Vielen bringen!«
»O Egoismus der Männer! Auch die besten denken nur an sich selbst!« entgegnete
die Oburn scherzend.
Der Abend war drückend schwül geworden; ein schweres Gewitter war am Horizont
heraufgezogen, einzelne Blitze zuckten durch grauschwarze Wolken, denen kein
kühlendes Naß enttropfte. Es ging ein stummer, drückender Schmerz durch die Natur,
und das Auge des Himmels schien fast krampfhaft seine Thränen zurückzuhalten. Die
Blitze fuhren hin und her, angstvoll, wie prophetische Boten eines nahen Unheils, und
unheimlich dumpfe Ahnungen bemächtigten sich der Gemüther der Menschen. Schweigend
ritt Madame Oburn mit ihrem Begleiter wieder dem imposanten Carlsbad zu. Sie war sehr
ernst geworden. Ihre Brust hob sich unter tiefen Seufzern, und ihr Auge folgte den
kreuzenden Blitzen in stiller Melancholie. Stein sah nichts außer ihr. Fast verzückt,
mit der Inbrunst des Sünders, der die verklärte Himmelsköniginn um Gnade fleht,
hingen seine Blicke an ihrem Antlitz, an der jugendlich idealen Gestalt, und nahmen
dies Bild in sich auf, unvergeßlich, unverlöschbar! Er suchte ihre Gedanken zu
enträthseln und erkannte wohl an dem schmerzlichen Ausdruck ihrer Züge, daß sie
nicht von Liebe träumte; denn die Liebe mußte diese Züge ja wunderbar lichten und
erhellen, wie die Frühlingssonne die Erde nach starrem Winter! Mit einer ihr nur
eigenen, holden Biegung des Halses sah die Oburn jetzt zu ihrem Begleiter herüber:
»Ich bin maßlos langweilig, lieber Stein, vergeben Sie mir! Ich gab meinen Gedanken
Audienz! Wie wechselvoll ist doch das Innere des Menschen! Früher erfaßte mich stets
eine große Bangigkeit während des Gewitters! Um den Blitz nicht zu sehen, verbarg ich
als Kind mein Köpfchen in den Schooß der Mutter, als wäre ich hier gegen jede Gefahr
gefeit. Heute weitet sich meine Brust bei dem Rollen des Donners, mein Auge labt sich
an den feurigen Strahlen, die so keck, wie junge, lebensfrische Gesellen, den
Wolkenvorhang zerreißen, als wollten sie der Natur in's Herz sehen. Ja, ich kann es
mir schön denken, zu verglühen, von diesen Strahlen getroffen! O, die Welt mit ihren
Freuden ist mir oft zu verächtlich!« Auf diese Worte aus dem Munde einer ein
und zwanzigjährigen, schönen, gefeierten Frau wußte der junge Mann nichts zu
erwiedern, und stumm langten Beide in dem Wiesenthale an.
»Mögen die guten Geister der Liebe Sie in dieser Nacht umschweben!« rief der Baron
bedeutungsvoll zum Abschiedsgruß.
Kaum war Madame Oburn unter ihr schützendes Dach getreten, als sich das Gewitter
gewaltig entlud. Frau Meier, als gute Katholikinn, lag vor ihrem Crucifix, das auf
einer Art Betpult im Schlafzimmer stand, auf den Knieen. Sie betete ihr Ave Maria,
flehte die Mutter Gottes um Schutz an, zankte dann wieder mit ihrer Therese, und
wechselte so mit himmlischen und irdischen Gedanken. Sobald die Heftigkeit des
Donners etwas nachgelassen, öffnete sie die Hausthüre und sah sich rings mit
spähenden Blicken um. Endlich gab ein heftiger, großtropfiger Regenguß dem krampfhaft
zusammengezogenen Gewölk, das in schwüler Spannung am Himmel lagerte, und den durch
Angst zusammengepreßten Menschenherzen die ersehnte Erleichterung. Frau Meier
wünschte der Madame Oburn, wie sie es gewöhnlich zu thun pflegte, eine sanfte
Nacht, versicherte »Dero Gnaden,« das Gewitter sei vorüber; sie brauche sich nicht zu
ängstigen, und solle es ja wiederkehren, so schlafe sie dicht neben Madame und sei zu
jedem Dienst bereit. Hierauf öffnete sie noch einmal die Pforte, um den Himmel zu
observiren, und ließ dabei leise eine hohe, dicht in den Mantel gehüllte Gestalt
hereinschlüpfen. Dann verrichtete sie ihr übliches Nachtgebet und entschlief mit dem
stolzen Bewußtsein, einen wichtigen Tag verlebt zu haben.
Madame Oburn hingegen ging unruhig im Zimmer auf und ab. Endlich öffnete sie die
Fenster wieder und sah in die schöne, nun stille Nacht hinaus. Die Luft war prächtig
frisch und kühl geworden. Die Oburn konnte dem Verlangen nicht widerstehen, noch im
Freien umherzuwandeln. Rasch warf sie über das leichte Nachtkleid eine Mantille,
steckte die zarten Füßchen in feste Schuhe, und huschte gedankenleise zum Saal
hinaus. Es war gerade die reichste, üppigste Blüthenzeit des Jahres; tausend
erschlossene Blüthen strömten süß betäubenden Duft aus, der wie ein magisches
Netz die Sinne gefangen hielt. Von Rose zu Rose ging die junge Frau, trank mit
durstigen Lippen aus jedem Kelch die frischen Regentropfen, und nachdem sie so
erquickende Frische eingesogen, brach sie noch tyrannisch die beraubten Blüthen und
warf sie zerpflückt den Wellen der Eger zu. Einzelne helle Sterne lauschten dem
kindischen Spiel und blickten doch so heilig ernst dazu, als begriffen sie des
Spieles tiefe Bedeutung. »Ich bin mild gegen euch, ihr schönen, schönen Blumen; ich
vernichte euch in eurer Schönheit; ich erspare euch den Schmerz nach und nach
verwelken zu müssen! Ich bin gerechter als die Natur, die auch uns nur so kurze Zeit
das Recht auf Glück und Liebe ertheilt, und uns dann, wenn die Tage der Jugend
vorüber, zu den Qualen langer Entsagung verdammt!« So wühlte die junge, schöne Frau
gedankenvoll in den unheimlichen Tiefen des Lebens. Am Ufer des Flusses stehend, sah
sie starr in das Wasser hinein, so lange, bis es ihr unheimlich wohl ward und die
Fluth sie lockend herab zu ziehen drohte! Da eilte sie rasch fort, als wollte
sie der Gefahr entfliehen, und es war ihr, als ob sie hinter sich leise Fußtritte
hörte. Geängstigt beflügelte sie ihren Schritt, dem Schlafgemach zu.
8
Mitternacht war vorüber. – Madame Oburns Gemach war ganz von frischem, würzigem Dufte
durchdrungen, den es, aus tausend Blumenkelchen, nach dem Gewitterregen eingeschlürft
hatte durch die offenen Fenster. Es wurde erhellt durch eine weiße Alabaster-Ampel,
die zwischen den faltigen, durchsichtigen Vorhängen des Himmelbettes hing, das auf
bronzenen Füßen ruh'te. Das trauliche Helldüster, die üppigen, bunten Fußteppiche,
eine kleine Orangerie, die auf zierlichen Blumentischen am Fenster stand, und nur
einzelne, große Silberflecken des anschwellenden Mondlichtes auf den Fußboden
durchfallen ließ: alles das gab dem Zimmer einen so malerischen Anstrich, daß die
hohe dunkle Gestalt, welche so eben die Thüre öffnete, und dann fest hinter sich
verschloß, eine Zeitlang wie festgebannt dastand, und hochaufathmend die Blicke
umherschweifen ließ. Es war der Prinz C**, in ein feines, etwas phantastisches
Negligée gekleidet. Leichte mit Gold gestickte Stiefel von weißem Sammet machten sein
Auftreten fast unhörbar. Weite, orientalische Beinkleider von rosenrother Seide, und
ein faltiger kurzer Rock von dem selben Stoff bildeten die übrige Bekleidung. Ein
weißer, schöner Männerhals, von dichtem schwarzem Bart beschattet, stieg aus dem
zurückgeschlagenen Battist-Hemdkragen hervor, und machte der Weiße einer
schöngeformten Hand, an der es von werthvollen Steinen blitzte, den Preis
streitig.
Eine fieberhafte Glut hatte sich auf seinen Schläfen gelagert, und mit jedem
Schritte, den er vorwärts that, fing sein Herz lauter an zu schlagen. Von einem
tiefen gesunden Schlaf leise geröthet, lag die junge Frau auf ihrem Bette, dessen
leichte, roth seidene Decke sich gesträubt zu haben schien, die vollen, reizenden
Formen ganz zu verhüllen. Sie lag dem Zimmer zugewandt, die Hände auf dem Busen
gefaltet. Ein süßer Traum schien im Vorüberschweben sich in dem seligen Lächeln ihres
Mundes gefangen zu haben. In dem ganzen, zauberhaft wirkenden Bilde lag nichts
Ueppiges, nichts Kokettes. Keine herabwallenden Locken, keine entblößte Schulter.
Aber das Nachthäubchen, welches die aufgewickelten Haare barg, umschloß mit seinem
Rahmen von feinen, Brüsseler Kanten ein so liebliches Madonnenantlitz, zwei
übereinandergeschlagene Füßchen sahen am Ende des Bettes so unschuldig aus den weißen
Leinen hervor, daß dies ganze reizende Bild mehr zur Andacht einlud, als zu wilder
Begierde. Dem Prinzen aber, dem jede höhere Regung fern lag, weil er nur eine Liebe
kannte, die dem Schimmer des Goldes feil war oder der Eitelkeit zum Opfer fiel – zog
es mit stets wachsender Gewalt zu dem Bette der schönen Frau. Zitternd vor Aufregung,
gepreßt und heißathmend war er nur noch einen Schritt von der Schläferinn entfernt.
Leise ließ er sich auf ein Knie nieder, hob, noch unschlüssig über seinen Angriff,
die Decke in die Höhe, und küßte den rosigen Fuß der Madame Oburn. Das aufwallende
Blut röthete seine Augen. Einen Augenblick verweilte er, halb betäubt von so
vollendeter Schönheit; dann plötzlich, mit den Zähnen knirschend, stürzte er mit
den Worten: »Weib, Du mußt mir gehören!« über sie, schloß ihren Mund fest durch den
seinigen, so daß sie nur einen schwachen Laut von sich zu geben vermochte, zerriß mit
gewaltiger Kraft ihr Nachtgewand, und schleuderte es mit der Decke weit in das Zimmer
hinein. Madame Oburn hatte ihn erkannt; doch trotz der gewaltigsten Anstrengungen war
es ihr unmöglich, sich loszuwinden; sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, als der
Prinz, der ihre allmählige Abspannung für ein Zeichen der Nachgiebigkeit hielt, das
Haupt emporhob, um etwas zu sprechen. Diesen Augenblick benutzend, stieß die Oburn
einen Schrei aus, der seine Wirkung nicht verfehlte. Man hörte eine Fensterscheibe
klirren, sah eine kräftige Männerfaust durch die Oeffnung hindurch, nach dem
Fensterriegel langen, während der Prinz, durch den Lärm aus seinem Taumel geweckt,
aufsprang, und regungslos dastand; die Oburn aber alles, was sie von Leinenzeug und
Gardinen zusammenraffen konnte, um sich zog, damit zur Thüre hinstürzte, wo die
Klingel für ihre Dienerschaft hing, heftig schellte, und dann ohnmächtig niedersank.
In diesem Augenblick sprang Herr von Stein – denn er war es, der die ganze
Nacht hindurch unter dem Fenster der von ihm so hochgeehrten Frau zugebracht – in das
Zimmer, und stand, bleich vor Wuth, mit funkelnden Augen, vor dem Prinzen, der nicht
mehr wußte, was um ihn vorging. Die Worte des Barons, voll heftigster Beleidigung,
brachten ihn endlich wieder zur Besinnung. Er, der mit dem Bewußtsein eines ertappten
Schulknaben, dem Baron gegenüberstand, schien plötzlich einen raschen Entschluß zu
fassen, und sprach in spöttischem Ton: »Es thut mir leid, lieber Baron, Ihnen hier
zuvorgekommen zu sein,« und ging auf die Thüre zu, vor welcher man schon die Tritte
der nahenden Dienerschaft hörte. Seine Absicht war augenscheinlich, wenigstens den
guten Ruf der Oburn zu vernichten. Die Dienerschaft kannte ihn nicht – und wäre auch
seine Anwesenheit im Zimmer dieser Dame bekannt geworden, so hätte doch Niemand
vorausgesetzt, daß der schöne geistreiche Mann hier Widerstand gefunden. Im
schlimmsten Fall ließ sich die Geschichte mit einem geringen Aufwand von Escamotage
drehen, indem man das Gerücht verbreitete, daß der Prinz die Madame Oburn vor
den Zudringlichkeiten des Herrn von Stein gerettet. Natürlich wäre es hier wiederum
allen einleuchtend gewesen, daß der Prinz nicht unbelohnt einen solchen Ritterdienst
geleistet. Stein, ein Mann von vieler Geistesgegenwart und raschem Ueberblick, hatte
in einem Moment alle diese Möglichkeiten erfaßt und überdacht. Schnell sprang er nach
der Wand zu, wo ein Paar Pistolen des Herrn Oburn hingen; ein Blick überzeugte ihn,
daß sie geladen seien, und so bewaffnet trat er zwischen den Prinzen und die Thüre,
an welcher schon die Kammerjungfer, von Zeit zu Zeit, um Hülfe rufend, mit aller
Anstrengung rüttelte. Oben im Hause war alles lebendig geworden. »Noch einen Schritt
weiter,« flüsterte Stein, »und bei Gott, ich schieße Ihnen diese Kugel vor den Kopf!
durch das Fenster ist unser Weg.« Der Prinz wollte vorwärts; Stein legte an. Der
starre, durchbohrende Blick, der festzusammengepreßte Mund dieses Mannes zeugten
dafür, daß er es bei einer bloßen Drohung nicht lassen würde. Der Prinz, dem die nahe
Mündung einer Pistole ein unerwarteter Anblick schien, ward kreideweiß, wandte
sich rasch um, und schwang sich über das Fenstergesimse des hohen Parterres hinab in
den Garten, wo er im Dunkel verschwand. Stein folgte ihm sogleich, nachdem er noch
einen Blick unaussprechlicher Trauer auf die ohnmächtig daliegende Frau geworfen, und
einen Rubinschmuck, der sich auf den Toilettentisch befand, zu sich gesteckt. Die
fast gleichzeitig durch die aus ihren Angeln gehobene Thüre eindringenden Diener
sahen ihn noch am Fenster verschwinden, und fanden auf dem Boden das leere
Schmuck-Etui! Der Ruf: »Diebe, Diebe!« tönte durch das ganze Wiesenthal; Laternen
zeigten sich in der Ferne; alles war in Aufruhr und Bewegung; bis zum lichten Tage
dauerten die Nachforschungen; doch weder von den Dieben, noch von dem Schmucke war
irgend eine Spur aufzufinden.
9
Aus einem kurzen und unruhigen Schlummer wurde Madame Oburn nach jener Nacht durch
die Ankunft ihres Gatten geweckt. Lärmend und pfeifend, wie es seine gewöhnliche Art
war, polterte er in's Zimmer und rief: »Gott verdamme mich! Da finde ich Dich noch
Mittags in den Federn! Habe ich Dich nicht nach Carlsbad geschickt, damit Du mit den
Hühnern aufstehn lernst, Brunnen trinkst und tüchtig spazieren läufst? Na, Kleine,
mach' nur nicht ein gar zu betrübtes, weinerliches Gesicht! Es ist ja nicht böse
gemeint; aber mach' nur rasch, laß' Dich ankleiden und komme zum Frühstück in den
Garten; denn ich trinke gern ein Gläschen Wein mit Dir! Donnerwetter,« unterbrach er
sich plötzlich selbst; »was ist denn das? Da liegen ja meine Pistolen auf der Erde;
die Fensterscheiben sind eingeschlagen; Du siehst bleich und angegriffen aus; was ist
hier geschehen? Verschweige mir nichts! Denn ich bin strenge und wüthend, wenn
Du mich hintergehst!«
Am ganzen Körper zitternd und sichtbar mit sich selbst kämpfend, schlug die Frau das
Auge scheu zu Boden. Sie war immer wahr gewesen. Ohne daß sie ihren Mann liebte,
hielt sie die Ehe doch für so heilig, daß sie aus ihren Erlebnissen ihm nie ein
Geheimniß machte. So wollte sie auch jetzt treu die Vorfälle der letzten Nacht
schildern; doch als sie erschreckt von dem zornigen Blick ihres Gatten, sich
umwandte, sah sie das leere Schmuck-Etui. Wie ein Blitz durchzuckte sie der Gedanke,
daß Stein, um ihre Ehre zu retten, mindestens allen Klatschereien, die das Abenteuer
nach sich ziehen könnte, vorzubeugen, ihren Schmuck zu sich gesteckt. Sobald ihr
diese Absicht klar geworden, stand auch ihr Entschluß fest. Die Farbe vom zartesten
Weiß bis zur Purpurglut wechselnd, erwiederte sie erschöpft und zitternd:
»In vergangener Nacht müssen hier Diebe eingebrochen sein und meinen Rubinschmuck
entwandt haben. Als ich durch das Klirren der Fensterscheiben aus meinem festen
Schlaf geweckt wurde, sah ich zwei männliche Gestalten durch das offne Fenster
dringen. Trotz meines großen Schrecks hatte ich noch die Besonnenheit, rasch
aufzuspringen und meine Leute durch das heftige Ziehen der Klingel zu wecken. Dann
schwand mir das Bewußtsein, und ich sank ohnmächtig zu Boden. Was weiter geschehen,
weiß ich nicht. Als ich nach langer Zeit wieder zu mir kam, fand ich mich im Bett,
und neben mir die gute Lisette, die mir unter dem heftigsten Weinen meinen Verlust
mittheilte.«
Eine Flut von Thränen verhinderte sie, weiter zu reden. Herr Oburn, der diese Thränen
dem verlornen Schmuck zuschrieb, dem überhaupt nichts in der Welt verhaßter war, als
das Weinen, sprach liebkosend: »Nun, gräme Dich nicht zu sehr um das bischen Gold,
mein Herzchen! Ich kaufe Dir wieder einen andern Schmuck; aber nun sei auch heiter;
zeige mir ein freundliches Gesicht; das ist mir lieber, als alle Deine Preciosen.«
Durch diese unerwartete Milde ihres Gatten weich gestimmt, lehnte sie ihr Haupt
an seine breite Brust, und flüsterte: »Du hättest mich nicht so lange allein hier
lassen sollen, lieber Oburn! Ich sehnte mich fort von hier; nun laß' uns aber auch
schnell abreisen – heute noch; oder lieber gleich in dieser Stunde.« Herr Oburn,
geschmeichelt, durch diese Sehnsucht seiner Frau, nach Hause zurückzukehren, strahlte
vor Glückseligkeit, nahm sie jubelnd in seine Arme, tanzte mit ihr im Zimmer umher,
und erdrückte sie fast vor lauter Zärtlichkeit.
All' die vielen unangenehmen Vorbereitungen, die eine Abreise immer mit sich bringt,
waren beseitigt, Rechnungen und Trinkgelder bezahlt, die Reisekoffer gepackt. Madame
Oburn ging noch einmal in den Garten, nahm wehmüthig von jeder Lieblingsstelle
Abschied, pflückte hier und da eine Blüthe und band sie zum Strauß, den sie vor den
wallenden Busen befestigte. Als sie eben den Reisewagen besteigen wollte, kam ihr
Brunnenarzt, um für das reichlich übersandte Honorar seinen pflichtschuldigen Dank
abzustatten. Die unermüdliche Zunge dieses jungen Aeskulaps erging sich noch
nebenbei in mancherlei Mittheilungen aus der Badewelt. Er schloß die Carlsbader
Tageschronik mit einer interessanten, aber traurigen Neuigkeit. »Wissen Sie schon,
daß heute Morgen im Schloßgarten zu Schlackenwerth ein Duell zwischen dem Prinzen C**
und dem Baron Stein stattgefunden hat, und daß der Letztere dabei gefallen ist? Man
beklagt allgemein den liebenswürdigen, jungen Mann, und die Neugier müht sich ab, die
verborgene Veranlassung zu diesem unglücklichen Duell zu entdecken. Prinz C** soll,
wie mir eben sein Leibarzt erzählt, durch diesen Fall tief erschüttert sein, und ist,
wie Sie, meine Gnädige, eben im Begriff, Carlsbad zu verlassen.«
Madame Oburn preßte, ohne ein Wort zu entgegnen, krampfhaft ihre beiden Hände auf das
Herz. Ihrem Gatten sowohl, wie dem Arzt, entging es, welch' unheilbaren Riß diese
Worte in ihr Leben gemacht. Fast gefühllos, ließ sie sich in den Wagen heben, und
lehnte das Haupt in die weichen Kissen. Bei der ersten Barrière traf ihr Wagen
mit dem Reisezug des Prinzen zusammen – dann fuhr sie gen Osten, er nach Westen!
10
Das traurige Schicksal des Baron Stein hatte in Carlsbad überall die regste
Theilnahme erweckt. Wenn auch die Bedeutung seines Wesens der Menge entging; wenn ihn
auch viele für einen Schwärmer, für einen Sonderling hielten, für einen
Melancholiker, der mitten in dem Leben und Treiben der großen Welt für seine Gedanken
sich ein eigenes Reich erschuf, so wurde er doch in allen Salons gern gesehen; denn
er galt für eine interessante Erscheinung, und hatte die feinen Manieren und den
edeln Anstand eines Gentleman. Baron Stein war von seiner Familie für die
diplomatische Carriere bestimmt worden; doch sein Herz blieb der kalten Taktik dieses
Feder-Despotismus fremd, und hing mit treuer Begeisterung an den burschenschaftlichen
Idealen seiner Jugend. So war sein Inneres in einen unlösbaren Zwiespalt zwischen
Neigung und Beruf, zwischen den Ansprüchen des Herzens und den Forderungen der
Welt hineingerathen. Dieser innere Kampf, der ihn nach außen hin kalt und
abgeschlossen machte und auch jedes versöhnende Element fernhielt, mit dem vielleicht
ein edles, weibliches Herz in treuem, innigem Verständniß, sein Leben beglückt hätte,
spricht sich, in seiner ganzen Bedeutung, in dem Tagebuch des Barons aus. Einzelne
Blätter daraus wollen wir unsern Lesern nicht vorenthalten, da gewiß die kurze
Episode aus dem Leben des Barons, die wir mitgetheilt, bei ihnen das Interesse für
sein inneres Leben erweckt.
Tagebuch-Blätter.
Die Feuer der Wartburg sind ausgebrannt, und die officielle Geschichte trägt eine
jugendliche Verirrung in ihre Bücher ein, während die Inquisition mit ihren Ketten
und Torturen, wiederum durch die deutschen Lande rasselt. Eine jugendliche Verirrung!
Doch diese Jugend kam ja nicht von den Schulbänken her, träumte ja nicht von der
Republik eines Cato und Brutus, mit der Inbrunst eines schwärmerischen
Lateiners, der die todten Lettern seiner Klassiker zum Leben erwecken will in der
Gegenwart. Diese Jugend hatte mitgestritten in den Schlachten von Leipzig und
Belle-Alliance, nährte sich mit dem Marke großer Thaten, hörte die Würfel eines
bedeutsamen Weltgeschicks auf den blutigen Schlachtfeldern fallen, sah dem Tod in das
Auge, und lernte die Geschichte, indem sie dieselbe schaffen half! Das eiserne Kreuz
schmückte ihre Brust! So hatten sie das Vaterland erlös't aus langer Knechtschaft,
auf daß es, von innen heraus, nach eigenem Gesetz, sich emporringe zur Freiheit, und
sie nicht empfange als die Gabe eines fremden Volkes, als die Nachlese einer fremden
Revolution! Wohlan, ihr diplomatischen Kläger, ihr habt Recht! Ihr macht diese
Begeisterung, die eure Schlachten schlug, die an die Freiheit glaubte, sie nach außen
errang, sie nach innen erringen wollte – ihr macht sie zu einer jugendlichen
Verirrung.
Fast wird es mir schwer, zu glauben an den Fortschritt der Menschheit, an eine
innere, heilige Nothwendigkeit, an des Geistes siegreiche Macht, der in immer neuen
Formen zu immer höhern Entwickelungen reift? Aber ich muß daran glauben – soll mir
die Geschichte nicht zu einem großen Leichenfeld werden, auf dem eine maßlose
Willkühr triumphirt; auf dem des Lebens Gestalten zu gespenstischen Schatten werden.
Und doch – Griechenland und wir, das Volk der göttlichen Schönheit und Jugend und
Freiheit – und wir! der Areopag – und der Bundestag! Oder die Zeiten des vorigen
Jahrhunderts, das römische Reich, mit seinen Reichstagen, seiner Reichsarmee, seinem
Reichskammergericht, seinen lächerlichen Reichsmittelbarkeiten, mit den Fürsten, die
das Mark und Herzblut vergeudeten, mit ihren Maitressen und Juristen und Pfaffen, mit
ihren Kriegen um ein Titelchen des Rechts oder der Etikette, um einen Fetzen Landes;
mit ihren Ministern und Juden, die sich in die Beute theilten! O, auch der Glaube an
den Fortschritt der Menschheit muß stark sein in der innersten Seele, so stark, daß
er Berge versetzen kann! Denn die Geschichte selbst scheint an ihm zu
verzweifeln; ihre Blätter stehen voll kühner Skepsis; und die Gegenwart bietet keinen
Trost und keinen Halt.
Ein blasirtes Geschlecht hält es für Thorheit, an Ideen zu glauben und nach ihrer
Verwirklichung zu ringen. Die feine Welt verachtet die Ideologen, die Schwärmer,
deren Compaß nicht von dem Wind der faden Mode umgetrieben wird; die in dem
flüchtigen Genuß des Augenblicks nicht aufzugehn vermögen! Da schlürfen sie, die
Diplomaten, die Aristokraten, die ganze Seligkeit eines komfortablen Lebens, spielen,
wie Mückenschwärme in der Abendsonne, während es in den Völkern rollt und grollt, wie
Donner ferner Revolutionen, und ihre Blitze aufzucken am Horizont der Geschichte! Ein
gewandter Styl, eine glückliche Wendung, ein Federstrich, eine Laune hat über das
Schicksal ganzer Nationen entschieden, deren blutige Heldenthaten nichts waren, als
Tagelöhnerdienst im Sold der Diplomatie, welche Siege und Niederlagen, das
credit und debet der Geschichte, in ihre offiziellen Contobücher eintrug! Doch die
Zeit wird und muß anders werden; es sind nicht blos Gespenster, die in meinem Kopf
herumpoltern; es ist ein Geist, der draußen in den Völkern groß wird, eine neue
Geschichte nervig und markig, die nicht mehr in den Salons der bevorzugten Stände die
diplomatischen Polonaisen aufführt, um deren Gunst man nicht freit mit
Glacé-Handschuhen und eleganten Phrasen; nein, eine ungezogene, demokratische
Geschichte mit der wilden Musik der Ça ira's, dem stürmischen Aufjauchzen einer lang
unterdrückten Volkskraft. Die Kirche und Pfaffen der Restauration haben das Volk
lange genug mit ihren Hungersuppen gespeist! Panis et circenses – Brodt will das
Volk; die blutigen Spiele giebt es aus eigenen Mitteln dazu!
Das nennen sie: leben! Aus einem Boudoir in das andere, aus einem Salon in den
andern, tanzend über das Parquet mit gefirnißten Stiefeln, oder den Estricht
fegend mit den Schleppen ihrer Kleider! Eine Minute jagt athemlos der andern nach;
und so hetzen sie sich selbst durch das Leben! Und mit wilder Gier häufen sie
Amüsement auf Amüsement, nur die Stunden auszufüllen, und dennoch fühlen sie immer
wieder, trostlos und geängstigt, die ewige, fürchterliche Leere.
Und was ist aus den Frauen geworden? Wir Burschenschafter glaubten an das Ideal der
Jungfräulichkeit. Es war eine Reminiscens aus Tacitus oder aus dem katholischen
Glauben des Mittelalters. Doch die Zeit der alten, germanischen Frauen ist
vorübergegangen, wie die Zeit der Madonnen. Jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Nicht in
der Entsagung, sondern in der liebenden Hingabe finden wir die edle Weiblichkeit.
Eine reflektirende Zeit, die in den Gedanken, in das Bewußtsein die Göttlichkeit
setzt, kann keinen Respekt mehr haben vor paradiesischer Unschuld und
Bewußtlosigkeit, die nur einem naiven Zeitalter eigen ist. Darum wäre es
thöricht, von den Frauen solche utopische Gedankenarmuth zu fordern, oder wohl gar
das weibliche Ideal in diesen schuldlosen Zustand zu setzen, der bei unseren
Verhältnissen nur gemacht sein kann, eine affectirte Prüderie. Eine andere Schranke
aber muß die Weiblichkeit wahren; und wenn sie die Scylla der Prüderie vermeidet,
nicht in die Charybdis der Prostitution gerathen. Prostitution aber ist die Hingabe
der Liebe, in oder außer der Ehe, ist das Wegwerfen der eigenen Persönlichkeit! Diese
hoch zu halten, diese nur gegen den Preis der Liebe hinzugeben, dies schöne Maß zu
bewahren – das ist in unserer Zeit des Weibes einzige Unschuld und Sittlichkeit.
Nichts geht doch über eine harmonische Erscheinung; der Triumph, den die Natur in
ihren Schöpfungen feiert! Wenn der Körper zum lebendigen Ausdruck der Seele geworden,
jede seiner Bewegungen ihre Grazie athmet, und das Ebenmaß seiner Formen ein Abbild
ist ihrer innern, maßvollen Schönheit: dann ist schon der Anblick eines solchen
Wesens Göttergenuß, ein trunkenes Schwelgen in den ewigen Rhythmen der Welt! Ich habe
ein solches Weib gesehn, und ich bin andächtig geworden! O es giebt einen schönen
Katholicismus des Herzens, der mich zum Proselyten machen könnte! Eine solche
gnadenreiche Madonna in ihrer Glorie, eine fleischgewordene Offenbarung der ewigen
Schönheit kann Wunder thun an mir! Und sie befreit den Geist und knechtet ihn nicht;
denn Schönheit ist Freiheit.
Leidenschaftlich, rücksichtslos folgt er ihrem Schritt, hängt sich an ihre Fersen!
Denn die Herren der Welt machen ihre Rechte geltend, und fordern die Schönheit als
ihr Regal! Mit dem unwiderstehlichen Zauber ihrer Macht, der die fluchwürdig
erniedrigte Sclavenwelt mit den Schauern der Unterthänigkeit schüttelt, sprengen sie
alle Riegel, die man vorsichtig dem Gewissen des Volkes vorschiebt, und sanktioniren
das Verbrechen, indem sie es selber begehn! Es liegt etwas Großes in der
ungebundenen Schrankenlosigkeit eines nur sich selbst gehorchenden Lebens! Doch wenn
diese Größe ein Recht der Menschheit ist, so darf sie nicht ein Vorrecht Einzelner
sein. So kann sie nur zerrütten, zerstören; und ich werde ankämpfen gegen dies
Monopol des Verbrechens bis zum letzten Athemzug!
Ein schöner Nachmittag! Dies Weib ist Poesie; ihr ganzes Wesen ein Gedicht! Mir
war's, als umschwebten sie all' die herrlichen Geister der Vergangenheit, von den
lieblichen Idyllen Griechenlands, über denen ein ewig heiterer Himmel ruht, wie das
klare Auge eines Gottes, bis zu Petrarkas träumender Romantik, die an Vaucklüsens
rauschendem Quell der Liebe unsterbliche Lieder singt! Und dann wetterleuchtet's
wieder auf in ihr von modernen Gedankenblitzen, aus dem Schoß einer zerrissenen,
gährenden Zeit geboren, prophetisch die dunklen Tiefen der Zukunft erleuchtend! Der
Besitz eines solchen Weibes wäre der Schlüssel zu allen Mysterien des Lebens,
zu allen Offenbarungen der Poesie.
Ich habe nie geliebt! Auch das ist nicht Liebe! Liebe ist unruhig und voller Wünsche;
stets unzufrieden mit dem Nächsten, stets hinauslangend in die Ferne! Von einer Stufe
der Seligkeit strebt sie nach der höhern hinan; und ihre Himmelsleiter ist unendlich!
Ich bin ruhig und zufrieden, glücklich, wenn ich vor roher Hand ein vollendetes Werk
beschützen kann, das die Natur in ihrem Allerheiligsten aufgestellt. Das beseligt
mich; das genügt mir! Ich bin ein treuer Wächter, und werde es nicht dulden, daß der
Vandalismus der rohen Begierde dies harmonisch gestimmte Saitenspiel zertrümmert.
Das Gewitter hat sich entladen! So folge Schlag auf Schlag – und sei er auch
tödtlich! Er wagt sein prinzliches Blut gegen das meine – er nimmt es auf mit dem
Tod, dem uralten Demokraten! Ich seh' ihm dreist in das Auge! Ich falle, wie der
Soldat auf seinem Posten! Oder ist meine Kugel dreist genug, ihm in's Herz zu
dringen, und ihm unwiderleglich das Evangelium der Gleichheit zu predigen – so
bezieh' ich wieder meine Wacht, stumm und treu, ohne Dank zu verlangen! Doch ich
werde fallen – ich weiß es! Solcher Tod ist schön – und das Leben könnte noch
schmerzlich werden! Es könnte anders kommen! Eine Leidenschaft, so tief sie
verborgen, so schwer sie gefesselt, könnte aufsteigen, maßlos, alles verlangend,
alles durchbrechend, und den treuen Hüter zum frevelnden Räuber machen! Dagegen giebt
es nur ein Radikalmittel – der Tod! Die Pistolen sind geladen! Glück auf!
11
Im Comtoir des Fabrikherrn Oburn war wenige Monate nach seiner Rückkehr vom Bade
unter den Commis eine große Unruhe und Unthätigkeit wahrzunehmen. Die Feder hinter
das Ohr geklemmt, sahen sie entweder neugierig in die nahe Fabrik, die von den
Fenstern des Comtoirs zu übersehen war, oder auf den Buchhalter Ehrig, und flüsterten
sich dabei verstohlen einige Worte in's Ohr. Das Gesicht des Herrn Ehrig gab ihnen
indeß nicht den gewünschten Commentar – es war heute so undurchdringlich ernst, wie
es immer zu sein pflegte. Nur die hohe, tiefgefurchte Stirn war noch etwas finsterer
als gewöhnlich zusammengezogen, und die schwarzen intelligenten Augen verschlangen
gleichsam die Zahlen des vor ihm aufgeschlagenen Hauptkassenbuchs. »Da muß es nicht
richtig sein,« lispelte einer der pomade-duftigen Comtoristen seinem Nachbar
zu, der ihm ähnlich sah, wie ein nichtssagender Abdruck; »da fehlt's, o, das habe ich
schon lange bemerkt.«
Der Buchhalter, der mit seinem Ohr diese Bemerkung gehört, wandte sich rasch auf
seinem runden, hohen Schreibsessel um, sah die faden Gestalten drohend an, und schien
im Begriff, ihnen eine Lektion geben zu wollen, als das plötzliche Oeffnen der Thür,
die zur Fabrik führte, und der Anblick, der sich ihm hier darbot, ihn alles andere
vergessen machte. Zwölf Männer aus der arbeitenden Klasse, dem Greisenalter nah,
sichtbar abgemagert, mit eingefallenen, hohlen Augen, den Rücken krumm gezogen durch
übermäßiges Arbeiten, die Hände voller Schwielen, um den elenden Leib einige
Kleiderfetzen hängend, traten langsam, einer nach dem andern, ein. Es waren die
verschiedenen Werkmeister der Oburnschen Fabrik. Kummervoll überschaute Ehrig jede
einzelne Figur; doch er suchte seine Rührung zu verbergen, und frug ziemlich barsch:
»Nun, was soll das? Warum verlaßt ihr die Fabrik während der Arbeitsstunden? Ich muß
euch für diese Versäumniß die übliche Taxe eures Wochenlohns abziehn. Geht
schnell zurück; was wollt ihr hier?« Da ergriff der älteste unter ihnen, Webermeister
Schmidt, das Wort: »Was wir wollen, Herr Buchhalter, das will ich Ihnen jetzt im
Namen aller meiner Kameraden sagen. Wir sind hier um mit unserm Herrn zu reden, weil
wir nicht Hungers sterben wollen mit Weib und Kind. Das ist wahrhaftig Grund genug!
Ihr Herren wißt nicht, wie weh der Hunger thut, wie es einem alten Vater fast das
Herz bricht, wenn die Kinder, die ihm der Himmel geschenkt, vergeblich nach Brod
rufen. Ja, Herr Ehrig, so kann es nicht länger mit uns bleiben! Wir sind Menschen und
wollen auch menschlich leben. Vor Jahren, als Herr Oburn diese Fabriken gründete,
bekamen wir doch wenigstens Lohn genug, um, wenn wir des Tags rechtschaffen und
fleißig gearbeitet, des Abends ein gesundes Nachtessen zu genießen, und in einem
reinlichen Bett Kräfte für den kommenden Morgen zu sammeln. Sonntags ruhten wir uns
aus, gingen mit unseren Kindern in die Kirche, und dankten dem lieben Gott für
die Wohlthat der Ruhe. Dann gings in die Schenke; und bei einem Kruge Bier, bei einer
Pfeife Taback vergaßen wir alle Lasten des Lebens. Mehr brauchen wir nicht – dabei
waren wir glückliche Leute, und trösteten uns dafür, daß wir auf Erden nicht alle
gleich sein können, mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Denn wer hier Arbeit
und Mühsal hat, dem verspricht ja die heilige Schrift im Himmel tausendfältigen Lohn.
Mit uns ist's aber von Jahr zu Jahr schlechter geworden. Unser Herr ward inzwischen
ein reicher Mann. Unser saurer Schweiß hat die Fabriken gehoben, und das Gold in
seiner Kasse gehäuft. Wir meinen denn, da wär's recht und billig gewesen, uns eine
kleine Zulage zu geben. Es hätte uns schon gefreut, weil wir des Herrn Freundlichkeit
und Menschenliebe daraus ersehen. Und das thut wohl, und weckt auch bei uns Liebe und
Vertrauen, und in die Arbeit kommt ein guter Geist. Doch statt einer verdienten
Zulage, hat man uns nach und nach immer mehr Abzüge gemacht, so daß jetzt unser
ganzer wöchentliche Verdienst sich auf anderthalb Thaler beläuft. Davon können wir
mit unseren Familien nicht leben. Sehen Sie unsere morschen, ausgemergelten
Knochen – woher soll uns die Kraft kommen, Tag für Tag sechszehn Stunden zu arbeiten?
Wir wollen daher alle einstimmig unsern Herrn bitten, uns wieder unseren früheren
Lohn auszuzahlen. Sonst arbeiten wir alle nicht mehr! Noth kennt kein Gebot! Kommt
keine Hülfe von oben, so müssen wir uns selbst helfen!« Fast drohend hatte der alte
Mann die letzten Worte gesprochen, und schwieg hier erschöpft still. Seine Kniee
zitterten, und schienen ihn nicht länger tragen zu können. Der Buchhalter aber sprach
freundlich und begütigend, »Setzt euch, Meister Schmidt! Ihr seid müde geworden, und
ich hab' auf euer Anliegen doch Manches zu erwiedern. Leider ist es wahr, daß euch in
den letzten Jahren bedeutende Abzüge gemacht sind; doch nicht dem bösen Willen des
Herrn dürft ihr diese harte Maßregel zuschreiben, die er nur mit Widerstreben
ergriff, von ungünstigen Conjunkturen gezwungen. Ihr wißt es nicht, welche großen
Verluste der Herr in den letzten Messen erlitten hat durch Gründung neuer Fabriken,
welche dieselben Stoffe billiger liefern. Doch vertraut mir eure Angelegenheit
an! Ich will sie vor eurem Herrn vertreten, als wäre es meine eigene, und alles
aufbieten, daß eurer größten Noth abgeholfen werde!« Diese Worte der Hoffnung übten
einen mächtigen Zauber aus auf die Gemüther der Bittenden. Alle diese abgemagerten
Gestalten, die nicht das Alter, sondern das Elend, der Hunger und die Sorge zu
Greisen gemacht, drängten sich zu dem Buchhalter, reichten ihm, zum Dank für diese
Aussicht, die harten Hände, und ließen sich, getröstet von diesem Hoffnungsschimmer,
geduldig wieder einspannen in das alte Joch. Während dieser Scene saß der Fabrikherr
in einem eleganten Negligée mit seiner jungen Gattinn an einem reichgedeckten
Frühstückstische. Alles war komfortable eingerichtet in dem wöhnlichen Arbeitszimmer.
Ein lustiges Kaminfeuer wetteiferte mit der mattgelben Oktobersonne, die mitunter
neugierig einen Strahl durch das Fenster fallen ließ, und dem Gemach den Schein einer
behaglichen Wärme lieh. Düfte von gebratenen Speisen und ausländischen Weinen stiegen
so lieblich auf, als sollten hier den alten Göttern Opfer dargebracht werden.
Gemüthlich schlürfte Oburn ein Glas Burgunder nach dem andern, verspeiste dazwischen
mit seltener Virtuosität ein halbes Schock Austern, und tranchirte eben ein delikates
Rebhuhn, als der Buchhalter in das Zimmer trat. »Verzeihen Sie, Herr Oburn, wenn ich
jetzt störe; aber die Angelegenheit ist so dringend, daß ich jede Verzögerung mir als
ein Unrecht anrechnen müßte.« Erschreckt durch diese Anrede, ließ Oburn aus seiner
Hand die schwere, silberne Gabel fallen, und fragte heftig: »Nun, was giebts? Wieder
ein neuer Verlust? Sind die Ballen Baumwolle, welche wir von England steuerfrei
erwarten, etwa in die Hände der Zollbeamten gerathen? Sprechen Sie doch, Mann! Machen
Sie mir keine Angst!«
»Nein, Herr, das Geschäft ist gut beendet! die Ballen sind in Sicherheit. Es erwächst
Ihnen durch diesen billigen Einkauf ein großer Gewinn, und gerade dies giebt mir den
Muth, jetzt als Abgesandter sämmtlicher Arbeiter zu Ihnen zu sprechen. Die Noth der
Leute hat den höchsten Grad erreicht. Erbittert durch die letzten Abzüge, die ich auf
Ihren Befehl machen mußte, haben sie fest beschlossen, unverzüglich die Fabrik
zu verlassen und die Arbeit bei Ihnen gänzlich aufzugeben, wenn Sie den Lohn nicht
wieder bis zu der früheren Taxe erhöhen.«
»Was,« schrie Oburn wüthend, »das Volk will nicht mehr arbeiten? Ist für solche
Kreaturen nicht 1 Rthlr. 15 Sgr. wöchentlich ein reiches Einkommen? Was brauchen sie
denn mehr zum Leben? Wollen sie übermüthig ein ganz besonderes Glück in Anspruch
nehmen? Ein für allemal, Herr Ehrig – reden Sie hierüber kein Wort mehr – es bleibt
so; und damit Punktum!«
Ehrig's Blick überflog mit bedeutsamen Ausdruck den mit den feinsten Leckereien
besetzten Tisch, den er mit der kärglichen Kartoffel-Mahlzeit der Arbeiter verglich.
Seine Gedanken verweilten bei der maßlosen Kluft zwischen den Besitzenden und den
Besitzlosen, nach deren Ausfüllung das Jahrhundert in jugendlichem Streben ringt, bei
jenem Bruch der Gesellschaft, den noch kein System der edelsten Denker zu heilen
vermochte, bei jenem Abgrund, an dessen Rand die Revolutionen der Zukunft
stehen. Voll Verachtung gegen die Herren der Welt, die ihren Besitz als den
sichtbaren Ausdruck der göttlichen Gnade, als ein Monopol betrachten; die nicht
einmal die bescheidensten Procente einer maßlosen Einnahme auf dem Altar der
leidenden Menschheit niederlegen, entgegnete Ehrig: »Nun denn, wenn Sie die
herzzerreißende Lage Ihrer Leute nicht rührt; – ich habe Ihrem Willen keine Macht
entgegenzusetzen. Doch Sie erlauben mir, daß ich Ihr Geschäft verlasse; denn der
immerwährende Anblick von Sorge und Gram und Verzweiflung reibt mich auf. Ich hatte
mein Wort gegeben, bei Ihnen Fürsprache zu thun. Da sie fruchtlos geblieben, so will
auch ich nicht länger, auf Unkosten der Armuth, ein gutes Gehalt beziehn, und gebe
hiermit freiwillig meine Stellung auf.
Nach diesen Worten entfernte sich Ehrig schnell. Oburn sah ihm bestürzt nach; der
Appetit war ihm vergangen; er stand hastig auf und ging im Zimmer auf und nieder.
Madame Oburn war eine stillschweigende Zeuginn dieser Unterredung gewesen. Sie hatte
sich während der ganzen Ehe nie um die Geschäfte ihres Gatten gekümmert. Sein
Reichthum überhob sie sogar jeder kleinen Sorge für die Häuslichkeit, der auch Frauen
aus den höchsten Ständen sich sonst oft unterziehn. Besonders seit ihrer Rückkunft
von Karlsbad hatte sie, der Außenwelt fast unzugänglich, sich ganz einem innerlichen
Leben zugewendet, und träumerisch vor ihrer Seele die Gestalten vorübergehn lassen,
die so bedeutsamen Eindruck auf ihr tiefstes Wesen gemacht. Nur auf den Klängen der
Musik wiegte sie oft die wechselnden Gefühle: Schmerz und Freude, all die
Erinnerungen einer inhaltvollen Zeit. Denn die Töne sind die sanftesten Dollmetscher
des Gefühles und der Schwärmerei, und lassen die leisesten Schwingungen der Seele
ausklingen, wo das Wort in seiner scharfen und schneidenden Bestimmtheit das Gefühl
verletzen würde. Oburn hielt diesen apathischen Zustand für Krankheit, und ängstigte
sich ab, bis ihm der Arzt die Versicherung gab, daß seine Frau sich körperlich
vollkommen wohl befinde. Getröstet begann er nun, sie eine Närrinn zu schelten, die
ihm das Leben durch ihre Launen verbittere und immer ihren abgeschmackten Träumereien
nachjage. Auch zog er sich ganz von ihr zurück, und nur eine zufällige Stimmung
hatte die beiden Gatten zusammengeführt. Madame Oburn, tief erregt durch Ehrigs
Worte, folgte scharf betrachtend, jeder Bewegung ihres Mannes; erhob sich dann
plötzlich, näherte sich ihm leise, legte freundlich ihren Arm auf den seinen, und
sprach: »Du thust nicht wohl daran, den Arbeitern Abzüge zu machen; es wird für Dich
selbst schlimme Folgen haben; glaube es dem redlichen Ehrig, und laß' es um keinen
Preis dahinkommen, daß der treue Mann, der so eifrig für Dein Wohl sorgt, das Haus
verlasse!«
Erstaunt sah Oburn seine Frau an; denn es war das erstemal, daß sie über
Angelegenheiten seines Geschäftes mitsprach. Erfreut über diese Theilnahme und
überzeugt von der Nothwendigkeit, Ehrig zu behalten, sprach er in einem liebevollen
Ton: »Du hast wohl recht, liebe Johanna! doch nach den vielen Verlusten, die ich
kürzlich erlitten, bin ich wirklich nicht im Stande, die Lage meiner Arbeiter zu
verbessern! Doch das findet sich vielleicht mit der Zeit wieder! Und dann, mein
Kind, Du kennst dies Volk nicht! Wenn sie sehn, daß ich jetzt bei meinem Willen
bleibe; daß ich mich nicht schrecken lasse, so werden sie schon ruhig fortarbeiten.
Wo wollen sie denn hin? Die sind mir sicher! Grade ihre Armuth fesselt sie an mich!
Ich kann ihnen noch weit größere Abzüge machen – sie müssen doch bleiben, und nach
meiner Pfeife tanzen! Aber den Ehrig kann ich nicht entbehren, ich will ihm das
Doppelte seines Gehaltes bieten, wenn er bleibt.« Verwundert hörte die junge Frau
ihrem Manne zu: »Du hast Verluste gehabt, lieber Oburn? Du kannst deßhalb den Leuten
nicht geben, worauf sie durch mühsame Arbeit ein Recht sich erworben? Aber warum
brauchen wir denn so viel? Laß uns einfach leben! Fort mit dem übermäßigen Aufwande!
Die Summen, welche wir dadurch nutzlos vergeuden, könnte die Lage aller Deiner
Arbeiter sorgenfrei machen. Hätte ich nur früher von Deinen Verlusten gewußt: ich
würde schon längst Einschränkungen im Hause gemacht haben.«
Bei diesen Worten lachte Oburn hell auf: »Närrchen! Wir wollen uns deßhalb nichts
abgehen lassen! Kümmere Dich nicht weiter darum, und sei zufrieden, wenn Deine
kleinen Füßchen auf weichen Teppichen gehen, und die niedlichen, weißen Hände nicht
durch Arbeit ihre Schönheit einbüßen.«
Erröthend mit vorwurfsvollem Blick sah Madame Oburn den Gatten an, und entgegnete:
»Oburn, hätte ich die Noth Deiner Leute in ihrer ganzen Größe gekannt, ich würde mich
geschämt haben, ihnen, mit Gold und Sammet geschmückt, unter die Augen zu treten! O
daß ich mich nicht früher darum bekümmert! Wie mancher Noth hätte ich abhelfen, wie
manchen Fluch in Segen verwandeln können!«
Rasch als könnte jeder ungenützte Augenblick ihr verderblich werden, eilte sie in ihr
Boudoir, öffnete eilig alle Fächer ihres Sekretairs, packte verschiedene, sehr
werthvolle goldene Ketten, Ringe, Geschmeide, Arm- und Stirnspangen aus, wog mit
sichtlicher Freude diese Preciosen in der Hand hin und her, schellte, und ließ den
Buchhalter zu sich rufen. Als dieser bald darauf eintrat, rief sie ihm zu: »Herr
Ehrig! Ich war zugegen, als Sie meinem Gatten die Bitte der Arbeiter um
Erhöhung ihres Lohnes vortrugen! Da Oburn, selbst bedrängt, sie für den Augenblick
nicht erfüllen kann, so bitte ich Sie dringend, meine Schmucksachen zu verkaufen, und
den Erlös zum wöchentlichen Zuschuß für die Leute insgeheim zu verwenden. Lange wird
diese Summe leider nicht ausreichen; doch wenigstens für den kommenden Winter die
größte Noth lindern! Und, im Frühjahr, hoffe ich, wird mein Gatte im Stande sein, die
pekuniäre Lage der Arbeiter für immer besser zu gestalten.«
Ehrig sah sprachlos bald die glänzenden Preciosen, bald die liebliche junge Frau an,
und frug darauf zweifelnd: »Gnädige Frau, Sie wollten wirklich zum Vortheile der
Armuth sich von ihrem Schmucke trennen?« »Das will ich in allem Ernste! Jetzt, da ich
mit den Zuständen der Armuth vertraut geworden, will ich solchen Schmuck nicht eher
tragen, bis unsere Leute vor Noth geschützt sind! Aber, Herr Ehrig, bitte! Sagen Sie
meinem Gatten nichts davon! Ich kenne ihn! Sonst würde auch diese kleine Hülfe den
Armen entgehn!« Stumm packte Ehrig die Sachen zusammen, und verließ eilig das
Gemach, um die ihn übermannende Rührung zu verbergen. Sobald Madame Oburn sich allein
sah, rief sie Köchinn, Stubenmädchen, Bediente und Kutscher zu sich herein, zahlte
ihnen den rückständigen Gehalt aus, und verabschiedete sie sämmtlich. Nur die treue
Lisette behielt sie um sich. Als Herr Oburn später diese eigenmächtige Maßregel
erfuhr, polterte er arg im Hause umher, schalt seine Frau eine Romanheldinn, und
beruhigte sich endlich durch die Hoffnung, daß diese Grille doch nur von kurzer Dauer
sein und das ancien régime im Haushalt bald wieder herrschen würde. Doch Madame Oburn
blieb fest in ihrem Vorsatz. Die bis dahin so verwöhnte, weichliche Frau übernahm
jede häusliche Beschäftigung, mochte sie ihr noch so ungewohnt und fremd sein, ohne
je den Wunsch nach Unterstützung zu äußern. Von früh bis spät sorgte sie bereitwillig
für die Bedürfnisse und Bequemlichkeiten ihres Mannes, und fand immer noch Zeit
genug, die Fabriken zu besuchen. Ihr natürliches, richtiges Gefühl sagte ihr, daß
freundlicher Zuspruch und menschliche Behandlung diesen Leuten noch nöthiger sei,
als die Erhöhung ihres Lohnes. Deßhalb sprach sie freundlich mit allen,
erkundigte sich nach den Familien und half nach Kräften, wenn sie von einer Krankheit
oder einem Unfall hörte. Die Arbeiter, die sie bisher als die Ursache ihres
gesteigerten Druckes angesehen hatten, beteten sie jetzt an. Die bärtigen Gesichter
glänzten vor Freude, wenn sie in die Arbeitssäle trat; und von dem Wiederschein
dieser Freude wurde selbst das sonst undurchdringlich ernste Gesicht des Buchhalters
verklärt, der seine Herrinn auf diesen Gängen zu begleiten pflegte! Bei all' ihrer
Milde und Menschlichkeit, trotz des Segens, den sie überall verbreitete, konnte
Madame Oburn doch bei den Werken der Wohlthätigkeit ein peinliches Gefühl nicht
überwinden. Ihr richtiger Takt gab ihr das Bewußtsein, das die tiefsten Denker dieses
Jahrhunderts erkannt, und in kühnen Problemen wissenschaftlich ausgearbeitet, das
Bewußtsein, daß in der Wohlthätigkeit selbst, und mag sie mit noch so viel
christlicher Liebe prunken, eine Erniedrigung liege für die Bedürftigen, deren ewige
Menschenrechte zu einem Gegenstand frommer Herablassung herabgewürdigt würden,
zu einem Gnadengeschenk, das eine aus dem Katechismus geschöpfte Sittlichkeit mit den
andern zugleich sich selbst macht! Abgesehen von dem Posaunenton des Pharisäerthums,
der noch jetzt in allen Gassen, an allen Ecken ertönt, wenn er sich auch in den
Heroldruf überschwänglicher Christlichkeit verwandelt; abgesehen von der
eigennützigen Wohlthätigkeit, welche ihre Gaben nur auf Abschlag himmlischer
Belohnung spendet: wird nicht durch unsere socialen Verhältnisse selbst die milde
Humanität gezwungen, die Miene der Herablassung anzunehmen, und einem entwürdigten
Pariathum als Gnade und Segen gegenüber zu treten? Doch allmählich beginnt auch in
den Massen das Bewußtsein der ewigen Menschenrechte, wie sie die französische
Revolution proklamirt, die keine Form der Freiheit geben ohne ihren Inhalt; sondern
den Anspruch auf eine Existenz, die in allem Reichthum der Schöpfung sich mit
Freiheit auszubreiten berechtigt ist. In den neuesten Entwickelungen des
französischen Geistes gähren diese Probleme mit dunkler Gewalt, eine Gährung, die
noch keine feste Form gewinnen kann, die proteusartig ihre Gestaltungen
wechselt, oft in leere Luftbilder verweht, in eiteln Dunst ausdampft; aber stets
Zeugniß ablegt von der innern, schaffenden Nothwendigkeit, welche fortzuleugnen eine
Blasphemie ist gegen den neuen Geist der Menschheit. Die deutsche Philosophie hat die
Aufgabe, diese Erscheinungen auf ihren wahren Gehalt zurückzuführen, ihre innerste
Bedeutung aufzufassen, ihnen ihre Stelle anzuweisen in der Entwickelung des
Geistes.
In Rousseau's Urwälder zurück zu fliehen, die ganze Cultur als Flitterwerk und
Unnatur, als aufgedrungene Last von sich zu werfen, und ein vierbeiniges Leben zu
führen: das ist der neuen Menschheit nicht möglich: das hieße ihre innerste
Entwicklung verläugnen; das ist der Gedanke der kolossalsten Reaktion, den je ein
Menschengeist gedacht! Doch die tiefern Gegensätze, welche aus dieser Kultur
hervorgegangen, müssen auf ihrem eigensten Terrain sich auskämpfen. Die Industrie,
die Mutter des Proletariats, die zugleich den Reichthum und die Armuth bringt, den
Reichthum für Einzelne, welche die Nation repräsentiren; die Armuth für die
Massen: sie ist das neueste Kind der Cultur, unter bedenklichen Auspicien geboren,
einer bedenklichen Zukunft entgegensehend. Sie hat die Armuth, die bisher zufällig
war und isolirt oder in der Knechtschaft Rettung vor dem Hunger fand, zuerst
freigegeben und organisirt, so daß sie jetzt als eine imposante Macht in die
Geschichte tritt.
Die Associationen der Armuth, der englische Chartismus, ihre ersten Schlachten in
Lyon und Paris, ihre verzweifelte Experimental-Revolution in den schlesischen
Gebirgen: das sind Thaten, mit denen ein neues Blatt in der Geschichte beschrieben
wird. Dazu der Zweifel an dem Eigenthum, dessen Heiligkeit von der kühnen Kritik
eines Proud'hon aufgelöst wird; der phantastisch organisirte Communismus eines Cabet
und Weitling. Die socialen Theorien eines Dezamy und Louis Blanc: sie alle legen
Zeugniß ab von den neuen Gedanken, welche der Gemüther der Menschen sich bemächtigen,
und von dem tiefen Bruch in unseren Verhältnissen, der sie hervorruft. In all' diesen
prophetischen Träumen, in diesen oft chimärischen Zukunftsbildern, wie in der
kühnen, zersetzenden Dialektik der Denker, welche keine bestehende Einrichtung wegen
ihres verjährten Brauches respectirt: webt und lebt ein neuer, Menschheiterlösender
Genius, eine neue, erhabene und aufopferungsfähige Sittlichkeit, die in Frieden und
Krieg, in Leben und Tod, mit der That des Hasses oder dem Werk der Liebe, mit
Ueberredung oder Gewalt den Segen der allgemeinen Verbrüderung heraufführen will über
eine innerlich verfallene Welt. Du armes Proletariat, Erbe des alten Fluches vom
Paradiese, verdammt, im Schweiße des Angesichts dein Brod zu essen, und nimmer frei
und unbefangen den Blick emporzurichten mit all' der Majestät der Menschenwürde;
verdammt, die Maschine zu sein, die gedankenlos von Tag zu Tag sich abarbeitet für
fremden Genuß und nimmer die Früchte des eigenen Fleißes ärndtet: auch dir wird bald
die Sonne eines bessern Lebens aufgehen, eines Lebens, daß deine Arbeit mit
Bewußtsein und mit Genuß belohnt, und alle Entbehrung und Bedürftigkeit kümmerlicher
Verhältnisse von dir fernhält.
Die Arbeit der Denker wird und kann nicht vergebens sein; die Macht des
Gedankens wird und muß die Welt unterwerfen. Das geheiligte Recht, das eine
sklavische Gelehrsamkeit nur zu glossiren und zu erläutern wagte, ist von der
Wissenschaft nachgewiesen als ein Unrecht, das in seinen neuesten Entwickelungen
schwer auf der Menschheit lastet und sich selbst auflösen muß. Eine Reform tief
eingreifender Uebel, die den Schein des Guten, das bestehende menschliche und
göttliche Gesetz für sich haben, muß eine Revolution verhindern.
Die Besitzenden müssen nicht länger ihre Ohren verstopfen vor dem neuen Evangelium
der Liebe, das ihnen gepredigt wird, ein verstocktes Pharaonenthum wird ihr eigenes
Verderben sein. Die kleinen Geldtyrannen, welche auf ihr Erbe so stolz sind, wie die
Herren von Gottes Gnaden auf das ihre, und einen Despotismus en miniature ausüben,
werden, wenn sie nicht freiwillig abstehen von so quälendem régime, eine Revolution
hervorrufen, welche den ganzen Bau der Gesellschaft zusammenschüttelt; der gegenüber
die französische Revolution nur ein politisches Kegelschieben war. Darum, ihr
Besitzenden! Erkennt die unveräußerlichen Menschenrechte an, in einer
Association des Friedens und der Liebe, ehe sie euch proklamirt werden, von einer
blutigen Association des Hasses und des Krieges.
Herr Oburn war indeß von solchen Gedanken weit entfernt. Er sah, daß die Arbeiter
sich beruhigten, ohne die geheime Ursache zu kennen. Darüber triumphirte er: »Sehen
Sie, Herr Ehrig! die Leute sind, ohne Lohnerhöhung, doch geblieben! O ich weiß sie zu
beurtheilen; ich verstehe, sie zu behandeln! Das Volk muß gedrückt sein – der Druck
ist sein Lebens-Element! Wenn es erst anfängt, frei aufzuathmen, dann ist es um den
Wohlstand der Fabrikherrn geschehn!«
Ehrig erwiederte nichts auf diese Reflexion. Seine Gedanken waren bei der schönen,
jungen Frau, die durch eine so edle Praxis der Humanität ihres Gatten Theorieen
beschämte.
12
In der ziemlich bedeutenden Provinzialstadt, in welcher Oburn seinen Wohnsitz
aufgeschlagen, war in diesem Winter ein außergewöhnliches reges, gesellschaftliches
Leben. Zwar nahm Oburn und seine Frau gegen die frühere Gewohnheit keinen Theil an
diesen Vergnügungen, sondern lebte still und zurückgezogen, in einsamer
Verstimmtheit, während der ganze Ort wie ein in Scene gesetzter Roman der Gräfinn
Hahn-Hahn aussah, in welchem bekanntlich die Gesellschaft und die Gesellschaften die
Hauptrolle spielen und alles Heil der Welt in den feinen Ton und in die
konventionellen Formen gesetzt wird.
Veranlassung zu diesem lebendigen Treiben mochte wohl der Aufenthalt des Prinzen C**
geben. Ihm zu Ehren reihte sich Fest an Fest, Ball an Ball; die reiche Kaufmannschaft
ließ ihre Goldminen springen; selbst Offiziere und Beamten stürzten sich in
ehrgeizigem Wetteifer in eine Schuldenlast, um mit der Bewirthung eines fürstlichen
Hauptes prahlen zu können, eine Begnadigung und Ehre, die sich in heiligen
Familiensagen forterbt von Kind zu Kindeskind! Besonders zeichnete sich das
Banquierhaus Neumann durch seine glänzenden, geschmackvoll arrangirten Feste aus.
Obgleich man gewohnt war, daß der reiche Banquier jedes Quartal mit einem großen
diner begann, bei welchem aller Glanz des Silbers und Tafelzeuges entfaltet wurde, so
staunte man doch in's geheim über diesen noch nie dagewesenen Pomp, zuckte die
Achseln, und zischelte sich bedeutsam in die Ohren. Man fürchtete allgemein, dieser
Hochmuth werde zu Fall kommen und das Fortunatussäcklein seine Fülle urplötzlich
erschöpfen. An dem Tage, als diese Furcht größere Begründung zu gewinnen schien,
herrschte gerade in den Oburnschen Fabriken eine besondere Freude, wie sie nur
Festtagen eigen zu sein pflegt. Die Dampfmaschinen waren polirt und blank geputzt;
die Säle reingefegt und mit frischem Sande bestreut; die Arbeiter, mit reinlicher
Wäsche bekleidet, saßen vor ihren Webstühlen, die ebenfalls von dem verjährten
Staube gesäubert waren; die Comptoiristen hatten, mit noch kunstgeübterer Hand, als
gewöhnlich, Busenstreif und Manschetten geordnet; und die blauen Fracks mit den
gelben Knöpfen angezogen. Alles schien gespannt und erwartungsvoll; am meisten wohl
der Fabrikherr selbst. Unruhig ging dieser in seinem geöffneten Prunkzimmer auf und
ab, besah dann wohl eine Minute lang seinen neuen eleganten Anzug im Spiegel, sprach
laut, wie mit einer andern Person, mit sich selbst, indem er mit den Händen
gestikulirte und tiefe Reverenzen machte. Dann öffnete er eine Nebenthüre die in das
Boudoir seiner Gattin führte, sah hin ein, und rief ungeduldig: »Johanna, bist du
noch nicht angekleidet? Was? in diesem einfachen, schwarz seidenen Kleid willst Du
den Prinzen empfangen? Wo ist Dein Schmuck? Ich will nicht, daß meine Frau, wie eine
Nonne einhergehen soll! Rasch! Putze Dich! Zieh' ein reiches Gewand an, und schmücke
mit den Rubinen Deinen weißen Hals.«
Madame Oburn, die überhaupt nicht mehr so frisch und blühend aussah, wie in
Carlsbad, war gerade heute auffallend blaß; doch diese edle Blässe, das Attribut
geistigen Leidens, raubte ihr nichts von ihrer Schönheit. In dem schlichten,
tiefschwarzen Kleide, das Haar auf der hohen Stirn kindlich gescheitelt, sah sie so
ideal aus, hatte ihr Wesen eine so eigenthümliche Verklärung, daß es schwer zu
bestimmen war, ob sie an jenem Abend auf dem Ball des Fürsten Constantin, oder an
diesem Morgen einen größeren Zauber ausübte. Ruhig, doch bestimmt, erklärte sie ihrem
Gatten, daß es ihre Absicht nicht sei, den Prinzen zu empfangen, daß sie in ihrer
gewöhnlichen häuslichen Toilette bleiben würde. Die aufschwellende blaue Stirnader
des Gatten ließ eine heftige Gegenrede erwarten; doch das Heranrollen der prinzlichen
Equipage verhinderte den Ausbruch des drohenden Sturms. Noch einmal musterte der
Fabrikherr seine Figur in dem hohen Trümeaux, postirte sich dann, mit seinem
Comptoir-Personal, an dem Portal des Hauses, um hier den Prinzen zu empfangen, der
nur von seinem Adjutanten und Leibarzt begleitet war. Oburn hatte, zu der feierlichen
Anrede, das ganze Wörterbuch der stammelnden Unterthänigkeit auswendig gelernt;
und war, in Mienen, Bewegung und Sprache, ein leuchtendes Vorbild der treuesten
Loyalität. »In seines Nichts durchbohrendem Gefühle« stand er da mit gesenktem Haupt,
und stotterte einige Redensarten von unendlicher Ehre und Gnade heraus, in denen sich
sein zusammengepreßtes Innere Luft machte. Der Prinz übersah mit vornehm nachläßiger
Miene die Befangenheit oder Unbeholfenheit des Herrn Oburn; und verlangte gleich die
Fabriken zu besichtigen. Persönlich umhergeführt von dem Besitzer, dem das Bewußtsein
seines Besitzes einigermaßen eine behäbige Fassung wiedergab, fand er alles
vortrefflich eingerichtet, lobte die Intelligenz des Gründers, sprach leutselig mit
den Arbeitern, und ließ ihnen von seinem Adjutanten ein reiches Douceur überreichen.
Als die Umschau vorüber war, nahte für Herrn Oburn ein schwerer Augenblick, dessen
Erwartung ihm schon seit Ankunft des Prinzen den Angstschweiß auf die Stirn
getrieben; nämlich die Bitte, der Prinz möchten die Gnade haben, höchsteigen ein
Frühstück bei ihm einzunehmen. Doch wie es ein harmloser Witz des Schicksals
ist, daß gerade das, was man im Leben am meisten fürchtet, am glücklichsten
vorübergeht, so hatte auch Oburn für seine ausgestandene Angst, die große
Genugthuung, daß der Prinz sichtbar erfreut die Einladung annahm und mit raschen
Schritten in die geöffneten Gastzimmer eintrat. Die Einrichtung derselben war elegant
und geschmackvoll; das servirte Frühstück hätte die verwöhnteste Zunge eines
Epikuräers befriedigen können. Madame Oburn war nicht sichtbar. Der Prinz in irgend
einer lieben Hoffnung getäuscht, wurde verstimmt und schweigsam. Herrn Oburn überfiel
bei dieser sichtlichen Veränderung ein panischer Schrecken; auf allerlei geistlose
Fragen, die er an den Prinzen richtete, erhielt er kurze, einsilbige Antworten; seine
Verzweiflung steigerte sich immer mehr, je mehr die Aussicht schwand, daß seine Frau
ihn durch ihre Ankunft von dieser Marter erlösen werde. Der Gedanke an seine Frau
brachte ihn übrigens auf den glücklichsten Einfall. Ihr lebensgroßes, sehr ähnliches
Portrait, von einem der ersten, jetzt lebenden Künstler gemalt, hing in
reichem, goldenen Rahmen in seinem Geschäftszimmer. Schnell öffnete er die Thüre, die
dahin führte, und zog den Prinzen hinein mit den Worten: »Wie gefällt Ihnen dies
Bild?«
Wie die Sonne plötzlich durch finsteres Gewölk bricht: so erhellte sich das
verdüsterte Gesicht des Prinzen zu einem Freudenschein, der im Nachglanz noch die
Züge des Herrn Oburn verklärte. »O mein Gott! wie schön ist sie doch!« sprach der
Prinz nach langem Anschauen fast bewußtlos vor sich hin; »und wie wunderbar ist dies
Bild getroffen!« Den Schritten des Prinzen war sein Leibarzt unmittelbar gefolgt.
Auch er stand vor diesem Portrait wie festgebannt; Erinnerungen an eine theure
Vergangenheit überkamen ihn mächtig bei dem Anblick dieser Züge. Sein Auge blitzte
auf wie vor Freude und Seligkeit; die strengen, edeln Züge wurden weicher, ein Hauch
des Friedens wehte darüber hin; doch diese stille Seligkeit wich plötzlich einem
höhnischen bittern Ausdruck. Wie von heftigen innerm Leiden erfaßt, ballte er beide
Hände, preßte die Lippen fest zusammen, und wandte sich dem Fenster zu. Herr
Oburn hatte beide aufmerksam beobachtet; eine Ahnung durchzuckte sein mißtrauisches
Gemüth, als ob nicht das schöne Bild, sondern das Original der Gegenstand sei, der
Beiden ein so lebhaftes Interesse einflöße; doch wußte er sich zu beherrschen, und
frug unbefangen: »Kennen Sie, mein Prinz vielleicht meine Frau?«
»Ich war vergangenen Sommer so glücklich, in Carlsbad eine Dame flüchtig zu sehen,
der das Bild sprechend gleicht. Wo die Schönheit so überraschend ist, prägen sich
alle Züge tief ein. Deßhalb mag es Sie nicht befremden, wenn ich dies Portrait mit
Bewunderung betrachte. Ist diese Dame wirklich ihre Gattinn, so sind Sie der
beneidenswertheste Mann, den ich kenne.« Wie eine herbe Pille, schluckte der Ehemann
diese Schmeichelei herunter: »Ja wohl, bin ich das und ich bedaure nur, daß meine
Frau durch Krankheit verhindert ist, die Wirthinn meines hohen Gastes zu sein!«
Alle drei Personen waren in eine Stimmung versetzt, welche den materiellen Genuß
eines feinen Frühstücks verschmähen mußte. Die auserlesensten Leckereien
verließen unberührt den Tisch; nur dem Wein, dessen Güte und Alter solchen Vorzug
verdiente, ließen sie sein volles Recht widerfahren. Als der Rebentrank eben anfing,
das Gespräch frischer und lebendiger zu machen, wurde die Thüre rasch und heftig
aufgerissen; der Buchhalter Ehrig trat leichenblaß in das Zimmer, und schrie fast
konvulsivisch, ohne auf den hohen Gast die geringste Rücksicht zu nehmen: »Banquier
Neumann hat fallirt!«
Die Wirkung dieser wenigen Worte auf Oburn war unbeschreiblich. Vollkommen erstarrt,
ohne die geringste Spur des Lebens stand er, einige Minuten an die Wand gelehnt. Dann
arbeitete seine breite Brust gewaltig; und die Worte: »dann bin auch ich ruinirt,«
entrangen sich mühsam seinen Lippen. Im Innern des Prinzen mußte während dieser Scene
irgend ein Entschluß reifen. Fast freudig sah er auf die vom Schreck zerschmetterte
Gestalt des Fabrikherrn, reichte ihm herablassend die Hand, und sprach: »Adieu für
Heute, lieber Oburn! Sollten Sie in irgend einer Beziehung Hülfe brauchen, so wenden
Sie sich nur an mich. Meine Kasse und meine Connexionen stehen Ihnen gern zu
Gebote.«
Durch das Fallissement des Banquierhauses verlor Herr Oburn eine baare Summe von
50,000 Thalern. Dieser Schlag hatte ihn so unerwartet getroffen, daß er in den ersten
Tagen nach diesem Ereigniß wie betäubt umherging. Dann raffte er sich auf, nahm mit
dem Buchhalter seine Credit- und Debetbücher genau durch, und erhielt als Resultat
die traurige Gewißheit, daß sein Ruin unabwendbar sei, wenn er nicht irgendwo eine
Anleihe von 50,000 Thaler machen könnte. Oburn war übrigens eine thatkräftige Natur.
Sobald ihm seine verzweifelte Lage ganz klar geworden, sah er diesem Schreckbild fest
ins Auge, und versuchte Alles, um diesem Unglück vorzubeugen. Alles, was an ihn
zahlbar war, wurde eingezogen; und wo er selbst Verpflichtungen hatte, bat er auf
einige Monate um Stundung. Doch selbst die befreundetsten Kaufleute schlugen ihm dies
ab; und drangen, vielleicht selbst durch Neumanns Bankerott gezwungen, auf
augenblickliche Zahlung. Eben so vergebens war Oburns Bitte um ein Darlehn,
obgleich er selbst in ähnlicher Lage oft seinen Freunden thätige Hülfe geleistet.
Doch jetzt fand sich keiner dazu bereit; alle lehnten es, unter diesem oder jenem
Vorwande ab. Seine Lage wurde wirklich verzweifelt, als auch noch ein englisches
Haus, das für ihn Geschäfte in Baumwollgarn machte, ihm einen bereits acceptirten
Wechsel von 10,000 Rthlr. zu augenblicklicher Zahlung präsentirt und über Oburn, im
Fall einer Zögerung, als säumigen Wechselschuldner Personal-Arrest verhängte.
Dieser Schlag vernichtete Oburns letzte Hoffnung. Er verschloß sich 24 Stunden lang
in sein Zimmer; man hörte ihn darin laut ächzen und stöhnen, Tag und Nacht mit
heftigen Schritten auf und ab gehen. Nachdem der wildeste Sturm ausgetobt, trat er in
das Zimmer seiner Frau. Er mußte fürchterlich gelitten haben, denn seine Züge waren
tief eingefallen; und der hochrothe Bart an dem einen Tage grau geworden.
Madame Oburn hatte alle diese Schreckensnachrichten mit bewundrungswürdiger
Ergebenheit aufgenommen. Der Gedanke, daß sie von jetzt ab in Armuth und
Dürftigkeit leben müsse, hatte für sie nichts vernichtendes: denn sie kannte den
Werth des Geldes noch nicht, und war durch den Besitz desselben zu wenig glücklich
geworden. Liebevoll eilte sie ihrem Gatten entgegen und brach bei dem Anblick seiner
verfallenen Gestalt in heftiges Weinen aus. Dieser Beweis ihres Mitgefühls
erschütterte ihn, und als ob er sich jeder weichen Regung schämte, unterdrückte er
schnell eine hervorquellende Thräne, und sprach: »Prinz C** wird heute zu uns kommen;
ich muß bei ihm eine bedeutende Anleihe machen. Ich erwarte von Dir, Johanna, daß Du
Dich vernünftig beträgst, und Deine ganze Beredungskunst und Liebenswürdigkeit
aufbietest, um den Prinzen willfährig zu stimmen; denn von der Herbeischaffung dieser
Summe hängt nicht allein unser eigenes Glück und das Wohl unserer Arbeiter ab;
sondern meine Ehre, – merke Dir, Johanna, meine Ehre! Bis Morgen früh muß ich im
Besitz dieser Summe sein, oder mein Name ist gebrandmarkt für immer, und meiner
wartet gefängliche Haft. Alles steht auf dem Spiel; alles muß gewagt werden und
daran gesetzt an die Rettung.« Wie ein schwerer Unheil drohender Traum, aus dessen
Banden sich die Seele vergebens loszureißen sucht: so wirkten diese Worte auf Madame
Oburn, und es währte lange, ehe sie ihren ganzen Sinn gefaßt. Außer sich warf sie
sich vor ihrem Gatten auf die Kniee nieder, und rief leidenschaftlich: »Oburn,
verlange das nicht von mir! Ich will für Dich arbeiten, für Dich betteln; doch nimmer
den Prinzen um Hülfe flehen! Wenn Du wüßtest – ja wenn Du wüßtest –« ein eisiger
Frost schüttelte bei dieser Erinnerung die zarten Glieder – »welch' unseliger Stern
mich schon mit ihm zusammengeführt; Du würdest das nimmer von mir verlangen!«
»Närrinn! Ich mag, ich will nichts wissen – es ist mein fester Entschluß, daß Du,
gerade Du, den Prinzen bewegen sollst, uns zu retten. Auf ein paar Weiberthränen kann
ich nicht Rücksicht nehmen, wo es darauf ankommt, Hunderte von Menschen vor
gänzlichem Verderben zu retten. Das solltest Du selbst überlegen, wenn es Dir
überhaupt mit Deinen schönklingenden Redensarten Ernst ist. Hier ist nichts
mehr zu wählen und zu besinnen!«
Herr Oburn hatte das Zimmer schon längst verlassen, als seine Gattinn noch immer
starr dasaß, bewußtlos und gefühllos. Es giebt solche Augenblicke, in denen die Seele
alle Farben und Formen des Lebens, alle festen Gedanken und festen Gefühle verliert,
und sich ganz in die einförmig schwarze Nacht der Existenz versenkt. Nur das dumpfe
Brüten bleibt, und der Alpdruck eines namenlosen Schmerzes!
Madame Oburn rang sich plötzlich aus dieser Apathie los, sprang hastig auf, lief in
das Comtoir, und ersuchte athemlos den Buchhalter um das Contobuch ihres Gatten: »Ich
beschwöre Sie, Ehrig, sagen Sie mir aufrichtig, wie steht es mit meinem Mann?«
Ehrig schaute sie mit kummervollen Blicken an, und erwiederte ganz leise: »Gnädige
Frau! Werden Sie auch stark genug sein, die Wahrheit zu ertragen? Wohlan denn, ich
schwöre es bei meiner Ehre! Wenn Ihr Gatte nicht bis Morgen die Wechselschuld
von 10,000 Rthlr. decken kann, so ist das Geschäft ruinirt und die Fabriken
werden von den Creditoren um einen Spottpreis verkauft.«
»Haben Sie alles versucht, alles?« frug die junge schöne Frau mit einem flehenden
Blick, der dem Buchhalter bis in's Innerste drang. »Oburn hat viele Freunde; will ihm
Niemand helfen?«
»Niemand, gnädige Frau!«
»Unser Mobiliar und Silberzeug ist von bedeutendem Werth! Verkaufen Sie alles – und
retten Sie die Ehre meines Mannes!«
»Die Summe ist zu groß, und kann dadurch nicht getilgt werden. Auch ist es zu spät.
In zwölf Stunden muß die Zahlung geschehen sein – oder –«
Madame Oburn bedeckte die Augen mit den Händen, und rief leidenschaftlich: »Genug,
Ehrig, genug!«
Eine Stunde später hatte Herr Oburn eine lange, geheime Unterredung mit dem Prinzen
C**. Sie mußte für beide befriedigend ausgefallen sein; denn das Gesicht des Prinzen
sah bei'm Abschied triumphirend aus, und auch Herr Oburn trat sichtlich
erheitert und ruhig in das Comtoir, und verkündete dem Buchhalter, daß der Prinz
bereit sei, Morgen früh die Summe von 10,000 Rthlr. vorzuschießen. Bei dieser
Nachricht erbleichte Ehrig, und sah Oburn mit einem vorwurfsvollen Blicke an, den
dieser nicht ertragen konnte. Rasch wandte er sich ab, und ging in das Gemach seiner
Frau.
Stumm trat er ein; es war eine unheimliche Pause! Sie lag auf dem schwarzen
Sammet-Sopha, betäubt und lautlos, er ging hastig im Zimmer auf und ab. Dann sprach
er plötzlich in bittendem Ton: »Johanna, Johanna!
Bei meiner Ehre! Es giebt nur dies eine Mittel, uns zu retten! Glaube nicht, daß ich
leichten Sinnes mich dazu entschlossen! Es hat mich schweren Kampf gekostet; denn ich
liebe Dich! – Du mußt – – – – – – –!«
»Oburn,« schrie die Frau ihm entgegen,« Du willst mich verkaufen, wie eine Sache, wie
Dein Eigenthum verhandeln! Fühlst Du nicht die namenlose Beschimpfung und
Entwürdigung, die Dich trifft, wie mich!«
»Die Welt erfährt nichts davon; diese Beschimpfung bleibt im Stillen, und wir können
uns, wenn es uns auch schwer fällt, über Vorurtheile hinwegsetzen. Hier gilt es die
Ehre vor der Welt, unsere ganze bürgerliche Stellung! davon hängt der Werth unseres
Lebens ab; und sie müssen wir gegen jedes Opfer erretten!« »Oburn – es ist nicht
möglich – noch glaub' ich nicht, daß es Dir Ernst ist mit so schimpflicher Barbarei
–«
»Es ist mein Ernst; ich bin entschlossen. Gerade an diesem Opfer will ich Deine Liebe
erkennen! Es bleibt dabei!«
»Du hast kein Recht, über meine Liebe und meine Ehre zu bestimmen. Ich werde die
heiligsten Rechte meines Herzens und Lebens wahren – dies ist die Stelle, die uns auf
ewig trennen muß.«
Oburn nahm einen bittenden Ton an, ein Ton, der seinem Wesen fremd war, zu dem ihm
nur die schmerzlichste Zerknirschung seines Innern treiben konnte. Das höchste
Gut seines Lebens stand auf dem Spiel – und in die Gewalt seiner Frau war es gegeben,
den drohenden Sturm zu beschwören. Gerade der nahe Verlust zeigte ihm den ganzen
Werth des klingenden Mammons; seine fiebernde Angst ließ ihn ängstlich nach Rettung
umhersuchen; das Gold stand wie ein Phantom vor seiner Seele, unentfliehbar, ihn
fesselnd mit eherner Macht; und wuchs in den phantastischen Bildern, die durch seine
Seele jagten, zu riesenhafter Gestalt. Wie klein schien ihm dagegen das Opfer, das
seine Frau bringen sollte, ein kurzes Liebesglück an einen Fremden verschwendet, eine
selige Nacht, untreu den Laren des Hauses, unter einem fremden Gestirn geträumt!
Dennoch ängstigte ihn die fieberhafte Spannung seiner Frau. Er stand vor ihr wie ein
Delinquent, der um Gnade fleht; doch sie wies ihn mit Entschiedenheit zurück.
Er wollte ihre Erklärung nicht als fest, ihren Entschluß nicht als wandellos
hinnehmen, und verließ das Zimmer, mit dem Versprechen, nach zwei Stunden
zurückzukehren, indem er die Hoffnung aussprach, sie dann bekehrt zu sehn, und
geheilt von ihren thörichten Vorurtheilen. –
Madame Oburn war in jene Spannung versetzt, die, wenn sie nicht die Seele aufzehren
sollte, sich in äußerer Handlung rasch und entschieden bethätigen mußte. Der Bruch in
ihrem Leben war vollendet: sie fühlte sich durch die Zumuthung ihres Gatten entehrt,
in dem innersten Kern ihres Wesens verletzt.
Die vollständige Entfremdung ließ sie nicht einen Augenblick länger mit ihm unter
demselben Dache verweilen. Er hatte sich des Rechts auf ihre Liebe unwerth gemacht,
eine Liebe, die gerade jetzt im Unglück ihm treu zur Seite stehen sollte.
Dieser Gedanke verzögerte auf kurze Zeit ihren Entschluß; doch sie wurde sich darüber
klar, daß von Pflichten zwischen ihr und ihrem Gatten nicht mehr die Rede sein könne.
Rasch und geheim ließ sie ihre Sachen einpacken, den Reisewagen fertig machen, und
fuhr, ohne von Oburn Abschied zu nehmen, aus dem Hause, die Schande fliehend,
die ihr drohte. Frei athmete sie draußen auf; es ging der Hauptstadt zu, einer
stürmischen Welt voller Klippen und Untiefen, deren Wogen manch leuchtendes Segel zur
Tiefe hinabziehen, aber auch manch lichte Perle aus ihrem Schoße zu Tage fördern.
Das war der erste Abschnitt ihrer Ehe, reich an allen Conflikten, welche das Leben
der Gegenwart bewegen. Gewaltsam hatte sie sich losgerissen von qualvollen
Verhältnissen, die in innerer Auflösung sie zu zertrümmern drohten. Ihren Gatten ließ
sie allein, anheimgegeben dem modernen Fatum, das Menschen und Götter beherrscht, dem
Golde, das wie Saturn seine eigenen Kinder verschlingt! Sie rettete ihr besseres
Selbst vor der brutalen Gewalt, die sich in hundert Gestalten gegen sie verschwor!
Sie rettete die Heiligkeit der Ehe, indem sie dieselbe zerriß! Doch noch hatte sie
eine Gewalt nicht besiegt, die mächtiger war, als Rang und Geld und Freiheit;
die im Hintergrund zurückgedrängt, bald siegsgewiß auftrat, ein Gestirn, das ihr
Leben beherrschte von jetzt ab, eine Kraft, welche in ureigener, angestammter
Heiligkeit die Formen zerbrach, die das Gesetz und die Sitte der Menschen geheiligt –
die Liebe.