Der Zauberer von Rom : ELTeC ausgabe Gutzkow, Karl (1811-1878) ELTeC conversion Leonard Konle 894081 3477 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Der Zauberer von Rom Gutzkow, Karl Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Leipzig: F. A. Brockhaus, 1858–1861. Erstdruck der neun Bände: Leipzig (Brockhaus) 1858–1861. In Österreich wurde der Roman verboten.

German Converted by checkUp script for new releaseConverted to level1 Converted by checkUp script for new releaseChecked by checkup script Checked by releaseChecker script Conversion from Kallimachos Kernkorpus

Erster Band
Erstes Buch
1.

Langen-Nauenheim ist eines jener nordhessischen Dörfer, die mitten im Herzen Deutschlands liegen und denen dennoch nicht so warm gebettet ist, wie es an der Brust einer so großen Mutter, wie das Vaterland, sein sollte.

Sieht man die verfallenen Hütten mit ihren Stroh-und Schindeldächern, die dünngesäeten wie frierenden Halme auf den Feldern, das spätreifende Steinobst an den wenigen Bäumen oberhalb eines der vielen Bäche, die da- und dorther von den rothen Felsen des Gebirges so behend niedereilen, als suchten auch sie, wie andere Murmelquellen, blumengeschmückte grüne Matten, so begreift man nicht, wie noch all der Kummer und das Elend es hergeben, daß in der Landeshauptstadt jeden Mittag Schlag zwölf Uhr eine so prächtige Wachparade mit goldgestickten Uniformen und stolzberittenen Husaren aufziehen kann.

Aber Langen-Nauenheim ist darum auch so gut regiert wie Klein-Bockenheim und Ober-Heddersheim, und hat am Eingang und Ausgang seinen bunten Pfahl mit den Landesfarben und den Namen des Regierungs- und Steueramtsbezirks, zu dem es auf Gottes Erdboden gehört, hat sein Amthaus, seine Spritzenordnung, seinen Feuerversicherungszwang, seinen Büttel, seinen Nachtwächter und seinen sogar landesherrlich salarirten Schulmeister.

Letzterer heißt Gottlieb Schwarz.

Gerade jedoch sein Häuschen ist keines von den schmuckern.

Es lehnt sich fast an die Kirche an, die selbst so grau und geflickt zwischen zwei kleinen Hügeln liegt wie ein großes Storchennest zwischen den Hörnern eines Strohdachgiebels. Es hat sogar Fenster, wo die Scheiben mit alten Schulheften geflickt sind; der Regen corrigirte die Schreibfehler und falschen Grundstriche der bildungsbeflissenen Jugend. Ein Gärtchen liegt dicht in der Nähe mit einem Staket von dürrem Reisig, zwischen dem im Juni manchmal einige Erbsen blühen, falls man im April sie zu säen nicht vergessen hat, was auch schon vorgekommen ist.

Vor Jahren ... ja, damals war es noch anders.

Damals war Gottlieb Schwarz selbstverständlich noch jung, noch mit rosigen Hoffnungen aus einem hochlöblichen Landes-Schullehrerseminar hervorgegangen. Wie herrlich hatte sich das ausgenommen, wenn die jungen Volks-Lehramtscandidaten im Seminargarten Rosenstöcke veredelten und süße Birnen auf sauere Quitten pfropften! Auch Seidenzucht trieb man, versandte auch – wenigstens im Geiste – den köstlichsten Honig an die Lebküchler von Frankfurt am Main und Nürnberg! In der Theorie bewährte sich alles prächtig und vielleicht auch einige Jahre in der Praxis, wenigstens zu Langen-Nauenheim, am Diemel-, Demel-, Donners- und Dustersbach ... die Geographen haben unter vier Bächen, an denen sie Langen-Nauenheim können liegen lassen, die Auswahl ... dann aber ... ja dann folgte vorzugsweise ein Weib, das nicht richtig gewählt war, folgten Kinder, sieben »lebendige«, nächstdem keine Beförderung, keine »Aufbesserung«, immer die aschgraue Zukunft und das vielbesprochene Leid eines deutschen Schullehrers, eines Berufes, den plötzlich eines schönen Morgens in Deutschland, dem Vaterlande des Gedankens, der Buchdrucker- und Buchmacherkunst, niemand mehr gewählt haben wird, weil allerdings bei der Locomotive den Ofen heizen einträglicher ist.

Gottlieb Schwarz erntete, vollends als Witwer, Brennesseln, wo er einst von oculirten Rosen geträumt hatte ... von jenen saftigen, länglichen, so schön, so schön röthlich angesprenkelten Birnen, die man beim Dessert eines frankfurter Bankiers Tafelbirnen nennt und die selbst die eingeladenen Diplomaten nicht verschmähen in die Tasche zu stecken und sie ihren Kindern vom Diner mit heimzubringen ...

Doch um von Kindern zu reden ...

Gottlieb Schwarz wird soeben von seinen sieben »Lebendigen« eines »los«.

Das ist die Lucinde, die Aelteste! Dies mit der da mals noch nachschimmernden Romantik des Seminars getaufte Kind Maria Ludovica Lucinda ist eben dreizehn Jahre alt und im Begriff die »Kinderlehre« zu absolviren. Ein nach dem unpoetischen Vergleich eines Fuhrmanns wie eine »langhalsige Flasche« aufgeschossenes Mädchen steigt in eine Kutsche zu einer vornehmen alten Dame, die sie nach der Residenz entführen will.

Maria Ludovica Lucinda, die mit solchem Staatsnamen Getaufte, die hätte der Vater eigentlich lieber behalten sollen. Sie war in seiner spät geschlossenen Ehe das erste spätgekommene Kind gewesen (als eines den Anfang gemacht, ging das Niederkommen rascher, die Natur hat ihre wunderlichen Gesetze); sie war noch, wie ihr Name zeigte, von leuchtenden Hoffnungen begrüßt gewesen, und Ida, Clara, Estrella, Balduin, Hugo, Achilles, Patroklus, was sollte nicht noch alles ihr nachfolgen! Doch blieb der hoffnungsvolle symbolische Aufschwung nur bei der Erstgeborenen, und die Spätern hingen schon alle von den Namen derer ab, die ihnen ein Pathengeschenk ins Tauftuch binden konnten. Lucinde, die Romantische, ein Nachhall verklungener Jugend-Zaubertöne, – goldenes Morgenroth des Lebens, daß wir dein Bild einst nur noch einmal wiedersehen, im Abendroth! – Lucinde verwerthete sich dem Witwer noch am besten von seinem reichen Kindersegen. Die »Lange« hatte Neigung zum Schulmeistern. Sie konnte zwar keinen Eierkuchen backen ohne ihn anzubrennen, aber sie stand dem Vater in seiner schon sogenannten »Schulfuchserei« bei. Sie sprach gerade nicht englisch, nicht französisch, aber an einer alten Wandlandkarte, die sich staatsinventariumsmäßig im Langen-Nauenheimer Schulhause erhalten hatte aus einer Zeit, wo man noch einige Inseln der Südsee und das Innere Afrikas nicht entdeckt hatte, konnte sie stundenlang stehen und ihrer Zuhörerschaft Wunder vortragen von den Pyramiden, die sie nach Amerika, von den Porzellanthürmen, die sie nach Afrika versetzte. Alle die Gegenden, wo es noch Bären und Wölfe gab, wurden der Langen-Nauenheimer Jugend von ihr im hintersten Indien gezeigt, womit freilich im Widerspruch stand, daß der Revierförster der zwei Dörfer weiter wohnenden Herrschaft dann und wann noch einen von »da drüben herüber«, dem Rhöngebirge, kommenden Wolf gegen Weihnachten geschossen hatte.

Gottlieb Schwarz war schon lange in der Stimmung, zu allem, was ihm das Leben bescherte, nur zu lächeln. Die wilden Verzweiflungen, wo der Mensch sich in die Haare fährt und »Gott! Gott! Gott! ist's denn möglich!« oder dergleichen dumme Redensarten ausstößt, hatte er hinter sich. Er lächelte zu dem Abschied seiner Lucinde. Mußten die Kinder einmal »versorgt« werden, so fängt man ja von oben mit der »Latte« an. Die Nächste nach der »Latte«, ein Kind, das schon mit irdischerm Namen nach der Frau jenes Revierförsters Luise hieß, verstand sich zwar nicht so gut auf Geographie wie Lucinde, aber sie rechnete besser und ihre Eierkuchen brannten nicht an; Hannchen vollends, die Dritte – wieder nichts Mythologisches – war erst zehn Jahre alt, hatte aber mehr Sinn für die Wirthschaft als die beiden Aeltesten zusammengenommen; sie ließ sich nie die Mühe verdrießen, nach den geheimen Orten zu suchen, wohin die Hühner ihre Eier legten, sie pflanzte gern und hielt ihre kleinern Geschwister zum Kleiderschonen und Nasenputzen an. Endlich bestand der Rest der Nachkommenschaft des früh gealterten Männleins aus Knaben, und von denen konnten sich erst zwei die Hosen zuknöpfen.

Das Rathsame, warum erst Lucinde weggegeben werden mußte, lag besonders darin, daß sie sehr hübsch und etwas hoch hinaus war. Sie hatte kostspielige Liebhabereien. Schwarz von Namen und von Haar und Augen, pflegte sie sich gerade gern mit irgendeinem zinnober- oder purpurrothen Stück Zeug zu putzen, mit Bändern und Lappen, und hätten diese ringsum die Pachterstöchter oder die Frau Pfarrerin selbst schon nahe am Wegwerfen gehabt; die flocht sie in das dunkle, schwere und etwas rauhe, ja roßmatratzenmäßige, weil ungepflegte Haar. Sie hatte ferner die Liebhaberei, unendlich träge, gerade herausgesagt faul zu sein, sich den Sonnenschein so in den offenen kleinen, rothlippigen Mund scheinen zu lassen, daß dabei die weißen Zähne wie Perlen blitzten. Sie hatte die Liebhaberei, sich in einer Luke des verwitterten Hausdaches einen Taubenschlag zu halten. Kurz, der Vater ließ die Lucinde ziehen, und sie ging gern: ihre Leidenschaft war die Geographie und ihre Träume spielten »jenseit der Berge«.

Das halbe Dorf umsteht den Wagen, mit dem Lucinde in die Residenz fährt.

Man sieht, was ihr auf ihre Lebensbahn mitgegeben wird ... Zwar nicht die vier Hemden, die sechs Taschentücher, das Dutzend Strümpfe, ihr Sonntagskleid, die ein zugeknöpftes Bündel machen; aber den selbstgefertigten Seidenhut, für dessen Form ein urweltliches Modell von der Frau Pfarrerin, für dessen Besatz Bänder und Lappen von allen Honoratioren, die hier im Bereich der vier Bäche wohnten, entlehnt worden waren. Ihre Toilettegeräthschaften waren in einem wunderlichen Korbe beherbergt, dessen Erscheinen ein allgemeines Gelächter hervorruft. Es ist ein drahtgeflochtener Bienenhelm, in dem Gottlieb Schwarz, ehe er sich verheirathet hatte, in seinem damals erfreulichern Gartenwesen noch nach dem Leben und Weben in seinen Bienenkörben geschaut und Verwirklichung seminaristischer Ideale getrieben hatte. Manche von den Aeltern, die herumstehen, wissen noch, daß das »Klima« bald äußerlich bald innerlich für Bienenzucht hier zu Lande zu rauh wurde. Dann hatte Lucinde oft diesen Helm benutzt, um der Schuljugend poetische Schauer und Schrecken einzujagen. Als praktische Erläuterung ihres Geschichtsunterrichts über das Mittelalter rannte sie mit vermummtem Kopfe den Kindern nach und veranlaßte Turnierschauspiele, bei welchen mancher Ente der Fuß verrenkt wurde. In diesen dorfbekannten Helm hat Lucinde alle ihre Geheimnisse verpackt, auch ihre Näh-, Strick- und Stickapparate, die ihr leider in jeder Beziehung zu sehr Geheimnisse geblieben waren. Dann kommt ein Sack mit gedörrten Zwetschen von jener Langen-Nauenheimer Art, die erst sechs Stunden im Wasser quellen muß, bis sie ans Feuer kommen darf, und auch dann noch wie ein Gericht Kieselsteine schmeckt; ferner ein Kober voll Eier, die sehr behutsam im Innern des Wagens untergebracht werden, und zuletzt auf die Höhe des Gefährts, über dem Verdeck, ein großer Waschkorb, den Lucinde sehr feierlich zurückzuschicken versprechen muß. In ihm gurrt, gluckst und gurgelt es durcheinander. Es ist ihr Taubenschlag. Ohne ihre Tauben mochte Lucinde nicht mit in die Stadt, und die vornehme Dame hatte gerade für diese die bequemste und passendste Unterkunft versprochen.

Die Abreise Lucindens war gewiß etwas Merkwürdiges und Seltsames. Sie erregte Staunen genug, jedoch nur Staunen. Keine Thräne floß, beim Vater nicht, bei den ältern Geschwistern nicht; die jüngsten weinten nur, weil sie nicht »mitgenommen« wurden. Die Hauptsorge des Vaters war das baldige Zurückschicken des Waschkorbes; er schlug den Nacht-Eilwagen, die Fahrpost, die Briefpost, die Diligence und mehrere landeskundige Hauderer als auszuwählende beste Retourgelegenheit vor. Die Tauben gab er leichter hin; die kosteten ihm ein »Schreckliches« an Erbsen und dem ganzen Hause an Zeit. »Wer sich Tauben hält, ist immer ein verdorbener Millionär«, war einer von den Sätzen, wie er dergleichen vor dreißig Jahren in sein Tagebuch zu schreiben pflegte.

Die Kutsche fährt ab; die Leute sehen ihr nach wie der Thurn und Taxis'schen Post. Das Fremde kommt, das Fremde geht ... Gottlieb Schwarz steht vielleicht am längsten. Dann nimmt aber auch er erst nachdenklich noch eine Prise, die er sich »auch noch zu seinem Verderben« angewöhnt hat, und geht nun – es ist Sonnabend Nachmittag, die seligste Zeit des Schullehrerlebens – in die am Ende des Dorfes, vor dem großen Berge liegende Fuhrmannsausspannung. Da pflegten die Fuhrleute und mehrere Conducteure der Thurn und Taxis'schen Postcurse Vorspann, geistigen und leiblichen, zu nehmen. Es war immer eine muntere Welt dort; auch eine frankfurter Zeitung lag auf, die Lucindens Vater eifrig studirte, um auf den Ausbruch besserer Zeiten gerüstet zu sein. Die Zeiten, wo er im »Beiwagen« derselben gesucht hatte, ob nicht endlich seine letzten Einsendungen, die »Ferienphantasieen eines deutschen Dorfschullehrers«, seine »Jubel-Vorschläge zur Verbesserung der Volkserziehung«, seine »Beobachtungen über die merkwürdige Entwickelung eines Hagebuttenpfropfreises zur Erzielung veredelter Dornröschen«, sein »Aufruf an die deutsche Nation zur Abschaffung des überflüssigen Dehnbuchstabens H«, zum Abdruck gekommen waren, die lagen weit schon, weit, weit ... hinter ihm ... Um die Erinnerungen zu stopfen und sich gleichsam über die Versorgung seines Kindes zu freuen, trinkt er wol heute einen Schoppen mehr von dem etwas schweren Bier, das die Fuhrleute lieben, ehe sie über den großen Berg machen ... Wol war es bedenklich, daß Gottlieb Schwarz unter ihnen mehr verkehrte, als seiner Stellung und besonders dem späten Heimwanken gut war, wenn Nachts die lieben Sterne blinkten und die vielen Brücklein von vier Bächen beachtet werden mußten, die da alle so still und kühl mit dem Leid der Menschen dahinfließen.

2.

Und nun, da sitzt sie denn, die »lange Latte«, die »Aufgespillerte«, die »Dreege« (Magere), mit ihren um den kleinen Kopf gewundenen schwarzen Zöpfen, ganz das Abbild ihrer Mutter, einer Feldwebeltochter, deren Vater in der Residenz ein silbernes Porteépée hatte tragen dürfen und der sich unter dem »dummen Bauernvolk« als civilversorgter Kreissteueramtscontrolschreibereiassistent einen Steuerrath selbst gedünkt hatte. Trotzig und scheu, ängstlich und fest, nicht mit Absicht, sondern von Natur so gemischt, hockte das halbreife Mädchen in einem verwaschenen ehemals röthlich gewesenen Kattunkleide, das ihr schon lange zu kurz und zu eng geworden war, in der Ecke der Kalesche, die langsam die Anhöhen hinaufschleicht, geführt von einem halbwüchsigen Burschen, der die Gäule – sie waren gemiethete, wie der Wagen – schonen soll.

Die alte Dame, die ihr zuspricht sich nicht zu fürchten, sondern der glänzendsten und besten Schicksale gewiß zu sein, ist einem »Nachtmahr« nicht unähnlich. Wenigstens hat sie eine Nase, die in einer beständigen Neigung scheint auf das vorgestreckte Kinn einen zärtlichen Kuß zu drücken. Zwischendurch ist nach den allgemeinen Gesetzen der Natur, insoweit sie sich auf die Bildung eines menschlichen Antlitzes erstrecken, bei dieser edeln Frau ein Mund anzunehmen; doch suchte man vergebens nach etwas, was wie zwei Lippen ausgesehen hätte. Sind wirklich die Versinnlichungen solcher Begriffe zwischen der liebevollen Nasen- und Kinnbegegnung der fremden Dame vorhanden, so preßt sie doch die glückliche Inhaberin derselben so zusammen, daß sie nach oben in der Nase, nach unten im Kinn gleichsam mit aufgegangen scheinen. Versucht die Dame ferner, was sie oft thut, über die Oeffnung, die man Mund nennt, ein Lächeln zu zaubern, so sieht man einige Zähne, die wie die einsamen, geköpften Weidenstumpfe an den Bächlein standen, die man hier zu passiren hatte. Die Sprache der Dame ist hochdeutsch, soweit ein gewisses Röcheln und Schnurren unartikulirter Zwischentöne es erkennen läßt, sonst sogar was man gewählt nennt und »nicht frei von Bildung«. Leider kommt diese Sprache aber so seltsam zu Gehör, als wenn jeder Satz sich in den innern Gängen der Brust verliert. Wie die herabgelassene Eimerkette eines großen Ziehbrunnens verrollten die hübschesten Anfänge ihrer Reden für das aufmerksame Ohr des sie zuweilen ebenso unheimlich anschielenden Kindes in dunkle und unverständliche Abgründe.

Den Namen ihrer Wohlthäterin und ihren Stand kannte Lucinde, die bereits hinter Langen-Nauenheim der Bequemlichkeit wegen kurzweg in Henriette und hinter dem ersten Nachbardorfe schon noch kürzer in Jette umgetauft wurde. Sie fuhr mit der verwitweten Frau »Hauptmännin« von Buschbeck. Die Dame behauptete in der Nähe auf irgendeinem Rittergute Kapitalien liegen zu haben, welches »Liegen« sich Lucinde (oder müssen wir nun auch sagen Henriette?) ganz figürlich vorstellte. Beim Vorbeifahren an Langen-Nauenheim wollte die Frau Hauptmännin sich über den Dorfsegen ergötzt haben, der gerade aus dem Schulhause strömte, an den lachenden, fröhlichen Kindern, und am meisten hätte ihr »Lieb-Jettchens« Erscheinung gefallen, die die Kinder gerade aus der Thür entließ und jedem, der nicht Ordre parirte, tüchtig – sie erzählte das soeben lebendig und mit manchem wohlwollenden, leider im Husten erstickenden Hi! Hi! wieder, – einen »Starnicksel« mit auf den Weg gab. Denn Ordnung muß sein! röchelte die Hauptmännin, als der Eimer ihrer Stimme wieder aus dem Brunnen herauskam, und fügte dann nach und nach hinzu:

Sitz aber gerade, Kind! Schlag nicht die Beine so übereinander, du langes Ding! Ja, sauge doch nicht an den Nägeln, Kerl! Guck mir doch nicht zum Schlag hinaus, wenn ich dir's nicht befohlen habe, du –! Ach was, ach was! Nenne mich meine liebe gnädige Frau! Hm, Hm! Lieb-Jettchen! Zieh mir einmal die Schuhe aus, ich glaube, es ist mir ein Stein hineingekommen! Kind, kratz mir ein bissel den Rücken, ich glaube, ich habe was aufgegriffen unter euch verfluch – oder s'ist mein gewöhnlicher Rhevmatismus! So, Jette! So! Ha! ha! Ein solcher Name! Lucinde! Wer soll das aussprechen! Solche Schullehrermucken! Halt dich gerade! Sitz nicht so krumm! So! Brav! Wir werden schon einig werden!

Lucinde that mit Ergebung alles, was ihr befohlen wurde.

Die gnädige Frau von Buschbeck hatte bei ihrer letzten Bewunderung des Langen-Nauenheimer Kindersegens dem Vater den Vorschlag gemacht, diese unter allen hervorragende Erscheinung in die große Stadt mitzunehmen, sie wie ihr Kind zu behandeln, sie ausbilden, erziehen, in Musik und Sprachen, schönen Künsten und Wissenschaften unterrichten zu lassen.

Lucinde hatte dem überraschten und geschmeichelten Vater gelobt, dieser wunderbaren Frau, die auf den Feldern hier Kapitalien »liegen« hatte, unbedingt zu folgen und sich zu fügen, in allem, in jedem, und so ihr Glück zu machen, »was man in Langen-Nauenheim bekanntlich nicht machen könne«, wie er dann selbst hinzusetzte. Lucinde hatte dabei gedacht: »Wie weit Amerika ist (wo manche Langen-Nauenheimer schon versucht hatten ihr Glück zu machen) weiß ich!« Sie dankte daher auch, nach dem Ausdruck ihres Vaters, »ihrem Schöpfer«, daß eine solche Frau sich gefunden, die sie so ohne weiteres und geradezu innerhalb fünf Stunden aus dem Nest mit sich heraus und in die Welt nahm. Um elf Uhr hatte die fremde Dame den oft bewunderten »Kindersegen« wieder bewundert, um ein Viertel auf zwölf Uhr die Vorschläge gemacht, um vier Uhr kam sie von den Gütern zurück, auf denen sie Kapitalien »liegen« hatte, die Bedenkzeit, die sie gelassen, war verstrichen, der erste Widerstand Lucindens nicht hartnäckig, ausgenommen was ihre Tauben anbelangte. Diese, wie gesagt und wie wir auf dem Verdeck hören können, nahm sie mit, und so hatte Lucinde nicht einmal vorher noch dem Pfarrer, bei dem sie in »Kinderlehre« ging, oder der Frau Pfarrerin Abschied gesagt, ja nicht einmal gegessen und getrunken. Das Letztere war vorläufig das Schlimmste. Sie suchte der gnädigen Frau den Stein aus dem Schuh, sie kratzte ihr den Rücken, sie hörte nicht blos auf Jettchen, sondern sogar schon auf Jette, nun aber bekannte sie auch, daß sie nichts gegessen und getrunken hätte. Na, das war ja gerade das, wonach die Frau Hauptmännin schon lange hatte fragen wollen, denn ihrerseits behauptete sie auch, zwar nicht Hunger, aber Durst zu haben, doch im nächsten Orte gäbe es ein vortreffliches Wirthshaus, und da selbst ein vortreffliches Bier; und als sie näher kamen, entdeckte sie, daß sie einen andern Ort gemeint hatte ... das Wirthshaus da, das kenne sie, – da wäre alles schlecht, das Bier, die Milch, und da ihr selbst der Durst inzwischen vergangen war, so schickte sie die Jette blos an den Brunnen. Die hatte nun wieder kein Gefäß und trank aus der hohlen Hand. Daß sie auch Hunger hatte, war in der liebevollen und gründlichen Erörterung über ihren Durst vergessen worden.

Es war schon Abend, als die Kutsche endlich in der Residenz anlangte. Die Laternen brannten schon; nach Ansicht mancher Opponenten der Communalverwaltung düster und sparsam; für Lucinden war es Feenbeleuchtung. Der arme Tropf sah sich wirklich an den himmelhohen Gebäuden, an den Lichtern, an den Carrossen und vielen Menschen »satt«, wenn auch die Frau Hauptmännin, als die müde Kalesche so schlaftrunken über das Straßenpflaster hintaumelte, jetzt ein Nachtessen, das sie sogar ins Französische übersetzte und Souper nannte, in glänzende Aussicht stellte.

Die Passagiere hielten dann in einer der lebhaftesten Straßen an. Lucinde und der junge Wagenlenker luden das Gepäck ab, auch die Eier, auch die Zwetschen, auch den Bienenhelm, und vor allem den Taubenschlag. Alles kam durch gemeinschaftliche Anstrengung drei Treppen hinauf. Niemand oben empfing sie. Lucinde mußte vor einer verschlossenen Thür die Herrlichkeiten hüten, bis die Frau Hauptmännin nachgekommen war. Sie kam mit den heftigsten Verwünschungen über die Höhe des Trinkgeldes, das der kleine Knirps von Kutscher gefordert hatte. Dazu die drei Treppen; sie brauchte Zeit, bis sie sich sammeln und das Vorlegeschloß ihrer Wohnung prüfen konnte. Nachdem dies geschehen, genug gerüttelt und gerasselt war, schloß sie auf. Lucinde trat in einen kleinen Gang, zu dessen Rechten die Küche lag. Hier machte die vornehme Dame Licht und beaufsichtigte den weitern Transport des Mitgebrachten. Beim Verschließen der Eier im Küchenschrank beleuchtete sie einen steinhart gewordenen Laib Brot. Ja so! sagte sie. Unser Souper! Da, Jettchen, rasch! Flink! Drüben im Laden! Wo ist denn meine Börse! Hole – hier!

Lucinde sollte rasch hinunterspringen und gegenüber in einem Laden frisches Brot holen, auch von nebenan Butter und von noch weiter nebenan aus einem Keller Rettiche, die sehr delicat schmeckten, wenn man, sagte Frau von Buschbeck, einen Salat draus machte mit Essig und Oel ...

Wie das alles so wonnig mundete!

Als aber Lucinde schon im Gehen war und noch einmal zurückkam, weil sie ja das Geld vergessen hatte, sagte die freundliche, liebevolle Dame:

Kindchen, bist doch wol zu müde, auch zu fremd, und wirst es nicht finden!

Und nun schnitt sie schon von dem alten Brote vor und holte aus einem andern Schranke mit kostbarem Porzellan von buntgemaltem meißener Rococo ein allerliebst geformtes Näpfchen, freilich nur mit Salz gefüllt. Aber »Salz und Brot macht die Wangen roth!« sagte sie, und – Lucinde aß Salz und Brot.

Aber da purren und gurren ja noch die Tauben in dem Waschkorbe! Den armen Dingern muß drinnen recht bang geworden sein und verschmachtet sind sie gewiß auch. Morgen sollte der Tischler kommen, hatte es auf der Landstraße geheißen, und sollte auf dem Dache eine wundervolle Vorrichtung treffen, einen Taubenschlag, der nie einen Marder zulassen würde. Einstweilen aber wurde jetzt die Höhlung unter dem Feuerherde ausgeräumt und eins nach dem andern von vierzehn der trefflichsten veredelten Feldflüchter in diese unbequeme Wohnung eingelassen. Einen Vorbau machte man aus umgekehrten Schemeln, Besen, ausgebreiteten Scheuerlappen. Die »gnädige Frau« lachte ganz vergnüglich über die lieben Thierchen, nahm den Sack mit Zwetschen und ging erst jetzt in ihre vordern Zimmer. Auch hier die Prüfung der vorgelegten Schlösser. Auch hier ein behutsames Aufschließen und ebenso sorgfältiges Wiederanziehen der geöffneten Thür. Lucinde wurde nicht aufgefordert zu folgen.

Da stand sie nun, todmüde, in der linken Hand ihr hartes Brot, in der rechten eine Küchenlampe. Sie durfte nicht näher kommen, weil erst gestern gescheuert worden war, und die Decken lagen noch nicht wieder, die kostbaren, zusammengerollten, über die Lucinde einigemal im Vorsaal schon gestolpert war. Es verging wol eine Viertelstunde, bis die Frau Hauptmännin zurückkehrte und Licht gemacht hatte. Wie sie sah, daß Lucinde so im Vorsaal stand und unnützerweise den leeren Wänden leuchtete, sagte sie:

Donnerwetter, das Oel ist theuer! Du kannst jetzt zur Ruhe gehen!

In der Küche gab es noch einen gemüthlichen Verschlag in die Mauer hinein. Dort öffnete die gnädige Frau und zeigte Lucinden etwas, was wie ein Bett aussah. »Jettchen« allerdings war so müde, daß sie nicht einmal ihre Bewunderung vor diesem Bette, das man wieder unsichtbar machen konnte durch zwei Thürflügel, aussprach. Sie war nur froh, den mitgenommenen Vorrath von Erbsen, den sie vorhin ausgeschüttet hatte, unterm Feuerherde verknuspert zu hören; ein paar ihr sehr liebe Kropftauben gurgelten ihre Atzung ganz hörbar hinunter.

Na, und nun kleide dich aus! Gute Nacht! Schlaf nicht zu lange! Träume gut! Sage: Ich wünsche Ihnen wohl zu schlafen, meine liebe gnädige Frau! Na, wird's? Nein, ordentlich! Ich – wünsche – Ihnen – wohl – zu – schlafen, – meine – liebe – gnädige – Frau! So! Das war recht! O, wir verstehen uns schon! Wir passen zusammen! Um fünf Uhr aber Reveille! Verstanden? Gute Nacht!

Ahnend, was Reveille sagen wollte, und etwas ungewiß, ob sie wirklich am Ziel der verheißenen Seligkeiten war, ging Lucinde, sich reckend und dehnend, barfuß und im Hemde noch einmal nach vorn und sah durch die Glasthür. Der Vorhang ließ ein Ritzchen offen, durch das sie hindurchschielte. Ei, kaut nicht die gnädige Frau gerade ihre Zwetschen frisch aus dem Sack heraus? Es muß doch wol sein, wenn's auch ein Anblick war, als wenn zwei concentrische Mühlräder sich umeinander drehten, nur jedes nach entgegengesetzter Richtung hin ... Und wie die Zwetschen auch schwierig zu schroten waren, so mundeten sie der gnädigen Frau doch vortrefflich, sodaß sie schon einen Haufen Steine vor sich hin und zwar sehr sauber auf ein Papier gelegt hatte. Sie hielt offenbar ihr »Souper« und blinzelte dabei so listig mit den Augen ringsum wie eine Katze, die sich auf ihre nächtliche Wanderung nach Mäusen freut, und sonderbar – auch mit den Steinen liebäugelte sie, als wenn sie der lockendste Speck wären, an den jemand anderes noch anbeißen sollte. Und endlich gar noch sonderbarer! Wenn die schwarzen Augen der gnädigen Frau einen recht stechenden Glanz bekamen, dann schien sie ganz blind zu werden. Lucinde wußte das schon aus Vorkommnissen der Reise; auch sie beobachtete scharf. Jetzt bewegte sich der Vorhang. Rasch schlich sie zur Küche zurück, wo sie sich ihren Bettkasten heraustappte und zusammengekrümmt auf einen Strohsack sich niederwarf. Die Lade war zu kurz für ihren aufgeschossenen Wuchs. Doch entschlummerte sie und hatte sogar die angenehme Ahnung – morgen in der Frühe doch noch Wonnen des Paradieses zu entdecken.

3.

Von dem Morgen an, wo Lucinde erwachte und im Auffahren fast lebensgefährlich an die spitze Nase der Frau von Buschbeck stieß, die sie ein für allemal bedeutete: So lange dürfe sie niemals schlafen! (es schlug eben eine Uhr mit heiserm Tone, nicht unähnlich dem Bellen eines alten asthmatischen Mopses, fünf!) – von diesem Morgen an blieb Lucinde ein Jahr, neun Monate, funfzehn Tage und drei Stunden bei der Frau »Hauptmännin« von Buschbeck und in den seltsamsten Verhältnissen.

Schon von der Frau, die fünfeinviertel Uhr die Milch brachte, hörte Lucinde ein lautes Lachen:

Wieder einmal eine in die Falle gegangen!

Weiter war die Milchfrau nicht gekommen, denn schon schlorrte die Frau Hauptmännin im »Nachtjoppel« und mit einer Haube, deren Spitzen sich in die uns schon bekannte liebende Umarmung von Kinn und Nase als Drittes im Bunde einzumischen suchten, aus der vordern Stube heraus und verwies Lucinden jeden unnützen Aufenthalt mit den Leuten, die »ins Haus kämen«. »Ins Haus« nannte sie ihre Wohnung, bestehend, wie Lucinde sah, aus der Küche, einem dunkeln Entrée mit Guckloch durch die Thür zur Hausflur, einer Schlaf-, einer Wohn- und Putzstube. Ueberladen aber war die Möblirung der kleinen Etage allerdings. Für ein zweistöckiges Haus würde sie ausgereicht haben. Was am ersten Abend Lucinde schon beim Beobachten des Zwetschenmahles befremdet hatte, waren eine Menge ausgestopfter großer Vögel, einige aus Steinen gemeißelte häßliche Köpfe, die Götzen vorstellten, ein Porzellan-Chinese mit einem großen Pfauenwedel, auch eine Lanze, die quer an der Wand hing, mit einem Köcher voll Pfeile, die, wie sie später erfuhr, vergiftet sein sollten. Alle diese Dinge hatte der Herr von Buschbeck aus Indien mitgebracht. Er war Hauptmann in niederländischen Diensten gewesen, und seine Witwe lebte von einer Pension, die sie, wie sie sagte, aus dem Haag bezog ... die Gelder ausgenommen, die sie auf dem Lande »liegen« hatte.

Diese vergifteten Pfeile beschäftigten Lucinden so sehr, daß sie gleich in der zweiten Nacht von der gnädigen Frau träumte, die ihr im Schlaf erschien und einen dieser Pfeile gerade aufs Herz setzte. Sie schrie im Schlaf auf, und wie sie aus ihrer Bettlade in die Küche blickte, huschte auch etwas dahin und klappte nach der Entréethür zu. Sie horchte länger, entdeckte aber nichts. Als sie am Morgen erwachte und nach ihren Tauben sah, – der Tischler war noch nicht bestellt worden, weil Lucinde nicht früher ausgehen sollte, als bis ihre »Garderobe« ganz in Ordnung war; sie hatte daran den ganzen Tag nähen müssen – da lag ja eine von ihnen todt! Das Opfer war glücklicherweise keiner ihrer Lieblinge. Frau von Buschbeck bedauerte den Unfall, fand es aber angemessen, daß man die Taube nicht ganz »umkommen« ließ. Sie wurde zu Mittag von ihr selbst, wie sie's nannte, au gratin zubereitet. Daß Lucinde von einem ihrer Täubchen selbst nichts essen mochte, that ihr leid, denn sie sagte, sie hätte darauf gerechnet. Lucinde mußte sich deshalb mit einer einfachen Milchsuppe begnügen.

Schwerlich würde Lucinde von der Milchfrau ein ferneres überraschendes Wort, das wir gleich berichten wollen, vernommen haben, wenn sie nicht die Schlauheit gehabt hätte, schon durch das Guckloch zu beobachten, wann diese kam. Denn kaum hatte im glücklich erspähten Moment, als sie ohne zu klingeln geöffnet bekam, die Milchfrau gesagt: Was? Sie sind noch da? und dies Noch höchst scharf betont, als auch schon wieder Frau von Buschbeck in Halbnégligé, Joppel und Spitzenhaube erschien und eine weitere »Conversation« unterbrach. Lucinde war eine Gefangene. Die gnädige Frau besorgte die inzwischen nothwendig gewordenen Ausgänge selbst und schloß ihren Pflegling ein. Glücklicherweise glaubte dieser, solche Vorsicht wäre in der Ordnung, da ihr die Stadt als eine Höhle aller Laster und Verbrechen geschildert worden war. Nur daß sie ausschließlich in der Küche und auf dem Entrée verbleiben mußte, wurde ihr zu schwierig. Sie rüttelte wenigstens an dem Eingang zur Wohnthür, aber die vordere Herrlichkeit mit den Erinnerungen an die Wilden fand sie immer verschlossen.

Der Taubenschlag, der auf dem Boden hergerichtet werden sollte, kam nicht. Die Tischler wären viel zu theuer, hieß es, und vor Mardern blieben die Thierchen unterm Küchenherde gesicherter. Es war ein trauriger Anblick, die armen Luftbewohner in dem engen Raume sich drängen und einer dem andern auf die ohnehin bei Tauben schon so schwerfälligen Füße treten zu sehen. Lucindens liebste Freude war sonst gewesen, an der Dachluke zu sitzen und die kreisenden Bewegungen ihrer Pflegebefohlenen mit ihren scharfen Augen, die sie bis in die weiteste Ferne verfolgen konnten, zu beobachten. Sie verbrachte eben damit die Zeit, die besser für die Erlernung des Eierkuchenbackens wäre angewendet gewesen. Einzig den paar Kröpfern, die sich Lucinde aufgezogen, that die Ruhe wohl. Die häßlichen Thiere saßen wie die Puterhähne und vergruben die Schnäbel in ihre Kröpfe. Leider aber mußten sie hungern, was diese vornehmen Prälaten am wenigsten vertragen können. Es starben aber – fast konnte man sagen »glücklicherweise« – in nächster Nacht noch zwei von den armen Gefangenen. Es war eine Taube darunter, deren Verlust Lucinden unendlich nahe ging; eine halb braun und weiße Taube von ganz besonderer Zierlichkeit, mit einem Halse, dessen Federn auf die wunderbarste Art in sämmtlichen Farben des Regenbogens spielten, ohne daß man eigentlich unterscheiden konnte, wo die grünen und die blauen Schattirungen anfingen; es sind die Farbenspiele der Taubenhälse eben Wunder, die noch kein Chemiker hat erklären können. Lucinde wußte wohl, daß zu ihrer Wirkung das Licht des blauen Himmels gehörte, von dem in die nach einer Brandmauer hinausgehende Küche leider sehr wenig hereinfiel.

Auf dem Boden, das entdeckte sie dann allmählich auch, war gar kein Platz, um daselbst einen richtigen Taubenschlag bauen zu können. Sie entdeckte das, wenn sie von dorther Holz holen mußte. Es war das für sie immer eine große Entdeckungsreise, auf der sie vielerlei Neues sah. Es schmerzte sie daher auch nicht zu sehr, als eines Tages die Alte mit einem ganz besonders charakteristischen Tone sagte:

Sackerlot! Die Tauben fressen einem ja das Hemd vom Leibe weg! Das sind theure Kostgänger! Wir wollen sie verkaufen! Was sie einbringen, leg' ich zu deiner Toilette an für den Winter, Jettchen!

Lucinde hatte aus dem Fenster, wenn sie vorn rein machte und nähte – letzteres mußte sie jeden freien Augenblick – und wenn es in der Küche zu finster wurde, in der Vorderstube, schon manche wunder schöne Frau auf der Straße gesehen und träumte dann, wenigstens einen neuen Hut tragen zu können, wenn auch ohne Federn. Sie gab also ihre Einwilligung zum Verkaufe. Die Alte brachte einen Koch aus einem der vornehmen Gasthäuser mit, der sämmtliche Tauben an sich nahm. Wie viel sie dafür löste und wie viel für ihren Winterstaat verbraucht werden konnte, erfuhr Lucinde nicht; denn der Koch kam gerade in dem Augenblick, als ihr die gnädige Frau befohlen hatte auf dem Boden zu bleiben und zwei Trachten Kleinholz zu machen.

Daß sie nur eine »Magd« bei der gnädigen Frau war, das hörte sie dort oben denn endlich auch. Auf dem Boden trafen sich die Mägde aus dem ganzen Hause zusammen, und da erfuhr sie desgleichen, daß Frau von Buschbeck in der ganzen Stadt den Namen hatte, keinen Dienstboten mehr, aber absolut auch keinen mehr, bekommen zu können. Sie plage und quäle ihre Leute so sehr, daß niemand länger als einige Tage bliebe. Die »Miethweiber« schickten niemand mehr, vor der Polizei bekäme sie gegen keine Anklage mehr recht; sie wäre verurtheilt gewesen sich selber zu bedienen, wenn sie nicht auf den Einfall gekommen wäre –

Bei dieser Eröffnung mußte Lucinde schon wieder hinunter. Frau von Buschbeck rief sie selbst ab und fuhr die Magd an, die in einem Nebenboden Holz spaltete und wol »ihre Dienstboten verführen« wolle? Vor ihren Augen mußte Lucinde zwei Trachten Holz aufpacken und in die Küche tragen. Jetzt war Platz wieder unterm Feuerherd. Die Tauben waren fort. Die gnädige Frau behauptete, schlecht bezahlt worden zu sein; sie gab von dem, was sie von dem Koch empfangen, nur die Hälfte an, und Lucinde hörte es kaum; sie überlegte sich nur, was sie gehört: Frau von Buschbeck hatte in der Stadt keine Magd mehr bekommen können und holte sich deshalb – eine doch wol vom Lande? Ihr Räthsel war gelöst.

Ehe sie dabei mechanisch das Holz verpackte, wollte sie doch erst die vielen kleinen Federchen wegnehmen, die von ihren Tauben zurückgeblieben waren. Sie waren so blau, so weiß, so goldbräunlich, und jede Feder erinnerte sie gerade an die Verschwundene, der sie angehörte ...

Das gibt ein schönes Nadelkissen! sagte die Frau Hauptmännin. Es war eine dieser Frau eigene Kunst, daß sie die Phantasie ihrer Pflegebefohlenen immer anzuregen wußte. Erst der Winterstaat, nun das Nadelkissen! Was sind dem Kinderherzen nicht alles Eingänge zu den herrlichsten Feenschlössern!

Allmählich aber kam Lucinden das Vollgefühl ihres traurigen Looses. Da hatte sie schon in einer Nacht vor dem letzten Braten, den sie gehabt (Taubenbraten), selbst gesehen, daß die gnädige Frau, die an Schlaflosigkeit zu leiden schien, an ihre Bettlade kam, sie überleuchtete, das Licht auf den Feuerherd stellte und eine der Tauben nahm und ihr mit raschem Griff eigenhändig den Hals umdrehte. Dann legte sie sie wieder ruhig zu den übrigen und stellte, als wäre nichts geschehen, die Zuber vor. Lucinde glaubte zu träumen. Aber es war ganz wirklich so gewesen. Der Augenschein des Morgens bestätigte es. So gingen anfangs die Tauben fort, so gingen die Eier, so die Zwetschen. Auch den Korb schickte sie nicht an den Vater zurück, worüber Lucinde sie zum ersten mal etwas trotzig zur Rede stellte. Aber die Alte wußte zu zähmen; vorzugsweise durch Hunger. Abends, als auch Lucinde zum ersten mal ihre Krallen gezeigt, brachte die Hauptmännin einen Haufen trockener Zwetschensteine. Lucinde bekam die Anweisung, sie mit einem alten Ziegelsteine, der vom Feuerherd losgegangen war, aufzuschlagen und sich die »kostbare« Mahlzeit der Kerne für den Abend munden zu lassen. Ein Trunk Wasser dazu würde die Kerne besser aufquellen lassen ...

Lucinde gehorchte wol, doch in den schwarzen Augen der Schulmeisterstochter brannte mehr als nur Gehorsam. Sie mußten sich nur immer erst orientirt haben, und dann geriethen diese Augen in eine Glut, die von seltsamen Gedanken geschürt werden konnte. List weckt Gegenlist, Tyrannei Widerstand. Und wer weiß, ob Lucinde ein Wesen ist, das sich überhaupt nach sanfter Rede, Güte des Herzens, Liebe und schonender Obhut sehnt! Schon können wir sagen, daß ihr nie die Zähne weh thaten, daß ihr nie ein Schnupfen Fieber machte, nie eine Zurücksetzung Thränen kostete. Sie half sich immer gerade so weit durchs Leben, als sie das Leben verstand, und ihre Waffen waren in frühester Zeit schon die geballte Faust, dann die spitze Rede, jetzt die Verschlagenheit ... Sie fängt mit der gnädigen Frau, die sie nun »bald weg hat«, wie sie den Mägden des Hauses, die sie aufhetzten, eingesteht, einen Kampf an, nicht etwa auf Leben und Tod, sondern einen Guerrillakrieg innerhalb der von der gnädigen Frau selbst gezogenen Schranken. Sie hat allmählich dabei die schöne Stadt sich »herausgeluchst«, die herrlichen Gärten, die großen denkmalgeschmückten Plätze, die Soldaten, die Offiziere, die schönen Umgebungen und die bezaubernden Fernblicke in sonnenbeschienene Ebenen und nach neuen blauen Hügelrändern hin; sie erwischt aus dem Bücherschranke des, wie sie gehört hatte, noch gar nicht verstorbenen niederländischen Hauptmanns Bücher; sie dringt darauf, daß sie, noch immer nicht eingesegnet, wenigstens in die Kirche gehen darf; sie schreibt seitenlange Briefe nach Langen-Nauenheim, worin sie freilich das Ausbleiben des Korbes entschuldigen und eine Menge Erfindungen mittheilen muß, weil die gnädige Frau die Briefe erst liest, ehe sie sie abgehen läßt. Und nun macht es ihr gerade Spaß, die komischsten Erdichtungen zu schreiben, nur damit die »Alte« sich ärgert oder in jene Blindheit verfällt, die sie überkommt, wenn ihre unruhigen und gespenstischen Gedanken ganz nach innen gehen. Lucinde schreibt von Bällen und Gastereien, und die Alte liest es, als hörte sie die Geigen rauschen und die Schüsseln klappern. Sie läßt den Brief abgehen und ist sogar milder als sonst, weil sie dann stundenlang nicht aus einem wie somnambulen Zustande herauskommt.

Um so gräßlicher ihr Erwachen! Dann war's doch, als beschuldigte sie Lucinden, der »schwarze Teufel«, wie sie sie nannte, wolle sie erwürgen. Dann hatte die menschenfeindliche, geizige Frau Blicke so voll Gift wie ihre javanischen Pfeilspitzen. Wie der Taubenfalk schoß sie hinter Lucinden her, wenn diese nur einmal gelacht hatte; sie krallte mit ihren dürren Fingern in sie ein wie jener, wenn er aus Himmelshöhen niederschießt. Die böse Frau hatte keinen Schlaf. Sie fürchtete entweder Gespenster oder sich selbst. Sie leuchtete um Mitternacht in die Winkel. Kam sie an die Bettlade Lucindens, so hielt sie das Licht über die Halbschlummernde und schrie sie an: Das kann schlafen! Das kann die Augen zuthun! Oft mußte Lucinde aufstehen und ihr um zwei Uhr Morgens vorlesen, Reisebeschreibungen, Erzählungen von den Wilden, zuweilen auch Legenden. Frau von Buschbeck ging jährlich einmal zur Kirche; sie war katholisch. Wenn aber Lucinde um ihre Einsegnung drängte, nahm sie alle Bücher fort und sagte: Unser Herrgott ist der Satan! Sie war so geizig, daß sie sich eine alte Guitarre, auf der sie in den Abendstunden klimperte, nicht einmal neu mit Saiten beziehen ließ. Auf zwei Saiten spielte sie alte sentimentale Lieder und pfiff dazu. Da sie dies ohne Lippen thun mußte, so klang es wie leiser klagender Nebelwind auf der Heide. Der Anblick dieser grotesken Scene war Lucinden nicht vergönnt, denn Frau von Buschbeck schloß sich ein, wie sie fast immer that, besonders nach jedem Ersten im Monat, wo der Postbote eine ansehnliche Summe in einem mit adeligem Petschaft versiegelten Briefe brachte. Da mochte sie zählen, was ihr Geiz aufhäufte. Oft lauschte Lucinde und hatte die listigen Augen an die Fensterscheiben der Stubenthür gedrückt. Sie unterließ aber auch das, als eines Tages auf der entgegengesetzten Fläche der Scheibe das volle Antlitz der plötzlich hinter dem Vorhang auftauchenden Hauptmännin sie angrinste. Sie war von dem Anblick so entsetzt, als hätte ihr eine Fledermaus auf der Nase gesessen. Sie bebte so, daß sie nicht einmal entfliehen konnte, sondern ruhig geschehen ließ, daß die Thür sich öffnete und sie zur Strafe ihre gewöhnliche körperliche Züchtigung erhielt.

Dabei liefen Tag und Nacht zusammen. Hatte Lucinde bis drei Uhr nach Mitternacht vorgelesen, so meinte die Hauptmännin, bis vier wäre nur noch eine Stunde und man könnte gleich aufbleiben und ans Tagewerk gehen, worunter sie Nähen und Stricken verstand. Die Hemden und Strümpfe, die Lucinde lieferte, gingen und kamen: sie behauptete, für eine Anstalt, die gut zahle; sie spare alles für Lucindens Zukunft. Oft wurde sie, wenn gar zu böse Stunden kamen, so tückisch, daß Lucinde manche Arbeit dreimal thun mußte, nur damit ihre Peinigerin über dies und jenes ihren Willen hatte.

Eines Tages klingelte ein Polizeiagent und verlangte Einlaß.

Er erklärte rundweg, Frau von Buschbeck sollte auf dem Amte erscheinen und sich wiederum rechtfertigen wegen unmenschlicher Behandlung ihrer Dienstboten, wie schon öfters.

Eine Menge Menschen aus dem Hause und der Nachbarschaft drängte nach. Beinahe wäre ein Act der Volksjustiz ausgeführt worden, denn man fand wirklich Lucinden an Händen und Füßen gebunden in einer dunkeln Seitenkammer der Küche, in welcher Frau von Buschbeck ihr altes Geräth aufbewahrte. Dort lag sie schon seit zweimal vierundzwanzig Stunden und bekam nur Wasser und Brot, weil sie, wie sie beschuldigt wurde, aus »Bosheit« zwei chinesische Tassen zerschlagen hätte mit der Drohung, alles Zerbrechliche auf der Servante zu zertrümmern, wenn sie noch ferner jedes kleine Misgeschick, das sie beim Abstäuben oder Putzen beträfe, mit »künftigem Abzug von ihren Ersparnissen« büßen müsse ... Im Hause hatte man das Jettchen der Frau Hauptmännin zwei Tage lang nicht bemerkt, Anzeige gemacht, und so kam es zum Durchbruch.

Lucinde machte auf dem Amte dem Polizeirichter, Stadtamtmann genannt, einen wunderlichen Eindruck.

Sie war trotz Kasteiung und Entbehrung jeder Art fast vollkommen entwickelt. List und Verschlagenheit waren unverkennbar der Ausdruck ihres Wesens, der ihr aber schön stand, wenn ihre dunkelbeschatteten Augen glühten, ihre Lippen trotzig sich aufwarfen und dabei ein ständiges scheues und ironisches Lächeln um den kleinen zierlichen Mund spielte. Das schwarze Haar war in Flechten geordnet, die voll und schwer um die Stirn gingen. Selbst die Hände, die doch soviel schaffen und »schanzen« mußten, waren nicht eben rauh. Sie sagte, da die in einem Fiaker folgende Frau von Buschbeck sich auf die Feinheit und Schonung derselben berief, daß sie es bei ihrem Vater »nicht nöthig gehabt hätte«. Nur ihre Haltung entsprach nicht dem schlanken Wuchse. Sie senkte den Kopf ... so aber, wie wenn eine schwere Aehre sich an einem langen Halme wiegt.

Der Stadtamtmann sprach von ihrer Familie .... Erst jetzt erfuhr sie ein schreckliches Unglück aus Langen-Nauenheim.

Drei ihrer Geschwister, und das liebe Hannchen darunter, waren schon seit Jahresfrist todt! Im Zeitraume von drei Tagen hatte sie das Scharlachfieber, das in der Gegend wüthete, hinweggerafft ... Die Alte hatte den Brief des Vaters aufgefangen und den Inhalt verschwiegen, weil sie die Wirkung des Kummers auf den Fleiß und die Arbeit fürchtete!

Wie Lucinde diese Nachricht hörte, stürzten ihr seltsamerweise keine Thränen aus den Augen ... Nur schrecklich erblaßte sie ... Der Stadtamtmann ließ das wankende Mädchen sich auf einen Stuhl setzen; man konnte eine Ohnmacht befürchten ... Der Blick, den Lucinde bei dieser Nachricht auf die böse Frau warf, war furchtbar ... Ihre sonst so dunkeln Augen sahen in diesem Moment weiß aus, und die böse Zunge der stadtberüchtigten Frau, die der Verzweiflung nahe war, kein Mädchen bekommen zu können, und in diesem Fluche fast mit wirklichem Schmerz eine angezettelte Verschwörung sah, war gegen sie völlig verstummt.

Als der Stadtamtmann Lucinden erstens einen Lohn und die Auszahlung ihrer Ersparnisse gesichert, dann die Frau Hauptmännin, die er indessen sonderbarerweise immer nur Fräulein von Gülpen nannte, aufs entschiedenste ermahnt hatte, die Langmuth der »überhaupt gegen sie so duldsamen« städtischen Behörden nicht zu erschöpfen, wurde Lucinde von ihm befragt, ob sie nicht zu ihrem Vater und zu ihren Geschwistern zurück wolle?

Sie saß starr und antwortete nicht.

Dann erwähnte der Stadtamtmann unter den Unterlassungssünden, die sich »Fräulein von Gülpen« gegen sie hatte zu Schulden kommen lassen, auch die unterbliebene und doch von ihr versprochene anständige Confirmation. Gleichsam aber, als wenn sich Lucinde fürchtete, nun in Langen-Nauenheim noch erst confirmirt und dort unter die ihr wohlbekannten Buben und Mädchen gesetzt zu werden, antwortete sie auf die wiederholte Frage, ob sie mit der immerhin beträchtlichen Summe von nahezu funfzig Thalern, die ihr zuerkannt wurde, nach Langen-Nauenheim zu ihrem Vater und ihren auf drei zusammengeschmolzenen Geschwistern zurückkehren wolle, mit einem ernsten, bedachtsamen und fast kalten Kopfschütteln: Nein!

Das ist's ja! brach die zitternde Tyrannin aus. Das Leben auf der Straße, die Promenaden, die Offiziere, das Schlendern, das Gaffen ...

Ruhe, Fräulein! unterbrach der Stadtamtmann.

Frau von Buschbeck oder Fräulein von Gülpen mußte sich entfernen, nachdem sie mit zitternden Händen einen Revers zur Zahlung von funfzig Thalern und Auslieferung aller Sachen Lucindens unterschrieben hatte. Sie ging mit krampfhaftem Zusammenschlagen ihrer Ober- und Unterkiefern, doch nicht ohne eine Art von Würde und Vornehmheit. Man hatte ihr da, wo man ihre Lebensverhältnisse näher zu kennen schien, zwar den Titel einer Frau geraubt, den einer Adeligen aber lassen müssen.

Draußen empfing sie das Hohngeschrei zusammengelaufener Menschen. Sie war die Bekannte, Stadtkundige, die Frau: bei der niemand dienen wollte!

Sie stürzte in ihren Fiaker, doppelt schwer aufseufzend; denn ihr Geiz sagte ihr wieder: Himmel, du hast den Fiaker vorher zu bezahlen vergessen! Nun rechnet dir der auch noch die halbe Stunde an, die er vor dem Stadthause hat warten müssen!

4.

Der Stadtamtmann war in der Lage, gerade ein Mädchen zu bedürfen.

Er bot Lucinden an, zu seiner Frau zu ziehen. Für die Confirmation versprach er unverzüglich Sorge zu tragen.

Sie nickte einfach: Ja! saß bis auf weiteres im Nebenzimmer des Amtssaales eine halbe Stunde allein, setzte im Geiste einen Brief auf, den sie an ihren Vater schreiben wollte, und folgte dann dem Stadtamtmann, als er sein Vormittagsgeschäft hinter sich hatte, in einiger Entfernung in seine Wohnung.

Die Polizeidiener ersparten ihr die Gefahr, noch einmal zur gnädigen Frau, wie sie lachend titulirt wurde, zurückzukehren, und versprachen ihr alles Ihrige abzuholen und nachzubringen.

Lucinde schaute und hörte hinein wie in eine fremde Welt. Daß sie einer schrecklichen, abscheuerregenden, wie es hieß und auch später im Wochenblatt unter der Rubrik Polizeibericht zu lesen war, »zuchthauswürdigen« Behandlung entronnen war, ... das fühlte sie eigentlich selbst nicht so lebendig. Sie ließ sich's von den Leuten nur sagen und nahm's dann hin, wie die es wollten.

Die Frau Stadtamtmann hatte nichts gegen die Anordnungen ihres Gatten einzuwenden. Nur schien ihr die Zumuthung, das neue Mädchen erst confirmiren lassen zu müssen, umständlich. Indessen sagte sie zu. »Henriettens« Anblick – dieser veränderte Name blieb auch hier – that ihr wohl. Die Frau Stadtamtmann war gerade in der Hoffnung und sorgte dafür schönen Formen zu begegnen. Der Anblick des anziehenden, schlanken und gesunden Mädchens that ihr wohl.

Es kommt oft vor, junge Confirmandinnen zu sehen, die nur gleich am Altar stehen bleiben sollten, um sich den Ehesegen geben zu lassen. Auch Lucinde war auf besondere Bitte des Amtmanns schon nach vier Wochen ein solcher Spätling unter den lieblichen weißgekleideten Kindern mit ihren Rosaschärpen und Myrtensträußchen. Der Superintendent gestattete die schnelle Beförderung, da er von der Schulmeisterstochter religiöse Bildung voraussetzte. Er wußte wol nicht, daß man sich nirgends mit dem lieben Gott weniger Sorge macht als in Pfarr- und Schulhäusern. Da steht man mit dem Himmel auf dem Fuß des Empfangens im Négligé. Gebetet hatte Lucinde außer vor und nach der Schule nur beim Eierkochen. Pflaumenweich liebte der Vater die Eier und dafür genügten zwei Vaterunser.

Der Wildling stand nach vier Wochen unter den Confirmandinnen.

An Wuchs ragte sie hier nicht mehr vor allen hervor; es gab ebenso aufgeschossene Blondinen und Brünetten wie sie, zu denen sich der Herr Superintendent nicht gar zu sehr zu bücken brauchte, wenn er ihnen Sonntags darauf den Kelch reichte; aber Lucinde war schon voll, kräftig in den Schultern, stark in den Hüften, und wenn auch im allgemeinen ihr scharfgeformter Kopf selbst noch nichtssagend war, so reizte sie das kindliche Wesen ihrer Umgebungen doch zu einem Umblick in der Kirche, der ihr ganz vorwitzig und weltlich stand. Manchem mußte sie auffallen. Sie stand wie ein Heidenkind, zerstreut und ohne Andacht, obgleich ihre schwarzen Bänder auf Trauer deuteten. Zugegen war niemand, den sie kannte, außer einer alten Magd aus dem Hause, das der Stadtamtmann bewohnte. Diese hatte ihr ein vergoldetes Gesangbuch geliehen und sie auf ihrer Kammer geschmückt, sodaß sie hernach zur Frau Stadtamtmann hintreten konnte und deren ganzen Beifall erntete. Diese neue »gnädige Frau« schenkte ihr ein schwarzes Halsband von Sammt mit einer Stahlschnalle, die auf dem brünetten Halse funkelte wie eine Broche von Diamanten. Ja, als sie aus der Kirche zurückkam, wurde sie sogar mit Chocolade empfangen. Man war gut und freundlich gegen sie.

Es war eine sonderbare Welt, in die das nun fast funfzehnjährige Mädchen hier stündlich einblicken konnte. Die Gensdarmen gingen ab und zu, und der Stadtamtmann, der zwar ein für allemal im Hause und wenigstens bei Tisch mit den Vorkommnissen seines Berufes verschont sein wollte, konnte es nicht dahin bringen, daß er ohne Behelligung bis zum Dessert kam. Lucinde bediente; auch wenn Gäste geladen waren. Sie besaß zwar nicht viel Geschick und machte vieles verkehrt, doch wurde das alles nicht mehr mit der früher erlebten Strenge gerügt. Zerstreut mußte sie schon dies ewige Rapportiren machen von dieser Dieberei und jener Gewaltthat. Ihre Phantasie, die sehr lebhaft war, sah ringsum – sie brauchte schon nur an die doppelten Namen der ihr vorerst entschwindenden »Frau Hauptmännin« zu denken – die Welt voll Lug und Trug, und da sich's dabei doch so behaglich essen und trinken ließ, so erschreckte sie keine Thatsache, selbst kein Diebstahl, kein Mord mehr; sie schüttelte den Kopf darüber, daß die Dinge des Lebens alle so glatt, so höflich und vergnüglich vorwärts gingen, während tausend Hände daran arbeiteten sie zu verwirren, man sah's nur so nicht auf den Promenaden, wenn sie mit den Kindern des Stadtamtmanns ausging und die Leute stillstanden und die Kinder bewunderten, d.h. sie selbst und ihre auffallende Erscheinung.

Eines Tages erlebte sie aber auch auf der Promenade, daß ein junges Mädchen, das halb bäuerisch, halb städtisch, aber schwarz gekleidet war, auf sie zustürzte.

Es war ja ihre nächstälteste Schwester Luise!

Sie trauerte. Um die Geschwister noch?

Um den Vater! Das liebe, freundliche, immer lächelnde Männlein war nicht mehr ... Luise weinte so laut, daß es ihr Lucinde verbot, »weil ja die Leute still stünden« ... Sie selbst war wieder nur erblaßt wie damals, als sie plötzlich nicht mehr ihre drei Geschwister hatte. Indem kamen noch zwei andere beflorte Kinder von der andern Seite. Es waren August und Gustav, ihre Brüder. Die hatten das Haus des Stadtamtmanns aufgesucht, dort gehört, ihre Schwester wäre auf der Promenade mit zwei Kindern; nun hatten sie sich vertheilt, und eins hatte von hier, das andere von dort gesucht. Der Vater war todt ... Und wie schmerzlich hatte er geendet! ... Er war in einen der vier kleinen Bäche gefallen, mit denen Langen-Nauenheim gesegnet ist ... Spät von dem Vorspann war er heimgekommen ... Kein Stern blinkte ... es war ein großer Nebel gewesen, und da hatte er eine von den Brücken verfehlt. Erst Morgens hatten sie ihn gefunden, wie er dalag im kühlen Grunde, aufgehalten von den Wurzeln eines alten Weidenstamms.

Lucinde schüttelte düster den Kopf. Dann rief sie mechanisch des Stadtamtmanns Kindern, die sie führte, ein scheltendes Wort; darauf fragte sie, ob die Geschwister schon gegessen hätten. Luise versicherte es und kam auf das schmerzliche Ende des Vaters zurück. Lucinde fragte, was aus dem Hause, aus dem Garten, aus dem Geräth, den Hühnern, der Ziege, der großen Wandkarte geworden wäre! Sie erfuhr, daß alles das theils dem Staate, theils dem Dorfe, theils dem Wirth zum Vorspann und einer alten Frau gehörte, bei der sie schon lange oft ihre Betten in Versatz gegeben hatten, wenn sie auf ein paar zusammengerückten Schulbänken hatten schlafen müssen. Luise die wollte nun auch dienen, und die Kinder brächte man vielleicht in einer Fabrik unter. So hatte es der Gemeindevorstand in Langen-Nauenheim gesagt; sie sollten's einmal so versuchen, und »ging' es nicht, so würde wol anders gesorgt werden«. Gustav war acht Jahre. In einer Spinnerei vorm Thore suchte man Kinder schon von acht Jahren an; es hatte das in der Zeitung gestanden, in derselben Zeitung, die der Vater immer auf bessere Zukunft zu studiren pflegte, und in deren Beiblatt einst seine Phantasieen über den Beruf eines deutschen Volksschullehrers gestanden hatten.

Nec impavidum ferient ruinae ...

Latein konnte Lucinde nicht, aber der Stadtamtmann übersetzte so etwas einmal bei Tische, und sie glaubte, es hieß: »Was schadt's!«

Es war ein Wahlspruch gewesen, den ein alter Ritter gehabt. Sie nahm ihn schon oft an, und heute nun mußte sie schon. Sie nahm die Kinder, die alle zunächst doch noch Hunger und Durst genug hatten, mit sich; der Schwester sagte sie gleich die Miethsfrau, wo die wohnte, und wie sie mit der sprechen müsse. Die Frau Stadtamtmann war noch nicht am Ende ihrer Hoffnung, die zwei kleinen Buben vom Lande waren prächtige Jungen, sie gefielen ihr. August und Gustav blieben einen Tag und kamen dann nicht in die Fabrik. Der Stadtamtmann sorgte dafür, daß sie ins Waisenhaus aufgenommen und »gut erzogen« wurden.

Und nun sind kaum drei Jahre von dem Langen-Nauenheimer Auszug vergangen, und welche Veränderungen haben wir!

Lucinde fand sich in alles. Sie hatte etwas Wühlendes, Unruhiges und beherrschte jede Situation. Bei Tische wartete sie nicht mehr auf. Der Stadtamtmann fand, daß es kaum noch schicklich war. In die Höhe wuchs sie nicht mehr, dafür that es ihr Geist, und sie regierte eigentlich das Haus, das sie aufgenommen. Selbstverständlich da, als die Frau Stadtamtmann eines Jungen genesen war, aber auch später. Durch ihre sichere, herausfordernde Ruhe, ihr spöttisches Lächeln, ihren Flunkergeist nur verdarb sie sich zuweilen ihre Autorität. Lange Ruhe um sie her ertrug sie nicht, und übermäßiges Glück oder allzu frohe Selbstzufriedenheit verdarb sie gern, indem sie Schicksal spielte. Der Amme gegenüber lobte sie das schöne Aussehen anderer Kinder, eine Handlung, für die man bekanntlich von jeder Amme vergiftet werden kann. Einem Bedienten, der etwas schwach von Begriffen war und seine Bestimmung verfehlt zu haben glaubte, weil er eine leserliche Hand schrieb, gaukelte sie bald diese, bald jene glänzende Aussicht vor. Hager! rief sie, wenn sie die Zeitung gelesen hatte, in Amerika ist ein Vetter Ihres Namens gestorben, man fordert alle Hagers auf sich zu melden! Mußte Hager gerade die Schuhe oder Messer putzen, so hatte sie, wenn er frei war, die Zeitung verlegt und jagte den beschränkten Menschen wochenlang mit seinen Vermuthungen, welcher von seinen Anverwandten jener in Amerika verstorbene Hager gewesen sein konnte, im Kreise umher. Von ihrem Koboldgeist blieben dann selbst die bei einem Kaufmann dienende Schwester und ihre Geschwister im Waisenhause nicht verschont. Ihr bei aller äußern Ruhe innerlich unruhiger Sinn wuchs mit dem Besuch des Theaters, das sie durch den Stadtamtmann frei hatte, jedoch nur im dunkeln Hintergrunde einer Loge dritten Ranges, während die Herrschaft im zweiten saß. Immer mit leuchtenden Augen kam sie vom Theater heim. Man glaubte natürlich, daß es die Stumme von Portici gewesen, die sie so außerordentlich aufgeregt hatte; aber es waren die Zuschauer, die Logen, die glänzenden Toiletten, die fürstlichen Herrschaften. Die Tischgespräche berichteten dann nach wie vor von vornehmen Spielern, von zanksüchtigen vornehmen Herrschaften, von allem, was sich nur zur Kenntnißnahme des Polizeirichters einer so ansehnlichen Stadt drängte, und dergleichen Leute sah sie dann wieder fröhlich und wohlgemuth und mit Lorgnetten spielend in den elegantesten Logen.

Eines Tages that sie einen tiefen Einblick in das innerste Lebensgetriebe ...

Das glänzendste Waarenmagazin der Stadt war ein sogenannter Bazar, in welchem alle Modeartikel und Bedürfnisse einer eleganten oder auch nur comfortablen häuslichen Einrichtung, soweit sie Stoffe betraf, verkauft wurden. Ein unternehmender Kaufmann im Anfang der mittlern Jahre leitete dies Geschäft, wie man sagte, nicht ganz mit seinem eigenen Gelde. Sein Savoirfaire kam ihm jedoch zu statten, um die ganze höchste, hohe und mittlere Gesellschaft an sich zu ziehen. So gefällig die Formen des Mannes waren, der in seinem schwarzen Frack mit weißer Halsbinde die Honneurs seines mit mindestens einem Dutzend Commis ausgestatteten Geschäftes machte, so entschieden wußte er doch ebenfalls in geeigneten Fällen aufzutreten. Schon oft war in seinem großen und schwer zu beaufsichtigenden Geschäft gestohlen worden, sogar während des Verkaufs, und oft schon hatte er, wenn entweder der Stadtamtmann bei ihm oder er bei jenem zu Tische war, erklärt, er würde niemand schonen, wenn er einen jener eleganten Diebe beim Handverkauf entdeckte, und sollte es der Vornehmste sein. Schicken Sie nur sofort zu mir, hatte der Polizeirichter erwidert. In solchen Fällen muß man der Schlange gleich auf den Kopf treten!

Und eines Tages schickte der Kaufmann; der Stadtamtmann möchte eiligst, aber selbst kommen, hieß es, er möchte einen seiner Gehilfen, aber vorläufig nur in der Ferne, bereit halten ...

Der Stadtamtmann war nicht gegenwärtig. Und da auch Hager, der Diener, nicht zugegen war, so mußte Lucinde die Mantille umwerfen und auf das Amthaus laufen.

Aber auch dort fand sie ihren Herrn nicht.

Da sie ihn auf dem Casino vermuthete, so eilte sie ins Casino und nahm sofort einen der Polizeidiener mit.

Ihr Weg führte sie aber an dem großen Magazin des Kaufmanns selbst vorüber, in dessen obern Räumen dieser auch wohnte. Da ihre Herrschaft in die letztern beschieden war, so glaubte sie sehr vernünftig zu handeln, wenn sie die Stiege hinaufging und dem Kaufmann wenigstens den Polizeidiener anbot, der ja so lange unten, wie zufällig, bei einer glänzenden Carrosse, die am Hause stand, warten konnte ...

Da das ganze Haus nur allein von dem Kaufmann bewohnt wurde und oft der Verkehr in den obern Räumen mit dem Magazin, das zwei Stockwerke einnahm, der lebhafteste war, so konnte es Lucinden nicht wunder nehmen, den Eingang der Wohnung offen zu finden. Auch stand auf der Treppe ein Bedienter in Livree, der auf seine Herrschaft zu warten schien und nicht unmöglich der unten harrenden Carrosse, die ein Wappenschild schmückte, angehörte.

Aber noch mehr Thüren standen offen, und augenscheinlich herrschte in der Wohnung die größte Verwirrung, wie sie wol nach aufregenden Entdeckungen stattzufinden pflegt.

In dem hintern Zimmer glaubte Lucinde einen Wortwechsel zu hören. Niemand war zugegen, außer einigen Kindern des Kaufmanns, die sorglos umherrannten. Ist der Vater da? fragte Lucinde. In seinem Bureau! hieß es. Die Bedienung schien ausgeschickt zu sein; auch die Mutter war nicht anwesend.

Lucinde kommt näher; die Teppiche dämpfen ihren Tritt, und schon übersieht sie im Geist, was drinnen vor sich geht. Sie zieht die Thüren hinter sich zu und steht unentschlossen, ob sie klopfen soll oder nicht ...

Nein! ruft der Kaufmann. Sie wieder, Frau Baronin! Sie sind es jetzt fünfmal gewesen! Ich schwöre Ihnen, daß ich keine Rücksicht mehr kenne! Eine Dame Ihres Standes! Schämen Sie sich! Aber ich schone Sie nicht mehr, mögen Sie auf ewig gebrandmarkt sein! Nicht fünf Minuten noch, so werden Sie vor dem Richter stehen! Einen Kaufmann systematisch zu bestehlen, wie Sie es jetzt schon seit Jahren thun! Pfui der Schande!

Inzwischen hört man eine weibliche Stimme Beschwörungen und Betheuerungen ausrufen, die von Thränen erstickt werden ...

Lassen Sie! Ich habe kein Mitleid mehr! ruft der Kaufmann. Seit Monaten beobachte ich Sie! Seit Monaten bemerk' ich, daß jedesmal nach Ihrem Besuch im Magazin ein Packet Spitzen, eine Lage gestickter Taschentücher oder Seidenzeuge oder Foulards fehlen. Ich habe die Discretion gehabt, den Verdacht meiner Leute von Ihnen abzuwenden! Nur allein ich habe mit Ihnen verkehren wollen, so oft Sie das Magazin betraten! Heute endlich seh' ich die rasche Handbewegung, als Sie eben einen Ihrer maskirten Käufe abschließen! Ich folge Ihnen, Sie verlassen den Laden, ich begleite Sie und am Wagen entdeck' ich, was Sie inzwischen unter Ihrem Mantel verbargen! Pfui der Schände! Aber ich kenne keine Schonung mehr!

Lucinde hörte, daß der ungeduldige Kaufmann sich näherte, um zu sehen, ob nicht endlich der requirirte Stadtamtmann kam. Jetzt aber auch vernahm sie plötzlich ein heftiges Fallen und die herzzerreißende Klage einer Schluchzenden:

Auf meinen Knieen beschwör' ich Sie, Herr Guthmann! Ich werde alles erstatten! Machen Sie mich nicht unglücklich!

Es währte der Auftritt noch eine Weile fort, bis sich die Vorwürfe und Drohungen milderten, das laute Schluchzen der Dame sich legte, zuletzt alles still wurde ... Es wurde sogar so still, so unheimlich still, daß es Lucinden vor Schreck kalt überrieselte. Sie konnte nicht ganz den Vorgängen mehr folgen und dachte sich irgendeine Gewaltthat. Leise, athemlos, unsicher auftretend zieht sie sich an die Thür, klinkt sie wieder leise auf und schleicht sich durch die Zimmer nach vorn auf den Vorplatz zurück, wo der galonirte Bediente wartet.

Eine so anziehende Erscheinung wie Lucinde brauchte hier nicht zweimal zu fragen, um den Namen seiner Herrschaft zu erfahren. Der Diener nannte eine der ersten Damen der Stadt.

Nicht lange dann währte es, so kam der Kaufmann mit der Herrschaft des Bedienten aus seinem Bureau zurück. Es war eine schlanke, magere, noch junge Dame, die Lucinde schon oft im Theater gesehen hatte, eine Frau, noch von Jugendreiz und Anmuth überstrahlt. Sie lächelte verlegen ... Auch der Kaufmann lächelte ... Sie schienen etwas verabredet zu haben, etwas besprochen, was vielleicht nicht ganz erledigt war. Die Dame zögert ... Der Kaufmann beruhigt sie mit einem süßen Bitte! Bitte! ... Dann steigt die Dame die Stufen nieder. Lucinde wird jetzt kurz und barsch befragt, was sie wolle? Der Kaufmann kennt sie doch sonst, sah sie oft, war immer sehr artig gegen sie ... in diesem Augenblicke ist er wie abwesend.

Als Lucinde in stotternder Unsicherheit die Meldung macht, daß der Stadtamtmann nicht zugegen gewesen wäre, daß sie aber vom Amte jemand mitgebracht hätte, der unten warte, entschuldigte sich Herr Guthmann mit sich findender Artigkeit wegen »vergeblicher Bemühung«. Mit einem auszurichtenden Gruße an ihre Herrschaft und dem Auftrag, einen stattgehabten »Irrthum« anzudeuten, steigt Lucinde die Treppe nieder. Unten rollt eben die prächtige Carrosse ab. Den mitgebrachten Gensdarmen muß Lucinde gehen heißen.

Diese Scene veranlaßte in ihr Aufregungen, die sie kaum beherrschen konnte. So hatte ihr noch nie das Herz geschlagen, so war ihr noch nie das Blut durch die Adern gerollt!

Sie verschloß das Erlebte in sich. Nicht Schonung oder vielleicht eine angeborene Discretion war es, was sie zu dieser Verschwiegenheit bestimmte. Entweder fürchtete sie, zu verrathen, daß sie schon trotz ihrer Jugend eine solche Scene verstanden hatte, oder man darf glauben, daß sie einen Genuß darin fand, ein so wunderbares Erlebniß ganz allein für sich zu besitzen, ganz allein für sich zu genießen und überhaupt Dinge zu kennen, die die Nacht mit Grauen bedeckt.

5.

In jedem Leben ist der Augenblick entscheidend, wo uns die Dinge anfangen objectiv zu werden.

Unsere Kraft fängt von dem Augenblick an, wo wir etwas wissen, was endlich einmal feststeht, endlich einmal fixirt ist wie der Schmetterling unter der Nadel, nicht mehr auffliegen, nicht mehr wieder lebendig werden, uns widerlegen, irren, wieder zu Anfängern machen und in alle Weiten treiben kann.

Die Leute nannten Lucinden allmählich stolz. Ihr Stolz bestand darin, daß sie sich selber emporhob, es versuchte mit ihrer mangelhaften Bildung ihrer immer reichern Erfahrung gleichzukommen. Sie wußte so vieles mehr und besser als viele andere, und da sie doch an formeller Bildung zurückstand, auch zu träge und zu unstet war, vielerlei noch zu lernen und nachzuholen – ihre Herrschaft würde ihr dazu, wenn sie's begehrt hätte, die Mittel geboten haben –, so trug sie geistig den Kopf mit Bewußtsein ihrer Lücken hoch und erfand sich allerlei Ersatzmittel und Beschönigungen für das, was ihr fehlte.

In diesen Erfindungen war sie so glücklich, daß man sie bald das poetische »Hessenmädchen« nannte und sie bewunderte. Sie war naiv mit Bewußtsein. Sie konnte den Blick so senken, wie die Andacht selbst. Sie konnte ihn aber auch wieder aufschlagen, wie jene Medusen, die gerade darum so grausam mit ihren Blicken tödten, weil sie so anziehend sind, so regelrecht in ihrem Antlitz alle Linien der Anmuth haben. Lucindens Kopf wurde immer mehr ein Gemmenkopf, den ebenso der blumendurchflochtene Aehrenkranz der Ceres wie das Schlangengeringel einer Phorkyde schmücken kann. Der Stadtamtmann, der zu den eigenthümlichen Naturen gehörte, die eine wahre Cerberusbissigkeit im Amte mit einer häuslichen träumerisch weichen und fast lyrischen Art verbinden können, erklärte es für einen »radicalen Unsinn«, als auf dem Casino davon die Rede war, sein vielbesprochenes schönes Kindermädchen sollte er die Tracht annehmen lassen, in der Van Embden seine berühmten blumenzupfenden Dorfmädchen gemalt hat. Er hätte sie, wenn's nach ihm gegangen wäre, in eine Pension schicken mögen, soviel Respect hatte er vor ihren Gaben. Nur seine Frau theilte den Enthusiasmus nicht. Sie hörte seit lange nur auf die vielen Klagen, die über Lucinden einliefen. Alle jungen Mädchen der Bekanntschaft oder Verwandtschaft des Stadtamtmanns waren eine Zeit lang von ihr entzückt; kaum aber hatten sie einen Vertrauensbund mit ihr geschlossen, so nannte man sie treulos, verrätherisch und warnte vor ihr die, die sie empfohlen hatten, und die, die sie noch beschützten. Die einen hoben sie zwar dann in den Himmel, die andern verwünschten sie aber schon. Sie war oft in dem Grade der Gegenstand der allgemeinen Discussion, daß sich der Stadtamtmann die Ohren zuhielt, seine Gattin aber, »um dem Dinge ein Ende zu machen«, ihre Entlassung beantragte.

Nichts ist so verderblich für die Jugend, als ungestraft böses Beispiel hingehen sehen.

Lucinde sah die vornehme Dame, die eine Diebin war, sehr oft wieder. Sie sah sie auf der Promenade, im offenen Wagen, sie sah sie, von Cavalieren umgeben, im Theater; ja, eines Tages, eine halbe Meile von der Stadt entfernt, sah sie in einem öffentlichen Lustgarten des Fürsten, nach dem man Partieen zu machen pflegt, die schöne Frau in der Begleitung eben desselben Kaufmanns, der sie hätte vernichten können. Sie bedauerte damals, das seltsame, die dunkeln Alleen suchende Paar nicht genauer beobachten zu können, denn der, der sie selbst begleitete, war gerade ein junger Mann aus dem Geschäftspersonal des Herrn Guthmann und schien gerade seinen Principal hier am meisten vermeiden zu wollen. Kaum hatte der junge Mann die vornehme Dame mit dem in den Formen höchst gewandten Herrn Guthmann durch die grünen Laubgänge des Parkes daherkommen sehen, als er auch Lucinden sofort in eine Nebenallee zog und den Tag über vermied, sich draußen im Freien zu zeigen. Oskar Binder wußte nichts von den Ursachen dieser so auffallend intimen Annäherung, und Lucinde erröthete noch, wenn sie darüber nachdachte, wie sie es anstellen sollte, zu verrathen, was sie belauscht hatte, und den Preis zu nennen, um den die Baronin ihre äußere Ehre gerettet hatte ...

Der schöne Oskar Binder selbst aber gehörte einer achtbaren Familie an und war, wie man behauptete, der zuverlässigste und anstelligste unter sämmtlichen Commis im Bazar Guthmann. Das Vertrauen seines Principals überließ ihm die Verwaltung der Kasse. Durch sein Aeußeres ebenso empfohlen wie durch Namen und Herkunft, kam er in die Kreise des Stadtamtmanns, und viele der jungen Mädchen, Töchter von Räthen und angesehenen Beamten, zeichneten ihn aus. Dennoch warf er sein Auge nur auf die halb schon als Pflegekind im Hause des Stadtamtmanns befindliche »Henriette«. Daß sie eine Schwester hatte, die noch diente, hatte schon aufgehört; Lucinde verschaffte ihrer Schwester eine Stelle in einer großen, von einem Verein unterstützten Nähanstalt; ihre Geschwister im Waisenhause sollten zum Militär gebildet werden. So den Uebrigen fast schon ebenbürtig, ergänzte sie, was ihrer Stellung mangelte, durch die Geltendmachung ihrer Persönlichkeit. Der junge Buchhalter hörte, was allmählich alle jungen Männer von den andern Mädchen über Lucinden hörten, daß sie die Störerin des allgemeinen Friedens, eine gefährliche, zu jedem Mittel greifende Kokette wäre. Da sie aber den Reiz des Eindrucks für sich hatte und überdies im Gegentheil kein Wasser zu trüben schien, zog sie alle an. Sie hatte eine Art, bei gemeinschaftlichen Spaziergängen allein zu bleiben, irgend nach einer Blume zu suchen, einen Kranz zu winden, die jeden, den sie mochte, in ihre Kreise zog. Wenn sie den Schein des Dienens annahm, so half man ihr; wünschte sie selbst etwas, so vollzog man es. Die noch ländliche Betonung ihrer Worte stand ihr besonders naiv; sie war anziehend in ihren Aeußerungen, und wenn sie lachte, so konnte sie, wenn sie gerade nicht zu weit darin ging, alles mit sich fortreißen. Nur zu weit durfte sie nicht gehen. Schüttete sie sich vor Lachen, wie man zu sagen pflegt, so hatte es den Ausdruck böser Schadenfreude, und all die jungen Mädchen schienen dann recht zu haben, die zuweilen wünschten ihr geradezu »die Augen auskratzen« zu können.

Der junge Buchhalter folgte an jenem Tage, der ein auf die Woche fallender Feiertag war und ihm wie dem sonst sehr fleißigen Principal Urlaub gegeben hatte, lieber Lucinden als den übrigen Teilnehmern und Teilnehmerinnen einer großen Partie, die einige Verwandte des Hauses, in dem sich Lucinde befand, veranstaltet hatten.

Ihre Gegnerinnen behaupteten, daß sie die Kunst, sich in einem Parke plötzlich zu verirren, weidlich verstünde; aber die, die für sie als Naturkind und »Hessenmädchen« schwärmten, nannten sie einen Elfen, ein romantisches Wesen, das die gewöhnlichen Gleise des Alltäglichen nicht zu wandeln brauche.

Heute hatte sie es auf Eichkätzchen abgesehen, deren sie mehrere schon aufgehuscht hatte. Die jungen Männer folgten fast zu stürmisch, fast zu auffallend. Lucinde hatte ebenso das Talent, die Männer für sich allein zu haben, wie das andere, wenn sie wollte, niemand aus der großen Ringkette des gemeinschaftlichen Vergnügens herausfallen zu lassen; sie sagte dann jedem etwas, was ihn zur Anknüpfung eines Gesprächs ermuthigen konnte. Schon war der junge Buchhalter darüber eifersüchtig, und eben, als er seinen Principal entdeckte, hatte er es wirklich durchgesetzt sie zu isoliren. Als er nun doch zu den andern zurückkehren mußte, fragte sie:

Warum fliehen Sie denn nur vor dem Herrn Guthmann?

Der junge Buchhalter blieb die Antwort schuldig, worüber sie theils aus Neugier, theils aus Laune in Verdruß gerieth. Aber rings gab es nun Augen, die wußten, daß Lucinde zu den Naturen gehörte, die ihr Gefühl da, wo sie zanken und Vorwürfe machen, mehr offenbaren als da, wo sie schmeicheln und gut scheinen. Jetzt sah man aus ihrem Schmollen, daß Oskar Binder, der schöne Buchhalter, der Bevorzugte war. Als Lucinde sechzehn Jahre geworden, sprach man von ihrer Verlobung mit ihm.

Der junge Mann schien eine glänzende Situation zu besitzen. Er überhäufte Lucinden mit Geschenken, und dennoch versicherte er seinen nächsten Freunden (auf Dinge, die ihm und ihnen sehr heilig waren, in der Form, z.B. »auf Taille« oder »Ich will hier nicht gesund stehen!«) daß er von Lucinde noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen hätte. Auch der Stadtamtmann erfuhr diese Versicherungen und rüstete sich alles Ernstes auf eine Aussteuer seines geliebten Findlings, auf den er einen Theil der Sympathieen für Glaube, Liebe und Hoffnung übertrug, die er sich in einem Beruf voll Mistrauen und Verfolgung als seine geheimste Lebenspoesie doch zu erhalten suchte. Da aber kam eines Tages seine Gattin und war über die »teuflische« Natur eines Mädchens im Reinen, das die Neigung ihrer Nichte, der Hofraths-Eveline, zu irgendeinem andern jungen Manne, dem Lieutenant Wallbach, durchkreuzen konnte und mit diesem einen ganzen Abend lang in der Schützengesellschaft in einem Winkel gelacht haben sollte. Die Hofräthin kam, der Hofrath kam, Eveline wurde krank, der Lieutenant fühlte sich über die vom Hofrath für ihn zur Verheirathung zu stellende Caution und durch die Erwähnung derselben in einem Wortwechsel beleidigt und nahm seine Werbung zurück; kurz, der Stadtamtmann, Evelinens Onkel, mußte diesem »Familienunglück« eine Satisfaction bieten: sie bestand in der endlichen Verabschiedung Lucindens.

Lucinde, die sich, wie man bitter genug gesagt hatte, »einen andern Dienst suchen« sollte, machte einige Versuche, den Ernst in Humor zu verwandeln. Sie gelangen nicht. Der Stadtamtmann mußte den Schein vermeiden, selbst von ihr bezaubert zu sein. Seine Gattin sagte, »ihr Maß wäre voll«.

So zog Lucinde zu ihrer Schwester, der Nähterin ...

In dem Behagen ihrer eigenen Interessen that es ihnen allen nichts, ob da ein Leben in seiner Entwickelung unterbrochen wurde oder nicht.

Acht Tage darauf war aber Lucinde für die ganze Stadt verschwunden.

6.

Wir finden sie in einer Extrapostchaise wieder, die eines frühen Morgens in jene zaubervolle, sonnenglanzverklärte Ebene niederfährt, die man von einer großen Terrasse der Stadt aus nur mit dem Hochgefühl der Sehnsucht und des Entzückens betrachten kann.

Berge ringsum; aber nichts mehr, was bedrückt oder beengt, wie daheim, wo die vier verhängnißvollen Bächlein niedergingen. Ein großer freundlicher Strom schlängelt sich durch Wiesen und Felder hin, und erst die äußersten Ränder desselben sind mit waldigen Höhen umkränzt. Ueber das ganze große Panorama hin die bunteste Abwechselung. Hier grüne junge Saaten, dort die gelben großen Tücher der nordischen Oelpflanze; dann ein dunkler Eichenforst, hinter dem wieder die blauen Wogen des Stromes aufblitzten; die Häuser so schmuck mit rothen Ziegeldächern, die Herrschaftssitze mit langen Pappelalleen, die in mäßiger Verwendung jeder Gegend einen ganz besonders vornehmen Ausdruck geben, und so auf Stunden und auf Meilen hin.

Die Berge da, sagte Lucindens Begleiter, sind die Weserberge! Dahinter geht's nach Bremen und dann – nach Amerika!

Es war ein wunderschöner Junimorgen. Die Sonne brannte, und gern hätte Lucinde die Glasfenster des Wagens geöffnet.

Ihr Begleiter wollte erst die nächste Station abwarten. Auch dort noch bat er, die Schwüle des engen Raumes lieber noch eine Weile zu ertragen.

Erst gegen zehn Uhr, als sie wol schon fünf Meilen von der von ihnen verlassenen Stadt entfernt waren und es eine waldige Anhöhe hinaufging, öffnete er und ließ das Fenster ganz zurückschlagen.

Viel lieber hätte Lucinde die Aussicht genossen, die sich früher dargeboten hatte, Fernblicke auf die rothgedachten Meiereien, altersgraue, aus Busch und Baum hervorblickende Thürme alter Edelsitze und Abteien, Mühlenwerke und Fabriken, deren hohe Schornsteine die blaue Luft mit kräuselnden Nebelwolken erfüllten, wunderliche Kirchthürme, die bald den Minarets der Moscheen glichen, bald aber auch ganz verbuttet aussahen, wie alte Büchsen und Flaschen für Pferdemedicamente ... Jetzt lag nur zur Rechten ein fast undurchdringlicher Tannenwald, zur Linken ging es eine kleine Anhöhe mit niederm Gehölz hinauf, an das sich zuletzt eine Buchenwaldung lehnte. Belebt war's ringsum. Fink, Drossel und Pirol ließen ihren frischen Waldruf ertönen. Aus dem Tannendickicht zur Rechten hörte man dann und wann ein hallendes Geräusch, das die Nähe von Holzschlägern verrieth. Zur Linken fiel die Sonne so günstig über die grünen Baumkronen, daß sich ganz jene lieblich magischen Lichtwirkungen erzeugten, die eben auch nur den Buchenwäldern eigen sind.

Nach Amerika!

Das war weit von diesen summenden Käfern, diesen um die Rosse des Postillons schwärmenden Brummfliegen, weit von diesem selbst, der die Anhöhe zu Fuß nebenher ging und mit einem aus dem Vorholz zur Linken gebrochenen Birkenzweige über das lichtbraune Glanzhaar seiner schweißgebadeten Thiere hinfächelte!

Bei so fernem Reiseziel mochte wohl gerechtfertigt sein, daß der junge Buchhalter – denn Oskar Binder ist Lucindens Begleiter – schon seit fünf Uhr Morgens, wo sie ausgefahren, so außerordentlich nachdenklich ist und immer nur eine kleine Kassette betrachtet, die er auf dem Schoose hält.

An und für sich war er fast gekleidet als ging' es zum Balle ...

Als Lucinde vorm Thore, wo sie seiner Weisung zufolge ohne irgendein anderes Gepäck, als das sie selbst in der Hand tragen konnte, an zwei einsam am Wege stehenden Pappeln erscheinen sollte, seiner in einem harrenden Wagen ansichtig wurde, erkannte sie ihn kaum. Er blickte hinaus und winkte heftig, daß sie rasch auf den Tritt der Chaise und durch die von ihm gehaltene Thür einsteigen möchte. Er hatte sich von gestern, wo sie kurz und rasch erklärt hatte, es wäre sicher am besten, wenn sie sich ihm zur Reise nach Amerika anschlösse, bis heute früh seinen schönen Bart sowol um Mund wie Kinn und Wange abnehmen lassen, und hatte eine ganz curiose Physiognomie bekommen, die früher aus der Bartwaldung heraus kaum erkennbar gewesen war.

Hätte sie nicht ihr Wort gegeben und wäre des »nun doch verpfuschten« Lebens in der Residenz überdrüssig gewesen, so hätte sie umkehren mögen, so wenig gefielen ihr jetzt die Nase, der Mund und die Ohren des jungen Buchhalters, denn auch diese hatten früher nicht so grell hervorgestanden, als seit heute früh, wo auch seine schönen langen, zierlich über den Hemdkragen in einem einzigen Strich herabfallenden dunkelbraunen Haare von der Schere vertilgt worden waren. Die gelben Glacéhandschuhe trug er wie immer. Für den schwarzen trug er einen grünen Reitfrack mit goldenen Knöpfen, dazu elegante carrirte Beinkleider, eine hohe Mütze von schottischem Zeuge mit einer Troddel, und einen Plaid, den er sofort, als fröstelte ihn in allen Gliedern, über seinen ganzen Körper ausbreitete, sorgfältig aber dabei der Knöpfe seiner Glacéhandschuhe achtend und diese selbst ab und zu ungeduldig niederstreifend wie beim Anprobiren ...

Dafür, daß auch Lucinde sich, nach seinem ausdrücklichen Wunsche, ja Befehl, gänzlich metamorphosirt hatte, schien er im ersten Augenblick kaum ein Auge zu haben, und doch bot sie eine phantastische Erscheinung dar.

Ein kleines kurzes Strohhütchen nahm sie ab, und da fielen ihr die vollen Haare, die sie sonst nur in Flechten getragen, in langen dunkeln Locken über die Schulter bis in den Nacken herab. Von gestern Abend sieben bis neun Uhr hatte sie von ihrer Schwester, die in diese Reise eingeweiht war, sich ihr Haar so ordnen lassen, hatte die Nacht geschlafen mit funfzig Papilloten um den Kopf, die von Luisen mit einer großen, über zwei Talglichtern glühend gemachten Ofenzange gebrannt worden waren. Alle Liebesbriefe, die beim Ausrangiren der so »leicht wie möglich« herzustellenden Bagage auf dem Boden der kleinen Dachstube ausgebreitet lagen, waren zu diesen Papilloten benutzt worden.

Zu dem reizenden Kopfschmuck gesellte sich fast eine Balltoilette, ein luftiges, bauschiges, weißes Kleid, das schönste, das sie hatte, bestehend aus einem geblümten Musselinstoff. Die vor Eile fast athemlos klopfende Brust bedeckte eine rothe Florecharpe mit langhängenden seidenen Fransen. Dazu zwar hohe Schnürstiefel aus Seidenzeug, keine Schuhe, wohl aber helle Handschuhe und Manschetten von langen weißen Spitzen. Es hätte zu dieser Erscheinung ein mit Seide ausgeschlagener offener Landau, nicht die auf jeder Station gewechselte schmuzige Postchaise gehört.

Aber sowol für diese Toilette wie für das dagegen auffallend genug abstechende Bündel, das Lucinden beim Tragen bis zum Thor fast zu schwer geworden war, hatte der junge Mann stundenlang keine Augen. Ueber seine eigene Metamorphose lächelte er mit gezwungener Leichtigkeit, und befahl dann immer nur mit einer seine Begleiterin mehr erschreckenden als ihr imponirenden Barschheit dem Postillon die größte Eile.

Jetzt erst, um zehn Uhr, als Lucinde doch auch einmal aussteigen und sich etwas dehnen und recken wollte, bemerkte er, wie sie seine Weisung, sich vornehm und anders als gewöhnlich zu kleiden, bis zum »Auffallenden« misverstanden hatte; er bat sie, lieber im Wagen zu bleiben. Sie hatte gedacht, er würde endlich sagen: Nein aber wie schön! Wie entsprechend der gegebenen Anweisung! Und vollends waren jetzt sogar die Locken aufgegangen und hingen ihr, wie einer Genoveva, lang über den Nacken herab, ein wildromantisches Aussehen gebend ... Aber Oskar Binder zankte sogar.

Die Vögel werden nicht vor mir erschrecken! sagte sie spitzig, als er sich dabei ängstlich umsah. Sie ließ sich nicht abhalten und stieg aus.

Wie wohl that ihr's, endlich im Walde die beklommene Brust ausdehnen zu können!

Oskar Binder gefiel ihr heute nicht. Sie wußte nicht, wie sie so schnell und unüberlegt in diese »Gelegenheit nach Amerika« hatte einwilligen können. Sah diese Reise doch einer Erhörung seiner Huldigungen nicht unähnlich, und doch hatte sie Oskar'n bisjetzt keine Zärtlichkeit gestattet. Wäre er ihr heute früh fünf Uhr bei den beiden Pappeln gleich um den Hals gefallen, dann hätte es mit ihrer Zukunft seine Richtigkeit gehabt, der Augenblick hätte sie überwunden, sie hätte sich liebkosen lassen und nach Gefühl erwidert; jetzt aber war der Augenblick verfehlt, und wenn bei den beiden Stationen, die sie hinter sich hatten, jedesmal beim Weiterfahren der junge Mann einen Anflug von Zutraulichkeit bekam und ihre Hand ergreifen wollte, zog sie sie zurück. In dem zornigen Temperament, das ihrem Blute eigen schien, bei dem schwachen »Talent zur Treue«, wie sie es selbst nannte, überlegte sie schon bei den ersten ahnungsvollen Blicken in die nächste Ferne, ob denn in der That nicht Amerika auch zu weit liegen möchte; denn nach ihrem Princip mochte sie hier in jedem Dorfe gleich halten und in jedem Schlosse gleich die Leute kennen lernen.

Den Bitten des nur mit seiner Kassette beschäftigten Oskar, im Wagen zu bleiben, gab sie kein Gehör. Der Weg ging bergauf, der Postillon schritt auch zu Fuß und sie wollte sogar noch weiter links in den Buchenwald hinein. Das dort noch gehäufte Laub vom vorigen Jahre lockte sie. Das raschelte so gleichförmig zu ihren Füßen hin, und sie wollte dabei an Amerika und das große Weltmeer denken, das sie mit dem jungen Manne und seiner thörichten Liebe zu ihr zu durchschiffen hatte. Und wie gebieterisch er schon wurde! Er rief einmal über das andere in englischer Betonung: Mary! Mary! Als wenn auch er ihren Namen Lucinde zu verleugnen hätte! Sie staunte dabei, daß Oskar, wie sie bei den zurückgelegten Stationen schon bemerkt zu haben glaubte, sich mit den Posthaltern und Wagenmeistern in gebrochenem Deutsch unterhielt. Mehr aus gereiztem Spott als aus guter Laune war es, daß sie von ihrem Laubmeer, das ihr bis an die Knöchel ging, zur Landstraße hinüber antwortete:

Yes, my dear! Yes, my dear!

Die englische Conversation that Oskar'n wohl und schien zu seiner Beruhigung zu dienen. Während der Postillon horchend mit seinem Birkenzweig die Gäule kitzelte, fing jener laut einen englischen Discurs an, der im Walde hüben und drüben nachschallte.

Lucinde verstand ihn freilich nicht mehr als der Postillon; sie sagte immer nur: Yes, my dear! Yes, my dear! Ihr Augenmerk war auf Eichkatzen gerichtet, deren sie nicht wenige aus dem Laube, unter dem noch manche vorjährige Buchecker lag, aufschreckte.

Wie sie so hin- und herrannte und die Thierchen die Stämme hinaufschossen, mußte sie sonderbarerweise der längst vergessenen und aus der Stadt entschwundenen Frau Hauptmännin von Buschbeck gedenken. Diese stand ihr plötzlich in dem Nachtkamisol mit der großen Haube über der Nase und dem aufgebundenen Unterrock vor Augen und vergegenwärtigte ihr besonders den Moment, wenn sie auf den Mäusefang ging. Fand nämlich Frau von Buschbeck auf ihrem Boden der Kartoffeln zu viele zernagt, so hatte die seltene Frau auch das Talent, Mäuse aus freier Hand zu fangen. Lucinde war ihr oft nachgeschlichen, wie sie auf der Hühnersteige, die zum Dache führte, auf der Lauer lag, listig um sich blickte und mit raschem Griff sich eines ihrer Opfer bemächtigte. Hing dann am Morgen in der Küche immer ein halb Dutzend Mäuse an den Schwänzen aufgereiht und hätte die Jägerin gesagt, es wäre ein Vorurtheil, so reinliche und leider von den besten Dingen sich nährende Thierchen nicht zu speisen, in den ersten Wochen, wo Lucinde von Langen-Nauenheim zu ihr gekommen war, hätte sie voll staunender Bewunderung und in ihrer »damaligen Dummheit« nicht widersprochen, sondern sie auf Befehl gegessen, gesotten oder gebraten, wie die Frau Hauptmännin nur gewollt. Warum ihr aber das gerade jetzt so entgegenkam? Hier im Walde? In dieser Einsamkeit? Sie sah die Alte deutlich, sie sah sie zwischen den Bäumen hinhuschen und Mäuse fangen; sie mußte sich schütteln; sie kannte sich noch darauf nicht, was es ist, vom Fieber durchschauert zu werden. Sie war vor Aufregung seit gestern Abend mit dem Lockenbrennen und Frühaufstehen und »nach Amerika Reisen« nicht zur Ruhe gekommen und eine Krankheit drohte.

Der junge Anglo-Amerikaner merkte nicht, wie gespenstisch blaß sie sah, als sie mit hängenden Locken über das raschelnde Buchenlaub zu ihm zurückkehrte und in den Wagen stieg, der jetzt bergab und schneller fuhr. Nur wieder seine Kassette, sein gedrucktes Reisehandbuch und die Entfernung bis zur nächsten Station hatte er im Kopfe.

Eine wundervolle Gegend! sagte er dann einmal ganz gedankenlos und bemerkte kaum, wie sich Lucinde in die Ecke des Wagens drückte, seinen Plaid um sich zog, den er ihr schon nach der zweiten Station übergelegt hatte, als es sie dort schon trotz der Schwüle des geschlossenen Wagens fröstelte.

Ich will schlafen! sagte sie jetzt und zog den Plaid bis über die Stirn.

Hätte der Entführer eines den wunderlichen Widerspruch von Gescheidt und in vielem noch völlig Beschränkt verbindenden Mädchens Gefühl gehabt für irgendetwas anderes als die Sorge, für seine Reise einen großen Vorsprung zu gewinnen, so hätte er bemerken müssen, wie ihr Antlitz in Wachs sich verwandelt hatte, ihre Lippen bebten, ihre Hände schlaff hingen, das Kleid sich verschob und die Schultern marmorkalt hervorsahen. Es war auch wol ein solches Fieber, wie man es nach geistigen wie leiblichen Geburten hat. Sie begriff allmählich, wie es doch mit dieser schnellen Reise zusammenhängen mochte. Oskar Binder hatte Ursache zur Eile. Lucinde war, einfach in die Sprache der täglichen Welt übersetzt, erstens von ihm entführt, und zweitens war sie es von einem Diebe.

Daß sie in ihrem Zustande keine Erquickung, keine Mittagsrast begehrte, kam dem Flüchtling ganz genehm. Er eilte nur und wetterte auf allen Stationen im geläufigsten Englisch oder gebrochenen Deutsch. Gegen Mittag kaufte er kalte Küche, sie im Wagen zu verzehren.

Lucinde wollte nur einen Trunk Wasser.

Jetzt bemerkte er erst ihren Zustand ...

Ich bin das Fahren nicht gewohnt, hauchte sie.

Ihre Zunge war trocken. Wenige Tropfen Wassers löschten den Durst nur auf einen Augenblick; und doch schauderte sie, mehr zu trinken. Sie drückte sich wieder in ihre Ecke.

Da sie die Versicherung gab, daß ihr nichts fehle, beruhigte sich der Flüchtling.

Es war zwei Uhr, und man hatte wol schon acht Meilen zurückgelegt. Die Gegend nahm einen neuen Charakter an. Oskar Binder fing an zu trällern; er pfiff sich einige Arien, die er sonst wol auch mit einer schönen Tenorstimme zu singen verstand. Er bekam die unternehmende Haltung wieder, die ihm sonst geläufig war, strich sich das Gesicht an den Stellen, wo sonst sein Bart gestanden hatte, und lachte einmal über das andere laut auf.

Jetzt interessirten ihn kleine Dinge am Wege, ein Dorf, ein bellender Hund, dem er nachahmte und ihn damit nur noch heftiger reizte, die Landestracht. Auch den falschen Engländer hielt er nicht mehr so consequent fest und gegen Lucinden wurde er aufmerksamer. Er setzte sich rücklings und lehnte die Halbschlummernde über den Rücksitz bequemer aus, schlug ihre Füße in seinen ausgebreiteten Plaid, strich die langen Haare von der kalten feuchten Stirn zurück, küßte die Hände, deren Handschuhe schon abgezogen waren, und kniete sogar nieder, um von dem Glück seiner Eroberung, von der Zukunft, von der baldigen Ruhe in einem guten Hotel und den Bequemlichkeiten eines ersten Kajütenplatzes auf einem deutsch-amerikanischen Dampfer zu sprechen.

Lucinde hörte allem in träumerischer Abwesenheit zu. Die Küsse, die ihr Begleiter auf ihre Hände drückte, schien sie nicht zu fühlen. Ruhig ließ sie ihn auch ihre Locken streicheln. Zu lange auch verweilte er bei seinen Zärtlichkeiten nicht; immer wieder fuhr er auf, das kleinste Geräusch konnte ihn erschrecken. Kehrte er dann von einem Blicke aus dem Wagenschlage zurück, so griff er erst nach seinem Reisehandbuche und verglich das, was er las, mit dem was er eben draußen gesehen.

Seltsam genug mochte ihm sein, in seinem »Guide« vielleicht zu lesen: Nun öffnet sich das große Becken, wo einst die Römerwelt mit den Germanen zusammenstieß, Varus seine Schlachten verlor, Arminius das Schwert des Rächers über die vernichteten Legionen schwang, bis dann um achthundert Jahre später die Römer wiederkehrten, mit dem Kreuze voran, dem Schwerte Karl's des Großen hintennach. Hier an diesen Strömen vollzogen sie an den Sachsen die Bluttaufe ...

Von den Wonnen des Geschichtskundigen, der hier zwischen diesen Bergketten und Längenthälern die ersten deutschen Klöster errichtet weiß, die damaligen ersten Pflanzstätten der Bildung, der das Auge dort nach einem sagenreichen Hügel, hier nach einer waldverlorenen Kapelle richtet und sieht, wie zwischen Katholicismus und Protestantismus das Land getheilt wellenartig dem grünen Landmeere, Westfalen genannt, und von dort den großen geschichtsmaßgebenden Strömen und Meeren zu sich windet ... davon hatte nach Bildung und Gefühl das starre Auge des jungen Verbrechers keine Ahnung.

Um drei Uhr war es wieder eine Waldung, in die die Reisenden einfuhren ...

Diesmal eine von Birken. Geisterhaft standen die blendendweißen schlanken Stämme, die Zweige hingen nieder wie an den Trauerweiden. Kein Herbstlaub war von den dürftig geschmückten Kronen mehr auf dem Boden sichtbar, Moos und Flechtengewächse zogen sich, von blauen Blumen unterbrochen, weithin zwischen den sonnenbeschienenen, feenhaft winkenden Stämmen. Hielt der Wagen, so flüsterte es von den Espen, die zwischen den Birken standen, wie ein Säuseln der Allnatur, und Wässerchen sickerten da und dort aus dem Moose hervor und benetzten die ihrem Laufe schon folgenden Vergißmeinnicht wie in der Idylle eines Traumes.

Lucinde lag in Betäubung ... Ihr Auge war geschlossen, doch schlief sie nicht. Sie fühlte wohl, daß die immer gewecktere Laune, immer fröhlichere Stimmung ihres Begleiters angefangen hatte nur ihr allein sich zu widmen; sie duldete es, um nur Ruhe zu haben. Sie wußte und fühlte wol etwas von der Berührung ihrer Lippen. Sie war machtlos, geistig und körperlich ohne Willen.

So ging es eine Weile wie im Traume fort ...

Da plötzlich springt sie auf, wie von einer Natter gestochen. Der Muth des jungen Mannes hatte mehr gewagt. Krampfhaft stößt sie ihn zurück und sieht ihn mit starren, weit aufgerissenen Augen an ...

Aber auch ihm war gerade in demselben Augenblicke mehr geschehen als nur der Widerstand eines ihm zu hülflos geschienenen Opfers.

Die fünf Finger jeder Hand streckte er krampfhast vor sich ihn, wie einer, der eine Scene unterbricht mit plötzlicher Anstrengung seines Gehörs, und kaum hatte diese Bewegung eine Secunde gedauert, kaum Lucinde ihr eigenes Entsetzen vor dem starren Schreck des Frevlers vergessen, als dieser nach einem Griff auf seine immer zur Hand stehende Kassette den Schlag geöffnet hatte, Halt! donnerte, ohne Mütze aus dem Wagen sprang und für sie verschwunden war.

Lucinde sank vor dem plötzlich haltenden Wagen in den Sitz zurück, erhob sich aber wieder, wickelte sich aus dem Plaid heraus und machte Miene, instinctmäßig dem Flüchtling zu folgen.

Indem schlug ein Geräusch an ihr Ohr wie von Pferdehufen.

Sie blickte zum Schlag hinaus, den der Postillon voll Erstaunen über das Benehmen seines Passagiers auch auf seiner Seite, der linken, geöffnet. Man sah zwei Gensdarmen mit klapperndem Seitengewehr in noch ziemlicher Entfernung daherjagen. Lucinde, wie in der Ansteckung des Augenblicks, springt hinunter, die Pferde halten aber nicht recht, scheuen und wollen auf den Fußweg. Dadurch gibt ihr der Instinct des Moments den Gedanken, nicht zur Rechten, wo Binder verschwunden war, zu entfliehen, sondern nach der linken Seite. Ein Fluch der Verwunderung von seiten des Postillons folgt ihr. Sie rennt das niedrige Gestrüpp quer hindurch. Haselgesträuche und Brombeerhecken biegt sie zurück, läuft, wie von Furien verfolgt, in der ganzen athemlosen Hast der fieberhaftesten Erregung, mit Kräften ausgerüstet, die sie im Augenblick hernimmt, sie weiß nicht woher, läuft durch Heck' und Moos, durch weiche, versinkende Stellen, Sträuche zurückbiegend und keinem Verstecke, der sich darbietet, vertrauend. Wie von der Luft getragen, fliegt sie dahin, und erst, als sie nicht mehr kann, reicht das Entsetzen über Gefahren, die sie sicher nicht zu groß sich ausgemalt, nur noch so weit aus, auf die Zweigstämme eines rings von hohen Büschen umgebenen Baumes zu klettern, die Zweige des Umwuchses zurückzudrängen, die höhern Wipfel an sich zu ziehen, sich fest an sie anzuklammern und mit einem einzigen kühnen Sprunge auf die Astgabel des Baumes zu springen, wo sie dann leichtere Mühe hat höher zu klimmen und athem- und kraftlos, mit herabhängenden Händen und niedergebeugten Hauptes zusammenzusinken.

So lugt der Luchs mit starren Augen aus grünen Zweigen und harrt des nahenden Jägers.

7.

In dieser Stellung blieb Lucinde wol eine Stunde.

Sie hatte oft schon auf Bäumen gesessen, aber so in Angst und Kraftlosigkeit noch nie. Mit den über einen gewaltigen Ast ausgelegten Armen hing sie mehr, als sie auf einem untern mit den Füßen stand. Der Schweiß, der ihr von der Stirn troff, mußte ihr gut thun; sie behielt wenigstens die Besinnung, und diese lieh dem Körper Kraft.

Lang hingen die Haare, das weiße Kleid war zerfetzt, ihr rother Shawl war irgendwo hängen geblieben. Ihr ganzer Sinn spitzte sich nur auf das Gehör zu. Wenn ihr Auge über etwas funkelte, war es ein Blatt, das rauschte, ein Käfer, der summte.

Sie besann sich sogleich darauf, daß sie ungewiß sein konnte, ob sie mehr vor den Häschern als vor ihrem Begleiter so geflohen war.

Als sie nichts hörte, keine Menschentritte, kein Geräusch von Waffen, konnte sie endlich die Miene so verziehen, daß die weißen Zähne eine Weile hervorstanden, wie immer, wenn sie spöttisch lachte ... Es war ein Lachen, das allmählich in ihrem Innern so platzgriff, daß es sich auch äußerlich geltend machte. Sie lachte, wie die Verzweiflung pflegt, wenn sie nicht mehr aus noch ein kann. Sie überlegte, was nun alles kommen konnte! Wenn sie aus dieser Lage nichts Neues und Unerwartetes erlöste, sah sie Demüthigungen entgegen, die grauenhaft waren.

Alles blieb still ...

Sie traute sich die Kraft zu, niederzusteigen ...

Der Gedanke: Wie, wenn sie durch die Nacht so hinwandern könnte, durch die Wälder, die Berge, über die Meere – bis Amerika! der stand ihr so lange bei, bis sie wieder auf ebenem Boden war und dann freilich vor Erschöpfung bald zusammensank. Sie hatte seit dem gestrigen Tage keine Nahrung genommen. Nun lag sie kraftlos und griff nach den Zweigen der Sträucher über sich und beugte sie zu sich nieder, hoffend auf Erquickung. Nirgends eine Frucht. Erdbeerbüsche sah sie etwas weiter, aber die Früchte waren abgestreift. Dies bewies ihr wenigstens Menschennähe. So lag sie lange; sie legte den Kopf über die gekreuzten Arme und schmachtete so hin ...

Seit lange hatte sie solche Einsamkeit auch ihres Innern nicht gefühlt.

Doch mit Thränen konnte ihre Natur sich nicht helfen. Vor acht Tagen – da hätte sie »beinahe« geweint, als sie das Haus des edeln Mannes, des Stadtamtmanns, verließ. Sie weinte auch wirklich, als die alte Köchin über ihr tröstend und doch kopfschüttelnd gesagt hatte: Jettchen, Jettchen, Sie werden noch Traurigeres in der Welt erleben, als das ist! Sie hatte schon seit lange nicht mit der Alten gesprochen, weil sie zu stolz geworden war. Aber lange hatte die Rührung nicht gedauert. Sie wühlte schon damals nach einer Genugthuung. Da sich keine fand, da ihr überall der Weg versperrt war nach der Seite hin, wo allein ihrem Stolze genügt werden konnte, so war sie bereit gewesen, das Netz, das sie überspann, zu zerreißen und mit Oskar Binder in die weite Welt zu gehen. Wie das so war und werden konnte, hatte sie nicht viel überlegt. Nun sah sie's und neu genug waren die Folgen ... Jetzt blickte sie in einem Walde einsam hinein in Moos, Farrnkräuter, Sträuche mit Blüten und Beeren, die zum Herbste reiften ... Was dieser ihr wol bringen wird!

Die kleinen Käfer und Insekten um sie her konnte sie noch verfolgen, wie sie sprangen und sich kugelten und auf Halme kletterten, die am Gewichte derselben zusammenknickten ...

Es regt sich doch alles, es nährt sich doch alles! Das zu denken, auch jetzt zu denken, war längst ihre Art, und so elend ihr zu Muthe blieb, aufstehen würde sie doch, wenn nicht gleich jetzt, doch noch vor Abend; und zurückdenken mochte sie am wenigsten; aufrichtig beklagen, sich etwas vorwerfen, bereuen, das hatte sie nie vermocht, und wenn sie sonst gestraft worden war, Thränen kannte sie auch da nicht. Ihr Vater weinte wol dann statt ihrer und seufzte: Die Mutter!

Nach einer halbstündigen Ruhe raffte sie sich wieder in die Höhe. Sie ordnete ihr Haar, soweit es ging, erschrak zwar über den Zustand ihres Kleides, versuchte aber weiter zu kommen.

Sie hielt sich an die Zweige und Stämme. Einen Weg fand sie nicht. Sie war gauz im Dickicht, und doch war ihr's manchmal, als läutete von irgendwoher eine Glocke. Dann war's blos wieder ein Summen im Grase oder im Ohre. Einige hundert Schritte brachte sie so vorwärts; weiter trug sie ihre Kraft nicht mehr ...

Es war an einem wunderschönen Platze, wo sie zusammensank. Der Wald wurde lichter, die Birken ragten wieder, Erlen, auch Weiden kamen. Sie sah sogar in der Ferne Schilf, dicht verwachsen; nun mußte doch ein Wasser kommen. Sogar Schwalben schossen daher, die sonst im Walde nicht wohnen. Auch eine Lerche wirbelte ein Abendlied in der Luft. Aus dem Schilfe blickte manche dunkelblaue Blume ihr entgegen. Weiße Nymphäen sah sie auf kleinen Wässerchen. Das Gras um sie herum war von Vergißmeinnicht gezeichnet ...

Immer müder und müder wurde ihr. Rings der große schweigende Kranz des Waldes, hier ein kleines Wassereiland, drüber der blaue Himmel mit einigen wie durchsichtigen Rosawölkchen in allerhöchster Höhe. Sie blickte noch einmal empor, dann faßte sie, wie um sich zu halten, einen Büschel blauer Glockenblumen, und lag dann so, diese in der Hand haltend, ohne Bewußtsein. Eine grüne, behend dahinschlängelnde Eidechse, die sie im Sinken unter einem feuchten, moosbewachsenen Steine aufscheuchte, sah sie wol noch, aber fürchtete sie nicht mehr.

Als Lucinde erwachte, war es dunkler Abend.

Ihre Ohnmacht war in Schlummer übergegangen. Sie erwachte an derselben Stelle.

Obgleich sie schwer geträumt hatte und im Traume weit entrückt gewesen war in ferne Lande, so erkannte sie doch sogleich den Ort wieder trotz der Dunkelheit.

Nur Gesellschaft hatte sich eingefunden. Es saß ein Mann neben ihr.

Es war ein ihr völlig Fremder, und doch erfüllte er sie nicht im mindesten mit Schrecken.

Seine Geberde war auch zu sprechend für die Gefahrlosigkeit seiner Nähe und seiner Absicht. Er lag auf den Knieen, faltete die Hände, die er lässig niedergleiten ließ, und betrachtete die Erwachende, wie wenn er eine überirdische Erscheinung angebetet hätte.

Ihr Erwachen schien den Fremden mit großer Freude zu erfüllen.

Er war hoch und stark, ein Mann eher noch in jungen als in mittlern Jahren.

Sein Antlitz, soweit es der schon nächtlich gedunkelte Abend erkennen ließ, war voll, geröthet, beides fast im Uebermaß.

Die Art und Farbe der Augen ließ sich vor dem Schirm einer leichten Sommermütze, die er trug, nicht erkennen.

Auch seine übrige Tracht war von leichtem, hellem Sommerstoffe, bis zu Gamaschen hinunter, die er trug.

Das Halstuch war mit einem Ring zusammengebunden, dessen weiße Steine wunderbar funkelten. Eine schwere goldene Kette hing über die offene Brust hinweg über ein sauber gefälteltes Hemd. Von der grünen Waldeseinsamkeit stachen die weißen Glacéhandschuhe ab, die auch dieser Fremde wie Oskar Binder trug und trotz seines Knieens und seiner wie anbetenden Geberde nicht ausgezogen hatte.

Noch ehe Lucinde sich in diesen seltsamen Anblick gefunden, wurde sie von dem fremden Manne angeredet. Es war in einer fremden Sprache, die aber einige deutsche Laute untermischt hatte, und das so richtige und volltönende, wie wenn ihm jene doch nicht recht geläufig war.

Die sich gleichbleibende Stellung und ehrfurchtsvolle Anrede des Fremden überraschte Lucinden jetzt so, daß sie sich erhob und einige Worte sprach:

Wer sind Sie? Wo bin ich?

In diesem Augenblicke kamen aber auch schon aus dem Walde einige Leute und brachten einen großen Tragsessel.

Ein älterer, schwarzgekleideter Mann führte sie und näherte sich mit Anweisung der Stelle, wohin sie ihm mit dem Sessel folgen sollten. Da er Lucinden schon aufgestanden und jetzt wie auf der Flucht fand, rief er ihr entgegen:

Mein junges Kind! Fürchten Sie sich nicht! Sie sehen hier nur die Sorge des Herrn Kammerherrn! Wir waren im Begriff, Sie auf diesem Stuhl in meine Wohnung zu bringen!

Lucinde war sich ihrer eigenen Abenteuerlichkeit zu gut bewußt; wie hätte sie von den Männern, statt Aufklärungen zu geben, welche verlangen können!

Sie müssen ermüdet sein! Setzen Sie sich! Diese Leute sind stark genug, Sie den Weg, der nicht zu kurz ist, in meine Wohnung zu tragen!

So sprach wiederholt der Neuhinzugekommene, ein hagerer, langer Mann, von gelassenem Wesen. Sie mußte nach Tracht und Haltung in ihm einen Dorfgeistlichen vermuthen.

Der als Kammerherr Bezeichnete war aufgestanden und hielt sich immer nur in einiger Entfernung, faltete die Hände und betrachtete Lucinden wie ein Wunder, das sie in dieser Umgebung, in ihrem wilden und doch eleganten Aufzuge allerdings auch war.

Ermüdet und schwach bis zum Umsinken, ließ sie sich die Dienstleistungen der Leute gefallen, duldete, daß man sie auf den Sessel hob, diesen dann kräftig erfaßte und sie so aus dem jetzt schon vom Monde beschienenen und von Leuchtkäfern und schwärmenden Phalänen belebten Schilfmoor in den dunkeln Wald zurücktrug.

Die Träger sprachen nichts als was zur Verständigung des bessern Handhabens des Stuhles gehörte; auch die beiden andern, der Kammerherr und der, den sie für einen Geistlichen hielt, folgten schweigend.

Lucinde, so dahingetragen den schmalen düstern Waldweg, glaubte noch immer zu träumen, und doch war alles Wirklichkeit. Diese geisterhaften Lichter, die der Mond zwischen die hohen Stämme warf, waren zu natürliche.

Aber das Gefühl, einer Gefahr entgegenzugehen, konnte hier nicht aufkommen. Die beiden Männer blieben zwar in lebhaftem, wie sie hörte, jetzt in vollkommenem Deutsch geführten Gespräch zurück, aber die gutmüthigen Mienen ihrer Träger ließen auf ehrliche Dorfbewohner schließen.

Lucinde war so angegriffen, daß sie mit sich geschehen ließ, was man thun wollte. Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels und hörte nur. Endlich vernahm sie das Schlagen einer Thurmuhr und Hundegebell. Sich ein wenig aufrichtend, sah sie einige Lichter blinken, auf die man in gleichmäßiger Bewegung zuschritt.

Der kleine Zug kam in ein stilles, schon in nächtlicher Ruhe sich wiegendes Dorf. Die hintern Begleiter hatten eine Straße abgeschnitten und waren den Trägern voraus. An der Kirche lag ein stattliches Haus, dem letztere durch ein zur Seite liegendes großes Hofthor schneller beikommen wollten; doch der Kammerherr sprang heran und rief ein gellendes: Nein! indem er auf den Haupteingang des Hauses selber zeigte. Seine Gestalt und Stimme bot in diesem Augenblicke einen ängstlichen Eindruck. Lucinde hätte gewünscht, von ihm minder geräuschvoll geehrt zu werden.

Daß sie sich in einem evangelischen Pfarrhause befand, bemerkte sie bald an der Umgebung, die immer lebhafter und zahlreicher wurde. Eine freundliche Frau beklagte sie, erklärte sie ohne Zweifel für verirrt, für krank, und rühmte den Kammerherrn, der die Unglückliche entdeckt hätte, die an jener Stelle im Walde unfehlbar die Nacht würde haben verbleiben und sich vollends verderben müssen.

Man trug Lucinden eine Treppe hinauf, in ein zwar niedriges, aber freundliches und sehr geräumiges Zimmer, neben welchem ein Cabinet mit Bett sich befand. Alles war schon hergerichtet zu ihrem Empfang. Jeder griff zu, jeder bot ihr Hülfleistung; nur der Kammerherr stand unausgesetzt von fern und betrachtete, was er sah, wie eine Märchenerscheinung. Jetzt übersah Lucinde die ganze lange, starke, breitschulterige Persönlichkeit, deren zartes, fast süßes Benehmen mit diesem Aeußern in einem fast komischen Contraste stand.

Ihre Erklärung, daß sie sich verirrt hätte, genügte vorläufig und verhinderte alle weitere Nachforschung. Man war bedacht, sie mit Speise und Trank zu versorgen und ihr die Ruhe eines weichen Lagers zu gönnen. Sie unterwarf sich auch jedem, was man zu ihrer Stärkung und Bequemlichkeit ersann. Sie war nur das willenlose Echo jedes gesprochenen Wortes bis auf das: Gute Nacht! das man ihr zurückließ und das sie ebenso erwiderte. Sie hörte noch etwas wie den gezogenen Ton eines Wächterhorns und entschlief.

Die weniger kräftige als zähe Natur Lucindens hatte sich am folgenden Morgen vollständig wieder erholt. Von einem wohlthätig über Nacht ausgebrochenen Schweiße merkte sie jetzt kaum noch etwas, als die gewonnene Stärkung. Sie richtete sich, wie die Sonne hell in die sehr niedrigen, aber wohnlichen Zimmer schien, hoch auf und lachte schon wieder über die Situation, in der sie sich befand. Man war schon um sie her beschäftigt gewesen. Sie fand schon Kleider, Wäsche, Hülfsmittel ihre Toilette zu machen, erfrischendes kaltes Wasser. Sie konnte annehmen, daß sie mit Oskar Binder in den von ihm so hochgerühmten Hotels der Seestadt Bremen angekommen und eine Gräfin war, als welche er sie überall behandeln zu wollen versprochen hatte. Bei dem Gedanken, ob der junge Mann nicht schon auf dem Wege ins Zuchthaus war, überlief sie eine peinliche Furcht. Sie erwog indessen ihren Antheil an seiner Schuld und durfte sich freisprechen bis auf den verlorenen Ruf. Letztere Betrachtung störte sie nicht zu lange: ihrer Natur widersprach es, sich um irgendetwas allzu viel Sorge zu machen.

Die Kleider, die sie vorfand, entsprachen freilich der Vorstellung von einer reisenden Gräfin sehr wenig.

Es waren leichte, vielfach gewaschene und von der Sonne ausgebleichte Kleider der Frau Pfarrerin.

Sie zog einen der Röcke an und lachte über sich selbst, als sie in den Spiegel geblickt, von dem sie erst zwei sich kreuzende Pfauenfedern und eine Anzahl Visitenkarten und geschriebene Einladungen zu Mittagessen und Kaffeegesellschaften in der Umgegend wegnehmen mußte.

Wie eine Großmutter! sagte sie, von diesen Familienbezügen angeregt, zu sich selbst. Sie sann hin und her, wie sie sich helfen konnte, denn vollkommen gegenwärtig war ihr die Anwesenheit eines Mannes, den man Kammerherr genannt und der ja vor ihr anbetend auf den Knieen gelegen und sie wahrscheinlich spanisch oder arabisch begrüßt hatte. Leise hatte sie auch schon die an den Fenstern dicht herabfallenden gemusterten und roth umsäumten Musselingardinen gelüftet und richtig schon ihren Verehrer in dem kleinen Garten vor dem Hause auf- und abwandelnd erblickt.

Lucinde war eitel genug, die glänzende Toilette, in der er erschien, auf ihre Veranlassung zu setzen. Er trug eine hellblaue Uniform mit goldgesticktem Kragen, mehrere Orden auf der Brust und einen dreieckigen Tressenhut auf dem schon wieder sehr rothen Antlitz. In gravitätischer Würde ging der Kammerherr durch die zierlichen Wege des kleinen Blumengärtchens auf und nieder und brach nur dann und wann zu einem Bouquet, das er schon in Händen hielt, noch eine Rose oder aus den Einfassungen der Beete eine Federnelke.

Zunächst ordnete sie ihr verwildertes Haar. Sie legte es wie sonst wieder in Scheitel und Flechten. Um Locken zu machen, fehlte die Feuerzange ihrer Schwester.

Diese Umwandlung dauerte lange. Sie wurde ihr aber angenehm durch eine ganz wunderbare Unterhaltung, die plötzlich durch das Haus ertönte. Eine Musik erfüllte die nicht unansehnlichen Räume desselben, und zwar mit einem Wohllaut, der höhern Sphären angehörte. Jedes Glas auf dem Tische, die Fensterscheiben, die Bilder an der Wand, ja, die klappernde Thür eines gußeisernen Ofens, alles schien von dieser Musik mit ergriffen, so mächtig brausten die Accorde durcheinander, ob sie gleich nur von einem einzigen Instrumente, etwa von einer riesigen Flötenuhr, zu kommen schienen.

Was ist das? fragte Lucinde die Magd, die sie in seltsam fremder, ihr nicht geläufiger, plattdeutscher Sprache um das Frühstück anging, das sie zu haben wünschte.

Der Herr Pfarrer spielt! hieß es.

Ja, aber was? worauf?

Die Magd lächelte verlegen; ihr guter Wille, Aufklärung zu geben, scheiterte an einem schweren fremdartigen Namen.

Die Töne schwollen indeß und lösten sich ab mit einer Weihe und Erhabenheit, die der feierlichsten Kirchenmusik gleichkam. Bald waren es Flöten, bald Oboen, bald die Töne eines Violoncells. Nur einmal hatte Lucinde ähnliche Eindrücke gehabt, damals, als sie zur Osterzeit gelegentlich die kleine katholische Kirche der Residenz betreten, um zu belauschen, wie sich die Frau Hauptmännin anstellte, im Beichtstuhl zu sitzen. Sie erfuhr später, daß die geizige Frau, die den Satan ohnehin für den wahren Herrgott hielt, nur deshalb alle Jahre einmal zur Beichte ging, um ein monatliches gänzliches Fasten zu motiviren, das sie darauf als eine ihrem Hause für ihre Sünden dictirte Strafe einführte. Lucinde dachte auch bei dieser Musik an jene Zeit der bittersten Entbehrungen.

Da ihr schönes Kleid einer gründlichen Ausbesserung bedurfte, wenn es nicht gar ganz verdorben war, so blieb ihr nichts übrig, als für ihr Costüm sich den Umständen zu ergeben. Sie bat um eine Haube und erhielt sie. An dem Schnitt ihres Antlitzes, an dem Reiz ihrer Formen war nichts zu entstellen, sie konnte den Eindruck einer eben verheiratheten jungen Frau machen. Sie nahm dann ein leichtes Frühstück von Milch und eilte an die Quelle der berauschenden Töne, die das ganze Haus verzauberten.

Man empfing sie unten sehr freundlich und wünschte ihr Glück zu ihrer schnellen Erholung. Ihre Toilette fand man erfindungsreich und entschuldigte sich, ihr nicht mehr bieten zu können. Die Musik hatte denselben Augenblick aufgehört. Auf ihr Befragen, welchem Instrument man verstanden hätte diese wunderbaren Töne zu entlocken, zeigte der Pfarrer auf einen Kasten, in welchem eine Reihe von Gläsern, eins ins andere gesteckt, an einem Bande in der Schwebe gehalten lagen. Durch eine mechanische Vorrichtung bewegten sie sich, geriethen durch ständiges Drehen in Schwingungen und wurden nun mit den Fingerspitzen je nach ihrer Stimmung berührt. Diese Art des Spielens schien anstrengend. Man mußte die Gläser durch Friction in Umschwung erhalten. Der Anblick selbst war lange nicht so poetisch wie die Wirkung. Es war eine, jedenfalls verbesserte, jener alten und echten Harmoniken, die Benjamin Franklin erfunden haben soll, und die schon lange aus dem Gebrauch des Virtuosenthums gekommen sind und nur hier und da noch von einem Freunde ernster und weihevoller Musik gespielt werden. Der Pfarrer und die Pfarrerin, beide waren gleich geschickt darin.

Das nächste Gespräch, an welchem in bescheidener Zurückhaltung einige freundliche Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, theilnahmen, betraf natürlich das gestrige Finden der Verirrten.

Der Pfarrer hatte mit dem Kammerherrn, der immer noch im Garten, harrend und seinen Strauß vervollständigend, auf- und niederging, kurz vor Sonnenuntergang noch einen Spaziergang gemacht. An dem Riedbruch, wie die bezeichnete Gegend benannt wurde, hatte man Lucinden überraschend genug und im Schlummer hingestreckt gefunden. Ihr zerrissenes Kleid, die aufgelösten Haare hatten keinen Zweifel gelassen, daß es sich um eine Kranke handelte, und schnell war der Pfarrer zum Dorfe geeilt, während der Kammerherr zur Aufsicht zurückgeblieben war.

Zwei fast gleichzeitige Fragen, die ihrerseits nach der wunderlichen Art des letztern, und die Frage der Pfarrersleute, wie und woher sie denn in diese misliche Lage gekommen, durchkreuzten sich eben, als man vorm Hause einen fürchterlichen Lärm hörte, Schimpfreden und Drohungen wildester Art.

Ja, was ist wieder? sagte ruhig der Pfarrer und ging hinaus.

Lucinde sah, daß sich der Kammerherr wie ein Tobsüchtiger geberdete und in einige Entfernung hinausschrie:

Schlingel, nichtswürdiger Schurke, Tagedieb! Wo bleibt mein Degen? Wie lange soll ich nach meinem Degen rufen? Bin ich der Kammerherr von Wittekind oder nicht?

Da auch die Pfarrerin auffallenderweise sehr ruhig in den Garten ging, so nahm Lucinde keinen Anstand zu folgen. Sie hatte schon die Thür in der Hand, als ihr auffiel, wie schnell das älteste der Mädchen an die Harmonica sprang und einige der Gläser mit dem mühsam ausgebreiteten Spann ihres kleinen Händchens zu reiben sich mühte.

Was ist das alles? fragte sie sich und war um so mehr betroffen, weil der Name Wittekind sie an die monatlichen Geldsendungen der Frau von Buschbeck oder des Fräuleins von Gülpen erinnerte. Auf den fünf Siegeln hatte sie einmal die Worte: »Freiherrlich Wittekind'sche Kameralverwaltung« gelesen ...

Die Kleine spielte wohlgeordnet einen Choral. Der Kammerherr riß dazwischen sein Blumenbouquet auseinander, rannte über die Beete, zertrat alles und schlug sogar gegen den Pfarrer, der ihm zuzureden und ihn ins Haus zurückzuführen sich bemühte, mit geballter Faust. Leuten, die draußen am Staket gaffend stehen blieben, winkte der Pfarrer zu gehen.

Meinen Degen! Meinen Degen will ich haben! rief der Ungeberdige unausgesetzt und drohte nach einer Seite hin, wo sich jemand zu befinden schien, der diesen zu bringen von ihm beauftragt war.

Aber den Degen? rief die Pfarrerin, jetzt doch auch erregter ins Haus zurückkehrend. Wie kann man ihm einen Degen lassen!

Lucinde begriff nun, daß der Kammerherr geisteskrank war. Nie hatte sie Menschen in diesem Zustande gesehen und fürchtete sich, trotzdem daß man versicherte, die Musik würde allmählich seine Tobsucht mildern. In wunderbaren Tönen spielte auch jetzt die Frau Pfarrerin, eine kleine, zarte, aber geistig durchleuchtete und willensstarke Frau.

Wie Lucinde nun auch auf dem Sprunge war auf die Treppe zu eilen und sich in den obern Stock zu flüchten, traf sie durch die noch geöffnet gebliebene Hausthür der Blick des Tobenden. Kaum war er ihrer ansichtig geworden, als er augenblicklich in seinen Schimpfreden innehielt, die Hände nach ihr ausstreckte und halb die Knie beugte.

Diese Aenderung der Scene war das Werk eines Augenblicks. Die zaubervollen Accorde, die die Pfarrerin dem Instrument entlockte, hoben eine Situation, deren Feierlichkeit von dem Schrecken und Staunen der Näherstehenden unterstützt wurde; die entfernter Lauschenden freilich lachten.

Lucinde blieb eine Weile unbeweglich.

Dann aber faßte sie sich Muth und ging auf den Kammerherrn zu, ihm einen freundlichen: Guten Morgen! wünschend.

Er erhob sich, sprach nichts und lächelte voll Ehrfurcht.

Daß Sie mich noch wiedererkennen! fuhr Lucinde wie in unbefangenster Laune fort. Ich habe mich seit gestern verändert, nicht wahr?

Sie gehören jetzt der Erde an! sprach der wie in einem Bann Befindliche feierlich, langsam, mit sonderbar hochliegender, fast weiblicher Stimme.

Nicht wahr, fuhr Lucinde scherzend fort, Sie glaubten gestern, ich wäre vom Himmel gefallen?

Und nun suchte sie die zerstreuten Blumen auf, wobei ihr der Kammerherr behülflich sein wollte.

Aber diese steife Uniform! fuhr sie fort. Pfui! Pfui! Wie garstig dieser hohe Kragen! Das mag sich wol bei Hofe schön ausnehmen, aber hier ... Die armen Rosen und Nelken! Nein, kommen Sie, Herr Kammerherr von Wittekind! Ziehen Sie Ihre gestrige leichte Kleidung an, und wir richten den Garten wieder in Ordnung!

Ich wollte Ihnen meine Ehrfurcht bezeugen! sagte der Kranke und verbeugte sich wie vor einer Fürstin.

Nun gut! So denken Sie nur, daß ich auch ganz incognito hier lebe und wir uns eines dem andern nichts vorwerfen wollen!

Der Kammerherr verbeugte sich und ging, ohne weiter nach dem Degen zu fragen, ins Haus, um sich umzukleiden. Er bewohnte die andere Seite des Erdgeschosses.

Alle standen in Verwunderung vor diesem unerwarteten Besänftigungsmittel. Der Pfarrer besonders schien sehr erfreut und sagte leise:

Die Musik war bisjetzt das Einzige, was die zuweilen ausbrechende Tobsucht des geistesschwachen Mannes mildern konnte. Nun kommen Sie und schon Ihr Anblick entwaffnet seine Wuth! Sie sind uns ja wie ein Geschenk von Gott gegeben!

Lucinde erfuhr, daß der Pfarrer von Eibendorf, dem das trauliche Nest von Kindern sich füllte, vom Ertrag seiner Pfarre aber kaum die Scheuer, sich erboten hatte, einen geisteskranken vornehmen, sehr reichen Mann in Obhut zu nehmen. Es war, er gestand es aufrichtig, eine ganz einfache Speculation auf die Besserung seiner eigenen Existenz. Er wollte diese Ersparnisse anlegen für die künftige Ausbildung seiner Kinder. Offen sagte er das; aber man sah wohl, sein eigener redlicher Wille und die Herzensgüte seiner Frau konnten sich nicht entschließen, diese Pflege wie das Amt eines Miethlings auszuführen. Sie unterzogen sich ihrer schweren Aufgabe, die sie in diesem mislichen Umfange, wie sich bald herausstellte, kaum geahnt hatten, mit aufrichtiger Hingebung, wachten Tag und Nacht über den launischen, oft bösartigen und in der großen Welt in vielen Dingen gründlich verdorbenen Mann, der schon an die Vierzig gerückt schien und doch kaum dreißig zählte.

Freiherr Jérôme von Wittekind entstammte dem Geschlechte, das sich für die Nachkommen jenes edeln und tapfern Wittekind hielt, der in diesen Gegenden, tiefer abwärts nach Westen zu, lange Jahre Karl dem Großen die Spitze geboten. Einem Geschlechte der Hünen schien auch noch immer dieser entartete Enkel anzugehören. Der Kammerherr war der jüngere Sohn des großen Landbesitzers und eines der ersten Glieder hierländischer Ritterschaft, des Kronsyndikus von Wittekind; der ältere stand in Diensten des nordwärts liegenden großen Staats. Dieser jüngere, von früh beschränkt und schwachsinnig, hatte sich den Kammerherrnschlüssel eines der kleinen Höfe geben lassen, die in der Gegend der Externsteine liegen. Seine Reisen und Aufenthalte in großen Städten waren die Veranlassung zu so vielen Thorheiten und Verschwendungen geworden, daß der Vater seinem Wesen Einhalt thun mußte. Die Beschränkung, die er erfuhr, reizte seine Wildheit noch mehr, und als der Vater, der selbst ein determinirter Mann war und im Nothfall, wie Lucinde später kennen lernte, mit geschwungener Hetzpeitsche dreinfahren konnte, ihn vollends einengte und, um den Geisteszustand seines Sohnes nicht zu verrathen, ihn gar wie einen zweiten Kaspar Hauser einschloß, ließ die Elasticität dieser schwachen Geisteskräfte immer mehr nach und ein oft bösartiger Blödsinn war die Folge, die nur noch die gewohnte Art der Haltung und der hochgetragene Nacken des adeligen Stolzes in der stattlichen Erscheinung des Kammerherrn verdeckte.

Obgleich Katholik, hatte man ihn, um seinen Zustand ganz aus dem Bereich der Controle der ihm ebenbürtigen Adelsgeschlechter zu bannen, zu einem protestantischen Geistlichen, zehn bis zwölf Meilen von den großen Gütern des Vaters entfernt, gegeben. Den Vorwand dafür gab seine Liebe zur Malerei. Er besaß ein wirkliches Talent zum Copiren und streifte durch die Gegend meist mit der Zeichenmappe. Sein Diener sagte dann jedem, sein Herr halte sich deshalb beim Pfarrer auf, weil nichts der Umgegend von Eibendorf gleichkäme. Wald, Berg, Wiese und Grund schmückten das Thal allerdings mit den reichsten Farben; die Malerei und Musik wurden zu Hülfsmitteln, den Zustand des Kranken zu mildern.

Von dem Augenblick an, wo der Kammerherr in seinen Sommerkleidern zurückkehrte und mit Lucinden, die sich einen Strohhut gegen die Sonne entliehen hatte, die Beete zu ordnen und die Pflanzen wiederherzustellen begann, entspann sich ein Verhältniß, das ein Jahr dauerte und mehr als Lucindens sechzehntes Lebensjahr füllte.

8.

Lucinde blieb auf der Pfarrei, hier »Pastorat« genannt.

Man fragte sie allerdings nach ihrer Herkunft, ihrem Namen und dem Stande ihrer Aeltern. Sie gab auch dem Pfarrer und dem Schulzen (dem »Meier« des Dorfes) einen Namen an. Erst war sie Johanna Stegmann, aus dem Thüringischen gebürtig. Kam der Pfarrer und drohte lächelnd mit dem Finger und sagte, er hätte nach Vacha, das sie als Wohnort angegeben, geschrieben und die Nachricht bekommen, daß man dort nichts von einer Johanna Stegmann wisse, so nannte sie sich Luise Starkin, aus der Gegend von Fulda über die Rhön hinaus, wo ihr Vater ein Oberförster des Königs von Baiern wäre. Schüttelte man nach vier Wochen wieder den Kopf, so erwiderte sie:

Will man, daß ich bleibe, so quält mich doch nicht so!

Man mußte nämlich wirklich wünschen, daß sie blieb. Sie war dem Frieden des Hauses fast nothwendig geworden. Was zur Besänftigung des Kammerherrn die Harmonica nur annähernd erreicht hatte, das löste Lucinde vollständig. Der Kammerherr wurde durch sie ein Kind, das an ihrem Leitseile unter Blumen spielte; er zeichnete, malte, sprach leidlich vernünftig und verhieß eine wirkliche Heilung.

Ohne phantastisches Uebermaß und manche Wunderlichkeit ging es dabei freilich nicht ab.

Es blieb dem Kranken von Lucinden die Vorstellung wie von einer in der That feenhaften Erscheinung. Er ließ sich den Wahn nicht nehmen, daß Lucinde eine Tochter der Waldeskönigin, vielleicht sie selbst wäre, und Lucinde that nichts, ihm diesen Glauben zu nehmen. Sie ließ sich von ihm ganz so schmücken, wie er sie sehen wollte, wenn er sie malte. Es waren dies diese wunderlichen Malereien der Geisteskranken, die durch ihre technische Vollendung oft überraschen und doch immer etwas nur mechanisch Wiedergegebenes und Seelenloses darstellen. Es waren in seinen Landschaften immer derselbe Eichbaum, immer derselbe Felsengrund, immer dasselbe Haus, derselbe Kirchthurm, derselbe Bach und dieselbe Mühle wiederzufinden, nur wechselte die Vermischung und die Beleuchtung. Auch seine Porträts drückten, er mochte den Pfarrer oder den Meier im Dorf oder den einzigen Bekannten, der ihn zuweilen besuchte, einen Grafen Hans von Zeesen wählen, immer denselben Charakter aus, eigentlich ihn selbst. Nur für Lucinden suchte er Abwechselung, bald in dieser Situation, bald in jener. Er verschwendete Summen Geldes, um sie bald als Griechin, bald als Zigeunerin, bald als Salondame oder Amazone malen zu können. Von jenem Residenzstädtchen, wo er sich einst den Kammerherrnschlüssel gekauft hatte, waren beständig Cartons mit kostbaren Stoffen unterwegs. Selbst theuere Schmucksachen wurden angekauft. Und der Kronsyndikus, der Vater, der zuletzt doch auch von diesem Treiben hören mußte, widersprach diesmal nicht. Einmal drückte ihn der geheime Vorwurf, das Uebel des Sohnes selbst durch seine Erziehung gemehrt zu haben, dann nährte er die Hoffnung, ihn wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Es wurde sogar eine Adelige genannt, die nach einem Familienstatut mit ihm vermählt werden sollte, nachdem eine Verbindung mit einem Fräulein Monica von Ubbelohde vor geraumen Jahren gescheitert war.

Lucinde genoß diese Lage eine Zeit lang mit der ganzen Behaglichkeit ebenso eines sichern und geschützten Aufenthalts wie geschmeichelten Selbstgefühls ... Eibendorf lag dem Winkel zu, wo sich das Eggegebirge mit dem Teutoburger Walde kreuzt; es war umgeben von jenen Waldzügen, die so dichtbelaubt, so frei und urstämmig sich sonst nur im Süden Deutschlands wiederfinden. Von mancher aufsteigenden Anhöhe aus sah man in das ganze Tiefthal der Weser hinab. Ein entzückender Anblick! Jeder Hügel bewaldet und umgeben von unabsehbaren Feldern und Wiesen, denen sich in frischen Farben Dörfer, weiterhin ansehnliche Städte entwinden. Die schroffern und die Seele mit mächtigen Ahnungen erfüllen den Partieen mußte man im Gebirge suchen; diese Ebene hier bot den Charakter der Milde und Lieblichkeit. Nach Osten hin sah man an besonders lichthellen Tagen in dunkler Färbung die Nadelholzcontouren des Harzes. Dabei waren die Volkssitten lebhaft, ja keck und herausfordernd. Es gab Aufzüge und Feste aller Art, sogar ein Schützenfest für Frauen. Morgens in erster Herbstfrühe ziehen die Ehefrauen der Gemeinde, unter ihnen manche Anmuthige, von irgendeinem Hofe aus, in goldenen landüblichen Häubchen und Stirnbinden, mit Bändern und Blumensträußen geschmückt, mit den Gewehren ihrer Männer in den Händen. Der Kammerherr hatte verlangt, daß Lucinde die Schützenkönigin spielte, die mit dem Zeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, vorausmarschirte. Da sie nicht verheirathet war, so setzte man die äußerste Anstrengung daran, ihn von diesem Verlangen abzubringen. Sie begnügte sich dann auch mit der Rolle des Fähnrichs. Die Fahne aber, die er sie tragen ließ, war eine wunderliche Curiosität, die er selber erfunden hatte. Er beschäftigte sich nämlich mit der hier landesüblichen gelehrten Spielerei, in den Nachrichten der Alten über den Aufenthalt der Römer in Deutschland Thatsachen und Namen aufzufinden, die mit den Sitten und Namen der Gegenwart noch in irgendeinem Zusammenhange stehen. Der Kammerherr wußte genau, wo Varus von Hermann dem Cherusker geschlagen war, er behauptete, dicht bei Neuhof, dem Schlosse seines Vaters. Er war auch selbst in Rom gewesen und vermeinte, dort in den Alterthumsschätzen des Vatican Dinge gesehen zu haben, die die Römer nur auf der heiligen rothen Erde Westfalens gefunden haben konnten. Dortige alte Trinkgefäße wären nur aus Glashütte gekommen, einem Vorwerk seines Vaters, alte Wurfgeschosse nur aus einem ganz bestimmten Holze, dem Düsternbrook hinter Neuhof, geschnitzt, alte Waffen aus einer uralten Schmiede hervorgegangen, die seit Jahrhunderten die Hufe der Rosse seines Hauses beschlug. Nur in einem wich er von dem Urtheil seines Vaters ab. Er las den Tacitus ziemlich geläufig und hatte die besondere Ueberzeugung, daß der Tempel der Tanfana, wo die alten Deutschen angebetet haben sollten, nicht etwa die große Dämpfpfanne der Saline Hallenstein seines Vaters war, wie dieser selbst und alle Pastoren der Umgegend glaubten, sondern nur eine Tannenfahne, nämlich der alte deutsche, weiland heidnische, dann so gründlich getaufte, bekehrte und christlich gewordene liebe Weihnachtsbaum, den in der That Lucinde mit bunten Bändern geschmückt und mit allerlei zierlichen Vergoldungen bei jenem Schützenfeste als Fähnrich tragen mußte. Da auch in diesem Weihnachtsbaume, Tanfana, Tannenfahne, dem Palladium der alten Deutschen, goldene Ringe, Ketten, Schaumünzen hingen, die die Siegerinnen im Schießen gewinnen sollten, so ließ man sich diese Verbindung des alten heidnischen Rom mit Deutschland und dem überwiegend protestantischen Eibendorf (katholische Einwohner waren in einem Nachbardorfe eingepfarrt) gefallen. Es waren Geschenke von dem sogenannten »tollen Kammerherrn«.

Auf die Länge mußte freilich den Pfarrer die unsichere Herkunft und das längere Verweilen Lucindens beunruhigen. Er hatte dem Kronsyndikus nach Neuhof, dem Stammsitze der Wittekinds jenseit des Gebirges, wiederholt seine Bedenken mitgetheilt. Da aber die Wirkung der Abenteurerin eine so vortheilhafte für den Kammerherrn war, so befahl der Vater, an diesem Erziehungsplane, den der Zufall an die Hand gegeben, vorläufig nichts zu ändern. Seine Briefe waren kurz und bestimmt, wie die Art des Mannes überhaupt sein sollte. So duldete man das, was nach und nach anfing auch seine Mislichkeiten nach sich zu ziehen. Denn weder die vom Gewöhnlichen abweichende Situation des Geisteskranken, seine einsamen Wanderungen mit der Fremden, seine Ausbrüche von Eifersucht, noch Lucindens mehr zum Zerstören als zum Schaffen geneigte Natur blieben lange unverborgen ... Schon fing sie an, als es zum Winter ging, sich an dieser sich gleichbleibenden Lage nicht zu genügen: selbst der Bann einer solchen Huldigung, wie sie sie hier, allerdings ohne die geringste intimere Belästigung fand, wurde ihr zu enge, der Gang der Tage wurde zu gleichförmig, die Welt, in der man hier seine Befriedigung gefunden hatte, brachte selten eine andere Unterhaltung als eine Thorheit des Kammerherrn mehr. Die Menschen, die es da und dort noch zu gewinnen gegeben hätte, hielten sich in scheuer Ferne, selbst Graf Zeesen, der alle zwei Monate einmal von seinen nahe liegenden Gütern kam, um einige Stunden lang die sonderbarsten Gespräche mit dem Kammerherrn zu pflegen. Wäre Graf Zeesen nicht ausgesprochen katholisch gewesen und im Pfarrhause dieser Punkt des Kammerherrn wegen mit großer Zurückhaltung behandelt worden, die Familie hätte vielleicht auch den Grafen mindestens tiefsinnig genannt.

Dieser noch junge Cavalier war nach den Aeußerungen des Kammerherrn zu Lucinden, die von ihm alle seine Familienbeziehungen erfuhr (nur nie etwas über die Frau »Hauptmännin« von Buschbeck oder das Fräulein von Gülpen, eine Persönlichkeit, die er nicht zu kennen behauptete), sein zweitbester Freund. Der erstbeste hieß Doctor Heinrich Klingsohr. Doch fügte er regelmäßig mit einem Kreuze, das er dabei in die Luft malte, hinzu: Klingsohr ist mein bester Freund, aber er hat mich verrathen! Vom Grafen Zeesen, mit dem er studirt hatte und in Rom gewesen war, ließ er eine aufrichtige Hingebung gelten, beklagte aber ein unglückseliges Geschick desselben, das er nie genauer angab. Die Pfarrerin verrieth es eines Tages Lucinden, indem sie erzählte:

Der Graf hat sich mit einem Freifräulein von Seefelden verlobt, leidet aber darüber an Gewissensscrupeln, seitdem er ein altes Familienstatut in Erfahrung gebracht hat. Vor hundert Jahren hat nämlich ein Ahn seines Hauses die Bestimmung gemacht, daß, wenn ein ältester Sohn der Nachkommenschaft sich entschließen sollte, nicht zu heirathen, die von ihm und seiner später geisteskrank gewordenen Frau reich vermehrten Güter der Zeesen dazu angewendet werden sollten, ein großes Landes-Irrenhaus zu begründen. Hundert Jahre lang haben die Nachkommen vorgezogen zu heirathen. Erst dieser Hans von Zeesen, der viel Frömmigkeit besitzt, wurde über jene nun hundertjährige Unterlassung eines guten Werkes stutzig, und sonderbarerweise ist seine Braut, die ihn ebenso heiß liebt wie er sie, von gleicher Seelenstimmung. Ich zweifle gar nicht, daß der Graf seinen kranken alten Freund nur deshalb so oft besucht, um sich in dem heroischen Vorsatze des Entsagens zu bestärken.

Lucinde horchte hoch auf. Hier kamen Ideen, die sie an sich vollkommen verstand, in eine Verbindung oder in Conflicte, die sie noch nicht fassen konnte. Doch hörte sie aufmerksamer zu, wenn der kleine blasse, schmächtige Mann, der Graf, in schlichter, fast priesterlicher Tracht kam und sich mit dem Kammerherrn unterhielt. Nie hatte sie so viel von Gedanken, Meinungen, ideellen Beziehungen gehört wie in den Gesprächen eines Halbirren mit einem Manne, der so fromm war, daß er selbst unter der protestantischen Pflege seines Freundes zu leiden schien.

Wie eigenthümlich nach dem Wunderbaren und Fremdartigen hier zu Lande fast überall ausgegangen wird, erfuhr Lucinde bei vielen Gelegenheiten, unter andern bei einer Erinnerung an den alten Bienenhelm ihres Vaters, den dieser nie zurückbekommen hatte; die Hauptmännin hatte ihn, scheinbar zu Gunsten Lucindens, an einen Trödler verkauft. Sie besuchte nämlich aus alter Neigung oft die Dorfschule und gab in ihr Unterricht auf ihre Weise. Beim Schulmeister fand sie ein geregelteres Hauswesen als bei ihrem Vater, und in der Gartenwirthschaft auch einen Bienenhelm, den gerade ein Knecht aus dem Orte vom Schulmeister borgte, um den Bienen das Leid vom eben verstorbenen Herrn anzusagen. Ueber den sonderbaren hierländischen Gebrauch, daß man mitten in die Bienenstöcke hinein den Tod des Hausvaters anzeigen und den Knecht den Bienen melden läßt: »Einen schönen Gruß von der Frau und der Herr wäre todt!« konnten sich der Kammerherr und der gerade anwesende Graf in Mittheilungen verlieren, die alle Seiten der Geschichte und der Philosophie berührten. Lucinde staunte über den Glauben, der annahm, daß ohne diese Leid-Ansage die Bienenstöcke in Jahresfrist ausgehen würden; aber der Kammerherr und der Graf, beide warfen verklärt ihre Blicke empor und sprachen jetzt sogar anerkennend von dem früher gemeinschaftlichen verrätherischen Freunde, Heinrich Klingsohr, der auf die Darstellung des Zusammenhangs der Bienen mit den Staats- und Rechtsbegriffen der Menschheit in Göttingen Doctor geworden war.

Und so dunkel es nun auch in des Kammerherrn Begriffen aussah, so wurde er doch auf diese Art Lucinden ein Lehrer. Auf Partieen, die er in einem von seinem Diener geführten Einspänner machte, sprach er mit Lucinden, ob sie es nun verstand oder nicht, nur französisch, ein andermal nur englisch, ein drittesmal, wenn er gerade auf Tacitus und die alten Germanen oder auf eine Sammlung alter Marienlieder, die Graf Zeesen zum Druck vorbereitete, kam, nur lateinisch. Sie erwiderte mit dem Wenigen, was sie früher von Englisch und Französisch aufgegriffen hatte, und bewundernswerth war die Geduld, mit der der Kammerherr sich mühte, einer der Erde nicht angehörenden Erscheinung allmählich die Sprachen derselben beizubringen. Die Sprache, die er an dem Riedbruch damals im Walde beim ersten Finden an sie gerichtet hatte, war ein Gemisch von Lateinisch und Plattdeutsch gewesen.

Diesen Gewinn an Kenntnissen ließ sich Lucinde, die unter all dem Düster ihre Heiterkeit nicht verlor, wohl gefallen. Der Gewinn mehrte sich, als die langen Abende kamen und der Pfarrer sich gleichfalls geneigt erklärte, die Civilisation des Wildlings zu unterstützen. Auch im Klavier, dessen Grundlagen Lucinde schon im Hause des Stadtamtmanns gelegt hatte, vervollkommnete sie sich unter Leitung des musikalischen Mannes, der seine Kinder, ja selbst noch seine an sich hierin geringer talentirte Frau unterrichtete. Der Herbst und ein langer, schnee- und frostreicher Winter wurde auf diese Art für Lucinden eine Studienzeit, die bei der Leichtigkeit ihrer Auffassung und der geringen Zerstreuung dieses Aufenthalts reiche Früchte trug. Der Kammerherr selbst, dem es an wissenschaftlichem Material nicht mangelte und dessen liebstes Thema sich immer an die Erinnerungen von Rom oder Göttingen hielt, docirte ihr oft Geschichte und Philosophie, die er mit der Mathematik und, sonderbar und für die Schrullen jener Provinz unsers Vaterlandes kennzeichnend genug, auch mit der Kunst des Drechselns verband.

Wie die Adeligen Westfalens in ihrer Erziehung und ländlichen Beschäftigung an den Hofbällen von Berlin und in Münster nicht zu erkennen sind, so wird man seltsam finden, daß es berühmte Geschlechter unter ihnen gibt, die neben ihrem angeblichen Berufe, die unerschütterlichen Erben Karl's des Großen zu sein und in Demuth vor Gott, dem Papst und dem Landesherrn ihre Renten zu verzehren, auch ein Handwerk lernen. Manche, die nicht gut schreiben können, aber schon in Potsdam ein Porteépée führen und in Verlegenheit kommen zu bekennen, daß sie nicht viel mehr wüßten, als was auf ihren düstern, einsamen Kampen der »Hauspape« ihnen zu lernen zugemuthet, verstehen sich vortrefflich auf den Hufbeschlag der Pferde oder arbeiten sich das Sattel- und Riemzeug derselben selbst aus. Das Drechseln aber in grobem und seinem Holze ist eine so weit verbreitete Kunstfertigkeit des westfälischen Adels, daß Lucinde sich nicht hätte zu verwundern brauchen, neben dem Maleratelier ihres Freundes auch eine Kammer anzutreffen, die zu einer vollständigen Drechslerwerkstatt eingerichtet war. Ihr aus Kirschbaumholz allerhand Büchsen und Ringe zu drehen, war selbstverständlich seine liebste Aufgabe; aber er drehte auch Bälle, Kegel, Pyramiden, konische Ausschnitte und Figuren aller Art, von denen er nicht nur mathematische Auslegungen gab, sondern auch philosophische und religiöse. Oft sprach er dabei von einem in der Nähe seiner väterlichen Güter wohnenden Philosophen, der aus den einfachsten Grundbegriffen unserer mathematischen Anschauungen die tiefsten Wahrheiten der Religion hergeleitet hätte.

Je geheimer diese Gespräche vor dem Pfarrer geführt wurden, desto reizvoller wurden sie für einen Verstand, der sich aus den verworrenen Begriffen eines Narren manches Körnlein Vernunft entnehmen konnte. Dennoch wünschte Lucinde diese Lage geändert. Das Aufsehen, das sie in der ganzen Gegend mit dem »tollen« Kammerherrn machte, war nicht gering. Auch hatte der Pfarrer erleben müssen, daß ein Brief, den Lucinde an ihre Schwester geschrieben und eine Meile weit erst von ihr auf die Post gegeben war, zurückkam, mit der vollständigen und wahren Adresse seines Schützlings, ja, daß der Meier von Eibendorf ihm Mittheilungen machte, die jetzt den Zustand, wie man Lucinden im Riedbruch gefunden, vollkommen erklärten.

Eine scheue Besorgniß des ganzen Hauses vor Lucinden hatte sich schon längst gesteigert, sie wurde zur Abneigung, als man sie bei Ueberreichung des von der Post geöffnet gewesenen und wieder von der Post verschlossenen Briefes wol aufs äußerste über die offene Angabe ihres Namens erschrocken fand, weniger aber über den von einer ungebildeten Hand gekritzelten Zusatz: »Ist vor vier Wochen am Nervenfieber gestorben.«

Der Tod ihrer Schwester Luise, einer einzigen, wie sie öfter gesagt hatte, erschütterte sie weniger als die richtige Angabe ihres Namens! Daß mit so viel Schönheit, jeweiliger Liebenswürdigkeit, immer mehr sich herausstellendem Geist und zunehmenden Kenntnissen so viel Gefühllosigkeit verbunden sein konnte, als sich jetzt erst offenbarte, nahm vorzugsweise die Pfarrerin gegen den längern Aufenthalt Lucindens ein, und offen wurde dem Kronsyndikus von Wittekind nach Neuhof die Anzeige gemacht, daß sie ohne Lucinden den Kammerherrn nicht mehr bei sich behalten könnten, mit ihr aber länger nicht mehr mochten.

Lucinde übersah das alles. Ihrem wühlerischen Umblick entging selten etwas, während sie alles an sich zu verbergen wußte, selbst den Schreck und ihr wirkliches geheimstes Erschüttertsein durch den Tod der Schwester. Trotzig warf sie die Lippen auf und erklärte, sie ginge jeden Augenblick, wenn man's wünschte. Man irrte sich keineswegs, wenn man voraussetzte, daß sie auch vom Kammerherrn sich trennen wollte, wenn nicht eine andere Festsetzung ihres Verhältnisses zu ihm stattfände. Die Aussicht sogar, die Gattin desselben zu werden, schien ihr keineswegs zu hoch. Sie besaß einmal die Formel, die diesen verdunkelten Geist einigermaßen zu erhellen vermochte. Sie sagte sich, daß der vornehmen und stolzen Familie wenig daran liegen könnte, sich bei einer doch schon aufzugebenden Persönlichkeit auch noch gegen diese Ausnahme von der Regel zu stemmen.

Darin irrte sie sich aber, wie sie von der hierin entscheidenden Persönlichkeit selbst erfuhr.

In den ersten Tagen des April erschien der Kronsyndikus, der Vater des Kammerherrn.

9.

Freiherr von Wittekind-Neuhof, Kronsyndikus des ehemaligen Königreichs Westfalen, setzte durch seinen Namen schon das ganze Pfarrhaus in Furcht und Schrecken.

Als der Kammerherr den am Wirthshause haltenden väterlichen Reisewagen gesehen, der über und über bespritzt, langsam durch die morastigen Straßen des Oertchens zog, fuhr er wie ein wildes Thier auf, das seinen Wärter am Käfig vorüberstreifen hört. Er rannte im Hause hin und her, rollte die Augen, hielt den Mund geöffnet, wie in seinen Wuthanfällen, packte, als wollte er sich mit seinem Theuersten schützen, seine Farben, seine Pinsel, seine philosophischen Kugeln, Kegel, Dreiecke zusammen, griff nach einem Crucifix, das er sich selbst geschnitzt und nach vielen kunstgeschichtlichen Controversen mit dem Grafen Zeesen und einem eingeholten Gutachten der Verlobten desselben, des Freifräuleins von Seefelden, selbst bemalt hatte, rief den Diener und schien sogar Lucinden vergessen zu haben.

Die Kinder im Hause liefen ebenfalls auf und ab. Die Pfarrerin suchte nach Lucinden, die sich versteckt auf ihrem Zimmer hielt, zugeriegelt hatte und keine Antwort gab.

Der Pfarrer griff in die Gläser der Harmonica. Der ganze alte Zustand der Wildheit schien beim Kammerherrn wieder zurückgekehrt, dieser Zustand, der seit fast einem Jahre, so oft er sich während dessen gezeigt hatte, durch einen einzigen Ruf, durch ein geträllertes Liedchen der von der Treppe herabspringenden Lucinde schon aus der Ferne sich besänftigen ließ.

Die ängstlichen Kinder riefen vom Garten aus zum Fenster: Fräulein! Fräulein! Sie klopften, als keine Antwort kam, an die Thür. Lucinde ließ nichts von sich hören. Mit ängstlicher Unruhe blieb sie in ihrem Versteck, trat leise mit den Zehen auf und hörte mit listig aus Fenster gehaltenem Ohr das Toben des Kammerherrn. Dieser entfaltete seine sonst gewohnte Art, die die eines wilden, auf der Universität alt gewordenen Burschen war, die Natur eines nie anders als mit einem riesigen Neufundländer das Trottoir der Straße beherrschenden Pauk-Senioren alten Stils – er konnte stundenlang von seinen Suiten und den Paukereien auf der Mensur und dem besten, aber verrätherischen Freunde Klingsohr erzählen –; johlend rief er über den Garten, schlug die Thüren, rüttelte am Fensterkreuz und redete die Rosse und die Kutsche seines Vaters höhnend und herausfordernd an.

Bald erschien der Kronsyndikus selbst. Es war eine Gestalt von gleichem Wuchse wie der Sohn, hünenhafter Höhe und trotzigfesten Schrittes, so weiß auch schon sein Haar schimmerte.

Er trug einen grünen Jagdrock, hohe Stiefel mit Sporen und ließ eine Reitgerte schon in der Ferne bedenklich in der Hand hin- und hertänzeln. Doch lachte er, am Gartenzaun schon vom Pfarrer empfangen, zum Fenster empor und schien besserer Laune als sein Sohn, den er schon draußen, zum Parterrefenster zu, mit folgenden Anreden seiner väterlichen Huld versicherte:

Pinselheld! Ha! ha! ha! Stubenhocker! Trifft man dich endlich einmal? Farbenkleckser! Schäm' er sich! Treibt sich in der Welt herum! Muß ihn 'mal wieder mit Gewalt holen!

So tändelte er mit fingirter Ueberraschung, den Sohn hier zu finden, und als wenn der Kammerherr hier aus freien Stücken lebte. Dieser ging auch auf den Spaß ein. Der Vater tändelte mit dem Sohn, wie mit einem Hunde, den man zum Wedeln und Springen reizen will. Und im Hause wurde es nun ängstlich stiller; die Furcht des Sohnes vor dem Vater war die des Thieres. Man behauptete, daß der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof trotz seiner Jahre noch im Stande war, den baumstarken, jüngern Mann niederzuwerfen und ihn auch schon oft mit beiden Händen eine Viertelstunde lang auf der Erde gehalten hatte Auge in Auge, Mund gegen Mund den Trotz desselben bändigend.

Mit einem kurz zusammengeschleiften, liebkosenden Hui-hu! Hui-hu! Hui-hu! trat der Kronsyndikus ins Haus.

Die Verständigung im Erdgeschoß, die Begrüßungen und Auseinandersetzungen hörte Lucinde nicht. Aber das vernahm sie, daß es nicht sanft herging, daß die Kinder, der Pfarrer, die muthige Frau Pfarrerin wie immer thätig sein mußten, die Vermittler und Beruhiger zu machen. Zuletzt kam der Diener des Kammerherrn, mit dem Lucinde schon lange conspirirte, auf den Zehen zu ihr geschlichen und theilte ihr flüsternd mit, daß es sich um die Abreise des Kammerherrn, seine alte doch noch beschlossene Vermählung mit einem Freifräulein handelte, aber auch von seiner Weigerung und dem unwiderruflichen Entschluß, nur Lucinden zu seiner Gemahlin zu erheben ...

An dem wilden Lachen des Vaters, das dann und wann heraufschallte, merkte man den Eindruck dieser Eröffnungen des Kammerherrn, der immer stiller wurde und zuletzt sogar in das gewöhnliche Schlußstadium seiner Wuthanfälle fiel, in ein an diesem starken und mächtigen Manne ganz besonders schreckhaftes feiges Verzagen, das sich bis zum Weinen und lauten Wehklagen steigern konnte.

Wie dies stoßweise Schluchzen schon vernehmbar wurde, hörte man von unten heraufkommen.

Fort! rief Lucinde dem Diener zu und stand auf dem Sprunge, die Thür zu schließen.

Der Diener ging und that, als wär' er im Begriff gewesen eben auf den Boden zu steigen.

Die Pfarrerin aber war's, die kam. Sie klopfte leise an und bat Lucinden mit weicher Stimme herunterzukommen, der Vater wünschte sie zu sehen.

Er kann heraufkommen! antwortete sie in beklommener Angst.

Ich bitte Sie, Fräulein Schwarz! sagte die Frau und drängte.

Nein! Nein! Ich komme nicht!

Damit verschloß sie auch noch ihre Thür. Verriegelt hatte sie sie gleich beim ersten Hineinschlüpfen.

Nach einer Weile, während die Pfarrerin seufzend gegangen war, hörte Lucinde den schweren, sporenklirrenden Tritt eines Mannes auf der Stiege.

Eines der Kinder zeigte ihm den Weg; und bald hörte sie ein Klopfen, das unfehlbar mit keinem menschlichen Finger, sondern mit dem Knopfe der Reitpeitsche erfolgte.

Zitternd stand sie und wagte nicht zu öffnen.

Als das Klopfen mit einigen freundlichen Worten wiederholt wurde, öffnete sie und mußte staunen, den Kronsyndikus ohne Stock oder Reitpeitsche zu sehen; wirklich waren es nur seine Finger gewesen, die geklopft hatten.

Die große Gestalt trat ein.

Auffallend war die Aehnlichkeit mit dem Sohne, nur hatten Wuchs und Kopf nichts Gedunsenes wie bei diesem. Wettergebräunt, mit leisen Pockennarben überlaufen und hier und da mit Warzen besetzt war das Antlitz; rothe Flecken um die stumpfe Nase und die knochigen Wangen verriethen die Liebe zum Wein; die dicken Augenbrauen waren gelbweiß, die Haare noch stark und von gleicher gelbweißer Farbe. Man sah das Bild eines auf seinen Namen, seinen Rang, seine Verbindungen, vielleicht auch auf seine eigenen Meinungen und Entschließungen sich mit unerschrockener Festigkeit stützenden Adeligen, das Bild eines Mannes, den Widerspruch erbitterte.

Lucinde hatte aber kaum einige Worte von ihm gehört, so bemerkte ihre Klugheit auch sogleich, daß diese Art Menschen dann ungefährlich, ja sogar zuvorkommend und liebenswürdig werden kann, wenn man allen ihren Gedanken nachgiebig folgt und sie ganz für etwas ebenso Großes und Vorzügliches nimmt, als wofür sie gehalten sein will ...

Auf die ersten von ihm statt drohend sogar im Gegentheil schmeichelnd ausgesprochenen Begrüßungen des schönen Mädchens, auf seine Versuche zur Courtoisie und sogar eine Befangenheit, die von Lucindens Erscheinung geblendet war, gewann sie bald den Muth, seinen Worten Stand zu halten.

Sie war in der gewählten Tracht, die der Kammerherr, der sie noch nie unzart berührt hatte, und sie nur anschauend und bewundernd liebte, an ihr besonders gern hatte. Sie trug ein schwarzseidenes Kleid, hatte in ihr geflochtenes, offenes Haar einige bunte Bandschleifen gesteckt, die ihr weit bis in den Nacken hingen, und benahm sich mit der ihr eigenen und, wie alle, die sie näher kannten, es nannten, ihr siegreich zu Gebote stehenden träumerischen Kindlichkeit, die den Eindruck eines Wesens sogar voll Poesie und Unschuld machte.

Der wilde Freiherr war sogleich gewonnen und rühmte den Geschmack seines Sohnes mit vielen humoristischen Donnerwettern, Sackerlots und zudringliche à la bonne heures.

Ohne viel Umschweife zu machen, erklärte er, daß der Kammerherr eine Baronesse von Tüngel heirathen müsse; er wisse sehr wohl, und auch seiner künftigen Gemahlin würde es nicht verborgen bleiben, daß der Junge seine tollen Stunden hätte, doch lasse er sich leiten, wie ja dieser Aufenthalt hier in Eibendorf bewiesen hätte. Ferner: Er wisse auch, daß ihm selbst die Kunst abginge, mit einem Menschen, der ganz aus der Art geschlagen, richtig zu verkehren; daß Jérôme das Pulver nicht erfunden, sei bekannt; der Titel eines Kammerherrn wäre die Gnade eines benachbarten Fürsten gewesen, in dessen Gebiete einige seiner Güter lägen; sein älterer Sohn, der Regierungsrath, hätte dafür des Verstandes nur zu viel; die Natur gliche gern aus, und ein Unglück wär' es nicht, wenn der Bund mit den Tüngels zur Ausführung käme; Kinder würde es schwerlich geben; wie viel eine richtige weibliche Behandlung zu thun vermöchte, hätte ja Lucinde bewiesen, und er wäre ihr von Herzen dankbar dafür. Daß er seinen Dank, wie er gleich aufrichtig hier bekennen wollte, bis zur Adoption einer solchen Schwiegertochter, wie sie wäre, steigerte, davon könnte natürlich keine Rede sein. Der große Narr weine zwar und wolle nicht von ihr lassen; es würde sich aber auch das bei ihm geben. Einstweilen möchte er selbst nicht allzu lange in dem Hause hier verweilen: er müsse bekennen, weder allzu viel Weihrauchduft noch luthersche Pfarrhausluft wäre sein besonderer Geschmack; leider hätte er einen katholischen Pfarrer nicht wählen können, da es ja den »armen Käuzen« an einer Pflegerin und zerstreuenden Kindern fehle. Das Beste wäre, sie folgten ihm einmal vorläufig alle beide, der Kammerherr und Lucinde. Schloß Neuhof wäre sehr groß, hätte nicht nur zwei Seitenflügel, sondern im Park auch noch ein paar Pavillons, von denen sie den einen ganz allein beziehen könne und zwar so lange, bis das Arrangement mit den Tüngels getroffen wäre und sie sich dann in aller Stille eines Tages entfernen oder sonstwo auf seinen Gütern etabliren könne. Für ihre Existenz »so oder so« solle schon gesorgt werden; denn die Undankbarkeit wäre einer der letzten von den alten Fehlern der Wittekinds ...

Und nun schloß er, auch von der Bündigkeit seiner eigenen Darstellung geschmeichelt, mit einem Gelächter, daß die ganze Stube schütterte. Er zog dabei Lucinden an sich, um sie zu küssen, was auch erfolgt wäre, wenn ihn in seinem gewaltigen, selbstzufriedenen Lachen und dem Versuch, seinen rauhen Backenbart an der Sammtwange des Mädchens zu reiben, nicht ein Husten überkommen wäre, den er auf die verdammte Witterung, das heurige zu späte Eintreffen des Frühlings und »allerlei sonstigen niederträchtigen Aerger« schob ...

Lucinde hatte keine Veranlassung, diesen Anordnungen Widerstand zu leisten. Sie selbst sehnte sich aus einem Hause hinweg, in dem sie die frühere Werthschätzung vermißte. Die Schraube mit dem Kammerherrn und der Möglichkeit, sich in eine glänzende Lebensstellung zu versetzen, ging ja noch fort. Vorläufig standen die neuen Verhältnisse, die der Kronsyndikus in Aussicht stellte, schon so lebhaft vor ihrer Phantasie, daß sie den Gedanken, in einem großen schönen Park einen eigens für sie eingerichteten Pavillon zu bewohnen, sich schon ganz mit allen möglichen Farben, ausmalte.

Ihre ängstliche Schüchternheit aber legte sie nicht ab. Diese war auch vielleicht nicht ganz gemacht. Noch hatte überhaupt das Leben die wirren Stoffe, die in ihrem Innern lagen, nicht verarbeitet bis zur klaren Unterscheidung von Gut und Böse. Ihr Instinct sagte ihr jetzt, daß sie sehr anspruchslos und ungefährlich erscheinen müsse, wenn sie die gute Meinung, die der Kronsyndikus von ihr gefaßt zu haben schien, behaupten wollte. Daß sie sich mit dem, was er in Aussicht stellte, nicht ganz zufrieden geben würde, wußte sie schon. Damit sie aber dahin gelangte, mehr zu gewinnen, war es nothwendig, alles mit sich geschehen zu lassen, was der Kronsyndikus vorschlug. Sie erkannte gleich seine Art, als sie ihm wegen dieser weisen Anordnung ganz besonders innig gedankt und ihn damit noch wohlwollender gestimmt hatte. Sein ganzes Leben war, nach der gewöhnlichen Vorstellung solcher Charaktere, eine einzige große Erfahrung von Undank. Lucinde gefiel ihm immer mehr, und er sagte auch unten, daß in ihren schwarzen Augen etwas läge, was ihn, so alt er wäre, selbst noch thöricht machen könnte.

Der unruhige und stürmische Geist des Mannes verlangte die allgemeine Abreise schon vor Ende des Tages.

Der Kammerherr ließ alles geschehen, was man anordnete, blieb ihm doch sein Liebstes auf Erden, das Ideal seiner Träume, die ewig gleiche Belebung seiner Bilder, seine Schülerin, seine Heilige.

Wie ein Kind nahm er Abschied von dem Hause des Pfarrers und den nächsten Umgebungen. Noch an den Riedbruch in dem Walde war er, bis an die Knöchel versinkend, gegangen und hatte an derselben Stelle, wo er einst Lucinden gefunden, einige schon sprossende Gräser und Schneeglöckchen gepflückt. Schon lange verkündete hier ein Würfel aus Sandstein mit einigen Emblemen des Philosophen jener kleinen Stadt, dessen System er an der Drechselbank und auch aus einigen bei demselben persönlich nachgeschriebenen Heften so bewunderte, und auf diesem Würfel das eingegrabene griechische Wort: »Heureka!« (Ich habe gefunden!) allen Blumen und Vögeln und Schmetterlingen und Käfern sein Glück – diesen wol allein, denn Menschen verirrten sich des sumpfigen Weges nicht.

Der Pfarrer selbst, dem eine bedeutende Einnahmequelle versiegte, sah den oft so unholden Gast mit Rührung scheiden. Die Pfarrerin meinte: Man gewöhnt sich so bald an das, was tägliche Pflicht geworden, selbst wenn Plage und Qual damit verbunden ist. Den Verlust der Einnahme mußte man zu verschmerzen suchen, mischte sich doch auch das angenehme Gefühl in den Scheideaugenblick, erlöst zu sein von einem Alp wie Lucinde. Einen Misbrauch ihrer Schönheit, ein übles Beispiel, das sie den Kindern im Genuß ihrer Triumphe gegeben, konnte man ihr nicht nachsagen. Da sie aber die gewohnten und allgemeinen Wege in keinem Dinge gehen mochte und an kleinen Verwirrungen, die sie schon genug in den nächsten Beziehungen des Hauses angerichtet hatte, förmlich Freude zu empfinden schien, so sah man sie mit erleichtertem Herzen ziehen. Lucinde wußte das und machte von ihrem Gehen keine Umstände. Nur den Kindern im Hause und manchem Fleißigern in der Schule ließ sie zurück von ihrem Ueberfluß an Kleinigkeiten und hunderterlei Bagatellen, die ihr der Kammerherr verehrt hatte.

Die Reise ging über das Eggegebirge der westfälischen Abdachung zu.

Obgleich der Kronsyndikus mit der Mehrzahl seiner Güter der großen norddeutschen Monarchie angehörte, schien sein Herz doch mehr an Hannover, an Braunschweig, an Lippe, Bückeburg, Detmold zu hängen, in deren Gebieten er gleichfalls angesessen war. Ja, bis in den höhern Norden hinauf, bis Hamburg, bis Kiel hin besaß er einzelne, durch Verschwägerungen und alte Familienbeziehungen ihm zugefallene Güter.

Der Kammerherr schien dabei trotz alledem sein Lieblingssohn. Des ältern, des Regierungsraths, wurde nur mit Gereiztheit gedacht, ja, in den Spott, in den er zuweilen über die Welt, in welcher jener lebte, ausbrach, stimmte der Kammerherr mit ein, sodaß man beide dann in ein mit ganz gleicher Tonart gesetztes Lachen sich ausschütten hören konnte.

Die freie, ungebundene, ja zügellose Art des Vaters fiel Lucinden bald genug auf. Der Kammerherr war viel sittsamer. Sein Vater gab ihm das Zeugniß, daß der »alte Schafskopf«, wie er ihn nannte, immer nur Hunde und seine sogenannten guten Freunde geliebt, immer nur vor den Damen wie ein Duckmäuser gestanden hätte und zu seinem höchlichsten Erstaunen nun doch noch in den Apfel der Erkenntniß beißen wollte ... Wenn er eine solche Vergleichung brauchte, lachte er sich selbst Beifall, und Lucinde wußte schon, wie gern er sah, wenn sie darüber auch den Mund in Lächeln verzog. Sie erntete dafür über ihren Verstand und ihre Zähne Schmeicheleien so derber Art, wie sie der Kammerherr nie auszusprechen gewagt hatte.

Diese Reise währte eine halbe Nacht und einen halben Tag. Man fuhr mit vier Pferden Extrapost. Am Wege sah man dann und wann Crucifixe und Heiligenbilder. Die an historischen Erinnerungen so ahnungsreiche Gegend war jetzt gemischter Confession. Bei der Frage nach Lucindens Herkunft, sonderbarem Vornamen, religiösem Bekenntniß kam es zu einigen Erörterungen über die Stadt, aus der sie entflohen war. Und nun fragte der Kronsyndikus von Wittekind selbst, ob Lucinde dort nichts von einer gewissen Gülpen oder Buschbeck, wie sie sich nenne, gehört hätte. Und trotzdem, daß sie ja auch dem Kammerherrn schon diese Namen ausgesprochen hatte, antwortete sie: Nein! Sie fürchtete weitere Fragen über ihre Herkunft und die Ursache der Bekanntschaft mit jener unheimlichen Frau.

Der Kammerherr hätte sich der frühern Frage Lucindens nicht erinnert, aber er war auch in dem Augenblick gerade beschäftigt, mit einem Perspectiv die Fenster eines Herrensitzes zu fixiren, an dem sie in einiger Entfernung vorüberfuhren. Er entdeckte dort seinen zweitbesten Freund, den Grafen Zeesen, der trotzdem, daß es erst April war, schon Fliegen zu jagen schien. Lucinde brauchte das Glas nicht, um zu sehen, daß der Graf alle Fenster im ersten Stock seines »Hofes« offen hatte und mit der Fliegenklatsche die dort demnach ganz unglaublich frühzeitigen Störenfriede hinausjagte ...

Der Kronsyndikus war offenbar über seine eigene Frage nach der »Hauptmännin« in Gedanken verloren, sonst hätte er um einige Meilen weiter nicht so unbefangen von einer jungen Dame gesprochen, die sie auf den Wiesenwegen, die einen kleinen Edelhof umgaben, einsam und, wie es schien, tief nachdenklich spazieren gehen sahen. Es war dies Therese von Seefelden, die Verlobte jenes Grafen Zeesen ...

Kaum begann der Kammerherr von den vortrefflichen Eigenschaften seines Freundes, des Grafen, und hatte eine Parallele zwischen ihm und dem »Verräther«, dem Doctor Klingsohr, zu ziehen angefangen, als der Kronsyndikus mit dem Fuß aufstampfend rief:

Schweig! Nenne mir den hundsföttischen Namen nicht!

Man erfuhr jetzt, daß der leidenschaftliche Mann in diesem Augenblick nicht nur von der Zukunft seines Sohnes, sondern von vielen andern Dingen, vorzugsweise aber von seinen Beziehungen zu dem Vater jenes Klingsohr, seinem Generalpachter, auf das heftigste gereizt war.

10.

Immer und immer schon war ein gewisser »Deichgraf« genannt worden, ein Titel, nach dessen Bedeutung Lucinde nicht fragen mochte.

Wie sicher sie zwar in allem, was zur Bildung gehörte, jetzt schon Stand hielt und einen über Geldangelegenheiten vom Vater in französischer Sprache begonnenen Discurs mit der endlos belachten Bemerkung unterbrach, ob sie nicht lieber polnisch sprechen wollten, was sie weniger verstünde als französisch, so hütete sie sich doch, auf Gebiete einzugehen, wo sie in keiner Weise heimisch war. Sie bildete sich da jenes bekannte aufmerkende und geheimnißvolle Schweigen aus, das bei Leuten, denen Bildung überhaupt zugestanden werden muß, immer annehmen läßt, daß sie über jeden vorliegenden Fall, und beträfe er die Inschrift einer ägyptischen Pyramide, vollkommen au fait sind.

Bald merkte Lucinde aus den Drohworten, die der Kronsyndikus ausstieß, daß es mit dem Deichgrafen eine besondere Bewandtniß hatte. Dieser »Graf« schien nur ein Bürgerlicher zu sein. Es war der erste Pachter des Freiherrn von Wittekind. Der Kronsyndikus nannte ihn unausgesetzt bald einen Hund, bald einen Schurken; ja, er erklärte, daß er ihm bei erster Gelegenheit und, wie er sagte, »stanta pe« eine Kugel vor den Kopf brennen würde. Der Kammerherr wünschte neue Vorkommnisse des Zwistes zu wissen, aber der Vater schien von denselben so ergriffen zu sein, daß er zuweilen die an ihn gerichteten Fragen ganz überhörte ...

Das Terrain war eine Zeit lang nur eben gewesen. Auf den Gütern des Freiherrn, die von der Straße ostwärts lagen, wurde es wieder von Anhöhen unterbrochen, und auf der höchsten Höhe lag Schloß Neuhof wie eine leuchtende Krone der ganzen in Saatengrün, Wald und Wiese prangenden Gegend. Diesem Schloß, diesen reichen Fluren nach zu schließen, mußte der Kronsyndikus fürstliche Einnahmen beziehen, womit freilich sein Dingen und Zanken mit den Postillonen und Wirthen in Widerspruch stand. Lucinde hatte den Muth, ihn seines Geizes wegen aufzuziehen, wozu er ganz beistimmend schmunzelte und ihr in die Wangen kniff mit den Worten, daß er von solchen hübschen Kindern wie sie in seinem Leben leider nur zu oft solche Wahrheiten hätte hören müssen.

Ehe man auf die bedeutende, aber sanft aufsteigende Anhöhe gelangte, von welcher das im vorigen Jahrhundert gebaute Schloß herniederleuchtete, hatte sich in die jeweiligen Auseinandersetzungen des Kronsyndikus über die Ernte, die neuen Wegebauten, die Kirchen und Klöster, die man in der Ferne aufragen sah, über einen oft citirten Landrath von Enckefuß, den sein Auge da und dort zu erspähen glaubte, dann wieder über den Reichthum und die hohe gesellschaftliche Stellung der Tüngels und über die Vorzüge der freilich nicht mehr ganz jungen Baronesse Portiuncula, die Jérôme heirathen sollte, wieder der Zorn gemischt auf jenen »Deichgrafen«. Man sah, aus den heftigen Rügen über diesen Acker, jene Hecke oder Anpflanzung, überall die Schöpfungen dieses Mannes, der seit einer langen Reihe von Jahren mit dem Freiherrn aufs innigste befreundet gewesen, jetzt aber, wie sein Sohn mit dem Kammerherrn, in Bruch gekommen war. Der Kammerherr suchte die Neigung seines Vaters zu gewinnen durch beständiges Schüren dieses Hasses, durch Uebertreibungen und Flüche, die die des Vaters zuweilen noch an Kraft und Umfang übertrafen. Zwei verwöhnte, durch ihren Namen und Besitz sich für unantastbar haltende Männer scheuten sich nicht, dem Deichgrafen im Geiste bald die Peitsche zu geben, bald sämmtliche Hunde ihrer Förster auf ihn zu hetzen.

Lucinde erfuhr jetzt, daß der Generalpachter Klingsohr den altüblichen Namen eines Deichgrafen von einer frühern Anstellung bei den Deichen der hannoverischen Niederelbe führte, dort die Bekanntschaft des zuweilen nach seinen mecklenburgischen und holsteinischen Gütern durchreisenden Freiherrn machte und von diesem bereits vor beinahe dreißig Jahren in diese Gegend als sein Pachter berufen worden war. Lange hätten sie in dieser Lage freundschaftlich verkehrt, sogar die Söhne des Freiherrn und des Deichgrafen wären zusammen aufgewachsen und erzogen worden, der Kammerherr hätte mit Heinrich Klingsohr, dem jetzigen Doctor, in Göttingen studirt und bei alledem war eine Feindschaft ausgebrochen, wo einer denn doch noch, wie der Kronsyndikus sagte, »dran glauben« würde.

Die Ursache dieser Feindschaft lag in einer neuern Ernennung des Deichgrafen. Der alte Klingsohr, der sich als großer Pachter im landwirthschaftlichen Verein, ja als Kenner der Volkszustände auf dem Provinziallandtage einen Namen gemacht hatte, war Commissar der Regulirung bäuerlicher und grundherrlicher Verhältnisse geworden. Erst jetzt wurden in dieser Gegend die letzten Reste der Leibeigenschaft aufgehoben. Die Regierung bestimmte Theilungscommissare, denen sie ihr Vertrauen schenkte, um jedes streitige Recht zwischen Bauern und Grundherren, zwischen den Gemeinden und Einzelpersonen zu prüfen und schließlich nach bester Ueberzeugung die Ablösungen zu schätzen. Man konnte nicht bemessen, daß ein Macchiavellismus darin lag, zu einem unter Umständen so unpopulären, ja gefährlichen, der Bestechung wie der Anfeindung ausgesetzten Posten einen Oppositionsmann zu wählen. Im Gegentheil ließ sich annehmen, daß gerade in der gesunden, offenen und ehrlichen Politik des Deichgrafen, die der Regierung schon viel zu schaffen gemacht hatte, eine Bürgschaft gefunden wurde für die Gerechtigkeit, mit der er sich seinem schwierigen Amt unterziehen würde. Er kannte die Gegend seit beinahe dreißig Jahren, hatte die Interessen derselben mannichfach studirt und war unstreitig der geeignetste, der die Unparteilichkeit einer so wichtigen Procedur verbürgte. Lucinde gewann diese Einsicht in ihr keineswegs fremde Verhältnisse vollständig erst von ihrem Pavillon im Schloßpark zu Neuhof aus. Jetzt war es nach des Kronsyndikus Meinung eine teuflische, höllenmäßige und bis an die Throne diesseits und jenseits zu verfolgende Undankbarkeit des Deichgrafen, auf seinem neuen Posten fortwährend seinem Pachtgeber, langjährigen alten Freunde, ja Wohlthäter, wie er sagte, in fast allen streitigen Fragen Unrecht zu geben, ihm Rechte zu entziehen auf Wald und Flur, die er seit Urgedenken besessen haben wollte, die Summen, die er von seinen frühern Lehnsassen zu empfangen, gering, die aber, die er selbst an die Gemeinden zu zahlen hätte, hoch anzuschlagen. Durch diese nun schon seit zwei Jahren dauernde Ablösung, die den Deichgrafen zum Wohlthäter des ganzen Kreises machte, waren beide in Streitigkeiten gerathen, die leicht auf Thätlichkeiten übergehen konnten, denn auch der alte Klingsohr war, wie Lucinden aus dem plattdeutschen Examen, das der Kronsyndikus bald mit Postillonen, bald mit Gensdarmen über »etwa Vorgefallenes« oder Vorkommnisse des Feldbaues anstellte, vernehmlich wurde, eine heftige Natur, zäh und eigensinnig in seinen Ueberzeugungen. Der Pacht, der nur noch einige Jahre lief, war ihm vom Freiherrn gekündigt worden ... Und gib Acht, Jérôme, schloß der Vater in seinen Anklagen, wir werden erleben, daß er uns noch allen als Zuchtruthe gesetzt wird, denn Enckefuß will und muß versetzt werden! Geschieht das, so kauft sich Klingsohr ein Eigenthum, läßt sich wählen, und unter den drei Candidaten angesessener Bewohner des Kreises, die wir vorzuschlagen das Recht haben, wird von oben her kein anderer zum Landrath gewählt werden als der erprobte Herr Theilungscommissar!

Lucinde hörte allen diesen Gesprächen mit der Erwartung zu, im Verlauf derselben würde vielleicht der Name der Schreckgestalt, der Mäusefängerin und Giftpfeilbesitzerin genannt werden. Doch war der Umfang an Lebensbezügen und Erinnerungen des Kronsyndikus so außerordentlich groß, daß er unausgesetzt Neues aufs Tapet brachte und zum Alten, wo es nicht den Deichgrafen betraf, selten zurückkehrte. Der Kammerherr setzte dabei seinen gewohnten Unterricht Lucindens durch Erklärungen fort. Auseinandersetzen, erläutern, dociren war sein Steckenpferd. Fürsten, Grafen, Bischöfe und Erzbischöfe wurden dabei wie die gewöhnlichsten Menschen sogar einfach mit Vornamen genannt. Alles, was Lucinden bisher hoch und unerreichbar geschienen, zeigte sich ihr hier ganz menschlich und von den allgemeinen Leidenschaften aller beherrscht. Für ihre Bildung und Lebensauffassung mußte daraus, wie durch die Erfahrungen im Hause des Stadtamtmanns, sich mancherlei ergeben. Wer den ersten Blendzauber, den die Großen der Erde verbreiten, auszuhalten oder ihn allmählich in nächster Nähe erblinden zu sehen Gelegenheit gehabt hat, wird leicht für alle Lebensverhältnisse eine Entschlossenheit und Thatkraft bekommen, die vor keinem Ziel des Ehrgeizes mehr zurückschreckt.

Schon lange, ehe man, langsam die sanft aufsteigenden Anhöhen zum Schlosse emporfahrend, an diesem angekommen war, hatte man zur Rechten den zwar noch laublosen, aber schon von Spatzen, Amseln, Goldammern belebten großen Park neben sich liegen. Die Umwandelung eines Waldes in diese regelrechte und kunstmäßige Zierlichkeit, mit zuweilen durchschimmernden Erlenbrückchen, kleinen von Hängeweiden bestandenen Inseln, künstlichen Felsgrotten, Wasserfällen, stammte schon aus dem vorigen Jahrhundert. Auch die erwähnten Pavillons mit Galerieen und chinesischen Dächern wurden sichtbar. Ein solcher, der auf der andern Seite lag und im untern Geschoß von einem alten Schloßdiener bewohnt wurde, sollte ganz für Lucinden eingerichtet werden, falls sie nicht vorn bei Vater und Sohn im Schlosse wohnte. Die sittlichen Vorstellungen des Kronsyndikus schienen von sogenannten Vorurtheilen völlig frei zu sein. Selbst wenn sein Sohn zu Lucinden in Verhältnissen gestanden hätte, in denen dieser nicht stand, würde er darüber mit Unbefangenheit gescherzt haben.

Schloß Neuhof bot in seinem Hofe und in den Seitenbauten ein großes Oekonomiewesen. Den einen Theil seiner Besitzungen verwaltete der Freiherr selbst. Da gab es Ställe voll Rinder und Schafe, in der Ferne Ziegelöfen, eine Branntweinbrennerei, eine Brauerei, deren Grundstoffe und Erträge im beständigen Verkehr um das Schloß herum kamen und gingen und die nächsten Räumlichkeiten desselben so unschön wie möglich erscheinen ließen. Menschen umgaben den Besitzer von allerlei, aber durchgehends untergeordneter Art. Ihm mußte man nur dienen, nur gehorchen; Weisungen von andern anzunehmen war seine Sache nicht. Von jeher hatte er auch deshalb Frauen lieber um sich leiden mögen als Männer. Gleiches, Ebenbürtiges, Höheres, zu dem er aufblicken mußte, duldete seine hohe Meinung von sich selbst nicht. Seine tyrannische Art schlug mit einer Handbewegung um sich und scherzte mit der andern. Ihm kam nichts auch nur, wie er's zu nennen pflegte, »bis an den Nabel«. Er hatte immer recht, ob nun eine andere Fütterung für verkommene Schafe oder der Bau eines neuen Ofens für die Ziegelei beantragt wurde. Die Mägde, die Knechte, die Verwalter der vielen Zweige, in denen gearbeitet und Gewinn angestrebt wurde, alle standen in der Regel in den Fällen, wo's, wie er sagte, »auf Grütze im Kopf« ankam, »wie die Heuochsen« und waren die Dummköpfe selbst. Er nur wußte alles und entschied alles. Und dann, wenn Er den »rechten Zapfen« eingeschlagen hatte, Er »den Nagel auf den Kopf getroffen«, Er irgendeinmal »den Karren wieder aus dem D. geschoben« hatte, mußte alles den Kopf schütteln und ohne viel Worte gleichsam nur ein: »Aber man muß sagen, unser gnädigster Herr –« mit den Augen andeuten. Wer das verstand, traf den Ton, in dem er die Menschen mit sich verkehren haben wollte. Es war dann schon vorgekommen, daß er in solchen Fällen, wo Er allein »dem Ding auf die Beine geholfen«, die Börse zog und einen Thaler austheilte, nur damit sich die Ochsen, die Esel, die Rindviecher dafür, daß sie sich ihm gegenüber als solche bewährt und bekannt hatten, einen guten Tag machten.

Lucinde wurde unter zahlreichen neuen Menschen eingeführt als eine durch Familienbekanntschaft Empfohlene, der das Land nützen und die wiederum auch dem Lande nützen sollte. Da der Kammerherr nicht aufhörte, seine Liebe mit einer niemand an sie heranlassenden Eifersucht zu schützen und seine Sorgfalt, Obhut und Zartheit gegen sie die gleiche blieb, so durchkreuzte er die Plane des Vaters, der nicht wenig Lust bezeugte, der Rival seines Sohnes zu werden. Lucinde wohnte im Schlosse selbst nur bis zu dem Tage, wo mit dem mächtig hereinbrechenden Frühling eine Menge benachbarter Adelsfamilien erschienen und sie in den für sie bestimmten Pavillon des Parks zog. In dieser Zeit der Besuche mußte sie sich vom Schlosse sogar ausdrücklich fern halten.

Vom Pavillon aus beobachtete sie die vornehmen Gäste, die kamen und gingen. Liebliche junge Mädchen, auch Kinder umschwärmten einige Stunden lang, während der Hof sich mit Livreen füllte, einen Weiher im Park. Besonders anmuthig war eine Comtesse Paula von Dorste-Camphausen, eine zarte, schlank aufgewachsene und, wie es schien, kränkelnde Blondine mit langem goldenen Haar, kaum zwölf Jahre alt und schon zur Reife entwickelt. Ihre treueste Begleiterin war ein kleiner schwarzer Lockenkopf, den man Armgart von Hülleshoven nannte. Auch flüchtig sah Lucinde jene Portiuncula von Tüngel, aus dem Geschlecht der Tüngel-Appelhülsen, die in diesen Tagen und bei diesen Berathungen und Bewillkommnungen durchaus die Kammerherrin von Wittekind, die Gattin eines Geistesschwachen, werden sollte. Sie sah sie eines Tages wieder, als sich der Park plötzlich mit Menschen gefüllt hatte. Sie war nicht auf diese Ueberraschung gefaßt gewesen. Sie hatte sich in träumender und verdrießlicher Langeweile für sich allein in ihrem Pavillon geschmückt und mußte an den Parkweiher, weil der Kammerherr, wie sie von den alten Leuten, bei denen sie wohnte, erfuhr, ihr im Vogelhause alle ihre Nähapparate versteckt hatte. Dorthin wagte sie sich. Sie hatte sich in einem vom Kammerherrn mit Goldlackfarbe bemalten schöngeformten Kahn, zu dem ein zierliches mit Goldfarbe gleichfalls überzogenes Ruder gehörte, an das in der Mitte befindliche Haus voll türkischer Enten, Tauben und Schwäne, die in drei Stockwerke vertheilt waren, hinrudern wollen, indem gerade die ganze Gesellschaft vom Schlosse kam. Alles eilte voll Staunen näher. Es war die phantastischste Ueberraschung, die man sehen konnte. Der Teich, der goldene Kahn, die schöne Schifferin ... Und der Kammerherr selbst konnte, da der Vater nicht sogleich in der Nähe war, dem Drange nicht widerstehen, der Welt seine wahre Liebe genauer zu zeigen. Lucinde erschrak und flüchtete sich in das Vogelhäuschen. Es bestätigte dieser Anblick die Sage, daß sich der Kammerherr Jérôme auf Schloß Neuhof ein Elfenkind hütete.

Es folgte aber eine heftige Scene mit dem hinzukommenden Kronsyndikus. Die phantastische Schifferin stieg über den Lärmen in die Pagode hoch hinauf und kletterte bis an die obere Spitze, die in einem buntgemalten Taubenschlage endigte. Da flatterte es, als sie dort richtig ihr Nähzeug entdeckte, von allen Oeffnungen heraus, während der Kahn, den sie nicht befestigt hatte, inzwischen ans Ufer schwamm. Nun wollten die Herren der Gefangenen zu Hülfe eilen; aber der Kronsyndikus machte dem Vorfall durch kurze und entschiedene Befehle ein Ende. Er kündigte auch die eben erfolgte Ankunft seines ältesten Sohnes an.

Alles mußte jetzt den Park verlassen und den Regierungsrath von Wittekind begrüßen ...

Lucinde bekam so die Freiheit.

Bis die Bediente den Kahn zurückgerudert hatten zur Insel, saß sie unter den Tauben, die allmählich wiederkehrten, und konnte Betrachtungen anstellen über alles, was zwischen ihrem Taubenschlag auf dem geflickten Schindeldach in Langen-Nauenheim, dem Taubenschlag unter dem Küchenherd der Frau Hauptmännin und dem hier auf der chinesischen Pagode im Park von Schloß Neuhof für sie an Erlebnissen in der Mitte lag.

11.

Schon war für Lucindens Ehrgeiz eine Zurücksetzung, wie sie sie jetzt erlebte, wenig geeignet. Manchmal, wenn sie bei offenem Fenster in ihrem Pavillon saß, war es ihr, als wenn sie sich in der That doch nur eine aufs Land hin vermiethete Nähterin erschien. Sie saß und besserte wirklich nur Wäsche aus. Es war allerdings ihre eigene. Sie hatte um ihre Schwester fortgesetzt noch Trauer anlegen wollen und begehrte neue schwarze Kleider; der Kronsyndikus hatte sie ihr abgeschlagen, da der Anblick seinen Augen nicht wohlthäte, eine Aeußerung, die sie den alten Leuten wiederholte, bei denen sie wohnte, und die von diesen mit einem tiefen Seufzer aufgenommen wurde ... Ueberhaupt fiel ihr der Druck, unter dem hier auf dem Schlosse und in seiner nächsten Umgebung alles lebte, immermehr auf. Ja, sie selbst empfand ihn schon. Als sie wegen der verweigerten Garderobe wollte zu schmollen anfangen, rief der Kronsyndikus ein so starkes und drohendes Halloh! daß sie erbebte und diesen Ruf, dies Zusammenziehen der gelbweißen buschigen Augenbrauen nie wieder heraufbeschwören mochte.

Während auf dem Schlosse eines Tages wieder eine glänzende Gasterei stattfand, trieb es Lucindens Ungeduld und verletzte Eitelkeit ins Freie.

Hinter dem Park gab es erst ein Feld und eine Reihe von Obstbäumen zu durchstreifen, dann öffnete sich ein grüner Grund, und tief hinab ging in allmählicher Abdachung eine enge Bergspalte, die sich erweiterte zum schattenreichsten Waldesgrün, wieder dann enger wurde und sich so in gleicher Abwechselung fortzog bis zur Ebene hin, aus der zunächst die Thürme eines Franciscanerklosters, Himmelpfort genannt, herübersahen, dann die des Stifts Heiligenkreuz und der Dom der uralten Stadt Witoborn.

In diesem Einschnitt zwischen zwei oben ganz wie in der Ebene liegen bleibenden Saatfeldern wucherte die Pracht des Waldes. Im Winter mußte diese Spalte mit Schnee überfüllt sein. Auch jetzt im Frühjahr, wo überall der Boden schon trocken, glänzte hier noch alles feucht. Von den Felswänden tropfte es zwischen Moos und Farrnkräutern hin. Ein Bächlein bildete sich unversehens. Es rieselte unter Haselnußbusch und Schlehdorn über ein verworren steiniges Bett. Mancher Felsblock schien den Lauf des Bächleins ganz zu versperren, doch plötzlich brach es irgendwo mit stiller, sich gleichbleibender Stärke wieder hervor. Dann aber wurde die Spalte weiter, die Bäume wurden höher und höher, Tannen ragten mit geradlinigem Wuchse, tiefer ab kamen Eichen, die von einer kurzen Strecke des weißesten Sandes, dann Buchen, die von kurzem Grase umgeben waren. Querdurch gingen Fußwege von da und dorther und zuletzt ein schmaler Reitweg dicht vor dem Eintritt in eine riesige Gruppe uralter Eichenstämme, die man den »Düstern Bruch« oder den Düsternbrook nannte. Von hier aus konnte man bequem wieder die Seitenwände des Grundes emporklimmen und kam dann wieder in der Hochebene an, wo über grünen Saaten die Lerchen stiegen und die Gegend sich hinzog, so gleichförmig, so eben als wenn dieser Grund gar nicht vorhanden war. Und doch führte er allein, wie die große Hauptstraße, die vorm Schlosse vorbeiging, auf das allgemeine Niveau des Landes zurück. Ueber dem fernen Tiefland lag das Schloß wol gegen tausend Fuß hoch. Fünf Regierungen besaßen hier Enclaven; nur nach Westen zu gehörte alles ausschließlich jener Krone, in deren Diensten der älteste Sohn des Freiherrn, der Regierungsrath, stand und sein, wie es schien, einziger nächster Freund, der Landrath, ehemalige Husarenrittmeister von Enckefuß, gewöhnlich »der schöne Enckefuß« genannt.

Vor der stechenden Nachmittagssonne boten die Schatten des Düsternbrook heute den erquickendsten Schutz. Es rieselten zwar noch die kaum geschmolzenen Schneereste, die sich in den Felsspalten festgefroren hatten, jeder Schritt war glatt und gefahrvoll; aber Lucinde hielt sich an den schon allmählich ihr Laub treibenden Büschen und suchte das von würzigen Kräutern duftende niedere Thal zu gewinnen. Belebt war es von allem, was nur in den ersten Frühlingstagen auf den Bäumen mit Gurgeln, Zwitschern, Schnabelwetzen der allernärrischsten Art wieder die Wonne erprobt, sich von dem Nochvorhandensein seiner alten Stimmittel überzeugen zu können.

Lucindens Sinn ging dabei brütend auf irgendeinen zu fassenden Entschluß. So wie sie jetzt da war, den runden Strohhut mit schwarzem Band in der Hand, in die Weite zu gehen und gar nicht zurückzukehren, war noch das Leichteste, was sich ausführen ließ gegen eine Lage, in deren Erwartungen und Aussichten sie sich betrogen hatte. Daß ihr Sinn Gedanken der Rache nicht unzugänglich war, wissen wir. Düster zogen sich ihr die dunkeln Augenbrauen zusammen, manche rasch gebrochene Blüte zerriß, ja zerbiß sie, manches junge, kaum ganz entrollte Blatt zerkaute sie, so bitter es schmeckte ... Immermehr gerieth sie in einen Zorn, wo die bei dunkeln Augen eigenthümlich schon vorhandene leichte Entzündlichkeit der obern Wangen sich immermehr steigerte und den heißen Lichtern noch dunklere Schatten gab.

Vom Düsternbrook her störte sie jetzt Geräusch. Bald waren es Axtschläge, bald der gleichmäßig klingende Ton einer Säge.

Als sie näher kam, bemerkte sie einen Arbeiter vom Schloßhof. Sie neckte sich zuweilen mit ihm. Es war ein fremder Arbeiter vom Westen her, ein gelernter Küfer, der auch für die Brauerei, Brennerei und die Milchwirthschaft des Kronsyndikus mit Fleiß und Geschick große Gefäße baute, Bottiche von gewaltigem Umfang, Tonnen in allen Größen. Rüstig arbeitete er vom Morgen bis zum Abend und zog sich seine Hülfsgesellen selbst; er hieß Stephan Lengenich und war landeinwärts einer der eifrigsten Kirchenbesucher. Auf dem Schlosse selbst gab es eine Kapelle, doch wurde in ihr nie die Messe gelesen, obgleich der Kronsyndikus von sieben Pfarreien und dem Kloster Himmelpfort selbst Patronatsherr war. Seit Jahren stand er mit seiner Kirche auf gespanntem Fuß und duldete auch z.B. nie, daß die Franciscaner Schloß Neuhof betraten, eine Maßregel, die durch die Auslegung der Polizeigesetze über das Terminiren der Bettelorden von seinem Freunde, dem Landrath, dem »schönen Enckefuß«, nach Kräften unterstützt wurde.

Ei, Herr Lengenich! rief Lucinde mit ihrer etwas tiefliegenden, nicht starken Stimme; schon wieder eine von den heiligen Eichen des Bonifacius umgehauen? Wenn Ihnen nur nicht einmal so ein alter Heidengott dabei erscheint und Ihnen was anthut!

Stephan Lengenich sah auf und meinte in der That:

Machen Sie keine Scherze, Mamsell Schwarz! Aber es muß ja sein! Die alten Fässer faulen und es geht mit dem Brennen der Kartoffeln ins Weite ...

'S ist recht, sagte Lucinde in der treuherzig derben und ruhig sichern Art, die den ihr geläufigen Volkston jetzt schon mit Bewußtsein festhalten konnte, s' ist recht! Man soll nicht neuen Most gießen auf alte Schläuche!

Stephan Lengenich horchte ...

Lucinde zeigte, daß sie eine Schulmeisterstochter war, auch ein Jahr bei einem Pfarrer gelebt hatte, und fuhr weiterschreitend mit künstlichem Pathos fort:

Niemand flicket auch ein altes Kleid mit einem Lappen von neuem Tuche, denn der Lappen reißet doch wieder vom Kleide und der Riß wird ärger. Adjes, Stephan! Betet ihr einmal ein Ave Maria für eine andere arme Seele als die der Lisabeth, so schließt auch unsereins ein!

Damit ging sie, ohne die Antwort des Arbeiters abzuwarten, den sie an ein allbekanntes Verhältniß mit der ersten Beschließerin des Hofes erinnert hatte.

Lucinde schlug den kürzern Weg jetzt wieder zur Anhöhe ein. Es war ein steilerer, aber von Steinen unterstützter Pfad, der zur obern Anhöhe der Schlucht führte.

Sie war auf der Hälfte dieses etwas mühseligen Weges, als sie hinter sich laut reden hörte.

Sie wandte sich und sah, daß Stephan Lengenich mit einem nach ihr Gekommenen in einem lebhaften Gespräch begriffen war. Widerhallte so schon in dieser Stille an den Bergwänden jedes gesprochene Wort, wie viel mehr noch ein Zank, der allmählich heftiger geführt wurde.

Eine schlanke Gestalt in schwarzem Sammetkittel, weiten Sommerbeinkleidern und einem grauen, mit einem Zweig geschmückten Hut konnte von ihr nicht im Gesicht betrachtet werden, da der Sprecher rückwärts stand. Aber der Stimme nach war es ein junger Mann, nicht, wie sie im ersten Schreck über den Lärm vermuthet hatte, der Deichgraf selbst, der als Theilungscommissar, wie sie wußte, über den Düsternbrook und die dortige Baumfällberechtigung mit dem Kronsyndikus in Streit war.

Hat es der Freiherr befohlen? Ausdrücklich befohlen? fragte der Hinzugekommene mit heftiger Entrüstung.

Guten Morgen! war Stephan Lengenich's Antwort, während er weiter sägte.

Gestern noch stand die Eiche! Das muß erst die Nacht geschehen sein! Sie haben keinen Auftrag dazu gehabt!

Guten Morgen! sagte der Küfer und sägte weiter.

Will man uns mit Gewalt aufs Aeußerste bringen? Antwort! Red' Er!

Herr! richtete sich jetzt der Arbeiter zornfunkelnd auf und deutete auf den rothen Strich einer Mütze, die er trug, womit er andeuten wollte, daß man einen noch in der Landwehr befindlichen Soldaten nicht mit Er anredete. Sich aber beruhigend, fügte er dann weiter arbeitend spöttisch hinzu:

Guten Morgen!

Vom Düsternbrook gehört nicht eine Eichel der Herrschaft! Es ist Gemeindewald und seine Privatnutzung ein Misbrauch, der nicht fortbestehen kann!

Nicht eine Eichel? Suchen Sie hier Eicheln?

Stephan Lengenich sprach diese Anzüglichkeit auf Thiere, die man mit Eicheln füttert, ganz im boshaften Geiste seiner Herrschaft.

Im ersten Augenblick trat der junge Mann einige Schritte vor und rief: Kerl! Dann besann er sich wol auf den ungleichen Kampf und sagte sich langsam entfernend:

Nehmt euch vor meinem Vater in Acht! Er legt nächstens den Grenzstein und dann werden ihn die Gensdarmen zu bewachen wissen!

Damit schritt er, verfolgt von einem Hohnlachen des Arbeiters, langsam weiter.

Bei der Gewißheit, endlich des mehrfach besprochenen frühern Freundes und Studiengenossen des Kammerherrn, der durch eine Abhandlung über das sogenannte Bienenrecht Doctor der Rechte geworden war, ansichtig zu werden, wandte sich Lucinde, ihn doch nun auch deutlicher zu sehen.

Dabei glitt einer der Steine aus, die sonst das Aufsteigen erleichterten.

Der Fall weckte die Aufmerksamkeit des Doctors, wie er gewöhnlich im Gespräch auf Neuhof genannt wurde. Auch er wandte sich und bemerkte die Nähe eines jungen, in dieser einsamen Umgebung überraschend auftauchenden Mädchens.

Er zog den breiten Krempenhut und grüßte.

Beide schritten weiter, er den Weg, den sie eben zurückgelegt, den Grund hinauf, sie den parallelen, aber oben auf der Hochebene.

Sie hatte den Eindruck keines schönen Mannes empfangen. Der Doctor mochte wenig über einige Zwanzig zählen, hatte aber schon das Ansehen eines Dreißigers. Der Kopf war ausdrucksvoll, aber das kurzlockige, etwas röthliche Haar war an den Schläfen und der Stirn schon ausgegangen. Der Bart war gepflegter, aber noch röther als das Haar. Er hing über Lippe und Kinn herab wie bei einem Soldaten; und an entstellenden Schmarren fehlte es auch nicht auf Wange und Stirn, ja sogar auf der Nase, Schmarren, deren Ursprung sie gleich hinzubringen wußte. Nach den Erzählungen des Kammerherrn waren es Duellnarben.

Die Tracht des Doctors war die leichteste; kaum daß um den magern Hals ein dünnes Tuch gelegt war. Die Brust stand fast offen. Handschuhe fehlten ganz.

Lucinde hatte seit den Erinnerungen an Oskar Binder und dessen Freunde in der Residenz einen Abscheu vor allen Stutzern und geschniegelten Männern. Viel Aeußerlichkeit war überhaupt bei den Herren nicht Sitte, die auf Schloß Neuhof kamen; die Gewohnheiten der reichsten Leute hier waren in diesem Punkte einfach. Grafen gingen wie Bauern. Nur der Landrath, der »schöne Enckefuß«, hielt die Erinnerung an die Zeiten, wo er wirklich schön gewesen sein mochte, durch eine gesuchte Toilette, festgeschnürte Taille, gefärbte Haare, Bart, Augenbrauen, ja, wie man behauptete, gemalte Wangen und Schläfe aufrecht ... er konnte seine Triumphe als Rittmeister der Husaren nicht vergessen und blieb, ob er gleich schon einen großen Sohn hatte, der Beau der Gegend, der Petit-maître von der Stadt Witoborn an bis auf Schloß Neuhof.

Die studentische Art der Erscheinung des Doctors paßte vollkommen in den Rahmen der verworrenen Erzählungen, die der Kammerherr, wenn er in seinen renommirenden Erinnerungen kramte, von dem akademischen Leben desselben zu geben pflegte.

Bald gingen Lucinde und der Doctor in ganz gleicher Linie.

Lucinde konnte sich oben nur am schmalen Rande des Grundes halten, denn zu ihrer Linken hin gab es kaum einen Weg; die junge Getreidesaat ging bis dicht an den Rand des Abhangs.

Es entspann sich trotz der ansehnlichen Distanz ein Gespräch über das Misverhältniß der Ansprüche, die sich bei der Regulirung der bäuerlichen und grundherrlichen Verhältnisse ergeben hatten. Der Doctor fragte, als Lucinde darüber sich ganz unterrichtet zeigte, ob sie denn zu den auf Neuhof oben versammelten Herrschaften gehöre?

Nicht zu den Herrschaften! Zu den Dienern! antwortete sie und balancirte auf dem schmalen Pfade hin, wohl wissend, daß sie nicht wie eine Dienerin aussah.

Sie sind doch nicht etwa gar das Elfenkind, das mein alter Freund, der Kammerherr, jenseit der Wälder an einem Schilfteich gefunden hat?

Ja freilich! Das bin ich! sagte sie und sprang nun mehr als sie ging.

So werden Sie, sagte der Doctor, trotz der Tüngel'schen Familie, deren Appelhülsener Linie zurückgekommen ist, Frau von Wittekind werden! Ich gratulire! Einen bessern Mann kann sich eine Frau nicht wünschen! Dann müssen Sie aber zu uns nach Göttingen ziehen! Lernen Sie reiten! Oder können Sie's wol gar schon? Um so besser! Wir machen Sie zur Conventsseniorin, falls Ihr Mann nicht aus Rücksicht auf die göttinger Fensterscheiben sofort wieder relegirt wird! Denn er bekannte Ihnen doch wahrscheinlich seine alte Leidenschaft, in Göttingen keine ganzen Fensterscheiben und Laternen sehen zu können? »Nacht muß es sein, wo Wittekind's Sterne strahlen!« Die göttinger Laternen, ohnehin nicht die hellsten, kosteten ihm einen Theil seiner glücklicherweise guten Wechsel.

Diese Liebhaberei, erwiderte Lucinde, ist noch immer nicht so schlimm gewesen wie die einiger seiner Ahnen, die keinen Dachdecker auf einem Thurm sehen konnten, ohne nicht das Gelüst zu haben, ihn herunterzuschießen.

Aha! rief der Doctor. Sie sind eingeweiht! In deutsche Staats- und Rechtsgeschichte!

Lucinde verschwieg, daß es der Kammerherr mit Vögeln noch so machte. Man ließ ihm deshalb nur eine Windbüchse; in schlimmen Anfällen richtete er auch mit dieser die grausamsten Verheerungen an.

Der Doctor schien aufmerksamer geworden und suchte Lucinden näher zu kommen, was ohnehin durch seinen aufsteigenden Weg von selbst geschah ...

'S wäre ganz gut, sagte er, wenn einmal in diese Menschenrasse frisches Blut käme! Ich bin an und für sich ganz für diese alten Geschlechter und mag sie leiden, aber sie sollten sich nicht untereinander kreuzen, sondern zur Inoculation des Volks benutzen; das gäbe einen Nachwuchs wie der der alten Angelsachsen und Normannen, der jenseit des Kanals noch immer so stattlich ist. Wenn wir Deutsche ein Princip haben, das vernünftig ist, wie die Adelsidee, so reiten wir's leider auch immer gleich zu Tode!

Lucinde erwähnte ganz dreist seine Abhandlung über die Bienen.

Was? Wie? Wissen Sie davon? rief der Doctor. Nun ja! Im Bienenstaat liegt mehr Weisheit als in Dahlmann's »Politik«, zu der er keinen zweiten Theil schreiben kann. Auch die Bienen pflanzen sich mit vernünftiger Aristokratie fort. Ein Ei, aus einer schlechten Arbeitszelle in eine Königinzelle gebracht, gibt eine Königin. Wir werden erst die Probleme der Geschichte dann lösen, wenn wir ein Mikroskop erfunden haben, groß genug, das Leben und Weben eines durchsichtigen Bienenkorbs zu gleicher Zeit zu beobachten. In China, in Indien ist es mir manchmal als wenn man das Bienenleben schon seit Jahrtausenden besser kennt als bei uns.

Da Lucinde von dem schmalen Rasen immer ausglitt, rief ihr der jetzt ganz Nahegekommene:

Sie gehen schlecht da oben! Ich biege hier die Zweige zurück, so kommen Sie herunter!

Dann müßt' ich wieder wie Sie steigen! sagte sie und blieb.

Bei dem Versuch, den der Doctor machte, ihr zum Niedersteigen das Gestrüpp der Büsche wegzubiegen, fiel von oben her das Licht auf ihn günstiger. Der Hut wurde ihm gerade von einem zurückgehenden Zweige weggenommen; so sah sie einen scharfen, durchgeistigten Kopf. Daß in ihm Leidenschaften zuckten, daß in dem großen wie luftblauen Auge eine Unbestimmtheit schwamm, so groß und weit, wie eben die Luft und das Meer selbst, konnte sie mit ihren jungen Jahren noch nicht unterscheiden, aber das Gefühl einer außerordentlichen Kraft strömte ihr aus diesem an sich harten und unschönen Antlitz, aus diesen unabsehbar weiten, hellen und wie schwimmenden Glaskugelaugen entgegen.

Warum sind Sie aus Göttingen hier? fragte sie. Stehen Sie Ihrem Vater in seiner undankbaren Arbeit bei?

Schon daß Lucinde fragen konnte, schien ihren Begleiter hoch zu erfreuen. Mit den meisten Mädchen dieser jungen Jahre kann man ja stundenlang gehen, und sie wissen nichts als ein empfindsames Ja! oder Nein! Sie lächeln halberschrocken zu allem und jedem und nennen auch späterhin noch die eigentlich eitelste Versunkenheit in sich selbst ihr schweigsames Gemüth.

Der Doctor erzählte, daß sein Vater aus dem Pachtverhältniß zu dem Kronsyndikus sich zu lösen und ein eigenes Gut zu kaufen beabsichtigte. Zu dem Ende glaubte er des einzigen Sohnes Beistand nöthig. Leider, fügte dieser hinzu, bin ich kein so fermer Advocat geworden, wie er hoffte. »Grau, Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldener Baum«, nämlich der, auf dem die vollwichtigen Pistolen wachsen!

Lucinde wußte schon von Eibendorf und Neuhof her, daß man hier zu Lande die Goldstücke Pistolen nennt. Jeder Gegenstand, den der Kammerherr taxirte, wurde nach Pistolen berechnet.

Vielleicht könnten Sie den Streit zwischen dem Kronsyndikus und dem Deichgrafen beilegen? sagte sie.

Unmöglich, mein Fräulein! erwiderte der Doctor. Das sind Gegensätze, die uralt sind. Schon an dem öden Strand der Elbe, wo sich beide kennen lernten, soll mein Vater sich durch das Abzählen der hannoverischen Sandkörner gegen die holsteinischen als Deichgraf unmöglich gemacht haben. Es gibt solche große Charaktere, die gerade zwei Minuten vor halb sieben und zu keiner Secunde anders einen Gegenstand abgemacht sehen wollen. Sie halten die Hand aufs helle, lichte Feuer wie Mucius Scävola, nur um ihren Muth zu beweisen. Versöhnung? Mein Vater konnte sehr leicht von Napoleon eine Kugel vor den Kopf bekommen, denn er fing die Befreiungskriege nach seiner Uhr an. Gerade zwei Minuten vor halb sieben! Der Tugendbund hatte gesagt: Zwei Minuten vor halb sieben steht jeder Patriot an der Spritze, und mein Vater hielt sich an die Ordre. Ob nun die Um stände bewiesen, daß die Schlacht bei Dresden ganz unzweifelhaft für Napoleon gewonnen war, ob es noch ganz im Unklaren blieb, ob die Oesterreicher in die Allianz treten würden – mein Vater nahm die Schlacht bei Leipzig schon für geschlagen und gewonnen an. Der Deichgraf sammelte Mannschaften, bewaffnete sie und stürmte die Zollhäuser der westfälischen Regierung. Zwei Tage lang war Deutschland frei vom Tyrannenjoch; dann aber eine Gewehrsalve von bückeburg-westfälischen Grenadieren, die Napoleon's Arrièregarde bildeten, und die Patrioten waren auseinander gesprengt. Mein Vater hinkte mit verwundetem Fuß in den Teutoburger Wald, wo er jede Stelle kennt, an der einst Arminius bivouakirt hat und sich an dem Meth erquickte, den ihm Thusnelde bereitete. Da irrte er proscribirt umher. Auf hundert Thaler hatte man seinen pünktlichen Kopf angeschlagen. Glücklicherweise half ihm aber der Geist des alten Arminius und Mutter Thusnelde. In den Schluchten blieb er unentdeckt und war dann wieder der Erste, der nach der Schlacht bei Leipzig auf die Externsteine zum Aufruf des ganzen westlichen Deutschland eine blutrothe Fahne steckte. Mein Vater machte trotz Weib und Kind den Krieg mit und soll die Lieder von Max Schenkendorf in unserm alten burschenschaftlichen Commersbuch auswendig gewußt und überall vorgesungen haben, wie auch ich, als ich noch etwas grün zuerst in Erlangen studirte. Später hat er nicht mehr viel davon wissen mögen und von Versöhnung ist bei ihm in principiellen Gegensätzen nie die Rede!

Ueber diese Mittheilungen waren beide Wanderer oben zusammengekommen. Sie gingen unter den blühenden Obstbäumen hin dem Park zu.

Da Lucinde durch die akademischen Reminiscenzen des Kammerherrn in vielen der von ihrem Begleiter angeregten Verhältnissen heimisch war, so konnte dieser auf ihren wiederholten Vorschlag, eine Vermittelung zu versuchen, in der Charakteristik seines Vaters fortfahren.

Nein, mein Fräulein! sagte er. Mein Vater ist trotzdem, daß er nicht mehr den Schenkendorf singt und wir jetzt 1832 schreiben, in der Exaltation von 1813 stehen geblieben. Schwarzrothgold kam er aus Frankreich zurück und mußte 1817 wieder etwas anzetteln da drüben im Teutoburger Walde bei dem großen Christoph, den sie jetzt dort auf die Höhe stellen wollen, das germanische Rächerschwert in Händen. Für den deutschen Kaiser und dessen Wiederherstellung saß er drei Jahre in Magdeburg. In dieser Zeit war der frühere westfälische Kronsyndikus, d.h. Vertreter der Krone des ehemaligen Weinreisenden und spätern Königs Hieronymus bei der westfälischen Landschaft, d.h. den Ständen und Deputirten der ihm unterwerfenen Provinzen, Freiherr von Wittekind-Neuhof, immerhin so zu sagen unser Wohlthäter. Das Pachtverhältniß ging fort, ohne daß der Vater damals die vollständigen Summen auftreiben konnte. Der rüstige Grundherr trieb sie sich eben selber ein. Meine Mutter starb darüber, der Vater kam aus Magdeburg zurück und warf sich jetzt in die ergrimmteste Provinzialopposition. So hat Demosthenes nicht über Philipp von Macedonien gedonnert wie mein Vater – lieber Gott, noch dazu bei verschlossenen Thüren! – über Brücken und Vicinalstraßen. Harry Heine spricht von einem Mirabeau der Lüneburger Heide. Mein Alter war einer von der witoborner. Und wirklich, er allein mit seinen zwei Minuten vor halb sieben war's, der hier Großes durchsetzte in Ermangelung von Größerm. Ueberall, wo Sie hier einen Hemmschuh an einen Pfahl gemalt sehen und einen Finger darüber mit dem Avis: Bei einem Thaler Strafe! überall, wo an einem Kreuzweg ein Pfahl mit vier Armen steht: Hier geht's nach Mölln, nach Schöppenstedt, Schilda oder Krähwinkel! bei jeder Verbesserung in Luft, Feuer, Wasser und Erde ringsum kann er mit stolzem Bewußtsein wie ein »Sattelmeier« aus Karl's des Großen Zeit vorübergehen. Und nun ist er denen, an welchen er sich eigentlich für Magdeburg rächen wollte, der Regierung selbst, zum Bedürfniß geworden! Der vielbefähigte unruhige Mann, dem sein nächster Beruf schwer genug aufliegt, übernimmt die Regulirung der grundherrlichen Verhältnisse und führt diese richtig wieder nach dem Maßstabe: Zwei Minuten vor halb sieben! durch. Nichts schont sein Zollstock. Er zerstört den schönsten Ameisenbau, wenn die eine Seite an Hinz, die andere an Kunz gehört. Er steckt den Spaten gerade mitten durch, er trennt die Blüte vom Ast, den Schwanz der Kuh vom Kopf, es ist und bleibt der alte Deichgraf, der Mathematik und Wasserbaukunst studirte, bei Stade die Sandkörner zählte, die sich ins hannoverische Fahrwasser verloren und Holstein gehörten, und der jetzt noch Landrath werden wird, ja, zu alledem vielleicht einen Orden bekommt und zur Anerkennung für den friedlichen Verlauf aller seiner patriotischen Landstürme und schwarzrothgoldenen Revolutionen eines Tages in Sanssouci zu Mittag speist!

Lucinde wußte nicht, wie sie dazu kam, auf diese im Grunde unkindliche, aber offenbar gleichfalls aus einem Ueberzeugungseifer (nur für andere, ihr unbekannte Auffassungen) herzuleitende Auslassung fragend zu erwidern:

Sind Sie katholisch?

Der Doctor schwieg erst erstaunt und sagte dann:

»Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!« Nein, wir sind es nicht, mein Fräulein!

Am Ende des Parks durchkreuzten sich einige Wege und ein steinernes Christusbild hing über einer Ruhebank.

Lucinde war ermüdet. Sie setzte sich.

Der Doctor lehnte sich an einen Baumstamm ihr gegenüber.

Sie nahm den inzwischen wieder aufgesetzten Hut ab. Schon lange trug sie wieder ihr Haar in Flechten. Eine davon war losgegangen. Es machte ihr gar nichts, so vor einem Fremden ihre Toilette zu machen, ja sogar eine Haarnadel im Munde, zwischendurch zu sprechen:

Nein, Sie schüren nur noch den Haß! Das ist aber unrecht! Sie sollten Versöhnung stiften!

Heinrich Klingsohr war jetzt verstummt und weidete sich an dem Anblick. Lucinde sah nicht älter aus als sie war. Sechzehn Jahre und eine solche Reife des Urtheils! Fast kindische Bewegungen, die Beine übereinander geschlagen, im Schoose den Hut, die Nadel im Munde, ein Kamm aus der Kleidestasche zu Hülfe genommen, um losgegangene und verworrene Härchen im Nacken hinten zu einer kleinen Welle zu runden, und, als der Strohhut dabei zur Erde fiel und Klingsohr hinzusprang ihn aufzunehmen, den Hut ruhig auf die Füße des Steinbildes über sich gehängt ... Alles das allerdings mit bestimmtem und bewußtem Wohlgefallen an der immermehr erglühenden Theilnahme der neuen Bekanntschaft und doch ganz wie zufällig und absichtslos.

Klingsohr hatte sich jetzt gleichfalls auf die Bank gesetzt, so aber, daß er, bald das Steinbild, bald sie betrachtend, elegisch improvisiren konnte:

Am Fuße des Erlösers

Hängt ihr pariser Hut –

Und ihre dunkeln Locken

Netzt heil'ger Wunden Blut ...

Kennen Sie Heine? unterbrach er seine Parodie ...

Gewiß! sagte sie. Der Kammerherr kann ihn auswendig!

Der Kammerherr! fuhr Klingsohr, jetzt hingerissen von der Schönheit und Lieblichkeit der Erscheinung, auf: Ist es denn möglich! Jérôme –

Er stockte in seiner Rede, ergriff Lucindens Hand, zog sie an sich und sah ihr mit seinen jetzt weit geöffneten großen Augen ins erröthete, von der Wanderung und dem Schreck über sein Benehmen doppelt erglühende Antlitz ...

Und nun ein ganz kokett strafendes, kindisch mädchenhaftes: Aber Herr Doctor! womit sie aufsprang und in rascher Handbewegung den Hut ergreifend weiterging.

Klingsohr folgte wie bebend. Er konnte annehmen, daß Lucinde ihm entfloh und die Nähe des Parks benutzte, vor den Gefahren einer Fortsetzung dieser einsamen Begegnung sich zu sichern ...

Wie aber, als wenn nichts geschehen wäre, wandte sie sich plötzlich und lenkte auf das frühere Gespräch zurück mit den Worten:

Ja! Lassen Sie uns beide Frieden stiften zwischen Neuhof und – wohnen Sie auch auf der Buschmühle?

Klingsohr, über dies Vergeben und Vergessen selig und von den Künsten, die eben auch so nur Lucinde kannte, schon umstrickt, wie alle, die ihr bisher begegneten, wiederholte, wie wenn er sich auf nichts besinnen konnte:

Frieden? Was? Buschmühle?

Ja, half sie nach, zwischen Ihrem Vater und ...

Unmöglich! fuhr er sich besinnend und wild auf. Die Welt muß in Flammen stehen! Krieg! Krieg! Aller Dinge Vater ist der Krieg! singt Pindaros. Und ich respectire sogar diese alte Hünennatur des Kronsyndikus! Dies Geschlecht ist schon seit dem Tage, da Karl der Große seine Vorfahren gebunden in die Weser jagte und mit Gewalt taufte, Hadern und Streiten gewohnt und hat eine Natur dafür, auch den alten reichsunmittelbaren und kaiserebenbürtigen Dünkel, der immer hoch zu Roß sitzt und sich in seinen Rüstkammern sogar noch die Schwerter aufbewahrt, mit denen ihre Ahnen gelegentlich in Regensburg, Gotha oder Soest drüben als Landfriedensbrecher hingerichtet wurden! Die haben solche Aufregungen nöthig! Nur wir Plebejervolk verlieren immer gleich den Athem, sind zu kurz, zu dick, zu untersetzt stämmig für solche Fehden ... Kennen Sie meinen Alten?

Lucinde hatte den Deichgrafen oft reiten und fahren sehen und erkannte aus des Doctors Schilderung die kleine, corpulente Persönlichkeit eines Charakters, der, wie sie sah, vom Sohne selber aufgegeben wurde ...

Aber dürfen Sie denn drüben überhaupt sagen, daß Sie mit mir gesprochen? fragte er.

Sein Ton war wieder so zärtlich, daß Lucinde sich seiner Annäherung entzog. Und jetzt hatte er zwei Blütenzweige von einem Obstbaum über sich abgebrochen und legte den einen stumm in ihre Hand, den andern senkte er ohne ein Wort zu sagen in die Erde. Er bezeichnete damit eine Stelle, wo Lucinde seitwärts vom Wege eine Weile gestanden hatte. So redete er fast die Sprache seines Freundes, des Kammerherrn.

An dergleichen demnach gewöhnt, widersprach sie gar nicht, sondern ließ ihrer neuen Eroberung ruhig lächelnd auch diese Huldigungsform. Der Doctor pflanzte den Zweig und schwieg bewunderungsvoll.

Als die Procedur vorüber war, kamen sie an die kleine Pforte des Parkes, zu der Lucinde den Schlüssel hatte.

Ringsum war alles still, niemand kam des Weges ...

»Das Schweigen ist der Gott der Glücklichen!« flüsterte Klingsohr rings um sich blickend, und dann wieder seufzend rief er:

Jérôme! Jérôme! Wie ist es nur möglich, Jérôme!

Verdrießlich über die Anspielung auf ihr Verhältniß zum Kammerherrn erwiderte sie kurz:

Ich verstehe Sie gar nicht! Adieu!

Klingsohr folgte, blieb dann plötzlich stehen und sprach laut:

Die Linde blühte, die Nachtigall sang,

Sie Sonne lachte mit freundlicher Lust;

Da küßtest du mich und dein Arm mich umschlang,

Da preßtest du mich an die schwellende Brust!

Die Blätter fielen, der Rabe schrie hohl,

Die Sonne grüßte verdrießlichen Blicks;

Da sagten wir frostig einander: Lebwohl!

Da knixtest du höflich den höflichsten Knix!

Lucinde erwiderte lachend:

Ein so gelehrter Mann und fremde Citate?

Hüten Sie sich, mein Fräulein, rief Klingsohr, wenn ich Original werde!

Dabei streckte er wild die Arme aus. Es war eine Geberde, wie wenn er den Himmel auf die Erde herabziehen könnte.

Sie erschrak und entschlüpfte.

Am Gitter, wo sie aufschloß, wendete sie sich noch einmal ...

Ihr Begleiter war nicht mehr weiter gefolgt. Auf sechs oder sieben Schritte blieb er zurück, wie wenn er seiner Kraft nicht traute weiter zu gehen. Nur leise lispelte er ihr nach:

Engel! Seh' ich Dich wieder?

Dabei hob er die Hände empor, wie anbetend, gerade so wie der Kammerherr einst gethan.

Sie winkte, daß er gehen möchte ...

Aber es war ja ihre Sache, zu gehen ...

Klingsohr rief wieder:

Heilige!

Dann sprach er leise und innig:

Bitt' für mich! ...

Erlöse mich! setzte er dringender und fast feierlich hinzu.

Das die Umzäunung bildende geschnittene Zwergholz des Parkes verbarg sie jetzt. Sie schritt unter den hohen, noch fast durchsichtigen Ulmen, die sich über sie mit ihren halbbelaubten Zweigen wölbten, hin gleichsam wie in Lüften. Auf so ergreifende Worte, wie ihr da eben nachklangen, Erwiderungen zu geben hatte sie noch keine Schätze des Geistes, des Herzens und der Phantasie in sich.

Es war die erste Begegnung ihres Lebens mit einem Manne, die sie vernichtete.

12.

In ihrem Pavillon fand Lucinde den schon ängstlich auf sie harrenden Jérôme.

Er hatte ihr Wunderdinge zu erzählen und sie blieb aus!

Nun aber auch bestürmte er sie mit seinem Lachen, das er in der Gewohnheit hatte, wenn ihm irgendetwas nach seiner Voraussetzung besonders Kluges gelungen war.

Der Versuch, ihn bei dem großen Familien- und Nachbarsessen, das um vier Uhr begonnen hatte, und in Gegenwart des Regierungsraths, seines ältern Bruders, der Welt als einen zurechnungsfähigen Menschen vorzustellen, war vollständig gescheitert.

Nach der Mittheilung, die er von dem übeln Verlauf eines seiner gewohnten Streiche erzählte, merkte man wohl, daß sein eigener Bruder, der Regierungsrath, ihm die Gelegenheit erleichtert hatte, aus der erzwungenen Rolle zu fallen, die er unter den stechenden Augen und der zusammengezogenen Stirn seines Vaters spielen mußte.

Für Lucinden, die kaum die Besinnung hatte zuzuhören, war auch noch die Ueberraschung aufgespart, daß, wie es schien, in fröhlicher Weinlaune und im Triumph eines eroberten Sieges der Regierungsrath selbst erschien und zum ersten mal sie zu sehen verlangte.

Der von der Tafel angeregte Mann, der mit dem Vater und Bruder wenig Aehnlichkeit hatte, kam in Begleitung des »schönen Enckefuß«, der in weinseliger Laune den Arm um den Regierungsrath geschlungen hielt und der Verwilderung seiner künstlichen Verjüngungen nicht mehr zu achten schien.

Beide kamen die schmale Stiege des Pavillons herauf und reizten die Eifersucht des Kammerherrn nicht wenig durch ihre verfänglichen Grüße und Reden.

Ihren Paß, mein – Fräulein –, lallte der Landrath mit galanten Verbeugungen, die das Mobiliar des kleinen Zimmers in Gefahr brachten. Ihre Legitimation –! Carte du séjour! Ich bin –

Der Regierungsrath analysirte schon die Bestandtheile des fehlenden Passes, der für Lucinden bereits einige male lästig genug zur Sprache gekommen war ...

Augen schwarz, unterbrach er selbst den Landrath und mit staunender Ueberraschung – Nase mittel – Mund klein – Zähne – allerliebst –.

Der Landrath wollte die Beschaffenheit der Zähne untersuchen und griff nach den Lippen des ängstlich sich in eine Ecke drückenden Mädchens ...

Der Kammerherr stimmte zwar scheinbar in diese Lucinden dargebrachte Huldigung ein, wehrte aber denn doch die Hand des Rittmeisters jetzt mit einer Entschiedenheit zurück, die diesen zu dem Ausruf veranlaßte:

Sacre bleu! Herr, das ist grob!

Der Regierungsrath kam in diesem Augenblick zur Besinnung. Der Landrath war in jungen Jahren einer der wildesten Offiziere gewesen und hatte namentlich den Stolz des Landes, einen jungen Grafen von Truchseß-Gallenberg, kurz nach der Besitznahme dieser Provinzen durch die jetzt über sie herrschende Krone im Duell erschossen. Zum Landrath hatten ihn die Umstände, sein bei aller alten Husarenwildheit höchst leutseliges Wesen gemacht; sein Ehrgeiz war aber gerade jetzt um so empfindlicher gereizt, je mehr seine hervorragende Stellung durch seine Neigung zur Galanterie, seine geringen Kenntnisse von administrativen Dingen, seine Schulden und vorzugsweise die zunehmende Abschließung des Provinzialgeistes in der adeligen Sphäre auf Schwierigkeit über Schwierigkeit stieß ...

Kommen Sie, Rittmeister! sagte der Regierungsrath ablenkend. Mein Bruder ist zu beneiden! Aber er hat sein Glück verdient! Seine Genie hat sich heute die Krone aufgesetzt! Kein Trauring, Jérôme, nein, für Türck ein goldenes Halsband!

Ha, ha, ha! brach der Landrath beschwichtigt aus und konnte sich vor Lachen kaum fest auf der Treppe erhalten, die man wieder niederstieg. Während er auf Lucinden fortwährend Kußfinger und schmachtende Blicke warf, wie sie auch nur ihm, dem ewigen Jeune homme und sechzigjährigen Adonis zu Gebote standen, verhütete der Regierungsrath durch kräftige Haltung der andern Hand des Schwankenden ein Unglück, wie es beim »schönen Enckefuß« oft schon vorgekommen. Er war für seine Jahre immer noch so unternehmend, sein Reiten war von solcher Kühnheit, daß der Effect seiner stundenlangen Toiletten ihm alle Augenblicke einmal durch ein schwarzes Pflaster auf Nase oder Stirn verdorben wurde.

Die Lust und Freude im Kammerherrn war zu groß, um nicht nach Entfernung der beiden Neugierigen ganz zu ihr zurückzukehren. Er hatte während der Tafel einen Bindfaden aus der Tasche genommen gehabt, diesen heimlich um einige in seiner Nähe befindliche Flaschen geschlungen, dann Türck, einen der Hunde des Vaters, die immer in der Nähe des Mittagessens schnupperten, an sich gelockt, an den Faden ein Stückchen Fleisch befestigt und dies dann dem Thiere heimlich zugesteckt. Türck würgte daran, blieb aber noch ruhig auf seinem Platze, in Hoffnung auf mehr. Endlich aber vom Kronsyndikus aufgejagt, riß er alle Flaschen und Gläser um, übergoß das elegante neue Seidenkleid Portiuncula's von Tüngel-Appelhülsen mit Rothwein und machte, daß ihre Mutter, die hineingriff, um das theuere Kleid zu retten, sich mit den Scherben einer zertrümmerten Flasche empfindlich in die Hand schnitt. Die Verwirrung war so groß, daß nicht viel gefehlt hätte, der Kronsyndikus wäre seinerseits aus der Rolle gefallen und hätte nach dem ihm der Hunde wegen immer nahe liegenden Kantschu gegriffen und den Sohn vor allen Leuten durchgebläut. Denn daß dieser der Anstifter, war sogleich erkannt ... Die Tafel war zu Ende. Die Tüngel-Appelhülsens reisten ab, die Tüngel-Aus-dem-Winkel folgten, dann die Hülleshoven, die Ubbelohdes, Graf Münnich, die vornehmsten von allen, die Dorste-Camphausens, eines nach dem andern ...

Lucinde, die von ganz andern Gedankenreihen bewegt war, hatte zu alledem noch die lästige Aufgabe, die Furcht des Kammerherrn, der sich nun nicht getraute ins Schloß zurückzukehren, zu beschwichtigen. Der Vater ließ sich nicht sehen, ein Omen, worüber der Schuldbewußte in Angst gerieth. Zuletzt mußte sie sich selbst entschließen, in der schon eingebrochenen Dunkelheit den weiten Weg nach dem Schloßhof ihn zurückzubegleiten und ihn unter vielen Umständlichkeiten und gewagten Scherzen ihrerseits mit dem Alten auszusöhnen.

Glücklicherweise war aber der Kronsyndikus nicht allzu heftig ergrimmt. Bei solchen Familienconventen gab es immer Zank; ihm kam jede Lebensäußerung der ihm doch Gleichgestellten anmaßend vor. Da wurden Erinnerungen durchgesprochen, die ihn verstimmten; alte Wunden riß man auf, die kaum nach einer Generation ganz vernarbt waren; wieder sah er, wie alles ihn haßte und fürchtete. Dann beschäftigte ihn mit Meldungen aller Art die »Regulirung«, die schon zu einem Schreckgespenst für ihn und das ganze Schloß geworden war, da sie ihn in Sinnen und Brüten bis zur Abwesenheit mehr treiben konnte als die Narrheit seines Sohnes.

Die gute Stunde, von dem Doctor Klingsohr zu sprechen, war noch nicht gekommen, wenn auch der Abend leidlich vorüberging und die Aeußerungen des Kronsyndikus: »Ja, Lucinde, mit Portiuncula ist's nun nichts!« öfter wiederholt wurden und ganz harmlos herauskamen.

Klingsohr jedoch erschien wieder und wieder ...

Noch mehr, er machte seine Drohung wahr, sich »auch als Original« zu zeigen.

Welches die geistige Verwandtschaft zwischen ihm und dem Kammerherrn war, begriff Lucinde nicht: aber seltsam genug, daß auch bei dieser ihr dargebrachten neuen Verehrung ein Bedürfniß zu Grunde zu liegen schien, in ihr mehr zu sehen, als sie sich selbst erscheinen konnte. Auch Klingsohr schmückte sie phantastisch aus und überhäufte sie mit dem Reize von Schönheiten, die sie trotz ihrer Eitelkeit als reine Erdichtung erkennen mußte. Auch ihm wurde sie zur Erscheinung, die bald dem Reiche der Luft, bald dem Wasser angehörte. Bald war sie Sylphe, bald Undine. Sie sollte wol glauben, daß es ihr eigener Werth war, der sie den Männern so erscheinen ließ.

Es brach die Zeit eines wunderbaren Rausches für sie an, eines Zustandes, den sie in dieser Art noch nicht gekannt hatte. Sie hatte die üble Wirkung beobachtet, die schon die Nennung des Namens Heinrich Klingsohr im Schlosse hervorbrachte. Der Kammerherr lohte in Eifersucht auf, der Kronsyndikus sprach nur von der »undankbaren Bande« und bestätigte nicht nur alles, was Heinrich ihr von der Vergangenheit über ihn und den Vater gleich beim ersten Zusammentreffen erzählt hatte, sondern was sie auch aus dunkeln Andeutungen des verschwiegenen alten Paares, bei dem sie wohnte, von vergangenen und vielbewegt gewesenen Tagen entnehmen konnte.

Ja! ich habe den Schlingel auf meinen Knien geschaukelt! sagte der Kronsyndikus, als vom Doctor die Rede war. Ich habe auch die Frau erhalten, als der Elende in die Wälder lief und Aufruhr predigte. Ich habe den Pacht mir durch meinen Eifer selber verdienen müssen. Und dieser Hund will jetzt Herr über das ganze Land werden? – Fritz – er meinte den Regierungsrath – Fritz nimmt ihn auch noch in Schutz! Alle die Leute hier! Mein eigener Schwager, Graf Joseph! Aber im Düsternbrook, das sag' ich, lass' ich mich nicht um eine Hand breit aus dem alten Nutzen bringen, das schwör' ich, oder ich will in alle Ewigkeit nicht aus dem Lutterberg bei Witoborn herauskommen!

Er meinte damit: aus dem Fegfeuer; denn man glaubt in jener Gegend, daß in diesem Berge für den westfälischen Adel der Eingang zum Fegfeuer liegt.

Die Begegnung mit Stephan Lengenich war ihm natürlich auch sogleich bekannt geworden. Dieser arbeitete aber täglich frisch unten fort, fällte Stämme nach wie vor und hatte in dem Düsternbrook eine ganze Werkstatt eingerichtet. Planken und Bodeneinsätze lagen ringsum, frisch erst aus dem Walde herausgehauen und gesägt.

Da Lucinden, die einige Geständnisse gemacht hatte, jede fernere Begegnung mit dem Doctor, der »zu allem nun auch noch seinen gelehrten Senf hinzugäbe«, verboten wurde, so konnte sie mit ihm nur geheim zusammenkommen. Leider fand sie unter der Aufsicht der Alten, die mit ihr den Pavillon bewohnten und im allgemeinen mürrische und strenge Leute waren, Schwierigkeiten. Diese wuchsen so, daß sie ihren Entschluß, von allen diesen Fesseln, möchten sie für die Zukunft versprechen welches Glück sie wollten, sich frei zu machen, immermehr reifen ließen.

Ist denn das nicht die eigentliche und wahre Natur des Mannes? sagte sie sich, wenn sie sich im Geiste Klingsohr's Bild entgegenhielt. Sind denn die Männer, die das Leben zu bezwingen verstehen, wirklich solche, wie sie uns in schönen Bildern begegnen?

Klingsohr war nicht schön; er vernachlässigte sich in seiner Kleidung, er hatte etwas Sorgloses, sogar Verwildertes. Sie erfuhr, daß sein Gang durchs Leben unregelmäßig gewesen, kometenartig; sie erfuhr, daß er die Hoffnungen des immer rührsamen Vaters täuschte und sich der Uebereinstimmung mit demselben und seines Beifalls nicht rühmen konnte. Aber, was sie sogleich bei der äußern Unähnlichkeit dieser Natur mit der eines Oskar Binder gefühlt hatte, daß das Auge hier geistige Schönheiten finden würde und diese dann auch allmählich das Aeußere heben, traf immermehr zu. Wenn dieser seltsame junge Mann im Mondenschein an der Parkpforte mit ihr auch nur einige Minuten verweilte – die Eifersucht des Kammerherrn war jetzt aufgeregt und sein heimtückischer Sinn gefiel sich in den hinterlistigsten Anschlägen –, das Bild, das sie von ihm empfangen, verklärte sich immermehr zu der Vorstellung von dem Muthe, der Thatkraft der Männer überhaupt und der auch die Frauen hebenden heroischen Bestimmung derselben. Und wie verstand auch Klingsohr sein ganzes Sein mit einem poetischen Nimbus zu umgeben! Mitten in den kurzen Begegnungen, die sich allein möglich machten, brach er in Verse aus und verband dann mit der Wildheit eines Titanen, der noch die ganze Welt zusammenzurütteln gedachte, etwas Naives, Träumerisches, Kindliches wieder. Manches, was die gemessene Zeit zu sagen verbot, sprach er in geschriebenen Blättern aus, die er ihr in die Hand drückte, und schon häufte sich ihr durch Bauerknaben, Bettler und fahrende Musikanten ein geheim besorgter Briefwechsel. Daß sie auf seine Hülfe und Befreiung aus ihrer gegenwärtigen peinlichen und unbestimmten Lage rechnete, das stand damals fest, als er ihr das unwürdige und schimpfliche Loos schilderte, welches zuletzt denn doch noch ihrer im Schlosse Neuhof warten würde; Vater und Sohn, sagte er, würden zuletzt um ihren Besitz streiten und der Alte würde siegen. Sie schauderte. Klingsohr versprach, sie mit nach Göttingen zu nehmen, um sich dort, wenn der Vater die Mittel gäbe, als Docent zu habilitiren. Sie sollte sein Weib sein.

Es war gegen Ende Juni. Schon lange war die erwünschte Regenzeit angebrochen und dauerte anhaltender, als sie der Landmann nun wieder haben wollte. Die auch durch strömenden Regen nicht zu tilgenden Reize des Landlebens, der Anblick der grünen und gelb gefärbten Fluren und der berauschende Duft der Linden und Tannen blieben sich gleich; besonders von dem Schlosse Neuhof selbst aus; nach vorn bot der volle Anblick in eine Landschaft voll Mannichfaltigkeit und Schönheit malerische Fernsichten, in nächster Nähe dufteten der Park und die nahe liegenden Wälder. An dem offenen Fenster, in der linken Eckspitze des Schlosses, im ersten Stock, saß Lucinde des Tages jetzt fast ununterbrochen und suchte sich in ihrer wunderlichen Lage, die der der »Sklavin in goldenen Fesseln« nicht unähnlich war, zu beschäftigen, so gut es bei ihrem geringen Arbeitstriebe und den aufgewühlten Stimmungen ihres Innern gehen wollte. Wieder war sie ganz auf die Unterhaltung des Kammerherrn, auf seine Pflege angewiesen, denn der geistig Leidende kränkelte auch körperlich. Er gehörte dabei ganz zu den Kindern, die eine Tasse Milch nur von dieser Schwester, einen Teller Suppe nur von jener Magd wollen gereicht erhalten. Er nahm nichts als nur von Lucinden. Sonst trieb er sein altes Wesen. Er zeichnete, malte, porträtirte Köpfe, die ersten besten vom Oekonomiehofe oder aus der Brennerei, sogar Hunde und vor allen jetzt Türck, den nun von ihm besonders bevorzugten. Mishandelte er nicht die schönen Künste, so drechselte er, und wiederum verband er damit die stereometrische Philosophie des Sehers und Zukunftsphilosophen Laurenz Püttmeyer zu Eschede, einem kleinen Städtchen nördlich von Witoborn, rechtsab vom dem sogenannten großen nach dem Westen führenden »Hellwege«, der auch in der That in manchen Dingen der einzige helle Weg, die Straße des Lichts, durch eine große ägyptische Finsterniß genannt werden kann.

Das Eckzimmer gehörte zu einer Suite von Zimmern, die dem Reichthum und den gesellschaftlichen Ansprüchen der Wittekinds entsprachen. Das Schloß war geräumig, aber nicht eben luxuriös gebaut. Die nüchterne Stimmung des vorigen Jahrhunderts hatte in baulichen Dingen nur das Nützlichkeitsprincip im Auge. Desto gewählter war aber theilweise die Ausstattung. Einige dieser Zimmer waren geradezu fürstlich, sowol in der Tapezirung wie in der übrigen Ausschmückung durch Marmor, Bronze und Glas. Nicht nur die Spiegel, auch die Tische, die auf geschweiften Füßen standen, boten die reichste Vergoldung; die Platten waren von köstlichen Marmorarten und spiegelblank. In den Ecken standen Spieltische mit getäfelter und ausgelegter Arbeit von seltenem Geschmack und hohem Werthe. Das Schnitzen in Holz und Elfenbein ist von jeher in diesen Gegenden mit Meisterschaft getrieben worden. Die alten Bilder, wie die gelbsammtenen Ueberzüge der Möbel waren mit Staubvorhängen bedeckt. Diese Zimmer, wol fünf bis sechs an der Zahl, jedes in einem andern Geschmack, verzweigten sich nach den Seitenflügeln und nach der Hinterfronte mit Corridoren, die an den Wänden in ganzer Höhe, von der Erde bis an die Decke, mit Spiegeln bekleidet waren. An den Plafonds waren Malereien angebracht von einem keineswegs nazarenischen Geschmack. Einzelne Vasen, die auf Marmorgestellen die Einförmigkeit dieser Corridore unterbrachen, zeigten vortreffliche Malereien aus der Schule Albano's. Daß diese Corridore an den Wänden von rings hinlaufenden Divans, die gleichfalls mit gelbem, blumenartig gepreßtem Plüschsammt überzogen waren, begrenzt wurden, bewies, wie sie einst zu großen Gesellschaften gedient hatten. Auch fehlten alte Kronleuchter von langhängenden Krystalltropfen und Glasberlocquen nicht. An den Wänden waren Vorrichtungen angebracht zu Girandolen, immer zu fünf und fünf Flammen. Man sah es, daß hier einst ein regierender Minister eines der nahe gelegenen Fürstenthümer, dann ein quiescirter österreichischer Feldzeugmeister gewohnt hatten, dann und wann ein Erzbischof zu längerm Besuch gekommen war, alles Vorvordere, Angehörige und Verwandte des Hauses, zunächst bis auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück. Der jetzige Stammhalter liebte nicht mehr den Luxus. Doch hatte es auch bei ihm einst Zeiten gegeben, wo alles im Lichterglanz schwamm. Es waren nicht die Zeiten gewesen, wo noch die frühverstorbene Mutter des Regierungsraths und des Kammerherrn lebte, wohl aber unmittelbar darauf, wo es zuweilen hieß, die Damen, die eine Zeit lang hier hausten, wären Cousinen des regierenden Stammherrn oder Tanten und Nichten desselben. Meist aber waren es über Kassel gekommene Französinnen oder Italienerinnen, die eine Zeit lang blieben, mit Freudenfeuern empfangen wurden und plötzlich über Nacht verschwanden, ohne daß man je wieder von ihnen erfuhr. Gewöhnlich hörte man kurz vor diesen Abreisen in den eleganten Zimmern oben eine Scene, deren Charakter, um ihn volksthümlich zu bezeichnen, Mord und Todtschlag war. Dann wurde es plötzlich still; aber auch so plötzlich, wie mit Geistern im Bunde. Zuweilen zuckte noch irgendein Laut auf, irgendwo in einem der düstern Pavillons des Parks, in irgendeinem der tiefgelegenen Keller des Schlosses; dann war's für immer still. Verschlossene Wagen entfernten Nachts die von ihrem Glanz Herabgestürzten. Mit diesen Vorgängen stand, wie Lucinde im Pavillon erfahren hatte, der Name des Fräuleins von Gülpen oder der Frau von Buschbeck in Verbindung. Diese Räthselhafte war unverheirathet geblieben, war allerdings die Verlobte eines in Java dienenden Kriegers gewesen, lebte aber von keiner niederländischen Pension, sondern von einer Rente des Kronsyndikus, bei dem sie vor vielen Jahren mindestens ebenso viel gewesen war wie jetzt die Lisabeth, die von allen mit Respect behandelt wurde, obgleich sie nur eine Bäuerin war und vollkommen für Stephan Lengenich paßte. Der Kronsyndikus hatte sich nach den erinnerungsreichen Verirrungen der Vergangenheit ganz den Kreisen zugewandt, die nur unter ihm standen.

Was Lucinde von allen diesen Dingen allmählich herausbekam, verdankte sie theils Klingsohr'n, theils den alten Stammers, bei denen sie wohnte, vorzugsweise aber, da auch diese von der Vergangenheit bitter berührt zu werden schienen, dem selbst schon grauhaarigen Sohne derselben, einem buckeligen Musikanten, der im Lande herumstrich und der vorzüglichste Bote war, dessen sich Klingsohr für seinen Briefwechsel bediente.

Der Kronsyndikus wohnte im Parterre, wo sein unruhiger Sinn gleich ins Freie konnte, wenn er bei den vielen Rathschlägen und Hülfen, die er leisten mußte und die auch Er nur allein leisten konnte, rasch zur Hand sein wollte. Manchmal blieb er des Nachts ganz aus. Seine Güter erstreckten sich weit, und obgleich bei einem Theil derselben die unmittelbaren Beziehungen durch das Pachtverhältniß des Deichgrafen unterbrochen waren, so ließ er doch als eigentlicher Herr sich seine Laune, da und dort hineinzureden, nicht nehmen; bald kehrte er dann hier, bald dort ein, auf eigenem oder fremdem Gebiet.

Eines Tages war er wieder einen weiten Weg ausgeritten. Es handelte sich darum, gegen den Deichgrafen, der, um vielleicht wirklich Landrath zu werden, schon einen kleinen Gutskauf abzuschließen suchte, zwei maskirte Gegengebote zu veranlassen. Die Regierung unausgesetzt um Beförderung oder Versetzung anzugehen, drängte den »schönen Enckefuß« eine von Jahr zu Jahr sich mehrende Schuldenlast. Nun gab's Hin- und Herritte, Verhandlungen mit der Geistlichkeit, den Advocaten im nahen zum Kreis gehörenden Städtchen Lüdicke, Umtriebe, um, wenn es zum Wählen eines neuen Landraths kommen sollte, den Wahlmodus durch Zusammenlegung dieser oder jener heterogenen Districte zu paralysiren, und was sonst dergleichen Künste des Regierens und Politisirens jetzt geworden sind, von der Wahl eines Gemeindeschulzen auf dem Dorfe an bis zum Landstand und Mitglied eines Herrenhauses. Zunächst den Gutskauf des Deichgrafen rückgängig zu machen, war ein Ziel »des Schweißes der Edeln werth«. Der Haß des Kronsyndikus gegen seinen alten Freund kannte keine Grenzen, und die Vorfälle im Düsternbrook, wo der Deichgraf inzwischen mit Gensdarmen einen Grenzstein aufgestellt hatte, den jedoch der Kronsyndikus schon wieder hatte wegnehmen lassen (wofür ihm eine Citation in die Kreishauptstadt geworden), hatten das Feuer immer noch mehr geschürt.

Es war vier Uhr. Der Kammerherr saß und porträtirte seinen Hund, seinen Retter von der wie der Tod gefürchteten Ehe. Türck war von den vielen Hunden, die auf dem Schlosse knurrten und bellten, gerade derjenige, den Lucinde nicht leiden mochte. Sie nannte ihn gerade so, wie der Kronsyndikus zuweilen den Deichgrafen nannte, einen »Calfacter«, ein Wort, dessen Ursprung ihr der Kammerherr im Begriff war mit dem ganzen ihm eigenen Aufwand seiner noch haften gebliebenen Schulkenntnisse zu erklären.

Calefacio, calefeci, calefactum, calefacere, wiederholte er und fing an, indem er malte, mit sich selbst, wie er sagte, zu »certiren« und sich gleichsam von diesem oder jenem seiner alten Mitschüler übertreffen zu lassen.

Imperfectum zweite Person Singularis! rief er mit befehlender Stimme.

Dann mit lispelnder und schüchterner: Calefixis!

Falsch! donnerte er. Klingsohr, Sie!

Calefaxisti!

Falsch! Plüddemann, Sie!

Calefeceritis!

Falsch! Wer kommt! Der Folgende! Der Folgende! Herr von Wittekind, Sie!

Calefaciebas!

Bravo, Herr von Wittekind! Setzen Sie sich über Plüddemann, Klingsohr, Katerkamp und Vincke!

Diese Selbstgespräche und Selbstlobeserhebungen war Lucinde schon lange gewohnt. Oft mußte sie Zumpt's Grammatik nehmen und ihm überhören. Sie lernte selbst dabei. Früher that sie es sogar ganz gern. Jetzt aber, seit Klingsohr in ihrem Herzen lebte, unterhielt es sie wenig. Da auch Klingsohr zu den Mitschülern gehört haben sollte, die ein wie es schien doch geborener Dümmling immer übertraf, so sprach sie heute ihre Verwunderung darüber aus, erntete jedoch für die Anerkennung des Doctors eine Flut von Beschuldigungen gegen den alten Kameraden; er wisse gar nichts, er hätte auf der Universität nachholen wollen und sich nun erst recht lächerlich gemacht, da die Andern schon ihre Freiheit genossen hätten; dann hätte ihm der Deichgraf kein Geld mehr geschickt, allen wäre er verschuldet gewesen und hätte sich, wenn er nicht bezahlen konnte, nicht anders loskaufen können als durch Wetten, zum Beispiel: Zwölf Maß Goslarer Bier an einem Abend zu trinken und dann doch noch in eine Gesellschaft zum Justizrath Bauer oder zum Pandektisten Hugo zu gehen und mit den elegantesten Damen dort über den Begriff des Romantischen oder »Die bezauberte Rose« von Ernst Schulze zu streiten.

Das Bild einer wüsten Vergangenheit war Lucinden schon lange an Klingsohr nicht fremd; aber er klagte sich ja selbst an! Und zu hell leuchteten seine klugen Augen im letzten Mondenschein, zu süß war seine Rede in dem flüchtigen Augenblicke gewesen neulich, wo er zum ersten mal leise ihre Stirn geküßt hatte, zu tief und anregend war alles, was sie schriftlich von ihm durch den verschmitzten Musikanten besaß und auf dem Herzen trug, um es in jeder unbelauschten Minute zu durchfliegen. Heute hatte Klingsohr versprochen, Abends gegen sieben Uhr einen solchen Umweg zur Wohnung seines Vaters zu nehmen, daß er, heimkehrend von der Kreisstadt, wo er den Gutsankauf zu betreiben helfen sollte, am Schloß vorüberreiten mußte. Einige Blumen, die sie in demselben Augenblick, wo er an ihrem Fenster vorüber mußte, ihm entweder zuwerfen oder, wenn dies nicht möglich wäre, wenigstens an die Lippen drücken wollte, standen schon, frisch aus den Beeten des Vorparks genommen, in einem Glase bereit vor ihr.

Ihre sich kreuzenden Gedanken nicht zu verrathen, unterbrach sie den immer noch fortcertirenden Kammerherrn mit der Frage, wie denn nur sein Vater einen doch immerhin so rüstigen, thätigen, energischen und charaktervollen Mann wie seinen Pachter, den Deichgrafen, so oft »Calfacter« nennen könnte?

Plüddemann! Was ist ein Calfactor? fiel der Kammerherr zur Antwort ein.

Mit veränderter Stimme antwortete er:

Calefactor, Warmmacher, ist ein Pedell –

Pudel! unterbrach er sich selbst ...

Pudel? Wer sagt das? Klingsohr! Wer nannte hier den Pedell einen Pudel?

Große Untersuchung ... (immer spricht der Kammerherr). Kein Resultat ...

Ein Calefactor ist ein Ofenheizer, ein Mann, der's statt cale, welches bekanntermaßen nicht kalt, sondern warm heißt, warm macht, id est im Ofen ...

Katerkamp flüstert: Auch an andern Orten ...

Allgemeines Gelächter. Auch der Conrector lacht. Sintemalen vor kurzem erst sieben Quartaner übergelegt worden sind und ab calefactore warm gemacht bekamen cum Bim-Bam-Bam-Bum-Baculo!

Nun sang der Geistesschwache Studentenlieder ... mit dem Refrain des Crambambuli ...

Wie paßt das aber alles auf den Deichgrafen? fragte Lucinde, an dergleichen gewöhnt und durch das offene Fenster forschend.

Calfactor, sagte der Kammerherr, am Türck wieder fortmalend, Calfactor ist ein Subject, ein dienendes Instrument, ein Farbenreiber, ein Pinsel, eine Drechselbank, ein Pudel, der apportirt ...

Nein, nein, nein! unterbrach Lucinde. Einen Calfacter nennt man bei uns zu Hause einen Hund, ganz wie Ihren Türck, den man jeden Augenblick daran erinnern muß, wer sein Herr ist, der an jedem Stein stillsteht und schnuppert, was unter ihm stecken mag, der, wenn man ihn freundlich anredet, den Schweif zwischen die Beine klemmt und wie mit bösem Gewissen davonläuft, einen elenden Ueberläufer, der im Stande ist, nach einem halben Jahre seinen eigenen Herrn nicht mehr zu erkennen und ihn anzufallen ...

Bravissima! rief der Kammerherr. Recht, meine Heilige! So handelte der Deichgraf am Vater! So vergalt er seine Wohlthaten! Heinrich muß mir mindestens noch hundert Pistolen schuldig sein oder er hat sie wenigstens nur mit einer ausgetrunkenen Tonne Goslarer Bier bezahlt, die ich dann auch wieder auf meine Rechnung habe nehmen müssen! Sind das keine Calfacters? Der Alte war sonst ein Demagog und nun will er Landrath werden. Sind das keine Calfacters?

Lucinde erwiderte Partei nehmend:

Die Regierung ist aufgeklärter geworden; sie braucht die Unterstützung der Vernünftigen gegen die Unvernünftigen. Die Gensdarmen machen es dabei nicht allein, und wie ich gehört habe, Ihr eigener Bruder, der Regierungsrath, soll ja ganz ebenso denken und dem Deichgrafen einen Besuch gemacht haben ...

Was? Wie? Mein Bruder? schrie der Kammerherr und sprang auf.

Ich höre es wenigstens, lenkte Lucinde ein.

Man hätte erwarten sollen, der Kammerherr würde nach einer Flinte, mindestens nach seiner Windbüchse gesucht haben. Jetzt zeigte sich der schwachwillige Charakter des Kranken in dem bloßen Verweilen bei der Thatsache, in der bloßen Freude, dies dem Vater – anzeigen zu können! Lachend rief er:

Schöne Zeiten das! Ein Wittekind unter den Gensdarmen! Aber – Roma nondum locuta est setzte er feierlich hinzu.

Was heißt das? fragte Lucinde ärgerlich.

Der Kammerherr wollte wieder Plüddemann und Vincke und seine andern detmolder Schüler diese Phrase übersetzen lassen, als er vom Hufschlag eines in galopirender Eile dahersprengenden Pferdes unterbrochen wurde. Lucinde sah schnell zu dem nach der Fronte des Schlosses führenden Fenster hinaus, denn von daher kam das Geräusch. So verwegen durfte von den Leuten des Schlosses niemand in dessen Nähe reiten!

Es war aber Klingsohr nicht, sondern der Kronsyndikus selbst.

Wie kam der heute schon so früh heim? Wie kam er von einer Gegend heim, die keinen andern Zugang bot als den nach dem Düsternbrook? War er wol gar den Grund selber hinaufgeritten?

Das Pferd schäumte, und fast flog dem Reiter die grüne Mütze ab, als er mit einem gewaltigen Ruck in das offene Seitenthor des Schlosses schwenkte.

Nach dem ersten Augenblicke des Erstaunens, wie der Kronsyndikus diesen beschwerlichen Weg hatte wählen können, wollte man zur Arbeit und Uebersetzung der Worte: Roma nondum locuta est! übergehen, als Türck voll Unruhe an die geschlossene Thür sprang, die Schwelle bekratzte und hinaus wollte.

Der Calfacter! murrte Lucinde, während ihm der Kammerherr schmeichelte, um ihn zum Bleiben zu bringen.

Man mußte aber öffnen; das Thier heulte vor Ungeduld, hinauszukommen.

Bald vernahm man ein Rennen und Laufen im Hause, ein Rufen durcheinander.

Man erfuhr, daß der Kronsyndikus befohlen hatte, einen Wagen anzuspannen.

Darin lag an und für sich nichts Auffallendes, es kam oft vor. Aber die Eile war nie so dringend wie eben. Lucinde ging in ein Zimmer, das in den Hof führte. Sie sah den Kronsyndikus, bis an den Hals zugeknöpft, in seinem grünen Reitrock und in den hohen, schweren Stiefeln im Hofe stehen und mit stummen Geberden zur Eile winken. Sonst pflegte er solche Befehle mit einer Flut nicht eben gewählter Commandowörter zu unterstützen; heute ging alles still, mit Winken und nur zuweilen mit einem ungeduldig aufgestoßenen Fuße zu. Er wandte, im Hofe stehend, dem Schlosse den Rücken. Den Hirschfänger, ohne den er nie ausritt, selbst in Zeiten, wo es keine Jagd gab, mußte er schon abgeschnallt haben, und doch tastete er immer nach demselben hin und schüttelte den Kopf, wie wenn er erstaunte, vergessen zu haben, daß er schon abgelegt war.

Nun wandte er sich und schritt wie taumelnd wieder zum Schlosse zurück, wo er in seinen Zimmern schon gewesen zu sein schien.

Lucinde erschrak. Das sonst so geröthete Antlitz des Greises war so auffallend bleich, daß die rothen Flecke, die es immer hatte, wie Wunden aussahen. Die Mütze war ihm entweder bei dem Schwenken in den Thorhof wirklich noch entfallen oder auch schon abgelegt worden. Grell stachen die weißen Haare von der Luft ab; sie schienen sich zu bäumen; der weiße Backenbart ging grauenhaft auf und nieder, wie wenn die Kinnladen fröstelnd aneinanderschlugen. Das weibliche Personal der Bedienung und ganz besonders die Lisabeth, immer voll Umsicht und großer Rührigkeit, war ängstlich um ihn her beschäftigt. Wie er wieder auf die wenigen Stufen, die zum Schloßeingang führten, treten wollte, glitt er fast aus; er hatte, da die Hände immer an der obern Klappe seines Frackes knöpften, vergessen sich am Geländer zu halten.

Lucinde eilte jetzt selbst hinunter.

Als sie ankam, hieß es, der Kronsyndikus hätte sich in seinem Zimmer eingeschlossen.

Was ihm wäre? fragte sie.

Er ist mit dem Pferde gestürzt!

Ist er den Grund hinaufgeritten?

Man wußte keine Antwort. Manche sagten:

Das doch wol nicht!

Inzwischen donnerte die gewohnte Stimme gleichsam wie mit jetzt erst hervorgelassener, bisher zurückgehaltener Kraft:

Wird's mit dem Wagen?

Schon zog man die Kalesche heraus. Und wie er ihrer ansichtig wurde, befahl dieselbe Stimme:

Der Kammerherr soll mitfahren! Nach Eggena!

Es war eines seiner Vorwerke, auf dem er gern in der Jagdzeit verweilte.

Damit schlug er die Fenster so heftig zu, daß eine Scheibe zerklirrte.

Alles das konnte allerdings an sich nicht anders als Lucinden sehr erwünscht kommen. Es war über sechs Uhr; gegen sieben Uhr sollte sie Klingsohr'n erwarten, mit dem sie nun vielleicht sprechen, ihn eine Strecke begleiten konnte, so sehr auch jeder ihrer Schritte von den Spionen des Schloßhofs oder des Parks bewacht wurde ...

Dem Kammerherrn kam der Befehl höchst ungelegen. Da dieser Befehl jedoch von einer der Mägde wiederholt wurde – die sogenannte Dienerschaft, auch der Diener des Kammerherrn, arbeitete in den verschiedenen Branchen der Wirthschaft und legte nur bei besonderer Veranlassung Livree an –, so half kein Widerstand. Am Hufschlag des Rosses hatte der Furchtsame schon vernommen, wie sein Vater in einer Stimmung war, bei welcher ihm Stock oder Peitsche nicht zu entfernt lagen. Er sah ängstlich nach dem Wetter. Es hatte sich leidlich mit dem Regen beruhigt, aber düster hingen die grauen Wolken und weit, weit über der ganzen Gegend hin.

Während der Kammerherr sich nun im Nebenzimmer ankleiden mußte und Lucinde ganz schon nur dem Wunsche lebte, daß die Minuten doch lieber langsamer verrinnen möchten, nur damit Vater und Sohn erst auf dem Zweispänner säßen und weiter auf dem Wege nach Eggena voraus wären, hörte man plötzlich den allgemein ausgestoßenen entsetzlichen Schrei:

Feuer! Feuer! Feuer!

Lucinde stürzte wieder hinunter und fand den ganzen Hof in Verwirrung.

Die Ursache des Rufes mußte ihr beim Herabspringen von der steinernen Treppe selbst sogleich begreiflich werden an einem brandigen Geruch, der sich im Hofe verbreitete und verbunden war mit einem leise aus der zerbrochenen Scheibe des Wohnzimmers des Kronsyndikus hervordringenden Rauche ...

Man schlug heftig an die von innen verschlossene Thür des Parterre und wiederholte den Ruf:

Excellenz! Es brennt ja!

Keine Antwort.

Er ist erstickt! hieß es.

Die Beschließerin war außer sich und rief nach den Knechten. Ihr erster Ruf galt dem Stephan Lengenich, jenem Küfer, der von ihr begünstigt wurde. Von diesem aber hieß es, er arbeite irgendwo im Walde, vielleicht im Düsternbrook.

Nach einer Weile machte der Kronsyndikus das Fenster auf und sagte mit matter Stimme, sie sollten sich alle – alle zum Teufel und an ihre Arbeit scheren. Er hätte ja nur – er hätte Papiere verbrannt ... Wo der Kammerherr wäre? ... Es ginge nach Eggena! ... Ob der Wagen bereit stünde? ... Wo das Fräulein Schwarz wäre?

Lucinde meldete sich, indem sie von den Stufen des Eingangs sich vorbeugte ...

Ein erzwungenes Lächeln begrüßte sie von einem Kopfe, den man kaum wiedererkannte.

Vom Verbrennen der Papiere im Ofen mußte ihm der Ruß ins Gesicht geschlagen sein.

Der Contrast des geschwärzten Antlitzes, der weißen Haare, des Bartes, der Augenbrauen und des Hauptes mit einem vornehmen Staatskleide, das der Aufgeregte plötzlich wie in der Zerstreuung angezogen, mit einem Kleide, auf dem beständig das goldene, achtspitzige Kreuz des Welfenordens haftete, wäre burlesk gewesen, wenn nicht die Situation selbst etwas Schreckhaftes gehabt hätte.

Ich komme noch hinauf, sagte er. Gehen Sie, Liebe! Gehen Sie! Ich bitte!

So artig hatte der Tyrann nie mit ihr gesprochen. Durch seinen Paroxysmus war er wie umgewandelt.

Lucinde hatte nur die siebente Stunde im Kopfe ...

Der Kammerherr, der an Ordrepariren gewöhnt war, kam schon mit Regenschirm, Hutschachtel und sogar einem Pelze ...

Lucinde fragte ihn lachend, ob er nach Sibirien reisen wollte?

Sie holte dem Halbweinenden einen Ueberzieher und behielt den Pelz zurück.

Der Brandgeruch zog sich inzwischen durchs ganze Haus. Es war ein Geruch weit mehr von verbrannten Haaren oder Tuch als von Papier. Daß der Dampf so groß sein konnte, um durch alle Oefen zu dringen, mußte aus dem Verschütten von Wasser auf die Flammen entstanden sein.

Zuletzt kam der Kronsyndikus wirklich in den ersten Stock und schloß, wie sie erstaunend bemerkte, alle Staatszimmer auf.

Welches Bedürfniß konnte er haben, eine gestickte Uniform, seinen liebsten Orden zu tragen und seine Staatszimmer zu öffnen und hin und her zu durchschreiten?

Alle Läden riß er auf. Er lüftete vielleicht nur. So kam er in das Eckzimmer, wo Lucinde schon am Nähtisch stand, so stand, als müßte sie ihre Blumen bewachen. Der Greis bot den seltsamsten Anblick. Das Gesicht war jetzt gereinigt. Aber zu seiner Landstandsuniform mit dem hannoverischen Orden der Welfen stand im sonderbarsten Contrast der Hirschfänger, den er wieder umgeschnallt hatte. Die Hände waren mit den weißesten Handschuhen geschmückt, als wenn er zu Hofe gehen wollte. Voll Unruhe blickte er um sich und stotterte:

Lüftet doch! Lüftet doch! Wie erstickend! Wie dumpf! Wie rauchen die Oefen! Verbrenne nur ein bischen Papier und es riecht gleich wie der lebendige Satan!

Dabei zuckten ihm seine ohnehin schon unheimlichen Augenbrauen krampfhaft auf und nieder ...

Der große, baumstarke Mann stand wie von einer Ohnmacht bedroht. Und indem er mit den Fingern der linken Hand immer in seinen Bart, bald da, bald dort, wie in einer kreisenden Bewegung griff, sagte er, als wollt' er Gleichgültigkeit zeigen:

Hab' mich wieder 'n mal geärgert! Ueber den verd – Landrath; nein – ja – den – Rittmeister! Und diese Briefe vom Fritz ... In den Ofen damit! ... Immer Aerger! Immer Aerger! ...

Lucinde, die kaum merkte, daß er die Gründe seines Aergers offenbar fingirte, war ihm, um ihn nur zu beruhigen, so zuthunlich, wie er sonst wünschte. Sie bewunderte die prächtige Uniform, besah das wunderschöne Comthurkreuz mit seinen goldenen Kugeln, seinem welfischen Löwen, seinem weißen Roß und seinen Eichenzweigen; sie wußte schon, was die alte deutsche Geschichte zu erzählen hatte von dem Löwen des mächtigen braunschweiger Herzogs Heinrich Welf und dem Kniefall des Hohenstaufen vor dem Löwenherzog und von den Römerzügen und der gespaltenen Einheit des deutschen Vaterlandes ...

Der Alte lächelte jetzt zu all diesem »Kram«, wie er's eben nannte, und suchte über das zu scherzen, was ihm in seinen jeweiligen Wuthanfällen auf die Regierung und den Deichgrafen sonst ein »blutiger Ernst« war. Welfen und Ghibellinen! rief er oft. Ihr Ghibellinen mit euern Kaisern, wir Welfen mit unserm Rom! ... Heute aber hielt er das Nächste fest. Wieder und wieder rief er mit äußerster Ungeduld: Ob nun bald gepackt wäre, der Koffer auch, Kleider für ihn und den Kammerherrn? Dabei sah er nach der Uhr, brummte vom »Landrath heute in Lüdicke«, »Eggena nach Lüdicke drei Stunden« und ähnliche Berechnungen. Dann starrte er in die Gegend hinaus, nahm ein Fernglas, dessen sich sein Sohn zu bedienen pflegte und das auf dem Nähtisch Lucindens lag, und zog es auf und nieder.

Dies that er eine Weile wie gedankenlos, wie mechanisch. In dem mehrfach hervorgestoßenen Namen Enckefuß schien eine große Beruhigung für ihn zu liegen.

Plötzlich aber rief er:

Was? Wie? Wer kommt denn da?

Er deutete auf einen leichten Wagen, den man bei einiger Aufmerksamkeit auch mit bloßem Auge sehen konnte.

Lucinde blickte erschreckend hinaus.

Es war erst wenig vor halb sieben, ja gerade die Stunde, die der Deichgraf nach dem Urtheil seines Sohnes im Handeln immer einzuhalten pflegte, zwei Minuten vor halb sieben. Der Wagen ging bergan, und die Strecke von unten herauf war lang und steil, der Wagen fuhr langsam; gegen sieben konnt' es sein, wenn er endlich auf der Höhe war. Sollte Heinrich, statt zu Roß, im Einspänner kommen? Und durch den kleinen Taschen-Frauenhofer hatte der Kronsyndikus schon erkannt, daß es wirklich der »Doctor« war.

Die Wirkung dieser Entdeckung war bei dem Greise die allerauffallendste.

Lucinde hätte noch deutlicher bemerken können, wie der Kronsyndikus krampfhaft sich am Nähtisch hielt und, da dieser leicht war, fast mit ihm umstürzte. Um ihre eigene Unruhe und Verlegenheit zu verbergen, hatte sie sich nur in diesem Augenblicke selbst zum Seitenfenster gewandt.

Was will denn der Doctor? sprach der Kronsyndikus immer tonloser und kürzer athmend ... Der Junge – der Junge – der – was will denn der? Was soll denn der? Wozu kommt denn schon der?

Es schienen ihm Gedanken durch den Kopf zu schießen ganz anderer Art, als die er gewöhnlich über das »Volk da unten in der Buschmühle« aussprach.

Der Wagen kam näher. Es war ein Einspänner, den wirklich der junge Klingsohr führte.

Was will er denn? Was hat er denn? fuhr der Alte auf und wandte sich dabei nicht an Lucinden, die ganz nur mit ihrer eigenen Besorgniß beschäftigt war und sich abwandte, um ihr Erröthen zu verbergen.

So nur konnte es geschehen, daß sie die zunehmende Unruhe des Greises nicht bemerkte, nicht sein Hin-und Wiederrennen, nicht sein Oeffnen des nach der Seitenfronte gehenden Fensters, nicht sein erneutes Blicken durch das Fernrohr, das er zitternd aus- und einzog.

Endlich, als er in das Pfeifen eines Liedes ausgebrochen war und in den geöffneten Prachtzimmern die Decken von den gelben Sammtmöbeln riß und wieder kam und wieder ging, lachte er plötzlich laut auf, rief Lucinden in die Staatszimmer und sagte mit der ihm eigenen faunischen Miene:

Lucinde! Lucinde! Höre, Kind! Ich sag' dir etwas!

Herr Kronsyndikus! rief diese und eilte näher.

Satan, schwarzer –!

Excellenz –

Engel! Schlechte Person – liebst den Kerl, den Doctor!

Er lachte dabei convulsivisch.

Hast recht! ließ er sie kaum zu Worte kommen und umarmte sie. Hast recht! Er kann's einem schon anthun!

Aber Excellenz –

Weiß alles, verdammte Hexe! Ihr saht euch in dem gottverfluchten Grunde, saht euch im Park ... hinterm letzten Pavillon ... am Fasanennetz ... im Mondschein ... Glaubst du, der buckelige Stammer geigt mir nicht auch um funfzehn Silbergroschen oder eine Tracht Hiebe die Wahrheit? ... Aber ... aber hast recht ... sollst recht haben, Kind ... Wie kann man einen Narren lieben? Da ... den ... Und ... einen ... Greis dann noch dazu? Halt ihn fest ... den Doctor mein' ich ... Gleich auf der Stelle! Hier ist der Schlüssel zum Keller! Eßt, trinkt! Laß deine Künste los, Zigeunerin! Ich gönne ihn dir ... Sieh, Kind, wie er das Roß zügelt! Daß dich ... Seine Mutter war schön ... Lucinde, höre – aber leise – sag' ihm was ... hier, da ... auf dem Sopha ... sag' ihm was ... Hol' ihn dir ... halt' ihn dir fest und plausch' ihm ins Ohr ... hörst du ... ob er's denn noch nicht weiß ... nie gehört hat ... nie erfahren ... daß ... daß ... Na, was? ... Ha, ha, ha! ... Wer ihm den Riegel aufschob ... als er in die Welt gekommen ... Hm? Verstehst du ... Lucinde, sag's ihm beim fünften, sechsten Glas Champagner ... Lisabeth! Lisabeth! Küche, Keller, alles geöffnet! ... Sag's ihm ... drei Söhne hatte der alte Wittekind, einer ist Candidat zum Premierminister, einer Candidat zum Tollhaus ... und der da? ... »Der Gott, der Eisen wachsen ließ« sangen sie damals – ha, ha! – als sie den Tugendbund schlossen und in den Teutoburger Wald geheime Reisen machten und die Weibsen zurückließen ... ha, ha, ha! ... Verstehst du, kleine schwarze unschuldige Schlange?

Ein tolles Lachen, ja, das ihr bekannte Lachen der Selbstzufriedenheit über seine plötzlichen Lichtblitze der Klugheit und Verschmitztheit, erstickte die Rede des wie wahnsinnigen Greises.

Lucinde stand sprachlos und konnte um so weniger zu Worte kommen, als der Kammerherr, der seither unten gewartet hatte, jetzt zurückkehrte und eine Aenderung der ihm gegebenen Befehle zu hoffen schien.

Lucinde verstand vollkommen das schreckliche Geständniß, das der Kronsyndikus gemacht hatte.

Die Dazwischenkunft des Kammerherrn hinderte eine weitere Erörterung. Der Vater zog Lucinden mit sich hinunter. Wie er auf der Treppe sich auf sie stützte, raunte er ihr immer heimlich und mit emporgestreckten, zitternden Fingern Worte der frivolsten Enthüllungen zu ... Auf der Treppe noch, wo er sich am Geländer festhielt, sagte er der Beschließerin:

Lucinde kriegt die Schlüssel! Was die von jetzt an befiehlt, geschieht! Verstanden! Was hab' ich gesagt?

Lisabeth, mit einem überraschten Blick voll Gift und Zorn, mußte wörtlich wiederholen, was ihr Herr gesagt hatte; erst wollte sie's nicht und betrachtete Lucinden erstaunend, dann mußte sie ihr Verstandenhaben der Verfügung laut wiederholen und feierlich Unterwerfung geloben. Hierauf sah er fast mit Mitleid auf den wartenden Kammerherrn, drehte den Hirschfänger vor sich hin und stieg in die Kalesche. Lucinden flüsterte er noch aus dem Schlage ans Ohr:

Sag' es ihm! ... Aber schweigt beide ... so wahr ein Gott im Himmel lebt!

Zur Lisabeth sich wendend, wiederholte er:

Zeig' auch du, was ich dich lernen ließ bei Wessel in Hannover! Brate, koche! Haltet ihn fest! Trinkt auf mein Wohl! »Um acht Uhr ist Verlobung oder sieben Schüsseln!« 's war ein altes Stück zu meiner Zeit! Lustig! Ich will die Augen zudrücken ... über alles ... will Frieden haben mit dem – Deichgrafen .., Frieden ... Jesus aber, jetzt fort, Hannes!

Der letzte, fast tonlose Ruf galt dem Kutscher.

Die Pferde zogen schon an, und nach der entgegengesetzten Seite hin, wo Heinrich Klingsohr herkam, rollte der Kronsyndikus aus dem Seitenthor und den Berg hinunter.

Sein Sohn ahnte glücklicherweise Klingsohr's Nähe, die entscheidende Gefahr für seine Neigung nicht. Nur die äußere hatte er jetzt im Auge – den Hemmschuh, den der Kutscher anlegen sollte! Von allen Schrecken war ihm der des Bergabfahrens einer der haarsträubendsten. Türck, der Calfacter, lief nicht, wie er sonst pflegte, dem ankommenden Wagen bellend und wedelnd entgegen, sondern schloß sich der Kalesche an, der er mit eingezogenem Schweife nachlief. Betrübt und zaghaft waren die Mienen, die der Kammerherr Lucinden noch beim Abschied zuwarf. Morgen! sagte er kleinlaut; aber der große Kasten fiel ihm auf, den noch der Kronsyndikus wie für eine längere Reise hatte in der Vache unterm Kutscherbock einschließen lassen. Nur daß sein Bedienter zurückblieb, schien ihm einige Hoffnung zu geben.

Zum Besinnen über die Wahrheit dessen, was der Kronsyndikus ihr zugeraunt hatte, blieb Lucinden keine Zeit ... Heinrich Klingsohr, der natürliche Sohn des mächtigen Mannes, grüßte schon, da er zu seinem Jubel die davonfahren sah, denen er hier zu begegnen fürchten mußte.

Bei einer plötzlichen Lebensgefahr, sagt man, schösse wie an einem elektrischen Leiter blitzesschnell die ganze Vergangenheit eines Menschen an seinem letzten Bewußtsein vorüber ...

Umgekehrt übte die Fülle von Vorstellungen, die sich für Lucinden auf wenig Augenblicke jetzt zusammenzudrängen hatte, die Wirkung, daß sie ihr das Bewußtsein völlig nahm, ja, sie in einen traumähnlichen, bacchantischen, von höchster Freude, von Lust und Schmerz ebenso gehobenen wie wieder vernichteten Zustand versetzte.

Diese räthselhaften Vorgänge mit dem Kronsyndikus, diese Feuersgefahr, sein Benehmen am Fenster, der verzweiflungsvolle Humor und die Furcht vor Heinrich Klingsohr, dann sein mit den dunkeln Gerüchten über ihn und eine große Anzahl illegitimer Kinder übereinstimmendes Geheimniß, die plötzliche Versöhnungslust, die sich beim Besteigen des Wagens auch noch in dem ausdrücklichen Befehl gezeigt hatte, daß die Lisabeth die Diener in Livree stecken und augenblicklich die ganze Größe des Wittekind'schen Hauses entfalten sollte ... dann der heranrollende Wagen des wiederum seinerseits mit den unglaublichsten Ueberraschungen Erwarteten, alles das verursachte in seiner schnellen Aufeinanderfolge ihr einen fast physischen Schmerz, wie wenn sie wirklich den Tod des Ertrinkens erleiden sollte.

Und doch rief auch wieder zu gleicher Zeit alles in ihr – wie die ersten rauschenden Accorde einer Ballmusik – zu Lust und Freude.

13.

Während Lucinde das Staunen der Lisabeth auf die natürliche Voraussetzung einer Versöhnung mit dem Deichgrafen verwies, lief sie schon über den marmorgetäfelten Estrich des untern Schlosses an die hohe, schwere Thür, schloß diese mit dem immer von innen steckenden Schlüssel auf und trat auf den Perron hinaus, um Klingsohr'n anzurufen.

Dieser hatte auch seinerseits einen Blumenstrauß in der Hand und suchte sie, langsam fahrend, am Fenster. Wie erstaunte er, als sie selbst erschien, ihn anredete und aufforderte auszusteigen!

Sie werden alles erfahren, kommen Sie nur! sagte sie. Der Kronsyndikus ist eben abgereist, der Kammerherr mit ihm, ich bin allein und ausdrücklich beauftragt, Sie zum Bleiben einzuladen!

Da geht ja die Welt unter! sagte der Doctor, sprang vom Wagen und übergab sein Gefährt einem schon in Livree, die er eben noch zuzuknöpfen im Begriff war, herbeispringenden Gehilfen der Branntweinbrennerei.

Es war auch inzwischen Feierabend. Der Hof war in voller Bewegung. Die Inspectoren und Arbeiter aller der verschiedenen hier zu beaufsichtigenden Branchen begriffen nicht, wie sie den Sohn des Deichgrafen konnten auf Schloß Neuhof einkehren sehen. Aber Lucinde zog den verwunderlichen Gast die große steinerne Stiege hinauf in die Staatszimmer, wo man bereits anfangen wollte einen Tisch zu decken, Lucinde sollte nur bestimmen welchen. Sie wählte einen der glänzendsten mit einer Decke von Lapis Lazuli, achteckig, mit geschweiften, vergoldeten Füßen, dicht vor einem Kanapee, das in der Nähe eines Kamins stand ...

Dazu läuteten von allen Tiefen her die Glocken das Ave Maria ... der trübe Regenhimmel ließ im Westen vom Sonnenlicht einige rothe und blaue Streifen hindurch ...

Klingsohr kannte aus seiner Knabenzeit alle diese Zimmer ...

Wie konnte es geschehen, daß er seit Jahren und bei der jetzigen Lage der Dinge hier wieder so wie einst aufgenommen, ja, gerade von Lucinden, dem Wettpreis zwischen Vater und Sohn, ohne alles Hinderniß so empfangen wurde!

Er ahnte einen Hinterhalt und sprach sich auch dahin aus, daß er der bösen Tücke des Kronsyndikus alles zutraue. Ich wäre der Erste nicht, sagte er, den er wie ein Ritter des Faustrechts behandelt hat! In seinen Kellern saßen schon Männer und Frauen aus aller Herren Ländern, und ich wette, daß es da unten aussieht wie in der Blaubartskammer!

Wie es in seinen Kellern aussieht, erwiderte Lucinde, werden Sie bald erfahren! Sie sollen bewirthet werden wie ... wie ein Sohn des Hauses.

Behandelt ihr mich hier, parodirte Klingsohr mit Stellen aus Shakspeare, nach »Verdienst«, so bin ich vor Schlägen nicht sicher! Aber bitte, keine Unarten! Das Mittelalter hat einige Schattenseiten, die ich nicht vertheidigen werde!

Lucinde suchte ihm die Furcht zu nehmen und zog ihn in ein Zimmer, wo sie unbelauschter waren. Wie im Traume folgte Klingsohr. Zum ersten male sah er auch seine Liebe in so prächtigem Rahmen. Sie trug ein leichtes dunkelblaues Kleid; seidene Bänder von gleicher Farbe senkten sich in den braunen Nacken. Schwarze Florspitzen zierten das Haar und bedeckten ebenfalls, zu halben Handschuhen geformt, die jetzt sehr gepflegten Hände. Auf der Brust hatte sie sich den Rosenstrauß befestigt, den Klingsohr mitgebracht, während sie ihre eigenen Blumen theilte, seinen Rock, seinen Hut damit schmückte und noch für den Tisch übrig behielt, um eine kostbare Vase damit zu füllen.

Sie erzählte ihm auf sein staunendes Schweigen alle soeben erlebten Vorgänge bis auf die letzte Enthüllung, die sie sich, weil sie ihr noch schwer zu formuliren war, vorbehielt. Sie kamen überein, daß der Kronsyndikus in dem Doctor einen Verbündeten gegen den Vater gewinnen wollte, einen Vermittler und Beileger des Streites. Lucinde unterstützte vorzugsweise diese Annahme und hatte die Freude zu hören, daß Klingsohr versicherte:

Nun, was ich thun kann, dieser Voraussetzung zu entsprechen, soll geschehen! Sie kennen meine Abneigung gegen meines Vaters Lehre vom Zollstock und der geraden Schnur, Lucinde! Das Leben wird schon ohnehin täglich immer mehr so regelmäßig wie die manchmal recht monotone Natur! Ihm Freiheit abzugewinnen, die Tyrannei des Gesetzes abzuschütteln, das ist unser schönes Ziel, und wenn ich ganz sicher wäre, daß nicht diese Thüren plötzlich aufgingen und einige Geharnischte hereinträten und mich als Geisel festhielten, so würde ich meine Sympathieen für den wilden Freiherrn ganz offen aussprechen. Darauf hin und vorausgesetzt, daß es bald alles, nur nicht Prügel gibt, will ich auf sein Wohl trinken und geloben, den Alten von der Buschmühle soweit es irgend möglich zur Raison zu bringen.

Sie standen jetzt beim Durchschreiten der prächtigen Zimmer gerade an der Stelle, wo der Kammerherr den Türck gemalt hatte. Noch hing das Bild an der Staffelei und Klingsohr brach in komische Bewunderung des neuen »Hondekoeters« aus, wie er ihn nannte.

Der ist mit verreist? rief er aufs neue kopfschüttelnd. Und man weiß, daß Sie mich aufnehmen? Was ist hier nur vorgefallen!

Der Kammerherr weiß nichts! Nur der Vater! Machen Sie sich's bequem! Sie werden noch mehr, erleben ...

Noch mehr?

Lucinde antwortete nur dadurch, daß sie hin und wieder rannte, ordnete und befahl. Nicht umsonst hatte der Kronsyndikus von einem Festgelage gesprochen. Sie ließ nun ein solches für den Doctor mindestens ebenso herrichten wie für die adeligen Gäste. Der Kronsyndikus selbst war im Essen mäßig, aber die häufigen Besuche des »schönen Enckefuß« hatten das Haus mit den Nothwendigkeiten eines schnellen und einladenden »Tischlein deck' dich« eingerichtet.

Geliebte Lucinde, sagte Klingsohr, wie er sie dann wieder plötzlich still stehen und über ihre eigentliche Aufgabe grübeln sah, es gibt eine Erbsünde und es gibt eine Erbtugend! Man spricht davon, daß jene uns um unser Seelenheil gebracht hat und verketzert die vernünftigen Unvernunftslehrer, die diese tiefste und humanste aller Lehren vertheidigen!

Welche Sünde? fragte Lucinde und dachte nur an das Ordnen des Tisches, über dessen acht Ecken längst ein blendend weißes Damasttuch gebreitet war, das sich schon mit Tellern, Gedecken, Gläsern, Flaschen, einem Champagnerkühler und Dessertaufsätzen füllte.

Die Erbsünde, die mit dem ersten nicht verschmähten schönen rothwangigen Apfel in die Welt gekommen! sagte Klingsohr. Wir können ja die Nichtigkeit dieser Erde gar nicht schöner erklären als durch unsere eigene Schuld! Ihr jammert, daß der Frühling seine Blüten verwehen sieht, daß Blüte, Frucht und alle Schönheit der Erde, der Schmetterling und der Mensch, zu Staub verwehen! Ist nur unsere Sünde schuld daran, so hat ja die Vergänglichkeit dieser Erde ihren erklärlichsten Grund in uns und nicht in der Schöpfung selbst! Man kann ja dann immer noch hoffen auf die Sonne, auf die Gestirne, auf etwas, was jenseit dieser Bezirke, »von wannen niemand wiederkehrt«, liegen wird, Lucinde, und wären es nur Ihre Augen, die als Sterne an den Himmel versetzt werden sollen!

Lucinde sagte zu allem: Ja! Ja! Ja! Ja!

Sie hörte kaum; zu schön wollte sie alles machen. Der Doctor sollte wenigstens hinter dem Landrath nicht zurückstehen.

Klingsohr musterte die nach französischer Auffassung in Alabaster ausgeführten griechischen Statuen des Zimmers, die Landschaften aus der Schule Claude Lorrain's und Berghem's ...

Kein anderes Gnadenbild hier, sagte er, als Sie selbst, Lucinde!

Lucinde bestätigte, daß auf Schloß Neuhof die Religion nur in den Wirthschaftsgebäuden und den hintern Wohnungen vertreten sei, den Kammerherrn ausgenommen, der noch immer mit dem schwermüthigen und gewissenskranken Grafen Zeesen in Briefwechsel stand ...

Beide reisten in Italien! sagte Klingsohr. Jérôme hoffte schon lange durch Beten ein großer Maler zu werden wie Frâ Fiesole!

Nun waren alle Vorrichtungen des Abendimbisses aufs prächtigste getroffen.

Klingsohr streckte sich mit Behagen in einem Fauteuil, vor dem eben von zwei über alles wie verblüfften Dienern angerichtet werden sollte. Bei jeder Gelegenheit, wo diese Zeugen fehlten, ergriff er Lucindens Hand, diese an sich ziehend, mit Küssen bedeckend und seine Unmöglichkeit, sich in die Märchenwelt zu finden, aufs neue versichernd.

Eben kamen die Diener zurück, lauschend, horchend ...

Lucinde fragte, nur um zu sprechen:

Jetzt aber Ihre Erbtugend? Was ist das?

Erbtugend, sagte Klingsohr in einem ihm beim Aussprechen von Gedanken und Versen eigenen singenden Tone; Erbtugend! Die ist der ewige Rückschlag des Geistes gegen die Natur! Sie ist die Flut, wenn die Sünde die Ebbe! Sie ist vielleicht auch nur das ewige Philisterium, an dem selbst die Titanen litten, wenn sie zu viel Kaukasuswein getrunken hatten! Möglich, daß dieser Erbtugend jene eingeimpfte Furcht vor der Hölle zum Grunde liegt oder die Furcht vor einer Tracht Prügel, jene Furcht, von der bekanntlich die romantischsten Liebhaber Boccaccio's und Bandello's nicht frei sein konnten ... Ja! Lucinde! Ich weiß doch, daß ich hier ein Romeo bin, auf den plötzlich »zehntausend Tybalts« eindringen werden mit einigen Doubletten der allbekannten neuhofer Hundepeitsche!

Lucinde widerlegte jetzt ungeduldig werdend seine erneuerte Furcht und erklärte das festere Schließen aller Thüren durch das Wetter, da es unheimlich dunkel wurde. Der Abend schien ein Gewitter zu bringen. Dunkelbraune und rothe Wolken zogen immer dichter von Westen her. Zwischen dem Läuten der Abendglocken hörte man schon die fernher rollenden Donner.

Klingsohr ergriff Lucindens Hand und sprach, da sie jetzt allein waren und nur noch das zu servirende Mahl fehlte, mit dem eigenen Aufschlag seiner großen, wenn er wollte, festen und bestimmten Augen:

Wer in der romantischen Zeit nicht Frau Venus mied,

Wol gar einem Eheweib sein Herz verschenkte,

Dem geschah's, daß man ihn manchmal briet

Oder an einen neuen Galgen henkte!

So hört sich noch jetzt, minnt man ein schönes Weib,

Besonders vom Nachbarn Herrn Philister,

Selbst im holdseligsten Zeitvertreib

Ein feurig Geknatter, ein flammend Geknister.

Gibt sie ein Löcklein zum Liebespfand,

Und steckst du's zu bergen zur Tasche,

Fühlst du doch dabei was wie Henkershand

Und um den Hals die vergeltende Masche!

Das ist das Gewissen! sagte Lucinde scharf betonend. Da er sie küssen wollte, hielt sie ihn zurück.

Nein, Erbtugend – wollte Klingsohr in seiner gewohnten Phantastik fortfahren –

Aber indem wurde das Nachtmahl hereingetragen. In dem noch allgemein nachdauernden Schreck vor dem Benehmen des Kronsyndikus geschah dies mit denselben Förmlichkeiten wie bei dem vornehmsten Besuche.

Was ist das nur alles? rief Klingsohr aufs neue, wie irr sich an die Stirn greifend ...

Lucinde versicherte, daß allerdings irgendetwas Großes geschehen sein müsse, um den Kronsyndikus so für ihn einzunehmen. Nicht nur, daß er diesen Empfang angeordnet hätte, auch für die Entdeckung, daß beide schon lange sich sähen und sprächen – der buckelige Stammer hätte geplaudert – wäre seine Milde bewundernswerth gewesen. Er dächte daran, setzte sie hinzu, sie ganz so glücklich zu machen, wie er ... wie sie ... selbst es zu werden wünschte.

Lucinde! rief Klingsohr voll Entzücken und warf Gabel und Messer fort. Wann wirst du mein? Bald! Bald! »Balde auch du!« singt Goethe. Warum kommt mir das traurige »Ueber allen Wipfeln ist Ruh« in diesem Augenblick! Nicht wahr? Die Speisen – sind vergiftet?

Als Lucinde ein Ja! nickte und dabei auffuhr, um nach der Fortsetzung des Mahles zu klingeln, verfolgte er sie.

Hexen, sagte er, Giftmischerinnen gab es von je auf Neuhof! Du selbst bist eine von diesen alten Alraunen, diesen Zauberweibern ... gerade so eine Hexe, wie meine Mutter von einer erzählte, die sie das Fräulein Gülpen nannte ...

Au! unterbrach er sich selbst mit einem leisen Schrei.

Was ist? fuhr sie doppelt betroffen zurück. Klingsohr hatte den Namen der Hauptmännin in dem Augenblick ausgesprochen, wo er seine röthlichen kurzen Locken an ihr Brusttuch drückte ... Er antwortete:

Wenn ich dich küssen soll, mein Kind, was soll es taugen,

Daß du mit Nadeln dir besteckst die Brust!

Den Liebenden war immer nur bewußt:

Gott Amor sticht ins Herz und keinem in die Augen!

O! rief Lucinde und sah ihr Vergehen ... An der Wange, dicht neben einer seiner vielfach schon zwischen ihnen besprochenen Narben, hatte eine Nadel ihm eine leichte Schramme gerissen.

Lucinde riß die Nadel vom Tuche, griff nach der Krystallflasche voll Wasser auf dem Tische, goß Wasser in die hohle Hand, tauchte ihr Taschentuch ein und drückte es ihm auf die wunde Stelle.

Dabei war ihr das Brusttuch entfallen und ihr langer dunkler Nacken schimmerte unbedeckt bis zu den Schultern, ihr bräunlicher Hals bis zu den hohen Wölbungen ihrer Brust.

Eben brachte man zwei Leuchter, je drei brennende Kerzen.

Als dann Klingsohr und Lucinde wieder allein waren und sich, auch um ruhiger zu werden, aufs neue zum Mahle gesetzt hatten, richtete sie eine Frage an ihn über Klingsohr's Mutter, über die Gülpen, ob er diese gekannt hätte und was er von ihr wisse ...

Er beantwortete sie mit einer Apostrophe an die Speisen:

Fräulein von Gülpen? Ich kannte sie nicht. Aber sie nennen und fragen: Was mag in dieser Spargelsauce enthalten sein, ist eins! Recht so, Lucinde! Nehmen Sie nichts davon! Diese jungen Erbsen haben eine grünliche Farbe, die über das Pflanzenreich hinaus sich in das Mineralreich verliert; ich wette, man kochte sie in derjenigen kupfernen Pfanne, die seit dem letzten der unerklärten Todesfälle auf Schloß Neuhof noch immer nicht verzinnt worden ist. Diese Hühner hört' ich noch vor einer halben Stunde im Hofe gackern! Sie erwecken unwillkürliche Mordgedanken, und nur der Champagner weckt mir kein Jugendmärchen auf von der alten westfälischen und Tugendbundzeit, in der ich 1809 geboren wurde. Da gab es hier, während mein Alter im Walde geheim mit den Rächern dingte, Corinnen in griechischen Gewändern, die über Kassel aus den Spielhöllen Venedigs und Neapels kamen, Spanierinnen, die wie Amazonen ritten, Creolinnen, deren Männer ihren Kopf auf den Schaffoten der Französischen Revolution gelassen hatten und mit dem ihrigen doch noch den Bruder Bonaparte's, was sag' ich, ihn selbst verrückt machten ...

Aber die Gülpen?

Die soll an diesem Minnehof nur die Ceremonienmeisterin gewesen sein! Der buckelige Landstreicher mit der Geige hat geplaudert? Laß dir von dem erzählen oder von seinen Alten hinten ... nein, die sind seit den grauen Tagen stumm geworden ...

Worüber?

Die Gülpen, oder wie sie sich von einem Jäger, der sie heirathen wollte, nannte, Buschbeck –

Einem Jäger?

Jetzt einem Mönche! Drüben im Franciscanerkloster Himmelpfort! Hast du nie vom Bruder Hubertus gehört?

Die Mönche dürfen nicht auf Neuhof ...

Der Jäger war ein Soldat in holländischen Diensten ...

Hauptmann ...

Feldwebel, Kind! Vielleicht als Lieutenant entlassen! Er ist Laienbruder drüben ...

Und war nie verheirathet ...

Mit wem?

Der Hauptmännin – Was sag' ich ...

Der Bruder Hubertus kam von den Wilden und ging zu den Wilden! Hier galt keine Ordnung und kein Gesetz und kein Priester! Hast du nicht gehört, daß der Kronsyndikus noch eine Frau am Leben hat?

Wie? Wer? Noch eine Frau? Der Kronsyndikus?

In Italien! Man sagt es ... Kinder gibt es aller Orten genug von ihm ... oder er spielte wenigstens ohne zu wissen den Landesherrn, in dessen Bildniß auf den Groschen sich alle Frauen in gewissen Umständen versehen müssen!

Sie essen ja nicht, Doctor! lenkte Lucinde erröthend ein.

Ich trinke! antwortete Klingsohr. Stoß' an, sagte er, wie immer je nach der Stimmung abwechselnd mit Du und Sie; stoß an, Lucinde! In Italien schickte er an Jérôme plötzlich einen Kurier, daß er nach Hause kom men sollte ... Graf Zeesen, sagte man, hätte ihn bereden wollen, in ein Kloster zu gehen ... Der Musikant meint, seine Alten hätten als Grund des Zurückmüssens immer etwas von der zweiten gnädigen Frau gemunkelt!

Die noch lebe? Nein, der Freiherr ist nur einmal verheirathet gewesen!

Ganz recht! unterbrach Klingsohr. Die Schwester vom Grafen Joseph drüben, dem Letzten des Hauses Dorste-Camphausen auf Westerhof! Sie starb früh, nachdem sie zwei Söhne geboren; sie starb, sagt man aus Gram über die Aufnahme jener Gülpen ins Haus. Diese regierte. Als die Baronin starb, genoß der Witwer seine Freiheit, bis plötzlich Ruhe kam mit dem Sturz Napoleon's. Doch bei alledem ist landbekannt, daß die Klöster und Beichtstühle hier ringsum über den Kronsyndikus die tiefsten Geheimnisse verschließen ... Auch mein Vater weiß manches, hält sich aber stumm drüber wie die alten Stammers hinten über die Gülpen.

Lucinde wagte nicht, über letztere weiter zu forschen. Sie fürchtete, daß sie hätte sagen müssen, woher und aus welcher Situation sie die »Hauptmännin« kannte. Aber mit spähendem Blick stellte sie jetzt die Frage:

Und Ihre Mutter?

Klingsohr erwiderte:

Ich kannte sie wenig! Sie starb, als ich sieben Jahre alt war. Nur daß sie ein Bild des Leidens gewesen sein soll, weiß ich. Als der Vater in Magdeburg saß, wurd' ich in dies Schloß genommen und mit Jérôme erzogen.

Lucindens Unruhe mehrte sich, je näher sie ihrer Eröffnung kam. Sie wußte nicht, was sie that, als sie fortwährend den Champagner trank, den ihr Klingsohr einschenkte.

Unsere Zukunft, Lucinde! Der Traum einer Sommernacht! rief er.

Die Gegend war inzwischen nachtdunkel geworden. Rabenschwarze Schatten hatten sich niedergesenkt, ein immer näher rückendes Gewitter entlud sich ...

Das Nachtmahl war bald zu Ende. Nur dem schäumenden Weine sprach noch Klingsohr immer erregter zu. Er weckte dadurch in Lucinden die Erzählungen des Kammerherrn von seiner Unmäßigkeit und den Trinkwetten.

Erzählen Sie von Ihren Knabenjahren! sprach Lucinde.

Klingsohr betrachtete lange die aufsteigenden Perlen des Schaumweins und erwiderte mit dem ihm eigenen halb künstlich, halb natürlich elegischen Tone:

Wo seid ihr hin, ihr heilig hehren Tage,

Wo mir ein Stern noch wie ein Engel sprach!

Wo ich geglaubt, ein Regenbogen sage,

Daß immer noch des Himmels Langmuth wach!

Wo in dem Blitze, in der Donner Rollen

Nur eines Vaters Zürnen lag, – der Liebe Grollen!

Der Regen schlug an die Scheiben. Der Sturm tobte ... Fenster und Thüren, die nicht geschlossen gewesen, schlugen klirrend und krachend an ...

Aber Lucinde drängte:

Nein! Beginnen Sie anders! Ihre Mutter ...

Ha, ich weiß, sagte er, du willst von meiner ersten Liebe hören, Lucinde! Ja,

Wenn sie leicht und zierlich

Mir vorüberflog –

Und ich hübsch manierlich

Meine Mütze zog –

Nichts, nichts von dem – sagte Lucinde ...

Das Lied ist nicht lang, Lucinde! unterbrach er sie. Nur den Schluß will ich dir sagen. Diese Liebe endete, als Amanda eines Tages keine Hosen mehr trug; das hübsche Ding war in dem Augenblick fünf Jahre älter geworden und kannte mich nicht mehr. Schülerliebe!

Gut! Gut! Aber wo sind Sie geboren?

In der Buschmühle!

Und Ihre Mutter? Erzählen Sie von ihr!

Ein Donnerschlag erschütterte in diesem Augen blicke das Schloß, daß es bis auf den Grund erbebte. Die Diener kamen nicht mehr ... Klingsohr rückte seinen Sessel dem Divan näher und zog Lucinden an sich und streichelte ihr Haar und sah ihr in die scheu und ängstlich umblickenden Augen und hielt die Hand über ihre dunkeln Brauen, gleichsam als wenn er das Rollen der schwarzen Sterne in dem weißen Emailgrunde beruhigen, das Zucken der Wimpern beschwichtigen wollte.

Jetzt begann er von seiner Mutter ...

In einem langen weißen reinen Gewande, sagte er, muß diese Edelste ihres Geschlechts aus der Welt emporgestiegen sein! Ringsum lag die Sünde – sie allein erhob sich aus ihr, sie, die einzig Reine! Eine Natter klammerte sich noch an ihren Fuß, die zertrat sie! Wie ich geboren wurde, verlor jene Gülpen die Herrschaft im Schlosse –

Schon 1809? unterbrach Lucinde ... Sie sah, wie viel Jahre es gebraucht hatte, ihre Peinigerin so geistig und körperlich zu zerstören, wie sie sie gefunden hatte!

Wie das alles zusammenhängt, fuhr Klingsohr fort, weiß ich nicht ...

Lucinde faßte sich jetzt Muth und sprach:

Ich will es Ihnen sagen!

Klingsohr horchte auf. Lucinde erzählte noch umständlicher den Vorfall, den man heute mit dem Kronsyndikus erlebt hatte. Sie erzählte das Verbrennen von Papieren, seine Unruhe, seine eilige Abreise, den Eindruck, den ihm die Ankunft des Doctors gemacht, seine Eröffnung über die Art, wie sie ihn aufnehmen sollte ...

Eben zuckte durch das Zimmer ein Blitzstrahl.

Klingsohr erhob sich und wurde aufgeregter ...

Wie Lucinde fortfuhr und das Ziel ihrer Eröffnungen immer leiser sprechend schon völlig verständlich angedeutet hatte, ergriff er ein Glas, schleuderte es wild zu Boden, daß es zersplitterte, rieb sich die Stirn und rannte zum Fenster, als müßte er mit dem Kopfe durch die Scheiben hindurch in die tobende Nacht und die Donner hinaus.

Ihr seid wahnsinnig! schrie er. Alle, alle hier seid ihr's!

Lucinde nahte sich, bat ihn, sich zu mäßigen; sie sagte ihm, er möchte sich fassen, möchte ruhig hören ...

Nein! rief er und schleuderte nun auch sie zurück mit den Worten:

Circe! Machst du Menschen zu Eseln? Zu Mauleseln? Bin ich verrückt?

Jetzt riß er das Fenster auf, daß der Regen nur so hereinströmte.

Lucinde ließ ihn erschreckt erst gewähren.

Ich liebe meinen Vater! rief er, und sog die Tropfen ein und bestrich sich mit dem Regen Stirn und Wange. Ich liebte ihn von jeher dann, wenn ich mich hassen mußte. Und nun vollends ... meine Mutter!

Lucinde schloß das Fenster.

Klingsohr rannte auf und nieder ...

O ich weiß jetzt, wozu ich hergelockt bin! Zur Rache gegen meinen Vater! Geistigen Rache! Zur Demüthigung unsers Namens! Schändung einer Asche unter der Erde!

Ihr Vater ist der Kronsyndikus! sagte Lucinde mit einer Festigkeit, als spräche sie von Dingen, die ihrer Jugend völlig angemessen waren.

Ein convulsivisches Gelächter erstickte den ersten Aufschrei des zu seiner übrigen Erregung nun auch noch halb Berauschten.

Ruhig fuhr Lucinde fort:

Darum sorgt er für unsere Zukunft!

Ha, ha! Und nun sprach Klingsohr plötzlich, wie sich und die ganze Situation parodirend, plattdeutsch, dem ohnehin schon eine komische Wirkung beiwohnt. Er parodirte ihren feierlichen Ernst. Sie wandte sich zum Schmollen ab und ließ ihn stehen.

Klingsohr warf sich in seinen Sessel und blickte geisterhaft vor sich hin ...

Das in der Natur tobende Wetter hatte sich etwas gemildert. Man hörte nur den gewaltig strömenden Regen. Dann setzte er sich ruhiger zu Lucindens Füßen auf eine Fußbank und das Haupt auf beide Hände stützend sprach er dumpf:

Bastard! Glaube das nicht, du innerer, allzu eitler Dämon! Ja eitel! Wir werden die Ursachen dieses tollen Spukes erfahren! Nur allzu sehr fühl' ich in mir – das dienende Blut! Altes Sachsenblut? Auch ich? Wie wurden die großen athletischen Gestalten mit den hängenden rothen Haaren unter dem Bärenkopf in die Weser getrieben, um von ihrem Odin und von ihrer Freyja zu lassen! Wie saßen sie hoch zu Roß, als sie dem Banner ihrer Herzoge folgten! Wie dingten sie mit dem Kaiser und den Bischöfen um ihr Recht und loderten auf um einen »Strohhalm«, der ihrer Ehre im Wege lag! Und selbst noch im brocatenen Kleide mit der Perrüke und dem steifen Degen an der Seite, wie sie da unten den Westfälischen Frieden schlossen, schritten sie gravitätisch einher, langsamer, schwerfälliger, aber fester auch auf ihre grüne Hufe vertrauend als irgendwer im übrigen Deutschland! Dem englischen Lande gaben sie die rechte Volksmischung und tausend Jahre später einen König. Und wie haben sie diese vier- und sechsspännig fahrende Weise bewahrt bis auf den heutigen Tag! Ob sie platt- oder hochdeutsch reden, sie lispeln nur und jedes Wort ist Schießpulver, wie Heinrich Percy's! Schlank ist ihr Wuchs, behend ihre Haltung! Wenn auf der Universität alle andern deutschen Stämme durcheinander fahren, der Bayer phlegmatisch, der Franke windig, der Schwabe der andern Stichblatt, der Thüringer von ewiger Wehmuth durchdrungen ist trotz des allerdünnsten Biers, der Obersachse schwätzt, der Märker aus Blödigkeit, die er nicht eingestehen will, grob und maliciös wird, ... stehen wir Niedersachsen und Westfalen da wie die schlanken Tannen am Bergesrand, fest und sicher wurzelnd; ein Wort ein Mann, von einer Vornehmheit, der kein deutscher Stamm sich gleichstellen kann! Man muß uns handeln sehen um ein Roß! Kurz und bündig! Sechzig Pistolen ohne Halftergeld! Spitz, scharf, weich der Ton! Fest die That! Ach, vergib mir, Geist meiner guten, vielgeprüften Mutter, daß ich dich Arme, die Witwe eines mit dem Geist der Zeit Vermählten, der dich einsam daheim ließ am Spinnrocken, lästere! Loreley, nein! Hörtest du's? Ich würde mir leider, leider nichts draus machen! Mag ich immerhin um eine Minute vor halb sieben statt zwei zu früh auf die Welt gekommen sein, aber es ist ein schlechter, elender, gemeiner Spaß deines frevelmuthigen Alten, und du thust recht, arme Gläubige, daß du entschlummerst. Die Bürde dieser Lüge war zu schwer für dich!

Ermüdet vor Aufregung, eingelullt durch den Wein und die gespenstische Weise des wie immer dergleichen im Prophetenton vor sich Hinsprechenden, ließ Lucinde es geschehen, daß der düstere Träumer, in dessen Seele es gleichfalls schon lange mehr zur Nacht als zum Lichte sich zu wenden schien, ihre Hände ergriff, diese küßte, näher und näher seine Wange an die ihrige schmiegte und sie in ganzer Länge auf den schwellenden Divan ausstreckte.

Eine Weile betrachtete er sie mit gefaltenen Händen ...

Dies sah sie noch ... ihr Auge blieb offen oder blinzelte doch ... Ihre Mienen waren in ein Lachen wie erstarrt ...

Jetzt ein Ephenkranz um dein Haupt, flüsterte Klingsohr, der Thyrsusstab mit Weinlaub in deiner Hand, ein Pardelfell unter dir, und die Bacchantin erwartet ihren Praxiteles!

Lucinde verstand nichts. Sie hauchte nur:

Doch! Doch! Doch!

Doch hat der Kronsyndikus recht! war ihre Meinung.

Klingsohr verstand, was sie sagen wollte, und gerieth in Sinnen. Seine Phantasie malte sich die Möglichkeit aus – und wie bei solchen Naturen dann geschieht, sah er allmählich die Wirklichkeit. Jetzt als wenn ihn Furien peitschten, er müßte und sollte glauben, erhob er sich und sprach unausgesetzt, wol ein halb Dutzend mal, vor sich hin:

Wär' es denn möglich? Wär' es denn möglich?

Indem meldeten die Diener das Nachlassen des Regens ...

Spannt ein! rief Klingsohr wild und erhob die Flasche.

Und wieder schenkte er voll und nicht mehr in die kleinen spitzen Gläser, sondern in Wassergläser. Er credenzte ebenso Lucinden, die trank, weil sie Wasser zu nehmen glaubte ...

Drei Späne aus dem Thor der kleinen Buschmühle! lallte Klingsohr und zog den Ton wie durch die Zähne, sodaß es schneidend hämisch und bitter erklang. Ich wette, daß ich sie unten finde, du alter Freigraf der Feme! Am nächsten besten Baum kann der Freirichter Wittekind keinen jetzt mehr henken, so hat er dem Vater einen andern Streich spielen wollen! Ist nicht eine Schlange das Wappen der Wittekinds? Nein, ein Lindwurm! Aber ich will Feindschaft säen unter den Samen der Schlange, spricht der Herr! Ich werde mich nach diesem Schurkenstreich mir meinem Alten aussöhnen. An der Mühle wollen wir sitzen und wenn das Rad klappert, nehmen wir das Gesangbuch zur Hand, wo die Mutter deutlich eingeschrieben: Den 13. August 1809 geboren mein Heinrich Otto Alexander! Alexander! Mein Alter hoffte auf Rußland damals! Heil von Moskau! Und warum nicht auch! Nur – »Gott ist groß und der Zar ist weit!!«

Seufzend wankte er zu Lucinden, beugte sich über sie und sprach jetzt leise und wie singend:

Träume! O träumtest du:

Es rauschen die Blätter, es flüstert der Wald,

Wer regt sie der Winde so mannichfalt?

Nur Einer!

Es blitzen die Farben im hellen Krystall,

Sind's tausend der Strahlen vom Sonnenball?

Nur Einer!

Ich, ich, ich erwidere dir, Mädchen:

Es klopfen viel tausend Schläge der Brust,

Wer führt sie, die Hämmer in Schmerz und in Lust?

Nur Eine!

Was hebt dir die Seele, was sprengt dir das Sein?

Ist's Himmel? Ist's Erde? ... Allein, allein

Nur Eine!

So sprach Klingsohr.

Fiebernd, im Taumel der entfesselten Sinne hatte er sich über die Halbschlummernde gebeugt ... zurückgesunken und halb auf dem Divan ausgestreckt, hielt sie den linken Arm rückwärts unter das Haupt gelehnt ... mit dem rechten wehrte sie kraftlos stürmischere Zärtlichkeiten ab ... das Bewußtsein verging ihr ... die Augen schlossen sich, müde wie damals im Walde mit Oskar Binder.

Sie träumte schon, ehe sie ganz entschlummert war.

Selbst eine heftige Erschütterung, die sie annehmen lassen mußte, daß Klingsohr plötzlich aufsprang, erweckte sie diesmal nicht.

Sie hörte ein fernes Brausen wie an einem Wasser. Es konnten Thüren, Schritte, Stimmen durcheinander sein ... sie träumte von bunten Wolkenwagen, von Farben des Regenbogens ... sie sah ihre Tauben wieder, die den Wolkenwagen zogen, sie sah alle die glänzenden Shawls, Teppiche, Kleiderstoffe aus dem Magazin des Herrn Guthmann rings drapirt über dem Regenbogen und kleine Gnomen trugen alles ab und zu, und wieder waren es doch die lächerlichen Modegecken im Bazar Guthmann, und ein langes Maß von Papier zog der eine und dem andern wurde unter der Hand eine Reihe von Sternen daraus ... und dann waren es die Blumenbüschel und blauen Glocken, die sie im Walde am Fuße des Eggegebirges einst im Sinken am Riedbruch in der Hand gehalten, und alles um sie her wurde dann grün und immer grüner und mit zwei funkelnden Augen lag plötzlich jene Eidechse auf ihrer Brust, die damals unter dem moosbewachsenen Steine aufschlüpfte ...

Nun erwachte sie.

Um sie her war es still. Die Lichter waren ausgelöscht bis auf eines, das fast niedergebrannt war.

Sie mußte so schlummernd, erst heiter, dann angstvoll träumend, mindestens schon eine Stunde gelegen haben.

Sie richtete sich empor. Was war geschehen? Hatte sie Klingsohr verlassen, ohne sie zu wecken?

Nichts war zu hören als das Klappern einer fernen nicht geschlossenen Thür.

Die Reste der Mahlzeit, die leeren Flaschen und halbgefüllten Gläser standen unabgeräumt, wirr durcheinander. Sie boten jenen Anblick, der nach einer Orgie die Sinne so ernüchtert, die Empfindung so beschämt und empört ...

Unendlich müde, wie zerschlagen an allen Gliedern, durchfröstelt von der kühlen Luft des Zimmers, das geöffnet gewesen sein mußte, suchte sie nach Menschen, die noch wach waren. Alles war wie ausgestorben ... Von Klingsohr war ihr doch gewesen, als hätte sie im Traum gehört, wie er laut über sie hinweggerufen, an ihr gerüttelt hätte, und Menschen mußten im Zimmer gewesen sein, alle Stühle standen ja in Unordnung, der getäfelte Fußboden knirschte sogar von förmlichem Schmuz ... Sie sah zum Fenster hinaus ... Es war tiefe, stille Nacht ... Die große Wölbung der fast unermeßlichen Fernsicht über Wiese, Wald und Feld hin eine einzige schwarze Finsternis, die kein Stern erleuchtete ... Die Regenwolken hingen trüb und schwer. Sie öffnete, streckte die Hand hinaus; sie fühlte, daß die Luft kühl war, doch nicht mehr tropfte ...

Sie gedachte jetzt deutlicher Klingsohr's, gedachte erschreckend seiner letzten Zärtlichkeiten, die sie mit schon geschwundenem Bewußtsein hingenommen, seiner wilden, vermessenen, wie ein schneidender Luftzug noch durch ihre Seele gehenden Reden. Ihr war nur am Muthe des Mannes gelegen, an seinem Trotz, an seiner Herausforderung gegen Menschen und Geschick, und in dem, was sie heute und schon oft von Klingsohrn gehört, lag doch eher eine Thatkraft, die sich nur künstlich aufstachelte ... Sie gedachte schreckhaft des Kammerherrn; sie glaubte die Thür sich öffnen zu sehen und das kratzende Scharren eines Hundes zu hören. Nun faßte sie den Gedanken, ob sie noch zu dem Pavillon in den Park könnte, wo sie doch eigentlich wohnte. Hatte man sie vergessen? Sie nahm das Licht, um auf die Treppe und dann über den Hof zu schreiben.

Erst mußte sie durch die langen Corridore, wo rings an den Wänden die Spiegel ihre eigene Gestalt wiedergaben. Wie sah sie aus! Wie aufgelöst hing das Haar! Wie lag das Kleid von den Schultern herab! An die Spiegel mit dem Lichte tretend, bebte sie zurück, weil sie plötzlich der Sage gedachte, daß es mit dem Glockenschlage zwölf unheimlich wäre mit einem Licht sich im Spiegel zu sehen ...

Doch bis zum Hofe kam sie nicht, nicht einmal bis zur Treppe; die offen stehende Thür machte einen Zugwind, der ihr das Licht ausblies.

Nun stand, sie vollends erschreckt. Sie rief:

Lisabeth! Lisabeth!

Keine Antwort, als das Echo des langen Corridors ...

Sie tastete sich zurück zu den vordern Zimmern. Hier aus dem Fenster zu rufen war den Sternen gesprochen ...

Nun wankte sie dem Divan wieder zu und hielt sich an der kalten Marmorbekleidung des Kamins ... verwünschend die Rücksichtslosigkeit, die sie hier so preisgeben konnte.

Als sie sich aber niederlassen mußte, weil es sie fieberisch fröstelte, fühlte sie etwas wie einen Mantel. Erschreckt fuhr sie zurück. Es war eine Decke, eine der gesteppten, die unter die Federbetten gebreitet werden.

Man hatte also doch an ihre Ruhe gedacht und vorausgesetzt, daß sie hier und auf dem Divan die Nacht, zubringen würde.

Ihr Fuß stieß auch an ein Federkissen, das hinuntergeglitten war. Sie konnte es unter ihren Kopf legen und that es.

Sich in ihr Loos ergebend, streckte sie sich, um zu schlafen, drückte den Kopf in das untergelegte Kissen und zog die Decke über sich.

Es wurde ihr wärmer; aber die Bilder der erregten Phantasie wichen noch lange nicht ... Immer sah sie Leben und Bewegung um sich her. Jede zufällige Berührung weckte eine Vorstellung. Klingsohr's Gestalt konnte sie nicht sehen, aber hörbar blieb ihr seine Stimme. Immer noch glaubte sie ihn reden zu hören und zwischendurch öffnete der Kronsyndikus die Thür und fragte: Schläfst du? ... Auch den Deichgrafen sah sie durchs Zimmer schreiten und die Ahnenbilder in den goldenen Rahmen stumm betrachten ... dann wurde die Reihe der Gestalten immer ferner, nebelhafter wurden ihre Umrisse ... Sie sah die Frau Hauptmännin Tauben morden und Mäuse fangen aus freier Hand und vor schönen Prinzessinnen knixen und sie dann in den Keller sperren, wohin sie ihnen in der Nacht Besuche machte, mit der Lampe über ihnen hinwegleuchtend und lachend, wenn eine Ratte an ihnen nagte ... gerade wie sie ihr einst gethan ... Die eine Schlummernde war ihre todte Schwester; die erhob sich aber und setzte sich an ihren eigenen Nähtisch, kleine Hemden zu nähen, die wol den beiden noch lebenden Geschwistern im Waisenhause gehören sollten ... auch diese erschienen und winkten so seltsam und so abwärts ... und die drei andern kleinen Geschwister, die am Scharlach gestorben, sah sie mit Blumen bekränzt und eine wundervolle Musik begann ... es waren die Flötentöne der Harmonica ... es war die Kirche in Eibendorf ... die Kirche der Residenz dann wieder ... das Gesangbuch der Magd im Hause des Stadtamtmanns blitzte in seinem Goldschnitt und schlug sich hell auf ... sie las Warnungen, Mahnungen, unterdrückte und hier offen ausgesprochene Vorwürfe ihres Gewissens ... bis sie daran fester einschlief, aber doch immer noch in der Vorstellung, den Vater zu führen, alle die schmalen Brückenstege von Langen-Nauenheim entlang, und dem schwer dahintaumelnden kleinen Mann, der seinen Hut verloren und, mit den weißen Haaren im Winde, immer nach dem Kopfe griff, zuzurufen: Vater hier! Vater hier!

So war ihre letzte Erinnerung ...

Am folgenden Morgen weckte sie die Lisabeth und brachte die schreckliche Kunde, daß man gestern Nacht im Düsternbrook den Deichgrafen in seinem Blute schwimmend und – ermordet gefunden hätte.

14.

Als Lucinde dies grauenvolle Wort hörte, sprang sie empor.

Sie verstand nicht einmal gleich, was sie hörte.

Sie wußte anfangs kaum, wo sie war.

Die Mägde hatten schon aufgeräumt und über dem gelben Plüschsammt hingen schon wieder die grauen Ueberzüge. Nur sie hatte man den erquickenden Schlaf noch genießen lassen.

Die Lisabeth wiederholte die grauenvolle Mittheilung:

Der Deichgraf ist todtgestochen! Gestern! Im Düsternbrook!

Aber der Doctor? fragte Lucinde erblassend und sich auf alles Gestrige jetzt erst besinnend.

Sie schliefen gerade, hieß es, als die Leute, die auf der Buschmühle arbeiten und den Weg über Neuhof nehmen, wenn sie nach Hause wollen, die Nachricht brachten. Es war um neun Uhr.

Ermordet! wiederholte Lucinde schaudernd und sich auf das, was damit zusammenhängen konnte, besinnend ...

Abgestochen mit einem Messer, gerade wie man einen Karpfen absticht, dicht am Kiemen! fuhr die Lisabeth fort. Im Regen lag er hart am Grenzstein bei der großen Eiche. Mit dem Menschen, der's gethan hat, muß er gerungen haben auf Leben und Tod!

Aber wer war es denn?

Die Lisabeth wußte niemand zu nennen, erzählte aber von der Bewegung auf dem Hofe und in der ganzen Gegend ...

Und der Doctor?

Dem hätte man's gestern Abend sogleich gesagt. Er hätte wie versteinert gestanden, sie erst wecken wollen, dann wäre er hinuntergeschlichen in seinen Wagen, wie ein Schatten. An den Glaswänden hätte er sich wie ohnmächtig gehalten und wie er sein Antlitz drin gesehen, hätt' er sich an den Kopf geschlagen und einigemal gelacht, gelacht nämlich vor Schmerz ...

Die Lisabeth erzählte, wie es auch ihr immer ginge, daß sie vor Schmerz lachen müßte und daß sie schon einmal drum einen Doctor gefragt hätte. Die Aerzte wissen, was sie alles dem Volke leisten sollen! Sie werden gefragt, ob sie nicht Tränke hätten, daß man gerade nur dies oder das träume, und zu manchem Arzt schon kam eine Mutter und verlangte ihrem Kinde etwas verschrieben, weil es so leicht »schrecke«.

Von den Nerven Lucindens wissen wir schon, daß sie gegen den Schreck gestählt sind.

Was aber sagte denn nur der – Doctor? fragte sie.

Der wollte Sie nur wecken, hieß es weiter, und als Sie nicht hörten, schlich er davon und in den Wagen war er und sein Gaul zog ihn fort, wir wußten selbst nicht wie. Hernach sagte Stephan, der spät aus dem Wirthshaus kam, es wäre besser gewesen, es hätte ihm eins sein Roß geführt: er hätte auf die Nacht ein Unglück haben können ... es geht schroff ab bis zur Buschmühle.

Dort fand er schon den todten Vater? fragte Lucinde kopfschüttelnd.

Stephan, fuhr die Lisabeth fort, war der erste, der den Deichgrafen gefunden hat. Es fehlte ihm ein Stemmeisen. Da war's ihm doch, als ob er's im Grund hätte liegen lassen an der großen Eiche. Nun ging er hinunter und im Schummer schon. Gleich sah er, wie da alles durcheinander lag an seinem Werkplatz. Der Stein mit dem Adler war weggeschoben, rundum alles zertreten, und wie wenn es Streit gegeben. Und nun, Marie Joseph! da fand er denn auch den Deichgrafen gerad' auf dem Gesichte liegend. Hier, sehen Sie, hier am Hals, da wo schon manche ein neugeboren Kind mit einer Stecknadel umgebracht hat, gerade da hatt' er's weggekriegt; nicht drei Zoll tief war der Nickfänger hineingefahren, sagte Stephan.

Der Nickfänger? fragte Lucinde. Woher weiß man denn von ...? Was wird der Kronsyndikus sagen? fügte sie jetzt noch ganz harmlos hinzu.

Die Lisabeth sah Lucinden groß an. Sie schien zu erstaunen über eine Frage, die geringe Menschenkenntniß verrieth. Lucinde war in der That von den sonstigen Dingen, die in ihr lebten, so erfüllt, daß sie kaum noch an die auffallende gestrige Rückkehr des Kronsyndikus dachte.

Die Lisabeth erklärte zunächst das späte Ausbleiben Stephan Lengenich's. Er hätte im Wirthshaus den Vorfall wol zehnmal wiederholen müssen. Die Leiche war in die Buschmühle getragen worden und jetzt säße schon ein Actuar aus dem Amte Lüdicke unten und im Düsternbrook würde alles nach Befund aufgenommen. Daß es in dem ganzen Kreis eine nicht geringe Zahl von Menschen gab, die mir dem Theilungscommissar in Streit lagen, und daß man ihm gerade an dem einsamen Düsternbrook hatte aufpassen können, stand fest. Ein Verdacht auf diesen oder jenen, der der Thäter hätte sein können, wurde nicht ausgesprochen; die Lisabeth selbst war zu klug, die Gedanken, die der ganze Hof schon über den Kronsyndikus theilte, Lucinden mitzutheilen.

Es war eine dumpfe Schwüle, die den Vormittag über Schloß Neuhof und allen seinen Bewohnern lag. Die Arbeiten gingen lässig. Jeder hatte die schreckensvolle Thatsache zu wiederholen und zu erörtern. Lucinde begriff dann allmählich, daß die sonderbare, allen ersichtlich gewesene Aussöhnung des Kronsyndikus mit dem Sohn des Deichgrafen allgemein in einen Zusammenhang mit dem Vorgefallenen gebracht wurde. Die Unruhe und das Geheimnißvolle wuchs, als Stephan Lengenich, der allerdings im offenen Kriege mit dem Deichgrafen gelebt hatte, auf gerichtliche Requisition abgerufen wurde und am Abend nicht wiederkam. Die Vorstellung, die schon auf dem ganzen Schloß feststand, daß der Kronsyndikus der Mörder gewesen, theilte sich endlich auch Lucinden mit, und als erst der Inspector der Brennerei, die wichtigste Person auf der Oekonomie, erklärte, es würde doch wol nothwendig sein, daß der Kronsyndikus auf Eggena durch einen Expressen von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt würde, und dabei die Miene eines Mannes machte, der wie von etwas an sich ganz Ueberflüssigem sprach, wandte sie sich erblassend ab und ging dem Parke zu, überlegend, ob sie nun nicht selbst zur Buschmühle sollte. Die Wege dorthin waren aber übermäßig vom Regen aufgeweicht und Beistand mochte sie nicht begehren. Schon war ihr, als wäre sie eine Mitschuldige, die vor allem den Kronsyndikus zu schonen hätte! ... Darum war Heinrich sein Sohn! Darum wollte er ihm gleichsam die Hände binden! So sprach sie mit sich im Pavillon und blickte gedankenvoll in den düstern Park. Der Sturmwind peitschte wieder die Zweige der hohen Ulmen und bog selbst die Stämme. In ihrem Innern sah es nicht anders aus.

Einer Nachricht von dem Doctor harrte sie mit jeder Minute entgegen. Diese kam aber nicht. Der Tag ging über das grauenvolle Ereigniß hinweg, auch eine aufgeregte, halb schlaflose Nacht. Von dem Doctor war nichts zu hören und zu sehen; selbst dem gewöhnlichen Boten, dem buckeligen, grauhaarigen Sohn der Alten, bei denen sie wohnte, dem Musikanten, hätte sie seinen Verrath verziehen, wenn er nur eine Mittheilung gebracht hätte. Als dieser aber kam, den Vorfall wiederholte und obenein noch hämisch lachte und seinen nun auch wie aus ihrer Lethargie erwachenden und grinsenden Alten von einem Schaffot sprach, über das erst ein Sammttuch gebreitet werden müßte mit einem geflügelten und gekrönten Lindwurm – dem Wappen der Wittekinds – da ergrimmte sie aufs heftigste, verbot ihm im Pavillon zu bleiben, riß, da er nicht gehen wollte, das Fenster auf, warf seine Geige weit in die Nacht hinaus, zwang ihn, seinem Instrumente, das er auf allen Kirchweihen und an jedem Sonntage in den Schenken um Witoborn strich, nachzulaufen und schloß indessen, mit einigen Sätzen von der Treppe ihm nachspringend, die Thür des Pavillons. Die Alten vergegenwärtigten sich inzwischen, welchen »Stein im Brete« Lucinde vorn im Schlosse hatte, und ließen sie aus Furcht gewähren.

Auf dem Hofe fehlte das Auge des Herrn. Der Bote hatte vom Vorwerk Eggena die Nachricht gebracht, der Kronsyndikus würde in der Frühe zurückkommen. Er kam aber noch am Mittag nicht. Am Abend traf er dann endlich ein. Er allein, ohne den Kammerherrn. Lucinde hörte das von den Alten, die beim Hofkehren ihn hatten aussteigen und vom Landrath, der ihn begleitete, Abschied nehmen sehen ... noch immer war er in seiner glänzenden Uniform. Jetzt drängte sie's, zu ihm zu eilen, und doch fürchtete sie sich, dem Entsetzlichen entgegenzutreten. Auch mußte sie nach dem Vorgefallenen, nach dem Beweise des höchsten Vertrauens, das er ihr geschenkt, glauben, er würde bald aus eigenem Antriebe entweder selbst kommen oder um sie schicken.

Da es endlich dunkel wurde und sich niemand bei ihr sehen ließ, auch vom Doctor immer noch keine Kunde kam und nur erzählt wurde, am folgenden Morgen würde auf einem der nächsten Kirchhöfe, der zu einer kleinen evangelischen Gemeinde gehörte, der Deichgraf bestattet werden, und als dann auch Abends von dorther klagend und fast wimmernd zwei kleine Glöcklein aus dem Thale heraufklangen, hielt sie es so nicht länger aus. Sie wagte sich über den großen Weiher des Parkes, dessen gefiederte Bewohner schon längst die Stockwerke ihres Thurms bezogen hatten, hinaus, sie wollte sich in den Zimmern des Kammerherrn zu schaffen machen und so den Vater an ihre Gegenwart erinnern.

Wie erstaunte sie aber, als sie dasselbe Gefährt, in welchem vor zweimal vierundzwanzig Stunden Heinrich Klingsohr angekommen gewesen, an der hintern Aufgangstreppe des Schlosses stehen sah und erfuhr, der Sohn des Deichgrafen wäre oben mit dem Kronsyndikus allein und niemand dürfte sie stören!

Sie traute ihrem Ohre kaum. Jetzt sah sie jedenfalls die Bestätigung erst der Unschuld des Kronsyndikus überhaupt, dann aber auch wieder, aufs neue grübelnd und die Vorgänge vergleichend, die so nahe Verwandtschaft zwischen beiden.

Von den Leuten erfuhr sie, daß die Aussichten auf Entdeckung des Mörders sich gemehrt hatten. Theils behauptete man, daß von einem Morde überhaupt nicht die Rede sein konnte, sondern nur von den Folgen eines Wortwechsels. Hatte der Deichgraf beim Streite sich gewandt und war ein gezücktes Messer (ein gezogener Hirschfänger, wagte schon niemand mehr hinzuzusetzen) so unglücklich gewesen, gerade im selben Augenblick in den Nacken zwischen die Halswirbel zu fahren, so drehte er sich noch einen Augenblick ein wenig um und »weg war er«, wie Kenner versicherten. Man erzählte, daß so die Jäger mit dem Nickfänger dem Todeskampfe eines erlegten Hirsches im Nu ein Ende machen. Alle aber wußten, daß sich die Umstände, wie es hergegangen, immer mehr lichteten, seit man einem Fetzen Tuch, den sich er im Ringen das Opfer seinem Mörder vom Kleide gerissen, diese einstimmige Erklärung gab. Man wußte auch, daß der Tuchfetzen von Farbe grün gewesen. Allen stand freilich, ohne daß eine Silbe laut wurde, dabei der Kronsyndikus vor Augen, der so ängstlich vorgestern seinen grünen Jagdrock bis oben hin zugeknöpft gehabt hatte, allen war begreiflich, daß der Geruch, der sich so pestilenzialisch im Schlosse nach seiner Rückkehr aus der Gegend des Grundes her verbreitet hatte, nur von einem verbrannten Kleide herrühren konnte ... aber niemand verweilte dabei ersichtlich, die einzige Lisabeth ausgenommen, die wie sinnlos hin- und herrannte, seitdem Stephan Lengenich aus Lüdicke nicht wiederkam.

Indem klingelte es beim Kronsyndikus aufs heftigste ... jeder glaubte, dort wäre Hülfe nöthig ... Lucinde bebte ... die Lisabeth suchte nach Fassung ... sie schickte einen Diener, um die Befehle des gnädigen Herrn zu holen.

Nach wenig Augenblicken kam der Diener zurück ... Das Roß sollte ausgeschirrt werden!

Ausgeschirrt? war nur ein Ton, den alle zugleich sprachen. Man zerstreute sich kopfschüttelnd. Auch Lucinde zog sich zurück, dem Vorpark zu.

Wieder aber klingelte es ...

Der Diener kam aufs neue und brachte die Nachricht, man hätte Licht verlangt und – zwei Flaschen Burgunder!

Jetzt wußte Lucinde nicht mehr, woran sich halten. Sie fragte nach dem Kammerherrn, von dem niemand etwas wußte, dann schwankte sie, da nach ihr nicht begehrt wurde und sie auch nicht wußte, wie sie in eine so geheime Zwiesprache eintreten sollte, ihrem Häuschen zu, jetzt sich selbst mit ihrer Jugend und Lebensunerfahrenheit bescheidend. Sie sagte sich, daß sie bei ihren Jahren alles das schon zu verstehen – »zu dumm« wäre.

Im Pavillon war es düster und gespenstisch. Der Sturm tobte, Zweige brachen. Die Mitbewohner schliefen schon. Sie glaubte immer noch, man würde sie nun wol nach vorne rufen. Es geschah aber nicht. Es verging die zehnte Stunde. Endlich suchte sie fiebernd das Lager ...

Das Leid der Prinzessin Ilse aus dem »Liederbuch von Heine«, in dem sie eine Weile gelesen, rauschte ihr noch lange im Ohr:

Es bleiben todt die Todten,

Und nur das Lebendige lebt;

Und ich bin schön und blühend,

Mein lachendes Herze bebt.

Und bebt mein Herz dort unten,

So klingt mein krystallenes Schloß,

Dort tanzen die Fräulein und Ritter

Und jubelt der Knappentroß.

Bilder wie vom Hause im einsamen Tannenwald, Bilder vom ledernen Großvaterstuhl und der am schnurrenden Spinnrad sitzenden Großmutter, Bilder vom wilden Jäger und seinem Liebchen, vom Mondschein, vom Galgen, von Gretchen in ihrem Wahnsinn gaukelten um so mehr um sie her, als die Lebensschicksale der alten Stammers und einer ihnen frühgestorbenen Tochter sich trotz der Dunkelheit, die für sie auf ihnen lag, gespenstisch einmischten. Der Refrain »Dort oben auf dem Schlosse« blieb sich immer gleich und dazu geigte der buckelige »junge« Stammer unter ihrem Fenster und wisperten die Alten nebenan. Es war ihr, wie wenn irgendwo Hochzeit gefeiert wurde mit Gästen aus der Unterwelt.

Blanke Ritter, Frau'n und Knappen

Schwangen sich im Fackeltanz ....

Am folgenden Morgen klagten dann wieder die ihr wohl bekannten, sonst aber selten von ihr beachteten kleinen Glöcklein, die evangelischen; die großen, die katholischen schwiegen.

Vom Doctor erfuhr Lucinde, daß er Nachts zwölf Uhr erst vom Schlosse abgefahren, und vom Kronsyndikus, daß er schon um fünf Uhr in der Frühe wieder vom »schönen Enckefuß« abgeholt und nach Eggena zurückgekehrt war. Nach ihr war nicht gefragt wor den, und sie hörte dies gern, weil es ihr anzudeuten schien, daß zwischen den Menschen, die ihr werth waren, Friede herrschte.

Auch auf Schloß Neuhof war große Bewegung, denn um acht Uhr sollte der Deichgraf begraben werden.

Aus der Nähe und Ferne, zu Fuß, zu Roß, zu Wagen strömten Theilnehmende herbei.

»Es war ein Mann! Nehmt alles nur in allem!« klang seine Nachrede – erst am Grabe von der aufgeschütteten Erde aus, dann aber selbst bis in die fernsten Gauen des Vaterlandes.

Man legte Eichenkränze auf seinen Hügel. Sie wurden auch im bildlichen Sinne ihm gewunden, in Nachrufen aller Art, in Versen, in ungebundener Rede ... Man pflückte die Blätter zu diesen Kränzen auch bildlich aus den Schluchten des Teutoburger Waldes, durch die der Edle damals als Flüchtling geirrt, wie er sich in der Befreiungsstunde des Vaterlandes so gefahrvoll verrechnet hatte. Auch seine Tage von Magdeburg wurden gerühmt. Schon war ja die Zeit angebrochen, wo auf den Thronen Herrscher saßen, die die Blütenträume auch ihrer Jugend wollten reifen sehen. Und so wie jetzt bei diesem vielbesprochenen Ende eines Patrioten, gehen ja noch zuweilen durch das Vaterland segnende Geister und schwingen die Fahnen unsers wahren Ruhmes ... Zu den Posaunen, über wel che die weißen Ehrentücher des Friedens, nicht die blutigen des Streites festlich niederhängen, horchen wir dann noch einmal wieder empor, wie zu den Herolden unserer wahren vergangenen und künftigen Größe. O daß es so oft nur die Todten sind, um die wir uns die Hände reichen! Daß es fast immer nur eine Erinnerung, ein Lied, ein Gedicht ist, um das eine kurze Weile das vielstimmige Durcheinander der Parteien verstummt, eine Weile der große Riß, der durch das deutsche Herz geht, nicht im eigenen empfunden wird! ... Man pries des Geschiedenen Muth, seine Charakterstärke und Rechtlichkeit. Sein letzter Uebergang in die Formen der Bureaukratie war ein so natürlicher gewesen. Er war von denen, die die antike Tugend hatten, den Staat bis in die innersten Fingerspitzen zu fühlen. Man verurtheilt so oft schon wieder diese Tugend! Ja wie habt ihr sie gefährlich gemacht! Nach dem, was wir schaudernd alle erlebten, welch ein Verbrechen ist es nicht geworden, auf den Ruf der Lärmtrommel zu hören, die durch die Straßen wirbelt! Wer nur hinaussieht, wer nur je ein Wort in eine freie Luftwelle gab, dem wurde die Zeichnung vor den Mächtigen gewiß! Nun müssen wir uns schon so erziehen, daß wir in einem allgemeinen Brande auf keinen noch so starken Hülferuf mehr hören, sondern kalt nur unsere eigene Habe bergen. »Was geht euch das Andere an!« Wehe, wehe euch, wenn einst die Stunde der großen Gefahr schlägt, die dem Vaterlande immer näher rückt! Dann werden wir in die Straßen und Plätze hinaussprechen sollen und niemand wird es können oder wagen! Dann werden wir gerufen werden von den Signalen, die uns trügerische erscheinen müssen, seit ihr die, welche ihnen schon einmal gefolgt sind, so unerbittlich straftet! Wehe dann euch – und auch uns!

Klingsohr, der Alte von den Externsteinen, hatte diese Selbstbeherrschung nicht und sein lebendiges Ergriffensein von der Zeit rühmte man damals an ihm. Man nahm die Lieder von Arndt und Schenkendorf zu Eingangs- und Schluß-Blumenpforten seiner Nekrologe, die sich bis in die fernsten kleinen Volksblätter verloren. Auch sein Bild verbreitete man. Es war nur ein kleiner, kurzer, dicker, untersetzter Mann, gar kein Gracchus oder Timoleon der Phantasie gewesen. Die Stirn war sogar so groß, wie man sie bei Narren zeichnet, die Augen blinzelnd klein, die Backenknochen vorstehend, wie bei Baschkiren, der ganze Mann einem modernen Bacchus nicht unähnlich, und doch trank der Mann nur das klare Wasser des Buschmühlbaches, so oft er auch den »Vater Rhein« beim jährlichen Erinnerungsfest der Freiwilligen und der Gründung der Städteordnung leben ließ. Er war entzündet vom Feuer nur seiner freien und überzeugungsreinen Seele. Er hatte die Schönheit des Gedankens. Einige Spötter rügten, daß er nicht nur kein Vermögen hinterließ, sondern das, was er besaß, sogar in Zerrüttung. Doch hatte er Gläubiger, die ihm dennoch auch noch den Gutsankauf hatten möglich machen wollen. In einigen Städten sammelten die Liederkränze für sein Grab und zu einem Denkstein.

Um den Anlaß seines Todes loderte erst über jeder Bergspitze und nach allen Richtungen des Vaterlandes hin eine große Flamme des Zornes und gedrohter Rache. Dann aber kamen in den Zeitungen wieder die berühmten Sänger, die Tänzer, Tänzerinnen, Festlichkeiten in Paris und London, man hatte einige Mammuthsknochen ausgegraben, die neuen Eisenbahnen erfüllten alles mit Bewunderung und Speculationseifer; eine Flamme nach der andern erlosch und zuletzt blieb kein anderer Rächer übrig als das langsame und geheime Gerichtsverfahren jenes mehreren Dynastieen angehörenden Städtchens Lüdicke und der über die Buschmühle verhängte Sequester.

Stephan Lengenich, der Küfer und Arbeiter im Düsternbrook, blieb indessen eingezogen. Er galt bereits in wenig Tagen für den muthmaßlichen Mörder.

15.

Zwei Tage nach dem Begräbniß seines Vaters sah man den Doctor Heinrich Klingsohr mit dem Kronsyndikus nach der Buschmühle fahren und daselbst das versiegelte Inventarium besichtigen.

Zwei stattliche Mecklenburger, die besten des Stalles und herübergekommen erst kürzlich aus den norddeutschen Besitzungen der Wittekinds, waren dem leichten, eleganten Wagen vorgespannt.

Wieder einige Tage, und der Freiherr von Wittekind-Neuhof und Doctor Heinrich Klingsohr reisten gemeinschaftlich nach der großen Stadt, in welcher der Regierungsrath Friedrich von Wittekind eben zum Oberregierungsrath ernannt worden war ... Auch ihm waren düstere Gerüchte zu Ohr gekommen über den Tod des Deichgrafen. Um so freudiger überrascht mußte er sein durch den Besuch des mit seinem Vater so traulich verbundenen Sohns desselben.

Man sprach mit Unbefangenheit von dem Vorgefallenen. Als jenes grünen Tuchkragens Erwähnung geschah, der an der Mordstätte wäre gefunden worden, hieß es, daß durch eine Nachlässigkeit unbegreiflicher Art so wichtige Hülfsmittel der Entdeckung plötzlich wären abhanden gekommen.

Alle diese Gespräche fanden in Gegenwart der neuen Frau von Wittekind statt. Es war eine Heirath, die erst jetzt die Billigung des Kronsyndikus erhalten. Eine nicht mehr junge, unvermögende, aber dem Sohne durch Gewohnheit und manche, wie man sagte, schmerzliche Erinnerung werth gewordene Witwe eines geliebten Freundes und Amtscollegen, eines Herrn von Asselyn ...

Der Oberregierungsrath fand einen Vorschlag, den sein Vater machte, sehr annehmlich. Doctor Klingsohr sollte die mecklenburgischen und holsteinischen Güter der Familie bereisen und sich in Altona nach der Lage von Processen erkundigen, deren die Familie über diese Besitzthümer mehrere zu führen hatte.

Der Doctor kannte Hamburg und freute sich auf einen ihm bekannten zerstreuenden und anregenden Aufenthalt, dessen Kosten der Kronsyndikus trug.

Den Kammerherrn hatte der Kronsyndikus zum Grafen Zeesen geschickt und zwar schon am Tage nach seiner stürmischen Abreise auf das Vorwerk Eggena. Daß der Unglückliche Widerstand leisten wollte, verschwieg der Vater nicht, ebenso wenig wie den Zwang, den man anwendete, den Widerstand zu brechen. Er hatte ihn kurzweg binden lassen. Der später nachgeschickte Diener des Kammerherrn meldete, Graf Zeesen böte alles auf, seinen Herrn zu zerstreuen und zu fesseln. Er sänge ihm geistliche Lieder und bespräche die Visionen, die der Kammerherr zu haben glaubte. Inzwischen wäre der Kammerherr freilich bettlägerig geworden, aber die Verlobte des Grafen, das Freifräulein von Seefelden, sorgte für seine Verpflegung.

Alle diese Veränderungen gingen auch an Lucinden nicht spurlos vorüber. Sie erschütterten sie nicht minder wie den Doctor und den Kronsyndikus. Der Doctor, der ihr unter allen Umständen jetzt wirklich als des letztern natürlicher Sohn erschien, wiederholte mit scheuem Niederblicks ernst und verstört, wie er jetzt fast immer war, Betheuerung seiner Liebe über Betheuerung; der Kronsyndikus hatte Ursache, die Vertraute eines Geheimnisses, das beide im stillen Verkehr wiederaufnahmen, mit Aufmerksamkeit und Schonung zu behandeln. Sie erhielt Beweise einer Freigebigkeit, die an dem sonst so geizigen Manne auffallend genug war. Da nicht gezweifelt werden konnte, daß sie das Ziel ihrer Herzenswünsche in einer Vereinigung mit Heinrich Klingsohr finden mußte, so wurden die Aenderungen ihrer Lebensstellung dahin getroffen, daß sie ihm nahe bleiben, aber vorläufig doch noch so weit von ihm getrennt sein sollte, um keinen Anstoß zu erregen.

Vor allem fehlte ihr noch manche Vervollständigung ihrer Bildung. Es war hohe Zeit, das Chaos ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse zu lichten. Diese Anordnung wurde mit Fürsorge getroffen. Man hatte eine Familie ausfindig gemacht, bei der sie, nicht sogleich in Hamburg selbst, wol aber dicht in der Nähe auf dem Lande wohnen sollte.

Da Heinrich Klingsohr erst nach Göttingen zurück mußte und bei allen diesen Anordnungen von seiten des wie verwandelten und ganz außerordentlich milde, zahm und nachgiebig gewordenen Kronsyndikus eine Zartheit und Schonung der Sitte und des Anstandes beobachtet wurde, wie wenn es sich wirklich um eine künftige Schwiegertochter desselben handelte, so gab man Lucinden sogar bis nach Hamburg eine Begleiterin mit, die in der vom Oberregierungsrath bewohnten Stadt gewählt wurde und ihr auf halbem Wege entgegenkam, an dem Tage, wo der Kronsyndikus und Klingsohr sie auf ihrer Abreise vom Schlosse begleiteten.

Die Abreise fiel mancherlei Umstände wegen auf einen Tag, wo der Kronsyndikus und Klingsohr in Lüdicke einen Termin abhalten mußten in Angelegenheiten des, wie es schien, sehr gravirten Stephan Lengenich, an dem selbst die Lisabeth irre geworden war, seitdem der Kronsyndikus von seiner Reise zum ältesten Sohn zurückgekommen war und ihr eine funkelnde, schwere goldene Kette mitgebracht hatte, zu der, wie der Alte hinzufügte, »jetzt nur noch die Uhr fehle«. Sie that das Ihrige, sich auch diese zu verdienen ...

Diesen Termin in Lüdicke hatte man für kurz gehalten, aber es dauerte fast eine Stunde, daß Lucinde auf dem Marktplatze der kleinen Stadt in ihrem vorn und hinten bepackten Wagen harren mußte. Sie konnte bei dem immer gleichrinnenden Strom eines schön geformten alten Rolandsbrunnen, an dem sie hielt, bei seinem nicht endenden, immer gleichmäßigen Wasserstrahl recht der Zeit gedenken. Was hatte ihr diese nicht alles gebracht! Was hatte sie nicht schon alles ausgelöscht! Auch das Bild eines auf schaumbedecktem Rosse den steinigen Grund hinterm Park vom Düsternbrook Emporstürmenden, auch das Bild von der Waldhütte, den Tannen, dem Monde, der Großmutter, ihrer selbst am Spinnrade, dem durch die kleinen bleigefugten Scheiben hereinlugenden wilden Jäger mit der rothen Feder am Hute, der dann wieder der Franciscanerbruder Herr von Buschbeck aus Java war ... Alles hatte sich ihr schon gebleicht. Denn zu oft hatte ja auch der Doctor bestimmt und fest wiederholt und dann der zu Gnaden wieder angenommene buckelige Musikant, vorzugsweise aber der seit einigen Wochen ganz besonders elastische »schöne Enckefuß« bestätigt: der Kronsyndikus war allerdings am Platze der grauenvollen That gewesen und hatte gesehen, wie der Deichgraf dort getödtet lag; das Entsetzen, man könnte ihn, der ihn in Gedanken allerdings auch tausendmal erschlagen hatte, für den Mörder nehmen, hatte ihn von dannen gejagt, und wenn es geschienen, als jagten ihn selbst die Furien, so wäre es die alte Freundschaft für den Deichgrafen gewesen, die in seinem Herzen trotz des spätern Zerwürfnisses doch in der That unerstickt geblieben wäre ...

Und wenn Lucinde den Doctor dann selbst fragte: Bist du wirklich der dritte Sohn? so sagte dieser geheimnißvoll: Störe die Ruhe der Todten nicht! ...

In seiner Liebe war der Ausdruck stärker und leidenschaftlicher noch als sonst geworden, wenn auch mit einer mehr unheimlichen als beglückenden Wirkung für sie.

Vom Amte kamen damals beide Männer sehr bleich zurück. Sie behaupteten, der Querfragen doch endlich müde geworden zu sein und ließen den Wagen einem Gasthause zurollen, um sich zu erfrischen. Lucinde stieg nicht aus. Sie musterte vom Wagen aus das Wirthshaus, den Garten desselben und eine gewisse kleinstädtische Zierlichkeit in den bemalten Staketen, in einer mit grotesken Wandgemälden geschmückten Kegelbahn, in einem ausgestopften Uhu innerhalb einer von Singvögeln belebten Volière. Bei einer großen schwarzlackirten Kugel, die im Garten als Reverbère für die »schöne Aussicht« gelten sollte, gedachte sie des armen um sie betrogenen philosophischen Drechslers, der den Grafen Zeesen recht eindringlich jetzt an sein Familienstatut, die Stiftung eines Irrenhauses, erinnern mochte! Im Hinblick auf diese beiden Männer athmete sie wahrhaft auf, endlich jetzt in gesundere Lebensluft zu kommen. Ja es that ihr sogar wohl, im Saale des Gasthauses durch die geöffneten Fenster, unter ausgestopften Vögeln, Käfern, gespießten Schmetterlingen, Kupferstichen von englischen Pferden und ähnlichen Herrlichkeiten eleganter Wirthsstuben jener Gegend, da so traulich hinterm Champagnerglase zwei feste, kraftvoll verbundene Männer zu sehen. Sie liebte Trotz und Kühnheit. Auch ihr war Stephan Lengenich längst der Schuldige. Seinen bösen Sinn hatte sie ja selbst gekannt, sein Drohen ja selbst gehört. Sie hatte alles das gerichtlich hier in Lüdicke in einem frühern Termine bezeugt und beschworen.

Trotz des Champagners stiegen ihre beiden Begleiter zu ihr schweigsam und ernst ein. Sie blieben noch einige Stunden an ihrer Seite bis zu einer Station, wo sie Extrapost nahmen und zurückreisten. Von der großen Stadt, wo der jetzige Oberregierungsrath wohnte, sollte ihr auf einige Meilen schon eine Begleiterin entgegenkommen, die sich ihr anschließen würde bis Hamburg, wo sie unter Klingsohr's Augen ihre Ausbildung vollenden sollte.

Der Abschied des Kronsyndikus von Lucinden war inniger fast als der des Doctors. Dieser gab nur die Hand und sprach, wie wenn Abschiede nicht zu sei nem System gehörten, vom baldigen Wiedersehen. Jener hatte Thränen im Auge. Der Kronsyndikus weinte! Er war seit Wochen um Jahre älter geworden. Seine Augenbrauen sahen nicht mehr so gelblichweiß aus wie sonst, sie hatten sich ganz gebleicht. Die hohe Gestalt schien, wenn sie sich unbemerkt glaubte, kaum Kraft zu haben, sich so zu halten, wie dem Wappen des gekrönten und aufgebäumten Lindwurms geziemte. An Geld und Gut war Lucinde so ausgestattet, daß sie sorglos in die grüne Weite fahren konnte. Nach acht Tagen schon versprach Klingsohr in Hamburg bei ihr zu sein.

War das alles, wie es so kam, ging und was es bedeutete, räthselhaft genug, so konnte sie durch ihre Begleiterin, die nach einigen Meilen Alleinfahrens ihr entgegenkam, erinnert werden, daß alles im Leben nur Bild und Gleichniß ist. Sie war, wie Klingsohr und der Kronsyndikus ihr schon gesagt hatten, die Braut des »Sehers von Eschede«, jenes Dr. Laurenz Püttmeyer, der auf die Philosophie des Pythagoras zurückgekehrt war und aus mathematischen Figuren das Weltall erklärte. Sie hieß Angelika Müller, war eine hohe, schmächtige, blasse Blondine am Ende der zwanziger Jahre. Bei jeder Anrede erröthete sie. Sie schien ein Gemüth von Weihe und Innigkeit. In Hamburg war sie von einer dort wohnenden katholischen Familie als Erzieherin berufen worden und gestand sogleich mit größter Sicherheit, daß sie den Dr. Laurenz Püttmeyer von Eschede für den einzigen berufenen Denker unserer Zeit halte und daß sie gelobt hätte, nicht früher seine Hand anzunehmen, bis er nicht in Berlin den erledigten Lehrstuhl Hegel's erhalten hätte. Lucinde glaubte sehr an diesen hohen Geist. Auch der Kronsyndikus hatte oft erklärt, daß die Drechselbank für den Kammerherrn eine Quelle lehrreicher Unterhaltung geworden, seitdem er auf ihr die Würfel und Pyramiden Laurenz Püttmeyer's herstellte.

Mit dieser Begegnung auf mancherlei neue Eindrücke angewiesen, fuhr Lucinde in ihrem schwer bepackten Miethwagen die schon wieder staubig gewordene Landstraße hinunter. Die Lerchen wirbelten zwar, aber von Westen kamen düstere, den Athem benehmende Wolken, der jenen Gegenden eigene Haar-oder Höhenrauch. Doch schienen die Menschen der Ebene diese Dünste gewohnt. Sie arbeiteten im Felde. Lucinde glich selbst diesen Fluren, auf denen schon so voll geerntet war und über welche schon wieder die Pflugschar ging, um noch in diesem Jahr der Natur neue Triebkraft abzugewinnen.

Noch völlig war sie sich unklar. Man hätte sie in Hamburg in die Schule schicken können, sie würde gegangen sein und mit der Mappe unterm Arm.

16.

Von jenem Uferrande aus, an welchem der Deichgraf in seinen jüngern Jahren, nach dem Ausdruck seines Sohnes, die Sandkörner zu zählen pflegte, gewährt Hamburg einen großartigen Eindruck.

Eine zweite nicht unansehnliche Stadt, Altona, ist ihr eng verbunden. Thürme, hohe Giebel, Dampfessen, Krahnen und zahllose Schiffsmasten ragen fernhin im wirren Durcheinander empor. Auf der Woge kreuzen sich mit rothen Segeln die kleinen Ever, die, von kraftvollen Ruderern geführt, die Kauffahrteischiffe behend umschlüpfen.

Beim Landen tritt man in eine Welt, die sich ihrer Geschichte und Bedeutung bewußt ist. Diese Straßen und Plätze, diese Vorstädte und Hafenkais sind Lungen, die ihre Luft nicht aus dem kleinen Binnenleben der Nachbarschaft, sondern aus dem unermeßlichen Ocean schöpfen, aus den Verbindungen mit England und Amerika und mit diesem im Norden und im Süden.

Bringe niemand die Anschauungen einer deutschen Residenz oder Provinzialstadt mit! Der Matrose, der Everführer, der Schiffsabläder, der Packknecht, der Hausirer, der Karrenschieber nehmen die nächste Bequemlichkeit der Straße für sich in Anspruch und schleudern mit eingestemmten Armen den, der etwa auf sein Spazierstöckchen mit goldenem Knopf oder seine Glacéhandschuhe als Berechtigung zu Ausnahmezuständen verweisen möchte, in souveräner Machtvollkommenheit auf die Seite; glücklich, wer noch dabei in einen Kram getrockneter Feigen oder frischer Orangen fällt, nicht in eine der englischen Gesundheitsgeschirr- und Wedgewoods-Niederlagen, die man an den offenen Straßenecken oder auf ambulanten Karren feil hält.

Vor dem Brande lag die Börse in dem jetzt verschwundenen engen Gewühl jener alten Straßen am Burstah und Rödingsmarkt, deren Häuser manches Menschenalter gesehen hatten. Die Naivetät Hamburgs, die sich so gut mit londoner Civilisationszuständen verträgt, eine Naivetät, die in dem unendlich unschuldigen, sozusagen schämigen Dialekt, auch selbst beim Blasé, sich wie die Unbefangenheit einer champagnertrinkenden Gurli anhört, war durch manchen verwitterten und nur noch an einigen Aesten zum Blühen und Grünen kommenden alten Lindenknorren ausgedrückt, der mitten unter Import und Export, unter Lotteriecomptoiren, Galanterieläden und Austernkellern wie ein Symbol der Unschuld stehen geblieben war. Dieselbe Idylle wiederholte sich beim Anblick der Gemüsekörbe der Vierlanderinnen und des verschwenderischen Ueberflusses, mit dem aus rothen Blechkübeln die Milch durch die Straßen zu fließen scheint. Auch dicht an der alten Börse säuselten noch einige Linden- und Akazienbäume in die »Ueberschreibungen« von Mark Banco hinein, und mancher gefühlvolle Wechselsensal nahm nach vollbrachter Feststellung der Tagescurse seiner Gattin noch einen Canarienvogel oder Dompfaffen mit heim, den vaterstädtische Gemüthlichkeit am Eingange der alten Börse zu verkaufen gestattete. Es sah ringsum eng, alt, holländisch aus. Nicht des stark vertretenen jüdischen Elements, sondern der Bauart einer vor dem Regen schützenden Halle und des im Freien liegenden Parquets wegen glaubte man in den Vorhof einer alten Synagoge zu treten.

Zu den Gemüthlichkeiten Hamburgs oder den hamburger »Ironieen des Satan«, wie Dr. Heinrich Klingsohr gesagt haben würde – an dergleichen Kraft- und Schlagworte waren auch dort seine Freunde gewöhnt – gehört im Sommer das idyllische Wohnen der Geldleute unter Gras und Blumen vor den Thoren der Stadt.

Es ist wahr, die Atmosphäre Hamburgs bekommt im Sommer etwas Mephitisches. Aehnelt sie auch nicht ganz dem Dufte der pariser innern Stadt, wo die Gewürze, Kaffeebohnen, Pfeffersorten, Zimmetarten aller Zonen zusammenzukommen scheinen und die Kehle zum Ersticken zusammenschnüren würden, wenn die penetrante und vom pulverisirten Theriak erfüllte Luft nicht mit den Gerüchen von ranziger Butter und altem Käse wieder gemildert und gefeuchtet würde, so gesellen sich zu den ganzen und zerstoßenen Gewürzen in Hamburg noch die Ausathmungen der Kanäle oder Fleete, vorzugsweise aber jene sonderbaren Oelgerüche, in die vom 52. Grad nördlicher Breite an alles in Europa eingehüllt scheint, was da lebt und webt. Das ist von diesem Breitengrade an ein Malen und Klecksen mit Oelfarbe an jede Wand, jedes Holz, jeden Stein! Der Nordländer liebt die grelle Farbe mehr als der Südländer. Wir glauben wunder, welche Farbenreize der Spanier für seine Kleidung sucht. Die andalusische Tänzerin kleidet sich in Gelb und Schwarz. Der Nordländer aber will rothe Halstücher, malt sich grüne Häuser, bestreicht seine Windmühlflügel, seine Segel, seine Milchkannen, seine Gartenzäune, schläft in gold- und grünlackirten Bettstellen, hat überall den Farbentopf und den Oelkrug in der Hand, bepinselt und beglänzt Diele und Treppe und Fußboden und Fensterrahmen. Kein Wunder, daß die beengte Lunge sich in jenem frischen Wiesengrün ausathmen will, das dem Hamburger glücklicherweise bis dicht unter die Thorsperre wächst.

Die großen Kaufleute fahren um drei Uhr in ihre prächtigen Villen, die an der Elbe liegen; aber ein solcher kleiner Exporteur in Kleesaat, wie Herr Carstens, geht nach vollbrachtem Tagwerk erst eine Stunde in die Börsenhalle, wo er in die Schiffslisten Australiens blickt, um sich nach »Susanna Maria«, einer gesunden, vollwangigen, frischen Bark, zu erkundigen, die nach Adelaide einige hübsche Dosen jener Panacee der Ackerwirthschaft bringen soll. Sie ist noch nicht angekommen am Orte ihrer Bestimmung, die Susanna Maria, aber ein anderes – wir reden in der Naivetät dieser oft so unschuldig verkannten Geldseelen – »nettes und schoines« Ding, die »Meta Carstens«, ist sehr guter Dinge in Baltimore eingelaufen und bringt den dortigen Farmern das, was ihnen auf ihren Acres jetzt lieber ist als etwa eine Kunde von der endlich errungenen Freiheit Germaniens. Kleesaat ist ein specifisch europäischer Artikel, ohne den es keine ausführbare Brache und keine Hebung des Viehstandes gibt; denn wie am Neckar, so am Missouri: die Kühe werden, wenn sie frisches Heu im Stall bekommen, schöner, als wenn sie draußen im Freien sich das beste Gras zerzupfen und nebenbei immer etwas dabei verschlucken, was ihnen nicht bekommt, wenn es auch nicht der übelberufene Duwock ist, über den sich eben noch bis halb vier Uhr Herr Carstens in eine noch nicht aufgeschnittene und bei Hoffmann und Campe erschienene Broschüre vertieft.

Die Kleesaat ist eine der ergiebigsten Branchen des europäischen und namentlich des deutsch-böhmischen Exports, eine Entdeckung, die nur leider von Herrn Carstens nicht allein gemacht wurde.

Er würde die Broschüre über den Duwock sicher lieber Sonntag Vormittag zugleich mit einer verbotenen Schrift von »Harry« Heine, letztere natürlich mit entschiedener Indignation, doch theilnehmend, bei sich zu Hause gelesen haben, wenn ihn nicht eine Reihe verfehlter anderweitiger Branchen, Leder, Thran, Gerbstoffe, Talg, zuletzt auf die Kleesaat geführt hätte, einen Artikel, dessen große Erfolge schon andere voraus hatten, diejenigen nämlich, von welchen bereits einige in zierlichen Cabriolets zu ihren Villen am schönen Ufer der Elbe dies- und jenseits Teufelsbrück gefahren sind.

Indessen eine Sommerwohnung zu besitzen, erlaubte Herrn Carstens doch sein jährlicher Umschlag. Sogar sich an Tagen, die, wie der heutige, sich auch gar zu heißer Strahlen des Sonnengotts zu erfreuen haben, einer Droschke zu bedienen, um wenigstens durch die schwülen Straßen bis zum Dammthor zu kommen, gestatteten ihm seine Verhältnisse, die gar nicht so ganz »unrespectabel« sind. Herr Carstens hat nur die unglückliche Manie, alle zwei Jahre, wenn die Kleesaaten ringsum im Vaterlande in schönster Blüte stehen, sich und seinen beiden Schwestern, die ihn in Ermangelung einer Gattin die Wirthschaft führten und »daß Leben versüßten«, eine Erholungsreise von sechs Wochen zu gönnen, bei welcher er, wie weiland die im December mit ihren Herren wechselnden römischen Sklaven Saturnalien feierten, so die ersten Gasthöfe besuchte und sogar täglich Cliquot nicht verschmähte, den er an den Ufern der Elbe des nebeligen Klimas wegen dem Portwein entschieden unterordnete. Außerdem sparten seine liebevollen Schwestern an einer Mitgift, die sonderbarerweise mit den Jahren zwar zunahm, aber an Werth und Reiz für Männer, die etwa danach heirathen wollten, zu verlieren schien; es scheint leichter, 18 Jahre mit 20000 Mark an den Mann zu bringen, als 45 mit 50000.

Herrn Carstens unendliche Liebe für seine Schwestern, welche ihm diese jährlich in der Jahreszeit, in der wir uns befinden, mit Erdbeerkaltschale oder seinem täglich aufgesetzten Leibgerichte, jungen Erbsen mit »Swesern«, ein für allemal vergolten haben wollten, unterließ nicht, diese Mitgift seiner Schwestern – er hatte ja nur diese beiden – bis auf eine Höhe zu steigern, die ihnen allenfalls auch nach seinem Tode erlaubt hätte, die Erträgnisse des Kleesaatexports entbehren zu können. Es war immerhin ein ganz »respectabler« Mann von 100000 Mark Banco jährlichen Umschwungs, von welchem schon ca. 6–7000 Nettoniederschlag übrig blieben.

Dennoch mußte er vorziehen, interessante Broschüren lieber auf der Börsenhalle zu lesen, als sich deren zu Hause aufzuschneiden. Er mußte vorziehen, nur alle zwei Jahre von Celle bis Wien und von Wien zurück, vielleicht der Abwechselung wegen, diesmal bis Lüneburg, für einen »hamburger Kaufmann« zu gelten, sich in seiner Privatliebhaberei, dem Sammeln alter, auf die hamburgische Geschichte bezüglicher Münzen, zu mäßigen, ja er mußte sich sogar die Unbequemlichkeit aufbürden, seinen Schwestern eine Gesellschafterin zu halten, die jedoch für Kost und Logis und den von Meta Carstens ertheilten classischen Pianoforteunterricht ein Supplement hinzu zahlte ... Alles das, um nur zwei geliebte Wesen nicht mit Sorgen und schrecklichen Aussichten auf Entbehrungen, z.B. eines Sommerlogis und der winterlichen Anwesenheit bei jeder zehnten oder elften Vorstellung eines neuen Stücks im Stadttheater (das Stück mußte sich »erst bewährt« haben) zu hinterlassen, sintemalen sein Unterleib von früherer leichter Auffassung des Lebens geschwächt war und sein Muskel- und Knochenbau – eine natürliche Folge des hamburger Winterklimas – an Rheumatismus litt, zwei Krankheitsbedingungen, die, wenn sie sich begegneten und den Rheumatismus auf einen der edlern Theile des Herrn Carstens – und die edelsten waren sein Herz und sein Magen – werfen sollten, allerdings seinem Leben plötzlich ein Ende machen konnten.

Hier nun, in der vor dem Dammthore in Hamburg gelegenen Sommerwohnung des Herrn Nikolaus Carstens treffen wir »Fräulein Lucinde Schwarz« wieder, herausgenommen aus Lebensverhältnissen völlig anderer Art, in neuen Umgebungen, neuen Anschauungen, neuen Empfindungsweisen.

Lucinde verdankte diese Uebereinkunft jenen Gütern des Kronsyndikus, von denen das eine in Holstein, das andere in Mecklenburg verpachtet war. Die Kleesaat war auch hier die grüne Spur, die von dem Teutoburger Wald, über den Haarrauch und die Heidschnucken hinweg, mit einem Umwege über die Marschen und Geeste des rechten Elbufers, nach einem noch volle zwanzig Minuten vom Dammthor gelegenen Landsitze führte, der unter ähnlichen Landsitzen mit Nr. 33 kenntlich gemacht war und aus einem Vorgarten von etwa auch dreiunddreißig Schritten, jedoch keineswegs in quadrater Potenz, sondern nur etwa zwanzig Schritten der Breite nach, einem Hause von anderthalb Stockwerken ohne Keller und einem Hinterhofe und Hintergarten bestand, der seinerseits nur zehn Fuß lang und fünf Fuß breit war, einen Holzschuppen enthielt mit einer Hundehütte und die Grube zur Inempfangnahme alles überflüssigen Niederschlags irdischen Daseins. Nach hinten war alles das von einem schon abgeblühten Hollunderbusch umzäunt und trennte auch dies Gebüsch diesen Tummelplatz ländlicher Erholung von einem ditto, der mit gleichen luxuriösen Bequemlichkeiten seine Fronte in einer andern Straße hatte und vielleicht dort an einer Nr. 76 oder 77 bemerklich war, wo wiederum in gleicher Weise auch nach vorn dreiunddreißig Schritte bis zum Straßenstaket Raum geboten wurde dem »Flügelschlage einer freien Seele«.

Der Vorgarten in Nr. 33 war zum größten Theile grüner Rasen, an dessen Frische und Ueppigkeit es bei einem landwirthschaftlichen Samenhändler nicht fehlen konnte.

Dicht an dem Hause, dessen Fenster so niedrig gingen, daß man sich bequem auf ihrem Simse hätte niederlassen können, wenn nicht die hanseatische Gewohnheit die Fenster statt nach innen nach außen öffenbar angebracht hätte, war eine, wie sich von selbst versteht, grünlackirte hölzerne Laube befindlich, durchzogen von einer einzigen, bereits von unten her in emporschlängelnder Entwickelung begriffenen Weinranke, deren bisjetzt noch mangelnde Ausdehnung und Blätterfülle einstweilen ein in der Höhe von anderthalb Fuß üppig wuchernder Wald von türkischen Bohnen und Kresse ersetzte.

Vorn und am Rande der Breterwand links und der Breterwand rechts lief eine grüne Wand von spanischem Flieder hin, einigen Weidenstumpfen mit keck ausschießenden Zweigen und vorn am Eingang zwei duftenden, weil noch in der Nachblüte befindlichen kleinen Akazienbäumen.

Mangelte es an Schatten, so ließ sich von zwei Drittel Höhe des Häuschens eine großartige Markise von roth- und weißgestreiftem Segeltuche niederlassen, die auch über die allzu jugendliche Entwickelung der Laube den Mantel der Liebe breitete.

Im Erdgeschoß gab es drei Zimmer: eins zum Speisen, eins zum Wohnen, eins zum Schlafen. Dazu eine Küche. Oben wohnte Herr Carstens. Seine Statur war glücklicherweise nicht zu hoch. Er konnte in der zweiten Etage vollkommen sicher sein, die Decke so unbeschädigt zu lassen, wie §. 7 des Miethcontracts es bedingte.

Die Hauptsache an einer solchen Hamburger Sommerwohnung ist nur, daß ein Raum vorhanden ist, wo der Kohlencomfort stehen und der Theetopf sieden kann. Die grünen Erbsen und gebackenen »Sweser« mochte man im Hause verzehren, Speisegeruch ist überhaupt der Nachbarschaft wegen »nicht genteel«; aber der Theetopf hat sein unbestrittenes Recht. Auch in Nr. 33 stand er um 7 Uhr Abends auf dem eisernen Kohlengerüst; das Tischtuch wird in der Laube ausgebreitet, die Markise in die Höhe gezogen und das altsächsische »Ich bin Herr in meinem Hause« in einer Weise geltend gemacht, daß man sich vor den Augen der Welt weder im Nähen, noch Stricken, noch Sticken, noch Lesen, noch Schlafen, noch Rauchen, noch Wiegen m einem amerikanischen Wiegestuhl, noch Erscheinen in einer glänzenden Hausjacke von Pferdehaartuche irgendwie stören läßt. Den Vorübergehenden fällt nichts auf, weder eine grüne Brille noch eine graue Katze, weder ein schwarzer Hund noch ein rother Papagai, weder ein gelber Strohhut von vier Ellen Umfang noch eine schlangenartig gewundene Cigarrenspitze von schönster hellrother genueser Korallenarbeit ... Letztere war eine Neigung zur Koketterie des Herrn Carstens, wie jene sogenannten Nizzahüte eine der mehreren, doch erlaubten seiner beiden Schwestern.

Wir finden Lucinden wieder, wie sie sich schon am Millernthor von Angelika Müller, die zu einer hier etablirten reichen Handelsfamilie aus Antwerpen zog, um dort im Hause Lesen, Schreiben und Rechnen nach confessionellen Bedingungen zu lehren, getrennt hatte. Die Braut Dr. Püttmeyer's, des Hegelstuhl-Aspiranten, wurde von einem eleganten Wagen im Hafen in Empfang genommen. Lucinde aber fuhr in einem Fiaker ins Comptoir des Herrn Nikolaus Carstens am Rödingsmarkt, einer düstern, mit Bäumen besetzten holländischen Gracht. Hier im Lärmen der sich durch den Kanal fluchenden Schiffer, der Krahnenwinder, der Führer von schwerstampfenden, schellenbeladenen Lastrossen wohnen bleiben zu sollen, hätte ihr die Sinne benommen. Sie wurde sofort in die »schöne Natur« vor's Dammthor dirigirt und fuhr dorthin, erwartungsvoll, was ihr das Schicksal an neuen Prüfungen und läuternden Vorbereitungen fürs Leben bescheren würde.

Anfangs kam sie sich in ihrer neuen Lage wie eine Gefangene vor.

Man hatte ihr gesagt, ein älterer Herr, Junggesell mit zwei Schwestern, pflegte, obgleich alle drei in sehr »respectablen« Verhältnissen lebten, doch zur Zerstreuung und Belebung des »Hauses« bald eine junge Baronesse vom Lande, die sich in Sprachen und Musik vervollkommnen sollte, bald eine Engländerin, die an der besten Quelle deutsch zu lernen beabsichtigte, bald eine Binnenländerin, die zu viel Thee und Zwieback und zu wenig Rostbeef genossen und der überdies Wasserluft, Milch und Wiesengeruch gut thun sollte, liebevoll in die Gemeinschaft einer stillen Familie aufzunehmen.

Mit jenem hamburger Schein der urweltlich angeborenen Solidität und einer Gemütlichkeit, die selbst in Geldsachen nicht aufhört, mit jenem kindlichen sich wie von selbst verstehenden Fallenlassen des Tons, werden dabei auch einige hunderttausend Mark Banco genannt, mit jenem gewissermaßen weiter nicht zur Sprache kommenden zufälligen Schlußschnörkel eines gleichfalls nur der Form wegen aufgesetzten Contracts war eine Pension von 1500 Mark Courant für sie bewilligt worden. Diese leichte und graciöse Behandlung des Geldes, das nur vor dem Wechselgericht oder bei der ersten und zweiten Prätur eine ernste und dann zuweilen recht grobe Bedeutung annehmen kann, imponirte Lucinden ebenso sehr, wie die schnell eroberte Freundschaft, die ihr zwei Damen entgegentrugen, die das »süße Mädchen« behandelten, als hätten sie sie schon aus Langen-Nauenheim gekannt, wie sie noch barfuß unter den Enten in den Bächen herumkrebste, an welchen gerade auch solche Weiden standen, wie sich zwei hier hinter das Staket her verirrt hatten, zum Beweise, wie feucht die Luft und der Boden war. Ja, es war im Verkehr gleich alles hier so sicher, so fest, so unbeschreiblich gediegen, solid, leidenschaftslos, gewiegt, so ganz in ihr neuer Art und unendlich imponirend. Selbst die großen Nizzahüte, die einem Schattengeber, den auf Schloß Neuhof auch die Lisabeth trug, fast gleichkamen, machten Lucinden eine Weile sprachlos. Doch ängstigte sie es bald, daß beide Schwestern, Sophia sowol wie Meta, mit ihren Hutkrempen fast die ganze Sommerwohnung unter Schatten setzen konnten.

Lucinde wußte einige Tage lang im wörtlichen Sinne weder aus noch ein. Schon gleich, als sie den Winkel sah, in dem sie schlafen sollte, kamen ihr die Tage bei der alten Buschbeck in Erinnerung. Das Erwachen, Ankleiden hinter Bettschirmen, die erste Anlage und spätere Vollendung der Toilette zu dreien in demselben Zimmer, und das alles verbunden mit dem im ländlichen Negligé eingenommenen ersten Frühstück nebst Fleisch und Eiern, dazu Herr Carstens im Sommerrock, mit der gewundenen Korallenspitze im Munde, dann das Rühmen des rings von den allerdings vorhandenen Wiesen in die »Gärten« hereinwachsenden grünen Gras-Gottessegens, das unleugbare Klingeln wirklich vorhandener Kühe und die allgemeine Bewunderung dann beim »gebildeten Gespräch«, das überhaupt in Aussicht gestellt wurde, vor drei alten hamburger Kupfermünzen, die Herr Carstens als Perspective künftiger geistiger Genüsse gestern mitgebracht hatte, dann der umständliche, zärtliche Abschied des Bruders, wenn er ins Geschäft ging, und alle diese täglichen Vorgänge in einer sich immer gleichbleibenden Cadenz des Gemüthlichen, des Sichvonselbstverstehenden und gleichsam Uraltewigen und auch noch nach Jahrtausenden Sosichgleichbleibenden ... das machte ihr einen Eindruck, als hätte sie müssen in die eingehegten Wiesen hinüberspringen und zunächst gleich bei den Melkerinnen drüben, die vor den großen rothangestrichenen Kübeln saßen, Hülfe und Unterhaltung suchen.

Allmählich aber fand sie sich dann, besonders als die jüngere Schwester – mit welcher Bezeichnung in dessen ihr Alter nicht etwa aus dem Beginn der Vierziger zurückverlegt werden soll – ihre Hauptforce entwickelte, das Spiel am Piano.

Das stand im Wohnzimmer, dicht in der Nähe der in der Entwickelung begriffenen Laube.

Man konnte die »Sonate pathétique« nicht schmelzender, die »Eroica« nicht feierlicher vortragen als dies Meta Carstens that. Lucinde fühlte, was sie hier lernen konnte. Sophie handelte wol unterdessen mit einem jungen bäuerlich gekleideten und an einem Schulterquerbalken ein Dutzend Gemüsekörbe tragenden Burschen um junge Erbsen und ein fliegender Metzger brachte die vielbesprochenen »Sweser«. Das Plattdeutsche, dem Lucinde auf Schloß Neuhof kaum entronnen zu sein glaubte, tauchte dabei aufs entschiedenste wieder auf. Es stand indessen den Schwestern, besonders wenn sie mit den Vierländern verkehrten, ganz zierlich und erhöhte den Eindruck des Gelassenen, Soliden, Leidenschaftslosen und »Respectabeln«, welches letztere Wort immer das dritte war. Die kalte Ruhe aber wieder, mit der die Schwestern – Meta stand dann zur Unterstützung der Debatte mitten aus dem dritten Satz der »Eroica« auf – die grünen Erbsen auf die Hälfte hinunterbieten und mit einem: »Ne, Ne, Ne, min Jong! Hol di jo nich op, min Jong!« den Handel abbrechen konnten, stand in so seltsamem Widerspruch mit der Süße des Tons, daß sie immer nur schwieg und horchte und über so seltsamer Gegenwart fast die Vergangenheit vergaß.

Klingsohr kam dann endlich auch aus Göttingen an. Daß sie die Verlobte eines Doctors der Rechte war und dieser selbst ein mit der Durchführung wichtiger adeliger Processe betrauter Advocat, der eine Zeit lang in hiesiger Stadt wohnen wollte, wurde schon in der Correspondenz über die Marschen und Geeste hinweg von Schloß Neuhof aus nach dem Rödingsmarkt berichtet.

Klingsohr besaß selbst etwas von der eigenthümlichen Art der Studirten, die in hanseatischen Städten den Ton angeben. Er hatte meist seine Ferien bei hamburger Freunden verlebt und verkehrte in Göttingen überhaupt nur mit Studenten, die unter ich plattdeutsch sprachen. »Selbst ist der Mann!« scheint die Devise aller dieser jungen hamburger Aerzte und Advocaten zu sein. Klingsohr fand hier die liebsten Genossen seiner Studienzeit wieder. Gleich den ersten Abend, wo er zum Thee in der hoffnungsvollen Laube blieb, fand er auch bei den Damen und Herrn Carstens einen außerordentlichen Anklang. Bei Herrn Carstens besonders, seitdem er mit ihm über den alten Seeräuber, den Störtebeker, gesprochen. Als die Hinrichtung desselben erzählt werden sollte, brach zwar Klingsohr ab, versprach aber Herrn Carstens einige Münzen über die Einführung des soester Stadtrechts in Hamburg zu bringen, die er noch von seinem Vater aus der Deichgrafenzeit her besaß. Eben schwamm Herr Carstens darüber in Entzücken und notirte sich den Gegenstand zum Nachschlagen in den reichen Bücherschätzen der Börsenhalle, und schon hatte er auch Meta gewonnen durch eine Parallele zwischen Mozart und Beethoven, indem er jenen mit Rafael, diesen mit Correggio verglich und dadurch bei den Schwestern die Schleusen wegzog von verhaltenen seligsten Erinnerungen an die dresdener Galerie, Terrasse und Sächsische Schweiz ... Ein Wort gibt dann eben das andere. Sophia Carstens bewunderte des Doctors Kunst, sich plattdeutsch auszudrücken. Man merkte dies bei der Plage der Sommerwohnungen, den Bettlern, die er plattdeutsch über ihre Herkunft und sonstige »Poesie des Zigeunerthums« examinirte. Sophie fand, indem sie trotz dieser Poesie doch lieber die Thür des »Gartens« abschloß und mit wenigen Schritten wieder hinterm Theetopf saß, eine Bürgschaft seines Gemüths darin, daß er die lieblichste und sanfteste Sprache von der Welt über seinen Reisen und gelehrten Studien nicht vergessen hätte.

Mein guter Vater, sagte der Doctor mit melancholischem Ausdruck der Mienen und eine Weile die Cigarre aus dem Munde nehmend, mein Vater haßte die plattdeutsche Sprache. Er duldete schon nicht, daß sie drüben in Stade, wo er wohnte und meine Mutter geheirathet hatte, in seinem Hause gesprochen wurde. Auch auf der Buschmühle, wo alles plattdeutsch spricht, mochte er sie nicht hören. Er nannte sie eine faule und bequeme Bauernsprache, nur gemacht für das Ideal des zufriedenen feudalen Schlaraffenthums. Wenn er über irgendeine Trägheit in seiner Nähe in Zorn gerathen konnte, über ein Gehenlassen wichtiger Dinge, über Gesinnungslosigkeit in großen patriotischen Fragen, so rief er: »Sitt ick in gooder Roh', rook min Piep Toback datô!« Er glaubte damit das ganze Wesen des Plattdeutschen getroffen zu haben.

Die drei Geschwister Carstens kannten das unglückliche Ende des berühmten Mannes und verriethen nur durch Achselzucken ihr Bedauern über diesen Mangel bei soviel anderweitigen Vorzügen.

Lucinde aber konnte nicht umhin, die gleiche Abneigung auszusprechen.

Das ist ja eine Sprache, sagte sie, die eines Mannes gar nicht würdig ist! Man glaubt sie nur im Winter hinterm warmen Ofen oder aus einem großen Backtroge heraus hören zu können, in den man sich mit der gestreiften Schlafzipfelmütze gelegt hat, um noch die Wärme nachzugenießen. Plattdeutsch ist eine Sprache, mit der man nur über saure Milch und ob die Gurken schon blühen, reden kann. Will man einen Gedanken aussprechen, so läßt sie uns gleich im Stich. Jeden Buchstaben, der Kraft und Energie erfordert, läßt sie aus ihrem Alphabet herausfallen; alles schlorrt darin wie in niedergetretenen alten Pantoffeln. Schleppt das und schlendert und ist dabei so kalt, so eingebildet! Der Buchstabe S wird T, Ch wird K, das A vernergelt sich in E. Ganze Buchstaben und Silben fallen weg, um nur schnell wieder zum Ofen zu kommen. »Geschlagen« ist »Slân«, »aufgestanden« ist »upstân«. Von den erhabensten Dingen spricht diese Sprache wie von Kinderspielzeug, und dabei liegt doch wieder eine Malice, eine Gereiztheit, in ihr, die uns z.B. vor den Mägden, wenn diese hier plötzlich hochdeutsch zu sprechen anfangen, einen blanken Schrecken einjagen kann.

Das war freilich eine entsetzliche Anklage! Um so mehr, als die Schulmeisterstochter in solchen Dingen ganz auf ihrem Felde war! Die Schwestern sahen sich nur um, daß sie weder Nr. 32 noch Nr. 34 belauschten, dort eine Maklerfamilie, die unter sich immer nur plattdeutsch sprach – man konnte die Erwachsenen dann allerdings von den Kindern kaum unterscheiden – hier ein Professor vom Johanneum, der diese Mundart wissenschaftlich behandelt hatte und für den Störtebeker und das soester Stadtrecht dem Kleesaathändler von großer Wichtigkeit war, da er die vaterstädtische Neigung desselben wissenschaftlich unterstützte.

Man blickte schweigend und um Widerlegung mit flehentlichen Blicken bittend auf den Doctor, der seinerseits die großen Wasserseen seiner Augen wie übertreten ließ und geschmeichelt über Lucinden staunte, die den Vortheil genoß, den die Verpflanzung aus einem alten in neuen Boden mit sich bringt. Nichts hebt die geistige Kraft so sehr, als sich in Vergleichung bringen können mit neuen Eindrücken, sich abheben von einer gründlich veränderten Folie.

Wie Lucinde auch so gar bitter und fest sprach, merkte der Doctor erst, daß sie sich auch äußerlich verändert hatte. Er musterte sie, immer noch schweigend, mit staunender Bewunderung. Ihr Körper hatte sich wie zum Abschluß entwickelt unter dem Einflüsse des Erlebten. Immermehr gewann vielleicht der charakteristische Ausdruck über den ideal-schönen die Oberhand. Ihre Züge glichen jetzt jenen seltsamen Köpfen, die uns aus irgendeiner hervorspringenden Besonderheit sogleich unvergeßlich sind, die aber auch Gefahr laufen können, daß sie mit der schwindenden Jugend die Anmuth verlieren. Hier, wie sie eben noch zu gleicher Zeit eine Fliegenjagd eröffnet hatte, dabei einen gleichfalls runden Hut, der jedoch um einen Fuß weniger Umfang hatte als bei den Fräulein Carstens, abriß und ihn zum großen Schrecken derselben sogar auf eine Wespe warf, blieb der Eindruck einer Amazone, die Kraft mit Verschmitztheit verbindet. Der leise geöffnete Mund zeigte die Zähne; das Haar war, weil eine Toilette in dem engen Raum nicht mehr möglich wurde, fast um die Hälfte von ihr gekürzt worden; sie trug es nun in großen und cylinderförmigen Wellen zusammengebunden um Scheitel und im Nacken. Um den Hals lag ein Collier antiker Form, das ihr der Kronsyndikus von den Schätzen mitgegeben, die angeblich seiner Frau, vielleicht einer seiner Italienerinnen gehört hatten, und den halbentblößten Arm schmückten zwei gleiche reich mit Perlen und Rubinen besetzte alterthümliche Armbänder. Sie besaß eine ziemliche Auswahl solcher alter Schmuckgegenstände, und jenes Fräulein Angelika Müller, mit dem sie gereist war, hatte beim zufälligen Anblick des geöffneten Kastens, der sie enthielt, gesagt: Alles alt, aber gerade jetzt sehr modern!

Das Unvergeßliche an Lucindens Aeußerm waren vorzugsweise ihre schwarzen und wie von einer Entzündung aller feinsten Aederchen bis in die Wangen rings umschatteten Augen, ein plastisch gleichmäßiges Oval des Kinns, dann ein stetes Lächeln am kleinen Munde und in der Haltung ein fortwährend grübelndes Niederblicken, wie wenn sie auf dem Boden etwas suchte, was sie verloren. An diese Einzelzüge dachte man, wenn sie genannt wurde, ebenso schnell wie bei den Fräulein Carstens an die Nasen derselben. Man hätte allerdings glauben können, diese Damen stammten aus dem urweltlichen Geschlecht der Saurier, von welchem bekanntlich nur noch das Krokodil, das Chamäleon und die Eidechse als Reste übrig geblieben sind.

Klingsohr sah zwar auf die Uhr und sprach von einem Spaziergang an dem Rande der Alster, des nahe gelegenen Flüßchens, an dessen Ufern sich zwar nur Sand aufwellt, aber auch alte, schöne, sturmerprobte Eichen stehen in einer Pracht und Fülle, als hätten sie schon den hier einst lebenden Klopstock zu seinen Bardengesängen begeistert ... Aber die Familie hatte die Freude, daß er doch noch erst den schwebenden Kampf aufnahm und im Plattdeutschen gerade statt Schläfrigkeit und Trägheit Energie und Thatkraft fand.

Wenn, liebe Freundin, sagte er, diese Ihre Holzpantoffeln und gestrickten blauweißen Nachtmützen rasch zum Ziel kommen wollen und die Sprache kurz nehmen, so ist damit nicht der Ofen gemeint, sondern die Sache selbst, um die es sich in der Gemeinde, auf dem Acker oder auf dem Schlachtfelde handelt. Man nimmt bei uns die deutsche Sprache gerade so, wie sie so auch der Engländer nur brauchen konnte, der allerdings das, was noch für die Ideenwelt meines Vaters fehlte, aus der Bretagne herübernahm. Gibt es schlagfertigere Volksstämme, als es die Dithmarsen und Friesen waren und es noch sind? Hat diese rasche und behende Sprache, die sich mit keinem weitläufigen und unbeholfenen »Aufgestanden« aufhält, sondern rasch und flink vom »Upstân« spricht, nicht die schöne Eigenschaft, Bauer und Edelmann fast gleichzustellen? Sie macht aus den Bekennern dieser Mundart fast eine einzige Familie. Wenn sie vielem Philisterhaften einen Vorschub zu leisten scheint, so leistet sie ihn in Wahrheit doch nur der Einwurzelung des persönlichen Stolzes auf eigenen Besitz, eigenen Grund und Boden. Die Neuerung, deren Ideen sich freilich nicht nach plattdeutschen Lauten ausdrücken lassen und, wollte man von Verfassungen und Aehnlichem darin sprechen, eher wie Spott klingen würden, ist diesen Stämmen fremd; aber hat es nicht sein Gutes, daß wir noch im Vaterlande Schanzen und Wälle der frei bewahrten Selbständigkeit gegeneinander aufwerfen können? Die Einheit ist ein schöner Klang; aber sie gewinnen auf Kosten unserer bessern Natur? Wer möchte das befürworten um solchen Preis! Der Deutsche bildet nur ein geistiges Volk. Seine Kraft liegt auf der Scholle, die er vertheidigt, seiner Sitte, seiner Sprache, seinen Ueberlieferungen. Mit dem überall aufgepflanzten einheitlichen Banner, einem schwarzweißen oder schwarzgelben oder schwarzrothgoldenen sogar, würden wir unsern besten Gehalt verlieren, und so ist auch die plattdeutsche Sprache nur Hemmschuh zu desto sichererer Fahrt. Nivellirenden Staatsmännern gegenüber schützt gerade sie Person und Gemeinde.

Wenn die Damen Carstens Romane lasen, so suchten sie glücklicherweise immer gerade das, was andere überschlugen. Sie strichen sich gern sogenannte schöne Gedanken an und schrieben sie hernach in ihre Sammlungen über zur erhebenden Lectüre in Augenblicken der Sehnsucht und des Sichnichtverstandenfühlens oder zur Stammbücherbenutzung. Diese Erörterung, die der Doctor ihnen anzuhören zumuthete, nahmen sie für eine ihrem Geiste dargebrachte große Huldigung. Schon weckte dieselbe die überraschte Aufmerksamkeit der Nachbarschaft. Fernerhin war der Uebergang in die gerade schwebende Frage des Zollvereinsanschlusses die leichteste Folge dieser Meinungsäußerung, für welche freilich Lucinde keinen Widerspruch hatte. Sie ließ den beiden Damen den Triumph, durch die Festhaltung ihrer heimischen Sprache auch den Kaffee, den Zucker und den Wein vor den Gefahren des Untergehens in deutscher Allgemeinheit gerettet zu sehen. Lauschte nebenan der Professor vom Johanneum, so mußte er seine Freude gehabt haben an Klingsohr's Rede. Er würde nicht Anstand genommen haben, ihn zu einem Bekenner der Schule Justus Möser's zu machen, einer Schule, die bekanntlich keine Wiedergeburt Deutschlands zulassen würde, wenn nicht auch in ihr Rechnung getragen würde dem Ewig-Osnabrückischen.

Der Abend wurde kühl, wie es die vielen Wiesen nach Untergang der Sonne mit sich bringen.

Klingsohr wollte an die Alster und bat um Lucindens Begleitung ...

Diese warf ihre Mantille um, einen Hut über und begleitete ihren Freund, wohin er sie zu führen gedachte.

Es gab trotz der volkreichen Stadt, die zu einer bestimmten Stunde auch wie im Nu durch die theuere Thorsperre die Bevölkerung in ihre Wälle und Mauern zurückdrängt, hier draußen einsame und stille Wege. Sie waren ländlicher Art, führten durch Weidenalleen über Wiesen an Bächlein entlang, führten durch kleine Birkengehölze und endeten in parkähnlichen Vergnügungsorten, die jetzt von Menschen ganz entleert waren.

Der Himmel wurde dunkler und dunkler und ließ schon einzelne Sterne blicken. Die Sichel des Mondes stand schon länger, aber sie war noch matt und füllte sich mit vollerm Lichtglanz erst gegen Mitternacht.

Das stille, heimliche Käferleben in Büschen, an Hecken und Zäunen regte sich; es war kurz nach Johannis. Die Phosphorfunken, die man haschte, wurden auf der Hand zu kleinen Käfern mit punktirten Flügeldecken. Der sumpfigen Natur konnten die Frösche nicht fehlen, diese Kukuks der Wasserwelt, die ihr Einerlei zum besten zu geben nicht müde wurden. Friedlich ernst rauschten, von einem leisen Luftzug erregt, die berühmten Eichen der Alster. Fernher brauste das Gewühl der großen, in der Abendstunde die durch die Arbeit gebunden gewesenen Sinne entfesselnden Stadt; Musik tönte herüber von einem Kranze von Lichtern, der um das Bassin des Jungfernstiegs immer reicher und voller sich hinzog.

Gerade hierher nun nach soviel Erlebtem versetzt zu sein, war für beide wunderbar genug. Klingsohr legte den Arm um Lucinden und wiederholte die Betheuerung seiner Liebe.

Er hätte, sagte er, ein reiches Feld von Thätigkeit in den verwahrlosten Processen der Wittekind'schen Familie gefunden, es könnte sich bis zum Winter hinziehen, daß er hier bliebe ...

Und dann? fragte Lucinde, die eine gleiche Wärme wie damals auf Schloß Neuhof für den Freund nicht mehr fühlte.

Was wir erlebten, erwiderte dieser, kam so unglückselig störend, kam so die nächste Besinnung raubend, daß ich noch keinen Plan für die Dauer gefaßt habe. Ach, und wie oft ist mir's wieder, als sollt' ich dich umfangen und dich mit mir hinabziehen in Tod und Vernichtung! Sieh den geisterhaften Schein der Wellen! Wie still und geheimnißvoll sie dahinfließen!

Lucinde wandte den Kopf zu dem Sprecher empor. Er hatte ihr den Hut abgenommen, weil der Rand desselben ihn hinderte, sich fester an sie zu schmiegen. Letzteres that er mehr als sie dessen erwiderte. Sie fand ihn schwankender, haltloser, als sie von Männern seiner Art geglaubt hatte. Und bei dem »geisterhaften Schein« der Wellen auch ihres unglücklichen Vaters gedenkend, schüttelte sie's fast wie Frost. Sie sagte fast wie mit bewußtester Prosa:

Warum denn sterben!

Ein Seufzer entrang sich seiner Brust ...

Wie drüben in der Stadt die Wagen rollen! fuhr sie fort. Wie die Musik so lustig klingt! Das alles ruft und will genossen sein!

Klingsohr lüftete den Sommerhut und fuhr sich erregt durch sein krauses röthlich schimmerndes Haar. Die Narben an Stirn und Wangen zuckten.

Laß uns von dem Schilf da fort! sagte er und zog Lucinden vom Ufer mehr der Baumallee zu ...

Blicke auf Vergangenheit und Zukunft mußten sich jetzt von selbst ergeben.

Klingsohr sprach viel und schnell durcheinander vom Tode seines Vaters, von der Schuld des Stephan Lengenich, die sich immer erwiesener herausstellte. Er wiederholte wie schon oft:

Der Schrecken über den einsamen Anblick des Erschlagenen, das Entsetzen, daß man ihm hätte die That zuschreiben können, hatten den Kronsyndikus in Verwirrung gebracht, und, was mehr ist, hinter dem Hasse gegen meinen Vater barg sich Freundschaft. Vom Schicksal desselben erschüttert, unfähig, der Erste zu sein, der es anzeigte, sprengte er nach Neuhof zurück, konnte die Todesnachricht nicht über seine Lippen bringen, verbrannte in einem Anfall von Großmuth, was er von Schuldforderungen noch in der Buschmühle geltend machen konnte und bot mir seinen Schutz und sogar den Vaternamen an und mein ganzes Glück in dir! ... Stephan Lengenich ist der Mörder ... Die Feinde meines Vaters waren ja zahllos. Auf jedem Waldwege begegneten ihm Männer, die ihm den Gruß verweigerten. Ich hörte ihn einmal klagen, daß man auf der Buschmühle Feuer angelegt gefunden. Man verschwieg es, weil gerade ihn der Verlust der Popularität schmerzte. Hoch immer auf dem Schilde aller wollte er getragen sein. Er konnte keine Gegner dulden, ohne sie nicht von der Nichtigkeit ihres Hasses überzeugen zu wollen. That er's dann, so verwirrte sich der Hader nur erst recht. Feindschaft, die auf Antipathie beruht, vermittelt sich schon bei einer günstigen Gelegenheit zum leidlichen Auskommen; tauscht man aber mit ruhiger Ueberlegung Warum gegen Warum aus, so treten erst recht Verletzungen ein, die unheilbar sind. Diese Tage sind düster, aber sie liegen hinter uns. Vor uns winkt die Zukunft. Kehr' ich nach Göttingen zurück, so sollst du die Muse meiner Studien sein. Lass' ich mich von Freunden, deren ich hier nur zu viele fand, bereden, hier zu bleiben, so findest du dich in diese neuen Anschauungen. Komme, was kommen mag,

Wenn ich dich nur habe,

Wenn du mein nur bist!

Nun war Klingsohr im gewohnten Zuge und drückte sie, dichtend und phantasirend, wilder an sich, als ihr, der nur Horchenden, wohlthat.

So gingen sie bald wieder am Schilf des Ufers oder suchten, um nicht im Sande zu versinken, grüne Stellen. Weiter kam ein Weidengebüsch. Da blieben sie stehen und Klingsohr ergab sich mit neuen Betheuerungen seinem ganzen Gefühl, das jetzt ein keckes und herausforderndes wurde.

Lucinde schwieg nur. Es war ihr nicht als wäre sie die Mitschuldige eines Mitschuldigen; aber irgendetwas blieb im Dunkeln ... Eine gewisse Kluft zwischen Klingsohr und ihr konnte sie nicht mehr ausfüllen. Sie wußte nicht, woran es lag, daß sie sich ihm plötzlich gewachsen fühlte, ja ihn übersah. Die Zauber des Fesselnden waren ihm plötzlich für sie abgestreift, und so bedeutsam seine Rede blieb, seine Thatkraft vermißte sie, und selbst seiner Rede, seinem Humor, seinen Versen, hörte sie Gebundenes, Unfreies ab, ja, eine Gefallsucht, für die sie nur keinen Ausdruck hatte.

Und doch gerade in ihm hatte sie Ausdehnung und Raum zu finden gehofft wie im Universum, das er sonst auf seinen Schultern zu tragen schien! Nun gefiel ihm sogar diese enge, begrenzte Welt, in die man sie versetzt hatte. Es war eine Freiheit, die ihr Zwang erschien. Und die Zumuthung, daß sie ihm Stab, sie ihm Stütze sein sollte!

Er begleitete sie an das kleine Haus zurück, in die Mausefalle, wie sie es nannte. Sein Abschied war stürmisch; sie sagte ihm kühl eine Gute Nacht!

Zehn Uhr Abends war's. Dennoch sieht man Klingsohrn noch nicht in seine Wohnung gehen, sondern in einen der Pavillons eintreten, die sich am Alsterbassin befinden.

Musikklänge, Tabackrauch, die Düfte von Grog und Punsch wirbeln in allen ...

Hier begegnen sich der Einheimische und Fremde ...

Draußen vor der Thür stehen Sessel, auf welchen man, wenn die des Nachts sich zuweilen sanft wieder mildernde Wasserluft es gestattet, die wogenden Menschenmassen an sich vorüberziehen läßt, wol auch die auf dem Wasser noch mit chinesischen Lampen dahinrudernden Gondeln verfolgt und ein Bild voll Leben und Bewegung in sich aufnimmt, das nur in der Ferne eine einzige große Windmühle unschön, aber doch charakteristisch begrenzt.

Diese Pavillons sind so bequem gelegen, daß man sich ihrer kleinen Ecksitze im engern innern Raum gern als Stelldicheins für Freunde bedient. Manche Tische werden immer von derselben Gesellschaft in Beschlag genommen, entweder bei schönem Wetter draußen oder bei unfreundlichem drinnen. Im Winter ist man jedenfalls sicher, immer eine Gruppe von Bekannten an einer und derselben Stelle zu finden.

Der Kreis, in dem sich Klingsohr hier bewegte, ist ein den Hansestädten ganz eigentümlich angehörender.

Der Kaufmann ist dort der bestimmende und maßgebende Theil der Bevölkerung, aber zu seinen Ergänzungen gehört der Arzt, der Advocat, auch der Schriftsteller und Gelehrte überhaupt, denn an dem Bedürfniß des gedruckten Buchstabens fehlt es durchaus nicht, und eine diesen Städten ganz ausschließlich angehörende Literatur beeifert sich es zu befriedigen. Die Achtung vor der Wissenschaft ist nicht gering. Man kann aber auch sagen, daß die, welche zu ihren Bekennern gehören, nichts unterlassen, was ihre Geltung mehren kann.

Nirgends äußert sich der Arzt, der Advocat und Schulmann mit solcher Bestimmtheit wie unter Kaufleuten, und niemand unterwirft sich ihnen auch so unbedingt wie diese. Englands Parlament ist ein Beweis, wie der Nimbus der gemachten Studien sich vorzugsweise in einer großen geschäftlichen Welt erhält. Diese Aerzte und Advocaten sind es vorzugsweise, die den öffentlichen Geist bestimmen und das Endurtheil auch in den Familien abgeben, denn, wie jene die Frauen regieren, so werden diese zu jeder Berathung von größerer Wichtigkeit hinzugezogen. Die einen von ihnen folgen dem allgemeinen Geiste des Erwerbs und nehmen früh eine praktische Richtung an, streifen den Idealismus ab, reden mit dem gemeinen Mann in seiner Sprache und nehmen die materielle Welt ganz wie sie ist; die Wissenschaft wird ihnen eine melkende Kuh; sie verschmähen selbst die Intrigue nicht, und werden in der oft bis zum Lieblosen gehenden Entfaltung des schroffsten und einseitigsten juristischen Verstandes unterstützt von denen, die ihre Spitzfindigkeit in Anspruch nehmen, bewundern, rühmen, reichlich belohnen. Die andern sind, wie die menschlichen Entwickelungen einmal durch ihre angeborenen Anlagen bestimmt werden, von einer idealen Haltung. Sie scheinen das Alltägliche zu verachten, vertreten die Gedankenwelt, hüllen sich in einen heiligen Nebel mystischen Eingeweihtseins, sind entweder Freimaurer oder Pietisten oder Poeten oder alles zu gleicher Zeit und in verschiedenen Lagen, nur benehmen sie sich überall wie ein Besonderes, Vornehmes und ewig Akademisches, und man darf hinzufügen, daß auch diesen Männern der Erfolg nicht fehlt. Jetzt, wo die materielle Richtung überwiegt, mag das Häuflein dieser vorzugsweise mit dem Rufe des Geistreichen ausgezeichneten Adepten der Wissenschaft geschmolzen sein. Noch in den dreißiger Jahren aber war der Zusammenhang Hamburgs mit den edelsten Richtungen des Vaterlandes ein sehr inniger, und die schöne, maßhaltende, sich selbst beschränkende Weise manches dort gefeiert gewesenen Namens wird noch jetzt bei den Nachlebenden nicht verklungen sein.

So scheiden sich beide Richtungen im Alter. In der Jugend aber gehen sie noch mehr zusammen. Der Scharfsinn des einen findet seinen Widerpart am Wissen des andern, der Rabulist der spätern juristischen Praxis streitet sich noch mit Hartnäckigkeit für Schelling oder Hegel, denen er die Schärfe seiner Unterscheidungen zugute kommen läßt. Allen aber gemeinsam ist auf lange Zeit, oft bis in die ersten Jahre der Verheirathung hinein, das lebendige Festhalten des akademischen Lebens. Die von Göttingen oder Heidelberg mitgebrachten Anschauungen werden nicht nur in den Kaffeehäusern festgehalten, sondern oft auch noch in dem Wäldchen hinter Wandsbeck, in den Hohlwegen hinter Eppendorf. Man setzt die Feindschaften, die man von der Hirschgasse in Heidelberg, von Ulrici in Göttingen mitbrachte, in der Vaterstadt fort und wechselt auch oft noch im nahen holsteinischen Sachsenwalde Kugeln um dieselben Bagatellen, um welche man am Neckar und an der Leine »auf krumme Säbel losgegangen« war.

In diesen Kreis seiner Freunde kehrte Heinrich Klingsohr, mit Enthusiasmus empfangen, zurück. Die grüngelbweiße Farbe hatte mit der rothweißen immer harmonirt; gehörten doch beide dem großen Bunde des Plattdeutschen an.

Klingsohr traf junge Advocaten und Aerzte, Assistenten am Krankenhause, gelehrte Speculanten, die sich durch irgendein Organ, das Ohr, das Auge, oder als Juristen durch Wechsel- oder Staatspapiergeschäft eine Specialität zu schaffen suchten, andere, Juristen, die auf eine Anstellung in der Verwaltung rechneten und sich mit Statistik der Ein- und Ausfuhr beschäftigten, Schulmänner, die vor drei Herren und siebzehn Damen Vorträge über Spinoza hielten, andere, die eine alte Neigung zum Schriftstellerthum nicht länger zu verbergen brauchten, sondern durch irgendein Angebot der vielen hier erscheinenden Zeitungen Redactoren wurden, sie wußten nicht wie, Candidaten, die noch nicht nöthig hatten, das Haar zu scheiteln und den Blick zu Boden zu schlagen, da die Aussicht zu einem Pfarramt in der Stadt erst über eine lange Probezeit auf dem Lande oder ein mühseliges Lehramt geht ... kurz, in diesen, natürlich unausgesetzt von Cigarrenwolken eingehüllten Kreis trat Klingsohr ganz so wieder ein, wie er ihn von seinen frühern Besuchen her kannte. Selbst in Göttingen als Privatdocent hatte er den Zug zum ewig Studentischen nicht aufgeben können. Er fand hier alle alten Anekdoten wieder, alle alten Stichwörter und Stichblätter des Witzes, alle alten Spitznamen; man lachte ebenso auf gegenseitige Kosten wie bei Bethmann in Göttingen, mit der gleichen oft sehr nahen maliciösen Anstreifung an die »touchirende« Grenze und mit derselben Empfindlichkeit, wenn diese wirklich überschritten und eines jener Worte gesprochen wurde, in deren Entgegennahme der »Mann von Ehre« sich in Deutschland vom »Philister« unterscheiden soll. Zwischendurch galten die Gespräche der aufgeregten Zeit, den Streitigkeiten des Tages, den Vorkommnissen der innern städtischen Verwaltung, den Persönlichkeiten der einzelnen Theilnehmer des Kreises und vorzugsweise den Frauen.

Letztern widmete man ganz den Antheil, der ihnen überhaupt gebührt; erhöhen aber mußte er sich im Munde junger Männer, von denen selbst die, welche den Reiz des Frauenthums mehr als sich gebührt hätte schon auf sich hatten wirken lassen, nicht in eine souveräne Verachtung desselben, die den Blasirten eigen ist, versunken waren, sondern aus dem Wüsten und Wilden sich ganz so wie Heinrich Klingsohr selbst zu einem Bedürfniß aufschwangen, in den Frauen das Madonnenhafteste, von der Welt zu finden und sie anzubeten wie die eigene verlorene Unschuld und Jugend. Die dem Fremden fast unglaubliche Möglichkeit, daß sich in Hamburg überhaupt Sitte und Unsitte in strengster Geschiedenheit erhalten können, war auch in diesem Kreise bewiesen. Man konnte der tollsten Phantasie und einer grauenerregenden Kenntniß aller Nachtseiten im Frauenleben den Zügel schießen lassen und war wiederum, wenn der Name einer Unbescholtenen genannt wurde, einig in dem Preise ihrer seidenen, dem Bilde einer Katharina von Siena entsprechenden Augenwimpern, dem Preise ihrer Hände, deren Durchsichtigkeit und Weiße nicht anders als mit der Zierlichkeit der Hände eines van Eyck und Memling verglichen wurde, dem Preise ihrer Augen, die wegen ihrer etwaigen träumerischen Unbewußtheit und gläubigen Zuversicht geradezu katholische genannt oder ihrer irrenden, rein nur innerhalb des instinctiven Lebens bleibenden Unschuld wegen mit den sanften Augen einer Gazelle verglichen wurden. Ein Drängen aus dem zu reich genossenen, in seinen Untiefen zu sehr erkannten Alltäglichen zum reinern Licht empor besaßen alle, und die Art, sich ihre läuternden Flammen zu entzünden, war seltsam genug. Mancher betete in diesem Sinne die Tochter eines Millionärs der Gröninger Straße an, mancher aber auch nur die eines armen Handwerkers an den »Vorsetzen« oder »Raboisen«.

Auch jenes »hehre Gnadenbild«, zu dem Klingsohr aufblickte, war gleich nach seiner Ankunft allen bekannt geworden.

Daß es sich um die Pensionärin einer »respectabeln« Familie handelte, wußte man.

Man machte an der Sommerwohnung des Herrn Carstens Fensterpromenade, um den Schatz zu sehen, der einem »Abadonna« noch vor seinem gänzlichen Fall oder seiner Läuterung vom Himmel beschert werden konnte; denn in diesem Kreise galt Klingsohr für einen jener gefesselten Titanen, die früher oder später den ewigen Göttern des Olymp den Garaus machen konnten. Er hieß einer von denen, die eine unberechenbare »Zukunft« besäßen. Ein einziges Publikum hatte er in Göttingen gelesen, das aber von einigen Hundert Studenten besucht wurde, während er eine Vorlesung über Privatrecht nicht zu Stande bringen konnte. Aber in jener Vorlesung über »Dante's Zeit-und Weltanschauung« elektrisirte er seine Zuhörer in einem Grade, daß man an Klingsohr nicht anders dachte als wie an einen Evangelisten, der immer ein wildes Thier neben sich sitzen hat. Die Drachen und Greife Dante's zogen seinen Ruhmeswagen, sein Schweigen war so bedeutungsvoll wie die Geheimnisse der Apokalypse, sein Reden war Prophetenthum. Daß er arbeitete, stand fest. Wenn er um zwölf Uhr von der »Kneipe« gekommen war, sah man bis drei und vier Uhr noch Licht bei ihm. Seine Versicherung, er würde ein neues System des Staats-, des Natur-, des Völkerrechts, eine neue Philosophie der Geschichte, eine neue Geschichte der Literatur, eine neue Ausgabe des »Sachsenspiegel«, eine Zusammenstellung der Fragmente des Ciceronischen Buchs »De Republica« bringen, eine Geschichte der italienischen Städtebünde, eine Abhandlung über die Verjährungsfristen, eine neue Begründung des Steuerwesens und eine Kritik Adam Smith's nach dem System der Bienenkörbe, alle diese Verheißungen fanden den vollständigsten Glauben. Für jedes dieser epochemachenden Werke hatte er die leitenden Gesichtspunkte schon fertig und wußte sie an geeigneter Stelle so anzubringen, daß man jahrelang von dem Gedanken sprach, den Sie, wissen Sie, Klingsohr, damals auf dem Ritt nach Münden, am Zusammenfluß der Werra mit der Fulda, auf der reizenden kleinen Insel (dem »Taufkissen der neu entstandenen Weser«, konnte er einwerfen) aussprachen? Klingsohr strich sich die kurzen röthlichen Locken und lächelte dann nur. Er lächelte nicht etwa geschmeichelt – die Werthschätzung verstand sich schon von selbst – er lächelte voll Wehmuth, wie ein Träumer, dem man von einem »Märchen aus alten Zeiten« sprach. In solchen Wehmuthsaugenblicken konnte er, war es Abend und saß man im Freien, stundenlang auf ein einziges Sternbild blicken, die Kassiopeia, und ohne eine Miene zu verziehen so viel Bier oder Wein oder Grog »vertilgen«, wie ihm auf ein Klappern mit dem Zinndeckel, oder das Rütteln einer leeren Flasche, oder das Anklingen mit dem Stahlbügel der Cigarrentasche an ein leeres Glas von einem kundigen »Gleich-Gleich-Herr!« nur hingestellt wurde. Begann er dann endlich nach solchen Pausen zu reden, so war es gewöhnlich eine neue Lesart im Tacitus, die er solange überdacht hatte, oder ein Irrthum in Vega's Logarithmischen Tafeln. Je seltsamer, je abstruser seine Aeußerung, desto mehr imponirte sie.

Jetzt wieder saß Klingsohr im Alsterpavillon bis zwölf Uhr Nachts mit derselben Beharrlichkeit und in demselben Wechselverkehr mit den »Gleich-Gleich-Herr!«'s wie sonst. Aber »zerrissener« und wüster als sonst war seine Art, bitterer sein Humor; die Scherze, die er oft bis zur Ausgelassenheit über einen und denselben Gegenstand »zusammenjeanpaulisiren« konnte, flossen nicht mehr von seinen zuweilen krampfhaft zuckenden Lippen. Man brachte bei Beobachtung dieser Veränderung den ihn betrübenden Tod des hochgefeierten Vaters in Rechnung, dann die Liebe zu dem Elfenkinde vor dem Dammthor, das alle gesehen und wegen ihrer fremdartigen, der hier zu Lande üblichen Weise nicht entsprechenden Art des Aussehens und Benehmens bewunderten. Einige »schlechte Witze«, die dieser oder jener sich erlaubt hatte, waren fast bis an die »touchirende« Grenze gegangen und ein für allemal beseitigt worden. Klingsohr hatte sich, als man von einem bei dem Kleesaatmakler Carstens in »Correction« gegebenen »Röslein auf der Heiden« sprach und das Rauhe Haus erwähnte, vom Tische erhoben, wie wenn ein jeder Zoll an ihm auf zwei hinauswüchse und er geradezu bis zu seiner Kassiopeia hinauf wollte; er sprach kein Wort, aber sein sonst ausdrucksloses Auge starrte und von Stund' an war das Gespräch über diese Liebe rein und unentweiht, wenn man auch nicht begriff, wie sie den von einem solchen Besitz Beglückten nicht mehr beleben und erheitern konnte.

Des Geldes, das allerdings sonst, wenn es mangelte, dem »Weltschmerz« Vorschub zu leisten pflegte, besaß Klingsohr genug. Wie kam er zu dieser verstimmten Laune, diesem schlendernden, dicht an den Häusern entlang gehenden Gang, diesem Niederblicken, diesem heftigen Aufschlagen der Gläser, daß sie oft in Scherben zersplitterten, diesem erbitterten Angriff auf Richtungen, denen man ihn verwandt glaubte, dieser gehässigen Verfolgung alles dessen, was lebensvoll und fröhlich sich um ihn her tummelte?

Einige Aufsätze schrieb er damals für Blätter, die seine Freunde redigirten. Die doctrinären Behauptungen darin gingen selbst diesen zu weit. In einer Republik von Bürgern rühmte er den Adel, nannte ihn von Gott eingesetzt, stellte ihn wie Leuchten hin, die das Dunkel der Zeiten erhellen sollten, pries ihn seiner Einseitigkeit wegen, in der die Bürgschaft seiner Kraft läge, ja schloß damit, daß kein Denker besser die Zeit erfaßt hätte als jener Ludwig von Haller zu Winterthur in der Schweiz, derselbe, der Luthern einen sittenlosen, entlaufenen Mönch genannt hat.

Diese Artikel erregten Widerspruch. Sie würden in dem Kreise, der Klingsohrn bewundernd umgab, eine Spaltung hervorgerufen haben, wenn nicht seiner Vergötterung des Adels eine Nemesis der schneidendsten Ironie gefolgt wäre.

Sie erregte das Aufsehen der ganzen Stadt.

17.

Eines Tages, an einem schönen Nachmittage, saß Klingsohr am Alsterpavillon wieder unter seinen Freunden.

Sie waren heute zahlreicher denn je vertreten, da man auf dem wallenden blauen Bassin ein Wettrudern veranstalten wollte, zu welchem einige von ihnen als Comitémitglieder gehörten und sich über mancherlei dabei zu beobachtende Vorschriften vor der entscheidenden Sitzung zu verständigen wünschten. Schon baute man ein Gerüst auf einigen Kähnen, das in bunter Ausschmückung in der Mitte des Bassins als Festtribüne vor Anker liegen sollte. Die Massen der Bevölkerung wogten hin und her. Klingsohr war vorm Thore gewesen und hatte, wie schon oft, Lucinden nicht gefunden.

Diese konnte das Einerlei der Beethoven'schen Sonaten, der grünen Erbsen und vaterstädtischen Münzen nicht länger ertragen und hatte nach rechts und links ihr Terrain erweitert. Menschen, die von einer frischen und lebenskecken Kraft sich bestimmen lassen, finden sich überall. Lucinde hatte die ganze Reihe der Sommerwohnungen von Nr. 25 bis 40 diesseit der abgeblühten Hollunderhecke und jenseit von Nr. 45 bis 60 durchbrochen und dort durch Vermittelung von Kindern, hier durch einen entflogenen Papagai, da durch ein am Buschwerk des Gitters beim Vorüberstreifen hängen gebliebenes Tuch, dem man von innen Abhülfe spendete, eine Bekanntschaft nach der andern geknüpft. Zum Schrecken der beiden Damen Carstens war sie überall einheimisch geworden, sowol bei Menschen, die jährlich 10000 Mark einnahmen, als bei solchen, die vielleicht nur auf 4000 kamen und sogar den Winter über die Sommerwohnung nicht verließen; »ja bei Juden sogar«, bei Lotteriecollecteuren und Hausmaklern sprach sie ein und wußte alle Geheimnisse der jungen Mädchen und jungen Frauen, der Matronen, sogar der Ehemänner und Greise. Ihre Zutraulichkeit befremdete erst, dann entzückte sie. Die fremdartige, halb süddeutsche Aussprache, der geringe Werth, den sie auf ihre Anmuth legte, ihre Neigung zum Necken gefielen so ausnehmend, daß Eifersuchtsscenen ausbrachen, und schon darüber, wer sie am längsten und am öftersten besitzen konnte. Lucinde erkannte sich kaum selbst wieder in diesen Erfolgen. Die alte Erfahrung, daß in ein steifes, allzu geregeltes Treiben ein glücklich organisirter Geist mit den leichtesten Mitteln Leben und Bewegung bringen kann, bestätigte sich aufs neue. Sie staunte über das, was sie zu Stande brachte. Alle Herzensgeheimnisse von einem Dutzend junger Mädchen kannte sie, und Männer, die sonst auf Spaziergängen kalt vorübergingen, wurden ihr jetzt in ihrem geheimsten Charakter enträthselt. Sie half, wo sie konnte. Ja, sie selbst erntete Huldigungen in solchem Ueberfluß, daß sie nicht wußte, was damit anfangen. Noch entdeckte sie alles Klingsohrn und nahm dessen Warnungen auf. Bald aber stellte sie Vergleiche an und gerieth in Neckereien und Versteckspiele, ganz in der ihr eigenen Weise, die allen und keinem gehörte. Bald folgte dann freilich auch die Reaction. Hier war eine Eitelkeit verletzt, dort ein Verdacht übertrieben worden; schon gab es Vorwürfe, schon Verfeindungen; Freundschaften lösten sich im Lauf eines einzigen Abendspazierganges durch die thaufeuchten Wiesen in entsetzliche Enthüllungen, Racheplane und Warnungen auf. Hütet euch vor der! riefen die einen, während die andern noch das treueste und edelste Herz liebkosten und nur ein Kind der Natur in Lucinden sahen, dem niemand gram sein könne, selbst wenn es unüberlegte Streiche machte ... Kein Wunder, daß in diesen immermehr zunehmenden Wirren Klingsohr oft stundenlang bei der Erbsen lernenden Sophia oder der »Lieder ohne Worte« spielenden Meta oder dem in der Geschichte der hamburger Bürgermeister verlorenen Nikolaus verweilte alten und sich von seiner in Feld und Wald verflogenen Liebe nichts finden wollte.

In der durch eine solche Nachricht von einer wieder in die Sumpf-, Moor-, Wald- und Sandsteppenwelt hinter Eppendorf hinausgegangenen Wanderung erzeugten Mißstimmung war Klingsohr an jenem Nachmittage zur Stadt zurückgekehrt. Da das auf der Alster vorbereitete Vergnügen ein aristokratisches war, so fanden sich in dem Kreise, den er betrat, gerade diejenigen anwesend, die ihr Patricierblut in denselben Wallungen kund zu geben pflegten, wie wenn sie zu den »Granden der Ukermark« oder zu Mecklenburgs Vollblut gehörten. Zu den Hofschlittenfahrten unter den berliner Linden können die Farben, die die Vorreiter tragen, die Farben der Federn, die auf den Köpfen der Rosse wehen sollen, nicht sorgfältiger nach den heraldischen Thatsachen der Familienwappen bestimmt werden, als hier die jungen Doctoren aus den Familien der Millionäre und die künftigen Senatoren und Gesandten der Republik von den Emblemen ihrer Wimpel, den gestreiften Farben ihrer Ruderboote und Ruderer sprachen. Die »Ehre« war in ihrer ganzen, so empfindlichen und bekanntlich nur geringen Elasticität angespannt, und Heinrich Klingsohr gab seine Rathschläge in einem Tone, als wenn er in der That ein rechtmäßiger Sohn jenes Freiherrn von Wittekind war, dessen Processe er nur führte.

In diesem Augenblick geschah ihm aber etwas Entsetzliches.

Eine schlanke, hohe Gestalt in schwarzem Frack, mit einem hierorts auffallenden Ordensbande im Knopfloch, drängte sich durch die dichten und dem Alsterspiegel zugewandten Menschenmassen an den von den geachtetsten jungen Männern der Stadt besetzten Tisch, rief ein lautes, fast kreischendes: Hab' ich dich, Schurke! einem derselben, dem er den Hut vom Kopfe schlug, entgegen und schlug mit einer Reitpeitsche auf Schultern, Kopf, Hände desselben so unbarmherzig zu, daß im Nu blutige Striemen auf Stirn und Wangen sichtbar wurden. Man hätte noch Aergeres befürchten müssen, wenn dem Rasenden, der Stühle und Tische umwarf, um noch ärger über sein Opfer herzufallen, andere nicht im Augenblick in die Arme gesprungen wären und mit der äußersten Anstrengung seinem Beginnen ein Ende gemacht hätten.

Der so Getroffene war Klingsohr. Den Angreifer erkannten sowol dieser selbst, soweit er die Besinnung behielt, wie mehrere in der Gesellschaft sogleich wieder. Es war kein anderer als ein älterer göttinger Studiengenosse, der Freiherr Jérôme von Wittekind.

Der Kammerherr nannte auch sogleich seinen Namen und warf zum Ueberfluß eine Karte auf den Tisch. Andere rissen ihn fort. Das rege Rechtsgefühl und das schnell entschlossene Naturell der Bevölkerung machte sich in der Beihülfe geltend, die der Mishandelte erfuhr; man riß den Störer des Stadtfriedens fast nieder. Die Mitglieder der Gesellschaft aber, die sein Ueberfall so urplötzlich gestört hatte, hinderten sowol die Volksjustiz wie die Arrestation. Alle erkannten, daß hier ein Vorfall stattfand, der einem Ehrengericht angehörte, nicht der Polizei. Klingsohr blutete. Sowie er zum Bewußtsein gekommen, wollte er sich entfernen. Kein Wort sprach er, ja er schien dem Ueberfall eine Bedeutung zu geben, die diesen gänzlich dem Bereich fremder Einmischung entzog. Um den Angreifer, dessen stattliche Gestalt imponirte, ja der sofort eine Erfrischung bestellte und die Börse zog, hatte sich sofort eine Gruppe gebildet. Es stand bald fest, daß eine solche Selbsthülfe hier nur die Folge eines äußersten Zwanges gebotener Umstände gewesen war, und wenn auch Männer und Frauen riefen: Er ist toll! wenn auch einige der Herren am Tische es überdies auch schon gesagt hatten: Es ist der tolle Wittekind! so erblickte man doch zunächst in seiner Handlungsweise nur das Maß, wie weit Rache und langgeschürte Wuth vielleicht begründetermaßen einen Menschen fortreißen können. Den Angreifer begleiteten über die Straße einige seiner alten Commilitonen auf einige Zimmer, die er, vor einer Stunde angekommen, im ersten Stock der auf zwanzig Schritte nahe gelegenen Alten Stadt London genommen und auf Befehl der Polizei nicht mehr verlassen durfte. Man erfuhr von dem ohne alle Begleitung Angekommenen, daß ihm Klingsohr »seine Braut« entführt hätte.

Wirr genug waren die nähern Angaben des Racheschnaubenden; aber kannte nicht jeder das Räthselhafte der Persönlichkeit, mit der Klingsohr in Hamburg aufgetreten war? Der Kammerherr konnte, wenn er einen tobsüchtigen und bösen Gedanken unausgesetzt verfolgte, mit Consequenz verfahren wie ein Vernünftiger. Jetzt war er ganz heiter, lachte, ließ Champagner kommen, behielt seine alten Freunde zurück und widersetzte sich der Anordnung eines Ehrengerichts keineswegs. Die Satisfaction, die als dem so Gezüchtigten gebührend sogleich genannt wurde, versprach er ohne weiteres geben zu wollen, drang aber auf Eile, wobei er sich benahm, als drohten der Verzögerung Gefahren für ihn und andere. Niemand begriff dabei aus seinem Benehmen, wie der längst als schwachsinnig Bekannte mit einer gewissen lachenden Geberde immer auch die Freude über seine Flucht aus einer, wie es schien, gewaltsamen Absperrung kund gab.

Klingsohr wurde sofort in seine Wohnung gefahren. Ihn begleitete der andere Theil der gemeinschaftlichen Freunde. Als man von der Entscheidung durch die Kugel sprach, sprang er auf, stieß das Gefäß mit kaltem Wasser, aus welchem man die Umschläge anfeuchtete, die die Striemen seines Antlitzes kühlen sollten, zurück und blickte starr ins Leere, wie schaudernd vor einer gräßlichen Gedankenverbindung. Dann sank er in einen Sessel zurück, dumpf vor sich hinbrütend, das Haupt aufgestützt und den Kopf schüttelnd wie über das Unerklärlichste der Welt. Die Beschimpfung, die er vor einer ganzen Stadt erlitten, war so groß, daß man diesen starren Ausdruck, der sich bis zum Ausbruch eines jeweiligen bittern Lachens steigerte, nur allein seinem Schamgefühl zuzuschreiben brauchte. Nannte man jedoch den Kammerherrn verrückt, so schüttelte er den Kopf und that, als wäre sein Beleidiger der Weisesten einer und von Gott selbst gesandt.

Daß Jérôme von Wittekind in dem Grade schwachsinnig war, wie es Lucinde kannte, wußte man in diesem Kreise noch nicht; man hatte vor Jahren in Göttingen des Verkehrten genug von ihm erlebt, aber selbst Klingsohr kannte ihn nicht in seinem ganzen Zustande. Einem der Freunde, einem Arzt, der lange bei dem Thema der Narrheit des Beleidigers verweilte, unterbrach er die Rede. Man mußte es seiner Aufregung und dem Mismuth, zur Herstellung seiner mißhandelten Ehre – wie einmal die Logik des Duells mit sich bringt – nun noch sein Leben preiszugeben, zuschreiben, wenn seine Aeußerungen herauskamen wie ein Schauder vor den Fügungen des Geschicks. Dumpf sprach er in Stellen aus den Tragikern aus, daß das Schicksal seine Verhängnisse durch unsere eigene Thorheit und Leidenschaft vollziehen lasse.

Ebenso wichtig, wie die Vorbereitung eines Duells, die Klingsohr als den Abschluß des die ganze Stadt erfüllenden Vorfalls ruhig geschehen ließ, war die Fürsorge, die man zu treffen hatte, um Lucinden vor dem Kammerherrn zu sichern.

Sofort wurde eine Mittheilung nach der Sommerwohnung des Herrn Carstens gemacht mit der Warnung, Fräulein Schwarz nicht einem Ueberfall bloßzustellen, der bei dem Charakter einer solchen Leidenschaft, wie sie der Kammerherr zur Schau trug, leicht in einer gewaltsamen Entführung bestehen konnte.

Die Damen des Hauses erschraken nicht wenig, theils über den Vorfall an sich, theils über die in Aussicht gestellten Folgen. Sie beklagten, eine Person aufgenommen zu haben, die nun in der ganzen Stadt ein solches Gerede veranlaßte. Hatte sich Lucinde bereits unter einem Dutzend Familien die verschiedenartigsten Beurtheilungen zugezogen, so gab sie denen, die ihrem Charakter mistrauten, sie der Koketterie und Intrigue beschuldigten, jetzt eine Thatsache an die Hand, die ihr Urtheil rechtfertigte. Sie war die Geliebte eines vornehmen Adeligen und diesem von Klingsohr entführt ... Schreckensworte für das Ohr der Damen Carstens, die von Lucindens spät dauernden Spaziergängen und Landpartieen und ihrem Abends spät bis zum Dunkelbraunwerden ziehenden Thee genug indignirt waren.

Als Lucinde die Kunde von dem Vorfall am Alsterpavillon vernahm, überfiel auch sie ein Grauen bei dem Gedanken, dem Kammerherrn zu begegnen. Nimmermehr! rief sie und sah um sich, wie einst ihre Tauben, wenn sie den Stoßvogel erblickten. In dem engen Raum dieses Hauses, selbst wenn man Herrn Carstens hätte veranlassen wollen unten zu schlafen, war kein Versteck zu finden. Auf dem Rödingsmarkt gab es nur herabgelassene Vorhänge, jetzt keine Betten, keine Bequemlichkeit, und doch erklärte sie, gern auf der Erde schlafen zu wollen, nur nicht sich der Gefahr auszusetzen, diesem Verfolger zu begegnen. Aber jedem der drei Geschwister fiel irgendeine Bagatelle ein, die in seinem Nichtbeisein in der Stadt beschädigt werden konnte. Sie erklärten, dann lieber auf einige Zeit alle mit in die Stadt zurückgehen zu wollen, wodurch natürlich der Versteck wieder aufgehoben wurde. Endlich bot sich ein anderes Auskunftsmittel. Die rasch geschlossenen und rasch wieder abgebrochenen Freundschaften mit der Nachbarschaft hatten bei zwei Interessen Stand gehalten, einem materiellen und einem geistigen. Ein Modehändler vom Neuenwall hatte in der jetzigen Saison morte keinen bessern Kunden als die junge Pensionärin des Kleesaatmaklers Carstens. Lucinde war reichlich vom Kronsyndikus und Klingsohr mit Geld ausgestattet. Zu ihren Liebhabereien gehörte es nicht nur, sich zu schmücken, sondern mehr noch, in der Stadt von Laden zu Laden zu gehen und Einkäufe zu machen. Sie hatte die Liebhaberei des Schenkens. Manche von denen, die nichts mehr von ihr annehmen wollten, behaupteten, sie wollte sich damit nur das Recht erkaufen, die Menschen dann auch verletzen und ärgern zu können. Die Damen Carstens nannten sie eine Verschwenderin und begriffen nicht, wie sie bei einer Beschwerde darüber von Klingsohrn die Antwort bekommen konnten: »Feen schenken gern!« Er wußte, daß Lucinde darben, auf Stroh liegen konnte ebenso wie in goldenen Palästen wohnen. Sie hatte bis jetzt mit dem Leben nur gespielt; fast schien sie zu wollen, daß auch das Leben nur mit ihr spiele. Etwas selbst und lange zu erwarten und zu erhoffen, wäre ihr das Drückendste gewesen. Hätte sie damals die Volksjustiz nicht von der Frau Hauptmännin von Buschbeck erlöst, sie würde vielleicht noch bei ihr gedient, noch die Zwetschenkerne sich zerschlagen und sie für eine Delicatesse verspeist haben, glücklich, daß es nicht die gefangenen Mäuse waren.

Es gibt einen großen Bund in der Gesellschaft, der seine eigenen Mysterien hat. Es ist dies der Bund der Notenkundigen, der einer Verschwörung gegen die musikunkundige Welt nicht unähnlich sieht. Dieser Eifer, sich zu Duetten und Trios zu verbinden, bei welchem Madame Möller und Fräulein Wulff sangen, Lucinde spielte – der Gesang war ihr völlig versagt –, dann einmal Herr Möller mit der Violine, Herr Wulff mit der Flöte begleitete, dieser Fanatismus, bei keinem Streichquartett der Dilettantenwelt, bei keinem Concert durchreisender Berühmtheiten zu fehlen, dies ewige geheimnißvolle Verbundensein mit Felix Mendelssohn-Bartholdy auf dem Wege der Tonschlüssel in A-dur und C-Moll ... das ist ein ganz eigener Cultus, der, wie es die Dissonanz des Lebens und der Genuß an etwas mehr oder minder rein gestimmter Harmonie einmal mit sich bringt, bis zur souveränen Verachtung aller Uneingeweihten führt und aus Notenkundigen schon die größten Aristokraten und Tyrannen gemacht hat. Madame Möller hatte bei einer zufälligen Anwesenheit in Leipzig von einer Schülerin Mendelssohn's singen gelernt, was so viel war als von ihm selbst. In den Räumen der Sommerwohnung Möller und Wulff hatte man Musikaufführungen gehalten, deren Wichtigkeit zwar nicht ganz, aber doch annähernd den Sitzungen des deutschen Bundestags gleich erachtet wurde, auch Meta Carstens schloß sich an, einige junge Buchhalter oder Gelehrte spielten Bratsche, Cello oder entwickelten guttreffende Stimmen. In diesem Kreise war es, wo sich Lucinde am längsten hielt. Sie begleitete nur, spielte nur zweite Stimmen und lachte dabei innerlich sowol über die langen Hälse der Singenden wie über die allgemeine menschliche Eitelkeit.

In das dieser Familie gehörende Haus auf dem Neuenwall flüchtete sich Lucinde. Madame Möller und Fräulein Wulff schliefen zu ihrem Schutze in der Stadt. Aus dieser verschwiegenen Einsamkeit entstand freilich eine Frequenz, welche die des im Parterre befindlichen Sommergeschäfts übertraf. Herr Noodt hatte den Aufenthalt bald erkundschaftet und gönnte Herrn Wulff nicht die beständige Nähe Lucindens und machte Besuch und Fräulein Smidt fürchtete das und machte sich selbst bei Madame Möller zu schaffen und Fräulein Jansen fürchtete wieder, Herr Gensler würde demselben Triebe folgen, und suchte die Fährte auf, die auch endlich nicht nur Herr Gensler, sondern auch Herr Burmester, Herr Johannsen und Herr Wilckens gefunden hatten. So verstrichen drei Tage in einem nicht endenden Klingeln der Dielenthür und einer Aufregung der an der Verborgenheit betheiligten Personen, die sich nur durch Musik beschwichtigen ließ; man sang, man stritt über Noten und Tonarten und da der Flügel fehlte, sang man Scalen und Solfeggien und stritt über den größern Werth der Schumann'schen oder der Mendelssohn'schen Lieder.

Um ein Wesen, das sich in dieser Lage so benehmen konnte und nur auf das dringendste Verlangen der Damen Carstens zu bewegen gewesen war, einige Zeilen des Bedauerns an Klingsohr zu schreiben, ihm ihre Flucht, ihre Sicherheit, ihren Antheil an seinem schmerzlichen Erlebniß auszudrücken, schoß sich dann zwei Tage nach der erhaltenen öffentlichen Beschimpfung Klingsohr mit seinem Jugendfreunde hinter Ottensen auf zehn Schritt Barrière.

Man hatte vieles erwogen gehabt. Klingsohr hatte sich mit den Secundanten vorher eingeschlossen, hatte von seinen Verpflichtungen gegen den Kronsyndikus gesprochen; immer aber trat allen Abmahnungen das Bild entgegen: Vor einer ganzen Stadt mit der Reitpeitsche durchgehauen! Die Satisfaction konnte nur in einem Duell bestehen.

Man hatte die Formen des Duells so leicht wie möglich gemacht, die Distanzen nach den größten Maßen genommen und dennoch schoß Klingsohr seinen Beleidiger, nachdem dieser, ohnehin abgekühlt und von der Gefahr erschreckt, einen verfrühten Schuß ohne zu avanciren blindlings abgefeuert hatte, mit dem seinigen auf einen einzigen Anschlag nieder.

Die Kugel drang zwischen die untern Rippen in Blutgefäße, die sich augenblicklich zu entleeren begannen. Eine Secunde stand noch Jérôme, entfärbte sich, suchte sich zu wenden und sank entseelt zu Boden.

Nach vollbrachter That wurde Klingsohr von seinen Freunden dringend aufgefordert, den im Gehölz befindlichen Wagen zu besteigen.

In dieser menschenbesäeten und gutbewachten Gegend mußten zwei Schüsse selbst in der ersten Morgenfrühe auffallen.

Der mitgenommene Arzt erklärte, jeder Versuch, den Gefallenen ins Leben zu rufen, wäre vergeblich.

Klingsohr zeigte einen dumpfen Schmerz. Er stand wie erstarrt und mochte sich von der Leiche nicht trennen.

Laßt mich! rief er und schleuderte die, die ihn fortziehen wollten, zurück.

Wir beschwören dich! rief man. Klingsohr! Die Flurschützen kommen!

Klingsohr blieb starr und schauderte ...

Der Frevel ist bestraft, wie er's verdiente! rief man. Komm!

Klingsohr beugte sich mit einem Knie, stemmte das Haupt auf das andere und faßte die erkaltete Hand des schon Verblichenen. Die lange herculische Gestalt lag marmorblaß, die Lippen waren krampfhaft geöffnet, wie wenn ein Wort noch von ihnen hätte kommen sollen, das der plötzliche Tod abschnitt.

Da jeder Lebenshauch geschwunden war, so nahmen die Secundanten die wichtigsten Dinge aus den Taschen der Leiche, um sie selbst bis auf weiteres liegen zu lassen, gerichtliche Rencontres zu vermeiden und vorläufig nur sich selbst zu flüchten.

Mit Widerstreben wurde Klingsohr in den Wagen gezogen.

Man sah Menschen dem Gehölz zueilen, glaubte aber den Vorsprung noch frei. Die Rosse zogen an, der tiefe Sand gestattete kein schnelles Ansprengen. Kaum aber hatte man das Gehölz hinter sich, als der Flurschütz mit einigen schnell herbeigerufenen Landleuten ihnen schon in die Zügel fiel.

Jetzt, wie zur Besinnung kommend, springt Klingsohr auf, reißt die eine der noch geladenen Pistolen an sich und erschreckt dadurch seine Freunde so, daß sie sich nur beschäftigen können, ihm die gefährliche Waffe zu entwinden. Darüber verlieren sie den Vortheil entweder zu entkommen oder, wie wol in solchen Fällen geschieht, sich durch Bestechung loszukaufen.

Sie mußten ihre Namen nennen und versprechen, mit dem Wagen dem Flurschütz zu folgen.

Auf dem Stadthause in Altona wurde ein Protokoll aufgesetzt. Klingsohr, dem nur zunächst an der würdigen Bestattung seines Opfers lag, mußte zurückbleiben. Die andern entfernten sich auf Ehrenwort.

Nach einer so ernsten Wendung war für niemand der Boden unter den Füßen mehr hinweggenommen als für Lucinden.

Sie kehrte auf die erste Schreckenskunde zur Car stens'schen Familie zurück, aber der Fall wurde so vielfach erörtert, mindestens so allgemein besprochen, daß sie der Gegenstand der allgemeinen Neugier und keines ihr günstigen Urtheils wurde.

Der Schimpf, der Klingsohrn angethan gewesen, war bestraft; ihn erwartete ein Spruch der Richter; nur sie, die Veranlassung dieser blutigen Scenen, ging frei aus, und jetzt konnte selbst die Musik nicht mehr ihren klingenden Schild über sie legen. Sie fühlte ihre Lage und zum ersten mal war ihr Nr. 33 gerade recht; die zwei Bettschirme, die sie von den Schwestern trennten, ließen ihr gerade so viel Raum, wie sie auf einige Tage bedurfte.

Daß in solchen Lagen Naturen, wie die ihrige, allein stehen, aber auch ganz allein, das erfüllte sie mit Bitterkeit. Sie machte sich Geständnisse über sich selbst, ihre Umgebungen und über ihre Grausamkeit gegen Klingsohrn. Sie liebte ihn nicht mehr. Was traf sie da nach ihrer Meinung weiter für eine Schuld! Diese ganze Umgebung war ihr peinlich geworden, da schon lange alles das es wurde, was von ihr durchschaut werden konnte. Sie hatte angefangen, sich fortgesetzt einzureden, daß diese Welt eine ganz nichtige, nur dem Schein huldigende, daß diese Menschen alle, die sie bevölkern, nur Puppen wären, die an den Drahtseilen einiger kluger Matadore tanzten. Welche Narrheiten rechts und links! Diese Schwestern, die einen Bruder tyrannisirten, nur um ein gesichertes Alter zu haben! Pedantinnen in jedem Worte, das sie sprachen, in jedem Schritt, den sie thaten, immer nach dem Wetter lugend, auch in geistigen Dingen, immer bedacht: Was werden die Leute dazu sagen! Und Herr Carstens selbst, eitel auf eine Liebhaberei, zu der er nur die Geduld, nicht die Kenntnisse besaß, sonst stundenlang beschäftigt mit dem Selbstrasiren seines Bartes, dem Knüpfen seiner Halsbinde! Dieser Professor links, bei jedem Worte, das er sprach, sich umsehend, wie wol dessen Wirkung wäre, die Silben zählend, als wenn er die deutsche Sprache erfunden hätte und sie schonen und nicht allzu gemein machen müsse! Diese Frauen überall von Haus zu Haus; jede versunken in ihr eigenes Interesse, in ihre Kinder, ihre Möbel, ihre Tassen, ihre Kleider, ihre etwaige Schönheit! Des Prahlens mit Gefühlen da, mit Gedanken dort kein Ende! Die Musiknärrinnen vollends schon die lächerlichsten von allen! Nun entdeckte sie, daß sie ja viel mehr wußte als sie alle, daß sie Gesichtspunkte hatte, während alle im Nebel tasteten; denn keines wußte vom Leben selbst so viel, als wie sie doch schon erkannt hatte oder wie sie Klingsohrn verdankte, der so viel Ahnungen und Lichtblicke in ihr entzündet hatte. Doch auch für diesen ergriff sie kein reines Mitgefühl mehr. Sie hatte die Vorstellung von sich, daß ihr im Leben irgendein weit größeres Ziel beschieden wäre und daß alle diese Begegnungen, die sie bisjetzt erlebt hätte, nur dazu dienten, ihre Entwickelung zu fördern. Nur Schlangenhäute waren es, die sie abstreifte. Seit dem Tode Jérôme's rechnete sie tiefinnerlich auch schon Klingsohrn zu dem, was für sie abgethan war.

Was aber beginnen? Zurück mochte sie in nichts! Das Verhältniß zum Kronsyndikus mußte nun doch wol aufhören! Ihr Verlobter war ja der Mörder seines Sohnes geworden! Jetzt erkannte sie wohl, daß Klingsohr nicht des Kammerherrn Bruder sein konnte! Die Rolle, die sie in jener Schreckensnacht auf Schloß Neuhof angefangen zu spielen, war zu Ende! ... Diese unbestimmte Gegenwart konnte indessen nicht bleiben. Und sollte sie mit ihren seidenen Kleidern und Hüten betteln gehen, sie dachte an Flucht. Sie schrieb einige Briefe. Einen an ihre Geschwister, die aus dem Waisenhause zu Meistern gegeben worden waren, um Handwerke zu erlernen, einen sogar nach Eibendorf an den Pfarrer, einen wagte sie auch an den Kronsyndikus. Die Empfindungen, die die Situation der Anzeige des erlebten Schrecklichen mit sich brachte, waren ihr geläufig, sie schrieb sie mit der größten Gewandtheit nieder. Auch dachte sie an jene Angelika Müller, mit der sie nach Hamburg gereist war. Irgendwo hoffte sie auf Rath, nur nicht in ihrer nächsten Umgebung oder von Klingsohr.

Von diesem bekam sie aber täglich einen Brief. Die Sprache darin war besonnen. Er sagte, daß seine jetzige Lage ihm wohlthäte; es läge ein unendlicher Trost darin, sich einmal so recht von dem Gesetz des Lebens, wie es ist, von den eisernen Armen der natürlichen Folgen unserer Handlungen gehalten zu sehen und keinen freien Willen mehr zu haben. Er bat sie, eine Weile auszuharren, bald würde sein Geschick entschieden sein; ein Jahr Festung würde nicht ausbleiben; er würde diese Strafe in einer schönen Stadt am Busen der Ostsee zu verbüßen haben; wenn er wüßte – und er wisse es ja! – daß ihm in sein dunkles Leben nur der Glanz ihrer Liebe schiene, so könnte er sein Loos nur preisen. »Es liegt«, schrieb er, »ein Zauber im Dulden und Gehorchen; es liegt ein Zauber im Müssen, die wahre Freiheit im Sichgefangengeben! Schon mit dem entströmenden Blut meines unglücklichen Opfers wurde mir leichter! Ich hätte mit seinen rinnenden Tropfen selbst sterben können! Daß ich diese That auf dem Gewissen habe, drückt mich nicht zu sehr. Die Beschimpfung, der ich vor hunderten von Zeugen ausgesetzt war, überschritt jedes Maß. Der Kammerherr war nicht in dem Grade geistesschwach, daß er nicht mit kluger Berechnung einen so boshaften Plan ausführen konnte. Alle meine Richter sind voll Theilnahme und schon meine Freunde geworden. Der Greis auf Schloß Neuhof wird sei nen Sohn von mir nicht fordern, ... von mir nicht, Lucinde! ... Ich schrieb ihm nicht. Theile Du mir mit, was er Dir antworten wird, falls Du ihm den Vorfall anzeigst, wie schon andere thaten. Sag' ihm, daß ich ihm das Vaterherz, das er mir einst schenken wollte, jetzt zurückgegeben hätte und meinen Weg auch über die Wälle einer Festung hinweg finden würde; irgendwohin komm' ich schon, wo ich mit Dir, Lucinde, meine Hütte bauen kann! Lies Bernardin de St.-Pierre! Und lerne dann englisch! Diese britische Literatur hat Freude an den Dingen, wie sie sind! Es geht nichts über die Ergebung, nichts über die Geduld, die sich mit einer Blume und einem einzigen Sonnenstrahl beschäftigen kann! Sieh, hier hab' ich ein Zimmer, angenehm, geräumig, aber das Licht fällt von oben, die untern Fensterladen sind geschlossen und nicht zu öffnen. Zwischen den Ritzen stiehlt sich ein Sonnenstrahl hindurch. Ich beobachte ihn stundenlang. Er geht wie der Schatten eines Sonnenuhrzeigers im Kreise. Es ist ein Nichts, ein Schein und doch wie wesenhaft! Die Atome zittern und tanzen in ihm! Ohne diesen Strahl würden die Atome sinken und nicht, für mich wenigstens, dasein, aber in ihm wirbeln und erhalten sie sich und immer rundum. So halten sich die Welten! In einem höhern Sonnenstrahl werden wir einst das selber sehen, selber fühlen! Wie überflüssig alles Wissen, wenn man das weiß! Ich brauche kein Buch mehr. Man hat mir Bücher und Schreibpapier angeboten. Ich will nicht mehr haben als ich brauche, um an Dich zu schreiben. Lesen ist mir verhaßt. Jeder Buchstabe, der nicht aus der Welt jenes meines einzigen Sonnenstrahls kommt, thut mir weh. Menschen! Menschen! Ihr dünkt euch so viel! Ich könnte alles hingeben wie ein Mönch, wenn nur im Klostergarten ihm sein kleines Blumenbeet bleibt!«

Für Lucinden waren diese Klagen nicht im mindesten rührend. Sie schrieb, aber sie beantwortete gerade diese Klagen nicht. Sie überließ sich scheinbar Klingsohr's Anordnungen, besprach aber eine Reise nach England mit Herrn Carstens, der schon, um sie zu entfernen, in Correspondenz mit jenem Pachter stand, dessen Bekanntschaft er die Pensionärin verdankte. Nach dem Glauben der Nachbarn war Lucinde schon fort und manchem ihrer Nekrologe oder ägyptischen Todtengerichte, die ihr vor dem Fenster und hinter herabgelassenen Vorhängen draußen in der Laube von einem Einsprechenden gehalten wurden, konnte sie selber zuhören.

Am Tage nach dem Begräbniß des Kammerherrn war ihrer Ungeduld kaum noch einzuhalten. Die Verantwortlichkeit des Hauses für sie hatte sich aufs höchste gesteigert. Die Damen Carstens schliefen nicht mehr. Sie schlossen Lucinden am Tage ein, sie versagten sich selbst den Genuß der Natur, gingen nicht aus, verschlossen sogar das Piano, nur damit sich Lucinde nicht durch Spielen verrieth.

Noch den dritten, vierten Tag ließ sie sich durch eine Reisebeschreibung über England beschwichtigen. Am fünften aber drohte sie mit einem Sprunge aus dem Fenster. Sie hatte gerade beide Schwestern, die sie verzweiflungsvoll an den Kleidern zurückhielten, hinter sich, als ein eleganter Wagen draußen am Staket vorgefahren kam mit zwei Bedienten, von denen einer die Livree des Schlosses Neuhof trug.

Der Schlag öffnete sich und ganz in Schwarz gekleidet trat, unterstützt von dem andern Diener, eine lange, hagere Gestalt aus dem niedergelassenen Schlage.

Excellenz, der Kronsyndikus! rief Lucinde und wäre fast aus dem Fenster und dem Ankommenden an den Hals gesprungen.

Um alles in der Welt von den Schwestern um Anstand und »sittliches Betragen« ersucht, hielt sich Lucinde zurück und bedeutete die Wächterinnen, daß sie denn doch eilends selber Seiner Excellenz entgegengehen möchten.

Die Schwestern, »zwei Seelen und Ein Gedanke«, drängten sich schon vor einem Spiegel, um ihre Frisur, ihre Kleider zu ordnen. Dies währte lange. Der Kronsyndikus war inzwischen im Garten und pochte schon an die seither immer verschlossen gewesene Hausthür.

18.

Hätte Lucinde den Ankommenden nicht schon beim ersten Schritt aus dem Wagen erkannt, aus diesem leisen und zurückhaltenden Pochen würde sie es nicht gekonnt haben. So pflegte sonst der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof nicht zu pochen.

Er nahm, da nicht geöffnet wurde, den Stab, auf den er sich im Gehen gestützt hatte, und pochte wiederholt an die Thür, doch aber auch mit dem Stabe ebenso zurückhaltend wie zuvor mit der Hand.

Als die Fräulein Carstens in ihrer Toilette so weit vorgeschritten waren, sich einem solchen Besuche vorstellen zu können, öffneten sie und baten wegen der Verzögerung um Entschuldigung.

Das Auge des Greises, der leise irgendetwas Verbindliches brummend erwiderte, suchte nur Lucinden.

Als sie vortrat, umarmte er sie mit Innigkeit. Eine Thräne stand ihm in den weißen Wimpern; er bedurfte iniger Erholung, bis er sprechen konnte.

Thränen kannten Lucindens Augen in dieser Situation nicht, aber sie sprach mit Innigkeit zu dem gebeugten Greise, der jetzt einen Stuhl suchte, sich zu sammeln. Lucinde würde mit noch größerer Herzlichkeit seinen Gruß erwidert haben, wenn die Redseligkeit der Fräulein sich nicht in einen Wettstreit von Beileidsbezeigungen ergangen hätte. Da so vier Stühle jetzt zusammengerückt zu sehen zum ceremoniellen Erörtern des »Unglücks« und des »bejammernswerthen Vaterschmerzes« u.s.w., das benahm ihr jede Lust, sich ihrerseits an dem Beileid zu betheiligen.

Der Kronsyndikus schien die gleichen Gefühle zu hegen.

Nach einigen Klagen über sein schmerzliches Geschick, einigen Berichterstattungen über die nach Schloß Neuhof bereits von einem andern der mitgebrachten Diener abgesandte Leiche seines Sohnes erhob er sich und forderte Lucinden auf, in den Wagen zu steigen und mit ihm in den Umgebungen der Stadt spazieren zu fahren.

Diese Veranlassung, die Gefangene wieder in die Öffentlichkeit zurückkehren zu lassen, war zu gebieterisch. Die Fräulein trugen selbst Hut, Sonnenschirm, einen Ueberwurf herbei und erschöpften sich in Zärtlichkeiten und Schmeicheleien für Lucinden, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen.

Der Kronsyndikus bot Lucinden den Arm. Es war eine Artigkeit; aber eher hätte sie sich veranlaßt fühlen können, ihm den ihrigen anzubieten. Denn wie schritt er langsam und hinfällig! Seine Augen lagen tief in den Höhlen! Das Antlitz war so wachsbleich und mit einem Netz von Runzeln und Furchen nach allen Richtungen hin überzogen, wie ein Kopf von jenem Denner, der in dieser Stadt gemalt hat. Die weißen Barthaare standen auf den hohlen Wangen wie zum Zählen.

Der in der großen Livree der Wittekinds harrende Diener war noch zu dem Commissionär des Hotels, der durch die Stadt den Führer machte, hinzugesprungen, um seinen Herrn beim Einsteigen in den Wagen zu unterstützen. Lucinde erkannte ihn wohl. Es war der gewöhnliche Diener des Kammerherrn ... Jérôme war dem Grafen Zeesen plötzlich entsprungen gewesen. Wer ihn mit den Vorgängen auf Schloß Neuhof bekannt gemacht, ihm Lucindens und Klingsohr's Aufenthalt verrathen, die Mittel zur Flucht verschafft hatte, war unbekannt. Erst zwei Tage darauf, nachdem man ihn vergebens in Eibendorf beim Pfarrer gesucht, entdeckte man die Spur, die nach Hamburg führte, und die schnell nachgeschickten beiden Diener kamen zu spät. Diese waren es gewesen, die noch früher als Lucinde und die Behörden an den Kronsyndikus das traurige Ende seines Sohnes berichtet hatten.

Nach vollständiger und so auf alles Erlebte wiederholt zurückkommender Erörterung sagte der Kronsyndikus:

Lucinde! Du kennst meine Anhänglichkeit an den Doctor! Du weißt, wie mich der Tod seines Vaters erschütterte! Ich trug ihm, wie du weißt, gleich denselben Abend meine Hand zum Schutz und Beistand an, ja, bot ihm sogar den Vaternamen! So schmerzhaft er mir diese Gesinnung vergolten hat, so will ich sie ihm darum doch nicht entziehen. Die ihm von Jérôme angethane Mishandlung war die schimpflichste, die ein Mann erleben kann. Eine Genugthuung mußte ihm werden. Daß freilich seine Hand dazu bestimmt war ...

Nun stockte der Greis; die leise zitternden Kinnladen schienen die Kraft nicht zu haben, seinen Gedanken zu folgen. Er veränderte seine Rede und sagte:

Daß seine Hand so unglücklich war, Jérôme bis auf den Tod zu treffen! Es ist aber einmal Gottes Fügung so gewesen, nun muß es verschmerzt werden! In unserm Kloster Himmelpfort werden wir Jérôme beisetzen und im Park will ich ihm an der Stelle, wo er dir damals, als die Verwandten dich entdeckten, zum Pavillon hinaufrief – da will ich ihm noch eine kleine Pyramide setzen lassen, so eine, wie er zu drechseln pflegte, das Bild der jenseitigen Sehnsucht – nach Püttmeyer ... Jérôme ist ohne Beistand seiner Kirche gestorben. Das Fräulein Angelika Müller sprach ich schon. Du hast sie arg vernachlässigt!

Lucinde schützte Mangel an Zeit und Interesse vor. Das Verweilen bei religiösen Erwägungen war ihr am Kronsyndikus neu ...

Der Wagen fuhr, wie befohlen worden war, langsam über die Wälle der Stadt ... Manche Spaziergänger in den Alleen erkannten Lucinden und diese hielt sich denn auch gerade so, als sollte alle Welt die Genugthuung bemerken, die ihr soeben wurde ...

Der Kronsyndikus fuhr fort:

Auch Klingsohrn sah ich schon! Er hat nur den einen Schmerz, nicht in deiner Nähe zu sein. Die große Stadt hat dich zerstreut, Lucinde! Ich hoffe nicht, daß du mir den Schmerz anthust und deinen Freund vernachlässigst! Ich habe versprochen, euer beiderseitiges Glück im Auge zu behalten, werde aber meine Hand unerbittlich von dir abziehen, wenn du Heinrich täuschen könntest! Es ist einer von den Männern, die des weiblichen Umgangs bedürfen, die aber nicht die Geduld haben, sich einen würdigen Gegenstand ihrer Liebe langsam zu erobern. Mit Geist und Charakter wollen die Frauen selten einen Mann. Sie wollen fast immer nur, wer ihnen schmeichelt oder amüsant ist oder im besten Falle Gemüth verräth, worunter sie etwas verstehen, was so viel wie unbedeutend ist. Klingsohr würde in der Wahl seiner Liebe immer nur fehlgreifen. Er ist tief gebeugt. Du wirst ihn durch deine Heiterkeit und Unbefangenheit wiederaufrichten. Also? Ich rechne auf deine Beständigkeit!

Nicht aus Schonung für den wie verwandelten Greis, sondern aus Furcht vor seiner, wie es schien, sehr ernst gemeinten Drohung gab Lucinde Versicherungen, von denen ihr Herz nichts wußte.

Man wird deinen Freund, fuhr der Kronsyndikus fort, zu einer Festungshaft verurtheilen. Er wird sie abzubüßen haben in einer Stadt, die ich in meinen jüngern Jahren wohl gesehen habe. Sie liegt an einem schönen Busen der Ostsee. Ja, der liegt mir so blau vor Augen, als wäre ich erst gestern dagewesen! Der Menschenkreis dort ist klein, aber traulich. Eine Universität, eine Besatzung beleben den kleinen Ort. Familien, die dich in ihre Obhut nehmen, werden sich finden lassen wie hier. Heinrich sitzt dabei auf der Festung. Anfangs wirst du ihn wol in der Festung sehen können, später wird er, denk' ich, auf Stunden sie verlassen und in der Stadt sich aufhalten dürfen. Man ist gegen Gefangene dieser Art nachsichtig; nach einem Jahre schon ist die Strafe, wenn sie auch vielleicht auf drei Jahre verhängt würde, abgebüßt. Ich, als Vater des Erschossenen, werde in Kopenhagen selbst um Gnade bitten, das wird die Haft kürzen. Dann bin ich dafür, daß Heinrich seinen Schatz von Gelehrsamkeit in Göttingen zur Anerkennung bringt und dort um eine Professur wirbt; du hast all die Fähigkeiten, die ihm für die strenge Verfolgung solcher Plane mangeln. Du wirst ihm durch die Ehe überhaupt erst die Erziehung geben, die er eigentlich nie bekommen hat. Seine Mutter starb früh ... Was ich dir einst von ihr sagte, war ... Eingebung – des Augenblicks! Nichts weiter! Er hat dir davon erzählt?

Lucinde nickte. Sie versprach alles, was der Kronsyndikus nur zu hören wünschte. Sie war schon glücklich, aus der Gesellschaft der Fräulein Carstens erlöst zu sein. Sah sie doch jetzt, auf einer Spazierfahrt, wie sie sie nie gemacht, zum ersten mal erst das schöne Hamburg! Und nun schon wieder das neue Bild der See, einer Universität, einer Besatzung – Vorstellungen, die ihre Phantasie ganz in Beschlag nahmen. Nur mit Widerstreben kehrte sie in ihre Klause zurück, an welcher der Kronsyndikus nach einer Stunde vorfuhr. Von den Fräulein am Staket empfangen, gab sie sich unbehindert den staunenden Blicken aller Nachbarn preis. Der vornehme Herr, der sie so ehrte, war ja der Vater ihres erschossenen »ersten Verlobten«.

Am folgenden Tage sah sie, wieder in Begleitung des Greises, auch Klingsohrn im altonaer Stadthause. In der Sehnsucht, ihre gegenwärtige Lage geändert zu bekommen, ging sie auf alles ein, was man von ihr voraussetzte. Sie war, vom Kronsyndikus, der indessen eine Weile am Ufer der Elbe auf- und abfuhr, mit Klingsohrn allein gelassen, ganz so hingebend, ganz so vertrauend, wie der Gefangene nur verlangte. Sie konnte ihn in der Voraussetzung zurücklassen, daß er auf die Treue »seines Mädchens« wie auf Felsen würde bauen können. Vor ihrer Kunst, sich in die Umstände zu schicken, auf eine Erinnerung an den Kammerherrn den Blick zu umfloren, auf ein stürmisches: Sieh mir ins Auge! fest und sicher die schwarzen Sterne Klingsohrn entgegenzuhalten, erschrak sie selbst. Klingsohr gerieth in einen Ausbruch von Wonne, wie damals in der verhängnißvollen Abendstunde auf Schloß Neuhof. Sprang er auch wol mitten aus einer Liebkosung auf, trat vor sie hin, streckte die Hand aus wie um sie zu erwürgen und sagte: Schlange! Bist doch falsch! Falsch! Ich weiß es! ... so entwand sie sich ihm leise, wendete ihm ihren Nacken zu, versteckte den Kopf wie schmollend in die Ecke des Sophas, und erst dann, wenn er sie dennoch in dieser Lage umfing, mit den Armen gewaltig ihren schlanken Leib umspannte, den Kuß seiner Lippen auf ihre Schultern drückte, zog sie diese wie furchtsam ganz in die Höhe und wandte sich leise und allmählich erst mit dem Kopfe herum, allmählich die brennenden Augen erhebend, dann sprang sie auf und warf ihn scherzend zurück, gerade so, wie im Käfige die Panther zu spielen pflegen.

Vierzehn Tage brachte Lucinde dann noch mit dem Kronsyndikus zu, um mit ihm allem die Güter desselben zu bereisen.

Der Abschied von den Damen Carstens war ein einziger Jubel ihrer endlich befreiten Seele. Da sie den trauernden Greis, wie es auch dieser ihr ausdrücklich dankte, mit ihrer Heiterkeit erfreute, so ließ sie ihrem Humor ganz den Zügel schießen ... Sie parodirte alle Erinnerungen an Schloß Neuhof, an die Lisabeth, an alle Inspectoren, an die Arbeiter, und nur vor Stephan Lengenich mußte sie Halt machen. Der Arme saß noch immer und kämpfte gegen die Verdachtsgründe, die ihn gravirten, vergebens. Seine wichtigste Entlastung, jenes grüne Stück Tuch, das man gleich anfangs bei der Leiche des Deichgrafen gefunden hatte, war, räthselhaft genug, abhanden gekommen. Auch von ihren neuern Erfahrungen erzählte Lucinde und stellte so viel Caricaturen auf, daß sie den Greis zu der aufrichtigen Versicherung veranlaßte, nur mit schwerem Herzen träte er sie an Klingsohrn ab, sie wäre wie geschaffen, ihm den Rest seiner Tage zu vertändeln. Auch von seinem jetzt alleinigen Erben, dem Oberregierungsrathe, sprach er wieder mit der alten Erbitterung. Dieser war ein Anhänger des Gouvernements in einem Grade, daß er ihn, nach einer in seiner heimatlichen Gegend geläufigen Erinnerung an Hermann den Cherusker, immer nur den neuen Segest nannte; Lucinde besaß Kenntnisse genug, darunter einen Verräther zu verstehen.

Die holsteinische Reise bot Natureindrücke und Abwechselungen, wie sie sich von diesen Flachländern kaum erwarten ließen. Sanfte Hügel und Thäler wechselten mit Seen, letztere von prachtvollen Buchenwäldern eingerahmt, fischreich und überflattert von wildem Geflügel. Die Glocken von stattlichen Rinderheerden läuteten auf Wiesen, die sich hinzogen wie Alpenmatten. Jede Blume, die auf den Stoppelfeldern noch zurückgeblieben, mußte mitreisen. Lucinde stieg aus und wand Kränze, den Greis zu schmücken, der sich's gefallen ließ, wenn ihn sein Rundblick über die landwirthschaftlichen Eindrücke zu ernst stimmte. Die Besitzungen, an denen man vorüberfuhr, waren schloßähnlich, von großen, massiven Wirthschaftsgebäuden umgeben, mit Gärten und Parks geschmückt. Die Bauernhäuser standen denen ihrer Herrschaften nicht nach. Alles zeugte von Wohlhabenheit und bestritt die Ansichten, die Lucinde vom Plattdeutschen als dem Ausdruck der Lässigkeit und Trägheit hatte. Die Krone aller dieser Eindrücke, die noch über den Eindruck der in sonnenglänzenden Wäldern still verborgenen Seen ging, war das letzte Ziel der Reise, die Hafenstadt am Busen der Ostsee selbst.

Wo kamen in diesen Flachländern plötzlich diese dunkelgrünen hohen Ufer her! Diese bewaldeten Höhen, von deren Fuß sich die grellrothen Dächer der Fischerdörfer abhoben, wie wenn im gleichen Landschaftsgefühl Natur und Kunst sich begegneten! Auf dunkelblauer Fläche weiße Segel, Möven im flatternden Neckspiel, der Spiegel des Wassers so blau, so krystallen, wie eine riesige Schale von Saphir, und darüber her der Himmel, so durchsichtig und ahnungsschwer die nahe gerückte Ferne verrathend, Ufer so vieler Inseln, Skandinaviens wie gesehene Küste! ... Auch die Festung mit dem hochragenden Danebrog, auch die Stadt mit ihren Promenaden und Alleen trug den Charakter, als beträte man einen einzigen üppigen großen Garten.

Hier in Kiel, wo man später noch jahrelang von Lucinden sprach, wurde sie einer Professorenfamilie übergeben. Als die Bedingungen geschlossen waren und ihr Einzug gehalten werden konnte, rüstete sich der Kronsyndikus, von ihr Abschied zu nehmen. Er hatte seine Bereitwilligkeit, ihren Wünschen zu genügen, auch noch darin bewährt, daß er in dem Hause des Professors seiner Pflegetochter, wie sie beinahe genannt wurde, eine größere Freiheit erwirkte, als sie in Hamburg genoß. Sie hatte ihre eigenen Zimmer. Die Nachricht, daß sie die Braut eines Festungsgefangenen war, hatte sich bald verbreitet. Der seltsame Umstand, daß der eigene Vater des vom Dr. Klingsohr erschossenen Herrn von Wittekind es war, der seine Hand schützend über sie ausgestreckt hielt, wurde romantisch genug ausgeschmückt.

Am Abend vor der Abreise des Kronsyndikus hatte sie mit ihm noch eine herzbeklemmende Scene ... Sie hatte, da er ganz in der Frühe reisen wollte, die Nacht über wieder in dem Gasthofe bleiben wollen, wo sie gleich anfangs mit ihm abgestiegen war. Sie konnte ihn erst in später Abendstunde erwarten, wo er zurückkehrte von einer Unterredung mit einigen österreichischen Offizieren, die sich in dieser »roßprangenden«, an Gestüten reichen Gegend zum Ankauf von Pferden befanden. Schon oft hatte sie auf Schloß Neuhof von jener kindlichen Blondine, der Gräfin Paula von Dorste-Camphausen, einer Nichte des Kronsyndikus, gehört, daß ihr unermeßlicher Reichthum nach dem Tode ihres kränkelnden Vaters, des Grafen Joseph (Schwagers des Freiherrn), Anlaß zu einer großen Veränderung geben würde auf Antrieb einer in Oesterreich ansässigen zweiten Linie des alten Grafengeschlechts der Camphausen. Der Kronsyndikus, der Oheim, vielleicht der künftige Vormund der beiden letzten Augen, auf welche die eine Linie stand, der schönen sanften Augen jener Kleinen, die einst Zeuge gewesen war, wie sich Lucinde in die Pagode des Wassergeflügels auf Schloß Neuhof geflüchtet hatte, war mit dem Vertreter der österreichischen Linie, Grafen Salem-Camphausen, hier zusammengetroffen zu Besprechungen, in die Lucinde, wie in die vielen andern Beziehungen, in deren Chaos der Kronsyndikus lebte, keine nähern Einblicke erhielt. Diese Besprechungen fanden in einem Badeort bei Kiel statt, dessen Name dem Kronsyndikus Erinnerungen wecken mußte, unheimlich genug – Düsternbrook.

Gegen neun Uhr kam der Kronsyndikus von einem Diner heim, bei welchem wider Vermuthen eine Anzahl von Offizieren der Garnison zu Ehren der fremden Gäste zugegen gewesen war. Graf Hugo von Salem-Camphausen, ein stattlicher junger Cavalier, begleitet von seinem Freunde, einem Baron Wenzel von Terschka, wie Lucinde schon wußte, führte den Kronsyndikus die Stiegen des Hotels hinauf. Sie sprang in ihr früher schon innegehabtes Neben- und Schlafzimmer, merkte aber wohl, daß der Greis in der Gesellschaft fröhlicher Lebemenschen sein Leid vergessen und dem Weine zugesprochen hatte in altgewohnter Art. Dennoch blieb er still und verabschiedete sich von dem Grafen mit einem Tone, der seiner gedrückten Situation angemessen war.

Als die Cavaliere sich entfernt hatten und zu einigen Wagen voll Offizieren (unter ihnen ein Prinz von einer Seitenlinie des regierenden Hauses) zurückgekehrt waren, um, wie Lucinde später erfuhr, noch in die heute stattgefundene Eröffnung der Theatersaison zu fahren und dort die Kritik der neuen Truppe mit einigen Demonstrationen zu verbinden, die das aufgeführte Stück unterbrachen und einen Conflict mit der im Parterre befindlichen Studentenschaft herbeiführten, klopfte sie an und trat zum Kronsyndikus ein. Dieser saß bereits am geöffneten Schreibbureau. Er hatte ein Kästchen geöffnet, aus dem er Schmuckgegenstände hervorgenommen hatte ...

Wie er Geräusch hörte, sprang er auf und rief:

Wer da?

Es währte einige Augenblicke, bis sich der heftig erschrockene Mann in die Nähe Lucindens gefunden hatte.

Der Diener brachte noch einige Lichter mehr, da sich der Kronsyndikus beim Herauskommen, trotzdem, daß zwei schon brannten, über die große Dunkelheit beklagt hatte.

Lucinde erklärte den Grund ihrer Anwesenheit: Die Abreise ihres Wohlthäters in erster Morgenfrühe und ihr Bedürfniß, den Abschied noch bis dahin zu verschieben.

Auffallend langsam fand sich der Greis in dem, was sie sagte, zurecht und erwiderte wie abwesend:

Gut! Gut!

Jetzt winkte er dem Bedienten und sagte, daß er zu Bett gehen wollte.

Lucinden einfach zunickend, ging er ins Nebencabinet und drückte die Thür desselben zu.

Nach einer Weile kehrte der Diener zurück und flüsterte Lucinden zu, die mit Spannung gewartet hatte:

Es muß ihm was in die Quere gekommen sein ...

Wo aber? fragte sie ebenso leise.

Bei den Offizieren!

Diese wußten doch, daß er trauerte, und dennoch –

Lucinde wollte sagen, wie unrecht man gethan hätte, ihn in den Zustand zu bringen, wie sie ihn gefunden ...

Der Diener erzählte aber, daß die Offiziere im Gegentheil in größter Ruhe zu Tisch gesessen hätten, daß von dem Grafen Salem-Camphausen ein Glas ergriffen und gesagt worden wäre, sie wollten es leeren ohne anzuklingen und dabei eines unglücklichen Vaterherzens gedenken. Feierlich hätten da alle die Gläser ausgetrunken und sie niedergestellt wie »aufs Tempo«. Es hätte einen schauerlichen Eindruck gemacht. Da nun aber wäre der Kronsyndikus selbst gesprächig geworden und hätte, aus Dankbarkeit und wol auch Rührung über die Schonung, die Herren ermuntert, es nicht so ernst zu nehmen. Nun wäre die Rede auf Lucinden gekommen –

Auf mich? fragte sie erstaunt.

Der Diener konnte auf ihr Drängen, was man von ihr gesagt hätte, nichts erwidern; denn da er beim Aufwarten geholfen, hätte er sich gerade entfernen müssen.

Wie ich aber zurückkomme, fuhr er flüsternd fort, lachen sie alle, sprechen aber französisch und der Alte zieht aus der Tasche eine von den Kostbarkeiten, deren er Ihnen schon viele geschenkt hat ...

Warum aber das?

Er hat noch eine Menge für sie auf morgen zum Abschied ausgesucht! Da drinnen im Secretär!

Das wird er doch den Offizieren nicht gesagt haben?

Verstanden hab' ich blos, wie er das Armband – ein Armband war's – herumzeigte ... da sagten sie alle: Superb! Charmant! Nämlich auf französisch!

Aber warum nur zeigt' er's denn?

Ich meine gar ... und ganz gewiß ... sie stritten über Ihre ... Ihre Nase, Fräulein!

Dummer Schnack!

Mein Seel', wirklich! Ob die spanisch oder italienisch wäre ... oder ... Da sagte der eine, der den Grafen aus Wien mit hierher begleitet hat ...

Herr von Terschka ...

Der sagte, das Bild auf dem Armband – das nämlich auch ganz Ihre Nase haben sollte – wäre eine Italienerin, die er kenne ... aus Rom ... und genannt hat er sie auch ... Jetzt fiel der Graf ein und sagte auf deutsch: Ja, Terschka, das ist ja halt die leibhaftige ... Nun nannte der wieder einen Namen ... aber einen deutschen, den ich nicht behalten konnte ... aber eine Kunstreiterin war's ... das schönste Mädchen in Wien ... und während nun wieder die Offiziere zwar in Lachen ausbrechen wollten, aber sich zurückhielten und doch nicht zu lebendig werden wollten ... wegen der Trauer ... hielt sich der Alte gerade am wenigsten, redete allerlei durcheinander, schenkte die Gläser rings um sich her voll, schnackte vom Hundertsten ins Tausendste, und wenn er nun die Nacht nicht ordentlich schlafen kann, so ist's seine eigene Schuld. Um vier Uhr soll ich ihn wecken.

Der Diener ging.

Lucinde schüttelte den Kopf, dachte aber bald nur noch an das schöne Armband, an den Streit der Offiziere, ging ins Nebenzimmer, sah sich beim Entkleiden im Spiegel, forschte nach der Nationalität ihrer Nase und ging zu Bett.

Kaum mochte sie, müde vom Warten, eine Stunde geschlafen haben, als sie erwachte. Der Mond schien hell ins Zimmer, sie hatte vergessen die Laden zu schließen ... Der Wächter rief die elfte Stunde ... einige vereinzelte Rufe und Liederintonationen kamen von den vom Wirthshaus heimkehrenden Studenten, in deren Leben sie sich durch Jérôme's und Klingsohr's Erzählungen schon längst zu versetzen gewußt hatte. Der Theaterlärm hatte die Köpfe vollends erhitzt ...

Wie es dann wieder still wurde und sie eben im Begriff war, auch wieder einzuschlafen, hörte sie im Nebenzimmer Geräusch.

Ein harter Gegenstand fiel nieder und rollte auf dem Fußboden hin.

Sie erhob sich ...

Jetzt hörte sie Schritte und laut reden ...

Sie sprang auf ... sie hatte vergessen, die Verbindungsthür zuzuriegeln ...

Es war aber der Kronsyndikus selbst, der ohne Zweifel mit seinem Bedienten sprach, den er durch eine Klingel wecken und vom Corridor zu sich herüberrufen konnte.

Als sie aber die Riegel leise zugeschoben hatte, hörte sie, daß der Kronsyndikus allein sein mußte. Er ächzte und stöhnte und sprach mit sich selbst ...

Jetzt durfte sie annehmen, daß ihm etwas zugestoßen war ...

Rasch warf sie sich einen Rock über, hielt einen großen rothen Shawl in Bereitschaft und trat wieder an die Thür ...

Der Greis war allein und, wie sie hörte, in großer Aufregung ...

Sie unterschied Worte, die er sprach ...

Jetzt war es ihr, als wenn er um Hülfe rief ...

Nun hielt sie sich nicht länger, sondern drückte die Thür auf und trat, so wie sie war, vom Shawl verhüllt, in ihrem von einem Häubchen zusammengehaltenen Haar, im weißen Unterkleide ein.

Wie entsetzte sie sich aber, als der Kronsyndikus mit einem Stockdegen in der Hand aufrecht im Zimmer stand, bei ihrem Anblick auslegte und sie mit aufgerissenen Augen anstarrend anfuhr:

Gespenst! Zurück! Was sagst du, daß du mein Weib bist! Römische Schlange! Ich –

Lucinde stieß einen Schrei aus, denn mit dem gezückten Degen kam der Fieberkranke, Halbnackte dicht auf sie zu. Den Irrthum seiner Phantasie erkennend, ließ er in demselben Augenblicke den Degen fallen. Dieser klirrte auf ein Glas nieder, das vom Nachttisch des Nebenzimmers gefallen sein mußte, seines starken Bodens wegen aber nicht zerbrochen, sondern bis in das Wohnzimmer gerollt war, als dessen Thür von dem Aufgeregten geöffnet wurde.

Lucinde, sagte der Greis, sie erkennend und seiner Erscheinung in einem Nachtkamisol und mit nackten Füßen nicht achtend, Lucinde, komm her! Steh mir bei, ich sehe nichts als Blut – ich habe mich verwundet –

Nein, Nein! beruhigte ihn Lucinde, die sich im Mondenschein leicht orientiren konnte und einer Nacht gedachte, wo sie ebenso ihren Vater einmal, als er spät aus dem »Vorspann« gekommen war, zur Ruhe bringen half, während alle Geschwister um den Wahnsinnigscheinenden herumstanden und schrieen ... Sie achtete seines Aufzugs nicht.

Der Fieberkranke ließ sich nicht bedeuten und sagte:

Doch, Kind! Sieh doch nur! Da! Und nun huschen diese Kerle alle um mich herum und stehen mir nicht bei! Hunde, was schnuppert ihr denn nur an meinen Beinen! Jesus Marie, laßt doch die Menschen aus der Stube! Lisabeth, was soll denn der Mönch da in der Kutte? ... Fort mit dem Buschbeck! Sind Sie des Teufels, Herr! Und schießen ihre giftigen Pfeile auf mich ab, Mensch? Halt! Halt! Fort, brauner Teufel! – Hier, – ha, was liegt denn da im Wege? Worüber fall' ich denn ewig? Wieder der Dicke? Jesus! Bringt ihn mir doch fort! Was liegt denn der Dicke mir ewig im Weg und läßt so die Menschen über sich fallen!

Lucinde that das Möglichste, den mit herzzerreißendem Jammer Phantasirenden zu beruhigen ...

Zu wild aber jagten die Bilder vergangener Tage an dem Verzagten vorüber. Kaum hatte er Lucinden erkannt, war sie ihm doch schon wieder eine andere und vorzugsweise jene Schreckgestalt, die er erst zu sehen geglaubt hatte. Den rothen Shawl nannte er einen Königsmantel, die Haube die Krone der Semiramis – Mitten in seine Angstrufe mischten sich italienische Laute, die Lucinde nicht verstand ... Auch die Kunstreiterin schien vor seiner Phantasie auf- und abzugaukeln.

Endlich hatte Lucinde den Klingelzug erreicht und zog diesen aufs heftigste ...

Vor dem Ton fuhr der Greis zurück. Es mußte ihm sein, als hätte ihm mit diesem schrillen Laut jemand einen Schlag gegeben, so taumelte er und blieb eine Weile starr. Die Besinnung kehrte wieder. Lucinde klingelte zum zweiten mal. Er sah um sich, verglich den Ort, wo er war, sah rückwärts auf sein dunkles Cabinet, und wie Lucinde unerschrocken zum dritten mal geklingelt hatte, winkte er ihr zu mit vollkommenem Bewußtsein, sie sollte das nur lassen und jetzt gehen.

Da sie zögerte, schüttelte er den Kopf, besah seinen Aufzug und sprach wiederholt und aufs bestimmteste:

Geh, geh, Kind! Ich habe schwer geträumt ... Das Mahl mit den Herren ... ich hätte nicht dabei sein sollen ... geh, geh!

Indem hörte man schon eilende Schritte auf dem Corridor, schon das Einsetzen des Schlüssels, den der Diener, um früh den Herrn wecken zu können, mit sich genommen hatte.

Als der Diener eintrat, fand er seinen Herrn schon allein und bekam in ruhiger, wie Lucinde noch zitternd und bebenden Herzens belauschte, klar zusammenhängender Rede die Erklärung, daß er sich unwohl gefühlt und selbst geklingelt hätte, jetzt war' es vorüber. Der Diener machte Licht, deutete auf die Splitter des Glases, auf den Degen. Es war gefährlich, den Kronsyndikus noch länger so im Zimmer in bloßen Füßen zu lassen; er ging zu Bett, nachdem er dem Diener die Weisung gegeben, die Verbindungsthür des Cabinets anzulehnen und nebenan im Wohnzimmer auf dem Sopha zu schlafen.

Jetzt erst verriegelte Lucinde.

Sie hörte Zurüstungen, wie sich der Diener einiges Bettzeug holte und auf dem Sopha Platz nahm. Gepreßten Herzens ging sie auf ihr Lager zurück, wo sie bei ihrer Jugend und noch von der Reise nachhaltenden Ermüdung bald wieder in den Armen des Schlafes lag.

Um vier Uhr weckte man sie. Schon war der Kronsyndikus nebenan hörbar.

Als sie sich angekleidet hatte, hörte sie schon das Blasen des Postillons.

In aller Freundlichkeit klopfte ihr Wohlthäter an die Thür und steckte den Kopf herein ...

Lucinde fand ihn vollkommen beruhigt und zur Abreise gerüstet ...

Des nächtlichen Vorfalls wurde keine Erwähnung gethan.

Noch übergab ihr der Abreisende Geld, wirklich auch einige Schmucksachen und ermahnte sie, den »nun bald eintreffenden Doctor« so zu empfangen, wie sie es ihm, versprochen hätte.

Mit einem Kuß auf ihre Stirn, einem langen Blick auf ihre ganze Erscheinung, als wollte er sagen: Seh' ich dich wieder? Und was wird wol aus dir alles noch werden? ging er ...

Sie folgte bis in den Corridor und wollte weiter; an der Treppe aber hielt er sie schweigend zurück ...

Unter den Kleinodien, die kostbar, aber wiederum von alter Facon waren, befand sich keines, auf welches die Erzählung des Bedienten gepaßt hätte.

Er wird es zurückbehalten haben ... das Bild seiner – zweiten Frau! sagte sie sich, legte einige der Brochen und Armbänder an, nahm sie dann wieder ab und ging noch einmal zu Bett.

Sie schlief bis gegen neun Uhr. Dann begab sie sich in ihre neue Wohnung.

19.

Haß und Bewunderung, Fluch und Segen setzte sich auch auf dem neuen Schauplatz seines Lebens an die Fersen eines Mädchens, das durch stetes Verpflanzen aus einer Lebenssituation in die andere eine seltene geistige Kraft gewinnt.

Jetzt achtzehnjährig, entwickelte sich Lucinde nicht mehr in ihrer Aeußerlichkeit. Im Gegentheil nahmen die sanften und runden Formen, die dem halben Kinde schön gestanden hatten, einen scharfen Charakter an. Schultern und Hüften gewannen eine hervorspringende Bestimmtheit; ja, sie fing an zu magern, wodurch das Feuer ihrer Augen um so brennender wurde.

Die ganze Stadt war mit ihrem Erscheinen beschäftigt. Man definirte ihren Reiz nicht, man nahm ihn als den einer aparten Natur hin. In den Offizierskreisen sagte man: Sie hat Rasse! Das deutsche Pferde-Arabien, Mecklenburg, lag nahe genug und entschuldigte einen Ausdruck, der vom Stalle kam. Für eine Spanierin besaß sie zu wenig Schwärmerei im Aufblick der Augen. Für eine Italienerin hatte sie das Phlegma und die äußere Kälte nicht. Einer Griechin entsprachen, wie es bei den Frauen allgemein hieß, die falschen Augen. Ein Wort wurde eine Zeit lang entscheidend. Ein dänischer Offizier, Dichter und Freund jenes Prinzen, hatte sie eine künftige Sibylle genannt. Ihre Feindinnen machten sogleich eine Hexe, Indifferente, eine Zigeunerin daraus. Sie trug sich in grellen Farben, liebte schwere Stoffe, bunten Schmuck. Bald zeigte sie sich zu Wagen, bald zu Roß. Als Amazone durch die Alleen des Schloßgartens hinsprengend, begleitet von den Männern, die sich um eine weibliche Erscheinung, die sich fühlt und zu geben weiß, von selbst finden, ohne gesucht zu werden, machte sie einen Eindruck der fesselndsten Art. Ein runder Herrenhut saß ihr tief im Nacken. Ein langes silbergraues Tuchkleid hing fast bis zu den Hufen des Rosses herab.

Endlich kam Klingsohr.

Daß er bald nach dem Wiedersehen innerhalb der Festung in Verzweiflung gerieth, läßt sich denken bei einem solchen Genuß ihrer Freiheit, wie ihn Lucinde sich gestattete. Die Eifersucht verzehrte ihn. Obgleich auf die Festung beschränkt, hatte er die volle Freiheit bekommen, Besuche zu empfangen. Auch stellte sich Lucinde anfangs fast täglich bei ihm ein, wandelte mit ihm auf dem Glacis Arm in Arm, bald aber verdroß sie die Beobachtung und der auf den Mienen der Offiziere sichtbare Spott.

Als Klingsohr nach einigen Wochen schon die Erlaubniß bekommen hatte, einige Stunden des Tags auf Ehrenwort in der Stadt zu verweilen, gab es, wenn er in ihrer Wohnung vergebens auf sie wartete, bald die aufgeregtesten Scenen. Mußte er mit dem Glockenschlag Neun seine Rückwanderung antreten und sie war von irgendeiner Zerstreuung noch nicht wieder da, wie ergrimmte er in Zorn und Verzweiflung! Jener Prinz war es vorzugsweise, der Lucinden mit Leidenschaft auszuzeichnen angefangen hatte. Sie ließ sich seine Huldigung wie die der andern gefallen. Aus dem angenommenen System, keinem zu gehören, trat sie um so weniger heraus, als sie den Ruf des Hauses, in dem sie wohnte, zu schonen, die bereits begonnene Empfindlichkeit ihrer nächsten Beschützer zu versöhnen hatte.

Klingsohr wollte sie in Anfällen seiner Eifersucht oft einschließen, wie nach seinem Ausdruck jener Ritter seiner Melusine that. Er nannte sie in wüthenden Zornausbrüchen ein Weib ohne menschliches Blut, ein Halbgeschöpf von Feuer und von Wasser, eine Fischnatur; er hätte sie täglich in einen Kasten schließen mögen, dessen Schlüssel er zurückbehielt und mit sich in die Festung nahm. Die Verzweiflung, sich nach allen Seiten hin gebunden zu fühlen, trieb ihn, wenn sie im Theater war, wo er nicht erscheinen sollte, wieder zu der alten akademischen Lebensweise zurück. Wieder gab es auch hier, in der Stadt und in der Festung, Bewunderer, die seinen Orakelsprüchen lauschten. Wieder schrieb er zwanzig Bücher zu gleicher Zeit. Wieder hatte er Systeme erfunden, die noch um einige Jahre zu früh gekommen wären, wenn er sie jetzt schon hätte veröffentlichen wollen. Ost mußte ihn die Ronde aus der Festung noch in der Stadt aufsuchen und fand ihn schon wieder da, wo die Staaten beim Klopfen der zinnernen Deckel erschüttert werden. Wie haßte sie ihn, wenn sie davon erfuhr oder er selbst noch kam, sie in den Folgen solcher Geselligkeit zu grüßen! Gab sie ihre Fischnatur vollkommen zu, so war es, weil sie sagen konnte: Ich mache mich anheischig, vierzehn Tage lang nur von Wasser zu leben!

Der Winter brachte Gesellschaften, Bälle ...

Allgemein erzählte man sich von einer Geschichte, die anfangs nur zu lachen gab ...

Lucinde hatte jenen Prinzen so sicher gemacht, daß sie ihm sogar die Zusage zu einem von ihm aufs dringendste erbetenen Stelldichein gab. Der Prinz bewohnte eine Villa, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Briefe, mündliche Botschaften, Vermittelungen von Beauftragten sollten an einem bestimmten Abend an dem Thor, das nach Bellevue, von dort nach der Villa des Prinzen führte, einen Wagen harren lassen, welchem eine Verschleierte zur bestimmten Stunde sich nähern würde. Der Wagen würde dann dem in der Villa harrenden Prinzen die so dringend und heiß ersehnte Eroberung zuführen ... Schon seit einigen Wochen hatte dieser Kampf gegenseitiger Bitten und Ablehnungen gedauert. Lucinde, die keine Uebereilung der Sinne kannte, legte eine Intrigue an, die ihrer Lust an Spuk und Schadenfreude entsprach. Eine große Vorliebe, die sie für das nicht ganz schlechte Theater der Stadt gefaßt, hatte sie mit einigen Mitgliedern desselben bekannt gemacht. Unter dem weiblichen Personal befand sich eine Sängerin für jugendliche Partieen, eine Erscheinung vom allerkleinsten Wuchse, aber um so größerer Gefallsucht. Sie hieß Henriette und wurde von den Studenten spottweise in Beziehung auf die berühmte Henriette Sontag Henriette Montag genannt. Dieser theilte sie unter veränderter Adresse schon lange jene Briefe des Prinzen mit, die an sie selbst gerichtet waren. Am Schluß schrieb sie regelmäßig mit nachgeahmter Handschrift einen Ort, an welchem der Prinz seine Antworten zu erhalten wünschte. Wie vorauszusehen war, kamen die geschmeicheltsten von der Welt. Diese stellte sie wieder dem Prinzen als die ihrigen zu. So gingen diese Briefe hin und her. Immer näher durfte der Prinz sich seinem Ziele gekommen glauben, und so war der Briefwechsel zwischen ihm und Lucinden eines Tages so weit, daß jenes Rendezvous vorzuschlagen gewagt wurde. Auch dieser Brief ging an die Sängerin ... Um die siebente Abendstunde stieg eines Tages an dem genannten Thore eine verschleierte Dame in den bewußten dort harrenden Wagen und fuhr ohne Zweifel einem demüthigenden Schicksal entgegen zur Villa.

»Demüthigend« hatte Lucinde gedacht ...

Was erlebte sie aber?

Der gespielte Streich kam zwar zur allgemeinen und belustigenden Kunde; der Prinz jedoch, dem Spott sich entziehend, verschwand auf einige Zeit, nahm auch zuletzt seinen Abschied, ließ aber auch die kleine Henriette Montag von der Bühne zurücktreten, kaufte ihr in entlegener Gegend des Landes eine Besitzung, verschaffte ihr einen adeligen Namen und heirathete sie zuletzt in der legitimsten Form.

Der Eindruck, den Lucinden diese unerwartete und schnell aufeinander folgende Wendung machte, war außerordentlich genug. Er steigerte sich bis zum offenbaren Verdruß. Der Neid, der sie erfüllte, legte sich mit der Zeit. Sie verweilte weit länger bei der Ueberlegung, worin das Fesselnde hier hatte liegen können, in welchem weiblichen Reize, in welcher Kunst des Gefallens, in welcher Macht, die Frauen auf Männer, allerdings hier von nur wenig Geist, auszuüben im Stande sind? Dann aber wurde denn doch das allgemeine Aufsehen, das dieser Vorfall nach sich zog, und das ungünstige Licht, in dem sie dabei schon durch die gespielte Intrigue selbst erschien, Veranlassung zu Mismuth jeder Art. Sie erhielt den längern Aufenthalt in der achtbaren Familie, die sie aufgenommen hatte, gekündigt. Sie konnte froh sein, daß wenigstens Klingsohr über den Scherz mit dem Prinzen lachte. Ihm that der Vorfall als Beweis ihrer »Treue« wohl.

Klingsohr's Haft, die in der That auf Gnadenwege bis zu einem Jahre gekürzt wurde, nahete sich ihrem Ende – aber auch in Lucindens Leben trat eine entscheidende Krisis ein.

Gefahrvoll ist es einer geradezu auf die Wollin zugehenden Lebensbahn, wenn sie in den Motiven ihrer Handlungen einmal wechselt. Wer immer mit dem Verstande vorauswühlt, wohin er mit Hand und Fuß zur That nachschreiten soll, der verschüttet sich den Weg, wenn er plötzlich den Einfall bekommt, nicht dem Verstande, sondern dem Herzen folgen zu wollen. Eins darf man nur festhalten, entweder den Ruhm oder die Ueberzeugung. Alles zugleich erstreben, verdirbt eins das andere. Wer den Ruhm will, soll – die Weltphilosophie lehrt es – das Gewissen nicht hören; wer das Glück will, muß auf die Ueberzeugung verzichten. So ist das Dasein. Die Menschen, die wie auf den Rennbahnen des Alterthums mit vier Rossen zu gleicher Zeit dahinsprengen können, von denen eins die Begeisterung, das andere die Mäßigung, das dritte die Tapferkeit, das vierte die Tugend ist, und die, so verschiedenartig auch die Rosse anziehen, doch zu einem großen Ziele kommen, gibt es nicht, außer sie wurden auf Thronen geboren. Geborene Herrscher können alle Kränze des edelsten Strebens zu gleicher Zeit gewinnen. Wie beklagenswerth, wenn sie den großen Vorsprung, den ihnen die Ordnung der Dinge für das Große, Gute und Ideale zu gleicher Zeit gelassen, nicht zu benutzen wissen und sie entweder nur beim Beschränkten stehen bleiben oder beim Gewaltthätigen! ... Die Vortheile aber einer Lebensstellung, die Lucinden schon bis zur Gattin eines Prinzen erheben konnte, verlor sie, als sie einmal statt aus dem Verstande – aus dem Herzen handelte.

In jener Schauspielertruppe, der die zur Gemahlin eines Prinzen erhobene »Zwergin« angehörte, zeichnete sich eine nicht mehr junge Schauspielerin aus, die sich Madame Serlo nannte, obgleich sie, wie man sagte, mit dem Helden und Liebhaber der Truppe dieses Namens nicht verheirathet war.

Madame Serlo war groß, von majestätischer, fast zu imposanter Haltung; denn nicht jede Rolle stand ihr und für die majestätischen fehlte ihr doch wieder die Größe der Empfindung, der Phantasie, des Schwunges. So blieben ihr nur die kalten Salondamen, in denen sie theilweise wirklich bewundert wurde ... Und in der That hatte das ehemalige Fräulein Leonhardi oder Madame Serlo eine Art, im Lustspiel mit einfachen Mitteln Wirkungen hervorzubringen, die ihr das Ansehen einer Künstlerin gaben. Mit zwei oder drei Rollen des Conversationsstücks blendete sie alles und manches große Hoftheater war schon in die Falle gegangen und hatte diese unübertreffliche Frau von Waldhüll im »Letzten Mittel«, diese Baronin von Wiburg in »Stille Wasser sind tief« engagirt, bis sich nach der vierten oder fünften Rolle die gänzliche Unbrauchbarkeit einer Semiramis ohne Leidenschaft herausstellte. Zu ihrer Figur paßte schon ein zu kleiner Kopf nicht. Die etwas stumpfe Nase, das gespaltene Kinn, die blauen Augen, alles war ausdruckslos. Bei alledem machte das Ensemble ihrer Erscheinung sich noch immer im Salonstück interessant und war für jeden eine Weile in dieser Sphäre einnehmend. Man rühmte überall ihre Formen, man verglich sie mit den Gestalten, die Tizian als Venus malte. Ihr Haar war blond, ihre Haut hatte eine Incarnation, auf die der Ausdruck Mischung von Milch und Blut im vollkommenen Sinne paßte.

Gezwungen, niederzusteigen in die Sphäre, wo man sich kalt und empfindungslos dargestellt auch eine Jungfrau von Orleans, eine Julia, eine Luise Millerin gefallen lassen muß, wenn nur die Gestalt genügt und Costüme sowol wie eine gewisse Tournure die andern Mängel vergessen lassen, hatte Madame Serlo einen jungen Mann mit sich in ihre Sphäre hinuntergezogen, der einen kurzen Augenblick zu glänzenden Hoffnungen berechtigt schien.

Serlo war aus einer der ehemaligen geistlichen Residenzstädte Deutschlands gebürtig und zum Priester bestimmt gewesen. Aus dem Seminar war er kurz vor der letzten Vorbereitung zum Empfang der Weihen entflohen und hatte theils aus Abneigung gegen den Stand überhaupt, für welchen ihn seine armen Aeltern bestimmt hatten, theils aus Unvermögen, irgendwie einen andern Beruf zu wählen, der ihn erhielt, theils endlich aus wirklicher Neigung die Laufbahn der Bühne eingeschlagen.

Serlo's Wege waren anfangs die allerdornenvollsten. Nur um ein Mittagbrot zu gewinnen, schloß er sich reisenden Gesellschaften an, die in Scheunen Vorstellungen gaben; selbst bei Gauklern und Taschenspielern leistete er auf Tage und Wochen Beihülfe, nur um nicht zu verhungern. Von Hause mit dem väterlichen Fluch und mit Steckbriefen verfolgt, mußte er schon deshalb bald in dieses, bald in jenes Verhältniß treten, nur um den Verfolgern seine Fährte abzuschneiden. Mit der Zeit milderte sich dann der Haß der Seinigen, die Vexation der Behörden. Er fand einige Gesellschaften, die in etwas anständigern Formen auf Rechnung der »dramatischen Kunst« das Leben ihrer Mitglieder fristeten.

Serlo's schöne Mittel gewannen ihm allmählich ein Vertrauen, das er freilich durch sein Talent noch nicht rechtfertigte. Er war schlank gebaut, hatte dunkle, feurige Augen, schwarzes Haar, eine frische Farbe, die sich nur leider bald, auch infolge der Entbehrungen und Anstrengungen, als trügerisch erwies und der lachende Widerschein einer kranken Brust war. Schon in diesen ersten Anfängen seiner Laufbahn geschah es ihm zweimal, daß er auf der hessischen Bergstraße, ein andermal in der Gegend zwischen dem badischen Freiburg und Basel – wo wandern nicht diese armen Heloten der dramatischen Muse! – von einem Blutsturz befallen wurde und hülflos und verlassen in kleinen Städtchen liegen bleiben mußte. Die vornehmste Bühne, auf der er, leidlich genesen, im Fache der Liebhaber zum ersten mal wieder auftreten konnte, war St.-Gallen gewesen.

Serlo spielte in St.-Gallen den Mortimer. Er erlebte dabei, daß selbst eine so kleine Stadt wie diese schweizerische ihn auslachte. In Lindau am Bodensee ging es ihm nicht besser. In den kleinsten Städten werden jetzt schon Recensionen und nach auswärts Correspondenzen geschrieben. Um diese seine beiden Niederlagen zu decken, wählte er statt seines eigentlichen Namens Firmian Neumeister den Namen Serlo und gerade Serlo mit Bewußtsein aus Göthe's Wilhelm Meister. Gebildet durch Schulunterricht und die Vorbereitungen zum Priesterstande, hatte er vorzugsweise die beiden male, wo nach seinen Blutstürzen Schonung ihm anempfohlen wurde und die Pflege guter Menschen ihm eine Zeit lang Muße gewährte, sein Wissen zu erweitern und zu vervollkommnen gesucht. Er ragte durch seine geistige Bedeutung unter seinen Standesgenossen bei weitem hervor und konnte sich endlich mit dem Namen Serlo in Passau, Regensburg, ja selbst mit der Zeit in Nürnberg behaupten.

Hatte Serlo einen Erfolg errungen, so warf ihn leider immer wieder sein körperliches Befinden zurück, nahm ihm feste Stellungen, zwang ihn, monatelang zu pausiren und in den Bädern wieder Erholung und Stärkung zu suchen. Seine Gemüthsstimmung erfüllte sich dabei mit großer Bitterkeit. Er konnte dieser Bitterkeit einen geistigen Ausdruck geben. Er sah überall die Erfolge der Talentlosigkeit, der Intrigue, des schlechten Geschmacks. Er, mit ungleich größern Ansprüchen auf die Gunst der Musen, mußte zurückstehen. Schon war ihm geschehen, daß er an irgendeinem glücklichen Abend irgendeinem durchreisenden Kunstkenner in kleinen Städten aufgefallen war und einen Ruf nach einem großen Hoftheater bekommen hatte; kaum dort angelangt, überfiel ihn eine Heiserkeit, die ihm entweder das Auftreten ganz untersagte oder ihn, wenn er spielen konnte, außer Benutzung seiner Mittel setzte. Und doch hatte sich darauf etwa fünf Jahre lang seine Lage ziemlich günstig gestaltet. Er bekleidete erste Fächer an großen Stadttheatern und hatte Erfolge, Erfolge sowol auf der Bühne wie in der Gesellschaft. Es umgab ihn ein eigener Reiz des Geheimnißvollen, den seine liebenswürdige und angenehme Persönlichkeit unterstützte. Serlo gehörte keineswegs zu denen, die sich der bösen Welt gegenüber unbewaffnet betreffen ließen. Das Unglück hatte ihn längst mehr scharf als schartig gemacht und im Glück gab er seine Weise keineswegs auf und verwundete wol auch zuerst, da ihm Urtheil und Ueberzeugungseifer nicht fehlten. Die Macht, die er überall durch Intrigue erstrebt und wirklich auch durch sie erobert sah, reizte ihn sogar, auch seinerseits nicht die Hände in den Schoos zu legen oder unter Gaunern, wie er zu sagen pflegte, der einzige ehrliche Mann zu bleiben. Serlo schien sogar vielen gefährlich; er rührte sich nach Kräften, zerriß hier eine Fessel, um dort eine andere zu vortheilhafterm Dienst sich anzulegen, stieß fort, was ihm im Wege stand, und unterdrückte mit Gewalt Gemüth und Reue, zwei Begriffe, die für diese »elende und erbärmliche Welt« nicht paßten und »die Krähen da einließen, wo die Adler wohnen sollten«, wie er oft mit Shakspeare sprach. Geist, Bildung, Intrigue, Talent und ein bei alledem nicht zu verwindender gemüthlicher Zug gaben in Serlo eine Erscheinung, die zum Höchsten berufen schien, wenn nur die Natur und das Glück gewollt hätten.

Die Natur hatte Firmian Neumeister, genannt Serlo, zu einem frühen Tode bestimmt. Er war glück lich zu einem der ersten Hoftheater emporgeklommen, hatte sich drei Jahre behauptet, begehrte einen Contract, der ihn nach fernern fünf Jahren hätte pensionsfähig machen müssen; man wollte ihm nur einen kürzern geben, der diese Pensionsfähigkeit ausschloß. Bei dem Streite, der darüber entstand, vergaß sich Serlo in den Formen, in denen sein Chef sich behandelt zu sehen berechtigt war. Serlo erhielt seine augenblickliche Entlassung. Damals traf er in gleicher Stimmung jenes Fräulein Leonhardi. Man hatte an demselben Hoftheater geglaubt, nach einer von ihr gespielten Donna Diana in ihr eine der ersten Künstlerinnen zu gewinnen, und fand bald, daß sie eine Rolle wie die andere gab, die Lady Macbeth von demselben zuckersüßen Lächeln begleitet, wie sie Bauernfeld'sche junge Witwen spielte. So verließen beide zu gleicher Zeit dieselbe Stadt mit denselben Empfindungen, den Empfindungen der Bitterkeit, und auch mit demselben Uebermuth, der die Verzweiflung wegzulügen sucht. Serlo sprach später oft von dieser Verbindung mit Lionel's Worten: »Glück zu dem Frieden, den die Furie stiftet!«

Nach einem halben Jahre, wo beide zusammen Gastrollen gaben, mußte Serlo schon für seine Begleiterin sorgen, als wäre sie seine Gattin. War sie dies oder war sie es nicht, sie konnte kein Engagement annehmen. Serlo mußte sie und ein erwartetes Kind er nähren.

So nahm er die erste beste Stellung, die nur etwas Brot gab. Er nahm sie in einer Form, die sich später nur zu oft wiederholte ... Es ging zum Herbst. Die Entbehrungen, die von einem Gastspielreisen ohne Ruf und Resultat unzertrennlich sind, hatten ihn aufs Krankenlager geworfen. In einer Mittelstadt Norddeutschlands, wo Fräulein Leonhardi noch Verehrer von sonst besaß, traf sie, ihren Zustand möglichst verbergend, bei einem derselben mit einem durchreisenden Director einer Bühne zusammen, der einen Liebhaber zu engagiren wünschte. In einem Augenblick, wo der Director nach irgendeinem Gegenstand auf der Straße zu sehen ans Fenster trat, besaß sie die Geistesgegenwart, dem alten Freunde rasch zuzuflüstern: Schicken Sie in unser Hotel! Serlo soll sich ankleiden! ... Wie? fragte der Director und wandte sich. Sie sprachen ja eben von Serlo? Ist Serlo hier? ... Im Goldenen Adler! hieß es ... Schade, daß er kränkelt! antwortete der Director ... Kränkelt? erwiderte die Leonhardi. Serlo ist so gesund wie ein Fisch! ... Ich möchte ihn wol sprechen; ich könnte ihn brauchen ... ließ überlegend der Director fallen. Der alte Verehrer des Fräuleins, ein wohlhabender Theaterliebhaber, der sich darin gefiel, im Orte die seltensten Weine zu haben, hielt ihn zurück: Nein, nein, nein! Sie bleiben! Ein Glas Tokayer! Der Director schützte Eile vor, blieb jedoch, um wenigstens auf baldiges Wiedersehen anzustoßen. Damit fand der Kunstfreund einen Moment, hinauszuspringen und seinem Bedienten zu sagen: Lauf in den Goldenen Adler! Herr Serlo soll sich ins Zeug werfen, ein Director kommt ihn zu engagiren! Nachdem bietet er der Künstlerin und dem Director ein improvisirtes Frühstück. Dem Director, der fürchtete, mit Fräulein Leonhardi, die er schon einmal sechs Wochen im Engagement gehabt, auf neue Erörterungen zu stoßen, ergab sich bald, wie Serlo zu Fräulein Leonhardi stand. »Madame Serlo? Ei der Tausend!« – »Ja Madame Serlo! Doch nimmt mein Mann auch Engagement allein an.« Eine halbe Stunde verfließt. Zuletzt begleitet der Director Madame Serlo in den Goldenen Adler. Dort, wo noch eben im abgetragenen Schlafrock, mit einem großen wollenen Tuch um den leidenden Hals, ein armer Kranker, leichenblaß, auf dem Bett gelegen hatte; dort, wo alles ringsum in der größten Unordnung gewesen war, wo Arzneigläser am kühlenden Fenster standen, Wäsche am Ofen hing, um erwärmt zu werden; dort, wo ein hinfälliger Kranker, einem Greise ähnlich, das dunstige Zimmer mit Seufzern und Verwünschungen über sein Geschick erfüllt hatte, hatte nach der Meldung des Dieners im Nu eine Verwandlung stattgefunden. Die Gläser waren entfernt, das Bett durch einen Schirm verdeckt worden, die Wäsche hinweggenommen, die größte Ordnung herrschte. Der Kranke, der Lebensüberdrüssige, Hinfällige, Hustende stand in dem einzigen Frack, den er besaß, mit eng anschließenden Beinkleidern, gefirnißten Stiefeln, weißer Weste, über welche eine Lorgnette niederhing, buntem, lose umgeschlungenen Halstuche, eben den Hut aufsetzend, eben helle Handschuhe anziehend, eben noch die Cigarre im Munde, um sie rasch gleichsam auszurauchen, ein Liedchen trällernd und die Thür öffnend. Wohl hatte er das Gefühl, als wenn ihm die Füße versagten, die Hände flogen noch vor Fieberfrost, die Lippen zuckten, der ganze Körper zitterte ... dann aber hört er kommen, jetzt eine Arie geträllert, laut eine Tirade gesprochen und nun: Was zum Henker, Sie Herr Director? Was führt Sie in dies verdammte Nest, wo ich einen alten Freund besuchen mußte? Bravaden folgten auf seine Kraft, Bravaden über den langweiligen Aufenthalt, die baldige Abreise ... man plaudert, man scherzt, man bietet Cigarren ... Der Director engagirt den unverwüstlichen, interessanten Serlo für die Wintersaison. Die Contracte waren, wie gewöhnlich, gleich zur Hand in der Rocktasche; noch einige Debatten über die Gage, dann Unterschrift ... Beim Scheiden sagte der Director scherzend, mit einem feinen Blick auf Madame Serlo: Serlo! Serlo! Die grauen Härchen an den Schläfen! Schonung! Schonung! ... Diese grauen Härchen hatte der Leidende in der Eile zu färben vergessen. Madame Serlo versprach zu sorgen, daß die Härchen nicht um sich griffen. Das Uebrige ist Ihre Sache! sagte sie mit der Süßigkeit jenes Conversationstons, mit dem sie ihre Eroberungen machte. Als der Director fort ist, sinkt Serlo, der eine Stunde lang mit der äußersten Anstrengung die Rolle eines Gesunden und Frohgemuthen durchgeführt, ohnmächtig zusammen. Die Gefährtin seines Lebens sprach den ganzen Tag nur – von dem Glück, solche Freunde zu besitzen wie sie in jenem Kunstfreund! Es war, sagte Serlo, als er diese Scene eines Abends, als seine Gattin spielte, Lucinden erzählte, nicht das erste mal, daß ich gut gespielt hatte und – ohne Beifall blieb.

In eine Verbindung mit diesen Schauspielern trat Lucinde durch Zufall.

Voller Unmuth über die ihr gewordene Kündigung hatte sie eine Wohnung gesucht. Sie erhielt das Anerbieten derjenigen, die Serlo verlassen wollte; die Saison war zu Ende, mit ihr das Engagement.

Es machte ihr damals einen wunderlichen Eindruck, die Menschen, die sie in dem von ihr immer heiß geliebten Theater nur im bunten Flitter, geschminkt und in wallenden Locken gesehen hatte, hier unter lärmenden Kindern, trotz artiger Formen verdrießlich und aller Hülfsmittel zu täuschen entkleidet, wiederzufinden.

Die stadtkundige Geschichte des Prinzen und der Soubrette hatte eine Anknüpfung nähern Gesprächs gegeben. Serlo sagte, daß sich daraus ein Lustspiel machen ließe und Madame Serlo vertheilte schon die Rollen. Lucinde hörte. Der Einblick in diese neue und, wie sie sogleich sah, leidenschaftlich bewegte Welt reizte sie. Sie miethete zwar die Wohnung nicht, kam aber wieder und machte sich, wie dies in ihrer Art war, mit den Kindern zu schaffen. Diese waren hübsch und von viel aufgeregterer Natur, als Kinder in solchem Alter zu sein Pflegen. Sie waren selbst schon Schauspieler.

Auch Klingsohr hatte anfangs Gefallen an dieser Bekanntschaft, die ihm Lucinde mittheilte und in die sie ihn einführte. Ihm hatte diese Sphäre ganz bewußt und in poetischer Wahrheit den Reiz, der im Wilhelm Meister nur zu künstlich um sie gebreitet ist. Lucinde fühlte sich tastend, doch desto verhängnißvoller hinein. Bedrängt und verurtheilt von der öffentlichen Meinung, hatte sie bei Madame Serlo ein Asyl gefunden, wo sie sich aussprechen und in ihrer Art ganz gehen lassen konnte. Ihr Scharfsinn entdeckte bald den geheimen Schaden dieser unglücklichen Künstlerverbindung. Serlo litt unter der Kälte und Herzlosigkeit seiner Lebensgefährtin bis zur Verzweiflung. Das ganze Leben dieser Frau war nur ein einziger Vorwurf gegen den Vater ihrer Kinder. Sie behauptete, um ihn die glänzendste Laufbahn verfehlt zu haben, während Serlo doch nur ein Opfer seiner Begegnung mit ihr geworden war. Lucinde wurde, wie das geschieht, die Vertraute, die Rathgeberin beider, die Vermittlerin zweier Gegensätze, die mit höchst ungleichen Waffen kämpften. Dort die kalte frischeste Gesundheit, hier ein Siechthum, das Schonung und Liebe bedurfte.

Lucindens Empfindungen über Klingsohr wurden von der listigen Madame Serlo bald errathen. Sie verurtheilte den Doctor, wie sie ihrerseits alle Männer verurtheilte, ausgenommen die, die ihr huldigten. Lucinde fand für alles das, was sie an Klingsohrn nicht mochte, den weltgewandtesten Ausdruck. Kaum stand es fest, daß sie Klingsohrn nicht mehr liebte, so hatte Madame Serlo auch schon den Plan fertig, das räthselhafte, schöne und aus unbekannten Hülfsquellen reich mit Mitteln ausgestattete Mädchen an sich zu ziehen. Sie schmeichelte ihr zunächst mit dem unverkennbaren Urtheil, das sie über die Bühne hätte, dann sogar mit einem Berufe für sie. Sie löste Lucinden immer mehr von den Beziehungen ab, die sie noch hier und da in der Gesellschaft hatte. Als der Augenblick der Auflösung des Theaters heranrückte und von einem kleinen Seebade gesprochen wurde, in dem die Trümmer der Gesellschaft im Sommer Vorstellungen geben wollten, bedurfte es bei Lucinden keiner langen Ueberredung. Sie entschloß sich eine Stadt zu verlassen, die ihr durch Klingsohrn sowol wie durch die stete Erörterung ihrer Intrigue mit dem Prinzen unerträglich geworden war.

Ueber Klingsohrn hatte ihr Madame Serlo, die das Leben kannte, ein Bild entworfen, dessen Wahrheit sich nicht widerlegen ließ. In voller Gewißheit ging ihr auf, daß die Ueberschwenglichkeit dieses zu so Edelm berufenen und bedeutsamen Mannes eine Folge der Aufregung war, die ihren Ursprung in der Gewohnheit unmäßigen Trinkens hatte. Die Trunksucht war bei Klingsohrn entstanden wie im Traume, wie bewußtlos, wie die natürliche Begleiterin genialer Ueberspannung. Wie sie auch gekommen, sie war da, und Madame Serlo schonte die Farben nicht, diesen Zustand auszumalen. Sie kannte die Nachtseiten des Lebens und sparte keinen Zug an dem Bilde der Zukunft, das sie für Klingsohrn aufrollte. Sie behauptete, schon gehört zu haben, daß er Opium nähme; sie schilderte die Folgen dieser Neigung in einer Weise, die die zum ersten male von solchen Dingen Hörende nicht an der Wahrheit des Gerüchts zweifeln ließen. Sie hatte ja Klingsohrn oft genug schon gesehen, wie er, wenn er mit ihr ging, sie starr betrachtete und sie ihn unmuthig anrufen mußte, um ihn nur zur Besinnung zu bringen. Die Abneigung, die sie immer tiefer gegen ihn empfand, bekam jetzt Grund und Ausdruck. Da sie wußte, wie er nach ihr verlangen, sie verfolgen würde, so hüllte sie die Entfernung von Kiel, die sie in der That drei Monate vor Ende der Gefangenschaft Klingsohr's ausführte, gerade so weit in Dunkel, als ihr mit Beistand jener verschmitzten Frau nur irgend möglich wurde.

Mit ihren noch ausreichenden Mitteln, mit dem reichen Schatze ihrer Kleider und Schmucksachen war sie Madame Serlo willkommen wie ein Engel des Lichts. Die andern Schauspieler reisten ab, geradeswegs nach jenem Bade. Nach einigem Hin- und Herreisen, um ihre Spur zu verbergen, erschien auch Lucinde in jenem noch menschenleeren Strandorte. Sie war nun in diesen neuen Kreis, eben aus Furcht vor Klingsohrn, wie gebannt. Von ihrer eigenen Vergangenheit deckte sie nicht viel auf, wie überhaupt Verschwiegenheit zu ihren Tugenden gehörte. Daß sie aber schon ein bewegtes Leben geführt, wurde sogleich erkannt, wie auch der Name des Kronsyndikus haften blieb als desjenigen, vor dem sich Lucinde zu rechtfertigen hätte und auf dessen Gunst und Unterstützung hier alles ankam. Die sich mehrenden Spuren der Nachforschungen, die um sie angestellt wurden, veranlaßten das engste Zusammenwohnen Lucindens mit der Serlo'schen Familie. Sie gab dabei uneigennützig, was sie besaß. Madame Serlo war eine Meisterin in der Kunst des Schmeichelns. Sie hatte jetzt das sehnsüchtigste Ziel wieder eines Engagements an solchen Plätzen, wo sie den reichen Schmuck und die kostbaren Kleiderstoffe, die ihr Lucinde gern zu Gebote stellte, verwerthen konnte.

Die eigentliche Fessel aber, die diese Eroberung festhielt, war in der That der von Lucinden gepflegte und gegen die Kälte der Frau geschützte Mann. Serlo hatte etwas Vergeistigtes. Er besaß ganz jene verklärte Schönheit, die bei Brustleidenden bis an das Ende ihrer Tage sich noch zu steigern pflegt. Sein Auge blickte voll sanfter Glut, wenn er am wenigsten beobachtet wurde. Die Formen seines Antlitzes waren so edel, daß sie den Meißel des Bildhauers herausfordern konnten. Das Haar hing in den Nacken mit seinem grauen Schimmer, wenn es nicht gefärbt wurde der »Komödie« wegen. Alles, was Serlo sprach, war der Brust wie mit Anstrengung abgerungen, darum aber auch gewichtvoll und fest und nie unnütz. Einen Ueberfluß an Worten, wie ihn seine Gattin sich wohlbekommen ließ, kannte er nicht. Die Bitterkeit seiner Aeußerungen zog Lucinden tief an; sie war in ähnlicher Stimmung. Dazu die Furcht, sich von Klingsohrn entdeckt zu sehen oder dem Kronsyndikus sich verantworten zu müssen. Da Madame Serlo sie darum drängte, hatte sie an letztern geschrieben und um neue Geldmittel gebeten. Dieser Brief war aber entweder nicht an seine Adresse gekommen oder wurde absichtlich unbeantwortet gelassen.

In der unendlich elegischen Stimmung, die Serlo täglich beherrschte, ironisirte er sich und sogar die Anhänglichkeit der Familie an Lucinden. Wenn sie ihm dankte für alles, was er in stillen Stunden von seiner Jugend ihr erzählen mußte, von Menschen, Gegenden, die er gesehen, sagte er bitter lächelnd: Kind, wir ziehen uns gegenseitig aus! Darüber hatte sie die ganz klare Vorstellung, daß Madame Serlo die Klugheit alternder Theaterdamen befolgte, sich an ein frisches, aufblühendes Talent anzuklammern, stets es zu bewundern und solange als nur irgendmöglich die Erträgnisse desselben für sich zu behalten. Aber es irrte sie darum nicht. Sie durchschaute alles, nur zu wenig die Schmeichelei über ihr Talent. Sie wollte wirklich noch die Bühne betreten. Madame Serlo begann eine Art Unterricht; sie glaubte vielleicht aufrichtig, der Geistesschärfe ihres Zöglings, dem Wagemuth, dem noch zuweilen aufsprudelnden Humor desselben entspräche das gleiche Vermögen auch auf der Bühne. Selbst Serlo glaubte dies und ergänzte in geistvoller Rede die Anleitungen, die seine routinirte Gattin gab.

Von Klingsohrn unbehelligt, ging dies plötzlich veränderte Leben einige Monate hin. Von ihrer Höhe war Lucinde völlig herabgestiegen. Wo war die Amazone hin, die auf den Rossen des Universitätsstallmeisters geprangt hatte! Serlo fühlte dies und sagte zu ihr:

Bestes Fräulein, wie beklage ich Sie! Wie hat das alles möglich werden können! Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas!

Napoleon sagte das! erwiderte sie, stolz den gesenkten Kopf erhebend.

Das ist wahr, entgegnete Serlo erglühend. Die großen Geister wandeln regellos!

Bitter lächelnd setzte er hinzu:

Nur die Hofräthe fallen nie aus der Rolle! Die sind ewig erhaben!

Die Familie reiste mit ihrer Eroberung hierhin und dorthin. Die Seebadsaison war des schlechten Wetters wegen nicht eingeschlagen. Der Kronsyndikus antwortete nicht. Madame Serlo schrieb zuletzt selbst. Sie that sich auf ihr Talent, mit den Großen zu verkehren, etwas zugute. Es erfolgte aber auch für sie keine Antwort. Man wollte in Neuhof entweder ganz abbrechen oder strafen ... durch Schweigen vielleicht auf Besserung hoffend.

Eines Tages erschien aber Klingsohr. Es war in Lüneburg auf der Heide. Man hatte gehofft, für den Winter dort eine Unterkunft zu finden.

Von dem Versiegen ihrer Hülfsmittel, den Anstrengungen der Reise und den Erlebnissen innerhalb der Familie Serlo war Lucinde schon so muthlos geworden, daß sie Klingsohrn in das kleine Gasthofzimmer, das sie bewohnte, mit einem leisen und furchtsamen Aufschrei eintreten sah. In früherer Zeit wäre sie ruhiger gewesen und hätte ihn entweder mit Verstellung oder mit einer offenen Kündigung begrüßt.

Klingsohr trat auf sie zu, gleichsam um sich zu überzeugen, ob sie es denn wirklich wäre ...

Dann fragte er, während sie langsam aus der Sophaecke sich erhob:

Warum hast du mir das gethan?

Sie begann keine Erörterungen, sondern erwiderte kleinlaut und durch die Schule des Lebens gedemüthigt:

Wann bist du angekommen?

Auf einem Felde gleichgültiger Gespräche fand man sich zuletzt so leidlich wieder zurecht. Ja auch aus der Theatersphäre und Verstellungskunst heraus war dieser scheinbare und so schnell geschlossene Friede zu erklären. Wenn Madame Serlo eben noch jemand im Geiste vergiftet hatte, konnte sie, wenn er zufällig selbst erschien, ihm den Stuhl hinrücken, diesen abstäuben und das ganze Arsenal ihrer Liebenswürdigkeiten spielen lassen ... Und das Beste, sagte Serlo oft, ist dann die wirkliche Freundschaft für diese vergiftete Person, wenn sie zuletzt geht! Die Judasküsse wurden echte, wenigstens auf so lange, als der Nachgeschmack des dabei genossenen Kaffees und das gemeinschaftliche Interesse einer bei dieser Gelegenheit geschlossenen gemüthlichen Intrigue dauert!

Für solche von dem Kranken, der dabei lang auf dem Sopha ausgestreckt lag und das schöne bleiche Antlitz aufstützte, immer mit schneidender Bitterkeit hingeworfene Aeußerungen erntete er von seiner Lebensgefährtin Schmähungen, von Lucinden ein vertrauliches Zunicken der Uebereinstimmung.

Klingsohr kam ohne Geld.

Die kluge Madame Serlo bekam bald heraus, daß er in einem Briefe, in welchen der Kronsyndikus endlich auch einen und diesen voller Mahnungen an Lucinden eingelegt hatte, dessen übergenug empfangen. Das Suchen nach Ihnen, liebe Lucinde, sagte sie spitz, muß viel Ausgaben verursacht haben!

Klingsohr hatte schon immer eine Zuneigung für die Familie gehabt und hatte ihr Leben oft genug romantisch genannt. Man verständigte sich, vergab sich einander, was etwa gegenseitig gefehlt war, und bald entspann sich auf einige Tage ein Zusammenleben, in dessen Hintergrunde der Entschluß Lucindens zu stehen schien, daß sie Klingsohrn wieder nach Schloß Neuhof begleiten wollte. Es bekümmerte sie, daß der Kronsyndikus so kalt geantwortet hatte.

Schloß Neuhof betret' ich mit keinem Fuße mehr! sagte Klingsohr. Doch will ich dich bis Lüdicke begleiten!

Madame Serlo horchte nur immer. Sie sollte ihre Eroberung aufgeben? Lucinde besaß noch Kleider und Schmuck genug, um davon ein ganzes Jahr lang sie alle erhalten zu können ... Die Frau blinzelte ihr Standhaftigkeit zu.

Drei Tage war Klingsohr in Lüneburg, als er auch dort sein gewohntes Leben begann ...

Er fand göttinger Freunde, er entzückte durch den Dämmer der Poesie, mit dem er sich theils durch Reminiscenzen aus den beliebtesten Dichtern, theils durch die Gabe der eigenen Improvisation zu umgeben wußte, er erntete, wenn er sprach oder schwieg, die gewohnte Bewunderung, er streifte die Aermel seines Rockes wieder im heiß gewordenen Gespräch empor wie einer, der auf die Mensur zu treten bereit ist, und war der Titane, dessen Zukunft noch niemand berechnen konnte.

Madame Serlo beobachtete scharf. Am Nachmittag des vierten Tages öffnete sie leise das Zimmer, in dem Lucinde eben an den Kronsyndikus schreiben wollte, winkte bedeutungsvoll und rief wispernd Lucinden auf die Nummer, die Klingsohr bewohnte.

Das Zimmer fanden sie unverschlossen.

Madame Serlo hatte es aufgedrückt und zeigte auf Klingsohrn, der über sein Bett auf den Rücken ausgestreckt lag, eine kleine Cigarrenpfeife in der Hand hielt und zu schlafen schien.

Er hat Opium geraucht! sagte Madame Serlo. Sehen Sie nur! Nun träumt er! Er ist im siebenten Paradiese!

Lucinde beobachtete den Unglücklichen, der mit offenen Augen lag, aber völlig abwesend war. Er hatte den rechten Arm unter den Kopf gelegt, der linke hing schlaff vom Bette nieder mit der kleinen Pfeife, aus der er leicht ein Opiat geraucht haben konnte. Auf dem Fußboden lagen die Gedichte Coleridge's, jenes englischen Dichters, der am Opium zu Grunde gegangen ist.

Lucinde war vollkommen berechtigt, an diese Deutung zu glauben. Diese offenen Augen, diese blassen und krampfhaften Gesichtszüge, verbunden mit einem zuckenden Hüpfen der Nerven, bestätigten, was sie von beiden Serlos über die Wirkungen dieser Betäubung schon vernommen hatte. Sie wurde darüber von einem Grade von Abneigung gegen Klingsohrn ergriffen, daß sie bat, den Ort, der ohnehin keine Hoffnungen für die Bühne bot, sofort, aber auch augenblicklich, ohne sein Erwachen abzuwarten, zu verlassen.

Madame Serlo hatte erreicht, was sie wollte.

Serlo, den man hinzurief, sprach mitleidiger und rieth zur Versöhnung, zur Heilung des Unglücklichen. Er hatte dem Klosterleben, dem Leben der Entsagung nahe gestanden, er kannte die Verirrungen der Phantasie ...

Lucinde nahm keine Beruhigungen an. Sie forderte die Rechnungen ein, gab einen werthvollen Ring von den Geschenken, die ihr der Kronsyndikus noch beim letzten Abschied in Kiel gegeben, zur Ausgleichung der Zeche und wollte schon fort in einer Stunde.

Von Madame Serlo wurde sie aufmerksam gemacht, daß man Klingsohrn einschließen sollte ... er könnte bestohlen werden. Damit zeigte sie auf ein Portefeuille, das ihm aus der Brusttasche entglitten war und neben ihm auf dem Bette lag.

Es war ein Geschenk, das Lucinde ihm selbst gefertigt; eine Stickerei von ihrer Hand zierte die beiden Deckel. Nichts vom Inhalt, nur das Portefeuille selbst wollte sie an sich nehmen. Sie öffnete, warf einiges Geld, einige kleine Schlüssel, Bleistifte, sogar zerknitterte Briefe, alles, was darinnen lag, hinaus, warf es ungeprüft und ungelesen auf die Bettdecke, behielt ihr Geschenk, das Portefeuille, schloß die Thür zu und ließ, wie sie bitter wiederholte, Klingsohrn im siebenten Paradiese. Es wird schöner sein als das Dante'sche! setzte sie zu Serlo hinzu. Sie wußten beide, daß Klingsohr über Dante gelesen und des Florentiners Hölle fesselnder und anziehender genannt hatte als dessen Himmel.

Serlo hatte seiner Gattin gegenüber aus physischer Schwäche keinen Willen. Er sorgte nur immer, auch beim Reisen, Ankommen und Abgehen, für die Kinder. Der Handel mit dem Wirthe wurde abgeschlossen. Man hatte noch einen guten Ueberschuß und accordirte einen Wagen. Er sollte sie der obern Elbe zuführen.

Schon war man im Packen begriffen, als sich in Klingsohr's Zimmer ein entsetzliches Pochen vernehmen ließ.

Man gab dem Kellner den Schlüssel, mit dem geöffnet werden konnte.

Zugleich sprang Lucinde in ihr Zimmer, Madame Serlo folgte, beide verriegelten sich.

Auf dem Corridor hörte man Klingsohrn jetzt nach seinem Portefeuille rufen. Da er den Inhalt gefunden hatte, konnte er von keinem Diebstahl sprechen. Er rief Serlo; dieser wies ihn von seinem Zimmer aus an die Frauen.

Am Schlüsselloch des Nebenzimmers lauschte Madame Serlo.

Lucinde betrachtete ruhig ihre Stickerei auf dem Portefeuille. Es war Winter; sie sah sich nach dem Ofen um, um das Portefeuille zu verbrennen.

Madame Serlo hinderte sie und öffnete wenigstens noch einmal das schöne Geschenk.

Alles das geschah, während Klingsohr an der Thür rüttelte, pochte und im wildesten Ungestüm sein Eigenthum zurückverlangte.

Serlo erklärte ihm das Vorgefallene und machte ihm in lateinischer Sprache Vorwürfe über seine Verirrung, die Klingsohr nicht in Abrede stellte. Ihr habt gut sprechen! entgegnete er. Wer das Bedürfniß des Glückes hat, sucht es, wo er's findet! Ich wünsche Euch nicht meine Nächte oder die Träume, die mir mein kurzer Schlaf schenkt!

In mildern Worten bat er Lucinden jetzt um die Rückgabe des Portefeuille.

Klingsohr! sprach diese mit fester Stimme dicht an der Thür nebenan, wo Klingsohr im Zimmer war, wandeln Sie Ihre Bahn! Wir sind geschieden! Auf ewig!

Lucinde! lautete sein Flehen.

Das Portefeuille wird auf Ihrer Brust entweiht! Ich behalte es!

Nimmermehr! rief Klingsohr und schlug gegen die Thür.

Was ist denn nur ein so besonderer Werth daran? flüsterte Madame Serlo und betrachtete es wiederholt näher.

Sie las auf dem inwendigen und befestigten Pergament eine Menge kurzer Bemerkungen, Namen, abgerissene Titel von Schriften, Citate, gelehrte Dinge, die ihren Horizont überstiegen.

Dennoch hielt sie diese Blätter nicht für unwichtig. Wer weiß, flüsterte sie, welche Geheimnisse sie enthalten!

Als Klingsohr nicht endete und behauptete, er würde das Haus in Brand stecken, wenn er das Portefeuille nicht zurückbekäme – schon wurde durch den Lärm der Wirth herbeigezogen –, las ihm Madame Serlo höhnend einige Worte vor, die vielleicht die Seite des Pergaments bezeichneten, an der ihm vorzugsweise gelegen wäre.

Weib, schweige! rief er und schien nur aus Rücksicht auf Serlo, der mit den ängstlichen Kindern hinter ihm stand, weitere Bezeichnungen zu unterdrücken.

Bitter höhnend klang es, als Madame Serlo buchstabirte:

»Weltordnung – Dante's Hölle – Buschbeck – siebentes Paradies – Johannes von Zeesen – Regina Coeli – neun Zeitalter – Schön Hedwig – Hubertus – Rom – die Katakomben – –«

Tod und Teufel! schrie Klingsohr und schlug jetzt mit einem Stuhl gegen die Thür.

Er zeigte sich in der ganzen Wildheit, in der ihn Lucinde kannte. Serlo bat, der Wirth befahl Ruhe, Lucinde selbst rieth zum Nachgeben.

Was ist ihm nur so gelegen an dem Ding? wiederholte Madame Serlo. Sie untersuchte, während Lucinde die herausgenommenen Blätter überflog, den übrigen Inhalt. Da fand sie denn, daß eins der kleinen Täschchen verschlossen war. Sie bog das Leder etwas zurück und fühlte, da man nichts sehen konnte, hinein. Hin- und herstreifend mit dem kleinen Finger, der allein Platz hatte, entdeckte sie, daß drinnen etwas lag, was sich rauh anfühlte ... vielleicht ein Stück Tuch ...

Seltsam! sagte Madame Serlo zu Lucinden. Was kann ihm an einem Fetzen Tuch gelegen sein?

An Lucinden lief jetzt eine Erinnerung hin wie das Wort am elektrischen Drahte. Der Gedanke, daß sich hier der Tuchstreifen vorfand, der einst an der Leiche des Deichgrafen gefunden wurde und später durch sein plötzliches Verschwinden den erst vor kurzem, wie sie gehört, wegen mangelnden Beweises freigesprochenen Stephan Lengenich ins Gefängniß gebracht hatte, zuckte in ihr auf. Die Farbe des Tuches ließ sich nicht erkennen, nur der Stoff fühlen ...

Sie stand träumerisch und auch Madame Serlo merkte die jähe Flucht der Gedanken, die ihr eben durch den Kopf schossen.

Klingsohr hatte inzwischen sein Benehmen geändert. So war er immer. Eben noch ein Ungethüm, vor dem man alles entfernen mußte, was sich etwa zertrümmern ließ, wurde er plötzlich weich wie ein Kind, ja sogar feig und ließ sich auf Nachgiebigkeiten betreffen, die mit seinem sonst so reizbaren Ehrgefühl im vollsten Widerspruche standen.

Lucinde! sprach er mit weicher Stimme und durch's Schlüsselloch. Gib mir mein Portefeuille zurück! Es hängt daran die Ruhe meines Lebens!

Gut, Klingsohr! sagte Lucinde, die die Gedanken an die Schreckensscenen von Schloß Neuhof nicht festhalten mochte, weil sie zu ihren quälendsten Erinnerungen gehörten; wenn das ist, so geb' ich dir's unter der Bedingung zurück, daß ich's behalte, bis wir in dem unten befindlichen Wagen sitzen und abfahren! Du versprichst mir aber auf deine Ehre, mich von diesem Augenblicke an nicht mehr zu kennen, nie und nirgends, hörst du, nie und nirgends, und mich meine Lebensbahn ziehen zu lassen, wie und wo ich will! Leiste mir diesen Schwur! Thust du es nicht, so ist hier noch so viel Glut im Ofen nebenan, daß dein Portefeuille im Augenblick von den Flammen verzehrt ist!

Um Gottes willen nein! rief Klingsohr.

Dann schwieg er eine Weile. Er schien nicht zu bezweifeln, daß Lucinde wahr gesprochen, und überlegte, welchen Werth für ihn die beiden Gegensätze der gestellten Alternative hatten.

Lucinde wiederholte mit fester Stimme, was sie eben gesprochen, während Madame Serlo's listiges Auge vergebens in so wunderbare und unglaubliche Geheimnisse des Täschchens zu dringen suchte ...

Serlo antwortete jetzt statt Klingsohr's. Man hörte das leise und schmerzlich ausgestoßene Wort des letztern:

Ich gebe – mein Ehrenwort!

Nun verlangte Lucinde, daß sich Klingsohr bis zur Abreise, die sogleich erfolgen würde, entfernte. In die Brieftasche ließ sie die Neugier der Madame Serlo nicht weiter einblicken.

Die Anstalten der Abreise waren zu Ende. Klingsohr stand am Wagenschlag und nahm sein Portefeuille mit einer Hast zurück, als hinge die Ruhe seines Lebens daran. Dies mußte sein, wenn er um einen solchen Preis Lucinden entsagen konnte.

Er wollte noch mit der Geliebten reden, reichte ihr die Hand in den Rücksitz, den sie so lange einnahm, bis sie die Stadt verlassen – später duldete sie nicht, daß Serlo irgendeine Bequemlichkeit entbehrte –, aber sie lehnte diese Hand ab.

Klingsohr bat wiederholt um die Hand und zog die seine nicht zurück.

Damit seine dargereichte Rechte nicht ohne Erwiderung blieb, nahm sie die Hände des einen der Kinder und legte diese beide in die seinige.

So wurde diese von ihr so heiß ersehnte Trennung wirklich vollzogen.

20.

Zu dem Fluche, der mehr auf dem Theaterleben ruht als Segen, gehört die Unmöglichkeit, sich ein Leben lang aus dem Banne desselben zu befreien, wenn in ihm auch nur einige wenige Augenblicke genossen wurden, die glückliche waren.

Man hat es gesehen und sieht es täglich, wie derjenige, dem ein kurzes Glück in diesem Wirkungskreise lächelte, ewig von demselben zehrt, immer hofft, daß es wiederkehren müsse, immer glaubt, daß es nur durch zufällige Umstände, die sich beseitigen lassen würden, am Wiedererscheinen verhindert wäre. Ein Leben voller Entbehrung und Enttäuschung, ja ein Leben voller Schmach und Entwürdigung kann an diese trügerische Hoffnung verloren gehen.

Lucinde betrat noch die Bühne nicht und blieb dem Verkehr der übrigen Theaterwelt schon um deswillen fern, weil Madame Serlo sich bei allen Entbehrungen für zu erhaben dünkte über die niedere collegialische Sphäre, der sie jetzt immer mehr und mehr angehören mußte. Um so enger war Lucindens Verbindung mit den Serlos selbst. Manche Gelegenheit, manche Huldigung bot sich, diesen Bann zu brechen. Sie konnte nichts mehr muthig ergreifen. Sie schleppte sich mit den kummervollen Zuständen dieser Familie so hin und Serlo bedurfte ihrer. Sie hätte nie von sich selbst geglaubt, daß sie einer solchen Anhänglichkeit fähig war.

Zwischen ihr und Madame Serlo mußte zuletzt offene Feindschaft ausbrechen. Der Kronsyndikus antwortete auf keinen Brief; die Kleinodien und werthvollen Kleider waren verkauft; jetzt mußte schon Lucinde das Brot der Armuth theilen. Sie nahm es in Anspruch mit dem Versprechen, alles gut zu machen, wenn sie einst als Schauspielerin auftreten würde; einstweilen unterrichtete sie die Kinder, sie besorgte die Wirthschaft, sie pflegte Serlo.

Gerade aber in diesem letztern immer nöthiger werdenden Amte begegneten sich beide Frauen, die Alternde, die die Jugend log, und die Jugendliche, die mit neunzehn Jahren schon die Stirn wie eine Matrone runzeln konnte, mit Haß und Eifersucht.

Lucinde hatte vom Arzt gehört, daß Serlo's hinfällige Gesundheit noch länger gefristet werden könnte bei sorgsamer Pflege. Madame Serlo war selbst davon überzeugt, besaß aber jene schroffe Weisheit der ewig Gesunden, die in jeder Klage eines Kranken Uebertreibung sieht. Sie selbst war kaum jemals krank gewesen, sie erklärte das Kranksein für eine »dumme Angewöhnung«. War sie selbst wie ein Fisch im Wasser, so sollte alles um sie her ihr Element theilen. Hatte sie sich gebadet, mit Staubregen überrieseln lassen, kam sie trotz ihrer Vierzig frisch und strahlend zum Frühstück, so sollte die ganze Welt nur ihrem Beispiel folgen und es würden alle Husten, Kopfwehe, Katarrhe, besonders aber die eingewurzelten, aus denen doch wol Serlo's ganzer Zustand allein herzuleiten wäre, für immer verschwinden.

Serlo lächelte dazu und Lucinde sagte:

Wenn aber gerade die eingewurzelte Einbildung schon den ganzen Menschen regiert und ihm nur noch manchmal wohl wird in der Gewißheit, daß man diese seine Schwäche schont?

Das eben darf man nicht! erwiderte Madame Serlo. Man darf keine Irrthümer bestärken, darf keinen übeln Gewohnheiten Vorschub leisten! Wenn sich Serlo nur herausreißen könnte, nur wollte, es würde ihm und uns allen geholfen sein!

Dies kalte Wort vom »Herausreißen«, vom Emporraffen war das grausam ewig wiederholte, das in Serlo's Ohr schon seit sechs Jahren mit bohrendem Schmerz wühlte.

Er liebte glücklicherweise das Leben selbst und versuchte es, ihm Wohlbefinden und Kraft abzugewinnen, abzutrotzen. Brach er nach einer solchen Anstrengung, in der er sogar spielte und sich zu Feuer und Begeisterung zu entflammen suchte, wieder zusammen, untersuchten Aerzte das Geräusch seiner Lungen und entfernten sich mit ernsten Mahnungen an die Gattin, an die »Erzieherin« der Kinder, wie Lucinde genannt wurde, so traten Augenblicke einer völligen Muthlosigkeit ein und Serlo ergriff dann oft, wenn er mit Lucinden allein war, ihre Hand und sagte fast weinend:

Wenn ich nur nicht noch in meiner letzten Stunde hören muß, daß ich mir zu viel nachgäbe! Das Wort: Reiß' dich heraus! wird mein Grablied werden!

Lucinde versicherte:

Ich werde bei Ihnen bleiben!

Was sie an diesen bemitleidenswerthen Mann fesselte, war sein Unglück und seine Bitterkeit. Sie befand sich in einer Stimmung, die der seinen nicht unähnlich war. Ihr ganzes Leben war ja gleichsam in einen plötzlichen Stillstand gerathen, in einen jähen Sturz, wie in eine Versandung. Wo war sie hingerathen? Aus solcher Höhe des Glücks! Auch die ersten Reize desjenigen Eindrucks, den man an ihr den elfenartigen genannt, waren geschwunden; sie war jungfräulich geblieben, aber nicht mehr so gefällig, so naiv, so lacertenhaft wie einst. Sie legte keinen Werth mehr auf ihr Aeußeres, sie schmückte sich nicht mehr; die Abneigung gegen die Wassertheorie der mit Fischblut, wie sie sagte, belebten Madame Serlo ließ sie die Vorschriften der Ordnung sogar mehr vernachlässigen als billig. Ihre Gestalt bekam etwas Lässiges. Wochenlang verließ sie das Haus nicht oder sah nur zu dm Kindern nieder, wenn sie diese beim Spazierengehen führte. Sie war muthlos geworden und so vergrämelt wie ein Mädchen, das jeden Augenblick den Stundenschlag erwartet, an welchem es dreißig Jahre zählt.

Zwanzig zählte sie schon; denn zwei Jahre führte sie das herumziehende Leben, das sogar Reiz für sie bekam in den täglichen kleinen Abwechselungen der Bühnenchronik, in der lebhaften und feurigen Anwaltschaft für das äußere Interesse der Familie, der sie sich angeschlossen hatte, endlich innerlich in der Parteinahme für Serlo gegen seine Frau. Es gab Scenen der Erbitterung. Ost genug wurde das Wort gesprochen, daß entweder die »Gattin« oder Lucinde gehen müßte. Serlo, der auf liebevolle Hingebung keine Ansprüche mehr gemacht hatte, der glücklich war, daß noch einmal ein Blick, der Handdruck eines teilnehmenden Wesens ihn lohnen konnte für sein Dulden, Serlo vermittelte diesen Zwiespalt, so gut es immer ging. Um den Frieden wiederherzustellen, hatte er gewisse Hülfsmittel, die nicht fehlschlugen. Er rühmte, was die Kinder in der Musik für Fortschritte machten; Lucinde unterrichtete sie. Er ließ Lucinden Scenen aus den classischen Stücken recitiren. Sie sprach sie mit Verständniß, wenn auch kalt und schwunglos. Die Begeisterung wird der Abend und der Anblick der Zuschauer geben! sagte der Kranke. Er deutete auf die großen Vortheile hin, die ihnen allen würden geboten werden, wenn endlich Lucinde sich entschließen könnte, in das so verwaiste und so theuer bezahlte Fach der »Liebhaberinnen« von Gestalt und Schönheit einzutreten.

War der Friede auf diese Weise wiederhergestellt, so erzählte er mit Gemüthlichkeit von seinem vergangenen Leben. Die Schärfe, die er früher besessen, hatte ihn in der Schule der Leiden immer mehr verlassen, nur die bittere Ironie war ihm geblieben, das Salomonische: Alles ist eitel! Er wollte seine Philosophie des Lebens, daß alles Wahn, alles Verkehrtheit und Narrheit wäre, von seinen frühesten Anfängen her beweisen. Besonders lange verweilte er in der Schilderung seiner ersten Anläufe zur geistlichen Laufbahn ... Serlo schilderte Menschen mit derselben Lebhaftigkeit wie Gegenden. Seit Jahren führte er Tagebücher und las daraus Stellen vor, über deren Bitterkeit und Satire er oft den Kopf schüttelte, gleichsam als wenn er nicht begreifen konnte, wie er einst so hätte denken und fühlen können. Er nannte dann das, was er las, abgeschmackt, wahnbethört, oft aber auch wieder, offen von sich selbst gestanden, klug und treffend. Manchmal, wenn er beim Blättern auf Thorheiten stieß, auf Racheplane, Anfeindungen, die er selbst erlitten oder angezettelt hatte, sagte er mit vollem Ernst: Ich war damals verrückt! Wir alle sind verrückt! Jeder ist's innerhalb seines eigenen Interesses! Und wir wissen es sogar selbst sehr gut! Mindestens, wenn wir zurückblicken und uns vergegenwärtigen, wie wir damals waren, damals das sagen, das thun konnten! Bei anderm, was er erzählte oder las, sagte er dann wieder ganz offen von sich selbst: Wie gut das von mir war, wie edel! Ja, darf man sich denn nicht selber lieb haben? ... Wenn Madame Serlo zuhörte, was selten geschah – sie hatte zu jeder Zeit, nicht blos Abends, einen Schlaf, der nur: Ich will! zu sagen brauchte und sie schon schnarchen ließ – sagte diese: Nein, lies lieber aus dem allen heraus, daß du einst mehr Courage hattest! Und die könntest du noch haben, wolltest du dich nur herausreißen!

Herausreißen! ... Es war das ewige Wort ... Es schnitt dann wieder alles entzwei.

Einige betrügerische Directionen hatten die Familie bis an den Rand des Elends gebracht. Lucinde mußte das Opfer, das sie immer in Aussicht gestellt hatte, jetzt endlich vollziehen und einen Schritt thun, der ihr innerlich widerstrebte. Man unterhandelte mit einem ansehnlichen Theater über ihr erstes Auftreten. Die Umstände hatten es gefügt, daß sie den ersten Schritt an die Lampen gerade in jener Stadt thun sollte, in welcher sie einst von der Frau Hauptmännin von Buschbeck in diese wirre Welt war eingeführt worden.

Diese Stadt wiederzusehen, flößte ihr Schauder ein.

Jahre waren vergangen, seit sie dort gelebt. Wie mancher konnte ihrer eingedenk geblieben sein! Ein dunkles Gerücht hatte ihr von ihren beiden letzten Geschwistern kein glückliches Wiedersehen in Aussicht gestellt. Beide Knaben sollten aus dem Waisenhause zu Lehrherren gekommen sein, dann aber sich schlecht bewährt und sogar schon den Gerichten Gelegenheit gegeben haben, sich mit ihnen zu beschäftigen. In der Schweigsamkeit über ihre Angelegenheiten, die ihr eigen war, sprach sie Serlo nur obenhin vom Vergangenen, kein klares Wort von ihren Besorgnissen, sonst würde dieser sie entweder widerlegt oder die Anknüpfung mit der Bühne gerade dieser Stadt widerrathen haben. Die Verhandlung mit dem Vorstande war schriftlich erfolgt; die persönliche Vorstellung fiel nicht ungünstig aus; Lucinde hatte sich Gewalt angethan und machte einen Eindruck, der etwas versprach. Nach Madame Serlo's kecker Aussage hatte sie sogar bereits auf kleinen Bühnen »sechs bis sieben mal mit glänzendem Erfolg« gespielt. Sie bekam die Zusage, daß sie als Jungfrau von Orleans auftreten durfte. Auch die Bitte um einen veränderten Namen wurde gewährt.

Madame Serlo konnte diese Entscheidung, die sich noch vierzehn Tage hinziehen konnte, im Orte selbst nicht abwarten. Einmal hätte man des bessern Eindrucks wegen eine gute Wohnung nehmen müssen, deren größere und für alle ausreichende Ausdehnung die vorräthigen Mittel überschritten haben würde; dann aber auch war ihr eine Stellung angeboten worden bei einem jungen Fürsten, der erst vor kurzem sein Regiment angetreten hatte und für sein Land eine neue Aera beginnen wollte durch Verbesserung des Ballets seines Hoftheaters. Schon war diese unglückliche Familie so weit gekommen, daß sie auf den Erwerb durch ihre Kinder sehen mußte. Diese entschloß sich die Mutter jenem jungen Fürsten für sein Ballet anzubieten. Lucinde verstand genug von der Welt, um den Seufzer und das bittere Lächeln sich deuten zu können, als Serlo dies hinter seinem Rücken gemachte Arrangement erfuhr. Zu krank, um die Reise schon jetzt weiter fortzusetzen, nahm er Abschied von den Seinigen. Als er die Kinder küßte, standen ihm Thränen in den Augen. Er schien die Ahnung zu haben, entweder daß er sie nicht mehr wiedersähe oder welcher Zukunft sie entgegengingen.

In dieser Stadt nun mußte über Lucinden alles, was an ihrem Lebenshimmel sich düster und unheildrohend zusammengezogen hatte, zu gleicher Zeit ausbrechen.

Sie suchte erst niemand auf, verbarg sich auf ihrem Zimmer, studirte mit ängstlicher Spannung ihre Rolle. Ob sie nach der alten Magd sich erkundigen sollte, die ihr zur Einsegnung einst das Gesangbuch geliehen? Ob sie suchen sollte von ihr manches in Erfahrung zu bringen, was sie und die Ihrigen betraf? Es war gefahrvoll für die Stellung, die sie jetzt in der Gesellschaft einnehmen mußte, und doch hätte sie gern von diesem gehört und von jenem, vom Stadtamtmann, von Herrn Guthmann, von der bewußten Dame aus der Gesellschaft, von der bösen Buschbeck, von Oskar Binder, von der Heimat, vor allem von ihren beiden Brüdern. Sie wurde letzteres endlich Serlo schuldig, der ihr die Pflicht, sich um diese erst jetzt von ihm in Erfahrung gebrachten Geschwister zu bekümmern, als unerläßlich vorschrieb. Sie erwiderte: Warum gerade diesen Kelch, Serlo? Wir sind ein Nest wilder Wasservögel gewesen! Wir flogen aus und hatten keinen Trieb, zusammenzugehören! An unserer Mutter lag's! Wir liebten den Vater, haßten die Mutter, aber unserer aller Art war und ist dennoch nach ihr! ... Wenigstens zu jener Frau versprach sie zu gehen, bei welcher ihre Schwester gestorben war.

Hier erfuhr sie vielerlei. Der Stadtamtmann war aus politischen Gründen in den Zeiten einer ewigen Gährung beungnadet und versetzt worden; die Frau Hauptmännin war aus der Stadt verschwunden und vielleicht an den Rhein gezogen, wo sie eine Schwester gehabt haben sollte. Der junge Commis, mit dem sie vor fünf Jahren in die Welt gegangen, verbüßte noch sein Verbrechen des Kassendiebstahls und der Wechselfälschung im Zuchthause; der Kaufmann Guthmann hatte fallirt und war mit der bewußten vornehmen Dame, da er sich von seiner Frau, sie aber von ihrem Gatten hatten scheiden lassen, in die weite Welt gezogen ... Ihre eigenen Geschwister? Die hatten nicht gutgethan. Von ihren Meistern kamen sie in eine neu errichtete Besserungsanstalt im Innern des Landes ... Bei allen diesen herzzerreißenden Mittheilungen trommelte es in den Straßen wie sonst und die Querpfeife schrillte und die Commandos der Wachparade hallten wider und die Brunnen gingen wie sonst und auf dem größten Platze der Stadt riefen die Kinder wie sonst ein berühmtes Echo wach und glänzende Carrossen rasselten aus den Gasthöfen heraus, weil in dem Lustparke des Fürsten, dem Schauplatze der ersten Triumphe des »Hessenmädchens«, heute, wie sonst, die berühmten Wasser sprangen.

Lucinde kam zu Serlo und sagte:

Ich bringe trockenes Reisig zum Einheizen! Winterholz! Ganz wie die alte Lene, die im Langen-Nauenheimer Forst frei sammeln durfte!

Sie erzählte dann. Serlo erwiderte:

Das ist die Welt!

Der Tag kam heran, wo an den Straßenecken zu lesen war: »Die Jungfrau von Orleans. Romantische Tragödie von Schiller. Jeanne d'Arc: Fräulein Konstanze Huber, als Gast.« Sie hatte, sie wußte selbst nicht warum, den Namen des Pfarrers von Eibendorf angenommen.

Ihre Befangenheit steigerte sich am Morgen vor dem verhängnißvollen Tage bis zur zaghaftesten Furcht.

Man hatte sie im Bureau und auf der Probe mit einer scheinbar zuvorkommenden, dem Erfolg aber jedenfalls mistrauenden Artigkeit behandelt.

Daß man den Versuch überhaupt wagte, war eine Gefälligkeit gegen Serlo, der aus frühern bessern Verhältnissen unter dem Personal einige theilnehmende Freunde hatte.

Lucinde brachte von der Probe keine erfreuliche Stimmung heim und erzählte, was sie aus dem Benehmen der Mitspielenden herausgefühlt.

Serlo lag auf dem Sopha ausgestreckt; gerade von Tag zu Tag wurde sein Befinden bedenklicher, – er sprach mit einer eigenthümlich peinlichen Aufregung:

Nehmen Sie's doch, liebe Freundin, ganz so wie es ist! Gerade da, wo man aus der Verstellung eine Kunst gemacht hat, läßt man sich im gewöhnlichen Leben ganz so gehen, wie man ist! Es gönnt Ihnen eben niemand einen Erfolg, selbst die nicht, die Sie um meinetwillen protegiren! Höchstens eine alte gutmüthige Person, die Sie ankleidet und dabei an ihr Trinkgeld denkt! In dieser Laufbahn muß man sich eben alles selbst erobern!

Lucinde, sprach die Befürchtung aus, daß ihre frühern Verhältnisse hier bekannt geworden sein dürften und gegen sie sprechen würden ...

Sie werden selber für sich sprechen, erwiderte Serlo, wenn Sie nur in Ihrer ersten Scene gefallen haben! Man braucht ja in dieser Rolle nur laut und deutlich das zu sagen, was vorgeschrieben steht!

Lucinde war am Tage der Vorstellung in der Stimmung, die sie selbst mit der Erwartung verglich, hingerichtet zu werden. Hätte sie nicht den unabweislichen Zwang gehabt, schon auf die kleine Summe rechnen zu müssen, die sie für diesen Abend als Ehrensold zu erwarten hatte – Serlo bedurfte gerade jetzt wieder der sorgsamern ärztlichen Pflege und mancher bessern Auswahl in seiner Kost –, sie würde, wie sie sagte, diesen Kelch an sich haben vorübergehen lassen.

Wie sie um vier Uhr sich rüstete, ihre Wäsche durch ein gemiethetes Mädchen ins Theater schickte und sich dann halb zögernd selbst auf den Weg machen wollte, war Serlo ein wenig eingeschlummert. Sie blickte aufs Sopha. Seine Augen waren geschlossen. Er athmete schwer. Der Husten, dem nachzugeben die Brust kaum noch Kraft hatte, machte sich nur in stoßweisen Krämpfen bemerkbar, wie bei den intermittirenden Athemzügen eines Sterbenden. Dieser Zustand beunruhigte sie nicht ... Sie hatte ihn schon oft erlebt, schon oft hatte man das Erlöschen der Lebensflamme ganz nahe geglaubt. Sie legte dem Schlafenden ein Kissen unter den Kopf, rückte einige Stühle dem Sopha näher und wollte jetzt gehen, so sehr ihr auch fast die Sinne schwanden.

Da blickte der Kranke empor.

Ich habe Sie ganz wohl gehört, gute Freundin! hauchte er leise. Ich werde Sie doch so nicht gehen lassen – ohne meinen Segen?

Nun richtete er sich ein wenig auf und sprach mit erhöhter Stimme:

Lucinde, wenn Sie spielen, denken Sie nur nicht an die paar Menschen, die Sie vor sich sehen, sondern allein an die Menschheit im großen und ganzen! Verachten Sie die, die Sie sehen, und lieben Sie die, die Sie nicht sehen! Lassen Sie die Hörer fühlen, daß Sie eine Prophetin sind, die in diesem Augenblick jeden beschämen will, der im Gemeinen und Geringen lebt! Das Auge sieht den Himmel offen – und hört keine Dissonanz dieses elenden Lebens mehr! Dort oben, so glauben Sie wenigstens, wird alles Harmonie werden! Dort werden wir erfahren, warum wir hienieden die volle schöne Ahnung des Glückes haben durften und doch so viel leiden mußten! So hab' ich als Kind immer den Märtyrern nachgefühlt, wenn die um ihren Glauben so Grauenvolles erfahren mußten. Knien mußt' ich dann in der Einsamkeit und denken: Nun kommt nur heran, ihr römischen Landpfleger und Proconsuln alle! Gebt mir nur die tödtliche Wunde! Das wird mich gleich in die Freuden des Paradieses versetzen! Dieser Glaube ist hin ... aber wenn er uns irgend noch einmal aufleben kann, ist es in der Poesie. Blicken Sie nur immer empor und thun Sie sich nichts auf den schönen Harnisch zugute! »Mein ist der Helm und mir gehört er zu!« Wer da auf Bertrand zuspringt und sich wie eine Amazone geberdet, hat schon verloren! Für diese Seherin, die ihre Zukunft kennt, ist das Ueberbringen dieses alten kriegerischen Schmuckes eine ganz einfache, sich von selbst verstehende Bestätigung ihrer Vision der Gottesmutter. Von da an beginnt in ihr die festeste Zuversicht und eine einfache, demüthige Unterordnung unter den Rath des Verhängnisses! Mit dem Himmel spricht sie, wie andere mit sich selbst. Vergleicht sie dann ihre schwache Menschenkraft mit der Größe der ihr gestellten Aufgabe, dann darf sie einen elegischen Ton anschlagen, zu dem jedoch die Musik der Verse nicht zu viel verleiten darf. Mitleid mit sich selber fühlt sie, sie spricht es aus, wenn sie Lionel sieht. Warum sie gerade den liebt, nachdem sie Tausende von Männern gesehen, ... ich weiß es nicht, beste Freundin! Ist es, weil Lionel einmal vom ersten Helden und Liebhaber gespielt werden muß – obgleich die Rolle undankbar ist – der Dichter wollt' es einmal so. Es ist kein Werk des Genius, dies Drama; es lag dem Schöpfer im Gemüth, nicht im Verstande; es will einfache kindliche Hingebung bei allen – beim Publikum und beim Spieler. Aus diesem Geist heraus sprechen Sie! Dann: »Leichte Wolken heben mich!« und geben Sie Acht,

Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide!

Hinauf – hinauf – die Erde flieht zurück –

Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!

Jetzt küßte er ihr noch, da Lucinde sich zu ihm niederbeugte, die Stirn, lächelte, neckte sogar, sprach von der Art, wie sie beim Hervorruf sich zu verneigen hätte, rieth ihr Vorsicht an im Gefecht mit Lionel ... dann winkte er mit stummer Handbewegung ... so ging sie.

In der Garderobe war man freundlich. Darsteller geringerer Rollen machten ihr Lobsprüche über ihr Aussehen als Hirtin; aber schon war es ihr bedenklich, daß sie irgendwo zwischen den Coulissen hörte, sie wußte nicht von wem: »Ganz das Hessenmädchen!«

Sie saß dann, ehe noch der Vorhang aufging, schon unterm Drudenbaume. Aus den Coulissen wurde sie lorgnettirt. Gestalt, Kopf, Auge, alles war bedeutungsvoll, wenn nicht zu scharf, zu stechend, auch zu widersprechend der äußern Befangenheit.

Der Director ermunterte sie.

Als der Vorhang aufgezogen und der Dialog im Beginn war, durfte sie schweigen. Sie konnte sich Muth fassen, die zahlreich versammelte Menge zu übersehen.

Statt jedoch jetzt nach Serlo's Anweisung mit aller Gewalt an die Abwesenden zu denken, in die Höhe und gen Himmel zu blicken, unterschied sie gerade die Anwesenden. Ihr scharfes Auge zeigte ihr diese Persönlichkeit und jene, sie sah die Plätze, wo sie früher selbst gesessen. Ihr Sinn wurde zerstreut und der erste wohlthuende Eindruck, den sie machte, hielt sich nicht. Man fand sie hager, eckig, unsicher, man sah Verstand, wo man Gefühl erwartete. Die begeisterte Kraft eines hohen Willens schien ganz zu fehlen ...

Das Vorspiel ging wol ohne Störung vorüber, der Ton hinter der Scene wurde jedoch schon spöttisch. Um ihr gleichsam zu schmeicheln und sie für den ausgebliebenen Beifall zu trösten, sprach man luat von der Indolenz des Publikums. Hier und da hörte sie Worte aus der bekannten Parodie des Abschieds Johannens von ihrer Heerde. Auch die Schlußworte wiederholte jemand: »Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!«

In Harnisch und Helm sah Lucinde imposant genug aus. Dies schöne natürliche Haar in schwarzen Locken, diese dunkeln Augen, dieser schlanke, jetzt für die Kriegerin nicht mehr zu hohe Wuchs ... Sie hätte sich nur zu ermannen, die Stimme zur Kraft und Entschiedenheit zu erheben brauchen und würde sich vor Demüthigung gerettet haben. Aber sie blieb zerstreut, muthlos, außerhalb der Situation, versäumte die Stichwörter, sah und hörte nur auf das, was sie umgab. Von allem, was Serlo ihr angerathen, that sie das Gegentheil. Sie liebte auch die Menschheit nicht, sie haßte sie ja! So schleppte sie sich durch den ersten Act, schwunglos, und bei aller Schärfe ihres äußern Ausdrucks, ihres Verstandes, bei allem Reichthum ihrer Lebenserfahrung erschien sie ein großes, unreifes Kind.

Der Schluß des Actes blieb ohne Beifall, ja er erweckte im ganzen Theater das laute Ausbrechen einer Verwunderung ...

Hatte sich ihre erste Jugendgeschichte verbreitet, ihr Ursprung von einem Dorfe der Nachbarschaft, ihr Dienstverhältniß im Hause des frühern, exilirten Stadtamtmanns, oder war das Publikum durch eine Darstellerin der Isabeau zur Heiterkeit gestimmt ... im zweiten Acte wurde die Aufnahme bedenklich. Das Lager der Engländer wird vorgeführt, der Streit der Heerführer folgt, ihre Aussöhnung. Nun muß dem Darsteller des Lionel einfallen, zu betonen: »Glück zu dem Frieden, den die Furie stiftet!« Es war dies eine von den feinen Nuancen, die entstehen, wenn unsere »Künstler« zu »denken« anfangen. Alles lachte hellauf. Jeder sah die Erscheinung der corpulenten und so grimmigen Isabeau im Geiste als Furie vor sich. Nun kam die Verwandlung. Johanna sollte Burgund und Frankreich versöhnen. Kein Ton war jedoch Lucinden fremder als der, Streitende zu versöhnen. Bei den schwach gehauchten Worten: »Und einen Donnerkeil führ' ich im Munde« klatschte jemand ironisch. Man lachte aufs neue, sie verliert die Besinnung und kann sich zu den letzten Worten nicht mehr sammeln. Der Vorhang fällt, ehe sie die Scene ganz beendet hatte. Sie taumelte in die Garderobe zurück ... Der Gaukeltraum ihres Lebens war zu Ende.

Als der Vorhang wieder aufgehen soll und alles um sie her grauenhaft still ist, kommt der Vorstand der Bühne, ein freundlicher, wohlwollender alter Herr, dem die jüngere Generation den Ruf verschaffen wollte, daß er »einen Misgriff nach dem andern« beging, und ließ die Frauen aus der Garderobe treten. Er sagte Lucinden mit mildem, aber entschiedenem Tone:

Liebes Kind! Sie werden nicht weiter spielen! Auf den Proben konnt' ich diese Unsicherheit nicht erwarten! Sie sind entweder nicht bei der Sache oder talentlos! Unsere gewöhnliche Darstellerin hat sich bereits angekleidet und wird die Rolle zu Ende führen!

In dem Augenblick hörte man auch schon den stürmischen Beifall, mit dem die »echte Johanna« empfangen wurde.

An Selbstbeherrschung fehlte es Lucinden nicht. Nun bekam sie Haltung! Doch wenn sie auch hätte in Vorwürfe oder Klagen ausbrechen wollen, der Director würde sie nicht angehört haben. Er wurde in die fürstliche Loge gerufen.

Hohn verfolgte die Unglückliche nicht, als sie sich umgekleidet hatte, ihrem Mädchen ihre Sachen gab und in Begleitung desselben nach Hause ging. Sie mußte die ganze Länge der hintern Bühnenwand passiren und vor allen denen, die zu dem kommenden Krönungszuge gehörten, vor mehr als hundert Menschen, vorübergehen. Der Spott schwieg: massenhaft verhöhnt der Mensch den Unglücklichen nicht. Einzelne lassen sich zwar den Hufschlag des Esels auch dann nicht nehmen, und so sagte einer: Gute Nacht! Da lachten denn freilich alle, aber nur über den Muth, jetzt einen solchen »Witz« zu machen ... man sah, als sie durch die Leute ging, auf den Sprecher, nicht auf sie.

Lucinde war auf der Straße, in der Dunkelheit der Gassen. Die Menschen, die ihr begegneten, wußten nichts von ihrem Geschick und darin fand ihre starke Natur schon wieder Kraft, schon wieder Anhalt. Nur Serlo wiederzusehen, zu dem so zurückkommen zu müssen ... das benahm ihr den Athem. Sie fühlte, daß sie, die sich der Zeit nicht mehr entsinnen konnte, seitdem sie geweint, jetzt in Thränenströmen sich baden müßte, wenn sie in sein Zimmer träte, der Schein der kleinen Lampe, bei dem er zu schlafen pflegte, auf sein Antlitz fallen würde und sie ihm berichten müßte, wie es ihr ergangen!

Mühsam stieg sie, keuchend, an der Lehne der Treppe sich haltend und die erstaunten Fragen der Dienerin, die aufrichtig gemeinten Trostgründe derselben, die von einer angelegten Kabale sprach, nur mit Stillschweigen aufnehmend, in ihre Wohnung hinauf. Je näher sie dem dritten Stocke kam, desto schneller ging sie. So hatte sie noch nie das Bedürfniß nach einer Stelle, um niederzusinken, so noch nie nach einem Menschen, dem sich auszuweinen, so noch nie die Wonnen des Trostes geahnt, der in einer einzigen rein, aber auch ganz rein und selbstlos mitfühlenden Seele liegen kann ...

Niemand von den Wirthsleuten, bei denen sie wohnte, hörte sie kommen. Alles war im Theater! Sie drückt die Thür auf, sie stürzt auf das Sopha zu, sie hat ihre ganze Kraft in dem Hülferuf: »Serlo!« gesammelt ...

Der aber lag, von der kleinen Lampe beschienen, auf dem Sopha ... Er schlief nicht mehr ... Stirne, Wange, Hand waren kalt ...

Er war todt.

21.

Die Schauspieler haben die schöne Art, in äußersten Lebenskrisen sich von der herzlichsten Seite zu zeigen.

Es ist dann fast, als gedächten sie der alten Zeit, wo sie noch zu den Verfemten gehörten, gedächten ihres eigenen, meist so schwankenden Looses.

Serlo war freilich schon so verbittert gewesen, daß er auch diese Erfahrung anders erklärte.

Er hatte zu Lucinden schon vor längerer Zeit einmal gesagt:

Wir Komödianten kennen die Wirkung, die auf der Bühne Edelmuth macht! Immer Schlangen im Herzen haben, erstickt uns auch zuletzt selbst. Wir athmen ja auf, einmal für unsere bessere Empfindung ein Zeugniß aufstellen zu können. Daß uns dann aber auch der Beifall, nicht nur des Gewissens in aller Stille, sondern auch der öffentliche und der Hervorruf nicht fehle, dafür sorgen wir schon! Gilt es ein bewiesenes Herz, gilt es unser Mitleid, unsere Aufopferung, dann wird sogar ein College einmal zum Claqueur des Collegen und das – will viel sagen!

Dieser bittern und menschenfeindlichen Aeußerung erinnerte sich Lucinde, als sie den Eifer sah, mit dem man Serlo bestattete, seine Angelegenheiten ordnete, für seine Anerkennung sogar durch die Presse sorgte. Jetzt hatte jeder das Ringen des Armen beobachtet, jetzt hatte jeder gefunden, daß er eines bessern Looses würdig gewesen war. O diese Grabredner! sprach Serlo einst schon früher einmal wie in Vorahnung. Man möchte diese Kerle immer fragen, warum sie nicht früher das Maul aufthaten?

Für alle diese Liebesdienste wurde ein Comité niedergesetzt und Lucinden selbst der Ueberschuß einer Subscription angeboten.

Sie nahm für sich nur, was für das »unterbrochene Opferfest«, wie ein bewunderter Witzbold und beliebter Zeitungsreferent von der Vorstellung der Jungfrau gesagt hatte, von der Direction gezahlt wurde. Sie wohnte dann noch dem Begräbniß und der theilweisen Versiegelung der Verlassenschaft bei, schrieb an Madame Serlo und die Kinder, ließ, was sie noch entbehren konnte, dem Todtengräber zurück, um einige Jahre lang Serlo's Grab zu schmücken, und reiste ohne Plan, ohne Ziel blindlings in die weite Welt hinaus.

Zunächst nur über die düstern Berge hinweg, die waldigen, dunkeln Fichtennadelhöhen ... Nur in freundlichere, sonnigere Thäler! Sie wollte womöglich die Stadt sehen, in der Serlo geboren war und noch Anverwandte hatte. Dann hoffte sie irgendwie und wo weiter zu kommen ...

Was das Leben zur Schule machen kann, glaubte sie hinter sich zu haben. Eine Schülerin im großen Lehrgange des Schicksals erschien sie sich nicht mehr. Sie mußte schon wieder bitter lachen, als sie so im Eilwagen über die Schluchten des Rhöngebirges fuhr, dabei an die Wölfe des Revierförsters, an ihre Langen-Nauenheimer Wandlandkarte dachte und ihr immer die Klänge ihrer Rolle im Ohre summten. Auch andere Rollen wurden lebendig. Wie viel hatte sie nicht auswendig gelernt und studirt!

Fahr' hin, lammherzige Gelassenheit!

Zum Himmel fliehe, leidende Geduld!

Diese Worte wiederholte sie am öftersten. Verirrung schien ihr alles, was sie bisher erlebt. Sie sah neue Ströme, neue Thäler, neue Ebenen; sie fühlte wieder die Kraft, ihr Schicksal sich selbst zu gestalten.

Wie aber und womit? Wo den Handschuh hinschleudern zur Fehde gegen Natur, Menschen, Erde, Himmel? Nach Schloß Neuhof zurückkehren? Dort dem Kronsyndikus, wenn er noch lebte, ein Wachtauf! Wachtauf! rufen? Thatsachen geltend machen, die nicht ganz aus ihrem umflorten Gedächtniß entschwunden waren? Dann hätte sie freilich nach Norden zurück müssen und schon hatte sie's unwiderstehlich nach dem Süden gezogen.

Als man Serlo auf dem Friedhofe, dem katholischen, begraben hatte, war sie zugegen gewesen und hatte von fern gestanden. Sie gehörte dem Dahingegangenen zwar am meisten an, aber das auf der Bühne Erlebte zwang sie, an den Grabeshügel erst dann heranzutreten, als alle sich entfernt hatten, der Weihrauch verduftet, die schönen Gesänge des Theaterchors verklungen waren. Da hatte sie noch eine Thräne in ihrem brennendheißen Auge gehabt. Dann warf auch sie drei Hände voll Erde auf das Grab, nahm jene Rücksprache mit dem Todtengräber und war nur noch eine Weile unter den Gräbern gewandelt. In der Nähe lag der Kirchhof, auf dem ihre Schwester begraben sein mußte ... Er stand offen ... Sollte sie hineingehen? ... Ueberall las sie: »Friede und Glück« ... Wo es so viel Gräber gibt, so viel müde, gequälte, betrogene Herzen, Glück? Ja, Glück, unter der Erde im Nichts sich ausruhen! Im Nichts! So glaubte sie schon. Alles schien ihr Traum und Wahn. Verwirrung, Krieg, fester Wille nur, und den Fuß gesetzt auf jeden Nacken, der sich nicht beugen will! Das schien ihr eine Aufgabe, allein des Lebens würdig ... Sie ging nicht auf den Friedhof.

In eine altberühmte Stadt kam sie und fand Verwandte Serlo's. Diese fragten nach seinem Nachlaß.

Sie sagte, sie hätte nichts, ging und belächelte ihre Anwandlung von Gefühl.

Mit sich kämpfend, ob sie an den Kronsyndikus, vielleicht an seinen Sohn, den Oberregierungsrath, schreiben, bitten, vielleicht drohen sollte, las sie in der Zeitung des Orts folgende Aufforderung:

»Man sucht im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß. Näheres bei dem Director.«

Ein orthopädisches Institut! Eine Erziehungsanstalt für die Unarten des Körpers; eine Correctionsanstalt der Natur! Die hier gemeinte war weit berühmt. Sie war eine der ersten gewesen, die man in Deutschland überhaupt anlegte; sie wurde vom Landesfürsten königlich unterstützt. Es strömten ihr aus allen Gegenden, selbst aus England und Amerika Pfleglinge, größtentheils junge Mädchen zu, von denen nicht einmal alle an ganz auffallenden, durch das Streckbett zu heilenden Fehlern litten; die Neigung, dem Körper seinen natürlichen Wuchs zu entziehen, ist ja leider tief in die erste Erziehungs- und Bekleidungssitte unserer Zeit eingerissen, so tief, daß bei einer Untersuchung, die jener Fürst einmal in einem adeligen Töchterinstitut anstellen ließ, fast die Hälfte von hundertachtzig jungen Mädchen keinen richtigen Wuchs oder Gang hatte!

Lucinde stellte sich dem Director vor und gab allerlei Auskunft über ihr vergangenes Leben. Da sie sich gewandt französisch ausdrückte, etwas Englisch verstand, vollkommen fertig Klavier spielte, war die Prüfung bald geendigt. Auch ihr bestimmtes Wesen gefiel. Man wurde über die Bedingungen einig. Von den Kennzeichen, die ihr sonst noch etwa mangelten, hatte man nicht gesprochen; daß sie katholisch war, schien sich von selbst zu verstehen.

Gleich schon am Tage darauf sollte sie beim Institut eintreten.

Da der Vorstand und Besitzer der Anstalt Arzt war, der seine Zeit geregelt hielt, so wurde die genaue Stunde angegeben, wo er Lucinden in die Säle einführen wollte. Morgen in der Frühe »um punkt neun Uhr« wurde sie erwartet.

Es war um die Osterzeit. Der morgende Tag war, wie sie im Gasthause hörte, ein Quatembertag. Schon früh wurde sie vom Geläut der Glocken geweckt und als sie sich angekleidet hatte, hörte sie, daß in der Kathedrale vom Bischof heute eine Priesterweihe vorgenommen wurde. Drei junge Diakonen sollten die letzten Weihen erhalten.

Nach acht Uhr stieg auch sie, von Unruhe und Ungeduld getrieben, die Anhöhe empor, auf welcher die Kathedrale lag, umgeben von Resten alter Bauwerke. Hier sollten deutsche Kaiser einst eine Pfalz, einen Palast gehabt haben, an derselben Stelle, wo jetzt nur eine Schwadron Chevauxlegers einkasernirt lag in allerlei Anbauten, die mit Galerieen hinausgingen auf einen Platz, den man den Schloßhof nannte und wo allerdings an einer Stelle ein alter Thurm mit Wendeltreppe und ein steinernes Portal, über welchem der Thierkreis abgebildet war, unmittelbar um tausend Jahre aus der Gegenwart hinausversetzten.

Die Kathedrale selbst war in byzantinischer Form angelegt, aber von dem Geschmack späterer Jahrhunderte mannichfach ergänzt durch Neubauten, Rundkränze und Thürme allerlei Stils. An den obern Stockwerken der Thürme sah man Säulen und Statuen, die Thüren waren nicht eben hochgewölbt, aber reich geschmückt mit Bildwerken. Die Nähe der kaiserlichen Burg chien Einfluß gehabt zu haben auf die Gegenstände dieser Reliefs; man sah Allegorieen mit den Attributen der Gerechtigkeit, Salomo, den Richtenden, eine verhüllte Gestalt mit der Wage in der einen Hand und dem Schwert in der andern ihm zur Seite. Dazu gesellte sich in noch nicht allzu kirchlicher Ausdrücklichkeit der wunderlichste Schmuck von Thieren und manche humoristische Ausgelassenheit, die man am Eingang so heiliger Stätte am wenigsten gesucht haben würde ... Ein Silen reitet auf einem Ziegenbock, ein Affe schreitet gravitätisch in Gewändern daher, ein Löwe spielt mit jungen Hasen ... Es ist als wenn sich das alte Leben der Zeit in Markt und Wald nur in Stein verwandelt hätte und sich seinerseits der trauten Nähe des Allerheiligsten auch erfreuen, vielleicht aber auch an der Pforte andeuten wollte, wessen man alles, die heiligen Räume betretend, vom Ungeistlichen draußen uneingedenk werden sollte.

Ostern war spät gefallen, aber die reichen Blumenspenden, die Lucinde in den Straßen getragen fand, waren doch zu kostbar für die Jahreszeit. Hier mußten ganz besondere Opfer der Liebe stattfinden, wenn man diese Kränze und Kronen sah, die, aus den schönsten Blumen gewunden, noch wie verspätet eilends in die Kathedrale nachgetragen wurden. Die Menschen drängten sich, vorzugsweise eilten die Frauen. Eine Priesterweihe ist einer der anregendsten Vorgänge des kirchlichen katholischen Lebens, gleichsam eine geistliche Hochzeit, fehlt doch bei Ertheilung der ersten Grade selbst eine sichtbare Braut nicht, ein kleines Mädchen, dem der entsagende Priester angetraut wird, als dem Symbol der reinen, unentweihten, jungfräulichen Kirche. Hier handelte es sich um drei junge Diakonen, die schon die letzten Weihen erhielten und sozusagen nicht »ein-«, sondern, wie Lucinde auf Erkundigung vom Volke erfuhr, »ausgeweiht« wurden.

Lucinde machte erst einige Gänge durch die alte Pfalz, betrachtete die geheimnißvolle Wohnung des Bischofs, hinter der ein Garten mit schon Blüten ansetzenden edeln Bäumen sich erhob, und umschritt die Kathedrale, die wie ein Sinnbild des Lebens selbst, abwechselungsreich und fast in ihrem ursprünglichen Zweck überladen und erdrückt erschien ... fehlte doch selbst an einem Ausbau ein Schalter mit frischem Backwerk nicht, in der Kirche ein Bäckerladen! Einer alten Sitte zufolge mußte hier jeder neu gewählte Domherr weißes Brot kaufen und an die Schuljugend, die ihm Glück wünschte, selbst vertheilen ... So bot die Kirche Brot des Lebens, geistiges und leibliches.

Lucinde, gedenkend, daß sie in ihrer neuen Lage die ihr mangelnde und von ihr als unwesentlich vorausgesetzte Bedingung ganz verschwiegen hatte, wollte das geistige wenigstens am Geschmack versuchen und trat in die Kathedrale ein.

Das Innere derselben war trotz der Sonne von Kerzen erhellt, mit Blumenkränzen durchzogen, von Orgelklängen durchbraust; Stimmen redeten laut und so voller neugierig sich drängender, auf den Zehen stehender Menschen war der Raum, daß Lucinde nur auch sogleich von dem, was vorging, angezogen wurde und der Betrachtung des Baues selbst, seiner hohen Gewölbe, seiner bunten Fenster, seiner Kapellen und Grabmäler sich jetzt nicht widmen konnte.

Die heilige Handlung war schon in vollem Gange. Der Bischof stand am Hochaltar in prächtigen Gewändern. Rings um ihn her eine Reihe junger Priester niederkniend, vor ihm drei andere, die, welche eben die letzten Weihen empfingen.

Eben redete der Archidiakon den Bischof mit den Worten an:

Die heilige Mutter Kirche verlangt, daß die gegenwärtigen Diakonen zur Würde des Priesterthums geweiht werden!

Der Bischof sprach:

Weißt du, daß sie würdig sind?

Der Archidiakon erwiderte:

Soweit es die menschliche Gebrechlichkeit zu erkennen vermag, weiß ich es und bezeug' es!

Nun wurden die Namen der drei zu Weihenden genannt, die mit Kerzen in der Hand vor dem Bischofe standen:

Joseph Niggl, Beda Hunnius, Bonaventura von Asselyn.

Der letzte Name machte die Hörerin lebhafter aufblicken. Dieser Name Asselyn war auf Schloß Neuhof nicht selten genannt worden. Der Sohn des Kronsyndikus, der Oberregierungsrath, hatte die Witwe eines Herrn von Asselyn geheirathet. Sie erinnerte sich, daß sein mitübernommener Stiefsohn Bonaventura von Asselyn genannt wurde, doch war er für den Militärstand bestimmt gewesen und hätte jetzt Offizier sein müssen.

Sie blickte näher ...

Jetzt überfiel sie ein Schauer ...

Alle ihre Umgebungen wandten sich, als sie einen zwar unterdrückten, aber doch genugsam hörbaren ängstlichen Schrei ausstieß ...

Das ist ... hatte sie erst ganz laut gesagt, ... leiser aber und schon verklingend auf ihren plötzlich erbleichenden Lippen hinzugefügt: ja – Serlo!

Der Bischof sprach soeben von der Bürde und Würde des geistlichen Amtes ...

Lucinde hielt sich an einen der dicht besetzten Kirchenstühle im Innern des Schiffes. Sie starrte auf den jungen Priester, den man Bonaventura von Asselyn genannt hatte. Er war wie Serlo! Serlo, wie er vor zehn Jahren hier hätte können gestanden haben! Derselbe schlanke Wuchs, dieselbe würdige Haltung, dieselben, als er sich wandte, ganz sichtbaren edeln Gesichtszüge, derselbe feine Schwung des Profils, dieselben dunkeln Augen, das Haar, das schon die Tonsur empfangen und ringsum rabenschwarz war ...

Aller Augen theilten das Interesse für diesen jungen Novizen des Priesterthums. Wäre dies nicht gewesen, die Unruhe, die Lucinde verrieth, hätte noch störender auffallen müssen.

In der Litanei der Heiligen, die jetzt vom Bischof vor den niederknienden Priestern und während er selbst kniete, begonnen wurde und deren wiederholtes: Bitte für uns! die dichte Menschenmasse volltönend und durch die nicht endende Gleichmäßigkeit fast die Sinne verwirrend nachmurmelte, fand Lucinde Zeit sich zu sammeln und die krankhafte Aufregung ihrer Gefühle zu beschwichtigen.

Als sich endlich die Betenden erhoben und wieder die lange schlanke Gestalt Serlo's wie aus dem Grabe erstanden vor ihre fieberhaft erregte Phantasie getreten war, hätte sie sich den mit Blumen bestreuten Aufgängen zum Hochaltar noch mehr genähert, wenn nicht einige das Gewölbe mächtig durchdröhnende Schläge der Thurmuhr sie zur Besinnung gebracht hätten. Neun schlug es, die Stunde, wo sie schon im Institut erschienen sein sollte.

Noch einmal sah sie an den Hochaltar, dann ringsum ... es waren Hunderte von jugendlich erblühenden Mädchen anwesend, ganze Schulen, ganze Pensionate, ... konnte nicht auch jenes Institut ... nein, sie besann sich, die künftigen Pfleglinge, zu denen sie eilen mußte, führten ein Leben, das dem der andern nicht glich ... sie lagen auf Betten, bewegten sich in Bändern und Maschinen ... diese arme Kinder fehlten.

Nun riß sie sich los. Noch im Gehen war sie nur zu dem Priester hingewandt, der ihr Serlo schien ... Serlo, wie er einst gewesen sein konnte, sein mußte!

Eben streckte der Bischof die Hand über die zu Weihenden aus, sprach Worte des Segens, begann die Ceremonieen an dem ersten der drei, indem er die Stola, die er als Diakon von der linken Schulter zur rechten trug, ihm kreuzweise über die Brust hängte und dann sprach:

Nimm auf dich das Joch des Herrn! Denn sein Joch ist süß und seine Bürde ist leicht!

Wie sie, mit dem Nachklang dieser Rede, der Anstalt zuflog und dort glücklicherweise noch nicht verspätet ankam, wußte sie kaum ...

Das große Gebäude des orthopädischen Instituts nahm sie auf. Es war geschmackvoll und sogar luxuriös eingerichtet. Hinterwärts hatte man den Blick in einen Garten, wo der Rasen schon in üppigem Grün stand. Durch eine geöffnete Glasthür trat man in einen großen Saal, den zierliche Treibhauspflanzen schmückten ... Dann freilich kamen die trübern Eindrücke ... Saal an Saal ... Bett an Bett. Kinder darunter, die die Hoffnung ihrer Mütter auf Schönheit ganz betrogen hatten; aber doch viele auch, die sie wol noch einst erfüllen werden ... Ein Jahr, und eine Neigung der Hüfte oder der kaum sichtbare ungleiche Wuchs einer Schulter ist geheilt! Einige dieser jungen ringsum liegenden Mädchen werden vielleicht ein wenig, ganz leise nur und unscheinbar mit dem einen Fuße weniger behend durchs Leben schweben; aber was thut das ihrem rosigen Lächeln? Was thut das ihrer neckischen Lust, die einen ganzen Kreis in gleicher Lage Befindlicher ringsum auf den Prokrustesbetten eben zum Lachen bringt! Diese schelmischen Augen dort, diese sinnigen hier, diese Rosen auf den Wangen, diese Lilien auf Arm und Nacken, jede eine Knospe voller Hoffnung für die Zukunft, jede so ganz das schöne, liebevolle, reiche Geheimniß eines jungen Mädchenlebens! ... Wer kann sonst schon solche junge Mädchen im traulichen Verein spielend, harmlos dem Augenblick dahingegeben sehen, ohne nicht zu gedenken: Was wird euch allen noch einst beschieden sein? Welche Flammen werden in euren Herzen lodern? Wo waltet jetzt wol die Hand, die liebend einst die eurige erfäßt? Vor welchem Munde, der von Liebe spricht, wird euer Jugendmuth verstummen, und ach! welcher von euch allen sind noch die größten Leiden aufgespart? Der vielleicht, die jetzt die Glücklichste scheint? Der vielleicht, die ihr alle wie eure Schwester liebt, mit der ihr eure Freuden, eure kleinen Geheimnisse theilt und der ihr, so oft ihr unter den Blumen des Feldes sein dürft, sein könnt, die schönsten bringen müßt, die ihr am Wege gefunden? – bringen selbst dann, wenn der Geliebten ein Fuß nicht so schnell gehorcht wie der andere?

Eine solche Königin unter dem jungen Volke, eine schon emporragende Lilie unter Maiblumen und Veilchen, ein Wesen schon voll Seele, während ringsum nur noch Gemüth, Verstand und Phantasie sich entwickelten, war die junge, zu früh emporgeschossene und deshalb in ihrem Wuchse ängstlich überwachte Sechzehnjährige, welche vorzugsweise der Obhut, der Gesellschaft, der Unterhaltung Lucindens angewiesen werden sollte.

Der Vorstand des Instituts hatte die neue Lehrerin und Gesellschafterin des Hauses im Wandeln durch die Säle laut eingeführt. Erst hatte er sie allen flüchtig vorgestellt, dann aber mit besonderm Vorzug einer unter ihnen, die in einem abgesonderten Zimmer lag und von ihm Comtesse Paula von Dorste-Camphausen genannt wurde.

Wie Lucinde auch diesen Namen hörte, erschrak sie. Auch diesen kannte sie ja schon! Es war ja jene Größere von den Mädchen gewesen, die sie am Weiher im Park von Neuhof beobachtet, jene Gräfin Paula, die reiche Erbin, die Nichte des Kronsyndikus, die vielleicht einst mit jenem österreichischen Offizier vermählt werden konnte, den sie vor zwei Jahren in Kiel gesehen ... Kam das alles hier so wieder zusammen? Wie fügte sich Ring an Ring? Sollte sie die Kette festhalten, sich binden, aufs neue sich in das große, bewegte, thatsachenreiche Leben um Schloß Neuhof und die uralte Stadt Witoborn hinüberziehen lassen?

Auf einem schrägliegenden Ruhebett, von einigen Gurten und Bandriemen, einigen eisernen Klammern in fester Lage gehalten, lag, weißgekleidet, das schlanke junge Mädchen, eine Gestalt zart, wie durchsichtig, ganz von jenen länglichen Formen, sowol im Oval des edeln griechischen Profils, wie des Oberkörpers und der Hände, die wir gelernt haben als Ausdruck des Seelischen zu nehmen.

Die Comtesse, die ihr eigenes Zimmer hatte, schien zu schlummern.

Der Director sagte leise:

Sie ist krank und mir ganz besonders empfohlen! Sehen Sie nur! ... Sie neigt zum Traumschlafe ... Sie spricht! Ganz deutlich! Und doch schläft sie!

Lucinde trat näher ... Ihr Herz pochte ...

Murmelnd sprach das junge Mädchen Worte, die einem Gebet gleichkamen.

Der Director schloß die Thür, die zu den lauten Sälen führte ...

Nimm hin, sprach das junge Mädchen, leise und langsam betonend, nimm hin – das – priesterliche – Kleid – welches – die Liebe bedeutet! – Gott ist mächtig – genug in dir – die Liebe zu vermehren und sein Werk – zu – vollenden –!

Der Director horchte hoch auf; so zusammenhängend hatte die Kranke noch nie gesprochen.

Lucinde träumte noch von Neuhof, von der Kathedrale ...

Die Schläferin schwieg eine Weile, dann fuhr sie deutlich fort:

Du willst, o Herr – diese Hände – weihen und heiligen – durch die Salbung – damit alles, was sie weihen – geweiht und geheiligt sei im Namen unsers Herrn!

Dann setzte sie mit einer andern, fast männlichen Stimme hinzu:

Amen!

Was mag sie beschäftigen? fragte der Director erstaunt.

Lucinden aber war es, als wäre sie an den Hochaltar zurückversetzt, wo sie Serlo gesehen zu haben glaubte, wie er von den Todten erstand.

Der Director winkte, daß sie nicht spräche; eben wollte sie an die Priesterweihe erinnern.

Die Schlafende fuhr fort:

Nimm hin – den Heiligen Geist! Welchen – du die Sünden – erlassen wirst, denen – sind sie erlassen! Welchen – du sie – behalten – wirst, denen – sind – sie – behalten!

Sie spricht dem Bischof nach, der in diesem Augenblick in der Kathedrale die Priesterweihe hält! ... flüsterte Lucinde.

Sieh! Sieh! bemerkte jetzt der Director kopfschüttelnd und setzte dann leise und fast lächelnd hinzu: Es ist ein Verwandter ihrer Familie darunter, Zögling des hiesigen Convicts, ein junger ehemaliger Offizier, ... er wird in diesem Augenblick ausgeweiht ...

Ein Herr von Asselyn!

Ganz recht!

Der Director flüsterte nach einer Weile:

Sie hat eine große Verehrung vor diesem ihrem Landsmann ... sie leidet entweder darunter, der Feierlichkeit nicht beiwohnen zu können, sieht sie aber im Geiste vor sich ... oder ... sie wünscht wol gar ...

Auf dieses bedeutungsvoll gezogene: »Wol gar«, in dem Lucinde die Vermuthung erkannte, die Kranke litte darunter, daß der ihr Theuere überhaupt Priester wurde und Frauenliebe nun ein ganzes Leben lang nicht mehr erwidern durfte, schienen plötzlich die Empfindungen der Schlummernden Inhalt und Ausdruck zu verändern. Die Mienen verdüsterten sich, die Hände hoben sich als wollten sie irgendetwas Störendes verhindern. Der Rücken, den sie nicht bewegen konnte, schien sich erheben zu wollen. Zurückgehalten von dem Mechanismus des Bettes, mehrte sich ihre Angst. Seufzer entrangen sich der Brust, die sich mächtig hob. Der Mund blieb starr geöffnet als wollte er: Nein! Nein! Nein! rufen ...

Da fuhr der Director sanft über ihr Antlitz und weckte sie.

Befremdet sah sie um sich, als hätte sie hier zu erwachen nicht vorausgesetzt.

Als dann der Director ihr die neue Pflegerin vorgestellt hatte, veränderten sich ihre Züge allmählich zur frühern Milde. Sie schien Lucinden nicht von früher zu erkennen. Sie lächelte gelassen, ergeben, sanft, ja dies Lächeln war wie jener lichte Hauch, jener sanfte röthliche Schimmer im Innern einer weißen Rose. Tief andachtsvoll, gläubig der Gruß ihres schönen Antlitzes. Sie bewegte sich nicht, aber in den Augenwimpern lag etwas, wie wenn sie sich im Geiste verneigte. Sie verneigte sich wie einem Engel der Verkündigung.

Kommt aber wol der Engel, der sich in freundlicher Anrede jetzt über Paula von Dorste-Camphausen niederbeugt, aus den reinen Regionen des Lichtes?

Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen lichtgeborene gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem nachtdunkeln Gefieder, das an Lucindens Haupte, wie einer Tochter Lucifer's, dämonisch aufzurauschen scheint!

Nachdem sie ihr Zimmer angewiesen erhalten und ihren Einzug geordnet hatte, machte sie einen ihrer ersten Ausgänge zum Bischof.

Sechs Wochen später holte sie für ihre neue Stellung die Bedingung nach, der katholischen Kirche anzugehören.

Ende des ersten Buchs.

Zweiter Band
Zweites Buch
1.

Den Strom zu nennen, auf dem ein in erster Morgenfrühe ausgefahrener Dampfer soeben seine schäumenden Furchen zieht, drängt es unser ganzes Herz.

Doch sei von ihm nur gesagt, daß er von den Frage- und Ausrufungszeichen seiner ersten Alpen-Jugend an bis zu den letzten versandenden Gedankenstrichen und Stirnrunzeln des Alters groß und bedeutsam ist wie das Menschenleben selbst ... Wie grüßen uns die Zinnen der Thürme, die rings auf deinen Felsenufern ragen, du bei Sonnenschein und Nebel gleich Geliebter! Wie schlägt die Welle an deine Wehre und Buchten! Wie kräuselt sich über gesprengtem Felsenriff in deinem offenen Bett jetzt spielend die Woge, wo sonst die Strömung tödtliche Opfer forderte! ... Und in diese grüne Gegenwart ringsum, diese blaue über uns, in dies Singen und Rufen von den Gestaden, in dies Läuten von uralten Thürmen in grauen Städten und Weilern spricht Sage und Geschichte herein so lebendig, so gegenwärtig, als wenn auf den Kanten der Felsen immer noch die verlockenden Geisterjungfrauen säßen und ihre goldenen Locken im Mondlicht strählten, auf den Söllern immer noch die Ritterfräulein mit ihren Schärpen winkten, die sie dem Kämpen zum Lohne gestickt, immer noch der schwere Tritt der schellenbehangenen Rosse, der vom Felsen drüben zum Felsen hüben das Echo weckt, kommen könnte von einem Banner Geharnischter, nicht von den Fuhrleuten mit ihren zweirädrigen Karren und den an den Stirnen mit einer großen rothen wollenen Agraffe geschmückten, über den Hufen so langzottig behaarten Thieren, die in unsere Keller nur den Wein verführen! »Nur« den Wein! »Nur« deinen goldensten Hort! ... Wir Undankbaren und so schon durch deinen Reichthum Verwöhnten!

Bunt und lustig drängen sich die Passagiere des Dampfboots ... Nennt ihr den Gehalt der Gegenwart leer und flüchtig, so ist gewiß das Leben auf Eisenbahnen und Dampfschiffen dem kurzen Moussiren zu vergleichen, das die Weinperlen oben zum flüchtigen Kranze vereinigt. Närrische Blasen, die da aufgeworfen werden von Ost und West! Moden, ihr tollen, wer hat euch erfunden! Trägt man die Mützen jetzt so flach, die Burnusse, die Plaids, die Abd-el-Kaders mit dieser kühnen Schwenkung um die Schulter? Was welscht und radebrecht der Zeitgeist im Gespräch zusammen, nicht nur äußerlich barock dem. Ohre nach, auch innerlich dem Geiste? Sind wir schon auf dem Hudson oder Delaware, daß uns so yankeehaft, zu Muthe wird? Und müssen wir wirklich der Versuchung widerstehen, diese Kellner mit ihren carrirten Halsbinden und grotesk gestreiften Inexpressibles nicht für Affen zu halten? Großer Saturn, verspeise deine eigenen Kinder und nimm uns alle hin zu deinen urewigen Frühstücken, wenn diese Reisewelt der Dampfschiffe, Eisenbahnen und Hotels mehr sein wollte, sein dürfte als der kurze Schaum, den unser Zeitalter aufwirft, wenn sein hoffentlich tieferer innerer Gehalt im ersten Anschuß an die Atmosphäre tritt!

Auch auf der »Prinzessin Marianne« – Albums, Panoramas, Plaids, blaue, grüne, rothe Schleier, Firnißstiefel, Cotteletts, Beefsteaks ... Schooshündchen ... hinterpommersche Welt- und Zeitansichten ... Dünste und Nebel über Baumwolle, Bundestag, Whigs und Tories, Louis Philippe's neueste bombenfeste Kutschen, Thalberg und Liszt ... alles was sich nur dem Streit des Zeitalters der Revolutionen mit dem Horror vacui des immer siegreichern Systems der materiellen Interessen entbinden und entwinden kann ...

Dann aber von Station zu Station scheidet sich von diesem kosmopolitischen Durcheinander doch Sonderleben um Sonderleben ... Die ausgesteckte Fahne auf einem Häuschen am Ufer bringt neue Passagiere, ein Zeichen vom Schiffe kündigt den Nachenführern Abgehende an. Ja, es gibt noch einzelne in der Welt! Man schwimmt und schwatzt oder schweigt nur so eine Weile im Allgemeinen mit. Abseits sich wendend bleibt jedem wieder sein eigenes Herz, sein eigenes Schicksal, sein eigenes angstvolles Mühen, im allgemeinen Drängen sein Ziel nicht zu verlieren.

Schon seit der in den engern Umgebungen des Stromes abgehaltenen Mittagsmahlzeit hatte eine Dame zu öfterm den Steuermann nach der baldigen Nähe eines Ortes gefragt, wo sie abzusteigen gedachte.

Schon lange stand sie an der kleinen Thür, an welcher die Stiege aufgezogen hängt, über welche die Abgehenden in Kähne steigen müssen, die von den kleinern Stationen dem Dampfschiff entgegenkommen.

Manchem schon mochte die Dame wegen des unausgesetzten Vorbehaltens ihres blauen Schleiers aufgefallen sein. Ein einfacher gelber Strohhut schützte sie gegen die senkrecht fallenden Strahlen der Augustsonne. Den trotz der Hitze zuweilen heftig aus den Biegungen des Stromes hervorbrechenden Windstößen hielt ein schottischer Mantel Stand von grün und roth carrirtem Muster und leichtem Baumwollzeuge. Neben der schlanken Gestalt stand schon in Bereitschaft ein Koffer von ganz neuem hellbraunen Leder, ein Koffer, der so klein und handlich war, daß er nur auf die nothwendigsten Bekleidungsgegenstände schließen ließ; selbst eine Hutschachtel fehlte; man mußte annehmen, daß der gelbe Strohhut, den die Dame trug, der einzige war, den sie für ihre Reise nöthig hielt. In der Hand hielt sie noch eine kleine buntgewirkte Bügeltasche ...

Frauen und Männer, denen solche indiscrete Prüfungen ebenso nahe lagen wie uns, gab es schon seit einige Stunden genug. Die Dame aß nichts, trank nichts, sah nur starr und stumm in die Abwechselungen der Gegend, setzte sich zuweilen mit großer Sicherheit auf diejenige Seite des Schiffs, die vor der Sonne Schutz bot, und brütete unter ihrem blauen Schleier und schottischem Mantel und Sonnenschirm über Dinge, die schon mancher gern errathen gehabt hätte.

Entgehen konnte niemand, daß die Reisende jung war. Durch den dichten Schleier funkelten sogar zwei brennende Augen von halb scheuer, halb klug prüfender Unruhe. Richtete man dann plötzlich auf sie selber entweder zu lange den Blick oder ein Glas, das scheinbar die alten Burgen und Städte, in der That aber nur die Züge der seltsamen Unbekannten musterte, so entzog sie sich der Neugier durch eine rasche Wendung, die zugleich verrieth, daß sie niemals gänzlich in die Abwesenheit ihrer Gedanken versank, die sie scheinbar zeigte, sondern gegenwärtig blieb allem, was sie rings umgab, vorzugsweise dem Interesse, das sie einflößte.

Die Ungeduld, die die verschleierte Dame bei alledem zu beherrschen schien, war offenbar auf den Augenblick gerichtet, wo sie das Schiff zu verlassen hatte.

Der größte Theil der Passagiere, saß noch an der auf dem Verdeck aufgeschlagenen Tafel und bewunderte gerade beim Dessert – Stachelbeeren, die in dieser himmlisch üppigen Gegend so groß wie Zwetschen gereift waren, als man endlich jene Station erreicht hatte, nach der die Verschleierte schon mehreremal den Steuermann reglementswidrig angeredet und gefragt hatte.

Eine neugebaute Kirche, die auf einem Vorsprung des linken Ufers stand, war schon lange als Merkziel derselben in Sicht. Hier erweiterte sich der Strom und nahm die mildern Linien der Umgebungen eines Sees an.

Endlich hielten die Schaufelräder in ihrem gleichmäßigen Takt, das Schiff kam in eine schwebende Bewegung, der Kahn vom jenseitigen Ufer tanzte schon in den aufgeregten Wogen näher, das Seil wurde vom Bord den Schiffern zugeworfen, die Brücke herabgelassen und mit sicherer Haltung, den Sonnenschirm einlegend, stieg die Dame in den Kahn. Ein kurzes Brausen der Räder, ein geschicktes Auffangen des nachgeworfenen Koffers, ein Augenblick des bedenklichen Schwankens des noch gleichgewichtlosen Kahns und der Dampfer schoß weiter, der Kahn dem Ufer zu.

Die neugebaute St.-Maximinuskapelle wurde sonst vom Dampfschiff aus stark besucht. Heute traf es sich, daß die Schiffer nur diesen einzigen Passagier ans Ufer setzten.

Wie weit ist es bis St.-Wolfgang? fragte die Reisende, den Sonnenschirm wieder ausspannend und mit einem bestimmten und sichern Tone.

Zwei Stunden!

Bekomm' ich einen Einspänner dorthin?

Gewiß!

Wo?

Im Weißen Roß!

Wollen Sie mich ins Weiße Roß führen?

Da liegt's am Wasser!

Die kurz angebundene Sprecherin blickte hinüber und sah das Hotel »Au Cheval Blanc« in großen Buchstaben angekündigt.

Den Schleier hatte sie jetzt zurückgeworfen, den Mantel abgenommen, den ein Schiffer beim Aussteigen über den Arm behielt, während der andere das Kofferchen auf die Schulter lud. Die über ein ausgelegtes Bret behend das Ufer Betretende zeigte sich zu Land und Wasser von gleicher Sicherheit.

Der Garten des Weißen Rosses geht fast bis dicht an das Ufer des hier mit besonderer Schönheit sich erweiternden, im Sonnenlicht glänzenden Stromes. Mit wenig Schritten durch den Sand war er erreicht.

Als alle drei in den Garten getreten waren, warteten die Schiffer weiterer Befehle ...

Ein dicht an der Thür auf einer geebneten Terrasse unter einem anmuthigen, schattenreichen Baume gelegener Tisch schien diese zu entscheiden.

Die Dame bezahlte, ließ den Koffer neben sich hinstellen, befahl aber wegen eines Wagens den Wirth zu rufen. Noch rief sie dem einen der Schiffer, der deshalb ins Haus ging, nach, er möchte ihr auch »eine Kleinigkeit« zu essen bestellen. Sie hatte an der Table d'hôte des Dampfschiffs nicht theilgenommen.

Einige Augenblicke war sie allein. Vor der steinernen Balustrade über die Terrasse auf- und abgehend und jetzt auch den Hut sich freier bindend, um wie von einer langen Gefangenschaft in der himmlischen Luft aufzuathmen, musterte sie die Gegend, die sie ohne Zweifel zum ersten mal sah und vom Lande aus noch viel entzückender finden mußte als vom Dampfschiff, das immer nur Panoramen gibt, in denen man sich, weil man eben zu viel sieht, meist ohne Befriedigung verliert ... Nur die Gegend ist ja schön, die Eines gibt und das Andere ahnen läßt.

Die Schiffer kamen zurück mit dem Wirth.

Es wurde ein Einspänner behandelt, der die Dame nach dem zwei Meilen tiefer ins Innere hinein gelegenen Orte St.-Wolfgang führen sollte.

Bis zum Anspannen wünschte die Reisende ein mäßiges Mahl zu nehmen, dann die St.-Maximinuskapelle zu besuchen und von dort mit dem Wägelchen abgeholt zu werden. Sie erkundigte sich genau nach den üblichen Preisen, bedingte sich das, was sie zahlen wollte, mit großer Bestimmtheit und erklärte, das kleine Mahl, das sie in allen Einzelheiten specificirte, unter dem »schönen fruchtbeladenen Apfelbaum da« und »an jenem Tisch« einnehmen zu wollen.

Der Wirth ging. Die Reisende nahm jetzt den Hut vollends ab und warf ihn auf den ehemals weiß angestrichen gewesenen Tisch. Ihr Antlitz glühte. Mantel und Hut und Schleier hatten ihr heiß gemacht. Mit der ganzen Behaglichkeit, sich allein zu wissen, warf sie sich auf die harte Bank. Einem auf schwellender Ottomane Ruhenden konnte es nicht bequemer sein.

An die Reize der Natur schien sie sich bald gewöhnt zu haben, von einem langen Erstaunen überhaupt nicht viel zu halten. Nur zur Maximinuskapelle warf sie zuweilen einen prüfenden Blick. Dazu las sie, doch ohne besondern Eifer, dasjenige aus einem Führer, den sie aus ihrer kleinen, jetzt aufgeschlossenen Handtasche nahm, was über die Oertlichkeit, auf der sie sich befand, dort gesagt sein mochte.

Das Haupt aufstützend, zuweilen umblätternd, zuweilen nach einem Gegenstande auf dem Flusse, zuweilen rückwärtsblickend, wo ein Tellergeklapper die Anstalten zu ihrem Mahle verrieth, erkennen wir sie. Es ist Lucinde ... Drei Jahre älter, als wir sie verlassen haben.

Sie trägt das dunkle Haar in Flechten wie sonst, aber mit einem hohen Thurm, wie eine Krone; ihr Wuchs ist hoch wie sonst, aber elastischer in der Haltung; ihre Augen sind glühdunkel, doch etwas spitz und stechend; ihr Lächeln verschönt noch immer die frühern plastischen Formen der Nase, der Lippen, des Kinns, aber zuletzt verliert es sich in eine Bitterkeit um die Mundwinkel; ihr Unternehmungsgeist scheint wiedergekehrt, wie in der Zeit, wo sie zu Pferde saß; das ganze Wesen hat die alte Unreife und Unfertigkeit verloren, womit freilich auch der Reiz des Mädchenhaften abgestreift ist. Lucinde ist eine Dame geworden, zu deren Erscheinung unzertrennbar die Glacéhandschuhe zu gehören scheinen, die sie selbst während des Essens nicht abzieht.

Mit einer an ihr uns ganz neuen Versunkenheit in sich selbst, die auf eine mächtige innere Gedankenarbeit schließen läßt, hat sie bald das bestellte und von Kellnern gebrachte Mahl mechanisch eingenommen.

Zur letzten Schüssel war der Wirth zurückgekehrt und hatte auch den verlangten Wagen in Aussicht gestellt.

Kennen Sie den Pfarrer von St.-Wolfgang? fragte sie.

Von St.-Wolfgang? Gewiß!

Es ist ein Herr von Asselyn?

Von Asselyn!

Was wissen Sie von ihm?

Man nennt ihn einen Heiligen ...

Ist er's nicht?

Einen jungen Mann kann noch keiner einen Heiligen nennen!

Warum nicht? Wer heilig genannt werden will, muß sich's in der Jugend verdienen; im Alter sind wir alle Heilige!

Ein curioses Gespräch, das den Wirth lachen machte.

Der Wirth sprach fort, nur um zu sprechen oder die Fremde ferner so spaßhaft antworten zu machen. Er erzählte, daß die Dame in St.-Wolfgang zu einem Leichenbegängnisse ankommen würde.

Kein gutes Omen! Wer ist gestorben? fragte sie.

Ein Häusler, den die Leute in der Gegend für reich hielten, ohne daß er einen Pfennig mehr hinterlassen hat, als zu seinem Begräbniß nöthig sein wird.

So werden an seinem Grabe keine lachenden Erben stehen!

Lucinde war mit ihren Speisen schon fertig und wählte sich bereits von dem schönen Obst aus, das ihr auf einigen Tellern zum Dessert gebracht worden war.

In der kurzen, ihr jetzt eigenen inquisitorischen Art fragte sie, eine Birne schälend:

Wie konnte man einen Häusler für reich halten?

Man schickte ihm, erzählte der Wirth, was er brauchte, aus Welschland oder der Schweiz. Das übertrieben dann die Leute! Er hinterließ nichts als einen Sarg, den er sich selbst gezimmert hat. Er war nur in die Sechzig gekommen.

Seinen eigenen Sarg? fragte Lucinde und biß in die Birne.

Man erzählt's, berichtete der Wirth. Den Sarg hat der alte Mevissen, so hieß er, in St.-Wolfgang in seiner eigenen Stube gehabt, hat auch drinnen schon seit Jahren geschlafen. Der Pfarrer hat ihm feierlich versprechen müssen, ihn auch in diesem Sarge zu begraben und zu weihen. Er hat ihn wirklich sich selbst gezimmert! Da nichts Unheiliges dabei sein soll, so wird er wol heute gegen Abend in die Erde kommen in diesem seinem selbstgezimmerten Sarge.

Hm! Hm! Ei! Ei! sagte Lucinde.

Der Wirth bemerkte, daß sie ein scharfes Lächeln durch ihre Mienen spielen ließ.

Warum lachen Sie? fragte er.

Wenn der Mann vermögend war und sich um keine Erben kümmern wollte, so würd' ich die Wände des Sarges untersuchen lassen. Es gab schon manchen Geizhals, der seinen Mammon in die andere Welt auf diese Art mit hinübergenommen hat!

Damit wählte sie zum Schälen eine zweite Birne. Sie warf sie weg, weil sie darin einen Wurm fand. Als sie von Würmern murmelte, konnte es ebenso sein als sagte sie: Die andere Welt ... ich meine die Würmer!

Der Wirth mußte seine Teller, die er eben wegnehmen wollte, niedersetzen vor Befremden über diese Erklärung wegen des Sarges. Der Einfall der so kurz angebundenen Dame kam ihm nicht unwahrscheinlich vor und schon hatte er eine weitere Ausführung der Vermuthung begonnen, als er durch einen langgezogenen Ruf dicht in der Nähe unterbrochen wurde.

Man hörte die Worte rufen:

Figuri kauf! Figuri kauf!

Ein italienischer Gipsverkäufer ging mit einem Knaben unten an der Balustrade vorüber und bot hinaufgrüßend seine Waare an, die er und sein Begleiter auf den Köpfen trugen. Diese Leute setzen bekanntlich voraus, daß man in einem Postwagen selbtsechs reisen kann und doch noch Platz findet, sich die Gruppe des Laokoon mitzunehmen. In Venedig rennen die Fischer den Fremden nach und bieten ihnen Frutti di Mare an, Seespinnen, Quallen und Krebse, die man, frisch wie sie vom Lido kommen, in ein Taschentuch binden und in seinem Hotel sich kochen lassen soll.

Miracolo! rief Lucinde den ältern Italiener an, ihres Gesprächs über den Sarg und die Wirkung auf den Wirth vom Weißen Roß nicht weiter achtend, Miracolo! Si vede che venite direttamente dalle Santa Casa di Loretto!

Sie deutete auf die nur mit Gegenständen religiöser Verehrung geschmückten beiden Tragbreter der Verkäufer.

Und noch ehe der Italiener erwiderte, fuhr sie fort:

Nessuna Minerva! Ne Amore col arco! Tutti santi del Cielo!

Nach der keine Antwort schuldig bleibenden Weise seines Volks erwiderte der Figurenhändler bejahend und lächelnd:

Si! Si, Signora! Siamo in un mondo pieno di peccati!

Sein Kleiner rief dazwischen:

Figuri kauf!

Lucinde erhob sich und betrachtete die Heiligen und Muttergottesbilder, die theils von geringem künstlerischen Werth und bunt bemalt waren, theils aber auch schönere Leistungen darboten, unter anderm die heilige Agnese aus der Kirche Santa-Agnese vor den Thoren Roms, den Moses Michel Angelo's, auch den altberühmten fast schon um seine Zehen geküßten Apostel Petrus aus der Peterskirche in Rom, der indessen leicht ein alter Janus sein kann mit dem Schlüssel nicht des Himmels, sondern des Tempels zu Krieg und Frieden.

Lucinde machte ihn gar zu einem Jupiter, worauf der Italiener in seiner Sprache erwiderte:

Mag sein, Signora! Aber jetzt ist er getauft und ein so guter Christ wie wir!

Inzwischen gingen beide schon einem Trupp Engländer entgegen, der soeben von der Maximinuskapelle herunterkam.

Der Wirth hörte allen diesen kurzen, aphoristischen Aeußerungen mit erhöhtem Interesse zu. Als er Lucinden einige bessere Birnen ausgesucht hatte und anbot, fragte sie:

Gibt es heuer ein gutes Jahr?

Schon setzte sie sich den Hut auf.

Die Frucht war leidlich! hieß es. Aber der Wein misräth! Die Leute erwarteten nichts Besseres!

Wie so? fragte sie und band sich die blauen Bänder in eine Schleife.

Wir haben hier einen Aberglauben, antwortete der Wirth. Am Himmelfahrtstage wird ein Crucifix vom Grunde der Kirche mit einer eisernen Kette in die Höhe gezogen. So viel mal die Kette dabei knackt, so viel Thaler wird der Malter Weizen kosten. Heuer knackte es achtzig mal. Es wird eine theuere Zeit!

In welcher Kirche geschieht dergleichen?

Aufrichtig, in keiner! Aber immer in jeder benachbarten! Ueberall nennt man eine andere Kirche und geschehen ist's in keiner!

Brav! sagte Lucinde lachend. Das ist ja das ganze Wesen der Offenbarung und des Wunders auch!

Ohne aber diesen Satz weiter auszuführen, fragte sie nach ihrer Zeche, ihrem Fuhrwerk und dem Wege auf St.-Wolfgang.

Der Wirth wäre gern auf alle diese ihre sprungweisen Andeutungen, vorzugsweise aber auf das Begräbniß in einem mit Tresorscheinen und Staatspapieren gefüllten Sarge zurückgekommen ...

Jetzt gab es aber wieder eine neue Störung.

Es schlich ein Knabe die Stufen des Gartens herauf und veranlaßte nun ihn selbst zu dem Anruf:

Scher' er sich weg mit seiner Fuchserei!

Der barfüßige Knabe zog sich eine Stufe zurück.

Dabei hielt er einen kleinen, nicht sogleich erkennbaren Gegenstand hin und suchte die Fremde dafür zu interessiren.

Was hat er denn? fragte Lucinde. Fuchserei? Armer Junge! Was kann er für seine rothen Haare!

Da sitzt ihm der Fuchs nicht! fiel der Wirth ein, dem selbst die Röthe seines Antlitzes und der gute Wein, wie in jener Gegend vielen, bis in den Bart und in die Spitzen seines nur noch dünnen Haupthaars gedrungen zu sein schien.

Die Dame ist keine Engländerin! Mach' er nur fort! fügte er hinzu.

Was hat er denn? fragte Lucinde.

Der Wirth wollte verhindern, daß Lucinde von dem Knaben in einem projectirten Handel betrogen wurde.

Der Spitzbube, sagte er, während der Knabe noch immer stand, verkauft alte römische Münzen, wie sie die Leute hier finden wollen. Sie sind aber nicht echt!

Lucinde, sogleich voll Heiterkeit der Nikolaus Carstens'schen Liebhaberei in Hamburg gedenkend, rief den Knaben zurück Schon hatte sie einige wie uralt erscheinende mit grünem Rost beschlagene Kupfermünzen in der Hand und fand sie von einem so unbezweifelbaren Schein der Echtheit, daß sie für den Knaben Partei nahm und dem Wirth die Münzen entgegenhielt mit den Worten:

Die wären nicht echt? ...

Woher sind die Münzen? wandte sie sich an den Knaben zurück.

Der Knabe zeigte in die Berge, die sich mit dem grünen Schmuck des Rebstocks bekleideten ...

Da hast du sie gefunden?

Mein Vater! hieß es leise und unsicher.

Der Wirth drohte und meinte:

Wenn Sie's glauben wollen, mir recht! Für zehn Groschen läßt er ihnen das ganze Münzcabinet seines Alten!

Der Knabe hatte fünf Münzen. Lucinde betrachtete sie und fand sie sämmtlich täuschend antik. Sie hatte ja eben gelesen, wie in diesen Gegenden sich auf Tritt und Schritt noch die Spuren der alten Römerzeit verrathen. Kirchen sind ja hier aus den Trümmern alter Castelle gebaut; Thürme, aus denen jetzt der Krahnen der Zollwage und das Wappenschild des städtischen Octrois hervorragt, waren einst die Brustwehren der Besatzungen, die die Legionen des Drusus in den neubegründeten Niederlassungen zurückließen; Aschenkrüge zertrümmert täglich der Spaten des Weingärtners, der seinen Berieselungen in den Bergen ein neues Bett graben will; Münzen, die Augustus und Constantinus schlagen ließen, werden das Spielzeug der Kinder, denen es ganz gleichst ist, ob sie »Fasseln« mit Kieseln spielen oder mit Erinnerungen, die den Geschichtsforscher in Entzücken versetzen.

Der Wirth berichtete jedoch, daß es hier jetzt ganz schon wie in Italien wäre. Die Arbeiter im Felde entdeckten mehr Münzen, als zu den Zeiten der Legionen in Umsatz gewesen wären. Eiserne Töpfe voll könnte man in einer großen Stadt, auf deren Lage er hinunterzeigte, bei einem Juden finden, dem sie die Verschmitztheit der Bettler wieder abkaufte und, als eben aufgefunden und vom Pflug, dem Spaten, der Egge entdeckt, bei den Reisenden in Umlauf brächte.

Lucinde hielt die zerbröckelten, halb erdfahlen, halb grünen Münzen gegen das Licht, buchstabirte DRUS.. und AUGUS.. und DIV. und verglich die fast allein nur noch hervortretenden gewaltigen Nasen der Brustbilder mit den Vorstellungen, die man über Römerköpfe hat. Sie fand alles so ähnlich, so zutreffend, daß sie erstaunt erklärte, nicht an Verfälschung glauben zu können.

Und doch! setzte der Wirth hinzu. Die Münzen da können gestern noch ganz neu gewesen sein!

Gestern noch? rief Lucinde erstaunt.

Gestern! bestätigte der Wirth. Man drückt eine solche von dem Juden geschlagene Münze in einen Teig und nudelt damit die Gänse!

Was? Wie? Die Gänse?

Ich sage Ihnen, die Gänse! Und heute früh können die Dinger da den Gänsen erst abgegangen sein! So, wie sie jetzt da sind, kommen sie dann zum Vorschein! Grün und rostig und halb zerschmolzen!

Der Wirth schilderte, ohne weitern Anstand den chemischen Proceß, nach welchem diese Münzen durch einen Gänsedarm hindurch binnen vierundzwanzig Stunden achtzehnhundert Jahre alt wurden.

Lucinde war aber schon in ein solches Gelächter ausgebrochen, daß er eine noch ausführlichere Erklärung nicht nöthig hatte.

Sie gab dem auf dem Sprunge stehenden Knaben ein Geschenk, nahm seine Münzen und rief:

Das muß ja der Ahasverus selber sein, der in der Stadt da drüben so die Jahrhunderte machen kann! Sie kennen doch die Sage von dem bösen Schuster, der einst dem Heiland die Erquickung des Ausruhens ab schlug, als er sein Kreuz auf Golgatha tragen mußte? War das ein Herren- oder Damenschuster, ich kann es nicht sagen; aber in der Stadt da unten wohnt er jetzt und macht Münzen, die von gestern auf heute tausend Jahre alt sind! Und mit Hülfe des Vogels der Dummheit! Sehen Sie, wieder, wie schon einmal auf dem Capitol! Die Gänse sollen leben! Die Gänse! Es ist nicht ohne, daß der Doctor Martin Luther an dem Tage geboren wurde, wo man die erste Gans auf den Tisch bringt!

Dem Wirthe mochte der Ausbruch dieses Humors unverständlich, ja an einer Dame, der sich auf der Brust, wie sich eben beim Lachen gezeigt hatte, ein großes goldenes Kreuz an einem Bande aus der Chemisette losnestelte, fast unheimlich erscheinen. Dennoch machte er keine auffallend betroffene oder etwa den Vermittlerinnen des chemischen Processes, wodurch Neuestes zu Aeltestem werden kann, verwandte Miene, sondern bemerkte, daß er selbst ein Freund alter Münzen wäre, eine schöne Sammlung echter hätte und sie der jungen Dame, wenn sie es wünschte, vorlegen könnte.

Nein, nein, nein! rief sie in ihrem alten, wie wir wissen, die Grenze überschreitenden Humor. Wer bürgt mir für die Unschuld Ihrer Gänse? Sie nudeln sie auch mit Jahrhunderten! Sie sind unecht! Gewiß, gewiß!

Bitte! bemerkte der Wirth ... Ich fand den größten Theil selbst.

Man hat sie Ihnen hingelegt, frisch aus dem Gänsestall!

Ich fand sie an ganz unzugänglichen Orten!

Sie irren sich! Was entscheidet denn an diesen fünf alten römischen Kupferdreiern, die ich hier in der Hand halte und mir zum Andenken in meine Tasche schließe, daß sie nicht echt sind! Ihre Münzen, Herr Wirth, haben alle denselben Weg gemacht! Ob der Rost von der Magensäure einer Gans kommt oder von den allerdings längern Gedärmen wirklicher Jahrhunderte, ist all eins! Lassen Sie's nur so und – glauben wir's!

Jetzt setzte sie ihren Hut auf und band den Schleier darüber.

Beim Bezahlen ihrer Zeche erscholl plötzlich aus der Ferne ein lieblicher Gesang. Sanfte Accorde wallten durch die sonnige Luft. Es war ein Kirchengesang von jener getragenen Einfachheit, die etwas Kindliches und in den kurzen, zwischen den Strophen liegenden Pausen etwas Ländliches hat, nach Art der Schifferlieder auf den italienischen Seen.

Woher kommt denn das? fragte Lucinde.

Es sind die jungen Mädchen aus dem Englischen Fräuleinstift auf der Insel Lindenwerth drüben! sagte der Wirth und zeigte auf einen weit über den Spiegel des Stroms hinweg aufragenden Kirchthurm. Die Englischen Fräulein, setzte er erklärend hinzu, halten das Stift seit ein paar Jahren. Sie kommen oft mit den Kindern herüber in die neue Kapelle oben!

Lucinde blickte auf den schönen Bau, erinnerte an ihren Einspänner und wollte gehen.

Das Erbieten des, wie sie sah, nicht ungebildeten Wirthes, sie zu führen, lehnte sie mit der ihr wiederkehrenden Bestimmtheit ab. Der freundliche, von seinem Gaste, wie selten von einem solchen flüchtigen Ankömmling unterhaltene Mann hätte sie gern hätte gern, wie er selbst sagte, noch vom Sarg des alten Mevissen mit ihr gesprochen; aber sie hatte gezahlt, übergab zur Verladung vorn auf das Gefährt ihren Koffer, sah sich noch um, ob sie nichts vergessen hatte, und verließ, ohne weitere gemüthliche Anknüpfung mit der neuen Bekanntschaft, den Garten. Sie begab sich zwischen einer Reihe kleiner Sträucher und dem mit ruhigem Sonnenglanz überwobenen, von berg- und thalwärts gehenden Schiffen belebten Strom auf den am Ende des Ortes liegenden Hügel zur Kapelle des heiligen Maximinus. Fast war's, als hätte der fromme Gesang sie gemahnt, ihrem bizarren und skeptischen Humor endlich Einhalt zu thun.

Vor einem am Aufgang zur Kapelle am Kreuz hängenden Erlöser wollte sie sich auch in Andacht verneigen, sah aber auf der unter ihm befindlichen Bank den Gipsfigurenhändler und seinen Sohn sich ausruhen.

Jener rief ihr freundlich winkend und die Stirn trocknend zu:

Fa caldo!

Kommt Ihr nicht ins Land hinein? fragte sie und zeigte über die Berge.

Si, Signora!

Nach Kocher am Fall?

Si! Si!

Kennt Ihr dort die Dechanei? An der Kathedrale St.-Zeno?

Der Italiener schien aufs angenehmste an einen seiner besten Kunden erinnert, den Dechanten von Asselyn.

Un compratore dei Santi? fragte sie scherzend.

Der Italiener schüttelte den Kopf und machte eine schlaue Miene, als wenn der Dechant einen völlig andern Geschmack hätte.

Lucinde horchte der Charakteristik des Dechanten von Kocher am Fall, sagte aber jetzt fast wie eine Fromme:

Kommt zu Lucinde Schwarz in Kocher am Fall! Ich wohne in der Dechanei des heiligen Zeno! Ich will Euch den Moses da des Michel Angelo abkaufen!

Der Italiener nickte befriedigt.

Lucinde stieg zur Kapelle empor.

2.

Wie sie den wiederbeginnenden Klängen des Marianischen Lobgesangs folgend an noch einigen Leidensstationen vorüberging, mußte sie den schönen und malerisch gelegenen neuen Bau bewundern.

Alles, was nur die gothische Architektur zugleich an bedeutungsvollen wie lieblichen Elementen besitzt, war hier in einer reizenden Gesammtwirkung vereinigt. Wie hingehaucht stand das halb röthliche, halb hellgrüne Sandsteingebilde und verlor sich mit vier schlanken Thürmen, als wäre es befiedert, in die blaue Luft. Spitzbogenfenster, Spitzgiebel, Spitzdächer, alles war verziert mit steinernen Blumen und Blättern. Große durchbrochene Steinrosen schmückten die Thüren und Seitenwände. Ein terrassenförmiger kleiner Garten umgab die obere Spitze des Kreuzes, in dessen Form auch der ganze Bau sich erhob. Dieser Garten lud den müden Wanderer ein in den Schatten breitästiger Linden. Bienen summten, Käfer schwirrten. Einem Schmetterlinge nur brauchte Lucinde nachzugehen, der sie mit seinem Flatterfluge an die Pforte des festgegründeten schönen Gottestempels, des Asyls des Unsterblichkeitsglaubens, fast ausdrücklich zu geleiten schien.

Die kleinen Sängerinnen waren verstummt. Sie befanden sich in der Kirche, die auch Lucinde betrat. Der Raum war drinnen eng. Zusammengedrückt schien das Ganze noch mehr zu werden durch eine fast zu reiche Verschwendung von Gold und Farbe. Lucinde fühlte sogleich, daß alles hier fast zu sinnlich, zu laut, zu unmittelbar auf den Eintretenden eindrängte; sie schlug indeß die Augen nieder, besprengte sich mit dem geweihten Wasser und kniete, fast geräuschvoll, an den Marmorstufen des Altars nieder.

Nachdem sie, wie andachtversunken, ihr Gebet verrichtet, erhob sie sich und musterte die Malereien. Auch zu einer Krypte stieg sie nieder, die ihr nicht minder beengend, fast furchterregend vorkam. Eine besondere Aufforderung zur Gottesandacht lag nicht in dem Eindruck dieses Innern eines so gefälligen Aeußern. Doch senkte sie die Wimpern und verrieth keine Kritik.

Die kleinen Mädchen der Pension von Lindenwerth, wol ihrer zwölf bis sechzehn an der Zahl, ließen den engen Raum des Gotteshauses von ihrer Neugier und Zerstreutheit nicht wenig widerhallen. Eine dem Orden der Englischen Fräulein angehörende Nonne und eine weltliche Lehrerin waren ihre Führer. Zuletzt verloren sich alle in eine Seitennische, in der sich noch das Gerüst eines Malers befand, dessen Pensum in der Ausschmückung der Wände hinter dem der andern Künstler zurückgeblieben war. Auch er malte um die Heiligen große goldene Teller in jenem Geschmack der sich in seiner Absicht allzu sehr verräth. Will man durch die Vorgänge der heiligen Geschichte das Gefühl der Andacht wecken, so müssen sie uns nicht als Wunder, sondern mit dem Zauber der Natürlichkeit und noch heute täglich möglichen Wirklichkeit entgegentreten.

Bei näherm Hinblick auf das Pensionat, das sich neugierig an den arbeitenden Maler wie verlor, schrak Lucinde zusammen. So nahe schon hatte sie sich ihren nächsten Zielen nicht geglaubt! Diese führten sie, wie sie ausdrücklich gewollt hatte, mitten in alles wieder zurück, was sie in ihren ersten Jugendtagen, vor dem Sinken ihres Sternes und dem neuen Aufgang in der orthopädischen Anstalt halb bewußtlos erlebt hatte. Nun erkannte sie schon in der weltlichen Lehrerin jene Angelika Müller, mit der sie einst vor sechs bis sieben Jahre ihre Reise nach Hamburg gemacht hatte. War also der Prophet von Eschede, Dr. Laurenz Püttmeyer; noch immer ohne Hegel's Lehrstuhl für seine mathematische Philosophie? Beim Anblick dieser damals schon nicht mehr jungen, jetzt vollends verblühten, armen geistigen Tagelöhnerin trat ihr der todte Jérôme vor die Augen, wie er sitzen konnte und Würfel und Dreiecke schnitzelte und über jenes bekannte Pentagramm, das wir als Bierzeichen adoptirt haben, sich in die alten Wälder verlor, in denen einst dem Wodan Menschenopfer gebracht wurden ... Die Lehrerin schien auch auf Veranlassung der obenerwähnten goldenen Teller eben mit dem Erläutern der Symbolik des Kreises beschäftigt und sah Lucinden nicht.

Diese fühlte sich vielleicht noch nicht stark genug, das volle Antlitz ihrer Vergangenheit wieder zu ertragen .. sie verließ die Kapelle und flüchtete sich fast in die warme und erquickende Luft zurück.

Ihr Wagen war noch nicht zu erblicken. So wandte sie sich der Altane der Kirche zu und nahm Platz auf einer der steinernen Bänke, die die schönste Aussicht boten. Sinnend über den Muth, den sie haben wollte, dicht so wieder an alles anzustreifen, was schon einmal für sie verhängnißvoll geworden war, sah sie kaum, wie nah unter ihr der belebte Strom mit seinen malerischen Ortschaften sich schlängelte, wie in der Ferne die Berge in ansehnliche Höhen stiegen und links und rechts zwei schroff emporgethürmte Felsen mit den Trümmerresten zweier alten Burgen wunderherrlich aufragten.

Nach einer Weile und während die Schülerinnen des Pensionats in der Kirche wieder einen neuen Gesang angestimmt hatten, bemerkte sie, daß sie auf der Altane nicht allein war.

Dicht an der von Epheu beschatteten Mauer der Kapelle standen in eifrigem Gespräch ein Soldat und ein ohne Zweifel zu dem lindenwerther Pensionat gehöriges junges Mädchen. In einiger Entfernung hielt sich ein Aelterer, nicht gerade ein Diener, auch kein Erzieher, aber jemand, der gleichsam zu wachen schien, daß das Zwiegespräch der beiden andern weder gestört noch vielleicht zu vertraulich wurde.

Das junge Mädchen trug die Kleidung des Pensionats, einen dunkelblauen leichten Sommerstoff, einen runden italienischen Strohhut und eine Tasche zur Aufbewahrung wahrscheinlich der Dinge, die das Englische Fräulein unterwegs nicht zum Unterhalt kaufen mochte; überm Arm hing noch ein leichter Sommershawl. Sie war eine von den ältern der kleinen Karavane, deren Mitglieder, sah man sie einzeln, gereifter erschienen als in der Gesammtheit. Das Gute haben ja richtig geleitete weibliche Pensionate, daß die jungen Mädchen durch ihr Beisammensein sich länger kindlich erhalten und jene gefährliche Krisis der ersten erwachenden Temperamentsvorgänge glücklicher überwinden als in der die Frühreife zeitigenden, wenn auch traulichern Wärme des älterlichen Hauses.

Auch das junge Mädchen, das vielleicht sechzehn Jahre schon zählte, machte Lucinden einen Eindruck, als müßte sie es schon gesehen haben. Es war eine Erscheinung von eigenthümlichem Reiz; nicht zu groß, aber wohlgebaut und von einer Lebhaftigkeit im Auseinandersetzen, einer Innigkeit im Genuß dieser vertraulichen Zwiesprache mit dem jungen Krieger, die Lucinden sogleich so bitter lächeln machte, als hätte sie sagen mögen: Du kleiner Fratz, dergleichen erlebten wir einst ja auch! ... Sie mochte jedoch die Glücklichen, die sich vielleicht vor dem Englischen Fräulein und Angelika Müller sicher glaubten, nicht stören ... auch kamen ihr die Züge des Mädchens bekannt vor. Auf dem Streckbett konnte sie sie nicht gesehen haben und doch fiel ihr sogleich Paula von Dorste-Camphausen ein.

Der Soldat war kein Offizier, sondern ein gewöhnlicher Gemeiner; aber Lucinde wußte schon, daß es hier zu Lande sogenannte Freiwillige gab, die nur eine kurze Zeit der allgemeinen Militärpflicht genügten. Ihnen schien der junge Mann mit seinem schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe und dem kurzgeschnittenen, aber vollen Haarwuchs anzugehören. Er war groß, hatte etwas Festes und Bestimmtes und erinnerte Lucinden an den seither verschollenen Klingsohr, nur hatte er nicht das Wüste und Unschöne desselben. Etwas Studentisches schien ihr noch das grüngelbweiße Band, das er trotz der Montur, die offen stand, über seiner weißen Piquéweste hinweg trug; doch konnte er wol kaum noch der Universität angehören, falls überhaupt die Voraussetzung der sogenannten Freiwilligkeit die richtige war.

Der Wächter in der Ferne schien jedenfalls ein Stück vom echten Soldaten, aber auch zugleich ein Stück vom Jäger, ein Stück vom Landwirth, vom Bauer, selbst vom Bedienten, von allem etwas. Mit einem zusammengerollten Militärmantel, an dem ein Säbel befestigt war, ohne Zweifel Requisiten des jungen Kriegers, stand er an dem Eingange zum kleinen Garten, rechts und links lugend auf die Landstraße und nur im geheimen auf das plaudernde Paar. Im Regen und Sturm scheint er noch besser an seinem Platze zu sein; sein geröthetes Antlitz hat das Viereckige der Kopfform eines mit Ohrringen geschmückten Steuermannes auf hoher See. Wer weiß, ob diese Unruhe, die sich bald auf das eine, bald auf das andere Bein stellen muß, nicht von der Gewöhnung an die Schwankungen eines Schiffs kommt! Der Blick, den der Wächter, so eigenthümlich prüfend und den Mund in Falten ziehend, über den Strom auf einem neuen Dampfer wirft, der gerade anhält, um mehr Besucher der Maximinuskapelle auszusetzen, als heute die »Prinzessin Marianne« gebracht hatte, ist gerade wie der eines Mannes, der die vollkommene Berechtigung gehabt hätte, ebenso gut wie der geschniegelte Kapitän drüben, der Salzwasser vielleicht nie gekostet hat, »Stop« zu rufen.

Lucinde suchte auch diese Gestalt irgendwo in ihrem Jugendwahntraume, wie sie ihr vergangenes Leben nannte, unterzubringen. Wie mußte sie erstaunen, als sie bemerkte, daß sie selbst es werden sollte, durch die plötzlich das stille harmonische Concert dieser drei Menschen unterbrochen wurde! Sie erblickte eben in der Ferne ihren Einspänner, erhob sich von der Bank, auf der sie ausgeruht hatte, und streifte an dem durch die kleinen Gartenanlagen daherkommenden Paare vorüber. Noch fielen einige der Worte des Gesprächs, das sich von seiten des Mädchens in einer kindlich harmlosen Welt zu bewegen, schien, in ihr Ohr, als sie nicht wenig überrascht wurde von dem plötzlich innehaltenden Fluß der kleinen Sprecherin, die, die schönen dunkelbraunen Augen aufgerissen, auf sie zutrat und sie mit einem nur durch Verlegenheit abgebrochenen lauten und erschreckten: Ach! fast anredete.

Der Muth weiter zu sprechen fehlte zwar, die Verlegenheit etwas Ungehöriges gethan zu haben überwog, aber die Kleine wandte sich im Weitergehen dem Soldaten so vertraulich und schnell zu, daß Lucinde wohl sah, wie sie entweder mit jemand anderm eine auffallende Aehnlichkeit hatte oder auch dieser Kleinen wirklich bekannt sein mußte.

Indem kamen die übrigen Pensionsmitglieder zurück. Lucinde mochte zunächst dem an sich für sie selbst interesselosen Fräulein Müller nicht begegnen. Sie zog vor, sich zu entfernen. Das junge Mädchen aber, das sich denn also doch, wie man nun sah, in keiner verbotenen Zwiesprache befunden hatte, sprang in die Reihen ihrer Gefährtinnen zurück und steckte so den Kopf mit den Köpfen der andern zusammen, daß sie nun sämmtlich neugierig auf Lucinden hinblickten; alle thaten, als müßten sie in ihr eine ihnen längst bekannte Erscheinung wiederfinden.

Das war Lucinden jetzt zu viel. Während die Führerinnen mit dem eleganten Soldaten sprachen, der mit Zuvorkommenheit und Lebhaftigkeit Auskunft über die Kapelle und die Gegend gab, suchte sie, von Fräulein Müller unbemerkt, den Ausgang.

Dem draußen harrenden Wächter sagte sie:

Geschwister waren das doch wol nicht?

Nein! war die einfache, kurze Antwort.

Der Kleinen scheint an mir etwas aufzufallen. Wer ist sie?

Ein Fräulein von Hülleshoven ...

Hülleshoven? Armgart von Hülleshoven?

Armgart von Hülleshoven! bestätigte der Gefragte.

Dann ist der junge Mann Benno von Asselyn?

Zu Befehl!

Ich denke, Herr von Asselyn ist Advocat?

Allerdings.

Wie kommt er zur Uniform?

Herbstübung ...

Damit brach der Mann ab. Man hatte ihn entweder gerufen oder er glaubte vielleicht nur, daß man dies gethan. Von dem jungen Paar schien er kein Auge zu verlieren.

Lucinde war wie in einer Betäubung. Ihr Entschluß war allerdings: Du wagst dich noch einmal in dein altes Leben zurück, siehst heller, was dir früher dunkel erschien, erschrickst vor keiner Begegnung mehr und wär' es vor der der alten Hauptmännin von Buschbeck, ja vor der Oskar Binder's nicht – in ihrem neuen religiösen Bekenntniß lag die außerordentlichste Kraft dieses Sichsicherfühlens – und dennoch wälzte sich ihr schon centnerschwer aufs Herz, sich zu sagen: Armgart von Hülleshoven gehörte dem Kreisen von Schloß Neuhof an! Sie war eine der innigsten Beziehungen der Comtesse Paula! Sie kann noch den Kindeseindruck bewahrt haben von jener Pagode im Schloßteich, in die ich damals zu dem Federvieh aufgestiegen bin! ... Benno von Asselyn war ein Cousin des Pfarrers zu St.-Wolfgang, jenes Bonaventura, bei dessen verhängnißvoller Priesterweihe sie vor einigen Jahren mit einer Entscheidung für ihr ganzes Leben zugegen gewesen war.

Am Fuße des Hügels fand sie ihr Wägelchen. Es war leichtester Art, nur für zwei Personen, die sich im Fall eines Regens vorn durch ein aufgeschlagenes Halbverdeck schützen konnten. Indeß behielt das Wetter seine gleiche Anmuth. Nur die Sonne senkte sich allmählich. Schon mochte es inzwischen über fünf Uhr geworden sein.

Ein Knecht aus dem Weißen Roß führte das leichte Gespann. Erst ging es um den Ort herum und die Anfänge der landeinwärts gehenden Straße rasch hinaus. Den vollen Genuß der üppigen, wie ein Garten ausgebreiteten Gegend konnte nur der Staub hindern. Die Bäume am Wege trugen schwer an ihrer Aepfellast. In den Gärten prangten jene Blumen, die im Spätsommer durch Glut der Farbe ersetzen, was ihnen schon an Duft fehlt. Bienenstöcke standen unter Bedachungen mit jener geheimnißvollen Bienenkorbstille, die nicht ahnen läßt, was alles, und vollends nach Klingsohr's Theorie, in ihnen vorgeht. Wonnig war der Rückblick auf das verlassene Oertchen, den im Luftäther blauglänzenden Strom, der sich in immer anmuthigern Windungen dem Auge darbot, je mehr sich die Straße emporzog.

Jetzt wurde die Straße steiler. Die Berge, die zwischen dem Strom und St.-Wolfgang lagen, waren höher, als sie das Ansehen gehabt hatten. Der Knecht stieg aus und zuletzt auch Lucinde, so sehr der Knecht versicherte, daß es nicht nöthig wäre. Doch war im Gehen und Stillstehen der Rückblick auf den immer noch sichtbaren Strom besser zu genießen.

Inzwischen bemerkte Lucinde, daß zwei der Bekanntschaften, die sie an der Maximinuskapelle ge macht hatte, ihr folgten. Auf kürzerm, die Landstraße durchschneidenden Fußwege waren ihr Benno von Asselyn und sein Begleiter schon ziemlich nahe gekommen.

Sie unterhielten sich mit einer Reisegesellschaft, in der Lucinde den Gipsfigurenhändler, seinen Sohn und ein junges, schlank aufgeschossenes Mädchen erkannte, das Armgart von Hülleshoven nicht sein konnte. Ihre Vorräthe hatten die Verkäufer nicht mehr bei sich und fast schien es, als wenn ein langsam vor ihrem eigenen Wagen hinziehender Einspänner den Italienern gehörte. Dieser Wagen war so weiß gepudert wie die kurze graue Jacke und die Manchesterhose, die der Alte und sein Knabe trugen. Das junge Mädchen aber war geschützt von einem großen breitrandigen Strohhute und schien die Frau oder die Tochter des Italieners zu sein, der seine lebhafte Rede mit Gesticulationen unterstützte.

Ueber das kahle Gestein hinweg, das mit dünnem Heidekraut und spärlichem, von weidenden Ziegen ausgerupften Grase bedeckt war, gab es für die fünf Fußwanderer leicht zu erklimmende Nebenwege, auf denen in kurzer Zeit wenigstens Lucindens Gefährt erreicht sein konnte; ja, wenn die Wanderer die in die Felsen rundum gehauene Landstraße jetzt ganz vermeiden wollten, konnten sie bei der Unabsehbarkeit des immer bergan gehenden Weges quer über eine große, hier von kleinen Wasserrinnen, dort von Felsblöcken bedeckte Wiese Lucinden ganz den Weg abschneiden und ihr zuvorkommen.

Sie schlugen auch diesen Weg ein, scheinbar unbekümmert um die bald überholte Wandererin auf der staubigen Landstraße. Lucinde pflückte vor Aufregung am Wege Kreuzkräuter und Rispengräser zu ihrem gewohnten Zerzupfen, das ihre Natur immer als Ableiter zu bedürfen schien, um die in ihr arbeitende Unruhe zu dämpfen. Sie zog die Gräser und ihre Samenkolben durch die Finger, biß sogar ihre Spitzen ab, warf sie weg und pflückte dann wieder neue. Der Sonnenschirm, der ihr zur Stütze diente, schleuderte manchen Stein aus dem Wege; manchen andern, wenn er ein hübsches Geäder zeigte, hob sie auf, betrachtete ihn eine Weile und ließ ihn gedankenlos wieder fallen.

Mit dem Knecht war sie schon lange in einem Gespräch. Menschen neben sich zu haben, ohne zu wissen, was sie sind, treiben, wollen, denken, war nie ihre Art gewesen. Allem Stummen mußte sie irgendwie eine Sprache abgewinnen. Und der Knecht nahm an ihr ein gleiches Interesse. Auch ihm schien diese junge energische Dame eine Merkwürdigkeit. Wie Lucinde zerstörte aus Kraftgefühl und ungeduldiger Spannung auf ihr nächstes Schicksal, jetzt auf die schon hoch über ihr hinwegschreitenden Wanderer, so auch dieser. Blatt um Blatt zerzupfte er einen Zweig, den er in der Hand hatte, machte erst eine Ruthe daraus und warf sie zuletzt weg, auch sich, wie es schien, aus grübelnden Gedanken aufraffend und wieder dann zur Peitsche greifend ...

Die Umgebungen wurden waldig. Die Höhen endeten nicht; sie umkränzten mit dunklern und hellern grünen Schattirungen den des Stromes jetzt plötzlich beraubten Blick. Die Tannen waren vorherrschend und einzelne Ausläufer der Waldungen gingen quer über den Weg und durchschnitten ihn.

Das ist der St.-Wolfgangberg! sagte der Kutscher, klatschte mit der Peitsche und grüßte ein Marienbild, das am Wege stand. Dann lud er das Fräulein zum Sitzen ein. Sie würde ermüden und es ginge so wie eben noch viel zu lange fort.

Lucinde entdeckte aber gerade jetzt in ziemlicher Nähe die Wanderer, deren Mittelpunkt das junge, schlank aufgeschossene Mädchen geworden war. Schon wußte sie vom Kutscher, daß der Italiener mit zwei Söhnen und einer Tochter reiste; der zweite Sohn führte den Wagen, in dessen Kisten und Kasten die »Figuren« verpackt waren. Ihre kürzern Wege hatten sich an den Waldecken verfangen; sie mußten Schwenkungen machen, die sie aufhielten, und bald zwang sie die Landstraße, mit ihr auf gleicher Linie zu bleiben. Endlich stießen sie mit Lucinden zusammen und grüßten.

Sie haben gar keinen Vortheil von Ihrem Wagen, Signora! sagte der Italiener in gebrochenem Deutsch und hielt eine Zeit lang, die Wanderlustige grüßend, die Mütze in die Höhe.

Aber da seht, mein Gepäck hat Vortheil! erwiderte Lucinde zurückzeigend. Ist das Ihre Tochter?

Meine Tochter, Porzia Biancchi!

Porzia Biancchi? Ein stolzer Name! Freilich, sie wird in Rom geboren sein!

Nein, Signora! und sich an die Tochter wendend, fragte er italienisch:

War das schon in Castellungo?

Castellungo! erwiderte das junge Mädchen und erröthete unter dem braunen Incarnat ihres nicht schönen, aber gefälligen Antlitzes.

Wie? nahm, Lucinden grüßend, der junge Soldat, Benno von Asselyn, das Wort. Ihr wißt nicht einmal, Meister Biancchi, wo Eure Tochter geboren wurde?

Nein, Signore! sagte der Italiener in gebrochenem Deutsch. Als sie zur Welt kam, waren die Zeiten schlecht für mich! Ich lebte nicht in Italien!

Aha! Ihr wart auf der Flucht! sagte der Fragende, der etwas Festes, Sicheres und bei aller Lebendigkeit des Auges wieder Gelassenes hatte. Ich merke schon, daß Signor Biancchi ein alter Carbonaro ist! Trotzdem, daß er auf deutsch Weiß heißt und so weiße Pierrotkleider trägt, daß mein Königsrock ganz an ihnen abfärbt, gehörte er doch ohne Zweifel zu der schwärzesten Carbonarosorte, zu der Loge der sogenannten Kesselschmiede! Nicht wahr?

Der zwischen Freund und Diener noch gänzlich unbestimmt schwankende Träger des mit dem Säbel, wie ein Portefeuille mit dem Bleistift, zusammengehaltenen Mantels putzte die Gipsflecken ab, die der Sprecher allerdings schon auf seiner Uniform trug.

Biancchi aber sah diesen über seinen ihm imputirten Carbonarismus groß an, schien davon betroffen und half sich mit dem dem Italiener eigenen klugen und pfiffigen Ausdruck der Mienen und einem Gestus, der nicht mehr und nicht weniger sagen wollte als: Das ist einer! Der hat eine scharfe Nase!

In der That verdiente Benno von Asselyn eine Würdigung, die, sozusagen, über seine Uniform hinausging. Es ist ein Nachtheil des Soldaten, daß auf ihn zu sehr das Horazische Nos numerus sumus (»Wir zählen nur«) angewandt wird. Das Auge haftet an dem bunten Rock; der Mensch, das Individuum, das in ihm steckt, der Charakter, wird übersehen. Die Entwicklung des letztern, das ist wahr, ist beim Krieger gehemmt, aber darum fehlt sie nicht. Dieser Freiwillige und Gemeine saß vielleicht erst heute unter der Schere des Friseurs, der ihm die Haare so kurz aus dem Nacken schnitt; sein Barbier rasirte ihm einen Kinnbart fort, den er ebenso wenig nach Kocher am Fall zum »Stabe« mitbringen durfte wie seine weiße Weste; aber einer im Dutzend ist dieser junge Mann nicht. Die Ironie, die in der Betonung seiner Worte liegt, ist das Zeichen eines geistigen Überschusses. Er spricht aus der Fülle, nicht aus der Armuth. Sein dunkelblaues Auge spricht statt seiner, auch wenn er schweigt. Es spiegelt die ruhige Herrschaft über einen schon angesammelten Erfahrungsschatz. Fein, vornehm und doch natürlich ist sein Benehmen. Die Art, wie er jetzt seine Cigarrentasche zieht und um die Erlaubniß zum Rauchen bittet, hat einen so weltmännischen Schliff, daß sein Begleiter unversehens zu seinem Bedienten wird, obgleich er ihn wie einen intimsten Freund behandelt.

Da auch Benno von Asselyn bei der Erörterung über die Gegend, wo Castellungo läge, sich italienisch auszudrücken anfing, so wurde Biancchi sicherer und gestand allmählich, daß es ganz so im Ernst wäre, wie der Herr es im Scherze vermuthet hätte. Er selbst wäre ein Römer, seines Zeichens ein Bildhauer und der älteste von drei Brüdern, die allerdings alle mit ihm in die Gefahren gerathen gewesen wären, die plötzlich den Carbonaris gedroht hätten. Er hatte sich anfangs nach Piemont geflüchtet, in die Thäler, die sich vom Col de Tende nordwärts bis nach Turin und Aosta an den Fuß der Alpen ziehen.

Die Waldenserthäler! warf zu Lucindens Erstaunen der Begleiter Benno's von Asselyn mit halber Stimme hinein.

Si! Si! sagte Biancchi mit schnellem Ton und erstaunend, dies Wort hier und aus solchem Munde zu vernehmen. In Castellungo bei Coni! Ganz recht, in einem Dorfe, wo nur Ketzer wohnen? Bis 1821 ging's soso ... (er hielt die Hand vor die Augen und blinzelte durch die Finger, wie wenn er das Zeichen der Toleranz machte), aber Madre de Dio! Da Donner und Blitz in unsere »Baracca«! Die »Vendita« geschlossen – Napoleone Biancchi reißaus! ...

Ihr heißt Napoleone? fragte Benno von Asselyn und trat in Rücksicht auf seine der Heiligen Allianz angehörende Uniform zurück, als wollt' er ihm den Kampf anbieten.

Und mit derselben schlagenden Geberde, gleichsam die Kriegserklärung aufnehmend, wiederholte der alte Biancchi mit Nachdruck:

Napoleone Biancchi!

Als der Friede zwischen dem Kaiserreich und den hohen Verbündeten durch das Lachen der Frauen wiederhergestellt war, erzählte der Alte, daß er seine Frau und Kinder hätte in Italien zurücklassen müssen. Er wäre erst nach der Schweiz geflüchtet, hätte sich dort zu ernähren gesucht, so gut es gegangen; seiner Frau hätte er nach Castellungo geschickt, was er erübrigte; dann, nach der Julirevolution, hätte er nach Italien zurückzukehren gewagt; er hätte sich zwar nicht aufs neue compromittirt, hätte aber doch, »da es auch in Italien nur Ein Rom gäbe«, vorgezogen, wieder sein Wanderleben anzutreten. Nach Rom hätte er nicht gedurft: so wäre er nach Deutschland gekommen, wohne bei Frankfurt am Main und verdiene sich so viel, daß er sich ein solches Pferd halten könne wie das, das da eben seine Vorräthe bergan ins rechtgläubige Land zöge.

Euere Frau kam Euch nicht nach? fragte Lucinde.

Signora, nein! antwortete Biancchi. Sie ist in Castellungo, hat einen Garten mit Oliven- und Maulbeerbäumen und einen Weinberg. Das Haus ist nicht groß genug für alle ihre Seidenwürmer. Sie verdient und spart für die Kinder. Frankfurt am Main hat ein schönes Klima, aber keine Seidenwürmer. Giuseppina schickt mir alle zwei Jahre einen Sohn herüber, erst den Camillo, der in Frankfurt das Geschäft führt, dann den Hortensio, der da die Peitsche in der Hand hält, jetzt den Catone, der hier mit mir geht und sich die Schuhe so schief tritt – Ecco, padrone, fa attentione! – und jetzt vor einigen Tagen erst die Porzia, die noch wenig Deutsch kann, ob sie's gleich von einem Einsiedler in Castellungo hätte lernen können. Wie heißt der Heilige unter den alten Eichen von Castellungo? wandte er sich an seine Tochter.

Signore Federigo! antwortete diese. Sie hatte die den Italienern eigene tiefe, fast rauhe Stimme.

Benno von Asselyn bemerkte lächelnd und halblaut, aber für Lucinden hinlänglich vernehmbar:

Ja, Freund Biancchi, zähltet Ihr denn auch die Kinder richtig, daß Euch die Giuseppina nicht einmal mehr aus Italien herausschickt, als Ihr bei ihr zurückgelassen habt?

Biancchi versicherte, daß er ein vortreffliches Weib hätte, aber ihrer Seidenwürmer wegen müßten sie getrennt leben.

Nein, nein, Napoleone! fuhr Benno von Asselyn in seinem Scherze fort. Ich bewundere Euere Ruhe! Könnt Ihr zufriedene Nächte haben? Dieser Federigo! Wer ist das? Ein Deutscher, der unter den heiligen Eichen von Castellungo wohnt?

Sein Auge suchte dabei Porzia. Diese verständigte sich in dem wenigen Deutsch, das sie von jenem Einsiedler gelernt hatte, gerade mit dem Manne, der ein Diener schien und doch etwas von den piemontesischen Waldensern gewußt hatte.

Der seine Stiefel schief laufende Catone schien dem Alten für etwaige väterliche Besorgnisse nicht ausreichender Wächter genug. Er suchte seiner Tochter näher zu kommen. So hörten diese kleinen scherzhaften Reibungen auf.

Benno von Asselyn wandte sich jetzt verbindlicher zu Lucinden. Er begann von der Maximinuskapelle und bald war Armgart von Hülleshoven erwähnt.

Ein liebliches Kind! Wie alt mag sie sein?

Ich denke, vierzehn ... fünfzehn Jahre ...

Von einem Mädchen, das man liebt, weiß man die Minute, wann sie geboren ist!

Das man liebt? In meiner Heimat drüben gibt es gar keine Liebe, Fräulein! Man hat sich gern und bleibt hübsch vernünftig!

Sie sind also auch aus dem Land des Plattdeutschen?

Kennen Sie das?

Lucinde schwieg. Sie merkte, daß man sie an der Maximinuskapelle entweder für eine andere gehalten haben mußte oder wenigstens an Benno von Asselyn nicht mitgetheilt hatte, was allenfalls Angelika Müller von ihr wußte. Hatte doch Paula von Dorste-Camphausen ein Jahr lang, wo sie auf dem Streckbett lag, nie in ihr die ehemalige Bewohnerin von Schloß Neuhof erkannt. Wie hätte dies Armgart thun können, die um fünf bis sechs Jahre jünger war?

Wenn Sie, sagte Benno, Armgart's Heimat kennen, so werden Sie überall, wo der Himmel graublau, die Luft von einem ewigen brandigen Nebel erfüllt ist, einem Nebel ...

Ha! Was ist das? unterbrach er sich plötzlich und rief:

Hedemann! Hedemann! Man möchte ja glauben, wir wären hier auf der rothen Erde?

Er deutete auf die Landschaft hinaus.

Linker Hand drang den Wanderern aus einer Abdachung des Berges ein brandiger Geruch entgegen. Hinter den Bäumen sah man den Himmel weither von einem grauen Nebel überzogen.

Hedemann! wiederholte Benno, sich seinem wandernden Begleiter zuwendend. Wo kommt hier Haarrauch her?

Der angerufene Hedemann erläuterte, daß die Leute hier das verkrüppelte Knieholz der Eichen abbrechen, abrinden, die Rinde den Gerbern als Lohmaterial verkaufen; die Wurzeln der Stämme, diese selbst, die Abfälle, das Gras und das rings wachsende Kraut würden dann verbrannt und die Asche als Dünger ausgestreut, sodaß wenigstens für Gerste und Hafer ein künftiger Anbau auf solchen mit doppeltem Nutzen ausgerodeten Walddistricten sich ermöglichen ließ.

Also kein Haarrauch! sagte auf diese Erläuterung hin Benno fast elegisch.

Man sah die Feuerstellen, von denen aus sich der Rauch verbreitete.

Mein Fräulein! nahm er darauf seine Rede wieder auf; Sie wissen vielleicht nicht, daß bei uns drüben die Sümpfe nicht austrocknen können, ohne nicht oft in Brand zu gerathen. Die Flammen sieht man nicht, aber die Erde dampft und brennt immer fort von diesem unterirdisch glühenden Torf. Ihnen würde es drüben sein, als wenn Sie verurtheilt wären, Ihr Leben lang in einer Stube mit einem rauchenden Ofen zu leben. Uns aber ist dieser Rauch ein Arom wie Patschouli. Wir ziehen ihn schon mit der Geburt ein und wenn wir in der Ferne stürben, würden wir glauben Paradiesesluft zu athmen, wenn plötzlich neben uns ein Kohlenbecken hingestellt würde und man darauf etwa ein Stück alten Pappendeckels langsam und feierlich anzündete. Wenn unsere Landsmannschaft auf der Universität jährlich ihren großen Commers abhielt, bestand das Bouquet des Abends, nachdem der Landesvater gesungen, darin, daß wir die Fenster aufrissen und den Qualm eines draußen angezündeten Haufens Torf einathmeten. Dann fielen wir uns in die Arme und stießen zwischen Thränen und Schluchzen Ausrufungen und Freudengeschreie aus, als wenn die Römer sich dem Teutoburger Walde nahten und wir unsere Aexte und Streitkolben um die langen blonden Locken schwängen, weil es zum Kampfe ging für Freiheit, Vaterland und Buchweizengrütze! Das ist nämlich unser Nationalessen, Fräulein! Schon Thusnelde soll es gekocht haben, wenn sie wünschte, daß Arminius guter Laune war.

Lucinde glaubte Klingsohrn zu hören; selbst Jérôme stand vor ihr ... Dennoch war Benno von Asselyn ein völlig anderer. Auch die Erwähnung der blonden Locken paßte gar nicht auf ihn, da sein Haar schwarz war und sein ganzes Wesen eher südländisch als nordisch schien.

Sie wollte dies auch aussprechen, aber der Rauch, der von dem verwüsteten Felde herüberdrang, erstickte ihr fast die Stimme. Auch setzten sich eben die Italiener sämmtlich in ihren Wagen und auch Lucindens Kutscher hielt, weil der Weg nun bergab ging, sein Roß an und öffnete den Schlag. Ihre Einladung an Benno und Hedemann, sich mit einzusetzen – soweit es neben ihr und auf dem Bocke Platz gab – wurde von diesen artig abgelehnt.

So rollte sie von dannen.

All ihr Denken schien jetzt tief innenwärts gewandt. Sie schlug den Schleier über ihren Hut, weniger um sich gegen den vom raschen Herabrollen des Wagens aufwirbelnden Staub zu schützen, als um ungestörter denken und träumen zu können.

Ja, es war ihr doch, als begann sie jetzt zum zweiten mal zu leben, aufzuwachen im Grabe, eine Auferstehung von den Todten!

Drei Jahre einer nicht etwa erfahrungsarmen, aber doch sehr in sich selbst bedingten Zeit lagen hinter ihr. Sie hatte sie an den Streckbetten der Jugend zugebracht. Eine Dulderin war sie nicht; sich beugen, sich gefangen geben hätte sie nur da gekonnt, wo ein stärkerer Arm sie faßte, wenn auch nur ein Serlo, der sie regiert hatte, obgleich er ein Sterbender gewesen ... Eine Zeit lang reichte aus den Wolken ein solcher Arm; sie suchte ihn zu fassen, sich an ihm zu halten; es war das erste leidenschaftlich bewegte Jahr ihres Wirkens im »Correctionshause der Natur« gewesen. Diese Hoffnung schlug fehl und die Getäuschte brauchte zwei Jahre, sich zu sammeln und ins Leben zurückzufinden. Man hatte sie unter den Kindern gewähren lassen, nachdem sie über die Krisis, um Paula's von Dorste-Camphausen willen entfernt zu werden, durch den plötzlichen Tod des Vaters derselben, des Grafen Joseph auf Westerhof, glücklich hinweggekommen war. Denn Paula, die die Menschen in zwei Klassen schied, in solche, die ihre Nerven gleichsam mit der Hand von oben nach unten strichen und sanft auf sie wirkten, und solche, die sie von unten nach oben strichen und sie aufregten und beunruhigten, Paula erkannte in Lucinden zuletzt ein Wesen, das sie, wenn sie länger vereint blieben, zum Steine hätte umwandeln, ja tödten müssen ... Sie sagte dies selbst niemals, nur die Beobachtenden fühlten dies, und vor allem entschied Bonaventura von Asselyn, der junge Priester, die Trennung, entschied sie in demselben Augenblicke, wo sie sich durch die Rückkehr Paula's zu den Ihrigen und unter die Vormundschaft des Kronsyndikus von Wittekind, ihres Oheims, von selbst vollzog ... Zwei Jahre brauchte Lucinde, um diese Kämpfe zu verwinden, und es war vielleicht ihre beste Zeit, die Zeit wenigstens, wo man ihr Wesen ertragen konnte; sie war die eifrigste Kirchengängerin, wurde von den Geistlichen in Schutz genommen und hatte sogar Gönnerinnen, was ihr von Frauen bisher im Leben noch nicht geschehen war. Da schlug eines Tages der Name einer Frau von Gülpen an ihr Ohr. Fräulein! rief sie berichtigend in ihrer Erstarrung auf. Aber: Frau von Gülpen! hieß es. Sie war die langjährige Freundin eines Dechanten von Asselyn zu Kocher am Fall, einem Städtchen ältesten Ursprungs und zwanzig Meilen weit von dem Ort ihres gegenwärtigen Wirkens ... Asselyn! war der zweite elektrische Schlag. Der Onkel jenes erstandenen Serlo? ... Frau von Gülpen suchte für Kocher am Fall eine Gesellschafterin ... Die Gesellschafterin der Gesellschafterin eines Geistlichen ... Er hieß Asselyn! Sie Gülpen! ... So entschied sie sich und alle ihre Pulse schlugen und tausend wilde Stimmen riefen in ihr: Ja, rauschet noch einmal auf, ihr Pforten der Vergangenheit! Jetzt will ich unter euch hintreten wie eine Königin! Will Trotz bieten jedem Auge, das verwundert mich anstarrt! Dies Kreuz hier auf der Brust entsühnt jede Schuld! Das geweihte Wasser an jeder Kirchenthür reinigt meinen Ruf von jedem Flecken! Wiedergeboren bin ich und gesetzt durch das Blut des Erlösers und der Martyrer! Wer mich anschuldigt, der sehe, ich breche zuerst den Stab über mich! Nichts berührt mich vom Vergangenen auch nur bis zum Saum meines Kleides! Wo ist eine Anklage wider mich? Ich will sie hören! Dann aber habe ich Anklagen wider euch! Entlarven kann ich Mörder, aufstöbern aus Schlupfwinkeln Heuchler ... Eine Siegerin komm' ich, nachdem ich so tiefe Niederlagen erlitten ... Und die letzte Niederlage, an die sie dabei dachte, war nicht etwa jener Tag, wo sie die Jungfrau von Orleans gespielt.

So gestimmt trat sie noch heute vom Dampfboot.

Klopfte ihr aber schon das Herz, als sie hörte, St.-Wolfgang läge zwei Meilen ins Land hinein, erschreckte sie der bloße Anruf eines Kindes, das sie wiederzuerkennen schien, wogte und stürmte es in ihr bei der Begegnung mit Benno, beugte sie alles, was ihr fremd, neu war und doch mit dem, was sie wiedersehen wollte, im Zusammenhange stand, so kam sie sich jetzt schon wieder als eine Magd, nicht als Königin vor, jetzt, wo sie sich dem Orte näherte, von dem man ihr aus Kocher am Fall geschrieben hatte:

Sie werden, meine Liebe, nur nöthig haben, vom Dampfboot aus einen Einspänner bis S.t-Wolfgang zu nehmen. Dort ist schon unser Neveu, Herr Pfarrer von Asselyn, unterrichtet und hält einen Wagen in Bereitschaft, Sie in unsern Kreis zu führen! Gewisse Bedingungen gleich anfangs mündlich! In der Hauptfrage sind wir einverstanden.

Petronella von Gülpen.

Die Gülpen, die sie kannte, hatte Brigitte geheißen ...

Jetzt blickte sie auf. Die Gegend hatte sich verändert. Vor ihr lag, von den Abendsonnenstrahlen nur noch in seinen obern Rändern erhellt, ein schönes tiefes Thal, das wie eine Muschel mit grünen Streifen in die rings sich verlierenden Berge auslief. Aus dem tiefsten grünen Kern des freundlichen Anblicks ragte die Spitze eines Kirchturms, von dem ein Läuten ertönte. Je mehr, vom Hemmschuh aufgehalten, der Wagen niederwärts rollte, desto reicher wurde wieder die Vegetation, desto voller und edler der Baumschlag, desto weiter die Fläche, von der schon längst das in gleichmäßigem Anbau gewonnene Getreide geerntet war. Die Landschaft trug nicht den fast italienischen Charakter derjenigen, die sich um den großen poetischen Strom ausgebreitet; aber auch der betrübende Anblick eines rings von Bergen umschlossenen Gebirgsdorfes, den man fast auf der Herfahrt hätte erwarten dürfen, bestätigte sich nicht. Gärten kamen wieder und Bienenstöcke, mit ihnen Blume und selbst die Rebe schmiegte sich nicht nur an einem Spalier den Häusern an, sondern wuchs an sonnigen Abdachungen selbst noch in mancher gefälligen Einzelpflanzung.

Das Läuten bedeutete ohne Zweifel, daß jenes schon im Weißen Roß besprochene Begräbniß in vollem Gange war. Auch Stimmen singender Kinder drangen aus dem Thal empor, zuweilen unterbrochen von einem Klingeln, das den Moment der wol gerade vor dem Altar bei geöffneten Kirchthüren stattfindenden Einsegnung der Leiche bezeichnete.

Indem riefen ihr die nachrollenden Italiener hinterwärts ein Lebewohl zu. Sie deuteten auf ein Wirthshaus am Wege, wo sie ihren schwerer ziehenden Gaul füttern wollten.

Vergessen Sie nicht – Il Michelangelo! rief Napoleone als guter Kaufmann ihr nach.

Beim Dechanten! antwortete sie, aber schon unvernehmbar.

Catone zog seine kalkige Mütze, Porzia verneigte sich und machte eine Handbewegung. Sie jedoch sah nichts mehr. Ihr schwindelten die Sinne ...

An dem Wirthshause standen Handwerksbursche, Bauern in Kitteln und Blousen, manche mit Militärmützen, die sich wie Benno von Asselyn zu den Uebungen einstellten; ein Gensdarm revidirte von seinem Gaule aus Wanderbücher und Passirscheine. Die Italiener zogen schon ihre Papiere in der Ferne ...

Beim Anblick der Fuhrleute, die wol hier, um über den Wolfgangsberg zu kommen, Vorspann nahmen, kam ihr eine Erinnerung an die Bäche von Langen-Nauenheim ...

Sie nahm ihre Handtasche, öffnete und zog ein schwarzes Buch mit Goldschnitt hervor, schlug es auf und schickte sich an zu lesen.

Die Worte des heiligen Bernhard las sie:

»Unsere Gedanken an selig Entschlafene sind Funken, durch welche unsere eigenen Seelen gehoben und entzündet werden« ... Worte, die den Anfang einer Betrachtung über die Todten bildeten.

Sie ganz zu lesen war sie zu erregt.

Die Litaneien wurden in dem Ausdruck ihrer Sätze immer deutlicher.

Schon war der Leichenzug aus der Kirche auf dem Gottesacker angekommen, schon war eine zahlreiche Bevölkerung um den aufgeworfenen Grabeshügel versammelt ...

Lucinde befahl mit stockender Stimme, daß während der heiligen Handlung sie still hielten ...

Jetzt trennte sie nur noch eine niedrige Mauer von dem Friedhofe ...

Der Wagen hielt unter dem bergenden Schatten eines breitastigen Nußbaums ...

Vor ihr stand im weißen Meßgewande, unter Knaben im Chorrock, die brennende Kerzen trugen und das dampfende Weihrauchfaß schwangen, Bonaventura von Asselyn.

Seit drei Jahren sah sie, an ihn gedenkend, nicht mehr Serlo.

Längst war er – Er selbst!

3.

Nach den Segnungen, die dem Sarge schon in der Wohnung des Verstorbenen zu Theil geworden, nach den Weihen vor dem Altar spricht soeben eine sanfte wohllautende Stimme noch vor der Einsenkung in die Grube Worte, die zu dem Ceremoniel der Kirche die eigenen Empfindungen des Redners bringen.

Man konnte die Rede, die der am Fußende des Sarges stehende, von dem letzten Abendsonnenglanz beleuchtete Priester sprach – der Entschlafene selbst mußte dem Brauche der Kirche gemäß gen Osten blicken –, deutlich vernehmen.

Sein Aeußeres hatte sich wenig verändert. Es waren dieselben, nur gefestigtern Züge, die Lucinden vor drei Jahren an eine Geistererscheinung, an Serlo's Tod als Traum oder an dessen Auferstehung, glauben ließen.

Es war dieser mildeste aller Priester, den sie selbst hatte weihen sehen mit Joseph Niggl und Beda Hunnius – sie hatte diese Namen so fest behalten wie die Unterscheidungslehren der Confessionen, in denen sie sechs Wochen später geprüft wurde zu ihrem Uebertritt.

Heute standen keine jungen Kleriker, sondern weißgekleidete Kinder, Knaben und Mädchen, um Bonaventura.

Er war es wieder, Er, ein Jahr lang die Liebe und das Entzücken der ganzen Stadt, aus der sie nun erst kam, kommen durfte!

Selten lag auch wol auf dem Antlitz eines Jünglings so viel Adel, so viel Glanz und Glorienschein schon in jungen Jahren ...

Bonaventura von Asselyn, der einst angesehenen, weitverbreiteten und aus dem Friesischen stammenden Familie dieses Namens angehörend, hatte aus einer durch Familienverhältnisse, vorzugsweise ein unglückliches Ende seines Vaters und die Neuvermählung seiner Mutter, deren einziger Sohn er war (mit dem Oberregierungsrath Friedrich von Wittekind-Neuhof), genährten Schwärmerei den Offizierstand, in den er, bisher Zögling der nahe gelegenen Universität, eben eintreten sollte, mit dem geistlichen Seminar vertauscht und war nach dem südlichen Deutschland gegangen, um in Kreisen strengerer und ungehinderterer Katholicität seine Bildung zu vollenden. In der Stadt, wo ihm der Bischof die Weihe gab, hätte er am Altar und im Beichtstuhl die größten Erfolge gewinnen können, aber er zog erst die Kaplanei bei seinem edeln Wohlthäter, dem Dechanten von St.-Zeno im nahen Kocher am Fall, dem Bruder seines Vaters, dann eine kleine bescheidene idyllisch gelegene Landpfarre vor.

Lucinde fand dieselbe Erscheinung wie sonst, nur männlicher, fester, ernster. Sein Wuchs war schlank wie die Tanne, das Haupt leise übergebeugt, doch edel und freiblickend und auch jetzt in die mit rosigen Wolken sich säumende Ferne wie in das Jenseits schauend. Wie weich und weiß mußten diese Hände sein, die in maßvoller Bewegung die bedeutendern Gedanken seiner Rede unterstützten! Wie schön stand dem leise gerötheten Antlitz der milde Schwärmerblick, der aus dem tiefsten Innern der Seele zu kommen schien! Wie schien er in gläubiger Zuversicht das Ewige leibhaftig vor sich zu sehen!

Ein sinnend Haupt! Ein edel Angesicht!

Ein Auge, das sogleich zum Herzen spricht!

Das Haar wie Rabenfedern! Unbeschnitten

So weit es strenge Priesterregeln litten!

Ein Leiden in der Miene, still entsagend!

Ein Bitteblick wie des Erlösers Flehn,

Da er zum Vater sprach im Garten klagend:

Lass' diesen Kelch an mir vorübergehn!

Die Stirne rund, die Wange ein Oval!

Bald blaß, bald von der Seele Glutenstrahl

Mild überhaucht mit frischen Rosenlichtern!

So leuchtend nur bei Denkern und bei Dichtern!

So stand Bonaventura einst vor des Erzählers Auge, als er sein Leben in Versen schildern wollte und, übermannt vom Stoffe, die Feder niederlegte ...

Bonaventura von Asselyn sprach von dem Verstorbenen wie von einem heimgegangenen Freunde. Er nannte den alten Joseph Mevissen, dem zu Liebe, weil gerade der hier wohnte, er diese Pfarrei besonders gern gewählt, einen Führer seiner Jugend, nannte ihn den Diener seines verstorbenen und, wie alle Welt um ihn her wußte, auf einer Alpenreise so furchtbar unglücklich verkommenen Vaters. Jene Thatsächlichkeit, die in den Reden katholischer Geistlichen oft maßlos die Grenzen des Schicklichen überschreitet, die aber auch, richtig angewandt, ebenso das oft nur allzu Allgemeine der protestantischen Predigtweise vermeidet, war hier begründet durch den allgemeinen Antheil und die eigene dankverpflichtete Stellung des Redners zu dem Abgeschiedenen.

Mevissen war ein armer Häusler gewesen, lebte von kleinen Arbeiten der Tischlerei, die er in jungen Jahren gelernt hatte, ehe er dem Vater Bonaventura's auf jener Reise folgte, von der Friedrich von Asselyn nicht wieder zurückkehrte. In leiser Andeutung und nicht etwa sein eigenes Leid zu sehr hervorstellend, kam der junge Redner auf diese allen ihn Umstehenden bekannten Vorgänge. Er pries den Antheil, die Hingebung, die Treue des Verstorbenen, die er dem Vater und dann ihm selbst bewiesen. Er sprach, angeregt von der Erinnerung an jene Zeit, wo ihm als Knaben zum ersten mal das Bild seines in einem Schneeabgrunde des großen St.-Bernhard todtgefundenen Vaters entgegentrat und seine Neigung für den geistlichen Beruf entschied, über die dunkeln Kerkerwände des Todes, über die stille Gemeinsamkeit, in der die Leiber ruhen und einst schon so in alter römischer Zeit, in den Katakomben, die Gebeine der heimlich begrabenen Märtyrer ruhten ... über den Sarg, den sich der alte Freund seiner Jugend und des ganzen Dorfes selbst gezimmert und in dem er wie in einem Bett nächtlich schon gleich manchem Heiligen geschlafen hätte; – er verglich den Tod mit dem Schlummer, seiner Erquickung, seinen Träumen, seinem Erwachen. All diese Gedankenreihen folgten sich natürlich, ohne Prunk, mit einfachen Bildern, in jener sich auf Sprüche der Bibel und der Kirchenväter stützenden Redeweise, die den Zusammenhang des eigenen Ichs, das sich nicht vordrängen soll, mit der Lehre und den Beispielen des kirchlich Gebotenen nicht vergißt und allem Abschweifen persönlicher Einfälle durch bestimmt vorgezeichnete Formeln und Gebete ein Ende macht.

Dreimal besprengte dann der Priester den Sarg mit Weihwasser, schwang über ihm das Rauchfaß, warf drei Händen voll Erde auf ihn und endete mit den Worten:

Aus der Erde hast du mich gebildet; mit Fleisch hast du mich umkleidet;. erwecke mich wieder, mein Erlöser!

Nach dem »Amen!« war die Handlung vorüber; die Menge zerstreute sich; der von Bonaventura unter den niederhängenden, weitschattenden Wallnußästen kaum bemerkte Wagen rollte weiter; Lucinde wußte nicht, wie sie unter den Eindrücken, die ihr Inneres bestürmten, in dem Wirthshause des Ortes ankam.

Aus Blech geschnitten, hing über der Thür desselben neben der großen Einfahrt des bescheidenen Hauses ein Stern ...

Das Verlangen nach einem Zimmer war bald befriedigt, der Kutscher wurde bezahlt und Lucinde war mit ihren Reiseeffecten, aber auch mit der schweren Aufgabe allein, dem Priester, der sie kannte, aber auch ganz kannte, wie sie war, wie sie sich selber vielleicht nicht kannte, nach zwei Jahren wieder entgegenzutreten.

In dem kleinen Raume, hinter dem Fenster mit den zerkritzelten grünblauen Scheiben, in der Umgebung an den Wänden hängender Schildereien, die in Lithographieen und mit Wasserfarben jene überschwenglichen mystischen Anschauungen eines durch alle Himmel ausgebreiteten Rosenkranzes als einer Weltherrschaft der über der Erdkugel und dem Monde thronenden Mutter Gottes, mit der Sonne selbst als Strahlenkrone, darstellten, lange zu verweilen, wäre ihrem unruhigen Charakter nicht möglich gewesen.

St.-Wolfgang war ein freundliches, angenehmes, jetzt sogar durch die sich zerstreuende Menge belebtes Dorf.

Das war in allen Winkeln und den vor dem Wirthshause zum Stern ausmündenden Gäßchen des Ortes eine Rückkehr zur Freude am Dasein! Doch verwunderte sie diese nicht. Auch diese Eigenschaft ihres neuen Glaubens kannte die Convertitin schon, daß in ihm nach dem Tribut, den man den himmlischen Pflichten gezollt, eine muntere Rückkehr zur Freude am Irdischen gestattet sein sollte.

In einem an das Wirthshaus sich lehnenden Obstgarten mit Bänken und Tischen bemerkte sie schon manche Gruppe, die sich gebildet hatte, um an dem trefflichen Wein der Gegend sich zu erquicken. Auch der Knecht, der erst am andern Morgen zurückkehren zu wollen erklärt hatte, da er behauptete, sein Gaul hätte sich unterwegs einen Stein eingetreten und bedürfte der Ruhe, stand schon mit angezündeter Pfeife unter den Gästen, zu denen sich, in leichter gelüfteter Kleidung, wie wenn er entweder hier wohnte oder doch übernachtete, und gleichfalls mit brennender kurzer Pfeife, der Gensdarm gesellte, der oben am Berge die Passirscheine revidirt hatte.

Die Sonne vergoldete nur noch die Zifferblätter des Kirchthurms und zeigte die Abendstunde, die bald auch von der Glocke zur Abhaltung der Vespergebete gemeldet wurde. Lucinde hatte gelernt, daß in diesem Augenblick des Angelusgebets ringsum die ganze Erde, so weit katholische Christen wohnen, gleichsam ein Gürtel von Gebeten walle, dem sich kein Gläubiger entziehen dürfte. Sie kannte das Angelus sogar in lateinischer Sprache. Doch folgte sie, da sie sich allein wußte, dem Beispiel des zuweilen zu ihr hinaufschielenden Gensdarmen unten, der seinerseits, der Landeskirche angehörend, mit seiner Pfeife ruhig an die Salatbeete schritt, die den Obstgarten begrenzten, während die Männer an den Tischen die Häupter neigten. Auch sie betete nicht, sondern ordnete vor dem in jedenfalls unabsichtlicher Satire wie vor Jahren in Eibendorf mit einer kleinen Pfauenfeder geschmückten matten Spiegel ihre Toilette, band die Flechten ihres Haares fester, glättete einen großen, weithängenden Spitzenkragen, unter dessen Fall die zierlichste Taille sich verbarg, legte ihr goldenes Kreuz in passende Ordnung, wählte ein weniger zerknittertes Taschentuch aus dem geöffneten Koffer, entnahm ihm einige gesiegelte Briefe, steckte diese zu sich, setzte den Hut auf und schickte sich zu einem unendlich seligen und doch ebenso wieder schweren, vielleicht tief demüthigenden Gange an.

Beim Pfarrer konnte inzwischen vielleicht auch schon durchs Bonaventura's Vetter und seinen Begleiter Hedemann ihr Kommen angezeigt worden sein; denn die Ceremonie, ihre Toilette, ihr Kampf mit sich selbst hatten lange gedauert.

Das Pfarrhaus lag dicht an der Kirche und dem Gottesacker.

Von letzterm trennte es nur ein bescheidener Gemüse- und Obstgarten.

Die Grenze, eine Mauer von grünen Hecken, war unverschlossen.

Nicht gering war die Neugier, mit der Lucinden Jung und Alt betrachtete.

Nur eine alte Frau, die im Pfarrgarten Kerbel und Salat zum Nachtessen sammelte, erhob sich von ihrem Bücken nicht. Ihr schienen vielleicht die Besuche elegant gekleideter Frauen bei ihrem Herrn weniger auffallend.

Und doch konnte Lucinde vor Bangen nicht zur Hausthür hinein.

Der Eingang zum Garten stand offen.

Ungesehen betrat sie einen Theil desselben, einen gewähltern, wo abgeblühter Jasmin und wilde Geisblattbüsche sich fast zu einem Laubengange einten ...

Hier war ein Sitz, auf dem noch Bücher lagen ...

In Bienenstöcken, an denen sie vorüber mußte, schien es still, wenn auch ihrem scharfen Ohr nichts von dem Summen entging, von dem sie drinnen belebt waren ...

Im fast verstohlenen Vorüberhuschen wagte sie die Bücher, die Bonaventura vergessen zu haben schien, anzusehen ...

Sie schlug sie auf, neugierig auf die jetzige Geistesfährte des innern Lebens dieses ihres – Feindes? War das Asselyn? Er liebte, wenn er liebte, Paula! Er haßte, wenn er haßte, Lucinden!

Sie fand einen Band von Goethe's Gedichten. Dann eine ältere Liedersammlung: »Trutz-Nachtigall«, von dem alten edeln Dichter Friedrich von Spee, einem Jesuiten.

Sie kannte einige der Weisen dieses letztern Sängers, der sich durch seinen geistlichen Stand nicht hatte beirren lassen, die Sprache der Blumen, der Farben, der Töne und des eigenen Herzens als die gemeinsame Muttersprache aller geschaffenen Creatur mit den Weltlichen mitzureden und unter den Huldigungen, die seine inbrünstige Phantasie der überirdischen Liebe brachte, auch ein gut Theil der Wonnen mitzufühlen, die die irdische gewährt.

Ertappt! lag in dem fast listigen Blick ausgesprochen, mit welchem Lucinde beide Bücher an sich nahm und, um sich Muth zu fassen, beschloß, sie dem Pfarrer beim ersten Gruß einzuhändigen.

Im Hause vorn, das nur aus einem, aber hochgelegenen Stockwerk und vielen bewohnbaren Dachkammern bestand, kündigte sich in der Küche schon die größte Regsamkeit an.

Die eigentliche Führerin des Haushalts war wohl die über dem Salatbeete gebückte Matrone. Aber hier in der Küche stand, vom prasselnden Feuer beschienen, ein jüngeres dienendes Wesen und gab, angeredet um den Herrn Pfarrer, aus der Ferne kaum verständliche Antwort; Eierspeisen, um die es sich allein bei einem improvisirten Abendimbiß handeln konnte, gebieten Aufmerksamkeit auf Pfanne und Löffel; das wußte Lucinde wohl von ihren frühern mißglückten Versuchen in diesem Fache.

Nun folgte sie der eigenen Führung und verließ sich auf ihr Ohr, das durch die Thür zur Rechten auch schon Männerstimmen hörte. Lauschen konnte sie nicht, wenn sie auch wollte, denn im gleichen Augenblick öffnete sich die Thür und Hedemann trat ihr entgegen, mit Schüsseln in der Hand und mit Gedecken. Er half an den Zurüstungen zum Nachtimbiß.

Wie staunte er, als ihm Lucinde alles ohne weiteres aus der Hand nahm und damit in die Küche ging!

Hedemann blieb stehen, hielt die Thür auf und sagte, zugleich bestätigend, daß man eben von ihr gesprochen:

Da ist ja jetzt das Fräulein!

Bonaventura hatte Lucinden nach der Mittheilung der Frau von Gülpen zu Kocher am Fall schon in der Frühe erwarten dürfen.

Und wie ein Priester, der nach der Beichte einer noch so großen Sünde dem Sünder begegnen kann als hätte er nicht ein Wort von ihm vernommen, schritt er jetzt hinaus, begrüßte freundlich lächelnd Lucinden in der Küche, beschwichtigte das Erstaunen der alten, aus dem Garten zurückgekehrten Frau und führte sie dann wie eine unverfängliche, ihm willkommene alte Bekanntschaft mit Wohlwollen an der Hand in das Wohnzimmer zurück.

Ihre Hand zitterte in der ruhigen seinen.

Sie wollen zu meinem Onkel! begann er mit dem milden und weichen Tone, den Lucinde eben auf dem Friedhof gehört, dem Tone, den sie aus frühern Zeiten kannte, ja aus Zeiten schon, wo sie ihn selbst noch gar nicht gesehen; denn so konnte Serlo sprechen, wenn er auf dem Sopha lag, unbehelligt von seiner Frau und wehmüthig auf die Vergangenheit und Zukunft blickend. Aber diese sanfte Stimme kam hier vom Leben, von der Gesundheit, von einer Zukunft, die eine sichere und verbürgte war.

So wissen Sie –? erwiderte sie und schlug die Augen nieder, als wäre sie sich der Glut derselben bewußt ...

Sie reichte die Bücher dar und erzählte ihren Einfall in den Garten.

Dann gab sie Briefe ab, die sie von Priestern und Freunden Bonaventura's mitbrachte.

Dieser erbrach die Briefe, las sie und überließ Lucinden den weitern Erkennungen und Ueberraschungen und Verständigungen zwischen ihr und Benno.

Ob Bonaventura mit ganzer Theilnahme las? ... Ob er dies mit dem Gefühl that: Da ist sie die Abgesandtin des Himmels oder – der Hölle?

Man rüstete das Mahl. Benno plauderte über Armgart, über das Erstaunen derselben, daß sie Lucinden blos aus den Schilderungen ihrer Freundin Paula erkannt und dann von Angelika Müller, der Lehrerin, die Richtigkeit ihrer Vermuthungen bestätigt erhalten hatte, über diese Lehrerin, die wenig mehr über Lucinden gewußt zu haben schien, als daß sie einst auf einer Reise sie begleitet hätte – wußte sie mehr, so paßte es schwerlich für die jungen Mädchen – über den Doctor Laurenz Püttmeyer, über Hegel's Lehrstuhl, über die metaphysische Drechselbank ...

Bonaventura behielt Zeit, beim Lesen auch sich zu sammeln und vielleicht jenes Bildes in seinem Gedächtniß zu gedenken ...

Er war seit acht Wochen Priester und saß zum ersten mal im Beichtstuhl ...

Es war ein uralter, von Eichenholz kunstvoll gearbeiteter. Ein alter Holzschnitzer hatte die Zierathen dieses Stuhles aus der Geschichte des Sündenfalls entnommen. Der Stuhl drückte die Versuchung aus und die Erlösung. Adam und Eva standen links und rechts an den beiden Eingängen; der Priester saß wie im Baume der Erkenntniß; ringsum ihn windet sich die Schlange. Ueber ihm erhebt sich die Erlösung, der siegende Christus mit dem Kreuz und jene Maria, von der Friedrich von Spee, der Sänger der »Trutz-Nachtigall«, erzählt hat, daß sie einst zu ihrem Sohne gesagt haben soll: »Mußt du so leiden, so bitte den Vater, daß er mich früher hingehen läßt«; aber der Heiland erwiderte: »Zwei haben im Paradiese gesündigt, Adam und Eva! Zwei müssen auch die Marter leiden, ich und du!« ...

Und in diesem Beichtstuhl war es gewesen, daß beim ersten Beichthören die erste Stimme, die zu Bonaventura gesprochen, ohne daß er die Beichtende sah, nach dem ersten Anmelden ihn anredete: Ehrwürdiger Priester! Ist es wahr, daß alles in Erfüllung geht, was wir, während ein Priester geweiht wird, von Gott erbitten? ... Bonaventura, ohne der Stimme zu achten, die er hörte, versenkt in die ihm so heilige Bedeutung des Amtes, Mitwisser fremder Fehle und Mitträger fremder Schuld, Mitträger fremder Reue und Buße zu sein, hatte erwidert: So Sie um ein ewiges Gut gebeten haben, gewiß; doch würde es Ihnen Gott auch erfüllen in jeder andern Lage, wo Sie in Andacht zu ihm beten! Darauf hatte die Stimme erwidert: Ich bat um ein Unmögliches, die Wiedererweckung eines Todten, oder darf man annehmen, daß der Geist sich auch auf Erden schon unsterblich erneuert und in wechselnden äußern Gestalten doch derselbe bleibt, dieselben Wunder wirkt, dieselbe Liebe entzündet? ... Bonaventura hatte erwidert: Der Geist, der heilig ist, ist ausgesandt in alle Welt und ist nur einer! ... Wodurch heiligen wir eine Liebe? hatte die Stimme noch scheuer gefragt; aber deutlicher kannte er die Sprecherin schon, als er das Wort gesprochen: Durch Entsagung! ... Er hatte diese Stimme schon oft gehört, wenn er die ihm so dringend empfohlene Gräfin Paula besuchte. Er hatte ihr Interesse beobachtet, ihr Erglühen, wenn er nahte, ihre Eifersucht auf Paula. Er hatte sich in den Beichtstuhl gesetzt, ausgerüstet auf die schwierigsten Fälle, die die Moraltheologie für das wichtigste und schwerste Amt des Priesters vorhergesehen, ausgerüstet auf alle Vorkommnisse der Herzenserleichterung, auf Ausreden und Ausweichungen aller Art, auch auf jene Zudringlichkeit der Mittheilung, die eine der lästigsten Erfahrungen gesuchter Seelsorger ist, auf die Plaudersucht, auf die Geheimnißkrämerei, auf ein sich mit der Wollust des Schmerzes selbst Preisgeben und die sich selbst geiselnde Vertraulichkeitssucht, ja auf die Eitelkeit auf die Sünde – er kannte alles, was sich schaudervoll Menschliches im Beichtstuhl zu enthüllen pflegt; – aber daß ein zitternder, ihm bekannter und mit fühlbarem Athem sprechender weiblicher Mund so jetzt ihm in unverkennbarer Andeutung von einer ihn doch nur selbst betreffenden Liebe und mit einem fast herausfordernden Spott wieder, der ihn erbeben machte, davon in dieser Lage reden konnte, das war sogleich die stärkste Prüfung gewesen, die ihn traf ... Lehren Sie mich entsagen! war die Aufforderung Lucindens gewesen. Er hatte sie ermahnt zum innern Gebet. Kennen Sie das innere Gebet? ... Nein! hatte die ermattende Antwort gelautet ... Es ist die Sammlung aller Ihrer Gedanken auf Einen Punkt, die Ausmalung Ihrer Betrachtungen, als wären Sie bei dem, was Sie lesen, gegenwärtig! Wählen Sie dazu das Gebet des Herrn im Garten von Gethsemane und nehmen Sie Veranlassung zur steten Wiederkehr Ihrer Betrachtungen bei dieser Stelle selbst bis zur Vergleichung der Darstellung, wie sie sich bei den verschiedenen vier Evangelisten findet! Setzen Sie diese innern Betrachtungen über diese eine Stelle der Leidensgeschichte so lange fort, bis eine kleine Altarkerze niedergebrannt ist, die Sie an der Kirchenthür draußen kaufen mögen! ... Dann sprach er sein Absolvo und die Gestalt, die er nicht gesehen, war verschwunden. Zur Mehrung aber seiner harten Prüfungen, und doch ihn unendlich beglückend, kniete auf der andern Seite dann als zweite seiner ersten Beichteroberungen Paula Camphausen ... Sie hatte einen ihrer freien Tage nützend, sein erstes Beichtkind sein wollen! ... Lucinde war ihr zuvorgekommen ... Paula klagte sich des Stolzes an auf die Bilder, die ihr zuweilen im Traum erschienen. Ich habe verboten, liebe Comtesse, erwiderte er, daß man Ihnen wiedererzählt, was Sie infolge einer krankhaften Verstimmung Ihrer Nerven im Schlafe sprechen! ... Es geschieht doch! erwiderte sie, und ich hör' es zu gern und es ängstigt mich! ... Auch hier verließen Bonaventura gleich im Beginn dieser Wirksamkeit alle Vorgänger in der Kunst der Ertheilung geistlicher Rathschläge ... und seltsam genug nimmt sich die Kirche auch aus in den Lücken, die ihre reiche Vergangenheit für die reichere Gegenwart offen lassen muß! Was soll sie sagen, wenn nicht die großen Männer der alten Kirchengeschichte, ein Gregor, ein Bernhard von Clairvaux in Dingen, die diese begreifen konnten, zu ihr sprechen, sondern solche neueste Erlasse der päpstlichen Curie, bei denen man immer fürchten muß, Galileo Galilei und die Bibel fallen sich wiederum an und ringen im Kampfe! Der Magnetismus als Heilmittel war damals vor der heiligen Pönitentiarie noch Streitfrage; jetzt hat ihn ein Erlaß derselben verworfen. Bonaventura half sich damals in seiner Erwiderung an Paula mit der Erinnerung an das Hochgefühl der Märtyrer und sagte, wie einst der arme verbitterte Schauspieler Serlo gesagt hatte, daß man Freude empfinden dürfe an sich selbst, setzte aber hinzu, nur müsse man über jedes Verdienst die Ehre Gott geben. Um die ihm unendlich werthe junge Freundin von der gefährlichen Sehergabe, deren Ruf schon die ganze Stadt erfüllte, ja die ihn selbst zum Spott der Neider und Feinde, die er schon hatte, sogar mit dem Bischofshut geschmückt hatte, zu heilen, rieth er ihr an, kein einziges geistliches Werk mehr zu lesen, auch kein einziges Werk der nur den religiösen Sinn exaltirenden barmherzigen Liebe zu üben, sondern weltliche Schriften und weltliche Beschäftigungen – – So hatte er in wahrhafter Versuchung und wie zwischen »Himmel und Hölle« damals in der Mitte das wichtigste Werk seines Berufs begonnen, sich selbst darauf eine schwere innere geistliche Strafe für etwa dabei obwaltende eigene Schuld auferlegt ... und in diesem Augenblick fuhr diese Erinnerung und die an das ganze Jahr überhaupt, das er noch in jener Stadt verleben mußte, wie mit einem einziges schrillen Septimenaccord durch seine Seele.

Und zwischen alledem klapperten im Nebenzimmer Teller, kam die alte Renate, die Wirthschafterin, und ließ ihre Gebäcke duften – sie hatte für beiderlei Geschmack gesorgt: Eierkuchen mit und ohne Schnittlauch – wurden die Stühle herangerückt und die Plätze vertheilt und auch schon der Kork einer Weinflasche wurde von Hedemann gezogen ... Das Leben faßt oft das Unscheinbarste in Gold und Silber und wie oft die wahren Glanzgeschmeide unsers Innern in Kupfer und Blei!

Beim ersten Zuspruch zum bescheidenen Mahle ergab sich, daß Lucinde einen Wagen finden würde, der sie morgen früh nach Kocher am Fall bringen sollte.

Benno und Hedemann erklärten sie begleiten zu wollen.

Benno hatte sich nur bei dem Stabe des Truppentheils, zu dem er gehörte, einige Tage zu stellen; lange Uebungen fanden in diesem Jahre der Theuerung und einer in der ganzen Provinz herrschenden Aufregung wegen nicht statt. Er erklärte sich davon um so befriedigter, als er bei einem der ersten Advocaten der Gegend, in der Residenz des Kirchenfürsten der Provinz, arbeitete und seine juristische Laufbahn mit Eifer zu verfolgen schien.

Bonaventura kam auf die ihm von Lucinden mitgebrachten Schreiben zurück und auf deren Verfasser. Entweder nahmen sie seine Aufmerksamkeit wirklich in Anspruch oder sie gaben ihm nur willkommene Gelegenheit, sich über die Wiederbegegnung mit Lucinden zu sammeln. Lucinde hatte, noch ehe sie sich zu Tisch gesetzt, schon mit Renaten einen Strauß angebunden über einen Spiegel, von dem sie einige Fliegenflecke mit dem Taschentuch abwischte. Frau Renate bemerkte diese Einmischung in ihre eigene Lebensaufgabe ohne besonderes Wohlgefallen ... Morgen wäre Putztag und das Fräulein brauchte sich nicht zu incommodiren, sagte sie spitz ... Lucinde replicirte, sie möchte sich beruhigen, ein Spiegel könne ja in einer Pastorei nur ein wenig beachteter Gegenstand sein ... Worauf wiederum Renate: Ei sie möchte doch nicht glauben, daß sie die einzige Dame wäre, die hier schon vorgesprochen! ...

Benno, dessen scharfes Auge das Interesse Lucindens für seinen Cousin bald übersah, flüsterte Renaten das schwerlich von der Matrone verstandene Wort Mephisto's zu: »Du ahnungsvoller Engel du!«

Man hatte auf den Tisch noch eine kleine Studirlampe gesetzt. Ihr Deckel warf einen dunkeln Schattenring über die Mienen der dem bescheidenen Mahle Zusprechenden.

Renate saß nicht darunter, wohl aber Hedemann. Dieser war, wie der Knecht beim Bauer, wie der Edelknappe beim Ritter, Diener und Freund zugleich, ganz im Charakter jenes Landes, das nach Benno's Erzählung im Höhenrauch seinen ewig blauen ionischen Himmel findet. Hedemann durfte ebenso das Wort führen, wie er auch das Brot vorschnitt. Von den Italienern, die durch den Ort durchgefahren waren, sagte er:

Sie sind aus Frankfurt eigens mit ihren Waaren verschrieben worden!

Hedemann! rief Benno. Mit ihren Waaren! Gegenstände heiliger Verehrung Waaren! Man sieht, wie lange Sie sich im ketzerischen Amerika umgetrieben haben! Hoffentlich kehren Sie an Porzia's Hand zur Rechtgläubigkeit zurück! Bona, hast du nicht noch eine alte italienische Grammatik übrig? Ich glaube, Hedemann verlegt sich auf Lingua Toscana in Bocca Romana. Porzia Biancchi scheint es ihm angethan zu haben!

Lucinde schürte den Scherz und erbot sich, da Hedemann in Kocher am Fall wohnte, wenn er wollte, zum förmlichen Unterricht.

Hedemann erwiderte seufzend:

Ein Schüler von fünfundvierzig Jahren!

Wer mit fünfundvierzig Jahren noch lieben kann, ist zu allen Dingen gelehrig! erwiderte Lucinde, die ein sittsames Verschleiern und nur leises Berühren zarter Gegenstände nicht in ihrer Art hatte.

Hedemann verweilte in der That mit Antheil bei den Lebensverhältnissen dieser Italiener, bei ihrer leichten Art, das Leben aufzufassen, ihrer Kunst, wo und wie nur irgendmöglich, dem Leben Gewinn zu entlehnen, und wieder kam er bei der Thatsache an, daß sie eigens wären aufgefordert worden, gerade jetzt ins Land zu wandern und überall die Erzeugnisse ihrer Industrie zu den wohlfeilsten Preisen anzubieten.

Nun ja, sagte Bonaventura, gerade jetzt, wo man wieder beweisen muß, daß es in unserer Kirche eine unsterbliche Ehre ist, die Märtyrerkrone gewonnen zu haben!

Durch eine Ideenverbindung, die nicht ausgesprochen zu werden brauchte, weil jeder sie für sich selbst ergänzte, kam man auf Vorkommnisse des kirchlichen Lebens überhaupt. Hedemann fragte, ob nicht Bonaventura der morgenden, zu Kocher am Fall stattfindenden Besprechung einer großen Anzahl von Geistlichen beiwohnen würde?

Bonaventura erwiderte zögernd mit der einfachen Frage:

Bei Beda Hunnius?

Sein Vetter verstand, was er sagen wollte, und unterbrach die Angabe der Gründe, warum sich der Pfarrer solchen Verschwörungen gegen die Regierung entzöge, mit den parodirten Worten des Tell:

Doch, was ihr thut, laßt ihn aus eurem Rath!

Er kann nicht lange prüfen oder wählen;

Bedürft ihr seiner zur bestimmten That,

Dann ruft den Tell, es soll an ihm nicht fehlen!

Diese Worte erheiterten die etwas gedrückte Stimmung.

Auch Bonaventura sagte mit einem Lächeln, das seinen Zügen einen unwiderstehlichen Ausdruck vertrauenerweckender Güte gab:

Hätt' ich gedacht, daß ich heute noch bei Erwähnung der Schweiz lachen würde! Den ganzen Tag über war ich in die Erinnerungen verloren, die sich an unsern alten braven Mevissen knüpfen!

Das bereits gleich nach erster Begrüßung von Benno und Hedemann berührte Thema wurde aufs neue aufgenommen. Man sah, daß es sich um den Tod eines Mannes handelte, der einer ganzen, weitverzweigten Familie werth gewesen war. Da er aber auch an den Tod Friedrich's von Asselyn, des Vaters Bonaventura's, Gemahls der jetzigen Frau von Wittekind-Neuhof, erinnerte, so konnte sich niemand gedrungen fühlen, bei dem Gegenstande allzu lange zu verweilen. Nur Lucinde ... diese hatte schon seit lange das System, keine Wunde zu schonen, keinen Schmerz zu umgehen, alles gerade so zu nehmen, wie es ist. So sprach sie auch hier, ohne die geringste Besorgniß, ihre Umgebungen zu verwunden oder aufzuregen.

Ich höre ja auch, daß dieser Mann in einem Sarge begraben ist, den er sich selbst gezimmert hat?

Ja, sagte Bonaventura, er fing diese Arbeit an nach einer Predigt, die ich am letzten Allerseelentage hielt! »Wir leben den Tod!« – diesen Spruch eines Weisen behandelte ich und ich mag es wol in zu lebhaften Bildern gethan haben! Unser ganzes Dasein verwandelte meine leider oft noch gar schulmäßige Rhetorik in ein großes Leichentuch. Die Sterne waren die silbernen Verzierungen desselben, der Mond die Krone auf dem Grabe, ja alle Blumen, selbst die Rosen und Lilien, verwandelten sich in Palmenzweige und Todtenkränze. Von da an traf ich ihn in seinem Höfchen beim Hobeln von Bretern und wie ich ihn einmal über den Zaun fragte, was es geben sollte, war's erst ein Bett; am Tage darauf sah ich, daß es ein Sarg wurde. Nun mußte man ihn in seiner Grille gehen lassen. Das Alter läßt sich nicht viel mehr von seinen Vorsätzen ausreden, am wenigsten den Ausdruck seines Kummers.

Unwillkürlich mußte Lucinde bei diesen Worten ihres Pavillons in Schloß Neuhof gedenken und der alten Stammers, bei denen sie gewohnt hatte.

Auch Hedemann nickte Beifall ...

Benno wandte sich, nach dessen Aeltern zu fragen ... den Aeltern eines Fünfundvierzigjährigen ...

Um die aus ihr unbekannten Ursachen nach wenig ausweichenden Worten entstehende drückende Stimmung freier zu machen, erwähnte Lucinde das im Weißen Roß vernommene Gerücht von Schätzen, die wol gar der alte Mevissen könnte mit sich genommen haben.

Dafür erntete sie aber eine strafende Erwiderung der gerade im Abräumen begriffenen Renate.

Ei was, sagte diese, wer spricht denn solche Lästerungen nach! Schätze mit ins Grab nehmen! Wer nur das gottlose Gerücht aufgebracht hat! Sein ganzer Schatz ist sein gutes Herz gewesen! Mit dem ruht er in Gottes Schoos und Schutz ... und wenn man in den Wirthshäusern anders spricht, sollt' es wenigstens hier bei einem geweihten Priester nicht wiederholt werden und über einen solchen Schimpf so still bleiben wie drüben – im Grabe!

Mit der peinlichen Stille, die auf diese entrüsteten Worte Renatens, die gleichfalls eine alte Dienerin des Hauses Asselyn gewesen war wie der Verstorbene, folgte und von Bonaventura eben unterbrochen werden sollte, um der so abgetrumpften Lucinde eine Genugthuung wenigstens des Anstandes zu geben, stand in fast gespenstischem Widerspruch ein Klopfen, das plötzlich vernommen wurde.

Frau Renate, die am ehesten gegen die Voraussetzung einer unheimlichen Thatsache hätte gerüstet sein sollen, ließ vor Schreck fast einen ihrer Teller fallen.

Hedemann und Benno waren schon aufgestanden.

Sie gingen ans Fenster, wo sich das Pochen erneuert hatte.

4.

Der am Fenster Pochende war aus dem Stern der Gensdarm gewesen.

Der Wachtmeister! hieß es schon beruhigter. Der ganze kleine Kreis kannte ihn.

Was bringen Sie uns, Herr Grützmacher? fragte Bonaventura, während man schon die Hausthür öffnete.

Der eintretende Gensdarmenwachtmeister Grützmacher bildete in seiner wohlgenährten breitschulterigen Gestalt, seinem blondgrauen Knebelbart, glänzend gebräuntem Antlitz, seinem klirrenden Sarras und seinem Helm zu dem stillen Abendimbiß eines katholischen Priesters einen schroffen Gegensatz.

Daß Herr Grützmacher sich auf einem Standpunkte wußte, der selbst bei gering nachhaltender Kraft seiner Katechismuserinnerungen, bei etwas gründlich vergessener Geometrie aus seiner, als er noch bei der Artillerie stand, weiland besuchten Compagnieschule, bei einem dunkeln Gefühl verklungener Sagen über die Lehre von den Brüchen benannter und unbenannter Zahlen, dennoch unendlich erhaben war über die Sphäre, in welche er Schlag neun Uhr Abends in irgendeiner wichtigen Function hier eintrat, lag auf der Hand.

War doch allen denen, die z.B. auch zu Kocher am Fall auf dem Amthause wie einst die ghibellinischen Landsknechte in Italien unter den conspirirenden Welfen saßen, ein gewisser Zug des Antlitzes gemeinsam, den man den einer stereotyp gewordenen Ironie nennen darf.

Dieser Zug, der dem Gefühl der Toleranz gegen ein absolut sich Ueberlebthabendes entsprach, milderte sich hier und dort schattirte sich, ja mischte sich z.B. bei dem Chef des Herrn Grützmacher, bei dem Gensdarmeriemajor Schulzendorf, der die Tafel des Dechanten zu St.-Zeno mit einer außerordentlich feinen Zunge zu würdigen verstand, sogar mit einer Ergebenheit, die bis zu einer offenbaren Unterwürfigkeit gegen Römisches ging ... Denn wiederum ist es eine ganz eigenthümlich bestätigte Thatsache, daß jener aufgeklärte blonde, urewig beamtische Menschenschlag zwischen Elbe und Oder auf fremdem Boden seine Kraft nicht immer mit besonderm Geschick zu behaupten versteht. Im Glück leicht übermüthig, in Schwierigkeiten vor Uebermaß entweder des Muthes oder der Einsicht nicht selten unentschlossen bis zum Zaghaften oder klug bis zum Ueberklugen, läßt sich diese angeborene, alles wissende und alles könnende Art oft von dem Fremdartigen imponiren, ja hat bei aller Hitze des Anlaufs und aller Sicherheit des steten Gutsagens für sich selbst oft schon in ältern und neuern Geschichten vollständig den Kopf verloren. Aber Grützmacher gehörte nicht zu diesem überläuferischen Geschlecht. Ihm war es nicht so ergangen wie hier manchem schon der aus dem Lande des absolut Blonden kam, in größerm oder kleinerm Umfange diese Länder, die mit Rom noch etwas enger verwachsen sind als durch die Gipsfiguren Napoleone Biancchi's, regieren sollte und die Festigkeit des Willens allmählich verlor, indem er seine rauhe Art an dem schönsten aller Ströme, an den sanftesten Thälern, fröhlichsten Menschen, an Burgen und Nebengeländen, und vor allem an dem »Chrisam«, zu dem alle Menschen geschworen haben, selbst die Türken und Heiden, der Blume des köstlichsten Weines, abmilderte. Aus vielen Gründen sollte ja gerade jetzt dem unverbesserlichen Geiste dieser Provinzen nicht geschmeichelt werden, sollte keine Widersetzlichkeit gegen die Anordnungen der Behörden ungerügt bleiben. Der Wachtmeister von Kocher am Fall, ohnehin ein geborener Jüterbogker, aus dem Lande, wo Tezel einst seinen Ablaßhandel so empfindlich abgebrochen bekam, hielt unter allen römischen Verführungen einen festen protestantischen Widerstand, obgleich er nur auskommen mußte mit monatlich 20 Thalern Löhnung, etwas Montirungsgeld und einem jährlich durch 80 Thaler »gutgethanen«, d.h. selbst zu stellenden Pferde.

Sich umsehend und die für einen ehelos lebenden Geistlichen immerhin anmuthig gemischte Gesellschaft mit jüterbogker Anti-Ablaßironie würdigend, sagte er, es fiele ihm doch sehr auf, daß im Wirthshause die Leute beisammen säßen und von dem Begräbniß des alten Mevissen in einer Weise munkelten ...

Ob er denn hier laut sprechen dürfte? unterbrach er sich selbst.

Herr Wachtmeister! sagte der Geistliche, Sie brauchen hier auf niemand Rücksicht zu nehmen!

Herr Grützmacher wiederholte nun die Vermuthung, die bereits am Fuße der Maximinuskapelle Lucinde ausgesprochen. Dieselbe Vermuthung war entweder durch den Knecht aus dem Weißen Roß hierher verpflanzt worden oder war aus den Köpfen der Bewohner von St.-Wolfgang selbst entstanden.

Ist es mit dem Sarge, schloß Grützmacher, nicht richtig, Herr Pfarrer, na, so erleben wir die Nacht Unrath!

Wie so? Was erleben wir? fragte Bonaventura.

Na! Na! lautete des Wachtmeisters vieldeutige Antwort.

Sie glauben, daß der Sarg erbrochen wird? hieß es allgemein.

Na natürlich! war die Antwort jüterbogker Logik.

Und es würde doch schade »sind«, fuhr Grützmacher, sich den Knebelbart streichelnd, fort, wenn man »det olle Männiken« da unten in der ewigen Ruhe stören wollte!

Gewiß! sagte Bonaventura ernst, bestritt aber sowol die Annahme, daß der alte Diener seines Vaters mehr besessen hätte, als was ihm von den Seinigen zufloß, wie die Möglichkeit einer Entweihung des Friedhofes von irgendwem in seiner Gemeinde.

Hören Sie mal, Herr Pfarrer, bestritt Grützmacher mit größerer Entschiedenheit, det alte Männiken soll oft was aus Italien 'rausgekriegt haben! Der Wirth vom Stern als Posthalter thut auch so und druckst als wenn er manchmal gar von Papstens – bitte um Entschuldigung, Herr Pfarrer – eine Anweisung auf hundert Zecchinen, heißt es ja wol in Rinaldo Rinaldini, herausgekriegt hat ...

Und was wünschen Sie denn nun, Herr Wachtmeister! fragte der Pfarrer, wider Willen lächelnd.

Eine förmliche Räubergeschichte! flüsterte Lucinde und Benno fiel ironisch ein:

Was kann er wünschen als Kant's »Kritik der reinen Vernunft«!

Der Wachtmeister betrachtete beide Sprecher von oben bis unten.

Lucinde, die jetzt in dem Wachtmeister fast einen alten Bekannten von Schloß Neuhof zu erkennen glaubte, beugte sich ins Dunkel nieder.

Aber Benno betrachtend, musterte der Wachtmeister das militärische Kleid desselben und sagte nicht ohne Schärfe:

Herr Musketier! Wie meinen Sie das?

Herr Wachtmeister! erwiderte Benno einlenkend und sich besinnend, daß er, wenn er zehnmal auch den Justinian studirt haben mochte, hier als Gemeiner einem Manne gegenübersaß, der ein silbernes Porteépée trug.

Er griff wie zum Salutiren an die Stirn ...

Ich meine, sagte er, Sie wünschen sowol den klaren Beweis, daß die Leute sich geirrt haben, wie die Vorbeugung eines polizeilichen Frevels! Sie beantragen ganz einfach die Ausgrabung der Leiche!

Nimmermehr! rief Bonaventura mit gerötheter Wange. Der Greis ist in allen Formen der Kirche und mit Ehren in die Grube gefahren! Er hatte den Sarg sich selbst gezimmert, hat darin aus einer Grille, die in seiner Frömmigkeit ihren Grund hatte, geschlafen ... Als er verblichen war, nahmen freundliche Hände – Da! Ich brauche nur auf Frau Renate zu verweisen! – ihn von seinem gewohnten Lager, ordneten die rohe Polsterung ... alle senkten wir ihn in die Grube mit dem Segen und den Weihen der Kirche ... wie kann ich jetzt um eines thörichten Wirthshausgeredes willen einen heiligen Vorgang gleichsam wieder rückgängig machen wollen!

Na! Na! Na! Na! beschwichtigte Grützmacher gutmüthig den Eifer des Geistlichen und die allzu düstere Auffassung.

Warten Sie es doch ab! vermittelte Hedemann.

Abwarten, Hedemann? Die Polizei soll vorbeugen! sagte Grützmacher zu Hedemann fast vertraulich.

Dann aber, um den Pfarrer nicht zu erzürnen und sich selbst beherrschend, fuhr er fort:

Herr Pfarrer, überlegen Sie sich, was da am Ende das Beste sein wird! Entweder Sie buddeln den »ollen Jungen« selber heraus oder es thun's hernach andere ... Und geschieht dieses, na dann, dann sehen Sie, krieg' ich wieder 'ne Nase – so lang, wie neulich von wegen Mittwoch nach Jubilate!

Sie sind ein vortrefflicher Staatsdiener, Herr Wachtmeister! sagte Benno.

Ja, Herr Musketier, erwiderte der Wachtmeister, der Ironie nicht achtend, sagen Sie lieber, ich habe blos Nachsicht mit dem Herrn Pfarrer, weil er früher selber doppeltes Tuch getragen hat als Lieutenant!

Fähnrich! Fähnrich! verbesserte Bonaventura. Weiter bracht' ich es nicht, Wachtmeister! Jetzt bin ich noch immer Fähnrich! Ich trage die Fahne meiner Kirche!

Den scherzhaften Ton der Erwiderungen festhaltend, trat Grützmacher dem Pfarrer näher, klopfte ihm auf die Schulter und sagte wie in intimster Vertraulichkeit;

Lassen Sie ihn ausbuddeln! Was?

Nein, lieber Wachtmeister!

Ich bekomme eine Nase wie wegen Jubilate –

Ich theile sie dann ...

Sie haben gut theilen! Ihnen gibt der Heilige Vater in Rom Zulage! Je mehr Sie von uns Nasen kriegen, desto schöner stehen Sie auf dem seiner Conduitenliste! Aber unsereins! Fünf lebendige Kinder! Eine kränkliche Frau! Zwei hintereinander gefallene Pferde! Das bringt einen Gensdarmen Matthäus am letzten! ... Buddeln Sie ihn aus!

Wachtmeister! Sie hätten ruhig den Vorfall von Mittwoch nach Jubilate melden sollen! sagte Bonaventura.

Ne, Herr Pfarrer! Warum ewig die Stänkereien machen!

Man hätte dann oben gesehen, wie die Leute es aufnehmen, wenn wir Feiertage bekommen, die gar nicht in unserm Kalender stehen!

Also danken Sie mir's nicht einmal? Machen Rebellion und ich zeige Sie nicht an, Herr von Asselyn? Sie wissen, wie gut wir in Kocher standen, als Sie bei uns Kaplan waren! Neulich sagte noch Frau Ley – lieber Gott, das arme Twall Märkisches Mitleidswort für »armes Ding«. wird nicht mehr lange machen! – als die Rede davon war, daß sie schon ein Dutzend mal gethan hat als wenn sie sterben wollte: Ich wache auch nur darum immer wieder »uf«, weil mir 's ist als müßt' ich die letzte Zehrung (so heißt's ja wol?) vom Herrn von Asselyn, d.h. junior ... bekommen! Senior – dem wünsch' ich's nicht, daß Mutter Ley sich in der Nacht empfiehlt oder gar Morgens, wo die Federn am wärmsten sind!

Ihre freundliche Gesinnung thut mir und uns allen sehr wohl, lieber Herr Wachtmeister! sagte der Pfarrer und gab Grützmachern die Hand. Aber melden Sie nur ruhig meine Fehler! Es ist trostlos genug, daß alle Schwächen, alle Gebrechen, die, da wir alle Menschen sind, bei den Geistlichen von sieben Millionen Katholiken nicht ausbleiben können, an den Centralsitz eines andersgläubigen Regiments gemeldet und dort in den Archiven aufbewahrt werden zum Amusement Ihrer Consistorialräthe! Können wir etwas dafür, daß die Leute jeden Mittwoch nach Jubilate an den Kirchthüren stehen und lärmen und sich weigern dem Rufe der Glocken zu folgen, und Drohungen ausstoßen, die ich diesmal erst beschwichtigte, als ich im Ornat unter sie trat und ihnen sagte: Ein Hochamt ist zu jeder Zeit dem Herrn genehm und wir werden unsere Knie dann gewiß beugen, wenn wir Gott um eine gute Ernte und um die Abwendung von Unwetter und Hagel bitten wollen!

Da kam aber, fuhr Grützmacher fort, mein Kamerad Müller von Stockhofen drüben und hörte, wie geschrieen und gelärmt wurde und wie sie riefen, daß die richtige Hagelschadenmesse erst in ein paar Wochen stattfände und wie sie sich von Ketzern keine Feiertage vorschreiben ließen! Ich ritt gerade auf Inspection durch, bekomm's von Müllern brühwarm, soll's »pläng carrière« Landrathn anzeigen und hab' das nun nicht gethan! Wie gesagt, die Nase war so lang! Und deshalb ... buddeln Sie den Alten heute lieber noch als morgen 'raus! Thun Sie mir's zu Liebe!

Bonaventura bot Grützmachern wiederholt die Hand, dann auch ein Glas Wein, blieb aber bei seiner Weigerung.

Grützmacher hatte schon lange Lucinden fixirt.

Und noch mehr, als diese mit einer fast herausfordernden Miene sagte:

Was ist denn aber das? Ein neuer Feiertag?

Benno erklärte:

Es ist merkwürdig mit unserm allergnädigsten König und Herrn! Es ist gewiß ein ganz vortrefflicher Monarch und man muß ihm nachsagen, daß er für sein tragisches Schicksal von 1806 bis 1813 die gegenwärtige Heilige Allianz-Ruhe verdient hat! Aber wenn er sie doch nur mit seinem herrlichen Kriegsheer, seinen schönen Bauten und seinem vortrefflichen Theater allein genießen wollte! Metternich sorgt ja für Schlummer in der ganzen Welt! Was muß denn nun ewig unsern König so der Geist Gottes drängen, wie ein byzantinischer Kaiser, den Theologen zu machen! Daß er in seinem ehrenwerthen Glauben die Gegensätze, die dreihundert Jahre alt sind, beim Läuten der Reformationsglocken 1817 versöhnt zu haben meinte und auch einige versöhnte, ist an sich ganz brav von ihm; nun aber glaubt er, wenn man nur schön gebunden die neue Agende auf die Altäre legt, so wäre sie auch deshalb ins Leben getreten und überall eine Wahrheit geworden! Meinetwegen drüben! Aber hüben? Ausgleichungen auch mit uns? Sein Gemüth gefällt sich in dem Gedanken, neue Festtage zu erfinden, die in seinen sämmtlichen Staaten mit derselben Gesinnung zu gleicher Zeit gefeiert werden, z.B. einen Buß- und Bettag! In seiner ganzen Monarchie soll zu einer einzigen gewissen Stunde, wie bei uns das Angelus gebetet wird bei Sonnenuntergang, so in allen seinen Staaten Kirche sein, sowol in den Garnisonskirchen, bei den Feld- und Divisionspredigern wie in unsern alten Domen und neuen Kapellen. Schmuggeln sie uns durch einfachen Gubernialerlaß einen Hagelschadenfeiertag in unser Kirchenjahr, nur damit der liebe sentimentale Herr in seinem Schloßgarten spazieren gehen und sagen kann: Heute zieht die ganze Natur und alle Menschheit in meinen Landen ihren alten Winterrock aus und legt sich äußerlich und innerlich neue Sommerbeinkleider an! ... Und nach zehn Jahren werden wir wieder weiter kommen, glaubt er, und nach wieder zehn Jahren noch weiter ... und wenn alles gut geht, geben die Consistorialräthe ein bischen heraus und der Papst gibt ein bischen heraus und die schönen Unionstage, die einst Leibniz in Charlottenburg geträumt hat, gehen in Erfüllung!

Hören Sie mal, Herr Freiwilliger! Herr Freiwilliger! drohte Grützmacher mit künstlicher Entrüstung, indem er von seinem Portefeuille aufblickte, wo er in Papieren blätterte und mit scharfem Blick wiederholt auf Lucinden, diese musternd, gesehen hatte. Das ist ja gerade als wenn man einen langhaarigen Demagogen reden hörte von Anno Köpenick, Herr von Asselyn!

Das Gemüth regiert die Welt nicht! warf Lucinde ein.

Drei Monarchen stiften eine Heilige Allianz! fuhr Benno fort. Schon ihre Minister standen damals hinter ihnen und putzten sich nur die Nase, während jene Thränen vergossen!

Grützmacher opponirte nicht länger. Er war die gutmüthigste Seele von der Welt und ohnehin zerstreut durch einige Notizen seines Portefeuilles.

Endlich erschreckte er Lucinden nicht wenig, als er sie anredete:

Na, Fräulein Schwarz! Jetzt haben Sie doch wol endlich Ruhe vor uns von wegen dem Paß, den ich Ihnen, ich glaube schon vor sieben Jahren, immer bei Witoborn vergebens abverlangte! Wissen Sie denn noch, auf Schloß Neuhof! Na, was macht denn Excellenz der Kronsyndikus? Und mein »oller« Landrath, der »schöne Enckefuß«! Gerade vor der dustern Geschichte dazumal mit dem Deichgrafen bin ich hierher versetzt geworden! Meine Nachfolger sollen keine Seide dabei gesponnen haben, daß sie nichts merken wollten, wer den dicken Mann, den Theilungscommissarius, dazumal, freilich auf Nachbargebiet, todt geschlagen hat! Einer von meinen Collegen, der ritt so lange um den Düsternbrook und Schloß Neuhof herum, bis er sich einmal den Hals dabei gebrochen hatte – wirklich den Hals ... das kommt so, wenn der Gensdarm immer blos geradeaus sieht, während sein vernünftigerer Gaul links und rechts in die Büsche will. Der andere war noch zu grün und fand sich erst ins Geschäft, als es mit der rechten Spur nach dem rechten Hirschfänger zu spät war. Jetzt ist ja wol der Freiherr von Wittekind auch ganz verdreht und dummelig geworden wie dazumal sein Herr Sohn, der – ja so, bitte um Entschuldigung, Herr Pfarrer von Asselyn!

Grützmacher besann sich erst jetzt auf die Verwandtschaft des Pfarrers mit dem Freiherrn von Wittekind-Neuhof. Er war ja dessen Stiefenkel.

Das Wiedersehen der jungen schönen Dame, fuhr der Wachtmeister mit ironischem Nachdruck fort, hätte ihm diese Erinnerungen zurückgerufen. Er hoffe sie aber bald in Kocher am Fall zu sehen, wohin sie ja, wie er gehört, als Nichte der Frau von Gülpen reise und um ihren Paß woll' er sie diesmal gar nicht quälen! Er wäre vollkommen über sie »ins Klare« ...

Bonaventura, Benno und Hedemann richteten während aller dieser Reden überrascht ihre Augen fast zu gleicher Zeit auf Lucinden. Sich auf diese unerwartete Art im Zusammenhang mit Vorgängen genannt zu hören, die sie um vieler Gründe willen hier von sich fern zu halten wünschen mußte, durfte sie nicht wenig erschrecken. Selbst Bonaventura erfuhr zum ersten mal diese Beziehungen und fragte erstaunt:

Schon vor sieben Jahren kannten Sie Schloß Neuhof und waren somit schon damals in der Nähe der Gräfin Paula?

Sich sammelnd erwiderte sie:

Die Erinnerungen des Herrn Wachtmeisters treffen theilweise zu! Nur die Ehre, mich eine Nichte der Frau von Gülpen nennen zu dürfen ...

Werden Sie doch wahrhaftig nicht ablehnen? unterbrach sie Benno mit Entschiedenheit. Ihre Tante sollte das hören!

Diese Worte wurden so fest, so bestimmt gesprochen, von Benno mit einem so ausdrucksvollen Blick begleitet, daß Lucinde verstummte und ihn nur fragend und groß ansah.

Grützmacher schloß sein Portefeuille und nahm wieder die lächelnde Miene jener aufgeklärten Überlegenheit an, die gewissermaßen hier als landesüblicher Regierungsausdruck gelten konnte und geradezu so viel sagte als: Wir dulden euch und die wunderlichen Schwächen eurer Kirche und thun dies, weil ihr ja eben nichts dafür könnt!

Da auch Hedemann, der erst den lebhaftesten Antheil verrathen hatte, jetzt an die dunkeln Fenster getreten war und an die Scheiben trommelte, stand Grützmacher gewissermaßen als Sieger über allen.

Meine Meldung, sagte er denn auch vollkommen befriedigt, meine Meldung ist Ihnen zu rasch gekommen, Herr Pfarrer! Beschlafen Sie's noch! Morgen reden wir weiter davon! Ich wünsche ja selbst, daß die Leute Vernunft annehmen! Ich will noch 'mal ins Wirthshaus hinüber und sagen, was Sie über den Sarg des alten Mannes denken! Vielleicht nehmen die Menschen auf Ihr Wort Raison an, Herr Pfarrer! Also, gute Nacht denn allerseits! ... Gute Nacht, Hedemann! warf er noch hintennach hinein wie zum Zeichen besonderer Vertraulichkeit mit einem ihm gewissermaßen Gleichgestellten.

Renate leuchtete und fragte ihn wahrscheinlich draußen um Näheres über »die Nichte der Frau von Gülpen«.

Als sein Säbel- und Sporenschritt verklungen waren, hörte man nur, daß Renate von außen die Fensterladen anlegte. Hedemann schloß sie von innen.

Die drückende Schwüle, die in dem kleinen Zimmer in der Luft wie geistig herrschte, veranlaßte Benno zu dem Ausruf:

Ich stecke mir eine Cigarre an und wache die Nacht draußen auf dem Grabe!

Daß wir so thöricht wären! sagte Bonaventura. Daß wir durch unser Beispiel einen solchen Glauben bestärkten!

Dennoch traten sie alle hinaus in den Hof und dann in den Garten, von wo aus man zum Friedhof gelangen konnte.

Die Spätsommernacht war mild und geheimnißvoll. Ringsum war es still geworden; nur irgendein schlafgestörtes Kind machte ein Nachbarhaus lebendig oder von den Bergen her ächzte der Hemmschuh eines verspäteten Fuhrwerks. Im Bienenhause schlief alles wie in den Gebüschen ringsum; nur die kleine Welt der auf Raub gehenden Insekten huschte vor den Fußtritten der Vorübergehenden scheu am Boden hin.

Auf dem Friedhofe lagen die Gräber mit ihren überdachten weißen und schwarzen, von welk gewordenen Blumen geschmückten Kreuzen und vergoldeten Glorienstrahlen schweigsam und feierlich. Seitab lag der im ersten Aufwurf begriffene neue Hügel, bewacht nur vom flimmernden Sternenheer, dem wir die Todten so nahe gerückt glauben.

Bonaventura, Benno, Hedemann, Lucinde fanden alles, wie sich erwarten ließ, ungestört.

Die Eingangspforte war geschlossen.

Ihre Empfindungen mußten die verschiedenartigsten sein; nur darin einigten sich alle, daß diese stille Welt um sie her sicher für immer mit dem Leben abgeschlossen hatte.

Unter diesen Schläfern sollte noch einer etwas vergessen oder mitgenommen haben, was zu den Sorgen und Mühen dieser Erde gehörte?

Bonaventura sagte:

Im ersten Augenblick der sich nahenden Todesgewalt mag die Verzweiflung, daß man noch mit dem Leben so tausendfach sich verwickelt weiß, mit äußerster Anstrengung gegen den kalten Engel ringen, der uns dem Dasein entreißen will; hat er aber einmal die gewaltige Rechte um uns geschlungen und fühlen wir, daß wir keinen Widerstand mehr leisten können, so erscheint uns gewiß jeder Besitz und jedes Entbehren gering! Der alte Mevissen erwartete schon seit sechs Wochen mit Bestimmtheit seinen Heimgang!

Die feierliche Stimmung gab Lucinden Zeit, sich in Benno's Worte zu finden, daß sie eine Nichte der Frau von Gülpen wäre. Sie war erfahren genug, bald einzusehen, daß damit nur ein Deckmantel gemeint sein konnte, unter dem sie unter dem Dache eines Geistlichen wohnen durfte. Sie hielt jetzt diese Angelegenheit keiner Frage mehr werth.

Hätten wir die Gräfin Paula bei uns! sagte sie, als sie sich von dem Grabe entfernten und Bonaventura Benno's Vorhaben, die Nacht über wirklich das Grab zu hüten, entschieden ablehnte.

Warum? hieß es.

Dann säße der alte Mevissen vielleicht leibhaftig auf dem Hügel dort und man könnte ihn fragen, ob er dem wirklich in seinem Stroh soviel Geld versteckt hätte!

Die ekstatischen Zustände der Gräfin Paula waren allen bekannt genug und auch Bonaventura bestätigte die Fähigkeit derselben, über Gräbern Schatten zu sehen, die andere Augen nicht sähen.

Dabei überraschte den Pfarrer keineswegs die Möglichkeit, daß Lucinde nach allem Vorangegangenen so kurzweg den verhängnißvollen Namen aussprechen und, wie wenn nichts mit ihm wäre, ihn ins Gespräch ziehen konnte. Er wußte, wie weit Lucindens Verstellungskunst ging. Er war auch nach Empfang der überraschenden Anzeige aus der Dechanei zu Kocher am Fall in der That von ihr wieder auf alles gerüstet.

Wissen Sie nicht, wie es der Gräfin geht? fragte er Lucinden, als man sich nach einigem Staunen über eine so weit gehende Sehergabe der Gräfin in der Annahme einer Täuschung und der Unmöglichkeit, überhaupt Geister in sichtbarer Gestalt anzunehmen, bald geeinigt hatte.

Stehen denn Sie in keiner Verbindung mit ihr? fragte Lucinde erstaunt und mit schneidender Schärfe.

Wie sollte ich? erwiderte Bonaventura gelassen.

Seit zwei Jahren erfuhr ich nichts mehr von ihr! fuhr er fort. Sie wird auf Westerhof wohnen und sich vorbereiten, die Gattin des Grafen Hugo von Salem-Camphausen zu werden!

Alle schwiegen wie zur Bestätigung.

Lucinde entgegnete:

Also eine Altarkerze im Dome der Heiligen, eine Rose von Jericho will dem Glauben ihrer Väter verloren gehen! Wie? Der kalte Luftzug des Verstandes, der Frost des Zweifels soll sie tödten! Ich hörte, daß man alles aufbietet, diese Verbindung mit einem Lutheraner unmöglich zu machen!

Bonaventura verharrte im Schweigen und blickte fragend auf Hedemann, der soeben von jener östlichen gemeinsamen Heimat herübergekommen war.

Auch Benno verstand diesen Blick und antwortete statt des achselzuckenden Hedemann:

Aus dem bringt niemand etwas heraus! Die Mühle, die er sich in Witoborn gekauft hat, muß ihn taub gemacht haben für alles, was uns sonst von dort hätte interessiren müssen! Er war nicht auf Schloß Neuhof, womit er jetzt vielleicht dem Fräulein gedient haben würde, er war vielleicht nicht einmal in Westerhof, nicht im Kloster Himmelpfort, nicht im Stift Heiligenkreuz – nirgends! So verschlossen ist er wie die Offenbarung Johannis, in die er sich, glaub' ich, in Amerika ganz verlesen hat!

Hedemann legte hie und da einen herabgefallenen welken Kranz auf eines der Kreuze, lächelte und sagte mit gelassener Ruhe:

Wie hätt' ich nicht Westerhof besuchen sollen nach den Erfahrungen und Aufträgen des Obersten!

Je schlagender diese Antwort schien und je genügender sie die beiden Asselyns aufklärte, desto unsicherer und dunkler tastete Lucindens aufgeregte Combination. Wer war der Oberst? Welche Erfahrungen desselben hätten Hedemann, der nun wieder plötzlich ein Müller wurde, von dem Schlosse Westerhof entfernt halten können?

Sie kennen Schloß Neuhof, Fräulein, fragte Benno, und wissen von dem Interesse, das das ganze Land an den Vorgängen in der Camphausen'schen Familie nimmt?

Lucinde kannte auf Schloß Neuhof jeden Winkel im Schlosse, im Park jeden Baum, auf dem Plateau, das zum Düsternbrook führte, die Stelle, wo Klingsohr einst zwei Blütenzweige in die Erde senkte, die freilich der nächste Sturm schon verweht hatte, sie war auch eines Tages zum Fronleichnamsfest in Witoborn gewesen und hatte dort eine Mühle gesehen, die die reißende Witobach mit einer Gewalt trieb, daß man allerdings an ihr taub werden konnte; aber von den Dingen, die um sie her lebten, hatte sie nichts als das durchschaut, was mit dem Cultus ihrer eigenen Person zusammenhing.

Was ich von den Verhältnissen Paula's weiß, sagte sie, kenne ich nur aus den Tagen her, wo sie meiner Pflege anvertraut war. Die Zeit, wo ich auf Schloß Neuhof war und die Wißbegierde der Gensdarmen durch meinen Paß nicht befriedigen konnte, war kurz und gehört meiner frühesten Kindheit an!

Ein Eingehen auf den Tod des Deichgrafen und die dunkle Gestalt des Kronsyndikus schien in diesem Kreise vermieden zu werden. Man verblieb bei den nachbarlichen Beziehungen.

Benno schilderte als nicht gering die Gefahr, die sich der engern Heimat aus dem Uebergange der reichen Besitzthümer der Linie Dorste-Camphausen in die Linie Salem-Camphausen ergeben würde.

De Kirchenfürst unserer Provinz selbst, sagte er, nimmt den lebhaftesten Antheil an einer Entscheidung, für welche sogar mein gewiegter Principal, der Procurator Dominicus Nück, keine andere Hülfe hat als die des Aufschubs. Die Gräfin ist neunzehn Jahre. Sie hat noch zwei Jahre Zeit, sich zu erklären, ob sie vielleicht den geistlichen Stand wählt oder mit Entsagung ihrer großen Besitztümer irgendeine andere Wahl trifft. Auf alle Fälle gehen mit dem Aussterben der männlichen Erben die Güter dieser ältern Linie an jene jüngere über, die in den Zeiten der Wiedertäufer den alten Glauben abschwur, dann nach Ungarn auswanderte und seither nicht wie die andere Linie, die ihrem Beispiele gefolgt gewesen war, wieder zur Kirche zurückgekehrt ist.

Bonaventura, der alle diese Erinnerungen und Beziehungen seit einigen Jahren nicht mehr genährt und gepflegt hatte, durfte Benno nach Paula's jetziger Leitung und Führung fragen.

Dieser fuhr fort:

Der Kronsyndikus von Wittekind, den Sie nach seinem schlimmen Rufe kennen werden, Fräulein, hat die Vormundschaft vor zwei Jahren nur formell antreten können; sie war einmal vom Grafen Joseph, dem letzten der Dorste-Camphausen, so, ehrenhalber, für seinen Schwager bestimmt und konnte, ohne diesen vor aller Welt zu compromittiren, nicht zurückgenommen werden. Alt und schwach an Geist und Körper, hat er sie jedoch factisch seinem Sohne überlassen müssen, dem Präsidenten – deinem Stiefvater! Ein so loyaler Unterthan wie dieser bietet natürlich alles auf, sowol etwaige Ideen vom Kloster zu unterdrücken, wie den der ganzen Anzweiflung an dem Rechtsbestande die ser Familienanordnungen gewidmeten Scharfsinn meines Principals zu Schanden zu machen. Einstweilen wohnt Paula auf ihrem Sitze Westerhof und wird von dem Onkel und der Tante Armgart's so gehegt und gepflegt und geliebt, wie man bei uns zu lieben pflegt, Fräulein! Alles nur durch ein unendlich seelenvolles Schweigen und das gemüthvollst Bloserrathenlassen! Wenn die Leute bei uns achtzig Jahre alt geworden sind und bald in die Grube gesenkt werden, rufen sie sich noch erst vom Todtenbett aus die vergessene Liebeserklärung nach. Gelebt haben sie nach der Liebe, gesprochen davon nie. Nicht wahr, Hedemann? Als Sie noch für meinen seligen Vater Borkenhagen bewirthschafteten, ich glaube nicht, daß er Ihnen je ein: Ich danke! gesagt hat.

Er hatte nicht Ursache dazu! erwiderte Hedemann. Unsere Abschlüsse waren schlecht genug!

Ein kühler Lufthauch fuhr durch die Bäume, die den Friedhof begrenzten, und mahnte, dem Rufe des Wächters zu folgen, der die zehnte Stunde rief.

Bonaventura stellte der so in alte und neue Verhältnisse mit der größten Spannung einblickenden Lucinde zur morgenden zeitigen Abfahrt das bereits im »Stern« bestellte Gefährt nochmals in Aussicht und bat sie den Onkel zu grüßen; in einigen Tagen würden Geschäfte auch ihn vielleicht nach Kocher hinaufführen.

Benno begleitete Lucinden bis zum Stern. Er versprach, sich mit Hedemann derselben Fahrgelegenheit zu bedienen und in der Frühe sich bei ihr einzufinden.

Dann kehrte er ins Pfarrhaus zurück, wo er übernachtete.

Während Lucinde auf ihrem Zimmer allein war und wieder die Pfauenfeder am Spiegel sah und die kleinen Heiligenbilder, die über dem Bette hingen, in das sie, wie sie war, sich legte; während sie fast übermüthig die Wonne genoß, wieder in der Nähe von Menschen zu sein, auf welche der Stempel des Ungewöhnlichen gedrückt war; während in ihr die einzige Aufgabe, der zu Liebe sie noch überhaupt leben mochte, mit tausend Stimmen rief: Bonaventura, sammle dich in deiner Kraft! Werde mehr als nur der Pflegling dieser alten Renate! Gedenke eines Zieles, das dir höher hinaus liegen sollte als der Kirchthurm dieses armseligen Dorfes! Wie find' ich dich wieder! Im Beginn der Grämlichkeiten alle, an denen ihr armen Entsagenden allmählich zu Grunde geht! Noch wallst du auf wie Petrus, der dem Malchus ein Ohr abhieb! Wie lange wird diese Tapferkeit dauern! Frau Renate wird dich vor jeder Abendluft schützen! Ihre Mädchen werden so viel braten und kochen und backen, bis du ihre köstlichen Speisen nicht mehr verdauen kannst! Welche Thorheit, hier nur unter den Bauern, Fuhrleuten, Steinklopfern ein Heiliger zu sein, hier nur vor einem Gensdarmen den Bonifacius und Ambrosius zu spielen! ... Und während sie sich dann vorkam, als müßte sie einem neuen Gregor dem Siebenten seine Gräfin Mathilde von Toscana werden, seine Feuerseele, sein Cherubswächter mit dem flammenden Schwerte ... währenddem rief Benno, vom Stern zurückkehrend, Hedemann und seinem Vetter, die zum Abschiednehmen vor dem Schlafengehen noch auf ihn gewartet hatten, die kurze Charakteristik entgegen:

Ja, das ist ja wahrhaftig der lebendige Satan! Die wird in der Dechanei und in Kocher am Fall eine schöne Revolution anstiften!

Frau Renate schlief schon, sonst hätte sie für das Wegputzen der Fliegenflecke und das Bedienenwollen in der Küche sicher eine Revanche genommen, die kräftiglich mit eingestimmt hätte.

Und doch, sagte Bonaventura, indem er Hedemann ein Licht reichte, das beim aufgegangenen Mondschein kaum noch nöthig war, um ihnen beiden in den obern Stock den Weg zum Fremdenstübchen zu leuchten; doch glaub' ich, daß sie für den, den sie liebt, ins Feuer geht!

Kein Wunder! rief Benno. Ihr Element ist die Hölle!

Armer Vetter! setzte er leiser hinzu. Welchen Versuchungen seid ihr Pfaffen doch ausgesetzt! Das seh' ich ja schon – hier kommt ein alter Roman zu Tage!

Bonaventura gab nur zur Antwort:

Ich bin begierig, wie sie mit dem Onkel fertig wird!

Mit dem gewiß! erwiderte Benno. Ich glaube, dem gefällt sie! Aber Tante Gülpen! Die gewöhnliche Probezeit besteht sie nicht vierundzwanzig Stunden!

Alle drei Männer mußten lachen ...

Man trennte sich in behaglicher Uebereinstimmung.

Benno und Hedemann sollten zusammenschlafen oben in dem Fremdenstübchen, dessen saubere Betten schon aufgedeckt waren ...

Während sie hinaufstiegen, sagte Benno, aber so, daß Bonaventura, der ihr Verschwinden abwartete, es theilweise unten noch hören konnte:

Nun glaub' ich an die sieben Schwerter, die Armgart beim bloßen Begegnen an der Kapelle oben sogleich aus ihr herausgehend gefühlt haben wollte, ganz wie Paula gesagt haben soll, als die Arme auf dem Streckbett liegen und den fürchterlichen vollen Feuerstrahl fühlen mußte, der von der Person über sie ausging! Und das alles muß man nun ruhig hinnehmen, blos weil sie, hör' ich, eine Convertitin ist, ein goldenes Kreuz auf der Brust trägt und wahrscheinlich zu irgendeiner Erzschwesterschaft gehört! Wozu sich unsere Kirche nicht alles hergeben muß! Wenn sie nicht in der Lage wäre, schlaffe Gemüthlichkeit, die alles geduldig hinnimmt und geschehen läßt, aufrühren zu müssen durch solche Weckhähne ... Hedemann, daß wir morgen früh nur die Zeit nicht verschlafen!

Hedemann nahm, da sie inzwischen oben angekommen waren, die Uniform, die Benno ausgezogen hatte, legte Brieftasche und Geld heraus und versicherte dem sich Entkleidenden, mit dem Aufwachen zur rechten Zeit wäre keine Gefahr; ihm rauschten die Räder seiner neuen Mühle und die Sorgen, die er sich aufbürdete, genug im Kopfe ...

Und dabei verwechseln Sie wirklich schon unsere Stiefel und stellen zwei Paare zusammen, wie wenn jeder von uns immer halb mit den Beinen des andern liefe!

Hedemann, der in der Nebenkammer schlief, hatte die Stiefel und Kleider vor die Thür gestellt, damit die Magd in der Frühe alles fand und reinigte.

Benno, schon auf den Strümpfen, stellte die Paare in Ordnung, nahm noch einen von Hedemann vergessenen Brief aus der Tasche seiner Uniform, schloß die Thür, legte den Brief auf den Nachttisch neben sich zu Uhr, Geld und Portefeuille und sagte mit herzlichem Tone:

Freilich, so ist's ja auch immer gewesen! Was wär' ich ohne Ihre Arme und Beine, Hedemann! Ich glaube, ich hätte alle schon gebrochen und auf mein kühles Grab setzten Sie ein Denkmal, das ich mir in Gestalt eines Fragezeichens ausbitte, Hedemann, wenn Sie mich überleben sollten, hören Sie? Der Friedhof hat mich ganz melancholisch gemacht!

Warum ein Fragezeichen? fragte Hedemann, löschte das Licht und wollte die Thür anlehnen.

Lassen Sie doch auf, Hedemann! Es ist so dumpf und stickig in der kleinen Stube! Warum ein Fragezeichen? Bin ich nicht ein verkörpertes Fragezeichen? Was sagt das Kirchenbuch von Borkenhagen über mich? Haben Sie denn nachgeschlagen, wie ich Sie gebeten?

Ich sagte gleich, daß da nichts zu finden ist! Sie waren schon fast ein Jahr alt, als Sie Ihr Vater aus Spanien mitbrachte!

Aus Sevilla! Aus Sevilla! Wo die letzten Häuser stehen ... sang Benno mit elegischem Humor.

Dann fuhr er fort:

Ich wundere mich nur, wie ein Zigeunerkind sich so acclimatisiren konnte! Sprach ich heute nicht von Buchweizen, Haarrauch und dem Landesvater, wie wenn ich wirklich ein Asselyn wäre, kein Pseudo-Asselyn, kein unberufener Eindringling in die Wallhecken und Moore und Kampe eurer Ahnen!

Sie sind der rechtmäßige Sohn des weiland Erb-und Gerichtsherrn zu Borkenhagen!

Und sein Erbe! Hedemann, daß ich doch nur den kleinen Tümpel geerbt hätte, der um unsere Hundehütte ging, Burg genannt, jene majestätische See, wo Sie mir die kleinen bewimpelten Schiffchen schnitzten, die ich durch die grünen Wasserlinsen fahren ließ!

Ich ahnte damals meine Reise nach Amerika!

Und den Finkenfang, Hedemann, im Schlehdornbusch, wo Sie die prächtigen Schlagnetze legten! Ach, ich habe als Student später nie mehr aus einem Weichselrohr rauchen können, ohne nicht daran zu reiben und zu reiben und aus dem köstlichen Geruch des Rohrs mir unsern Finkenfang wieder zu vergegenwärtigen!

Graf Münnich hat ihn niederhauen lassen ...

Und hätten uns die Gläubiger nur den einen großen Ebereschenbaum gelassen, auf der Wolfshöhe! Wenn wir sonst dahin wallfahrteten, war's mir immer nur um die rothen Beeren zu thun und die Bank darunter war mir nur eine bloße Hülfe, um die schönsten Büschel herunterzukriegen und an die Mütze zu stecken! Später als Student, kam ich einmal wieder in die Gegend und wollte Freunde und sogenannte Verwandte begrüßen. Da merkt' ich fast, daß die Wolfshöhe mir nur eigentlich deshalb gefallen haben mußte, weil der künftige Herr von Asselyn-Borkenhagen sein ganzes kleines Königreich dort am schönsten hätte übersehen können. Die herrliche Aussiht! In weiter Ferne die Wälder! Aus ihnen herausblickend Schloß Neuhof, golden wie die Landeskrone, Kloster Himmelpfort, Witoborn mit seinem ewigen Armensündergeläut ... Werden Sie das denn aushalten, Hedemann?

Meine Mühle überrauscht es ...

Und rechts hinüber Westerhof mit Paula und Armgart, die damals Kinder waren und mich Vetter nannten, den armen, abgeblitzten Herrn von Borkenhagen ... Es war gerade Kirchweih im Ort ... Eine Spielbande zog von den Bergen herunter; ein buckeliger Geiger voran ...

Stammer! Der lebt noch!

Bänder und Fahnen flatterten ... alles war lustig ... im Wittekind'schen hatt' es ein großes Erntebier gegeben ... es war damals kaum ein paar Wochen über die grauenvolle Geschichte mit dem erschlagenen Theilungscommissar hinaus ...

Der Alte vom Berge, der Kronsyndikus, läßt noch jetzt draufgehen, hör' ich ... früher war er geizig genug ...

Gerade des Weges ritt der Landrath! Ich fragt' ihn nach dem Vorfall. Der wies mich schön zurecht! Wie ich den Herrn auf dem hellen Schloß da oben zu nennen wagen könnte ...

Das wollt' ich meinen, der »schöne Enckefuß«! ...

Nun aber ging ich in den vielgrünen Wald, an meinen Vogelherd – damals, Hedemann, standen noch all die lieben hellen Buchen – am Ende der Wildschonung lag der kleine Hof Ihrer Aeltern ... Sie erzählten mir ja noch nichts von denen ... Sie leben doch noch? ...

Hedemann antwortete nicht.

Benno sprach vor sich hin:

Er schläft wol schon!

Nach einer Weile des Schweigens hörte Benno seinen Nachbar laut aufseufzen ...

Was seufzen Sie denn, Hedemann? fragte Benno, den inzwischen selbst der Schlaf überkam.

Als Hedemann nicht antwortete, sagte er gähnend:

Sie waren – damals in England –

Amerika! verbesserte Hedemann.

Amerika! antwortete Benno und legte sich, um nun wirklich fest einzuschlafen.

Doch sprach er noch vor sich hin, aber in einzelnen, unterbrochenen Worten:

Sie sind im Stande – und heirathen ... als Müller Hedemann ... die weiße Gipsitalienerin ... natürliche Ideenassociation ... Müllerin Biancchi ... Hedemann ... nicht wahr? ...

Ja, gute Nacht! erwiderte Hedemann, der ihn nicht mehr verstanden ...

Benno's Empfindungen mußten noch eine lange Zeit gegen den Schlummer kämpfen. Seine Phantasie verweilte auf den lachenden Bildern seiner Jugend, auf dem grünen Wolfshügel, unter dem Ebereschenbaum und bei dem Rundblick in der Ebene von Witoborn. Sie hielt dann Stand bei Paula und bei Armgart. Armgart von Hülleshoven hatte er damals vor sieben Jahren zum ersten mal gesehen. Sie war die Tochter des kürzlich aus England als pensionirter englischer Oberst zurückgekehrten Herrn Ulrich von Hülleshoven. Ihre Mutter war jene Monika von Ubbelohde, die die erste gewesen, die einst dem Kammerherrn Jérôme von Wittekind-Neuhof einen Korb gegeben. Die hatte keines Hundes, des Calfacters Türck, bedurft, der ihr erst ein seidenes Kleid verderben mußte, wie Portiuncula von Tüngel-Appelhülsen, um von den Wünschen der Familie sich zu befreien. Aber da man es ihr, einer armen und völlig güterlosen Adeligen, mit den Anträgen und Vorschlägen und Zwangsmaßregeln zu bunt und zu gefährlich gemacht hatte, nahm sie gleichsam »aus Desperation«, wie damals die Leute sagten, die die Rache des Kronsyndikus und seinen Einfluß auf zehn Meilen in der Runde und, wenn er wollte, noch etwas weiter hinaus, kannten, den jungen Offizier Ulrich von Hülleshoven, der gerade in der Stadt, wo Bonaventura's Aeltern lebten, in Garnison stand und ihr den Hof machte, wie ihre Schönheit und ihr Geist verdienten. Diese Naturen erkannten sich aber erst nach geschlossener Ehe. Sie stießen sich unheilvoll ab und als Monika eines Kindes, jener Armgart, genesen und Ulrich gerade versetzt worden war, erklärte die Gattin, ihm nicht folgen zu wollen. Sie selbst hatte eine Schwester, ihr Gatte einen Bruder. Jene hieß Benigna, dieser Levinus. Auch diese gaben ein Paar, eines vielleicht mit klügerm Instincte. Sie liebten sich schon lange, schon zehn Jahre vor dem Zeitpunkt, wo sie Schwäger wurden durch die Verheirathung Monika's mit Ulrich, heiratheten sich aber nicht. Levinus, ohne Vermögen, verwaltete die großen Güter des Grafen Joseph, des letzten der Dorste-Camphausen, während Benigna, die Schwester Monika's, die intimste Freundin der verstorbenen Gräfin und Mutter Paula's, der Schwester des Kronsyndikus, und die zehnjährige Verlobte des Onkel Levinus in dem Stift Heiligenkreuz, dicht bei Westerhof und Witoborn, lebte. Beide Schwäger, empört über das Benehmen des jungen Ehepaars, rissen wie nach einem Spruch des Femgerichts der rothen Erde das Kind desselben, ihre Nichte, an sich und straften mit der Vorenthaltung desselben den »unwürdigen« Vater wie die »unwürdige« Mutter. Sie versteckten die kleine Armgart in Wälder und Schluchten, in Keller und auf Heuböden und vorenthielten sie den beiden Ehegatten, denen sie es nur zurückzugeben erklärten, wenn sie beide kämen Arm in Arm, in Liebe und Treue und Einigkeit, frei von der Schmach einer ganzen Familie, frei von der Verletzung der Sitte des ehrbarsten Landes und tugendhaftesten Volksstammes. Diese standesmäßige, gleichsam altsächsische Bedingung erfüllten die Ehegatten nicht. Beseelt von gleichem Trotze, suchten sie einer dem andern Armgart abzugewinnen, offen zu erobern, geheim zu stehlen sogar ... vergebens, Onkel Levinus und Tante Benigna hatten das ganze Furioso, den ganzen Sturm, der über diese sonst so stillen, ruhigen, maßvollen Menschen kommen kann, wenn eine Ueberzeugung sie ergreift. Ihre Maßregeln waren so sicher, daß sie in der Jagd auf Armgart Sieger blieben und der Mutter, die nicht zu ihrem Manne wollte, dem Vater, der sich der Gattin verschloß, ein Kind vorenthielten, mit dem sie »nicht in die weite Welt gehen sollten«. Levinus und Benigna gedachten sich jetzt noch weniger zu verheirathen. In der Liebe zu dem Geschwisterkinde, das sie erzogen, waren sie bereits wie ehelich verbunden. Ulrich und Monika gingen verdüstert und verbittert ohne das ihnen vorenthaltene Kind wirklich in die weite Welt. Zwölf Jahre war Ulrich von Hülleshoven theils in England, theils in Britisch-Canada Soldat gewesen, ihm zur Seite Remigius Hedemann, einst in dem Regiment, in dem Ulrich exerciren gelernt, sein Unteroffizier, dann ein tüchtiger Landwirth, der einen Versuch machte, die letzten Besitzthümer der verarmten Familie derer von Asselyn, die sich vor mehr als hundert Jahren aus dem Friesischen ins Land geheirathet, zu heben und dem dritten von drei Brüdern (die ältern waren Franz von Asselyn, der Dechant, Friedrich von Asselyn, der Vater Bonaventura's), Max von Asselyn, Benno's Adoptivvater, in der Bewirthschaftung derselben beizustehen. Letzter Versuch war nicht geglückt. Max von Asselyn starb bald nach dem unglücklichen Ende, das Friedrich von Asselyn auf einer Schweizerreise in den Alpen fand. Hedemann, geschätzt in allen diesen so eng verbündeten Familien, folgte seinem militärischen Zögling, Ulrich von Hülleshoven, der als Premierlieutenant seinen Abschied nahm, trug zwar nicht selbst die englische Uniform in Quebec und am Lorenzostrom, war aber dem bis zum Obersten Emporsteigenden immer zur Seite und kehrte, mehr als sein Freund, denn als sein Diener, mit ihm nach Europa zurück. Zu Kocher am Fall, in der Nähe des gutmüthigen, alle schroffen Gegensätze dieser Familie mit unendlicher Güte und Milde ausgleichenden Dechanten zu St.-Zeno, einem alten, reich dotirten Stifte, einem der wenigen, die in ihrem alten Glanze durch die neuen Zeitläufe deshalb unberührt geblieben waren, weil der Kaiser von Oesterreich einen Theil der Patronatsrechte besaß, siedelte sich der Oberst Ulrich von Hülleshoven zunächst an und man versuchte nun von dort aus, soweit es der schroffe, düstere und der Aussöhnung wenig geneigte Sinn desselben gestattete, die so gewaltsam zerrissenen Familienbande wieder anzuknüpfen. Hedemann war nach Westerhof und dem Institut der Englischen Fräulein entsendet gewesen, um den Onkel Levinus und die Tante Benigna zur Aussöhnung, Armgart aber zu einem Besuch des Vaters, den sie nie gesehen und der seinerseits aufgesucht sein wollte, zu bewegen. Statt der Aussöhnung und statt Armgart's brachte Hedemann, der mit Benno von Asselyn, dem von ihm fast erzogenen Adoptivsohn des verstorbenen Max von Asselyn, in der Residenz des Kirchenfürsten zusammengetroffen und von diesem nach Kocher am Fall auf dem Dampfboot und zu Fuß begleitet worden war, einen Brief der Lehrerin Angelika Müller an den Dechanten. Was er enthielt, wußten Hedemann und Benno nicht, der ihn für die Dechanei an sich nahm. Als jener dem jungen Kinde gesagt hatte, der Vater nähme Anstand, sie in Lindenwerth selbst zu besuchen, so sehnsüchtig er nach ihr verlangte, er wünsche und hoffe aber, daß sie, wenn nicht ihn, doch den Onkel Dechanten, wie Franz von Asselyn in allen diesen Familien hieß, besuche; da hatte Armgart nichts erwidert als daß sie zwar von namenlosester Sehnsucht zu ihrem nie gesehenen Vater erfüllt wäre, jedoch erst mit dem Pfarrer zu Drusenheim in dem der Insel Lindenwerth gegenüberliegenden Enneper Thale, dann mit den beiden Englischen Fräulein, dann mit Angelika Müller, dann vor allem mit ihren wahren Aeltern, Tante Benigna und Onkel Levinus, über einen so wichtigen Schritt Rücksprache nehmen müßte. Mit schwärmerisch andachtsvollem Emporblick hatte Armgart hinzugefügt: Auch meine arme Mutter hat Rechte auf meine Liebe und ich glaube nicht, daß meine Bitte für sie zur seligsten Jungfrau unerhört an der Gnadenreichen vorübergeht! ... Ihre Mutter, Monika von Hülleshoven, lebte zu Wien noch vor kurzem in einem Kloster, in das sie sich, aus Unmuth, ermüdet vom Kampf mit ihrer Familie, entsagend selbst auf das eigene, aus Strafe ihr geraubte Kind, vor zwölf Jahren zu einer Freundin geflüchtet hatte ... Armgart begleitete bis an die Maximinuskapelle mit dem ganzen Institute den guten Hedemann (der Wunderdinge von den Wilden und den Wäldern und Wasserfällen Canadas, auch bei der Hinreise nicht oft genug eine große Rettungsthat des Vaters, die einem jungen, im Institut durch Verwandte bekannt genug gewordenen Kaufmann aus der nahe gelegenen handelsreichen Residenz des Kirchenfürsten gegolten, wiederholen konnte – auf der Rückreise war er schweigsamer geworden –); dort aber war sie freilich von ihrer löblichen Absicht, ganz und allein nur den Fragen nach Vater und Mutter zu leben, abgekommen; denn am Ufer und schon am vielbesungenen Hüneneck sah sie Benno und den noch dazu zum ersten mal in Uniform! Benno war erst als Student dem Kinde bekannt geworden. Sieben Jahre später wurde er von Westerhof aus gebeten, sich um die nach Lindenwerth zu den Englischen Fräulein gegebene Armgart in sorgsamer Obhut zu bekümmern; er wohnte dafür nahe genug in der Stadt, wo er bei Dominicus Nück, dem großen Rechtsgelehrten, arbeitete. Seit sechs Monaten sah er sie fast jeden Sonntag; heute aber zum ersten mal im bunten Rock, der alle Mitpensionärinnen an ihre Brüder und Vettern erinnerte. Da gab es Vergleiche, Erkundigungen, Erinnerungen für diese glückliche junge Welt und so viel wurde nach dem 40., 36., 22. Linieninfanterieregiment, nach den Jägern, Husaren, Premier-, Secondelieutenants und Fähnrichen und der Dauer der diesmaligen Uebungen und den in einfachen Gemeinenuniformen steckenden Assessoren, Referendaren, Doctoren und Kaufleuten gefragt, daß das eine der beiden Englischen Fräulein, die das Institut dirigirten, den Verlust der Sammlung zur Andacht in der Kapelle befürchtete und dann nur noch Armgart gestattete, über ihre Familienangelegenheiten, dans ses affaires, wie sie sagte – sie war eine Strasburgerin –, mit dem so ehrbaren oder doch seinen Humor unter Ernst versteckenden Freiwilligen sich zu necken und auszuscherzen. Diese Freiheit war dann auch vollständig von Armgart benutzt worden bis zum Abschiede, den Lucinde gestört hatte. Benno brauchte sich nicht zu stolz zu dünken auf Armgart's Vertraulichkeit. Sie liebte im Grunde nur ein Wesen, ihre für sie ganz seraphische, immer nur wie in Marienkränzen, die durch weiße und rothe Wolken gingen, eingerahmte Paula. Benno sah das aufs neue an der augenblicklichen Erkennung eines Wesens, von dem ihr Paula nur erzählt hatte! Von ihrer eigenen Anwesenheit auf Schloß Neuhof wußte sie nichts mehr – Hühner und Tauben und Schwäne und türkische Enten konnten in Armgart's Seele nicht haften bleiben, das mochte geringere Naturen fesseln. Armgart hatte im Stift Heiligenkreuz eine fast klösterliche Erziehung genossen. Frühzeitig hatte diese auch sie zur Traumwandlerin gemacht; nicht so, wie man bei Gräfin Paula in Wirklichkeit gefürchtet, daß sie's bis zum Wandeln im Schlafe bringen könnte – seitdem sie das Streckbett verlassen, waren der Hochschlaf und die Sehergabe entschwunden – nein, nur figürlich; Armgart sah auf jeder Wolke einen Heiligen ruhen, sah in jeder Blume einen Elfen schlummern, sprach mit dem Monde, mit der Welle, mit dem Steine, womit nicht alles, ohne doch darum dem Lachen und Necken abgeschworen zu haben! Es war ein Duft um Armgart her, soviel Unwiderstehlichkeit, daß Benno sie auch bis zum Erobernmüssen geliebt und angebetet haben würde, wenn ihn nicht zwei Mächte zurückgehalten hätten. Einmal die Freundschaft für den jungen reichen Kaufmann Thiebold de Jonge, dem in Canada Armgart's Vater und Hedemann das Leben gerettet hatten und der, jetzt in seine Vaterstadt, die Residenz des Kirchenfürsten, zurückgekehrt, zu Armgart von einer wahrhaft leidenschaftlichen Liebe verzehrt wurde. Dann aber zweitens die tiefste Verstimmung über sein eigenes Lebensschicksal selbst, die dunkeln Anfänge seines Daseins, mancherlei Erfahrungen von frühester Jugend her, das bittere Gefühl, immer nur durch Andere und Fremde erhalten worden zu sein und eine darauf sich gründende Welt- und Lebensauffassung, die eine völlig negative und alles, was bestand, in Nichts auflösende war. Auch die Religion war ihm Menschenwerk. Wenn Benno gegen Grützmachern opponirt zu haben schien und von den Vorkommnissen innerhalb seiner Kirche mit warmer Theilnahme sprach, so war es nur aus politischen Gründen und um der Abneigung gegen das ganze damals herrschende Regierungssystem willen.

Während Benno schon von der lieblichen Armgart träumte, noch ehe er entschlief, glaubte Hedemann nach ihm rufen zu hören.

Er richtete sich auf und sagte:

Hedemann! Wünschen Sie noch etwas?

Hedemann murmelte nur ...

Wieder drückte Benno seinen militärisch kurzgeschorenen, »ihm selbst wie nicht angehörenden« Kopf in die Kissen. Waren aber auch seine Augen bald geschlossen, so gaukelte doch Armgart vor ihnen, wie wenn sie wachten. Armgart hatte die Elasticität des Rehes und schelmisch standen ihr vorzugsweise drei Dinge. Am Kinn ein Grübchen; zwei wunderlich ein wenig hervorstehende Zähne, die man nur dann nicht sah, wenn der Mund ganz fest geschlossen war, die aber sonst immer ein klein wenig mit ihrem blendenden Email hervorblitzten; drittens die weder römische noch griechische, sondern weit eher stumpfe, aber höchst schelmisch geschwungene Nase. Ihre Augenbrauen waren so dunkel wie das Haar, auch die Augensterne dunkelbraun mit schwarzen Punkten ... Und nun tönten immerfort die dummen Worte, wie: »Hören Sie doch, Benno!« oder »Was meinen Sie, Asselyn?« oder »Sie Vaterlandsvertheidiger, was glauben Sie, gibt es Krieg?« oder »Warum wollen Sie denn nicht General werden?« oder »Was? In unserer Armee gibt es keinen einzigen katholischen Obersten?« oder »Wie sieht mein Vater aus?« oder »Ich sticke ihm einen Cigarrenbecher, aber sagen Sie ihm nichts, Benno!« geradezu wie Musik in sein Ohr, bis er jetzt wirklich eingeschlafen wäre, wenn er nicht den wunderlichen Hedemann nun allerdings noch ganz laut hätte reden hören.

Hedemann hielt sein Nachtgebet. Doch wußte er dabei schwerlich, daß es Benno hören konnte.

Hedemann sprach:

O du mein Herr und Heiland! Erleuchte meinen Sinn und laß mich wandeln, wie dir wohlgefällig ist! Thu abe von mir die Werke der Finsterniß und laß mich kämpfen den guten Kampf des Glaubens!

Benno sagte sich:

Den haben die Engländer schön in der Mache gehabt!

Nun entschlief auch er ...

Die Sonne schien schon hell auf sein Lager, als er erwachte.

Er sprang auf und fand das Lager seines Mitschläfers in der Kammer bereits leer.

Seine Kleider hingen schon gereinigt vor ihm über einem Stuhl ...

Rasch schlüpfte er in sie hinein und staunte beim Waschen und Haarbürsten über die Unruhe im Orte ...

Er kannte doch die tägliche Lebensordnung in St.-Wolfgang und erkundigte sich durch ein Hinabrufen im Hause nach der Ursache der Bewegung.

Von Hedemann, der schon fertig angezogen eintrat, von Renaten, die hinter diesem her ihn schon lange mit dem Frühstück zu erwarten erklärte, erfuhr er, daß wirklich in der Nacht der Friedhof entweiht worden war.

Grützmacher hatte Recht gehabt! Man hatte das Grab aufgegraben, den Sarg heraufgezogen, ihn erbrochen, die Leiche geradezu hinausgeworfen und gierig das Stroh durchwühlt, auf dem sie gebettet gewesen.

Von einer ganzen Bande sprach man und von gefundenen Schätzen und Grützmacher war dem Knechte nachgeritten, der Lucinden gestern geführt hatte, und andere waren den Italienern nach, die die Nacht in einem Orte eine halbe Stunde weiter campirt hatten, und der Ortsgensdarm Müller war von Stockhofen drüben bereits requirirt worden und alles, hieß es, forsche und jage und suche und renne ...

St.-Wolfgang war in wildester Bewegung und wie im Aufruhr.

5.

Wo ist mein Vetter? rief Benno von Asselyn, eilends die Stiege hinunterspringend, und vergegenwärtigte sich den Schmerz, den Bonaventura über ein solches Ereigniß auf dem Friedhofe seiner Kirche empfinden mußte.

Er erfuhr sogleich, daß Bonaventura auf dem Friedhofe die Ordnung schon wieder äußerlich hergestellt hatte und mit dem Schulzen des Ortes eine genaue Darstellung der Vorgänge, wie sie auf dem Friedhofe gefunden worden waren, eben schriftlich aufsetzte.

Gern hätte ihm Benno beigestanden, aber Hedemann, ein alter Soldat, erinnerte ihn, daß er heute Nachmittag Schlag fünf Uhr in Kocher am Fall zum Appell auf dem Marktplatze stehen müßte.

Der bestellte Wagen fuhr auch schon aus dem Stern vor.

Von Lucinden hieß es, sie würde sogleich zur Hand sein; sie hätte gesagt, man sollte nur erst die Herren abholen.

Benno entsann sich seiner militärischen Pflichten. Hatte er doch heute schon die weiße Weste ausgelassen. Aber Bonaventura mußte er wenigstens einen Augenblick sprechen!

Er eilte auf den Friedhof und fand den Vetter in der Sakristei der Kirche beschäftigt mit den Anordnungen einer noch im Laufe des Vormittags von ihm bezweckten neuen Einsegnung der entweihten Begräbnißstätte.

Bonaventura war nicht nur von dem Fall an sich aufs heftigste erschüttert und von der Hoffnung, der Thäter würde nicht zu seiner Gemeinde gehören, in der größten Aufregung, sondern er war es noch mehr von einigen Gegenständen, die man, als dem freventlich erbrochenen Sarge in der That entfallen, ringsumher zerstreut gefunden hatte ....

Mit dem allen fand ihn Benno so beschäftigt, daß er von seinem Freunde gebeten wurde, sich in der Fortsetzung seiner Reise nicht stören zu lassen. Bonaventura setzte mit der ganzen Erregung einer Natur, die in nervöser Anspannung zu leben nicht gewohnt ist, hinzu, daß er nach der vollzogenen Sühne der heiligen Stätte und einer Predigt, die er zur Erschütterung der Herzen, vielleicht zur Entdeckung des Thäters halten müsse, wahrscheinlich den Abend noch selbst in der Dechanei eintreffen würde. Einmal, sagte er, handelte es sich um eine Anzeige beim Amte in Kocher, dann aber vorzugsweise – um einige Andenken an seinen unvergeßlichen Vater, die sich denn also wirklich in dem Sarge vorgefunden hätten ... Andenken, über welche er mit dem Onkel, dem Dechanten, zu sprechen die Zeit nicht erwarten könne.

Freund, dich macht der Vorfall krank! Beruhig dich! rief Benno.

Erzähle nichts dem Onkel! erwiderte der Pfarrer. Du kennst seine Abneigung gegen alles, was aufregt ...

Benno mochte nicht länger forschen, worin die gefundenen Andenken an den Vater bestanden. Er wußte, daß diese Gedankenverbindung um so mehr Trübsinn in dem reinen und kindlichen Gemüthe Bonaventura's wecken mußte, als sich dieser seit einiger Zeit die Meinung gebildet hatte, sein Vater lebe noch. Bonaventura hatte sich diese Meinung mit um so ängstlicherer Ungeduld gebildet, als er sogar voraussetzte, der Vater wäre freiwillig aus der Reihe der Lebenden geschieden, nur um seiner Mutter möglich zu machen, seinen jetzigen Stiefvater, Herrn von Wittekind-Neuhof zu heirathen. Wenn er dann gedachte, daß die Kirche die Ehe, auch die unglücklichste, auch die seit Jahren auf einer gegenseitigen Unfähigkeit, die Leidenschaften zu unterdrücken, beruhende und unmöglich gewordene in keiner Weise freigäbe und löste, so hatte schon Bonaventura geglaubt, sein Vater hätte sich den Schein des Todes gegeben, nur um zwei Menschen glücklich zu machen, die auf eigenthümliche Art und, wie er aus den Erzählungen der alten Renate sich entnehmen zu müssen glaubte, keine mehr zu vermeidende Weise in die engste Beziehung gekommen waren. Sieben Jahre waren seitdem vergangen. Jetzt erst kamen ihm diese Zweifel, jetzt in verstärkterer Gewalt. Benno kannte sie und mochte sie um so weniger wecken, als sie mit den wichtigsten und zartesten Lebensfragen im Gemüth des seinem Berufe so begeistert hingegebenen Priesters zusammenhingen und schon oft Gegenstand von Differenzen zwischen ihnen beiden gewesen waren. In der sichern Hoffnung, ihn vielleicht schon am Abend beruhigter in der Dechanei wiederzusehen, nahm er Abschied, setzte sich in den Wagen, mit dem Hedemann auf den Friedhof nachgekommen war, und fuhr, um Lucinden abzuholen, nach dem Stern.

Auch diese war von der Meldung des in der Nacht Vorgefallenen nicht wenig überrascht gewesen.

Sogleich fragte sie nach dem Gensdarmenwachtmeister. Dieser war schon unmittelbar nach dem Lärm, der beim ersten Morgendienst des Meßners entstanden war und das Frühläuten zum Sturmläuten gemacht hatte, auf die Landstraße hinausgesprengt, dem Knechte nach, der sie gestern gefahren hatte. Man behauptete, daß der Knecht die Nacht im Stall geschlafen, lange Licht gehabt hätte und sich eines Spatens aus dem Garten des Wirthshauses bedient haben müßte, den man nicht finden konnte. Die herkulische Kraft, die zu der Ausführung des Frevels gehörte, ließ sich ihm zutrauen.

Nun gab das einen Schwung der Spannung und Erregung! Lucinde wusch und erfrischte sich so schnell, als könnte sie einen Auflauf versäumen. Ehe noch die Mägde ihre Oberkleider, Hut und Schleier gelüftet und entstäubt hatten, war sie schon mit dem schnell geordneten Kopfe aus dem Fenster. Der Zweispänner, eine stattliche Chaise, stand schon vor dem Hause, ein Kutscher klatschte, Hedemann und der Freiwillige grüßten.

So zeitig schon? rief sie zum Fenster hinaus und zog ihre stehen gebliebene kleine Taschenuhr auf, stellte sie nach dem glänzenden Zifferblatt des Kirchthurms, hing ihr Kreuz um und drängte zur Eile. Nur Milch trank sie, etwas schwarzes Brot aß sie dazu und nach einigen Minuten, obgleich Benno von Asselyn einmal um das andere hinaufrief: Uebereilen Sie sich nicht! stand sie unten am Wagen.

Nachdem sie vor der Hausthür ihre Zeche berichtigt hatte, stieg sie an der Hand Benno's ein. Hedemann saß auf dem Bock neben dem Kutscher, der dem Stern angehörte. Für fremde Herrschaften war er ein Postillon, für diejenigen, die unter der Taxe reisten, blieb er in seinen gewöhnlichen Kleidern; heute aber hatte er sein Horn zu sich gesteckt und blies lustig mit hinein in das allgemeine Juchhe. Es kostete das Strafe, hörten es die Gensdarmen. Grützmacher aber und Müller jagten dem Leichenräuber nach.

Nein! rief jetzt Lucinde, an die Erzählung der Vorfälle sogleich anknüpfend. Mein Kutscher wär' es gewesen! Ich glaub' es nicht! Ich wette, der Thäter war Herr Grützmacher selbst! Er hat dem Pfarrer zeigen wollen, daß die Polizei nicht an Phantasieen leidet!

So gefällig auch Benno war, ihr den Vorfall in aller Ausführlichkeit mitzutheilen, verschwieg er doch seines Vetters persönliche Aufregung durch die gefundenen Erinnerungen an dessen Vater.

Lucinde warf dem Dorfe und dem Pfarrhause einen langen hoffnungsvoll seligen Abschiedsblick zu ...

Hedemann schaute unverwandt in die Ferne. Wie wenig er auch glauben konnte, daß die Italiener an dem Frevel betheiligt waren, bekümmerte ihn doch die Belästigung, der die friedlichen Passagiere ausgesetzt sein konnten.

Allmählich gab sich auch der Postillon sowol mit dem Blasen zufrieden, wie mit seinen Mittheilungen über den neu erst im Weißen Roß eingetretenen Knecht, den Vorfall mit der Stallaterne und dem Spaten, der fehlte ...

Lucinde schlug, da der Staub zunahm, ihren Schleier über und forderte Benno auf, seinen Cigarren zuzusprechen. Sie war in ihrem Leben von Jérôme, vom Kronsyndikus, Klingsohrn, Serlo genug »eingeräuchert« worden.

Benno folgte ihrer Erlaubniß, indem er sagte:

Mein Onkel, der Dechant, ist galanter! Sie werden bei ihm von Tabackrauch nie belästigt werden!

Wie alt ist der Dechant? fing sie nach einer Weile an.

Ah, ah! erwiderte Benno. Wie alt! Fragen Sie das nie in der Dechanei! So alt wie Methusalem ist er nicht, aber so jung auch nicht, wie – von der guten Frau von Gülpen, die nun schon dreißig Jahre seine Wirthschaft führt, seine Geburtstage numerirt werden!

Dreißig Jahre? unterbrach Lucinde.

Eher mehr als weniger! erwiderte Benno.

Und zu Hedemann hinaufrufend, fuhr er fort:

Nicht wahr, Hedemann, als Sie vor zehn Jahren nach Amerika gingen, schwankte der Onkel um das Ende der Sechziger herum? Er müßte demzufolge jetzt siebzig sein! Aber ich will nicht gut dafür sagen, daß nicht Frau von Gülpen seine nächste Geburts-oder Namenstagstorte nur mit sechzig kleinen Wachsendchen besteckt!

Lucinden machte der Name »Gülpen« in Verbindung mit einer Geburtstagstorte einen fast märchenhaften und in der Wirklichkeit kaum möglichen Eindruck.

Hat Frau von Gülpen, fragte sie, nicht eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Benno versicherte, diesen Namen nie gehört zu haben.

Hedemann! rief er; hat die Tante eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Lucinde ergänzte: Eine Schwester vielleicht?

Hedemann oben zuckte die Achseln.

Das Jahr 1809, wo ihre ehemalige Peinigerin von ihrer Lebenshöhe gestürzt sein sollte, lag über die Erinnerungen der sie umgebenden Generation hinaus.

Benno drückte am Wagenschlag die Asche seiner Cigarre ab und sagte ironisch:

Wir sind vielleicht an eine zu große Anzahl von Verwandten unserer verehrten Frau von Gülpen gewöhnt! ... Ihre Nichten wenigstens ... Nicht wahr, Hedemann, die Nichten der Tante –

Erstes Kennzeichen Ihres Onkels, schnitt Lucinde die zweideutige Anspielung auf den Deckmantel für die weibliche Bewohnerschaft einer geistlichen Wohnung ab – Erstes Kennzeichen also Eitelkeit!

Eitelkeit? sagte Benno. Vielleicht auf seine weißen Hände! Und doch nicht! Diese Selbsttäuschung über den Geburtstag gehört zu des Onkels Philosophie!

Zweites Kennzeichen: Philosophie! Welche Philosophie? Die, welche dem Dr. Laurenz Püttmeyer zu Eschede noch immer nicht den Hegel'schen Lehrstuhl und Fräulein Angelika Müller einen Mann verschafft hat?

Sie sind unterrichtet! lachte Benno. Nein, keine von unsern Haarrauch-Philosophieen, die die Dogmatik trigonometrisch beweisen wollen und zuletzt doch an einem Breve des Papstes zu Grunde gehen, wie die da, die seit ein Paar Tagen auf unserer Universität drüben zu leben aufgehört hat! Allerliebst, wie in unsere schöne deutsche Kunst und Wissenschaft hinein ein solches römisches Kapitel sein »Kannichverstan« hineinsprechen und sogleich so in ihr herumwühlen und aufräumen darf, wie hoffentlich jetzt die Bauern von St.-Wolfgang nicht unter den Götterbildern des guten Napoleone aufräumen ... Sehen Sie nichts, Hedemann?

Nichts! ... war die Antwort des zuweilen seine zusammengelegte Hand wie ein Perspectiv gebrauchenden Gefährten.

Napoleone erzählte mir, der Dechant liebe die Antike! fuhr Lucinde fort. Ein Sohn Ihrer Heimat und ein Liebhaber der Kunst? ...

Indem rief Hedemann einige Bauern an, die eilends des Weges kamen.

Sie waren aus St.-Wolfgang und sagten aus, daß bei den Italienern nichts gefunden wurde, was auf ihren Antheil an dem nächtlichen Verbrechen hätte schließen lassen können.

Wie mag man die Armen belästigt haben! sagte Lucinde nach einer Weile und summte, da Benno über die von ihr angedeutete Unvereinbarkeit seiner zweiten Heimat mit dem Schönen in Nachdenken verfiel, vor sich hin die Worte Mignon's:

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, gethan!

Für den da oben scheint allerdings Porzia zur Mignon geworden! flüsterte Benno und deutete auf Hedemann, der über die Unschuld der Italiener Zeichen der größten Genugthuung gab.

Die Gegend gewann inzwischen einen bestimmter ausgeprägten Charakter. Man befand sich auf der Absenkung eines großen Thalbeckens, das viele Meilen weit sich in wellenförmigen Senkungen und Erhöhungen hinzog bis zu den Gebirgen, die Deutschland von Frankreich trennen. Der Naturforscher kennt diese Gegend als eine, die ihre urweltlichen Bildungsformen nicht verleugnet. Graue Basaltkegel stehen oft in der Mitte dieses Hügellandes als Reste vulkanischer Ausbrüche. Einsam ragen die abgestumpften Felsgestalten, von dünnem Zwergholz überwachsen. Oft steigen sie schroff bis zu den schärfsten und dann und wann mit einem Kreuz gezierten Spitzen hinan. Von einem höhern Punkte gesehen ist der Fernblick meilenweit, aber er ist nicht mehr wohlthuend durch Saatengrün und lichthelle Waldungen, das Land wird unfruchtbar und wie von Steinen überstreut. Vulkane müssen hier einst einen feurigen Hagelregen aus dem glühenden Innern der Erde geschleudert haben. Bei einzelnen etwas grünen Stellen, aus denen ein Kirchthurm hervorragt, kann man immer annehmen, daß sich dort das stete unterirdische Sieden und Kochen auch an einer wohlthätigen Quelle verkündigt, deren Wasser an Ort und Stelle zum Baden dient, erkaltet in Krügen weiter ins Land geführt wird. Kleine Seen finden sich viele; desto weniger Bäche. Der einzige größere ist jener »Fall«, an welchem Kocher liegt, eine von jenen uralten, schon in die Römerzeit zurückreichenden Städten der sagen- und erinnerungsreichen Gegend.

Hatte man weniger den zuletzt vom Hundsrück und den Ardennen begrenzten düstern Höhenblick, so fehlte es abwärts in den Kesselthälern nicht an Abwechselung. Die Cultur hatte dem steinigen Boden abgerungen, was diese nur an Fruchtbarkeit, wenn auch nur für Gerste und Hafer, irgend hergeben wollte. Und belebt war bei alledem die Gegend doch. Selbst auf der Landstraße begegnete man, außer Landbewohnern, Soldaten, die wie Benno sich beim Stabe einstellen mußten, manchem Geistlichen zu Fuß, manchem im Wagen; des Verbeugens vor Heiligenbildern und vor offenen Kirchthüren wurde fast kein Ende und selbst vor einer Procession mußte der Wagen halten. Jetzt nach der Ernte begannen die Wallfahrten zu manchem wunderthätigen Gottes- oder Heiligenbilde. Auch war man ziemlich nahe schon jener hochbegnadeten Stadt, die den heiligen Rock des Herrn selbst besitzen will und allerdings die ältesten Märtyrer und Heiligen aufzuweisen hat, ja die den heiligen Athanasius einst beherbergte, als er aus Aegypten vor den Arianern floh. Die Zeit war herangekommen, wo gerade des Athanasius' Andenken lebhaft erneuert werden sollte; mancher hohe Würdenträger, ja der Kirchenfürst der Provinz selbst eiferte ihm nach.

In einem Dörfchen wurde gefüttert.

Als man gegen zehn Uhr weiter fuhr, fiel es auf, daß die Reisewagen mit höhern Geistlichen sich mehrten ...

Benno erinnerte wiederholt daran, daß in Kocher eine geheime Verabredung sollte getroffen werden, der selbst Dominicus Nück, sein Principal, nicht fremd war.

Er meinte jenes Rütli, auf dem Bonaventura als Tell fehlen durfte, ob Lucinde gleich, zur Mehrung ihrer Erregung, allmählich vernommen hatte, daß der Pfarrer vielleicht doch noch diesen Abend gleichfalls in der Dechanei eintreffen und so sich schon sobald ihr seliges Hoffen erfüllen könnte, wie oft – wie oft Ihm nahe zu sein! ...

Mit dem Steigen der Sonne wurde es schwüler und schwüler. Gegen elf Uhr kündigte sich ein Gewitter an. In der Gegend von Kocher her lagerten sich schon dunkle, tief graublaue Wolken ...

Benno fing allmählich an in seiner schroffen Beurtheilung Lucindens nachzulassen. Einzelne ihrer Redewendungen, das Mitleid mit den Italienern, die vor einigen Stunden fast mit Rührung gesprochenen Goethe'schen Verse hoben ihm immermehr ihre Erscheinung. Da sie die schwüle Luft bestimmte, den Schleier zurückzulegen, so musterte er mit geringerer Abneigung auch ihren heute fast vornehm sich gebenden äußern Eindruck. Lässig und wie hingegossen lag sie in der Ecke des Wagens. Der schottische Mantel war ihr von den Schultern geglitten und so krampfhaft auch der jetzt eingeschlagene kleine Sonnenschirm von ihr auf die grauen Zeugstiefelchen, die den kleinen Fuß bedeckten, gestemmt wurde, der Eindruck war der der Ruhe und fast einer höhern Ergebung. Gestern hatte sie von der Anstrengung und Ermüdung der Reise älter ausgesehen als sie war. Heute gab ihr eine geringere Röthe des Antlitzes, ja ein wachsbleicher Teint etwas Vergeistigtes. Die langen schwarzen Wimpern bedeckten die unruhigen Augen. Die Athemzüge wurden ersichtlich aus der hoch sich hebenden Brust. Es war wie ein Hauch über ihr ganzes Wesen gekommen, der ihre Formen anschwellen und sie in plastischerer Vollkommenheit erscheinen ließ.

Benno spielte mit seiner Cigarre den Gleichgültigen und war es schon lange nicht mehr. Er sah hierhin und dorthin und gab sich, wie absichtlich, den Schein der Gewöhnlichkeit und prosaischsten Nüchternheit; dennoch hielt er bei alledem den Gedanken fest: Wenn sie sich nur nicht rührt! Wenn sie nur in dieser Stellung verharrt, die Augen, die kalten, nicht aufschlägt, nicht redet, ganz so bleibt, wie sie dasitzt, fast liegt, träumerisch, ohne Berechnung, ohne Koketterie und Bewußtsein von ihrem sich mehrenden Reize!

Lucinde merkte aber schon das Interesse, das sie einflößte. Leise blitzte unter den Wimpern ihr Auge. Fast seitwärts schielend sah sie auf. Die Magie des Eindrucks war zerstört.

Woran dachten Sie eben, Fräulein? fragte Benno erschreckend vor einem so immer in Thätigkeit verbleibenden Verstande.

Lucinde blieb in ihrer hingegossenen Stellung, rückte und rührte sich nicht, senkte die Augen und sagte:

Ich sehe Bilder vor mir, die mir Mignon und der Harfner weckten ... katholische Bilder ...

Malen Sie sie aus!

Benno blies den Dampf seiner Cigarre fort.

Ich sehe ein Schloß und sehe Menschen ... die ganz wie in Mondschein getaucht sind ... Ein schöner Park umgibt das altmodische Gebäude ... Es hat epheubewachsene Thürme und Galerieen ... Kleine Buchsbaum- und Taxushecken ziehen sich unter den Fenstern hin ... Springbrunnen rieseln ... Pfauen schlagen ihre schönen Räder .... Bildsäulen lauschen versteckt aus Jasmin- und Geisblattbüschen ... Dazu ertönt vom Söller die Mandoline ... Ein Pilger schlägt sie ... Auf der Altane werden von einer Dame Lieder gesungen aus einem alten Pergamentbuch ... ein Mönch, der Liebling und Erzieher des Hauses, steht hinter ihr und schlägt die Noten um ... Und wenn dann fernher die Glocken klingen oder ein Jäger im Walde ein Ritornell verhallen läßt, geht alles zur Ruhe ... Nun steigen die lieben Englein nieder ... Die kleinen bausbackigen Jungen schleppen Violinen und große Contrabässe herbei ... sie musiciren und das so, daß die Frösche mit Jubel einfallen, die Heimchen mitschrillen ... Alles neckt sich ... Blume und Käfer ... bis endlich die Sonne am fernen Horizont mit rosigen Streifen sich ankündigt ... Willkommen o seliger Morgen ... Alles blitzt im Thau ... es läutet zur Messe ... dann Wagengerassel ... es kommen vornehme Abbates und Prälaten ... die Kinder des Hauses spielen mit ihnen nach der Andacht, spielen selbst mit dem Strick des Franciscaners, der am Abend die Noten umschlug, und lassen ihn Pferdchens springen ... dazu summen die Bienen, schwirren die Käfer ... und wenn bei Tisch auch noch soviel Wein aus schönen hochgespitzten bunten Gläsern getrunken wird und braunglänzende Braten hoch aufgetragen werden, wie in den Bildern des Paul Veronese ... es geht doch heilig und weltlich immer in eins ... die Reste des Mahls und Wein, diesen in einer hohen strohumwundenen Flasche, schickt man dem frommen Eremiten Federigo unter den Eichen von Castellungo, der dafür die Kinder mit Bildchen beschenkt, die er in seiner einsamen Hütte malt ... oder sie das schwere, wie Steine rasselnde Deutsch lehrt, wenn es zufällig Kinder eines italienischen Conte sind ... oder ihnen in seinen hohlen Eichen Rendezvous vermittelt, wenn sie größer werden und verliebt sind ... Doch sehen Sie nur, unterbrach sie sich in ihrer Schilderung plötzlich selbst; es gibt wirklich ein Wetter!

Sie Glückliche, lachte Benno, Sie können Ihre Phantasie zu Hülfe nehmen, wenn nicht alles auf der Dechanei so zutrifft, wie Sie's sich gedacht und ausgemalt haben!

Ganz recht, bestätigte Lucinde, eben die Dechanei, die dacht' ich mir so ... mutatis mutandis –

Mutatis mutandis? wiederholte Benno und sah sie, erstaunend über ihr Latein, an.

Ich meine die Kinder ...

Verstehe! Verstehe!

Es trat eine Pause ein, in der Lucinde den Triumph genießen konnte, sich sagen zu dürfen: Du kalter, ein gebildeter junger Mensch, glaubtest mich so über die Schultern ansehen und nach den Aussagen der alten Renate, Grützmacher's und wer weiß, ob nicht auch deines so grausamen, so tugendkalten und mich glücklichunglücklich machenden Bonaventura beurtheilen zu können!

Und auch Benno fühlte vollkommen, was sie dachte. Nach einer Weile sagte er:

In der Hauptsache werden Sie es wirklich so in der schönen Dechanei finden! Sie könnte allerdings ganz in ein Gedicht von Clemens Brentano passen! Selbst die Pfauen fehlen nicht! Noch mehr, der Onkel hat einen alten Diener, dem er gestattet in den Sternen zu lesen ...

Das ist schlimm für seine Teller! unterbrach sie. Aber?

Frau von Gülpen ...

Frau von Gülpen?

Benno zuckte die Achseln und deutete an, daß mit diesem Namen die in Kocher am Fall zu erwartende Poesie ein Ende hätte.

Lucinde verstand diese Geberde. Mit tiefschneidender Ironie sagte sie:

Also Frau Renate die Zweite!

Und wie sie dann hinzufügte: O Männer! Männer! ... so war dies doch ein Ton, als hätte Benno aufspringen müssen, ihre Arme zu fassen und sie niederzudrücken mit den Worten: Schwaches Weib, glaubst du denn allmächtig zu sein? ... Es war der Glutenstrom, den Armgart gestern aus ihr herausgehen gefühlt hatte, der Glutenstrom, unter dessen Gewalt vielleicht die Gräfin Paula vergangen wäre, wenn sie nicht Bonaventura durch ihre Entfernung gerettet hätte; aber auch der Glutenstrom wieder, der ihm sympathische Naturen heben und zum Gefühl der Unsterblichkeit hätte beleben können und von dem sich trennen zu müssen einst Klingsohrn zur Verzweiflung brachte.

Zum Glück für Benno's sich mehrende Aufregung gab es Zerstreuungen am Wege und bald auch kühlte er sich ab durch Lucindens rückkehrende Koketterie. Sie sprach von Armgart und verrieth ihre Absicht, ihren Begleiter zu Vergleichungen zu veranlassen. Nun war es aber doch wie eine sanfte Musik, die über Benno sich ergoß, als er Armgart so nennen hörte. Mit jener ironischen Schärfe, die seinen Zügen nicht bitter oder gar faunisch wie Klingsohrn, nicht elegisch wie Serlo stand, sondern die eine große Anmuth in dem männlichen, edelgeformten Antlitz verbreitete, die schönsten Zähne zeigte und den Augen eine schelmische Gutmüthigkeit lieh, sagte er:

Lieber Himmel, mein Fräulein! Sind Sie denn wirklich schon so alt, daß Sie sich an Armgart's Jugend ewig rächen zu müssen glauben! Lassen Sie doch die Kleine noch so kindisch sein wie sie ist! Hedemann, wie oft haben Sie ihr die Rettungsthat aus Canada erzählen müssen?

Hedemann wandte sich und sagte, er selbst hätte das nur einmal gethan, aber Herr de Jonge wol ein Dutzend mal.

Herr de Jonge! fuhr Lucinde, die Vennon über seine Aeußerung nicht zürnte, fort. Wer ist Herr de Jonge? Ein Reisegefährte des Herrn Hedemann? Erzählen Sie! Wir genießen das Gefühl, noch im Trockenen zu sitzen! Sehen Sie nur dort drüben, oberhalb der schwarzen Berge, wie es da schon niedergießt!

In Kocher am Fall! bestätigte Benno mit nachdenklichem und zerstreutem Tone.

Also, Herr Hedemann! Die Rettung aus Canada! Wer ist Herr de Jonge?

Sie werden ihn vielleicht in der Dechanei finden! erwiderte Hedemann und um gleichsam auf diese Art der Erzählung überhoben zu sein.

In der Dechanei? Um so mehr müssen wir auf ihn vorbereitet sein! Wer ist gerettet worden? Wer hat gerettet? Erzählen! Erzählen!

Diesem Humor ließ sich nicht widerstehen ...

Benno zündete sich eine neue Cigarre an und begann:

Das beste Schiffsbauholz –

Hedemann hielt sich auf dem Bock die Ohren zu, als wollte er sagen: Diese tausendmal wiederholte Geschichte! Ich kann sie nicht wieder hören!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr Benno mit um so größerm Nachdruck fort ...

Die Cigarre war noch nicht im Gange ...

Das beste Schiffsbauholz – wiederholte Lucinde, um gleichsam den Faden festzuhalten ...

Bieten die Urwälder Canadas! Sie wissen doch, Fräulein, wo Canada liegt?

Lucinde dachte an ihre Langen-Nauenheimer Wandlandkarte und zeigte mit dem Sonnenschirm fest und sicher nach Westen hinaus.

Mutatis mutandis! bemerkte Benno ... Es konnte heißen: Wer Latein kann, weiß auch das! Oder: Da so herum ist allerdings richtig, aber Amerika besteht nicht aus Canada allein!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr er fort, bieten die Urwälder Canadas, und die bequemste Gelegenheit, es auf dem Lorenzostrom und von da ins Weltmeer und nach England und Holland zu transportiren, findet man bei den vielen Nebenströmen des Lorenzo durch die furchtbaren Fälle derselben. Ich weiß nicht, ob sich unser Freund Thiebold de Jonge, Sohn der großen Handels- und Holzfirma »De Jonge's Erben« drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, auf dem St.-Moritzstrome quer über die tausendjährigen Eichen setzte und mit ihnen die drei- bis fünfhundert Fuß stürzenden Fälle hinunterschwamm in seinen carrirten schottischen Inexpressibles; nur so viel ist geschichtlich bekannt geworden und in Lindenwerth der abendliche Geisterspuk, wenn die Englischen Fräulein über die Lectüre des »Telemaque« einnicken, daß eines Tages, Sonntags, nicht wahr, Hedemann? ...

Sonntags ... antwortete dieser kopfschüttelnd ...

Eines englischen Sonntags also, wo die Engländer auch in Canada daheimsitzen und keine Landpartieen aus Quebec oder Three Rivers in jene Gebirge hinauf machen, aus denen der St.-Moritz mit den tausendjährigen Eichen der Firma »De Jonge's Erben« niederstürzt – zwei so melancholische Hypochonder wie der Oberst von Hülleshoven und sein Freund und Rathgeber da, Remigius Hedemann aus Borkenhagen bei Witoborn, nach Montreal wollten oder nach Isle de Jesus, wo man noch eine gute und richtige römische Messe zu hören bekommen kann in dem abtrünnigen ketzerischen Amerika ...

Hedemann schüttelte den Kopf ...

Nicht? fuhr Benno fort. Sieh! Sieh! Euch denuncir' ich doch noch der Inquisition! Ihr kommt mir beide schon lange so vor, als wenn Ihr in den alten Wäldern, wo die Indianer dem »großen Gotte« scalpirte Menschenköpfe zum Opfer bringen, heiligere Schauer verspürt haben wollt als in unserer alten borkenhagener Dorfkirche! Schämt Euch! Steigen die beide da nun herum über die Felswände in der Nähe des kleinen Patersonsees und träumen von vergangenen Tagen und künftigen englischen Halbsoldpensionen. Da scheu sie plötzlich einen jungen lustigen Dandy gerade unter dem letzten Sturz des St.-Moritz herumhüpfen, wie wenn er hätte eine von den Töchtern der hochmögenden Frau Walpurgis Kattendyk zum Tanze führen wollen! Die reichste Familie drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, Fräulein!

Keine Ausschmückungen! sagte Lucinde.

Der Oberst, fuhr Benno fort, zeichnet gerade den malerischen Sturz, Hedemann raucht eine transatlantische Originalcigarre, da verschwindet plötzlich der Tänzer und beide wissen nicht, war es ein absichtlicher oder unabsichtlicher Entrechat, nach dem die beiden Firnißstiefel plötzlich aufhörten in der Sonne zu glitzern. Von einem Hülferuf konnte nicht gut die Rede sein, denn der St.-Moritz donnert dort zwar nicht wie der Niagara, spricht aber doch immer noch vernehmlicher als unser immer zahmer und kleinlauter werdender Rheinfall bei Schaffhausen ... (ob man sich gleich auch noch jetzt bei dem in der Taxe für die Ueberfahrt verhören und drüben einen Franken zahlen kann, wenn man hüben nur auf einen halben bedungen zu haben glaubt). Ringsum, wie gesagt, englischer Sonntag! Man wußte, daß in einem Orte Namens Forges eine Colonie von Flößern wohnt, die je doch auf keine sonntägliche Wasserpartieen begierig schien und daheim trotz der Hitze vielleicht irgendeinen soliden Gin-Punch braute. Nur jenen einen Tänzer hatte man bemerkt. Da er nicht wieder zum Vorschein kam, wurden unsere Menschenfeinde denn doch ein wenig unruhig, und der ärgste aller Timone, dort unser Hedemann, beliebte zu äußern: Wenn nur das Bürschchen nicht in den Sturz gefallen ist! In den Sturz nämlich, von dem man die ganze Ausdehnung von dem Orte, wo sie sich befanden, nicht übersehen konnte! Man macht sich nun allmählich auf, klimmt empor, erreicht den Rand der Felsen, durch die der St.-Moritz sich hindurchdrängend in einen Kessel niederstürzt, aus dem hochauf eine riesige Schaumkrone sich erhebt und dann pfeilgeschwind weiter gleitet dem Lorenzo zu. Sie entdecken da nichts. Alles still; nur wilde Vögel fliegen quer über den Sturz, dessen Schaumtropfen hoch hinaufspritzen, daß die Dinger wie taumelnd mit benetzten Flügeln das Weite suchen ... Da plötzlich entdeckt Hedemann's scharfes Auge unten an einem Felsenvorsprung eine Mütze, eine so elegante, wie sie nur Herr Thiebold de Jonge getragen haben konnte. Nun stand es fest, daß der Tänzer verunglückt war. Zu sehen war nichts. Man rief englisch, deutsch, französisch. Keine Antwort. Aber die Mütze lag da auf der Felsenkante und erst von dieser an konnte man senkrecht in die Tiefe blicken. Nun wuchs die Besorgniß. Sie steigerte sich mit dem immer gleichen Donnern und Zischen der aufspritzenden weißen Strudel, die ihr Opfer verschlungen hatten, wenn der Gestürzte nur einen Fuß breit von der Felswand weiter entfernt lag und sich im Niedergleiten nicht an der Wand irgendwie noch hatte halten können. Wer stieg die Wand zuerst hinunter, Hedemann?

Der Oberst!

Erzählen Sie selbst, Herr Hedemann! unterbrach jetzt Lucinde. Herr von Asselyn, scheint es, brodirt die Geschichte, wie wenn sie in den Exercices des strasburger Englischen Fräuleins gestanden hätte zum Uebersetzen ins Deutsche!

Da Benno es des drohenden Näherkommens der aus zwei Richtungen heraufziehenden Gewitter wegen für gerathen halten mußte, vorläufig das Hinterdeck der Chaise aufzuschlagen, wobei ihn der Quasi-Postillon hinunterspringend unterstützte, so nahm Hedemann nach Benno's Ausdruck nicht nur die Leine, sondern auch den Faden der Erzählung auf und berichtete schmuckloser.

Er erzählte, daß anfangs der Oberst und er, beide zu gleicher Zeit, den Entschluß gefaßt gehabt hätten, sich gegenseitig unterstützend bis zu dem Vorsprunge niederzusteigen, wo die Mütze lag. Freilich war damit schon Lebensgefahr verbunden, doch rollte kein Steinchen von der fast senkrecht niedergehenden Felsmauer. Bedenklich wäre schon das Wagniß gewesen, sich nur überzubeugen und weiter in die Tiefe zu sehen. Der Oberst hätte das aber gethan, während Hedemann, sich mit den Fingern in die Wand einbohrend, ihn krampfhaft gehalten. Lautlos hätte er nach erstem Bekämpfen des Schwindels sich wieder zurückgelehnt und nur mit dem Kopfe genickt, als könnte schon der Schall der Worte die Kraft haben, die schmalen Steine, auf denen sie sich hielten, loszubröckeln. Mit Lebensgefahr wäre man emporgeklommen und nun hätte der Oberst berichtet, daß ein junger Mann dicht am Rande des tosenden Sturzes anscheinend todt läge. Er wäre dann gerettet worden ...

Was? Wie? fuhr Benno auf. Wer erzählt so!

Zerschmettert vom Niedersturz, fuhr er mit pathetischer Stimme fort; zerschmettert vom Niedersturz konnte der Verunglückte nicht gewesen sein, denn der Fall war dicht an der Felswand entlang; ein Beweis, daß der Gefallene anfangs die Besinnung behalten hatte und an der Felswand niedergeglitten war. Unten aber konnte die Erschöpfung, ja schon der Luftdruck des niederstürzenden Flusses, der bereits an dem kleinen Pavillon zu Lauffen beim Rheinfall den Athem benehmen kann, ihn vielleicht nicht mehr zur Besinnung kommen lassen –

Sie mußten wol, fragte Lucinde zu Hedemann, wie zu einer authentischem Quelle hinauf, nach jener Colonie, wo die Holzschläger wohnten?

Sehr richtig, mein Fräulein! sagte Benno. Eine halbe Meile, und des beschwerlichsten Weges! Es vergingen drei Stunden, bis man an der einzigen Stelle, wo die Rettung möglich war, mit Stricken, Leitern und Stangen ankam. Der Schrecken war nicht gering in der Colonie. Der junge respectable Herr Thiebold de Jonge hatte diesen Spaziergang auf eigene Hand gemacht, während zwei Commis, ein Diener und einer der besten Holzmesser des Geschäfts, der die jungen Leute auf dieser Gewinn versprechenden Unternehmung begleitet hatte, in der Niederlassung zum Studium canadischen Gin-Punsches zurückgeblieben waren. Die Verzweiflung derselben verdreifachte die Anstrengungen, die man zur Rettung machte, und doch würde sie nicht gelungen sein, wenn das schwierige Anbringen der Leitern, der Stricke und Stangen nicht von den beiden tapfern Soldaten geleitet worden wäre. Der Oberst war der erste unten. Der Verunglückte lebte noch. Er war allmählich von einer Betäubung erwacht, um mit Schaudern zu gedenken, daß er, wenn ihn niemand hier aufsuchte, des elendesten Todes hätte sterben müssen. Eine Stunde verging in dieser grauenvollen Vorstellung. Sein Rufen verhallte im Wassersturze. Endlich kam Rettung. Sie war schwierig, aber sie gelang, wie Sie heute noch an meinem Freund de Jonge sehen werden. Sie gelang auf folgende Art. Erstens...

Genug! Genug! sagte Lucinde und wandte sich an Hedemann: Das gab gewiß eine glückliche Scene!

Des Dankes? Der Rührung? Im Gegentheil! antwortete pathetisch für diesen Benno. Unsere zwei Söhne der Moorheide enthüllten nur oberflächlich ihr Incognito, nahmen vor zwei Jahren den gleichgültigsten Abschied von ihrem ewigen Schuldner, nicht einmal einen schönen Gruß bestellten sie durch ihn nach Borkenhagen oder Westerhof oder Kocher am Fall. In Quebec erfuhr der Gerettete die Namen des deutschen Obersten und seines nicht im activen Dienste stehenden Gefährten; er wollte ihre Rückkehr in Garnison abwarten, aber sein Schiff war »klar«, er reiste ab mit Hinterlassung einer Menge von Danksagungen und Geschenken. Erst hier in Europa sahen sie sich zufällig in der Residenz des Kirchenfürsten wieder. Heute in Kocher am Fall bei diesem Wolkenbruch werden sie sich an die Strudel des St.-Moritzflusses zurückversetzt fühlen!

In der That brach jetzt das Wetter auch über die Reisenden mit furchtbarer Gewalt aus.

Man bot Hedemann an, daß auch das Vorderverdeck aufgeschlagen würde und er schleunigst hereinkäme.

Hedemann öffnete aber nur den Soldatenmantel Benno's und lehnte einen Aufenthalt um so mehr ab, als ein in der Nähe liegendes Wirthshaus bei schnellem Zufahren sofort erreicht sein konnte. Dort wollte man Rast halten und den Wagen vollends verschließen.

Das Wirthshaus lag an einem Kreuzpunkte mehrerer Landstraßen.

Immer größer wurde die Zahl der sich eilenden soldatischen Kameraden, die in Blusen und Kitteln gen Kocher zogen. Manche Bekanntschaft gab es in der jähen Flucht der sich Bergenden mit winkender Hand zu grüßen. Auch der Major der Gensdarmen, unter dem Grützmacher stand, wurde auf einem Gaule dahinjagend ersichtlich... Von der nördlichen Straße kam ein geschmackvolles Reisecoupé herangesprengt... Zwei Uniformen saßen darin, die aus dem Wagen sich vorbeugten, eine, die einem Offizier, eine andere, die, wie Benno, einem Gemeinen angehörte....

Letzterer sprang in dem Gedräng an dem Wirthshause noch vor dem Offizier heraus.... Und wie fast zu gleicher Zeit auch das Gefährt aus St.-Wolfgang anhielt und der Soldat den im triefenden Mantel sitzenden Hedemann erkannt hatte, kam er zu diesem herangesprungen, ihm die Hand zu schütteln und ihn fast zu umarmen. Jetzt hielt ein Diener in Livree einen Regenschirm über dem Soldaten – ein wunderlicher Contrast zu seiner Jacke als Gemeiner. In dem Durcheinander des Erkennens, dessen Reihe nun auch an Benno kam, des Verfahrens, der Begrüßungen da und dort, des aus dem herabgelassenen Schlage Hinausspringens und unter das schützende niedere Dach Eilens auch von Seiten Lucindens war ihr vernehmbar und ersichtlich geworden, daß der neue Ankömmling Herr Thiebold de Jonge war.

So eilig sie in die dumpfe, von Menschen überfüllte Wirthsstube lief, sah sie doch, daß der am Wasserfall von St.-Moritz Gerettete eine schlanke Gestalt von lebhafter Beweglichkeit und dreisten und gefälligen Formen war. Er trug helle Glacéhandschuhe, Firnißstiefel, eine Piquéweste unter der nur am obern Knopf geschlossenen Uniform vom feinsten Tuche und eine carrirte Reisemütze, wie sie mehr einem reisenden Engländer als einem Landwehrmann angehören konnte.

In der Wirthsstube sah man Soldaten, Bauern, Viehtreiber, Hausirer, Geistliche, alles was der Regen nur hereinfegte. Lucinde hörte bald, daß der Vorfall mit dem Grabe in St.-Wolfgang schon allgemein bekannt geworden war ... Major Schulzendorf erörterte ihn draußen mit den eben Angekommenen und dem Landwehroffizier, dem Begleiter Thiebold's ... Hedemann war inzwischen verschwunden. Ohne Zweifel suchte er die nicht sichtbaren Italiener auf. Daß sie zugegen waren, sah Lucinde an ihrem ausgespannten Wagen vorm Hause.

Angegriffen von der Fahrt, erregt von allen neuen Mittheilungen und Eindrücken, fast erstickend von der Schwüle des kleinen Saales und betäubt von den lärmenden Stimmen der vielen Menschen, stand sie am Fenster. Die Blitze warfen über die ganze Ebene hin ein magisches Licht. Seltsam glänzte und strahlte das graue Gestein der vulkanisch zerrissenen Gegend.

Ihre Begleiter kamen nicht in den Saal und sie selbst mochte sie nicht aufsuchen. Sie erfuhr, daß es bis Kocher nur noch eine halbe Stunde zu fahren war.

Schon nach kurzer Zeit hatte im Regen der Kutscher den Wagen draußen ganz geschlossen, wie sie am Fenster stehend beobachtete. Die Pferde wurden nicht ausgespannt und Lucinde konnte annehmen, daß ihre Begleiter sofort weiter zu fahren wünschten.

Doch kamen sie lange nicht zurück ...

Sie wartete und wartete ...

Es verging fast eine halbe Stunde.

Endlich ließen sich draußen schon die Italiener sehen.

Auch der Regen hörte auf. Die Wolken theilten sich. Die Italiener schienen an ihre Weiterreise zu denken.

Lucinde trat jetzt aus dem Saale hinaus, wo sie so lange am Fenster sinnend und träumend gestanden hatte.

Sie suchte nach ihren Reisegefährten, die sie so auffallend vernachlässigten ...

Eben war sie im Begriff, den Alten, Napoleone Biancchi, zu grüßen, als sie, unter dem Thorwege stehend, nach dem Hofe und Garten zu einen lauten Wortwechsel und plötzlich aufs allerheftigste eine Stimme: Hedemann! rufen hörte.

Sie wandte sich. Mehrere andere folgten ihrem Beispiel. Einige der Hausirer sprangen hinzu nach der Gegend hin, wo der Ruf hergekommen war.

Das war ja Benno's Stimme! sagte sich Lucinde.

Wie sie dem Beispiel der andern folgend sich wandte, um dem Hofe zuzueilen, kreuzte ihre Schritte, wie auf der Flucht, leichenblaß und mit furchtentstellten Zügen, Porzia ... Ihr jüngerer Bruder Catone lief hinter ihr her und trug ihren Hut, der ihr entfallen gewesen schien.

Trug diese Begegnung schon den Charakter eines Moments – denn ebenso schnell war Porzia verschwunden und auf dem Wagen bei ihrem staunenden Vater und ihrem ältern Bruder, der schon die Peitsche in der Hand hielt –, so war der Anblick, der sich allen nun schnell herbeigekommenen Beobachtern im Hofe darbot, wie die plötzliche Versteinerung der lebendigsten Scene.

Der Hof und Garten gingen in Eins ... Unter der Kegelbahn schienen die Italiener ein einfaches Mahl gehalten zu haben ... Auch vom Hause aus konnte man in die Kegelbahn eintreten, wo man einen gedeckten Tisch sah ... Hedemann, Benno, Thiebold de Jonge und der Landwehroffizier bildeten eine charakteristische Gruppe ... Hedemann's breitkrämpiger Sommerhut lag auf dem nassen Boden im Garten draußen, er selbst stand wie wutschnaubend und wie zum Angriff ... Benno vor ihm, ohne ihn zu berühren, doch in der Geberde, die den gewaltigen Ruf: Hedemann! begleitet haben mußte ... Thiebold de Jonge stand schützend vor dem Offizier, dem seinerseits die Mütze gleichfalls entfallen war und ein plötzlicher Schreck alle Farbe geraubt hatte ...

Wie die Menschen neugierig herzugelaufen kamen, riß Benno den in jeder Ader zu einem Angriff gerüsteten Hedemann in den hintern Garten. Er folgte gelassen jetzt wie ein Kind und willenlos und nur noch das eine Wort kam allen hörbar von seinen bebenden Lippen:

Herr – von – Enckefuß!

Jede Silbe war betont ... in jeder Schwingung der wenigen Worte lag die Andeutung, als wollte er sagen: Wir beide kennen uns doch wol?

Ein Aufenthalt in der Beurtheilung und Vermuthung über alles das war nicht möglich, denn Thiebold de Jonge trällerte soeben laut eine Arie und zog den Lieutenant, wie wenn nichts vorgefallen wäre, gleichsam tänzelnd fort. Er führte den Erschrockenen, der seine Mütze aufhob, auf einem andern Wege gleichfalls in die grünen Gebüsche hinaus ...

Bald kam Benno, der Lucindens ansichtig geworden war, aus einem, wie man sah, mit den lebhaftesten Demonstrationen geführten Gespräch mit Hedemann nach vorn und sagte zu Lucinden:

Bestes Fräulein! Sie werden gutthun, lieber allein vorauszufahren! In der Dechanei kommen Sie gerade noch zu einem Mahle an, das heute zu Ehren der fremden Geistlichen stattfindet! Eilen Sie! Sie finden den Onkel und die Tante dann im besten Humor! Wir andern – wir bleiben noch eine Weile zurück – Gelegenheit, sehen Sie, gibt es genug nach Kocher am Fall und mein Absteigequartier ist ohnehin nicht in der Dechanei, sondern seitwärts in einem kleinen Weinberge, den der Oberst bewohnt!

Aber Hedemann? ... fragte Lucinde forschend und um so teilnehmender, da sie der Name »von Enckefuß« an die alten düstern Begegnungen ihres Lebens, an den Rittmeister, den »schönen Enckefuß«, erinnerte ...

Fährt mit uns oder geht nach dem Regen lieber zu Fuß ... Sehen Sie nur, dieser Thonboden saugt eine Ueberschwemmung ein, so durstig ist er! Adieu, Fräulein! Heut Abend oder morgen in der Dechanei! Viel, viel Glück!

Diese Willennsäußerung und Verabschiedung waren zu bestimmend.

Benno begleitete schon Lucinden an den Wagenschlag und half ihr mit Artigkeit einsteigen.

Ehe sie sich noch gesammelt hatte, ehe sie nur ihre Frage: Aber was ist denn nur vorgefallen? ausgesprochen, fuhr sie schon von dannen.

Eine Aufklärung konnten die Italiener geben. Diese aber hatten schon eine andere der vielen hier sich kreuzenden Straßen eingeschlagen, nicht die, auf welcher sie nun selbst nach Kocher fuhr.

Vom Kutscher konnte sie nichts Anderes über den Vorfall erfahren, als daß jener Herr von Enckefuß aus der Residenz des Kirchenfürsten und zu den Landwehrübungen kam wie alle andern.

Bald aber glaubte sie den Vorfall so zu verstehen: Der Offizier verfolgte Porzia, Hedemann trat dazwischen, ein Wortwechsel entstand, ein Streit, Benno aber hielt Hedemann zurück, einem Offizier in Uniform eine Beschimpfung anzuthun, die diesen hätte zwingen müssen, vielleicht Hedemann zu – durchbohren ...

In dem Ton, wie Hedemann den Namen: Herr von Enckefuß! gerufen, lag eine Andeutung, daß sie sich kennen mußten. Was hinderte sie, anzunehmen, daß sie dem Sohne des »schönen Enckefuß« begegnet war, desselben Landraths und Freundes des Kronsyndikus, vor dem sie selbst oft genug ebenso, wie jetzt Porzia, entflohen war?

Nach einer halben Stunde, gegen halb zwei Uhr, sah sie am Rande eines eigenthümlich geformten, schroffen, fast sargähnlichen, dunkeln Bergrückens das Städtchen Kocher am Fall.

Eine hohe Kuppel mit vier Thürmen ringsum gehörte ohne Zweifel dem Dom von St.-Zeno an ...

Auf ihrer Brust wurde es schwerer und schwerer, je mehr sie hinüberblickte zu der Kathedrale, die mäßig hoch auf einer terrassenförmig sich erhebenden Anhöhe lag. Diese kleine Anhöhe beherrschte auf dieser Seite die Stadt, während auf der andern der düstere Sarg des Gebirges lag.

Jetzt fuhr sie auf gekieselten Wegen durch smaragdgrüne, vom Regen funkelnde Wiesen; dann lenkte der Wagen in Baumalleen ein, die von geschnittenen Hecken durchbrochen wurden ...

Unmittelbar um ein im Quadrat liegendes kleines Schloß zwar nicht so phantastischen, wie sie in ihrer Vision gesehen, doch gefälligen alten Geschmacks zogen sich Blumen- und Gemüsegärten ... alles hatte einen vornehmen, sehr gepflegten Anstrich ...

Das Schloß war mit mancher Bildhauerarbeit geziert.

An der Pforte, wo zwei gewaltige Karyatiden einen Balcon mit einst vergoldet gewesenem Eisengitter trugen, fuhr der Wagen an, ohne sogleich empfangen zu werden.

Der Kutscher mußte absteigen und klingeln.

Es scholl weithin wie mit doppelten Zügen, die den Klang der ersten Glocke nach einer zweiten übertrugen.

Ein alter freundlicher Diener in weißen langen Haaren – wahrscheinlich der in Aussicht gestellte Sternseher – erschien, spitzte klug die Augen, orientirte sich, lächelte wohlwollend und fein und öffnete den Schlag.

Er hatte eine Serviette über dem Arm, zum Beweise, daß man im Hause mit dem Diner beschäftigt war.

6.

Am Nachmittag desselben Tages stehen weit geöffnet die Flügel eines an der andern und gerade der Pforte entgegengesetzten Seite der Dechanei befindlichen hohen Fensters.

Dicht beschattet sind sie von den Zweigen einer Linde, die sich von den fast mühsam durch das Laub hindurchdringenden Strahlen der wieder am blauenden Himmel hervorgetretenen Sonne die nassen Zweige und Blätter trocknen läßt.

Die Vögel zwitschern, Käfer, die an den Simsen und in den Cannelirungen des Hauses vor dem Regen ihre Zuflucht gesucht hatten, summen wieder, und wirklich trottet ein Pfau unterm Fenster über die unten rings hinlaufenden feuchten Sandsteinvliesen und wiegt und hebt den bunten Schweif, fast wie um ihn nicht naß werden zu lassen und ganz wie eine Dame ihre Kleider schont.

Sähe man nicht da und dort ein heiliges Emblem, am Eingang des engern Parks ein Marienbild, am Ausgang zur Kathedrale hin ein Crucifix, unter den Stuccaturen an dem Hause eine ehemals vergoldet gewesene Strahlenkrone, ein Kreuz, ein Dornenhaupt; man würde den Eindruck haben, als müßte man sich hier umschauen nach einem Marmorbilde der Flora, nach einer Gruppe versteckter Satyrn oder Nymphen entführender Centauren.

Am offenen Fenster gibt es einen traulichen grünen Winkel zwischen den fast hineinlangenden Zweigen der Linde und einem Studirtische, dessen Vorsprung den Vögeln ebenso zugänglich scheint wie eine Anzahl aus Fenster gerückter Sessel, auf deren Lehnen sie sich wagen.

Der Greis, den die Vögel schon kennen und den sie sogar auf seinem Schreibtisch besuchen – er lockte sie durch seinen Morgenzwieback und sein Mittagsdessert – nennt diesen Winkel seine liebste Sakristei und seinen segensreichsten Beichtstuhl.

Man sieht auch Bücher in glänzenden Einbänden mit geöffneten Kupfersticheinlagen in der Mitte des Zimmers auf einem runden Tische. Man sieht einen in Guache gemalten Christuskopf von Guido Reni über dem Schreibtisch. Die bunten Lithophanieen, die die Fensterscheiben verdecken, sind jetzt, da die Fenster offen, an die Wand gelehnt. Man sieht in Alabaster das Abbild der speerbewaffneten Göttin der Weisheit vom Parthenon auf einem kleinen weißen Porzellanofen. Auf dem eleganten Mahagonischreibtisch mit Fächern und kleinen durchbrochenen Galerieen aller Art liegen und stehen in Bronze bunterleigestaltete Nippsachen, Briefbeschwerer, Streusandschalen, Federgestelle, Federwischer von bunten Farben, ein gewaltiges Tintenfaß in Gestalt eines sein schwarzes Gift ausspritzenden Drachen, zierliche silberne Leuchter, ein Lichtschirm von grüner Seide ...

Der ehrwürdige Bewohner lehnt den einen Arm auf ein grünsammtenes Fensterkissen und athmet den köstlichen Duft der Linde ein. Er lockt einen der Vögel, die sich in seinem stillen und dunkeln Zimmer unter ihren Zweigen zu sein träumen ... und am liebsten beschied er ebenso von seinen Beichtkindern alle die, die ihm gar zu oft kamen oder zu umständlich sich ausplauderten oder die in ihrer »Sündhaftigkeit sich so außerordentlich wichtig machten«, hierher an diese stille Stätte ... In neuerer Zeit freilich kamen wenige. Die Dechanei stand nie im Geruch der Heiligkeit, jetzt vollends nicht, seitdem Beda Hunnius, Bonaventura's damaliger Mitgeweihter, nach mancherlei anderweitiger Verpflanzung in Kocher Stadtpfarrer geworden war und überhaupt in vielen Kirchen rings in der Provinz täglich die Posaune Zions mächtiglicher geblasen wurde, als »zu seiner Zeit« hier Sitte war. Manche jetzt predigten doch, als wollten sie die Trommeln übertönen, die da eben jetzt auf dem Marktplatz drinnen zu Kocher am Fall gerührt wurden zum Appell des 35. Landwehrregiments. Sie lärmten, als sollt' es an eine neue Bartholomäusnacht gehen, an ein Pour l'amour de dieu mit geschwungenem Schwerte, falls nur der Herr Kirchenfürst im Kampf mit der Regierung, mit der Philosophie und den gemischten Ehen die Parole dazu geben wollte ... Der gute Onkel Bonaventura's und Benno's von Asselyn nahm die Sache der Religion von einer milden Seite. Auch hier an seinem Lindenbaum Pflegte er jedesmal schnell mit dem selbstgeschilderten tiefen Verderben seiner Beichtkinder fertig zu werden, zog dann gern sein goldnes Döschen, ging auf Krieg und Frieden in der Türkei, auf Kunst, Natur, Menschenleben in Rom, Griechenland und Kocher am Fall über und endete gewöhnlich mit den besten Zusprüchen zum Entschluß, auf Gottes Gnade zu vertrauen, und mit den zuversichtlichsten Hoffnungen auf das nach Leibniz ja prästabilirte Glück und die Heiterkeit des ganzen Universums.

Dabei entbehrt jedoch der Greis, der, zurückgelehnt in einen bequemen saffianenen Voltaire, ein violettes Sammtkäppchen auf dem mit weißen Löckchen umwallten Haupte trägt, keineswegs einer gewissen Schärfe. Etwas Schlaues sogar, wenigstens Markirtes, fehlte dem Dechanten keineswegs. Seine Nase war lang und habichtartig, das Auge dunkel und sogar listig. Und stochert er sich eben die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben sind, so ist es mit jener feinen Miene, die mehr einem Diplomaten hätte angehören können, allerdings einem Diplomaten aus der alten Schule, jener, die noch am Wiener Congreß um ein Bonmot vom Fürsten de Ligne sich ebenso exaltiren konnte, wie unsere jetzige Diplomatie sich nur um eine neuconstruirte Jagdflinte exaltirt. Auch des Dechanten Kinn war ausdrucksvoll schön geschweift und länglich, die ganze Erscheinung, auch in den weißen wohlgepflegten Händen, entschieden vornehm und aristokratisch; ja, statt des kleinen weißen Streifens unter der schwarzen Halsbinde hätte ebenso gut ein blaues oder rothes Band irgendeines Comthurkreuzes hervorschimmern können. An den schöngeformten Schläfen, an der Stirn und dem Scheitel konnte man Geist und Phantasie erkennen. Nur ein etwas zu weicher, ja schlaffer Zug am Munde verrieth Bequemlichkeitsliebe, ein bekanntes Erbübel alter Garçons, vornehmlich derer von der langen Robe.

Seiner geistigen Richtung nach gehörte Franz von Asselyn zu den wenigen noch Ueberlebenden aus der Zeit Wessenberg's, der sich damals, als das gesammte Vaterland für alle seine Lebensbezüge eine Vereinigung träumte und sich diese ehrlich verdient hatte durch die Jahre der Napoleonischen Knechtschaft, verdient durch den Aufschwung der Befreiungsjahre, auch für die katholische Kirche »Reformen« möglich gedacht hatte. In jener Zeit hätte Franz von Asselyn rasch emporsteigen können zu einem Bisthum; er hätte jetzt Erzbischof sein können; denn waren auch die drei Brüder von Asselyn, Franz, Friedrich und Max, an Gütern nicht gesegnet, hatte jener den Priesterstand, Friedrich die Beamtencarrière und Max die Bewirthschaftung der wenigen und nach seinem frühen Tode ganz veräußerten Besitzthümer der Familie gewählt und traten sie dabei ohne andere Ausstattung als die ihres Herzens und ihrer Bildung in die Welt, so fehlte es doch an Verbindungen nicht. Franz ließ sich, nach einer lebhaften Antheilnahme an der »westfälischen« Zeit und einem damals häufigen Einspruch auch auf Schloß Neuhof, wo er in der That Frau von Gülpen kennen gelernt hatte, in der Friedenszeit eine gute Pfründe genügen, das Dechanat zu St.-Zeno. Obgleich in einer wenig freundlichen Gegend gelegen, war sie doch die einträglichste und reichstdotirte auf fünfzig Meilen im Umkreise. Man würde sie, wie alle diese Stifter, wenn nicht nach dem Wiener Congreß säcularisirt, doch in ihren Einkünften beschnitten haben, wenn nicht von alten Tagen her die deutschen Kaiser auf die alte Kathedrale ein Patronatsrecht gehabt hätten, das infolge eines damals von Franz von Asselyn entwickelten außerordentlichen Eifers auf das Haus Oesterreich übertragen wurde. So erhielt sich die Dechanei zu Kocher am Fall in ihren alten Einkünften, während die Amtsverpflichtungen sich nur auf den Kirchendienst beschränkten; denn zum wirklichen, der Bureaukratie verantwortlichen Dechanten machte man später den Stadtpfarrer eines benachbarten Ortes, nachdem eine kurze Zeit hindurch Franz von Asselyn die wirkliche Superintendentur verwaltet und über Geburten, Hochzeiten, Sterbefälle, Disciplinarvergehen, Kirchenbauten und Reparaturen, Verbrauch von Wein, Brot, Oel, Wachs u.s.w. an die Regierung seine Berichte gemacht hatte. Es war freilich nur ein kurzer hitziger Anlauf gewesen. Franz von Asselyn war seiner Unfähigkeit zu solchen Relationen schon damals inne geworden, als ihn der kurze, befehlende Ton der Regierungsbescheide verletzte. Sowol sein »freiherrlicher« Sinn wie der dem Priester mit der ersten Weihe eingepflanzte Stolz, der bei manchem bekanntlich in Hochmuth übergehen kann, konnte sich in diese Erlasse, in die Form dieser Fragen und Antworten nicht finden. Als er im Unmuth über den officiellen Regierungsstil einmal fast gegen ein Viertelhundert Briefe im Zeitraum von zwei Monaten gar nicht geöffnet hatte und ihm doch über die Dinge, die er nun versäumte, über die Menschen, die er durch die Nichtbeachtung ihrer Angelegenheiten in die peinlichste Noth versetzte, zuletzt so himmelangst wurde, daß ihm die Briefe in Gestalt händeringender Weiber und Kinder Nachts am Bette erschienen und er nicht mehr schlafen konnte, da schickte er sämmtliches aufgehäufte Material an den damaligen Kirchenfürsten der Provinz mit der Bitte, ihn vor dem hohen Gubernium zu entschuldigen oder ihm wenigstens für sein kurz gefaßtes Mittel, sich nicht ärgern zu wollen, die möglichst lindeste Strafe zu erwirken. Der damalige Kirchenfürst war im Sinne der Regierung gestimmt, doch nicht ohne Wohlwollen für seine Angehörigen; so erfolgte eine friedliche Vermittelung. Die Dechanatsgeschäfte wurden dem Freiherrn Franz von Asselyn einfach abgenommen gegen eine Vergütung an seinen Stellvertreter.

Der nominelle Dechant war indessen bei alledem doch feinen freiern Anschauungen über die Stellung der Kirche zur Religion, Wissenschaft und zum Vaterlande nicht untreu geworden. Für die jetzt angebahnte mittelalterliche Reaction fehlte ihm alle verwandte Gemüthsstimmung. Er sah sogar etwas in ihr, dem der Stolz und die dynastische Treue des deutschen Adels sich fern halten sollte. Er mochte nicht den Protestantismus, hätte aber gern eine katholische Kirche gehabt, in der Licht und Aufklärung, alle Künste und Wissenschaften, die den Menschengeist, vorzugsweise den deutschen, ehren, Platz behalten hätten. Diese Gesinnung mit Eifer zu verfolgen, für sie zu kämpfen, zu leiden, dazu fehlte ihm leider der Aufschwung. Er begnügte sich, seinerseits das zu sein und auch zu scheinen, was er war. Er ließ sich die Minerva nicht von seinem Ofen wegnehmen, bis des Winters, wenn geheizt wurde. Daß es darüber Anfeindungen gab, verstand sich bei der zunehmenden Liebe zur Dunkelheit und Angeberei von selbst. Einstweilen versöhnte er die Gegner durch sein edles Herz. Seine Wohlthätigkeit war grenzenlos und wenn man an seiner Rechtgläubigkeit zweifelte, konnte er sagen: Ich erzog euch ja einen Heiligen und wer weiß ob nicht außerdem noch einen St.-Georg, wenigstens einen vorm Appell- und Cassationsgerichtshofe! Er meinte Bonaventura und Benno, die er beide hatte ausbilden lassen und wie seine Söhne liebte.

Diese Aeußerung hatte der Dechant auch noch heute wiederholt gethan, als er bei seinem immer gewählten, heute sogar festlich gewesenen Tische mitten unter Donner, Blitz und Regen mehrere der tonangebenden Geistlichen der Umgegend zu Gaste hatte. Mit Einschluß der Frau von Gülpen, seiner nunmehr schon fast der »goldenen Hochzeit«, wie er oft scherzte, sich nähernden Wirthschaftsführerin, hätte die Tafel beinahe aus dreizehn Personen bestanden. Sein alter Diener, der Sternseher – er hieß Joseph Windhack und hatte einst bei einem tüchtigen Lehrer der Astronomie, einem österreichischen Exjesuiten in Wien, seine Carrière im Dienen und im Sternsehen begonnen –, hätte diese Herausforderung der Schicksalsmächte ebenso wenig geduldet wie Frau von Gülpen. Es waren an die immer offene Tafel des Gastfreiesten der Gastfreien heute statt neun elf geistliche Herren gekommen, unter ihnen sogar ein Mönch. Jetzt blieb der Oberst von Hülleshoven, der mürrische Sonderling, aus. Nun half nichts, Frau von Gülpen mußte die zwölf Herren allein lassen und sich von der Tafel ganz zurückziehen, wodurch sie insofern einen Vortheil gewann, als sie desto umsichtiger erstens die Ordnung der verschiedenen Gänge dirigiren und zweitens die gerade zwischen einem pikanten Hors d'oeuvre und dem Rindfleisch ankommende Lucinde empfangen konnte.

Auf eine kurze Vorbereitung und erst einleitende Anweisung für ihre Stellung war Lucinde gleich in dem oben citirten Briefchen angewiesen gewesen. Daß diese so kurz ausfallen würde, hätte vielleicht Petronella von Gülpen selbst nicht geglaubt; denn Lucinde war über die Aehnlichkeit der Gesellschafterin des Dechanten mit ihrer alten verschollenen »Frau Hauptmännin« sogleich wie sprachlos geworden, hatte allem zugestimmt und sich nur erst auf ihrem Zimmer zu sammeln gesucht ...

Das Diner war vorüber. Der Dechant erschöpft von Tischgesprächen, wie er sie nicht liebte. Hatten diese Collegen sich heute nicht gerüstet zu der Conferenz, die Nachmittags beim Stadtpfarrer stattfinden sollte, als gält' es einen Wettkampf mit den Kriegsmanövern! Es waren nicht einmal die Zeloten, die der Dechant bei sich sah, aber alle standen unter dem Druck der Eiferer ... und der Mönch, ein Franciscaner, den einer der Herren mitgebracht hatte, war einer der berühmtesten unter den Drängern und Stürmern und ein geistvoller Mann dazu. Wie griff das alles den Dechanten an, ihn, der die Gewohnheit des alten Exjesuitenschülers, seines einst aus Wien mitgebrachten Dieners, Joseph Windhack, Abends auf einer Plateforme des Schlößchens sich um den Lauf und die Stellung der Gestirne zu bekümmern, so gern zum Anlaß nahm, von ihnen beiden zu sagen, daß sie ja überhaupt mehr im Sirius lebten als auf dieser kleinen Erde, dieser Tellus, die nicht einmal ein eigenes Licht hätte, sondern das ihrige von der Sonne und dem armseligen Monde borgen müßte, ja daß die Sonne wieder ein Fixstern untergeordneten Ranges wäre und mit dem Sirius in gar keine Vergleichung kommen könnte, welcher Sirius wiederum seinerseits ... Weiter ging er wenigstens in seinen Ketzereien heute an der Tafel nicht, wo das Gespräch auf den Sirius gekommen war und den Mönch veranlaßt hatte, über die Kassiopeia und die Farbe der Sterne überhaupt zu sprechen, worüber sich Windhack beinahe vergessen und beim Serviren ins Gespräch gemischt hätte.

Bis zur Conferenz beim Stadtpfarrer, wo der Dechant nicht fehlen durfte, hatte es noch einige Zeit ... Nach dem Diner waren die Gäste entlassen worden, weil sie den Kaffee beim Stadtpfarrer nehmen sollten. Der Dechant hatte ein wenig in seinem Voltaire geschlummert, hatte den süßen, weichen Lindenduft eingeathmet, hatte das Zwitschern der Vögel belauscht und den Pfau vom Simse oben auf die untern Vliesen gejagt, diesen Lolo, den er nur Frau von Gülpen zu Liebe duldete; denn Lolo war ein gar böser Vogel, wie alle Pfauen. Eitel von der hohen Büschelkrone bis zu den bunten Augen seines Schweifes hinunter, fuhr er herzlos auf alles Lebendige zu, dem er nur irgend mit seinem krummen Schnabel beikommen konnte. Ein unsteter Nachtunhold, hielt er nie sein Nest im geräumigen Hofe inne, sondern hatte Lagerstätten überall, oben auf Windhack's Sternwarte, beim Hühnerstall, in der Nische eines steinernen Marienbildes, an den Eingangssäulen des Portals, auf einem Zweige da, in einer Hecke dort. Lolo war ein Nachtschwärmer, über den der Dechant in mancher schlaflosen Nacht oft bitter seufzen mußte, mehr noch als über das allgemeine Weh der Welt, bis er regelmäßig bei solchen Störungen doch zuletzt ärgerlichst an die spanische Wand klopfte und der in Sorge um den Lolo nebenan noch wachen Petronella von Gülpen zurief: Aber liebste, beste, theuerste Freundin! Was hat denn nur Ihr verfluchter hoffärtiger Satan heute Nacht schon wieder vor? Gewiß wieder nichts als Zorn und Aerger auf die Hennen, die still und sanft über ihren Jungen sitzen! ... Dann pflegte Frau von Gülpen seufzend zu erwidern, der Lolo gräme sich, weil er im grünen Parke allein leben müsse ... Der Dechant entgegnete aber: Ei, der niederträchtige Kerl mordet uns ja jedes Weibchen, das wir ihm schon bei allen Gutsbesitzern der Umgegend bald erbettelt, bald mit schwerem Gelde erkauft haben! Glauben Sie mir's, beste Freundin, um das Glück der Ehe würdigen zu können, ist der Mensch, wollt' ich sagen der Vogel zu lange Cölibatär gewesen! Gerade wie bei uns! Heben Sie heute das Cölibat auf, ich glaube, wir heirathen gar nicht einmal! ... Frau von Gülpen war dann, statt auf solche Blasphemieen schlafloser Verzweiflung zu antworten, gewöhnlich schon in ihrer Kontusche, hatte die Fenster geöffnet und sprach in die finstere Nacht hinaus mit dem auf einem Baumzweige wach sitzenden und vielleicht, wie der Heine'sche Fichtenbaum, von seiner eigentlichen Gangesheimat, wo eben allerdings die Mittagssonne hellglänzend in die Kelche der Lotosblumen schien, träumenden Vogel sanfte und still begütigende Worte.

Trotz solch schrecklicher Nachtreden war aber der Dechant die Sanftmuth und Herzensgüte selbst und am Tage von den gewähltesten Ausdrücken.

Zur Bestätigung dessen hätte man nur seine zierlichen Billetchen zu lesen brauchen, z.B. die Zeilen, die er schon heute früh geschrieben hatte, um vom eigengezogenen Obst des heutigen Desserts ein Körbchen voll an Frau Majorin Schulzendorf (die Gattin des Chefs unsers braven Wachtmeisters Grützmacher) zu übersenden. Unter einem Briefbeschwerer von Achat lagen die beantworteten, unter einem andern von Marmor die noch zu beantwortenden Briefe. Das waren allerdings keine »Regierungsschinken«, wie sie gewöhnlich genannt und früher zum Räuchern gleichsam in den Schornstein gehängt wurden: zierliche, duftende Billetchen waren es, und manche darunter weit her und hin, besonders aus und nach Wien, das er alle drei Jahre zu besuchen verpflichtet war.

Heute fesselte ihn ein Brief, den er lange in der Hand behielt ...

Es war eine vor Tisch erst empfangene Antwort ...

Er hatte an einen geistlichen Freund geschrieben, der sich mit dem Ausdeuten von Handschriften beschäftigte und darin ebenso viel Vergnügen fand, wie seinerseits der Dechant in seiner Kupferstichsammlung, seinen Gemmen und den Alterthümern von Herculanum, Pompeji, Babylon, Ninive, die er alle um sich breitete und in Dutzenden von Mappen sammelte.

Diesem Freunde hatte er einige Zeilen einer Handschrift vorgelegt, die ihm vor einigen Wochen in einem anonymen Briefe mit mehreren Poststempeln aus dem Canton Tessin in der Schweiz, aus Chur in Graubündten, aus Lindau am Bodensee zugekommen war ...

Der Chirogrammatist schrieb ihm, die bezeichnete Handschrift wäre eine verstellte und gehöre einem Manne an, der mindestens fünfzig Jahre zählte, einen melancholisch-phantastischen Charakter hätte, niemals Börsengeschäfte zu machen im Stande wäre, im Jahrhundert des Yankeethums sich unheimisch fühlte, am liebsten in einer kleinen verschwiegenen Villa am Lago di Lugano, am Fuße der Alpen oder in einem düstern Eichenwalde in den Thälern Piemonts wohnen könnte, einem Manne endlich, der, wenn er ein Feldherr gewesen wäre, wie Cincinnatus hinterm Pfluge die Gesandten würde empfangen haben, die ihm das Consulat bringen wollten, einem Manne, der, wenn er ein Fürst wäre, doch wie Dionysius nach seinem Sturze in Korinth einen Schulmeister hätte spielen können, einem Manne, der Staaten lenkte und dabei junge Mädchen unterrichtete im Griechischen, Hebräischen, auch wol Abends beim Thee mit einer Schere zierlich ausschneiden könnte ... wie dergleichen Thatsachen die Handschriftdeuter bis zur Beantwortung der Frage, ob der betreffende Schreiber gern auch Sauerkraut äße und die unlöbliche, doch vielen großen Geistern eigene Gewohnheit hätte, sich die Nägel zu kauen, herauszubringen wissen.

Ja, der Correspondent trieb seinen Scherz noch weiter. Der Dechant las, daß der anonyme Briefschreiber »Werther's Leiden« auswendig wüßte, keinen Monat bis zum Dreißigsten mit seiner Gage auskäme und sich in jeder Stadt gefallen würde, nur in keiner, die zu gleicher Zeit Festung wäre oder an einem schiffbaren Flusse läge ...

Und nun zog der Dechant, lächelnd und kopfschüttelnd, aus einem der Schubkästen seines Mahagoni-Schreibbureau einen Brief, an dessen vielfach gestempeltem Couvert man die Veranlassung dieser chiro-und einfach romantischen Deutungen und Ahnungen erkannte.

In anonymen Briefen liegt, wenn sie uns nicht aus feigem Versteck mit Grobheiten regaliren oder die Ansicht eines einzelnen Dummkopfs zu einem »Es geht das Gerücht« aufblasen, ein eigener Reiz, zumal wenn sie, wie dieser, ein verschwiegenes Abenteuer provociren, ein Stelldichein, das freilich in dem vorliegenden Briefe aus dem Canton Tessin in der Schweiz (so gern der Dechant alle drei Jahre an die Ufer der Donau reiste und sich in seinen »St.-Zeno-Angelegenheiten« einige Monate lang von den Wirbeln und Strudeln des wiener Lebens wie der Jüngsten einer und dann ohne alles Uebergewicht treiben ließ – Frau von Gülden blieb daheim –) etwas beschwerlich war und über das ohnehin im Dunkeln gehaltene Alter des Dechanten hinauslag.

Der anonyme Brief hatte gelautet und lautete immer noch, wie er ihn auch kopfschüttelnd betrachtete:

Sub sigillo confessionis.

Fiat lux in perpetuis! Quando quis tibi occurrit fidei romanae sacerdos, qui ...

Oder geben wir die Uebertragung:

Unter dem Siegel der Beichte. Es werde Licht in Ewigkeit! Sollte Ihnen ein römischer Priester bekannt sein, der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um unsere Kirche von ihren Fehlern zu reinigen, so theilen Sie ihm unter dem Siegel der Beichte mit, daß sich am 20. August 18** unter den sogenannten Eichen von Castellungo zwischen Coni und Robillante am Fuß des Col de Tende aus allen Theilen der Welt eine Versammlung gleichgesinnter Freunde und Wetteiferer um die Ehre unsers neuen Martyriums einzufinden gedenkt. Es werde Licht in Ewigkeit!

Als schon vor längerer Zeit der Dechant diese räthselhaften Zeilen erhalten hatte, war seine erste Regung keine wie über einen Scherz gewesen. Er hatte wirklich eine Religion, den Aberglauben. Es gab ganz wichtige Dinge, deren Ausführung er von der geraden oder ungeraden Zahl seiner Rockknöpfe abhängen ließ. Die Ferne, die Zumuthung an sich, ein mit so vielen Stempeln versehener Brief, alles das machte ihm einen geheimnißvollen Eindruck, ja in dem Briefe lag etwas, was ihn im ersten Augenblick erschreckte. Nicht gerade die Züge der Handschrift erinnerten ihn an seinen theuern Bruder Friedrich, doch der schwärmerische Geist des Inhalts. Später legte sich der erste Reiz dieser Zuschrift. Die gewohnte Bequemlichkeit sagte ihm: Dieser Briefschreiber ist entweder ein Narr oder es liegt dem Ganzen eine Fopperei zum Grunde! Man weiß sehr gut, daß ich am wenigsten Lust habe, einen Scheiterhaufen zu besteigen, selbst wenn ich bis zu dem Versammlungstage neunzig Jahre zählen würde, wo ich mir vielleicht aus der Krankheit nichts mehr machen würde, an der ich stürbe! »Aus allen Theilen der Welt!« Auch aus dem Sirius? ... Der Dechant besaß von allen irdischen Dingen die Meinung, daß sie sich ganz von selbst machen müßten, wie die Gletscher, die sich seit Jahrtausenden aus kleinen Zufälligkeiten der Lokalität und Atmosphäre bilden und still und unhörbar von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschieben und die Gestalt verändern ... Er nahm dann später an, daß sich's, der Briefschreiber ein schreckliches Geld hatte kosten lassen, diesen oder ähnlich abgefaßte Briefe an hundert andere zu schicken ... Er schonte das Geheimniß, er nahm an, daß es ihm in der Beichte mitgetheilt war, und horchte, hierhin und dorthin, ob nicht aus den Gesprächen seiner Amtsbrüder Anklänge an diese auch an sie ergangene Einladung sich heraushören ließen; indessen war ihm nichts aufgestoßen. Das hatte ihn dann wieder aufs neue erschreckt und zu der Nachforschung bei dem Freunde veranlaßt, den er die Handschrift aus einigen auf dünnem Papier nachgepausten Worten beurtheilen ließ ... Erst heute war ihm aber doch wieder die Ahnung gekommen, als wüßten wol auch andere um den Brief. Zufällig war der 20. August erwähnt worden, der Tag des heiligen Bernhard von Clairvaux, – einige Fanatiker, unter ihnen der Franciscanermönch, tadelten an diesem gelehrten und gottseligen Theologen sein gegen das unbefleckte Geborenwordensein auch der Mutter Gottes abgegebenes Votum, – er sah bedeutungsvoll im Kreise um, er forschte auf den Mienen; aber selbst als während des Gewitters und vor dem Essen der Speisesaal zu dunkel wurde und der alte Windhack an den Fenstern die Vorhänge höher hinaufzog mit den harmlosen Worten: Fiat lux in perpetuis! achtete von den Anwesenden niemand der von Windhack's Seite nur zufällig gegebenen Anspielung weiter, als die Anerkennung der übrigens schon bekannten Bildung des alten Bedienten mit sich brachte. So fiel denn wieder die Frage schwer auf sein Inneres: Wer hat nun gerade dich erkoren, einen solchen Märtyrer aufzusuchen? Kennt man die Hoffnungen, die wir alle auf Bonaventura setzen? ... Dann mußte er sich freilich sagen, daß Bonaventura zu einer Richtung gehörte, die an Rom irgendetwas ändern zu wollen für leere Freigeisterei hielt.

Wie der Greis so sann und sann, gesellte sich allmählich zu dem Zwitschern der Vögel noch das Geräusch eines über die Teppiche des Fußbodens im Zimmer selbst still hin und wieder Wandelnden.

Es war Windhack, der vor einigen Stunden das Fräulein Lucinde Schwarz empfangen hatte.

Wollte das kleine graue Männlein, dem eine spitze Nase und eine stark gewölbte Stirn das unverkennbare Gepräge eines ins Detail gehenden Forschers gaben, sich lieber mit der Thatsache beschäftigen, daß in diesen gegenwärtigen Augustnächten die reichste Ausbeute von Sternschnuppen zu erwarten war, oder unterstützten sein stark geröthetes Antlitz und gewisse klare, glückselige Augen, die auf einen gründlichen Verwahrer der übrig gebliebenen Weinreste des Diners schließen ließen (daß die dem Keller des Dechanten zu übergebenden Weine vorher gründlichst durchkostet und kennerhaft geprüft waren, gehörte nächst der Haarwuchsbehandlung des Hauses und aller Freunde desselben zu den unbestrittenen langjährigen Vorrechten des alten Exjesuitenzöglings), wir sagen, unterstützten diese äußern Merkmale seine Kritik des, wie das ungeduldige Männlein sich äußerte, »überstandenen« Diners oder schmunzelte und lächelte er darum so behaglich, weil ja nun Frau von Gülpen's neueste »Nichte« angekommen wäre ... Genug, er begann sich bemerklich zu machen und wie ein guter Diener ganz leise, ganz nur zufällig, nicht etwa hereinplatzend und die Stille der Betrachtung seiner Herrschaft störend. Er brachte eine Zeitung, griff dann nach einem an dem Porzellanofen hängenden eleganten rothen Staubwischer und wedelte sanft über die Minerva hin, über den Guido Reni, über die Kupferstichmappen, mehrere nach hinten versteckte und jetzt erst sichtbare Carlo Dolces und einige noch etwas mehr versteckte und von freistehenden Bücherrepositorien verborgene Torsis alter heidnischer Erinnerungen, zu denen selbst die Venus von Milo gehörte.

Der Dechant wußte nun, daß Windhack etwas zu melden hatte.

Hm! sagte er. Schon fünf? Zeit zur Conferenz?

Noch eine Viertelstunde, Herr Dechant!

Das Getrommel in der Stadt wird die ganze Nacht dauern ...

Hier hören Sie's ja nicht!

Benno angekommen?

Doch wol ...

Hedemann?

Gesund und munter! Auch der junge Thiebold de Jonge –

Und –?

Assessor von Enckefuß ...

Armgart nicht?

Nein, aber das Fräulein ...

Welches Fräulein? Ah! besann sich der Dechant. Und?

In diesem Und lag viel, sehr viel, und wenn man will lag in dem lächelnd wiedergegebenen: Je nun! des alten Dieners fast noch mehr. Es lagen zwei Lebensgänge in diesen Worten. Einer durch die schönen Tage auf Schloß Neuhof unter den Tänzerinnen, Sängerinnen, Marquisinnen und Vicomtessen des Kronsyndikus bis nach Wien und Paris ... Der andere Lebensgang von da zurück in diese stille Klause hier zu Kocher am Fall, einer Stadt an einem Bergstrome, der wie von einem ungeheuern Sarge hierniederzugleiten schien.

Und eben wollten beide ihr Und? und ihr Je nun! auf die ihnen geläufige Weise erläutern und ausführen, als eine leichte, unsichtbare und auch fast unhörbare Rollenthür in der Tapete aufschnurrte und Frau von Gülpen eintrat.

Auch Frau von Gülpen machte die Anzeige, daß Fräulein Schwarz angekommen wäre und dem Dechanten ihre Aufwartung machen könnte ...

Petronella von Gülpen war allerdings die jüngere Schwester Brigittens von Gülpen, der bereits im Jahre 1809 auf Schloß Neuhof entthronten Beherrscherin des Kronsyndikus. Beide Schwestern gehörten einem Familiensystem an, das sich durch Jahrhunderte in der Nähe geistlicher Sitze in einer Weise fortgepflanzt hat, die, wie man von einem Fahnenadel spricht, ebenso von einem Krummstabadel sprechen ließe. Es ist immer eine und dieselbe Familie, wenn auch die Namen wechseln. Die weiblichen Bestandtheile dieser Familie sind diejenigen, auf welche es am meisten ankommt; die dazu nöthigen Männer sind mehr zufällig und die Verbindungen schließen sich oft geheimnißvoll und unerklärlich. Die Mutter der beiden Schwestern von Gülpen war die Wirtschafterin eines Fürstabts; ihr Vater war ein Unteroffizier Friedrich's des Großen gewesen, der in der aus hundertzwanzig Mann bestehenden Armee des Fürstabts eine Stellung als Lieutenant gefunden hatte. Ueber Witoborn, eine Priesterstadt, hinweg waren sie auf Schloß Neuhof gekommen, Brigitte als die Aelteste und eine ganz in der Schule eines ehemaligen Unteroffiziers Erzogene, Petronella um zehn Jahre jünger und allmählich zur Freundin des Dechanten erkoren und demzufolge von einem höhern Aufschwunge der Bildung, ja mit den Jahren sogar theilhaftig geworden aller Feinheiten eines in solchem Grade gewinnreichen Umgangs. Tyrannisirt von ihrer Schwester, war sie früh ebenso zum leidlich Guten geartet, wie es jene zum Schlechten war. Der schon 1803 säcularisirte Fürstabt, ihr Vater, wir meinen ihr Landesvater, hatte nichts für sie thun können und den ehemaligen Unteroffizier Friedrich's des Großen hatte schon in der Reichsarmee, die 1793 gegen die Sansculotten zog, noch vor der Kugel eine zu volle Ladung jungen Weines in irgendeinem geistlichen oder weltlichen, jedenfalls neutralen Keller getödtet ... Seit Jahren waren beide Schwestern voneinander getrennt. Obgleich sie sich haßten und nichts voneinander wissen mochten und jetzt wol auch kaum noch etwas wußten, hatten sie doch manches gemein. Petronella mußte man nur in jenen nächtlichen Augenblicken sehen, wo sie, in der Kontusche, mit einer spitzenverzierten Dormeuse über die ganze Stirn und einer das Kinn fast einhüllenden weißen Tüllbandschleife, dem unsteten Lolo Worte der Liebe und' Beruhigung sprach; man mußte sie sehen bei den vielen andern tagscheuen Gelegenheiten, z.B. da, wo sie, allerdings höchst liebevoll, den Schwächen aller geschaffenen Creatur zu Hülfe kam ... Frau von Gülpen würde, das ist wahr, keine Barmherzige Schwester abgegeben haben für ein großes Spital von allerlei wildfremden Schneidergesellen oder vom Gerüst gefallenen Maurern und Zimmerleuten; dazu hätte es ihrem jetzt so vornehmen Sinn und ihrer Neigung für Exclusives durchaus an Stimmung gefehlt ... sie begriff nie – und sagte das auch –, wie es jetzt wieder Gräfinnen und Personen von Distinction geben könnte, die ganz so wie im »Alterthum« unter die Barmherzigen Schwestern träten und für allerlei »fremden, unsaubern Pövel« Kamillenthee und Haferumschläge machten und, wenn »dergleichen Bagage« gestorben wäre, sogar deren Leichen wüschen ... aber – bei einem einzelnen Herrn, bei einer geliebten Persönlichkeit, und wäre diese an Bedürfnissen selber ein ganzes Spital, ein Sàcré Coeur oder eine lebendige Charité gewesen, da konnte sie sich den schwierigsten Pflegen des menschlichen Leichnams unterziehen. Da gab es kein Seitenstechen, für das sie nicht eine passende Flanellreibung gehabt hätte, kein Magendrücken, dem sie nicht Erleichterung durch irgendeinen Thee verschaffte, keinen Frostballen, dem sie bei verschlossener Thür und die Brille auf der Nase nicht sogar eigenhändig mit einem scharfen Messer, wenigstens an der sterblichen Hülle des Dechanten, zu Leibe gegangen wäre. Nur mußten die Menschen, denen sie die edeln Liebesrathschläge widmete – die Liebeswerke gehörten lediglich nur dem Dechanten – zu dem Kreise ihrer nächsten Beziehungen gehören. Sie mußten durch Distinction und Namen in der Gesellschaft eine Stellung einnehmen. Es war das schöne Lebensprincip der Frau von Gülpen, daß Natürliches niemanden schände und um so weniger schände, als es einmal im Plane der Schöpfung gelegen hat, den Menschen aus einem höchst erbärmiglichen Stoffe zu bilden, einem Stoffe, der bei jedem schönen Abendspaziergang sich eine Erkältung und von der wohlschmeckendsten Truthahnpastete eine Indigestion zuziehen kann. Den Lebensberuf der Frauen fand diese Dame darin, daß sie für die Männer, die sie lieben, in einem ewigen Kampfe gegen die Unzulänglichkeit von »Kraft und Stoff« liegen sollten. Ihre Waffen waren dabei ein Arsenal von Leibbinden, Wärmsteinen, Fußsäcken, Kräuterkissen, Senfteigen, Theevorräthen aller Art, sowol schweißtreibender, wie beruhigender, luftfördernder und lufthemmender Art, nicht eingerechnet die vielen Pillen, Pulver, Tropfen und noch unausgeführten Recepte, die sie zu häuslichen Vorkommnissen sich aus guten gemeinnützigen Schriften oder aus bewährten klösterlichen oder Familientraditionen niederzuschreiben pflegte, selbst für Fälle, die nur in der Möglichkeit lagen, z.B. die Hundswuth. Aber die erschaffene Creatur auch in ihrem behaglichen Befinden hatte in Frau von Gülpen ihre treueste Beförderin. Man mußte sie sehen an jedem Montag bei der großen Revision der alten und neuen Wäsche; an jedem Dienstag unter den Nähterinnen, die sie, ein liebes Mädchen, Treudchen Ley, an der Spitze, flicken und stopfen ließ; an jedem Mittwoch auf dem wichtigen Mittwochmarkte zu Kocher, wo sie mit der prüfenden Uebersicht eines Feldherrn die vorhandenen Vorräthe an Wild und Geflügel musterte; an jedem Donnerstag, wo es regelmäßig in der Dechanei ein Diner gab; an jedem Freitag, wo die heilige Fastenordnung und ihre specielle intimste Vertrautheit mit der Kunst des Backens und der höhern Fischsaucen sie fast selbst zur Köchin machte; an jedem Sonnabend, wo sie dafür zu sorgen hatte, daß sie nur selbst obenauf blieb und nicht krank wurde, aus Angst, daß es der Dechant werden könnte, der an diesem Tage früh die Schulen zu inspiciren hatte und dann oft von drei Uhr Nachmittags bis spät Abends im Beichtstuhl festgehalten wurde und trotz aller Vorsichtsmaßregeln, trotz Fußsack, Pelz und Kohlentopf im Winter, nach Hause immer so ermüdet kam, so geistig durchschüttert, so von der hochwichtigen Function des Anhörens fremder Seelenbekenntnisse um alle eigene Lebensstärke gebracht, daß er erklärte, nur die schönste, seelenvollste Musik in einem Nebenzimmer, eine Musik wie von Seraphshänden gespielt, könnte ihn wieder in den Zusammenhang mit Gottes harmonischer Weltordnung bringen! Essen konnte der Dechant Sonnabend Abends nichts. Denn, sagte er, von dem, was ein katholischer Priester alles in der Beichte zu Gehör bekommen muß, würde wenigstens ihm immer so weh und schlecht ums Herz, so tief jämmerlich um Seele und Magen herum, so vollständig und unendlich satt zu Muthe, daß er dann nur Appetit nach Himmelsspeise haben könnte, nach Eliaskost, von Raben oder geradezu Engeln oder sonstigen Boten Gottes credenzt ... Glücklicherweise kam darauf immer der stolze, feierliche, hochherrliche katholische Sonntag mit seinen brennenden Lichtern, mit seinen gestickten Meßgewändern, mit seinem duftenden Weihrauch, mit seinem erhebenden Orgelton, seiner sichern jahrtausendjährigen Regelmäßigkeit ... Der hob, der tröstete, der erquickte ihn dann wieder ... Wenn er auch durch vierzigjährige Gewohnheit das Heiligste verrichtete, ohne davon eine andere Vorstellung zu haben, als die eines Traumes, geträumt mit wachem Auge, so fing er denn doch am Sonntag Abend wieder an sich Mensch und von dem Ernst des Lebens minder schmerzhaft berührt zu fühlen.

Jene Sphärenmusik aber, jene Lücke am sonnabendlichen Thee, die die gute Frau von Gülpen nicht ausfüllen konnte, jenes Bedürfniß nach Eliaskost war die Veranlassung, daß seine treue Freundin in fernen Gegenden eine so weit verbreitete Verwandtschaft hatte. Seit dreißig Jahren sagte man zu Kocher am Fall, daß die nie schöne, aber immer wohlgesinnt gewesene »Seitenverwandte der Asselyns« für die Ihrigen doch auch das mildeste Herz von der Welt hätte. Eine Nichte nach der andern zog sie an sich, sorgte, wenn sie nicht gleich beim ersten Eindruck misfiel und oft schon nach vierundzwanzig Stunden abreiste, für deren Ausbildung, ließ sie in der Dechanei wohnen und verschaffte ihr den Schutz und den Beistand des wohlwollenden und gütigen Herrn, dessen Pflege sie ohne höhere Ansprüche für sich selbst und mit einer in der That klösterlichen Entsagung seit so langen Jahren schon übernommen hatte. Nur böse Zungen waren es, die da behaupteten, daß die Familie der Frau von Gülpen merkwürdigerweise einen höchst unbestimmten Typus hätte. Denn bald wären die Nichten aus einer blonden, bald aus einer braunen Seitenlinie, bald hätten sie schwarze, bald blaue Augen, bald gehörten die Nasen dem griechischen Profil an, bald säßen sie mit zierlichem Trotz stumpf auf Gesichtern, die indessen alle, das blieb unbestritten, hübsch waren. Mesalliancen gab es in dieser weitverbreiteten Familie der Gülpens leider sehr viele, denn einige »Nichten« trugen adelige, andere nur bürgerliche Namen. Darin aber waren sich alle gleich, daß sie erstens, wenn sie länger als einige Wochen blieben, sämmtlich anmuthig, zweitens gebildet, drittens musikalisch sein mußten, viertens daß keine länger bei der Tante blieb als zwei Jahre. Ueber letztern Umstand gingen verschiedene Gerüchte ... Die einen behaupteten, für ein geistliches Haus hätte ein längeres Verweilen, da alle ohnehin mit der Absicht kamen, nur die Tante auf einige Zeit zu besuchen, anstößig erscheinen müssen. Die andern sagten, Frau von Gülpen hätte mit dem Dechanten die feierliche Abrede getroffen, daß sich keine von ihren Nichten jemals dürfte einfallen lassen, irgendwie in ihre Rechte einzutreten, was allerdings bei einem zu langen Verweilen in der Nähe des für alles Schöne so lebhaft empfindenden Mannes zu besorgen war. Man sagte ferner, daß diese Trennungen oft schmerzliche Scenen herbeigeführt hätten, deren Nachklänge der Dechant nur durch seine jeweiligen wiener Reisen vergessen zu können vermochte ... Lucinde war etwa die zwanzigste Nichte, die schon nach Kocher am Fall gekommen war. Ihre Vorgängerin war Angelika Müller gewesen, jene Lehrerin, in deren Persönlichkeit entweder eine arge Verwechselung stattgefunden hatte oder die dem, der sie empfohlen – es war nicht der Philosoph Doctor Laurenz Püttmeyer selbst gewesen –, zu sehr verklärt erschienen gewesen sein mochte durch die Schönheit ihres Geistes und Herzens. Dennoch war Angelika Müller bei der »Tante« sechs Wochen gewesen.

Der Dechant verstand den eigenthümlich aufgeregten und freudvoll-leidvoll gemischten Blick seiner langjährigen Freundin, mit dem auch sie jetzt, aber tief aufseufzend, die »neue Acquisition« ankündigte. Geschah dies doch regelmäßig mit demselben unheilverheißenden Tone, demselben Unkenruf des Mistrauens und der Furcht vor einer solchen »wildfremden Person« wieder, der »niemand ins Herz blicken könne«, und die sogleich bei erster Begrüßung für das scharfe Auge der Kennerin gewöhnlich irgendeinen bedenklichen Fehler hatte. Die eine sprach ihr gleich zu rasch, die andere zu rauh, die dritte hatte keine Lebensart, die vierte zu viel, die fünfte war naseweis, die sechste simpel ... und schon an der Toilette, an der Wäsche, an der Frisur konnte sie unterscheiden, weß Geistes Kind die von außenher, durch allerhand Vermittelungen empfohlene »Person« war ... und wenn auch eine allen Kennzeichen, die nur der Dechant verlangte, noch so vollkommen entsprach, für Frau von Gülpen konnte sie irgendetwas, vielleicht einen »Odeur« haben, der ihr einen »Horreur« verursachte ... kurz, der Dechant und Windhack, beide waren die erste Verurtheilung schon gewohnt.

Regelmäßig aber fanden beide hintennach bei eigener Anschauung, daß die so verfehlt geschilderte Acquisition im Grunde »gar nicht so übel war« ... Nur heute bedauerte der Dechant, daß er jetzt sich eilen müßte in die Conferenz zu kommen. Ja da der neue Ankömmling nicht sogleich mit Frau von Gülpen schon eintrat, da man erst nach Lucinde Schwarz klingeln mußte, da des gefallenen Regens wegen Frau von Gülpen auch noch auf eine warme Fußbekleidung für den Dechanten drängte, so wurde beschlossen, die Vorstellung zu lassen bis zur Zurückkunft. Fand sie dann auch, da sich zum Thee jeden Abend Gesellschaft auf der Dechanei einstellte, vielleicht vor Zeugen statt, so konnte man ja dann gerade am ehesten beweisen, daß der Besuch nur der Gesellschafterin des Dechanten galt, nicht ihm selbst.

Indem Windhack seinem Herrn jetzt behülflich wurde, sich zum Ausgange wärmer anzukleiden, begleitete er die Aeußerung der Frau von Gülpen, Windhack hätte sie ja auch schon gesehen! in seinem sanften Redeton, der ihn dem Dechanten besonders werth machte, mit den Worten:

Ja, halt ganz wie die Berenice!

Der Dechant wußte, daß Windhack mit dieser Vergleichung nur die Figur eines Sternbildes meinen konnte.

Wie so? Berenice? fragte er, eine weiße Halsbinde unter die schwarze legend, während Frau von Gülpen aufhorchte.

Wenn Sie sich die fünf Sterne der Berenice durch Linien verbunden denken und den obern sozusagen als den Kopf, so kommt halt ungefähr das neue Fräulein heraus!

Hoffentlich, bemerkte der an solche Schilderungen gewöhnte Dechant, heißt das nicht, daß die Dame einen Buckel hat?

Frau von Gülpen meinte schon.

Sie geht etwas sehr übergebeugt!

Frau von Gülpen dachte an ihren eigenen geraden Wuchs und daß man bei etwas Tournure selbst als Sechzigerin immer noch etwas vor der Jugend voraushaben, könne ... Sie wußte nicht, daß die Vergleichungen mit ihrer alten Hauptmännin Lucinden sogleich mehr als sonst in Furcht und Nachdenken versetzt hatten.

Sonst sehr anmuthig! fuhr Windhack fort. Sehr freundlich! Mit jedem schon so, als wenn sie jahrelang mit ihm bekannt wäre! Mich hat sie gleich gefragt, was es für Menschen im Monde gäbe? Sie arrangirt sich jetzt halt oben ihre Kammer!

Der Dechant verfolgte diese Andeutungen nach der Richtung hin, wie ein derartiges neues Wesen in dem nicht immer ganz stillen Frieden der Dechanei sich künftig wieder bewähren würde. Er erschrak, als Frau von Gülpen bereits daran erinnerte, die Nichte wisse, daß sie nur vorläufig auf drei Tage »zum Besuch«, d.h. zur Probe da wäre.

Hm! Hm! sagte er, Menschen im Monde! Sie kennt also schon unsere Schwächen – wollt' ich sagen – ja – ei – Windhack, eine Nichte, die Astronomie verstand, die hatten wir ja wol noch nicht? Richtig! Die Müller'n! Aber die trieb mehr Mathematik! Lieber Gott, sie war selbst wie 'ne gerade Linie! Hm! Berenice! Hatte die Berenice nicht ein schönes, berühmtes Haar? Das Haar der Berenice! Blond, lichtblond, wie der Name andeutet, Lucinde? Nicht?

Mit diesen Worten schritt der Dechant schon die steinernen Treppen hinunter.

Windhack begleitete ihn und sagte:

Im Gegentheil, Herr Dechant! Schwarz wie die Novembernacht! ... Ein Regenschirm ist nicht nöthig, Frau von Gülpen!

Frau von Gülpen war bis zur Hälfte der Treppe mit hinuntergegangen. Sie blieb da stehen, wo sich eine Thür zu einem Wirthschaftsentresol befand. Dort wollte sie noch einen Regenschirm mitgeben, den der Dechant auch ruhig genommen haben würde. Er hätte auch einen Sonnenschirm genommen, wenn man ihm einen in die Hand gesteckt hätte; er würde höchstens gefragt haben: Sind jetzt so kleine Regenschirme Mode?

Windhack begleitete ihn bis an das hohe Hausportal.

Als er zurückkehrte, rief ihn Frau von Gülpen in die Wäschkammer und wollte wissen, was da die zweideutigen Anspielungen mit »Berenice« hätten sagen wollen? Die Vertraulichkeiten des Dechanten mit seinem alten Diener gingen zuweilen auf ihre Kosten. Beim »Haar der Berenice« hatte der Dechant einen so scharfen Blick auf ihre Frisur geworfen ... behauptete sie wenigstens ...

Windhack erzählte mit Harmlosigkeit, daß es einst einen berühmten alten Astronomen, Namens Kanon, und eine ägyptische Königin, Namens Berenice, gegeben hätte und letztere hätte ihren Mann in die Schlacht schicken müssen, hätte aber gelobt, käme er gesund heim, so würde sie den Göttern – der Venus, Frau von Gülpen, sagte Windhack – ihre Haare opfern, d.h. in ihren Tempel stiften, wie wir Wachskerzen stiften oder silberne Herzchen; und nun, fuhr Windhack fort, hatte der Astronom Kanon das Haar der Berenice zwar vielleicht abgeschnitten, aber nicht in den Venustempel abgeliefert, sondern gleich gesagt: die Götter hätten es in die Sterne versetzt, dicht an die Mähne des Löwen – auch halt ein Sternbild, Frau von Gülpen! – Nun wisse man nicht recht, mit wem der Kanon unter einer Decke gesteckt hätte, vielleicht mit der Königin selbst, die ihr schönes Haar, zuletzt nicht gern hergegeben hätte und dann so lange vielleicht die Hauben erfand, bis es ihr wieder hätte gewachsen erscheinen können, oder mit den Venuspriestern, die diese Haare vielleicht zu ihren Perrüken verwandten und keine Rechenschaft hätten darüber ablegen wollen ... Kurz, wenn man den Kanon nach dem Haar der Berenice fragte, Frau von Gülpen, so zeigte er halt immer auf die Sterne, woher auch vielleicht mit der Zeit die Redensart: »Mondschein« entstanden sein mag für einen ausgegangenen oder dünnen oder halt sehr kahlen –

Genug! Genug! unterbrach Frau von Gülpen mit Entschiedenheit.

Windhack verstand sich aufs Frisiren wol noch sicherer als auf das Angeben bevorstehender Mondfinsternisse. Er besorgte nicht nur die mathematisch richtige Form der Tonsur des Dechanten, sondern auch die gewellten künstlichen und so schön kastanienbraunen Scheitel der Frau von Gülpen; jedoch so umständlich überhaupt von Haaren zu sprechen, widersprach aller Conduite und »feinen Lebensart« ...

Sie suchte für Lucinden, deren größerer Koffer erst mit Fuhrgelegenheit nachkommen sollte und die sich etwas von dem Regen durchnäßt gefühlt hatte und von der Wäsche der Frau von Gülpen einiges bis auf weiteres in Anspruch nahm, allerlei Frauenzimmerliches aus, von dem sie dann gleichfalls sagte, daß auch das ihn nichts anginge ...

Gehen Sie! Gehen Sie! sagte sie, Sie mit Ihrem Kanon! Heute bei Tische ist so viel von Kanonen gesprochen worden, daß ich jeden Augenblick erschrecke, von der Stadt schießen zu hören!

Das rauschendste Trommeln hörte man jetzt allerdings ...

Windhack ließ Frau von Gülpen zu der in der Weißzeugkammer arbeitenden Nähterin, Treudchen Ley, eintreten, er selbst verfügte sich, um für die Auguststernschnuppen seine Gläser zu prüfen, auf die Sternwarte.

Der Dechant schritt inzwischen zur Stadt ...

Er hatte die Gewohnheit, auf den gekieselten Wegen, die unmittelbar um die Dechanei her durch den kleinen Park sich schlängelten, und auch noch auf den Stufen, die zum Dom emporführten, ganz besonders freundlich zu grüßen. Ernster aber wurde er schon oben um den Dom selbst herum. Vollends vornehm und etwas kalt sogar war seine Art, wenn er die Stufen niederwärts zu Kocher am Fall selbst hinunterschritt.

Man sagte, er entblößte nicht gern sein Haupt. Die einen meinten, weil er die Schwäche besaß, seine Tonsur zu verbergen, andere, weil er die Zugluft fürchtete, und wieder andere, weil ihn ein ewiges Grüßenmüssen von Krethi und Plethi bei aller Freundlichkeit des Herzens verdroß.

Heute aber wurde er kaum beachtet; denn es wimmelte von Soldaten und vor Aufregung in der ganzen Stadt ...

Unter den einfachsten bunten Röcken steckten aus der Gegend ringsum achtbare Bürger, Hausbesitzer, Handwerker, junge Oekonomen, Förster, Studirte ... Und nun rannten die Frauen und die Kinder und wollten auf dem Marktplatz die »Parade« sehen und die Handwerker hatten ihre Arbeit eingestellt und standen in den Hausthüren, viele gewärtig auch der Einquartierung, die sie auf drei Tage bekommen konnten; auf dem Marktplatz nach dem Appell und der Revue wurden dazu die Billets ausgetheilt ... Und an Ausspannungen und Gasthäusern waren Laubpforten errichtet, Fahnen wehten aus den Fenstern ... Teppiche hingen sogar nieder, wie bei einem Kirchenfest ... Und dazwischen spielten selbst die Kinder Soldaten, rasselten mit Trommeln, kokettirten mit Dreimastern aus Zeitungspapier ... Und die Kühe mußten denn doch auch noch durch die engen Gassen hindurch und sogar eine ganze Hammelheerde über den Brückensteg am Fall ... ja, des Ho! Ha! He! 's war kein Ende ... bis auf den Marktplatz schallte es, wo schon die Glieder antraten und auf allen Budendächern die Straßenjugend saß, künftige Rekruten des großen Militärstaats auch ... und Bataillon schwenkt! commandirte jetzt der Major vom Stabe, der glückseligst wieder die Seinigen »beisammen hatte«, »seine Jungen«, »seine Kinder« – er zog das doppelte Tuch nicht aus – und nun hätte einer über diese kerzengeraden Colonnen sagen sollen: Das sind Handwerker, Bauern, Oekonomen, Förster, Studenten, Referendare? Nein! Es waren Krieger so gut, wie die bei Leipzig und Waterloo gefochten haben!

Und auch der Dechant nickte höchst befriedigt, als es so ein donnerndes Halt! galt. Er suchte und suchte ... richtig! da fand er den schlanken, heute so extra-brünetten, sonnenverbrannten, »wol zu spät gekommenen« Herrn Neveu mit dem gestutzten Bart- und Kopfhaar, der jetzt nicht einmal lächeln, nur mit den Augen blinzeln durfte, um ihn zu grüßen, und fünf Mann weiter stand der Blonde ... der Thiebold de Jonge, dem Hedemann und Ulrich von Hülleshoven das Leben gerettet hatten ... und des Dechanten Herz schlug doch freudiglichst, da so unter der Masse die herauszuerkennen, die ihm bekannt, lieb und unendlich werth waren.

Auch er respectirte die militärische Ordnung und grüßte nur mit einem holdseligen Lächeln und einem höchst ironischen Zuge um die Lippen, als wollte er sagen: Na, da werdet ihr denn jetzt gedrillt, ihr jungen Weltstürmer und müßt wie die Gliedermänner zappeln und Fuß und Hand heben, nicht wie eure hochherrliche, freie, beneidenswerthe Jugendlust es will, sondern wie der alte Major da von Pritzelwitz es commandirt und ihm der Polizeiassessor, heute Lieutenant von Enckefuß, euer Zugführer, nachdonnerwettert! Euch schon recht, euch schon recht!

Und in seinen Spott und seine Freude rasselten nun die Trommeln ... die Pickelpfeifen schrillten ... die Ladestöcke klingelten ... Schulzendorf, der Gensdarmenmajor, jagte mit einer Suite Gensdarmen hinter den Marktbuden weg, um Platz zu machen ... auch Grützmacher war schon wieder da, vielleicht ohne den Leichenräuber; jetzt aber fegte er die Straßen rein von allem, was die Entwickelung der Kraft und Größe sei nes Vaterlandes hemmen konnte.

So aus dem Lager der Ghibellinen trat der Dechant in das der Welfen.

In einem engen Gäßchen ging es zur Stadtschule und zur Stadtpfarrei.

7.

Die Straßen zu Kocher am Fall sind ganz so gebaut, wie das »gemüthliche« Mittelalter überall baute.

Häuserzeilen, die nicht geradeaus laufen, sondern die den Wind überzwerg durch Winkel und Einbiegungen behaglich abfangen ...

Da ein kleiner schiefer Platz mit einem Brunnen ... dort eine Sackgasse, die in einer in Sandstein gehauenen alten Kreuzesabnahme endet ...

Zwischendurch stürzt und wogt und wallt der »Fall«, ein wilder Bergstrom von mäßiger Breite, der das Städtchen in zwei Theile schneidet, ohne daß man zuweilen die Brücken bemerkt, auf denen man steht. Der Fall ist hier und da ganz überbaut und schießt durch Färbereien oder unter einer donnernden Mühle hin, man sieht ihn nicht.

Am untersten Ende der Stadt liegt an ihm ein Judenviertel. In Kocher am Fall gibt es eine starke Judengemeinde, die schwunghaften Handel treibt, vorzugsweise mit Vieh und dessen Abfällen. Aber auch Hausirer gab es genug in ihr und Fruchtmakler, die Geschäfte auf zwanzig Meilen Weges und weit über die Residenz des Kirchenfürsten hinaus machten. Herr Löb Seligmann von Kocher am Fall war sogar einer der berühmtesten Gütermakler.

Zwei so stattliche Kirchen, wie der uralte Dom von St.-Zeno und die Stadtkirche, reichten vollkommen für die christliche Bewohnerschaft aus. Es waren aber noch fünf bis sechs andere Kirchen vorhanden. Sie wurden zu Vorrathshäusern für Militär- und Verwaltungszwecke benutzt. Eine der kleinern, die Minoritenkirche, gehörte den Protestanten, die nur in geringer Zahl in Kocher am Fall wohnten, in geringerer noch als die Juden ...

Auf der Conferenz sprach eben jemand, als der Dechant eintrat, die Worte:

Und dennoch, dennoch hat die hiesige kleine Gemeinde von noch nicht hundert Lutherseelen einen Geistlichen, der besser dotirt ist als der Kaplan in der Stadtkirche, der neben seinem schweren Amte auch noch den Kirchendienst in den Dörfern der Umgegend zu versehen hat!

Abwechselnd mit den Pfarrern von Blick, Hilkum und den Mönchen zu Gottesthal! hätte der Dechant gleich hinzusetzen mögen, um eine der von jenen Tagen an immermehr in Umlauf kommenden Tendenzunwahrheiten zu berichtigen.

Doch fürchtete er, seinen Amtsbrüdern die Phantasiegebilde zu zerstören, die jetzt vor ihnen im Qualm ihrer Tabackspfeifen bunt und wirr genug auf und niederzogen.

Immer traf ihn beim Eintreten in den großen Schulsaal – die glückliche Jugend hatte heute »frei« – sogleich der ihm besonders unangenehme Blick des an der Spitze der zusammengerückten Schultische sitzenden Beda Hunnius, dieser doppelsichtige Blick, der der wahren Gesinnung des Mannes gegen ihn entsprach. Der kurze, gedrungene, breitschulterige Herr Stadtpfarrer schriftstellerte. Er redigirte den »Kirchenboten«, theologisch und poetisch. Der Dechant konnte den Mann nie sehen, ohne noch an einen andern Beda Hunnius zu denken, der im Augenblick nur nicht gegenwärtig war. Beda Hunnius, den er vor sich sah, und der, den er gedruckt kannte, der, auf den er, wie er sagte, abonnirt war, waren zwei ganz unvereinbare Gegensätze. Der Dechant wußte, daß bei seinen Amtsbrüdern das Schriftstellern sowol überhaupt aus der Leichtigkeit entsteht, Erbauungsbücher zu schreiben, die immer gut verkauft werden, wie im Besondern aus einer heftigen Mittheilungslust, die durch den polemischen Eifer geschürt wird. Auch das Gefühl der Einsamkeit ließ Franz von Asselyn als die Muse des katholischen Geistlichen gelten. Obgleich ihn sein Amt mehr in Anspruch nimmt als den protestantischen Pfarrer, fehlt doch die Familie, ihre Zerstreuung, ihre Sorge. Einsamkeit ertragen können ist eine hohe Lebenskunst! Sie ist der wonnevollste Genuß, ja der Luxus des Denkers! Eine Qual ist sie für den mäßigen Kopf. In diesen trüben Winterabenden, wo der katholische Geistliche auf dem Dorfe niemand zum nähern Umgang hat, unterhält ihn die Feder, die Druckerschwärze, die Beziehung zur Literatur, der Antheil an ihren Händeln. Schreiben darf er nichts, was nicht im Sinne seines großen Ganzen ist, und so hilft sich die trübe Laune durch Abfassung von Predigten, Gebeten, polemischen Ausfällen; sie schreibt und eifert sich in allerlei mehr oder minder wohlthuenden Lärm hinein. Der Dechant wußte, daß, wenn die niedere Geistlichkeit aus dem Bauernstande hervorgeht, das geistliche Convict ihm eine abschleifende Berührung mit der Welt nicht gewährt. Beda Hunnius, von Geburt ein Bauernsohn, unterstützt durch Stipendien, auf besondere Empfehlung in dem Convict jener Stadt gebildet, wo er mit Bonaventura die Weihen empfing, hätte immerhin nach seiner Meinung stürmen und lärmen mögen, soviel er wollte; aber er dichtete auch! Er dichtete in einer überschwenglichen Manier, die dem Schauspielerstande gleicht, der eben hinter den Coulissen ein Seidel Bier getrunken haben kann und dann hinaustritt und von dem Duft der Palmen spricht, von der »Götter altem Heiligthume«, »der ewigen Roma Majestät und Capitole« ... »Jerichorosen« hießen Beda Hunnius' poetische Erstlinge, »Lacrymae Christi« seine zweite Sammlung. Es folgte eine dritte und vierte und immer wurde der Dechant an sich selbst irre, wenn er seinen Collegen sah, wie der mit pfundschweren Stiefeln durch die Straßen von Kocher schritt, oder ihn hörte, wie er mit der gewaltigen Hand auf das Kanzelpult schlug, sich an seine Zuhörer z.B. mit den Worten wendend: »Um ein für allemal euer Nasenschneuzen während meiner Worte abzuschaffen, behaltet ihr euer Sacktuch so lange in der Tasche, bis ich sage: Putzt jetzt eure Nasen!« ... und dann von derselben Hand, von demselben Munde eine zarte »Purpurviole« auf das Grab eines Märtyrers niedergelegt in Tönen und in Weisen der Ueberschwenglichkeit! Beda Hunnius waren ihm zwei Menschen.

Dennoch würde der Dechant, eingedenk seiner Siriusreligion, auch das ertragen und gelächelt haben, selbst über die unablässige geheime Polemik im »Kirchenboten« gegen ihn selbst, gegen seine gesinnungslose und weltverdorbene Richtung – vor allzu bösen Umtrieben schützten ihn die reichen Geldspenden, die man in der Dechanei für alles und jedes, selbst »zum Ankauf von Kohlen zu Scheiterhaufen«, wie er sagte, zu jeder Zeit erhalten konnte – aber bei den Conferenzen, die Hunnius eingeführt hatte, konnte er oft gar verdrießlich werden über die vielen Erdenschlacken des Himmlischen, über den Sauerkrautsduft auch sogar der Seraphskost und noch auf der letzten Conferenz vor sechs Wochen hatte er wie ein Zelot gesprochen:

Wo ist euch je das Rauchen gestattet worden? Auf welchem Concil? Durch welchen Apostel, Märtyrer oder Bekenner?

Es war nicht Scherz, wenn er auch heute wieder beim Eintreten in die schon mit dichten Dünsten und Nebeln gefüllte Schulstube den sich theilweise Erhebenden entgegenrief:

Meine Herren! Der Geist heißt doch, wie Sie wissen, auf hebräisch Ruach und Sie machen regelmäßig, wenn Sie zusammensitzen, Rauch daraus!

Auf den Schulbänken und die Schulsitze entlang lächelten zwar über zwanzig Geistliche, aber sie blieben bei ihren langen und kurzen Pfeifen und die jüngern sogar bei ihren Cigarren ...

Völker und Geistliche, die den Wein genießen dürfen, fuhr der Dechant sich setzend und brummend fort, sollten den Taback den türkischen Derwischen überlassen!

Er suchte sich einen Platz am Fenster und lehnte den Wein ab. Jeder der Herren hatte vor sich ein Glas mit funkelndem Rebengolde stehen.

Beda Hunnius nahm die schon im vollen Gange befindliche Debatte des Tages wieder auf.

Er billigte eines Redners Vorsicht, die eben angerathen hatte, nicht blind in das Messer der Bureaukratie zu laufen. Aber, setzte er auf den Tisch schlagend hinzu, die Zeit rückt immer näher, wo wir mit allem, und wär's mit Freiheit und Leben, für unsere Mutter, die Kirche, werden einstehen müssen! Da – er zeigte auf den Franciscaner –, der ehrwürdige Pater Sebastus dort berichtet uns, daß in der Residenz des hochwürdigsten Kirchenfürsten die Dinge immermehr auf die Spitze getrieben werden – auf die Spitze der Bajonnete!

Von draußen hörte man das Klingeln der Ladestöcke; der Dechant öffnete sich das Fenster, an dem er saß.

Ihr junges Volk! sprach er murmelnd vor sich hin und drückte ein Sammetkäppchen auf sein Silberhaar. Wer in Zeiten gelebt hat, wo wirklich die Bajonnete herrschten –!

Beda Hunnius ließ sich nicht stören. Er gab die damals allbeliebte Schilderung der geistlichen Zustände des unter protestantischen Sceptern schmachtenden katholischen Deutschland. Er sah das Volk Gottes in der babylonischen Gefangenschaft. Er sah vollends auf dem Throne, unter dessen Gewalt sie durch eine »Laune der Geschichte« hier leben müßten, einen assyrischen König.

Ist es nicht, rief er und sah dabei zuweilen auf ein Papier, als wenn wir die Worte Actorum 7,43 hörten: »Ich will euch wegwerfen jenseit Babylonien!« Meine Freunde, noch über Babylonien hinaus! Ist das nicht das schwerste Elend unsers Fluches! Noch über Babylonien hinaus! Denkt das Herz nicht mit Schaudern an Rußland? Wie in Rußland steht es schon mit unserm Glauben, mit unserm Cultus, unserer Selbstregierung! Nicht genug, daß die Kirche ihres jahrtausendjährigen Schmuckes beraubt worden ist, daß man die Pfründen und Stifte einzog, die Bisthümer plünderte, die Klöster aufhob, den Schulen, unsern niedern und höhern, die alte Form nicht nur, sondern die ganze Existenz nahm: selbst bis in das innerste Leben unsers Glaubens dringt die Tyrannei des weltlichen Armes! Wo ist noch irgend, außer im Beichtstuhl, ein freier Verkehr des Seelenhirten mit seiner Gemeinde! Wo ein ungehinderter Verkehr des Unterhirten mit dem Oberhirten! Wo kann sich ein Wunsch, eine Bitte, eine Mahnung aussprechen innerhalb unserer eigenen Angelegenheiten, ohne daß nicht die weltlichen Räthe, deren Mehrzahl unserer Kirche nicht angehört, ihr Ohr hinhalten und die letzte Entscheidung geben! Wir sind Fremdlinge im eigenen Lande, Parias, die der Botmäßigkeit herrschender Rajahs unterworfen sind! Und womit herrschen sie? Mit unserm eigenen Gut und Blut, mit den Besitzthümern der Kirche, die sie säcularisirten, mit dem Schweiß unserer Arbeit, mit dem Erwerb unserer Hände, mit den Steuern, die wir reichlicher zu zahlen haben als die Provinzen, die man im Osten bevorzugt! Darf es mitten in unsern Landen eine Universität geben, in der nicht alle Wissenschaften, die sie lehrt, in unserm Glauben wurzeln? Darf eine Philosophie gelehrt werden, die Rom verworfen hat? Darf noch länger ein hundert Meilen von uns entlegenes Ministerium, in dem nur ein einziger, mit Titeln und Orden verführter Rath unsers Glaubens sitzt, unsere Lebensfragen ordnen und entscheiden? Soll für die Besetzung der Stellen der Bischof kaum ein Vorschlagsrecht ausüben und die Bureaukratie den Ausschlag geben? Soll jedes schadhafte Dach, das über dem Hochheiligsten auszubessern ist, jedes nothwendige neue Meßgewand, jeder außergewöhnliche Schmuck eines mit besonderer Vorliebe gerade an diesem Orte und gerade auf jene heilige Erinnerung gerichteten Festes einer weltlichen Bewilligung bedürfen? Soll sich keine Fahne mehr mit dem hochheiligsten Bilde der gnadenreichen Gottgebärerin zu einer Procession entfalten dürfen, ohne daß diese Gensdarmen dem Priester, der mit seinen frommen Seelen über die thauigen Wiesen dahin zu einem Gnadenorte wallfahrtet, seinen Erlaubnißschein abverlangen, wie einem reisenden Handwerksburschen sein Wanderbuch? Sollen diese ehernen Zungen, die in den Lüften die Lebenden rufen, die Todten beklagen, den Blitzen Halt gebieten, nicht reden dürfen, wenn die Lust und Wonne unsers hochheiligsten Kirchenjahrs, die weihevolle Erinnerungsfreude, der heilige Bußdrang, die Märtyrerandacht und das Bittgebet gläubiger Seelen Gleichgestimmte in die heiligen Kirchenhallen ruft? Soll uns der Wein zugemessen werden und geaicht die heilige Kanne, soll das Brot des ewigen Lebens halbirt und zerschnitten werden wie das Brot in den Kasernen? Soll das von dem Hochheiligsten tröpfelnde Wachs gesammelt werden, wie von den Bedienten geiziger Herrschaften das Wachs gesammelt werden muß nach den Orgien, die sie mit Tanz und Musik feiern? O daß das Maß unserer Leiden noch immer nicht voll ist zum Ueberfließen für die Feigheit und Muthlosigkeit dieser Zeiten! Wir haben als Kirchenfürsten einen Geharnischten des Herrn, einen Michael im Panzerkleide unter dem Pallium der höchsten Kirchenwürde, einen Streiter, der die Mitra trägt wie den dreimal umbuschten Helm eines Gottfried von Bouillon! Und mehr! Rom, das endlich den Muth wiedergewonnen, sich von einer langen Ohnmacht und aus dem Stande der Erniedrigung aufzuringen zu seiner großen Stellung, wieder mitzureden im Rath der Großen mit blitzendem Bannstrahl und donnernder Bulle, Rom hat ihn gesegnet, diesen Streiter des Herrn, hat ihm das rothe Kreuz des Gotteskampfes auf die Schulter geheftet ... Und doch –! Wie zaghaft ist bei alledem der Beistand, den er sogar unter uns selbst findet! Wie angstvoll noch unser Umblick auf diesen Heerbann der Hof- und Land- und Steuer- und Kriegs- und Staats-und Regierungs- und Kirchenräthe! O daß die Stunde uns gerüstet finden möge, die Stunde der Entscheidung! Sie wird hereinbrechen wie ein Dieb in der Nacht, wie ein Weib die Wehmutter ruft, wie die zum Tod Erkrankte den Priester, ungeahnt, unerwartet! Unser frommer Bruder da berichtet, daß die Frage der gemischten Ehen für unsern gottseligen Kirchenfürsten an Ketten und Banden streift!

Die brennende Frage des Tages war ausgesprochen.

Mehrere der Pfeifen gingen aus, andere wurden beiseite gelegt. Der Gegenstand wurde zu ernst. Eine drückende allgemeine Stille war die Folge dieser zuletzt ganz abgelesenen Anrede. Der Sprecher, der sich somit offen als Mitverfasser so vieler damals in Würzburg und Augsburg zuerst auftauchender Schriften enthüllte, sah sich im Kreise rundum. Seine Augen funkelten, die starken Züge des Antlitzes waren geröthet; die rechte Hand, zur Faust geballt, hatte mehrmals auf den Tisch gedonnert ...

Man kann wirklich nichts sehnlicher wünschen, als daß dieser schwierige Gegenstand seine endliche Erledigung finden möge ... sprach eine schüchterne Stimme ...

Rom hat gesprochen! riefen andere ...

Aber das Breve muß uns erst durch die Regierung zukommen! erwiderte der factische Verwalter der Dechanatsgeschäfte von St.-Zeno.

Das ist es eben! ertönte von mehr als einem Drittel der Anwesenden.

Auch Ruhigere klagten, daß die Seelsorge in der bittersten Bedrängniß wäre. Der Staat verböte die Weigerung der Einsegnung ohne Vorbehalt der Religion der Kinder und Rom wolle doch diese Weigerung ...

Schon erhoben sich einzelne und drückten in ihren Mienen den Schmerz aus, daß man nicht zweien Herren zugleich dienen könne.

Hunnius ermahnte zum Sitzenbleiben.

Daß diese Protestanten, sprach und las er weiter, nicht einsehen, was es denn eigentlich mit unserm Glauben ist! Herr Gott im Himmel! Es ist ja nicht die Unduldsamkeit, es ist ja nicht die Proselytenmacherei, die uns gebietet, eine Ehe zwischen Rechtgläubigen und Heterodoxen nur dann einzusegnen, wenn ein Versprechen vorangegangen ist, daß die Kinder, gleichviel welchen Geschlechts, katholisch werden! Fühlt ihr uns denn die tiefe Verpflichtung nicht nach, die wir haben, gleichsam aus dem katholischen Dasein erst das wirkliche menschliche Leben überhaupt zu machen und das blos natürliche, thierische, irdische, unerlöste, durch Christi und der Märtyrer Blut nicht erkaufte Leben aufzuheben! Menschen, was ist denn die Weihe! Fühlt ihr denn nicht, daß in unsern heiligen Handlungen Consequenzen liegen, die, gleichviel ob berechtigt oder nicht, mathematische Beweiskraft für uns haben! Für uns! Gerade für uns! ... Da unser College Bennrath, unterbrach er sich, hat einem Protestanten das Begräbniß auf dem Friedhof von Nennhofen verweigert und ihn hierher auf den protestantischen schaffen lassen ...

Zu meinem äußersten Entsetzen! warf der Dechanatsverweser dazwischen.

Es war aber eine That! rief Hunnius. Eine That, die Bennrath von Nennhofen in das Buch der Bekenner schreibt! Wo ist gesagt, daß eine Ausweisung von der geweihten Erde unserer Kirche nur vom Standpunkte des reinen Menschenthums zu fassen ist? Menschenthum! Seid ihr Christen? Nicht einmal Juden sprechen vom Menschenthum! Mensch ist dem Juden Goim, Heide! Auch die Juden leben nur in der Ordnung und Harmonie geoffenbarter Zustände! Ein Gottesacker hat nach unserer Lehre eine Segnung empfangen, die ihn zu einer Gemeinde macht, wo sogar die Todten den Herrn lobpreisen, sogar die Todten im Chore stehen und, wenn nicht früher, doch am Auferstehungstage um einen dann errichteten Altar wandeln werden, an dem ein anderes Bekenntniß nicht theilhaben kann und mag es selbst ein solches sein, dem nicht die ewige Verdammniß zuzusprechen ist. Wie ist das so leicht gesagt: Intoleranz! Werdet ihr auf euern Bällen Gäste haben wollen, die ihr nicht einludet? Werdet ihr an euern eigenen Altartischen Andersgläubige dulden? Die katholische Kirche will ja nur bei den Todten wie bei den Lebenden »unter sich« sein! Oder hört euch die Religion mit dem Begräbniß auf?

Sprecht! donnerte Hunnius hinterher, gerade wie in seiner Kirche, wo er natürlich Schweigen voraussetzte.

Bennrath von Nennhofen griff den Faden auf und führte ihn weiter.

Was erleben wir nicht alles in unserer nächsten Nähe! sagte er mit gemäßigterm Tone, aber nicht minder sicher und spitz und scharf. Ich will davon nicht sprechen, daß nun draußen wieder unsere eigenen Landeskinder und Mitbrüder mit dem bunten Rock, den sie eben tragen, ganz das Kleid ihrer Heimat, ihrer Familie, ihres Glaubens ausziehen und in die Gemeinschaft des großen protestantischen Ganzen treten müssen, ich möchte sagen, wie die Polen, die russisch commandirt werden! Ich sehe diese Offiziere wieder, diese Enckefuß und andere uns wohlbekannte Söhne von Beamten oder Offizieren! Es wird noch die Zeit kommen, wo diese armen Seelen in die ketzerischen Garnisonskirchen commandirt werden, zunächst nur anstandshalber, weil ein Austreten aus Reih und Glied militärisch zu auffallend wäre! Ich sehe sie auf den Bänken, wo ihnen die Divisionsprediger das Licht ihres sogenannten Evangeliums aufstecken wer den, dies Lichtstümpfchen, das die in Goldschnitt gebundene neue Agende des Landesvaters beleuchtet! Wo man hinblickt, irgendein Schmerz für unsere liebevolle Mutter, die Kirche! In unserer ganzen Armee gibt es keinen einzigen General unsers Glaubens; ich kenne nur einen einzigen katholischen Obersten, es ist ein englischer hier in unserer, Nähe! Zu höhern militärischen Graden gelangen unsere Brüder und Verwandte nicht! Nicht minder in der Bureaukratie! Und welche Macchiavellismen! Weil sie auf unsere menschliche Schwäche rechnen, werden überall gleichsam Preise ausgestellt für die, welche sich gefügig zeigen! Ist eine Pfründe einträglicherer Art erledigt, so läßt man ihre Besetzung monate-, ja jahrelang anstehen, um den Wetteifer dafür zu entzünden, daß man sie sich durch die Gesinnung erobere! Ist es dann wol ein Wunder, daß wir ganz durchwühlt sind von der wie die bunten Adern durch ein Marmelgestein sich hinziehenden Protestantisirung? Die Beamten heirathen unsere Schwestern, Nichten, die Töchter unserer Angehörigen! Wo eine reiche Hand zu vergeben ist, gewinnt sie sich einer von drüben. Selbst in der Residenz des Kirchenfürsten ist der Schwager unsers hochherzigen, scharfsinnigen kanonischen Streiters, des Herrn Dominicus Nück, ein Protestant und wird, wie Pater Sebastus dort uns berichtet, infolge seiner gemischten Ehe demnächst eine Tochter im hochmögenden Piter Kattendyk'schen Hause bestimmen, protestantisch taufen zu lassen! Ja selbst von dem heiligen Lande Oesterreich, einem Lande, das mehr als Würtemberg verdient sich Gottes Augapfel zu nennen, muß unserer rechtgläubigsten Provinz drüben das Geschick drohen, die reichsten Länder, die Besitzungen der Dorste-Camphausen, an die protestantische Linie der Salem-Camphausen übergehen zu sehen! Was bleibt uns übrig? Gewalt gegen Gewalt!

Dies Wort lehnte man ab.

Ein Kaplan warf ein:

Unsere Gewalt ist nur das Wort!

Das Wort war bei Gott und Gott ist das Wort! rief Hunnius. Es ist der Geist, die Gesinnung und deren öffentliche Bewähr! Erheben wir uns aus unserer Schlaffheit! Ziehen wir den Harnisch des Glaubens an! Seien wir gerüstet und verschmähen wir selbst die kleinere Waffe nicht! Bedrängte Belagerte greifen zu allem, was helfen kann! Ich empfehle Ihnen jetzt die Vorschläge, die Pater Sebastus uns aus den nähern Umgebungen des Kirchenfürsten bringt!

Nur diejenigen beobachteten unausgesetzt den schweigsamen Franciscanermönch, die mit ihm heute noch nicht an der Tafel des Dechanten zusammengetroffen waren. Er ergriff auch jetzt noch nicht das Wort, sondern hielt den geschorenen röthlichen, wunderlich geformten, mit Schrammen und Narben bedeckten Kopf in die Hand gestützt und ließ statt seiner seine eigenthümlich hellen, fast schwimmenden Augen, dann einige Zettel sprechen, die herumgingen und die Mittel enthielten, die man anwenden sollte, um den kirchlichen Oppositionsgeist zu mehren. Vorzugsweise wurde die schon vor Ankunft des Dechanten besprochene Stiftung einer neuen Bruder- und Schwesterschaft des Athanasiusvereins und gerade zur Erinnerung an einen um den Glauben bedrängten, flüchtigen, verfolgten, hier zu Lande liebevoll aufgenommenen Kirchenlehrer wieder aufgenommen ... Die Regierung hatte schon lange ein mistrauisches und abgeneigtes Auge gerichtet auf die große Zahl geistlicher Vereine, die scheinbar nur dem gottseligen Leben und einer gegenseitigen sittlichen Aufsicht gewidmet waren, mehr aber noch eine Organisation des Zusammenhangs auch für oppositionelle Zwecke wurden. Es ließ sich voraussehen, daß dieser neue Athanasiusverein von obenher den entschiedensten Anstand finden mußte.

Der Dechant hörte allem, was zur Durchsetzung dieser wichtigen Angelegenheit in hiesiger Gegend nun beschlossen werden sollte, nur seufzend zu und war um so mehr zerstreut, als er nur immer offen vor sich ausgebreitet seine Brieftasche liegen hatte, die er an solchen Conferenztagen schon frühmorgens mit Fünf- und Zehnthalerscheinen zu füllen pflegte, um nur immer schnell durch seine Spenden zu den Gemeinzwecken sich vom Reden oder ausdrücklichen Beistimmen loszukaufen. Er hatte diese Klagen schon so oft gehört! Er hatte sie so oft gelesen! Er war auf zehn Exemplare des »Kirchenboten« abonnirt! Er kannte diese immer gleiche Rhetorik der Römlinge! Er kannte den Inhalt dieser verbotenen Broschüren und las sie nicht mehr. Von allem, was man an Thatsachen vorbrachte, gab er die Hälfte zu, aber die Erledigung der andern schien ihm ganz an einer andern Stelle zu liegen als im fernen Rom. Heute, wie man nun sogar von fehlenden katholischen Obersten sprach, mußte er gar auflachen und sagen:

Aber ihr wunderlichen Leute! Ihr überlegt gar nicht, ob in unsern katholischen Adels- oder Bürgerfamilien überhaupt das Bedürfniß da ist nach einer öffentlichen Bewähr, das Bedürfniß des Emporsteigens nach Ehrenstellen und Auszeichnungen! Wo ich noch hinsah und ich habe die Jahre, hingesehen zu haben, haben wir hier zu Lande und drüben unsere eigene Art, uns das Leben zu gestalten! Am liebsten hocken wir auf unserer Hufe und suchen das nicht, was wir demgemäß auch nicht finden können.

Wenn ihn Hunnius widerlegen wollte, so störte diesen jetzt das allgemeine Aufstehen aller, um die Zeichnung zu sehen, nach der zehntausend zinnerne Medaillen gegossen werden sollten. Der Mönch hatte die Zeichnung mitgebracht: Maria mit dem Kinde öffnet ein Gitter, hinter welchem ein Bischof, es sollte Athanasius sein, gefangen sitzt ... Der Mönch war dabei aufgestanden und zeigte sich von einem langen, magern Wuchse. Die braune Kutte, von der weißen Gürtelschnur festgehalten, ging bis zu den nackten, nur von einer Sandale geschützten Füßen. Es war viel, daß der Mönch sich jetzt zu einigen Erläuterungen herbeiließ. Er hatte bisher ab und zu nur seinem Glase zugesprochen, hatte eine Cigarre nach der andern von einem vor ihm stehenden Teller, der deren eine Anzahl enthielt, weggeraucht und immer geschwiegen. Sein Schweigen war gebieterisch. Es sagte zu denen, die da sprachen, fast soviel als: Entwickelt euch! Steckt getrost eure kleinen Lichter auf, bis Ich kommen werde!

Pater Sebastus mochte etwas mehr oder weniger als dreißig Jahre zählen. Je länger er saß, rauchte oder trank, desto blasser wurde er. Alle wußten, daß der Gast ein Convertit war, eine hohe Bildung genossen hatte, mit Feuer und Geist schriftstellerte und in der Residenz des Kirchenfürsten seit kurzem zu hoher Anerkennung gekommen war. Wenn die weißen länglichen Finger der magern, doch hübschen Hand zuweilen auf dem Tische leise trommelten, so war es, wie im Takt zu einem inwendigen Rhythmus seiner Gedanken, die laut gesprochen ohne Zweifel bedeutsam gewesen wären. Als er jetzt mit einer eigenthümlich leisen, fast heisern, aber außerordentlich sichern Stimme zu sprechen anfing, bot Hunnius allgemeine Ruhe. Jeder setzte sich, und selbst der Dechant war gefesselt von einer Weise, die ihm heute an seiner Tafel bei der Redseligkeit seiner übrigen Gäste weniger aufgefallen war.

Einige Mitglieder unsers hochwürdigsten Domcapitels, begann fast silbenzählend Pater Sebastus, wohnten kürzlich einer Vorlesung bei, die von einem der auf der nahe gelegenen Universität angestellten und zu diesem Zweck herübergekommenen jüngern Professoren vor einem gemischten Kreise der Residenz des Kirchenfürsten gehalten wurde ...

Der Mönch pausirte. Er zerdrückte die Asche seiner Cigarre und legte diese fort.

Der Gegenstand derselben – fuhr er fort –

Das zufällige Rücken eines Stuhls schien ihn zu stören. Er sah nach der Gegend des Geräusches und wiederholte, während Hunnius ein scharfes St! wie auf seiner Kanzel beim zu frühen Nasenputzen ertönen ließ:

Der Gegenstand derselben war an sich ein unverfänglicher, ließ aber einen historischen Rückblick auf die Kämpfe der Welfen und Ghibellinen zu.

Pater Sebastus stockte von neuem. Aber ein Blick rundum bewies ihm, daß alles jetzt in einer Weise an seinen Lippen hing, wie er dergleichen noch vielleicht von Göttingen, wo er docirt haben sollte, gewohnt war ...

Der Redner, fuhr er mit immer gleicher Gelassenheit, doch pointirt und fest fort, sprach in einer Stadt, die fast ausschließlich nur unsern Glauben bekennt; und doch hatte er jenen Standpunkt, den die protestantische Wissenschaft mit der ihr eigenen Einseitigkeit für die Würdigung des Mittelalters aufgebracht hat. Alles, was in einem Zusammenhange mit Rom steht, ist nach dieser Lehre Tyrannei und Finsterniß; alles, was dagegen die deutschen Kaiser wollten, ist Vernunft oder Freiheit. Dem anwesenden überwiegenden Theil der Gesellschaft, den Damen, war der von dem Professor entwickelte Gegensatz völlig unbekannt; so dämmern jetzt die Gemüther in ihren wichtigsten Lebensfragen hin! Sie nahmen die Welfen für den unheiligen, teuflischen Gegensatz der Ghibellinen, diese für die lichtreine, sonnenhelle Partei; dort herrschte nur der finstere Ahriman, hier der lichtstrahlende Ormuzd. Mönchthum, Pfafferei, Sonderbündlerei, Hierarchie sind die Kennzeichen der Welfen; Aufklärung, Ordnung, nationale Hoheit und Größe die der Ghibellinen. Rom soll die natürliche Residenz nur der Nachfolger Karl's des Großen und des Julius Cäsar sein. Die Hohenstaufen sollen nichts als nur die Befreiung der Welt von den Anmaßungen der Hierarchie bezweckt haben. Daß die Welfen in Italien vor allem ihr Vaterland vertheidigten, daß sie sich in einzelne Städte und Genossenschaften trennten, um nicht durch die Unterwerfung unter Einen die eigenthümlich bedingte, jahrtausendjährige Freiheit des väterlichen Bodens zu verlieren, daß dabei der Priester, wie immer, der Freund und Beistand des einzelnen gegen den Druck der Masse blieb, der Priester der Freund und Beistand der bangen Seele gegen die Anfechtungen der Welt, der Priester derjenige, der noch auf dem letzten Gange zum Schaffot den Verbrecher begleitet und wenigstens noch vor Gott, nachdem die bürgerliche Genossenschaft ihn längst ausgestoßen hat, sein Anwalt bleibt, ja daß diese geistliche Hülfe den Bedrängten auch in den politischen Nöthen beisprang und sich Vaterland, Freiheit und Glaube gegen die Anmaßungen der fremden Eindringlinge hochherzig verbunden hatten – dafür, ich sage dafür hatte der Redner keine andere Ausdrucksform als die bei der jenseitigen Wissenschaft übliche geringschätzende und verdächtigende ...

Der Mönch hielt einen Augenblick wieder inne, alles horchte gespannt, selbst der Dechant.

Ruhig und mit immer sich gleichbleibender Stimme fuhr der Franciscaner fort:

Gut! Die Vorlesung lenkte wieder ein, kam auf Unverfängliches, war vorüber. Die Offiziere, Beamten, Damen waren entzückt. Doch zugleich entstand um die Herren vom Kapitel, die sich sogleich entfernt hatten, ein von Vorwürfen und Ausbrüchen des Unwillens gemischtes Murmeln. Die Veranstalter dieser Vorlesung wurden von gesinnungsvollen Personen zur Rede gestellt und ohne Zweifel wär' es, wie billig, zu Erörterungen gekommen, die die gedankenlose Nachahmung solcher inhaltleeren nordischen Residenzgenüsse verdient hätte, wäre nicht der Gegendruck der Anwesenheit unserer weltlichen Oberbehörden und der hohen Militärs zu stark gewesen. In einigen Abendcirkeln, zu denen ich zugelassen zu werden mir zur besondern Ehre rechnen darf, kam die strenge Unterscheidung, die die Geschichte zwischen Welfen und Ghibellinen aufgestellt hat, zur Sprache und es stellte sich heraus, daß wir uns eigentlich alle noch auf dem Standpunkte jener wilden und blutigen Tage befinden. Ist nicht jede Erfahrung, die wir in unsern täglichen Conflicten machen, eine Bestätigung, daß dieser unselige Kampf immer noch nicht ausgekämpft ist? Das Ghibellinenthum ist der Herrscher des Tages. Die Gewalt nicht der Fürsten und Herren etwa allein, sondern des bureaukratischen Staats ist der siegreiche Hohenstaufe, der überall in unzugänglichen Felsenburgen thront. Verwaltung, Unterricht, Erziehung, Wissenschaft, Gewerbe, Börse, Handel, alles hat die ghibellinische Färbung angenommen, die Färbung der Centralisation, des Aufsaugens aller Säfte und Kräfte der Gesellschaft. Was ist diesem Mechanismus noch der Mensch? Der hat nur noch Werth, soweit er Bürger ist! Und um ihm das Gefühl nicht ganz zu rauben, daß sein Dasein auf diese Art seinem wahren Zusammenhange mit Gott und der Natur entrückt wird, hat man ihm auch zur Noth noch einige religiöse Veranstaltungen gelassen, eine Kirche, einen Geistlichen, die Formen eines alten Cultus; man gibt sich die Miene, diese Veranstaltungen, ob man sie gleich im geheimsten Einverständniß für überlebt erklären müsse, doch heilig halten zu wollen und sogar vor Anfechtung zu schützen; und doch, bei jeder Frage, die nur irgendeine des Lebens ist, bei jedem Zusammenstoß zwischen dem Ewigen und dem Irdischen hat die Gewalt des Irdischen die Oberhand. Wir sind, wo wir hinblicken, in gröberer wie in feinerer Form, durch und durch ghibellinisirt ... So ist denn erklärlich die von keiner äußern Veranstaltung, sondern aus einem natürlichen Drange der Gläubigen aller Zonen ausgehende Bewegung unserer Zeit, innerhalb nicht nur unserer, sondern aller Kirchen, die unter Staatsbevormundung stehen, sich ihr eigenes, selbstbestimmtes und selbstbestimmendes Leben wieder zurückzugewinnen. Das neue Welfenthum ist es in den Abendcirkeln Sr. Eminenz offen und ehrlich genannt worden. Wie sogar die protestantische Kirche, wenn sie diesen Namen verdient, sich täglich mehr ablöst und ablösen wird von dem Staate, dem sie freilich dafür in seinen übrigen Nöthen und Bedürfnissen hülfreiche Hand zu leisten verspricht, so hat vor allem die katholische ihren innigsten Zusammenhang wiederherzustellen mit Rom. Thörichter Wahn, der in dieser Forderung nur Botmäßigkeit unter ein herrschsüchtiges Priesterthum und eine fremde Autorität sieht! Rom ist und war und bleibt zu allen Zeiten der Ausdruck des Ewigen, Unvergänglichen und im Wandel Wandellosen. Es ist die Warte der drei in sich verbundenen großen Festlandswelttheile. Es war die Königin der alten und mittlern Welt, es muß die Königin der neuen bleiben. Worauf gründet sich Roms Herrschaft? Auf Schlauheit italienischer Ränke? Auf Verdummung der Geister? Thörichte Anklage, die an den Grundfesten unserer Kirche gerüttelt zu haben glaubt, wenn sie die Schwäche der Menschennatur aufdeckte, die auch unter dem geweihten Kleide des Priesters sündige! Als wenn irgendeine Menschenseele ein ganz reines Gefäß für die Göttlichkeit der Ideen sein könnte! Als wenn die Ideen selbst etwa darunter leiden könnten, daß ihre Träger dem allgemeinen Menschenloose erliegen müssen! Daß ein Bekenner strauchelt, entwürdigt das sein Bekenntniß? Daß Priester unvollkommen sind, entwürdigt das das Sakrament, dem sie administriren? Rom ist das Ewige in der Geschichte! Rom ist die Zunge an der Wagschale der Welt! Rom ist, gerade als wenn es auch nur deshalb die Bewegung der Erde geleugnet hätte, ihr fester Grund, ihre granitene Wurzel, ihr Compaß, ihr Steuer auf dem schwankenden Meere steter Neuerungen und Revolutionen! Was vertritt denn seine Anmaßung? Was gewährt denn die heilige Roma den Völkern? Das ewige Heil im zeitlichen Unheil! Die Blöße und Hülfsbedürftigkeit des natürlichen Menschen allen Purpurgekleideten der Erde gegenüber! Die Schöpfung des Menschen, das Paradies, die diesseitige und jenseitige Hoffnung aller Erdgeborenen gegenüber der millionenfachen Verdrehung unsers Erdenberufs durch millionenfache zu dringenden Nothwendigkeiten gewordene Zufälligkeiten! O du heilige untheilbare, ewige Kirche! Stehe fest in deinem gegliederten Bau! Bist du nicht selbst wie der hohen gothischen Dome einer? Gegründet bis an die Tiefen der Hölle, mächtig dich erhebend auf der Form des Kreuzes, himmelanstrebend in ewiger, wolkenverlorener Sehnsucht! Musik ist das Zusammenspiel deiner schönen Formen! Einheit das majestätische Bekenntniß deiner Theile!

Sie strebt empor durch Drang und Zeit,

Muß himmelan sich ringen,

Und schafft ein Werk der Ewigkeit

Und läßt sich nicht bezwingen!

In deinem Sinne, heilige Roma, wollen wir wahr sein, aber der Lüge gegenüber auch eure Waffen führen! Im Schatze der Gnaden ruht Entsühnung! Krieg! Krieg! ruft die Posaune des Erzengels. Im Kriege kennt die Noth kein Gebot! Jede Waffe ist gerecht, die den Gegner abwehrt! Daß der Zweck die Mittel heilige, ist nicht für den Kampf mit den Guten, sondern für den Kampf mit den Bösen gesagt! Ahmen wir vor allem die Ordnung eines Kriegsheeres nach: Gehorsam dem Obern; Achtung vor jeder Waffe, auch wenn sie eine geringere scheint, als die wir selbst führen; Achtung vor jedem Ruhme, auch wenn er unsere eigenen Verdienste überschattet! Bekämpfen wir in uns selbst die Abneigung gegen die Vorkämpfer der kirchlichen Freiheit, gegen die Mitglieder der Gesellschaft Jesu! Bieten wir denen, die in ihnen ihre unerbittlichsten Feinde sehen, dadurch keinen Beistand, daß wir die alte Eifersucht der Orden, der Kloster-und Weltgeistlichen auflodern lassen! Wo uns die Hände gebunden sind, sind sie jenen, den letzten Rittern vom Kreuze, frei! Die streifen noch ungefesselt über die Länder hin, gebunden durch kein Amt, kein Klostergelübde; sie sind die berittene Schar, die angreift und flieht zu gleicher Zeit, wie einst der Parther kämpfte! Bieten wir alles auf, daß den Jesuiten die Thore des Eingangs geöffnet werden! Sie ertragen alles, sie gehen, sie gehen noch einmal und kommen wieder! Wo ein Amt leer ist, eine Kanzel frei, ein Beichtstuhl geöffnet, lassen wir den Vätern der Gesellschaft den Vortritt! Ob alle diese Dinge reifen sollen bis zu offener Gewalt, darüber sind die Meinungen getheilt. Die einen fürchten und suchen die Erhebung der Massen zu verhüten, die andern fürchten sie nicht und wollen sie. In den Umgebungen des Kirchenfürsten herrscht die Meinung, daß offene Gewalt bisjetzt alles verderben würde. Denn auch darin spräche sich die durch und durch ghibellinisirte Welt aus, daß Handel und Gewerbe, sogenannte Volkswohlfahrt und geregelte Ordnung dem Jahrhunderte, wie es jetzt einmal ist, über alles gehe; denn von den Fleischtöpfen Aegyptens wollen sie nicht lassen und sollten sie auch ewig nur die Ziegel streichen zu den Ruhmessäulen ihrer Pharaonen! Im Gegentheil wünscht die Umgebung des Kirchenfürsten, daß wir alles, was nicht ein Mit-Uns ist, auch als ein Fürsten-Wider darstellen, d.h. eine Förderung der Revolution nennen. Das ist das schlagende Argumentum ad hominem der Zeit! Kämpfen wir gegen die Neuerungen des sich souverän dünkenden Menschenverstandes, so öffnen sich uns die Pforten der Thronsäle auch im jenseitigen Lager, wir werden eingeholt werden mit Triumphpforten als die Retter des Gesetzes und der Ordnung! Dieser Feldzug geht langsam, aber sicher. Halten wir am Geiste fest, fördern wir den vor allem! Denn »wer auf den Geist säet, wird von dem Geiste das ewige Leben ernten«!

Der Redner war schon bei seinem Gebet an die Kirche aufgestanden und alles, selbst den Dechanten nicht ausgenommen, seinem Beispiel gefolgt ...

Man schüttelte ihm die Hand, ertheilte ihm die größten Lobsprüche und raunte sich zu, daß nun wohl erklärlich wäre, wie dieser einfache Mönch plötzlich in der Residenz des Kirchenfürsten hätte zu so hohem Ansehen gelangen können. Man erklärte sich bereit, den Athanasiusverein zu verbreiten und dies zu wagen auch ohne Genehmigung der Behörden. Man versprach die Medaillen in reichster Anzahl auszutheilen und bestellte die Zahl, die jeder davon in Vorrath zu haben wünschte.

Auf dem Teller, von dem die Cigarren weggestrichen wurden, sammelte man die zur Herstellung nöthigen Beiträge.

Jeder gab nach Vermögen, der Dechant, wie immer, die Hälfte soviel wie alle andern. Der Ertrag wurde dem Pater Sebastus übergeben. Ein Zinngießer der kirchlichen Residenz hatte Verschwiegenheit gelobt und versprochen, die Medaillen zu einer bestimmten Zeit abzuliefern. So trennte man sich ...

Es war Abend geworden ...

Beim Durchschreiten eines langen Corridors, der an die Hausthür zurück und zu den inzwischen immer noch lebendig gebliebenen, ja wie vom Jahrmarktsgewühl durchwogten Straßen führte, erfuhr der Dechant, daß der, wie es schien, als Wegbereiter kommender Jesuiten wirkende Pater Sebastus dem Kloster Himmelpfort bei Witoborn angehörte. Seines frühern Namens hieß er Heinrich Klingsohr.

Er dachte an seinen anonymen Brief –

Huß, Savonarola, Arnold von Brescia –

Als er, magisch umwoben vom abendlichen Dämmerlicht, zur Dechanei zurückkehrte, läuteten ihm die Glocken seines Domes wie zur Andacht in einer unsichtbaren Kirche droben über den Sternen. Wie er in die schon erleuchteten Fenster seiner Wohnung hinaufsah, rang sich ihm mit Schmerz der Seufzer von der Brust:

Fiat lux in perpetuis!

8.

Die Beraubung des Grabes auf dem Friedhof zu St.-Wolfgang war inzwischen in der Dechanei, wie in ganz Kocher am Fall bekannt geworden.

Grützmacher war auf schweißgebadetem Roß zurückgekehrt, hatte aber den muthmaßlichen Thäter nicht ergriffen.

Auch daß Bonaventura vielleicht noch den Abend in der Dechanei eintreffen würde, war durch Hedemann bekannt geworden, der auf einen Augenblick daselbst vorsprach und die von Angelika Müller erhaltenen, von Benno, dem zu sehr in Anspruch Genommenen, wieder zurückempfangenen Briefe für den Dechanten an Windhack übergeben hatte.

Kein Oberst, kein Benno, kein Thiebold, niemand sonst ließ sich vor Antheil an den Vorgängen in der Stadt sehen, sodaß Lucinde der Frau von Gülpen die räthselhaften Vorgänge allein erzählen mußte, ja wiederholen, mehrfach wiederholen, da die Theestunde geschlagen hatte und einige Freundinnen der gastfreien Frau schon im lebendigsten Mittheilungsgenuß um den siedenden Kessel versammelt saßen.

Zur Justizräthin von Nietnagel, zum Stiftsfräulein von Minnerich und wie sie alle hießen, die entweder in Kocher selbst wohnhaft waren oder zu jener Landeswohlthat (nach andern Landesplage) gehörten, die die Reihe herum immer auf der Wanderschaft bei ihren Lieben und Guten begriffen sind und das schöne Talent des Sich-Einwohnens und Nothwendigmachens des Jahres bei einem halb Dutzend Familien schon seit dreißig Jahren besitzen, gesellte sich zuletzt auch der tieferschütterte Dechant.

Auch er erfuhr nun die unheimliche Kunde und gab dadurch Lucinden Gelegenheit, ihren Bericht zum fünften oder sechsten mal zu wiederholen, sich aber auch zugleich in lebhafter Weise ihm selbst zu empfehlen. Lucinde, die das Wohlgefallen des Greises an seinem wiederholt prüfenden Blick sogleich bemerkte – sie war zwar noch in ihren Reisekleidern, hatte aber manches Krägelchen, manchen Spitzenschmuck zur Hebung ihrer Erscheinung zu benutzen verstanden und besonders schön stand ihr die eigenthümliche thurmartige Krone ihres stattlichen Haares –, suchte sich den Schein der größten Ungefährlichkeit zu geben. Sie wollte sich nur nützlich machen. Sie servirte den Thee wie eine Dienende. Schon erntete sie manchen heimlichen Wink des Beifalls, den Frau von Borchardt an Frau von Nietnagel, diese wieder an Fräulein von Minnerich und Fräulein von Minnerich an die »treue Freundin«, Frau von Gülpen selbst weiter gab. Windhack erinnerte an die Briefe, die Hedemann gebracht; der Dechant wollte jetzt nichts davon wissen, er wollte ruhig »seine Tasse Thee« trinken, d.h. die Gestalt und den ausdrucksvollen, den Kenner der Antike fesselnden Kopf derjenigen bewundern, die den Thee credenzte.

Windhack konnte, da er Grützmachern gesprochen hatte, von der vergeblichen Verfolgung des Knechtes aus dem Weißen Roß berichten.

Oben auf der Höhe des St.-Wolfgangsberges, erzählte er, hatte ihn Grützmacher und seinen Wagen fast erreicht. Da aber springt der Mensch herunter vom Wagen, läßt alles im Stich, flüchtet in den unwegsamen Wald und Grützmacher hat halt mit seinem Gaul vorläufig das Nachsehen ...

Nun kam die Majorin Schulzendorf. Auch sie kam in der ganzen Eile und Aufregung, die nichts zu versäumen wünschte und vor Thatsachen, die sie so lange zurückgehalten hätten, sich nicht zu lassen wußte ...

Erst der Leichenräuber und – ei – ei, daß sie fast vergessen hätte, dem liebenswürdigen Dechanten für das wunderschöne, prächtige Obst zu danken – –

Bitte! Bitte!

Köstliche Birnen ... Na heute Abend, der große Zapfenstreich ...

Der Leichenräuber? ...

Nun, nicht wahr? Aber mein Mann vermuthet schon einen gewissen Bickert, einen Menschen, der jahrelang in Frankreich im Zuchthause gesessen hat, dann über die Ardennen herübergekommen ist, bald da, bald dort herumstreift, mit einer ganzen Bande zusammen im Hundsrück die Roßtäuscherei getrieben hat, rotzkranke Pferde für gesunde aufputzt ... danke, danke, meine Liebe! der Thee macht mir noch zu heiß! Ein Stückchen von Ihrem Kuchen – Delicat!

Auf dem Lande und in kleinen Städten gewöhnen sich die Menschen an alles Natürliche und Thatsächliche. Sie können von Krankheiten der Thiere mit demselben Interesse reden hören, wie man in großen Städten nicht einmal von den Krankheiten der Menschen spricht. Der Major war selbst Pferdehändler. Seine Gattin spann seine Vermuthung über die Gefährlichkeit dieses Bickert selbst bis auf eine Schilderung der Künste aus, wie man den sogenannten Rotz auf einige Tage scheinbar beseitigen kann.

Mitten in diesem Fragen, Berichten, Wundern kam auch der Major ...

Es war eine hagere, mehr bureaukratische als militärische Erscheinung. Er trug Uniform, doch saß sie ihm nicht so stramm und geschlossen, wie man hier in den militärischen Kreisen sich zu zeigen gewohnt ist. Als Candidat der Theologie war er 1815 unter die Fahnen seines Königs getreten und hatte eine Carrière gemacht, die jetzt gewissermaßen wieder in ihre frühere moralische, wenigstens civile Bestimmung zurücklenkte. Als Lieutenant von der Armee abgegangen, war er bei den Gensdarmen allmählich bis zum Major gestiegen und griff nun in Gesetz und Ordnung als Chef eines rings zerstreuten, den Landräthen und Regierungsämtern zur Verfügung gestellten Gensdarmeriecorps ein. Man sollte kaum glauben, daß ein ehemaliger Lateiner so ganz im Berittenen, namentlich im Pferdehandel, aufgehen konnte, wie Schulzendorf, obgleich er immer noch etwas Gelehrsamkeit in Bereitschaft hielt. Seine grauen Augen bekamen oft ein lebhaftes Feuer; um die spitze Nase legten sich aufs blasse Antlitz zwei lange mephistophelische Furchen; der Bart auf der Oberlippe zuckte in allen seinen dünnen grauen Härchen; das Kinn, das in der Mitte gespalten war, streckte sich mit einer Entschiedenheit, die ganz in seinen Charakter des Schlauen und Gekniffenen paßte.

Sogleich warf er einen scharfen und prüfenden Blick auf die ihm als Nichte der Frau von Gülpen vorgestellte Lucinde.

Waren Sie schon früher in unserm Kocher hier? fragte er sie, als sie ihm den Thee credenzen mußte.

'S ist das erste mal! antwortete sie, den Blick niederschlagend.

Sie finden eine kleine Stadt, in der leben zu sollen Ihnen sehr langweilig vorkommen wird! warf artig der Dechant ein.

O! bemerkte Frau von Gülpen, acht Tage läßt es sich schon in Kocher aushalten!

Lucinde wußte bereits, daß alle Nichten anfangs sogar nur auf drei Tage kamen.

Die Majorin verzog ein wenig spöttisch die Miene. Der Major aber, in jener beflissenen Weise, die den Ghibellinen im Lande der Welfen nur zu oft ihre Schreckhaftigkeit nimmt, ging ganz auf die Aeußerung der Frau von Gülpen ein und sagte, wenn auch mit einer etwas anzüglichen Betonung:

Die Kirchen hier sind uralt; noch älter ist aber die Synagoge, die Sie sich einmal ansehen müssen! Die Stadt Kocher ist schon vor Pontius Pilatus angelegt gewesen und gewiß eine jüdische Colonie! Ursprünglich hieß sie ohne Zweifel Koscher, die Reine!

Hielt der Major Lucinden für eine Jüdin?

Alle Anwesenden fixirten Lucindens Erscheinung ...

Indessen lenkte der Major auf andere Fährte. Er kam auf das Interesse, das nach solchem Ursprung gleich die ersten Christen für Kocher gehabt haben müßten und führte die kirchliche Bedeutung der Stadt bis auf die neuesten Erscheinungen herab.

Lucinde hatte ihr goldenes Kreuz nicht angelegt. Sie begriff sehr wohl, daß der Major auf ihren Uebertritt anspielen wollte und senkte den Blick wie eine Fromme.

Sie ist fromm! war nun das einstimmige Gefühl aller Anwesenben und, seltsam genug für die Wohnung eines Geistlichen, Lucinde verlor plötzlich bei Frau von Gülpen sowol wie bei Windhack. Nur dem Dechanten gewährte diese Entdeckung einen neuen Reiz. Eine Fromme hatte ihm die langjährige alte Freundin noch niemals vorgestellt.

Man verlor sich indessen in Klagen über Wilddieberei, Unsicherheit der Gegend, Aufsätzigkeit der Landbewohner und, wie das dann geht bei einem Damenthee, man fand das Uebel lediglich in den Dienstboten.

Die gleichfalls dann in ihrem Einfluß auf das Volk angeschuldigten Juden rechtfertigte der Dechant mit den Worten:

Warum läßt unser Leben so viel Lücken offen, daß ein Verschmitzter überall hineinschlüpfen kann! Die Juden sind durch uns selbst ein Volk geworden, das seine Tugenden darin finden muß, unsere Fehler zu benutzen! Wir sind, soweit man die Geschichte überblickt, die Opfer ihrer subtilen Rache geworden und werden es noch immer mehr werden!

Sie sprechen fast wie Grützmacher! sagte der Major. Der kann nie entdecken, wo die Hasen-Jette ihre Rebhühner und Hasen herbekommt!

Indem bekam Frau von Gülpen von dem immer nur leise und behutsam auf den trotz des Sommers ausgebreiteten Teppichen hin und wieder gehenden Windhack eine Meldung ins Ohr geflüstert.

Sie flößte ihr einen ersichtlichen Schrecken ein.

Was ist? fragte man allgemein und voll Theilnahme und Spannung.

Frau von Gülpen stockte, sagte dann aber mit einem Blick der Besorgniß auf den Dechanten:

Treudchen Ley will nach Hause ... der Mutter wäre es schon wieder ... Chère nièce ... gehen Sie doch zu Treudchen und erkundigen Sie sich in der Geräthkammer – oder ich will doch lieber selbst gehen ...

Treudchen Ley schien alle zu interessiren und wohl vermuthete man: Windhack hatte eigentlich gemeldet, Treudchens Mutter läge im Sterben. Der Dechant war der Beichtvater der Kranken. Die Arme schleppte sich schon lange mit der Zehrung; ihr Ende stand ihr näher bevor, als sie es selbst und die Ihren ahnen mochten. Jetzt sah Frau von Gülpen, wie angegriffen der Dechant schon war von dem unruhigen Tage und seinen wechselnden Eindrücken – sie gönnte ihm die Erquickung eines ungestörten Abends – nun sollte er noch –

Aber schon erhob sich der Dechant. Wenn ihm auch die Bequemlichkeit über alles ging, so kannte er doch die Schicklichkeiten seines Amtes.

Ich werde zu der Armen gehen! sagte er.

Allgemein aber mußte man der Frau von Gülpen, die in die Geräthkammer gegangen war, Recht geben, daß sie noch geäußert hatte, diese Schreckensbotschaft von der guten Frau Ley wäre ja schon so oft gekommen und immer hätte die Dulderin sich wieder erholt, ja sogar es bereut, als sie in einem ähnlichen Anfall schon einmal die Wegzehrung erhalten und dann doch nicht gestorben wäre. Spendet auch die Kirche diese letzte Wohlthat gern in der Voraussetzung, daß sie nicht den Tod, sondern die Genesung erleichtre, so sparen sich die Sterbenden doch gern die hülfreiche Rüstung zum Eintritt in den peinvollen Vorhof des Himmels zu dem Augenblick, wo sie deren wirklich bedürftig sind.

Also rieth man dem Dechanten zu bleiben und Windhack, der der Frau von Gülpen in die Weißgeräthkammer, wo ein liebes zartes Kind, Treudchen Ley, den ganzen Tag über an neuen feinen Hemden gesteppt hatte, nachgegangen war, kam schon mit der Beruhigung zurück, Treudchen wäre zwar gegangen, hätte aber hinterlassen, sie würde sogleich schicken, wenn es nöthig würde.

Geschwister hat sie genug dafür! sagte Frau von Gülpen, die schon zurückkam ... Sie sagte dies ganz voll Mitleid, aber scheinbar ohne die mindeste Erregung.

Der Dechant beruhigte sich also.

Wissen Sie wol, lenkte er in ein inzwischen vom Major begonnenes Gespräch über Wilddieberei ein, wissen Sie wol, das Schmerzenslager unserer guten Frau Ley ist eine Folge der Wilddieberei?

Man wußte nur Einzelheiten davon. Während Lucinde den fortgesetzt forschend auf ihr ruhenden Blick des Majors bald fragend suchte, bald erschreckend vermied, erzählte der Dechant:

Ehe noch die Juden in Kocher am Fall den Muth gehabt hätten, an Christen von ihrer eigenen Metzgerkunst mehr zu verkaufen als Gänseblut ...

Allen Bewohnern von Kocher war gegenwärtig, daß die Hasen-Jette, Frau Henriette Lippschütz, die jetzige Wildprethändlerin, die Witwe eines einst auch von Christen stark in Nahrung gesetzt gewesenen jüdischen Metzgers war ...

Und ehe noch, fuhr der Dechant fort, die Blume der ganzen Judenschaft in Kocher am Fall, mein unvergeßlicher theuerster Busenfreund Dr. Leo Perl, zu unserer Kirche übergetreten war – er hat einst in Borkenhagen unsern guten Bonaventura getauft ... Sieh, sieh! unterbrach sich der Dechant selbst, – käme Bona noch, der Wunsch der Frau wenn sie stürbe wäre erfüllt; von ihm hätte sie am liebsten die letzte Zehrung empfangen ...

Frau von Gülpen stellte die Nothwendigkeit einer schon so nahen Gefahr und die Erfüllung jenes Wunsches, den Lucinde schon vorgestern aus dem Munde Grützmacher's kannte, wiederholt in Abrede ...

Kurz, vor langer Zeit schon, nahm der Dechant seine Erzählung auf, war der angesehenste Metzger hier im ganzen Orte Treudchens Großvater, der alte Petrus Ley. Als ich hierher an den Dom kam – auf Veranlassung hauptsächlich jenes, so früh dahingegangenen Seltensten der Menschen Leo Perl –, stand niemand unter seinesgleichen höher im Ansehen als Herr Petrus Ley. Eine Freude war's, den Mann in seinem stattlichen Hause unten am Fall zu sehen, wie er, über der Brust die weiße Schürze und mit dem Messer im Brustlatz, an seiner Schranne stand! Den Mann plagte aber plötzlich das Wohlleben, der Müßiggang und mit ihm, wie es auf dem Lande geht, die Jagdlust. Hatten entweder, wenn er über Land zum Einkauf von Schlachtvieh reiste, seine Hunde die Neckerei, Hasen aufzustöbern, die sie ihm zuschleppten – so erzählte er später selbst den Ursprung seiner Jagdlust – oder reizte ihn sein bürgerliches Wohlbefinden, er pachtete eine Jagd und wurde ein so leidenschaftlicher Jäger, daß ihm sein eigenes Gebiet nicht mehr genügte. Die Kugel, einmal im Lauf, sagt unser großer Schiller, ist verhängnißvoll! Sie fuhr auch für Petrus Ley heraus, wenn die Grenzmarke seines Geheges längst überschritten war. Ich mag nicht leiden, wenn ein Bäcker, der für tägliches Brot, meinetwegen Sonntags für Kuchen zu sorgen hat, sich zu feinern Näschereien versteigt. Ein Metzger, der dem Wild nachstellt und das dann zwar nicht aufhängt unter seine Rindsviertel und gespaltenen Lämmer, aber unter der Hand doch auch verkaufen muß, begeht fast eine Untreue an seinem Beruf. Ich will nicht sagen, daß sich sein Beruf rächte, aber Petrus Ley erlebte das Unglück, nach einer heißen Jagd, die ihn nicht wenig mitgenommen hatte, auf freiem Felde von einem Unwetter überfallen zu werden. Der Regen goß in Strömen. Kein Baum, kein schützendes Gestein. Das Wetter endete nicht. Darüber brach die Nacht an; die Nebel umspannen vollends die Gegend. Voll Unmuth wirft sich der reizbare, zum Jähzorn geneigte Mann auf die Erde und bleibt liegen bis zur Besinnungslosigkeit. Das Winseln seines gleichfalls halbtodten Hundes machte einen vorüberfahrenden Bauer aufmerksam; Petrus Ley wurde mit seinem Hunde vor dem immer fortströmenden Regen unter dem Stroh des Wagens geborgen. Herr und Hund kamen nach Hause, Ley aber wurde todtkrank und behielt von dem Tage an die Gicht in einem Grade, der sich aufs höchste steigerte und ganz unheilbar wurde. Der vermögliche Mann reiste in die Bäder und kam immer kränker zurück. Fast gelähmt an allen Gliedern, hatte er Schmerzen, die den Unglücklichen zum Gegenstand des allgemeinsten Mitleids machten. Wie oft hab' ich für ihn die Fürbitte gehalten! Fast immer im Bett liegend, mußte er die Führung seines Gewerbes seinem Sohn überlassen, der in keiner Hinsicht ihm ähnlich war. Ein träger und bequemer Mensch, hatte Joseph Ley die Früchte der Anstrengungen seines Vaters geerbt, liebte aber die Gesellschaft, das Kartenspiel, den Wein und vernachlässigte so sehr die ihm nun ganz allein übertragenen Geschäfte, daß sie zurückgingen und der zusammengekrümmte, auf seinem Lager stöhnende alte Vater Verwünschungen über Verwünschungen über den Buben, wie er ihn nannte, ausstoßen mußte. Joseph hatte selbst schon lange ein einst vermögendes Mädchen geheirathet, die Tochter eines angesehenen, nur mit zu viel Kindern gesegneten Landwirths. Das immerhin beträchtliche Eingebrachte derselben war bei dem Zurückgehen des Geschäfts bald verbraucht; die Kundschaft verminderte sich, die Concurrenten machten bessere Einkäufe. Alledem sah der von der Gicht krummgezogene Alte, der inzwischen Großvater geworden war, von seinem Lager mit Verzweiflung zu. Innerer und äußerer Schmerz folterten den Greis, der nicht mehr gehen und stehen konnte. Hörte man wilde und laute Verwünschungen aus dem einst so stattlich gewesenen, jetzt die Spuren des Verfalls tragenden Hause, so wußte man schon nicht mehr, waren es die Ausbrüche des Zankes mit seinem Sohn oder die Klagerufe des von seinen Schmerzen Gepeinigten. Dieser Zustand dauerte einige Jahre. Die Verlegenheiten wuchsen; das Haus gehörte schon nur den Gläubigern; Pfändungen folgten auf Pfändungen, und wie es zu gehen pflegt, das Verderben wird unaufhaltsam und wird es auch innerlich für den Charakter des davon Betroffenen. Joseph Ley verkaufte und versetzte ein Stück nach dem andern; die Frau, eine redliche, brave, treue Seele, mühte sich mit der Befriedigung des letzten Restes von Kundschaft, um nur die Kinder erhalten und erziehen zu können. Die Vergünstigungen der Armuthspenden in Empfang zu nehmen, war man noch, schien es, zu stolz. In der Nebenstube des Wohnzimmers, aus dem hinaus man in die jetzt fast immer leere Verkaufsflur trat, stand ein Bett mit Kattunvorhängen; rings von diesen eingeschlossen, um das Licht abzuhalten, das die trüben, rothen Augen des Alten blendete, lag der Alte. Da rückte man ihm eine Fleischbank hin, auf der er Speck und geräuchertes Fleisch schneiden half und Wurst hackte. Eines Tages fand man die Vorhänge sorgsam zugezogen; man öffnete; Petrus Ley hatte sich mit dem großen Messer, das immer in seiner Nähe lag, erstochen. Nun vollends war der Segen des Hauses dahin! Die blutige Gestalt des Großvaters verscheuchte jeden der letzten Kunden, auch die, die aus Mitleid noch gekommen wären. Mit Grauen und Ekel ging man an dem Hause eines Metzgers, der sich selbst erstochen hatte, vorüber, und sah man auch manchmal an der Thür noch ein einziges junges Lämmchen hängen mit ausgebreiteten, an Stecken befestigten Füßen, – die gute unglückliche Frau Ley putzte und scheuerte hellgelb die Haken, an denen einst die schweren Rinderviertel gehangen, die Wagschale blinkte so sauber durch die Fensterscheiben der Hausflurthür wie sonst, – drinnen sah es doch öde und leer aus. Joseph saß dann bald nur noch im Wirthshaus, trank und spielte. Die geistlichen Vermahnungen halfen nichts; es lag wie ein Fluch auf dem Hause, dessen gänzliche Verödung nur das Mitleid um die rechtschaffene Frau abwandte. Das haben wir ja alle erlebt, wie diese unheilvolle Kette an verderblichen Ringen immer reicher wurde! Die kleinen Kinder wuchsen herauf, halfen da und dort; der Vater hatte Augenblicke, wo er sich zusammenraffen wollte. War dann einmal ein Thier gekauft worden, war das ein Jubel von Frau und Kindern! Sie liefen in die ganze Nachbarschaft ringsum und verkündeten die frohe Mär: Der Vater hat ein Schwein geschlachtet! Was ließ sich dann thun? Man mußte den jüdischen Metzger Lippschütz, an den man sich unten am Fall schon gewöhnt hatte und zu dessen Praxis ohnehin diese eine Thiergattung nicht gehörte, übergehen und die arme Frau Ley glücklich machen, die dann freilich erleben mußte, daß der Mann, gleichsam um sich von einer einzigen großen That, dem Schlachten und Zurichten und Verputzen eines einzigen Thieres, auszuruhen, dann wieder im Wirthshause saß und durch erkünstelte Bravaden seine innere Zerfallenheit zu übertrotzen suchte. Sein Blick wurde wilder und scheuer, man mied ihn und je mehr die Theilnahme für die Mutter und die Kinder zunahm, desto vereinsamter fühlte sich ihr Mann, der Joseph. Die arme Frau lief oft sechs Stunden Weges zu Fuß über Land, um irgendeinen Ankauf zu machen; die Kinder folgten, und zu rührend war der Anblick, wenn sie dann ein Lämmlein oder ein taumelndes Kälblein die Landstraße dahertrieben und den Vater aus dem Wirthshause abriefen, damit er an dem auf Borg oder für ein Geringes Eroberten seine Kunst zeigte. Wir wissen alle, daß eines Tages am Pfosten des Schlachthauses nicht ein solches kunstgerecht ausgeweidetes Lämmlein, sondern der Joseph selber hing! Wie sein Vater war auch er aus der Welt gegangen; jener Selbstmord war aus Ungeduld und Stolz, dieser aus Furcht und Scham entstanden; sein Trotzen war eben nur, wie es geht, ein falsches Spiel gewesen. Dann wurde Meister Lippschütz Herr der ganzen Kundschaft bei den Gerbern und Färbern unten am Fall, bis auch der starb und seine Frau die Metzgerei nicht fortführen konnte. Das, Fräulein Schwarz, ist nun unsere Hasen-Jette, die Sie sehr oft auf unserer Dechanei sehen werden! Sie ist eine vortreffliche Frau, wenn auch der Major ihren geheimen Lieferanten nicht traut ... Nun stirbt die gute Frau Ley! Ich muß doch hinunter in die Stadt! Man kommt nicht wieder ... Gute Nacht!

Der Dechant erhob sich allen Ernstes. Sein gutes Herz hatte über die Bequemlichkeit den Sieg davongetragen.

Sein Entschluß wurde aber von einem heranrollenden Wagen unterbrochen.

Der Pfarrer von St.-Wolfgang! rief alles und Frau von Gülpen trat ans Fenster.

Es war aber nicht diese heiß von ihr ersehnte Ablösung für den Dechanten, sondern es waren die geistlichen Herren vom Diner und von der Conferenz. Windhack kam schon und berichtete: Sie hätten ihre Ueberkleider, Bücher, Regenschirme noch in der Dechanei zurückgelassen und wollten sich, da sie jetzt erst abreisten – bis um acht Uhr hatten sie Gelegenheit genug gefunden sich in Kocher am Fall zu zerstreuen –, alles in den Wagen nachreichen lassen.

Frau von Gülpen fürchtete, daß man nicht jedes da, wo sie es hingelegt hatte, finden würde und schickte auch noch Lucinden mit den nöthigen Anweisungen hinunter.

Windhack war schon vorangegangen. Ohnehin war er im Aufdecken begriffen. Nach dem Thee pflegte man in der Dechanei immer noch ein Nachtessen einzunehmen, das bereits aufgetragen wurde ... Man drängte inzwischen den Dechanten, die Botschaft Treudchens erst abzuwarten und sich zu beruhigen.

Bald hörte man, daß nach wenigen Augenblicken auch schon der Wagen unten wieder abgefahren war.

Eben machte der Major einige Glossen über die Anhäufung geistlicher Versammlungen, über die Unbesonnenheit, mit der man Zwecke zur Schau trüge, die böses Blut nach oben setzen müßten, über die fanatischen Schwärmereien des Stadtpfarrers, der sogar allerlei Abenteurer ins Land riefe, jetzt die Italiener, die diesmal Heiligenbilder verkaufen müßten zu Spottpreisen, wie ihnen durch einen Verein ermöglicht würde; ja, auch den »Kirchenboten« hätte er heute wieder so scharf geschrieben gehabt, daß man ihn in der Censur von Anfang bis zu Ende gestrichen hätte ...

Er kannte die Spannung zwischen der Dechanei und dem Stadtpfarrhause und sagte ganz offen:

Man möchte fast glauben, der fanatische Mann hat die Herbstmanöver abgewartet, um seine bekannten Anschuldigungen der Regierung besser unter die Leute zu bringen!

Schon sprach man dem Mahle zu, schon füllten sich die Gläser ... Man erörterte die heutige Conferenz. Der Dechant zuckte die Achseln und schwieg zu des Majors Besorgnissen ... Man sprach von dem ausbleibenden Benno, der wahrscheinlich durch seine Kameraden gefesselt war, und bemerkte endlich die auffallende Nichtwiederkehr der Nichte der Frau von Gülpen.

Der Dechant war der erste, den ihr Außenbleiben störte.

Eine Erörterung über sie, eine Kritik über ihren Eindruck ließ sich noch nicht anknüpfen; man konnte annehmen, daß sie eben eintreten würde.

Ihr Couvert blieb aber leer. Sie kam nicht ...

Jetzt fragte man Windhack, der servirte ...

Windhack wußte keine andere Auskunft, als daß »Fräulein von Schwarz« ihm noch vor einer halben Stunde draußen geholfen hätte, den Herren in ihren Wagen die verlangten Sachen nachzureichen. Da hätte sie ein Licht gehalten und plötzlich wäre ihr das Licht aus der Hand entfallen und dann, als der Wagen fort war, hätte er sie gar nicht mehr gesehen ...

Frau von Gülpen fand das Fallenlassen des Lichtes »doch auch sonderbar« und nun öffnete sich manche verhaltene Schleuse ...

Die Freundinnen schickten zuerst das größte Lob voraus – nach dem System der Sheridan'schen Lästerschule war dies gleichsam das Einkaufungsrecht, hinterher desto schärfer tadeln zu können.

Flüsternd nur und sehr discret fand man die junge Dame außerordentlich interessant, mit andern Worten höchst unheimlich und kein Vertrauen erweckend; man fand sie wunderbar schön und majestätisch, mit andern Worten zum Dienen nicht im mindesten geschaffen; man bewunderte ihre Augen und fand sie außerordentlich klug, d.h. gefährlich und Vorläufer mancher Beunruhigungen der Dechanei und der Stadt.

Die Frau Majorin schwieg vollends – was bei ihrer Zungenfertigkeit das am meisten Sagende war – und der Major knöchelte nur ein kaltes Huhn aus und legte die Reste so hieroglyphisch vor sich auf den Tellerrand, als wollte er damit das bekannte Räthselspiel einer verwundenen Bandschnur lösen ...

Jetzt fragte ihn Frau von Gülpen geradezu, worüber er denn heute eine so ganz extrafeine Miene machte ... und der Majorin sagte sie schon:

Unsere Familie ist so groß, daß ich oft erschrecke, ihre nähere Bekanntschaft zu machen!

Und als nun gar Fräulein von Minnerich die Anspielungen des Majors auf den jüdischen Ursprung der Stadt Kocher in Verbindung brachte mit einem gewissen orientalischen Air der Nichte und die Tante darüber in Verlegenheit gerieth, konnte der Major nicht mehr umhin zu sagen:

O Beste, nein! Ich wollte nur auf ihre hohe Religiosität anspielen ... sie ist ja eine Convertitin ...

Feierliches Schweigen ...

Man sah sich um, ob Lucinde kam.

Da sie ausblieb, ermunterte Frau von Gülpen, die diese Eigenschaft ihrer Nichte nicht gekannt hatte, den Major, ganz offen sich auszusprechen.

Sie wissen, sagte sie, ich bin schon so oft von meinen Angehörigen getäuscht worden! Noch unser letzter Besuch, Fräulein Angelika Müller –

Ich habe einen Brief von ihr auf meinem Zimmer liegen, sagte der Dechant und wünschte offenbar damit das Gespräch abzubrechen ... ihm gefiel Lucinde ... er wäre gern auf einen andern Gegenstand übergegangen.

Grützmacher, sagte aber der Major, sah sie schon gestern beim Pfarrer von St.-Wolfgang ...

Wir hatten sie dorthin empfohlen, bemerkte Frau von Gülpen, um ihre Sicherheit zu beweisen.

Sie kannte Herrn von Asselyn schon seit Jahren ...

Sie kommt aus der Stadt, wo er geweiht wurde ...

Nun, wir werden ja sehen ...

Sehen? hieß es allgemein.

Ich verschweige Ihnen nicht, gestand jetzt der Major ganz offen, die Dame ist uns zur Aufsicht anempfohlen worden ...

Zur Aufsicht?

Als Emissarin! Ihre fanatische religiöse Gesinnung ...

Bei dem Worte »Emissarin« verschüttete fast Frau von Gülpen den Inhalt der goldenen Dose, die der Dechant suchte und die sie ihm, selbst in größter Aufregung jede seiner Mienen, jedes seiner Bedürfnisse beobachtend, hinreichte und öffnete ...

Dem alten Windhack schien es geradezu Spaß zu machen, Frau von Gülpen so gleichsam immer mehr in die Lüfte gehoben zu sehen. Er schenkte dem Major sein Glas mit 24er Mosel-Auslese ebenso oft voll, wie dieser es leerte. Dadurch kam die Mittheilungslust desselben in Gang und nicht zwanzig Minuten währte es, so wußten, natürlich nur in gemüthlichster Andeutung, alle, daß Lucinde Schwarz kaum viel mehr als eine Abenteurerin war, schon einen sehr verwickelten Lebenslauf gehabt hätte, ja auf Schloß Neuhof beim Kronsyndikus von Wittekind gewesen war, damals namentlich als vor sechs bis sieben Jahren jener Theilungscommissar so räthselhaft getödtet wurde, der Vater eben jenes Mönches, der jetzt Pater Sebastus hieß und vielleicht in diesem Augenblick unter den unten angefahren gewesenen Geistlichen sich befunden haben konnte ... Ja, bis zu Lucindens erstem Anfang gingen die Mittheilungen zurück, bis zum Hause des Stadtamtmanns und sogar bis zu ihren ersten Abenteuern mit einer alten Frau Hauptmännin von Buschbeck ...

Längst hatte von Kocher her der Zapfenstreich sich vernehmen lassen ...

Der Dechant stand schon bei dem Namen »Schloß Neuhof« auf ...

Frau von Gülpen folgte seinem Beispiel bei dem Worte »Buschbeck«.

Lucinde war nicht wiedergekehrt ...

Die Freundinnen besaßen Takt genug, nachzufühlen, daß dieser Abend gestört war, und den Zapfenstreich hatte eigentlich niemand versäumen wollen ...

Major Schulzendorf hatte Lucinden keineswegs anklagen wollen. Er hatte nur das Interesse, das sie vollkommen einflößen durfte, genauer motivirt. Nicht im mindesten durften er oder seine Gattin annehmen, daß seine immer den Rücksichten des Hauses und den vortrefflichen Speisen und Weinen desselben Rechnung tragende Mittheilung irgendjemanden hier verletzte.

Man trennte sich wie mit dem Gefühl allgemeinster Befriedigung ...

Frau von Gülpen aber fiel, als sie mit dem Dechanten allein war und ihr scharfes Ohr die letzten Schritte der Gäste verklingen gehört hatte, geradezu in eine Ohnmacht ...

Der sanfte Mann that alles Mögliche, sie zu beruhigen.

Nicht vierundzwanzig Stunden länger bleibt sie im Hause! hauchte die Freundin mit einer ihr fast vergangenen Stimme.

Die Haube löste sich, die schönen kastanienbraunen Scheitel kamen in Unordnung ...

Und plötzlich raffte sie sich auf und klingelte.

Was thun Sie? Was soll das? fragte der Greis.

Windhack, der die Gäste hinausbegleitet, kam zurück.

Das Fräulein –

Die Stimme versagte ... versagte um so mehr, als der Dechant sich einer sofortigen Citation Lucindens entschieden widersetzte.

Windhack berichtete, er hätte oben geklopft und die Antwort bekommen, sie wäre müde und wünschte allein bleiben zu dürfen ...

»Wünschte! Allein bleiben zu –«! lachte Frau von Gülpen förmlich auf, wie über eine Prätension der höchsten Anmaßung ...

Beruhigen Sie sich, liebe Freundin! unterbrach der Dechant wiederholt und mit Entschiedenheit. Verurtheilen Sie nicht wieder zu schnell! Morgen wird sich alles finden! Ich bitte sehr darum! Windhack, leuchte! Ich habe noch Briefe zu lesen. Keine Störung! Keinen Tumult! Ruhe und Friede! Ich bitte darum! Gute Nacht, liebe Freundin!

Damit ging der Greis erregt, wie seit lange nicht, auf sein Zimmer.

Die Schnurrenthüren nebenan bei Frau von Gülpen beruhigten sich aber noch bis tief in die Nacht nicht, so oft gingen sie auf und zu und so oft zu und auf ...

Nie noch konnte eine Tante über eine Nichte in größerer Aufregung gewesen sein.

9.

Inzwischen saß Lucinde in einem Mansardenstübchen unter dem Eindruck, den ihr das Wiedersehen Heinrich Klingsohr's verursacht haben mußte!

Daß es dieser gewesen, daß er wie sie den Glauben gewechselt, ja daß er weiter noch gegangen und ein Mönch geworden, bestätigte Windhack, als er das ihr aus der Hand gefallene Licht erhob und in aller Harmlosigkeit sagte, der Mönch käme mit den geistlichen Herren vom Stadtpfarrer ... hieße Dr. Klingsohr, und in der Stadtpfarrei – da müßte man mehr von ihm wissen, als halt er selbst oder der Dechant wüßte ...

Windhack ahnte nicht, wie seine Antwort einer fast bebend gesprochenen Frage gegeben wurde.

Und doch wußte selbst auch noch in diesem Augenblicke sich Lucinde schon wieder zu beherrschen.

Aber sie mochte nicht in die Gesellschaft zurückkehren ober, wie Windhack sie aufforderte, am Mahle theilnehmen. Die strenge Kälte der Frau von Gülpen, der prüfende Blick des Majors, der so lässige und nur oberflächlich verrathene Antheil des Dechanten benahmen ihr allen Muth, allen Aufschwung ... und doch war sie sorglos und ahnte für ihr Bleiben keine Gefahr.

Sie hatte Treudchen Ley schon davongeeilt gefunden, hatte die zurückgelassenen Sachen der geistlichen Herren helfen wollen an den Wagen nachtragen, hatte kaum einen Blick durch das vergitterte Fenster des untern Estrichs geworfen, während Windhack vor der großen Hauptpforte stand ... als sie vor dem geschorenen Haupte eines Mönches, der aus dem Wagenschlage sich vorbeugte, zurückfuhr. Die Beleuchtung durch Lichter, den aufgegangenen Mond und die noch nicht ganz entschwundene Tageshelle war zu sicher, der markirte, scharfe Kopf Klingsohr's war mit keinem andern zu verwechseln und die Bestätigung, daß sie sich nicht geirrt, folgte durch Windhack auf dem Fuße ...

Wollen Sie nicht zum Souper kommen? fragte der Alte nach einer Viertelstunde noch einmal.

Durch die geschlossene Thür ihres Mansardenzimmers hatte sie gebeten, allein bleiben zu dürfen und sie wegen ihrer Ermüdung zu entschuldigen.

Ihr Zimmer war klein, sehr niedrig, – fast stieß sie mit dem Kopf an die Decke –

Sie machte sich Licht – sie hätte alle Fenster des Hauses aufreißen mögen, um Luft zu schöpfen, – ihr Stübchen hatte nur ein Fenster – sie fürchtete zu ersticken –

»Beim Stadtpfarrer würde sie mehr erfahren«– Dies Wort hallte ihr unaufhörlich wider ...

Sie hatte Briefe an diesen Beda Hunnius – die dringendsten Empfehlungen – Empfehlungen, die sogar mit »pressant« überschrieben waren –

Sie suchte nach diesen Briefen –

Dabei blieben ihr die Hände wie gelähmt ... und fast wie im Gelächter klang es schon und hallte ihr im Ohr:

Klingsohr ein Mönch!

»Sind Sie katholisch?« hatte sie einst zu ihm gesagt, als er einen Blütenzweig da in die Erde pflanzen wollte, wo sie gestanden, damals, als sie von ihm auf dem Wege vom Düsternbrook so seltsame und ihr fremde Gedanken vernommen ...

»Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!« hatte er erwidert ...

Sie ging auf und nieder in dem engen Zimmer.

Dann suchte sie in ihrem kleinen Koffer nach den Briefen ...

Sie fand sie in ein Convolut alter Papiere versteckt, die sie seit drei Jahren besaß. Es waren die nach Serlo's Tode aus dessen Nachlaß an sich genommenen Aufzeichnungen desselben ... seine oft von ihm vorgelesenen Tagebücher.

Sie kannte jede Stelle darin und nicht eine Secunde brauchte es, daß sie eine Seite aufgeschlagen hatte, die jenen Beda Hunnius betraf. Firmian Neumeister, genannt Serlo, war, obgleich älter, mit ihm im geistlichen Convict gewesen ... Bei diesem Hunnius konnte sie von Klingsohr mehr erfahren ... von Klingsohr, der jetzt ...

Sie wußte selbst nicht, was sie that, als sie, um den überwallenden Strom ihrer Empfindungen zu dämmen, die Schilderung wieder las:

»Wir ältern Schüler hatten die Aufsicht über die jüngern. Schon ganz kleine Knaben kamen ins Convict und mit den glücklichsten Anlagen für ihren künftigen Beruf ...

Die Lehrer hatten die Erziehungsgrundsätze der Jesuiten angenommen. Wir wurden von allem zurückgehalten, was nur irgendein eigenes und selbständiges Leben in uns und aus uns hätte entwickeln können. Jede Stunde, ja jede Minute hatte ihre Beschäftigung, ihre eigene Aufgabe. Nur die Ruhe der Nacht, wenn man aus einem Traum erwachte, bot die Gelegenheit eines stillen Selbstgesprächs. Nur in solchen Nächten ermöglichten sich meine Betrachtungen über Menschen und Dinge. Mit dem Glockenschlage fünf begann die gewohnte Ordnung mathematisch genau abgegrenzter Beschäftigungen. Einer der Schüler belauschte den andern. Man wurde angezeigt, wenn man Runzeln auf der Stirn hatte! Ich weiß es noch wie heute, daß ein Schüler, ein kleiner Bauernknabe, mindestens sieben Jahre jünger als ich, den ich zu beaufsichtigen hatte, ein gewisser Hunnius, mich anzeigte, wenn ich die Stirn in Runzeln gelegt hatte! Diese Nachlässigkeit wurde vom Rector scheinbar nur aus Schönheitsrücksichten getadelt und abgestraft. Man sagte: Du sollst dein Aeußeres pflegen! Dein Leib ist ein Tempel Gottes! Wie kann eine Seele zu dir Vertrauen fassen, wenn du mit düsterer, gefurchter Stirn sie anblickst! Die Wahrheit war aber keine andere als die, daß gerunzelte Stirnen Denker verrathen, mindestens Träumer, die in sich selbst versunken Betrachtungen anstellen, die ihnen nicht von außenher veranlaßt und geheißen wurden.

Dieser boshafte kleine Verfolger meiner Stirnrunzeln war auch schon der eifrigste und gewandteste Escamoteur des sogenannten Signums.

Dies war eine Art Denkzettel von Blech, den derjenige umhängen mußte, der irgendein Versehen sich hatte zu Schulden kommen lassen. Man trug das Signum so lange, bis man an irgendeinem andern eine Unregelmäßigkeit entdeckt hatte, der dann es statt seiner tragen mußte. Da derjenige, welcher das Signum Abends neun Uhr umhatte und der letzte gewesen war auf der nun folgenden Jagd der Angeberei, dann auch wirklich gleichsam für alle bestraft wurde, – Opus operatum auch hier! – ein verhältnißmäßiges Fastengebot erhielt oder irgendeine Arbeit verrichten mußte, so kann man sich denken, wie aufgelauert wurde, um das Signum von sich weg anzugeben auf einen andern! Ich alter, achtzehnjährige Knabe war gewöhnlich der Unglückliche, der für die Vergehen von einem Dutzend anderer Abends neun Uhr zu büßen hatte.

Und ich sage nur, wie die menschliche Natur früh auf alles, was sie geistig verkrüppeln kann, vergnüglichst eingeht!

Niemals kam der jüngste von allen, der kleine Hunnius an die Reihe, der letzte zu sein! So verschmitzt war hier schon ein Kind, so listig, daß es noch Abends um neun Uhr einen Frevel an einem seiner Kameraden entdecken konnte, dem es das Signum kurz vor Thoresschluß zuzuschanzen wußte.

Gab es keinen Verstoß, der anzuzeigen war, so lockte man einen hervor. Dazu bedurfte es blos doppelter Verschmitztheit; denn der Reiz zur Sünde ist immer da. Von Freundschaft und Liebe konnte bei so durcheinander gehetzten jungen Seelen keine Rede sein. Wir wurden zur Predigt der Liebe angeleitet und in unserm Innern kochten Haß und Rache. Alles zur größern Ehre Gottes!«

Eigentlich war Lucinde auf dem Standpunkte, bei solchen Mittheilungen eher Partei gegen als für Serlo zu nehmen. Sie hatte mit der Denkweise, die sie Klingsohrn, ja Serlon selbst verdankte, eine resolute Entschlossenheit der Menschen für die Abwehr ihrer gegenseitigen Schlechtigkeiten für vollkommen gerechtfertigt zu halten gelernt. Sie lachte schon oft über den kleinen Hunnius und nahm ihn für einen Erzschelm, der mit der Menschheit gerade so verfuhr, wie man mit derselben verfahren müsse und wie sie einst selbst sich gegen die Tücke der Frau von Buschbeck half. Selbst Bonaventura, dem sie einst diese Art der Erziehung vorhielt und unter der gewöhnlichen Beichtstuhlfirma, »sie würde von Zweifeln gequält« – ihr Verhalten zum neuen Glauben war, den wirklichen Haß gegen die hinter ihr liegende protestantische Welt ausgenommen, nur ein äußerliches und eine Benutzung desselben als Mittels zum Zweck – diese Signum-Anekdote erzählte, hatte gesagt: Man glaubt das Fundament unserer Kirche erschüttert zu haben, wenn man allen Aberwitz aufdeckt, auf den die Einsamkeit der Geistlichen und die Furcht vor der Anfechtung verfallen ist! Die künftige Lebensstellung des Priesterstandes ist eine so schwierige, daß die Angst, es möchten sich keine Menschen finden, die ihm Genüge leisten könnten, seit Jahrhunderten bei uns auf solche Auskunftsmittel der Erziehung zur innern Heiligung verfallen ist!

Die Gäste unten hatten das Haus verlassen – alles wurde still – der Mond trat immer heller und heller hervor und verklärte den Park mit einem magischen Lichte ...

Von Benno, von Hedemann, Thiebold de Jonge, Bonaventura, von den Italienern keine Spur – auch die kleine Gertrud Ley brachte – wenigstens hörte sie nichts – keine Botschaft von ihrer sterbenden Mutter ...

Die Erzählung des Dechanten hatte Lucinden in ihr eigenes Jugendleben zurückversetzt – in das Leben ihrer Geschwister – in den Tod derselben – auch den Tod ihrer beiden letzten Brüder ... Gustav und August lebten nicht mehr – sie hatten aus dem Besserungshause entfliehen, hatten an einem Seil aus einem hochgelegenen Fenster sich niederlassen wollen – ein Geräusch treibt den zweiten Flüchtling, sich aus dem Fenster dem ersten nachzuschwingen, während dieser noch nicht am Boden ist – das Seil reißt, beide verunglücken – – vor einem Leben, das doch gewiß nur das des Verbrechens hätte werden können! tröstete sich schon damals Lucinde. Es war dies fast drei Jahre her; die Kunde traf sie gleich nach ihrem Eintritt in die orthopädische Anstalt. Daß sie diesen Tod getrost auf ihre Rechnung schreiben konnte, hatte ihr das Gewissen schon oft gesagt und ebenso oft auch schon wieder hatte ihre Philosophie der Selbsthülfe und des erlaubten Widerstandes gegen das feindliche Leben sie von allem Vorwurf freigesprochen.

Zur Ruhe gehen konnte sie nicht. So in ihrer Aufregung den Tag schließen, so sich mit tausend quälenden Gedanken aufs Lager werfen? ... Unmöglich für eine Phantasie so voll wühlender Ungeduld! ...

Die Kleinheit des Zimmers machte sie jetzt verzweifeln. Sie riß die Thür auf ... Unten hörte sie noch reden ... Frau von Gülpen war es, die sich bei den Mägden sicher stellte, daß niemand sich etwa einfallen ließ, vom Lärm der Stadt und der Neugier auf die Einquartierten sich aus dem Hause ziehen zu lassen.

Lucinde lächelte und sagte kopfschüttelnd:

Ganz wie meine Alte!

Zuletzt regte sich nichts mehr im Hause ...

Sie griff nach Hut und Mantel ...

Wenigstens in den Park wollte sie gehen und mit einer Wanderung durch die Baumgänge die stürmenden Gefühle ihrer Brust beschwichtigen ...

Wie auch hatte ihr das Leben dieses Parks poetisch vor Augen gestanden! Sollte sich denn auch nichts davon, keine einzige ihrer Ahnungen erfüllen?

Sie mußte hinaus. Nur das eine Bild des Mönches Klingsohr schon wuchs so riesengroß vor ihren Augen, daß es die Decke des kleinen Zimmers sprengte. Es zog sie, wie wenn sie über Länder und Ströme, über Heiden und Moore fliegen müßte zu dem fernen Meere hin, an dessen Ufern sie einst gelebt hatte, zu dem Strande der Alster, wo Klingsohr im Schilfrohr das blutige Haupt seines Vaters zu sehen sich gefürchtet.

Und wollte nicht zuletzt noch Bonaventura kommen? Wollte er sie gleich schon heute die Wonne nicht fühlen lassen, doch irgendwie berechtigt in seiner Nähe weilen und an seinen Lebensschicksalen betheiligt scheinen zu dürfen?

Mit diesen Empfindungen war sie schon auf der Stiege.

Sie hatte leise ihr Zimmer zugedrückt.

Behutsam ging sie hinunter. Nichts hörte sie als das Knistern ihrer Schuhe auf der steinernen Treppe.

Unten steckte der Schlüssel in der Hauspforte ...

Sie schloß auf, öffnete und trat hinaus ...

Sollte sie den Schlüssel mitnehmen? ... Mitnehmen? Wohin? ... Wußte sie schon, daß es im Park sie doch nicht halten würde, daß sie sich weiter wagen müßte, wenigstens bis an die Kathedrale hinauf? ...

Sie ließ den Schlüssel stecken und drückte nur leise die Thür wieder zu.

So trat sie auf die steinernen Vliesen, die rings das Schlößchen umgaben. Dann kam ein kleiner Rasen mit einem kaum einige Fuß hohen spielend tröpfelnden Springbrünnchen ... dann kam eine Baumallee ...

Auf einer Steinbank ließ sie sich nieder ...

Wie blickte sie zagend auf das Haus, in dem ein Licht jetzt nach dem andern erlosch! ... Das Piano, auf dem sie sich leidlich geltend zu machen wußte, hatte man sie gar nicht aufgefordert anzurühren! Sie hatte ihre eigenen bizarren Weisen, in denen sie sich in solchen Abendstunden und solchen Stimmungen anziehend zu ergehen verstand ... Wie hätte sie jetzt auf ihm dahinstürmen mögen! Und nun saß sie hier »auf Probe«, so gebunden, so Bettlerin, so Ausgestoßene und Geduldete nur. Sie durfte kaum ein Liedchen trällern, um das tausendstimmige Concert in ihrer Brust, ein Hämmern und Klopfen wie auf tausend verborgenen Tasten, irgendwie zu verrathen – ein Hüsteln sogar mußte sie schon zwingen aufzustehen und sich mehr zum Park zu entfernen.

Sie lauschte dem Plätschern des Quellchens, dem Rauschen der Blätter, dem Geräusch der Stadt ... Erst jetzt fühlte sie, daß sie ja die Briefe für Hunnius zu sich gesteckt hatte! Einer von ihnen war »pressant« ... Wenn sie ihn noch abgäbe? Jetzt, nachdem die neunte Stunde schon geschlagen?

Klingeln an der Stadtpfarrei? Das war das Wenigste ... Zu dem Reiz, der das katholische Priesterthum umgibt, gehört seine freistehende, durch kein Familienleben gebundene Allen-Angehörigkeit. Da fragt kein Eheweib: Was wollen Sie von meinem Manne? Da sind keine Kinder, an deren Bettchen, wenn sie krank sind, ein Vater der Mutter wachen hilft! Diese katholischen Priester sind wie die Aerzte. Man darf sie des Nachts aus ihrer Ruhe klingeln. Man darf sie am Tage in ihrem Studirzimmer überraschen. Man braucht nur um einen Schemel zu bitten, um zu knieen und mit ihnen zu beten. Katholische Priester verlangen auch keine Einführung, keine Empfehlungsschreiben, sie sind sofort mit dem Menschlichsten im Menschen vertraut und einer ist dann wie alle; die Frage, die ihr ganzes Leben vertritt, ist unter ihnen und bei jedem dieselbe ... Wie viel Tausende von Frauen, die im Leben keinen Freund und Vertrauten zu gewinnen wußten, gehen ihnen bethört auch nur um deswillen nach! ...

Ohne daß sich Lucinde an die übrigen Wege des Parkes hielt, schoß sie quer durch die vom Mondlicht beschienenen Bäume an die steinernen Stufen hin, die zum Dome hinauf und von dort wieder abwärts der Stadt zuführten.

Trotz der späten Abendstunde war das sonst so stille Städtchen heute wie im ganzen Jahre nicht lebendig.

Die zu den Uebungen Berufenen zogen truppweise durch die mondscheinhellen kleinen Gassen, andere saßen in den Wirthshäusern und fangen. Da Musik, dort der Lärm fallender Kegel ... Von ihren gestern und heute gemachten Bekannten konnte Lucinde annehmen, daß sie sich bei dem Obersten von Hülleshoven befanden, Hedemann vielleicht ausgenommen, der sicher den Leutenant von Enckefuß vermied ... Die Italiener schienen noch in Kocher nicht angekommen zu sein ...

Lucinde ging und ging und fragte die Leute nach der Stadtpfarrei ... es war ihr, als müßte sie doch viel leicht irgendwo Benno sehen ... Den hätte sie nicht lieben können, den schroffen Humoristen ... er gab sich absichtlich so unpoetisch, – er kehrte so oft die Seiten nur seines Verstandes heraus – er schien ihr zu sicher, klar und zu bewußt in sich selbst – Thiebold de Jonge erinnerte sie fast an Oskar Binder – aber beide Männer waren zuvorkommend, man konnte mit ihnen scherzen, ausgelassen sein – jetzt hätte sie sich an Benno's Erstaunen weiden mögen, wenn er sie Abends fast gegen halb zehn Uhr im Mondenschein so durch die Straßen wandern sah in der allgemeinen Aufregung ... sie würde seinen Arm aufgegriffen und ihn fortgezogen haben ... Entdeckte man ihren Ausgang in der Dechanei, so sann sie, was sie vorschützen würde, die dringenden Briefe an den Stadtpfarrer, die sie vergessen gehabt hätte am Tage abzugeben. Und wenn dieser wirklich noch zu sprechen war – sie hatte sich schon bis zum Marktplatz durchgefragt – wenn sie von ihm allzu lange aufgehalten werden sollte, konnte sie nicht das Interesse für die Erzählung des Dechanten von der sterbenden Frau Ley und den wirklichen Drang, den sie hatte, Treudchen beizustehen, zu ihrer Entschuldigung benutzen? Lucinde gehörte zu den Naturen, die bei großen Schwierigkeiten sich durch das Wort zu helfen wissen: Ans Leben wird mir's doch nicht gehen! Das hatte sie schon in Langen-Nauenheim so gehalten, wenn andere Theilnehmer einer gemeinschaftlichen Schuld sich der Strafe entgegenängstigten. Für die Dechanei freilich lag ihr alles daran, an der Lage, in der sie sich bisjetzt dort befand, nichts zu ihren Ungunsten zu ändern. Sie ahnte ihre Gefahren nicht ...

Endlich war sie an der Stadtpfarrei. Im ersten Stock war noch Licht. Eine Klingel hing am Hause ...

Sie zog daran und unerschrocken.

Viel schneller, als sie in geistlichen Häusern gewohnt war, ging die Thür auf.

Lucinde war schon auf der Treppe und von einer Magd empfangen und forschend angeleuchtet.

Das späte Klingeln brachte Hunnius mit einer Aufregung in Verbindung, in der er sich seit einigen Stunden mehr noch als in der Conferenz befand. Man hatte in der That die letzte, eben zum Druck bestimmte Nummer seines Kirchenboten auf der Polizei von Anfang bis zu Ende gestrichen. Der Fall war schon oft vorgekommen; immer aber regte er ihn so auf, daß er die halbe Nacht darüber verlor.

In jeder Minute, da er Aenderungen vorschlug, dann neue Botschaft erwartend, konnte das Ziehen der Klingel ihn veranlassen, sogleich selbst auf die Treppe zu eilen, die Brille auf die vor Aufregung geröthete breite Stirn zu ziehen, im Schlafrock, in Pantoffeln, mit der brennenden Pfeife in der Linken, mit der Studirlampe in der markigen Rechten ... und forschend, fragend, eher einem aufgeregten, nach Ordnung sehenden Wirthe ähnlich, als einem Gelehrten, jedem entgegenzurennen.

So auch heute. Er kam, wie nur ein Mann seines Temperamentes, dann aber auch freilich ein Schriftsteller kommen konnte, der sich in jener traurigen Zeit jede geschriebene Zeile vom Censor begutachten lassen mußte ...

Hunnius, ungestüm und überreizt, fand eine Dame ... eine elegante noch dazu ...

Rasch bedeckte er mit den Flügeln des Schlafrocks sein Négligé, zog die Pfeife aus dem Munde, überließ Lucinden der Dienerin und entfernte sich mit einigen Worten der Entschuldigung.

Lucinde wurde in ein Empfangszimmer geführt. Die Magd stellte ihr die Lampe hin und entfernte sich.

Nach einer Weile öffnete wieder der Stadtpfarrer und bat Lucinden näher zu treten in sein eigenes Zimmer. Er hatte inzwischen schnell seinen schwarzen Rock und seine Stiefel angezogen und bot seinem Besuche einen Platz auf dem Kanapee, während er selbst mit großer Beweglichkeit in gespannter Verlegenheit einen Stuhl ergriff ...

Das Zimmer bot die oft etwas gesuchte Einfachheit geistlicher Wohnungen. Auf dem Tische vor dem harten Kanapee lag eine fast wie in absichtlichem Ungeschmack gewählte baumwollene Decke; in der Mitte stand ein Crucifix von wurmstichigem alten Holze. Schildereien, Bücherschränke, Sessel, alles war von der größten Einfachheit. Im Volke setzt man solche Entbehrungen beim geistlichen Stande voraus, beurtheilt ihn und dieser selbst richtet sich danach.

Hochwürdiger Herr Pfarrer! begann Lucinde. Ich bin eine Nichte der Frau von Gülpen in der Dechanei und heute erst angekommen! Ich nahe mich Ihnen, verlangend, die erste Nacht, die ich in einem neuen Wirkungskreise zubringe, mit einem Gebete unter geistlichem Beistand anzutreten. Beim Herrn Dechanten fürcht' ich eine Misdeutung dieser Absicht durch meine gütige Tante und wage mich deshalb zu Ihnen. Auch hab' ich Briefe und einen dringenden vom Herrn Curatus Joseph Niggl an Sie abzugeben!

Ein Wunder die erste Anrede – und leider so schnell natürlich erklärt! Eine Nichte aus der Dechanei, die mit dem Stadtpfarrer beten wollte? Eine religiöse Schwärmerin? Jetzt nur eine einfach an ihn Empfohlene – die zwei Briefe abgibt, auf deren einem »pressant« zu lesen ist!

Der letztere kam allerdings von einem seiner vertrautesten Freunde und Hunnius fand sich zurecht.

Doch las er den Brief nicht sogleich, sondern fragte Lucinden nach ihrer Reise, ihrem frühern Aufenthalt.

Was eine Nichte in der Dechanei bedeutete, wußte Hunnius, doch behandelte er das Verhältniß mit Schonung, ja er war sogar höchst überrascht, als Lucinde wirklich den Kopf mit dem nicht abgenommenen Hute auf die gefalteten Hände beugte und nicht eher aufblickte, bis er nicht ein Confiteor, das er in Versen übersetzt sogleich zur Hand hatte, laut vorgesprochen und sie gesegnet hatte.

Ohnehin erregt und nun vollends von einer so ihm noch nicht oft vorgekommenen Scene, erbrach er erst jetzt den wichtigern der beiden Briefe. Lucinde bat ihn darum.

War Hunnius bereits von seines befremdenden Besuchs hoher, fast stolzer Gestalt, von der Schönheit der Gesichtszüge, dem geistvollen Ausdruck der Augen und dem ganzen räthselhaften Dufte, der sie umgab, im höchsten Grade belebt, so steigerte sich sein Interesse vollends beim Lesen. Von Zeile zu Zeile wuchs der Ausdruck seiner Ueberraschung. Er zog die dunkeln buschigen Augenbrauen in die Höhe und unterbrach sich fortwährend selbst mit einem Hm! Hm! O das ist ja herrlich! bis er zu Ende war. Nun überflog er noch einmal und förmlich wie zweifelnd die an ihn gerichtete Adresse, überzeugte sich von der Unterschrift, zog sein Portefeuille, legte den Brief vorsichtig hinein und reichte Lucinden in verklärtester Miene die Hand mit den Worten:

Das muß ich mir ja zu seltenstem Glücke deuten, mein Fräulein, eine solche Bekanntschaft in Ihnen zu machen! Sie sind zu unserer Kirche zurückgekehrt! Und mehr! Mehr! Sie haben den Muth, Ihre neue Gesinnung auch zu bewähren! Sie kennen die Welt genug, um mit Vortheil die geistlichen und weltlichen Waffen zu führen in dem Kampfe, den wir alle jetzt zu kämpfen haben! O und das jetzt in diesem Augenblicke, wo –

Er horchte auf. Es schien ihm als wenn der Druckerbursche die gerettete Nummer brachte.

So gut bin ich Ihnen empfohlen worden? fragte Lucinde, die den Grund seiner Selbstunterbrechung und plötzlichen Wie-Abwesenheit nicht kannte.

Lesen Sie es selbst! erwiderte Hunnius, griff in sein Portefeuille und reichte ihr den Brief Joseph Niggl's zurück.

Der gute Herr Curatus! sagte sie und lehnte das Lesen ihrer eigenen Lobeserhebungen ab.

Nein! Nein! erwiderte Hunnius halb zerstreut. Sich gerühmt zu sehen, ist manchmal eine Ermunterung!

Und nun las er, seufzend über den nicht gekommenen Druckerburschen, selbst:

»Hochwürdiger, hochzuverehrender –«

Ja so! unterbrach er sich. Ich habe mich vergriffen! Das ist nicht der rechte Brief! Indessen – Sieh! Sieh! Wenn – Entschuldigen Sie mich nur, daß Sie mich in solcher Zerstreuung finden! Schon wieder ist meine harmlose schriftstellerische Thätigkeit Gegenstand der rücksichtslosesten Verkürzung geworden – der Luft, des Lichtes, der Freiheit, des Athems – denn alles das rauben sie uns! Meine ganze morgen fällige Nummer ist mir von Anfang bis zu Ende gestrichen worden! Jeden Augenblick erwart' ich Antwort auf einen Vorschlag, den ich wenigstens zu Aenderungen machte! Kommt kein Bote aus der Druckerei, so bleibt es bei diesen Leichensteinen – diesem Mord durch persönliche Willkür ... Blau ist die Tinte, die diesen Menschen statt Blut unter den Händen fließt! Sehen Sie nur!

Damit zeigte er den Censurbogen eines kleinen Blattes, das mit blauer Tinte durchstrichen war ...

Lucinde drückte ihr Bedauern aus und suchte eine Gelegenheit auf Klingsohrn überzugehen, durch den sie mit solchen Vorgängen des literarischen Lebens schon früh bekannt geworden war ...

Beim Zusammenfalten seines Blattes kam dem Stadtpfarrer wieder der verwechselte Brief von vorhin zu Handen.

Ja, sagte er, im Portefeuille suchend, wo ist denn Niggl's Empfehlung? – Aber – ja, ja – Sie sollten auch diesen Brief hier lesen! Ich nehme keinen Anstand, Sie damit bekannt zu machen. Da ich Ihre Gesinnung kenne, da Sie eine streitbare Jungfrau sind, die ihre Fahne zum heiligen Kampfe mittragen will, mein Fräulein, so hören Sie in Gottes Namen, wie wir denn doch nicht so ganz verlassen sind in unserer Noth! Lesen Sie selbst! Da wir uns über vieles werden zu verständigen haben, so lernen Sie sogleich Ziel, Methode, Absicht, Zusammenhang unserer schwierigen Aufgaben und Kämpfe kennen!

Bei alledem horchte Hunnius stets, ob es nicht klingelte ...

Von wem ist der Brief? fragte Lucinde, als sie keinen Namen fand.

Das sei noch eine Weile mein Geheimniß! Er ist von einem höchst einflußreichen Manne ...! Lesen Sie getrost!

Zugleich ging Hunnius an die Thür und überzeugte sich, daß seine aufgeregte Phantasie sich wieder geirrt hatte. Die Kinder seines Geistes ruhten sanft auf dem Friedhofe der Censur! Nichts rief sie ins Leben zurück! Nichts rettete wenigstens denjenigen unter ihnen, die diesmal wieder das schöne Kleid seines Stiles getragen hatten, das für Zeitschriften ohnehin so kurze bunte Schmetterlingsdasein!

Er ging auf und nieder und bat Lucinden, wie mit einer Art innerer Genugthuung, laut zu lesen ...

Im Vertrauen auf die Wunderdinge, die der Curatus Niggl von ihr geschrieben haben mußte, that sie es:

»Hochwürdiger, hochzuverehrender Herr! Die Antwort auf Ihren so angenehmen Brief nächstens! Jetzt zwei Bitten! Erstens: Wissen Sie mir nicht eine kurze Charakteristik aller Dechanten unserer Kirchenprovinz anzugeben? a) Wie gesinnt gegen Rom? b) Gegen Cölibat? c) In Wissenschaften und Fähigkeiten? Zweitens: Wüßten Sie mir nicht einige junge in den drei Beziehungen gute Leute zu nennen, namentlich aus Belgien? ... Es wäre (sed tantum inter nos!) ...«

Nur unter uns! übersetzte Hunnius schnell und fast gedankenlos.

»Sed tantum inter nos!« wiederholte Lucinde ohne Anstoß. »Es wäre uns eine große Freude, einige Jesuiten hereinzubringen! Wüßten Sie einige, die geläufig deutsch sprechen? Aus der Schweiz oder aus Rom würde zu auffallend sein ... Mich Ihrem Gebet empfehlend, verbleibe ich Ihr ergebenster Freund M. Alles zur größern Ehre Gottes!« Ein aus der geschilderten Zeit herrührender und später mit Beschlag belegter actenmäßiger Brief.

Die Empfehlung solcher Freunde, wie sie Ihnen zu Theil wurde, sagte Hunnius, gestattet, daß ich Sie tiefer in unsere Interessen einblicken lasse!

Aus demselben Portefeuille zog er einen zweiten Brief und ließ auch diesen Lucinden lesen, indem er auf- und niederging, bald zum Fenster blickte und auf jedes Geräusch achtete, bald sich aber auch an dem Anblick Lucindens, dem Ton ihrer Stimme, dem erneuten Ueberblick des ganzen, so wunderbar überraschend ihm gekommenen Verhältnisses weidete.

»Die Zeit ist reif!« las Lucinde. »Man muß mit Gewalt alles ergreifen! Der Herr Kirchenfürst gibt zu allem seinen Segen, thut aber einstweilen bei allem noch die Augen zu, sodaß unsere Unternehmungen nur Privatunternehmungen sind! ... Ich will kurz nacheinander in unserer Kirchenresidenz vier Jesuiten, in der nahe gelegenen Universität einen unterbringen! Diese werden schon einen Wirkungskreis erhalten ... Ich ziehe einige talentvolle Knaben ganz zu diesem Zwecke heran und an der Universität sind mehrere der talentvollsten Theologen, die in den Orden treten wollen. Mit diesen errichten wir einen Glaubensbund und bringen sie dann mit den hiesigen Jesuiten in Verbindung ... Von Rom werden zwei Jesuiten erwartet. Sie bringen scheinbar ärztliche Atteste mit, welche ihnen nur vorschreiben, in unserer Gegend zu verweilen ... Die Missionen treten da und dort ins Leben; bei uns ist es noch schwer. Der Herr Kirchenfürst wünschen sehr, daß alle Wallfahrten wieder ins Leben treten! Ich bitte, arbeiten Sie wie Sie können, daß alles Abgeschaffte wieder aufgenommen werde. Mit aller Verehrung Ihr ergebenster M. Alles zur größern Ehre Gottes! Der Sicherheit wegen nicht frankirt. Thun Sie es ebenso.« Auch dieser actenmäßige Brief wurde im Jahre 1837 mit Beschlag belegt.

Und einen dritten Brief las Hunnius dann noch selbst.

Sie thaten ihm als Ableiter seines Zornes wohl. Triumphirend betonte er:

»Die gute Wendung der Wallfahrtsangelegenheit macht mir erstaunliche Freude. Wie gerne macht' ich selbst einmal die Springprocession mit, wenn es meine Geschäfte erlaubten! Sorgen Sie für Ihre Gegend: nur daß man es mit der Regierung nicht unrecht angreift, dann ist alles verloren! In all der Drangsal, die wir leiden, habe ich doch auch manche Freude. Mehrere Pfarrer sind verklagt. Je mehr, desto besser!... Geben Sie dem ›Kirchenboten‹ mehr Nahrung! Man muß immer hervorheben, wie jede Beschränkung und Hemmung der Kirche und jede Auflösung des Gehorsams gegen Bischöfe und Rom auch die Grundfesten des Staates untergrabe! Das ist für die Fürsten ein Argumentum ad hominem!...«

Hunnius unterbrach sich, um diese Worte zu übersetzen ...

Das greift den Fürsten an ihre eigene Krone! fiel Lucinde schon ein.

Wie? erwiderte er staunend. Aber kein Wunder, mein im Heiland geliebtes Fräulein! Niggl schreibt mir ja von Ihnen, daß Sie ein Wunder nicht nur in –

Bitte! unterbrach sie und ermahnte den sich ihr Nähernden zum Lesen.

»Die guten Folgen der Mission freuen uns!« fuhr Hunnius fort. »Es muß uns glücken, über ganz Deutschland die Jesuiten als Prediger auszubreiten. Ich erwarte mit jedem Tage 2000 Missionszettelchen. Es wird alles gut gehen! Ihr ergebener M. Alles zur größern Ehre Gottes!« Gleichfalls actenmäßig.

Lucinde dankte für das ihr geschenkte Vertrauen und wollte sich entfernen.

Es schlug von den Thürmen der Stadt schon ein Viertel elf Uhr ...

Fräulein, sagte Hunnius, ich begleite Sie selbst zurück ... ich stehe, obgleich geistig auf völlig anderm Boden, doch gesellschaftlich sehr gut mit der Dechanei ... Bitte! Lesen Sie aber noch, was Niggl von Ihnen selbst geschrieben hat!

Da sie es wiederholt ablehnte, ließ Hunnius nicht nach ... Es wird uns enger verbinden! sagte er mit Salbung. Es wird das Symbol unserer von ihm gewünschten Vereinigung werden! Wir haben dann ein gleichsam ausgesprochenes Bekenntniß, das sichere Fundament unsers Verständnisses, den geschriebenen Pact unsers Seelenbündnisses!

Der gute Curatus! sagte Lucinde sich zurückziehend und ließ die Vorlesung geschehen ... theils um ihren neuen so schnell gewonnenen Freund zu zerstreuen, theils aber auch, weil sie auf diese Art allerdings erfahren konnte, warum Grützmacher hatte sagen können, er wäre über sie »ins Klare« und Schulzendorf sie so scharf und wie eine mit Steckbriefen Verfolgte beobachtete.

»Mein innigstgeliebter und gefeierter Seelenfreund!« las Hunnius (und diese Worte nicht ohne beschämt niederblickende Genugthuung), »Sie lernen mit diesem herzinniglichen Gruße nach langem, unverzeihlichstem Schweigen ein Fräulein Lucinde Schwarz kennen, wie man sagt, die Tochter eines einfachen protestantischen Dorfschullehrers. Vor drei Jahren kam diese Seltenste ihres Geschlechts als Gehülfin in die Ihnen bekannte orthopädische Heilanstalt und wurde an demselben Tage, wo wir drei, Sie, mein innigstgeliebter Freund, Asselyn und meine Unwürdigkeit, die letzten Weihen empfingen, in plötzlicher Erleuchtung vom Geiste der Wahrheit ergriffen. In unserer ehrwürdigsten Kathedrale wurde sie von unserm hochwürdigsten Bischof selbst dem Schoose unserer gnadenreichsten Mutter einverleibt ... Ja Ihnen, Ihnen, Hunnius, der Sie so ganz der Musik der menschlichen Seele in ihren tiefsten Accorden nachzulauschen verstehen – Ihr letztes Gedicht: ›Myrrhe und Aloe‹ –«

Eine kleine Pause und Auslassung im Lesen war hier natürlich ...

»Ihnen schreib' ich«, fuhr Hunnius nach einigem Murmeln fort; »das Leben dieser Neugeborenen muß ein außerordentlich bewegtes gewesen sein! Da sie bald durch Anmuth und Geist hervorragte, so bildete sich, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt, in kurzem gegen sie eine Anfeindung, die eine Beschuldigung nach der andern gegen sie aufbrachte. Aber allen diesen Angriffen stellte Fräulein Schwarz ihre aufrichtige Wiedergeburt entgegen. Diese wurde ihr reiner, heller, metallener Schild, der sie gegen alles Ungebührliche schützte! Ihre Andacht wurde jene glühende Hingebung an die ewige Liebe, die auch nach dem Rauschen Ihrer Harfe, Hunnius, die Seele von allen Schlacken reinigt! Sie sah und sie hörte auf nichts, was sie umgab. Sie lebte nur ihrem Berufe, ihrem neuen Glauben. Ihre Augen, von denen sie behauptet hatte, daß sie nie geweint hätten, obgleich sie Vater, Mutter, Geschwister, Freunde, Glück und alles, nur die Ehre nicht, verlor, waren stets umflort von dem feuchten Schimmer frommer, wie vergessen gewesener Thränen. Führen Sie das einst aus, Hunnius, in einem Gedichte! Vergessene, verstockte, sitzen gebliebene Thränen! Wenn die einst zu strömen und zu rinnen anfangen! Diese Flut, dieser heilende Bethesdateich dann! ... Diese Seele gestand mir oft, daß ihr alles Leid, was ihr je widerfahren, erst jetzt den Zoll der Thränen abforderte, daß sie über alles, worüber sonst ihr Auge trocken geblieben, nun erst nachträglich weinen müsse und – das ist der Triumph der Wiedergeburt! – weinen könne! Hunnius, ich sage Ihnen nur, Fräulein Schwarz blieb im genannten Institute einige Jahre. Sie hatte die besondere Obhut zu führen über Comtesse Paula von Dorste-Camphausen, jene Erbin, deren Lebensverhältnisse unsere Aufmerksamkeit jetzt so dringend in Anspruch nehmen! Der Vater derselben war gestorben; Vormund und Verwandte riefen sie zurück: es war in jenen Tagen, als uns auch Asselyn verließ, diese emporwachsende Ceder, diese edle Palme ...«

Hunnius stockte wieder und überschlug auch jetzt einige Stellen ...

»Um«, fuhr er, den Zusammenhang suchend, fort, »um bei Ihnen die Kaplanei zu St.-Zeno anzutreten. Laßt aber diese Seele nur anklagen! Laßt die Stimmen über sie getheilt sein! Laßt –«

Hunnius schien Anstand zu nehmen, der ganzen, hier den Tadel wiederholenden Wortfülle des Freundes zu folgen ...

Lesen Sie alles, sagte Lucinde.

Es sind Anschuldigungen –!

O, auch das ist manchmal gut, erwiderte sie, zu wissen, was man von uns Uebles denkt!

»Die Stimmen sind getheilt, fuhr Hunnius fast mit Lucinden über die Parodie seiner frühern Worte liebäugelnd fort. Die einen sehen in ihr ein Wesen, das seiner persönlichen Eitelkeit alles opfert, ein herzloses, undankbares –«

Lucinde, die Arme übereinandergeschlagen, stand in einer Stellung wie ein furchtloser, unerschrockener Feldherr ...

»Doch«, überschlug Hunnius beruhigt diese ominöse Partie, »unsere Stadt, Sitz einer Universität, einer starken Garnison, weiß nichts von einer irgend unpassenden Beziehung zu erzählen: größtentheils nur in unsern geistlichen Kreisen verkehrte sie. Aber sie kennen ja unsere Mit-Leviten! Sie kennen die Lauheit der Zeit, kennen die Bequemlichkeit unsers Standes, dem nichts störender ist als mitgearbeitet zu sehen an seinem Beruf auch von der Laienwelt aus! Niemand soll da reden, ohne gefragt zu sein! Niemand soll das Entzücken, das ihm der Glaube macht, in Bildern und Anschauungen wiedergeben, die über das Maß einer gewöhnlichen Erbaulichkeit hinausgehen! Da irrt nun eine glühende Seele von Beichtstuhl zu Beichtstuhl! Niemand weiß ihr ein Herz, ein Verständniß, eine Hingebung entgegenzutragen! Ihr Verstand ist diesen Menschen lästig und selbst unsere Collegen – brauche ich Ihnen die Namen zu nennen! – verkehren lieber mit der Gewöhnlichkeit, wenn sie nur Whist spielt! Hunnius! Wenn diese Feuerseele in der Dechanei so verbraucht würde! ... Sie tritt dort als Gesellschafterin ein ... Ich dachte an Sie, Freund, an Ihre Verbindungen, Ihre Beziehungen zu Ihrem Kirchenfürsten, an die ernsten und wichtigen Dinge, die von Ihrer hohen Warte aus das Zeichen geben werden für das übrige Deutschland! O, diese Convertitin hat für die Flammen, die in ihr lodern, noch keine Nahrung gefunden! Wer einen Schritt thut, wie sie, will ihn doch anerkannt sehen, will doch wissen, bezeugen, täglich bezeugen, warum er ihn that ... Was thut man aber hier? Man fordert sie auf zum Vergessen, zur Ergebung! Immer diese Abneigung gegen Neugewonnene! Immer diese Kälte gegen den Enthusiasmus, der sich bewähren will! Convertiten, gehegt und gepflegt, sind ein Segen unserer Kirche; Convertiten, vernachlässigt, zurückgestoßen, einsam gelassen und wol gar zur Reue gedrängt, können ihr zur fürchterlichsten Geisel werden! Das Schicksal Lucindens ist in Ihrer Hand! Sie Schöpfer, Gestalter, Dichter! Vollenden Sie den Triumph dieser gottberufenen Bekennerin!«

Der gute Niggl! sagte Lucinde, als Hunnius diesen enthusiastischen Brief vollendet hatte. Er war seinerseits gerührt von den Schmeicheleien für seinen Genius; sie ihrerseits erstaunte, wie sie sagte, »über den langen Schatten, den sie würfe« ...

Ich lernte Niggl kennen, erzählte sie, als ich von ihm eines Tages erfuhr, daß er jeden Sonntag Nachmittag einen Kaffee für Damen gibt. Ich wurde neugierig auf einen so gemüthlichen Priester, erkundigte mich näher und ließ mich eines Sonntags Nachmittags an sein Haus bei der Barfüßerkirche führen, wo er Curatus ist. Ich wollte, aufrichtig gesagt, die Damen belauschen, die bei ihn zum Kaffee kamen. Ich stand im Schatten der alten Kirche. Es schlug vier Uhr. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber. Der Kaffee begann nach vier. Wie ward ich beschämt! Welche Damen kamen! Erst eine Blinde, die von einem Kinde geführt wurde; dann kam eine kleine Buckelige, die stolz auf ihre Begleiterin hinaufsah, denn diese durfte nicht mit zum Kaffee, sie aber stieg zum Herrn Curatus hinauf! Nun kam eine Lahme an einem Krückstock! Jetzt fuhr ein Rollwägelchen vor und siehe, der Herr Curatus kam lachend und freudigst selbst die Stiege herunter und hob eine Person aus den Betten im Wägelchen, die nur dem Kopfe nach der Menschheit angehörte! Nach unten zu hing ein Körper, der völlig schlaff, ja nur eine einzige unförmliche und unausgebildete Masse war. Es war ein Mädchen von vielleicht dreißig Jahren und ein halbes Kind! Der Curatus trug sie auf seinen Armen in seine Wohnung und in seinen Kaffee. Nun band ich mir, wie eine Augenleidende, mein Taschentuch über die Stirn und tastete mich auch hinauf. Da war denn eine Damengesellschaft beisammen aus lauter Blinden, Tauben und Gichtbrüchigen, und sie war so lustig, so vergnügt wie jeder andere Damenkaffee auch, wenn es nur etwas zu lästern gibt! Unser kindlicher Niggl hatte nur immer zu dämpfen, daß wir die gesunden und schönen Menschen nicht auch zu schlecht machten!

Ja, wo gibt es solche Entsagungen wie in unserer Kirche! rief Hunnius. Wo solche muthvollen Bewährungen! Solche Triumphe dann auch und solche Belohnungen wieder!

Er erörterte dann die Situation, in der sich Lucinde in der Dechanei befinden würde. Er wiederholte öfter seine Bitte um Discretion wegen der von ihm vorgelesenen Briefe. Er warnte vor der Erwähnung der Jesuiten, die man von obenher noch verfolge wie Verbrecher, und doch wären sie die Sehnsucht aller Gläubigen! Schon wenn einmal ein einzelner Mönch außer Clausur leben sollte, kostete das die größte Anstrengung ...

Wer ist dieser Pater Sebastus? warf Lucinde erbebend ein.

Pater Sebastus, sagte Hunnius, ist erst seit kurzem aus der Dunkelheit eines Klosters bei Witoborn in der Residenz des Kirchenfürsten erschienen. Seine außerordentlichen Geistesgaben wurden die Veranlassung, daß man ihm gestattete, auf einige Zeit seine Zelle zu verlassen. Man weiß nicht, soll man seine Begeisterung für das Interesse der Kirche höher anschlagen oder seinen Lebenswandel. Sie sollten doch schon, mein' ich, von diesem Mönch gehört haben, der den Gelübden seines Ordens gemäß sich die größten Entbehrungen auferlegt! Sebastus lebt nur von dem, was er sich erbettelt hat! Er geht auf die Dörfer in der Umgegend der Residenz mit einem alten Topf in der Hand, um sich selbst die Mahlzeit von den Thüren zu holen; er geht gerade vor die Thüren, wo er in Erfahrung gebracht hat, daß hier die geizigsten Herzen wohnen! Zum ersten male nach Jahren wieder gestattete er sich heute bei mir eine Cigarre und kaum ein halbes Glas Wein!

Lucinde war von einem Schauer durchrieselt. Diese Entbehrungen paßten für das Bild nicht, das von Klingsohrn noch in ihr lebte, und doch war er es! Klingsohr mit einem Topf vor Bauerhäusern! Klingsohr nicht rauchend, nicht trinkend! Und doch war er es – der Stadtpfarrer nannte ihn Heinrich Klingsohr und erzählte den Tod seines Vaters – vor ihren Augen stand das Christusbild, an das er einst ihren Hut gehängt hatte mit den Worten:

Am Bilde des Erlösers

Hängt ihr pariser Hut ...

Und ihre dunkeln Locken

Netzt heil'ger Wunden Blut ...

Da Hunnius sie in die Dechanei zurückzubegleiten versprach, störte beide der Schlag der elften Stunde nicht.

Er machte der sinnend Träumenden die lebhafteste Schilderung von dem Leben in der Residenz des Kirchenfürsten. Er gab Lucinden den Einblick in eine geheimnißvolle geistige Werkstatt, von der sie die Ahnung gehabt hatte, ohne die Thür zu finden, die ihren Eingang bildete. Sie sah, was sie in Bonaventura's Nähe schon oft zu erblicken geglaubt hatte, nahe und entfernte Ziele, sah Zusammenhänge von Zuständen und Personen, erblickte ein harmonisches Vereintwirken, ein lautloses, geräuschloses und dennoch von ersichtlichen Wirkungen begleitetes. Ob auch kein deutscher Staat mehr vom Krummstab regiert wird, gibt es doch geistliche Höfe, gibt es geheime Sitzungen in geheimen Cabineten und Anekdoten und geheime Verkehre aller Art. Auch, das erfuhr sie: Einflußreiche Frauen stehen diesen geistlichen Höfen nahe. Der Reiz des Verschwiegenen verbindet die Geister und die Gemüther. Stürmisch und fest ist der Wille, aber zurückhaltend die Form, ihn zu äußern; unhörbar geht, wie auf unsichtbaren Teppichen, der Schritt, und dabei keine wilde Zumuthung, nichts Rohes, nichts Begehrliches. Das Streben nach Läuterung und Religion ist äußerlich die Oriflamme und das heilige Feldzeichen dieser ganzen geisterhaften Bewegung und doch bringt man duldsamst dabei die menschliche Natur in Rechnung. Man setzt das wahre Verdienst eben immer nur in den Kampf mit der Sünde, nicht in den Sieg über sie. Und wie gering auch die innere Treue Lucindens für Religion überhaupt war, Haß für alles Norddeutsche und Protestantische hatte sie. Ihre ganze Vergangenheit hatte sich in das verwandelt, was ihr neuer Glaube bekämpfte. Und von diesem Gesichtspunkte aus war sie den Gesinnungen ihrer jetzigen Freunde verwandt. Galt es Kampf, so empfand sie die dämmernden Schauer ihres neuen Bekenntnisses, ja empfand sogar den Reiz, daß in alle diese Intriguen die langen Schatten der Kirchen fielen, die Glocken der Dome läuteten, die Farben der priesterlichen Gewänder blitzten. Bis in die unabsehbare Ferne war die wühlende Ahnung freigegeben: in die Ferne des Raumes sowol wie in die der Zeit. Vor allem prangte Rom durch die Nebel hindurch wie die Stadt des ewigen Sonnenscheins! Dort fand der müdeste Fuß auf den Trümmern der Jahrhunderte einen schattigen Ruheplatz, das wundeste Herz Heilung in den Melodieen der Sixtinischen Kapelle; der Blinde wurde dort sehend, der Taube hörend; alles lief aus und vereinigte sich in dem Centralnervensitz des historischen Europa ... Dies Bild war es, das Lucinden aus halben und träumerischen Zuständen, aus bitterer Lebenserfahrung und nicht immer selbstverschuldeten Kränkungen einst in den Schoos jener Kirche geführt hatte und darin festhielt und ermunterte und bestärkte, alles zu unternehmen, alles zu wagen, was die Umstände von ihr verlangt hätten, wenn sie damit nur den Beifall und die Liebe Bonaventura's hätte gewinnen können!

Nun brach sie auf.

Der Stadtpfarrer, glücklich über diese Eroberung, fast getröstet über die Censurstriche, holte seinen Hut.

Schon hatte er auf ein Bücherbret gelangt und gab ihr ein Buch zum Andenken an die eben erlebte Stunde.

Es war eine neueste Sammlung seiner Gedichte, die »Saronsrosen«.

Er ergriff eine Feder, zeichnete auf das Blatt vor dem Titel ein Kreuz und in dies hinein ein flammendes Herz und seinen Namen.

So gab er's Lucinden und vergaß vor Aufregung den Streusand.

Lucinde trug das Blatt offen und versprach, mit Aufmerksamkeit in den Gedichten zu lesen.

Hunnius nahm die Lampe und rief seiner Wärterin ... Er wollte mitgehen ...

Indem aber klingelte es heftig.

Der Druckerbursche! rief es in allen seinen Nerven.

Und in der That – ein Knabe kam – kam mit einem hoch emporgehaltenen Blatte!

Von Instanz zu Instanz kehrten erst jetzt die von Hunnius gemachten Aenderungsvorschläge zurück ... einige waren angenommen worden ... bei andern verlangte man am Rande noch diese und jene Milderung ... einige Bilder waren gerettet ... Hunnius konnte vor Freude sogar jetzt Lucinden vergessen.

Der Bursche erklärte, daß die Censur noch warte, ebenso wie die Presse seines Herrn. Wenn der Herr Stadtpfarrer noch sofort die Aenderungen machte, konnte die Nummer in der ersten Morgenfrühe noch gedruckt werden ...

Schon rief Hunnius, sich nun mit seinen Redactionspflichten entschuldigend, seiner Magd. Aber Lucinde sagte:

Lassen Sie, Herr Pfarrer! Ich finde den Weg! Es ist Mondschein! Wirklich, wirklich! Bitte, bleiben Sie!

Hunnius mußte den Burschen, der allenfalls auch noch Lucinden hätte führen können, zurückbehalten ... seine Magd war nicht die flinkste ... er zögerte noch, als Lucinde schon mit den Worten: Beruhigen Sie sich, Herr Stadtpfarrer! Ich finde den Weg! – unten schon vor der Hausthür und verschwunden war.

Lucinde war allein.

Sie schritt durch die still gewordene Stadt über den mondhellen, jetzt menschenleeren Marktplatz dahin ...

Ach, sie kannte solche Nachtbilder kleiner Städte aus der Zeit her, wo sie mit der unglücklichen Gauklerfamilie über die norddeutschen Heiden gezogen ... Sie kannte diese Brunnen, die da rauschten, diese Linden, die da so klein und verkrüppelt an einer Straßenecke stehen. Hier in einem Giebelfenster erlischt ein Licht, dort geht eins auf ... Hier jammert ein Kind, das von seinen Träumen geängstigt wird und eine Mutter spricht liebe, beruhigende Worte ... dort bellen zwei Hunde wachsam um die Wette ... Sie hatte das alles so oft erlebt, mit demselben Mondlicht, derselben Stille, immer in einer andern geistigen Beleuchtung ... Heute?! ... Sie liest noch die Schilder der armen Schuhflicker und Schneider ... sie sieht den schwarzen Mohrenkönig an einem Laden, durch dessen geschlossene Thür ein Schiebfensterchen erleuchtet ist, eine Apotheke, wo vielleicht für Frau Ley der letzte Linderungstrank bereitet wird ... Dort ein Gasthof: Zum Riesen! Der Goliath steht über dem Thorweg, der noch offen ist ... Sie sieht das stattliche Reisecoupé Thiebold's de Jonge unter ihm ... Oben vier Fenster erleuchtet ... Zechen dort oben vielleicht noch Benno von Asselyn und seine Gefährten und erzählen sich Anekdoten und verhöhnen die Würde der Frauen und lachen über das, was andern Schmerzen bereitet, über Porzia, über Hedemann? ... Gerade so wie sie einst Klingsohrn so unter seinen Freunden wußte, den Weltenstürmer, den jetzt mit dem Topfe Bettelnden!

Sie konnte über Hunnius nicht lachen. Es lag selbst in den »Saronsrosen«, wo endlich das Kreuz mit dem Herzen getrocknet war, nach ihrer gegenwärtigen Stimmung etwas vom allgemeinen Schmerz des Lebens und vom bittersten Weh der Welt ... Denn ist nicht das größte Weh Blindheit, Thorheit, Anmaßung, Kampf und Wahn und leidenschaftliches Ringen und das Ganze ein so tief entmuthigendes Durcheinander?

Nun überfiel sie auch noch die Furcht vor der Rückkehr in die Dechanei ...

Wenn die Pforte geschlossen war! Wenn sie klingeln mußte!

Immer zaghafter wurde ihr ums Herz ...

Langsamer und langsamer trat der müde Fuß ...

Sie kam bei den Stufen an, die zur Kathedrale von St.-Zeno hinaufführten ...

Hier war es dunkel ...

Hier mochte sie sich niederlassen, sich ausweinen ... vor Schmerz über die Welt und über sich selbst ... Nur die Todten die Ihrigen! Auf der Erde nur die – die sie nicht mochten, oder die – die sie nicht mochte! Und sie mußte sich sagen: Ihr, die ihr mich haßt und fürchtet, gewiß, ihr habt ja Recht!

Mühsam, bangend und zagend stieg sie die Stufen empor ...

Ringsum die kleinen Häuserchen ...

Sonst war sie in solchen Lagen so oft versucht gewesen, den Leuten Nachts von den Fensterbretern ihre Blumen aus den Töpfen zu stehlen! Sonst langte sie im Springen nach einem Hanfbüschel hinauf, das als Wahrzeichen eines Zwirnverkäufers vor einer Thür hing! Sonst jagte sie, wie die alte Hauptmännin, Ratten und Mäuse auf und lief ihnen nach, die Katze spielend ... und wenn etwa dann Männer sie verfolgten, so blieb sie stehen, ließ diese an sich vorübergehen und erwiderte ihre Anreden auf englisch oder italienisch fest und bestimmt: Ich kenne den Weg!

Langsam zählt sie heute dreißig Stufen, die zur Kathedrale hinaufführen ...

An jeder fünften steht, wie auf einem Calvarienberg, eine steinerne Gruppe der Leidensgeschichte ... frisch übertüncht mit grünlichweißer Oelfarbe ... frisch vergoldet an den Heiligenscheinen und Gewändern ...

Wie sie eben an der letzten Gruppe der Grablegung vorüber ist, wie sie quer über den den Dom umgebenden freien Platz zu der zweiten, niederwärts zu dem Park der Dechanei führenden Treppe kraftlos schreiten will, strahlt ihr plötzlich an dem im Schatten liegenden altehrwürdigen St.-Zenotempel ein magischer Lichtglanz entgegen.

Von dem übrigen Mondschein weicht er völlig ab.

Sie blickt noch einmal hin und wiederholt sich das Wunder von Damascus?

Lichtumflossen tritt ein Priester im Ornat auf sie zu ...

Es ist Bonaventura, ihr Heiliger ...

Lucinde verbirgt sich hinter der Grablegung ...

Bonaventura kommt aus der Sakristeithür, die im Dunkel liegt und beim Geöffnetwerden den von der entgegengesetzten Seite, wo der Mond steht, durch ein buntes Fenster hereinfallenden Lichteffect verursachte.

Es ist Bonaventura in Priestertracht, begleitet von einem weißgekleideten Knaben und einem Meßdiener.

Alle drei kommen, nachdem der Meßdiener die Sakristeithür wieder verschlossen, still und schweigsam näher. Sich unbemerkt glaubend, schreiten sie die Stufen zur Stadt hinunter ...

Bonaventura hält das Hochheiligste, der Meßdiener trägt Brevier und Rauchfaß, der Knabe klingelt ...

Wer etwa in den Straßen noch verspätet ging, neigte sich. Wer es auf seinem Lager hörte, sagte: Das ist der Dechant! Er geht unten an den Fall zur sterbenden Frau Ley!

Lucinden war es, als wenn sie jetzt Schutz gefunden hätte. Bonaventura mußte in die Dechanei zurück! Konnte sie es nicht unter seinem Beistande thun?

Aber auch so und war dies alles auch nicht, doch zog es sie unwiderstehlich ...

Sie mußte folgen.

Es klingelte ... und klingelte ... Dahin ... dahin ... immer voraus schritt das Sakrament ...

Endlich hörte man ein rauschendes Gewässer daherstürzen. Es war der Fall. Ueber ein Brücklein mußte man noch gehen, auf dem ein St.-Nepomuk den Gruß der Vorübergehenden empfing ... Die Zahl derselben mehrte sich ... Wol ein Dutzend Menschen aus dem Volke schloß sich dem klingelnden Knaben an, so spät auch die Stunde schon vorgerückt war ... Es kam ein ganz vertrockneter Lindenbaum und ein Haus, in das sie eintraten ...

An der Wand neben dem Thorweg fand Lucinde die verrosteten Haken, von denen der Dechant erzählt hatte ...

Noch stand der Hackeklotz im Gange ...

Auf dem steinernen Estrich der Vorflur ging eine Rinne, durch welche sonst das Blut floß aus dem im Hofe befindlichen Schlachthause.

Unter den Anwesenden, die der Hostie gefolgt waren, fiel Lucinde noch nicht auf. Meist waren es Frauen. Sie hielten sich in der Vorflur, während eine Thür geöffnet wurde, durch die man in ein hinteres Zimmer sah, wo die Sterbende lag.

Bonaventura schritt durch einige Betten hindurch, wo ruhig die kleinern Kinder der sterbenden Mutter schliefen ... Treudchen Ley und ein Bruder, der den Dechanten nun doch noch gerufen hatte, lagen über dem Bette der Mutter ausgestreckt und schluchzten ...

Der so überraschend statt des Dechanten gekommene geliebte Priester nahm von dem Ministranten das heilige Oel, um damit seine Finger zu netzen. Mit diesen berührte er die einzelnen Theile des Antlitzes der Sterbenden ...

Für Bonaventura konnten Menschen zugegen sein, die noch heftigere Wallungen in ihm hervorgerufen hätten als Lucinde, er würde nicht auf sie geachtet haben. Er ließ die Sterbende, die ihn noch erkannte, mit einem matten Aufblick die ganze letzte Freude empfinden, an seiner Hand aus dem Irdischen hinausgeleitet zu werden. Mit groß und geisterhaft aufgeschlagenen Augen sah sie auf seine hohe Gestalt und zupfte mit den unruhigen Fingerspitzen an der Decke, bis ihre Tochter, wie wenn sie Wünsche hätte, sich ihr näher beugen mußte. Ihr Wunsch war nur, noch so viel Schärfe des Gehörs zu besitzen, die milde Stimme des geliebten Priesters zu hören.

Bonaventura salbte die Sterbende mit leise begleitenden Worten an den von der Kirche vorgeschriebenen Theilen, an denen, welche die Organe unserer Sinne, unsers Willens und unserer Sünden sind. Mit Auge, Ohr, Geruch, Mund, Hand und Fuß sind wir an die Sinnenwelt gebunden: die Lösung von ihr, den Abschied und die Trennung bezeichnet die Berührung mit dem, wie man sagt, schmerzenstillenden Oel ...

Bonaventura's Gebet übertönte das laute Weinen ...

Herr, unser aller Gott, sprach er, erquicke die Seele, die du geschaffen hast! Reinige sie von allen Sünden und Makeln, damit sie würdig werde, durch die Hände der Engel dir dargestellt zu werden! Durch Jesum, unsern Herrn!

Die Seele der armen Metzgersfrau war schon vor dem Amen! zu der ihr nun gelinderteren Pein des Fegfeuers entflohen.

Treudchen benahm sich mit großer Standhaftigkeit. Daß auffallend schöne Kind war blaß, zart, tief verhärmt, tief erschüttert und doch blieb sie umsichtig ...

Als die Sterbende geendet hatte, drückte der Leiche jemand von den Nähergekommenen die Augen zu. Es war eine hohe, kräftige weibliche Gestalt. Sie trug ein gelbrothes Tuch um den Kopf gewunden und mußte eine Jüdin sein ...

Und dicht hinter ihr stand ein Protestant, Nachbar Grützmacher, der würdige Wachtmeister ...

Er begrüßte Lucinden, die nun vortrat und jetzt erst von Bonaventura bemerkt und erkannt wurde ...

Muß man erleben den Gegenstand! sprach inzwischen mit lauter alles übertönender Stimme die Jüdin ... Eine Frau so sanft wie ein Lamm! Ein Engel! Muß ich sie noch sehen, wie sie ist gelaufen über Land und hat die Bauern gebitt't und gebettelt, daß sie bringen sollten ihren Mann wieder auf die Füße! Wie hat sie die paar Thälerchen, die sie hatte gespart oder geborgt gekriegt, gezeigt und damit geklimpert, als wenn die Leute machten das rarste Geschäft um ein Ferkelchen, das sie dann haben mitgenommen und nach und nach aufgezogen mit Glückseligkeit, wie, Gott verzeih' mir's, 'nen polnischen Ochsen! Und das Treudchen da! Hat sich das Kind nicht die Augen ausgenäht und ausgestichelt und hat sie nicht gekriegt an die Fingerspitzen ganz 'ne rauhe Hand! Ein Mädchen so rar! Schön genug für 'ne Prinzessin! Und die guten Kinder! Gott soll sie segnen!

Während Grützmacher mit Bonaventura und dem Arzte flüsterte, küßte Treudchen Ley Lucinden die Hand und dankte für die »Ehre« ihres Antheils. Sie nannte die Sprecherin Frau Henriette Lippschütz. Es war die Hasen-Jette, die Wildprethändlerin, die Witwe des jüdischen Metzgers, der die Kundschaft der Leys geerbt und der nun auch schon wieder andern Platz gemacht hatte.

Fräulein, wenn sie jetzt hier haben was zu nähen – fuhr, Lucinben richtig unterbringend und sich ihr zuwendend, die Hasen-Jette fort – feine, feinste Spitzen: geben Sie's nicht anders als an das Treudchen! Weine nicht, Kind! Du bist nicht verlassen! Dein Toni, dein Edi ... alle kommen sie in die große Stadt, ins neue Waisenhaus, wo die Kinder leben wie die Prinzen! Sag' ich dir, Treudchen, Betten! Staatsbetten! Kauft die Stadt alle Federn von mir und die Decken hat mein Bruder geliefert! Gott! Was wird der Löb sagen, wenn er nach Hause kommt und findet Frau Ley nicht mehr – der Löb mit seinem gefühlvollen Herzen!

Bonaventura kannte auch den Löb, den Bruder der Frau Lippschütz, den berühmten Gütermakler und Handelsmann Löb Seligmann. Er durfte diesen Empfindungen einer einzelnen einen gemeinsamen Ausdruck geben. Noch sprach er, nicht als Geistlicher, sondern als Bekannter und Freund der Bewohner von Kocher, laut einen herzlichen Nachruf, tröstete die Kinder und ging zuletzt mit Grützmachern und dem Arzte.

Als er sich mit ersterm über die vergebliche Verfolgung des Leichenräubers verständigt zu haben schien, bildete sich wieder jener Zug, der die Monstranz in die Kathedrale zurücktrug.

Lucinde folgte ... Wie mußte sie ihrer eigenen Jugend und ihrer Geschwister gedenken! ... Das neue Waisenhaus!

Es schlug zwölf, als Lucinde übermüdet wieder die Stufen zum Dome hinanstieg und wartete, bis Bonaventura aus der Sakristei zurückkehren würde.

Endlich kam er ... in seinen gewöhnlichen Kleidern.

Ich muß mich Ihnen anschließen! sagte sie. Ich hatte Briefe an den Stadtpfarrer zu überbringen, deren Eile ich ganz vergessen hatte! Ich hielt mich zu lange im Gespräch mit ihm auf, folgte dann Ihrem Zuge zum Sterbebette und muß nun unter Ihrem Schutze in die Dechanei zurückkehren! Kann ich es thun, als wenn ich überhaupt nicht abwesend gewesen wäre, desto lieber! Ich fürchte Frau von Gülpen und ihre üble Auslegung!

Bonaventura, der Frau von Gülpen's strenge Auffassungen kannte, erbot sich gern zu dem gewünschten Beistand. Er war so menschlich in allem und kein Haarspalter und kein Mückenseiger ...

So gingen beide in den Park hinunter.

Wie tobte es jetzt in Lucinden, wie stockte ihr Athem! Und doch dies ruhige Gespräch über die Vorgänge der letzten Nacht, über Grützmacher's Nachrichten, über Benno, Hedemann, die Herbstübungen, den kürzern Weg da oder dort, die Leidensfamilie, die eben verlassene, wieder dann die Baumalleen, die Boskete, Windhack's Sternwarte ...

Darauf hin kannten sich beide schon ... So konnte sie neben ihm gehen, wie eine Nachtwandlerin auf haushoher Zinne, jeden Augenblick den Niedersturz drohend – so er, gleichsam den Arm schützend und schon zum Auffangen ausgebreitet über sie gehalten und doch vom Gleichgültigsten plaudernd und scherzend sogar ...

Wie der Geliebte dann den Hausschlüssel zog, öffnete, sie zuerst in das stille Vorhaus ließ, erklärte, zwar unten zu wohnen, aber sie doch bis hinauf begleiten zu wollen, wie sie dann ihn zum leisern Sprechen ermahnte, seine Begleitung ablehnte und er doch noch eine Stiege lang folgte – sollte es ihr da nicht wieder sein, wie schon oft, als müßte sie vor ihm niedersinken und ihn anflehen: Tritt lieber mit deinem Fuß auf mich, du Entsetzlicher, Kalter, Unerbittlicher! ... An seiner Brust hätte sie jetzt ruhen, jetzt sich ausweinen, auslachen mögen ... und er sagte nichts als: Gute Nacht, Fräulein! Sagte das ihr, die noch jung, noch schön war, die Huldigungen erlebt hatte, wo sie nur irgend erschienen war, eine Siegerin über so viel Männer von Reichthum, Ansehen, Geist ... Gute Nacht, Fräulein ... Und das in tiefster Stille ... im nächtlichen Dunkel ...

Die zweite Stiege in ihren Entresol glaubte sie allein gehen zu können ... Sie hauchte ihm das in stammelnden Worten so hin ...

Sie ging langsam ... halb ohnmächtig vor Schmerz über das eine »Gute Nacht, Fräulein!« ...

Alles ringsum war dabei still ... niemand bemerkte ihre Rückkehr ... vielleicht hatte auch niemand ihr Weggehen bemerkt ...

Sie mußte sich an dem eisernen Gitter der Treppe halten, als sie langsam hinaufstieg ...

Bonaventura war nicht mehr hörbar ...

Auf dem Corridor der zweiten Etage blieb sie stehen und holte einen tiefen, tiefen Athemzug ... Dann erschreckte sie plötzlich ein Geräusch wie von einem auffliegenden Vogel ...

Es war der Pfau, der ihr neugierig, hoch aufgerichteten Hauptes entgegenschritt.

Sie entlief ihm fast bis an die Thür ihres Wohnzimmers ... Das Thier sah so gespenstisch aus ...

Ihr Wohnzimmer lag am Aufgang zu einer dritten Treppe, die schon ins Dach und zu Windhack's Sternen führte.

Wie sie in Eile rasch nur und um unbemerkt in ihr Zimmer zu kommen den Schlüssel drehte, wandte sie sich um, sah eine Weile ins Leere, schrie dann aber fast auf ... sie glaubte im ersten Augenblicke ein Gespenst zu sehen ...

Es war, mit einem Lichte in der Hand aus einem der Corridore des Geviertes, in dem die Dechanei gebaut war, tretend, die leibhaftige Frau Hauptmännin von Buschbeck ...

Dieselben funkelnden Augen aus dunkeln Höhlen, dieselbe aus Haube und Schleife hervorschießende spitze Nase, dasselbe Drehen und mühlsteinartige Schroten der zahnlosen Kinnladen ...

Aber es war kein Gespenst ... Es war die Schwester ihres alten Nachtunholdes ... es war Frau Petronella von Gülpen – ohne die Verschönerungen ihrer Toilette ...

Auf die aber auch von Seiten der Frau von Gülpen wie zum Tod erschrockenen Worte: Aber, mein Fräulein! Wo kommen denn Sie noch so spät her? Wo denn – um Jesu Wunden willen – waren – Sie – denn die – ganze Nacht – über –? verschwand Lucinde ...

Frau von Gülpen, die nur in diesem ihrem äußersten Négligé und sogar ohne ihre Zähne ihren unruhigen Lolo aufgesucht hatte, war noch mehr erschrocken gewesen als Lucinde ...

Lucinde hätte in diesem Augenblick den Pfau erwürgen können.

Ohne eine Antwort gegeben zu haben, war sie in ihrem Zimmer verschwunden.

Immer noch hörte sie den knirschenden Sand auf dem steinernen Estrich draußen, immer noch hörte sie das Huschen des Pfaus, der neben der wie eine Juno keinesweges schönen, aber wie Juno mindestens ebenso zornigen Frau stand und sie mit seinem hoffärtigen kronengeschmückten Kopfe angestarrt hatte ...

Es ahnte ihr für den folgenden Tag nichts Gutes ...

Freilich so bitter, wie ihr wieder der Kelch des Lebens geschenkt wurde, ahnte sie die Folge nicht ...

Als sie nach einer ganz sanft verschlummerten, ganz außerordentlich erquickend gewesenen Nacht erwachte und die Sonne wundergolden in ihr Stübchen schien und das sogar verschönerte und das sogar behaglich machte, als sie dann das Fenster öffnete, den erquickendsten Lindenduft einsog; als sie in der Ferne schon den zweiten Tag der militärischen Uebungen durch Trommeln und Pfeifen angekündigt hörte, erhielt sie von Windhack das Frühstück überbracht ...

Er stellte es hin, während sie gerade an ihrem Haar kämmend vor dem Spiegel saß und sich in einem weiten Toilettenmantel verstecken mußte, und ging ...

Wie sie aufgestanden war, bemerkte sie beim Frühstück ein Billet.

Es war mit Geld beschwert ...

Sie öffnete, las – ein Moment entschied alles ...

Sie las die kurzen Worte:

»Ich ersuche Sie, mein Fräulein, noch im Laufe des heutigen Tages unwiderruflich die Dechanei und für immer zu verlassen. Petronella von Gülpen.«

Sie griff an ihr Herz. Im ersten Augenblick hatte es aufgehört zu schlagen.

10.

Zur selbigen goldenen Morgenfrühe saßen der Dechant und Bonaventura in des erstern traulichem, dufterfülltem Studirzimmer zum Frühstück ...

Nach der löblichen Sitte katholischer Geistlichen wandelten sie nicht etwa noch in Schlafröcken und Pantoffeln, sondern waren schon ganz in ihren üblichen schwarzen Kleidern.

Nun erst, an der Morgensonne, nahmen sich die grünen Decken und seidenen Vorhänge über den Büchergestellen, Bildern und Alabasterstatuetten, die schön eingebundenen Kupferstichsammlungen, französischen Ganzfranzbände mit dem Wappen der Asselyns besonders freundlich und vornehm aus. Nichts sah vergilbt, verblaßt aus. Die vielen Bekanntschaften, die der Dechant in der Nähe und Ferne sorglichst pflegte, hielten alles jung und angehörig der heitersten Gegenwart ...

Schon längst war zwischen Oheim und Neffen über ihr verschiedenartiges Verhalten zu ihrem gemeinschaftlichen Beruf ein Abkommen getroffen. Bonaventura liebte den Oheim wie seinen Vater ... Er konnte noch jetzt, wie einst als Kind, die weiße, wohlgepflegte Hand des Greises an seine Lippen ziehen: so zärtlich empfand er für ihn ... Sammelt sich doch ohnehin der zurückgestaute Schatz von Liebe im Herzen eines katholischen Priesters und muß irgendwie und irgendwo hinausströmen, um das übervolle Herz nicht zu zersprengen!

In Bonaventura war dieses Bett seiner Empfindungen die Kirche, sein Beruf, seine Heerde ... und doch konnte er den Dechanten seinen weisen, menschenfreundlichen, lieben Philosophen nennen und der Dechant wieder nannte ihn seinen Heiligen, seinen künftigen Franz von Sales oder Carlo Borromeo und decretirte ihm, wie Paula, die Seherin, noch einst die Mitra eines Erzbischofs, den Purpur eines Cardinals.

Von dem Liebesdienste, den ihm gestern in so später Stunde gleich nach seiner nicht mehr erwarteten Ankunft Bonaventura abgenommen, wurde nicht viel gesprochen. Das Kommen und Gehen der Menschen, Geburt, Leben und Tod ist die tägliche Erfahrung dieser Männer, wie beim Arzte das Befinden ihrer Patienten ...

Dennoch blickte der Dechant düster und mit schmerzlicher Miene in den sonnenhellen Morgen, in die geöffneten Fenster, die grüne Linde und das Hüpfen der gezähmten und an die Brosamen des Frühstücks gewöhnten Vögel.

Diese wagten sich vor zwei Bewohnern heute nicht ins Zimmer. Bonaventura war eben im Begriff, mit einem Körnchen weißen Brotes einen der Spatzen zu überzeugen, daß sich durch ihn hier nichts geändert hätte, daß jeder Hungerige getrost kommen könnte auf den Frühstückstisch, wo in altem geschnörkelten Porzellan Chocolade servirt wurde, die dem Dechanten, wie er behauptete, das Blut erwärmte und ihm mehr Lebensstimmung gäbe, als der nach ihm die Melancholie nährende Kaffee ...

Er bereitete sich diese Chocolade, auch nachdem er die Messe gelesen – das Messelesen selbst mußte nüchtern geschehen – mit eigener Hand ... Windhack brachte dann siedendes Wasser, das auf einer Theemaschine im Kochen erhalten wurde. In ein kleines Gefäß wurde das Wasser durch einen Hahn abgelassen und während es langsam strömte, mußten die dünnen Scheibchen der Chocolade, die der Dechant dem Strahl entgegenhielt, schmelzen. Nach jedem geschmolzenen Stücke quirlte er die gewonnene Auflösung, die er so oft mit neuen Täfelchen wiederholte, bis sein Geschmack getroffen war. Er behauptete, diese Art der Chocoladebereitung wäre die einzig richtige. Er hätte sie einst von seinem Bruder Max, Benno's Adoptivvater, gelernt, als dieser aus Napoleon's in Spanien kämpfender Armee verwundet zurückkehrte und damals ein Knäblein von wenigen Monaten mitbrachte gen Borkenhagen, wo er zum besten der ganzen Familie Landwirth werden wollte, unsern Benno, der indessen dem Haarrauch acclimatisirt und der Familie längst wie ein geborener Angehöriger war.

Die heute so düstere Miene des Dechanten galt zuvörderst dem Mismuth über die abendlichen Enthüllungen wegen Lucinden. Noch wußte er nichts von dem nächtlichen Vorfall und der bereits schon definitiv erfolgten Kündigung. Bonaventura gab Lucinden sogar das Zeugniß, daß sie dem Onkel eine anregende, originelle, wenn auch die Menschen etwas wirr durcheinander hetzende Unterhaltung werden könnte. Da wird nichts helfen! sagte der Dechant. Ihre Erscheinung ruft bei uns Erinnerungen wach, die wir fern halten müssen! ... Bonaventura wußte, wie wenig gern der Dechant an Schloß Neuhof erinnert wurde ... doch hielt er Lucindens Bleiben für so entschieden noch nicht gefährdet, als es war.

Dann hatten die Briefe sehr aufregend auf den Onkel gewirkt, die Angelika Müller durch Benno und Hedemann geschickt hatte und die letzterer schon gestern Nachmittag abgegeben ... Von Benno sah und hörte man nichts.

Endlich aber und vorzugsweise galt die düstere Stimmung einigen auf einem Nebentische ausgebreiteten wunderlichen Gegenständen, die im ersten Augenblick vielleicht einem Eintretenden nicht einmal wären aufgefallen, da sie den allgemeinen Nippcharakter des ganzen Mobiliars trugen.

Auf dem Tischchen, einem jener zierlichen von Mahagoni, die zu den kleinen Spielpartieen in der Dechanei gebraucht wurden, lagen eine zerbrochene goldene Uhr, ein Gemshorn, ein grüner Schleier, eine Spielhahnfeder, ein Klappmesser mit vielen eingeschlagenen Klingen und ähnliche Gegenstände von verwittertem und verrostetem Aussehen.

Dies waren die Sachen, die man in dem Sarg des alten Mevissen gefunden hatte.

Warum hatte der Alte diese Dinge so gehütet? Warum hatte Mevissen, der in seinem eigengezimmerten Sarge schlief, eine so große Furcht vor ihrer Entdeckung gehabt? Wie hing, da Bonaventura sehr bald aus der Uhr und einem Namenszuge des Messers erkannte, daß diese Gegenstände einst seinem Vater gehört hatten, ein dem Werthe nach so unbedeutender Besitz zusammen mit der Furcht des alten Begleiters seines Vaters, sie durch den Tod in andere Hände gelangen zu wissen? Warum hatte er, wenn er diese Gegenstände der Welt und ihrem Verkehr entziehen wollte, sie nicht vernichtet? Die Uhr, das Gemshorn, das Messer ließen sich vielleicht nicht so leicht zerstören; was aber sollte noch die Aufbewahrung des grünen Schleiers und der Spielhahnfeder?

Die Unfähigkeit, sich alle diese Fragen zu beantworten, beunruhigte auch Bonaventura so sehr, daß er wegen dieser theuern Reliquien zu seinem Oheim gereist war.

Der Dechant freilich sagte, als er soeben mit Rührung diese Erinnerungen an seinen Bruder Fritz gemustert hatte, er wisse wohl, wie diese Gegenstände mit dem unglücklichen Ende desselben in Verbindung zu bringen wären. Er könne nur nicht erklären, warum der Diener, dessen Anhänglichkeit und Treue eine seltene und erprobte war, auf diese Andenken einen so ganz unbegreiflichen Werth gelegt hätte.

Ja, fuhr Bonaventura fort, wie konnten diese Dinge damals bei dem theuern Todten selbst fehlen, da Sie doch, wie ich hörte, so manche andere Andenken bei ihm fanden, den Trauring meiner Mutter, das Portefeuille mit seinem letzten Willen, die Wäsche, die er in einem Reisesack trug, als er durch das Val de Bagne über den St.-Bernhard nach Aosta wollte, sogar die Schaumünzen, die er in der sogenannten Jupitersebene noch gefunden? Wie ist überhaupt der Tod meines Vaters verbürgt! Begruben Sie ihn selbst? Ich zweifle jetzt an allem!

Bona! rief der Dechant verweisend.

Stand Ihnen denn Mevissen zur Seite, als Sie doch wol eine Untersuchung über den Tod des Vaters anstellten?

Mevissen war ja mein Führer bis St.-Remy, wo der Verunglückte zur Ruhe bestattet liegt!

Ließen Sie denn nicht den Sarg öffnen? Nie haben Sie mir, nie der Mutter, nie dem Stiefvater erzählen mögen, wie alles beim Ableben des Vaters zuging!

Was sollt' ich vor eure Seelen diese Bilder des Schreckens führen!

Meine Aeltern liebten sich nicht!

Doch! Doch! ... Ich war in Wien, lieber Sohn, und recht wie um mich zu strafen für meinen heitern Genuß der Stadt, erhielt ich dort die Mittheilung, von deinem Vater hätte man seit Wochen keine Nachricht und fürchte ein Unglück. Im ersten Augenblicke glaubte man ...

An Selbstmord?

Es ließ sich daran denken ...

Um meine Mutter!

Bona, gib diesen Vorstellungen nicht ohne prüfende Gerechtigkeit Raum! Deine Mutter lebt und liebt dich! ...

Mevissen hatte bereits nach dem Orte geschrieben, wo deine Mutter während der Reise deines Vaters weilte! Von dort erhielt ich die Nachricht, daß man seine Spur verloren. Er hatte von Genf Abschied genommen, um durch die Walliser Alpen eine Fußwanderung anzutreten, die er ohne Begleitung seines Dieners machen wollte. Wochen waren vergangen, bis Mevissen etwas von ihm erfuhr. Endlich währte dem Diener das Ausbleiben seines Herrn zu lange. Er stellte Erkundigungen bis auf den Weg zum Simplon an und bis nach Martigny. Leider vergebens. Jede Spur schien nach diesen Richtungen hin verloren. Als ich dann mit einer Eile, wie sie nur irgend in der damaligen langsamen Communication möglich war, in Genf ankam, hört' ich schon, daß seine Spur auf dem andern Uebergange nach Italien, der von Martigny über den großen St.-Bernhard führt, entdeckt worden war, aber auch das, daß sie zu dem sichern Ergebniß seines Todes geführt hatte. Mevissen befand sich auf dem Hospiz der Augustinermönche; ich reiste ihm nach. Dein Vater, mein edler Bruder, war von einem Schneewetter überfallen, verschüttet, in einen Abgrund gesunken und elend erfroren. So oft der Gleichschritt im gewöhnlichen Dasein mir die Bequemlichkeit als eine zu unverdiente Gnade des Himmels erscheinen läßt, muß ich dieser Tage gedenken und des Anblicks, wie ich meinen theuern Bruder wiedersah!

Wiedersah? Doch sahen Sie ihn wieder?

Allerdings!

Sie fanden ihn nicht schon bestattet?

Ich hatte den Genfersee hinter mir und fuhr an den immer mehr sich verengenden Ufern der Rhone nach Martigny, wo mir Mevissen, selbst ein Bild des Todes, entsetzt entgegenkam. Von dort nimmt man Saumrosse; aber mein Gemüth war zu erschüttert, ich legte mir die Wanderung zu Fuß auf. Sie führte durch gesprengte Felsen, an uralten, noch aus der Römerzeit herausblickenden Mauern vorüber, durch das Geröll der Betten wilder Berggewässer, armselige Dörfer, immer höher empor zu jenem Paß, auf dem Napoleon 1800 die Fußtapfen der alten Cäsaren im ewigen Schnee wiederfinden wollte. Tief in den Schluchten, in die der Blick mit grausendem Schwindel sich verliert, weiden die Heerden der Rinder zwischen den Ausläufern der Gletscher. Hier schon befindet man sich auf einer Höhe von 7–9000 Fuß und erblickt dicht neben und über sich in den Felsenriffen die Spuren des sprengenden Frostes und der wenigen im Frühjahr schmelzenden langen Schneegehänge. Ich reiste im Juni und doch wurden die weißen Todtenfelder immer unabsehbarer, die Ausblicke öder und kahler. Die Führer erzählten von einem Fremden, der vor zwei Monaten allein und ohne Warnung anzunehmen den Paß hätte ersteigen wollen. Da hätte plötzlich niederfallender Schnee die Wege verschüttet und den Wanderer auf eine falsche Fährte geführt. Den Unglücklichen, den ich eben sehen sollte, hätte man auf einem vom Wege abgelegenen Felsenzacken gefunden, dicht an einem unermeßlichen Niedersturz ...

Sie sahen den Vater!

Ich sah ihn! Ich sah ihn in jener grauenvollen Morgue, die oft auf viele Jahre die Leichen der auf dem St.-Bernhard gefundenen Verunglückten zur Wiedererkennung durch ihre Angehörigen aufbewahrt! Gräßliche Erinnerung! Eine Stunde vom Hospiz entfernt liegt ein kleines Gebäude, ausgesetzt dem schärfsten Zuge der Eisesluft, die das Défilé de Marengo durchstreift. Einer der Augustiner stand schon mit dem Schlüssel an der Pforte des Todtengewölbes und begrüßte mich. Ein und derselbe Glaube, ein und derselbe Beruf, und doch wie verschiedenartig unsere Pflichten! Ich kam aus Wien mit goldenen Ringen an den Fingern, mit zierlichen Billets in der Brieftasche, die mich zu einem Diner, dort zu einer Soirée eingeladen hatten, noch schwirrten die Opern der Italiener mir im Ohre, die im Kärntnerthor ihre Stagione hielten, und vor mir stand trotz der Kälte im leichten Chorherrenrock ein Priester von nicht viel über dreißig Jahren mit seinem Begleiter, einem ihm mit dem Kopf bis an die Hüfte reichenden Hunde, dessen gewaltige Muskeln, aufmerkende hohe Ohren, fürchterliche Lefzen und Tatzen in einem rührenden Contrast zu dem Körbchen mit Lebensmitteln und dem ledernen weingefüllten Schlauche standen, die an seinem zottigen Halse befestigt waren. In französischer Sprache begrüßte mich der Chorherr und bedauerte die Veranlassung, bei welcher zwei Priester so ihre Bekanntschaft machten. Eine nach niederwärts führende Thür schloß er auf und wir standen in einem Gewölbe, das die erhitzteste Phantasie nicht grauenvoller sich ausmalen kann. Rings an den Wänden Gerippe an Gerippe, und nicht etwa nur völlig versehrte, nicht etwa nur Reste, sondern wohlerhaltene Körper, die die Eisesluft, die durch die offenen, correspondirenden Fenster zieht, an gänzlicher Verwesung verhindert. Niemand wird hier begraben, dessen Identität nicht im Laufe der Jahre hergestellt wird. So standen dort Gestalten schon zwanzig Jahre an die Wand gelehnt! Vor ihnen lagen auf einem Tische ihre Kleider und die sonstigen Gegenstände, die sie bei sich trugen. Der letzte in der Reihe war ... ja! es war mein unglücklicher Bruder, dein theurer Vater ... Ich sah ihn stehen! Vor mir! Todt! Von einem Sturz von der Felsenkante, wo man ihn fand, war das Haupt zerschmettert und hing, schon fast nur noch in Knochen, hernieder! Im übrigen war es sein lieber, edler Eindruck! Da lagen die Kleider, die ich nur zu gut kannte, da lag das Portefeuille, das ich an mich nahm, da lag noch sein Geldbeutel mit dreißig Napoleons und etwas kleiner Münze und einigen römischen, wie man sie in diesen Gegenden oft findet, ein Plan der Schweiz, ein Fernrohr, Billets zur Ueberfahrt über den Genfersee, einiges weißes Brot, eben noch wie davon abgebrochen, eine Korbflasche mit Kirschengeist, Handschuhe, Tragbänder, der Trauring deiner Mutter ... alles ... alles ... Die Träger bürdeten es sich dann mit der Leiche auf. Ich stieg mit dem Mönch zum Hospiz empor. Die Leiche blieb da so lange in der Kapelle, bis man sie auf meinen Wunsch nach der südlichen, italienischen Seite zu, über dem Orte St.-Remy beerdigte!

Der Dechant schwieg ... Nie hatte er diese Schilderung so genau gegeben. Nur einmal vor den Gerichten und einmal – vor dem jetzigen Kirchenfürsten, als dieser noch die Geschäfte eines Generalvicars verwaltete und die Heirath der Witwe beanstanden wollte.

Der Trauring meiner Mutter! wiederholte Bonaventura schmerzlich. In ihm liegt – die ganze Lebensfrage unserer Kirche!

Das ist ein Abgrund, mein Sohn, wie auch unsere Ehelosigkeit ... sagte der Greis. Laß es ruhen!

Beide Priester schwiegen ...

In diesem Schweigen lag der Schauer zweier Jahrtausende.

Eine Weile verging – –

So also war es! begann Bonaventura wieder voll Schmerz. Und doch wie ist es möglich, daß diese Gegenstände vor uns auf dem St.-Bernhard damals fehlten? Warum hat sie Mevissen ohne Ihr Wissen an sich genommen? Warum nahm er sie mit ins Grab?

Der Dechant schwieg ...

Ich weiß es nicht! sagte er dann nachdenklich.

Mevissen wohnte allen diesen Vorgängen bei, die Sie schilderten?

In aufrichtigster Trauer! Wir legten oben auf dem Hospiz alles zusammen, was deiner Mutter zu übersenden war. Diese Gegenstände dort fehlten, das weiß ich genau. Da das Geld unangerührt war, gedachten wir nicht der Uhr. Die Spielhahnfeder ist ein Hutschmuck der Alpengegenden. Das Gemshorn saß ohne Zweifel als Griff an einem Alpenstock. Der grüne Schleier ist eine Schutzwehr des Auges gegen die blendende Wirkung des Schnees. Gewiß! Ich sah damals diese Dinge nicht und begreife den Werth nicht, den Mevissen so weit darauf legte, sie so heimlich zu bewahren! Er war so ehrlich und so treu ... Ich erkundigte mich später in Genf; ich hatte die sichersten Beweise, daß diese einsame Alpenwanderung deines Vaters, während Mevissen allein im Gasthofe zur Balance zurückbleiben mußte, ihn mit einer durch den Erfolg nur zu sehr gerechtfertigten Unruhe erfüllte. Die Beerdigung in St.-Remy vollzog er mit all der Standhaftigkeit, zu der ich mich nicht aufschwingen konnte. Ich saß erschöpft im Refectorium des Hospizes und schilderte den kindlichen Mönchen die Tugenden des Verblichenen. Wie hätt' ich sie erfreut, wenn ich ihnen schon damals hätte sagen können, daß der Sohn des Unglücklichen in den geistlichen Stand treten würde! Ich mußte diese Männer bewundern, die über siebentausend Fuß über dem Meere wohnen, fünfzehn Jahre hier zu verweilen verpflichtet sind und selten, wenn sie auch mit zwanzig Jahren schon vom Bischof zu Sitten hierher entsendet werden, ihr fünfunddreißigstes Jahr erreichen. So wüthen die Stürme, so dorrt der Frost die Glieder aus, so verbraucht die tägliche Anstrengung, die es kostet, nur allein die nächsten Bedürfnisse auf diese Höhe zu bringen, nur Holz und Wasser! So oft ich jene vermessenen Reden unserer Geistlichkeit höre, Reden, wie ich sie noch gestern wieder vernahm, möcht' ich doch aufstehen und eine Schilderung des Lebens der Augustinerchorherren auf dem St.-Bernhard geben und rufen: Hic Rhodus! Hic salta! Da zeigt euern Heldenmuth!

Bonaventura schüttelte sein Haupt, hob sein braunes Auge wie verklärt und erwiderte:

Nein, Oheim! Was ist es denn, was diesen Menschen dort oben selbst den Schnee so rosig erglühen läßt, daß sie ihn auch ohne die Sonne wie nur in Purpur getaucht zu erblicken glauben! Es ist die himmlische Sonne, die sie bescheint, die moralische, daß sie sich fühlen in einer großen Gemeinschaft, der zu Liebe diese und alle Opfer dargebracht werden! Laßt diese Priester der Ebene doch vermessen reden und sich ihrer Rechte und Pflichten rühmen! Würde nicht schon in der Ebene dieser Geist der Hingebung gepflegt, allmählich aufgezogen, allmählich herangebildet, wie könnte er in die Berge steigen! Nein! Aus einer einzelnen zufälligen Entschließung des edeln Herzens hier und dort ist es nicht möglich jene jungen Männer dort oben wohnen, wirken, früh dahinwelken zu lassen! Sie würden vielleicht zuweilen in größerer Anzahl sich einstellen, als sie nöthig sind; öfter aber auch würden sie ganz fehlen. So muß es eine Pflanzschule dieses Geistes der Aufopferung geben, irgendeine magische Zauberformel muß sie alle halten und regieren. An dem Muth, dort unter den Gerippen und dem Schnee des St.-Bernhard auszuhalten, arbeitet der streitende Geist derer hier unten mit! Das ist ja das Geheimnißvolle in unserer Kirche, daß sie ein Zusammenwirken tausendfacher Kräfte ist, wo sie wunderbar durch die Formen ersetzt, was an den Personen sich heute findet, morgen fehlt. Unsere Kirche befreit den Geist von den Launen des Zufalls, der Natur! O daß das so wenig verstanden wird!

Unsere Methode ist groß! räumte der Dechant ein; seufzend aber setzte er hinzu:

Soviel Schönes, soviel Erhabenes in unserer Kirche, so vieles, was den poetischen Menschen in uns mit den tiefsten Ahnungen und Schauern durchrieselt – wenn nur so vieles andere, was dem Menschengeiste von unsterblichem und göttlichem Werthe sein darf und muß, nicht in ihr verloren ginge!

Dies Thema trennte beide wie immer ...

Ein rätselhaftes Gefühl drängte den Dechanten, während der entstehenden Pause seinem Schreibtisch zuzulangen, als müßte er jenen Brief von unbekannter Hand Bonaventura mittheilen, jene Aufforderung im Jahre 18** am Tage des heiligen Bernhard von Clairvaux unter den Eichen von Castellungo sich zu einem Concil der Befreiung einzufinden!

Doch erblickte er unter den Papieren zunächst nur den Brief Angelika Müller's mit den Einlagen ...

Auch dessen Inhalt erlaubte es, bei dem Gegenstande zu verweilen, den Bonaventura die Grundlage der katholischen Kirche genannt hatte.

Der Dechant war der Meinung, daß die katholische Kirche nicht zu ihrem Vortheil die Ehe zu einem Sakrament erhoben hat. Wo die persönliche Freiheit so beschränkt wäre, daß man sein Lebtag im Joche einer einmal verfehlten Wahl hinsiechen müsse ... da könne der Segen Gottes nimmermehr weilen! Er sprach dies auch jetzt wieder aus mit Rücksicht auf die Briefe, die er entfaltete ...

Bonaventura unterbrach ihn aber schon ...

Nein, Onkel, sagte er, es gibt keine Religion, die nicht bindet! Schon im Namen liegt's ja! Haben die Völker nicht in diesem ein höheres Gesetz, so haben sie es in jenem! Was ist nicht alles den Juden, was nicht den Türken untersagt! Ja, die katholische Kirche hat sich das Schwerste auferlegt! Das ist wahr – aber darin liegt gerade ihr Muth, liegt –

Ihre Verwegenheit! warf der Dechant dazwischen und fuhr in der That aufgeregter als sonst fort:

Gelten lass' ich Reinigungen und Fasten! Es ist gut, daß der Mensch sich oft und regelmäßig die Schranke vorführe, die ihn von der Thierwelt ebenso wie von einem übermäßigen Gebrauche seiner Freiheit trennt! Aber die Ehe! Eine Verklärung der Schöpfung mag sie sein, eine Stütze der Civilisation; aber die Ehe an Gesetze zu binden, die wenn nicht die Natur – die man schon leider ganz aufgeben muß! – doch die Liebe ausschließlich vorgeschrieben hat, das rächt sich an der Sitte und – Sittlichkeit! Es wird sich an der Kirche rächen!

In solchen Augenblicken der Erregung des Greises widersprach Bonaventura nicht.

Es lag auch dann ein so stolzer, hoher Ausdruck in des Dechanten Blicken, die schlanke, noch ungebeugte Gestalt wuchs vollends in die Höhe, die gewohnte Indolenz schwand so ganz, daß der Oheim dann etwas von einem Staatsmann oder einem weisen Gesetzgeber zu bekommen schien und den, der ihm widersprach, geradezu unreif erscheinen ließ.

Habe nur meine Erfahrung! sagte er. Man sieht nur nicht diese Nachtheile einer scheinbaren Wahrheit und einer so großen Lüge! Sie liegen – dank der furchtbaren Organisation, die in unserer Welt die polizeiliche Ordnung hat! – nicht so offen! O sie liegen so verborgen, daß es mir oft, wenn ich mich in unserer katholischen Welt umsehe, vorkommt, als sähe man die alten Verließe der Burgen wieder, wo die Gebeine der Geopferten modern, sähe in die Kerker der alten Klöster, die die Folgen der Zuchtlosigkeit vergruben ... Doch – laß es jetzt genug sein!

Und gleichsam als wenn die Erinnerung einer ganzen schweren Vergangenheit über ihn käme, so zitterte er und brach nun ab.

Wie um sich zu besänftigen, nahm er dann die Briefe und sagte:

Gehst du zum Weinberg des Obersten von Hülleshoven hinüber, so weiß ich nicht, sollst du dem Obersten diese Briefe da mitnehmen oder nicht?

Er erzählte, daß sie ihm von Armgart von Hülleshoven zugekommen wären ...

Bonaventura wollte schnell in seine Pfarre zurück. Er konnte nicht hoffen Benno's habhaft zu werden; nur auf dem Amte galt es noch seine Anzeige über den Leichenraub zu machen. Dem Obersten stand er ferne. Der Oberst war ein Sonderling, der gegen die ganze Welt etwas Schroffes, ja Ablehnendes hatte ...

Die Briefe beziehen sich, sagte der Dechant, auf Dinge, die ich nicht gern mit dem Obersten erörtere ...

Bonaventura kannte die Personen und Verhältnisse ... er wußte, daß Armgart von Hülleshoven in dem Glauben erzogen war, eine Waise zu sein ... er wußte, daß sie seit noch nicht lange erst erfahren hatte, daß ihre beiden Aeltern lebten und getrennt lebten.

Als Bonaventura die beiden zierlich zusammengelegten Briefe sah, auf welchen mit sauberer Hand geschrieben stand: »An meinen Vater!« Auf dem andern: »An meine Mutter!« sagte er:

Sie spricht doch wol ihr Glück aus, jetzt plötzlich diese Schätze gefunden zu haben?

Im Gegentheil! erwiderte der Dechant. Als ich die Briefe empfing, wußt' ich nicht, ob ich über sie lachen oder mich ärgern sollte. In Wahrheit war ich von ihnen gerührt, um so mehr, da auch die Mutter mir aus Wien geschrieben hat, wo sie endlich das Kloster, in dem sie zeither meistentheils lebte, verließ. Beide Aeltern machen Ansprüche auf ihr Kind und jetzt um so lebhafter, seitdem sie um diesen Besitz wieder in den alten eifersüchtigen Streit gerathen sind. Die Mutter will sogar binnen kurzem in die Gegend kommen, was ich dich bitte, um Aufreizungen zu vermeiden, dem Obersten zu verschweigen ...

Bonaventura hätte sich gern dem Auftrage entzogen. Doch las er, da der Dechant es wünschte, den einen der offenen Briefe Armgart's.

»Mein Vater!« schrieb Armgart von Hülleshoven. »Wie die heilige Margarita betete, so wiederhole ich: ›Mein Herr und Gott, bewahre unser Herz in Reinigkeit, unser Leben in Unschuld und jede Begierde, jede Meinung, jede Handlung unsers Lebens in reinster Wahrheit!‹ Daß ich dich einst nennen werde: Mein einziggeliebter Vater! wird die Folge der Erkenntniß deiner hohen Tugenden sein. Die Heiligen mögen mir bezeugen, ich habe ein Herz, so voll der himmlischen Liebesflammen, daß ich dich mit Innigkeit umarmen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß ich eine Mutter habe. Auch sie darf ich, wenn ich wahr sein will, nicht begrüßen, wie es Kindern ziemt, ihre Aeltern nach langer Trennung zu begrüßen. Würd' ich aber, wenn ich zu dir mit ausgebreiteten Armen flöge, nicht die Mutter betrüben? Würd' ich nicht den Schein annehmen, als bevorzugte mein Herz eines von euch? Würd' ich nicht ein Urtheil zu sprechen scheinen, das ferne von mir liegt? Ach, ich beschwöre euch! Kommt, liebevereint, beide – und ruft mich an euer ausgesöhntes Herz! Laßt mich zu euch beiden zu gleicher Stunde emporblicken! Laßt mich reuevoll und in ewiger Liebe vor euch beiden niedersinken und mit einem einzigen glückseligen Worte mich nennen euer einziges und treues Kind, Armgart von Hülleshoven.«

Und der Mutter?

Schreibt sie wörtlich dasselbe!

Bonaventura überflog den Brief, den der Dechant nach Wien schicken sollte. In dem einen Briefe waren nicht mehr Worte und Buchstaben als im andern.

An den Pünktchen da, sagte der Dechant, seh' ich, wie sie gezählt hat, ob auch keiner mehr Buchstaben bekommen hat als der andere!

Oder weniger! sagte Bonaventura gerührt. Sieh, ein Kind will sich zum Preis der Aussöhnung seiner Aeltern setzen! Sollten diese beide nun nicht wirklich, um vor ihrem Kinde nicht beschämt zu stehen, ihren Haß und Groll fahren lassen? Bleibt der kleine Genius des Friedens nur fest in seiner Weigerung, so mein' ich, müßte eine Eifersucht entbrennen zwischen Vater und Mutter, die zum Guten führt! Nennen Sie das Sakrament der Ehe noch den großen wunden Schaden unserer Kirche, wenn es solche Opfer möglich macht? Die kleine Armgart handelt – ich muß es so nennen – katholisch!

»Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dein Lob zugerichtet!« sagte der Dechant ironisch und erhob sich, um Bonaventura das Geleit zu geben und nach Windhack zu klingeln.

Nachdem sie beide die Reliquien aus dem Sarge zusammengelegt und in einer Tasche, die zu Bonaventura's Reiseeffecten gehörte, geborgen hatten; nachdem der Dechant auf die von ihm ausgesprochene Erwartung, der Neffe würde doch wenigstens zum Mittagessen noch dasein, eine ablehnende Antwort erhalten hatte – den Pfarrer zog es mächtig in seine Gemeinde zurück und – Lucinde verscheuchte ihn –; standen beide schon an der Thür, Bonaventura, um auf den Weinberg des Obersten zu gehen, der Dechant, um in der Stadt die diese Nacht mutterlos gewordenen Waisen mit Geldmitteln zu versehen.

Eben sagte er:

Tröste Witwen und Waisen, wie du heute Nacht gethan hast, theile, wenn du ihnen nichts Besseres geben kannst, Heiligenbilder an sie aus: nur um Eines bitt' ich dich, Bona, um Eines ...

Zwei Thüren gingen in diesem Augenblicke zu gleicher Zeit auf.

Windhack trat ein und wollte eine Meldung an Bonaventura bringen.

Herr Pfarrer! sagte er eilends ...

Aber auch Frau von Gülpen war von nebenan erschienen und machte einen Eindruck, der jedem, der sie nur ansah, die Sprache rauben konnte ...

Zwar war ihre Toilette schon in schönster Ordnung, Windhack's gewellter Scheitel saß schon kunstvoll unter der buntbebänderten Spitzenhaube und doch kam sie wie eine halb Bewußtlose. Ihr eines Auge war Entrüstung, ihr anderes Schrecken, die Nase Zorn, die Oberlippe Staunen, die Unterlippe Abscheu. Sie glich einem eben von einem Traum Erwachten, der geträumt hatte, eine Maus wär' ihm quer über das Gesicht gesprungen, und dem es in dem Augenblick, wo er erwachte, auch wirklich so vorgekommen, als hätte ihm etwas Kaltes auf der Nase gesessen.

Gott, was ist Ihnen, Liebe? fragte der Dechant.

Sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht ...

Sie winkte nur Windhack, zu sagen, was der wolle ...

Ein Wägelchen ist halt eben vorgefahren –! sagte Windhack, stockte aber, weil dem so sichtbaren Schmerz der Frau von Gülpen offenbar die Vorhand gebührte ...

Ein Wägelchen – ist – eben – vorgefahren! wiederholte Frau von Gülpen mit hauchender Stimme. Sie that dies, um ihm gleichsam seine Mittheilung zu erleichtern. Es war ein Ton der leidendsten Geduld, ja der eines förmlichen Abgeschlossenhabens mit dieser ganzen höchst unvollkommenen Welt ...

Schon ahnte der Dechant die Ursache dieses Anblicks – die neue Nichte –

Was ist denn, Windhack? fragte er, um nur bald wenigstens über dessen Störung hinwegzukommen –

Der Wagen unten ...

Nun ja, nun ja –

Herr Maria!

Wer?

Herr Maria!

Frau von Gülpen war so großmüthig, so tief edelgesinnt, so gewohntermaßen aufopferungsfreudig, auch noch jetzt die Verständigung zu unterstützen.

Herr Schnuphase! sagte sie.

Herr Schnuphase? ...

Eine dringende Meldung an den Herrn Pfarrer ... fuhr Windhack fort.

An mich? fragte Bonaventura ...

Herr Maria hat Sie halt schon in St.-Wolfgang aufgesucht ... ein sehr wichtiger Auftrag ...

Und schon hörte man auf dem Corridor draußen das Husten und Räuspern eines Mannes, der nicht gewohnt schien, lange ohne das freudigste Bewillkommtwerden zu verharren ...

Ist denn schon die Zeit der Wachsernte, fragte der Dechant lächelnd und verdrießlich zugleich ...

Aber Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase, Lebküchler, Wachslichterfabrikant und Meßgewandsticker aus der Residenz des Kirchenfürsten, schien absichtlich zwei oder drei Prisen genommen zu haben, um nur dicht am Schlüsselloch draußen niesen zu können ...

Und mit jener Selbstaufopferung, die für sich selbst im Leben ja auch nichts, auch gar nichts beansprucht, sondern die nur allein andere glücklich zu machen wünscht, winkte Frau von Gülpen, daß Herr Schnuphase eintreten möchte!

Der Dechant war im äußersten Grade gerührt, zu sehen, wie sich jetzt die gute Frau erschöpft auf ein Eckkanapee im Dunkeln niederließ, ganz nur Resignation, ganz nur ein Bild der Ergebung, sich selbst eklipsirend, wie Windhack hätte sagen können ... Gern hätte er tröstend ihr zugeflüstert: Nun, »die Person« ist doch schon fort? Lassen Sie sie in Gottes Namen reisen! Und gleich! Den Augenblick! ... Aber der Eintretende nahm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden allein in Anspruch.

Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase ist ein kleiner Mann von unendlichster Devotion. Sein Frack ist grün, die Knöpfe daran sind weiß und von Metall, die Weste ist von Kameelgarn und gelb und die Beinkleider sind von Nanking. Er trägt weißgewaschene Lederhandschuhe, wie zu einer Kindtaufe. Aber statt eines Hutes hat er doch nur eine Reisemütze in der Hand und das genirt ihn und das bringt ihn außerordentlich in Verlegenheit und er muß lächeln und um Entschuldigung bitten und muß alles aufbieten, um das Négligé dieser Reisekappe zu verbergen und muß sein: Hochwürdigste Hochwürden – gnädigste Frau – hochehrwürdiger Herr Pfarrer – sehr geehrter Herr Windhack ... mit so vielen Verbeugungen unterbrechen, daß wir –

Doch nein! Um Jean Baptiste Maria Schnuphase ganz zu charakterisiren und nichts zu unterlassen, was zu seinem »ganz ergebensten« und »hochachtungsvoll ergebensten« Eindruck gehört, müssen wir ihn eigentlich in seiner eigenen Sprache reden lassen ... Es ist das jene Sprache von der Abdachung des Harzes her in die kleine römische Enclave, das einzig rechtgläubig dortherum gebliebene Hildesheim. Es ist die Sprache der braunschweigischen Umlaute »uö« statt a oder au oder o, die Sprache des lispelnden S vor St und Sp ... Alle diese feinen Nuancen gehören zu dem Duft des »Vörnöhmen« und »Erhöbenen«, das den Lebküchler, Wachslichterfabrikanten und Meßgewands-ticker schon seit dreißig »Jöhren« umgibt.

Schnuphase, oder nach seiner eigenen Aussprache »Schnuphöse«, besitzt eine nie »ermöngelnde« Ergebenheit. Er ist das Factotum aller menschlichen Bedürfnisse des höhern und niedern »christköthölischen« Klerus. Er ist der Beichtvater der Beichtväter. Herr Maria, von Hildesheim durch eine glückliche Gesellenschaft und darauffolgende Verheirathung gen Westen verpflanzt, ist wohlangesehener Bürger und Hausbesitzer in der stolzen Königin des großen »S-trömes«, die wir kennen lernen werden. Er ist der »Figaro hier«, der »Figaro dort« des Domstifts und aller derer, die sein Vertrauen suchen und nicht suchen! Dienen, dienen um jeden Preis, dienen und wär's auch nur um die regelmäßige Abnahme seiner weltberühmten Wachskerzen für Haus und Altar, seiner Lebkuchen für den Weihnachtsbaum, seiner Stickereien, deren Anfertigung seine beiden Töchter Eva und Apollonia zu den Garderobièren aller Gottesmütter des Landes und aller sonstigen heiligen Toiletten gemacht hat ... dienen war »Herrn Maria's« Lebensaufgabe! Wo ereignete sich das Weihen einer Kirche auf zwanzig Meilen in der Runde, stromauf, stromab, ins Frankenland hinein und hinüber auf die rothe Erde, daß Herr Maria fehlte? Oder eine Priesterweihe oder ein Zweckessen oder ein großes Leichenbegängniß oder eine Glockenweihe oder eine Wallfahrt oder eine Schaustellung wunderthätiger Bilder oder Reliquien ... Herr Maria sollte fehlen? Herr Maria, der kleine, immer vom Feuer der Ueberzeugung sowol wie vom edelsten Ahrbleichert Geröthete? Er war einer der Cherubs, flammend von der Nase bis zum Schwert, die an der Kathedrale in der Residenz des Kirchenfürsten die Eingangsportale hüteten! Dabei durft er auch wandeln auf Erden wie ein Cherub auf Urlaub, ein Cherub der Legende, zu Wagen, zu Roß, per Dampf auf der kühlen Welle oder der hie und da schon sich streckenden Schiene! .. Herr Maria wohnte in einem der alterthümlichsten, massivsten Häuser, die man sich durch hochwürdigste Protection nur erwerben kann. Er war in seiner Art ein Napoleon. Wenigstens war die Biene sein Symbol. Er hätte eigentlich in einem Bienenmantel bei jeder Procession voranschreiten müssen, wie er oft voranschritt, dann freilich im schwärzesten der schwarzen unter seinen vielen Fräcken, mit entblößtem Haupte und eine seiner eigenen Kerzen tragend ... Die Bienen hatten ihn gelehrt, Honig früh von Wachs zu unterscheiden, aus jenem die lieblichsten nürnberger Leb- und thorner Pfefferkuchen und baseler Leckerlis zu gestalten, aus diesem aber Kerzen, reine, weißgelbe edle Wachskerzen zur heiligsten Weihe. Und diese Bienen hatten ihn auch die Emsigkeit gelehrt, den rastlosen Fleiß, das Sammeln auf allen Fluren und Wegen und Stegen für seinen eigenen Schatz und den des Reiches Gottes. So erlebte er freilich die Berufung zu den höchsten Steuersätzen durch diesen kalten protestantischen, keine Exemtionen duldenden »S-töt«, aber auch die Mittel, sie quartaliter pünktlichst zu berichtigen. Herr Maria galt für wohlhabend, aber er war reich. Das wußten Domherren und Capitulare und Officiale und Curaten bis zu Psalteristen und Calcanten hinunter. Dominicus Nück, der mächtige Procurator, Benno's Principal, wußte es gleichfalls. Der hatte ihn auf der Liste aller derer, die in großen Erbschaftsfragen, wie z.B. jetzt in der der Dorste-Camphausen, Mündel- und Pupillengelder auf die rechten Plätze anzulegen wissen. Und was gab es nicht allein schon auf dem geistlichen Gebiete zu rechnen und zu zählen! Was hatten die Herren von Sancta-Columba und Den Aposteln und Den sieben Schmerzen und allen Kirchen diesseit und jenseit des Stromes nicht für einen Neffen dort, für eine Nichte da liebevollst zu sorgen, aufzunehmen und abzutragen! Was gab es nicht Kapitalien unterzubringen! »Schicket euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit!« Herr Maria kannte das ganze Land, kannte alles, was neben Bienen auch Korn und Gerste zieht und Hypotheken braucht. Freilich war er nicht in dieser Gegend geboren, aber er war geboren in dem Lande der Höflichkeit, der feinsten deutschen Aussprache, der gewähltesten Umgangsformen. Er wurde überall gut aufgenommen und nie übermüthig. Er hatte von den Bienen die schöne Harmonie gelernt, die Unterordnung unter einen gekrönten Weisel, unter die selbstbeschauliche Trägheit vornehmer Drohnen; selbst jener poetische Schwung fehlte Herrn Maria nicht, den die Alten mit den Bienen bezeichnen wollten, wenn sie im Munde eines göttlichen Redners die Biene abbildeten oder einen Sophokles an ihr sterben ließen ... nein, Sophokles starb an einer verschluckten Weinbeere! Aber schon die attischen Bienen ruhten vielleicht am liebsten auf solchen Weinbeeren, die von Chios und Tenedos an den Ilissus verpflanzt wurden! Schnuphase bestätigte den Naturforschern, daß die Bienen am liebsten sich den Honig vom Safte der Weinbeeren saugen. Oder verurtheilt ihr ihn deshalb? Lebte der schwungvolle Mann nicht im Lande der köstlichsten Reben? Er, der nur »brauns-weiger« Mumme oder goslarer »Göse« als die höchsten Errungenschaften der dürstenden Menschheit bei seiner Geburt kennen gelernt hatte, er bekam sein rothes Näschen, seine rothen Wänglein, die dem weißen Lockenköpfchen allerliebst standen, nur auf den schönen Rebenhügeln seines neuen Vaterlandes, unter den epheuumwundenen Burgruinen, da, wo man ringsumher dicht neben dem Anblick des Großen und Schönen auch überall einen Guten schenkt. So zu stehen auf »erhöbenstem« Standpunkte, so mit dem grünen »Römerglöse« allen »Köpöllen« und Kirchen und »Dömen« und »S-tiften« und »Köthödrölen«, die er erleuchtete, allen Tannenbäumen ringsumher, die er zur Weihnachtszeit mit Lichtern und Lebkuchen schmückte, allen Kaplanen und Pfarrern, die er mit wundervollen Meßgewändern bekleidete, ein Hoch nach dem andern auszubringen – wer konnte ihm das verdenken! Blieb er nicht immer fein, nicht immer nobel, immer Herr seiner weißen Wäsche, Hüter seiner Manschetten, Meister im Knoten seiner weißen Binde, zierlich und manierlich? Einem Weihbischof die Hand zu küssen, hätte ihn von allen Schäden der Pathologie geheilt! Glücklicherweise war er gesund und fühlte sich im Ahrbleichert und seinem Berufe wie der Fisch im Wasser! Oder er war selbst wie eine seiner Kerzen! Erst Product einer von tausend Enden und Ecken her gesammelten Betriebsamkeit – und dann so sanft sich selbst verzehrend im Lichte, in aufwärtsstrebender reiner, heiliger Flamme und fanatischster Hingegebenheit an alles, was sich nur für sein römisches Ideal unternehmen, betreiben, wühlen ließ! Betriebsamkeit ließ ihn, wie Löb Seligmann, der Bruder der Hasen-Jette, vom Felde die Früchte »auf den Halm« kaufte, den Reps »auf die Blüte«, den Taback, die Runkelrübe »auf Stengel und Knollen«, so den Honig und Wachs kaufen »auf die Blume«, auf die Blume, wenn über dem duftenden Kelche noch die grünen Weberinnen wetteifernd mit den Schmetterlingen summten und schwelgten! Und fast alle Stöcke der Bauern und Schullehrer waren so dem tendenziösesten aller Tendenz-Tendenzer verpfändet, noch ehe die Zellen sich füllten. »Die Blume« – darauf war er Kenner! Und er drückte niemanden. Er handelte wie ein Mann, der die heilige Ehre genoß, mit Stolen, Alben, Manipeln, Fahnen, Standarten, Demonstrationen, selbst Intriguen die Glorie des katholischen Lebens zu mehren, die Hochämter bis nach Lüttich und Antwerpen hin und die großen Dome – o wär' es bis an die Peterskuppel von Rom gewesen! – mit Licht-, Gold- und Silberglanz zu füllen!

Herr Schnuphase überbrachte vom Herrn Kaplan Michahelles, dem Secretär des Kirchenfürsten, einen Brief, der für St.-Wolfgang bestimmt war.

Ein Auftrag Sr. Eminenz? fragte der Dechant erstaunt, als Bonaventura den Brief erbrach.

Frau von Gülpen zitterte bei diesem Worte jetzt auch noch zu alledem vor – Devotion ...

Zu dienen, Höchwürden! sprach Herr Maria.

Ohne weitern Aufenthalt? sagte Bonaventura betroffen im Lesen halb für sich.

Ohne allen weitern Aufenthölt, Höchwürden!

In die Residenz sollst du kommen? fragte der Dechant hocherstaunt.

Zu dienen, Höchwürden! bestätigte Schnuphase.

Des Dechanten Herz klopfte fast hörbar von einer Ahnung, die mit der vorhin unterbrochenen Warnung im innigsten Zusammenhange stand. Gerade das hatte er sagen wollen, gerade vor der Gefahr warnen, die jetzt für Bonaventura heraufzog!

Zu all den Foltern, die Frau von Gülpen zu überstehen hatte, kam nun noch die, sehen zu müssen, wie der Dechant förmlich erblaßte und sich an seinem Tische halten mußte ... Alle ihre Gedanken gingen nun wieder blos auf die Hausapotheke, auf ihre niederschlagenden Pulver – und dabei sah der geliebte Mann offenbar doch nur mit der Absicht so scharf jetzt auf sie hinüber, um sie zu entfernen, sich allein zu wissen mit Bona und über den empfangenen Brief mit ihm eine Scene zu haben ... eine Scene!

Herr Maria, nichts ahnend als nur Gutes, äußerte:

Hochwürden werden gewögentlichst in meinem Hause abs–teigen! Ich bitte! Ich bitte! Es ist der Befehl – wöllt' ich sögen der Wunsch Sr. Eminenz, daß Ew. Hochehrwürden bei mir wöhnen! Im sogenannten s–teinernen Hause, dicht an der Köthödröle!

Der Dechant beherrschte sich nicht länger. Windhack bekam Befehl, Herrn Schnuphase, der es einräumte, sich noch »im ungefrühstückten Zustande« zu befinden, ein Déjeûner à la fourchette vorzusetzen ... Frau von Gülpen durfte dem entscheidenden Blick, dem Wunsche, der sie in diesem Moment aus den Augen des Dechanten machtgebietend traf, sich nicht widersetzen ... Sie ging ... sie ging auf Bonaventura mit einem Blick, der ihn um aller Heiligen willen, die im und nicht im Kalender stehen, bat, den Dechanten zu schonen! ... Sie? Sie selbst? Ach sie war ja gewohnt alles zu tragen! ... Als sie noch Herrn Schnuphase's Diener und »gehorsamsten Befehle« und »unterthänigsten Bereitwilligkeiten«, auch »die Absicht, den nähern Bescheid abwörten zu wollen«, unterbrechen mußte und die Thür öffnete, die zum Corridor führte, und nun wieder mit Herrn Schnupphase zu complimentiren hatte, wer zuerst ginge, da warf sie noch einen Blick gen Himmel ... Er war gemischt aus Kummer und schon wieder doch – aus der seligsten Freude: Diese Bürden – wie sind sie so schwer und dennoch – wie wär' ich unglücklich, wollte sich jemand unterstehen, sie mir abzunehmen!

Bonaventura und der Dechant waren allein.

Mein Sohn! rief der Greis jetzt ausbrechend und mit der ganzen zurückgehaltenen Kraft seiner Furcht und Aufregung, mein Sohn! Was ist das?

Er warf sich dem jungen Priester mit einer Leidenschaft, die dieser an ihm nie gekannt, an die Brust.

Was kann, was soll dir beschieden sein! fuhr er fort. Auch dich wollen sie haben! Auch dich wollen sie in ihre Strudel ziehen! Wir gehen den trostlosesten Verwirrungen entgegen – o mein Sohn! Mein Sohn! Folge diesem Briefe nicht! Ich beschwöre dich! Widerstehe!

Wie kann ich? erwiderte Bonaventura und erinnerte den Greis an die allbekannte Stellung des Kaplans Michahelles.

Dieser hatte einfach und kurz geschrieben:

»Hochwürdigster Herr! Im Auftrage Sr. Eminenz soll ich Sie ersuchen, ihm binnen acht Tagen persönlich Ihre Aufwartung zu machen. Ihr hochachtend ergebenster Eduard Michahelles. Alles zur größern Ehre Gottes.«

Das Losungswort der Jesuiten! sagte der Dechant mit tiefster Erbitterung. Bona! Bona! – es würde den Rest meiner Tage kürzen ...

Theurer Onkel! unterbrach der Pfarrer und umarmte den Dechanten. Warum diese Sorgen! Man beruft mich zu irgendeinem harmlosen Auftrage! Der Kirchenfürst ist aus unserer Heimat gebürtig! Er kannte den Vater ...

Sein Arm ist gewaltig, sein Wille stark – Bona! Es ist mir, als säh' ich dich von mir geschieden! Geistig geschieden!

Ich werde prüfen und nur das Gute behalten!

Sie werden deine Liebe zur Religion mit einem neuen, dir fremdartigen, verfälschten Stoffe schüren! Sie werden dich in ihre Bahnen reißen, die Bahnen der Zerstörung, des Kampfes, der Auflehnung gegen Gesetz und Obrigkeit, des Kampfes gegen das theuere Vaterland! ... Priesterberuf! Die Kirche! Rom! Das werden die Formeln werden, die deine Ueberzeugungen binden, deinen Willen gefangen nehmen – Bona!

Der junge Priester zuckte die Achseln und deutete auf den Brief ...

Du – mußt – folgen! sagte der Dechant endlich wie tonlos. Sicut cadaver estote! Ihr sollt sein wie die Leichname! ... Lebe wohl

Beide gingen ... sie gingen erst noch zusammen. Der Dechant nahm schon jetzt Abschied von dem jungen Priester, den, wenn er wahr sein wollte, der Ruf des Kirchenfürsten in die außerordentlichste Aufregung versetzte, ja bis zur Begeisterung erhob.

Um den Greis zu trösten, sagte er:

Fiat lux in perpetuis!

Wie? blickte der Dechant auf und sah ihn auf dies Wort betroffen an. Es war die Losung der aus Italien gekommenen Aufforderung ...

Doch ruhig und harmlos hielt Bonaventura des Greises Frage aus. Der Dechant sah, daß diese Worte nur durch einen Zufall gesprochen wurden.

Am Hause unten trennten sie sich ...

Herrn Maria fesselten Windhack und das Frühstück ...

Den Dechanten hielt eine Weile noch der nun angekommene froh scherzende und grüßende Napoleone Biancchi auf. Catone trug ein Bret voll Gipsabgüsse, frisch gefüllt, und unter den Heiligen stand ein Apollino, stand der Knabe mit dem Schwan, stand Dannecker's Ariadne ... Alle Jahre brachte Napoleone dem Dechanten irgendetwas, was seinen Geldbeutel in Contribution setzte und Frau von Gülpen für die Unterbringung in den schon überfüllten Räumlichkeiten neue Sorgen machte ...

Der Dechant beschied den alten Bekannten, gezwungen freundlich, auf den Nachmittag und wandte sich zum Dome von St.-Zeno, während Bonaventura auf dem Wege zu dem Weinberg des Obersten bereits hinter den Bäumen verschwunden war.

11.

Inzwischen war Lucinde nicht müßig gewesen.

Eine Weile hatte es gedauert, daß das Billet der Frau von Gülpen sie so niederschmetterte, wie vor Jahren einst der Tod Serlo's an jenem Abend, als sie in ihm den einzigen Menschen zu finden hoffte, der für sie noch auf der Welt tröstend leben konnte.

Eine Weile hatte sie sich gesagt:

Du gehörst denn also wirklich zu den Unglücklichen, die keine Ruhe im Leben finden werden! Zu den Gezeichneten, vor denen alles flieht! Zu denen, die gehaßt werden, wo sie lieben, falsch erscheinen, wo sie voll Vertrauen sich hingeben! Zu den Unglücklichen, vor denen die Mütter ihre Kinder wegziehen, weil sie glauben, schon ihre freundliche Anrede thäte ihnen Leids, ihr Auge schon hätte den bösen Blick, der Verderben bringt! Zu den Unglücklichen, die, was sie auch im Leben beginnen, nie und keinem etwas recht machen können, immer eine andere Absicht haben sollen, als sie aussprechen oder zeigen, ... ach und denen die Natur selbst schon, grausam genug, wirklich auch die Hand des Ungeschicks gegeben hat, die alles fallen läßt, was sie angreifen, alles nur noch mehr verwirrt, was sie lösen möchten!

Sie kämpfte zwischen zwei Rathgebern und Beiständen jetzt ... Bonaventura oder Beda Hunnius ...

Jener war gestern, auch vorgestern, so freundlich und so gut gewesen ... Ihr einziges Lebensziel, in dieses Priesters Nähe und Vertrauen, im Abglanz seines Lichts zu leben, und wär' es als Magd ... es war ihr wieder in so unmittelbare Nähe gerückt ... Und doch auch er! Wie ablehnend war bei alledem diese seine Freundlichkeit, wie kalt seine Höflichkeit! Es schien ihr so seltsam, daß auch Bonaventura sich vor ihr fürchten konnte, fürchten als Verführerin zum Bruch seiner Gelübde! Bitter sagte sie sich: Daß doch diese Männer ewig nur dies Eine in uns finden können –! Nur dies Eine –! Nie und nirgends etwas Anderes!

Nach einigen Stunden der Verzweiflung, des Zornes, der Hoffnung auf einen versöhnlichen Schritt vielleicht von Seiten des Dechanten oder von Seiten Bonaventura's, entschloß sie sich – da sie Bonaventura und den Dechanten nun auch noch das Haus verlassen sahe und nichts kam, sie zu befreien von ihrem Jammer, von ihrer Demüthigung, – die Hülfe Beda Hunnius' in Anspruch zu nehmen.

Ihr Zimmer zu verlassen wagte sie nicht – aus Scham, etwa Benno oder Hedemann zu begegnen, jeder Stein schien sie zu verhöhnen – jedes Baumblatt schien ihr ein sie verletzendes Mitleid mit ihr zu haben.

Sie wollte an Hunnius schreiben ... Geräthschaften dazu gab es in ihrem Koffer ... Sie öffnete und legte alles Nöthige heraus ...

Als sie geschrieben, hatte sie zwei Gelegenheiten, deren sie sich zur Abgabe des Briefes bedienen konnte ...

Die eine war Napoleons Biancchi, der sich vom Dechanten nicht ganz hatte abweisen lassen, sondern die Treppe hinaufstieg und nach Signora Schwarz fragte ...

Auch das mußte Frau von Gülpen hören und sehen!

Der Ankauf schon einer Kunstsammlung im Hause! sagte sie, als sie den Italiener an die Thür verwies, wo man den Moses Michel Angelo's hatte kaufen wollen.

Lucinde begrüßte den Italiener gefaßt, lehnte den Ankauf nicht ab, gab für die Statue, was Napoleone verlangte.

Sie ließ dann Porzia grüßen. Sie erfuhr, daß Hedemann seiner Tochter gestern ganz den Dienst erwiesen hatte, den sie vorausgesetzt.

Auf ihren Glückwunsch zur »schönen Müllerin von Witoborn« machte Napoleons eines der charakteristischen Zeichen, mit denen der Italiener dreierlei Gedanken zu gleicher Zeit ausdrücken kann, sagte aber doch:

Herr Hedemann wollte von Ihnen italienisch lernen!

Bitter lächelnd über die Zerstörung aller dieser schönen, so traulich gewesenen Hoffnungen, überlegte sie, ob sie ihren Brief für die Stadtpfarrei durch Napoleone besorgen lassen sollte.

Dabei fiel aber ihr Blick vom Fenster aus auf einen andern Ankömmling, der in den Wegen des Parkes sichtbar wurde, eine hohe, kräftige weibliche Gestalt, die unverkennbar die Jüdin von gestern war. Sie trug auf dem einen Arm ein Kind, auf dem andern einen großen verdeckten Korb.

Rufen Sie mir jene Frau mit dem Korb und dem Kinde herauf! sagte sie zu dem Italiener, der sich entfernend der aus ihrem Erstaunen nicht mehr herauskommenden und wie auf Wachtposten befindlichen Frau von Gülpen in der That die Mittheilung machen konnte, daß Lucinde ihm einen seiner werthvollsten Abgüsse abgekauft hatte.

Sinnend stand Lucinde vor dem Gesetzgeber der Juden, dessen kolossale und markige Formen eher einem Hercules angehörten, wenn man nicht an den Propheter des »starken und eifrigen« Gottes denken wollte ...

Ist doch nicht jeder Priester nur ein Schatten! sagte sie sich. Nicht jeder nur ein kalter todter Begriff! Nicht jeder nur die Drohne im Bienenstock! Nicht jeder nur ein Mann in langem Frauengewande!

Es paßte auf Moses und auf Beda Hunnius ...

Sie hatte den Brief noch einmal überlesen. Sie schilderte dem neuen Freunde ihr Misgeschick in der Dechanei und bat um seinen Beistand ...

Als sie gesiegelt, klopfte es ...

Die Hasen-Jette trat ein ...

Auch ihr hatte Frau von Gülpen mit den Worten den Weg zur Mansardenstube gewiesen:

Ich sehe, dort oben bekommt noch heute die ganze Stadt Audienz!

Frau Henriette Lippschütz trat in gewählterer und minder phantastischer Kleidung ein, als sie diese Nacht getragen hatte. Am rechten Arme hielt sie einen mächtigen Korb voll frischgeschossenen wilden Geflügels, das auf einer Unterlage von zusammengerollten und gleichfalls verkäuflichen groben Scheuertüchern, Zwirngebinden, Bandrollen, Schwefelfäden, Feuerzeugen und dergleichen ruhte; auf der Linken trug sie einen Knaben von mindestens schon zwölf bis dreizehn Jahren.

Tragen Sie einen so großen Jungen noch auf dem Arme? fragte Lucinde.

Mein Davidchen! antwortete die Jüdin. Das Kind ist so schwach auf die Beine! Und weil die Tante Ley nun gestorben ist, fürchtet sich das Kind zu Hause! Wir wohnen gerade gegenüber dem Unglück! Komm, Davidchen, ich setze dich auf das schöne Sopha da! Das Fräulein erlaubt es! Womit kann ich dienen?

Lucinde nahm Kleider und Wäsche vom Sopha fort. Aber der schon so große Knabe protestirte mit langgezogenem, weinerlichem Tone und hielt sich fest am Halse seiner Mutter.

Fürchtest dich doch nicht, Davidchen? Eine so schöne Dame! Hände wie Seide! Komm, Davidchen! Laß dich sitzen!

Nein! war die Antwort, weinerlich langgezogen und entschieden.

Und voll unendlichster Milde und Nachgiebigkeit sagte die große Frau:

Willst du nicht, Davidchen? Nun, so gib dich nur! Ich will den Korb niederstellen! Womit kann ich dienen, Fräulein?

Dabei hielt die Frau unverwandt den schweren Knaben.

Ich hätte gern einen Brief von Ihnen in die Stadt besorgt – sagte Lucinde ...

Die Frau nahm den Brief; aber David sagte:

Ich – ich will ihn haben!

Willst ihn haben, mein Sohn? sagte die schwächste aller Mütter. Er kann nichts sehen Geschriebenes, er will's haben! Gelt, David, du gibst einen Gelehrten?

So schmeichelte sie dem David, nur damit er nicht den Brief zu tragen begehrte. Die kluge Frau sah wohl, daß das Fräulein nicht den Brief offen getragen wünschte.

Zum Glück war David eitel und wollte noch gründlicher seine Kenntnisse leuchten lassen.

Er zeigte auf den Korb und sagte:

Achetez quelque chôse Mademoiselle! Nous avons des jolis objets à vendre!

Was hat er gesagt? Was hat er gesagt? rief die entzückte Mutter.

Lucinde übersetzte es und rühmte aufrichtig des Knaben Genie.

Der Onkel laßt ihn lernen alles zu Hause durch Maîtres! Das Kind ist so klug! Aber es kann nicht gehen in die Schule! Gleich ist es müde, wenn es ist gegangen eine halbe Stunde – es ist so schwach auf die Beine!

Also David kann gehen! sagte Lucinde voll Entrüstung über den großen Jungen, der sich tragen ließ ...

Er studirt soviel! wiederholte die gute Mutter.

Aber wieder wollte David den Brief haben und die Adresse lesen.

Er bekam ihn auch und übersetzte die Adresse gleich ins Französische ...

Das Kind! sagte Frau Lippschütz. Nicht wahr, Fräulein, der Brief ist auf die Post?

Auf die Post? wiederholte Lucinde. Sagt' ich's denn noch nicht? Nein, liebe Frau! (Sie gab ihr ein Geldstück.) Bringen Sie den Brief in die Stadtpfarrei –

Wohin? fiel die Frau mit einer sich verdüsternden Miene ein.

Zu Herrn Hunnius!

Hunnius –? sagte die Jüdin und während sie immer mehr in Verlegenheit gerieth, betrachtete David das der Mutter sogleich aus der Hand genommene Geldstück.

Ein Frédéric d'argent! sagte er.

Was hat er gesagt?

Ich hätte Ihnen einen silbernen Friedrichsdor gegeben!

Ein Viergroschenstück ein silberner Friedrichsdor!

Doch erhob sich die Freude der Mutter nicht mehr zu dem frühern strahlenden Glanze über die Kenntnisse und den Witz ihres Kindes, sie zögerte und nahm Anstand, das Billet in die Stadtpfarrei selbst zu tragen ...

Fräulein! sagte sie. Ich muß Ihnen etwas sagen! Ich will schicken eines von den Kindern der armen Frau Ley! Es will auch kommen ein Herr, der Treudchen Ley möchte mitnehmen in die Stadt und will sich erkundigen nach ihr beim Herrn Stadtpfarrer! Ein Kind wie eine Prinzessin! Dabei die Arbeitsamkeit selbst!

Warum wollen Sie denn nicht selber gehen?

Ich kann nicht gehen in die Klostergasse –

Liegt dort die Stadtpfarrei?

Ich kann nicht gehen über die Schwelle der Stadtpfarrei –

Sind Sie so rechtgläubig?

Die Jüdin lehnte diese Auslegung ab –

Auch die Dechanei ist die Wohnung eines christlichen Geistlichen ... sagte Lucinde.

Die Jüdin sah sich um, mit einer Miene, die offenbar so viel sagen wollte als: Hier, in diesem toleranten Hause empfind' ich nicht das, was mich in der Stadtpfarrei stören würde ...

Dabei fiel ihr Auge, das sie unverwandt nur auf ihren David gerichtet gehabt hatte, jetzt erst auf das ansehnliche Gipsbild, das Lucinde auf eine Kommode gestellt.

Gott! rief sie plötzlich. Wer ist der Mann?

Hercules, der Gott der Stärke! sagte David ...

Nein – warf in steigender Aufregung seine Mutter ein –

Es ist Moses, euer Gesetzgeber! berichtigte Lucinde.

Hätte mir eins gesagt: Henriette, es ist dein Onkel, der Doctor Leo Perl – ich würde gesagt haben: Der Kopf! Der Blick! Das Auge, ja! Gott im Himmel, es war ein Mann – man hätte geglaubt, er zerschmeißt die Welt – und muß sich taufen! Tauft sich in der Stadtpfarrei! Hier in Kocher vor seiner ganzen Familie! Es war meiner Mutter Bruder! Und der Mann, gewesen wie ein Löwe, ist zusammengegangen wie ein Kind, wie wenn ich sagen wollte, der Moses da auf der Kommode geht zusammen wie hier mein David auf dem Arm!

In diese lebhafte Anschauung einer Phantasie, die auch das kleine Gipsbild gleich nur im vollen Bilde des Propheten sah, den es bedeutete, wiederholte mehrmals David mit kritischer Schärfe:

Warum sitzt Moses?

Die Mutter, die wieder leicht im Stande gewesen wäre, zu erwidern: Auch er war schwach auf die Beine! hatte vor Trübheit ihrer Erinnerungen keinen Ausdruck der Bewunderung mehr über diese Frage, die schon Winckelmann beschäftigt hat, sondern hob den Korb in die Höhe, bat Lucinden, ihr die Thür zu öffnen und versprach, das Billet so pünktlich besorgen zu lassen, als wenn sie es dem Stadtpfarrer selbst überbracht hätte.

Lucinde entsann sich aus des Dechanten gestriger Erzählung, daß Leo Perl von ihm sein Freund genannt worden war und sogar der Geistliche gewesen sein sollte, der Bonaventura getauft hatte.

Es vergingen ihr jetzt zwei der peinlichsten Stunden ihres Lebens.

Ungeduldig schritt sie auf und nieder, las eine Weile, schrieb, schloß und öffnete das Fenster, sah bald nach dem kleinsten Geräusch, bald verschmähte sie es, dies nach einem größern zu thun ...

Wagen rollten an und ab ... Aus der Ferne hörte sie die militärischen Uebungen – Trommeln und Schießen ... Sie las in Serlo's Erinnerungen – in Hunnius' Saronsrosen – sie schrieb an Joseph Niggl ... an den Vorsteher des orthopädischen Instituts ... sie wußte noch nicht, ob sie dorthin zurückkehren sollte ... Sie zeichnete sich mit der Feder auf ein leeres Blatt Papier als Pilgerin mit dem Muschelhut und dem Wanderstabe – sie dachte allen Ernstes daran, vielleicht so hinauszuwandern in die weite Welt und die zu ärgern, die für ihre katholische Wiedergeburt so wenig Anerkennung hatten ... Sie sagte sich: An der Schwelle der Peterskirche will ich sterben!

Die Hoffnung, daß plötzlich Bonaventura eintrat oder der Dechant oder Benno oder irgendwer, der eine Vermittelung versuchte, erfüllte sich nicht.

Gegen Mittag erschien Windhack und bot ihr zu essen.

Er wollte ihr, was sie nur begehrte, auf ihr Zimmer bringen ...

Sie schüttelte den Kopf und wandte ihm den Rücken ...

Im Spiegel sah sie, daß sich der Alte zu verwundern schien über die gemüthliche und noch so wohnliche Ordnung des Zimmers, die keine Spur einer Zurüstung zur Abreise trug.

Das Gipsbild wird halt ein bissel schwer zu verpacken sein! sagte er, mit Erwartung, was auf diese ironische Andeutung erwidert würde.

Statt aller Antwort trat Lucinde an die Kommode, fuhr einfach mit der Hand über sie hinweg und warf die Figur hinunter, sodaß sie in hundert Scherben im Zimmer lag.

Windhack schien sein Gefallen an dieser Kraftäußerung zu haben ... Lächelnd sagte er:

Wenn Ihnen das Zimmer zu dumpf ist, Fräulein, und Sie frische Luft schöpfen wollen, hier geht gleich die Treppe zu meiner Sternwarte hinauf!

Lucinde sah nicht hin, dankte aber mit einer stummen Kopfverbeugung.

Der Dechant drückt Ihnen sein Bedauern aus! Er hat es eben erst jetzt nach seinem Ausgang erfahren! Er läßt Sie fragen, ob Sie noch etwas zu wünschen hätten?

Lucinde schüttelte den Kopf.

Herr von Asselyn, der Pfarrer, ist schon nach St.-Wolfgang zurück ...

Lucinde hielt mit beiden Händen krampfhaft das Bret am Fenster fest und sah zitternd in den Park und gen Himmel.

Ein Bote hat ihn nach der Residenz des Kirchenfürsten berufen ... Man sagt, er wird dort in eine offene Stelle an den Dom kommen ...

Sie lächelte bitter. Ihre Gedanken sprachen:

Empor zu Paula's Prophezeiung!

Fräulein! näherte sich Windhack vertraulicher ...

Sie erwarten einen Brief? sagte er.

Nun wandte sich Lucinde ...

Frau von Gülpen, flüsterte er, läßt niemanden mehr zu Ihnen! Hier den Brief da ... den hab' ich halt dem Treudchen Ley abgenommen ... aber heimlich ... Sie wollte Ihnen für Ihre Theilnahme danken, sagte sie. Ich merkte gleich etwas. Frau von Gülpen meinte, des Nachts wäre noch keine ihrer Nichten so aus dem Hause gelaufen und wenn noch soviel Menschen in der Stadt im Sterben gelegen hätten ... Sie würden abreisen! sagte sie. Und während mir das arme Kind dann vom Begräbniß der Mutter erzählte und von einem prächtigen Dienst, den sie bekommen soll, ließ ich mir heimlich von ihr halt den Brief zustecken ...

Dann sich umsehend, wie wenn Frau von Gülpen an der Thür lauschen könnte, gab ihr Windhack das Billet.

Er entfernte sich, um dem Verdacht zu entgehen, als wenn auch er sich »mit der Person auf Gesprächen betreffen ließe«.

Es war die Antwort des Stadtpfarrers.

Lucinde erbrach und las:

»Meine Hochverehrteste! Ich bin aufs tiefschmerzlichste berührt von der Ihnen widerfahrenen Behandlung! Kaum eine Freundschaft gewonnen, wie die Ihrige, und schon die persönliche Nähe preisgeben müssen! Aber zu erwarten war dieses schnelle Ende! Ihr Geist, Ihr Feuer, Ihre Bekenntnißtreue und – die Dechanei!« ...

Sie nickte, jetzt ganz übereinstimmend.

»Hier an Ort und Stelle!« fuhr sie zu lesen fort, »wüßt' ich im Augenblick leider keine Gelegenheit, Sie zu fesseln! Ohnehin ist vor Ihnen als vor einer Emissärin gewarnt worden! Auch meines Bleibens ist hier ja wol schwerlich noch allzu lange! An dem Dom in der Residenz des Kirchenfürsten ist eine Stelle offen, für welche ich gegründete Aussicht habe, daß ich durch den Ihnen bekannt gewordenen Freund und Briefsteller designirt bin ...«

Lucinde unterbrach sich mit einem bittern Lächeln, als wollte sie sagen:

Du armer Thor! Diese Stelle ist schon für Bonaventura von Asselyn bestimmt und wird die Staffel werden zu seinem künftigen Bischofssitz!

Und nun schon im Uebermaß ihrer Eifersucht und Liebe zerstreut durch den Gedanken, die alte Renate in St.-Wolfgang packen und aufbrechen und mitreisen, auch durch die Furcht, jetzt wol gar Klingsohrn und Bonaventura zusammentreffen zu sehen – fuhr sie fort:

»Eine Anknüpfung ist vielleicht für Sie durch einen Mann möglich, den ich stündlich von der Residenz des Kirchenfürsten erwarte, einen vielvermögenden Herrn Schnuphase. Er hat, wie er hieher geschrieben, den Auftrag, für ein vornehmes, überaus reiches und einflußreiches Haus daselbst eine Gesellschafterin zu suchen, die gewisser Conflicte wegen mit besonderer Vorsicht gewählt werden muß ...«

Lucinde las diese Stelle noch einmal ...

Der plötzliche Gedanke, in die Nähe Bonaventura's und Klingsohr's verpflanzt werden zu können, ließ sie vor Aufregung den übrigen Inhalt dann fast nur noch überfliegen ...

»Das erste christliche Handelshaus daselbst ist das Piter Kattendyk'sche, und wenn Sie vielleicht geneigt wären, bei Frau Commerzienräthin Walpurgis Kattendyk –«

»Postscriptum. Soeben kommt Herr Schnuphase bei mir vorgefahren! Der Vorschlag ist gemacht, erwogen, angenommen! Sie können, wenn Sie wollen, Herrn Schnuphase sofort begleiten und noch heute mit ihm in die Residenz des Kirchenfürsten reisen, wo Sie nach dem, was ich von Ihnen erzählt habe, im Kattendyk'schen Hause zu einer der glänzendsten Stellungen mit offenen Armen werden aufgenommen werden!«

Lucinde mußte jetzt vor Aufregung, Glückseligkeit und dem triumphirenden Gefühl der Genugthuung und doch wieder auch vor Furcht, alles das – und was mehr, als die Hoffnung, in Bonaventura's Nähe weilen zu dürfen! – könne doch wieder scheitern, den Brief eine Weile aus der Hand legen.

Dann aber las sie den Schluß:

»Sie können sich aber auch, wenn Sie vielleicht – und zu meiner höchsten Freude – noch einige Tage hier im ›Riesen‹ wohnen bleiben wollen, einer spätern Gelegenheit bedienen! Derselbe vortrefflichste Herr Schnuphase kehrt in einigen Tagen wieder zurück, um vielleicht dann die ihm von mir empfohlene bedauernswerthe Waise, Gertrud Ley, abzuholen, die er in einer nicht minder respectabeln Stellung unterzubringen hofft, wie er sagt, bei einer verwitweten Frau Hauptmännin von Buschbeck ...«

Das Papier entfiel Lucindens Händen.

Wie? rief sie laut vor sich hin und nahm den Brief wieder auf und las die Worte noch einmal.

Es war der wirkliche Name, wirklich war es Treudchen Ley, die diese ihr so wohlbekannte Stellung antreten sollte ...

»Das Mädchen«, las sie zitternd weiter, »niedergebeugt von ihrem Verlust, überbringt Ihnen diese Zeilen selbst, zugleich auch, um ihre Freude auszudrücken, mit Ihnen vielleicht gemeinschaftlich die Reise machen zu können. Wäre nicht das Begräbniß ihrer Mutter noch abzuwarten, sie ginge schon heute.«

Zur Hauptmännin von Buschbeck? ... Die noch lebt? ... In der Residenz des Kirchenfürsten lebt? ... Die Schwester meiner zweiten Peinigerin? ... Hat diese wol schon den Namen ihrer Herrschaft von Treudchen Ley vernommen? ... Ist sie wol gar verbündet mit dieser Schwester, die jetzt von Frommen protegirt wird, sie, der zufolge nicht Gott, sondern Satan die Welt regiert? ...

So schossen ihre Gedanken dahin ...

Lucinde konnte sich nicht denken, daß die gemeinte Frau Hauptmännin von Buschbeck die ihrige war.

Dennoch überflog sie nur noch kurz die fast zärtlichen Schlußversicherungen der Hochachtung und Ergebenheit, mit denen Beda Hunnius seinen Brief geschlossen hatte, warf ihren Shawl um, setzte den Hut auf und eilte die Stiege hinunter, um, unbemerkt über das, was sie im Hause etwa aufhalten, etwa anstaunen, etwa anreden konnte, hinüber in die Stadt zu eilen, wo sie im Uebermaß ihrer neuen und glücklichsten Hoffnungen in der Pfarrei erwartete, entweder Aufklärungen zu vernehmen oder, wenn ein ihr lieb gewordenes junges Mädchen in Gefahren gerathen sollte, die sie kannte, deren die vorsorglichsten dann selbst zu geben.

Ihr Herz war vielleicht nicht mehr gut, aber auch noch nicht böse ...

Sie war das, was ein starker Bildner, aus ihr hätte formen können.

12.

Benno aber, Hedemann, Thiebold de Jonge ... wo weilen die, die uns hoffentlich ein wenig lieb geworden sind oder die es mit der Zeit vielleicht noch zu werden hoffen?

Ihrer habhaft zu werden ist nicht möglich.

Wol aber tauchen sie mit dem, was uns an ihnen vielleicht interessirt, bei einem ersten Blicke auf, den wir noch zuletzt – acht Tage mögen freilich verstrichen sein – auf die vielgerühmte Residenz des Kirchenfürsten selbst werfen wollen.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Da liegt sie denn also vor uns! ... Eine königliche Stadt! ... Die gewaltige Jungfrau, die bei festlichen Gelegenheiten, gemalt oder aus Gips und Draperieen geformt, den Genius derselben vorstellt, ziert mit Recht die majestätische Mauerkrone! ...

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kein gebietender Herrscherwille schuf dies Chaos von Thürmen, Kirchen, Kapellen, Klöstern, Giebeldächern, Rath- und Kaufhäusern, Waarenhallen, Hafenspeichern, Schiffsmasten, jetzt auch von dampfenden und funkensprühenden Feuerschloten!

Was da im Abendglühen von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne des ersten Septembertags er leuchtet und von der matten Scheibe ihres Stellvertreters an der Wächterzinne des Himmels sanft bläulich schon angedämmert vor uns liegt, schuf sich im Laufe zweier Jahrtausende durch die Umstände selbst!

Hier stieß der Römer seine Lanze in den Boden und baute statt windbewegter Zelte Castelle, wie uralte Cyklopenarbeit ... Hier stampften die Rosse Karl's des Großen, wenn sie rasteten vom Marsch aus den Thälern von Roncesvall und entgegenschnaubten den Wittekindsschlachten auf jenseitigem Ufer ... Hier fing sich, Schiffssegel blähend und den Handel der Welt belebend, Nordsturm, vom eisigen Island brausend, Ostwind, der aus der Levante wehte und den Weg an den Ufern Spaniens, Frankreichs und Hollands entlang die Waaren nehmen ließ, die sonst über Venedig kommend nur Augsburg und Frankfurt bereichert hatten ... Hier drängte und trieb und stieß die Zeit die Zeit, die Sitte die Sitte, die Meinung die Meinung ... Was übrig geblieben von Zeit und Sitte und Meinung, das ergänzt die Ordnung und Civilisation der Gegenwart ... ja sie ergänzt sogar die Ruinen und baut das mit künstlichem Glauben aus, was der natürliche unvollendet ließ.

Es ist neun Uhr Abends ...

Noch einmal schlagen all diese Kirchthurmglocken zusammen, wie wetteifernd mit den Trommeln in den Kasernen, mit dem Signalhorn vor den Wächthäusern! Es ist die Stunde, wo die Müden zur Ruhe gehen sollten – eine arbeitende, fleißige und gewinnsüchtige Stadt wird früher müde als eine Stadt nur des Luxus und Genusses ...

Und doch gibt auch diese sinnlichbewegte und lebenssichere Stadt nicht nach ... noch wogen die Menschent auf und ab ... noch lustwandeln sie auf der die Ufer des großen Stromes verbindenden großen Schiffbrücke, die wie von Fischbein sich biegt unter jedem Roß und Wagen ... noch stehen Liebende in träumerischem Plaudern über die Brüstung gelehnt und sprechen von zukünftigem Glück, das nur zu oft dem Golde gleicht, das eben der Mond auf den Fluten schwimmen läßt ... in den Schenken kämpft die Rebe und der Saft der Gerste um den Sieg ... das christliche Opium, die Cigarre, secundirt beiden Parteien, bis die Kämpfer – vorläufig auf beiden Seiten unterliegen ...

Hat sich denn, du alte Römerstadt, endlich im Zechen und Reden und Singen dein deutsches Gemüth genug gethan? Hat es sich endlich ausdebattirt und auspolitisirt? Sattgetrunken an ungegorenem Zeitungsmost und zu Essig gewordenen oder schon mit Schimmel bestandenen alten Gemeinplätzen? Hat ausgeklingelt und ausgeklüngelt die Schellenkappe? Verdampfen die lebendigen Rauchmaschinen in den Straßen und erklingen endlich nur noch die letzten guten oder schlechten Geckenwitze? Eine Gute Nacht! hüben und drüben ... Alles endlich still, falls nicht noch irgendwo ein Mitglied der mehreren hochberühmten Gesangvereine der Stadt ein Tenorsolo probirt bei offenem Fenster ... die musikliebende Stadt ist stolz auf ihre Leistungen im Quartett; niemand, außer vielleicht einer Katze, wird den Sänger parodiren.

Halten wir aber am sogenannten Heiligenpütz still, überschreiten links den Aschenkötter, lassen rechts den Treckkamp liegen und bleiben wir endlich vor einem mit zwei hellen Gaslaternen geschmückten, jüngst erst mit graugrüner Oelfarbe bestrichenen stattlichen Gebäude ...

Das untere Stockwerk ist mit Eisengittern geschützt.

Steinerne Kegel, die mit Ketten verbunden sind, halten das profanum vulgus, das ohne Wechsel oder Anweisung nur etwa aus purer Neugier in die Comptoire blicken könnte, zurück ...

Irgendein Schild, irgendeine Firma ist nicht ersichtlich ...

Wer hier die blitzende Messingklingel zieht, weiß, daß in diesem mächtigen Hause mit seinen weit hinaus sich erstreckenden Hintergebäuden, die alle auf den Heiligenpütz, den Aschenkötter und den Treckkamp noch ihre eigenen Thorwege hinaus haben, das erste »christliche« Geschäft der Stadt, die Firma »Kattendyk und Söhne« waltet.

Oeffnet man uns dann, so steckt ein Portier den Kopf aus einem Kellerfenster des Thorwegs ...

Man kennt uns? Passirt! Wir finden uns zurecht ...

Ein Glasverschlag trennt das Treppenhaus von der Region der untern Stockwerke; unten waltet nur das Geschäft ...

Man läßt die mit Blech belegten Eichenthüren und mit Eisenstangen verschlossenen untern Comptoire liegen und steigt erst drei kleine Stufen höher ...

Hier wieder eine Klingel. Die Glasthür öffnet sich. Jetzt erst schreitet man auf Teppichen in den ersten Stock hinauf ...

Gewiß ist es ein behagliches Gefühl, sich Abends gegen zehn Uhr in einem Haufen todter Steine, während ringsum alles schon zu schlummern scheint, einen kleinen stillen Winkel denken zu können, wo im Winter und selbst in den ersten Herbsttagen schon die Flamme des Kamins noch nicht erloschen ist, ein gelblicher Schein von der durch einen bunten Schirm gedämpften Glaskugel der Lampe die Teppiche auf dem Fußboden und auf dem Tische erhellt, einen Winkel, wo noch ein kleiner Kreis von Menschen sich um ein Piano versammelt hat oder um ein Buch, das vorgelesen wird, oder um einen geistvollen Redner oder eine gemüthvolle Frau, die jeden heiter anzuregen versteht. Einem Einzigen, Unverbesserlichen vielleicht ist gegen zehn Uhr von der Hausfrau noch gestattet worden, dicht am Kaminrande mit Discretion eine Cigarre zu rauchen; zwei junge Damen schneiden eine Zeichnung aus; einige junge Herren sind über eine neue Oper in Streit gerathen; gelöst wird der Kampf von einem nicht fehlenden, den Abend beschließenden kleinen Stegreif-Souper. Geht man dann gegen elf Uhr von dannen, so trägt jedes mit sich hinaus das Gefühl, das uns zuweilen wol noch erstens in eine geöffnete Restauration ziehen kann, um auf magenverderbende Majonaisen ein gutes Beefsteak und ein Seidel Bier zu setzen, aber auch zweitens jenes Gefühl, daß wir denn doch im Grunde ein Dasein leben, unabhängig von Holz und Stein und Stundenschlag und Nachtwächterhorn, und daß wir mit schönen Seelen noch schön empfinden können und unsere Leidenschaften zügeln oder anständig verbergen und aufgehen können in einer schönen harmonischen Weltordnung, aus der wir uns nur langsam zurückfinden in diese »schnöde Welt« – vielleicht erst durch die Mahnung eines vergessenen Hausschlüssels.

Bis elf Uhr mag diese behagliche Erinnerung im allgemeinen auch auf eine Gesellschaft gepaßt haben, an der wir diesmal im ersten Stock des Kattendykschen Hauses vorübergehen. Um diese Zeit saßen bei Frau Commerzienräthin Walpurgis Kattendyk gewiß noch ihre Töchter, die verheiratheten und die unverheiratheten, zusammen, ihre Schwiegersöhne, der berühmte Procurator Dominicus Nück, Benno's Principal, der »Vordenker« und Agitator der Lande hüben und drüben, soweit zu Gott in lateinischer Zunge gebetet wird, vielleicht auch noch ein anderer Procurator, der Procuraführer des Hauses, Ernst Delring, der zweite Schwiegersohn; vielleicht auch der Beichtvater der Commerzienräthin, Domherr Martinus Taube; auch ihr Rathgeber in leiblichen Angelegenheiten, Medicinalrath Goldfinger; vielleicht sogar, da die nahe gelegene, bedenklich bedrohte Universität Ferien hat, dessen Sohn, der Professor extraordinarius Guido Goldfinger, der um die jüngste Tochter des Hauses freit; auf alle Fälle fehlt der dritte und sogar lustige Rathgeber des Hauses, Ignaz Pötzl nicht, ein ehemaliger Schauspieler und Sänger, der das Gnadenbrot im Hause mit Anekdoten und stillertragenem Gehänseltwerden lohnt ... und was sich sonst an Parasiten und Hausfreunden und allerlei menschlichen Schooshündchen um eine reiche, anregungsbedürftige Kaufmannsfrau, die unter der Last, sich und andern wohlzuthun, oft zusammenbricht, täglich zu versammeln pflegte ... auch eine neue Mehrung der Gesellschaft fehlte ohne Zweifel nicht – – – Lucinde Schwarz.

Belauschen wir heute keinen der hier ausgestoßenen Seufzer über die Zeit, die neuen pariser Moden und die Leiden der Kirche, keine Klagen über den Aufschwung der jüdischen Häuser, keine Vermuthungen über die Besetzung des erledigten Domvicariats, keine Bewunderung vor einem neuen Zeitungsartikel oder einer neuen Selbstdemüthigung des Pater Sebastus, auch keine stille Vergleichung der glänzenden Berichte Jean Baptist Maria Schnuphase's über die seit einigen Tagen aus Kocher am Fall angekommene neue Gesellschafterin mit ihrem wirklichen Benehmen ... ihrer so sittsamen, fast stummen Haltung, ihrem täglich zweimaligen Kirchgang und einem so tief, tief demuthsvoll niedergeschlagenen Blick, daß man schon anfängt, über eine so unerwartete Einfachheit und fast zu weit gehende Anspruchslosigkeit einer doch äußerlich so auffallenden und überraschend schönen Erscheinung staunend – den Kopf zu schütteln ...

Steigen wir einen Stock höher ...

Im zweiten Stock wohnen der Procuraführer Ernst Delring und seine Gattin Hendrika geborene Kattendyk; nach hinten hinaus aber Piter Kattendyk, ihr Bruder, der einzige Sohn der verwitweten Frau Commerzienräthin.

Piter hat nach hinten auch noch den ersten Stock in Beschlag ... beide waren durch eine niedliche Wendeltreppe verbunden ...

Wir finden auch bei Herrn Delring schon alles dunkel.

Dagegen sind bei Piter noch der erste Stock, der zweite und die Wendeltreppe prächtig erleuchtet.

Piter Kattendyk hatte einen seiner glücklichsten Momente ...

Umgeben ist er nicht nur von seinen »guten«, sondern heute sogar von seinen »besten« Freunden und sie zechen und sie schmausen und sie jubeln – ganz im üblichen Tone der alten frommen Römerstadt.

Die Bowle steht auf dem Tisch, die kunstvoll geschliffene, rosenrothe Krystallbowle ...

Sie ist gefüllt mit einem nach allen trinkwissenschaftlichen Gesetzen der Vereinigten Staaten Nordamerikas gebrauten Sherry-Punsch ...

An den drei vor Cigarrendampf etwas matt brennenden Glaskugeln, an den Anekdoten, deren zwei Drittheile aus dem »Humoristen in der Westentasche« entlehnt sind, an der Fülle von bei alledem wiehernd belachten »Witzen«, an gewissen Thatsachen, die man vorher immer als etwas »auf Ehre zu Verbürgendes« und mit einem Schnedderedeng der glaubwürdigsten Versicherung Anzupreisendes verkündigte und nachher dann doch allen noch so touchirenden Zweifeln preisgab, merkt man, daß man sich hier unter den Jünglingen mit den malerischsten Bärten und den halbgelösten bunten Halsbinden unter der kaufmännischen Aristokratie der Stadt befand ... Alle führen sie Namen, vor denen Tausende ihrer Mitbürger selbst im Traume den Hut abziehen.

Wie hängt auch hier alles am Wink ihrer Augen! Zwar trennt eine große Glasthür diese höchst respectabeln jungen Herren der Schöpfung von einem im Vorgemach eingeschlummerten Diener in Livree; die alte Kathrine jedoch unten in der Küche der Mutter wacht noch, hat sie auch sowol einer heute erst neu zugezogenen Kammerjungfer der Frau Hendrika Delring wie dem Kutscher und dem ersten Hausknecht gesagt:

Na, ich denke wol, um ein Uhr kann ich zur Ruhe gehen! Der junge Herr Thiebold de Jonge sind zugegen! Da blasen sie blos Trompete! Zur Trompete brauchen sie blos manchmal ein bischen mehr Arak und die Arakflasche hat Herr Piter immer selbst zur Hand!

Thiebold de Jonge war erst gestern von seinem kurzen Kriegsfeldzuge zu Kocher am Fall und einer damit verknüpft gewesenen kleinen Reise zurückgekehrt. Mit drei Tagen hatte man die Uebungen zur allgemeinen Wehrtüchtigkeit bewenden lassen. Das »Blasen der Trompete« war jedoch von Seiten Kathrinens keine Anspielung auf die Montur Thiebold's, in der dieser Abschied genommen hatte von Freund Piter, als er mit von Enckefuß Extrapost abreiste – Freund Benno von Asselyn wollte in »einem Anfall seines gewöhnlichen todtschlägerischen Humors« zu Fuß gehen. Die andern Genossen waren noch militärfrei und hatten sich vorläufig allenfalls durch »zu schwache Brust« von dem Waffendienst ledig gemacht, was jedoch nicht hinderte, daß sie soeben die Arie: »Von Romeo's Rächerarmen« – die Schröder-Devrient hatte vor kurzem erst in der Stadt gastirt – mit einem Effect sangen, ja die Worte: »Soll sich kein Gott erbarmen!« so hervorhoben, daß das ganze Haus bis in die hintersten Waarenmagazine erzitterte.

Die Trompete entsprach einer andern Ideenverbindung.

Clemens Timpe (Timpe's sel. Erben, Commission und Spedition) war auch in der Union gewesen, hatte »Seewasser gekostet« wie Thiebold de Jonge ... wenn auch nicht wie dieser sogar das Naß amerikanischer Wasserfälle ... Clemens Timpe sprach nie von einem Whip oder Brandygrog oder sonst einer pikanten höhern Alkoholvergiftung, die er in Boston oder Neu-Orleans kennen gelernt hatte, ohne die »Sherrypunschbrauerei« des canadischen Holzflößers Thiebold de Jonge zum Gegenstand einer Discussion zu machen, wobei der vom Wasserfall zu St.-Moritz Gerettete und leidenschaftliche Schwärmer für Armgart von Hülleshoven, die Tochter »seines zweiten Vaters«, wie er sagte, meist, wie sonst nicht seine Art war, unterlag. Heute saßen Piter und die Freunde um die Arakflasche, wie tätowirte Indianer, nicht jedoch »gierig nach flüssigen Feuerfluten«. Sie saßen, nach einer lebhaften Discussion, ob Whip – ob Brandygrog – ob kalten Sherrypunsch! bei letzterm und nun waren sie gereiht um einen glänzenden Mahagonitisch, die Linke cigarrenbewaffnet, in der Rechten mit langen Maccaronistengeln, durch die sie den Sherrypunsch einschlürften ... eine Trinkmethode, die Thiebold de Jonge hier zu Lande eingeführt hatte. Man durfte sie allerdings dann adoptiren, wenn, wie z.B. heute, es galt, einen von Rostbeef à l'Anglaise, Salmen à la Hollandaise, Rebhühnerpastete à la Kathrine Fenchelmeyer – Kathrine unten in der Küche der Mutter Commerzienräthin hieß Fenchelmeyer und war nicht blos in Rebhuhnpastete, sondern auch in Fischsaucen Original – und von dem dazu nöthigen Rhein-, Mosel-, Bordeaux-, Burgunder- und Portwein überhitzten Gaumen allmählich linde und leise und lieblich wieder abzukühlen.

Der »junge Herr« (zu Ehren der uralten Firma und bei der Tendenz der Neuzeit zur alten Zeit Piter genannt), Piter Kattendyk war einer der »famosesten« jungen Gentlemen der stolzen Handels-, Gewerbs-und Kirchenstadt. Er hatte heute die Absicht, um vier Uhr Morgens, wenn die von Paris kommende Briefpost sich eines Stückchens Eisenbahn bediente, das schon am jenseitigen Ufer einige Meilen hinein ins Land ging, sich mit dieser Reisebeförderung in die Gegend von Witoborn zu begeben, wo ihn Dominicus Nück, sein Schwager, zu einem schleunigst arrangirten Güterankauf benutzen wollte ... Benutzen! Ihn! Himmel, wenn Piter dies von Nück wirklich zu mehreren Domherren und besonders dem Secretär des Kirchenfürsten, Eduard Michahelles, gebrauchte Wort in Erfahrung gebracht hätte! Ihn »benutzen«! »Vorschieben« schon hätte ihn beleidigt! Pitern, dem jetzt alles daran lag zu beweisen, daß sein Schwager Ernst Delring, der Procuraführer und bisherige Chef, vor seinem Genie sich in Acht zu nehmen hätte, seitdem er, der »junge Herr«, von Reisen zurückgekommen war! Pitern lag, als er die Zustimmung zu dieser Reise nach Witoborn gab, nur an einem Beweise seiner seltenen Einsichten und seines Geschmacks für eine neue Reisetoilette, in der er sich bereits fertig befand, theils ganz schottisch, theils halb schottisch. Piter wollte in diesem malerischen Costüme Wälder und Felder und Mühlen kaufen, für welche Dominicus Nück dann vielleicht wieder einen Abkäufer wußte, vielleicht das Domkapitel selbst – eine Differenzsumme erstens für das Haus Kattendyk und Söhne und zweitens für Dominicus Nück blieb schon übrig – kurz einen irgend ähnlichen Zweck gab es zu einer Reise, um derentwillen die zu einem letzten »Satz« von Pitern entbotenen Freunde so spät noch bei ihm blieben, ja sogar gewillt waren, im Anfall einer beim Sherrypunsch zu allem fähigen Romantik, ihm gegen vier Uhr Morgens das Geleit auf den provisorischen Bahnhof zu geben.

Auf den Untergang aller Schnell-, Fahr-, Malle-, ja Extraposten nicht ausgenommen! rief Joseph Moppes (Joseph Moppes sen., Weingeschäft) und begleitete diese eigenthümlich betonten Worte mit einem anzüglichen Blicke auf Thiebold de Jonge, der heute der einzige nicht recht in die allgemeine »ungeheure Heiterkeit« Miteinstimmende war.

Thiebold ließ es ruhig geschehen, daß Gebhard Schmitz (A. und G. Schmitz, Stahl-, Eisenwaaren und Hüttenbetrieb) auf seine Kosten denen, die noch nichts davon wußten, die »kolossale Idee« des Hausknechts im Riesen zu Kocher am Fall erzählte, der die sich selber ölenden neuen englischen Patentachsen am väterlicherseits geborgt gewesenen Landau Thiebold de Jonge's abgedreht und mit Wagenschmiere verdorben hatte ...

Gerade so wie Henneschen, rief nachträglich in den lachenden Chorus Gebhard Schmitz hinein, wenn er die Lackstiefeln seines Herrn mit Wichse tractirt!

Thiebold saß ruhig mit aufgestemmten Armen und senkte den Kopf auf seine Trompete, den Maccaronistengel herab, den er mit aller Ruhe wie zu einer »stillen Musik« der Seele, ja, wie ein Schäfer Arkadiens seine Flöte blies und dabei vielleicht über die Theorie des Stechhebers oder des Luftdrucks oder sonst etwas Höheres nachgrübelte ...

Thiebold war eine etwas zum Embonpoint neigende, aber hoch und schön aufgeschossene blonde Natur; frisch und rund in seinen angenehmen Gesichtszügen, von einem schöngepflegten, ins Goldgelbliche spielenden Barte, in allem zu männlichstem Effect bestimmt, nur zu lebhaft, zu sehr oft ein Vorsprecher, Anekdotenerzähler, heute jedoch fast »tiefsinnig«, wie ihm Piter vorwarf, und sogar bei Tische, wo er sich das Tranchiren – Aufschneiden, wie seine Freunde sagten – niemals nehmen ließ, von einer Apathie, die einige – freilich spottweise – für die Nachwehen seines hier schon zum Amusement gewordenen Sturzes in den St.-Moritz, andere für den untrüglichen Beweis hielten, daß Thiebold »einmal wieder« verliebt wäre ... Letzteres war eine Verleumdung, da er seit dem ersten Besuch des Pensionats der Englischen Fräulein von Lindenwerth für keine weibliche Erscheinung der Welt, die nicht Armgart hieß, mehr Sinn hatte.

»Schwing dich auf, Frau Nachtigall!«

intonirte Joseph Moppes, der einen klangvollen ersten Tenor für die berühmten Quartette der Vaterstadt commandirte, und er that dies schon zum zweiten mal, um Thiebold de Jonge mehr in die allgemeine Heiterkeit mit hinüberzuziehen.

Die Eisenbahnen waren noch so neu und die sämmtlichen »Häuser« dieses jungen mercantilischen Vollbluts so an den Actien derselben interessirt, daß das Gespräch von den Patentachsen des vom Hausknecht im Riesen fast verdorbenen Landau sogleich auf diese selbst überging und einstimmig vereinigte man sich mit einem hohen und außerordentlichen Ernste in dem sehr paradoxen Satze, daß die Eisenbahnen wirklich eine merkwürdige Erfindung des menschlichen Verstandes und jedenfalls ein Fortschritt wären.

Thiebold, der sonst niemals lange schweigen konnte und heute wirklich wie von einem entschiedenen »Weltschmerz« beherrscht schien, ließ sogar die ganz aus der Tiefe wie ein Unkenton aus dem Sherrypunschglase hervortönende Bemerkung fallen:

Der Generalpostmeister hat erklärt, mit den Eisenbahnen hörte die Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf!

Gewisse englische Groans oder ironische Beifallsspenden hatten die Freunde schon für mehrere heute Abend gefallene Aeußerungen, in Bereitschaft gehabt. Sie brachen auch jetzt über diese de Jonge'sche Aeußerung und sogar mit einem Trommeln auf Tisch und Fußboden aus ...

Im Staatsrath, fuhr Clemens Timpe allen Ernstes fort, ist wahrhaftig die Majorität – nein wirklich hört doch! – die Majorität noch schwankend, ob die Eisenbahnen überhaupt weiter zugelassen werden sollen ...

Und Joseph Moppes fiel ein:

Weiter, als wir uns hier schon wieder infolge unserer unverbesserlichen Nachäffungssucht herausgenommen haben!

Wie hierauf die Worte: »Eine jute jebratene Jans ist eine jute Jabe Jottes!« passen und von der ganzen Gesellschaft mit einer jener jubelnden Zustimmungen, die man gewöhnlich »Hohngelächter der Hölle« nannte, aufgenommen werden konnten, wird niemand begreifen.

Und dennoch hatte damit Weigenand Maus (Maus & Compagnie, Droguerie- und Farbwaaren) nur sagen wollen: »Was läßt sich von den Ghibellinen anderes erwarten!«

Man setzte nun vom socialen Standpunkte aus die Anklagen fort, die Bennrath von Nennhofen auf der Conferenz des Beda Hunnius vom kirchlichen erhoben hatte. Man begann durcheinander Mir und Mich zu verwechseln, schilderte den Appetit der Offiziere und Beamten bei dem letzten Diner ihrer Väter, machte dem immer schweigsamer werdenden und in völligem Nichtvertheidigungszustande befindlichen Thiebold de Jonge Vorwürfe über seine Reise mit Herrn von Enckefuß und bestätigte den separatistischen Geist, auf den damals und noch jetzt die Thiers, Odilon-Barrots und Bonapartes rechnen, wenn sie von einem ganz ohne Schwertstreich zu erobernden linken Rheinufer sprechen.

Man durfte erwarten, daß Thiebold jetzt endlich auffahren konnte und gewohnterweise sich vielleicht die Freundschaft mit von Enckefuß verbat. Er schwieg aber und zuckte nur mitleidig die Achseln. Die ganze Reise in seinem Landau nach Kocher am Fall schien von ihm vergessen worden zu sein und Joseph Moppes hatte sehr Recht oder bekam es wenigstens durch die allgemeine Zustimmung, als er Thiebold vorwarf, erst mit so großem Jubel zu den Uebungen abgegangen zu sein und jetzt in solcher Laune zurückzukehren. Und als Thiebold brummend diese Uebungen für das Langweiligste von der Welt erklärt hatte, sagte Joseph Moppes zu allgemeiner Billigung:

Merkwürdig, de Jonge! Bei Ihnen ist immer alles entweder gleich »Supra« oder »unterm Nachtwächter«!

Letzterer hatte inzwischen schon längst die zwölfte Stunde gerufen und die zahllosen Thurmuhren der frommen Stadt hatten diese Angabe in allen Tonarten bestätigt ...

Die Elasticität der sieben Freunde ließ jedoch nicht nach. Auch Thiebold bekam eine erhöhtere Stimmung, d.h. negativ, bis zum offenbaren »Sein oder Nichtsein« a la Hamlet. Er fuhr sich in seinen schönen blonden Scheitel, zupfte am Barte, schlug zuweilen das Glas auf den Tisch und hatte eine Welt voll Zorn und Aufregung und Schmerz und doch dabei wieder auch, schien es bei alledem, von Lust und Freude in der Brust. Er hätte sich jetzt offenbar ganz gern, wie es bei Goethe heißt, »mit einem Poeten associirt«, um seine Empfindungen so ganz con amore auszusprechen, wie sein volles, wirklich gutes und der reinsten Liebe und Dankbarkeit fähiges Herz sie fühlte, nicht wie sie Joseph Moppes, der heute, da Thiebold pausirte, die Oberhand hatte, parodirte.

Merkwürdig aber bei alledem die Glückseligkeit Piter's! Piter braute nur bald mit Sherry, bald mit Arak an der Bowle, schenkte die Gläser voll, lächelte nur und genoß das Glück, sechs solche Freunde zu haben ... Piter schwieg! Piter, der nicht ertragen konnte, daß sein Schwager Ernst Delring fünf Worte sprach, die er nicht sofort durchkreuzte mit seinem täglichen, ja stündlichen »Hören Sie 'mal, Delring, ich bin nicht mehr derjenige, welcher –«

Nämlich auch Piter war blond, aber nicht von der Fülle und Kraft seines Freundes Thiebold de Jonge. Er war auch schlank, freilich viel schmächtiger. Sein Kinn und seine Lippen waren weniger ganz bartlos, als nur etwas stark dünnbärtig. Kaum dreiundzwanzig Jahre alt, hatte Piter schon das Leben gleichsam hinter sich, ohne darüber die Energie des Willens und einen seltenen Ehrgeiz verloren zu haben. Seit einiger Zeit war er von »Bildungsreisen« nach dem Auslande zurückgekehrt und nahm nun, als einziger Sohn der verwitweten Frau Commerzienräthin, an dem großen Geschäfte theil in einem Grade, der ihn mit seiner ganzen Familie in die heftigsten Conflicte brachte. Piter glaubte die vollkommenste Berechtigung zu haben, sich keine gewöhnliche Natur zu dünken. Vorurtheilsvolle Menschen mochten vielleicht sagen: Dieser einzige Sohn wurde nach dem frühen Tode Piter Noë Kattendyk's von der Mutter wie ein Prinz erzogen! Während sie in die Bäder und nach Rom und Paris reiste, wurde Piter durch Beispiel und Erziehung zu einer unglaublichen Meinung von sich selbst gesteigert! Aber Piter sah nicht ein, warum er von sich gering denken sollte. Er schwieg nur unter Freunden, wie sie jetzt bei ihm Sherrypunsch tranken; sonst nie; immer führte er das Wort und schon als neunzehnjähriger junger Mann, der eben von der Handelsschule kam, hatte er wie ein Principal die Hände in den Beinkleidertaschen und wußte über jeden Gegenstand in Oper, Ballet, Freihandel und Statistik der Ein- und Ausfuhr eine Meinung zu behaupten. Widerspruch duldete er sonst, jetzt nicht mehr, am wenigsten aber von Menschen, die ihm durch Bande des Bluts verbunden waren und etwa dadurch ihrerseits die Berechtigung zu haben glauben durften, ihn als großen Charakter nicht im mindesten anzuerkennen. Nur die Mutter schonte den einzigen Sohn. Er glich so ganz ihrem Seligen, für den sie jetzt noch nach zehn Jahren so viel Messen lesen ließ, als wenn dieser Gute durch seinen Titel als Commerzienrath und seinen Orden, die ihm beide freilich Protestanten gegeben hatten, immer noch an der Pforte des Paradieses uneingelassen umherirren müßte ... Merkwürdig dabei, daß Piter mit seinen blauen Augen, seinem fast unsichtbaren Bärtchen um Lippe und Kinn und Wange eigentlich ein herzensguter Junge war. Er hatte Anfälle von Gemüth. Für einen sogenannten »guten Freund« konnte er sich im wörtlichsten Sinne todt schlagen lassen; wie oft hatte es nicht schon einen nächtlichen Zusammenstoß mit den Spießen der Straßenwächter, ja sogar den Gewehrkolben der Schildwachen gegeben! So streng er im Comptoir war und sich die Miene geben konnte, als müßten Bücher, die dreißig Jahre gestimmt hatten, jetzt einmal von einer Commission geschworener Buchhalter oder von ihm allein in einer »stillen Abendstunde« gründlichst revidirt werden, so nachlässig behandelte er die Contocorrenten etwaiger Anleihen der Freunde, die mit ihm Sherrypunsch tranken. Wer Piter's Verstand anerkannte, konnte bei ihm über alles gebieten. Wer aber zuweilen an seinem Verstande zweifelte, was seine Schwäger, seine Schwestern und die ältern Buchhalter nicht mehr wie gern thaten, hatte einen geschworenen Feind in ihm. Wie Piter von sich selbst dachte, bewies er eines Abends in einem Cirkel seiner Mutter, wo er bei Gelegenheit der damals eben wieder neu aufgekommenen Phrenologie sagte: »Die Phrenologie hat an mir die Zeichen des sanguinisch-nervösen Temperaments entdeckt! In erschreckendem Grade findet sich an meinem Schädel (er sah dabei auf seinen Schwager Delring) die Anlage der gegenständlichen Auffassung! Sehr groß ist (er blickte auf seine drei Schwestern) mein Zerstörungssinn! Selbstachtung aber und (nun sah er, doch etwas liebevoller, auf seine hochgespannte und fromme Mutter) ein bischen Neigung zum Wunderbaren mildert diese gefährliche Anlage! Gering ist indessen (die Mutter zuckte schon wieder zusammen und entsetzte sich über den Blick, den Piter auf einige der Domherren warf), gering ist mein Verehrungssinn! Schwach, ganz schwach ist meine Anhänglichkeit (die Mutter, außer sich über ihre Täuschung, protestirte fast mit Thränen) und am wenigsten ausgebildet ist mein sogenannter Ingenieursinn! Aus letzterm muß ich schließen, daß ich nie eine Vorliebe für große Bauten haben werde!«

Diese Bemerkung war die allerbitterste. Sie ging auf eine Summe von 10000 Thalern, die die Mutter zum Ausbau eines gewissen berühmten großen Domes verwilligt hatte. Denn an sich hatte Piter im Gegentheil das ganze altbewährte Haus seiner Aeltern neuerdings fast umgerissen, Treppen gebaut, wo früher keine waren, Alkoven zerstört, Säle geschaffen und vorzugsweise seine Schwester Hendrika Delring so in der langgewohnten Existenz ihres zweiten Stockes beeinträchtigt, daß diese Aermste, wie sie sagte, sich vor dem Bruder kaum rücken und rühren konnte, von dem Lärm seiner nächtlichen Orgien ganz zu schweigen. Nur die Besonnenheit ihres Gatten hielt sie von äußersten Schritten zurück, die niemanden hätten wunder nehmen dürfen, da die vortrefflichste Frau nach zehnjähriger kinderloser (gemischter) Ehe Mutter zu werden in nächster Hoffnung hatte ...

In Piter's Freundeskreise aber schlug es jetzt im Durcheinander der Debatten, vorzugsweise jetzt über Westen und Cigarren und durchreisende Sängerinnen bereits halb zwei Uhr ... und wer hätte nun nicht schon in einem Sylvesterkreise das neue Jahr abgewartet und die Entdeckung gemacht, daß dreißig Minuten vor »des Jahres letzter Stunde« der lebendigste Humor zu der Erkenntniß kommen kann, ob er sich im Abwarten des neuen Jahres auch nicht vielleicht zu viel zugemuthet? Der Punsch ist in der Terrine kalt geworden, der Witz erschöpft sich schon in Leberreimen und zwei- und dreisilbigen Charaden; immer müder werden die Augen, immer langsamer schleichen die Minuten, die noch bis zur allgemeinen Umarmung und kußbesiegelten Beglückwünschung hin zu verleben sind. Wer da nicht im Stande ist ans Klavier zu springen und einen elektrisirenden Tanz zu spielen, der kann erleben, daß einer um den andern das große Unternehmen, den letzten Stundenschlag des Jahres abzuwarten, völlig aufgibt und in aller Stille davonschleicht mit einem das ganze Jahr zusammenfassenden Trinkgeld an die gratulirende Bedienung.

Um ein Viertel auf vier Uhr hatten die Freunde zwei Wagen zu erwarten, die im Hofe unten auf die Minute sollten angespannt erscheinen. Es war auch ganz bestimmt vorauszusehen, daß sie alle noch etwa eine Stunde auf den Divans ringsum schlafen und tüchtig schnarchen würden, aber zwischen ein und zwei Uhr zeigte sich davon noch keine Spur ...

Fehlte auch die lebhafte Mittheilung des auf Spott jetzt sogar verdrießlich werdenden und den Kopf aufstützenden Thiebold de Jonge, stockten die Zungen schon und mußten sogar die sonst ganz ungentilen Anspielungen auf die einzelnen Geschäftsbranchen, wie: »Sie sind auf dem Holzwege!« zu dem Holzhändler Thiebold, oder »Schenken Sie reinen Wein ein!« zu dem Weinhändler Moppes, durch die Vermittelung der andern gütlich beigelegt werden, so fehlte es doch immer noch an Stoff der Unterhaltung nicht; denn es gab zwei Themata, die in diesem Kreise endlos variirt werden konnten. Das waren die Juden und die Frauen.

Erstere hatten sich in kurzer Zeit hier sehr emporgeschwungen. Eine nicht zu entfernte Verwandtschaft der Hasen-Jette, die Fulds, rechnete man zu den dreifachen Millionären und wenigstens im Wechselgeschäft hatten die Brüder Moritz Fuld und Bernhard Fuld alle überflügelt. Sie hatten Comptoire in Paris, Brüssel und Amsterdam, machten ein großes Haus, hatten eine Besitzung im Eneper Thal gekauft, dort eine Villa, sogar eine Kirche gebaut. Es konnte zunächst keinen anziehendern Stoff geben, der hier besprochen wurde, als da Haus Fuld und Söhne, und im Verlauf dieser Mittheilungen, die indessen eine Kette nur von Spott und Misgunst waren, wurde auch Thiebold lebendiger und erregter.

Gebhard Schmitz und Joseph Moppes hatten zwei Kunstfertigkeiten, die miteinander wetteiferten. Dieser intonirte die anziehendsten Lieder, jener war ein Dialektkünstler. Ob sächsisch oder berlinisch oder frankfurtisch oder im Volkston der eigenen Vaterstadt, war ihm gleich. Er ahmte jede Mundart nach, so weit die deutsche Zunge reicht. Vorzugsweise aber war ihm das Jüdeln geläufig. Er erzählte von Juden nie anders als im rauhsten Kehlkopftone. Und wenn er von Spinoza hätte sprechen können, Gebhard Schmitz würde dessen Philosophie vorgetragen haben wie die eines Hausirers, der von seinen Masematten spricht.

Von einem der Fulds, zwei in den pariser Börsencoulissen und Salons gebildeten, höchst eleganten und weltgeschliffenen jungen Männern, die auf einer Jagd in Homburg oder Baden-Baden sich neben jedem deutschen Standesherrn sehen lassen konnten, erzählte er:

Bin ich doch gekommen heute Abend auf den Domplatz und habe gesehen ... Gottswunder ... Was hab' ich gesehen! Ist gekommen Herr Fuld und Söhne junior der Moritz! Ist er gekommen mit dem neuen rothen Bändchen im Knopfloch! Hat er doch gekriegt den Orden von der ehrlichen Legion in Paris!

Die Unterbrechungen der Zustimmung verstanden sich an den schlagenden Stellen von selbst ...

Sieht der Ritter Moritz sich um und wird fragen: Wo ist hier die Fabrik von die Wachslichter und Lebkuchen und heiligen Oblaten? Herr Schmitz! Können Sie mir nicht sagen: Wo ist wohnhaft Herr Jean Baptiste Maria »Schnuphöse« aus Hildesheim mit die elegönte s-pitze Vatermörders?

Diese Variation gestattete eine neue Zustimmung. Sie war eine andere Tonart der Gebhard Schmitz'schen Redekunst, die ein Unisono von ähnlich betonten Worten hervorrief ...

Gebhard Schmitz fuhr fort:

Gut! Hab' ich ihm gezeigt den Laden von Herrn »Möriö« und hab' mir gemacht doch auch ein Geschäft bei die Fräuleins, um zu hören, was der Ritter von Louis Philipp's ehrliche Leute hat für neue Masematte! ... Gut! Wie wir eintreten, frag' ich die Fräuleins ...

Unisono des Chorus:

Evö! Apöllönia!

Ob sie nicht hätten ein schönes ges-ticktes Tauftüchelchen mit bröbönter S-pitzen, das ich wollte schenken nach Bilk uf die Hütte von meinem Tate, wo zwei bilkener Jüden sind gekommen auf den Einfall sich zu taufen! Sagt der Herr Ritter von die französische Ehrlichkeit zu mir: Main, Herr Schmitz! Sie wollen kaufen so feinen »Böttist«, um zu waschen zwei bilkener Juden rein von's Judenthum? Da will ich Sie recommandiren die geistliche Stickerei da oben in dem fünften Carton rechts seh' ich Litera B, wo angeschrieben steht mit lateinische Buchstaben: »Tauftügelchen« – Tügelchen mit 'nem G, Herr Schmitz!

Neue Unterbrechung über die Orthographie Eva's und Apollonia's Schnuphase ...

Aber der Ritter der ehrlichen Legion ... wird er doch sagen: Hat mein Bruder nicht gestern gekauft hier ein Altarbecken und drei neue Meßgewandkleider ... meine Damen? ... Ja, Herr Fuld! ... Nun, so werden die Fräulein haben die Güte mir noch zu geben zwei Dutzend von die stärksten Wachslichter fürs heilige Hochamt! ... Sag' ich: Herr Fuld: Wie heißt Hochamt? ... Alles, Herr Schmitz, für die neue Kirche zum Geschenk, wo mein Bruder hat bauen lassen oben bei Lindenwerth und Drusenheim im Enneper Thale! Und zu die Fräuleins sagt er: Wissen Sie, Fräulein, die Kerzen, wo Herr Levi, der Gemeindevorstand, hat gekauft neulich fürs Tabernakel in unsre Synagoge ... Die aufgeklärte? frag' ich. Die neue, Herr Fuld, wo soviel Licht in die schönen Fenster fällt? ... Nein, Herr Schmitz, sagt er, in die dunkle! Gerade so wie wir gebaut haben unsre Kirche in Drusenheim auch ins Byzantinische!

Durch den Jubel der Freunde hindurch fuhr mit gesteigerter Stimme Gebhard Schmitz fort:

Herr Schmitz! Sie wird eingeweiht am neunten October, dem Tag vom heiligen Dionysius, wissen Sie dem, den die Römer haben abgehauen den Kopf und der noch ist gegangen ich weiß nicht wie viel Meilen zu Fuß und mit dem Kopf unterm Arm! ... Ist es denn wahr, Herr Ritter, frug ich, daß Ihr Herr Bruder in Paris von seinem Freund Louis Philipp und aus dem seiner Kapelle von St.-Denis um 10000 Francs hat angekauft einen heiligen Zehen von St.-Denis und will ihn lassen einmauern in dem Altar, wo Sie haben gebaut in Drusenheim die neue Kirche im Basiliskenstil?

Basiliskenstil ... wiederholte der Chorus.

In dem Augenblick ist aber gekommen eine Chaise vorm Wachslichterlöden und Fräulein Apollönia hat gerufen: Ach, Herr Fuld! Ach Herr Schmitz! – bitte um Entschuldigung, wir bekommen soeben –! und ein schöner schlanker Herr Köplön ist eingetreten in den Löden, frisch von der Reise angekommen und soll wohnen bei Herrn Schnuphöse ... Und was wird mein Ritter thun von der ehrlichen Legion? Gleich als wollt' er haben Ablaß auf hundert Jahre für die byzantinische Kirche hat er Hochwürden eingeladen, auch zu sehen, was gebaut hat sein Bruder Bernhard Fuld zu Drusenheim neben die neue Villa und zog sein Portefeuille und hat gegeben dem fremden Priester gleich die Visitenkarte: Monsieur Monsieur Moritz Fuld ...

Der ganze Chorus fiel hier mit den donnernd betonten Worten ein:

A Paris! à Paris! Man weiß schon!

Diese für unsere Leser gänzlich unverständliche und doch allgemein bejubelte Pointe der Erzählung krönte sie für die jungen Männer wie das letzte Schlagwort eines Epigramms ... Die Worte: »Man weiß schon!« knüpften sich nämlich an die allbekannte Anekdote, der zufolge der ganz arm aus Kocher am Fall einst gekommene und durch Kriegslieferungen emporgestiegene alte Vater der Gebrüder Fuld jemanden, der ihn bei seinen öftern Reisen nach Paris um seine dortige genauere Adresse gefragt, mit schmunzelndem Stolz geantwortet haben sollte: »Schreiben Sie nur ganz getrost und einfach blos meinen Namen à Musje Musje Fuld à Paris! Man weiß schon!«

Die Wirkung dieser Erzählung auf Thiebold de Jonge war eine in der Hauptsache, doch im andern Sinne als bei den Freunden, auch aufregende.

Nicht daß er Gebhard Schmitz gesagt hätte: Aber Sie lügen ja ganz entsetzlich, Schmitz! Moritz und Bernhard Fuld sind ja zwei höchst gebildete und sehr taktvolle Männer, über die wir uns deshalb ärgern, weil sie geradezu einen Auffschwung nehmen, der uns alle verdunkelt – auch er stand unter den Vorurtheilen seiner Geburt und seines Standes – aber sowol die Thatsache, daß wahrscheinlich den Abend Bonaventura von Asselyn angekommen war, wie die Erwähnung Drusenheims, das dem Aufenthalte Armgart's auf einen Büchsenschuß gegenüberlag, ließen ihm kaum zur Besinnung kommen. Er sprang auf, lief im Zimmer hin und her und überhörte dabei gänzlich, daß Weigenand Maus unter allgemeinster Zustimmung beantragte, eine Caricatur anfertigen zu lassen, um »auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege« das zeitgemäß-modernste Thema: Juden bauen den Christen ihre Gotteshäuser! zu verspotten. Ein stillerer und sanfterer unter den Freunden, Alois Effingh (Effingh & Cie., Bankgeschäft), übernahm die Ausführung durch einen vertrauten Freund, der das Talent besaß mit der Feder gleich auf Stein zu zeichnen.

Hieß der Geistliche nicht Herr von Asselyn? fragte Thiebold de Jonge.

Ich glaube, ja ... antwortete Gebhard Schmitz, ganz verloren in die Caricatur und noch weitere Details gebend.

Ein Vetter Benno's von Asselyn ... sagte Thiebold und erwähnte einen Namen, den alle kannten, der aber nicht zu diesem Kreise gehörte ...

Nächsten Sonntag nach Drusenheim! rief Clemens Timpe ...

Bewunderung der Villa ...

Der Kirche ...

Der Tauftügelchen ...

Wir laden Eva und Apollonia ein ...

Nein! unterbrach Joseph Moppes. Achtung vor Thiebold de Jonge! Auf Lindenwerth

»Da blüht eine Blume so hold, so hold«...

Auf Lindenwerth? rief der Chorus.

Ja, de Jonge! unterbrach den Singenden Gebhard Schmitz. Ich war im Stifte bei meiner Schwester! Wahrhaftig! ... Ich bin sonst in Geschmackssachen – auf Ehre – aber die Tochter Ihres Lebensretters –

Die Lebensretterstochter ... rief der Chorus.

Kapitaler Geschmack! Auf Taille! näselte Schmitz im ghibellinischen Leutenantston ...

Moppes sang:

»Und schöner als in dieser Rose«... A la bonne heure! Eigentlich noch ein Backfisch, aber künftige »Jöttin«! fuhr Schmitz fort und –

»Hebe stieg in sanfter Feier« ... sang Moppes. Schwarz und braun sind ihre Augen ...

»Maikäferlein, was fliegst du auf?« Zähne, – reizend! Zwei Zähne –, man sieht sie immer – Man sieht sie immer? rief der Chorus ...

»Um das Rhinoceros zu sehen« – declamirte jetzt sogar Weigenand Maus. Thiebold erwachte aber aus seinem Brüten wie ein Löwe und schüttelte seine goldene Mähne. Genug! Rief er mit donnernder Stimme ... Aber Singvögelein singet, Singvögelein schwinget Stolz sich in den Himmel hinein! antwortete Moppes.

Der Streit wurde durch Gebhard Schmitz beigelegt. Letzterer blieb bei seiner Bewunerung Armgart's, nannte sie das Entzücken des ganzen Pensionats und ließ jetzt wirklich etwas Höheres gelten als seine Dialektkunst und seinen pariser »Gibus« zum Einklappen, den er suchte.

Es blieb bei der Caricatur und bei der sonntäglichen Partie ...

Gruppen bildeten sich ... der eine lag von der Caricatur sprechend da, der andere von der Liebe überhaupt dort ... man flüsterte ... man hatte jetzt Geheimnisse ... ja es senkte sich über die wüste Atmosphäre mancher reinere Sonnenstrahl ... Selbst Piter ließ endlich von der Arakflasche und erzählte mit gedämpfter Stimme von einigen wunderbaren neuen weiblichen Bekannschaften, besonders einer ... er sprach ganz leise nur ins Ohr zu Gebhard Schmitz ... Joseph Moppes, der hören wollte und nichts verstand, parodirte:

Mir auch war eine Leben aufgegangen!

Folgen können wir diesen Gesprächen nicht. Sie enthielten zu viel von dem, was, wenn die Männer zwischen zwei und drei Uhr Morgens von Frauen sprechen – die Nacht »bedeckt mit Grauen«.

Endlich aber wurde alles still ... die am lautesten gesprochen haben, schnarchten schon ... auch Piter im schottischen Reisecostüm schlummerte und lächelte und sein etwas stumpfes Näschen schien im Traume eine ganze Jakobsleiter voll Seligkeiten zu balanciren ... nur Thiebold de Jonge lag auf einem Sopha ausgestreckt, das Haupt aufgestützt, sah nach der Uhr und war in wenig Minuten der einzige, der wach geblieben.

Er gedachte seines Freundes Benno ... Benno's, der, wie dieser sich einmal ausgedrückt hatte, den »lateinischen Stolz« besaß, sich in einer Soll und Haben-Sphäre von dieser Art nicht heimisch zu fühlen, ja die geschilderte geradezu verachtete.

Thiebold, in seiner Art ein Schwärmer, betete bei alledem Benno an. Nur hatte er sich wieder einmal mit ihm gezankt und zwar empfindlich ... er hatte sogar den ersten bedeutenden Zwiespalt mit ihm ... Nicht um Armgart's willen ... Von Benno's Empfindungen für Armgart hatte Thiebold bei dessen in allen Dingen bewahrter kalter Außenseite keine entfernteste Ahnung ... Wohl aber war der Vorfall an dem Tage, wo Hedemann die Begegnung mit Herrn von Enckefuß im Wirtshause an der Landstraße gehabt hatte, für beide zum Gegenstand des ersten längern Misverständnisses geworden.

Benno und Thiebold waren Schulfreunde, die sich in spätern Jahren aus dem Auge verloren hatten. Sie fanden sich wieder, als Benno sich bei einer zufälligen Begegnung über das gerade besprochene Abenteuer in Canada dahin äußern konnte, daß ihm wenn auch nicht Ulrich von Hülleshoven, doch Hedemann seit frühester Kindheit wohlbekannt, ja sozusagen sein Nährvater und Erzieher gewesen wäre, solange bis der Dechant ihn ganz in seine Nähe nahm und ihn in der Residenz des Kirchenfürsten nahe gelegenen Universität auf Schulen schickte ... Das Band der Freundschaft mußte sich enger und enger um beide schlingen, da Thiebold's Charakter die Hingebung selbst war. Nach wenig Monaten schon konnte er nicht mehr ohne Benno sein, nichts mehr ohne ihn unternehmen. Alles, was dieser sagte oder that, war für ihn, sogar in Gegenwart anderer, ein Evangelium. Seine enthusiastische Natur umschlang Benno, trotz allerdings mancher und fast stündlicher Reibung, doch wie der Epheu den festen Stamm.

Die Reise nach Kocher mit Extrapost entsprach Thiebold's Verhältnissen und galt eigentlich der Huldigung Benno's und den Verwandten desselben in Kocher. Da Benno aber allein und über Lindenwerth und St.-Wolfgang und sogar zu Fuß gehen zu wollen erklärt hatte (in seinem Charakter lagen diese schroffen Ablehnungen des liebevollsten Entgegenkommens), so hatte von dieser bequemen Reisegelegenheit der Assessor von Enckefuß den Gewinn. Dies war nur eine oberflächliche Bekanntschaft beider Freunde. Sie hätte sich jetzt fester knüpfen können. Gab das Zusammenreisen dazu die beste Gelegenheit, so wurde doch jede weitere Beziehung wenigstens für Thiebold durch die Scene mit Hedemann und Porzia Biancchi unmöglich.

Lucinde hatte sich an jenem Abend, als sie im »Riesen« ein Gelag in dem Geschmack, wie eben geschildert, voraussetzte, wenigstens in Betreff einiger Theilnehmer vollständig geirrt. Benno fehlte und Thiebold. Beide saßen beim Obersten auf seinem Weinberge. Sie saßen mürrisch und ohne Entschluß, auch nur auf die Dechanei zu gehen. Benno hatte an einem Souper im Riesen theilnehmen wollen; Thiebold erklärte, mit Herrn von Enckefuß nichts mehr gemein zu haben. Hedemann ist ein Narr! hatte benno in seiner kurzen Weise erwidert und darüber entspannen sich dann Wortgefechte, die bald einen ernstern Charakter annahmen. Sie endeten damit, daß Thiebold das ganze, eigentlich ihm doch so unendlich süße und nothwendige Joch seiner Abhängigkeit von Benno einmal abschüttelte und ihm Dinge sagte, die sich selbst unter den besten Freunden nach vierundzwanzig Stunden nicht wieder zurücknehmen lassen.

Asselyn, hatte er gesagt, Sie sind ein Mensch, dem seine Philosophie noch das Herz im Leibe ausdörren wird! Ich bemitleide Sie, wenn Sie sich Ihren Dominicus Nück zum Muster genommen haben, diesen armseligen menschen, der einen Million besitzt und Sonntags die Sackträger beneidet, die vorm Thore bei einem Glase des schandbarsten Krätzers Kegel schieben! Schämen Sie sich mit Ihrer sündhaften Gleichgültigkeit für Gott und die Welt! Sie erzählen von einem Zauberweib, mit dem Sie hierher gereist sind, und wollen nicht in die Dechanei zurück, nur um sie nicht wiederzusehen! Von einem Engel in Menschengestalt, einem Mondscheinelfen, unserer Armgart, wissen Sie nichts, als daß sie ihrem Vater ein paar Hosenträger stickt! Diese Porzia Biancchi ist Ihnen nicht viel mehr als eine Landstreicherin, und Hedemann's Neigung finden Sie geradezu lächerlich, da Sie doch wissen, daß er, wie der Oberst, eine Natur ist, die die die Spreu vom Weizen zu unterscheiden weiß! ... Als Müller! wird Ihre ewige Ironie einwerfen; aber nach Ihnen müßte der Friede in dem Hause der Hülleshoven und Ubbelohdes einfach nur durch die Polizei vermittelt werden! Sehen Sie zu, wie weit Sie mit diesem Sibirien in Ihrem Herzen kommen werden! Gerade solchen Naturen, denen alles gleichgültig ist, solchen, die in der ganzen Welt nichts, aber auch nichts als Schein und Dummheit sehen, wird zuletzt so heiß unter den Sohlen, so fegefeuermäßig schwül schon hier auf Erden zu Muthe, daß sie sich wie der Skorpion, den man auf Kohlen setzt, zuletzt selbst umbringen!

Sie haben wahrscheinlich in der letzten Nacht, wo Sie nicht schlafen konnten, Seume's »Spaziergang nach Syrakus« gelesen? war alles, was Benno geantwortet.

Dennoch trafen die Worte Thiebold's ihn tiefer, als er sich den Schein gab.

Dazu war er zu stolz, zu entgegnen: Sage mir, wie ich in die Welt gekommen bin, und du wirst sehen, ich kann die Welt lieb haben! Er vertändelte den Ernst seines Unmuthes überhaupt und auch jetzt den Ernst seiner innerlichsten Zustimmung zu diesem ungewohnt starken Ausbruch allerdings schon vielfach benutzter Freundschaftsrechte. Gerade dadurch, daß er dennoch zu Enckefuß hielt, bewies er, wie sehr er sich getroffen fühlte.

Vor Hedemann rechtfertigte er sich im Vertrauen:

Lieber Alter, mögen Sie mit dem Enckefuß haben, was Sie wollen, der Sohn hat mir gestanden, daß sein Vater in Verzweiflung ist – wie kann ich ihm meinen Beistand entziehen!

Hedemann hatte dieser Antwort auch zugestimmt und sie natürlich gefunden ... Seitdem die Italiener im Orte angekommen waren und ihren gewohnten stark aufdringlichen Handel trieben, schien er von der ersten Hitze seines Antheils etwas zurückgekommen.

Eine weitere Erörterung und gründliche Aussöhnung zwischen Thiebold und Benno hatte in Kocher selbst nicht mehr stattgefunden. Major von Pritzelwitz benutzte die ihm nur verwilligten drei Tage, um seine kleine Armee in einen jeden Augenblick schlagfertigen Zustand zu versetzen und ihr durch tüchtigstes Sporengeben auch dergleichen »Mucken« der Gesinnung zu vertreiben, wie sie hier zu Lande üblich waren, wo man an Carnevalstagen den Kaiser Napoleon, seine Marschälle und seine alte Garde in öffentlichen Aufzügen copirte. Moppes, Timpe, Schmitz und selbst Weigenand Maus waren nicht selten schon zu Pferde mit Mamluken einhergeritten und hatten sich mit allem Pomp so in Orden und Stickereien gefallen, als wenn sie die Schlachten bei Jena und Eylau gewonnen hätten.

Auch Benno's bester Absicht, den Streit in der Dechanei beizulegen und Lucinden in sie zurückzuführen, ließ sich nicht der Nachdruck seiner gewohnten Handlungsweise geben. Diese fuhr mit Herrn Schnuphase schon am andern Tage in ihre neue Lebensstellung.

Und auch Thiebold war dann am Morgen des vierten Tages in Kocher plötzlich verschwunden. Er hatte an Benno ein einfaches Billet zurückgelassen, worin er sagte, es würde ihm Vergnügen machen, wenn er mit dem Assessor von Enckefuß seinen Landau benutzen wollte; er selbst wäre in Flößereigeschäften erst mit der Post, dann mit dem Dampfboot auf einige Tage nach Mainz gegangen.

Seit heute Abend erst war er, und jetzt bedeutend abgekühlt, von dorther zurück. In Lindenwerth hatte er Halt gemacht und sich mit den Empfindungen eines Toggenburg einige Stunden am vielberühmten Hüneneck aufgehalten. Nach dem Fenster des Saales, in dem Armgart wohnte, hatte er das Angesicht gerichtet, solange die letzten Strahlen der Sonne es vergoldeten. Da er keine Verwandte im Pensionat hatte, wurden ihm die Besuche von den gestrengen Englischen Fräulein nicht mehr gestattet.

Nun lag er hier, im Ohr die wüsten Scherze seiner »Freunde« ... vorgenießend schon die von ihm mit leidenschaftlicher Zustimmung ergriffene Sonntagspartie nach Drusenheim, wo eine Begegnung mit Armgart nicht unmöglich war ... sonst aber aufgelöst in Reue und Scham und unendlichster – Sehnsucht nach Benno.

Und vielleicht wäre dennoch auch über ihn der Schlummer gekommen, wenn nicht plötzlich im Hofe Wagenrasseln und das mahnende Knallen zweier Peitschen hörbar geworden wäre ... Er sprang auf, fiel fast, da die Lampen ausgegangen waren, orientirte sich und weckte Pitern, der im Concert der ringsum Schnarchenden jetzt eine Solostimme übernommen hatte ... Piter war eingeschlummert gewesen mit den vertraulichsten Geständnissen, die er in das Ohr seines Freundes Gebhard Schmitz geflüstert hatte über zwei wunderbare Frauenerscheinungen, die plötzlich durch »einen höllisch vernünftigen« Gedanken seiner Angehörigen ganz dicht in seine Nähe verpflanzt waren ... weniger von Mamsell Lucinden Schwarz war er entzückt – »obgleich auch diese« ... Und in diesen Haarspaltungen seines Geschmacks war er selig eingeschlummert ...

Nun, von Thiebold de Jonge aufgerüttelt, fuhr er empor ... So groß auch immer sein Vertrauen zu sich selbst war und so sehr er sich vorgenommen hatte, sich in seiner ganzen künftigen Haltung im Leben einen wenn nicht großen, doch eigenthümlichen und merkwürdigen Charakter zu geben, so geschah ihm doch immer, daß sein erstes Erwachen von irgendeiner der vielen, nicht blos durch den natürlichen Schlaf verursachten Besinnungslosigkeiten regelmäßig eine geringfügige Vorstellung über die gerade obwaltende Situation begleitete, der dann die völlig decontenancirte Miene entsprach ... So auch heute ... Der erste Gedanke, als ihn Thiebold aufrüttelte, war an das Fünfuhraufstehen in der Handelsschule gerichtet ... Bald aber besann er sich auf sein gegenwärtiges Alter und seine Stellung im Leben und in diesem Hause und rief donnernd den Joseph im Vorzimmer wach, ihn in den Hof jagend, und taumelte, seliger Rückerinnerungen voll, eine niedergebrannte Kerze in der Hand, das Product seines ihm nur für den Ausbau des Domes seiner Vaterstadt mangelnden Ingineursinnes, die luftige, zierliche neue Wendeltreppe, empor.

Er mußte ja, während Thiebold die andern Schläfer weckte, noch einmal in sein Garderobezimmer ... Um ganz dem Bilde der Modenzeitung, nach der er sich kürzlich erst für die Morgentoilette, für die Jagd und für Reisen equipirt hatte, zu entsprechen, fehlte noch sein Plaid und seine Tragtasche an juchtenledernen Riemen. Piter war in solchen Dingen exact. Für die Jagd besaß er eine rothe Jacke mit kurzen Schößen, goldenen Knöpfen, grauledernen Hosen und hohe gefirnißte Stulpstiefel. Für die Reise trug er einen kurzen Phantasierock mit zwei Brusttäschchen, schottische Beinkleider ohne Sprungriemen, Lackstiefel, die, wenn die Beinkleider in die Höhe gingen, Schäfte von rothem Saffian zeigten.

Wie Piter etwas mühsam hinaufsteigt, wird ihm eine Ueberaschung zu Theil. Kaum hatte sein etwas schwerer Fuß auf der leichten Treppe die ersten Stufen betreten, kaum hatte sich sein etwas unsicheres Auge überzeugt, daß es auch oben dunkel geworden war, kaum war die mit besonderm Nachdruck an die Lehne sich krampfende rechte Hand im Begriff mit der linken zu wechseln, wobei die Uebergabe des Lichtes in die andere Hand mit Schwierigkeiten verbunden schien und, da er sie doch zu überwinden versuchte, das Licht auch richtig ausgehen ließ – als von oben her eine Thüre aufging und der Schimmer eines Lichtes dem im Dunkeln Emportastenden zu Hülfe kam.

Und kaum hatte Piter, staunend über dieses ungewohnte nächtliche Lebendigsein über ihm, aufgeblickt, so mußte er sich um so betroffener fühlen, als ihm über das kleine bronzirte Gitter hinweg ein holdes Frauenantlitz entgegenleuchtete; in Wirklichkeit leuchtete mit einem Lichte und figürlich durch holdesten Liebreiz und eine seltene Anmuth; dabei dasselbe zarte Mädchenangesicht, in dessen Schilderung er soeben zu Gebhard Schmitz beinahe hätte poetisch werden können, wenn ihn nicht der Schlummer übermannte ...

Ja aber, um Gottes willen! Sie noch auf? sprach er mit nicht leichter Zunge ...

Das junge Kind zitterte und trat mit dem Leuchter in der Hand zurück ... denn nun stand Piter schon schwer und krampfhaft und mit einem entsetzlichen Dunst von Taback und Wein dicht vor ihr ... Er weidete sich an einem Anblick, der ihm ein »Bild aus Himmelshöhen« schien. Diese zwar nur kleine, aber zierlich behende Gestalt, dies goldblonde Haar, das einen Trauerkrepp in seine dichten Flechten eingewunden hatte, diese aus einem gleichfalls trauernden schwarzen Kleide hervorblendende weiße Haut und der Schnitt des Gesichtes von einer wunderbar lieblichen Rundung und Regelmäßigkeit übten wieder die ganze Wirkung auf ihn aus, die er schon seit gestern früh um zehn Uhr empfpunden hatte, als er dieses neu hinzugezogene Mädchen seiner Schwester Hendrika Delring zum ersten mal gesehen hatte.

Aber zum Donnerwetter ... wie kommen Sie denn dazu, so – so lange aufzubleiben oder vielmehr –?

So hab' ich Frau Commerzienräthin – vielleicht – nicht richtig verstanden – sie befahl – mir, da ich hier oben doch – bei Madame Delring bin – immer auch auf Ihre Wünsche zu hören – und wenn Sie reisten – hätten Sie manchmal noch etwas nöthig – und da – wartete ich so lange –

Die Stimme des armen überwachten, verweinten und erschreckten Mädchens zitterte ...

Na, das ist ja aber wahrhaftig noch besser ...

Piter lachte wie über eine grenzenlose Beschränktheit und doch that ihm die Naivetät wohl, die so auf seine allerhöchste Befriedigung bis gegen vier Uhr Morgens aufbleiben konnte.

Hahaha, lachte er und taumelte, um sein ausgegangenes Licht auf eine Fenstersims zu setzen. Das ist ja einzig! Sie bleiben 'ne ganze Nacht um unsereinen – und nun reis' ich – jetzt, wo ich solche – Nachbar schaft – habe – Meine Schwester – na, wird einen schönen Lärm machen, wenn sie hört, daß Sie Muttern so unsinnig – wollt' ich sagen allerliebst – verstanden haben! Herr Gott – kleiner Engel! Die Zeiten sind vorüber, wo man – Nachts aufblieb – wenn unsereins blos nur noch Elberfeld reiste – Jetzt heißt's: Reise glücklich! und das Uebrige – macht Wecker an der Uhr – und – und Hausknechts Stalllaterne –

Diese blitzte auch unten im dunkeln Hofe hochauf an die Hauswand gegenüber ...

Piter wollte von dem überaschenden Misverständniß noch Vortheile ziehen, aber das schöne Mädchen hatte schon die Thür ihres Zimmers zum Rückzug in der Hand –

Piter wollte nach und trat einstweilen mit den Füßen zwischen die Oeffnung, die die Fliehende schließen wollte.

Warum sind Sie denn schwarz – an – angezogen – Donnerwetter und wie heißen Sie denn –?

Gertrud Ley –

Gertrud! Also Treudchen? Sieh! Du bist schön, Treudchen, straf mich Gott, wie ein Engel – aber – aber warum denn der schwarze Flor da in – deinen allerliebsten –

Wenn Treudchen Ley jetzt in ein fast krampfhaftes Weinen ausbrach, so war es nicht so sehr die Erinnerung an die Leiden, die sie seit einigen Wochen und vollends den letzten Tagen durchgemacht hatte, als auch das Gefühl der tieffsten Beschämung über den Irrthum, der sie so bis früh Morgens hier oben aufsitzen und wachen lassen, auch vielleicht der Schmerz, dafür so belohnt zu werden, wie jetzt von Pitern geschah ... und auch ihr Vater fiel ihr ein, wie der so des Morgens aus den Wirthshäusern kommen konnte.

Ihr Weinen war so convulsivisch, daß Piter darüber an Besinnung verlor und gewann – je nachdem. Den Versuch sich ihr noch zu nähern gab er auf und zog sich scheu und seit langer Zeit zum ersten mal in einer Art Verlegenheit auf seine Zimmer zurück.

Als er dann wiederkam mit Plaid und Tasche, war Treudchen verschwunden. Die zu den Zimmern seiner Schwester führende Thür war verriegelt.

Er klopfte und klopfte. Er war in einer Begeisterung, in einem Sturm, in einem Drange der Liebesbetheuerung, in einem Vergessen ganz seiner selbst –

Treudchen Ley antwortete aber nicht mehr.

Piter mußte den schon mahnenden Freunden folgen.

Unten schob einer den andern in die harrenden beiden Wägen. Im Abfahren waren alle sieben noch leidlich wach. Piter war sogar ganz, als hätte er die »seiner Natur durchaus nothwendigen« zehn Stunden vollständig geschlafen, er lachte und trällerte, und sagen wir nur, wie unsinnig. Seine eben erlebte Geschichte hätte jedoch niemand hören können, wollte er sie auch erzählen, so rasselte man über die öden und schon vom kommenden Tageslicht angedämmerten Straßen, über die große Brücke, durch die Festungswerke; auch kam die pariser Mallepost, nicht unhörbar, hinter ihnen her ...

Im Bahnhof angekommen, schliefen alle außer Pitern und Thiebold.

Nun aber raffte man sich noch einmal auf und nahm Abschied. Kutscher und Bediente besorgten Piter's Effecten und die Freunde gewannen auf einen Augenblick ihren alten Humor wieder. Allein fiel ihr erstes Reisen zur Messe nach Frankfurt oder Leipzig ein und nun brach Gebhard Schmitz, der Dialektkünstler, wieder das Eis und entfaltete neue Talente. »Sie, mein kutes Härrchen! Eine kute Messe!« variirte er und der einfallenden Chorus sächselte mit, bis auf den Pfiff der Locomotive der Zug davonbrauste und ein donnerndes Hurrah den Zweck und die Bedeutung dieser Nacht krönte.

Die Chaisen fuhren jetzt in die Stadt zurück und setzten alle jungen Herrschaften vor den Pforten ihrer hochmögenden Väter ab, wo dann ein jedes froh war, sich in bequemen Sprungfedermatratzen auszuruhen von soviel Witz, soviel Bildung, soviel Kenntniß der Welt und der Menschen, soviel bewußtem Werth für die Welt im allgemeinen und diese höchst ehrwürdige und in so vielen Dingen entschieden und selbstbertrauend den vaterländischen Ton angeben wollende Stadt im besondern.

Während Piter vielleicht entschlummernd Treudchen im hochzeitlichen Kleide und von ihm selbst an den Altar geführt sah – es wäre das die kapitalste Idee gewesen, die sein ihm mangelnder »Verehrungssinn« für die Familie hätte ausführen können – war Thiebold, der jeden der Genossen noch an sein Haus gebracht und sich das Festhalten an der Drusenheimer Sonntagspartie bedungen hatte, in der Mitte der Stadt ausgestiegen.

Schon war es halb fünf Uhr ... die Straßen wurden lebendiger ... die Tageshelle mehrte sich ...

Seine Schritte führten ihn an einen kleinen winkeligen Platz, wo Benno wohnte.

Mit der Schwärmerei eines Verliebten stellte er sich an einen schon von den Mägden mancher fleißiger Handwerker belebten Brunnen und sah zu den geschlossenen Fenstern seines Freundes im ersten Stock eines schmalen Häuschens empor.

Es hing ein Blumenbret vor dem Wohnzimmerfenster ... alle drei Läden waren geschlossen.

Der Morgenthau, die herbstlich frische Luft kühlte die Augen des stillen Beobachters, der gewiß sein konnte, draußen auf den Holzöfen seines Vaters auch schon das lebendigste Tagwerk begonnen zu finden.

Wie er einige Minuten so gestanden hatte, nicht achtend der Neugier um ihn her, nicht achtend der Fuhrwercke, die schon im Gang waren, der Ausrufungen, die schon von Verkäufern ertönten, öffneten sich im ersten Stock die Jalousieen an Benno's Wohnzimmer.

Benno war schon aufgestanden und öffnete, wie er war, im rothgestreiften Nachthemde, mit der einen Hand durch sein dunkles Haar fahrend, mit der andern einen kleinen Vogelbauer unter die Blumen setzend.

Guten Morgen, Asselyn! rief Thiebold voll bebender Freude und fast schüchtern hinauf.

Guten Morgen, de Jonge! war die ruhige und erstaunte Antwort.

Schon so zeitig auf?

Und Sie noch so spät wach?

Haben Sie schon gefrühstückt?

Das nicht! Aber Reste aufzuarbeiten ... Doch kommen Sie nur herauf, falls Sie mir nicht wieder über meine alte Kaffeemaschine die Ohren voll lamentiren wollen!

Thiebold wußte schon, daß das alles von Benno nur Redensarten waren, die wenigstens die halbe Freude der Ueberraschung verdeckten, die er selbst so überströmend voll und vom tiefsten Herzensgrunde ganz empfand.

Da ist der Hausschlüssel! sagte Benno nach einer Secunde und warf ihn hinunter.

Thiebold hob den Schlüssel auf, schloß die Hauspforte und stieg die schmale Stiege zu seinem Freunde und zum gemeinschaftlichen Frühstück hinauf.

Er wußte, daß er seinem bewunderten und angebeteten Asselyn nicht um den Hals fallen durfte; er wußte, daß ihm jede weitere Erörterung des Misverständnisses mit den Worten würde abgeschnitten werden: Sie sind ein närrischer Kerl! ... Er wußte, daß seine ganze zu einer Scene der innigsten Zärtlichkeit geneigte Stimmung sofort die kalte Douche der Ironie bekommen würde. Aber wie er so Stufe um Stufe hinaufstieg, fühlte er doch, er kam aus einem Chaos voll Nacht, voll Kampf, voll Wahn, voll Thorheit zu einem Menschen, der sein überwallendes Herz beruhigen, die dunkeln Stimmungen seiner Seele erleuchten, ihn im Straucheln halten, im Irren führen konnte, zu einem Freunde, zu dem, so jung er war, er und mancher andere hätten sprechen dürfen:

Bei dir – ist Licht und Ruhe!

Darin glichen sich Bonaventura und Benno, daß jeder von ihnen umstrickt und umsponnen war von einem durch Schicksalshand angelegten Lebensräthsel. Aber auch darin glichen sie sich, daß von einer zu hoffenden Lösung desselben ihnen andern mehr abhängen mußte als nur – ihr eigenes Glück.

Ende des zweiten Buchs.

Dritter Band
Drittes Buch
1.

Von einer Handwerkerfamilie, die nach einem dunkeln Hofe hinaus arbeitete, hatte Benno drei auf einen kleinen, von einem belebten Brunnen geschmückten Winkelplatz hinausgehende Vorderzimmer gemiethet.

Eines davon, einfenstrig, war sein Schlaf-, die andern, zweifenstrig, waren Wohn-, Arbeits-, Empfangszimmer, je nachdem.

In einem derselben stand ein Repositorium mit einer Anzahl von Schubfächern, in denen sich theils die Acten der ihm von Dominicus Nück zugewiesenen Processe aufhäuften, theils schon manches Fascikelchen lag der auch ihm schon aufblühenden, freilich noch an den schützenden Namen und die Unterschrift seines Principals gebundenen ersten Frühlingskeime einer eigenen Praxis ... Im unbestreitbaren Wohnzimmer ließ Benno schon zuweilen in den Früh- und Nachmittagsstunden manche Partei warten, die über ein paar empfangene Ohrfeigen oder ein paar unbezahlt gebliebene Beinkleider seinen Rath begehrte und von ihm nach Abfertigung eines »pressantern« Clienten mit staatsmännisch bedeutsamer Miene gebeten wurde, sich auf einem Sopha von ehrwürdig altem schwarzen »geflammten« Merino (zu diesen Flammen war hier und da schon der entschiedenere Brand einer etwas vergeßlich gerauchten Cigarre gekommen) oder einem wirklich prachtvoll glänzenden rothsaffianen Sessel auszuruhen, welchen Phönix seines ihm theilweise persönlich angehörenden Mobiliars ihm Thiebold de Jonge verehrt hatte. Oder man könnte, da dieser Sessel klein, zierlich, auf einer Rolle gehend und wie luftig war, ihn unter dem bescheidenen Hausrath, der altmodischen Kommode von Nußbaumholz, dem Schreibsecretär von Birken-, den lackirten Stühlen von Tannenholz, auch einen prächtigen Kolibri nennen in einem solchen gewöhnlichen Drahtbauer, wie der war, in dem Benno bereits eine Art Familie zu ernähren hatte, zwei Canarienvögel seiner Wirthsleute, die er von ihnen in Pflege genommen zur Erzielung einer Hecke, bis sich freilich herausstellte, daß die frisch aus dem Nest genommenen kleinen Thierchen »Sieen« waren, was Benno leider erst entdeckte, als er sich an beide Geschwister so gewöhnt hatte, daß er sie auch ohne Gesang und Hecke vor seiner Wirthin rettete, die von einem pflichtschuldigen Tode derselben durch irgendeine nachbarliche Katze sprach. Jetzt prangte dieser Lehnsessel vollends, seitdem Benno bei seiner Zurückkunft von Kocher am Fall wieder zu seinem höchsten Verdrusse eine neue Gabe seines manchmal unerträglich aufmerksamen, Freundes vorfand, einen in sämmtlichen drei Zimmern gelegten bunten prachtvollen Teppich für den Winter ... Gegen diese Zuvorkommenheiten des jungen Halb-Millionärs ließ sich gar nicht angehen. Thiebold zerbrach, statt des Gottes der Zeit, lieber zufällig selbst einen Stuhl und erklärte dann mit gemachtem Schreck, seinem Freunde oder den Wirthsleuten einen Ersatz dafür schuldig zu sein, als daß er sich die Gelegenheit hätte nehmen lassen, Benno statt nur durch Zank auch einmal auf diese Art seine Freundschaft zu beweisen. Den alten in Ruhestand versetzten Lehnsessel, der mit dem Sopha, in Rücksicht auf geflammtes Muster und Ehrwürdigkeit des Ueberzugs, harmonirte, hatte er schon vor längerer Zeit einmal, wie er entschuldigend sagte, in Gedanken mit dem Federmesser, das er wie zufällig von dem Tische Benno's genommen, in der Armlehne zerschnitten und den neuen Teppich motivirte er auf Benno's Vorwürfe, die ihn deshalb heute in der Frühe gleich beim Eintreten und in medias res gehend empfingen, mit folgenden Worten:

Bester Freund, das bitt' ich mir denn doch aus! Seitdem ich einmal das Unglück gehabt habe, beinahe in den St.-Moritz zu fallen, bin ich gegen alles Kalte von einer merkwürdigen Empfindlichkeit! Im Winter hier bei Ihnen zu sitzen und über den offenherzigen Dielen Ihrer Baracke mich zu erkälten – das werden Sie nicht verlangen können!

Und bei alledem, erwiderte Benno, sieht es nun erst recht bei mir aus wie bei Bagage, die gern möchte und kann nicht! Der Teppich und der Sessel führen jetzt das große Wort und haben die Oberhand! Jedermann wird jetzt glauben, daß ich statt heraufzukommen ein Heruntergekommener bin!

Himmel! unterbrach Thiebold, zog seine Cigarrentasche und betrachtete ein auf dem Tische neben dem Terminkalender liegendes kleines Octavbüchelchen, worüber Benno zierlichst »Verläge« geschrieben hatte; Asselyn, ist das Ihr Einnahmebuch? Sie haben ja einen Bogen mehr hinten angeheftet? Sind das die Einnahmen von dem großen Proceß der Dorste-Camphausen, in dem Sie auch, hör' ich, zu thun bekommen werden?

Und schon las er, eine Seite aufschlagend:

»7 Groschen 6 Pfennige Concept – 2 Groschen 6 Pfennige Copiatur –«

Wahrscheinlich, erwiderte Benno, ihm trotz des Spottes das Büchelchen sanft aus der Hand nehmend, wahrscheinlich haben Sie in Mainz einen ganzen schwäbischen Urwald in Empfang genommen, daß Sie heute schon frühmorgens so übermüthig Geldseele sind! Kommen Sie jetzt erst mit Ihrem Holzfloß angeschwommen? Oder hatten Sie die Nacht Geschäfte mit einer vaterländischen Tabacksfabrik? Ich versichere Sie, Ihre Atmosphäre versetzt die Phantasie keineswegs in die Havanna!

Merkwürdig, gab Thiebold zu und hatte bereits die Büchse mit gemahlenem Kaffee aus Benno's Schreibsecretär von verblaßtem Birkenmaser genommen, indem er leicht und leise den Besitzer, der dabei eine vorwitzige Untersuchung seiner Kasse befürchtete, bei Seite drängte, ihm auch die auf dem Secretär stehende Maschine aus und unter der Hand wegescamotirte und das heute, der noch nicht »bei Wege« befindlichen Wirthin wegen eigne Sieden des Wassers zum Kaffee sich allein aneignete; merkwürdig, wie geistesabwesend ich gestern gewesen sein muß! Die ganze Nacht hab' ich von Piter's vermaledeiten Cigarren geraucht! Der Mensch will jetzt in der Stadt den Ton angeben!

So! So! sagte Benno. Waren Sie also wieder auf Ihrer amerikanischen Akademie! Dann nehmen Sie den Kaffee allerdings, bitt' ich, ein Loth stärker! Welche große That ist denn diese Nacht an der wahrscheinlich für permanent erklärten Bowle beschlossen worden?

Die Caricatur auf die Gebrüder Fuld und die Drusenheimer Sonntagspartie jetzt so ohne weiteres zu nennen, nahm Thiebold de Jonge, der, wie es schien, im Crescendo begriffenen Satire seines Freundes gegenüber Anstand. Gab es doch auch zunächst Dinge, die ohne zu spaßen mit bitterm Ernste verdienten abgemacht zu werden! Die Versöhnungen machte zwar Benno immer nur so scheinbar und ohne Gefühl und »links um die Ecke herum«, wie Thiebold sagte, der, »wenn er einmal gefühlvoll wurde« – er wurde dies viel öfter als er zugab – dann auch gern von allen Kirchthürmen mit Zinken und Posaunen wie zur Weihnacht dazu geblasen und mit allen Glocken geläutet haben wollte. Auch heute, war es der entbehrte Schlaf oder welche sonstige »lyrische« Stimmung, auch heute hätte er gern die Versöhnung etwas feierlicher gewünscht ...

Er ließ deshalb zunächst Benno, der sich vollständiger ankleidete, allein reden, was sonst in seiner Gegenwart selten geschah.

Ohne Zweifel, ließ sich Benno von der Schlafkammer aus vernehmen, ohne Zweifel haben Sie Ihren Freunden Bericht erstattet von unserm Manöver! Von dem Sturm auf die große Lehmschanze, wo der alte Pritzelwitz leibhaftig die Franzosen vor sich sah, bis es von uns allen hieß: »Und Roß und Reiter sah man niemals wieder!«

Thiebold schwieg ... Er braute Kaffee und Versöhnung.

Ein Glück, fuhr Benno fort, daß drüben nicht wirkliche Augereaus oder Dürocs commandirten! General Klebern hatten wir diesmal auf unserer Seite!

Thiebold schwieg, selbst in Erinnerung auf ein ganzes Bataillon, das im Lehm stecken geblieben war.

Meine Stiefeln gingen am dritten Tage vollständig aus der Naht! fuhr Benno fort; und die Reserve, die Hedemann in meinem Mantel trug, paßte nicht, denn von dem siebenmaligen Sturm auf die Lehmschanze hatt' ich Elefantenfüße bekommen, daß mir die Stiefel zu eng wurden! Und nun reisen Sie mir mit Ihrem Stiefelmagazin ab! Ich glaube, Sie hatten in Rücksicht auf das Trottoir in Kocher und Ihre Hühneraugen sechs Paar mit! So schnell waren Sie über alle Berge, daß man glauben konnte, Sie hätten sie alle auf einmal angezogen! Haben Sie denn Ihren Freunden heute Nacht auch erzählt, wie Sie mich auf dem Weinberg beim Obersten von Hülleshoven abschilderten?

Nun verzog Thiebold ein wenig die Miene ... er merkte eine Geneigtheit des Freundes, auf seine »lyrische« Stimmung einzugehen.

Unsereins ist freilich zu unbedeutend, fuhr Benno, immer von der Kammer aus, fort, Gegenstand so hochmögender Discussionen zu werden. Was wurde denn erörtert? Das nächste Fastnachtsprogramm? Ich wäre für Mercur's Triumphzug! Alle neun Musen müßten hinter dem Handelsgott hergehen und ihm die schmeichelhaftesten Opfer bringen! In der Mitte ein großer Wagen ganz mit Rosinen gefüllt und Alexander von Humboldt davor als ein ganz gewöhnlicher Kutscher in eurer Livree! Dann eine Heringstonne, Schelling und Hegel dahinter mit Löschpapier in der Hand, Fichte im grauen Rock mit der Ladenschürze! Dann eure heiligen drei Könige hier als Importeurs von Thee, Taback und Indigo – Melchior, der schwarze, noch mit einem Zuckerhut in der Hand – oder sind Sie für Runkelrübe?

Ohne im mindesten sich reizen zu lassen von Benno's »lateinischem Stolze«, unterbrach Thiebold nur mit den einfachen und höchst gelassen geseufzten Worten:

Nicht einmal kleinen Zucker im Vorrath!

Damit holte er tief wehmuthsvoll einen Stiefelknecht aus dem Zimmer, in dem Benno's jugendlich knospende Praxis in dem Repositorium lag und wo er des Abends nach Hause kommend immer zuerst musterte, was etwa neu eingetroffen von seinem Schreiber in die kleine Baumschule künftiger fruchttragender Proceß-Obstgärten gelegt war, während er sich dabei die Stiefeln auszog.

Thiebold zerklopfte ein großes Stück Zucker, das er gleichfalls aus Benno's offenem Schreibsecretär, Kassa und Speisekammer zu gleicher Zeit enthaltend, genommen hatte ...

Nun, erzählen Sie doch von Ihrer Reise! sagte Benno und setzte, dies jedoch etwas kleinlauter, hinzu:

Waren Sie denn auch in Lindenwerth?

Thiebold klopfte am Fenstersims Zucker; Benno trat im Hauskleide an den Kaffeetisch ... Sein geschornes Militär-Haar war schon wieder voller gewachsen und setzte auch seine gewohnte natürliche Kräuselung an. Sein Teint, immer etwas bleich, war heute von einer milden Röthe angehaucht. Sein Hals lag offen, wie die Brust, die die ganze bräunliche Schönheit hatte, die von den Alten am Manne so gerühmt wird. Beide Freunde hätten sich ganz wohl zu einem Modell der Dioskuren stellen können; vorausgesetzt daß der Künstler sowol eine kleine Neigung Thiebold's, mit seinen lichten Milchblutformen und dem sozusagen blonden Habitus seiner ganzen Constitution etwas ins Allzuvolle überzugehen, und bei Benno im Gegentheil eine gewisse brennende und an die mit phrygischer Mütze geschmückten Gestalten neapolitanischer Fischer erinnernde Magerkeit weise gemildert hätte.

Auf die Frage: Waren Sie denn auch in Lindenwerth? war die Thiebold'sche Gegenfrage: Gestern ist ja wol Ihr Vetter angekommen? gewissermaßen Blödsinn und doch lag eine Antwort darin.

Beide nämlich, Benno und Thiebold, waren von dem Zwiespalt in Armgart's Familie unterrichtet; beide wußten, daß Armgart's Lehrerin, Angelika Müller, an den Dechanten etwas Entscheidendes in dieser Angelegenheit geschrieben hatte; doch kannten sie den nähern Inhalt der Erklärungen Armgart's nicht und mochten den Obersten am wenigsten drängen, ihnen mitzutheilen, was Bonaventura in der Morgenstunde, wo sie noch nicht die Lehmschanze erstürmt hatten, doch schon früh genug aus waren, um einen forcirten Marsch zu unternehmen, bei ihm gewollt hatte. In Armgart's Angelegenheiten war etwas vorgefallen, das hatten sie, als sie Abends spät todmüde zurückkamen, schon gemerkt; aber selbst Benno wußte von der Wanderung vom Hüneneck an bis zur Maximinuskapelle aus Armgart's eigenem Munde über ihre heimlichen Gesinnungen gegen den Vater nichts weiter, als daß sie vor Sehnsucht brannte, ihm ein paar selbstgefertigte Tragbänder zu schenken ... Nun ließ sich fast annehmen, daß Bonaventura auch mit Aufträgen des Obersten und Dechanten für Lindenwerth erschienen war und darin lag denn doch eine gewisse Logik der Thiebold'schen Gegenfrage.

Was soll ihm denn hier werden? fragte dann Thiebold und klopfte Zucker in Hoffnung, von Armgart zu hören.

Er ist auf heute früh zum Kirchenfürsten bestellt ... sagte Benno und hob den Deckel der Maschine auf, die stark genug war, Wasser zum Sieden zu bringen. Man vermuthet eine Berufung an den Dom ...

Sieh! Sieh! ... Blieben Sie denn noch in Kocher lange nach mir?

Ein paar Stunden! steuerte Benno auf die feierlichere Beilegung der Differenz zu. Ich hatte Eile zu meinen Arbeiten zurück! Und Nück schrieb mir Aufträge für die Reise noch bei einigen Gutsbesitzern und Bauern ... ich kann alle Stunden gewärtig sein, wieder auf ein paar Commissionen hinaus zu müssen ...

Ich hoffe, daß Sie Ihren Vetter bei uns einführen! ließ Thiebold fallen. Wann wollen Sie mit ihm bei uns speisen?

Mein Vetter ist höchst einfach und liebt die Gesellschaft nicht ... Auch will er schnell nach St.-Wolfgang zurück, obgleich ich höre, daß der Kirchenfürst unpäßlich ist und ihn vielleicht gar noch nicht einmal empfangen kann ... Die reizbare Eminenz ist, wie mir Enckefuß erzählte, in einer gewaltigen Aufregung, die ihn um so mehr erschüttern mag, als er sie äußerlich nicht verräth.

Nun war der verhängnißvolle Name Enckefuß gefallen ... Thiebold wich aber noch aus und sagte:

Daß ich von der Dechanei so kurzen Abschied nahm! ... Ich bereu' es fast ... Hat sich das Verhältniß mit der Dame nicht ausgeglichen?

Wissen Sie denn nicht? fiel Benno ein.

Was soll ich wissen?

Während ich noch mit Frau von Gülpen zu ihren Gunsten parlamentirte, war sie ja abgereist ... Aber erfuhren Sie denn nicht, im Kattendyk'schen Hause –?

Was?

Mit Ihrem Zauberweibe haben Sie Ihre schlechten Cigarren unter Einem Dache geraucht!

Ich weiß kein Wort ...

»Zauberweib« war ein Ausdruck gewesen in Thiebold's großer Apostrophe an Benno's Herzlosigkeit. Dies Wort wirkte jetzt auf ihn wie die beschämende Erinnerung an einen Rausch ...

Er wollte etwas erwidern, verschluckte es jedoch wegen nicht ausreichender Stimmmittel ...

Himmel! fuhr Benno fort. Wenn diese scharfen Augen und Ohren das Négligé Ihres tapfern Herzens und besonders Ihrer Zunge belauscht hätten!

Welche denn?

Diese neue Bewohnerin des Kattendyk'schen Hauses! Lucinde Schwarz!

Gott sei Dank! Ich schwieg den ganzen Abend –

Schnuphase vermittelte das Engagement! Auf die Folgen bin ich begierig!

Deshalb war Piter so geheimnißvoll – Noch im Bahnhofe –

Wo –?

Wir brachten Pitern vor einer Stunde auf den Bahnhof! Er ist nach Witoborn, um eine Liegenschaft anzukaufen ...

Aus der Enckefuß'schen Schuldenmasse? Sieh! Sieh! Das nenn' ich rasch bei der Hand!

Wie so, Enckefuß'sche –? Ich habe am Ende Pitern noch das Geleit gegeben, ein Angebot auf die Grundstücke zu machen, die der Oberst und Hedemann kaufen wollten?

Beruhigen Sie sich! ... Indessen –

Eben wollte Benno seinem Freunde auseinandersetzen, daß sich der Assessor von Enckefuß auf seine, Benno's, Verwendung an den Procurator Nück gewandt hätte, ihm in der Befreiung seines überschuldeten Vaters von den bittersten Verlegenheiten behülflich zu sein ... Eben gab er eine Schilderung der Verhältnisse des Rittmeisters, die ganz den Erinnerungen, die von diesem Lucinde haben mußte, entsprach ... Eben mußte er zugleich sein Erstaunen ausdrücken, daß, wenn Piter Kattendyk wirklich die Enckefuß'sche Masse erstehen wollte, dies nur im Auftrage seines Schwagers geschehen sein könnte, jedoch in einer Eile, die ihn wahrhaft überrasche – als Thiebold vom Fenster aus eine ungewöhnliche Aufregung auf dem kleinen Platze bemerkte.

Was gibt es denn da? unterbrach Thiebold in plötzlichem Ausruf Benno's und seine eigene Besorgniß, die er für Hedemann's Mühle aussprechen wollte, die einen Theil der überschuldeten Enckefuß'schen Besitzthümer bildete ...

Auch Benno hatte schon lange ein ungewohntes Treppenlaufen in seinem kleinen Hause bemerkt, war auch ans andere Fenster getreten und bestätigte schon, daß an einem ganz in einen Winkel des kleinen Platzes gedrückten Hause ein starker Zusammenlauf von Menschen stattfand, ja eben bestieg sogar ein Polizeicommissar eine nach der Straße offen liegende Treppe des von den Menschen aufgeregt umstandenen Hauses ... Die Menschen drängten nach ... Der Commissar wandte sich und verbot jedem, nur auch einen Schritt weiter zu folgen ... Damit schloß er die Treppenthür hinter sich zu und verschwand.

Thiebold hatte in seiner raschen Art schon zum Fenster hinausgesprochen, was denn da wäre?

Es ist die Nacht einer ermordet worden! hieß es.

Wie? Wer? riefen beide Freunde zugleich.

Eine Frau!

Die sanguinische Natur Thiebold's hatte schon den Hut in der Hand und stürzte die Stiege hinunter, um wenn nicht für sich, doch für seinen Freund Benno eine für so nahe Nachbarschaft beunruhigende Thatsache festzustellen.

Indem kamen bereits die Wirthsleute Benno's und berichteten ihm, daß in dem Hause drüben eine alte stadtbekannte geizige und nach allgemeiner Vermuthung reiche Frau diese Nacht wäre ermordet worden ... Die Milchfrau hätte die Thür ihrer Wohnung offen gefunden ... wäre hineingegangen und hätte die alte Dame mit einer Schlinge um den Hals erwürgt gefunden, dicht am Küchenherde.

Eine Frau Hauptmännin – hieß es; der Name ging Benno verloren, zumal in der Eile, mit der man auf jeden aussein mußte, der neue Mittheilungen brachte.

Benno, inzwischen vollends angekleidet, wollte gleichfalls seinen Hut holen. Ohnehin bekümmerte ihn, da ihn gestern Nachmittag ausschließlich Bonaventura in Anspruch genommen und er Nück nicht gesprochen hatte, die plötzliche Ahnung einer Gefahr, in die sowol Hedemann's und des Obersten Ankauf als selbst die momentane Schuldenbefreiung des Landraths und Rittmeisters von Enckefuß gerieth. Der »schöne Enckefuß« besaß daheim, soweit Benno wußte, keinen einzigen Beistand, keine einzige Hülfsquelle mehr. Die Gläubiger konnten sein Eigenthum, ein größeres Anwesen vor und in Witoborn, in Anspruch nehmen und schon hatte Hedemann davon eine Mühle und deren Gerechtsame für sich erstehen wollen von einem der Witoborner Juden, der darauf eine Hypothek hatte, die dem ganzen Werthe des Grundstücks fast gleichkam ... Kaufte Hedemann sie von dem Gläubiger, so erstand er sie zu geringerem Preise. Trat aber ein Gesammtkäufer ein, der die Schuldner befriedigte und – wie der Assessor für seinen Vater hoffte – sich mit diesem, der ohne Besitzthum nicht mehr Landrath sein konnte, arrangirte, so fielen vielleicht Hedemann's Hoffnungen nicht nur auf einen wohlfeilen Preis, sondern vielleicht überhaupt die für den Ankauf und eine neue Begründung seiner Existenz vorhandene Möglichkeit dieser Erwerbung fort. Ließ Nück, ohne seinem Hülfsarbeiter davon etwas zu sagen, diesen Ankauf in solcher Eile und hinter seinem Rücken vollziehen – noch gestern früh war kaum die allgemeine Bereitwilligkeit des oft gar seltsamen Procurators gewonnen gewesen –, so fiel zwar die Hoffnung gerade nicht fort, daß Hedemann seine Mühle bekam, doch jedenfalls wurde der Preis größer, als durch den Ankauf von jenem Einzelnen, der seine Hypotheken retten wollte. Und noch war seiner schnellen Combination sogleich etwas Anderes räthselhaft gewesen. Nück's Neigung, dem bedrängten Enckefuß zu helfen, schien ihm keine aufrichtige. Er hatte es sogar anfangs ganz unbedingt abgelehnt. Und sogar von Hedemann und dem Obersten hatte er die Worte fallen lassen: Bester, was ist denn nur das? Ich höre ja, diese beiden Leute sind aus Amerika zurückgekommen und noch nicht ein einziges mal hat einer von ihnen hier oder in Kocher am Fall oder in Witoborn einer Messe beigewohnt? ... Benno wollte aufs schleunigste zu Nück oder Enckefuß.

Ein Glück aber zunächst für den Kaffee, daß eben auch Thiebold wieder zurückkam ...

Rasch zuspringend auf das übersiedende Wasser und ohne die Bereitung des Frühstücks aus dem Auge zu verlieren, erzählte er:

Ja das ist schön! Ein richtiger completer Mord! Ich bin von der Wache hinaufgelassen worden und habe mir die Geschichte angesehen! Hinter den Vorhängen im zweiten Stock drüben ... Schauerlich! ... Braun und blau ... In der Küche dicht am Feuerherd liegt eine alte Person ... mit 'nem gräßlich entstellten Angesicht ... und gerade als wollte sie in Todesangst hinunterkriechen unter den Verschlag, wo das Holz liegt ... Der Mörder faßte sie dabei von hinten ... erwürgt ist sie ... darüber kann kein Zweifel sein ... alle Schränke und Kommoden in den Vorzimmern sind erbrochen ... ringsum liegen Papiere zerstreut und durchwühlt ... und wie bei einer completten Hexe sieht's aus ... ausgestopfte fürchterliche Vögel und Fußdecken von wilden Thierfellen und lange indianische Lanzen mit Pfeilspitzen und Köchern .... Die Milchfrau klingelte und klopfte heute früh, findet die Thür offen, geht hinein und sieht die alte Person auf dem Pflaster der Küche liegen, wie gesagt, gerade am Feuerherd.

Keine Vermuthung auf den Mörder? rief ein Chor von Hausbewohnern, der sich die Resultate der Thiebold'schen Erkundigungen nicht entgehen lassen wollte und das Vorrecht der Wirthsleute, einzutreten, durch Nachdrängen mitbenutzt hatte.

Ich hörte nichts! ... sagte Thiebold.

War sie denn ohne Bedienung –? stotterte ein alter zum Tod erblaßter Garçon aus der Dachstube, der sich im Nachtkamisol sein Frühstück eben selbst geholt und die Milchkanne zitternd in der Hand hielt.

Ihr letztes Mädchen, erzählte man, war schon vor Wochen abgezogen – sie wartete auf ein neues – die Person war berüchtigt, daß kein Dienstbote bei ihr länger als vier Wochen aushielt ... Erst in neuerer Zeit blieben manche etwas länger ... Das waren Mädchen, die aus den Klöstern oder von Vereinen geschickt wurden ...

Da bei alledem dennoch die Frau Wirthin frisches Weißbrot, Milch und die im Keller aufbewahrte Butter brachte, so kam der Name der Hauptmännin von Buschbeck noch einmal an Benno's Ohr und jetzt erst war es ihm, als hätte er diesen doch kürzlich von jemand nennen hören ...

Erst, wie die Wirthsfrau erzählte, die Frau wohnte dort oben schon seit sieben oder acht Jahren, wäre steinalt gewesen, nie mehr ausgegangen und schon von andern Städten wäre sie um ihrer Bosheit willen hierher gekommen ... und der, der sie umgebracht hätte, der müßte Bescheid gewußt haben ... erst wie das alles allmählich auf Benno einwirkte und ihm plötzlich die Erinnerung kam, daß er einen übel berüchtigten, leider mit seinem Principal, dem Procurator Nück, vertrauten Mann, einen gewissen Jodocus Hammaker, einen verdorbenen Advocaten, Winkelagenten und Makler verdächtiger Geschäfte zuweilen Abends von jener Stiege herabkommen gesehen hatte ... erst da fiel ihm ein: Auf jener Fahrt von St.-Wolfgang fragte ja Lucinde Schwarz nach einem solchen Namen und nannte ihn geradezu eine Schwester der Frau von Gülpen!

Benno stand so in Nachsinnen vertieft, daß er Thiebold's Bemerkung, eben käme der Assessor von Enckefuß mit einem Schreiber daher und ginge auf das Haus des Frevels zu und nähme wahrscheinlich das Protokoll auf, überhörte ... Die Grauengestalt jenes Hammaker verließ ihn nicht ... Und Frau von Gülpen! ... Seine Empfindungen für die Freundin seines Adoptivonkels waren die dankbarsten! ... Seine frühesten Knabenerinnerungen bewahrten der wunderlichen, an sich respectabeln Frau ein mannichfach verpflichtetes Andenken! ... Seine frühesten Lebenseindrücke ... welche waren es denn? ... Das lächelnde Antlitz einer schönen vornehmen Frau, die einst wie unter Harfenklängen und Engelstimmen und gerade wie selbst bei der grimmigsten Nordlandskälte sich die Kindheit in der geweihten Nacht um der duftenden Aepfel, Nüsse und Wachskerzen willen die sternenhellen, eisigen Lüfte draußen nur vom Lobgesang der Hirten und dem Flügelrauschen himmlischer Heerscharen erfüllt denkt, aus einer glänzenden Kutsche stieg, sich über ihn beugte und ihn küßte ... eine weite Reise dann, die sich ihm unter dem Bilde einer endlosen Reihe von Bäumen eingeprägt hatte, solchen, wie sie bei nürnberger Schäfereien krausköpfig von Holz geschnitten sind und ebenso rasch umfallen, wie die langen Schwadronen bleierner Soldaten ... das Blitzen dann der Epaulettes des französischen Offiziers Max von Asselyn, der ihn adoptirt hatte ... nicht, daß diese Epaulettes noch auf des Adoptivvaters Schultern saßen, sondern er spielte mit ihnen, mit den abgelegten, ausgedienten ... dann klangen ihm im Gedächtniß die dumpfen Glocken, die das Begräbniß Maxens von Asselyn bedeuteten; den Sarg hatte er nicht gesehen, nur den vom Kirchhof zurückkehrenden Geistlichen, eine hohe mächtige Figur in weißem Ornat mit goldstarrendem Besatz, den Pfarrer Perl zu Borkenhagen ... dann tummelte er sich mit Hedemann auf dem Gehöft der Aeltern desselben, ritt nach Witoborn, Westerkamp und sah im Geiste immer die Leute aus der alten Ludgeri-Kapelle bei Stift Heiligenkreuz kommen mit Gesangbüchern, von denen sich, wie das so ist in unserm wunderlichen Vorrathshause, dem Gedächtnisse, gerade vorzugsweise der blitzende goldene Schnitt eingeprägt hatte ... auch die vierspännige Kutsche des Grafen Joseph von Dorste-Camphausen, des letzten seines Stammes, Vaters der Gräfin Paula, sah er oft ... dann wurde er in Pensionen gegeben, hierher an den schönen Strom, erst in die Residenz des Kirchenfürsten, dann unter Bonaventura's, des schon etwas Aelteren Aufsicht nach der nahe gelegenen Universität, wo er die Vorbereitungsschulen und dann die Hochschule selbst besuchte – alles das hatte der Dechant möglich gemacht und Frau von Gülpen spielte bei diesen Phantasmagorieen der Erinnerung die freundlichste und mütterlichste Rolle ... er wie Bonaventura wurden versorgt von ihr mit allem, was nur zu des Leibes Pflege und Nothdurft gehörte, Ausstattung an Wäsche und wohlwollenden Rathschlägen aus ihrem bekannten reichen Schatz medicinischer und diätetischer Erfahrungen ... Zwischen alles das aber hindurch hatte er nie von einer Schwester der Freundin seines Oheims gehört, nie nur den Namen früher nennen hören als zum ersten male durch Lucinden ... Und jetzt sollte dieser sich so grauenvoll in Erinnerung bringen? Sollte in eine Verbindung treten mit dem stillen Frieden der Dechanei? Sollte in jene leidenschaftslose, nur der Ruhe und dem Behagen gewidmete Welt die düstersten Schatten werfen?

Die Schonung und die Scheu vor Menschen, denen Benno so dankbar verpflichtet war, hinderte ihn selbst gegen Thiebold sein Erstaunen und seine tieferschütterte Ueberraschung auszusprechen.

Unruhig und bewegt stand er auf und schritt in sei nem Zimmer, deren Thüren er öffnete, auf und nieder ...

Thiebold nahm, während sie dann von den Leuten frei wurden, die Thür schlossen und frühstückten, seine Bemerkung, daß der Assessor von Enckefuß drüben im Hause der Ermordeten wäre, dann Piter's Reise und die Gefahr des Hedemann'schen Ankaufes wieder auf. Letztere stellte jedoch Benno entschieden in Abrede.

Nur staun' ich, sagte er, wie das seit gestern so rasch gegangen! Schon in Kocher am Fall theilte ich Hedemann und dem Obersten mit, daß ich, wenn etwa Nück der Gesammtgläubiger des Herrn von Enckefuß würde, dafür Sorge tragen wollte, daß Hedemann die Mühle um den Preis bekäme, den er an den auf sie angewiesenen Hypothekengläubiger zahlen wollte. Alle diese Gläubiger lassen mit Freuden ihre Hypotheken mit einem Verluste ab, wenn sie nur überhaupt die Subhastation vermeiden können, bei der sie verlieren; denn auf diese Besitzungen wurde mehr Geld aufgenommen, als sie jetzt Werth haben. Kauft Nück durch seinen Schwager die Hypotheken auf, so wird er der alleinige Gläubiger des Verschuldeten und ich hoffe – indessen wünscht' ich doch zu wissen, ob der Assessor lange drüben verweilt und ob er vielleicht –

Herüber kommt? unterbrach Thiebold, sehr befriedigt von der dann nothwendigerweise eintretenden vollständigen Aussöhnung. Und dieser Aussöhnung schon gewiß sagte er: Es ist einzig, welchen Nachdruck der Oberst und Hedemann auf diese Erwerbung bei Witoborn legen!

Beide haben, erklärte Benno und fixirte die Fenster, wo die Ermordung stattgefunden – die Küche selbst lag nach hinten auf eine düstere und einsame Brandmauer hinaus – beide haben den Stolz, da, wo sie zu Hause sind, mit dem gebührenden Nachdruck ihrer ganzen alten Lebensstellung wieder auftreten zu wollen!

Hm! grübelte Thiebold und setzte kleinlaut hinzu: Wie viel anders könnte das alles sein – wenn – Glauben Sie wol, Asselyn, unterbrach er sich, daß ich einmal, ich will nicht sagen jetzt, aber in einem Jahre oder zwei, einen – Korb bekomme, falls ich als Bürgerlicher –

Benno verstand vollkommen, daß Thiebold von einer Werbung um Armgart und den Vortheilen einer Verbindung des Vaters mit seinem Vermögen sprechen wollte.

Bürgerlicher? De Jonge! sagte er scheinbar ironisch, während ihm alle Nerven zuckten und Thiebold's auch nur angedeutete Werbung einen Stich durchs Herz gab.

De – de –? Ach so, Sie meinen – sagte Thiebold verlegen ...

De Jonge –! Wer wird Ihnen einen alten niederländischen Adel abstreiten können!

Einen Adel, der viel Mesalliancen durchgemacht hat! Wir handeln jetzt mit Brenn- und Nutzholz, aber kein Baum hat uns je so morsch auf Lager gelegen wie unser Stammbaum!

Das De sagt immer etwas –

Hören Sie 'mal, meine sel'ge Mutter war sogar eine geborne Tor – Tor Möhlen!

Zur Mühlen! Sie sehen, wie alles zusammenkommt, um das Wasser auf Ihre Mühle zu treiben!

Aber Joseph Tor Möhlen – Twist und Baumwolle –

Haben Sie denn nicht gehört, daß der Oberst von Hülleshoven nicht übel Lust hat, mit Hedemann die Mühle ganz einfach in eine Papierfabrik zu verwandeln?

Nach dem Dechanten, als die Rede davon war, ein bloßer Scherz ...

Scherz, den der Oberst ernst zu nehmen der Mann ist! Oder haben Sie nicht bemerkt, daß in diesem Sonderling ein Gelüsten lebt, dem ganzen Geiste seiner Provinz gleichsam einen Fehdehandschuh hinzuwerfen?

St! unterbrach Thiebold, der bei alledem so in Gedanken verloren war, daß er seine Absicht ganz vergessen hatte, die Rückkehr des Herrn von Enckefuß aufs Fenster blickend abzupassen und ihn gemüthlich, als wäre nichts zwischen seinem geliebten Hedemann und dem Assessor im Garten des Wirthshauses am Kreuzwege vorgefallen, anzurufen. Aufhorchend fuhr er fort: Sie bekommen Besuch!

Man hörte auch das gleichmäßige und sichere Ersteigen der Treppe durch einen festen Schritt, der an der Thür Benno's Halt machte ... Es klopfte und ohne erst lange ein Herein! abzuwarten trat der Assessor von Enckefuß ins Zimmer.

Vom Schauplatz eines Mordes zu kommen wird den Ruhigsten in Aufregung bringen. Der Assessor war sonst ein Mann von einer seltenen Bestimmtheit und Fassung; heute, in aller Frühe schon vom Lager gerufen, um den Thatbestand eines seltenen Verbrechens aufzunehmen und den Eifer und Scharfsinn seiner Beigeordneten zur Entdeckung des Urhebers in Bewegung zu setzen, fehlte ihm fast jene Selbstbeherrschung, die ihn nie und nur dann verließ, wenn er sich einmal von einem im Grunde heftigen Temperamente fortreißen ließ. Aus dem Scherze, den er sich im Behagen, von seinem täglichen Amtsverdruß auf einige Tage einmal ausgespannt zu sein, gegen Porzia Biancchi erlaubt hatte, würde ohne Benno's Dazwischenkunft leicht gegen Hedemann eine rasche und schwer zu bereuende That geworden sein.

Die gewohnte Kaltblütigkeit des etwa im Anfang der Dreißiger befindlichen, wohlgewachsenen und imponirenden Mannes kehrte zurück, als er Thiebold de Jonge sah, der ihn seit dem Zusammenstoß mit Hedemann vermieden und in Kocher ganz an Benno überlassen hatte. In jeder Lage, wo ein anderer durch eine unerwartete Störung in Verlegenheit gebracht wird, knöpft ein Charakter wie der Assessor sozusagen einen Knopf noch mehr zu und wird noch kühler werden, als ohnehin schon in seinem Wesen und Benehmen liegt. Nun also schon wieder in dem gewohnten Tone einer vor nichts erstaunenden Ruhe und Kälte sagte der in seinem Amte gewiegte, in seinen Unternehmungen von guten Erfolgen begleitete Beamte:

Herr von Asselyn! Ich suchte Sie gestern Abend überall vergebens – mein Vater ist angekommen – in dem Drang seiner Angelegenheiten begaben wir uns sofort zu Nück – eine Viertelstunde und die Verständigung war gemacht – ich danke das ohne Zweifel Ihrer Vorbereitung! Machen Sie meinem Vater das Vergnügen, heute im Englischen Hofe mit uns ein Frühstück einzunehmen – Auch Sie, Herr de Jonge, sind vielleicht zugegen – obgleich Sie die Nacht nicht geschlafen haben! setzte er nach einer leichten Verbeugung lächelnd hinzu.

Woher wissen Sie das? fragte Thiebold mit nicht erkünstelter Kälte.

Benno, um Reibungen zu vermeiden, hielt sich an die Ueberraschung, die ihm die Ankunft des Rittmeisters und Landraths von Enckefuß verursachte. Er wiederholte einigemal: Ich war bei meinem Vetter – im Schnuphase'schen Hause – sieh, sieh – nun ist mir das schnelle Arrangement erklärlich!

Thiebold bereute indeß seine Aufwallung ...

Um eine Coalition der Hypothekengläubiger zu sprengen, fuhr der Assessor fort, reiste Herr Kattendyk noch in dieser Nacht nach Witoborn ab – man hat Sie in aller Frühe im Bahnhof gesehen, Herr de Jonge – also vermuth' ich, daß ich richtig errieth – indessen bis zwölf Uhr, wo uns mein guter Alter erwartet, könnten Sie noch ausgeschlafen haben und es wird Sie freuen, Herr de Jonge, ich habe ausdrücklich die Käuflichkeit der Mühle für meinen intimen Feind, Herrn Remigius Hedemann, beim Vater und bei Nück ausbedungen – auch zu dem Preise, für den sie der Gläubiger ablassen wollte! Daß diese Sorgen hinter mir liegen, dank' ich Ihnen, Herr von Asselyn! Also ich hoffe, Sie kommen!

Benno schützte, wenn er ausbleiben sollte, die Abhängigkeit von Bonaventura vor.

Thiebold, rasch jetzt erwärmt und versöhnt, rückte mit seinem Stuhle dem Assessor näher, zeigte ihm das auf dem Platz so zunehmende Gewühl, daß schon Militärwache berufen wurde, die Leute vom Eindringen in das Haus, wo die That begangen war, zurückzuhalten, und fragte nach seiner Ansicht über den Vorfall.

Das ist eine traurige Affaire! sagte der Assessor. Die Alte wurde mit einer Schlinge erwürgt, gerade wie man einem Stier den Hals zuschnürt und ihn dann niederzieht! Sie muß von ihrer Stube bis hinten in die Küche geflüchtet sein, wo der Mörder sie am Feuerherd festhielt und so vollends –

Und keine Vermuthung? fragten beide Hörer zu gleicher Zeit.

Gesindel haben wir genug in der Stadt! sagte der Assessor und lehnte die angebotene Theilnahme am bescheidenen Frühstück nicht ab. Sie wissen ja von dem Knecht aus dem Weißen Roß, der in St.-Wolfgang den Sarg erbrochen! Der Mensch soll hier in der Stadt gesehen worden sein! Uebrigens war diese Frau berüchtigt durch ihren Geiz. Seit Jahren ging sie nicht mehr aus. Dennoch fehlte es um sie her nicht an Verkehr. Sie nannte sich eine Frau Hauptmann von Buschbeck, während ihr nur ein anderer Name gebührt – er steht in den Acten. Geldmittel erhielt sie mit großer Regelmäßigkeit von unserer Freiherrlich Wittekind-Neuhof'schen Kameral-Verwaltung bei Witoborn. Vor vielen Jahren war sie in Diensten des alten Freiherrn von Wittekind!

Benno hörte mit beklommenem Herzen die Bestätigung der Beziehungen der Ermordeten zu Schloß Neuhof ...

Die Alte, fuhr der Assessor fort, kam vor sieben oder acht Jahren hieher und brachte bald die Polizei mit sich in Berührung. Kein Dienstbote blieb länger als einige Wochen bei ihr, mancher kaum einige Tage. Sie quälte und mishandelte sie so lange, bis niemand mehr zu ihr ziehen wollte. Bei dem Geiz ihrer Lebensweise hätte sie für sich allein auskommen können, ohne Bedienung, aber wahrscheinlich hatte sie das Bedürfniß der Gesellschaft. Sie half sich zuletzt, wie ich gehört habe, durch einen Rath Ihres in allem kundigen Procurators!

Nück's? fragte Benno sinnend und keineswegs erstaunt ... Die Klugheit desselben war ihm geläufig.

Sie deponirte ein Testament mit Nück's Hülfe und bekam von ihm oder von seinem damaligen Gehülfen Hammaker –

Benno bemerkte ein momentan aufblitzendes, wenn auch nur ganz kurzes Leuchten in den Augen des Assessors –

Von Hammaker, glaub' ich, den Rath, einer geistlichen Schwesterschaft ein Legat auszusetzen und sich von dieser dann die Dienstboten besorgen zu lassen. Der Vermittler ist Schnuphase – Sie kennen ihn ja –! Daß unser gefälliger und so zartfühlender Herr Maria die Auszahlung des Legats durch eine am Halse der Alten angebrachte Schlinge hat befördern wollen, ist nicht anzunehmen ...

Ebenso wenig wie von einer der durch die Schwesterschaft zugeführten Mägde ... ergänzte Thiebold mit jener aufwallenden Empfindlichkeit, die hier zu Lande bei der geringsten Reizung religiöser Beziehungen üblich ist.

Meine Herren, sagte der Assessor lächelnd, ich werde Sie schonen und Ihr Ohr auch nicht mit der Ansicht beleidigen, daß die bekannte Schwesterschaft zu den Nothhelfern die Alte hat umbringen lassen ...

Und fast verdrießlich lehnte er eine zweite Tasse Kaffee ab und wollte sich entfernen. Ihm genügte, die Einladung gemacht zu haben zum Frühstück mit seinem lebensfrohen und jetzt, wie es schien, ganz sorglos gewordenen Vater.

Benno versicherte, daß Thiebold ohne Vorurtheile und vollkommen neugierig genug wäre zu vernehmen, welche Rolle bei diesem tragischen Vorgang die Schwesterschaft zu den Nothhelfern spielte.

Meine Herren, sagte der Assessor, ich gehöre Ihrer Kirche nicht an, aber wenn Sie es hören wollen, so versichere ich Sie, daß Hamlet's Wort zu Horatio: »Es gibt Dinge unter dem Monde, die unsere Schulweisheit sich nicht träumen läßt!« hier am Platze ist. Diese Frau bekam vor drei Jahren keinen Dienstboten mehr; seitdem sie aber mit Hammaker, wollt' ich sagen mit Nück gesprochen, geht alles. Die Schwesterschaft beauftragt Schnuphase, die Mädchen vom Lande zu holen. Lebensfrohe passen natürlich für diese Stellung nicht und solche, die zuletzt in ein Kloster gehen, entdeckt schon ein so kundiger Blick wie der des Herrn Wachslichterfabrikanten. Die Aufgabe, die Klöster, zu bevölkern, ist von Rom gestellt. Wir haben der Klöster noch immer mehr, als mit der Richtung und dem Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts im Einklang steht. Was ist zu thun? Man muß ihnen einen Zuwachs künstlich erwerben. So werden die Wallfahrten in Aufnahme gebracht, so fangen die wunderthätigen Heiligenbilder an Blut zu schwitzen und Thränen zu weinen, so werden Vereine gestiftet, Gesellen-, Meister-, Lehrlingsvereine, Vereine für Erkrankung und Beerdigung, Vereine für Bildung und Unterhaltung, Nähvereine für die Mädchen, alles unter kirchlichen Formen und mit geistlicher Assistenz und vor allem hat Rom den Beweis zu führen, daß wirklich für die Klöster eine nicht mehr zu hemmende Sehnsucht im Volke vorhanden wäre. So lockt man die Gemüther in die Bahn der Entsagung, fesselt sie durch entsprechende Vorbereitungen, macht sie mit den auch dem Klosterleben nicht fehlenden Annehmlichkeiten vertraut und die Folge ist, daß –

Doch nicht etwa, fiel ungeduldig Thiebold ein, die Person da drüben von Jesuiten oder sonst einem Eurer Gespenster umgebracht ist?

Der Assessor erhob sich und nahm zwar nur die Miene an, als wenn ihn der zunehmende Lärm auf dem Platze zwänge zu seinen Amtsgeschäften zurückzukehren, aber es vertrieb ihn eine unverkennbare Aufwallung und Entrüstung.

Rasch abbrechend und aufs neue an die Hoffnung erinnernd, beide Freunde um zwölf Uhr im Englischen Hof bei seinem Vater zu finden, verließ er ohne viel Förmlichkeit das Zimmer.

Und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Freund, wenn Sie sich doch nicht in Dinge mischten, die Sie nicht verstehen! begann nun Benno:

Da haben Sie jetzt die Antwort auf Ihren Witz und Ihren gewohnten Scharfsinn!

Nein aber auch unglaublich, was diese Menschen herausspioniren! polterte Thiebold.

Seien Sie versichert, mein Bester, sagte Benno, daß der Assessor von Enckefuß die Jesuiten für keine Gespenster zu halten vollkommen berechtigt ist! Die Bewegung auf diesem Gebiete ist für den, der im Dunkeln sehen kann, die eines Ameisenhaufens! Ich habe, wie Sie wissen, an und für sich meine Freude daran. Nicht weil ich dieser Pfafferei und dem römischen Wesen den Sieg gönne, sondern weil in die dumpfe Stille unserer Zustände, in die Stagnation jedes politischen Lebens, in die niedergehaltene patriotische Kraft und nationale Gesinnung denn doch irgendetwas hereinbricht und der geistigen Sklaverei, der Bureaukratie, dem in allen Maßnahmen vorausgesetzten »beschränkten Unterthanenverstande« ein Ende macht! Ich gehe nicht so weit wie Nück, dem die Religion Bagatelle ist und der sich nur vergnüglichst die Hände reibt, weil die Minister, die z.B. so erbittert seine Assisen und seinen Rechtscodex hassen und verfolgen, nun doch einmal von der sonst loyalsten Seite aus und innerhalb einer gar nicht zu bestreitenden Berechtigung jetzt in die ärgsten Verlegenheiten gerathen – diesen Cynismus der Gesinnung besitz' ich nicht – wie Sie denn überhaupt in Kocher am Fall, bester Freund, meine Verehrung vor dem verbitterten und die Sackträger um ihr Kegelschieben beneidenden Mann unerlaubt übertrieben haben! Von Ihrer ganzen Auffassung meines Herzens und meiner Lebensansichten werd' ich überdies die Ehre haben, Ihnen einfach zu sagen, daß Sie sich irren, lieber alter Freund! Ich habe einen unverwüstlichen Trieb zur Gerechtigkeit und wer den hat der wird andern immer kalt erscheinen! Seine Prüfung, niemanden Unrecht zu thun, wird immer länger dauern als der flackernde Enthusiasmus der minder Bedenklichen. Von meiner persönlichen und Privat-Lebensstimmung will ich gar nicht reden, aber die Zeit selbst wird so ernst, lieber Freund, die Umstände, die uns umgeben, wachsen zu solcher Bedeutung heran, daß wir mit unserm blos so dreinfahrenden natürlichen Instinct die größten Thorheiten und sogar Sünden gegen den Heiligen Geist begehen können! Lassen Sie mir nur mein Sibirien im Herzen, lieber Freund! Es ist so kalt nicht, daß ich nur mit Pelzhandschuhen zu tractiren wäre! Aber auch wenn es drin Sommer werden sollte, wird eine gemildertere Temperatur immer gut sein Ihren Extremen gegenüber, Ihren Aufwallungen, Ihren unbedachten, frevelhaften, höchst maliciösen –

Benno mußte sich schon zurückziehen ...

Denn Thiebold war so vollkommen aufgelöst vor Zerknirschung, Reue, Seligkeit, Stolz, einen solchen Freund zu haben, vor so merkwürdiger Ueberraschung, »dergleichen zu hören«, vor so aufrichtiger Dankbarkeit, »dergleichen zu lernen«, daß ihm schon mit beiden zur Versöhnung ausgestreckten Händen das Schrecklichste der Schrecken, eine Umarmung, drohte ...

Benno fuhr sich retirirend fort:

Ihre Extreme sind immer das Echo des letzten energischen Eindrucks, den Sie irgendwo empfangen haben! Wettert der Oberst gegen die Misbräuche unserer Kirche, so sind Sie zum Ketzer reif! Hier dem Assessor gegenüber sehen Sie keine Jesuiten und rennen vielleicht heute noch vor Ekstase in einen Beichtstuhl!

Nie! Nie! Seit neun Jahren nicht! Auf Ehre! versicherte Thiebold, nun wieder wie ein zweiter Huß und Wiclef.

Dann schämen Sie sich, fuhr Benno fort, daß Sie dem vernünftigen Mann seine Fährte durchkreuzten, die gerade doch auf einen Menschen hinauszukommen scheint, der sich dem bösen Weibe unter gewissen religiösen Vorspiegelungen und Intriguen zu nähern wußte ...

Indem trat Benno's Schreiber ein, ganz erfüllt von dem Vorfall, dem die Bewegung schon der halben Stadt galt ...

Benno nahm von Thiebold's sich selbst anklagenden lyrisch-sentimentalen Vorwürfen Abstand und sagte:

Ich will arbeiten, wenn der verdammte Lärm mich dazu kommen läßt! Sie aber, de Jonge, gehen Sie nach Hause und schlafen Sie aus und lassen Sie sich Punkt halb zwölf Uhr wecken! Ich bin begierig, den alten Haudegen, den Rittmeister von Enckefuß, kennen zu lernen! Ja Sie müssen schon deshalb dabei sein, um sogleich an Hedemann schreiben zu können! Vielleicht erzählt uns auch des Assessors Vater, was Hedemann gegen ihn so speciell auf dem Herzen hat!

Damit wurde denn Thiebold fast gewaltsam von Benno zur Thür hinausgedrückt, und er ging; im Hochgefühl, seinen starken und festen Freund wieder ganz so zu haben, wie er seiner bedurfte. Zwar knirschte er an seiner Kette, lag aber doch mit solcher Wonne an ihr, daß er jetzt jedem, der ihm etwa auf der Straße und bis zu den Holzhöfen seines Vaters hinauf von Bekannten begegnete, die »Ideen« (freilich als die seinigen) wiederholt haben würde, die er soeben von Benno gehört hatte. Ja er würde jetzt keinen Anstand genommen haben, anzudeuten, daß die Frau Hauptmännin von Buschbeck ein »nächtliches Opfer der Jesuiten« war.

Für Benno, der sich zur sofortigen Abfassung erst eines discret vorbereitenden Briefes an den Onkel in der Dechanei und dann zum Arbeiten setzen wollte und von dem Schreiber die wirren Gerüchte, die er theilweise schon kannte, wiederholt erhielt, war es ein seltsamer Eindruck, beim nochmaligen Hinunterblicken auf die Straße, wo jetzt der Zudrang der Menschen von einem Piket Soldaten abgesperrt wurde, den Assessor von Enckefuß über die leergewordene Mitte des Platzes, allgemein sichtlich, dahinschreiten zu sehen mit jenem Manne, den er einige male in nächtlicher Weile von der Treppe des Hauses gegenüber hatte herniedersteigen sehen, Jodocus Hammaker ...

Er kämpfte mit sich, nicht den Verdacht auf diesen Mann irgend jemanden schon auszusprechen ... Denn Hammaker war der Vertraute seines Principals in einem Grade, der schon seit einer Reihe von Jahren um so mehr das Erstaunen der Stadt war, als sich gegen die Rechtlichkeit des vielbewunderten, vielgesuchten und so außerordentlich reichen, deshalb auf Umtriebe nicht im mindesten angewiesenen Schwagers Piter Kattendyk's, Dominicus Nück, nicht das Mindeste einwenden ließ.

2.

Zur selben Stunde klopfte es im Kattendyk'schen Hause auf das allerheftigste an jene Thür, hinter welcher Treudchen Ley heute nur zwei Stunden hatte schlafen können.

Denn schon um sechs Uhr glaubte sie aufstehen zu müssen. Gut und gern hätte sie sich bei dem Befinden ihrer Herrschaft und der Freiheit ihrer Mitdienenden noch eine Stunde gönnen dürfen, um die durch ein Misverständniß verlorene Nachtruhe wenigstens um einen Traum mehr nachholen zu können.

Freilich war sie mit einem Traum erwacht, nach dem sie nie mehr wieder anders hätte träumen mögen.

Sie hatte geträumt leibhaftig ihre Mutter zu sehen ... nicht etwa als Lebende, wie sonst, sondern als Todte, Erstandene, als seliger Geist und wirklich vom Jenseits her sie anredend und begrüßend ...

Eben, wie sie der Thurmschlag der sechsten Stunde, wie sonst die Thurmuhr der alten braunen Stadtkirche in Kocher am Fall weckte, sprach doch gerade die Mutter mit ihr wie aus einer sie verklärenden Wolke heraus, streckte förmlich ihr die Arme dar und lachte fast, unter Thränen und vor Wonne, sie nun gleich mit einer einzigen nur noch ein wenig weiter auszudehnenden Bewegung umfangen zu können ...

Und sie selbst hatte das Wort: Mutter! wie einen Jubelton gerade auf den Lippen ... wollte gerade in dem ganzen Ueberschwall des Herzens mit den Armen die geliebte, seltsamerweise nur im Oberkörper sichtbare Gestalt umfangen, den freundlichen, lebenswarmen Mund an ihre Lippen drücken, da gerade erwachte sie und sie erwachte auch vielleicht nicht ... sie war vielleicht vorher schon wach und dieser Traum war die ganz wirkliche Erscheinung eines seligen Geistes gewesen.

Glücklich durch diese immer mehr sich befestigende Ueberzeugung, glaubte Treudchen nun, daß die Mutter in irgendeiner Form leben könnte und wach sein und ganz dicht um sie und über sie und ihre Geschwister, die im Waisenhause der Stadt waren, schweben ... Die Pein des Fegfeuers mußte sie also glücklich und schnell überstanden haben, dank der gründlichen Versehung mit den letzten Heilsmitteln durch den geliebten Priester, der täglich und stündlich von ihr und ihrer hochverehrten Freundin und Beschützerin Lucinde Schwarz erwartet wurde. Nachdem sie sich eben aus ihrem Danae-Zustande – Danae muß blond gewesen sein, weil ihre Schönheit Jupitern auf den Gedanken brachte, sie gerade in ihrer eigenen Gestalt zu überraschen – in die erste nothwendigste Kleidung geworfen und ihr auch Jupiter-Piter's Zudringlichkeit dabei nicht mit allzu grellem Schrecken eingefallen war, fuhr sie nur zusammen bei dem schnellen Ersteigen der Treppe draußen, das sie hörte, und bei dem Klopfen an ihre Thür.

Sie öffnete ...

Es war das so liebe gute herzige Fräulein Lucinde! Sie kam in ihrer täglich jetzt an ihr gewohnten schwarzseidenen vornehmen Tracht, die ihr doch gerade stand als wollte und könnte sie alle Tage Aebtissin werden.

Kind! rief Lucinde, heute in einem ganz weltlichen Tone, den sie noch gar nicht an ihr vernommen hatte; das Aller-Allerneueste ... ich komme schon aus der Frühmette ...

Treudchen konnte nichts Schlimmes erwarten; denn Lucinde war zwar erglüht vor Aufregung, aber nicht gerade wie über einen Unglücksfall ...

Die ganze Stadt ist in Bewegung – fuhr jedoch Lucinde, sich erst etwas erholend, fort; diese Nacht ist ja die Frau, Kind, bei der du dienen solltest, ermordet worden!

Nun stand sie freilich starr ... Daß das ein ängstlicher Dienst gewesen wäre, wußte Treudchen schon von dem Stadtpfarrer Hunnius, der unbedingt auf Lucindens Verlangen die Aenderung des Schnuphase'schen Engagements getroffen hatte .... Schnuphase hatte auf dem Lande ein anderes Opfer suchen müssen, ein Opfer, bei dem immer sozusagen zwei Fliegen, ja oft drei mit Einer Klappe getroffen wurden: Eine Magd für die gottselige Testatorin, die Frau Hauptmännin von Buschbeck; eine Nähterin entweder für die Schwesterschaft zu den Nothhelfern oder für seine eigenen heiligen Gewand-Stickereien oder für einen mysteriösen Weißwäsch-Handel seiner Töchter; und zuletzt drittens, da alle diese Institute ohnehin schon über die Sprachgitter der Klöster hinausführten, manchmal auch noch eine der von Rom so dringend verlangten Bräute des Himmels für diese Klöster selbst ... Aber die Freude, die Genugthuung, die Lucinde über dies traurige Ende zu empfinden schien, konnte sie ihr denn doch nicht nachfühlen.

Ich komme die Straße daher, erzählte Lucinde und raffte sich aus ihren wie jetzt ganz lebendig gewordenen und um sie her just wie in einem Krebskorb drängenden Kindheitserinnerungen, den Zwetschenkernen, den Tauben, den Mäusen auf; ich komme die Straße daher und will zur Kathedrale! Da hör' ich ja das lebhafte Reden der Menschen, das Rennen nach einer bestimmten Gegend hin, und an einem Platz, wo ich, seitdem ich hier bin, täglich zu den Fenstern habe aufschauen müssen, weil ich wußte, da wohnt der schlimme Drache, erfahr' ich, was ihm begegnet ist! Es hat sie einer umgebracht! Hinauf durft' ich nicht, aber ich höre, sie liegt – kalt in der Küche am Feuerherd ...

Lucinde erzählte das mit sichtlichem Behagen. Aber jetzt bekam sie doch einen Schauer, als überliefe sie Eisesluft ... Da, wo sie einst meinen Tauben den Hals umdrehte! rief ein ganzer Chor von schadenfrohen Dämonen in ihrer Brust und die schüttelten sie.

Wer es gewesen ist, fuhr sie fort, weiß man noch nicht! Schildwache und Polizei stehen am Hause! Treudchen! Treudchen! Wenn du bei ihr gedient hättest!

All ihr Heiligen! So würd' es vielleicht nicht geschehen sein! sagte die Kleine und klagte sich nun gar selber an ...

Was? Es hätte dich mittreffen können! berichtigte Lucinde und streichelte die Fülle des goldenen Haares, die Treudchen sich bei alledem ihr Anziehen nicht vergessend mit einer kühnen Schwenkung um den weißen Nacken warf.

Treudchen fand sich in die Auffassung ihrer Gönnerin.

Und was wirst du nun heute beginnen? Wie war die Nacht? Ist dein Nachbar fort, der junge Herr? fragte Lucinde in Eile und den Tod der Buschbeck gleichsam wie ein fertiges und bereits eingebundenes Buch in die Bibliothek ihres Lebens stellend.

Ich will sehen, daß ich meine Geschwister im Waisenhause besuchen kann –! erwiderte Treudchen, die über die Erwähnung der Nacht und des Nachbars über und über erröthete ...

Lucinde bemerkte aus den hervorgestotterten Antworten nichts Besonderes und es drängte sie ja auch mit Macht, jetzt zu sagen:

Der Pfarrer von St.-Wolfgang ist angekommen!

Auf den freudigen Ausruf Treudchens fuhr sie fort:

Ich erfuhr es schon gestern Abend bei der Commerzienräthin ... die Domherren sprachen davon ... Wirst du hingehen, ihn zu begrüßen? ... Ich dächte doch! ... Thu' es ja!

Ich hoffe, Madame Delring läßt mich ein Stündchen ausgehen!

Indem klingelte es einige Zimmer weiter und sogar zweimal ...

Lucinde war schon auf dem Sprunge zu gehen ...

Aber Treudchen sagte:

Nein, das gilt dem Bedienten! Einmal geklingelt das bin ich! Dreimal ist unten die Kathrine, die Köchin! Die Herrschaft will jedoch von jetzt an allein zu Mittag speisen! Das Treppensteigen wird der Madame zu beschwerlich!

Lucinde schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Nein, das ist nicht der Grund! ...

Sie hielt aber an sich und ließ dadurch Treudchen Zeit aufs neue zu dem Erlebniß mit der ermordeten alten Frau zurückzukommen. Ihrem größten Triumphe konnte Lucinde gar nicht einmal Worte geben; denn wem gönnte sie mehr diese Demüthigung als der Herrin der Dechanei zu Kocher am Fall, Petronella von Gülpen? Hätte sie nur die Verwandtschaft noch ein wenig bestimmter gewußt! Der Name »Fräulein von Gülpen« für die Hauptmännin von Buschbeck schien hier niemanden geläufig wie einst ihrem Stadtamtmann damals in der Stadt, wo sie bei ihr gedient hatte. Selbst Schnuphase, durch den doch die gewiß erst von der äußersten Noth und Verzweiflung abgerungenen frommen Spenden der Ermordeten gingen und den die Schwesterschaft zu den Nothhelfern in Bewegung setzte, um mitzuhelfen das ausgesetzte Legat zu erwerben, selbst Herr Maria hatte nichts gewußt von dieser ursprünglichen Herkunft und so nahen Verwandtschaft seiner Schutzbefohlenen mit der hochverehrten Dame in der Dechanei.

Doch selbst wenn Lucinde über die Verwandtschaft ganz sicher gewesen wäre, hätte sie vielleicht ihren innern Jubel, der jede Leidenschaft natürlich, Liebe wie Liebe und Rache wie Rache nahm, gemäßigt. War doch ihr fester Vorsatz, in diesem Hause, das ohnehin so wirr und geräuschvoll auf sie einstürmte, und überhaupt in ihrem ganzen Benehmen sich auf ein Nichts zu stellen ... Dein bischen Verstand willst du an die Kette legen! Das hatte sie sich schon gesagt, als ihr Schnuphase zur Seite saß und in seinem von ihm selbst gefahrenen Wägelchen genugsam ihre Satire herausforderte. Du willst nicht lachen über die Devotion des Mannes, nicht über seine Sprechweise, nicht über den Durst seines Gaules, der immer auch den seinigen involvirte, wenn er auf ihrer fast einen Tag dauernden Reise abstieg! Sie ließ ihn erzählen von den Bienen, von seinen Töchtern, von allen offenen und geheimen Schwester- und Brüderschaften, von Gespenstern und Geistern und Wundern, von Rückkehrenden aus dem Jenseits, die berichteten, welchen Vorzug dort oben die Rechtgläubigen genössen, von den Nonnen, die wieder die blutenden Male des Erlösers zu zeigen anfingen, von allem ließ sie ihn reden und staunen und hütete sich wohl ihrer Art so den Zügel schießen zu lassen, wie etwa an der Maximinuskapelle über die Heiligenbilder Napoleone Biancchi's oder die alten Münzen und die seltsame Production der Jahrhunderte beim Wirthe zum Weißen Roß. Sie glaubte alles, selbst an die Frömmigkeit der Frau Hauptmännin und an die andächtigen Lieder, die diese zu ihrer Guitarre mit zwei Saiten abendlich singen sollte. Sie glaubte an das Glück aller der Mädchen und jungen Männer, die Herr Maria schon überredet hatte in die Klöster zu gehen. Sie glaubte an einen Krieg, den Oesterreich erklären würde, wenn dem Kirchenfürsten nur irgendein Härchen gekrümmt würde ... Immer nur hörte sie und blinzelte mit den Augen und nahm sich vor, durch Denken, Urtheilen, Aufblicken niemanden in der Welt mehr aufzureizen. Auch im Hause der Kattendyks, vor der unruhigen, ewig agitirten Frau Commerzienräthin, vor der anspruchsvollen noch ledigen Tochter, vor der eiteln Frau Procurator Nück, vor den Hausfreunden blieb sie sich in dem System, ungefährlich zu erscheinen, gleich. Sie antwortete nur, wenn sie gefragt wurde. Und gewiß war das ein eigener Eindruck, die hoch aufgeschossene Gestalt mit dem so ausdrucksvollen schwarzäugigen Kopfe, der vorgeneigten Stirn, den behenden ebenmäßigen Gliedern, weltkundiger Art des Benehmens, doch in dem Hause so an den Wänden entlang schleichen zu sehen, jedem ausweichend, niemanden ansehend. Und diese Rolle war nicht einmal ganz Verstellung. Sie hatte wirklich in tiefster Ueberzeugung die Ansicht gewonnen, daß in ihr besonders für die Frauen etwas Herausforderndes und Verletzendes läge und daß sie es jetzt ganz gut, ganz klug treffen würde, wenn sie sich um jeden nur irgendwie auffallenden Effect lieber gleich selbst brächte.

Ihr Bangen dabei war Bonaventura's Ankunft und – seine mögliche Begegnung mit dem Mönche Sebastus! ... Diese Furcht mehrte nicht wenig die Angst und Sorge ihres in der That eingeschüchterten und bitter vergrämelten Gemüths.

Den Mönch hatte sie noch nicht entdecken können, aber täglich hörte sie von ihm reden und seine Flugschriften und die Aufsätze bewundern, die er in die Welt streute. Mit dem Wandeln, den Topf in der Hand, wie Beda Hunnius geschildert, mag es doch wol nicht so weit her sein! hatte sie sich schon spottend gesagt; aber kaum entdeckte sie, daß sie am Abendtisch der Commerzienräthin, vor dem silbernen Theeservice, bei einem solchen Einfall über des Mönches Heiligkeit die Miene verzog, unterdrückte sie auch schon den Zweifel und horchte und lauschte nur und schien überhaupt immer nur still vor sich hin zu beten ... Die Gesellschaft der Commerzienräthin staunte über so viel Frömmigkeit. So oft von dem Domvicariate, das zu besetzen war (von Bonaventura's möglicher Designation schien man noch keine Ahnung zu haben), die Rede ging, ergoß sich über ihr ganzes Sein ein warmer Strom, in ihren Adern fing es an zu rinnen und merkte das denn doch z.B. der alte Ex-Schauspieler Pötzl, der eigentlich nur die Aufsicht über zwei Bologneserhündchen der Commerzienräthin zur einzigen Lebensaufgabe hatte, und sagte dergleichen, so war es nur ihre Theilnahme für den neuen Glauben gewesen. Ach, ihr neuer Glaube war: Hier in dieser großen Stadt erhört dich Bonaventura doch noch und nennt dich seine einzige und wahre Liebe! Als sie den Domherrn Taube und sogar zweifelnd berichten hörte, die Gräfin Paula von Dorste-Camphau sen zu Westerhof bei Witoborn hätte neuerdings wieder Visionen gehabt und verrichtete sozusagen Wunder und als im Gegentheil der Medicinalrath Goldfinger vom Standpunkte einer gotterleuchteten Naturwissenschaft an dieser Möglichkeit gar nicht im mindesten zweifelte und auch die Commerzienräthin schon die Hände faltete und alle Schäden ihres Leibes und ihrer Seele überlegte, die sie vielleicht der »Seherin von Westerhof«, wie man sogleich den Titel feststellte, zur Begutachtung und Heilung vortragen könnte (von Piter's Reise gerade dorthin auf Witoborn zu konnte nicht gesprochen werden, da Piter nicht mehr »der Mann« war über seine Schritte im Hause irgendjemanden Rechenschaft zu geben), da erwachte schon wieder die alte glühende Eifersucht in Lucinden und ihr, der Aufgeklärten, ihr, die z.B. zu Treudchen's Erzählung, sie hätte eben ihre Mutter gesehen und ordentlich mit ihr gesprochen, tief überzeugt entgegnen konnte: Kind, die Todten sind todt! stand fest, daß Paula bereits die Annäherung Bonaventura's in ihren Lebenskreis merkte und in Ekstase gerathe nur durch das von ihr geahnte Näherkommen dessen, mit dem sie im magnetischen Rapporte stand.

Auch Treudchen gegenüber blieb Lucinde bei den Schleiern, die sie über ihr ganzes Wesen deshalb ziehen zu müssen glaubte, um nicht neue Dolche in ein Herz gestoßen zu bekommen, das ihr für neue Täuschungen keine Kraft mehr zu haben schien.

Und als es nun unten im ersten Stocke lebendiger zu werden anfing und sie leise auf den Corridor hinaustrat, um lieber gleich über Piter's luftige Treppe auf den Schauplatz ihres Wirkens zurückzukehren, sagte sie noch:

Kind! Die Commerzienräthin möchte gern manches wissen, was Madame Delring thut! In welchen Büchern sie läse? Ob sie betete? Ob sie lange mit ihrem Mann allein spräche? Die Frau will ihr Kind im Glauben ihres Mannes, der Protestant ist, taufen lassen! Das ist ein großer Kummer für die ganze Familie! Gib darauf Acht, was dir etwa ketzerisch erscheint! Sag' es immer erst mir, damit ich sehe, ob man es wieder berichten muß! Auch verlange fest und bestimmt, daß du alle drei Tage in die Messe gehen müßtest! Die Commerzienräthin will das! Sage nur, du wärst's einmal so gewohnt und hättest sonst keine Ruhe! Hörst du? Ich soll es dir sagen!

Treudchen, die diese Anleitung zur Rechtgläubigkeit ganz in der Ordnung fand, hätte gern auch einige Winke gehabt für ihr Verhältniß zu ihrer so nahen Nachbarschaft, zu Pitern und seinen Freunden, und sie hätte, wenn Lucinde ihre schüchterne Andeutung hätte nicht verstehen wollen, das Erlebte selbst erzählt; aber Lucinde huschte schon davon und flüsterte nur noch, indem sie Treudchen über das Geländer etwas Geld in die Hand steckte:

Da! Wenn du den Pfarrer besuchst, kauf' ihm Blumen! Hörst du? Am Dom stehen so wunderschöne! Ist er nicht zu Hause, so stelle sie selbst ins Zimmer! Hörst du? Nicht etwa durch die Damen Schnuphase – verlang' es, daß du es selbst thust! Sie gönnen dir's nicht und geben sie ihm nicht! Einen großen vollen mächtigen Strauß kaufe und mit Orangenblüten – hörst du? Man verkauft sie so! Vergiß es nicht! Aber um Himmels willen, sprich nicht von mir!

Treudchen war nun schon allein und beeilte sich, die Windungen ihres Haares zu befestigen – ihr schwarzes Merinokleid hatte ihr schon vorher Lucinde hinten geschlossen – und die selbstgestickten Pantoffeln vertauschte sie mit Schuhen vom besten, freilich etwas derben kockerer Leder.

So beim Ueberbeugen zur Erde – was machte da nicht alles die Brust eines so jungen Lebens schon so schwer! Die gestrige Scene mit dem »jungen Herrn«! Nun der Mord der Frau, bei der sie hatte dienen sollen! Die Ankunft des Pfarrers und die Blumenspende! Die Aufsicht über die ketzerischen Gesinnungen ihrer Herrschaft! Ihre Geschwister unter den Waisen! ... Wäre nicht der volle Nachhall der Erscheinung ihrer Mutter gewesen und es noch so in ihr lebendig, als hörte sie deutlich das Jubelwort: Treudchen! das die Mutter sprach, und ihr eigenes angstvoll seliges Mutter! sie würde jetzt nicht so ruhig hier am Spiegel haben stehen und ihren übergelegten Kragen ordnen können ... In Lucindens Blumengruß an den Pfarrer konnte sie nichts Auffallendes finden. Gute katholische Seelen wissen es, daß sie nichts zu verabsäumen suchen sollen, was nur irgend dazu dienen kann, einem Geistlichen Freude zu machen. Sind die Geistlichen ausgeschlossen von den gewöhnlichen Freuden des Lebens, haben sie das zu entbehren, was andern Trost und Erhebung gewähren kann, eine Familie, Gattin, Kinder, Liebe und Hingebung, so ist es Pflicht aller derer, für welche sie diesen heiligen Lebenswandel führen, ihnen eine stete Aufmerksamkeit zu widmen und ihnen den vollen Genuß alles dessen zu gewähren, was es außerhalb des Glücks der Hingebung, besonders eines weiblichen Herzens, sonst noch Wohlthuendes in der Welt geben kann. Dies Lieben mit der Seele, dies Umwerben und Umschmeicheln eines Geistlichen mit steter Huldigung soll, sagt man, zu den besondern Glückseligkeiten derselben gehören.

Und Treudchen war so aufgeregt, daß es ihr jetzt vorm Spiegel war, als spräche die Hasen-Jette hinter ihr: Nun, was ist, Treudchen! Bist alle halbe Jahre einmal hübscher geworden! Wirst auch jetzt um die Trauer nicht zurückgehen! Kinder von Metzgern, Treudchen, sind immer schön! ... Eine Ansicht, die die Hasen-Jette am wenigsten um ihren David zurücknahm ... Und auch Nachbar Grützmacher's Stimme hörte sie: Ei, potz Blitz! Hätt' ich nicht schon mein Bündel da – (er bekam dabei von diesem Bündel, seiner Ehehälfte, einen vertraulichen Schlag auf den breiten Rücken), so würdest du noch die Frau Wachtmeisterin werden können, Treudchen!

Treudchen wartete auf das einmalige Klingeln ...

Es erfolgte nicht ...

Sie trank ihren Kaffee ... Er war so stark, daß ihre ganze Familie an der Verdünnung ein Sonntagsfrühstück gehabt hätte.

Die Mitmägde, die Bediente musterten sie ... Es gibt zweierlei Blondinen ... Solche, die wie eine Maiblume blühen und duften können, aber auch ebenso schnell mit einem einzigen wunderholden Mai wieder verwelken; und solche gibt es, die man Kern- oder Dauerblondinen nennen sollte, weil sie noch als Greisinnen so anmuthig sind wie herbstlich geröthete Aepfel. Treudchen gehörte zu letztern. Wie schön stand ihr das schwarze Merinokleid zu der hellen Farbe ihrer Haut! Fast zu schmuck machte sich der Florbesatz in den goldgelben Windungen ihres Haares! Und nun lag gar zum Ausgehen schon da der von ihr selbst zum Begräbniß gefertigt gewesene schwarze Sammthut, in den sich ihr Kopf zurücklehnte, wie auf eine Folie, die den Glanz noch erhöht! Und die kostbare schwarzseidene Mantille, die ihr schon gestern gleich bei der Ankunft Madame Delring als eine »abgelegte« geschenkt hatte! Eine abgelegte und noch so neu und glanzvoll! ... Madame Delring war eine eigene, vielleicht sehr reizbare, vielleicht höchst wunderliche Frau; sehr vornehm, sehr stolz ... aber gegen Treudchen war sie weich und milde. Lucinde hatte das Treudchen gleich vorausgesagt. »Die Frau Delring wird dich in ihr Herz schließen!« Nach zehnjähriger kinderloser Ehe war Frau Delring plötzlich in die Hoffnung gekommen. Wenn Treudchen die Augen ihrer Herrin so eigenthümlich umflort sah, so wußte sie erst jetzt, daß vielleicht die ernste blasse Dame, die in Glück und Glanz zu leben schien, an die Kämpfe dachte, die mit dem theuern Keime ihres Herzens ihr würden mitgeboren werden. Es handelte sich schon seit Monden im täglichen Gespräche nicht nur ihres Hauses, sondern der ganzen Gesellschaft um die »Religion« des erwarteten Kindes ...

Nun, da nicht geklingelt wurde, ging Treudchen von selbst an ihre Aufgabe, die vordern Zimmer zu putzen und in ihnen aufzuräumen und abzustäuben.

Da gab es so viel des Kostbaren und Zerbrechlichen zu schonen, daß sie ihre Gedanken zusammennehmen mußte!

Inzwischen vermißte sie etwas ... In dem kleinsten, fast wohnlichsten der reich ausgestatteten Gemächer hatte doch gestern Abend noch, wie sie flüchtig vorübergehend und sich doch dabei tief verneigend gesehen, mitten in einer kleinen Laube von Epheu ein kleiner Altar mit einer Mutter Gottes von Gold, Silber und Edelsteinen gestanden. Heute fand sie das Bild nicht an der Stelle, wo sie es suchte, um in aller Stille und noch von niemanden belauscht, zu ihm ein Gebet zu verrichten.

Sie suchte und suchte – das Bild war nicht zu finden. Vielleicht war es so kostbar, daß es des Nachts verschlossen wurde, dachte sie erst. Sie stand am Eingang der Laube, in der Hand den Staubwedel. Der kleine Altar mit einem Weihbecken, das aber völlig wasserleer und sogar ein Stecknadelbehälter geworden war, war derselbe, wie gestern; die Gottesmutter aber fehlte ...

Nun sah sie sich darauf um im Gemach. Da stand ein schwellender Divan, mit grünem und in Streifen gesticktem Sammt bezogen, darüber her wie zu einem Throne erhob sich ein Baldachin von demselben kostbaren Stoffe mit schweren goldenen Fransen besetzt. Da standen kleine Fußschemel von demselben Aussehen. Auf einem Tische mit langer grüner golddurchwirkter Decke lagen Bücher und Musikalien, Näharbeiten, ein angefangenes kleines Kinderhemd mit köstlichen Spitzen besetzt ...

Sie sollte sich nach den Büchern erkundigen, hatte sie soeben von Lucinden vernommen ... sie konnte aber nicht glauben, daß es ketzerische waren. Noch gestern Abend hatte ja Madame Delring hier mit ihrem Gatten so traulich, so lieb gesessen ... er hatte ihr vorgelesen ... sie horchte zu und nähte dabei ... und darüber her gab ein bronzener Kronleuchter von drei gedämpften Flammen in Glasglocken ein so eigenthümlich schönes Licht ... und in einem Winkel, mehr dem von Vorhängen ganz verdeckten einzigen Fenster des Zimmerchens zu, stand aufgeschlagen ein Pianino ... noch lagen die Noten auf dem Pulte und seltsam genug erschien ihr schon gestern dies Instrument, das mit dem in der Dechanei keine Aehnlichkeit hatte, denn hier gingen die Saiten in die Höhe ... und so klein das Instrument war, doch hatte Frau Delring, kurz vor dem daß sie zu Bette ging, gestern noch einige Minuten lang darauf so sanft, so zart, so volltönend gespielt ... nirgends fand sie aber das Muttergottesbild.

Endlich – da entdeckte sie es beim Abstäuben – auf dem Fußboden! In einem Winkel stand es, das kostbare Heiligthum! Wie entthront und von seinem Altar gestürzt! Es stand in einem Winkel, an einer kleinen Etagère, die mit bunterlei Dingen besetzt war, kleinen Spinnrädchen von Elfenbein, kleinen Bauerhäuschen von Holz, kleinen goldenen Papagaien in Ringen und mit Edelsteinaugen, ja mit einem niedlichen ausgestopften bunten Vögelchen, das sie vollkommen für einen Kolibri erkannte ... da stand die Mutter Gottes mit dem Kinde auf dem Teppich des Fußbodens! Gerade, als gehörte auch sie zu dem Spielzeug auf diesen Mahagonibretchen!

Letztern Gedanken faßte ihre bescheidene, von ihrer Herrschaft nur das Beste voraussetzende Seele gar nicht in voller Klarheit ... Sie wußte nun aber doch nicht, sollte sie das Bild jetzt erheben und wieder auf den Altar setzen oder durfte sie das nicht ... Es war ganz still um sie her ... nur auf der Straße lärmten und rasselten die Wagen ... Kirchenglocken läuteten ... sie beugte sich still zu dem Bilde nieder, kniete und betete zu ihm.

So manche Anrufung kannte sie, so manche Umschreibung des Englischen Grußes ... was sie aber auch leise jetzt so vor sich hinmurmelte, alles sollte Dank, Bitte, Hoffnung für sich und ihre kleinen Geschwister sein.

Wie sie einige Minuten so gelegen und geflüstert hatte, ganz unbekümmert die Hände sogar mit dem gar nicht fortgelegten Staubwischer faltend, da hörte sie ein leises Geräusch hinter sich ...

Erschrocken wandte sie den Kopf und ließ vor Ueberraschung den Staubwischer fallen, als sie im Morgenkleide und großer spitzenreicher Haube mit fliegend hängenden Rosabändern Madame Delring hinter sich sahe.

Auf den Teppichen, die durch alle Zimmer gingen, war die Herrin eingetreten, während sie sich in ihrem Gebete verloren hatte.

Statt aber, daß sich Treudchen jetzt rasch erheben wollte, hielt sie Madame Delring nieder und bedeutete sie fortzufahren ... Ja als Treudchen verlegen zögerte und dennoch aufstehen wollte, rückte Madame Delring mit dem Fuße selbst eines der kleinen Bänkchen näher, fuhr mit der Hand über ihre weiten und bauschigen schönen gestreiften Musselinkleider, die ehre Gestalt einhüllten, und versuchte, sich nun auch selbst niederzulassen. Diese Bewegung war so schwer, so ängstlich, daß sich Treudchen nicht hielt, sondern aufsprang und ihre Herrin unterstützte ...

Langsam ging es, aber doch ganz bequem. Madame Delring kniete auf dem niedrigen Fußschemel. Mit stummer, leidverklärter, durchgeistigter Miene bedeutete sie Treudchen, in ihre frühere Stellung zurückzukehren, neben ihr zu knieen und im Gebete fortzufahren.

Als dies Treudchen mit klopfendem Herzen und voll Verlegenheit nicht wagte, sagte ihre Herrschaft leise und fast unhörbar:

So bete doch!

Treudchen begann nun aufs neue den Englischen Gruß, aber für sich.

Laut! sprach Madame Delring sanft ...

Treudchen betete lauter, aber noch mit zitternder Stimme.

Recht, recht laut! ... sagte Madame Delring und hatte die Hände gefaltet und schien der Vorbetenden wörtlich zu folgen.

Als Treudchen zu Ende war und schwieg, sagte die tief in Gedanken Verlorene und wie von einem unendlichen Leid Gedrückte und als wenn sie noch wenig von all den Worten gehört hätte:

Bete!

Nun wandte sich Treudchen erstaunt und bemerkte, daß die Augen ihrer Herrin feucht waren. Eine große und schwere Thräne rollte eben von den Wangen der nicht schönen, aber höchst würdevollen und durch Haltung und Wuchs einnehmenden Frau.

Da ergriff es denn Treudchen wie mit geisterhafter Ermuthigung. Alles, was ihr von ihrer Firmelung und ersten Beichte und ersten Communion her an wohlgefügten Sprüchen und Versen in Erinnerung geblieben war, sprach sie jetzt ungeordnet durcheinander und mit lauter Stimme. Sah sie sich um und fand, daß die Mitbetende ganz mit Entäußerung ihres Standes wie eine Schwester, wie eine Mutter ihr folgte, so begann sie aufs neue und betete inbrünstig den Himmel auf die Erde herab. Alle nur möglichen Sünden, Eitelkeit, Hoffart, Unglaube, Geiz, Falschheit, wurden, weil die einmal in den Gebeten so formulirt sind, von ihr auch bekannt. Auch die einzelnen Fürsprecher unter den Heiligen wurden namentlich aufgerufen, sodaß jeder auch gerade den Fehler dargebracht bekam, auf den er gleichsam das Vorrecht hatte, daß ihn Gott gerade nur durch seine Vermittelung vergab ... der Gottesmutter dabei ganz zu geschweigen, die zuletzt wie mit ihrer Zauberhand Schloß und Riegel am Schatz der Gnaden sprengte und das Kind Jesu auf ihrem Arm nur immer so hineinlangen ließ und Juwelen und Blumen und alle himmlischen Freuden der Vergebung auf die vor ihnen Knieenden niederwerfen.

Erschöpft schwieg endlich Treudchen in ihrem sie wunderbar überkommenen Priesteramte, das sie vollzog, als hätte sie eine Ahnung von dem Streit der »gemischten Ehen« ...

Madame Delring erhob sich, indem das junge Mädchen aufsprang und ihr dabei behülflich war.

Daß Treudchen das kostbare und schwere Metallbild wieder auf den Altar unter die Epheulaube setzte, schien sich ihr jetzt von selbst zu verstehen. Es wurde auch von Madame Delring nichts dagegen eingewandt, als was die Schwere betraf ... Treudchen brachte es vollkommen und wie triumphirend zu Stande.

Madame Delring sammelte sich jetzt von ihrer Aufregung. Sie verbarg ihr feuchtes Taschentuch von köstlich duftenden Spitzen. Sie sah sich um, klingelte zweimal und bestellte mit gelassener Stimme ihr Frühstück ... Sie wußte, daß ihr Gatte schon unten im Comptoir war.

Mein Bruder ist ja verreist? fragte sie dann beklommen, sich auf den Divan zum Frühstück setzend ...

Treudchen sprach ein verlegenes: Ja! Sie kehrte dabei zum Ordnen der Nebenzimmer in diese zurück ... Die Thüren standen offen.

Du wirst zu deinen Geschwistern gehen wollen! sagte Madame Delring.

Ich wollte darum bitten ...

Und in die Messe! Wie oft hörst du sie? Außer Sonntags!

Treudchen sollte sagen: Alle drei Tage! Aber sie konnte jetzt nicht, vielleicht niemals lügen ... Nur Sonntags! sagte sie.

Immer, wenn du ausgehst, komm' erst zu mir und frage, ob ich Bestellungen habe!

Ja, gnädige Frau!

Was ist die Uhr?

Halb neun!

Um neun kannst du gehen! ...

Die Empfindungen Treudchens, als sie dann ging und bis neun in ihrem Zimmer allein blieb, ließen sich nur mit denen einer freudig sich dahingebenden und sieggekrönten Aufopferung vergleichen. Sie fühlte, wie man für jemanden sterben könnte, nur um ihn vom Uebel zu erlösen. Die Gottesmutter war die Siegerin geblieben! Es war ihr so leicht, so himmlisch beschwingt, daß sie dem ganzen Hause hätte zurufen mögen: Ich habe eine abtrünnige Seele gewonnen!

Um neun Uhr kehrte sie dann zurück, um sich, wie sie sollte, ihrer Herrschaft noch einmal vorzustellen ...

Sie hatte nachgedacht, ob sie die so wieder in Gedanken verlorene und noch tief betrübt scheinende Frau nicht durch die Mittheilung des in der Nacht geschehenen Mordes unterhalten sollte und von dem Glück sprechen, daß sie nicht in diesem grauenhaften Hause, sondern hier bei ihr leben könnte; doch überlegte sie, und mit Zustimmung der andern Dienstboten, die Trepp auf Trepp ab liefen, daß Eröffnungen dieser Art bei dem Zustande der Gebieterin nur von ihrer Familie kommen müßten.

Wie Treudchen wieder in die vordern Zimmer eintrat, lag Madame Delring auf dem Kanapee ihres kleinen Boudoirs ... von rechts und links waren noch die Thüren offen und brachten das Licht, das durch das noch immer verhangene Fenster nicht einfallen konnte ...

Sie stützte träumerisch das Haupt und hatte in der andern Hand ihr kleines Kinderhemdchen ...

Willst du ausgehen? sagte sie gelassen, als hätte sie das Besprochene schon vergessen ...

Treudchen trat näher ... sie hatte ihren schwarzen Hut auf und fürchtete fast, nicht genug einem Dienstboten ähnlich zu sehen.

Freundlich aber zog Madame Delring sie näher ...

Sie lobte den Hut, band ihn jedoch dem hocherröthenden Mädchen ab, weil sie meinte, er säße nicht genug im Nacken ...

Nun deutete sie auf den Fußschemel von vorhin und ließ Treudchen vor ihr niederknieen, um ihr selbst den Hut aufzusetzen ...

Dann begann sie noch an Treudchen's Haar zu ordnen ...

Wie schön dein Haar ist! sagte sie sanft und löste einige der Flechten und hielt sie lange in der Hand, fast ihre Schwere wiegend und dann gegen das Licht haltend ...

Wie Gold glänzt es! ... fuhr sie fort.

Nun band sie die Flechten anders ...

Halt nur still! sagte sie. Ich selbst darf mir ja nicht das Haar machen, – wenn du zurückkommst, ist es Zeit genug dafür – aber dir darf ich's schon ... Geh' doch an den Dom! In das Gewölbe von Schnuphase! Ich lasse die Damen bitten – meine Aussteuer nicht zu vergessen ... es währt eine Ewigkeit –

Treudchen wußte, daß die Aussteuer für das erwartete Kind gemeint war, und auch das wußte sie, daß sich ihre Mutter, als sie mit dem jüngsten ihrer Geschwister ging, sich beim Haarmachen und sonst vor allem Binden und Verknüpfen in Acht nahm –

Weißt du denn auch das Gewölbe? fragte Madame Delring.

Ich finde es schon ... ich suche das Haus ohnehin, weil ich den Pfarrer von St.-Wolfgang, Herrn von Asselyn, begrüßen will ... er hat meine Mutter »versehen« und wohnt dort ...

Möglich, Kind, fuhr Madame Delring fort, daß dich die Schnuphases in die Klostergasse schicken, wo die Schwesterschaft zu den Nothhelfern eine Nähanstalt hat! Sage da nicht, daß du so gut beten kannst! ... Oder könntest du in ein Kloster gehen?

Treudchen warf ihre großen blauen Augen zu der seltsamen Fragerin empor und blieb die Antwort schuldig.

Madame Delring kam von ihrer Frage wieder ab, wie sie diese lichten, hellen, reinen Augen sah, die allerdings denen einer Heiligen glichen ... Sie fuhr mit den Fingern über Treudchens nicht zu volle, etwas röthliche Augenbrauen und zeichnete sie gleichsam in ihrer Länge über die Stirne hinweg nach ...

Dann kam sie auf die Schwestern zu den Nothhelfern zurück und sagte:

Es ist ein Verein, der junge Mädchen zum Nähen anhält und Gutes thun soll! Ich weiß nicht – manche von den Mädchen, die dort arbeiteten, gingen ins Kloster ... Laß dich nur in keines verlocken, Kind! Sie wissen es so geschickt zu machen und so prächtig erst drin einzurichten, daß manche Novize anfangs glaubte, in Ewigkeit keinen Mann nöthig zu haben, und um alles in der Welt lieber den Schleier nahm – hernach aber ... Besonders wissen die Damen da von der Gasse – wie heißt sie?

Doch schon unterbrach sich Madame Delring selbst und zog aus dem nächststehenden Tisch ein Kästchen hervor, das über und über mit Schmuckgegenständen gefüllt war, und nahm nach kurzem Suchen eine Rosette von schwarzem Stein an einer goldenen Nadel hervor, um sie in Treudchens Haar zu stecken ...

Wie Treudchen diese Freundlichkeit, die sie noch kaum für ein Geschenk halten konnte, bemerkte, wollte sie sie ablehnen; Madame Delring sagte aber:

Kind, da schenk' ich dir einen ganz werthlosen Stein! Es ist geschnittene Lava!

Aber die Nadel – sagte Treudchen hocherglüht ...

Die ist gut! Laß aber nur – es steht dir ja! ... So! ... Jetzt – und sieh – du trägst Ohrringe –! Weißt du wol, daß man keine Ohrringe mehr trägt? Und doch hab' ich dafür auch noch die Löcher und weiß wie heute, wie mich's schmerzte, als sie gestochen wurden – ich war schon fünf Jahre – das sind jetzt fünfundzwanzig! ... Eigentlich aber lieb' ich Ohrringe und mag sie leiden! Weißt du, warum? Man sagt, es sähe unnatürlich aus; lieber Himmel, was ist an unserer Tracht natürlich? Im Ohr ist noch lange nicht in der Nase, wie die Wilden die Ringe tragen ...

Nun lachten beide Frauen ganz herzlich um die Wette ...

Madame Delring nahm die kleinen allerdings echten, aber unscheinbar und dünn gewordenen Ringelchen aus Treudchen's Ohren und suchte, ob sie nicht zwei andere kleine, nicht zu auffallende und mit einem Stein geschmückte Berlocquen fände.

Die Frauen, sagte sie, wollen gar nicht mehr Sklavinnen sein, was diese Ohrringe bedeutet haben mögen! Aber ich denke mir das gerade schön, seinem Manne zu – dienen! Warum denn ihm ganz gleich sein wollen! Wenn man die Sorgen und Noth bedenkt, die die Männer haben! Wär' ich hübscher, ich würde mich ganz gern schmücken, um meinem Mann recht als seine Sklavin zu erscheinen! Die meisten Frauen haben genug Zeit, das Gefallen zu bedenken, das ihr Mann an ihnen haben sollte! Lieber Himmel, die Männer in der Türkei dürfen immer jung bleiben und sich so viel Frauen nehmen, wie sie wollen! Wir sagen freilich: Wir gehören dir auch mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele! Kind, wie oft thun wir's auch nicht!

Treudchen hätte von der Geduld sprechen mögen, die auch umgekehrt die Frau wieder mit dem Manne haben müsse; doch verlor sie die Besinnung über die Freundlichkeit ihrer Herrschaft, die jetzt in der That zwei kleine goldene Ringe gefunden hatte, die sie Treudchen einhängte. Sie gehörten zu einem größern alten Ohrschmuck, den sie als zu auffallend in zwei Theile zerlegte.

Deine alten Ringe, sagte sie dabei ganz gemüthlich, ei, die kann man noch angeben!

Treudchen's vornehmste Bekanntschaften waren bisjetzt Frau von Gülpen in der Dechanei und die Majorin Schulzendorf gewesen. Wenn diese Frauen je nur so mit ihr geredet hätten! Von den Geschenken zu schweigen, die nur von einer reichern Frau kommen konnten ... Sie verstummte ganz vor Glückseligkeit und konnte nur der freundlichen, immer leidend gelassenen Frau die Hände küssen.

Diese wickelte die alten Ringe in ein zerrissenes Briefcouvert und sagte:

Auf der Mühlenstraße wohnt unser Juwelier – Modes heißt er – geh' bei ihm vor – oder besser, ich lass' es sagen, er soll ein paar einfache Brochen schicken, da such' ich dir eine aus –

Gnäd'ge Frau! rief Treudchen und schlug die Hände wie ablehnend und bittend zusammen ...

Nein, nein, sagte Madame Delring, wir geben ja deine alten Ohrringe an! Herr Modes gibt schon etwas dafür! Solche kleine Handelsgeschäfte müssen Frauen immer machen!

Sie griff nun nach dem kostbar gestickten Schellenzuge dicht neben ihr und zog zweimal.

Der Bediente kam und erhielt in Gegenwart des vor Erstaunen fast bewußtlosen Mädchens den Auftrag, der Juwelier Modes möchte eine Anzahl einfacher Brochen zur Auswahl schicken.

Der Diener ließ Morgenblätter und den heutigen Theaterzettel zurück und meldete schon einen Besuch:

Herr Medicinalrath Goldfinger!

Ich bin ganz wohl! sagte Madame Delring plötzlich streng ...

Sie lehnte den Empfang des Arztes ab.

Während Treudchen sich erhoben und kaum den Muth hatte, in einen gerade dicht vor ihr hängenden viereckigen Spiegel mit goldenem Rahmen zu blicken und von Madame Delring gewinkt bekam, sie wollte ihr auch noch den Hut aufsetzen, sah die Herrin zugleich in den vor ihr aufgeschlagenen Theaterzettel und las halblaut und ganz nur wie mechanisch:

»Gastvorstellung von Madame Serlo-Leonhardi. ›Das letzte Mittel.‹ Madame Serlo-Leonhardi: Frau von Waldhüll. Im Zwischenacte Tanz: Cracovienne von Emmy und Flora Serlo« ...

Kinderballet! sagte sie. Ich mag die kleinen Affenkomödien nicht leiden ...

Und dabei band sie die Schleife an Treudchen's Hut, strich ihr noch einmal die Wange, zog und drückte den Hut ihr recht in den Nacken und gab, als sie sich überzeugt hatte, daß die schwarzen Trauerhandschuhe Treudchen's noch ganz neue waren, ihr die Hand, die diese mit überströmender Innigkeit an ihr Herz drückte und wiederholt küßte.

Inzwischen kam der Bediente zurück und meldete:

Herr Pötzl!

Madame Delring schüttelte den Kopf und sagte:

Nein!

Herr Kanonikus Taube!

Finster blickend ließ sie für alle Erkundigungen danken.

Auch diesen Besuch nahm sie nicht an.

Wol aber war ihr, als hörte sie einige Secunden später die Stimme ihres Gatten –

Der war es denn auch. Herr Delring kam, weil der Medicinalrath und jetzt auch der Schauspieler und der Kanonikus nicht waren angenommen worden – alle drei hatten ihre Meldung von dem Zimmer der Mutter aus, wo er selbst den Morgengruß gebracht, nach oben ankündigen lassen –; er besorgte, daß seine Gattin vielleicht nicht wohl, nicht guter Laune wäre ... Schon hörte man draußen seine Fragen nach dem Befinden seiner Gattin ...

Da aber, ehe er noch dasein konnte, erhob sich Madame Delring plötzlich und fuhr auf wie aus einem Traume. Ihre weitgeöffneten Augen schauten ringsum. Ihr Blick suchte irgendetwas, was sie beängstigte ... da – auf dem wieder hergerichteten Hausaltar unter der Epheulaube stand die Störung. Schnell deutete sie auf einen in den Zweigen und Holzverzierungen der Laube hängenden Gegenstand und winkte Treudchen, diesen ihr zu reichen ...

Treudchen, die so an den Mienen der freundlichen Herrin hing und sich in ihre Art schon gefunden hatte, daß sie jeden ihrer Winke verstand, reichte ihr das Bedeutete dar –

Es war ein durchsichtiger großer, langer Silberflor, wie man ihn über werthvolle Gegenstände zu breiten pflegt, um sie vorm Staube zu schützen ...

Schnell! rief Madame Delring ...

Diesen Silberflor ließ sie Treudchen jetzt anfassen und bedeckte rasch damit die Madonna auf dem Altare.

Inzwischen trat Herr Delring ein ...

Er war, wie immer, schon in weißer Halsbinde und schwarzem Frack, gleichsam als Repräsentant des großen Hauses, der er früher auch gewesen war, ehe ihn Piter entthront hatte, – ein ernster, fast vornehmer Mann.

Nun die plötzlich ausbrechenden zärtlichen Grüße, den Kuß, die liebevollen Wechselreden der beiden Gatten hörte Treudchen nicht.

Sie eilte mit klopfendem Herzen von dannen.

Hinter ihr blieb ein Weib zurück, das ihren Himmel im Manne ihrer Liebe fand.

3.

Im Hause unten, an dem Treppengeländer fand Treudchen Lucinden stehen, die ein Papier in der Hand hielt und ganz in ihm versunken schien.

Es war ein großer grauer Zettel.

Treudchen erkannte, daß es derselbe Theaterzettel war, der heute wie jeden Morgen oben wie unten abgegeben wurde ...

Es war schon spät geworden, aber gern hätte Treudchen sich in dem überströmenden Gefühl ihres Glückes und ihrer Dankbarkeit noch zu Lucinden ausgesprochen ...

Sie trat auch zu ihr heran ...

Lucinde aber stand, als weilte sie gar nicht auf dieser Erde ... Sie bemerkte Treudchen nicht, so versunken war sie in die Angabe der heutigen Theatervorstellung ...

Treudchen wollte keine Zeit verlieren, störte Lucinden nicht länger und sprang die Stiege hinunter.

Unten in der Hausflur sah man recht, daß »der junge Herr« auf Reisen war!

Es war schon neun Uhr, alle Räume unten waren vom Geschäftsverkehr belebt, Makler kamen und gingen, in den auf den Treckkamp, Aschenkötter und Heiligenpütz hinausgehenden Hinterhöfen war das rührigste Leben hörbar, aber der Portier grüßte noch aus seiner unterirdischen Loge, stand noch nicht mit Dreimaster, Stab und Bandelier, wie Piter seit einem halben Jahre eingeführt und im Modell mit Aquarell selbst vorgemalt hatte, in der Hausflur und wies die Ankommenden mit Inquisitormiene zurecht.

Aber auch aus dem Keller heraus ließ sich Treudchen die beste Richtung beschreiben, in der sie zum Waisenhause und von dort zur Kathedrale kommen konnte.

Es war ein Markttag.

Das Gewühl in den Straßen kaum zum Ausweichen. Die Straßen dabei so eng; die Lastwagen drängten sich ... zu ihnen kamen heute noch die Bauerwagen mit ihrem Stroh, ihrem Heu, Holz, Kartoffeln für den Winter ... alles, wie Treudchen das ganz wie aus Kocher am Fall wiedererkannte.

Sie war nie in einer großen Stadt gewesen und übertrug jetzt fast auf den stehenden Charakter einer solchen die Möglichkeit, jedes Gesicht auf die Vermuthung hin betrachten zu müssen, daß es dem Mörder der Frau Hauptmännin von Buschbeck angehören könnte. An Trotz, Verwegenheit und Rücksichtslosigkeit jeder Art fehlte es auch nirgends und bald hatte sie in dem beengenden Eindruck des Ganzen ihre so genau angegeben gewesene Spur verloren.

Sie stand rathlos an einer Ecke, wo mehrere Straßen einmündeten ...

Da sah sie sich plötzlich von jemand gegrüßt und angeredet!

Es war ja ein alter Bekannter aus Kocher am Fall!

Herr Löb Seligmann, der vielgeliebte Bruder der Hasen-Jette!

Er, der seither noch immer nicht daheim gewesen war, der noch immer in Gütern schlachtete, noch immer bei Grafen und Baronen hüben und drüben die Vortheile des ihm geschenkten intimsten Vertrauens derselben genoß!

Den Todesfall der Frau Ley wußte Löb Seligmann durch die Briefe David Lippschützens, seines Neveus und Augapfels, für dessen Fortkommen durchs Leben bei »so schwachen Beinen« gerade er sparte, gerade er sich kein Geschäft verdrießen ließ, selbst die Lieferungen der Bettfedern und Decken für Kasernen und andere öffentliche Anstalten nicht ...

Treudchen konnte im Augenblick gar kein besseres Geschick haben als diese Begegnung mit dem so artigen, so gefälligen kleinen Herrn Löb Seligmann, der vollkommen vergessen hatte, daß die böse kocherer Jugend einst hinter ihm her gesungen wie sie noch jetzt hinter seinem geliebten Adoptivsohn in übermüthig christlich-germanischer Nichtanerkennung orientalischer Schönheit sang:

Hast nicht gesehen Schmulche?

Mit dem scheppe Muulche?

En Aagelche zu,

En schlockrig Händelche dazu,

En wacklig Beinche dazu ...?

Löb Seligmann war edle, erhabene und schöne Seele. Seine Gefühle glichen seinen Vatermördern, die wie bei Herrn Schnuphase immer in die höchste Höhe gingen. Sein Blick auf Treudchen, seine Rührung über ihre Freude, sein Andeuten: »er wisse alles« – er meinte den Tod der Mutter – sein Ausweis über die Lage des Waisenhauses – alles das war von einer so stummberedten Theilnahme, von einer so erdenleidverklärten Tröstung und allessagenden Prophezeiung für jedes, was die kleine Landsmännin, vielleicht Geld ausgenommen, von ihm begehren konnte, daß es nur an der Unruhe und dem Lärm der Straße lag, wenn Gertrud Ley nicht wieder alle ihre Wunden aufs neue aus Seligmann's und ihren eigenen Augen aufbrechen und fließen fühlte ... »Treudchen!« ... Das eine Wort nur ... Löb Seligmann sprach es aber aus, wie den ganzen fünften Act eines Trauerspiels.

Und bei alledem hatte doch jedermann, der nur in Kocher vom Wasser des Fall getauft oder nicht getauft war, einen Anflug von Heiterkeit, so oft er nur den Herrn Löb Seligmann sah. Er hatte wunderliche Eigenschaften. Ein nicht zu entfernter Verwandter der reichen Fulds, ob er gleich nur unten für das Comptoir derselben existirte und dort wie jeder andere Sensal vierten oder fünften Ranges betrachtet wurde, besaß er eine gewisse Vornehmheit. Von seinem Verkehr mit der großen Welt hatte er sogar die Manieren der Adeligen angenommen, soweit sie niemanden beleidigten; wenigstens glaubte er selbst an eine höchst ersichtliche Vornehmheit seines Wesens. Im Oberkleide war er zwar einfach, aber desto gewählter in der Wäsche und vorzugsweise in der Weste. Aus dem manchmal etwas hohem Kragen der letztern und den zu steifen Vatermördern sah der kleine Kopf mit der niedern, breiten Stirn und dem kurzgeschnittenen krausen Negerhaar etwa heraus wie eine Kirche, deren Dach höher ist als der Thurm. Löb Seligmann, bereits weitaus vierzigjährig und Garçon, war zudem durch Schmeicheleien verwöhnt, die zwar nur von Wenigen, aber von diesen desto enthusiastischer kamen, vorzugsweise von seiner Schwester, deren Einzigster sein Erbe sein sollte. Zu Kocher am Fall wohnte er im obern Stock des Hauses, in welchem einst der Mann der Hasen-Jette die Kundschaft der Leys ohne alle Böswilligkeit an sich gezogen hatte, sie leider nicht lange genießend. Löb Seligmann arbeitete nur für David. Er ließ ihn bilden, ließ ihn fein erziehen. Nur in der Musik schlug David noch nicht ganz nach dem Wunsch des Onkels ein, der in diesem Fache ein Kenner war. Löb Seligmann glaubte eine schöne Stimme zu besitzen. Wenn er in Kocher am Fall Toilette machte, sang er dazu am offenen Fenster. Wenn er sich an einem kleinen Spiegel der Lichtung des Fensters selbst rasirte, intonirte er mit einem schönen Tenor, der nur auf eine vielleicht etwas zu leichte und bequeme Weise in die Fistel überging, eine Opernarie nach der andern. Die Schwester stand indessen unten in der Hausthür und machte die Leute aufmerksam auf die wunderschönen Melodieen, die ihr Löb wieder aus den großen Städten mitgebracht hatte. Nie hat sich auch jemand mit mehr Behagen selbst rasirt, als Löb Seligmann. »So kannst du mich betrüben, Othello kannst du lieben?« Jetzt die Seife eingestrichen. »Treibt der Champagner das Blut in die Kreise, da ist's ein Leben herrlich und frei!« Das Messer wird geschärft. »Auf, singt die Barcarole!« Erster Strich über die Oberlippe, während die linke Hand die Nase festgeklemmt hält ... jetzt läßt sie die Nase los und »Gnade, Gnade für die arme Seele!« Zweiter Strich, die Nase wird wiederum festgeklemmt; Luft und – »Mein Hüon, mein Gatte, Geliebter, wo weilst du?« Jetzt ein großes Orchestersolo mit Pauken, mit Trompeten, mit Summen und Brummen, Pruhsten, Gurgeln, Zungenschnalzen oder – Lied ohne Worte ... sanft die Seife wieder aufgestrichen – Adagio – Schlummerarie – erneuter Ansatz zum Rasiren – und so fort mit dem auf der Reise arg verwilderten Barte eine Stunde lang. Immer dazwischen das kunstvollste Talent der musikalischen Reproduction und Paraphrase, das Messer am Streichriemen und in der Kehle die Arien sanft hinübergeschliffen. Ist dann die Bartabnahme vollendet, dann fällt eine Arie wild in die andere, Desdemona in die Klagen Rodrigo's, die Nachtwandlerin in die Verzweiflung Elwino's, »O welches Glück, Soldat zu sein!« jodelt sich in »Gold ist nur Chimäre!« hinüber – und alles das empfindet Löb Seligmann ebenso musikalisch wie moralisch nach, soweit der Text und die Situation es vorschreiben. Auch kritisch ist er mit ergriffen, soweit ihm nämlich alle größeren und kleineren Talente einfallen, die er schon in allen diesen Opern auf verschiedenen Stadttheatern hatte debutiren sehen.

Löb's seelenvolle Erörterungen über die Vortrefflichkeit der Dahingeschiedenen, über die Bettdecken des Waisenhauses, das erstaunliche Glück, bei den Kattendyks zu dienen, unterbrach Treudchen mit der Erzählung von der Mordthat und dem nahen Zusammenhang derselben mit ihrem eigenen Lebensschicksal. Löb Seligmann wußte schon den Vorfall, konnte schon weitere Details über den Geiz der Ermordeten, nur über den Thäter nicht, geben, erstaunte über die unschuldige Betheiligung Treudchens und bat sie, zwei Minuten – »hier an diesem prächtigen Palais« – zu warten ... er käme sofort wieder zurück – er würde jedenfalls, das ließe er sich nicht nehmen, sie bis ans Waisenhaus begleiten –

Da Treudchen einen Band- und Zwirnladen bemerkte und bei all ihrem Herzeleid doch ihrer Nadeln und ihres Fingerhutes eingedenk blieb, so nahm sie auf zwei Minuten um so lieber Abschied, als sie hier gelegentlich nützliche Einkäufe machen konnte.

Statt nach zwei, nach zehn Minuten war sie mit ihrem Geschäft fertig und nach zwanzig kam Löb Seligmann wieder ...

Er hatte hier in dem Comptoir seiner, wie er sagte, Vettern Moritz und Bernhard Fuld zwar keinen Zutritt zu den innern Gemächern, wo die Ritter der Ehrenlegion saßen, aber einige alte Buchhalter aus den Zeiten des seligen »Man weiß schon!« hielten ihm denn doch Stand, wenn er sie um eine Prise bat und ihnen mittheilte, daß merkwürdigerweise ein Mädchen aus Kocher am Fall bei der heute Nacht ermordeten alten Dame »beinahe hätte können im Dienst gestanden haben« ...

Es sind Vettern zu uns! wiederholte er mehrmals von den Fulds und auf das Palais deutend ...

Indem Löb Seligmann seine Vatermörder jetzt stolz über die durch beständige Reibung von ihnen gerötheten Ohrläppchen hinauszog, ergab sich seltsamerweise, daß ein riesengroßer, wunderbarer, schöner Bau, in dessen Nähe sie waren, schon die Kathedrale war und daß Treudchen ihre Commissionen im »steinernen Hause« jetzt hätte schon ausführen können, wenn nicht gerade nur um zehn Uhr die Sprechstunde im Waisenhause gewesen wäre. Aber nun war auch der Blumenmarkt ganz nahe ... derselbe Markt, der Löb Seligmann mit ähnlichen Empfindungen zu erfüllen schien, wie sie jetzt auf Treudchen's von allen diesen mächtigen Eindrücken bestürmtes Herz zuschossen ...

Einen Augenblick, Mamsell Treudchen! rief er und berechnete schon mit einer Gärtnersfrau, wie viel von Orangenblüten und Myrten in einen großen Blumenstrauß hineinkonnten, den er mit 71/2 Silbergroschen bezahlen wollte. Treudchen wunderte sich nicht über seine poetische Regung, da sie selbst von dieser Fülle von Eriken, Fuchsien, hochragenden Gummibäumen, buschigen Rhododendren und blühenden Myrten wie berauscht war. Auch sie würde sich sofort in ihren Einkauf eingelassen haben, wenn nicht von der Kathedrale herab drei mächtige Schläge den ganzen Domplatz, vorzugsweise aber sie selbst, erschüttert hätten.

Schon drei Viertel auf zehn! rief sie. Herr Seligmann, um Gottes willen, bitte! Kommen Sie!

Ein einziger Rundblick rings auf die Häuser, wo Herr Maria Schnuphase wohnen konnte, der sie in einen so schlimmen Dienst hatte empfehlen wollen, eine blitzschnelle Musterung der Blumen, die sie wol hernach zu ihrem Bouquet für den Pfarrer von Asselyn wählen konnte, und nun fort nach der Richtung hin, die sie Herrn Löb Seligmann dringend bat, durch nichts mehr zu unterbrechen. Ich bitte Sie! sagte sie. Ich habe noch so viel Commissionen! Aber jetzt muß ich wissen, wie meine Geschwister die erste Nacht hier zugebracht haben!

Dann setzte sie, und fast neckend im Ton der kocherer Christenjugend, hinzu:

Für wen ist denn aber der schöne Blumenstrauß, Herr Seligmann?

Wenn Sie im Waisenhause sind, – sagte Seligmann, hielt aber sinnend inne und wickelte sein Bouquet in eine Anzahl Theaterzettel, die er aus der Tasche zog, und summte dazu einige Noten aus dem im Spohr'schen »Faust« irgendwo an einem Stadtthater eingelegt gewesenen »Liede an die Rose« – wenn Sie im Waisenhause sind, geh' ich solange in die Nachbarschaft, auf die Rumpelgasse, wo mein Bruder Nathan Seligmann wohnt – Sie müssen sich sein Geschäft ansehen – alte Kleider, Möbel, Glaswaaren, Bilder, Masken, Theateranzüge – was Ihr Herz begehrt – die ganze Welt hat Nathan zum Verkauf oder zum Verleihen – nur muß sie alt und abgelegt sein!

Ist das die Judengasse? sagte Treudchen unbefangen und eilends dahinschreitend und so laufend, daß Löb fast nicht mitkonnte.

Was? Denken Sie, daß wir hier noch in einer einzigen Gasse wohnen? Haben Sie nicht das Palais von unsern Vettern gesehen?

Sind das die Vettern, um die der David immer sagt, er würde nur eine Prinzessin heirathen?

Das Kind! betonte Seligmann ganz wie seine Schwester und vergaß vor Entzücken über David's naive Erklärung eine Antwort auf Treudchen's Frage.

Diesen Blumenstrauß, fuhr er dann nach dem glückseligsten Sinnen über David's Geist und große Zukunft fort, will ich in seinem Namen an Tante Veilchen abgeben, an die er schon seit drei Jahren alle Vierteljahre einen französischen Brief schreibt. Sie werden bei Herrn Delring und bei Madame Kattendyk viele vornehme Damen kennen lernen, aber ich versichere Sie, wenn Sie wollen gebildet werden, liebes Kind, gehen Sie nur in die Rumpelgasse zu Veilchen Igelsheimer, die meinem Bruder Nathan Seligmann, der ein Witwer und ohne Kinder ist, seit dreißig Jahren das Geschäft und die Wirthschaft führt. Sie ist schon fünfzig Jahre alt, aber ich könnte heute um ihre Hand freien, – so viel Schönheit hat sie – im Geist – und wenn ich nicht versprochen hätte, für den David zu sorgen. Ja, Treudchen, Sie sollten Veilchen Igelsheimer sehen! Sie können viel Bücher lesen und Sie finden drin nicht gedruckt, was in Veilchen steht!

Treudchen ließ ihn so forterzählen und folgte nur immer seinen stumm gegebenen Winken über die Richtung, die sie einzuschlagen hatten ...

Veilchen, fuhr der von seinen Familienbeziehungen nicht weniger wie seine Schwester bezauberte Mann fort, Veilchen hätte in einem Palais wohnen können, wie die jungen Fulds, wo der eine sich kürzlich verheirathet hat mit einer reichen und wunderschönen Dame aus Wien – ja Veilchen hätte Barone haben können und einen Grafen – aber da sie den nicht bekommen konnte, den sie allein gemocht – es war ihr Vetter – unser Onkel Doctor Leo Perl – da hat sie für ihr ganzes Leben gesagt: Ich entsage!

Und wäre Herr Löb Seligmann jetzt allein gewesen und etwa daheim, auf seiner Stube in Kocher am Fall und im Rasiren begriffen, so hätte er sich jetzt unfehlbar durch die wehmutherweckende Ideenverbindung dieser Mittheilungen bestimmen lassen, aus Bellini's »Unbekannter« oder dessen »Nachtwandlerin« ein schmelzendes Adagio zu intoniren ...

Treudchen sah nur immer auf die Straßennamen an den Ecken, auf die Menschen, die Soldaten, die Fuhrwerke, die hohen Häuser, alten Kirchen und hörte um so mehr nur halb auf den freundlichen Begleiter, als er seine Mittheilungen auch seinerseits bald durch das Lesen eines Anschlagzettels, bald einer Firma, bald durch ein Stillstehen und Erklären einer städtischen Merkwürdigkeit unterbrach.

Den heutigen Theaterzettel ließ er nach kurzem Anblick unbeachtet ... »Das letzte Mittel« ... »Tanz« ... Das war nichts für den Schmelz seiner Gefühle und seine nur im Meer der Töne sich wohlbefindende Seele.

Auf Veilchen Igelsheimer, die Entsagende und jetzt in der Rumpelgasse das Geschäft seines Bruders Führende, kam er wieder zurück, als er vor einem Zinngießerladen still stand und behauptete, bei Herrn Xaver Klingelpeter eine Minute zu thun zu haben ...

Nein, nein! nein! rief Treudchen ...

Eine Minute, Treudchen!

Adieu, Herr Seligmann!

Zwei Worte! Sehen Sie die wunderschönen Arbeiten am Fenster –

Treudchen zog ihn von dem Schaufenster des Zinngießers weiter ...

Herr Xaver Klingelpeter, sagte er dann, sich ergebend und nachstolpernd, ist ein ansehnlicher Mann, der sich ein Gütchen kaufen will, das ich ihm empfohlen habe! Haben Sie wol die Herrlichkeiten in seinem Laden gesehen? Alles nur von Zinn, aber so kunstvoll, wie von Gold und Silber!

Treudchen hatte den Eindruck der silbernen Monstranzen für arme Dorfkirchen, Patenen, Kelche, Crucifixe wohl empfangen, auch durch das Fenster einen Mönch erblickt, der drinnen im Laden mit dem Meister Zinngießer in lebhafter Demonstration begriffen schien, aber sie zog es vorwärts, vorwärts, und Seligmann mußte folgen ...

Auch solche heilige Gefäße, fuhr er bei alledem fort, kommen im Geschäft meines Bruders vor! Sie werden eingeschmolzen und manchmal mit sehr unheiligen Dingen zusammen! Veilchen macht das alles wie ein Professor der Chemie. Ja, mein Bruder läßt sogar Münzen schlagen, aus Kupfer – es ist ein Artikel zum Spaß – Sie sollten sehen, wie Veilchen lateinische Inschriften macht und die Bilder dazu zeichnet – römische Könige und türkische Kaiser! Veilchen könnte Bücher schreiben!

Ihr also bringen Sie den Blumenstrauß? warf Treudchen in der Eile und nur so zerstreut dazwischen ...

Sie macht sich aus nichts mehr im Leben was! Sie liest blos, sie schreibt blos, sie führt blos das Geschäft ... Ach, ihr Kummer war zu groß! Es war das schönste Mädchen – ein Bild – sie ist noch jetzt wie eine Wachskerze so weiß – aber der, den sie liebte, den bekam sie nicht – es war unser Oheim – ihr eigener Vetter – er taufte sich – katholisch – mehr – er wurde ein Priester ...

Treudchen hörte nur halb. Aber sie kannte ja schon diese Klagen aus so vielen stillen Abendgesprächen der redseligen Hasen-Jette mit ihrer Mutter! Leo Perl war für diese ganze Familie der verheißene Messias gewesen! Als es aber dazu kam, sich als der Löwe vom Stamm Juda zu offenbaren, täuschte er alle, wurde zum Verräther, ging zum Feinde über und schien von alledem doch keinen Segen gehabt zu haben. Treudchen wußte sogar, daß regelmäßig zwei Männer genannt wurden, die Leo Perl's Seelenruhe auf dem Gewissen haben sollten, der gute Dechant zu Kocher am Fall und ein anderer vornehmer und großmächtiger Herr auf einem fernen Schloß bei Witoborn. Ihnen sollte der Doctor Leo Perl mit seinem Uebertritt, ja mit dem Entschluß, Priester zu werden – wider Willen sogar – ein geheimnißvolles und bis zur Stunde wenigstens selbst der Hasen-Jette noch unenträthseltes Opfer gebracht haben ...

Endlich standen beide vor einem freundlichen, mit einer Inschrift gezierten Hause.

Löb Seligmann versprach mit dem holdseligsten Nicken aus den Palissaden seiner Vatermörder und dem schwarzwolligen Wulst seines üppigen Haarwuchses und einem seit einigen Tagen nicht besonders gründlich rasirten Barte heraus, in spätestens einer Viertelstunde hier wieder an der Thür zu stehen und auf Treudchen's Rückkehr zu warten ...

Er selbst zog die Klingel. Einem öffnenden Knaben trug er das Anliegen Treudchens vor. Er traf den Ton für alles, was sich hier schickte; er kannte jeden Weg, wie er betreten werden und jede Thür, wie man an sie klopfen mußte. Selbst die deutsche Sprache handhabte er seiner Meinung nach in diesem Augenblick vollkommener als Treudchen, deren Rede er unterbrach und ihre Berechtigung, hier eingelassen zu werden, gleichsam in die Sprache übersetzte, die derjenige nicht kennen konnte, der noch nie aus Kocher am Fall so herausgekommen war, wie er.

Der Knabe führte Treudchen zum Inspector ... der Inspector führte sie zu ihren drei Geschwistern, zwei Knaben und einem Mädchen ...

Alle drei sprangen ihr herzlich und heiter entgegen ... Wie rasch entflieht dem Kindersinn ein herbes Leid! Weckten wir es nicht durch unser eigenes Bedauern und fragten einen solchen kleinen Nachlaß: Weißt du auch, was du verloren hast und denkst daran und weißt wo deine Mutter ist? solche nach Luft und Licht und Wachsthum strebenden Keime vergäßen bald nach unserm Gefühl zu antworten ... Wie tummelte sich das schon im Hof und lärmte und regierte schon die Welt im Soldatenspiel ... Und drüben bei den Mädchen war das ein Murmeln und Summen und Plaudern beim Stricken ... und wie bewährten sich die angebornen Gattungstriebe! Liebe und Abneigung schon nach vierundzwanzig Stunden, Verschwörungen schon und Bundesgenossenschaften ... neckte die, so hatte sie an jener einen Widerpart und diese wieder eine Gegnerin an einer andern ... Nichts blieb ohne Angriff, nichts ohne Beistand ... Ja, Treudchen fand, daß die Geschwister in ihr neues Dasein schon wie eingeboren waren ... Läutete es, dann wußte jedes, was es bedeutete ... bald rief die Glocke zum Frühstück, bald zum Mittagessen, bald in die Kapelle, bald auf die Schulbank ... ein geregeltes und in sich begnügtes Leben das! Lucinde sagte Treudchen und den Kindern gleich: »Bliebe es euch nur immer so, ihr Armen! Und läge der Nachtheil der Waisenhauserziehung nicht gerade in der Unmöglichkeit, im Leben künftig dieselbe Regelmäßigkeit zu haben! Dem Dasein gegenüber, wie es ist, ist sogar schon solche Ordnung eurer Jugend – ein vollständiger Luxus! Wer auch nur alle Tage das hat, was er begehrt und bedarf, wird selbst bei Wasser und Brot wie ein Prinz erzogen! ...« Lucinde gedachte ihrer verkommenen Brüder.

Schon wollte Treudchen, da die Freistunde vorüber war, nach herzlichen Mahnungen und Danksagungen an den Herrn Inspector wieder gehen ...

Da kam auf sie zu eine der Nonnen, die hier die Erziehung leiten helfen. Es war eine Karmeliterin in braunem Rock und schwarzem Ledergürtel. Sie war in mittlern Jahren, sehr sauber, sehr rührsam. Daß ihr Treudchen die Hand küßte, lehnte sie fast ab und ergriff theilnehmend die ihrige.

Sahen Sie denn auch alles? fragte sie und führte Treudchen in den Räumen auf und nieder und zeigte ihr die Plätze, wo die Kinder ihre mitgebrachten Habseligkeiten untergebracht hatten. Sie versicherte, daß diese Geschwister ihr schon fast die Liebsten wären und daß auch sie Mutter Beaten schon in ihre Herzen eingeschlossen hätten.

»Mutter Beate« war der Name der Schwester ...

Treudchen's Herz klopfte hörbar. Nach den Reden der Frau Delring überkam sie fast eine Furcht, sich offen auszusprechen oder zu lange im Gespräch zu verharren mit dieser so zuthulichen Klosterjungfrau ... Und wahrhaft überrascht war sie, als Schwester Beate von ihrem Dienst bei den Kattendyks und ihrer frühern Bestimmung für die Frau Hauptmännin von Buschbeck schon wußte.

Diese Unglückliche, sagte sie, ist auf so ruchlose Weise ums Leben gekommen! Aber die ewige Gerechtigkeit wird den Mörder gewiß schon der zeitlichen überliefern! Sie wird den Elenden auffinden lassen, der auch den Armen und Nothleidenden eine Freundin raubte! Ei! Wie können Sie sagen, Kind, daß es ein Glück war, daß der Himmel Ihnen eine andere Bestimmung gab! Vielleicht hätte Ihre Anwesenheit die That ungeschehen gemacht! Verlassen von aller Welt, mußte die Aermste wol ein Opfer der Habsucht und Mordlust werden! Kind, Kind, fürchten Sie sich denn vor einer Gefahr, die im Gefolge einer Pflicht liegt?

Treudchen sah verwirrt zur Erde. Ihre Wangen erglühten. Sie, die schon im Leben so viel erduldet, stand jetzt, wie sie gleich heute früh geahnt hatte, wie ein Wesen da, das nur an ihre eigene Sicherheit zu denken vermochte. Es war ein Feuerbrand in ihr Herz geworfen, sich sagen zu müssen: Wärst du weniger furchtsam gewesen, weniger gläubig den Versicherungen deiner Gönnerin Lucinde gefolgt, diese unglückliche Frau lebte vielleicht noch!

Freundlicher jedoch geworden, als sie die Wirkung ihrer harten Worte bemerkte, unterhielt sich Schwester Beate jetzt wieder im Wandeln mit Treudchen, fragte nach ihren sonstigen Lebensverhältnissen und vervollständigte das, was sie alles sonderbarerweise bereits wußte.

Als Treudchen schon gehen wollte und die Hand der Nonne ergriff, sie aufs neue zu küssen, forderte Schwester Beate sie auf, in ihrem Kloster sie zu besuchen ... es läge dicht am Waisenhaus nebenan und wäre mit ihm durch einen geschlossenen Gang verbunden und sähe mit der Vorderfronte der zum Kloster gehörigen Kirche auf den Römerweg hinaus.

Treudchen gedachte an ihre Herrin, wie sie vorhin den Namen einer gewissen Straße gesucht hatte ...

Wir haben gerade morgen einen Geburtstag! sagte die Nonne. Kommen Sie doch morgen Nachmittag!

Ich weiß nicht ...

Ihre Herrin erlaubt es ... In ein Kloster läßt eine gläubige Seele jeden gehen!

Einen Geburtstag? ... fragte Treudchen bebend und ausweichend ...

Ein Geburtstag ist ein Einkleidungstag!

Die Nonne blickte auf das Ende eines Corridors, in welchem eine zweite Nonne erschien. Sie schwieg, bis diese herangekommen und mit einem freundlichen Gruße vorübergegangen war. Dies war eine fast vornehme Erscheinung gewesen ...

Das war das Geburtstagkind! sagte Schwester Beate mit einem Lächeln, bei welchem eine ihr Antlitz entstellende Zahnlücke zum Vorschein kam. Schwester Therese ist heute sozusagen drei Jahre alt! Vor drei Jahren nahm sie den Schleier und wurde eine Braut des Himmels! Sie ist sehr vornehmer Abkunft! Ein Freifräulein Therese von Seefelden! Schon hatte sie einen Grafen zum Verlobten, der aber sein ganzes Vermögen lieber zu einem wohlthätigen Zwecke bestimmte und ins Kloster gehen wollte! Er ist im Franciscaner-Kloster Himmelpfort bei Witoborn; leider wurde er krank und hat, der Aermste, seinen Verstand verloren! Fräulein von Seefelden nahm nun auch den Schleier und wurde Karmeliterin! Ich bin nicht so hoher Abkunft. Mir ging es wie Ihnen, Kind! Hat man keine Aeltern und Verwandte mehr, keine Freunde und muß sich mühsam durchs Leben schlagen und immer in Gefahr leben, an seiner Seele beschädigt zu werden, so ist das Kloster die beste Versorgung! Niemand hat da noch eine Entbehrung, als nur für anderer Wohl! Wir kümmern uns nicht: Was wird aus uns? Was essen, was trinken wir? Unsere Kleidung, unser Unterhalt sind da – so leben wir nur mit unserm Innern beschäftigt. Kommen Sie morgen, liebes Kind! Wir feiern unsere Geburtstage immer so froh, wie nur irgend erlaubt ist! Es fehlt an Gebacknem nicht, nicht an Blumen, Sie sollen sehen, wir sind sogar ganz guter Dinge und können lachen wie andere auch!

Der Schall einer Glocke rief die Schwester Beate ab in die Säle, wo sie die weiblichen Handarbeiten leitete.

Treudchen fühlte, daß sie morgen an dem Geburtstag der Schwester Therese nicht fehlen durfte. Ja es war ihr fast, als würden es ihre Geschwister zu entgelten haben, wenn sie einer so ausdrücklichen Einladung nicht Folge leistete ...

Dennoch überfiel sie ein unaussprechliches Bangen ... Sie verließ das Waisenhaus zitternd, wie wenn sie in Lüften schwebte. Ihre Pulse flogen. Es war ihr, als sähe sie immer die Augen der Nonne sie anlächeln, sie durchbohren mit einer Freundlichkeit, die keine natürliche war, sondern dem Blicke der Schlange glich, die ihr Opfer erst erstarren macht ... Ach und dazu läuteten Glocken draußen und in ihrem Innern! Allen ihren Leiden, zu denen Beängstigungen kamen, wie sogar solche, die in der Erinnerung an Piter lagen, bot sich eine himmlische Tröstung und ein Ausweg. Auch zu einem Geistlichen flog sie ja jetzt, der ewig entsagen mußte, der nur sich grüßen lassen durfte mit Blumen, die die Verehrung brachte und die nichts dafür begehrende Liebe ... Auf der Straße, wo sie sich wieder befand, hätte sie unter allen Menschen wie über eine Ahnung laut aufweinen mögen ...

Wenn nur Löb Seligmann da war – sein Plaudern hoffte sie, würde ihr Beruhigung geben!

Sie fand ihn aber nicht und sie konnte kaum auf ihn warten. Auch konnte er vielleicht schon fort sein, denn sie war fast eine halbe Stunde geblieben. Dennoch suchte sie und suchte und stand und ging und ging und stand – Eins konnte ihr Auge nicht fortbannen: Die beiden Nonnen – und Schwester Therese und ihr feierlich ernstes Dahinwandeln und das braune wollene Kleid, das beide trugen und den groben Ledergürtel – und ihr Geliebter wurde Mönch, angethan wie der, den sie vorhin gesehen in dem Laden des Meisters Zinngießer!

Fast war sie im Auf- und Niedergehen schon dicht an diesem Laden angekommen. Sie sah ihn in der Ferne, sie sah, daß sie sich auf dem Rückwege zur Kathedrale leicht zurecht finden würde. Doch kehrte sie wieder zum Waisenhause um ...

Nirgends fand sich aber Löb Seligmann ...

Jetzt schlug es von den Thürmen halb elf Uhr ...

Wie durfte sie länger zögern! Frau Delring wird ihre Toilette machen wollen! sagte sie sich. Sie eilte von dannen und geradeswegs der Kathedrale zu.

Nach einer Viertelstunde war auch diese erreicht und mit ihr der Blumenmarkt. Rasch erhandelte sie zwei große Bouquets von Georginen, Levkoien, Nelken. Seligmann's Beispiel ermuthigte sie, sich einbinden zu lassen, was ihr nur irgend noch von den andern Vorräthen gefiel, vor allem Orangenblüten. Damit eilte sie dann zu dem Laden des Herrn Maria hinüber.

Ein Schaufenster mit den auch nach außen sichtbaren innern Herrlichkeiten, die hier verkauft wurden, fehlte. Ja selbst im innern Laden, so groß und geräumig er war, hatte alles ein Ansehen, wie wenn diese Schränke und Kisten und Kasten nur zum Privatgebrauche einer hier für immer wohnenden Familie bestimmt waren. Herrn Maria's feiner Takt bewährte sich in diesem Geheimnißvollen des Verkehrs mit heiligen Dingen. Selbst die Lebkuchen ziemte sich nicht so offen neben den Meßgewändern liegen zu lassen ...

Treudchen sah sich aber kaum um. In Eile sagte sie zu einer von einem versteckten Stehpult fragend aufblickenden nicht mehr in erster Jugendblüte befindlichen, aber doch durch Haltung und eine gewählte Toilette wol noch Jugendlichkeit in Anspruch nehmenden Dame:

Eine Empfehlung von Madame Delring! Ob nicht bald ihre Ausstattung fertig wäre?

Madame Delring –? Ah –!

Die gestrenge Miene der schlanken, dunkeläugigen Dame verklärte sich ...

Sie sind –? fragte sie und hocherröthend und nachfühlend, daß dies Mädchen ihr allenfalls auch hätte sagen dürfen: Ja, ich bin die von Ihrem Vater für den Dienst bei der diese Nacht Ermordeten Bestimmte!

Aber Treudchen war so in der Hast ihres Auftrags, so im Drang ihrer Rückkehr, so im Bangen, jetzt nach dem Pfarrer von St.-Wolfgang fragen zu müssen, daß Demoiselle Schnuphase (es war die Aelteste – Eva) über Vorwürfe nicht viel Besorgnisse zu hegen brauchte.

Ihre Freundlichkeit, ihr Verweisen auf das Nähinstitut der Schwesterschaft zu den Nothhelfern waren für ihre Verlegenheit bezeichnend genug ...

Diese wunderschönen Bouquets –! sagte Demoiselle Schnuphase dann holdseligst ...

Ich wollte sie Herrn von Asselyn bringen –

Wem?

Dem Herrn Pfarrer von St.-Wolfgang –

Der wohnt bei uns –

Treff' ich ihn zu Hause?

Sie kennen ihn –?

Aus meiner Vaterstadt –

Ganz recht! Er ist nicht gegenwärtig!

O –

Er ist im Palais Sr. Eminenz des Kirchenfürsten –

Könnt' ich ihm nicht die Blumen auf sein Zimmer stellen?

Gewiß! Kommen Sie!

Fräulein Schnuphase nahm lächelnd einen Schlüssel, der über ihrem Stehpult hing, entfernte sich in ein Nebenzimmer, kehrte zurück, ließ Treudchen vorantreten und öffnete eine andere nach hinten gehende Thür.

Wie Treudchen den Laden mit ihren Blumen verließ, sah ihr aus der geöffneten Nebenthür eine zweite, elegante und wie es schien jüngere Dame nach, ohne Zweifel Demoiselle Apollonia ...

In dem alterthümlichen Hause ging es eine dunkle steinerne Treppe hinauf. Die Führerin öffnete im ersten Stock ein geräumiges Zimmer und ließ Treudchen eintreten.

Hier wohnt der Herr Pfarrer von St.-Wolfgang! sagte sie.

Aber schon schlug es elf Uhr ... Treudchen hörte und sah kaum noch etwas ... Sie rief nur:

Elf! O Gott –!

Demoiselle Schnuphase verstand vollkommen, wie ein gutes Kammermädchen sich nicht beim ersten Ausgange verspäten durfte ...

Und doch fehlten für die Blumen die Gläser und sie erbot sich, diese erst zu holen –

Treudchen machte es anders.

Sie löste beide Sträuße auseinander und vertheilte die Blumen ...

Einen Theil warf sie auf ein offen auf dem Tische liegendes großes Buch – vielleicht die lateinische Bibel – einen andern streute sie auf ein großes Schreibzeug, mochten auch einige Nelken in die Dinte fallen. Eine andere Handvoll drückte sie bei einem Crucifix, das im Schatten des Spiegelpfeilers stand, zwischen die Arme des Erlösers, die eine Lücke an dem obern Querholz des Balkens offen ließen. Den Rest streute sie geradezu hierhin und dorthin, sodaß das Zimmer dem Wege des Herrn nach Jerusalem glich, ihre Huldigung einem jubelnden Hosianna.

Demoiselle Schnuphase lachte. Treudchen aber, über die der Geist Lucindens gekommen schien, sprach weiter kein Wort, sondern sah sich nur noch einmal um und lief rasch von dannen.

Auf dem Platze suchte sie eben die Straße, in die sie wußte einbiegen zu müssen, als sie gerade auf Löb Seligmann und wie Kopf an Kopf und Nase an Nase gegen ihn stieß. Er war ihrer Spur gefolgt, hatte sich ihr nacherkundigt und nachgefragt und entschuldigte sein Ausbleiben durch ein Abenteuer, das ihn bestimmte sie sogleich zu fragen, ob er nicht so blaß und so weiß aussähe wie Kreide? ...

Sie fand ihn aber im Gegentheil sehr erröthet. Doch hielt sie sich mit näherer Beweisführung nicht auf, sondern drängte nur ihres sprachlosen Führers Fingerzeigen auf die Straße nach, die sie einschlagen mußten.

Ich bin in meinem Leben ein einziges mal herausgeschmissen worden, keuchte Seligmann, endlich zu einigem Athem gekommen, hinter ihr her und bürstete an seinem Hute, der offenbar eine gewaltsame Beschädigung erlitten hatte; herausgeschmissen aus bloßem Scherz – und jetzt –

Wer hat Ihnen denn etwas gethan? fragte Treudchen in hastiger Eile den noch ganz Ungesammelten ...

Jetzt, wo kein Gensdarm mehr zu einem mosaischen Glaubensgenossen: Zaruck! sagt, wenn blos die andern gedrängelt haben ...

Aber was geschah Ihnen denn?

Ein Mönch, der ein Mann Gottes sein will ...!

Treudchen konnte trotz ihrer Eile nicht umhin, eine Secunde still zu stehen und auf ihren kaum nachkommenden Begleiter einen staunenden Blick zu werfen ...

Der mich einmal herausgeschmissen hat – das ist ein Student gewesen, fuhr Seligmann fort; in kurzen Pausen, Herr Benno von Asselyn war's – den Sie kennen müssen – Neveu vom Herrn Dechanten –

Ja wohl! Ja wohl! Der hat Sie jetzt –

Nein! Vor fünf Jahren! Und blos aus Spaß schmiß mich Herr von Asselyn 'mal heraus im Roland am Hüneneck, eine Stunde von der Universität, wo ich eine Verhandlung mit einer Partie Bauern hatte, die ihre Güter wollten parcelliren! Kam der damalige Student Herr von Asselyn dazu mit fünf andern, machte die Stube auf und hörte, was wir discourirten, und fing an: Seligmann – er kannte mich von Kocher – sind Sie denn das Verderben des Landes! Schlachten Sie Rinder und Kälber mit Ihrem Schwager Lippschütz, aber ruiniren Sie uns hier den Wohlstand der Bauern nicht durch diese verfluchte Parcellirung! ... Und so faßt mich Herr von Asselyn an dem Rockkragen und führt mich volens nolens in die Nebenstube und alle Bauern lachten dazu. Es war aber blos ein Scherz, die Studenten wollten nur unsere Stube haben, um besser ihren Wein zu trinken wegen der Aussicht! Aber heute – straf' mich Gott! bin ich wirklich herausgeschmissen worden mit einer Grobheit wie von Joseph Zapf, dem Wirth im Roland selbst! Und das von einem Mönch – einem Priester Gottes! »Jüd«! So hab' ich das Wort seit zwanzig Jahren nicht gehört, seitdem die Buben dazumal, wie das deutsche Vaterland vorm Napoleon ist gerettet gewesen, überall »Hepp, Hepp!« geschrieen!

Noch mochte Treudchen bis zu ihrer Ankunft an dem in der innern Stadt liegenden Kattendyk'schen Hause fünf Minuten Zeit haben ...

Herr Seligmann erzählte ein Zusammentreffen, das er im Laden des Herrn Xaver Klingelpeter mit einem Mönche gehabt hätte. Und trotz seiner Aufregung und trotz Treudchen's Eile nahm er sich die Zeit, noch eine Huldigung für Veilchen Igelsheimer einzuflechten und Treudchen zu ermuntern, die Weiseste ihres Geschlechts zu besuchen ...

Als ich ihr den Blumenstrauß in die Rumpelgasse brachte, sagte er, wollt' ich fort, um Sie nicht warten zu lassen! Ich erzählte Ihre Leiden, Treudchen! Ich erzählte auch Ihre Liebe und Ihre Anhänglichkeit! Wissen Sie, was es gesagt hat, das Veilchen? Was dankbar! Kinder dankbar! hat es gesagt. Die besten Kinder sind gegen ihre Aeltern nur Lumpen! Sie zahlen! Womit zahlen sie? Gerade von dem zahlen sie, was sie schuldig sind! Frag' ich sie: Veilchen wie so schuldig? ... Sind die Kinder, antwortete das Mädchen, ihren Aeltern nicht das Leben schuldig? Und zahlen sie nun wieder mit ihrem Leben, was thun sie? Sie machen's wie die Fürsten mit ihren Völkern und mit ihren Schulden und wie alle, die bankrott sind! Sie zahlen ihre Gläubiger gerade von dem, was sie eben ihnen schuldig sind!

Weder Treudchen's Gemüthsstimmung noch ihre Bildung gestattete ihr, diese talmudische Dialektik so überraschend geistvoll zu finden, wie sie Löb Seligmann fand ...

Aber trotz seiner Bewunderung vor dem scharfen Geiste Veilchen's verlor er den Faden seiner Erzählung nicht. Er berichtete, daß er beim vergeblichen Warten auf Treudchen, die noch im Waisenhause war, einen Sprung zu dem Zinngießer hätte machen wollen. Dort hätte er den Laden verschlossen gefunden und wäre nun als alter Bekannter von hinterwärts durch die Werkstatt und in ein Nebenzimmerchen gegangen. Dieses wäre leer gewesen. Wohl aber hätte er durch ein Schiebfensterchen in die Stube des Meisters sehen und mit Staunen auf dem Tische an die Tausende von kleinen zinnernen Münzen erblicken können. Es wäre ihm doch gewesen, als hätte er in eine Falschmünzerei gesehen. Ein Mönch hätte über die Münzen mit dem Meister disputirt und wie ein Advocat wäre er dabei herumgesprungen und hätte dies getadelt und jenes und die Münzen geworfen, daß sie auf den Tisch hinrollten ... und als er dann geklopft und den Kopf durch die Thür gesteckt hätte und hereintreten wollen, da hätte ihn der Mann Gottes in einer Art wieder hinausgeführt, die über alle Zweideutigkeit erhaben gewesen wäre ... Zwar müsse er bekennen, daß er, noch von Veilchen's Geiste angesteckt, den Scherz gemacht: »Sind das Wundermedaillen?« – aber so dicht heran an den Scheiterhaufen und an die heilige Inquisition hätt' er sich in seinem Leben nicht gefühlt, wie bei dieser Behandlung an einem Orte, wo ihm Meister Klingelpeter doch auch schon mit manchem Scherze gesagt hätte, es wäre ihm ganz egal, wo sein Bruder Nathan Seligmann das Zinn herbekäme, das er ihm geschmolzen zum Verkauf bringe, ob von alten Kelchen oder –

Die Blasphemie, die auf Löb Seligmann's zornesbleichen Lippen schwebte, hörte Treudchen nicht.

Sie war jetzt am Portal des Kattendyk'schen Hauses.

Nun stand der Portier in voller Gala unter den, während der Geschäftszeit, seit Piter befehligte, weitgeöffneten Thorflügeln.

Löb Seligmann warf ihr noch einen letzten Ausdruck der Theilnahme zu auf die herzlichen Dankesbezeugungen für seine Begleitung und heute bewiesene Freundlichkeit.

Im Verdruß seines gekränkten Stolzes, im Verdruß seiner nur mit Zerstreuung und halber Theilnahme aufgenommenen Erzählung und doch unfähig, sich zu rächen (und hätte er alle Mittel dazu gehabt, sein Gemüth war doch nur geneigt zum Dulden), auch unfähig, Treudchen Vorwürfe zu machen und überhaupt anders als gefühlvoll von ihr Abschied zu nehmen, sagte er:

Leben Sie glücklich, mein Kind!

Er sprach diese Worte langsam und melodisch betonend. Er sprach sie, wie wenn einmal jemand: Leben Sie glücklich, mein Kind! zu David Lippschütz hätte sagen können, falls diesem plötzlich auch so seine Mutter oder gar der Onkel selbst mit Tode abgegangen wäre ... Wir Menschen sind ja so ... Eine Mutter liebkost dann am herzigsten ein fremdes Kind, wenn sie aus dessen Zügen ihr eigenes herausfindet.

Treudchen war längst in dem stattlichen Hause verschwunden, als Löb Seligmann noch im Gemisch von Zorn und Wehmuth dastand, dann in die Kattendyk'schen Comptoire schaute, eine Weile den Gedanken faßte: Wer hier Geschäfte machen könnte! darauf seinen Hut, der eine unvertilgbare Beule bekommen hatte, aufsetzte und sich im Geist auf die Scene mit dem Mönche zurückversetzte, der ohne Zweifel Pater Sebastus gewesen war ...

Aus diesen Träumen weckte aber, »den Störer der Passage«, glücklicherweise noch vor dem Portier ein freundlicherer Anruf:

Guten Morgen, Seligmann!

Diese Worte kamen von einem Manne, dessen Anblick dem Gütermakler im Nu den Hut vom Kopfe riß ...

Herr Fuld! Ihr gehorsamster Diener, sprach er fast tonlos ...

Es war sein vornehmer leiblicher Vetter – es war der Enkel eines Cousins seiner Mutter, der Löb Seligmann gegrüßt hatte, Herr Bernhard Fuld, der Besitzer der Villa zu Drusenheim im Enneper Thale.

Und was geschah? Alle Stämme Israels gaben ihre Rangunterschiede auf!

Bernhard Fuld blieb zwar nicht stehen, aber er forderte Löb Seligmann auf, ihn zu begleiten ...

Setzen Sie nur den Hut auf, Seligmann! bedeutete ihn der Vetter, den Weigenand Maus und Alois Effingh heute zum Gegenstand einer Caricatur machten, die vielleicht schon in Arbeit war. Wird es denn nichts mit dem Weinberg hinter meiner Villa?

Er fragte dies im Gehen und den Vetter in Bewegung setzend, der vor Verehrung immer zum Stillstand tendirte.

Leider nein, Herr Fuld! ...

Aber ich bot doch siebenhundert Thaler!

Ich machte die Offerte ...

Das ist ein Heidengeld!

Unerbittlich ist der Mensch ...

Versuchen Sie es doch noch einmal –

Sie befehlen ...

Meine Frau vermißt diesen Besitz, der in der That meine Villa erst arrondirt! Neunhundert Thaler, wenn Sie's machen!

Bei Gott! Eine ansehnliche Summe! Ich will es noch einmal –

Und kommen Sie dann nächsten Sonntag nach Drusenheim und berichten mir's –

Ganz wohl!

Sie können ja bei uns speisen, Seligmann!

Mit diesem Worte, das Löb Seligmann geradezu versteinerte, war Herr Bernhard Fuld kurzweg um eine Ecke verschwunden und ließ den Vetter stehen.

Sie können ja bei uns speisen, Seligmann!

War das Wort wirklich gesprochen worden?

War es von Bernhard Fuld gesprochen worden, dem Mann, den dort der vierte, fünfte Vorübergehende grüßt? Dem Mann mit dem schwarzen Frack und dem rothen Bändchen im Knopfloche? Dem Mann in dem herbstlich gelben Ueberzieher, mit dem Bart à la mécontent, im weißen Castorhute, dem vornehmen Gange, der fast die Steine, auf die er trat, erst auswählte und des Gehens auf gemeiner Erde gar nicht gewohnt schien?

Es war von ihm gesprochen worden!

Und so obenhin war es gesprochen worden, wie wenn alle Tage Sabbat wäre und die Erde nie den Winter kennte sondern ein ewiger Frühling in der Natur und dem Herzen ihrer Bewohner blühte und wie wenn die gebratenen Gänse mit duftender Aepfelfüllung nur so mit den Tranchirmessern durch die Lüfte flögen und die Menschen am Tage geputzt gingen mit Veilchen Igelsheimer's Garderobe oder wie die Ballgäste in der neuen Oper »Gustav oder der Maskenball« ...

Löb Seligmann wuchs in diesem Augenblicke bis an die Kuppel einer nahe liegenden wirklich alt byzantinischen Kirche.

Er vergaß die vorahnende Erinnerung an die Todesanzeige: »Gestern starb mein geliebter Onkel –!«

Er vergaß die Erinnerung an die Scheiterhaufen der Inquisition und die bürgerliche Gleichstellung der Glaubensbekenntnisse wenigstens vor dem Bagatellhofe wegen Injurien ...

Sie können ja Sonntag bei uns speisen, Seligmann!

Ja es gibt noch Wunder und liebliche Märchen und was wird Veilchen sagen und was Henriette und was David?

Mit diesen, bis in die höchsten Bergeskuppen gipfelnden Empfindungen mußte Löb Seligmann freilich jetzt in einen Keller steigen.

Der Besitzer des um keinen Preis käuflichen Weinberges hinter Drusenheim hieß Stephan Lengenich.

Es war dies der aus hiesiger Gegend gebürtige Küfer und ehemalige Freund der Beschließerin Lisabeth auf Schloß Neuhof, der um den Tod des Deichgrafen ein Jahr hatte sitzen müssen, bis ihn die Gerichte aus Mangel an Beweis freisprachen.

Stephan Lengenich war in seine Heimat zurückgekehrt und stand als erster Küfer dem großen Weingeschäfte von Joseph Moppes vor.

In diese berühmten, mit unterirdischen Gängen weit sich hinziehenden Keller ging es zwanzig Stufen hinunter.

Löb Seligmann stieg sie nieder, als führten sie um das Dreidoppelte empor.

Nächsten Sonntag! – In Drusenheim! – Speisen bei Bernhard Fuld!

Die heitersten Melodieen aus »Fra Diavolo«, mehr aber noch das lustige »Kommt fröhliche Gäste!« aus den »Wienern in Berlin« fielen in sein überraschtes und bereits versöhntes Gemüth wie mit rauschenden Orchesterklängen.

Selbst Thiebold de Jonge und die Freunde Piter's konnten mit soviel Wonne nicht an die von ihnen beschlossene drusenheimer Partie des nächsten Sonntags denken.

4.

Seit jenem verhängnißvollen Augenblick, wo die wenigen Zeilen, welche Eduard Michahelles, der Secretär des Kirchenfürsten Grafen Truchseß-Gallenberg, an Bonaventura geschrieben, in den Händen desselben wie glühende Kohlen brannten, sprach es mahnend und zur Eile drängend aus jedem Baumeswipfel, aus jedem Windeswehen, aus jedem Menschenauge um ihn her mit den Worten des Herrn: »Siehe, ich habe dich gerufen und du hast dein Ohr verstopfet!«

Von dem Dechanten, den Bonaventura für einen verlorenen Sohn der Kirche halten mußte, hatte er sich losgerissen wie von einer jener Versuchungen, die zu unterdrücken nun schon fast neun Jahre seine tägliche Uebung war. Er hatte die Aufträge an den Obersten überbracht, ohne diesen strengen und ernsten Mann vermögen zu können, Armgart's Wünschen zu folgen und sich sofort mit seiner Gattin Monika auszusöhnen. Wie er als Bote des Dechanten Gründe der Billigkeit geltend machte, wie er sagte: Die meisten Ehen haben ihren wahren Grund erst dann noch zu legen, wenn sie schon längst geschlossen sind! wie er die Tugenden der Gattin des Obersten schilderte, den starren Sinn der gemeinschaftlichen Heimat, die Härte der Verwandten, die ihr das einzige geliebte Kind rauben konnten, wie er rühmte, daß sich die verbitterte, ermüdete junge Frau, um allen Schein einer weltlichen und eitlen Gesinnung zu vermeiden, in ein Kloster geflüchtet hatte, wurde seine Beredsamkeit wieder gelähmt durch das soeben noch schmerzlich lebendig heraufbeschworen gewesene Andenken an seine eigenen Aeltern. Er schied vom Obersten unverrichteter Sache und reiste nach St.-Wolfgang zurück, ohne auch von Lucindens Bruch mit der Dechanei vernommen zu haben. Die Freundin des Dechanten, der in der Stadt war, verbot förmlich, ihn damit bekannt zu machen; sie fürchtete einen Versuch der Vermittelung und Aussöhnung.

Erst in seinem Pfarrhause, wo die alte Dienerin seiner Aeltern, die wie Joseph Mevissen zu ihm gehalten hatte, vor der Mittheilung, ihr Pflegling müßte sofort in die Residenz des Kirchenfürsten, nicht wenig erschrocken und doch auch wieder darob geistig hoch erhoben war, erfuhr er gelegentlich von dem durchreitenden und immer noch vergebens nach dem Knecht aus dem Weißen Roß suchenden, in seinem damaligen Verdacht so glänzend gerechtfertigten Grützmacher, wie die Dinge in der Dechanei Hals über Kopf gegangen. Bonaventura hörte sie voll Mitleid, er vertheidigte sogar Lucinden gegen die Anklagen Renatens und nur die Besorgniß, dieser peinlichen Neigung nun gar in der Residenz des Kirchenfürsten wie der zu begegnen, ließ ihn verstummen in seiner aufrichtig theilnehmenden Anwaltschaft.

Der Kirchenfürst hatte ihn innerhalb so kurzer Frist zu sprechen begehrt! Und doch fesselte ihn in seiner Gemeinde so vieles, was zu erledigen war. Es kam ihm vor, als gliche er denen, die im Evangelium zur Hochzeit geladen werden und die dem göttlichen Gastgeber soviel geringfügige und alltägliche Dinge vorzuschützen wissen ...

Und es bildet sich auch im katholischen Leben eine Gemeinsamkeit des Geistlichen mit dem Leben seiner Gemeinde, die eine ganz persönliche und dies in der Liebe sowol wie im Hasse werden kann. Denn auch der Haß findet seine Nahrung. Zu eng ist fast der Verkehr der Kirchenaufsicht, Kirchenbuße und Kirchenzucht. Und eben deshalb, weil der Geistliche sich selbst in alles mischen darf, unterliegt auch er einer strengen Kritik. Vom Gutsherrn bis zur untersten Magd herab wird seine Art beurtheilt. Dem einen sieht der Pfarrer zu traurig, dem andern zu heiter aus; den grüßt er zu stolz, jenen zu herablassend; diese alte Frau wirft ihm vor, daß er den Kindern nicht oft genug die Hand gebe und Heiligenbilder an sie austheile; jenem Bauer ist er zu freigebig und spendet aus dem kleinen ledernen Beutel, den er immer bei sich tragen soll, zu viel an die Bettler, die sich so durch ihn in den Ort gezogen fühlen. Ganz altmodisch mögen sie auch keinen haben und doch beurtheilen sie den Schnitt des Rockes, ob der auch nicht zu kurz, der Stiefeln, ob die auch geziemendermaßen bis an die Schäfte hinauf nach außen sichtbar sind, den Hut, ob dieser, wenn er auch billigerweise die Form des Dreiecks bei uns abgelegt hat, doch nicht zu modern und stadtmäßig wäre. Die Beurtheilung der Gemeinde sieht ihrem Seelsorger bis in das Innerste des Hauses, bis in den Topf, der für ihn am Feuer siedet, bis in das Polster seines Sitzes, ob es nicht zu weich ist, bis auf die Farbe der Decken, die auf seinem Tische liegen, ob sie nicht zu bunt. Und daran gewöhnt sich denn auch der Geistliche selbst. Die Beaufsichtigung wird ihm Bedürfniß. Die Gemeinde ersetzt ihm die Familie. Er lebt mit allen, lebt für alle. Jedes Vorkommniß des innern und äußern Lebens seiner Ortsangehörigen will er kennen und was er nicht sieht mit eigenen Augen, erfährt dann doch sein Ohr im Beichtstuhl. Da, in diesem räthselhaften Flüsterstübchen, wandeln diese Menschen dann alle um ihn her fast wie aufgedeckt und durchsichtig und wie mit gläsernen Fenstern vor ihren Herzen. Niemand kann nun noch an ihm vorübergehen und unbefangen grüßen. So mancher schlägt die Augen nieder, so mancher Knecht, der allen trotzig ist, ist ihm demüthig, so manche Magd erröthet und athmet erst auf, wenn sie an ihm wieder vorüber ist. Wären es nur immer die rechten Warner und Richter, wer hätte Bonaventura nicht recht gegeben, wenn er auf die Feindschaft des Dechanten gegen die Beichte gewöhnlich erwiderte: Unsere Kirche ist eben eine Heilsanstalt!

Denn nicht eben alle wissen den Beichtstuhl so zu behandeln, wie Bonaventura seit seiner ersten Sitzung in dem »Holz der Buße«. Nur zu sehr nimmt die meist aus dem Bauernstande hervorgegangene niedere Geistlichkeit die Art und Bildung der Scholle an, von der sie herstammt und auf die sie zurückkehrt. Heftige Naturen toben sich selbst im Meßgewande aus und will man wahr sein, so gefällt es sogar dem Landmann, wenn sein geistlicher Führer Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein ist. Der Dechant, in seiner Gletscherbildungstheorie, sagte oft: »Darin etwas ändern ist auf theoretischem und discutirendem oder befehlendem Wege nicht möglich! Nur große Geschichtsepochen, die den ganzen Menschen ergreifen, die allein reformiren! Geschichtsepochen, denen wir hoffen auf irgendeine Art wieder entgegenzugehen und ganz nahe zu sein, Geschichtsepochen, die wir 1815, als das deutsche Vaterland in seiner Einheit wiederhergestellt wurde, leider so unbenutzt vorüberziehen ließen!«

Bonaventura kannte vollkommen den Landmann und seine Bedürfnisse. Sein unglücklicher Vater hatte allerdings dem höhern Beamtenstande, zuletzt als Regierungsrath, angehört; aber seine beiden Oheime lebten auf dem Lande, der Dechant wenigstens in einer kleinen Stadt; er selbst war in Borkenhagen geboren, einem kleinen Gute, das der ganzen Familie gehörte und vor der Rückkehr des Onkels Max aus dem spanischen Kriege verpachtet gewesen war, ohne daß seine junge Mutter sich behindern ließ, dann und wann das kleine, der Familie gebliebene Herrenhaus zu besuchen und auf dem Lande die Sommerfrische zu halten. Bonaventura war keine zerflossene Natur oder von übermäßiger Milde; er konnte streng und in manchem vielleicht zu entschieden sein. Aber immer umgab ihn eine gewisse Vornehmheit, eine edle, ja adelige Besonderheit. Der längliche Schnitt seines Antlitzes, die braunen Augen in dunkelschattigen Höhlen, die Feinheit derjenigen Organe, die die Kennzeichen einer höhern geistigen Natur tragen, Mund, Nase, weiße längliche Hände, alles das hob seine Erscheinung. Dazu kam der schlanke Wuchs, das schwarze Haar, dessen Tonsur nur wie die natürliche Folge der Anstrengung des Denkers aussah und vollkommen mit dem lichtern Haarwuchse an den Schläfen und Stirnecken zusammenzugehören schien. Beseelt war all dies Aeußerliche von einer weichen, in der mittlern Tonlage sich haltenden und zur Höhe und Tiefe gleich klangvoll sich erhebenden und senkenden Stimme.

Bonaventura besaß den ganzen Eifer, den wir immer finden bei einem selbstgewählten Berufe. Damals, als ihn der schauervolle Tod des Vaters und die Verheirathung seiner Mutter in eine tiefe Betrübniß, die an Schwermuth grenzte, versetzte, ging ihm die Mahnung zum geistlichen Beruf wie eine Vision auf. Schon studirte er auf der Universität, um nach einiger Zeit und mit dem gesetzlichen Alter als Freiwilliger in die Armee zu treten und bei ihr auf Avancement zu dienen. Der Fall trat ein; er verblieb in den Reihen des Militärs bis zur Vollendung seines Offizierexamens. Dann trat er als Fähnrich aus. Es ergriff ihn ein solcher Ueberdruß an weltlichen Dingen, daß er nicht fassen konnte, wie er dem Waffendienste sich mit ganzer Hingebung hätte weihen können. Das Vaterland lag im tiefsten Frieden, eine Lockung des Ehrgeizes oder des Pflichtgefühls, dem Allgemeinen sich zu opfern, sprach nirgends aus der todten oder träumerisch schlummernden Zeit; was hätte ihn hindern können, dem Zuge zu folgen, der ihn so mächtig ergriff und der ihn aus einer Art geistiger Vernichtung wieder emporzuheben versprach?

Es gibt eine Schwarmzeit im Gemüthe des Jünglings, eine heilige Zeit der Dämmerung und des sehnsüchtigen Träumens. Nicht immer hin an das Herz eines weiblichen Wesens, das man dann allerdings in den meisten Fällen unter Athemzügen wie von Feuergluten lieben muß, oft auch an einen Freund zieht es in dieser Zeit des Jünglings Seele. Diese Stunden sind die der Geburt unsers geistigen Menschen. In diesen Stunden werden die Bücher unsers Schicksals angelegt. In ihnen öffnen sich feierlich und schwer diese großen leeren Blätter, auf welche unser Schutzgeist das Größte, Erhabenste, Glücklichste schreiben möchte, wenn nur nicht die stärkern Dämonen der Weltregierung und die noch stärkern unserer eigenen Leidenschaft ihn von dem Buche hinwegdrängten, ihm die Feder aus der Hand rissen, thörichte Hieroglyphen, Fratzen oft hineinzeichneten, von denen wir in unsern spätern Tagen mit verhülltem Angesicht uns abwenden, mögen sie auch in einem einzigen großen, uns unbekannten, allmächtigen Weltenplane irgendwie auch ihre Schönheit haben und diese Schönheit schon durch die Leiden, mit denen wir sie büßen mußten! In einer solchen Dämmerstunde, wo wir nichts sind als Gefühl, nichts wollen als die liebende Umarmung des Alls, nichts fürchten und wär' es die eigene Vernichtung, da ergriff es auch den zwanzigjährigen Jüngling, der über ein Jahr schon auf der Hochschule gewesen, dann schon die Liebe militärischer Kameraden, die Achtung der Vorgesetzten gewonnen hatte, sich loszureißen ganz von der Welt, von dem Staat, von der Gesellschaft und ein Priester zu werden. Das Bild des im Alpenschnee versunkenen Vaters winkte ihm, gleichsam ein Dankopfer darzubringen an die Augustinermönche, die ihn gefunden und begraben hatten. Die plötzliche Heirath der Mutter mit einem Manne, über dessen Stellung zu seinem väterlichen Hause er erst nach und nach die volle Wahrheit ahnte, diese vollends erfüllte ihn so mit Wehmuth und Schmerz und Opferfreudigkeit an das Höchste, daß er ein Kloster aufgesucht haben würde, wenn er nicht vom Dechanten mit der ernstesten Rüge davon wäre abgehalten worden. Drei Jahre verbrachte Bonaventura im Convict einer mitteldeutschen Universität. Er erhielt nach und nach die mehreren Weihen des Priesters. Er war ein Jahr Kaplan zu Kocher am Fall gewesen; dann seit zwei Jahren Pfarrer zu St.-Wolfgang, Nachfolger eines wenig rühmenswerthen Priesters, Cajetanus Rother. Bonaventura fühlte und füllte die Lücken seines Wissens. Die Ausdehnung auf dem Gebiet aller der je gehegten Meinungen und Irrthümer über jenseitige Dinge ist so groß, die Zahl der Schriften, die gelesen zu haben zur Beruhigung wenn nicht des Herzens, doch der Bildung gereicht, mehrte ihm sich von Tage zu Tage, wie sie sich dem größten Gelehrten mehrt, je länger er forscht ... Da hatte er denn daheim so viel Angefangenes, so viel zog ihn in seine kleine Bibliothek und an seinen Studirtisch zurück, daß er nicht sofort zum Aufbruch kam, als er jetzt in die große Stadt hinunter kommen sollte ... zu dem Kirchenfürsten, mit dem er schon einmal in seinem Leben unter schmerzlichen Umständen zusammengetroffen war.

Diese Stadt selbst hatte für Bonaventura immer etwas Beklemmendes gehabt, theils weil sie so unschön, wirr und wild in der Anlage, hier und da sogar wüst im Zurückgebliebensein gegen frühere Macht und Bildung war, theils weil sie neugeboren wurde aus einem ihm nicht sympathischen Geiste, dem protestantischen; aber am unheimlichsten erschien sie Bonaventura durch die Erinnerung an eine Abschiedsscene, die er vor sieben Jahren hier erlebt, die Trennung von seiner Mutter. Schon seit seinem zwölften Jahre lebte er von ihr entfernt, theils in Kocher, theils auf der lateinischen Schule der Universität. Von seiner Mutter hatte er immer nur die Erinnerung einer Frau gehabt, die er wol mit seinem Vater in ruhiger Einigkeit gesehen und doch nie ganz mit ihm und in ihm aufgegangen. Es war eine große Regierungsstadt mehr nach dem Westen zu, in der Vater und Mutter gelebt hatten. Der Vater hatte einen Freund, der erst der Assessor, dann der Rath von Wittekind-Neuhof hieß, jetzt schon seit lange der Präsident. Dieser war der unzertrennliche Gefährte aller Erinnerungen, die ihm aus seiner ersten Knabenzeit geblieben. Herr von Wittekind-Neuhof war ein lebhafter, feuriger Weltmann, beweglich, anschlägig, geistvoll, selbst vor dem Tode seines Bruders Jérôme doch schon der Erbe großer Güter, die Seele der Gesellschaft und, sonderbar genug, der Freund seines Vaters. Bonaventura kannte jetzt das Leben genug, um sich zu erklären, wie drei Menschen, von denen einer, sein Vater, ein edler, aber unpraktischer, in seiner bürgerlichen Existenz wenig geordneter Charakter war, der Freund dag gen ein an allen Gütern gesegneter Weltmann, und dazwischen ein junges Weib, seine Mutter, in Conflicte kommen konnten, unter denen alle drei litten und alle drei scheiterten. Er sah seinen Vater immer noch im Geiste langsam dahinschreiten, das Haupt nachdenklich gesenkt, – er erinnerte sich der abgeschlossenen Thüren – der verweinten Augen – vieles Murmelns und Flüsterns – dann der väterlichen Todesnachricht – mit ihren seltsam besprochenen Folgerungen – damals schon lebte er nicht mehr im Hause – zum Bruder hatte ihn der Vater entfernt, als sollte er nicht Zeuge der Vorgänge des älterlichen Hauses sein – nicht einmal Abschied hatte er, als er nach der Schweiz reiste, von ihm genommen, – alles traf ihn wie aus wolkenloser Höhe. Die Bewilligung zur neuen Heirath der Mutter hing von dem damaligen Generalvicar, dem jetzigen Kirchenfürsten ab. Ein Zusammentreffen wurde veranstaltet in dieser Stadt. Sein Stiefvater war zugegen. Die Freundlichkeit desselben war Bonaventura noch jetzt in der Erinnerung beklemmend. Die Mutter und der Präsident kamen erhitzt und erregt von dem Generalvicar. Man hatte lange Anstand genommen, eine Ehe zu gestatten, die zwar gleiche Religionsverwandte schlossen, aber wer durfte die Todesnachrichten über den Regierungsrath Friedrich von Asselyn nicht anzweifeln? Wer mußte nicht von der Schweiz und vom St.-Bernhard aus erst die gründlichsten Ausweise der Register und der Erkennungsprotokolle verlangen? Auch das erfuhr Bonaventura später, daß Graf Truchseß seinen neuen Vater nicht mochte, ihn haßte als einen ganz in das jenseitige Lager Uebergegangenen, als eine »Bureaukratenseele«, einen Abtrünnigen vom alten Adel des Landes und das aus einem Geschlechte, aus dessen Vorfahren mancher schon hohe geistliche Würden bekleidet hatte ... Der Kronsyndikus hatte seinen Sohn ja schon Lucinden einen neuen Segestes genannt ... Damals wiederkehrend aus dem Domkapitel, warf sich die Mutter dem Sohne an die Brust und schilderte ihm den Charakter seines neuen Vaters als eines der edelsten und besten Menschen, eines Mannes, der dem Sohne schon um deswillen lieb und werth sein müsse, weil er der innigste, wärmste und wahrste Freund seines Vaters gewesen. Die Thränen einer Mutter hätten vielleicht jeden in dieser Lage gerührt, aber Bonaventura's Augen feuchteten sich nicht. Das Wort des Erlösers, das schroffe, unenträthselte Wort: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« kam ihm wie mit einem plötzlichen Begreifen zu Gemüthe. Hatte er je eine wie weltstürmende Regung in seinem Innern empfunden, so war es in diesem Augenblicke. Eine prophetische, apostolische Glut war es, die ihn durchloderte. Die Mutter hätte er von sich drängen mögen, sprechend: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« Und dabei gedachte er in der That des Sündenfalls, gedachte Eva's, der Schlange, des Apfels, der geistigen Wiedergeburt, der Erlösung, auch der Erlösung aus den Banden des Natürlichen, Sinnlichen, Angeborenen, wenn auch noch so Theuern. Erstarken fühlte er sich zum Helden. Als ihm keine Thräne über diese weinende Mutter kam, fühlte er sich zum ersten mal – als Priester.

Seine Hand zitterte wol, als er die der Mutter hielt, aber nur aus Mitleid. Die Mutter hatte eine Confrontation mit dem Sohne noch vor dem Generalvicar haben sollen mit dem künftigen Stiefvater; es handelte sich schon um dessen Zustimmung zu dem Entschlusse Bonaventura's, in den geistlichen Stand zu treten, die natürlich sogleich von Friedrich von Wittekind gegeben wurde. Die Dauer des Namens Asselyn wurde durch die frühe Adoption Benno's verbürgt. Nun stand die Mutter wie eine Schuldige gar schon vor dem künftigen Geistlichen. Sie bat ihn, ihrer oft im künftigen Altargebet zu gedenken; sie bat ihn, auch dem neuen Vater Heil zu erflehen. Sie konnte versichern, daß auch den neuen Gatten genugsam geheimer Kummer drückte ... obgleich die Zeit, wo sein Vater für den Mörder des Deichgrafen gelten durfte, noch nicht da war und nur die ältere trübe Vergangenheit des Kronsyndikus schwer auch auf den Lebensbeziehungen des Sohnes lag. Dennoch ließ Herr von Wittekind damals nach den Thränen der Mutter im Hotel beim Diner Champagner bringen, fuhr in bequemer Equipage in scheinbar heiterstem Gespräche mit ihnen beiden spazieren, bis sie freilich, nach dem Hotel zurückgekehrt, eine Botschaft von Schloß Neuhof empfingen, der Bruder des Herrn von Wittekind würde demnächst zu einer Heirath schreiten mit einem Fräulein Portiuncula von Tüngel-Appelhülsen. Sofort reisten die nun unzertrennlich Verbundenen ab und seither lebten jene in ihren durch den Tod des Deichgrafen, Jérôme's und die über den Kronsyndikus ausgesprochene Curatel sich immer mehr verwirrenden Verhältnissen und Bonaventura in den seinigen ... Oft schon hatte er sich bei spätern Kunden über die nur äußerlich glänzenden Lebensverhältnisse seiner Mutter Vorwürfe gemacht, daß sein Herz damals so lieblos gewesen. Dann aber durfte er sich sagen: Ist nicht dein ganzes Leben ein Kampf gegen dein Herz? Die Kirche ist deine Mutter, der Glaube deine Liebe ... »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen!«

Von St.-Wolfgang nahm Bonaventura endlich in einer Morgenfrühe Abschied. Er ging über die Maximinuskapelle auf eines der vielen vorüberrauschenden Dampfboote. Im Weißen Roß besuchte er den Wirth, der sich und »eine durchreisende Fremde« als Ursache des an dem Kirchhof zu St.-Wolfgang begangenen Frevels angab, indem er von der Vermuthung jener Dame seinem Knechte gesprochen, einem ihm als pferdekundig gut Empfohlengewesenen, von dem er keine Ahnung gehabt, daß er ein schon bestrafter Verbrecher und Angehöriger der noch immer nicht ganz ausgerotteten hierländischen alten Gaunerfamilien der Picard, Bosbeck und der Schinderhannes wäre ... Noch war der Flüchtling, der sich statt Picard Bickert genannt und mit falschen Zeugnissen versehen gewesen war, nirgends wieder aufgefunden.

Bonaventura's erste Regung war, sich zu sagen:

Also alles Unheil wieder von Lucinden!

Er veränderte mit der Zeit diese Vorstellung dahin, ob nicht hier das erste Unheil in seinem Schoose eine Reihe guter Folgen tragen könnte?

Auf dem Dampfschiff erfreute ihn, dann nichts Besonderes mehr, selbst Lindenwerth nicht, bei der festgehaltenen Vorstellung: Wie wirst du dem Kirchenfürsten begegnen? Jetzt nach der Warnung des Oheims? Jetzt, wo in der That das Vorschreiten des vielleicht bald mit dem Purpur eines Cardinals bekleideten Priesters das ganze deutsche Vaterland in Erregung gebracht hat?

Sind die katholischen Priester entweder Söhne von Landleuten oder Söhne von Adeligen, so vertrat Graf Truchseß von Gallenberg gleichsam beide Ursprünge zu gleicher Zeit. Die Tage der großen geistlichen Pfründen sind in den Staaten, über welche die eiserne Pflugschar der großen Revolutionskriege ging, vorüber; nur wenige solcher Stellen mag es auf diesem Boden noch geben, in denen man sich wie zu St.-Zeno in Kocher am Fall die »feisten« Aebte und »Pfaffen« alter Zeit auch auf unsere Tage überkommen denken darf; die Mittel sind geringer, die Verpflichtungen ernstere geworden. Graf Truchseß war ein Angehöriger jenes Adels auf dem jenseitigen Ufer, den man einen Bauernadel nennen möchte. Wenn er nicht in pontificalibus sich zeigte, trug er grobe Stiefeln mit starken Absätzen, waschlederne Handschuhe, die ein halbes Jahr lang vorhalten mußten, eine hoch hinaufgehende grobe Tuchweste mit großen Knöpfen, einen Hut, der nur deshalb nicht zu sehr abgegriffen war, weil er beim Spazierengehen um die Alleen der Stadt und am Ufer des Stromes niemanden mit ihm grüßte, sondern kurzweg nur nickte. Seine Wäsche war von Hausleinen und nicht besonders reinlich, denn er rauchte und schnupfte. Er schnupfte nicht etwa wie ein Abbé mit zierlicher Fingerhaltung; er schnupfte wie ein ungeduldiger Advocat, der seinen Eifer, zu Worte zu kommen, durch ein häufiges Handhaben seiner goldenen Dose unterdrücken muß, nur daß der Graf eine gewöhnliche Holzdose führte, ganz wie ein alter Waldhüter, der sich aus herbstlichen, duftenden Buchenblättern seinen eigenen Lotzbeck schrotet. Des Grafen Mittagsmahl bestand aus Linsen, Bohnen, Erbsen, gelben Rüben; seine Erholung war das Billardspiel. Denke man sich dazu seine starkknochigen Züge ... diese hellblauen, tiefliegenden Augen ... dies jetzt noch gelblich rothe, bei fünfundfünfzig Jahren nirgends gebleichte Haar ... diese markigen Schultern auf einer ebenso lang hagern, wie wieder doch stämmigen Gestalt ... dieses wuchtige Auftreten ... diese kurze, befehlende Sprechweise aus einem an sich wohlgeformten Munde, dessen Lippen aber nie in unbedachter Ruhe, sondern immer wie ein Geheimniß bewahrend fest zusammengepreßt lagen ... Die Farbe des Antlitzes war fast grau, konnte aber bei der geringsten Erregung sich röthen bis in die Zipfel des Ohres. Das Geistliche am Grafen lag nur in dem schwarzen langen Oberrock, in der von einem Sammtkäppchen bedeckten Tonsur und in einem gewissen Etwas von Unstetigkeit und allzu sichtlich beherrschter Reserve, diesem allgemeinen katholischen Priestertypus mangelnder Ruhe und Harmlosigkeit, einem Typus, den auch Graf Truchseß, ein so fester Charakter er sonst war, nie ganz hatte überwinden können.

Schon dämmerte der Abend, als das Dampfschiff landete. Bonaventura fuhr mit seinem kleinen Koffer bei Herrn Maria vor und trat in den Laden desselben ganz unter den von Gebhard Schmitz geschilderten Umständen ein, nur daß er von Moritz Fuld weder eine Visitenkarte noch eine Einladung nach Drusenheim erhielt. Eva Schnuphase zeigte ihm das schon vorgerichtete Zimmer und entschuldigte den Vater, der in Geschäften schon wieder auf dem Lande reiste.

Sofort begab sich Bonaventura in das Palais des Kirchenfürsten und meldete feine Ankunft.

Er erfuhr, daß Se. Eminenz unpäßlich waren und ihn auf morgen bescheiden ließen. Auch sein Secretär war im Augenblick nicht anwesend.

Nun suchte Bonaventura Benno auf und fand den lieben Freund hinterm Schreibtisch. Er hatte die durch seine Militärübung entstandenen Rückstände aufzuarbeiten.

Bonaventura's Herbescheidung hatte er schon in der Dechanei vernommen.

Der Kirchenfürst unpäßlich? sagte Benno. Ein seltener Fall, daß dieser Hünennatur einmal etwas vom allgemeinen Menschenloose ankommen kann!

Die Spannung, welche Veranlassung es sein konnte, die Bonaventura von einer Landpfarre unmittelbar und persönlich zum Kirchenfürsten beschied, war bei Benno ebenso groß wie bei Bonaventura. Benno konnte ohnehin die lebhafteste Schilderung von der gegenwärtigen Lage des Kirchenfürsten geben, von seinem Kampfe gegen die gemischten Ehen, gegen die auf der benachbarten Universität gelehrte Philosophie, gegen die Einrichtung der Priesterseminare. Er versicherte, daß alles das zu einem gewaltigen Conflicte führen müsse, weil sich der Kirchenfürst bei seiner Inthronisation auf dem hohen Erzstuhle gegen die Regierung sollte verpflichtet haben, keinen Erlaß von Rom unmittelbar entgegenzunehmen, sondern in so hochwichtigen, mit den Einrichtungen des Staates, mit den Lebensformen der Gesellschaft, mit den Bedingungen der Zeit und der Sitte in Berührung kommenden Verhältnissen erst das Placet oder Transeat der landesherrlichen Genehmigung abzuwarten. Die Mahnung, daß man »Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen«, wäre aber dem Kirchenfürsten jetzt mit einer so flammenden Ueberredung, ob nun von außen oder von innen ließ Benno unentschieden, gekommen, daß, wenn nicht ein offener Bruch seiner Versprechungen, doch eine gefährliche Deutung derselben seinerseits zu erwarten stünde und man zunächst nur hoffen müßte, daß der in Aussicht gestellte Vermittler dieser Streitigkeiten, der in außerordentlicher Sendung angekündigte Gubernialpräsident von Wittekind-Neuhof durch seine Gewandtheit und sei nen Takt den Frieden wiederherstellte.

Wie! Mein – Vater? rief Bonaventura heftig erschreckend.

Benno wiederholte, davon gehört zu haben. Ja, er vermuthete, daß Bonaventura's Berufung mit dem Wunsche des Kirchenfürsten zusammenhängen könnte, in seiner schwierigen Lage einen zur jenseitigen Partei in näherer Beziehung stehenden Beistand zu haben.

Das wäre ein bitterer Kelch! sagte Bonaventura und bezweifelte diese Deutung.

Der Kirchenfürst, sagte er, wird handeln wie sein Gewissen ihm räth!

In den streitigen Punkten des Tages empfanden beide Freunde ziemlich gleich, nur daß Benno mehr die politischen Gesichtspunkte seines Principals, des Procurators Nück, theilte, ohne jedoch diesem in der Anhänglichkeit an das alte Napoleonische Regiment zu folgen. Benno haßte das herrschende Regierungssystem, das sich damals dem Geiste der Zeit völlig abgewandt und feindlich zeigte. Wo die von demselben vertreten sein wollende Vernunft und Aufklärung in Formen sich ankündigte, die selbst schon wieder etwas Verbindliches hatten, wo, wie damals, ein großer, den besten Kern des deutschen Volkes einschließender Staat unter dem Aushängeschilde der patriarchalischen Beglückung die Erfüllung aller Verheißungen entbehren mußte, die erst mit dem Jahre 1840 in langsamem Fortschritt und wie versuchsweise gewährt wurden, da erlebte man die für alle Zeiten lehrreich bleibende und immer wiederkehrende Erfahrung, daß man dem Besten mistraut, wenn es nicht in dem Geist gegeben wird, der unser ganzes Vertrauen für sich hat. Friedrich's II. Aufklärung, die anzunehmen möglichenfalls der Stock gebot, Kaiser Joseph's Reformen, die aus dem Hörsaal der Theorieen kamen und scharf wie eine blanke Pflugschar in ein Erdreich schnitten, in welchem eine schonende Hand zuvor das Unkraut der Vorurtheile nicht ausgejätet hatte, die Schulverbesserungen späterer Regierungen, die Unionsversuche auf kirchlichem Gebiete, ja die geordnetste Verwaltung, die musterhafteste Gerechtigkeitspflege, nichts, nichts entschädigt für die Misachtung der persönlichen Freiheit, für die Unterdrückung des unerschrockenen Wortes, für die Ablehnung derjenigen Institutionen, die zuletzt jeder Individualität Gelegenheit geben müssen, mit ihrer Meinung, auch der verkehrtesten, mit ihren Interessen, auch den einseitigsten, mit ihren Ansprüchen auf Kraft und thatsächliche Bewährung, auch den haltlosesten, sich in der einmal uns zur Freiheit des Denkens und Handelns geschenkten Gotteswelt gesund und mannhaft auszuleben.

Der schöne Abend lockte beide Freunde noch zu einem Spaziergange. Sie gingen in den Hafen, wo jetzt Dampfschiff auf Dampfschiff vor Anker legte und wol auch das, auf welchem Thiebold de Jonge später angekommen. Sie beide zog es in eine stillere Gegend. Seit dem Morgen auf dem Friedhof von St.-Wolfgang hatten sie sich nicht ausgesprochen. Bonaventura erzählte Benno alles, was zwischen ihm und dem Onkel war besprochen worden über die im Sarge vorgefundenen Reliquien und Benno benutzte die ihm von seinem Freunde gegebene volle Erlaubniß, ja erfüllte den ausdrücklichen Wunsch desselben, wenn er offen sagte:

Sicher lebt noch dein Vater! Die Recognition des Onkels in dem Leichenhause des St.-Bernhard genügt mir nicht. Ihm kam bei seiner Weichlichkeit schon beim Betreten der grauenhaften Schwelle ein Schrecken; er sah in einer fremden Leiche seinen Bruder und untersuchte nichts mehr! Mevissen war mit deinem Vater im Einverständniß. Dein Vater wollte annehmen lassen, als wäre er in den Alpen umgekommen. Einen zerschmetterten Leichnam, den man mit seinen Kleidern und Habseligkeiten behängen konnte, die sich später im Leichenhause fanden, erwarb man sich durch Zufall oder durch Bestechung ... das, was allenfalls noch nicht geborgen war, bewahrte Mevissen und nahm das mit in sein Grab ... Daß er es nicht zerstörte, ist überraschend ... Vielleicht, daß dein Vater es so wollte und dabei an dich dachte ... Er verließ dich ohne Abschied – er hoffte vielleicht auf eine Zeit, wo deine Mutter nicht mehr lebte und er dir sich vielleicht noch einmal entdecken konnte – wer weiß, ob nicht in dem Sarg viel mehr gelegen, als du gefunden!

Diese Gedanken unterwühlen die Ruhe meines Lebens! sagte Bonaventura auf diese aufrichtige Deutung und blickte in den Strom, an dessen Ufer sie hingingen ...

Benno's Empfindungen waren fast die nämlichen. Auch ihm floß ja das Leben dahin wie die Welle, von fernher kommend, in die Ferne gehend, einmal gesehen, verschwunden dann für immer, räthselhaft und wie ein Traum ...

Bonaventura verstand diese Stimmung und fragte nach des Freundes Leben, seiner Thätigkeit, seinen Hoffnungen für die Zukunft.

Ich bin, erwiderte Benno, in Verhältnissen, die mir wie der sausende Webstuhl der Zeit erscheinen! Ich höre täglich in zehn Zimmern dreißig Federn kritzeln! Allen dictirt Dominicus Nück seine Finten, seine Quarten, seine Terzen! Das ist bei St.-Peter und Paul ein ganzer Kerl! Wenn man ihn sieht, im schlechten grauen Ueberrock, schmuzig, falls nicht einmal seine Frau Generalrevision mit ihm gehalten hat, oder wenn er in der Beichte sich schämt, zu viel Schnupftaback auf dem Vorhemd liegen zu haben oder das Beichttuch des Priesters zu verunreinigen – wer möchte dann glauben, daß hier diesseit und jenseit des Wassers alle Ritterbürtigen mit ihm verkehren, alle Domstifte, alle Ordensgesellschaften und Gotteskastenpfleger! Er hat gelobt, nicht früher wieder einen schwarzen Frack anzuziehen, bis er nicht den Orden vom goldenen Sporen, den er vor Jahren aus Rom erhielt, wirklich im Knopfloch befestigen kann! Sie haben's ihm abgeschlagen, ihn tragen zu dürfen! Nun liegt ein ganz neuer schwarzer Frack, im Knopfloch ein rothes Band mit einem goldenen, weiß emaillirten Malteserkreuz, an dessen beiden Spitzen des untern Flügels ein kleiner goldener Sporen hängt, immer an seinem Pulte auf der Sophalehne neben ihm ausgebreitet, sodaß jeder Graf, jeder Bischof, jeder Regierungspräsident, mit dem er Conferenz hält, die Geschichte zu hören bekommt und Entschuldigung gewähren muß, daß er Se. Excellenz oder Se. Erlaucht nicht würdiger empfangen könnte, er hätte zwar allerdings einen neuen schönen Frack, da läge er, aber da er ihn so, wie er ihm und dem Stellvertreter Christi gefalle, nicht tragen dürfe, so müsse er sich schon hier in diesem grauen Alltagskittel zeigen. Und diese Komödie spielt er mit einer Gewandtheit, daß sie Ludwig Devrient nicht besser getroffen haben könnte! Nück ist ein seltener Mensch, dem man nur leider nicht so nahe kommen kann, wie man möchte, um von ihm alles zu lernen. Nicht nur, daß er sich mit einem eigenen, fast mystischen Dunkel umgibt, sich öfters einschließt und auf seine nächsten Vertrauten beschränkt – auch wir alle, die wir mit ihm arbeiten, bekommen immer nur einen kleinen Theil des großen Ganzen zu sehen, in dem er die belebende Seele ist. Es scheint, mir schenkt er Vertrauen. Fast hätte er mich schon bei meinem ersten Eintritt in seine Praxis beauftragt, an der Camphausen'schen Verlassenschaft zu arbeiten und nach Schloß Westerhof zu reisen ...

Zu Paula! sprach es still im Herzen des Priesters und Benno fühlte dies Wort nach und hielt zurück, etwa von Lucinden zu beginnen, von ihrem Eindruck an jenem Abend im Pfarrhause, von dem völlig andern und günstigern auf der Reise nach Kocher und von ihrer jetzigen Nähe in dieser Stadt, wo Benno schon seit einigen Tagen wünschte, ihr irgendwie und wo gelegentlich zu begegnen. Denn sie aufzusuchen hielt ihn die Rücksicht auf die Dechanei und sein stiller Cultus für Armgart zurück.

Bonaventura erkundigte sich nach der Lage der immer mehr sich verwickelnden Erbschaftsangelegenheiten der Dorstes.

Das gibt einen neuen spanischen Erbfolgekrieg! sagte Benno. Zwei Grafen von Camphausen sind im sechzehnten Jahrhundert, wie damals so viele andere Städte und Herren um Münster und Osnabrück, lutherisch geworden; ja als die Greuel der Wiedertäufer mit gleichen Greueln ausgerottet, bestraft und die Bedingungen des dortigen Lebens wieder katholische geworden waren, blieben einige ihrer neuen Ueberzeugung treu und die Bischöfe sogar, die die Wiedertäufer bändigten, waren theilweise halb und halb selbst Lutheraner. Der jüngere der beiden Brüder Camphausen, vom ältern, der schon damals ein großes Besitzthum verwaltete, nicht rechtlich abgefunden, sondern nach gerade vorhandenen Mitteln unterstützt, zog abenteuerlustig, wie damals die ganze Welt war, gen Oesterreich, um, wie so viele jener Geschlechter damals gethan, in dem an der Donau, in Italien und Ungarn nicht ruhenden Waffentanz dem fehdelustigen Sinne aufspielen zu lassen und vielleicht sogar manche in der Hoffnung, Maximilian II. würde auch Oesterreich vom Papste trennen. Viele der ersten Geschlechter der österreichischen Monarchie entstammen diesen Einwanderungen von einfachen Reitern wie Martin Spork an bis zu Grafen und Fürstensöhnen. Die meisten wurden indessen mit der Zeit wieder katholisch, entweder aus Ueberzeugung oder zwangsweise. Martin Camphausen blieb bei seinem Patrone Martin Luther und erwarb außer ungarischen Besitzungen das Schloß Salem bei Wien. Seine Nachkommen bewährten die Tapferkeit ihres Ahnen und zu glänzend waren die Verdienste der Camphausen im Türkenkriege und auf dem italienischen Boden, ihr Glaube stand ihrem Glück nicht hindernd im Wege. Die ältere Linie aber, die des Grafen Philipp, wurde ihrem Patrone Philipp Melanchthon mit der Zeit untreu. In jenen Zeiten, wo bis in das Herz Sachsens hinein katholische Neigung sich wieder geregt hatte und kein Fürst Italien bereisen konnte, ohne mit dem Verdacht, seine Confession geändert zu haben, in seine Lande zurückzukehren, war auch die Linie der Dorste-Camphausen – die Dorstes fügten dem Reichthum Philipp Camphausen's durch Verheirathung neuen Besitz hinzu – in den Schoos der katholischen Kirche zurückgekehrt. Ueber hundert Jahre bestand aber damals ein Statut, das einst Philipp und Martin dahin lautend geschlossen hatten, daß nach Aussterben des Mannsstammes einer Linie die andere in die Besitzthümer derselben eintreten sollte, vorausgesetzt, daß die Erben von gleicher Religion mit der der Stifter des Fideicommisses wären ... eine etwa vorhandene weibliche Nachfolge sollte entweder nur durch Verheirathung mit der andern Linie im Besitz bleiben oder standesmäßig abgefunden werden. Nach fast drei Jahrhunderten tritt nun der vorhergesehene Fall ein und unter Umständen, die die Ausführung des Statuts zum Gegenstande eines Streites machen. Paula's Vater kanntest du?

Bonaventura verneinte es.

Ich entsinne mich nur des vornehmen Herrn, sagte Benno, von seiner vierspännigen Kutsche bei feierlichen Gelegenheiten her. Graf Joseph, der letzte des ältern Stammes, war früh Witwer geworden. Da er von einer Wittekind, der Tante deines Stiefvaters, einer Schwester des Kronsyndikus von Wittekind auf Neuhof, nur eine Tochter besaß, so bestürmte ihn das ganze Land wieder zu heirathen. So fromm sein Inneres, so gern er die Gefahr, fünfzehn Quadratmeilen Landes mit 60000 katholischen Seelen lutherischen Gebietigern übergeben zu sollen, abgewandt hätte, so konnte er sich doch nicht entschließen, seine Erinnerung an eine Frau zu trüben, die unter der Herrschaft ihres Bruders, des Kronsyndikus, qualvoll gelitten haben muß, ja von diesem eigentlich ums Leben gebracht wurde.

Bonaventura kannte den schauerlichen Ruf des Kronsyndikus. Er kannte auch Paula's Geburtsstunde. Man schrieb derselben die Folgen ihres gestörten Nervenlebens zu. Jakobe von Wittekind wurde von ihrem leidenschaftlichen ältern Bruder bis zum zwanzigsten Jahre erzogen. Als sie dann den Grafen Joseph heirathete, zerfiel dieser mit dem Bruder, was jedoch letztern nie hinderte, dann und wann, begleitet von zwei gewaltigen Jagdhunden, in hohen Stiefeln und Sporen, die Reitpeitsche in der Hand, auf Schloß Westerhof zu erscheinen und in irgendeinem Anlaß, wie er ja sonst auch sagte, »Ordnung zu stiften« oder »den Nagel auf den Kopf zu treffen«. An den Folgen einer der dann entstandenen Scenen erkrankte die hochschwangere Frau, kam zu früh nieder und starb. Oft schon hatte Bonaventura erklärt, daß auf dem Hause der Wittekinds der Geist des Unsegens ruhe ...

Nun aber eure wunderliche Heimat! fuhr Benno, die trüben Gedanken vermeidend, fort und zeigte über den breiten Strom hinüber in die dunkelnde Ferne. Liegt es nicht fast wie ein Geheimniß über allem, was die Sitte und der Sinn der Menschen dort hervorbringt? Nicht fester sitzt das Horn an der Stirn des Pflugstiers, als ein Vorurtheil oder eine Uebereinkunft in diesen Köpfen! Graf Joseph heirathete nicht, sah nicht den Kronsyndikus, seinen Schwager mehr; seine Güter verwaltete Onkel Levinus, der Bruder des Obersten von Hülleshoven, die Wirthschaft die Tante Benigna, die Schwester der Gemahlin desselben, Monika's von Ubbelohde, der Mutter Armgart's in Lindenwerth dort oben; aber daß der Kronsyndikus als Oheim Paula's gewisse Rechte auf sie behielt, daß er nach des Grafen Joseph Tode ihr rechtmäßiger Vormund werden mußte, daran änderten die Jagdhunde, die Sporen und die Reitpeitsche des gewaltthätigen Mannes nichts. Ebenso wenig, wie die Frömmigkeit des Grafen Joseph diesen hinderte, das Familienstatut in Ehren zu halten.

Nun? sagte Bonaventura und lenkte damit auf manchen Streit zwischen den Freunden hinüber. Ist es denn also nicht schön, wenn sich die Zeiten einander so Wort halten? Ist es denn nicht erhebend, wenn so durch die Jahrhunderte hindurch die Hände sich ergreifen, festhalten und in allem, was da welken und vergehen muß, doch ein ewig Bleibendes sich erhält und wär' es nur das Gemeingefühl wenigstens eines Stammes, wenigstens einer Familie und besäße sie kein anderes Wappen und keinen andern Stammbaum, als nur ein altes Gebetbuch, das vom Großvater auf den Enkel erbt und in dem die Geburten der Söhne und Enkel, die Pathen und die Priester verzeichnet sind, die sie tauften?

Bonaventura sprach diese Worte in seiner Begeisterung so hin und überlegte erst, als sie gesprochen waren und Benno schwieg, daß sie gerade an das streiften, was Benno tief unmuthig an seinem dunkeln Dasein sein Zigeunerthum nannte.

Beide schwiegen ... An einer einsamen Stelle, schon ziemlich entlegen von den Thoren der Stadt, auf einer Bank am Ufer des Stromes hatten sie sich niedergelassen ... Ein stilles nächtliches Landschaftsbild lag vor ihnen ... Der Mond stand an der fernen Bergkette, an deren Fuß Lindenwerth wie in den Wellen schwamm ... Die mächtigen Holzflöße, die wie kleine Niederlassungen so wohnlich angethan sind und hinuntergleiten zum Niederlande, lagen still jetzt am Ufer ... Im blauen Mondlicht, das wie Phosphor um die alten Eichenstämme leuchtete, glühte das Feuer einer Küche, rings saßen im Kreise die Passagiere, Handwerksbursche, Auswanderer, ihr Nachtmahl haltend, ehe sie sich auf der mittlern Diele, den Ranzen als Kopfkissen benutzend, unterm freien Himmel streckten; ein Hund bellte auf dem Floß, wie nur daheim ein Nachbarhund in St.-Wolfgang bellen mochte, wo eben jetzt Frau Renate schon zur Ruhe ging ... Es war ein Stillleben von den Sternen an bis zu den im Grase auffliegenden Insekten, von dem fernen Brausen einer sich zur Ruhe begebenden Dampfesse bis zu den Knaben, die hochaufgeschürzt leise am Ufer noch im Schilfe schlichen und im Abenddunkel den Fischen mit der Angelruthe sicherer beizukommen hofften als am Tage ... Und einer Welle gleich, die gerade der Mond in seinen ganzen Goldglanz taucht, blitzte ein gefangener weißleuchtender Fisch auf, den die Knaben vom Hamen lösten und in ihren Sack warfen, sich umschauend, ob dem verbotenen Fange ein anderer lauschte, als da oben unter der einsamen Pappel am Muttergottesbilde ein junger Priester und sein plaudernder Freund .... Nun huschte mit schaukelndem, schnellem Fluge auch eine Fledermaus dem Lichte eines einsamen Häuschens zu ... In der leichten, weichen Luft war alles wie verklärt und jeder Schatten barg Ahnungsvolleres, als vielleicht die Wirklichkeit wahr gemacht hätte ...

Wie die Wellen so ruhig ziehen! hatte Benno gesagt. Möchte man nicht glauben, eine solche Abendstille spottete aller menschlichen Entwürfe, aller Anstrengungen, alles ohnmächtigen Verstandes!

Bonaventura erwiderte lächelnd:

Denkst du an die Weisheit deines Sporenritters in partibus? Welches sind denn nun die Anschläge, um unserm Glauben 60000 Seelen zu erhalten?

Paula, sagte Benno, steht wie Helena da, um die sich die Parteien bekämpfen! Und es sind ihrer mehr, als nur die der Griechen und Trojaner. Der Kronsyndikus sammelte seit Jahren Kämpfer um die Parole: Eine Heirath zwischen beiden Linien! Onkel Levinus und Tante Benigna, die Paula regieren, wie sie Armgart regierten, wollen Paula's Freiheit, die standesmäßige Abfindung, stören aber sonst den Antritt der Erbschaft nicht – das alte Fiat justitia der rothen Erde! Eine dritte Partei ist die Regierung. Sie ließe am liebsten den fremden, wenn auch protestantischen Grafen in seiner fernen Heimat, kaufte ihm vielleicht die Verlassenschaft ab und zerschlüge sie, wie sie schon oft gethan, in einzelne Theile an diejenigen Adeligen, die der Centralisation geneigt sind. Die vierte Partei ist die der Landschaft. Sie bestreitet die Gültigkeit des Familienstatuts und will der Gräfin Paula die volle Freiheit erhalten, ihre Hand zu vergeben, wem sie wolle, und ihm außerdem auch noch die guten 60000 Seelen ganz so zuzubringen, wie diese dermaleinst in Abraham's Schoose zu sitzen hoffen. Denn – nun kommen die Spitzfindigkeiten unsers Sporenritters – die in dem Familienstatut vorgesehene Bedingung erfülle sich nicht; die ältere Linie hätte, als sie katholisch wurde, die Bedingung dahin abgeändert, daß die verlangte Religion auch der andern Linie die katholische sein müßte. Obgleich nun erstens der Beweis für diese Aenderung schwer zu führen ist, im Gegentheil von der jüngern Linie nur ein den Verhältnissen sich fügendes stilles Geschehenlassen und Dulden des Religionswechsels behauptet wird, zweitens der Staat Religionsbedingungen überhaupt bei Testamentsvollstreckungen für unzulässig erklärt, so will die fünfte Partei, die der Geistlichkeit, noch weiter gehen. Sie will nicht nur jene 60000 Seelen, sondern auch noch Paula dazu gewinnen. Sie hofft, Paula würde den Schleier nehmen, vielleicht ein Kloster stiften und den Rest ihrer Güter der Kirche vermachen ...

Wie kommt man zu dieser Voraussetzung? loderte Bonaventura fast unwillig auf ...

Benno, ohne auf die Parteinahme des Priesters für seine Mitleviten zu hören, fuhr fort:

Ja auch der Kirchenfürst ist betheiligt! Die Erzdiöcese hat in ihrer geistlichen Obhut hier und da versprengte Stifte; zu ihnen gehört in jener Gegend das Stift Heiligenkreuz, ursprünglich eine Jesuitenbesitzung. Als die Jesuiten aufgehoben wurden, verblieb Heiligenkreuz dem Staate zu provinziellen Zwecken. Er begründete ein adeliges Fräuleinstift, das dem Lande als solches sehr willkommen wäre, wenn nur die Verleihung der Stellen in den Händen des Adels geblieben wäre. Es ist aber nicht so gekommen. Die Confessionen werden nicht mehr berücksichtigt und die Schwester eines Erzbischofs kann dort ruhig neben der Tochter eines lutherischen Pfarrers sitzen, wenn dieser, wie jetzt schon drüben in den Fabrikgegenden vorkommt, zufällig von Adel ist. Rings um Heiligenkreuz ist Feld und Wald camphausisch. Um diese Einfriedigung von Heiligenkreuz wird der Kampf entbrennen und wer weiß, ob ich nicht nächstens dort mit Nück'schen Vollmachten auf dem Schauplatze erscheinen muß! Um sein Recht zu zeigen, hat Graf Hugo von Salem-Camphausen vorläufig schon den Verkauf der Güter um Heiligenkreuz angeordnet; der Kronsyndikus und dessen Sohn, dein Stiefvater, haben die Berechtigung dazu ebenso wenig beanstandet wie die Regierung, die selbst darauf bietet zum Wiederverkauf an ihre Angehörigen oder zu Staatszwecken. Graf Hugo hat einen gewissen Wenzel von Terschka angekündigt, seinen Chargé d'affai res. Paula erklärt er schon um deswillen für erbunberechtigt, weil sie – katholisch wäre, und Nück wieder bekämpft den Grafen, weil er Lutheraner ist. Eine Urkunde, nach welcher der katholisch gewordene Graf Franz Dorste-Camphausen Anno 1648 die Urkunde des Familienstatuts zu Gunsten nur der katholischen Religion geändert haben soll, fehlt bisjetzt, doch behauptet Nück, daß sie sich finden würde. Auf Schloß Westerhof ist sie nicht, Nück versichert aber, sie wäre auf Schloß Salem bei Wien oder auf Schloß Castellungo im Piemontesischen. Ich wünschte einigen Italienern zu begegnen, die aus letzterer Gegend gebürtig sind und mir vielleicht die Gelegenheit angeben, wie wir jene Urkunde dort ins gräfliche Archiv – einschmuggeln – Ja, ja! Lache nicht! Die Kunst, in alten Lettern auf Pergament zu schreiben, ist in unserer Stadt vortrefflich im Gange!

Welch feindseliges Chaos! rief Bonaventura aus nach dieser scherzenden Wendung, die wieder doch so viel Ernst enthielt, daß Benno tief aufseufzend hinzufügen konnte:

Es ist wahr, daß man am Guten keine reine Freude haben kann, wenn die Vermittler und Förderer desselben mehr List als Kraft einsetzen müssen, um ihm den Sieg zu verschaffen! Und doch – geht's allen menschlichen Bestrebungen nicht so? Auch eurer Kirche?

Eurer? sprach Bonaventura fast vorwurfsvoll.

Der Hierarchie mein' ich! verbesserte Benno. Ist sie nicht recht eigentlich ein reiner Gedanke in oft – wie unreiner Form!

Nein! unterbrach Bonaventura. Die große Thorheit unserer Gegner besteht nur darin, unser schwaches Streben verantwortlich zu machen für unser Ziel. Daß wir der Priester unwürdige genug haben, sollten wir getrost täglich bekennen dürfen. Schon daß ein Frommer wieder zuweilen in die Sünde zurückfällt, entscheidet ja an und für sich nichts gegen seinen bessern Sinn. Wie wir die Begriffe von der Erscheinung trennen müssen, sah ich recht, als ich in St.-Wolfgang mein Amt antrat. In dem Patron meiner Kirche, dem heiligen Wolfgang, hatt' ich einen Spiegel der Nacheiferung für die Kraft und Würde des Priesterthums. Der heilige Wolfgang ist ein Deutscher, ein Graf von Pfullingen-Waltenburg gewesen. Mit einem innig geliebten Freunde, dem Bruder des Bischofs von Würzburg, studirte er in Würzburg, schlug alle geistlichen Aemter aus, folgte immer nur diesem Freunde, ward Mönch und wurde zuletzt fast nur gewaltsam gezwungen, das Erzbisthum Regensburg zu übernehmen. Wie aber hat er dann den Tempel von den Wechslern rein gefegt! Ihm sonst in allem unähnlich, hatte ich einen Vorgänger, der noch jetzt, hieher in diese Gegend versetzt, mehr dem Spiel und Vergnügen, als seinem Berufe ergeben sein mag. Wie der Herr, so der Diener. Den Meßner fand ich bei meinem Antritt von derselben Vernachlässigung. Als ich zum ersten male die Messe lesen will und gewöhnt war, die schöne Ordnung der St.-Zenokirche zu Kocher am Fall vorauszusetzen und mich auf die Geräthschaften des Sakraments verlasse, entsetze ich mich über die Unsauberkeit der Corporalien, Pallen, Purificatorien. Nicht nur, daß sie, dem Gebot zuwider, von Baumwolle statt von Leinen waren, auch seit lange gewaschen waren sie nicht. Die Ciborien, Patenen völlig ungeputzt und der Vergoldung beraubt, ja das Entsetzlichste – ich öffne die Monstranz und finde den Leib des Herrn geschändet, finde das Brot zernagt von Würmern! Dies Bild: Das heilige Brot in Würmern! wurde mir zum Symbol meines ganzen Lebens! Seitdem ich damals die heilige Handlung unterbrechen und das Opfer unvollzogen lassen mußte, muß ich im Geist und in der äußern Erscheinung alles ursprünglich als göttlich Gedachten und in der Wirklichkeit doch nur Menschlichen, immer vor mir jenes Brot in Würmern sehen! Immer muß ich eingedenk bleiben, daß selbst das Grauenvollste des Misverstandes uns doch an sich nichts von dem entweihen kann, was seinem Ursprunge nach von Gott stammt!

Cajetan Rother lebt hier in der Stadt?

An der Kirche vom Berge Karmel und als Beichtvater der Karmeliterinnen!

Da verdank' ich dem allwissenden Nück noch eine andere Bekanntschaft mit der irdischen Schale eines heiligen Kernes und eine, die dich näher angeht! Du hast von dem hier außer Clausur lebenden Pater Sebastus gehört?

Ein Convertit! Er schreibt eine Feder, die wie in Feuergluten getaucht ist!

Mit der Fackel der Eumeniden schreibt er!

Bonaventura kannte das frühere Leben des Mönches Sebastus theilweise aus den Mittheilungen Grützmacher's, der ihm Aufklärungen über Lucinden gegeben ... Aufklärungen, die ihn für diese mehr mit Mitleid, als mit Abscheu erfüllten ...

In der Erörterung dieser Lebensbeziehungen fuhr Benno fort:

Als damals Jérôme von Wittekind, von Klingsohr's Kugel getroffen, zusammenbrach, minderte sich vielleicht in der Wagschale des ewigen Gerichts eines der schweren Gewichte, die gegen diesen Mönch, den Verräther seines Vaters, einst zeugen müssen! Ich sehe ihn zuweilen in unsern Straßen daherrennen! Wie der Derwische einer, wie ein Schamane des Orients hat er den stieren Blick des Auges, die krampfhafte Beweglichkeit der Glieder, den Trotz und die Sicherheit des Benehmens, verbunden wieder mit der gemachten Demuth, die sich an jeder Kirchenthür verbeugt! O wie oft ich doch erbeben muß vor den nächtlichen Schauern, die über unserm Geistesleben wie mit dem Gefieder des Fürsten der Unterwelt dahinrauschen! An meinem eigenen Leben erfahr' ich es ja! Mich bringt in einer Zeit, die keine Nachforschung hat lichten können, dein Oheim Max von Asselyn aus Spanien mit sich, wie man sagte, als die Frucht einer Verbindung mit einer Spanierin, die er geliebt haben sollte und die ihm gestorben. Ein Märchen, das wissen wir alle! Aber irgendeinen Kern hat diese Erfindung! Nie jedoch konnte dieser von einer Menge Einhüllungen befreit werden, die mit den uns theuersten Personen auf eine Weise zusammenhängen, deren oberflächliche Besprechung schon Mismuth und düstere Erinnerungen bei ihnen allen heraufbeschwört. Nun hab' ich für ganz gewiß die Ueberzeugung, daß das, was mir allein so dunkel ist, in den Beichtstühlen licht und hell und deutlich aufgedeckt lebt! Priester, Klostergeistliche kannten meinen Ursprung und nahmen ihn mit sich ins Grab. Jener Geistliche in Borkenhagen, Leo Perl, ein getaufter Jude, soll eine Schrift hinterlassen haben, die er in seinen letzten Lebenstagen an die bischöfliche Curie von Witoborn schickte. Sie ist so spurlos verschwunden wie jene andere, die Dominicus Nück sucht. Schließ' ich von dem einzelnen Fall, der mich selbst betrifft und der vielleicht nur von meinem unerlaubten Stolz so empfindlich geschürt wird, schließ' ich von jenem Mönche, wie ist nicht unser ganzes Leben innerhalb unserer Kirche durch den Beichtstuhl so vermessen geheimnißvoll! Wir suchen einen Mörder, einen Dieb – der Priester kennt ihn schon und läßt die Gerechtigkeit ihr Haupt verhüllen und beutet das Geheimniß nur aus – zum Besten seiner persönlichen Würde!

Zum Besten des Gottesreiches! unterbrach Bonaventura.

Ich will den alten Streit nicht erneuern, sprach Benno, ich will heute nur von den Schauern sprechen, die die Schritte dieses Mönches begleiten. Ihm ermordet der Kronsyndikus seinen Vater! Es war ein Todtschlag nach unserer Definition, kein berechneter Mord. Einem langgenährten Hasse bietet sich die Gelegenheit einsamer Begegnung, es entsteht ein Wortwechsel, es kommt zu einem Angriff, zu einer Gegenwehr, der gezogene Hirschfänger fährt aus und trifft eine Stelle, die sogleich tödlich ist. Schrecken und Reue jagen den Thäter von dannen. Die Gerichte, in jener Gegend auf verschiedene Souveränetäten vertheilt, halten sich an einen muthmaßlichen Schuldigen, der Proceß verschleppt sich, der Kronsyndikus findet, wie man sagt, mit Hülfe eines ihm nahe stehenden Freundes, der die Beweisaufnahme in Händen hatte, Mittel, die Gerüchte zu zerstreuen, das Verfahren stockt, der Kronsyndikus, unmittelbar darauf sei nen Sohn verlierend, bricht in der Rolle eines Gewaltthätigen, die er bis in sein siebzigstes Jahr durchführte, zusammen, wird nach langem Geiz als plötzlicher Verschwender unter Curatel gestellt und wer möchte den hinfälligen Schatten aus der Nacht noch aufstören, die ihn seit der Reise zum Begräbniß seines Sohnes umgeben soll! Einer aber hätte es thun müssen, nach allen Gesetzen alter und ewiger Zeit! Einer hätte das Blut eines Vaters nicht in den Sand sollen rinnen sehen, ohne durch alle Lande um Vergeltung zu rufen! Ein Sohn, ein Sohn opfert seinen Vater! Bestochen von dem Mörder, nimmt er dessen Wohlthaten an, unterschlägt ein vom Jagdrock des Kronsyndikus gerissenes Stück, das diesen hätte überführen müssen, reitet, fährt, bechert mit ihm, feiert Bacchanale mit einem jungen Mädchen, das durch einen Zufall auf Schloß Neuhof lebt und mit dessen Liebe ihn der Mörder wie umstrickt und bezaubert ... und so umgaukelt der Wahn die verlorne Seele dieses Mannes, daß er den Kammerherrn mit allen Anzeichen der tiefsten Verzweiflung eines schuldbedeckten Gewissens niederschießt, von Tage zu Tage dahintaumelt im wüsten Ersticken seiner mahnenden innern Stimmen, bis ihn nur noch der Becher, zuletzt das Opium heilen! Dann brach er ganz zusammen!

Er erhebt sich wunderbar! fiel Bonaventura ein. Wie kannst du den Lebensgang dieses Mannes beurtheilen, ohne die Geheimnisse seiner physischen und geistigen Wiedergeburt zu kennen?

Ihm kann nur wohl sein in der Flamme! entgegnete Benno ablehnend. Frieden und Betäubung kann er nur finden im Kriege! Wenn ich ihn sehe, wie er auf den Straßen dahinschreitet mit dem Korbe oder dem Topf oder einem Buch in der Hand, dann ist's mir doch, als sollt' ich das Leben seines Vaters von ihm fordern! Denn der Kronsyndikus ist längst entlastet. Wer eine solche Schuld auf die Schultern eines Sohnes werfen kann, der geht selbst vor Gott frei aus. In jeder Zeile, die ich vom Pater Sebastus lese, find' ich – ich bin ein Fremdling eurem Volke und doch wurde mir Deutschland zur Mutter – Muttermord – Rom segnet die Thaten – so liebevoller Söhne!

Beide waren erregt schon lange aufgestanden, wandelten schon lange den Thoren zu ...

Bonaventura, in den Abschied vom Dechanten zurückversetzt, verfiel in ein ernstes Schweigen ... Selbst sein gewöhnliches Wort zu Benno: Was ist denn dir das alles, dir, dem jede Offenbarung Täuschung, jeder Glaube, das Wissen selbst eine bloße Befangenheit der Sinne, eine Tradition ist von den Blinden an die Blinden über die Farbe, von den Tauben an die Tauben über den Ton? selbst das behielt er heute zurück ...

In dem engen Gewirr der Straßen wurde es dunkler und dunkler.

Die Menschen strömten heimwärts von manchem Ausflug, zu dem der schöne Abend verlockt hatte.

Schon lange wollte Bonaventura, der aus seinen Träumen früher erwachte als der seltsam ergriffene Benno, diesen aufmerksam machen, daß ihn seit dem einsamen Häuschen oben am Strome jemand umkreiste, der offenbar darauf aus schien ihn anzureden und schon mehrere male gegrüßt hatte, ohne daß Benno davon Notiz nahm.

Wie der Zudringliche sich immer wieder hinter ihnen hielt, dann wieder etwas schneller ging, um nur grüßen und sich bemerkbar machen zu können, machte Bonaventura den Freund zuletzt auf eine vielleicht ihm willkommene Bekanntschaft aufmerksam.

Ich sah ihn schon! sagte Benno halblaut. Ich mag ihn nicht grüßen! ...

Jetzt aber war der Begleiter zu dicht herangekommen und seinem tiefgezogenen Hute und der Anrede: Guten Abend, Herr von Asselyn! mußte ein Wort der Berücksichtigung folgen.

Guten Abend, Herr Hammaker! sagte Benno kalt.

Nach dem Gedräng an einer der innern Thorpforten kam eine ruhigere Straße.

Gerade hier schritt der durch Ton und Geberde von Benno kurz Abgewiesene vor ihnen noch lange her.

Es war eine kurze, dicke, breitschulterige Gestalt mit einem weißen Sommerhut und grauem kurzen Rocke. Jetzt, wo er endlich bemerkt worden war, ging er schlotternden, langsamen Ganges und die Hände hinten in den Rocktaschen zusammengehalten, während sie zugleich wie von der Tasche heraus einen zu seiner nicht ungewählten Kleidung fast im Widerspruch stehenden Knotenstock auf dem Pflaster nachklappern ließen. Das ganze Wesen des vielleicht den Fünfzigen nahen Mannes war eine gemachte Festigkeit und bewußte Sicherheit, die an Frechheit streifte. Noch einige male grüßte er – dahin und dorthin – gewöhnlich ohne eine besonders freundliche Erwiderung zu erhalten ... Mancher dankte gar nicht, wie fast auch Benno gethan.

Am falben Scheine des Mondlichts und dem fortwährenden Umblick nach Benno hin wurde ersichtlich, daß breite wulstige Gesichtsformen dem Wuchse entsprachen; des Mannes Haar war weißer, als mit seinen scheinbar noch nicht zu weit vorgeschrittenen Jahren im Einklang stand.

Als diese Persönlichkeit endlich in eine enge Gasse eingebogen, sagte Benno:

Wieder einer von deinen Würmern, die man in heiligen Dingen ertragen und nicht sehen soll! Wenigstens, wenn ich mir die Unbefangenheit der Beurtheilung meines Procurators über ihn erhalten soll!

Benno schilderte jetzt den Mann, den er Jodocus Hammaker genannt, als einen Agenten, der, wie man sagte, mit Nück in engster Verbindung stand. Was Nück nicht auf eigene Hand vollführe, übernähme Hammaker. Früher, in seiner Heimat, drüben in der Kette der Sieben Berge, selbst Advocat, hätte er Wuchergeschäfte getrieben. Diese hätten ihn zum Verbot der eigenen Praxis geführt und doch hätte er sich nach mancherlei Irrfahrten wieder aufschwingen können, da ihn Nück, jedenfalls anfangs nur aus Mitleid, hier in der Stadt beschäftigte. Allmählich wäre er Nück's Vertrauter geworden in solchem Grade, daß sie selbst noch jetzt, wo sie sich offenbar haßten, zusammenhalten müßten. Ihr Haß sollte auf dunkeln Dingen beruhen. Ja man spräche von einem Mordanfall Hammaker's auf Nück. Eines Tages, erzählte Benno, hatte Nück sich eingeschlossen ... Das wäre sonst bei ihm nichts Seltenes gewesen, sagt man, kam aber immer nur vor, wenn Hammaker in der Nähe war. Nachdem Hammaker im Garten, in den das Arbeitszimmer des Procurators hinausgeht, an jenem Tage eilenden Schrittes war gesehen worden, pochte man an Nück's von innen verschlossene Thür. Daß er sich drinnen befinden mußte, wußte man durch seinen Hut und Stock, die im Vorzimmer lagen. Man pochte, niemand öffnete. Nun ließ man einen Schlosser kommen, öffnete mit Mühe und fand den erschreckendsten Anblick. Nück lag halb bewußtlos am Boden – in einiger Entfernung von ihm – das ist die Streitfrage – ein Klingelzug oder ein Strick, sonderbarerweise ein elegantester, grünseidener, aus dreißig kleinen Schnuren verfertigter. An dem einen Ende soll ein vergoldeter Haken angebracht gewesen sein, mit welchem die Hängemaschine oben am Haken eines nicht anwesenden Kronleuchters befestigt gewesen sein mußte; am andern Ende befand sich eine reichwattirte seidene Binde über einem halsbreiten Gurte. Anfangs mußte man von dieser eleganten Form des Mordmaterials annehmen, Nück hätte sich, mit Grazie, selbst erdrosseln wollen. An den ringsum aufgeschlossenen Geld-und Documentenschränken aber sah man den Diebstahl. Das Fenster stand auf. Ein ungeheures Schlüsselbund, das zu allen unter Nück's Verschluß befindlichen Repositorien gehörte, lag auf einem beweglichen eleganten Rollsopha von rothem Saffian. Nück kam langsam zum Bewußtsein zurück, blieb jedoch jede nähere Bezeichnung über den Vorfall schuldig. Die einen glauben, daß Nück von Hammaker erst gehängt, dann beraubt worden; andere sagen wieder: Wozu die grünseidene Schnur, die Halsbinde, der vergoldete Haken? Noch mehr: Wie konnte Nück ins Leben zurückkehren, wenn er so lange hing, bis der Mörder die Schränke aufgeschlossen, sie beraubt hatte und dann entflohen war? Man schloß auf einen Ueberfall im Schlafe. Hammaker wurde verhaftet, als er eben im Begriff war mit Extrapost und dreißigtausend Thalern in Werthpapieren zu entfliehen; aber Nück lachte und fragte, ob die Welt toll wäre? Hammaker wäre von ihm selbst in Commissionen versandt, ihn selbst hätte nur eine Ohnmacht angewandelt, er hätte nach dem Klingelzuge gegriffen, ihn abgerissen und gab ähnliche Erläuterungen mehr ... Was konnte man einwenden? Ein Kläger, ein Beschädigter, ein Gehängter fehlte. Hammaker wurde frei und machte plötzlich Geschäfte, die bewiesen, daß er sogar einen Theil der 30000 Thaler wirklich hatte behalten dürfen! Eines Tages kam er zu Nück zurück, beide schlossen sich ein, schlossen sogar die Vorthüren ab, hielten eine lange Conferenz und seitdem sind beide zwar auf einem kältern Fuße und ceremoniell gegeneinander, aber sie machen dieselben Geschäfte wie sonst. Die Gesichtszüge dieses Menschen lassen sich nur mit einer Blumenlese von Physiognomieen einer ganzen Bande von Spitzbuben vergleichen und doch hab' ich schon manche Beweisaufnahme oder Terminabhaltung in der Umgegend, besonders in den gründlich von ihm gekannten Sieben Bergen drüben, in seinem Beisein machen müssen.

Unter diesen Mittheilungen waren Bonaventura und Benno an dem kleinen Häuschen angekommen, in dessen Gegenüber in der Nacht eine That vollbracht werden sollte, die Benno's erste Ahnung sofort, wie wir wissen, mit diesem übelberufenen Hammaker in Verbindung brachte; denn noch vor wenig Tagen hatte er ihn, wie schon öfter, in später Abendstunde aus dem Hause der Ermordeten kommen sehen und während Thiebold und Enckefuß bei ihm frühstückten, kam ihm auch sofort der Gedanke: War der aufdringliche gestrige Gruß nicht wie ein: Betrachte mich und überzeuge dich von meinem – Alibi?

Als Bonaventura dann im »steinernen Hause« zur Ruhe gehen wollte und bei seiner Rückkehr nicht wenig Noth hatte, sich der allzu großen Sorgfalt der Damen Schnuphase und ihrer Mägde zu erwehren, erhielt er noch ein kleines Billet von der Hand des Kaplans Eduard Michahelles.

Es lautete:

»Mein hochwürdiger Herr Pfarrer! Obgleich das Befinden Seiner Eminenz auf dem Wege der Besserung ist, so nehmen ihn doch die dringendsten Geschäfte für den Augenblick so in Anspruch, daß er sich auch wahrscheinlich morgen noch das Vergnügen versagen muß, sich Ihnen so ausführlich, wie er wünscht, mitzutheilen. Ich bin daher beauftragt Sie aufzufordern, noch einige Tage länger zu verweilen. Bis dahin ist der Wunsch Seiner Eminenz, daß Sie sich zu Erholungen oder bei etwaiger Absicht, sich über die kirchlichen Einrichtungen der Stadt durch den Augenschein unterrichten zu wollen, des Paters Sebastus, eines Franciscaners, als Gesellschafters und Begleiters bedienen mögen. Der Ruf des ebenso geistvollen wie frommen Convertiten, der von seinem Provinzial die Erlaubniß hat, eine Zeit lang außer Clausur zu leben, wird Ihnen bekannt sein. Ich habe die Ehre mich zu nennen Eurer Hochwürden ganz gehorsamster Michahelles. Alles zur größern Ehre Gottes.«

Die Empfindungen, von denen Bonaventura beim Lesen dieser Zeilen bestürmt werden mußte, raubten ihm fast die Nachtruhe. Wie vortheilhaft er auch von dem Mönche, dem Lucinde ohne Zweifel ihre erste Bildung verdankte, und von seiner gegenwärtigen glorreichen Erhebung aus einem tiefen Jammer der Seele dachte, er wurde vor Erwartung über dies Zusammentreffen von den aufregendsten Träumen erschreckt.

5.

Die Messe, die ein Priester jeden Morgen entweder lesen oder hören soll, mochte Bonaventura mit einem bangen Vorgefühl nicht in einer der vielen Kapellen der großen Kathedrale besuchen, die vielleicht bald von seiner eigenen Stimme widerhallen sollten ...

In eine kleine abseits gelegene dunkle Kirche ging er und verfehlte auf diese Art die sonst leicht möglich, gewesene und von ihr gesuchte Begegnung mit Lucinden.

Dann begab er sich zu Benno, der, von Thiebold und Enckefuß eben verlassen, zu seinen Arbeiten zurückgekehrt war und mit Hindeutung auf einen bereits fertig liegenden Brief an den Onkel Dechanten ihm den grauenhaften Vorfall der Nacht erzählte und auf die geöffneten Fenster des Hauses gegenüber zeigte, aus welchem man inzwischen in einem verdeckten Korbe die Leiche der Ermordeten hinweggetragen hatte.

Eine Schwester der Frau von Gülpen! rief auch Bonaventura erstaunend aus.

Auch er wußte nichts von dieser Verwandtschaft. Doch mußte er Benno Recht geben, als dieser an seine gestrigen Aeußerungen über die so dunkeln Anfänge im Leben des Dechanten und den Zusammenhang derselben sogar mit dem Kronsyndikus erinnerte. Und trotz seines gleichfalls gestern wie schon oft geäußerten Gefühls, daß ihm die geheime Welt des Beichtstuhls, mit besonderer Rücksicht auf sein eigenes Leben, eine gefährliche Ueberhebung der Kirche erschien, hätte Benno dennoch fast mit dem Zusatz: Unter dem Siegel der Beichte! von dem Agenten Hammaker sprechen mögen und von seiner gestrigen so aufdringlichen Begegnung. Er that es nicht. Er nahm sich vor, ehe er zu irgendjemand seinen Verdacht äußerte, sich genauer nach den Beziehungen zu erkundigen, die zwischen diesem und der alten geizigen, fast der ganzen Welt sich verschließenden Frau hätten stattfinden können.

Das durch diese Eröffnung gemehrte Unbehagen der Stimmung Bonaventura's verminderte sich nicht, als er nun auch bei einer von dem Freunde gestellten Aufforderung, er sollte sich dem geselligen Kreise bei dem Rittmeister von Enckefuß anschließen, die Worte hören mußte: Von diesem leichten und fröhlichen Lebemenschen kann ich mir denken, wie er damals bei dem Tode des Deichgrafen voll Schauder und Mitleid die Augen zudrückte und nur die gemeinschaftliche Standesehre zu wahren suchte! Nicht einmal glaub' ich, daß den Rittmeister dabei die Rücksicht auf seine Verschuldung beim Kronsyndikus bestimmte. Seitdem freilich diesem eine Curatel gestellt ist, seitdem dein Stiefvater die Oberaufsicht über sein künftiges Erbe bereits factisch besitzt, hätten diese Rücksichtsnahmen wol auch aufgehört. Und dennoch bin ich überzeugt, daß der Landrath eher seinem Pferde die Sporen gibt und in einen Abgrund jagt, als daß er sich auf einer gegen befreundet gewesene Familien gerichteten Drohung betreffen ließe ...

Bonaventura mußte von dem Begleiter sprechen, der ihn vielleicht schon in seiner Wohnung erwartete ...

Pater Sebastus! rief Benno staunend. Nun siehst du die Läuterung bis – zum Aufpasser!

Eile, eile, fuhr der Zweifelnde dann fort, dir von den Damen Schnuphase dein Frühstück credenzen zu lassen! Rüste dich aber mit allen deinen Gelübden, ihrer Liebenswürdigkeit Widerstand zu leisten, besonders ihrer Frömmigkeit!

Bonaventura fand, als er gegangen war und sein Zimmer betrat, beide Töchter des Herrn Maria in großer Aufregung ... Benno von Asselyn, den sie sehr wohl kannten, wohnte ja dem Morde so nahe – Bonaventura erzählte ihnen, was er wußte.

Da der Pater Sebastus nicht kam, hielt es der so gezwungen in ihm verhaßte Unthätigkeit Versetzte für seine Pflicht, sich im Palais des Kirchenfürsten theils nach dem Befinden desselben, theils nach der Wohnung des Paters zu erkundigen.

Im Palais erfuhr er, der Kirchenfürst wäre zwar wieder wohlauf, doch mit Geschäften außerordentlich überhäuft und eben arbeite sein Secretär mit ihm. Bei der Lebhaftigkeit des Verkehrs in den Vorgemächern mußte Bonaventura natürlich finden, daß er nicht die Aufforderung zum Warten erhielt. Vom Pater Sebastus hieß es, dieser würde ihn in seiner Wohnung in Herrn Maria's steinernem Hause unfehlbar selbst aufsuchen.

Hieher zurückgekehrt fand Bonaventura die Blumen der kleinen Gertrud Ley und hatte seine innigste Freude daran ...

Und doch bei alledem wie ein Gefangener sich fühlend ging er an eine Lectüre, die er sich aus St.-Wolfgang mitgebracht hatte. Das große, von Treudchen mit Blumen bestreute Buch, das sie aufgeschlagen gefunden hatte auf dem Schreibtisch, war eine Sammlung alter lateinischer geistlicher Gedichte gewesen, ein Erholungsstudium, zu dem Bonaventura zurückkehrte.

Nach einer Weile klopfte es.

Ein Franciscaner trat herein ... blaß, lang, hager, bloßen Halses, nackt an den nur durch Sandalen geschützten Füßen, das Haupt geschoren, der Blick eine Weile scharf, dann sogleich unstet, wie auch das ganze Wesen erst eine kurze elastische Spannung bot, dann sogleich sich wie träumerisch nachlässig gleich sam gehen ließ. Der Kopf war scharf geschnitten und sah sozusagen eher chinesisch aus als germanisch ... beim Sprechen öffneten sich kaum die Lippen, die Worte kamen flüsternd zu Gehör, aber mit außerordentlicher Bestimmtheit und Sicherheit.

Der Mönch nannte sich kurzweg den Pater Sebastus aus dem Kloster Himmelpfort, auf Urlaub befindlich, »einen Mönch in partibus infidelium«.

Bei diesem einen Worte schon, das er nur so in erster Anrede an Bonaventura hinwarf, schien es fast, als wollte er sich damit aus der Sphäre herausheben, in die ihn seine Tracht drückte. Er glich so fast jenen Zurückgekommenen, die der Zufall in untergeordnete Lebensstellungen drängte und die dann nie unterlassen werden, in Gegenwart der Stände, denen sie früher angehörten, sich durch ein hingeworfenes gewählteres Wort, eine französische Phrase in ihrem eigentlichen Werthe kenntlicher zu machen oder auch jenen lateinischen alten Studenten, die mit einem: Vir doctissime, illustrissime! auf dem Lande hospitiren und sich bei dem, der studirt hat, durch ein romantisches Anklingenlassen schönerer Jugendzeit ein Viaticum erbitten.

Und hätte der Pater nun nicht wünschen sollen, daß Bonaventura aufsprang und in ihm den berühmten Convertiten, den Streiter in den Zeitschriften, den Redner auf den Conferenztagen, den Sendboten des Kirchenfürsten begrüßte?

Bonaventura war befangen. Den Pater konnte diese Zögerung nicht die Folge einer Bekanntschaft dünken mit seinen Beziehungen zu Schloß Neuhof. Bei dem Geiste der Selbstvernichtung und gänzlichen Ertödtung jeder Beziehung zur Außenwelt, außer der kirchlichen, wußte Sebastus nichts von des Pfarrers Verwandtschaft mit dem Kronsyndikus. Es gibt Naturen von einer solchen Spontaneität, von einer solchen Unfähigkeit, sich durch andere bestimmen zu lassen, daß sie wenn auch nicht ganz das Gehör, doch fast die Fähigkeit verloren zu haben scheinen, an andere Menschen über irgendetwas auch nur eine Frage zu stellen.

Sie haben hier schon Bekannte! sagte der Pater gleich für fest und bestimmt, lehnte den Sitz auf einem der Polstersessel ab und blätterte in Bonaventura's Brevier, so fast als wenn dieser gar nicht anwesend war.

Alles das mußte dieser seltsam finden und erwiderte nichts ...

Gestern ging ich an diesem Hause vorüber, fuhr der Mönch fort, und sah Sie im Laden unten im Gespräch mit Herrn Moritz Fuld, dem Bruder eines Mannes, der im Enneper Thale eine byzantinische Kirche gebaut hat. Ja, also dahin mußte es kommen! Oft mache ich mir Vorwürfe, daß ich mich noch immer praktisch in die Juden nicht finden kann, während ich sie theoretisch schätzen muß!

Und auch jetzt noch fand Bonaventura keine Möglichkeit, im Gespräch mit irgendeiner Bemerkung einzuspringen.

Eine Art Reue über die Behandlung, die soeben Löb Seligmann wahrscheinlich doch nur von ihm erfahren, schien sich in diesen seinen Worten auszusprechen:

Die Juden gleichen dem Speer des Achilles! Der verwundete, wie Sie wissen, und heilte! Die Juden, von Spinoza bis Heine und Börne herab, untergraben den Glauben und doch sind sie im Großen und Ganzen wieder dessen Sauerteig, die Bürgschaft des Festhaltens am Einen Gott, die Wächter der Lehre von der Selbstheiligung, ja sogar vom Schatz der guten Werke und jedenfalls der Lehre vom Opfer und den Reinigungen! Unser alter Rector in Detmold mühte sich mit Horazens Credat Judaeus Apella! »Das glaube der Jude Apella!« War der Jude Apella in Rom so bekannt für seine Leichtgläubigkeit? Zupften die jungen Adeligen des neuen Augusteischen Zeitalters ihm vielleicht am Bart und creditirte er ihnen vielleicht allzu gläubig auf ihre langfichtigen Wechsel als römischer Bankier und Vorläufer des Fürsten Torlonia in Rom? ... Oder wie war das mit dem Juden Apella?

Bonaventura stand diesem scurrilen Durcheinander nur staunend und lauschend und fast angezogen.

Apella, fuhr der Pater fort und nahm jetzt eine von Treudchen's Blumen auf, sie allmählich langsam mit einem elegischen Blicke vorn an dem seine Kutte zusammenhaltenden Strick befestigend, Apella war ein jüdischer Philosoph mit griechischem Bildungszuschnitt, der in Rom Vorlesungen hielt über Kirche, Staat, Religion, Glauben und Wissen und zwar mit dem für einen Juden unerlaßlichen Systeme: Es gibt nur Einen Gott und keine andern Götter neben ihm! Dem römischen gelehrten Pöbel, den Denkern und Sophisten, erschien der vielleicht ein wenig ins Lächerliche gräcisirende Rabbiner ein Narr, ein Diogenes, der am hellen Tage mit der Laterne ging! Nur Ein Gott! Kein belvederischer Apoll, keine mediceische Venus, kein farnesischer Hercules neben ihm! Armer, armer jüdischer Credo-Lehrer! Was glaubte wol dieser erste verspottete Märtyrer des Glaubens? Er glaubte jedenfalls Jehovah, den Herrn des Himmels und der Erden, aber vielleicht auch schon den Messias vom Stamme David's. Apella ist mir der dreizehnte Prophet! Er war nicht so groß wie Elias, dessen Größe besonders darin bestand, daß er nur sprach und nichts hat drucken lassen, aber auch nicht der Kleinste unter den Kleinen! Da lachten die Römer denn: Ein Glaubender! Ein Glaubensvirtuose! Ein Denker, der den Glauben in Vorrath und wie auf Lager liegen hat! O, ein seltsamer Gast dieser Apella und ich möchte ein Buch schreiben: »Apella oder der Rothschild im Glauben. Eine Kritik der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel.«

Die Wirkung dieser Weise auf Bonaventura war gar nicht abstoßend. Er mußte sogar der Vorstellung nachhängen: Findest du nicht aus dem, was du da zu hören bekommst, etwas von Lucinden heraus?

Da der Mönch sich nicht setzte und von einem Gelübde sprach, das ihm Polstersessel verbot, forderte ihn Bonaventura zu einem Spaziergang auf und hatte schon den Hut in der Hand ... Es beeinträchtigt aber unsere Kraft, auf anderer Fragen zu hören, wie nach Shakspeare der Vornehmseinwollende anderer Namen nicht behält. Nichts »duckt« einen andern mehr, als wenn man ihn in die Lage bringt, eine Bemerkung wiederholen zu müssen ... Und so hörte der Pater nichts vom Ausgehenwollen. Er sprach nur zu den Blumen, die ringsum fast so, wie sie Bonaventura gefunden, noch geblieben waren:

Wie müßt ihr so verbleichen

Im funkelnden Farbenschein!

Ihr jungen Blumenleichen,

Wer segnet und senkt euch ein!

Da waren Sie ja, fuhr er plötzlich gleichgültig abspringend fort und auf die Sammlung, in der Bonaventura gelesen hatte, deutend, bei Dante's Vorbild in der Architektur der Welten, dem Aurelius Prudentius! Nicht wahr, die schöne bunte Rose, die Dante im Himmel sah von unermeßlicher Größe und die dort aus dem Strahlenglanz der Märtyrer und Heiligen aller Zeiten zusammengesetzt war, ist hier auf Erden schon die aus den Blüten und Perlen der heiligen Poesie zusammengesetzte?

Gewiß! fand Bonaventura endlich eine Gelegenheit einzufallen. Sie schmückt den unsichtbaren Dom unserer Kirche!

Das heißt, die »Purpurviolen« und »Saaronsrosen« aus Kocher am Fall ausgenommen!

Mit diesem Spott auf Beda Hunnius war das Gespräch abgebrochen ...

Der Pater folgte dem Pfarrer, der ihn an der Thür vergebens bat voranzutreten ... Plötzlich zog sich Sebastus in Demuth zurück, verbeugte sich und ließ Bonaventura vorausgehen.

Sie verließen das Zimmer und das Haus.

Wie sie so dahinschritten, sahen ihnen die Menschen nach ... die Fremden blieben stehen ... der Pater schlug die Augen nieder ...

Sie betraten Kirchen und Kapellen ...

Viele fanden sie leer ...

Der Pater verurtheilte die Lauheit der Gemüther und wiederholte einiges von seiner in Kocher am Fall gehaltenen Rede.

Sehen Sie denn aber nicht, erwiderte gelassen Bonaventura in einer dieser Kirchen, die beiden Kerzen da am Altare? Ist das nicht so schön an unserer Kirche, daß Sie, wenn Sie in unsere Gotteshäuser treten, immer finden werden, daß irgendetwas in ihnen vorgeht? Ist es auch nur eine einzige Seele, die irgendwo in einem Stuhl knieet und gegen die Hoheit des Gebäudes, gegen die Macht der Wölbungen und Säulen mit ihrem armen schwachen Aufseufzen wie ein Sandkorn am Meer verschwindet, doch belebt es einen ganzen Bau! Und brennen auch nur zwei kleine Kerzen an einem irgendwo versteckten Seitenaltar, immer sagt das, es ist da irgendein Gebet im Werke, eines, das schon gehalten worden ist, oder eines, das erst gehalten werden soll; irgendeine Seele, die vielleicht in der Ferne auf dem Krankenlager liegt, hat diese Lichter anzünden lassen und bald wird ein Priester nur mit einem einzigen Knaben kommen und, ohne Rücksicht auf Zuhörer, unhörbar nur und still hinmurmelnd die Messe lesen. Dann wieder findet man an einem Tage, wo alles werkeltägig in der Stadt und in den Gemüthern hergeht, doch in der Kirche den Hochaltar geschmückt, Blumen liegen an seinen Stufen, das Wort des Priesters schallt fast wie ein einsames Selbstgespräch und kaum bis über die Brüstung des Chores hinaus; ein Erinnerungstag ist's an einen Heiligen, irgendein Vorgang aus der Geschichte der Kirche wird gefeiert, ohne Geräusch, ohne allgemein verständlichen Ausdruck; nur einzelne Seelen, die gerade diesen Heiligen zu ihrem Schutzpatron wählten, sind gleichsam mit in das stille Geheimniß gezogen und geben dies einfach zu erkennen durch ihre Spenden, durch ihre Anwesenheit in den Kirchenstühlen, durch das Nachlesen in ihren Brevieren.

Der Mönch schlug die Augen hellauf und erwiderte nach einer langen Pause des Schweigens mit fast unhörbarer Stimme:

Wäre das nicht, wie sähen Sie mich in dieser Tracht!

Beide waren jetzt in einer fast sich schon annähernden, wärmern Uebereinstimmung in die Kathedrale getreten, die einem großen heiligen Walde glich von vielen tausendjährigen Eichenstämmen. Die Ueberfülle mit neugierigen Fremden vertrieb sie jedoch. Sie traten in einen stillern, schön erhaltenen Kreuzgang, der zur Seite lag. In der Mitte desselben sprudelte über grünem Rasen ein Springquell – es war still ringsum, friedlich, »poetisch«, wie der Mönch sagte ...

Der Reiz sich persönlicher zu ergründen, nahm zu und Bonaventura hatte sogar das Bedürfniß, einem Convertiten und einem Mönche vollends sein schweres Lebensgefühl zu erleichtern, und suchte dafür nach Anknüpfungen.

Der Pater gab sie bald selbst, indem er dem Priester, der ihm fast zu imponiren anfing, die Worte sprach:

Lieber doch noch die herumlorgnettirenden Engländer und um Trinkgelder handelnden Lohnbediente in unsern Kathedralen, als sich Kirchen nur erfüllt zu denken von Superintendenten- und Consistorialrathsweisheit! Gott! Gott! Darum zerriß man 1517 die zarten Verbindungsfäden des Ueberlieferten mit dem Gemüthe, nur damit in den Kirchen ewig geredet und das Echo der alten zum Redewiderhall gar nicht geschaffenen Wände mit tausendfach persönlich bedingter Weisheit gequält werde! Man spricht von dem Protestantismus als dem Bundesgenossen der Freiheit!

Nichts will die Freiheit des Volkes mehr, als die katholische Kirche! fiel Bonaventura ein.

Der Mönch stand still und betrachtete eigentlich jetzt erst zum ersten mal den Sprecher ...

Aber die Fortsetzung dieser Gedankenreihen unterbrach plötzlich ein Geräusch in einer Kapelle, die den zuletzt dunkler gewordenen Kreuzgang schloß ... Diese Kapelle lag völlig einsam und diente zur Aushülfe für die Winterszeit, wenn allzu schneidende Kälte die vorgeschriebenen Gebete und Messen in der Kathedrale besonders den ältern Priestern, den oft kränklichen und hinfälligen Domherren unmöglich machte.

Beim Verharren in der Kühle dieses entlegenen Winkels, über den Leichensteinen und Wappen der hier seit Jahrhunderten begrabenen Priester wollte eben der Pater beginnen: Der Stab Aaron's ist ein mächtiger, ein grünender und blühender in unserer Hand – als ihn jenes Geräusch unterbrach ...

Bonaventura ging näher, sah in die offene Thür, stieg einige dunkle Stufen nieder und zeigte dem Nachfolgenden, der von einer Eule oder einer Fledermaus sprach, einen großen Vogel, der aus den hundert Nestern an den Spitzgiebeln und Thürmen der Kathedrale sich hierher verirrt hatte, scheu in dem dunkeln Innern hin- und herflog und den Ausgang nach den hochliegenden kleinen Fenstern suchte, die auf der andern Langseite der Kapelle in die Straße gingen. Der Vogel umflog den Altar, riß die Leuchter um, verschob die Altardecke und warf einige Schalen nieder ...

Der Anblick hatte etwas Düsteres, ja bei der Dunkelheit und Einsamkeit des Ortes etwas Schauerliches. Zuletzt sah man den Vogel sich zwischen zwei der kleinern Säulen an der sogenannten Evangelienseite des Altars festklammern und wild und starr die Augen auf die Ankommenden richten ...

Greifen Sie das Thier! sagte Bonaventura. Ich will den Altar wieder herrichten ...

Der Pater stand in der Ferne und erbot sich zu der umgekehrten Hülfsleistung. Er ordnete den Altar und so langte Bonaventura den großen Vogel nieder, einen Habicht mit gekrümmtem Schnabel und spitzen Krallen.

Die Unheimlichkeit der Scene mehrte sich durch das Erscheinen eines rasch draußen auf dem einsamen dunkeln Kreuzgange daherkommenden Priesters, der kaum in die Kapelle geblickt hatte, auch schon zurückkehrte, fast erschreckend, sie nicht leer zu finden ...

Noch mehr ... Bonaventura erkannte den hier plötzlich Auftauchenden und wieder Verschwindenden auf den ersten Blick ... Es war Cajetanus Rother gewesen, sein Vorgänger im Amte zu St.-Wolfgang ...

Da lag das Ordnen des verstörten Altars seltsam nahe ...

Bonaventura betrachtete den Vogel, den er an beiden zurückgebogenen Flügeln rückwärts auf die Hand gebreitet hielt und der ihn wild und trotzig und wieder doch furchtsam und scheu ansah, fast wie die unbekehrte Seele eines Menschen, sprach er ...

Der Pater war bereits wieder voraus auf den sonnigen Rasenplatz des innern Geviertes der Gänge zurück und Cajetanus Rother war gleichfalls verschwunden. Daß er nicht zum Gebete gekommen, ersah man alsbald aus einer ihm begegnenden, ihn anredenden und mit ihm zurückkehrenden Dame. Und in dieser erkannte Bonaventura trotz des von ihr, als sie hier Beobachter sahe, plötzlich übergeworfenen Schleiers zu seinem Erstaunen sogar eine der Töchter des Herrn Schnuphase.

Alles das währte nur einige Minuten, hinterließ aber auf lange und tief einschneidend einen Eindruck, dem der Mönch, als ihm das freiere und leichtere Aufathmen selbst Bedürfniß wurde, das Wort der Erklärung gab:

Lassen Sie den Vogel fliegen! Das Thier ist ein Bote des Satans! Nur deshalb scheint es so grimmig auf uns, weil wir ihm ein Rendezvous gestört haben!

Bonaventura warf den Vogel in die Höhe. Dieser schoß auf und verschwand auf dem grauen Schieferdache des Langhauses der Kathedrale.

Schweigend verließen beide den Kreuzgang und das Gebiet überhaupt. Man wollte noch einige andere Kirchen besuchen ...

Es konnte Bonaventura nicht entgehen, daß der Mönch in seltsame Aufregung versetzt war, die ihn seine bisherige bewußte und selbstgefällige Weise fast aufgeben ließ. Wie über irgendetwas Gespenstisches hatte sich sein Auge vergrößert, die Runzeln, die schon über der Stirn des kaum Dreißigjährigen lagen, zogen sich in die Höhe, er zupfte an dem Strick, der ihn umgürtete, um die Kutte höher zu ziehen; so fast, als fröre ihn ...

Endlich, an einem großen alterthümlichen Hause, schien sich der Mönch wieder erholt zu haben von dem Eindruck, den ihm die Scene in der Kapelle gemacht hatte. Am Sonnenlichte athmete er wieder auf und ließ halb mit einem, wie es schien vom tiefsten Innern kommenden Seufzer, halb aber auch wieder hinblinzelnd auf Bonaventura, die Worte der Schrift fallen:

»Wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, da werdet ihr leben!«

Bonaventura kannte, schwer genug (wie er sich zu gestehen nie schämte), diese allein erst wahrhaft lebendig machende Kraft des Geistes und nickte Beifall.

Der Pater fühlte sich nun ermuthigt, zur frühern Schärfe seiner Aeußerungen zurückzukehren. Er klagte die Priester an, denen er vorzugsweise den Verfall des großen Kirchengebäudes schuld gab.

Kennen Sie dies Haus hier? fragte er und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er schon fort: Der Sitz des Capitels ist's! In dem Hause hier mit seinen zahllosen Fenstern, langen Gängen und auf die Ewigkeit angelegten Oefen kommen aus vierundzwanzig Gegenden auf ihre alten Tage vierundzwanzig Menschen zusammen, zwei auf jeden Jünger Christi, und – ja, das ist ihr Unterschied – einer spricht und geht und raucht und schnupft anders als der andere. Und noch sind Greise darunter, die einst auch unsern Herrgott abgesetzt haben in der Französischen Revolution! Domherren, die mit Hontheim von Trier eine deutschbischöfliche Kirche gründen wollten, frei vom Papst, eine constitutionelle, die in den emser Punktationen schon ihre Charte-Vérité hatte ... Alle haben sie noch über Voltaire gelacht und davon sind ihnen die Runzeln nun so stehen geblieben wie lachenden Porzellanmännern; denn sie lachen auch bei Erlebnissen, die ihnen das Weinen nahe bringen sollten, ja sie wissen nichts von diesen stehen gebliebenen Mienen, sie weinen wirklich mit diesem alten Voltairelächeln! Und gerade, als wenn sie wüßten, daß sie den Feuertod verwirkt haben, so heizen sie ihre Oefen ein in ihren großen kaltgründigen Stuben! Wälder stecken sie in die Flammen und doch erwärmen sie nicht den innerlich schauernden Frost! Furchtsam verrichten sie ihre Aemter am Hochaltar, wo sie kaum noch die Stufen des Chores ersteigen können, und bei den großen römischen Missalen, die neben ihnen aufgeschlagen liegen, bei den durchgestrichenen Noten des Antiphonales werden sie gespenstisch nur an die Todtenköpfe des Beinhauses erinnert. Ach, aus Angst der Seele wirft sich dann einer oder der andere auf das Studium eines alten Kirchenvaters! Da drüben, wo Sie die grünen Vorhänge am Fenster zugezogen sehen, wohnt einer, der sein ganzes erspartes Vermögen an eine Herausgabe des Origenes hingegeben und hinterher bedeutet worden ist, daß Origenes nicht zu unsern Heiligen gehört und den Protestanten zu überlassen ist. Der Arme wird dieser Tage sterben, ist vielleicht schon todt, und seine aus theuer erstandenen Manuscripten gesammelten verschiedenen Lesarten werden ihm ins Grab folgen! Dort – da wohnt der Kanonikus Martinus Taube! Krank kann er werden, wenn im Kattendyk'schen Hause jemand dreimal hintereinander zum Diner eingeladen wurde und Frau Commerzienräthin ihn einen angenehmen Gesellschafter genannt hat, an den sie sich gewöhnen könnte! Nebenan – da wohnt einer, der mit dem Hause Kattendyk selbst Geldgeschäfte macht ... Dort dem andern da ist das Dasein ganz in Whist und Boston aufgegangen! Und fragen Sie ihn, ob Sanct-Goar in Trier seine Einsiedlerkutte wirklich an einem Sonnenstrahl aufhängen konnte, er wird es mit einem lauten und deutlichen: Ja! versichern, nur um nicht aufgehalten zu werden, ein glückliches à tout zu machen. Ha diese Priester! Sie können wie junge Mädchen eifersüchtig sein auf die Cirkel, wo nur ihre Hände geküßt werden, nur ihre Scherze belacht! Entschuldigen Sie nichts! Es ist gut, daß es einen großen Geistessturm gibt! Die faule Ruhe des Friedens hat Ungeziefer selbst im Rock des Herrn nisten lassen! Ausgeklopft muß auch der wer den, nicht blos der Wams der Kriegsknechte! Tüchtig! Tüchtig! Und von uns selbst! Hören Sie, unsere Trommel wirbelt –

Der Pater wurde in seiner wilden Rede unterbrochen. Eben zog eine Militärcolonne mit kriegerischem Spiel über den Platz, wo sie einsam gestanden ...

Als es stiller geworden, sprach Bonaventura:

Pater! Ich meine, je höher ein Priester steht, desto mehr wachsen seine Sorgen, die Ansprüche seiner Verwandten, die Zumuthungen seiner Bedürftigen! Werden wir alt, so suchen ja gerade wir nach Augen, von denen uns doch ein klein wenig Liebe und Sehnsucht bewahrt werden möchte, auch wenn wir todt sind! Keine Familie zu haben, es bewahrt uns lange vor Sorge und Kummer, und doch wird Familie zuletzt unsers Herzens ganze Sehnsucht! Nun sparen wir für andere, schenken, opfern, wollen Menschen haben, die irgendwie die unserigen sind! Das wird zuletzt eine Krankheit, die ebenso ihre Symptome, den Geiz, die Geldbegierde hat, wie unser schon in jungen Jahren sich meldendes Verlangen nach – Bequemlichkeit!

Bonaventura sprach das so hin, wie wenn er es ebenso auf der Kanzel hätte sagen können, ohne Menschenfurcht. Sein Auge glänzte, sein Stirn umzog sich mit dem lichten Schein der edelsten Unbefangenheit.

Sie sind ein milder Versöhner! sprach der Mönch ... Wissen Sie denn, warum Sie herberufen sind?

Ich hoffe es zu erfahren, erwiderte Bonaventura.

Ich will es Ihnen sagen! Irgendeiner dieser Priester alten Stils hat Sie irgendwo gesehen, hat Sie predigen hören, und da geht es wie in Göttingen, wo ich die Rechte studirte. Die alten Professoren wehren jede Neuerung ab, lassen kein neues System, keinen jungen Docenten oder Außerordentlichen aufkommen. Plötzlich merken sie, daß die Frequenz der Universität abnimmt. Des Goldes, das von der Quästur kommen soll, wird immer weniger, die Doctorhüte bleiben auf dem Lager liegen, die gelehrte Jugend Deutschlands, die Gott sei Dank! doch noch nicht ganz aus Freitischseelen besteht, drängt sich in jene Städte, wo die Lehrstühle der in Göttingen verurtheilten Systeme stehen. Nun wird den Geheimenräthen Angst! Jetzt halten sie einen großen Rathschlag, und siehe da! Sie senden eine Deputation gen Hannover und erklären, die Facultät böte eine Lücke, man müßte die Vertreter eines neuen Systems berufen. Ministerielles Erstaunen – Stühle, auf die sich die Excellenz vor Ueberraschung niederlassen muß ... Sie meinen, meine Herren? Sie befürworten –? In den »Gelehrten-Anzeigen« hackten Sie ja regelmäßig die Vertreter dieses Systems zu göttinger Wurst zusammen? – Thut nichts, Excellenz! Mangel an doppelläufigen Pistolen – Und nun errichtet man einen neuen Lehrstuhl, beruft denselben jungen früher verfemten Irrlehrer und die akademische Jugend des heiligen römischen Reichs findet wieder den alten Weg an – die »Leine«, die Honorare kommen in Gang, die Doctorhüte fabricirt wieder »Vater Bethmann« nach wie vor, die alten Herren frischen sich mit dem jungen Blute wieder auf, wie in Arnim's »Kronenwächtern« die Transfusion des Blutes in praxi ausgeführt wird und ebenso denk' ich mir: Wenn in Städten, wie diese, die Gesinnungen zu weltlich werden, die Beichtstühle zu leer stehen, die Büchsen und Becken beim Opfern zu viel Kupfer abwerfen, die zweischlächtigen Bastarde der gemischten Ehen nur in den Taufbecken der Protestanten Stolgebühren zurücklassen, dann müssen frische, fromme, freudige Gemüther –

Wiederum aber konnte diese dem Eindruck, den Bonaventura dem Mönche machte, dargebrachte Huldigung nicht weiter kommen. Eine Volksmenge brauste daher, Vorläufer eines neuen Soldatentrupps, diesmal der großen Wachparade. Es war schon die Mittagszeit. Wie eine rauschende Flut stürzten sich die Accorde einer Janitscharenmusik über die Worte des Sprechers ...

Der Mönch schwieg; beide Wanderer standen still und ließen die Truppen an sich vorüberziehen ...

Kennen Sie den Kirchenfürsten? verstand sich der Mönch wiederholt zu einer – Frage, als es ruhiger geworden.

Aus der Zeit, als er noch Generalvicar war!

Reden Sie mit ihm, so bitt' ich, sprechen Sie Gutes von mir!

Bonaventura sah den Mönch erstaunend an.

Ich habe die Weihen nicht! Ich bin nicht Priester! sagte der Pater.

Auf Bonaventura machte dies Geständniß einen tiefen Eindruck. Es war ihm, als fiele ihm eine Last vom Herzen. Pater Sebastus war kein Priester! Diese Hand, die Jérôme von Wittekind erschoß, die einen Vater ungerächt gelassen, war so nicht entsühnt, daß sie Segen austheilen, das Brot des Lebens spenden konnte – und jetzt verstand Bonaventura die Widersprüche in dem Wesen seines Begleiters – die Demuth schien ihm noch nicht zur neuen Natur geworden – sie erstrebte vielleicht nur das letzte Ziel des neuen Ehrgeizes – die Weihen – und Stolz und Leidenschaft schienen die alten geblieben ... In seltsamen Wirbeln ging sein schwankendes Urtheil.

Da kamen jetzt vier Männer daher ... Sie grüßten, standen still und es fanden gegenseitige Vorstellungen statt.

Benno war es mit seinem Freunde Thiebold, mit dem Assessor von Enckefuß und einer seltsamen Erscheinung, die sich zwischen dem Arm des letztern und dem Arme Thiebold's hielt ... ein jugendlich aufgefrischter Greis, von jenen selbst beim Weinen lachenden Gesichtszügen, wie sie der Mönch eben bei den alten gezähmten Voltairianern stereotypirt fand, den Bart, die Haare gefärbt, ein seltsames Bild unter drei jungen Männern, von denen wenigstens Benno und Thiebold die Lebensfrische selbst waren ...

Herr Rittmeister von Enckefuß! ... Herr Pfarrer von Asselyn! ... hieß es.

Der Mönch stand starr ...

Die Gruppe wagte ihn nicht ganz in ihren Kreis zu ziehen ...

Herr Doctor! sagte ihn erkennend der Rittmeister – in leichter und fröhlicher Anrede ... Es gab eine Zeit, wo Sie's gar nicht abgeschlagen hätten, mit uns auf den Hahnenkamp zu gehen und ein Glas Champagner zu trinken! Wir haben ihn da besser als im Englischen Hof! Jetzt freilich –

Der Mönch sah den Sprecher an, als irrte er sich in der Person. Ja es war ein Blick voll Größe und als wollte er sagen: Ich spreche armenisch und komme vom Libanon!

Benno fixirte den Pater von oben bis unten und würde den vor Verlegenheit verstummenden Rittmeister in der Erkennung unterstützt haben, wenn nicht Thiebold Bonaventura's Bekanntschaft zum ersten mal gemacht hätte. Da gab es denn ein Bestürmen mit dem ganzen Feuer des Antheils, ein Aufrufen zur Vergleichung der Aehnlichkeit mit dem Onkel Dechanten, ein lärmendes Erörtern der unangenehmen Nachrichten für Frau von Gülpen, daß nun eine andere Conversation gar nicht mehr aufkommen konnte.

Der Mönch, wie nicht im mindesten berührt von der Begegnung mit einem Manne, der ihm die trübsten Erinnerungen des Lebens zurückrief, wandte sich inzwischen und richtete, wie wenn nichts wäre, den Blick auf die Straßenecke, die mit Anschlagzetteln bedeckt war ... Man befand sich auf einem der vielen kleinen Plätze der Stadt, in der Nähe eines Gasthofs mittlern Ranges.

In Bonaventura's Klagen über die Verzögerung seines Aufenthalts mußte sich sein Bedauern mischen, von Benno hören zu müssen, daß diesen jede Stunde eine Weisung seines Principals über Land zu schicken drohte und, wie er sagte, sein halb schon immer gepackter Koffer ihn vielleicht heute Abend bereits wieder aufs Dampfboot begleiten könnte.

Ich hoffe morgen empfangen und verabschiedet zu werden! sagte Bonaventura und drückte damit für Benno eine Bürde aus, die er an dem lesend der Mauer zugewandten Begleiter zu tragen hätte ... Und in dem Rittmeister von Enckefuß sah denn nun Bonaventura eine Persönlichkeit, die vielfach genannt wurde, sprach man von den Zerwürfnissen des Kirchenfürsten mit der Regierung und einer schon uralten Verfeindung des Domherrn Grafen von Truchseß-Gallenberg mit dem herrschenden Systeme ... In seiner Heimat drüben erfolgte nach geistlicher, dann westfälischer Herrschaft die Uebernahme der Zügel des Regiments 1815 schroff und im Geiste solcher Sieger, die von der Demüthigung des Corsen triumphirend heimkehrten und in den neugewonnenen Ländern und Städten als Wächter die wilden Söhne des Heerlagers zurückließen. Kurze Zeit hatte der Corse auch die Söhne dieser Länder in Waffen den übrigen deutschen Brüdern gegenübergestellt und nun trat unter Verhältnisse, wo aus jedem nur erdenklichen Grunde der Politik die Versöhnung hätte herrschen sollen, doch, wie einmal die menschliche Natur ist, die Vergeltung. Ein tüchtiger Heerführer befehligte in der Hauptstadt des neuerworbenen Landes. Milderte an ihm sein Verdienst die Wildheit und konnte eine gewisse barsche Treuherzigkeit, der man im rechten Augenblicke sogar Gemüthvolles abgewinnen konnte, ihm manche gute Wirkung sichern, so verdarben das, was seine Oberleitung noch allenfalls gut machte, die Untergebenen. Sein eigener Sohn war es, ein junger Offizier, der auf dem so gänzlich verschiedenartigen Boden die Sitten der Heimat einführen wollte. Der Husarensäbel des Rittmeisters von Enckefuß zerhieb alle Schwierigkeiten, deren sich für den alten General, seinen Vater, immer zahlreichere fanden. Verhältnisse, Vorurtheile, Meinungen, Gewohnheiten wurden verletzt, mit ihnen die Personen. Die Reizbarkeit erhöhte sich. Zu Kränkungen kam es, die niemand mehr mit der dem dortigen Menschenschlage eigenen Selbstbeherrschung, die man auch Trägheit nennen mag, verwinden mochte; bald standen sich die höhern Stände gegenüber. Einige der jüngern Domherren, Geistliche aus den ersten Geschlechtern des Landes, wurden von dem Militärgeist, der seinen Säbel auf dem Straßenpflaster nachschleppen ließ, auch auf dem neutralen Boden der Geselligkeit, vorzugsweise im Casino der Stadt, geneckt und, als sie es ihrem Amte gemäß schweigend hinnehmen mußten, mit spottenden Worten bezeichnet. Es kam zu einem Ehrenstreite, an dem die Stadt, die ganze Provinz theilnahmen. Zwei junge Domherren waren durch wiederholte Beleidigung in der Nothwendigkeit, sich von den Offizieren Genugthuung zu erwirken. Welche konnten sie erlangen? Als Priester durften sie die Waffe nicht führen. Ihren Stand zu verlassen verhinderte eigene Neigung und der durch Familienstatut gebundene Wille. Sie klagten vor Gericht. Dies konnten sie nur da thun, wo der Rechtsspruch vom jenseitigen Feldlager kam. Nach langem Processiren kam es zu einem Austrag, der ihrer Ehre allerdings einen dürftigen Strohhalm bot. Vor den Gegnern hatten sie einen zweifelhaften Sieg gewonnen. Neue Verwickelung, neuer Hader. Da tritt der einzige Bruder des Domherrn, der Träger des Geschlechts, in die Schranken und wird, sowie später in unedlerer Veranlassung Jérôme von Wittekind, im Duell von jenem Rittmeister der Husaren erschossen ... An des Bruders Grabe soll Priester Immanuel, der Domherr Graf von Truchseß-Gallenberg, damals einen nur stillen Schwur gesprochen haben, vollkommen aber vernehmbar den Geistern Innocenz' III. und Gregor's VII.

Nun der Anlaß dieser Irrung, der alte Husar da, sorglos, seinen gefärbten Schnurrbart drehend und unterhaltend sein »junges Volk« von der »Witwe Clicquot« – und das sogar in einer Weise, der Bonaventura, um seine eigene ehemalige Fähnrichschaft von ihm angegangen, gar nicht gram sein konnte ... Ihm waren diese ghibellinischen adeligen Landsknechte geläufig, die mit unendlichstem Leichtsinn Hab' und Gut im Würfelspiel in einer Nacht verknöcheln konnten und dennoch, wenn die Drommete gerufen hätte zur Schlacht, sich aufs Roß geschwungen haben würden und Leib und Leben nicht minder leicht aufs Spiel gesetzt.

Die fröhliche Gesellschaft wollte weiter gehen und sah auf den unter fast ähnlichen Lebensbedingungen, wie der fröhliche Rittmeister, stehenden Mönch, um Abschied zu nehmen.

Dieser stand abgewandt und las ...

Die Männer gingen ...

Bonaventura wartete, bis sich Pater Sebastus wenden würde ...

Endlich that er es ...

Leichenblaß ...

Bonaventura redete ihn um die Bekanntschaft mit dem Rittmeister an.

Der Mönch erwiderte nichts ...

Bonaventura sprach von einer Fortsetzung des Spaziergangs am Nachmittage ...

Kein Wort der Entgegnung ...

Nur mit seinen magern Händen zeigte er jetzt über den Platz hin ...

Bonaventura sah einen Gasthof, an dessen Einfahrt ein Schwarm von Krüppeln und Bettlern sich drängte. Barfüßige Kinder, Greise, Blinde und Lahme, Frauen mit verbundenem Kopf, Hexen nicht unähnlich, eine Zunft von Menschen, die den Spruch, wir wären nach Gottes Ebenbild geschaffen, zur Satire machten, alles das drängte sich mit halbzerbrochenen Scherben am Eingang – ein Kellner hielt alle noch zurück –

In dem Blicke des Mönches auf jenes Gewühl erkannte Bonaventura, daß er sich den Armen anzuschließen im Begriff war ...

Mein Donnerstagstisch! sagte er und brach ebenso rasch ab, wie er vor einigen Stunden zu Bonaventura gekommen war.

Bonaventura sah ihm lange – lange – und mit Rührung nach ...

Sein Herz sagte ihm: Warum sollen es nicht die Kranken und die Armen sehen, daß ein Genius in den Fragen des Lebens vor ihnen nichts voraushaben will? Warum soll nicht ein einzelner unter sie treten und ihnen zeigen dürfen, daß Entbehrung jedem wehethut und daß Hunger, Durst und Frost nicht das Lebensloos der Armen allein sind, ja daß es eine Glorie höherer Genüsse gibt, die selbst ein Gebildeter allem vorzieht, wonach die Entbehrenden mit neidischem Herzen schielen! ... Und selbst der Einwand, der sich ihm aufdrängte, daß ein Mönch nicht arbeite und darum mit seinen Entbehrungen denen nicht gleichstehe, die in geringen Verhältnissen leben trotz ihres Fleißes, widerlegte sich seine noch unerschütterte Begeisterung für die Kirche durch eine eigene Auslegung der Schrift. Wenn wir nicht vom Brote allein leben, sondern auch vom Geiste Gottes, so darf zu diesem lebendigen Odem, der uns erfüllt und erhebt, auch ein festgehaltener äußerer Ausdruck des Uebersinnlichen gehören. Wie man die Kirchen schmückt, statt daß auch in schmucklosen derselbe Gott erkannt und gepredigt werden könnte, wie man seine Liebe durch ein Symbol ausdrückt, eine Blume, einen Ring, statt daß Worte ganz dieselbe Bedeutung haben könnten, so sollte nicht auch die äußerlich ersichtliche und vor der Welt festgehaltene Demuth, das Kleid und die Entbehrung des Klostergelübdes die immer bereite Vergegenwärtigung der Begriffe sein, die sie dem weltlichen Leben vorhalten und ihm gleichsam einbilden möchten? Edler, als der Spartaner sich Heloten hielt, um seinem Sohne die Niedrigkeit dienender Seelen zu zeigen, schien dem sinnend Nachblickenden der Christ sich Mönche und Nonnen halten zu dürfen, um in der Fülle der Ungebundenheit und des leidenschaftlichen Lebensgenusses auch die reinen Typen zu bewahren der Selbstbeschränkung und Nur-Auf-Gottbezogenheit.

Bonaventura speiste dann auf seinem Zimmer, bedient von einem ungeschickten Mädchen, durch dessen Unerfahrenheit hätte entschuldigt sein können, daß lieber, wie heute in der Frühe, eines der Fräulein Schnuphase mit schweigsamer Ehrerbietung, einer Martha gleich, erschienen wäre und das Serviren unterstützt hätte. Doch die seltsame Begegnung im Kreuzgange hielt wol die beschämten Heuchlerinnen fern. Daß Bonaventura nicht zu lange bei dieser Erfahrung verweilte, lag in der traurigen Gewöhnung seines Standes, derartige Eindrücke an Priestern wie an Laien fast täglich bedenken und in sich verwischen zu müssen.

Um einen katholischen Priester ist es einsam. Friede soll über sein Gemüth hinwehen, die Leidenschaften sollen schweigen, immer soll er innerlich beschäftigt sein. So wollte es Hildebrand, als er, um aus ihnen die Gnomen der römischen Zauberkunst zu schaffen, ihnen die Ehe verbot, die Verbindung mit der Welt und mit dem gemeinen Leben.

Von der Begegnung mit dem Mönche Sebastus war Bonaventura tief aufgeregt; doch wußte er den Gefühlen, die ihn bestürmten, keinen Namen zu geben. Er forschte ihnen auch nicht zu lange nach ...

Mahnen dann aber zuletzt die Geister zu gewaltig, stürmt es doch in der Brust, so haben die Lehrer der Kirche, unter ihnen tiefe Kenner des menschlichen Gemüths, dafür gesorgt, den Sinn zu heiligen, das Herz zu stillen, es zu bewahren – vor der Phantasie. Denn die Phantasie ist die gefährlichste Feindin des Einsamen ...

Mannichfaltige Rathschläge gaben die Seelenmeister, ihren Lockungen zu widerstehen ...

Bonaventura floh die Phantasie nicht, aber er dachte sich nie Zukünftiges, sondern nur Vergangenes ... Im Vergangenen – da konnte er schwelgen! Aber wie rang er auch, nur allein das Einst festzuhalten! Nur die Grenze zu wahren, wo nicht plötzlich ein rosiger Zukunftsschimmer in die Seele einbrechen konnte! Mit Zukunftsträumen beginnen die Irrpfade der Einbildungskraft. Ihrem goldenen Glanze verschließe das geistige Auge! Erwache aus jedem Traume, den es dich gelüsten könnte dir auf Zukünftiges zu deuten! Mögliches, Gehofftes ist ein Arom der Geister, das die Sinne betäubt, ein Zaubertrank, der in Paradiese versetzen kann, selbst unter den Schrecken der Wüste ... Schreit dann die Seele inbrünstig »wie der Hirsch nach frischem Wasser«, so gibt ihm die römische Magie eine vom Munde man möchte glauben der schäumenden Wuth des leidenschaftlichsten Seelenschmerzes gesammelte Aqua toffana ... Auch Bonaventura kannte sie ...

Wurde dem jungen Priester das Blut von einer plötzlichen Wallung durchglüht, rang er in der Noth des Aufschreis seiner gesunden Lebensgeister, so griff auch er nach jenen mechanischen Hülfsmitteln, die im Rosenkranzgebet den ersten Wassersturz, der Besinnungslosigkeit zu suchen lehrten ... Auch er zählte dann die Buchstaben der Evangelien und Episteln ... auch er rechnete, wie oft ein Wort sich auf einer Seite wiederholte ... Und wenn Paula's Name und ihre liebliche Erscheinung über seinen Geist wie eine sanfte Sphärenmusik sich senkte, so konnte auch er, um sich vor dem Vergehen in einem Meer von Sehnsucht zu retten, das liebliche Gedicht in Spee's Trutznachtigall:

Wenn Morgenröth' sich zieret

Mit zartem Rosenglanz –

statt vorwärts – rückwärts lesen. Half auch das nicht und klangen die Sphären zu berauschend, die Lockungen zu süß, so konnte er zählen, wie oft in einem solchen Gedichte ein einziger Buchstabe vorkam – und vielleicht nicht einmal der Buchstabe P!

Lacht nicht, ihr Feinde des Christenthums! Ihr am wenigsten, die besten Freunde desselben nach dem Mönch Sebastus, ihr Juden! Das eben brachte vielleicht schon Apella nach Rom. Mit solchen Glaubensspielen erfüllten schon am Jordan die Rabbinen das Wort des Psalmisten:

»Wie hab' ich dein Gesetz so lieb, o Herr! Den ganzen Tag ist es meine Betrachtung!«

Jeden Augenblick horchte dann Bonaventura voll Bangen, ob es klopfen würde und der Mönch zum zweiten mal einträte, ihn zu einem Nachmittagsgange abzuholen.

6.

Die Wirthin zum »Goldenen Lamm« war eine der rührigsten Frauen der Stadt.

Und wäre sie nicht auch die gutherzigste und wohlthätigste ihres Geschlechts schon von Natur gewesen, die kleine dicke, rundliche, noch immer hübsche Frau, die Beichtväter hätten sie dazu gemacht. Sie hätten ihr diese Lust am Spenden schon als Strafe auferlegt, da die gute Frau das gesundeste Leben liebte und ein leicht in den Adern rollendes Blut hatte ... Ja, sie wechselte viel mit ihren Oberkellnern – sie wechselte auch viel mit den Vertrauten ihres Herzens ... sie betrachtete aber dann die »Religion« wie ein Bad, mit dem man allen schlimmen Staub der Seele wieder wegspült und immer wieder frisch und gefallsam in die Abwechselungen der schönen Erde, in Landpartieen, kleine Badereisen, Theater und Concerte zurückkehrt.

»Die Tochter aus dem goldenen Lamm« einst genannt, hatte sie einen Sänger geheirathet, der sich bei ihren Aeltern, wie man zu sagen pflegt, »festgekneipt« hatte. Sie hatte dann diesen zum Wirth gemacht. Nachmals war er gestorben. Dann folgte unter gleichen Umständen ein Schauspieler. Auch von diesem wurde sie Witwe. Nun nahm sie das Leben ganz wie Semiramis, groß und frei, vom luftigsten Standpunkte. Aber gut war sie, unendlich gut, mildthätig bis zum Exceß, und dabei so stark und wohlgenährt, daß die Juweliere das Doppelte verdienten an den Ketten, die sie kaufte, dann ihren Verehrern heimlich zusteckte und sie sich, zur Genugthuung vor dem ganzen Dienstpersonal und den Stammgästen der Table-d'hôte und des abendlichen Schoppens, scheinbar wieder von diesen zurückschenken ließ ... Und niemand hatte dies Manöver mit größerer Gewandtheit ausgeführt als seinerzeit Jodocus Hammaker, der einige Jahre lang, vor der ominösen Hängegeschichte mit Dominicus Nück, auch der Vertraute ihres Herzens und ihrer Kasse gewesen war.

Mundet's euch heute nicht? rief die Frau aus einem Fenster, das in die Einfahrt ihres großen und geräumigen Gasthauses ging. Denkt Ihr an die Karmeliterinnen, wo morgen Nachmittag groß Tractament sein soll, wie bei einer Kindtaufe! Wird ja bei Euer Gnaden eingeladen, als käm' eine Prinzessin ins Spital und wollte die Suppe kosten, die dann auch einmal aus Fleisch gekocht wird!

Damit reichte sie dem »gnädigen« Bettelvolk aus der mit ihrem Fenster in Verbindung stehenden Küche in die dargereichten Scherben Gemüse und Fleisch und füllte selbst die Gefäße, die oft so defect waren, daß sie ihr unter der Hand zerbrachen. Jeden Montag und Donnerstag fand diese Austheilung statt, die Tage ausgenommen, die noch etwaige Vergehen und die Gebote des Beichtstuhls hinzufügten.

Diese »Abfütterung«, wie der Herr Oberkellner mit goldenem Siegelringe apathisch und seiner Stellung bewußt, sie benannte, mußte rasch geschehen, damit die Ordnung des frequenten Gasthauses nicht gestört wurde. Die Lahmen und die Blinden, die alten Frauen und barfüßigen Kinder durften sich nicht zu lange aufhalten und etwa die Gabe unter der Einfahrt oder im Hofe schon verspeisen, manche gar ohne Messer und Gabel wie die Wilden.

Die Wirthin schöpfte dabei immer aus, warf zuweilen ein schlechtes Stück mit einem derben Kraftworte an die Köchinnen hinter sich zurück und ruhte nicht einen Augenblick im Nutzen ihres Mundwerks.

Das Stück geb' ich ja keinem Hund, viel weniger einem Menschen! ... O die Metzger! ... Die bringen's aus! ... »Kaufe keinen Ochsen ohne Knochen, Madame!« sagte der neulich am Rothenthurm ... Nun? Steht mir nicht so lange! Marsch! ... Jesus Marie, was ist das für ein Topf? Ein halber Henkel kaum! ... Ich glaube, erst vorige Woche gab ich einen neuen! ... Riekeschen! ... hörst du! Mach' mir mal den Rock hinten ein bissel loser! Zwei Haken! ... So! ... s'ist mir heut ganz schlecht, denk' ich an die Frau, die sie die Nacht umgebracht haben! ... Weiß man denn immer noch nicht, Leute, wer's gethan hat? ... Wozu ist nun die wohllöbliche Polizei! ... Jeden vergessenen Nachtzettel straft sie, von jedem Fremden, der von auswärts kommt, will sie wissen, was er für eine Nase hat, aber was drinnen in der Stadt vorgeht unter den Spitzbuben und Räubern und Mördern –

Der Oberkellner rief den Aufhorchenden, die auf diese Art auch noch die Zukost publicistischer Neuigkeiten und über Welt und Zeit allerlei freisinnige Ansichten erhielten:

Marsch! Fort! Es kommen Fremde!

Nun, nun! rief nun wieder den Oberkellner verweisend die Wirthin. Geduldige Schafe gehen viel in einen Stall! Dann aber polterte sie doch wieder dem Oberkellner zu Liebe: Riekeschen, mach' fort, daß die Bagag' hinauskommt! Ihr Trampelthiere! Laßt doch erst die Kinder vor!

Vom Lärm des Bettlervolks und der Straße wurde die Rede der guten Lammwirthin übertäubt. Wagen kamen und gingen, Omnibus rollten, die Glockenzüge, die den Hausknechten schellten, wurden gezogen und jetzt bekam auch die Lachlust ein Schauspiel durch ein komisches Intermezzo.

Zwei Italiener begrüßten sich, wie es schien, nach jahrelanger Trennung ...

Der eine kam eben mit dem Omnibus, der andere empfing den Aussteigenden unter der Hausthür. Neben letzterm standen zwei jüngere, die auf ihren Häuptern Breter mit Gipsfiguren hielten und in dem Augenblick, als die beiden ältern die Zeichen der höchsten Freude austauschten, das Gleichgewicht verloren. Eine mit Strahlenkronen geschmückte Madonna fiel und zerbrach. Der ältere in grauem Kittel und Manchesterbeinkleidern, unser Napoleone, hatte jetzt mindestens fünf Dinge zu gleicher Zeit zu erledigen ... Einmal seinen aus London kommenden Bruder zu begrüßen, Marco Biancchi, einen scharfblickenden, schon graubehaarten Italienerkopf, dann ihm seine Söhne vorzustellen, dann wieder diesen ihre Unachtsamkeit vorzuhalten, nun wieder auf ein Fenster im fünften Stock zu zeigen, wo ein weiblicher Kopf herausschaute, ohne Zweifel Porzia, und dann doch wieder staunend auf die große Bagage seines Bruders Marco zu zeigen, die nun abgeladen wurde, und bei alledem auch noch die Umstehenden zum Kaufen zu ermuntern!

E questo possibile! rief er. Dopo quindici anni rivedersi encora! ... Asino, dove ai gli occhi! ... Questo e mio figlio! Il mio segundo! Questo il terzo! La sopra mia figlia ... Fa attenzione, asino! Di non dimenticare, quello che tu ai sopra la testa! ... Fratello! Caro fratello! ... Ma tu mi sembre un cavaliere! Cielo! Quel gran baulo! Attenzione cocchieri! ... Buon albergo! Proprio et buon mercato! ... Figuri kauf!

Alles das ging bunt durcheinander.

Bei allen diesen Vorgängen sitzt auf der dritten oder vierten Stufe der Treppe des Hotels Pater Sebastus und verzehrt mit Gabel und Messer, die ihm zur besondern Auszeichnung die Wirthin dargereicht, sein Gemüse und sein Fleisch ...

Er thut es sonst so hell umschauend, heute aber wie ein völlig Abwesender ...

Erbebend schon von der Begegnung mit dem Rittmeister und Landrath von Enckefuß, dem dritten in dem unheimlichen Bunde von damals, als man sich das Wort gegeben zu haben schien, einen Mann wie den Kronsyndikus, Sprossen der alten Sachsenherzoge, nicht die Folgen einer Uebereilung erleiden zu lassen – war sein Auge, irrend auf der mit Zetteln beklebten Wand, zu der er sich abgewendet, – auf Serlo's Weib und seine Kinder gefallen ...

Wenn man sonst von ihm sagte: Da ist ein Mönch, der sich wie die Heiligen in Dornen wälzen könnte! so hätte man es heute wol glauben mögen. Das Reden der Wirthin, das Durcheinander der Bettler, die Begrüßungen und die Ankunft der Italiener hörte er nicht ... Mechanisch verzehrte er seine karge Mahlzeit ... Schon war er mit ihr zu Ende, saß ermüdet, versunken und starr vor sich niederblickend, die leere Schüssel in der Hand, dicht an die Mauer gedrückt, um niemanden auf der lebhaften Passage der Treppe zu stören ...

Da kommt eine schon bejahrte, aber stattlich aufgeputzte Dame mit zwei leicht und behend die Stufen hinaufhüpfenden halbwüchsigen Mädchen ...

Plötzlich hielt die Frau inne, betrachtete ihn und redete ihn mit dem Gruße an:

Aber, Herr Doctor! Sind Sie es denn wirklich? Ja, kennen Sie mich denn nicht mehr, Herr Doctor Klingsohr?

Der Bruder Sebastus springt auf, stellt seine Schüssel zur Seite, betrachtet Madame Serlo-Leonhardi und Serlo's herangewachsene Kinder wie ein Irrsinniger, den jemand auf seine frühere Vernunft anredet und der sich darauf von ihm wie taub abwendet, während doch ein gewisser trauriger Blick der Befremdung auszudrücken scheint, daß ihm eine Ahnung nicht ganz fern läge von dem, was der Anredende meinen möchte und was er einst wirklich gewesen sein könnte ... Er sieht die erhitzt aus der zu ihrer abendlichen Vorstellung abgehaltenen Probe Zurückgekommenen mit zusammengedrückten Augen wie zweifelnd und in Furcht an und geht von dannen, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben.

Wer die Scene beobachtete und der in Erstaunen und in den lauten Ausruf ihrer Ueberraschung ausbrechenden Schauspielerin den vollen Glauben schenkte, daß dieser Mönch ein ehemaliger Bekannter von ihr, ein Doctor Klingsohr wäre, konnte in der That hinzufügen: Jetzt aber ist es ein Heiliger! Denn Pater Sebastus war vor ihr zurückgewichen, wie vor einer Bewohnerin einer ihm völlig fremden Welt; er hatte ihrer Annäherung sich entzogen, wie einer Unreinen ... Der Schein der völligen Entfremdung von seiner Vergangenheit hob und verklärte ihn fast.

Dennoch schoß er an den Häusern dahin wie ein Besinnungsloser ... Erst, als ihm jener Dämon, der im menschlichen Innern hockt und der selbst unserm tiefsten Schmerze höhnende Geberden machen kann, sagte: Siehst ja aus, als gehörtest du auch zum Mummenschanz! merkte er auf sich ... In dem kleinen Schatten der Mittagssonne sah er sich wie einen verhutzelten Gnomen durch die schattenlosen Gassen schreiten, in einer ihm wie jetzt erst auffallenden Kutte, barhaupt, barfuß ... Das ist deine Angst, mit Komödianten verwechselt zu werden, daß du so entliefst! sagten ihm jene innern Stimmen, die er schon sonst »Ironieen des Satan« genannt hatte und schon damals, noch ehe er an den Satan glaubte ... Irrend wankte er dahin ... Kindern hätte er sich anschmiegen mögen mit einem: Nehmt mich mit! ... In seine Wohnung wollt' er und fand sie nicht – es war eine kleine Zelle in einem ehemaligen Profeßhause der Jesuiten – dort gab es lange Gänge, selbst unterirdische aus den Zeiten her, wo die Kirchenfürsten diese Stadt als Regenten beherrschten und oft vor dem Trotz und dem Freiheitssinn der Bürger sich flüchten mußten – in eines dieser Verließe wieder, wo er schon öfter dahingetastet, dort mochte er sich verbergen, nur um die innern Stimmen, diese quälenden, zum Schweigen zu bringen ... An jeder Kirchthür verbeugt er sich ... an jedem steinernen Kreuze schlägt er eines auch auf seiner Brust ... die Momente der klarsten Anschauungen, des Witzes, der Unbefangenheit, der schärfsten Kritik über sich und andere, die er heute gehabt, weichen dem Paroxysmus, der schon damals im Mondenschein im Park von Schloß Neuhof die Gespenster Heinrich Heine's leibhaftig sehen konnte und von den alten Stammers redete, wie wenn sie säßen und Schön Hedwig beweinten, ihr Kind, das ihnen der wilde Jäger geraubt ... oder wie er seine Mutter sehen konnte, eine verschleierte Nachtwandlerin, mit der Lampe in der Hand und durch die Ahnensäle der Wittekinds schreiten ... oder wie er oft ganz deutlich am Strande der Ostsee Lucinden im nächtlichen Nebel den Klabautermann auf einem Schiffe zeigte ... oder wie er später, als er den Saft der Mohnblume wie alles erproben wollte, sich dem Gangesgott im Kelche der Lotosblume verglich ... Wie hätte ihn noch der Mord der Buschbeck schütteln müssen, wenn er den in Erfahrung gebracht! Nur war er nicht der Mann des Hörens, sonst hätte er längst davon vernehmen müssen ... Der Geist, der jetzt ihn jagte, war – die Erinnerung an Lucinden.

Immer tiefer kommt er in das Labyrinth der engsten Gassen ... Nichts will er sehen von den lichteren Straßen, selbst die nicht, wo die Zeitungsexpeditionen liegen, die seine neuesten Artikel verkaufen – dem Laden Klingelpeter's, wo eben die zinnernen Athanasiusmedaillen in die Welt gehen, schießt er vorüber ... Alte Frauen plötzlich, in seltsamen Trachten, den Kopf mit grellfarbigen Tüchern umwunden, sitzen vor verfallenen Häusern und zupfen Werg aus alten Matratzen ... Der Staub wirbelt auf ... Fremdartig gesprochene Laute wecken ihn ... Nichts von den Heiligen, nichts mehr von der Gottesmutter ... Bei den Juden ist er ... in der Rumpelgasse ... Hier wohnen ihrer Hunderte dicht beisammen, Kleider hängen an den Häusern, alte Möbel, versperren die Wege, Flaschen und Gläser stehen an den Fenstern und nun erst findet sich der Taumelnde zurecht.

Vor einem der rothbraunen Häuser, gebaut aus Steinen, die vielleicht übrig geblieben von damals, als die Vorvordern der Einwohner dieser Gasse sich einst selbst verbrannten, um der zu Zeiten im Mittelalter epidemischen Verfolgungswuth zu entgehen, stand der wie im Kreise Getriebene plötzlich still und betrachtete den Geschäftsreichthum einer Trödelfirma, die sich »Nathan Seligmann« nannte ...

Hinter ihm aber steht ein Mann, der ihn beobachtet. Es ist nicht unser Löb, der von ihm trotz des Judaeus Apella so altburschikos behandelte Anbeter der heute mit einem Blumenstrauß gefeierten jüdischen Druide Veilchen Igelsheimer, die dem Geschäfte ihres Verwandten vorsteht mit einer Kenntniß des Alterthums und des Gerümpels der Jahrhunderte, die Lucinde an der Maximinuskapelle geahnt zu haben schien, als sie dem Wirth zum »Weißen Roß« als den eigentlichen Wardein der von dem Knaben verkauften alten römischen Münzen den Ahasver selbst genannt hatte.

Eine andere Persönlichkeit war es, die den Mönch daherkommen und vor dem Trödelhause Nathan Seligmann's sinnend halten sah ...

Den Rücken auf einen Stock stemmend, der fast zusammenbricht von der weniger schweren, als vielleicht ermüdeten Last, denkt das etwa vorhandene Menschenstudium desselben beim Anblick eines in den Trödelkram verlorenen Franciscanerpaters: Pater Sebastus? Der Franciscaner? Will der Juden bekehren? Mit Veilchen Igelsheimer den Anfang machen? Fehlt ihm in seiner Klause ein Luxusgegenstand, den er dort einzuschmuggeln gedenkt unter der Kutte? Eine Lichtputze, eine Lampe zum Studiren, eine Laterne für die unterirdischen Gänge, wenn er die geheimnißvolle alte Pforte im Gewölbe des Profeßhauses finden sollte? ... Wie er die Kleider betrachtet! ... Doch nicht etwa den alten rostigen Ritterhelm? ... Doch nicht den Dreimaster und den Galanteriedegen dazu? ... Oder den Frack mit ellenlangen Schösen und die carrirten engen Beinkleider, die ihm vor Jahren ganz gut mögen gepaßt haben?

Der Späher, der selbst wie ein Irrender bald da, bald dort still gestanden und fast die Spalten der Thüren, die Risse der alten Häuser betrachtet hatte, als könnte er sich in sie verkriechen, ja als suchte er nur allein dem Sonnenstrahl auszuweichen, wie weiland der allein in der Nacht lebende Held Trojan, ein Vampyr der serbischen Sage – der Späher tritt in ein Haus zurück ... Der Mönch macht eine Bewegung, als wollte er weiter gehen ...

Bald aber erkennt der Späher, daß dies Weitergehen nur die bekannte Bewegung ist, die einen andern Entschluß maskirt. Einigemal wendet sich der Mönch, als hätte er sich im Wege geirrt, wäre unschlüssig, sich links oder rechts zu wenden, und ehe er noch darüber von jemand beobachtet zu sein glaubt, ist er verschwunden. Selbst für den Späher ist er es, der in eines der alten Häuser getreten ... Scheint dieser doch selber zu fürchten, belauscht zu werden.

Nach einer Weile tritt der Späher wieder hervor und sieht sich vorsichtig um. Die heiße Mittagszeit macht die Gasse menschenleerer als sonst. Dann an den niedrigen Fenstern Nathan Seligmann's vorüberstreifend, erkennt er den Pater durch die Trödelvorräthe hindurch ... Er befindet sich unter ihnen ... Was kann der Mönch dort wollen? Er scheint zu handeln? Um was? Er zeigt auf seine Kutte ... sieht er dich? Vorübergleitend entschlüpft der Lauscher.

Sein sonst so elastischer Spürsinn ist heute frei von aller Unternehmungslust.

Wankend schreitet auch er dahin ... nimmt einen Weg, er weiß es selbst nicht wohin ... an den Straßenecken wird ein Anschlag der Polizei angeheftet ... Hundert Thaler dem, der eine Spur zur Entdeckung des Mörders der Frau Hauptmann von Buschbeck angibt ... Sonst war er so flink, solche Summen zu verdienen, er, der alle Spelunken der Stadt, die Herbergen der Freude und des Raubes kennt ... Weiter wankt er, grüßt und achtet nicht des ausbleibenden Gegengrußes ... Gewohnt scheint er das ... Sonst studirt er jedem, den er grüßt, eine Frage nach seiner Lage, nach seinem Thun und Treiben und eine selbstgegebene Antwort an ... Auch heute hätte er Gelegenheit gehabt, seine gewohnten Glossen zu machen.

Da fährt Herr Bernhard Fuld in einem eleganten Coupé mit seinem jungen Weibchen neben sich in ihre Villa hinaus nach Drusenheim ...

Der Späher scheint zu denken: Sie fahren wie mit Extrapost! Man glaubt wegen des europäischen Gleichgewichts und vielleicht ist nur eine neue Toilette aus Paris gekommen, die sich vor Ungeduld Madame selber abgeholt hat!

In einem Gig fuhr sich hinter ihm her der Freund der Fulds, Herr Gebhard Schmitz; ein Groom sitzt neben ihm, die Hände ineinander geschlagen, wie wenn er der Herr wäre ...

Der Späher sieht ihm nach und weiß vielleicht schon: Ist die bestellte Caricatur am nächsten Sonntag fertig, wenn ihr eure Landpartie macht?

Ein offen zurückgeschlagener großer Wagen mit zwei Damen und einem Herrn biegt um eine Straßenecke ...

Der Späher erschrickt im ersten Augenblick, zieht tief den Hut und blickt dem Wagen nach: Madame Hendrika Delring! Sie fährt vor dem Fünfuhr-Diner noch mit ihrem Mann aufs Land, weil sie von einer Gelegenheit gehört haben, für den ersten – gemischten – Enkel des Hauses Kattendyk eine vortreffliche Amme zu bekommen ... Die neue Gesellschafterin wol bei ihr? ... Nein! Die schreibt an ihren Freund Hunnius, daß im Domstift immermehr Platz wird ... Oder ist es die Kleine –

Aufschreckend wankt der Beobachter dahin ... immer weiter und weiter ... allmählich ermannt er sich und tritt in eine Weinschenke, sich in der Hitze eines Nachsommertages zu stärken ...

Doch des Redens über den Mord auch hier kein Ende ...

Man klagt die Frau Hauptmännin an und sagt fast, ihr wäre recht geschehen, und schon setzt er an, sie zu vertheidigen und eine ganze Rede wickelt sich in ihm auf: Sehr wohl kannt' ich die Aermste, aber glauben Sie mir, meine verehrtesten Herrschaften, sie war mehr krank als böse! Die Vortrefflichste glaubte an die Seelenwanderung und war in Fledermäuse verliebt, weil sie hoffte, die würden sie einst durch die Lüfte ins Jenseits tragen! ... Für den König der Fledermäuse sparte sie gefangene Mäuse und Batzen und Coupons ... O wie oft habe ich sie gebeten, ihre Guitarre neu beziehen zu lassen! Aber nur zwei Saiten wollte sie auf ihr dulden; die eine war sie, die andere Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort, genannt der »Abtödter« ... Wie oft pfiff sie mir sein Leiblied, als er noch schmuck und grün durch die Wälder daherkam aus Holland und Java, wo ihn die Indier gelehrt hatten, wie man Menschen so weit bringen kann, nur noch dreißig Pfund zu wiegen, die Hälfte vom Nettogewichte meines Bauches vor dem Mittagessen! .. O ihr hättet sie sehen sollen, die Frau »Baronin«, wenn sie die Thür verschlossen hatte und durch das Schlüsselloch mit mir über den Stand der Zinsen und die Leiden der westfälischen Domänenkäufer sprach, deren Obligationen so werthloses Papier geworden sind! ... Das Schluchzen dann hinterm Schlüsselloch hätte euch gerührt und ihr hättet ein Gemüth bewundert, das dreißig giftige Pfeilspitzen liegen hatte und doch allen denen vergab, die sie beschuldigten, ihre Dienstboten nur aus bösem Herzen zu quälen, während es nur ihr unglückseliges Loos war, daß sie in der Nacht Mitgefühl bedurfte, zufällig zu einer Stunde, wo frische und gesunde junge Mädchen zu schlafen pflegen! ... Eine, ja Eine, die ist ihr einmal zu Dank gewesen! Das hat sie mir oft erzählt! Die blieb ein Jahr, neun Monate, funfzehn Tage, drei Stunden bei ihr! Die hat sie dann aber auch, so sagte sie oft, ausgestattet wie eine Prinzessin! Auf ein vornehmes Schloß hat sie sie gegeben, wo sie wie eine Prinzessin gehalten wurde; nur seidene Kleider und goldene Spangen mit Juwelen durfte sie da tragen; aber sie war ja selber schuld, kicherte die gute Baronin hinterher, daß sie's nicht lange genoß ... der Nickel wollte auch die Krone haben! sagte sie. Und dann hustete die Edle wie aus feuchten Kellern heraus die liebreichen Worte: Na aber, da haben wir sie schön abgeführt!

Möglich, daß der wirkliche Vortrag dieser Erzählung durch die Erinnerung an das grelle Lachen gehindert wurde, in welches die Hingeopferte nach solchen und ähnlichen vertrauten Mittheilungen sich in Gegenwart ihres guten Freundes und Rathgebers zu verlieren pflegte ... Oder was ist es, daß er die Wein schenke verläßt? .. Es ist drei Uhr ... Am Hahnenkamp begegnen ihm vier fröhliche Menschen, unter ihnen sein wärmster Beschützer nächst Dominicus Nück, der Assessor von Enckefuß ... Aber ha! Auch Benno von Asselyn, dem er noch gestern Abend so dicht unter die Augen getreten, als wollte er sagen: Sieh mich genau an! Ich bin's! Unglücksmensch, du, du, den ich möchte – warum sahst du mich so oft Abends von Rendezvous kommen, wo eine siebzigjährige Eule, getrennt von mir durch eine verschlossene Thür, mir ihre Gefühle und ihre stolzesten Hoffnungen auf die Beschämung eines gewissen Ungetreuen, des grünen Jägers, erzählte ... Warum blickst du mich so forschend an? Mensch! Was wendest du so den Kopf zum Assessor? Dich, dich möcht' ich –

Ganz gehorsamster Diener! ... Tief verbeugt er sich bei alledem und lächelt ...

In fröhlichster Champagnerlaune grüßt Thiebold de Jonge und macht sich den gewohnten »Witz« mit ihm, im Gespräche Anspielungen zu machen auf das unenträthselt gebliebene Hängen des Sporenritters in partibus, diesen »Witz«, der ihn seit Jahren verfolgt, der ihn so martert, so quält, daß er im Begriff ist, nach Amerika auszuwandern – für immer ...

Aber bei alledem zieht der Erbebende seine weiße Halsbinde in die Höhe und sagt, im Stil eines Belesenen, zu Thiebold de Jonge:

Herr de Jonge! Ein Wald! Ein Wald! Ein Königreich für diesen Wald! Bei Witoborn! Wann kann ich aufwarten?

Ihre Eichenwälder sind zu jung! Nicht ein Ast, an dem sich eine rechtschaffene Seele aufhängen kann! Hahahaha! ...

So lachte der Spötter und die andern gingen gleichfalls lachend oder fragend und die Köpfe zusammensteckend an ihm vorüber ...

Daß aber auch der Assessor lachen konnte! knirscht es in seiner Seele ...

Er überlegt sich aber alles ... Er wohnt in dieser Stadt mit dem Damoklesschwert überm Haupte und sollt' es eigentlich gern haben, wenn ihn zwar nicht heimlich, doch offen die Polizei fallen läßt. Er muß sich's ja sauer verdienen, daß man ihn schont und damals auf Nück's Lachen Rücksicht nahm, als er nach Aachen wollte, nach »Spaa«, wo er später sein »ihm gehörendes« Geld wirklich verspielt hatte ... er mußte sich's verdienen durch die doppelte Tragfähigkeit seiner Schultern, die linke geistlich, die rechte weltlich ... und in der Mitte ein Herz voll Ehrgeiz sogar und ein Mensch, der studirt hat! Sieh! Dieser Herr von Asselyn ... Außer Nück und Schnuphase weiß niemand in der Welt als er, daß er in Abendstunden mit Hexen schwärmen kann ... Wie er sich vorbeugt zum Ohr der andern und wie sie auf mich zurückschielen! Mensch – dich schleudr' ich aus dem Wege!

Ein Kieselstein flog vor seinem Knotenstock, daß davon beinahe Herr Joseph Moppes getroffen wurde ...

Dieser kam wie immer mit Noten unterm Arm und probirte im Gehen seine Quartette ...

Selbst Joseph Moppes, der als halber Virtuose doch Beifall und Popularität nöthig hatte, dankte nur halb dem schnell gebotenen Gruße ...

Nun wankt der fast zusammenbrechende Fuß durch die Marcebillenstraße ... dicht vor dem Hause des Mannes, den er sollte aufgehängt haben, vorüber ... Es ist dasselbe neue stattliche Haus, in dem jetzt bis vier Uhr Nachmittags die Arbeit des Procurators ruhte ... nebenan säuselnd sind's die schönen Linden des Gartens, der zum Hause gehörte, Bäume, die noch gerade so grün und stillbewegt standen wie damals, als er um die Mittagszeit aus dem Fenster gesprungen und das in Gedanken mitgenommene Schlüsselbund zurückgeworfen haben sollte, die Tasche mit 30000 Thalern beschwert ... In diesen Garten blickte niemand, als die Zöglinge des daranstoßenden Convicts, die gerade eine Freistunde hatten und an dem Gartengrün die müdegearbeiteten Augen stärkten und ihn nun sehen, ihn verrathen mußten ... Fünf Jahre war es her, Hammaker war durch Nück's Zeugniß von jedem Verdacht freigesprochen, er durfte zu jeder Zeit in das Haus des Mannes eintreten, den er aufgehängt haben sollte; aber wer erträgt die Qual des Verdachts, den Spott, die Anspielungen auf die Procedur des Hängens, wenn die Menschen mit ihm redeten und vom Binden, Schnüren sprachen, ja auch nur von einer »verwickelten« oder »kurzabzuschneidenden« Verhandlung ... Konnte Er nicht den Kopf erheben? .. Noch heute früh nach der Aufnahme des Thatbestandes und der Rückkehr des Assessors vom Frühstück bei Benno von Asselyn ... was war nicht alles, als er zitternd unter den Menschen weilte und, zum Tode erblassend, den Assessor auf sich zukommen sah, zwischen ihnen besprochen worden! Die drohende Zunahme der Aufregung, die Stiftung von Gesellen- und Meisterbündnissen, manche Verbrüderung zu Rath und That, die man nicht hemmen konnte und die doch auszuarten drohte im Hinblick auf die Zeit und die schlimmen Ausbeuter der Leidenschaften ... Die Gemüther auf dem Lande und in der Stadt von den kirchlichen Fragen aufgeregt ... zwei Richtungen sich kreuzend, die politische und die hierarchische, eine der andern zur Seite gehend, solange das nächste Ziel dasselbe ... Schon Berathungen hier, Versammlungen dort ... Stürmer und Dränger, wie sie in Kocher am Fall geredet, überall ... unter dem Landvolk Wortführer, die schon anfangen bei verschlossenen Thüren zu sprechen ... Die Regierung von anonymen Warnungen aufgeregt ... Winke von den Gutgesinnten, Drohungen von den Feigen ... Namen genannt, die die Häupter einer Erhebung werden sollen, wenn es dem Lande an die Kränkung seines Theuersten gehen sollte ... Sogar Schnuphase auf den gefahrvollsten Bahnen; denn darin, daß er nur hin- und herreiste zur »Beruhigung«, gerade darin lag die Aufregung ... Im Hüneneck, an der Insel Lindenwerth, war der Herd des Ganzen bei einem großsprecherischen Wirthe Namens Joseph Zapf ... und der neue John Hampden, der neue Bürger Lafayette, der Sohn des Volkes, der einer möglichen Bewegung zum Haupte dienen konnte ... eben kommt er daher ...

Ein Mann mit kühnen Schultern und von freier Rede, ein Fürsprech im neubegründeten Severinus-oder Handwerkerverein ... Eine große, stattliche Figur von herculischem Körperbau, über die Vierzig hinaus, gerötheten Antlitzes, mit dem Ausdruck gutmüthiger, aber reizbarer Beschränktheit ... An dem unter einem langen Oberrock getragenen Schurzfell erkennt man den Küfer ...

Wie geht es Ihnen, mein lieber Herr Lengenich?

Ei, Herr Hammaker!

Endlich ein Mann, der sich über die Begegnung mit ihm zu freuen schien ...

Haben Sie endlich den Proceß gewonnen?

Welchen?

Den Drusenheimer! Schlagen Sie den Blutacker los? Sechshundert Thaler ja wol?

Neunhundert, Herr Hammaker! Ich schlag' ihn nicht los!

Eigensinniger Mann! Neunhundert Thaler! Viel Moos!

Die Ehre, Herr Hammaker! Die Ehre! Die Ehre! Was ist der Mensch ohne Ehre!

Ein wahres Wort!

Wir, denk' ich, wir beide wissen es!

Braver Mann! Aber was nützt Ihnen die drusenheimer Ehre?

Wo ich geboren bin, Herr! Bin in die Welt mit Ehren hinausgezogen! Der Acker soll wüst und leer bleiben, bis die Gemeinde und mein Bruder nicht mehr hinter mir rufen: Ab instantia!

Erhaben! Aber –

Verkannt, Herr Hammaker!

Aber –

Ein Ehrgefühl muß der Mensch haben, wo ein Nadelstich aus Leben geht!

Wie fühl' ich mit Ihnen!

Ab instantia – Wegen Mangel an Beweis! Alle glauben und wissen meine Unschuld! Nur ein Bruder und die drusenheimer Gemeinde sagen: Laß hier deinen Acker! Sagen's so zweideutig, als wenn ich –

Ruchlos! Ruchlos!

Dornen und Disteln und Steine sollen drauf wachsen – ich bin Bürger in Drusenheim und bleib' es!

Wenn nur – Seligmann nicht Auftrag hätte – Ihnen zu bieten, was Sie wollen! Fuld's junges Weibchen will einen Pavillon hinter ihrer Villa haben! Es ist so prächtig draußen! Waren Sie lange nicht dort? Ach, meine Heimat! ... Ach, meine alte Mutter! ...

Guter Herr Hammaker! Auch Sie verkannt! Um diesen Acker hab' ich Thränen vergossen, mehr, als in Drusenheim Wasser fließt!

Das ist kein Wort, Herr Lengenich! In Drusenheim ist der Bach das ganze Jahr trocken und nur der Saft der Rebe fließt ... Eine Prise?

Zitternd wird sie dargereicht ... freudig angenommen. Lengenich und Hammaker, wie dieser ihm aufgeredet, sind die Opfer des Ab instantia-Absolvirens. Lengenich lebte in der Dunkelheit der Moppes'schen Weinkeller, wußte nichts von der Oberwelt, nicht einmal etwas von dem Mönche Sebastus, dessen Vater er beschuldigt worden ermordet zu haben, er sah nur immer, wenn es Licht um ihn wurde und er im Severinusverein präsidirte, den Himmel offen und die heilige Jungfrau mit der Wagschale der Themis in der Hand, wie sie ihm zuwinkte und alle Kronen der jenseitigen Gerechtigkeit an ihn austheilte. Seine Stimmung war die des geblendeten Simson, der zuletzt die Säulen der Paläste zusammenreißt ... Einen Proceß gegen den Kronsyndikus zu beginnen hatten ihm Nück und Hammaker entschieden widerrathen – fehlte doch vor allem jenes im ersten Augenblick von ihm an der Leiche gefundene Stück eines grünen Tuches, das so plötzlich damals abhanden gekommen ...

Glauben Sie Gespenster, Herr Hammaker? fragte Lengenich jetzt und wie heimlich.

Entschieden! sagte Hammaker und zitterte, obgleich er nur scherzen wollte ...

Ich sah den Mann, den ich soll erschlagen haben, neulich deutlich und als Mönch sah ich ihn, aber hager und lang – das Gesicht war es –

Der Deichgraf?

Stephan Lengenich erzählte, daß er kürzlich in den großen Weinkellern seines Principals, des Herrn Moppes, einsam gearbeitet hätte. Düster hätte die Lampe neben ihm gebrannt, mehrmals wäre sie ihm ausgegangen, wie zuweilen geschähe, wenn er gerade an den Fässern arbeitete, die an einem der kleinen vergitterten Fenster stünden, die in einen alten unterirdischen Gang einigen Lichtschimmer fallen ließen. Seit Jahren galt dieser Gang für verschüttet oder zum Aufbewahrungsort für Geräthschaften dienend, die zu den noch in der Nähe befindlichen geistlichen Häusern gehörten. Von seiner Arbeit aufblickend, erzählte Stephan Lengenich, hätte er durch das Gitter das volle Gesicht des Deichgrafen erblickt ...

Ich glaube Gespenster, Herr Lengenich! Aber manchmal ist es auch blos der Dunst von altem Nierensteiner!

Meinen Sie? In dem Gang steht ein altes Marienbild, nicht weit von einem der Fenster ... Halt' ich die Lampe drüberher oder thun's die Grubenräumer, die zuweilen durchziehen –

So lebendig geht's da unten her?

Das meiste Leben geben die Ratten, Herr! ... Aber das uralte Marienbild, das muß ich mir alle Tage betrachten, obgleich ich eigentlich – die Gnadenreiche vergeb' es mir –

Ihre alte verrätherische Geliebte in ihr erkennen?

Die nicht! Die andere! Die Geliebte von dem Doctor!

Die gegen Sie aussagte!

Wie aus den Augen geschnitten! Obgleich das Bild schwarz ist – sie hieß auch Schwarz –

Wer? fragte Hammaker zerstreut folgend ...

Lucinde Schwarz –!

Lucinde Schwarz! ... Hammaker wußte doch sonst alles in seinem Gedächtniß unterzubringen, er hatte auch ein Schubfach für diesen Namen, er wußte das, er konnte es jetzt nicht sogleich wiederfinden, obgleich er erst vor einer Stunde sie zu sehen geglaubt hatte ... er grübelte auch: Sollte der Küfer nichts von dem Mönche Sebastus wissen?

Gerne hätte er alles das gesagt, aber Wichtigeres wälzte sein Inneres ...

Sie sind zu fromm! sagte er ...

Statt aller Antwort greift Lengenich in sein Schurzfell, zieht zwei blinkende zinnerne Medaillen hervor und will eine davon dem Manne darreichen ... Dann zieht er sie wieder zurück und sagt: Sie sind ein Studirter!

Herr Lengenich! Ich bin ein Studirter, aber ich habe eine alte Mutter! Drüben in den Sieben Bergen wohnt sie! Ich besuche sie oft! ... Ihr zu Liebe lieb' ich – Gott – und ich – ich kann Ihnen zeigen – was ich auf dem Leib trage ...

Er deutete auf seine Brust und lüftete ein wenig das Oberhemd, um einige Amulete zu zeigen ...

Dann nehmen und behalten Sie! sagte Lengenich. Es ist die – wie heißt der Name?

Hammaker, aufhorchend, liest die Umschrift und spricht das schwierige Wort aus:

Athanasiusmedaille!

Kommt von Rom! ... Was ist der Mensch ohne diesen Beistand! Da, Herr, konnt' ich beichten! Da, Herr, glaubte man mir! Wenn hier etwas an unsern Rechten, an unsern Gesetzen gerüttelt würde –

St!

Vor wem sollen wir uns fürchten?

Nächsten Sonntag – hm! – auch in Drusenheim?

Jeden Sonntag bin ich in Drusenheim!

Ich meine – am Abend – am andern Ufer – am Hüneneck?

Sie wissen –?

Zu Joseph Zapf?

Ich sollte fehlen?

Würdiger Mann!

Lengenich sah, daß Hammaker über alles unterrichtet war, was vom Rolandswirth Joseph Zapf in dem Drang der Umstände zum Besten der großen Sache des Landes vorbereitet wurde.

Stumm schütteln sich beide die Hände – der Küfer die weiche und zarte des Agenten, dieser die rauhe des, wie es schien, von den geheimen Leitern für die Stunde der Gefahr ausersehenen Vorkämpfers.

Stephan Lengenich ging jetzt ...

Esel! – lag zwar in dem ihm nachschauenden Blicke Hammaker's, als der Küfer mit dem an die mächtigen Lenden schlagenden Schurzfell von dannen schritt ... aber sein Muth zum Humor verläßt ihn ... er sieht die Menschen an den Straßenecken ... Hundert Thaler! ... Er liest es jetzt selbst: »Besonders ist es wünschenswerth Auskunft zu erhalten über einen Unbekannten, der an einigen Abenden in der Dunkelheit die Ermordete besucht haben soll« ...

Nun hält er sich an einem Mitleser, um nicht umzusinken ...

Die Zähne klappern ... die Lippen beben und rechnen:

Freitag, Sonnabend, Sonntag! ... Dreimal vierundzwanzig Stunden noch bis zu dem Augenblick, wo – Einer am Hüneneck sich den Hals brechen muß! »Unbekannter«! ... Einer muß ausgehoben werden aus dem Neste – mit allen! ... Ein Bote Nück's – ist er! Ein Vorredner – ist er! Ein Freisinniger – ist er! Diese tödlichen drei Tage ... wenn nur Sonntags neun Uhr alles beisammen! ... Wer kann das wissen? ... Hier! Dort drüben! Jean Baptiste Maria Schnuphase ...

Man fürchtet sich zwar drüben auch vor ihm, wie überall ... Er greift aber zu einem Mittel der Demuth ...

Weg mit dem Blick von den hundert Thalern an der Straßenecke – da ist ein elegantes Aushängefenster eines Schusters – die glänzenden Schuhe und Stiefel gestatten ihm, in ihrem Spiegel Toilette zu machen ... Sein Rock ist gewöhnlich, wenn auch nicht so diogenesartig, wie der bei seinem Gönner Nück ... aber seine Wäsche ist sauber, der Hut von derselben grauen Farbe wie der Sommerrock, aber vom feinsten Velpel ... Eine weiße Halsbinde legt sich leicht und lose um sein wohlgenährtes Kinn ... Nicht nur ist er so sauber rasirt, daß man fast hätte annehmen mögen, Jodocus Hammaker hätte überhaupt keinen Bart, sondern die ganze Hautfarbe des Gesichts ist von einer Weiche, die nur durch die seiner Hände übertroffen wird ... Die dunkelblauen Augen haben einen schielenden Glanz, die Nase ist stumpf, dem Munde fehlen einige Zähne ... schweigt aber Jodocus oder blinzelt und lächelt süß oder affectirt eine treuherzige Sicherheit, die wieder mit geschäftlichem Eifer verbunden scheint, so liegt nichts Abstoßendes in dem nächsten Eindruck, dem sogar der des Schmachtenden nicht fehlt ... Dabei ist die Stimme leise, flüstert und lispelt und steht mit der Höflichkeit des Benehmens in Einklang ... Tiefauf seufzt er, sich Muth zu holen ... Denn daß sogleich von der gemeinschaftlichen Freundin, dem Opfer dieser Nacht, würde gesprochen werden, weiß er schon ... er überlegt, daß er sein Gespräch beginnen will mit einer Verlegenheit für ihn, für die Damen ... er weiß, daß dem Anlaß zum Eintreten, den er nehmen will, auch der fünfjährige Spott auf Binden und Knüpfen nahe liegt – dieser Spott, der ihn in acht Tagen nach Amerika führen wird – er wagt aber dies Mittel der Einführung und gibt sich eine Haltung.

Hammaker findet das hohe lichthelle »Gewölbe« des steinernen Hauses wie immer in seinem saubersten Glanz.

Er findet, umflossen von Weihrauchduft, beide Schwestern zugleich anwesend. Die Nebenthür eines etwas dunkeln Zimmers, das einen Ausgang zum Vorplatz des Hauses hat, ist offen. Vor Hammaker hat Eva nicht nöthig die Thür zu schließen. Vollkommen weiß er, was drinnen zu sehen ist ... Die Schwestern haben dort noch ein Extrageschäft von Herrenhemden ... Diese Geschäftsthätigkeit des »Herrn Maria« war eine willkürliche Ausdehnung seiner Privilegien und brachte ihn mit den Schneidern der Stadt in Collision; allein er nahm nur die Aufträge verschwiegener Herren an und diese gleichsam nur als Vertrauens-und Freundschaftsaufträge.

Auf einem Drehsessel, hochthronend, sitzt da aber auch Herr Maria. Erst vor wenig Stunden ist er angekommen von einer seiner vielen Ausfahrten und schon wieder schreibt er, eine bläulich angelaufene Brille auf der Nase, hochachtungsvollst und tiefergebenst Worte der Mittheilung, die mit allen Feinheiten des Stils und der Interpunktion gerade jetzt – es war für Beda Hunnius – an folgender Stelle angekommen waren:

– – »ohne Zweifel keine andere Bestimmung haben dürfte als, in des hochbetagten, eben verschiedenen Greises Stelle, einzurücken, derowegen eine Verzögerung der Audienz, nicht unwahrscheinlich eingetreten sein möchte, nun aber auch kein Zweifel sein dürfte, daß das Vicariat an einen Candidaten, verliehen werden könnte, welcher, lediglich die kleineren Aemter zu versehen hätte, mittlerweilen die großen dürften, dem jungen Domherrn zugeschlagen werden, worüber, indessen nicht zu zweifeln sein dürfte, daß Ew. Hochwürden zwar keine Berufung dürften zu gewärtigen haben, ohne jedoch nicht unwahrscheinlich sein zu lassen eine schmeichelhafte Erhebung zum Ehren-Kanonikus, falls nämlich, die bevorstehende Visitation durch den Gubernial-Präsidenten von Wittekind-Neuhof, Excellenz, die Hände dem hohen Kirchenfürsten, Eminenz, so ungebunden lassen dürften, als Hochdessen feste Willensmeinung und Geneigtheit für Ew. Hochwürden Wirken über allen Zweifel erhaben sein lassen dürfen und, wenn ich gewogentlichst um Entschuldigung bitten dürfte, daß ich die laufende Mittheilung an Wohldieselben für heute abzubrechen wage, so muß ich die schaudervoll ergebenste Anzeige auch noch eines Mordes anfügen, welcher diese Nacht unbekannterweise einer Dame zugestoßen ist, welche« –

»Vöter!« lautete eben an dieser Stelle durch Unisono die Mahnung der Töchter, auf den eben eingetretenen Besuch zu achten ...

Aus den tiefsten Labyrinthen des Periodenbaues, aus den Geheimnissen der Curie und einer sich eben in die Reproduction einer Mordscene verlierenden Phantasie erwacht Schnuphase und wendet die blaue Brille nach der Rechten und zu gleicher Zeit auch dem Drehsessel einen nur ganz harmlos gedachten Ruck gebend ...

Da aber des Agenten Hammaker ansichtig werdend bekommt sein Schrecken eine Elasticität, die ihn im Nu um die Achse des Drehsessels herumwirbelt, sodaß er gerade mit dem verfänglichen Nacken einem Manne gegenübersitzt, von dem bekannt war, daß er die Menschen an Kronleuchterhaken aufhängte.

Was – »verschöfft« – uns – die Ehre? stammelt er und windet seine glücklicherweise leichten Beine aus der Umklammerung der Drehschraube des Sessels los und sucht aus seiner schwebenden Lage auf ebenen Boden zu kommen.

Die Töchter stehen minder erschrocken. Herr Hammaker war von jeher gegen sie die Huldigung und Süßigkeit selbst.

Er nähert sich ihnen und äußert mit Artigkeit und einem sich tief unterwerfenden Tone seinen gerührtesten Dank für die ihm gewordene Aufforderung der Fräulein, sich der Erzbruder- und Schwesterschaft zum schwarzledernen Gürtel einverleiben zu wollen, deren Embleme sie vertheilten ...

Beide junonische Gestalten sehen sich mit erstaunten Blicken an. Ihre dunkeln Augen rollen, die Augenbrauen senken sich tief niederwärts und ein ersichtlicher Aerger macht sie in dem Augenblicke jede um zehn Jahre älter, d.h. gerade so alt, als sie waren.

»Schwörzlöderner« Gürtel? fragt Schnuphase zur Besinnung gekommen und ergreift den Brief, den ihm Hammaker als Ausweis entgegenhält ...

Es war ein lithographirter und demnach eine an viele Einwohner der Stadt abgesandte Einladung der Fräulein Eva und Apollonia Schnuphase, sich der Gnaden und Ablässe theilhaftig zu machen, die jeden erwarteten, der in die Erzbruder- oder Erzschwesterschaft vom schwarzledernen Gürtel des heiligen Nikolaus von Tolentino eintreten würde.

Sofort erkannte man, daß hier ein Falsum vorlag ...

Die Aufregung, die diese Entdeckung hervorbrachte, war nicht gering. Die Damen betrachteten den Brief von allen Seiten, der Vater bat um die Erlaubniß, ihn sämmtlichen geistlichen Herren zeigen zu dürfen, was jedoch entschieden von seinen Töchtern abgelehnt wurde.

Ein »Extrös-tückchen« der »Pörtei«, rief er, die nicht genug hat, die Kirche zu hindern, nach ihren Gesetzen zu leben, »söndern« die auch noch –

Ein vollkommen gerechtfertigter Zorn erstickte seine Stimme.

Die Schwestern traten mit dem Briefe bei Seite und flüsterten, von welchem Lieutenant oder Referendar wol dieser ghibellinische Spott herrühren konnte ...

Der jetzt aber vertraulichst Eingeführte erhielt alle die Mittheilungen, die er nur über die Versammlung beim Rolandswirth zu hören wünschte.

Das Einverständniß war vollständig ... Hammaker seufzte tief auf und zog die eben empfangene zinnerne Medaille, um sie mit Verklärung zu zeigen ...

Wie auf ebenso viel Legionen des Himmels hoffend, öffnete Schnuphase eine Schublade des Schreibepults, in der einige Hundert dieser Medaillen lagen.

Dann noch ein Austausch des gemeinschaftlichen Schmerzes über die hingeopferte Dame ...

Noch keine »S – pur«? war die dreifache Frage im Unisono.

Mit einem Blick gen Himmel, als wenn allen diesen Leiden nur von oben geholfen werden könnte, empfahl sich Hammaker ...

Eine Stunde darauf fand Benno beim Eintreten in Nück's »Schreibstube« unter einem Dutzend Pulten auf dem seinigen einen Zettel mit den eben erst rasch hingekritzelten, frisch mit Sand bestreuten Worten:

»Die Erben des Riedbauern Kipp in Euskirchen wünschen über ihres Erblassers Passiva, ehe sie das Beneficium inventarii antreten, eine vertrauliche Recherche – citissime! – Freitag früh Termin in Overladen Fasc. 1310 a. – Sonnabend in Sachen ca Fiscum bei Zapf am Hüneneck die Vermessung der Ufergrenze – Ich spreche Sie aber noch um sechs – das Dampfboot geht, glaub' ich, um acht.«

Es war die Hand des Procurators.

Der Name des Hünenecks war für Benno ein Klang, der ihm auf Augenblicke die Besinnung nahm ...

Eine so schnelle Trennung von Bonaventura! Aber drei – drei volle – selige Tage in Armgart's Nähe – vielleicht eine Begegnung mit ihr!

Zum Arbeiten fehlte ihm alle Sammlung. Er zählte nur die Minuten, bis es sechs schlug. An sein Ohr tönte nur die Glocke im Hafen und das Brausen und Rauschen im Dampfrohr, die mahnenden Zeichen zur Abfahrt.

7.

Bis sechs Uhr hatte Bonaventura auf die Rückkehr des Mönchs gewartet und er hätte dann lieber wünschen mögen, er wäre nicht gekommen ...

Der Pater kam in einer Aufregung, die ihm wahrhaft beängstigend wurde.

Gleich die Art, wie er von den mit ins Grab genommenen Lesarten des Origines, dem wirklich erfolgten Tode des bewußten Domherrn, dann von Bonaventura's Aussichten auf dessen Stelle sprach, war für sein Gefühl verletzend ...

Dann führte er ihn wie in blinder Wahl einem Thore zu ... Er versprach ihm den angenehmsten Eindruck von einer Promenade um die alten Wälle der Stadt. Einige der letztern waren zu öffentlichen Vergnügungen bestimmt. In mäßiger Entfernung von einem solchen, den man den Apostelgarten nannte, beredete er Bonaventura, sich mit ihm auf eine im Gebüsch versteckte Bank zu setzen und durch eine Oeffnung der Gesträuche dem Treiben in dem überfüllten Lokale zuzusehen. Da und dort standen Tische und Lauben, die immermehr sich besetzten und füllten; Kellner und Kellnerinnen schritten hin und wieder von einem nach außen angebrachten Büffet eines einstöckigen langen Hauses. Rings hatte das Auge die Aussicht auf Häuser und Gärten, auf alte zerklüftete Mauerreste, hier auf einen wohlerhaltenen epheuumwundenen Thurm, dort auf eine baumbeschattete Kapelle, in weiterer Entfernung auf eine neue Ringmauer, Theile neuer Befestigungen, dann über sie hinweg auf die Kette der Sieben Berge – alles das vermochte auf einige Zeit zu fesseln ... Sogar eine Nachtigall schlug plötzlich und der Mönch lachte über seinen Begleiter, der nicht sogleich entdeckte, daß dieser nach der Jahreszeit völlig unmögliche Ruf von einem Künstler kam, der drüben die Vogelstimmen nachahmte.

Hören Sie nur! rief der Pater, als Bonaventura die Kunst des Mannes bewundern mußte, der bald auch die Lerche steigen und die Amsel singen ließ, die halbe, nicht fertig gewordene Nachtigall, wie Sebastus sie nannte. Sehen Sie nur den Menschen! fuhr er fort. Ist es nicht ganz ein Affe! Und doch hat er so sein Ohr erzogen! Wie er den kleinen Nachschleifer trifft, wenn Hans Kanarienvogel mit der Roulade fertig ist und ganz armselig hintennach noch ein kindisch Tönchen gibt, als wäre der große, mächtige Triller vorher gar nicht so majestätisch gemeint gewesen! Wie dumm sieht der Mensch aus und alles das hat er belauscht im Walde und auf dem Vogelmarkt! Auf Noten steht das nirgends geschrieben! Ich wünschte, daß Sie ihm für diesen Blick in die Natur einen Groschen schenkten; ich habe kein Geld ...

Der Vogelmensch kam jedoch nicht. Er sah die beiden Geistlichen, verbeugte sich in der Ferne und ging ...

Nun spielten drei Mädchen zugleich mit einem Alten ein Concert. Eins spielte die Harfe, zwei die Geige, der Alte strich das Violoncell ...

Bonaventura wollte gehen; aber der Mönch, der sein geistlich Kleid ganz vergessen zu haben schien, sagte:

Wie das toll ist, wenn Mädchen die Geige streichen!

Die Spielerinnen waren keine Kinder mehr. Aufgenestelten Haares, mit versilberten Pfeilen in den Flechten, in blauen Kleidern mit rothen Shawls, die sie vor ihrer Production abgelegt hatten, strichen sie die Geige, herausfordernd, sicher und trotzig. Vorher hatten sie Handschuhe ausgezogen ...

In alten Tagen, sagte der Mönch, konnt' ich nun einer solchen Vagabunden-Romantik nicht widerstehen! An solches Volk mußt' ich herantreten, mußt' es nach seiner Heimat fragen und aus ihm heraus mir Poesie des Lebens locken ... Nur hölzerne und lackirte Sirenenköpfe sind's! Ganz, wie sie auf der hamburger Rhede auf die Brust der Dreidecker gestellt werden!

Und als weilte des Mönches Phantasie jetzt auf dem Hamburger Berge, so fummte er für sich hin und sinnend im Heine'schen Tone:

Es kichern und lachen die Geigen

Wie Mädchen, trunken vom Wein,

Die Clarinetten meckern

Wie Böcke und Satyrn hinein;

Die Flöte schluchzt, wie wenn dem Monde

Des Schneiders Herz klagt, was es litt!

Der Baß und die Pauke, die Alten,

Die reiten zum Blocksberg mit!

Bonaventura erhob sich. Der Mönch folgte wie in taumelndem Schritte ...

Wol eine halbe Stunde gingen beide völlig lautlos nebeneinander ... Bonaventura, erschreckt von der noch so offenbaren Unfertigkeit des neuen Gebäudes im Innern seines Begleiters, dessen Gerüst Pater Sebastus doch mit soviel weithin in die Welt hinausschallenden Axtschlägen gezimmert hatte ... Dieser selbst mit ersichtlich sich hebender Brust, kämpfend und ringend mit Dämonen der Erinnerung ...

Ja, Sie Glücklicher! sagte er nach einer Weile zu Bonaventura, obgleich kein Wort des Vorwurfs von dessen Lippen gekommen ...

Wieder ein langes Schweigen ... Dann blieb in einer Straße, auf dem Römerwege, der Mönch stehen und sagte:

Das da ist das Karmeliterinnenkloster! Ich kann es nicht sehen, ohne zu ahnen, daß auch mein Lebensloos einst ... Du guter Pater Ivo! ... Lang und hager schreitet unser Pater Ivo dahin, grüßt niemanden, ist immer nur mit sich selbst beschäftigt ... Morgens, Mittags, Abends vollführt er das Amt unseres Tafeldeckers ... Er hütet streng seinen alten Wandschrank, in dem unsere hölzernen Teller, unsere Krüge, unsere Brotmesser liegen ... Sorgsam deckt er den Tisch ... Nie wird er den Teller des einen mit dem des andern vertauschen ... redet man ihn aber an, so hört er nicht ... Tief ist er mit sich, mit seinen Tellern und mit seinen Geistern beschäftigt ... Früher waren es Fliegen, die er so in Gedanken haschte ... Ivo hatte ein schönes Schloß, in unsern Bergen ... er erklärte es verkaufen zu müssen, weil es von Fliegen wimmelte ... Niemand sah diese Fliegen; nur Er war Tag und Nacht hinter ihnen her und jagte sie sogar im Winter und im Frühjahr ... Bald bekamen die Fliegen eine andere Gestalt ... Sie verwandelten sich in schöne Frauen ... Alle die Bilder, gemalte und lebendige, die mein Freund – Jérôme von Wittekind – (Sebastus hielt eine Weile inne) und Graf Johannes von Zeesen auf ihren Reisen in Frankreich und Italien gesehen, umschweben wieder den Pater Ivo, aber er betrachtet sie wie ein unschuldiges Kind ... Er kennt die ganze Gefahr dieser Erscheinungen ... Es sind schlimme Meerweiber, Melusinen, Helenen, um die Paris wirklich und Faust nur gespenstisch freite – ihm selbst sind sie längst unschädlich geworden, schon seitdem er Therese von Seefelden kennen lernte und sich mit ihr verlobte, leider nur auch diese zu bald verwechselnd mit der einzigen Frau, die ihm von allen persönlich bekannt geblieben, dem »Ewig Weiblichen« genannt Maria ... Dem Dienste der Gottgebärerin widmete er sich, sammelte alle Lieder, die je auf sie gedichtet und gesungen wurden, gab sein Vermögen für eine Stiftung der Krankenpflege, die seine Familie schon seit einem Jahrhundert begründen sollte – der Irre einem Irrenhause! – und verjagt nun in unserm Kloster, das er in noch zuweilen lichten Momenten betrat, die Bilder, die – nur zu lebhaft noch vor anderer Augen schweben! ... Husch! Husch! ist sein stetes, leise vor sich hingesprochenes Wort und sein Singen im Gehen das Lob Mariä ... Diesen Gesängen, die er vor sich hinmurmelt, schreibt er eine große Kraft zu; selbst am Hochaltar flüstert er: Husch! Nicht für sich, sondern für uns verjagt er die Melusinen ... Ich sehne mich nach seinem Husch! ... Hier in dem Kloster betet Schwester Therese für ihn – und um die Verzeihung der Gottesmutter, daß sie eine Zeit lang eifersüchtig auf sie war.

Wenn auch diese Erzählung wie etwa das Adagio einer auf einer Straße spielenden Musikantentruppe vom Wagengerassel übertönt wurde, klang sie doch in Bonaventura's Innern tief schmerzvoll nach. Die Fülle sah er jener krankhaften Erscheinungen, die von ihm nicht geahnt wurden, so oft man von Wiedererweckung des alten kirchlichen Lebens sprach. Oder sollte er der Stimme seines Innern Gehör geben, die ihm mit seltsamer Erregung zuflüsterte: Ist dem Mönche – Lucinde begegnet?

Es war Abend geworden ... Das Angelus läutete ... Arbeiter drängten sich in den staubigen Straßen ... Das Gewühl nahm so zu, daß Bonaventura von des wie träumenden Mönches Seite abkam und dieser ihn entweder plötzlich verlassen oder aus den Augen verloren hatte ... Den Eindruck des fast Gespenstischen, den ihm der Mönch machte, nährte auch der Umstand, daß er so harmlos Jérôme's als seines Freundes erwähnen konnte, gar nicht wissend, wie es schien, daß Bonaventura mit Jérôme verwandt war ... Wie ein Lebendigbegrabener erschien ihm der Mönch, wie ein Todter, der anfing sich seinen Leichentüchern zu entwinden.

Bonaventura suchte Benno auf und fand ihn in seiner Wohnung mit dem Vervollständigen seines Koffers beschäftigt.

Ich muß abreisen, sagte Benno aufgeregt; noch heute, guter Freund! Morgen, früh schon hab' ich am Hüneneck einen Termin abzuhalten! Das Dampfschiff geht in einer halben Stunde!

Wie gern hätte sich Bonaventura ihm angeschlossen! Morgen sprech' ich wol den Kirchenfürsten! sagte er.

In drei Tagen seh' ich dich wieder als designirten Domherrn, den jüngsten aller Kirchenprovinzen germanischer Zunge!

So hohe Erwartungen ablehnend, half Bonaventura dem Freunde und begleitete ihn in einem Wagen in den Hafen, in kurzer Erzählung alles zusammenfassend, was ihm der Tag an Erlebnissen und schmerzlichen Bereicherungen seiner Seelenkunde eingetragen.

Benno empfahl dem Freunde aufs dringendste eine Anknüpfung mit dem »guten Kerl«, dem Thiebold de Jonge, von dem er keinen Abschied hatte nehmen können.

In die Beziehungen beider Freunde zu Armgart war Bonaventura nicht eingeweiht.

Auch blieb kaum noch die Zeit, der Meldungen an den Oheim in der Dechanei zu gedenken und Benno's Worte zu vernehmen:

Bei Nück erfuhr ich's, es ist kein Zweifel, die Ermordete ist eine Schwester unserer guten Tante! Seit Jahren sind sie getrennt! Was ihr Geiz zusammenscharrte, hat sie dem Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort vermacht! Das Meiste davon fehlt aber, da der Mörder die Gelegenheit kannte und die werthvollsten Papiere und Gold und Silber an sich raffte! Wer die That vollbracht hat – ich glaube die teuflische Hand zu kennen! Noch aber hab' ich meinen Verdacht gegen niemand auszusprechen gewagt, denn ich fürchte den Zusammenhang mit Personen, die zu schonen sind. Komm' ich zurück, so soll mich nichts hindern, meine Vermuthungen auszusprechen, wo die rechte Stelle ist.

So, fast nur von Einem Gedanken beherrscht, fuhr Benno von dannen. Bonaventura mußte eilen, das Dampfboot zu verlassen ...

Ein banger, erwartungsvoller Abend dann ... er fand die Berufung zum Kirchenfürsten für morgen vor.

Der Mönch kehrte nicht wieder und Bonaventura war dessen froh ... Er sann und sann:

Ist hier Christus oder Belial?

Er mochte nicht richten ... ja er gestand zu, Gott schenkt jedem Menschen besondere und nur für ihn berechnete Offenbarungen. Diese stehen in keiner Bibel, in keinem Buche, sind überhaupt nicht mit Worten zu fassen und zu bezeichnen. Sie sind ein einziger Klang, den wir aus dem Sphärenall wie herausgefallen zu vernehmen glauben, ein Glanz wie von einer Sternschnuppe, wenn diese eine Störung genannt werden kann in der ewig gleichen Harmonie der Weltbewegung ... Solche Offenbarungen gibt der stille Wald, das Murmeln der Quelle, auch der leise Schlag einer Uhr, die wir auf dem Tische vor uns liegen haben. Da sickert so Tropfen an Tropfen hinunter, in den großen Zeitenstrom und macht uns sorgloser durch das Gefühl, daß alle Dinge irgend an einer Grenze ankommen müssen ... Er mochte nicht richten.

Eine starke Waffe in allem Leid und aller Anfechtung der Seele ist dann reine Liebe. Die reicht einen ehernen Schild dem Arm zum Kampfe gegen Leidenschaft und Ungeduld. Ihr Visir schützt das Auge, nichts zu sehen von den Lockungen der Welt. Reine Liebe hütet selbst die Träume. Ohne Kampf entwaffnet sie die Gedanken und verklärt sie mit himmlischem Lichte, daß nur das Gute und Edle in uns lebt ... Pflanze, Jüngling, reine Liebe schon auf den ersten Ringplatz deiner Berührung mit der Welt! Reine Liebe im Herzen, wirst du im Alltäglichsten dich vom Duft des Schönen, vom Palmenfächeln des Großen, vom Hosianna innerer Siege, umweht fühlen!

So lebte in Bonaventura ein Name, der alles Chaos in ihm ordnete ... Paula ... und ein ferner Männergesangchor sang dazu durch die stille Nacht: Das ist der Tag des Herrn!

Am folgenden Morgen mit dem Schlage Zehn trat er in den kirchenfürstlichen Palast.

Sein Herz klopfte, als er durch die langen Corridore des Hauses dahinschritt.

Verblaßte Malereien zierten zuweilen das Stuckgetäfel der Decken; an den Wänden hing hier und da eine alte Schilderei in schwarzem, wurmstichigem Holzrahmen, ein alter Städteprospect von Merian, eine alte Landkarte von Homann; in vereinzelten Nischen standen Heiligenbilder, mit frischer, lichter Oelfarbe überzogen, im dürftigen und selbst beim Heiligen weltlichen und koketten Geschmack der Zopfzeit, Engel auf Stellungen berechnet, Marieen auf Faltenwurf ...

In einem düstern Eckwinkel lagen die Wohnzimmer des Kirchenfürsten. Im Gegensatz zu den auf den frivolen Luxus des vorigen Jahrhunderts deutenden Corridoren waren diese Zimmer so dürftig ausgestattet, wie Actenstuben oder Sessionssäle.

An der Unruhe eines zuerst kommenden großen Wartezimmers hätte man eher glauben mögen, sich bei einem Minister, als bei einem hohen Geistlichen zu befinden ...

Eine der hohen Thüren führte in das General-Vicariat ...

Hier klirrten sogar die Sporen der Gensdarmen, die Säbel der Ordonnanzen. Man brachte vom Gouvernement und von der Militärverwaltung Fragen und Antworten, holte und gab Bescheide. Kanzleiboten trugen Acten ab und zu. Dazwischen gingen und kamen Geistliche und Ordensfrauen. Wer nicht beim Generalvicariat oder beim Kirchenfürsten sofort Einlaß bekommen konnte, saß harrend und mußte nach neukirchlicher Sitte jeden unbeschäftigten Augenblick zum Heile seiner Seele nutzen. Man grüßte mit neugierig aufblitzenden Augen und warf den Blick sogleich wieder in das Brevier, das man aufgeschlagen auf dem Schoose liegen hatte. Ein schwerer Druck lag auf allen, nur auf denen nicht, die als Sendboten oder Vertreter der weltlichen Gewalt kamen.

Der junge von Enckefuß fehlte nicht. Er setzte einem jungen, hagern, lächelnd, doch aufmerksam zuhörenden Geistlichen mit lauter Stimme auseinander, daß die einen nahen Wallfahrtsort besuchenden Züge nicht durch die Stadt gehen dürften; er beschrieb die Route, die sie zu machen hätten, und wünschte, da er eine Auswahl anbot, in Kürze die Wege zu wissen, die der Kirchenfürst gewählt wünschte, da es an Aufsicht dabei nicht fehlen sollte. Des jungen Beamten Haltung und Rede war fest und bestimmt, scharf und kalt, wie dies der Ghibellinen Weise.

Auch Civilpersonen aus dem Volke sah man. Es mochten Dorfvorstände und städtische Abgeordnete sein. Ihnen setzte der junge schlanke Priester, meist mit Achselzucken und einer gewissen Duldermiene, auseinander, daß die von ihnen erwarteten höhern Bescheide immer noch nicht eingetroffen. Es galt dies ohne Zweifel jenen Pfarrstellen, die allein besetzen zu dürfen die Kirche so dringend begehrte und die sie die weltliche Gewalt beschuldigte, wenn die Stellen gut waren, so lange offen zu halten, bis nur diejenigen damit belohnt würden, die darauf hin eine entsprechende Gesinnung zeigten.

Der schlanke etwas niedergebeugt gehende junge Geistliche trat auf Bonaventura zu und sprach, als er dessen Namen vernommen, ein freudiges:

Ah, Herr von Asselyn!

Sogleich fügte er hinzu, er würde alles versuchen, den Herrn Pfarrer von St.-Wolfgang sobald als möglich an die Reihe der Vorgelassenen zu bringen.

Bonaventura sah, daß er mit dem vielgenannten Secretär, Kaplan Michahelles gesprochen.

Dieser war in die innern Räume eiligst wieder zurückgekehrt ...

Das Wesen des jungen Mannes zeigte sich charakteristisch genug. Seine Gesichtszüge waren scharf, geistvoll und von einer eigenthümlich lächelnden Ironie, die auf ein zwar zurückgehaltenes, aber doch sich ganz so stark, ganz so berechtigt, mindestens so muthig fühlendes Bewußtsein schließen ließ, wie es allen katholischen Priestern, von Seiner Heiligkeit, dem »Knechte der Knechte« an bis zum untersten Dorfpfarrer, eigen ist.

Auch Bonaventura zog sein Brevier und setzte sich an ein Fenster des großen Zimmers, das auf die jenseitige Straße ging.

Wenn hohe Würdenträger kamen, standen die Geistlichen und Klosterfrauen auf ...

So vor dem Generalvicar, der eben aufgeregt und verstimmt von dem Kirchenfürsten zurückkehrte ...

Man wußte, daß mit jenem sowol der Letztere, wie der Syndikus der Curie und diejenigen einflußreichen Glieder des Kapitels, die sein »gewaltiges Vorschreiten« misbilligten, im Streite lebten.

Auch vor dem Regens des Seminars erhob man sich, der gleichfalls wie nach einem Wortwechsel vom Kirchenfürsten zurückkam ...

Bonaventura erfuhr die Namen. Einige der streitigen Punkte kannte er. Die Seminaristen, angesteckt von dem neuen Geiste der römischen Opposition, hatten an dem Kirchenfürsten Vorschub gefunden in gewissen Auflehnungen gegen die vom Staat beliebte und vom Regens vertretene Ordnung des Seminars.

Einige Professoren der Universität, die eine von Rom verurtheilte Dogmatik gelehrt hatten, kamen in besonders gedrückter Stimmung und stellten die Bitte, den Kirchenfürsten sprechen zu dürfen. Bonaventura kannte sie und war fast der einzige, der sie grüßte. Einige von ihnen waren zugleich Lehrer eines Seminars und ihnen war es geschehen, daß sie plötzlich keine Schüler mehr hatten. Im Beichtstuhl hatten alle Alumnen auf Befehl des Kirchenfürsten geloben müssen, ihre Vorträge nicht mehr zu besuchen.

Michahelles kam zurück, trat verbindlichst zu Bonaventura und zog ihn zu sich an eine Fensterbrüstung ...

Sie werden sogleich vorkommen! flüsterte er und setzte mit leiserer Stimme hinzu: Ich freue mich, von Eminenz schon die Erlaubniß zu haben, Sie mit seinem Vorhaben bekannt zu machen! Wenn Sie die angenehme Erinnerung, die er seit lange an Sie nährt, wieder erneuern und Sie noch einige Tage der nähern Prüfung und Verständigung werden zu Ihren Gunsten überstanden haben, so ist es seine Absicht, Sie ganz und mit wichtigen Aufgaben an uns zu fesseln!

So stand das Gefürchtete wirklich in Aussicht ...

Ein Diakonat an der Kathedrale und eine Domherrenstelle sind offen; fuhr Michahelles fort und setzte mit noch gedämpfterer Stimme hinzu: So könnten Sie auch Hoffnung gewinnen, sich wieder Ihrer Heimat zu nähern, denn das wechselnde Besetzungsrecht des Archipresbyteriums St.-Ludgeri bei Witoborn, das mit dem erledigten Vicariate eine jeweilige Visitation der dortigen Pfarrei verbindet, fällt diesmal an uns, d.h. an unsern Vorschlag. Die Lutheraner haben, wie immer, die Entscheidung ...

Diese mit einer seltsamen Schärfe vorgetragene Mittheilung erschütterte Bonaventura.

Er mußte nach dem angedeuteten, ihm unbekannten Verhältniß noch einmal fragen ...

Michahelles erklärte es:

In die alte Kirche St.-Ludgeri bei Witoborn sind fast sämmtliche Dorste'schen Besitzungen eingepfarrt. Seit urdenklichen Zeiten steht über dem Pfarrer derselben ein Archipresbyter, der bald von der diesseitigen, bald von der jenseitigen Kirchenprovinz bestimmt wird. Sie würden sicher zuweilen gern bei Westerhof leben, wo gegenwärtig die Gräfin Paula in so schwierige Verhältnisse verwickelt wird! Daß sie auch seit kurzem wieder von ekstatischen Zuständen begnadet ist, wird Ihnen bekannt sein! Es würde zu den erfreulichsten Zeichen unserer Tage gehören, wenn sich das Beispiel der gottseligen Emmerich wiederholte und auch uns wieder eine Seherin und Prophetin erstünde!

Und mit einer nicht mehr zu bewältigenden Macht drängten sich auf Bonaventura's Herz die Gedanken: Deshalb beruft man dich! Du, du sollst es sein, der wieder eine »Nonne von Dülmen« ins Leben rufen hilft! In deiner Nähe sieht Paula den Himmel offen, in deiner Nähe heilt sie Kranke und sagt die Zukunft voraus! ...

Und noch ehe der lächelnde, aber die wohlwollendste Ermuthigung sprechende Blick des Kaplans diese Ahnung bestätigt hatte, mußte er abbrechen und zu einem eben Eintretenden eilen ...

Dies war die oberste Persönlichkeit der weltlichen Behörden der Stadt selbst, ein mit Orden bedeckter Präsident. Er kam feierlich, in erregter Haltung und, wie es schien, mit einem officiellen Auftrage.

Von einem Wartenlassen war da keine Rede. Sogleich öffneten sich zum Kirchenfürsten alle Thüren ...

Michahelles flüsterte im Vorübergehen in Bonaventura's Ohr:

Der längst angekündigte eigenhändige Brief des Königs!

Michahelles folgte erwartungsvoll ...

Alles war vor dem Präsidenten aufgestanden. Auch aus dem Generalvicariate waren Geistliche und Weltliche getreten, die ohne Zweifel die feierliche Auffahrt des Präsidenten beobachtet hatten. Alles schien in höchster Spannung. Bonaventura wußte, daß es eine Entscheidung über die gemischten Ehen galt. Sein Sinn war getheilt, sein Herz im Kampfe ... Ihn hatte man ausersehen, den Kampf um Paula's Erbe mitzukämpfen! Ihn wollte man in die Nähe eines Wesens senden, das ihm unendlich theuer war, wie ohne Zweifel von früher her Manche wußten ... Dem Kloster, der Kirche, dem Kampfe der Parteien sollte er eine große Eroberung gewinnen!

Die Gedankenreihe auszuführen in allen ihren Folgerungen – in ihren seligen, in ihren tiefschmerzlichen – behielt er nicht Zeit ...

Der Präsident kehrte nach kurzer Weile zurück, ebenso feierlich und bestimmt, wie er gekommen ...

Er grüßte die sämmtlich sich Verneigenden. Dem Generalvicar drückte er die Hand ...

Diesem entschlüpfte ein bedeutungsvoll aufgeschlagener Frageblick – jenem ein Achselzucken ...

Alles das war ein Moment ...

Bonaventura mußte voraussetzen, daß der Brief des Königs kurz und bündig übergeben und ebenso von dem Priester Immanuel entgegengenommen war und daß der täglich erörterte Streit heute von beiden Seiten ohne weitere Wiederaufnahme blieb.

Wie sehr mußte er annehmen, den Empfänger in einer Aufregung zu finden, die seine kleine Sache in den Hintergrund drängte!

Michahelles kam, fertigte die Professoren ab, sagte laut und fast verletzend, daß sie Seine Eminenz vor völliger Unterwerfung unter das Breve Roms, das ihre Lehre verwarf, nie empfangen würde, winkte Bonaventura und ließ diesen eintreten.

Bonaventura mußte zwei Zimmer durchschreiten ...

An einer kleinen Thür stand ein greiser Diener in alter verschossener grau und grüner Livree ...

Er öffnete ...

Bonaventura stand vor dem Kirchenfürsten.

Nicht mit einer leisesten Bewegung verrieth der Priester Immanuel, wie es ihn aufregte, eben von sei nem Landesherrn ein eigenhändiges Schreiben empfangen zu haben. Ja, auf einem grünen Tische lag dies Schreiben noch ... Es trug die blaue Farbe der Cabinetsbriefe ... Mehr noch! Das Siegel war uneröffnet.

Priester Immanuel war derselbe, der als Graf Truchseß-Gallenberg, als Generalvicar und Domherr in Bonaventura's Erinnerung lebte ... Mager, starkknochig, länglichen Antlitzes, hart, ernst. Kein Strahl einer besondern Freude, den jungen Mann, den er als Studenten und Soldaten gesehen, nun als Priester des vorzüglichsten Rufes zu begrüßen, brach aus seinen Augen. In einfachen Worten erinnerte er sich der Scenen von früher. Er freute sich zu hören, daß Bonaventura von seiner Mutter wenig wußte und über die Lebensverhältnisse des Stiefvaters nur ganz oberflächlich unterrichtet war. Bonaventura sah, daß Benno's Voraussetzung, er sollte zur Vermittlung bei der erwarteten außerordentlichen Mission seines Stiefvaters gebraucht werden, eine unbegründete war.

Der Kirchenfürst rauchte aus einer kurzen Meerschaumpfeife. Er machte den Eindruck eines Oberjägermeisters alten Stils oder, wenn man erwog, daß er den Brief eines Königs unerbrochen lassen konnte, eines jener Fürsten, die wenn auch nur über wenig Quadratmeilen gebietend doch um Kaiser und Reich sich wenig kümmern, wenn sie auf irgendeinem in ihrer Souveränetät begründeten Rechte glauben verharren zu dürfen.

Wir müssen aus dem Geiste leben! sagte er im Anknüpfen der ersten Begrüßung an die frühere Begegnung und in den Intervallen des Rauchens. Jede Geburt und Wiedergeburt bringt Schmerzen! Ist eine Mutter ein großes Wort, ist der Geist ein größeres! Unsere Mutter ist die Kirche!

Und dann, als wäre die ganze Welt in Frieden mit ihm und keine andere Wolke für ihn zu zerstreuen, als die aus seiner Meerschaumpfeife, erkundigte er sich nach Bonaventura's Bildungsgang.

Auf- und abgehend, wünschte er von den Ergebnissen seiner Seelsorge zu hören, kam auf das nahe gelegene Kocher am Fall, vermied des Dechanten zu erwähnen, rühmte aber den dortigen Aufschwung der Gemüther und deutete offenbar die Bestrebungen des Stadtpfarrers an, wenn er sagte:

Nur ist es unsere Pflicht, bei solchem Festhalten an dem Felsen, auf dem der Herr seine Kirche gegründet wissen wollte, Seltsames und Auffallendes zu vermeiden! Es sind mancherlei Gaben und mancherlei Aemter. Nur pflege und warte man jener ebenso im Geiste der Mäßigung, wie dieser nur im apostolischen Sinne! Die Grenzlinie erlaubter Bewährung eines Talentes, wo sie plötzlich Ruhmsucht wird, ist bald überschritten. Ich sag' es nicht zuerst: Selig sind die Armen am Geist!

Mit diesem Seitenblick auf Hunnius' schriftstellerische Thätigkeit forderte er Bonaventura auf, sich zu setzen.

Da er es selbst nicht that, verhielt sich Bonaventura zögernd ...

Der Kirchenfürst eröffnete ihm jetzt, daß er ihn an die Kathedrale zunächst als ersten Vicar berufen, demnächst aber auch für die erledigte Domherrenstelle vorschlagen wolle.

Von Widerspruch konnte nicht die Rede sein.

Er hoffe, fuhr der Kirchenfürst fort, daß Herr von Asselyn den Geist besäße, den jetzt die Kirche brauche, nicht Hirten allein, auch Reisige ...

Wir haben schon Großes errungen und werden mehr erringen! sagte er und blickte dabei ruhig auf das rothe Siegel des uneröffneten Königsbriefs.

Bald bemerkte Bonaventura, daß der Kirchenfürst noch mehr auf dem Herzen zu haben schien, irgendetwas, das er noch Anstand nahm sofort auszusprechen. Offenbar wollte er erst den Geist ergründen oder bestärken, der seine weitern Aufträge vernehmen und ausführen sollte.

Wenn ich zurückdenke an meine Jugend! begann er, ruhig fortrauchend und dabei auf- und abgehend, während Bonaventura stehen blieb und nur auf die Lehne des von ihm ergriffenen Sessels sich stützte ... Als ich in Ihrem Alter war, Herr von Asselyn, welche Zeit, welche Welt damals! Bonaparte haßte die Kirche! Er haßte sie mit dem Ingrimm eines tückischen Italieners, für den das Heilige seinen Zauber verloren hat, da er diesem Zauber zu nahe steht! Bonaparte trug alle Merkmale des Antichrists! Aus der Revolution und dem Atheismus hervorgegangen, hatte er den ganzen Hochmuth der Vernunft gegen die Lehren des Christenthums geerbt! Hervorgegangen aus der Schule Robespierre's besaß er dann auch wieder die tolle Neigung dieses Scheusals, aus dem Zerstörten etwas Neues aufbauen zu wollen! Das Fest des höchsten Wesens, das man wieder einsetzte mit Fahnen und Trommelpyramiden, Janitscharenmusik und Kanonensalven, das war so ganz schon im Charakter seines Schülers Bonaparte! Beide besaßen diesen gefährlichen Aberglauben des Atheismus, der zuletzt, weil der Mangel aller Religion im Menschenherzen eine Unmöglichkeit ist, irgend wieder doch etwas zum Halte haben, zum Gott machen muß, seinen eigenen Schatten, ein goldenes Kalb, ein geschmücktes Nichts, ein Philosophem. Diese Ironieen des Satan, wie sie neulich eine schriftstellernde Feder nicht unpassend nannte, sind deshalb gefährlich, weil sie sich wie der erhabene Ernst Gottes geberden. Wäre dem babylonischen Tyrannen zuletzt nicht das Bedürfniß nach Ruhe gekommen, noch hätte er den ganzen Voltaire, der in ihm lebte, ausgetobt in seinen mit den Waffen gestützten Institutionen. Bonaparte war das im Großen, was Friedrich der sogenannte Große nur auf kleinem Gebiete, mit Bonmots und Epigrammen war. Bonaparte würde, hätte er sich zuletzt nicht elend und krank gefühlt und den Bruch mit den Franzosen, die ihr Blut und ihr Vermögen nicht länger opfern konnten und mochten, klug gewittert, den Krieg mit Rom viel länger und lieber geführt haben als den mit den Königen. Er brauchte Verbündete und so schloß er mit heuchlerischer Freundschaft Frieden mit einer Religion, die er erst mit Füßen getreten und dann in armselige, vom Theater erborgte Lumpen kleiden wollte! Das aber, mein lieber Herr von Asselyn, das war nun das Beispiel, das damals der Gewaltigste seiner Zeit den andern Gewaltigen gab! Diese Späßchen ahmten diese Menschen ihm nach! Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts hatte ja die Kirchen entvölkert; der Beichtstuhl stand ja leer; die äußere Veranstaltung, die noch vom kirchlichen Leben vorhanden war, war so auf den Schein gerichtet, daß selbst die Priester mit dem Geiste der Verneinung buhlten, selbst die sich schämten, den ewigen Gott und die große Veranstaltung des Erlösungswerkes in schuldiger Ehrfurcht zu bekennen. Auf der Kanzel und in ihren Schriften schmückten sie sich mit dem dem Protestantismus und der Philosophie abgeborgten Schaugepränge. Und vorzugsweise war es unser Deutschland, wo die Kirche am Abgrunde des Verderbens stand! Eine Literatur, die man zur classischen gestempelt noch bei Lebzeiten jener maßlos vergötterten Herren von Goethe und Schiller, drang bis tief in die untersten Volksschichten und erzeugte dies noch immer andauernde Doppelleben unserer Nation, politisch und kirchlich sowol wie moralisch, letzteres in einer mühsam behaupteten positiven Welt und einem sogenannten idealen Weltbürgerthum: Ueberall sah man auf diese Art unsere Entwürdigung! Und der Staat, mit Verzweiflung kaum sich selbst behauptend in dem großen Revolutionssturm Bonaparte's, der rächte sich dann auch wieder seinerseits bis zur Schamlosigkeit gegen die schwachen Untergebenen, zunächst die Diener Gottes. Die kleinen Fürstenthümer, die entweder selbst unter geistlicher Obhut standen oder nur unsern Glauben bekannten, waren an sich schon leider dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen. Wilde, zerstörende, neuernde Gedanken, die von Aufbau sprachen und den Riß ihrer Pläne nach Modellen der Phantasie entwarfen, blieben damals ohne alle Rücksicht auf das Gegebene. Nichts galt für geistvoll, nichts für schön, nichts für groß, was nicht dem Wesen des Freimaurerthums entsprach. Ich will von dem Elend nicht sprechen, das bekenntnißtreue französische Bischöfe in der Verbannung auf englischem Boden zu Bettlern machte; im eigenen Vater land konnte man erleben, daß die Mittel fehlten, dem äußern Gottesdienst den letzten Rest seiner erhabenen Würde zu erhalten. Ja, aber wie ist das nun alles mit Gottes Beistand so wunderbar anders geworden! So groß, so herrlich, mein lieber Herr von Asselyn, und kaum nach einem einzigen Menschenalter! Lediglich durch die gewaltige Widerstandskraft und firmamentfeste Vis inertiae des zuwartenden und seine rechte Zeit erkennenden römischen Princips!

Bonaventura wagte auf die herablassende Vertraulichkeit des Sprechers zu erwidern ... Er wagte den in die Tiefe gehenden deutschen Geist selbst zu nennen als den, der hier dem römischen Princip die stärkste Hülfe gebracht hätte. Ja er wagte, da der Kirchenfürst schwieg und ruhig seine Pfeife ausklopfte und sie aus einer gewöhnlichen, mit grüner Schnur besetzten Tabacksblase neu füllte, die Literatur und die Kunst zu nennen und ließ die Namen einiger Geister fallen, die man in dieser Verbindung zu nennen pflegt ...

Der Graf hörte ruhig zu, rauchte wieder und ermunterte durch sein Schweigen fortzufahren. Ob vielleicht im Vorzimmer noch jemand wartete, ob ein Brief seines Königs unerbrochen lag, alles das schien ihm jetzt völlig unwesentlich ...

Das gedemüthigte deutsche Vaterland, sagte Bonaventura, mußte sich aus seiner Gegenwart flüchten und neue Kraft sammeln in der Erinnerung an seine Vergangenheit! Fehlende deutsche Treue, Tapferkeit und Muth lagen nur noch in den Beispielen unserer alten deutschen Tage! Aus den gebrochenen Burgen auf unsern Bergesspitzen erhoben sich im Dämmerschein der Dichtung die Geister der abgeschiedenen Zeiten, aber zur glücklichsten Vorbedeutung; die Nebel fielen dann, und die Welt, die wir vergessen wollten, ja die wir vergessen mußten, diese lag nun nicht mehr vor uns; eine neue hatte sich aufgethan, es war die Welt, die uns die Forschung errungen hatte. Die Rosen in den bunten Domesfenstern fingen wieder an zu glühen; die steinernen Bilder an den Kreuzwegen sprachen wieder dem ermüdeten Wanderer mit lebendigem Munde; eine Pilgerschar, die mit einer Fahne voraus und dem Bilde des geopferten Lamms durch goldene Saatfluren auf einen Berg mit einer wunderthätigen Erinnerung zog, war kein Zug von Narren mehr, die man verspottete. Künstler folgten und setzten sich auf einen Vorsprung dieses Berges und zeichneten die Scene voll Andacht und Hingebung. Kunst und Poesie verjüngten den abgestorbenen Glauben. Die Zeit war es, wo man um jene Marieen, die mit dem Lilienstengel in der Hand, mit Myrte und Maßlieb im Haar der Verkündigung sich neigen, um Bilder alter Meister, die man früher verlacht hatte, jetzt goldene Rahmen zog, größere und prachtvollere, als die einfachen kleinen Bilder selbst waren!

Der Kirchenfürst ging auf und nieder und ließ eine Pause beiderseitigen Stillschweigens ...

Dann erwiderte er:

Sie waren gestern in Begleitung des Franciscanermönchs, Pater Sebastus?

Ein: Ja, Eminenz! erstarb auf Bonaventura's Lippen, der diese Erwiderung nicht erwartet hatte, aber ahnte, was sie als Antwort sagen konnte.

Ich ließ den Pater durch Michahelles rufen! fuhr der Graf fort. Er wird jetzt, denk' ich, da sein! Ja, ich wünschte, daß Ihr berühmter Name, Ihr edler Geist, Ihre großen Talente sich zum Heil der Kirche bewährten, Herr von Asselyn! Aber das Gebiet auch Ihrer Anschauungen muß sich erweitern oder vielleicht verengern, je nachdem. Das Leben des Volkes ist der wahre Tummelplatz eines Priesters, der dem Reiche Gottes dienen will. In dem gesunden Gefühl der Völker – Doch treten Sie dort hinüber! Hören Sie eine nothwendige Verhandlung mit dem Pater! Eine Scene wird uns mehr verständigen, als eine Debatte, und Sie wissen, die Zucht des Priesters beruht auf Gegenseitigkeit.

Bonaventura begriff nicht, was der Kirchenfürst beginnen konnte ...

Priester Immanuel aber hob einen Vorhang, der sich in dem Winkel befand, auf den er gedeutet hatte, und sagte:

Ich mache Sie nicht zum Lauscher! Der Mönch wird später selbst erfahren, daß Sie zugegen waren und gehört haben, was ich mit ihm verhandelte! Es sei ein Exercitium! Und eines für uns – alle drei!

Perinde ac cadaver essetis! Gehorsam, als wenn ihr Leichname wäret! sagte eine Stimme in Bonaventura's Innern und sie klang wie aus dem Munde des Onkel Dechanten.

Er trat hinter den Vorhang.

8.

Ein kleines Gemach war es, in dem sich Bonaventura befand, das Schlafcabinet des Kirchenfürsten.

Einfach wie eine Klosterzelle enthielt es einen hohen, alterthümlichen Kleiderschrank; das Bett war einer Pritsche ähnlich, schmal und hart. Ringsum standen einige Stühle, die Vorrichtung eines Tropfbades hing an der Decke. An der Wand über dem Bett hing ein einfaches Crucifix von schwarzem Holze, darauf ein Christus von einer metallenen Composition.

Der einzige Schmuck des Gemaches war ein Brustbild, einen jungen Mann darstellend, dessen Aehnlichkeit mit dem Kirchenfürsten wol darauf schließen ließ, daß es seinen durch des Rittmeisters von Enckefuß Hand im Duell gefallenen Bruder darstellte.

Nebenan hing noch eine Wandkarte Europas und ein großer Stammbaum der Truchseß, der zurückführte in die Zeiten Karl's des Großen. Am äußersten Ende, da, wo alle Zweige einander näher sich rückten und das Ende des einst so reich entfalteten Geschlechts andeuteten, verlief er sich in welken Blättern. Die Spitze bildete der Name des Kirchenfürsten selbst. Auf dem dazu gehörenden Blatte saß ein Käfer, auf dessen goldener Flügeldecke ein schwarzer und ein weißer Todtenkopf abgebildet waren.

Bonaventura konnte, ehe er mit beklommenem Herzen unter diesen Stammbaum sich setzte, die Umschau ruhig anstellen, denn es währte einige Zeit, bis der Kirchenfürst den Mönch einließ. Er schien entweder erst in seinem Bureau unter Papieren gesucht oder endlich den Brief seines Monarchen gelesen zu haben.

Jetzt hörte man das leise Rauschen eines auf dem Fußboden anstreifenden Gewandes ...

Mit lauter und deutlicher Stimme, sodaß dem gezwungenen Hörer kein Wort verloren gehen konnte, begann der Kirchenfürst:

Setzen Sie sich, Pater!

Als dies geschehen sein konnte, hörte Bonaventura die Anrede:

Ich habe Sie rufen lassen, um einige Worte mit Ihnen zu sprechen, Pater; Worte, die sowol das Ihnen geschenkte Vertrauen betreffen, wie Ihr Seelenheil! Ihr Provinzial hat mir Vollmacht dazu gegeben ...

Keine Antwort ...

Haben Sie hier einen Beichtvater? begann der Kirchenfürst mit erhöhter Stimme ...

Sebastus nannte jenen Domherrn, der sich in der Herausgabe des Origenes so vergriffen hatte und »mit seinen gesammelten Lesarten« in diesen Tagen beerdigt wurde ...

Bei dem Rauschen eines Papieres durfte sich Bonaventura vorstellen, daß dem Mönche vom Kirchenfürsten ein Brief überreicht wurde ...

Sie haben Unglück mit denen, denen Sie Ihr Vertrauen schenken! sagte der Kirchenfürst. Auch der Provinzial Henricus, der Ihnen so innig zugethan war, lebt nicht mehr ... Vor einem Jahre, kurz vor seinem Ende, erhielt ich einen Brief von ihm, den Sie lesen sollen! Zur Ermuthigung! Ich hör' ihn gern zum zweiten male!

Der Mönch las leise ... Seine Stimme lag hoch und hatte die norddeutsche Schärfe. Sie war für Bonaventura vollkommen vernehmlich. Er hörte:

»Seit lange bin ich nicht in der Lage gewesen, Eurer Eminenz außer den Berichten, die über den Stand unseres Klosters an unsern P. General in Rom abgehen, auch eine gelegentliche Mittheilung über die Erlebnisse zu machen, die Ihrer hohen Fürsorge für die vaterländische Kirche in Erfahrung zu bringen von Werth sein könnte. Mein Wirken für die Ausbreitung der Mäßigkeitsvereine, die der Heilige Stuhl mit so besondern Gnaden gewürdigt hat, greift immer segensreicher um sich. Ist auch unsere Bevölkerung nicht so verkommen wie die Irlands, wo Pater Matthew den Geist der Mäßigung predigt, so stehen wir doch hinter dem, was Pastor Schläger auf dem protestantischen Gebiete leistet, nicht zurück. Ja, wir reichen uns auf diesem Gebiete die Hände ...«

Hatte der Mönch schon bei Erwähnung einer bekannten Wirksamkeit des verstorbenen Provinzials Henricus, Verbreitung der Mäßigkeitsvereine, gestockt, so konnte der Kirchenfürst jetzt Zeit gewinnen, einzuschalten:

Obgleich auch hier der Geist, aus dem beide Bekenntnisse zu wirken haben, ein völlig verschiedener sein sollte ... Der gute Henricus gehörte noch zu sehr den Freimaurern an und starb sogar, seltsam genug für einen Mönch, mit einem weltlichen und protestantischen Orden auf der Brust! Was man früher nicht alles erlebt hat! ... Lesen Sie aber!

Mit jenem Gehorsam, der zu seinen Gelübden gehörte und den von ihm zu fordern der jetzige Provinzial, auch Guardian, des Klosters Himmelpfort, des Pater Henricus Nachfolger, für die Zeit seines Verweilens außer Clausur auf die Curie dieser Stadt und den Kirchenfürsten übertragen hatte, las der Mönch weiter:

»Heute möcht' ich eine Bitte erheben zu Gunsten eines unserer Brüder, des Paters Sebastus! Unser General hat mir gestattet, ihm eine Weile die Freiheit des außerklösterlichen Lebens zu gewähren. Aber daß sie die Regierung, die in diesem Punkte so streng ist, auch genehmigt, dafür kann nur Eurer Eminenz hohe Bürgschaft eintreten.«

Ich schlug damals sein Anliegen ab! ergänzte der Kirchenfürst.

Der Mönch fuhr fort:

»Freiherr von Wittekind-Neuhof war es, der uns diesen Novizen, einen ehemaligen Docenten der Rechte in Göttingen, zuführte, aufs dringendste anempfahl, ja väterlich beschützte, obgleich der zweite Sohn des Freiherrn im Duell von ihm erschossen war ... Nach einer Reihe von Unglücksfällen, innern und äußern Erschütterungen wandte sich der greise Freiherr mit besonderm Verlangen den Gnadenmitteln der Kirche zu, besuchte uns oft, schenkte Kirchen und unsern verschiedenen Stationen höchst werthvolle Gaben und überraschte uns eines Tages durch diesen jungen Mann, der an seiner Hand mit heiserer Stimme, hinfälligen Ganges, zerrüttet an Seele und Leib, an mein Kämmerlein pochte und vor Entkräftung auf meinem Lager zusammensank ...«

Bonaventura hörte voll Schmerz die lauten Athemzüge des Gefolterten. Er kam sich vor, als stünde er vor einem Käfig, in dem die ruhige Gefaßtheit eines Wärters den Fuß auf einen Panther setzt, den er abrichtete. Kam ihm der Gedanke, daß es Frevel wäre, wenn Menschen so an Menschen ihre innersten Seelenzustände durchwühlen? Oder erschien es ihm groß, um eines Gedankens willen, schon wenn dieser Gedanke ein Irrthum wäre, wie der Gedanke des Dalai-Lama oder der Sonnenanbetung, wie viel mehr dem des Dreieinigen Gottes, das Geheimste der menschlichen Ichwelt zu opfern? Doch wich er, wie er das gelernt hatte, dem Urtheilen aus und hörte, weil er hören mußte ...

Mit gedämpfter Stimme las der Mönch:

»Der Freiherr führte uns den jungen Mann als Bewerber um das Noviziat zu. Er verschwieg nichts von dem, was wir selber sahen. Heinrich Klingsohr's Sittenzeugnisse fehlten. Er wollte und mußte in allem und jedem von neuem geboren werden. Allererst zeugte gegen ihn der Todtschlag in einem Duell« ...

Der Kirchenfürst schaltete ein:

Von Ihrer räthselhaften Beziehung zu einem Manne, der in seltsamer Verbindung mit dem Tode Ihres Vaters, genannt wird, schreibt der Provinzial nichts ...

Er war nicht mein Beichtvater! sagte der Mönch mit der ihm eigenen kalten, fast verletzenden Bestimmtheit. Kurz schnitt er damit die Rede des Kirchenfürsten ab, der nicht abgeneigt schien, von dem Mönche eine Aufhellung dieser Widersprüche um so mehr zu verlangen, als auch Bonaventura auf diese Art in die geheimern Beziehungen seiner dem Kirchenfürsten verhaßten und wie dieser wußte, auch ihm wenig willkommenen Verwandtschaft eingeweiht wurde.

»Die Gewohnheiten des Bruders« – setzte der Mönch aufs neue an zu lesen, aber seine Kraft verließ ihn ... Die Erinnerung an seinen Vater schien ihn mehr erschüttert zu haben, als das Bild seiner Vergangenheit, das er selbst hier aufzurollen hatte.

In schmerzlicher Folter, ungewiß, welches das endliche Ziel dieser Strenge sein sollte, seufzte Bonaventura tiefauf und fast hörbar ...

»Die Gewohnheiten des Bruders« – wiederholte der Kirchenfürst ....

»Waren so eingerissen, daß sie so plötzlich und so schnell nicht gebrochen werden konnten. Das Beschwören der Mäßigung vor dem Altare, das in Irland Wunder wirken soll, genügt nicht bei uns« –

Weil wir nicht nach unsern eigenen Gesetzen leben! schaltete der Kirchenfürst ein; weil eine offene und freie Schaustellung unserer seelsorglichen Handlungen und Strafen vor einer gemischten Bevölkerung nicht möglich ist!

»Auch fehlt uns ein O'Connell«, schrieb der Provinzial Henricus, »der zu der Enthaltsamkeit von jenem Gifte, das in Irland die Verzweiflung zu nehmen scheint, um ihr Elend zu vergessen, die geistige Nahrung der Erhebung im Staatsleben gibt. Das Gefühl errungener Freiheiten wird dort ein edler Ersatz für das Gift, das bisher durch das Land der Armuth und Entwürdigung geflossen. Denn es ist nicht genug hervorzuheben – und auch mein Nachbar in gleichem Wirken, Pastor Schläger, bezeugt es – daß zugleich zum Ersatz die geistliche Quelle der Aufklärung geboten werden muß, wie bereits Ephes. 5, 18 die Schrift sagt: ...«

Ueberschlagen Sie das! unterbrach der Kirchenfürst.

Bonaventura gedachte des Onkel Dechanten ... Es war ihm, als spräche dieser: Die Römlinge wollen nichts Deutsches, nichts Nationales, nichts aus unserm Schoose Geborenes, nichts die Brüderstämme und die Confessionen durch die gemeinsamen Bedürfnisse des natürlichen Volkslebens und des Geistes Versöhnendes –

»Unserm Zögling hatte sich mit seinen Untugenden der Genius verbündet« ... las der Mönch und nun sein Lob vernehmend in dem pflichtschuldigen Tone der Demuth, die eines der ersten Erfordernisse seiner Wiedergeburt sein mußte. »Er kam aus einer Welt, wo man ihn um seiner Sünden willen angestaunt hatte. Er kam aus dem trotzigen Leben einer Universität, aus einer großen reichen Handelsstadt, in die ihn das Geschick verschlagen, er war der Matador des akademischen Wort-Fechtsaales, man bewunderte ihn um seiner Vorzüge willen und seine Schwächen gereichten jenen nur zu verschönernden Schattenlinien. Tief hülfsbedürftig war der zerknirschte, des Lebens, der ganzen Welt, seiner selbst, glücklicherweise noch nicht Gottes überdrüßige Sinn des Zöglings. Eure Eminenz kennen unsern Laienbruder, den Bruder Hubertus ... Mindestens ist in vielen Klöstern Deutschlands der ›Bruder Abtödter‹ bekannt, wie die Brüder ihn nennen in Anerkennung seiner wunderbaren Gabe, es den ersten Heiligen unserer Kirche, den Säulenstehern, den Eremiten der thebaischen Wüste gleichzuthun, wenn nicht im gleichen gottergebenen Sinn, doch in der seltsamsten Kunst, sein Fleisch zu tödten –«

Wie schaudernd vor Erinnerungen stockte der Mönch ...

Aufs neue setzte er an:

»Bruder Hubertus war einst der erste Jäger des wilden Nimrod Wittekind, damals ein unternehmender Bursch, der sein ganzes Vertrauen genoß. Aus holländischen Diensten und aus Java zurückgekommen, umgab ihn auf dem Schlosse Neuhof der Reiz der Fremde. Alle Herzen flogen ihm zu und keines mehr als das eines Fräuleins von Gülpen ...«

Der Mönch kannte alles, was sich auf diesen Namen und die Verbindung bezog, und hielt im Lesen inne, sicher voll Erstaunen, weil der Kirchenfürst ihn mit den Worten unterbrach:

Sie nannte sich später nach diesem Hubertus, früher einem Buschbeck, die Frau Hauptmännin von Buschbeck und wurde nur deshalb siebzig Jahre, um in voriger Nacht in dieser Stadt hier ermordet zu wer den!

In dem Innern des Mönchs konnte eine so überraschende Mittheilung nur Töne seltsamster Musik wecken ... Des Abends gedachte er auf dem Schlosse Neuhof, wo er Lucindens Frage nach jener Gülpen beantwortete und die Speisen, die ihm der Kronsyndikus vorsetzen ließ, für vergiftete erklärte, wie solche, von denen aus den jungen Zeiten des Fräuleins die Sage berichtete ...

Bruder Hubertus, fuhr der Kirchenfürst fort, ist mir wohl bekannt! Doch muß man die Ruhmsucht tadeln, die mir in seiner Kunst, sich tagelang der Speise zu enthalten, zu liegen scheint ...

Der Mönch kannte das Leben seines Zähmers und Bändigers ... Ohne Zweifel antwortete er dem Tadler mit dem Nachhall eines seiner alten Lieder:

Frage im Walde die Raben,

Wenn Sturm durch die Tannen weht,

Wer unter ihnen begraben,

Da, wo das Kreuzlein steht! ...

Doch auch Bonaventura fühlte sich wie in einen Wald versetzt, wo Hörnerklang zu einem erlegten Hirsche rief ... Wild sprengen die Herren und Damen zu Roß heran; der erste der Jäger tritt auf das verendende Thier, weidet es aus und die schnobernden Hunde, die ihren rauchenden Antheil begehren und gierig zufahren wollen, müssen zurück und – entbehren ... So nur konnte ein Jäger das menschliche Abtödten gelernt und gelehrt haben ... Wie mehrte sich sein Bangen, das schöne Bild zu verlieren – von seinen Augustinerchorherren im Schnee des St.-Bernhard!

Der Mönch las:

»Die Besserung des Novizen gelang durch Hubertus vollständig. Selbst die Art, wie sich die Malaien von den Zerstörungen des Opiumrauchens heilen, verfehlte ihre Wirkung nicht. Freilich mußten wir gestatten, daß in einer Klosterzelle ein Noviz auf dem Lager lag und statt des Mohnsamens den Samen erst des Hanfes, dann aus langem Rohr entzündetes Naphtha, zuletzt nur das glühende Bernstein rauchte. Die starke Natur, schmeichelnd zurückgelockt, blieb Siegerin. Die unreinen Geister wichen, die Phantasie verlor ihre Bilder, sie wurden reiner und blieben ganz aus. Hubertus übergab uns einen Geretteten. Aber noch galt es, ihn sanft und linde einzuführen in die Erfüllung seiner Absicht, für immer der Welt zu entsagen. Aufrichtig war diese Absicht. Er liebte die Religion. Er fand seinen Trost und seine Erhebung in ausschließlicher Contemplation. Da ihm keine Wissenschaft unbekannt geblieben, so wußte er bei Tisch stets etwas vorzubringen, was uns fesselte. Doch verblendete uns ein zuweilen noch aufschimmernder falscher Glanz seines Geistes keineswegs. Wir verharrten in einem strengen und ernsten Erziehungsplan. Nichts wurde unterlassen, was seinen Willen, die Gelübde abzulegen, brechen konnte. Die Gebete, die Wachen, die untergeordneten Dienste, mühevolle Arbeiten aller Art, Betteln, das seinen Stolz prüfte, scheinbare Willkürlichkeiten, die seine Ergebung auf die Probe stellten, die Züchtigungen mit der Geißel und dem Cilicium, alles das waren nur geringere Grade der Hülfsmittel, ihm die Rauheit und Härte unsers Gewandes fühlbar zu machen. Die Ergebung, die er zeigte, war keine Stumpfsinnigkeit. Er ertrug, was ihm aufgebürdet wurde, um seiner neuen Geburt willen, ja wir mußten seinen Eifer zurückhalten, denn er begehrte zu zeigen, daß der Mensch den Schlaf ganz entbehren, von Wasser allein leben könne und Aehnliches, was wider die Natur geht, wenn es auch vom Bruder Hubertus fast zu ertragen gelehrt wird. Nach zwei Jahren endlich legte Sebastus sein Bekenntniß ab und erhielt die Tonsur. Die Priesterweihe ihm zu geben, wagte ich dem P. General nicht ans Herz zu legen. Immer ist noch ein dunkler Grund in seinem Innern, ja es war mir, als gäb' es Proben, in denen Pater Sebastus nicht bestehen könnte. Eure Eminenz mögen selbst entscheiden. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich von den Stätten des Friedens, an denen wir leben, den Vorwurf der Unthätigkeit entfernen möchte. Wie der heilige Basilius die Nähe der Städte suchte, um sein Einsiedlerleben dem Ausbreiten des Glaubens nützlich zu machen, wie die Söhne des heiligen Benedict unser deutsches Vaterland von düstern Wäldern gelichtet haben und auf unsere Hügel die Traube pflanzten, während auch das Feuer des geistigen Lebens aus ihrer Pflege der Wissenschaft und der Schreibekunst flammte, so wird ein jeder Bekenner des heiligen Franciscus auch noch jetzt darauf bedacht sein müssen, in einer sittenverderbten Zeit Hand anzulegen im Kampfe gegen den Uebergenuß des Lebens. Dann dacht' ich: Wie kann die letzte Prüfung des Gewonnenen besser stattfinden, als wenn er noch einmal ins Leben zurückkehrt? Wie heilt man ein Heimweh gründlicher, als wenn man dem Verlangen der Seele nach der geliebten Muttererde einmal noch folgt, dem Herzen einen starken, vollen, sättigenden Trunk des Wiedersehens gönnt und damit dann meistentheils gerade das andere Verlangen weckt, dahin wieder zurückzukehren, von wo uns zwar die Sehnsucht vertrieb, inzwischen aber doch sich die Gewohnheit, sie wußte es nur selbst nicht, bereits wieder eine liebliche Traulichkeit schuf. Und so erbat ich von meinem Obern in Rom die Erlaubniß, den jungen Pater, dessen heißersehntes Ziel die Weihen sind, zurückzulassen auf kurze Zeit in die Welt. Da kam die Aufforderung des Secretärs Eurer Eminenz. Freilich auf den Grund, weshalb sein Brief Klosterbrüder zu haben wünscht: ›weil sie ihm nicht nur als Sendboten dienen könnten, sondern weil sie auch in einer Zeit, wo wir nur zu sehr beklagen müßten, uns auf der großen Straße des Weltverkehrs so wenig zeigen zu dürfen, gerade ebendaselbst, wo es nur irgend möglich zu machen, aufzutreten hätten‹, ... ferner auf den Rath ›ärztlichen Befehl vorzuschützen für kranke Brüder‹ ... darauf hin mocht' ich es nicht wagen –«

Genug! unterbrach der Kirchenfürst, machte eine Pause, die ohne Zweifel die Rücknahme des hier gegen die Lehre vom Zweck, der die Mittel heilige, protestirenden Briefs ausfüllte und sagte:

Als ich vor einem Jahr diesen Brief erhielt, verweigerte ich die Unterstützung der Bitte des Provinzials. Seitdem erschienen aus dem Kloster einige Ihrer polemischen Artikel. Der Geist und Ton derselben überraschte mich. Ich wünschte Sie kennen zu lernen. Ihre Hieherreise erfolgte. Als ich Sie sah, war ich angezogen. Ich behielt Sie bei mir zu dem großen Kampfe, den die Kirche zu kämpfen hat. So manches Ziel unserer Mühen haben wir erreicht; aber die Streiter können sich nicht dicht genug scharen. Ich erkenne an, was Sie geleistet haben. Ich lese Ihre Aufsätze mit Befriedigung. Ich wünschte jedoch mehr – viel mehr! Ich finde in dem, was Pater Henricus von Ihrer Erziehung sagt, nicht den Geist wahrer Heiligung. Der Grund, aus dem Sie wirken, ist gefahrvoll für Sie, ist es auch für uns! Für Sie – ich will es Ihnen aufrichtig sagen – für Sie und für wie viele Ihres Gleichen! – ist die Kirche nur der Schlußstein Ihrer irrenden Abenteuerlust auf dem Felde der Philosopheme! Sie ist nur der Ruhepunkt Ihres von allerlei Donquixoterieen ermüdeten Denkens! Sie streiten jetzt für die Kirche, weil Ihre angeborene Streitsucht hier endlich einen festen Gegenstand und eine sichere Anlehnung findet! Das scheint leider unser trauriges Loos mit euch Uebergetretenen allen! Aller Zorn, der in euch wurmte, alles Gefallen am Besondern und Seltsamen, alle Ungeduld, daß man auf euch bisher nicht achtete oder euch wiederum zu rasch vergaß, diese unreinen Geister der Rache, der Vergeltung, der nie zu sättigenden Gier nach dem Reiz der Neuheit treiben Euch auf den Kampfplatz! Was es auch sein möge, das Sie dem Vater eines Unglücklichen, den Ihre Hand tödtete, so nahe verbinden konnte, ich glaube es gern, daß Sie ermattet an der Pforte des Klosters Himmelpfort niedergesunken sind. In dieser Stimmung verlangten Sie nach dem Trost der Religion und rühmten die Einfalt derselben. In alles aber, was man Ihnen bot, legten Sie, als Sie es empfingen, Ihren eigenen Sinn, nahmen es nicht in dem unsrigen. In diesem immer nur Ihr Ich verherrlichenden Geiste vollzogen Sie die Liebesopfer, die Ihnen Ihr Guardian und Provinzial übertrug. Sie duldeten, entbehrten und was Sie zu den harten Proben des Bruder Hubertus ermuthigte, war nur der geistige Hochmuth auf Menschenkraft. Weder Ihr Verstand noch Ihr Herz liebt das Christenthum, nur Ihre Phantasie liebt es! Die Dienste, die Ihr Poeten und Künstler dem römischen Glauben geleistet habt, verkenn' ich nicht, doch waren und bleiben sie gefahrvoll! Sie entbehren nachhaltiger Wirkung. Oder glauben Sie, daß alle die Fortschritte, die wir in diesen Tagen in Frankreich, Deutschland, Spanien gemacht haben, gemacht haben mitten unter den Stürmen der politischen Bewegungen, nur die Folgen der wiedergeborenen schönen Künste sind? Diese Fortschritte verdanken wir nur dem bei so vielem Flitter der Bildung gerade zum wahrhaften Herzensbedürfniß gewordenen Bekenntniß der geistigen Armuth! Armuth, Armuth! Nüchternheit, Entbehrung, Gefangengabe unserer Ueberzeugungen an ein Gegebenes, Wiedererweckung der Würde des Beichtstuhls, der geregelte Kirchgang, die Wiederherstellung alles dessen, was über religiöse und politische Dinge in dem gesundesten Theile des Volks, im Bauernstande, diesem plötzlich nun ja auch von eurer Poesie verklärten, lebte, Ascese, Wallfahrten, wiederhergestellte Bruder-und Schwesterschaften, das ist der Geist der Stetigkeit, der allein die Kraft zum Glauben wecken und darin die Ausdauer bestärken kann ...

Der Kirchenfürst schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:

Jetzt, Pater, ein ernstes Wort! Ich ließ Sie beobachten, Pater! Wissen Sie, daß ich Sie monatelang in Ihr Strafkloster zu Altenbüren verweisen könnte? Sie wurden gestern Mittag im Hause eines jüdischen Trödlers gesehen, wo Sie mit Ihrem Ordensgewand eintraten und es auch Mittags im Ordensgewand verließen. Abends jedoch um acht Uhr – Unglücklicher! – kehrten Sie wiederum unter dem Dache des Juden ein –

Bonaventura, ahnend, entsetzte sich, mehr noch erschütterte ihn der unfehlbare Schrecken des Mönches ...

Mitleidenswerther, bejammernswürdiger Mann! fuhr der Kirchenfürst fort. In dem von jenem Juden geborgten Kleide, mit einem Hut, der Ihre Tonsur verbarg, sah man Sie, Sie, den Pater Sebastus, den Michael mit der zweischneidigen Feder, den Mönch, der ein Gefallen darin findet, einen Sack zu tragen mit den Eiern, die ihm die Bauern der Umgegend schenken, Sie, Sie, einen Sohn des heiligen Franciscus – auf der Galerie des Theaters!

Bonaventura stand auf, des dadurch entstehenden Geräusches nicht achtend ...

Dumpfe Stille nebenan ...

Und noch nicht genug! fuhr der Kirchenfürst fort. In dieser falschen Tracht gingen Sie die Nacht in einen Gasthof der Stadt, in »das goldene Lamm«! Was thaten Sie dort?

Bonaventura gedachte der Geigenspielerinnen, der ganzen Aufregung des gestrigen Abends ...

Kein Laut der Erwiderung von dem Mönche ...

Was können Sie auf Ihrem frevelhaften Pfade dort gewollt haben? In einem der Zimmer waren Sie zwei Stunden bis um Mitternacht, wo Sie dann von dem Juden Ihr Kleid zurückgeholt haben! Pater! Pater! Ich beschwöre Sie, um der Wunden unsers Heilands willen! Fühlen Sie denn nicht, daß Sie den Erlöser, den Sie in diesem Kleide bekennen, zum zweiten male verkauft haben? Die Nachricht von Ihrem Judasverrath kam uns glücklicherweise von einem Beobachter, der unsere Kirche liebt und unsere heilige Sache bewahren wird vor Bekanntmachung solches Aergernisses! Weitere Nachforschung hinderte ich, um nur Ihr Unglück nicht zu mehren und nicht die Schande Ihres Fehltritts zu grell für uns alle aufzudecken! Pater! Was würde aus Ihnen werden, wenn mich keine Rücksicht auf Ihr Talent, keine Rücksicht auf die nützliche Bewährung desselben in unsern gegenwärtigen Kämpfen abhielte, Sie nach Altenbüren zu verweisen, wo Sie in Gesellschaft anderer meineidiger Priester für immer, für immer, Unglücklicher, Ihren Ruf im weiten Reiche unserer Kirche verloren haben würden!

Dumpfes Schweigen auf diese fast weich gesprochenen Worte ...

Eingetreten sind Sie in eine große Heilsanstalt gegenseitiger Erziehung! fuhr Priester Immanuel fort. Ich möchte Sie nicht aufgeben; ich möchte Sie dem Wirken erhalten, für welches Sie so rühmenswerthe Proben Ihrer Befähigung abgelegt haben! Pater! Daß sich der Geist, in dem Sie allein außerhalb der Zelle leben dürfen, heilige, daß Sie sicher sind vor den Anfechtungen und dem Rückfall in die Reize dieses Lebens, denen Sie abgeschworen haben, muß ich Ihrem Wandel von jetzt an die bestimmtesten Grenzen ziehen! Sie verlassen nie mehr diese Stadt ohne eine hier von meinem Kaplan eingeholte Erlaubniß! Sie meiden jeden öffentlichen Versammlungsort! Sie rüsten sich, daß Sie jeden Abend von sieben Uhr an in Ihrer Wohnung, dem Profeßhause, angetroffen werden! In jeder Stunde, wo vom Kloster Himmelpfort Ihnen bekannt ist, daß Ihr würdiger Guardian eben die Thür seiner Zelle öffnet, Miserere ruft und die Patres, seinem Beispiele folgend, sämmtlich sich mit der Disciplin dreimal den Rücken geißeln, sollen auch Sie das Confiteor sprechen, wo Sie sich irgend befinden. Und daß Sie es thun, wirklich thun, Pater, erinnere ich Sie an das Wort jenes Mönches, zu dem ein Zweifler sagte: Geißeln Sie sich denn auch wirklich in Ihrer geschlossenen Zelle, wenn der Guardian in der seinigen Miserere! ruft? »Herr! Man hat Ehre!« sprach er.

Der Kirchenfürst stand eine Weile und schwieg ...

Bonaventura erwartete eine Entgegnung des Mönches ...

Nur die lauten Athemzüge desselben hörte er ...

Was führte Sie auf, die Galerie des Theaters? begann der Kirchenfürst aufs neue. Was suchten Sie in der Nacht in jenem Gasthause?

Nach einer langen Pause hörte Bonaventura die Worte.

Nichts so Unedles, als Sie denken, Eminenz ... Doch ... ich verlor meinen Beichtvater –

Diese Worte wurden mit großer Schärfe betont.

Wen wollen Sie wählen?

Wenn Herr von Asselyn hierher versetzt würde und ich dann noch – hier weile –

Der Mönch stockte ...

Wohlan! sagte der Kirchenfürst und wie aufs angenehmste überrascht. Es war Ihnen von mir aufgegeben worden, den edeln und gotterleuchteten Pfarrer von St.-Wolfgang, Bonaventura von Asselyn, auf die kurze Zeit hier zu begleiten, bis ich im Stande sein würde, mich so ausführlich wie ich mußte, mit diesem Werkzeug Gottes zu verständigen. Im Umgang mit demselben, den Sie von Stund' an fortsetzen sollen, verbiet' ich Ihnen kraft der mir übertragenen Ordensgewalt Ihres Provinzials, jemals aus eigenem Triebe irgendein Wort mit ihm zu reden! Nie sollen Sie selbst das Wort ergreifen! Nie sollen Sie anders als nur ein Ja und ein Nein für ihn haben! Der Priester Bonaventura weiß es, daß ihm die Rede gestattet ist, ihm die Unterhaltung, er weiß aber auch, daß er Ihnen keine einzige Frage stellen darf, als eine solche, der die kurze Antwort: Ja oder Nein gebührt! Denn warum verhäng' ich gerade Ihnen diese Strafe? Weil Ihre größte Aufgabe die sein soll, den Drang zu tödten Ihrer geisthaschenden Mittheilung! Absterben muß Ihre Neigung, durch Ihre Vergangenheit Ihre Gegenwart Lügen strafen oder über Ihr Kleid hinaus sich immer noch verklären zu wollen. Durch Ihren Geist, Ihre Kenntnisse wollen Sie das Vorurtheil Ihres Standes widerlegen. Aber wenn Sie das Gelübde der Armuth ablegten, stand an der Spitze der Entbehrungen, die Sie sich vorzuschreiben hatten, die Armuth am Geiste! Diese bekennen Sie und dann wird Ihr Sinn sich läutern! Nichts hat die Verführung zum Laster mehr im Gefolge als jene Gedanken, die schimmernde Ausdrücke suchen, jener Reiz, der Sie verführt, sich in der Vielseitigkeit Ihrer Auffassungen, in der Fülle von Gesichtspunkten, auf dem schwindelnden Wege der Contraste und Paradoxen zu ergehen; derselbe Reiz stumpft das Gefallen an dem Einfachen und Charaktervollen ab. Ihnen, Pater, Ihnen ist, wie der ganzen Richtung des Jahrhunderts, vor allem das »Wort zur unrechten Stunde« zu nehmen! Rancé – der kannte diese Gefahr, als er nach einem Leben geistreicher Frivolität den Orden der Trappisten stiftete! Ich verlange keinen Dank für meine Schonung – ich werde mir selber ein Gebet um die Vergebung Gottes auferlegen, daß ich so milde war – ich strafe Sie, wie mir scheint, daß es Ihnen heilsam ist! Und die in dieser Form meiner Verzeihung liegende gegenseitige Erziehung wird auch andern gut thun! Treten Sie näher, mein Herr von Asselyn!

Damit trat der Kirchenfürst an den Vorhang, zog diesen zurück und Bonaventura stand mit dargereichter Rechten, wie um Verzeihung bittend, vor dem in Staunen und tiefster Scham halb aufwallenden, halb vernichteten Mönche ...

Mit unerschrockener Miene sprach Priester Immanuel:

Deshalb hab' ich Bonaventura von Asselyn zum Zeugen dieser Scene gemacht, weil ich auch ihn in den Ernst unsers geistlichen Lebens und in unsere wahre kirchliche Schule einführen wollte! Schon Ihre Ungeduld zu bekämpfen, daß Sie noch einige Tage hier zu warten hatten und ferner warten sollen, Herr von Asselyn, mußte Ihnen nützlich sein! Nützlich wird Ihnen auch werden, das aufgedeckte Leben des Paters zu sehen und es doch so nur zu berühren, als wenn Sie es nicht kennten! Ja und nein, nein und ja! Bis zu dem Tage, wo Ihnen Sebastus vielleicht – die Beichte spricht ... Lasset euch beide das, was ihr heute erlebtet, eine Uebung sein, die Gefahren – des Geistes kennen zu lernen! Helfen Sie sich einander redlich beim Straucheln! Bestärken Sie sich in der Geringschätzung des Gedankenaustausches! Da liegt der Thomas a Kempis; das goldene Buch der bewußten, ja mit Stolz bekannten Geisteseinfalt! Oder lesen wir eine Stelle des heiligen Gregor ...

Der Kirchenfürst nahm ein Gebetbuch und las mit lauter Stimme:

»Wenn ich mir die Büßerin Magdalena vergegenwärtige, so möcht' ich eher weinen, als reden und bekennen! ... Denn sind nicht die Thränen dieser Sünderin mächtig genug, auch ein steinern Herz zur Buße zu erweichen? Sie bedachte ihren vergangenen Lebenswandel und konnte sich in ihrem reuevollen Thränenbekenntniß kein Maß vorschreiben. In das Gastzimmer trat sie zur Zeit des Mahls, sie kam ungerufen, und während des Mahls brachte sie ein Thränenopfer. Lernet, von welchem Schmerz sie gefoltert ward, daß sie auch während der Zeit des fröhlichen Mahls der Thränen sich nicht schämte! Siehe! Weil dies Weib ihre Befleckungen und Laster erkannte, eilte sie in glühender Sehnsucht nach Reinigung zum Urquell der Barmherzigkeit und scheute nicht die Gegenwart der Gäste. Da sie vor ihrer eigenen Häßlichkeit erröthete, konnte die Scham von außen, sie nicht entmuthigen. Was, meine Brüder, sollen wir nun mehr bewundern, die im Gastzimmer erscheinende Magdalena oder den Herrn, der sie gnädig aufnahm? Soll ich sagen: aufnahm? – nicht vielmehr: durch seine Gnade an sich zog? Ich will am liebsten beides sagen. Es ist derselbe, der sie innerlich anzog durch seine Barmherzigkeit und derselbe, der sie äußerlich mit aller Sanftmuth aufnahm.«

Jetzt legte der Kirchenfürst das Buch zur Seite, neben sein inzwischen erkaltetes Tabacksrohr, neben den noch unerbrochenen Brief seines Königs, dann entließ er beide mit einer Handbewegung, die ausdrückte, daß er ihnen den Segen ertheilte und den Gewinn zweier Seelen für sein Gottesreich höher hielt, als alles Reden und Handeln und Drohen der Mächtigsten der Erde.

Im Vorzimmer war es still geworden ... Der Kaplan begleitete den Mönch und den Pfarrer bis an die Ausgangsthür. In seinem demüthigen Gruße lagen die Worte:

Was auch zwischen euch dreien soeben drinnen geschehen ist – Alles – zur größern Ehre Gottes! ...

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wohl hätte Heinrich Klingsohr draußen in freier Luft aufschreien mögen wie mit wiedererwachtem Titanentrotz.

Seine Brust hob sich, seine Augen standen starr aus den Höhlen, er hatte auf der Zunge Worte nicht der Verwünschung seines Geschickes, nicht der Anklage seines Berufes, nicht der Anklage des Kirchenfürsten, – nur dem Jammer seines Innern hätte er Worte leihen mögen, sich vergleichen mit dem gefangenen, an seinen Flügeln niedergehaltenen, auf dem Rücken liegenden Vogel vom gestrigen Morgen, sich rechtfertigen gegen den falschen Schein, der sich um ihn breitete in Gegenwart eines Mannes, den er zu schätzen anfing, er, der niemanden anerkannte außer dem, der ihm durch etwas imponirte, etwa – die Kunst, eine Nachtigall nachzuahmen!

Aber nicht einmal zu der Auseinandersetzung war ihm Gelegenheit gegeben, zu sagen: Warum bleiben Sie nicht sogleich in dieser Stadt? Warum haben Sie nicht schon jetzt die Erlaubniß des Beichtstuhls! Alles, alles möcht' ich Ihnen bekennen! ...

Fiebernd lief es durch seine Seele:

Ich möchte sagen, wie mich gestern die unwiderstehlichste Sehnsucht ergriff, nach dem Leben und den Schicksalen eines Mädchens zu fragen, das einst mir das Leben und dann den Tod gegeben! Ich wechselte mein Kleid, ich wurde ermuntert dazu von einer Jüdin, die mir unser ganzes Dasein als einen einzigen großen Mummenschanz darstellte, wurde ermuntert dazu durch einen Schwur »bei dem Gotte Spinoza's« und durch die Versicherung, ich dürfte auf die Verschwiegenheit dieses Mädchens bauen ... Wer war der Verräther! ... Wer war es, der des Nachts, so ruhelos wie ich, dahin irren konnte? ... Ja, ich war auf der obersten Galerie des Theaters! Dort, in eine Ecke gedrückt sah ich jene Frau spielen, die einen edeln Menschen auf ihrer Seele hat – sah die Kinder springen, die ich oft auf dem Schoose gehalten und für welche Lucinde arbeitete, sich mühte und entbehrte, wie eine zum Magddienst sich verurtheilende Königin ... Das Haus war menschenleer ... aber nicht so öde war es, als das Gefühl meines Daseins ... ich irrte in den Straßen, sah nicht die Spione, die mich verfolgten, vergaß die Ordnung des Hauses, das ich mit vielen andern bewohne, bestieg die Stufen des Gasthauses zum Lamm, kehre schaudernd um, aber um mich her sah ich nichts als Lucinden, sah sie mit phantastischen Blumen bekränzt, sah sie im langen Kleide hoch zu Roß – mir winken – Himmel und Erde! Ich wage Ehre und Freiheit und mein ganzes Leben, um nur fragen zu können: Wo ist Sie? Was wurde aus Ihr? ... Zitternd steig' ich zu der Frau empor, an deren Herz zu glauben ich nicht die mindeste Berechtigung hatte, aber ich zwinge mich dazu ... Aber auch sie verrieth mich nicht! Sie schwur's mir bei dem Andenken Serlo's, obgleich der, wie sie sonst und jetzt sagte, schuld gewesen wäre an ihrem ganzen verfehlten Dasein ... Ich finde diese Menschen, klein wie immer, geringfühlend wie immer, voll Zorn über die Leere des Theaters, voll Hohn über das Ausbleiben des Beifalls ... aber vor ihnen steht dennoch ein köstliches Mahl, liegt eine Rolle Geld ... eine Sendung war es von Lucinden ... Sie ist hier! Hier in dieser selben Stadt .... Und da sollt' ich nun auf und davon? Sollte nicht verweilen, lauschen, horchen – aus meiner begrabenen Welt! ... Sollte nicht vertrauen, daß Menschen, die durch die Schule des Geschicks so tief gedemüthigt waren, daß sie sogar Konstanzen Huber, wie sich Lucinde genannt, das Wort gaben, sie nirgends zu kennen und sofort diese Stadt zu verlassen und auf die Woge des Lebens zurückzukehren (was sie hätte und erwürbe und theilen könnte, hatte sie geschrieben, sollte ihnen, wenn sie wollten und wo sie wollten, gehören) ... sollte nicht vertrauen, daß durch Geld und Mitleid gewonnen, diese Menschen mich nicht verriethen ... Ich wäre geblieben bis zum Hahnenschrei! Ich hätte geredet und geträumt, wenn mich nicht die Erzählung von unserm Abschied einst in Lüneburg zur Besinnung gebracht und an das Portefeuille erinnert hätte, das ich plötzlich mich erinnere, in meinem Ordenskleide gelassen zu haben ... Nun, wie zerschmettert schon von einer Strafe des Himmels, wank' ich davon ... Rings die stille Nacht – bis ich zurückkäme versprach mir die jüdische Sibylle zu wachen ... ich finde sie ... lesend – im Spinoza, einem Geschenk eines Priesters Namens Leo Perl ... wir suchen und suchen das Portefeuille – es findet sich nicht ... Mitternacht ist vorüber ... die Jüdin gibt mir Geld, um den Wächter des Profeßhauses bestechen zu können ... einen neuen, noch willfährigen Knecht ... Wie sie das Geld klingen läßt und sagt: Pater, Ihr wißt nicht, welche Freude ich habe, der Kirche einen Heiligen zu stehlen und Gott einen Menschen zu schenken! da wank' ich dahin, komme in meine Wohnung, glaube unbemerkt geblieben zu sein, werde in der Frühe zum Kirchenfürsten gerufen, ahne die Kunde von meinem Vergehen und kam, bereit zu sagen: Tödtet mich, wenn ihr wollt! Ich konnte nicht anders!

Wie beide Leviten so dahinschritten, näherten sie sich der Kathedrale. Sie traten in den majestätischen Bau, unter Menschen, die nichts von ihrem Seelenleid ahnten, nichts von der Gebundenheit ihres Willens und ihrer Sinne ...

Da entdeckte Bonaventura in einiger Entfernung, in einer Nische, die vom hellsten Sonnenlicht, das durch die bunten Fenster brach, beschienen war, in einer Gruppe, die sich laut und wie es schien in fremder Sprache unterhielt, eine Gestalt, die ihn jetzt im erhöhten Grade erschrecken mußte ...

Nur ihren Rücken sah er. Sie stand in schwarzseidenem Kleide, dunkelm Hute, sprach mit den Fremden, die dem Volk anzugehören schienen; es war ihm, als könnte es nur Lucinde sein ...

Der Mönch las mechanisch die Inschriften der Leichensteine ...

Bonaventura hätte ihn aus dem Wege zu jener Fensternische fortziehen mögen ...

Der Mönch schritt in sich versunken und lesend an den Leichensteinen weiter und zu jener Gegend hin, ohne auf ihn zu hören ...

Schon waren sie der Nische so nahe, daß die drinnen geführte Unterhaltung gehört werden konnte ...

Sie wurde in italienischer Sprache geführt ...

Zwei Männer, der eine in kurzer Jacke, der andere wohlangethan, mit einigen jungen Leuten, einem Mädchen darunter, sprachen bald zu den Bildern des Fensters gewandt, bald zu jener Dame in dem schwarzen Kleide ...

Es war Lucinde ...

Bonaventura hörte es an ihrer Stimme ... er hatte auch neulich von den Italienern, von dem Gipsfigurenhändler und seinen Kindern gehört ...

Der Mönch schreitet näher, hält einen Augenblick inne, horcht den italienischen Lauten und saugt sie voll Begierde ein, wie Duft aus dem Lande der Palmen ...

Jetzt wendet sich Lucinde und wird auch seiner ansichtig ...

Wir wissen, daß sie zum Tod erschrecken kann ohne das mindeste Zucken der Augenwimpern ...

Blaß und marmorkalt mustert sie die beiden Daherkommenden: den Mönch, den sie schon um der Seltsamkeit seiner Tracht willen erkennen mußte; Bonaventura, vor dem sie in diesem Augenblick durch die Enthüllung ihrer Beziehung zu seinem Begleiter glauben durfte, alles zu verlieren ...

Der Mönch hört seinen Anruf nicht und liest nur die Inschriften der Leichensteine ...

Auf den jetzt ihn treffenden Blick und den sich verneigenden Gruß Lucindens hatte sich Bonaventura sammeln können. Sonderbar, auch die Tochter des Italieners schien ihn zu kennen, die ihm doch fremd war ... Mit einer hastigen Geberde deutete sie auf ihn und flüsterte mit dem Vater und mit den Brüdern ...

Bei alledem hatte Lucinde den Pfarrer gegrüßt, ganz ehrerbietig zu ihm aufblickend. Vor dem Mönche aber schlug sie die Wimpern nieder ...

Eine Italienerin vermuthet dieser ... ohnehin mühsam dahinschreitend, hält er einen Augenblick inne ... und jetzt wie festgewurzelt steht er und sicher hätte er durch einen lauten Ruf sein Erschrecken kund gegeben, wenn nicht Bonaventura, die Wirkung dieser Wiederbegegnung vorahnend, seinen Arm ergriffen und ihn von dannen geführt hätte.

Mühsam folgt Klingsohr. Das lange weite Gewand schleift an der Erde nach. Die Knie brechen dem Gefolterten. Glücklicherweise sind beide einer Kapelle nahe, in der eben Messe gelesen wird.

Beide knieen und mögen schwerlich beten können ... falls nicht das Gebet ein Zwiegespräch der Seele mit sich selber ist.

Als sie sich erhoben und Bonaventura draußen im Freien fragt: Sie kannten jene Dame? darf der Mönch nur erwidern: Nein oder ja! Er erwidert: Ja! – Es war ein Wort wie ein Menschenleben.

Auf seinem Zimmer fand dann Bonaventura, als er nach dem seltsamsten Selbander von der Welt gegen Mittag nach Hause gekommen, gleich beim Eintreten auf seinem Schreibtisch einen Brief, den ihm Renate aus St.-Wolfgang nachgesandt.

Er hatte ihr wol das Ansehen einer großen Wichtigkeit gehabt, denn er war mit Poststempeln über und über bedeckt.

Bonaventura erbrach und las:

Sub sigillo confessionis.

Quando quis tibi occurrit sidei romanae sacerdos ...

Wir kennen die räthselhafte Einladung, die auch an den Dechanten ergangen war.

Wer weiß, ob dieser jetzt, wie er über die Berufung des geliebten Neffen durch die Römlinge zitterte, nicht ebenso von Bangen wäre ergriffen gewesen, hätte er das leuchtende Auge gesehen, mit dem Bonaventura diese Zeilen las und wieder las und sich nicht trennen konnte von den Worten: »Der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um die Kirche von ihren Fehlern zu reinigen!«

Freiheit! Freiheit! riefen tausend Stimmen in seiner Brust. Alle Creatur schien ihm zu schmachten nach Erlösung. Die gefesselte Zunge der ganzen Menschheit schien ihm nach Sprache zu ringen ...

Er bewunderte den Kirchenfürsten; aber seine Ideale wankten. Er verzweifelte an der Kraft, in den großen Vorstellungen von seinem Beruf, die ihn sonst wie mit Cherubsflügeln emporgehalten, ein ganzes Leben lang noch mit seinem innersten Menschen aufzugehen.

9.

Düster brannte die Lampe in einem kleinen, engen, doch behaglich eingerichteten Zimmer.

Die weißen Vorhänge zweier Fenster waren niedergelassen ... Tiefe Ruhe ... nur zuweilen das Schnobern von Rossen wurde hörbar in dem Hofe, auf den sie hinausgingen.

Elf Uhr schon ...

Im Nachtgewande sitzt Lucinde auf einem weiß überzogenen kleinen Kanapee ... vor ihr steht ein blinkender Mahagonitisch mit Zeitungen und Büchern bedeckt ... in einem Winkel des Zimmers, hinter einem Schirm, steht ein Bett ... Im kleinen weißen Ofen prasselt eine behagliche Flamme.

Endlich war sie frei von ihrem Tagewerk der Verstellung, hatte sich entkleidet, konnte noch nicht zur Ruhe gehen und wollte wachen.

Die dunkeln Haare hängen, halb schon aufgelöst, über Nacken und Stirn herab ... diese Stirn, die seit einigen Jahren erst sich so mächtig über die Augen vorgedrängt ... sie stützt sie mit der durch das Emporhalten fast blutlos gewordenen, schneeweißen Hand ...

Auch das lange bauschige Kleid, das sie umhüllt, ist weiß ... wie mußte die Schwärze ihrer Locken, das Feuer ihrer Augen dagegen abstechen! .. Die Unruhe ihres Geistes zeigte sich in den Lippen, an denen die weißen Zähne zuweilen sichtbar werden; sie drückt und schneidet in sie fast mit ihnen ein.

Schon oft hatte sie begonnen, die Haare zur Nachtruhe zu flechten und zusammenzulegen ... immer war sie von der Arbeit abgekommen, hatte die Hände sinken und dann den Kopf in so schräger Lage beharren lassen, als wenn sie noch flocht, noch ordnete ... Wurde er ihr zu schwer, so stützte sie ihn ... Darüber hatte sich der kleine Messinglampendocht verzehrt, aber lange währte es, bis sie die Düsterkeit merkte; dann griff sie zu und schraubte ihn höher und das weiße Licht verbreitete sich heller auf die weißen Vorhänge, die Gestalt im weißen Nachtgewande ...

Lucinde gedachte des Gestern und Heute ... Der leuchtendste Punkt war die Begegnung am Morgen.

Porzia Biancchi hatte in dem daherkommenden Geistlichen eine Aehnlichkeit entdeckt, die sie dem Vater und den Brüdern mittheilte, diese dann wieder dem Onkel Marco, der ein Maler war und die Kunst übte, alte Bilder zu restauriren und der dafür in diese an alten Bildern so reiche Stadt berufen war ...

Wohl schlug das Wort an Lucindens Ohr, daß der daherkommende Geistliche dem Eremiten Federigo von Castellungo wie aus den Augen geschnitten ähnlich sähe; wohl nannte sie des von ihr, trotzdem, daß sie Klingsohrn sah, so ehrerbietig Begrüßten Namen, den freilich nur Porzia's Vater kannte von dem Dechanten, seiner buona pratica her ... aber sie hörte nur das verhallende Knistern auf dem steinernen Estrich von Bonaventura's Schritten, staunte nur dem leisen Gange eines mit Sandalen und nackten Füßen dahinschreitenden Mönches, hörte dessen Lieder und dithyrambischen Sprüche, die ihr aus dem einzigen starren Schreck seines sie erkennenden Blicks wie tausend Raketen aufschossen ... sie sah nur noch dann, wie sie beide niederknieten und zu beten schienen ...

Aus dem Dome schritt sie, heute die Segnung mit dem Weihwasser vergessend.

Sie war im Kattendyk'schen Hause wieder, nahm die Abschiedszeilen der Serlo-Leonhardi (die schon den Wortbruch enthielten, doch von des Mönches nächtlichem Besuch zu erzählen – glücklicherweise war sie mit ihren Kindern wirklich abgereist –) und sammelte sich erst nach den Anstrengungen des Zusammenlebens mit einer sanguinisch erregten, das Wichtigste leicht, das Leichteste wichtig nehmenden Familie, Abends spät, in diesem Zimmer, das in den Hof gehend ihr als das ihrige war angewiesen worden.

Serlo's Kinder! Auch bei ihnen verweilte sie ... Klingsohr's Verrath an seinem Gelübde ... um ihretwillen! ... Sie lächelte befriedigt, doch sprach sie zu sich:

Mäßige dich nur! Sei nur still! Nur still! Lächle nicht, weder vor Freude, noch vor Schmerz! Laß alles über dich ergehen! Laß den Wolkenwagen des Geschicks dahinrollen wie im Gewitter! Zuck' im Weltbrand nicht mit der Wimper! Ertrage, was auch komme, selbst das Seligste, mit Gleichmuth! Gib Gehör jedem Befehl, den die Menschen hier, lieblos genug und ewig von Liebe sprechend und eigentlich liebevoll nur gegen zwei Bologneserhündchen, dir ertheilen! Sprich schon nichts! In deinem Ton liegt etwas, was der Ohrnerv der Eitelkeit nicht ertragen kann! Du willst ganz so sein, wie sie's wollen! Todt! Du willst beten wie sie, denken wie sie, ihre Reden bewundern, ihre Einfälle überraschend finden! Tuschelt dir die Frömmigkeit der Commerzienräthin eines Tages ins Ohr: Liebste, ich habe einen Sack gekauft, kommen Sie, wir bestreuen das Haupt mit Asche und beten in den Sack hinein! ... auch das thu' ich! Will Johanna, daß ich an dem kleinen Professor extraordinarius die kleinen Nägel seiner Finger bewundere, ich thu' es! Ich will leben wie die Wanderer in den Schneealpen sich zu unterreden aufhören, wenn sie hoch oben hinaufkommen und fürchten müssen, durch ein zu scharf ausgesprochenes Wort die tödliche Lavine zu wecken!

Dann bei der zweiten Toilette der Commerzienräthin und Johannens, bei dem nur Putz und Vergnügen erörternden Besuche der Frau Procurator Nück, bei dem Geflüster über die immer enger und enger sich schließende gefahrvolle Einheit des Ehepaars im zweiten Stock, bei dem gerühmten Behagen an der Ruhe im Hause, seit Piter nicht anwesend, bei den Mittheilungen über die Hauptmännin von Buschbeck, ihren Tod, ihre Frömmigkeit, ihr Testament an den Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort und die fehlenden Werthpapiere, diese Kapitalien, die sie als Kind so angestaunt hatte, weil sie ihr wirklich »rings auf den Feldern zu liegen« schienen – zu allem schwieg sie, ergänzte nichts, berichtigte nichts; sie wollte alles in sich verschließen und nur – ihre Zeit abwarten.

Gegen Abend war auch Treudchen auf einen Sprung gekommen und erzählte vom Kloster, wohin sie wirklich gegangen war ihren Geschwistern zu Lieb. Wie hatte man sie gefeiert! Selbst mit ihren Geschwistern hatte man sie überrascht, die aus dem Waisenhause waren abgeholt worden! Alle hatten Geschenke bekommen! Von Cajetan Rother, dem ehrwürdigen Beichtvater der Schwestern, für den das Sprachgitter nicht vorhanden war, hatte sie selbst ein zierliches Büchlein mit goldenem Schnitt empfangen, das Leben einiger besonders vorzüglicher Heiligen und Heiliginnen darstellend ... Die Kinder trugen eine Last Confect mit sich heim, wie dergleichen auch nur in Klöstern gebacken wird ... Sie zeigte ein von Schwester Beate erhaltenes Nadelkissen in Form eines Ostereis, ganz von Seide, vergoldet und in jenem Geschmack, der so eigenthümlich der frommen Kunstfertigkeit hinter Klostermauern angehört ... Schwester Therese hatte dann vorgelesen, Marienlieder, deren einige man im Chore gesungen im Refectorium, vor und nach – dem Kaffee – und dieser Kaffee wäre so gewesen, wie nur je einer in der Dechanei zu Kocher am Fall, wenn etwa der Geburtstag des die »lieben Freundinnen« bereisenden Fräuleins von Minnerich oder der Frau Majorin Schulzendorf gefeiert wurde oder eine jener Kindergesellschaften, zu denen der gute Dechant (früher, ehe der Geist der Kirche so streng wurde) alle kleinen Kinder in Kocher am Fall ordentlich durch Visitenkärtchen einzuladen pflegte.

Die frohen Mittheilungen kamen dann auch hier, auf Veranlassung der Dechanei, bei dem Morde der Frau Hauptmännin wieder an, bis dann Treudchen zu Madame Delring, ihrer nachsichtigen Herrin, wieder hinaufsprang ...

Am Abend war auch die zweite, wie es schien quecksilberne Tochter der Commerzienräthin, Frau Procurator Nück, wieder erschienen, eine kinderlose, nur dem Putz und ihrer Eitelkeit lebende Frau. Lucinde hatte sich sogleich ihr Herz gewonnen durch einige Bemerkungen über ein neues Kleid, das sie trug. Sie war gestern im Theater gewesen und häufte das Allernachtheiligste auf die Darstellerin der Frau von Waldhüll und die kleinen »Fratzen«, die Lucinde so gern wiedergesehen hätte, wenn sie nicht das System gehabt, auch bei Genüssen des Gemüths, sie sich versagend, zu sprechen: »Wozu?« Das war das kalte Wort, das ihr eigen geworden, mehr Worte eines herben Behagens am Entbehren und der Selbstqual als der Herzlosigkeit. Im Geiste Serlo's hätte sie der Frau Procurator sagen mögen: »Liebste Frau, wäre das Haus voll gewesen, so hätte Ihnen alles gefallen! Da es aber leer war, übertrug sich Ihre Verstimmung über die geringe Bewunderung Ihrer Toilette auf die Leistungen der Mutter, der Töchter, auf alles ...« Sie behielt das, wie jedes dergleichen, zurück, horchte nur dem Gespräch, bei welchem auch Benno genannt wurde, »meines Mannes bester Arbeiter«, der »von ihm nach dem Hüneneck geschickt worden ist« ... und auch den Reiz, Benno's Weise gegen den Schein eines Sich-so-nurschicken-lassens zu befreien, unterdrückte sie ... Sie sagte nur immer ihren Leibspruch, ein Wort des heiligen Augustinus: Trahimur! Trahimur! Wir werden gezogen und haben keinen freien Willen.

Um sich zu beruhigen, hatte sie einmal wieder in Serlo's Papieren zu lesen angefangen und hatte auch wieder aufgehört ...

Endlich begann sie aufs neue:

»Ist es denn möglich«, schrieb Serlo einst vor Jahren, »was ich gestern erleben mußte! ... Eine junge Frau war in dem Hause, wo ich wohne, gestorben und sollte heute in der Frühe beerdigt werden ... Eine alte Schauspielerin, die zu unserer Truppe gehört, klopfte, wie ich schon im Bette liege, an meine Thür, nennt ihren Namen und wünscht mich zu sprechen. Ich staune und fürchte – eine Anleihe. Nachdem ich mich angekleidet, öffne ich die Thür und in ihrem besten, elegantesten Anzug erschien die Darstellerin – der Zigeunermütter und Hexen mit einer augenblinzelnden und doch beklommenen Artigkeit. Nie hatt' ich mit ihr viel Worte gewechselt und erstaunen mußt' ich über die Wahl ihrer Ausdrücke, die Artigkeit ihres Benehmens, die Feinheit ihres ganzen, mit ihrem Rollenfache im vollkommenen Widerspruch stehenden Wesens. Verzeihen Sie! sagte sie nach einer Weile, wo ich das gefürchtete Anliegen erwartete, verzeihen Sie, in diesem Hause ist eine Leiche? ... Ja, sagte ich, eine junge Frau, die an einem Herzfehler starb! ... Sind die Leute wohlhabend? ... Sehr arm! war meine Antwort ... Würde der Mann gestatten, wenn ich ihm zwei Thaler schenkte – ... Sie stockte ... Gestatten? Was? fragt' ich erstaunt ... Mutter Viarda lächelte seltsam ... Sie werden mich für eine Närrin erklären, begann sie aufs neue, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich eine – Liebhaberei habe, die keine andere ist als die, – Todte zu schmücken! ... Wie? sagte ich und zog mich erschrocken zurück; ich glaubte mit einer Verrückten zu reden ... Sie sind erstaunt, fuhr mein Besuch fort, Sie zweifeln an meinem Verstande, und doch bitt' ich Sie wirklich, führen Sie mich zu dem Manne und erlauben Sie mir, seine Frau so zu schmücken, wie ich ein ganz unwiderstehliches Verlangen trage, wenn ich irgendwo eine Leiche sehe ... So traurig die Veranlassung dieser Bitte war, ich mußte doch über sie lächeln ... Da Sie zu Ihrem Liebeswerk noch zwei Thaler dazugeben wollen, sagte ich, so will ich mit dem Manne reden ... Ich ging in der Dunkelheit die Stiege hinunter und fand, den armen Handwerker mit seinen Kindern um die schon im Sarge befindliche, nur mit einem einfachen weißen Hemde bekleidete Leiche seiner Frau, der Mutter seiner trauernden Kinder ... Mein Anerbieten konnte als ein Werk der Barmherzigkeit gelten und die Annahme fand keinen Anstand ... Ich kehrte zu meiner Auftraggeberin zurück und begleitete sie hinunter ... Mit allen Zeichen der Theilnahme trat sie an den Sarg, fuhr mit der Hand über die kalte Stirn und sagte dann: Hier, lieber Mann, da sind zwei Thaler, aber lassen Sie mich mit der Leiche allein! .. Der Mann ging arglos, wenn auch überrascht, mit den Kindern auf den Vorplatz ... ich wollte bleiben ... Auch Sie, Herr Neumeister! sagte sie (ich führte damals noch meinen alten Namen) ... Als ich zögerte und etwas befürchtete, das nicht in der Ordnung war, sagte sie: Herr Neumeister, wenn Sie schweigen und mich nicht stören wollen, können Sie bleiben ... Ich blieb und sah voll Grauen, was die Darstellerin der Zauberinnen, Hexen und Zigeunermütter begann ... Sie stellte einen Beutel, den sie unter ihrem Mantel verborgen hatte, zur Erde, zog eine Anzahl frischer Blumen hervor, legte sie der Leiche auf die Brust, in die Hände, ums Haupt. Dann ergriff sie ein kleines Döschen, das ich sofort als Schminktopf erkannte, tupfte hinein mit etwas Baumwolle und schminkte die Wangen der Leiche, daß sie wie volles blühendes Leben aussahen ... Jetzt, meines Grauens und meiner Ausrufungen nicht achtend, ergriff sie gierig die kleine zinnerne Lampe und beleuchtete ihr Werk ... es war ein Anblick, das Haar sträuben zu machen ... Sie redete mit der von ihr geschminkten Leiche und wie mit einem ihr bekannten Wesen, redete voll Theilnahme, voll Herzlichkeit; beklagte die Leiden derselben, tröstete sie, eröffnete ihr ein Reich der seligsten Hoffnungen und ging zuletzt von dannen, wie wenn ihr ganzes Sein sich einmal aufgelöst hätte wieder in Andacht, Poesie und längstentbehrter Liebe ... ich sah sie dahinschreiten wie ein Gespenst ... Als ich allein war, bekämpfte ich mein Grauen, tauchte den Finger in das Oel der Lampe und entfernte die trügerische Lüge des Lebens von den todten Wangen ... Der Gatte und die Kinder kamen zurück ... sie fanden nur die Blumen und stockend er zählte ich, der Alten wäre es ein Bedürfniß, in dieser Art stille Liebesopfer zu vollziehen ... Diese Frau, mit der ich täglich verkehren mußte, konnte ich nie mehr ansehen, schwieg auch von dem Vorgefallenen zu jedermann, bis ich von andern erfuhr, daß diese Manie allgemein an ihr bekannt war und daß sie, um sie zu befriedigen und vor den Folgen ihres dadurch erlangten Rufes, der sie die Leichenschminkerin nannte, sicher zu sein, schon seit Jahren ein traurig irrendes Wanderleben führte.«

Oft hatte Lucinde diese Stelle gelesen ... mit Lachen sogar ... heute erschien sie ihr in einem seltsam andern Lichte ...

Sie überschlug jedoch einige Betrachtungen über das was man ein Leichenschminken in der Geschichte nennen könnte, und fuhr fort:

»Wie mich dann diese Erfahrung auch wieder zurückversetzt hat in meine erste Erziehung zum Priester, in die klösterliche Einsamkeit meines Jugendlebens im Convict!

Ja, wer nennt euch alle, ihr Verirrungen, die unausbleiblich sind, wenn man die Grundnatur des Menschen eine verdorbene nennt und das Leben daran gesetzt wissen will, diese Natur zu bekämpfen, auszurotten und mit einer geläuterten, einem Kleide voll Glanz und Durchsichtigkeit zu vertauschen! ›Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus!‹ war Jahrtausenden und ist noch jetzt Millionen nicht im Bilde gesprochen! Wirklich reißen sie sich – und andern den edelsten Theil des schönen menschlichen Baues aus! In dem protestantischen Wesen findet die Lehre von der Erbsünde doch, wenigstens nur noch im allgemeinen eine Pflege; aber bei uns, den Treugebliebenen, uns, den in duldender Ergebung das große geschichtliche Vermächtniß Forttragenden, bei uns ist darauf die ganze Heilslehre begründet und der Teufel eine Macht, die man schon von dem Kinde wegbläst und wegkreuzigt, wenn es getauft wird. Jeden ruhig prüfenden Seelenarzt frag' ich, wie er es nennt, wenn das Mistrauen und der Haß vor der eigenen Person sich so steigert, daß man sein Ich einer fortwährenden Züchtigung unterwirft? Die Manie hört darum nicht auf eine Manie zu sein, wenn sie auch geheiligt erscheint durch Millionen, die von ihr befallen wurden. Oft kann uns schaudern vor einem Wahn, der die ganze Majestät der Gewohnheit und der Gesetze für sich hat. Und doch ist dem so und wir sehen es mit Wehmuth.

Ich bekenne von mir, daß ich in meiner Erziehung zum Priester unter dem Druck einer steten Beängstigung vor dem Uebersinnlichen und Gespenstischen lebte. Die Fasten, die methodisch geregelten Lebensweisen machten uns Knaben bei allem sonstigen Leichtsinn den Kopf so wirbeln, wie eine immerfort angeschlagene eintönige Trommel zuletzt zur Verzweiflung bringt. Wir überboten uns, und nicht aus Eitelkeit und Liebedienerei, in der Schaustellung des Kampfes gegen Anfechtungen; wir wollten Visionen haben, wie Antonius in der Wüste und Franz von Assisi. Einen meiner Mitschüler fand man eines Tages mit verletzten Gliedern ohnmächtig in seinem Zimmer am Boden. Die Gewohnheit hatte er gehabt, in jedem Augenblick, wo er allein war, an einem Querholz, das er nach langen geheimen Mühen so über einen in der Mauer hervorstehenden Balken befestigen konnte, daß es sich auch ebenso wieder abnehmen ließ, ohne daß man die Anstalt bemerkte, sich anzuklammern und für sich ganz allein wie Christus am Kreuze zu schweben. In dieser Selbstmarter würde er immer weiter gegangen sein, wenn man ihn so nicht eines Tages besinnungslos gefunden hätte.

Empfindung hab' ich für alles Poetische, das einem solchen Wahn und einem darauf begründeten Glauben und Leben zum Grunde liegen kann; ein Schauer überrieselt mich aber doch, wenn ich mir eine solche, damals nicht etwa bestrafte, sondern eher noch bewunderte und belobigte Gesinnung in ihrer spätern Entwickelung, im weißen Gewande des Dominicaners, als Großinquisitor, als Beichtvater eines Fürsten denke und an solcher Stelle dann die Loose gemischt und gezogen, die über das geistige Wohl der Jahrhunderte entscheiden wollen. O du edler Gekreuzigter, den ich so innig liebe, was geht auf deinen Namen! ... Einst fragte ich einen Arzt nach meiner Leichenschminkerin. Solche Dinge entstehen aus den Störungen des geschlechtlichen Lebens! sagte er ... Nun wohl, dann will ich einen Schleier fallen lassen, so groß wie der sternenlose, schneeverhüllende Nachthimmel des Novembers, über euch Kirchen und Kapellen und Klöster und Schulen, in denen die Priester im Geiste Hildebrand's erzogen werden und wirken! ...

Ich sah auch vielerlei Wahn, der nicht aus den Störungen des geschlechtlichen Lebens kam. Die beleidigten Geister der Freiheit und Natur rächen sich. Sie jagen wie mit Furienfackeln die Feinde der Menschheit, die Verbrecher gegen den Heiligen Geist rund um sich selbst, daß sie keinen Ausweg mehr wissen vor ihrem eigenen Schatten und mitten in ihren Siegen, mitten in ihren Triumphen eine Verzweiflung sie ergreift, die ihnen zuletzt nicht den geistigen Tod als die höchste Lebenswonne vorspiegelt, sondern sogar den physischen –

Wir hatten unter unsern Lehrern einige ehemalige Benedictiner, in ihrer Art höchst gelehrte und an sich vortreffliche Männer. Sie gehörten Klöstern an, die man aufgehoben, Klöstern, in denen sie mit großer Bequemlichkeit gelebt hatten. Einer davon verschmerzte die Versetzung in den Stand des Weltgeistlichen sehr leicht. Es war ein Mann jovialer Natur, plauderhaft und nicht reinen Geistes. Ihm hätte des alten Römers Wort: Vor Kindern habe Scheu! vorzugsweise gerufen werden können. Seine behäbige und immer lächelnde Art war die der unerlaubten Vertraulichkeit im Reden. Wie ein leckes Faß war er, das aus allen Ritzen quillt. Seine Lust war die, Geschichten aus seinem Kloster zu erzählen, alles durcheinander, Heiliges und Weltliches, Verbürgtes und Unverbürgtes – später hab' ich oft solche unwürdige Greise gefunden, die ein Gefallen daran finden, gerade vor der Jugend geistig entblößt zu gehen. Was hat uns nicht dieser alte Professor, Pater Sylvester, von seinem und allen Klöstern und Pfarreien der Welt erzählt! Nichts etwa, was gegen sie zeugen sollte, nein, das Frommste, das Andächtigste, aber gemischt mit dem Unmöglichsten und sich eben deshalb dem Spott von selbst Anheimgebenden! Die Geschichten von einer Pfarrersköchin, die mit dem Teufel zu thun gehabt hatte, erzählte er ebenso für bestimmt, wie er die Versicherung gab, daß im Fegefeuer die Männer und Frauen getrennt sind. Dies bewies er aus der schlechtern Natur der Weiber, die durch Aussprüche der Concilien erhärtet wurde. Die Entziehung des Kelches schrieb er dem Ueberhandnehmen der Bärte zu und der Gefahr des Weines vor dem Ungeziefer – Kein Bienenschwarm, sagte er wie mit Schwuresbetheuerung, der in eine Kirche käme, rühre die Hostie an – Zwei Leichen hätten in einem Grabe gelegen, als man sie aber ausgrub, hätte man die eine über der andern gefunden und als man näher sich erkundigt, war die untere ohne Beichte gestorben – Dem Pfarrer gebühre eigentlich von allem der Zehnten, auch von der Ehe; diesen könnte er aber den Neuvermählten schenken, da er jede Ehe schon vollständig allein genösse, nämlich am Altare im Sakrament (man denke sich, wie uns reifende Knaben diese Worte aufregten!) – Die Kirchenglocken wären die Zungen der Lüfte, folglich müßten sie auch wie jede Zunge fasten; das geschähe am Grünen Donnerstage – Im Beichtstuhl müßte man vorzugsweise nach den Träumen fragen; eben in diesen läge der wahre Schlüssel zur beichtenden Seele, die oft selbst nicht wisse, was ihre wahre Sünde sei – Beim Lesen einer Todtenmesse erkenne man daran, wenn dem Priester das Kind Jesu in der Hostie erschiene, daß die Seele nicht mehr im Fegefeuer wäre – Und so gingen diese Belehrungen des Paters Sylvester fort bis zur Exaltation über den Werth eines Priesters, daß dieser uns geradezu Gott gleichzukommen schien. Zwischendurch liefen in aller Harmlosigkeit Berichte über ein Nonnenkloster, wo die Schwestern im Klostergarten bei Mondschein wandelten und unter den Blumen das Kind Jesu suchten und oft schon hätten sie's gefunden, sagte er, und hätten's in die Kirche an den Hochaltar getragen, geputzt und lieblich angesungen und allerlei Spaß mit ihm gehabt – oder von einem Mönche, der in einem Büchschen den Staub sammelte, der sich am Hochaltar auf den Marienbildern anlegte, und damit Zahnweh vertrieb und Aehnliches.

Was aber auch Pater Sylvester uns in Mußestunden und beim Spazierengehen mit ernster Miene an solcher Narretheidung zuflüsterte – man schickte ihn endlich in ein Versorgungshaus – nichts kam dem gleich, was wir in unserm düstern Gebäude mit seinen langen Gängen, finstern Zellen, durchräucherten Winkeln und gefängnißartigen, vergitterten Fenstern endlich selbst erlebten.

Ein anderer Benedictiner, Pater Fulgentius, war ein Mann von großen Kenntnissen und strenger Disciplin. Cholerischen, oft aber auch wieder tiefmelancholischen Temperaments und wie von Schwermuth über die ganze Erdenschöpfung ergriffen, flammte er bald in Ausbrüchen der Leidenschaft auf, bald versank er in ein fast menschenscheues Umherirren und Suchen nach einer Ruhe, die er nicht finden konnte. Er brachte es dahin, daß Pater Sylvester endlich entfernt wurde. Von zelotischer Strenge in seiner Lehre strafte er, ließ züchtigen und verbreitete Furcht und Schrecken. Dieser Gesinnung wegen hatte man ihn zum Rector ernannt. Erst schloß er sich ein, um diese Würde abzulehnen – zwei Tage lang! Als er endlich, von Hunger und Durst getrieben, nachgeben mußte und öffnete und die Würde annahm, war er eine Zeit lang die Milde selbst; bald aber kam die alte wie aus Feindschaft gegen Gott und die Welt hervorgehende Strenge, die indessen den Ruf der Gottseligkeit der Anstalt mehrte. Endlich verbreitete sich das Gerücht, daß es mit dem Pater Fulgentius nicht geheuer wäre. Nachts hörten wir Kleinern zuweilen ein plötzliches Laufen auf den Corridoren, ein Schellen wie nach Hülfe – am folgenden Morgen erfuhr man, der Rector wäre krank gewesen. Erst nach einigen Tagen erschien er dann wieder, düster und verfallen, mit dem Ausdruck des tiefsten Seelenschmerzes und so, als läge das ganze Leid der Welt auf seinen Schultern. Diese nächtlichen Begebenheiten wiederholten sich, ja am Tage kamen sie schon vor und allmählich verlautete die grauenhafte Kunde, daß der Rector, gefoltert von Seelenleiden, unzufrieden mit allem und mit sich selbst zumeist, eben noch die gleichgültigsten Dinge reden, dann aber in seine Zelle gehen konnte und Versuche machen, sich zu entleiben. In der ersten Nacht hatten ihn einige Schüler der ersten Klasse gerettet, die um Mitternacht in den Chor mußten, um zu singen. Sie klopften, um den Rector, der sich zuweilen auch diese Unterbrechung des Schlafes auferlegte, abzurufen, traten, da niemand sein Zimmer verschließen darf, selbst ein Lehrer nicht, ein und hatten den Anblick eines Erhängten. Die rasche Entschlossenheit eines der stärksten Alumnen schnitt ihn los und allmählich kam er zu sich. Man verschwieg den Vorfall, mußte ihn verschweigen; aber er wiederholte sich. Man suchte die Ehre der Anstalt zu wahren; die Verbindung mit der Außenwelt war so lose, so locker, die Intervalle der Selbstzerstörungsanfälle wurden zuweilen länger; man bewachte den Unglücklichen, nahm ihm weg, was ihm die Ausführung seines Gelüstens erleichtern konnte – und so wurden diese Dinge vertuscht. Als jedoch immer und immer die Scenen wiederkehrten, beriefen die Professoren, die größtentheils durch Pater Fulgentius berufen und angestellt waren, einen Mann, den wir, als wir davon erfuhren, nicht anders als für einen Exorcisten halten konnten. Denn es stand uns fest, daß eigentlich an dem Pater Fulgentius sich eine besondere Absicht der Vorsehung offenbarte. Wir sahen ihn um seines gottseligen Lebens und seiner Lehre willen nur unter den Anfechtungen des Teufels. Ihn dem Himmel zu erhalten schien uns der Zweck eines Besuches zu sein von einem durch seine Ascese berühmten Mönche, einem Laienbruder der Franciscaner, der aus ferner Gegend angemeldet wurde.

Ein Bruder Hubertus erschien. Eine hagere, fast skeletartige Gestalt, mit einem Kopfe, der schon dem Beinhause anzugehören schien. Angekommen, verneigte er sich freundlich nach rechts und links und begrüßte den Rector scheinbar nur im Auftrage seiner Obern mit dem Ausrichten einer ihm anvertraut gewesenen Commission in Sachen eines Processes; denn auch ein Advocat begleitete ihn. Pater Fulgentius wußte nichts von dem Vorhaben seiner Freunde, die eine Heilung durch den Bruder Hubertus nach dessen Rufe für möglich hielten. Auch ich erfuhr erst viel später den ganzen Zusammenhang aller dieser Vorgänge. Auf meinen künstlerischen Irrpfaden begegnete ich einem meiner frühern Mitschüler, einem inzwischen angestellten Pfarrer, der damals den obern Klassen angehört hatte, die den Rector bewachten. Man denke sich Vorlesungen über den Glauben und die Liebe, die unter solchen Umständen gehalten wurden! Jener berühmte Rechtslehrer, der in Berlin auf die vernünftigste Art seine Pandekten las und dennoch sich einbildete, Kaiser Justinian zu sein, hat mich oft an diese Collegien in unserm Convict erinnert. Von diesem alten Mitschüler erfuhr ich erst, daß Bruder Hubertus, der gleichsam zum Ausruhen von seiner Fußwanderung einige Tage länger unter uns verblieb, eines Tages den Befehl gab, die Werkzeuge der Selbstzerstörung in des Paters Nähe – nicht wegzunehmen. Es geschah dies ...«

Lucinde hörte die zwölfte Stunde schlagen ...

Sie legte die Blätter zusammen ...

Sie kannte ihren ganzen Inhalt ...

Sie hatte alles das schon so oft gelesen und nahm es nur dann wieder vor, wenn sie sich für den Zwiespalt, in dem sie mit den Auffassungen Serlo's lebte, eine Beruhigung suchte, eine Brücke der Vermittelung ...

Hätte Serlo noch gelebt und neben ihr gestanden – mit seiner elegischen Ironie, der lässigen Ergebenheit, der sichern Zuversicht, daß dies ganze Dasein der Mühe des Lebens nicht lohne – sie würde vielleicht über Religion und Kirche gedacht haben wie er. Bonaventura aber glaubte anders ... Das zog sie, sich nicht den Anschauungen Serlo's gefangen zu geben ... Wie sie schon den Beda Hunnius anders beurtheilte als Serlo, so hätte sie auch getrost den ganzen Bau, der sich um sie her durch ihr neues Bekenntniß wölbte, vollkommen anerkannt und an seiner Vollendung mitgearbeitet, hätte nur Bonaventura irgendwie ermuthigend und beifalllächelnd zu ihr herabgesehen ... und das stand überdies in ihr fest: Wahn ist ja alles! Für den Glauben aber, es wäre kein Wahn (und der ist nothwendig, wenn nicht alles zusammenfallen soll), kann es mancherlei Formen geben, von denen dann allerdings die eine vielleicht eine Kleinigkeit besser ist als die andere ...

Der Name des Mönches Hubertus durchschauerte sie jedesmal, wenn sie von ihm las. Sie hatte ihn nie gesehen – aber in ihrer Jugend oft von ihm reden hören. Was knüpfte sich nicht alles an ihn an! An diese alte Liebe der wie einst ihre Tauben gestern so am Küchenherd Erwürgten! ... Die Nächte im Pavillon des Parks vom Schloß Neuhof, wenn die Ulmen rauschten und der Mond mit seinem so klugen, aller Dinge der Erde kundigen Antlitz in ihre Kammer schien, nachdem sie das Licht ausgelöscht und sich auf ihr Lager geworfen ...

Auch jetzt ging sie zur Ruhe ... die Lampe auslöschend und hinter ihrem Schirm verschwindend wie ein Schatten ...

Sie hatte die Ahnung, daß sie noch durch viel Untergang und Zerstörung gehen würde – Dann war es ihr immer, als stünde alles um sie her in Flammen ... Und auch heute war ihr erster Traum eine Feuersbrunst ...

Allmählich wurden die Bilder ruhiger ... Noch zeigten sie wol die alte Frau Hauptmännin auf der Todtenbahre ... Hubertus trat zu ihr ein wie zu Pater Fulgentius ... Doch was sind Träume! ... Der »Advocat«, der hinter ihm stand, war erst Lucifer selbst – dann milderten sich die Schrecken – die Gestalten wurden bleicher und bleicher – zuletzt blieben nur die beiden Bologneserhündchen übrig und Herr Maria mit seiner saubergefältelten Wäsche und mit Deutschlands feinstem Dialekte.

10.

Hoiho! ... Hoiho! ... Hoiho!

So rief es hellauf hinter einer lieblichen Gruppe von Birken und Hängeweiden und von einer weiblichen Stimme, rein, metallen, wie Silberton.

Die Ruferin war ein junges Mädchen in blauem Kleide, einem leichten runden Strohhut auf dem einfach gescheitelten Haare –

Ein Ruder in der Hand stand sie in einem leichtgebauten Kahn, ihn hin- und herwiegend mit herausforderndem Muthe. Noch lag der Kahn an einer Kette, die ihn am Ufer festhielt; noch stieß und rauschte sein Vordertheil an den Sand und die Steine des Strandes der Insel Lindenwerth. Ein Schifferknabe saß an der entgegengesetzten Seite; das Steuerruder schon in der einen Hand und auf den erwarteten Befehl bereit, die Kette mit der andern zu lösen.

Die Ruferin winkte jetzt durch die Hängeweiden und Birken hindurch einem alten, von Linden umstandenen Gebäude zu, das klosterähnlich dicht in der Nähe, in der Mitte der kleinen Insel lag. Sie schien es auf ein Fenster abgesehen zu haben, an dem auch eben eine andere, ältere weibliche Gestalt sichtbar wurde.

Der Seemannsruf Hoiho! Hoiho! schien aber dort nicht die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen.

Armgart von Hülleshoven – sie nur ist es – befahl mit einem kurzen vertraulichen Winke dem Schifferknaben, weiter ins Wasser hinauszustechen und lehnte sich selbst über Bord, um die Kette vom Pflocke, der sie festhielt, abzunehmen. Als zu dem Ende der Knabe sein zweites Ruder ergriffen hatte, nahm sie ihren Hut ab und setzte sich ans Steuer statt seiner. Der Knabe wußte schon, sie wollte, um von der Dame am Fenster gesehen zu werden, mehr die Höhe der kleinen Hafenbucht gewinnen.

Nun mußte doch gewiß das Winken mit dem großen Hute sichtbar werden an dem Fenster des Klostergebäudes!

Aber jetzt war die daselbst ersichtlich gewesene Dame vollends verschwunden.

Armgart harrte erst, ob die Gerufene inzwischen vielleicht herabkäme ... Da sie aber ausblieb, forderte Armgart den Knaben auf, einige hörbare und kräftige Zeichen von sich zu geben.

Hast ja dem geistlichen Herrn neulich um deine Stimme so gefallen, sagte sie, und sprichst als Ministrant dein »Saecla Saeclum« so prächtig laut, daß sie dich hören muß, Tönneschen! Ruf' einmal recht Juhu!

Und Antonius, genannt Tönneschen, rief denn auch, immer auf ihr Auge sehend, ein Juhu um das an dere lautschallend in die Weite hinaus. Freilich mußte er dazu von Armgart erst wieder aufs neue ermuthigt werden, denn es ging gar still her um die Insel Lindenwerth und wirklich war er von jenem geistlichen Herrn um seines schönen Aussehens und seiner sanften Augenwimpern willen in allem Ernst zur Verfolgung der kirchlichen Laufbahn ermuntert worden, als er ihn beim Ueberfahren zu den Englischen Fräulein in einem Büchlein schon vor Wochen auf den Thuriferar studiren sah, den er am morgenden Sonntag drüben in der Kirche zu Drusenheim – noch nicht in der byzantinischen des Herrn Bernhard Fuld, sondern in der alten – beim Hochamt übernehmen sollte.

Ei, Tönneschen! Lauter! Lauter! Was schadt's! rief Armgart.

Nun ließ Tönneschen ganz den Schifferknaben los und wagte einen Naturlaut von einer solchen Kraft, daß man das Echo vom jenseitigen Ufer drüben im Enneper Thale, wie hüben vom vielbesungenen Hüneneck zurückschallen hörte.

Dann sah er Armgart an, als wollt' er sagen: Nun, war's so recht? Aber dir überlass' ich die Verantwortung!

Die Dame erschien wieder am Fenster ...

Sie machte jedoch die entschiedensten Zeichen der Ablehnung der ihr offenbar zum Mitfahren gestellten Aufforderung.

Mit zärtlich winkender Geberde wiederholte Armgart ihr Anliegen. Sie zeigte ringsum in die Gegend, deutete mit dem Hut auf die wundervolle Luft und beschrieb mit dem einen Arm, den sie frei hatte, einen Kreis, als wollte sie sagen: Gibt es denn etwas Schöneres in der Welt, als so auf dem schönsten Strom der Erde an einem Sonnabend Nachmittag im Kahne durch die Wellen zu kreuzen! Gibt es denn etwas Vernünftigeres, da du doch immer die Vernunft im Munde hast, als eine Erlaubniß zu benutzen, die die gestrengen Englischen Fräulein mir Unverbesserlichen zugestanden haben! Ist denn der Antonius Hilgers trotz seiner unverkennbaren Bestimmung zum Priester nicht der beste und kundigste Ruderer der Insel? Meiden wir denn nicht sorglichst die Dampfschiffe, obgleich, im Vertrauen gesagt, nichts über das Schaukeln geht, wenn sie vorüber sind und der Nachen in ihre zurückgelassenen Furchen geräth? Hüten wir uns denn nicht vor Thiebold de Jonge's großen Holzflößen, mit denen nicht zu spaßen ist? Und ist denn nicht jetzt die Stunde, wo wir möglicherweise drüben –

Alles das sagte ihre Geberdensprache und ihr Blick, aber die grausame Dame zeigte auf eine Näharbeit, die sie hoch emporhielt ...

Ach was! war Armgart's Geberdenantwort. Sonnabend Nachmittag! Die seligste Zeit im Leben lernensgeplagter Jugend! Sonnabend Nachmittag mit seinem Stillstand aller theoretischen und praktischen Lehrcurse, mit seinem Wonnegefühl vollbrachter geographischer und linguistischer Anstrengungen, mit seinem erhebenden Rückblick auf wenig Lob und viel Tadel, mit seiner zurecht gelegten Sonntagswäsche, seinem erquickendsten Reinigungsbehagen, auch dem geistigen, dem abgelegten Sündenbekenntniß in der Beichte; Sonnabend, Sonnabend mit seinen Ahnungen und Hoffnungen auf Sonntag, auf die Extramehlspeise, Nachmittags auf die Landpartieen der Philister, denen diese schöne Natur Feiertagskuchen ist, uns das tägliche Brot! ... Alles das wurde durch Deuten auf Himmel, Wasser, Erde, Luft, Ohr, Auge, Herz und ähnliche erfinderische Mimoplastik ausgedrückt. Und zuletzt stand sie sogar ganz still, bat nur mit den Augen und ließ die an ihr jetzt sogar seit dem Abend bei Piter Kattendyk stadtbekannten zwei weißen Zahnperlen unter den vor Ungeduld und Schmerz halbgeöffneten Lippen sichtbar werden. Die Dame oben – es war Angelika Müller – sollte daraus entnehmen: Meine drei Aves, die ich für meine heute gebeichtete bekannte Ungeduld und Verzweiflung um das lange Schweigen des Dechanten und meiner angebeteten Paula und mein Herzpochen um die Antworten auf die Briefe nach Kocher am Fall und nach Wien zur Buße zu beten vom Pastor Engeltraut drüben aufbekam, hab' ich bereits hinter den ausgenaschten Brombeerhecken und beim Auflesen der auf den Boden gefallenen ersten reifen Mirabellen in aller Stille hinter mir ... also so komm' doch, so komm' doch, so komm' doch!

Da nun aber bei alledem die Grausame hartnäckig und lächelnd ablehnend verblieb, da es auf der Insel sogar schon lebendig wurde über den Lärm des sonst so still sittsamen Tönneschen, da die Mitbewohnerinnen der Pension sich aus den Fenstern, ja sogar schon im Gemüsegarten meldeten und zwei davon, die kein Deutsch konnten, in französischer Sprache sich vom Ufer aus über Nautik und den Atlantischen Ocean mit Armgart zu unterhalten anfingen, was leicht damit enden konnte, daß ihrer mehrere mitfahren wollten, und als vollends von dem Ufer am Hüneneck her schon ein Kahn voll natur- und romantiktrunkener Engländer und Engländerinnen angefahren kam, so wandte Armgart ihr letztes und stärkstes Beschwörungsmittel an.

Tönneschen riß die Augen auf über die Geberden, die plötzlich das Fräulein von Hülleshoven machte. Sie ließ das Steuer fahren, hob noch einmal das zweite schwere Ruder in die Luft und beschrieb mit ihm allerlei wunderliche Zeichen. Erst einen großen Kreis, dem sie gleichsam zuletzt in der Mitte einen Punkt gab. Dann ein Dreieck, in das sie wieder ein Dreieck hineinzeichnete. Dann ein Viereck, durch dessen vier Winkel sie einen Kreis beschrieb ... So, eine mathematische Figur nach der andern, und wie die Hand müde wurde, legte sie das Ruder nieder und drehte mit dem Finger Spirallinien und Wellenlinien und machte Schnörkel über Schnörkel in die Luft.

Da schüttelte denn endlich Angelika Müller am Fenster lächelnd den Kopf. Sie schüttelte ihn wie über ein Wesen, mit dem man die unsäglichste Geduld haben müßte ... Wir wissen aber schon, daß dies jene Zeichen sind, auf welche Dr. Laurenz Püttmeyer, Angelika's Freund und funfzehnjähriger Verlobter (Hegel lebte nicht mehr, aber sein vom Staate respectirtes Testament duldete keinen neuen Lehrstuhl neben dem von ihm selbst bestimmten Nachfolger) seine rechtgläubige Philosophie begründet hatte.

Jetzt kam denn Angelika ...

Rasch war Armgart bei der Hand, setzte ihr Ruder wieder ein und wies auf den Punkt, wo Angelika immer vorzog, zu einer Stromfahrt einzusteigen ... Und es war die höchste Zeit. Junge Mitpensionärinnen machten schon Miene, mitfahren zu wollen »nach Amerika«, wie es hieß, »nach Canada« ... Alle hatten seit einiger Zeit nur Amerika und Canada im Munde; Thiebold de Jonge hatte zwar keine Verwandte im Stifte und durfte es deshalb nicht betreten, trug aber doch die Verehrung für die Tochter seines Lebensretters nicht wenig zur Schau. Stundenlang in einem gelben Nankinghabit, das ihm mit rothseidenem Sacktuch auf der Brust und gelbem Strohhut allerliebst stand, in der Gegend der Insel allein herumzusteuern war seiner Schwärmerei »eine Kleinigkeit«. Ja, alle wußten schon, daß morgen im Enneper Thale Thiebold de Jonge und seine Freunde, Piter Kattendyk ausgenommen, zu den Hunderten von Gästen gehören würden, die sich Sonntags hier regelmäßig drängten, ja sie wußten schon durch Briefe aus der Stadt von Gebhard Schmitz, daß es ganz ausdrücklich auf eine Begegnung mit den Stiftlerinnen abgesehen war.

Angelika Müller kam, einen mächtig großen runden Hut auf dem Kopf, mit einem Shawl in Reserve für etwaige Zugluft, mit einem Regenschirm in Reserve für etwaiges Gewitter, mit einem Sonnenschirm in Reserve für etwaige zu stechende Sonnenhitze, mit einem Proviantbeutel in Reserve für etwaigen Schiffbruch und eintretende Hungersnoth.

Trotz der nicht erfüllten äußerlichen Erwartungen, die einst Frau von Gülpen auf die Dame setzte, die ihr diese »Nichte« anempfahl, hatte sie ein überströmendes Herz voll Güte und Antheil. Sie lehrte in der Anstalt Rechnen und Mathematik, ohne jedoch irgendwie geistig so abstract zu sein, wie sie es allerdings zum damaligen Schrecken des Dechanten äußerlich war.

Als die allverehrte Docentin der Mathematik, nicht ohne ein leises Kichern der Aengstlichkeit, über einige große Steine, unterstützt von dem hülfreichen Beistande der mürrisch zurückbleibenden Pensionärinnen, eingestiegen war, rief Armgart ein im Grunde des Herzens tief vorwurfsvolles: Gott sei Dank! und war über die Sprödigkeit ihrer besondern Freundin und Gönnerin fast dem Weinen nahe.

Du weißt doch, sagte sie und setzte sich wieder ans Steuerbord, während am Backbord Tönneschen jetzt beide Ruder zugleich mit kräftig ausholenden Armen in Bewegung setzte, du weißt doch, wie mein Herz bekümmert ist und wie ich ohne Beistand geradezu vergehen muß!

Angelika breitete im Kahn ihre Sachen aus und prüfte vor allem erst des Fahrzeuges Gleichgewicht. Da sie die unruhigen Bewegungen Armgart's, ihr Aufstehen und Aehnliches voraussah, legte sie alles, was sie bei sich führte, sich gegenüber, um, so leicht sie war, doch Gegengewicht zu haben. Dann spähte sie rundum. Gefahr von größern Schiffen war nicht vorhanden. Die große Strömung des Flusses geht auf der entgegengesetzten Seite der Insel nach dem Enneper Thale zu. Tönneschen wußte schon, er hatte nach dem Hüneneck zu fahren. Prächtig ging es mit dem Strome; nur laviren mußte man, um nicht zu weit unten zu landen, sondern mehr nach oben, womöglich an des Herrn Joseph Zapfs stattlichem Wirthshause Zum Roland.

Das Kummervollste bleibt immer unsere baldige Trennung! sagte Angelika. Tante Benigna und Onkel Levinus machen jetzt Ernst mit Heiligenkreuz!

Armgart's Ausdruck nahm den eines Schmerzes an, der den Blick, den Mund, die Bewegung der Arme, alles ergriff und sie einer jener leidenden, stillergebenen Heiligen ähnlich sehen ließ, die Murillo und Carlo Dolce gemalt haben.

Angelika! Was soll ich in Heiligenkreuz! sagte sie.

Erst nur die Stelle einnehmen; das Uebrige findet sich! Hunderte beneiden dich um das Glück, eine Stiftsdame zu werden!

Ein Jahr zur Probe, wie eine Nonne! Wie werden die alten Fräulein mich zurecht setzen in dem düstern Hause! Jetzt, wo ich Flügel haben möchte, um ans Ende der Welt zu fliegen!

Angelika vermied es auf diese Wünsche und Klagen zustimmend einzugehen ...

Liebes Kind, sagte sie, eine Stiftsdame zu Heiligenkreuz schon in seinem sechzehnten Jahre zu werden, ist eine Auszeichnung, die man nur Familien vom ältesten Adel und von besonderer Distinction zuwendet. Nach einem Jahre kannst du dann mit deiner Pension wohnen, wo du willst, vorausgesetzt, daß du alle zwei Jahre einige Monate unter den Damen zubringst, die es vorgezogen haben sich im Stift für immer anzusiedeln. Und ist denn Westerhof so entfernt von Heiligenkreuz? Ein schöner Waldspaziergang und du hörst schon die großen Hunde von dem Kamp her bellen, aus dem Schloß Westerhof wie eine alte Gluckhenne heraussieht!

Angelika lachte, scheinbar über ihren eigenen Einfall; aber sie lachte eigentlich nur vor Behagen, weil Armgart sich so ruhig verhielt ... auch sah die kleine Träumerin in ihrem Leid gar komisch aus.

Das ist noch mein Trost! sagte Armgart, setzte aber seufzend hinzu: Wer weiß, was aus Paula wird!

Das kann noch lange währen, liebes Kind! Rechnet man z.B ....

Nur nicht rechnen! rief Armgart.

Nicht rechnen? Als Stiftsdame wirst du den ganzen Tag rechnen! fuhr Angelika fort. Die Einkünfte bestehen in Naturalien und die vornehmen Fräulein müssen ihre Butter, ihre Eier, ihre Hühner, ihr Korn und ihr Stroh selbst verkaufen!

Also ewig – dividiren! sagte Armgart träumerisch seufzend. 16 Jahre in 1111 – so viel Jahre mögen im Stift beisammen sein – wie viel kommt da auf mich?

Du meinst, die Einkünfte werden insgesammt verkauft und jedem wird dann je nach seinem Alter sein Antheil gegeben? Bewahre, Kind! Früher war das so! Aber einige alte Fräulein kamen, die sehr geizig waren, andere trauten sich viel Kenntnisse von Handel und Wandel zu, jede hoffte für sich allein bessere Preise zu gewinnen, als der Verwalter, und nun verkauft jede ihre Einkünfte apart auf ihrem Zimmer für sich und hält alle vier Wochen bei sich Markt ...

Nun gut! ergab sich Armgart. Wenn ich also auch Fische bekommen sollte aus unserm berühmten Lago Maggiore, dem Ententeich, so soll sie immer durch die neue Eisenbahn hier unser Tönneschen da kriegen und auf die Tables d'hote am Hüneneck verkaufen! Nicht wahr, lieb Tönneschen? Bis du nach Belgien gehst?

Tönneschen lachte über die schmachtend elegische Huldigung und lachte nicht ohne Pfiffigkeit. Er gehörte zu den Knaben, die der Kaplan Michahelles vorhatte auswärts von den Jesuiten erziehen zu lassen ...

Dem kleinen Kahne begegneten andere mit Fremden, die diesen schönen Punkt nach allen Richtungen hin genießen wollten ...

Zur Belohnung für das von Armgart dabei heute so ruhig eingehaltene Gleichgewicht zog Angelika aus ihrer Provianttasche einen Brief ...

Da rief Armgart: Wie? und sprang nun auf ...

Jesus Marie! entsetzte sich Angelika. Das hatte sie nicht bedacht. Der Anblick eines Briefes ließ Armgart sofort alle Schrecken eines umstürzenden Kahnes heraufbeschwören. Vom Dechanten! rief Armgart und wollte den Brief haben.

Diese Worte hörte Angelika kaum vor verzweifelnder praktischer Anwendung der von ihr so oft vorgetragenen Theorie des Gleichgewichts.

Als die Bewegungen Armgart's und des Kahnes sich beruhigt hatten, sagte Angelika:

Nein, wie du bist, Armgart! Es ist ein Brief aus Eschede! Der Herr Doctor ist mit deinem Vorschlage, die Seelen der Abgeschiedenen mit einem kurzen Symbol zu bezeichnen, überraschend einverstanden ...

Armgart setzte sich mit einem tief geseufzten: So? Das! und voll bitterer Täuschung.

Angelika jedoch, der offenbaren Geringschätzung des »Herrn Doctors« nicht achtend, rückte ihr zärtlich und mit einer seit funfzehn Jahren auf die Sparkasse der Hoffnung gelegten Herzensinnigkeit näher und las:

»Ja, meine theure Freundin, daß ... (die Liebenden nannten sich seit funfzehn Jahren noch ›Sie‹) Sie auch in den Ihrer geistigen Pflege anvertrauten Gemüthern Bekenner für meine Wissenschaft gewinnen, verpflichtet mich zum wärmsten Danke! Wie sehr Ihre Empfehlung meiner schwachen, von Gott sicher noch mit größern Erfolgen als bisher bedachten Bemühungen um das ewig Eine, ewig Viele und ewig Besondere in Ihrer Nähe Wurzel faßt, erseh' ich allerdings aus dem Gedanken der holden Armgart, den abgeschiedenen Seelen, wenn sie zunächst dem Fegefeuer zufliegen, tiefbedeutungsvolle Abkürzungszeichen zu geben. Ja gewiß, es gibt Semikolon-Seelen, die ihr Dasein auf Erden fast zweifelhaft und unbeendet gelassen haben und dem Himmel nur ganz unfertig, vollkommen noch weltlich und fast leichtsinnig zufliegen:

es gibt Fragezeichen-Seelen, die ganz nur im Jenseits von der Gnade Gottes abhängig sein werden und etwas noch ordentlich sich Aufbäumendes, Eulen-, ja Fledermaus- und Drachenartiges im Aufflug haben:

Und daß dann Fräulein von Hülleshoven ihre Freundin Comtesse Paula in der Betrübniß, die junge Gräfin könnte ihrem wieder recht nervenkrank gewordenen Zustande erliegen, gar schon innerhalb des großen Gottesherzens, das die Welt bedeutet, dem Fegefeuer in dieser Gestalt zufliegen sieht:

das hat wirklich in allen Bewohnern von Eschede, denen ich dieses Symbol mittheilte, in der Frau Steuerinspectorin Emminghaus, in der Frau Geometer Schmedding, in der Frau Hofräthin Tübbecke und allen meinen treuen Anhängern und Anhängerinnen den Wunsch erweckt, auch einst nur in dieser Gestalt das Zeitliche zu segnen. Aufwärts die Flamme der Läuterung, das große Herz die das Universum zusammenhaltende göttliche Liebe und die Seele drinnen in Gestalt des geflügelten Kreuzes feierlich senkrecht emporsteigend« ...

Was schreibt er von Paula? unterbrach Armgart, durch das Wort »recht nervenkrank« geängstigt ...

Angelika hörte aber nicht, wollte nur fortfahren und las mit der Phantasie tief versunken in die kleine escheder Gemeinde ihres Freundes, die sie ihm ohne alle Eifersucht als Ersatz für einen Lehrstuhl in Berlin oder München gönnte:

»Frau Emminghaus« –

Nein, nein! unterbrach Armgart. Schreibe deinem Freunde, daß die alle nicht so ins Fegefeuer auffliegen werden, wie Paula! Frau Emminghaus muß als geflügelte Kaffeekanne hinauf, Frau Tübbecke als geflügelter Strickstrumpf und dein Doctor, der auch als schwarzes großes geflügeltes Dintenfaß –

Armgart! verwies Angelika aufs heftigste und wäre nun fast selber aufgestanden. Da jedoch suchte Armgart sofort ihre Unart durch eine Umarmung wieder gut zu machen und nun hätte selbst die ruhige Nachhülfe Tönneschen's nichts gefruchtet, ein Unglück zu verhüten, wenn nicht glücklicherweise der Kahn schon dicht an das Uferschilf angekommen gewesen wäre ... Der ausgestoßene Schrei der Lehrerin erstickte in einem Vergib mir, das Armgart schmeichelnd mit einem ihrer süßesten Töne sprach.

Von der gewaltigen Flut fortgetrieben, landete der Kahn weit unterhalb des Roland und mitten im Schilfe ... Dem Tönneschen war dieser Landungsplatz gerade recht, denn er wollte im Kahne verbleiben, um noch zu morgen sein Latein zu lernen, das keineswegs blos aus Spiritu tuo und Saecula saeculorum bestand ... Pfarrer Engeltraut ließ alle Knaben seiner Gemeinde, die sich durch Bravheit auszeichneten und solche Aeltern hatten, die ein glattgekämmtes Haar, ein sonntäglich Gewaschensein von Kopf bis zu Fuß, Schuhe und ein weißes, sauberes »Röckel« über den rothen Talar, den die Kirche gab, verbürgten, nacheinander dem heiligen Meßdienst administriren. Tönneschen war zum ersten male zum Schwingen des Weihrauchfasses bestimmt und beide Mädchen lobten ihn und versprachen ihm, an dieser Stelle sich wieder einzufinden und bestiegen das Ufer.

Armgart wollte Angelika helfen ... Diese lehnte es jedoch ab ...

In ihrem, wenn auch in allen Literaturzeitungen verspotteten, doch von ihr und seiner Stadt und seiner Provinz hochverehrten Freunde war sie denn doch aufs tiefste gekränkt worden.

Ernstlich schmollend erwehrte sie sich eine Weile jeder Annäherung an ihr schwer verletztes Herz ...

Armgart's Anmuth aber trug den Sieg davon. Während Angelika erst die Lehre von den Curven zu befragen schien, bis sie den Ansatz machte, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, sprang jene schon voraus und machte den von Angelika endlich gewählten Weg zweimal und da gab es denn bald wieder Heiterkeit, Lachen, Kuß und Umarmung.

Das gewohnte Ziel ihrer stillbeschaulichen Wanderungen lag auf der Anhöhe. Angelika wäre heute lieber in die schönen, eleganten Wirthschaften und Gasthöfe gegangen, die am Fuße des Hüneneck liegen oder in den dem Wasser näheren, wenn auch weniger comfortablen Roland.

Doch dahin brachte Armgart nichts. Sie wies zu Hecken und Obstgärten hinauf und umschmeichelte die Freundin so lange, bis diese zuletzt zu den bekannten drei Birnbäumen folgte. Das waren drei einsame Birnbäume auf einem terrassenartigen Vorsprung der hohen Berglehne am Fuße des Hüneneck mit einer kleinen Bank und einer ganz himmlischen Aussicht.

Hier oben pflegte sich Armgart, wenn sie etwas athemlos von der steilen Anhöhe angekommen war, gleich in das rings wachsende Gras zu werfen und sich manchmal noch ganz wie ein fünfjähriges Kind zu kugeln, manchmal aber auch von hundert Sorgen, von denen sie bedrückt zu sein vorgab, sich auszuklagen und auszuweinen ...

So heute ... Und heute nicht einmal vor Sorgen allein, sondern nur vor Ungeduld und Unruhe. Sie wußte, daß Benno in der Gegend war ... Er hatte ihr durch Tönneschen's Vater, der ihn gestern oberhalb der Insel übergesetzt hatte, sagen lassen, er hätte zwar bald in diesem, bald in jenem Dorfe ringsum zu thun, aber auch am Hüneneck, und vielleicht könnte er sie am Sonnabend Nachmittag irgendwo flüchtig begrüßen, am liebsten da, wo nicht die ganze Pension dabei wäre und jedenfalls nicht auf der Insel. Nun denke man sich die Unruhe, als die Beichte und das Mittag essen vorüber waren! Und sagen wollte sie es Angelika auch nicht, was sie von Tönneschen's Vater wußte, den sie mit ganzen fünf Silbergroschen für seine Mittheilung belohnt hatte.

Kind! sprach Angelika, die noch immer nicht ganz die Kränkung ihres funfzehnjährigen Geliebten vergessen konnte, mit ernstem Verweise. Ich bewundere die Nachsicht, die Pfarrer Engeltraut mit dir hat!

Er kennt mich immer noch besser als du! antwortete Armgart mit klagender Stimme ...

Weil er so nachsichtig ist, dir alles zu glauben! Freilich, wo soll auch der gute Mann all' die Geduld herbekommen, von so vielen jungen, zur Hälfte erst gefirmelten Mädchen sich ihre Unarten erzählen zu lassen! Sprach der Pfarrer heute von deinen abgeschickten beiden Briefen?

Wovon nur sonst!

Was sagte er?

Ich würde die Mutter doch nicht sehen können, ohne ihr nicht gleich ans Herz zu fliegen!

Das denk' ich auch! Und du gelobtest es?

Nein!

Armgart!

Ich werde die Mutter umarmen, wenn ich dabei die Hand des Vaters halte! Bisjetzt war Onkel Levinus mein Vater; Tante Benigna meine Mutter! Ich will Aeltern haben, aber Aeltern, die sich lieben! Lieben sie sich nicht, so will ich sie nicht hassen, aber –

Der Hufschlag eines Reiters aus der Gegend von der Universitätsstadt her unterbrach sie ...

Nun merkte Angelika etwas an dem Aufblicken und dem Abbrechen und Vergessen der Rede und wurde ängstlich. Sie schlug vor, am Gelände des Berges weiter zu wandern und dann in den Garten der »Vier Jahreszeiten« niederzusteigen. Dort hätte sie, wenn wie sie ahnte, Benno oder Thiebold kommen sollte, den lebhaften Verkehr vorschützen können. Sie sagte:

In den Vier Jahreszeiten ist immer so auserlesene Gesellschaft! Und ihr jungen Mädchen könnt euch nicht früh genug abschleifen! Komm, Armgart!

Damit ging sie schon.

Armgart lachte hinter ihr her.

»Abschleifen!« rief sie ...

Es war ein Lieblingsausdruck Angelika's ... eines von den klugen Lebensworten, zu denen auch das »Sichherausreißen« der Madame Serlo-Leonhardi einst gehört hatte. Schon manche der Pensionärinnen hatte die boshafte Bemerkung gemacht: Fräulein Angelika Müller ist allerdings vom Leben schon so abgeschliffen, daß nichts mehr an ihr übrig geblieben ist! – eine böse Anspielung auf die allerdings nicht unbedeutende Abstraction ihrer äußern Erscheinung.

Als Angelika nach Armgart's Ausdruck »consequent wie eine gerade Linie« weiter ging, um durch die Baumwege von hinten her in den Garten der Vier Jahreszeiten zu kommen, folgte Armgart ihr erst leise auf den Zehen nach und wollte sie rasch mit der Schleife ihres Strohhutes an einen Baum binden.

Hier ist unsere Jahreszeit! sagte sie. Siehst du! Trauriger, düsterer Herbst! Wie die Blätter fallen! Und die Birnen sind noch nicht einmal reif –

Dabei hatte sie eine gepflückt und versuchte sie trotz alles Weinens und aller Ungeduld des Herzens ...

Die Erzieherin zankte jetzt wieder in allem Ernst, band sich frei, behauptete ihre Autorität und ging. Sie ängstigte sich wahrhaft, Benno von Asselyn oder der dreiste Thiebold de Jonge könnten hier so plötzlich hinter einem Busch hervortreten ...

Armgart folgte und sagte:

Ich habe keine Kraft! Wie eine Binse könnt ihr mich biegen!

Als aber Angelika immer mehr eilte, erhob sie die Stimme zu feierlichem Ernst und rief laut hinter ihr her:

Das aber sag' ich euch, wenn ich Furcht bekomme vor mir selbst und gegen euch alle nicht mehr aufkommen kann, dann flieg' ich davon und sollt' es in die Flamme des großen Gottesherzens selber sein!

All' ihr Heiligen! wandte sich Angelika jetzt und sagte mit ängstlich schmeichelnder Geberde:

Aber Kind, so beruhige dich doch! Der Dechant ist ja nur so lässig! Er wird ja schreiben! Auch hört man ja aus der Stadt, daß die da kürzlich ermordete Frau eine Schwester der Frau von Gülpen gewesen ist! Das alles wird die Antwort gehindert haben! Und dein Vater wird wol selber kommen!

Nein! rief Armgart, wild mit dem Fuß auftretend, und entfloh dann und schoß den Weg hinunter.

Künstlich angelegte und wohlunterhaltene Wege führten niederwärts und zuletzt in den erwähnten Garten, in welchem Durchreisende unter einer langen Veranda die hochberühmte Aussicht genossen.

Armgart war bereits lange unten, als Angelika ihr nachkam ...

Die Menschen hier! jammerte Armgart ihr entgegen und sah dabei doch über alle Tische hinweg, über Engländer, Maler, Studenten, berliner Hofräthe und Hofräthinnen und wer alles in Naturandacht hier beisammensaß ...

Sie suchte Benno, der nicht zu sehen war ...

Angelika bestellte zwei Gläser Milch.

Wenn das da deine Mutter wäre! flüsterte die Erzieherin neckend und zeigte auf eine junge Dame, die mit der Lorgnette die Gegend und die beiden Ankömmlinge musterte ...

Sie wollte nur Armgart durch den Scherz beruhigen ...

Armgart blickte rasch hinüber, dann wandte sie sich ab ...

Du zweifelst wol, schmeichelte Angelika, weil die Dame so jung ist? Ei, deine Mutter ist eine ganz junge Frau, die nur zu lebendig, zu rührsam noch sein soll! Dein Vater mag ein vortrefflicher Jäger und Schwimmer und was sonst noch alles sein, aber mürrisch und kalt ist er! Das hast du doch schon an dem einsilbigen Hedemann gesehen!

Armgart sagte, Hedemann gefiele ihr ganz wohl ...

Eines nur hat deine Mutter, fuhr Angelika flüsternd fort, was sonst nur dem Alter gehört ... ganz silbergraue Haare soll sie haben ...

Armgart wandte den Kopf ...

Sie ist nicht vierunddreißig Jahre, hab' ich gehört, und doch hat sie ganz silbergraue Haare! Sie trägt sie vorn in langen Locken und soll bei ihrer Jugendlichkeit und Schönheit damit so auffallen, daß alles still steht und ihr nachsieht!

Armgart gerieth in die größte Aufregung. Sie fand den Ursprung dieser Locken nur im Kummer ... die Augen umflorten sich ihr, wie wenn ihnen Thränen zuströmen wollten ...

Nun aber ertönte in nächster Nähe ein Posthorn ...

Armgart lehnte sich rasch über die Brüstung des Gartens. Von der Universität her kam eben die Post angefahren ...

Hüben schon seit fünf Tagen konnte Armgart das Posthorn nicht hören, ohne sich aus Kocher, und drüben seit gestern nicht, ohne sich schon aus Wien eine Antwort zu denken ...

Der gelbe große »Rumpelkasten« (Pensionsausdruck) hielt am Roland und heraussprang – seligste Freude belohnter Erwartung! – in der That Benno ...

Die Post selbst fuhr weiter ... Aber Benno war sogleich in den Roland getreten und nun hielt die Post vor den Vier Jahreszeiten. Hier sprang ein zweiter Passagier heraus ...

Alles das sah Angelika, aber nicht Armgart mehr. Armgart zog die Freundin mit sich fort – ohne daß die Milch bezahlt war! Benno könnte ja so leicht zu den drei Birnbäumen hinaufgehen wollen – »unnützerweise«, sagte sie – sie müßten also zu ihm. Der Weg ging durch das Haus; nun – »schliff sie sich ab« in ihrer Art, an jedem, der ihr in den Weg kam, an Kellnern, die Kaffeegeschirr trugen, am Wirth, der dem neuangekommenen Fremden die besten Zimmer seines Hotels zeigen wollte, an diesem Fremden selbst, der sie mit neugieriger Theilnahme musterte. Sie flog voraus zum Roland und nicht etwa in dem Ueberwallen eines durch das Wiedersehen beglückten liebenden Herzens, sondern weil der »gute Mensch und Vetter sie ja möglicherweise irgendwo suchen könnte, wo sie gar nicht war« ...

Alles das sah Angelika mit Entsetzen, zahlte, ließ ganz gegen ihre Gewohnheit einige herauszubekommende Pfennige im Stich und kam nur eilends nach und gerade noch zur rechten Zeit, um die schon über die ersten freudigen Begrüßungen Hinausgekommenen zu trennen mit den Worten:

Halt Armgart! Was soll das? Der Brief ist an mich!

Die Adresse eines von Armgart schon halb erbrochenen Briefes war allerdings an »Demoiselle Angelika Müller« ...

Aber vom Onkel Dechanten ist doch der Brief! rief Armgart und mit wiederholtem: Was schreibt er denn? folgte sie Angelika, die zur Seite abgewandt schon mitten auf der Landstraße zu lesen begann ... Und im Grunde besaß Angelika ganz die Spannung, wie Armgart, wenn sie dieselbe auch nicht eingestand.

Benno stand inzwischen in bestäubten Reisekleidern vor dem Wirthshause zum Roland und sprach mit dem Wirth, der ganz besonders erwartungsvoll seinem Eintritt entgegengeharrt zu haben schien. Als Armgart gleich mit ihrem Taschentuch ihn abzustäuben begonnen, hatte Herr Zapf mit mächtiger Stimme dem Hausknecht gerufen. In Kurzem war Benno befähigt, die Damen begleiten zu können.

Im Lesen vertieft und sogar des Chausseegrabens nicht achtend, schob sich Angelika querwärts in die Anhöhen hinauf. Armgart mit der Linken zurückdrängend, hielt sie mit der Rechten den Brief versteckt und lehnte jetzt schon eine Mittheilung zu machen ab. Müßte sie doch selbst erst ganz orientirt sein, sagte sie, und dann noch hinge jede Entscheidung von dem Pfarrer Engeltraut ab und von den Englischen Fräulein ... und sie wisse ja das alles, was Anstand und Hausregel in Lindenwerth mit sich brächten!

Armgart faltete die Hände gen Himmel ...

Benno suchte von dem Wirth loszukommen, der ihn in emsigem Gespräch begleitete ...

Das wußte schon Armgart von der ersten Begrüßung her, auf ihr laut gerufenes: Hier! Hier! der Brief war an Benno aus der Residenz des Kirchenfürsten nachgeschickt worden, der Dechant hatte ihm diese Zeilen übersandt als Einschluß einer umgehenden Antwort auf die Mittheilung über den Tod der der Dechanei seit Jahren fremd gewordenen Hauptmännin von Buschbeck ... Er hatte geschrieben, daß er einige Tage lang suchen würde die Zeitungen zu verbergen, um die Tante auf eine nur allmähliche Art mit einer Begebenheit bekannt zu machen, die bei ihrem »zartfühlenden Herzen« eine gewaltige Erschütterung und »allerlei Hausjammer« in Aussicht stellte ... Den Brief an »Demoiselle Angelika Müller« hatte er ihm zu zweckmäßigster Besorgung beigelegt, weil er die Regel solcher Pensionate zu kennen erklärte, daß die Vorsteherinnen alle Briefe, die kämen und gingen, erst selbst zu lesen begehrten ... Daß er dabei die Lage einer Lehrerin mit derjenigen einer Schülerin verwechselte, bewies die wirkliche Aufregung, in der sich der alte Herr befand.

Armgart bat und bat:

Was schreibt der Dechant? Reist der Vater nach Wien? Wenn er mir verspricht, mich mit nach Wien zu nehmen ...

Dabei suchte sie mit plötzlicher List den Brief zu erhaschen ...

Armgart, nun kein Wort weiter! sagte Angelika und verbarg den Brief sorgfältigst. Ich habe geloben müssen, dich von keinem Schritt der Deinigen einseitig in Kenntniß zu setzen! Deine ganze Familie ist betheiligt! Alle sind sie es, die dich lieben! Morgen das Weitere nach der Messe! Und nun genug davon!

Jetzt war es doch für Armgart ein Gefühl, als hätte sie sich auf die abschüssige Anhöhe werfen müssen und sagen: Nun, guter Gott, so laß mich sinken, sinken immer abwärts – bis in die Tiefen des Meers!

Benno hatte Mitleid mit dem lieblichen Kinde, dessen Natürlichkeit sich in keiner Regung ihres Gemüthes verleugnete. Sie sah wie eine von den bittersten Leiden der Seele Gefolterte und sich nun wirklich Ergebende so verklärt, so durchgeistigt aus, daß der von ihr mit einem ihr unbewußten Aufschlag der schönen Augen auf ihn gerichtete wehmüthige Bitteblick ihm das Herz mit Schmerz und Wonne zugleich erfüllte.

Um den Ton zur Heiterkeit zurückzuführen, hätte er von diesen und jenen Dingen beginnen dürfen. Doch war er zartfühlend und Menschenkenner genug, die Richtung der Gedanken, die in Armgart's Seele lebten, nicht zu verlassen.

Von Wien sprechen Sie? sagte er. Vielleicht ist der fremde Herr da, mit dem ich fuhr, schon der Kurier Ihrer lieben Mutter!

Armgart blickte mit lächelnder Ergebung auf die Vier Jahreszeiten ...

Wirklich! Wirklich! Er wollte nach Drusenheim zu Herrn Bernhard Fuld hinüber! Wo eine Dame in den Gasthöfen da am besten aufgehoben wäre, fragte er. Sein Accent war wienerisch.

Angelika flüsterte schmeichelnd:

Beruhige dich! Es wird alles gut werden, Armgart! Morgen, nach der Messe in Drusenheim, da sprech' ich mit dem Pfarrer und dann sollst du sehen, du bist zufrieden – Gedulde dich!

Geduld! seufzte Armgart, sich ergebend. Sie überwand sich, nicht dem Fremden nachzueilen, der in behender Weise in der That in einen Nachen sprang, um zum jenseitigen Ufer überzusetzen.

Benno's Ruhe, Angelika's Festigkeit mußten Arm gart zuletzt zur Besinnung bringen.

Man stieg höher und wieder in die Anlagen hinauf.

Benno mußte erzählen, was ihm alles seit dem Abschied an der Maximinuskapelle – dort weithin in blauer Ferne waren ihre schlanken Thürme sichtbar – und seit dem Zusammentreffen mit jener Lucinde Schwarz begegnet wäre? Wo diese hingewollt hätte? Wie die Manöver abgelaufen wären? Wie dem Thiebold de Jonge die Uniform gestanden hätte? Ob Hedemann nach Witoborn zöge? Was der Vater überhaupt beginnen würde?

Benno, der seine Cigarren trotz alles Schmerzes von Armgart selbst ausgesucht und fast angeraucht bekam – sie lernte »Unarten« dieser Art von den Mitpensionärinnen, wenn diese den Besuch ihrer Brüder empfingen – und wenigstens die Spitze der von ihr ausgewählten biß sie noch dem »Vetter« in mechanischer Anschmiegsamkeit an all sein Thun und Lassen ab –, Benno erzählte von dem Ersteigen des St.-Wolfgangberges, von der wirklich angeknüpften Bekanntschaft mit Lucinden, von dem Zusammentreffen im Pfarrhause zu St.-Wolfgang, von dem Begräbniß des alten Mevissen, von der Entweihung des Friedhofs ...

Alle diese noch nicht auf die Insel Lindenwerth gedrungenen und doch so überraschenden Thatsachen hörte Angelika voll Staunen, Armgart, da sie den Pfarrer von St.-Wolfgang betrafen, mit dem Gefühl, wie wenn sie nicht Armgart, sondern Paula wäre. Benno mußte unausgesetzt erzählen. Einen so langen, so inhaltreichen Brief hatte sie noch nie nach Westerhof geschrieben wie diesen, den sie jetzt schon couvertirt und adressirt im Geiste vor sich liegen sah; sie betrübte sich bereits um die Vorsteherin Schwester Aloysia, die bei ihrer Censur – alle wenn auch nicht ankommenden, doch aus dem Pensionat abgehenden Briefe las in der That erst Schwester Aloysia – gewiß wieder das Schönste davon für sich genoß, dann aber eine nochmalige Abschrift zu verlangen pflegte, lorsque vous aurez supprimmé les choses inconvenantes.

Aber auch für Angelika waren die Mittheilungen, die Benno in glückseliger Behaglichkeit gab, vorzugsweise überraschend. Diese ihr wohlbekannte Lucinde Schwarz, von der sie seit Hamburg nichts mehr gehört hatte, sie war bei Frau von Gülpen »Nichte« gewesen! Einen Tag, länger nicht! Wie konnte das anders sein, nach dem Wenigen, das sie von dieser »Abenteurerin« wußte und das sie dem Pensionate an der Maximinuskapelle wohlweislich verschwiegen hatte! Und man müßte dann die Menschen wenig kennen, wollte man Angelika's eigenthümlich gezogenem und erstaunendem: Ist's denn möglich? nicht eine gewisse Genugthuung anmerken, daß auch diese Gesellschafterin, wie so viele andere und vorzugsweise sie selbst, den Anforderungen der Dechanei nicht entsprochen hatte. Sie lag in den Worten: Der Dechant ist ein so lieber guter Mann! Zugleich sollte dies Zeugniß von Frau von Gülpen das Gegentheil ausdrücken. Und so gutherzig Angelika war, die Verbindung, in die Benno die neueste Zeitungskunde von dem Mord in der Stadt mit dem Stolze der Frau von Gülpen brachte, verbreitete selbst über ihre, freilich von Staunen und Schreck überschauerten Gesichtszüge doch zuletzt ein gewisses Aufleuchten schadenfrohen Behagens.

Alledem hörte Armgart nur sinnend zu. Benno hatte in seinem Wesen etwas Milderndes und Beruhigendes wie für andere so auch für sie. Sie hätte seine Hand ergreifen und sie wie die eines Bruders halten können ... Seine Mittheilungen über Bonaventura's Anwesenheit in der Residenz des Kirchenfürsten, die wahrscheinliche Beförderung und Ansiedelung desselben in dieser Stadt, alles das waren Thatsachen, die ihr Ohr buchstabenweise aufnahm, nur um die für Paula bestimmte Depesche so inhaltreich wie möglich zu machen.

Erzählen Sie mir jetzt von meinem Vater! sagte sie dann, als Angelika etwas zurückblieb. Wie fanden Sie ihn? Ist er so, wie ihn Hedemann schilderte?

Ohne Zweifel ... antwortete Benno zerstreut ...

Mit Armgart allein zu sein, ließ ihn erhöhter den ganzen Reiz ihrer Erscheinung fühlen.

Ist er groß, so etwa wie – wie Hedemann?

Hedemann war untersetzt, sie hatte »wie Sie« sagen wollen ...

Um einen halben Kopf höher, sagte Benno; aber ebenso wetterbraun, ebenso breitschultrig und – wie soll ich sagen – ganz so englisch! Ist Hedemann Schiffssteuermann, so ist Ihr Vater Kapitän oder Commodore! Unsere vaterländische Art von drüben hat die passendste Anwendung gefunden ...

Wie so?

Unser Land ist ja drüben fast wie ein Meer! Die unermeßliche Heide, das Ackerfeld, der Torfmoor – alles das ist ein Meer des Landes. Auf dem schwimmen wir mit unsern Höfen wüst und einsam. Nicht einmal ordentliche Städte haben wir. Nicht einmal ordentliche Dörfer. Ein Fahrzeug segelt auf gut Glück am andern vorüber.

Unser Volk ist ein seefahrend Volk der Heide ...

So! So! ... sagte Armgart. Seltsam! Ich hasse alles Englische ...

Benno erwiderte lachend:

Ja die englische Aussprache ist schwer!

Die Asche seiner Cigarre drückte er jetzt schon an einem der drei Birnbäume ab ...

Nein – darum nicht –! fuhr Armgart ohne alle Reizbarkeit fort ...

Aber das Englische hassen? Und das sagen Sie bei Englischen Fräulein?

Die verließen schon vor hundert Jahren England, um in Deutschland unserm Gott besser dienen zu können! Sehen Sie, alle diese Engländerinnen hier ringsum jetzt, die blieben am liebsten auch wie Mary Ward in Rom und bei uns, um katholisch zu sein! Ich weiß das!

Sie wissen das?

Benno verließ den verfänglichen Gegenstand und regte die Phantasie seiner Begleiterin lieber mit allen Abenteuern an, die ihr Vater und sein Freund oder Diener ihm erzählt hatten. Sie hätten Seltenes erlebt, Tapferes geleistet, auch Pensionen dafür gewonnen und stünden unter dem kleinen, beschränkten Volk in Kocher am Fall wie zwei Riesen da, die man auf Jahrmärkten zeigte ...

Benno wollte bei diesen Berichten vielleicht nur hören, ob Armgart nicht nach Thiebold de Jonge fragen würde ...

Angelika kam inzwischen näher ... Sie hatte auf ein Ausruhen gerechnet und fand nun die Wandelnden bereits schon wieder über die Birnbäume hinaus.

Ei, was ist denn das da unten? Sehen Sie! Im Fluß! Da taucht's auf! Nun ist's wieder fort! Geben Sie Acht, da unten kommt's wieder!

Mit jener Sorglosigkeit, die der Jugend auch eben nur dann eigen ist, wenn sie gleichsam ahnt, daß es zu Geständnissen des Herzens noch lange, lange Zeit bleibt und nichts ihm verloren geht, verlangte Armgart plötzlich die Anerkennung ihrer Sehkraft ...

Unten im Kahne hatte sich auch Tönneschen aus dem Schilf aufgerafft und warf mit Steinen vom Uferrande über den Wasserspiegel hinweg ...

Das seh' ich wol! Der wirst Butterstollen! sagte Benno und erinnerte Armgart an den Ententeich zwischen Schloß Westerhof und Borkenhagen ...

Den kennen Sie noch? ... Es ist ja eine wilde Ente! ... Unsern Ententeich? ... Sehen Sie doch nur, wie sie den Kopf aufwirft! Rasch duckt sie ihn nieder und unterm Wasser geht's fort! Sassa! Da ist sie! Im Nu hundert Schritte! Wieder blickt sie auf, dreht den Kopf! Da, da! Guten Tag! ... Adieu! Glückliche Reise! ... Nein, auf unserm Ententeich gibt's keine so wilde!

Mit dem Verfolgen der Wasserente, die sich Tönneschen zu treffen vergeblich bemühte und die Benno jetzt erkannte, waren beide bei Angelika wieder vorübergekommen, die sich nachdenklich gesetzt hatte und nun ernstlich zum Aufbruch und zur Rückkehr auf die Insel mahnte.

Die Sonne sank schon über die westliche Bergwand ...

Und nun, wie wenn Himmel und Erde in bester Ordnung und nichts auf dem Herzen wäre, weder bei ihm noch bei Armgart, durfte Benno scherzen:

Ja, so gehen die Lügen durch die Welt! Von so einer Wasserente kommen ja die Zeitungsenten ...

Angelika, die über Benno's Erscheinen überhaupt an ihre vielgeprüfte, treue Liebe erinnert wurde, gedachte der vielen Angriffe, die Doctor Püttmeyer erleiden mußte, gedachte der Macht der Lüge in so vielen Literaturzeitungen und siel mit einem Seufzer ein:

O wohl! O wohl! O wohl!

Dann stellte sie einige Erkundigungen nach Büchern an, wollte von den Ereignissen der Politik hören, von der Burschenschaft, um die Dr. Püttmeyer auch ein Jahr »Köpenick« erduldet hatte, von Benno's bekannten freisinnigen Meinungen und vom Kirchenstreit, bis Armgart, beide unterbrechend, ausrief:

Laßt doch das alles! Kann man jetzt von anderer Aufklärung sprechen als vom Himmel und von seinem Licht! Seht doch nur! Wie der Abend kommt! Ist's nicht, als leuchtete alles in Verklärung! Diese gerippten Wölkchen da oben! Diese leichten Federbüschelchen! Fächer sind's doch wie von Eiderdunen! Nein, wie von großen Perlmuttermuscheln! Wer solchen Staat hätte, wie die Himmelskönigin!

Alles das kam unbefangen und kindlich von ihren Lippen ... Daß sie nichts von einer Absicht dabei wußte, bewies die leise Oeffnung der Lippen und der Schmelz der hervorschimmernden kleinen Zähne, cette grimace, die sie nach Anweisung der Englischen Fräulein sich durchaus abzugewöhnen hatte.

Ja, man möchte hier predigen! fiel Angelika in merkwürdig freigesinnter und tief gefühlvoller Zustimmung ein. Diese Berge sind wie Kanzeln!

Ihr treues Herz dachte an Püttmeyer's fehlenden Lehrstuhl ...

Kanzeln? rief jedoch Armgart, in der sich jenes Fliegen zur Flamme des großen Gottesherzens zu regen begann. Die Berge sind ja selbst wie Prediger! Wie Redner stehen sie da! Nein, Angelika, wie klein müßte das sein, wenn da drüben einer auf dem Geierfelsen stünde und so zu allen Lügnern der Erde sprechen wollte! Der Geierfels und hinter ihm die sechs andern Riesen, die sind ja selbst die Propheten! Ich höre alles, was sie sprechen!

Was sprechen sie denn? fragte Benno und hatte eben die Cigarre weggeworfen ...

Im Tone seiner Frage, im Leuchten seines blauen Auges lag eine so ausdrucksvolle Schwere, daß plötzlich Armgart wie etwas Unsichtbares sich auf sie niedersenken fühlte ...

Ja, wie konnte Benno nur in das einfache »Was sprechen sie denn?« soviel Ausdruck legen? Was konnte diese Wendung seines Hauptes, diese Glut seiner Augen bedeuten? So wenig Worte und so viel seltsamer Ton in ihnen!

Es ist doch wol Zeit, zu gehen! sagte sie zaghaft. Sie hätte plötzlich vor irgendetwas entfliehen mögen.

Benno lüftete seinen Hut. Sein kurzes, lockiges, schwarzes Haar war von dem »garstigen Cylinder«, wie es sonst bei Armgart hieß, festgedrückt. Und sonst hätte Armgart gar keinen Anstand genommen, ihm in sein Haar es lockernd zu fahren, wie sie so oft den grauen Locken des Onkel Levinus gethan. Heute hätte sie um alles in der Welt dergleichen nicht mehr wagen können ...

Angelika's Geplauder über all den vernommenen und zu verarbeitenden Thatsachenreichthum löste die gedrückte Stimmung. Auch fand sich Benno wieder, auch Armgart. Ja sie schien heiterer und ausgelassener, als sie hörte, was alles Benno in der Gegend hier zu thun hätte und daß er mindestens auch noch morgen da wäre ... Aber an seinen Handschuhen sah sie eine aufgesprungene Naht und sonst hatte Angelika für dergleichen Unglücksfälle immer Seide, Zwirn, Nadelbüchse und Schere bei sich in ihrem Beutel, aber heute griff sie nicht, was sie sonst hätte thun können, nach seiner Hand, wagte nicht, ihm den Handschuh abzuziehen ... Es trieb sie wie im Wirbel, sie mußte fliehen wie vor sich selbst.

Die Berglehne endete mit einem schroffen Abhang. Den schoß sie hinunter. Die Kanten waren hier eckig; an andern Stellen gerundet, von uralten Moosrunen beschrieben; hier und da stand eine verkümmerte Zwergbirke, dort schwankte eine Distel, hier eine hohe Doldenstaude mit braunrothen, schweren Samenkolben ... Ein schwacher Halt hier, ein nachgebender dort ... Armgart schoß so hinunter, daß sie plötzlich an einem Gebüsch niedersank.

Nun war aber auch Benno schon längst gefolgt. Wie er an der Stelle ankam, wo sie niedergeglitten, hatte sie von Kamillen mit weißem Blätterrande einige Blumen gepflückt und fing an, einer davon die Blätter abzuzupfen.

Was fragen Sie die Blume? rief Benno ...

Und in dieser Frage lag wieder eine solche Glut, in dem Nachfolgen, als sie sich erhob und jetzt ruhiger niederwärts stieg, eine solche Hast und ein so ganz persönlich auf sie gerichteter Entschluß, daß sie der Gedanke überrieselte: Was glaubt er denn? ... Den Faust, den kannte sie nicht (wo wird in dieser Erziehung Goethe zugelassen!), aber doch schob blitzschnell ein geheimer Zauber in ihrem Innern der Frage »Vater oder Mutter« (sie wollte nur sehen, welchem Namen das Blumenorakel sein letztes Blättchen ließ) nicht etwa die Frage unter: »Liebt er mich, liebt er mich nicht?« wol aber die: »Kommt auch Benno morgen nach Drusenheim, kommt er nicht?« und als sie sah, wie er nun ihren Arm ergreifen wollte, ihre Schulter berühren, den Ausschlag ihres Zählens so ganz dringend wissen, da unterbrach sie ihn, als wenn er sie nur im Zählen irre machte, mit einem fortgesetzten St! St! sie bekam aber den plötzlichen Einfall – und welcher innere Schalk des Gemüths hatte ihr das zugeraunt! – schadenfroh und übermüthig laut zu rufen:

Kommt morgen Thiebold de Jonge nach Lindenwerth oder kommt Thiebold de Jonge nicht? Kommt Thiebold de Jonge? Kommt Thiebold de Jonge nicht?

So schoß sie bergab.

Sie können ja die nachgemachten Engländer nicht leiden! rief hinter ihr her Benno ...

Sie aber glitt bald an einem Steine aus, ließ bald eine Pflanze mitgehen, schoß und rannte und war endlich unten, aber – aufgefangen von Benno's Armen.

Ein junges weibliches Leben, dessen Athemzüge vergangen sind, dessen Brust hämmert, im Arme zu halten! Kennt ihr das Gefühl, wenn ein junger Vogel in unserer verschlossenen Hand gefangen ist, sich duckt, auffliegen will und nicht kann und jetzt ganz nur zu einem einzigen zagen, warmen Herzchen wird, das unter den weichen Federchen klopft und sich fast wie in den Pulsschlag unserer eigenen Hand verwandelt?

So fühlte es Benno eine Weile und länger als eine Secunde und vielleicht den fünften Theil einer Minute nur und doch eine Ewigkeit.

Angelika kam inzwischen den geebneten Weg daher, schalt und rief und machte allen beiden die bittersten Vorwürfe. Armgart aber umarmte sie und erstickte ihre Rede mit Küssen.

Das Thema des Anstandes brachte den Neckkampf aller auf die Würde, auf die Pflichten, die Haltung einer baldigen Stiftsdame von Heiligenkreuz. Diese »Predigt« währte so lange, bis Tönneschen erreicht war am Schilfrohr im sanftgeborgenen Nachen.

Sind Sie denn morgen wirklich noch in der Gegend? fragte Armgart beim Abschied den halb besinnungslosen Benno halblaut.

Benno wollte beiden noch in den Kahn helfen, that es auch erst, wie sich geziemte, mit Angelika, und als er hoffte, Armgart's Hand zu erfassen und aus voller Seele diese zur Antwort wie mit einem Ja! zu drücken, da war sie schon in den Kahn gesprungen.

Deshalb schmollte er und rief O! O!, das Angelika sehr wohl verstand ...

Armgart saß aber schon da, glühend wie das Abendroth.

Angelika, die gerade so viel zu »ahnen« sich die Miene gab, als sie schon wußte, war trotz aller Angst liebevoll genug und sagte vor dem Abfahren:

Richtig! Richtig! Sind Sie denn auch morgen im Enneper Thale? Es ist ja Sonntag! Alle Welt hat sich ankündigen lassen ...

Thiebold de Jonge! seufzte Benno und Angelika fiel ganz so, als müßte sie nun für die verstummende Armgart auch in deren Art sprechen, ein:

Alle nachgemachten Engländer! Und wenn Sie etwa kommen, Herr von Asselyn, kneifen Sie nur ja nicht auch so eine Lorgnette ein!

Ehe noch Benno antworten konnte – zum Scherz fehlte ihm jeder Uebergang – rauschte es im Schilfe dahin und der Kahn war im Entschwinden.

Eine Weile noch stand Benno, lüftete den Hut, sah lange den Entgleitenden nach und ging landein dem Roland zu.

Das Ufer ist hügelig ... zuweilen verschwindet, zuweilen taucht Benno den Mädchen wieder auf ... Und je höher sie auf den Spiegel kommen, desto länger noch können sie ihn sehen ...

Gern hätte Armgart gewinkt mit ihrem Hute und mit ihrem Taschentuch ...

Angelika, die heute so viel erlaubt hatte, verbot es ...

Bekam die Gute auch nicht Angst, Armgart würde am Ende noch »tiefsinnig« werden und wol gar sich für unwürdig erklären, morgen in Drusenheim zur Communion zu gehen – dergleichen war vorgekommen – bekam sie auch nicht Angst, daß dann noch obenein die Gutmüthigkeit und Toleranz einer Lehrerin compromittirt werden konnte, die gegen die Englischen Fräulein als Hülfsarbeiterin nur einen zweiten Rang einnahm, so lächelte sie doch und sagte:

Armgart, Armgart! Sprüche Salomonis 14, 29!

Diese Bibelstelle hatte Armgart einst von Tante Benigna in Westerhof aufbekommen, auf ein Weihtüchlein zum Kirchendienst zu sticken. »Wer aber ungeduldig ist, der offenbaret seine Thorheit!« lautete sie. Die Ungeduld galt für Armgart's Erbfehler.

Sonst wäre Armgart über diese einzige Partie in der Religion, wo sie ketzerisch, ja ganz ungläubig fühlte, aufgefahren, aber wir sehen sie still, ergeben und schweigsam ...

Selbst von dem Briefe aus Kocher frägt sie nichts mehr, sondern sieht nur auf die Welle, gegen deren ganze Macht Tönneschen rudern muß ...

So kamen sie – Benno war verschwunden – am nördlichen Ende der Insel an.

Eine ältliche Dame, in schwarzem Kleide, mit einer weißen, mit Bandschleifen am Hals und über die Brust herab besetzten Halbtunica, ein weißes geflügeltes Häubchen auf, begrüßt sie ... Es ist Schwester Aloysia, die Vorsteherin.

Und unter ihrem »Mozzeto« zieht auch sie einen Brief hervor.

Auch er war an Angelika gerichtet und kam aus Wien und kam von Armgart's Mutter!

Ein Herr hatte ihn abgegeben, jener Fremde, der ganz nach Benno's Vermuthung in den »Vier Jahreszeiten« drüben für eine Dame Zimmer bestellt hatte und wirklich von hier, wo ihn die zerstreuten Wanderer am Hüneneck nicht landen gesehen hatten, hinüber nach Drusenheim gefahren war ...

Armgart bebte zusammen ...

Es war ihr, als zitterte um sie her die ganze Welt ...

Angelika nahm, von der Vorsteherin beobachtet, den Brief und ging damit in scheinbar kalter Ruhe auf ihr Zimmer.

Armgart folgte, drängte aber nicht mehr und fragte nicht mehr. Fast war ihr wirklich wie einer Sünderin und als sie sich über die düstern Gänge in ihren Wohnsaal geschlichen, als sie mit einem tiefen Seufzer dort ihren Hut, ihren Shawl abgelegt hatte, als alle Mädchen jetzt zum einfachen nächtlichen Mahle gingen und Angelika erst kam – solange hatte sie gelesen! – als Schwester Aloysia schon vorbetete und Armgart so abwesend, so ernst dasaß, da bekam Angelika wieder Angst, sie wäre wirklich im Stande, alles das morgen noch in erster Frühe und vor der Communion dem Pastor Engeltraut zu beichten, was heute vorgekommen! ... Schwester Aloysia betete dabei und zwar französisch ... Sie war aus Strasburg und verband mit allem Guten und Frommen, dem hier fürs Leben der Grund gelegt wird, eine leidliche Aussprache und einen ziemlich richtigen Accent. Man hatte alles hier auf Gott, auf die heilige Jungfrau, den heiligen Joseph und die Engel und Erzengel gebaut, sogar den Subjonctiv und die schweren Beugungen der Verbes irrégulaires, den delicaten Gebrauch der Formen que vous parlassiez und que nous parlassions und die Participialconstructionen, die an dieser Sprache für jeden so fremdartig sind, der nicht wie Tönneschen Latein kann ... Und wenn Schwester Aloysia vom besten pariser Französisch dann in das beste strasburger Deutsch übersprang, war's dann freilich immer wie der Uebergang vom Rauschen eines seidenen Kleides zum Klappern von Holzschuhen, vom Gesange eines Canarienvogels zum Gekoller eines Truthahns; denn ihre strasburgisch-deutsch Muttersprache sprach sie, als wäre sie hier eigens dafür angestellt, einige Irländerinnen und Französinnen in der Anstalt vom Erlernen des Deutschen abzuschrecken. Und das zweite, vom Muttersitz der Soeurs angéliques hierher beurlaubte Englische Fräulein (der der Erziehung sich widmende Orden ist nicht an strenge Clausur gebunden), Schwester Gertrudis, sorgte für Eintheilung der Speisen und rühmte das Wetter für den morgenden Sonntag, an den sich allgesammt die schönsten Hoffnungen knüpften.

Immer mehr brach zuletzt ein stillverhaltener Jubel aus. Das Pensionat wußte von den zu erwartenden »nachgemachten Engländern«, – aber darüber gab es nur Flüstern, leises Necken und Kichern, laut wurde nur besprochen eine Einladung der jungen Madame Bernhard Fuld. Die Nachbarinnen waren aufgefordert worden, morgen Nachmittag die berühmte Billa und den Garten drüben in Augenschein zu nehmen und Pastor Engeltraut hatte dazu die Erlaubniß gegeben!

Armgart hörte das alles nur halb. Erst als der germanische Uebermuth eines Theils auch dieser Jugend sich in allerlei Spott über die Besitzer von Drusenheim erging und ganz wie die Freunde Piter Kattendyk's, mit denen einige bis zur unmittelbaren Geschwisterschaft verwandt waren, die bekannte christliche Rache für den einst von den Juden Gekreuzigten nahm, thaute auch sie auf und erklärte, daß sie den Herrn Bernhard Fuld zum Generaleinnehmer und Finanzminister ihrer Einkünfte als Stiftsdame von Heiligenkreuz ernennen wolle.

Armgart'sche Einfälle elektrisirten dann gewohntermaßen alles ...

Es wurde nun so laut, so ausgelassen unter dem jungen Volke, daß die vier Erzieherinnen (die vierte lehrte nur Musik) dafür waren, lieber jetzt aufzustehen und de se promener encore dix minutes sous les tilleuils et dans le jardin ...

Aber auch das geschah so wild – es ist Sonnabend! – daß die Schwestern Aloysia und Gertrudis Ruhe gebieten mußten und das ganze Personal in die Corridore und auf die Schlafsäle schickten.

Auch Angelika war, sie wußte selbst nicht worüber, ins Lachen gekommen – aus Nervenschwäche, sagte die Gute – raunte aber beim Gutenachtsagen ihrer geliebten Armgart, ihrer besondern Schutzbefohlenen (die indessen nicht mit ihr, sondern mit fünf andern in einem Saale zusammenschlief) neckisch zu:

»Wer aber ungeduldig ist, offenbaret seine Thorheit!«

Armgart nickte und hatte sich heute in der That auch zur Anerkennung dieses Spruches bekehrt.

11.

Und am folgenden Tage lag denn doch im Geschmeide der ganzen sonnenbeschienenen Gegend die Insel Lindenwerth da geradezu wie ein Juwel.

Das große blaue Gottesauge des Himmels drüberher schien an ihm selbst seine Freude zu haben. Und die schimmerndweißen Birken, die Hängeweiden, die Buchen, Akazien-, Nuß- und Kastanienbäume, die Büsche, die Pflanzen des Gartens, alles, alles hat in einer solchen Morgenfrühe des Sonntags und besonders, »wenn man etwas vorhat«, ohnehin schon ein ganz anderes Aussehen als sonst. Unser Auge zieht dann schon von selbst allem Festkleider an. Die Welle plätschert an die Uferränder anders als sonst. Und schweigen auch Septembers in den Bäumen, weil sie in ihren Nestern mit ihren Jungen und mit ihren neuen Kleidern für den Winter zu thun haben, die Singvögel, so hört man doch ihr Aufflattern und ihr Aufschwirren, sieht die Spatzen in so räuberischer Thätigkeit, daß man nur zu huschen braucht und überall schießt Diebsvolk wie mit bösem Gewissen auf, sieht goldene Käfer und summende Wespen in voller Thätigkeit, um mitzuherbsten und mitzuernten an dem reichen sonnenglänzenden Segen.

Noch aber hängen um die fernerweit liegenden Schönheiten eines solchen Sonntagsmorgens allerlei Toilettenschleier. Die hohen Berge und grünen Waldlehnen hinter ihnen putzen sich erst langsam aus dem Nebel heraus zu dem Sonntagsstaat, dessen Annäherung in aller Frühe schon und von allen Richtungen her die Glocken verkündigen. Die Geschäftsglocke der Dampfschiffe mit ihrem kurzen groben Mahnruf hat heute fast etwas Störendes; man gedenkt gleich der Ueberzahl von Städtern und Städterinnen, die nun auch bald kommen und sich oft störend genug überall hin ausbreiten werden.

Um neun Uhr schiffte die ganze Pension, neunundzwanzig junge Mädchen – eins blieb ein wenig unpäßlich daheim – und vier Erzieherinnen in zwei Kähnen zur Messe nach der Drusenheimer Kirche hinüber ins Enneper Thal. Tönneschen's Vater und Mutter ruderten heute und ein anderer alter Schiffer, Tönneschen's Großvater. Und noch ein paar Vettern, Gevattern und Kinder und Kindeskinder aus einem Halbdutzend baumversteckter Hütten der Insel begleiteten die Fahrt. Heute galt es, das Tönneschen mit dem Rauchfaß zu sehen, im Beginn seiner von Michahelles eingeleiteten Carrière zum künftigen Vater der Gesellschaft Jesu. Tönneschen war schon lange voraus, um beim Meßner die Toilette zu machen. Das ganze Stift fühlte den Stolz der Mutter nach, die ihre beste Haube aufhatte und mit einem Streifen so lang, so lang, daß er ihr fast über die Nase fiel.

Die jungen Pensionärinnen mit ihren goldgeschnittenen Brevieren und dem Einerlei ihrer heute am Sonntag weiß-roth oder weiß-blau gesprenkelten Kleider und den einfachen runden Strohhüten, durften nicht zu laut ihre Wonne über den Sonntag aussprechen. Es ging jetzt in die Kirche, ja, für die schon gefirmelten, an den Tisch des Herrn.

Die Glocke der alten, nächstens in Ruhestand zu versetzenden baufälligen Dorfkirche, die die Maler gut zeichnen hatten, wenn sie nur gesehen hätten, wie ihre Wände schon morsch geworden und die Sakristei bedenkliche Risse zeigte, hatte schon zweimal ihr, wie die Mädchen ihr immer nachsummten: »Ei, so komm' doch! Ei, so komm' doch!« durch die Lüfte gerufen; aber man wußte, es ging beim Pfarrer Engeltraut, der sonst ein gar trefflicher Diener Gottes war, mit seinen Messen nicht eben besonders präcis. Ausgestiegen am Ufer, konnten die Mädchen immer noch einen Rundweg machen, ehe sie zur Kirche gingen. Sie sahen in der Ferne wie dicht am Waldesrand liegend das aus gelbem Sandstein gebaute, hellleuchtende Landhaus des Bankiers, umschlossen von hohen an den Spitzen vergoldeten Eisengittern. Mehr in der Nähe lag die neue hochragende byzantinische Kirche. Alles winkte geheimnißvoll und gastlich und zu allerlei heimlichem Spaß für den Nachmittag.

Nun stieg man aus ... Durch Feld und Flur, über Wiese und Stoppeln, am Hagebucheneck und die Weingärten entlang, da war's doch noch ein anderes Wandeln, als drüben auf der schönen, aber engen Insel, auf der man sich zuweilen wie ein Gefangener vorkommen konnte.

Schwester Aloysia corrigirte auch jetzt auf dem Wege zur Kirche die Subjonctifs und Angelika lehrte auch jetzt Mathematik und Naturwissenschaften, denn eine sandige Stelle findet sich in der schönsten Gegend, eine Heide von zwanzig Fuß, wo eine Immortelle blühen kann oder das Blümlein Mannstreu, über das gleich ihrer sieben oder acht neugieriger Mädchen wissen wollten, woher dieser Name käme? Die Lehrerin wußte keinen Rath. Armgart kannte schon vom Walde bei Westerhof den Spottnamen des kleinen zierlichen Pflänzchens und sagte:

Es ist ja Vogelfuß, Angelika!

Nun sagte diese:

Ach, Ornithopus? Hülsenblume! Geschlecht der Heuhechel!

Die jungen Mädchen lachten, als Armgart ganz treuherzig und ohne alle Anklage fortfuhr:

Mannstreu und Vogelfuß sind eins und dasselbe!

Die größern Mädchen deuteten sich das harmlose Wort satirisch.

Beide Englische Fräulein wandten sich und geboten Ruhe und Sammlung.

Wann sprichst du den Pfarrer? flüsterte Armgart und drückte den linken Arm der Freundin an ihre Brust.

Ich sprech' ihn nicht allein! sagte diese. Die Vorsteherin wird dabei sein! Ich denke, nach der Predigt!

Heute auch noch eine Predigt!

Geduld!

Das Wort, mit dem man Armgart bereits wieder auf zehn Schritt verjagen konnte ...

Sie entschlüpfte und sah nach Westen hinüber, dorthin, wo die weiß-blauen Wassernebel noch am dichtesten schwammen. Den Roland, wo Benno vielleicht übernachtet hatte, sah man gar nicht vor dem dichten, wenn auch goldsonnigen Nebelflimmer.

Die endlich nicht mehr umgangene und nun wirklich im Zuströmen der Landleute mitbetretene Kirche war wahrhaft überfüllt. Man erkannte recht, welches Verdienst sich Bernhard Fuld erworben durch die Erbauung einer neuen. Das Pensionat der Englischen Fräulein genoß aber eine Auszeichnung. Jeden Sonntag blieben ihm die vordern Stühle reservirt.

Es ging dann alles bei der Messe, wie es gehen soll und überall bei ihr geht. Vielleicht nicht ganz nach der Schnur, die die Kanoniker in Rom vor tausend Jahren gewunden haben, aber doch auch ohne besondere Verwickelung. Pfarrer Engeltraut war, wie die römischen Priester sein sollen, keine viel mit sich allein beschäftigte Persönlichkeit. Er verrichtete ein Opfer, das ganz von ihm unabhängig war. Hätte es einem strengen Kenner des Ritus auch nicht entgehen können, daß sich mancherlei Fehler einschlichen, so sah das doch so obenhin niemand von den Versammelten. War der Blick, mit dem der Priester aus der Sakristei trat, gesenkt genug? War die Haltung des Körpers gerade und hübsch aufrecht? Trug der Opferer eine Brille, von der Gregor der Heilige freilich noch nichts vorzuschreiben wußte, als der sein Oremus sang, und Abraham und Melchisedek, die Voropferer der Messe, noch weniger? ... Pastor Engeltraut trug eine Brille, und sonderbar, er legte sie gerade beim Lesen ab, auf sein Taschentuch. Dann war er ganz einfach im Vortrag und ebenso einfach in der Geberde. Er machte die Kreuzeszeichen allerdings nicht, wie wenn er sie heute zum ersten male machte, aber auch nicht so, wie z.B. vornehme Damen am Weihbecken beim Betreten der Kirche, die zum Jammer frommer Seelen und wie Beda Hunnius einmal in einer seiner Predigten zum Dank der gerade damals zuhörenden Angelika und in seinem Abraham a Sancta Clara-Stil sagte: »sich beim Benetzen einen Schnörkel angewöhnt haben, als wenn unser Herr und Heiland auf irgendeiner runden Drehscheibe oder einem andern Zickzack, nur nicht an dem so tief sinnvoll von ihm gewählten Kreuze gestorben wäre.« Nichts auch verwirrte er von dem, was laut und was leise zu sprechen, was zu singen oder nur zu sagen war. Auch jagte er nicht in seinen Abschnitten und ging dann nicht wieder wie eine Schnecke. Auswendig auch wußte er, was er nur zu lesen schien.

Und wenn dann irgendetwas vorhanden war, was den würdigen Gang des Opfers anfangs hätte unterbrechen können, so war es freilich des Priesters Hinblick auf den heutigen Thuriferar Antonius Hilgers, der nebst zwei andern Knaben zum ersten male diesem schwierigen Geschäfte des Administrirens vorstand. Aber gerade Antonius hielt sich vorzugsweise wacker zum Stolz seiner Angehörigen, zum Wohlgefallen des englischen Instituts. Wenigstens dünkte er sich ebenso kundiger Lootse durch die Untiefen und Schwierigkeiten des lateinischen Missales, wie er es unbestreitbarer durch die Strudel und Schnellen des herrlichen Stromes drüben war. Nie stand er auf der Epistelseite des Altars, der linken, wenn er auf der Evangelienseite, der rechten, stehen sollte. Mit Ruhe, ohne sich vor Angst zu übereilen, reichte er dem Priester das Gefäß mit dem Weihrauch, hielt ihm das geöffnete Thuribulum dar, und wenn der Opferer Weihrauch eingelegt hatte, reichte er ihm das Gefäß, indem er es vorsichtig und behutsam mit der rechten Hand unter dem Ring, mit der linken in der Mitte der Kette anfaßte. Das dabei von ihm gesprochene Latein war allerdings mehr als welsch und nicht im mindesten ciceronianisch. Doch niemand der Anwesenden, selbst der Schullehrer nicht, war im Stande, die Correctheit nach Zumpt's Grammatik zu prüfen. Mit seinen stehenden Fehlern – spiritus immer nach der zweiten Declination und tuus nach der vierten – klang es ganz so hoch und hehr und fremdartig, wie das Volk es hören will. So wie so blieb es die richtige Sprache der Engel, die Sprache, in der Gott und seine Heiligen sich unterhalten, die Hof- und Kanzleisprache des Himmels.

Als dann der Augenblick des Allerheiligsten kam, als alle dann knieeten, als alle Schauer der persönlichen Anwesenheit des Heilandes in der Wandlung durch die Gemeinde rieselten – die Kinder und alten Frauen und in großen Kirchen eine gewaltige musikalische Note sorgen schon dafür, daß das ganz so wie in mächtigster Bezauberung hingenommen und empfunden wird, wie es Innocenz III. aller Welt und aller Zeit hinzunehmen und zu empfinden geboten hat – wie dann die Erwählten und in der gestrigen Beichte Bestandenen herantreten durften und von dem Gottesleibe mitgenossen, während der Priester von dem Gottesblut für alle trank, – da vergaß denn auch Armgart für einige Zeit das Träumen und Sinnen und es legte sich ihr die Fülle von Sünden, die sie dem neuen westerhofer Geistlichen, Norbert Müllenhof, wer weiß in wie kurzer Zeit, oder wem sonst und in welcher Ferne würde beichten müssen, schwer aufs Herz! Sie sah, daß Zerstreutheit während des heiligen Hochamts, Abwesenheit der Gedanken beim Lesen im Brevier nicht mehr allein die nagenden Vorwürfe ihres Innern waren, mit denen sich ihr Gewissen gewöhnlich aufs allertiefste belastet fühlte.

Nach dem Hochamte hielt der Pfarrer richtig noch eine »Application«. Er sprach diese von der Kanzel herab und über die bevorstehende Einweihung der neuen Kirche und äußerte im allerlöblichsten Volkston, daß auch im innern Menschen täglich die Sakristeien Risse hätten, täglich die Glockenstühle faulten und den Regen durchließen, ja daß mindestens auch viermal des Jahres im Menschen ein echtes und rechtes Kirchweihfest müßte gehalten werden, nicht etwa nur zu Ostern, wo »ihr glaubt, euch für ein ganzes Jahr reinigen zu müssen, sowie die Schwelger, die Ueppigen und Reichen alle Jahre einmal ins Bad reisen und sich ihren sterblichen Leib reinfegen vom Schlamm ihrer Sünden«! »Das wird dann«, fuhr er fort, »jährlich auch so ein Kirchweihfest, wie ihr's allüblich zu feiern pflegt mit Essen, Trinken, Jubeln, Fluchen, Würfelspielen, Tanzen, Todtschlagen der Zeit und allen denen Sünden, die ihr dann voll Verzweiflung angerennt kommt im Beichtstuhl loszuwerden, wo sich oft das todte Holz erbarmen möchte über den Kummer, den ihr euerm grundgütigen himmlischen Vater und unserer gnadenreichen Mutter bereitet! –« Doch sagen wir nur, er fegte die Herzen, wie man soll, nicht mit Staubwedeln, sondern mit Besemen. Und manches sprach er wie Beda Hunnius geradezu in eine Ecke hinein oder auf einen Pfeiler, wo der stand oder die saß oder wem es sonst, ohne darum die Beichte zu verletzen, persönlich zu Nutze kommen konnte.

Wie der dabei von Hunnius sich nur durch den Mangel an Eitelkeit und an theils forcirtem, theils natürlichem Cynismus unterscheidende treffliche Redner zuletzt von diesem unendlich süßen Gnadenzustande, von einer wahren Liebeswonne im Bunde mit dem Gekreuzigten, von der sogenannten Rechtfertigung durch den Glauben sprach, da kamen ihm die folgenden sonderbaren und für die ganze Gemeinde höchst überraschenden Worte:

Was ist das nun? Gerechtfertigt sein durch den Glauben! Ich will es euch sagen. Sehet euch um! Hier in dieser Kirche! In eurem Kreise weilt ein nur auf Erden Gerechtfertigter! Ein Kind dieser Gemeinde, dem hier der Weg der Gnadenmittel von früher Jugend gezeigt wurde, setzte einst mein Herz in Trauer und euch alle in Bestürzung, als man vor Jahren von ihm hören mußte, seine Hand wäre ruchlos genug gewesen und hätte sich in ferner Gegend, wo er weilte, gegen das Leben eines seiner Mitmenschen erhoben und ihn getödtet! Ein Jahr lag er, da alle Anzeigen eines Mordes gegen ihn sprachen, in Ketten und Banden, bis seine Unschuld erkannt wurde und er im lichten Gewande der Gerechtigkeit aus seinem Kerker hervortreten konnte! Voll Scham und Schmerz kam er damals über Nacht zu mir, dem Seelsorger seiner schon reiferen Jahre, und weinte seine bekümmerte Seele aus! Er mochte nicht bleiben in dem Ort, wo das Mistrauen ihn dennoch verfolgte, wo sogar ein Bruder ihm den treuen Handschlag der Liebe versagte! Durch meine Hand ging der kaum zu nennende Ertrag seines kleinen väterlichen Erbes; nun ist der brave Herr, der diese Gemeindemarkungen hier ringsum an sich gekauft hat, – zu hohen Preisen, weil unsere Gegend ihren Werth hat, doch auch Männer, ehrenwerthe Männer, die diesen Werth zu schätzen wissen, – (in der Kirche war wol nicht einer, der diese Captatio benevolentiae zu Gunsten der neuen Gutsherrschaft ganz so zu würdigen verstand, wie es das Verfahren des klugen Geistlichen verdiente), aber ich sage euch, nun ist der Antrag gekommen, sein Erbe mit den Besitzungen der Herrschaft des Ortes zu vereinigen, und vielleicht zur Erhebung des Kaufschillings befindet er sich heute in dem Orte seiner Geburt! Nicht, daß ihr glauben sollt, er wiche vor euch! Nicht, daß eure Zunge sich unterstünde, zu sagen, sein Fuß wäre hier endlich dennoch wankend geworden! Ruchlose Anschuldigung, daß euer jetzt ausscheidender Mitbürger den Vater jenes frommen Mönches erschlagen hätte, der im Gewand der Ordensregeln St.-Francisci schon zu öftern malen in diesen Markungen begrüßt worden ist. Seht euch die Glorie eines Gerechtfertigten an! Das ist der glückliche, frohe, von euch allen zu ehrende und mehrende und nicht länger anzuzweifelnde und bei ernster Strafe von eurer Mutter, der Kirche, zu respectirende Zustand eines vor Menschen Gerechtfertigten! Nun aber – (der Nachhall dieser Worte und das allgemeine Schauen auf den in diesem Augenblick wie mit Krone und Purpur bekleideten Stephan Lengenich bedingte ein mehrmaliges Hervorheben des Ueberganges zum Zusammenhange). Nun aber (noch murmelte alles und konnte sich nicht fassen) nun aber – hört jetzt und macht ein Ende! – nun aber, wie viel größer ist der Stolz, mit dem wir einst, durch die Fürbitte seiner Heiligen, vor den Thron des Allmächtigen werden treten können, falls wir sagen dürfen: »Herr, wir sind keineswegs Könige auf Erden gewesen, keineswegs Helden und Gewaltige der Reiche, wir haben nichts gethan, was den Namen des Außerordentlichen verdiente, aber – wir erfüllten deine Gebote, wir gingen die Wege, die deine heilige Kirche uns zu unserer künftigen Seligkeit gezeigt hat, nun gib uns auch den Lohn, den du allen denen versprochen hast, die deinen Willen thun!«

Das war ein kräftiges, elektrisirendes Wort! So verweist ein richtiger Seelenhirt die Gläubigen an den Zahltisch Gottes! So will der Bauer dereinst mit Gott stehen, als brächte er ihm einmal keinen Pacht, sondern holte sich welchen ...

Die Erwähnung des allbekannten Küfers Stephan Lengenich, der in der Residenz des Kirchenfürsten Meister geworden war und hier »in seinem Orte«, besonders auf Anstiften eines feindlichen Bruders nicht einen Gruß bekommen konnte, ließ zu keiner Sammlung mehr kommen. Auch das Institut sah mit allen nach der Kirchthür, wo vielleicht der »Gerechtfertigte« stand, der jeden Sonntag nach Drusenheim kam, nie aber so früh wie heute, daß er schon beim Herrn Pfarrer Empfehlungen aus den Umgebungen des Kirchenfürsten abgeben konnte und nur nach der Gewährleistung des Ortsgeistliche sich plötzlich durch irgendeine Begebenheit, vielleicht auf Löb Seligmann's feurige und sonntagsfreudige Ueberredung hin, entschloß, seinen »Blutacker« herzugeben.

Halb elf war es ... und die Kirche war nun aus ... und so heilig das Debut des Tönneschen gewesen war, dem Gebrauche, dann auf einen Trunk Drusenheimer, womit keineswegs das alldortige Wasser gemeint war, herzhaften Bescheid zu thun, entzog man den jungen Novizen, der sich so brav und tapfer gehalten und dafür allgemein belobigt wurde, nicht im mindesten. Alles strömte ins Wirthshaus. Und mag auch die Frau Baronin von Cepeda (bekannter unter dem Namen der heiligen Therese) noch so schön und gewohntermaßen geistreich und höchst vornehm gesagt haben: »Verlieren wir doch nicht die gute Gelegenheit, die wir nach der heiligen Communion haben, uns Schätze zu erwerben! Nicht mit geringem bezahlt Seine göttliche Majestät die Herberge, in welcher sie eine gute Aufnahme gefunden!« – dennoch auch wol in dem brennend heißen Hispanien, dem Vaterlande der liebeglühenden Therese entschuldigt man nach der Messe das Verlangen nach dem kühlen Labsal einer Posada. Die Schiffer von Lindenwerth, Tönneschen's Alte und Großalte, tranken trotz aller Warnungen der »Application« zur Osterzeit, den eben genossenen Leib des Herrn in ungestörter Wirkung zu erhalten, im »Hahnen« auf des Debutanten Wohl und der halbe Ort war dabei lebendigst durcheinander und unter ihnen der »Gerechtfertigte«, dem alles die Hand schüttelte, verwundert über sein Abziehen, den nunmehr niemand gekränkt haben wollte und der dann schon in der Stimmung sein durfte, Athanasiusmedaillen auszutheilen und durch bald hohe, bald seltsam tiefe Reden die Bedeutung und Wunderkraft derselben zu erläutern.

Das Pensionat machte noch einen weiter den Bergen zugewandten Spaziergang, während Angelika und Schwester Aloysia zurückblicken, um womöglich den Pfarrer zu sprechen in Angelegenheiten der wie in den Lüften schwebenden Armgart, die nun aber auch den Roland glänzen sah, so hell, so deutlich, als müßte sie jeden erkennen, der drüben aus den Fenstern desselben und etwa unter den schönen herabgelassenen, roth und grau gestreiften Markisen hervorsah.

Ja, der heutige Sonntag wird viele Menschen glücklich machen ...

Wir brauchen nur an Thiebold de Jonge, an die Partie der Freunde Piter Kattendyk's zu erinnern ...

Wir brauchen nur an Benno zu denken, der sich ihnen anzuschließen hofft, wenn ihn eine Wanderung in die Kette der Sieben Berge, wohin ihn Nück's Aufträge verschickten (gerade des Sonntags ist der Bauer am zugänglichsten für Dinge, deren Erörterung ihn dann keine Arbeit versäumen läßt), Nachmittags und auf alle Fälle des Abends nach dem Roland wieder zurückkehren läßt ...

Aber den Hoffnungen, den Erwartungen, mit welchen schon um neun Uhr mit dem ersten Dampfboot im Enneper Thale ein gewisser Mann in schwarzem langschösigem Frack, in Nankingpantalons, in kameelgarner Weste, in hellgelbseidnen Handschuhen gelandet war, denen kommt die Erwartung keines andern gleich, selbst die seines Begleiters nicht, Stephan Lengenich, der sich heute unter gewissen Bedingungen von Drusenheim losreißen wollte.

»Speisen Sie nächsten Sonntag bei mir in Drusenheim!«

Diese Worte waren auf dieser Erde am Donnerstag Vormittags elf Uhr jemanden gesprochen worden in der Residenz des Kirchenfürsten. Sie wurden dann wiederholt in den Moppes'schen Kellern, dann bei Veilchen Igelsheimer in der Rumpelgasse; sie waren hinübergeschrieben worden gen Kocher am Fall, wo David Lippschütz mit seiner lebhaften Phantasie gewiß bereits der Mutter auseinandersetzte, was wol alles der Onkel zu essen bekommen würde bei den reichen »Vettern«, den Millionären, auf ihrem feenhaften Lustschlosse im Enneper Thale ... Löb Seligmann sang bereits seit Donnerstag keine Arie lieber, als die des Leporello im »Don Juan«: »Ihr Herr Koch, der kocht ganz vortrefflich!« Selbst das Zwischenspiel der Violinen begleitete er mit den feurigst eingeworfenen Sechszehntelnoten: »Ganz vortrefflich, ganz vortrefflich, ganz vortrefflich!«

Nicht, daß er nicht allmählich einem gewissen innern Flüstern gewisser innerer Stimmen Gehör gegeben hätte, die ihm sagten: Seligmann, bilde dir doch nichts ein! An seine eigene Tafel wird dich wahrhaftig der Ritter Bernhard Fuld nicht placiren unter die Grafen und die Barone! Du wirst lediglich in der Küche beim französischen Koch oder bei der alten Regine, die Madame Bernhard Fuld aus Wien als orthodoxe Köchin mitbekommen hat von ihren Aeltern, vor oder nach dem Diner abgespeist werden! Aber – der Schwung der Seele, der blieb denn doch! Man hatte ihn einer Ehre gewürdigt! Man hatte ihm Erlaubniß gegeben, sich verwandtschaftlicher Annäherungen zu rühmen! Man hatte nicht hindern können, daß von Donnerstag bis zum Sonntag jeder, der geschäftlich oder nichtgeschäftlich einige Worte mit Löb Seligmann wechselte, von ihm die nur so fallen gelassenen Worte zu hören bekam: »Nächsten Sonntag, ja – richtig – aha, Sonntag, ganz recht, wo ich bei Fulds in Drusenheim speisen werde –.« Nie wurde dann den Staunenden, die das Fallengelassene überrascht aufhoben, eine Genealogie gründlicher vorgetragen, als die Abstammung und Verwandtschaft, in welcher seit Abraham, Isaak und Jakob die Seligmanns, die Lippschützens, die Igelsheimers und die Perls zu den Fulds standen.

Am Samstag sah Löb Seligmann im Stadttheater noch den »Zampa«. Diese wilde Räuberoper mit ihrer rauschenden Musik, mit ihren üppigen Trinkgelagen und Tafelschwelgereien weckte ihm wieder den ganzen Humor der sonntäglichen Erwartung, den er infolge eines Streites mit Veilchen fast verloren hätte. Dieser Streit betraf einen Gegenstand, der ihn, wie wir sogleich hören werden, in die Lage versetzen konnte, sich seinem Gastgeber, Herrn Bernhard Fuld in einer Weise zu Tisch einzuführen, die diesen selbst fast dafür belohnte, so einmal seinen bescheidenen Vetter ausgezeichnet zu haben.

Auf dem Dampfschiffe hielt sich Löb mit Stephan Lengenich so herausfordernd und kühn, wie der wilde Held der gestrigen Oper. Wäre er auch beim Landen, als er inzwischen, angeregt durch die Schifferkähne, zur »Stummen von Portici« übergegangen war und nicht achtend des schmalen Steges und des Menschengedränges trällerte: »Auf, singt die Barcarole!« fast in den Fluß gefallen, so kehrte doch nach dem ersten Schrecken seine ganze Erwartungsfreudigkeit zurück. Während Lengenich zum Pfarrer ging, umkreiste er die stolze Villa seines Vetters und rüstete sich zum Eintritt.

Bernhard Fuld inzwischen finden wir in der behaglichsten Stimmung eines geschäftsfreien Sonntagsvormittags.

Jeune homme von einigen dreißig Jahren hat er seinen hie und da schon grauenden Bart mit großer Kunst übermalt und à la mécontent geordnet. Auf seine Veranda begibt er sich in türkischem Schlafrock mit Fes auf dem Haupte und ungarischem Tschibuk in der mit einem goldenen Siegelring geschmückten feinen etwas magern Hand ... Er ist nicht allein. Seine Gesellschaft ist ein gestern angekommener Gast, Baron Wenzel von Terschka, ein ihm geschäftlich Empfohlener von einem Freunde der Familie seiner Frau ... Und während diese sich noch hinter einem blumengeschmückten Fenster oben bei ihrer Toilette befindet, die heute eine neu aus Paris gekommene war, da sie ein größeres Diner, Nachmittags großen Kaffee hatte, ergingen sich der Wirth und Herr von Terschka (dieser schon in vollständigster Mise) in Naturbewunderung, Börsencursen, Louis Philippistischer Politik und Pferdezucht. Der neue Stall war besehen worden, Terschka's Kennerwort vernommen, Homburger und Baden-Badener Grafen und Barone, die sich vielleicht als Traineurs auszeichneten und von zwei alten magern Pferden, d.h. Wettrennern, mit denen sie Preise gewannen, lebten, waren mannichfach als Autoritäten für diese oder jene Fütterungsmethode citirt worden, kurz, man konnte sich jetzt mit Behaglichkeit dem Blumenduft und der zauberischen Aussicht hingeben in zwei allerliebst geformten gußeisernen Lehnstühlen.

Die Besitzung hatte schon beim Ankauf, wie heute auch von der Kanzel bemerkt worden, viel Geld gekostet und mehr noch hatte man in sie hineingesteckt. Das Landhaus war, wie Terschka sagte, würdig am Comersee zu stehen ... Die nahe Kirche, die ebenfalls neu, hatte dem Erbauer allerdings in erster Frühe vor seinem Schreibtisch einige »unangenehme Viertelstunden« verursacht. Sie bot nämlich die Unbequemlichkeit, daß sie nie fertig wurde. Immer noch gab es etwas zu vervollständigen an ihr und zu ergänzen. Bald fehlten noch Chor- und Beichtstühle, Schränke in der Sakristei, allerlei von jenen Mechanismen, von denen man bei Aufbewahrung der heiligen Geräthschaften, der praktikablen Benutzung z.B. nur der Leuchter als Laie kaum eine Vorstellung hat. Was hatte der israelitische Patron der Kirche des St.-Dionysius nicht schon für unheilige Sacrebleus in die Holzschnitzereien, die Vergoldungen, die Stickereien und die Gelbgießerrechnung allein für die beiden Glocken gewettert! Wir wollen nicht wünschen, daß die mehreren Goddams, die auch heute auf die in frühester Morgenstunde schon wieder vor dem fleißigen Rechner ausgebreiteten Noten und vorzugsweise die des Gelbgießers fielen, irgendeinen Einfluß auf die hehren Ruferinnen der Lüfte ausüben mögen. Bernhard Fuld unterwarf sogar die Inschriften der Glocken einer Kritik, denn der Bildner der Form ließ sie sich buchstabenweise bezahlen und Pfarrer Engeltraut hatte großen Werth darauf gelegt, die Worte des Psalmisten: »Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar, Sela!« auf die große Glocke und die Worte des Propheten: »Wie lieblich sind auf den Bergen die Boten, die da Frieden verkündigen!« auf die kleine zu setzen. Der von ihm sogar noch beantragt gewesenen, aber von Fuld gestrichenen dritten Glocke hätte er hingehen lassen, daß sie nur einfach die Jahreszahl brachte.

Bernhard's Gast, der die Cigarren seines tschibukrauchenden Wirthes ebenso zu würdigen versteht, wie die pittoreske Lage der Veranda, ist kein Jüngling mehr und doch besitzt Herr von Terschka etwas außerordentlich Jugendliches. Von sechsunddreißig Jahren, die man ihm nach dem untrüglichen Merkmal aller Jahre, den Runzeln, die von den Schläfen nach den Augen zulaufen, geben mußte, hatte er noch ganz das Wesen eines Jünglings, jedenfalls noch immer das aus der Zeit, als er mit seinem Freunde Grafen Hugo von Salem-Camphausen unter den Offizieren zu Kiel saß, damals, als des Kronsyndikus Trauer selbst beim Weine von diesen feierlich geehrt wurde und gerade Terschka es war, der bei Gelegenheit der Nase Lucindens und eines Bildes auf einem herumgereichten Armbande die Veranlassung wurde, an eine Römerin zu erinnern, über die der Kronsyndikus in jene nächtliche Aufregung gerieth, die ihn seine noch lebende »zweite Frau« sehen ließ – und das war bereits sechs Jahre her. Schlank und behend von Gestalt, mager, wachsbleich wie ein Armenier, mit schwarzem Haar, weißen Zähnen, leidenschaftlichen schwarzen Augen, befliß sich Wenzel von Terschka völlig unbedeutend zu sein, so kindlich, so gutmüthig, wie nur irgendeinem gebornen Czechen möglich. Mit Gewandtheit folgte er jedem Gedanken seines Wirthes und ließ sich in der Morgenunterhaltung beim Genusse seiner Cigarre auf jede Aeußerung desselben mit der liebenswürdigsten Selbstentäußerung ein: »Ah!« – »In der That!« – »Meinen Sie wirklich?« – Mit diesen Zwischenreden folgte er allen Ansichten, die Bernhard Fuld über die große Erbschaft aussprach, die demnächst der Auftraggeber Terschka's, Graf Hugo, antreten wollte. Immer wieder kehrte das ihm sicher hochwichtige Gespräch auf Harmlosigkeiten zurück, auf die Gegend, auf das Stift Lindenwerth, auf die Pferde seines Wirths, auf die Preise des Heus und der Fourrage in hiesiger Gegend, auf das erst neuerdings eröffnete Bad zu Homburg, wo Bernhard Fuld mit seiner jungen Frau vor wenig Wochen die erste Saison durchgemacht und zu erzählen wußte von einer Jagdpartie der Spielpächter im Costüm der Zeiten Ludwig's XIII. und einer andern im Geschmack rothgekleideter englischer Fuchspreller. Bei der geschickten Art, wie sich Wenzel von Terschka zu unterhalten wußte, lenkte er das Gespräch immer wieder auf den Beistand ein, den für seine große Erbschaft und vielleicht die zweckmäßigste Entäußerung derselben Graf Hugo in dem Fuld'schen Hause zu finden hoffte.

Bernhard, der ohne seinen erst aus der Stadt noch erwarteten, sicher zum Diner kommenden Bruder Moritz nichts Geschäftliches unternahm oder zusicherte, nicht einmal eingehend etwas erörterte, war schon mit der gleichgültigen Bemerkung hervorgetreten, daß vielleicht eine Parcellirung – das Rentabelste wäre und sich dann zu einer Recognoscirung des Terrains niemand besser eignen würde, als – par exemple – ein erfahrner Landwirth und Gütermakler Namens Löb Seligmann ...

Und gerade in diesem Augenblick wurde Löb Seligmann von einem eben in seiner Toilette fertig gewordenen, in schöner, bunter Livree auftretenden Bedienten angemeldet.

Terschka, der alles nur leicht zu nehmen schien, doch den Namen des Agenten sogleich zweimal sich nennen ließ, setzte bei seinem Wirth Privatgeschäfte voraus und ging auf sein Zimmer. Er besaß die Klugheit, die Dringlichkeit seines Anliegens mit nichts zu verrathen, sondern die Geschäftswelt an sich herankommen zu lassen. Fast könnte es scheinen, als hätte dies für sein lebhaftes Naturell keine kleine Aufgabe sein müssen.

Mit seinen hellgelben, seidenen Handschuhen steht nun der glückliche zu Tisch Geladene vor dem dem Baronisirtwerden so nahe gerückten »Vetter« Bernhard Fuld und äußert ihm durch einen trunkenen Blick die schon oft ausgesprochene Bewunderung seiner reizenden Besitzung.

Bernhard Fuld hatte die Gewohnheit, beim »Unter uns« nicht die vornehme Reserve zu beobachten, die ihm sonst eigen war ...

Graf Rudolf in der »Nachtwandlerin« singt, auf die schöne Gegend blickend: »Hier das Bächlein, dort die Mühle!« – und ebenso verklärt schaute Löb Seligmann rundum ...

Bringen Sie die Quittung über die – wie viel Thaler waren es –? fragte Bernhard.

Herr Fuld, Sie werden doch sagen, daß ich meine Sache gut gemacht habe! begann Seligmann. Sie sollen sich bauen auf den Berg den schönsten Pavillon und eine Treppe hinauf mit so viel Stufen, als ich Ihnen Jahre zu leben wünsche! Hundert Stufen sind mir nicht genug, Herr Fuld!

Wer sagt Ihnen, daß ich einen Pavillon bauen will mit Stufen? erwiderte Fuld und fand sich schnell in die so höchst angenehme Nachricht. Ich will nur einen Weinberg haben und mein eignes Getränk auf den Tisch, Drusenheimer Ausbruch! Denken Sie, die Papiere stehen so, daß ich alle Tage Champagner trinken kann?

Champagner! ... Seligmann ahnte eine bedeutsame Anspielung auf das heutige Diner, ließ seine gelbseidnen Handschuhe nicht wenig in der Sonne spielen und verzichtete still für sich auf Champagner, befriedigt vollkommen von gewöhnlichem – Johannisberger Cabinet oder ähnlichen Mittelsorten –

Wie ist denn diese plötzliche Umwandelung des verrückten Küfers gekommen? fragte Fuld, aufblinzelnd zu seiner vielleicht schon oben lauschenden Gattin.

Seligmann zuckte die Achseln, holte einen tiefen Seufzer und erwiderte:

Herr Fuld, das ist ein Roman! Wenn ich's erzählte, Sie würden es nicht glauben!

Bernhard Fuld hatte noch mit seiner Toilette Zeit und sagte:

Erzählen Sie nur!

Löb Seligmann machte eine mysteriöse Miene.

Sie wollen mich überraschen! sagte Fuld, als der Makler schwieg und setzte mit einem Tone, der selbst Scherze in der immer ihm gleichen blasirten Art aussprach, erläuternd hinzu: Wahrscheinlich, weil ich jetzt die ganze Geschichte um sechshundert Thaler habe!

Nein, umsonst! parodirte denn doch Löb Seligmann und nicht ohne eine gewisse Aufwallung über den Vetter, der der Mann war, solche Scherze ernst zu nehmen.

Sie haben, fuhr Fuld in der That fort, das Geschäft mit sechshundert Thalern fertig gekriegt und wollen nun dreihundert als Courtage? Revanchiren Sie sich ein andermal!

Herr Fuld! sagte Löb zurückfahrend. Meine fünf Procent sind mir fast an Freiheit und Leben gegangen!

Mit einem halb zugedrückten Auge erwiderte Bernhard blinzelnd:

Hanswurst!

Hanswurst? Um den Küfer herumzubringen, hab' ich eine Komödie gespielt, die, wenn man die Hand umdreht, wär' ein Trauerspiel geworden und Sie wissen, Herr Fuld, ich bin für die Oper –

Fuld staunte denn doch und würde auf die weitere Auslassung des Vermittlers mehr gedrängt haben – schon vielleicht eines Stoffes wegen für die Unterhaltung beim Diner –, wenn dieser nicht von der Veranda aus, wo sie sich befanden, den Küfer im Sonntagsstaate daherkommen gesehen hätte, umringt von Alt und Jung, die aus dem »Hahnen« her ihn als einen jetzt erst erkannten, wahrhaft erleuchteten und ganz unglaublich wunderbaren Mann begleiteten.

Stephan Lengenich sah sich wie ein Feldherr oder ein hier entthront gewesener Monarch um. Jetzt erst recht hätte er, nach der geistlichen Schutzrede und dem feurigen Anschluß der Dorfbewohner, den Fuß in der Gemeinde behalten mögen; doch hatte er Seligmann in seinen Kellergewölben den Schwur gethan, daß es rings in den Gewölben und an den Fässern widerhallte: um einen gewissen Preis wolle er das Geschäft zu Stande kommen lassen, einen Preis, bei dessen Anblick es ihm gewesen war, als wäre aus der Wand oder aus einem Fasse heraus auf ihn zugetreten geradezu der Bote der himmlischen Gerechtigkeit! Was Stephan da geschworen hatte, als er die Laterne in die Höhe gehoben und athemlos gesprochen: Mensch! wo hast du das her? ... als Seligmann mit der rechten Hand, während die linke das Bewußte schnell wieder verbarg, seine Vatermörder in die Höhe zupfte, weil sie in der feuchten Kellerluft ihre stärkehaltige Positur verloren ... was er geschworen, als er alles liegen ließ, wie es lag, über Dauben, Setzreifen, Bandhaken, Visirstäbe, Stellzirkel hinwegtrat, die linke Hand Seligmann's ergreifen wollte, dieser aber retirirte und ihn so mit sich zog, wie er ging und stand und wie an einem Köder in die Rumpelgasse zu Veilchen Igelsheimer ... was er wieder dort geschworen, als der lange, breitschultrige Mann, mit seinem gerötheten Antlitz, den wackelnden Ringen in den Ohren, das knatternde Schurzfell über den Lenden, vor dem zarten, kleinen alten Mädchen stand und an seinem Schutzpatron Sanct-Stephanus, dem Gesteinigten, festhalten mußte, um nicht im Glauben wankend zu werden vor Bewunderung einer Beredsamkeit, die ihm bewies, daß er den Fluch der ganzen Kirche auf sich laden würde, wenn er nicht dahin sich ergäbe, jenen Anblick nur vorläufig einmal gehabt zu haben, den Anblick jenes vom Jagdkleid des Kronsyndikus vom Deichgrafen im Ringen losgerissenen grünen Kragens – was er da geschworen: dem Löb Seligmann dafür zum Lohne »und bis auf weiteres« das von ihm vermittelte Geschäft des Verkaufs zu Stande kommen zu lassen, das hielt er denn nun auch.

Stephan Lengenich, im Geiste sich bis an die Spitze des Geierfelsen hinter ihm hinaufgipfelnd und das ganze Enneper Thal zum Schemel seiner Füße nehmend, kam näher ...

Seligmann rief ihn von der Terrasse grüßend an ... Lengenich zog den Hut – lässig wie ein Fürst.

Bernhard erklärte sich bereit zum sofortigen Abschluß und zur Ausstellung einer Anweisung auf sein Comptoir in der Stadt.

Fuld's kurze und geschäftliche Begrüßung des inzwischen auf die Veranda eingetretenen Handwerkers war diesem wenig genehm; denn wenn Leute aus dem Volke etwas ihnen Wichtiges unternehmen, so wollen sie es mit einem entsprechenden Umstand vollzogen sehen. Ehe aber Stephan nur erst die Anrede gemacht hatte: Lieber Herr! war Bernhard schon mitten in dem Gegenstand. Und ehe jener nur erst sein: Lieber Herr! wiederholt, dann von seiner Geburt her »in dem Hause da drüben hinter den Wallnußbäumen am dritten Fenster rechts Eintausendsiebenhundertunddreiundneunzig« begonnen hatte, da bezweifelte Bernhard schon wieder Stephan Lengenich's wirkliche Absicht, bei neunhundert Thalern stehen zu bleiben und nicht auf Billigeres zurückzugehen. Und wie der Küfer nun gar erst von dieser Seitenschwenkung, die er jedoch schon rascher parirte, im Context irre wurde und zu seiner Wanderschaft übersprang als Gesell und von den fünf Groschen sprach, die er manchmal nicht in der Tasche gehabt hätte, und dann der Weg bis zu dem Düsternbrook bei Schloß Neuhof noch in unendlichster Perspective lag, da waren alle drei schon aus der Veranda einige Stufen, über welche eben im seidenen, duftenden Kleide dahinrauschend ein allerliebstes kleines Frauchen mit einem großen weißen Spitzenteller auf dem rabenschwarzen Haare ihnen begegnete, in Bernhard's Arbeitszimmer angekommen und hatte dieser schon eine Feder in der Hand und setzte eine Verständigung auf, die Lengenich unterschreiben sollte ... Jetzt war zwar in der Pracht und Eleganz der Umgebung die Biographie des Küfers vollends verschüttet, doch hatte er für sein umständliches Gemüth nun einen Vorsprung gewonnen. Er sollte etwas unterschreiben! Da lag ein Bogen Papier, unter den er seinen Namen setzen sollte, während ein andrer darauf warten muß! Das ist ein großes Privilegium! Da kann ein jeder sicher sein, ob er nun Napoleon oder Alexander der Große heißt, daß er ruhig zuhören muß, wenn sein Wirth beim Schließen eines Miethcontractes die Pause benutzt und die gegenwärtige Höhe der Steuern auseinandersetzt! Lengenich las jede Zeile mit Aufmerksamkeit und ihm störte nicht das heitere Lachen der kleinen Frau und ihr Scherzen draußen mit Wenzel von Terschka, ihn störte nicht, daß Bernhard Fuld noch gar nicht einmal angekleidet war. Der Preis war noch offen gelassen, in Erwartung, Lengenich würde sich vor Seligmann in der unter ihnen abgemachten Summe verrathen.

Wirklich Siebenhundert? sagte Bernhard. Haben Sie sich nicht verschwören müssen, Herr Lengenich?

Siebenhundert?

Seligmann trommelte auf die Fensterscheiben. Die berühmte Auctionsarie aus der »Weißen Dame« bekam er in seine beleidigten Finger.

Inzwischen hörte man leichtes Fuhrwerk im Kieselsande anfahren – bald war es zwölf Uhr – vor Tisch war noch manche Anordnung zu treffen ...

Bernhard sagte:

Ich stelle also eine Anweisung auf – achthundert Thaler.

Seligmann trommelte und pfiff sogar leise die Verzweiflung des Schloßverwalters aus der »Weißen Dame« ...

Na, richtig, neunhundert! sagte endlich Fuld ärgerlich, nur um zum Ziele zu kommen und auch erschreckend über den immermehr zurückhufenden und sich purpurn überfärbenden Küfer ...

Als er geschrieben, mußte er dann auch zur Strafe noch aushalten, daß Stephan Lengenich ihm die Hand reichte, gleichsam eine ewige Freundschaft mit ihm schloß, sich freute, ihn persönlich kennen gelernt zu haben, seine kostbare Einrichtung bewunderte, einige Bilder betrachtete, nach dem Preise der Rahmen fragte, dreimal den Hut suchte, während er ihn doch schon in der Hand hatte, und nicht fortkonnte ...

Seligmann unterstützte ihn in diesem Laviren ... Denn Eines war höchst sonderbar. Der Vetter machte keine Miene, sich zu erinnern, daß er heute bei ihm speisen sollte ...

Schon rief Bernhard Fuld: Jean! und der Bediente kam und half ihm bei Abschluß der Toilette ...

Stephan Lengenich bewunderte noch immer einige Porträts und verglich bei einer der ringsum aufgehängten Damen die Augen mit denen Veilchen Igelsheimer's ...

Excuse! sagte Bernhard ärgerlich und zog ohne weiteres den Schlafrock aus ...

Aber kein Wort vom Diner?!

Nein, sehen Sie, Herr Seligmann, diese weißen Hände mit den Ringen! .. Dort!

Bitte recht sehr! bemerkte Bernhard immer verdrießlicher und doppelsinniger und ließ seine weiten rothen Beinkleider sinken, um ganz enge schwarze anzuziehen ...

Und nichts vom Diner!?

Stephan Lengenich besann sich jetzt, was der Anstand erforderte. Der Mann war er nicht, der nicht verstanden hätte, mit den Großen umzugehen, mit feinen, gebildeten Herren wie Schnuphase, mit Secretären des Kirchenfürsten und ähnlichen Lebensstellungen ... Jetzt empfahl er sich und verwechselte nur noch die Thüren ...

Da, da, lieber Mann! zeigte Fuld und er war dabei auf der Folter ...

Aber nichts vom Diner?! .. Löb Seligmann steht wie angewurzelt ...

Ja aber, was wollen Sie denn noch? fuhr Bernhard Fuld jetzt auf, zornig über den kleinen Mann mit dem schwarzen Wollenkopf und hatte nicht übel Lust hinzuzusetzen: Haben Sie denn Pech an den Stiefeln? ...

Dabei zog er schon den Frack mit dem rothen Band der Ehrenlegion an.

Das wurde denn nun doch dem Vetter zu viel!

Vor Stephan Lengenich, der schon draußen war, compromittirte er jetzt weder sich noch den Vetter. Mit einem Tone, der gleichfalls unerschrocken dem »Unter uns« entsprach, sagte er:

Herr Fuld! Ich wollte nur gefragt haben: Wann ist die Stunde, wo bei Ihnen gespeist wird?

Jetzt sah ihn Fuld groß an und besann sich ... Lange mußte er kopfschütteln und lachen. Endlich rief er gezogenen Tones:

Schlemihl! ... Es ist ja wahr! ... Wissen Sie was? Gehen Sie in die Küche, Seligmann! Fragen Sie Reginen, wie viel Minuten vor zwei Uhr die gespickte Rehkeule irgendwo zum Anschneiden ist, daß man's nicht sieht, wenn sie auf die Tafel kommt!

Löb Seligmann hob voll Trotz das Haupt aus den Schultern und warf es mit einer gewissen schiefen Senkung wieder in den Nacken. Die Art, wie er von dannen ging, sagte geradezu: Ich denke, Sie haben sich meiner nicht zu schämen, Herr Fuld; denn es steht geschrieben: Alle Jüden sind wir geborne Prinzen.

So schritt er fort; sein Gemüth löste sich aber in Elegie auf ... Er mußte gedenken: Gott, wenn du nun nach Kocher am Fall hättest schreiben müssen, du warst auf Fuld's Villa und sie hatten die Einladung vergessen! ... Dieser Gedanke goß über sein Antlitz die äußerste Wehmuth ... Lengenich, der ihn draußen erwartete, begriff nicht, warum so weich die Worte von seinen bleichen Lippen kamen:

Gehen Sie jetzt, Mann! Versöhnen Sie sich mit Ihrem Bruder, der Ihr ärgster Feind gewesen! Ich bleibe auf der Villa! Sie wissen! Ich speise bei – meinem Vetter!

Der Küfer war in verwandter Stimmung. Er wußte, daß im alten, Anno 30 renovirten Hause der Aeltern eben jetzt sein Bruder Melchior mit der Familie zu Tische geht ... Er wußte, daß es heute seit einem Jahrhundert dort Klöße, gekochte Birnen und Speck gab ... So nach der Rechtfertigung des Pfarrers mit Darreichung des Handschlags vom Bruder sogleich empfangen zu werden, verlangte er nicht. Dazu war der Berg zwischen ihnen zu hoch gewesen. Aber ein kurzes: »Stephan, du bist's?« ein aufrichtiges, ehrliches, deutsches: »Ja, Melchior, ich bin's!« ein Schweigen von Seiten Melchior's und ein Deuten blos auf den Mittagstisch und die Worte: »Willst mithalten?« ... mehr verlangte Stephan nicht ... mehr bedurft' es auch nicht zur Aussöhnung. Endlos ist das Volk in Verstandesdingen, in Herzensdingen kurz.

Seligmann aber, alle Sorgen, die sich noch an den Fund des Portefeuilles aus der Kutte des Mönches Sebastus knüpften (eines Portefeuilles, das einem Manne gehörte, an dem sich rächen zu wollen auch ihm sein erstes Gelüst gewesen) abschüttelnd auf die Weisheit, hochherzige Besonnenheit und Beredsamkeit Veilchen's stieg in das Souterrain der Villa, wo neben dem französischen Koch, Herrn Jülien aus Paris, Regine waltete, die der jungen Madame Fuld ihre Aeltern mitgegeben hatten, um dafür zu sorgen, daß sie den Zusammenhang mit den Vorschriften des Talmud nicht zu sehr dem vornehmen Weltleben ihres Gatten opferte. Waren keine Gäste da, so hatte Regine den Oberbefehl und duldete am Kalbsbraten keine Butter, am Rehbraten keinen Rahm, nimmermehr Aale, nimmermehr die Verwechselung der Geschirre je nach dem Inhalt, der drinnen gewesen – und wie die Vorschriften eines Glaubens lauten, der die Grundlage unsers eigenen ist.

Seligmann lächelte sanft, die Freude Reginens zu sehen, daß sie einen »Vetter« ihrer Herrschaft oben kennen lernte, wenn auch nur hier unten im Souterrain des Kellers ...

Der Rehbraten, sagte allerdings der Koch streng abweisend, sein erst dann zu dividir, wenn er zurückspazir' de la Table! ...

Aber Seligmann war es nicht um den Rehbraten, sondern nur um die Ehre zu thun. Er wartete den Gang der Ereignisse ab. Das freundliche Plauschen der alten Wienerin weckte ihm allmählich wieder die frohe Musik seiner Seele.

12.

Nun von Viertelstunde zu Viertelstunde ein neuer Gast ...

Zuerst der Bruder Moritz ...

Er war der Aeltere, trat aber gegen seinen repräsentativeren Bruder zurück. Fast vierzig Jahre alt, mochte er sich nicht mehr verheirathen. Er hatte eine pessimistische Auffassung des Lebens, während Bernhard, Geldsachen ausgenommen, mehr zum Optimismus neigte ...

Moritz brachte die ihm gestern Abend anonym zugeschickte Caricatur.

Glücklicherweise brachte er auch den Humor mit, daß er das Befremden und den entrüsteten Unwillen seines Bruders nicht vermehrte ...

Der stille und sanfte Alois Effingh hatte sie beide darstellen lassen, wie sie mit einem Heiligenschein von Dukaten um den Kopf standen, der eine in der Hand mit einem Modell einer neuen Kirche, der andere mit einer Kerze und mit dem Rauchfaß. Darunter stand die Unterschrift: »Alles fürs Geschäft!«

Für die Kirche, sagte Moritz, tröste uns die neue Eisenbahn in Belgien, deren Actien wir in Deutschland emittiren! Und für die Dukaten um den Kopf tröste uns unsere amsterdamer Berechnung vom letzten Ultimo! Louis Philipp läßt die Curse fallen, weil die Kammern zusammentreten. Um die Debatten über die Thronrede nicht zu grob werden zu lassen, kitzelt er ein bischen den französischen Nationalstolz durch den Schein, daß es Krieg gibt.

Bernhard versicherte sich, daß Moritz wenigstens die Caricatur vor seiner Frau geheim hielt ...

Gott, wie zärtlich! Warum soll sie unsere Lage nicht kennen lernen? erwiderte Moritz.

Dabei mußte er gewähren lassen, daß ihm Bernhard sein an Louis Philipp's »ehrliche Leute« und deren Politik erinnerndes rothes Bändchen etwas weiter aus dem Knopfloch zog ...

In der Stadt drüben, fuhr Moritz fort (er that dabei sogar dem Bruder den Gefallen, sich im Spiegel zu besehen), müssen wir uns isoliren und unsere Kraft nur in Paris, London und Amsterdam suchen! Dann der mittlere Bürgerstand und der kleine Mann gewonnen und wir lachen diese altfränkischen Buchhalter aus mit ihren großen dicken liniirten Strazzen, die von Jahr zu Jahr hinten mehr leere Seiten zeigen werden.

Beide waren einig darüber, daß der Spott nur von der tonangebenden mercantilen Jugend der wohledeln Stadt, von Piter und dessen Freunden kommen konnte.

Sie verließen das Haus und gingen den schattigen Partieen des schönen Gartens zu und sprachen von den Anträgen Wenzel's von Terschka ...

Es war von einer großen Lotterie die Rede, in der die Standesherrschaft Dorste-Camphausen allenfalls verspielt werden konnte ... Terschka hatte selbst aus seiner Heimat diese dort übliche Form für Geldspeculationen großer, selbst fürstlicher Häuser anempfohlen ...

Neue Anmeldungen hinderten die Fortsetzung dieses Gesprächs ...

Bernhard ging, eine kürzlich in Belgien bei Negociirung eines großen Eisenbahnanlehens der Städte Lüttich und Namur gemachte Bekanntschaft aus Spaa, den Baron von Binnenthal zu empfangen ...

Die Physiognomie des Barons misfiel Moritz. Gerade darin zeigte er seinen Pessimismus, daß er beständig des Bruders Sucht nach vornehmen Bekanntschaften bekämpfte, die allerdings nicht selten mit Geldverdrießlichkeiten endeten ...

Ich weiß nicht, mit was für Leuten du dich ziehst! flüsterte er dem Bruder zu.

Aergerlich wies dieser auf den aus der heißen Küche jetzt zurückgekommenen und in den entferntesten Hecken des Gartens fast auf den Zehen spazieren gehenden Seligmann und sagte:

Schnorrer willst du? Da hast du einen!

Sich wendend empfing er dann wieder eine neue Meldung ...

Herr von Binnenthal war inzwischen zu Madame Fuld getreten ...

Ein junger Dandy war es, der bei seinen vielen Reisen im Ausland seine deutsche Muttersprache verlernt zu haben schien und bei den einfachsten Begriffen stockte, um sie zuletzt englisch oder französisch vorzubringen.

Moritz flüsterte seiner Schwägerin (die in der Mitte des Gartens in der schattigen Rotunde eines mit vier Eingängen durchbrochenen Rebenspaliers, auch hier auf gußeisernen, mit Polstern belegten Stühlen, anmuthsvoll die Honneurs machte und durch die Strahlen eines von Blumen umzogenen Springquells aus der Ferne gesehen, in ihrem wassergrünen seidenen Kleide, fast einem Grandville'schen Naturgeist, einer personificirten Libelle ähnlich sah) nach einigen Beobachtungen des Herrn von Binnenthal brummend die Bemerkung zu:

Ich weiß nicht, dieser Baron hat immer das Deutsche an den Stellen vergessen, wo man eben erwartet von ihm einen Gedanken zu hören!

Frau Bernhard Fuld sprach jedoch holdseligst mit dem Baron, ohne sich im mindesten von der grämlichen Kritik des Schwagers stören zu lassen.

Wieder klingelte die große Pforte des Eingangs.

Wieder eine Anmeldung »aus der Pairskammer«, wie Moritz sagte, der im Geiste mehr in Paris, als in Drusenheim zu leben schien.

Diese neuen Ankömmlinge wurden vor Bewunderung der Villa gleich vorn gefesselt.

Terschka und Binnenthal unterhielten die Wirthin und Moritz horchte und studirte vor sich hin und auf dem Gartenboden, wie es schien, nur Botanik.

Herr von Binnenthal hatte allerdings alle Eigenthümlichkeiten der Weinreisenden. Er konnte mitten in eine Phrase über die von Terschka angeregte Schönheit der alten belgischen Bauten eine Zwischenrede mit der Wendung einwerfen: »Meine gnädigste Frau, dieses weniger!« Oder Frau Bettina, wie sie statt Betty dem seit einigen Jahren erschienenen Briefwechsel Goethe's mit dem Kinde zu Liebe genannt wurde, ungeduldig über die draußen gefesselten Gäste, wollte einen Schmetterling haschen. Es mislang ihr und Baron Binnenthal nannte diese kleine graziöse Unterbrechung, die der schönen Frau allerliebst stand: »Eine verfehlte Speculation!« Als er einige male, wetteifernd mit dem immer gefallsamen Terschka, der aus dem: »Küss' die Hand!« gegen Frau Bettina nicht herauskam, von »schiefgewickelten« Ideen sprach, erregten diese Ausdrücke wol bei beiden großes Gelächter, Moritz jedoch hatte auf der Lippe, seinen Bruder Bernhard zu fragen, ob dieser in dem Eifer nach Vornehmheit vergessen hätte, sich den Paß des Herrn von Binnenthal zeigen zu lassen.

Und dabei bekam Moritz wahrhaft Mitleid mit dem armen Seligmann, der sich hinter den äußersten Stachelbeerhecken versteckte und je mehr Menschen kamen, ganz gegen das Naturell seines Stammes, desto weiter sich zurückzog.

Immer größer und größer wuchs die Zahl der Connexionen. Nun sah man, daß man in Homburg und Baden-Baden die Liebenswürdigkeit selbst gewesen war. Jeder, der auf seiner Rückreise den schönen Strom berührte, war aufmerksam gemacht worden, die Villa im Enneper Thale zu besuchen ...

So auch ein Herr von Guthmann mit Gattin ...

So auch zwei englische Ladies, die mit Ponies an fuhren und mit Mappen kamen, um nach Tisch vielleicht noch die Gegend aufzunehmen ...

So auch ein großer »Exporteur in Landesproducten« aus Hamburg mit zwei Schwestern ...

Bernhard gerieth in eine gegen seine sonstige blasirte Haltung immer mehr zunehmende Aufregung. In dieser gab er sogar den Bedienten den Befehl, den so »lauernd schleichenden« Seligmann ganz aus dem Garten zu verweisen.

Moritz machte zu alledem den Beobachter und bemerkte bereits Manches.

Z.B. als das von Guthmann'sche Ehepaar in den Garten getreten war ...

Herr von Binnenthal entfaltete gerade ein Brillantfeuerwerk von »famosen« oder »schaurigen« Thatsachen aus dem Badeleben Ostendes und Scheveningens und hatte auf die Frage des Herrn von Terschka, ob Herr von Binnenthal auch ein Schwimmer wäre, wieder die geistreiche Antwort gegeben: »Dieses weniger!« – als seine Blicke des Herrn von Guthmann ansichtig wurden und vom Momente an verstummte Herr von Binnenthal. Moritz konnte diese auffallende Beobachtung um so mehr machen, als ihn Frau von Guthmann interessirte; eine seine graziöse Erscheinung war es, nicht mehr ganz jung, aber von gefälligem Eindruck und einem ohne Zweifel im Salon gebildeten Benehmen. Als sie selbst mit einem jener Misverständnisse, die in Gesellschaft mit neuen Bekanntschaften oft vorkommen, sich selbst in ein längeres Gespräch mit Herrn von Binnenthal eingelassen hatte und erst allmählich erkannte, daß sie sich an ihr ebenbürtigere Persönlichkeiten hätte wenden müssen, stand doch Herr von Guthmann lange genug allein, um über den Eindruck, den auch ihm Herr von Binnenthal zu machen schien, von Moritz beobachtet zu werden. Dies schien der Eindruck des höchsten Erstaunens zu sein. Offen sprach Herr von Guthmann zu Moritz seine feste Ueberzeugung aus, in jenem jungen Manne einen gewissen Oskar Binder wiederzuerkennen, der – Nun freilich nahm er Anstand, die Antecedentien eines Mannes offen anzugeben, der hier in solchem Kreise bei Rittern der Ehrenlegion verweilen konnte und von Pferden, Hunden und von Güterankäufen sprach. Daß auch ihm der Makel anklebte, auf eine nicht besonders motivirte Weise Bankrott gemacht zu haben und mit der geschiedenen Frau eines angesehenen Mannes, gegen deren Aufführung die sprechendsten Beweise an Ort und Stelle vorlagen, sich von Weib und Kind entfernt, dann diese Frau und mit ihr den selbstgegebenen Adel geheirathet zu haben, um ein speculatives Leben in den Bädern zu führen – das war allein der Anstand, der Herrn von Guthmann verhinderte, offener mit der Wiedererkennung seines frühern Commis hervorzutreten. Seine Frau führte mit diesem gerade eine liebenswürdige und höchst charmante Causerie, ganz noch als wenn sie in seinem Bazar stünde und unter Scherz und Bewunderung der vorgelegten Stoffe, sicher nur infolge angeborener Kleptomanie, ein Packet Spitzen escamotirte. Moritz bemerkte den Schrecken, der auf den Gesichtszügen des Herrn von Binnenthal immermehr platzzugreifen anfing ...

Diese so interessanten Bekanntschaften wuchsen immermehr ...

Bernhard's neue Existenz strahlte im Lichte der edelsten Gastlichkeit. Man hatte im ersten flüggen Drange des Bestrebens, ein Haus zu machen, jeder persönlichen Berührung, selbst einer Frage am Cursaal zu Baden-Baden, ob diese oder jene Pièce nicht von Beethoven wäre? und der Antwort der Nachbarin (zufällig Meta Carstens, die mit Bruder und Schwester ihre zweijährliche Ferienreise machte): »Jewoll! Ja wohl.) Die C-Moll-Symphonie!« – dann bei einer Kritik des Fünf-Uhr-Diners (hamburger beibehaltene alte Gewohnheit) und der Bewunderung der aufgetragen gewesenen Erbsen (die sie rühmende war Sophie Carstens) eine Ausdehnung zur Einladung, auf der Rückreise das Enneper Thal zu besuchen, gegeben. Frau Bettina liebte die Natur, die Musik, die schönen Künste und sogar die Freundschaften noch ebenso, wie Bernhard bereits nur noch die Livreen, die Pferde, die Hunde und die großen Namen liebte. Nach den Honigmonaten klärt sich das. Jetzt ist die Gärung noch etwas bunt. Zu dem Commis mit fünf Jahren Correction, zu dem bankrotten Rentier und seiner neuen Gattin, dem weiblichen Vidocq, zu den Ladies, die die Töchter eines Porterbierbrauers in London waren, kam Nikolaus Carstens, seinerseits höchst unschuldigerweise hier ein großer Exporteur genannt, theilweise jedoch mit größerm Rechte als Münzenkenner und halber Gelehrter gefeiert. Er bedurfte der ganzen Würde, die ihm seine weiße, große, in der Hitze nicht eben kühlende Halsbinde gab, um die Aeußerungen seiner Schwestern über eine gewisse von ihnen bewohnte Villa vor dem Dammthorwalle mit Besonnenheit zu unterstützen.

Wir bedauern nicht verweilen zu dürfen bei der Anmuth der Wirthin, die ganz wie ein verkörperter Tropfen vom heutigen Frühthau noch nachblinkte. Sie einen Diamanten zu nennen, deren sie einige Dutzende auf Brust und Händen trug, wäre zu kalt von uns. Sie ist das Leben selbst, der Frühling, der lachende, die Sonne, die glühende. Wie ist das im Glück geboren und erzogen! Sie hat soeben bei dem Wandeln hinaus auf den nun heute zu ihrer kindlichsten Freude erworbenen halbwüsten Acker und Weinberg, dessen Höhe jedoch das schönste Panorama bot, eines der kostbaren Bänder, die sie auf dem schönsten Arme von der Welt trug, verloren – Moritz tadelte gleich, daß sie deren zu viel trug und nannte es ein gefährliches Unterbinden der Pulsadern – beim Zeigen und Bewundernlassen dieser Armringe war einer von ihnen verloren gegangen ... eben kam der Verlust zur Sprache ... eben bei der Debatte über das Verhältniß irgendeines neuen wiener Componisten zu Beethoven, einer Zusammenstellung, über deren Ketzerei Meta Carstens vor Aufregung fast plattdeutsch sprach und dabei Brillanten und Rheinkiesel in geistvolle Vergleichung brachte ... Nun allgemeine Bewegung; aber die junge Frau sagt: Bitte! bitte! Lassen Sie doch nur! ... Die Bediente springen ... Terschka ist schon überall ... Bernhard bittet um alles in der Welt, den Fall leicht zu nehmen ... Bettina nimmt den Fall wirklich schon leicht ... Man kehrt unverrichteter Sache zurück, das Armband ist nicht zu finden ... Und jetzt kommt es erst heraus, daß es das schönste war, dasselbe, das Frau von Guthmann so lange bewundert hatte ... Moritz fixirt Herrn von Binnenthal ... aber ein Graf Dammhirsch – wirklich das einer von sechzehn Ahnen, aber blos Traineur und Besitzer von zwei alten magern, schnellfüßigen, ihn ernährenden Stuten – verbürgt die Ehrlichkeit der Gegend ... Doch die Masse der Spazierfahrer und Ueberlandgänger! ... Enfin tranchons le mot! ruft Bernhard. Tranchons le rostbeaf! sagt Moritz, mit Anspielung darauf, daß man auch allenfalls Hunger haben könnte ... Das Ding kostete mindestens sechzig Friedrichsdor! flüsterte er; aber Bettina sprach schon wieder von Musik und vertheidigte den neuen Componisten und bewunderte Thalberg's Tremolo.

Die Stimmung war allerdings ein wenig gedrückter geworden und nur die Naivetät der Engländerinnen belebte sie wieder durch ihr Entzücken über die Gegend.

Bernhard sah sich nun nach Seligmann um, den er aus dem Garten verwiesen hatte, ja sogar von der Eingangspforte der Villa weg, wo der gute Vetter sich nützlich zu machen den Einfall bekam und den Schlag der Wägen öffnete, wenn die Bediente nicht sogleich zugegen waren. Jetzt hätte der nach dem Armband suchen können. Er bereute fast, vor einer Viertelstunde zu ihm gesagt zu haben: Seligmann! Ich werde Ihnen doch einen Hut mit Tressen geben, ein Bandelier und einen Stock, wenn Sie durchaus hier den Portier machen wollen!

Man konnte nicht leugnen, Seligmann trug die Farbe seines Stammes in seltener Treue. Dazu kam seine unendliche Glückseligkeit, die unverkennbare, fast verwandtschaftliche Freude, andere im Augenblicke gleichfalls so glückliche Menschen hier begrüßen und aus dem Wagen helfen zu können mit seinen allerdings schon etwas von der Hitze stark mitgenommenen gelbseidenen Handschuhen.

Indessen hatte er sein Vergehen vollständig eingesehen und da die gute Regine mit der Unterstützung des Koches noch ausschließlich zu thun hatte und ihm selbst der Duft von Speisen, die ihm noch so lange vorenthalten bleiben sollten, doch ein zu lebhaftes Andringen zu seinen Geruchsorganen verursachte, so zog er es vor, einstweilen noch und da leichte Wolken die heiße Sonne zu bedecken anfingen, die Villa zu verlassen und noch ein wenig auf Drusenheim zuzuspazieren, zu sehen vielleicht, ob Stephan Lengenich bei seinem Bruder Speck, Klöße und Birnen aß.

Eben das eiserne Thorgatter der Besitzung auf das sanfteste zurücklehnend hörte er Säbelklappern und traute seinen Augen nicht, den Major Schulzendorf mit seinem Wachtmeister Grützmacher aus Kocher am Fall dahertraben zu sehen ... Ja, sie waren es! ... Wie die Rosse dampften! ... Wie die Schnurrbärte der Reiter vom Kalkstaub der Landstraße so marsch- und manövermäßig gefärbt waren! .. Der Gruß der Nachbarn aus Kocher am Fall that ihm so wohl, wie wenn sie ihm Grüße von der Hasen-Jette und vom David mitbrächten.

Ei, Seligmann! Schlag, wie kommen denn Sie hierher? rief ebenso erheitert Major Schulzendorf und ritt etwas langsamer.

Ja, aber Sie, Herr Major? Von drüben? Zwölf Stunden weit?

Dienstgeschäfte! ...

Bedeutungsvolle Pause ...

Grützmacher spricht natürlich kein Wort, wenn der Chef redet ...

Dieser wollte weiter ...

Apropos! hielt er plötzlich sein Roß an. Seligmann! Wissen Sie hier keine Pferde?

Herr Major, wollen Sie wechseln?

Wechseln! Kaufen! Kaufen!

Seligmann besann sich ... Vielleicht war ein Geschäft zu machen.

Der Major drängte ...

Sie haben was, Seligmann! Kommen Sie uns doch nach! In den Palmbaum, heißt ja wol das Wirthshaus?

Zu Befehl, Herr Major, zu Befehl!

Wie wir wissen, war der Major ein berühmter Pferdehändler. Seligmann durfte annehmen, daß diese Aufforderung vollkommen ernst gemeint war.

Grützmacher, der erst dicht neben seinem Chef ritt, sich jetzt aber drei Schritte zurückhielt, bestätigte mit einer eigenthümlichen Ironie in dem sonnenverbrannten, wie mit Speck und Staub überstrichenen Antlitz die Gelegenheit zu einem Geschäft. Und sein Brauner sogar schien den Seligmann zu erkennen. Er machte einen so gewaltigen Satz, daß ihm Grützmacher's Säbel fast an seine Vatermörder streifte.

Na, na, Landsmann! sagte Grützmacher zum Gaul und beruhigte ihn.

Die eigenthümliche Ironie des seinem Chef Nachsprengenden verstand der Nachbar des Wachtmeisters zu Kocher am Fall auf den ersten Blick. Seligmann sagte sich: Gewiß ist blos ein Pferd dienstuntüchtig geworden! Nun wird er eine Reise von zwölf Stunden und sogar über den Strom hinweg unterwärts mit der diessenbacher Fähre machen! Nebenbei werden ein paar Wagenpferde für Herrn von Ingelheim, ein paar Ackerpferde für den Grafen Grafenberg, ein Reitpferd für dessen Herrn Sohn beschafft. Oder wär's noch etwas Anderes? setzte er in sinnendem Selbstgespräch, aber nachfolgend hinzu ... Seligmann verstand sich auf die Zeit ... Ihm selbst lag der Streit der Guelfen und Ghibellinen seit gestern centnerschwer auf dem Herzen, so leicht auch nur ein einziger grüner Streifen Tuches von einem Jagdrock wiegt.

Im Palmbaum fand er dann den Major, der bereits, wie er erzählte, heute sieben bis acht Pferde behandelt und theilweise schon erstanden hatte. So aufmerksam Schulzendorf dann zuhörte und sich Namen und Ortschaften notirte, wo Seligmann noch einige junge, tüchtige Pferde wußte, auch eines ganz in der Nähe auf einige hundert Schritt, so fand er den Major doch nicht in der Stimmung, den Duft des Stalles sogleich wieder einzuathmen, sondern erst vor allen Dingen den eines tüchtigen Mahles.

Im Palmbaum gab es eine leidliche Table-d'hôte. Das Gewühl von Menschen, die sich noch an der mit jedem neuen Gast mehr verdünnten Suppe und an ausgekochtem Rindfleisch mit Salzgurken satt aßen, war heute so groß, daß Seligmann plötzlich auf einen ihn selbst überraschenden Gedanken kam. Wie – dachte er; wenn – überlegte er; prächtig! – beschloß er. Der Major war an der Villa vorübergeritten und hatte bei seinem außerordentlich seinen norddeutschen Spürsinn (die Guelfen räumen den Ghibellinen vorzugsweise eine größere Feinheit der Geruchsnerven ein) Seligmann beneidet, als dieser sich rühmte, dort zu diniren. Selbst wenn es nur Kugel-Schalet gab, wußten ja Grützmacher und er, daß der Major solchem Geruch manchmal selbst bei Jette Lippschütz nicht widerstehen konnte. Selbst unter deren Dach sah man ihn oft eintreten am Freitag Abend mit der feinsten Nase, die nur je jenseits der Elbe zum spürenden Organ alles Guten und Schönen sich ausgebildet ... Ueberhaupt sechsunddreißig Landdragoner standen unter dem Trefflichsten. Jeder von ihnen wußte, daß ein so tüchtiger Chef nur zum Wohle des Vaterlandes geboren werden konnte, und eine dies bezeugende Kleinigkeit, nämlich zu seinem Geburtstage – bezeugte auch an ihnen wieder, so arm sie waren, ein gutes Herz. Schulzendorf nahm jeden Hasen, auch wenn er geschenkt war. Und nun gar erst der Pferdehandel! Sechzig Thaler kostete nun so eine tüchtige Mähre von einem Bauer z.B. hier im Enneper Thale; dann hat man einen guten Freund, Grützmachern z.B., die gute treue brave jüterbogker Seele macht so ein Thier »rittig«, setzt Leib und Leben, Frau und Kinder daran, das wilde Jungblut zuzureiten, und nach sechs Wochen nimmt es dann der beste aller Könige für achtundachtzig Thaler. Bei sechsunddreißig Pferden, die wie alle Pferde nur zu oft nicht einschlagen, kommt der Fall der Erneuerung und ein Gewinn von achtundzwanzig Thalern per Stück sehr häufig vor. Wollte man aber darum den Major anklagen, daß er im Dienste lässig gewesen? Nimmermehr! Er strafte wie einer! Er machte Abzüge wie einer! Er lächelte stets so scharf, so sarkastisch, so liebevoll mephistophelisch, aber zuweilen konnte sein Inneres auflodern, wie wenn seine Väter nicht geborene niederlausitzer Tuchmacher, sondern (nach Shakspeare) »von Deukalion her erbliche Fürstendiener« gewesen wären. Er vergaß keine Titulatur nach oben, aber wehe dem, der eine von unten vergaß! Um zu zeigen, wie ein Chef Untergebene behandeln müsse, duldete er nimmermehr, daß Grützmacher von den Schreiben, die aus dem Landdragoneramte an untergeordnetes Volk gingen, den Streusand wegblies. Kreuzhimmeltausendsakkerment! fluchte er trotz Niemeyer und Knapp, bei denen er noch in Halle Theologie studirt hatte, wenn Grützmacher von einem Bescheid an einen Dorfrichter oder an eine kleine Stadtgemeinde den Streusand wegblasen wollte! ... Diese Bagage muß wissen, mit wem sie zu thun hat! ... Aber nach oben hin war dann Schulzendorf auch um so mehr die schuldigste Devotion selbst ... In dieser Weise zeigte sich jene Gesinnung, die niemand schärfer durchschaute als Procurator Nück, wenn er nachdenklich seinen Frack mit dem goldenen Sporn betrachtete, oder Michahelles, wenn er zum Kirchenfürsten sagte: »Eminenz! Erst nur gewisse Fürsten gewinnen und in dreißig Jahren wird dann aus dem Schoose des Protestantismus selbst heraus eine Bewegung entstehen, der man getrost es commandiren kann, Rom auf halbem Wege entgegenzugehen!«

Auch Seligmann wollte einen starken, kräftigen Staat, hielt es aber für politische Weisheit, wenn an Ort und Stelle in manchen Dingen nachgegeben und sich accommodirt wurde und vor seinen beiden Vettern glaubte er keine größere Genugthuung zu haben, als wenn er ihnen den Major zu Tische führte.

Mit Hochherzigkeit reinigte er den auf diese Eröffnung hin erst laut auflachenden, dann aber gar nicht abgeneigten Gönner vom Staub der Landstraße. Seit gestern Mittag unterwegs hatten Uniform und Knöpfe, Degenkoppel, Stiefel und Sporen gelitten. Mit Grützmacher's Hülfe wurde das Werk der Adonisirung glücklich vollendet und lachend sich zurückversetzend in die Zeiten der Campagne und den viel minder rücksichtsvollen Besuch manches flandrischen Meierhofs und manches burgundischen Edelsitzes, billigte er nach Seligmann's Rath als passendste Anknüpfung den Pferdehandel und die Besichtigung einiger stattlichen Mecklenburger, die im Stalle des Besitzers von Drusenheim neu angekauft standen ... Man verließ den Palmbaum, wo Grützmacher mit einem seiner loyalsten, aber vielsagendsten Blicke zurückblieb.

Gerade war die Gesellschaft der Villa auf einer erneuten und auf Veranlassung der »in solchen Dingen pedantischen« Damen Carstens das Armband suchen den Promenade begriffen. Nachdem schon lange vor aufsteigenden Nebeln die Sonne verschwunden war, begann es etwas zu tröpfeln. Wie die Gesellschaft, von dieser unerwarteten Wendung der Sonntagslust überrascht und auf eiligem Rückweg begriffen, mit gespannten Sonnenschirmen da und dort aus dem Grün auftauchte, ging Schulzendorf, sich einen jugendlichen Schneller gebend, dem Wirthe entgegen und über die Mecklenburger hinweg erfüllte sich alles aufs trefflichste. Es war in der Ordnung, daß man dem Major die herrlichen Thiere, die Stallungen, die kostbaren Futterbehälter, die Porzellankrippen zeigte ... es war in der Ordnung, daß man ihn dringend bat zu bleiben. Seligmann, entzückt über ein sogar ganz freundliches Zunicken seines Vetters Bernhard Fuld, stieg triumphirend in die Küche.

Jetzt waren alle Gäste mehr als vollzählig beisammen und nur einer fehlte noch ... Schleudere deinen Bannstrahl, Paul genannt der Vierte! Kanonische Regel, verhänge deine entschiedensten Strafen! Ein Priester im Hause, ja sogar am gedeckten Tische eines Juden! ... Dennoch öffnete sich die Thür und der Pfarrer trat ein, in gewählter Sonntagskleidung, in schwarzer Weste, schwarzen Handschuhen ... der praktische Mann war bei seinem Patronatsherrn – die Auslegung des Bullariums hat ihre eigenthümlichen Geheimnisse.

Wir schildern nicht den geschmackvollen Eßsaal mit bunten Fenstern, die die Gesichter grün, die Suppe roth, die Löffel blau erscheinen ließen. Wir schildern nicht den runden Tisch mit seinen Herrlichkeiten. Wir schildern nicht die galonirten Diener, die mit gründlich einstudirter Ruhe serviren. Wir schildern nicht diese scheinbar granitne Sicherheit, die Bernhard über die Folge der Gänge, das Abnehmen der Teller und Präsentiren der Weine zur Schau trägt, während sein scharfes Auge stechend auf eine etwas laut niedergesetzte Schüssel oder eine zur Erde fallende Gabel gleitet. Als es Gemüse gab, riefen die beiden Hamburgerinnen einstimmig ihrem Bruder zu: Nikolaus! Junge Erbsen! Das Gespräch wurde Schmetterlingsflattern, obgleich Engländerinnen immer gründlich sind. Am Lurleyfelsen werden sie sicher die Fußtapfen der Lurley gesucht und am Mäusethurm die Löcher der Mäuse gezählt haben, die jenem Hatto von Mainz einst das Leben nahmen. Was aber auch nur angeregt wurde, alles zündete vorzugsweise bei Meta und Sophia, die, wenn sie auch stets mit den verklärtesten und schönsten Stellen und Excerpten ihrer Tagebücher beschäftigt waren, doch von jeder Speise zweimal nahmen. Wie plastisch und sozusagen objectiv wurde von ihnen eine jede Lebensäußerung behandelt! Selbst wenn sie nur ein wenig Salz verlangten oder sich vom Nachbar ein Glas Wasser erbaten, geschah es im Vollgenusse dieser höchst merkwürdigen, aber behaglichen Situation.

Der Pfarrer ist einer jener Urmenschen, die an jeder Stelle das thun, was die Lage der Dinge gerade mit sich bringt. Ebenso gut wird er einen wohlbereiteten Salmen zu würdigen wissen, wie eine eingestandene Sünde. Das ist die beste Menschenart, die bei jedem Ding sich auf dem Platze weiß ... Schweigsam waren nur geworden Moritz der Pessimist, Binnenthal, Herr von Guthmann, selbst Frau von Guthmann ... das Armband wirkte doch drückend ... Dagegen war Terschka ein Matador. Hufbeschlag mit Schulzendorf, Stangen- oder Kandarenreiten mit dem Grafen Dammhirsch, Percussionsflinten mit einem Jagdjunker, Zukunft der österreichischen Finanzen mit einem Herrn Bendixen aus Frankfurt, Drainage und alte Münzen mit Herrn Carstens, Rouge et Noir mit Herrn von Guthmann, Caramboliren beim Billard mit Binnenthal, Musik mit Miß Arabella, Malerei mit Miß Julietta, das von Liebig eben entdeckte Conserviren junger Gemüse in Blechbüchsen mit den Damen Carstens – allem und jedem steht dieser Wunderbare zur Rede ... Und nur mit der Frau vom Hause spricht er von Wien und lacht mit ihr vertraulich über die ganze übrige Welt. Die Wiener und Wienerinnen haben das. In der Fremde gehören sie alle einer geheimen Conspiration an, deren Devise die Unübertrefflichkeit ihrer Heimat ist.

Beim Gespräch über Lindenwerth, die Pensionärinnen, Armgart, mußte man denn auch auf Armgart's Mutter kommen, Monika von Hülleshoven.

Sie kennen sie? fragte der Geistliche Terschka.

Auch Schulzendorf horchte auf. Einen Namen hörte er, den er von Kocher am Fall kannte.

Sie hat eine Tochter hier in der Erziehungsanstalt auf der Insel! fuhr Terschka fort. Ich hoffe sie heute noch zum Kaffee auf der Terrasse kennen zu lernen! Gnädige Frau hatte die vortreffliche Idee, die Terrasse heute zum Salon der kleinen Zöglinge zu machen!

Engeltraut schwieg zu der freudigen allgemeinen Acclamation. Zu vieles wußte er, was mit dieser Bemerkung schmerzlich zusammenhing. Erstens, welche Bedenken diese Einladung drüben bei den Englischen Fräulein überhaupt hervorgerufen hatte. Doch hatte er der Schwester Aloysia gesagt: Unser Herr spricht: »Reinige zum ersten das Innenwendige am Becher!« woran er die Betrachtung knüpfte, daß man von dem Auswendigen nicht zu viel Wesens zu machen brauchte ... Dann hatte er vor wenig mehr als einer Stunde erst mit Angelika und Schwester Aloysia die Briefe aus Wien und Kocher lesen können (denn zwei Taufen und ein Krankenbesuch hatten ihn sogleich nach der Application in Anspruch genommen); den Rath hatte er gegeben, »abzuwarten« – ein für Arm gart nicht minder als das Wort »Geduld« höchst antipathischer Begriff ... Den Major fragte er nach dem Obersten, Armgart's Vater.

Jedes allgemeine Gespräch pflegt sonst von dem Uebergang zu Persönlichkeiten gestört zu werden. Hier aber ereignete sich der Fall, daß die Mittheilungen, die der Major von dem Obersten von Hülleshoven machte, manchen interessirten. Ja als er auf Kocher am Fall überhaupt zu sprechen kam und das neueste nachbarliche Erlebniß erwähnte, das Erbrechen eines Grabes drüben, als er den Antheil schilderte, den daran eine gewisse Lucinde Schwarz hätte, die den noch immer nicht aufgefundenen Thäter auf die Idee gebracht, in einem Sarge Schätze zu suchen, da wurde plötzlich alles rege und ging wild durcheinander. Selbst der immer stummer gewordene Herr von Binnenthal fuhr auf und die gerade von möglichen Gewittern und der richtigen Abgangszeit der Dampfschiffe sprechende Frau von Guthmann und beide ganz in Beethoven, Mozart und jetzt wieder die köstlichen Früchte des Desserts und die Vergleichung der geographischen Breitengrade des Enneper Thals mit den »Vierlanden« bei Hamburg verlorenen Damen Carstens riefen wie elektrisch berührt:

Lucinde Schwarz?!

Eine ultramontane Emissärin, die in den gegenwärtig schwebenden Zeitläufen – begann der Major ...

Der Major würde mit diesem für die Nähe eines Pfarrers ziemlich scharfen Worte und den naturgemäß zu erwartenden Repliken, dann wieder bei den darauf folgenden nähern Erläuterungen leicht bei dem vortrefflichen Dessertwein sich eine leise Anspielung erlaubt haben können auf den nicht ostensibeln Grund seiner heutigen Anwesenheit in dieser Gegend, wenn nicht in diesem Augenblick der allgemeinsten Spannung und durcheinander fahrenden Fragen: Lucinde? – katholisch? – wo? – wann? – ein Blitzstrahl das seither immer dunkler gewordene Zimmer erleuchtet hätte. Der erschreckenden Helle folgte in so raschem Aufeinander ein erschütternder Donner, daß alles aufsprang, weil man voraussetzte, es müßte irgendwo in der Nähe eingeschlagen haben.

Das Diner war damit zu Ende.

Rasch lehnte man die bunten Fenster zurück und sah entsetzt ins Freie. Zum Glück wurde nirgends ein Feuer oder Rauch ersichtlich, aber der ganze Himmel war eine einzige große graue Wolke; ein Gewitter tobte und der Regen floß. Die Damen Carstens vergaßen alle Gemüse- und Obstzucht in der Welt, alle Confessionsunterschiede und bedachten nur ihre Schuhe von Zeug und die mangelnden Regenschirme und die Weiterfahrt auf dem Dampfschiff. Ueberall fanden sie gefährlichen Zugwind, riethen zum Schließen von hundert Fenstern, die sie in der Nähe und dann auch sogleich weit offen stehend witterten. Auch Frau von Guthmann verlor ihre erkünstelte Heiterkeit und flüsterte mit ihrem Gatten. Herr von Binnenthal hatte noch mit dem Dampfboot in die Residenz des Kirchenfürsten zurück wollen! Bereits zum öftern war von ihm die Nothwendigkeit einer Eisenbahn nach Belgien behauptet worden ...

Wirklich war es nun ein Gewitter, als hätte sich wochenlang darauf die Natur vorbereitet. Während man gemüthlich aß und plauderte, hatten Stürme die Wolken immer dichter heraufgejagt. Sie entluden sich in Blitzen, die dicht in der Nähe schon in den dunkelwallenden Strom schlugen. Das hatte sich erst von Westen her in einzelnen Vorboten angekündigt. Dann kam ein dunkelblauer Streifen, der sich ausdehnte wie mit Drachenflügeln, Staubwirbel aufriß, die wie in Trichterwindungen sich drehten, die Thüren zuschlugen, Fenster zerklirrten ... Jetzt brach ein Regen mit Schloßen aus und mit Blitz und mit Donnergekrach ...

Nun das ganze von Besuchern überdeckte Thal! ... Ueberall in Berg und Flur weißschimmernd die hochaufgenommenen Kleider! ... Stimmen dazwischen! ... Hülferufe nach einem Kinde, das fehlte und nicht geborgen! ... Die Sonntagsfreude allen dahin! ... Wo sollten die Lustgänger sich bergen! ... Wo sollte sich alles ducken und verstecken! ... Arme Jugend auch von drüben, von Lindenwerth, dein Besuch der Villa wird zu Wasser!

Oder – ist es denn möglich? Nein! Neuer Schrecken! In diesem Tumult der Elemente kommen ja eben wirklich vom Ufer, dort unten ausgestiegen, die neunundzwanzig jungen Mädchen wie eine versprengte Wallfahrt daher! Wie ebenso viele Tauben zeichnen sie sich am grauen Horizonte ab! ... Man sieht sie im aufgeweichten Boden versinken, kämpfen gegen die Fluten vom Himmel mit ein paar alten Regenschirmen! ... Sieben auf einen, den dann alle sieben auch halten müssen, wie wenn sie mit Sturmböcken gegen die empörte Natur anliefen!

Schirme! Tücher! Galoschen! Jean! Franz! Den Damen entgegen!

So rief Bernhard und niemand war schon eifriger als Terschka, der auf Armgart »zu brennen« erklärt hatte und schon mit Hülfe eines andern eine ganze Garderobe auf dem Arme hatte und hinauseilte ... Dieser andere hinter ihm her, einen Regenschirm über ihn haltend, zwei unterm Arm ... Moritz und Bernhard blicken befriedigt Terschka und dem andern nach ... Wer war der andere, dieser Helfer in der Noth? Waren also doch noch gewisse gelbe Seidenhandschuhe zu Ehren gekommen?

Moritz besonders stand voll Bewunderung.

Wie ein Garçon auf Rheumatismus zu sprechen ist, wußte er.

Und nun bugsirte der kleine schwarze Vetter eines der Mädchen nach dem andern über die in Rinnbäche verwandelten Wege, hatte Nankingbeinkleider wie Schwimmhosen an und machte sich nützlich in einer Weise, die ihm jetzt fast die öffentliche Anerkennung eines gewissen, wenn auch entfernten verwandtschaftlichen Grades eintrug.

Niemand aber war bei alledem, sollte man es glauben, charmanter als Bettina, die junge Wirthin ... In den ersten Honigmonden der Ehe hat man so viel Glück, so viel Wonne im Herzen, daß man tausenderlei Plage damit aufwiegen kann.

Als Moritz leise zu Bernhard flüsterte: Aber mit dem Armband ist es doch fatal! Willst du denn nicht die anwesende Gensdarmerie –? brach dieser zornig aus:

Nein, wie weh thut mir's vor dem Ober-Chochem! Ein Haus zu machen muß gelernt werden! Für Bettina ist das Ganze nur eine von mir arrangirt gewesene Uebung!

Der »Ober-Chochem« Ober-Philosoph trat, sich ergebend, zurück ...

Und sollte nun die Sonntagspartie Thiebold's und der Freunde Piter's zu Stande gekommen sein und sie wären in diesem Augenblick an der Villa vorübergeritten oder gefahren oder jetzt nach Umständen geschwommen, so würden die Brüder die Genugthuung gehabt haben, ihnen ein Schauspiel zu bieten, das nur die Verleumdung hätte unterschreiben können: »Alles fürs Geschäft!« Denn Bernhard führte ehrerbietigst die beiden in Regen und Sonnenschein immer gleich feierlichen Englischen Fräulein dem Pfarrer entgegen, der sich nicht nur für Wenzel von Terschka, sondern für sein eigenes theilnehmendes Herz bemühte, aus dem lachenden jungen Schwarm vor allem Armgart von Hülleshoven herauszuerkennen.

So begann der Kaffee auf dem Zimmer statt auf der Terrasse.

13.

Konnte nun aber wol auch Armgart zu den Ungeduldigen gehört haben, die dem heraufziehenden Unwetter bald den schönsten Uebergang wieder zum blauen Himmel und Sonnenschein verhießen und sich von der Einladung in die drusenheimer Villa um alles in der Welt nicht abbringen lassen wollten?

Wird denn auch sie mit ihrem halb über den Hut gezogenen Oberkleide durch die Feldwege, die in Gießbäche sich verwandelt hatten, so »hingetrottelt« sein, sieben unter einen alten Regenschirm gedrückt?

Wird denn auch sie von den zu Hülfe Eilenden so beschützt werden, daß sie nur noch nöthig hat, das Anerbieten der jungen Frau Wirthin anzunehmen, daß sämmtliche junge Mädchen mit ihren vier Erzieherinnen erst in ihrem Zimmer Toilette machen möchten?

Sieht sie die beiden Englischen Fräulein (nicht die Misses Coffingham, sondern die ihrigen) voll Bewunderung lieber sich bis auf den Tod erkälten, als daß sie ein einziges ihrer nassen Ordenskleider wechseln?

Lernt sie von Frau Bettina, wie eine junge Frau, die eigentlich das Herz voll Aerger haben sollte, davon nicht das Mindeste verräth, sondern sich in diesen Lärm eines massenhaften Besuchs wie in etwas ganz Gewöhnliches findet, dazu die freundlichste Miene behält und statt eines Gartenfestes jetzt oben den Salon und den Flügel und als der Regen nachläßt, die Fenster wieder öffnen und dann die Jugend sich zu Kaffee und allerlei köstlichem Backwerk ergehen läßt, wie es ihr eben beliebt?

Hört Armgart dem Herrn von Terschka zu, der vor allen sie auszuzeichnen sich vornahm, ihr erzählen wollte von ihrer Mutter, die in der That vielleicht schon diesen Abend, jedenfalls morgen am Hüneneck eintreffen konnte?

Lachte sie wie die andern Mädchen über einige der Herren, die sich ins Rauchzimmer zurückgezogen hatten und die unerbittlichste aller Kritiken, die des Muthwillens, herausforderten ... womit stößt man nicht alles bei jungen Mädchen an!

Spielte sie Charaden, Moquirstuhl und Schenken und Unterschrift, wobei endlich der die »Herren« meidende Herr von Binnenthal aufhörte vom Wetter zu reden, die in Nebel gehüllten Dampfschiffe zu verfolgen und sogar für einige seiner Devisen, z.B. »Bange machen gilt nicht!« ein dankbares Publikum findet?

Gibt sie der Frau von Guthmann Auskunft über ihren Stammbaum und veranlaßt diese Dame, auch von dem ihrigen zu reden?

Schließt sie sich zuhörend den vier protestantischen Jungfrauen an, die, während die Musiklehrerin Tänze spielt, einen fanatischen Confessionsmeinungsstreit mit den beiden dem Pfarrer attachirten Englischen Fräulein und Angelika beginnen?

Bewundert sie den Heroismus der wirklichen Engländerinnen, die den beiden Nonnen, die nun einmal das sind, was sie sind, das Papstthum als eine Schöpfung des Antichrists schildern und ihnen das Recht abstreiten, sich nach dem freien Albion zu nennen, wodurch sie dann allerdings Gelegenheit gehabt hätte, ihre Ansichten über die Ausbreitung des Katholicismus in England zu berichtigen?

Und hört sie, wie die sanfte Angelika, als die beiden Fräulein Carstens nach langer Conversation des Erstaunens über Lucinden erklären, sie müßten an sich eine weibliche Erziehungsanstalt, wie die drüben, die nur Frauen leiteten, eine musterhafte nennen, denn nur sie lehre es, »die Männer zu verachten«, worauf es in einer heirathsschwierigen Zeit vorzugsweise ankäme, im Gegentheil diese Auffassung in Abrede stellt und erklärt, sie ihrerseits müsse gestehen, sie lehre ihre Mathematik, ihre Geschichte, ihre Naturwissenschaften nur, um desto mehr die Männer hochachten und lieben zu lernen, da eben die Männer es gewesen wären, die die Mathematik, die Naturwissenschaften und die Geschichte erfunden hätten?

Lauscht sie den jener unheimlichen Lucinde gewidmeten Erzählungen Schulzendorf's, der nach zwei genommenen Tassen Kaffee und einem kleinen Curaçâo sich bald empfehlen zu müssen erklärte und auch von Grützmachern und seinem Pferde abgeholt und von dem schärfer blickenden Auge desselben veranlaßt wurde, gewisse auf dem Balcon sichtbare Persönlichkeiten mit gewissen Notizen in ihren Portefeuilles zu vergleichen?

Oder steht Armgart auch nur zur Seite und glossirt mit Moritz diese »stillen Sonntagsfreuden ländlicher Zurückgezogenheit« und hört die Geschichte, die Herr von Guthmann bei Gelegenheit Lucindens, der spätern Schauspielerin Konstanze Huber, von einem jungen Commis erzählt, mit dem Herr von Binnenthal eine ganz merkwürdige Aehnlichkeit hätte?

Von alledem nichts –

Denkt euch einen von Regen träufenden breitastigen Ulmenbaum! Denkt euch an ihm einen gewaltigen Ast und auf dem Ast einen schmächtigern Zweig und in dem Zweige ein grünes Winkelchen und in dem Winkel ein Vögelchen, das in Sturm und Unwetter, in Regen, Blitz und Donner wie ein ganz klein bucklig Zwergmännlein in seinen aufgeplusterten Federn sitzt! Mit Augen und Schnabel sitzt der Kopf, mit Krallen und Sporen sitzen die Füßchen ganz in dem Federwulst versteckt. Sonst so schlank, sonst so leicht durch die Blätter hüpfend, hockt das Thierchen wie ein Männlein aus der Gnomenwelt oder wie ein Kind, das Großmütterchens alten Pelzmuff über den Kopf gezogen hat.

So verzaubert sitzt Armgart einsam auf der Insel Lindenwerth.

Sie wollte nicht mit ... Sie blieb daheim ...

Sie blieb in ihrem Schlafsaal Nr. 5, an dessen äußerm Ende eine der Pensionärinnen ein wenig unpäßlich liegt, die kleine Liddy, die bei Sturm und Ungewitter ruhig in ihrem Bettchen schlummert. Sie hat die Pflege der Kleinen übernommen ... Still ist's in dem noch immer düstern Saale, auch nachdem die Schloßen ausgetobt haben. Einige Scheiben knickten ein, glücklicherweise ohne Zugwind durchzulassen ... Armgart zieht sogleich die grauen Fensterladen vor und nun wird's in dem Saale mit den fünf leeren Betten und der einen schlummernden Kranken noch gespenstischer. Da hockt sie denn an dem einen freigebliebenen Fenster, an dem nassen Ulmenbaum, an dem kleinen, von ihr dorthin getragenen Nähtisch, vor dem aufgeschlagenen Buche, in dem sie lesen wollte und nicht lesen kann ... in einem Rosenkranz von Gebeten und Gedichten von Beda Hunnius mit einem wundervollen Titelkupferstiche, einen Kranz darstellend von sieben Rosen, die die sieben Schmerzen Mariä enthalten und drüberher triumphirend das Lamm mit der Fahne, das Symbol ihrer schwierigsten und mangelndsten Tugend – der Geduld.

Aber sie scheint recht geduldig geworden zu sein ... sie gluckst nur so und duckt sich und »hockelt«, wie die Mädchen sagen.

Erst während des Mittagsessens war Angelika den andern nachgekommen mit der Vorsteherin Aloysia. Sie hatten drüben zwei Stunden auf den Pfarrer warten müssen. Und was brachten sie mit? Mahnungen zum Abwarten! Und die Mutter schrieb doch – der Pfarrer hatte gestattet, daß Armgart den Brief las –:

»Mein gutes Fräulein Angelika Müller!

Ich erhalte von unserm sanften, liebevollen Dechanten aus Kocher am Fall Ihre Einlage an ihn. Sie wissen nicht, daß mir einst mein Kind, mein einziges, wie von Zigeunerhand gestohlen wurde; daß ich hinausgejagt in Sturm und Verzweiflung hundert vergebliche Versuche machte, mein Kind mir wiederzuerobern, daß ich dann, als alles vergebens, in ein Kloster ging, fast zehn Jahre der Selbsterkenntniß lebte und der eingestandenen Pflicht –, erst mich selbst zu erziehen. Jetzt bin ich fast fünfunddreißig Jahre; aber ich fühle mich wie mit Siebzigen. In euern Wäldern wußt' ich mein Kind von meiner Schwester und meinem Schwager liebevoll gehütet, wie ihr eben liebt, wußte sie so erzogen, wie ihr die Menschen erzieht. Ich schildere Ihnen die Sehnsucht nicht, die mich nach meinem Kinde verzehrte, das man mir nur zurückgeben wollte unter der Bedingung, daß ich meinem in seiner Garnison versetzten Gatten folgte. Es trennte mich nichts von ihm, als die freudige Lust, ihm folgen zu können. Zuletzt, als erneute Versuche der Eroberung vergebens waren, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, daß ich Armgart vielleicht zum Opfer meiner Nichterziehung gemacht hätte. Wie oft nennen wir Erziehung, was nur ein unglückliches und widerstandloses Dahingeschleiftwerden ist von älterlichen Thorheiten! Wie oft nennen wir Liebe, was nur ein unglückliches Zermalmtwerden von den Rädern unserer eigenen Entwicklung ist! Thörichte Mütter, die ihr von der Zärtlichkeit für eure Kinder sprecht und sie nur zu den Opfern eurer Stimmungen macht! Eure Umarmungen sind nicht deshalb so heftig, weil sie von euerm reinen Herzen kommen, sondern weil sie von eurer Leidenschaft kommen, von eurer Verzweiflung oft um nichts, von eurer verletzten Eitelkeit! Mit stürmischen Küssen bedeckt ihr eure Kinder und flößt ihnen oft nur Gift ein! ... So war wenigstens meine Vergangenheit ... Jetzt ist, nach einem langen Klosterleben, vieles, vieles in mir anders. Ich erzog mich, eines Kindes würdige Mutter zu sein. Da soll Armgart's Vater zurückkommen und neue Stunden des Kampfes und der Prüfung sollen heraufziehen? Dem Vater soll gehören, was mit mindestens gleichem Rechte mir gehört? ... Wie ich diese Zeilen schreibe, bin ich im Begriff Wien zu verlassen und mein Kind, dessen Seelenkampf ich verstehe, den ich jedoch nimmermehr von Armgart allein oder von meinem Gatten werde entscheiden lassen, in meine Arme zu schließen. Ich kann mich vor ihr rechtfertigen.

Monika Hülleshoven.«

Das Auge der kleinen Richterin hatte gefunkelt beim Lesen des so seltsam entschiedenen Briefes ... Bei den Worten: »Wie mit Siebzigen« strich sie sich bewußtlos ihren dunkelbraunen Scheitel, als gedächte sie der weißen Locken ihrer Mutter; bei der Schilderung der falschen Liebe und Zärtlichkeit der Mütter stockte sie ... sie verstand diese Stellen nicht ... aber bei der Nachricht, daß die Mutter schon unterwegs wäre und von ihr Besitz nehmen wollte, nahmen ihre Gesichtszüge den Ausdruck des Schreckens an, der ihre schönen Lippen halb öffnete und wieder, wie verboten, die beiden Zähne hervortreten ließ. Immerfort strich sie mit der Hand über den Scheitel ihres Haares, gleichsam diesen zu ebnen, und die Hand wollte nur die Gedanken ebnen, die wilden, unruhigen, die schon Entschlüsse in ihr zu treiben begannen.

Der Pfarrer befiehlt dir, deinen Schein von Richterschaft aufzugeben, dir nicht anzumaßen, daß du ein Urtheil fällst über Vater und Mutter und daß du dich ruhig ergeben sollst und vorläufig dem Willen des Stärkeren!

Armgart lächelte und blickte wie abwesend auf die Oberin Aloysia, als die diese Worte gesprochen.

Kommt die Mutter früher als der Vater, so gehörst du den Umarmungen der Mutter! fuhr Schwester Gertrudis fort. Inzwischen hat der Pfarrer nach Westerhof geschrieben und wartet von dort auf Antwort!

Jetzt, zumal da vollends auch Angelika so ganz zu allem schwieg, flossen Thränen der Liebe und des Schmerzes. Und doch standen der stillergebene Stolz des Vaters, die würdevolle Entsagung des Tiefgekränkten auch der Freundin Angelika so lebhaft vor Augen, daß sie das Gefühl des Kindes, gerade diesem Vater sich nicht zu weigern, gerade ihn mit der Heimat nach so langer Trennung wieder auszusöhnen, vollkommen verstand. Die excentrische Gefühlsweise Armgart's entsprach im Grunde auch ihrer eigenen Lebens- und Menschenauffassung. Nicht wer Mathematik treibt, sondern wer ein starkes Herz hat und doch entsagen, doch kämpfen muß, lebt das Leben nach Gesetzen und regelt jedes noch so glühend aufwallende Gefühl. Angelika wußte selbst nicht viel von der Stärke, die sie besaß. Sie war unbewußt stark und gab sich nach außen doch wie die Schwäche selbst. Sie tröstete und schalt und verschwendete noch Worte, wo ihr Inneres längst entschieden hatte. Darin glich sie einer Mutter, die, mit den strengsten Worten und vor Schmerz selbst vergehend, ihrem leidenden Kinde die schmerzhaftesten Wunden lindern und verbinden kann, während dem dabeistehenden Miethling in seinem scheinbar weicheren Mitgefühl angst und wehe wird.

Und wir sehen ja heute noch Benno drüben! war Angelika's Trost gewesen. Er kommt gewiß hinüber! Von der Villa aus erspähen wir ihn schon und wol gar auch Thiebold de Jonge –

Armgart zeigte stumm auf die heranziehenden Wolken und später sagte sie ohne Verstellung:

Ich bin krank! Nach Drusenheim – geh' ich nicht mit hinüber!

Armgart! verwies Angelika und fühlte ganz das Nämliche, was die Gescholtene.

O, sagte Armgart nach einer Weile, es ist furchtbar mit diesen Aerzten der Seele! Zu wissen, daß ein Arzt auf ein Uebel heilt, das wir gar nicht haben! Ungeduld, das ist ja meine Krankheit gar nicht! Eine Zeit kann kommen, wo ich auf die Art in keinen Beichtstuhl mehr gehe!

Armgart! Armgart! rief aufs neue ernstlich verweisend Angelika und – fühlte doch wie die Gescholtene.

Ich will der Priester meiner Aeltern sein! fuhr Armgart fort. Ich will sie zum zweiten male trauen, noch einmal segnen! Davon träum' ich Tag und Nacht! Darauf hin seh' ich Leiden und blutige Dornen über mich verhängt, aber auch Rosen, himmlische Rosen der Erfüllung!

Und Angelika hörte alles das äußerlich tadelnd, innerlich billigend. Mit all ihrer Mathematik und Physik lebte sie in einer gleichen Anschauung überirdischer Dinge, in gleicher Verehrung vor den großen Zauberformeln der Seele, denen alle Natur gehorchen muß. Angelika besaß den reichen aufgesammelten Schatz der Liebe einer Jungfrau, die ohne Hoffnung verblühen muß.

Man hatte längst zu Mittag gegessen ... Alles war in Kummer über das zunehmende Sichüberwölken des Himmels ... Kurz vor Vier faßte man den heroischen Entschluß, ehe es »gießen« würde, doch hinüberzuschiffen ... Die Erzieherinnen gaben nach ... die Englischen Fräulein wollten dem Pfarrer ein gegebenes Versprechen halten.

Angelika befürwortete nun selbst das Zurückbleiben Armgart's. Sie ließ ihr außer dem Briefe der Mutter auch den kurzen und so unbestimmten des Dechanten. Und bei alledem, mehr mochte der Dechant jene geheimnißvolle Zuschrift aus Italien nicht studirt haben, als Armgart seine Runenschrift bis auf jedes Häkchen und jeden Bindestrich zu entziffern sich mühte. Ob voll Jammer und Klage über das veränderte Wetter nach langem Hin- und Widerreden das Institut sich eingeschifft hatte, ob die jungen »nachgemachten Engländer« sich drüben einfinden würden, ja ob selbst Benno ihrer harrte ... sie blieb daheim und las und wachte über die kleine Liddy.

O, das sind seltsame Zustände, wenn es so in unserm Innern an allen Enden und Ecken zupft und kein Gedanke Stich hält, kein Gefühl zur That wird, keine Vorstellung, und wäre sie auch nicht schreckhaft an sich, doch kein reines und volles Behagen gewähren will! Dann weiß man, und die fiebernde kalte Hand bezeugt es, daß man in seiner Sorge und seinem Unmuth sich gewiß nur selbst zerstört, und doch kann man den Blutstrom, der alle Lebenswärme zum Herzen drängt, im Laufe nicht ändern, geht und wirft sich stöhnend aus einem Winkel in den andern und sagt sich nur: Eins ist gewiß, ich werde krank! ... Auch Freunde können dann nicht helfen. Ja, wer hat denn gleich von euch den sanften Ton und den vollen Accord der reinen Uebereinstimmung, den Ton, der uns gerade jetzt so noth thäte und den nur allein zu hören jetzt uns möglich ist! Wie klingt so oft euer Trösten und des Zuspruchs bestes Wort doch so völlig anders, als es die Schmerzen hören wollen! Schon daß ihr alle so gesund aus der frischen Luft des Lebens kommt! Daß euch allen nichts fehlt! ... Käme z.B. jetzt Thiebold de Jonge – nur lachen, nur scherzen würd' er ... Benno ... Benno freilich ... Benno ist immer so seltsam traurig ... was fehlt ihm nur, dem Guten, dem selbst in Heiterkeit doch immer nur so duldend Scheinenden? ... Paula! Paula! ... Der hätte sie den Kopf in den Schoos legen mögen! Die hätte Frieden über ihre Seele gehaucht, schon mit dem Streicheln ihrer Hand allein! Paula hätte nur gesagt: Armgart! und in dem einen Worte, in dem Tone schon hätte alles gelegen, was sie still und ergeben gemacht!

Das Gewitter war endlich vorüber ...

Armgart erfrischte die verweinten Augen auf einem Balcon, auf den eine Thür des Corridors des alten unheimlichen Gebäudes führt ...

Schon war es die sechste Stunde ... Die kleine Liddy hatte sich ein Geschichtchen erzählen lassen, sich dann auf die andere Seite gelegt und war wieder eingeschlummert.

Der Balcon ging nach der Seite hin, die dem Hüneneck zugewandt ist. Sie konnte die für eine wiener Dame bestellten Zimmer nicht vergessen. Die »Vier Jahreszeiten« selbst waren vor Nebel nicht zu sehen ...

Wie trübe dieser Anblick, der am frühen Morgen so schön gewesen! Die nächsten Berge jetzt ganz unsichtbar! Nur in leisen Contouren glitten sie aus dem Wassernebel heraus ... Das Enneper Thal ganz durchwallt von weißen Luftstreifen, als zög' es fort mit den Wolken ... Am Meere, das hatte eine Antwerperin im Institute erzählt, da säh' es so fast immer aus ... Am Meere! ... Selten schossen die Wasservögel so niedrig hin ... Am Meere! gedachte sie wieder ... Dann mußte sie das Nächste im Auge behalten, den Garten am Kloster, das Gewöhnlichste, nur um noch frisches Grün zu erblicken ... Wie die Salatbeete im Regen so putzig küchenmäßig und überreinlich glänzen! Wie die Magd da watet barfuß in die weiche Erde hinein und die Köpfe heraushebt, die für den Nachtimbiß bestimmt sind! ...

Wann werden die Mädchen kommen? ... Bringt Angelika wol einen Gruß von Benno mit? Von Thiebold de Jonge? Oder kämen sie wol beide und besuchten sie hier selbst auf der stillen Insel? ...

Darüber erschrickt Armgart ... Leicht gekleidet geht sie aus der frischen, ihr plötzlich fühlbaren Luft in den schwülen Corridor, den noch schwülern Schlafsaal ... Sie lüftet ein wenig das Fenster, das von Liddy am entferntesten liegt ... Der Gedanke des heimlichen Besuches hat sie ganz überrieselt.

Sieben Uhr! Immer noch kommen die Mädchen nicht!

Der Regen hat längst aufgehört. Man sieht trotz des Abendwerdens schon das Ufer wieder und drüben am Enneper Thal stehen die Kähne schon in Bereitschaft. Tönneschen Hilgers scheint so ungeduldig ... Es läßt sich sonst noch etwas verdienen ... denn mancher hat das Dampfboot versäumt und will hinübergesetzt sein auf das jenseitige Ufer, wo es heute Omnibus genug gibt, die wenigstens noch nach der Universitätsstadt fahren ...

Da fahren auch in Mänteln Herren und Damen ... Gäste aus der Villa? ... Und immer die Mädchen nicht! ... Müssen die sich gut unterhalten!

Die kleine Liddy ruft ... des Abends kommt sicher noch das Fieber ... Der Arzt, der vom Hüneneck her erwartet wird, auch der bleibt aus ...

Halb acht Uhr! ...

Da endlich, endlich! ... da kommen sie! ... Armgart sieht es trotz der Dunkelheit deutlich vom Balcone.

Die mögen schön einsinken in den weichen Feldwegen! ... Lederschuhe haben glücklicherweise alle ... Herren begleiten sie und die Kleinen werden über manchen Bach, der erst seit einigen Stunden auf der Enneper Landkarte steht, hinweggehoben ... Ob Benno's Arm dabei behülflich ist? Wie sollte der zu den Herren von Drusenheim kommen? ... Aber Benno weiß ja überall Rath ... Da fährt ein Wägelchen! Mit zwei Ponies! ... Zwei Damen bringen die allerkleinsten der Pensionärinnen an den Landungsplatz ...

Sich alles das und mehr noch nun bald erzählen zu lassen, interessirte Armgart bei alledem ... Von der Toilette der schönen Madame Fuld erwartete sie Wunderdinge ... Niemand kann sein Geschlecht im Andern mehr lieben und neidloser bewundern, als das weibliche.

Wo ist denn aber unter den Schiffenden nur Angelika? ... Sonst winkt die doch immer mit ihrem Sonnenschirm oder mit einem Taschentuch, wenn sie vom Ufer kommt und Armgart steht auf dem Balcon ... Heute aber – ja, da ist sie ... Sie kehrt der Insel den Rücken zu! O, das sind schlimme Zeichen! ... Oder gehört sie auch zu den Lacherinnen und schämt sich nur vor Armgart? ... Wie aufgeregt ist das junge Volk! ... Sie haben in den nassen Kähnen die Kleider aufgenommen und sitzen fast da wie die Butterfrauen, wenn die vom Markte kommen ... Regnet's denn noch? ... Die Hüte sind mit Taschentüchern umwunden ... Man schont sie wol nur; nur die beiden Nonnen sind, was sie sind, in Sonnenschein und Regen, immer die gleichen Hauben mit den gleichen langen Flügeln ... ihre zwei Regenschirme sind die gröbsten der Anstalt.

Jetzt sind sie da ...

Die Erzählung! ... Das Amusement! .. Was Armgart alles versäumt hätte! ...

Armgart hält sich die Ohren zu. Sie will allerdings alles wissen, aber eines doch nur nach dem andern.

Es war indessen alles dasselbe: Kaffee, Chocolade, Baisers, Torten, Pfänderspiele und Pfänderspiele, Torten, Baisers, Chocolade und Kaffee. Die Damen mit den Ponies waren die beiden Engländerinnen gewesen ... Das sagten zehn zugleich ... Und der Herr, der die andern Kleinen über den Bach gehoben, hieß Herr von Terschka ... und das sagten wieder zehn zugleich.

Für Salat und Eier und kalten Braten und die französische Betrachtung der Schwester Aloysia in dem stockdunkeln Eßsaal war heute wenig Interesse vorhanden. Silence! A vos places! Das stiftete wol einige Ruhe. Aber man knupperte müde und übersatt am Salat und es war hier alles »nicht das«! Es rebellirte noch lange und murmelte und seufzte fort in dem jungen Volk bis zum Schlafengehen.

Angelika vermied ordentlich, Armgart zu begegnen.

Sie mied sogar, sie nur zu grüßen.

Von der kleinen Liddy oben sprach sie, die sie gleich besucht hatte und fiebernd fand, was den beiden Nonnen große Angst machte und des schlechten Wetters gedenken ließ, das den Arzt verhindert hätte, die Insel zu besuchen. Der Arzt hatte gesagt, er hätte im Roland noch den Abend zu thun ... Im Roland! So nahe der Insel! .. Wird der Arzt nicht kommen?

Zuletzt machte sich's noch, daß Angelika und Armgart etwas allein waren. Die kleinsten streckten sich schon in ihren Betten. Die ältesten saßen unten noch im Eßsaal und sprachen das Erlebte durch. Auf die Beete und die Wege der Insel, die man sonst auch selbst in der nun schon früher und früher eintretenden Dunkelheit des Abends noch durchschlüpfte, konnte man vor Nässe nicht hinaus, wenn auch der Vollmond einlud, der vielleicht doch noch die Wolken durchbrach.

So standen Armgart und Angelika ungestört auf dem Balcon und krampfhaft hielt sich die Hand des jungen Mädchens am eisernen Gitter, als sie erfuhr, was noch der Pfarrer der Freundin mitgetheilt. Die Mutter konnte schon drüben in den Häusern sein, wo die Lichter über den Wellen tanzten! Jener Fremde, der gestern die Zimmer bestellt in den »Vier Jahreszeiten«, hätte das für bestimmt versichert ... Von Benno ... sie hörte kaum ... wußte Angelika nichts ... und Thiebold de Jonge und den Bruder der Nanny Schmitz und die andern ... von allen denen hätte man gleichfalls nichts vernommen ...

Nun schlug es halb Neun ... Rings war alles still, trübe und düster ... Noch kein Stern am Himmel; doch an der Stelle, wo der Mond hervorbrechen konnte, schien es lichter zu werden ... Armgart wollte sogar ein Boot erkennen, das man durch die Zweige der Bäume vom Hüneneck herübersteuern sähe. Angelika strengte ihre Augen an. Es kam auch ein Boot. Armgart zitterte und stand wie auf der Flucht. Alsbald ließ sich jedoch der Arzt erkennen, der noch so spät nach der kleinen Liddy zu sehen kam.

Als dies geschehen, in Begleitung der Englischen Fräulein, fuhr der Arzt nach dem Roland zurück.

Angelika begleitete ihn eine Strecke im Hause und wagte nach Benno von Asselyn zu fragen.

Benno von Asselyn? Wir erwarten ihn drüben im Roland! sagte der Arzt. Ich werd' ihn von den Damen grüßen.

Der Arzt hatte Eile. Sein Schiffer steuerte ihn zurück und bald sah man von allen Seiten, da und dort, Kähne kommen, die alle dem Roland zuschwammen ...

Jetzt wollte auch Angelika zur Ruhe gehen.

Als sie an Armgart, die noch immer auf dem Balcon verweilte, vorüber mußte, fand sie diese in der größten Unruhe.

Wieder steuerte vom Hüneneck gerade der Insel ein Nachen zu.

Es ist eine Dame darin! rief sie. Ein carrirter schottischer Mantel! Ein Diener hält den Regenschirm!

Das Wort: Es ist meine Mutter! erstickte in ihrer Freude und in ihrer Angst ...

Auch für Angelika gab es kaum einen Zweifel an der Richtigkeit dieser Vorstellung. Sie zitterte ganz wie Armgart. Doch erbot sie sich, hinunterzugehen und genauer zu forschen ... in der Richtung der Nachen irrte man sich oft.

Armgart widersprach nicht ...

Der Kahn kam näher und näher ...

Armgart sah vom Balcon bald rechts, bald links in die Tiefe und wußte nicht, wie sie auf beiden Füßen zugleich stehen sollte ...

Angelika durchschreitet die schwülen, dumpfen steinernen Corridore und Treppen. Noch war es ja möglich, daß der Kahn hinüber zum Geierfelsen, nicht an die Insel fuhr ...

Armgart rafft sich jetzt auf. Sie huscht in den Schlafsaal, wo ihre Kleider hängen und ihre Wäsche in einer Kommode liegt. Liddy schläft; die kleinern Bewohnerinnen des Saales schlafen alle; zwei ältere sitzen noch, unten im Eßsaal, aus dem man sie laut sprechen hört ... Armgart rafft zusammen, was sie mit wenig Griffen finden kann, ihren Mantel, ihren Winterhut, ihre Hemden, einige Tücher, Strümpfe, Unterkleider, Schuhe, Bücher ... Ein großes Umschlagetuch wird auf dem Boden ausgebreitet, ohne Licht tastet sie hin und her, öffnet das Nähtischchen, leert es, wirft alles in ihr Tuch, die Zipfel knüpft sie zusammen und ihr Bündel ist geschnürt.

Um Gottes willen, Armgart, was hast du vor? flüstert Angelika, die zurückgekommen.

Ist sie's? Kommt sie?

Eine Dame kommt!

Armgart spricht kein Wort und stürzt mit dem Bündel von dannen.

Angelika besinnungslos – folgt, wie von ihr angesteckt ...

Armgart klinkt die Pforte nach dem Garten auf. So feucht der Boden, so kühl die Luft, ist sie doch schon außerhalb des Gartens, quer hindurch über Salat und Rüben und Zwiebelstauden, wie sie die Wege nur abkürzen kann.

So stiegt sie dem Lichte zu, das sie an den kleinen bleigefugten Fenstern der Fischerhütten sieht.

Angelika, das sah sie, folgte nun schon nicht weiter ...

Jetzt an den Fenstern der Fischerhütten anzupochen, da um einen Kahn zu bitten, dort dem Tönneschen, den sie richtig sieht und der in einem Buche studirt, oder den halb zuhorchenden, halb zuschlummernden Aeltern desselben, allen denen erst zu klopfen und zu schmeicheln oder etwas aufzubinden, eine Erfindung, eine Ausrede, einen Auftrag etwa ... etwa auf der Villa Vergessenes holen zu müssen ... das gäbe Fragen, Aufenthalt ... Nein! Sie kann ja selbst rudern – fort ans Ufer – in einen Nachen – ihn losgekettelt – das Ruder ergriffen –

So fährt sie von dannen.

Noch konnte sie des jenseit der Insel gegen den Strom angehenden Nachens nicht ansichtig werden ... Sie steuert am Ufer der Insel hin, um nicht zu weit unten am Enneper Thal zu landen ... Sie steuert gerade nach der entgegengesetzten Richtung, als in die jenen Nachen der Strom drängen muß ... Nun aber gewinnt sie die Höhe des Wassers und der ganze Spiegel liegt in dem immer mehr aufgehenden Mondlicht vor ihr ... Auf zweihundert Schritte ist sie von dem Boot entfernt, in dem eine Dame sitzt mit einem Diener – Mutter! rief es in ihr ... sie suchte – die silbernen Locken! ... O, wie pocht ihr das Herz! ... Einmal war's ihr doch, als sollte sie über das Wasser hinwegfliegen, sollte einen Freudenschrei ausstoßen, die Arme ausstrecken und rufen: Mutter, da hast du dein Kind! ... Aber auch nur einmal überwältigte sie's und sogleich stand ihr der Vater vor Augen, der Vielgeprüfte, der Wettergebräunte, der Flüchtling auf dem Oceane! ... Und dennoch, dennoch sucht das Auge das Antlitz der Dame ... Es ist ihr abgewandt ... Da stehen die weißschimmernden Birken auf der Insel ... Wird der Kahn vorübergleiten, wird er landen? ... Er hält ... er will zur Insel ... landet ... es ist nur die Mutter ... und jetzt, jetzt ist ihr's doch, als zög' es sie in den Strom hinunter ... die weißen Birken werden zu den Locken der Mutter ... ein ganzes Leben geht ihr auf, beschienen wie vom Mondlicht ... alles, was sie je nur unter den Trauerweiden und Birken vom Menschen-und vom Frauenloose geahnt, scheint sich ihr plötzlich zu erfüllen, lebendig zu werden, zahllose Gestalten ziehen dahin und wie unter den Klängen einer ganz außerweltlichen Musik ...

Schon entführte der Strom die schwache Schifferin ... Sie konnte den Nachen nicht mehr regieren.

Er bringt sie aber ans Ufer ... Weit, weit von dem Punkte, auf den sie mit aller nur möglichen Anstrengung ihrer Arme zugesteuert hatte, landet sie. Sie geräth in ein Gestrüpp von Weiden und Schilf, an dem sich bequem und sicher aussteigen läßt.

Jetzt gedenkt sie des Nächsten, Kommenden ... Was soll sie beginnen? Wohin sich wenden? Ohnehin mit ihrem überschweren Bündel!

Die Thürme hatten schon von da und dort die neunte Stunde geschlagen. War auch die Welt hier noch wacher als auf der Insel drüben, wem sollte sie sich anvertrauen! Wie weit war nicht der Weg zu einer Post, die erst im nächsten Städtchen am Fuße des Geierfelsen lag! Ihre Baarschaft betrug einige Groschen über einen Thaler.

Den Kahn mußte sie dem Zufall überlassen ... Ein Moment der Besinnung ... Sie wagt den Sprung ins Uferröhricht, nachdem sie ihr schweres Bündel schon vorausgeworfen ... Es gelingt alles.

Angelika's Anzeige und eine Verfolgung befürchtend, suchte sie nur zuerst eine Gelegenheit, weiter zu kommen.

Nirgends Menschen; aber Lichter auftauchend da und dort ... Sie läßt ihr Bündel im Schilfe liegen und läuft nach Drusenheim hinüber. Den Wirth vom Palmbaum kannte sie ja und er sie ... Was sie sagen wollte, wußte sie noch nicht. Sie wollte nur in die Berge hinüber, vielleicht in ihre Heimat nach Westerhof, in ihr Stift, zum Heiligenkreuz, zu Paula, die ihr plötzlich in der fieberhaften Angst und Verwirrung ihrer Phantasie erschien, als wenn sie am Altar mit dem Grafen Hugo stünde, mit dem schönen Reiterobersten im weißen Waffenrock mit blinkendem Harnisch, und als fehlte nur sie noch, nur sie, sie, um der Freundin die Myrtenkrone aufzusetzen ... So zitterte sie vor Eile ... Sie wußte doch jetzt, was sie den Leuten im Palmbaum sagen, wie sie die gewünschte Hülfe in unverfänglicher Weise anschaulich machen konnte ... Wagen! Pferde! Das wurde ihr Wunsch.

Athemlos flog sie Drusenheim zu, nicht achtend, daß sie oft bis zum Knöchel versank. An jedes Kreuz am Wege, an jedes Bild des Brückengottes, der auf einem Bachstege stand, richtete sie im schnellsten Vorüber eine Bitte um Beistand.

Endlich hatte sie die ersten Hütten erreicht, endlich ist sie in Drusenheim selbst.

Horch! Vom Palmbaum herüber ... tönen da nicht plötzlich melodische Klänge?

Ist nicht Gesellschaft dort oben?

Kaum hat Armgart im schönen Fernhall das Lied vernommen, das von den obern erleuchteten Fenstern des Palmbaums und vom kleinen Balcon desselben herunter wie wallend und wogend in die stille Nacht erscholl:

»Vier Elemente, innig gesellt –«

erblickte sie einen Wagen vor der Thür.

Sind das doch nicht die Freunde von Nanny's Bruder Gebhard Schmitz? Sind das doch nicht die dennoch Gekommenen, wenn auch verspätet? Ist Thiebold de Jonge unter ihnen, über den ich soviel lachen muß, weil er so verliebt ist, wie ein Windspiel? Gehört dieser Wagen hier wol gar den Sängern oben? Dann – Wie sollt' ich nicht hoffen, sofort ihn mein zu nennen, einzusteigen und hinauszufliegen in die weite, weite, weite Welt!

Wem gehört der Wagen? fragte sie rundweg einen Knecht, der eben die Pferde aus dem Stalle führte und einschirrte, während der Kutscher sich noch drinnen gütlich that.

Lustig sagte der Befragte:

Der Wagen? Der gehört da oben fünf Herren! Die haben heute Nacht 'ne Wallfahrt beschlossen in fünf Stationen! Auf jeder trinken sie eine andere Sorte Punsch! Fünf Meilen haben sie schon gemacht und in jedem Wirthshaus untersucht, ob die Weinkarte in Ordnung ist!

Vor Trunkenen überfällt jedes weibliche Herz Schrecken und Zagen ... Schon vor dem Hausknecht bebte Armgart zurück ... Oben aber erscholl der Gesang so schön, so melodisch und eben löste sich Schiller's Punschlied in Lachen und Jubel auf. Einer der Sänger – es war Joseph Moppes, der süßeste aller »vaterstädtischen« Tenore – trat auf den Balcon, das Glas in der Hand und einen andern, wirklich den Thiebold de Jonge, mit dem linken Arm umschlingend, singt er aus einem andern Liede, wieder von Schiller, dem Allwaltenden in Freud und Leid der Menschen:

»Bis die Liebliche sich zeigte,

Bis das theure Bild –«

Da schon hatte Armgart, nicht wissend, daß sie selbst die Gemeinte, hinaufgerufen:

Herr de Jonge!

Hier hängt er! ruft Moppes ...

Gehört der Wagen Ihnen, Herr de Jonge?

Wie? Was? spricht Thiebold, jetzt erst die Zartheit der herauftönenden Stimme erkennend ...

Wie so? fragt Moppes, zugleich über den Balcon sich beugend.

Wem? Wie so? wiederholt Thiebold ...

Woso? parodirt Schmitz, der Dialektkünstler ...

Nun stürmt der Rest des Sextetts in des Staunens vollste Blüte ... Clemens Timpe sogar noch mit einem aus voller Kehle geschmetterten:

»Preßt der Citrone saftigen Kern!« ...

Und alle schwingen dabei die Hüte wie zur Abfahrt und Mäntel werfen zwei, der kühne Weigenand Maus und der stille Caricaturenstifter Aloys Effingh, geradezu vom Balcon hinunter auf den Wagen obenauf und nun ist es allen in Sicht, daß ja eine Dame mit ihnen parlamentirt ...

Wie erstaunten sie, als sie auf Joseph Moppes' energischstes Ruhe Pause zählten und ein junges Mädchen mit Thiebold Verwunderung und Orientiren und Namen und Fracht und Verklarung des Schiffes austauschte, nach schnellstem Erkennen Gebhard Schmitzens die heute Vielbesungene selbst ...

Thiebold war bereits unten ...

Die von einer der melodischsten Sopranstimmen vorgetragenen Worte hörten sie:

Herr de Jonge! Ich habe aufs dringendste diesen Wagen nöthig! Sie werden mir die Gefälligkeit erweisen, nicht wahr, ihn mir auf einige Tage zu leihen!

Mein Gott, Fräulein! Sind Sie's – denn wirklich –

Ruhig! hieß es oben ...

Einzig! Auf Taille! flüsterte Gebhard Schmitz.

Verwundern Sie sich nicht zu lange, Herr de Jonge! fuhr Armgart fort. Ich bitte! Befehlen Sie dem Kutscher! Ich steige ein! Ich habe die größte Eile!

Wirst mir wol einer meinen Hut herunter?

Das war alles, wozu sich Thiebold zeit- und ortsgemäß sammeln konnte.

Fahren Sie mich ans Ufer zurück, da, wo die Weiden stehen!

Da, wo die Weiden stehen!

In diesen von allen jetzt mehr gesuchten als gefundenen Weiden blieben sechs verdutzte Blicke hängen ...

Armgart saß schon im Wagen und Thiebold hatte auch schon seinen Hut auf dem Kopf. Clemens Timpe hatte versucht ihn just so zu werfen, daß er ihm auf seine blonden hochaufgerichteten Haare fiel (Thiebold's äußerste Unruhe ließ sich am fortwährenden Streicheln seiner Frisur erkennen); der Hut fiel indessen zwischen die Hufe der Pferde und vor die Räder und bekam, da die Pferde schon anzogen, eine starke Prüfung seiner »Garantie«.

Das ist das Loos des Schönen auf der Erde! rief Schmitz ...

Thiebold aber, impertinent, wie auch nur er sein konnte, (Nur Selbstkritik, nicht etwa Verleumdung von uns), schwang sich hinten auf den bequemen Bedientensitz, verlor fast im Abfahren seinen nun wieder hinterrücks fallenden Castor – »weiß auf blond!« hatte noch kürzlich Benno über diesen in gewisser Hinsicht »jetzt gelieferten« Hut und über Thiebold's Ansprüche auf Geschmack geäußert – und schon schwenkte der Wagen dem Strome und der bezeichneten Stelle zu, verfolgt von einem fast kosackischen Hurrah der Freunde Piter's, die in diesem Augenblicke sogar vergaßen, daß sie auf ihrer gleichfalls zu Wasser und darüber schon zu viel, viel Rüdesheimer und Punsch gewordenen Partie die Retourgelegenheit verloren hatten ...

Der Wagen war jener vortreffliche Landau mit jenen in Kocher am Fall beinahe verdorbenen englischen Patentachsen und die englischen Pferde gehörten gleichfalls Herrn de Jonge senior, der es für zweckmäßig zu halten schien, wenn sie durch de Jonge junior in entsprechenden häufigsten Gebrauch kamen ...

Armgart schlug in dem prächtigen Wagen die Hände zusammen und hielt sie hoch gen Himmel empor, aus tiefster Seele dankend allen seinen Heiligen.

14.

Während Thiebold durch das geöffnete Schiebfensterchen des Wagens eine glühende Schilderung der Sehnsucht nach diesem Sonntag, eine Schilderung der Spannung seiner Gefährten, der Enttäuschung, daß das ganze Begegnen mit den Stiftlerinnen und vorzugsweise mit Armgart scheitern mußte, entwarf; während er ihr, oft durch das Schleudern des Wagens im Redestrom unterbrochen, die Versicherung gab, daß dieser Wagen sie, wenn sie darnach Verlangen trüge, bis ans Ende der Welt fahren könnte – die Phrase: »vorausgesetzt, daß ich Sie begleite«, verlor sich in einem Wurf in die Sitzecke –; während er mit jener ihm ganz eigenthümlich angehörenden Lebhaftigkeit der Demonstration, theils auf die Wege wetternd, theils dem Kutscher commandirend, theils seinen Hut von den Folgen der Räderung herstellend, mimoplastisch auseinandersetzte, daß nur an jeder Station neue Postillonspferde nöthig wären, um couriermäßig mit ihm bis an die Pforten des Himmels oder der Hölle zu reisen; während er endlich mit allen Zeichen damaliger Telegraphik schilderte, daß seine verblüfften Freunde entweder in Drusenheim übernachten oder auch vom Wirth anspannen lassen könnten, waren sie jetzt bei der Stelle angekommen, wo im Schilfe Armgart ihr Bündel geborgen hatte.

Der Kahn trieb schon weithin auf die Höhe des Stromes ...

Mit der Versicherung, er gäbe, wenn der Kahn nach Holland schwämme, was nicht vorauszusetzen, der lindenwerther Schifferinnung zum Ersatz eine Bark mit zwei Masten, mit Vorder- und Hinterdeck, mit Bramsegel, mit Reffsegel, mit u.s.w., stieg Thiebold aus, um das vielbesprochene, wenn ihm auch noch völlig räthselhafte Bündel mit Gefahr seiner heute trotz des Regens in bequemen Wirthsstuben geschont gebliebenen Lackstiefel herbeizuholen ...

Darüber hatte Armgart einige Minuten Zeit, ihrer Lage nachzudenken ...

Mit Thiebold sollte sie weiter reisen? Mit ihm so allein hinaus in die Welt gehen? ... O Gott –

Aber Thiebold kommt schon zurück ... schon schleppt er das Bündel, das er höchst federleicht findet, das ihn aber keuchen läßt wie Cyklopenarbeit ... er bittet um Entschuldigung, wenn sich vielleicht in dem Bündel vom Schilfe her einige Frösche eingenistet hätten ... er wagt die leise Frage, ob das vielleicht die Wäsche des Institutes wäre, die Armgart nach klösterlicher Sitte in dieser Woche zu besorgen und noch spät in die Sieben Berge, vielleicht zu einer dort »vielleicht wohnenden Wäscherin« zu transportiren hätte in Begleitung eines »vielleicht zufällig eben ertrunkenen Schiffers« ... er gesteht, nicht begreifen zu können, warum sie bei soviel Sinn für Wirthschaft und Reinlichkeit soviel Angst hätte, selbst vor harmlosen Wanderern, die eben des Weges daherkamen ... und wie denn überhaupt, mein Fräulein, wenn ich mir die gehorsamste Bitte erlauben dürfte um ein klein wenig mehr Gaslicht als Mondlicht, d.h. Aufklärung über Wie? Wo? Warum? Wieso?

Jetzt aber ereignete sich eine jener Fügungen, die uns zuweilen das Weltverhängniß noch zum holden Kindermärchen machen können ... Der liebe Vater im Himmel sitzt uns dann trotz aller Philosophie immer noch mit einem langen Barte auf den Wolken und fügt die Schicksale der Menschen mit sichtbarer Hand, ja er greift überall persönlich hinein mit liebevoll nachhelfendem Finger.

Von hundert Menschen, die da schon gegen zehn Uhr Abends, während der Mond nun ganz aufgegangen war, noch am Ufer hätten stehen und nach einem Nachen sich umschauen können, der sie so spät noch übersetzte, muß gerade der Eine daherkommen, der zwar nicht mit melodischem Wohllaut das Lied vom Ritter Toggenburg intonirt hatte, dem es aber, nach dem Kloster zu Lindenwerth hinüberschauend, tiefinnen klang mit der ganzen Sehnsucht seines Herzens.

Hatte es doch für Benno heute am Sonntag diesseits des Stromes Aufnahmen gegeben hier und dort! Aufnahmen, die an Ort und Stelle zu machen waren! Die süßeste Hoffnung, die von gestern auf heute sich erfüllen sollte, von dem Abschied beim Einsteigen in den Nachen bis zu einem Wiedersehen im Enneper Thale oder auf der Insel selbst oder heute irgendwo und -wie, hatte scheitern müssen theils am Wetter und den verschlimmerten Wegen, theils an der gegen alles Erwarten sich herausstellenden Bedeutung der Aufträge, die es zu vollziehen gab ...

Nun aber trieb ihn noch ein anderes gegebenes Wort wenigstens für den Abend zur beschleunigten Eile. Nück hatte ihm beim Abschied gesprochen:

Herr von Asselyn! Sie sind ein junger, unterrichteter und für die praktische Auffassung des Lebens, die nur allein eine Zukunft hat, disponirter Mann! Aber in vielem sind Sie noch völlig Tabula rasa! Ich will Ihnen wünschen, daß das Leben bessere Zeichen auf Sie schreibt, als zehnjährige Seufzer bis zu einem Assessorat in Schöppenstädt mit fünfhundert Thalern Gehalt! Sie kennen unsere gespannte Lage mit der Regierung! Sollten Sie vielleicht im Roland bei Joseph Zapf oder sonstwo Leute finden, die uns nicht eher geholfen glauben, bis nicht alle die aus dem Lande gejagt sind, die nicht an die sieben Sakramente glauben, so lassen Sie sich mit den dummen Leuten in keine philosophischen Erörterungen ein, sondern schonen Sie menschliche Schwächen! Bei Zapf gehen, hör' ich, Narren aus und ein, die sich einbilden, es brauchte nur der 24. August im Kalender zu stehen und man könnte die Sainte-Barthélémy noch einmal aufführen! Klären Sie diese Leute nicht philosophisch auf! Geben Sie ihnen nur ein wenig mehr Einsicht in die Gesetze! Verweisen Sie sie auf das, was uns unter allen Umständen als Anlehnung Stand hält, wenn wir uns gegen die neunmal Weisen anstemmen müssen, auf das Edict vom 28. Germinal des Jahres X der fränkischen Republik, das Besitzergreifungspatent von 13, die Bulle De Salute animarum von 21. Denn darüber, denk' ich, sind wir einig, daß bei uns Kirche und Gemeinde darauf halten sollen, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben. Lieber ein Weltbrand, als ewig unter der Herrschaft der Achselklappen mit den numerirten Knöpfen! Lieber zum Frühstück fricassirt von französischen zu Marschällen avancirten Köchen, als zerrissen von russischen Wölfen! Zwei Alternativen hat ja die Welt nur: Czernebog, den Großen, oder Rom!

Benno fühlte das anders, doch wollte er nicht fehlen unter Leuten, die von Sturmglocken sprachen und das Wort: Von-Berg-zu-Berg-die-Feuerzeichen-Anzünden schon aus gedruckten fliegenden Blättern, aus Liedern und laut gesungenen Reimsprüchen wiederholten.

Auch dem wirklich damals »beschränkten« und von Ministern deshalb gründlich verhöhnten »Unterthanenverstand« wollte er die Thorheit der Sensen und Aexte verweisen, mit denen die Bauern verlangten in die Städte geführt zu werden ...

Es gefiel ihm sogar, daß Stephan Lengenich übernehmen sollte, einen großen Rath- und Hülfsverein im ganzen Lande zu begründen, einen Bund von Meistern und Gesellen, Handwerkervereine, die damals aller Orten im deutschen Vaterland und zur Anbahnung besserer Zeit auftauchten und von denen der Severinusverein nur erst ein schwaches Vorbild war ...

Schon sah Benno mit scharfem Auge im Roland drüben die Fenster des zweiten Stockes erleuchtet ...

Er verwünschte seine Verspätung bei der ihm wie ein Verhängniß lockenden Erörterung ...

Einen Nachen suchte er jetzt und war, da er keinen fand, gerade im Begriff, schnellen Schritts auf einige Schifferhütten zuzueilen, die freilich noch einige tausend Schritt zu Berg entfernt lagen ...

Da sieht er einen Wagen daherjagen und so dicht dem Ufer zu, als sollte ihn eine Fähre aufnehmen ...

Diese Fähre sucht er ...

Wie mußt' er erstaunen, als jetzt jemand von dem Bedientensitz des Wagens springt, am Ufer im Röhricht krebst, dann mit einem großmächtigen Bündel zurückkehrt und endlich vollends, als er sieht, daß dies, wie es schien, Schmuggel treibende Individuum niemand anders war als Thiebold de Jonge!

Ja, aber ums Himmels willen! Was haben Sie denn da? rief er ihm schon aus der Ferne zu ...

Thiebold, vollkommen wissend, daß Benno in der Nähe sein konnte, und darum auch schnell sich zurecht findend, antwortete sogleich mit einem Bedeuten um geheimnißvolle Stille und dem Winke, das »federleichte« Bündel mit aufladen zu helfen ...

Mit den langgezogenen, völlig noch ungewiß tastenden Worten: »Aber – Sie sonderbarer – Schwärmer –!« trat Benno näher ...

Nun sieht er in den Wagen und sieht Armgart und Armgart sieht ihn, erkennt ihn und ruft:

Jesus! Der Benno!

Benno steht sprachlos.

Thiebold klärt auf, soweit er kann, stopft das Gepäck hinein, ruft dem Kutscher den Namen eines Ortes zu, als den der ersten Poststation, und steigt windschnell wieder hintenauf ...

Er scheint vorauszusetzen, daß Benno, dem allem wie etwas Unglaublichem zustaunend, dem tolldreistesten aller Menschen in die mondhelle Nacht hinaus die Königin seiner Träume wie zur Entführung überlassen soll ...

Ein Augenblick jedoch – und auch Benno sitzt schon oben dicht neben Thiebold und der Roland und die Kirche und der Staat und der 28. Germinal und die Bulle De Salute animarum sind vergessen.

Armgart sieht alles das voll Seligkeit und hätte nun am liebsten alle beide gleich hereingerufen.

Sie hätte Benno die Hand drücken mögen vor Freude über diese doppelte Hülfe ...

Aber schon flogen die Rosse zur Chaussee hinauf und auf dieser dann funkenstiebend weiter und weiter dahin ...

Der Kutscher merkte schon, daß hier Romantik im Spiele war und dem Drusenheimer allein hatte auch er nicht zugesprochen.

Endlich hatte sich Armgart gesammelt und machte wenigstens durch das Schiebfenster so viel Geständnisse, als nöthig waren, um nun schon von Benno Vorwürfe und ernste Ermahnungen zu hören.

Darüber drängte ihn Thiebold, als »unerträglichen Pedanten«, vom Schiebfenster weg und klagte über Mangel an Raum ...

Und als dann Benno mit Vernunft und Besonnenheit nicht enden wollte, verwies ihn Thiebold vorn auf den Kutscherbock, worüber beide jetzt unter sich selbst in freundschaftlichen Hader geriethen ...

Am Ufer aber hinfahrend hatte Armgart alles drüben auf der Insel still gefunden und im Geiste der guten Angelika gedankt, die ihre Flucht sicher nicht verrathen, sondern gewiß zur suchenden Mutter von einem Versteck auf der Insel selbst gesprochen hatte.

So fuhren sie schon unterhalb des Geierfelsen dahin ...

Je weiter aber die Insel und der Fluß verschwanden, desto mehr verlor sie die Besinnung und alle ihre Gedanken fingen an, ihr wie zu vergehen ...

Was sie von dannen trieb, glaubte Benno jetzt zu errathen ... Die Mutter war angekommen! ... Er theilte Thiebold seine Vermuthung mit und seine Auslegung der so ihm nun erklärlichen Flucht ...

Wie Thiebold, der natürlich die Rechte des Vaters, seines »Lebensretters«, weit über die der Mutter stellte, sich in Armgart's heroischer Herzensthat staunend zurecht fand, wurden sie plötzlich von Pferdehufen und von Säbelklappern aufgeschreckt ...

Vier bis fünf Gensdarmen ritten an ihnen vorüber ...

Benno erkannte Grützmachern und Schulzendorf; diese erkannten ihn ...

Herr von Asselyn! hieß es mit harmlos überraschtem Tone. Wo wollen Sie denn so spät noch hin?

Thiebold, zwar vorlaut wie immer, aber etwas eingeschüchtert, nannte die nächste Station ...

Major Schulzendorf blickte in den Schlag des Wagens. Er sah eine junge Dame ...

Auf Damen lauteten die Ordres nicht ...

Paschol, Herr Freiwilliger! rief Grützmacher mit einem jener der Herrschaft des großen Czernebog an gehörenden und 1813 in Deutschland zurückgebliebenen Kosackenworte und erinnerte bedeutungsvoll mit dieser Anrede den jungen Demagogen, daß er seine Gesinnung schon neulich als auf »Anno Köpenick« lautend genannt hatte.

Der Wagen fuhr von dannen ...

Und an einem Kreuzweg hielt wiederum ein berittener Gensdarm.

Was geht denn hier vor? fragte Thiebold höchst erstaunt und plötzlich jetzt von großer Sammlung und viel Vernunft.

Benno ahnte fast, daß er einer großen Gefahr entronnen war.

Diese Zusammenziehung von Bewaffneten stand ohne Zweifel in Verbindung mit der geheimen Versammlung drüben im Roland ...

Seine Empfindungen über diese Vermuthung schloß er tief und stumm in sein bewegtes Herz ...

Die jungen Männer beschlossen, den räthselhaften Flüchtling die Nacht über zu begleiten, bis sie irgendeine der Postrouten erreichten, wo Armgart die Diligence besteigen konnte, um an den Ort ihrer nächsten Wünsche zu kommen, ins Stift Heiligenkreuz, wie sie sagte, bei Witoborn oder nach Westerhof zu Paula.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wie es dann immer höher und höher ins Gebirge ging, lag die Gegend den Rückblickenden im Mond licht so geisterhaft und märchenhaft da, wie ihnen ihre eigene Stimmung ...

Der Strom, die Berge, die Ortschaften, alles wie verklärt ...

Ein einziger stiller Friede ausgebreitet über soviel Leidenschaft, soviel Haß, Kampf und Gefahr ...

Dabei stiegen noch Raketen auf aus den Weinbergen, wo man schon frühzeitiger die Weinlese begonnen – alles das so harmlos, wie zu Lust und Freude ...

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Immer lauschiger wurde es am Wege ringsum und dunkler wurde der Wald zum Gebirge zu ...

Eine Abtei lag in zertrümmerten von Buschwerk überwucherten Rundbogen, recht wie ein Zufluchtsort mitternächtiger Geister ...

Wie schlummernd ragten ringsum die Tannen ...

Nur die Fledermäuse huschten auf und die kleinen Schlangen eilten über den Weg hinwegzukommen, fliehend vor den jetzt langsam bergauf ziehenden Rossen ...

Aus dem Walde tönten so seltsame Laute, wie vom Fuchs auf dem Raube und von der nur des Nachts die Augen öffnenden Eule ...

Ein großer dunkler Vogel flog quer über den Weg, so mächtig, so weitausgeflügelt, als wţr' es ein Adler gewesen.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Da kam ein neues Piket von Gensdarmen ...

Es umringte ein offenes Wägelchen, das rasch an ihnen, niederwärts, vorüberglitt ...

Erst als sich Benno über diese neue Begegnung mit den Wächtern der öffentlichen Sicherheit gesammelt hatte, fiel ihm die Gestalt auf, die auf dem Wägelchen gesessen ... Zusammengedrückt, im bloßen Kopfe, eine Pferdedecke über die Schulter geworfen, hatte jemand dagesessen und geblickt mit stieren Augen, wie die Augen der Hyäne leuchten mögen beim nächtlichen Raube, wenn sie vom Wege, die Löwen schon am Platze fürchtend, angstvoll zur Seite schleicht ...

Vor und neben dem Gefangenen saßen zwei Männer in bürgerlicher Tracht, fest und aufrecht ...

Anfangs glaubte Benno, seine Phantasie spiegelte ihm die Entdeckung des Mörders der Frau von Buschbeck in Jodocus Hammaker vor ...

Indem trabte ein Reiter an ihnen vorüber, in grauem Militärmantel mit rothem Kragen ...

Der Mantel schlug im schnellen Vorüber auf ... Der Reiter war ein Bürgerlicher ...

Assessor von Enckefuß! rief Benno ihm nach ...

Der Reiter hörte nicht.

Thiebold war schon lange in eigenthümliche Gedanken verloren und schien für jeden äußern Eindruck abgestorben ...

In größter Aufregung fuhr Benno fort:

Nun, mein Freund, da sehen Sie wie »diese Menschen«, wie Sie sie neulich zu nennen beliebten, die Augen offen halten und am rechten Platze Muth und Kraft in Muskeln und Adern haben!

Wie so?

Bemerkten Sie denn nicht eben? –

Was?

Keine Täuschung! Der Mörder der Buschbeck ...

Wovon sprechen Sie?

Sahen Sie denn nicht?

Wen?

Den Assessor von Enckefuß –

Ich glaube, Sie träumen!

Eine eiserne Zeit wird kommen! Nicht sechs Wochen ins Land –

Sechs Wochen, glauben Sie, daß diese Reise –?

Ich begreife – was Dante zu den Ghibellinen zog!

Und während Thiebold jetzt seine in solchen Fällen gewöhnliche Wendung: »Warum haben Sie nur ewig die Malice, in meiner Gegenwart gelehrt zu sein! Wer war dieser Dante? Wer sind die Ghibellinen?« heute wie abwesend und wie völlig über den Sänger der Hölle und des Fegfeuers und des Paradieses unterrichtet unterdrückte, klopfte Armgart von drinnen an das Fenster und bat mit zagender Stimme, da es draußen gewiß bitter kalt würde, die Freunde möchten doch hereinkommen ...

Benno und Thiebold fühlten, daß diese von Armgart gesprochenen Worte nur so leise tönen konnten vor Thränen ...

Der Wagen hielt an ...

Schweigend stiegen die Freunde ein ...

Thiebold mit der Entdeckung, die er erst seit einer halben Stunde gemacht: Armgart wird auch von Benno geliebt! ... Benno in einer Aufregung, die mit mächtigster Gewalt plötzlich alle seine Gedanken mitten in die Erörterungen zurückversetzte, die er kürzlich mit Bonaventura gepflogen beim abendlichen Wandeln am Stromesufer ...

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Und wer weiß, ob nicht auch Bonaventura noch stand und in demselben Nachthimmel seine Zukunft suchte und, durchschauert von bangen Ahnungen, der Worte des alten Kirchenvaters gedachte: »Steh' auf um Mitternacht, blick' in das Heer der Sterne und deute dir die tiefe Stille!«

Wenigstens wohnte er, ein Leichenbegleiter in jeder Beziehung, nachdem er dem großen Conduct der endlich zur Nachtruhe gekommenen »Frau Hauptmännin« am Sonnabend gefolgt war, auch Sonntag Nacht dem Officium und den Vigilien bei, die in der kleinen Kapelle neben dem Kreuzgang der Kathedrale am kerzenerleuchteten Katafalk des verstorbenen greisen Domherrn unausgesetzt bis zum Montag morgen gehalten wurden, wo erst sein Vorgänger, in dessen Stelle er rücken sollte, mit seinen »gesammelten Origines-Lesarten« unter die steinernen Vliesen des Kreuzgangs eingesenkt werden durfte; denn der Sonntag – »ist des Herrn«.

Ende des dritten Buches.

Vierter Band
Viertes Buch
1.

Noch blieb der Winter aus und schon hatte das neue Jahr begonnen ...

An einem milden Novemberabend wurde Graf Truchseß-Gallenberg von seinem kirchenfürstlichen Stuhl mit einem Aufgebot zahlreicher Truppen entfernt – in eine ostwärts gelegene Festung geführt – mit ihm Eduard Michahelles ...

Keine Hand hatte sich gerührt, die gewaltige Entschließung des Landesherrn zu hindern. Diejenigen, die sich für diesen längst erwarteten Schritt der Regierung zu offnem Widerstande gerüstet hatten, wurden an jenem Septemberabend im Gasthaus zum Roland am Hüneneck aufgehoben und befanden sich seit Monaten im Gefängniß – Stephan Lengenich, Joseph Zapf, ein Arzt, ein Priester, einige Gemeindevorstände, Ackerwirthe, Schreiber, Landleute ...

Die fortdauernd milde Witterung begünstigte aber dasjenige, was Dominicus Nück den »Treppenwitz« nannte.

Jeden Abend in den Straßen ein zu spät kommender Protest ... Rottirungen, Patrouillen – Zusammenstöße – einzelne Verwundungen –

Die Aufregung hatte sich ganz Deutschland, ja Europa mitgetheilt. Auch im Osten wurde von derselben Regierung ein anderer Erzbischof aufgehoben. Eine wilde Zeit! Sie entfesselte Geister, die der protestantische Fürst nicht geahnt hatte und die nach langem glücklichen Frieden ihm die Ruhe seiner letzten Lebensjahre rauben sollten ... Vom Vatican hatte »der Knecht der Knechte« am 10. December in einer Allocution an die Cardinäle Blitze geschleudert. Das kirchliche Leben stockte in den Landen, die zunächst betheiligt waren; wie Bann und Interdict, wie der Fluch auf Feuer und Wasser lag es auf der Ordnung des Lebens, allen Handlungen der Kirche, allen Weihen und Segnungen; der apostolische Stuhl hatte keine Stellvertretung anerkannt, die geweihte Hand des Priesters Immanuel fehlte, sie, die allein die Fasten, Ablässe, Dispense, Consense ertheilen konnte; rings waren die Wege des Heils gesperrt, da niemand die Vollmachten Christi besaß, die allein für diese Zeitlichkeit der Schlüssel Petri unter Verschluß hält. Die, welche nach dem Willen des Landesherrn den entthronten Kirchenfürsten zu ersetzen hatten, die Kapitel, die Administratoren, geriethen in Schwankungen, in Angst und Schrecken über ihr vom Heiligen Vater verwirrtes Gewissen. Die Lämmer flohen vor den Hirten ... Nück und die Sporenritter und die Hunnius riefen Feuerjo! daß der rothe Hahn auf allen Palästen und Staatskanzleien drohte und das Vaterland in eine Spaltung gerieth, wie wenn Tilly wieder vor den Thoren Magdeburgs stehen sollte.

Nück's bei alledem von ihm geleiteter »Treppenwitz«, seine zu spät gekommene Antwort auf die kühne That der »Neunmal-Weisen«, hatte sich nur seit den Festtagen etwas gemildert ...

Auch hatte am Morgen nach dem heiligen Dreikönigsabend Jodocus Hammaker unter dem Messer der Guillotine geendet.

Der Mörder des Fräuleins Brigida von Gülpen, genannt Frau Hauptmann von Buschbeck, gestand Dinge, die der Herrschaft »der Achselklappen mit den numerirten Knöpfen« und der »Avantgarde des großen Czernebog« verdrießlich sein mußten, denn er zog vor, mit der Kirche, der er nicht minder gedient hatte, im Frieden zu scheiden. Nück vertheidigte ihn. Der Mörder dankte ihm für seine Anstrengung, ihn vor den Assisen durchzubringen, mit manchem schmachtenden Blicke, den er aus seinem so kunstvoll beherrschten, doch verzweiflungsvollen Auge auf ihn warf, mit manchem gen Himmel gerichteten Aufseufzer, und nur einmal, als ihm Nück beim Plaidiren und gerade seine Dose ziehend schaudernd eine Prise verweigerte, die der Freche von ihm zu nehmen begehrte, da zuckten seine weißen Augen unheimlich drohend auf ... doch der Agent beherrschte sich, schonte alles, was die eine seiner beiden Schultern getragen hatte, die kirchliche, und nur in seiner letzten Beichte, die er dem neuen jungen Domherrn, Herrn Bonaventura von Asselyn, gesprochen, mochte er Rückblicke gegeben haben auf sein Leben und Enthüllungen auch über den Verdacht, ob er einst einen Mann aufhing, der ihn jetzt noch einmal, wie schon früher vertheidigte.

Nach diesem entsetzlichen Zwischenspiel, das der Armesünder keineswegs durch übergroßen Heldenmuth zum Volksschauspiel »auf Applaus« machte, war es einige Abende recht still geworden ... Auch war der Carneval abgesagt. Ihr Theuerstes opferte die Stadt, um zu beweisen, daß der Stellvertreter Christi mit Recht diese Zeit den schlimmsten der Propheten verglichen hatte.

Im Englischen Hof, in einem der ersten Hotels der Stadt, waren, wie seit einigen Wochen allabendlich, mehrere Fenster erleuchtet. Die Frequenz der Stadt hatte abgenommen. Niemand mochte dem Ansinnen der Loyalität, Feste zu geben, entsprechen und da manche Familie auch ihrerseits wieder vor dem Schein der Demonstration sich fürchtete und lieber auf dem Lande blieb, so fiel es auf, wenn irgendwo sich Leben zeigte in einer Stadt, der die geheimen Lenker in allem und jedem Trauer angesagt hatten.

Aber auch jene Fenster oben im ersten Stock des Englischen Hofes werden bald nicht mehr an jedem Abend erleuchtet sein ...

Schon ist ein großer Reisewagen in der Einfahrt sichtbar, der, vorn und hinten bepackt, morgen aufbrechen und die oben wohnende Herrschaft nach Belgien und an den Strand des Meeres entführen wird, von wo aus es dann weiter gehen soll nach England ...

Ein Reisecourier ordnet am Wagen. Ein anderer Diener hat die Gräfin von Salem-Camphausen, die Mutter des Grafen Hugo, in einem Miethwagen begleitet, in welchem sie noch einige Abschiedsbesuche macht ...

In dem einen der oben von ihr seit zwei Monaten bewohnten Zimmer brennt etwas düster eine große Astrallampe auf einem runden, mit einem Teppich bedeckten Tische. Eine andere, hellere, wenn auch kleinere Lampe bescheint ein kleines Schreibbureau, an welchem eine Dame sitzt und mit Emsigkeit die Feder führt ...

Alles still um sie her ... Beträte auch ein Fuß das geräumige Zimmer, dem man die einer Abreise vorangehende Unordnung nicht ansieht, der Schritt würde durch einen Teppich gemildert werden ... Eine kleine wiener Reiseuhr steht neben der Schreibenden, die zuweilen wie mechanisch auf sie hinblickt und sich flüchtig über den schnellen Lauf der Zeit zu wundern scheint, obgleich sie darum im Schreiben immer noch fortfährt ...

Die Dame ist nicht, wie seit dem 20. November alles, was in dieser Stadt der gemeinsamen Stimmung Rechnung trägt, schwarz gekleidet, nur dunkelfarbig ... weit ausgebreitet bauscht sich um sie her ein einfacher seidener Stoff ... ein Spitzentuch, das den Nacken bedeckt, ist herniedergeglitten ... ja an dem zurückgehenden Ausschnitt des Kleides kann man entnehmen, daß die emsige Schreiberin, um die Brust zu schonen, sich's unbewußt bequem gemacht hat ... Man sieht die Fülle der Anmuth und der Jugend.

Sie blickt auf und athmet wie erschöpft ... Die saubern Octavblättchen, die sie vollgeschrieben, zählt sie und lächelt, da es deren so viele sind ... Dies Lächeln sollte uns nicht fremd sein ... Es hat Aehnlichkeit mit jener Duldermiene, die das Lächeln Armgart's dem Blick der Madonnen Murillo's so ähnlich macht ... An dem seltsamen Glanz der langen Locken, die auf den weißen, durch Zufall entblößten Hals der jetzt Lesenden niedergleiten, erkennen wir Armgart's Mutter, die Oberstin von Hülleshoven, Monika von Ubbelohde.

In der That hat der Winter nie so nahe beim Frühling gewohnt. Nie ist der letzte Schnee in anmuthigerm Neckspiel auf die ersten Blüten eines Gartens gefallen. Nie hat der Sonnenstrahl zur Osterzeit so schnell die letzten Flocken der noch eisigen Lüfte hinweggeküßt. Oder müssen wir von einem Hagelwetter sprechen, das grausam seine Eiskörner zurückgelassen unter Rosen und Lilien? Monika's Locken sind grau.

Monika ist eine Frau mittler Größe, nicht von übervollen, aber runden Formen. Ist ihr Antlitz jetzt nur vom Ueberbeugen so geröthet oder trägt es dies frische Incarnat für immer? Fast möchte man letzteres glauben, wenn man die schwellende Röthe der Lippen vergleicht, die ein wenig sich öffnen, weil sie leise vor sich hin das liest, was sie geschrieben ... Ihr Blick ist ernst. Die Hand, weiß und klein, hält die Blätter etwas zu nahe dem Auge. Wer weiß, ob nicht auch diese schönen braunen Augen gelitten haben von viel Thränen, die sie vergossen haben mochte? Bei alledem liegt auf der Stirn ein seltener Friede. Oder ist es nur eine große Klarheit, die ihre Vorstellungen zu einem Lichte hindurchgerungen hat, das nun auch diese Stirn so edel erhellt? Eine Stirn, die unharmonisch ist, entstellt ein ganzes noch so zierliches Antlitz. Die Stirn dieser jungen Frau stieg sanft aus den eingesenkten Schläfen und erhob sich nur oben, dicht an den gescheitelt niedergleitenden grauschimmernden Locken, deren an jeder Seite drei bis auf die in dem Lehnsessel sich aufstemmenden Oberarme fielen, zu einem leisen Hervortreten zweier Flächentheile, die in der Mitte durch eine einzige sanfte Linie getheilt waren. Die Rundung des Kopfes, dessen Hintertheil ein unterm Kinn zusammengebundenes Flortuch von schwarzer Seide bedeckte, war der Ausdruck eines Wesens, das die Harmonie und mit ihr die Gerechtigkeit liebte. Die Augenbrauen waren dunkel, nicht von dem Loose des Haares betroffen. Zitterten die Blättchen in der Hand der Lesenden, so war nur die Haltung der Arme, die sich auf die Lehnen des Sessels stemmten, schuld daran, nicht die bangende innere Aufregung, denn mit Ruhe, Fassung, mit dem Ernst eines Denkers überliest die junge Frau, was sie geschrieben.

Die Blätter lauteten:

»Seit vier Monaten, meine theure Freundin, haben Sie nichts von mir vernommen und vielleicht zu buchstäblich hab' ich mein Wort gehalten, Sie zu verschonen mit den Aufwallungen über halbe und unentschiedene Zustände.

Ich habe nicht in Anschlag gebracht, daß schon seit der Rückkehr des Obersten die Vorbereitungen getroffen sein mußten, Armgart so bald als möglich wieder nach Westerhof zurückzurufen. Unmittelbar nach meinem Briefe suchte ich einzutreffen. Kaum hatt' ich von den Zimmern, die Herr von Terschka für mich bestellte, Besitz genommen, als ich mich in einen Nachen setzte und zur Insel Lindenwerth hinüberfuhr. Ich wiederholte eine der Scenen, deren vor Jahren so viele stattgefunden. Damals, in der seligsten Gewißheit, am Ziele zu sein und mein Kind zu besitzen, es zu überraschen im Schlummer, es entdeckt zu haben in einer Köhlerhütte, bei einem Förster im Walde, hatten mein Schwager und meine ihm verbundene Schwester den Raub, den sie an zwei Aeltern begingen, schon wieder an einen andern Ort geborgen, nur daß ich diesmal nicht die mir tödlichen Worte in einem zurückgelassenen, immer gleichlautenden Briefe fand: ›Dein Platz ist – in der Kaserne beim Olivaer Thor in Danzig; dort wirst du dein Kind finden!‹ Aber ebenso stand ich wieder wie sonst. Muttergefühl und Stolz im Kampf. Nach halbstündigem Warten auf Armgart merkt' ich, daß sie nicht mehr auf der Insel war. Die Englischen Fräulein schienen aufs äußerste bestürzt; eine der Lehrerinnen war im Geheimniß. Als alles geweckt wurde und ich sehr gern den Nonnen eingestand, daß ich sie für unbetheiligt hielt am Verstecken meines Kindes, als die Lehrerin ringsum wirkliche Angst über einen möglichen Unglücksfall bemerkte und gestanden hatte, daß Armgart entflohen war, da hinderte ich selbst, daß man die Schiffer antrieb ihr nachzueilen. Wie sonst aus den Köhler- und Waldhütten ging ich, ich will nicht mehr sagen, mit dem Trotz meiner Jugend, aber doch so vernichtet und auf die erste Hoffnung tief erkältet, daß ich, wie schon oft im Leben, den Eindruck einer Frau ohne Herz zurückgelassen haben mag, als ich schweigend auf meinem Boot zum Ufer fuhr.

Am folgenden Morgen besuchte mich die Lehrerin. Der Armen hatte man, als verdächtig, eine Flucht aus dem Pensionat unterstützt zu haben, sofort gekündigt. Das schon ältliche Mädchen dauerte mich. Sie sprach ihr Leiden nicht aus, das das gewöhnliche verblühender Jugend und des unterrichtgebenden Tagelöhnerns schien, aber ich sah es ihr an und vertraute ihrer Erzählung. Das Mädchen schien mich nicht für würdig zu halten, ganz in ihr Inneres zu sehen. Ich war ihr ›die Mutter, die ihr Kind aufgeben konnte‹. Erst als sie wiederholt auf mein graues Haar und den Ursprung desselben, den sie etwas ungläubig aus dem Kummer herleitete, zurückkam und ich jetzt, lächelnd sogar bei allem Leid, ihr sagen mußte: Liebe, Sie stellen mich viel zu hoch! Dies Erblinden meiner Haare stammt aus einer Lebensgefahr, in die ich mich einst begeben hatte, als ich mich vierzehn Tage lang versteckte, versehen nur mit einem Körbchen Proviant, ohne Wasser und auf den Augenblick harrend, wo ich die Wahnsinnigen, mit denen ich im Kampfe lebte, überraschen wollte – man fand mich endlich fieberkrank und der Typhus raubt oder bleicht uns das Haar –! – da wurde sie mittheilsamer und erzählte mir, was in Armgart's Seele so vorgegangen, als wäre ganz der Geist ihrer Tante Benigna über sie gekommen, dieser Velledennatur, die der Meg-Merilis Walter Scott's nicht unähnlich ist, ohne daß meine Schwester je den Hochlandsdichter gelesen haben mag. Ebenso will das Kind richten über mich und den Vater und setzt sich als Preis für unsere Aussöhnung! Die Lehrerin erbot sich zur Vermittelung mit dem Obersten, der so nahe wohnte und in dessen ganzer Art es liegt, daß er nicht einmal den Versuch machte, sich umzusehen, wo er seinem einzigen Kinde begegnen könnte, geschweige es an sein Herz zu reißen. Ich lehnte die dargebotene Hülfe ab und verwies auf das, was vom Obersten mich immer getrennt hat und was uns ewig trennen wird.

Von Herrn von Terschka erfuhr ich dann alle nähern Umstände dieser Flucht. Sie kennen seine unermüdete Gefälligkeit. Ich erfuhr die kleinsten Details. Begleitet von zwei ihr bekannten jungen Männern war das wahnbethörte Mädchen nach einer nächtlichen Fahrt auf die Station einer großen Postroute gebracht worden, wo sie die Diligence bestieg und nach Witoborn fuhr.

Ich konnte ihr nicht folgen. Die Nähe so vieler Feindseligkeit beängstigte mich auch bei Lindenwerth. Ich schrieb einige Worte an den Dechanten und begab mich nach Belgien und Ostende, wo ich die Gräfin erwarten wollte, um sie, wie früher gehofft, mit Armgart, nun vielleicht allein nach England zu begleiten. Die Ankunft derselben verzögerte sich. Ich wartete wochenlang und sah das Meer in allen seinen wechselnden Launen, in seiner Größe und Gefahr, unheimlich und selbst im Sonnenschein und bei Windstille dem Menschen nicht wohlwollend. Die Jahreszeit wurde rauher, die Stürme tobten, die See ging hohl – eine Welle, die schon von weither rollt und über dem gefurchten Spiegel sichtbar wird wie eine glattgeschliffene riesige Sichel, immer näher kommt, immer mächtiger in ihrem weißen Gischt anwächst und dann sich auf den Strand wirft, hat etwas so unbarmherzig Unerbittliches, daß ich selbst vom schützenden Leuchtthurm aus nicht mehr diesem Spiele zusehen mochte. Ich reiste der Gräfin entgegen, die endlich in Frankfurt angekommen war.

Aber schon in der Residenz des Kirchenfürsten begegneten wir uns und haben wir hier die stürmischen Tage der Gefangennahme desselben erlebt. Die Gemüther waren und sind noch in einer Aufregung, die den Verkehr mit ihnen peinlich macht, zumal wenn man mit einer Protestantin auftritt, die so entschieden wie die Gräfin an ihrem Bekenntnisse festhält und hier überall mehr Mistrauen und Feindschaft, als Entgegenkommen findet. Die Rechte ihres Sohns auf die Dorste'schen Besitzungen sind unantastbar; die Processe, die man dagegen aufbrachte, sind in drei Instanzen zu Gunsten des Grafen Hugo entschieden worden. Terschka ist schon nach Westerhof, um die Uebernahme der Güter und die Verständigung über Paula's Zukunft zu beschleunigen. Sie kennen meine Verehrung vor der hoheitsvollen Gesinnung dieser ehrwürdigen strengen Matrone. Schon mit ihrem Erscheinen entwaffnet Gräfin Erdmuthe jede Feindseligkeit; selbst der gefährlichste ihrer Gegner, der Procurator Nück, windet sich vor ihr, als wenn schon ihr Blick etwas Zähmendes und Bändigendes hätte; gerade ihm gegenüber thut die sittliche Macht des festen Willens und der reinen Ueberzeugung auch noth, da er noch bis zur Stunde, obschon alles für seine Clienten, die Geistlichen, die Klöster, die Stifte, die Landschaft, verloren ist, sich dem Unvermeidlichen nicht fügen will, zumal seit dem 10. December, wo von Rom aus hier alles wie mit unsichtbaren Schwertern bewaffnet ist.

Eine freundliche Erscheinung waren mir die beiden jungen Männer, die an jenem für mich so schmerzlichen Sonntage Armgart auf ihrer Flucht begleitet hatten. Benno von Asselyn arbeitet bei Herrn Nück und mußte sich leider als ein Gegner der Gräfin einführen. Doch verständigte die würdige Frau sich bald mit dem jungen unterrichteten Manne, der für einen Neffen des Dechanten gilt, aber nur ein Adoptivsohn seines Bruders ist und eine Spanierin zur Mutter haben soll. Der andere ist ein junger reicher Kaufmann, Namens Thiebold de Jonge, eine heitere, lebensfrohe Natur, etwas beschränkt, aber desto reicher ausgestattet mit jenem Enthusiasmus, der bei allen Dingen immer präsent ist, was man bei den blasirten jungen Männern dieser Tage nur noch selten findet. Herr de Jonge gestand mir in aller Offenheit, daß er mich nur mit großem Mistrauen betrachte, denn sein Herz gehöre dem Obersten, der ihm vor einigen Jahren in Canada das Leben gerettet. In Wahrheit aber gehört sein Herz nur Armgart. Sie scheint schon früh das Talent zu haben, die Männer zu verwirren. Herr von Asselyn und dieser junge Kaufmann lieben sie beide und ich weiß nicht, wem sie den Vorzug gibt. Wenigstens scheinen sich die jungen Männer resignirt zu haben, sich ihrem eignen Ausspruch zu unterwerfen.

Natürlich war ich auch ihnen eine ganz herzlose Mutter. Erst seitdem sie zufällig in Erfahrung brachten, daß ich damals, als ich mich von meiner Krankheit erhob und im Spiegel mein graues Haar erblickte (allerdings in der Verzweiflung – weiblicher Eitelkeit!) mit allem brach und zu Ihnen in ein Kloster reiste, wo man, wie hier bei den Karmeliterinnen, nicht etwa Näharbeiten fertigt, höchstens ein paar Unterrichtsstunden gibt und die übrige Zeit im Müßiggang vertändelt, sondern in ein Krankenhaus, in dessen stündlichem Geschäftsgang ich die Vergangenheit vergessen wollte, da milderte sich auch hier ein wenig das Mistrauen und ich muß schon über mich wachen, nicht etwa mich mit Lorbern zu schmücken, wenn ich von Ihnen und meinem Tode in Ihrem Kloster spreche.

Statt Armgart soll die Gräfin nun nach England eine Italienerin begleiten, ein junges Mädchen, das die Gräfin aus ihren Besitzungen in Piemont kannte und hier wiederzufinden sich wahrhaft gefreut hat. Die Gräfin ist die Güte selbst und würde alles glücklich machen, wenn sie dazu die Mittel besäße. Sie warnten mich vor ihrem Lutherthum! Freundin, seit den langen Jahren, daß ich an Ihren Krankenbetten lebte, hab' ich über die Religion in jedem Augenblick nachgedacht, nie aber über den Unterschied der Religionen. Auch Sie, theure Freundin, Sie, Aebtissin der Hospitaliterinnen, die Sie noch zu den Barmherzigen Schwestern alten Stils gehören, nicht zu den neuen, mit denen Vincenz von Paula den Jesuiten ein Geschenk machte, Sie haben mir ja selbst – wie oft gestanden, daß Sie die Zumuthung nicht ertragen würden, die Ihnen die Römlinge stellen, in Ihr Kloster neue religiöse Vorschriften einzuführen! Eines kann der Mensch nur vollbringen, entweder Gott in der Erfüllung seiner Pflicht dienen – oder sich ganz der Betrachtung ergeben und ausruhen und phantasiren und träumen. Wenn Sie noch beten und singen sollen, sagten Sie selbst, können Sie nicht die Kranken pflegen. Die wahre Religion ist die Pflichterfüllung und ein ganzes Versenken nur in sie allein. Das beste Gebet ist eine That, die auf Gottes Beistand deshalb rechnet, weil sie gut ist. Ich höre hier zuweilen die Predigten eines neuen jungen Domherrn, eines Verwandten unsers Benno von Asselyn, der einen außerordentlichen Zulauf hat und der noch der Last der an ihn gestellten Zumuthungen, namentlich im Beichtstuhl, erliegen muß, wenn er sich nicht Schonung gönnt. Noch neulich sprach er die Worte, die ich nur gewünscht hätte von ihm weiter ausgeführt und auf die Gegenwart anders gedeutet zu sehen: ›Wir bewundern und fassen es jetzt gar nicht mehr, wie das Christenthum in den alten Zeiten verherrlicht und bekannt wurde! Nicht nur war es die tägliche Ordnung alles Lebens, des öffentlichen wie des gesellschaftlichen und häuslichen, sondern der stündliche Ausdruck jedes Gefühls, jedes Gedankens, der stete Begleiter des Seufzens im Kummer, wie der Begleiter des Jauchzens in der Freude. Festzüge sah man und sie verherrlichten nur die Vorgänge der heiligen Geschichte – er strafte damit den kindischen Kummer um den verbotenen Carneval –; man sah Schauspiele wie jetzt und sie unterhielten durch die Geschichte der Passion; jeder Gedanke der Kunst, der Bildung, der Gelehrsamkeit war zu gleicher Zeit ein christlicher Gedanke.‹ – Nun wohl, flüsterte ich schon nach der Beendigung dieser Predigt der Gräfin zu, die sich entschlossen hatte, diesen Domherrn einmal zu hören (eine merkwürdige Aehnlichkeit desselben mit einer italieschen Bekanntschaft von ihr, auf die sie von der obengenannten jungen Italienerin aufmerksam gemacht worden war, zog sie an und wurde von ihr bestätigt): warum fügte er nicht hinzu, die Kenntnisse haben sich erweitert, die Anschauungen sind umfassender, die Pflichten verwickelter, die Lebensäußerungen mannichfaltiger geworden? Wenn jetzt nicht mehr jede einzelne Lebensthat die christliche Signatur tragen kann, so genügt es ja schon, wenn sie dem Christenthum nicht widerspricht ... Freilich hat auch die gute Gräfin ihre Herzensberuhigung nur zu sehr darin gefunden, daß sie nach dem Standpunkte, auf dem sie einmal steht, dem Standpunkt des Grafen Zinzendorf –«

Bis hierher hatte Monika von Hülleshoven geschrieben ...

Sie las die Blätter nur deshalb wieder durch, weil sie den Faden ihrer Erzählung verloren hatte, und eben fand sie ihn, wollte eben weiter schreiben, mittheilen, daß sie trotz des fertigen Gepäckes bis zur Stunde noch im Zweifel wäre, ob sie morgen nach England mitgehen sollte, als sie im Nebenzimmer die sanften Accorde einer Guitarre hörte ... Sie wußte, daß sie von Porzia Biancchi kamen, die schon zur Reise alle ihre eigenen kleinen Geräthschaften geordnet hatte und vielleicht eben noch ihre Guitarre einpackend sich nicht überwinden konnte, das Instrument, das sie mit Gewandtheit spielte, anzuschlagen ...

Allmählich wurde aus den Accorden ein Lied und Monika hörte nun zu schreiben auf ... Ob sie wol endlich wahr macht, sagte sie sich, was sie uns so oft versprochen, daß sie einmal singen würde? Ich glaube, sie fürchtet sich immer nur vor der Gräfin, die die menschliche Stimme nur geschaffen erklärt zum Lobe Gottes!

Leise und wie schüchtern erklang zu den angeschlagenen Accorden ein melodischer Gesang ... Porzia hatte eine schöne Altstimme ... Monika, um die italienischen Worte zu verstehen, lauschte ...

Indem meldete der Courier einen Besuch und wollte im Nebenzimmer, wo Porzia sang, gleichfalls mittheilen, daß es Marco Biancchi war, ihr vor vier Monaten aus England gekommener Onkel, der in großer Eile sie zu sprechen begehrte ...

Lassen Sie doch! sagte Monika und bedeutete den Meldenden, die Sängerin nicht zu unterbrechen. Sie wollte den Italiener selbst empfangen ... Der Sprache desselben war sie mächtig ... Sie sagte, sie würde Porzien das Nöthige dann schon mittheilen ...

Marco Biancchi kam in großer Aufregung. Er wollte der Gräfin ankündigen, daß er mit ihr zugleich nach England reisen würde, wo er seit Jahren schon heimisch geworden ...

Monika wußte, daß er von dieser Stadt aus noch weiter ins Innere Deutschlands wollte, daß er für seine Kunst, Bilder zu restauriren, Aufträge nach Frankfurt und München hatte und zuletzt einen dritten Bruder zu besuchen gedachte, der in Wien lebte und ihr selbst wohlbekannt war als ein dort vielgesuchter Musiklehrer ...

Auf ihr Erstaunen, wie er seinen Plan so schnell hatte ändern können, gab Marco ausweichende Antworten und bald bemerkte sie, daß seine Rückkehr nach England keine freiwillige war, ja daß er mit einem längeren Verweilen in dieser Stadt sich einer Gefahr aussetzen würde ...

Porzia schien so in ihrem Gesang verloren, daß sie die nicht leise geführte Conversation des Nebenzimmers nicht hörte ... sie sang und spielte alle die Lieder, die sie schon im Gasthof Zum goldnen Lamm, auf Befehl ihres längst nach Frankfurt zurückgekehrten Vaters, dem Onkel Marco sogleich nach dem ersten Wiedersehen als Probe ihrer Gaben hatte vortragen müssen ...

Theils das angeborene lebhafte Naturell, theils das Gefühl von Sicherheit, das in einer in der vaterländischen Sprache geführten Conversation für ihn lag, veranlaßten das Geständniß des Italieners, Herr Benno von Asselyn hätte ihn aufmerksam gemacht, daß eine der Sicherheitspolizei angehörende einflußreiche Person ihm dringend anriethe, sofort Deutschland zu verlassen. Er würde bereits seit seinem ersten Ankommen beobachtet und gelte für einen Emissär der auf englischem Boden stattfindenden italienischen Conspirationen ...

Für Monika war es nach dem ersten Ausdruck des Bedauerns und Erstaunens wohlthuend, in Verbindung mit einem, wie sie bald sah, so wohlangebrachten Rathe den Namen Benno's zu vernehmen, der seit einiger Zeit sie nicht wieder besucht hatte, während Thiebold fast alle Tage kam und längst auch für sie seine gewohnte Schwärmerei zur Schau trug ...

O das ist ja brav von Herrn von Asselyn! sagte Monika und forschte teilnehmend: Würden Sie sich denn nicht gegen diesen Verdacht haben rechtfertigen können?

Die Miene des Italieners wurde eigentümlich von dem Gesange seiner Nichte begleitet ... Es war ein Ausdruck, der zwar zunächst nur der der Verschmitztheit schien und doch mischte sich ihm etwas Elegisches bei, das Monika vollkommen als die Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit erkannte. Ja wäret ihr Italiener wirklich nur fähig, die Freiheit zu ertragen! sagte sie. Ihr seid aber wahrhaft ein Volk von entthronten Königen! Entweder müßt ihr herrschen oder in Ketten gehalten werden. – Deshalb verstand euch Napoleon so gut! Weil nur Er herrschen wollte, hat er euch mehr mit Füßen getreten, als irgendeine andere Nation!

Italia la regina del mondo! rief Marco und begann, sich in die Stimmung des leisen Gesanges nebenan versetzend, eines der vielen Gedichte zu recitiren, an denen für dies Thema seine Nation so reich ist und deren Zahl auch jeder einigermaßen gebildete Italiener durch die Kunst der Improvisation zu vermehren weiß ...

Deshalb wollt ihr die Freiheit für euch, unterbrach Monika seinen langen Monolog, um sie wieder den andern Völkern zu entziehen!

Wir wollen nur das Joch der Fremden brechen! rief Marco. Ein Volk von Brüdern, von den Alpen bis zum Meere! Ein einziger Bund von Bruderstaaten! Republik oder Monarchie, nur keine Trennung mehr!

Aber dem Schlüssel Petri gönnt ihr dabei alle Pforten des Himmels, nur am wenigsten die eurer großen Roma! Ihr wollt ihn ganz nur zu einem Heiligen machen und aus der Liste der weltlichen Souveräne streichen! Aber thätet ihr das, so hat ja eure letzte Stunde geschlagen! Alle katholischen Nationen würden sich zu einem neuen Kreuzzuge rüsten und Rom würde, wenn es den Kampf aufnähme, zerstört werden.

Das ist schon oft geschehen! erwiderte Marco mit einiger Ironie. Ja, ich weiß, es gibt Italiener, die unserm Glauben untreu geworden sind! Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich will den wahren christlichen Glauben und ich will, daß er eine große Macht besitzt. Aber ein geistiges verjüngtes Rom soll herrschen! Der Heilige Vater in Wahrheit ein Vater der Menschheit, erhalten von seinen liebenden Kindern, zunächst von den Römern, die durch ihn ihre alte Freiheit und Größe gewinnen müssen! Rom, der Sitz des Lichtes! Rom, die Sonne, deren Strahlen die Erde erleuchten! Einst zitterte die Welt vor den Waffen dieser stolzen Königin, aber schon damals brachten die Imperatoren mit ihren Adlern die milden Sitten und eine Gesetzgebung, die die Freiheit selbst war und das Menschenrecht und die geschriebene Vernunft! Roms Sprache ist die Sprache der Religion, der Wissenschaft, der Denkmäler! In alle Sprachen der Barbaren mußte sie eingeführt werden, wenn sie die Gedanken der Civilisation aufnehmen wollten, für welche diese keinen Ausdruck hatten. Roms Bischöfe wurden die neuen Befreier der Welt! Der Ring des Fischers drückt das Siegel auf alle Freiheitsurkunden, die noch die Nationen den Händen ihrer Henker abtrotzen werden! Roms Hirtenstab hat die Leibeigenen befreit, die Städte gegründet, die Gemeinden geschaffen, die Republiken erleuchtet, sie geschmückt mit Bildern und mit Denkmälern des menschlichen Geistes! Rom, ohne Waffen, Rom, ein Gedanke, hat allein dem treulosen Corsen ins Auge zu sehen gewagt, muthiger, als Könige und Kaiser, die vor ihm im Staube krochen! Durch Rom wird das Christenthum erhalten bleiben als ein linder Balsam, der das Gemüth von seinen Wunden heilt! Nicht, Signora, das jesuitische Rom mein' ich, das ich hasse, weil die Jesuiten die Freiheit hassen und die Unabhängigkeit der Völker und die wahre Größe des Menschen ... Ha! Ceccone! Daß Menschen, wie du, dem wahren Rom ein falsches Gewand umhängen durften! Ceccone! Politiker statt Priester, Schergen, die die Patrioten verfolgen, statt sie zu schützen gegen die Feinde Italiens! Signora! Lassen Sie Italien frei sein von seinen Tyrannen, von seinen – Ceccones und die Geschichte wird ein Volk der Größe finden, Republiken, die sich mäßigen, ein Rom, das den katholischen Glauben wieder zur Sehnsucht aller Völker macht, auch der abgefallenen!

Das Auge des Italieners leuchtete. Sein weißes Haar schien sich zu sträuben. Der rechte Arm begleitete seine Worte wie mit den Gesticulationen der Rednerbühne ...

Monika folgte mit Aufmerksamkeit und voll prüfender Ueberlegung ... Cardinal Ceccone war ein in diesem Augenblick oft genanntes Glied der römischen Curie ... Die Arme auf die Lehne des Sessels stemmend und die Locken schüttelnd, sagte sie: Nein, nein! Es gibt andere Italiener, die an diese Siege der katholischen Lehre nicht mehr glauben wollen!

Ich verachte sie! warf ihr Biancchi entgegen.

Sie berufen sich darauf, daß gerade ein Ceccone den Purpur tragen kann!

Noch las Ceccone keine Messe ...

Nun gut! Aber aus allem, was Ihr mir von Euren Meinungen verrathet, erseh' ich doch, daß Ihr dem Unbekannten zu danken habt, der Euch rathen ließ, nach England zurückzukehren! Was aber Porzia betrifft, laßt sie nicht zu viel in der schönen Bibel lesen, bei der ich sie zuweilen überrasche und die sie so heilig zu halten scheint, wie ihre Guitarre!

Es ist das Geschenk eines freundlichen Mannes, der schon ein wenig alt ist, sonst würd' ich glauben, daß sie sich schwer von seinem Lande trennt! sagte Marco und wandte sich mit höflicher Verbeugung zu Porzia's Thüre ...

Ihr glaubt an die ewige Jugend Roms, das schon so alt ist? Dann müßt Ihr auch dem Geiste und der Liebe eine Verjüngungskraft zuschreiben! Wer ist denn der Verehrer dieser Bibel, in der Porzia so eifrig liest, daß ich fast glaube, sie studirt auch die deutsche Sprache darin, ihm zu gefallen?

Biancchi blickte immer auf die Nebenthür und schien auszuweichen, den Namen zu nennen ...

Der deutsche Name wird für Eure Zunge zu schwer sein ...

Ein Signore Hedemann ist es! sagte der Italiener festbetonend und verrieth in der prüfenden Schärfe seines Blickes, daß ihm die Beziehung dieses Namens wohlbekannt war zu dem Gatten der freundlichen Dame, die so vertraulich und wohlwollend und offenbar von seinen Aeußerungen angezogen mit ihm plauderte ... zugleich wollte er, als guter Anwalt seiner Nichte, die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, über einen Mann Erkundigungen einzuziehen, der die in St.-Wolfgang und Kocher am Fall angeknüpfte Bekanntschaft auch noch in der Residenz des Kirchenfürsten fortgesetzt hatte, als er zum Betrieb seiner Ankäufe hieher gekommen und so lange geblieben war, bis Frau von Hülleshoven von Ostende zurückkehrte, wo die Gräfin von Salem-Camphausen Porzia dann beim Wandeln in der Kathedrale entdeckte. Porzia war nach der Abreise ihres Vaters geblieben, um nach Frankfurt erst mit dem Onkel Marco zurückzureisen.

Welchen Namen nannten Sie? sagte Monika und erhob aufhorchend ihr gebeugtes, in Gedanken verlorenes Haupt ...

Remigius Hedemann! wiederholte der Italiener und setzte frank und frei hinzu: Un intendente del Signore Colonello de Hülleshoven!

Bei dieser Bezeichnung schien ihm das italienische Verhältniß zwischen Diener und Freund vorzuschweben, das bei Landbesitzern und großen Adelsfamilien sich dort noch im Sinne der alten römischen Clientel erhalten hat.

Hedemann! sagte Monika erregt und erhob sich ...

Statt dem Wunsche des Italieners entgegenzukommen und ihm nun über Hedemann weitere Nachrichten zu geben, winkte sie ihm, er möchte jetzt selbst ins Nebenzimmer treten ... aber auch Porzia hatte eben leise ihre Thüre geöffnet und die Stimme des Onkels gehört ... der Italiener trat zu ihr ein.

Wie Monika allein war, sammelte sie sich erst langsam von dem Eindruck, den ihr das plötzliche Nennen eines Namens gemacht hatte, der mit ihren ernsten Lebensbeziehungen in so naher Verbindung stand. Hedemann war, solange sie denken konnte, mit ihrer Familie in der unzertrennlichen Verbindung eines sich nie überhebenden Dieners, Rathgebers und Helfers in aller Noth gewesen ... Daß er und mit ihm der Oberst schon so in ihre nächsten Kreise eingetreten und daß dies zu ihrer Begleitung und Bedienung bestimmte junge Mädchen mit einem sie so nahe berührenden Manne bekannt war, nahm ihr fast den Athem. Auf und nieder ging sie und konnte zur Beendigung ihres Briefes nicht zurückkehren. Sie schloß die Blätter, die sie zusammenlegte, zuletzt in ein Reiseportefeuille, das sie mit der ihr ohnehin heute stündlich wiederkehrenden Empfindung betrachtete: Solltest du wirklich fliehen? Solltest du diese Reise nach England mitmachen? Was zagst du? Was trittst du nicht mitten in die Kreise ein, wo du dich so gehaßt weißt, und trotzest ihnen – wie der Oberst ...? Sie wußte von Benno, daß der Oberst vorhatte, sich in Witoborn anzusiedeln und mit Hedemann sogar einen Industriezweig zu ergreifen.

Voll Erregung klingelte sie dem Courier, ließ die große Lampe heller herrichten, befahl die Vorrichtung zum Thee, da die Gräfin unfehlbar bald zurückkommen würde, und entließ Marco Biancchi, der aufgeregt seiner auf das Klingeln gleichfalls sich einstellenden Nichte folgte, sowol mit dem Rath, dem ihm gegebenen Wink baldmöglichst zu folgen, wie mit dem Erbieten, der Gräfin von dieser Wendung die von ihm gewünschte Anzeige zu machen. Daß Marco Biancchi trotz aller angeborenen Größe und Adelswürde seiner Nation Lust zu bezeugen schien, die Reisegesellschaft der Gräfin zu vermehren und auf deren Kosten wenigstens bis Antwerpen zu fahren, bemerkte die junge Frau noch nicht. Vielleicht erschien auch dem feurigen Patrioten eine Rücksprache mit dem Kurier eine noch geeignetere Maßregel, um zu seinem Ziele zu gelangen. Porzia, sichtlich erschreckt von der vernommenen Gefahr des Onkels, begleitete ihn hinaus.

Inzwischen hörte man einen Wagen anrollen ... Monika, den Reiz einer an Porzia zu richtenden Frage nach Hedemann unterdrückend, trat an die vom Regen beschlagenen Fenster, sah in den düstern, von Laternen matt erhellten Abend, und stellte, als sie die Rückkehr der Gräfin erkannt zu haben glaubte, auch noch die kleinere Lampe auf den großen runden Tisch, den sie zum Sopha rückte. Lag dann auch in dem kurzen Blick auf einen Spiegel, in dem sie ihre einfache Toilette ordnete, die Schleifen des Geflechtes, das ihr Haar bedeckte, fester band, die in Verwirrung gerathenen Locken ein wenig aufwickelte, der Ausdruck der Sammlung und der ehrerbietigen Unterordnung unter die hochgestellte Dame, die in der That durch die weitgeöffnete Thüre eintrat, so war sie doch in einer Stimmung, wie Armgart damals, als sie mit Benno und Angelika am luftigen Hüneneck stand und in den Riesenhäuptern der Sieben Berge sieben Propheten sah – ungewiß, dem Gegebenen entrückt, »hangend und bangend in schwebender Pein«.

2.

Frauen, die nie gelächelt zu haben scheinen, Frauen, die immer ernst, thätig und handelnd ins Leben griffen, wird man darum noch nicht männlich zu nennen brauchen. Ihre Frauenart bewahren sie in eigenthümlichen, ihrem Geschlecht allein angehörenden Zügen.

Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen war eine Norddeutsche, eine geborene Freiin von Hardenberg. Ihr Gatte wählte sie, angezogen von ihrer imponirenden Gestalt und untadelhaften Schönheit. Im lutherischen Glaubensbekenntnisse waren sich beide gleich, wenn auch die strenge Form, in der die Gräfin das ihrige bekannte, vom Grafen nicht getheilt wurde. Auch trat diese Strenge bei der Gräfin erst hervor, als sie, wie Monika damals von sich an Angelika Müller geschrieben, sich selbst zu erziehen anfing. Der Graf lebte meist in Ungarn, wo unter so vielen Protestanten keine Veranlassung gegeben war, sich in der so schwierigen Geisteskraft auszubilden, mit Ueberzeugung in der Minorität zu stehen. Die Gräfin dagegen, die größtenteils allein in Schloß Salem bei Wien lebte, war mehr in der Lage, ihre Besonderheit zu kräftigen, ja zuletzt bedurfte sie eines Anhaltes gegen den General-Feldzeugmeister, ihren Gatten selbst. Nie herrschte eine Verstimmung zwischen ihnen, aber wo fängt die Bildung des Charakters im Menschen an? Von dem Tage, wo man eine Lücke unter seinen Wünschen und Hoffnungen fühlt, von dem Tage, wo man irgend worin eine große Niederlage erlitt. Graf von Salem-Camphausen hatte auf das Zufallen eines Vermögens an seine Gattin gehofft. Diese Hoffnung scheiterte. Kein Wort des Vorwurfs kam über seine Lippen, aber – die Lücke war da, der Zartsinn der Gattin empfand sie und sie mußte sie füllen. Schätze eines frivolen Geistes, die etwa in der Welt blenden konnten, besaß sie nicht; ihre Erscheinung hatte durch ihr erstes Kindbett gewonnen, durch spätere Fehlgeburten verloren; ihr einziger Sohn erforderte eine Erziehung und so schöpfte sie aus sich selbst so viel, als sie eben vorfand. Ein alter Grund von Religion war in sie gelegt worden, eine pietistische Lebensauffassung. Ihre Erzieher waren Herrnhuter gewesen, zu denen sich auch einige Zweige ihrer Familie ganz bekannten. Diese später zurückgedrängte, nicht ganz verklungene Bildung sammelte sich wieder in ihrem Innern und wurde ihr zum Ersatz für die Welt, die die Verlegenheiten des großen Hauses bemerkte, für die Zerstreuungen, die sie nie geliebt hatte, für die Hülfsmittel der Bildung, die man ihr für ihren Sohn anbot und die ihr misfielen, für den Gatten endlich selbst, der trotz seiner hohen Stellung ein sorgloser Lebemann war, einst im Bändigen eines Rosses eine Wette gewinnen wollte, sich überschlug und den Hals brach. Das Entsetzen über dies in weiter Ferne von ihr in Erfahrung gebrachte Unglück schien wie starr auf ihren Gesichtszügen festgeblieben zu sein und die Gräfin versteinert zu haben. Ausdruck für ihre Trauer suchend, fand sie sie nur in den Erinnerungen an die religiöse Bildung ihrer Jugend. Sie fand mit ihnen jenen elegischen Trost, der zwar ausruft: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt in Ewigkeit! der nun aber auch für immer den ganzen Menschen in den Zustand der Entsagung versetzt. Ein Zurückziehen von der Welt, ein starres Festhalten an ihrem Glauben schien der vornehmen Gesellschaft, von der die Gräfin schon längst kalt und schroff genannt worden, jetzt vollkommen gerechtfertigt.

Der Ort, in dem die Gräfin den in Presburg erfolgten Tod ihres Gatten erfuhr, war jenes Schloß Castellungo im Piemontesischen, das sie sich aus ihrem Eingebrachten selbst erkauft hatte, weil ihr die Lage und die rings noch lebende Erinnerung an die alten Waldenser, die Vorläufer der Reformation, gefiel. Sie hatte sich diese Erwerbung aus ihren eigenen Mitteln zugetraut, weil sie damals mit begründeter Hoffnung durch den Tod eines Verwandten vermehrt werden sollten. Die Hoffnung schlug aber durch ein Testament fehl und die Gräfin besaß ein verschuldetes Eigenthum, während der Graf selbst, infolge einer seither mit immer größerer Dringlichkeit gesteigerten Erwartung, früher oder später die großen Güter der Dorste-Camphausen im westlichen Deutschland zu gewinnen, in seinem eigenen Haushalt keine Ordnung mehr hielt. Dennoch hatte er die Verlegenheit seiner Gattin auf sich selbst übernommen. Er brachte den Besitz Castellungos für seine Frau so ins Reine, wie eben sein ganzes übriges Besitzthum stand. Er hieß der Herr und war es nur dem Namen nach. Die Aeltern der kleinen Bettina Fuld waren es von Schloß Salem und auch von Castellungo mehr als sein Sohn Hugo, der, als der Vater in der Blüte seiner männlichen Jahre so unglücklich endete, erst sieben Jahre zählte.

In einem Anfall von Mismuth über die zunehmende religiöse Neigung seiner Frau hatte sich der Graf bedungen, daß sein Sohn unter allen Umständen Soldat werden sollte. Wenn man in einem so entschieden altgläubig regierten Lande, wie bei uns, innerhalb der Gesellschaft vergißt, daß ein Mitglied des Adels zu den Ketzern gehört, hatte er gesagt, so kann das nur geschehen, wenn ihn der Nimbus der Bravour umgibt! Unabänderlich war es, daß Graf Hugo Militär wurde. Die Mutter war in Verzweiflung. Schon ihn aus den Augen zu verlieren, schmerzte sie; nun gar, ihn nicht selbst erziehen, ihn nicht vor den Gefahren der Welt schützen zu können. Graf Hugo besuchte die Militärakademie unter Bedingungen, die ihrer ganzen Stimmung widersprachen. Wenn sie jemals zu einem Lächeln kam, war es in den Augenblicken der Freude, wo Hugo auf einige Zeit der Ihrige sein konnte, nur unter dem Schutze ihrer mütterlichen Liebe stand, bei Ferien, später bei Urlauben, bei einer längeren Pflege, als er einst verwundet wurde in einem Gefecht gegen türkische Grenzer – drei Jahre stand er an der dalmatinischen Küste – und ihr da allein angehörte. Sagten wir, daß an keinem Weibe, wenn wir es auch männlich nennen, Züge fehlen, die allein nur dem Weibe angehören, so ist dies bei der Gräfin Erdmuthe die Liebe zu ihrem Sohne. Diese äußerte sich nicht etwa in der regelmäßigen Form, wie überhaupt die Liebe sich gibt; nicht etwa z.B. in der Strenge, die von der Liebe nicht im mindesten ausgeschlossen ist, sondern in einer blinden Vergötterung. Graf Hugo war ein liebenswürdiger Cavalier, aber auch in vielem nur das, was man eben einen Cavalier nennt. Besten Herzens und namentlich ganz den Gefühlen für Kameradschaft und Freundschaft zugänglich, führte er ein Leben, das die Mutter unbedingt hätte verwerfen müssen. Aber selbst ihre religiöse Strenge, die sie gegen alle ausübte, war für die Beurtheilung der Dinge, die sie von ihrem Sohn erfuhr, nicht vorhanden. Alles, was nur mit dem Geliebten in Beziehung stand, verklärte sich ihr. Traten ihr die Folgen seines Leichtsinns zu deutlich entgegen, so hatte sie hundert Beispiele der Bibel über die Langmuth des Herrn, über seine Geduld mit denen, die er lieb hat, über die Verirrungen David's und Salomo's und die künftige Erleuchtung und Gottwohlgefälligkeit auch dieser heiligen Sünder. In jeder Mehrung der Schuldenlast, die schon lange das Haus Salem-Camphausen drückte, sah sie, was die Veranlassungen derselben betraf, einen Beweis mehr nur für den Satz, daß eben das Gute in dieser Welt sehr schwer zu erringen und zu behaupten wäre. Waren die Ausgaben des Sohnes irgendwie auf andere Veranlassungen zurückzuführen, als auf die, welche sich in der Hoffnung auf den endlichen Gewinn in dem seit dem Tode des Grafen Joseph zu Westerhof geführten Proceß sogar bei allem Mangel wieder doch die Verschwendung gestatteten, so wählte sie gewiß die edelsten. Sie übersah die großen Ausgaben für Pferde, Wettrennen, Spiel, Vergnügungen aller Art, wenn sie die kleinen Ausgaben musterte für Bücher, Kupferstiche und Mildthätigkeitsbeweise. Ließ Graf Hugo ein schönes Mädchen, das er bei einer Kunstreitergesellschaft in einer dalmatinischen Stadt am Ufer des Adriatischen Meeres kennen gelernt hatte, in Wien ausbilden und erziehen, so verschlang diese, nach ihrer Meinung und Auslegung so »edle Handlung«, Tausende. Alles, was in den Rubriken des Leichtsinns stand, übertrug sie auf die Rubrik des guten Herzens. »Selig sind die Barmherzigen«, sagte sie, »denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!«

Vorzugsweise mußte diese mütterliche Schwäche wunder nehmen in der Beurtheilung auch aller der Verhältnisse, die sich mit dem Sohn verbanden. Der schöne junge Mann stieg in seiner Carrière und befehligte bei wenig über dreißig Jahren schon ein Reiterregiment. Jenes schwarzbraune Mädchen, Angiolina genannt, das er hatte erziehen und überraschend ausbilden lassen, war seine Geliebte geworden. Ihr blieb sie nur des Sohnes Pflegkind, sozusagen ihre Enkelin. Sie, die oft Wien mit Sodom und Gomorrha verglich und den Zorn des Herrn noch einst in Gestalt von Schwefel und Pech auf die sündige Stadt herniederregnen sah, nahm Angiolina's Besuche an und ließ sich durch nichts in der Welt das Bild verwischen von dem Findling, den ihr Sohn hatte »einem Leben der Sünde entreißen lassen«. Graf Hugo brauchte ihr dabei nicht einmal zu schmeicheln, brauchte nicht einmal ihr die Hand zu küssen und sie mit chère maman's zu überhäufen. Alles, was ihn betraf, fand sie in der Ordnung. Selbst wenn Graf Hugo erklärt hätte, er wollte Angiolina heirathen, würde sie sich überredet haben, ihr Sohn nütze vielleicht mit diesem Opfer nur sich selbst, jedenfalls jenem schönen Mädchen, das er auf diese Art vor sittlichem Schaden bewahre.

Besonders seltsam war ihre Anhänglichkeit an Wenzel von Terschka. Dieser Abenteurer, denn anders konnte man ihn nicht nennen, tauchte vor einer Reihe von Jahren plötzlich in ihres Sohnes Nähe auf. Durch Bildung und Erziehung fast Italiener, nahm sie ihn doch als das, wofür er sich ausgab, einen Böhmen und Nachkommen der alten Hussiten. War er auch katholisch, so verklärte ihn in ihren Augen die Erinnerung an Hussens Märtyrertod. Wenzel von Terschka war unleugbar böhmisch-deutschen Ursprungs; die Art, wie er früh nach Italien gekommen, blieb dunkel. Anfangs erschrak die Gräfin vor ihm, als sie ihm zum ersten male begegnete als dem intimsten Freund ihres Sohnes, dem er sich durch die trotz der väterlichen Katastrophe auch bei ihm leidenschaftliche Liebhaberei für Pferde genähert hatte. Wenzel von Terschka war ein Meister in allen ritterlichen Künsten. Eine Geistesgewandtheit besaß er, der nur ein innerer Mittelpunkt fehlte. Wenn die Gräfin plötzlich einen solchen gefunden zu haben glaubte, entsetzte sie sich wol, weil es ein ganz specifisch ihr feindseliger war, geradezu ein priesterlicher; aber, so seltsam dies Gefühl mit der Lebensweise Terschka's, die an allen Excessen des Grafen, seines intimsten Freundes, theilnahm, in Widerspruch lag, sie gewöhnte sich an ein stetes Ueberschauertwerden durch ein gewisses Etwas, als müßte sie auf dem rabenschwarzen kurzen Haar des wachsgelben, äußerlich anziehenden und in seinem Wesen klugen, sogar geistvollen jungen Mannes die Tonsur suchen. In Piemont, das damals ganz unter der Herrschaft der Jesuiten stand, hatte sie solche Erscheinungen gesehen, mit ihnen sogar im Kampfe gelegen ... Sie hatte alles aufgeboten, auf ihrem Gebiete das Bekenntniß der Nachkommen Peter Waldus', der vor Luther die Kirche zu reformiren suchte, aufrecht zu erhalten; sie hatte einen seltsamen Einsiedler, einen Deutschen, Bruder Federigo, in einer Hütte, die sich dieser in einem ihr angehörenden Eichenwalde gebaut, wo er dem ringsum wohnenden Volk ein Arzt und weiser Rathgeber geworden, geschützt, als die Pfarrer von Cuneo und Robillante ihn vertreiben wollten; sie hatte die Könige von Preußen, von England, Niederland und von Schweden aufgefordert, ihr Beistand zu leisten für den Kampf, den sie ringsum mit Bischöfen und Erzbischöfen begann, ja mit der Regierung in Turin selbst, um gewisse, den Waldensern gegebene Gewährleistungen aufrecht zu erhalten. Damals wurde Wenzel von Terschka von ihrem Sohn zuerst genannt und einen Winter in Wien verlebend, sah sie ihn dann selbst und hätte erst ausrufen mögen bei seinem Anblick: Das ist ja ein Jesuit! Jagte er aber dann mit ihrem Sohne die lieblichen Höhen von Baden-Baden herauf, während ihr Wagen an der »Spinnerin zum Kreuz« stand, wo sie den geliebten Sohn aus Bruck, seiner Garnison, her erwartete, und sah sie Terschka's Sorge für die Rosse, seinen Muth, seine Entschlossenheit, hörte sie seine heitern Reden, beobachtete sie die wilden Unregelmäßigkeiten, die sich die Freunde in einem achttägigen Aufenthalte bei der chère maman erlaubten, so schwand ihr alle Angst und Sorge und sie überredete sich schon bei dem zweiten Besuche, daß Hugo doch schon wieder einen außerordentlichen Takt bewiesen hätte auch in der Wahl dieses seines Gefährten und daß, wenn Sirach sagt: »Ein treuer Freund ist ein Trost des Lebens; wer Gott fürchtet, bekommt einen solchen treuen Freund!« hier vielleicht auch das Umgekehrte eintreffen könnte: Wer einen solchen treuen Freund bekommt, der wird auch lernen Gott fürchten!

Wie die Dinge standen, mußte die ganze Sehnsucht der Gräfin auf die endliche Entscheidung des Processes gerichtet sein, der nicht von dem Kronsyndikus von Wittekind, nicht von Levinus von Hülleshoven im Namen Paula's gegen die Salem'sche Linie angestrengt wurde, sondern von den an der Aenderung der Dorste'schen Verhältnisse erst secundär Beteiligten, vorzugsweise der Geistlichkeit und der Landschaft. Zwei Jahre lang war ihr der Name Nück's ein Bote der höllischen Geister. Sie nannte ihn nicht anders als mit einem Namen aus der Offenbarung Johannis, in die sie sich tief vergrübelt hatte, den Doctor Abadonna, den »Engel aus dem Abgrund«. Als endlich die Hoffnungen immer lichter wurden, immer mehr das Gewölk, das das Antreten eines so großen Besitzes verbarg, verschwand, konnte sie der mächtig wallenden Erregung ihrer Mutterfreude nicht länger widerstehen. Längst schon hatte sie mit der Lady Elliot in England eine Berathung pflegen wollen über die Möglichkeit, in Italien die Reformation zu befördern und Rom durch die Bibel zu stürzen. Mit dem ihre ganze Seele erfüllenden Verlangen, die Kräfte, die England für eine solche Unternehmung in Bereitschaft halten konnte, selbst einmal durch den Augenschein zu prüfen, verband sie nun auch die Reise nach dem Orte, von wo aus sie die Lage des Processes übersehen, den Triumph der günstigen Entscheidung genießen, vielleicht eine Beziehung der Etikette zur Gräfin Paula und ihren Umgebungen anknüpfen konnte. Hätte sich jene die Religionsbedingung betreffende Urkunde gefunden, die seit zwei Jahren in Westerhof, Neuhof, Witoborn, Wien, Schloß Salem und Castellungo gesucht wurde, dann hätte ihre mütterliche Liebe einen andern Rettungsplan aufgreifen müssen, eine Verbindung Hugo's mit der Gräfin Paula – eine Auskunft, die auch in der Familie traditionell eine sich von selbst verstehende Thatsache, ein lautes Geheimniß war – freilich für ihr Gefühl ein entsetzliches Unglück! Denn Paula war in einem fanatischen Geiste für ihren Glauben erzogen worden und Hugo sollte dann scheiden – von seinen Gewohnheiten, sollte brechen mit allen seinen Verbindlichkeiten, sollte »Opfer« bringen, wie sie etwas nannte, was Monika von Hülleshoven eines Tages einmal leise, ganz leise und schüchtern nur der Gräfin eine – sittliche Wiedergeburt genannt hatte?

Die kleine schöne Frau »mit den silbernen Locken« war erst seit einem Jahre in den Lebenskreis der stolzen, immer nur ernsten und feierlich gestimmten Matrone eingetreten. Sie hatte jahrelang bei einer Jugendfreundin, der inzwischen Oberin der Hospitaliterinnen gewordenen Schwester Scholastika, einer geborenen Freiin von Tüngel-Heide, aus ihrer Heimat, im Kloster gelebt und an den beschwerlichen Mühewaltungen derselben theilgenommen. Ihre Gesundheit, ohnehin erschüttert durch die Folge jenes Verstecks (beiläufig bemerkt in einem chemischen Laboratorium ihres Schwagers auf Schloß Westerhof) und durch die darauf folgende Nervenkrankheit fing zu wanken an in dem täglichen Verkehr mit dem zum Kloster gehörenden großen Spitale. Offen bekannte sie ihrer Freundin Scholastika, da sie kein Gelübde bände, würde sie in die Welt zurückkehren, »denn die Pflicht der Selbsterhaltung ginge über alle Sorge für Fremde, die nicht auf uns allein angewiesen sind«. Es war dies einer der Sätze, die zu einem immer mehr von der jungen Frau ausgebildeten System der Lebensphilosophie gehörten. Sie schied aus dem Kloster und verwarf damit zugleich das Klosterleben in seiner überlieferten Form. Sie sagte schon damals am ersten Abend, wo sie auf der Herrenstraße im Palais der Salem-Camphausen in einem prächtigen Rococozimmer mit Goldleisten und Spiegelwänden neben der Gräfin am Theetisch saß: »Es sollte keine andern Lebenszwecke geben, außerhalb der Bewährung unserer eigenen Kraft und unserer Erziehung zur Vollkommenheit! Eine Institution, die mich auch klein, unbedeutend, sklavisch gebunden, krank brauchen kann, ist des Menschen unwürdig. Nur dem sollen wir uns unterwerfen, was unsere Kraft in ihrer Größe braucht, sie entwickelt, uns die Frische des Willens und der Thatkraft erhält. Daß gewisse Gedanken in der Welt realisirt werden müssen, nur um als solche zu glänzen, während das Einzelwesen, das zur Realisirung derselben beiträgt, dabei gering erscheint, werd' ich nie für gut finden.« Eine Aeußerung, die die Gräfin nachdenken ließ, sie aber zu dem Worte bestimmte: »Ich finde in diesem Ausspruch Wahrheit, aber Sie drücken sie mit zu vielem Menschenstolze aus. Wir ermangeln alle eines andern Ruhmes als dessen, den wir vor Gott haben.« Leicht möglich, daß selbst der Gräfin Bonaventura's Auffassung besser gefallen hätte, die wir damals berichteten, als dieser den Pater Sebastus vor dem Goldnen Lamm unter Bettlern sah – die Unterordnung gerade der stolzesten Individualität unter einen allgemeinen, der Menschheit im großen und ganzen als ein Schauspiel zur Nacheiferung zugute kommenden Begriff. Freilich war Bonaventura von dieser Auffassung schon am Tage darauf nach der Scene beim Kirchenfürsten schmerzlich zurückgekommen.

Trotz dieser Verschiedenheit der Ansichten hatte die Gräfin an Monika ein großes Gefallen gefunden. Sie war ihr ein lebendiger und höchst willkommener Beweis, wie der Katholicismus consequent durchgeführt zur Freigeisterei führen müsse. Sie suchte in ihr eine Proselytin zu gewinnen für die Lehre von der Wiedergeburt lediglich durch den Glauben. Die Bekanntschaft schrieb sich aus dem Briefwechsel her, der zwischen einem wiener Anwalt Monika's und Schloß Westerhof entstehen mußte ihrer Erhaltung wegen. Monika besaß ein kleines Vermögen, das der Oberst unangerührt gelassen hatte, als er nach Amerika ging. Im Kloster bedurfte Monika nichts, sie ließ ihre Zinsen stehen. Jetzt erhob sie Ansprüche auf das, was ihr gehörte und ihr noth that. Bereitwillig stellte ihr der Schwager Levin jedes Gewünschte zur Verfügung, ja Tante Benigna, ihre Schwester, wollte zulegen; letzteres lehnte Monika ab. Der regelmäßige Bezug ihrer Mittel führte sie durch jenen Advocaten mit Terschka zusammen, der der chargé d'affaires aller Finanzsachen seines Freundes war und tagelang mit der Gräfin rechnen konnte – Graf Hugo behauptete, für die Zusammenstellung von Zahlen kein Geistesvermögen zu besitzen. Terschka, angezogen von Monika's interessanter Erscheinung, aufmerksam auf die Namen Ubbelohde und Hülleshoven, die täglich in seinen Correspondenzen mit Westerhof und mit Nück vorkamen, gab der Gräfin Kunde von ihr und nun schien es den künftigen Besitzern der Erblassenschaft des Grafen Joseph standesgebührlich, die Schwester und Schwägerin der beiden Namen, die Paula hüteten und erzogen hatten, an sich zu ziehen. Die Gräfin wollte sogar ein Bewohnen des Palais auf der Herrengasse und bot Monika eine Stellung bei ihr an, die zwischen Freundin und Gesellschafterin die Mitte hielt. Doch auch Graf Hugo und Terschka wohnten zuweilen in diesem Palais und so mußte sie die freundliche Aufforderung ablehnen. Doch blieb ein ganz nahes Verhältniß. Fast täglich, wenn die Gräfin in Wien oder auf Schloß Salem wohnte, leistete ihr Monika Gesellschaft. Nur nach Castellungo, wo die Gräfin das Frühjahr zubrachte, war sie ihr noch nicht gefolgt, hatte das aber für dies laufende Jahr versprechen müssen. Im Grunde hatte diese Beziehung wenig Erhebendes für Monika; ja die Gräfin ließ an ihr, wie an allen Menschen, nur an denen nicht, die zu Hugo's Intimität gehörten, ihren steten Bekehrungs- und Erziehungseifer aus; nie kam ein Scherz, ein Lachen, eine enthusiastische Freude an Kunst oder Natur bei ihr zum Vorschein; das Theater existirte nicht für sie; alles das entsprach glücklicherweise im allgemeinen auch der Stimmung Monika's und so folgte sie der greisen Frau, die sich schon an sie gewöhnt hatte, auf Tritt und Schritt, jetzt auch hierher und vielleicht nach England, obgleich sie für letzteres noch nicht ganz entschlossen gewesen war und vorläufig nur bis Antwerpen hatte mitgehen wollen ... Seitdem von Porzia's Onkel Hedemann genannt worden war, fühlte sie sich von räthselhaften Geistern bestürmt, die sie mahnten, ganz zurückzubleiben und die Gräfin morgen allein abreisen zu lassen.

Die hohe Gestalt der Greisin trat ein. Sie war mit einem weiten schweren Pelz bedeckt, den ihr der Diener abnahm. Ihre scharfen mageren Gesichtszüge verhüllte ein einfacher Sammethut, den sie noch nicht abgebunden hatte, als sie schon eine Anzahl Briefe, die sie sich selbst vom Postamte mitbrachte, an den Schirm der Lampe hielt und hastig nacheinander erbrach ...

Ohne Brille konnte sie nur mit Schwierigkeit lesen. Sie mußte daher innehalten, ihren Hut abbinden und sich's bequemer machen ...

Porzia bediente sie dabei. Monika ordnete die Zurüstungen zum Thee ...

Ich komme vom Doctor Abadonna! sagte die Gräfin. Ich wollte nicht verfehlen, vor meiner Abreise dem armen, geschlagenen Sohne der Finsterniß wenigstens diese Aufmerksamkeit zu bezeigen! Dem Herrn sei Lob und Ehre; denn Terschka schreibt ja –

Nun hatte sie das Futteral ihrer Brille geöffnet, das ihr Porzia auf einen stummen Wink Monika's gereicht, hatte den Eckplatz des Sophas eingenommen, den Tisch sich näher rücken lassen, dann auch die Lampe näher gezogen und die Brille auf ihre vom Feuer der Erwartung glänzenden Augen gesetzt und einen der Briefe geöffnet ...

Der Courier legte mancherlei inzwischen Angekommenes in ihre Nähe, einige Bücherpackete, einige Einkäufe, die schon vorausgeschickt waren, auch ein großes Papier, in dem sofort Monika, und nicht ohne einen gewissen Anflug von Verlegenheit – die Rechnung des Hotels erkannte ...

Alles um die lesende Gräfin her war still und bewegte sich auf den Zehen. Nur sie allein sprach sich laut und mit Interjectionen aus, die ihre Zufriedenheit mit allem ausdrückten, was Terschka und ihre andern Correspondenten berichteten. Die Siegesgewißheit über den gewonnenen Proceß, wie die Aufregung über die bevorstehende Reise nach dem von ihr so lange ersehnten England, wo sie acht Wochen bleiben wollte, erhöhten die Kundgebungen ihrer Stimmung und weckten eine alte Lebendigkeit ihres Wesens, die sie durch ihre trübe Religionsauffassung schon seit so langen Jahren zu dämpfen verstanden hatte.

Vor den Dienern schwieg sie. Porzia aber, die ohnehin der Sprache nicht ganz folgen konnte, hinderte sie nicht, an Monika, die sich zuletzt ruhig vor der siedenden Theemaschine niedergelassen hatte und bald auf die Gräfin, bald auf die sinnend sich zu schaffen machende Italienerin sah, von den Eindrücken, die sie im Lesen empfing, einzelnes bruchstückweise mitzutheilen ...

Ja, dieser gute Terschka! sagte sie in abgebrochenen Sätzen ... Wenn einer geschickt war, diese Aenderung mit den Verhältnissen in Westerhof in Güte auszugleichen, so war er es! ... Eine Parcellirung ... im größten Maßstabe ... wie vorsichtig, sich an einen einfachen, uneigennützigen Mann zu wenden ... einen Juden, Namens Löb Seligmann ... »Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon!« ... Aber die Offerten der Fuld's lehnt er ab ... das ist schön! ... Diese Helfer in der Noth haben wir in Wien genugsam kennen gelernt! ... Die Lotterie ist nicht erlaubt, wie bei uns ... Also Verkauf! ... so gern – ja so gern ich gewünscht hätte, wir hätten die Burg Gottes aufgerichtet im Lande der Edomiter und das Evangelium gepredigt denen, die noch unter dem Gesetze leben – Terschka grüßt Sie, Baronin! unterbrach sie sich selbst ...

Monika dankte leise nickend ...

Die Gräfin hatte unter der Brille ein wenig aufgeblickt, um zu beobachten, wie dieser Gruß auf die junge Frau wirken würde ... Ihre Stimme, die schon an sich wohllautend war, nahm einen besondern Ausdruck von Innigkeit an, als sie das Wort sprach: »Terschka grüßt Sie, Baronin!«

Ein Purpurroth war auf Monika's Wangen getreten ... Das sah die Gräfin wol und seufzte ... Monika gedachte, ob Terschka nichts von Armgart schriebe, wie er schon oft gethan ... doch auch das Seufzen der Gräfin, das völlig anderes im Sinne hatte, verstand sie ... sie wich Fragen und Erörterungen aus und hielt fast den Athem an, jetzt aus andern Gründen noch, als deshalb, die Gräfin nicht in ihrer Spannung zu stören ...

Diese erzählte zwischendurch vom Doctor Abadonna ...

Er wand sich doch wie der Fürst der Finsterniß ... sagte sie. Kriechend höflich war er ... wie einst die Verdammten vor dem ew'gen Richter stehen müssen ... Der liebenswürdige junge Herr von Asselyn geht morgen nach Westerhof, um die letzte Abwickelung zu erleichtern ... O mein Sohn! ... Wie gespannt er schreibt! ... Nur so kurz! ... So kurz! ... Was? Angiolina ist krank? Das entschuldigt ihn!

Monika behielt Zeit, die Gedanken zu sammeln, die ihr doch die Brust in fast hörbaren Schlägen heben und wieder sich senken ließen ... Geht Benno jetzt nach Westerhof? ... Dem fühlte sie wie mit Wonne und doch mit Schmerz nach. Fast Eifersucht war es, das sie erfüllte, und wieder gedachte sie: Was wird der Blonde, der andere, Thiebold de Jonge sagen, der täglich kommt und heute noch nicht da war? ... Und dabei glitt ihr Blick – wieder auf die Rechnung des Hotels, die so lang, so lang schien ... Eine eigene Ideenassociation: Thiebold's Reichthum, ihr kleiner Creditbrief bei dem Hause Piter Kattendyk, die ganz biblische Sorglosigkeit der Gräfin in Geldsachen und Thiebold ein Bewerber um Armgart – dann aber auch – Angiolina, die sie nur einigemal aus der Ferne gesehen ... das schöne, allbewunderte Mädchen, das mit dem Grafen Hugo nur zu verbunden lebte, kam ihr, als krank gedacht, seltsamerweise wie Benno von Asselyn vor, blassen Teints und wie den fernsten Zonen angehörend ...

Etwas war die befriedigte Erregung der Gräfin durch den so kurzen Brief des Obersten, ihres Sohnes, doch gestört worden. Sie erinnerte jetzt an den Thee ... Porzia wollte helfen ... Monika bedeutete sie mit einem Augenwink, auf ihr Zimmer zu gehen ... Gern hätte sie ihr gesagt: Singe wieder deine traurig schönen Lieder! Zaubere uns vor, was alles freudvoll und leidvoll im Menschenherzen liegen kann! ... Der Gräfin würde sie schön damit angekommen sein.

Der Thee entquoll schon dampfend der Maschine, aber die Gräfin weilte noch in ihren Briefen –

Lady Elliot schreibt voll Ungeduld – sagte sie, eine Tasse ergreifend ... Sie ist so gütig und gibt immer ein englisches und ein französisches und dann ein deutsches Wort, um meiner Schwäche entgegenzukommen, die ihre Sprache nicht versteht ... »Alle Schrift von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit« – 30000 Bibeln in einem Jahre in Irland vertheilt! ... »Könnte man Pater Matthew gewinnen?« Hm! Hm! ... Darin hat sie Recht – aber – »das Thier mit sieben Köpfen schnaubt und dräuet, daß sich darob die Sterne verfinstern«, wenn es an die Bibel geht ...

Monika war über alle diese Anspielungen durch tägliches Erörtern vollkommen unterrichtet ...

Auch ein langer Brief vom »Onkel Levinus« lag da, den die Gräfin nach einer halben Tasse Thee, die sie schlürfte, mit einer gewissen Scheu überflog und dann an Monika übergab, weil er vielleicht mehr für sie, als für die Adressatin bestimmt schien ...

Sie wandte sich jetzt dem Rest ihres Thees und in Gedanken verloren einem leichten Gebäck zu ...

Monika nahm den dargereichten Brief und las ihn mit einer schmerzlichen Miene für sich, während die Gräfin die letzten Briefe durchsah, solche, die ihr aus Schloß Salem und Castellungo von ihren Verwaltern gekommen waren ...

»Wenn es diesen Zeilen gelingen könnte«, schrieb der Bruder des Obersten, »Ew. gräflichen Gnaden noch vor Ihrer Abreise nach England anzutreffen, ja Ew. Hochgeboren zu bewegen, die Nähe Westerhofs nicht unberücksichtigt zu lassen und uns mit einem Besuche zu beehren, so würde ich zuvörderst damit den Wunsch unserer lieben Comtesse ausgesprochen haben, dem sich der des Fräuleins Benigna und mein eigener ehrerbietigst anschließt. Die Wege bis zu uns sind bequem oder bieten bei der Milde des Winters keine großen Schwierigkeiten. Persönlich die Gesinnungen wiederholen zu können, die ich als langjähriger Freund und Verwalter des Grafen Joseph über die in Gottes Rath beschlossene Zukunft seiner Besitzthümer immer von ihm vernommen habe, würde mir zur besondern Genugthuung gereichen. Aus dem Schoose der Familie unserer Gräfin, selbst den allerdings jetzt kaum noch den Lebenden angehörenden frühern Vormund derselben, ihren Onkel, den Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof nicht ausgenommen, der, wie Ew. Gnaden wissen, immer einer anderweitigen Auskunft, einer Verbindung beider Linien den Vorzug gab, ist nichts unternommen worden, was diesen gegen die Ansprüche des Herrn Grafen Hugo geführten unseligen Proceß hätte schüren und fördern können. Uns lag nur ob, das Vorhandensein jener Urkunde, die christkatholische Religion der jüngern Linie verlangend, möglicherweise aufzufinden und auch hierin einen etwa vorhandenen Wunsch der Vorvordern zu erfüllen. Die Nachforschungen konnten eine solche nicht auffinden und so gebe denn der gute und gerechte Gott seinen Segen zu der Ausgleichung, die, dank der Einsicht des vom Herrn Grafen übersandten Vermittlers, Herrn Baron von Terschka, vorzugsweise darauf hinauszukommen scheint: Der letzten Erbin der ältern Linie verbleibt Schloß und Hof Westerhof nebst den nächsten Adjacentien auf hundert Morgen in der Runde als standesmäßige Abfindung und erbeigenthümlicher Besitz für ewige Zeiten; alles andere fällt der jüngern Linie zu, vorbehaltlich der Rückläufe, die der Comtesse für einige Grundstücke und Waldungen offen bleiben. Für die Regulirung dieser Procedur hat Herr Oberprocurator Nück uns die Ankunft des Herrn Benno von Asselyn verkündigt. Wir erfreuen uns in Herrn von Terschka eines weisen und wahrhaft discreten Vermittlers, der in allen diesen schwierigen Verhältnissen seit Monaten Großes geleistet hat. In kurzem ist er der Liebling der Gegend geworden, womit viel gesagt ist bei einem Volksstamm, der sich schwer anschließt, ohnehin, weil man der neuen Wendung der Dinge um so mistrauischer entgegensah, als wir uns gerade jetzt infolge des bekannten traurigen Weltereignisses in einer confessionellen Aufregung befinden, die mehr, als ich wünschen möchte, die Gemüther erbittert und ein paritätisches Zusammenleben unmöglich macht.« ...

Monika las zwar für sich; aber die Gräfin, die jetzt aufstand und sich einiges an ihrer Haustoilette zu schaffen machte, beobachtete sie und sagte:

Sind Sie an der Stelle, wo der wunderliche Herr mir die Unmöglichkeit des Zusammenlebens mit Ketzern schildert, nachdem er mich doch zuvor eingeladen hat, Westerhof zu besuchen?

Monika mußte lächeln, so schmerzlich erregt sie war ... Sie blickte auf das Ende des Briefes, um nach Armgar'ts Erwähnung zu suchen ...

Der Brief lautete im Zusammenhange:

»Comtesse Paula ist glücklich, daß sie Westerhof behält. Sie drückt Ihnen, gnädigste Frau Gräfin, ihre ganze Verehrung aus. Es würde Sie gewiß erfreuen, eine Verwandte kennen zu lernen, die mit einem selten gebildeten Geiste eine Einfachheit und Güte des Herzens besitzt, die durch keine Verkürzung und Schmälerung ihrer Glücksgüter getrübt werden kann, höchstens, daß ihr die Mittel zum Wohlthun verringert sind ...«

Wieder unterbrach die Gräfin die im Zimmer herrschende Stille. Sie folgte der Lectüre Monika's im Geiste Zeile für Zeile, so fest hatte sich ihr sofort trotz kurzen Durchfliegens der Inhalt des Briefes eingeprägt.

Um Comtesse Paula, sagte sie, gesteh' ich es zu bedauern, daß ich der Aufforderung nicht folgen kann ...

Monika verstand vollkommen, was in diesen Worten liegen sollte. Es war die mütterliche Sorge für die immer doch noch nicht ganz gewisse Zukunft. Fand sich noch irgendein Hinderniß für die Ausgleichung des Familienstreits und entging den Salems-Camphausen eine seit fünfzig Jahren ihnen immer dringlicher und dringlicher gewordene Hoffnung, von der ihre Ehre und der Bestand ihres Namens auf Generationen abhängig war, so konnte und mußte der Fall eintreten, daß Graf Hugo um Paula warb ... Deshalb lag in den folgenden Worten, die die Gräfin unter andern Umständen mit viel größerer Strenge würde gesprochen haben, eine bei ihr seltene Milde:

Das arme Kind soll nach allem, was ich höre, immer wieder in ihre Visionen zurückfallen! Sie ertheilt im magnetischen Schlafe Rathschläge an Kranke! Schloß Westerhof, sagte Nück, soll von Morgens bis Abends belagert sein von Hülfsbedürftigen, die oft aus weiter Ferne kommen, um sich von ihren Leiden heilen zu lassen! Aus dem wahren Geiste Gottes ist das nicht ... Die Apostel hatten diese Gabe auch, aber um ihres Glaubens willen und bedurften dazu nichts, als nur des Gebets. Sie, Baronin, weiß ich, sagen freilich rundweg, das alles wäre Wahn oder die Macht des Willens, der da sagt: Sei geheilt! und der Kranke ist – zuweilen geheilt. Der Wille scheint Ihnen allmächtig! Wenn man an sich selber nur glaubt! O, Sie wissen, meine Gute, wie wenig ich von allem halte, was ohne die Gnade Gottes ist! Doch bin ich weit entfernt, den Katholiken die Gnade Gottes abzustreiten, wenn sie sich ihr in inbrünstigem Gebete nahen! Mischen sie aber Thorheiten ein, wie die fürsprechenden Engel und Heiligen, nun, so mag der Herr auch das kindliche Lallen der Seele in ihrer unverständigen Verblendung wol mit väterlicher Geduld vernehmen, ist nur der Grund da des Vertrauens zu ihm. Sie erinnern sich, daß Ihre Freundin bei den Hospitaliterinnen die heilige Hildegard nannte, mit der ihr Comtesse Paula Aehnlichkeit zu haben schien. Das sagt' ich Ihnen ja noch gar nicht, wie ich bei Bingen das Grabmal dieser sogenannten Heiligen gesehen habe! Ich beschloß, mich etwas genauer über sie zu unterrichten. Da erfuhr ich denn, daß die ernsthaftesten Männer mit dieser Aebtissin, die so viel Wunder verrichtete, in Verbindung standen, ja ein Bernhard von Clairvaux und sogar der damalige Papst –

Sie wünschte ihm Glück zur Ausrottung der Waldenser! warf Monika ein ...

Wie? rief die Gräfin ...

Mit diesen wenigen Worten änderte sich plötzlich der ganze Gedankengang der Gräfin ...

That sie das? fuhr sie bestürzt fort und hielt im Wandeln durch das Zimmer inne. Sie verließ sich auf die Kenntnisse Monika's, die ihr bei solchen entschiedenen Behauptungen verbürgt waren ...

Sie that es in einer Sprache, fuhr diese fort, die sie nur in ihren Visionen kannte, der lateinischen. Ihr Beichtvater schrieb diese Visionen nach und veröffentlichte sie später; es war ein Pater Gottfried ... Ich habe mich in Mußestunden viel mit dem Leben der heiligen Hildegard beschäftigt ...

Dann war sie eine Betrügerin! wallte die Gräfin auf und endete ihre Rede mit dem völligen Gegentheil dessen, womit sie begonnen hatte. Sie hatte darauf hinaus wollen, daß ihr allerdings an der heiligen Hildegard interessant gewesen wäre, sich nach ihrem Beispiel die ekstatischen Zustände Paula's zu denken. Nun aber sagte sie: Auch in Westerhof werden es die Pfaffen sein, die die Krankheit des armen Mädchens benutzen und sie zur Närrin machen! Ich dorthin reisen! In der dumpfen Luft würde ich den Athem verlieren! »Es war aber ein Mann mit Namen Simon, der Zauberei trieb und gab vor, er wäre etwas Großes, und sie sahen auf ihn und sprachen: Der ist die Kraft Gottes, die da groß ist! Da sie aber Philippi Predigten hörten von dem Reich Gottes und den Namen Jesu Christi, ließen sich taufen, beides Männer und Weiber.«

Monika las weiter:

»Herr von Terschka unterbricht mich und verbindet seine Bitte mit der unserigen, Ew. gräflichen Gnaden möchten in der That den Umweg nicht scheuen. Begleitete Sie nicht vielleicht Herr Benno von Asselyn, so würde Ihnen vielleicht der Domherr von Asselyn, sein Vetter, eine interessante Reisegesellschaft sein. Wir erwarten ihn jeden Tag zu einer kirchlichen Inspection. Auch einigen Worten des Herrn von Terschka, Armgart von Hülleshoven, meine Nichte, betreffend (jetzt zitterte der Brief in den Händen der von ihrem Kinde geflohenen Mutter) geb' ich gerne Ausdruck und bitte Sie, Ihre Begleiterin, Frau von Hülleshoven, meine Schwägerin, zu versichern, daß sowol in meiner langjährigen Freundin, Fräulein Benigna, ihrer Schwester, wie in mir die Reihe der Jahre den alten Groll gelöscht hat. Was Sie auch, gnädige Gräfin, über unser Zerwürfniß erfuhren, beurtheilen Sie es nach dem Temperament von Menschen, die wie unser ganzer Volksstamm ein starkes und unbeugsames Rechtsgefühl haben. Nur auf der ›rothen Erde‹ konnten die Vehmgerichte entstehen, jene Selbsthülfe des Volks in einer rechtlosen Zeit ... (Die Buchstaben verwischten sich der Lesenden vor Erregung ...) Es ist wahr, die Ehe zwischen meinem Bruder und Monika schloß sich ohne Ueberlegung. Der Kronsyndikus von Wittekind, Testamentsvollstrecker ihrer Aeltern, wollte Monika zwingen, seinen Sohn Jérôme zu heirathen. Sie kannte seine Gewaltthätigkeit und nahm meinen Bruder wie im blinden Ungefähr. Nach einer vierjährigen Ehe war die Erklärung, sie folge dem Manne nicht in seine neue Garnison, sie besäße keine Liebe für ihn, ein reiner Trotz der Verkehrtheit. Sie wollte anfangen nach Grundsätzen zu leben. Sie wollte ›wahr‹ sein gegen sich und andere! Es war der Anfang eines völligen Verwirrens ihres Denkens und Fühlens, das wir nicht dulden durften. Ihren thörichten Sinn wollten wir durch die Vorenthaltung ihres Kindes, der damals dreijährigen Armgart, mit Gewalt brechen. Da wir ebenso gegen den Bruder verfuhren, der Armgart für sich in Anspruch nahm, hatten wir die Ausdauer, einen Kampf mit dem Mutter- und Vaterherzen zu wagen. Und dennoch würden wir nachgegeben haben damals, als Monika erkrankte, wenn sie nicht, kaum zur Hälfte genesen, wie noch im Fieberwahn damals Schloß Westerhof verlassen und in die Welt hinausgerast wäre wie eine Irrsinnige! Daß diese That, die nun freiwillig ihr Kind aufgab, ein Anfall der maßlosesten Eitelkeit war, die Verzweiflung eines Blickes in den Spiegel und auf ihr ergrautes Haar, wird sie nicht leugnen können. Diese wilde Unregelmäßigkeit ihres Wesens ist leider auf Armgart übergegangen. Die Mutter kann versichert sein, daß von unserer Seite nicht das Mindeste geschehen ist, Armgart aus dem Pensionat der Insel Lindenwerth abzurufen. Das thörichte Mädchen will sich nur beiden Aeltern zugleich aufgespart haben und führt diesen Gedanken auch jetzt im Stift Heiligenkreuz, wo sie eine Stelle bekommen hat, mit einer Wachsamkeit durch, die jeden Augenblick die Flucht von Lindenwerth wiederholen würde. Die Aussicht, daß mein Bruder Ulrich sich in Witoborn niederläßt, rückt immer näher. Ein meiner Schwägerin wohlbekannter Name, Remigius Hedemann, hat, seitdem die Abwickelung der Verhältnisse unseres beim jetzt so tief gekränkten Geist der Provinz immer unmöglicher gewordenen Landraths ins Stocken gerathen, die Mühlenwerke bei Witoborn erstanden und beide gedenken ein für den Geist unserer Gegend ganz tolles, ja förmlich herausforderndes Unternehmen – eine Papierfabrik zu begründen! Stehen wir ohnehin in unsern Verhältnissen selbst nicht fest, so wird uns am wenigsten beikommen, in so sich verwickelnde andere einzugreifen. Bruder oder Schwester, beide würden uns zur Verständigung gleich willkommen sein! Die Zeit heilt Wunden und mildert Leidenschaften und wir müssen selbst wünschen, daß in diese harten Herzen Besinnung kommt! Von meiner Schwägerin hör' ich durch Herrn von Terschka jetzt so außerordentlich viel Rühmenswerthes, daß Benigna sowol, meine langjährige Freundin, die dem Alter der Versöhnlichkeit mit dem, was die Erde bietet, schon so nahe gekommen ist, wie ich selbst, nichts lieber wünschen, als die endliche Beilegung dieses Zwistes, den ja unsere heilige Kirche nicht gestattet so zu lösen, wie es die Leidenschaften dieser wilden Menschen wünschen mögen durch Scheidung – –«

Weiter konnte Monika nicht kommen ...

Die Schlußversicherungen der Ergebenheit überschlug sie in der Erregung durch diese offene und für den Charakter ihrer alten Gegner, ihres Schwagers, ihrer so strengen, viel ältern und ihr gewissermaßen als Erzieherin gegenüberstehenden Schwester, sogar gemüthvolle Sprache ...

Sie stand auf, ließ den Brief auf den Tisch gleiten, griff an ihr Herz und trat an das Fenster, um die Stirn an den feuchten Scheiben zu kühlen ...

Die Gräfin unterbrach nicht diesen Seelenkampf ...

Eine lange Pause trat ein, die Monika endlich mit den leisen Worten beendete:

Aus alledem sehe ich, theure Gräfin, daß ich besser thun werde – noch in dieser Stadt zu bleiben und Sie – allein reisen zu lassen! ... Vielleicht erfreut es Sie – noch einen Gefährten zu gewinnen, der bei Porzia sitzen könnte, den Onkel derselben, der genöthigt ist, rasch nach England zurückzureisen! Ich begrüße Sie dann – bei Ihrer Rückkehr hier oder, erlöst von allen diesen Kämpfen, in Ihrem schönen, sonnigen, glücklichen Castellungo!

Die Gräfin sagte zwar: Ja, ja! hörte aber plötzlich nur halb ... Sie hatte die Rechnung des Hotels entdeckt und suchte wieder die Brille, um eine nicht unwichtige Frage genauer zu prüfen ...

Monika sah, daß die Höhe der Summe, die es hier noch zu zahlen gab, die Gräfin erschreckte. Sie hatten an sich einfach gelebt, aber eine Menge anderweitiger Ausgaben hatte die Gräfin von dem gefälligen Wirthe auslegen lassen. Vollkommen war ihr die Eigenschaft ihrer Gönnerin geläufig, den »Nerv der Dinge« und den »ungerechten Mammon« für etwas zu nehmen, was sich nach Gottes ewigem Rathschlusse allen denen, die ihn lieben, früher oder später doch zum besten wenden müsse ...

So vertieft war die Gräfin in eine unter dem Eindruck des gewonnenen Processes von ihr hervorgerufene ansehnliche Reihe von Zahlen, daß sie nicht mehr viel von Monika's Worten gehört hatte.

Bei alledem wußte sie aber doch, daß in dem Briefe das Wort »Scheidung« stand. Darauf hin sagte sie beim prüfenden Oeffnen ihrer Reisekassette:

Paulus spricht: »Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit!«

Sie wollte sagen, wenn bei Monika eine Confessionsänderung stattfände, wäre die Scheidung da ... Monika wußte das und stand träumend am Fenster ...

Darüber kam eine Meldung.

Herr Kattendyk! hieß es ...

Ei, Herr Kattendyk? rief die Gräfin hocherfreut ...

Die Gräfin war so in Vergleichung ihrer Reisemittel mit der Rechnung vertieft, daß ihr selbst die Meldung des Doctors Abadonna eine Besinnung auf den Namen gekostet hätte, aber die Nennung des Chefs der Firma: »Kattendyk und Söhne«, an die Monika empfohlen war, vergegenwärtigte ihr augenblicklich die gemeinte Persönlichkeit ... Sie selbst war an die Gebrüder Fuld empfohlen ...

Sehr angenehm! Sehr angenehm! rief sie ...

Die Meldung eines dem »ungerechten Mammon« und den »Schätzen, die Motten und Rost zerfressen« angehörenden Namens wurde sofort angenommen, ja das Eintreten desselben mit einer gewissen Feierlichkeit vorbereitet.

3.

Piter Kattendyk hatte sich vor vier Monaten auf seiner Reise nach Witoborn – keinesweges mercantilische Lorbern erobert.

Zwar war er in lebendigster Erregung, wenn auch etwas durchfröstelt und an der Abfassung von Reise-oder Heidebildern durch einen Schlaf verhindert, der »die seiner Constitution nothwendigen zehn Stunden« fast auf die ganze Dauer der Schnellpostfahrt ausdehnte, in Witoborn angekommen und »bei Tangermanns« im besten Gasthof der Stadt abgestiegen; aber der gegenseitige große Eifer hatte sich durchkreuzt. Rittmeister von Enckefuß hatte voll Ungeduld die Reise zu seinem Sohne gemacht und Nück, der helfen zu wollen versprochen, setzte bei seinem Schwager eine so präcise Erfüllung seiner Aufträge, soviel Reiselust und Gefallen an einer raschen Benutzung einer neu angeschafften Reisetoilette nicht voraus. Nun waren wol die Besuche, die Piter am Sonnabend bei einigen Advocaten machte, möglich zur Beweisführung für seinen Geist und seine sociale Stellung, aber eine geschäftliche Verständigung und die Uebernahme der Forderungen sämmtlicher Enckefuß'scher Creditoren konnte erst stattfinden nach der Zurückkunft des Hauptbetheiligten selbst.

Wir werden die heilige Stadt Witoborn, deren Thürme wir in frühern Schilderungen nur fernhin aufragen sahen, genauer kennen lernen. So viel dürfen wir schon jetzt berichten, daß Piter hier die vollkommenste Gelegenheit gehabt hätte, durch Devotion seiner Mutter Ehre zu machen. Hier lagen so viel Heilige in ganzer Gestalt oder in Partikeln begraben, hier läuteten so viel Glocken zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, hier brannten an allen Ecken und Durchgängen der kleinen unansehnlichen Straßen so viel Lichtchen und standen an und in den Häusern, Kirchen, Klöstern so viel schöngeputzte Muttergottesbilder, daß er wol seiner Sünden hätte eingedenk werden und geloben können, sich die maßloseste Selbstliebe und besonders seine sträfliche Neigung für fünfzigprocentigen Arakpunsch abzugewöhnen.

Indessen beleidigten sein Schönheitsgefühl die Kühe und Schafe, die jeden Morgen vom Hirten durch die witoborner Straßen geführt wurden und die Mängel der Straßenreinigung und Beleuchtung. Gleich in der ersten Nacht war er auf topographische Studien ausgegangen und dabei fast in einen offenen, völlig gitterlosen Strom gefallen, der zwar nur höchst schmal, aber mit reißender Schnelligkeit durch die unerleuchteten Straßen schoß. Was half es ihm, daß es später beim Wirth seines Hotels »bei Tangermanns«, wo er der einzige Fremde war, herauskam, daß dies die berühmte Witobach gewesen war, deren Quellen schon Karl der Große mit einem Münster überbaute? Was half es ihm, daß alle die kleinen Bäche, in die er, sich von dem großen retirirend, bis zum Knie gerieth, als Nebenarme der Witobach bezeichnet wurden? Er erzählte, daß ihm an einem großen Thurme, um den eine Anzahl ungeheurer Wasserräder auf die berühmten witoborner Mühlenwerke schließen ließen, nicht nur Hören, sondern auch das Sehen vergangen wäre. Alles das schmeichelte wol dem Lokalpatriotismus, trocknete aber seine Stiefel und Beinkleider nicht. Im Unmuth über die hier in Aussicht gestellte geringe Bereicherung seiner Welt- und Menschenkenntniß beschloß er, so lange die Umgegend zu recognosciren, bis der Rittmeister zurückgekommen sein würde. Selbst das einzige Weinhaus, das er am folgenden Morgen am Sonntag zum zweiten Frühstück seines Besuchs für würdig erklären konnte, mußte ihn, wie er versicherte, »melancholisch machen«. Allerdings lag es dicht an den alten Münsterthürmen Karl's des Großen und in ihren durchbrochenen byzantinischen kleinen Fenstern beherbergten sie ein wahres Gewimmel von Raben und Dohlen, die in Schwärmen aus-und einzogen und oft wie von Reisen herkamen, jedenfalls von den Bergen hernieder, wo ihn besonders ein fernhin leuchtender Punkt anzog, das den Wittekind's gehörende Schloß Neuhof ...

Piter beschloß nun, sich genauer die Gegenden anzusehen, wo Hermann den Varus schlug und auch einige der vielen daselbst zerstreuten Mineralbäder noch einen letzten Rest von »Saison« hatten. Einige dieser Heilquellen kündigten sich ihm, als er in der That mit Extrapost abreiste, bereits durch Leichenwägen an; sie waren berühmt gegen die Schwindsucht. Andere hatten eine harmlosere Bestimmung, aber die einzigen noch anwesenden Patienten schienen nur noch die Brunnenärzte zu sein, die an jedem Morgen an den Quellen erschienen, um sich zu erkundigen, wer etwa die Nacht angekommen war. Piter, geschmeichelt, daß man ihn für keinen Leber- oder Nierenkranken halten konnte, zugleich besorgt, darum noch für keinen Musterreiter zu gelten, bestellte in einem dieser Curhäuser Champagner und bewunderte, von selbst voraussetzend, daß es keinen echten gab, die treuherzige Etikette: »Product vaterländischer Betriebsamkeit.« Weiterreisend bekam er die Stimmung und Muße, sich so mit sich selbst zu beschäftigen, daß er sich die Abschiedsscene von Treudchen, dem neuen Mädchen seiner Schwester Hendrika, in allen möglichen Variationen ausmalte; denn daß diese allerdings nur in dämmernden Umrissen vor ihm stand, war bei dem umflorten Zustande, in dem er sich nach seinem Souper befunden, nicht anders möglich. Gerade aber diese Nebelhaftigkeit des empfangenen Eindrucks gestattete ihm die schönste Ausschmückung und wie er das freiherrlich Wittekind'sche Vorwerk Eggena, das Städtchen Lüdicke und andere hervorragende Punkte hinter sich hatte und in den Schluchten des Teutoburger Waldes sich ganz nach Belieben, bald an diesem Buchengrunde, bald an jener Tannenhöhe, die Niederlage der Römer ausmalen konnte und ihm das Krächzen der Raben, die ihm aus den Münsterthürmen gefolgt zu sein schienen, immerfort das aus der Schule in der That noch erinnerlich gebliebene: »Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!« zu sprechen schien (dem darob sehr verwunderten Postillon hatte er beim Bergan diese Erzählung als Probe seiner mittheilsamen Gelehrsamkeit nicht vorenthalten mögen), da trat ihm der Gedanke: Wenn du jetzt diese allerliebste Blondine hier neben dir hättest auf dieser geschäftlichen Irrfahrt! mit mächtiger Gewalt entgegen. In der alten Postkalesche, einer ausrangirten Beichaise, maß er sogar den Sitz, den Treudchen neben ihm einnehmen konnte. Er deckte auf das weich einladende Leder der Polsterung seinen Plaid und baute der kleinen Göttin im Geiste einen Thron und Altar. Selbst die zierlichen Füßchen, deren weiße Strümpfe er im Geiste als selbstgestrickte bewunderte, legte er eigenhändig auf einen Nachtsack, den auch seine Schwester Johanna behauptete selbst gestickt zu haben. Und weilte dann auch sein reizbarer Sinn, den die »etwas ängstliche« grüne, classische Waldeinsamkeit ringsum nur noch erhöhte, bei dem außerordentlichen Professor, Dr. Guido Goldfinger, an dem ihm nichts außerordentlich erschien, als die Selbstverständlichkeit, wie er, der Sohn des Medicinalraths Goldfinger, so ohne weiteres (weil die drei Hausfreunde eben im Hause alles regierten) sein Schwager wurde, und schossen dann auch seine Gedanken über drei Schwäger zu gleicher Zeit, wie der »Silberbogner Apollo«, »fernhintreffende« Pfeile, so kehrte sein an sich liebebedürftiges Gemüth doch immer wieder auf die Vorstellung zurück: Wenn sich die Romantik dieser hier eben genossenen geschichtlichen Eindrücke, mit denen du deine Freunde in begeisterter Mittheilung überraschen willst, doch auch durch die Füllung dieses bequemen Eckplatzes mit dem reizenden, anspruchslosen und so »gehorsamen Kinde« vervollständigen möchte! Die leisen Umrisse, die er von dem neulich Vorgefallenen behalten, zeichnete er kräftiger und kräftiger aus, drappirte das Bild neben sich mit Vielem, »worauf es ihm gar nicht ankommen sollte«, mit einem wunderschönen Hut und lyoner Bandbesatz, einem Shawl von damals modischem Krepp de Chine und mit den elegantesten Handschuhen, die Gertrud Ley besonders auch deshalb tragen sollte, um durch das Schonen ihrer vom Arbeiten etwas mitgenommenen Finger sich zu der Dame auszubilden, die man nach seiner Theorie der Geringschätzung des weiblichen Geschlechts »aus jeder Katze« machen könnte. Piter sah in einem »anständigen Frauenzimmer« nichts als die Wiederholung seiner »ihm hinlänglich bekannten« Schwestern.

Mit solchen theils gemischten, theils sich widersprechenden Empfindungen hatte Piter die Walstätten der alten Römerschlachten, auch die berühmten Externsteine hinter sich, die ihm die schauerliche Idee von Menschenopfern weckten – der anliegende See als Abzugskanal des rinnenden Blutes – und ihm in den Basreliefs der spätern christlichen Entsühnung dieser riesigen Metzgeraltäre auch nur eine sehr geringe Vorstellung von der Plastik des Mittelalters gaben – einer der Felsen hat ein altes Basrelief –, lauter Thatsachen, bei welchen er die Genugthuung schon vorweggenoß, wenn er davon zu Joseph Moppes sprechen würde, der nur die Musik leben ließ, oder zu Aloys Effingh, der allerdings Sinn für die zeichnenden Künste, wenn auch zunächst nur für heimliche Caricaturen hatte, oder zu Weigenand Maus, der kriegslustig und zur Carnevalszeit roß- und marschalluniformsfreudig, für solche Hünenthaten interessirt sein mußte. Thiebold de Jonge, der das Conversations-Lexicon nie mehr citirte, als wenn Benno nicht zugegen war, Der vorzugsweise sollte an ihn glauben müssen, wenn er versicherte, daß man über »solche Gegenstände« (er meinte ungefähr die Ergänzung der fehlenden Bücher des Tacitus) gar nicht mitsprechen könnte, falls man sie nicht »gründlich studirt hätte« – er meinte die Dauer eines Schnapses, den er dem Postillon in dem Wirthshause an den Externsteinen geben ließ und sein eigenes, mehrfach wiederholtes: »Ungeheuer merkwürdig!« beim Besichtigen der Riesensteine und der Blutlache und der alten Basrelieffiguren ohne Nasen – ein Mangel übrigens, der für diese gut war, da sie auf diese Art die rein menschliche moderne Bestimmung einer hinter ihnen liegenden kleinen alten Krypte nicht am Geruche merkten. Wie gesagt, nur der Postillon frühstückte hier, aber Piter in Detmold. Dort, wo einst Jérôme von Wittekind im Certiren stets der erste gewesen war und nicht blos beim Fragen nach, Calefaciebas, erwärmte, ja erhitzte sich auch Piter in einer Weise, die es erklärlich erscheinen ließ, daß er, kaum angekommen in Pyrmont, wohin er wollte, gleich spornstreichs an den Grünen Tisch rannte und sich noch an demselben Abend, im wildesten Sturm und vom »schnödesten Pech« heimgesucht, seine ganze Reisekasse sprengen ließ.

Wie Piter dann am folgenden Morgen in den Brunnenanlagen den letzten Rest seiner Baarschaft und der Curgäste musterte, auch etwas tiefsinnig über die Wirkung der hiesigen Gewässer gegen chronische Anfälle von Hypochondrie nachgedacht und dabei einen etwas confiscirten Eindruck gemacht haben mochte, jedenfalls mit einer bei der schon kühlen Morgenluft stark gerötheten Nase, somit, beide Hände hinten in die Rocktasche steckend, einem Abenteurer und Marodeur der Badesaison nicht unähnlich, machte er die Bekanntschaft eines Barons von Binnenthal, der erst vor wenig Stunden angekommen war vom Westen her, wo ihn ein glücklicher Instinct beseelte, statt nach Belgien zu gehen, ostwärts zu »machen« – denn Grützmacher hatte nur vorgestern, Sonntag Abend, zu viel mit dem Staate, dann mit dem Assessor von Enckefuß in Betreff des in den Sieben Bergen seine geliebte Mutter besuchenden Hammaker zu thun gehabt, sonst würde er dem ihm sofort aus dem Fuld'schen Balcon aufgefallenen Herrn die Fährte nach Westen von einigen schnell avertirten guten Freunden in grüner Uniform haben abschneiden lassen – ebenso wie er Herrn und Frau von Guthmann beim Besteigen des Dampfboots vorgestern Abend scharf fixirt und ihnen halblaut »glückliche Reise« nach Pyrmont gewünscht hatte, wohin auch sie in der That gingen, um unter den letzten Stoppeln der Saison noch einige Körnchen für ihr demnach den Sicherheitsbehörden schon bekanntes Metier aufzusuchen. Unterwegs machte das Ehepaar, nach dem Erstaunen über das erneute Zusammentreffen mit Herrn von Binnenthal sich mit ihm Geständnisse und alle drei vergaben sich das, was die Vergangenheit betraf, in Hoffnung auf eine schönere gemeinschaftliche Zukunft. Sie blieben zusammen und Binnenthal's erste Recherche auf der Morgenpromenade brachte ihn mit Pitern zusammen, diesen dann zu der charmanten Frau von Guthmann, die ihn so fesselte, so für den Verlust am Grünen Tisch tröstete, daß er ein einfaches »Einundzwanzig«, en quatre einging, gewann, wieder an den Grünen Tisch hüpfte und mit schon leichterm Herzen das Gewonnene nicht nur verlor, sondern auch durch eine Anleihe bei Herrn von Guthmann, der in der Nähe stand, das Verhältniß desto fester knüpfte. Pyrmont endete für Pitern nach drei Tagen, alles in allem, mit einer Spielschuld von 5000 Thalern, die er in einem sich immer vergrößernden Kreise von Freunden der Frau von Guthmann und der Göttin Fortuna zurücklassen mußte. Herr von Binnenthal war bei diesem schnell geknüpften Bande der Freundschaft der sogenannte »Schlepper« gewesen. Seine stereotypen Redensarten und die Devise: »Bange machen gilt nicht!« halfen ihm weiter, als andern Menschen ihr Originalwitz. Piter reiste ab von Pyrmont mit den »famosesten Erfolgen bei einer Baronin« – »Stoff doch immer« für die kleinen Soupers – und Hinterlassung einer zwei Monate de dato fälligen Anweisung auf sein Haus und wandte sich wieder auf Witoborn zu, wo der Rittmeister, in mancher Hinsicht sein Geistesverwandter, ihn schon sehnsüchtigst erwartete.

Mancherlei Arten gibt es, ein Unglück, das man sich selbst zugezogen hat, zu ertragen. Manche Menschen werden von der empfindlichsten Reue befallen und einige unter ihnen, nicht viele, nehmen sich vor, künftig sich zu bessern. Andere sind zwar gleichfalls, besonders wenn die einsame Natur ringsumher so feierlich stimmt, fest entschlossen, nun und nimmermehr wieder z.B. bei solchen »Baroninnen« »an den Leim« zu gehen und zu spielen und 5000 Thaler Badesaisonschulden auf ein Haus abzugeben, dessen Solidität sie selbst repräsentiren; aber die Reue verwandelt sich ihnen in Trotz, Trotz nicht etwa gegen sich selbst, sondern auffallenderweise gegen ganz unschuldige andere. Es ist allerdings kein behagliches Gefühl, ein großer Reformator sein zu wollen und als der Reformation höchst bedürftig sich selbst darzustellen. So ein Wechsel auf die Ordre eines notorischen Spielers, acceptirt von einem handelsberühmten Namen wie Piter Kattendyk, geht durch ein Dutzend Hände und kommt zuletzt im Comptoir seines Hauses wie eine Wundermär an, die alle alten Buchhalter betrachten mit Hälsen so lang, so lang – »wie die Gänse oder Kameele!« Alle Federn halten inne, alle Prisen stocken, alle Drehsessel knacken und die Miene, die vollends der Procuraführer Ernst Delring machen wird, die ist gar nicht die seiner gewöhnlichen Reserve, sondern einer still lächelnden Genugthuung, die sogleich zwei Treppen höher hinaufschleicht und für die liebende Gattin, vor der es etwa nicht, wie überhaupt vor keiner Gattin, Geheimnisse gibt, sondern im Gegentheil zur amusantesten Unterhaltung wird. Piter, ernüchtert von der Baronin (bei den spätern »kleinen Soupers« blieb sie natürlich diesseits der Dreißiger) phantasieumgaukelt von Treudchen's Unschuld, die im Geiste, von seinem Plaid bedeckt, wieder in seiner Beichaise neben ihm saß, sah alle diese Wirkungen der drei Tage in Pyrmont »als Nachcur« voraus, entsetzte sich, wie tief beschämt er in sein niedliches Comptoircabinetchen, wo er wie ein dirigirender Minister thronte, zurückschleichen mußte, und sagte sich: Naturen, wie die meinige, können alles, nur keine Demüthigung ertragen! Auf demselben, inzwischen durch Regengüsse etwas veränderten Wege kam er zwar wieder auf Anklänge an die Legionen des Varus, indem auch er mit dem Kopfe gegen die Lederwand der Beichaise stoßen und die denkwürdigen Klagen des Cäsar Augustus wiederholen mochte, aber der freie Geist der Forschung, der ihn auf der Herfahrt beseelt hatte, verließ ihn und nach langem grimmigen Grübeln und Sinnen, als er schon dicht bei Witoborn war, wo die Jesuiten oft genug früher den Satz: Si fecisti nega! in ihren Moralvorlesungen erörtert haben mochten, kam ihm ein ähnliches System als bestes Mittel zur Aushülfe: Hast du irgendetwas auf dem Kerbholz, dann sei gerade erst recht impertinent! Diese Theorie gab ihm Muth. Sie gab ihm diesen um so mehr, als gestern Abend noch bei einem kleinen von Frau von Guthmann arrangirt gewesenen Abschiedssouper ein alter dänischer Offizier en retraite gesagt hatte: »Respect kriegt der Mensch immer nur erst dann, wenn er auf alles, was er behaupten hört, Au contraire! sagt.«

Piter suchte schon lange eine Formel, die, wie die Philosophie einen Satz, z.B.: »Ich gleich Ich!« allen ihren Beweisen vorausschickt, so auch ihm das Räthsel des Daseins und besonders kurzweg die Methode erschloß, wie es z.B. Kaufleute hat geben können, die so außerordentlich bedeutend wurden, daß ihnen nicht viel an einem großen Namen, sogar an einem Ministerportefeuille fehlte. An seinem Schwager Delring hatte er eine solche vornehme Natur in der Nähe, die mit ihrer weißen Halsbinde zu jeder Stunde einem Regierungspräsidenten aufwarten und mit ihm über die Wünsche und Bedürfnisse des Lederhandels, über Binnenzölle und Wasserstraßen beneidenswerth unterrichtet sprechen konnte. Dies Air, das auch einigen andern Chefs großer Häuser, selbst dem alten Herrn de Jonge, der ein großer Arbeiter in den Sectionen der Provinziallandtage war, nicht im mindesten fehlte, vermißte Piter allerdings äußerlich an sich keines wegs. Dies englische, respectable und staatsmännische Benehmen, z.B. in den Zähnen zu stochern und die Finger in den Ausschnitt seiner Weste zu stecken oder als Parlamentsmitglied mit dem Hut auf dem Kopf und die Beine lang ausgestreckt einen Minister wie ein Heupferd behandeln, das hätte er an sich schon weggehabt. Nur fehlten die thatsächlichen Unterlagen. Ueber eine gewisse lächelnde Niaiserie, die die Engländer Snobbismus genannt haben, kam er bei Fragen über das statistische Gebiet nicht hinaus. Immer fühlte man, daß er über solche Gegenstände, wenn sie besprochen wurden, mehr eine lebhafte Wißbegierde als eine große Vertrautheit zur Schau trug, ausgenommen bei Debatten über Kunst, Stadttheater, Glanzwichse und einige Feinheiten im Liniiren der Comptoirbücher, die er einem alten, verstorbenen Buchhalter verdankte. Da elektrisirte ihn denn jenes pyrmonter Wort! Er fand es »merkwürdig« gleich auf der Stelle. Von den Höhen des im Regen gebadeten Teutoburger Waldes in die witoborner Ebene niederfahrend, beschloß er, zur Probe einmal das System des Au contraire zu versuchen. Ein nicht undiabolisches Lächeln begleitete die Vorstellung: Du kommst nach Hause zurück, bekennst nicht nur nicht deine Unbesonnenheit, sondern bist au contraire noch maliciöser denn je! Du erklärst Nück die gänzliche Verfehltheit seiner Speculation mit dieser Uebernahme der Enckefuß'schen Schuldenmasse und unterbrichst jedes Staunen, das man etwa über den pyrmonter Wechsel von 5000 Thalern zu erkennen geben sollte, mit einem viel, viel größern Erstaunen über die unvernünftigen Handlungen anderer Menschen!

In diesem System, das ihm von etwas Bosheit und viel Desperation eingegeben wurde, verfuhr er sogleich, um nur mit Lärm zurückkommen zu können, mit dem Rittmeister von Enckefuß, den er jetzt antraf. Dieser Unglückliche hatte einen jungen Mann voll »Großartigkeit« erwartet und fand einen abscheulichen Krakehler, der die Lorgnette einkniff und ihn fast beleidigte. Enckefuß war ihm in seiner gewohnten rosenrothen Laune entgegengehüpft, elastisch, frisch geschminkt wie ein Jüngling, und nun fand er einen verdrießlichen Taxator, der auf jede Versicherung das Gegentheil anzugeben wußte und den armen Mann binnen einer Stunde um allen Humor brachte. Piter zuckte nur ewig die Achseln und studirte nur im stillen sich seine hübsche Portion Donnerwetters ein, die er auf seine Angehörigen schleudern wollte, eine gehörige Anzahl von Ausrufungen über verlorene Zeit und Mühe, und es »sollte ihm mal einer wiederkommen und ihn in solche Bockshörner jagen« – und da war denn zur Rettung des Rittmeisters keine Verständigung möglich. Piter schnurrte auf jede Proposition auf wie ein Stacheligel und reiste ab. Der Rittmeister begleitete ihn sehr artig an den Postwagen, blieb aber mit einer traurigen Miene zurück. Er sah dem Scheidenden, dem Retter in der Noth, lange, lange nach und begab sich besinnungslos in seine Wohnung. Wir wollen gleich hinzufügen, daß er sich nicht todt schoß, sondern einen Brief an seinen Sohn schrieb, zwar mit soldatischem Lakonismus blos seine Flüche aufs Papier werfend, aber doch so voll Verdruß (und besonders über die Nothwendigkeit, nun doch an den Präsidenten von Wittekind-Neuhof gehen zu müssen – der Kronsyndikus stand unter Curatel –), daß der arme, schon lange vereinsamte, einst so stolze Mann seine schwarze Tusche, seine Pinsel, seine rothen Schminknäpfchen ganz vergaß und – nur das Klagen und Kratzen seines alten treuen Pudels hörte und leise zu ihm sprach: Beißen sie dich auch so, Caro? und dann die Thüren zuschloß und halb die Fensterladen zuzog und ein altes Kamisol anzog und die Brille auf die Nase, sich selbst auf die Erde setzte und eine Schere nahm und ganz ein Greis geworden seinem allein noch treuen Thiere vor dem Hereinbrechen des Winters in wehmüthiger Betrachtung über Flöhe die Haare schor. So fand man ihn wenigstens da, als er zum ersten male anfing, allerlei wunderliche Reden durcheinander zu sprechen ...

Piter kam im Vaterhause an und überhäufte Nück sogleich mit dem ganzen Vorrath gründlich einstudirter Vorwürfe. Er schilderte das Geschäft, das er ihm aufgetragen, als einen neuen Beweis, daß man noch soviel Latein und Griechisch und doch nichts von praktischen Dingen verstehen könnte. Nück, sehr erschreckt durch die Gefangennehmung Hammaker's, replicirte wenig; Benno und Thiebold freilich bestürmten Pitern voll Unwillen. Ihnen antwortete er auf jedes, was sie vorbrachten, mit Au contraire. Fast kam es zum Bruch zwischen Thiebold und ihm. Piter war in einem Grade unumgänglich geworden, daß er sogar sich vor sich selbst zu fürchten anfing und nur in seinem Verhältniß zu Gertrud Ley seinem Gemüthe ein letztes Asyl eröffnete. Diese Liebe steigerte sich zur Schwärmerei, besonders seitdem seine Schwester Hendrika, um Treudchen vor ihm sicher zu stellen, ein für allemal die auf seine Wendeltreppe führende Thür verschloß und sogar den Vorhang des Zimmerchens, das Treudchen bewohnte und das dem seinigen gegenüberlag, Tag und Nacht herabzulassen befahl. Wäre nicht die neue Beherrscherin des Hauses gewesen, Lucinde Schwarz (sie wurde es ganz wider Willen und einfach nur dadurch, daß jeder Bewohner desselben, Delrings ausgenommen, die »sanfte, stille, ruhige Seele« zur Vertrauten machte), Piter hätte Sitte und Anstand über den Haufen geworfen. Aber Lucinde wollte alles Ernstes, daß Piter Treudchen in optima forma heirathen sollte. Sie beförderte diese Wendung der Dinge mit einer Discretion, die deshalb nicht leicht war, weil auch Treudchen, schon um »den jungen Herrn« möglicherweise zu »bessern«, seine, wie er selbst sagte, »wahnsinnige« Liebe mit der Kraftlosigkeit eines Mädchens erwiderte, das sich die Möglichkeit solcher herzbestrickenden Vorgänge innerhalb der ihr bisher gänzlich unbekannt gewesenen und neu aufgehenden Region der Liebe nicht geträumt hatte.

Dem durch die Gefangennehmung des Kirchenfürsten geweckten Geiste entzog sich Piter keinesweges. War doch selbst Thiebold wieder nahe daran, zu Feuer und Schwert zu greifen. Auch Benno, der sogar alles so erwartet hatte und der die Kraft der Ghibellinen bewunderte und von Dante's Welfenhaß sprach, stutzte ... Die Gefangennehmung wurde eben von der Regierung seltsam motivirt. »Zwei revolutionäre Richtungen« sollten sich in den Handlungen des Kirchenfürsten durchkreuzt haben, die jakobinische und die jesuitische. So lautete das Manifest der Minister ... Unvermittelt wogten in Benno's Brust die Gegensätze der Ideen hin und her. Nur Freiheit athmen zu wollen, nur die Herrschaft des Gedankens zu begehren, dafür sah er das Leben zu praktisch an. Aber das wirklich Praktische und thatsächlich durch die Welt, wie sie einmal ist, zu Bedingende, das hatte sich für seine wenigen zwanzig Jahre noch nicht fest stellen wollen ... Und rings diese Leidenschaften! Diese Parteinahme nur zu Gunsten einer »Kirche«, die doch auch die seine war! Kam nicht selbst Bonaventura über seinen innern, leise begonnenen Zwiespalt durch diesen viel größern Bruch wieder hinweg? ... Piter – der sah die Thränen seiner Mutter, hörte die Klagen seiner Schwestern; die drei Hausfreunde hatten keinen Appetit mehr; Nück vergab ihm sogar die witoborner Reise und trank mit ihm auf eine glücklichere Zukunft; sogar die zu Tod geängstigte Hendrika, die nur noch kaum zwei Monate zu dem heroischen Entschluß hin hatte, ihr Kind im Glaubensbekenntniß ihres Mannes taufen zu lassen, war am Morgen nach der Gefangennahme des Kirchenfürsten in Treudchen's Kammer gewesen und hatte, zwar nicht mit Empfindungen wie damals Windhack in der Dechanei (»Fiat lux in perpetuis!«) doch jedenfalls wie vor dem Ersticken sich Rettung suchend den Vorhang bald in die Höhe gezogen, bald wieder niedergelassen ...

Eines aber war Pitern an dem Kirchenstreit und an den Allocutionen und an dem Kampf der Broschüren, vorzugsweise aber an den allabendlichen Zusammenrottungen das Allerunangenehmste. Alle Familienfestlichkeiten mußten abbestellt werden. Wozu hatte er nun das älterliche Haus so umgestaltet und soviel Zerstörungen und Neubauten angerichtet, als um in der Eigenschaft des jetzt mündigen Chefs von »Kattendyk und Söhne« die Saison in einer Weise zu eröffnen, gegen die niemand, selbst nicht die Cirkel der aus Verlegenheit über den Geist der Stadt für den Winter ganz nach Paris übergesiedelten Gebrüder Fuld aufkommen konnten! ... Piter fand ein freies Feld und durfte es nicht zu seinen längst vorbereiteten Zwecken benutzen.

Endlich aber schwieg jede Rücksicht. Ende Januar konnte für seine Schwester Hendrika die Stunde der Entscheidung schlagen. Eine Gesellschaft mußte jetzt oder konnte vielleicht den ganzen Winter nicht mehr gegeben werden; wer verbürgte den glücklichen Ausgang dieser Entscheidung? Hendrika fuhr in keine Messe mehr, in keine Beichte, selbst dem Strom der ganzen Stadt zu dem neuen jungen Domherrn folgte sie nicht. Es mußte ein Anfang in der Entwickelung seiner Größe, seiner gesellschaftlichen Repräsentation, seiner Laufbahn zum Mitglied irgendeines Comité oder ähnlicher Befriedigungen seines Ehrgeizes gemacht werden, und Piter benutzte die nahe bevorstehende Abreise einiger hoher Herrschaften, von denen allerdings nur Monika speciell an sein Haus empfohlen war, um mit der Art, »wie Er Gesellschaften geben würde«, trotz der allgemeinen Landestrauer hervorzutreten.

Bei einigen Besuchen, die er hier im Hotel schon gemacht, war er auch der Gräfin vorgestellt worden. Von dieser hatte er ein Zeugniß bekommen, das, wenn er dasselbe gehört hätte, ihm nicht wenig geschmeichelt haben würde. Da er unausgesetzt nur das Gegentheil von dem behauptete, was die Damen sprachen, so bekam wenigstens die Gräfin von ihm den Eindruck eines geistvollen und unterrichteten jungen Mannes; denn die Frauen sind viel bescheidener, als man gewöhnlich glaubt; sie unterrichten sich gern und dünken sich in ihrem Wissen nie so fest, daß sie nicht mit der größten Aufmerksamkeit und Geneigtheit, sich zu vervollkommnen, zuhörten, wenn ihnen z.B. jemand sagt: Bitte um Entschuldigung, die Ueberfahrt über den Kanal ist im Januar viel sicherer als im December! oder: Erlauben Sie, ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, die Cultur um Witoborn ist auffallend vernachlässigt! Frauen lieben die Schmeichler in der Regel viel weniger als wir glauben und die vornehmen Frauen vollends – und gar erst, wenn mit ihnen Menschen sprechen, die sich auf Geld und Gut verstehen! Piter blieb zu seinem Glück nur zehn Minuten und hinterließ damals einen Eindruck, den die Gräfin fast einen »bedeutenden« genannt hätte.

Auch heute genoß Piter drei große Vortheile für höhere Würdigung. Einmal war er nur fünf Minuten mit den Damen allein; es erfolgte eine fernere Meldung. Sodann war Monika in eine tiefe Abwesenheit ihres Ohrs und Herzens und Urtheils versunken. Endlich drittens erhob sie sich sogar und entfernte sich ganz, wie sie sagte, auf einen Augenblick; das war, als Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge gemeldet wurden, die in der Voraussetzung, sie reiste ab, sich ihr und der Gräfin zu empfehlen kamen. Und als dann die beiden jungen Männer eintraten, blieb die Gräfin mindestens zehn Minuten über alle drei Anwesenden die alleinige Richterin, bis Monika, nach einem Kampf zur Beruhigung ihres aufgeregten Herzens zurückkehrte.

Piter war vollkommen so eingerichtet, daß er mit Anstand die Tasse Thee, die ihn die Gräfin mitzutrinken aufforderte, hätte annehmen können. Seine strohgelb gantirte Hand brauchte sich nur auszustrecken, um im Zulangen ihm ganz schön zu stehen. Eine weiße Weste, inwendig mit einem dunkelrothen Phantasiefutter, dunkelbrauner Frack mit Metallknöpfen, schwarze Beinkleider, eine Halsbinde, weiß mit allerlei braunen Sprenkelchen – später flüsterte ihm Thiebold zu: »Sonderbare kleine Maikäfer das, Kattendyk, ich meine in Ihrer Cravatte!« Sein kleiner Kopf war wohlfrisirt und das blonde Bärtchen leise gefärbt und das stumpfe Näschen nicht erfroren, ... er war in Equipage gekommen ... Aber sein System des Au contraire bestimmte ihn sofort die Tasse abzulehnen und etwas näselnd zu sagen:

Bitte recht sehr, gnädigste Frau Gräfin! Ich trinke keinen Thee –

Es war dies, Kamillenthee ausgenommen, eine Wahrheit.

Die Gräfin fand den jungen Kaufherrn wieder von imponirender Eigenheit. Wer sich einbildet, die Großen verletze dergleichen Selbständigkeit, irrt sich. Nur die »kleinen Großen«, die Empor- und Herunterkömmlinge sind anspruchsvoll; die wahren Großen sind sogar leicht eingeschüchtert und gerathen viel öfter in Verlegenheit, als wir glauben.

Piter rückte mit seinem Anliegen hervor. Im Wagen hatte er sich eine Rede stilistisch und rhetorisch zurecht gelegt. In gewandtem, der Vornehmheit wegen immer näselnden Vortrage bat er, daß seinem Hause die Ehre gegönnt werden möchte, bei seiner am nächsten Freitag stattfindenden ersten Soirée auch die gnädigste Frau Gräfin und die Frau Baronin von Hülleshoven erwarten zu dürfen ...

Da die Gräfin von ihrer auf morgen angesetzten Abreise sprechen durfte, kam sie rasch über das ihr jetzt denn doch aufwallende Gefühl hinweg, ob eine solche gesellschaftliche Mischung, wie in einem wenn auch großen Kaufmannshause vorauszusetzen war, ihrem Stande angemessen erscheinen durfte. Seit lange hatte Monika die Gräfin nicht lächeln sehen. In diesem Augenblick that sie es ganz graziös. Monika sagte sich: Die seltsame Frau! Wie wohlwollend und fein steht ihr dies Lächeln! Warum verscheucht sie es nur durch ihre stete Furcht vor der Weltlichkeit, der sie mehr angehört, als sie weiß!

Monika selbst, die sich mit der jetzt erst in Staunen ausbrechenden, aber doch allmählich beipflichtenden Gräfin über ihren Entschluß, doch lieber zu bleiben, verständigte, nahm die Einladung an. Gegenbesuche von und bei der Mutter Piter's hatten bereits stattgefunden.

Die Verständigung über das Zurückbleiben Monika's gab Pitern Gelegenheit, sich in die Erfolge zu versetzen, die am nächsten Freitag seine Arrangements krönen würden ...

Auch über Porzia's Onkel erfuhr die Gräfin, jetzt orientirter, wiederholt alles das, was ihr zur Beruhigung dienen konnte, nicht zu einsam zu reisen ...

Piter sprach sein Bedauern aus, die Gräfin entbehren zu müssen, ermangelte jedoch nicht, sie bei einer somit einmal beschlossenen Trennung durch seine praktischen Winke über die Comforts von London wieder wahrhaft zu bezaubern. Es fehlte nichts, daß er ihr nicht auch die Adressen aufgezeichnet hätte, wo sie am besten Cravatten und Zahnbürsten und Rasirmesser kaufen konnte. Sein Portefeuille hatte er gezogen, ein Blatt darin ausgerissen und eine Menge Namen aufgeschrieben, die der Gräfin bei der Ankunft von Wichtigkeit sein mußten, sogar diejenigen Beamten auf dem Zollhause, die sich am leichtesten bestechen ließen, trotzdem auf Bestechung bekanntlich die Deportation steht. In solchen Dingen konnte Piter höchst charmant und bis zur Herzlichkeit naiv sein. Da schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrungen. Die Gräfin, die zwar bei Lady Elliot sowol auf dem Lande wie in der Stadt wohnen sollte, hörte beglückt zu, wie das Hotel beschaffen war und wo es lag, in dem sie wohnen könnte, wenn sie wollte oder wenn sie müßte – Piter's Au contraire war auf einige Zeit höchst instructiv.

Benno und Thiebold kamen etwas feierlich. Denn wenn sie den Abschied jetzt auch nur von der Gräfin zu nehmen brauchten, so blieben sie doch selbst nicht mehr zu lange in der Stadt, sondern reisten auf Witoborn zu, Benno in Nück's Aufträgen, Thiebold, um die Wälder anzukaufen, die Terschka frischweg sämmtlich wollte abschlagen lassen, um zu respectablen Summen Geldes zu kommen.

Piter behielt merkwürdigerweise noch die Oberhand ... Die Gräfin zeichnete den ihr Nützlichsten aus. Sie ließ sich das weiße Blättchen voll Namen und Adressen schreiben und nebenbei warf Piter auch Erläuterungen für die beiden Freunde dazwischen, denen zufolge sie noch am Freitag, wenn sie bleiben würde, der Baronin sich in seinen Salons empfehlen könnten ... Man war überrascht und alles das gab ihm Suprematie.

Der Bediente servirte den neuen Ankömmlingen gleichfalls den Thee. Diese nahmen und Piter, der sonst unter seinen Freunden unter der Herrschaft des ansteckenden Beispiels stand, bekämpfte sich dauernd, es heute durchaus nicht zuzulassen. Während jene tranken, konnte Piter sprechen. Jene waren gedrückt, bewegt, sie waren der Mutter eines Wesens nahe, das ihnen so theuer war und ihren Herzen einen so edeln Wettstreit kostete. Die Schwärmerei, die sich in Thiebold's zuweilen leuchtend von der Theetasse zur Nebenthür aufblickenden Augen äußerte, hinderte ihn zwar nicht, Pitern in seiner selbstgefälligen londoner Topographie zuweilen zu unterbrechen und sich z.B. in Betreff guter Handschuhe auch seinerseits auf den Standpunkt des Au contraire zu stellen, aber Benno sah dem darüber sich entspinnenden Wortgefecht mit Schweigen und wie ein Neuling zu. Erst da, als sich jene im Zank etwas mäßigen mußten und sich in eine halblaute Conversation verbissen, ging er, als der Festere und Höhergebildete, auf ein Alleingespräch mit der Gräfin über, die von Nück, Terschka und ihrem Sohne begann ...

Benno's Aeußeres hatte sich seit einiger Zeit verändert. Die Dressur zum Waffendienste hatte ihn früher seiner eigenen Art zu sehr beraubt. Auch auf seiner Wange stand jetzt ein schwarzgekräuselter Bart, der die Männlichkeit seines Wesens hob und ihm einen ganz besondern Ernst gab ...

Seit meiner Studentenzeit war ich nicht in meiner zweiten Heimat! sagte er. Wenn es in der That zum Abschluß über die Dorste'schen Wälder durch meinen Freund de Jonge kommen sollte, würden wir noch den Wildstand zu vermindern haben. Herr von Terschka ladet uns wenigstens zu einer Jagd ein, die als ein halber Vertilgungskrieg allerdings ihresgleichen suchen würde.

Ich bitte Sie! schaltete Piter ein. Sehr wenig Wild dort! Die Rehböcke kann man zählen!

Schweigen Sie! flüsterte Thiebold und corrigirte auf dem Blättchen, das ihm noch die Gräfin gelassen hatte, die Orthographie einiger englischer Namen ...

Glauben Sie nicht, fuhr die Gräfin zu Benno fort, daß man beim Verkauf sich der Möglichkeit begeben würde, Gelegenheiten zum Bergbau zu entdecken? Etwa Kohlengruben?

Die Gegend ist eine Hochfläche mit einem Muschelkalkrücken! sagte Benno. Torf findet sich in den Absenkungen, manche Gasquelle in den Aufdachungen Bergbau würde große Kapitalien erfordern ...

Rentabilität wird bestritten! schaltete Piter ein ...

St! war Thiebold's scharfes Wort, das in seiner Theetasse verhallte ...

Graf Joseph hat viel für die Schulen gethan, hör' ich, sagte die Gräfin. Sind die Leute wenigstens in der Landwirthschaft aufgeklärt und eignen sie sich die neuen Erfindungen an?

Sehr schwer, Frau Gräfin! erwiderte Benno. Indessen ersetzen sie durch Eifer und Gediegenheit in ihrer täglichen Arbeit, was ihnen an höherer Strebsamkeit fehlt. In der nächsten Nähe von Witoborn freilich ist man durch die Unzahl von Feiertagen bequem, durch die Reste der alten Priesterherrschaft etwas matt und schlaff geworden, auch im Auffassen und Begreifen beschränkt –

Erlauben Sie, brach Piter aus, ich habe da so durchtriebene und verschmitzte Menschen gefunden, wie irgendwo!

Wenn Sie doch nur –! unterbrach Thiebold fast ganz laut und bestimmt. Auch hätte Piter beinahe alles vor der Gräfin jetzt von selbst verloren. Von diesem antihierarchischen Geständniß Benno's war sie angezogen. Gern würde sie das Gespräch fortgesetzt haben, wenn nicht aus Porzia's Zimmer Monika zurückgekehrt wäre ... Monika hatte Porzia im Packen unterstützt, sich dabei gesammelt und gestärkt.

Wenn nun auch die jungen Männer die Bestätigung erhielten, daß Armgart's Mutter noch zurückblieb, so mußten sie selber doch schon in den allernächsten Tagen reisen und drückten darüber in herzlichen und von einem gewissen geheimnißvollen Tone begleiteten Worten ihr Bedauern aus ...

Piter machte eine pfiffige Miene. Durch Lucinden war er, wie er es nannte, über »das Pech« unterrichtet, das Thiebold hatte, einem Mädchen zu huldigen, das auch Benno liebte. Aber sich zu empfehlen, bezeigte er keine Lust. Er flüsterte sogar Thiebold ohne alle Rancune zu, daß sie sich seines Wagens bedienen könnten und es schön wäre, wenn sie den Abend noch in irgendeinem Lokal, z.B. auf dem Hahnenkamp frisch angekommene Austern versuchten ...

Thiebold hörte nichts ... Er war ohne Besinnung. Um Monika einen Stuhl zu holen für den, den er selbst eingenommen hatte, weil er ihn am Tische leer gefunden, flog er nur so ...

Grüßen Sie Armgart! sprach Monika mit Festigkeit und schnitt damit alles ab, was etwa durch Reden oder ausdrucksvolles Schweigen über ihre Beziehungen zu dem Ziel der Reise der jungen Männer angedeutet werden konnte; sie ging sogleich auf die für eine solche Reise ungünstige Jahreszeit über ...

So werden Sie vielleicht Ihren Herrn Vetter, den Domherrn begleiten? fragte die Gräfin, die gern auf die Verwahrlosung des Volks und Erdbodens durch geistliche Herrschaft zurückgekommen wäre ...

Ich glaube nicht, sagte Benno. Die Amtspflichten, die dem armen Neuling aufgebürdet werden, sind so schwer, daß er vor Ende der Woche nicht frei wird. Und ich höre auch, es ist besser, er kommt so spät wie möglich. Das ganze Stift Heiligenkreuz, alle Damen der Umgegend, Comtesse Paula an der Spitze, sticken einen in 24 Theile getheilten Riesenteppich, der an dem Tage, wo Bonaventura zum ersten male in St.-Libori Im dritten Buche wurde durch ein Versehen »Ludgeri« gedruckt. die Messe liest, am Hochaltar ausgebreitet liegen soll. Seit dem Tage schon, wo seine Ernennung auch zum dortigen Archipresbyter bestimmt war, arbeiten sie daran. Inzwischen ist der Kirchenstreit dazwischengekommen und nun mußte alles thätig sein, um für den gefangenen Kirchenfürsten Weihnachtsgeschenke zu fertigen. In der Festung, wo er verweilt, soll die Post zu Weihnachten ein ganzes Zimmer voll Packete gehabt haben, die allein nur an ihn adressirt waren. Seitdem sind die 24 Damen zu dem Teppich zurückgekehrt und arbeiten nun Tag und Nacht daran, daß sie von der Ankunft meines Vetters nicht überrascht werden.

Piter hatte glücklicherweise soviel Geistesgegenwart, sich zu besinnen, daß die Gräfin an dieser Schilderung einigen Anstoß nehmen mußte und beendete nicht ganz ein fast heftiges: Erlauben Sie, das ist eine Verwechselung! In unserer Stadt allein war auf der Post ein ganzes Zimmer voll Factischer wäre allerdings seine Bemerkung gewesen. – als ihn ein niederschmetternder Blick Thiebold's bedeutete, die Gräfin reden zu lassen, die Pitern erst schweigend ansah und dann mit einer ernsten Miene sprach:

Mögen die Damen nur den klugen Jungfrauen gleichen, die ihre Lampen in gutem Zustand hielten, als – der Bräutigam kam!

Benno fühlte, daß es Zeit sein konnte, auf diese feierliche Aeußerung aufzubrechen und Thiebold wünschte dies um so mehr, als Piter die »horrible Dreistigkeit« oder Bêtise besaß, unbekümmert um ein biblisches Citat die etwas schlecht brennende Lampe auf dem Tische zu fixiren ...

Armgart's Mutter hielt sie noch fest oder setzte doch das Gespräch unwillkürlich fort, indem sie den Amtseifer des jungen Domherrn rühmte und diesen in Vergleichung brachte mit dem bequemern System des Dechanten, nach dessen Befinden sie sich erkundigte ...

Benno schilderte die mannichfache Aufregung, die es seither für die Dechanei gegeben hatte. Zwar waren bei Beda Hunnius sämmtliche Papiere mit Beschlag belegt und von der Regierung theilweise der Oeffentlichkeit übergeben worden, doch zwang der Gegendruck der Volksaufregung auch den Dechanten, diesmal seiner Lässigkeit zu entsagen. Die Majorin Schulzendorf kam nicht mehr in die Dechanei. Alles stand auf dem Kriegsfuße. Die dem Mörder der Schwester der Frau von Gülpen abgenommenen Werthpapiere hatten ein ansehnliches Vermögen ergeben, das dem Laienbruder Hubertus im Kloster Himmelpfort bestimmt war. Dieser, ohne alle Verwandtschaft, hatte das Geld seinem Kloster zu überlassen ... Auch darüber gab es vielerlei Aufregungen für den Frieden des Dechanten, den also nicht mehr allein der nächtliche Ruhestörer Lolo um seine behaglichen Träume brachte ...

Nun, unterbrach Monika die lebhafte Mittheilung, die Piter aus den Abendcirkelgesprächen seiner Mutter ergänzen und zu Thiebold's erneutem Verdruß berichtigen wollte; nun, so wird es die höchste Zeit sein, daß der alte liebe Herr sich in Wien bei seinen Freunden und Freundinnen erholt! Wer ihn dort beobachtete, mußte immer beklagen, daß die Zeit der Abbés vorüber ist ...

Da die Gräfin diese Erörterungen zu ignoriren schien und sogar, der peinlichen Erwähnung des Mordes und der neulichen Hinrichtung ausweichend, wieder die Rechnung des Wirthes zu betrachten angefangen hatte, war es in der Ordnung, daß sich alles erhob und Abschied nahm.

Monika reichte Benno und Thiebold die Hand ... Ein magisches Band ist es, das eine Mutter mit dem Manne verbindet, der sein Herz ihrem Kinde weiht! Selbst wird sie darüber noch einmal wieder jung, fühlt ihr Herz mächtiger schlagen und theilt fast alle Empfindungen ihres Kindes. Oft sogar kann eine Mutter darunter leiden, wenn ihr Kind dem Ideal von Gegenliebe nicht entspricht, das ihr selbst davon noch im Herzen lebt. Sie weiß, was Liebe ist, was Liebe sein muß, sein kann und ihr Kind läßt den Mann, der sie liebt, oft launisch, oft nur kalt erwidernd, am Frauenherzen verzweifeln ...

Beiden Bewerbern gab Monika ihre Hand und wünschte ihnen schmerzlich lächelnd eine glückliche Reise! ...

Blicken wir nur einen Moment noch den sich Empfehlenden nach, so sehen wir, daß, unten angekommen, Thiebold Bennon schon deshalb in Piter's leidenschaftlich offerirten Wagen zog, um ihn zum Zeugen zu machen des Ausbruchs seiner verhaltenen Empfindungen über Piter's Benehmen. »Kattendyk! Wie Sie sich wieder benommen haben!« Dies Thema wurde variirt in allen Tonarten und sogar ohne Widerspruch; denn Piter rechnete auf vollkommenste Aussöhnung und Uebereinstimmung vor dem Austernbret, auf das er seine Gefährten eingeladen und dessen Annahme nur insofern noch eine Modification erlitt, als Thiebold seine Entzückungen über die Nachsicht Monika's und der Gräfin, zu denen er vom »Rüffeln« übergegangen war, zuletzt selbst unterbrach und die Austern auf der Apostelstraße für besser erklärte als die auf dem Hahnenkamp. In solchen Dingen gab Piter seinen Freunden nach. So flogen nun alle drei auf die Apostelstraße, wo, von gleichem Instincte beseelt, auch bereits Joseph Moppes, Clemens Timpe, Gebhard Schmitz, Weigenand Maus und Alois Effingh am runden Tische saßen und, die Eintretenden erblickend, sie mit einem in der That von Herzen kommenden, stürmischen: Hurrah! empfingen.

Vortreffliche junge Männer das! sagte inzwischen wiederholt die Gräfin, verlor sich jedoch immermehr in eine jetzt ungestörte Revision ihrer Reisekasse und sprach ihr Bedauern über den Entschluß der Baronin, sie nicht einmal bis zum Meeresufer zu begleiten, schon nur noch mechanisch aus ...

Ist es nicht auch besser, liebe Gräfin, sagte Monika, daß ich die Wohnung so lange behalte, bis ich an Terschka geschrieben habe, Ihre Rechnung durch das Haus Fuld berichtigen zu lassen? Sie werden diese hohe Summe nicht erwartet haben und sie nicht gut entbehren können. Reisen wir beide, so müßte sie bezahlt werden; bleib' ich zurück, so hat es Zeit damit ...

Diese Auskunft gefiel der Gräfin. Seit vielen Jahren war sie gewohnt, mit dem »ungerechten Mammon« auf eine Weise »Freundschaft« zu schließen, die durch ihre Bibelauslegung erlaubt und durch ihre Lebenslage bedingt war ... Ihr seht zu stolzen Palästen auf! Ihr beneidet das Loos der Glücklichen, die sie bewohnen!

Die Gräfin wollte zeitig zur Ruhe gehen ...

Sie hatte noch etwas auf dem Herzen ...

Anknüpfend an den Brief des »Onkel Levinus« begann sie, als gegen neun Uhr die wie zur Schlacht lärmende Runde von zwanzig Trommlern in den Straßen vorüber war:

Sie wollen Terschka schreiben?

Ja! erwiderte Monika unbefangen ...

Nach einer kleinen Pause fuhr die Gräfin fort:

Wie beklag' ich Sie, daß Sie nun wieder so allein stehen wollen – in dem feindseligen Streite der Leidenschaften! Glauben Sie an eine Aussöhnung mit dem Obersten?

Es gibt Dinge, die kein Gatte vergibt! erwiderte Monika mit halblauter Stimme und fast ahnend, worauf die Gräfin zielte ...

Traurig aber, sagte diese, ewig noch einen Theil der Kette zu tragen, von der man sich losriß! Gewiß denke ich mit dem Apostel: »Bist du an ein Weib gebunden, so suche nicht los zu werden. Bist du aber los vom Weibe, so suche kein Weib!« Ich deute das auch auf uns Frauen. Aber in dem Worte Gottes ist das Eine unerläßliche Vorschrift und das Andere weiser Rath. Fast alles, was uns die Apostel, ohnehin Sendboten des Herrn ohne Herd, ohne Familie, über die Ehe rathen, gehört den weisen Rathschlägen an. Auch standen damals die Frauen nicht auf der Höhe, auf welche sie eben erst später der Sieg des Evangeliums stellte. Sie waren den Sklavinnen näher, als der gleichberechtigten Bildung und Liebe. Da sie nicht wider den Geist Gottes, sondern nur gegen die apostolische Weisheit geht, ist die Ehescheidung auch keine Sünde. Der Apostel sagt es ja selbst: »Solches sage ich euch aus Vergunst, nicht aus Gebot.« Es sind Vorschläge à discrétion. Auch spricht Paulus über die Frauen leider wie aus eigener bitterer Erfahrung und wie aus einem ganz weltlichen Geiste. Fest aber steht des Allmächtigen Wort: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« Die Ehe ist eine Heilsanstalt – Ihre Kirche, die sie zum Sakrament machte, übertrieb das nur. Wie wenig Neigung Sie für die Irrthümer Ihres Glaubens haben, weiß ich ja! Sie sollten sich Freiheit gewinnen und den Schwankungen eines so haltlosen Lebens entfliehen – vielleicht – durch eine neue Wahl –

Monika saß auf dem Sessel neben der Gräfin, die noch auf dem Sopha geblieben war. Sie blickte nicht auf ... Vor dem Allerheiligsten erbebt die Seele und verstummt der Mund ...

Die Gräfin rückte Monika näher und ergriff die kalt gewordene Hand der vielgeprüften Frau ...

Ihr Kind hat gegen Sie Partei ergriffen! sprach sie mit weicherer Stimme, als man sonst an ihr gewohnt war. Die Verwandte betheuern zwar freundliche Gesinnungen, aber das sind leere Worte. Das Gesetz spricht Ihre Tochter dem Vater zu. Sie haben Herrn von Hülleshoven, wie Sie immer sagten, blindlings genommen, nur um einer andern Verbindung zu entgehen, und Sie konnten sich nicht an ihn gewöhnen. Ihr Herz trug ein Ideal, dem er nicht entsprach. So hätten Sie ja im Grunde nie geliebt. Jetzt, gestehen Sie, Monika – Terschka ist Ihnen nicht gleichgültig?

Monika erhob sich. Es lag keine Bestätigung dieser Vermuthung in ihrer Bewegung. Sie mußte sich nur erheben, um gleichsam die schwere Last abzuwälzen, die sich mit diesen Worten auf ihre Brust warf ...

Sie wissen, auch Terschka, fuhr die Gräfin fort, auch Terschka würde keinen Anstand nehmen, Ihrem Beispiel zu folgen. Einer alten Familie der Hussiten gehört er ohnehin an. Haben auch viele anfangs geglaubt, er würde meinen Sohn im Glauben seiner Väter wankend machen und hörte ich Warnungen über Warnungen über diesen so engen Umgang, so hat sich doch keine der Befürchtungen bestätigt. Terschka unterhält die loseste Verbindung mit seiner Kirche. Bliebe er der Verwalter unserer neuen Besitzthümer, wer sollte ihn hindern, seiner Liebe ein Opfer zu bringen? Denn daß Sie, Monika, sein ganzes Leben erfüllen und von ihm – ich brauche das sündhafte Wort – angebetet werden, wissen Sie!

Nein, nein! erwiderte Monika mit erstickter Stimme, ging auf und nieder und hielt sich, da sie nicht weiter konnte, am Fenster, wo sie in die Nacht starrte ...

Unerschrocken aber fuhr die Gräfin fort:

Leugnen Sie nicht, meine junge Freundin, daß es Sie mit mächtigem Reiz erfüllt, zu sehen, wie ein noch junger, geistvoller, liebenswürdiger Mann Ihnen huldigt und nur für Sie zu leben scheint! Anfangs glaubt' ich, als Sie in unsere Kreise traten und so schnell uns alle gewannen, daß auch mein Sohn vor Bewunderung vor Ihnen – o! diese unselige Leidenschaft, die ihn fesselt! – –

Mit einem Schmerzensausdruck, den Monika für diese Gedankenreihe an der Gräfin noch nie vernommen hatte, unterbrach sie sich selbst, hielt inne und stand jetzt selber auf, weil auch in ihren Adern das Blut mächtiger zu kreisen begann ...

Monika, selbst des Beistandes bedürftig, wandte sich vom Fenster ab und trat der hohen Gestalt entgegen, deren Hände in der ihrigen zitterten ...

Dann aber fuhr die Gräfin gesammelter fort:

Es ist gut, mein Kind! Ich habe mich an diese Schickung Gottes gewöhnt! Angiolina bewahrte meinen Sohn vielleicht vor Schlimmerem; denn wie Terschka und er begannen – das sind Erinnerungen! Aber ein milderer Geist kam über beide, und das hab' ich immer für unsern Beruf gehalten, den zu fördern und zu mehren, selbst mit eigener Aufopferung! Ich weiß nicht, ob Salomo mit dem Worte: »Ein holdseliges Weib erhält die Ehre«, auch die Ehre des Mannes meinte; aber meine Erfahrung – und sie ist alt – lehrte mich, daß ein Weib das ganze irdische und ewige Glück eines Mannes in Händen haben kann. Seit Hugo und Terschka Sie kennen, Monika, hat selbst mein Wort einen ganz andern Klang für sie gewonnen! Noch kürzlich schrieb mir Hugo: Mutter, wenn ich doch auch Terschka ganz, ganz glücklich haben könnte! ... Ich weiß es, daß es für ihn kein anderes Glück auf Erden geben könnte, als Sie sein zu nennen, Monika!

Die gefolterte junge Frau warf sich, heftig den Kopf schüttelnd, mit weinenden Augen an die Brust der heute so milden Greisin ...

Wir nehmen Abschied, schloß die Gräfin; bleiben Sie in dieser Stadt, bis ich zurückkehre! Wählen Sie eine kleinere Wohnung! Terschka wird oft herüberkommen müssen! Geben Sie dem Schmerz des vielgeprüften Mannes Gehör! Wie hat auch ihn das Leben hin- und hergeworfen, bis er bei einem Wesen angekommen ist, das ihm mit Recht ein köstlicher Schatz erscheint. Sie wissen, wie ich Sie liebe! Ja, Monika, entziehen Sie sich dem Gefühl nicht, das Sie haben dürfen, in manchen Dingen mit sich zufrieden zu sein. Noch fehlt die letzte Hand, die an Ihre Seele gelegt werden muß, die Hand eines Gärtners und Winzers in Ihrem Innern, der Ihnen spricht: Der Herr ist der Weinstock, wir sind die Reben! Das wird kommen. Genießen Sie das Glück, so von Menschen geliebt zu werden! Ach, es geht uns einst ein Tag auf, Liebe, wo man jede Freude beweint, die man sich entgehen ließ, wo man jedes Herz zurückhaben möchte, das man von sich stieß ... glauben Sie mir, Monika, auch an mir ziehen oft noch Schatten vorüber, die mich weinend ansehen und sagen: Wir hätten uns doch auch finden können, warum suchten wir uns denn nicht!

Monika umschlang stürmisch, wie ein junges Mädchen, die Greisin, in deren Augen sie zum ersten male seit dem Jahre, daß sie sie kannte, eine Thräne glänzen sah. Sie bedeckte die magere Wange, die dürre Hand der Greisin mit Küssen. Sie schluchzte selbst, als müßte sie all die Thränen mitweinen, deren vollen Strom sich die Matrone, trotz ihrer Erregung, versagte.

Sanft entwand sich die Gräfin den Umarmungen Monika's, küßte die Stirn der jungen Frau, strich leise die grauen Locken aus dem jugendlich schönen, durch die höchste Anspannung und Erregung wie mädchenhaft strahlenden Antlitz und ging zur Ruhe.

Auf ihr Klingeln kam Porzia, die noch lange bei ihr blieb und sich mit ihr über den Oheim verständigte.

Monika schlief in einem andern Cabinet ...

Wie aufgeregt sie durch diese Scene war, bewies sie am folgenden Morgen. Die Gräfin kam auf das Besprochene nicht wieder zurück; sie reiste gegen elf Uhr ab ... Im Wagen fand sie Blumensträuße von kostbaren Treibhauspflanzen, die ihr Benno und Thiebold hatten hineinlegen lassen.

Monika, nun allein in der großen Wohnung, die sie nur so lange behielt, bis von Terschka Geldanweisungen gekommen waren, irrte – wie am einsamen, ihr so unheimlichen Meere ...

Sie wollte an Terschka schreiben ... Sie konnte es nicht so harmlos, als sie wollte ... Eine Aenderung der Confession ... Scheidung ... Eine neue Heirath ... mit Terschka?! Das waren Gedankenreihen, die wie eine wilde Musik auf sie einstürmten im nächtlichen Fackelschein, wie ein Chor im Zuge der Korybanten, wie ein Fest unter dem Schwingen des Thyrsusstabes ...

In dieser Angst des Herzens trat ihr durch die Blumensträuße der jungen Bewerber um Armgart die Erinnerung an Bonaventura entgegen ... Sie wußte selbst nicht, was sie zog, den Pelz überzuwerfen, sich zu verhüllen gegen die schärfer gewordene Winterluft, die am Morgen sich durch Reif angekündigt hatte, der an allen Häusern, Brücken und Bäumen sichtbare Zeichen zurückgelassen, geradezu in die Kathedrale zu gehen dem tiefdunkeln Winkel zu, wo seit vier Monden die Menschen geschart saßen, um zu einem alten Beichtstuhl zu gelangen, in dem im weißen Kleide, das Beichttuch über sein bleiches Antlitz gezogen, Bonaventura von Asselyn die Beichte hörte ...

Seit einem Jahre hatte Monika nicht gebeichtet und noch wußte sie kaum, was sie dem Ohr des Priesters vertrauen sollte ...

Ostermorgenglocken waren es nicht, nicht der heilige, von den Rundbögen einer unsichtbaren Kirche widerhallende Gesang: Christ' ist erstanden! der wie im »Faust« die Seele des Zweiflers, so auch sie zum Glauben der holden Kinderjahre zurückzog ... Nicht in Wehmuth und Zerknirschung, nicht in Auflösung ihres Willens, nicht in wiedererwachter Liebe und Hingebung für das Bekenntniß ihrer Jugend betrat sie die Kathedrale ... Es lebte schon lange eine feste, ernste Stimmung in ihrem Herzen. Sie ging wie zu einer letzten Prüfung.

4.

In der großen Kathedrale liegen in den einzelnen Seitenschiffen mehr als zwanzig Altäre zerstreut.

In ihrer Nähe befindet sich mit ihren doppelten Eingängen und vergitterten Zwischenwänden eine Anzahl Beichtstühle.

Einige Schritte von ihnen entfernt stehen Bänke, auf welchen sich die Beichtbedürftigen, ehe an jeden die Reihe kommt, dem Gebete widmen können. Diese Sitze sind entfernt genug, um weder die Rede des Bußfertigen noch den Spruch des Priesters hören zu lassen, der oft statt der Absolution nur einen allgemeinen Segen ertheilt. Niemals darf es ersichtlich werden, ob Jemand den Beichtstuhl im Stande der Ungnade verläßt.

In einem Gang, der sich von der Sakristei hinter dem Aufgang zur Kanzel, die das kleinere Vorderschiff beherrscht, zum Hochaltare hinzieht und in einem einzigen großen, drei Altäre erleuchtenden bunten Fenster endet, liegen einige Beichtstühle allein und tief im Dunkeln.

Es ist die einsamste und dem Andrang der Gläubigen gewaltigen, in manchen Tagen einem Marktplatz gleichkommenden Baues.

Um den Schritt der Vorübergehenden zu dämpfen, liegen auf dem Fußboden Strohmatten ausgebreitet. Uralte Grabdenkmäler bedecken die eine von der Sakristei ausgehende Wand, hohe Bischofgestalten mit Krummstab und Mitra; ihre Namen sind nur an sonnenhellen Tagen zu lesen, wie an jenem, wo an ihnen Pater Sebastus sich zu gewöhnen suchte, wie er, ein Meister des Worts, von einem größeren Meister, der nun auch wieder den seinigen gefunden, für einige Tage auf ein einfaches Ja und Nein gesetzt werden konnte.

Nur der letzte dieser Beichtstühle, dem Hochaltare zu, ist allein von dem bunten Lichte des Fensters ein wenig erhellt, dem er zunächstliegt. Die beiden andern liegen so im Dunkeln, daß sowol die Seele, die hier sich aussprechen will, sich von aller Freude und allem Leid der Welt geschieden glauben kann, wie der hörende Priester von der ganzen Heiligkeit seines Berufs sich durchdrungen fühlen muß, soll ihn nicht, wie wol auch geschieht, gerade die Abgeschiedenheit dieser stillen Zwiesprache auf weltliche Gedanken führen ...

Seit vier Monaten war es in diesem dunkeln Gange seltsam lebendig geworden. Die Bänke, die dem Beichtstuhl gegenüberlagen, wurden am Dienstag und Donnerstag Morgens und Sonnabends Nachmittags und in der allerersten Sonntagsfrühe von Beichtbedürftigen nicht leer. Soviel Stunden hatte man aus drücklich von der Kanzel und durch Anschlag an die Kirchenthüren be- oder nur Neugierigen gerade entgegengesetzte Gegend des willigen müssen, um den Zudrang nur einigermaßen zu befriedigen ...

Dieser galt nur dem ersten der der Sakristei nahe gelegenen Stühle ...

Auf dem alterbraunen Holze saß seit vier Monden der neue junge Domherr, dem sogleich Ende September einige Messen und Predigten die Herzen der ganzen Stadt gewonnen hatten. Die hohe Würde seiner Erscheinung, die Milde seiner niedergeschlagenen Augen, ihr Glanz, wenn er die langen schwarzen Wimpern erhob, die feierliche und wieder so natürliche Art seines Benehmens, der Wohlklang seiner Stimme, alles das hatte ihm sogleich den Antheil derer gesichert, die zunächst nur auf Aeußerliches sehen, vorzugsweise derjenigen Frauen, die auch in ihrem kirchlichen Leben gewohnt sind, immer nach »dem Rechten« zu suchen. Und zu denen dann, die nur vom Aeußerlichen sich angezogen und, wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, sich fast magnetisch berührt fühlten, gesellten sich andere, die auch den Kern dieser lockenden Schale erquickend fanden. Sie mehrten sich von Tag zu Tage. Der junge vom Lande berufene und so schnell beförderte Priester fesselte durch den Geist seiner Vorträge ebenso wie durch den Schwung des Vortrags. Redete er, so waren das für Predigten bestimmte Vorderschiff und der Chor überfüllt. Vertheilte er den Leib des Herrn, so drängten sich die danach Begehrenden. Und bald auch, da ihm Beichtabnahme erlaubt wurde, war sein Ohr belagert von denen, die das Bedürfniß der Buße und Sühne hatten. Die beiden andern Stühle waren nur in den Sonnabendnachmittagstunden mäßig besetzt ...

So hochheilig das Sakrament der Buße gehalten wird, hängt es doch mehr als irgendeine andere Institution der Kirche von der Persönlichkeit des Priesters ab. Diese Kirche, die aus dem Gottesdienst alle Zufälligkeiten der Individualität entfernt wissen will, die ihre Erhabenheit auch darin findet, daß am Indischen Meerbusen und am Fuße der Cordilleren das Heiligste ebenso celebrirt wird, wie in einem Alpenthal der Schweiz oder in der Grabkapelle zu Jerusalem, muß im Beichtstuhl die Abhängigkeit ihrer Würde von den zufälligen Persönlichkeiten ihrer Priester ertragen. Sie kann schon die Aufforderungen, den Beichtstuhl häufig zu besuchen, nur zu Mahnungen, nicht zu absoluten Befehlen machen.

Zum Stolz der Gläubigen auf den neuen jungen Domherrn kam anfangs das Lächeln der Zweifelnden. Die Männer, ohnehin der Beichte abhold, da sie den Frauen eine das Glück der Ehe nicht eben mehrende Selbständigkeit gibt und in das innigste Selbander zweier Menschen einen oft räthselhaft spukenden Dritten eintreten läßt, hatten den Reiz zunächst nur in der Persönlichkeit des neuen Domherrn gefunden; aber auch sie kamen. Sie kamen, um scheinbar zu bekennen; doch erging es ihnen wie denen, die einst zu Johannes in die Wüste kamen. Sie hatten einen Sonderling erwartet, der Heuschrecken aß und in härenen Kleidern ging, und sie fanden Johannes, den edelsten der Bekenner, Johannes, der, selbst groß, selbst sich Gott verwandt fühlend, doch auf einen Freund, auf einen Jugendgenossen hinzeigen und sagen konnte: Der ist größer als du! ... In der Geschichte des Geistes eines ihrer seltensten Kapitel.

Gleich bei seinem Antritt hatte Bonaventura, der die in ihm entstandene gebrochene Stimmung seines Innern zu einer Aenderung seines Berufes nicht mehr ausbilden konnte, vom Kirchenfürsten aufbekommen, in seiner Antrittsrede den Text zu behandeln: Petrus, der im Oelgarten, als Judas mit den Herrschern der weltlichen Gewalt kam, dem Herrn sagte: Siehe, Herr, hier sind zwei Schwerter! ... Im Sinne Roms ist das eine dieser Schwerter, das dem Knecht des Malchus ein Ohr abhieb, die seit zwei Jahrtausenden angestrebte auch weltliche Gewalt der Kirche und das andere die unblutige nur kirchliche. Dies Thema war wie eine Versuchung. Viele weltliche Behörden wohnten der ersten Einführung des neuen Domherrn bei. Michahelles hatte darauf gerechnet, daß sich Bonaventura sogleich dem Geiste der beiden Schwerter Petri anschließen und für sich ein öffentliches Zeugniß ausstellen würde. Doch lobte später der Kirchenfürst selbst den jungen Priester um die geistliche Klugheit, daß er die verlockende Aufforderung, gegen die nachgeborenen, mit Titeln und Orden geschmückten Genossen des Judas Ischarioth zu reden, nicht in zu auffallender Form ergriff, sondern einen Mittelweg einschlug, der allerdings in der Theorie mehr sagen konnte, als der gegebene Text des Lucas sagen sollte, nur in der Praxis weniger. Der Antrittsredner hatte zu den zwei Schwertern des Petrus noch zehn andere hinzugefügt, von denen der Evangelist Marcus erzählt. Der Heiland hätte, sagt Marcus, die Jünger erst aufgefordert, daß »jeder von ihnen sich ein Schwert« zulege und es zum Kampfe kommen lasse; dann aber hätte sich der Herr in seiner Liebe auf ein milderes besonnen und gesagt: »Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen! Oder meinst du, daß ich nicht könnte meinen Vater bitten, daß er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel?« Und über diese »zwölf Legionen Engel«, diesen ewigen Entsatz der bedrängten Kirche, nicht über die zwei oder zwölf unbedeutenden Schwerter, predigte Bonaventura. Mit einer Begeisterung, die ihn in solchen Augenblicken die nagenden Zweifel ganz vergessen ließ, schilderte er diesen ewigen Beistand, den in der Weltgeschichte seit dem Sündenfall und dem Verlust des Paradieses das Gute zuletzt doch immer wieder am Guten gefunden hätte. Diese zwölf Legionen Engel, die ewigen Wahrheiten der Weltregierung, die immer wieder die Herrschaft der Bösen gestürzt hätten, waren ihm jene Thatsachen, die mit Schwertern, öfter mit Palmen und klingendem Saitenspiel über die wildesten Schlachtfelder hinwegrauschten, in Hütten wohnten den Palästen gegenüber, ja in der eigenen Brust der Tyrannen und Bedränger der Menschheit, wo sie nicht selten die Gestalt der Träume angenommen hätten ... Wie die Tyrannen dann gezwungen gewesen wären, schilderte er, einen Joseph zu rufen, der die Träume zum Wohl der Menschheit hätte deuten dürfen, oder einen David, der sie hätte beruhigen müssen durch die Zauber der Kunst ... Diese zwölf Legionen Engel schilderte Bonaventura als den Trost und die Zuversicht in jeder Bedrängniß der Menschheit. Alle sahen sie, wie er mit hoch emporgehaltenen Händen die Leiden der Erde schilderte, sahen diese mit Schwertern bewaffneten Engel, hörten sie wie mit Posaunen in den Kampf rufen, fühlten ihr Schmettern und ihr Schwertschlagen und das Dröhnen ihrer Schilde in den Lüften. Dann aber rief begeistert der Redner die Phantasie von ihrem Fluge zur Erde zurück, legte die Hand auf die Brust und sprach: Wo anders läge das Schlachtfeld dieses großen Kampfes des Guten gegen das Böse, das Schlachtfeld, das die eigentliche Entscheidung der Dinge dieser Welt gibt, als in dem Herzen und dem Gewissen und der Furcht Gottes eines »Jeglichen unter uns«!

Was sodann der Kirchenfürst, ganz nach Sebastus' Prophezeiung, zunächst gehofft zu haben schien, als er von einer kleinen Dorfpfarre diesen Priester in die großen Hallen seiner Kathedrale rief, war schon in kurzer Zeit eingetroffen. Vorzugsweise war es die Belebung des Beichtstuhls gewesen, auf die man gerechnet hatte. Diesen, wie alle Institutionen der Kirche, selbst die veraltetsten, in größere Aufnahme zu bringen, wurde immer mehr zur Taktik des großen Feldzugs, dem hier und dort auch andere Kirchenfürsten die Oriflammen vorantrugen. Durch den Beichtstuhl war die mehrfach angedeutete Philosophie getödtet worden. Der Beichtstuhl theilt die von Rom empfangene Parole aus. Der Beichtstuhl ist das Mittel, die Fürsten wieder in die Büßerhemden von Canossa zu jagen. Der Beichtstuhl regelt, erzieht und straft die Leidenschaften und keine mehr als die Liebe und den Haß. Der Beichtstuhl gibt Rathschläge und für nichts mehr, als für die Verwickelungen und das Nebeneinander der Menschen und für kein Nebeneinander mehr, als für das in der Ehe ... »Aber auch die größte Kraft der Opposition gegen den Beichtstuhl«, rief einst Benno, der in Beichtstühlen das Räthsel seines Lebens begraben glaubte, »liegt ebenfalls in dem, was unserm Jahrhundert das Heiligste geworden ist, in der Ehe und in der Familie. Wie mancher Vater hält seine Tochter von der Beichte zurück, weil sie dort – wie oft! – nach Sünden gefragt wird, von denen die Unschuld ihres Herzens und ihrer Phantasie keine Ahnung hat. Der Gatte sieht sein Weib mit Schmerz zur Beichte gehen; denn er kann die Vorstellung nicht verbannen, sie vollzöge einen Act der Untreue, die es zwischen Liebenden auch in geistigen Dingen geben kann –«

Bonaventura aber saß an dem großen Ohre des Dionysius und hörte die Bekenntnisse der Menschen noch in dem Glauben, daß er Gutes verrichtete, Wahres und Erlaubtes. Fiel ihm auch immer und immer die lateinische Zuschrift aus Italien ein: Quando quis tibi occurrit – er schrieb das, was zwischen dem Kirchenfürsten und dem Mönche vor sich gegangen, auf Rechnung – nur des römischen Wesens. Der Grund des Katholischen selbst schien ihm unerschütterlich. Bonaventura glaubte an die höchste Bedeutung der Beichte ...

Doch schon – die erste Erfahrung! ... Es hatte sich verzögert, daß mit seiner Amtseinführung auch zugleich Tag, Stunde, Ort seiner Beichtabnahme verkündigt wurde ... Im Anfang des October erst war diese Angabe gekommen und nicht allgemein sogleich war sie selbst nach dem Anschlag bekannt geworden. So saß er eines Morgens früh sieben Uhr schon in seinem Stuhl zur ersten Anhörung und war noch allein ... Den Tag vorher hatte er der Einweihung der Kirche in Drusenheim beigewohnt. Das schöne Fest stand noch vor seiner Phantasie fast wie ein materiell ihr eingeprägtes Bild. Erregten Naturen ist nach einer großen Anstrengung ein Auge gegeben, wo, wie auf der feinen Silberplatte des Lichtbildes, gegen unsern Willen ein Eindruck ebenso sinnlich haften bleiben kann, wie oft auch das Ohr von einer Melodie nicht verlassen wird, ohne daß wir im Willen haben, sie zu singen ... Ein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele das! sagte sich Bonaventura. Ein Bild, eine Melodie bleibt gegen unsern Willen im Auge oder Ohre haften! Warum hör' ich nur immer noch den Gesang des Veni creator spiritus? Warum seh' ich nur noch immer das feierliche Wandeln der Procession um die neu zu weihende Kirche? Nichts ruf' ich davon; alles kommt von selbst! Die Seele hat ihr Eigenleben und ist von unserm Willen und Bewußtsein getrennt! Sie ist unsterblich!

So saß er sinnend, träumend und sah auch seinen Abschied von St.-Wolfgang ... Die Abwickelung der pfarramtlichen Geschäfte war bald vorüber gewesen, der kleine Hausrath bald verpackt; selbst den wichtigsten Bestandtheil desselben, die Bücher, übernahm Renate nach dem Orte der neuen Bestimmung, in das große »kaltgründige« Kapitelhaus zu überführen. Alle Welt sah Bonaventura mit Betrübniß scheiden. War er auch einer von denen, die dem Volke immer, auch bei Gruß und Handschlag, »hochdeutsch« erscheinen werden, so blieben ihm doch Liebe und Anerkennung nicht aus. Die Männer gaben ihm, als er zunächst nach Kocher am Fall zum Trösten des dortigen großen Leides abreiste, das Abschiedsgeleite und schieden zuerst; eine Viertelmeile weiter folgten noch die Frauen; dann eine fernere Viertelmeile die jungen Bursche und die Mädchen, die ihr Abschiedsgefühl mit Blumenspenden ausdrückten; am weitesten folgten die Kinder, die ein Fähnlein trugen. Diesen schenkte er, beschienen vom Abendroth, abgestiegen von seinem Wägelchen, seinen letzten Vorrath von Heiligenbildern und entließ die kleine Ehrengarde, die ihm so ausdauernd gefolgt war und in der Glückseligkeit über die Bilder fast das Gebot der Mütter, ihm die Hände zu küssen, vergaß, mit seinem Segen fürs ganze Leben und auf Nimmerwiedersehen ... Einen Theil seines eigenen Lebens läßt ein Hirt so zurück, wenn er von seiner Heerde scheidet ... Dann fand er die Aufregungen in Kocher! Die Ermordung der Schwester der Frau von Gülpen! Den Onkel noch in besonderer Verzweiflung über die schnelle Erfüllung seiner Besorgnisse wegen so enger Kettung des Neffen an die Römlinge! Da Bonaventura schon nicht mehr widersprach, traten um so schärfer die Worte des Dechanten hervor: Wir werden noch zu Derwischen werden! Lies die Sprache unserer Kirchenzeitungen! Vergleiche die Ausdrücke, die im Streite Menschen gebrauchen, die sonst nur um die Passionsblumenkrone der heiligen Muse ringen! ... Beda Hunnius war gemeint. Dieser hatte Bonaventura's Besuch empfangen, verzehrt vom Neide auf die Ehren, die an ihm vorübergingen. Die von Schnuphase ihm in Aussicht gestellte Ernennung zum Ehren-Kanonikus war nicht eingetroffen. Wie hielt er dem Collegen die Theuerung der großen Stadt entgegen, die Mühen eines solchen Amtes, die Abhängigkeit von den Vorgesetzten, denen man zu nahe gerückt wäre! Hunnius gab sich die Miene, als wäre der junge Domherr nur zu bemitleiden ... Und in der Dechanei selbst war noch keine neue »Nichte« angekommen und der Dechant verdrießlich über alles, über Gott und die Welt. Als Bonaventura von dem Obersten zurückkam, grämelte er gegen jeden. Ich muß auch den Obersten und Hedemann, sagte er, ernstlich auffordern, die Messe zu besuchen und die Beichte! Warum kommen sie nicht wenigstens zu mir! Wahrhaftig! Ich mache es doch so leicht! ... Glücklicherweise, setzte er hinzu, rüsten sich beide, unsere Gegend zu verlassen ... In der Erörterung auch über Armgart, ihre Flucht, über das Schicksal der armen Angelika, die nun irgendwo eine neue Stellung finden mußte, über den Proceß des Hammaker, dessen vorauszusehende Hinrichtung – brach der Dechant, als Windhack gerade einige neue Kupferstiche brachte, Ausgrabungen in Ninive darstellend, in die Worte aus: O ich hätte lieber vor zweitausend Jahren leben mögen! Himmel, aber auch damals regierten schon die Römer! Nun, dann wär' ich ein Priester des Osiris gewesen, Windhack ein Sternseher auf den Pyramiden und unsere gute Frau von Gülpen da die schöne Kleopatra! Nicht wahr, dann hätten wir alle drei die ganze römische Welt schon damals so ruinirt, daß sie nie wieder hätte auferstehen können! Wenn dereinst und nur zu bald alles aus sein wird, alles, alles – wie gerne kröch' ich da in den ungeheuern Cheops oder in eine von den großen Sphinxen und erwartete das Jüngste Gericht als Mumie! Und Windhack und die Tante legten sich auch als – Mumien neben mich! Bitte, warum denn nicht? Hunnius müßte zu unserer Einbalsamirung das Räucherwerk liefern; alle Spezereien, alle Myrrhen, Aloes, alles, was in seiner Dichterapotheke an wohlriechenden Kräutern geführt wird! Das gäbe eine Genugthuung, wenn am Jüngsten Tage alles verfallen und Staub geworden ist und wir drei nur kröchen aus unsern Cocons heraus, lachend wie die Kobolde, roth und frisch geschminkt, so wohlbehalten, ja hungerig, als wären wir gestern erst bei Major Schulzendorf zu Thee und Abendbrot gewesen!

Alle diese Bilder zogen an Bonaventura vorüber, blitzschnell, auch Lucinde und Sebastus mischten sich beängstigend ein – sogar ein Schnuphase – der menschliche Geist ist ein Vorrathshaus, zu dem der Wille nicht den Schlüssel führt – und doch sollte des Priesters innere Betrachtung und Sammlung der Beichte selbst gelten. Seine Furcht war: Wirst du auch durch die einfachen Lebensvorgänge des Landvolks die Uebung gewonnen haben, dich in die Bekenntnisse dieser Großstädter zu versetzen? Seine Hoffnung war: Vielleicht nehmen die Städter kaum so vielen Anstoß an den harmlosesten Dingen wie die Landbewohner! ... Bonaventura war vielleicht in St.-Wolfgang mehr schon der Vertraute der Neidischen und Misgünstigen gewesen, als diese Untugenden in den Städten eingestanden werden. Schon trug er so schwer, tiefschwer an der Last der Sünden, ja Verbrechen, die in das Beichtohr der katholischen Kirche geraunt werden und oft nie vor die Richterstühle der Erde gelangen. Selbst auf das Wunderlichste war er vorbereitet. Auf dem Lande war ihm schon vorgekommen, daß ihm im Beichtstuhl eingestanden wurde, man hätte von der in der Communion dargereichten Oblate nur die Hälfte im Augenblick der heiligen Handlung verzehrt und sich den Rest aufbewahrt für eine passende Gelegenheit, um ohne den Priester den Leib des Herrn noch einmal zur Stärkung zu genießen. Man hatte reuevoll gefragt, was von dieser Sünde zu halten sei? Die Weisheit der römischen und spanischen Gewissensräthe antwortete statt seiner: Hatte die Frau, die der Fall traf, in Verehrung vor dem Leib des Herrn so betrügerisch gehandelt, so wird sie losgesprochen; wußte sie aber und kannte die Verbrechen, die sie alle beging (das eigene Ergreifen der heiligen Gestalt mit ungeweihter Hand, das Tragen derselben in ungeweihten Kleidern, den Gottesraub, daß sie sich selbst zum Priester wurde beim Empfangen der allerdings völlig ausreichenden zweiten Hälfte, endlich daß sie sich das Allerheiligste reichte im Stande der Todsünde), so hatte sie vier schwere Sünden begangen, für welche ihr erst nach langer Buße die Verzeihung des Himmels vom Priester verbürgt werden konnte ... In solchen Gewissensconflicten übt sich selbst die Seelsorge eines Landpfarrers ... Und so konnte sich der junge Domherr vertrauensvoll das Haupt in die Zipfel seiner Stola hüllen, gefaßt das Schiebfensterchen rechts oder links aufziehen und auf das Beichttuch gebückt hören, welche Vergehungen ihm eingestanden wurden. Sein Herz schlug höher, als er eben die Hand ausstreckte, um den ersten Beichtbedürftigen zu vernehmen, den er auf dem Holze zu seiner linken niederknieen hörte ... O, sagte er sich, wie viele Vergehen hast du doch schon im Keime erstickt! Wie viele Rathschläge gegeben, Rathschläge, den bessern Theil und den Frieden zu wählen, wenn auch zu einstweiliger eigener Verkürzung! Wie manches Entwendete war still wieder auf den Platz zurückgelegt worden, von wo es genommen! Wie mancher Arme hat durch dich eine Spende empfangen, er wußte nicht wie und warum und von wem! ... Dem poetischen Wesen Bonaventura's entsprachen Bußformen, wie: Gehen Sie und geben Sie dem ersten Armen, der Ihnen begegnet und dem Sie, auch ohne daß er Sie anspricht, seine Bedürftigkeit ansehen, nach dem Maße Ihrer Kräfte, ohne daß es jemand sieht! Gehen Sie in eine Armenschule und steuern Sie für das jüngste der Kinder, die nur in Holzschuhen oder barfuß gehen, eine Gabe! Knieen Sie in der nächsten Messe neben demjenigen in der Gemeinde, der Ihnen nach einem kurzen und nicht auffallenden Umblick in der Kirche durch den Zustand seiner Kleider als der Aermste erscheint! .. Selbst an Treudchen Ley konnte sein liebevoller Sinn denken und an die Geschwister derselben, für die er im Waisenhause auf diese Art sorgen wollte ... auch an die Kerze, die er einst Lucinden befohlen anzuzünden und niederbrennen zu lassen während des ›innern Gebetes‹ ...

Da öffnet er denn und sieht nicht einen schwarzen Sammethut, sieht nicht ein sich leicht erhebendes, schleierverhülltes weibliches Angesicht ... sein Ohr will nur hören ...

Die Formel der Anrede ist die nämliche am Fuß der Cordilleren und im Indischen Archipelagus: »Ich arme Sünderin bekenne vor Gott, dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, Jesu Christo meinem Erlöser, der heiligen Jungfrau und allen lieben Engeln und Heiligen und Ihnen, Priester an Gottes Statt, was ich seit meiner letzten Beichte gesündiget habe!«

Die Knieende spricht aber diese Formel nicht ...

Eine Ahnung ergreift Bonaventura ... Kaum kann er das Wort der Ermuthigung finden, das ihm sonst so geläufig ist:

»Unser Herr Jesus Christus sei in deinem Herzen und auf deinen Lippen, damit du alle deine Sünden recht beichtest. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!« ...

Die Beichtende beginnt nicht ...

Er wendet sich, ihr Auge zu sehen ...

Ein Strahl desselben trifft ihn und die in ihm selbst fortdauernde, wenn auch nicht eingestandene Spannung auf Lucinden gibt ihm die vollkommene Befähigung, die Scene zu verstehen, die ihn aufs tiefste erschrecken mußte ... Sechs Wochen einer künstlichen Vernichtung ihrer selbst, sechs Wochen des Schmerzes, der Sehnsucht, der Erwartung hatten Lucinden in einen Zustand versetzt, der sich vergleichen läßt mit der Ansammlung atmosphärischer Niederschläge, die durch plötzliches Hinzutreten reiner Luft sich in Feuer verwandeln müssen ... Nur daß für sie diese plötzliche Erlösung, dies endliche Anredendürfen und Alleinseinkönnen mit dem, den sie zuerst, einzig, allein geliebt und den sie mit ihrem ganzen Leben liebte, den Herzenskrampf in convulsivisches Weinen verwandelte. So erliegt die härteste Natur dem allgemeinen Gesetz. Dann gibt es keinen freien Willen mehr. Irgendwie muß sich die Ueberanspannung der Seelenkräfte helfen. Sie können entbehren bis zum Aeußersten; tritt dann sogar die Erfüllung ein, gerade dann erst recht bricht die Kraft ... Lucinde war selbst in Verzweiflung über das, was ihr geschah. Sie hatte keine Scene beabsichtigt. Sie hatte eine Reihe von Sünden, Falschheit, Heuchelei beichten wollen, wollte sich mit keiner Tugend schmücken, wollte nur auf der ganzen Höhe ihres bisherigen Lebens schweben, den Augenblick in voller Seligkeit genießen, dem Mann ihrer Anbetung so nahe zu sein – da weinte sie wie über zwanzig Jahre eines verfehlten Lebens und gab den nachzuzahlenden Tribut an die vielen Gelegenheiten, wo über das Schmerzlichste ihre Augen trocken geblieben waren.

Vorgänge dieser Art sind im Beichtstuhl nichts Seltenes ... Bonaventura, tieferschüttert, durfte Lucinden Zeit lassen, sich zu sammeln ... Sah er auch wol, daß sich allmählich schon andere, die an sein Ohr zu kommen begehrten, eingefunden hatten, er bedurfte selbst der Sammlung.

Endlich sprach er:

Rufen Sie den Helfer an, von dem Sie ja wissen, daß wir auf dem Wege zur Buße vorzugsweise zu ihm zu beten haben, den Heiligen Geist!

Keine Antwort ...

Lucindens Schluchzen war jenes, das wir alle an uns kennen, ein Weinenmüssen, wo wir sogar selbst sagen: Welche Thorheit ist das nun von dir! Und wir können doch nicht anders.

Wann haben Sie zum letzten mal gebeichtet? fragte Bonaventura mit Milde ...

Nur Thränen antworteten ...

Welcher Sünde zeihen Sie sich?

Da er die Frage nach einer Weile wiederholte, war es ihm, als hörte er das Wort »aller«! So schnell aber kam es, so erstickt, so entsetzlich aufrichtig für sein Ohr, daß er eine weitere Gewissenserforschung nicht mehr anzuknüpfen wagte. Auch erhob sich Lucinde. Schlank und hoch, wie sie war, ging sie ohne Segen und Absolution von dannen. Eine Flucht war es ... Bonaventura sagte sich: Welch ein Anfang! Was wird da kommen!

Gewiß wurde dieser Theil seiner Seelsorge für ihn der mühevollste, zehrend an seiner geistigen und physischen Kraft. Wie blickte er in die Tiefen der menschlichen Herzen! In Abgründe, vor denen ihn Schaudern ergriff! Wie nur allein die Frauen zu ihm redeten! Solche zumal, die sein in der Stola verborgenes Auge kaum sah, denen er aber schon am Rauschen ihrer Kleider anhörte, daß sie der vornehmen Welt angehörten. Der Duft, der ihrem Haar, ihren spitzenbesetzten Taschentüchern, die sie vor die Augen drückten, entströmte, verrieth ihren Stand. Manche dieser Frauen kannte er schon durch dieselbe Atmosphäre, dann denselben Ton des Vortrags, dieselben Vorwürfe, die sie sich machten, dieselben Allgemeinheiten, die er zurückzuweisen pflegte. Viele kamen nur, um dagewesen zu sein. Wem er anhörte, daß sein Beichtbedürfniß nur eine phrasenhafte Aeußerlichkeit, ein Luxus der Gefühle war, den unterbrach er mit dem Worte der Schrift: »Die Lüge aber ist der Leute Verderben.«

Das Schmerzlichste war freilich, das Uebel sehen und es doch trotz alles Vorbaues nicht im Keime ersticken können. Verbrechen hören und nicht anzeigen dürfen! Verbrecher hören und sie nicht einmal ansehen dürfen! Ihm war schon in St.-Wolfgang geschehen, daß ihm Bekenntnisse gemacht wurden von einem Knecht, der ihn selbst bestahl. Den Dieb durfte er nicht entlassen, weil jener daraus einen Misbrauch des Beichtgeheimnisses hätte entnehmen können.

Die Katastrophe des Kirchenfürsten hatte Bonaventura voraussehen müssen und doch erschütterte sie ihn und schloß eine Weile die zwiespältige Stimmung seines Innern. Als jüngster Domherr, eben eingetreten, hatte er im engern Kapitel noch keine Stimme. Die Curie übernahm die Regierung des erledigten Kirchenthrons. Glücklicherweise blieb der Präsident, sein Stiefvater, fern. Immermehr verblaßten bei solchen Aufregungen die Schriftzüge des räthselhaften Briefes, den er wie der Dechant einst empfangen. Anfangs träumte er von ihm, in schlaflosen Nächten traten ihm die lateinischen Worte in Bildern entgegen, wie wenn er das Concil von Trient noch einmal versammelt sähe, noch einmal mitstimmen müßte in Kostnitz, ob Huß und Hieronymus zu verbrennen wären ... Bald aber ließ ihn die Seelsorge, dieser Beruf so voll außerordentlicher Mühen, aber auch Belohnungen und Erhebungen, die Versuchungen zum Zweifel vergessen.

Lucinde war nicht wiedergekommen. In der Kirche begegnete er ihr oft; sie schlug die Augen nieder ... Klingsohr war unmittelbar nach seiner Abreise im September vom Kirchenfürsten »bis auf weiteres« unter strengste Klausur gestellt worden. Als Bonaventura zurückkehrte, bewohnte er noch die Zelle im alten Profeßhause der Jesuiten, durfte sie aber nicht verlassen. Räthselhaft blieb ihm diese fortgesetzte Strenge, über die er sich bei Michahelles erkundigte und nichts als ein ausweichendes Achselzucken zur Antwort erhielt. Hatte man von Lucinden erfahren? Traute man der Selbstbeherrschung des Mönches nicht? War Neues geschehen? ... Klingsohr schien eine Zeit lang als Gefangener nicht seiner geistigen Hülfsmittel beraubt. Artikel schrieb er nach wie vor. Jetzt erst bewunderte Bonaventura in den von ihm gründlicher gelesenen Aufsätzen die Kraft der Darstellung, die nicht immer täuschende Kunst einer Beweisführung, die trotz der tiefsten Demüthigung nicht aufhörte die protestantische Welt zu bekämpfen. Klingsohr klirrte an einer Kette, die er dennoch gelassen trug ... Imponiren mußte ihm etwas, wenn es ihn überzeugen sollte, und war es seine eigene Züchtigung! ... In jener Zeit schrieb er, wo ihm geistesverwandte norddeutsche Philosophen anfingen, mit Bewunderung von Asien und Rußland zu sprechen. So tief ausgehöhlt sich in sich selbst fühlend, so in ewiger Verneinung sogleich ohne alle und jede Liebe selbst für das, dem man doch selbst verwandt ist, so von einigen Schwächen seiner eigenen Partei sogleich erkältet, bedurften sie eines Ersatzes für die sie umgebende Schemenwelt. Sie bewunderten die Kosacken. Sie begannen das »Naturwüchsige« zu preisen in jeder Form, wenn es nur nicht Fleisch war vom eigenen Fleisch, Bein vom eigenen Bein, zuletzt nichts, was die Signatur der Bildung trug ... Einem Besuch, den Bonaventura beim Pater Sebastus machen wollte, stellten sich Hindernisse in den Weg und auch das einst so lebhaft empfundene Bedürfniß des Mönches, gerade ihm zu beichten, schien vor vielleicht neuerwachtem Hochmuth zurückgetreten ... Zwei Seelen wohnten in dieser widerspruchsvollen Brust, von denen die eine sich ewig von der andern zu trennen suchte. Oder hatte Klingsohr von Lucindens Schwärmerei für den »milden Versöhner«, wie er ihn genannt, gehört? ... Bonaventura harrte vergebens. Aufdrängen mochte er sich nicht. Kein Lebenszeichen kam aus dem alten Profeßhause. Nach der Gefangennehmung des Kirchenfürsten verstummten eine Zeit lang auch die Artikel des Paters. Die Haft, die jetzt hätte durch die gebrochene Macht des Kirchenfürsten aufgehoben sein können, wurde nun erst recht von der Regierung gegen den Agitator mit der zweischneidigen Feder bestätigt, ja verschärft. Bonaventura bat Benno, sich nach dem Schicksal des Paters zu erkundigen. Nach dem, was dieser in Erfahrung brachte, ließ sich annehmen, daß der Mönch in Untersuchung war und vielleicht schon in sein Kloster zurück. Da aber tauchten vor kurzem wieder neue Artikel von ihm auf in dem in diese Stadt verlegten, von der Regierung aufs strengste überwachten »Kirchenboten«. Es war eine Reihe von fortlaufenden religiösen Betrachtungen unter dem Titel: »Stufenbriefe vom Kalvarienberge des Lebens.«

Durch den Beichtstuhl trat Bonaventura in die innersten Lebensbezüge auch solcher Bewohner dieser Stadt, die vielleicht für uns Interesse haben. Nicht daß wir die Wirthin »Zum goldenen Lamm« belauschen möchten, die gleichfalls nicht umhin konnte, den »schönen« jungen neuen Domherrn mit ihrem bisherigen Beichtvater auf einige Zeit zu vertauschen. Selbst die Sünden, die Eva und Apollonia Schnuphase zu bekennen den tiefinnerlichsten Drang fühlten, verschweigen wir (das Beichtsiegel ist unlösbar, aber im Reiche der Dichtkunst gibt es keine Geheimnisse) ... Eher würden wir Walpurgis Kattendyk belauschen mögen, die sich förmlich – ausdampfte in ihren Sünden, wenn sie an das Ohr des jungen Domherrn gelangte, dem zu Liebe sie den Kanonikus Taube um Schlaf und Appetit brachte. Auch ihre Tochter, die Frau Procurator Nück, fehlte nicht und jedesmal kam diese in anderer Toilette; sie bekannte jeden Verstoß gegen die Fastenordnung, den sie sich hatte zu Schulden kommen lassen, nie aber eine tiefer gehende Herzens- und Nierenprüfung, nie den leisesten Schimmer ihrer Eitelkeit und Verschwendung ... Johanna vollends, ihre Schwester, war so fromm, daß sie für Zahnweh, das sie befiel, Messen bestellte; aber in ihr Inneres mußte erst der »Beichtspiegel« greifen, dies sicher gehende Brecheisen der Verstockung, das ihr die Fragen vorhielt: Warst du nicht hoffärtig? Warst du auch mildthätig? Bist du versöhnlich, liebevoll, nachsichtig? ... Alle ließen sich von dem jungen, im edelsten Eifer sich hinopfernden Priester den bekanntlich so schmalen und engen Weg deutlich zeigen, von dem geschrieben steht: Ich bin die Wahrheit und das Leben! und doch lag ihnen ihr Handeln und Fühlen immer nur auf der breiten Landstraße des Alltäglichen. Nicht eine von ihnen gedachte der Schwester Hendrika anders, als mit bitterster Anklage. Namen zu nennen verbietet die Beichtordnung. Doch verstand Bonaventura allmählich immermehr manche Umschleierung, errieth manche Andeutung und warnte auch hier in dem Conflict wegen »künftiger Religion« eines Familienmitgliedes vorläufig, bis er die Verhältnisse übersah, mit dem Worte des Apostels: »Verwirret die Geister nicht!« aus der schönsten Schutzrede der Toleranz, die man bekanntlich (oder vielmehr leider nicht bekanntlich) in Lessing's »Nathan« nicht so milde, als im Briefe Pauli an die Römer, Kapitel 14 und 15 findet ... Treudchen kam nicht zur Beichte ... Sie mußte schon seit lange zu Cajetan Rother gehen.

Auf Weihnacht zu näherte sich die bange Prüfung der Reise nach Witoborn und Schloß Westerhof. Der Proceß Paula's hatte plötzlich eine für sie ungünstige Wendung bekommen. Der oberste Richterspruch konnte, wie Benno schon lange versicherte, von Nück's Fechterkünsten nicht mehr parirt werden ... Benno sah den Freund oft, doch seltener, als ihnen beiden Bedürfniß war. Zu sehr nahm Bonaventura sein Amt in Anspruch, zu sehr war auch die Gefangennehmung des Kirchenfürsten ein Ereigniß, das auf einige Zeit jedes Urtheil erschreckte und divergirenden Denkern mehr sich zu vermeiden als zu suchen gebot ... Nück's Federn rauschten von Morgens bis Abends. Die Mittel gab er an die Hand, die gegenwärtige Stellvertretung des Kirchenfürsten als eine nicht berechtigte darzustellen und so die Schwierigkeiten den »Neunmal-Weisen« noch zu vermehren. Schon war von einer Gesandtschaft der Stadt und Stände nach Wien an den allmächtigen ersten Staatsmann jener Zeit die Rede und leicht hätte Benno zu der Ehre kommen können, sie zu begleiten; wenigstens sprach ihm Nück davon ... Und als Armgart's Mutter in der Nähe und in der Stadt selbst auftauchte, da entdeckte denn auch Bonaventura, was in Benno's Innern über alles in der Welt die Oberhand behielt, Armgart's liebliches Bild ... Nun war wieder Armgart's nahe Beziehung zu Paula eher ein Hinderniß der vertraulichen Ergießung, als eine Förderung.

Eines der schwersten Aemter seines Berufs wurde dem jungen Domherrn aufgebürdet, als er eines Tags die Anzeige erhielt, daß der Mörder der Schwester der Frau von Gülpen zu einer letzten Beichte über sein ganzes Leben ihn gewählt hätte.

Wie kam Jodocus Hammaker zu dieser Wahl? Zum Richtplatz begleitete ihn der Seelsorger des Gefangenenhauses; aber dieser letzte Beistand schloß nicht aus, daß sein Beichtvater ein anderer war.

Warum wählte er Bonaventura von Asselyn? Er hatte ihm wie Benno als Entlastungszeuge beistehen sollen für sein Alibi in der Abendstunde, in welcher der Mord geschehen war ... Da aber hatte schon das Blut an seinen Händen geklebt und in dem einsamen Hause am Stromesufer hatte er seinen Raub bei ihm bekannten Hehlern geborgen ...

Benno mußte für Hammaker's Besuche bei der Ermordeten gegen ihn zeugen, wie er gleich anfangs gewollt hatte. An dem Tage, wo Nück beim Plaidiren dem »alten Freunde« die Prise verweigerte, saß Bonaventura als Zuschauer der Gerichtsverhandlung, lauschend den Worten, die Benno sprechen mußte. Der Verbrecher, kokett bis zur letzten Stunde, sah die große Ehrfurcht der Menge vor dem Priester ... So fiel ihm bei: Dem willst du dein letztes Testament übergeben! Dem, der ohnehin der Schwester deines Opfers so nahe steht! ...

Die Verbrechen, die er zu enthüllen hatte, gehörten den »reservirten Fällen« an, die vom höchsten Sitz der Kirchenprovinz diesem allein zu hören vorbehalten sind und deren Anhörung an einen untern Geistlichen nur durch besondere Vollmacht überlassen wird. Benno hatte eine Ahnung, Nück, als Hammaker's Vertheidiger, würde Miene machen, diese an Bonaventura zu ertheilende Vollmacht zu hintertreiben, er würde die Competenz der gegenwärtigen kirchlichen Oberbehörde zu solchen Vollmachten bestreiten, würde erklären, daß das ganze Land im Augenblicke gar keine kirchliche Regel besäße. Doch gab sich Nück zufrieden, in des Delinquenten Verlangen zu willigen, selbst auf Gefahr hin, daß die teuflische Seele gegen ihn undankbar blieb bis zum letzten Lebenshauche ... Wie bereute er, ihm den Griff in seine Dose abgeschlagen zu haben! Er, der doch oft im Volkston plaidirte; er, der das Publikum durch seine schlagenden Witze und Späße bei den ernstesten Dingen belustigte!

Eines Morgens nach der Messe machte sich Bonaventura zu dieser schweren Pflicht auf. Er fuhr in einem Wagen im vollen Ornat seiner Würde. Als er in eine enge Gasse einlenkte und zu den Eisenstäben der Fenster eines alten Gebäudes aufsah, überfiel ihn ein Grauen ... In diesen dunkeln Mauern verhallten schon so viele Wuthausbrüche der Verzweiflung, so viele Seufzer der bittersten Reue. Hier saßen einst auch jene Verbrecherbanden, die die Länder zwischen der Maas, Mosel, bis zum Main und zum Neckar hinunter unsicher machten, unmittelbar in den folgenden Zeiten, als Schiller das Räuberleben auf der Bühne poetisch verklärt hatte. Diese Roller und Schweizer hatten aber wirklich Schufterle, keinen Karl Moor an der Spitze und doch auch manche kräftige und bessere Natur, die im Sinnenleben und durch schlechtes Beispiel zu Grunde ging. Diese Picard, diese Bosbeck haben die Annalen der Verbrechergeschichte aufgezeichnet, wilde, grausame, verwegene Menschen, der Mehrzahl nach Juden, die die angeborene List ihres Stammes mit einem altbiblischen Muthe verbanden. Immer durch die Schrecken der Revolution hindurch, sengten, plünderten und mordeten diese Menschen in Genossenschaften zu halben Hunderten und über fast ganz Holland und Deutschland hinweg waren ihre Hehler ausgebreitet, ja so weit, daß in fernen Gegenden selbst die Wächter der Ordnung, selbst die Büttel und Häscher ihre eigenen Angestellten waren. Wie sich Napoleon's Herrschaft befestigte, gelang allmählich die Unterdrückung. Ihrer zwanzig bis dreißig bestiegen oft an einem Tage die Guillotine. Die Kinder gab man unter andern Namen hierhin und dorthin; in Holland schickt man die meisten nach Java ...

Einmal erst hatte Bonaventura Nück bei seinem Vetter gesehen, dann vor Gericht. Heute begrüßte er ihn beim Verlassen des Domes, beim Einsteigen in den Wagen ... Dann mußte er ihm nachgefahren sein; denn Nück stand auch am Wagenschlag, als er ausstieg ... es sprach eine wahre Todesfurcht aus dem sonst so furchtlosen Manne ...

Bonaventura, geleitet von dem Gefängnißwärter, einer Wache und dem gewöhnlichen Seelsorger der Gefangenen, einem Kaplan, trat in das finstere Gebäude, stieg eine schmale steinerne Wendeltreppe empor, hörte die Schlösser fallen, die Riegel klirren und weichen und stand in einer fast dunkeln Zelle vor einer von einer Pritsche sich aufrichtenden Gestalt, deren linker Fuß durch eine Kette an die Mauer befestigt war.

Grauenvoller Gegensatz! Dieser heutige Morgengruß und jener abendliche vor vier Monaten ... es war als huschte die Fledermaus hin wie damals, als er und Benno so spät noch am Ufer saßen und den im Mondlicht fischenden Knaben zusahen. Dann – das Aufhängen des Procurators, seines Vertheidigers, der in einiger Entfernung sogar dem Hinaufsteigenden noch gefolgt war! Jene Mittheilung Benno's! Was konnte hier noch enthüllt, was von der Seele abgewälzt werden und zu welchem Nutzen?

Die Thüren blieben offen ... die Begleiter verharrten auf den vordern Gängen ... Einmal hörte man noch das Geräusch des Holzzulegens in dem kleinen eisernen Ofen der Gefängnißzelle, einem sogenannten »Hund«, der von außen geheizt wurde ... Dann war alles still ... Bonaventura setzte sich und der Verbrecher kniete vor ihm nieder ...

Wie ein böser, ängstlicher Traum war alles das ... ein Traum, an dessen Wirklichkeit der Priester nicht glauben mochte! Und doch saß er selbst da im weißen reinen Gewande der Unschuld, ernst das Haupt senkend, und vor ihm lag eine verfallene Gestalt im grauen Kittel, mit welken, schlaffen Zügen, kahlem Schädel, entkleidet aller Hülfsmittel, Kraft und Unbefangenheit zu lügen, die Hände abgemagert, das Auge weiß, so unheimlich, als könnte noch jeden Augenblick eine ruchlose That in diesem verworfenen Leben lauern, einem Leben, das nach raschem Instanzengang und abgeschlagener Majestätsgnade in einigen Tagen enden sollte.

Nach den ersten mit klopfendem Herzen gesprochenen Gebeten und Ermahnungen, der Gnade Gottes zu vertrauen, gab Hammaker ein Bild seiner Jugend. Er wollte, daß die Welt von ihm erfuhr, er hätte gründlich und fromm gebeichtet. Er wollte, daß sie ihm Theilnahme schenkte, selbst auf dem Richtplatz. So erließ er dem Hörer nichts von dem, was in den verstecktesten Winkeln seines Innern lebte. Aller Hohn, alle Verwünschung wird schweigen, dachte er, wenn man erfährt, wie du dich unterworfen! Mit tonloser, weicher Stimme hauchte der Unselige die Worte hin:

Von meinen Aeltern, die später zurückkamen und nichts behielten, als ein Witwenhäuschen für meine arme Mutter, eine Frau von nahe achtzig Jahren, bin ich gut erzogen und studirte die Rechte mit nur zu vielem Beruf dafür. Ich drehte den Spieß um und sagte: Summa injuria summum jus: wo du alles gegen dich hast, gerade da sei dein Spiel! Meine Devise wurde das erst aus Uebermuth, dann aus Noth; wild lebte ich und hatte Bedürfnisse, die Geld kosteten. Schon damals bekam ich einen so übeln Ruf, daß mir die Niederlassung als Anwalt nur versuchsweise auf dem Lande gestattet wurde. In den Sieben Bergen da drüben wohnt' ich ... am liebsten aber war ich hier in der Stadt und nun mußt' ich Geld machen. Hätten die Bauern mich todt geschlagen! Um eine Person, die sich an mich hing, hatt' ich zwei Termine versäumt, drüber einen Proceß verloren; – erst später kam's heraus; der Bauer, dem die Sache Geld gekostet, wollte mich todt schlagen. Es wäre besser gewesen ...

Schon jetzt verließ den Sprecher die Kraft. Die Reue läßt sich nicht vergebens äffen. Sie übermannt den Heuchler wider Willen ...

Bonaventura übersah vollkommen diesen Zustand, wie er sich auch sofort beim Eintritt von der geringen Bußfertigkeit des Verbrechers überzeugt hatte. Er faltete gelassen die Hände und betete, nicht etwa um Vergebung und mit ermunternder Zuversicht auf Gottes Gnade, sondern um Bewahrung eines reinen Sinnes und Schutz vor Heuchelei ...

Hammaker fühlte, daß er in seinem begonnenen Tone nicht fortkommen würde ... Er folgte der Weisung des Priesters, sich zu erheben und auf der Pritsche Platz zu nehmen ... Die Kette rasselte an seinem Fuße ... er sank mehr nieder, als er sich setzte ...

Einmal, begann er aufs neue – und in dieser Stille klangen die Worte hohl wie aus dem Grabe – einmal kam ich an einen Weg, wo ich hätte umkehren können! Es war durch einen Mönch, der an meinem unseligen Leben nur zu verhängnißvoll zum Rächer für alles Unterlassene wurde ...

Rächer – ein Mönch? warf Bonaventura mit Vorwurf ein ...

Würden Sie diesen Bruder Hubertus kennen, hochwürdiger Priester, Sie gestatteten mir dieses Wort!

Bonaventura hörte den Namen, den er aus der Verhandlung zwischen Sebastus und dem Kirchenfürsten schon als den »Bruder Abtödter« kannte. Dieser Name war in den Verhandlungen vor den Assisen oft genannt worden. Es war der Erbe der ermordeten Hauptmännin ...

Ich verlor meine Stelle auf dem Lande, zog in die Stadt und arbeitete bei meinem Freunde – meinem Vertheidiger. Nück hatte mit mir studirt. Er schlug einen andern Weg ein als ich. Aber auch ihn lockte der Sirenensang der Freude –

Sprechen Sie von sich selbst! unterbrach Bonaventura den Verbrecher, der mit Gefallen diese Worte betonte ...

Dieser Teufel, sagte sich Nück draußen, opfert mich – um eine Prise! ...

Der Verbrecher knüpfte die graue Jacke, die er trug, fester zu, als fröre ihn ... Das Geburtsfieber war es, das er sich in diesem Ernste bei der Verstockung seines Gemüths nicht möglich gedacht hatte ... Eine Weile zitterte er sich aus ... nach dem Schauder gewann er neue Kraft.

Ich arbeitete bei ihm, lenkte er ein, und erhielt einen Auftrag, in eine süddeutsche Stadt zu reisen zur Regulirung einer Streitfrage über geistliche Güter. Ein Mönch war bei Nück, der dieselbe Reise zu machen hatte und dem er mich zum Begleiter gab. Wir reisten zusammen. Vierzehn Tage, die ich mit ihm zubrachte, sind mir unvergeßlich – der Bruder sprach nicht viel, aß und trank wenig. Ein Laienbruder der Franciscaner war es, er hatte Reisen gemacht, war in Indien gewesen und ein Sonderling. Aus dem Kloster Himmelpfort bei Witoborn hatte man ihn entsendet, um in einem süddeutschen Convicte eine Heilung zu versuchen mit dem Rector desselben, einem Pater Fulgentius. Dieser Unglückliche hatte die Gewohnheit –

Sprechen Sie von sich! unterbrach Bonaventura aufs neue ...

Ich wollte nur sagen, was ein gutes Beispiel thut, ehe ich bei Nück –

Warum behielten Sie das Vorbild der Strenge, der Selbstkasteiung, der Entbehrung nicht stets vor Augen?

Gerade das wurde die Ursache meines Falls ...

Bruder Hubertus?

Eine Handlung von ihm, deren Zeuge ich durch Zufall wurde! erzählte Hammaker mit einer Art von Behagen. Schon einigemal hatte ich den Bruder in das Convict begleitet, in welchem er einen Auftrag zu erfüllen hatte, von dem ich nichts erfuhr. Da ich regelmäßig die Aufregung bemerkte, so oft der Bruder kam, verfiel ich auf diese und jene Vermuthung. Keine derselben war so geheimnißvoll, wie mir die spätere Entdeckung zeigte. Es hieß, daß der Bruder bald in sein Kloster zurückkehren würde. Eines Abends sah ich ihn, wie so oft, ins Convict eintreten, wo er nicht wohnte. Ich folgte; der Thürhüter kannte mich und hatte kein Arg. In den Gängen der untern Klassen war alles wie sonst. Oben aber war es einsam. Dann hört' ich fernhin ein eilendes Rennen und Laufen, der Thür zu, wo die Wohnung des Rectors lag ...

Ein seltsames Rollen hatte schon einigemal Bonaventura's Aufmerksamkeit erregt. Ueber der kleinen Zelle ging es wie ein sich ankündigendes Gewitter hin ...

Es sind Gefangene, erklärte der Verbrecher, als Bonaventura aufblickte, die an den Füßen Kugeln tragen ... Der Boden ist hohl ...

Wer ihn durchbrechen könnte! lag in dem Blicke, den Hammaker auf die Decke richtete. Seine eigene Kette ließ ihn nicht fünf Schritte von der Mauer sich entfernen ...

Ich horchte in die Ferne, fuhr er dann sinnend und zerstreuter fort, und hörte geheimnißvolles Wispern, ja jetzt wie ein Gehen nur auf den Zehen. Im Kreise von Lehrern und Alumnen stand mein Mönch, hielt alle feierlich zurück, schritt auf die Thür zu, die ich, hinter eine Treppenlehne zurücktretend, sehen konnte, da sie querwärts den langen Gang beendete, öffnete und – allen bot sich der Anblick eines Mannes, der an einem Fensterhaken sich erhängt hatte! Der Mönch ging unerschrocken auf ihn zu, schnitt mit einem Messer, das er aus der Tasche zog, den Strick durch, hielt dann in der kräftigen Linken den Leichnam und rief die Fernstehenden näher. In diesem Augenblick wurde ich gestört und mußte mich entfernen ...

Bonaventura hatte auf der Lippe die Frage: War der Unglückliche der Pater Fulgentius? ... Doch unterdrückte er sie.

Noch am selben Abend, bestätigte der Mörder, hieß es, daß der Rector gestorben war. Auch die Art seines Todes blieb nicht verschwiegen, man sprach von Melancholie und ein Arzt von Selbstzerstörungswahn. Ja am Wirthstisch hieß es: Ein Mönch hatte ihn davon heilen sollen. Ich mußte Abschied von Hubertus nehmen und fand ihn in dem Garten des Klosters, wo er eingekehrt war, im einsamen Wandeln. Rings hohe, graue Mauern, alles still und – fast wie auf einem Kirchhof. Rücksichtslos frag' ich ihn: Sie sollen ja soviel vermögen, Sie sollen Hunger und Durst, Frost und Hitze ertragen lehren; konnten Sie denn jenen Mann nicht auch von seinem Wahne heilen? ... Er erwiderte: Ist da der Tod nicht die beste Heilung? ... Dabei stand er still und jetzt erst war es mir, als säh' ich einen Boten des Todes, ein Gerippe. So mager war seine Hand, so hohl seine Wange, so klanglos seine Stimme. Ich fürchtete mich vor ihm und glaubte, schlüge er die braune Kutte auf, würd' ich ein Skelet sehen. Doch war der Bruder selbst in Aufregung. Offenbar hatte man von ihm etwas anderes erwartet. Er hatte heilen, nicht bestatten sollen. Auch verschwieg er das nicht. Nie hatte er zu mir so viel gesprochen, wie diesmal in dem einsamen Klostergarten, in den er sich wie geflüchtet hatte. Ja, sagte er feierlich, ich hatte verboten, ihn zu bewachen, ich hatte ihn sein Werk ausführen, hatte ihn so lange allein gelassen, bis seine That vollendet war! Denn, Herr – ich horchte hoch auf – der Erhängte stirbt erst spät! Ich weiß das! Ich habe Hunderte erhängen sehen! Ich habe Menschen gekannt, die sich einschlossen, um die Wonnen dieses Todes zu haben! Denn das wissen Sie nicht, erst wählt die Melancholie diesen Tod, und dann, einmal ins Leben zurückgerufen, tritt eine Besinnung ein, wie auf den seligsten Opiumrausch! Bilder, Gestalten sind an dem schwindenden Bewußtsein vorübergegangen, die keine menschliche Hand zaubern konnte! Das Süßeste, was die Erde kennt, empfindet und trinkt der Gehängte in langen, endlosen Zügen! Die Scham macht den, an dem man diese Verirrung kennt, einsam irren, aber nichts kommt dem gleich, was diese Scham wieder aufwiegt und sie ertragen läßt! Zur rechten Zeit von der tödlichen Schnur befreit, langsam zurückkehrend zum Bewußtsein, erhebt man sich wie aus einem Traum, den man ewig träumen möchte! Der Greis wird wieder jung, die Matrone eine Braut, der Arme schwelgt in Reichthümern, der Verbrecher ist ein König, der Feige ein Held, vor ihm liegt eine Welt auf den Knieen und bietet sich dar, mit ihm zu sterben! Nie hat man so gelebt wie in diesem Tode, nie das Paradies so vorausgenossen, so die Schrecken vergessen, die diese Erde –

Ein Grauen durchzuckte die Erinnerung des Mörders an das, was ihm so nahe bevorstand ... Er hatte sich erhoben und fiel betäubt zurück.

Auch Bonaventura hatte sich eine Weile erheben müssen, denn der Anblick der wilden Erregung des Mannes war entsetzlich. Hammaker, aufgerichtet, starrte gierig im Kreise umher; die Gewänder des Priesters betrachtete er, als könnte sich eine Schnur an ihnen befinden, die auch ihm diese Hülfe des süßesten Todes brächte. Er streckte sich aus, als ließe sich ein Zipfel am Kleide desselben ergreifen, zur Schnur winden ... die Kette an seinen Füßen faßte er und sank wie ohnmächtig auf sein Lager zurück.

In der reinen Seele des Priesters wogte ein Feuerstrom. Das ist das geheimnißvolle Räthsel, das Nück und diesen Elenden verbindet! rief es in ihm, der schon lange immer nur der Erzählung Benno's gedenken mußte von jenem Abend her. Dieser da hat so seinen Wohlthäter verführt! Hat so eine Neigung desselben zur Melancholie ausgebeutet! Hat ihn sicher gemacht in dem Vertrauen zu ihm und dann ihn Einmal – Einmal nicht wieder ins Leben zurückgerufen! ...

Alles das stand einen Augenblick klar vor Bonaventura's Augen und doch sagte sein Herz wieder: Es ist unmöglich! So weit kann der menschliche Geist sich nicht verirren!

Hammaker kehrte zur Besinnung zurück, krümmte sich wie ein Wurm, zog die graue Jacke über der Brust zusammen und fuhr mit stoßweisen Zuckungen auf, wie wenn er von eisigem Schrecken geschüttelt wurde ...

Dann sprach er, als Bonaventura sich gesetzt hatte und das Antlitz, wie der Beichthörende soll, in einen Zipfel seines Kleides hüllte:

Der Bruder Hubertus sprach: Ich sollte heilen? Zu richten kam ich! Das Gericht Gottes ist unser, wenn wir seine Gebote gelästert gesehen! Wie durfte dieser Unglückliche leben, leben in solcher Umgebung!

Ich sage nicht, daß auch er die Wonnen dieses Todes suchte; er suchte den Tod selbst. Warum ihm die Hülfe versagen! Warum Schonung einer solchen menschlichen Schwäche, die vielleicht Heldenmuth war! Seid männlich und seid stark! spricht der Apostel ... Nun aber, nach dem Preise seiner That, erweichte sich des Bruders Gemüth und er erzählte mir, wie er von frühester Kindheit an Gottes Finger sich nahe gefühlt, wie er schon als Kind aus Flammen hinuntergeworfen wurde drei Stockwerk hoch, wie er sich ganz aus sich selbst hätte zum Menschen machen müssen, wie ihn dann Verrath und Undankbarkeit verfolgt und so gehetzt hätten, daß er nothwendig zu Gott oder zum Teufel hätte entfliehen müssen ... Er glaubte, sagte er, auf der richtigen Straße zu sein. Ein Weib, erzählte er, ein Weib war die Ursache meines tiefsten Kummers ... Sie, sie, die ich

Wer? unterbrach Bonaventura schaudernd ...

Hammaker schwieg ... Seine Hände, die die Hauptmännin erwürgt hatten, zuckten.

Ihr Opfer? fragte Bonaventura wiederholt ...

Wie hätte es ihn nicht reizen sollen, etwas aus dem Leben der Schwester der Frau von Gülpen zu erfahren! ... Doch er – war das Gewissen selbst ... Er bekämpfte seine Neugier und sagte nur:

Warum zogen Sie nur aus dieser Begegnung mit einem so vielgeprüften, wenn auch vermessenen und Gott strafbar vorgreifenden Manne nicht eine heilsamere Lehre für Ihr Leben?

Die Frauen, das Spiel – die Ehre – O wenn ich –

Haben Sie sonst eine Handlung, die vorzugsweise noch Ihr Gewissen belastet? unterbrach Bonaventura die eitle Selbstbeschönigung ...

Ich log – ich betrog –

Kein anderes Menschenleben auf Ihrer Seele –?

Der Mörder schüttelte den kahlen, häßlichen Kopf ...

Bonaventura sah die Verstockung und wiederholte seine Frage ...

Da rief der Gefangene plötzlich und erhob sich wild und klirrte mit seiner Kette:

Emollit mores didicisse fideliter artes! Das zu verstehen, sprechen zu können, Bildung besitzen –

O öffnen Sie Ihr Herz der Reue! unterbrach Bonaventura diesen Ausbruch eines halb wahren, halb koketten Ehrgeizes. Was Ihnen als einem Studirten auch Gott sein und als was er Ihnen erscheinen mag, ob als Begriff, ob als Wesen welcher Art und Größe, und wären Sie Pantheist und suchten den Schöpfer in sich selbst, dem Geschaffenen, Sie wissen, daß in unserer Brust eine sichere Wahrheit liegt, eine unumstößliche Gewißheit, der Unterschied von Gut und Böse! Was Sie auch mit menschlichem Witze wegzuleugnen suchen von den Grenzen, die zwischen beiden liegen, sie wachsen immer wieder diese Grenzen, wenn Sie sie auch noch so klug niederrissen. Blicken Sie mit Sehnsucht aus dem Dunkel, in dem Ihre Seele lebt, in das Licht, das Licht der Unschuld, das Sie sehen, fassen, ahnen können, und nennen Sie dieses Licht – Gott! Sprechen Sie zu ihm: O wär' ich in deinem Abglanz, umstrahltest du mich, gäbst du mir Helle, Wärme, wahren Ruhm und wahre Ehre! Lassen Sie durch dies reine Licht der Unschuld alle die wandeln, die in diesem reinen Geiste lebten! Lassen Sie alle hindurchziehen, die Ihre Bildung kennt: Sokrates, Plato – Einer ist unter ihnen, der am leuchtendsten steht, Jesus der Gekreuzigte! Mit seinem blutigen Haupte strahlt er und blickt voll Ernst auch auf Sie! Beten Sie zu dieser vielleicht noch einzigen lichten Stelle in Ihrem Innern und bekennen Sie beim Blute Ihres Erlösers, der allen Sündern Gnade vor Gott verhieß, Ihr ganzes Elend und was etwa sonst noch vor Gott und Menschen Sie belastet!

Hammaker faltete die Hände, aber schlaff hingen sie und der Ausdruck seiner Miene war der, als wollte er sagen: Was hilft mir das alles? Der grausige Tod ist und bleibt gewiß! Was ist eine Reue, die von einem Willen kommt, der nicht mehr sündigen kann! Eine Reue über die Thorheiten der Jugend – von einem Greise!

Der Priester überblickte diese Empfindungen und sagte seufzend:

Nun denn! Ihre einzige gute Stelle ist vielleicht nur noch Ihr Stolz! Wohlan! Warum trieb Sie dieser zu Ihrer Missethat?

Zögernd sprach Hammaker:

Man hat mich beschuldigt –

Daß Sie Ihren Freund, Ihren Wohlthäter ermorden wollen! Begingen Sie diese That?

Vor den Assisen hatte Hammaker, wie immer: Nein! gesagt. Hier wiederholte er die gleiche Aussage, fügte aber hinzu: Doch wüßten Sie das Nähere –

Wenn es Sie entlastet von dem Verdachte – sprach Bonaventura fast unhörbar ... sonst – lehnte er fast die Belastung auch des Procurators ab –

Ich handelte – vielleicht – wie der Mönch –

Unwürdige Vergleichung! wallte Bonaventura auf ...

Auch Nück suchte den Tod – versicherte Hammaker ...

Die Wonnen des Todes! Sie verführten ihn zu einer Handlung des Wahnsinns! Sie machten ihn sicher, immer sicherer, bis Sie ihn zuletzt beraubten und morden wollten ...

Hochwürdiger Priester! Ja, ich beraubte ihn – Als es aber geschehen war – that ich, was ich zehn Jahre lang gethan – ich hob die Schlinge aus ihrer Angel. Freilich – diesmal stieg ich aus dem Fenster – warf das Schlüsselbund zurück – half ihm nicht zum Bewußtsein durch kaltes Wasser und das Reiben seiner Schläfe zurück ... ich entfloh ...

Als Mörder! Denn Sie durften annehmen, daß er diesmal nicht wieder zum Leben erwachte!

Der Mörder schwieg ... Es war eine Bejahung.

Die tückische List seiner Erzählung stellte nicht ganz die Aufrichtigkeit aller seiner übrigen Geständnisse in Abrede. Er kam auf seine Bekanntschaft mit der Hauptmännin von Buschbeck, auf die Vermittelung ihrer Anliegen wegen ihrer Gelder, ihren bösen, menschenfeindlichen Sinn, er deutete die Beziehungen dieser Frau zu dem Krieger, Jäger, dann Mönche Hubertus an, Beziehungen, die in Erfahrung zu bringen Bonaventura wiederholt ablehnte, und berief sich für seine letzte That auf das, was bereits vor den Assisen von ihm bekannt war ...

Der schrillste Nachklang, der durch alle diese Worte hindurchtönte, blieb die Andeutung über Dominicus Nück. Sie war eine Rache für den verweigerten Griff in die Dose ... Vielleicht auch hatte der Mörder ein Entkommen durch Nück gehofft, vielleicht Nück durchschaut, der ihn am liebsten für immer aus der Welt geschafft sah. Ein noch Lebender, rastlos und muthvoll in der Gegenwart wirkend, lag da nun in seinem tiefsten Lebensgeheimnisse aufgedeckt vor den Augen eines Priesters, der täglich mit ihm verkehren, täglich harmlos und scheinbar unbefangen mit ihm sprechen konnte, auch so nur mit ihm sprechen durfte! ... Das sind Bürden! sprach es in Bonaventura's Innerstem ...

Zwar wandte er noch die ganze Kraft seiner Beredsamkeit an, die Stunde, die er an diesem düstern Orte verweilt hatte, zu einer für den Bewohner desselben heilsamen zu machen ... Um den Segen Gottes für den Unglücklichen betete er, wünschte ihm Muth für seine letzte Stunde und war im Begriff, mit den Fragen: Haben Sie mir keinen weitern Auftrag auszurichten? An Ihre Mutter? An sonst Zurückbleibende? eine heilige Handlung abzuschließen, die ihn selbst mehr erschütterte, als den Verbrecher ...

Lauernd sprach dieser:

Ich könnte noch etwas Gutes thun!

O thun Sie es! Gott wird es Ihnen anrechnen ...

Es war eine That im Werke ...

Ein neues Verbrechen?

Eine Urkunde – die ich – schreiben ließ –

Eine verfälschte –!

Sie sollte bei einer – angelegten Feuersbrunst –

All ihr Heiligen! rief Bonaventura. Wer ist davon bedroht? Wen kann ich über die Gefahr warnen? Ist die Gefahr schon nahe?

Einen Menschen hatt' ich gewonnen ... einen – der sich verbergen muß ... den ich nicht nennen kann ...

Ich will ihn nicht genannt hören, ich will ihn mahnen, ohne daß ich ihn kenne! Durch irgendeine Adresse! Reden Sie! Was kann ich thun, ein solches Verbrechen zu hindern?

Hammaker schwieg plötzlich ...

Bonaventura's Eifer riß ihn zu den Fragen hin:

Wer ist es, den die falsche Urkunde benachtheiligen soll? Wer hat Sie selbst zu dieser That überredet? Wer ist der Leiter dieses Complotts? Reden Sie! Reden Sie! Bei dem Angesichte Gottes, das Sie in wenig Stunden –

In diesem Augenblick rollten wieder die Kugeln über der Zelle hin und vergegenwärtigten Hammakern die dünne Bauart der Decke ... Blitzesschnell schienen sich die Gedanken des Mörders zu ändern ... Hoffnung belebte seine Gesichtszüge ...

Bonaventura stand erwartungsvoll, aber vergebens. Hammaker schwieg.

Reden Sie! donnerte Bonaventura.

Das Geräusch über ihnen dauerte fort ...

Hammaker sprang auf ... Die Kette riß ihn nieder ... Unverwandt starrte er auf die Decke ...

Wenn dich doch noch Nück befreite! stand auf seinen verzerrten Gesichtszügen ...

Reden Sie! wiederholte Bonaventura ...

Lassen Sie es, stöhnte Hammaker, ohne mich – kommt die Sache nicht zur Ausführung ...

Sie verharren in der Lüge! rief Bonaventura. Wer ist gedungen? Wer sind die Bedrohten? Eine Fälschung? Eine Urkunde? Eine Feuersbrunst?

Hammaker schwieg ...

Bonaventura versuchte jede Kunst der Ueberredung; vergebens ... Hammaker sprach nur dumpf:

Ohne mich kommt nichts zur Ausführung! Ich habe bekannt! Es ist – vorüber. Ich kann – in Frieden – sterben ...

Bonaventura mußte tiefseufzend nachgeben. Er betete um die Gnade Gottes und entfernte sich in einem Zustande, wie ihn die Märchen erzählen von Hirten, die in eine Felsenspalte sahen, die Geister belauschten und für immer verstummten ...

Wie schwer trug seine Seele, als er von dannen schritt!

Auf dem Gange traf er alle, die ihn hinaufbegleitet hatten ... Nück's Nachkommen wußte er nicht und fand ihn auch nicht mehr ...

Doch am folgenden Morgen klagte sich im Beichtstuhl eine ihm bekannte Stimme aller Leidenschaften, aller Laster der Erde, aber auch der Verbitterung durch Unglück und des Menschenhasses an ...

In ihrem Tone, in einem tief eingeschüchterten Aufblick zweier scharfer Augen lag eine Angst und Beklommenheit, die Bonaventura wieder auf einen Verbrecher schließen ließen. Er erkannte die Stimme nicht sogleich.

Erst nach den Andeutungen von seinem Beruf und einem Hinweis auf so manche Verschleierung der Wahrheit, die er sich im Processe Hammaker erlaubt hatte, begriff Bonaventura ... Es war Nück ...

Entsetzen ergriff ihn ...

Nück beichtete mancherlei, aber offenbar war er nur gekommen, um zu hören, wie Bonaventura mit ihm sprechen würde ...

Des Priesters mildes Herz fühlte sich gedrungen, Nück's Verzweiflung zu beruhigen. Er deutete an, daß auch für ihn die Beichte dieselbe Bedeutung hätte, wie sie für jenen Bischof gehabt haben soll, der, der Sage, nicht Geschichte nach, sich eher von einem Fürsten in die Wellen der Moldau werfen ließ, als daß er ein Geheimniß verrieth, das er von dessen Gattin unter dem Siegel der Beichte wußte.

Kein Wunder, daß Nück sich mit neuem Lebensmuth erhob und den Beichtstuhl in einer Stimmung verließ, als könnte er mit seinem einzigen Arme einen der Riesenpfeiler der Kathedrale ausheben.

So viel Kraft lag dem Doctor Abadonna in dem magischen Worte: Rom und sein Glaube.

Winterlich weiße Leichenfelder lagen in Bonaventura's Brust. So öde und schauerlich wehte Schneesturm durch sein Inneres, wie auf der Alpeneinsamkeit, die der Dechant beim Bericht seines Besuches auf dem St.-Bernhard geschildert ...

Auch der Morgue des St.-Bernhard mußte er gedenken ...

Muth und Ausdauer sprachen ihm die Stimmen der Augustinerchorherren nicht mehr so beredsam wie einst.

5.

Eine wie eitle Matrone! sagte sich Bonaventura, als er durch das kleine Schiebfensterchen seines Beichtstuhls eine graue Locke unter einem Hute hervorgeglitten auf einem Taschentuche liegend bemerkte.

Ein Matronenhaar in Locken!

Dann aber hörte er die klangvolle Anrede und staunte eine Greisin zu finden, die sich einen so reinen jugendlichen Ton der Rede bewahrt hatte ...

Nach den ersten geflüsterten Anreden und Erwiderungen stellte er die Frage um die letzte Beichte. Er hörte, daß diese in Wien bei dem Beichtvater der Hospitaliterinnen stattgefunden ...

Dann sagte die Frau, die er für eine Matrone hielt, daß sie gerade deshalb zu ihm gekommen wäre, weil sie ihn schon einigemal beim Austheilen des heiligen Abendmahls gesehen und nicht nur die Geduld bewundert hätte, mit der er unter Hunderten beim Ausspenden des Brotes die Worte sprach: »Herr, ich bin nicht werth, daß du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine arme Seele gesund!« sondern wie er jene Worte auch jedem so, als wenn er ihn persönlich kannte, gesprochen, jedem so, als wenn sie gerade für ihn bestimmt wären. Deshalb wage sie, ihn mit sich selbst zu belästigen, fürchtend freilich, daß seine Zeit zu gemessen wäre ...

Bonaventura hatte die Absicht, Lob und Sorge um seine Zeit mit einer Handbewegung abzulehnen. Da blickte er etwas auf und erkannte unter der damals üblichen Form des Hutes mit langgeschweiften Seiten, die die Wangen verdeckten, ein jugendliches Antlitz und nun in Vergleichung mit den Locken und nach der Erwähnung Wiens war es nur die Oberstin von Hülleshoven aus Benno's zutreffender Beschreibung ...

Noch ehe er vor Ueberraschung mehr als ein ermunterndes und beruhigendes: Bitte! erwidert hatte, sprach schon die Beichtende:

Ich bekenne mich zu der Unruhe, in welche die Seele durch Grübeln und Denken versetzt wird, bekenne mich zum Zweifel an allem, an Gott, dem Erlöser, an Kirche und künftigem Gericht!

Bonaventura verhüllte sich in seine Stola und sprach nach einigem Bedenken auf dies schmerzlich entschiedene Wort:

O ihr Heiligen! Sie geben Ihrem Zustand vielleicht viel schneller einen Namen, als Sie ihn noch ergründet haben! Sie hatten sich des religiösen Lebens vielleicht nur entwöhnt. Plötzlich drängt Sie irgendeine Stimmung zu ihm zurück und nun erschrecken Sie, nicht mehr alles so zu lieben und zu glauben, wie Sie in Ihrer Kindheit es liebten und glaubten. Machen Sie doch diese Rückkehr nicht zu übereilt! Vor der Feuertaufe des Herrn kam die Wassertaufe des Johannes! Legen Sie sich doch erst Uebungen zum Uebergange auf! Keine Geißelung des Körpers, keine Entbehrung Ihrer Sinne, nur eine gewisse Ascetik des Denkens. Sehen Sie, gewöhnen Sie sich einfach, überall den Finger Gottes zu suchen. Nehmen Sie nichts mehr, was Ihnen begegnet oder was Sie vom Schicksal anderer, ja vom Leben der ganzen Welt in Erfahrung bringen, in dem leichten Sinne, der nur die Erscheinung als solche betrachtet. Streben Sie vielmehr darnach, alle Erfahrungen, die Sie machen, zu verbinden, ihren geheimen Sinn und Zusammenhang zu ergründen, ihrer Folgerichtigkeit nachzuspüren und nennen Sie dann das, was Sie sonst in der Sprache des Denkens Zufall, Ungefähr, Wille, eigene Absicht nannten, einfach und kurzweg Gott. Wenn Sie diese Begegnung Gottes in kleinen Dingen stündlich suchten, würde das Aberglaube werden. Aberglaube kann es sein, die ganze majestätische Größe Gottes immer auch bei kleinen Leiden und Freuden sich gegenwärtig zu denken. Aber jenen Fußtapfen der wandelnden Gottheit nachgehen, die in Ernstem und Wichtigem liegen, gibt Erhebung. Sie werden staunen, wo Sie überall diese Schritte abgedrückt finden, wenn Sie nur erst anfangen, für alles das, was die Welt gleichsam namenlos hinstellt, gleichsam mit einem »Man« ein führt oder mit einem »Es« (»es wird sich zeigen«) oder sonst mit einer Form der reinen Genüge des Menschen an sich selbst, den Herrn der Welt einzuführen. Versuchen Sie das! Zu einem Gott sich erheben, der außer uns und unendlich hoch über uns wohnt, ist allerdings schwer; denn je näher wir ihm da zu kommen suchen, desto entfernter rückt er. Nehmen Sie also Gott zu Ihrem steten Begleiter, nur daß er einige Schritte vorangeht, nicht immer Ihnen zur Seite, nehmen Sie ihn zum Erfüller aller der Pausen, die Ihnen das Leben läßt, zu der zweiten Person, die in Ihrem Gewissen mit Ihnen redet, zu dem unsichtbaren Freunde, der in einem dunkeln Zimmer, wo Sie über irgendein Vorhaben brüten, mit Ihnen Rath hält! Ist das von Ihnen eine Zeit lang versucht worden, so werden Sie auch allmählich wieder anfangen, christgläubig und kirchlich zu denken.

Es wäre also der umgekehrte Weg, den ich früher einschlug, alles, was mir sonst Gott hieß, gerade anders zu nennen! sagte Monika und ihre Gedanken verweilten einen Augenblick bei der Gräfin Erdmuthe, die noch gestern beim Abschiede gesagt hatte: »Der Herr schenkt mir ein gutes Reisewetter, etwas Frost und gute Wege!« Nun aber sprach sie: Meine Zweifel über Gott werden sich wieder beruhigen; schwerer die über die Kirche und über die Wahrheit des katholischen Glaubens!

Bonaventura wallte fast auf mit den Worten:

Sie sind so arm an Glauben und sind schon wählerisch? Sie hungern und dürsten und bemäkeln schon die Speise, die Ihnen gespendet wird? Wahrlich, die milden Gutthäter müssen sich viel gefallen lassen!

Fast bereute er dann sein hartes Wort und blickte deshalb ein wenig auf. Groß und voll senkte sich der Strahl zweier dunkelbrauner Augen auf ihn herab, ein wehmüthiger Zug um den Mund milderte einen Anflug von Bitterkeit in schönen, regelmäßigen Zügen. Er mußte des Obersten gedenken. Er mußte sich sagen: Diese beiden Menschen sind sich so ähnlich und fliehen sich!

Mit sinnendem Ernste, bei dem sich die Augen wieder verkleinerten und die großen Sterne wie in das tiefste Innere zurückzogen, sprach Monika:

Ich weiß vollkommen, was wir an unserer Religion besitzen! Sie ist kein Gedanke, der soeben von heute aus dem Haupte eines erleuchteten Geistes sprang. Sie ist eine ehrwürdige Ueberlieferung, eine große Weltbegebenheit, aus der wir entnehmen dürfen, was wir für uns nutzbar machen können. Ich werfe es den Protestanten vor, daß sie sich die Bürde auch des Ballastes an ihrem Lebensschiff viel zu leicht gemacht haben. Ist man Christ, so soll man auch die Geschichte seines Glaubens tragen. Oft hab' ich mir gesagt: An allem, was unsere Kirche festhält, ist etwas, was uns irgendwie immer wieder versöhnt, wenn wir dann auch wieder einer zweiten andern Formel nur mit schwerem Herzen genügen. Dann aber – plötzlich tritt doch ein Widersacher in uns auf, den ich nicht den Teufel nennen kann. Unser Herz stößt plötzlich einen Hülfsschrei aus und lechzt nach der Natur. Ich habe nie über diese Dinge so nachgedacht, als seitdem ich Rechte des Herzens zu haben glaube. Ich bin nicht glücklich vermählt. Gesetzt, ich würde noch einmal lieben können, unsere Kirche verböte mir das. Wie soll ich da nicht an ihrer Göttlichkeit zweifeln!

Bonaventura blickte bei diesen sicher und fest gesprochenen Worten im Geist auf seinen eigenen Vater, seine eigene Mutter, jenen, der vielleicht noch lebte und sich der Welt entzog, nur um dieser eine zweite Ehe zu ermöglichen ...

Diese zartesten Fragen des Beichtstuhls hatte er erst in seiner jetzigen Wirksamkeit kennen gelernt. Sie kamen auf dem Lande nicht vor. Es gaukelten wol zu allen Zeiten vor seinen Augen die hundert Fälle, die die Vorsicht der römischen Casuistik über die Thatsachen des Ehelebens oft mit einer Nacktheit und Natürlichkeit aufzählt und niedergeschrieben hat, die nur aus Herzen kommen konnte, die sich zum Cölibat verpflichten. In allen diesen spanischen und italienischen Vorwegnahmen der durch die Liebe heraufbeschworenen Gewissensleiden ist jener wahren Empfindung wenig Rechnung getragen, die aus den reinsten Tiefen des Herzens stammt. Bonaventura las im Sanchez, im Bellarmin, im Lambertini die hundert Fälle, wo in der dort gebrauchten Sprache Cajus die Rosa liebt, Rosa den Titius, Thatsachen der Liebe, die das Licht des Tages scheut, nicht jener, die nicht erwidern will ohne das offene Bekenntniß ihrer Neigung vor der Welt; nicht jener, die der innern Heiligung des Menschen zum Segen werden kann und die die Kirche zum Fluche macht; nicht jener, die mit Verachtung solche Licenzen zurückweist, wie sie die Toleranz der Gewissensräthe anräth und nur mit Gebeten und Almosen gebüßt wissen will; nicht jener, die nach Neigung wählen und in der Freiheit, frühere Irrthümer zu berichtigen, vor gläubigen Seelen sogar durch das Beispiel der Patriarchenzeit geheiligt ist; nicht jener, die uns deshalb nur allein wahrhaft frei macht, weil sie die ewigen und unwiderleglichen Gesetze der Natur zu Gesetzen der Sitte, der Vernunft und des göttlichen Willens erhoben hat ...

Bonaventura's Stocken beängstigte die Beichtende, die es um sich her immer lebhafter werden hörte ...

Ich komme wieder! sagte sie, um abzubrechen ...

Sie sprachen von keinem Bunde, den Sie wirklich schließen wollen, hielt sie Bonaventura, sondern nur von der Beunruhigung Ihres Gewissens, wenn Sie ihn schließen wollten. Warum begeben Sie Ihr Nachdenken in eine Gefahr, der sich auszusetzen Sie nichts zwingt?

Will man denn nicht das, erwiderte Monika, was uns ein Anhalt des Lebens sein soll, gegen alle und jede Möglichkeit der Anfechtung stark und sicher sehen?

Die Gefahr wird an Ihnen vorübergehen!

Und wenn nun nicht?

Der Priester mußte sich's so natürlich denken, daß eine so gestörte Ehe damit enden konnte, daß eine junge, wie er nun hörte, mit Vorzügen des Geistes ausgestattete Frau noch einmal eine Bewerbung fand, der sie nicht widerstehen konnte. An Armgart mochte er sie nicht erinnern, da er deren den Aeltern gegenüber durchgeführte Gesinnung kannte und der Beichtenden nicht verrathen mochte, daß ihre Person ihm kein Geheimniß war. So blieb ihm nichts übrig, als die Zweifel, die auch an ihm in diesem Punkte nagten, zu überwinden und das zu thun, was er in seinem Berufe schon manchmal recht schmerzlich sich mit den Worten gestand: Wir gleichen den Aerzten, die aus Mangel an Erkenntniß und einer wahren Hülfe dem armen Leidenden Wasser – gefärbt mit einem rothen süßen Safte, verschreiben!

Ich sehe Sie in dem Zustande, sagte er, den die Schrift den des zerstoßenen Rohres nennt und der Sänger des Dies Irae das Cor contritum quasi cinis! Das Herz zermürbt wie Asche! Bekämpfen Sie Ihre Stimmungen und halten Sie noch Betrachtungen über die Kirche davon fern! Fassen Sie die Kirche als ein großes Ganzes! Daß Sie als Kind am Freitage fasteten, was sagte es denn? Es sagte: Ich gehöre einer Gemeinschaft an, die das Vernunftgesetz über das Naturgesetz erhoben hat! Daß wir der Wildheit die Gesellschaft abrangen, daß wir einen Bund der Gesittung, der Künste, Wissenschaften, der Ordnung, eine Gesellschaft haben, wo die Tyrannen nicht herrschen, die Räuber, die Mörder schweigen und abseits treten müssen, wem anders verdanken wir denn das, als der Zähmung unserer natürlichen Begierden?

Monika schwieg ... Sie beschloß, dem Vernommenen nachzudenken ... Schon der bald sanfte, bald strenge Ton hatte sie erhoben ...

Bonaventura schloß:

Kehren Sie bald, bald wieder! Absolvo te in nomine patris, filii et spiritus sancti!

Er machte das Kreuzeszeichen, zog sein Fenster zu und lehnte sich eine Weile in seinen Stuhl zurück – tief, tief – unzufrieden mit sich selbst ...

Aber Ruhe, Kampf der Seele, Sieg gab es da wenig. Die Zahl der Harrenden war angewachsen. Schon meldete sich's am andern Fenster ...

Er zog den Vorhang zurück. Er that es mit dem Gefühl: Welch ein Stümper erscheinst du doch bei wirklichen Leiden! Kannst du dies Holz denn verlassen und einem Priester begegnen, ohne daß ihr beide vor einander die Augen niederschlagt?

Schon sprach wieder eine sanfte Stimme die übliche Anrede.

Auch diese Stimme kam von einem Weibe. Auch sie ertönte aus den Umhüllungen eines zwar nicht schönen, aber jugendlichen Hauptes. Ein kostbarer Pelz lag dicht am Gitter und berührte fast sein Beichttuch ...

Hochwürdiger Vater, ich bin unglücklich! ...

Der Beichtstuhl, mein Kind, hört nur das Unglück durch Sünden ...

Ich sündige wider die Gebote der Kirche und doch spricht mein Herz mich frei!

Sollte die Versuchung des armen Leviten nicht enden! Bonaventura erklärte die vernommenen Worte für einen Widerspruch und wünschte Aufklärung ...

Ich werde in wenig Wochen Mutter sein! Mein Gatte ist Protestant und ich bin zweifelhaft, das Kind in meinem Glauben taufen zu lassen!

Verlangt Ihr Gatte das Gegentheil?

Er verlangt es nicht! Er verdankt seine Lebensstellung mir, er ist die Rücksicht selbst! Dennoch schenkt' ich gern unser seit zehn Jahren ersehntes Kind ganz nur ihm!

Da thun Sie Unrecht! Sie bringen dem einen das, was er nicht begehrt, das kann Großmuth sein; aber Sie entziehen es einem andern, der darauf Ansprüche hat; das ist ein Raub!

Ich bin meinem Gatten Großmuth schuldig, ich bin ihm Genugthuung schuldig! Und gerade vor meiner Familie, die ihn kränkt, zurücksetzt, sich freut, zwischen uns eine Trennung zu wissen! Ich fühle, daß ich ihm mein Kind schenken muß um der Liebe willen, um der Liebe ein Zeugniß zu geben! Sagen Sie denn auch wie alle andern Priester, daß mein Kind im Jenseits von mir getrennt sein wird?

Die Schrift sagt: »Bei unserm himmlischen Vater gibt es viele Wohnungen.« Vertrauen Sie auf seine Gnade, wenn Sie sich nicht noch anders besinnen und von Ihrem Gatten zu Ihrer Religionspflicht zurückführen lassen. Gaben Sie bei Ihrer Verbindung dem Geistlichen, der Sie traute, kein Versprechen über Ihre Kinder?

Man verlangte es damals nicht! Das ist über zehn Jahre her ...

... Die Fälle der gemischten Ehen kamen jetzt so oft im Beichtstuhl vor. Dennoch horchte Bonaventura auf und gedachte der Zerwürfnisse im Kattendyk'schen Hause, dem Hause, wo Treudchen und Lucinde wohnten ...

Glauben Sie auch, hochwürdiger Vater, fuhr die zitternde Stimme fort, daß ich nicht die Aussegnung erhalten werde?

Die Aussegnung einer Wöchnerin bei ihrem ersten Kirchgang ist ein Brauch, kein Sakrament ...

Nach dem Glauben meiner Mutter und Geschwister werd' ich, wenn ich ohne Aussegnung sterben sollte, als ruheloser Geist Nachts mit einer Kerze in der Hand so lange um diese Kathedrale gehen müssen, bis eine andere Lebende sich für mich aussegnen läßt!

Bonaventura wurde irre, ob ein solcher Glaube in einem gebildeten Hause herrschen konnte. Fast an der Anwesenheit der Frau Hendrika Delring zweifelnd, sagte er:

Welche Thorheit! Nur fürcht' ich, daß Sie nach Ihrer Handlungsweise überhaupt nicht im Schoose unserer Kirche bleiben werden; denn die Gnadenmittel müssen Ihnen entzogen werden!

Eine Pause trat ein ...

Auch Sie sprechen wie Kanonikus Taube! sagte die Stimme ...

Wir sprechen alle, wie die Mutter Kirche spricht! Sie will keines ihrer Kinder sich entzogen sehen und ist streng gegen die, die ihrer Liebe ein neues Kind vorenthalten! Erwägen Sie Ihre künftigen Leiden! Ihr Gatte ist edel; wie denn wird er von Ihnen ein solches Opfer verlangen!

Hendrika Delring weinte ...

Es währte lange, bis sie sich sammeln konnte ...

O diese Welt! rief sie plötzlich heftig aus ...

Warum nur beruhigt Sie der Friede dieses Gottestempels nicht? Warum sprechen Sie in dieser Aufregung? Erzählen Sie, was Ihnen begegnete!

Schon oft, hochwürdiger Vater, wollte ich zu Ihnen kommen! Ich hörte täglich von Ihrer Weisheit und Güte. Neulich noch, als meine Familie sich um mich versammelt hatte, ein Marienbild in meinem Zimmer entschleierte und, indessen alle auf den Knieen lagen, zu ihm ein Gelübde sprach, sie würden, wenn ich mein Kind nicht im Glauben des Vaters taufen ließe, eine Wallfahrt antreten und in einem gräflichen Hause bei Witoborn, wo geistliche Uebungen gehalten werden, sechs Wochen lang sich einschließen und die Exercitien mitmachen, da schon wollt' ich zu Ihnen kommen – nur warf mich die Verzweiflung aufs Krankenlager. Meine Mutter behauptete, wenn ich anders handelte, würd' ich jetzt Gott um die Erfüllung eines Gelübdes betrügen ...

Das ist eine Thorheit! erwiederte Bonaventura entrüstet. Wer lehrte Ihre Mutter, daß Gott unserer Opfer bedarf! Ein Gelübde kann einen Werth für unsere Seele haben, aber nur der Heide kauft seinem Götzen mit einem Gelübde etwas ab. Eher könnte Ihr Gewissen sich gedrückt fühlen von dem Vorwurf, die religiöse Denkungsart der Ihrigen, vollends einer Mutter zu verletzen ...

Auch mußt' ich bittere Thränen darüber weinen und war in meinem Vorsatz wankend geworden! Ein junges Mädchen, das in meinen Diensten steht, sprach täglich von diesen Exercitien, an denen sie so gern theilgenommen hätte. Das junge Kind, das ich so lieb habe, vergegenwärtigt mir den Glauben, den ich immermehr verliere ...

... Ist das Treudchen? dachte Bonaventura voll Bangen. Treudchens Beichtvater war – Cajetan Rother ...

Leider aber läßt der Peiniger meiner Lebensruhe nicht nach! fuhr Hendrika Delring fort. Es ist mein eigener Bruder! Früher war mein Gatte Führer des Geschäfts. Aufrecht gehalten hat er's in schwieriger Zeit. Die Zeit ist nicht mehr günstig wie sonst, andere überflügeln den alten Kaufmannsschritt und darauf fußt mein Bruder, um meinen Gatten täglich zu verletzen. Während er selbst sich der sinnlosesten Verschwendung ergibt, wirft er uns die kleinste Ausgabe vor und schon war unser Entschluß reif, ganz aus dem Geschäft auszutreten. Leider ist meine Mitgift, wie es bei Kaufleuten Sitte, nur klein; meine Einnahme hängt von dem Ertrag des Geschäftes ab. Eine ihr entsprechende größere Summe herauszuziehen, ist immer mit Schwierigkeiten für unser ganzes Haus verbunden. Darum, weil mein Mann von vorn anfangen müßte und auch des Salairs für die Führung des Ganzen zu entbehren hätte, bekämpfte ich diesen Schritt, hielt aber zu meinem Mann und brach mit meiner ganzen Familie. Deshalb auch schenkt' ich ihm im Geist meine Hoffnung, ohne daß der Edle es begehrt. Aber jetzt ist keine Wahl mehr. Mein Gatte muß weichen. Heute in der ersten Frühe fand eine Scene statt, die jede Aussöhnung unmöglich macht. Um das Geringfügigste erhob schon sonst unser Tyrann einen Streit. Diesmal darüber, daß er eine Gesellschaft geben will und zu dem Ende Ansprüche macht auf einen Theil meiner Zimmer. Ich verweigerte sie ihm aus Gründen, die eine Hausfrau haben darf. Nicht um eine Ladung Waaren, nicht um einen Werth von Tausenden begann er jemals einen solchen Streit, wie jetzt über diesen Gesellschaftsabend. Mein Gatte kam hinzu. Das ganze Haus wurde Zeuge eines Auftritts, der nur damit enden konnte, daß wir das Haus und das Geschäft für immer zu räumen erklärten. Mein Gatte wird eine Stelle suchen, meine Mitgift und ein uns angewiesenes Zehntel vom Reinertrage des Geschäfts reicht vielleicht aus, ihn irgendwo zum Associé zu machen. Wir ziehen weg von hier und wenn ich dann an seiner Seite lebe – –

Nun dann, dann – unterbrach Bonaventura das plötzlich stockende Bekenntniß, dann schenken Sie Ihr Kind Ihrer Mutter – Ihr Gatte bedarf dann keinen weitern Beweis Ihrer Liebe mehr!

Hendrika schwankte, aber in ihrem Worte: Hochwürdiger Vater, ich zweifle schon an allem –! lag eine Zustimmung ... Der sanfte Ton des Priesters hatte sie überwunden ...

Das sagen Sie doch nicht! unterbrach Bonaventura. Die Liebe ist ja mächtig in Ihnen! Auch Liebe zu Ihrer andern Mutter, zur Kirche, haben Sie noch! Sie ringt nur mit der Gott ja gleichfalls wohlgefälligen Liebe zu Ihrem Gatten. So ist ja ein Ausgang da aus diesem Labyrinth, der Sie vorläufig vor Conflicten mit der Seelsorge bewahrt! In den Ihnen nun verhängten künftigen Entbehrungen kann ich nur eine Gnade des Himmels erkennen. Wie glücklich werden Sie sein! Ganz nur Ihrem Gatten hingegeben! Seine Sorgen, seine Erfolge theilend! Ich will Sie in mein Gebet einschließen! ...

Eine Weile dauerte es, bis Madame Delring weiter sprach ... Sie hatte ihr Taschentuch an ihr Auge gedrückt ... Mit gebrochener Stimme hauchte sie:

Und ist es denn wirklich wahr – Und auch Sie, Sie sagen es – mein Kind würde im Jenseits –

Sie vollendete ihre Rede nicht. Denn Bonaventura unterbrach sie:

Wir haben eben eine so schöne Einigung gehabt, eine Einigung, auf die hin ich Ihnen freudig die Absolution für Ihre Zweifel ertheile und Sie auf Sonntag zum Tisch des Herrn lade. Warum kehren Sie zu dem alten Unmuth zurück? Die Kirche hat den Abfall so vieler Millionen Bekenner erleben müssen, sie hat ihn zu einer Zeit erlebt, wo in der That ihr Wesen mannichfach entstellt wurde. Muß sie nun nicht streng sein, die Ihrigen zusammenzuhalten? Darf sie gering denken von dem, was ihre Lehre über die Stufenfolge und die Ordnung des Heils aufgestellt hat? Eine Sprosse daraus weggezogen und das ganze Gebäude wankt. Zu unserer Kirche zu gehören ist nun einmal nach unserer Lehre eine Wohlthat. Denken Sie doch nur immer an das, was Sie selbst als Kind glücklich gemacht hat, als Sie die erste Annäherung an die Gemeinschaft mit der sichtbaren Vertretung Ihres Glaubens fühlten! Diese sanften Klänge an einem Palmensonntag, diese heiligen Schauer des Ostertages, diese Wonnen einer höheren Liebe zu jeder Stunde des hochheiligen Kirchenjahres – gönnen Sie sie, ich bitte, auch Ihrem Kinde, dessen Ankunft und weiteren Lebensgang Gott segnen möge!

Nun ertheilte Bonaventura den Segen. Die Beichtende erhob sich langsam ... Ein Diener, der in einiger Entfernung gewartet hatte, sprang hinzu und half ihr beim Aufstehen. Sie ging bis an eines der großen Portale, wo sie ein Wagen aufnahm.

Zeit zur Besinnung blieb dem Priester wenig ... Ob er mit sich – zufriedener war? ...

Aber da half kein Blick nach innen ... Schon wieder mußte er das entgegengesetzte Fenster öffnen ...

Ein großer Triumph des Beichtstuhls ist das Herantreten selbst des Höhergebildeten zum Ohr des Priesters. Größer aber noch möchte man den Triumph nennen, wenn sich ihm die männliche Jugend in jenem Alter naht, wo die Knabenvorurtheile abgestreift sind und sich sonst der keimende Stolz des Mannes schämt, sich noch an den Gängelbändern der ersten Erziehung zu zeigen. Ein junges Roß zerreißt alle Stränge, bricht alle Schranken – aber so halbwüchsige Jugendkraft im Beichtstuhl zu erblicken, selbst da sich demüthigend, selbst da sich unterwerfend, das ist eine Glorie der Kirche und des Familienlebens. Alle Abbildungen, die man von dem knieenden heiligen Aloysius von Gonzaga, einem frommen, offen gestanden, etwas blöde und geistlos blickenden Pagen am Hofe der bigotten Nachfolger Philipp's II. sieht, bezwecken es, die Liebenswürdigkeit einer ganz noch in Knabengewohnheit sich haltenden Kirchlichkeit auch dem reifsten Jünglingsalter einzuprägen.

Thiebold de Jonge hatte wirklich, wie er an jenem Morgen nach dem Frühkaffee Benno »auf Ehre« versichert hatte, neun Jahre lang nicht gebeichtet. Benno würde nichts dagegen gehabt haben, wenn von diesem »auf Ehre« die jährliche Osterbeichte ausgenommen gewesen wäre; denn diese war, wie damals auch Pastor Engeltraut in Drusenheim gesagt hatte, eine ganz conventionelle »Sündenabwaschung«, der man nicht entrathen kann und die sich bei jedem, der keine bürgerlichen Unannehmlichkeiten erfahren will, innerhalb der katholischen Kirche von selbst versteht. Aber Thiebold de Jonge war wirklich in neun Jahren ein completter Heide gewesen. Immer traf es sich, daß er zu Ostern irgendwo auf Reisen war; eine mahnende Mutter lebte nicht mehr; sein Vater war »ohne Vorurtheile« und als »König der Holzhöfe«, wie er hieß, in einer Vorstadt wohnend, mit der Gesellschaft wenig in Berührung, ausgenommen bei den Provinziallandtagen. Die Gelegenheiten, wo junge Leute Beicht- und Communionzettel brauchen, kamen bei Thiebold nicht vor. Weder brauchte er Stipendien zum Nachholen seiner etwas vernachlässigten Studien, noch ließ er taufen. »Ei, wart' du nur, Kerl«, sagte öfters sein Vater zu ihm, wenn er die Verwilderung bemerkte, »bis du nur endlich heirathen wirst, dann hört wol die Freigeisterei auf! Aber!« setzte er hinzu, »du wirst wol auch so ein Hans Matz werden, wie –« nun nannte er einige reiche ältere Herren aus der christlichen Handelssphäre, die, wie der »Ober-Chochem« Moritz Fuld, vorzogen, Garçons zu bleiben. Vor vier Monaten erst, als Thiebold so melancholisch und so verspätet von der drusenheimer Partie zurückkam und einige Tage lang seine besten Leibgerichte stehen ließ, setzte der Vater hinzu: »Die Hanne Kattendyk hast du dir nun auch entgehen lassen! Macht sich so ein hungeriger Professor dran! Nannette Schmitz ist freilich noch zu jung! Aber Josephine Moppes, Lisette Maus, Mamsell Effingh und der kleine Schwarzkopf, der mir schon gefallen könnte, Betty Timpe – sage mir nur, Kerl, warum schleppst du dich mit den Brüdern dieser Mamsells, diesen liederlichen Tagedieben, wenn du nicht reelle Absichten dabei hast!« Von einem adeligen Freifräulein und einer jetzigen Stiftsdame war keine Rede, weil der Sohn dem Vater »mit dergleichen« schön angekommen wäre, obschon Thiebold auch hier auf die Länge keine Schwierigkeit gefunden hätte und überhaupt mit seinem Vater auf mehr als dem Du-Comment kindlicher Vertraulichkeit stand. Der alte de Jonge ließ sich von dem jungen de Jonge behandeln, als wenn die Rollen umgekehrt wären, er der Sohn und Thiebold der Alte. Thiebold erzog »seinen Alten« und der Alte hatte sogar Furcht vor dem Jungen und bemühte sich ängstlich, ihm zu Dank zu leben. Es war ein Verhältniß wie in der verkehrten Welt, was jedoch nicht ausschloß, daß Thiebold mit dem tiefsten Schmerz ausrufen konnte: »Wenn mir 'mal bei Gelegenheit der alte Mann sterben sollte, wüßt' ich auf Ehre nicht, wie das fertig bringen!«

Obgleich Thiebold seit vier Monaten sich weder in seiner Toilette vernachlässigte, noch irgendwie auffallend in seiner Ernährung zurückging, drückte ihn doch offenbar Melancholie. Seine Paletots gaben wol die Wintermode an, er hatte die Krägen und Aufschläge von schwarzem Sammet eingeführt, die seinem frischen, gesunden Antlitz und dem gescheitelten kräftig blonden Haar das schönste Relief gaben; aber selbst die Bewunderung, die noch vorgestern Abend auf der Apostelstraße sein Pelzrock mit Schnüren, gefüttert mit Marderfell aus dem nördlichen Canada – einem eigenen Importartikel – hervorgebracht hatte (selbst bei Pitern, der so kindlich glückselig sich erging, daß er die heute stattgehabte »Mordscene« mit Delring schwerlich schon embryonisch in seiner »fürchterlich reizbaren« Seele trug), selbst diese Bewunderung hinderte nicht, daß ein schon seit lange gehegter elegischer Plan kurz vor seiner Reise nach Witoborn zur Ausführung kam. In seinem Innersten hatte er sich auf etwas ertappt, was ihn drückte. Es war etwas, das er am wenigsten seinem angebeteten Freunde Benno von Asselyn und gerade darum dem Domherrn gestehen wollte. Vorgestern, beim Nachhausegehen von der Austernpartie, als er zwischen ein und zwei Uhr unter den nächtlichen Sternen nicht enden konnte, von Armgart's Mutter zu schwärmen und jedesmal Benno, wenn dieser dann auch mit Ekstase anfangen wollte, mit Allotrien in die Rede fiel, hätte er beinahe alle Schleier von seinem Innern wegfallen lassen. Asselyn! – rief er; aber da war dieser wieder durch irgend eine ironische Seitenbemerkung »unverbesserlicher ausgebrannter Krater« und so blieb eine »unwiderstehliche Erleichterung seines Busens« in ihm stecken. Heute in der Frühe zog er seinen canadischen Pelz an, las, um seine Katechismuszeit aufzufrischen, in einem alten Beichtspiegel, den er aus der Bibliothek seiner Mutter als Reisegepäck nach dem frommen Witoborn mitnehmen wollte, und beschloß, dem Domherrn eine gründliche Schilderung gewisser Schlechtigkeiten zu geben mit der Bitte, das Nähere davon Benno mitzutheilen, damit ihn dieser nicht verkenne, denn – »Eines muß der Mensch haben«, sagte er sich, »woran er sich vom Thiere unterscheidet, welches nicht mit Vernunft begabt ist«; ja er setzte hinzu: »Unter gewissen Umständen ist das Sakrament der Buße eine merkwürdige Geschichte!« ... Zu den besondern Segnungen des Beichtstuhls gehören nämlich die sogenannten »Restitutionen«. Der Beichthörende übernimmt dann die Ausgleichung einer eingestandenen Schuld, ohne daß der davon Betroffene die Ahnung hat, von wannen ihm diese geheimnißvolle Rechtfertigung oder unerwartete Schadloshaltung gekommen ist ...

Für die sogleich zugestandene neunjährige Unterlassung des Beichtens erhielt Thiebold Vorwürfe, die er »vollkommen in der Ordnung« fand. Ja fast hätte er ohnehin zur schnellern Orientirung des hochverehrten Priesters über die »betreffende Persönlichkeit«, die hier in dem schönen canadischen Pelzrock und mit dem schönsten frisirten Scheitel vor ihm lag, die Ergänzung gegeben: »Schauderhaft, selbst für jene wunderbare Rettung am Sturz des St.-Moritz fand ich keine Veranlassung, irgendjemand anderes zu danken, als dem Obersten von Hülleshoven und einem Ihnen vielleicht persönlich nicht ganz unbekannten Ehrenmann Namens Hedemann« ... Trotz dieser zurückgehaltenen Indiscretionen mußte Bonaventura nach einigen weitern Wechselreden den Freund Benno's sogleich erkennen. Nicht wenig war er überrascht, als dieser von sich eingestand, daß auch er eine Dame liebte, die er nur »leise angedeutet« zu haben glaubte durch offene Nennung ihres Namens Armgart von Hülleshoven.

Ich liebe ein Mädchen, bekannte Thiebold, von dem ich vor einigen Monaten erfuhr, daß es auch das »Ideal« eines Freundes von mir ist, für den ich »sonst mein Leben lasse«! Durch eine besondere »Verkettung von Umständen« hatten wir zusammen eine nächtliche Reise zu »bestehen«, wir drei, die Dame, mein Freund und ich. Die Gegend war reizend, einsam und »wunderschön«! Die Nacht mondhell, die Sterne – nein, es war »wirklich« prachtvoll und – und – »niemand« schlief, »die junge Dame ausgenommen«, die, von Anstrengungen »übermannt«, »der Natur ihren Tribut zollte«! Mein Freund und ich, wir »zwei«, »verständigten uns durch gegenseitiges Schweigen«. Merkwürdig aber! Je mehr »der Morgen graute«, desto »finsterer wurde es«! Der Mond »verschwand« ... Die Berge, die Tannen – reizend; aber um vier Uhr Morgens »stichdunkel«! Unsere Begleiterin erwachte! Sie seufzte und erzählte ihre Träume, die wir »um das feierliche Schweigen zu brechen«, ihr auszulegen versuchten! »Aber« an den einzelnen Stationen mußten wir aussteigen, um mit den Posthaltern und Postillonen abzurechnen, denn mein Kutscher war mit meinen Pferden schon auf der ersten Station zurückgeblieben. Rücksichtsvoll und feierlich, wie wir »gestimmt« waren, ließ einer den andern zuerst wieder einsteigen, und zerstreut, wie wir gleichfalls gewesen zu sein »nicht leugnen können«, verwechselten wir unsere Plätze. Da – da fühlt' ich auf einer der letzten Stationen vor Erreichung der »regulären Schnellpost« im Dunkel eines Hohlweges eine zarte Hand in der meinigen ... Die »Handschuhe« meines Freundes waren es nicht, obgleich es mir schien, als hätte er längst auf dem Herzen, mir mit Gefühl zu sagen: Freund, beruhigen Sie sich! Sie sehen wohl, ich bin der Bevorzugte! Aber nein! Die Handschuhe waren die der jungen Dame. Ein Druck war es, »als wollte sie sagen«: O Geliebter, wie dank' ich Ihnen von Herzen! Sie haben mich zeitlebens zu Ihrer Schuldnerin gemacht! Bleiben Sie mir gut mein ganzes Leben lang! ... Herr Gott, ich zitterte! Ich wußte, daß das gar nicht mein Platz hier war und sie mich für meinen Freund hielt! Ich erwiderte den Händedruck und das mit Beben und mit einer »gewissen Schüchternheit«, woraus sie noch um so mehr die »Berechtigung entnahm«, glauben zu dürfen, daß der von ihr Beglückte mein Freund und nicht ich war. Die Dame legte sich wieder in ihre Ecke »und entschlief aufs neue«. Aber das Gewissen brannte mir. Herr des Himmels, der Wagen hielt, und nun mußt' ich aussteigen, und der Freund, der »ein wenig geschlummert hatte« und die Worte des lieblichen Engels »überhörte«, folgt – und nun diese »beklagenswerthe Verschmitztheit meinerseits«! Ich schlug ja vor, die Plätze wieder zu wechseln! Und dies geschah und der Morgen graute immermehr und der Postillon blies und das junge Mädchen erwachte »aufs neue«. Gott, sie lächelte! Sie lächelte in aller Unschuld. Sie lächelte meinen Freund an, der ihr nun wirklich gegenübersaß! Aber »natürlicherweise«! Nicht im mindesten machte dieser Miene, sich an eine Zärtlichkeit zu erinnern, »die er nicht genossen hatte«. Um meine Verlegenheit zu vermehren, gab die dankbare Freundin unserer Herzen nun auch mir die Hand, als wollte sie sagen: Ganz zu kurz kommen sollen auch Sie nicht, lieber Herr de Jonge! Und dies offenbar viel kältere Benehmen sah mein Freund nicht ohne Befremden. Schwerlich schrieb er's auf »Rechnung meines Wagens«, den er zwar zu loben anfing; aber ich gestehe, daß ich schon damals beschämt war, nicht im mindesten »honnet genug« gewesen zu sein und gesagt zu haben: Erlauben Sie, mein Fräulein; vorhin – das bin ich auch gewesen! Kurz, mein armer Freund blieb ohne alle Aufklärung! Ich, ich sonst ein Mensch von »Reellität«, habe aus »Liebesglut« meinen Betrug verschwiegen bis zum heutigen Tage und »ich muß gestehen«, diese Lüge »entstellt meinen ganzen Charakter«. Denn nicht nur nicht – wie gesagt – sie einzugestehen war alle Tage Zeit – sondern auch – meine Schlechtigkeiten in diesem »Punkte« nahmen noch zu ...

Bonaventura hatte schon oft Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, daß Benno nicht Unrecht hatte, seinen Freund Thiebold de Jonge einen »närrischen Kerl« zu nennen. Diese so wunderlich stylisirten Gewissensscrupel überraschten ihn daher nicht im mindesten ...

Ich kann sagen, ich habe eine so gründliche Abneigung gegen mich selbst gefaßt, fuhr Thiebold fort, daß ich jede Nacht um einige Stunden meines Schlafes »verkürzt« werde. Auch werde ich keine Ruhe finden, ehe es nicht wieder »Tag in meinem Innern« wird! Eines muß der Mensch haben, was seine Religion ist und die Ehrlichkeit, glaub' ich, »spielt dabei keine unansehnliche Rolle«.

Welche andere »Schlechtigkeiten« sind es denn sonst noch, die Sie vorhin erwähnten? fragte Bonaventura ...

Die bodenloseste Verstellung! sagte Thiebold und trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn. Ich schmeichle nämlich meinem Freunde mit der »stereotypen Versicherung«, daß die »Palme des Sieges« nur er allein davontragen könne. Regelmäßig aber habe ich davon das absolute Gegentheil im Herzen! Ich sage ihm: Asselyn – bitte um Entschuldigung! (Für die unerlaubte Angabe eines Namens –) Ich sage: Freund, Sie sind der Glücklichste der Sterblichen! Im Gegentheil aber erwäg' ich meine bessern Umstände, sogar meinen »scheinbaren Adel« und ähnliche »Chancen«. Diese »vorhabende« Reise morgen nach Witoborn ist z.B. eine solche schlechte Erfindung meiner Doppelzüngigkeit! Nicht im entferntesten liegt für mich ein Interesse vor, Wälder zu kaufen, die an keinem »schiffbaren Wasser« liegen. Nichtsdestoweniger hab' ich dies schlechte Geschäft als eine außerordentliche »Conjunctur« hingestellt, ja dem Freunde sogar »schmählicherweise« mein Bedauern ausgedrückt, daß ich ihm durch meine Anwesenheit in Witoborn ein »lästiger Zeuge« sein würde. Wie gesagt, ich fange an stündlich über mich selbst zu stolpern und mich dem schaudervollsten Trübsinn zu ergeben aus Desperation über mich selbst! Hochwürdiger Vater! Ich möchte auf die ehrliche Straße zurück! Es würde mir dies »stellenweise« erleichtert werden, wenn Sie, hochwürdiger Vater, die Güte haben wollten, meinen Freund zu versichern, Sie wüßten aus »authentischer Quelle«, daß er geliebt wird. Ich würde dann mit einer gewissen Erleichterung neben ihm meinen Platz im Postwagen einnehmen; denn wir wollen diesmal mit der gewöhnlichen Diligence fahren ...

Mit diesem schwungvollen Schluß endete Thiebold's gründlich einstudirte Beredsamkeit ...

Jeder andere, der dieser Flüstersprache zugehört haben würde, hätte sicher seinem Ohr nicht getraut. Aber ein katholischer Priester hört dergleichen Herzensergießungen täglich. Die Neigung, die man bei Schulkindern das »Anbringen« nennt, wird durch den Beichtstuhl in Bezug wenigstens des »Anbringens über sich selbst« sogar geschult und erzogen. Und will man ein guter Erzieher sein, muß man zugestehen, daß in dem Anbringen selbst über andere in der Schule ein Keim liegt, der etwas Gutes enthält. Es kann ein Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb sein, der nichts Unrechtes sehen oder leiden kann. Ein Kind, dem man das Anbringen unter allen Umständen verleiden wollte, könnte leicht in Gefahr gerathen, am Guten irre zu werden; denn immer wird es denken: Ei, das Böse ist doch dafür da, daß es entlarvt und bestraft werde; wie hindert man mich denn, das Gute herzurichten? Und der Beichtstuhl hört deshalb mit Geduld alles, was in ihm angebracht wird. Auch behülflich ist er, die Entdeckungen zu fördern und das Gute so wieder einzurichten und einzufugen, daß die, die es verletzten, nicht zu sehr dabei bloßgestellt werden. Er legt Strafe und Züchtigung vorzugsweise für die innere Gesinnung auf, übernimmt dann aber fürs Praktische gern, wie wol ein liebender Vater auch thut, das von seinem Kind gestohlene Gut wieder an den rechten Platz zu legen, ohne daß der Thäter auf ewig zu Schaden kommt. Der Beichtstuhl möchte gern auf diese Art die Harmonie des Lebens ergänzen. Und da die Sünden, in allgemeiner Formel ausgedrückt, oft nur Redensarten sind, so muß er zu dem Ende ausführlich die Facta hören, muß wissen, welche Rubrik in der Moral verletzt wurde und welche Arznei zu wählen ist, ob eine heroische, erschütternde, ein Taraxakum, oder eine sanfte und lind auflösende ...

Thiebold, der sich in dem Augenblick vorkommen mochte, wie der heilige Aloysius, Thiebold, der als »Aufgeklärter« nur festhielt an dem, was »an seiner Kirche wirklich gut« ist – »aufgeklärt« und »protestantisch« lagen für ihn und vielleicht auch für Benno weit, weit auseinander –, traf heute nicht den alten guten Herrn, bei dem er angeleitet worden war richtig Beicht zu sprechen. Der Pfarrer von Sancta-Maria an den Holzhöfen pflegte in solchen Fällen immer zu sagen: »Geh du man, min lütje Jong (es war ein Friese, wie die Asselyns), dat schall ik wol maken!« Der gute alte Herr arrangirte, was Thiebold von eingeworfenen Fenstern, Näschereien, sogar schon Schulden (bei vierzehn Jahren!) ihm eingestanden hatte. Hier aber mußte Thiebold erleben, daß seine noble Gesinnung und die »authentische Quelle« und sein »die Güte haben wollten« – nicht den mindesten Anklang fanden ...

Bonaventura verurtheilte ihn zwar nur zu einigen Aves und einigen Spenden, sprach ihm aber das Absolvo erst nach folgenden strengen Worten:

Und können Sie mir wirklich zumuthen, daß Ich nun auch noch an dem Gewebe Ihrer Unwahrheiten mit fortspinne? Wollen Sie Ihren Betrug gut machen, den Sie in dem Wagen bei jener nächtlichen Fahrt gespielt haben, so glaub' ich, daß Sie ihn selbst bekennen müssen. Erleichtern will ich Ihnen diese Beschämung allerdings dadurch, daß ich der Meinung bin, Ihr Geständniß ist zunächst da anzubringen, wo der Betrug stattfand. Zuerst müssen Sie der jungen Dame, die Sie nun ja wiedersehen werden, bekennen, daß Sie es waren, der den Händedruck empfing. Die Täuschung, die Sie begingen, ist freilich eine doppelte. Lassen Sie aber erst das Geständniß vorangehen, das Sie der Dame selbst zu machen haben, und sagen Sie dann mir, da ich gleichfalls in der gemeinten Gegend sein werde, was sie Ihnen erwiderte; vielleicht wünscht sie den Vorfall jetzt lieber ganz verschwiegen. Soll ihn aber später Ihr Freund erfahren – und ein wirklich dann Ihretwegen besorglicher Fall das – so will ich Ihrem guten Willen, Ihrer Neigung, Ihr Gewissen zu entlasten, vor dem Freunde ein Zeugniß geben, das Ihre Hinterlist nicht zu sehr compromittirt oder wol gar eine Aufkündigung der Freundschaft zur Folge hat, wenn nicht Schlimmeres, was ich nicht wünschen möchte; denn Ihre Freundschaft ist dem Freunde schon ein Besitz, den er hat; die Liebe jenes Mädchens aber bisjetzt etwas noch Zweifelhaftes. Ich möchte nicht, daß er um Freundschaft und Liebe zugleich kommt ...

Thiebold erhob sich wie angedonnert ... Die Verwickelung wurde immer größer ... Die ganze Freundschaft mit Benno stand auf dem Spiel ... Und – ein Geständniß seiner offenbaren Heimtücke an Armgart selbst! .. Er sah die vollkommenste Niederlage, die ihm Bonaventura im Stifte Heiligenkreuz bereitete ... Die Vorwürfe Armgart's hörte er, hörte die offenkundigste Demüthigung in dem kühlsten: »Sie waren das?« das je auf Erden gesprochen wurde – Er wankte nur so hinaus und litt mehr, als sich schildern läßt. Denn seine Bewunderung vor Benno's Vetter war nicht blos hoch, sondern »höchst«. Er mußte sich gestehen, unter solchen Gefahren und Verwickelungen hätte er sich die Reise nach Witoborn anzutreten nicht für möglich gedacht.

Ruhe, Erwägung, Sammlung waren Bonaventura nicht vergönnt ... Wie gern hätte er sich jetzt träumerisch verloren in Benno's Liebe, in Armgart's Gegenliebe, die er durch seine Thiebold gegebene Vorschrift prüfen, zu vollerem Bewußtsein erheben, zum reichern Schatz für seinen Freund ansammeln wollte. Er dachte: Vielleicht kannst du eine dem dunkeln Lebensschicksal deines Freundes plötzlich aufgebende rosige Beleuchtung in Witoborn ihm selbst ankündigen! ... Aber schon redete eine andere Stimme ...

Es war eine heisere. Aber eine weibliche, soweit ein sonderbares Näseln und stoßweises Schluchzen sie unterscheiden ließen – ein Taschentuch mußte schon an allen Enden gewechselt worden sein, so feucht war es von dem Jammer der Zerknirschung. Eine Nase wurde dem Hörer sichtbar, geschwungen wie der Schnabel eines Geiers. Drüberher ein orangegelber, ganz neuer Atlashut, mit schwarzem Sammet besetzt und mit Spitzengarnitur. Es war dem Hute und dem Taschentuche und dem Weinen zufolge eine Dame. Alles Uebrige konnte einem Manne angehören.

So gewandt wie diese Bonaventura bereits hinlänglich bekannte Seele wußte selten eins die vorgeschriebenen Anreden und Formeln auswendig. Die Frau war erst vor vierzehn Tagen dagewesen, aber schon wieder war sie der Sünden so voll, daß der Beichtvater in sein Examen keine andere Ordnung bringen konnte, als systematisch nach sämmtlichen zehn Geboten. Eine Sünderin war es ganz nach dem Schema eines Beichtspiegels. Bei jedem Paragraphen der Moral hatte sie ihrem Innern gleichsam ein »Eselsohr« gemacht. Schon neulich hatte sie unnützerweise dreizehnmal Gott, siebenmal die Heiligen, siebzehnmal die Nothhelfer angerufen. Die Terminologie des Beichtstuhls und der Curialstyl der Gnadenzustände war ihr so geläufig, daß man hätte sagen mögen, sie sündigte auf Stempelpapier. Auch einem Diebe konnte man sie vergleichen, der seine Einbrüche schon nach demjenigen Strafmaß qualificirt, das gerade ausreicht, ihm nach zwei Jahren wieder die Freiheit zu verschaffen.

Dies war eine Frau, die im Entzug des allerheiligsten Sakramentes des Altars lebte. Sie behielt nur noch den Beichtstuhl offen zur Erweckung eines besseren Gnadenzustandes. Der junge Domherr war durch vorher nothwendig gewesene officielle Mittheilung der Sachlage über eine Frau orientirt worden, die sich alle vierzehn Tage vor ihm geberdete, als wäre ihr durch Vorenthaltung des heiligen Brotes die notwendigste physische Speisung entzogen.

Mit solchem Seelenjammer, dem da nun auch ein Priester, ein Mann, der außerhalb der Ehe leben und dem holden Reiz der Frauen nicht auf sich wirken lassen darf, sein Ohr leihen muß, hätte Bonaventura lieber, wie die Casuisten in diesem verfänglichen Kapitel, lateinisch gesprochen! Aber schon war er auch von St.-Wolfgang her gewöhnt, daß sich die Gewissen nach dieser Seite hin mit besonderer Vorliebe erleichterten. Sein Vorgänger, Cajetan Rother, hatte den Drang seiner Beichtkinder, Sünden des Fleisches einzugestehen, durch jene geistige Entbindungskunst, die Sokrates in philosophischen Fragen erfunden, sogar noch zu beleben gewußt. Kein Kind hatte er aus dem Beichtstuhl gehen lassen, das er nicht auf sein Geheimstes ausgefragt hätte. Bonaventura schauderte anfangs vor den Mittheilungen, die man ihm machte, und bald ließ er vieles, was sich auszuplaudern schon gewohnt war, gar nicht mehr zu Worte kommen. Aber diese Materie blieb darum doch ein Lieblingsthema der reuigen, durch Geständniß halb sich schon entschuldigt glaubenden Mittheilung. Bekenntnisse dann freilich, wie die von dieser Frau heute schon zum sechsten oder siebenten mal vernommenen, waren ihm noch neu. Diese konnten nur in einer großen Stadt vorkommen. Sie kamen so geläufig, so formenfest, als wollte nur ein Gewerbtreibender wie die bürgerliche, so hier die himmlische Steuer entrichten, die ihm für sein Fach die Berechtigung gab, es wie begonnen so fortzusetzen.

Welche Strafen sollte nun Bonaventura einer Frau verhängen, die als eine Gelegenheitsmacherin in Untersuchung gerathen war, außer dem Stande der Gnade lebte und keineswegs als gebessert betrachtet werden konnte? Einer Frau in glänzendem Staat, Besitzerin einiger Häuser, einer Frau, die in dem Rufe stand, bei sich Gesellschaften zu dulden, wo schon manches junge Mädchen um Ehre und Ruf gekommen? Die Polizei und die Kirche kannten Madame Schummel ... Bonaventura erhielt sie gleichsam als eine geistliche Observatin von seinen Vorgängern überliefert, als eine Frau, die in einer Art Kirchenbann lebte. Schon beim ersten Besuche, den sie ihm im Beichtstuhl machen mußte, sprach er zu ihr die Worte des Propheten: »Ich will Haufen Leute über dich bringen, die dich steinigen und mit ihren Schwertern zerhauen und deine Häuser mit Feuer verbrennen und dir dein Recht thun vor den Augen der Weiber!« Aber diese markdurchschneidenden Worte kamen der Madame Schummel, die wie ein Büßer mit der Geißel nicht stark genug zugehauen bekommen konnte, gerade recht. Da sie ihn fortwährend belästigte, nahm sich Bonaventura vor, bei ihren Allgemeinheiten nicht zu verharren, ihr Reden zu unterbrechen und zu versuchen, ob es nicht auch in dem Leben solcher Bekennenden »Restitutionen« geben könnte ...

Welches ist die letzte Seele, die Sie auf dem Gewissen haben? fragte er sie heute geradezu.

Du mein Gott! .. war die auf den Tod erschrockene Antwort ...

An wessen Seele haben Sie sich zuletzt vergriffen? Gestern? Heute schon? Sprechen Sie!

O du mein Gott! ..

Ich frage!

Bonaventura's Auge erhob sich so drohend, wie wenn er den vollständigen Kirchenbann über sie verhängen wollte ...

Frau Schummel verstand die Drohung und fing an zu zittern und sprach:

Jesus Maria Joseph! Zwei junge Herren haben eine Wette gemacht, – daß ein gewisses junges Mädchen, nicht – nicht – so – nicht so unschuldig sei, wie sie aussähe ...

Und Sie? unterbrach der Priester das Geständniß einer Frau, die nun hier auch knieen durfte an der Stätte, wo eben Unschuld und Sittlichkeit gesprochen! ..

Ich – ich kann sagen, daß ich sie – ich meine das Mädchen – begleitet habe auf Tritt und Schritt und sie eingeladen, mich zu besuchen – und gewiß – gewiß auch würde sie gekommen sein, wenn nicht ein – ein geistlicher Herr, den ich gut kenne – es bemerkt und ihr – die Bekanntschaft mit mir verboten hätte ...

Ein – geistlicher Herr? »Den ich gut kenne!«

Bonaventura erbebte ... Er sah die Würmer in der Hostie wieder ... Doch bekämpfte er sich und gedachte des römischen Katechismus, der Theil II, 5. 9. 51. befiehlt, der Priester soll darauf achten, daß die Sünder im Beichtstuhl so behandelt werden, daß sie immer Lust bezeigen, wiederzukommen.

So denn zwang er sich zur Selbstbeherrschung ...

Ach, weinte Madame Schummel, meine vornehmen Freunde verderben mich! Da kommen sie und schmeicheln mir und bieten Geschenke! Tausend Thaler kann ich haben, wenn ich –

Dies unglückliche Mädchen zu Falle bringe –?

Nein, ihre Freundin! Die – die mit ihr in einem Hause wohnt ...

In einem Hause? ... Bonaventura wußte kaum, was ihn plötzlich an Treudchen Ley und Lucinden zu denken zwang – er wußte kaum, was ihm plötzlich die Besinnung raubte, zwang seine Fragen zu unterbrechen, seinen Entschluß zu helfen lähmte ...

Ich Aermste, ich soll alles möglich machen! schluchzte Madame Schummel. Ich unglückliche Frau ich –

Sie werden alles versuchen, die Preise zu gewinnen, die sittenlose Männer auf diese Verführungen stellen! sagte Bonaventura ...

Nein, da sei Gott für, hochwürdiger Vater! Die Eine, die Kleine, ei, ich höre ja, die ist fürs Kloster bestimmt ...

Treudchen! .. Bonaventura wußte, wie Treudchen von den Klosterfrauen gefesselt wurde, wußte, wie Treudchen ebenso die Schwester Beate fürchtete, wie sie die Schwester Therese liebte. Treudchen hatte ihm alles das bei einem Besuch im Kapitelhause, bei ihrer, Renaten angebotenen Hülfe zu seiner neuen Einrichtung selbst erzählt ...

Mit hochklopfendem Herzen fragte er:

Und die andere –?

Maria, Königin der Jungfrauen, lass' mich siegen bei allen Angriffen der Feinde meines Heiles! Mein heiliger Schutzengel, bitte für mich und erlange mir einen großen Abscheu gegen alle Fleischeslüste. Und du, Gott der unendlichen Barmherzigkeit –

Schweigen Sie! unterbrach Bonaventura die auswendig gelernte und statt der Antwort auf die scheinbar überhörte Frage vorgetragene Litanei eines Gebetbuches. Unterlassen Sie jeden Versuch zu diesen fluchwürdigen Freveln und beten Sie die eben von Ihnen begonnenen Worte drüben an den Stufen der heiligen Afra-Kapelle! ... Er mußte sich sagen – sein Amt schrieb es ihm vor – der Glaube erleuchtete auch die heilige Afra, die ursprünglich ganz auf den Wegen dieser Frau wandelte, erleuchtete eine Margaretha von Catona, auf welche bis in ihr einunddreißigstes Jahr gleichfalls jene Worte des Propheten paßten, die er zum ersten Gruß zur Frau Schummel gesprochen, und die dennoch eine Büßerin wurde und nicht nur in ihrem Grabe mit unverwestem Leichnam liegt, sondern sogar im Gegentheil, worüber sie heilig gesprochen worden ist, einen eigenthümlich »angenehmen Geruch verbreitet« ... Und über Lucindens Lebensgänge zu forschen, verließ ihn alle Kraft. Auch war Frau Schummel schon verschwunden – ohne Absolution, wie gewöhnlich. Auf das Wort: »Heilige Afra«, das Bonaventura mit einer segnenden Handbewegung gesprochen, hatte sie selbst im Knieen geknixt und erhob sich. Sie hoffte, mit der Zeit ihr erworbenes Vermögen in ungestörter Ruhe und endlicher Versöhnung mit den öffentlichen Thatsachen genießen zu können.

Leichtere Fälle kamen dann, die Bonaventura's erschüttertem Gemüthe Erholung gestatteten ... Er übereilte nichts ... er ließ jedem Zeit, sich auszusprechen ... Einigen, die zu redselig wurden, sagte er mit Sanftmuth, daß die bewilligte Zeit bald vorüber wäre, sie möchten ein nächstes mal kommen und dafür sorgen, daß sie vom Meßner den Vortritt erhielten.

Soll es denn so sein? rief es wie ein Weheschrei in ihm auf, als dann endlich drei Stunden vorüber waren. Darf es eine Institution geben, die uns der Sünde gegenüber nur zu Hörenden macht, nur zu Belauschern dieses bunten, entsetzlichen Lebens? Soll das Bedrängte nicht sofort Entsatz erhalten von jedem, der davon nur die leiseste Kunde vernimmt? Soll eine in Erfahrung gebrachte Wahrheit nicht sofort laut verkündigt, ein Verbrechen durch uns zur Bestrafung gebracht werden? ...

Wie viel Hülfeschreie verhallten nun schon so in seiner Brust! ...

Wozu das alles! seufzte er ... Wozu? Wozu?

Ein feierliches Hochamt in einem entlegneren Theile des großen Baues hatte begonnen ... Niemand kam mehr, um an sein Ohr zu gelangen ... Aber noch saß er, als blutete er aus tausend Wunden ... Ein Erzittern, ein fieberhaftes Frösteln fühlte er bis tief in sein Allinnerstes ...

Im Begriff sich jetzt zu erheben, faltete er sein Tuch zusammen. Schon hatte er den Drücker der Thür in der Hand, um sein enges Gefängniß zu verlassen, schon sah er im Geist gewohntermaßen den Meßner vor sich, der voll Ehrfurcht und mit einem nie so reich gewesenen Ertrag von »Beichtpfennigen«, wie sich jetzt ein solcher seit der Erhebung dieses gefeierten Priesters zum Domherrn ergab, ihn empfing und zur Sakristei geleitete ...

Als er mit einem Fuße schon aus dem Beichtstuhl war, bemerkte er, daß der Meßner einen Zuspätgekommenen, der an der linken Seite des Stuhles knieete, entfernen wollte ...

Es war ein Mann aus dem untersten Volke, mit einer Blouse über dem Rock. Ein Filzhut bedeckte das nicht sichtbare Antlitz ... nur ein krauses, struppiges, röthlich blondes Haar sah er. Der Betende schien sich nicht wollen stören zu lassen ...

Bonaventura winkte dem Meßner und trat in den Stuhl zurück ...

Mächtig schollen die Klänge des Hochamts, heute sogar, wie oft, begleitet von einer Instrumentalmusik. Sie wogten durch das hohe Gewölbe und dennoch blieb in diesem entlegenen, dunkeln Winkel die geflüsterte Zwiesprache innerhalb des Stuhles deutlich vernehmbar.

Eine heisere, fremdartig betonende Stimme war es, die mit ihm sprach ...

Bald erkannte er, daß sich ihm ein ruheloses Gemüth offenbaren wollte ...

Er erkannte, daß er mit einem Verbrecher sprach ...

Eine Zeit lang hörte er ruhig zu. Der Ton schien von einer nicht gänzlich verwahrlosten Seele zu kommen, aber auch von einem Gemüthe höchster Beschränkung ... Der Mann sprach von einer unterirdischen Erscheinung, von einem Marienbilde unter der Erde, das ihm oftmals zurufe: Thue Buße! ... Es hätte ihm schon einmal die Warnung vor einem Manne gegeben, der dann auch richtig neulich hätte den Kopf hergeben müssen ...

Hammaker? sprach Bonaventura zu sich ...

Der Mann erzählte, er wäre unter Verbrechern aufgewachsen, hätte bitter gebüßt, lange Jahre in Frankreich in Kerker und Banden gelebt, sich im Vaterland »etabliren« wollen – immer war das Deutsche von französischen Worten unterbrochen – aber neue Verführung wäre gekommen, selbst das Heiligste hätte ihn nicht zurückgeschreckt – er hätte ein Grab erbrochen ...

Bonaventura bebte auf ...

Nun erscheine ihm auch, sagte die Stimme, der Todte, den er auf die nackte Erde geworfen, und fordere von ihm zurück, was er ihm genommen, und doch wäre es nichts gewesen, qu'une bagatelle – Schriften, die er nicht lesen könne ...

Bonaventura hörte schon nicht mehr ... Die Sinne vergingen ihm ... Bei der ersten Ahnung, mit einem Verbrecher zu sprechen, hatte er sein Antlitz ganz verhüllt, hatte die ganze, volle Vorschrift der Regel des Beichthörens auf sich wirken lassen und sich so verborgen, daß der Geständige in seinem Muthe nicht wankend werden sollte ... Nun diese neue Entdeckung! War das Bickert, der Knecht aus dem Weißen Roß? Der Leichenstörer, den die Häscher seit Monaten suchten? Bickert, der mehr gefunden im Sarge des alten Mevissen, als Bonaventura dem Onkel Dechanten vorgelegt? Schriften, die an seinen Vater erinnern konnten –

Hinauszustürzen aus dem Beichtstuhl, den Verbrecher festzuhalten, Hülfe zu rufen – das war sofort sein Gedanke – aber – Innocenz und Hildebrand, wie schultet ihr euere Reisige! Ein katholischer Priester wird erzogen, in der Beichte von Ravaillac zu hören, daß er den König von Frankreich ermorden wolle. Er wird, ähnlich wie Pater Cotton, der Jesuit, gethan, auf diesen ihm vorgelegten Fall antworten: Ich werde den König warnen, werde stündlich um ihn sein, werde den Todesstoß statt seiner empfangen; aber dem Mörder kann ich nur seine Sünde vorhalten und ihm ins Gewissen reden – seine That gehört Gott – seine Person kenn' ich nicht ...

Die Beichte zu sprechen, nennt die Kirche das schönste und größte Heldenthum des Menschen. Petrus weinte bittere Thränen, Magdalena wand sich zu den Füßen des Heilands, Augustinus gestand in seinen Bekenntnissen die Verirrungen seiner Jugend ... Aber nicht minder groß ist das Heldenthum des Beichthörens... Christus hörte noch die Beichte eines Mörders, der am Kreuze neben ihm hing, während sein eigenes Leben verschmachtete und der unbußfertige Schächer ihn lästerte ...

Und dennoch, dennoch riß unsern Freund die kindliche Liebe hin ...

Unglücklicher! rief er fast in die schmetternden Klänge des Hochamts hinaus. Was führt dich gerade zu mir? Wisse! Ich, ich bin der Pfarrer des Friedhofs gewesen, den du entweihtest in Sanct-Wolfgang!

Das rothblonde struppige Haupt erhob sich einen Augenblick und sank, zuckend unter einem grauen Hute sich verbergend, kraftlos nieder ... Der Spätling hatte diese Fügung des Zufalls nicht erwartet ...

Uebersende mir die Schriften, von denen du sprichst! Die Ruhe meines Lebens hängt von ihnen ab! ... Ach, gewiß auch die Ruhe deines Lebens! Weißt du doch, selig sind die Todten, denn sie werden Gott schauen! Vor seinem allwissenden Antlitz wird der von dir in seinem Grabe Gestörte auch für deine Seele bitten! Ist deine Reue eine wahre, ist diese Anfechtung zur Rückkehr in alte Schuld die letzte gewesen, dann kniee nieder vor der allerseligsten Jungfrau, wenn sie dir wieder erscheint in den Höhlen, wo du vor dem Arme der Gerechtigkeit dich verbirgst, bekenne ihr deinen Trieb zur Besserung, und willst du die vollste Aussöhnung mit Gott auch nur einmal, einmal erproben, in dem Genuß seines heiligen Leibes, o, so will ich dir das allerheiligste Sakrament des Altars nicht entziehen, will dir die Erweckung durch den Mitgenuß seines gekreuzigten Leibes nicht versagen – Oder hast du noch irgendeine andere Schuld auf deiner Seele –?

Der Verbrecher athmete schwer und erhob sein Haupt nicht wieder ...

Es war Bonaventura, als hörte er ein Murmeln: Ich hatte –

Du hattest? O rede! Du hattest? –

Ein – ein Engagement –

Wozu? Zu einer ruchlosen andern That? Sprich! Vertraue mir!

Ein Feuer –

Solltest du anlegen? Ha! Eine Urkunde – eine falsche Urkunde in dem Tumulte irgendwo niederlegen! Wo? Wo? Sprich!

Es ist vorüber –

Schon geschehen? Ihr Heiligen!

Nein, Herr, nein! –

Aber es wird geschehen!

Nein, Herr, nein –

Wen soll ich warnen? Rede!

Der Verbrecher schwieg ...

Rede!

Keine Antwort erfolgte ... Der Verbrecher murmelte ein Gebet ...

Nun denn, sagte Bonaventura nach einer Weile, so sei dir dies Vorhaben vergeben, wenn es unterbleibt und du es um Jesu willen bereust! Aber auch dies noch! Mein Name ist Bonaventura von Asselyn! Meine Wohnung im Kapitelhause! Sende mir die Schriften, die dir nichts nützen können! Nie, nie will ich dich erkennen! Ich sah dich ja nicht, ich will dich nicht sehen, ich spreche dir Befreiung deiner Schuld und schließe das Gitter, daß du dich ungestört entfernen kannst! Beim Tisch des Herrn will ich dich, falls du dein Vorhaben unterlässest und mir die Schriften schickst, anlächeln wie dein Freund wenn ich dir das Brot des Lebens reiche! Absolvo te in nomine patris, filli et spiritus sancti! Amen!

Bonaventura machte das Zeichen des Kreuzes – zog das Fenster zu ... und erhob sich ...

Als er sich zitternd entfernte, war niemand mehr gegenwärtig, selbst der Meßner nicht ...

Das Hochamt tönte fort ...

Wie eine Geistererscheinung war, was er erlebt hatte ... Er wankte dahin wie wesenlos ... wie ein Hauch der Lüfte ...

In dem ihn umrauschenden Gewühl des Lebens, unter den sich drängenden Menschen, die ihm auswichen, hinter dem Meßner, der ihn in einiger Entfernung erwartet hatte und sich ihm anschloß und Platz machte, daß er hindurchkonnte zur Sakristei, war sein Sein das, was nach einem griechischen Dichter wir alle sind, nicht ein Schatten nur, nur eines »Schattens Traum«.

Bei alledem sprach ihm, als er sich umkleidete, sein Gewissen: Hast du dich nicht von deinem persönlichen Interesse fortreißen lassen? Blieb nicht ein Vorhaben zu wenig eingestanden, das viel wichtiger ist, als jenes Blatt Papier? ... Wickert war ein Bundesgenosse Hammaker's ... Eine Feuersbrunst stand vor seinen Augen und wollte nicht weichen ...

Benno holte ihn ab, um ihn in seine Wohnung zu begleiten und von ihm Abschied zu nehmen ...

Was mußte nicht alles sein Mund verschweigen!

Er wußte nicht, was ihn bestimmte, zu sagen:

Seid auf Schloß Westerhof nur wachsam! Tag und Nacht haltet doch Obhut! ...

... Wie bangte er der Hoffnung entgegen, die Räthsel jenes Sarges von St.-Wolfgang gelöst zu sehen!

6.

Piter's Gesellschaftsabend rückte näher ...

Eine Aenderung seines Programms durch die mit Delring und seiner Schwester Hendrika stattgefundene Scene konnte man »von ihm nicht verlangen«.

Selbst seine Mutter und seine andern Geschwister waren schon zu weit in den Zurüstungen ihrer Toiletten vorgeschritten, als daß eine so bedenkliche und für alle daran Betheiligten tief erschütternde Wendung der Dinge, wie Delring's Austritt aus dem Geschäft und die Aufgabe seiner Wohnung im schwiegerälterlichen Hause, etwas darin hätte ändern können. Die Commerzienräthin weinte zwar bittere Thränen, aber sie hütete sich wohl, daß eine derselben auf die schweren silbergrauen Moiréestoffe fiel, welche sie täglich zweimal bei ihrer Schneiderin anpaßte. Die Equipagen ihres Hauses sowol wie die des Procurators rasselten durch die Straßen mit einer Eile, als könnten plötzlich in der Stadt alle schinirten Sammete, aller Gros de Naples, alle Stoffe zu Borduren und Blonden aufgekauft werden.

Die obern Zimmer blieben von Hendrika Delring für den Abend verweigert. Piter hatte dort eine »Retraite« für seine Freunde arrangiren wollen, wo sie in gemüthlicher »Nonchalance« sich gehen lassen konnten; er wollte, das war seine Idee, höchsten Salon und tiefsten Austernkeller für jenen Abend vereinigen. Gesang und »geistreiches« Gespräch sollte die Cigarre und einen kleinen »Ulk« nicht ausschließen. Die Wendeltreppe eignete sich so prächtig für diese gemüthliche Mischung! Indessen war dies Arrangement nicht zu ermöglichen und Johanna, seine jüngste Schwester, seine älteste, Josephine, die Frau Oberprocurator, sämmtliche Hausfreunde gaben Pitern diesmal unbedingt Recht, wenn er von einem »denn doch kolossalen« Eigensinn sprach, und nur seine von ihm gebrauchten Kraftausdrücke ängstigten sie, besonders vor Fräulein Lucinden, deren hohe Bildung und schüchterne Sittsamkeit täglich hier im Hause Redensarten zu hören bekam, die sie bei soviel Frömmigkeit nicht hätte voraussetzen sollen.

Nur vor Dominicus Nück hatte Piter einige Furcht. Dieser Sonderling war noch immer im Stande, ihn zuweilen wie einen zehnjährigen Knaben zu behandeln. Eine Bürgschaft für den Bestand des Geschäfts konnte dem klugen Manne Piter's Alleinherrschaft nicht erscheinen. Letzterer ahnte das und besorgte Erklärungen, um so mehr als Nück schon lange ein Gegner dieser projectirten Gesellschaft war. In Sack und Asche sollten wir gehen, hatte er zu seiner Frau gesagt, und dieser Mensch thut den Neunmal-Weisen den Gefallen und will illuminiren lassen! ... Seine Gattin hatte seit lange keine so wortreiche Unterhaltung mit ihm geführt. Sie hätte schon um dieser seltenen Vertraulichkeit willen auf ihres Gatten Zorn über den »dummen Jungen«, wie Piter schon eine hübsche Reihe von Jahren bei ihm hieß, eingehen sollen; aber die Höhe ihrer Volants an einer wundervollen Rosatoilette nahm sie so in Anspruch, daß sie nur immer das Rauschen ihres Eintritts in den Salon hörte und den Moment bedachte, wo sie sich an dem festlichen Abend zum erstenmal niederlassen würde, nicht zu nahe am Ofen und nicht zu dicht unterm Kronenleuchter; denn die Arme litt bei solchen Abenden an einem krankhaften Echauffement und hatte dann vor Zorn über sich selbst und den Schöpfer, der sie ins Leben gerufen, schon manchen kostbaren Fächer zerknittert, dieser Röthe gedenkend, die ihr die Stirn, die Nase und besonders die Ohren mit einer unheimlichen Ziegelsteinfarbe überzog.

Die »Religion« war in der That einige Tage lang im Kattendyk'schen Hause suspendirt. Piter bekam in allen Punkten Recht, selbst wenn er seine Meinungen des Tages einigemal wechselte und sich selber widersprach. Auch ein ganz besonders maliciöser Antagonist gegen ihn fehlte glücklicherweise, der außerordentliche Professor Guido Goldfinger, Johannens Verlobter, der erst zu dem Gesellschaftsabend selbst ankommen wollte. Dieser junge Mann machte mit einer glänzenden Heirath sein Glück, war aber für dies Glück von seinem Vater, dem Medicinalrath, förmlich erzogen worden. Gerade die Sicherheit seines Benehmens gab ihm den außerordentlichen Vorsprung bei der Mutter und bei Johannen. Auf der vielfach angedeuteten Universität lehrte er Naturwissenschaften vom rechtgläubigen Standpunkte. Er bewies wissenschaftlich, daß es Pflanzen gäbe, die die Marterwerkzeuge in ihrem Kelche schon von Anbeginn ebenso hätten tragen müssen, wie die Propheten bereits von allen Einzelheiten im künftigen Leben des Messias wußten. An einer »Heiligen Botanik«, schrieb er, in der alle in der Bibel vorkommenden Pflanzen in alphabetischer Reihenfolge behandelt wurden. Wenn sein kurzes, schneidendes Wesen in den Abendgesellschaften (von seinem von drei bis vier Zuhörern umsessenen Katheder kam er wöchentlich einmal herüber) Pitern gegenüber Stickstoff, Sauerstoff, Polarität und ähnliche schwierige Fragen zu sehr accentuirte und darüber Piter »unangenehm« wurde und vor solchen »Kindereien, die er sich schon in der Schule abgelaufen hätte«, sich nicht im mindesten zu ängstigen erklärte, falls der Professor ihn rundweg anfuhr: »Das verstehen Sie nicht!« so sagte der alte Sänger Ignaz Pötzl, indem er dann einmal von den Bologneserhündchen die alten magern, sie streichelnden Hände abließ, mit halblautem Seufzer: »O Ysop, Ysop! wann wirst du an die Reihe kommen!« Darunter verstand Pötzl, wie alle Anwesenden aus dem engern Familienkreise wußten, den letzten Artikel der »Heiligen Botanik«; denn erst mit dem Abschluß dieses großartigen Werks, das auf Kosten der Commerzienräthin gedruckt werden mußte, sollte die Hochzeit stattfinden. Leider stand der Professor erst bei der Wurzel Jesse, bei der er sich, wie er mit sardonischer Galanterie hinter seiner blauen Brille hervor Johannen zuflüsterte, deshalb so lange aufhalten müsse, weil ihn zu sehr der Buchstabe I fesselte.

Am empfindlichsten war Pitern der Eindruck, den sein Bruch mit Delring auf Treudchen machte. Sie selbst hatte der Scene nicht beigewohnt, nach der sich ihre Herrschaft in den Beichtstuhl des »neuen Heiligen« Bonaventura von Asselyn flüchtete, aber sie erfuhr alles Geschehene, als sie von einem Einkaufsausgang nach Hause kam. Lucinde hatte ihr schon lange den Rath gegeben, Pitern etwas zu tyrannisiren. So oft er ihr nun seitdem auf der Treppe begegnete, wobei eine rasche Handbewegung, manchmal das Verlangen, ihm einen Knopf am hingehaltenen Hemdärmel sofort auf der Treppe anzunähen, schon zur Gewohnheit geworden war, zeigte sie ihr Schmollen. Piter hatte jetzt nur zu viel mit seinem »Programm« zu thun, sonst würde ihm dies Ausweichen unerträglich gewesen sein. Schon weckte er durch seine Leidenschaft Spott und »Hohngelächter« und Zweifel des Neides, besonders bei den stillen Charakteren Weigenand Maus und Aloys Effingh, die schon vor längerer Zeit über seine Entzückungen die harmlosen, aber bedeutsamen Worte fallen ließen: Nur nicht zu üppig, Kattendyk! ...

Lucinden schonte Piter um Treudchens willen. Auch sprachen ja Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge mit einer höchst respectvollen Scheu von der Gesellschafterin seiner Mutter. Benno war zu gewissenhaft, um die für Bonaventura's Lebensstellung nicht passende Leidenschaft Lucindens zu verrathen. Auch mußte er anerkennen, daß durch die fast schimpfliche Entfernung aus der Dechanei Lucinde vollkommen berechtigt war, auch ihm gegenüber jenen Humor aufzugeben, dessen Ausbrüche ihn erst dämonisch abgestoßen, zuletzt gefesselt hatten. Die Wahrheit des einen Wortes, das Lucinde Benno beim ersten Begegnen am Theetisch der Frau Walpurga zugeflüstert hatte: »In Kocher am Fall hab' ich Bitteres erlebt!« durfte er nicht anzweifeln. Wohl bemerkte sein scharfes Auge, daß Lucinde auch hier schon mit dem ganzen Hause und den Schwächen desselben spielte; aber Koketterie war es nicht, als sie ihn eines Abends bat, sich ihres vernachlässigten Latein anzunehmen; sie wolle, sagte sie, die Bekenntnisse des Augustinus, die Geschichte seines Lebens-Trahimur, in der Ursprache lesen. Zu Thiebold's Erstaunen über dies »Zauberweib« kaufte ihr Benno ein Lexikon, verschaffte ihr Uebungsbücher und mußte sich gestehen, daß die Art, wie sie ihm dafür das Geld schickte und ihren Dank in einem Briefe bezeigte, einen graziösern Geist verrieth, als er ihrer Schroffheit zugetraut hatte. Das Geld kam auf der »Schreibstube« Nück's an und war dort in seiner Abwesenheit dem Principal übergeben worden. Als Nück die Veranlassung dieser Geldsendung aus dem Kattendyk'schen Hause erfuhr und mit eigenthümlich zwinkernden Augen auch den ihm von Benno dargereichten Brief gelesen hatte, erfuhr letzterer, daß die Wirkung, die Lucinde hervorbrachte, immer allgemeiner wurde. Wo man nur auf das Kattendyk'sche Haus zu sprechen kam, wurde nach Lucinden gefragt. Schön erschien sie allen, den Frauen etwas unheimlich. Auch Männer brauchten zuweilen den Ausdruck, sie hätte zu viel Geisterhaftes. Nur über ihre beispiellose Frömmigkeit waren alle übereinstimmend. Eines Tages erfuhr Benno von Thiebold, daß Nück an dem seit einiger Zeit häufiger von ihm besuchten Theetisch seiner Schwiegermutter Lucinden halblaut ein Wort gesprochen hätte, das dieser die seit einiger Zeit immer nur bleichen Wangen purpurn überfärbte. Es war von einer schon zunehmenden Gewöhnung Lucindens an das Leben im Hause und in der Stadt die Rede und von ihrer frühern übergroßen Verschüchterung. »Sie sind eine Jerichorose!« hatte Nück geflüstert. Thiebold verstand diese Vergleichung nicht. Im Benno wollte er »nachschlagen«, was sie bedeute. Als ihm Benno die Erklärung gab: Eine Jerichorose ist ein rankenartiges Gewächs mit einer wunderbar gestalteten und duftenden Blume, die zeitweilig ganz ledern, welk und verkommen aussehen kann, legt man sie aber in heißes Wasser, so quellen ihre Blätter auf und sind, wenn sie auch seit Jahr und Tag vertrocknet schienen, plötzlich wieder so frisch, als wenn die Blume zum ersten mal blühte ... da wetterte Thiebold über den Außerordentlichen, der gerade zugegen gewesen war und die Jerichorose nur »lateinisch«, d.h. gelehrt gefaßt und gesagt hätte: Die heilige Botanik hat es mit zweierlei Jerichorosen zu thun. Die eine ist die der Legende: Maria auf der Flucht nach Aegypten steigt von dem Esel und da, wo ihr Fuß den Wüstensand berührt, sprießt die Jerichorose auf. Die andern sind diejenigen Rosen von Jericho, die bei Sirach vorkommen in der für die heilige Botanik so classischen Stelle ... Viel lieber hätte Thiebold gewünscht, man hätte verweilt bei der vollständigern Beziehung dieser Vergleichungen auf ein Wesen, das für die ganze gebildete Gesellschaft der Stadt immermehr einen eigenthümlich verschleierten Reiz gewann.

Der verhängnißvolle Festtag erschien ... Die Vorbereitungen zu dem Abend sistirten bei Pitern den ganzen geschäftlichen Ex- und Import. Heute galt es den Triumph seiner durchbrochenen Mauern, neugeschaffenen Kamine, portièrenverdeckten Thüren. Auch hatte er schon in der Dienerschaft seit lange manche Reformen angebahnt. Die alten hatte er zwar nicht entfernen können, aber sie für den einzuführenden bessern Ton »unschädlich gemacht«. Kathrine Fenchelmeyer behauptete sich in der Küche, trotzdem daß Thiebold eines Abends gesagt hatte: »Eigentlich mit Geist kochen kann nur ein Mann!« eine Behauptung, worüber ein fünfstündiger Streit unter den Freunden entstand, der für Pitern so interessant und anregend wurde, daß er sich das neue Buch »Geist der Kochkunst« kaufte. Ueberhaupt gab er viel Geld für diejenige Literatur aus, die ihm in schönen Einbänden hinter einem Glasschrank zu besitzen nöthig schien, um jenes gewisse Etwas eines der Kaufleute zu gewinnen, die so »merkwürdig beschlagen« sind in allem, was die Zahl der Stecknadeln anbetrifft, die eine birminghamer Maschine in einer Stunde hervorbringen kann. Auf jedes Buch, das für Delring's Bibliothek vom Buchhändler im Comptoir abgegeben wurde, setzte er ein anderes und nicht immer Werke über Cavalierperspective, »Diätetik der Seele«, Blumauer's »Aeneide«, die »Jobsiade« und ähnliche classische Schriften, die unter den Freunden bewundert wurden, auch Mac Culloch und Reisebeschreibungen in Vorder- und Hinter-Asien. Kathrine hatte für den Abend einen Koch zu Hülfe genommen – Piter entließ sie nicht, weil unter den Freunden trotz aller Bewunderung vor den Speisen, die man in Paris bei Véry finden konnte, feststand, daß Sauerkraut, Erbsen und Dürrfleisch nirgends so »famos« zubereitet wurden, wie bei ihm. Auch über die richtige Art, den Wein einzuschenken, trug im kleinen Kreise Joseph Moppes manchmal förmliche Abhandlungen vor. Wehe den neuen Dienern oder den am Freitag zu Dienern avancirenden Hausknechten – auf die engagirten Lohnbediente war eher Verlaß – wenn sie beim Einschenken der Weine nicht der Theorie entsprachen, die Piter ihnen kurz vor Eröffnung der Flügelthüren noch einschärfen wollte. Ob ihn die Scrupel wegen der »trauernden Religion« nicht bestimmen sollten, daß die Diener sämmtlich schwarzbaumwollene Handschuhe statt weißer anzogen? In dem Austernkeller neulich hatte man diesen Piter'schen Gedanken erst bewundert, dann ihn aber doch fallen lassen. Weigenand Maus hatte sogar gesagt: »Wehe dem Kaufmann, der überhaupt Religion hat!« – »Sie meinen eine andere Religion, als die des ehrlichen Mannes?« polterte Thiebold auf, der an seine »vorhabende« Beichte dachte. Gebhard Schmitz, der Dialektkünstler, um etwaigem »Streite« vorzubeugen, fiel mit einem allgemeine Acclamation erweckenden Worte ein: »Meine Herren! Ich sage, wehe dem Kaufmann, der jetzt eine andere Religion hat, als die jüdische!«

Piter stand nun wie Napoleon vor einer Schlacht. Er hatte sich auf alles vorbereitet, sogar das Verdrießlichste, auf Absagebriefe. Sein lebhafter Geist sah sogar sämmtliche Lampen nicht brennen, hörte Cylinder zerspringen, hörte stockende Gespräche. Aber er suchte allem zu begegnen durch Reservevorräthe; sogar von Anekdoten hielt er sich ein kleines Lager in Bereitschaft. Aus dem »Demokritos« hatte er sich einige Bonmots gemerkt, manche feine Antwort memorirt, die er anbringen wollte, wenn es seinem rastlosen Ehrgeize gelang, irgendwo die ihr entsprechende Frage zu provociren. Die ganze Stadt wußte den Vorfall mit Delring. Wie hatte er da die Arme zu verschränken und sich hinzustellen als die sturmfeste Mitte eines großen Ganzen! Und diese mindestens in zwanzigfacher Anzahl kommenden jungen Mädchen, denen er zeigen wollte, was ein »Herr der Schöpfung« ist! Sein Bärtchen war allerliebst gefärbt, das dunkelblonde Haar unternehmend gebrannt, die Hemdauslage zeigte das kunstvollste Steppmuster. Sie hätte Thiebold entzücken müssen, der zu sagen pflegte: »Was bei den alten Griechen, wie Benno von Asselyn versichert, einst die Bäder gewesen sind, das ist bei uns die weiße Wäsche.« Nur Piter's Schneider ließ ihn mit einem fast auf dem Leib ihm angenähten Frack noch bis sechs Uhr warten. Fast war er das Atelier des Mannes geworden und seine Haut nahe daran, durch das gewissenhafte Probiren mit festgenäht zu werden. Aber um sechs Uhr konnte er »auf Ehre und Seligkeit« die Ankunft des Frackes gewärtigen. Das ganze Haus war geheizt, sogar die unten durch Glas verschlossenen, teppichbelegten, blumengeschmückten Treppen. Nur so auch konnte es geschehen, daß Piter von drei Viertel auf sechs Uhr an in Hemdärmeln Trepp' auf Trepp' ab lief.

Berechnend, ob das zu frühe Anzünden der vielen Kronenleuchter und Wachskerzen nicht zu zeitig dürfte »Friedland's Nacht« eintreten lassen, durchschritt er die öden, fast gespenstischen Zimmer, leise verfolgt von einigen bereits gekommenen Lohnbedienten, die sich nützlich machen und Vertrauen erwecken wollten ... Die Mutter, die Schwester waren noch tief in ihrer Toilette zurück ... auch Fräulein Schwarz war nirgends sichtbar .... Treudchen Ley's Erscheinen ließ sich in keiner Weise voraussetzen ...

Wie fehlte ihm diese holde Ermunterung! Wie sehnte er sich nach einem Druck ihrer weichen Hand und ihrem gewöhnlichen: »Ach, Herr Piter –!« Wie erschöpft war er bereits von den Anstrengungen des Tages!

Guten Abend, Kattendyk! lautete es hinter ihm her, als er sich eben lässig in einen seiner neuen Fauteuils warf ...

Es war Joseph Moppes ... Bester! Haben Sie etwa Weiß aufgelegt? Sie sehen ja gottsjämmerlich aus! sagte der Freund und ging mit Noten rasch vorüber in die hintern Zimmer ...

Finden Sie das? antwortete Piter hinter ihm her. Mit Apathie stand er auf und betrachtete sich beim Schein des Lichtes, mit dem er die Zimmer durchmusterte, in einem oberhalb eines seiner neugebauten und heute zum ersten mal probirten, leider etwas rauchenden Kamine angebrachten Spiegel ...

Ich kenne das an solchen Abenden! Nehmen Sie doch einen kleinen Cognak! rief Moppes von hinterwärts her. Moppes legte mit diesen Worten auf das Pianoforte die Noten zu dem projectirten »Bouquet« des Abends ...

Piter gefiel sich außerordentlich im Spiegel. Er fand sein languish interessant und bewunderte seine weißseidene Cravatte, seine weißseidene geblümte Weste, die gesteppte Brustauslage mit blitzenden Brillanten .... Aber wirklich er war zu blaß und zog deshalb an einem Schellenzuge und ließ sich einen kleinen Cognak kommen. Jedem andern würde er gesagt haben: Au contraire! Ein Glas Wasser wird mir gutthun! ... Seinen Freunden trotzte er nicht. Ihnen nicht, die immer so recht das trafen, was dem Manne ein schmeichelhaftes Lustre gibt ...

Sie haben Recht, Moppes! sprach er hinhauchend und immermehr beruhigt über die Epoche machende Wirkung dieses Abends ...

Der kleine Cognak kam. Piter trank ihn. Moppes rückte und schob hinten am Pianoforte ...

Auch der Frack kam. Der Schneider brachte ihn nicht selbst; der Arme ruhte erschöpft auf seinen schwer errungenen Lorbern. Aber der Frack saß vortrefflich. Jetzt gedachte Piter liebevoll auch seines Freundes, der im Dunkeln die Arrangements für die musikalischen Genüsse traf, und rief mit elegischer Gelassenheit:

Stoßen Sie sich doch nicht, Moppes! ... Donnerwetter, brüllte er dann; steck' doch einer für drinnen Licht an!

Alles rannte ...

Teufel! schrie er wieder. Nicht den Kronenleuchter!

Alles zitterte und nur eine Girandole von drei Kerzen wurde angesteckt ...

Piter sah sich im Spiegel und äußerte:

Joseph soll doch auch für Moppes – oder warum denn nicht lieber gleich – Joseph soll die ganze Cognakflasche schicken!

Inzwischen rief Moppes:

Bester Freund, das Feuer hier lassen Sie nur ausgehen! Denn erstens wird es schon von der Beleuchtung formidabel heiß und zweitens werden die Menschen eine Höllenhitze geben! Wir bedanken uns, in einer solchen Atmosphäre zu singen! Ohnehin muß ich heute verdammtermaßen Katarrh haben!

Piter hatte sich zwar sehr auf den malerischen Effect der Glut von den feinsten entschwefelten Candlekohlen etwas eingebildet – worauf bildete er sich nicht etwas ein! – doch goß er näher tretend ganz gern eine der nächststehenden Wassercaraffinen, die er hier und da mit einem Kranz von Gläsern hatte aufstellen lassen, geradezu in die Störung der berühmten Quartette hinein. Nun gab das freilich einen nicht angenehmen Dunst, der sich mit Entschiedenheit dem unzweifelhaft sehr rauchigen der Kamine anschloß. Moppes riß darüber voll Zorn die Fenster auf; aber Piter bat mit einem gewissen schmachtenden Ton um Verzeihung und lachte innerlich, er wußte nicht worüber. Er schenkte sich und dem Freunde von dem inzwischen gekommenen Cognakvorrath eine fernere Herzstärkung ein ... Warum wollt ihr denn nicht hinten im Saal singen, ihr lieben Leute? fragte er mit einer träumerischen Gelassenheit und dabei hin- und herziehend an seinem Frack und sich am Knacken der Nähte erfreuend ...

Ein Männerquartett bedarf eines engern Raumes! Wir singen ohnehin Schweizerecho! Hier etabliren wir uns!

Damit ordnete Moppes einen Tisch und legte viele andere schon vorausgeschickte Noten zurecht ... Immer räuspernd und seinen Katarrh verwünschend lehnte er den Bescheid auf den ihm servirten Cognak ab, was Pitern nicht hinderte, sein zweites Glas zu nehmen und es zu leeren auf das classische Gelingen des von Moppes entworfenen musikalischen Programms ... Auch kam eben ein großer Kasten an mit einer Ventiltrompete, die ein berühmter Künstler blasen sollte ... Auch das Pianoforte, zur Begleitung der gegenwärtigen Primadonna des Stadttheaters, wurde von Moppes anders gerückt und gerade so, wie es heute früh Piter's Schwester, Johanna, die musikalisch war, für zweckmäßiger erachtet hatte. Ihr hatte Piter gesagt, daß sie sich erstens nicht lächerlich machen möchte und das Publikum ennuyiren mit ihren hundertmal gehörten Etuden, dann aber, daß sie den Flügel ruhig da stehen lassen sollte, wo er ihn hingerückt hätte, allen Widersprüchen über Schallwirkung und Resonanz mit brüderlicher Liebe ein einfaches: »Raisonnir' nicht!« entgegensetzend. Moppes aber bestätigte gerade das, was Johanna Kattendyk gesagt hatte. Still für sich hin empfand Piter eine Art Beschämung und mußte lächeln – nämlich über die Autorität, die er selbst in verkehrten Dingen hatte. Er war in der That ein Tyrann. Das schmeichelte ihm und befriedigt nahm er einen dritten Cognak.

Moppes plauderte viel Gutes über die Sängerin. Sie war eine jener Provinz-Malibrans, die niemand mehr zu würdigen wußte, als Löb Seligmann. Fünf Louisdor bekam sie für den Abend und Piter beschloß, ihr sechs zu schicken. Die Sängerin war berühmt in der Kunst, bockgerechte Triller zu schlagen. Ihre Stimme gab man auf, aber man rühmte ihre »Schule«, besonders die Kunst, in einem Septett in die Untiefen eines spurlos verlorenen Ensembles mit einem einzigen muthig eingesetzten hohen Cis Hülfe und Rettung zu bringen. Ausdrücklich bedungen war die Arie: »Ocean, du Ungeheuer!« aus Weber's »Oberon«.

Piter nickte zu allem, lächelte, schlänkelte, auf einem Stuhle sitzend, mit den zierlichen Beinen und spielte mit dem Krystallstöpsel der schöngeschliffenen Cognakflasche ... Die Sehnsucht nach der achten Stunde sprach sich in einem gewissen Blicke aus, der wie der eines Sehers in die Flammen eines inzwischen nun doch »zur Probe« angezündeten Kronenleuchters gerichtet war. Er gedachte vielleicht, als Moppes von jener Arie sprach, Pyrmonts und was sonst schon auch für ihn im Leben »ungeheuerer Ocean« gewesen war ...

Moppes befand sich noch nicht in Toilette. Seine Hingebung an Piter's Abend war bewunderungswerth. Bekanntlich war der erste Küfer seines Hauses, Stephan Lengenich, als Unruhstifter eingezogen und nicht unwahrscheinlich hatte sich Joseph den Katarrh in den Kellern seines Hauses geholt. Ihn sich in der Hand mit dem Stechheber unter den Fässern zu denken, hinderte an dem ihm schuldigen Respect nicht das Mindeste. Sechs weiße Zwillichhandschuhe griffen gleichzeitig nach der Thür, um sie Herrn Moppes junior zu öffnen, als dieser ging. Er entschlüpfte einem ihm nachgerufenen sentimentalen: Komm nicht zu spät! und ließ nur noch das Wort zurück, das er auszurichten fast vergessen hätte, Thiebold de Jonge würde nicht kommen, mit Benno von Asselyn wäre er heute früh abgereist ...

Piter, auf Absagen vorbereitet, fand die Nichtachtung seines Abends gerade von dieser Seite doch »sonderbar« und erhob sich in gereizter Stimmung. Aufs neue einschenkend, wenn auch nicht trinkend, nahm er, um seinen Aerger zu verwinden, die Heerschau über seine Truppen ab. Er hätte eine Armee commandiren können, so mächtig rollte es durch seine Adern. Seine imperatorischen Anweisungen gingen auf die Beleuchtung, auf die Bedienung beim Thee, auf die Stille während der Musik, auf die Tische der Whistspieler in einem der hintersten Zimmer, auf das Arrangement der kleinen Gruppen, denen das Nachtmahl zu serviren war, und vorzugsweise auf die Vermeidung aller plumpen Formen des Einschenkens. Obgleich die Zuhörer zu allem, als wenn sein Gesagtes sich von selbst verstünde: Ja wohl, Herr Kattendyk! erwiderten, konnte er doch nicht umhin die Moppes'sche Theorie mit Feuer zu wiederholen:

Einschenken und einschenken ist ein Unterschied! rief er. Der Stand des Herrn und Dieners unterscheidet auch die Art, wie man die Flasche angreift! Beim Beginn eines Diners oder Soupers, aufgepaßt, greift der Herr, wie der Diener, die Flasche immer am untern Leibe an! Verstanden? Der Herr legt – alles das machte er an der etwas schwierigen Form der Krystallflasche nach – den Zeigefinger bis an die Taille der Flasche, das ist sein Vorrecht! Untersteh' sich das jedoch von euch Niemand! Verstanden? So darf Ich einschenken – tretet heran! – Ich als Herr! Ruhe! Mit dem Zeigefinger darf ich die Flasche drücken! Das bedeutet Nonchalance, »Gerngegeben« und eine gewisse Mäßigung, gleichsam als wollt' ich sagen: Es kommt weder mir noch meinen Gästen darauf an, ob sie Wasser oder Lafitte trinken! Ihr aber – Ihr habt den Zeigefinger an die andern drei Finger hinüberzulegen; sonst sieht's aus, als wenn ihr euch hier zu Hause fühlt ... Das war früher so, Joseph, – laßt den Alten vor! Guten Abend, Joseph! –, früher, wenn Vater Gesellschaft gab! Verstanden? Diese Vertraulichkeit von Dienstboten: »Bitte, Herr Timpe oder bitte Herr Schmitz oder bitte Herr de Jonge, greifen Sie doch zu! Warten Sie, Herr Effingh, ich hole Ihnen noch ein Stück Rehrücken! Oder: Nehmen Sie das, Herr Maus, das ist ein hübsches Mittelstück!« Und dann so hineinlangen, Joseph, und wol gar Herrn Moppes selber etwas vorlegen! Joseph, Joseph, Joseph! Die Zeiten sind gewesen, Joseph! ... Und den Hals einer Flasche greift ein Diener nie an! Nie! Nie!

Ja wohl, Herr Kattendyk! rief der Chor im stürmischen Einklang ...

Alle diese Bemerkungen hatten, da sie durch energische Demonstrationen unterstützt werden mußten, naturgemäß das Leeren eines vierten der allerdings nur kleinen Gläser zu Wege gebracht ...

Eben war Piter im Begriff, seine ihm inzwischen vogelleicht gewordene, wie mit Schwingen begabte luftige Gestalt noch einmal die hintere Wendeltreppe hinaufzuschnellen, als die Diener die Thüren aufrissen und einen Mann eintreten ließen, von dem allen bekannt war, daß er in die vornehmsten Gesellschaften, auf Bälle, Diners und Soupers immer nur im grauen Ueberrock kam, Herrn Dominicus Nück.

Eine gedrungene, breitschulterige Gestalt war es, anfangs der Fünfziger, mit grauem, kraus verworrenem Haar, das in der Mitte eine kleine Glatze zeigte. Die starken Backenknochen, Schläfe, Kinn, alles bezeugte eine gewaltige Kraft, die durch eine scheinbare Lässigkeit gemildert wurde. Die dunkelbraunen Augen lagen in den von langen, fast zottigen und gleichfalls schon ergrauten Brauen beschatteten Höhlen mit einem unheimlich und tief versteckten Feuer. Die Haut des Antlitzes war von Blatternarben entstellt. Nück mußte sich jeden Morgen selbst rasiren; die Barbiere hatten eine zu gefährliche Operation, um mit ihrem Messer durch die vielen Hügel, Verhacke und Versenkungen seines Gesichtsterrains hindurchzukommen. Und doch gab es einige Zierlichkeiten an dem vielgefürchteten Manne. Kleine Füße, weiche Hände, ja sogar unter dem immer gleichen grauen Ueberrock mit silbernen Knöpfen nur weiße Westen und über diesen weiße Battisthalstücher, weit und bauschig um den Hals geschlungen, diesen Hals, der allerdings empfindlich sein durfte nach dem bekannten Verhältniß mit Hammaker.

Nück sah sich spähend um und erwartete wahrscheinlich seinen jungen Schwager noch nicht zu finden, der eben einige Körbe voll Wein von einem der in Livree gesteckten Hausknechte noch in die hintern Zimmer tragen lassen wollte, wo bereits die zahllosen Gläservorräthe aufgehäuft waren. Piter hatte sich nach dem Vorfall mit Delring vor dem Wiedersehen des Schwagers gefürchtet. Da der Schwager aber auch gegen diesen Gesellschaftsabend gewesen war und dennoch eben in eigener Person erschien, faßte er Muth und begrüßte ihn mit einer schmunzelnden Vertraulichkeit ... Nück, der ihn nicht erwartete, fuhr fast vor ihm zurück und sagte im Volksdialekt der Stadt: Guten Abend, Piterchen!

Nück's Cynismus ging bis zur Verachtung aller Bildung, durch deren Geringschätzung er viele Menschen um so zutraulicher machte. Selbst vor Gericht sprang er oft, zum Jubel der Zuhörer, in den Volksdialekt über, wo ihm der Sieg dann fast nie fehlschlug. »Wir Gelehrte« betonte er den Proceßführenden nie anders, als ob er damit sagen wollte: Wir Esel. Bei alledem vernachlässigte er nichts, was zur Bildung gehört. Er kaufte Bücher und las sie sogar. Er schrieb vortreffliche Broschüren über die gelehrtesten Fragen des Privat- und Lehnrechts und las Nachts oft bis zum frühesten Morgen – wer sollte es glauben – Romane. Dann schlief er bis elf Uhr und eilte in seine Termine. Eine Gewohnheit, die er vor längern Jahren einmal angenommen hatte, Tag in Nacht und Nacht in Tag zu verwandeln, konnte er nicht durchführen; zwei Jahre lang war das Mittagessen sein erstes Frühstück und das Nachtessen sein Mittagsmahl gewesen.

Sind das deine Reservebataillone? sprach er im gemüthlichsten Schlendrian und mit Belächeln der glänzenden Vorrichtungen und der nun schon immer vollständiger sich entwickelnden Beleuchtung ...

Piter, entzückt von der friedlichen Gesinnung des ihm zuweilen so aufsätzigen Schwagers, offerirte von diesen Bataillonen und schenkte vom feurigsten Burgunder eine vorläufige Vedette ein ...

Nück bemerkte davon nichts ... Er bürstete seinen Hut, der heute sogar ein neuer war, und sah nur nach rechts und links, horchte und spähte, ob außer Pitern und den Dienern nicht vielleicht sonst jemand in den glänzenden Zimmern war ...

Dies Benehmen nahm Piter für aufrichtigste Zustimmung und offerirte die Gläser zum Anstoßen.

Jetzt aber nahm Nück doch eine feierliche Miene an und sagte mit einem nicht unangenehmen Organ:

Piter, Piter! Eine Schande! Freude und Jubel hier, wo die Welt in Trauer lebt!

Aber schon blätterte er dabei in den Noten und schien so abwesend, daß Piter diesen Gegenstand für abgemacht erklären konnte und dem Schwager wiederholt sein Glas Burgunder anbot ...

Nück lehnte nicht ab. Er nippte ein wenig. Piter, glückselig, sich heute nicht als Knabe von dreizehn Jahren, sondern als Mann und vollkommen ebenbürtig behandelt zu sehen, schüttete sein ganzes Glas hinunter ...

Mama noch bei der Toilette? fragte Nück forschend und bemerkte jetzt, daß Piter von einer eigenthümlichen Elasticität war. Piter hielt sich, da die Dinge dieser Erde ihm plötzlich etwas wirblich zu werden schienen, an einer Stuhllehne ...

Recht, mein Sohn! sagte Nück, der jemand, den er offenbar zu suchen schien, nicht fand und sich entfernen zu wollen die Miene machte; Recht, daß du in deinen Leiden dich tröstest!

Leiden? Wie so?

Verlierst oben die schöne Nachbarschaft!

Hahaha! ... lachte Piter hell auf und schenkte wieder ein ... Das ängstliche Kapitel wegen Delring behandelte ja der Schwager ganz harmlos ...

Nück's Augen gingen wie Feuerräder. Beim kleinsten Geräusch sah er auf die Eingangsthür ...

Da die Bediente nicht zu nahe waren, ließ er die Worte fallen:

Mit Delring ... hör' mal ... Das ist ja ein curioser Spaß von dir!

Von mir? Wie so? fragte Piter trotzig und griff mit der linken Hand in den Ausschnitt seiner Weste und mit der rechten zum Glase ...

Nück schien sich nicht im mindesten ärgern zu wollen. Er machte sogar Miene schweigend wieder zu gehen. Dennoch konnte er nicht umhin, noch fallen zu lassen:

Delring – hm – austreten? Piterchen, Piterchen! Welche Garantieen gibst du denn deinen Geschwistern?

Garantieen?

Delring glaubst du, geht nach Bremen und wird da ein Geschäftchen mit Cigarren oder Europamüden etabliren? Ich meine, er bleibt doch wol hier, fängt ein eigen Geschäft an, nimmt unsere besten Verbindungen mit; Farbhölzer sind seine Lieblingsbranche; die Lederhändler von Malmedy besucht er persönlich – Wie gesagt, ich dächte, es wäre besser – es bliebe beim Alten und die kleine allerliebste Blondine kochte dir nach wie vor Kamillenthee, wenn dir schlecht ist, Piterchen –

Spott verbitt' ich mir! rief Piter und griff zur Flasche, um einschenkend zu zeigen, daß der Schwager mit einem Manne sprach ...

In der That! Ein gemüthlicher Junge warst du von je! fuhr Nück ohne Schonung fort. Und zum Berge Karmel ließ' ich das hübsche Ding an deiner Stelle doch auch nicht so oft gehen! Pfarrer Rother entdeckt so viel Sünden an ihr, daß er vorzieht, ihr jetzt die Beichte bei sich zu Hause abzunehmen!

Piter hätte sein gefülltes Glas jetzt nehmen und es vor Zorn über eine Thatsache, die ihm selbst schon lange höchst befremdlich war, an den Kamin werfen mögen ...

Die Splitter und die schönen gelbseidenen neuen Sessel bedenkend, trank er es lieber aus, setzte es dann aber kräftiglich auf den Sims und stand wie ein Löwe ...

Nück brach ab von diesem reizbaren Gegenstande und kam nur auf seine Besorgnisse wegen Delring's Austritt zurück ...

Gib dem Hofrath ein gutes Wort! sagte er ...

Nimmermehr! antwortete Piter, versöhnt durch ein Stichwort auf den Schwager ...

Ich will es statt deiner thun! Du weißt, ich bin sonst kein Freund von dieser geleckten Sorte –

Ich verjag' ihn ja nicht!

Dir wär' es lieber, er lebte dir nahe genug, um dich immer bewundern zu können! Indessen – Piterchen – ich trau' dem Zeitgeist nicht –

Wie so?

Unserm ganzen Jahrhundert nicht! Wenn ihr einmal alle so dasäßet, ihr altehrwürdigen Firmen, mit ein paar Commissionen und Speditionen und zuletzt trotz eurer Alongenperrüken nichts weiter hättet, als ein paar Feuerversicherungsagenturen –!

Hahaha! Kommt bei uns nicht vor! versicherte Piter und wurde immer sicherer durch die gemüthliche Sprache des Schwagers, der überhaupt in neuerer Zeit, schon seit der Gefangennehmung Hammaker's, vielfach verändert war und erst seit der Hinrichtung desselben wieder etwas aufthaute ...

Weißt du, Söhnchen, sagte er, ohne darum aufzuhören nach der Thür zu lauschen; weißt du, ich habe immer eine fatale Ahnung von einer ungeheuer Weltverschwörung der Juden gegen die Christen! Pater Sebastus schrieb das einmal in seinen früheren Artikeln, die mir immer aus der Seele kamen! Jetzt ist der arme censurirte Chrysostomus nicht mehr wiederzuerkennen, falls die anonymen »Stufen-Briefe vom Kalvarienberge des Lebens« von ihm sind. Ahasver, siehst du, das ist, sagte er einmal – Rothschild! Der alte Kurfürst von Hessen nämlich, weißt du, Piter, der mit dem Zopf – Kerl, trink doch nicht so viel! ... Piter hatte wieder eingeschenkt vor Behagen über eine so gelehrte Unterhaltung, deren er gewürdigt werden konnte ... Jener Kurfürst, der sein durch amerikanischen Menschenhandel erworbenes Geld dazumal in Frankfurt am Main von dem alten Amschel und – ich glaube – einem Bäcker Binding auf der Fahrgasse hat vergraben lassen, als Napoleon so gern draus wieder Soldaten geschmolzen hätte – früher, verstehst du, Piter, war umgekehrt das Geld aus Soldaten geschmolzen worden! – also – Hast doch »Kabale und Liebe« schon gesehen –? also der alte Stammhalter der morganatischsten aller Dynastieen sag' ich – Piter, was morganatisch ist, das mußt du doch wissen?

Piter war in vollkommener Harmonie mit dieser Behandlung, die ihm die Ehre wissenschaftlicher Erörterungen gönnte. Und da sich bei ihm jetzt Denken mit der Hitze der Beleuchtung von außen und der Erwärmung von innen verband, so stand er, wie eingeweiht in alle Geheimnisse der Erde und der Conversa tions-Lexika und nickte bejahend. Er war vollkommen jetzt der »große Charakter«, der er auch zu bleiben gedachte, auch wenn er wirklich von sich hätte eingestehen müssen, daß ihm als Ehegattin »ein Mädchen aus dem Volke« lieber wäre als eine dieser bleichsüchtigen, musikklimpernden, wespentailligen –

Bitte! unterbrach Nück seine derartigen Gedanken und zog Handschuhe an – er war ohne welche eingetreten – Bitte, wenn ich dir etwas Bekanntes sage! Frau Morgane war die wunderschönste Dame an König Artus' Hofe und von dieser Dame möcht' ich die morganatischen Ehen, die Ehen der Mesalliancen, verstehst du? lieber ableiten – Denn vielleicht war Frau Morgane ihrer Herkunft nach auch gleichsam aus Kocher am Fall – in diesem Fall, siehst du, darin liegt bereits die ganze Andeutung, Piter; nicht in deinem, sondern in dem kurfürstlich hessischen Fall, mein' ich! Und wenn andere dann glauben, morganatisch käme von dem alten gothischen Worte Morgan, welches, wie du weist, so viel heißt als: beschränken, nämlich z.B. ein Morgen Acker, d.h. eine Schranke, ein Theil Ackers – Nicht etwa, versteh' mich recht, als wenn ich die Menschen beschränkt nennen wollte, die nicht den üblichen Vorurtheilen folgen, und als ob der Westfälische Friede Recht gehabt hätte, der schon Anno 1648 sagte: Alle alten Herkommen in der Ehe sollen bleiben, sublatis omibus quae bellicorum temporum injuria irrepserunt confusionibus – confusionibus! Verstehst du, Piter? Confusionibus!

Nück's Betonung dieses letzten Wortes in seiner ganzen verworrenen Spottrede war bedeutungsvoll. Denn eben jetzt hatte er keinen Zweifel mehr, daß Piter in höhern Sphären schwebte. Eben sah er die Cognakflasche wegräumen und bemerkte eine Verwirrung in des ihm im Geiste folgenden Schwagers Gesichtszügen, eine Verwirrung, die die Folge seiner eigenen anakoluthischen Rede sein konnte, aber auch die des auf Cognak gesetzten Burgunders – freilich aber auch die Folge eines plötzlichen heftigen Klingelns, mit dem sich bei Gesellschaften oder beim Ausfahrenwollen der wichtige Moment anzukündigen pflegte, wo Mutter und Schwester die allerletzte Hand an ihre Toilette legten. Dann war nur noch im Rückstand, daß über die bereits fertige Frisur, die bombenfesten Corsets, die steifen Unterröcke sanft und vorsichtig das elegante Hauptkleid herabgelassen wurde. Schon war es halb acht Uhr und durch dies Klingeln wurde regelmäßig der Moment bezeichnet, wo die Mutter und die Tochter sofort in die geschmückten Räume treten konnten, kühn, unternehmend, erwartungsvoll und sich dann nur verdrießlich umsehend, wenn nicht sogleich auch schon die Hausfreunde da waren und sie mit einem bewundernden Ah! empfingen ...

Pitern war das seit Jahren imprägnirt ... Bei diesem Klingeln besann er sich auf die ungeheuere Aufgabe, die er heute zu lösen hatte. Repräsentant des Hauses! Eine Vision ging ihm auf aus dem Reich jener Erinnerungen, denen zufolge er schon an einem solchen Abend unter hundert Menschen gewesen war, ohne daß er sich auf das Mindeste, was andere und sogar, was er selbst gesprochen, hatte besinnen können ... Und wie nun das Klingeln auch bei der Schwester wiederholt wurde, wie er die Bewegung um sich her zunehmen, das Laufen und Rennen bemerkte und im Augenblick nicht wußte, welche gelehrten Ansichten er soeben ausgesprochen hatte, da erinnerte er sich, wie er einst auf einem Dampfschiff aus dem ruhigen Spiegel der Themse plötzlich in die Hebungen und Senkungen des Meeres einfuhr und sich rasch in seine Koje erster Klasse zurückzog. Auch jetzt ging er »still und bewegt« und ohne ein Wort zu reden in die hintern Zimmer und suchte mit mancherlei ihn erschreckendem Tastenmüssen die Wendeltreppe, die ihn zu seinem at home führte, wo er beschloß, sich um Gottes und aller Heiligen willen vorher noch eine kleine kurze Rast und Sammlung zu gönnen.

Nück sprach zwar noch etwas von Delring, von einem Familienconvent und sogar von Knabenstreichen hinter ihm her, aber Piter vernahm nichts mehr; er ging auseinander wie eine Morgenluft witternde Nebelgestalt ...

Nück begab sich an den Eingang zurück und vermied allein zu sein mit seiner Schwiegermutter, die er hier so unter vier Augen am wenigsten gesucht hatte. Die Garderobe war im Parterre. Dort hatte er einen alten Mantel abgelegt, in dessen Umhüllung man, wenn er so an den Häusern dahinschlich, nicht einen Mann vermuthet hätte, der ein Vermögen leicht von einer Viertelmillion besaß und aus seiner eigenen Thätigkeit noch Jahreseinnahmen von zehntausend Thalern ...

Auf dem Vorplatz blieb er einige Augenblicke und sah in einen kleinen Corridor hinaus, auf welchen drei bis vier Zimmer ausliefen. Eine Thür, die hinterste, führte zu der Gesellschafterin der Schwiegermutter, Lucinde Schwarz ... Auf das Erstaunen des alten Joseph, der doch hoffte, daß er wiederkäme, sprach er kein Wort. Aber seine Augen waren Feuerzungen. Doch auf diese Sprache verstand sich Joseph nicht. Ein paar Schritte machte Nück auf den Corridor hinaus. Dann kehrte er um und hielt sich an dem Treppengeländer ... Jetzt bellten die Bologneserhunde an einer der Thüren und kratzten, um hinauszukommen; denn unten hörte man schon den immer gemüthlichen Ton des alten Pötzl, der bereits von unten herauf mit den Hunden sich neckte. Auch der Medicinalrath kam und noch ehe sich Nück von dem biedern Händedruck Pötzl's freigemacht hatte, war auch der Kanonikus schon da, der trotz Kirchentrauer und Kaiser und Papst am Whisttische unter keiner Bedingung fehlte ...

Nück sagte allen, er käme wieder und hätte nur seiner Frau zu Gefallen sämmtliche Kamine wollen auslöschen lassen ... Er beruhigte die Ankommenden, daß »Lieb Mutterchen« – so nannte die Commerzienräthin Pötzl –; »Lieb Töchterchen« – so der Medicinalrath –; »Lieb Schwesterchen« – so der Kanonikus; – noch nicht in den Zimmern wäre, und stieg die Treppe nieder, begleitet vom Joseph, dem er, als dieser dem Kutscher, der heute als Garderobier fungirte, beim Ueberwerfen des Mantels half, nur die einfache Frage vorlegte:

Kommt denn – ich meine die Mamsell oben – na die Gesellschafterin – kommt denn die nicht auch heute – in den Trubel?

Herr Oberprocurator! sagte Joseph und eine Miene, die er machte, deutete die Sehnsucht dieses Fräuleins nur zu überirdischen Dingen und ihre außerordentliche Frömmigkeit an ...

Der Portier stand im Thorweg in einer Gala, wie wenn sein Stab mit dem goldenen Knopf heute Fürsten zu empfangen hätte.

Nück ging kopfschüttelnd und drückte sich an den Häusern entlang wie mit verstörtem, ruhelosem Gewissen ...

Die Wagen, die die Gäste in sein schwiegerälterliches Haus führten, rasselten an ihm vorüber. Ihn konnte man oft an solchen Abenden, wo dort alles in Festesglanz strahlte, im düstersten Winkel einer kleinen Schenke sehen, wo er Rettiche verzehrte und ein Glas einfachen Biers trank ...

Heute aber huschte er in eine alte finstere Kirche, wo beim Schein weniger Lichter eine Abendandacht gehalten wurde. Nicht weit vom Weihbecken erwartete ihn eine Dame, die ihn an eine Todtengruftkapelle zog und ihm im Dunkeln einige geheimnißvolle Worte flüsterte ... Die Dame trug einen orangegelben Hut mit schwarzem Sammetbesatz ... Das Gespräch war nur kurz und schien ihn verdrießlich zu stimmen ...

Als Nück allein war, ging er tiefer in die dunkle Kirche; dann setzte er sich, seinen Mantel weit um sich geschlagen und den Kopf auf ein Betpult niederlegend, in einen der leeren Stühle, tief brütend und versunken in vielleicht die frommsten Gedanken.

7.

Unter den rauschendsten Acclamationen hatte bereits die Baßposaune das berühmte Lied an die Rose geblasen und ein stürmisches Dacapo veranlaßt ...

Schon waren die enormen Schwierigkeiten der Arie »Ocean, du Ungeheuer!« von einer alle Wände und Stockwerke durchschneidenden Stimme überwunden worden ...

Lange war es über neun Uhr. Schon kam das Eis – und noch immer saß in ihrem saubern Zimmer mit dem kleinen Porzellanofen und dem weißen Sopha und dem Bettschirm Lucinde, ohne daß sie sich hatte entschließen können, in die menschenüberfüllten Räumlichkeiten hinüberzugehen ...

Einmal schon war, athemlos, die Commerzienräthin dagewesen und hatte sie wie im Sturm ermahnt, doch endlich, endlich zu kommen, da alle Welt schon vor Verlangen nach ihr brenne ...

Zweimal war Johanna dagewesen, einmal sogar in Begleitung des Außerordentlichen, der die »Jerichorose« um ihre Kenntniß der lateinischen Sprache ebenso wie um ihre Botanik bewunderte; denn Lucinde kannte alle Kräuter des Waldes, alle Bach- und Wiesenblumen ... Ein schöner Strauß, den ihr Treudchen verehrt hatte, lag zu ihrem Eintritt in die Gesellschaft schon bereit ...

Auch die Frau Oberprocurator Nück, die schon im Hause hin- und herrannte – nur nicht hinauf in den stillen obern Stock zu ihrer Schwester – um sich abzukühlen von dieser »wieder unerträglichen Hitze« in den Zimmern – sie war die erste, deren Liebe nach Pitern suchte, um ihm Vorwürfe zu machen –, auch Josephine Nück war bei dem »guten Fräulein« gewesen, um sie zu ermahnen, doch bald zu kommen; denn sie entbehrte zu schmerzlich die Bewunderung, die das Fräulein vor ihrer Toilette aussprechen sollte; ein Bedürfniß, das nicht im mindesten auch den Tadel ausschloß. Denn Josephine hörte es gern, daß sie einen Fehler gemacht hätte mit dieser Farbe oder mit jenem Besatz oder mit jenen gemachten Blumen, die auf ihrem Kopfputz sich nicht gut ausnähmen oder ihrem z.B. so leicht echauffirten Teint nicht stünden. Dann hatte sie doch einen Grund für ihre gesellschaftliche Verstimmung. Dann konnte sie doch in einer Ecke, nicht am Ofen, sondern dicht am Fenster, das sie zuweilen öffnete, mit dem Fächer in der Hand sitzen und über ihre Putzmacherin und ihre weibliche Bedienung klagen, als wenn es nur eine Verschwörung der ganzen Welt und vorzugsweise ihrer eignen geschmacklosen Umgebung wäre, wenn sie nicht ebenso brillirte, wie die jungen Frauen und Mädchen, die da alle lachend und bunt und schönheitsstrahlend in den belebtesten Gruppen saßen ...

Lucinde nahm ihr zu ihrer innigsten Freude und Dankbarkeit heute ein Uebermaß von Blumen von den Schläfen hinweg, führte sie an ihren kleinen Spiegel, leuchtete und bewies ihr, daß sie sich jetzt viel vorteilhafter ausnähme. Der nun gleicherweise wiederholten Aufforderung, doch bald auch zu kommen, erwiderte sie ein einfaches: Ich komme, ganz gewiß! – und doch entsank ihr wieder der Muth, als sie allein war ...

Nicht der religiöse Grund, den sie seither alle Tage gegen diese Gesellschaft vorgeschützt hatte, fehlte ihr, sie stand an ihren Ofen gelehnt in vollständigster Toilette. Treudchen war eine ganze Stunde bei ihr gewesen und hatte sie geschmückt wie eine Braut – etwa eine Braut, die sich zu einer Zeit vermählt, wo sie um irgendeinen Anverwandten zu trauern hat. Ihr Kleid, bestehend aus einem leichten, wallenden, aschgrauen Stoff mit reichem schwarzen Spitzenbesatz, war ein Geschenk der Commerzienräthin. Das dunkelbräunliche Incarnat der offenen Arme und des Halses wurde durch diese Farbe gemildert, die auch ihre ganze, einer Creolin ähnliche Erscheinung minder scharf heraustreten ließ. Das Haar war nach vorn einfach getheilt, nach hinten sammelte es sich in zwei schweren runden Flechten, die in Kreisform aufgebunden, von einem schwarzen Sammetgewinde bedeckt waren. Unter den beiden Rundungen der Flechten quollen hinter jedem Ohr bis in den Nacken vier Locken hervor. Es war zum ersten mal wieder, daß sich Lucinde wie seit lange nicht gegeben hatte; sie hatte es in der Gewalt, aufzufallen oder ganz zurückzutreten.

Der reiche Spitzenbesatz am obern Rande des Kleides erlaubte in bloßem Halse zu erscheinen. Auch war der obere Arm von einem offenen Spitzengehänge halb verdeckt. Die kleine Juwelenschnalle auf einem schwarzen Sammetband, das den Hals bedeckte, war ein Weihnachtsgeschenk der Frau Oberprocurator. Ein Armband von einem als Schlange ausgearbeiteten blutrothen Korallenzweige, reich mit Goldverzierung, hatte sogar Piter geschenkt.

Silbergraue lange Handschuhe lagen auf der Sophalehne. Sie waren schon von ihr anprobirt gewesen und wurden wieder ausgezogen. Treudchen hatte Lucinden schon fast bis an den Eintritt in den Saal begleitet und wieder war sie zurückgegangen. Treudchen durfte oben beim einfachen Thee ihrer Herrschaft nicht fehlen; sie mußte Schlag acht Uhr von ihrer Gönnerin sich trennen und konnte ihr: Bitte! Bitte! Gehen Sie doch! Ach! die Menschen werden Augen machen! nicht öfter wiederholen ...

Die Furcht, die Lucinden zurückhielt, unter die Menschen zu treten, beruhte auf dem Gefühl, daß sie sich in einer Weise elektrisirt fühlen würde, die ihrer ganzen bisherigen Haltung und wahren Stimmung widersprach. Nur mit Noth erwehrte sie sich schon lange der Huldigungen, die bei dem regen Verkehr im Kattendyk'schen Hause nicht fehlen konnten. Im Personal des Bureau gab es Blicke, die sie verfolgten; unter Piter's Freunden, in den Kirchen, auf der Straße erregte sie Aufsehen. Oft auch schon meldete sich in ihrem Blut die Zeit von Hamburg und Kiel. Nicht, daß sie eine gewöhnliche Gefallsucht gehabt hätte, nicht, daß ihre Sinne glühten – ihre Sinne schienen kalt. Ihr erster »Kindskopfwahn«, wie sie ihn nannte, der sie hatte bestimmen können, mit Oskar Binder nach Amerika gehen zu wollen, hatte ihr eine ganze Gattung von Männern verleidet. Wenn sie sich sagen mußte: An welchen Fäden hing schon oft deine Zukunft! und sie sich gestehen durfte, daß sie in alle diese Lagen fast ohne Bewußtsein und wie nur von einem Instinct der Selbsterhaltung und einer das Höchste anstrebenden Zukunft geführt wurde, bangte ihr vor dem Gedanken, jemals wieder so nahe an Abgründe zu treten ... Klingsohr, dessen dauernde Anwesenheit in dieser Stadt, mögliche Beziehung zu Bonaventura sie oft in Verzweiflung brachte, Klingsohr war ein Phantast gewesen. Die merkwürdige Erscheinung, daß die Verirrung, die diesen beinahe rettungslos dem Trunk zugeführt hätte, mit einer Abneigung gegen Frauen verbunden zu sein pflegt, zeigte sich schon in Kiel, wo er moralisiren konnte. In jener schauerlichen Nacht auf Schloß Neuhof bestanden seine Zärtlichkeiten im Knieen wie vor einem Gnadenbilde, im Küssen der Locken, des Kleides, in Eingebungen einer Phantastik, die seinem Wesen entsprach, dem Leben nicht in der Wirklichkeit, sondern im Erträumten und Schattenhaften. Jérôme von Wittekind berührte Lucinden nicht. Sie war ihm eine Erscheinung aus dem Reiche der Märchen. Klingsohr's Entmannung, wie wir seinen Zustand nennen möchten, war nicht die Verrücktheit des tollen Kammerherrn und des Paters Ivo, nicht die Empfindung glühender, nur sich beherrschender Liebe, sondern das Bedürfniß, das er mit seinen hamburger Freunden theilte, sich auf den Trümmern der Unschuld ein letztes »reines Gnadenbild«, eine Madonna, eine Laura, eine Beatrice zu dichten ...

Sie fürchtete sich vor der Gesellschaft, weil in ihrem Innern ein Vulkan tobte. Sie glaubte nicht länger sich verleugnen zu können. Unterdrückte sie auch seit Monaten ihren Spott, ihren Humor, selbst ihre Kenntniß des Pianos, nur um nicht in Versuchung zu kommen, ein Allegro zu spielen, so wußte sie, was in ihrer Brust wuchs und ausbrechen mußte und nicht länger zu halten war. Daß man immermehr ihrem vergangenen Leben nachspüren würde, erfüllte sie mit dem Gelüst, sich vertheidigen zu wollen. Halt aber an dich! Halt an dich! sagte sie sich oft und das aus Furcht, daß sie plötzlich so nicht mehr fort konnte. So andächtig besuchte niemand die Messe, so für unwürdig der Communion erklärte sich niemand (freilich mußte sie sich den Genuß versagen, da sie seit der geschilderten Scene nicht wieder beichtete), so sittsam blickte niemand auf der Straße nieder, so bescheiden äußerte sich niemand in Gesellschaft, so geringschätzend sprach niemand von seinen Ansprüchen auf Anerkennung, so gelassen gab sich niemand einer etwaigen Anspielung auf sein früheres Leben preis. Sprach man selbst bei Frau Walpurga von jener schönen Stadt mit den Wachparaden und den berühmten Wasserkünsten, ja sogar von dem Aufenthalt der ermordeten Frau von Buschbeck daselbst, von bösen Dienstherrschaften, von leichtsinnigen jungen Commis, von dem dunkeln Geiste, der auf dem Hause Wittekind-Neuhof ruhte, von dem Mönche Sebastus, der noch immer in der Stadt verweilte und das alte Profeßhaus der Jesuiten nicht verlassen durfte, von seinem Vater, dem Deichgrafen, von dem gefangenen Küfer Stephan Lengenich, von einer nahe bevorstehenden Auflösung des Kronsyndikus, von dem Stiefvater des Domherrn von Asselyn, ja von Hamburg, Kiel; und plauderte selbst der »gemüthliche« Pötzl einmal von einer Schauspielerin namens Konstanze Huber, die die Jungfrau von Orleans nur bis zum dritten Act durch geführt hatte – was war ihr das alles! Sie saß – und nähte – oder las dabei –, sie erhob sich auf jeden Wunsch der Commerzienräthin oder Johannens, ließ ihr goldenes Kreuz aus der Brust gleiten und sprach mit leiser und zurückhaltender Stimme von den geistlichen Exercitien und der Wallfahrt, die die Commerzienräthin für die glückliche Entbindung ihrer Tochter Hendrika und die rechtgläubige Taufe ihres Enkelkindes gelobt hatte ... Mit Beredsamkeit sich vertheidigen, gewährt oft ein schönes Schauspiel; mit Beredsamkeit sich anklagen kann ein schöneres sein. Schweigen aber, schweigen, um sich zu vertheidigen, ist Heldengröße; und schweigen vollends, schweigen um sich anzuklagen, Märtyrerglorie ... Was sind alle diese Vergehen, lag in Lucindens Mienen, deren ihr mich anklagt, wenn die Seele, wie der Rhein, der unter dem Bodensee hindurchzieht, aus geringen und unbedeutenden Anfängen nach kurzer Läuterung wieder und dann wie groß und majestätisch hervorbricht! Aus der Fremde that sie wie nur in die Heimat gekommen, aus der Lüge zur Wahrheit, aus dem Irrthum zur Erkenntniß. In der großen Gemeinschaft der Kirche durfte kein Gläubiger zu dem andern sagen: Deine Vergangenheit schändet dich! Die Tag- und Jahresgebete, die Abendandachten, der Rosenkranz, der englische Gruß, die Anbetung des allerheiligsten Sakraments, das heilige Meßopfer, alles das ist eine Kette, die zu Leibeigenen Gottes und durch das Erlösungswerk zu Kindern seiner Liebe macht. Lucinde kannte diese Formeln. Sie waren an sich für sie todt; sie belebten sich aber – im Hinblick auf eine Entscheidung, die endlich kommen mußte – kommen sollte.

Der Mann, den sie ein Jahr lang in der Stadt, wo sie katholisch geworden, angebetet, den sie zwei Jahre vergebens zu vergessen gesucht hatte, den sie in St.-Wolfgang, in Kocher am Fall, hier mit glühend aufschlagenden Flammen des Herzens wiedersah, wollte jetzt nach Westerhof reisen zu Paula. Sie wußte das seit einigen Tagen und da hatte sie erklärt, zu dieser Gesellschaft, fehle ihr die Stimmung. Gebeten hatte man sie, sich zu überwinden ... Wol stand sie in ihrem kleinen, schon von ihr und Treudchen sofort wieder aufgeräumten Zimmer wie ein Wesen, das nicht schüchtern eintreten konnte bei so auffallender Erscheinung. Es riß und zog auch in der That an ihr, die Wahrheit ihrer Natur zu enthüllen. Wie hob sie's, den gesenkten Kopf zurückzuwerfen, zu lachen, die acht schönen Locken im Nacken zu schütteln, die freie, gescheitelte Stirn zu erheben, statt Wehmuth um die Lippe Stolz und Bitterkeit zu zeigen, aus den Augen das Feuer einer unter der Asche drohend glimmenden Leidenschaft hervorbrechen zu lassen ... War sie nicht wie auf der Flucht? Wie gehetzt von Gespenstern? Nie, nie liebt' ich diesen Klingsohr, der jetzt hier vielleicht gegen mich zeugt! hätte sie in die Welt, in die Messe hinausrufen mögen, wenn sie Bonaventura celebrirte. Im »Kirchenboten« des Beda Hunnius, mit dem sie ihre Correspondenz nach der Katastrophe des Kirchenfürsten hatte abbrechen müssen, las sie die »Stufenbriefe«. Klingsohr schrieb sie allerdings nur für Lucinden. Es waren Empfindungen, wie sie Abälard, nach der ruchlosen That seiner Feinde, an Heloise geschrieben haben konnte ... Aber wenn nun Bonaventura gar nach Westerhof ging! Nach Schloß Neuhof, Kloster Himmelpfort, wo ihre ganze Vergangenheit mit ihm zusammentreffen konnte ... Täglich mußte sie von der »Seherin von Westerhof« hören! ... Selbst der kühle Benno konnte nicht in Abrede stellen, daß vernünftige Menschen von Paula's Visionen und Heilungen mit Bewunderung sprachen. Jetzt wollte Bonaventura nach St.-Libori reisen und – darüber war kein Zweifel – einen Seelenbund erneuern, der fürs Leben geschlossen wurde, wenn Paula, wie man vermuthete, nach dem Verlust ihres Processes den Schleier nahm ... Lucinde kannte die Glückseligkeit, die den heiligen Franz von Sales mit Frau von Chantal vor und nach der Stiftung des Ordens der Visitandinen verband. Sie wußte, daß Fénélon, der sanfteste der Priester, Seelenbündnisse mit Madame Guyon und Fräulein von Maisonfort hatte. Sie wußte, daß selbst der strenge, so trockene und pedantische Bossuet von einer Frau von Cornuan, deren Geistesbildung etwa der der Commerzienräthin Kattendyk gleichkam, in einer Weise belästigt wurde, die zuletzt trotz alles ihm von dieser Frau verursachten Aergers ihm zum Bedürfniß werden konnte, also, wie Lucinde gelegentlich bitter vor sich hinsprach – ebenso gut wie die Ehe war ... Ein Wort, das der Außerordentliche einmal sprach, nun würde mit dem Domherrn von Asselyn auf Schloß Westerhof der wahre »Doctor ekstaticus« erscheinen, machte sie zittern vor Eifersucht ... Stündlich stand sie auf dem Sprunge zu Bonaventura und ihm zu rufen: Reise, doch erst morde mich!

An demselben Abend war sie damals die »Jerichorose« gewesen. Sie verstand zum ersten mal gewisse durchbohrende Blicke des Oberprocurators, eines Mannes, vor dem sie sich anfangs entsetzt hatte, weil er ihr gewesen wie ein Gebilde von Eis. Alles scharf, kantig, schneidend an ihm. Doch fiel ein Sonnenstrahl nach dem andern auf diese Erscheinung und ließ sie immermehr in allerlei Regenbogenfarbenlicht, wenn auch wie aus tausend Eiskrystallen, leuchten. Der Mensch ist ja merkwürdig! sagte sie sich. Und als sie alles vernommen, was die Welt von Dominicus Nück wußte, als sie ihn vor Gericht den Mörder vertheidigen sah, der ihm selbst schon einmal hatte aus Leben gehen wollen, als sie den Blick beobachtete, mit dem Nück die vielbesprochene Prise verweigerte, erschien ihr seine Häßlichkeit, sein Cynismus, seine Charakterkraft überraschend. Klingsohr's Narben im Antlitz hatten sie nie gestört. Wie war sie nicht in düstere Lebenslabyrinthe eingedrungen! Sie wußte, daß jener in Serlo's Papieren erwähnte Advocat, der bei dem Strafgericht des Bruders Hubertus über den Pater Fulgentius nicht zu entfernt gestanden, der hingerichtete Mörder ihrer Hauptmännin war. Schaudernd überliefen sie die Rückerinnerungen an alles, was sie von den Verirrungen des menschlichen Geistes schon in Erfahrung gebracht. Die Leichenschminkerin stand ihr oft mit Blumen wieder vor einer Todten und redete: Bist du nun auch erlöst, armes Weibchen? Lache, lache, armes Kind, das zu gut war für diese Erde! ... Diesem Nück konnte sie seit der »Jerichorose« nicht mehr begegnen, ohne daß es ihrem Innersten war, wie dem Knaben im Erlkönig. Sie sah sich fortgerissen in Nacht und Wind und stieß einen Hülferuf aus vor einer Hand, die unsichtbar sie umfing; ein Leids fühlte sie, das ihr angethan, ein so tiefes Weh, daß nur das einfache Vorüberstreifen des grauen Mannes an ihr, sein Blick zu ihr empor nöthig war, um sie einer Ohnmacht nahe zu bringen. Gespenstisch war schon die Stille, die eintrat, wenn sein magisches Wesen vorübergezogen.

Noch mehr! Schon seit mehreren Tagen war ihr seltsam gewesen, daß eine Frau, die immer höchst elegant gekleidet neben ihr in der Messe auf einem der gemietheten Stühle kniete, sie anredete, am Tage darauf sie sogar verfolgte auf einem Gange, den sie in die Rumpelgasse machen wollte. Eine Jüdin, Namens Veilchen Igelsheimer, hatte in den ehrerbietigsten Ausdrücken an sie geschrieben, sie kenne, wie sie wisse, den Pater Sebastus. Der Aermste säße krank und elend und zwar um ihretwillen in einer Haft, aus der ihn weder die jetzt machtlose geistliche Behörde erlösen könnte, noch die weltliche erlösen wollte; ob sie nicht ihre einflußreichen Verbindungen, besonders die Fürsprache des Oberprocurators Nück in Anspruch nehmen wollte, um den Unglücklichen vielleicht freizubekommen oder wenigstens ihm die Rückkehr nach dem Kloster Himmelpfort zu ermöglichen, worein die weltliche Behörde der vielen Untersuchungen wegen, in welche auch der Pater verwickelt wäre, nicht willigen wollte, oder ob sie vielleicht sonst etwas Durchgreifenderes zur Erlösung des Armen ersinnen könnte; sie möchte ihr die Ehre gönnen und sie unter ihrem armen Dache besuchen ... Dieser Brief hatte Lucinden vollends aufgeregt. Klingsohr zurück nach Kloster Himmelpfort? Zugleich mit dem ihm vielleicht schon lange nahe stehenden Bonaventura? O daß eine Vergangenheit so furchtbar lastend auf dem Weibe ruht! ... Sie hatte die Zuschrift der Jüdin mündlich beantworten wollen ... Da war ihr die fremde Dame nachgegangen und ermuthigt durch die verdächtigen Umgebungen der Rumpelgasse, sprach sie Lucinden in einer Weise an, die diese so erschreckte, daß sie ihren Vorsatz, die Jüdin zu besuchen, aufgab. Die Frau sagte ihr Schmeicheleien über ihre Schönheit. Sie lud sie zu sich ein, forderte sie sogar auf, sofort bei ihr Chocolade zu trinken. Lucinde wies die Frau zurück. Wer stellt dir so nach? Wer verdächtigt dich? ...

Endlich noch mehr! Heute plauderte Treudchen von der offenbar ganz gleichen Bekanntschaft, die auch sie mit einer sie verfolgenden Frau gemacht hätte ... Treudchen erzählte, daß der fromme Pfarrer Rother, der die Frau vor seinem Hause auf sie warten gesehen, ihr jede Beziehung zu ihr verboten hätte. Auch wäre sie von ihr seitdem unbehelligt geblieben ...

Warum gehst du nur so oft zu diesem Pfarrer? fragte Lucinde sinnend ...

Denken Sie sich, das fragte mich neulich jemand anderes auch! Der Herr Oberprocurator! ... Die Pfarrei vom Berge Karmel liegt frei auf dem Platz und wie ich oben beim Pfarrer bin, zeigt er mir in der Ferne noch einmal die Frau, wie sie an einer Ecke gerade mit dem Oberprocurator spricht ...

Mit Nück –?

Mit Herrn Nück! Und heute früh begegne ich ihm und da sagt' ich ihm, daß ich ja so gern auch bei den Damen auf dem Römerwege bin, weil ich meine Geschwister im Waisenhause habe ...

Lucinde hörte der Erklärung kaum zu; denn Nück, Nück im Gespräch mit jener Frau! Dies Bild weckte ihr eine Vorstellung, die sie eiskalt überlief ... So unwürdig denkt dieser Mann –? Gehört auch er zu jenen »Bemitleidenswerthen«, denen es eine unheilbare Krankheit geworden, an Frauentugend nicht mehr glauben zu können? Muß es nicht elend in einer Seele aussehen, die vielleicht ein unwiderstehliches Bedürfniß der Liebe hat und den trügerischen Schein davon nur auf solchem Wege finden kann? ... Oder stellt man dir Fallen und wiederholt sich der alte Unglaube an das, was du dir doch – »bei alledem« konnte sie selbst hinzufügen – bewahrt hast? ...

Da kam denn Josephine Nück und Lucinde mußte sich sagen: Freilich, ein Mann von Geist und Leidenschaft und ein solches Weib!

Düstere Falten zog die Stirn, die sich nun unter dem rauschenden Gewühl heiter und sorglos zeigen sollte ...

Nachdem hatte Treudchen so viel von der großen Begebenheit des Hauses, vom Zank mit Delring zu erzählen, daß das Gespräch von diesen dunkeln Gegenständen abkam ... Lucinde mochte die »obere Gesellschaft« nicht. Hendrika hatte die Abneigung aller Frauen gegen sie, eine Abneigung, die Lucinde für einen Beweis der »Gewöhnlichkeit« erklärte. Delring war ihr der Repräsentant jener »blonden« norddeutschen Weise, die ihr soviel Schmerzen und Demüthigungen bereitet hatte. Sie stellte ihn in die Reihe der hamburger »Respectabeln«. Sie vermied seine »kalten« »wasserblauen« Augen, die ganz den Tausenden von Augen glichen, vor deren tugendhafter Kritik sie sich einst nach dem Tode Jérôme's von Wittekind in der Sommerwohnung des Herrn Nikolaus Carstens und seiner plattdeutschen Schwestern hatte drei Tage lang verbergen müssen.

Das Rufen und Klingeln und der zunehmende Lärm im Hause unterbrach zuletzt alles weitere Gespräch mit Treudchen und mit sich allein ... Endlich brach sie alles, was sie bestürmte, ab, faßte sich Muth, zog ihre Handschuhe an, nahm ihr Bouquet und schlüpfte in das vordere Zimmer, wo im lebhaftesten Gespräche Herren standen, die sogleich Chaine machten, um die überraschende Erscheinung hindurchzulassen.

Der erste, der sich der hohen Gestalt »erbarmte« – denn Erbarmen kann man wol die erste Begrüßung und Anrede eines in menschenüberfüllte Räume Neueintretenden nennen –, war der alte Pötzl, der die beiden Bologneserhündchen, die bei der Gesellschaft nicht fehlen konnten, unterm Arm hielt. Auch der Medicinalrath, ein kleiner dicker Herr, sprang hinzu und nun wäre alles zurückgewichen vor dieser königlichen und fremdartigen Gestalt, wenn nicht Frau Nück, die am feucht beschlagenen Fenster saß, sie erblickt und sogleich nur für sich in Beschlag genommen hätte, um sie hinter den Gardinen zu fragen, ob sie noch immer so echauffirt aussähe? ...

Ein Flor von Jugend und Schönheit und Pracht der Toiletten war zugegen ... Dennoch machte Lucinde einen Eindruck, der die Aufmerksamkeit aller auf sie gezogen haben würde, wenn nicht gerade jetzt der Stolz der Stadt, das berühmte Moppes'sche Quartett, intonirt und die Stimmung des Flügels mit einem angegebenen Accord in Einklang gebracht hätte. Alles rannte, um zum Sitzen zu kommen. Die Krystalle in den Kronenleuchtern wackelten vor dem Sturm. Alles mußte still sein ... nur der Außerordentliche sprach über die Baßposaune noch seinen Satz aus. Er widersetzte sich einer natürlichen Erklärung des Wunders, daß die Mauern von Jericho durch Posaunen wären niedergeblasen worden. Denn Beamte aus dem ghibellinischen Heerlager, rationalistische Zweifler, fehlten keineswegs und der alte Herr de Jonge hatte für seinen leider abwesenden Sohn die Neckereien übernommen. Während man mit Fanatismus dem Außerordentlichen zischte und Lucinde sich still für sich selbst sagte: Vielleicht bestanden die Mauern von Jericho aus nichts, als Gärten von Rosen! und nach dem Manne der echauffirten Frau sich umschaute, die neben ihr saß und die Ueberfüllung mit Menschen verwünschte, die nicht einmal möglich machte Pitern zu entdecken, entfaltete sich das Bouquet des Abends. Waren es auch nur immer dieselben »Gute Nacht!« und dieselben »Schlaf wohl!« und dieselben humoristischen »Speisezettel«, die die Sänger vortrugen, die Thatsache stand fest: Beim letzten Hauche konnte man den entsprechenden Accord des Flügels anschlagen – und nicht um eine Viertelnote waren diese jungen Kaufleute in ihrem Vortrag gesunken, worüber die alten regelmäßig in Enthusiasmus ausbrachen. Wie regierten sie aber auch mit strenger Gewalt die Musikzustände der Stadt! Wie bestimmten sie den Erfolg jeder Oper, jeder neuen Messe! Was sie verwarfen oder guthießen, fiel oder stand in der öffentlichen Meinung.

Lucinde blieb hinter den Gardinen und beobachtete ... Sie kannte solche Gesellschaften nur aus Kiel und aus der Zeit ihres dreijährigen Wirkens im orthopädischen Institut, wo es genug vornehme Beziehungen gegeben hatte ...

Die Wonne des Entzückens machte niemanden lebendiger, als die Commerzienräthin. Glich sie schon sonst in ihrem ganzen Leben einem jener kleinen Würmchen, die auf einer flachen Tafel hin- und herrennen, stutzen über nichts, links und rechts schwenken und da wieder hinlaufen, wo sie eben hergekommen sind, wie erst heute! Trotzdem daß ihr Kopfputz, eine Art Turban mit purpurrothen Sammettroddeln und goldenen Fransen, ihr die feierliche Haltung eines Schlittenpferdes vorschrieb, drängte sie sich durch alle Bravis und Dacapos, durch alle Erfrischungen und Staats- und Kirchengespräche hindurch mit wiedererwachtem Jugendmuth. Blieb auch ihr Shawl an einigen Frackknöpfen der Herren, an einigen der aufgestellten Rhododendren oder am Kettchen eines neuen Halsbändchens ihrer Hunde hängen, sie war überall und nirgends und zuletzt auch bei Lucinden, die sie hervorzog und auf die Stirn küßte. Sie flüsterte ihr zu: Wie lieb' ich Sie! Aber ich muß Sie vorstellen! Und noch ehe sie eine Antwort bekam, war sie schon wieder bei einer andern Gruppe und eigentlich suchte sie auch nur immer Pitern und sagte das auch laut. Aber obgleich die Gesellschaft schon zwei Stunden beisammen war, entbehrte doch niemand den Schöpfer dieses brillanten Abends. Die jungen Herren, seine Freunde, hatten mit den jungen Damen zu thun und der Außerordentliche machte die Honneurs des Hauses, so klein er war, mit einer Entschiedenheit, die imponirte.

Wiederum hatte man in einer Extra-Arie die berühmte Schule und die Bocktriller der Sängerin bewundert ... Lucinde war endlich von dem beschlagenen Fenster erlöst, aus Umgebungen, wo sich einige Beamte und gemäßigte Commerzienräthe, die einen ghibellinischen Orden im Knopfloch trugen, durch den Gesang der Primadonna nicht hatten hindern lassen, von den Zeitläufen zu flüstern ... Pamphlete, die in Belgien gedruckt waren, wurden erwähnt; Vorgänge im Kapitel spannten ihre Neugier; der Severinusverein hatte mit einem evangelischen Handwerkerverein gestern eine blutige Schlägerei gehabt; Plakate in einem eigenthümlichen alten Drucke, »Himmelsbriefe«, waren von den Straßenecken abgenommen worden; die Worte: Rom, Gesandtschaft, wiener Staatskanzlei fielen ... Lucinde konnte nicht verweilen, da sie der Gegenstand allgemeiner Neugier wurde und aus einer Vorstellung in die andere kam.

Sie selbst suchte nur Benno. Als sie hörte, der fehle und wäre schon nach Witoborn, entsank ihr jede Kraft und Sammlung ... Denn mitten unter all diesen Huldigungen blieb, was sie auch an Männern sah, nur Grund zur Vergleichung – mit Dem, für den sie leben und sterben wollte ...

Die Commerzienräthin zog sie in einen Kreis, wo sich eine lebhafte Debatte entsponnen hatte ...

Eine Dame, der sie hier vorgestellt wurde, saß in einem kleinen Eckdivan, umgeben von einer Anzahl Herren und Damen, die sich ebenso an der Erscheinung wie an der Conversation dieser Frau zu erfreuen schienen. Sie trug ein hellfarbiges, mit seidenen Streifen durchwebtes einfaches Tüllkleid und darüber eine große schwarze Atlasmantille, mattblau gefüttert, fast wie einen Shawl, aber auch wieder wie eine herabhängende Toga, mit Schnüren auf der Brust und an den Aermelöffnungen. Die ebenfalls blaue Auslage des rundgezackten schwarzen Kragens verdeckte fast den Hals und gab diesem eine eigenthümliche Einfassung, wie wenn er neckisch sich in ihm versteckte. Das Merkwürdigste für alle Umstehenden war der Kopf dieser schönen Frau, der halb der Jugend, halb dem Alter angehörte. Aus einem Halbhäubchen von schwarzem Flor, besetzt mit blauen Blumen, quollen eine Anzahl grauer Locken hervor.

Die Commerzienräthin sprach von »der Frau Baronin«. Daß Lucinde vor Armgart's Mutter stand, mußte sie sich erst selbst allmählich entnehmen.

Lucindens Erscheinen fiel auch hier auf. Jemand, der der Dame am nächsten saß, sprang sogleich auf und bot ihr zuvorkommend seinen Sitz. Ein paar feurig durchbohrende Augen warf er dabei auf Lucinden, die erröthete. Der Gefällige vergaß fast, daß er es war, der das Wort führte und daß alle bisher an seinem Munde gehangen hatten.

Mit einer fremdartigen Betonung, aber außerordentlich geläufig und einschmeichelnd erzählte er Vorgänge, die Lucinde sogleich als auf die Gräfin Paula sich beziehend erkannte. Das waren Wetterschläge in ihr Herz ... Die Lage des Camphausen'schen Processes war ihr geläufig genug, um zu begreifen, daß der Sprecher jener Bevollmächtigte der wiener Erben, Herr von Terschka war, jener Terschka, der einst schon in Kiel sie gesehen und damals durch eine Debatte über ihre Nase die nächtliche Scene mit dem Kronsyndikus veranlaßt hatte ...

Terschka wiederum, in dessen Ohr noch bei dem Worte: Fräulein Lucinde Schwarz! die Bezeichnung: Eine ultramontane Emissärin! von der Villa der Gebrüder Fuld nachklang und der sich seitdem gleichfalls auf die Tage von Kiel besonnen hatte, Terschka begleitete alles, was er sprach, mit Blicken, die sich zwischen Lucinden und Monika theilten.

Monika saß in tiefem Ernst und spielte zerstreut mit ihrem Fächer. Terschka war vor wenig Stunden angekommen, um noch die Gräfin vor ihrer Weiterreise zu begrüßen. Ohnehin zu spät eingetroffen, mußte er in dieser Nacht wieder zurück ... In seinem ganzen Wesen lag die Elasticität der Aufregung, die für Monika vollkommen verständlich gleichsam ausdrückte: Auch nur eine Stunde in deiner Nähe verweilt – und ich bin überreich belohnt!

In dem Bericht über die außerordentlichen Heilungen, die man Paula verdankte, fiel bei Erwähnung der Gesichte, die Paula sähe, das Wort:

Der Teppich, auf dem der Domherr von Asselyn als Archipresbyter zu Sanct-Libori nächstens die erste Messe lesen wird, stellt eine Vision der Gräfin vor. Der sogenannte Philosoph von Eschede, Doctor Laurenz Püttmeyer, hat diese Vision gezeichnet und vierundzwanzig Stiftsdamen und Freifräulein der Umgegend stickten bisher Tag und Nacht daran. Das Ganze ist jetzt vollendet und sieht sich an wie eine Offenbarung Dante's ...

Für Lucinden lagen in jedem Worte dieses Berichts durchbohrende Nadeln und Stacheln des Neides und der Eifersucht ...

So würden wir ja, nahm eine ihr wohlbekannte Stimme die Rede auf, die Erscheinung der heiligen Hildegard noch einmal haben, die bekanntlich schon ebenso viel von der Natur wußte, wie Alexander von Humboldt, und noch dazu in einem viel wahreren Geiste ...

Der Sprecher war der Außerordentliche. Mit einem artigen Gruße an Lucinden hatte er sein: »Bekanntlich« gleich im Ton als »unbekannterweise« gegeben und fuhr deshalb docirend fort. Er ahnte nicht, daß zufällig eine anwesende Person im Leben jener Heiligen, deren »Physik« seit einiger Zeit durch die Bekenner der »frommen Naturwissenschaften« bekannter geworden, sehr heimisch war ...

Sie kennen Bingen, meine Herrschaften? fuhr der Professor mit hochliegender Stimme fort. Sie kennen den höchst vortrefflichen Scharlachberger der Beste Klopp und die Lokalerinnerungen an Kaiser Heinrich IV.? In der Nähe dieser gegenwärtigen Victoria-Hotels und Bellevues lag sonst das Kloster Disibodenberg, dessen Aebtissin vor achthundert Jahren Hildegard gewesen ist, die Tochter eines adeligen Vasallen der Grafen von Sponheim. Schon im dritten Lebensjahre hatte sie Visionen. Sie gab ihr Erbe auf, schenkte es der Kirche, wurde Benedictinernonne und lebte schon hienieden im Geruch der Heiligkeit. Sie sah den Himmel offen, heilte, that Wunder, schrieb, ohne die Sprache gelernt zu haben, im entzückten Zustande Latein. Sie war eine Gotterleuchtete, die nach allen Richtungen hin Spuren ihres Geistes zurückließ. Ich nenne nur ihre Einsichten in die Naturwissenschaften. Sie hat vom Bau des menschlichen Körpers, von den Kräften der Luft, des Wassers und Feuers mehr gewußt, als die atomistische Physik des achtzehnten Jahrhunderts!

Lucinde dachte bebend an Paula ...

Die Frau aber mit den silbernen Locken, die sich von der Hitze des Zimmers lösten und lang in ihren Ueberwurf hinunterglitten, den sie jetzt öffnen mußte, erwiderte plötzlich scharf und bestimmt:

Die heilige Hildegard war im Gegentheil beinahe eine Vernunftgläubige!

Alles horchte auf ...

Wie so? fragte der Außerordentliche, stutzig über den Muth der Interpellation und ein in dieser Gesellschaft gebrauchtes anstößiges Wort ...

Monika erwiderte:

Jede Zeit hat ihre eigene Art, den Antheil für edlere Dinge auszudrücken. Was in unserm Jahrhundert die Philosophie ist, war vor achthundert Jahren das Christenthum ...

Bitte! Erlauben Sie! unterbrach der Professor hocherstaunend ... Aber ein Glück für den Vater, daß dieser in einem hintern Zimmer am Whisttische saß. Sonst hätte er erlebt zu hören, daß die allgemeinste Spannung über die gelehrte muthige Frau seinem Sohn, seinem Stolz, ein zischendes St! rief – und das in einem Kaufmannssalon ...

Frau von Hülleshoven fuhr bei der im Zimmer eingetretenen lautlosen Stille fort:

Wenn eine Zeit voll Barbarei der Wunder bedarf, um sich dem göttlichen Weltplan zu fügen, so geschehen auch Wunder. Der Mensch macht seine eigenen Thaten dann selbst dazu und läßt immer nur Gott die Ehre. Die Eingebungen einer Hildegard kamen aus der Sphäre, ja geistigen Sprache her, die damals allein verstanden wurde und allein wirkte. Das Christenthum in der Bedeutung, wie wir es jetzt zu citiren pflegen, ist dabei ganz unwesentlich!

Das ist ja offene Ketzerei! warf der Gegner dazwischen, lächelnd freilich und noch verbindlich ... Aber wieder mußte er erleben, daß ihm gezischt wurde. Man zischte auch über das harte Wort gegen eine Dame ...

Nennen Sie es, wie Sie wollen! fuhr mit einem eigenthümlich bittern Lächeln die jugendliche Sprecherin fort. Ich verweise Sie nur auf die vielen Bestätigungen, die Hildegard für meine Behauptung gegeben hat. Sie hat bei ihren Visionen immer nur das praktische Leben und die Besserung der Sitten im Auge gehabt. Hildegard war eine kleine schwächliche Person, immer kränklich, jedenfalls von einer somnambulen Anlage ...

Gräfin Paula ist schlank wie eine Tanne! warf Terschka hinein, artig – doch offenbar in der Absicht, Monika zur Mäßigung zu mahnen ...

Diese fuhr jedoch fort:

Hildegard sah Erscheinungen, Engel und sie heilte. Aber ihre Visionen waren von einer strafenden und ermahnenden Tendenz. Ihre Heilungen erfolgten nicht ohne Beistand ihrer Kräuterkunde und die Beobachtung des menschlichen Körpers. Sie ermahnte den Papst, der kranken Kirchenzucht zu helfen. Sie gerieth in Streit mit dem Erzbischof von Mainz über die Beschuldigung, einen Excommunicirten auf dem Gottesacker ihres Klosters bestattet zu haben. Sie machte sogar Reisen. Daß sie dabei nur die Klöster besuchte, lag im Charakter einer Zeit, wo es noch keine Victoria-Hotels gab und eine Frau mit einigen weiblichen Begleiterinnen nicht auf Ritterburgen übernachten konnte. Die Klöster waren für jene Zeit vortrefflich. Sie waren die Herbergen, die Gasthöfe jener Zeit. Sie besuchte Paris. Denken Sie sich eine Reise nach Paris in jener Zeit! ... Eine Reise nach Paris für eine Frau!

Auf einer Reise nach Paris würde man jetzt allerdings nicht mehr in Klöstern absteigen! warf eine Stimme hinter der sich mehrenden dichten Gruppe ein ...

Nück's Stimme! sagte sich Lucinde, als alles lachte ...

Sie und die Sprecherin waren der Mittelpunkt geworden und Terschka's Augen ließen weder von ihr, noch von Monika ...

Monika fuhr in dem Gemurmel der Freude, den volksthümlichen Nück zugegen zu wissen, fort:

Wie vernünftig, wie praktisch diese Heilige war, beweist auch der Umstand, daß sie zwar bis in ihr achtzigstes Jahr Wunder verrichtet haben soll, aber im Tode gänzlich damit aufhörte ...

Ein Geflüster und Lächeln ...

Bitte! unterbrach der Professor der gläubigen Naturwissenschaften. Der Erzbischof von Mainz verbot der Todten ausdrücklich, noch Wunder zu verrichten!

So viel Ghibellinen hatte Piter eingeladen, daß jetzt sogar die Welfen über diese Aeußerung mitlachen mußten ...

Man muß das anders erklären! erwiderte Monika, während der Außerordentliche sich im Kreise rundum schaute und strafende Blicke nach allen Seiten austheilte. Es wäre manchmal sehr schön, wenn man die Reize des Niederwaldes und die Aussicht vom Victoria-Hotel auf Rüdesheim auch den Engländern in Bingen verbieten könnte. Der Zudrang zum Grabe der Heiligen wurde so groß, daß man den daraus entstehenden Unordnungen steuern mußte. Deshalb verbot der Erzbischof der todten Aebtissin die Wunder. Und die Heilige erschien dann dem Erzbischof von Mainz und erklärte ihm, sie wollte ihm auch noch im Tode gehorsam sein. Das war aber lediglich eine Ironie der vortrefflichen Frau; sie hatte ihr Lebtag so viel Aerger mit den Vorgesetzten der mainzer Erzdiöcese gehabt, daß sie ihnen auch noch im Tode gelobte, ihren Willen zu thun.

Ein schallendes Gelächter brach aus ...

Die Entrüstung des Außerordentlichen steigerte sich so, daß sie jetzt schon von Johannen, seiner Verlobten, heimlich beschwichtigt werden mußte ...

Lucinde, die nur ruhig beobachtete, würde mehr aufgethaut sein, wenn sie nicht fast physisch gefühlt hätte, wie Nück, den sie nicht sah, sie beobachtete ...

Aber, fuhr die scharfe Frau zur Mehrung ihres Triumphes fort, aber auch wahrhaft liebende und geistvolle Freunde hat die Aebtissin gehabt! Das müssen Sie schon darum zugeben, weil sie des Lateinischen unkundig war, nur im magnetischen Zustande etwas davon wegbekam und doch soviel Schriften gerade in dieser Sprache hinterlassen hat. Ein einfacher Beichtvater, von dem die Welt nur weiß, daß der Treffliche Pater Gottfried hieß, war ein so treuer Freund ihrer Seele, daß er alles niederschrieb, was sie in den Wolken gesehen zu haben vermeinte, und es dann noch später mit ihr ausarbeitete. Dieser bescheidene Mönch war also noch etwas mehr, als Goethen sein Eckermann. Er war der Geist einer Frau, die keinen Körper, nur eine Seele gehabt zu haben scheint. Gottfried selbst stand unter dem Eindruck ihrer Bezauberung. Er hörte seine Freundin, die auf dem Bette lag, phantasiren. Sie dictirte ihm die Briefe an die, die ihren Rath begehrten. Sie sprach deutsch und sein Ohr hörte und seine Feder schrieb Latein. Er übersetzte nichts, er schrieb die Gesichte seiner Freundin gleich in seiner geistigen Muttersprache nieder. Das war gerade so, wie Plato den Sokrates Dinge sagen läßt, die er nie gesprochen und die Plato darum doch nicht log. Aus Sokrates' Geiste dichtete Plato seine Dialogen; die Dichter lügen nicht, wenn sie auch noch soviel erfinden. Oder glauben Sie nicht, daß Sokrates somnambul war? Jeder große Geist ist somnambul. Jeder Genius hat einen Dämon wie Sokrates. Jeder Heroe handelt unzurechnungsfähig. Diese Hildegard war die einzig mögliche Diotima des Mittelalters. Aber welche Thorheit, wenn man noch jetzt in ihrer alten Sprache lallen wollte! Ich möchte wol wissen, wenn man die Gräfin Paula fragte, was Hildegard gefragt wurde, als der Dechant Philipp von Köln an sie schrieb, ob sie in ihren Visionen nichts über den kölner Klerus gesehen hätte? ...

Ueber den kölner Klerus? rief man durcheinander ... Lucinde lachte mit in den Chor hinein. Sie fühlte Schadenfreude – über eine Gegnerin Paula's ...

Gewiß, gewiß! sagte Monika. Die Nonne von Dülmen hätte schwerlich auf diese Frage wie Hildegard geantwortet! Sie hätte ohne Zweifel alle Domherren von Köln für künftige Heilige erklärt!

Ein neuer Sturm ...

Aber Hildegard? Was sagte sie denn? drängte man ... Die Zahl der Umstehenden nahm immermehr zu ...

Hildegard antwortete zuvörderst: Der ewige Gott, der da ist, war und sein wird, wird alle Runzeln der Zeit ausglätten! Wer ist dieser Gott? fährt sie fort. Die Sonne ist das Licht seiner Augen, der Wind sein Gehör, die Luft sein Geruch, der Thau sein Geschmack. Der Mond ist Gottes Uhr, die Sterne sind sein Denken, denn in ewigen regelmäßigen Kreisen dehnt sich alles Denken ... Hat wol die Nonne von Dülmen jemals die Gottheit so erhaben definirt? Sie sah nur Nägelmale und blutende Heilandswunden!

Eine Todtenstille trat ein ...

Man würde Hildegard jetzt für eine Pantheistin erklären! bemerkte Terschka vermittelnd, während der Außerordentliche vor Staunen und Befremdung über diese Sprache in aller Blicken zu lesen suchte ...

Noch mehr! fuhr Monika unerschrocken fort. Die heilige Hildegard war Vulkano-Neptunistin, schon achthundert Jahre vor den Theorieen Cuviers über die Bildung der Erdrinde. Sie sagt an jener Stelle, Gott spräche: Steine hab' ich aus Feuer und Wasser gegossen und die Erde aus Feuchtigkeit und Keimkraft dargestellt. Ich habe Gewölbe ausgeweitet, welche die Körper tragen, um dieselben her befindet sich die Feuchtigkeit zu ihrer Befestigung. Hätten die Wolken nicht das Feuer und das Wasser, so würden sie wie Asche sein ...

In das Erstaunen der Zuhörer und der Bewunderung vor dieser seltsamen, jetzt fast feierlichen jungen Frau, mischte sich wieder von hinterwärts her die helle und scharfe Frage aus der Menge:

Aber bitte, bitte! Was sagte sie über die kölner Geistlichkeit?

Lautes schallendes Lachen ...

Es war wieder die Stimme des geliebten, populären Redners ... Lucinde sah ihn nicht ...

Sie vergleicht die Würde der Geistlichkeit zuerst den höchsten Erscheinungen in der Natur! fuhr Monika fort und eklipsirte den Außerordentlichen heute bis zur vollständigen Nullität. Abel, Noah, Abraham, Moses, alle wären Priester gewesen, sagte Hildegard, und hätten in Gottes Haushaltplan der Schöpfung eine große Rolle durchgeführt; die vier Propheten wären wie die vier Weltgegenden zu betrachten, die die Erde begrenzten. Und die kölner Geistlichkeit – nun von der, sagte sie, die – ich wiederhole wörtlich – die – blase schlecht auf der Posaune der Gerechtigkeit ...

Die Erinnerung an die Baßposaune erzeugte ein fortgesetztes Gelächter. Denn selbst die Welfen waren mit den jetzigen Kundgebungen ihres plötzlich über den Kirchenstreit eingeschüchterten Kapitels nicht im mindesten einverstanden ...

Eine Posaune, fuhr Monika, als die Zuhörer sich beruhigt hatten, fort, ist ein so erhabenes Instrument, daß es seine Intervallen haben muß. Bei aller Verehrung vor dem Talente, das uns vorhin die süßesten Arien auf ihr vorgetragen hat, würden Sie doch von diesem erhabenen Instrument keinen Walzer hören wollen (Piter hatte allerdings gerade einen Strauß'schen Walzer auf der Baßposaune als die Girandole des Abends und den Uebergang zum gemüthlichen »Ulk« bestellt gehabt). Die kölner Geistlichkeit aber blies sozusagen die Posaune der Gerechtigkeit in diesen Sechszehntelnoten, d.h. wie die Heilige sagt, »ohne Einhaltung passender Zeiten« und manchmal gar nicht und manchmal im »Uebermaße« und manchmal heftig und dann ganz abbrechend, kurz ohne jede wahre musikalische Empfindung ...

Ein allgemeines beifälliges Murmeln deutete an, daß man diese Ungleichmäßigkeit des priesterlichen Wirkens vollkommen verstand ...

Sie will sagen, fuhr Monika fort, ihr übt euer Amt gedankenlos, seid streng aus Gewohnheit, verhängt Strafen ohne zu überlegen, wie die Fälle sind! Ihr seid, schreibt sie, eine finsternißathmende Nacht, ein Volk, das aus Ueberdruß an zu vielem Licht nicht länger darin wandeln mag! (»Ueberdruß an zu vielem Licht« – Lucinden fiel ein Schlaglicht – auf den gefangenen Klingsohr.) Sie tadelt die kölner Handwerksmäßigkeit in der Uebung des Priesteramts. Auch die Sünden der Leidenschaft fehlten nicht und doch wolle man daselbst »die Ehre der Heiligkeit ohne Anstrengung« gewinnen. Sie vermißt das reine Feuer und den Duft der Lieblichkeit ...

Das Gemurmel wurde so groß, daß der Außerordentliche sich dem Beifall anschließen mußte und sogar für die Bemerkung: Und vergessen Sie nicht, gnädige Frau, daß die Heilige selbst in Köln gewesen ist! Beifall erntete ...

Um so mehr also! ergänzte Monika. Und sollte man nicht glauben, daß sie schon die Neigung der Kölner für Männergesang und Carneval gekannt hat, wenn sie – ich bitte die lieblichen Sänger von vorhin um Vergebung – sagt: »Ihr aber seid schon durch jeden fliegenden weltlichen Ruhm überwunden, sodaß ihr euch sogar als singende Possenreißer hinstellt!«

Bravissima! rief glücklicherweise das ganze Quartett selbst; es war vom Erfolg seiner Lieder im höchsten Grade befriedigt ... Moppes gab das Signal ... Monika sprach auch so lächelnd, daß sie nicht verwunden konnte ... Ihre grauen Locken hatten etwas so lieblich Elegisches, daß jeder entwaffnet war ...

Terschka freilich wurde immer unruhiger und wechselte wieder Blicke mit Lucinden, die aufs neue durch Nück's Stimme erschreckt wurde ...

Und die Kaufleute! Die Kaufleute! rief Nück, gleichsam den Uebermuth der Kaufleute, die hier so viel auf Kosten anderer lachten, strafend ...

Sie spricht nur von der Geistlichkeit! fuhr Monika fort. Die Pfründen wirft sie ihnen' vor, wenn sie sagt: »Wegen eures Reichthums unterweist ihr eure Untergebenen nicht und gestattet nicht einmal, daß sie bei euch Belehrung suchen, indem ihr sprecht: Alles können wir nicht ausrichten!«

Wiederum ein schallendes Gelächter ... Selbst der Kanonikus war vom Spieltisch vorgekommen, zog in dem allgemeinen Jubel seine Dose und fand die Moral auch jetzt im höchsten Grade noch anwendbar. Denn wie oft war nicht gerade erst kürzlich bei der Ernennung eines so jungen Domherrn, wie Bonaventura, in der engeren Curie gesagt worden: »Alles können wir nicht ausrichten!« ... Die Commerzienräthin stand in der Nähe. Sie war vielleicht die einzige, die nicht wußte, wovon die Rede war, aber sie lachte mit, da sie den Kanonikus lachen sah.

Ich will die dann folgenden Rügen gegen die mangelnde Sittlichkeit der kölner Geistlichen nicht wiederholen! fuhr Monika fort. Auch sind mir die Ausdrücke entfallen. Nur die ganz besonders überraschenden, die ich noch kürzlich las, weil meine Reise mich auch nach Köln führen soll, prägte ich mir mit Vorliebe ein. So macht sie der kölner Geistlichkeit den Vorwurf der diplomatisirenden Nachgiebigkeit ...

Aha! murmelten die Fanatiker ...

Das Predigen und Lehren, das starke Zeugen für Gottes Gesetz wäre dort nicht an der Zeit mehr!

Aha! Aha!

Ja, daß die Heilige dann den Kölnern die Reformation prophezeit, ist allbekannt ...

Wie? fragten die Ghibellinen staunend ... Unter den Welfen verbreitete dies Stichwort sofort eine ängstliche Stille.

Terschka winkte Monika ... Aber sie fuhr fort:

Nein! Nein! Fürchten Sie nichts! In diesem Punkt ist die heilige Hildegard so beschränkt wie die Nonne von Dülmen und wahrscheinlich auch wie – die »Seherin von Westerhof« ...

Terschka wurde immer unruhiger und sprach mit seinen flammenden Augen: Mäßigung! Mäßigung!

Trotz des Schweigens, das nun eintrat, fuhr Monika fort:

Wo ist jetzt wol eine Ekstatische, die so den Papst, die Erzbischöfe, die Domherren und Priester strafte, wie diese Aebtissin! Aber leider – in Einem war sie schwach. Sie lebte in einer Zeit, wo es der Ketzer schon genug gab, in einer Zeit, wo man die Albigenser und Waldenser in Frankreich und in den piemontesischen Thälern mit Feuer und Schwert vertilgte. Die Glaubensgerichte konnten nur den ketzerischen Lehren, aber bekanntlich nicht den vortrefflichen Sitten der Ketzer beikommen. So ergibt sich Hildegard in diese Gewißheit, daß auch die künftige große Reaction gegen die kölner Geistlichkeit zwar vom Teufel ausgehen, aber ein außerordentlich klug gewähltes Gewand tragen würde. Sie sagt, das Volk würde diesen gemäßigten, in Zucht und Ehren lebenden neuen Predigern allerdings anhängen. Der Teufel stünde mit verborgenem Leuchter, daß man ihn nicht sehen könne, und spräche: Ha, ha! Da glauben sie immer, ich müßte in Gestalt von Thieren, von Drachen oder von Fliegen kommen! Aber ich mache mich auch einmal den Propheten »ein wenig ähnlich!« Nun will ich machen, daß man tugendhaft nicht blos scheinen, sondern auch sein kann und doch nicht in Gott lebt!

Und ehe man noch über die Schärfe dieser Reden sich sammelte, wiederholte Monika:

Tugendhaft sein, nicht etwa blos scheinen, sondern sein, und doch nicht von Gott stammen!

Monika wollte die Verurtheilung dieser Verblendung.

Aber der Außerordentliche rief:

Das ist ja ein erhabenes Wort! Das ist ja die Selbstherrlichkeit Ihrer Philosophie! Trefflich! Trefflich! Darin findet die Heilige die künftige Hölle der kölnischen Geistlichkeit! Die scheinbare Logik der Kirchenverbesserung ist es ja, die scheinbare Tugend ihrer Bekenner, die scheinbare Aehnlichkeit mit den Propheten, die scheinbare Größe der, wie man sich rühmt, reiner erkannten Schrift, dies ewige Frösteln in der gemäßigten Temperatur des Rationalismus, das zu sehen, das der Menschheit genügend finden zu sollen, ja allerdings das kann und muß für jede rechtgläubige Seele schon auf Erden die Hölle sein!

In ein Murmeln der Ghibellinen hinein entgegnete Monika:

O häufen Sie nicht soviel Schmach über das arme kleine kranke Mütterlein, das da in seiner binger Klosterzelle so Großes und so Entsetzliches träumend lag! Wer weiß, ob ihr treuer, mit ihr alt gewordener Freund, der Benedictiner Gottfried nicht zitterte vor dem, was sie sah und er gehorsam der Hocherleuchteten nachschreiben sollte! Immer hatte sie den schönsten, liebenswürdigsten Wahrheitsdrang, den es nur in einem Frauenherzen geben kann, aber daß sie vor einem andern Lehrsatze erschrickt, als dem, in dem sie unterrichtet wurde, das ist die Unreife ihrer Zeit. Und daß sie noch so gerecht ist und dem Teufel einräumt, ein so guter Schauspieler zu sein! Die Ketzer sind tugendhaft, sagt sie, aber traut dieser Tugend nicht! Diese Tugend stammt nicht einmal aus Verstellung – das schreibt sie wörtlich – nein, der Teufel gab den Albigensern und Waldensern, die Innocenz III. mit Feuer und Schwert vertilgt wissen wollte und deren er allein bei Schloß Castellungo im Piemontesischen Hunderte verbrennen ließ, die Kraft, wirklich tugendhaft zu sein, wirklich die Sitte der Frauen zu schonen, wirklich enthaltsam zu sein, aber – der Teufel erfüllte nur die »Luft mit solchen Geistern«, daß sie sagten: O wir sind heilig und vom Heiligen Geiste durchgossen! Das Volk wird sich, fährt sie fort, an ihrem Wandel erfreuen, wird ihnen folgen; sie werden sogar die guten Streiter der rechtgläubigen Kirche schonen, hören Sie, schonen d.h. diese Unglücklichen werden, wenn sie einmal ein klein, klein wenig Macht haben, gegen Andersdenkende liebevoll und tolerant sein ... aber alle diese Beweise von Milde und Güte sieht die arme kleine unglückliche gebrechliche Frau nur als Lügen an; alles muß der Teufel gemacht haben, alles, alles, was sie beinahe schon liebt, schon bewundert! Ist das nicht entsetzlich? Die Albigenser und Waldenser wurden mit Feuer und Schwert vernichtet, sie starben in den Flammen mit einem Hosianna, sie waren liebevolle Väter, treue Gatten, zärtliche Gattinnen, aufopfernde Mütter, gehorsame Kinder; aber – daß sie alles das waren, das hatte der Teufel nur so in die Luft »gezaubert«! Gezaubert! Das die Welt glauben zu machen, war von Seiten Roms gewiß die größte Zauberei!

Die junge Frau hatte sich erhoben ...

Zwar stand ihr die Leidenschaft, mit der sie ihre Ueberzeugungen aussprach, herrlich schön ... Ihr Auge blitzte voll göttlichen Feuers ... Ein Zug des Schmerzes um die beredten Lippen gab ihrem Vortrage und der Geltendmachung ihrer Kenntnisse soviel Ueberzeugtes und Ueberzeugendes, daß sie die Königin des Abends gewesen wäre, wenn nicht eine ängstliche Stille ihrer Rede gefolgt wäre, alles auseinander ging und Terschka, aufspringend, bemüht gewesen wäre, wenigstens scherzend die Stimmung wieder in den für diese Stadt und solche Gesellschaft angemessenen Geist hinüberzulenken. Sie sind krank! flüsterte er ihr heimlich zu'; dann rief er mit schnell sich fassender Geistesgegenwart:

Gnädige Frau, das erinnert mich ja ganz an eine Aeußerung Ihres Fräuleins Tochter! Fräulein Armgart bekam durchs Loos an dem Teppich für den Domherrn von Asselyn einen Theil zu sticken, auf dem ein häßlicher Drachenkopf abgebildet ist. Erst war sie darüber ganz außer sich! Hernach sagte sie, daß sie den Drachenkopf schon ganz lieb gewonnen hätte und sie nun wohl einsähe, wie man sich so auch durch längern Umgang an den Teufel gewöhnen könnte!

Der noch gebliebene Kreis ging auf Terschka's gute Laune ein und rasch fuhr er fort:

Ja, meine Damen! Das wird ein Prachtstück werden! Es ist, wie gesagt, eine Vision der Gräfin! Der Körper des heiligen Liborius wurde aus Frankreich hierher herübergebracht zum Geschenk von Kaiser Ludwig dem Frommen. Dem Schrein voraus, erzählt die Legende, zog wunderbarerweise ein Pfau, der sich der feierlichen Procession angeschlossen hatte und nicht weichen wollte. Der Vogel des Stolzes wurde der Vogel des Triumphes. In der Vision der Gräfin ist er riesengroß und schlägt ein majestätisches Rad durch alle Himmel und über die Erde und über die Hölle. Der Regenbogen ist es, den die letzten Augen seines Schweifes bilden. In den Ecken sitzen geflügelte Löwen und Leoparden und tief unterwärts Drachen und Lindwürmer. Nach Comtesse Paula sollte der Pfau, der der Verherrlichung des heiligen Liborius gewidmet ist, auf seinem Haupte die dreifache Krone tragen. Da man aber vom hochwürdigsten Sitz des Heiligen Vaters leicht ein unehrerbietiges Bild darin hätte sehen können, substituirte man als Haupteszierde des Pfauen ein Kreuz ...

In dem Geplauder fing man an sich zu zerstreuen ...

Eine Furcht vor einer so über alles Maß hinausgehenden Meinungsäußerung wie bei Monika schien sich der Meisten bemächtigt zu haben und der Außerordentliche triumphirte ...

Da es zum Souper zu gehen schien, erhob sich auch Lucinde, die sonst in der Laune war, zu jedem Fiasco, das jemand machte, schadenfroh zu lachen ...

Die Gräfin las den Dante! sagte sie zu Monika und suchte durch ein Lächeln die hier verfehlte Wirkung ihrer Vertheidigung der Reformation zu zerstreuen ...

Mit Ihnen! ergänzte Terschka, sich schnell einmischend ...

Sie hatte allerdings mit Paula zusammen italienisch gelernt ...

Lieben Sie Dante? fuhr Terschka fort ...

Lucinde schüttelte den Kopf ... Es war ihr in ihrem Leben von Klingsohr so viel über Dante gesprochen worden, daß sie ihn schon deshalb nicht mochte ...

Recht, mein Fräulein! sagte Monika, bitter lächelnd über die Welt der Vorurtheile. Auch ich mag ihn nicht, diesen finstern Italiener ...

Der Professor kam, um den Wirth zu machen, mit Tellern und offerirte verbindlich und ironisch ...

Wen? fragte er ... Wen mögen Sie nicht leiden?

Dante, Dante! sagte Terschka ...

Wie? lautete ein ironisches Erstaunen; Dante nicht, der – den Päpsten doch fluchte?

Sie lieben ihn also! Und warum? entgegnete Monika und stellte den Teller sich zur Seite auf einen nahe stehenden Tisch, da sie nicht essen mochte und sich zum Gehen rüstete ...

Weil Dante für seine Zeit der größte aristokratische Dichter war! Und für unsere Zeit ist er der katholischste!

Damit entschlüpfte er triumphirend ...

Ich mag ihn nicht, grollte Monika düster vor sich hin, während Terschka einen Tisch arrangiren wollte und sie zurückhielt ...

Fast wäre sie geblieben, als sie aus Lucindens Munde durch folgende Worte überrascht wurde:

Ich finde an Dante peinlich, sagte das ihr jetzt erst auffallende schöne junge Mädchen, wie er sich müht, Martern zu ersinnen, die er seine Gegner erleiden läßt! Weil ihn seine Mitbürger aus Gründen nicht mochten, ruft er die Fremden zu Hülfe, will Italien mit Feuer und Schwert von den Ghibellinen und den Deutschen verwüstet haben und läßt alles, was ihm persönlich oder seinem Princip misgünstig scheint, in der Hölle gemartert, gesotten und gebraten werden. Eine grellere Einbildungskraft hat es noch nie an einem Dichter gegeben, als sich hinzusetzen und zu grübeln) welche Qualen dem oder jenem seiner Feinde einst zu Theil werden würden! Und wen wirft er nicht alles in seine Hölle! Einen Brutus, einen Cato, einen Cassius! Ueberall wittert er Unordnung in seinem Sinn und Freiheit und was darunter die florentinischen Gilden verstanden haben mögen, die nur seinen hohen Werth nicht anerkannten, nicht seine gelehrten Verse mochten, in die er, wie er sagte, seine Feinde lebendig einmauern wollte. Beatrice liebte er, nur um ein Ideal für seine Phantasie zu haben; im Leben und als Person war sie ihm völlig gleichgültig. In der That, wenn ich die wie mit Gift geschriebenen Verse Dante's lese, diese lang hingezogen sich ringelnden Terzinenschlangen und Molche, diese dem Verstand abgequälten Bilder und Allegorieen, zu denen man, um sie zu verstehen, dicke Commentare lesen muß, so könnt' ich mich wie eine welfische Löwin fühlen, die mit dem demokratischen Haß eines Vorstehers der florentinischen Schustergilden dem Adler der Ghibellinen den Kampf anbieten könnte. Ich sympathisire dann mit den Mönchen, die auf den Zinnen der italienischen Mauerthürme gegen die Ghibellinen kämpften –

Ein Savonarola war unter ihnen! fiel Monika voll Staunen und gesteigerter Theilnahme ein ...

Pötzl, der Träger der Bologneser, unterbrach eine fast leidenschaftliche Annäherung Monika's und sprach heimlich mit Lucinden ...

Monika fuhr inzwischen fort:

Und da muß ich wieder Mutter Hildegard eine wunderbare und liebliche Poetin nennen. Die blickt auch in die Hölle, aber sie schmort und kocht und foltert die Gottlosen doch nicht so greulich, wie dieser Dante, dessen Bild mit seiner langen Nase und dem dicken über die Kapuze gezogenen Lorberkranz ich nie sehen kann, ohne an ein altes Weib zu denken ...

Lucinde wurde zur Commerzienräthin abgerufen, die bei ihrem fortwährenden Patrouilliren und dem dutzendmal wiederholten Worte: »Haben Sie denn auch ein Glas?« naturgemäß jetzt überall auf Pitern zurückkommen mußte. Das Muttergefühl und die Sorge der Hausfrau siegte über die Liebe zu den Bolognesern und zu den Hausfreunden und zu hundert Fremden, mit denen sie Conversation begann und nach fünf Worten wieder abbrach. Lucinde bekam den bestimmtesten, ja von »Verzweiflung« dictirten Auftrag, eine Recherche nach der jetzt constatirten »ja furchtbar ängstlich werdenden und ein Unglück ahnen lassenden« Abwesenheit Piter's anzustellen.

Sie mußte sich besinnen, daß sie hier im Hause eine Dienende war ...

Monika sah, daß Terschka ihr einige Schritte folgte ...

Wer ist das schöne, seltsame Mädchen? fragte sie, als er zurückkehrte ...

Sie stand allein und Terschka nützte seinen Vortheil. Zwar machte er ihr ernstliche Vorwürfe, doch wurden sie von der Glut seiner Huldigungen gemildert ...

Monika hörte nur wenige seiner Worte, riß sich los und trat wie fliehend aus dem Zimmer ...

Der Abend rauschte und wogte dahin ...

8.

Die Worte der geistesstarken jungen Frau, die Widersprüche zweier Pole im Katholicismus – die größte Abhängigkeit und doch eine eigenthümliche Freiheit – hatten Lucinde in alle Gedankenreihen gestürzt, die ihr vorzugsweise schon oft bei Serlo's Memoiren entstanden waren ...

Aber mehr, mehr als alles, was sie zu einer würdigen Denkerhöhe, zu der auch sie so viel Berechtigungen in sich trug, emporheben und ihr den oft bitter errungenen, aber tiefinnerlich beglückenden Stolz, in solcher Höhe einsam zu stehen wie Alpenhäupter, erhaben über die alltägliche Denkweise der Menge, hätte einflößen können, quälte sie ihr eigenes Geschick ... Paula – Bonaventura – Hildegard – der Benedictiner Gottfried – alles das überwältigte und lähmte jeden Aufschwung ...

Ein großer Unterschied zwischen Monika und Lucinden! Monika eine Frau und liebend das Gute um des Guten willen. Lucinde ein Mädchen – den meisten ihrer Gesichtspunkte fehlte Ernst und Festigkeit und das Gute liebte sie nur, weil das Gute in den meisten Fällen das Klügere ist. Monika entsagte schon lange dem Leben und stellte sich entschieden auf sich selbst. Lucinde suchte einen Anhalt. Nicht von Hause aus saß Neid in ihrer Brust, aber er nistete sich mit der Zeit durch ihr Unglück ein. Die Unglücklichen sind neidisch. Sie werden sich immer sagen, daß sie sich ebenso berechtigt glauben zum Glück wie die Glücklichen .... Seltene, Edelste deines Geschlechts, ich habe dich lieb, ich bewundere dich, nimm mich in deine Freundschaft auf! Das konnte Lucinde nicht zu Monika sagen. Sie fühlte die anziehende Kraft dieser Frau, sie sah ihr liebliches Kind in ihren Zügen wieder und doch hätte sie nicht einen Schritt thun können, ihr mehr zu huldigen, als ihr Geist verdiente. Die Geringschätzung der katholischen Lehren würde sie wenig gestört haben ...

Schon auf der Treppe zu Delrings hinauf, wo sie etwas von Pitern zu erfahren hoffte, lachten sie die gewöhnlichen Larven ihres Innern an und sagten von der Frau in den silbernen Locken: Sie ist mit ihrer Familie verfallen! Sie hat unter den Vorurtheilen derselben zu leiden! So jung noch, so schön, und sie soll entsagen! Herr von Terschka ist ihr Anbeter! Vielleicht gar Graf Hugo! Was sprach sie nur von Castellungo? Von den Waldensern, die auch damals – den Hedemann so interessirten? ...

Rein und gläubig war nichts in ihrem Sinn. Nur wo sie unbedingte Liebe und Hingebung fand, wie bei Treudchen, da legte sie die Waffen nieder ...

Im obern Stock schien alles wie ausgestorben. Der lebendige und rauschende Abend hatte auch die Delring'sche Dienerschaft angezogen und Treudchen mochte zum Thee genügt haben ...

Lucinde hielt ihre Kleider, um sich durch das Rauschen derselben nicht hörbar zu machen.

Oben fand sie alle Thüren offen. Sie schlich sich näher. Das Ehepaar schien noch nicht zur Ruhe gegangen. Treudchen war nicht zu finden. Delrings waren ohne Zweifel in dem kleinen Boudoir, wo das Pianino stand und die verhüllte Madonna. In das leise geöffnete Wohnzimmer blickte Lucinde. Noch brannte hier eine Astrallampe, die, von einem großen dunkelrothen Tuberosenkranz von Papier gedämpft, ein magisches Licht auf Bücher und Nähwerk fallen ließ. In der hier herrschenden Stille lag ein geisterhaftes Etwas, gleichsam als lebte schon das Kind, um das soviel Kampf und nach Lucindens Meinung unnützer Streit geführt wurde. Aber die Stille wurde gespenstischer und gespenstischer ... Die Lauschende erschrak ... Ihr alles vom Gegentheil auffassender grausamer Sinn sah das erwartete Kind plötzlich statt in der Wiege – auf der Bahre ... Sie fuhr zurück, als wehte sie ein Eishauch des Todes an ...

Um Treudchen zu finden, mußte sie hinterwärts, dem Hofe zu.

Alle Zimmer waren hier dunkel ...

Endlich kam sie furchtsam und erschreckt an Treudchen's Kammer, die sie rasch wie Hülfe suchend öffnete.

Unfehlbar hätte sie jemand, der drinnen war, hören müssen, so leise sie die Thür auch aufklinkte.

Treudchen aber, die wirklich drinnen war, lehnte sich gerade zum Fenster hinaus, weit, weit hinaus ... sie hätte in den Hof fallen können ...

Erschrocken trat Lucinde näher und wollte sie am Sturze hindern ...

Treudchen klammerte sich mit der linken Hand am Fensterrahmen fest und jetzt sprach sie sogar hinaus ...

Nun zog sich Lucinde zurück in die dunkle Vorkammer ...

Herr Kattendyk! Herr Kattendyk! wisperte Treudchen zu den Fenstern Piter's, in welchen sich ein leiser Lichtschimmer entdecken ließ ...

Jetzt kehrte sie vom Fenster zurück und sprach mit weinerlicher Stimme vor sich hin:

Jesus Marie! Er verschläft den ganzen Abend! ...

Ein dumpfes Gemurmel von Menschenstimmen ließ erkennen, daß unten die Thür zur Verbindungstreppe mit den Zimmern Piter's offen stand, vielleicht der Hitze wegen. In diesen hintern Zimmern wurde gespielt ...

Lucinde kämpfte mit sich, ob sie Treudchen belauschen oder mit einem plötzlichen: Guten Abend! erschrecken sollte ...

Treudchen's Angst schien sich zu mehren, als sie an die Verbindungsthür trat, die seit einigen Monaten für immer geschlossen war. Der Schlüssel steckte; soviel Vertrauen hatte ihr Madame Delring geschenkt; aber die Thür zu öffnen war ihr streng verboten ...

Nun seufzte sie:

Er ist nicht in der Gesellschaft! Er schläft! Jesus, Marie, Joseph! Und kein Mensch kümmert sich um ihn!

Sie liebt ihn wirklich! sagte sich Lucinde mit einem vornehm herabblickenden Mitleid ...

Kein Mensch kümmert sich um ihn! wiederholte Treudchen halb weinend. Und der Abend geht vorüber, der sein Stolz sein sollte! Was macht man nur!

Am offenen Fenster rief sie wieder:

Herr Kattendyk!

Drüben blieb alles still ... Licht war im Zimmer, das sahe man ...

Lucinde sagte sich: Wenn ich einmal eine recht gute Handlung in der Welt begehe, soll es die sein, dich zur Frau Piter Kattendyk zu machen ...

Das Lachen, Reden, Tellerklappern, Gläserklingen von unten her nahm immermehr zu ...

Treudchen faßte einen Entschluß. Sie trat an die Thür, sah durchs Schlüsselloch, erfaßte den Schlüssel, drehte entschlossen einmal, zweimal um, drückte die Klinke auf und herein strömte eine blendende Lichtfülle, strömte in die matterhellte Kammer so strahlend, so feenhaft festlich, daß Lucinde unwillkürlich wieder in ihre Vorkammer zurückhuschte ...

Treudchen wagte sich vorwärts. Die Fülle des Lichts fiel auf ihre angstbleichen schönen Züge. In Anmuth hob sich lichterhellt die liebliche Gestalt von dem dunkeln Vordergrund ab. Auf den Zehen schlich sie an die Thür Piter's, die von innen durch einen Drücker, von außen durch einen Schlüssel zu öffnen war, einen Schlüssel, der leider nicht steckte ...

Tiefseufzend öffnete sie das Corridorfenster, lehnte sich auch da weit hinaus und räusperte laut, um hörbar zu werden. Dann rief sie wieder:

Herr Kattendyk!

Für Lucinden war dieser Beweis der Liebe Treudchen's ein Genuß. Noch viel länger hätte sie jetzt lauschen mögen. Sie hatte die Absicht, nach einer Weile hervorzuspringen und sie zu küssen. Sie war in Treudchen verliebt; diese – kritisirte sie doch nicht! Und Treudchen's Lebenslage glich der ihrer eigenen ersten Jugend ...

Nun aber wollte sie ernstlich Lärm machen, um Pitern zu wecken.

Eben kehrte Treudchen zum Schlüsselloch zurück und wisperte die ängstlichsten und dringendsten Rufe ... Da tönte vorn in den Delring'schen Zimmern eine Klingel; sie wurde zwar nur einmal, aber laut schallend angezogen.

Wie der Blitz schoß Treudchen an Lucinden vorüber und verschwand mit einer Schnelligkeit, die es unbegreiflich machte, wie sie zu gleicher Zeit noch die Thür ihres Zimmers anziehen konnte. Ehe Lucinde sich über die Störung hatte orientiren können, war sie im Dunkeln; auch das Licht Treudchen's war vom Zuge ausgegangen.

Lucinde wäre gern in diesem Dunkel geblieben ... mit sich allein ... mit dem Chaos in ihrer Brust ...

Der Befehl der Commerzienräthin war jedoch zu entschieden ... Sie öffnete und wollte stark an Piter's Thür pochen, hinter der der Lichtschimmer immer matter und matter zu werden anfing. Das offene Fenster störte sie. Sie war in bloßem Halse und hocherglüht ...

Eben, wie sie das Fenster schloß, hörte sie von unten her das leise Betreten der Corridortreppe ...

Da sie nichts zu fürchten hatte, drückte sie Treudchen's Thür ganz zu und wollte sich ans Werk machen, in allem Ernst zu entdecken, ob der »junge Herr« anwesend war oder nicht.

Da sprach von der untern Treppe eine männliche Stimme herauf:

Fräulein, was haben Sie denn nur für ein Interesse, der Gesellschaft den Abend zu verderben?

Es war die Stimme des Oberprocurators ...

Lucinde wandte sich, tieferbebend ...

Nück stieg eine Stufe höher ...

Ihr Herr Schwager verschläft den Abend, der sein eigenes Werk ist! hauchte sie und suchte nach Unbefangenheit. Sie hoffte, Nück würde gehen.

Nück stieg aber höher und sprach:

So wird er, wie hier auf Erden jedes große Genie, auf seinen Nachruhm angewiesen sein!

Wir erleben aber von ihm die heftigsten Vorwürfe, fuhr Lucinde sich ermuthigend fort ... Es benahm ihr den Athem dies Näherkommen des gefürchteten Mannes ... Auch hat mich Frau Commerzienräthin beauftragt, ihn auf alle Fälle zu rufen! setzte sie tonlos hinzu ...

Wenn er nun aber hier nebenan gefesselt sitzt bei dem kleinen Mädchen, dessen Schutzengel Sie geworden sind?

Nück stand mit diesen schmeichlerisch betonten Worten oben und vertrat Lucindens in dieser lichthellen Einsamkeit vollends blendender Erscheinung den Weg, als sie kraftlos wieder bei Piter anklopfen wollte ...

Bitte! Bitte! sagte er sicher und ruhig. Wirklich! Lassen Sie doch den Burschen träumen! Beschämungen sind zuweilen eine gute Cur und ohne ihn geht alles noch einmal so gut. Er würde das Leben der heiligen Hildegard viel besser gewußt haben, als die kleine überspannte Frau ... nicht wahr?

Lucinde war wie gefangen durch die immer entschiedenere Annäherung. Sie wußte schon nicht, wie sie entkommen sollte ...

Sie fliehen vor mir! rief er ihr nach, als sie ihm mit rauschendem Kleide vorüberhuschte, und suchte sogar ihre Hand zu haschen ...

Selbst eine Rose, wie Sie, muß duldsam sein für jeden Wurm, der aus ihrer Blüte Duft saugen will! sprach er mit einem funkelnden Blicke ...

Ja! sagte Lucinde mit gepreßter Stimme und vor Angst scherzend und auf seine graue, unfestliche Kleidung deutend, ein Wurm sind Sie! Ein rechter Actenwurm!

Mädchen! rief Nück wie im plötzlichen Sichselbstvergessen, dann aber sich mäßigend ... Er war wie um zehn Jahre jünger geworden durch dies tête-à-tête. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten. Am Geländer der Treppe mußte er sich halten, um sein aufgeregtes Zittern zu verbergen ...

Das wußt' ich doch, sagte er und vertrat ihr wieder den Weg, daß Sie das nicht sind, was Sie bisher geschienen ...

Ha! wallte Lucinde auf und stand wie fragend nach der Bedeutung dieses Wortes. Allmählich gewöhnte sie sich an das gehörte Wort und gedachte ihrer äußern Erscheinung, die wol Nück gemeint haben konnte und die heute eine festliche war ... Ja sie erglühte, da sie ihren Schatten sah und die Locken, die in ihrem Nacken wogten ...

Erfuhren Sie das – von –? sagte sie bei alledem mit erwachendem Muthe und deutete abbrechend auf die Straße hinüber ...

Von wem? fragte Nück, staunend und unschuldig wie ein Kind.

Seine Augen schossen zwar einen durchbohrenden Pfeil auf die Fragerin, die ihrerseits im Ton angedeutet hatte, was sie über die Frau vermuthete, bei der sie hatte Chocolade trinken sollen; doch lag zugleich etwas um Vergebung Bittendes in seinem Tone. Endlich, wie ein Jüngling, der zum ersten mal von Liebe spricht, sagte er leise und zitternd:

Lucinde! Ich bete Sie ja an!

Lucinde sah einen Mann vor sich, der aller Welt ein Riese an Willenskraft und Macht erschien. Ihr gegenüber schien er ein Kind, die Demuth selbst zu sein ...

Lucinde lachte laut auf mit jenem hellen Lachen, das ihr niemals schön gestanden ... Seit Monaten hatte sie nur in Treudchen's Gegenwart und für sich allein so lachen können ...

Befehlen Sie über mich! Strafen Sie mich! Gebieten Sie mir etwas! Ja, ich bin Ihnen Genugthuung schuldig für mein gewagtes Wort! sagte Nück und bot der ihn Verhöhnenden die Hand ...

Lucinde hatte fast das Bedürfniß, ihr spottendes Lachen wieder gut zu machen. Fast scherzend und schon wie um ihn festzuhalten sagte sie, sich rasch auf die von Veilchen Igelsheimer erhaltene Mahnung besinnend und ihren Vortheil nutzend, vielleicht Klingsohr irgendwie für immer aus ihrer Lebensbahn zu schaffen:

Ganz recht, Herr Oberprocurator! Sie können mir einen Gefallen thun! ... Sie kennen den Mönch – Sebastus?

Ihren ehemaligen Verlobten, Doctor Klingsohr ...

Lucinde hatte diese Wendung nicht erwartet. Sie brach erblassend ab und wollte gehen ... Es war ihr Fluch, daß ihr überall die gespenstische Vergangenheit entgegentreten mußte ...

Nück vertrat ihr aber den Weg, streckte die Arme aus und hauchte leise, wie zerflossen von Inbrunst und Leidenschaft:

Mädchen! Was fliehst du! Ich kenne ja dein ganzes Leben!

Lucinde blickte ihn finster und von der Seite an, indem sie die Thür zu Treudchen's Zimmer fest in der Hand hielt ... Sie bot ein Bild des Schreckens, der Entrüstung und – jener Schönheit, die dem Charakter eigen ist ...

Rolle deine gewitternden Augen nicht! Lache nicht über mich – mich, den Narren im grauen Haar –! Pater Sebastus ... Ja, ganz recht! Dem geht es schlecht! ... Was wünschen Sie, Fräulein Schwarz, daß ich für ihn thue?

So sprang er in einen ganz gewöhnlichen Ton der Artigkeit zurück, hielt diesen Ton aber nicht fest, sondern rief sogleich hinterher:

Angebetete!

Lucinde hatte sich in ihre Lage gefunden und fing an sich zu beherrschen.

Warten Sie nur, sagte sie, nun weiß ich etwas, was eine Dame, die fortwährend über Hitze klagt, endlich einmal abkühlen wird! ...

Sie sagte das so voll Uebermuth, daß Nück neue Hoffnung schöpfte. Mit elegischem Blick hauchte er:

O, das war grausam!

Sein Blick dabei gen Himmel wollte ein ganzes verfehltes Leben malen ...

Lucinden graute vor diesem Blick ... Es war gar kein menschlicher ...

Was kann ich für den Mönch thun? fragte Nück sich sammelnd ...

Kann man ihm nicht die Freiheit geben?

Die Rückkehr in sein Kloster?

Lucinde stockte ...

Sie wollte sagen: Gerade das am wenigsten!

Sie sind an ewige Gelübde nicht gewöhnt! sprach er. Es wird ihm besser sein bei Pater Ivo und Bruder Hubertus ... Oder ... Ja! Ganz recht, Sie wollen ihn nicht gern in der Gegend von Witoborn. Nicht bei Schloß Westerhof, wohin Sie Ihre ganze Sehnsucht zieht! ... Wallen Sie doch nicht auf, Fräulein ... Gut! Erst erfahren wir, ob er entfliehen will? Will er wieder Protestant werden? Nein? Oder was? Weltpriester? Er hat die Weihen nicht! Halt! Das ginge! Das würde ihn aus Ihren Bahnen schaffen! ... Ha! Blitzt es schon wieder? Wie schön steht Ihnen dieser Zorn! ... Mädchen – Gut, nach Belgien schicken wir ihn, wie ich manchen dahin schicke, Alte und Junge! Sie verstehen? Er darf sein Ordenskleid wechseln, falls er – Jesuit werden will! Lassen Sie ihn nach Lüttich gehen! Dann sind Sie ihn los ... Aber so bleiben Sie doch! Warum zürnen Sie denn? ... Hm! Ich besorge alles! Empfehlungen, Wagen, Pferde ... Nach Lüttich! Nicht wahr? Nicht nach dem Düsternbrook, wo Sie ihn zum ersten mal sahen? ... O, o! ... So bleiben Sie doch!

Lucinde folgte allen diesen Reden in der höchsten Aufregung. Bald stand sie auf der Flucht, bald wieder wie gebannt von dem dämonischen Manne, der ihr ganzes Leben kannte und so tief in ihrer Seele las ...

Nück fuhr fort:

Allerdings! Dieser Mann könnte sich größer bewähren, als durch Betteln! Soll ich ihn nach Rom schicken? Es gibt auch da eiserne Gitter – denn das muß er! Büßen muß er bitter für eine solche Flucht! Das ist die Stufenfolge – auf seinem Kalvarienberge des Lebens! Ein lebhafter Briefwechsel hin und her, lange Läuterung, lange Prüfung; aber besser, er setzt sich die viereckte Mütze auf und predigt; besser, als bei den Barfüßern zu verkümmern ... Fragen Sie ihn, ob er zu den Jesuiten will? Ich besorge alles ...

Lucinde sprach sinnend und des Mannes staunend:

Ich werde – Ihnen schreiben –

Schreiben! In Zeiten, wie die jetzige, schreibt man nicht.

So schick' ich – zu Ihnen ...

Schicken! In Zeiten, wie die jetzige, kommt man selbst ...

Lucinde fuhr zurück; denn Nück trat mit einer Keckheit auf sie zu, daß sie jetzt fast alles hätte abbrechen müssen ...

Darum beherrschte er sich und flüsterte:

Mädchen! Mädchen, höre mich jetzt! Du hast in der Welt nichts unversucht lassen wollen! Versuche noch eines! Die Liebe solcher Männer, zu denen ich gehöre! Wir zählen einundfünfzig Jahre, aber unsere Leidenschaft zählt neunzehn! Wir geben nur, wir opfern nur; wir markten nicht mehr, wir lieben nicht mehr um unserer Eitelkeit willen, wie Oskar Binder liebte! Ha! Sei doch klug, Mädchen, und erschrick nicht ewig – vor dir selbst! Sei, was du bist! Das Bedürfniß der Hingebung ist am Manne nie reiner, nie aufrichtiger, nie selbstloser, als wenn schon alle Hoffnungen und Illusionen hinter ihm liegen! Lucinde! Ich baue dem Glück, das Sie mir gewähren, ein goldenes Haus! Niemand soll es sehen ... in Lüften soll es schweben, wie die Hütte von Loretto! Wollen Sie anderes? Befehlen Sie! Ich breche mit allem, was Sie stört, thue alles, was Sie bedingen! Reisen wir? Nach Paris? Nach Rom? Nach Mekka! Ich bete Sonne und Mond an, wenn du es verlangst, Mädchen!

Lucinde hatte die Thür in der Hand, die sie öffnete und wollte entfliehen ...

Bleibe! rief Nück außer sich ...

Sie wandte sich ... Da fuhr sie entsetzt zurück ... Wie sie in des wilden Mannes Augen sah, waren diese ohne Stern. Ein einziger weißer Glanz ...

Nück, den unheimlichen Eindruck, den er machte, ahnend, bestätigte ihn fast, indem er tonlos sprach:

Ich bin unglücklich!

Wieder hatte in dem untern Stockwerk Musik begonnen. Man sah, daß eben in dem Zimmer Piter's das Licht ganz erloschen war ... Die unten geführten Gespräche hörten auf ...

Lucinde sprach zitternd und wegen der Stille kaum hörbar:

Ich muß zur Gesellschaft!

Nück gab sie nicht frei ... Ebenso leise flüsterte er:

Sie lieben, Lucinde, ich weiß es ...

Die Musik kam vom Spiel auf dem Flügel ... Lucinde dachte, sie müsse vergehen ... den Schlag ihres Herzens hätte man hören können ...

Sie lieben einen Menschen, der ein Gott ist! fuhr Nück flüsternd fort. Das wird Sie nicht glücklich machen!

Lucinde hielt sich, um nicht zusammenzubrechen ...

Warum verschwenden Sie Ihre Kraft, Ihre Jugend, Ihren Geist an diese Schwärmerei? Sie lieben ein Phantom, Sie lieben Serlo's Geist – zucken Sie doch nicht ewig vor meiner Kenntniß Ihres Lebens, die ich mir aus rasender Leidenschaft verschaffte. Es sind ja keine Dolchstiche, die ich gegen Sie führe – Serlo's Geist, der in einem neuen Körper wohnt? Hat dieser Priester etwas von Serlo? Ich wünschte, Serlo's Geist spräche Ihnen aus dem meinigen oder hab' ich nichts mit ihm gemein? ... Sie schütteln Ihr schönes Haupt! ... Diese schönen Locken! ... Lucinde! Was wollen Sie in diesen Verhältnissen? Schwingen Sie sich auf! Wissen Sie, daß – Sie eine große Rolle spielen könnten? Daß die Väter der Gesellschaft Jesu thatkräftige Freundinnen brauchen? Wollten Sie denn nicht an unserm Kreuzzuge theilnehmen, wie mir Beda Hunnius geschrieben? Hassen Sie nicht auch diese numerirten Knöpfe und bunten Achselklappen? Diese kluge, durchsichtige, polizeiliche Welt? Ein Sturm wird über die Erde kommen und sie in ihren Grundvesten erschüttern! Verbünden Sie sich uns! Wenn nicht in der Liebe, im Hasse! Ha! Du kannst hassen, Mädchen! Mehr als lieben! ... Siehst du, wie dich das traf! Lachen mußt du jetzt? ... Hör' es, hör' es! Ich habe immer eine Fackel in der Hand, noch einmal die Welt in Brand zu stecken. Kannst du Gift mischen, Mädchen?

Für Fliegen!

Kannst du stehlen?

Kirschen!

Falsch schwören?

Lernt sich von Euch!

Falsche Handschriften machen?

Lucinde verstand kaum noch sein immer gedämpfteres Flüstern ...

Wenn ich nun Paula zwänge den Grafen Hugo zu heirathen und dein Gott nicht mehr mit ihr straucheln könnte?

Das verstand Lucinde und blieb starr ...

Wenn sich nun die Urkunde fände, die die Erbberechtigung des Grafen Hugo ausschließt! Wenn adelige Conduite mit sich brächte, daß Paula dem Getäuschten in Wien dafür ihre Hand gibt, wodurch sogar eine Conversion zu hoffen ist – der Mann folgt dem Weibe –! Und wenn dann Paula nicht in ein Kloster ginge, nicht mit Herrn von Asselyn die mystischen Nächte seraphischer Liebe feierte, wie die Heilige von vorhin mit dem Benedictiner Gottfried? Ja, wenn vielleicht deine eigene Hand, Mädchen, im Westerhofer Archiv –

Bei diesen von Lucinden deutlich verstandenen, gierig aufgesogenen, sie mit halber Besinnungslosigkeit erfüllenden Worten trafen plötzlich zwei Thatsachen zusammen, die sie bestimmten, einen Schreckensschrei auszustoßen ...

In seiner Sinnenglut hatte sich Nück Lucinden so genähert, daß nicht nur wieder seine Augen völlig weiß und ohne Stern erschienen, sondern auch unter dem weiten weißen Tuche, das seinen Hals bedeckte, ein anderer Anblick sie erschaudern ließ. Rings unter der Binde ging ein blutigrother Streifen hin, der sie sofort an Hammaker's That erinnerte ...

Und in demselben entsetzlichen Augenblick, in der offenbaren Aufforderung zu einem Verbrechen, gab es plötzlich unten eine lärmende Unterbrechung des Klavierspiels ...

Was ist? hörte man wie aus einem Munde rufen. Dann folgte ein lärmendes Durcheinanderlaufen, ein Klingeln, ein Schreien im Hofe und zugleich von der Straße her ein Dahersprengen von Cavalerie ...

Nück horchte auf und ordnete rasch die Binde an seinem Halse ...

Ein Alarm! wandte er sich. Da der Lärm zunahm, bedeutete er Lucinden ruhig zu sein und beugte sich horchend über die Lehne der Treppe ...

Das Dahinsprengen der Cavalerie wurde lebhafter ...

Lucinde stand kraftlos ...

Ohne ein anderes Wort zu sprechen, als: Also morgen, Freundin! Klingsohr geht nach Belgien! Morgen! Schicken Sie! Schreiben Sie! Thun Sie – thun Sie, was Sie wollen und was Sie wünschen! Ich unterziehe mich allem, aber Vergebung, Vergebung – Freundin! Und – Wiedersehen! ... entfernte sich Nück über die Stiege und ging schneller nach unten zurück, als er gekommen.

So plötzlich ward ihm seine Selbstbeherrschung, daß Lucinde starrte, ihn so verschwinden zu sehen als wäre hier oben nicht das Mindeste vorgefallen.

Sie schwankte in Treudchen's Kammer zurück ...

Diese war ohne Licht ... Halb ohnmächtig sank sie auf Treudchen's Bett ...

Wol eine halbe Stunde mochte sie so gelegen haben, besinnungslos, allem Erlebten nachdenkend, unbekümmert um den Lärm um sich her, auch um den auf der Straße, der sich seit dem November so oft wiederholte, als endlich Treudchen erschien, mit einem Licht in der Hand ...

Jetzt erst entdeckte sie Lucinden und war nicht wenig erschrocken sie hier und wie krank zu finden ...

Wissen Sie denn nicht? fragte sie erregt ...

Lucinde antwortete nichts ...

Treudchen erzählte, daß die ganze Gesellschaft auseinander wäre ... Schon wäre am Marsthor geschossen worden ... Die beiden Handwerkervereine lägen in blutigem Streit ... Das ganze Militär schon stünde unter Waffen ... Jetzt wäre es ruhiger, wenigstens könnten die Wagen wieder durch und holten die geängstigten Herrschaften ab ... Die Meisten hätten sich zu Fuß geflüchtet ... Unten wäre niemand mehr ...

In der That war auf der Straße und unten alles ruhiger ...

Lucinde erhob sich und sagte:

Ich wollte den jungen Herrn abrufen! Seinen ganzen Abend scheint er verschlafen zu haben! Da kommt der Joseph! Weckt ihn jetzt! Er schläft gewiß! Gute Nacht, Treudchen!

Sie entfernte sich und schwankte dahin wie ein verstörter Geist ... Joseph hatte ihr ein Licht gegeben. Sie ging, halb wie Psyche mit der Lampe vom schlummernden Amor, halb – wie Lady Macbeth vom ermordeten Duncan.

Mit dem Joseph kam dann auch noch der Hausknecht ... Unten gingen die Klingeln der Commerzienräthin und Johannens ... Man klopfte an Piter's Thür. Jetzt erfolgte Antwort. Er erschien. Piter hatte geschlafen. Er orientirte sich, brach in Staunen, in Zweifel, noch einmal in Zweifel, dann in Verwünschungen aus, Schwüre um Rache am ganzen Menschengeschlecht und zunächst an seiner Familie. An die Möglichkeit dessen, was »ihm passirt war«, vermochte er nicht zu glauben ...

Treudchen behielt den meisten Muth und die meiste Fassung. Sie ging Pitern leuchtend voraus, half bei der Zurückstellung der Speisen, bei dem Löschen der Beleuchtung. Da die Commerzienräthin von einem Fieberanfall gesprochen, unterstützte sie die Bedienung derselben in ihrem Schlafgemach. Ueber Pitern konnte sie der Mutter Beruhigung geben. Zu den »etwa Erschossenen« gehörte er nicht ... Er hatte nur »seinen eigenen Abend« verschlafen ...

Halbtodt war Piter darum doch und um ihn her sah es aus wie auf einem Leichenfelde ...

Der Ueberblick unserer aus festlichem Schmuck zur Alltäglichkeit zurückkehrenden Wohnräume hat schon an sich etwas Gespenstisches ...

Piter aber glich einem marodirenden Adler auf einem Schlachtfelde ... Alles war vor dem ersten Ausbruch seiner Wuth geflohen ... Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß er seine Eröffnung der Wintersaison, die Honneurs, den Empfang der Frau von Hülleshoven zum Gelächter der ganzen Stadt verschlafen hatte. Da lagen die Noten, da stand der Kasten mit der Baßposaune, da waren Lichter niedergebrannt, da gab es die vorausgesehenen Oelflecken, silberbeschlagene Korke lagen auf den Tischen, die Stühle waren in Unordnung, der gebohnte Fußboden mit Staub bedeckt und ohne Glanz, die Oefen erkaltet – die Früchte seiner Saat hatte man ohne ihn geerntet.

Er raste und suchte ein Opfer. Messer sah er liegen und ergriff eines ... dann schleuderte er's fort; er nahm's wieder, denn eine Stimme hinter ihm her sprach von einem Aufruhr. Ha! ... der Sprechende rannte von dannen ... Der Hausknecht war es ... er hatte den Schmerz des Kutschers anbringen wollen, der als Garderobier in dem lärmenden Aufbruch ohne Trinkgelder geblieben war.

Endlich aber kam eine tiefe Beschämung, ja sogar eine Wehmuth über Pitern. Ach, er sah aufgedeckt die große Verschwörung der Menschen gegen seinen Verstand, sein Herz, seinen Fleiß, seine Thätigkeit, seine Autorität, seine bloße Existenz als Mensch! Er ergriff einen der Klingelzüge, um zu läuten, als sollten die Todten zum Jüngsten Gericht auferstehen ... Dann aber besann er sich und es fing ihn an leiser und leiser zu frösteln ... In den Spiegeln sah er ein kreideweißes Antlitz, eine weiße Halsbinde, eine weiße Weste, einen neuen Frack und das war Er. Diese Gewißheit erfüllte ihn mit einem Gefühle, als sprächen tausend Stimmen: Schon manchen Jammer nach einem Trinkgelag hast du erlebt, aber noch nie einen solchen, wie heute, nach so wenigen Gläsern Cognak, die so verderblich nur wirken konnten, weil ihnen große geistige und physische Anstrengungen vorangegangen! ... Wo waren seine Anekdoten, die er aus dem »Demokritos« auswendig gelernt! Wo seine witzigen Antworten, zu denen er die Fragen zu provociren soviel Schlauheit anwenden wollte! ... Zuletzt überkam ihn selbst ein Lächeln ... Es war dies jenes Lächeln, wo der Mensch bei aller Eitelkeit doch nicht umhin kann, sich zuweilen komisch vorzukommen. Wir verrathen dies Lächeln nicht oft. Aber es kommt zuweilen. Dies Lächeln ist die Folge der Erkenntniß, daß andere Menschen manchmal nicht Unrecht haben, wenn sie unsere Handlungen einer uns plötzlich selbst keinesweges mehr bestochen vorkommenden Kritik unterwerfen ... In diesem Lächeln ließ Piter den Klingelzug fahren und versparte sich das Jüngste Gericht bis auf den folgenden Morgen ... Er hoffte auf den ermuthigenden Eindruck, den ihm die Helle des Tages machen würde.

Nun hätte er viel darum gegeben, wenn er jetzt noch das einzige Wesen, das ihm nicht widersprach und dem Er nicht widersprach, bei sich gehabt hätte ... Er schlich sich still in die hintern Zimmer zu rück, ahnte das morgen ihn überschüttende Gelächter seiner Freunde, die ihn so ignoriren konnten, ja er sagte sich: De Jonge – der, der wäre der einzige honnete Mensch gewesen, der mich vermißt hätte! Mußte auch gerade de Jonge fehlen! ... Nun ging er über die knarrende Stiege mit den Empfindungen, die jener Held hatte, der gesprochen: »Was sind Pläne, was sind Entwürfe!«

Und auch ihm wurde es wie Melodram, als er seufzend sich unter seine Decke streckte:

»Süßer Schlaf! Du lösest die Knoten der strengen Gedanken. Eingehüllt in gefälligen Wahnsinn versinken wir – und – hören – auf – zu – sein!«

Ringsum alles still. Auch im Hofe. Die Lichter erloschen ...

Am spätesten erlosch das Licht an den Fenstern, wo Lucinde wohnte.

9.

»Nein, es ist ein S – köndöl! Nicht möl eine Löterne ist eingeschlögen!«

Diese am folgenden Morgen von Herrn Jean Baptist Maria Schnuphase in der Nück'schen »Schreibstube« gesprochenen Worte ließen eine zwiefache Deutung zu – je nachdem ...

Entweder konnten sie sagen: Alle Truppen waren auf den Beinen, um eine einfache harmlose Schlägerei zwischen dem katholischen und evangelischen Handwerkerverein zu verhindern! Oder: Man hat auf einige, die nicht weichen wollten, doch nur blind gefeuert und keiner wagte auch nur den geringsten Widerstand!

Wie sehr aber statt des ungleichen Kampfes der Faust der Geist des »Treppenwitzes« im Vortheil war, ersah Schnuphase aus den wenigen Worten, die Nück nur mit ihm wechseln konnte. Nück ersuchte ihn, heute und morgen zu jeder Stunde einen Wagen und zwei tüchtige Pferde, die etwas aushalten konnten, in Bereitschaft zu halten, um eine noch nicht näher bezeichnete Person, am Tage oder bei Nacht und Nebel, aufzunehmen und sie an einen gleichfalls erst näher zu bestimmenden Ort zu überführen ... Diese bedeutungsvollen, Herrn Jean Maria in »Extö se« versetzenden Worte – er frühstückte bei solcher Stimmung schon um zehn Uhr auf dem »Höhnenkömp« – waren heute das ganze Zwiegespräch zwischen den Gesinnungsgenossen. Selbst den leisen Einwand, den Herr Maria machte, morgen Abend reise Domherr von Asselyn nach Witoborn und es zieme sich eine »Demönströtion«, bei der er nicht fehlen dürfte – schnitt Nück ab. Denn schon ging und kam es wieder um ihn her und rauschte und flüsterte und lachte und seufzte ... Wieder waren römische Breven angekommen, die den Verwesern des Kirchenstuhls sagten: Wir haben euch zwar gestattet, die heiligen Handlungen zu vollziehen, haben aber auch gehört, daß ihr eure Administration in einer Weise führt, die für euern ruhmwürdigen gefangenen Oberhirten im höchsten Grade beleidigend ist! Schon waren die Cabinete der Fürsten gespalten. Eine geheime Deputation der Fanatischen wurde vorbereitet an den damaligen Lenker der europäischen Geschicke an der Donau. Ein geheimer Congreß hatte auf dem Stift Neuburg bei Heidelberg die Abgeordneten aller Kirchenhäupter des vaterländischen Südens zu gemeinschaftlicher Berathung vereinigt. Der Norden bereitete sich zu einer Versammlung in der Nähe Witoborns vor. Die Väter der Gesellschaft Jesu kamen näher und näher, in mancherlei Trachten und Gestalten. Andere wieder begaben sich von hier zu ihnen, Kinder sogar, junge Leute, die Michahelles hatte erziehen lassen für die Weiterbildung in Lüttich ... So war auch Tönneschen Hilgers neulich, der Schifferknabe von der Insel Lindenwerth, zu den Jesuiten expedirt worden ... Nück hatte so viel zu thun, daß er nur in dringenden Geschäften zu sprechen war, eine Dame, wie er sagen ließ, ausgenommen, die Gesellschafterin seiner Schwiegermutter, Fräulein Lucinde.

Eine hohe weibliche Gestalt sah man dann in den ersten Frühstunden in die Rumpelgasse eintreten. Sie war blau verschleiert, in einem schottisch carrirten Mantel; ein Pelzmuff bedeckte die Hände ... Gegen Morgen hatte das Wetter plötzlich umgeschlagen und war kalt geworden. Einer der kleinen Kanäle der Stadt war sogar mit einer dünnen Eisdecke überzogen. Eine dichte Menschenmenge stand, um ein Wunder zu sehen. Auf dieser Eisdecke hatte sich eine Figur gebildet, die man allenfalls – für ein Kreuz nehmen konnte. Durch diesen Anlaß zu neuer Aufregung hindurch, betrat Lucinde das enge Stadtviertel, wo der Frost unter den Tritten der Fußgänger schon wieder aufgeweicht war und es wie immer werkeltägig aussah, obgleich die Juden Sabbat hielten ...

Lucinde kannte durch Treudchen alles, was Löb Seligmann über Veilchen Igelsheimer erzählt hatte ...

Freilich die Bildungsquelle, die ihr bei diesem Mädchen nach des entzückten Löb Versicherung hätte fließen dürfen, hatte Treudchen nicht benutzt; sie hatte eine hochgebildete Freundin näher, vorzugsweise aber auch Nonnen und einen Geistlichen, die sich mit Vorliebe und langsamer Schulung ihrer Seele annahmen ...

Aber Lucinde hatte darum doch alles erfahren, was Veilchen betraf. Sie wußte die Liebe derselben zu jenem Leo Perl, der Lucinden selbst von der Hasen-Jette als ein weiland Michel Angelo'scher Moses dargestellt worden war; sie kannte den Antheil, den an dem Uebertritt desselben der Dechant und, wie sie aus den gegebenen Andeutungen nicht bezweifeln konnte, sogar der Kronsyndikus hatte; sie kannte ihre jetzige Thätigkeit in dem antiquarischen und carnevalistischen Geschäft ihres Verwandten, eines zweiten Bruders der Hasen-Jette, ihre Kenntniß von alten Münzen; sie wußte, daß sie es war, die jene Ahasverusscherze trieb mit römischen Kaisernasen, die in Gänsemägen den Rost der Jahrhunderte ansetzten. Endlich wußte sie, daß Klingsohr durch die Zutraulichkeit Veilchen's gewagt hatte, hier sein Ordenskleid abzulegen ... Der Verräther des Mönchs war der von Angst und dem künstlichen Schein der Unbefangenheit nächtlich umgetriebene Jodocus Hammaker gewesen. Von Serlo's Kindern und ihrer Mutter hatte sie nur einmal einen Brief, die Bitte um Geld erhalten, dann nichts wieder von ihnen vernommen, weder Empfangsanzeige, noch, »wie sich von selbst verstand«, Dank ...

Alle diese Eindrücke sammelnd und in sich zurecht legend, von der Erinnerung an den gestrigen Abend umschlungen wie mit glühend ehernen Armen, aufathmend nach Hülfe über die schon im Dom bei der Messe vernommene Kunde, daß Bonaventura morgen Abend reise, nach Witoborn reise, wohin die mögliche Rückkehr auch Klingsohr's ihre Pein vermehrte, voll Entschlossenheit, bis zum morgenden Tag es über ihr ganzes Leben zu einer letzten Entscheidung kommen zu lassen, bestieg sie einige Stufen, die in eine dunkle Hausflur führten, in welcher zur linken der Eingang in das heute feiernde Geschäft »Nathan Seligmann« lag.

Trotz des Sabbats waren die Vorläden dreier Fenster, die in die dunkle Gasse führten, doch halb und halb geöffnet geblieben. An einigen alten Basen und Majolikaschüsseln, an einigen alten Kupferstichen, einigen Dominos und Masken sah man, daß sich hier das Geschäft Nathan Seligmann's befand, der sich auch anderweit als kein zu strenger Rigorist in der Feier des Sabbats zeigte; denn die Thür ging mit lautem Klingeln auf und am Spalt eines der angelehnten Fensterflügel stand ein der Hasen-Jette ziemlich ähnlich gebauter, starker und kräftiger Mann und putzte an einer Blechhaube die Rostflecken ab. Ringsumher lagen die Embleme eines vollständigen Ritters ...

So dunkel es war, fand sich die entschlossen Eintretende bald in dem großen Zimmer, an das sich weitere mit Gegenständen aller Art überhäufte Alkoven und Gänge und Mauerschränke anschlossen, zurecht. Die ganze Herrlichkeit der mit ihrem Carneval gleich hinter Rom und Venedig kommenden Stadt war hier beisammen, soweit die Minderbegüterten sich erst leihweise das entnahmen, was die der Sphäre Moppes, Maus, de Jonge angehörenden Matadore sich selbst anfertigen ließen. Den Helm, den Nathan Seligmann eben putzte, hatte Weigenand Maus im letzten Carneval getragen; der Geschäftsgang brachte es mit sich, daß das einmal Gebrauchte um ein Billiges an die Juden ging.

Nathan Seligmann schien tief in Gedanken verloren und die Zeit selbst zum Gegenstande seiner Betrachtungen gemacht zu haben, denn ein Carneval fand in diesem Jahre nicht statt. Traurig hingen um ihn her die Hanswürste, die Schellenkappen schienen seiner verdrießlichen Miene zu klingeln wie Sterbeglöcklein, das Lachen der Masken war so todt wie nach Klingsohr das stehen gebliebene Lachen in den Gesichtszügen der alten Voltairianer im Kapitel. Viel unfreundlicher und unwirscher war die Art des in einen des Sabbats wegen feinen blauen Oberrock gekleideten Mannes mit darübergezogenen grauen Schmutzärmeln, als die seines coulanten, weltkundigen und musikliebenden Bruders Löb, der sich zu seiner schon von Geburt weichen Seele eine so ästhetische und feinfühlende Bildung erworben hatte.

Der Sabbatbrecher blickte auf Lucinden, indem er ein klein wenig in seiner Arbeit innehielt. Das eine Auge schloß er blinzelnd, eine Geberde, die er an Geschäftstagen noch vervollständigte bis zu einem gänzlichen Bedecken seiner beiden Augen mit der Hand, um drüber wegfahrend durch eine offen gelassene Spalte zwischen den Fingern hindurch gleich sich zu orientiren, weß Geistes Kind ihn besuche, ob er viel oder wenig fordern, Echtes oder Unechtes vorlegen durfte ...

Die Hoffnung, Lucinde würde auf Veilchen's Schreiben eingehen, hatte man wol schon aufgegeben. Doch war der Besuch eleganter Damen für Seligmann nichts Neues. Nur mit Lässigkeit fragte er nach dem Begehren ...

Lucinde verlangte Fräulein Veilchen zu sprechen und noch ehe sie geendet hatte, wand sich im Hintergrunde eines dunkeln Ganges aus einem Gerüst von Schweizer- und Tirolertrachten, tressengestickten rothen Miedern und Hüten mit Spielhahnfedern und Gemsbärten eine Person hervor, die sie an die alte Gardérobière von damals erinnerte, als sie die drei ersten Acte der Jungfrau von Orleans spielte und nach Serlo's Anweisung so sicher und fest die Worte glaubte sprechen zu können: »Mein ist der Helm und mir gehört er zu!« Veilchen war nach Löb's Erklärung schön am Geist. Der Geist mußte allerdings ihren Körper verklären und gab auch den blauen Augen etwas durchsichtig Glänzendes. Sonst war die eine Schulter etwas höher als die andere und der Wuchs so zurückgeblieben, daß Lucinde, hier von Theatererinnerungen angeregt, fast an die jetzige Baronin, frühere Sängerin Henriette Montag in Kiel erinnert wurde.

Ich wußte doch, daß Sie kommen würden! sprach die kleine Gestalt mit weicher, klangvoller Stimme und verrieth, daß sie sogleich Lucinden erkannt hatte ...

Nathan orientirte sich jetzt ...

Statt aber seine Höflichkeit nachzuholen, schloß er nun auch noch das andere Auge. Durch eine ganz kleine Spalte blinzelte ein Strahl sehr gemachter Freundlichkeit hindurch. »Die Kinder sind wie die Brüder der Mutter!« sagen die Juden. David Lippschütz hatte nicht die freundliche Bonhommie seines Onkels Löb, eher die Miene wie Onkel Nathan. Seine Witze: »Ein Frédéric d'argent« und sein kritisches: »Warum sitzt Moses?« waren mit demselben mürrischen und blinzelnden Zusammendrücken der Augen gesprochen worden ...

Um so freundlicher war das kleine Veilchen ...

Als sie sich aus der Region der grünen Alpenwiesen und der Sennerhütten herausgewunden hatte, deutete sie auf eine Thür, die Nathan bereits nicht ohne Beweise einer aus seiner prüfenden Miene sich entwickelnden ärgerlichen Stimmung geöffnet hatte, und ließ Lucinden näher treten ...

Ein Gemach empfing sie, das ebenso ein Comptoir sein konnte, wie ein Vorrathsmagazin feinerer Verkaufsgegenstände und sogar ein Boudoir. Hell war es nicht. Eine schwarze hohe Brandmauer stand nicht fünf Fuß weit von den beiden Fenstern entfernt, die ohne Gardinen sein mußten, nur um etwas Licht hereinzulassen. Und doch stand da ein Schreibbureau, worauf Handlungsbücher, stand ein Tisch mit ausgebreiteten Kupferstichen und einer langen Verwickelung von Spitzen, die nicht etwa zu Veilchen's Handarbeiten gehörte – Handarbeiten existirten nicht für sie – sondern zu ihrer Kunst, Neues in Altes zu verwandeln. In einer Tasse mit Kaffeesatz endete die lange Spitzenverwickelung. Eine andere gebräunte Garnitur hing zum Trocknen an einem der beiden Fenster. Ja, auch die Kupferstiche schienen durch Kaffee gezogen. Ein Bücherschrank war voll alter Bücher ...

Aber Sie sollten das Fräulein oben in unsere Stube führen! sagte Nathan mit erzwungener Artigkeit und dem Bewußtsein oben ersichtlichen sabbatlichen Comforts ...

Veilchen räumte schon einen Sessel ab und fiel ein:

Hab' ich eben auch gedacht! Aber für Sie ist heute kein Sonntag! Wenn Sie es nicht verschmähen –

Lucinde saß nicht nur schon, sondern war auch schon in voller Erörterung der Angelegenheit, die sie hergeführt hatte. Gemüthliches Auszupfen einer neuen Bekanntschaft fehlte ihr zu jeder Zeit und vollends in der Stimmung, in der sie kam ... Bonaventura reiste – Nicht ein Schloß, die Welt in Brand zu stecken – dazu hatte ihr Nück gestern den Muth gegeben ...

Auf einen Wink Veilchen's entfernte sich Nathan und legte die Thür an, ohne sie ganz zu schließen. Dieser Besuch war für ihn aufregend, für Veilchen schien der Eindruck Lucindens erschreckend zu sein ...

Inzwischen hatten sich Lucindens Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Sie erkannte, daß die kleine Jüdin zwar regelmäßige, fast plastische Gesichtsformen hatte, doch schon über die Fünfzig zählen mußte, so dunkel auch noch ihr Haar glänzte, das nach Löb's Vergleiche der Seide glich. Die zwei langen Locken, die ihr fast über die Augen weg herabhingen und die Nase in gewaltiger Schärfe hervortreten ließen und ihr das Ansehen eines talmudischen Gelehrten, eines Bocher, gaben, hatten eher etwas Starres, gerade so wie die Haare Lucindens in ihrer ersten Jugend waren, als sie ihren schönsten Schmuck nur noch mit Wasser aus den Bächen von Langen-Nauenheim pflegte ...

Auch ein höchst anmuthiges und fast mädchenhaftes Lächeln hatte Veilchen um ihren schöngeformten Mund. Wohlwollend nickte sie zu allem, was Lucinde mit Ernst und großer Kälte sprach. Dabei hielt sie ruhig die Hände in ihrem Schoose und hatte eine Miene der Spannung und Angst, die schon verrieth, daß sie von Lucinden keinesweges Gütiges und Wohlwollendes für ihren alten Freund voraussetzte. Darüber, daß der Mönch eine frühere Liebe der stolzen jungen Dame gewesen, die da vor ihr saß, konnte bei ihr kein Zweifel sein. Bei der Erörterung über das aus des Mönches Kutte gefallene alte gestickte Portefeuille war die Ursache der Metamorphose, die er sich hatte zu Schulden kommen lassen, nicht verschwiegen geblieben ...

Mit der ihr eigenen kurzen und schneidenden Bestimmtheit fragte Lucinde:

Woher wissen Sie denn, daß ich eine Verpflichtung habe, für den Pater zu sorgen?

Zu sorgen, mein Fräulein? sagte Veilchen lächelnd und verbindlich. Hab' ich geschrieben: zu sorgen? Ich habe gebeten um einen Beweis menschenfreundlicher Gesinnung! Und die Frau vom vierten Stock im Goldenen Lamm hat mir's ja auch gesagt, Sie könnten ein Engel sein!

Nicht Lächeln weckte dies: »Könnten« in Lucindens Mienen, sondern düsterer senkten sich ihre Augenbrauen und jede ihre Mienen verrieth, daß diese Erinnerung an ihr früheres Leben ihr peinlich war und das Geschäft, das sie hierher geführt, rasch vorübergehen mußte ...

Hat der Pater mich selbst bezeichnet als die, die ihm helfen könnte? fragte sie ...

Daß Gott verhüte ...

Ist seine Haft so streng?

Ein Mensch kann die Luft entbehren, wie ich selbst sie entbehre! Wie Sie mich da sehen, Fräulein, hab' ich seitdem, daß ich unsern neuen Tempel kennen lernen wollte, nicht die Rumpelgasse verlassen. Aber der Pater liegt in Ketten und Banden seines Geistes! Krank ist er am Körper wie an der Seele! Er muß zu Menschen, die ihn lieben! Einer war anfangs hier, dem er gern geschrieben hätte, ja erst sogar hätte beichten mögen; dann ließ er es, weil er erfuhr –

Veilchen stockte und blickte halb zur Seite, halb prüfte sie Lucinden, die hocherröthend sie sehr wohl verstand ...

Anfangs? zuckte es in ihr glücklich auf. Denn daß nur Bonaventura gemeint war, sah sie an dem Blick der Jüdin. Also anfangs nur? grübelte sie. Keine spätere Beziehung? Und erfuhr –? Was erfuhr? Daß ich Bonaventura liebe?

Wer ist dieser Eine? fragte sie kurzweg ...

Der neue Domherr von Asselyn! bestätigte die Jüdin ...

Lucinde schwieg eine Weile hocherglüht ... Dann fuhr sie, wie bestätigend, fort:

Ich sah den Pater mit dem damaligen Pfarrer von St.-Wolfgang öfters zusammen gehen ...

Lucinde wollte mit diesen Worten sagen: Haben sie sich damals beide verständigt, wie ein grausamer Zufall mich zwischen beide gestellt hat? Oder hat man Klingsohrn von anderer Seite zugetragen, was auch schon Nück über mich wußte? Sind die Umstände, die mit deiner schimpflichen Entfernung aus der Dechanei zusammenhängen, schon hierher unter dies armselige Dach gedrungen und von hier aus vielleicht auch Klingsohrn bekannt geworden?

Die Jüdin vermied, das, wie sie wohl sah, außerordentlich reizbare junge Mädchen zu verletzen, zog sich klug in ihre Bescheidenheit zurück und sagte ausweichend:

Es gibt Menschen, die sich vermeiden, gerade deshalb, weil sie sich lieben!

Wie? wallte es in Lucinden über dies dunkle Wort auf; weiß auch sie schon, daß meine Liebe zu Bonaventura eine unglückliche ist?

Sie sagte:

Der Pater und der Domherr meinen Sie? ...

Oder, fuhr scheinbar nichtachtend Veilchen fort, weil die Wahrheit, die einzugestehen dem einen eine große Seligkeit wäre, dem andern Schmerzen bereiten könnte ...

Lucindens Auge leuchtete immer forschender auf ... In ihrem Blicke lag: Will sie denn sagen, daß Klingsohr Bonaventura deshalb nicht sehen und durch Mittheilungen kränken will, weil er glaubt, Bonaventura liebe mich? ...

Die Jüdin fand sich in den Eindruck ihrer doppelsinnigen Reden und fuhr fort:

Es gibt doch Menschen, die täglich mit Wärme von der Liebe sprechen können, und sie selbst sind kalt –?

Lucinde horchte ungewiß ...

Sie fühlen wol die Liebe – denn die Liebe ist unabweisbar – aber sie haben nicht den Muth, sie – sie zu genießen –

Zu bekennen! verbesserte Lucinde und suchte endlich aus diesen Andeutungen Klarheit zu gewinnen.

Meinen Sie? sagte Veilchen. Die Liebe ist doch ein Genuß – ein Egoismus, ein schöner Egoismus!

Die Liebe ist Selbstentäußerung ...

Die Religion lehrt das, aber die Philosophie sagt: Die Liebe ist das Bedürfniß, sich von seiner eigenen Person erlöst zu wissen und die Wonne zu genießen, daß wir darum doch in einer andern Bestand haben! Ein Priester kämpft gegen diese unendliche Freude, die in der Liebe liegt, durch seinen Beruf an und – noch mehr! Wenn die Liebe die grausamste Eitelkeit genannt werden muß, weil der Mensch verlangt, daß ein anderer gleichsam statt seiner lebt und mit für sein Leben die Kosten bezahlt – die Kosten, die manchmal über des andern Beutel gehen – so kommt es, daß die weichsten Menschen kalt erscheinen, blos weil sie – bescheiden sind –! Bescheiden! Fräulein! Sie wollen den andern nicht in Unkosten versetzen ...

Die Jüdin lächelte, Lucinde nicht ...

Sie erklärte sich nach dieser eigenthümlichen Dialektik Bonaventura's Kälte aus dessen edlerer Natur, die sich bekämpfe und sich ein Glück versage, das ihm doch, wie sehr ihn auch Paula fesselte, in der Huldigung liegen durfte, die er von Lucinden nun schon seit Jahren erfuhr ... Er muß dich endlich lieben und wär' es aus Mitleid! war ihre Lebenshoffnung ...

Inzwischen hatte es draußen geklingelt. Nathan steckte seine zusammengekniffenen Augen, die wieder Freundlichkeit ausdrücken sollten, durch die Thürspalte ...

Excuse! sagte er mit einer Andeutung seines Weltschliffs und überreichte Veilchen einige Blätter Papier mit den Worten:

Eben kommt das von – – Es hat Eile! Der Druckerbursche wartet!

Der Druckerbursche? sagte sich Lucinde und gedachte des Abends bei Beda Hunnius ...

In der That war es auch sogar eine Nummer des Kirchenboten. Diesmal aber nicht die Censur, sondern die Correctur, wie Veilchen sogleich erläuterte, während sie in dem Blatte las und nach einigem Besinnen leise buchstabirte ...

Ist das eine Zeichensprache? fragte Lucinde ...

»Ich – bin – elend –!« buchstabirte Veilchen ...

Wer schreibt das?

»Ich bin elend! Hül – fe! Zu – Hu – bertus! Zu Hubertus!« ... Weiter nichts heute! sagte sie, schlug das feuchte, von dabei gezeichneten Correcturen begleitete Blatt zusammen und gab es dem lauschenden Seligmann, der es verdrießlich entgegennahm ... Veilchen drückte jetzt selbst die Thür zu ...

Zu Hubertus? Lucinde verstand, was sie befürchtete. Aber wenn sie auch sagte: Schreibt das der Mönch in Druckfehlern? so lag in dem Scherz ihre Ungeduld ...

Veilchen erklärte, daß Sebastus infolge seiner maßlosen Polemik und seines Zusammenhangs mit dem aufrührerischen Treiben des Tags von der Regierung verhindert wurde, mit Irgendjemand zu correspondiren, außer durch die Hände des Untersuchungsrichters. Nur eine in den Schranken sich haltende literarische Thätigkeit war ihm verstattet geblieben. Die Manuscripte mußten im Geschriebenen censirt werden. So konnten nur die Correcturen zu Hülfe genommen werden, um den Pater mit der Außenwelt in Verbindung zu erhalten. Mit Veilchen zu correspondiren, war ihm Bedürfniß geworden nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen. Sie gab an, daß nicht etwa in den Correcturen zur Seite (mit Druckfehlern ist nicht zu spaßen! schaltete sie auf Lucindens scheinbaren Scherz ein. Ein Arzt hat einmal einem Patienten, der sich gewöhnte, sich aus populären Heilbüchern selbst Recepte zu verschreiben, gesagt: »Sie sterben noch einmal an einem Druckfehler!«), sondern im Text eine Verständigung dadurch ermöglicht wurde, daß beide die Buchstaben, die zu ihren Mittheilungen gehörten, mit einem kleinen, fast unsichtbaren Pünktchen bezeichneten. Die Zusammenstellung derselben ergab einen Sinn. So jetzt diesen Hülferuf, der Lucinden von ihrem Sessel aufgetrieben hatte und sie fragen ließ:

Sollte es denn so schwierig sein, ihn aus dieser Haft zu befreien?

Doch!

Man könnte den Wächter bestechen –

Unmöglich!

In irgendeiner Verkleidung sollte er das Profeßhaus verlassen ... Einen Wagen würden Sie ja besorgen können ...

Ich? Bitte, Fräulein! Sie haben die Verdrießlichkeit des Herrn Seligmann bemerkt?

Ich finde, daß Herr Seligmann nur sehr neugierig ist! sagte Lucinde, sich umblickend ...

Denn eben ging die Thür und wie gleichsam von selbst wieder auf ...

Es ist seine Angst, sagte Veilchen, daß wir uns wieder in Dinge einlassen, die uns die größte Verantwortung zuziehen können!

Und doch wagten Sie das Verleihen eines bürgerlichen Kleides an einen Mönch?

Wohin kommt man nicht, wenn man von der verkehrten Welt – sein Geschäft hat! Oben hängt das ganze Mittelalter, Fräulein! Die Angst, die wir mit der zurückgebliebenen braunen Kutte gehabt haben, möcht' ich nicht zum zweiten male erleben!

Lucindens Sinnen ließ Veilchen Zeit, zu erzählen:

Als der Pater damals ein bürgerliches Kleid von uns geliehen, blieb ich bis spät in die Nacht hinein auf. Der Pater kommt endlich zurück und verlangt nach seinem Gewande. Er langt darnach, greift in die Taschen und vermißt ein Portefeuille. Denken Sie sich meine Bestürzung! Ein Franciscaner ist ein Bettler, seine Brieftasche konnte keine Schätze enthalten, auch war der Verdacht unserer Unehrlichkeit nicht vorhanden – der Pater traute mir, lieber Gott, seitdem ich meine Verschwiegenheit mit einem Scherze beschworen hatte, bei dem Gotte Spinoza's! ein Wort, das man freilich zu manchem Mönche sagen kann und er versteht's nicht. Also – in der Brieftasche lag nichts, als ein einziger Streifen Tuch, den er eine ewige Belastung seiner Seele nannte und den er besitzen müsse, wie Magdalena den täglichen Anblick ihres sündigen Antlitzes in einem Spiegel, sagte er, oder in einem Bache oder in dem Wasser, in dem sie sich wusch, oder in den Augen der Menschen, die sie verachtend ansähen. Alles boten wir auf, die Tasche zu finden. Vergebens! Die Zeit drängte. Der Pater mußte sich entfernen. Er erklärte am folgenden Morgen wiederkommen zu wollen. Inzwischen muß ich länger schlafen, als gewöhnlich, da ich die Nachtruhe versäumt hatte, und am folgenden Morgen ist zufällig der Bruder des Herrn Nathan im Geschäft und muß sogar am Fußboden drinnen die Tasche finden. Die beiden Brüder untersuchen sie und entdecken nichts als einen Streifen Tuch. Herr Nathan hatte die Nacht nicht gewacht, wie ich, wußte nichts von dem Verlust; und wie die Männer in allen Dingen schwächer sind als wir, denkt er, seinem Bruder könnte er schon ein Geheimniß verrathen und erzählt ihm den Vorfall mit dem Mönch und will ihn dann erst schwören lassen, als er's schon verrathen hat. Inzwischen hat der Bruder längst den Gedanken gehabt, daß gerade ein Streifen Tuch einem Mann an seinem Ehrenkleide fehlte, einem gewissen Küfer Stephan Lengenich. Und wie er nun erst gar den Mönch nennen hört, braust er auf, er, der sonst so milde, grundgütige Mann, rennt davon wie ein schnaubendes Thier und ruft: Hilf deinem Nächsten, soviel du kannst! Der wüthende Mensch hatte seinen Vortheil und eine Befriedigung für seinen Hochmuth und eine Befriedigung für seine Rache. Der Mönch hatte ihm eine Beleidigung zugefügt. Eben aber auch darum kommt er schon wieder zurück, schon wieder in sich gegangen, und bringt den Küfer mit. Aber der kommt gar erst mit Augen wie ein Pardelthier! Die Tasche hatte ihm der Löb noch nicht gegeben, aber er haschte danach, wie ein Fisch nach dem Wurm! Jetzt meine Angst um diese wüthenden Menschen! Der Küfer war einmal angeschuldigt worden, den Vater des Mönchs ermordet zu haben; Gott im Himmel! Dieser Streifen Tuch war von dem Kleide des Mannes abgerissen gewesen, der es gethan haben muß. Und wie sie den Namen nannten und ich wieder fragte und noch einmal fragte: Der! Eben der! da – da vergingen mir doch die Sinne –

Noch jetzt sank Veilchen in ihren Sessel zurück und zitterte ...

Aber auch Nathan kam hereingestürmt und rief zornig mit polternden Worten:

Sie wollen sich wieder krank machen!

Veilchen schüttelte, seine Sorge ablehnend, den Kopf ...

Noch ein Glück, daß ich in Ohnmacht fiel, sagte sie; die Männer erschraken darüber und legten ihre Wildheit ab ...

Nathan rumorte im Zimmer ...

Lucinde stand wie vor einem Vorhang, den eine geisterhafte Hand von ihrem eigenen Leben zurückzog ... Die Brieftasche des Abschieds einst in Lüneburg! ... Stephan Lengenich, dem sie selbst einst scherzend die Worte gesprochen im Düsternbrook: »Niemand flicket auch ein altes Kleid mit einem Lappen vom neuen Tuche –!« ... Auch das wußte sie von Treudchen, daß eben diese Jüdin durch den Dechanten und den Kronsyndikus um Leo Perl, die Hoffnung ihres Lebens, gekommen war ...

Sie sagte:

Eher hätten Sie sich ja selbst dem Küfer verbünden müssen! Denn auch Sie, hör' ich, gehören zu den Vielen, die den Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof vor Gott anklagen dürfen!

Veilchen blickte auf und ihr leidender Blick winkte Nathan zu gehen ...

Nathan that es, aber mit dem misgünstigsten Seitenblick auf einen Besuch, der soviel traurige Erinnerungen weckte ...

Ich höre, fuhr Lucinde fort, daß Sie die Hoffnung Ihres Lebens, die Liebe des Doctor Leo Perl verloren haben, weil er aus räthselhaften Ursachen Christ wurde!

Christ? – Priester! berichtigte Veilchen ...

Lucindens Zucken verrieth die gleiche Empfindung.

Und warum ward er es? Warum gab er Sie auf? fügte sie hinzu ...

Veilchen, bereits gesammelter, steckte sich ihre beiden Locken an zwei Haarnadeln zurück, die sie eine Weile im Munde behielt. Schon um deswillen mußte sie schweigen ...

Drangen Sie denn nie in dieses seltsame Geheimniß?

Veilchen schüttelte den Kopf ...

Auch jede Ahnung fehlt Ihnen? Seltsam! Ich habe in der Nähe des Kronsyndikus gelebt! Ich kenne einen Neffen des Dechanten, den jungen Benno von Asselyn ... Man könnte vielleicht forschen ... War Leo Perl von der Wahrheit des Christenthums überzeugt?

Veilchen zuckte die Achseln und befestigte ihre Locken ...

Er hat den Domherrn von Asselyn getauft, fuhr Lucinde fort ... Auch eine hier jetzt lebende Frau von Hülleshoven getraut, hör' ich ... Einen strengen, exemplarischen Lebenswandel soll er geführt haben ...

Ich hört' es ... sprach jetzt Veilchen ...

Nie wieder hatten Sie eine Beziehung zu ihm –?

Seine letzten Bücher waren in Kocher am Fall ge blieben. Als man sie ihm ins Seminar nachschicken wollte, ließ er sie an mich übergeben ... Da stehen sie! Sie sind – das Letzte ...

Für Lucinden konnte zunächst in dieser Mittheilung nur die Anerkennung der gewaltigen Kraft liegen, die das Christenthum auf die Ueberzeugung eines geistvollen Mannes hatte, der ihr eine Liebe opfern konnte ...

Und diese Beziehung der Freude des Küfers zur Trauer Ihrer eigenen Erinnerungen – was brachte sie zu Wege? fragte sie ...

Zunächst die Besinnung meines Verwandten, des Herrn Löb Seligmann. Der Mann hat Gefühl! Er erinnerte sich meines Lebens und wurde mein Beistand! Die Rache gab er auf!

Welche Rache?

Ich sagt' es nicht? Er war von dem Mönche am Tage vorher beleidigt worden. Der Pater ist voll Heftigkeit und vor den Narben in seinem Antlitz kann man erschrecken! Herr Löb Seligmann beschwichtigte den Küfer und ich gewann wieder meine Kraft. In Güte hab' ich mit ihm mancherlei besprochen und er ließ mir die Tasche und er versprach zu schweigen ...

Das können Sie nur durch eine flammende Beredsamkeit erreicht haben! sagte Lucinde und gedachte der schauervollen Tage auf Schloß Neuhof, der Lisabeth, ihres eigenen Verhörs, ihres Schwurs ... Den Küfer kenn' ich und die That auch, um die es sich handelt ... Was sagten Sie ihm, das ihn so entwaffnen konnte?

Wieder kam jetzt Nathan herein und machte sich schaffen, um die aufregende Unterhaltung zu stören ...

Veilchen wurde nun selbst über ihn verdrießlich ...

Mir scheint, Herr Seligmann, sagte sie, Sie suchen den gestrigen Tag!

Ich suche das nächste Jahr! fuhr Seligmann zornig auf. Wo werden Sie sein, wenn Sie nicht aufhören, Ihre Nerven – zu malträtiren!

Meine Nerven sind mein! sagte Veilchen hinter dem Zornigen her; mit irgendeinem Gegenstand, den er scheinbar gesucht hatte, war er wieder gegangen ... Ja, Fräulein! fuhr sie zu Lucinden gewandt fort: Ich sprach, was ich eben sprechen konnte. Die Leidenschaften kenn' ich und ich schilderte die Rache. Ich sagte, daß alles gut im Menschen ist, was ihm zum Bedürfniß wird seiner Selbsterhaltung, falls seine Selbsterhaltung die andern nicht kränkt und die Erkenntniß Gottes befördert. Ich sagte: Großmuth und Edelsinn sind die einzige Waffe gegen die Leidenschaften! Ich bewies dem Mann, daß es sich um die Ehre eines Geistlichen handelt! Ich schilderte ihm die Leiden eines Priesters und einer ewigen Entsagung! Ich sah, daß der grimmige Mann ein Ohr für meine Rede hatte, und da gab ich ihm die Hand und sprach: Auch mein Feind war der Mann, der in wilder Blindheit eine grausame That gethan hat, die sich Gott wie seine andern Thaten wird gemerkt haben! Ich sagte ihm, daß ich gehört hätte, der Mann wäre ein Greis jetzt, voll Kummer, und verschwendete an die Armen und die Priester, daß sie ihm haben seinen eigenen Sohn zum Wächter setzen müssen! Dann sagt' ich ihm, daß ich dem Pater einen Schwur gethan, der mehr als meine Ehre, der die Ehre Gottes selber wäre!

Bei dem Gotte Spinoza's? warf Lucinde ungläubig lächelnd ein. Wer ist dieser Gott? fuhr sie fort, den Kopf aufstützend ... Den Hut hatte sie gar nicht abgenommen ...

Das kann ich nicht sagen! erwiderte Veilchen. Aber jedenfalls ist es auch Ihr Gott! Es ist der Gott des Mannes, den ich liebte! Es ist der Gott, der in nächtlichen Stunden aus den Sternen zu uns sprach, wenn wir im schönen Garten der Dechanei Arm in Arm spazieren gingen – damals bewohnte sie der Herr Dechant von Asselyn noch nicht –! Es ist der Gott, in dem die Seele des Geliebten sich damals mit der meinigen vereinte! ...

Und dennoch verließ Leo Perl diesen Gott? fragte Lucinde ...

Nathan öffnete wieder die Thür und wisperte:

Warum möcht' ich doch, daß der Kirchenfürst heute begnadigt würde und den Schwarzen Adlerorden noch dazu kriegte mit Brillanten?

Nun? fragte Veilchen und machte eine Miene der Spannung auf einen »Witz« – trotz ihrer feuchtschimmernden Augen ...

Weil uns dann die »Gecken« hier keine Zeit lassen würden zum – Schwätzen; bitte um Vergebung, mein Fräulein!

Sie sehen, mein Fräulein, sagte Veilchen aus ihren Thränen heraus, als die Thür rasch geschlossen wurde, er ist unglücklich über den abgesagten Carneval und fürchtet, daß er neben seinem Geld auch noch den Kopf verliert, falls wir uns wieder mit der Kirche einlassen ohne Kanonen. Verlangen Sie also von uns nichts mehr! Der Küfer sitzt im Gefängniß und hat sich vor der Regierung compromittirt ... Der Pater kam damals zurück und bekam seine Tasche und ich hab' ihm erzählt, was damit vorgefallen. Wenn der Kronsyndikus todt ist, dann will er dem Küfer dienlich sein. Ich weiß nicht, was ihm muß sein Vater aus dem Grabe für wunderliche Sachen zugerufen haben ... Nun ist das schon vier Monate her ... Der Mönch kam noch einige male, wurde aber verrathen und seitdem ist er ganz gefangen und daß ich mit ihm durch die »Stufenbriefe vom Kalvarienberge des Lebens« correspondire, ist jetzt alles, was wir noch wagen können. Aber Herr Nück! Herr Nück! Der ist allmächtig! Sprechen Sie ja mit Herrn Nück! Der Pater ist krank, Sie hörten es! Er sehnt sich nach seiner Heimat zurück, manchmal zu einem Mönche, den er Vater Ivo nennt, manchmal zu einem andern, Bruder Hubertus ... Nun Sie sahen es ja vorhin ... Was soll ich ihm schreiben, mein Fräulein?

Lucinde stand träumend und blickte finster und voll Mismuth ...

Wie denn schreiben Sie ihm? fragte sie ...

Durch die nächste Correctur! Mit Pünktchen ...

Lucinde vergegenwärtigte sich die Worte, die Nück zu ihr gesprochen: Ueberreden Sie ihn, nach Belgien zu gehen! Sie mochte von Klingsohrn nicht länger ihre Bahnen durchkreuzt sehen und um sich zu dem kalten Entschlusse, ihn für immer aus ihrem Leben zu verweisen, zu ermuthigen, sagte sie sich sogar, daß die geistige Verkommenheit desselben jeden erschüttern dürfte, der seinen Geist, seine Kenntnisse, seine Kraft als besser verwendbar zu schätzen wüßte ...

Die Jüdin stand erwartungsvoll und wie bittend ...

Sie wären nicht geneigt, die Zelle des Paters zu besuchen? fragte Lucinde.

Mein Fräulein! lehnte erschreckend Veilchen ab ...

Herr Seligmann nicht –?

Dieser antwortete selbst durch ein heftiges Rumoren nebenan ...

Lucinde wußte, daß es sich hier um eine geistige Aufrichtung Klingsohr's handelte, die kaum anders, als von ihr selbst kommen konnte ... Sie bedachte einen Brief, den sie etwa schreiben könnte ...

Die Augen der kleinen Jüdin leuchteten hoffnungsvoll ... Eine Pause trat ein ...

Aus vielen Gründen, sagte dann Lucinde, nachdem Veilchen als die einzigen Personen, die man allenfalls zu dem Pater ließe, den Arzt, Medicinalrath Goldfinger, oder einen Geistlichen oder vielleicht den Druckerburschen genannt und hinzugefügt hatte, daß der Wächter des Hauses auch bei diesem vielleicht nicht in der Zelle zugegen bleiben würde – aus vielen Gründen wünscht' ich, daß der Pater aus seiner Lethargie erwache ...

Das ist herrlich! rief Veilchen ...

Ich wünschte, fuhr Lucinde grübelnd fort, daß er seine Muthlosigkeit aufgäbe, daß er sich für seinen nun einmal gewählten Beruf erkräftigte ...

Ja! Ja! ...

Ich würde ihm rathen, mit allem, was ihn hier bedrängt und ihn auch künftig in Fesseln halten wird, lieber für immer zu brechen und vielleicht – ins Ausland zu fliehen ...

Stellen Sie ihm alles das vor ...

Ich? Wie kann das ich? ...

Sie meinen – um die Vergangenheit –

Das hinderte nicht ...

Schreiben Sie es ihm ... Ich schicke sogleich in die Druckerei ... Der Bursche ist ein guter Junge – und pfiffig ... Haha! Kaplan Michahelles hatte den auch in eine Druckerei gegeben ... Hernach soll er nach Belgien und Jesuit werden ...

Jesuit? Ist Ihnen das ein so gleichgültiges Wort, daß Sie lachen?

Hab' ich die Welt zu verbessern?

Ihre Duldsamkeit scheint größer, als Ihr Wahrheitseifer!

Was ist Wahrheit?

Mindestens ist die Wahrheit das Gute!

Was ist Gut?

Suchen Sie nicht, was wahr, gut und gerecht ist?

Was ist Recht?

Sie anerkennen nicht Recht oder Unrecht?

Recht geht so weit wie Gewalt!

Wie einmal das Leben ist! Aber –

Im Himmel auch! Gott ist nicht weiter allgerecht, als er allmächtig ist!

Lucinde mußte lachen über dies Wortspielen ...

Was ist Ihnen die Tugend? fragte sie, jetzt sogar zutraulicher geworden ...

Ah! Die Tugend ist mir viel! Die Tugend ist die Erkenntniß Gottes!

Sie kehren, seh' ich, alles um, was wir Christen glauben! Haben Sie vielleicht auch keine Freiheit des Willens?

Wenn Sie hungert, müssen Sie essen! ... Richtig, Sie wählen die Speisen! Aber – Sie wählen Speisen, die Ihr Appetit Ihnen vorschreibt!

Jetzt begreif' ich, sagte Lucinde lachend, wie Sie über sich bringen, falsche Medaillen in die Welt zu setzen und die Spitzen da in Kaffee zu tränken, nur damit man glauben könnte, Maria von Medicis hätte sie schon getragen ... Hören Sie! Ich nenne das Betrug!

Ein hartes Wort! sagte Veilchen erschreckend. Dann aber setzte sie mit einem gewissen elegischen Tone hinzu: Mein Fräulein, was ist die Kunst? Ein falscher Schein! Was ist das ganze Leben? Eine Mummerei! Wer dreißig Jahre in solchen Possen lebt, wie ich hier unter den bunten Röcken, nimmt die Possen der Erde für ihren Ernst! Ich kehre alles um! sagen Sie? Ganz recht! Sie lieben! So sagen Sie? Ich sage: Sie glauben, daß Sie geliebt werden ...

Keine glückliche Lebensauffassung! seufzte Lucinde. Ihr Spinoza, glaub' ich, war krank ...

Das war er ...

Er entsagte und entbehrte ...

Zu sehr ...

Er schuf sich eine Philosophie für die, die nichts mehr wollen und nichts mehr wünschen ...

Er liebte die Freiheit ...

Eroberte sie sich aber nicht ...

Wer die Erkenntniß hat, hat alles ...

Das bestreit' ich! Sehen Sie, da gebe ich einen einzigen reellen Genuß für alle Schatten der Erkenntniß!

Geschmackssache! ...

Auch Wahrheitssache! Eine einzige Reliquie, die ein Gläubiger küßt, ist, wenn man einmal Religion haben will, mehr werth als Ihr Gott, der wahrscheinlich die ganze Welt sein wird oder die Natur?

Der Mönch sagte dasselbe ... Ich lass' es ihm ... wer Religion braucht ...

Fräulein! Fräulein! Ich wünschte – die Spitzen da nicht in dem Kaffee zu sehen!

Veilchen zog ihre Haarnadeln aus, ließ ihre Locken fallen, stützte das Haupt auf und sagte träumerisch:

Spinoza sagt einmal: »Einen Mann hört' ich mir neulich zurufen: ›Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen!‹ Der Mann versprach sich nur. Er wußt' es nicht. Wozu sollt' ich ihn erinnern, daß er sagen wollte: Sie meinen, Ihr Huhn ist in den Hof geflogen! Er irrte sich, aber ich verstand ihn ja.« So rufen uns alle Religionen zu: Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen! ... Machen die Religionen gute Menschen, wozu diese Sprachfehler corrigiren? ... Ebenso gibt es ganz vernünftige Menschen, die keine antiken Spitzen, wie die da, die Elle zu einem Viertel-Brabanter-Thaler nehmen! Sie wissen vollkommen, was echte Spitzen, die noch Maria von Medicis getragen hat, für einen Werth haben! Lassen Sie uns getrost die falsche Grammatik der Erde sprechen. Wenn hier in der Stadt die Herren von der Regierung und die alten Offiziere sagen: Gott straf mir! so wissen wir alle, sie meinen: Gott straf mich! Gott und was und wen wird wol einst die Ewigkeit strafen!

Die Welt will Wunder – und Ahasverus macht sie ihr! resumirte Lucinde ...

Sagte der Franciscaner auch!

Ihr rächt euch an der Welt, die euch verstieß! Ihr macht sie verkehrt, lacht dazu und laßt sie laufen ...

Sagte der Franciscaner auch! ... Je nun, mein Fräulein, Sie haben vielleicht Recht! Ich gebe mich nicht für vollkommen aus. Glauben Sie mir, wenn man die Welt nicht lieben kann und nicht hassen mag, da ist es am besten – man führt dem Nathan Seligmann sein Geschäft, wie ein armes Mädchen, das verlassen und kränklich in der Welt stand und nichts zu erwerben wußte, vor dreißig Jahren es vorgefunden ... Ja, ja, Sie haben vielleicht Recht, der Franciscaner sagte auch, in dem einzigen kleinen grünen Streifen Tuch – da läge der ganze Unterschied zwischen seinem Gott und dem Gott Spinoza's!

Lucinde grübelte über dies Wort und hätte darüber vielleicht noch gestritten. Aber Nathan unterbrach aufs neue die Unterhaltung der beiden im Denken, nicht im Fühlen verwandten Frauen und bewies somit vollständig, daß die Philosophie des klugen, aber willensschwachen Mädchens seit dreißig Jahren vorzugsweise von seiner Tyrannei bedingt wurde. Seinen Helm und seinen Panzer warf er, als wenn sie von Eisen wären und keine Beulen bekommen könnten. Seine bunten Geckenkleider und Tirolerhüte trug er hin und her, nur um damit seinen Wunsch auszudrücken, daß Veilchen zu dem Ziele käme, die ganze Beziehung seines Geschäfts zu Staat und Kirche ein für allemal abzubrechen und die Sorge für den Mönch in Lucindens Hände zu legen ...

Lucinde betrachtete schon lange nachdenklich die bunte Herrlichkeit um sich her und sagte:

Wenn ich wüßte, wie ich selbst den Pater sprechen könnte –

O, das wäre das Beste, Fräulein! O erbarmen Sie sich seiner! Lassen Sie ihn noch einmal Ihre schöne Hand küssen! Ja, Sie, Sie können ihn erheben, Sie können ihm neue Kraft verleihen ...

Für sein ganzes Leben – möcht' ich ihm – einen Rath geben –

Man wird Sie nicht zulassen! ... O das ist traurig!

Ziehen Sie diesen Rock an! sagte Seligmann, sich wieder vorwitzig einmischend und hielt ihr eine braune Mönchskutte entgegen ...

Aber Herr Seligmann! rief Veilchen vorwurfsvoll ...

Der Störenfried entfernte sich ...

Er hat nicht Unrecht –! entgegnete Lucinde ...

Veilchen blickte mit Staunen ...

Hat jener Druckerbursche wol – meine Gestalt?

Himmel! triumphirte Veilchen und schlug die Hände zusammen und freudestrahlend begreifend blickten ihre Augen und die Stimme dämpfend sprach sie:

Eine ganz neue blaue Blouse hab' ich – Eine kostbare schwarze Sammetmütze mit einem Schirm – im Abenddunkel – Da könnten Sie – wahrhaftig –!

Der Wächter des Hauses würde mich begleiten ...

Lucinde wich nur einer allzu hastigen Zustimmung aus ...

Nein! Oder schützen Sie Eile – die Censur vor – die Censur! Diesmal soll die Abscheuliche segensreiche Früchte tragen!

In Lucindens Innern sagten tausend Stimmen: Aber würdest du entdeckt! Aber käme auch diese neue Demüthigung auf dein großes Schuldbuch! ... Ebenso viel andere Stimmen sprachen: Ist es nicht ohnehin dein Letztes! Der morgende Tag muß für dich – für Paula – für Nück – für alles, alles auf ewig entscheiden! ...

Die Jüdin flüsterte fort und fort, malte die Gefahrlosigkeit des Unternehmens, beschrieb den Eingang des alten Profeßhauses, die Lage der Zelle des Mönches, alles, was sie von dem jungen Burschen wußte, der Jesuit werden sollte, wie Tönneschen Hilgers auf Lindenwerth – die Väter der Gesellschaft Jesu sind in ihren Collegien ihre eigenen Handwerker und eine von einem Laienbruder dirigirte eigene Buchdruckerpresse zu besitzen muß für sie überall eine große Annehmlichkeit sein – Sie versprach, Lucinden umzukleiden ... sie zu begleiten bis an die Pforte ... sie draußen wieder zu erwarten ...

Lucinde hörte und hörte und stand im Kampf der Entscheidung über – ihr ganzes Dasein ...

Die Jüdin betheuerte ihre Verschwiegenheit, versprach, Herrn Nathan in nichts einzuweihen ... Sabbat war es; sie würde von Nathan verlangen, daß er den Abend zum Nachtgebet in den Tempel ginge und der »gemüthlichen Börse« beiwohnte, die sich nach demselben in der Vorhalle zu versammeln pflegte ... Während sie so fortflüsterte, drängte sich in die verworrene Musik im Innern Lucindens ein einziger melodischer Accord, der zuletzt die Oberhand behielt. Diese sanfte Harmonie, die sie zuletzt sogar wie mit Opferfreudigkeit erfüllte, entwickelte sich aus verworrenen Anfängen und sprach nach und nach: Du hoffst noch einmal auf deinen unglücklichen Genius! Läßt er auch dies Werk scheitern, dann – dann gibt dir vielleicht dein religiöser Ruf die Rechtfertigung, daß du eine That vollbringen wolltest, die einem Streiter der Kir che zu Hülfe kommen sollte oder –! Nein, nein, in hoc signo – sie sprach sich's lateinisch – in diesem Zeichen wirst du siegen, selbst unterliegend! Gelingt aber die Flucht, auch dann verlangst du von Bonaventura morgen die Beichte, die erste und – vielleicht die letzte! Auch das mag er hören, entschuldigen – verurtheilen! ... In einem Briefe hatte sie schon in erster Morgenfrühe Bonaventura vor seiner Reise noch um eine Generalbeichte gebeten.

Rasch brach sie ab und versprach, in der Abenddämmerung, um die fünfte Stunde, wiederzukommen ...

Eine Secunde – und sie war gegangen.

Als Veilchen Igelsheimer allein mit Herrn Nathan Seligmann war, überschüttete sie diesen mit den bittersten Vorwürfen, verweigerte ihm alle Auskunft, schmollte ernstlich und versparte sich bis nach dem Mittagsessen den Antrag auf den Tempelbesuch, den er in den Abendstunden machen sollte ...

Und ihre Spitzen und ihre Medaillen und die alt sein sollenden Kupferstiche sah sie wirklich mit Unmuth an und murmelte vor sich hin:

Spinoza war krank? Er liebte und wurde nicht erhört und ging dann hin und schrieb über die Liebe, als wäre sie eine mathematische Figur ... Beweisen will er das menschliche Herz wie die zwei rechten Winkel bewiesen sind, die sich in jedem Dreieck von selbst verstehen ... Ha, dies muthige, tollköpfige Mädchen! Ihr schwarzer Kopf! Ihre feurigen Augen! Ihr trotziger Schritt! Die kann alles, was sie will –! Und sie glaubt an die Freiheit des menschlichen Willens! Die könnte mich ja – fast irre machen! Wär' ich ein Mann, dann gewiß!

Es war ihr, als wenn der Gott Spinoza's dem Menschen die Thatkraft, den schönen Wahn, der allein das Oel zur wahren Flamme des Lebens gibt, die ganze tausendjährige Poesie geschichtserzeugender – Irrthümer nähme ...

Nur eine Weile war's ihr so. Sie kehrte bald in ihr sanftes, lächelndes Dulden zurück.

10.

Im siebzehnten Jahrhundert war es, wo sich der Jesuitismus zu jener Alleinherrschaft innerhalb der katholischen Kirche erhob, durch die sein Sturz mehr herbeigeführt wurde, als durch die Philosophie der Aufklärung. Die übrige Geistlichkeit, die der weltlichen sowol wie der Ordenssphäre, lieferte im stillen die Materialien zu jener Verfolgung, die sich zum Sturz der auch von ihnen gehaßten mächtigen Staatenlenker und Gewissensräthe verschworen hatte.

In jener Zeit des höchsten und übermüthigsten Triumphes entstanden die großen Kirchen und Collegien, die auf den Namen der Jesuiten gehen und nach dem entarteten italienischen Geschmack, der damals herrschte, gebaut worden sind. Es war die Eleganz der gewundenen Bandschleife eines Zopfes, die glatte Dressur des über den Kamm gestrichenen Haares, die Form der gebogenen Schnalle an den Schuhen, die auf die Windungen, Rundungen, Cannelirungen, Fenstersimse und Portale der Architektur übertragen wurde. Das Innere der Kirchen wurde mit Marmor und Gold überkleidet. An den Altären erhoben sich gewundene Säulen, umgeben von schwebenden Engeln, die die gemüthlichen Wirkungen, die sonst die Malerei hervorgebracht hatte, jetzt auch durch die Plastik versuchten. Alles sollte sinnlich, erfaßbar, wie wirklich und leibhaftig in die Augen fallend erscheinen. Blumen wurden in halb erhobener Arbeit bunt an die Decken und Wände geheftet, plastische Heiligenbilder schmückten sich mit Farben und mit wirklichen Kleidern. Man wollte das Wohlgefallen aller Sinne gewinnen. Sogar die Glocken auf den nicht mehr zu hohen, nicht mehr zum Himmel anstrebenden Thürmen erhielten einen eigenen Rhythmus. Die Jesuitenglocken schlagen in kurzathmiger, schnellaufender Hast eine zwei- oder dreitönige musikalische Figur an, deren endlose Wiederholung, wie eine jener alten Litaneien, die man in Abendmetten vom Chor anstimmt, die Seele zuletzt so verwirren und betäuben kann, wie die Begleitung mit Trommel oder Pfeife asiatische Tänzer und Schamanen.

Aber in den ersten Anfängen der Verbreitung des von Loyola gestifteten neuen geistlichen Ritterordens war das Auftreten desselben bescheidener ...

In der Residenz des Kirchenfürsten gab es eine stattliche Jesuitenkirche mit marmornen Portalen. Ihr gegenüber lag das Collegium der Väter in jenem Styl, in dem unter Ludwig XIV. gebaut wurde. Beide Sitze der alten, von Ganganelli gestürzten Herrlichkeit gehören nicht mehr den Jesuiten, auch seitdem das Jahr 1848 ihnen fast allein – Erfolge der Freiheit gegeben hat.

Ihr früheres ältestes Profeßhaus liegt in einem entlegenern Theile der Stadt und hat das Ansehen eines mäßigen Klosters ...

Ein Hofraum ist von drei Seiten mit einem zweistöckigen Gebäude umgeben, von der vierten Seite mit einer hohen Mauer, in der sich das Eingangsthor befindet. Eine kleine düstere Kapelle unter hohen breitastigen Bäumen liegt an der Pforte von außen; von innen, ehe man den grasbewachsenen Hof betritt, muß man erst an der Wohnung des Pförtners vorüber. Ein kleiner Thurm mit durchbrochenem Glockenstuhl und einer alten heisern, schon lange geborstenen Glocke bezeichnet die Stelle, wo sich noch jetzt eine damals nur für die Väter bestimmte Kirche befindet. Das Dach des dreigeschenkelten Hauses ist von Schiefer; die Fenster sind winzig klein; ein neuer weißer Kalkanstrich steht in grellem Contrast zur Verfallenheit des ganzen Gebäudes, das sowol durch die vorliegende vergitterte kleine unzugängliche Kapelle, in welcher der mit Immortellen und gemachten Blumen und bunter Madonna verzierte Altar etwas von dem Gespenstischen eines Wachsfigurencabinets darbietet, wie durch die ringsumher stehenden uralten Bäume auf seinem etwas hoch gelegenen einsamen Platze einen unheimlichen und düstern Eindruck gewährt.

Dies alte Profeßhaus dient jetzt noch zu allerlei geistlichen Zwecken. Es ist nicht in allen seinen Zellen bewohnt. Hier in dem einen Flügel scheint es eine Art Krankenhaus zu sein; denn ein hüstelnder langer, hagerer Greis, den nicht mehr die Tonsur unter dem Sammetkäppchen als Geistlichen erkennen lassen würde, öffnet ein Fenster und hält die Hand in die rauhe Abendluft hinaus. Seit Jahren ist er heiser, kann nicht mehr die Messe singen und fand, da er seine Pfarre aufgeben mußte, hier im alten Jesuiter-Profeßhause seine Versorgung. Dort jener gegenüberliegende Flügel deutet auf eine Strafanstalt. Einige Fenster sind vergittert und wiederum ist es ein Geistlicher, der einen Moment eine lange Pfeife durch die Eisengitter steckt und sich den mit Schnee gemischten, in Glatteis übergehenden Regen nicht verdrießen läßt. Ein Irrsinniger ist es nicht, aber die ganz klaren Gedanken kommen ihm selten. Seine Stelle mußte er verlieren, weil er in die Messe zuweilen deutsche Zwischenreden mischte, den Wein beim Namen des Gewächses nannte, bei Austheilung des heiligen Brotes ein: Wohl bekomm's! mit einfallen ließ, auf der Kanzel Wirthshausanekdoten erzählte und in den Beichtstuhl mit der Pfeife im Munde ging. Nicht so schlimm ist er, wie sein Nachbar links, den man ganz absperren mußte, weil er kein weibliches Wesen erblicken kann, ohne mit ihm Gespräche anzuknüpfen, die selbst einem Laien nicht gestattet sind. Sein Nachbar rechts wieder ist ein so heilloser Flucher, Schwörer, Händelsucher und Wirthshausmatador, wie nur ein geborener Bauernsohn sein kann, der, wenn er wieder in ein Amt kommen sollte und auf seiner Pfarre dem Oberförster, dem Amtmann, dem Schulmeister begegnet und nicht den Gruß so geboten bekommt, wie er ihn verlangt, den Leuten den Hut vom Kopf schlägt. Noch jetzt geht er im Zorn aus Rand und Band und kann schon lange nur durch Hunger gezähmt werden ... Strafklöster und Strafanstalten gehören dieser Kirche ausschließlich an und sind in solchem Grade eine stillempfundene Demüthigung ihres Priesterstandes, daß man sie gern eingehen ließe. Man bedient sich dazu des Vorwandes, daß unter den Geistlichen neuen Stils keine Vergehen so arger Art mehr vorkämen ...

Der mittlere Bau, an welchem sich im Sommer vom Grase des Hofes empor hier und da einige Weinranken auf der weißgetünchten Wand hinziehen, hat einige freundlichere Zimmer, ein Refectorium und nach der entgegengesetzten Seite zu sogar ein schmales Gärtchen, das indessen schon lange von einer alten hohen Mauer, der Brandmauer anderer Gebäude, begrenzt wird. Hier finden oft arme durchreisende Geistliche ihr Unterkommen. Mancher von ihnen wird auch zu irgendeiner Verantwortung berufen; andere kommen in eigenen Geschäften und scheuen die Ausgabe in einem Gasthofe ...

Die Ordnung in einem solchen Hause aufrecht zu erhalten, ist keine geringe Aufgabe. Nicht nur gehören dazu Fleiß und Umsicht, auch Unbestechlichkeit, Pflichtgefühl jeder Art und physische Kraft. Für die Reinlichkeit sorgt eine alte Frau, die durch ihre Kleidung sich als zum Geschlecht der Grazien gehörig ausweist; sonst würde man sie den Männern und solchen zugerechnet haben, die ohne Gefahr für ihre Gesundheit bei Schleusenarbeiten in Morast leben können. Dies zarte Wesen ist die Hanne Sterz. Nur ein Auge hat sie, ist lahm, kocht aber leidlich. Die Elasticität ihres rechten Fußes hat sie von einem unglücklichen Eingeklemmtwerden in einer der Zellenthüren auf der Strafseite des Profeßhauses, da, wo Entbehrung selbst über Macbeth-Hexen hergefallen wäre. Frau Hanne Sterz zählt schon siebzig Jahre und verdient den Beistand, der ihr seit einigen Monaten durch einen ihrer Anverwandten wird, einen groben, rothhaarigen Knecht, den man den Joseph nennt. Ueber Hanne Sterz aber und dem Joseph steht der eigentliche Verwalter des Hauses, ein ehemaliger Soldat, den die Regierung installirt, ohne ihn vom Gehorsam auch gegen die geistlichen Behörden zu entbinden, die eine Art Jurisdiction und Disciplinargewalt in diesen Mauern ausüben können. Aber Herr Kratzer muß der Regierung von jedem Misbrauch dieser Befugnisse der Curie Anzeige machen und die Rapporte über die im Profeßhause befindlichen Einwohner und deren Befinden allwöchentlich abliefern. Denn Fälle wie die, daß man in die unterirdischen Gefängnisse geistliche Strafgefangene wirft, sollen nach dem Willen der Regierung nicht mehr vorkommen. Kratzer führt die Schlüssel zu den unterirdischen Gängen der Stadt. Er hat dafür zu sorgen, daß sie nicht misbraucht werden. Längst ist es der Plan der Regierung, sie zu verschütten. Bis dahin muß Kratzer sie so reinlich halten, als es die Ratten und sich einmündenden Kloaken erlauben. In diesem Amte unterstützen den »Castellan« die herculischen Schultern irgendeines vom Staat besoldeten Knechtes. Joseph ist einer der vielen, die Kratzer schon in diesem Amte als Beistand hatte. Er selbst scheint einer jener alten ergrimmten und ewig verstimmten Invaliden ohne Weib und Kind. In dem kleinen Hause an der Pforte, die er wie ein Cerberus hütet, wohnt er. Grützmacher ist andern Glaubens als Kratzer; hätte er den Kameraden im Sommer so am offenen Fenster, im Lehnstuhl sitzend und rauchend und mit unveränderlich mürrischer Miene in dem weißbebarteten Antlitz immer auf dieselbe Stelle im Hofe, immer auf dieselbe kleine bunte Winde oder Kresse in dem sechs Fuß breiten Gärtchen, das er um sein Häuschen herum angelegt hat, blickend gefunden, er würde ihn entschuldigt und gesagt haben: Die Menschen verstehen gar nicht diese furchtbare Müdigkeit eines alten ausgedienten Militärs!

In zwei der kleinen Zellen des Mittelbaues wohnt seit einiger Zeit Pater Sebastus. Anfangs war er nur hier in Herberge. Seit einigen Monaten ist er ein Gefangener. Täglich erwartet er eine Entscheidung, wann und unter welchen Umständen er zum Kloster Himmelpfort bei Witoborn zurückkehren darf. Er ist krank, will keinen Arzt, liest und schreibt nur und grübelt. Seine Petitionen an die Curie und die Regierung enthalten schon lange nur noch die Bitte, rauchen zu dürfen. Diese verwies dafür auf jene, jene auf diese, und so bettelte der Mönch noch vor Weihnachten den Castellan nur um Cigarren an ... Jetzt entsagt er auch diesen ... Die Censurstriche können ihn zuweilen noch lebendig machen und die Druckfehler. Kratzer, der oft den Burschen mit den »Stufenbriefen« begleitet, ahnt nicht, daß sie mehr enthalten, als Betrachtungen über die Buße, die Sünde, die Erlösung.

Bei alledem ist Sebastus beim Eintritt in sein dreißigstes Lebensjahr der Alte geblieben ... Ja! und: Nein! hatte er drei Tage lang zu Bonaventura gesprochen. Als er aufs neue die Rumpelgasse besuchte, erhielt er Gefangenschaft; dennoch geißelt er sich wirklich, wenn sein Guardian im Kloster Himmelpfort: Miserere! ruft. Er gibt Sokrates, Plato, Aristoteles, Firdusi, Shakspeare, Milton, Spinoza, Goethe, Harry Heine noch immer hin, wenn nur Gregor und Innocenz bleiben; besonders seit der Gefangennehmung des Kirchenfürsten, der ihm die Springprocession nach Echternach mitzumachen hätte anbefehlen können; er würde, abgekühlt vom ersten Schrecken, den Mann doch eine »Natur« genannt haben. Raubte man ihm alles, doch blieb – das volltönende Latein des Breviers, der majestätische Klang des »Dies irae« und »O salutaris hostia«!

Ueber Lucinde und Bonaventura weiß er durch Veilchen Igelsheimer schon seit den Tagen, als er noch der Außenwelt angehören durfte, daß jene schon seit lange diesen Priester kennt, durch ihn – immer entstellt das Gerücht – bekehrt wurde, für ihn nur lebt ... So beichtet er denn auch diesem nicht, einem Priester, der ihn in seiner tiefsten Erniedrigung kennen gelernt hat ... Zur vollen hingegebenen Freundschaft fehlte ihm wahre Demuth; ohne eine gewisse Unterwerfung gibt es keine Freundschaft.

Und dann! Wer freilich mag auch sehen, wie ein Herz, das wir selbst einst besaßen, einem andern gehört! ...

Von Tag zu Tag wächst das physische und Seelenleid des Gefangenen, dessen Einsamkeit nur der Besuch der Kirche im Kloster, einigemal die Besuche des Untersuchungsrichters (man vermuthete in Klingsohrn den Verfasser einiger in Augsburg und Würzburg erschienenen Broschüren), der Arzt unterbrechen ... Weihnacht ist vorüber ... Die Hinrichtung Hammaker's kann Sebastus in keine Verbindung mit seinem eigenen Leben bringen ... Es kehren die alten geistesschwachen und geisteszagen Stimmungen wieder ... die Hände zittern ... mager und dürr liegt er in der braunen Kutte und barfuß auf einem alten Sopha ... Alte Lieder summt er, dichtet neue, findet die Reime nicht mehr und bedarf dringend den Mechanismus des Klosters, bedarf der Hand des Bruders Hubertus, der ihn z.B. um jede Mitternacht aus seinem Schlafe emporhob und ins Chor der Kirche zum Singen trug – dies schwere Amt, das der heilige Franciscus erfunden hat, um im Kloster nichts in der Welt nächst Gott mehr lieben zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr ersehnen zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr erstreben zu lassen, als den Schlaf.

Eine traurige Winterszeit ... Es regnet, es stürmt ... Nur die dumpfen Schläge der Thurmuhren unterbrechen die bange Oede eines Aufenthalts, den des Mönches schroffer Sinn noch einsamer macht durch Ablehnung alles Umgangs mit den übrigen Bewohnern des Hauses. Wenn die Dunkelheit schon früh sich niedergesenkt hat auf den trüben Tag, wenn zwei mächtige Hunde in ihren Hütten sich bäumen und gegen die gewaltige rings von einem kleinen Eisenverschlag umgitterte Thorglocke bellen, die draußen von einem Einlaßbegehrenden gezogen wird; wenn die großen Holzpantoffeln der hochaufgeschürzten Hanne Sterz im Hofe klappern oder Joseph beim Schein einer Laterne das Holz spaltet, das in den Oefen der Bewohner dieses traurigen Ortes flackern soll; oder wenn Kratzer selbst eine große eisenbeschlagene Thür aufgehoben hat, die in einem Winkel des Hofes platt auf der Erde liegt und in jene Gänge führt, zu deren Reinigung ein Kampf mit einem Heer von Ratten gehört, das die Stufen heraufspringt und sich blitzschnell in alle Löcher des Hofes vertheilt, während hinter den Eisengittern die gefangenen oder geisteskranken Leviten: Hatz! Hatz! rufen und die Hunde zur Verfolgung reizen, daß die sich heulend an ihren Ketten aufbäumen und den zottigen Hals blutig reißen ... dann überrieseln Klingsohrn düstere Schauer – Erinnerungen an die Tage von Neuhof, Hoffnungen auf Witoborn – Wonnen – o du Thor – eines Wiedersehens mit Lucinden ... Daß er zu den Todten gehört, weiß er und besingt es. Hat er sich auch unter dem Leichenstein der ewigen Gelübde ein scheinbares Leben zu erträumen verstanden, Lucinde sollte zu diesen Träumen nicht mehr gehören. Sie kann mit ihrem, »wenn sie will«, so verführerischen Lächeln keinen seiner Wünsche mehr bestricken; sie kann mit ihren gaukelnden Phantasieen keine Bilder von Freiheit und Liebesglück mehr wecken. Das ist vorüber schon lange – schon vor seinem – Begräbniß. Doch – es reizte ihn doch stündlich – auch sie hat sich in den Schoos einer Kirche geflüchtet, die einen erstorbenen Willen mächtig wiederbeleben, klaffende Wunden heilen, schmerzlichste Lücken wenigstens mit »Poesie« erfüllen kann ... Das hätte er gern einmal sehen und hören mögen, wie Lucinde zu dem goldenen Kreuz auf ihrer Brust gekommen, das er in der Kathedrale gesehen, wie sie den Rosenkranz beten, was sie sagen würde von der Welt und wie sie zurückdächte auf alte Zeit und wie sie sich ausnehmen würde in der Messe, im Beichtstuhl, selbst mit der Liebe zu einem Priester im Herzen, der sie ja, das sagte er sich von Bonaventura, nie erhören kann –! Dann winkte ihm Loreley von kahlem Felsgestein, verlockte ihn und andere Knaben, bettete den Bethörten in der kühlen Tiefe ... Mit fieberschwangern Glühwinden der Wüste überhauchte es ihn dann und krank wurde er an jenem orientalischen Ragl, der den in der Sahara verschmachtenden Pilgern Städte mit blinkenden Minarets und Bäume voll goldener Früchte zaubert, in deren Schatten, in deren erträumtem Genusse sie sterben.

Wieder auf seinem Sopha liegt Klingsohr mit nackten Füßen ausgestreckt ... Wieder wird es Abend ... Schon brennt eine ärmliche Blechlampe auf einem mit Papieren bedeckten Tische matt und düster ... Das Bellen der Hunde hört er, den Lärm, den zuweilen die wilden Bewohner des Hauses machen; oft huscht es im Gange an seinen beiden Thüren vorüber – in einer Nebenkammer schläft er –; traurig zieht ein alter Klosterspruch durch sein tief hülfsbedürftig an Hubertus gerichtetes Sehnen, der Spruch, den ihm dieser einst wie ein memento mori gesprochen: »Wir Mönche kommen zusammen und kennen uns nicht! Wir Mönche leben zusammen und lieben uns nicht! Wir Mönche sterben zusammen und beweinen uns nicht!«

Fünf Uhr schlägt's ...

Da und dort blitzt das Licht der jenseit der hohen Mauer angesteckten Laternen auf. Ein kalter Regennebel umhüllt die nächsten Umgebungen, die kleine Kapelle vor dem Eingang und die halb verwitterten Bäume. Die Hunde beginnen ein Wimmern, das ihnen mit eintretender Dunkelheit eigen ist und vielleicht der Erwartung des Mahles gilt, das ihnen Joseph bereits in irdenen Schüsseln bringt. Kratzer studirt an einem Dreierlicht mit der einem alten Militär eigenen Gründlichkeit die frisch angekommene Abendzeitung, die über den gestrigen »Krawall« neue Einzelheiten, neue Warnungen und Verordnungen der Regierung enthält ...

Da wird heftig die Glocke gezogen ...

Joseph unten erhebt sich nicht von den Hundehütten, ruft die Hanne ...

Diese will eben in das Haus des Castellans mit einem Trunk Weins aus dem Keller hinken – denn zu Krieg und Frieden, zu neuen Avancements und neuen Orden trinkt Kratzer gern seinen Vesper-Schoppen ...

Hanne Sterz öffnet ...

Ein junger Mensch in einer blauen Blouse und mit schwarzer Sammetmütze, bedeckt von einem alten Regenschirm, kommt mit einer Druckermappe unterm Arm und begehrt den Pater Sebastus zu sprechen ...

Censurstriche! sagt die fast rauhe Stimme rasch und entschieden ...

Joseph blickt etwas von den Hunden auf, deren Bellen er beruhigen muß ...

Hanne Sterz bringt von Herrn Kratzer ein: Passirt! ... Herr Kratzer will sich die gemüthlichste Stunde des Tages, die Stunde des Schoppens und der Welthändel und der neuen Versetzungen in der noch immer heißgeliebten Armee nicht stören lassen ...

Der junge Mensch wagt sich im Finstern an die Treppe, die er schon kennen muß, schlägt den Regenschirm ein, reißt die Thür der Treppe auf, drückt sie wieder an sich und schöpft auf der ersten Stufe Muth und Fassung aus hochklopfender Brust ...

Im ersten Gange rechts die zweite oder dritte Thür, Nr. 16 und 17 gleichviel! ... So hatte es in der Anweisung auf der Rumpelgasse geheißen ... Die Begleitung Veilchen's hatte sie abgelehnt ...

Die Treppe ist erstiegen, die Thür gefunden ... Die Zahl in der Dunkelheit nicht zu lesen ...

Ein Moment der Besinnung ... Angeklopft ... Kein Herein!? ... Was thut's? ... Lucinde tritt ein und entdeckt an der trüben Lampe, daß auf dem Sopha jemand zusammengekauert liegt, der sich nicht erhebt, völlig antheillos bleibt, bis er die Mappe von dem Ankömmling entgegengereicht erhält ...

Nun greift danach eine knöcherne Hand, einer Kutte sich entwickelnd ...

Lucinde sieht das verfallene Antlitz Klingsohr's, sieht die rothen Narben auf den blassen Wangen, das kurzgelockte röthliche Haar, die fast endlose Stirn, die Tonsur ...

Sie hat ihre Sammetmütze in der einen, den Regenschirm in der andern Hand ... Auf dem von der Luft und der Eile gerötheten Antlitz liegen die dunkeln Flechten ihrer Haare dicht zusammengebunden. Ihr Hals ist von einem rothen Tuch umschlungen. Unter der hellblauen Blouse ist sie mit einem groben, aber neuen Tuchkittel bekleidet; ihre Beinkleider sind trotz der Jahreszeit neuleinene; darunter hat sie sich sorglich vor Erkältung gesichert. Die Füße sind mit Halbstiefeln bekleidet. Ihr Wuchs entspricht dem eines sechzehnjährigen Jünglings, ihre Züge sind in der That männlich. Wäre nicht die Beweglichkeit, die Unruhe und Aufregung der Haltung gewesen, man hätte an den äußern Eindruck glauben dürfen.

Die Censurstriche des Assessors von Enckefuß er kannte sonst Klingsohr sogleich an der rothen Dinte. Heute entdeckte er nichts und entzifferte nur eine etwaige Botschaft Veilchen's ...

Sie schrieb ihm in der That:

Ueberbringer ist – Fräulein – Lucinde Schwarz –

Das Blatt entsank seinen Händen ... Er sprang auf und starrte wie vor einem Geiste ... Er ergriff die Lampe und leuchtete Lucinden entgegen und diese erleichterte die Erkennung, indem sie kurzweg sprach:

Klingsohr! Sie sehen, welches Opfer ich Ihnen bringe! Ich habe von Ihrer Gefangenschaft, Ihrem Seelenschmerz, Ihrem Körperleiden gehört, von Ihrer Sehnsucht nach dem Kloster zurück! Können Sie es möglich machen, daß Sie diesen Ort verlassen, so soll von morgen in der Frühe an unausgesetzt bis Abends ein Wagen dort drüben in der Allee halten, um Sie aufzunehmen, Mittags ausgenommen, wo die Pferde zu wechseln haben!

Es waren dies Ergebnisse eines Briefes an Nück und eines Besuches des Herrn Maria bei ihr ... Sie sprach diese Worte wie eine soldatische Meldung.

Klingsohr stand nur und hielt sich am Tische, hörte nur, betrachtete nur den schönen Knaben ... Das, was er allein begriff, war die Anrede nicht mehr mit dem alten »Du« ...

Auf einen Sessel, Lucinden dicht zur Seite, mußte er sich niederlassen ... seine Schwäche übermannte ihn ... eine schmerzliche Lebenslage ohnehin, wenn sich Menschen, die in so naher Beziehung standen, wiedersehen, das Band, das sie einst vereinte, gelockert finden, das Wort, das einst so warm gesprochen, kalt, die Vergangenheit ausgelöscht von einer neuen, inhaltreichern, und – berechtigtern Gegenwart! Wenn dann auch Klingsohr die alte Zärtlichkeit der Empfindung nur im Zittern seiner Stimme verrathen wollte – er war ein Mönch ...

Lucinde empfand mehr Abneigung als Rührung.

Glücklicherweise hatte sie Eile und konnte damit ihre Grausamkeit verdecken ...

Klingsohr! fuhr sie fort. Man muß mit Ihnen Mitleid haben! Einflußreiche Leute gibt es, die Ihnen wohlwollen, Ihren Geist schätzen! Wie konnten Sie gerade diesen Orden wählen, der Ihnen eine völlige Entsagung vorschreibt, Ihnen nichts mehr zu sein oder zu werden erlaubt?

Klingsohr überlegte von dem Gesagten nichts. Er horchte nur der so wohlgeordneten Rede und dachte: Bist du denn das Mädchen vom Düsternbrook, von den beiden Apfelblütenzweigen, vom Fest der Dämonen in jener Nacht, du, die Mondscheinwandlerin am Alsterufer, die Reiterin am Busen der Baltischen See?

Eine schreckliche Last, die auf Ihnen liegen muß! fuhr sie fort. Ich verstehe Ihren ganzen Lebensüberdruß –

Seit unserm Abschied in Lüneburg! hauchte er endlich tonlos ...

Auch Lucinde horchte seinem jetzigen Redeton ...

Noch immer, weißt du, hab' ich die Hand der Serlo'-schen Kinder in der meinen! sagte er leise. Vor einigen Monaten sah ich sie hier wie Marionetten springen!

Lucinde wollte den Uebergang in elegische Töne, die Klingsohrn, wie sie hörte, noch immer zu Gebote standen, hindern ...

Dennoch begann sie vom Vergangenen, wenn auch im kühlsten Tone:

Ich habe mich oft gefragt, Klingsohr, was Sie damals wol bewegen konnte, so den Kronsyndikus zu schonen!

Schenkte er mir nicht Lucinden? ...

Klingsohr sprach dies in der zarten Dämpfung, die ihm eigen war, wenn er Stellen aus eigenen oder fremden Dichtungen sprach ...

Das ist es nicht allein! sagte sie. Steht Ihnen Ihre Mutter immer noch so rein und unbefleckt, wie damals vor Augen?

Derselbe Engel! ...

Das Gespräch schien nun so in der Erörterung der Vergangenheit fortgehen zu können, aber plötzlich trat Lucinde ans Fenster ...

Es hatte geklingelt ... Draußen fuhr schneidend der Wind, rissen die Hunde an der Kette ...

Ich muß eilen! brach sie mit einem ängstlichen Blick auf das feuchtbeschlagene Fenster ab ... Also, was sag' ich Ihren Freunden? Wohin wollen Sie fliehen?

Drei Worte nur und dann – in den Tod! rief Klingsohr, faltete die Hände und hielt sie empor, wie für sich betend ...

Lucinde entsetzte sich über diese Geberde ...

Die Hauspforte hatte einen heimkehrenden Bewohner eingelassen ... Sie ließ sich beruhigter auf einen harten Sessel nieder ...

Lucinde! rief Klingsohr voll Feuer ...

Vom Kronsyndikus sprechen Sie! lenkte sie auf Mäßigung zurück ...

Warum ich den Kronsyndikus schonte? sprach Klingsohr sich sammelnd. Sieh, Lucinde, hier in meinen »Stufenbriefen vom Kalvarienberge des Lebens« steht: »Gerechtigkeitübt sich nur im Kampfe gegen sein eigenes Ich! Wer zu dem erhabenen Bau der Pyramiden voll Bewunderung emporblicken will, muß der blutigen Geißel nicht achten, die einst die im Sonnenbrand verschmachtenden Völker zwang sie zu bauen! Wie erstirbt in den Gemüthern immermehr jener Geschichtssinn, der das Erbe der Vorvordern nur mit der Absicht antritt, es ebenso den Enkeln zu hinterlassen! Voll Andacht betrittst du die Stelle, wo einst ein großer Mann athmete; bewunderst den Federzug, den eine Hand führte, die wir mit schauerndem Entsetzen so gleichsam lebendig sehen, die Hand, die Reiche stürzte, Schlachtenpläne schrieb! Um wie viel denkwürdiger ist der Griffel Klio's, sind die Runen, in denen Saturn schreibt –« ... Doch, lies das selbst, unterbrach er seine Feierlichkeit, sank auf seinen Sessel und hauchte leise: Ich werde nicht allem Worte geben können, was damals mein Inneres durchschnitt! Auf der einen Seite die Leiche eines Vaters, auf der andern ein Mörder, von Angst und Reue gefoltert! Haargesträubt saß der Freiherr mir gegenüber, bekannte die Uebereilung. Im Wortwechsel am Düsternbrook war ihm die Hand an den Hirschfänger gerathen; der Vater wandte sich zum Suchen eines Steins oder Holzes als Gegenwehr; die Waffe fuhr aus, fuhr in die unbeschützteste Stelle am Nackenwirbel, dahin, wo jede Verwundung tödlich ist. Der Zorn des Feindes war mit dem strömenden Blute verraucht; die Erinnerung der Freundschaft sogar stieg in dem zum Tod entsetzten Freiherrn wieder auf. Die Wildheit seines Wesens – was ist sie denn? Ein Uebermaß der Selbstwerthschätzung dieser Naturen. Sie kennen ihr menschliches Maß so gut wie andere. Soll ich's sagen? Ich empfand Mitleid mit ihm. Mehr noch! Ich nahm Partei. Ruchlos mag es erscheinen – Meine erste wissenschaftliche Arbeit war eine Betrachtung über die Politik der Bienen. Wir sollen dem Geiste leben, auch dem Geiste in der Natur; aber schon die Natur hat nicht alles gleichgestellt. Ich liebe die alte Regelung der Geschichte, liebe die Stände, liebe die Unterschiede, die die Modephilosophie ausgleichen will. Spinoza, ihr erster Tonangeber, löste, was bunt und farbig im Leben blüht, in aschgraue Einerleiheit auf, die er die Substanz oder Gott nennt. Schon Kant aber lehrte uns, auf unser Ich und das innere Gebot zu lauschen. Wie viel mehr ein Glaube, wie der – unsere! Die Persönlichkeit, die sich in der Geschichte austrägt, ist mein Gesetz! Verblendet von deinem Bilde, bestochen vom Glanz der Versprechungen des Kronsyndikus, befangen durch seltsame Märchen, die von meiner Mutter gehen, dazu der Gedanke: Das ein Enkel Wittekind's? Der Gedanke: Wollte Gott, es ginge groß noch und hochherrlich und in jedem Sinn hochfreiherrlich her im bureaukratisch geknechteten Vaterland! Ich beweinte meinen Vater, beweinte mich; was konnte es helfen, daß ihm der Kronsyndikus Ehre und Freiheit zur Sühne brachte! Des Freiherrn Schuld wuchs mir zur tragischen. Wenn ich auch zagte, wenn ich auch das Herrscherwort des Gewissens hörte – nenne so diesen dürren Kantischen königsberger Imperativ – wenn ich auch im kleinen Schacher und Handel mit dem Schicksal, im Versteckspiel mit der Entlastung der Brust mir den Streifen Tuch, der von des Freiherrn Jagdrock abgerissen, zu bewahren vorbehielt, ich mochte die weltliche Justiz nicht zur Siegerin machen über Poesie ... Lucinde, das ist aber mein Leiden! Ich will den Göttern ein gigantisches Schicksal abtrotzen und dennoch – mußt' ich Jérôme tödten, dennoch mußt' ich dich verlieren, dennoch mußt' ich –

Lucinde unterbrach seine gesteigerte Aufregung. Aufs neue erschreckt sprang sie ans Fenster ... Der Wind jagte durch die Bäume und ließ den schrillen Ton der Laternen pfeifen, die an ihren eisernen Haltern hin- und herschwankten ... Auf dem Gange rauschte es dahin daher mit schwerem Fußtritt ... Auch Klingsohr horchte auf ... Denn deutlich wurde die Stimme Kratzer's vernehmbar, der dem rumorenden Knechte zurief:

Ist denn der Bursch noch immer oben?

Klingsohr! sprudelte Lucinde in mächtigster Erregung auf und ihr Ton nahm vor Angst eine größere Wärme an ... Ein Wort! Ich, ich verstehe gewiß Ihren Uebertritt! Jagte mich denn nicht selbst das Schicksal und hetzte mich so lange, so furchtbar, bis ich –

Lucinde! jauchzte Klingsohr auf und hob die beiden halbnackten Arme aus seiner braunen Kutte ihr entgegen ...

Beide Convertiten hatten vielleicht nie so die Kraft ihres neuen Bekenntnisses gefühlt, so im Vergessen ihrer Gewissensbisse wieder sich riesig erstarkt gefühlt ...

Aber Lucinde gewann eher die Besinnung und die kalte Erwägung, als Klingsohr ...

Doch warum dieser Orden? fuhr sie fort. Warum dieses Gewand der Buße und Entsagung? Das ist ja deine unglückliche Natur, daß du jedem Ding, das dein eigen geworden, sogleich die andere Seite abgewinnst! Erkennst du die schönste Lage, in der du dich befindest, zu tief, so quälen dich schon ihre Mängel! Immer gefiel dir die Sache, die du selber triebst, aber sie misfiel dir, wenn du sie auch unter den Händen anderer sahst! ... Ist der Beruf eines Bettelmönchs deiner würdig? Kannst du so deine That eines Vatermordes – denn Hehler wie Stehler! – vergessen? So diese That sühnen? ... Lehne den Vorwurf nicht ab! Auch mich beschuldigen oft desselben Verbrechens die gespenstischen Schatten von Vater und Geschwistern. Trotze jedoch unserm Menschenloose! Bleibe groß! Ringe dich höher und höher! Flieh nach Belgien! Nach Lüttich! Deine Gönner bieten dir die Hand! Kannst du dies Haus verlassen, der Wagen führt dich, wohin du willst! Werde Jesuit ...

Klingsohr hatte sich erhoben, ging mit seinen Sandalen zwar unhörbar auf und nieder – aber die schöne, muthige, beredsame Sprecherin hatte ihn in Flammen versetzt ... Im Begriff war er, sie an sich zu reißen und mit seinen Küssen zu bedecken ... Zu ihren Füßen mochte er sich werfen, die schlanke Gestalt umschlingen ...

Lucinde ahnte diesen sich mehrenden Sturm seines Innern, deutete, um ihn durch Vorsicht zu beschwichtigen, auf einen anrollenden Wagen und fuhr fort:

Ich finde dich ganz so, wie Serlo dich beurtheilte! Du glaubtest, sagte dieser seltene Mensch, andere zu beherrschen und wärst der Sklave nur derer, die dich bewundern! Ohne den Wind, den du selber um dich her machtest, wärst du sogleich auf dem Sande! Stürme glaubtest du zu beschwören, die die Welt erschüttern, und du wärst doch nur der Mann des Sturms im Glase Wasser! Kleine Huldigungen könnten dir zur Abschlagzahlung für die größten Erwartungen dienen, in denen du dich täuschen ließest! Wahre Erfolge wärst du so wenig gewohnt, daß man dich mit Kupfer statt mit Gold befriedigen könnte!

Nein! rief Klingsohr wild und ergriff einen Riegel des Fensters, als könnte er diesen vom Holze reißen vor beleidigtem Ehrgefühl ...

Nimm von mir die Lehre, fuhr Lucinde lächelnd fort, die sich auf die bitterste Erfahrung auch meines Lebens begründet, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir uns kein Ziel mehr stecken! Im Kloster könntest du zwei Ziele haben: Priester zu werden, du bist es nicht, dann ein Heiliger! Beides aber wird deiner Natur mislingen. Tritt aus diesem Cirkel, in dem du lebst, heraus! Geh nach Belgien! Unterwirf dich den Strafen und Bußen, die man anfangs über dich verhängen wird! Bei der Beurtheilung des Dranges, der dich trieb, deinen Ueberzeugungen mehr zu nützen, als du im Kloster Himmelpfort vermöchtest, wird man etwas deinem Geiste Natürliches in dieser Flucht finden und dir in Rom Verzeihung erwirken!

Für Klingsohr war schon Melodie, sich so von Lucinden nur das alles gesprochen zu vergegenwärtigen. Dann aber auch regte sich sein Ehrgeiz. Längst schon zwang man ihn, sich aufzugeben. Und nun sollte er von ihr, von ihr wieder neu aus den Trümmern seines Lebens zu einem »Titanengebilde« zusammengestellt werden, von ihr, deren Hand einst dies Bild zuerst zerschlagen hatte? Gönnte sie denn der Kirche wirklich, forschte sein trunkener Blick, einen Streiter wie ihn? Hatte sie noch so viel Theilnahme, daß sie ihm in seinem Jammer beistand und die Verwerthung seiner Fähigkeiten erleichterte? Klingsohr glaubte in der That nur aus ihrem Munde die Sprache eines Philosophen zu hören, der alles in der Welt an seinem rechten Platze wünschte, keine Fähigkeit unbenutzt, jede Bestimmung der Natur von den Umständen eingeholt. Bei der fernern Besprechung des von ihr vorgeschlagenen Planes bewunderte er die gereifte Einsicht eines Mädchens, dessen Entwickelung er selbst gefördert, zu solcher Höhe des Charakters bildsam sich nimmermehr vorgestellt hatte. Schon war er gefangen von ihren Vorschlägen, überredet von den Erleichterungen ihrer Ausführung, geblendet von den Mitteln, die ihr in unbegrenzter Anzahl zu Gebote zu stehen schienen ... Er versprach es, sich aufzuraffen ... Morgen in erster Frühe sollte ihm der Druckerbursche Kleider bringen ... In der Abenddämmerung wie jetzt wollte er entschlossen auf das Hofthor zugehen, den Schlüssel, der von innen steckte, umwenden, und noch ehe man ihm nachsah, versicherte er, daß der Wagen ihn schon aufgenommen und entführt haben könnte ... Diese Verständigung war, als wenn ein in Schutt begrabener Brand durch den Hinzutritt von Luft sich aufs neue entzündet. Die Flammen der Jugend schlugen empor, alle Wahngebilde der Selbsttäuschung wirbelten in flockigen Feuerzungen ... Ich dich lassen! rief er wie einst. Ich dich nicht wiedersehen, Lucinde! Mein Geschick ist und bleibt, zu sterben am gebrochenen Herzen durch deine Untreue, deine Falschheit, deine Lüge – Himmelsbote, vergib, daß ist dich lästere! Lucinde! Lucinde! Liebst du wirklich jetzt –

Sie entwand sich seiner Frage, seiner Berührung ...

Nur den Saum deines Kleides laß mir! Ganymed! Götterknabe! Bist ja nur – mein Bruder! ... Ach Lucinde! Zu wissen, daß dein Herz, deine Liebe einem andern, einem Mann gehört, der die Himmel deines Besitzes nicht ahnt – verschmäht wol gar –?

Plötzlich unterbrach Lucinde seine ihr tief schmerzliche und theilnehmende Rede ...

Es war ihr eben gewesen, wie wenn mit einem Eisenstab an die Thorpforte geklopft wurde ... Dann klingelte es heftig ...

Sie sprang auf und sah in den Hof hinunter ...

Jemand leuchtete mit einer Laterne im Hofe Ankommenden entgegen ... Statt eines traten zwei Männer herein. Die Thorpforte blieb offen ...

Wer kommt da? fragte Lucinde, schon erstarrt, den gleichfalls völlig Besinnungslosen ...

Ihre Worte erstickten im Schrecken vor dem Zurückspringen eines scheuen Pferdes und dem Hören eines metallenen Klanges, der von einer Waffe zu kommen schien ...

Auch eine geschlossene Chaise ließ sich aus der spärlich erhellten Dunkelheit als draußen vorgefahren erkennen ...

Wem gilt das? fragte Lucinde ...

Klingsohr wollte das Fenster öffnen ... Sich langsam sammelnd sprach er vom andern Flügel des Hauses, in den man vielleicht einen wahnwitzigen Priester brächte oder aus dem man den, der das Haus schon lange beunruhigte, abholte ...

Dem Joseph war unten die Laterne ausgegangen und hellauf gellten die ihm von Kratzern über seine Ungeschicklichkeit gemachten Vorwürfe. Frau Hanne wurde gerufen und im selben Augenblick, wo gerade einer der Bewohner des Hauses heimkehrend durch die offene Pforte eintreten wollte, sprengte der Reiter ihm in den Weg und fragte nach seiner Befugniß, hier einzutreten ...

Es war ein Gensdarm ...

Was wird?! fragte Lucinde verzweifelnd und die Worte: Wenn ich entdeckt würde! erstarben schon auf ihren Lippen ... trotzdem, daß sie auf mögliche Entdeckung vorbereitet und auf alles gefaßt gekommen war ...

Klingsohr beruhigte sie und horchte ... Die beiden Civilisten hatten mit Kratzer schon den Mittelbau betreten. Schon hörte man sie auf der Stiege reden, ohne daß durch die langen Corridore der Inhalt ihrer Worte verständlich werden konnte ...

Mich hier treffen – mich erkennen! Nimmermehr! rief Lucinde. Auf ewig wär' ich verloren!

Alle ihre Fassung war hin ... Schon hatte sie die Thür ergriffen und sogar ihren Regenschirm wie zum Schutz in der Hand ...

Man geht drüben hinüber! beruhigte Klingsohr, der sich in die Störung nicht finden konnte ... Oder geh', geh'! sprach er ihr nach, da sie schon ging. Man wird dich durchlassen. Hier nimm die Papiere! Muth! Muth! Morgen geh' ich nach Belgien! Wir sehen uns wieder!

Lucinde stand plötzlich, einer Ohnmacht nahe ...

Lucinde! Hast du mich nicht neu belebt? Und du willst zagen? Höre ruhig! Was du mir räthst, ist nichts Kleines. Ich werde ein Verräther an meinem Orden! Ich büße drei neue furchtbare Jahre meines Lebens! Man wird mich in Kerker und Peinen der entsetzlichsten Art werfen! Ich kenne, was ein Flüchtling aus einem Orden in einen andern zu bestehen hat! ...

Lucinde hörte nicht mehr ...

Nummer Sechzehn? sprach sie nach außen das Ohr spitzend einem Worte nach, das sie gehört zu haben schien ...

Mechanisch sprang sie an die Seitenthür, die zu Klingsohr's Schlafcabinet führte ...

Klingsohr konnte sie nicht halten und in der That – schon nahten sich die Schritte der Ankömmlinge und schienen wirklich nur seine Thür zu suchen ...

Instinctmäßig drückte Lucinde die Kammerthür an und tastete im Dunkel nach dem Ausgange, der gleichfalls auf den Corridor führte. In demselben Augenblick, wo sie bei Klingsohr eintreten hörte und voll Furcht nach der Thür griff, um nach einem Schlüssel zu fühlen, schloß sie auch schon, da sie einen Schlüssel vorfand, leise auf, drückte die Klinke nieder und wollte davonhuschend sich entfernen ...

Beim ersten Schritt aber, den sie hinaus that, sah sie einige Schritte weiter den zurückgebliebenen Kratzer mit dem zweiten der Angekommenen, in dem sie sofort an seiner Montur einen Commissär der Polizei erkannte ...

Belebte sich auch ihr Muth, jetzt an dem Castellan vorüberzugehen und trotzig das Freie zu gewinnen, so entschwand er im selben Momente. Wie der Blitz trat sie zurück, als sich die Thür bei Klingsohr geöffnet hatte und nun auch Kratzer von einem Manne mit hereingerufen wurde, den sie sofort aus Kocher am Fall und von ihrer Reise dorthin erkannte, dem Assessor von Enckefuß. Nun würde sie der Commissär sicher nicht haben ungefragt vorübergehen lassen. Auch stand ihr noch jener am Thor wachende Gensdarm mit dem Anspringen seines Rosses vor Augen ...

Bebend hielt sie den Thürdrücker in der Hand und lauschte der geöffnet gebliebenen Nebenthür, wo sich eine lebhafte Erörterung entspann, die jeden Augenblick durch das Eintreten des Assessors auch zu ihr konnte unterbrochen werden. Ihre Lage war so verzweifelt, daß sie sich mit unwillkürlicher Ideenverbindung in ihren schrecklichsten Lebensmoment zurückversetzt fühlte, den, wo sie einst bei den Worten: »Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder!« den höhnischen Beifall eines versammelten Publikums vernahm ...

Mit den lauten und absichtlich betonten Worten: Das Gepäck eines Bettelmönchs, meine Herren, ist leicht! trat Klingsohr der Thür näher, gleichsam um zu verhüten, daß man die Kammer betrat ...

Man verhaftet ihn! sagte sie sich zitternd ... Er muß den Wagen besteigen ...

Mit dieser schneller gedachten, als sich selbst ausgesprochenen Vermuthung, hatte Lucinde den Muth – oder die Furcht, die Thürklinke noch einmal leise niederzudrücken und auf den Corridor mit einem hurtigen Blick hinauszuspähen. Im selben Moment kam Joseph mit der neu angezündeten Laterne. Der Commissär wandte ihm das Antlitz zu, ging ihm sogar einige Schritte entgegen. Nun hielt sie keine Besorgniß zurück. Mit einem einzigen Sprunge war sie aus dem Zimmer, huschte den Gang hinunter, tiefer in die vom sich annähernden Lichtstrahl nicht getroffene Dunkelheit hinein und hielt sich augenblicklich, ohne das Geräusch, das sie bei alledem hatte machen müssen, fortzusetzen, in der Thürböschung einer der andern Zellen ...

Fest angedrückt harrte sie der Dinge, die kommen würden.

11.

Im Leben der Seele ist es eine eigene Erfahrung, daß sie in Momenten ihrer höchsten Anstrengung Erleuchtungen wunderbarer Art erlebt.

Wie vorhin Lucinde in schwindelnder Angst das Lachen eines Theaters hörte, wie hundert Vorstellungen vom Schicksal Klingsohr's, dem zerstörten Plane seiner Flucht, ihrer eigenen Gefahr, dem nun gewissen neuen Herabsturz von der Höhe, auf der sich ihr Lebensschicksal befand, ja der sofortigen Gewißheit, ein Opfer Nück's zu werden, ihr Inneres fiebernd durchliefen, sah sie plötzlich nichts weiter vor sich, als den Tag, wo sie im vorigen Jahre den St.-Wolfgangberg hinauffuhr, die Stunde und den Moment, wo der Knecht aus dem Weißen Roß am Fuß der Maximinuskapelle vor ihr herging und lauernd von dem Begräbniß des alten Mevissen in St.-Wolfgang sprach.

Denn als sie aus der Thür auf den Corridor hinausgespäht hatte, fiel gerade der Schein der von dem Knecht hochgehaltenen neu wieder angezündeten Laterne so grell auf seine Züge, daß sie im Moment des Hinausschlüpfens sich sagte: Das ist ja jener Knecht, der den Sarg erbrochen hat! ... Ebenso schnell wußte sie den Namen Bickert und ebenso schnell baute sie auf diese Entdeckung, deren Wahrscheinlichkeit wuchs, einen Plan der Rettung.

Noch schien man, mit der Verhaftung Klingsohr's beschäftigt, ihrer nicht wieder gedacht zu haben. Von Secunde zu Secunde, wo sie es wagen zu dürfen glaubte, machte sie einige Schritte weiter zu einer nächsten Thür, an die sie sich andrückte. Glücklicherweise waren diese Zimmer ohne Bewohner. So lebendig es auch inzwischen im ganzen Profeßhause geworden war, so zahlreich am entgegengesetzten andern Ende des Corridors Neugierige aus den Zellen kamen und einer gewaltsamen Abführung des Paters Sebastus mit Staunen zusahen, in ihrer nächsten Umgebung blieb es still. Schon war sie an einer Stiege angekommen, die einen Stock höher ins Dach, hinunter ins Erdgeschoß führte ...

Eben zögert sie, ob sie den letztern Weg wählen soll oder nicht, eben sieht sie Klingsohrn aus seinem Zimmer schreiten, barfuß, barhaupt, ohne andere Habe, als die Kratzer, in ein Bündel zusammengelegt, hinter ihm herträgt; da scheint plötzlich die ganze Aufmerksamkeit von fünf Menschen zu gleicher Zeit auf die Erinnerung an sie allein gerichtet zu sein ...

Das Herausschreiten aus der Zelle Nr. 16 war nun schon ein Suchen nach ihr ...

Die Worte: Noch ein Bursche war da? Wo? Wann? Noch eben hier? Niemand ist doch hinausgegangen! schollen durcheinander. Das Offenstehen der zweiten Thür wurde ebenso schnell als Zeichen heimlicher Entfernung erkannt und nun war sie schon mit behendem Fuß die abwärts führende Treppe hinunter ...

Die nachkommenden Schritte, das Suchen der Rufenden hörte sie, als drohte ein Welteinsturz ... Herr von Enckefuß gebot mit lauter Stimme, alle Ausgänge zu besetzen ... Ihr klang es wie Todesurtheil. Der Commissär fing an, rasch nacheinander alle Klinken der oben liegenden Zellen niederzudrücken ... Wie ein laufendes Gewehrfeuer klang es ... Kratzer's Ehre war im Spiel. Klingsohr hatte versichert, daß der Bursche nicht mehr bei ihm war.

Lucinde lag an die Mauer gelehnt. Ein kalter Schweiß trat auf ihre Stirn ... Die Stiege brachte sie offenbar vollends ins Verderben, denn unten war der Raum abgeschlossen. Die einzige Thür, die in ein Souterrain führte, wich keiner der Anstrengungen, die sie machte, sie zu öffnen. Sie mußte zurück, mußte ihren Verfolgern in die Hände fallen ...

Schon hörte sie Schritte und mit Verzweiflung warf sie sich wieder auf die Vorstellung: Käme jetzt der Knecht! Wär' es wirklich jener Bickert! Könnte, müßte er dich nicht retten? ... Er trägt die Schlüssel! Ich höre sie klirren! Oeffneten sie vielleicht diese Thür? ...

So stand sie mit glühenden Augen, krampfte sich mit der einen Hand an die Lehne der Treppe und blickte von der untersten Stufe empor, um, wenn wirklich der Knecht kommen sollte, ihn mit der andern festzuhalten. War er es, schaffte er nicht Hülfe, so riß sie ihn mit ins Verderben ...

Ja, die groben Fußtritte des Knechts waren es, die immer näher kamen... Er fluchte und tobte laut, lachte, schien seine Dienstbereitwilligkeit im allerglänzendsten Lichte zeigen zu wollen...

Lucinde kämpfte vor Spannung und Furcht gegen ein Ohnmächtigwerden...

Geh' nach unten! rief Kratzer... Hanne! Hanne... Ich suche oben! Licht!

Auch die Hanne antwortete mit einer lauten Lache...

Der Commissär versicherte dazwischen, seinen Augen trauen zu dürfen... er hätte Niemanden hinausgehen sehen... Glücklicherweise klang diese Stimme noch ziemlich entfernt...

Nahe aber, ganz nahe sprach in dem landesüblichen, fast künstlich betonten und Lucinden nicht geläufigen Dialekt der Knecht des Profeßhauses fortwährend durcheinander. Sie verstand nur: Hier vielleicht! Da! Im Ratzenfange!... Dann tappte Jemand die Treppe niederwärts und ringsum verbreitete sich ein Lichtschimmer...

Lucinde ließ, jetzt sich ergebend, den Feind näher kommen, immer näher... sie machte sogar ein leises Geräusch, nur um ihn vollends niederwärts zu locken. Auf diese Art brachte sie ihn dicht an die verschlossene Kellerthür.

Wie er jetzt triumphirend vor ihr stand, jauchzte ihr Herz auf, es war ihr kein Zweifel mehr: Es war der Leichenräuber! Derselbe halb verschmitzte, halb stumpfsinnige Ausdruck des Antlitzes! Dieselben lauernden Mienen, wie damals unter dem Nußbaum, als Bonaventura die Grabrede sprach!

Ha, ha, ha! lachte der Ankömmling grell auf...

Aber mit dem Rufe: Bickert! sprang sie dem sich zu einem Triumphgeschrei, das alle herbeilocken sollte, eben Anschickenden entgegen...

Da hielt der Mensch inne... Schon der Anruf seines Namens entsetzte ihn...

Dieb! Leichenräuber! Kennt Ihr mich nicht mehr aus St.-Wolfgang? fuhr sie mit tonloser, aber energischer Stimme fort...

Der Verbrecher taumelte zurück... Er erkannte auch die Verkleidung...

Geht hinauf! fuhr Lucinde mit unterdrückter Stimme, doch fest und bestimmt fort. Sprecht, hier wär' ich nicht! Oder ich rufe laut Euern Namen, Euer Verbrechen! Ich reiß' Euch mit ins Verderben! Fort!

Der Mensch taumelte wie angedonnert zurück und stammelte helllaut hinaus ein wiederholtes:

Da – ist – niemand! Da nicht – da ist niemand –

Nun hörte man die Stimme des Assessors, hinter ihm den Ruf des Commissärs:

Ist denn also unten ein Ausgang?

Bewußtlos halb vor Freude, halb vor erneuter Furcht sank Lucinde an die Kellerthür und halb auf den Fußboden zurück. Sie wußte nicht mehr, wo sich halten...

So lag sie einige Secunden...

Daß dann Schlüssel rasselten, hörte sie... daß eine Thür aufflog, daß sie plötzlich von tiefster Finsterniß umgeben war, daß sie die eine Hand ausstreckte, um sich zu halten und nur die Thür wieder faßte, die ebenso schnell wieder zugedrückt und geschlossen wurde... alles das war ein einziger bewußtloser Augenblick. Erst das Gefühl, der nächsten Gefahr entronnen zu sein, rief ihr die entschwundenen Lebensgeister zurück. Sie hätte aufjubeln mögen vor Freude, aber auch sich ausweinen in Thränenströmen vor Jammer der Seele, von den Thorheiten ihres Herzens getrieben, sich in solche Lagen gewagt zu haben ...

Rings um sie her blieb alles dunkel und still ...

Eine dumpfe, feuchte Luft wehte sie aus der Tiefe an ...

Bei einigen Schritten, die sie, sich langsam erhebend und behutsam tastend, versuchte, bemerkte sie, daß sie sich beim Anfang niederwärts gehender steinerner Stufen befand ...

Daß sie vor der nächsten Gefahr, in ihrer Verkleidung erkannt zu werden, jetzt geborgen war, schien ihr bei der Verschmitztheit Bickert's fast gewiß zu sein.

Wie aber, wenn sie nur der einen Gefahr entronnen war, um einer andern entgegenzugehen? ... So in diesem Dunkel und im Beginn jener unterirdischen Gänge, von denen sie so oft gehört hatte, kam sie durch eine nahe liegende Gedankenverbindung auf die Vorstellung des Lebendigbegrabenwerdens. Sie sah sich selbst in jenen Leichentüchern, die einst ein Räuber entweihte, den gerade ihre wühlerische und unruhige Phantasie verführt hatte, in ihnen Schätze zu suchen. Wie, wenn sie der Verbrecher, der die Entdeckung fürchtete, aus Rache, mindestens aus Furcht nicht mehr ins Leben zurückließ? Wenn sie ohnmächtig und vergeblich an dieser Thür rütteln müßte? Wenn sie hier den Tod der Verzweiflung sterben sollte, schon am Ende ihrer – die dunkelste Zukunft ihr schon immer zu bergen scheinenden Lebensbahn?

Eine Gefahr des Augenblicks konnte Lucinden ganz beherrschen, wie jedes andere zagende Weib. Hatte sie aber Zeit, sich erst auf eine Gefahr zu rüsten, so lag völliges Verzweifeln nicht mehr in ihrer Natur. Auch gleich das Schlimmste festzuhalten war nicht auf die Länge ihre Art, wenn auch sogleich im ersten Schrecken höhnisch alle Dämonen sie anlachten, die im Benehmen der Menschen gegen uns und noch mehr in den Situationen, namentlich für die, die nicht das beste Gewissen haben, liegen können. Sie malte sich aus, was draußen geschah. Man wird mich vergebens suchen, die Polizei entfernt sich mit Klingsohrn – das Bellen der Hunde hörte sie – Kratzer wird Befehl erhalten, die Haussuchung fortzusetzen, Bickert wird meine Entdeckung fürchten und vielleicht mein Bundesgenosse werden, vielleicht aber auch ...

Wieder befiel sie Furcht ...

Unter der Blouse war sie glücklicherweise warm gekleidet. Kühl fühlte sie sich nur angeweht, so lange sie erhitzt blieb. Ihre Stirn trocknete sich allmählich, sie gewöhnte sich an die Luft, die sogar über die steinernen Stufen von unten her wärmer heraufströmte. Schon entdeckte sie, daß man etwa mit acht Stufen im Beginn eines ausgemauerten Raumes war, der auch noch einen andern Ausgang haben konnte; denn unten umhertastend fühlte sie wiederum neue Stufen. Es lag hier jene Oeffnung, die in den Hof ging. Ein scharfer Zugwind, der aus einem entgegengesetzten Winkel kam, schien auf andere Oeffnungen zu deuten. Vielleicht begannen dort die Gänge, die, wie man sagte, fast unter der ganzen Stadt hinliefen und in jenen Palast mündeten, in welchem einst die hohen Kirchenfürsten, als sie noch souverän waren, oft von ihren eigenen Unterthanen belagert wurden. Jetzt waren diese Gänge theilweise verschüttet, doch nicht ganz. Ein Zusammenhang sollte noch immer z.B. mit dem »steinernen Hause« des Herrn Maria statthaben, auch hie und da eine Thür sich befinden, die in Kirchen und geistliche Wohnungen führte.

Alles das stand gespenstisch vor der Phantasie der ungeduldig Harrenden ...

Sie stieg die Stufen wieder hinauf, die an die von Bickert verschlossene Thür führten ...

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als sie endlich Geräusch vernahm ... Es waren die Schritte eines Mannes, der sich vorsichtig näherte ... Die Thür wurde aufgeschlossen ... Auch ohne Licht sah ihr an die Dunkelheit inzwischen gewöhntes Auge ihren – fraglichen Retter vor sich stehen.

Eine Weile erst wie prüfend sie anstarrend bedeutete er sie, jedes Geräusch zu vermeiden ... Im Hause wäre alles im Glauben, sie müßte sich irgendwo versteckt haben. Wenn sie nicht um Mitternacht, bis wohin er wiederkehren würde, von einem näher von ihm bezeichneten Fenster an einer Strickleiter hinuntersteigen wollte, würde sie erst am folgenden Tage entfliehen können, wenn vielleicht Kratzer ausginge und Frau Hanne in der Küche beschäftigt wäre. Das Hausthor wäre bis dahin heute verriegelt und der Schlüssel von Kratzern selbst schon abgezogen worden ... Ein Steigen über die Mauer war der wachsamen Hunde wegen nicht möglich ...

Nimmermehr! rief Lucinde. Ich muß fort! Fort! Sogleich!

Sie erbebte bei dem Gedanken, wie sie ihr Ausbleiben im Kattendyk'schen Hause entschuldigen sollte ...

Bickert, der plötzlich eine ganz andere, auffallenderweise mit französischen Brocken gemischte Sprache redete, als vorhin und als sie auch auf dem St.-Wolfgangberg von ihm gehört zu haben sich erinnerte, Bickert erklärte, dann wäre kein anderer Ausweg möglich, als hier durch die unterirdischen Gänge ... Die Schlüssel hätte er, sagte er ... Wollte sie, so könnte er sie an die nächste Oeffnung führen, durch die sie vielleicht ins Freie käme ... Mais – nun wandte er sich mit einer drohenden Geberde, ergriff ihren Arm und sah ihr mit aufgerissenen Augen ins bleiche Antlitz ...

Seid ruhig! antwortete sie. Rettet mich und ich schwöre Euch Verschwiegenheit! ... Dann wiederholte sie, wie sehr sie Eile hätte ... Schaudernd blickte sie in die Tiefe, die sie wie ein Grab anstarrte ...

Fürchten Sie sich nicht! wiederholte Bickert. Aber schwören sollen Sie mir unten am Muttergotteskreuzweg, daß Sie mich nicht denunciren!

Am Muttergotteskreuzweg? wiederholte Lucinde ...

In einer guten halben Stunde sollen Sie so gut naß werden, wie jetzt jeder andere draußen – schon wieder regnet es –

Lucinde bemerkte erst jetzt, daß sie bei all diesen Momenten des Schreckens ihr völlig unbewußt sowol den alten Regenschirm, der Veilchen gehörte und leicht eine Entdeckung hätte herbeiführen können, wie die Druckermappe krampfhaft in den Händen festgehalten hatte ...

Bickert wollte wissen, wie sie zu dem Pater käme, und lachte höhnisch und zweideutig ... Aber bei alledem gingen sie schon vorwärts ... Er voran ...

Lucinde nahm die Frage nach dem Pater nur insoweit auf, als sie sich erkundigte, was mit ihm geschehen wäre ...

Sie haben ihn au collet genommen, sagte Bickert, sie haben ihn in den Wagen gesetzt, monsieur le commissaire nebenan und so um die Stadt herum! Ich denke, sie fahren ihn in sein Kloster zurück, von wo er hergekommen. Pst! ... unterbrach er sich selbst, blieb stehen und horchte auf, als wenn sie gestört werden könnten ...

Lucinde hielt sich an der feuchten Mauer ...

Ich will Ihnen lieber etwas zu soupiren bringen, sagte er nach einer Weile; und auch einen alten Mantel ... Sie werden Angst kriegen vor – vor – und bleiben die Nacht lieber hier –

Wovor Angst? Nimmermehr! hielt ihn Lucinde zurück ... Ich fürchte nichts!

Bickert untersuchte seine Schlüssel und tastete vorwärts ... Mit einem Streichhölzchen machte er Licht und zündete eine kleine Laterne an, die er aus der Tasche zog ... Rings sah man, wie in einem Bergschacht, nur feuchte Wände; doch konnte man bequem und aufrecht stehen ...

Inzwischen ging Bickert wieder voran ... Lucinde folgte klopfenden Herzens ...

Plötzlich hielt er inne und sagte mit fürchterlicher Drohung: Mais –: Wissen Sie, daß Sie mein Verderben ganz allein gewesen sind?

Lucinde wich entsetzt zurück ...

Sie haben mir's in den Kopf gesetzt ... o mon Dieu! Ich war auf einem so räsonnablen Wege ...

Fast die Zähne knirschend stand er mit geballter Faust vor ihr ...

Lucinde blieb starr und sprachlos ...

Ein Gefühl der Erlösung sprach sich erst in einem laut ihr entschlüpfenden Ah! aus, als Bickert im Gehen fortfuhr:

Und das Beste ist, der Pfaffe aus St.-Wolfgang ist hier, und ich komme neulich in seinen Confessional und sag' ihm alles. Ich selbst! Sapristi!

Lucinde hörte nur, ohne zu verstehen ...

Aber ich erhielt mon fait! Ich hatte in Frankreich zwanzig Jahre Galeere! Warum blieb' ich nicht räsonnabel!

Lucinde blieb hinter dem entsetzlichen Menschen zurück. Sie überlegte, ob sie folgen konnte ...

Courage! Courage! rief er. En avant! Das erste mal hatt' ich auch noch keine Courage! Die Ratz meinen's besser als sie aussehen! Stoßen Sie sich nicht! Warten Sie! Das Licht brennt méchant!

Lucinde war ohne Athem. In kurzen fiebernden Schlägen klopfte ihr Herz. Sie sah, wie Bickert die Gläser seiner Diebslaterne heller putzte ... Und der Mauerspalt wurde immer enger und enger ...

Ihrem Pater, au prisonnier, hab' ich auch einmal hier den Weg gezeigt – Wenn der jetzt wüßte, daß Sie – Figurez vous! Ich beichte dem Pfarrer und habe versprochen, ihm alles, was ich damals auf dem Kirchhof aus dem halben Geripp herauswickelte – zu schicken! Qu'avez vous?

Ein Schrei des Schauders entfuhr – aus doppeltem Anlaß – Lucinden ...

Bickert blieb stehen ...

War's eine? lachte er ...

Er meinte eine Ratte ... Schon hörte man ein Huschen und hastiges Dahinspringen ...

Worauf tritt man denn hier ewig? fragte Lucinde, wieder über eine andere Erfahrung erbebend ...

Der Führer beleuchtete den Boden ...

Das war gut! sagte er. Da liegen sie! Tous crevés! ... Nehmen Sie nur nichts mit von dem Biscuit, das hier auf dem Boden liegt! Die dicken Kerle, messieurs les rats, haben gedacht: Das legen wir noch zurück für ein andermal! Die Ratz sind hier immer satt ... weil es todte Katzen und Hunde genug hier gibt ...

Lucinden war es, als athmete sie Gift und Pesthauch aus der Luft ... Jetzt blieben ihre Vorstellungen haften bei dem Gedanken an die »Frau Hauptmännin«, an Hammaker, an das Schaffot, an Nück's grauenvolle Rede ...

Die Wanderung durch einen kaum drei Fuß breiten und sechs Fuß hohen Gang glich in jeder Beziehung dem Besuche eines Bergwerks. Die Wände oben und zur Seite waren gemauert, aber so feucht, daß sie von Schimmel und Schnecken bewachsen waren. Der Boden unten war festgetretene Erde, aber schlüpfrig zum Ausgleiten. An Stellen, wo die Decke eingestürzt war, mußte man über die Trümmer hinweg und den Kopf bücken. Die Luft war schwül und giftig, sodaß die Wanderer sich wol Muth durften einflößen lassen durch die zuweilen von Mauersteinen hervorgebrachte Form des Kreuzes, vor dem auch Bickert regelmäßig sich verbeugte ...

Wenn wir nur erst an die großen Keller kommen, rief er, so haben wir bessere Luft!

Dabei lärmte und polterte er fort und fort und huschte vor sich hin. Diese Vorsicht galt den Ratten, die auf die Art vor ihnen hergejagt wurden ...

Die Ueberzeugung, der Verbrecher vertraute ihrer Verschwiegenheit und hätte nichts Uebles im Sinn, gab Lucinden Muth und schon nahm sie ihr Erlebniß von seiner abenteuerlichen Seite. Ihr jedesmaliger Aufschrei, wenn sie auf ein Opfer des kürzlich gestreuten Giftes trat, wurde beiden schon zur Unterhaltung ...

Der Gang erweiterte sich und zeigte an einigen Stellen runde, stark vergitterte Oeffnungen. Eine derselben war so groß, daß man in einen Keller sehen konnte, in den Bickert hineinleuchtete ...

Da, sagte er, da möcht' ich manchmal die Eisenstangen ein wenig poliren – er meinte feilen – Sehen Sie die großen Fässer! Die gehören Monsieur Moppes. Ich glaube, sie werden aufgespart für die Gerechten beim Jüngsten Gericht!

Lucinde kannte Herrn Moppes junior, seinen Humor und seine vortreffliche Stimme. Noch gestern hatte im Kattendyk'schen Hause sein Genius geleuchtet ... Welch ein Unterschied der Situation! Gestern sie mit ihm im Salon und heute – sein Name ihr hier gesprochen unter der Erde! ... Auch des Stephan Lengenich gedachte sie ... Sie folgte mit beklommenem Athem ...

Jetzt kamen die Stellen, die schon lange Veranlassung gegeben hatten, diese Gänge theilweise zu verschütten. Sie kreuzten sich auf eine gefährliche Weise mit den Kanälen der Stadt. Schon war vorgekommen, daß diese oberhalb sich hinwegziehenden Rinnen durchgebrochen waren und die tiefer liegenden Gänge überfluteten. An diesen Stellen befanden sich Stützgerüste und doch rieselte es von oben herab, ja Bickert sagte, daß man bei großen Regenwettern bis ans Knie im Wasser stünde, von dem man dann weder wisse, wo es herkäme, noch wie es abflösse ...

Der Weg durch die Stützbalken konnte den Beherztesten erbeben machen. Man mußte sich hindurchzwängen mit Gefahr, eine der Palissaden einzureißen. Dabei waren die Moppes'schen Keller noch nicht zu Ende ...

Eine Ermuthigung lag in dem Anblick einer kleinen uralten Gottesmutter, die in der That an einer Stelle, wo der Gang sich in zwei Theile spaltete, in einer Mauernische stand. Bickert beleuchtete sie mit der Laterne. Er schien nicht die Empfindung Stephan Lengenich's zu haben, daß dies alte Steinbild Lucinden glich ... Und doch hatte in einem Punkt der alte Geisterseher Recht ... In dieser schauerlichen Einsamkeit war der Anblick des wohlerhaltenen alten Steinbildes wenigstens wirklich, als wenn man ihm Leben hätte zuerkennen müssen. Die Augen, der Mund, die Stirn unter dem weit über sie hinfallenden Schleier hatten auch eine gewisse Aehnlichkeit mit Lucinden. Das Kind auf dem Arm der kleinen Figur schien wie lebendig, ja wie sprechen zu können. Lucinde fühlte selbst, wie mächtig der Eindruck war, der einen Räuber bestimmte, hier die Mütze abzuziehen, die Laterne auf den Sims der Nische zu stellen und den steinernen Saum des Kleides der hier in dunkeln Grabesgrüften wie mit Bewußtsein wachenden Gruppe zu küssen ...

Dann bekreuzte er sich und ließ Lucinden näher treten ...

Wenn ich damals auf dem Cimetière in St.-Wolfgang, sagte er, diese hier im Sarge gefunden hätte, wäre ich schon früher zur Erkenntniß gekommen ... Es ist mein Fluch, daß ich Bickert heiße, eigentlich Picard, Mademoiselle! Das ist die alte Chochemfamilie, die ihre Vettern am Galgen hat paradiren sehen, la bonne famille de Damian Hessel und manchem andern da oben am Hundsrück! Sie haben alle den Schwur gehabt, nie Blut zu lecken, und doch sind sie durch die Luft und mit dem großen französischen Balbiermesser aus der Welt gegangen. Ah! Ah! ... Nun treiben sich die Enkel und Nachkommen umher, haben sich auch umgetauft, wie mein Vater selig schon, der mit fünfundzwanzig Jahren travaux davonkam und mich heilig machen wollte wie einen Kanonikus. Aber es liegt im Blut und erst die da – sehen Sie, jetzt wird sie sprechen! – Die da sagt mir immer hier unten, wo mich die alte Jeanette unterbrachte – eine Connaissance von meinem Vater selig – Picard! Picard! sagt sie, dein Großvater war zwar ein Jude, aber in deiner Großmutter Dina Jakob und Rebekka, ihrer Schwester, war Stolz; beide haben auch darum, aus Eifersucht und Rache, selbst ihre Männer an den Galgen gebracht. Vom Großvater und vom Großonkel hast du's, daß du noch immer den Hahn nicht krähen hören kannst, ohne an Brecheisen und Rennbaum zu denken! Aber nimm dich zusammen, Picard! Komm zu mir, so wird es gehen und du wirst noch Rathsherr werden in Gröningen, wo deine Ahnen wohnten!

Lucinde hatte einen Augenblick der Ruhe nöthig ... Sie lehnte sich an das Marienbild und hörte den Worten des Räubers schauernd zu ... Auch ihr sprach das Bild ...

Das Wunder belebter Statuen und augenbewegender Bilder beruht, wenn auch nicht immer, doch meist auf der Einbildungskraft und dem Zauber der Kunst. Wem würde ein lange betrachtetes Bild nicht zuletzt mit dem Auge geblinkt haben! Welcher gemalte oder richtig plastisch geformte Mund würde nicht leise zucken, den man beobachtet im Zusammenhang mit allem übrigen, was an einem Bilde oder an einer Statue dem Leben abgelauscht wurde? Einem Künstler sprach die Sixtinische Madonna: Komm' in mein Himmelreich! Er hatte deutlich die Worte gehört, die ser berühmte Kupferstecher, der Linie um Linie die majestätische Himmelskönigin mit dem Grabstichel wiedergeben wollte. Der Wahnsinn umnachtete sein Gemüth für immer; der Glaube ist eine Umnachtung für den Augenblick.

Die schauerliche Einsamkeit hier unter der Erde, die edle Gesichtsform des Bildes, die Beleuchtung durch die wenigen Lichtstrahlen der Laterne, die Stimmung und Prädisposition des Gemüths, alles kam zusammen, daß auch Lucinde auf Verlangen des grauenvollen Menschen feierlich bei diesem Bilde betheuerte, den Zufluchtsort, den hier ein Verbrecher im alten Profeßhause gefunden, nie zu verrathen.

Noch mehr ... Bickert hob an der Madonna einen Stein auf, zog ein schmuziges Bündel hervor und sagte:

Ich mag nicht mehr an die Galeere! Ich wollte hier im Lande Pferdehandel treiben! Mais – ich kam auch da wieder auf falsche Fährte. So wurd' ich Knecht im Weißen Roß. Niemand kannte mich. Ich simulirte einen ganz andern Menschen. Es ging – mais! Da müssen Sie kommen, Mademoiselle, Sie – n'ayez peur! Siebenundvierzig bin ich jetzt, Mademoiselle. Ich ginge lieber – nach Amerika, wenn ich das Geld dazu hätte! Verdienen konnt' ich's schon, aber der Weg kam – un peu trop etroitement da vorbei, wo neulich Monsieur Hammaker gehabt hat un très mauvais accident –

Kannten Sie – auch den? hauchte Lucinde, aufs neue erbebend ...

Monsieur Hammaker sah mir gleich den alten Picard an – wie ich – il y a cinq mois – hierher bin geflohen und ich saß ihm vis à vis im Trankgäßchen und mir schmeckte nicht der Heurige. Den Posten hier verschafft' er mir durch die ihm bekannte Madame Jeanette, eine alte Freundin meines Vaters. Er verlangte blos als don gratuit von mir – eine kleine Affaire – den rothen Hahn auf ein Schloß – à peu près zwanzig Meilen von hier –

Westerhof? rief Lucinde entsetzt ...

Comment –? fiel Bickert überrascht ein und hielt das Bündel, als wollt' er es Lucinden übergeben, die schon vor Abscheu nur vor seinem Aussehen die Hand zurückzog ...

Sapristi, wo wissen Sie – Ich kenne einen, der alle Tage auf mich wartet! Tausend Thaler, und dann nach Amerika! sagte Monsieur Hammaker, und auch zusammen wollten wir gehen. Aber er hatte noch nicht genug, le petit maitre, er wollte Extrapost. Die hat er bekommen! Als ich ihm die Nacht begegnete, wo er in die Sieben Berge machen wollte mit einem sehr hübschen Koffer, sagt' er mir: Adieu Picard! Folgen Sie mir bald! Machen Sie nur ein compliment – an – an –

Den Oberprocurator Nück –?

Diacre! Woher wissen Sie –? Mademoiselle! Ich ging nicht. Ich dachte, er wird mich zum Hause hinauswerfen, wenn ich um die tausend Thaler komme – für Reisegeld! Mais – Neulich, da zog ich an der Klingel – ich hatte das Leben hier – nein, nein, denken Sie nur nicht Marcebillenstraße – Aber es stand wieder einmal quarante sept mit mir. Hier das Leben unter den Ratten, die schlechte Kost, die Furcht; ich dachte: Du verdienst dir dein Reisegeld, gehst erst in den Dom und sagst's en confession – Ich bin versucht, wollt' ich sagen, ein groß Feuer zu legen und ein Papier – so war le mot d'ordre – dans une bibliothèque – und ich thät' es gern; wer kann hier leben! Unter den Ratten! Hunde füttern! Hanne Sterz um den Bart gehen! Einen Bart hat sie, Mademoiselle! ... Da knie' ich im Confessional und fange an zu sprechen und sage meine Sünden und ich sehe auf und ...

Ihr seht den Domherrn von Asselyn!

Einen Geist, der mir spricht: Was enthielt damals der Sarg? ...

Gestanden Sie es ihm?

Da! Nehmen Sie, Mademoiselle!

Jetzt griff Lucinde nach dem Bündel in heftigster Bewegung. So abschreckend feucht das Tuch war, sie empfand keinen Widerwillen mehr ...

Plaudern werden Sie nicht! wiederholte Bickert und beleuchtete unheimlich die Gestalt und äußere Erscheinung der Verkleideten ... Und eine wiederum ballend erhobene Faust deutete die Möglichkeit seiner Rache an ...

Dann aber sagte er:

Gut! Geben Sie das –

An den Domherrn von Asselyn –

Im Kapitelhause –

Und was enthält es?

Eine Schrift – kein Geld – nur eine Schrift – in Latein – tant je crois –

Damit ging er weiter ...

Und die Reise nach Amerika? Schloß Westerhof? Das Papier? rief sie hinter ihm her ...

Der Knecht hörte nicht die verhallenden Worte und ging voraus ...

Lucinde folgte athemlos ... Sie hatte das kleine Bündel in ihre Mappe gezwängt und sich dabei aufgehalten ... Mit dem Schirme tastete sie, um dem Schimmer der Laterne zu folgen ...

Noch einige hundert Schritte in dem links sich erstreckenden engern Gange ging es so fort.

Dann standen sie an einer kleinen, mit verrosteten Eisenklammern beschlagenen Thür ...

Bickert gab Lucinden die Laterne und zog sein Schlüsselbund ...

Leise steckte er einen mit wunderlichem Zierrath versehenen alten Schlüssel in das noch wohlerhaltene Schloß ...

Mit knarrendem Tone ging noch ein Riegel zurück und die Thür öffnete sich ...

Halten Sie sich an mich! sagte der Führer und stieg einige sich windende steinerne Stufen in die Höhe, während die Laterne zurückblieb ...

Bald kam eine zweite Thür ...

Bickert horchte ... Er wollte lauschen, ob niemand in der Nähe war ...

Wo kommen wir hinaus? fragte Lucinde, von den Anstrengungen erschöpft ...

Statt zu antworten schärfte Bickert sein Ohr nur noch vorsichtiger ...

Jetzt war es Lucinden, als hörte sie einen heiligen Gesang. Es war wie ein Strom klingender Luft, der auf sie niederwallte. Die Töne schwollen und erhoben sich. Wie aus erquickenden Quellen ringssprühender Staub, so rieselte sie es an ... Nach so langer dumpfer Stille wurde ihr der Ton fast zum Licht, das Licht zur Welle, Geistiges wie leiblich sie Berührendes ... Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten ...

Les chanteurs! Es ist die Domschule! flüsterte Bickert und öffnete ...

Es strömte wie Lobgesang des Lebens auf sie ein ...

Hier jetzt den Corridor hinauf, dann à travers la maison!

Bickert drängte Lucinden schon vorwärts ...

Nach einem noch einmal weniger drohend, als schon hoffnungssicher gesprochenen: Mais Mademoiselle –! stand sie plötzlich allein ... Bickert war verschwunden.

Ein schmaler Gang zwischen zwei hohen Mauern führte Lucinden in einen größern, mit Quadersteinen gepflasterten Hof und aus diesem über einige Stufen in ein alterthümliches Haus. Auch auf der großen Diele war alles wie von Musik erfüllt. Links von ihr sangen die Chorschüler Uebungen. Ein altes Klavier begleitete die Accorde ...

Eine Weile lauschte sie ...

»Deposuit potentes de sede et exaltabit humiles!«

Dazwischen sprach ein Priester Erläuterungen ... Die Stimme war ihr fremd ... Aber die Worte klangen ihr in der Tonart des Gesanges ... kein Dur folgte auf Moll, kein Allegro auf ein Andante ... selbst die Belehrungen über die zu machenden Pausen, die gegeben wurden, waren nur der Aushall des verklungenen Tones ... Alles, alles war ihr Harmonie ...

Gern hätte sie glauben mögen, es würden ihr die beiden Arme zu riesigen Flügeln, die sie hätte ausbreiten mögen, die wieder errungene Freiheit zu erproben ...

Aber nur wie eine verscheuchte Fledermaus huschte sie durch die Flur und an die Hausthür. Diese war unverschlossen ... Sie war im Freien, im Regen mit ihrem Bündel, aus dem sie ein zerknittertes starkes Papier herausfühlte ...

Mußtest du diese Schrecken erleben, um das zu erlangen, was du vielleicht brauchst, um morgen mit – ihm zu sprechen, vielleicht zum letzten mal – Dies führt dich bei ihm ein, auch wenn er dir die Beichte abschlägt!

Sie hätte sogleich zu Bonaventura fliegen mögen ... Fast hatte sie ihre Knabentracht vergessen.

Sie breitete den Schirm aus und schoß auf einen Fiaker zu ...

In die Rumpelgasse! rief sie. Zu Nathan Seligmann!

Die Adresse war bekannt ...

Eine Viertelstunde darauf war sie bei Veilchen Igelsheimer, die um sie auf den Tod gezittert hatte. Ihre Begleitung an das Profeßhaus hatte sie abgeschlagen. Veilchen erfuhr zu ihrem Entsetzen, daß alles gescheitert war und Lucinde nur mit Lebensgefahr ihre eigene Freiheit gerettet hätte ...

Zu Aufklärungen für das »trotz Spinoza verzweifelnde« Mädchen, Aufklärungen, die Lucinde auch ohnehin schwerlich gegeben hätte, blieb keine Zeit ... Sie gab ihre Kleider zurück, nahm die ihrigen, entleerte die Mappe, die sie Veilchen ließ, riß das schmuzige Tuch Bickert's fort und wollte eben die Einlage, einige Bogen Papier in amtlichem Briefformat, einstecken ...

Da erblickt Veilchen die Aufschrift und ruft:

Gott im Himmel!

Was ist? fragte Lucinde, halb schon im Gehen ... Herr Nathan war noch nicht wieder daheim ...

Das ist – das ist ja – die Handschrift –

Veilchen öffnete die Bogen, die Lucinde jedoch zu gleicher Zeit schon wieder zurücknahm, nur um sie rasch zu bergen, weil sie Eile hatte ...

Nur einen Blick, Fräulein! ...

Was haben Sie? fragte Lucinde drängend und auf dem Sprunge ...

Schon gab Veilchen die Bogen zurück, wie mit einem Schauder – Ein Siegel, das neben dem Namen stand, der die Bogen unterschrieben hatte, schien ihr die Besinnung zu geben ...

Lucinde sah ein Kirchensiegel – das Bild des Gekreuzigten ...

Sie forschte nicht länger ... blieb ihr doch die volle Muße eigener Untersuchung und die Gelegenheit der Wiederkehr ... Sie hatte nicht Zeit, sich von dem wie bewußtlos ihr nachblickenden Veilchen die Ursache ihres Schreckens erklären zu lassen ...

Eine Stunde später saß sie zum Thee bei der Commerzienräthin, die vor Ungeduld nach ihr »fast vergangen war«. Denn seltsamerweise blieb sie heute allein ... Aus Furcht vor Pitern ließen sich selbst die Hausfreunde nicht sehen. Das Haus war von seinem beginnenden Strafgericht in Belagerungszustand erklärt. Johanna hatte von ihrem in aller Frühe abgereisten Verlobten schon per Expressen einen Brief voller Vorwürfe über die Frau Oberstin, die übrigens gestern schon vor dem plötzlichen Tumult gegangen war ... Dann kam die Frau Oberprocurator angefahren und brachte die Kunde, daß morgen Abend der Domherr von Asselyn nach Witoborn reise und eine Demonstration der Huldigung stattfinden würde mit Blumen, Gedichten, ja persönlicher Anwesenheit seiner Verehrer ... Ob die Mutter ginge? Was man dazu anzöge? ... Endlich hörte man Pitern sich lärmend in den Hinterzimmern ankündigen ... Alles zitterte ... Zum Glück hörte man zu gleicher Zeit den Besuch des Oberprocurators von der andern Seite ... Lucinde hatte keine Antwort aus dem Kapitelhause vorgefunden. Sie erhob sich, schützte Kopfweh vor, schoß an Nück vorüber und flüchtete sich auf ihr Zimmer.

Hier ergriff sie einen Bogen Papier, eine Feder und schrieb die Worte:

»Hochwürdigster Domherr! Ich beschwöre Sie! Wenn Sie nicht einen Seelenmord begehen wollen, so bitt' ich um Antwort – wegen meiner Generalbeichte!

Lucinde.«

Sie convertirte, klingelte und schickte einen Diener mit diesen Zeilen ins Kapitelhaus an den Domherrn von Asselyn – wie schon heute in der Frühe ...

Schlug ihr Bonaventura den Empfang ab, so hatte sie ein letztes Mittel. Den Auftrag Bickert's ... Nach allem, was sie von Benno über den Eindruck wußte, den damals die im Sarge des alten Mevissen gefundenen Dinge auf Bonaventura gemacht hatten, durfte sie annehmen, daß dieser sie dann unmöglich zurückweisen würde, wenn sie an ihn ein drittes Schreiben richtete mit der Bitte, ihm wenigstens noch die Dinge, die ihr der Knecht aus dem Weißen Roß gegeben, persönlich einhändigen zu dürfen ...

Nun klopfte es ...

Nück meldete sich ...

Ich bin krank! sagte sie an der Thür, rasch verschließend – schaudernd vor dem Manne, bei dem für Bickert – tausend Thaler harrten und der ihr selbst –

Sie wissen – –? sprach schon Nück dringender.

Nichts! Nichts!

Der Pater ist gefangen ...

Darauf schwieg sie ...

Man führt ihn in sein Kloster zurück ...

Doch! doch! sprach sie bebend, aber nur für sich ...

Darf ich –? Ich bitte dringend ...

Ich bin krank!

Schrieben Sie doch nicht dem Pater? ...

Sie schwieg ...

Wenn man Ihren Brief mit Beschlag belegt hätte! Oder wie verständigten Sie sich mit ihm? ...

Sie athmete auf, wie kein Verdacht vorlag, daß sie selbst zu Sebastus gegangen ...

Bestellen Sie die Pferde ab! Sonst nichts! Gute Nacht! sagte sie, sich ermuthigend, und brach kurz ab.

Nück's murmelnde Stimme hörte sie nicht mehr ... auch sein Fortgehen verhallte ...

Dann holte sie das verwitterte, nicht zu alte Schreiben, einen langen Brief in lateinischer Sprache, unterzeichnet »Leo Perl«.

Nun verstand sie den Schrecken der Jüdin ...

Sie las und las ... übersetzte und – stockte endlich ...

Um den Brief völlig zu verstehen, mußte sie nach dem Wörterbuche greifen, das ihr Benno gekauft hatte ...

Darüber schlug es elf ...

12.

In einem der großen, »kaltgründigen« Zimmer des Kapitelhauses herrschte am folgenden Tage eine feierliche Stille ...

Es war im Studirzimmer Bonaventura's ...

Der Abend hatte sich niedergesenkt ... Zwei Lichter brannten ... In dem großen eisernen Ofen, der von außen geheizt wurde, hörte man das Zulegen neuen Holzes ... Nicht Renatens sorgende Hand war es, es war die eines Hausdieners, der zu diesem Amt für die Herren des Kapitels bestellt war.

Auch nicht im Nebenzimmer saß Renate ... Der Domherr hatte die alte treue Dienerin gebeten, nach allen schon längst getroffenen Zurüstungen seiner Abreise auf Witoborn, die für die neunte Stunde bestimmt war – sein einfacher Sinn und seine gemessenen Mittel wollten sich mit gewöhnlicher Postgelegenheit begnügen – erst um acht Uhr von einem Geschäft zurückzukommen, das er sie ersuchte, sich außerhalb des Kapitels zu machen. Sie hatte schon lange für Benno's Abwesenheit sich eine Durchsicht seiner Wäsche, eine gründlichere Anordnung seiner Wohnung vorgenommen; diese vollzog sie, obgleich es Sonntag war, schon von vier Uhr an und gegen acht erst wollte sie zurückkehren ...

Bonaventura kannte die Abneigung der alten Frau gegen Lucinden und wollte jeden Conflict vermeiden ... Als Lucinde zum zweiten mal geschrieben, verwilligte er ihr, was sie begehrte – Aber nur auf seinem Zimmer konnte er eine Generalbeichte abnehmen ... Er rüstete sich zu einem schweren Kampf, zu einer großen Prüfung – An die Seltsamkeit, daß sich auf seinem Zimmer Seelenkämpfe solcher Art ausringen, ist der katholische Priester gewöhnt. Lucinde hatte nicht nöthig gehabt, ihr letztes Mittel zu ergreifen –

Mit der Abenddämmerung war sie in Begleitung des Meßners gekommen ... Durch die hohen Fenster mit ihren vielen kleinen Scheiben, durch eine grüne Hecke von Epheuranken, die den Schreibtisch von dem Fenster schied, brachen die blutrothen Strahlen der Sonne, die den ganzen Tag sich nicht hatte sehen lassen und nur am Abend noch einmal sich zeigte zum kurzen Willkomm ... Im Ofen prasselten die Flammen, die an der metallenen Wölbung einen singenden Ton gaben ... Alles das begleitete die nur bei katholischen Priestern und Aerzten mögliche seltsame Scene, daß eine Liebende zu dem sie verschmähenden Manne ihrer Liebe selbst zu gehen wagt.

Schweigend hatte Bonaventura Lucinden, die verschleiert kam und den Hut nicht abnahm, angedeutet, daß sie sich setzen möchte ...

Nach seinem Brevier langte er dann mit zitternder Hand, gab dem Meßner, der sich wieder entfernte, einige geschäftliche Anweisungen und suchte sich durch diese und jene kleine Zurüstung die Sammlung zu geben, die ihm fehlte ...

Lucinde schwankte bewußtlos ...

Als er sich wandte, sah er, daß sie selbst schon einen Fußschemel ergriffen hatte und auf diesem knieete ...

Daß es eine Entscheidung für sein ganzes Leben galt, ahnte er ...

Ueber eine Stunde lang verharrte Lucinde in dieser knienden Stellung und lehnte jede Erleichterung ab ... Bonaventura saß vor ihr und hörte nur ihrem dumpfen, doch vernehmlichen Gemurmel ...

Das obenerwähnte feierliche Schweigen war eingetreten, als die Reihe ihrer Bekenntnisse zu Ende war ...

Bonaventura kannte aus der Stadt her, wo er Priester, Lucinde katholisch geworden, eine Menge von Thatsachen, die zu dem Leben der Gesellschafterin der Comtesse Paula gehörten; aber in einer solchen Vollständigkeit wie heute lag das Leben des, wie es schien, von einem unheilbaren Wahn bethörten Mädchens niemals vor ihm ... Sie hatte nichts verschwiegen, was sie belasten konnte, nichts, als ihre Liebe zu dem Manne, vor dem sie knieete ... Sie war grausam, rücksichtslos gegen sich selbst ... Sie klagte sich an, wo selbst andere noch entschuldigten ... Alles, was ihr Leben an Widersprüchen bot, leitete sie aus ihrer Todsünde her, die die Kirche »Acedia«, die »Trägheit des Herzens«, die Indifferenz für Liebe und Haß nennt ... Sie gab ein Lebensbild von sich, das alles enthielt, was wir wissen. Nur eine einzige große Strömung der Empfindung in ihrem Innern nannte sie nicht, doch war sie ersichtlich aus einem Lebenslauf, von dem sie andeutete, daß er ewig in der Irre gegangen, ein einziges großes Ziel verfehle und rettungslos verloren scheine ...

Auch von Klingsohrn gestand sie alles. Sie klagte weder ihn, noch den Kronsyndikus an, nannte überhaupt, was nicht gestattet ist, nicht die Namen, Bonaventura wußte sie aber und ergänzte selbst, was verschwiegen wurde ...

Ein seltsames Bild diese Zwiesprache, unglaublich für die, die außerhalb des römischen Lebens stehen!

Ein Mann, vor dem sich ein Weib in Liebe windet, blickte wie ein Gottgesandter streng und sich beherrschend zu ihr nieder. Er sah eine Nachtwandlerin an schwindelnder Klippe dahinwanken, zitterte mit den Gefahren, die von Lucinden nur überwunden wurden durch immer wieder bekannte neue Schuld ... er blieb fest und stark.

Von Serlo hatte er noch nie so Ausführliches vernommen, wenn er auch aus frühern Geständnissen wußte, daß er selbst es war, der Lucinden anfangs eine auferstandene Wiederholung desselben erschien ... Zwei Jahre des Aufenthalts im orthopädischen Institut wurden erzählt, Jahre der Selbstbildung, aber nur jener »Bildung, die die Kraft geben sollte, Welt und Menschen abzuwehren, zu hassen, zu beherrschen« ... Die Reise nach Kocher, die Erfahrungen in der Dechanei, die Verstellung im Kattendyk'schen Hause ... alles bis zu den neuesten Vorgängen, ja den Vorgängen des gestrigen Tages, alles, alles wurde erzählt, nur noch die Rettung durch den unterirdischen Gang verschwiegen, um der lateinischen Urkunde und – ihres Letzten willen ...

Religiös blieb von beiden Seiten die Färbung des Ganzen, der Ton alles dessen, was gesprochen wurde, ein heiliger ...

Ist das Leben, wie die sittlichen Atomisten sagen, eine millionenfach fortgesetzte und ineinander verwundene Kette von Selbsttäuschungen, dann darf es wunder nehmen, wie unser moralisches Scheinleben sich dennoch gleichsam ablösen kann von unserer ersichtlichen körperlichen Hülle. So fließt das Licht der Sonne und des Mondes um die dunkle Erde, so leuchtet der Phosphor an unsern Händen, die ihn nicht fühlen. Zwei Menschen, körperlich vor einander zitternd, bebend vor einer Berührung, wenn zufällig der Saum des Schleiers nur ein Blatt des Breviers streifte – und ihre innerste moralische Welt doch wie ein fast sichtbarer geistiger Aether um sie her und hin und wieder fließend. Diese Worte, diese Geständnisse, diese Accorde wie von einer unsichtbaren Musik sollten nicht in eine Weltordnung den Weg bahnen, wo die millionenfache Täuschung aufhört und der Geist, auch wenn vom Körper getrennt gedacht, wonnigste, seligste Wahrheit bleibt? ...

Lucinde hoffte das schon für diese Erde ...

Doch – Bonaventura blieb – ein Priester voll Hoheit. Er vertrat die Religion. Er glich einer Kirche, in die man, innerlich noch so weltlich gesinnt, doch äußerlich voll Demuth und zur Ehre des Höchsten eintritt. Auch hörte er im Geiste die Worte, die ihm und dem Mönch Sebastus vor wenigen Monaten der Kirchenfürst von der Milde des Heilands zur Magdalena gelesen ...

Daß sich etwas, was liebestollste Zudringlichkeit war, hier in einer Form aussprach, die schon zum Wahnwitz geworden, konnte er nicht verkennen ... Er hatte Lucinden im Lauf der von ihr in düsterm Unmuth und wahrhaft schmerzensvoll bekannten Leiden, die sie durch ihre eigene unausgesetzte Thorheit und moralische Hülflosigkeit über sich heraufbeschworen, gebeten – den Hut abzunehmen; sie that es mechanisch und legte den Hut neben sich auf den Fußboden. Ihrem Haar entglitt eine Flechte, die nicht genug befestigt war. Lang und schwer hing diese Haarflechte nieder. Lucinde merkte nichts von diesem Schein der Verwilderung ... Die Formen der Kirche kamen ihrer Selbsttäuschung zu Hülfe ... Sie wand sich wie Magdalena.

Bonaventura wußte nun: Dies irrselige, schöne Frauenbild bekennt alles das, nur um dich in die Kreise ihres Lebens zu zwingen, von dir Worte der Liebe zu hören, vielleicht – jetzt nur deine Hand küssen zu können und – stumm zu gehen ... Sie will jetzt, wo du reisest, nur vielleicht einen Briefwechsel mit dir führen, nur, wenn du wiederkehrst, mit ihren Blicken dich umwerben, mit ihrem Lächeln dich umschmeicheln dürfen ... Sie will nur den Stolz vor der Welt haben, daß man sagt: Dieser Geweihte ist ein Heiliger; strauchelte er, so würde er es nur mit jenem Mädchen können, das bei jeder Messe, die er liest, immer an demselben Pfeiler ihm zur Rechten oder Linken sitzt ...

Bonaventura wußte, daß er straucheln konnte, wenn Lucinde – Paula war ... Jene hatte mehr Geist, mehr Wissen, mehr Thatkraft und – für die Meinung anderer vielleicht selbst mehr Schönheit, als diese ...

Doch wirkte Lucinde auf ihn, wie er einst auf einen Scherz Benno's gesagt hatte, feuermagnetisch. Sie wirkte abstoßend durch Ueberkraft und eine zu große Willensstärke ...

Er blieb bei seiner Priesterpflicht.

Aeußerlich wollte Lucinde nur einen Rath haben, wie sie nach einem so geschilderten Leben und innerlich gänzlich zerstörten Dasein nicht die Lust am Leben und an sich selbst verlöre, zur Wahrheit käme, die Lüge und Verstellung miede, sich an fremdem Glück erfreuen, vor allem in der von ihr gewählten Religion wirkliche Beruhigung und Erhebung finden könnte ...

Eben die Religion verschleierte alles.

Bonaventura hatte sie zuletzt aufgefordert, sich zu setzen ...

Auch das that sie wie Magdalena und stützte das Haupt ...

Jetzt fühlte sie die losgegangene Flechte. Sie steckte sie erröthend auf, während Bonaventura die beiden Kerzen anzündete ...

Endlich sprach er ihr mit einer Stimme, die auch nur ihm angehören konnte:

Meine verehrte, liebe, theure Freundin! Wie, wie lange kennen wir uns doch nun schon! O, glauben dürfen Sie mir – daß ich oft, oft – wie oft! über Sie nachgedacht, über Sie mit Gott geredet habe! Was Sie mir vielleicht vor einigen Monaten schon sagen wollten – dies Neueste da, der Besuch Ihres frühern Verlobten in Knabenkleidern, nun, das ist eine Waghalsigkeit, die auf Rechnung Ihres abenteuerlichen Sinns kommt, ein Kampf gegen die Obrigkeit, den ich nicht billigen kann, ein Vergehen, das die gute Absicht des Helfenwollens entschuldigt – Ihre wahren innern Peinen erfahre ich erst jetzt. Und daß Sie jenes Neueste hinzufügten, das nehm' ich für einen Beweis Ihres Vertrauens zum Priesterthum. Sie vermissen, sagen Sie, eine Reinigung und Heiligung Ihres ganzen Seins und Lebens. Das ist ein schönes, ernstes, für Ihre ganze Zukunft entscheidendes Wort! ... Die Fehler Ihrer ersten Jugend will ich nicht rügen. Sie haben die Liebe nicht gekannt. Sie haben sie von andern nicht erfahren; ich rüge nicht, daß Sie sie auch nicht erwiderten. Auch Ihren mächtigen Ehrgeiz will ich nicht tadeln. Es war vielleicht der Trieb nur des Wachsthums zum Bedeutenderen. Daß ein Baum gen Himmel anstrebt, ist ein Preis Gottes, kein Preis seiner selbst. Ein armes Mädchen vom Lande gingen Sie durch eine seltene Schule der Erfahrung, die Ihnen bald weh that, bald schmeichelte. Immer wollten Sie mehr sein, als was das Geschick Ihnen zu sein anmuthete; Sie rangen sich gewaltsam auch vielleicht deshalb empor, weil Sie einen Trieb hatten, geistig mit sich zufriedener zu sein, als dies mit sich Tausende von Menschen sind. Die Fähigkeit, einen Klingsohr glücklich zu machen oder gar zu erziehen, konnten Sie damals nicht besitzen. Auch Ihr Leiden mit Serlo, Ihre Demüthigung, als Sie die Bühne betreten wollten, waren Sühnopfer für manche Schuld der Uebereilung, für manche Herzlosigkeit und Eitelkeit. Als Sie dann den Uebertritt zu unserer Kirche vollzogen, da begann vorzugsweise Ihr innerster Bruch. Immer schon mußte ich tadeln, daß Sie diesen Schritt nicht aus innerm Bedürfniß thaten ... Richtiger, Sie thaten ihn aus Bedürfniß, doch machten Sie sich über die Mahnung Ihres innersten Herzens, über dies Gebot Ihres guten Genius, der Ihnen bei diesem Schritt zur Seite stand, kein Geständniß. Nun schwanken Sie zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Religion und Unglaube, ja sogar zwischen dem Guten und dem Bösen – Ihre Natur, fürcht' ich und sprech' es offen aus, wird Sie niederwärts ziehen, wenn Sie sich nicht mit einer gewaltigen Gegenmacht rüsten! Andere (Bonaventura dachte an die Scene beim Kirchenfürsten), andere würden Ihnen rathen, Ihrem Geiste zu mistrauen. Das will ich nicht. Es wäre ja entsetzlich, wenn dem Geiste sich nicht das Gute gesellen könnte. Eines aber möcht' ich Sie fragen – und ich fasse damit, glaub' ich, Ihren ganzen Zustand zusammen –: haben Sie sich je vergegenwärtigt, was die Kirche mit so mancher ihrer großen und uns gerade von andern Religionen unterscheidenden Lehren sagen will, zum vorzüglichen und Ihnen insbesondere zweckdienlichen Beispiel erwähn' ich – unsern Mariencultus?

Lucinde war von dem Ton dieser innigen Rede wonnig durchrieselt. Den Sinn der Worte behielt sie nicht, nur ihren Klang. Erst bei Erwähnung des Mariencultus stutzte sie. Sie gedachte des noch rückständigen Bekenntnisses ihrer Wanderung durch den unterirdischen Gang und des von Picard empfangenen Auftrags ... Das Marienbild am unterirdischen Kreuzweg stand wie mahnend vor ihrer Seele ...

Sie kennen die Lauretanische Litanei? fuhr Bonaventura voll Gelassenheit fort, still zu seinen guten Genien betend ...

Die Lauretanische Litanei! dachte sie und plötzlich fuhr durch ihr Innerstes ein Streiflicht ihrer Doppelnatur. Die Gottesmutter hat in dieser Litanei Bezeichnungen, als da sind »Gefäß der Andacht«, »geistliche Rose«, »elfenbeinerner Thurm«, »goldenes Haus«, »Arche des Bundes«. Heute in der Frühe, als noch Bonaventura's Ja! nicht gekommen war und sie in die Messe stürmte, wo eben die Lauretanische Litanei gesprochen wurde, hatte sie sich in ihrer aufgeregten, gottfeindlichen Stimmung gesagt: Namen sind das ja, wie das Verzeichniß zu einer Auction oder als säh' ich die Fenster der Trödler in Seligmann's Rumpelgasse!

Die seligste Jungfrau, fuhr Bonaventura in Sanftmuth fort, die Ihr früheres protestantisches Bekenntniß nur in ihrer Menschennatur kennt, nennt die Litanei unter anderm die mystische Rose. Mag sie von denen, die sie als solche sehen mögen, in dieser Eigenschaft als ein liebliches Symbol alles Unaussprechlichen verehrt werden, Ihnen gegenüber ziehe ich eine andere Bezeichnung aus dieser Litanei vor, daß uns die heilige Frau – ein Spiegel sein solle. Gerade Sie möcht' ich fragen: Wie ist Ihnen das nur? Wenn Sie nach einem solchen Leben, wie Sie es mir geschildert haben, jetzt an Maria denken, zu dieser aufblicken, sich mit dieser ganz einig, ganz verbunden, ganz Freundin zu sein wünschen, was empfinden Sie da?

Lucinde blickte im Geist aus das kleine, in unterirdischer Einsamkeit stehende Muttergottesbild – und mußte schweigen ...

Maria, fuhr Bonaventura fort, mag Ihnen in Ihrer menschlichen Gestalt erscheinen, wie sie will; die Evangelisten haben nichts verschwiegen, was die Vernunftkritik gegen sie deuten kann. Halten Sie sich aber an das, was Maria durch das Christenthum erst selbst geworden ist, wie denn überhaupt die Tradition und das lebendig fortwirkende Leben innerhalb der christlichen Gemeinschaft eine der immer frisch zuströmenden Quellen unseres Glaubens ist. Maria wurde schon der allerersten christlichen Zeit eine Mutter, so groß, so verklärt, daß sie ohne Sünde empfing, die Verehrung vor der Frauenreinheit Mariä wird noch dahin kommen, daß die Kirche dem Verlangen nicht widersteht, sogar von ihr zu sagen, daß sie selbst ohne Sünde empfangen wurde. Das sind Dogmen des Bedürfnisses, Dogmen der Huldigung und der nicht versiegenden Liebesströme innerhalb unserer kirchlichen Gemeinschaft selbst. Wir wissen, wer die heilige Anna, die Mutter Maria's war, wir kennen die Schleier, die auf ihrer Verbindung mit dem heiligen Joseph ruhen; aber alles das schwindet gegen das, was Maria in den wilden Geburten der Geschichte wurde. In der Barbarei der Zeiten! In der rohen Entwürdigung der Frauen! Immer schwebte sie da in den Lüften als ein unentweihtes Symbol des Fraueuthums. Der glühende Spanier und Provençale mag sie wie eine Geliebte verehrt haben, der Slawe wie eine Mutter, der Germane vielleicht am kühlsten nur wie eine Schwester: immer war es Maria, die die Wildheit zähmte und der Leidenschaft die tödliche Waffe aus der Hand schmeichelte. Die Civilisation der Sitten ist durch sie gewonnen und erhalten worden. Und erst in unserer Zeit! Der Mariencultus ist nicht mehr die Bürgschaft der mildern Sitten; jetzt ist er der lebendig gewordene reine weibliche, sittliche Sinn. Gerade die Reinheit Mariä zu verehren drängt es diese unreine Zeit, die Zeit der Frivolität, der Emancipation von der Sitte, die Zeit des fast ins Allgemeine mitwirkend und mitstimmend aufgenommenen Frauenberufes, die Zeit der Nivellirung der Familie und Erziehung. Und nun, nun frag' ich Sie: Finden Sie den Weg zwischen Ihrem Innern und diesem Frauenbilde, das Sie ja in jeder Kirche sehen können, ganz frei und ungehindert? Fühlen Sie sich so, daß Sie den ob milden, ob strengen, immer sittlich reinen Blick unserer Himmelskönigin nicht zu fürchten brauchen? Können Sie, als Weib, als Jungfrau, zur Mutter mit dem Kinde aufblicken und sagen: Das Leben hat mich viel umgetrieben, ich war mancherlei und erlebte noch mehr, aber du, du kannst nichts gegen mich haben! Du würdest mich nicht aus deinem himmlischen Hofstaat verweisen! Ich füge hinzu, liebe Freundin, ich fand immer, daß die Frauen voneinander mehr wissen, als wir Männer. Untereinander beurtheilen sie sich strenger, als wir ahnen. Sie durchschauen die weibliche Eitelkeit und Koketterie leichter als wir. Sie lassen sich nichts ungerügt hingehen, dulden keine Verschönerung und Ausschmückung, die wir Männer, geblendet vom Frauenreiz, immer noch in Bereitschaft haben. Jeder Blick einer Frau, die ihr Geschlecht beurtheilt, sagt: Was wir Frauen uns sein müssen, das wissen wir schon! ... Und so denn also – im Chor der seligen Jungfrauen denken Sie sich die Königin des Himmels und prüfen Sie sich, was die Allerseligste sagen würde, wenn unter Tausenden nun auch Sie zu ihr hinträten und sie bäten, in ihrem Hofstaat eine Ehrenstelle im weißen Kleide erhalten zu dürfen, eine Ehrenstelle durch die Reinheit des Herzens, die wahre, geistige Schönheit, die Lauterkeit des Gemüths! Können Sie ein solches Bild der allerseligsten Jungfrau festhalten? Können Sie, rückblickend auf Ihr ganzes Leben, von sich sagen: Maria! Mit dir bin ich einverstanden! Maria! Du bist es mit mir! Maria hat nichts gegen mich?

Lucinde, von Bonaventura geführt wie ein Kind, schlug ihre Augen anfangs nieder. Jetzt schlug sie sie auf, als suchte sie das von ihm geschilderte Bild an den – bunten Stuccaturen der Decke des Zimmers ...

Ihre Augen leuchteten ... aber – wie mit irrem Stern ...

Sie schüttelte ihr Haupt ...

Was trennt Sie von diesem Bilde? fragte Bonaventura mit gesteigerter Innigkeit und eher wie gewonnen durch diese aufrichtige Verneinung, als abgestoßen. Liegt nicht Ihr ganzer neuer Glaube in ihm? Liegt nicht Demuth, Unschuld, Entsagung, jede weibliche Tugend und Ehrlichkeit in diesem Bilde?

Als wenn die Luft, die Lucinde gestern bei einem solchen Bilde geathmet hatte, wieder sie zu ersticken drohte, stand sie auf, machte einige Schritte und sagte, sich wieder setzend:

Was ich von Maria sehe, ist alles starr und todt und wie von Stein!

Blicken Sie das Bild nur lange, lange an! bat Bonaventura im liebevollsten Ton. Es wird sich beleben! Es wird sprechen, es wird der Sammelpunkt Ihres ganzen Menschen werden! Geht es nicht, steht etwas dazwischen, so werden Sie nichts mehr thun wollen, was nicht auch diesem Bilde gefiele! Sie werden sich vor ihm eine Magd erscheinen, selbst wenn Sie eine Krone trügen! Sie werden Ihren Geist unterdrücken, wo nur Ihr Herz nöthig ist! Sie werden, sogar leidend, sich nicht mit andern in stolze Vergleichung bringen! Und will es so nicht gehen, wie Sie es gern im Leben möchten, immer vergegenwärtigt Maria, was ein Weib erfahren, was ein Weib überwinden muß, ohne sich zu rächen! Sie vergibt! O sie vergibt auch Ihnen vieles, denn sie kennt die Schwäche des Weibes; aber sie vergibt nicht alles. Sie würde nicht jede Ihrer Bitten am Throne ihres Sohnes auszusprechen übernehmen. Sie besitzt die Schwäche einer Mutter, sie kann von dem Kind ihrer Liebe Fehltritt über Fehltritt vernehmen und vergibt ihm; aber in vielen, vielen Dingen verlangt sie eine unbedingte Unterwerfung und ich glaube, dies ganze, ich sage nicht mystische, sondern einem Spiegel gleichende Verhältniß zwischen Maria und einem weiblichen Herzen – ich glaube, Sie kennen es nicht und darin, darin liegt Ihr ganzes Unglück!

Dumpf vor sich hin sprach Lucinde einen Einwand ... Bonaventura kannte die Berechtigung dieses Einwandes aus seinem eigenen Leben und empfand ihn jetzt noch mehr, seitdem ihm so nahe bevorstand seine Mutter wiederzusehen ... Warum sagte nur Jesus: Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen? hatte Lucinde gemurmelt ...

Bonaventura erwiderte:

Maria ist keineswegs die letzte Richterin über unsere Seele! Sie ist nur eine Vorstufe zum Gottesthron und allerdings die ihm nächste! Aber ich glaube nicht, daß die Seele jedes Mannes an ihr Urtheil verwiesen ist; sie richtet auch nicht, sie bittet nur. Nur möcht' ich wiederholt wissen: Sind die Sünden und Irrthümer, die Sie mir heute gebeichtet, die eines weiblichen Herzens, das mit der allerseligsten Jungfrau einen innigen Freundschaftsbund schloß? Mir scheint es, daß Sie vorzugsweise Eine reine, wahre Freundschaft schließen sollten, diese mit unserer Mutter Maria! Welch ein unschuldiger, edler, froher Sinn würde Sie plötzlich heiligen! »Maria stand auf, ging eilends über das Gebirge in das Haus des Zacharias und grüßete Elisabeth« ... so steht in der Schrift –

Und sich unterbrechend erhob sich Bonaventura wie in innigster Freudigkeit rasch, schlug den Vorhang von einem Büchergestell zurück, suchte eine kurze Weile nach einem Buch, fand es, kam wieder, schlug es auf, blätterte und las eine schnell gefundene kurze Erläuterung über den Gruß Mariens an Elisabeth, über den Gruß der Jugend an eine Matrone, über den Inhalt der Rede, die Maria wol Elisabeth gegenüber gehalten haben mochte, über die Darbringung solcher Empfindungen und Seelenstimmungen, die ihr dafür das Wort der greisen Gönnerin eintragen konnten: »Du bist gebenedeiet unter den Weibern!« Bonaventura las diese Betrachtung aus einer Blumenlese geistlicher Erweckungen und wollte keine Erbauung. Er wollte Lucindens Geist anregen, nicht blos ihr Herz. Er wollte ihr die sittliche Schönheit als das Ziel auch einer reinen Phantasie hinstellen ... In wärmsten Worten schilderte er den Zustand dieses »Gebenedeiten am Weibe«. Ueberall würde eine Gebenedeite freundlich empfangen, überall wie der kommende Mai begrüßt; in jeden Streit brächte sie Friede, in jedes Leid Trost; ihre Schritte wären gesegnet; wo sie hinträte und wär' es in der Wüste, blühte eine Blume auf – wie die Jerichorose unter den Füßen Maria's, als sie mit dem Kinde gen Aegypten floh ...

So deutete Bonaventura die »Jerichorose« ...

Dann ertheilte er Lucinden einige leichte Bußübungen, ließ sie knieend seinen Segen empfangen und wollte nun von ihr Abschied nehmen ...

Lucinde stand zwar auf, zog ihren Shawl über die Schultern, hatte sich ihren Hut wieder aufgesetzt, schickte sich an zu gehen ... sie war jedoch – wie gebannt ...

Die Glocken der Kathedrale läuteten zu einem Kirchenfest ... Schon sechs Uhr schlug es ...

Wie sie schon nahe der Thür sich befand, die unmittelbar in den Corridor führte, stand sie plötzlich still ...

Bonaventura trat hinzu. Er glaubte zu sehen, daß sie sich entfärbte ...

Was ist Ihnen? fragte er ...

Lucinde erwiderte nichts, doch hielt sie sich an der Epheulaube ...

Bonaventura glaubte, daß ihr unwohl war und ging an einen am Fenster stehenden Tisch, auf dem Wasser stand ...

Sie winkte ablehnend und starrte in die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit zum Fenster hinaus ...

Bonaventura sah, daß sie von seiner Rede, seinem Zuspruch nicht befriedigt war, daß sie etwas vorhatte und mit sich kämpfte. Doch mied er die Saiten des Seelischen und des Gemüthes noch einmal wieder anzuschlagen. Er sprach beruhigend von der Lebhaftigkeit der Gegend draußen und stand, als wollte er eines der Lichter ergreifen und ihr auf den Corridor leuchten ...

Sie reisen nach Witoborn? begann Lucinde, schon über diese Andeutung, als fürchtete sie vielleicht nur die Dunkelheit draußen, gereizt ...

Noch heute! ... erwiderte Bonaventura, sichtlich befangen durch ein Wort weitern Gespräches, das nicht durch sein Amt veranlaßt wurde ...

Lucinde sah diese Förmlichkeit, diese plötzliche Kälte und hauchte:

Schon so bald!

Dabei blieb sie vor dem Epheu stehen und pflücke gedankenvoll ein einzelnes welkes Blatt ab ...

Wer hätte an dieser Handlung erkennen mögen, daß sich die ganze seit Monaten angesammelte Fülle der Spannung wieder auf ihre Brust wie riesig anstemmte und in irgendeiner Weise helfen wollte; sie hatte die Befriedigung des Gemüths nicht so gefunden, wie sie gehofft ... Sie wollte und hoffte nur – – ihre Liebe ...

In einigen Stunden ... sagte Bonaventura, jetzt sogar drängend ...

Dieser sein plötzlich immer kälterer Ton reizte sie mehr und mehr und schon war es nur ein Hauch, mit dem die erstickte Stimme sprach:

Grüßen Sie – Gräfin Paula! ...

Bonaventura antwortete durch ein äußeres Zeichen ...

Lucinde fuhr fort, wie bewußtlos in dem Epheu nach welken Blättern zu suchen ... Da sie deren nicht zu viele fand, brach sie auch schon die grünen ab ...

In Bonaventura's Innerm drängte sich jetzt Unmuth, sogar eine Aufwallung des Zorns, doch suchte er nach Geduld und Selbstbeherrschung ...

Paula's Sehergabe soll Wunder wirken! fuhr Lucinde fort, zitternd und nicht von der Stelle könnend ... Ich wünschte wohl, Sie frügen sie, was für mich – noch alles in den Sternen steht!

Das würd' ich die Sterne der eigenen Brust fragen! sagte Bonaventura lächelnd und machte Miene, um Schonung seines Epheus zu bitten ... Schon das längere Verweilen Lucindens verdroß ihn ...

Sie merkte nichts von dem, was sie that ... Sie brach Blatt um Blatt, zerknitterte das Gebrochene, warf es weg ... sie war im Geiste bald in der Ebene von Witoborn ... bald gedachte sie des Picard'schen Auftrags, das Schreiben Leo Perl's abzugeben ...

Grüßen Sie Herrn von Asselyn, Ihren Vetter Benno! sagte sie – wie spottweise – und nur um zu sprechen und sich zu sammeln ...

Bonaventura versprach die Ausrichtung dieses Grußes und ging von dem Tisch, wo er gestanden. Er machte in der That Miene, sich mit höflicher Neigung des Hauptes in sein Nebenzimmer zurückzuziehen ...

Lucinde machte sich durch Scherze Muth zum Bleiben und gefiel sich darin, durch das Zerrupfen des Epheus auch die ihr wohlbekannte – Pedanterie der katholischen Geistlichen, die überhaupt mit den Jahren jede ehelose Lebensweise annimmt, schon an diesem jungen Mann zu reizen ... Schon in St.-Wolfgang hatte sie ihn ja im Geist früh vergrämeln und verzärteln gesehen ...

Er soll sich hüten, sagte sie, Armgart nicht zu schwesterlich zu lieben! Das kann dann im Ernst so kommen! Auch Frau von Hülleshoven, ihre Mutter, könnte Armgart zuvorkommen, einen gewissen Herrn von Terschka zu wählen ...

Bonaventura hörte schon nicht mehr. Seine Entrüstung nahm immermehr zu und auch sein Kampf; denn jedes Wort, das Lucinde sprach, war ersichtlich nur eine Verschleierung der Rede: Du Thor, warum umschlingt mich nun nicht dein Arm? Warum lässest du mich nun jetzt so hingehen, wie ich gekommen bin?! Voll Seligkeit läg' ich – trotz Mariens – in deinen Armen ...

Herr von Terschka, fuhr sie den Epheu zerzupfend fort, nimmt jede Religion an, die die schöne junge Frau mit ihren koketten Locken von ihm verlangt! Aber sie hätte die Conversion gar nicht nöthig! Wär' ich in Rom und flüsterte – nur zwei Worte – mit den Cardinälen der Sacra Dotaria, sie sollte ohne weiteres geschieden werden! ...

Warum scherzen Sie über so ernste Dinge! fragte Bonaventura verdrossen – doch staunend ...

Kein Scherz! ... Ich lernte neulich die Frau kennen! Ihre Seele ist aus heißer Luft gewoben! .. Wer möchte glauben, daß auf der Heide von Witoborn solche Blumen wachsen! .. Sie kennen ja dies Geschlecht mit dem ewig gleichen Perpendikel des Herzens! .. Ein Schlag wie der andere! Bim – bam! .. Es ist ja wahr – auch – Ihre Heimat ist's!

Bonaventura sah Lucinden ganz so wieder, wie sie sonst und noch zuletzt in seinem Pfarrhause gewesen war ...

Das muß ich doch noch sagen, ich liebe nur den katholischen Glauben, wenn er die Seele zum Muthe entflammt! fuhr sie in einer Aufregung, die sie nun nicht mehr bemeistern konnte, fort ... ich liebe ihn, wenn er die Menschen aus der Gewöhnlichkeit erhebt und ihnen Flügel gibt! Dort?! Dort – ist wirklich alles nur Aberglaube und so vieles, so vieles – auch hier –

Bonaventura, seine vorhergegangene tief vom Herzen gekommene Ansprache verhöhnt, kalt abgewiesen fühlend, athmete hörbar vor immermehr zunehmender Entrüstung ...

Schon war Lucindens ganze Hand voll grüner abgerissener Epheublätter ...

Sie werden auch Schloß Neuhof sehen? sprach sie, noch wie harmlos, aber doch, da sie nun gehen mußte, aller Fassung beraubt ...

Ohne Zweifel! sagte Bonaventura kalt ...

Auch den Kronsyndikus? ...

Man erwartet seine Auflösung ...

Das bedaure ich! ... Ich wünschte, Sie frügen ihn nach seiner zweiten Frau, die noch in Rom leben soll ... Und ob – die alten – Stammers – wol noch im Parke hausen? – Und Bruder Hubertus – werden Sie – sehen – auch Klingsohr –

Nicht unmöglich ...

Wenn ich einmal Paula im magnetischen Schlafe sähe, wollte ich sie etwas fragen – Aber es ist ja wahr – Immer, wenn ich an ihr Lager trat, wissen Sie wol noch, hörte – die Posse auf ...

Bonaventura stand auf glühenden Kohlen ...

Nur einmal glaubt' ich selbst, daß sie im Traum wahr sprechen konnte ... Einmal! ... Am Tage Ihrer Weihe! Warum aber auch – thaten Sie ihr das!

Der bitterste, schrillste, ja ein frecher Hohn war es, mit dem Lucinde diese Worte sprach ...

Und Bonaventura nahm die Kriegserklärung auf ...

Er ergriff das Licht, ging an die Thür, die zum Corridor führte, und machte die Miene, als wollt' er ihr ruhig hinausleuchten ...

Jetzt blieb Lucinde stehen und verwüstete erst recht den Epheu ...

Schonen Sie diese unschuldigen Blätter! rief er ...

Lucinde ließ alle Blätter, die sie gerade in der Hand hatte, zu Boden sinken und suchte Bonaventura's Auge ...

Der Priester versuchte ihren Blick auszuhalten ...

Sie starrte ihn an wie die Walkyre ...

Er – stellte den Leuchter auf den Tisch zurück, um sich aus ihrer Nähe entfernen zu können und ins Nebenzimmer zu gehen. Die Augen niederschlagend und sich den letzten, entscheidenden Rest von Selbstbeherrschung gebend, den er solcher Herzenshärtigkeit gegenüber noch besaß, hauchte er an der Thür des andern Zimmers mit erstickter, aber deutlicher Stimme:

Fräulein! Da ich so wenig über Ihren unglückseligen Sinn vermag, so möcht' ich ein für allemal gebeten haben – Sie suchen sich für jeden künftigen Fall Ihres – Beichtbedürfnisses einen – andern Freund Ihrer Seele –!

Eine kurze tödliche Pause folgte auf dies sich im Sprechen mildernde, aber doch mit dem entschlossensten Aufdrücken der Nebenthür endende kategorische Ersuchen, nie wiederzukommen und sich für immer einen andern Beichtvater zu wählen.

Lucinde verstand das tödlich entscheidende Wort.

Bald auch machte sich ihr Seelenzustand in einem furchtbaren Ausbruch Luft ...

Kein Lachen stieß sie aus, auch kein Weinen ...

Es war ein Ton, der sich ihr, wie sie an der Thür stand, vom Herzen losriß, ohrzerreißend, von Lachen und Weinen eine Mischung, unerhört für den Priester, der wie in Betäubung stand und sich bei alledem sagte: Jetzt oder nie! Es muß ein Ende sein! ...

Nie von ihm gesehen war auch das, was er jetzt sehen mußte ...

Lucinde lag plötzlich am Boden, hingestreckt wie eine Leiche ... dicht an der Thürschwelle lag sie wie leblos ... völlig starr ... beide Arme lagen zu ihren Häupten weit ausgestreckt, ihr ganzer Körper war wie gelähmt ...

Erst wollte der zum Tod Erschrockene sich dennoch entfernen ...

Dann mußte er bleiben ... Der Gedanke, daß Lucinde an einem plötzlichen Krampf erstickt wäre, erfüllte ihn mit Entsetzen ...

Er beugte sich zu ihr nieder, rief sie an ... ergriff ihren rechten Arm, der wie gefühllos hing ... der Hut lag im Nacken, der Shawl war ihr von ihren Schultern geglitten ... kein Glied mehr bewegte sich ...

Erst als Bonaventura sich erhob, an den Tisch eilte, auf dem das Wasser stand, sein ganzes Taschentuch eingetaucht hatte und zurückkehrte, um ihr die Stirn und Schläfe zu befeuchten, regte sie sich und suchte aufzustehen ...

Sie lehnte dabei seine Hülfe ab, drückte ihren Hut fest und in die Worte der Bestürzung, die er sprach, hinein erhob sie ihre Stimme, faltete die Hände, blieb in ihrer knieenden Stellung und rief:

Maria! ... Ich wage es doch, dich anzublicken! ... Gib mir Kraft, mein Loos zu tragen, wie du das deinige ertrugst! ... Sieben Schwerter durchbohrten deine Mutterbrust und du sahst doch noch die Herrlichkeit deines Sohnes! ...

Dann sprang sie auf, riß ihren Hut herab, stand wie wahnsinnig, erhob den Arm und flüsterte fast heiser:

Auch ich werde sie sehen! Gott hat die Zukunft meiner Liebe, das Glück und die Lebensruhe des grausamsten aller Menschen in meine Hand gegeben! ...

Dabei bebten durch die blendenden Zähne hindurch die von ihr wiederholten Worte Bonaventura's:

»Einen andern Freund Ihrer Seele!«

Vielleicht würde Bonaventura in einem Versuch der Aussöhnung von Lucinden geschieden sein, wenn ihn die räthselhaften Worte, die sie sprach, nicht aufs neue erschreckt, der furchtbar betonte Sinn der Drohung, der in ihnen lag, nicht befremdet hätte ...

Ja, sagte sie wie geisterhaft zu dem sie Anstarrenden; das hat Gott in meine Hand gegeben! Wie Ihr Schatten werde ich Ihnen durch Ihr Leben folgen – Herr – von Asselyn!

Wahnsinnige! rief Bonaventura aufs neue ermuthigt ...

Ja, setzte sie fast lachend ihre Rede fort, ich bin die Ursache, daß das Grab erbrochen wurde, in dem der letzte Begleiter Ihres Vaters bestattet war ...

Bonaventura horchte auf und starrte dieser neuen Gedankenreihe ...

Ich, ich kenne den Verbrecher! Ich, ich besitze, was er im Sarge gefunden hat!

Sie – Sie besitzen – was ich seit jeder Stunde –?

Keine Verletzung der Beichte! unterbrach sie bitter höhnend ... Ich kenne den Verbrecher ohne Ihre Andeutung! Mir gab er, Ihnen das Gefundene einzuhändigen. Der Muth des Mannes regt sich in Ihnen? Sie glauben, mir das Geheimniß entreißen zu können? Suchen Sie! Mit allen Häschern der Erde ... Sie finden Ihr Lebensgeheimniß nicht ... das halte ich!

Bonaventura, in äußerster Verwirrung, sprach fast zitternd durcheinander:

Ich kenne – den Haß – dessen Sie fähig sind ... aber Sie dürfen beruhigt sein ... durch die Gerichte werd' ich ihn nicht nähren ...

Schmeicheln Sie? Wandeln Sie dahin, wohin Sie Ihr Geschick ruft! In die Thäler, auf die Berge! Lassen Sie die Mitra auf Ihr Haupt setzen, wie Paula prophezeite – ich habe das Geheimniß, Sie in jeder Stunde des Tages, in jeder der Nacht – an mich zu erinnern!

Ich fürchte dich nicht! Dämon! Was könntest du besitzen?

Ein Bekenntniß!

Von meinem Vater? Er ist die Liebe selbst!

Nicht von Ihrem Vater!

Von meinen Angehörigen? ... Meiner Mutter?

Nicht von Ihrer Mutter!

Die Ehre meines Namens befleckt kein Bekenntniß der Erde!

Die Ehre Ihres Namens!

Die Ehre eines Angehörigen? Ha, meines Vetters Benno?

Lucinde stockte, dann sprach sie:

Auch das nicht!

Lucinde! Ich habe Sie zu allen Zeiten einen Teufel nennen hören! Sind Sie denn wirklich ein Geist der Hölle –?

Ein Mann im rothen Haare saß in Ihrem Beichtstuhl! antwortete sie kalt dem fast bittenden Tone ... Er bekannte Ihnen, daß er eine Schrift in lateinischer Sprache gefunden ... Fürchten Sie nicht, daß ich die Hülfe eines andern in Anspruch zu nehmen hatte, um sie zu entziffern – Ich erzählte Ihnen ja heute, von wem ich alles – Latein gelernt!

In ihrer Stimme zitterte fast eine Thräne ...

Betrifft die Schrift – –? fragte der Gefolterte. Aber er wußte selbst nicht mehr, in welchen Verhältnissen er forschen sollte. Dunkel war ihm ja nur außer dem Tode seines Vaters – eine, eine geheime Stelle in seinem Innern – sein Beruf –!

Nichts betrifft die Schrift, was Sie hindern kann, alle Prophezeiungen von Westerhof wahr zu machen! fuhr Lucinde fort und faßte sich allmählich. Werden Sie Bischof, Erzbischof, setzen Sie sich die dreifache Krone aufs Haupt –! Ein Wort von mir entwerthet Ihr Dasein! Ein Wort von mir nimmt Ihrem Segen die Kraft! Ein Wort von mir, und was Sie blühend glauben, muß verwelken, was Sie für die Ewigkeit geschaffen wähnen, muß untergehen!

Wahnsinn! Wahnsinn! rief Bonaventura außer sich ...

Dann sprechen Sie das Wesen Ihrer Kirche aus ... erwiderte sie und wollte gehen ...

Ihrer – unserer – Kirche!? ... Die Urkunde hängt mit meinem Glauben zusammen?

Unserm Glauben! ...

Mit der Wahrheit – dieses Glaubens?

Mit dem ganzen – ganzen Bau der Kirche!

Ein Hohnlachen schien ringsum von den Wänden widerzuhallen ...

Bonaventura wandte sich, um sein Bewußtsein nicht zu verlieren ... Die Stirne brannte ihm ... Die zitternde Hand fuhr über die düstern Furchen hin und wischte die Vorstellungen ab, die sich aus ihr wie leibhaft zu sammeln schienen ... Schon wieder die kaum beruhigte Seele in Aufruhr versetzt? Schon wieder eine Mahnung des Zweifels? ... Wieder das Herz im Tumult wie damals, als der räthselhafte Brief aus Italien gekommen, der ihm von Fehlern der Kirche, von Huß, Savonarola, Arnold von Brescia gesprochen?

Und wie er sich wandte, um in Güte mit Lucinden sich zu verständigen, sogar sein hartes Wort: Sie sollten sich einen andern Beichtvater suchen! vielleicht zu mildern, mehrte sich sein Entsetzen ...

Lucinde war verschwunden ...

Die Stelle, wo sie noch eben wie eine Botin der Hölle gestanden, war leer.

Das Auf- und Zugehen der Thür, nichts hatte er in seinem Schrecken und der tiefsten Verlorenheit in sich selbst vernommen ... Sie war nicht da.

Selbst, als er die Thür aufriß und in die hellerleuchteten Corridore blickte, fand er nirgends eine Spur mehr ...

Nun war alles wie ein Traum.

Seine Geister rasten ...

Wahnsinniger! riefen sie ihm ... Was trotzest du mit deiner Tugend? Was mordest du dich und andere? Trittst Blüten der Menschlichkeit mit Füßen und gewinnst nur blutige Dornen dafür? Bist du nicht ein Thor mit deinem entsagenden Herzen! Lügst du nicht selbst, indem du einem Mädchen, das dich liebt, doch nur – um einer andern Liebe willen kalt bist, die, verboten wie sie ist, doch in deinem Herzen thront? Thor, der du den erquickenden, berauschenden Trank der Leidenschaft nicht zu kosten wagst! Wagst? Ha, ein Schatten, ein Schatten bist du, ein Spiel der Täuschung! Ein Gedankenschemen ohne Wahrheit! Ein mit bunten Kleidern behängtes Nichts! Ein Mensch ohne Leben, ohne Zeugniß für den Schöpfer, der dir den Athem seines eigenen zeugungskräftigen Daseins in die Seele blies! ... O, wäre sie geblieben, riefen die Leidenschaften in ihm fort und fort, eine Secunde noch, vielleicht wäre die Maske gefallen und das Spiel, das erheuchelte, zu Ende gewesen! Der Welt hätt' ich, und wenn im Arme eines Teufels, gerufen: Unmöglich, unmöglich ist die Kirche, weil das Priesterthum unmöglich ist!

Zwischen dieser rasenden Nachwirkung einer in Liebe und Haß so gleichbestrickenden Frauenleidenschaft jammerte es tief wehmuthsvoll in ihm: Was kann sie von dir besitzen? Was wissen? Von deinem Vater? Von uns allen –?

Noch kämpfte es in seinem Innern, als schon manche Mahnung wieder an seinen Beruf sich ihm näherte, manches Wort von ihm mechanisch gesprochen werden mußte, Renate kam, plauderte und ihm Fragen stellte, die er beantwortete, ohne zu wissen wie ...

Dann sah er den Hauswart, sah seine Koffer holen und in den Wagen tragen, mit dem er zur Post fahren wollte ...

Abschied nahm er von Renaten, von seinem Zimmer, von seinen Büchern, von seinem zerstörten Epheu, dessen zerrissene Blätter wie seine Ideale lagen ...

Im Hof fand er den Wagen, in den er einstieg, geschmückt mit bunten Kränzen, hoch den Sitz mit Blumen belegt ...

Er sah Männer mit Fackeln, die ihm Abschied sprachen, Frauen, die mit den Taschentüchern winkten und wehten ...

Als der Wagen durch das große Portal fahren wollte, umringte ihn ein Chor von Knaben, die ihn mit einem Lobgesang begrüßten ...

Er erkannte die Kattendyks, seine Beichtkinder, auch Treudchen Ley, sogar im Scheine hochgehaltener vierflammiger Kirchenlaternen einen kleinen Mann, schwarz und weiß angethan, Herrn Jean Baptiste Maria Schnuphase, der eine feurige Rede hielt ...

Auch die Frau in silbernen Locken schien ihm an einem Pfeiler zu stehen und sinnend und träumerisch ihm nachzublicken ...

Ringsum öffneten sich die Fenster im Hofe und die sonst so grämlichen alten Bewohner des Hauses – ihm waren sie freundlich, ihm lächelten sie Abschied und frohes Wiedersehen! – denn, wie Klingsohr gesagt hatte, »die göttinger Ritter des Guelphenordens fühlten die Transfusion des jungen Blutes in ihren Adern« ...

Der junge Domherr, leichenblaß, sprach der zahlreich versammelten Menge Worte des Dankes, Worte der Wehmuth ...

Was er sprach, sprechen konnte, stand mit dem Schmerz des Abschieds im Einklang ...

So kam er grüßend, handwinkend auf die Post, wo er von allen Blumen nur einen kleinen Strauß zurückbehielt und ihn in den engen Postomnibus mitnahm, der nun erst wieder auf das kleine Stückchen schon benutzter Eisenbahn fuhr ...

Unmittelbar mit eigenem Fuhrwerk zur Eisenbahn zu fahren, war keinem gestattet, der mit der Post später weiter wollte. Im Posthof mußte man sich sammeln und dort wurden die Namen aufgerufen ... So war das Ghibellinenthum. Präcis, höchst geordnet, ganz nach dem militärischen Geiste Grützmacher's und Schulzendorf's und wie Thiebold de Jonge bei den Freunden Piter's berichtet hatte, der Generalpostmeister (Bundestagsgesandter) sprach einst wirklich das historische Wort gegen Einführung der Eisenbahnen: »Mit solchen Neuerungen hört die Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf!« ...

Benno's Kampf lag eben in diesem unvermittelten Gegensatz so vieles Hochherrlichen am Ghibellinen-und so manches Hochherrlichen am Welfenthum ...

Wie sehnte sich Bonaventura nach dem Geist eines Dritten, das über diesen Gegensätzen versöhnend schwebte –!

Er fuhr von dannen – tief unglücklich – das Räthsel der Welt im Herzen.

Ende des vierten Buches.

Fünfter Band Fünftes Buch
1.

»C.M.B.

Caspar, Melchior, Balthasar.

... Diese Namen der heiligen drei Könige aus dem Morgenland schrieb die alte Zeit über Thür und Schwelle eines jedes Christenhauses, um dem Heiland daraus eine Weihnachtskrippe zu bereiten.

Aber sie können noch mehr sagen, die heiligen drei Könige aus dem Morgenland! Sie können euch zurufen: C.M.B.: C – reuzige M – eine B – egierden! C – hristus M – ein B – ekenntniß! C – hristus M – eine B – ahn! C – ommunicire M – it B – edacht! C – abalen M – üssen B – rechen! C – abinetsweisheit M – acht B – ankrott!«

In dieser harmlos zeitgemäßen Weise war in der uralten Archipresbyteriatskirche zwischen Witoborn, Stift Heiligenkreuz und Schloß Westerhof, am heiligen Dreikönigstag gepredigt worden vor einer aus Hoch und Niedrig bestehenden Gemeinde, die auch deshalb so zahlreich vertreten war, weil alles erwartete, der von vierundzwanzig Damenhänden gefertigte Wunderteppich, die vom Doctor Laurenz Püttmeyer gezeichnete Vision der »Seherin von Westerhof«, würde heute vom Pfarrer Norbert Müllenhoff geweiht werden. Diese »Weihe« mußte dem ersten Betreten des Teppichs durch den erwarteten Archipresbyter vorangehen.

Aber noch drei Wochen vergingen, bis diese heilige Handlung vollzogen werden konnte. Die Damen hatten für den Kirchenfürsten zu viel zu sticken und damit jenen Müllenhoff'schen – »Bankrott aller Cabinetsweisheit« zu beweisen ...

Armgart war mit ihrem Drachen, den sie, wie Terschka an jenem Abend bei Piter Kattendyk berichtet, durch »längern Umgang lieb gewonnen hatte«, fast die erste fertig und hatte sich bereits wieder in zwei »Vielliebchen« verloren, die sie für Thiebold und Benno fertigte, eine Cigarrentasche und einen Aschenbecher ... Nur ihre übrigen Mitfräulein im Stifte zögerten so lange mit Ablieferung ihrer Einzeltheile der großen Arbeit, die dann Jean Tübbicke, nicht Schneidermeister, sondern – man staune des Fortschritts zu Witoborn! – »Maître-tailleur« in der alten Priesterstadt und sogar der Sohn eines Meßners, des alten Meßners Tübbicke hier zu Sanct-Libori selbst, nach Püttmeyer's Zeichnung zusammenzunähen hatte.

Armgart saß am Dreikönigstag gleichfalls in der Kirche.

Ach, sie deutete sich diese akrostichische Nutzanwendung von C.M.B. aus dem Munde des jungen so schlagfertigen Geistlichen, der noch nicht zu lange aus dem Seminar gekommen war und schon auf zwei Pfarren fungirt und seines reformatorischen Eifers wegen zwar überall Spectakel gehabt, aber dennoch diese höchst vortreffliche Pfarre auf den Dorste-Camphausen'schen Gütern bekommen hatte, in ihrer Weise ...

Ihr – sprachen Caspar Melchior Balthasar: Herr! C – röne M – ein B – eginnen! ... Daß sie dabei »Cröne« mit einem C schrieb, entsprach den Witoborner alten Gesangbüchern. Stand doch die ganze Bildung jener Gegend noch auf dem Standpunkte mehr von 1738 als von hundert Jahren später. Die wunderherrlichen Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff, dieser edeln, anschauungsreichen Sängerin, die, wie Benno von Asselyn gelegentlich zum Verdruß der Tante Benigna von Ubbelohde beim Thee auf Westerhof gesagt hatte, auf dem Parnaß auch das Heidekraut und die Buchweizengrütze aussäete, diese Gedichte kannte Armgart; aber mit Andacht las sie seit Kindesbeinen nur die Poesie auf den Kreuzwegstationen und Wallanlagen von Witoborn und in den Corridoren ihres Stiftes Heiligenkreuz. Denn dort war sie eingetreten. In der That hielt sie jetzt Markt mit ihren Naturaleinkünften (in diesem Winter freilich erst Einen einträglichen mit zehn Schinken, zehn Würsten und zehn Speckseiten) ... Ueber ihrer Thür stand:

O Libori, o Antoni, zwei Gefäß der Heiligkeit,

Daß wir müssen euch begrüßen, heißet uns die Schuldigkeit!

O Libori, o Antoni, steht uns bei am letzten End',

Daß nicht sterben und verderben! Führet uns in Jesu Händ'!

Welches ist Armgart's »Beginnen«? ... Wir können vorläufig nur sagen: Noch mehr, als sie schon sonst war, ist sie Grüblerin geworden. Stundenlang konnten ihre braunen Augen in die innersten Wände ihrer kleinen, ahnungsvollen Gedankenwelt zurückschauen. Stundenlang konnte sie ihre bekannten weißen Vorderzähnchen ohne Bedeckung der schmerzlichverzogenen Lippen lassen, wenn sie über etwas grübelte, was ihr seltsam schien. Und was erschien ihr nicht seltsam! Noch jetzt, wenn von der Erblassenschaft der Dorste'schen Besitzungen, von dem Grafen Joseph, ihrer geliebten Paula Vater, als von dem Erblasser die Rede war, konnte sie sich fragen, ob denn dies schmerzliche Wort nicht eigentlich zu sprechen wäre: Er – blasser und den im Tode tief Erblassenden, leichenweiß erbleichenden edeln alten Herrn bezeichnen sollte? Eine Erbskette nahm sie noch jetzt für eine Kette, die man von geliebten Personen, etwa einer theuern Mutter, erbt, nicht als Kette von Kügelchen, so groß wie Erbsen. Wenn der Onkel Levinus Abends nach dem Nachtessen in Schloß Westerhof vom Untergang der westfälischen Herrschaft und von Napoleon's Sturz in Rußland sprach und die Schlacht bei Mosaisk erwähnte, träumte und grübelte sie, wie doch nur mit dieser Begebenheit das zuweilen in Kunstgesprächen und bei schönen römischen Brochen vorgekommene ahnungsvoll poetische Wort Mosaik zusammenhängen könnte. O, schon das achtjährige Kind ließ sich nicht nehmen, daß in dem auf dem Finkenhof, einem Wirthshause in der Nähe zuweilen gesungenen Liede: »Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht!« keine Lampe, mit der ja ohnehin kein Mensch springen würde, sondern ein springend erhitztes Lämmchen gemeint wäre. Zwölfjährig schon, wo sie noch nicht ahnte, daß sie selbst einst in Lindenwerth wohnen würde, auf das jene Ritter-Toggenburg's-Sage vom angestarrten Fenster der Geliebten in Wahrheit einst gegangen sein soll, sprach sie Schiller's, aus einem Schulbuch ihr bekannt gewordenes Gedicht: »Ritter, treue Schwesterliebe widmet euch dies Herz!« nie anders, als: »Rittertreue, Schwesterliebe –!« Drückte doch beides das ihr Schönste und Herrlichste im Leben aus: Ritterliche Treue und schwesterliche Liebe.

Drei Wochen darauf wurde dann endlich wirklich der Teppich geweiht. Das war ein festlicher, hoch katholischer Sonntag! ... Hier in viel rauherer Gegend, als in der Residenz des Kirchenfürsten, war es zwar schon vollständiger Winter und der Schnee lag fußhoch und darunter hatte kurz vor seinem Fallen etwas Frost alles Flach- und Hügelland mit seinen Walleinschnitten und Hecken gehärtet und gefestet ... Jetzt erst recht zeigte sich die Isolirung, die hier den Charakter des Zusammenwohnens bildet ... Der Bauer auf seinem Kamp, der Junker auf seinem Hof schließt sich ab, wie wenn dies Land, gleichfalls nach Benno's früherer Aeußerung, ein Meer wäre und seine Wohnungen Inseln oder Schiffe ... Ringsum hat jeder bei sich in nächster Nähe gleich, was er bedarf. Selbst im Bauernhause liegen sogleich mit der Viehstall und der Backofen. Den Wald opferte man nicht ganz, sondern behielt eine gute Strecke davon als Grenzmarke der Aecker. Nirgendwo findet man hier die langen Ackerfeldfurchen, die in unübersehbarer Einförmigkeit nur von vollständigen Dörfern abgelöst werden. Hier ist das Dorf aufgelöst in Höfe, die auch jetzt im Schnee, der scheinbar alles nivellirt, an den rauchenden Schornsteinen sichtbar sind. Man glaubt eine unterm Schnee nach allen Orten hin sich öffnende unabsehbare Kraterwelt zu erblicken. Gegen Osten hin ragen einige alte Thürme auf, wie wenn sich eine Citadelle dort erhöbe. Das ist Schloß Westerhof. Gegen Süden zu zeigt ein ganz buckelig geschnörkelter, mit Schiefer belegter Thurm (was man heraussehen kann, da der Schnee nicht von allen Seiten an den Rundungen festhielt) das Stift Heiligenkreuz. Und inmitten dieser großen Rundsicht, welche Berge, Wälder, Seen, die Witobach, an der das thurmreiche Witoborn liegt, mehr ahnen, als deutlich unterscheiden läßt, liegt dann am Fuße einer kleinen Anhöhe die alte einst byzantinisch angelegte, jetzt höchst zopfig überbaute Kirche von grünlichem Sandstein Sanct-Libori. In nächster Nähe gehört dazu ein Stückchen Wald, der nur die Einfriedigung eines Kamps ist, dessen Inneres zwei stattliche moderne Häuser bilden, das des Pfarrers und das des Schullehrers von Westerhof ... Aber diese ganze Winterlandschaft ist heute belebt, wie im erwachenden Frühling! Sieben bis acht Schlitten stehen unten vor dem Kalvarienberg des Aufgangs, davor schellenklingelnde Rosse mit langen fliegenden Decken ... Die putzigen Türkenköpfe auf den Schnäbeln der Schlitten gafft die Jugend von drei Meilen in der Runde an. Dazwischen die Bauern und die »Kötter« und die Knechte in Pelzkappen; die Frauen trotz der Kälte in all den wunderlichen Hauben und fliegenden Aufsätzen, die der Tracht jener Gegend eigen sind; die alten Mütterchen mit großen weißen Krägen, die sie halb den so sehnlichst vom Adel erwarteten Barmherzigen Schwestern ähnlich machten; in der Hand der reichen Bäuerinnen ein goldgeschnittenes Gebetbuch, ein Rosenkranz am Gürtel, auf der Brust eine Ringelkette von vergoldeten Medaillen ...

Die Weihe ist endlich vorüber ... In den Schnee hineinblickend mußte die sich zerstreuende Gemeinde nur bunte Flecken sehen, wie wenn man in die Sonne geschaut, so prächtig war der Teppich gewesen, der vorm Hochaltar hoch an rothen Stangen mit Goldtroddeln geprangt hatte. Er leuchtete wie der Widerschein eines Fensters im Mailänder Dom. Violett und gelb und blau und rubinroth strahlten die bunten Gewebe und namentlich wurde der Pfau des heiligen Liborius von einem auch dazu gerade hervorblitzenden Sonnenlichtsschimmer prächtig erleuchtet. Norbert Müllenhoff predigte in seiner jungkatholischen Weise. Wieder knüpfte er an Caspar Melchior Balthasar an und sagte, die wilden Thiere des Teppichs da, die wären auch in dem Land heimisch, von wannen jene Morgenlandskönige gekommen. Dann schilderte er diese Morgenlandskönige gelegentlich im Gegensatz zu den Abendlandskönigen. Jene waren theilweise, sagte er, schwarz von außen, diese sind nicht selten schwarz von innen. Jene brachten dem Heiland köstliche Geschenke, diese beraubten nicht selten den Heiland noch und bestöhlen ihn und plünderten ihm das Stroh aus seiner dürftigen armen Krippe, der Kirche. Jene hätten sich auf einen einzigen Stern am Himmel verlassen, diese ertheilten Hunderte von Sternen auf die Brust ihrer Schmeichler und gingen dennoch in der Irre. Dann sagte der Redner: Auch der Pfau, der den heiligen Liborius geleitet hätte, wäre ein solcher himmlischer Stern gewesen! Man sollte doch nur Hinblicken auf sein geschwungenes Rad! Wie das in ihm von Licht und Farbe funkelte! Zwölf Augen säßen in dem Rand des Rades und hätten gewacht über den Weg, den der Heilige damals durch die Heiden hindurch hätte nehmen müssen, um gerade hieher nach Westerhof zu kommen, wohin ihn seine ganze Sehnsucht zog! Jetzt müßte freilich die Kirche, um wie dieser Heilige durch alles noch herrschende Heidenthum hindurchzukommen, viel kleinere und bescheidenere Vögel zu Führern wählen, leider – vor allem nur die schüchterne Taube. Glücklicherweise wäre diese aber denn auch nichts Kleineres, als eben der Heilige Geist selbst. Und so wollten auch sie, zaghaft und schüchtern, die gute Sache des ewigen Gottes und seiner Heiligen in dieser Welt der Gewalt vertreten, wollten flicken an den Schäden, so gut es ginge mit Menschenkraft, wollten die Kirche ausbauen, wo sie allzu schadhaft würde; denn die Kirche Gottes, sagte er mit einem jetzt etwas sonderbar blinzelnden Blick auf den Dorste'schen Kirchenstuhl auf dem Chore ihm gerade gegenüber, die ist nicht byzantinisch, nicht gothisch, nicht Renaissance, nicht Rococo gebaut, sondern einfach blos – felsenfest! Das hat Sanct-Paulus bereits den Korinthern anzuhören gegeben, fuhr er fort, die sich auf ihre Säulenknaufe und Säulenordnungen bekanntlich so viel eingebildet! Warum würde sonst Sanct-Paulus gerade in der zweiten Epistel an die Korinther Kapitel 5 über das wahre christliche Bauwesen seine Meinung abgegeben haben?

Aufrichtig gestanden, diese Bemerkungen des Pfarrers waren Anzüglichkeiten. Aber man war dergleichen an dem jungen, frischen, noch ganz studentisch aussehenden Mann von etwa dreißig Jahren in der Gegend schon gewohnt. In dem gräflichen Stuhl im Emporchor verstand man sehr wohl, was gemeint war mit dem Blick auf Terschka, auf Levinus von Hülleshoven, Armgart's Onkel, der die Dorste'schen Güter verwaltete ...

Und trotz des feierlichen Tages, war das erste Wort, das Norbert Müllenhoff nun in der Sakristei, mit beiden Armen sich zum Erwärmen auf die Schultern schlagend, sprach:

Nein hier eine wahre Hundskälte das!

Zähneklappernd trat er an einen in der Sakristei stehenden eisernen Ofen, der auf drei Schritte allerdings eine Glühhitze verbreitete, aber nicht den übrigen Raum erwärmte. Das Rohr entließ den Dampf durch eines der großen Rundfenster ...

Ich sagt' es ja gleich, Herr Pfarrer! Die neue Thür, die Sie durchaus durchgebrochen haben wollten – begann der alte Meßner Tübbicke, Vater des maître- tailleur ...

Schweigen Sie! sagte der Geistliche und entkleidete sich ...

Der Meßner war ein alter hagerer Mann mit einer rothen Flachsperrüke. In seinem langen rothen Rock sah er selbst wie einer der auf den Dörfern wandelnden heiligen drei Könige aus, die mit ihrem: Wir sind die Könige aus Morgenland, ho, je! an den Thüren bettelten. Auch eine Art Scepter hatte er in der Hand, die lange Lichtputze, mit der er in der sich nun entleerenden Kirche die Altarkerzen auslöschen wollte ...

Wirklich, Herr Pfarrer, diese neue Thür, die sonst nicht da war – begann Tübbicke aufs neue ...

Wollen Sie wol schweigen! wiederholte Müllenhoff aufstampfend und zog sich seine Meßkleider aus. Ein für allemal, Tübbicke, rief er dem Alten nach, wenn ich vom Allerheiligsten komme oder von der Kanzel herab, so sollen Sie mich nicht eher anreden, bis ich Sie gefragt habe!

Gut, gut, gut! antwortete der Alte brummend und kopfschüttelnd über seinen neuen Vorgesetzten ... der für sich weniger maliciös, als sozusagen eher burschikos fortbrummte:

Diese Sucht von den Meßnern, überall mit uns umzugehen, als wenn der ganze Gottesdienst ein bloßer Spaß gewesen wäre! Schon wie die Barbiere kommen sie des Morgens zu Gott und kramen in der Sakristei ihre Neuigkeiten aus!

Nun pfiff sich sogar Müllenhoff eine leichte Weise und genoß im Stillen seinen Triumph, in die Predigt hinein eine Rüge des gräflichen Bauwesens eingeflochten zu haben ...

Tübbicke kam zurück ...

Tübbicke! sagte der Pfarrer, etwas versöhnlicher gestimmt. Daß wir uns so wenig verstehen!

Sechsundsiebzig! war die Antwort ...

Ja, Tübbicke, Sie sollten sich einen Beistand halten! Wenn Ihr Sohn nicht in Witoborn maître-tailleur wäre – Schande, Schande auch über diese neubackene Aefferei!

Ei, mein Sohn war in Paris, Herr Pfarrer!

Deshalb will er kein deutscher Ziegenbock mehr sein? Es ist ja wahr! Er trägt einen Bart, der Kerl, so lang wie ein Kameel!

Herr Pfarrer, junge Leute –

Vierzig Jahre alt ist der communistische Mucker! Tübbicke, Tübbicke! Ich höre, daß Ihr maître-tailleur auf dem Finkenhof verkehrt! Ich sage Ihnen, rathen Sie ihm Gutes! Der Finkenhof und alles, was wir hierorts von Sodom und Gomorrha noch im Nest haben, hat an mir einen schlimmen Aufpasser! Warten Sie ab! Sitzt auch noch der Kirchenfürst in Ketten und Banden, der Sieg ist unser! Wir haben unsere Kraft fühlen gelernt! Nun muß es von Grund aus in Deutschland anders werden. Jetzt zumal, wo hier auch bald eine luthersche Herrschaft commandiren soll ...

Na, ich denke doch, sagte Tübbicke, der Herr Archipresbyter wird an uns beiden seine Freude haben, Herr Pfarrer!

Bald darauf hielt denn auch wirklich der Archipresbyter Bonaventura von Asselyn das Hochamt zu Sanct-Libori und Müllenhoff administrirte dabei nur und mußte sich dem Domherrn unterordnen. Es war ein Fest für die ganze Gegend, wieder die Kirche überfüllt, der Eindruck einer nie so würdig celebrirten Messe, wie vorauszusehen, der heiligste. Auch Bonaventura's spätere Rede zündete. Man hatte hier nie so schön vom Thema der Zeichen und Wunder sprechen hören. Wenn das Wesen der Zeichen und Wunder, hatte der Priester im weißgoldenen Gewande gesagt, schwer zu deuten wäre, so wisse man doch Eines ganz bestimmt, was zu ihnen gehöre: Liebe. »Die Menschen müßten sich gegenseitig erst etwas werth sein, wenn sie sich zu Propheten und Aerzten werden könnten.« Der Redner vermied die ihm gegenübersitzende Paula zu bezeichnen, aber man gedachte nur ihrer. Er übertrug das Uebersinnliche in diejenige Seite der Natur, die uns offen und enthüllt vorliege und zugleich ihre heiligste und höchste wäre, in die Seele, in das Gefühl ... Der Text des Sonntagsevangeliums Quinquagesimä: »Jesus weissagt sein Leiden« gab die Veranlassung zu diesem Thema, das Bonaventura sonst wol vermieden hätte. Er mußte darüber predigen. Er sagte, wir wüßten alle selbst unser künftiges Schicksal, wenn wir uns nur mehr gewöhnten in Gott zu leben, d.h. auf die innere Stimme in uns selbst zu hören.

Auch nach diesem ersten Gottesdienste und während Bonaventura (wie sich wol denken läßt) tief schweigsam und von seinen neuen Eindrücken erschüttert in der Sakristei sich entkleidete und ringsum die Bevölkerung aufgeregt, urtheilend, vergleichend, erwartungsvoll sich zerstreute, polterte Müllenhoff, der gewissermaßen nur Bonaventura's Vicar war, wieder über die baulichen Grillen des Barons Levinus ...

Für sein chemisches Laboratorium weiß er nicht genug Geld auszugeben! sagte er. Ja, Herr von Asselyn, melden Sie ihm das! Diese Thür hier muß neu gebaut werden! Es ist wahr, ich habe sie verlangt, aber sehen Sie nur, wie der Schnee hereinfegt! Eine Doppelthür muß es sein! Und überhaupt, was hoff' ich nicht alles von Ihnen!

Bonaventura verstand kaum etwas von Tübbicke's dienstgefälliger Erläuterung ... Früher war die Sakristei ohne eigenen Eingang gewesen. Der Pfarrer mußte durch die Kirche gehen. Müllenhoff hatte erst eine Thür durchbrechen lassen. Nun lag sie ihm doch dem Wind und dem Wetter zu offen ausgesetzt ...

Als noch der Eingang durchs Schiff war, hat hier ein Cardinal celebrirt –! äußerte Tübbicke ...

Schweigen Sie! bedeutete Norbert und reichte dem Domherrn eine Prise ...

Tübbicke ging auch heute wieder in die Kirche, um die Lichter zu löschen ...

Müllenhoff sprach hinter ihm her:

Nicht wahr, der Meinung sind Sie doch auch, Domherr? Malt muß das Reinigen der Kirche mit dem Nächsten anfangen, was nur unser Kehrbesen trifft! Dieser Tübbicke ist wie die Meßner sämmtlich sind! Ich sagte ihm schon neulich: Tübbicke, sitzt das Wachs noch nächsten Freitag an den Leuchtern auf der Epistelseite, so nehm' ich mit eigner Hand vor dem Introito ein Tuch und putze die heiligen Gefäße selbst vor der ganzen Gemeinde rein!

Bonaventura, in tiefen Gedanken, lächelte und sprach:

Dann können Sie ja mit dem Apostel sagen: Es sind Gefäße des Zorns!

Bonaventura sah am alten Tübbicke, er hatte die gewöhnliche Krankheit der Kirchendiener (wie auch Lucindens Vater als Schulmeister), sich mit dem lieben Gott auf einem ganz besonders kameradschaftlichen Fuße zu wissen. Auch Tübbicke war wie ein alter guter Kammerdiener der Heiligen. Die Livree der Mutter Gottes trug er, wie wenn er die hohe Frau einst als Kind auf seinen Knieen geschaukelt hätte. Christus war ihm fast wie der »junge Herr« in seiner Himmelsfamilie und die wechselnden Geistlichen waren ihm nur neuangeworbene Hofmeister, die manches gar nicht in der Weise verstanden, wie die Tradition des hochgräflich himmlischen Hofstaats es mit sich brachte. Das war nun gerade der Anstoß, den Müllenhoff nahm. Ich glaube, Sie dünken sich wol einen Liturgiker, hatte er dem Alten gleich nach seiner ersten Messe gesagt, als dieser ihm bemerken wollte, daß seit neun Jahrhunderten in der Liborikirche die Communicanten erst dann knieeten, wenn sie an die Communicantenbank kämen, vorher dürften sie stehen. Nach Müllenhoff mußten sie gleich knieen und zwar utroque genu! wie er donnerte. Und von dem Tage an, wo Tübbicke sich bei wiederholter Anfechtung seiner alten Art, die Gläubigen zu ordnen und zu scharen und bei erneuetem Rufe: Utroque genu! die Bemerkung erlaubt hatte: Na, Herr Pfarrer, Sie werden sehen, daß die Bauern sich beklagen, weil die Jungens auf die Art zu viel Hosen zerreißen! da war offene Fehde zwischen beiden. Tübbicke vertheidigte das alte Herkommen und die Schwäche aller Creatur, Müllenhoff aber das Gesetz, den hochheiligsten Buchstaben und die neukatholische Reform.

Bonaventura mußte zuletzt sogar des erneuerten Streites lachen. Als wenn Tübbicke alle gegen ihn in seiner Abwesenheit erhobenen Anklagen gehört hätte, brachte er den Leuchter, den er gereinigt hatte, zeigte ihn stumm seinem Vorgesetzten, drehte ihn vor den Augen desselben rundum und schloß ihn ebenso schweigsam in einen Schrank.

Müllenhoff hatte darauf seinen langen wattirten Winterrock angezogen und den Hut aufgesetzt ... Einen Stock, den er sonst trug, hatte er sich vor seinem Dechanten geloben müssen abzulegen, weil schon vorgekommen war, daß er bei Vorwürfen, die er zufällig ihm im Felde Begegnenden machte, ihn zur Unterstützung benutzte. Bonaventura hüllte sich in einen Pelz. Auf ihn wartete ein Schlitten, der ihn nach Schloß Westerhof bringen sollte, wo er täglich zu Mittag speiste.

Als Tübbicke die neue Thür aufschloß und den Schnee wegstieß, bat Müllenhoff seinen Vorgesetzten:

Herr von Asselyn! Noch eins! Erinnern Sie doch den Herrn Baron von Hülleshoven, daß ich auch meinen eigenen Eingang haben muß in die Hofkapelle auf dem Schloß!

Herr Domherr, ein Eingang ist in die Hofkapelle, erläuterte Tübbicke; aber er führt durch andere, verschlossene und höchst wichtige Zimmer –

Ein durchbohrend strafender Blick Müllenhoff's verwies ihn zum Schweigen ...

Ich will die Schlüssel zu diesen Zimmern haben! sagte er zu Bonaventura mit scharfer Bestimmtheit.

Herr Pfarrer, dieser Eingang führt erst durch die Bibliothek und durch das Archiv! Der Baron hat ja nichts davon hören wollen ...

Müllenhoff beherrschte sich ...

Ich will, sprach er wie mit einem Märtyrerblick auf Tübbicke und jedes Wort betonend, ich will auch in die Sakristei der Schloßkirche meinen eigenen Eingang haben! Wenn dieser durch das Archiv führt, so gebührt mir um so mehr ein Schlüssel zu demselben, als die Urkunden und Kirchenbücher der Pastorei gleichfalls in demselben aufbewahrt werden!

Der Patron ist, soviel ich weiß, dafür verantwortlich! sagte Bonaventura.

Seit neun Jahrhunderten! setzte Tübbicke hinzu ...

Schweigen Sie! brach Müllenhoff jetzt aus – mit kindlich gemäßigter Stimme aber, als fürchtete er, zum blutdürstigen Tiger zu werden, fuhr er zu Bonaventura gewandt fort:

Ich bitte, Herr von Asselyn! Es ist mir nicht angenehm, in meiner bürgerlichen Tracht erst durch die Kirche zu gehen und dann hinterm Altar erst Toilette zu machen. Ich will, daß die Gemeinde, auch selbst die vornehmste, mich gleich nur in meinen Priestergewändern sieht. Der Schlüssel zum Archiv soll von mir wie ein Heiligthum verwahrt werden.

Bonaventura setzte sich mit dem Versprechen in den Schlitten, die Sache nach Wunsch zu ordnen, wenn es irgend thunlich wäre ... Noch standen Menschen draußen, die den so lange Erwarteten noch einmal sehen wollten ... Mit einem Blick des Neides sah ihm Müllenhoff nach, als er von dannen fuhr, und verwies die Umstehenden, sich nun nicht länger aufzuhalten.

Norbert Müllenhoff war ein noch zelotischerer Geistlicher als Beda Hunnius. Dieser hatte in seinem reformatorischen Wirken doch nur die Lehre und den Kampf mit der Protestantischen Welt vor Augen, jener gehörte schon ganz den jungen Geistlichen der Michahelles'schen Richtung an, die in Allem eine Wiederherstellung des alten kirchlichen Lebens wagten und die Axt nicht blos an die Zweige, sondern an die Wurzel selbst legen wollten. Norbert Müllenhoff war ein Priester im Geist des Kirchenfürsten. Ein Bauernsohn, zeigte er die ganze Kraft, Energie und Selbstgenüge, wie sie hier zu Lande den Nachkommen der alten Sachsen eigen ist. Sein Aeußeres drückte einen ursprünglichen Beruf zur Thätigkeit, zum Krieger, Geschäftsmann, Arbeiter auf einem Felde des muthigen Bewährens aus; aber trotz seiner gewölbten Brust, seiner Stimme wie ein Löwe, war er zum Geistlichen bestimmt worden, wie bei diesen Bauern Sitte ist, die selbst bei Vermögen nicht unterlassen können, eines ihrer Kinder der Kirche zu weihen. Zwar machte Norbert den ganzen Weg, der in diesem Falle Herkommen ist, durch Stipendien, Freitische, Freibücher, Freiwohnungen hindurch, nahm dies aber alles wie etwas, was sich von selbst verstand. Die Priesterweihe gibt einer solchen Natur ein Bewußtsein, als wäre sie gefeit gegen alle Anfechtung der Welt. Aus diesem levitischen Stolz heraus fing die Zeit überall an ihre Kirchenreformen zu befördern. Aus den jesuitisch geleiteten Seminaren kommen die jüngern Geistlichen wie endlich losgelassene junge Streitstiere. Sie bohren die Erde auf mit ihren Hörnern, rennen im Kreise rundum und scheuen den Kampf mit Königen und Kaisern nicht. Leider gehören zu denen, vor denen sie keine Furcht haben, auch die Könige und Kaiser des Denkens und der Wissenschaft. Norbert Müllenhoff war als Vicar in einem Walddorf des Gebirges, dann als Vicar in Witoborn, jetzt hier als Pfarrer zu Sanct-Libori, wie Beda Hunnius, nicht nur im Stande, von einer »hundsföttischen Art« zu sprechen, den lieben Herr Gott beim Benetzen der Brust mit Weihwasser um das Symbol des eigenen demüthigen Kreuztragens zu »betrügen«, indem man nur zwei »zimpferliche, schandbare Pünktchen« machte, statt sich das ewige »Stigma des Heils« und »die Signatur der Erlösung« mit zwei »gründlichen Querbalken« auf die Brust zu drücken ... er verwarf Poesie und alle Zauber der Bildung. Er verwünschte »die Niedertracht der Sentimentalität«, sprach von einem nur um unserer gnadenreichen Gottesmutter willen zu duldenden »Weibsvolk«, donnerte gegen den »vornehmen Kirchenpöbel«, der während der Messe nicht knieen wollte oder, wenn er knieete, nur so eine leise Andeutung machte, als wäre »Gott eine Excellenz oder eine Durchlaucht«, vor der eine höfliche Verneigung genüge. »O diese kniesteifen Heiden!« rief er dann wol, wieder zu den Bauern zurücklenkend, aus; »man sollte sie nur sehen, wenn sie Kegel schieben und dabei die Beine wie mit Oel geschmiert ausgrätschen können – daß dich! – als hätten sie's von den Possenreißern gelernt auf dem Liborimarkt zu Witoborn!« Sanft und lieblich und wie mit Lerchentrillern aufsteigend schilderte er dann wieder ein wahrhaft frommes Leben, das alle Ceremonien wie ein gutgeartetes Kind mitmachte; aber gleich schlug er wieder mit Hämmern drein, wenn es »klapperdürren Vorurtheilen« galt oder »fadenscheinigem Tagesruhm«. Wie der heilige Augustinus sagte er: »Die Menschen lieb' ich, aber ihre Irrthümer schlag' ich todt!« – eine Procedur, gegen welche selbst Onkel Levinus im Abendgespräch auf Schloß Westerhof geltend machte, daß der Herr Pfarrer auf die Art denn doch wol auch manchmal in die Lage jenes Bären kommen könnte, der auf der Stirn seines schlummernden Herrn die störende Fliege mit einem schweren Steine und somit ihn selbst erschlug.

Müssen Sie sich denn ewig in alles mischen? fuhr jetzt Müllenhoff heraus zu dem im Schnee hinter ihm hertrottenden Alten, der mit ihm in einem und demselben Hause wohnte ...

Es würde, da Tübbicke zu erwidern liebte, unfehlbar zu lebhafterer Discussion gekommen sein, wenn nicht eben aus den kahlen, schneegepuderten Gebüschen jemand herausgetreten wäre, der, halb dem davonfliegenden Schlitten nachschielend, halb die Ankommenden und auf das Pfarrhaus Zugehenden höflich begrüßend, mit scheuer Unterwürfigkeit einen Brief in die Höhe gehalten hätte, den sofort der Pfarrer ergriff ...

Der Fremde sprach mit etwas fremdartigem Accent:

Erlaubnis, Herr –!

Er deutete auf den Alten, dem der Brief bestimmt war ...

Müllenhoff las die Aufschrift und gab den Brief an Tübbicke ...

Er musterte schon den Fremden von oben bis unten ...

Von Ihrem Herrn Sohn – in Witoborn – wenn ich die Ehre habe – Herrn Tübbicke –? sprach dieser mit einer eigenthümlichen Betonung ...

Müllenhoff ging weiter und murmelte:

Aha! Vom maître-tailleur –!

Auch die andern schritten, sich ihm anschließend, dein Pfarrhause zu und der Meßner suchte mit den Worten: Von meinem Sohn? Was ist denn nur? Was soll es denn? eifrigst nach seiner Brille ...

Ich werde lesen! wandte sich Müllenhoff und erbot sich, den Inhalt mitzutheilen, da Tübbicke nicht sofort die Brille finden konnte ...

Bitte, Herr Pfarrer – sagte dieser zögernd ...

Einige Raben krächzten, flogen auf und schüttelten den Schnee von den Zweigen, auf denen sie gesessen hatten, und gerade auf den Brief ...

»Liber Vater!« las schon Müllenhoff und unterbrach sich sofort: Schreibt der Kerl »Lieber« ohne E! – »Lieber Vater! Dieser überbringer« – »Ueberbringer« klein! – »ist ein guter Freund zu mir!« – »Zu mir«! Das ist wol ein Ueberbleibsel aus Paris? – »Es ist ein gelernter Friseur« – Sieh! Sieh! Das Wort schreibt er richtig! – »und sucht ein Enkagement« – Heidengugguck! Der Franzos! – »wo möglich bei großen herrschaften als Bedienter« – Klein die »Herrschaften«, obgleich er sie »groß« nennt; Bedienter groß! Reiner Communismus! – »Lieber vater« – Sanct-Libori! Was ist hier das Schulwesen vernachlässigt! – »Könnten Sie es machen, so recom – man –« – Brich dir den Hals nicht! – »tiren Sie ihn auf das Schloß« – als La – La – Lagay! ... Geyer! Als Lakai! ... »Tante Schmeling« – Aha! »Läßt grüßen und sorgen Sie doch bei Dem – Sie wissen schon von wegen!« – Das bin ich? – »Fanchon ist recht krank, wenn's nur nichts auf sich hat« – Wer ist Fanchon? Eine Hündin, die geworfen hat – von wegen der Schmeling –?

Jesus Maria! rief der Alte. Mein Enkelchen!

Ist Fanchon krank? – wandte er sich zu dem Ueberbringer ...

Dieser war theils mit gespanntester Aufmerksamkeit der Vorlesung des Briefes, theils den Zwischenreden des gestrengen Herrn Pfarrers gefolgt und fand sich nicht sogleich zurecht ...

Mein Herzblättchen?! Steht denn nichts weiter im Briefe, Herr Pfarrer? ... rief Tübbicke ...

Fanchon! Fanchon! Hat den Namen hier ein christlicher Pfarrer gegeben?

Franziska! Herr Pfarrer! Das Kind ist mein Augapfel!

Der Fremde, der einen wassergrünen Winterrock von langhaarigem Flaus trug, eine tief in die Augen gedrückte Pelzkappe, einen rothen Shawl um den Hals geschlungen, Pelzhandschuhe und Filzüberschuhe an den Füßen, gab die Auskunft, daß er eigentlich auf einer Reise nach Polen begriffen wäre, aber gern auch hier bleiben würde, wenn er Condition finden könnte – Herr Tübbicke wäre eine alte Bekanntschaft von ihm aus Paris – er hätte ihm seine Fürsprache empfohlen für die Herrschaft auf dem Schlosse – er könne »frisir«, spräche französisch, könne auch Pferde »dressir'« – Fanchon hätte sich erkältet, läge im Bette – aber Madame Schmeling hätte gesagt, daß es nichts auf sich hätte ...

Doctert die also auch, die holdwertheste! ließ Müllenhoff einfallen ...

Schon war er weiter voraus, während der alte Tübbicke seinem Schutzbefohlenen still die Schulter klopfte und das Seinige zu thun versprach, ihn auf dem Schlosse zu empfehlen ...

Frau Schmeling aber war eine Landhebamme, mit der Müllenhoff gleichfalls im offenen Kriege lebte. Die Frau war an sich die Religiosität selbst. Sie vertheilte Bilder, Amulette und Rosenkränze zur Unterstützung aller der Zustände, die auf ihre Hülfe angewiesen waren; sie rieth jedem, zur heiligen Barbara zu beten während eines Gewitters, zu Sanct-Florian und Sanct-Antonius gegen Feuer, zu Antonius II. gegen Wasser, zum heiligen Dionysius gegen Kopfschmerzen, zum heiligen Blasius gegen steifen Hals, zur heiligen Lucia gegen Augenleiden, zur heiligen Palonia gegen Zahnschmerzen, zum heiligen Dominicus gegen Fiebersfrost, zum heiligen Rochus gegen die Cholera, und ihre Kreißenden und ihre Gebärenden hatten als zwei ihr immer assistirende Hebärzte im Himmel den heiligen Ramon und den heiligen Lazarus, aller der Marienbilder nicht zu gedenken, die unter jenem alten Gemäuer, in dieser alten blitzzerschlagenen Eiche, da und dort eine traditionelle Kraft für die wichtigsten Vorkommnisse im Frauenleben hatten und durch ein »gestiftetes« Lichtchen gerade ebenso zu sympathetischen Curen gebraucht wurden, wie die in Schiller und Goethe lebende Bildung sich manchmal auch mit Sympathie die Rose vertreiben läßt. Alles, was nur zum christlichen Heidenthume gehörte, war in üppigster Blüte bei Frau Schmeling und todt zu schlagen hätte sie angerathen jeden Ketzer, der bei einer Procession vor dem hochwürdigsten Gute nicht wenigstens den Hut abgenommen. Aber über alle diese Dämmerungszustände fehlte der Frau, wie der ganzen Bevölkerung, das theoretische, klare, formelle Bewußtsein. Sie meinte, trotz aller Aves und Rosenkränze ließe sich die Lust am Leben lieben. Die jungen Bursche hier ringsum, stattlichen Aussehens, waren drei Jahre im Kriegsheere gewesen und brachten fröhliche Welt, Leben und Lebenlassen heim. Nun sollten auf Müllenhoff's und vieler hoher Herrschaften Betrieb ein Jünglingsbund und ein Jungfrauenbund gestiftet werden und sich alles verpflichten, nicht zu fluchen, nicht zu trinken, nicht zu tanzen und besonders den Finkenhof nicht mehr zu besuchen. Da war Frau Schmeling eine Gegnerin des eifernden Pfarrers geworden. Ohne den Finkenhof gibt es keine Geburten mehr! fuhr sie Müllenhoff an, als sie gelegentlich von einer Nothtaufe, die sie verrichtet hatte an einem sterbenden Kinde, Bericht erstattete und mit aufrichtiger Beredsamkeit auseinandersetzte, daß die Musikanten auch Menschen wären und auch etwas verdienen müßten. Ja sie ließ sich bei ihren sechzig Jahren nicht von dem jungen Pfarrer abkanzeln und mit »sittenlosem Weibsbild« tractiren. Sie sagte, daß es Familienväter genug gäbe, die ihren Söhnen lieber statt Taschengeld die Erlaubniß ertheilten, sich's im Kegelspiel selbst zu verdienen, genug Familienmütter, die mit sechs bis sieben stattlichen Töchtern gesegnet wären und den Tanzboden für die beste Gelegenheit halten müßten, sie loszuwerden ... Von dieser Frau konnte Müllenhoff nichts hören, ohne im höchsten Grade gereizt zu werden.

Er war noch nicht in sein Studirzimmer getreten, als der alte Tübbicke schon mit einer der Mägde, die für ihn und den Pfarrer sorgten, darüber einverstanden war, daß der Freund seines Sohnes vorläufig gleich zu Mittag bleiben sollte ...

Müllenhoff fand Briefschaften vor und ließ den Ankömmling außer Acht ...

Es war dies aber ein williger Mann, dieser Herr Dionysius Schneid aus Strasburg, der sich jeder Arbeit unterzog. Einen Beistand bedurften der alte Tübbicke und die Kathrein; der Domherr wohnte nicht auf dem Schloß, sondern hier in seinem geistlichen Hause von Sanct-Libori oben im ersten Stock; zu den jetzt doppelt nothwendigen Hülfsleistungen fehlten die Hände ... Aber war auch der Herr Dionysius Schneid schon etwas steif und schwerfällig, so war er doch keineswegs unbrauchbar, ob im Stall des Schlosses für die Pferde oder im Hausdienst zum Spalten des Holzes oder zur Hülfe in der Küche oder selbst zur Pflege einer herrschaftlichen Garderobe – ja er wurde zuletzt auf das Schloß empfohlen und dort wirklich angenommen.

Wenn auch für Westerhof große Veränderungen bevorstanden, an Leben und Bewegung fehlte es nicht, und besonders da gerade jetzt, an demselben Sonntage, nach der Heimfahrt von der Kirche, alle Herrschaften, die in der Kirche gewesen waren, von der wenn auch nicht überraschenden, doch gerade für Schloß Westerhof nicht bedeutungslosen Nachricht empfangen wurden, daß in verwichener Nacht der Onkel der Comtesse Paula, der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof, gestorben war.

2.

Am Mittwoch nach diesem Sonntag Quinquagesimä war es, als die stille kalte Winterluft auf Meilen in der Runde von leisen Klagetönen erzitterte ...

Der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof sollte gegen Mittag begraben werden ... Die Glocken aller Kirchen ringsum waren an diesem Trauertage betheiligt ...

Denn welchem Heiligen, welchem Altar war nicht eine Spende zugeflossen von Schloß Neuhof herab in den letzten Lebensjahren seines Besitzers?

Der alte lange klapperdürre Herr hatte die wunderderliche Grille gehabt zu glauben, daß er im Leben jedermann beleidigt hätte. Er trachtete danach, sich vor seinem Tode auch mit jedermann auszusöhnen. Tage lang stand er oben in den Bergen an den Fenstern seines hochherrlichen Schlosses Neuhof, winkte den Vorübergehenden und warf ihnen blanke Thaler hinunter, nur damit sie sagen sollten: Ganz gehorsamsten Dank, Excellenz! Schon lange waren Wächter bestellt, die seiner Verschwendung Einhalt thun mußten. Es kam vor, daß die Fenster vernagelt wurden, wenn er zu heftig rief: Das ist ja Jérôme's Testament! Leute, so laßt doch meinem Sohn seinen Willen! Ich hab's ihm vom Seinigen zu geben versprechen müssen, schon damals, als er die Bachstelze nicht heirathen konnte –! Die Lisabeth allein, die noch immer oben war, konnte ihn begütigen. Sie gab ihm die Versicherung, die Bachstelze liefe ja schon längst in der Welt mit andern ... Dann nahm er sich zusammen ... Er wurde zuweilen so ruhig, daß man ihm seine Freude gewähren konnte, eine Staatskutsche anspannen zu lassen, vier Pferde davor, Kutscher und Vorreiter in Galalivree, und so hinauszufahren in die Gegend. Alle seine Orden trug er dann, saß am offenen Schlage und nickte jedem. Fuhr man durch den Düsternbrook, an der Eiche vorüber, wo er den Deichgrafen erstochen hatte, nach Kloster Himmelpfort, wo er einst Klingsohrn untergebracht, nach Schloß Westerhof, wo er ehedem der Beherrscher aller Verhältnisse, Vormund Paula's gewesen war, durch Witoborn, wo der Rittmeister von Enkefuß an seinen Schlag trat und ihm so lange von den Flöhen seines Pudels sprach, bis der Sohn des Kronsyndikus, der Präsident, zuletzt seine ganze Verschuldung arrangirte: so lachte zwar jedermann, aber der vornehme, alte, weißhaarige Herr mit den riesigen Augenbrauen nahm alles für Wohlwollen, grüßte und griff in die Tasche, um auch die Freundlichkeiten zu bezahlen. Er glaubte durch Geld alles machen zu können. Seine Wächter nahmen ihm das Geld ab und erklärten, es später berichtigen zu wollen, womit er sich auch zufrieden gab. Von seiner Vergangenheit erschreckte ihn nichts. Er konnte im Düsternbrook die alte im Absterben begriffene Eiche sehen, an der sein Opfer niedergesunken war, und blieb sich in seiner immer zufriedenen Haltung gleich. Das Gedächtniß verließ ihn fast gänzlich. Wenn es da und dort in voller Helle noch dies und jenes Vergangene beleuchtete, knüpfte er Handlungen daran, die mit den Verhältnissen in keinem Zusammenhange standen. So erkannte er vollkommen wieder jenen Pfarrer von Eibendorf, Herrn Huber, der nach Witoborn als Pfarrer der dortigen kleinen, aber gut dotirten evangelischen Gemeinde versetzt war. Bei diesem ließ er oft seinen Vierspänner vorm Hause halten, ließ sich von den Kindern, wenn Herr Huber selbst nicht da war, die Harmonica spielen, die seinen Sohn Jérôme so oft beruhigt hatte, fragte sogar Madame Huber nach der Bachstelze und übergab kurz vor seinem Tode dem Pfarrer ein Testament mit dem heimlichen Bedeuten, es wäre seine wahre letzte Willensmeinung und nach seinem Tode dürfte nichts anderes vollzogen werden, als was er in diesen Blättern niedergeschrieben hätte. Er ertheilte darin Pensionen an alle Welt, ja an Namen, die schon lange in seiner Gegenwart niemand mehr nannte. So an den Bruder Hubertus, »meinen ehemaligen Jäger, obgleich er mir viel Wild gestohlen«, jährlich 10000 Thaler; an Dr. Klingsohr, »wenn er exemplarisch lebt und seiner Mutter Ehre macht, ein für allemal 100000 Thaler«; an eine gewisse Lucinde Schwarz, »aus der Familie derer, die das Pulver erfunden haben«, »alle Kleider von meinen ehemaligen Maitressen, wenn sie dieselben in der Komödie brauchen kann«; an den Musikus Stammer »das Gnadenbrot und eine ehrenvolle Versorgung, wenn er sämmtliche Kinder von mir anständig erziehen und unterrichten will«; ... dem Küfer Stephan Lengenich »geb' ich 100000 Thaler, unter der Bedingung, daß er die Lisabeth heirathet und die Hochzeit auf dem Finkenhof ausgerichtet wird, wo ich alles freihalten werde« ... »Ansprüche meiner zweiten Frau erkenn' ich nicht an; auch wenn sie heiliggesprochen werden sollte« – »ihre Kinder soll Leo Perl erziehen, aber wehe ihm, wenn er sie beschneiden läßt. Mein Freund, der Dechant von Asselyn bürgt mir dafür. Die Pension seiner Schwägerin, der Buschbeck, kann dafür verdoppelt werden« ... »Meine Dosen und Bilder vermach' ich meinem Freunde dem Dechanten Asselyn, aber ich wünsche, daß er weniger mit Juden, als mit Heiligen umgeht« ... »Seinem Bedienten Windhack hat er auf jeden Stern im Himmel in meinem Namen einen Thaler zu legen, was Freiherrlich Wittekind'sche Kameralverwaltung berichtigen wird.«

Pfarrer Huber schickte dies verworrene Geschreibsel an den Sohn des Testators und Universalerben, den Präsidenten ...

Die Untersuchung über die Ermordung des Deichgrafen war ein Jahr lang auf falscher Fährte geführt worden. Eine energische, gegen den Kronsyndikus gerichtete Wiederaufnahme hinderte die mannichfach vertheilte Gerichtsbarkeit des hier einschlagenden, an mehrere Souveränetäten vertheilten Terrains. Zuletzt trat der Geisteszustand des Schuldigen jeder Feststellung eines sichern Urtheils entgegen. Im Volke stand die Thäterschaft des Kronsyndikus fest und Sagen gingen genug von einem Galgenrade, das er auf seinem Boden hätte aufstellen müssen, von einem Strick, den ihm der König unter seinem Ordensbande um den Hals zu tragen befohlen, von Geisterspuk und mitternächtigem Grauen aller Art. Der ringswohnende Adel ignorirte etwas nicht Erwiesenes; aber auch ohnehin war der Umgang mit dem schon lange gekennzeichneten Manne seit Jahren abgebrochen. Bei alledem fehlte, des Präsidenten und der Verwandtschaft mit den Dorstes wegen, nicht ein äußerer Antheil an dem Leichenbegängnisse. Der Kronsyndikus wurde im Familienbegräbniß der reichen Klosterkirche Himmelpfort beigesetzt. Dem Trauerzuge, der ihn von Schloß Neuhof abholen sollte, wohnte der Adel der Umgegend bei. Die Frauen, vorzugsweise die Damen des Stiftes Heiligenkreuz und die weiblichen Bewohner des Schlosses Westerhof, hörten gleichzeitig eine Todtenmesse, die in Sanct-Libori gehalten wurde. Das unausgesprochene, aber laute Geheimniß über diesen wilden Nachbar lag seit Jahren schwer und drückend auf allen Gemüthern und wohl empfand man mit athemloser Beklemmung, wie ein einziger Mensch so einen ganzen Landstrich und tausend Herzen in Beunruhigung hatte versetzen können. Im Mittelalter war alles das gewöhnlich. Auch jetzt noch hatte man ein Gefühl, daß im Lutterberge, dem Fegfeuer des dortigen Adels, eine Seele vergebens auf Erlösung harrte. Nach Armgart's uns bekannten Zeichnungen flog hier ein geflügeltes Kreuz im Gottesherzen nicht aufwärts, den Flammen der göttlichen Liebe zu, sondern kopfüber geradeswegs zur Hölle.

Da ein ganzer Volksstrom zum Gebirge hinaus war, um dem prächtigen, von den Franciscanern begleiteten Leichenconduct beizuwohnen, so war die Kirche nur wenig besucht und ausschließlich von der vornehmen Welt. Zu dieser Sphäre stand Norbert Müllenhoff – Bonaventura war beim Leichenbegängniß – in einem gleichsam nur hinter dem Rücken derselben strengen und schroffen Verhältniß. Hinterrücks hatte er alle Floskeln von »breiweicher Sentimentalität«, »Empfindungsrührei«, »Stunden der Andachtspinselei«, »Lavendel-Christenthum«, immer in Bereitschaft, aber ein Schwindel überkam ihn, davon etwas in unmittelbarer Gegenwart der hier ohnehin höchst andächtig gestimmten Vornehmheit selbst an zuwenden. Und heute war ihm förmlich beklommen zu Muthe; denn er hatte eine Einladung nach Witoborn erhalten zu einer hochfrommen Frau von Sicking, die mit ihm eine Berathung anstellen wollte über die auf Ostern hin zum ersten male hier zu Lande zu versuchenden »Exercitien«. Ein ganzer Kreis vornehmer Gläubigen von nah und fern wollte zusammentreten und in einem von Frau von Sicking bewohnten, zwischen Witoborn und Westerhof gelegenen Landsitz zum ersten male vierzehn Tage lang bei verschlossener Eingangspforte desselben unter geistlicher Oberleitung religiösen Uebungen obliegen. Die Dame entschuldigte ihre Nichtanwesenheit in der Kirche und bat den Herrn Pfarrer bei ihr zu Mittag zu speisen und das Nähere gemeinschaftlich zu besprechen ...

Müllenhoff war von dem Wohlgeruch des feinen Billets ganz betäubt und verrichtete seinen Gottesdienst mit einer Zerstreuung, die ihm sogar die Anwesenheit des Schulmeisters als Meßners statt Tübbicke's gleichgültig machte, ja ruhig mit anhören ließ, daß der Schulmeister berichtete: Tübbicke's Herzblättchen liegt auf den Tod; er ist nach Witoborn und will, wenn nichts hilft, nach dem Schloß und die Gräfin um Hülfe bitten! ...

Gräfin Paula, die Kranke durch Gebet und Berührung heilte, war in der Kirche anwesend. Armgart saß neben ihr, das ganze Stift und Tante Benigna. Ja er hörte, daß der Zeichner des Teppichs, Herr Dr. Laurenz Püttmeyer, der berühmte »Philosoph von Eschede«, auch der Messe heute zuhörte, die auf dem von ihm gezeichneten Teppich gelesen wurde ... Einigemal verklingelten sich die Ministranten ... aber Müllenhoff ließ alles geschehen ... Er dachte nur an die Einladung der Frau von Sicking, an Exercitien mit Höhergebildeten ...

Nach der Messe war es schon elf Uhr, die Baronin erwartete ihn um zwei; er eilte etwas zu frühstücken und dann rasch noch etwas die bekannte Anleitung zu Exercitien von Ignaz Loyola durchzusehen ...

Es war schon still und einsam um die Kirche her. Der Schulmeister begleitete ihn und erzählte, daß Tübbicke schon den »Bruder Strasburger« auf dem Schlosse untergebracht hätte. Müllenhoff hörte nichts, zog nur das zarte Billet aus der Tasche und athmete seinen Duft ein ... Frau von Sicking war eine der gottseligsten Witwen der Gegend, noch höchst anmuthig, sehr reich und sehr selbständig ... Er mußte mit sich kämpfen, in der Praxis dasselbe zu bleiben, was er mit der vornehmen Welt in der Theorie war.

Da geschah es zum Glück, daß die Kathrein sagte:

Herr Pfarrer! Der Meyer ist da, der Moorbauer, der Finkenmüller, der Hennicke und auch der Leyendecker!

Kathrein mußte das zweimal berichten ...

Nun besann er sich.

Es waren die Mitglieder des Kirchenconvents und des Rügengerichts ... Die Männer waren gekommen, weil heute doch die ganze Gegend feierte ... Es galt dem nun überall in Deutschland beginnenden ersten Ausbau des kirchlich-sittlichen Lebens und wenn auch Müllenhoff gern gehabt hätte, sein Vorgesetzter, der Domherr, wäre bei dieser Scene zugegen gewesen, so ergriff er doch die Gelegenheit, den gefährlichen Schwindel, den ihm das Esbouquet der Frau von Sicking verursachte, jetzt männlich zu bekämpfen, aß sein Frühstück, gerührte Eier mit Schinken, hieb in das schwarze Brot hinein, trank einige Züge kräftigen Biers und trat in sein Empfangszimmer, wo ihn aus dem ehrerbietigen Gruße von fünf Männern »der verstockte Geist des ganzen Jahrhunderts« zum Kampfe herausforderte ...

Aha! Aha! rief er, mit der Serviette in der Hand und sich noch den Mund wischend, als er eintrat und die stehenden Männer aufforderte, sich zu setzen ...

Er fand fünf Männer, den Meyer von Westerhof, den Finkenmüller, der das Wirthshaus zum Finkenhof hielt, den Moorbauer und zwei andere aus der Gemeinde, nicht zu gewaltige Gestalten, eher schmächtige, mit tief herabhängendem Haar über den kleinen Stirnen, im Auge eine etwas ungewisse und scheue Lebhaftigkeit ...

Der Meyer überreichte ein langes Schreiben, worin er alle Punkte aufgesetzt hatte, die sie nach langem Streit endlich von ihrem Pfarrer beherzigt wünschten ...

Müllenhoff nahm das Papier, als wäre es ein alter schmutziger Lumpen, und fragte:

Wer hat das – – gesudelt?

Der Meyer stockte, sagte aber zuletzt:

Der Schreiber vom Herrn Landrath!

So? Also an ketzerisches Volk wendet man sich hier? ...

Damit schnitt er sich eine Feder zum Zahnstochern ...

Der Schreiber ist ja katholisch! ... hieß es.

Und er schrieb's bei mir ... ergänzte der Finkenmüller ...

Aha! Aha! Drum riecht das Papier so nach Taback und Branntewein! ... Nun gut! ... Wir werden's ja sehen ... Was steht denn nun hier?

Im Grund war Müllenhoff froh, wieder auf die Art in sein rechtes polemisches Fahrwasser zu kommen ...

Er las das Geschriebene und begleitete jeden Satz mit einem ironischen: Ei, ei! Sieh! Sieh! Auch gut! Bravo! ... Allmählich kam er in ein lauteres Lesen und trug vor:

– – »Und da wir Leute von Westerhof doch wenigstens bei unserer gnädigsten Gutsherrschaft verbleiben werden und keine Gefahr ist, bei der großen und bevorstehenden Umänderung der Verhältnisse mit den andern Gütern an die fremde Linie zu kommen, so stehen wir auch für unsere Rechte und Pflichten ein. Wenn auch hochgräfliche Gnaden sollten den Schleier nehmen und ihr gottseliges, wunderbares Leben im Kloster zu beschließen wünschen, so hat uns Herr von Hülleshoven doch versichert, daß er die Verwaltung wie bisher fortführen und sorgen würde, daß rechtgläubige Seelen hier an ihrem ewigen Heil keinen Schaden nehmen. (So? – unterbrach sich der Lesende – dafür kann der Herr von Hülleshoven sorgen?) Auch hat der Herr Referendar Benno von Asselyn alles geordnet, was bei diesen Aenderungen sowol der Landschaft wie der Kirche an Rechten vorbehalten bleiben muß, selbst bis auf das Waldleseholz in dem von Herrn Thiebold de Jonge verkauften Walde, wo Herr von Terschka sich bereit fanden zur Abkaufung mit einer namhaften Summe ein für allemal, die nun unsern Armenkassen zugute kommt. Herr von Asselyn hat im Namen des Herrn Oberprocurators Nück nicht nachgelassen, daß der Finkenhof nach wie vor 47 Thaler 20 Groschen 7 Pfennige jährlich an das Rochusspital in Witoborn zu entrichten hat, was Finkenmüller nicht auftreiben kann, wenn ihm der Tanz abgesagt wird –«

Aha! Da platzt die Bombe! schloß vorläufig der Pfarrer und stocherte die Zähne.

Ja, das kann ich nicht! polterte der Finkenmüller seine so lange verhaltene Stimmung rundweg und bestimmt heraus ...

Müllenhoff las wieder für sich und langsamer. Er stopfte sich dabei in aller Gemüthlichkeit eine Pfeife, während der Bogen auf dem Tische lag und von seinen feurig lebendigen Augen in weitester Distanz gelesen wurde ...

»Fünftens, begann er dann wieder, ist der ›Pfaffe von Ystrup‹ ein Lieblingstanz der Leute, der seit hundert Jahren hier zu Land getanzt wird. Sechstens sind die Jünglings- und Jungfrauenbündnisse schon deshalb eine reine Unmöglichkeit, weil jedes Gemeindeglied nicht blos einer, sondern schon mehreren Bruderschaften angehört und – mit der größten Ruhe zog Müllenhoff schon den Rauch seiner Pfeife an – der Fleiß und die Arbeit schon genug darunter leiden. Siebentens wollen die Musikanten auch leben und fallen sie, wenn sie nahrungslos sind, der Gemeinde zur Last. Achtens bitten wir, den buckeligen Stammer vom Kirchenbann zu befreien, damit – wieder that er einige Züge – der Krüppel sich sein Brot verdienen kann, seitdem er von Schloß Neuhof weggejagt und nun eigentlich hierher gehört, wo er geboren ist. Neuntens bitten wir, nicht immer die Frau Schmeling ungebührlich auf der Kanzel zu nennen (jetzt stellte Müllenhoff die Pfeife als verstopft hinweg: diese Hebamme reizte ihn am meisten), da die Frau ehrlich ist und alle, die hier leben, durch sie in die Welt gekommen sind! Zehntens ersuchen wir den Herrn Pfarrer, unter allen Umständen auch ins Rügengericht und den Kirchenconvent zu treten, damit wir von dieser ganzen neuen Reformation nicht den Aerger allein haben.«

Ist das nun alles? sagte Müllenhoff und holte sich aufs neue die Pfeife, die er wieder anzündete.

Ja! war die einstimmige Antwort der Männer ... Sie lautete fest, aber doch treuherzig. Und durcheinander gingen die Versicherungen der sich Erhebenden, daß sie alle in Güte und in bester Hoffnung auf ein schönes Zusammenwirken und kräftiges Zusammenleben hierher gekommen wären ...

Ruhe! sprach Müllenhoff mit aller Fassung, machte sich einen Fidibus, zündete wieder an und fuhr dann in den Intervallen des Rauchens fort:

Daß ich mich nur nicht vergriffen habe und da euere Staatsschrift nahm –? Nein! Gott sei Dank! Na, setzt euch jetzt wieder! Also das ist denn nun auch etwas, dergleichen zu erleben in einer Zeit, wo die Gesalbten des Herrn in Kerkern schmachten, der Heilige Vater in Rom auf die Treue seiner Kinder zählt und diese Herrschaften hier in die Hände der Ungläubigen kommen sollen!

Nicht Westerhof! – fiel man einstimmig auf den sich fast für überwunden gebenden Ton des Pfarrers ein ...

So! entgegnete Müllenhoff und zog den Brand seiner Pfeife an. Männer, ihr redet, wie ihr's versteht! Geht die Comtesse ins Kloster, wie lange macht denn der Herr von Hülleshoven noch, der – für euere Seelen gutsagen will? Wird ihn nicht der Aerger um seinen Bruder und die Schwägerin, die hierher ziehen und sich gegenseitig zum Tort leben wollen, schon unters Grab bringen? Wer bürgt uns, daß sich die Zustände hier über Nacht nicht sämmtlich ändern! Leute, Leute, nehmt ein Beispiel – an den Vornehmen selbst! Wißt ihr's denn nicht schon? Vierundzwanzig steinreiche Herren und Damen wollen sich jetzt einschließen und vierzehn Tage lang nichts thun, als hier fasten und beten!

Herr Pfarrer, die, die nicht zu arbeiten brauchen, die können das – wollte der Moorbauer einschalten und that es auch halb ...

Bitte –! unterbrach Müllenhoff, als wenn er denn doch allein jetzt das Wort hätte ...

Der Moorbauer schwieg und blickte scheu zu Boden ...

Vom Tanz – fuhr Müllenhoff fort mit wechselnden Zügen aus der Pfeife – vom Tanz kommt alles Elend der Gemeinden her! Herr Gott im Himmel, sollte man glauben, daß in einem Lande wie dem unserigen, wo die Schüler der Apostel selber gewandelt sind und wo wir bis auf den heutigen Tag den Ruhm behauptet haben, uns Gottes Augapfel nennen zu dürfen von wegen unsers Zusammenhaltens gegen Ketzer und Ketzergenossen, doch das tollste und lustigste Leben sich erhält und die Schenken nicht leer, die Tanzböden zerstampft werden, daß nur die Dielen so krachen! Hunde sind das, die der bessern Mahnung entgegenbellen – aus euern verstockten Herzen; selbst dann schon wieder bellen, wenn ihnen der Mund noch nicht trocken ist von dem gesegneten Leibe des Herrn, den sie Vormittags genossen! Nachmittags auf dem Tanzboden ist alles, alles, alles verdaut! Schändlicher Frevel, zu sagen, daß ja David auch getanzt hat vor der Bundeslade, wie ich schon einmal von Euch, Finkenmüller, habe hören müssen! David hat getanzt, das ist wahr; aber David war lange Zeit ein König, wie meist die unserigen auch sind, zum Gotterbarmen! David war ein solcher Sünder, daß Gott nur um der allweisen Absicht willen, gerade aus seinem Stamm das Heil der Welt zu erwecken, diesen gekrönten Räuber, diesen purpurgekleideten Mörder, diesen ruchlosen Ballettänzer so lange hat leben lassen! Es ist wahr, David ging dann in sich und hat später die lieblichen Psalmen gedichtet zum Lobe des Herrn, aber nur als die fürchterlichste Reue und Buße über ihn gekommen war und ihn das zerknirschendste Beichtbedürfniß an das Ohr gottgesalbter Priester trieb und er in jammervollster Trauer sich auf dem Beichtschemel wand und ausrief: Herr, wo soll ich mich vor dir verbergen? Flieh' ich gen Abend, so bist du da, und flieh' ich gen Morgen, so bist du auch da! ... Menschen! Männer von Westerhof! – (Müllenhoff legte nun die Pfeife weg) Was hat denn den heiligen Johannes um seinen Kopf gebracht, als der sündenvolle, gottverfluchte Tanz! Herodias, diese Tochter Belials, tanzte sie nicht so wollüstig vor dem Auge des kindesmörderischen Herodes, daß ihr dieser saubre Souverän jede Gnade gestattete, die sie sich erbitten würde? Und was that diese würdige Tochter ihrer Mutter, die die Maitresse des Herodes war und förmlich zur Nachfolgerin ihrer Mutter erzogen wurde? Diese Creatur verlangte nichts schlechteres, als ein heiliges Märtyrerhaupt! Gerade wie ein neues Kleid oder wie jetzt solches Gelichter von den neuen Herodessen Anstellungen für ihren Bruder oder ihren Buhlen im Steuerfach oder im diplomatischen verlangen würde! Du Gekreuzigter! Warum verlangten die beiden Weibsbilder gleich ein Märtyrerhaupt? Weil der gebenedeite Freund unsers heiligsten Erlösers in der Wüste predigte, daß die Juden Buße thun, nicht mehr fluchen, saufen, Karten spielen und tanzen sollten! Fragt doch nur einmal euere Töchter, fragt doch nur einmal euere Weiber, euere Mägde, wenn sie im Finkenhof gerast haben und mit den Burschen zur Seite gehen mit blutrothen Wangen, fragt sie, ob sie nicht mit Freuden auf einer Schüssel auch den Kopf ihres Pfarrers herumpräsentiren könnten, wenn sie auf sein Geheiß dem Pfaffen von Ystrup, euerm jahrhundertjährigen Allerheiligsten, entsagen sollten? Und wozu streichen denn die Teufel ihre Violinen? Wozu säet denn der Versucher die Töne wie Hanfsamen aus? Was will er denn fangen in seinem Tanzbodenstrich? Vögel für die Hölle! O dann kommen die Mädchen, etwa fünf Monate nach so einem »Pfaffen von Ystrup«, in den Beichtstuhl! Sonst schlank wie die Pfeifenstiele, jetzt wie die Baßgeigen, weil die Sünde zu Tage kommt! Dann, dann möchten sie nicht Euern Tanzboden, sondern Euere Mühlsteine haben, Finkenmüller, um sich in der Witobach zu ersäufen, da wo sie am tiefsten ist!

Der Finkenmüller wurde gereizt, zerdrückte seine Kappe und sagte, seines Amtes wär' es, die Rechte beisammen zu halten, die auf seinem Gute hafteten. Ihm könnte die Mühle genügen; aber da er beim Erwerb des Finkenhofs das Recht zu schenken und aufspielen zu lassen mit bezahlt, auch Steuer und Zehnten darauf genug zu geben hätte, so würde er erst auf seine Abfindung anzutragen haben, falls das durchginge, daß hier die jungen Leute jetzt in den Kirchen vor dem hochwürdigsten Gut förmlich beschwören sollten, nicht mehr zu tanzen ...

Müllenhoff loderte so auf, als würde schon das hochwürdigste Gut als bloßes Wort in solchem Munde verunreinigt. Er schwieg, sah sich aber um, wie nach einem Donnerkeil aus Rom. Da suchte der Meyer zu vermitteln ...

Wie denn auch den Leuten erst zu beweisen wäre, sagte der Meyer mit seiner Stimme, daß sie etwas Unehrbares trieben! Die hohen Herrschaften tanzen alle und geschieht's in Ehren, Herr Pfarrer, so kann dabei auch keine Sünde sein ...

Und der Moorbauer berief sich sogar auf den Widerspruch aller Mütter, selbst der ehrbarsten ... Die Väter, meinte er, wissen wol, der Tanz sei des Teufels Jahrmarkt; aber wie wollte man nur allen den jungen Weibsen die Lust daran nehmen? Sie brennten ja doch eben zu versessen darauf!

Es ist nun einmal so! rief der fünfte, der Bauer Leyendecker; die Leute schinden sich in der Woche sechs Tage und am siebenten wollen sie aus dem Joch heraus! Es hat alles seine Zeit, Herr Pfarrer! Das Beten hat seine Zeit und das Vergnügen hat seine Zeit! In diesem Land ist denn doch unserm lieben Herrgott und seinen Engeln immer nur wohl gebettet gewesen!

Seid ihr nun fertig? sagte Müllenhoff mit einer lange mit sich selbst ringenden Mäßigung und Geduld ...

Ja! riefen alle einstimmig und trotzig ...

Ich will euch sagen, Leute, lenkte Müllenhoff etwas ein; laßt uns in Güte reden! Die heiligen Kirchenväter, Chrysostomus an der Spitze, die kann ich hier nicht citiren! Es ist wahr, sie alle sind furchtbar gereizt gegen den Tanz. Es mag sein, weil manche von ihnen noch jenen schauderhaften Tänzen zu nahe gelebt haben, mit denen die Heiden ihre Götzen, die Venus, den Jupiter, die Minerva und ähnliche Affenschande verehrt haben. Aber glaubt ihr denn nicht, daß unter dem Unkraut in den Herzen der jetzigen Jugend, unter der Spreu auf der Tenne noch so viel edler Weizen liegt, daß man ein solches Frauenzimmer – oder – nehmt's mir nicht übel – euere eigenen Weiber und Töchter, in aller Güte nehmen und ihr sagen kann: Kind, ein Wort im Vertrauen! Sieh Griete, Anne Marie, so ein Bursch wie der Siebdrat oder der Heikerling oder wie die Schlingel heißen, die kürzlich ihre drei Jahre abgedient haben und immer noch mit dem rothen Streifen an ihren Mützen hier herumlaufen und selbst so in die Kirche kommen, in die Kirche, wo nur Eine Cocarde und Eine wahre Landesfarbe herrschen soll, das durchstochene Herz und das Blut unsers gnadenreichsten Erlösers Jesu Christi! – ich sage, wenn ihr sagen wolltet: Griete, Anne Marie, – Gott, Gott, diese heiligen Taufnamen! – wenn dir nun so ein Schlingel im Felde begegnete, in dem hochwallenden Gotteskorn oder im heiligen Walde – nein, den hauen uns die Lutheraner hier nächstens auch noch ab! – oder hinterm Gartenzaun und wollte dich nur so um die Hüfte fassen, wie er's auf dem Tanzboden thut – Mädchen, könntest du das denn leiden? Würdest du nicht über den Buben außer dir sein? Würdest du nicht über die Schlenker, die man machen muß beim »Pfaffen von Ystrup« Brust an Brust und Mund an Mund – in den Boden versinken vor Scham? Und würdest du diesen Schlingeln mit den rothen Streifen an den Mützen nicht hinter die Ohren schlagen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht? Nun sieh, würd' ich als Vater sagen, dergleichen duldest du nun alle Sonntage! Marie Anna, Magdalena, du, die niemand zweideutig ansehen darf, wenn sie im Felde schanzt und züchtig sich schon die Kleider hält, nur wenn der Wind geht, du mein holdseliges Kindlein, du putzest dich Sonntags, behängst dich mit Ketten und Schaustücken, setzest dich in den Finkenhof auf die Bank und lungerst mit gierigem Blick, ob dich denn nicht auch jemand nehmen mag oder ob du wol gar sitzen bleibest und das Blut, hui! das spritzt dir förmlich vor Ungeduld aus den Wangen, wenn immer mehr antreten und du noch vacant bist! Gott, bei deinen hochheiligen Wunden, würd' ich doch so ein geliebtes theures Kind, die Freude einer Mutter, das Nestküchlein eines Vaters, so ein Bild der Unschuld und holdlieblichen Sitte, beschwören, daß sie sich vergleichen möchte, wie sie daheim sitzen könnte am Spinnrad, eine züchtigliche Maid, sanft und lieblich und unschuldsvoll wie eine Taube ... Und, mit dem Bilde vergleicht dann diese Ländler und diese Schottischen! Wie die Röcke fliegen! Wie der Boden kracht! O Familienväter! Schildert ihnen doch das um des enthaupteten Johannes, um dieses ersten Pfarrers auch in einer Wüste, willen! Schildert den Eindruck, wenn nun später die Bursche anfangen von Bier und Taback und Branntewein zu glühen und die süße Unschuld des Herzens, der zarte jungfräuliche Leib euerer liebsüßen Mägdelein, deren Kindeslallen euch ach! so inniglich erquickte, in die Arme solcher Buben sinkt! Schildert ihnen, was diese beweinenswerthen Lümmel nun die Dreistigkeit haben in ihr keusches Ohr für Gift zu träufeln! Wie sie sich hinsetzen, euern Töchtern das klebrige Glas vollschenken lassen und Hand in Hand sie auffordern, mit ihnen erst durch Redensarten hindurchzuwaten, durch den Pfuhl der Erinnerungen und Erfahrungen, die sie aus ihren gottesvergessenen lutherischen Garnisonen mit heimgebracht haben, aus der Plage der allgemeinen Militärpflicht, die ihr schon so oft zu allen drei Teufeln, wo sie herstammt, hingewünscht habt! Unsere Bursche sind schön, herrlich gewachsen, wie ihr selber noch die strammsten Männer seid! O, so kommt es, sie standen fast alle bei der Garde! Nun kehren sie wieder aus der Residenz selbst, wo diese Unglücklichen leben müssen ohne die trauliche Verbindung mit unserer gnadenreichen Mutter, wo sie nur dürftig genießen die heilige Zehrung, die Herzenserleichterung am Ohr eines geweihten Priesters, ja wo eine jammervolle Veranstaltung unserer Neunmalweisen sogar möglich gemacht hat, daß diese armen Tröpfe, diese guten lieben Kerle, euere Söhne, euere Neffen, euere jüngern Brüder, wol gar in die Kirchen der Ketzer commandirt werden und ihr treues Herze, ihr manchmal doch noch reines, unverdorbenes Gemüthe die Weisheit solcher Geistlichen von einer Kanzel herab hören müssen, deren wir ja sogar jetzt einen in Witoborn haben – Gott im Himmel erbarme dich! einen »Priester« mit sieben lebendigen Kindern! ... O, ich beschwöre euch, Familienväter, thut das Eurige, euere Kinder und Kindeskinder, an die ihr mit Stolz denken könnt, nicht zu verkaufen an den, der ausgeht, sie zu verschlingen! Uebernehmt, obschon nicht geweiht, das Amt des Priesters! Sprecht am brennenden Kienspan in jeder Hütte von der Sünde, die ja schon darin liegt, nur etwas zu wagen, was möglicherweise Sünde werden könnte! Grabt es ihnen im Bilde vor, das Grab der Unschuld und Tugend! Sagt ihnen: Wandle, Mensch – Mensch, wandle dort, wo du wünschen möchtest einst dein Sterbebett hingestellt zu haben! Kannst du, o Jungfrau, o Jüngling, dir unter Gefahr einer Todsünde nur vorstellen, daß der Tanzboden dein Sterbebett wäre? Kannst du dir denken, daß an diese Stelle ein Priester hinkäme und dir das heilige Oel brächte? Kannst du dir denken, daß die Gliedmaßen deines Leibes dir dort gesalbt werden könnten zum letzten Pfade an die Pforten der Ewigkeit? ...

Längst schluchzte der Meyer ... Diesem kam die Wehmuth am ersten zu und sie war ihm natürlich. Sie war ihm das schon von der Anstrengung seiner Nerven und dem stärkern Druck derselben infolge seiner schwierigen Zwischenstellung zwischen Gemeinde und Pfarrer ...

Auch der Moorbauer wandte sich ab ... Auch die beiden andern äußerten Bedürfniß, sich ihre Nasen zu putzen und suchten nach ihren blauen Sacktüchern ... Nur der Finkenmüller blieb kalt und wagte ein:

Bitte, Herr Pfarrer –

Schweigen Sie! fuhr ihn Müllenhoff an, ganz aus der sanften Rolle fallend ...

Als der Finkenmüller dann schwieg, fiel er auch gegen ihn wieder in den sanftesten Ton zurück und fuhr fort:

Soll denn die Heiligung der Sitten nur möglich sein da drüben in den Berg- und Fabrikdistricten, wo die lutherischen Pastores nichts vom Christenthum kennen als die Bibel, und von ihren eigenen Weibern und Kindern so in Anspruch genommen werden, daß sie für euer Seelenheil keine Zeit mehr übrig haben? Sollen wir nicht zeigen, was gerade wir vermögen aus unserm Grunde, der da ist der Fels Christi? Sollen sie uns verspotten um unsern heiligen Liborius und sagen: Seht, soviel Kinder kommen außerhalb der Ehe bei uns und soviel bei denen! Schlagt mir den Tanzboden ein, sag' ich, oder ich prophezeie nichts Gutes für unsere Mutter Kirche! Finkenmüller! Geh in dich! Denke, daß die Gemeinde dir ein Opfer bringen wird! Sie wird dir den Ausfall deiner Einnahmen ersetzen! Sie wird den Jungfrauen- und Jünglingsbund nicht abhalten, dennoch bei dir einige Stunden des Sonntags der Erholung und der Freude zu widmen! Ich schlage vor, daß jedes Mitglied in eine Büchse einen Groschen wirft zur Abkaufung des Tanzes! Der heilige Augustinus, der auch erst ein lasterhafter Heide war, ehe er zur Erkenntniß kam, wird diese Spende segnen! Die heilige Afra wird sie segnen, sie, die einst Spiel und Tanz zu Augsburg in ihrem Hause zur Anlockung der Sünde hatte und durch den heiligen Paullinus bekehrt werden mußte, wird sie segnen! Es ist wahr, der heilige Franz von Sales hat unter gewissen Umständen den Tanz gestattet. Aber so innig ich ihn sonst verehre, den frommen Bischof, ich fürchte, er lebte in zu vornehmen Verhältnissen, um sich – (Müllenhoff stockte jetzt etwas) einen Zustand, wie den um Witoborn herum vergegenwärtigen zu können ... Er kannte diese Menschen nicht, die jetzt aus dem ihm auffallenderweise sehr werthen Paris kommen ... Er kannte Menschen nicht, die dort die Theilung der Güter proclamiren, diese Handwerksburschen, die keinen Hof sehen können, ohne zu sagen: Aber der Garten dazu ist mein! keine Kuh, ohne zu sagen: Aber das Kalb gehört mir! keine Henne, ohne zu sagen: Aber die Eier legt sie für mich! Haben wir nicht etwa auch schon solches Volk unter uns? Maîtres-tailleurs und ähnliche – Schneider?

Schneid hieß der neue Hausknecht, der in Schloß Westerhof eingetreten und dem Meyer noch nicht ordentlich gemeldet war ... Jean Tübbicke bürgte für ihn ...

Müllenhoff hielt eine Secunde inne. Da fand der Finkenmüller Zeit, einzuwerfen:

Ich bin aber gewiß, der Herr Archipresbyter –

Was sind Sie gewiß? unterbrach Müllenhoff. Ich, ich, auch ohne den Archipresbyter, ja ohne den Heiligen Vater in Rom, hätte die Macht, im Beichtstuhl zu strafen! Ich könnte denen, die in den Stand der Ehe zu treten gedenken, nur eine stille Messe lesen, wenn sie nicht das Versprechen zur heiligen Dreieinigkeit ablegen wollen, auf ihrer Hochzeit nicht tanzen zu lassen! Ich thu' das nicht. Ich will euch in Güte gewinnen. Hier ist das Büchlein über die Stiftung der Bündnisse. Da habt ihr zwanzig Exemplare zur Vertheilung. Zu nächsten Ostern ist alles in Ordnung. Am Charsamstag hält der Bund eine Procession und laßt nur die Buben stehen und lachen und die losen Weiber und die Hebammen an der Spitze, wir werden die Lästerer schon auf die Knie bringen, wenn in der Mitte der Jugend Ihr, Finkenmüller, selbst die Fahne tragt und ich gleichfalls hinterher gehe, die Hand mit dem hochwürdigsten Gute!

Vor diesem magischen Wort schwiegen nun wol die Männer ... Der junge Kämpfer siegte ... Alles blieb still ... Müllenhoff holte von einem Bücherbret zwanzig kleine Broschüren und zählte sie ihnen ab ...

Herr Pfarrer ... sagte der Meyer inzwischen. Sie sehen, wir werden das Unserige thun! Es wird einen schweren Kampf kosten! setzte er seufzend hinzu. Schon heute, wo infolge des Leichenbegängnisses alles auf den Beinen ist, schon heute sollt' es auf dem Finkenhof zwar ein bischen lebhaft werden –

Dem Lutterberg zu Ehren! meinte Müllenhoff im Zählen. Ja, was werden die Teufel heute im Lutterberg rumoren!

Aber tanzen lass' ich heute nicht! sagte der Finkenmüller. Aber in Zukunft –

Ja habt doch nur Muth, Leute! unterbrach Müllenhoff; habt doch Muth! Das Uebrige macht das Rügengericht und der Kirchenconvent –!

Ja, Kirchenconvent und Rügengericht –! riefen alle durcheinander ... Es war ein Thema, dessen Erörterung noch im Rückstand blieb ...

Nun? lautete Müllenhoff's erwartungsvolle Frage ...

Sie haben das Rügengericht eingeführt, Herr Pfarrer, sagte der Meyer, und ziehen sich nun selbst zurück? Schieben uns nur so vor? Jeden Ersten sollen wir zu Gericht sitzen und wenn die Weiber uns auslachen und die jungen Bursche uns den Buckel voll Schläge androhen und wir nicht wissen, wie wir unsere Autorität aufrecht erhalten sollen, wollen Sie im Feld spazieren gehen oder in Ihren Büchern studiren? Nein, mit Vergunst, Herr Pfarrer! Wenn das Rügengericht sich halten soll – und ich habe nichts dagegen, wenn wir sorgen, daß nicht jeder Plunder an den Landrath oder die Gerichte kommt – so müssen Sie den Vorsitz führen, Herr Pfarrer!

Und Sonntags Nachmittags müssen Sie die Kirche dazu hergeben! fielen alle ein ...

Erst wollte Müllenhoff ironisch ausweichen. Aber auf das Wort »Kirche hergeben« rief er, als sollte man es hundert Schritt weit hören:

Ich bin das ewige Gericht und sitze zur Rechten des Schöpfers Himmels und der Erden!

Nein, setzte er dann den auf den Tod Erschrockenen hinzu, gebt euch nur getrost diese Autorität selbst!

Die aber – das – das können wir nicht!

Wird kommen, wenn ihr selbst nicht mehr bis Elf im Finkenhof unter den Zöllnern sitzt!

Halten wir uns von den Leuten apart, Herr Pfarrer, so vermögen wir erst gar nichts! sagte Hennicke ...

Pro Deo! rief Müllenhoff mit feierlich lauter Stimme. Nicht Per Deum! So fängt jedes Concordat an und ich will euch das übersetzen ... Glaubt ihr, guten Leute, daß ihr dem allmächtigen Schöpfer nichts anderes schenken könnt, als was ihr von ihm ausdrücklich zum Geben empfangen habt? Wollt ihr ihm denn gar nichts geben von dem Eurigen, von euerer eigenen Tugend, von euerer eigenen Moral, euerer eigenen Gerechtigkeit? Könnt ihr nichts, nichts beisteuern zur Herstellung der Ordnung in der Welt? Ihr lieben Leute, diese Opfer bringt getrost aus euch selbst! Schenkt dem Gekreuzigten euere eigene Kraft, nicht immer die, die ihr erst seinen Stellvertretern auf Erden verdankt! Ein Seelsorger soll sich nicht in die weltliche Auffassung euerer Händel mischen. Nur vorarbeiten sollt ihr seinem Wirken, sollt ihm in die Hand arbeiten, sollt –

Wir sollen nur so vorm Schuß stehen, Sie hinter unserm Rücken! rief der Finkenmüller, der wieder Oberhand gewinnen wollte und der Groschenbüchse am verschlossenen und doch von ihm neulich frischgedielten Tanzsaal nicht recht traute ...

Wenn ich unsichtbar unter euch bin, antwortete Müllenhoff, schon siegestrunken, aber doch scheinbar gelassen und milde, so ist das für euch eine Schande, Männer? Ich werde, wenn wir auf unserm Wege fortgehen und wir die Bündnisse erst haben, nicht verfehlen, das Rügengericht im Beichtstuhl zu unterstützen. Ich werde auch die schwierige Aufgabe, die wir die Visitation nennen, nicht von mir weisen. Ich werde nicht zurückbleiben hinter meinem Amtsbruder in Borkenhagen, der zu den gottverlorenen, unglückseligen Menschen, dem im Kirchenbann lebenden alten Hedemann und seiner Frau, sich nicht die Mühe verdrießen läßt wöchentlich einmal zu gehen, anzupochen, an ihren Herd sich zu stellen und sie zu bitten, an den heiligsten Ort der Welt zurückzukehren und von dem Tisch des wahren Brotes und von der Ruhe in geweihter Erde sich nicht mit Gewalt auszuschließen. Ihr wißt, wie grillig diese alten im Kirchenbann lebenden Leute sind, und wißt, warum?

Ja wohl, Herr Pfarrer!

Die Schuld traf –

Den Pfarrer Langelütje – sagte der Finkenmüller ...

Den Landrath! betonte Müllenhoff mit berichtigender Schärfe. Sogleich fuhr er wieder sanfter fort:

Es soll mir ein Stolz sein, wenn solche Verstocktheit mir die Thüre weist! Ein Stolz, wenn ihr mir die Bücher aus der Hand reißt, die ich auf euerer Ofenbank finde und untersuche, ob sie zu lesen euch auch ziemlich ist! Diese Visitationen werden mir gelingen, denn die Kinder sollen mich dabei beschützen! Die Bilder der Heiligen werde ich euern Kleinen zeigen, denen die Thaten derselben erzählen und die Alten werden dann auch schon heranrücken und sich schämen nicht zuzuhören dem, was christlich ist, und ich werde der Freund auch eueres häuslichen Herdes werden. Das Rügengericht aber, das ist euere Sache!

Wenn Sie nur wenigstens, Herr Pfarrer, sagte der bedrängte Meyer, bei der Strafe, die der Kirchenconvent dictirt, mitstimmen wollten!

Auch das nicht, lieb' Väterchen! Ich bedanke mich, gutes Meyerchen! Ihr sollt selbst am Kreuz des Erlösers tragen helfen! Ei, wißt ihr denn nicht, was unser hochheiliges Rom mit seinen »Concordaten« sagen will? ... Nicht, weil ich nicht die Kraft hätte – ach, unser hochheiligster Jesus, der hatte die Kraft, die Erde aus ihren Angeln zu reißen – Daß er aber dennoch auf Golgatha das Marterholz mit rinnendem Schweiß und tropfendem Blut getragen hat und daß er lieber zusammenbrach wie euersgleichen, das war blos um zu sehen, wer hinzutreten würde – um ihm zu helfen! Gelegen heit wollte er blos andern geben, sich den Miteintritt ins Paradies zu erwerben. Und in dieser göttlichen Güte ahmen ihm jetzt seine geweihten Priester sowol beim Rügengericht wie beim Kirchenconvent und noch in vielen andern weltlichen Dingen nach. Ihr könnt alle Tage so heilig werden, wie Simon von Cyrene es wurde, der dem Heiland das Kreuz tragen half! Weist, ich bitte, die Gelegenheit dazu nicht ab! Kennt ihr den Fluch, der jenen Schuster traf, der das Ausruhen auf den Stationen des heiligen Kreuzwegs unterbrach und frech die beiden Kreuzträger anschnauzte, was sie hier vor seinem Laden halt machten und ihm die Kundschaft verjagten? Bis zur heutigen Stunde haben die Juden infolge dieses Schusters auch noch keine Ruhe gefunden; sie irren innerlich noch immer umher, wenn sie auch äußerlich in Witoborn allerlei Seelen und einige Landräthe im Sack haben. Jeder Jude, den ich sehe, und säng' er noch so schön, wie der, der neulich hier mit dem Herrn von Terschka die Güter vermaß und eine gottlose Arie nach der andern pfiff, kommt mir wie eine unbegrabene Leiche vor. Der Kirchenconvent, das seid ihr! Wer die Gemeinde als Spieler und Vagabund belästigt, nicht zum Abendmahl kommt, schlechte Bücher liest, den laßt getrost euere Entrüstung fühlen und wenn es zehnmal die meinige ist und es euere Schwäger oder Vettern sind, die es trifft! Ich kenne das. Auf meiner ersten Pfarre – ja, da saß ich im Kirchenconvent. Was geschah? Jede Strafe mußte ich dictirt haben! Der Meyer dort war Soldat gewesen und ein wahrer Profoß an Zorn und Strafwuth. Für jedes Zuspätkommen bei der Messe hätte er einen Louisd'or verlangen mögen, von denen zumal, wo er wußte, daß sie dergleichen Waare im Kasten haben. Begegnete er dann so einem um lumpige fünf Groschen Gestraften, so grüßte er ihn schon von weitem als Herzbruderkamerad und schüttelte ihm die Hand und sagte: Brüderlein fein, wie leid that mir's doch neulich wieder mit den fünf Groschen, aber – nun bohrte er einen Esel in die Luft und mit einer Kutte drüber und gleichsam als wenn – siehst du, der Pfaffe drüben, der hat's decretirt, hat nicht eher nachgelassen! Ja, der Kerl haßte seinen Schwager so, daß er ihn über den Weg hätte vergiften können, und nun sollte ichs immer gewesen sein? Nein, solche Niedertracht lass' ich bei uns nicht aufkommen ... Ihr richtet! Ihr straft! Und dann muß ich euch auch noch in aller Aufrichtigkeit sagen: Die Beweise der Würdigkeit, die ihr habt, in meiner Gesellschaft zu sitzen, müßt ihr mir erst noch geben. Ich schätze euch als Männer von Rang und Ansehen, aber der Taback, den ihr manchmal raucht, ist nicht meine Sorte. Ich meine das in aller Güte und anders als hier in der Pfeife (– er nahm diese jetzt wieder –) aber es ist mir bereits schon vorgekommen – ich will nichts von euch sagen – daß Jockel, wenn er einmal wegen Schwächung citirt wurde – den Vorsitzenden Pfarrer anzulachen die Frechheit hatte und sagte: Wir sind allzumal Sünder und brauchen einen und denselben Doctor! Nein, unsern Willen sollt ihr thun; das versteht sich; aber aus euerer eigenen Entschließung! So machen wir's von jetzt an auch allüberall! Auch im Großen, auch in Staatsangelegenheiten. Das nennt man Concordate. Ihr Leute! Pastoralklug ist gut. Leider aber, wie die Welt nun einmal ist, muß man auch manchmal ein Bissel pastoralpfiffig sein!

Damit lachte Müllenhoff sich selbst so vergnügt Beifall, daß auch die Bauern um ihn her lachen mußten und der Meyer meinte:

Na, wir kommen schon zusammen, Herr Pfarrer! Geben Sie ein bischen nach und wir auch ein bischen – alles mit Bedacht und ohne uns und Ihnen etwas zu vergeben! Neulich noch rieth uns Herr von Terschka selber dazu, daß wir uns ganz nach Ihnen richteten!

So? sagte Müllenhoff, sich im Lachen mäßigend ...

Ja, fuhr der Moorbauer fort, wir sollten für den Bund die Auszeichnung einer Medaille einführen, dann würden alle beitreten!

Da hatte er Recht! meinte Müllenhoff und setzte hinzu: Nun, der ist ja wenigstens noch von uns!

Und dann sagte er auch, sollten wir mit dem Domherrn sprechen! Der würde allem schon das rechte Schick geben ...

Nun ist's genug! sagte Müllenhoff kurzweg und that, als wollte er gehen. Das Lob des Domherrn mochte er nicht hören ...

Die Männer öffneten die Thür. Erst wollte der Moorbauer hinaus, der am nächsten stand ...

Wie er sich verbeugte, fiel er fast, sah dann hinter sich und entdeckte etwas, das auf der Flur draußen stand und beinahe von ihm umgeworfen wurde ...

Auch Hennicke stolperte schon ...

Was steht denn da? fragte Müllenhoff aus seinem innersten Vergnügtsein heraus ...

Die Männer traten in die Stube zurück und blickten auf einen Korb, der dicht an der Thürschwelle stand und verdeckt war ...

Was soll denn das da? sagte Müllenhoff und suchte nach seiner Bedienung.

Der Korb sah seltsam aus. Niemand hatte recht den Muth ihn wegzuheben. Er war oben offen und hatte ein kleines Schirmdach, das mit rothem Zeuge verhängt war ... Man hätte glauben mögen, es war ein Korb, wie man ihn auf Wiegen befestigt ...

Müllenhoff, blutroth schon, sah die verlegen lächelnden und zurückweichenden Männer an ...

Kathrein! rief er laut. Was steht denn hier im Wege?

Eine Magd, die das kanonische Alter hatte, eine jüngere, die nicht beim Pfarrer, sondern bei ihr diente, kamen herbei und verwunderten sich »des Todes« über den Korb ...

Alle hatten die Ahnung, daß sich jemand ins Hans geschlichen und an der Thürschwelle des Pfarrers – ein Kind ausgesetzt hätte ...

Zornentbrannt und doch voll tiefster Verlegenheit riß Müllenhoff die rothen Vorhänge des Korbes auf und richtig! in Betten versteckt, lag mit weißem Häubchen ein Kind, wie sich jedoch die Kathrein sofort überzeugte, kein lebendes, sondern ein allerliebstes, niedliches Wachspüppchen ...

Unter Gelächter zog sie es hervor ...

Die Männer wagten nicht in das Gelächter mit einzustimmen, sondern hielten die Hand vor den Mund und entfernten sich rasch, um erst draußen, wie man zu sagen pflegt, »loszupruhschen« ...

Das ist – das ist ja ein niederträchtiger Streich – ein Streich nur von der Schmeling! rief der Pfarrer. Meyer! schrie er diesem nach. Sie untersuchen das! Melden's gleich dem Landrath! Er soll euern Schreiber schicken! Auf der Stelle! Da seht ihr nun euere Zucht und Ordnung! Ich werde das Schandstückchen von euch auf die Kanzel bringen!

Der Meyer stand verlegen an der Hausthür ...

Es wurde gefragt und geforscht, ob man denn nichts erblickt, niemanden im Hause gesehen hätte ...

Den Jean Tübbicke, den buckeligen Stammer, den Perrükenmacher Schneid, alle Verdächtigen rief Müllenhoff der Reihe nach auf ... In Witoborn sollten alle Korbmacher, alle Puppenverkäufer, alle Händler mit Betten und rothem Kattun Haussuchung bekommen ... Dann wieder fiel ihm die Lächerlichkeit des ganzen Vorfalls auf. Schäumend warf er die Thür hinter sich zu und schrieb nun selbst an die Polizei in Witoborn. Hätte er nur den Tübbicke gehabt, um seinen Zorn ganz auslassen zu können!

Erst allmählich kehrte ihm die Ruhe zurück beim Blättern in den Exercitien Loyola's und beim Wiederlesen des Billets der Frau von Sicking ... Dann ordnete er seine Toilette, rüstete sich mit einigen »geistreichen Gedanken« für das Diner und ging, ganz ein Papst Hildebrand vom Dorfe, mit festem Schritt hinaus in den frischen Wintertag.

3.

Inzwischen lugte auch auf Augenblicke freundlich die Sonne hervor aus der unermeßlichen Wolkendecke, die ab und zu sich ihrer Schneeansammlungen aufs neue entledigte.

Da, wo die Sonne verborgen gestanden, bekam der Himmel das Ansehen, als wär' er ganz von geschliffenem Achat, von durchsichtigem, gelbröthlich geflammtem ...

Um die Kirche her standen die Bäume in ihrem weißen Krystallschmuck. Im Sommer konnte man sich hier, wenn rings die Ulmenäste wogten und ihre langen Schatten warfen, an einen alten Opferhain erinnert fühlen. Jetzt war es licht ringsum. Schon unter den gefrornen Eiszapfen, die wie die Orgelpfeifen über dem Portal des Ausgangs der Kirche hingen, sah man weit in die schneeverhüllte Ebene hinaus, wo die Wintersaat schlummerte, die Hasen dahinschossen, die Krähen einsam auf rauchenden Dächern stolzierten ...

In einer großen, etwas alterthümlichen, nicht aus Hoffart, sondern des Schnees wegen von vier Pferden gezogenen Kutsche saß Paula im Fond mit Tante Benigna, auf dem Rücksitz Armgart und der Doctor Laurenz Püttmeyer, der Philosoph von Eschede, langjähriger Verlobter der jetzt in Paris bei den Fulds weilenden Angelika Müller. Der plötzlich gekündigten Lehrerin von Lindenwerth hatte die kleine freundliche Bettina Bernhard Fuld diese Stellung als Reisebegleiterin und Gesellschafterin bei sich angeboten und Angelika sie angenommen ...

Ein so enger Raum! ...

Und wie mächtig dehnt sich doch die Lebensbeziehung einer jeden dieser vier Personen in die Welt aus, weit, weit über diese winterliche Fläche und das Echo der wieder beginnenden Glocken hinweg! So aber ist das Leben in seiner Wirklichkeit. Auf der Bühne, da treten Helden durch weit aufgerissene Flügelthüren ein und die Spannung steht, wie eine sich verbeugende Kette von Kammerherren und Lakaien, um einen Fürsten oder – Bettler, wenn gerade das Interesse auf einem Bettler ruht, auf die Scene treten zu lassen. Im Leben aber ist so ein gefeierter Philosoph wie Püttmeyer plötzlich da wie unsereins! Dieser große Mann, für den nun sogar am Ufer der Seine ein treuliebend Herz Propaganda macht und ihn jetzt sogar in einem Bankierhause Wechsel auf die Zukunft ziehen läßt, auf diesen unerschöpflichen Reservefonds aller unverstandenen Geister der Gegenwart, saß hier völlig unerkennbar, tief verloren in einen Mantel, Muff, Shawl und Fußsack –

Laurenz Püttmeyer war heute ein völlig von den Todten Erstandener ... Eschede ist ein kleines Städtchen und Püttmeyer bewohnte daselbst zwei Zimmer im Erdgeschoß seines eigenen älterlichen Hauses. Ins grüne Freie, einen Hausgarten, ging er nur, wenn ihm sein Hund und seine Katze die Nelkenbeete verwüsteten – die Nelke war ihm die liebste Blume; sie hat eine schöne Symmetrie und an ihrem Stengel erhebt sich die geschlossene Knospe in einer konischen Gestalt. Und hatte nicht auch sein eigenes ganzes Wesen das eines großen alten Katers? Armgart wenigstens meinte gleich heute in der Frühe, als ihn eine gräfliche Kutsche von Eschede brachte, es fehlten ihm nur an dem glattrasirten Kinn und der langen Oberlippe ein paar spitzabstehende Härchen – und Hinz wäre fertig. So berichtete sie auch schon neulich, als sie zum ersten mal des Doctors Bekanntschaft machte. In Lindenwerth wurde oft Püttmeyer's Porträt den Mädchen als Medaillon in Aquarell gezeigt. Da hatte er noch blonde Haare, eine scharfe, nicht gar zu spitze Nase, graue, entschlossene Augen, eine bläuliche Färbung des abrasirten Barts und eine ungeheure weiße Halsbinde, in der sich ein vornehm spitzes Kinn versteckte. Nun aber in Wirklichkeit spielte bei dem schon tief Vierzigjährigen alles grau in grau. Der Doctor war ein Sonderling geworden. Man erzählte von dem Sophahocker, daß er eine Wasserflasche, die dem Sonnenstrahl ausgesetzt war und die gegenüberliegenden Gegenstände als Brennspiegel entzündete, nicht etwa aus dem Sonnenstrahl heraustrug, sondern mit einem Makulaturbogen seines Werkes: »Christus und Pythagoras«, umhüllte, blos weil er zu träge war, um aufzustehen und einen Schritt weiter mit seinen schöngestickten Angelika-Pantoffeln zu schlorren und die Flasche in den Schatten zu setzen. Ins Freie ging Püttmeyer dann nur noch jeden Abend, wenn er das beste Hotel von Eschede »bei Schönian's« und jeden Sonntag die Kirche besuchte. Seine Verehrerinnen mußten ihn in seiner Wohnung aufsuchen. Und diesen Mann mobil zu machen, das war Armgart gelungen! Gleich nach ihrer Flucht aus Lindenwerth hatte sie ihn wie eine verschüttete pompejanische Ruine entdeckt. Sie hatte die unendliche Liebe und Dankbarkeit, die sie für ihre Lehrerin besaß, für die Arme, die ihretwegen so hart bestraft wurde, auf den Freund des Herzens derselben übertragen und mit jener dem jugendlichen Alter so schön stehenden Liebesübertreibung in ihm aller Welt den Propheten nachgewiesen, der in seinem Land verkannt würde, während die wissenschaftliche Welt von Alexander von Humboldt in Berlin an bis zum alten Windhack zu Kocher am Fall voll von seinem Ruhme wäre. Ruhm verbreitet sich, hatte Angelika oft genug gesagt, in concentrischen Kreisen. Wie auf dem Wasserspiegel die erregte Wellenlinie erst in der Nähe des hineinfallenden Steines klein, dann wachsend und wachsend und in ihrer wahren Größe erst in ihren äußersten Nachschwingungen sichtbar würde, so auch die Anerkennung des Genius, zu dessen wahrer Würdigung dann ja oft auch – die Steine gehörten. Niemanden haßte Armgart so, wie einen gewissen Philosophen Namens Joseph Schelling, der so unersättlich nach Ruhm wäre, daß er auch noch den Lehrstuhl Hegel's, den bis dahin ein unbedeutender Schüler bekommen, einnehmen und dadurch gleichsam beweisen wollte, daß er von Hegel nicht überwunden worden. Das war in Eschede ein Aufsehen, als eines Tages eine gräflich Dorste'sche Kutsche ins Thor fuhr und ein Livreebedienter nach dem Doctor Püttmeyer fragte! Und schon am Abend, wo Püttmeyer nicht »bei Schönian's« erschien (wo sich regelmäßig vier oder fünf Stammgäste einfanden), wußte es die ganze Stadt, daß Fräulein Armgart von Hülleshoven auf Stift Heiligenkreuz den Doctor aufgesucht, ihm eine Vision der Seherin von Westerhof erzählt und ihn veranlaßt hätte, diese zu zeichnen, auszutuschen und mathematisch in vierundzwanzig Theile zu zerlegen zum Muster eines Teppichs. Für den Doctor war dieser Auftrag gewesen, wie wenn man bei einem Drechsler in Witoborn ein Linienschiff für die englische Marine bestellt hätte. Er hatte seine katergrauen, etwas gelbgesprenkelten und schon ganz tageslichtscheu gewordenen Augen aufgezogen, wie wenn der Cultusminister bei ihm wäre vorgefahren gekommen in Begleitung des Oberpräsidenten und ihn zum Mitglied der Akademie gemacht hätte. Er konnte von Stund an nicht mehr regelmäßig denken, nicht schlafen; er verjüngte sich, als kämen seine alten Tage wieder, wo seine Ideen zum ersten male über das vaterländische Heidekraut flügge ins Land aufstiegen wie Märzlerchen und alle Drechselbänke der adeligen Höfe ringsum seine mystischen Dreiecke, Kubusse und Konoiden darstellten. Püttmeyer zeichnete den Teppich, maß ihn, klebte ihn in natura zusammen, wie einen Drachen – voller Drachen. Das erschütterte dann sehr seine Gesundheit. Erst heute hatte man ihn können aus Eschede abholen lassen. Er war wie der selige Nikolaus von der Flüe, den die Eidgenossen aus den wilden Bergen holten, um ihre Streitigkeiten zu schlichten, und den man tragen mußte, weil er das Gehen verlernt hatte. Alles war ihm neu. In Witoborn behauptete er viel mehr Thürme zu sehen, als sonst, während doch einige abgetragen waren. Die Vögel, die am Wege im Schnee hüpften, betrachtete er, als wären es neue Species, die inzwischen der Schöpfer geschaffen. Und daß es sich so treffen mußte, an diesem Tage waren sämmtliche Männer der gewählteren Gesellschaft ins Gebirge nach Schloß Neuhof! Nun konnte er doch sowol in Schloß Westerhof, wie in der Kirche und jetzt wieder auf der Rückfahrt, so recht genießen, als zweiter Frauenlob, mitten unter dankbaren nur weiblichen Händen und Herzen gehegt zu werden. O that das wohl! Gleich einem alten Papagaien hatte er gegurrt und gegrammelt vor Behagen, als ihm die Frauen und Fräulein auf dem Chor vor und nach der Messe so viel Zuckerbrot in Worten gaben, seine Güte, seinen Geist, seinen Geschmack lobten. Wie der große Pfau des Libori wedelte er! Noch stand ihm das einfache Familiendiner im Schloß, für den Nachmittag die Rückfahrt nach Eschede und für einen der nächsten Tage noch eine größere Huldigung bevor. Bei einer Jagd, die in dem von Terschka für Thiebold de Jonge bestimmten Walde gehalten werden sollte, einer Jagd, deren Honneurs der Trauer der Dorste's wegen ein nachbarlicher Graf Münnich übernommen hatte, sollte Püttmeyer den Damen, die auf Münnichhof die heimkehrenden Nimrod's erwarteten, sein philosophisch-mathematisches System in der Art erklären, wie er dies alle Jahre einmal in Eschede that, durch Ombres chinoises, d.h. Transparentfiguren in einem dunkeln, weihrauchgefüllten Zimmer.

Und Tante Benigna! Die vielbesprochene Schwester Monika's! Die sogenannte Meg-Merilies sitzt da mm auch vor uns! ... Wie beurtheilt ihr doch die Menschen immer nur nach dem, was sie euch zu euerm eigenen zufälligen Nutzen oder Schaden sind! Die Mutter Monika's, die Großmutter Armgart's konnte Tante Benigna, Fräulein von Ubbelohde, allerdings sein; aber von einer Hexe, von einer Kindesräuberin hatte sie gar nichts. Wie lange lag auch jener furor saxonicus schon hinter ihr! Ein schwarzer Trauer-Sammethut mit Kreppbändern zeigte das Antlitz einer funfzigjährigen Jungfrau, deren Augen etwas ermüdet waren, die Lippen weit mehr bedacht eine kleine Zahnlücke als heroische Entschlüsse zu verbergen ... Onkel Levinus, ihr Schwager, war ihr Verlobter, mit dem sie sich zu verheirathen vergessen hatte. Sie setzten beide ihren Brautstand mit der immer gleichen Courtoisie fort, die schon bei ihrem ersten Verspruche stattfand. Sie lebten unter Einem Dache, führten die gleichen Geschäfte, die Verwaltung der Güter des Grafen Joseph, zankten sich nicht selten, aber die wirkliche Ehe war in Vergessenheit gerathen. Ob das traurige Beispiel von Bruder und Schwester sie erschreckte? Ob sie Reue hatten über ihre wilde Einmischung in diese unglückliche Ehe? Ob sie in der Erziehung Armgart's sich hinlänglich verbunden fühlten? Möglich; aber Tante Benigna war keine Meg-Merilies. Ein Kind nimmt geistige Größe für physische und erinnert sich seines kleinen alten Lehrers immer in der Gestalt eines Riesen. Monika war zwanzig Jahre, als sie Benigna zum letzten male sah und ihre um so viele Jahre ältere Schwester stand ihr noch immer in der Leidenschaft vor Augen, von der sie damals gegen sie beseelt war. Wie war aber auch Benigna zusammengegangen! Es ist ein ganz mäßig gebautes, fast anspruchsloses Wesen. Sie kichert verlegen, wenn von Levinus von Hülleshoven als ihrer ersten und einzigen Liebe die Rede ist, wie eine jede andere alte Jungfrau in gleicher Lage auch gethan haben würde. Längst war diese Beziehung unter die Dinge gerathen, deren Lösung der Mensch dem Jenseits überläßt. Tante und Onkel, beide hatten so viel mit ihren Aemtern und nächst diesen auch mit sich selbst zu thun, daß es zu keiner Wiederanknüpfung an die alte Zeit mehr kam; beide vertrockneten in sich selbst. Die Zeit, die Onkel Levinus an der Verwaltung erübrigte, gehörte der Gelehrsamkeit, den Alterthumsstudien, den Entdeckungsreisen ins Innere Afrikas und seinem chemischen Laboratorium. Die Zeit, die Benigna erübrigte, gehörte der »Erziehung« Paula's und Armgart's, die indessen umgekehrt beide mehr die Tante erzogen. Benigna ist allerdings reizbar, sehr streitsüchtig, gutmüthig wol, aber erst nach Anfällen heftiger Strenge, überfromm und sittenrichterisch bis zum Unschönen. Wenn sie dann von allem erschöpft Abends in den Sessel sinkt, schläft sie freilich so gut ein wie andere; ja sie spricht sogar im Traume, nie jedoch etwas Geistreiches. Die beiden Pfleglinge haben sie ganz in der Gewalt; Armgart mit List, Paula mit Güte; und manchmal entwickelte auch sie Neckerei. Trotzdem daß Tante Benigna heute aus ihrem Mantel ohne Pelz (»man muß sich nicht verwöhnen«) und ihrem Hute ohne Schleier (»Schade was für eine rothe Nase!«) gedankenvoll in die Gegend schaut und immerfort an den beschlagenen Fensterscheiben wischt, um zu sehen, welcher Gottesfriede und welche nächstjährige Erntehoffnung auf der Wintersaat ruht und am wievielten Chausseestein man sich befand, hätte sie doch ganz gern auch ein bischen den Doctor geneckt. Denn sein Frack war doch auch gar zu altmodisch! Wie hatte man ihn in Eschede »eingemummelt«! Wie eine alte Meerkatze saß er da unter seinen Tüchern und Pelzen ... Da aber Armgart die Ernsteste im Wagen blieb, mußte Tante Benigna schon ihre Necklust zügeln und stumm den Gedanken Audienz geben, die sie hinlänglich quälten – diese Entäußerung des alten Besitzes, die Zukunft Paula's, die Leiden und Visionen derselben, der Zustrom so vieler Menschen, die die »Seherin« beunruhigten, und die Sorgen wieder um diese gar »nicht zu berechnende« Armgart, um die Nähe ihrer Schwester, um die Ansiedelung ihres Schwagers in Witoborn, sein »unstandesgemäßes« Fabrikproject mit Hedemann, endlich auch die unruhige Zeit, die Aufregung der Gemüther, die Zänkereien des neuen Pfarrers mit den Gemeindegliedern, und dazu der Pferdestall, die Kühe, die Schafe, die Schweine, die Fruchtpreise, alles, was zwar schon in die Verwaltungssphäre des Onkel Levinus hinübergriff, von diesem jedoch oft so gefährlich vernachlässigt wurde, wenn er hinter seinen Tiegeln und Retorten kauerte oder eine Entdeckung machte von fossilen Thieren in einem Kalksteinbruch oder ihm ein alter Römerhelm überbracht wurde, über dessen muthmaßlichen ehemaligen Besitzer er sämmtliche Bücher des Tacitus wieder noch einmal frisch durchlesen mußte und dann Abhandlungen schrieb und sich in gelehrte Streitigkeiten mit Provinzblättern verwickelte.

Armgart, wie gesagt, ging auf die Necklust der Tante nicht ein ... »Herr! Cröne Mein Beginnen!« sprachen, wie tief innenwärts gewandt, ihre braunen Augen. Auch bei ihr war der Hut von durchbrochenem schwarzen Flor. Ihr dunkelbraunes Haar sah man wenig und auch über das heute wachsweiße, nur am Näschen etwas von der Kälte geröthete Antlitz zog sie zuweilen rasch einen schwarzen Schleier, den sie trotz des »Schade was« der Tante trug. In ihrer Brust gab es wilde Kämpfe; auf ihrem Antlitz fürchtete sie, die Spuren davon zu verrathen. Gleich nach ihrer Ankunft von Lindenwerth hatte sie am Altar der Stiftskirche zu Heiligenkreuz der Gottesmutter gelobt: »Nicht Vater! Nicht Mutter! Beide!« Das führte sie durch. Das nähte sie in ihren Drachen. Das stickte sie in ihre Cigarrentasche. Das häkelte sie in ihren Aschenbecher – sie verlor diese Vielliebchen, weil sie nur dem Gedanken lebte, daß die Mutter oder der Vater in jeder Stunde kommen könnten. Auch sie wischte mit dem weißen Tuche, das sie, als könnte sie plötzlich weinen, immer in der Hand hielt, das beschlagene Fenster neben sich ab. Sie that es, um sich zu überzeugen, ob kein Gespenst ihrer Furcht oder Hoffnung hereinschaute ... Wie anbetend blickte sie dabei zuweilen zu ihrer lächelnden Freundin Paula hinüber, zuweilen auch wieder in den geflammten Achat am Himmel. Daß es für gewisse Seelen und gewisse Zustände Engel gab, ganz so wesenhaft sichtbar wie die kleinen dicken Jungen, die in der alten Kirche zu Sanct-Libori den Baldachin über dem geschmacklosen Hochaltar hielten, das war in dieser Sphäre eine ganz vollendete Thatsache.

Und Paula, die wir nun auch hätten wiedersehen sollen, nur im Concert der Sphären, nur so, wie sie in Bonaventura's nächtlichen Träumen auf klingender Luft schwebte – da sitzt nun auch die »Seherin« – in der Ecke eines altfränkischen Wagens – (die Staatskutschen waren beim Leichenbegängniß), fährt hoch auf bei jedem Verlassen des gefrorenen Gleises und bekommt dann von der Seite einen Ruck der Tante und fast die Berührung der Nasenspitze des Doctors ... Es ist so, wie das Leben auch die Kaiser und die Könige auf die Erde eintreten läßt, ohne Krone, auch die künftigen Heiligen ohne allen Heiligenschein. Aus ihrem weiten schweren schwarzen Sammetpelzmantel und dem schwarzen Sammethute heraus ist jetzt nur das längliche edle Antlitz Paula's ersichtlich. Es besitzt den schärfsten Ausdruck aller Schönheitslinien. Die Nase ist geschwungen; die Augen sind dunkelblau, hochgewölbt, beschattet von vollen Brauen und Wimpern, die im Gegensatz zum goldgelben Haar des Hauptes schwarz wie mit Kohle gezeichnet sind. Die Stirn ist klar und frei, das Kinn ist oval, der Mund lächelnd und die Lippe sonst rosig, heute nur von der Kälte der Kirche etwas erblaßt und auch das Antlitz bleich. In Paula's Art, das sehen wir auch jetzt aus den eigenthümlich langgesponnenen Fäden ihres Blickes, lag etwas von den Geisterjungfrauen, die zwischen Tag und Nacht im Nebel über die Erde schreiten. Sie würde nicht selbst gesucht haben eine Velleda zu sein und im heiligen Hain des Irminsul zu opfern, aber die Völker ringsum hätten sie an den Altar geführt und ihr Iphigeniens Opfermesser in die Hand gedrückt. Wenn sie ihr Auge mit den seltsam schwarzen langen Wimpern aufschlug, da zog es jede Weltlichkeit empor und wiederum blieb das Geistigste, das sie anregte, doch nicht ohne einen Reiz für die Sinne. Kaum gibt es Bestrickenderes, als allein schon der Blick auf dies Naturspiel: goldblondes Haar und auf den Augenbrauen und Wimpern ein dunkelstes Schwarz.

Paula's Sinn war so mild, so gütig. Und immer nahe stand der Armen jener Traumgott mit dem Mohnblumenkranz, der nur sanft, sanft die Hand über ihre Augen zu streifen brauchte, und sie entschlief mit räthselhaften Organen, mit denen wir andern nicht schlafen. Dann sprach sie in verworrenen Worten, sah Entferntes mit geschlossenem Auge, hörte selbst das Ticken einer Uhr in entlegensten Räumen. So krank sie sich bei dieser zweifelhaften Gabe des Geschickes fühlte und so unendlich müd sie mit ihrem schlanken Wuchs dahinwallte über die Erde (gegen ein Hüftleiden hatte sie einst lange im Streckbett gelegen): dennoch war ihr Sinn selbst nicht zu ernst oder feierlich. Ei, jetzt am wenigsten, wo Wonnetage ihr aufgegangen waren; erst die Ankunft Benno's von Asselyn, den sie noch wenig kannte, der aber ein Vorläufer Bonaventura's war; und dann dieser selbst! Kein Wunder, daß sie trotz der Messe, trotz der Trauer um ihren Oheim, trotz der etwas lauernd grübelnden Miene der Tante Benigna, trotz Armgart's seit einiger Zeit gar nicht mehr wiederzuerkennender Art und ewig verstörter Abwesenheit, über den Anblick des Doctors Püttmeyer lächelte und höchst freundlich blicken mußte. Schon den ganzen Vormittag war sie durch ihn heiter gestimmt ...

Sie kannten ja den unglücklichen Sohn des Onkel Kronsyndikus, Herr Doctor? begann sie mit süßmelodischer, wenn auch leiser Stimme und sprach das fast im Neckton ...

Der Doctor erkundigte sich bei jeder Frage immer erst mit einem: Wie befehlen –? Taub war er nicht, es war ihm nur ermuthigender, jede Frage zweimal zu hören und inzwischen sich die Antwort zu formuliren.

Als die Frage von Armgart, die wie ein dienender Cherub zu den Füßen ihrer Heiligen saß, wiederholt war – die Tante mußte sich schon lange innerlich sagen: Passen Sie doch besser auf, mein bester Herr! – bestätigte Püttmeyer diese Bekanntschaft in einer eigenthümlichen Vortragsweise. Er pruhstete nicht gerade, räusperte und schnurrte auch nicht, aber sein Stimmchen war höchst fein und konnte erst durch mancherlei Manöver zu hinlänglich ausreichendem Athem kommen ...

Durch seine Mittheilungen gab es dann Rückblicke auf manches Düstere und Schauerliche, das lieber in diesem Kreise vermieden gewesen wäre. Der Mönch Sebastus wurde erwähnt, der krank lag im Kloster Himmelpfort, wohin ihn die Regierung hatte zurückbringen lassen. Das Pentagramm und die Tannenfahne (Tanfana), beides Symbole der göttinger Bierhäuser, kamen zur Sprache und bei Gelegenheit der Thaten des Kronsyndikus und der ewigen Ruhe desselben rühmte Püttmeyer wieder Armgart's Symbolik des Fegefeuers. Die Tante war es, die streng mit ihrem schwarzen Handschuhfinger das niederwärtsfahrende geflügelte Kreuz am beschlagenen Fenster ohne alle Rücksicht hinmalte.

Eine Pause trat nun ein. Armgart durchlebte sie im Geist auf dem Nachen von Lindenwerth. Benno stand mit dem Hut in der Hand sie grüßend, wie sie abfuhr vom Hüneneck ... Sie seufzte tief auf ... An ihrem Aschenbecher zog sie mit den Schmelzperlen ebenso auch schon manche Thräne auf ... Sie sah kaum hin, als Püttmeyer ihre Symbolik so unausgesetzt lobte und ausführlicher noch als im Briefe an die gute Angelika sprach:

Ja, Ihr Herz Gottes, mein sehr geehrtes gnädigstes Fräulein, ist – ist eigentlich der bedeutungsvolle Kreis! Der Kreis ist – hm! – unser inhaltreichstes Symbol! Der Kreis drückt die Welt selbst aus, das All, wie schon die Alten die geringelte Schlange – hm! – noch tiefsinniger aber das Ei als den Urgrund alles Seins bezeichneten. (Die Tante replicirte im Geiste, daß doch die Hühnereier oval wären ...) Die Kugel – das runde Ei der Schlange – (das war fast wie ein Treffer auf den errathenen Einwand der berühmten Wirthschafterin) ist das Vollkommenste oder richtiger die Vollkommenheit selbst, der Begriff, die Monade, das Atom. Es ist – hm! – die ganze Einheit, die an den Dingen ihr wahres Wesen ausdrückt! Denn ob nun ein Weltball oder eine Kegelkugel – hm! – eine Kegelkugel – (die Tante dachte hier an den Finkenhof und die Reformen des eifernden Pfarrers) es ist dieselbe Idee der harmonischen Beziehung eines Mittelpunktes – hm! – zu millionenfacher gleichzeitiger Entfernung. Was Sie sehen, meine gnädigsten Herrschaften, der Schnee da – hm! – der Vogel, der bereifte Baum, der Rauch eines Hauses, alles – hm! – ist die Wirkung einer Ursache, die wiederum zu einer andern Ursache als ihrem Mittelpunkte zurücklenkt und so geht das ganze Dasein – hm! – centripetal auf ein Inneres, aber auch immer wieder – hm! – centrifugal auf ein Aeußeres, eine große Rundfläche aller Dinge. Die Allheit – die Allheit dieser Strebungen ist das Sein in Gott. Die Gottheit – ist die Kugel und alle Seelen sind – hm! – Sphäroiden. Das Suchen des Mittelpunktes der Welt gibt den Radius. Wohl dem, der den längsten gefunden hat! Den, der – der durch den Mittelpunkt der Welt geht! Dessen Denken ist – hm! – gleich Gott selbst!

Die Tante fand das alles im Grunde sehr schön und so beim Fahren zwischen Sanct-Libori und Westerhof auch höchst merkwürdig, indessen meinte sie doch, um eine gewisse Opposition, die sich in ihr regte, nicht ganz zu unterdrücken: Oder sein Glauben, Herr Doctor? ... Dann wandte sie sich, weil sie, namentlich für die häßlichen Schlangeneier noch irgendeine schärfere Eruption ihrer andern Ansicht von alledem haben mußte, zu Armgart und sagte:

Armgart, Armgart! Was träumst du nur ewig!

Da Armgart kaum zuhörte, sagte Paula, die die dem Doctor ungünstig werdenden Gedanken der Tante errieth:

Liebe Tante, das Kreuz ist nie so schön verklärt worden, wie vom Herrn Doctor Püttmeyer!

So? sagte die Tante fast verächtlich. Die Kugel kann ich für nichts so Großes halten!

Püttmeyer streckte Nase und Kinn aus seinem Shawl hervor und erwiderte:

Ist nicht – hm! – meine Gnädigste – der Apfel des menschlichen Auges – Bitte, gnädigste Comtesse! wandte er sich dann, die Rücksichten der Etikette abwägend, sogleich wieder zu Paula, die zuerst gesprochen. Das Kreuz ist auch eben nur die Offenbarung der Kugel ...

Nein, nein, nein, nein! rief die Tante. Gott ist keine Kugel ...

Armgart nahm noch immer keine Notiz. Sonst würde sie schon längst gesagt haben: Aber ich bitte dich, liebe Tante! Das sind ja gar keine Gegenstände für dich! ... Paula blickte auf Armgart. Sollte sie denn nun heute Armgart's Rolle übernehmen und statt deren polemisiren? ... Sie sagte ganz heiter:

Ei, Tantchen, das sind ja doch nur Bilder –!

Ei, das weiß ich sehr wohl –! Ich bin nicht so dumm! ... fuhr die Tante auf ...

Mein gnädiges Fräulein, beschwichtigte Püttmeyer, wenn ich beim Grafen Münnich die Ehre haben werde, mein System an Beispielen zu erläutern, so zweifle ich nicht an Ihrer – hm! – gewogentlichsten Zustimmung ... Gott – hm! – ist die Idee des Kreises, die Radien und Diameter sind die Begriffe – hm! – des Lebens. Die Linie ist das Gegentheil des Kreises, das ewig – hm! – Continuirliche, die Ausdehnung, der Raum und die Zeit. Nun sind aber nur diejenigen Linien vollkommen, die einer Wesenheit angehören und die höchste Wesenheit kann nur sein – hm! – im Mittelpunkte eines Kreises zu stehen – d.h. wie man ja schon im Leben sagt, ins Schwarze zu treffen – (Die Tante dachte hier an die bevorstehende große Jagd mit allen ihren Sorgen und möglichen Unglücksfällen.) Denken Sie sich Linien, die da- oder dorthin gehen – hm! – an der Fläche der Kugel oder ein wenig in sie hinein, Tangenten, Sekanten, alles ohne den Urgrund, der da ist: Dem Mittelpunkt anzugehören! Alle Strebungen des bunten Lebens müssen im Mittelpunkt sich durchkreuzen und so ist das Kreuz – hm! – auch recht der eigentliche Ausdruck der geoffenbarten Gottheit und im Grunde wieder die Kugel, d.h. Gott selbst ...

So aufmerksam Paula zuhörte, so interessirt sich jetzt endlich auch Armgart etwas dem Gespräche zuwandte, schüttelte die Tante doch den Kopf und fand diese fromme Wendung, die der arme Denker erst in einem Nachtrag seines Systems gegeben habe, als er wegen »Christus und Pythagoras« beinahe excommunicirt worden war, keineswegs katholisch und überzeugend ... Wir haben auf unsern Altären, sagte sie sogar mit Feinheit, das Kreuz mit zwei Balken, einem langen und einem kurzen, die doch eher dem Oval, als der Kugel entsprechen ...

Aber Tante, die Griechen! Der heilige Andreas! warf jetzt fast ärgerlich Armgart hinein ...

Ach, das weiß ich selbst! – lehnte im selben Tone die Tante ab und verbat sich den Schein, als wenn sie nicht wüßte, daß das griechische Kreuz, wie das Kreuz beim Johanniterorden, zwei ganz gleiche Schenkel hätte ...

Der Einwurf ist ganz richtig! begütigte Püttmeyer die gereizte Stimmung und vergaß keinesweges, daß ihn Drohungen auch mit dem päpstlichen Index einst gezwungen hatten, seine Philosophie urkatholischer zu modeln. Das griechische Kreuz ist in der That unvollkommen! sagte er. Es drückt nur die Gottheit Christi allein aus! Wir Alle wissen aber und bekennen es nicht blos in der christkatholischen Lehre – hm! – daß Gott der Herr die Knechtsgestalt annahm. Demnach ist der längere Balken – hm! – die Gottnatur, der kleinere Querbalken aber die irrende, menschliche – hm! – mittelpunktlose, die durch die Kugel nur ein gewöhnliches Segment macht. Gerade nur an einem solchen Segment konnte der Heiland rufen: Mich dürstet! Nur an einem solchen Kreuze, das halb dem Weltall, halb dem kleinen Jerusalem und dem Jahre 33 nach – hm! – Christi Geburt angehörte, halb dem Gott, halb dem Menschen, konnte Jesus für uns leiden! Jener Doppelquerbalken der großen Würdenträger und des Papstes, ein Symbol, das gleichsam der dreifachen Krone entspricht und das wir auch auf das Haupt – hm! – des Pfauen im Teppich gesetzt haben (Püttmeyer malte ans Fenster ein †), ist die Einigung beider Auffassungen, der griechischen und römischen, des Christus des Dogmas und der Concilien, und des Christus der Osterwoche, des leidenden. Uralt ist schon die Ahnung unsers christ-katholischen Kreuzes bei allen Völkern. Der Hirtenstab in den Händen des Osiris, der Stab des Hermes, der die Seelen geleitet, der Hirtenstab des Pan, der seinerseits sogar schon das All bedeutete ... Das All, meine gnädigsten Herrschaften – hm! – und dazu der Stab des guten »Hirten«! Wie nahe kam da schon die gerade Linie der Ahnung, daß nur noch die große Veranstaltung zum Kreuze fehlte! Moses – hm! – schlug schon mit einem Stab aus Felsen Wasser! Aesculap, der Gott der Heilkunde, trägt einen schlangenumwundenen Stab! Ja im frühgebrauchten Zeichen der Venus, des Sternes der Liebe, sind der Kreis und schon das Kreuz verbunden – Q. Das ist dann – hm! – der freundliche Morgen-und Abendstern, der Stern des Morgenlandes, der die Wahrheit halb schon ahnte, die dann an der Krippe Jesu erst ganz vernommen wurde, diese Wahrheit, die, wenn man sie ganz bezeichnen wollte, einem Rade gleichkäme, ich meine, dieser Figur: . Die drückt die ganze Schöpfung aus!

Alle schwiegen ... Theils vor Bewunderung, theils vor Nichtverständniß, theils aber auch – vor Schauder an dem Bilde des Rades, das Püttmeyer an die Fensterscheiben malte ... Armgart und Paula kannten die Sage von dem Rade auf dem Schloß des Kronsyndikus ...

Püttmeyer begriff das eintretende Schweigen nicht. Er war gewohnt, solche tiefkatholische Philosophie lebhafter applaudirt zu hören. Dennoch hob ihn bald wieder die Aussicht auf den vornehmen Comfort des Schlosses und auf das Mittagsmahl ...

Noch war das Schloß nicht ganz erreicht. Man sah es aber schon. Schloß Westerhof lag auf einer kleinen Insel. Ohne Zweifel war die Brücke, die jetzt von einem Heiligen gehütet wurde, in alten Zeiten eine Zugbrücke gewesen und hatte zu einer Burg geführt, von welcher noch jetzt vielleicht die vier starken Eckthürme des Schlosses herrührten. Der Herrensitz der großen Gütermassen der Dorste-Camphausen stammte aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts und war jedenfalls nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges neu auf alten Trümmern erbaut. Von allen Seiten mit hohen Pappeln geziert, bot das Schloß nicht etwa einen Prachtbau dar; Glanzliebe würde nicht dem Charakter der Gegend entsprochen haben. Vier bewohnbare Thürme erhoben sich an den vier Ecken eines Quadratgebäudes, oben sich zuspitzend zu einem schieferbedeckten Runddach mit kupfernem Knauf. Zwischen diesen vier Thürmen gingen vier gleichmäßige Seiten von zwei Stockwerken und zwölf Fenstern der Länge nach, im zweiten Stock an jeder Seite ein Balcon von altem künstlich gewundenen Schmiedeeisen. Ein dritter Stock verengte sich in einen Giebel, der gleichfalls spitz zulief und in einem Knopfe endete, sodaß das ziemlich regelmäßige Gebäude acht Spitzen hatte und recht gut auch einem Kloster entsprochen hätte. Die Wirthschaftsgebäude lagen weiter ab und außerhalb der Insel, die ihrerseits groß genug war, auch noch an der Hinterfronte des Schlosses einen parkartigen Garten zuzulassen, der sich jenseit einer zweiten Brücke verlängerte und jetzt schon manche Anlage aus dem Schnee heraus unterscheiden ließ, zumal wenn sie aus Tannen bestand.

Endlich fuhr der Wagen über den hartfrierenden, knirschenden Schnee und die steinerne Hauptbrücke; die Rosse standen und dampften vor dem Portal, einem kleinen, dem Geschmack des Ganzen völlig entsprechenden Schnörkeldache, das von zwei kurzen Säulchen getragen wurde. Zwei große Hunde sprangen den Rossen entgegen. Nun galt es, sich aus den Pelzen herauszuwinden ...

Da aber hatte Tante Benigna schon bemerkt, daß der Schnee auf Paula plötzlich eine eigenthümliche Wirkung zu äußern anfing. Schon lange ermüdeten ihre Augen. Und so theilnehmend Paula lächelte und mit der ganzen Lieblichkeit ihres Antlitzes den Worten des Doctors lauschte (dachte sie doch immer, was wol Bonaventura zu all diesen Philosophemen sagen würde!) – allmählich wurde ihr Blick trüber und immer abwesender. Erst schien nur der Schnee sie zu blenden, die schwarzen Wimpern sanken nieder und hoben sich nur leise; als man aber am Schloß war, hatte auch Armgart schon die Entdeckung gemacht, daß Paula in dem ihr eigenen halb wachen, halb schlafenden Zustande war. Sie verrichtete alle Functionen wie mit vollem Bewußtsein, gab Antworten auf jede an sie gerichtete Frage, nahm Armgart's Hand, die sie führte, streichelte auch die Hunde, die in allen möglichen Stellungen sie umkreisten, springend, kratzend, als gält' es, unter den Strohmatten auf der Treppe, die schon beschritten wurde, oder an den Ritzen der dunkelbraun gestrichenen hohen Thüren, die auf die Corridore hinausgingen, nach Mäusen zu jagen. Die Tante dämpfte alles, was stören konnte. Erst als Püttmeyer auf der Treppe eine Anzahl von Kranken sah, Mütter mit Kindern, Blinde, Lahme mit Krücken, Bittende mit Briefen in der Hand, da verstand er, daß ihm heute auch noch das hohe Glück zu Theil werden sollte, Zeuge der vielbesprochenen ekstatischen Zustände der jungen Gräfin zu sein!

Am geheimnißvollen Schleier der Isis zu stehen ist nichts Kleines. Püttmeyer's Athem, ohnehin nur kurz, stockte vollends. Mechanisch ließ er sich von dem Diener seiner Umhüllungen entkleiden. Fast hätte er auch sein großes weißes Halstuch abbinden lassen, das einer schützenden Ueberbinde ähnlich sah. Die rasche Hülfe eines jungen, in eleganter Toilette hinzuspringenden Mannes schützte ihn vor dem Misverständniß und dem Verlust eines schönen Knotens, den ihm die Frau Steuerinspector Emminghaus mit eigener Hand heute früh gebunden hatte ...

Der junge hülfreiche Mann war Thiebold de Jonge ... Mit seinem nur »scheinbaren Adel« hatte er sich nicht an dem Leichenbegängniß betheiligen wollen. Tante Benigna ersah mit sichtlichem Wohlgefallen, wie der vorzugsweise von ihr gern gesehene und ein für allemal geladene Gast sich schon wieder nützlich machte ...

Paula wurde von Armgart geführt ... Hoch und schlank schritt sie dahin. Den schweren Sammetmantel hatte man ihr schon abgenommen. Sie war unter ihm in schwarze Seide gekleidet. Alle Thüren wurden aufgerissen. Die Diener kannten schon, wie sie sich in solcher Lage zu benehmen hatten ... Paula schwebte förmlich ... Die Frauen führten sie in ihre Zimmer. Püttmeyer, voll Staunen und die Hände faltend, blieb mit Thiebold allein. Thiebold hatte für eine seiner gewohnten geistreichen Aeußerungen, die in diesem Augenblick lautete: »Nicht wahr? Doch merkwürdig?« nie so viel Zustimmung gefunden.

Im großen Vorsaal, der etwas düster war, da ein über ihm befindlicher Balcon ihm das Licht nahm, befand sich an der Thür das Weihwasser ...

Tante Benigna und Armgart hatten sich beim Eintreten trotz der Aufregung durch Paula's Zustand benetzt; Paula war vorübergegangen ...

Vom Vorsaal schritt man zur Rechten in ein geräumiges, wenn auch nicht zu großes Wohnzimmer. Hier war alles mit Teppichen belegt. Die Vorhänge waren von grüner Seide. Ein Flügel stand aufgeschlagen, auf dem ohne Zweifel Thiebold eben einige Fingerübungen gemacht hatte, denn mit so wenig Virtuosität, wie er sie besaß, hier Effect zu machen, hätte er sich nicht für möglich gedacht. Sopha, Stühle, alles war mit grüner Seide überzogen. Die Etagèren und kleinen Schränke waren von dunkelbraunem Holze und in gothischen Formen. Die Bilder stellten Scenen aus dem Leben der Apostel und Heiligen dar. An frommen Büchern und Provinzialzeitungen war kein Mangel ...

Püttmeyer kämpfte nicht wenig, wie er es anstellen sollte, über Dinge, die hier so leicht genommen wurden, sein ganzes Erstaunen auszudrücken. Er kannte Erfahrungen dieser Art nur aus Büchern. Er hatte Abends »bei Schönians«, wo er jeden Abend seine zwei Gläser – Gerstenschleim trank, oder an seine ihn besuchenden Verehrerinnen sich, wenn er um Erklärung angegangen wurde, dahin geäußert, daß das klare und intellectuelle Leben des Menschen die Centripetalität, d.h. das Streben zum Mittelpunkt wäre, aber das Gefühls- und nervöse Leben die Centrifugalität. Er hatte oft geäußert, daß man einer solchen Verrückung und Umkehrung dieser Thätigkeit, wenn sie auch Krankheit wäre, getrost nachgeben und der großen Weltseele näher zu kommen suchen sollte. Da die Visionen der Gräfin keineswegs recht in die christlichen Anschauungen passen wollten, da sie, wie Armgart's Mutter noch vor kurzem bei Piter Kattendyk etwas zu vorschnell geglaubt hatte, keineswegs immer mit Christus und der Gottesmutter »im Jenseits« verbunden zu sein behauptete, so hatten die Priester ringsum noch keine besonders entschiedene Meinung über sie aussprechen mögen. Aber die hohe Stellung der Gräfin hinderte ein Einschreiten dagegen. Dann war von der Residenz des Kirchenfürsten, als noch Michahelles allmächtig war, die Weisung gekommen, an den Vorfällen nichts zu stören, sie gehen zu lassen, wie sie gingen, und erst die Ankunft des Domherrn und Archipresbyters von Asselyn abzuwarten, der Bericht erstatten sollte. Umsomehr konnte Püttmeyer die Ansicht von bösen Dämonen und einem unheiligen Zustande bekämpfen; vollends da, als er hörte, daß Paula vorzugsweise von großen unermeßlichen bunten Ringen sprach, durch die allemal erst ihr geistiges Auge hindurchdringen müsse, wie durch ein großes, riesig aufgezogenes Perspectiv ... Und als Armgart ihn zum ersten male besuchte und die Rede von Paula's Visionen war, hatte sie ihm gesagt: Des Magnetiseurs bedarf sie nicht. Der Onkel macht sie durch einfache Berührung hellsehend. Vor Jahren durfte der ehemalige Porteépée-Fähnrich von Asselyn, jetzige Domherr, nur in der Nähe sein, so fühlte sie den Strom, der ihr durch die Fingerspitzen wie in glühenden Tropfen abfiel, und was man sie fragte, sah und hörte und las sie. Erst sind's immer große bunte Ringe, die sie sieht, dann sind's grüne Wiesen, darüber leuchtet Violett- und Rosaschein und nun begegnet ihr alles, was diesseit und jenseit der Erde lebt, sowol die großen Jagdhunde des Onkels, wie die Heiligen Gottes, sowol Tantens verlegte Ueberschuhe, wie König David mit seiner Harfe!

Thiebold stellte dem Doctor sich selbst vor und äußerte im Mäcenaston seine Freude, einen so »berühmten Dichter« persönlich kennen zu lernen ... Benno hatte ihm einige Erläuterungen über ihn gegeben und gern hätte er schon à la Piter Kattendyk gesagt: Speisen Sie bei mir!

Ich habe bereits so vieles Schmeichelhafte von Ihnen gehört und »gelesen«! fuhr er fort. Und besonders von Fräulein Angelika Müller! Haben Sie lange keine Nachricht von dieser Vortrefflichsten? Ich habe immer gerechnet, Ihre Verbindung bald annoncirt zu hören. Herr Doctor, Herr Doctor! Ich sollte meinen, es wäre Zeit ...

Püttmeyer konnte so raschem Redestrom nicht folgen, wodurch Thiebold veranlaßt wurde aufs neue auf Angelika zurückzukommen und den Geist, das Gemüth, vorzugsweise aber die himmlische Geduld dieser Einzigen zu rühmen ...

Püttmeyer bestätigte alles das, seufzte tief auf und sagte wiederholentlich:

Laissez passer! Laissez passer! Laissez passer!

Wie so? entgegnete Thiebold mit elegischem Blick und fuhr sich mit den bei Ankunft des vierspännigen Wagens wieder von ihm angezogenen weißen Handschuhen in sein in Witoborn, wo er mit Benno bei Hedemann wohnte, schön frisirtes Blondhaar und verschluckte eine sentimentale Wendung, die etwa sagen wollte: Auch du mußt dich ja an verklungene Hoffnungen gewöhnen! ... Denn Armgart war sonderbarerweise auch ihm das nicht mehr, was sie einst gewesen ... Ein Räthsel umspann die Freundin, ein Räthsel, »glücklicherweise«, konnte er in seiner »Bosheit« sagen, auch für Benno ...

Ein Diener trug eben eine sonderbare Last an ihnen vorüber ... Es war ein Kissen voll kleiner Gegenstände, wie Nadeln, Ringe, Brochen, Gebetbücher, Rosenkränze, Crucifixe ... Der Diener ging damit schnell, aber fast auf den Zehen in die noch offenstehende Thür, durch welche man Paula in die innern Gemächer geführt hatte ...

Auf Püttmeyer's Erstaunen gab ihm Thiebold eine Erklärung. Der Zudrang zu Paula's Wunderkraft nehme immer mehr zu. Der Onkel Levinus verböte zwar die Abgabe der hundert Dinge, die die Gräfin nur einmal zu berühren brauchte, um sie heilkräftig zu machen, auch Tante Benigna nähme Rücksichten auf Paula's Gesundheit und Ruhe und dennoch besäße man die Freundlichkeit und »stellenweise« die Schwäche, der Aufregung der ganzen Provinz und der Zeit ohnehin »Rechnung zu tragen« ... In der That hätte oft ein Schreiber in der Rechenei der gräflichen Güter unausgesetzt mit dem Zurücksenden solcher Dinge zu thun und obgleich der exacte Sinn des Onkels jedem dabei schreiben lasse, er bedauerte diese Gegenstände so zurückschicken zu müssen, wie sie gekommen wären, ließe sich der Volksglaube doch nicht nehmen, daß diese Gegenstände von der wunderthätigen jungen Gräfin, der Seherin von Westerhof, wirklich berührt worden wären. Man empfange ablehnende Antworten und doch wären schon die Briefe den Leuten geweiht und wirkten auch. Im ganzen Lande stünde fest, daß eine von Gräfin Paula berührte Wachskerze nur angezündet zu werden brauchte am Bette eines Leidenden und alsbald würde sein Uebel verschwinden ...

Püttmeyer thaute vor dieser mittheilsamen Suada auf ... Auch er erzählte von Armgart's Besuch ... Fräulein Armgart von Hülleshoven, sagte er, erzählte mir, daß die Comtesse vor allem an sich selber glaube. Sie sagte mir: Wie sollte meine Freundin denn diese eigenthümliche Kraft sich deuten, die ihr ganzes Sein immer wie aufwärts zieht? Es ginge ja durch ihr Inneres, und das ganz körperlich, manchmal ein Strom quer über den Rücken hinweg, als müßte sie sich beugen und, wenn sie wollte und dabei an Gott dächte, theilte sich dieser Strom und liefe in die Arme und Fingerspitzen aus, aus denen es ihr dann wie heiße Tropfen perlte! Schon als Kind hätte ihre süße Freundin diesen Strom gehabt und oft zu Fräulein Benigna, ihrer Erzieherin, gesagt: Tante, ich könnte mich rückwärts biegen wie ein Ring und so mit dem Kopf auf die Erde kommen! Und einmal – doch ich bitte Sie – Herr Baron –

Bitte recht sehr! versicherte Thiebold seine Discretion und erröthete über seinen »scheinbaren Adel« ...

Püttmeyer wollte nur entschuldigen, daß er so viel allein sprach ...

Einmal, Herr Baron, war Fräulein Benigna, die die Wirthschaft des Grafen Joseph führte, voll Verzweiflung zu diesem in sein Studirzimmer gestürzt und hatte ihn gerufen, zu Hülfe zu kommen. Da sahen sie Comtesse, so schlank und lang sie schon war, mit aufgelöstem Haar auf der grünseidenen Decke ihres Bettes stehen, im langen spitzenbesetzten Hemde und hochaufgerichtet wider die Wand, dicht zwischen dem Weihwasserkessel, dem Crucifix und dem Bilde ihrer Mutter sich anstemmend und gegen die Wand sich so furchtbar drängend, als wollte sie die Mauer eindrücken ...

Thiebold strich sich die Frisur, als fühlte er, wie sie sich »vor Horreur« sträubte ....

Ja, Herr Baron! fuhr Püttmeyer erregt fort. Fast unglaublich, aber Fräulein Armgart versicherte es. Der Mond stand gerade gegenüber und schien Comtessen ins Antlitz. Comtesse war bei völliger Besinnung und sagte nur immer: Ich muß das so! Die Aerzte sprachen damals, wie ich wol verstand, von der Entwickelung des weiblichen Lebens und konnten nur Vorbaumaßregeln anempfehlen, wenn die Anfälle sich wiederholten ... Aber sie kamen wieder mit allen Schrecken von Bewegungen, die oft aller uns geläufigen Gesetze von der Schwere und Centripetalkraft der Dinge spotteten. Das kranke Mädchen konnte sich gegen die Wand abstemmen und in der Schwebe mit ganzer Körperschwere erhalten. Somnambulismus fehlte damals noch. Vielmehr stellte sich in ihrem fünfzehnten Jahr eine starke Reaction des Körpers in seinen Muskeln und sozusagen irdischern Theilen ein. Der Gang wurde träge, hängend, Comtesse fingen zu hinken an. Nun kamen sie auf die berühmten Streckbetten einer süddeutschen Stadt. Das zweijährige Liegen in einer fast ununterbrochen gleichen Lage schloß ihr allerdings wol die Pforten des Phantasielebens auf; doch bald trat immer deutlicher Clairvoyance hinzu. Sie kannte ihren Zustand. Sie hielt ihn so werth, daß sie, wie Fräulein Armgart versicherte, in der Beichte sich der Eitelkeit anklagte. Da ihr Befinden, einige vorübergehende Störungen ausgenommen, kein eigentlich krankes war, wenn sie sich in ihrer gewohnten Weise erhielt, so blieben von ihr die Zumuthungen künstlich magnetischer Einwirkungen fern. Sie hatte ihre bestimmten Zeiten des Schlafes, bestimmte Bedingungen, wie den langen Anblick des Wassers, des Metalls, des Schnees, die ihr ein waches Träumen verursachten. Dann durfte nur der Herr Baron von Hülleshoven leise einmal mit der Hand über sie hinstreifen und sie antwortete auf jede Frage, die er an sie richtete. Sonst wirkt, hör' ich, alles auf sie, was sie lieb hat, selbst das Anstreifen – ihrer großen Doggen! Sie ist im Bann des Wohlbefindens bei gewissen Menschen ebenso, wie im Bann des Schmerzes bei andern. Hört sie von Hoffnungen, die auf sie gerichtet werden, so nimmt sie ihr Brevier, liest die entsprechende Tagzeit und glaubt, ihr Gebet müßte geholfen haben; wenigstens zöge es sie, sagte Fräulein Armgart, mit ganzer Seele zu den Leidenden hin ... Seit einiger Zeit vollends soll die Heilkraft und die Sehergabe außerordentlich geworden sein ...

Hier wurde Püttmeyer's förmlich in einen reißenden Strom gebrachte Rede von demselben Diener unterbrochen, der eilends und erschreckt zurückkehrte, das Kissen mit den Gegenständen von vorhin noch auf der Hand ...

Was ist? fragte Thiebold ...

He spreekt! sagte der Diener auf plattdeutsch und eilte bestürzt vorüber ...

Sie spricht? ... wiederholten beide ...

Thiebold, mit jenem Vorwitz, »den auch nur er haben konnte«, zog den Doctor, der sich sträubte, näher, beschritt die offene Thür, kam durch ein Zwischenzimmer, fand wieder eine Thür offen, dann einen schwersammetnen blauen Vorhang, lüftete diesen und ließ ihn plötzlich sinken ...

Es war ein kleines Durchgangscabinet, noch vor Paula's Schlafzimmer ... Hier lag die Schlafende auf einem Ruhebett und sprach in vernehmlichen Worten.

4.

Dies Vorcabinet war ein Neubau, der eine frühere Unterbrechung der Wohn- und Schlafzimmer durch einen Gang verhinderte und verdeckte. Von einem obern Zimmer hatte es ein durch gedämpftes Glas hereinfallendes Kuppellicht ...

Das Schlafzimmer daneben war fast dunkel, aber die dunkeln Schatten leuchteten bunt. An den Fenstern prangten praktikable bunte Läden von bleigefügten, schön zusammengestellten alten Kirchenfenstertrümmern ...

Es sah hier aus wie der Eingang in eine Kapelle ...

In dem Vorcabinet, beschienen von dem matten Kuppellicht, lag Paula, völlig angekleidet auf einem Ruhebett ... Die Haare glänzten golden ... Ihre Augen waren geschlossen, ihre Blicke lächelten ... Armgart stand zu Paula's Häupten, selbst geisterhaft wie eine Botin aus jenem Traumreich, von dem einst der griechische Sänger sagte, es hätte zwei Ausgangspforten, eine von Elfenbein, aus dieser kämen die unwahren Träume, eine von Horn, aus dieser kämen die zutreffenden ... Die Tante hielt Paula's Hände ...

Thiebold wagte nicht einzutreten, zog sich aber auch nicht zurück und winkte vielmehr dem Doctor, der so kreideweiß war, wie seine Halsbinde ...

Deutlich hörte man die langsam und hellgesprochenen Worte:

O die liebe, liebe, liebe Sonne! ... Wie glitzert das im Schnee ... Ein Brillant auf jeder Tannenspitze ... Ach, ach! ... Das ist ein Schatz – im Düsternbrook ...

Im Düsternbrook?

Püttmeyer glaubte, die Seherin wäre in dem Reiche der ewigen Kreise, Tangenten und Sekanten – Der Düsternbrook lag nur drei Meilen von hier ...

St! sagte aber Thiebold schon, nur auf eine Ahnung hin, Püttmeyer könnte sich erläuternd oder anzweifelnd bewegen ...

Püttmeyer schluckte nur seine Angst hinunter und hielt sich an einen Stuhl, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren ...

Nun kommen sie! fuhr die Träumende fort ... Wie sie so lieblich singen, die Mönche! ... Silberbeschlagen ist der Sarg ... Laienbrüder tragen ihn ... Die Armen! Wie die Füße so nackt durch den Schnee müssen! ... Alle singen: Dona eis pacem ... Wie heißt das, Fräulein – Schwarz? ...

Die Träumende schwieg ...

Thiebold stand schreckergriffen. Er glaubte, »versichert sein zu dürfen«, daß die Gräfin drei Meilen weit das eben stattfindende Begräbniß des Kronsyndikus sähe; aber was sollte dann Fräulein Schwarz, die doch wol niemand anders sein konnte, als ihre frühere Gesellschafterin, jene Lucinde, der Benno ein lateinisches Wörterbuch gekauft hatte? War denn diese bei dem Begräbniß zugegen?

Püttmeyer schlich athemlos einen Schritt näher ...

Die Gräfin sprach schon wieder laut, doch etwas unverständlicher ...

Erst allmählich unterschied man die Worte:

Die Wagen nehmen ja kein Ende ... Ich zähle schon dreiundzwanzig ... in dem ersten hinter den Franciscanern sitzt der Präsident von Wittekind ... Neben ihm der Domherr ...

Wieder eine Pause ...

Dann der Onkel mit Benno –! fuhr Paula fort ...

Wieder schwieg sie ...

Es geht so langsam ... Den Schnee schütten die Bauern auf ... Da läuft ein Reh über den Weg ... Alles ringsum Wald ... Aber die Menschen ... Singen die und sie läuten auf dem Schlosse ... Der Zug kann jetzt nicht durch ... Jetzt schweigen die Mönche ... Einer singt ... Pater Ivo ... »Maria, Maienkönigin! Dich will der Mai begrüßen!« ... Der Mai in diesem Winter! ...

Püttmeyer kannte ja auch den Mariensänger, den Grafen Johannes von Zeesen, der mit seinem Husch! Husch! die Melusinen verjagte ...

In der dritten Kutsche ... fuhr Paula den Bebenden fort zu erzählen ... da sitzt der Herr von Terschka ... Bei ihm der Landrath ... Wie jung ist der heute wie der! ... Herr von Enckefuß ist ganz geschminkt und schön frisirt ... Die Mönche singen ... Wie scheint die liebe Sonne auf den silbernen Sarg! ... Ein Kissen liegt auf ihm mit allen Orden des Onkels! ... Wie funkelt das! ... Vierzehn Mönche sind es ... Zwei fehlen ... Sebastus und Hubertus fehlen ...

Sebastus? – sagte, seinem Temperament verfallend, Thiebold halblaut ...

Den seh' ich ja jetzt auch! ... hauchte Paula, als wenn sie Thiebold's Frage gehört hätte und alle, auch wol drinnen die Frauen, mochten denken: Den Sohn des Mannes sieht sie, der erschlagen wurde von dem Todten, den sie eben begraben?

Der liegt recht krank! fuhr Paula fort. Er liegt im Krankenkämmerchen von Himmelpfort ... Ach, das ist da eng und klein! ... Durch ein Gitter ... Da kann er in eine andere Zelle sehen, nicht acht Schritte lang ... Das ist die Kapelle der Kranken ... Fünf Schritte breit ist auch die nur ... Maria von altem bunten Holze ... Neben ihr – dahin also legen sie ihre Weihnachtskrippchen? ... Ein Oechslein ... ein Eselein ... wie zum Spiel für Kinder ... Gebt sie ihm doch! ... Geht das Eselchen nicht durch das Gitter? ... Es geht ... Armer Pater, spiel' mit dem Krippchen der Franciscaner! ...

Lange blieb es jetzt drinnen still ...

Tante Benigna sprach endlich laut und betonte die Worte so scharf, als könnte Paula dadurch verhindert werden, ferner ihren Geist außerhalb der körperlichen Hülle dahin schweifen zu lassen ...

Armgart aber schien das höchste Verlangen zu tragen, vom Leichenbegängniß mehr zu wissen ...

Nein! Nein! Komm! sagte die Tante mit Entschiedenheit ...

Laß sie doch, Tante! bat Armgart ...

Sie träumt das nur so – komm! ... Sie sieht es nicht ...

Die Tante hatte schon die Vorhänge ergriffen und bedeutete die Männer, sich nicht den Zwang anzulegen, zu leise aufzutreten; man dürfte getrost ganz laut sprechen ...

Schon wollte sich entfernend Püttmeyer in Andacht, Thiebold in Bewunderung ausbrechen, als Armgart, die sich nicht trennen konnte und jetzt weit über dem mit einer seidenen Decke belegten Ruhesopha hingestreckt lag und das in glatten Scheitel gewundene Haar der Freundin streichelte, hastig winkte und die Tante bedeutete, Paula schiene einen heftigen Schmerz zu fühlen ...

Schnell wandte sich die Tante ...

Da sie gleichfalls zu sehen glaubte, daß sich Paula durch irgendetwas erschreckt fühlen mußte, kehrte sie zurück ...

Der Vorhang, der die Männer von dem Gemache trennte, fiel wieder zu; aber sie hörten die angsterfüllte Stimme der Träumenden in kurzen Sätzen die Worte ausstoßen:

Wer stört nur da – die Ruhe des Todten? ... Der Zug hält ja ... Wer spricht? ... Das ist die Eiche, an der ... Wer spricht nur immer und predigt so laut? ... Ha! ... Herr von Terschka springt aus dem Wagen ... Die Mönche schweigen ... Benno ... Gensdarmen ... Der – Jude ...

Merkwürdig! rief Thiebold, dem das Traumsprechen Paula's an sich nicht neu war, und ergriff die Hand des zitternden Doctors, dem der Angstschweiß auf die Stirne trat. Was mag denn nur vorgefallen sein? ...

Nichts mehr wurde hörbar ... Man vernahm ein Murmeln der Gräfin, ein unverständliches Sprechen, wie durch die Zähne ... Dann war alles still.

Die Tante kam heraus und sagte, scheinbar voll Beruhigung und doch voll Bestürzung:

Sie ist erwacht!

Jetzt – in einem Augenblicke – flüsterte Thiebold ...

Wo ich, konnte die Tante für sich hinzusetzen, schon die Freude habe zu sehen, wie dieser liebenswürdige junge Mann förmlich schon unter dem Umstand leidet, seinen Hut nicht holen und sich bei etwas Vorgefallenem nützlich machen zu können ... Wie ganz anders das, als einst z.B. mein Levinus war! ...

Im Erwachen weiß sie nichts mehr von dem, was sie im Traumschlaf gesehen? fragte Püttmeyer im Gehen und athemlos vor Beklemmung ...

Kein Wort weiß sie dann! bestätigte die Tante. Sie können sich denken, wie diese Dinge uns aufregen. So besonders lebhaft sprach sie seit lange nicht wieder, und wir glaubten schon den höchsten Grad erreicht zu haben ... Sie werden sehen, daß sich unser Engel nach einigen Minuten erholt hat und am Arm ihrer Freundin eintritt, als wenn nichts geschehen wäre ... Was mag nur die plötzliche Störung gewesen sein! Und gerade da, an – der verhängnißvollen Eiche? ...

So kamen sie in das behagliche Wohnzimmer zurück ...

Und Sie dürfen in der That annehmen, meine Gnädigste, begann Püttmeyer, daß das alles –

Na natürlicherweise! fiel Thiebold ein und erklärte es für »selbstverständlich«, daß die Herren, die gegen Abend zurückkommen würden, alles das als wirklich so vorgefallen bestätigen würden ...

Püttmeyer mußte bedauern, daß die weite Entfernung Eschedes ihn zwang, unmittelbar nach dem Diner sich schon in den Wagen zu setzen, der ihn heute früh abgeholt hatte, und wieder in sein Städtchen zurückzufahren ...

Die Tante war inzwischen mit der Nachfrage um das Diner beschäftigt. Die Störung des Leichenbegängnisses nahm sie allmählich für etwas wirklich Vorgekommenes, vielleicht doch nur Unverfängliches. Sie wüßte, sagte sie, wie schreckhaft Paula wäre und wie schon die geringste Abweichung von dem, was in der Ordnung, sie in Verwirrung bringen könnte ...

Thiebold schwebte hoch über der Erde. Er erzählte eine Anzahl von Geschichten, die ihm die alten Holzvermesser seines Geschäfts, die Förster und Holzschläger auf seinen Reisen als glaubhafte »Ahnungen« versichert hätten. Er behauptete, in Canada englische, aus Schottland gebürtige Soldaten gesehen zu haben, die am zweiten Gesicht krank waren; krank, betonte er, wenn man krank eine so wunderbare Gabe nennen könnte, die sogar ansteckend sein soll; ja in der That, Herr Doctor –! Thiebold versicherte, daß ihm Hedemann erzählt hätte, wenn in einer schottischen Compagnie nur ein einziger Geister sähe, sähen bald alle welche. Selbst der Oberst von Hülleshoven, der doch gewiß ein Mann ohne Vorurtheile wäre, hätte dies versichert –

Nun kam die Tante von einer Inspection des jenseit des großen Empfangssaales gedeckten Tisches zurück und Thiebold mußte von dem hier bedenklichen Obersten schweigen ...

Die Tante reichte Püttmeyern den Arm ... Thiebold bedeutete, auf Paula und Armgart warten zu müssen. Die Tante bat ihn zu kommen; die jungen Damen würden nicht ausbleiben ...

In der That erschien, als die drei Vorausgegangenen in einem fast im Styl eines klösterlichen Refectoriums angelegten, rings mit kunstvoll ausgelegten hohen Schränken und krystall- und silberbeschwerten Büffets versehenen Zimmer an ihren Stühlen standen, Paula, geführt von Armgart.

Beide kamen wie aus der Märchenwelt. Paula wie eine Fee, Armgart wie ein ihr dienender Elfe. Jene in heiterer Sicherheit, ahnungsvoll im Besitz ihres Reichthums und in der Fülle ihrer Gaben, sie ohne Anspruch auf Dank verschenkend ... Diese der Erde angehörender, minder zuverlässig, eher wie das Licht des Mondes gehalten gegen den Strahl der Sonne ... Beide hätten Kränze auf ihren schönen bleichen Häuptern tragen sollen, Paula von himmelblauen Winden, Armgart von grünem Epheu ... Armgart klammerte sich an ihre Freundin, wie wenn diese das Geheimniß auch ihres Lebens hielt ... Paula, selbst so hülfsbedürftig, selbst so schwankend bewegt von ihrem innerlich bangen, äußerlich zwar noch immer glänzenden, aber doch ungewissen Geschick, bewegt von ihrer stillen Liebe, bewegt von ihrem Naturlose, das sie sogar von dem, was ihr eben geschehen war, selbst nichts wissen ließ, schwebte sicherer dahin als Armgart, die fast mit scheuem Gewissen zur Erde blickte ...

Das Mittagsmahl stand in seltsamem Gegensatz zu dem eben Erlebten. Suppe, Rothwild, Auerhähne, grünes Kraut und Kastanien – und hinter jedem Stuhl vielleicht ein abgeschiedener Geist! In einem Winkel des Zimmers auf einem Fußsessel, vielleicht mit der Trauerhaube die Schwester des Kronsyndikus, Paula's längst verstorbene Mutter ... Vielleicht Graf Joseph, der eben an einer alten, neuvergoldeten Rococo-Wanduhr die zufällig schnurrenden Gewichte aufzog ... Wer hätte nicht außer sich vor Staunen fragen mögen: Wie ist dir denn nun das, du Heiligste deines Geschlechts? Wie fühlst du dich nur? Was sahst du denn am gespaltenen Eichbaum? Wer predigte nur so laut? Kann das wirklich derselbe Mund sein, der vorhin ein wunderbares Ferngesicht erzählte und der jetzt so den silbernen Löffel leert, wie wir, völlig harmlos von des Doctors bedauerlicher Abreise spricht und sogar Armgart neckt, die »ein Buch über Philosophie zu schreiben scheine; denn so, wie sie sich seit einigen Tagen umgewandelt hätte, das könnte nur eine Gelehrte, die freilich auch von Angelika soviel Mathematik gelernt hätte« ...

Thiebold war glücklicherweise der Mann, der jetzt über die schwierigsten Fragen wie über schwindelnde Brückchen hinwegschlüpfte, dabei jeden niederfallenden Knäuel einer Bemerkung episodisch aufhob und ein seltenes Gemisch von geselligen Tugenden zur Bewunderung der Tante bot, die solchen Männerschlag in der Welt für unmöglich gehalten hatte. Püttmeyer versank in ein stillbeschauliches Grübeln ... er sah Paula starr an, verwechselte sein Messer mit der Gabel, nahm zum Braten zu gleicher Zeit Compot und Salat und beging all die Diätfehler, vor denen ihn seine Verehrerinnen in Eschede beim Abschied so ernstlich gewarnt hatten. Thiebold hatte dabei ganz nach Moppes' und Piter's Theorie die Art, den Wein einzuschenken, als wär's Wasser. Da fand kein Nöthigen statt, kein Abwarten, ob ein Glas schon ganz geleert war; wie er in sein Haar griff, um seinen Scheitel zu ordnen, ebenso leicht griff er an die Flasche. Die Tante fand das alles entzückend. Sie lebte auf in dem heitern Anblick, wie die beiden Mädchen wol ein halb Dutzend mal dieselbe Geberde machen mußten, die Hand auf ihre Gläser zu legen und dem Einschenkenwollen zu steuern, während Thiebold ebenso oft dann, ohne sich in seinen Reiseberichten über Amerika, Paris, London und Kocher am Fall stören zu lassen, die Wassercaraffe ergriff und die Wassergläser der Damen bedachte. Er ist allerliebst! sagte ihr zwischen Paula und Armgart hin- und hergehender Blick ... Nur Ein Diener konnte dabei bedienen, da zur Vertretung der gräflichen Würde beim Leichenbegängniß fast die ganze Dienerschaft abwesend war und der neuhinzugetretene Dionysius Schneid für ein unmittelbares Bedienen der Herrschaften zu wenig Geschick zeigte ...

Im Strom seiner Mittheilungslust und einer bei dem Gefühl, »mit Geistern zu Mittag zu speisen«, höchst natürlichen Aufregung gerieth Thiebold wiederholt auf Armgart's Aeltern. Er konnte diese Erwähnungen nicht länger zurückhalten; denn bald hatte er vom Obersten eine entschlossene That, bald von der Oberstin eine überraschende Aeußerung zu berichten. Die Tante ermuthigte ihn auch, sich keinen Zwang anzulegen, denn diese Veränderung hatte allerdings stattgefunden: sie war völlig geneigt zur Versöhnung. Ihre Sorge um Armgart wurde zu groß; im Stifte Heiligenkreuz konnte des jungen Mädchens Bleiben nicht sein. Sie hatte bisjetzt die schlechteste Stelle, jährlich nur zwanzig Thaler baar und kaum sechzig in Naturalien. Die Verhältnisse in Westerhof wurden zu schwankend; die Ansiedelung des Obersten von Witoborn mit dem auf die Hedemann'schen Mühlenwerke gerichteten Plane war vor der Thür; Onkel Levinus wurde je älter je grilliger; Tante Benigna sah demnach ganz gern, daß Thiebold ihre Schwester und ihren Schwager zugleich pries ... Thiebold wurde dabei auch von ihr nur immer Herr von Jonge genannt ... In ihren auf Armgart gerichteten Blicken lag: Wie benimmst du dich nur heute wieder gegen diesen besten aller deiner Bewerber!

Thiebold erzählte von Hedemann, von seiner Lebensrettung, von den Mühlenwerken und von Hedemann's Vettern ...

Ich war in Borkenhagen ... mit meinem Freunde Benno von Asselyn zugleich, der – Sie wissen ja wol, in dem Dorfe da geboren und erzogen worden ist ...

Geboren? warf die Tante lächelnd und fast verächtlich ein ...

Ganz recht! verbesserte sich Thiebold. Wie kann ich vergessen – Mein Freund ist –

Ein Spanier ja wol? unterbrach den Einschenkenden Püttmeyer, den seine Freundinnen trotz seiner Verborgenheit au courant aller Verhältnisse der Gegend hielten und den der Wein und die Geisterwelt seltsam anregten ...

Das doch wol eigentlich nicht! berichtigte die Tante mit einem mysteriösen Lächeln. Sie mußte auf die Schüssel, die eben herumgereicht wurde, niederblicken, weil aus Paula's Augen ein bittender Blick sie traf ...

Ein prächtiger Spaziergang! fuhr Thiebold fort. Selbst im Winter! Wir suchten im Wald bei Borkenhagen, in den Vorgebüschen von Schlehdorn, erst den Finkenfang, dann die Wolfshöhe und einen großen dort befindlichen Ebereschenbaum, der in Benno's Jugenderinnerungen – übrigens wird ja nächstens dort die große Jagd stattfinden – eine merkwürdige Rolle spielt – bitte, gnädigstes Fräulein, genirt Sie die Sonne? ...

Schon war's ein Strahl der abendlichen Sonne, der der Tante ins Antlitz fiel ...

Thiebold war schon aufgesprungen, um den Vorhang niederzulassen ...

Man bat, sich nicht zu incommodiren ...

Püttmeyer wünschte gelegentlich den Tag der Jagd zu wissen, seiner Transparentbilder wegen ...

Wir schreiben Ihnen das! sagte die Tante und fuhr, auf Thiebold gewandt und zugleich ärgerlich über ein Erglühen Armgart's, als von Benno die Rede war, fort: Dann waren Sie gewiß auch auf dem armseligen Hof der närrischen verwilderten Alten, der dicht beim Walde vor Borkenhagen liegt?

Allerdings! rief Thiebold vom Fenster zurückkehrend ...

Armgart aber fiel mit leuchtenden Augen ein: Armselig? Das war ehemals der schönste Bauernhof zwischen Borkenhagen und Witoborn! Die Ställe voll Vieh, dabei fünf Pferde und die Scheuern voll Korn ... Auf dem Hof hat Benno reiten gelernt! Da hob ihn Hedemann zuerst aufs Pferd! Die Alten schenkten ihm sogar ein schwarzes Füllen! Wie ich im letzten Herbst hinkam und sie daran erinnern wollte, wiesen sie mir freilich die Thür ...

Aus dieser Mittheilung ersah man, daß Armgart in der ganzen Gegend zu hospitiren pflegte und überall den Bruder Gutentag machte ...

Alte, verdrehte, abscheuliche Menschen sind's! rief die Tante. Ruchlose sogar!

Warum hast du sie nicht lesen und schreiben gelehrt? entgegnete Armgart ...

Ich? Ich? Wie so ich? Soll das eine Anspielung auf – mein Alter sein? erwiderte die Tante und lächelte selbst sogar der Feinheit ihrer Bemerkung, ohne darum ihre zornige Aufwallung zu mildern ...

Tantchen! bat Paula und reichte ihre schöne, lange, ovale weiße Hand über den Tisch zur gereizten Verlobten des Onkel Levinus hinüber, während Armgart's Antlitz glühte und ihre starren Lippen sich nicht regten, eine so absichtlich verkehrte Auslegung ihrer Bemerkung zu berichtigen ...

Diese Menschen, fuhr die Tante fort, sind die starrköpfigsten Bauern, die nur je hier zu Lande gelebt haben! Gottesverächter sind sie geworden! Ich gebe zu, sie wurden schlecht behandelt –

Von einem Geistlichen! schaltete Püttmeyer gar nicht mehr zaghaft ein ...

Auch vom Landrath! ergänzte die Tante. Solcher Trotz dann aber auch gleich! Das kann auch nur bei uns vorkommen! Ich seh' und erleb' es ja täglich! Jetzt wieder der Streit um den Tanz im Finkenhof! Bitte, Herr von Jonge, was man Ihnen auch erzählt hat und was Sie in Borkenhagen – mit Herrn von Asselyn – er heißt nur so, es ist ein Adoptivname – gesehen haben mögen, glauben Sie mir, diese Leute sind wie die Büffel! Und die Hedemanns von je die obstinatesten! Den künftigen Herrn Papiermüller nannten sie schon vor Jahren Herrn Remigius Dickschädel!

Auf solche aus dem Munde der Tante, die ja selbst einen Kopf wie von Eisen besaß, überraschend genug kommende Worte, stand seit Jahren fest, konnte keine Einrede gewagt werden. Paula's Auge richtete sich auf Armgart, deren Inneres vor Parteinahme zu Gunsten Hedemann's und ihres an Hedemanns Namen betheiligten Vaters aufloderte. Die braunen Augäpfel gingen hin und her, die Lippen öffneten und schlossen sich, die zitternden Finger drehten aus dem frischen witoborner Weißbrot kleine Vierundzwanzigpfünder wie zu einem Bombardement auf alle Welt ...

Gnädigstes Fräulein! wandte sich Thiebold zur Tante, ich weiß nicht, ob ich gut unterrichtet bin ... Ich weiß nur so viel ... Als Freund Hedemann nach Amerika ging, war der Abschied von den Aeltern auf ewig und Hedemann ließ zwei alte Leute in schönem Besitzstand zurück. Damals hatte der »so unglücklich geendete« Klingsohr, genannt der Deichgraf, die Ablösungen des ganzen Regierungsbezirks zu reguliren. Auch die alten Hedemanns wollten sich freikaufen. Auf ihrem Besitzthum haftete die Verpflichtung, dem Gutsherrn, zufällig dem Landrath, dem dieser Besitz von seiner Frau her gehörte, einen gewissen Theil des Ertrages – enfin, wie viel – kurz, ihm regelmäßig zu zehnten! Zank hatte es schon um dieser Abhängigkeit willen genug gegeben; denn nicht einen Baum durften die Hedemanns abhauen ohne den Willen des Gutsherrn ...

Das liegt in den Verhältnissen! sagte die Tante ...

Ich glaube das! Nun aber kam nach einem gewissen Leo Perl der Pfarrer Langelütje, der sich schon auf andern Pfarreien den schlechtesten Ruf erworben hatte und mehr Vieh- und Fruchthändler, als ein Seelsorger war ...

Darüber ist allerdings nur eine Stimme! gestand die Tante ...

Die alten Hedemanns, erzählte Thiebold immer wie forschend, ob er recht berichtet wäre, waren mit ihrem Gutsherrn in Spannung und bedienten sich des Pfarrers, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Der neue Pfarrer erbot sich dazu aufs bereitwilligste ... Die Hedemanns cedirten ihm in aller Form die Ablösung und gaben ihm die nicht unerheblichen Summen zur Realisation des Loskaufs. Gut, das Geschäft ist gemacht; die alten Leute, die froh sind, mit dem Landrath in keine directe Beziehung gekommen zu sein, bieten auch dem Pfarrer eine Erkenntlichkeit an. Er schlägt sie nicht aus. Er nimmt sich eine Kuh aus dem Stalle ...

Und noch dazu die beste! schaltete die Tante ein ... Sie wollte jetzt schon Versöhnung mit Armgart und begann nachzugeben ... Er hat sie am Strick gleich selbst sich mitgenommen!

Inzwischen, fuhr Thiebold fort und schenkte wieder ein, indem er die schmollende Armgart fixirte ... inzwischen ließen die alten Leute, die, wie fast alle ringsum, Geschriebenes nicht lesen konnten, doch einmal von einem hausirenden Juden die Ablösungspapiere durchsehen. Es war an einem Sonntag Vormittag. Beide, der alte Mann und die alte Frau, saßen bereits in Toilette, um zur Kirche zu gehen. Die Glocken läuteten. In dem Augenblick studirt der fremde Rathgeber heraus, daß in den Papieren in Worten geschrieben eine viel kleinere Summe steht, als sich der Pfarrer von den Hedemanns hatte auszahlen lassen. Nicht wahr? Sie waren von ihrem Seelsorger um zweihundert Thaler und ihre beste Kuh geprellt worden. Diese Menschen, von einer großen Verehrung vor allem, was geistlich ist, glaubten dem Juden nicht. Sie gingen mit ihrem Papier zum Kamp hinaus, um in der Kirche, gleich nach dem Gottesdienst, den Pfarrer selbst zu fragen. Da begegnet ihnen die Kutsche des Landraths. Hedemann's Vater grüßt und hält nickend sein Papier empor. Herr von Enckefuß läßt halten und frägt, was es gäbe? Die alten Leute tragen ihren Gegenstand vor. Der Hausirer steht in einiger Entfernung. Und jedenfalls merkte Herr von Enckefuß gleich, was die Uhr geschlagen hatte. Um aber den Pfarrer zu schonen, fuhr er den Juden an, hieß ihn sich hier augenblicklich zum Teufel zu scheren – bitte um Entschuldigung! – und behauptete rundweg zu seinem eigenen Nachtheil, der Schein lautete wirklich auf die Summe, die der Pfarrer von ihnen verlangt hätte ...

Püttmeyer ergänzte:

Es war gerade die Zeit, wo der Rittmeister eine noch viel größere Unthat aus Gutmüthigkeit verborgen gehalten hatte! ...

Die Tante setzte mit Rücksicht auf die noch immer finstere Armgart hinzu:

Sein Herr Sohn ist dafür um so strenger! Der bringt ja alles heraus! Den Kirchenfürsten, den hat der junge Enckefuß verhaften helfen! Den Hammaker hat er auch entdeckt! Den Pater Sebastus hat er hierher geführt! Nur den Leichenräuber von Sanct-Wolfgang hat er noch nicht aufgetrieben ...

Diese Zwischenplauderei war zunächst dazu bestimmt, Armgart's gute Laune zu gewinnen ... Dann fing aber auch die Tante schon an, ihren Unmuth auf die Bedienung abzulenken. Sie hörte draußen sprechen, hörte die groben Tritte des die Speisen aus der Küche herzutragenden Dionysius Schneid und zischte um Ruhe ...

Paula begleitete die Rede und das Benehmen der Tante mit Blicken auf Armgart, die so viel sagen wollten als: Närrchen, sei doch lieb!

Nun hört' ich so! fuhr nach einer Discretionspause Thiebold fort. Die alten Hedemanns blieben in der Sache zweifelhaft. Da der Hausirjude das Blinzeln des Landraths wohl verstanden und sich aus dem Staube gemacht hatte, gingen die alten Leute an die Kirche, nicht in sie hinein. Sie sahen von der Thür aus den Pfarrer im Meßornat, wie er das Hochheiligste segnete; sie mußten vor innerm Groll umkehren. Mit dem tiefsten Zweifel in ihrer Brust vergruben sie sich in ihrem einsamen Kamp und ließen, anfangs vor Ungewißheit, vor Ahnung, dann vor sicherer Zuversicht, daß der Pfarrer sie betrogen hätte, mit der Zeit alles lässig gehen. Den Pfarrer anklagen? Ihn unglücklich machen, die Religion schänden –? Das ist diesen Leuten nicht gegeben. Sie bebauten noch ihr Feld, hatten auch noch Knecht und Magd; aber ein Tiefsinn kam über sie, der sie von der Welt nichts mehr hören und sehen lassen wollte. Noch einmal wagten sie zum Schulmeister zu gehen – sie bekämpften sich, da ihnen wieder die Scheu vor einem geweihten Priester kam ... So ging der Lebensmuth der alten Leute hin. Sie ließen Hab und Gut in Verfall kommen. Einmal rief die alte Mutter Hedemann die Schulkinder an und ließ sich heimlich von denen die Urkunde vorlesen. Sie hörte leider die Wahrheit; ein Betrug war's von zweihundert Thalern. Sie verschwieg ihn ihrem Alten. Zur Kirche ging nun keines mehr und Langelütje, den man meist nur in großen Wasserstiefeln sah, auf den Märkten hinter seinem Knechte stehend, beim Fruchtverkauf, der hinderte sie darin auch nicht. So in Mistrauen und Unmuth kamen die alten Leute zurück. Sie entließen den Knecht, die Magd, bestellten ihren Acker nicht mehr, brachen ihr Holz am Wallheck nicht mehr, ließen ihr Vieh sterben und verderben und behielten nichts, als was zum nothdürftigsten Unterhalt diente. Sie säen jetzt nur, was sie selbst brauchen. Jahraus jahrein besteht ihre Mahlzeit aus Bohnen, die sie in Wasser abkochen und über die sie Milch gießen. Nur zu diesem Bedarf werden die Kühe abgemolken ...

Abgemistet wurde schon lange kein Stück Vieh mehr! ergänzte die wirthschaftskundige Tante. Alles verdarb! Sie zogen ein gefallenes Thier aus dem Stalle und ließen es einfach vorm Hofe liegen. Die Nachbarschaft machte dann dem Lärm der Hunde ein Ende, die sich um das Aas stritten. Nie brauchten sie noch Licht oder Oel; im Winter sitzen sie um den Feuerherd, den sie mit ganzen Bäumen heizen, die sie an ihrem Wall fällen, ins Haus hereinziehen, auf den Herd legen und nun langsam abschwehlen lassen. Oft liegt das eine Ende vom halbbelaubten Baume noch draußen im Freien, vom Schnee überschüttet. Als sie in ihrer Kleidung so weit verfielen, daß sie die Lumpen mit Stroh umbanden, um sie vor dem Herabfallen zu schützen, legten sich die Nachbarn drein. Sie fanden zwei halb schon zu Kindern gewordene Menschen, die in innigster Uebereinstimmung mit sich selbst an ihrem Wahn festhielten, daß die Welt kein Vertrauen mehr verdiene und nichts überflüssiger wäre als die Religion. Man zwang ihnen dann Beistand auf, eine Aufsicht, die dann und wann den Schmutz aus ihrer verfallenen Wohnung entfernt. Der Alte sitzt und raucht aus einer Hollunderpfeife, deren Spitze und Rohr und Abguß und Kopf er sich selbst geschnitzt hat und die immer kleiner wird, weil die paar Zähne, die er hat, sie nach und nach fast ganz »aufmümmeln«. Taback ist sein einziger Luxus. Geld kennen sie nicht. Wer ihnen etwas liefert, Brot, das sie nicht mehr backen, Bohnen, die sie nicht mehr säen, den verweisen sie auf das, was ringsum auf ihrem Eigenthum noch wild wächst. Aber an dem Langelütje kam dann freilich alles heraus. Er sitzt im Jesuiten-Profeßhaus der Residenz des Kirchenfürsten. Wohl kamen bessere Geistliche, aber die alten Leute wiesen jeden ab, der sie auf ihrem verfallenen Hofe besuchte. Sie flüchteten zuletzt zur Kuh in den Stall, bis selbst unser Herr Norbert Müllenhoff müde wurde, auf dem brennenden Baumstamm am Herde zu sitzen und ihnen zu predigen ... So fand Hedemann seine Aeltern, als er im Herbste hier war. Natürlich hatte er dann Zank mit dem Landrath. Wie's jetzt mit den alten Leuten aussieht, weiß ich nicht ... Die Leute leben im Kirchenbann.

Wäre Monika zugegen gewesen, ihr flammendes Wahrheitsgefühl hätte ohne Zweifel ausgerufen: Gerade aus Liebe zur Religion, gerade aus Verehrung vor der größten Frage der Menschheit geschah dieser Abfall von ihren äußeren Formen! ... Und auch in Püttmeyer schürte der Wein und sein vor Jahren tiefgekränkter Denkerstolz den Ausbruch ähnlicher Empfindungen ... In Thiebold wirkte Benno's Urtheil nach, der bei Erzählung dieser Verhältnisse gesagt hatte: Jetzt versteh' ich, Hedemann, warum Sie die Bibel lieber lesen, als das Brevier ...

Armgart aber rief von ihrem Standpunkte: Ja, so muß man die Welt verachten können! Was hilft es, die schlechten Menschen anklagen? Aergern man muß sie und beschämen! Beschämen durch unser Unglück, das man sie zwingt mit anzusehen! Ich gehe doch noch in Witoborn zum Bischof und bitte ihn, von diesen so großen, so echt frommen, so unübertrefflich vornehmen Menschen den allerdings nur zu gerechten Bann zu nehmen!

Man schwieg jetzt ... Es war das Mahl vorüber ...

Auch wurde die Tante von einem Anliegen des Dieners in Anspruch genommen ...

Der Diener flüsterte ihr etwas in plattdeutscher Sprache ...

Er brachte das Gesuch des alten Kirchendieners Tübbicke, der draußen harrte ...

Die Tante erröthete ... aber »Herr, sprich nur ein Wort und meine kranke Seele wird gesund!« sagte der Blick, den sie auf Paula richtete ...

Diese bemerkte den Ausdruck eines der ihr schon bekannten Anliegen ... Sie hörte das Leid des Alten, der um Hülfe für sein Enkelchen bat ...

Paula erhob sich ... Ihre Hand zitterte ... die blauen Augen wurden tiefdunkel ... Aus den Falten ihres weiten schwarzseidenen Kleides nahm sie einen kleinen Rosenkranz von einfachen bunten Steinkügelchen, betete einen Augenblick leise, während alle ihrem Beispiel folgten, küßte das Amulet und reichte es hin ... Armgart ergriff es in leidenschaftlichster Erregung und stürzte damit hinaus ...

Die Tante nahm Püttmeyer's Arm, um sich von ihm in das grüne Wohnzimmer führen zu lassen ... Sie sah im Gehen auf die Uhr ... Es war schon gegen vier ... Dunkel war es geworden und der Diener sagte, daß auch der Wagen schon bereit stünde für Eschede. Thiebold hatte Paula geführt ... Eine drückend feierliche Stimmung umspann die kleine Gesellschaft, eine Stimmung, die sich mehrte durch Armgart's Zurückkunft ...

Der Alte war zu glücklich! rief sie. Das Kind wird genesen!

Paula war weiß geworden wie eine Wachskerze ... Sie riß sich los. Sie hatte Thränen im Auge und verschwand ... Gern wäre Armgart ihr nachgestürzt, aber die Tante befahl, daß sie blieb. Auch kam der Kaffee, den sie in silberner Maschine zu machen und zu credenzen hatte. Die Tante sank in einen der ringsum stehenden grünseidenen Fauteuils ... Ihr »Nick-Viertelstündchen« kam ...

Und Püttmeyer sollte nun so, unter solchen wunderbaren Eindrücken, seinen ganzen Menschen zurücklassen? Er verzweifelte fast ... Doch mußte er nach Eschede ... Der Weg war zu weit und auch dort wohnten Seelen, die er nicht ängstigen durfte! Mochte er auch von diesen nach allem, was er heute hier erlebt, fühlen wie Armgart, als sie im letzten Herbst im Nachen zu Angelika gesagt hatte: Eine derselben würde als geflügelte Kaffeekanne dem Fegfeuer zufliegen, eine andere als geflügelter Strickstrumpf! er mußte sich losreißen ... Auch sein Hund und seine Katze mochten nicht wenig nach ihm kratzen und winseln ... Lassen Sie sich nur recht oft bei uns sehen! sagte ihm die Tante schon wie zum Abschied. Geben Sie Ihr Vergrabensein auf, Herr Doctor! Solange wir auf Schloß Westerhof noch hausen werden, sind Sie uns immer willkommen! Adieu, Herr Doctor! Grüßen Sie in Ihrem nächsten Brief – die – die gute – liebe – Angelika ...

Die Tante wurde auch schon in ihrer Art somnambul und schlief schon halb. Laurenz Püttmeyer stand da, wie ein vierzigjähriges Kind. Er sah sich um, um beim Abschied nichts zu vergessen. Es that noth, daß Thiebold ihm in die Hand gab, was er mitnehmen mußte, seinen Hut, seine Handschuhe, von denen sich nur einer in seinem Frack, der andere noch drüben im Speisezimmer befand, und nun empfahl er sich wirklich. Thiebold und Armgart, die sich ihren noch im Vorzimmer liegenden Pelz überwarf, begleiteten ihn ... Schon hörte man das Schellenklingeln der Pferde ... Schon war der Schlag geöffnet ... Man hatte dem Gaste vorsorglich noch ein heißes Kohlenbecken in den Wagen gestellt ... Man gab ihm noch eine Wildschur des verstorbenen Grafen Joseph zur Benutzung mit ... Püttmeyer war im Losreißen von dem merkwürdigsten Tage seines Lebens in einer Verwirrung, die ihm sogar den Streich spielte, daß er ein splendides Trinkgeld statt dem Diener Thiebolden in die Hand steckte ... Und Thiebold nahm den Thaler und sagte sich mit verklärter Rührung: »O das kann kommen! Bei gewissen Stimmungen ist dem gebildetsten Menschen nichts unmöglich!« Er gab das Geld feierlich dem Diener ... Schon rollte der Wagen dahin und Thiebold, der in bloßem Kopf stand, war nicht wenig geneigt, Armgart zum Hinaufführen den Arm zu bieten ... Schon aber war diese vorausgesprungen ... Und Thiebold, als er dem flüchtigen Reh langsam nachfolgte, dachte: Jetzt, jetzt endlich findest du wol den langersehnten, immer vergeblich gesuchten Augenblick, sie allein zu sprechen und jene Geständnisse zu machen, die dir Bonaventura in der Beichte anbefohlen hat! ... Er faßte sich Muth, obgleich so vieles, so vieles in Armgart's Benehmen gegen ihn sowol wie gegen Benno anders geworden war.

Oben befand sich noch die Tante unter dem magnetischen Einfluß ihrer Verdauung ... Sie trank zwar den von Armgart bereiteten Kaffee, der bekanntlich wach erhalten soll ... Ihr aber machte er die Wirkung, im Lehnsessel Reden zu halten, die etwa in folgender anakoluthischer Verwickelung sich vernehmen ließen und endlich gänzlich abbrachen:

Nun, lieber Herr von Jonge! Nun aber, bitte, bitte, lieber Herr von Jonge, nun spielen Sie uns etwas! ... Ich hätte doch den alten Tübbicke noch etwas fragen sollen ... Bitte, Herr von Jonge! ... Armgart! Noch eine Tasse vielleicht, Herr von Jonge? ... Die Schlüssel zum Archiv jeden Sonntag aus der Hand lassen, das geht nicht, Herr von Müllenhoff – von Jonge! ... Bitte, Mozart ... Das Kind von dem jungen Tübbicke –! Bitte, Herr von Jonge, spielen, spielen! – Nein, man muß sagen, Müllenhoff geht in vielem zu weit! ... Ich liebe so die Musi –! ... Die Jagd ... Transparente Bilder von ... Wenn nur unsere Herren bald gesund und wohlbehalten von Neuhof zurückkommen! ... Die Musik! ... Was sie nur erlebt haben mögen – am Düsternbrook – Bitte, Herr von Jonge! – Die – Die – Sona – Pathé – tique – von van – van von Beetho –

Damit war das Gangliensystem der Tante bezwungen. Sie entschlief, ohne ihre Rede ganz beendet zu haben.

Die Sonate pathétique zu spielen würde sich Thiebold in seiner Vaterstadt nie getraut haben. Die Gegenwart einer Johanna Kattendyk, einer Josephine Moppes, einer Lisette Maus, einer Betty Timpe hätte ihn unrettbar dem »Fluche der Lächerlichkeit« preisgegeben. In diesem hochadeligen Hause aber, dem, wie in vielen tausenden solcher katholischen Herrensitze Europas, principiell die Bildung des 19. Jahrhunderts halbwegs immer fremd bleibt, gestattete man ihm jede freie Variation über das große Meisterwerk, jede Zuthat aus den seinen Fingern noch geläufigern Cramer'schen Etuden. Thiebold spielte wirklich etwas, wie die Sonate pathétique. »Ein Genuß für Götter!« sagte er sich selbst voll Bescheidenheit. Er war in jeder Beziehung froh, daß Benno fehlte.

Armgart stand an der Kaffeemaschine ... Endlich blies sie die Flamme aus ... Es wollte damit nicht so schnell gehen, wie sie wollte ... Thiebold brach mitten in seinem schönsten ad libitum ab und sprang hinzu ... Mund gegen Mund gerichtet, endete die Flamme ...

Thiebold seufzte und wurde kühner und kühner durch das Bewußtsein, daß sich hier einer gemüthlichen Familienscene ein beliebiger Rahmen geben ließ ... Die Tante schlief ... Paula blieb fern ... Sollte er wieder spielen? ... Fräulein! sagte er leise. Ich habe Ihnen durchaus eine Mittheilung zu machen ...

Armgart betrachtete ihn kalt und doch war ihr die »Liebe« schon lange ein Begriff geworden, so klar, so verständlich wie sonst nur der Glaube ... Sie fürchtete, Thiebold wollte von seiner Liebe sprechen ... Sie wollte sich eben deshalb gleichgültig zeigen ...

Spielen Sie! sagte sie. Ich lese indessen ...

Nein, ich muß Sie sprechen! betheuerte Thiebold mit gedämpfter Stimme. Ein Befehl in der Beichte verlangt es! Der Domherr will es!

Armgart maß Thiebold mit weitgeöffneten Augen ...

Wirklich, Fräulein Armgart, ich schwöre Ihnen das beim Heil meiner Seele!

Auf so hochheilige Versicherung hin winkte Armgart leise mit der Hand, deutete auf die Thür und ging mit Seufzen in den Vorsaal.

Ein Blinzeln des Auges sagte, Thiebold sollte folgen.

Nehmen Sie Ihren Mantel, Herr de Jonge! sagte sie, sich im Vorsaal wendend und auf des Zögernden Nachkommen wartend ...

Thiebold blickte erstaunt auf sie nieder ...

Auch sie ergriff ihren Ueberwurf und hüllte sich in ihn mit Thiebold's Hülfe ein. Dann drückte sie ihm seinen Hut in die Hand ...

Sie ging entblößten Hauptes zum Corridor hinaus ...

Wohin führt sie dich denn? sagte sich Thiebold mit gesteigertem Befremden ...

Draußen war die vom Hofe hereinfallende Beleuchtung am Tage schon immer eine halbdunkle. Jetzt war der Abend hereingebrochen und in den langen Corridoren hatte man sich als Fremder ohne Licht kaum noch zurecht finden können ...

Führt sie dich auf ihr Zimmer? sagte sich Thiebold, als Armgart sich links gewandt hatte und in einem dunkeln Gange voranschritt, auf welchen fast klösterlich eine Menge Zimmer, größtentheils an den Thüren mit Hirschgeweihen geschmückt, hinausgingen ...

Sie kamen an Zimmern vorüber, die der Tante und Paula gehörten, an Lauftreppen, die für die Dienerschaft bestimmt waren, an einem der vier Eckthürme, in dem auch Armgart ein eigenes Wohnzimmer hatte ... Sie wohnte halb im Stifte, halb hier ... beide Wohnungen schmolzen auf so eigenthümliche Weise zusammen, daß sie im Grunde nur eine bildeten ... in Heiligenkreuz lag oft ihre Schere und hier ihr Fingerhut ... dort arbeitete sie an der Cigarrentasche, hier an dem Aschenbecher ... dort lag zuweilen ein Schuh oder ein Strumpf, der durch einen andern, der hier sich befand, erst ein Paar bildete ... seit Weihnachten erst besaß sie infolge des entschiedensten Verlangens und nach mannichfacher Prüfung und Berathschlagung Schiller's Werke ... da sie Tag und Nacht darin las, so lagen sie halb in Heiligenkreuz, halb hier in ihrem Thurm. Wenn sie zwischen Heiligenkreuz und Westerhof hin- und herfuhr oder auch zu Fuß ging, begleitete sie ein Bündel von Sachen, das sie hin- und herschleppte. Oft wurde sie von der Tante dafür »Trödelliese« genannt ...

Als Armgart aber auch nicht beim Eingang in ihr Zimmer anhielt, sagte Thiebold stehen bleibend: Ja aber, mein Fräulein, was wird denn nun? ...

Er mußte seine Verwunderung abbrechen und folgen ... Armgart eilte vorwärts ... sie war tief in sich verloren und schlioß nur zuweilen gelegentlich ein offen stehendes, in den Hof führendes Fenster. Die Wanderung war jetzt rechts gegangen in einen andern Corridor des großen Geviertes ... Hier kamen die Zimmer des Onkels, sein Laboratorium ... Auch an diesem – wo oft der Stein der Weisen gesucht wurde und in der Retorte sich als Resultat nur ein Pfund Berliner Neublau ergab, dessen Anfertigung ebenso viel Thaler kostete, als Groschen hingereicht haben würden, den Gegenstand in Witoborn beim Krämer zu kaufen – an zwei Ritterharnischen, die vor des Onkels Thüre Wache haltend im Dunkeln gespenstisch genug aussahen, ging Armgart vorüber, sprang dann eine Treppe hinunter, wandte sich im Erdgeschoß einem neuen Gange zu und führte Thiebold an den im untern Stockwerk befindlichen Bureaustuben, am Archiv, an der Bibliothek vorüber zu einer hohen Thür, die den Eingang in die Schloßkapelle bildete ...

Wohl gingen Mägde, Schreiber an ihnen vorüber, wohl sah man über den großen, mit Sandsteinquadern gepflasterten, jetzt mit zusammengeschaufeltem Schnee bedeckten Hof hinweg im Eingangsportal wieder die hier schon gewohnten Hülfesuchenden: Armgart hielt sich bei niemand auf und huschte in die Kirche, die dem Bedürfniß der frommen Bewohner- und Dienerschaft des Hauses immer offen stand ...

Dieser Raum war nun erst völlig dunkel ...

Armgart blieb an der Thür stehen, ließ den vor Erstaunen sprachlosen Thiebold eintreten, legte den hohen Thürflügel wieder an und ging durch den schmalen Gang der Sitzreihen, voraus zum Altar. Dort knixte sie, wie in der Ordnung, vor dem Erlöser, und sagte zu Thiebold, der auf zwei Schritte hinter ihr stand:

Nun, Herr de Jonge! An diesem heiligen Orte – Was ist es, was Sie mir zu sagen haben!

Mein Fräulein, stotterte Thiebold, befremdet von so viel Feierlichkeit und befangen durch die Einsamkeit des weihrauchduftenden Ortes, Sie überraschen mich! In der That ...

Herr de Jonge! Sie wissen noch nicht, daß ich mein ganzes Leben unter die Befehle der allerseligsten Jungfrau gestellt habe! Ihr will ich vertrauen, was ich auf dem Herzen habe! Von ihrem Rath hängt all mein Thun, all meine Entschließung ab. Was wollen – oder was sollen Sie mir mittheilen?

Armgart hatte sich vor diesen feierlichen Worten auf die erste Bank dicht am Aufgang zum Altar niedergelassen und kniete ...

Allmählich gewohnte sich Thiebold's Auge an das Dämmerlicht der auch am Tage wenig erhellbaren Kapelle ... Die heiligen Gegenstände, die er rings erblickte, milderten die Weltlichkeit seiner Absichten, obgleich an sich diese »die reellsten« waren und nichts Geringeres bezweckten, als Armgart seine ganze Verhandlung mit Bonaventura zu erzählen ...

Thiebold sah nun, daß die Betende zitterte. Den Kopf hatte Armgart aufs Pult gelehnt. So lag sie wie eine dem Himmel Angehörige ... Thiebold hätte sich schon vor ihr selbst niederwerfen mögen; es lag ein so bestrickender Reiz in dein exaltirten Wesen, so viel Zauberisches in dieser gleichsam vor sich selbst entfliehenden, sich mit Gewalt mäßigenden und doch erglühend genug, man sah es, vorhandenen Leidenschaft, daß Thiebold nur durch die geringe »höhere Ausbildung seiner Gefühle« verhindert wurde, seiner begeisterten Stimmung die einer solchen Situation entsprechenden Worte zu geben.

Fräulein von Hülleshoven! sagte er aber, sich dennoch einen Schwung gebend. Die unvergeßliche Reise von Drusenheim – die Reise durch die Siebenberge – diese Nacht dann mit Extrapost –! O ich erinnere mich nie etwas Aehnliches – oder ich erinnere mich allerdings ... oder Sie vielmehr erinnere ich – das ist nämlich der bewußte Gegenstand – an den Moment, wo ich Ihnen gegenübersaß und Sie mir die Hand gaben – Wissen Sie noch?

That ich das? sagte Armgart und blickte die neben dem Erlöser stehende Madonna an, als läse sie alles, was sie zu sprechen wagen dürfte, erst von deren Zügen ab ...

Das heißt, sagte Thiebold und rückte auf der Bank etwas näher, das heißt, liebenswürdigstes Fräulein, Sie setzten ohne Zweifel damals voraus, daß Ihnen –

Ich setzte nichts voraus! sagte Armgart. Ich war in einem Zustand völliger Betäubung ...

Einmal doch – ging Thiebold seinem Ziele, Bonaventura's Auftrag zu erfüllen, näher, – einmal doch schienen Sie völlig und sehr, sehr zurechnungsfähig – als Sie nämlich mit Innigkeit mir oder vielmehr – ja mein Freund und ich – Sie wissen – Benno von Asselyn – liebt Sie, und auch ich – ich kann bei Gott und auf Ehre! ich kann allerdings nicht leugnen –

O nicht das, Herr de Jonge! hauchte Armgart und hielt die Hand wie zur Abwehr ...

Hätt' ich eine Ahnung gehabt, daß mein Freund Sie in sein Herz geschlossen hat, nie würde ich selbst Ihnen soviel – Beweise meiner – Hochachtung gegeben haben, meiner aufrichtigsten – Fräulein, ich kann wol sagen, stellenweise wahnsinnigen ...

O nicht das! Nicht das! wiederholte Armgart ...

O Sie kennen die Liebe nicht, diejenige, mein' ich, die Ihr Anblick in einem – Männerherzen – entzündet, in einem Herzen, das im Stande ist – wie gesagt – einem Freunde zu Liebe selbst die schmerzlichste Entdeckung seines Lebens –

Was befahl Ihnen der Domherr mir zu sagen? unterbrach Armgart ...

O mein Fräulein! O ich bin zu tief beschämt! O, im Wagen damals glaubten Sie, leugnen Sie es nicht, Benno, der, der säße Ihnen gegenüber! Ja, in der »Verschwiegenheit des Dunkels« ergriffen Sie – Ihre Hand wenigstens, Ihre Handschuhe waren es – die Hand Asselyn's, drückten diese voll Innigkeit, ja es fehlte nicht viel, was ich dem Domherrn nicht einmal sagte – Ich beichtete ihm nämlich meinen Betrug – daß nämlich Ihre Hand die seinige – ans Herz zu drücken vermeinte – worauf – wie gesagt aber – Sie waren im stärksten Irrthum! Nämlich der von Ihnen Beglückte war ich! ... Und, weit entfernt nun, mein Fräulein, dem Glück eines von mir aufrichtig geschätzten Freundes – oder vielmehr eines meiner »besten Bekannten« entgegenzutreten, möcht' ich nur eine Antwort auf die Frage haben: Soll ich ihm nicht das aufrichtige Geständniß machen, mein angebetetes, liebenswürdiges Fräulein, über das, was in jener Nacht zwischen uns allen dreien vorgefallen ist, soll ich es ihm nicht sagen, ihn aufklären –? ...

Nein! rief Armgart ... Nein! wiederholte sie, und noch einmal sprach sie mit fester Stimme: Nein!

Thiebold wußte nicht, wie ihm geschah ... Er mußte sich vor Schrecken über diese leidenschaftliche Ablehnung unwillkürlich umsehen ...

Ich soll nicht –? stotterte er ...

Nein! war die wiederholte Antwort, die sie nur abbrach, weil am Tabernakel hinter dem Altar plötzlich ein Geräusch gehört wurde. Es schien eine Thür gegangen zu sein ...

Dennoch nahm Thiebold nach einigem Aufhorchen die Rede wieder auf und war sogar geneigt, in sein Erstaunen den Vorwurf der Undankbarkeit gegen Benno zu mischen – »von ihm selbst sollte allerdings keine Rede mehr sein« – aber Fräulein, Sie misverstehen mich! Oder vielmehr im Gegentheil ... Der Domherr wünscht, daß ich die Wiederherstellung der Wahrheit und Benno's Glück befördere! Er selbst will es übernehmen, Benno dann zu sagen –

Nein! Nein! Nein!

Aber ich beschwöre Sie – soll denn alles, was gewesen ist, ausgelöscht –?

Ja!

Die Fahrt durch die Berge gar nicht stattgefunden –?

Nein!

Benno glaubt aber in Ihrem Herzen –

Nichts soll er glauben –

Das ist ja unglaublich! Geradezu fürchterlich! Ich habe ja mit Benno ein ganz freundschaftliches Abkommen getroffen, daß blos Ihre eigene Entscheidung –

Nun sprang Arm gart auf ...

Ein Ton war beiden zu gleicher Zeit vernehmbar geworden, der ganz in der Nähe dem Schließen eines Schlüssels oder dem Zufallen eines Schlosses entsprach ...

Da ist ja jemand! rief Armgart mit erstickter Stimme.

Und schon war auch Thiebold aufgesprungen. Mit drei Sätzen war er auf der Erhöhung des Altars und starrte abwechselnd auf die beiden Vorhänge, die zur Seite hingen ...

Hinter dem Altar war's! rief ihm Armgart nach ...

Thiebold hob links die rothen Vorhänge auf ... Er sah den Raum, der die Sakristei bildete ...

Wer ist hier? donnerte Thiebold, wild gereizt wie er war, in das Dunkel hinein ...

Armgart, bei aller Angst mit schnell gefaßtem Entschluß, sprang an den zweiten Vorhang, als wenn ihre schwache Kraft einen hier Durchschlüpfenden zurückhalten könnte ...

Auf Thiebold's Rufen folgte keine Antwort ... Deutlich aber vernahm man immer noch ein polterndes Geräusch, das die Anwesenheit irgendeines lebendigen Wesens bestätigte ...

Es wird eine Katze sein! sagte endlich Thiebold mit dem ganzen, überströmenden Ausdruck seiner Wehmuth, während Armgart sich bereits in gleicher Stimmung auf einen Geist vorbereitet hatte ... Sie stand starr und hielt krampfhaft den Vorhang in ihren Händen fest ...

Thiebold ging im Dunkeln mit wiederholtem: Wer ist hier? um die Hinterwand des Hochaltars herum ...

Stoßen Sie sich nicht! rief Armgart mit elegischem Schmelz. Dort steht Schrank an Schrank ...

Es waren die Schränke zur Aufbewahrung der Opfergeräthschaften und Meßgewänder ...

Thiebold kam auf der andern Seite Armgart entgegen und versicherte, nichts gesehen zu haben ...

Er ging dann noch einmal zurück. Armgart folgte sogar ... An einer Thür, die zum Archiv führte, rüttelten beide ... sie war verschlossen ... An den Schränken rüttelten sie ... alles war unversehrt ...

Wie beide auf der andern Seite wieder herauskamen und Thiebold das Erstaunen über Armgart's Erklärung und ihre den beiden Freunden nun schon während ihrer ganzen Anwesenheit in der Gegend bewiesene Kälte in feierlichstem Ernste wieder aufnehmen wollte, Armgart sich ihm entzog und fast entfloh, wurde die Aufmerksamkeit auf ein anderes Geräusch gelenkt, das sich leichter erklären ließ ...

Peitschen knallten, Schellenbehänge von Rossen klingelten, alle Hunde des Schlosses bellten ...

Sie kommen von Neuhof zurück! rief Armgart wie erlöst ...

Jetzt hätte Thiebold viel darum gegeben, wenn die Rückkunft des Onkels und Terschka's sich noch um eine Viertelstunde verzögert hätte ... Sich selbst gab er auf, nur in der That die Liebe zu seinem Freunde hieß ihn noch reden ... Er hatte schneidende Vorwürfe, bittere Vermuthungen auf seinen Lippen ...

Im ganzen Schlosse wurde es mehr und mehr lebendig ...

Kommen Sie! rief Armgart. Sie sind's!

Damit drängte sie zur Thür ...

Die Rückkehrenden waren es in der That, und Thiebold hatte sogar eine Ahnung, Benno und Bonaventura würden mitkommen; ersterer vielleicht um ihn abzuholen und auf seinem Heimgang nach Witoborn zu begleiten ...

Er konnte Armgart nicht zurückhalten, nicht um Aufklärung bitten, keines seiner aufgeregten Gefühle weiter aussprechen ... Schon gingen im Schlosse an allen Flanken die Klingelzüge ... Man hörte das Anfahren der großen vierspännigen Kutsche, des Staatswagens der Dorstes, und einer zweispännigen kleinern, die für Terschka und Benno bestimmt gewesen war ...

Thiebold, mit äußerstem Schmerz das Verschwinden einer schönen Lebenshoffnung wie für ewig fürchtend, hätte wenigstens nur noch Armgart's Hand ergreifen mögen und er that dies auch und hielt sie fest und bat und flehte um Aufklärung ...

Lassen Sie! sagte Armgart. Das Wort war fast verletzend, vornehm sogar. Sie war plötzlich wie gereift zur Jungfrau ...

Aus allen seinen Himmeln gestürzt, von Armgart's Kälte wie mit Eisesluft angeweht, folgte Thiebold mit langsamem Schritt ...

Im Hofe – da war es lebendig ... Die Hunde sprangen und rissen an den Ketten, an die sie zur Nacht gelegt wurden ... Laternen wurden emporgehalten ... Hin und her rannten die mitgekommenen Diener ... Mit Lichtern kam der Diener, der bei Tisch servirt hatte, von der Stiege herunter und rief nach dem neuen Hausknecht, den niemand bemerken konnte ...

Vorm Portal hielten die Wagen. Schon standen in der großen Eingangsflur, sich aus ihren Pelzen herauswickelnd, in schwarzen Fracks und weißen Halsbinden und Trauerhandschuhen der Onkel Levinus von Hülleshoven, Baron Wenzel von Terschka und in der That auch Benno ...

Bonaventura fehlte ... Es ließ sich annehmen, daß er im Trauerhause bei seinem Stiefvater zurückgeblieben war.

5.

Armgart lag, als müßte sie irgendwo ihr sie überwältigendes Gefühl aufs mächtigste ausströmen, im Arm des Onkels ...

Sie küßte ihm den Reif von seinem großen graublonden Bart, in dem sich ein Antlitz verbarg – vergleichen wir's nur geradezu mit einem menschlich gemodelten Thierkopf; denn gibt es gutmüthigere Augen als die des Pferdes oder eines treuen Hundes? Stirn, Backenknochen, Nase (mehr konnte man vor dem Barte nicht sehen) waren hart und massiv, aber die wasserblauen Augen, ohnehin von der Fahrt und der Kälte feucht, glänzten so scheu, so gut, so treuherzig, wie – rügt den Vergleich! – die Augen der großen Bulldoggen an den Ketten im Hof. Armgart umschlang ihn mit einer Innigkeit, als sollte alles, was durch das Gespräch in der Kapelle sich in ihrer Brust vom Gefühl einer mit Gewalt abgelehnten Liebe gesammelt hatte, doch jetzt Einem zugute kommen ...

Benno grüßte einfach und schüttelte dem gewissensscheuen, im Laternenschimmer vollends geisterbleichen Thiebold die Hand ...

Terschka war schon unterwegs, die Tante zu begrüßen, die allen auf halber Treppe entgegenkam, während sich oben auf dem Corridor auch Paula sehen ließ, vor der schon einer der mitgekommenen Diener mit einem silbernen Leuchter von mehreren Flammen stand und ihre zu allen Zeiten feierliche Erscheinung würdevoll beleuchtete.

Gesund und wohl? konnte man freudigst und ungehindert fragen ...

Alles glücklich abgelaufen? fragte man schon weniger ungehindert ... Denn in Gegenwart Paula's mochte man nicht verrathen, daß sie eine Störung des Leichenbegängnisses im Düsternbrook gesehen hätte – darüber war keinem von den Zurückgebliebenen ein Zweifel, daß wirklich dort etwas vorgefallen sein mußte ...

Oben im Vorsaal ließen die Männer ihre schweren Bekleidungen und fanden, links sogleich durch das Eßzimmer schreitend, in einem heute noch gar nicht geöffnet gewesenen, inzwischen geheizten gemeinschaftlichen großen Wohnsaale im linken Thurm die Zurüstungen zum Thee.

Das war denn ein traulicher Raum. Ein großer runder Tisch, höchst kunstvoll ausgelegt, war nur in der Mitte mit einer kleinen Damastdecke belegt ... Auf diesem stand schon die siedende Theemaschine ... Nähtische waren dicht noch an diesen Tisch gerückt mit weiblichen Handarbeiten ... Eine große, mit einem Blechschirm bedeckte Ampel mit mehreren Flammen, die mit metallenen Ringen an der Decke befestigt war, beleuchtete das ganze, rings mit Gemälden geschmückte, teppichbelegte Zimmer ... Die weißen Fenstervorhänge waren niedergelassen ... die Gardinen waren zugezogen ... das Feuer in einem hohen Kamin prasselte ... es war eine Stätte des Friedens ...

Onkel Levinus schritt, umschlungen von Paula und Armgart, wie ein von langen Reisen Zurückgekehrter daher ... Es war ein untersetzter, stämmig gebauter Herr ... In seinem Lächeln lag sogar etwas List, jene List, die der Ausdruck des Geistes ist, den dieser immer dann hat, wo er sich waffen- und harmlos gibt. Der Junggesell zeigte sich in der chevaleresken Begrüßung der Tante, die ihm auch ihrerseits ganz holdseligst entgegenkam und jetzt nicht das Mindeste verrieth von ihren gewohnten Misbilligungen z.B. seiner Methode, die Merinoschafe aus Spanien einzuführen, seines Bohrens auf Steinkohlenlager, die sich nicht fanden, seiner Gestütsveredelungsversuche und ähnlicher Dinge, die sie seit Jahren an dem phantastischen und kostspieligen Wirthschaftsführer controliren mußte ...

Terschka fragte nach dem Postpacket, das sie mitgebracht hätten von Witoborn ... Armgart wurde sogleich von der Tante bedeutet, es aus dem Wagen zu holen ...

Schon sprangen drei Männer zu gleicher Zeit, den Auftrag ihr abzunehmen ... Thiebold nicht am sichersten ... Benno schon in beschleunigterer Hast ... Terschka der Flinkste ...

Armgart hielt indeß alle zurück, bat, sich zu ruhen, und ging allein ...

Benno, von einer der Tante an ihm ganz ungewohnten Eleganz, wie ein Hochzeiter, zog die Handschuhe aus und strich sich vor innerer Erregung den schwarzen Bart und sein lockiges Haar ...

Und der Onkel erzählte schon:

Bonaventura's Mutter war auf dem Schlosse noch nicht anwesend, aber das große Déjeûner dinatoire, das man zur Stärkung bei den weiten Distanzen der Wohnorte aller Geladenen mit voller Genugthuung antreffen durfte, war höchst kostbar gewesen ... Man hatte das Mahl im Stehen eingenommen ... um ein Uhr brach endlich der Zug auf ... Die Segnungen hatte dann dem Sarge der Geistliche des Sprengels gegeben, in dem das Schloß liegt ... Dann hatten die Mönche den Sarg in Empfang genommen, an der Spitze der neue Provinzial, Pater Maurus, Nachfolger des verstorbenen Henricus ... Die Beisetzung im Kloster selbst war ohne Feierlichkeit erfolgt ... Bonaventura hatte dabei etwas zu sprechen keine Veranlassung ... Im Kloster Himmelpfort hatten sich alle Eingeladenen und nur aus Rücksicht um die Dorstes Gekommenen getrennt ... Bonaventura war noch mit einem der Wagen des Präsidenten zurückgeblieben, um im Kloster den Pater Sebastus zu besuchen ... Dann hatte er wieder nach Schloß Neuhof umkehren und erst morgen im Kreise von Westerhof erscheinen wollen ...

Paula hörte diesen Mittheilungen mit Aufmerksamkeit und Ergebung zu ...

Benno ergänzte:

Besonders geistlich sind die Gedanken der Leidtragenden nicht gewesen! ... Der Landrath machte curiose Späße ...

Ja, sagte der Onkel, Späße, die für eine Kindtaufe gepaßt hätten! ... Niemand ging jedoch besonders darauf ein ...

Die Verabredung zur Jagd ist zu Stande gekommen? fiel Thiebold zerstreut ein ...

Graf Hovden, die Hakes, Graf Münnich und andere beauftragten uns, mit der gräflichen Jägerei Rücksprache zu nehmen, sagte Terschka, und die Leute meinen, daß gerade heute Abend noch im Finkenhof das Jagdpersonal versammelt sein würde ... Herr von Asselyn schlug vor, heute Abend den Umweg über den Finkenhof zu machen ... Ich begleite ihn und so bringen wir alles in Ordnung!

Gut! Gut! sagte der Onkel und deutete die Autorität an, die vorzugsweise Terschka hier gebührte. Der Weg ist ja nicht weit ...

Die Tante war inzwischen wieder ungeduldig geworden über Armgart, die erklärt hatte, die Post allein besorgen zu können, und nun nicht wiederkam ... Sie schien auch schon zu bemerken, daß die Männer in der That etwas im Rückhalt hatten ...

Terschka sprach mit Paula und war die Artigkeit und Rücksicht selbst ...

Die zurückgekommenen Diener, die in ihrer etwas altfränkischen Staatslivree, Grün mit Gold, geblieben waren, arrangirten den Thee ... Die Herren setzten sich ...

Wie still, begann der Onkel mit einer wohltönenden, aber nur leisen und, wie dem Forscher ziemt, nur prüfenden Stimme ... wie still kann nun so ein wildes Menschenkind werden! Wie lange hat doch dieser Mann in der Welt rumort! Es ist dein Onkel, Paula! Aber der hat die Spanne Zeit, die ihm der Schöpfer gemessen, benutzt wie sein unveräußerliches Eigenthum! Ein schauerlicher Augenblick, als wir in dem dunkeln, schneeverschütteten Grunde an dem hohlen, blitzzerschlagenen Eichbaum vorüberkamen, wo einst der Deichgraf Klingsohr gefallen! ... Ja, vorher schon! ... Ich erstaunte, im Dickicht ein gewisses Kreuz wiederzufinden, das, solange der Kronsyndikus noch im Gebrauch seiner gesunden Sinne war, an jener Stelle nie stehen durfte ... Bruder Hubertus scheint es gewesen zu sein, der es wieder aufgerichtet hat ... Er ist von seiner Reise zurück ...

Terschka, immer die Thür fixirend, durch die Arm gart zurückkehren mußte, und eine Tasse Thee entgegennehmend, sagte:

Ich bin nun fast ein halbes Jahr in der Gegend, hörte soviel vom Bruder Hubertus und sah ihn heute zum ersten mal ...

Er ist erst jetzt von Wanderungen heimgekehrt, die ihn bald in dieses, bald in jenes Kloster seines Ordens, oft bis in die Schweiz hineinführen, erwiderte Onkel Levinus. Gleich beim Anblick des Kreuzes, vor der Störung an der Eiche, dachte ich mir: Jetzt muß wol der Knochenmann wieder dasein!

Welche Störung? fragte schon vor dem »Knochenmann« die Tante und sah Thiebold an, der seinerseits zu der vom herabfallenden Lampenschimmer wie verklärten und nur auf die Erwähnung Bonaventura's harrenden Paula mit gedankenverlorener Andacht blickte ...

Ja! fuhr der Onkel fort, das war, um es nur zu sagen, ein recht verdrießlicher Augenblick! Ein förmliches Todtengericht! Ich zitterte für den Präsidenten, der neben dem Domherrn saß und die Scene erleben mußte! Auch der Landrath, wie uns Herr von Terschka später mittheilte, soll sich furchtsam in seine Ecke gedrückt und vergessen haben, daß gerade seine Autorität hier am Platze war ... Wer weiß, wie lange diese Scene gedauert hätte, wäre nicht Herr von Terschka zum Wagen hinausgesprungen und hätte die gehemmte Ordnung des Zuges wiederhergestellt ...

Tante Benigna's Augen hafteten an denen Thiebold's ...

Bruder Hubertus unterstützte Sie endlich, Herr Baron! schaltete Benno ein, den Terschka's gespanntes Warten auf Armgart zu stören schien ... Man hätte von ihm, soviel ich höre, diese Großmuth kaum erwarten sollen ...

Welche Großmuth? fragte Terschka. Was hat es mit dem Bruder für eine Bewandtniß?

Das zu erklären, fuhr der Onkel fast frauenzimmerlich erröthend fort, möchte –

Die Tante wußte, daß die »Gegenwart der Damen« hinderlich war und fiel sogleich ein:

Welche Störung fiel denn nur vor?

Paula saß jetzt, als besänne sie sich auf einen Traum, den sie vor langer, langer Zeit gehabt haben konnte ... Auch Benno sah sie auf das Wort des Onkels mit einem ehrfurchtsvollen Blicke an. Sie machte den Eindruck, als wären unter dem Schutz ihrer weit ausgebreiteten Cherubsflügel alle Dinge der Erde rein und unentweiht ...

Der Zug mußte im Düsternbrook eine Biegung machen, erzählte der Onkel, sodaß wir auch im Wagen alles mit ansehen konnten, was vor uns mit dem Sarge geschah. Vier Laienbrüder trugen ihn. Voraus gingen der Provinzial Maurus und die Mönche und alle sangen. Hintennach folgten die Dienerschaften von Schloß Neuhof, die Vorstände der Wirthschaft, die Beamten der Wittekind'schen Verwaltung. Dann erst kamen die Kutschen. Wie der Sarg an der bekannten Eiche vorüberkam, empfing ihn an dem zum Zusehen bequemsten Platze eine dort versammelte Menschenmenge ... Bauern, Knechte, Weiber, Kinder, alles dicht geschart ... Zufällig machten die Gesänge der Mönche eine Pause ... Da ertönte anfangs eine Geige ... In lustiger Melodie fiedelte irgendjemand, den man nicht sah, und gerade aus dem Menschenknäuel heraus ... Erst konnte man an einen Bettler denken, der die Gelegenheit nutzen wollte, auf die Art zu einem Almosen zu kommen ... Bald aber hörte man eine laute Stimme rufen: Schweig, Todtengräber! Hier erst noch drei Hände voll Erde!

Ihr Heiligen! rief die Tante erstaunend, da auch der Onkel im Erzählen feierlich die Stimme erhob ...

In demselben Augenblick ging die Thür auf und Armgart kam zurück ...

Sie kam ohne die Brief- und Zeitungsmappe ...

Niemand fragte jetzt danach, so ergriffen war noch alles von dem eben Mitgetheilten ...

Thiebold klärte Armgart rasch über das auf, wovon die Rede war ...

Diese hörte wie geisterhaft und abwesend zu ...

Schweig, Todtengräber! wiederholte der Onkel. Hier erst drei Hände voll Erde! rief die Stimme. Da trat eine hohe, kräftige Gestalt in grauem Mantel aus der Menge, hielt einen Gegenstand hoch empor, zog den Hut, als wenn er die Raben ringsum, die grauen Wolken, die kahlen zackigen Zweige, die Trauerkutschen grüßen wollte, und rief: Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof! Nimm zu deinem himmlischen Ehrenkleid auch noch diesen Orden mit! Ein ab instantia absolvirter Mörder empfiehlt dich der Gnade Gottes, des Heilands und der allerseligsten Jungfrau! Erschein' am Tage des Gerichts mit diesem grünen, damals nicht verbrannten Fetzen Tuche –

Die Frauen blickten starr auf den Onkel, der alle diese Worte mit Feierlichkeit nachsprach ... Die Tante war vor Entsetzen halb aufgestanden ...

Benno berichtete weiter; denn dem Onkel stockte schon die schwache Stimme ...

In diesem Augenblick, sagte er, wo wir alle die gleichen Empfindungen haben mußten, wie Sie sie jetzt allein vom bloßen Berichte haben, war die Scene bereits von Herrn von Terschka unterbrochen worden ...

Doch nicht! doch nicht! sagte dieser von einem Nachdenken auffahrend ... Noch ehe ich aus dem Wagen war, um die Störung zu unterbrechen, war schon ein anderer Zwischenfall eingetreten ... Die Geige –

Bitte! ergänzte Benno. Erst hörte man einen schreckhaften Schrei ...

Aber auch Paula erhob sich jetzt ... Armgart hatte nicht Platz genommen, obgleich ihr Terschka und Thiebold einen Stuhl holten, wie sie eintrat ...

Ganz recht! bestätigte der Onkel. Man erfuhr, daß im Dienstpersonal ein Frauenzimmer ohnmächtig geworden war. Es war das die Lisabeth, die Beschließerin von Schloß Neuhof ...

Dann war – das ja wol – jener Küfer? schaltete die Tante mit Entsetzen ein ...

Stephan Lengenich! bestätigte der Onkel. Wir erfuhren es später. Die Verwirrung des Augenblicks ließ sich nicht ganz übersehen, weil inzwischen der Zug schon weiter ging und die Mönche schon wieder sangen. Aber den Anblick alles Spätern hatten die doch noch, die nur langsam nachfuhren. In die Rede des damals ungerechterweise angeklagten Küfers hinein ertönte wieder die Geige. Ihr Spiel war so frech, so teuflisch, so voll Hohn fiel sie ein in die furchtbare Rache des Küfers, die sie gleichsam unterstützen wollte, daß jedermann dem nur danken mußte, der sich plötzlich auf den Geiger warf, ihm sein Instrument aus den Händen schlug und ihn, da er Widerstand leisten wollte, fast mit Füßen trat. Das war dann niemand anders, als unser alter guter Freund, der Bruder Hubertus ...

Benno und Thiebold mußten sich mit Besorgniß Paula nähern, die wie in Erstarrung wieder in ihrem Sessel saß, während die Tante an die Thür eilte, um sicher zu sein, daß in diesem Augenblick der Erörterung mislicher Familienverhältnisse die Diener nicht hereinkamen ...

Ja, das Maß ist gerüttelt und geschüttelt voll, sagte der Onkel tiefschmerzlich und die Hände gefaltet auf den Tisch vor sich hinlegend, das Maß der Ehrenkränkung, die seiner Familie ein wilder und entsetzlicher Mann hinterlassen hat! So ging es doch mit ihm fast funfzig Jahre hindurch! So klagen ihn todte und lebendige Zeugen an! So öffnen sich die Gräber, um ein Geheimniß nach dem andern ans Tageslicht zu bringen! Paula! Du gutes, gutes, treues Kind –

Auf diese liebevolle Anrede, die dem Schmerz galt, den Paula um die Ehre ihrer Familie, um Mutter und Vater empfinden mußte, hatte sie sich rasch aus dem Zimmer entfernt ... Armgart flog ihr wie ihr Schatten zu hülfreichem Troste nach ...

Nun erzählte die Tante den theilweis hocherstaunenden Männern Paula's Traumgesicht ... Alles was sie gesehen hatte, wurde von den Männern bestätigt ...

Wild, wild war der Anblick dessen, was an der Eiche geschah! sagte der Onkel, der seinerseits an diese Visionen schon gewöhnter war. Da mußte sie wol erwachen ... Der Geiger war der Taugenichts, der alte buckelige Stammer! Rächen wollte er sich für die Verweisung aus dem Schlosse durch den Präsidenten ... Der Küfer hatte den Fetzen Tuch, der einst vom Deichgrafen dem Kronsyndikus abgerissen war und so lange nicht gefunden werden konnte, wenn es überhaupt der echte war, auf den silberbeschlagenen Sarg, mitten unter die Ordensinsignien gelegt! Als er das gethan, taumelte der Mann – es war auf den Schrei der Lisabeth – wie ein Kind und wurde von dem anwesenden Löb Seligmann gehalten, dem Juden, der ihn zu kennen schien. Herr von Terschka, Sie werden ja wol das Nähere von dem drolligen Musikschwärmer erfahren können! Aber dem Geigenspieler ging es schlimm. Hubertus zertrat ihn fast; obgleich Stammer der Bruder des Mädchens war, um das auch der Bruder Abtödter den Kronsyndikus so bitter haßte ...

Die Tante, die den Onkel in der weitern Mittheilung der Geschichte des Mönchs Hubertus nicht stören wollte, entfernte sich, um nach Paula zu sehen ... Es kamen jetzt Bestandtheile eines Soupers, auch einige Flaschen Wein, die sie den Männern überließ ...

Der Abtödter, hört' ich, nennt man ihn? fragte Terschka kopfschüttelnd, als die Diener fort waren ...

Man nennt diesen Mönch so in den Klöstern und im Volke! erklärte der Onkel. Sein eigentlicher Name ist Buschbeck ...

Buschbeck! wiederholte Terschka befremdet und wiederholte lange sinnend: Buschbeck? Buschbeck? ...

Terschka's eigenes, allen hier unbekanntes Leben schien mit diesem oder einem ähnlichen Namen eine Beziehung zu haben ...

Der Onkel erzählte mit gedämpfter Stimme und rasch die Abwesenheit der Frauen nutzend:

Auch Sie, Herr von Asselyn, werden sich ja wol aus Ihrer auf Hof Borkenhagen verlebten Jugend des Försters Buschbeck – nein, Sie mußten ihn schon nur als Mönch gekannt haben –

Es muß jener Laienbruder sein, sagte Benno, der dem alten Hedemann einmal ein Pferd mit Sympathie curirte ... Dreizehn Haupthaare von einem Scharfrichter in einem Teig von Weizenmehl und Oel eingegeben und das Pferd erhielt sich ...

Der Glaube macht selig! lachte Thiebold, der sich allmählich zu finden und schon wieder zu serviren anfing ...

Aber der Onkel entgegnete:

Warum? Die Geheimnisse der Natur sind unergründlich!

Terschka, immer sinnender und ein anerkannter Virtuose der Reitkunst, fiel ein:

Die Hauptsache an dem Mittel werden das Oel und vielleicht auch die Haare gewesen sein! Wann kam denn dieser Mann hier in die Gegend?

In den Jahren vor den Befreiungskriegen, etwa 1808, erzählte der Onkel. Es war ein schlanker und gewandter Mann, der bei den Holländern in Java gedient hatte ...

In Java! sprach Terschka leise und sein sonst schon immer wachsbleicher, fast gelblicher Teint nahm eine eigenthümliche Färbung an ... Er verlor in dem Grade seine gewohnte Elasticität, daß er jetzt ganz als der Vierzigjährige erkannt werden konnte, der er war, während sonst der viel jugendlichere Benno fast älter aussah, als er ...

Er rühmte sich mancher geheimen Jägerkunst und manchem galt er für einen Freischützen! fuhr Onkel Levinus fort ... Aber sein Lebenswandel war achtbar und stimmte wenig mit dem Ton, der damals auf Schloß Neuhof herrschte, wo ihn der Kronsyndikus anfangs zum Revierförster machte ... Es gab einst eine wilde Zeit auf dem Schlosse da, das wir heute so still und gespenstisch sahen! ... Freiherr von Wittekind war durch die Verführungen des damaligen kasselschen Hofes in ein Leben der tollsten Liebeshändel gerathen. Immer hab' ich gefunden, daß Männer bei einer solchen Lebensweise zuletzt von ihrer Sinnenglut förmlich unterjocht werden. Jeder Gedanke verwandelt sich ihnen in Unlauterkeit, jeder Blick auf ein Weib in Begehrlichkeit, jede Voraussetzung über die Tugend des Menschen in den frechsten Glauben an schlechte Möglichkeiten. Damals war auf dem Schlosse eine Person allmächtig, ein Frauenzimmer zweideutiger Herkunft – eine gewisse –

Benno befreite den Onkel von der Verlegenheit, ganz offen über eine ominöse Beziehung zur Dechanei zu sprechen ...

Legen Sie sich keinen Zwang an! sagte er. Frau von Buschbeck hat für die Dechanei nie existirt ... Höchstens, daß jetzt ihre Schwester mit dem alten Windhack ihr Privaterstaunen austauscht, wie das hübsche Vermögen der Ermordeten, doch an zwanzigtausend Thaler, an den Bruder Hubertus testirt wurde. Die Stifter und Kirchen sind betrogen worden! Hammaker's Vertraulichkeit mit der Alten beruhte auf den Codicillen, die er möglich zu machen wußte, um die durch Nück und unter Zeugenassistenz zweier Herren Schnuphase und Klingelpeter getroffenen gottseligen Bestimmungen für den Fall ihres Todes wieder aufzuheben ...

Terschka war über die Ermordung der sogenannten Frau Hauptmann von Buschbeck unterrichtet und lauschte mit der größten Spannung ...

Diese außerordentliche Zärtlichkeit einer Person, fuhr der Onkel fort, die nicht einen, nein mehrerlei Teufel im Leibe gehabt haben muß, diese auffallende Anhänglichkeit an den Mönch Hubertus ist eine Folge der Eitelkeit, da sich Brigitta von Gülpen durchaus als die Frau Hauptmann von Buschbeck geberden wollte ... Als Hauptmann war der holländische Lieutenant Buschbeck verabschiedet worden; er war nicht von Adel, auch nicht etwa schimpflich entlassen; aus eigenem Antrieb hatte er und leider vor Erreichung seines höhern Pensionsgrades seinen Abschied genommen. Man sagt, weil ein dunkler Schleier gehoben wurde, der auf seiner Vergangenheit ruhen soll ... Ich kenn' ihn nicht ... Man spricht ja wol von ihm, es wäre ein Scharfrichterssohn? ...

Auf diese Frage, die der Onkel an sein eigenes Gedächtniß richtete, wurde Terschka's Auge das des Falken ...

Diesem Fremdling, der in einer erwerbslosen Zeit, müde des damals nur noch einträglichen Kriegsdienstes, hingehalten mit seiner nur geringen Pension, die einfache Stelle eines Försters annahm, schenkte die damalige Wirthschaftsführerin des Freiherrn, Fräulein Brigitta, ihr Herz. Sie war feurigen, lebhaften Sinnes, häßlich dabei wie eine Fledermaus. Der Fremdling konnte sich ihrer Zudringlichkeit nicht erwehren; der Kronsyndikus that nie etwas umsonst und wünschte auf diese Art von einer Person befreit zu sein, die ihm über den Kopf wuchs. Der Abenteurer mag aus Willensschwäche und verblendet von glänzendern Anerbietungen, zugleich berauscht von der Wildheit des damaligen neuhofer Lebens, Zugeständnisse gemacht haben, die er später bereute. Seinen spätern Aeußerungen zufolge will er niemals ein Weib geliebt haben, als nur einmal eine Tochter eines seiner Waldhüter, ein allerdings auffallend schönes Kind, Hedwig Stammer hieß sie, schlank, hochgewachsen, die Schwester dieses Buckeligen, den er heute mishandelt hat ...

Nach einer Pause des Erstaunens über diese Zusammenhänge fuhr der Onkel fort:

Hedwig Stammer wurde im stillen seine Liebe und bald entdeckte diesen Treubruch, wie sie es nannte, die Megäre auf dem Schlosse. Sie ersann eine Rache, zu teuflisch um sie nur nachzudenken, wenn nicht die Umstände Begünstigungen zur wirklichen Ausführung des Unglaublichen gegeben hätten. Die Leidenschaften des Kronsyndikus kannten keine Grenzen. Keine Tugend war ihm heilig. Kein Weib, dem er irgend sich glaubte nahen zu können, ließ er ohne Anfechtung. Dabei begünstigte ihn sogar das Glück, ohnehin sein Reichthum und, wie das in solchen Fällen geht, die Courage. Ihm schien ein Widerstand unmöglich und so vermessen war seine Menschenverachtung, daß er sich an die Unschuldigsten wagte, ja durch Umtriebe aller Art es oft dahin zu bringen wußte, daß diese plötzlich in irgendeiner Weise wirklich von seinem Willen abhängig wurden. Hätte der Mann auf einem Throne gesessen, er würde den größten Tyrannen beizuzählen sein ...

Ein Blick auf die Nebenthüren und ein Lauschen nach einem fernen Geräusch drückte die Furcht des Onkels aus, die Frauen möchten zurückkommen ... Dem fast übersiedenden Wasser im silbernen Kessel sprangen Benno und Thiebold zugleich bei durch Mildern der Flamme ...

Ich will es kurz fassen! fuhr der Onkel sich eilend fort. Der Kronsyndikus hatte sein Auge auf die Frau des Deichgrafen Klingsohr geworfen. Die Vertraute seiner Lüste, die Gülpen, unterstützte seine Hoffnungen, weil ihn Unmöglichkeiten unerträglich im Umgang machten. Mit Verachtung zurückgewiesen, entbrannte er in nur noch wilderer Glut. Da entdeckte die Gülpen die Neigung ihres sogenannten Verlobten und schmiedete einen Höllenplan. Durch verstellte Handschriften machte sie die Deichgräfin, wie sie hieß, zur Correspondentin des Kronsyndikus. Die Eitelkeit des Frevlers war einer völligen Sinnlosigkeit fähig. Taumelnd in seinen Hoffnungen, die ihm leider nur selten fehlschlugen, glaubte er der Versicherung der Gülpen, die Deichgräfin warte nur eine Reise ihres Mannes ab, um ihn zu erhören. Dann würde sie selbst einmal aufs Schloß kommen. In einer Nacht, wo kein Stern am Himmel stand, der Kronsyndikus gegen Mitternacht von einem Gelage heimkehrte, wisperte ihm das Scheusal zu: Die Deichgräfin ist da! Sie bleibt auf die Nacht bei mir zum Besuch, das Wetter ist zu schlecht – Wo? ruft der Trunkene und folgt in rasender Begier dem Weibe, das ihn an ihrer knöchernen Hand im Dunkeln geleitet. Plötzlich ist ihr Licht erloschen, alles ringsum finster. In einer engen, dunklen Kammer trifft er eine schlanke, sich eben entkleidende Gestalt, wirft sich auf sie – und erst wenige Minuten später, als es zu spät war, erkennen zwei Menschen ihren grauenhaften Irrthum ...

Die Männer saßen erstarrt ... Es bedurfte von Seiten des Onkels kaum einer Erklärung, welche Rache hier ein weiblicher Bösewicht vollzogen hatte, der denn auch das Leben durch die Schlinge eines Mörders verlassen sollte ... Dennoch erklärte der Onkel das Vorgefallene ausführlicher:

Brigitte von Gülpen hatte Hedwig Stammer, die sie tödlich haßte, allmählich an sich gelockt und sicher zu machen gewußt ... In ihrer Waldwohnung suchte sie sie öfters auf, erklärte, die Untreue des Hauptmanns bräche ihr zwar das Herz, doch wolle sie sein Glück nicht hindern ... Sie befahl nur dem Mädchen, die Besuche, die sie ihr, um ihren guten Willen zu zeigen, machte, dem »Herrn von Buschbeck« zu verschweigen ... Sie versprach eine glänzende Ausstattung, die Unterstützung des Kronsyndikus und lockte das arme Kind immer mehr und mehr an sich ... Eines Abends, da sie es so veranstaltet hatte, daß Hedwig einen Auftrag im Schlosse auszurichten hatte, behielt sie sie bei sich, erzählte von dem »Herrn von Buschbeck«, Hedwig's Geliebten, der noch diesen Abend aufs Schloß kommen müßte und mit dem Kronsyndikus von einer Jagdpartie zurückkäme. Es regnete, es stürmte. Sie versprach, Hedwig's Ausbleiben über Nacht sogleich bei den besorgten Aeltern ansagen zu lassen und brachte sie in eine Kammer, wo sie zur Nacht ruhen sollte. Das arglose Ding, das bis zwölf Uhr vergebens gewartet hatte, entkleidet sich, läßt, da die Gülpen noch erst gute Nacht zu sagen zurückzukommen erklärte, die Thür offen, löscht auf Befehl das Licht, weil die Gülpen von den Wunderlichkeiten des Kronsyndikus und seiner Strenge gegen Untergebene spricht, und nun stürmt die Gülpen plötzlich herein, ruft: Buschbeck ist da! Er kommt ... Hedwig fährt auf, rafft ihre Kleider zusammen – – Genug, drei Tage hielt sich das Weib, dem seine Rache nur zu gut gelungen war, vor der Wuth des Försters, dem die Getäuschte, noch in der Nacht vom Schlosse entfliehend, sich sogleich entdeckte, verborgen ... Buschbeck würde sie ermordet haben ... sie wußte das ... Der Kronsyndikus, damals noch sein eigener Gerichtsherr, verfügte gegen den Förster, der ihn persönlich anfiel, erließ sofortige Verhaftung, dann Dienstentlassung. Lachend verzieh er der Gülpen, nannte noch später, als in der That zufällig die in aller Unschuld abwesende Deichgräfin eines Sohnes genas, diesen, den jetzigen Mönch Sebastus, seinen wahren Sohn, d.h. den Sohn seiner Einbildung, seinen Sohn im Geiste. Hedwig Stammer verfiel in ein Nervenfieber und starb. Den sogenannten Hauptmann von Buschbeck wollten die französischen Gensdarmen zwingen, Kriegsdienste zu nehmen oder die Gegend zu verlassen. Er flüchtete sich nach Kloster Himmelpfort, wo ihn der damalige würdige Guardian Henricus beschützte, vollends als er nach dem Tode Hedwig's in den Orden trat. Das böse Weib konnte sich nicht länger im Schlosse halten. Reich ausgestattet an Geschenken, für ihre Lebenszeit gesichert durch eine Pension, zog sie von dannen. Sie stellte sich so wahnsinnig verliebt in ihren Verlobten, daß sie alles, was sie von seinen Sachen als Andenken nur ergattern konnte, mitnahm, javanische Pfeilspitzen, chinesische Götzen, große ausgestopfte Vögel ... Die Stammers wohnten dann später in einem Pavillon des Schloßparks und hatten das Gnadenbrot vom Kronsyndikus, der seine Jugendthorheiten späterhin, wie das so geht, wenn die Kraft nachläßt, zu bereuen anfing ... Und schon einmal wurde ihm der Geiger zum Verhängniß. Dieser Taugenichts war es, der den Tod seines Sohnes Jérôme dadurch veranlaßte, daß er diesen, der zur Pflege in einem Dorfe jenseit des Gebirges beim Pfarrer Huber, der jetzt hier in Witoborn steht, die Nachricht von der nach Hamburg gerichteten Flucht eines gewissen fremdartigen, schönen Mädchens anzeigte, das damals wiederum auf Schloß Neuhof, wenn auch freilich unter andern Verhältnissen, auftauchte –

Bis zur gänzlichen Vollendung seiner Erzählung gelangte der Onkel nicht, denn in diesem Augenblick kehrten die Frauen zurück ...

Tief erschüttert schwiegen die Männer ...

Was ihnen auf die Lippen ein ernstes Schweigen legte, war nicht blos das Entsetzen über das Vernommene, nicht blos bei Terschka der mannichfache, fast persönliche Antheil, den er an allen diesen Berichten zu nehmen schien, nicht blos bei Benno die Verbindung alles dessen, was er über Klingsohr und Lucinden wußte, und der Nachhall des grauenhaft dämonischen Wortes des Kronsyndikus: Im Geist ist doch Heinrich Klingsohr mein Sohn! – nicht blos bei Thiebold die Rückerinnerung an jenen Morgen, wo eine so böse Uebelthäterin ermordet gefunden wurde, und an die ihm noch unbekannte Wendung, die das Testament der Ermordeten genommen hatte (Bruder Hubertus sollte in der That das Geld angenommen, aber zu bestimmten Zwecken cedirt haben) – das ernste feierliche Schweigen wurde noch mehr hervorgerufen durch den Gegensatz, in welchem die reine, lichtumflossene, weiblich verklärte Gegenwart der Wiedereingetretenen zu dem Unreinen stand, das durch menschliche Leidenschaft wie aus einem Schwefelpfuhle heraufbeschworen so im Leben ans Licht treten kann.

Die endlich von der Tante mitgebrachte Postmappe, aus der sie schon ihre eigenen Briefe und die für Paula herausgenommen hatte, bot Gelegenheit, daß sich die Empfindungen sammelten und eine Stimmung des Friedens und wenigstens äußerlichen Behagens wiederherstellte ...

Auch von Püttmeyer's Besuch erzählte jetzt die Tante ... Das lebhafte Interesse, das daran der Onkel nahm, wurde an einem ebenso lebhaften äußern Ausdruck dafür nur durch die weit ausgebreiteten Zeitungen und das fortgesetzte Mahl verhindert ...

Auf Schloß Westerhof war man sonst, was die Zeitereignisse anlangte, immer ziemlich spät hinter ihnen zurück. Die neuen französischen Ministerien wurden gewöhnlich erst bekannt, wenn sie schon wieder abgedankt hatten. Man hielt die Zeitungen der nahe liegenden Städte, las sie aber nur von hinten her nach vorn, erst in den Familiennachrichten und dann erst in der politischen Rubrik und diese überschlug man oft auch gänzlich ... Paula durfte sogar keine Zeitung früher lesen, ehe nicht die Tante sie censirt hatte; denn schon lange kam es vor, daß Berichte: »Aus Witoborn« oder: »Von der Witobach« über die »Seherin von Westerhof« oder über die »Dorste'sche Erbschaftsfrage« schrieben. Seit dem Kirchenstreit war eine etwas größere Leselust eingetreten. Die Tante, Paula, Armgart, das Stift Heiligenkreuz schwärmten für den abgesetzten Kirchenfürsten. Onkel Levinus entzog sich dem gemeinsamen Geiste der Provinz um so weniger, als für ihn zwar nicht, wie bei Professor Guido Goldfinger, schon der Schöpfer in der Erschaffung der Pflanzen und Blumen das katholische Princip voraus signalisiren wollte, doch die Geschichte, vorzugsweise die der alten Hindus, ihm entschiedene Tendenzen zum römischen Glauben verrieth. Oft schon hatte er mit dem Bruder Hubertus über den Glauben der Chinesen gesprochen und sah überall die Anknüpfungspunkte der Missionäre verfehlt. Er konnte oft auf einige Monate ganz die Chemie, leider auch die Oekonomie vergessen, nur um die Dreieinigkeit nicht in den Glauben des Confucius hineinzutragen, sondern sie »ganz evident« aus ihm heraus zu entwickeln. Eine Reise nach Aethiopien, zunächst um daselbst dem wirklichen Vorhandensein des bekanntlich nur im englischen Wappen und in der Bibel vorkommenden fabelhaften Einhorns nachzuforschen, dann aber auch um sich über alles zu orientiren, was mit dem Cultus der »schwarzen Madonna« bis zum Völkervater Ham zurück zusammenhing, wäre ihm schon bei geringerer Liebe zur Bequemlichkeit eine seiner bedeutendsten Lebensaufgaben gewesen ... Den Ghibellinen gegen über sagte auch er, wie hier alle: »Religion muß apart sein!« d.h. in keine Verbindung und Abhängigkeit mit der sonst verbürgten politischen Loyalität treten.

Der Erörterungen über das Neueste in diesen Streitigkeiten gab es genug ...

Terschka schwieg dazu ... Er sah in seine Briefe, die zahlreich waren ...

Einen schien er darunter zu vermissen. Er betrachtete die Poststempel und fragte:

Ist das die ganze heutige Post?

Armgart fiel ihm in die Rede und begann mit einer plötzlich aufleuchtenden, für die Stimmung des kleinen Kreises fast unpassenden Lebendigkeit und jetzt auch zu Benno gewandt, dessen schmerzlich fragende Blicke sie anfangs gemieden hatte:

Wann soll die Jagd sein? Ich gehe mit! Nicht auf Münnichhof zu den Transparenten, nein! Ich schieße mit den Männern um die Wette! Lassen Sie mir den Pancraz als Leibschütz, Herr von Asselyn!

Armgart! lautete der einstimmige Verweis aus des Onkels, der Tante und Paula's Munde ... Alle blickten dabei von ihren Briefen und Zeitungen auf ...

Warum denn nicht? fuhr Armgart mit glühendem Antlitz fort. Kann ich nicht schießen? Ich hab's vom Heydebreck gelernt! Soetbeer und Pancraz können bezeugen, daß ich vor Weihnachten auf dem Wege zum Stift im Niederholz ihnen begegnete, dem Pancraz die Flinte aus der Hand nahm und einen Hasen traf, der unfehlbar mir über den Weg gelaufen wäre! Ich wollte kein Unglück haben ...

Die Männer mußten auflachen über diese eigene Art, dem Schicksal seine bösen Vorbedeutungen mit Gewalt zu vereiteln ...

Die Tante sah nur kurz vom Brief einer guten Freundin auf und bemerkte:

Deshalb entdeck' ich auch in deinem Zimmer immer die meisten Spinngewebe! Du denkst, Spinnen bon espoir. Ich aber denke, jedes Unglück, das sich nur durch Wildheit und Unordentlichkeit abwenden läßt, muß man getrost ertragen!

Auch dieses Streiflicht auf Armgart's nicht eben besonders pünktliche Natur blieb nicht ohne ein Lächeln der Männer. Nur, daß sie hätten hinzufügen mögen: Aber laß uns doch über dich lachen, du süßer Narr! Gerade dein Koboldsgeist ist's ja, der andern so himmlischer Abkunft erscheint! Rumore, wie du willst, verschleppe Bücher und Nähtereien und Federn und Dintenfässer; gerade darin liegt uns ja dein bestrickender Reiz! ... Armgart faßte jedoch dies Lächeln nicht so. Düster blinzelte sie die Reihe herum und musterte, wer sich zu lachen erlaubt hätte ... Vorwurfsvoll blickte sie besonders auf Thiebold, dem sie sogar laut sagte: Das amusirt Sie wol? ... Benno's Blick hielt sie nicht aus ... An Terschka huschte ihr Auge noch scheuer vorüber ...

Benno sah das ganze seit Wochen so befremdliche Wesen und staunte ...

Inzwischen sprach die Tante von den Ombres chinoises und jetzt mit der größten Schonung. Sie rühmte die Philosopheme Püttmeyer's ebenso, wie sie sie heute früh verworfen hatte ... Sie kam darauf durch ihre Lectüre ...

Ich lese da eben einen Brief von der guten Angelika Müller aus Paris! schaltete sie ein. Was ist die in neuen Verhältnissen! ... Die Fulds sehen die Minister und die berühmtesten Namen bei sich ... Ei, Herr von Terschka, Madame Fuld läßt sich Ihnen empfehlen ... Und ob Sie nicht im nächsten Sommer wieder auf ihrer Villa erschienen? ... Die neue Erweiterung des Gartens, des Pavillons, würde ganz nach Ihren Ideen gebaut werden, schreibt Angelika ... Und wann Sie denn nach Wien reisten? ließe Madame Fuld fragen ... Ei, ei, Herr von Terschka, welches Interesse von einer so jungen und gewiß höchst liebenswürdigen Frau!

Armgart fixirte Terschka aufs lebhafteste, als er dies Lob der Frau Bettina Fuld bestätigte ... Paula mußte ihre Hand auf Armgart's Scheitel legen, wie gleichsam um ihre stürmenden Gedanken zu beruhigen ...

Jede Lücke des nicht im wohlthuenden Zusammenhange bleibenden Gesprächs gehörte natürlich wieder Thiebold ... Mit seiner immer lebendigen Theilnahme, mit seiner Empfänglichkeit für alles und jedes füllte er sie ... Die Tante überhäufte ihn mit Thee, Zwieback, kalten Fleischspeisen und einem »Herr von Jonge« nach dem andern. Er war eben der Liebling ihres Herzens. Als endlich die Rede fiel, daß die Männer wirklich noch auf den Finkenhof gehen und mit dem gräflichen Jagdpersonal die versprochene Rücksprache nehmen wollten, und Benno und Thiebold erklärten, sie würden von dort auf einem kürzern Wege zu Fuß nach Witoborn zurückkehren, protestirte die Tante mit Beseitigung aller ihrer noch unbeendigten Lectüre entschieden und behauptete, eine solche Gefahr vor Schneeverwehungen nimmermehr zuzugeben ... Die jungen Männer versicherten, daß der Schnee fröre und ihnen diese Wanderung den größten Genuß gewähren, ja Bedürfniß sein würde. Auf die immer und immer wiederholten Einwendungen der Tante wurde zuletzt Armgart ausfallend und fand es sonderbar, Männern ihren Willen zu nehmen. Sicher hätte dies kühne Wort dann die wechselnde Ebbe und Flut im Gemüth der Tante zum Ueberströmen der letztern gebracht, wäre nicht der Onkel gleicher Meinung gewesen und hätte erklärt, wie man nur den jungen Herren ein Vergnügen rauben könnte. Dabei that er, als wenn ja auch nur sein aufopferndes jahrelanges Leben hier unter den Frauen auf Schloß Westerhof schuld daran wäre, daß er nicht die anstrengendsten Entdeckungsreisen nach Cochinchina unternommen hätte.

Paula's Schweigen gebot den Aufbruch zu beschleunigen ... Es war ihnen allen schon geschehen, daß die Leidende eben noch theilnehmend ihren Gesprächen lauschte und plötzlich auf eine Anrede im Traum erwiderte ...

Als die Männer gegangen waren – Thiebold mit bedeutsamen Seufzern, Benno vergebens auf den Händedruck hoffend, der ihm von Armgart sonst immer so unbefangen geworden, Terschka fast von ihr ausgezeichnet durch manche beflissene Frage, manche lebhaft erwidernde Antwort – überschüttete die Tante Armgart mit all dem Mismuth, der sich in den gespannten Zuständen ihres Gemüths seither angesammelt hatte. Von Tage zu Tage nahm die Reizbarkeit und Ungeduld Benigna's zu. Ein ängstlicher Blick in die Zukunft verdüsterte ihr alles, was sie umgab, und schon lange war es immer nur Armgart, die der Blitzableiter aller ihrer Verstimmungen werden mußte.

Nein, je älter, desto unerträglicher wirst du doch, Armgart! rief sie und das noch in Gegenwart des Onkels. Seit du von Lindenwerth zurück bist, erkennt man dich nicht mehr! Verkehrt warst du schon immer; aber so vorwitzig, wie jetzt deine Aeußerungen sind, so keck, wie ich dich z.B. vorhin drüben im Durchstöbern der Postmappe fand, bist du nie gewesen! Hat es das Fräulein Müller versehen, die in ihrer Geduld und Nachgiebigkeit sich jetzt sogar den Sitten eines vornehmen Judenhauses in Paris fügt, oder ist dir die Stiftsdame zu Kopf gestiegen oder ich weiß es nicht, was die Schuld trägt! Die Jagd mitmachen! Hasen schießen, die einem über den Weg laufen könnten! Wahrhaftig! Ich habe gar keine Geduld mehr für dich!

Nun, nun, nun, nun –! beschwichtigte der Onkel fortlesend ...

Und Paula bat schmeichelnd:

Tantchen!

Armgart aber stand wie das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Alles Weh der Erde legte sich um ihren mit lächelnder Duldung geöffneten Mund ...

Deine Mutter war aber ebenso! fuhr die erzürnte Schwester derselben fort. Und dein Vater, der nicht minder! duckte sie den aufblickenden Onkel nieder. Von einer Jagd kam auch deren erste Uneinigkeit. Monika wollte auch schießen können und ging mit auf die Jagd und als Ulrich einigemal fehlschoß, lachte sie und hielt es ihm mit Spott vor. Ein Mann kann vom Weibe viel ertragen, aber ihm unritterlich zu erscheinen, reizt. Zumal bei einer solchen Empfindlichkeit, wie bei allen diesen Hülleshovens! Ja, versteck' dich nur jetzt so hinter Paula! Geh nur so herum und thu', als wenn du deine Rechtfertigung wie eine verlorene Stecknadel im Zimmer suchtest! Auch liesest du nichts, du arbeitest nichts, die Vielliebchen werden wol nach einem Jahre fertig sein, Musik hörst du kaum, geschweige daß du sie wieder vornimmst; ganz wie deine Mutter war, die auch noch jetzt, »hoch in den Dreißigen«, ein reines Kind sein soll! Auch an dir wird die Familie wenig Freude erleben ...

Armgart, statt zu reden, hob die gefaltenen Hände gen Himmel ...

Paula besänftigte die Tante, die jedoch von Armgart selbst unterbrochen sein wollte, um versöhnt zu werden. Armgart blieb still. Keine Schmeichelküsse, keine Liebkosungen, keine Scherze, nichts gab sie wie sonst. Ebenso erblaßt, wie vorhin hocherglühend, ging sie im Zimmer hin und her, machte sich mit ihren glänzend aufgeschlagenen Augen dies und das zu schaffen und sagte nur zur »factischen Berichtigung«:

Die Mutter ist fünfunddreißig Jahre!

Der Onkel wollte jetzt auf sein Zimmer und Frieden und die Stimmung der Güte zurücklassen. Das neue Aufbrausen der Tante unterbrach er durch ein lautes Vorlesen eines der erhaltenen Briefe. Dabei hielt er seine linke Hand in die Höhe. Er wollte, daß sie Armgart ergriff und als Ablenker ihrer Stimmung benutzte. Armgart sah die freundliche Geberde und stürzte auch auf die Hand zu, küßte sie und drückte sie heftig an ihr Herz.

Jetzt empfand die Tante den Neid ihrer »Liebe«. Dieser Neid äußerte sich in Thränen, die ihr auf die Wange rollten ...

Des Onkels fest vorlesende Stimme hinderte noch die Rückkehr zu den sich schon in Güte lösenden Empfindungen; vorläufig war es Paula, von der die Tante ans Herz gezogen wurde ...

Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen dankte (nach des Onkels in alle diese aufgeregten Stimmungen eines hochgestellten, edlen, doch von seinen vielen Erlebnissen tief erschütterten Familienkreises beschwichtigend einfallendem Bericht) auf das von ihm erhaltene Schreiben aufs verbindlichste. Sie war glücklich in England angekommen, wohnte auf dem Lande bei Lady Elliot und wünschte ihrerseits nur den friedlichsten Fortgang aller der Dinge, die Gottes Rathschluß über das Schicksal beider Linien verhängt hätte. Erst bei einigen religiösen Anzüglichkeiten und der Erwähnung der Krankheitszustände der jungen Comtesse hörte der Onkel im lauten Vorlesen, das er zur Dämpfung des Streites wörtlich begonnen, auf ...

Die Tante benutzte die nun entstehende Pause und knüpfte an London Betrachtungen über Paris und würde sich selbst auf Aethiopien, China und die Chemie eingelassen haben, wenn das Gespräch nur ausdrückte, wie sehr »ihr Herz« bei alledem unter Arm gart's Trotz und verhärteter Gesinnung litt ...

Der Sturm der Gemüther war indessen vorüber ... milderes Wetter stellte sich ein und endlich schlug es neun, wo man auf dem Lande schon an die Nachtruhe denkt ...

Der Onkel erhob sich zuerst und erklärte wiederholt, noch arbeiten zu müssen ... Die Tante plauderte von einigen Anmeldungen ihrer Freundinnen zu den Exercitien, die Pfarrer Müllenhoff auf Betrieb der Frau von Sicking arrangiren sollte ...

Der Onkel erwiderte:

Aber der rauhe Mann eignet sich doch gar nicht zu dergleichen! Die indischen Fakirs sind keine Braminen! Im Ganges gibt es mancherlei Bäder! Ich hoffe, daß er nichts unternimmt ohne den Domherrn, seinen Vorgesetzten ...

Die Tante, mit dem unendlichsten Bedürfniß nach Einverständniß, stimmte vollkommen diesen Aeußerungen bei. Auch sie fand Müllenhoff's Weise so übertrieben, so aufreizend, daß es für die Religion selbst Gefahr brächte ...

Und der Onkel fiel ein:

Wie ich immer gesagt habe ...

Wie Sie immer gesagt haben ... bestätigte die Tante ...

Den Finkenhof kann man den Leuten nicht nehmen ...

Den kann man ihnen nicht nehmen ...

Man macht dem Mann alles nach Wunsch ...

Und doch ist ihm nichts recht ...

Den eigenen Eingang zur Sakristei in unsrer Kapelle geb' ich ihm auf keinen Fall ...

Wie werden Sie denn! ...

Seine Manieren sind unglaublich! Mitten in der heiligen Messe putzt er an den Leuchtern und schüttelt den Kopf über den alten Tübbicke ...

Den guten alten Tübbicke ...

Armgart kam jetzt wirklich zur Gruppe, die der Onkel, die Tante und Paula bildeten, mit hinüber ...

Die Schulkinder, fuhr der Onkel fort, läßt er eine Stunde lang knieen, um ihnen seine sogenannte Kniesteifigkeit zu vertreiben!

Zu Lichtmeß will er Unterricht geben im richtigen Tempo des Rosenkranzgebetes!

Diese Harmonie braucht der Himmel nicht, wenn's nur in unsern Herzen keine Dissonanzen gibt!

Wer jetzt ein Blumenstöckchen in eine Kapelle stiftet, von dem will er vorher die Anzeige haben, ob er auch keine Alfanzereien bringt!

Und ich denke, wenn ein liebend Gemüth einen Tannenzweig brächte oder ein thönernes Lämmchen ...

Es ist das gewiß auch eine kindliche Gabe!

Ei, es hat sogar einen ernsten Sinn und erinnert an manchen bedeutungsvollen Mythus, der bereits bei denen alten Aegyptern als eine Vorahnung zu betrachten war zu manchem heiligen spätern Gebrauch!

Die Tante gähnte nun zwar, sagte aber:

O Sie sollten ihm das alles einmal auseinandersetzen, lieber Hülleshoven!

Der Onkel küßte jetzt Armgart ... Das süßeste Einverständniß schien hergestellt ... Nur Eines fehlte noch, daß auch die Tante mit Armgart sich ausdrücklich aussöhnte ...

Aber dieser feierliche Moment blieb nach der Entfernung des Onkels aus ...

Paula ging ... Die Diener waren schon zugegen ... Armgart sprang sofort hinter Paula her und schloß sich ihr an ... Die Tante blieb allein ... Sie blieb es einige Minuten ... Niemand kam zu ihr zurück ... Thränen traten der alten Jungfrau in die Augen und mit einem Gefühl des Vorwurfs, das ihr über diese und ähnliche Dinge sagte: Deine Strafe das für die alte Zeit! ging sie auf ihr Zimmer.

Armgart! sagte inzwischen Paula, als sich diese ihr anschloß und ihre schlanke Hüfte krampfhaft umfaßte. Du solltest bei der Tante bleiben!

Wenn ich in meinen Thurm gehe, poch' ich noch einmal bei ihr an und sag' ihr gute Nacht! flüsterte Armgart ...

Sie ließ den Diener, der leuchtete, vorangehen ...

Armgart durfte nicht mehr in Paula's unmittelbarer Nähe schlafen wie sonst. Seit ihrer Rückkehr von Lindenwerth hatte beide die Tante getrennt ... Aber Abends noch eine Weile mit Paula, wenn diese sich wohl fühlte, zu plaudern, ließ sie sich, so oft sie in Westerhof verweilte, nicht nehmen ...

Die Vorhänge des Schlafzimmers Paula's waren schon zurückgelehnt ... Im Vorgemach, wo ein kleiner Ofen stand, der geheizt wurde, half Armgart die geliebte Freundin entkleiden ... Oft sprach Paula schon im Gehen und Stehen Dinge, die »einer andern Welt angehörten« ... Dann brachte sie Armgart zur Ruhe, rief einem Kammermädchen, das in der Nähe schlief, und trennte sich nicht eher von beiden, als bis Paula in völligen Schlummer versunken war ...

Heute leuchteten Paula's Augen hell auf ... Eine stille Sehnsucht lag in ihnen ... eine Sehnsucht, die Armgart vollkommen verstand ...

Stürmisch warf sich Armgart der Freundin, die zu ihr herniederblickte, an die Brust und rief mit erstickter Stimme: Ach! Ach! Was sind wir doch unglücklich!

Meine gute Armgart! erwiderte, dies Wort ablehnend, die ältere Freundin. Warum unglücklich? ...

Paula's Leben war ja ein einziges Schmerz-, oder ein einziges Wohlgefühl, sie wußte es selbst nicht zu unterscheiden ... Sie liebte einen Priester; sie hatte auch das sichere Gefühl, wieder geliebt zu sein ... Geständnisse hatte es früher nicht und auch jetzt noch nicht gegeben ... Vor Armgart aber war alles das nicht mehr geheim ... Selbst wenn Armgart zu viel Scheu gehabt hätte zu sagen: Du liebst den Domherrn! stand es doch schon lange ohne Worte zwischen ihnen fest ... Selbst das stand fest, daß sogar Paula's etwaiger Eintritt in ein Kloster eine Art höherer Vermählung mit Bonaventura sein konnte ... So flossen noch die reinen Gedanken, die Jungfrauenseelen mit der Liebe verbinden, gleichviel, ob zu Besitz oder zu Entsagung, bei beiden mit ihrem religiösen Pflichtgefühl ineinander ...

Seit einiger Zeit trat Armgart freilich immermehr aus dem Bann des harmlosen Träumens heraus ... Lag das an der Flucht aus der Pension in Lindenwerth? ... Oder jetzt an dem Zusammenleben mit so vielen liebebedürftigen jungen und alten Mädchen im Stift? ... Lag es an ihrer eigenthümlichen Schwankung zwischen den Bewerbungen Benno's und Thiebold's? ... Sie regte schon seit lange jeden Abend die Phantasie ihrer Freundin auf. Auch heute durch Klagen über des Domherrn Ausbleiben ... über Thiebold's Fragen, die sie andeutete ... über Benno, »der sich so sicher dünkte« ... und endlich stockte sie ...

Paula fragte befremdet:

Du hast heute etwas –?!

O könntest du doch für mich in die Zukunft sehen! rief Armgart wie aus tiefster Seele heraus ...

Laß das! Laß das! erwiderte Paula schmerzerfüllt.

Armgart hob ihre Augen bittend auf ... Das Weiße darin blitzte wie Email, wie feuchtes Silber ...

Paula wandte sich, als unterläge sie schon diesem Glanz und Schimmer und Armgart's Bitten ... Laß uns beten! sagte sie ... beten gegen Versuchung!

Paula! – hauchte Armgart. Morgen mußt du mir sagen – ich frage dich –

Nimmermehr! rief Paula. Ich verbiete dir alles! ... Und wie wild erregt von einer Furcht, die sie plötzlich in allen ihren Geistern vor sich selbst ergriff, fuhr Paula fort: Ihr seid so grausam gegen mich! Ihr tödtet mich noch!

Paula! bat Armgart ...

Ich kann ja so nicht fortleben! sprach Paula zitternd vor Aufregung. Laßt mich doch sein, wie ihr alle seid! Jesus Maria! Es sprengt mir noch das Herz! Geht das so fort, muß ich wünschen, jenes Mädchen kehrt zurück, das allein gehindert hat, daß ich im Traume sprach! Wenn sie kam, wich jede Kraft von mir! Ich will ja nur sein, wie alle andern Menschen sind ...

Armgart wußte, daß Lucinde gemeint war, jene Lucinde, in deren unmittelbarer Nähe Paula mit der Zeit ganz von ihrer Ekstase zurückkam, doch mit großem damit verbundenen physischen Schmerz, den auch Armgart damals an der Maximinuskapelle selbst empfunden haben wollte, als sie Lucinden nach den Beschreibungen Paula's sofort erkannte ...

Beide Mädchen standen lange schweigend und in Wehmuth verloren ... Ob sich ihnen wol vergegenwärtigte, daß Paula genesen konnte, wie alle Aerzte sagten, durch – die Liebe? Ob sie wol ahnten, daß Bonaventura auch da von sich sagte, was er, zwischen Lucinde und Paula in der Mitte der Versuchungen stehend, am Abend jener Beichte verzweifelnd ausrief: Ein Priester bist du! Ein Mensch ohne Leben! Ohne männliches Zeugniß für deinen Schöpfer! ... Das alles lag nur dunkel in ihnen. In allen jungen Mädchenherzen, ehe das Los über sie geworfen ist, zittert nur ein schmerzlichsüßes Ahnen von ihrem zukünftigen Geschick. Bald leiser, bald stürmischer meldet sich die Sehnsucht, die Pforte der Zukunft geöffnet zu sehen. Oft ist es wol plötzlich ein jugendlichschöner Gott, der aus düsterm Nebel heraus, wildfremd, wie das herrlichste Ebenbild der Mannesschöne, mit riesiger Umarmung die Harrende umfängt; oft liegt aber auch nur ein ödes, trauervolles Einerlei auf ihrem unbestimmten Innern und alles, was ihr wird und was sie beginnt, ist ihr wie Ohnmacht und todte Dämmerung.

Da rief der Wächter wieder die Stunde ...

Schlaf wohl! hauchte Paula und drückte Armgart an ihr Herz ...

Armgart wollte anfangs gehen ...

Aber, zur Thür des Vorgemachs angekommen, blieb sie stehen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rief:

Paula! Paula!

Was hast du? sprach diese, sie wieder näherziehend ...

Ein »Du mußt – mir –!« preßte sich von Armgart's Brust ...

Ich begreife dich nicht – Was muß ich?

Armgart zog einen Brief aus der Brust und sagte:

Paula! Diesen Brief – an Terschka – den hab' ich aus der Mappe – zurückbehalten ... Ich gebe ihn nicht eher ab, als bis du ihn gelesen hast!

Armgart! rief Paula und zitterte ... Sie ergriff vorwurfsvollen Blicks den aus der Residenz des Kirchenfürsten gekommenen Brief und fragte:

Von wem ist er?

Von meiner Mutter! ... Was hat Terschka – mit meiner Mutter! Sie lieben sich! Paula, Paula! Das ist mein Tod!

Armgart! sagte Paula beruhigend ...

Nur Ein Ziel meines Lebens hab' ich! fuhr Armgart in zitternder Erregung fort. Meine Aeltern auszusöhnen! Sonst will ich nichts! Wüßtest du nur, wie ich neulich in Witoborn war! Ich war bei Hedemann! Ich ließ mir eine Stunde lang vom Vater erzählen! Ich lieb' ihn mehr, als meine Mutter – nein, ich liebe auch meine Mutter – mein Gelübde hat der Himmel und ich will es vollziehen und wär's durch meinen Tod ... Armgart faltete die Hände und hielt sie empor zu einem Crucifix, das an der Wand hing ...

Warum soll – aber Terschka nur – nicht deiner Mutter schreiben und sie – an ihn? fragte Paula, entsetzt über den fanatischen Ausdruck der Gefühle Armgart's ...

Wie, entgegnete Armgart; dieser lebhafte Briefwechsel? Diese Begeisterung, wenn er von ihr spricht? Neulich seine schnelle Reise, um die Gräfin zu begrüßen? Nur ein Vorwand war es, um die Mutter zu sehen! O, schon im Hüneneck sah ich an der Eile, mit der er die Zimmer bestellte, wie er sie liebt! Und sie, sie – sie könnte –! Dieser Brief ist von ihr – Paula, du, du sollst ihn lesen!

Paula verwies Armgart ihr Ansinnen mit Unwillen; denn sie wußte wol, was Armgart meinte ... Sie wußte, daß der Brief nicht erbrochen zu werden brauchte; sie wußte, daß sie alles lesen konnte, was man ihr im Hochschlaf aus ihr Nervengeflecht legte ... Ob auch uneröffnete Briefe? ... Versucht war es nicht ... Hier glaubte man nicht an die Unmöglichkeit.

Wie eine unreine Versuchung wehrte Paula Armgart's überredende Geberde ab. Sie sagte schmerzerfüllt, doch entschieden:

Gute Nacht, Armgart! ... Misbrauche mein Unglück nicht! ... Ich verbiete es dir! ... Es muß ein Ende damit werden ... Gott wird mich erlösen ... Sei gut, Armgart! ... Sei gut! ... Und nun, gute Nacht!

Damit verschwand sie hinter dem Vorhang, den sie wieder fallen ließ, und schloß die Thür zu ihrem Schlafgemach ab ... Wieder tönte das Horn des Wächters ...

Armgart ging zögernd auf ein Zimmer weiter zurück ... Sie hörte noch, daß sich Paula sogar einriegelte ... Dann trat sie durch eine Nebenthür auf den kalten Corridor ...

Ein Diener folgte und begleitete sie mit einem Licht in ihren Thurm ...

An dem Zimmer der Tante ging sie vorüber, ohne daß sie es merkte. Ein äußerster Entschluß kämpfte in ihr, ein tiefes Sinnen beherrschte ihr ganzes Sein ... Krampfhaft preßte sie den Brief, den sie in ihr Busentuch gesteckt hatte ... Schon hatte sie den Finger an das Siegel gelegt ... schon zuckte die Hand, es aufzureißen ... Sie dachte an den Beistand der Beichte, der sie leichter über die Folgen eines solchen Vergehens hinwegführen würde ... an Bonaventura ... an Benno ...

Da verließ sie allmählich der wilde Muth ...

Der Diener stand und harrte ihres Befehls ...

Legt das – in Herrn von Terschka's – Zimmer! hauchte sie. Es ist ein Brief für ihn, der – vergessen wurde ...

Der Diener nahm den Brief und wandte sich den Zimmern Terschka's zu.

Armgart verschwand in ihrem Zimmer.

6.

Drei Männer, in Mäntel gehüllt, schreiten in die Winternacht hinaus ...

Nicht mondhell ist sie; nur sternenlicht ... Und weithin über das wellige Land liegt mitleuchtend die Decke des Schnees ...

Grabesstill rings die Welt ... Schlummernd alles Erdenloos ... Wer flüsterte sich nicht: Gibt es denn geheimnißvolle Kräfte, die schicksalsmächtig über Raum und Zeit und das Herz in unserer Brust gebieten? Und wer antwortete nicht: Ihr stilles Hüten glaubt man jetzt zu hören ... Winterlandschaftsstille ist – Friedensmahnruf – Sehnsuchts- – Ahnungsweckruf ...

Anfangs noch hallte zwischen Terschka, Benno und Thiebold der erlebte Tag und Abend nach. Man bewunderte die Kraft der Vision, die sich so in die Vorgänge des Leichenconductes hatte versetzen können. Benno mußte Thiebold zurückhalten, der eine natürliche Erklärung, die Terschka gab, nicht wollte gelten lassen. Terschka hatte gesagt: Wer die Gegend und die Verhältnisse kennt, würde sich die Scenen, die heute vorfallen konnten, auch ohne ein Wunder haben ausmalen können! ... Aber die Unterbrechung? entgegnete Thiebold ... Benno antwortete statt Terschka's: Ich will der Natur nichts von ihren Tiefen nehmen. Aber ich glaube doch, daß wir uns durch die Gewohnheiten des Daseins in geistigen Dingen zu sehr die Sinne abstumpfen, wie in leiblichen. Ein bis in sein Alter mit den einfachsten Speisen Aufgezogener ist empfindlich für jede Veränderung seiner Nahrung. Ebenso gewöhnen wir uns durch Misbrauch unserer seelischen Kräfte die Feinfühligkeit des geistigen Spürsinns ab. Bei der Ankunft am Düsternbrook mußte die junge Gräfin etwas Unerwartetes voraussetzen; sie dachte an die Eiche, sah sie und nahe lag das allen Bekannte.

Von Armgart wurde nur bei Gelegenheit – der Hasen gesprochen, deren Spuren sich an kleinen Eindrücken links und rechts im Schnee auf den Aeckern verfolgen ließen ... In Thiebold und Benno dämmerte die Ahnung, daß Terschka es war, um dessentwillen sie von Armgart vernachlässigt wurden ... Ja, beim Weidwerkgespräch wieder sah man Terschka's blendende Eigenschaften. Auch Benno und Thiebold verstanden sich darauf, aber nicht so, wie er, der die Jagd verfolgen konnte bis auf alle Vorzüge neuer Entdeckungen aus den Gewehrfabriken von Suhl und Lüttich. Von Terschka sah man täglich das Erstaunenerregende. Der schmächtige bleiche, immer bewegliche Fremdling war ein Reiter, der im Sturm dahinflog. Manches Roß, das den Koller hatte, bestieg er und bändigte es wie ein Beschwörer. Noch neulich, wie ein dem Grafen Münnich gehörendes Thier sich unter ihm schmiegte, wie es die mit seiner Linken mächtig geschwungene Reitgerte über den Kopf hinweg fühlte, sich krümmte bis zur Erde und den Kopf fast in den Schnee bohrte, dann wieder aufschnellte, mit beiden Hinterfüßen sich ebenso rasch auf die Kruppe setzte, dann davonflog pfeilgeschwind und fast wie mit Scham, sich überwunden zu sehen – da war das ein Schauspiel voll Vernichtung für Benno und Thiebold; Armgart stand dicht in der Nähe und sagte nur immer: Nein, nein, ich habe gar keine Furcht für Herrn von Terschka! ...

Nach einer halben Stunde war der Finkenhof erreicht. Versteckt lag er unter Bäumen und Wallhecken. Eine Mühle, ein Tanzhaus, eine Kegelbahn, ringsum Nebengebäude; ein großes Anwesen. Den Finkenmüller hatten Schank und Mehlsack reich gemacht inmitten mannichfachen Elends. Auf der Saline, bei den Kalköfen, in den Moorbrennereien wurde schnell baares Geld verdient, ebenso schnell auch glitt es wieder weg und meist im Finkenhof, wo Sonntags die bekannte falschgestimmte Trompete ländlicher Musik von vier Uhr Nachmittags bis zehn Uhr zu Tanz und Jubel zu locken nicht müde wurde.

Anfangs schien es auf dem Finkenhof stiller, als man erwartete. Schon besorgte man, die gräfliche Jägerei nicht anzutreffen. Man hätte sie aufs Schloß rufen können. Terschka weilte aber gern unter den hiesigen Menschen; sie hatten ihn mit Haß empfangen; schon waren alle für ihn eingenommen ... Wir kommen zu spät! sagte er und deutete auf manchen Heimkehrenden, der an ihnen vorüberging und grüßte ... Dann fragte er sie ... Es hieß: Die Jäger sind da, Herr Baron!

Nun bogen sie vom Fahrweg ab und sahen den Finkenhof hell und belebt. Der jeden Morgen frisch aufgeeiste Bach schien zu dampfen. Die Kegelbahn hatte Licht. An den wie mit Fett bestrichenen Fensterscheiben hätte man Scenen aus dem vaterländischen Rekrutenleben an die gegenüberliegende Wand gemalt erblicken können: »Fritze riecht zum ersten male Pulver« oder: »Fritze macht die erste Bekanntschaft mit blauen Bohnen«, alles im Stil von Krähwinkel ausgeführt ... Im Tanzsaal ist's still; aber im Wirthshaus sitzen Menschen genug und Gesang sogar gibt es. Benno sagte: Ihren Volkstanz stampfen sie! Den lustigen Pfaffen von Ystrup! Und schon hörte man:

He, he! Der ist zu arm,

Daß Gott erbarm'!

He, he! Der ist zu dick,

Hat kein Geschick!

Behalte die Besinnung, wer kann, der da eintritt in diesen Dampf und Dunst von Hitze und Taback und Bier und Branntwein! Unter einem Heiligenbild an der Seite des Flurs hängt eine Lampe, eine ewige sogar; Fidibus von dünnen Holzspänen liegen daneben: man kann sich Pfeifen und Cigarren an ihr anzünden. Die drei Gäste thun es, um ein Antidoton zu haben gegen die Dünste, die ihrer drinnen harren. Was jedoch stärkt das Ohr, diesen Gesang zu ertragen, der mit einer Festigkeit, wie wenn man Holzblöcke in die Erde rammt, den Eintretenden entgegenbraust? ...

Jetzt ertönt das »He, he!« plötzlich schwächer und die Pfeifen gleiten einen halben Zoll aus dem Munde. Man erkennt die Eintretenden. Eine Magd, zu gleicher Zeit an zehn Fingern zehn Biergläser in der Schwebe haltend, blinzelt um den Weg zu weisen mit den Augen dahin, wo die hochgräfliche Jägerei sitzt, hinter einen Ofen von einer so pagodenhaften Dimension, daß Onkel Levinus über die gelegentliche Aeußerung studirt haben würde, zwischen den Oefen der witoborner Heide und den alten Bauten der Indier zu Dschaggernaut fände ein urweltlicher Zusammenhang statt.

Und während nun hier mit dem Oberförster, mit dem Wild- und Hegemeister, mit dem Jagdzeugmeister und einem Unterförster des letzten Grafen von Dorste-Camphausen die Vorbereitungen verabredet wurden, die zu einer großen Vertilgungsjagd in einem von Thiebold de Jonge um 80000 Thaler gekauften Walde – seufzend hatte er draußen die mangelnde Floßgelegenheit am Mühlbach erwogen – gehören sollten, zu einer Jagd, die unter den scheinbaren Auspicien des nächsten Nachbars, Grafen Münnich auf Münnichhof gehalten werden sollte; während die Zahl der Treiber, der Hunde, die Vorräthe des Jagdgeräths besprochen und von Benno mit lebhafter Orientirung die Schauplätze seiner geheimnisvollen Jugend unterschieden wurden, der Zehnterwald von der Birkenschonung, die Knüppelheide von der borkenhagener Saustiege – während dann auch noch der Finkenmüller, der Meyer, der Moorbauer ehrerbietigst in den Kreis eintraten, verfolgen wir einen Ankömmling, der langsam daherhumpelnd noch spät von Witoborn herüberkommt ...

Es ist ein kleiner Mann, nicht unkräftig gebaut. Zwischen den Schultern trägt er die Last eines Buckels und unter den Armen, in ein Tuch gewickelt, einen länglichen Gegenstand, den man an einem hervorstehenden Fiedelbogen für eine Geige halten darf ... Der weiße beulenreiche Hut ist tief über den Kopf gestülpt, den ein Pflaster am Auge entstellt ... Ein grauer Mantel, angezogen wie ein Militärmantel, schützt den Wanderer auf seinem Wege, den er nur langsam fortsetzen kann, da er heute aus den Händen des Bruder Hubertus eine schlechtere Testamentszahlung vom Kronsyndikus bekommen hat, als ihm dieser in dem beim Pfarrer Huber in Witoborn niedergelegten letzten Willen zugedacht ...

Es ist Stammer, der Geiger ...

Alle wissen schon sein Unglück und jeder, der ihm begegnet, lacht seines Hinkens und seines Pflasters ... Besonders gram ist ihm dabei niemand; Müllenhoff hatte schon Recht: Dies Volk hat zu lange die Milde des Krummstabs gefühlt und liebt Zechen und wildes Aufschlagen auf den Tisch und alle Sünden, die freilich dann so viele Wächter des Himmels, wie Witoborn einst zählte, auch wieder leichter vergeben konnten. Sie fehlen wol bei keiner Procession, sie werfen sich vor jedem Altar nieder, lassen sich jeden Besuch im witoborner Münster und jeden Kuß auf einen Reliquienschrein vom Küster schriftlich bescheinigen, um damit einst vor Gottes Thron oder bei einem Anliegen um freies Brennholz aus einem geistlichen Walde auftreten zu können; aber nirgends wird auch noch soviel wildes Naturrecht geübt, nirgends soviel Holz schon von selbst gestohlen, nirgends soviel Wild im Mondlicht in die Büsche geworfen, mit Zweigen überdeckt und bei guter Gelegenheit harmlos von einem vorüberfahrenden Heuwagen abgeholt, nirgends wird dem damals nur langsamen Vorschreiten des Zollvereins und der nahen »Grenze« soviel Vortheil abgeschmuggelt für Kattun, Zucker, Kaffee, nirgends ein Hader mit dem Gutsherrn so listig geführt ... Stammer fiedelte ihnen in alles das seine lustigen Weisen hinein oder sprach sogar über die alte und die neue Zeit in offner Rede und setzte einen Refrain drauf, eine Strophe gesprochen und eine gespielt, bis der Gensdarm kam oder der Meyer oder der Finkenmüller und die Schwänke des bösen Alten verbot, dessen lästernder Mund schon einst ein halbes Kind, Lucinde damals, aus ihrem Pavillon verbannt hatte nach dem Tode des Deichgrafen.

Mancher redet den Geiger an ... Er knirscht fast mit den Zähnen vor Wuth ... Mitleid wird ihm nicht; Alle wissen's doch, boshaft ist er und Bruder Hubertus »der Abtödter« ist der endlich zurückgekehrte Liebling der ganzen Gegend; die Kinder werden dem frommen Bruder doch wieder mit der dampfenden Schüssel entgegenkommen, wenn er sich mit seinem Topfe naht; er wird die Pferde und die Kühe und die Menschen heilen – und sieht er auch aus wie der leibhafte Tod und ist sein Lachen ein Grinsen wie aus einem Knochengesicht, die Mädchen fürchten ihn nicht, wenn er ihnen einsam im Kornfeld begegnet ... sie wissen, daß er ihnen doch Briefe schreibt nach der Garnison, wo ihre Liebsten weilen, daß er ihnen doch heimlich Botengänge ausrichtet zu allen Husaren, die in Witoborn stehen ...

An einem Kreuzweg sieht der racheschnaubende Stammer einen Mann, der des Weges nicht kundig scheint und nicht weiß, ob er geradeaus gehen oder lieber links sich wenden soll ...

Landsmann! ruft der andere den Geiger an ... Wo ist die Route nach Libori – Pfarrhaus –?

Stammer zeigte nach rechts:

Gerade da, wo Ihr herkommt! Oder dort drüben herum, wenn Ihr erst noch auf dem Finkenhof einheizen wollt! Es macht kalt!

Der Verirrte war ein stämmiger Mann mit Pelzkappe und Düffelrock und rothem Comfortable um den Hals und hatte die Hände in den Seitentaschen ... Er kannte den Namen des Finkenhofes und fragte:

Geht Ihr dahin?

Auf zwei Beinen. Sind Sie fremd in der Gegend?

Aus Strasburg –

»O du schöne Stadt!« sang der Geiger mit verbissener Lustigkeit. Ich bin ein Musikus, und Sie –?

Von Metier Perrükenmacher!

Möcht' ich Ihnen meine gelben Haare verkaufen! Eine Hand voll schlug ich heute umsonst los! Daß dich! Und jetzt –?

Dionysius Schneid sah inzwischen das Pflaster über der Nase seines Auskunftgebers, bedauerte ihn, plauderte allerlei Schnickschnack und klimperte zur Antwort auf die letzte Frage in der Tasche mit den Worten, Geld hält' er genug, um bis nach Polen zu kommen ... einstweilen wär' er hier in gräfliche Dienste getreten auf Schloß Westerhof, wenn auch noch ohne Livree; heute Abend wollt' er sich den Rest seiner »Bagage« aus dem Pfarrhause holen, wo ihn auf einige Tage der alte Tubbicke »logirt« hätte ...

Sind Sie doch nicht gar der große Prophet, den immer Herr Tübbicke junior aus Paris erwartet? Der, der die Welt wie ein Stück Tuch zerschneiden soll und jedem einen Fetzen gibt – ja so! mir (sagte Stammer innehaltend und nach einer wunden Stelle seines Leibes greifend, die ihn schmerzte) schon meinen – Fetzen – von einem adeligen – Jagdrock –

Dionysius Schneid verstand nicht diese in den Bart gemurmelte Anspielung auf die Ursache der Schmerzen, die dem Geiger durch vielleicht zu schnelles Gehen gemehrt wurden ... wol aber begriff er vollkommen die Anspielung auf die Communauté, die ihn einst mit dem jungen Tübbicke in Paris bekannt gemacht hatte ...

Ha, ha, ha! fiel er mit grobem Gelächter ein. Diese Propheten stecken jetzt alle in Prison! Einer kriegt soviel Wasser und Brot wie der andere! Das ist die Theilung der Propriété!

Dionysius Schneid, der sich dem seinen Witz ganz freundlich begrinsenden Geiger befreundete, schien auf dem Schloß Urlaub für die ganze Nacht genommen zu haben und ging in den Finkenhof mit. Das Lachen der Vorübergehenden über den Buckeligen reizte seine Neugier nur noch mehr und am Finkenhof angekommen sah er, welchem verwogenen alten Knaben er folgte. Stammer zog, obschon ein tiefer Verdruß an ihm nagte, seine Geige aus dem alten Tuch, nahm seinen Fiedelbogen und hielt feierlichen Einzug mit schlenkernd ausgeworfenen Beinen, frech und übermüthig einen Geschwindmarsch streichend, den er schon auf der Schwelle begann ... Ein schallendes Lachen empfing beide Ankömmlinge ...

Auch Dionysius Schneid ließ die brennenden Augen vergnügt im Kreise rollen. Das Lachen und Glückwünschen belustigte ihn ... Die jungen Bursche sprangen auf und tanzten hinter dem Geiger her ... Die Alten streckten ruhig fortrauchend die Beine vor, um ihn zum Fallen zu bringen ... Stammer wich aus, warf seine gelbweißen langen Haare mit kecker Geberde hinterrücks und marschirte gerade auf den Tanzsaal zu ... Dieser war nicht geheizt, aber einige Bursche sprangen doch an, ergriffen die Mägde, die aufwarteten, und würden wenigstens einmal mit bloßer Begleitung einer Geige den Pfaffen von Ystrup gestampft haben, wenn nicht der Meyer, der Moorbauer und der Finkenmüller selbst gekommen wären und eingedenk der Gelöbnisse, die sie heute dem Pfarrer gegeben, und trotz der vielbelachten, allgemein verbreiteten und alle guten Vorsätze entkräftenden Nachricht, nächstens würde bei Herrn Müllenhoff getauft werden, Ruhe geboten hätten ...

Stammer vermittelte die neue Bekanntschaft mit solchen, die sich, wenn ein anderer Geld zeigte und »anfahren« ließ, ihrerseits auch nicht »kohlen« ließen ... Die Hauptsache war Kartenspiel ... Guthmanns und Herren von Binnenthals gibt es auch im Bauernstande und aus »Schafskopf« kann man verhältnißmäßig ebenso geprellt werden, wie Piter in Pyrmont auf »Einundzwanzig« ... Stammer berechnete schon seinen Antheil, als er Herrn Dionysius Schneid mit ein paar Salzsiedern bekannt gemacht hatte, die im glücklichen Kartenspiel Meister waren ...

Inzwischen hätte das Geschäft der »Herren vom Schlosse« hinter dem urweltlichen Kachelofen schon vorüber sein können. Indessen »ein Wort gibt das andere« und wo sich einmal Thiebold's Zunge festgehakt hat, kann sie sobald nicht wieder los. Aus einer löblichen Popularitätsbestrebung hatte man sogar dem Finkenmüller nicht abgeschlagen, von ihm, natürlich gegen Zahlung, drei »steife Grogs« anzunehmen, die er ihnen als die vorzüglichste Leistung seiner Großmagd offerirte. Die Aussicht, daß Herr de Jonge den Wald kaufte, in dem nächstens zum letzten male gepirscht werden sollte, eröffnete dem ganzen Jagd- und Waldhutpersonal glänzende Aussichten auf Schlag- und Holzvermessungstrinkgelder. Bedauern, daß im Zehnterforst die Hirsche zum letzten male junge Tannenkeime knuspern sollten, war eine hier unbekannte Sentimentalität. Nur der Meyer äußerte von der künftigen Bestimmung dieses Forstes zu Eisenbahnschwellen einige fromme Seufzer, die an Müllenhoff's Predigten erinnerten, der die Locomotive darzustellen pflegte wie die vom Teufel entführte Braut der Hölle, voran Satan mit einer Peitsche aus lichterlohem Kometenfeuer, hintenauf hockend Drachen und Ungethüme der Unterwelt und in den Waggons fahrend Juden und Judengenossen, Gottesläugner, Consistorialräthe, Offiziere und Gensdarmen, alles was zum Leben des neunzehnten Jahrhunderts gehöre ... Ja auch Benno seufzte: Der Zehnterwald! Kein Holz hatt' ich so lieb, wie das! Stellen gab's da, die für's Edelwild ein Paradies waren! Büsche an kleinen Wassern, wie gemacht für die Brunst, einsam wie Mutterschoos!

Brauchte da ein Jäger wol aufs Blatten zu schießen? fiel als leiser Wehmuthsaccord vom Hegemeister ein ...

Nein, sagte der Oberförster, wischte sich aber nur das »neu angefahrene« Bier aus dem greisen Barte, keine Thräne, der ganze Forst gab schon einen Ton von sich, auf den die Rehe von allen Weltgegenden hereinkamen!

Den Ton des Schweigens! sagte Benno für sich und horchte auf die Terschka'sche lebhaftere Seitendebatte, wo man vom Düsternbrook sprach, als von einem Gehölz, wo seit Menschengedenken kein Hund »ein Wild stellte«.

Das führte denn auf das heute von Allen Erlebte ...

Man legte sich freilich die Rücksichten auf, die der An- und Abstand geboten ...

Man lächelte nur, munkelte, stopfte sich »mit Verlaub« eine neue Pfeife und wartete auf den, der die meiste Courage hätte, um mit der Rede durchzubrechen ...

Des Küfers Stephan Lengenich entsannen sich alle von vor Jahren ...

Auch Löb Seligmann war jedem bekannt. Der hatte den Küfer zurückgehalten, als dieser seine »Entlastung« feierlich vollzogen ... Dann war Löb auf den Schrei der Lisabeth und die Störung durch den Geiger und den Mönch, wahrscheinlich auf Schloß Neuhof zurück verschwunden, wo ihn schon der Präsident von Wittekind zu schätzen begann ...

Das nun war der Augenblick, wo man die Geige Stammer's hörte und vor dem grellen Lachen, mit dem sein Eintreten empfangen wurde, sein eigen Wort nicht verstand ...

Nach dem, was Onkel Levinus über die alten Dinge von Schloß Neuhof erzählt hatte, mußten die drei Herren vom Schloß wol angenehm überrascht und begierig sein, sich diesen Geiger näher anzuschauen ... Schon wurde seine Charakteristik gegeben ...

Er ist im Kirchenbann ...

Ein alter Kerl von fast sechzig Jahren schon ...

Putzig ist's, wenn er allein spielt! Immer erzählt er dazwischen eine Lüge, wie Eulenspiegel ...

Oder auch manchmal eine Wahrheit! sagte der Oberförster und betrachtete wie mit einer Auffoderung, den Geiger näher zu rufen, Herrn von Terschka ...

Terschka gab den Ausschlag, daß man sich allerdings eine solche Erscheinung nicht entgehen lassen sollte ... Benno erneuerte gern eine Bekanntschaft aus seiner frühesten Jugend ... Und so war denn Thiebold schon aus, ihn zu holen ...

Umringt von denen, die sich nicht zu Dionysius Schneid und zum Spiele hielten, erschien der heute so übel zugerichtete, langhaarige Buckelige ... Trüb beschienen ihn die wenigen Oellampen, deren Lichtstrahlen vollends ermatteten durch den Qualm der Pfeifen und Cigarren ... Der Dunst des Ofens zwang die drei Herren vom Schloß, von diesem mit ihren Schemeln abzurücken ... Der Finkenwirth bediente allseitig und entfernte von den Honoratioren die Nachdrängenden. Er that das wie mit Kammerherrenanstand ...

Stammer schlenderte näher und grüßte trotzig ... Seine kohlschwarzen Augen lachten verschmitzt die vornehmen Frager an. Seine dünnen Beine verneigten sich fast wie mit einem frauenzimmerlichen Knix ... Dann legte er beide langen Arme, die die Geige und den Fiedelbogen hielten, auf den Rücken, als wollt' er sagen: Nun, was soll's?

Terschka, der hier das Wort führte, sagte nicht ohne Würde, aber in seinem fremdartigen Dialekt:

Ei Sie! Ei Sie! Sie haben halt das Unglück, hör' ich, dem Herrn Pfarrer nicht zu gefallen!

Ich gefalle mir selbst nicht! Sehen Sie nur! Der liebe Gott hat mich nicht richtig wachsen lassen! ... Das war mit einem Herumdrehen des Rückens die Antwort ...

Sie haben, fuhr Terschka nach dem Lachen fort, hör' ich, sehr ein großes Talent! Auf der Geige könnte der Paganini von Ihnen lernen, sagt man! Ich würde an Ihrer Statt mein Publikum nicht groß genug haben können; selbst der Herr Pfarrer dürfte mir nicht fehlen, wenn ich einmal eine gute Sonate spielte ...

Man murmelte und lächelte auch ihm ... Stammer's Gedanken weilten zwar jetzt mehr bei dem Kloster Himmelpfort, als bei Sanct-Libori, doch stellte er sich demüthig ...

Schließen Sie Frieden mit Herrn Müllenhoff, fuhr Terschka, seiner Stellung eingedenk, fort. Er meint es gewiß gut mit euch allen! Auf Ordnung und gute Sitte muß halt auch die neue Herrschaft sehen! Ein Jünglings- und ein Jungfrauenbund ist gar so übel nicht und schließt die Freude keineswegs aus. Daß die Musik an sich Gott wohlgefällig ist, zeigt euch Sonntags jede Messe! ... Ihr aber, Stammer, sollt ja zur Geige allerlei Schnurren vortragen können! Nun, wenn Ihr in Euere Lügen ein paar Körner Wahrheit einmischen wollt, soll's uns noch einmal so lieb sein! Trinkt und fangt dann mit einem Gespaß an!

Benno und Thiebold mußten dieser Weise, sich hier unter den Leuten vornehm und zugleich populär, streng und doch tolerant zu geben, »leider« ihren ganzen Beifall schenken ...

Knick! Knack! drehte Stammer inzwischen die Wirbel seiner Geige, probirte die Saiten mit dem Fiedelbogen und begann mit einigen Läufen seine hier landbekannte Art der Improvisation ...

In einem singenden Tone sprach er:

Ein kleines Kind bin ich im Wald geboren – An einem schönen, schönen, wunderschönen Sommertag –

Mit rascher und gesprächsweiser Stimme setzte er hinzu:

Im Juli war's – wo freilich die Tage anfangen kürzer zu werden ... ich glaube, darum bin ich auch zu kurz in die Welt gekommen ...

Die Leute lachten ... Stammer ließ den Fiedelbogen langsam über die Saiten gleiten und sprach dabei:

Ach! Was ist nicht alles jetzt länger geworden! Die Tage sind's am allerersten; auf die Art weil man so desto länger arbeiten muß! Sonst aber waren nur die Dreigroschenbrote länger und die Elle war's und dick wurde jedermann – nicht blos die Wirthe ...

In ein Lachen über den Finkenmüller wirbelte der Improvisator einige Läufer hinein, zog dann wieder, als es stiller wurde, einen einzigen, langsamen und klagenden Ton und sagte:

O du schöne Zeit! Du liebe Zeit! Ja, hatte man sonst im Winter, wie jetzt, kein Brennholz, so ging man blos zu einem heiligen Domherrn! Ach, auch das war in der schönen Zeit nicht 'mal nöthig! Man brauchte blos seine Frau zu schicken oder seine Tochter und alles war in Ordnung ...

In das gesteigerte Lachen, dem sich selbst die »Herren vom Schloß« anschließen mußten, fiel ein wildes Dideldei der Geige wieder als Refrain ein ...

Da liegt nun das Jägerkindlein in der Wiegen! fuhr er wieder, als sich alles beruhigt, mit elegischem Tone und halb singend fort. Ich war meiner Mutter ganze Lust! Milch – gab sie mir von unserer Ziegen –

Im leichten Tone setzte er mit raschem Sprechen den Lachenden hinzu: Kein Wunder, daß sich früh der Bock in mir regte ...

Neues Lachen ... der alte Possenreißer machte einen zweideutigen Bockssprung ...

Elegischer aber fuhr er fort und fixirte die Jäger, die sich ihm gleichgültiger zeigten:

Es war noch nicht die Zeit, als wir zum ersten male hier zu Lande hörten: Straf mir Jott! Wat soll mm so en Junge werden? Er kann nickt Kammmacher, Stellmacher, Siebmacher, Korbmacher, Raschmacher, Schuldenmacher – kein Jäger nicht werden ...

Die Jäger ließen sich den Scherz gefallen ...

Lassen wir ihn das Schönste auf der Erden, einen Musikus beim fürstbischöflich witobornschen Stadttrompeter werden! ...

Eine wilde musikalische Figur folgte ...

Der Stadttrompeter, setzte er dann wieder parlando zum singend Gezogenen hinzu, hatte damals die Wassersucht, was sonst keine Leibkrankheit der Musikanten ist. Dennoch lernt' ich von ihm noch zu guter letzt die Flöte, die Clarinette, Waldhorn, Trompete, Violine und Guitarre, welche letztere ich sogar schon wieder einem Fräulein auf Schloß Neuhof beibringen konnte – die Stunde ein Maß Bier und ein übers andere mal sechs Pfennige ...

Niemand von den »Herren vom Schloß« erwartete wol, daß diese sentimentale Guitarrenspielerin – die raffinirte Mörderin der Schwester des Geigers war, die später wirklich auch selbst Ermordete ...

Fräulein von Gülpen hieß die Dame! sagte Stammer. In stillen Abendstunden, wenn der Kronsyndikus in Kassel war, lockten wir die Fledermäuse ans Fenster und spielten und sangen: Guter Mond, du gehst so stille! bis eines Tages unterm Fenster ein Jäger anbiß. Schön war er nicht. Eine große Kaffeetrommel, in die man ihn in Java einsperrte, hatte ihn braun gebrannt –!

Alle wußten sogleich, daß Bruder Hubertus gemeint war und sahen voraus, daß sich der Buckelige vor den Herrschaften an ihm rächen würde über die Mishandlung, die ihm heute in ihrer Gegenwart angethan war ... Terschka, Thiebold und Benno fühlten die Schauer der Erinnerung an die Erzählungen des Onkels Levinus ...

Einige kühne musikalische Figuren, die des Geigers jetzt ausbrechenden Zorn verriethen, wurden gestrichen als Zeichen, daß er an seine Pointe kam ... Er fuhr singend fort:

So ging es her zu jener Zeit – heidi! ... Auf Schloß Neuhof – heidi! heidi! heidi! ... Viel Herrn und Damen – ei, ei, ei! ... Musik und Tanz und Gasterei! ... Und Parlez-vous français, Musje? ... Italienerinnen – »Nix versteh!« ...

Blos unser Geld verstanden sie – setzte er parlando hinzu, und das kräftige deutsche Wort: »Tar Teifel!« ... Eine war so gut wie die zweite Baronin und sagte nur immer: »Tar Teifel!« ... Ihre Reitpeitsche hieb – hui! – über alles weg, was ihr in den Weg kam. Eine Sängerin war's aus Rom –! »Nix versteh«, als »Tar Teifel!« und nur »viel Geld«, »gute Geld«, »schwere Geld« und Brillante – aber »von die echte« –! »Tar Teifel!« fluchte sie zu Wagen und zu Pferde! Aber schön war sie –! Und lachen konnte sie –! Auch über mich und sogar über den schönen Mann aus der Kaffeetrommel!

Wilde Variationen fielen wieder ein ... Unfehlbar war eine Rache an Hubertus das Ziel ...

Alle betrachteten Terschka, um gerade an ihm, an der Hauptperson des Abends, die Wirkung dieser Possen zu beobachten ...

Da – ist – denn aber gekommen – fuhr Stammer mit pathetischem Nasenton fort – der großmächtige – Winter Anno Zwölf – und – (so ein einziges »und« zog er schon wie eine lange, lange Note) und – da sind die Füchse – die Wölfe – die Franzosen – sind gekommen – und daß Gott erbarm'! – man hätte seinem Feind nicht abgeschlagen ein Stück Pumpernickel, was ihm sonst nur eine Brotsorte von Stein gewesen war ... Sakkernungdediö! Da zog auch Herr von Bosbeck einmal einen Tuchrock an –

Buschbeck! verbesserten einige Stimmen ...

Terschka horchte immer mehr auf ...

Die Hitz' bei zwanzig Grad, unter Null war ihm denn doch zu arg und ob er gleich 'ne Haut hat wie Leder, gegerbtes Rindsleder, der Herr von, Bosbeck ...

Buschbeck! verbesserten schon ihrer mehr ...

Die hat er, eine Haut von Büffelleder! Ich hab' sie oft genug selbst gesehen ... Eines Tages sah ich sogar an Bosbeck's Arm –

Buschbeck! schrieen die Zuhörer ...

Bosbeck –? wiederholte Terschka für sich ...

Bosbeck ist sein Name! rief jetzt kreischend der Geiger voll Tücke und auf der Höhe seiner Rache angekommen. Es ist ja ein Vetter von dem Bosbeck selig, der in Gröningen am Galgen hing ...

Terschka schauderte ersichtlich ...

Die Umstehenden schwiegen ... Daß es mit des Mönches früherem Leben nicht geheuer war, wußten alle ...

Sah' ich denn nicht, krächzte der tückische Geiger, sah ich denn nicht – auf dem Leder hier am Arm, wo andere Menschen, sogar die Buckeligen, höchstens ein ehrliches Muttermal haben – ein Galgenrad eingebrannt? Ganz wie damals beim Liborius Pollmann, bei Dominicus Klapproth, Jean Picard und wie sie alle heißen, die dazumal das Geld flüssig zu machen wußten – rund ist ein Rad und rund ist die Welt und –

Nun fiedelte und sang der Geiger eine wilde Melodie ...

Da unterbrach ihn aber ein Lärm, der sich aus einem hintern Winkel erhob ...

Schlagt den Hund todt! rief man dort aus kreischenden Kehlen durcheinander ...

Alles, noch starrend und murmelnd und flüsternd über die unglaubliche Mähr, daß der fromme Bruder Hubertus auf seinem Arm könnte ein Verbrecherzeichen eingebrannt haben, wandte sich ungern ...

Der Finkenmüller sah eine Rauferei und rannte schon fast den Geiger nieder und warf sich dazwischen.

Die Spieler hatten den von Stammer mitgebrachten Fremdling zu Boden geworfen ... Sie, die gehofft hatten, einen reich mit Geld Ausgestatteten prellen zu können, waren es von ihm geworden ... Geschuppt hat er! hieß es, und zwei bekannte liederliche Bursche rangen mit dem Voltenschläger, der sich wehrte, hielten ihn auf den Boden nieder, während andere den Finkenmüller zurückhielten und durcheinander schrieen: Wie er abhob, sahen wir's! – Schon da, als er mischte! – Daumen hat er wie ein Dieb! ...

Ruhe! rief der Meyer und machte den Herrschaften Bahn ...

Terschka's aufgeregtes Herantreten, Thiebold's Zurückhalten der beiden Salzsieder, Benno's energisches Bedeuten um Ruhe unterbrach die Fortsetzung der Künste des Geigers und des Kampfes, welcher letztere sich sogar durch einen zufälligen Umstand plötzlich in Heiterkeit auflöste ... Herrn Dionysius Schneid entglitt unter den Fäusten seiner überlegenen Angreifer ein Schmuck seines Hauptes, eine pechschwarze Tour, die über einen plötzlich sichtbar werdenden, kurzgeschnittenen rothhaarigen Schädel geklebt war ... Das dann zu gleicher Zeit noch hineingeworfene Wort des hinzutretenden Geigers: Es ist ja ein Perrükenmacher! machte selbst Thiebold und Benno lachen, und so erhob sich der Strasburger und benutzte den Moment, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen und heimlich zu entfernen ...

Der Wächter draußen rief die zehnte Stunde ... Alles beruhigte sich jetzt, gedachte der Heimkehr und ließ zunächst die »Herrschaften« durch, die sich jetzt empfahlen ...

Die Jäger gaben ihnen noch eine Weile das Geleite ...

Der Meyer, der Moorbauer blieben zur Kritik des Abends zurück. Da sie bestätigten, daß Herr von Terschka plötzlich in ein auffallendes Schweigen verfallen war, wurden dem Geiger vom Finkenwirth für seinen frechen und lügnerischen Ausfall auf den Liebling der Gegend und einen Mann Gottes die bittersten Vorwürfe gemacht. Als Stammer entgegnen wollte, warf ihn der Wirth ohne weiteres zum Hause hinaus ...

Draußen an den sich kreuzenden Wegen zerstreute sich dann alles ...

Benno sagte zu Thiebold: »Tar Teifel!« Den rothen Kerl muß ich doch schon irgendwo gesehen haben?

Auch Terschka hörte dies, glaubte aber die Rede wäre von dem Brandmal des Hubertus ... Darf er denn solange außerhalb seines Klosters leben? fragte er, nahm, als sein Irrthum berichtigt, seine Frage bestätigt worden, Abschied von Benno und Thiebold und ging mit dem Oberförster und dem Wildmeister dem Schlosse zu ...

Die Schläge der zehnten Stunde erklangen von allen Seiten her durch die stille Nacht ...

Die nächst hörbare Uhr war schon die von Schloß Westerhof ...

Selbst vom schneebedeckten Jesuitenthurm in Witoborn hörte man in der nächtlichen Stille das bekannte hastige Jesuitenläuten ...

Und öde wie die Winternacht, war die Stimmung der Freunde ... Was sie jetzt hätten aussprechen können, war schon in diesen Tagen so oft gegenseitig ausgeschüttet worden ... O wie war Armgart so seltsam geworden! Wie lag es winterlich auf dem Herzen der Freunde! Erstorben alle Blüten, verklungen alle Freuden, begraben die schönste Maienzeit des Lebens! ... Der Scherz mit den »Vielliebchen« war die letzte Erinnerung gewesen an den Ton vergangener Stunden ...

Thiebold's Art und sein schlechtes Gewissen litten es freilich nicht, daß er so ganz zu allem Herzleid schwieg. Seine Zunge wurde nicht müde bald die Geister des Jenseits, bald die Vicinalwege des Diesseits zu besprechen, bald den Doctor Püttmeyer, bald die Jagd, bald das unheimliche, vielleicht gar nicht existirende Brandmal auf dem Arme des Mönches Hubertus, bald den Räuber Bosbeck – eine Jugenderinnerung – bald die Guitarrestunden der ermordeten Frau Hauptmann zu erläutern ... Alles, was er damit nur sagen konnte, lautete im Grunde seines Herzens: Was hebt uns ach! mit so lustigen Schwingen in die kalte leere Luft und läßt uns schweben wie Fieberkranke, die da jammern des gefürchteten jähen ewigen Niedersturzes! Was geht vor in diesem Chaos des Erdenlebens, im dunkeln Rath der Götter, die die Menschenloose zu ihrer Freude mischen! Wohin wandeln wir! Was geschieht! Wie nur so angstvoll klopfen unsere Herzen, wie so bang mahnt unsere Ahnung! Geister halten, führen uns – aber wohin geht ihr Weg, wo ist das glückliche Ziel?

Nach einer Wanderung von einer halben Stunde hörten sie das Rauschen der berühmten Mühlen von Witoborn. In ihren Donnerton versank alles, was Thiebold nur sprach, um richtiger, wenn auch sehr prosaisch zu sagen: Ist es denn möglich, daß man uns, uns – – diesen Terschka, einen Mann von vierzig Jahren vorziehen kann!

Benno lebte hier auf dem Schauplatz der ersten Erinnerungen seines dunkeln Lebens schon seit Wochen wie im Traum. Seine Rückkehr zur Schreibstube Nück's stand nahe bevor. Er schloß auch mit diesem Tage ab, wie schon seit lange mit seinem ganzen Leben. Seine Entsagung war eine um so schmerzlichere, als er sich die Philosophie gebildet hatte: Was du dir unsers Daseins für würdig hältst, mußt du dir hienieden zu erringen suchen! ... Die erfahrungslose Jugend baut sich ja schneller Systeme, als das geprüfte Alter. Gehen diese Systeme hervor aus »Enttäuschungen« und »gescheiterten Hoffnungen«, dann zerfallen sie wol leicht wieder in Trümmer; aber jäher ist ihre Dauer, gefahrvoller wird sie für das Herz, wenn sie aus jener Jugendstimmung entstehen, die wenig erwartend vom Jenseits auch vom Diesseits nur mit bitterer Verachtung spricht, von ihm am wenigsten noch etwas hofft, zu seinen Gunsten am wenigsten noch etwas unternimmt ...

Eine volle, freie, erhebende Stunde mit Bonaventura hatte Benno noch nicht finden können.

7.

Auch für Bonaventura war dieser Aufenthalt eine Rückkehr auf den Schauplatz seiner ersten Jugend.

Auch ihn zog hierher eine Liebe und eine froh-bange Sehnsucht ... Er kannte Paula als Kind, dann kannte er sie mit dem Ausdruck jungfräulich erster Reife ... Jetzt erwartete er nach allem, was er von ihr wußte, ein Bild voll elegischer Hoheit, eine gefangene junge Königin, die in einem einsamen Schlosse wandelt, hoheitsvoll und tief hilfsbedürftig zugleich.

Die Beklemmung, in Paula's seltsam bedingtes Lebensdasein einzutreten, wuchs mit der Nachwirkung dessen, was in der Residenz des Kirchenfürsten noch in den letzten Augenblicken von ihm erlebt werden mußte. Die Begegnung mit Bickert im Beichtstuhl, die Hoffnung auf Rückgabe der im Sarge des alten Mevissen gefundenen Papiere – Lucinden's Erklärung, daß dieser Schatz in ihren Händen war – wie durchrieselte ihn da mit schüttelndem Frost die Erinnerung an die aus ihrem Mund gekommenen schonungslosen Drohungen! Eine Rachegöttin umschwebte sie ihn auf allen Wegen. Das Schwirren ihrer Eumenidenflügel glaubte er zu hören, das Leuchten ihrer geschwungenen Fackel in dunkler Nacht zu sehen. »Der ganze, ganze Bau der Kirche!« Dies tiefhöhnende Wort hallte durch seine Seele wie Grabesruf. Was konnte der treue Diener seines Vaters aufbewahrt, was von diesem zum Aufbewahren erhalten haben, das an sein Dasein eine so große Thatsache, den Bau der Kirche, knüpfen ließ und nicht ganz zerstört, ja vielleicht ausdrücklich einem Grabe einverleibt werden sollte?

Der ganze Bau der Kirche! ... O da war er denn nun in diesem heiligen Witoborn! Hier hatten Bischöfe gethront und den Krummstab als Scepter geführt und nicht Eine bedeutsame Erinnerung an deutsche Größe, Kraft und Bildung war zurückgeblieben. Kleinliche Häuser, ärmliche Straßen, in entlegener Gegend, in einer halben Wüste ein glänzender Palast, die Residenz dieser Bischöfe, jetzt eine Kaserne. Nichts vom Vergangenen zurückgeblieben, als eine Unzahl Kirchen, ein düsteres Jesuitenstift, Gefäße von Silber und Gold in den Truhen der Sakristeien, Monstranzen mit Edelsteinen, Fahnen und Baldachine von kostbarer Stickerei. Hier und da fand sich eine bessere Erinnerung aus der Zeit der Aufklärung. Einige Priester hatten in dem Geiste des Onkels Dechanten gewirkt. Einiges war geschehen für Priesterbildung, Jugendunterricht und würdigere Gottesverehrung – aber der neue römische Geist überbaute schon seit lange alles wieder mit seinem künstlichen Mittelalter. Am Markt, in den Läden der Hauptstraßen waren die Schaufenster besetzt mit Monstranzen, Kelchen, Crucifixen, Madonnen aus Alabaster und Bronze, Erzeugnissen einer Industrie, deren Spuren sich bis dahin verloren, wo man sogar dem Salon einen gewissen koketten kirchlichen Ausdruck jetzt zu geben versuchte. Eine Procession hier, eine Procession dort. Bruderschaften fast für jeden Tag der Woche in Bewegung. Männer, Weiber, Kinder mit Lichtchen in den Händen, mit Fahnenwimpeln, Kreuzen, Meßner und Chorknaben dazwischen in bunten Gewändern, singend und sprechend mit allen jenen Dissonanzen und unsichern Rhythmen, die ihm seine Glaubensvirtuosität früher als so rührend erscheinen ließ. Jetzt sah er in diesem Kirchgang so vieler Männer an Wochentagen nur die Versäumniß ihrer Arbeit. Ehe er nach dem Pfarrhause zu Sanct-Libori fuhr, war er »Bei Tangermanns« abgestiegen. Ihm gegenüber hatte ein Kapuzinerkloster eine Kirche, vor der in einem Aufputz wie für Kinder – eine kleine Madonna in natürlichen Kleidern von Sammet und Seide auf offener Straße stand.

Am Morgen gleich nach seiner Ankunft kamen Benno, Thiebold, Hedemann. Erstere beide wohnten in einem Müllerhäuschen, das etwas entlegen lag vom donnernden Geräusch der schon von Hedemann selbst betriebenen Mühlen. Das Wiedersehen war hocherfreut. Bei Benno sogar mit ironischem Lächeln, als es der Frage galt nach dem ersten Besuch auf Westerhof; bei Thiebold mit der scheuen Befangenheit eines schuldbewußten Schülers vor seinem Lehrer; bei Hedemann mit jener bekannten immer mehr sich bei ihm ausbildenden, lächelndstrengen Sicherheit des Bibelglaubens; Hedemann hatte in der That ketzerische Grundsätze aus England und Amerika mit heimgebracht und wurde in ihnen durch die Erfahrungen, die seine greisen Aeltern mit dem Pfarrer Langelütje gemacht, in Gedankengängen bestärkt, die zu irgendeinem, vielleicht für ihn verhängnißvollen Ziele führen mußten. Daß der Domherr nicht in Witoborn blieb, wußte man. Bonaventura wollte seinen nominellen Pfarrsitz selbst einnehmen und schon war nach einem Wägelchen geschickt worden, ihn an seinen eigentlichen Wohnsitz zu führen, den er einem alten Brauche gemäß bis gegen Ostern einnehmen mußte. Benno bedauerte diese Trennung. Er schilderte das Haus »Bei Tangermanns« als einen unterhaltenden Rest altdeutscher Gastfreundschaft, der indessen die Trinkgelder und modernen Preise nicht ausschlösse. Seht nur, sagte er, dies alte Mauerwerk mit bunten pariser Tapeten beklebt! Goldleisten über wurmstichige Balken! Parquetfußböden neben grünen Kachelöfen! Thiebold setzte hinzu: Lästern Sie nicht! Das beste ist ein patriarchalischer Weinkeller, aus dem man nur leider allein durch Schmeichelei einen Niersteiner Gelbsiegel bekommen kann! Der alte Tangermann hat auf seiner Weinkarte alle nur möglichen Cabinetsauslesen und Dompräsenze, gibt sie aber nicht her, wenn man sie nur so einfach bestellt, wie wahrscheinlich unser Freund Piter Kattendyk gethan hat, als er von witoborner Krätzer sprach! Erst sagt der Kellner regelmäßig: Der alte Herr Tangermann hat den Schlüssel! Erst muß man an Herrn Tangermann's Stube klopfen, muß erst seine ausgestopften Vögel bewundern, die herrlichen Aquatintas an den Wänden, die Napoleonischen Rührscenen aus Fontainebleau und Sanct-Helena bewundern, ehe man das Gespräch auf seine Jahrgänge bringen und ihn geneigt stimmen kann, eine Probe heraufzuholen, die dann aber dennoch keineswegs zu einem altpatriarchalischen, sondern ganz modernen Preise abgelassen wird, wie nur in irgendeinem Victoriahotel! Und Hedemann setzte hinzu: In der Kunst, dem alten Tangermann diese guten Stunden abzuschmeicheln, ist niemand bewanderter gewesen als der Landrath von Enckefuß!

Dieser Name gab dann Fernsichten in die betrübenden Eindrücke des Kirchenstreites ... Fernsichten auch auf Schloß Neuhof, auf Bonaventura's Stiefvater, seine Mutter, ja zuletzt auf Klingsohr, von dem man wußte, daß er gewaltsam nach dem Kloster Himmelpfort zurückgeführt worden ... Ein Leben im Gasthof stört dann freilich jeden Schmerz ... Hier ein Zimmer, wo ein Trauernder weint, nebenan eins, wo ein Musterreiter die neuesten Modearien singt – Letzteres geschah wenigstens der kleinen Gesellschaft. Nur Zufall war es, daß ein gewisser Mann nebenan, der sich eben rasirte, die Namen seiner Nachbarn nicht zu erfahren begehrte und, verloren in die täglichen Geschäfte, die ihn erst mit Herrn von Terschka, jetzt schon mit allen umwohnenden Adeligen verbanden, ja schon auf Schloß Neuhof riefen, sich nicht als Löb Seligmann aus Kocher am Fall seinen alten Bekannten zu erkennen gab ... Und doch wie sang er sich selber vorm Spiegel an: »Dies Bildniß ist bezaubernd schön!« wie jodelte er, wenn er plötzlich von Extrapostideen befallen wurde, das damals neue: »Ho, ho! So schön und froh! Der Postillon von Lonjumeau!«

Im Pfarrhause bei Norbert Müllenhoff fand Bonaventura zwei Zimmer schon für sich hergerichtet, Zimmer, in deren Ausstattung er die liebende Sorgfalt aller der Menschen erkannte, die ihn hier namentlich auf den Adelssitzen voll hoher Spannung erwarteten. Es waren zwei einfache Wohnzimmer eines allerdings neugebauten massiven Hauses, aber mit einem Comfort ausgestattet, der alle Spuren trug vorzugsweise vom nahen Westerhof und vom Stifte Heiligenkreuz. Die Namen Paula, Benigna, Armgart glänzten unter allen, die der alte Tübbicke als die Stifterinnen dieser Herrlichkeiten nannte ... Norbert Müllenhoff stand mit scheuer Spannung in der Nähe. Er hatte die ihm eigenthümlich derbe Courage mehr nur nach unten hin; nach obenhin nur dann, wenn er der Masse gegenüberstand ... ein einzelnes gesticktes Damentaschentuch mit dem Geruch von Esbouquet konnte ihn nicht blos im Salon, sondern sogar im Beichtstuhl stutzig machen.

In diesem Müllenhoff fand sich Bonaventura bald zurecht. Es war die Richtung, die Michahelles auch bei ihm vorausgesetzt hatte, die neue Richtung einer fast burschikosen Verachtung alles dessen, was mit Bildung und Aufklärung verbunden ist. Müllenhoff's jeweiliges grelles Auflachen, wenn er einen seiner Einfälle selbst doch auch allzu schlagend fand, charakterisirte ihn sofort; denn nichts charakterisirt uns mehr, als die Art, wie wir lachen. Hier fehlte selbst die Koketterie, die doch Beda Hunnius noch mit der Poesie trieb. Diese jungkatholische Richtung renommirt mit der Verachtung jeder Beziehung ihrer täglichen Denk-, Rede- und Thätigkeitsweise mit dem, was dem Geist der Aufklärung angehört. Gleich die Frühstücksbutter, die seine Aufwärterin zu einem zweiten Frühstück für ihn und seinen Gast hereinbrachte, schob Müllenhoff mit den Worten zurück: »Nehm' Sie die Butter mit! Ganz frische soll's sein! Die da riecht – toleranzig!«

Schon bei diesem Frühstück erschienen die zuvorkommenden Besuche des Herrn Levinus von Hülleshoven, des Herrn von Terschka, des Grafen Münnich und immer mehr zunehmend einer Anzahl von Adeligen und Geistlichen, die sämmtlich in stattlichen Kutschen kamen ... Selbst die drei ältesten Stiftsdamen von Heiligenkreuz fuhren vor ... So schnell hatte sich die Kunde von des jungen Domherrn endlicher Ankunft verbreitet. Die Räumlichkeit wurde fast zu klein; die Gäste, die den Längstersehnten begrüßen wollten, konnten nur eine kurze Weile bleiben.

Ueber die Zeit sprach man, über den Kirchenfürsten. Durch alles, was Bonaventura von Aeußerungen eines erschreckenden Fanatismus vernahm, tönte wie ein Grundaccord immer der gottbegnadete Zustand Paula's hindurch. Selbst die Erbfolgefrage verschwand dagegen. Es fielen Fragen, wie die: Ob die Gräfin kürzlich nicht wieder »die Besuche ihres göttlichen Bräutigams« empfangen hätte? Dabei beobachtete man nicht nur die Mienen des antwortenden Onkel Levinus, sondern schon das Erröthen des Domherrn. Man hatte von Bonaventura die Vorstellung eines Fanatikers, eines parteinehmenden Zeloten, der, wie Michahelles angedeutet hatte, seine bereits allen bekannte seelische Beziehung zur Ekstatischen zu einem noch festern Seelenbunde knüpfen, die noch unbestimmt tastende Gefühls- und Anschauungswelt derselben regeln, ihre Visionen und Heilkräfte zu einem vollgültigeren Zeugniß für die wiederum prophetisch gewordene Zeit und den Triumph der Kirche verwandeln würde ... Er sah diese Gleisnerblicke, dies süße Lächeln, hörte dies bedeutungsvolle Seufzen, das bei allem Schein der Demuth mit einem festen und sichern Gange auf ein gemeinschaftliches Ziel losging, über das man sich nicht einmal in offen ausgesprochener Verabredung und Geständnissen befand ... In einem stattlichen Wagen, zwischen dem Onkel Levinus und Terschka, fuhr Bonaventura dann auf Schloß Westerhof.

Die Prüfung, Paula im kleinen Kreise oder gar allein wiederzusehen, wurde ihm beim ersten Gruße nicht. Er fand gleich ganz Westerhof in festlicher Bewegung. Die Damen der Gegend, vorzugsweise das Stift Heiligenkreuz, waren in Toilette versammelt; Paula stand umgeben von jungen Mädchen, von Frauen und Matronen ...

Einen Schritt trat sie hervor und reichte ihm die Hand ... Endlich Traum und Erfüllung ... Schmerz und Seligkeit ... und wiederum doch nur – Seligkeit und Schmerz!

Mit den Jahren waren beide gereifter geworden ... Sie erblüht zur hehren Jungfrau ... Er ein Mann – Ein Mann? Ein Priester! Angewiesen, Segen zu ertheilen, anderer Glück zu heiligen und selbst zu entbehren ...

Rings ein Reden und Grüßen und ein Durcheinander der – Bewirthung ...

Aber Paula war es doch! ... Ihr Seelenfreund von vergangenen Tagen war es doch! ... Ihr Erröthen und das seine ... ein Roth war es, als beschiene beide die Sonne in ihrer heiligsten Frühe, Aufgangsglanz vom Osten, vom fernsten Ganges her ... War das noch Winter um sie her? ... Zwei Seelen grüßten sich, die da weilten, wo die Nachtigallen sangen ...

Armgart fühlte das schon ahnungsvoll und schwärmerisch mit ... sie hielt Paula, um daß sie vor Ueberseligkeit nur nicht schwankte ... Wie Epheu schlang sie sich um ein lebendig gewordenes Marmorbild ...

Die Geisterjungfrau sprach ... Sie sprach mehr als je ... Was sie sprach, hörte Bonaventura, er verstand es nicht ... Auch Armgart plauderte noch ihm unverständlich ... Wie im Wirbel stand er ... Armgart sah den Vielbesprochenen zum ersten male ... Die einfache Tracht! Nur ein langer schwarzer Ueberrock; altmodisch der Schnitt; die Weste hochgehend, wie die Regel will; das Haar entstellt ... Nichts, was anziehen konnte, als die Gestalt nur und der edle Ausdruck des Hauptes ... Armgart starrte dem allen und horchte seinen Worten, deren Klang ihr sofort wie Melodie erschien, denn was Paula liebte, liebte sogleich auch sie ...

Der Himmel öffnet zuweilen durch Engelhand seine Pforten ... Dann strömt einen Augenblick überirdischer Glanz über die Menschen und ringsum ist auch zuweilen dann wirklich die feierliche Andacht da und das heilige Verständniß ... Ha diese kluge Welt! ... Sie wußte schon alles ... Ein einziger geisterhafter Augenblick sprach schon im stillen zu allen: Er kennt diese tiefblauen Augen, kennt den feuchtschimmernden Glanz derselben, die dunkeln Augenwimpern, die wie die Schwingen auch der Seele Paula's nicht unruhig flatterten, sondern ruhig über ihrem blauen Himmel thronten ... Nun staunt er doch wol, daß diese Augen sich noch immer schließen und mehr noch als sonst schon in die Ferne sehen können? ... Und ziert dich denn noch immer dieselbe Schüchternheit, du vornehme Jungfrau, derselbe zagende Muth, der alles duldete, selbst wenn die böse Lucinde, von der hier mancher wußte, ihre Stellung vergaß und Befehle ertheilte, wo sie deren nur zu empfangen hatte? ...

Verständigungen des Herzens konnten nur im Blicke liegen ... Einen Schleier nach dem andern, der das kaum ja auch Auszusprechende verhüllte, wob schon gleich wieder das Leben in der buntesten Fülle seiner Anregungen ... Da gab es zu besprechen! Die nächste und entfernteste Zukunft Paula's! Die Zeit selbst mit ihren ringsum ertönenden verworrenen Stimmen! Und die Prophetengabe der Herrin des Schlosses, auf deren Namen wol noch mehr Wunder und Voraussagungen gingen, als in Wahrheit begründet waren, wie war das ängstlich! Auffallend erschien, daß mit Bonaventura's Ankunft in Paula ein gehobener Schwung kam, der die Kraft des Geistes über den Körper zu stärken schien. Schon am ersten Tage hielt sich die Leidende über der versammelten Menschenmenge empor, erlag nicht dem Druck derselben, der sonst sie in solcher Lage immer plötzlich entschlummern machte. Und das nahm zu, wurde besser von Tage zu Tage. Sie erlag seltener der räthselhaften Krankheit ihrer Nerven. Was so mancher im stillen schon von der Ehe gesagt hatte, sie wäre ein Ausweg, der die Gräfin völlig heilen würde, zeigte sich dem Schärferblickenden annähernd. Statt einer Steigerung der Neigung zum Traumschlaf trat anfangs eine Minderung ein.

Die erste Messe zu Sanct-Libori, die erste von der Kanzel gesprochene »Application« kennen wir. Sie riefen auch hier die Wirkungen hervor, die von Bonaventuras Auftreten unzertrennlich scheinen. Der Kreis von Bekanntschaften, der ihn schon wie gefangen nahm, wuchs. Seine Oberaufsicht über den Gang der kirchlichen Angelegenheiten in diesem Sprengel war mehr eine formelle Pflicht. Bonaventura erkannte dann auch zu sehr die Heftigkeit seines untergebenen Pfarrers, um mit einem Naturell zu streiten, das nicht zu ändern war und sogleich auch für seine Unarten als Vorwand heilige Namen hatte. Ironie half ihm gegen Uebertreibungen. »Denken Sie das?« »Ziehen Sie das also wirklich vor?« Von Witoborn's Geistlichen und Mönchen kam Bonaventura regelmäßig heim wie aus einem Kriegslager.

Die stillen Abendstunden auf Schloß Westerhof waren dann glückselige Momente. Terschka, Benno und Thiebold theilten sie, und da Armgart nicht immer zugegen war, blieb Paula der alleinige Mittelpunkt. Armgart wurde allerdings auch für Bonaventura mit der Zeit befremdend. Sie wanderte zwischen Westerhof und Heiligenkreuz, oft ganz allein, ohne die mindeste Furcht, selbst wenn sie durch einen ansehnlichen Wald gehen mußte. Bonaventura sprach von ihrer Mutter und von ihrem Vater mit gleicher Unbefangenheit. Eine Parteilichkeit für Benno entdeckte er nicht, mehr noch für Thiebold, am meisten für Terschka, der ihm gleichfalls neu und nicht sogleich erklärbar war. Terschka nannte Armgart eine Cactusblume. Der Onkel erläuterte: »Brennendroth und von einer schönen Zeichnung, aber gewachsen auf einem gefahrvoll stachlichten Stamm!« ... Nun geht es so, daß Menschen, die gerade das Bedürfniß haben, sich aneinander anzuschließen und sich einen hohen Werth einzugestehen, doch nur durch Reibung und Aneinanderstreifen sich nähern. Bonaventura hatte noch nichts von Thiebold's Buße vernommen und nur ewig Terschka und Terschka hört' er –? Wäre das möglich! sagte er sich. Armgart, ein Mädchen wie ein Thautropfe, und dennoch, dennoch eine so schnelle Wandelung –? Hier lag ein Räthsel vor und er erklärte sich's aus der Schwäche des weiblichen Gemüths und zürnte ihr und strafte sie schon oft oder »trumpfte sie ab«, »duckte« sie, wie es die Tante Benigna mit wahrer Genugthuung nannte ... freilich nur durch ein Lächeln oder eine kurze ironische Zwischenfrage.

Ehe hier tiefere Blicke und Verständigungen folgten, kam dann die bange Fahrt zum Schlosse Neuhof, an dem Tage, als es hieß, der Kronsyndikus ist im Arm seines plötzlich angekommenen Sohnes, des Präsidenten, verschieden. Die schuldige Rücksicht verlangte, daß Bonaventura den zweiten Gatten seiner Mutter auf diese Nachricht sofort besuchte. Daß die Mutter nicht mitgekommen, wußte er. Er traf am Montag den Präsidenten in der ganzen Erregung, die ein längst vorausgesehener Fall, dessen endliches Eintreten man sogar den Umständen nach wünschen mußte, zuletzt doch hervorzubringen pflegt. Sein Stiefvater war auffallend gealtert. Er begrüßte Bonaventura mit all der scheinbaren Herzlichkeit, die ihm zu Gebote stand. Seine Gesundheit erklärte er nicht für die beste, sprach von Reisen nach dem Süden, von seinem Abschied, den er nehmen wollte, von den Schwierigkeiten, die sich bei Abwickelung seiner Erbschaft ergäben, von dem Mistrauen, das ihm infolge des Kirchenstreits hier um seiner amtlichen Stellung willen entgegentreten würde. Er brachte Nachrichten vom Kirchenfürsten, der in seiner Gefangenschaft sich mit Ruhe in sein Schicksal ergäbe, wäre er sich doch bewußt, Anlaß einer Aufregung gewesen zu sein, die seinen Grundsätzen jetzt zugute kam; er rauche seine Pfeife, ginge auf den Wällen der Festung spazieren und wünsche nicht einmal die politischen Demonstrationen, die der Adel der diesseit und jenseit des großen Stromes gelegenen Provinzen beim Landesfürsten unternähme – »sie könnten ja nur in jenem revolutionären Sinne gedeutet werden, den er nie befürwortet hatte; denn die Kirche hätte nichts mit der neuen Richtung des Lamennais gemein, sie wäre alt genug und könne immer noch warten und warten bis ihr die geistige Hülfe käme« ... Von der Mutter sagte der Präsident, sie würde auf dem Schlosse, das sie nie besucht hatte, gleich nach dem Begräbniß eintreffen. Der Präsident war kälter, wortkarger und verschlossener denn je geworden.

Am Begräbnißtage saß Bonaventura in dem Trauerwagen neben dem Stiefvater. Wohl sah er, daß selbst diese starren Züge erregter wurden, als sich der Zug dem Düsternbrook näherte. Als die Scene an der Eiche vorfiel, erblaßte der Präsident; das Wort erstarb auf seinen Lippen; in eine Ecke gedrückt wartete er ab, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, als die Störung vorüber war und ihm Bonaventura zu seiner Beruhigung die leisen Worte sprach: »Paulus sagt: Der Tod ist der letzte Feind! Nun wird ja Friede sein!« ... Zum Kloster Himmelpfort gehörte eine große, nicht ungefällige, lichthelle Kirche. Sie lag an der Spitze eines der Winkel, die durch ein großes Viereck gebildet wurden; durch eine Mauer gebildet, die das Kloster einschloß. Das Kloster selbst, ein zweistöckig Gebäude, mit einem Thürmchen versehen, gehörte dem siebzehnten Jahrhundert an, die Kirche dem achtzehnten. Ringsum standen Obstbäume; im Innern des Klostergartens waren die Beete mit Stroh belegt und deuteten eine freundliche Vegetation für den Sommer an. Hinter einem dieser kleinen Fenster, die ringsum das viereckige Gebäude erhellten, wohnte Klingsohr. Ihn sah man nicht unter den Franciscanern, die den Sarg begleiteten. Auch den Bruder Hubertus, auf den Bonaventura nach allem, was er über den »Abtödter« durch Klingsohr und Jodocus Hammaker wußte, begierig sein mußte, konnte er weder beim Beginn des Zuges noch jetzt entdecken und an der verhängnißvollen Eiche war gerade ihm der Anblick entzogen gewesen, den die andern Wagen ungehinderter hatten, der Anblick, wie plötzlich unerwartet auftauchend Hubertus mehr der Störung durch den Musikanten, als der Anrede des Sarges durch einen andern Störer der Todtenruhe, durch den Küfer, ein Ende machte ... Die Kirche diente als Erbbegräbniß vieler ringsum wohnenden Adelsfamilien. Bilder sah man, Seitenaltäre und Beichtstühle, keine Säulen oder Bogen. Der Hochaltar war im Stil der Franciscanerkirchen; jeder Orden hat seine eigene Weise, seine eigene geistige und physische Farbe sogar, die er seinen Kirchen anhaucht. Bei den Franciscanern ist alles braun, mäßig vergoldet, hier und da ein blaues Band etwa an einer Maria, ein weißer Schimmer etwa von der Taube, die über dem Tabernakel schwebt; regelmäßig steht der Ordensstifter vor dem Crucifix mit dem bekannten ekstatischen Liebesblick der Ergebenheit, mit seiner auf das Herz gelegten linken Hand; der Fußboden ist von Stein, die Wände sind weiß, nur hier und da vom Ruß der Lichter angeschwärzt; das Ganze einer solchen Franciscanerkirche ist dem Volk eingehend durch eine gewisse altfränkische Einfachheit wie die Heimlichkeit alter, von Großältern ererbter, braungebeizter Möbeln mit geschweiften Bogen und bronzenen Schlüssellöchern und Ringen an den Schubläden ... Hier war es, wo der Kronsyndikus in die Gewölbe gesenkt wurde ... Das über ihn Unausgesprochene, doch von allen Gefühlte verklang in dem Brausen einer stattlichen Orgel ... Der Provinzial- Guardian fand auf dem bereits auf dem Schlosse von Weihduft überräucherten Sarg auch jenes Stückchen Tuch nicht mehr, das wol in den Schnee gefallen sein und im Schmelzen desselben an der Frühlingssonne vermodern wird ...

Da Bonaventura Klingsohr besuchen wollte, behielt er eine der Trauerkutschen zurück ... Der Präsident versprach, bald auf Westerhof zu erscheinen und dann auch sogleich in Begleitung der bis dahin vielleicht angekommenen Mutter Bonaventura's.

Der ehemalige Graf von Zeesen, der jetzige Pater Ivo, wurde von Bonaventura bald entdeckt ... Klingsohr hatte ihm ja im vorigen Jahre seine Geschichte erzählt ... Er wußte, daß seine ehemalige Verlobte als Schwester Therese bei den Karmeliterinnen wohnte ... Ein hagerer, blasser Mönch kam mit einem Weihwedel daher und wehte durch die Luft, als stäubte er auch diese rein ... Die Gäste, das Gesinde, die nachdrängenden Landbewohner hatten die Kirche verlassen; nur einige Arbeiter blieben, die über die Oeffnung, in die der Sarg des Kronsyndikus hinuntergelassen, wieder die Steinplatte zu legen hatten ... Nach drei Uhr war es ... Die Brüder hatten auf dem Schlosse eine Art »Frühstück im Stehen« eingenommen ... Ob wol da noch Pater Ivo das Brustbild seines alten Freundes Jérôme erkannt hatte? ... Dort summte er, ohne aufzusehen, Lieder zum Lobe Mariä; auch hier that er es ... Niemanden blickte er dabei an, niemanden gab er Antwort ... Er lebte nur sich und Maria ... Sein Eigenthum war an die Landschaft gegeben worden für eine Irrenanstalt, deren die Provinz – immer dringender bedürftig wurde ... An der Oeffnung, in deren Tiefe der silberbeschlagene Sarg blinkte, mußten eine Menge Melusinen sitzen ... wie huschte er dahin daher mit seinem Wedel und jagte die Unheiligen fort!

Es ist Pater Ivo! sagte ein junger Mönch, auf Bonaventura zutretend. Er ist irr', wie Sie wol sehen, Herr Domherr!

Der junge Mönch nannte sich Pater Quirinus ... Er hatte ein Bund Schlüssel in der Hand, wollte erst die Schränke schließen, in welche der Guardian seine Meßopferkleider, die Mönche die Requisiten der Räucherung des Sarges und die Tücher gelegt hatten, auf denen er ausgestellt gestanden hatte; dann galt es, das Hauptportal der Kirche zu schließen – für die Arbeiter und Betbedürftigen gab es einen allen Bewohnern der Gegend bekannten kleinen, versteckten Nebenausgang.

Bonaventura sah sich erkannt, sprach sein Verlangen aus, den Pater Sebastus zu besuchen, und willigte gern ein, die Erlaubniß dazu so lange abzuwarten, bis Pater Quirinus sein Amt beendet hatte ...

Er begleitete ihn auf seinem Rundgange hinter der Sakristei ...

Mit der größten Unbefangenheit sagte der junge, frisch und blühend aussehende Mann und mit einer ganz gewöhnlichen Sprechweise:

Unser Bruder Hubertus ist nicht zugegen! Er kam gerade recht von einer Reise, um die unverschämte Störung durch den Musikanten abzutrumpfen! Viel lügt man auch über den Kronsyndikus! Wir hier müssen ihn schätzen! Manches, was Sie hier an Gold und Silber sehen, haben wir in seinen letzten Tagen von ihm bekommen!

Dem für einen Geistlichen fast zu resoluten jungen Mann erwiderte Bonaventura:

Als sich der Verstorbene vor einigen Jahren sein Erbbegräbniß neu herrichten ließ, widersprach, hör' ich, der selige Provinzial Henricus und schrieb deshalb nach Rom ...

Ganz recht! erwiderte der junge Mönch. Cardinal Ceccone schickte durch Vermittelung des Ministeriums den Spruch der heiligen Pönitentiarie. Der Kronsyndikus legte eine Generalbeichte ab, die an unsern Ordensgeneral nach Rom gegangen ist. Seitdem kam der Befehl, ihm keine der geistlichen Wohlthaten zu entziehen ...

Der junge Mönch machte Anstalt, Bonaventura alles zu zeigen, was die Kirche an alten Bildern, kostbaren Gefäßen und gestickten Gewändern besaß ...

Bonaventura ließ es geschehen ... Konnte er sich doch indeß in die Vorstellung finden, diesen abgerissenen Fußboden dort im Zusammenhang mit Rom zu wissen! Cardinal Ceccone, der politische Lenker der Geschicke des Kirchenstaats – der Großpönitentiar und Oberinquisitor der ganzen katholischen Welt – der General der Franciscaner – drei höchste Würdenträger der Kirche betheiligt an dem aufgedeckten Leben des Kronsyndikus! Dort vielleicht alles enthüllt, was hier der Welt ewig unbekannt blieb! Dort vielleicht alle Schleier hinweggezogen, die seit Jahren über dem Leben auf Schloß Neuhof hingen! Dort vielleicht auch die Gründe bekannt, warum seit Jahren der Dechant nur mit dem Ausdruck des größten Mismuths seines alten Freundes, des Kronsyndikus gedachte! Dort auch vielleicht – ein Zusammenhang – es durchzuckte ihn das so – mit jenen Drohungen, die Lucinde gegen ihn selbst auszustoßen gewagt?

Der junge Mönch entfaltete kostbare Meßgewänder, warf sich sogar eine »Kasel« um und zeigte mit wohlgemuther Freude, wie schwer sie an echtem Golde war ...

Die ist noch nicht zu alt! sagte er. Die verstorbene Frau von Wittekind hat die köstliche Arbeit, die in Paris gemacht wurde, vor vierzig Jahren gestiftet ...

Das war die Schwiegermutter seiner Mutter ...

Pater Ivo ging leise singend vorüber, huschte mit dem Weihwedel und jagte die Geister fort ...

Pater Quirinus sah ihm lachend nach, während Bonaventura in Rührung stand ...

Beim Oeffnen der übrigen Schränke und dem wiederholten Anlegen der kostbaren Gewänder durch den jungen Pater erkannte Bonaventura einen oft vorkommenden Fehler seiner geistlichen Brüder, Eitelkeit auf ihren malerischen äußern Schmuck beim Cultus. Die Mönche von Kloster Himmelpfort lasen ringsum in kleinen Kapellen die Messe ... Rom hält die Menschheit doch an tausend Fäden! sagte sich Bonaventura ...

Als der junge Mönch eine Anzahl Gefäße aus dem Verschluß doppelter und dreifacher Schlösser hervorholte, fragte er ihn:

Warum traten Sie in den Orden?

Es war mir die beste Versorgung! erwiderte der junge Mann ... Ich bin armer Aeltern Kind, wollte studiren, brachte mich kümmerlich durch und hatte keinen Muth, auf die Universität zu gehen. Ich wollte ins Postfach, meldete mich und wurde wegen Ueberfluß von Meldungen nicht angenommen. Eine Braut, die ich hatte, wollte nicht länger warten und heirathete mir vor der Nase weg einen andern. Das verdroß mich. Ich wußte nicht, was anfangen, und ging ins Kloster. Zwei Jahre war ich Novize. Jetzt hab' ich die Weihen und bin versorgt.

Sie wollen nicht höher hinauf? Haben keinen Ehrgeiz? fragte Bonaventura, erstaunt über diesen Mangel an Empfindung bei einem doch so traurigen Geschick ...

Nein! war die unbefangene Antwort ...

Also gibt Ihnen der Schmerz über die Täuschung durch Ihre Liebe diese Kraft, so zu entbehren und zu entsagen? ...

Meine Braut handelte vernünftig! Ich hätte erst zehn Jahre auf eine Anstellung bei der Post oder im Steuerfach warten müssen! Jetzt hab' ich mein Brot; für mich freilich nur allein, aber das kann man ertragen ...

Währenddessen schloß der junge wohlgenährte Pater einen Schrank nach dem andern auf und zu, knixte erst vor jedem geweihten Gegenstande, zeigte ihn dann, schloß ihn wieder mit einem Knix ein, alles nach derselben Cadenz und mit der größten innern Befriedigung.

Bonaventura konnte sich in eine solche Weihelosigkeit nicht finden. Er mochte noch immer glauben, daß hier ein Schmerz überwunden und für die Zufriedenheit an diesem Berufe vielleicht auch Pater Hubertus' Abrichtung gesorgt hätte ...

Auch Ihnen hat zu dieser wohlgemuthen Ergebung in manche Entbehrung gewiß der »Bruder Abtödter« verholfen? fragte er ...

Pater Quirin lachte ...

Na ja! sagte er. So kennen Sie also auch den alten Knaben? Er konnte sich lange nicht in den Frieden finden, den die Kirche mit seinem alten Feinde schloß, mit dem Kronsyndikus! Allen ist aufgefallen, daß er doch gerade heute zurückkehrte und sogar für Ordnung sorgte. Knochen hat er wie Eisen – aber mich brauchte er nicht zu bändigen! Ich thue hier, was ich muß. Wir haben alle unsere leidliche Bequemlichkeit. Ich zeige Ihnen das Refectorium ...

Entbehren Sie gar nichts? fragte Bonaventura im Weitergehen ...

Gewiß nichts! antwortete Pater Quirinus und küßte mit gemachter Andacht eine Monstranz, die über und über mit Edelsteinen besetzt war und nur bei den höchsten Veranlassungen aus diesen wohlverwahrten Schränken genommen wurde.

Diese gleichbleibende Gelassenheit streifte in Bonaventura wiederum alle Blüten ab. Er konnte sich nicht finden und erinnerte wenigstens an den Zauber der Freundschaft und des Zusammenlebens in einem Kloster ...

Aber auch dem erwiderte der junge Mann:

O nein! Wir sind hier zusammen keine Freunde! Es ist auch gut so! So wie wir uns aneinander anschließen, fangen wir an über unsere Verhältnisse Gedanken zu haben; dann verbittern wir uns vieles, worüber wir jetzt nicht grübeln. Jeder ist besser für sich!

Diese Freundschaften kommen also doch vor?

Selten! lautete die Antwort, während sich der Mönch umsah und jetzt leiser sprach. Sowie sich zwei Brüder allzu sehr aneinander schließen, im Garten zu oft zusammen spazieren gehen, sowie man bemerkt, daß sie bei Tisch zusammensitzen wollen oder auch auf der an der Thür des Guardians hängenden Tafel über unsere Wochenverrichtungen zu häufig zusammenzukommen suchen, so werden die Leute getrennt.

Das ist ja eine Grausamkeit, wallte es in Bonaventura auf ... Der einzige Trost der Einsamkeit – der freundschaftliche Austausch der Gedanken und Gefühle! Der Rückblick auf ein vergangenes Leben! Die gemeinschaftlichen Tröstungen an den Quellen des Wissens und des Denkens! ... Aber er durfte alles das nur durch Seufzen ausdrücken und sagte sich im stillen: O die Menschennatur ist doch im Durchschnitt ganz so wie bei diesem jungen Manne! Was ist bei Tausenden ihre geistige Meinung? Ihr Bedürfniß nach Erhaltung, Ernährung, Unterkunft! Solche Institutionen wie die Klöster glaubt' ich auf Felsen gebaut und ich sehe: Einen Beutel mit Geld in der Hand und sie lassen sich wie Kartenhäuser umblasen!

Durch einen Seitengang kam man aus der Sakristei in das Kloster. Ein Kreuzgang von allein, morschem Holz führte zu ihm hinüber. An der Wand der Kirche hingen, allemal einer Oeffnung an der andern, in einen mit Schnee bedeckten Garten hinausgehenden Seite gegenüber, Bilder, die von einem Tüncher verfertigt schienen und Wunder des heiligen Franciscus vorstellten. Jedes derselben war geistlos. Schon aus der Jahreszahl 1707 konnte man den Geschmack sowol der Malerei, wie den Stil der Unterschriften erkennen. An die Poesie eines winterlich romantischen Klosterkreuzgangs, wie ihn unser Lessing gemalt hat, war hier nicht zu denken. Eine hölzerne Gitterthür führte ins Kloster. Pater Ivo schlenderte leise singend in einem der langen Gänge und Quirinus sprang fast wie ein Tänzer mit seiner langen Kutte voraus, um dem Provinzial-Guardian Maurus die Meldung zu machen ... Einstweilen trat Bonaventura in das Refectorium. Es ähnelte einem Wirthshauszimmer auf dem Lande mit alten Holzpfeilern, mächtigem Ofen, Stellagen zum Aufschichten der Eßgeräthschaften. Von hier aus sah man durch kleine Scheiben in den innern, strohbedeckten Garten ...

Bonaventura sehnte sich, ein Wort der Ermunterung mit Sebastus zu sprechen ... Aus Lucindens Beichte wußte er ja, daß er hatte nach Belgien entfliehen wollen ... Sie hatte ihm sogar die Ueberredung, daß Sebastus zu den Jesuiten hatte entfliehen wollen, nicht verschwiegen ... Daran nun zu erinnern war Bonaventura freilich verboten ... Alles, was er etwa Lehrreiches, Warnendes oder Ermunterndes gerade über diesen Punkt mit dem Convertiten hätte sprechen können, mußte ausdrücklich unterbleiben ... Als Beichtvater durfte er nicht mehr von ihm wissen, als was Sebastus selbst voraussetzen konnte ... Er mußte unwahr sein.

Die in Reihe und Glied aufgestellten steinernen Bierkrüge der Mönche musternd, hörte er Quirinus' Rückkehr ...

Dieser kam bestürzt. Er sagte, der Pater Sebastus hätte eine Pön verwirkt und sollte niemanden sprechen; der Provinzial würde sogleich selbst erscheinen und sich dem Herrn Domherrn entschuldigen ...

Bald auch kam Pater Maurus. Aeußerlich war er nicht zu unterscheiden von allen andern Mönchen. Man kann in Rom auf der Via Appia in einem Omnibus mit Bauern aus Tivoli fahren, hat neben sich einen einfachen Mönch in weißem Kleide sitzen und weiß nicht, daß es der großmächtige General der Dominicaner ist ... Pater Maurus war ein hoher, starkknochiger Mann. Seine buschigen und schwarzen Brauen lagen trotzig über den funkelnden Augen, die sich den Ausdruck der Unterwürfigkeit gaben. Immer erstarb sein Lächeln ebenso rasch wie es kam. Eher glich dieser Mönch einem Gefängnißwärter als einem Boten des Friedens.

Pater Quirinus zog sich zurück ... Der Provinzial und der Domherr setzten sich auf die nächsten Holzschemel ...

Vergebung, Herr Domherr, sagte der Provinzial, wir haben mit dem Pater Sebastus einen schweren Stand! Die Regierung lieferte ihn uns aus der Residenz des Kirchenfürsten zurück mit dem Bedeuten, ihm jede schriftstellerische Thätigkeit zu untersagen, jede Theilnahme an unserm gegenwärtigen traurigen Kampfe. Die Weisung war überflüssig, da der Pater ohnehin erkrankte und uns eine Zeit lang ernste Besorgnisse einflößte. Seit einiger Zeit geht es ihm besser; doch ließen wir ihn in der Krankenstube, weil er, in seine Zelle zurückgekehrt, seine Pflicht, Nachts zwölf Uhr aufzustehen und in den Chor zu gehen, um zu singen, wie jeder andere hätte erfüllen müssen. Heute in aller Frühe besuchten ihn zwei Fremde, ein Jude und jener Mensch, dem wir vor wenig Stunden den frechen Auftritt im Düsternbrook verdankten. Ich nehme Ihr Vertrauen in Anspruch, Herr Domherr! Denken Sie sich die Verabredung! Jenes Stück Tuch, das der Störenfried auf den Sarg zu legen wagte, bekam er von unserm Pater, dem Sohne des damals unglücklich, wie man jetzt sicher weiß, nur im Wortwechsel und nach offener Gegenwehr Gefallenen. Dafür verlangte er von jenem Juden, wie von dem Küfer – Stephan Lengenich ist sein Name – die Mittel zur Flucht ...

Wie erfuhren Sie das? war eine Frage, die Bonaventura mehr aus Schreck aussprach, als in Voraussetzung, daß die Gespräche, die im Krankenzimmer gehalten wurden, belauscht werden konnten ... Erst als er Pater Quirinus an der zufällig aufgehenden Thür des Refectoriums stehen sah, kam ihm die Vorstellung, daß seine Frage ohne Beantwortung bleiben konnte ...

Wir wissen es, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit verdrossenem Blick auf die Thür. Wir wußten es schon in der Frühe. Ich hatte mir eine ernste Ermahnung als einzige Buße vorgenommen. Seitdem jedoch durch des Paters Mitwirkung eine heilige Handlung gestört, eine ganze Familie, der er selbst früher so oft bekannt hat Dank schuldig zu sein, durch sein Zuthun unverantwortlich compromittirt worden ist, hab' ich ihm statt des Krankenzimmers die Strafzelle angewiesen. Ich kann nicht wünschen, daß Sie ihn in seinem gegenwärtigen Zustande sehen.

In welchem Zustande? fragte Bonaventura mit gesteigertem Bangen und folgte der Bewegung des Provinzials, der sein Ohr spitzte, als vernähme er irgendwoher einen Ruf ...

In der That hörte man in dumpfer weiter Ferne einen Ton wie einen Schrei um Hülfe ...

Bonaventura mußte aufspringen und sich an dem Schemel halten ... Das ist er? sagte er und deutete auf das Fenster, von wo der gellende Schrei gekommen war.

Er ist es! Ja! sprach der Provinzial mit kalter Ruhe ... So tobt er in seiner Strafzelle und spricht wild durcheinander ... Ich lass' ihn binden, wenn er nicht schweigt ...

Lassen Sie mich zu ihm! bat Bonaventura ...

Herr Domherr, diese Wohlthat wäre unverdient ... Er würde auch Sie anfahren wie ein wildes Thier ...

Nein, nein, wir kennen uns!

Sie würden uns die Züchtigung stören, die ein Pater verdient, der aus seinem Kloster entfliehen will!

Bonaventura stand mit schwindendem Bewußtsein. Er sah Abgrund und Nacht um sich her und bei alledem – auch die fernwirkende, trügerisch lockende Gewalt Lucindens! ... Sie hatte den Mönch, ihren ehemaligen Geliebten, in Knabentracht besucht! Ihr Lächeln, ihre muthige Rede hatte ihn – »um ihn aus meinen Bahnen zu entfernen«, hatte sie ihm frank und frei gebeichtet – zur Flucht überredet ... Sie hatte seinen Muth, seinen Ehrgeiz entflammt zu einer neuen Entwickelung seines immer noch reichen, wenn auch verirrten Geistes ... Eine Gelegenheit zur Flucht bot sich vielleicht ... So, wie er jetzt die gräßliche Stimme hörte, die der eines Ertrinkenden glich, klang ihm in der Erinnerung sein eigener Seelenaufschrei, als an jenem Abend der Abreise ihn plötzlich Lucinde verlassen hatte und ein wilder Sturm durch seine Adern brauste ... Zu ihr! Zu ihr! klang es aus Sebastus' Munde in sein Ohr ... Besinnungslos ergriff er seinen Hut und bat wiederholt:

O lassen Sie mich zu ihm!

Herr Domherr! lehnte der Provinzial fast vorwurfsvoll ab ... Wenn er sich beruhigt hat! Morgen! setzte er hinzu ...

So bitt' ich – grüßen Sie ihn von mir! hauchte der liebevolle Priester, seufzend über die Nothwendigkeit, den Formen und Satzungen seiner Kirche sich ergeben zu müssen. Sagen Sie ihm, daß ich in dieser Gegend weile, daß ich den ersten ruhigen Augenblick, den Sie mir anzeigen werden, benutzen und zu ihm kommen will! Versprechen Sie mir's!

Sehr gern, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit derselben Freundlichkeit, als handelte es sich um die Anzeige eines in völlig natürlicher Weise eintretenden harmlosen Ereignisses ...

Und Bruder Hubertus? drängte Bonaventura, jetzt schon im Gehen ... Vermochte der nicht sonst so viel über ihn?

Auch das ist ein Mitglied unsers Klosters, erwiderte der Provinzial, im Gehen verbindlich die linke Seite nehmend, mit dein wir viel Geduld haben müssen! Er war in Angelegenheiten einer Erbschaft, die er machte, verreist ...

Bonaventura trug als Beichtpriester eine solche Last von Thatsachen in seinem Gedächtniß, daß er nach einem Verhältniß fragte, das er doch schon öfters, von Benno sowol wie von Hammaker, fast vollständig erfahren hatte ... Er fand sich allmählich zurecht und unterbrach die Erläuterungen des Provinzials:

Ganz recht! Ich weiß! Er wird das von einer Ermordeten geerbte Geld dem Kloster geben ...

Doch nicht! war des Provinzials verdrießliche Antwort. Dieser Hubertus hat wunderliche Seiten. Im Vertrauen gesagt, er hat einen etwas dunkeln Ursprung. Man sagt geradezu: Seine Angehörigen sind auf dem Richtplatz gestorben! An einem Tage, wo eine Gaunerbande, zu der er als Knabe gehören mußte, aufgehoben, das Haus, in dem sie sich vertheidigte, genommen und angezündet wurde, soll unser Bruder – sagt man, und sei es auch unter uns, Herr Domherr! – zwei Stock hoch aus dem Fenster gesprungen sein, in jedem Arm mit einem Kinde ... Glücklich kam er mit den beiden Kindern zur Erde nieder, entrann den Flammen, entrann der Verfolgung, machte einen abenteuerlichen Lebenslauf, wurde ein an sich ganz vortrefflicher Mensch, exemplarisch in seiner Aufführung, nur störende Seltsamkeiten hat er. Als Jäger des Kronsyndikus erlebte er einen bittern Verdruß und wurde deshalb Mönch. Mancherlei leistete er schon unter Pater Henricus, meinem Vorgänger. Jetzt hat er sich in den Kopf gesetzt, die zwanzig tausend Thaler, die er von jener Frau Buschbeck – sie nannte sich schon nach seinem Namen, während sie doch nur eine gewisse von Gülpen und seine Verlobte war – ererbte, wenn irgendmöglich, dazu anzuwenden, sie den beiden Kindern zukommen zu lassen, die er einst aus dem Feuer rettete, falls sie sich entdecken ließen. Sie waren ihm, nachdem er sie im stillen erzogen hatte, abgenommen worden. Jetzt correspondirt er nach Holland, Frankreich, Italien, um ihre Spur zu finden. Ich schrieb nach Rom, ob ich ihm auf ein Jahr die Erlaubniß ertheilen kann, scheinbar in irgendeinem andern Auftrage in die Welt hinauszuwandern. Bis die Antwort da ist, gestattete ich ihm vorläufig auf eigene Verantwortung die Reise nach Holland, von der er jetzt zurückgekommen.

Unter diesen Mittheilungen waren beide, in der Ferne wieder von dem leise singenden Ivo verfolgt, an die kleine Thür gekommen, die den verborgeneren Eingang zur Kirche bildete.

Hier stand Bonaventura's Wagen ...

Mit einem Abschied, den der Provinzial nahm, als wenn ein Offizier von seinen untergebenen Mannschaften einem andern hohen Militär eine einfache conversationelle Mittheilung gemacht hätte, bestieg Bonaventura seinen Wagen ... Ein Bedienter in Trauerlivree war vom Präsidenten für den Stiefsohn des Hauses zurückgelassen worden ... So fuhr Bonaventura in schon heraufgezogener Dämmerung von dannen.

O ihr Klöster, seid ihr denn Zufluchtsstätten des Friedens und der reinen Menschenliebe?! ...

So tönte es in allseitig schmerzlichster Betrachtung durch Bonaventura's Inneres, als er in die schon dunkelnde Ferne hinausfuhr, hin- und hergeschleudert auf den Furchen der Feldwege, die zurückzulegen waren, um in kürzerer Frist auf Schloß Westerhof zurückzukommen, wohin der Kutscher ihn glaubte fahren zu müssen ...

Erst nach einer Stunde, während durch sein Herz alle schrillen Accorde des Zweifels, alle klagenden der Wehmuth zogen, entdeckte er in der allmählich ganz hereingebrochenen Nacht die Absicht des Kutschers, klopfte ihm und befahl die Richtung zu nehmen nach Sanct-Libori ins Pfarrhaus ... Wie sollte er Frieden bringen in die stille Abendgemeinschaft des Schlosses! Wie den schrecklichen Ruf nicht verrathen, der immer noch wie ein: Zu Hülfe! an sein Ohr tönte –! Ein anderer Ton schloß sich an, ein hochfeierlicher, wie am Tage des Gerichts einst die Lüfte Stimmen tragen werden ... jenes Wort, das ihm einst der Onkel in Kocher am Fall gesprochen an dem schönen goldenen Sommermorgen: »Wenn ich mich zuweilen in unserer katholischen Welt umsehe, ist's mir doch, als sähe ich in alten Verließen die Gebeine der Geopferten modern.«

Und bei alledem schwatzte nun schon Norbert Müllenhoff wieder, daß er den Ankommenden mit Sehnsucht erwartet hätte, bot Pfeifen, Cigarren, Vesperbrot, Unterhaltung durch Zeitungen, Broschüren, durch seine eigene werthe Person, und legte ihm zuletzt sogar »mit Schüchternheit« einen Versuch vor, wie die »Exercitien« der Frau von Sicking zu organisiren wären ... Von dem an seiner Thür heute früh ausgestellten Wachskindchen schwieg er wohlweislich, weil er nichts verrathen mochte von einer Gegnerschaft, die in der Gemeinde mehr seine Person als sein System traf.

Bonaventura, erschöpft, geduldig an sich schon, nahm das Papier, um es in Muße durchzulesen. Er blieb eine Stunde auf seinem Zimmer. Um sich zu sammeln, schrieb er Briefe, las Rechnungen, zerstreute sich mit Zeitungen ... Zuletzt bereute er, doch nicht nach Westerhof gefahren zu sein ... Selbst für Thiebold's schwaches Klavierspiel wäre er jetzt dankbar gewesen ...

Beim gemeinschaftlichen Abendimbiß, den er nicht ablehnen konnte, mußte er dem Wirth, der fast immer allein das Wort führte, auf alle Gebiete der Seelsorge und Liturgik folgen, ihm sogar in manchem Recht geben. So z.B. als er gegen die Einmischung der Dilettantenmusik in den Cultus sprach und sagte:

Ueberhaupt, Herr Domherr, wenn ich höre, die Stiftsdamen von Heiligenkreuz wollen nächste Ostern wieder in der Messe mitsingen, da weht mich schon ein Grauen an! O diese Eitelkeit! Diese Eifersucht! Diese Prätension! Jenes Fräulein will ein Solo singen, diese alte Comtesse nicht minder, nun kommt der Singdirector aus Witoborn und bringt mir diese Botschaft und jene; die eine ist heiser, die andere hat sich krank geärgert; gerade wie bei der Komödie! Und was spielt das Altarsakrament dabei für eine Rolle! Wie die Affen müssen wir stehen und warten, bis die Damen nur auf dem Chore einzufallen die Gnade haben! Sursum corda! ruf' ich und diese Weibsen halten mir kein Stichwort! Hat sich bei einer die Spitzenmantille verschoben, so kann die heilige Wandlung warten, bis der Schaden wiederhergestellt ist! Da bin ich für unsere einfachen Kapelljungen! Sagen Sie selbst, das ist doch frisch, ländlich, geht zu Herzen. Freilich muß auch da so ein Heidenkerl, so ein Cantor, nicht dabei sein und wunder thun, als wenn unser Herrgott im Himmel zunächst nur für die Unterbringung der Instrumentalmusik zu sorgen hat!

Bonaventura mußte des Eiferers lächeln, der in manchem Recht hatte, wenn er auch die neurömische Reaction wie einen Landsturm organisirt haben wollte ...

Mir ganz recht, sagte Müllenhoff, wenn wir, wie in Frankreich und Belgien, nun recht bald endlich auch die Jesuiten kriegen! Sie brauchen ja nur manchmal zu kommen, manchmal zu predigen und können dann immer wieder abziehen. Die Pfarrer hätten keinen Nutzen davon, sagen unsere aufgeklärten und faulen Collegen? Im Gegentheil! Die Jesuiten lassen durch ihre Predigten so viel Schrecken zurück, daß uns das auf Monate lang zugute kommt. Machen sie's zu arg, so können wir Pfarrer immer sagen: Seht ihr, so fegen euch andere; seid froh, daß ihr an uns so sanfte Flederwische habt! ... Sie waren ja auch früher Pfarrer auf dem Lande? setzte Müllenhoff hinzu und schenkte wacker ein ...

Gewiß, gewiß! antwortete Bonaventura zerstreut und deckte sein Glas mit der Hand ...

Müllenhoff erzählte seine Verhandlung mit den Gemeindevorständen, seine Reform des Finkenhofs, seine Stiftung des Jünglings- und Jungfrauenbundes, seine Gewohnheiten beim Beichthören, seine Uebungen im richtigen Rosenkranzsprechen und seine Heilung der »Kniesteifigkeit« ...

Bonaventura's Lächeln und Schweigen nahm er für volle Zustimmung und beklagte nur, daß, »im Vertrauen gesagt«, ihn der Umgang mit den vielen Vornehmen oft in ärgste Verlegenheit setze ... Aufrichtig gesagt, warf er halb ernst, halb im Scherz ein, obgleich ich heute den Tanz zur tiefsten Hölle gewünscht habe, so sollten wir doch – im Seminar wirklich etwas tanzen lernen! Blos des Anstands und einer gewissen Manier wegen!

Die Jesuiten lehren's ja! sagte Bonaventura ... Aber wie wollen Sie dann nur, fuhr er fort, bei solcher Scheu die Exercitien halten mit so vielen vornehmen Herrschaften? Ueberhaupt, wie denken Sie sich denn diese Uebungen?

Die Exercitien dauern vier Wochen! sagte Müllenhoff. Die Herrschaften, einige zwanzig, wohnen für die Zeit alle bei Frau von Sicking! Jeder Tag hat seine bestimmte Regel! Alle geistlichen Handlungen und Erweckungen kann ich allein nicht verrichten; Sie werden auf dem Papier, das ich Ihnen gab, finden, wie ich mindestens noch drei bis vier Priester als Aushülfe hinzunehmen muß ... Ich nehme sie mir aus Witoborn. Manche Rücksichten muß ich freilich dabei beobachten. Dem Provinzial von den Franciscanern darf ich die Ehre einen Vortrag zu halten nicht entziehen, sogar ein Gebet zum Schluß muß ich mir vom Bischof selbst erbitten. Mir, auf dessen Sprengel die ganze Veranstaltung fällt und der ich dadurch das Recht habe, die Sache zu leiten und zu beobachten und mir dies Recht auch nicht nehmen lasse, mir behalt' ich die Montags- und Donnerstagserweckungen vor. Apropos! Ich habe mir eine methodische Schilderung des Fegfeuers, der Hölle und des Paradieses vorgenommen ... Eine zeitgemäße und moderne Hölle ...

»Und nun, du beneidenswerther Verdammter, wird ein Sendbote Lucifer's dir entgegentreten«, sprach Müllenhoff sogleich aus dem Kopfe, während Bonaventura, seinem Ohr nicht trauend, noch mit dem Lachreiz kämpfte ... »im glühenden Widerschein der Majestät Seines Herrn und wird dir die ›Stunden der Andacht‹ zeigen, die du in den Zeiten deiner Denkglaubigkeit das Buch der Bücher nanntest! Hast du auf Erden geglaubt« – Der Sprecher stockte, zog ein Concept aus der Rocktasche und las dem Gaste, der nicht wußte, wie ihm geschah:

»Hast du auf Erden geglaubt, im Schatten einer Laube, von Bienen umschwärmt, unter dem Duft von Hollunderblüten dich vor dem wahren Hochaltar und dem Sanctissimum deines Schöpfers zu befinden, besonders wenn du dazu noch aus diesem deinem Buch der Bücher ein Kapitel über die Unsterblichkeit der Seele gelesen hattest, und gingst dann hin und begossest deine Blumen, etwa wie wenn du selbst ein solches Lob deines Schöpfers wärest, aber kein anderes heiliges Naß brauchtest, als deinen sentimentalen ›Thautropfen‹, keinen andern Kelch, als die Gießkanne deiner angebeteten ›Natur‹ – dann, dann, du beweinenswerther Denkglaubiger, sollst du, umschwärmt von feurigen Hornissen, dein geliebtes Buch, die ›Stunden der Andacht‹ wiederfinden als ›Jahrhunderte der Qual‹, sollst sie auswendig lernen rück- und vor wärts, sollst sie in alle Sprachen übersetzen, selbst in die, die du nicht gelernt hast, und wehe dir, wenn ein Jota fehlt, wenn von dir ein Zeitwort falsch angewendet, eine Feinheit fremder Sprachen unbeachtet geblieben ist!« ...

Das ist ja mehr, als Nero und Busiris! rief Bonaventura in die Hände schlagend ...

»Da kommen sie denn«, fuhr Müllenhoff ungehindert fort, »diese Schmachtenden, diese Zärtlichen, die über einen Käfer weinen konnten, den ihr Fuß im Grase zertrat, und keinen Blick, geschweige eine Thräne dafür hatten, wenn sie stündlich ihren Gott, ihren Heiland und seine Gebote mit Füßen traten! Jene Schmachtenden, die ein Marienwürmchen liebkosen und bewundern können und Maria selbst nur für eine ganz gewöhnliche Mutter wie andere auch halten! Jene Empfindsamen, die mit Freimaurermoral alle Todsünden zuflicken, alle Risse der Herzen mit phrasenhaftem Kalk und Mörtel zu verschmieren wissen! Ihre ruchlosen Devisen: ›Thue recht und scheue niemand!‹ oder ›Wir glauben all' an Einen Gott!‹ die werden mit Flammenschrift an dem Vorhof desjenigen Theiles der Hölle stehen, der gerade diesen Patent-Seelen extra bestimmt ist! Riesengroß werden die Buchstaben sein, die die Teufel mit dreizinkigen Gabeln schüren müssen, damit sie ganz so brennen, wie sie im Munde dieser Freimaurer lebten und nicht etwa lauten: ›Thue recht und scheue dennoch Gott und seine Heiligen!‹ oder: ›Es ist nur Ein Gott, in dem allein das wahre Heil!‹ O, des Jammerns dann, wenn diese Freimaurerseelen zu dem Gekreuzigten, dessen einflußreiche Stellung bei Gott sie nun wol erkannt haben werden, aufblicken und auch vor diesem dann um Titel, Orden und Beförderungen schmachten, aber der feurige Osiris mit dem Ochsenkopf ihnen nachläuft, sie zu umarmen als seine ägyptischen Brüder. Oder wenn ihre Logenschwester Isis, die holde Mutter Natur, ihre gnadenreiche Allerseligste, ihnen zuruft: Hebt meinen bekannten Sais-Schleier! – und sie sehen dann ihre geliebte Mutter aus hundert Brüsten deren Wohlthaten spenden, feuerspeiende Berge, Erdbeben und daherbrausende, aus den Schienen gegangene Locomotiven! Alle ihre Mittler und Erlöser werden ihnen zuwinken mit den Wohlthaten, die diese spenden können – Buddha mit der Kunst, hundert Jahre auf einem Beine zu stehen, Sesostris mit Pyramiden, die erst auf ihren Leibern das sichere Fundament bekommen sollen! Selbst ihr letzter Prophet, Nathan der Weise, wird ihnen anbieten von den Waaren, die er gerade aus Damascus mitgebracht hat, vorzugsweise jenen Mantel mit dem rothen Templerkreuze, einen Mantel von Blei, so schwer, daß sie damit alle Greuel und Verbrechen zu tragen glauben sollen, die sie hienieden mit ihrem verschlissenen Humanitätsgarderobenstück der Liebe bemäntelt, beduldungelt und betoleranzelt haben« ...

Genug, genug! rief Bonaventura; ich fürchte mich vor meiner Nachtruhe! ... Er deutete auf einen Wächter, der auch hier die zehnte Stunde abrief, und entfernte sich mit einem einfachen, alle Hoffnungen des Pfarrers auf Zustimmung und Beifall ironisch abschneidenden: Gute Nacht! ...

Jeden Morgen las Bonaventura die Messe. Bald in Sanct-Libori, bald in Heiligenkreuz, bald auf dem Schlosse. Dann besuchte er auch wol die Schule, war viel in Witoborn, wo ihm die schuldige Rücksicht gebot, diese oder jene hervorragende Persönlichkeit zu besuchen. Beichtabnahmen hielt er nicht, so sehr auch mancher danach Verlangen trug.

Als er am folgenden Morgen nach Heiligenkreuz gegangen war, wo vor den Stiftsdamen von ihm die Messe gelesen werden sollte, fand er, als die heilige Handlung vorüber und er schon im Begriff stand, sich in der Sakristei zu entkleiden, Thiebold, der ihm die gestrigen Erlebnisse schildern wollte, soweit sie die ihm in der Beichte von Bonaventura vorgeschriebene Pflicht betrafen ...

Thiebold hatte vorausgesetzt, daß er dem Domherrn diese Mittheilungen in der entsprechenden seelsorglichen Form zu machen hätte, und suchte ihn deshalb im Meßornate auf. Schon sehr zeitig mußte er mit seinem Einspänner aus Witoborn ausgefahren sein.

Der Cantor fungirte für den alten Tübbicke, dem diese Frühwege schon auch sonst zu beschwerlich wurden ...

Auf eine Weisung, die der Cantor erhielt, beide allein zu lassen, begann Thiebold die Mittheilung all des Räthselhaften, das ihm Armgart gestern in der Kapelle angedeutet hatte, und wollte hören, ob nun doch noch eine Verpflichtung bestünde, seinem Freunde Benno die »stattgefundene Täuschung« mitzutheilen ...

Bonaventura erwiderte nach ernstem Sinnen über die Worte Armgart's:

Ich glaube, lieber Herr de Jonge, daß Sie jetzt besser thun, diesen Gegenstand fallen zu lassen. Ziehen Sie vor, Ihren Fehler durch desto innigere Beweise der Freundschaft für unsern guten Benno wieder gut zu machen! Armgart will nicht, daß Benno etwas von ihren frühern Empfindungen erfährt? Dann um so besser, wenn ihn die gegenwärtigen des jungen Mädchens nicht enttäuschen. Zu jung und unklar noch in sich selbst scheint sie mir zu sein, als daß ihr Herz schon in dem Grade für irgendjemand sollte entschieden haben, um etwas auf die Beweise ihrer Gunst zu bauen. Ein Mädchenherz in diesem Alter ist eine unbekannte Insel, die der Seefahrer mit Zagen betritt, ungewiß, was sie birgt; bald hoffend, bald getäuscht geht er vorwärts, bei jedem Schritt entdeckt er Unerwartetes und findet sich erst nach langer Zeit in ihm zurecht. Zunächst wird das Wiedersehen ihrer Aeltern sie ganz in Beschlag nehmen. Ich höre, daß beide sich bald in dieser Gegend einstellen werden ...

Der Oberst wenigstens! fiel Thiebold ein. Ich weiß es für bestimmt von Hedemann ... Er kann in acht bis vierzehn Tagen hier sein. Schon liegt Hedemann's Gesuch an die städtische Behörde von Witoborn vor, vorläufig die Wasserkraft der Witobach auf Handpapier gehen zu lassen ... Die Aufregung, die in der Stadt dieser Antrag hervorgebracht hat, ist ridicül ... Alles intriguirt dagegen ... In der heiligen Stadt Witoborn Papier fabriziren! Eine Erfindung des Satans fördern! ... Entschuldigen Sie, Herr Domherr, ich erzähle nur, was ich von Benno und von Offizieren »Bei Tangermanns« gehört habe ...

Bonaventura begriff, was sich von einem so dumpfen Geiste, wie er ihn hier überall vorfand, voraussetzen ließ, und fügte hinzu:

Aber auch Frau von Hülleshoven hat die Absicht, ihren Gatten nicht allein sich in die Lage versetzen zu sehen, Armgart so nahe zu kommen. An dem Tage, wo der Oberst in Witoborn eintrifft, ist sie hier im Stifte, wo sie eine Verwandte der Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien, ein Fräulein von Tüngel-Ap pelhülsen, aufzunehmen versprochen hat ... Verrathen Sie jedoch nichts davon! Sie kennen Armgart's Phantasie –

Ihr Gelübde! Die Aeltern sollen sich vereinigen oder niemand gewinnt sie ...

Bonaventura schüttelte den Kopf ... Noch immer die Grille, die er schon aus den in Kocher am Fall gelesenen Briefen kannte ...

Thiebold versprach auf viel mehr, als »nur auf Ehre« sein unverbrüchlichstes Schweigen über die von zwei Seiten auf Armgart anrückende Prüfung und bot dann dem Domherrn seinen Einspänner an. Er wollte noch im Stifte bleiben und bei den Damen Besuche machen. Er erklärte, dann zu Fuß nach Westerhof zu gehen, wo er wie fast täglich zu Mittag speiste. Tante Benigna hatte ihn von dem Frühboten, der jeden Morgen in die Stadt geschickt wurde, schon wieder einladen lassen, ihn, nicht Benno. »Wir sind es Terschka schuldig«, sagte sie zum Onkel Levinus, der gegen die steten Zurücksetzungen Benno's bescheidene Bedenken erhob, »daß wir auf den Bevollmächtigten Nück's keinen zu großen Werth legen.«

Bonaventura mußte den Vorstellungen Thiebold's nachgeben, schon aus Rücksicht auf den Gaul, der hier bis Mittag hätte im Freien zubringen müssen; Thiebold war im Stifte so beliebt, daß er bei einem Morgenbesuch leicht in die Lage kam, gleich zu Mittag, nicht selten zum Nachtessen zu bleiben ... Es war eben Thiebold's Talent, alle Menschen zu gewinnen ... Er wußte nicht nur einige Dutzend Pfänderspiele, sondern ließ auch Garn und Seide auf sich abwickeln ... Dabei seine bequeme Prätensionslosigkeit in Bildungssachen! Er machte gar kein Hehl daraus, daß er bei weitem weniger wußte, als Alexander von Humboldt. Wenn eine von den Damen dichtete (und es waren nur fünf oder sechs darunter, die, nicht etwa eine Ausnahme machten, sondern ihr Dichten nur nicht eingestanden), so bewunderte er jeden Vers, jedes Bild, hatte nie dergleichen gehört oder gelesen und war ein Zuhörer so voll Aufmerksamkeit, daß er schon eine ganze Sammlung von Liedern im Portefeuille beisammen hatte, die sein Freund Joseph Moppes componiren und Aloys Effingh mit Illustrationen versehen sollte.

Flüchtig noch erfuhr Bonaventura von Thiebold die wiedergekehrte Visionsgabe Paula's und von dem witoborner Kutscher die Genesung der kleinen Tochter des Herrn Jean Tübbicke durch einen Rosenkranz, den sie gestern gesegnet hatte ... Im Pfarrhause fand Bonaventura die Bestätigung. Der alte Tübbicke empfing ihn mit freudestrahlendem Antlitz. Die kleine Fanchon lag nach Aller Meinung im Sterben, als der Großvater mit dem Amulet kam. Man legte es dem athemlosen, fieberglühenden Kinde um den Hals; es stellte sich Schweiß ein, das Fieber ließ nach und schon berichtete der maître-tailleur Jean Tübbicke, der im Pfarrhaus selbst zugegen war, von einer vortrefflichen und stärkenden Nacht. Herr Jean Tübbicke kam, um beim Pfarrer aufs entschiedenste gegen den Verdacht zu opponiren, daß es Tante Schmeling wäre, die an seiner Thürschwelle Kinder aussetzte. Es kam zu einem heftigen Auftritt. Müllenhoff entließ ihn mit den Worten: »Affenschänderisches Volk! Grützköpfige Dummheit, wenn du nun gar noch ausländische Bettelpfennige für holländische Dukaten nimmst! Lallst deine edle deutsche Muttersprache halb schon nur, wie ein blökendes Kalb, und willst noch auf Zeisigart französisch zwitschern und niedlich thun mit Elefantenbeinen? Ei, daß dir doch über Nacht die Engel vom Himmel dein maître-tailleur-Schild vom Fenster nähmen! Siehst du denn nicht, was ein altchristliches Gebet für Gnade im Gefolge hat? Gehst du nicht endlich in dich, Gütertheiler, so hängt in dem Schild noch das Bret zum Sarge deiner Fanchon über deinem Hause!«

Schlimm, schlimm, schlimm! brummte nur immer im Gehen vor sich hin der alte Tübbicke, enträthselte dem Domherrn den Zusammenhang dieses Zanks und kam auf die Gräfin und seinen zunächst Gott, dann ihr darzubringenden Dank zurück ...

Bonaventura litt unter allen diesen Mittheilungen ... Auch Thiebold's Erzählung von der Vision der Schlafenden bewies, daß Paula's ekstatische Zustände doch wieder zurückkehrten. Noch hatte er keinem derselben seit ihrem Wiedersehen beigewohnt ... Mit bangem Herzen eilte er nach Westerhof. Einen vollen, vollen Tag hatte er ohne Paula sein können! ... Der scharfe Wind erfrischte seine Wange. Die kahlen Pappeln, Buchen und Erlen am Wege ächzten ... Er drückte den Hut auf die Stirn. Seinen warmgefütterten Winterrock fest an sich ziehend, schritt er sehnsuchtbeflügelt dahin ... Da lagen – nach einer kleinen Stunde – die vier Thürme des Schlosses! Weißschimmernd der graue Schiefer an den Stellen, wo der Wind den Schnee abgetrieben! Hinter den Fenstern dort oben das süße Mysterium, wo Frauen von zarter Sitte und holder Anmuth wohnen! Gar nicht gedenken konnte er, wie ihm Paula's Dasein doch nur so war, wie dem Baume sein Blatt kommt und geht und wiederkehrt und wieder schwindet, immer ein anderes ist und doch dasselbe, tausendfach immer nur Eines, Wirklichkeit und doch nur ein Begriff. Wäre das edle Gemälde der Gräfin nicht wie auf Goldgrund gemalt gewesen – er wäre vielleicht verloren gewesen. Irgendeine einzelne Schalkhaftigkeit, wie sie Armgart besaß, irgendeine lächelnde Caprice, wie Lucinde, und der Erscheinung Paula's wäre jene Leibhaftigkeit verliehen gewesen, die herausfordert. Ihm aber war sie so wie Andern; auffallend mußte erscheinen, daß die auch jetzt doch noch so reiche Erbin nicht von Freiern umgeben wurde, Paula konnte sich nur entweder selbst verschenken oder sie mußte verschenkt werden; ein Werben um sie, ein sie Liebenmüssen oder Liebenwollen schien bei einer so geistig vornehmen Natur kaum aufzukommen.

Vor dem Schlosse fand Bonaventura, wie um diese Zeit fast immer, eine Anzahl Wagen. Zu den vielen Rücksichten der Etikette gesellte sich die hier stets genährte Neugier und dann war gestern beim Leichenbegängniß so vieles vorgefallen, worüber man seine Gedanken austauschen mußte; ja auch die neue Kunde war schon überall hinausgegangen, die Gräfin hätte das Leichenbegängniß selbst gesehen und ein von ihrem Leib genommener Rosenkranz hätte ein Kind in Witoborn vom Tode gerettet. Auf den Treppenstufen sah Bonaventura wieder die Zahl der Gichtbrüchigen und Blinden und Hülfsbedürftigen wie sonst ...

Armgart kam ihm auf der Treppe entgegen und theilte den Harrenden Amulete aus, die Paula berührt hatte. Diejenigen unter seinen Arzneien, deren Heilkraft verbürgt ist, kann der Apotheker nicht mit größerer Zuversicht verabfolgen, als hier Armgart, nicht einmal mit Verlegenheit vor Bonaventura niederblickend, eine Anzahl kleiner Kissen austheilte, deren sie und die Stiftsdamen tagein tagaus eine Anzahl verfertigten. Diese Kissen waren fingerlang, fingerdick, von weißer Seide, innen mit Baumwolle gefüttert, von außen bildeten lose und weite Stiche ein rothseidenes Kreuz ... Paula berührte sie nur und sie sollten heilen. Armgart theilte diese Kissen aus mit einer Zuversicht, als müßte sie jeden Zweifel daran für teuflisch erklären ... O gut, rief sie dazwischen dem Domherrn entgegen, daß Sie kommen! Paula schlummert! Reden Sie mit ihr! Alles steht erwartungsvoll! Sie spricht wie gestern! Aber da sie niemand zu fragen wagt, antwortet sie nicht zusammenhängend! Der Onkel verbietet es andern! Sie, Sie, Domherr, Sie könnten endlich ein Machtwort sprechen! ...

Bonaventura stand voll Zagen ...

Als Armgart die Leidenden entlassen hatte, ergriff sie Bonaventuras Hände, von denen die eine, schon während des Beobachtens der Scene des Austheilens der Kissen, ihres Handschuhs sich entledigt hatte. Halten Sie doch die Leiter, auf der Paula gen Himmel steigt! sagte sie, beide Hände ergreifend. Warum thun Sie's nur nicht! Alles sehnt sich danach und niemand mehr als Paula selbst! Oder gab es keine heilige Theresia, sah Franz von Assisi nicht den Himmel offen? Nicht die heilige Brigitta? Erleuchtete Gott nicht Katharina von Genua und nun erst gar die von Siena? Hören Sie, was Paula redet und fragen Sie dann selbst!

Was soll ich fragen! sprach Bonaventura wie gefangen ... Alles wurde still umher ... Herrschaften und Diener waren in den innern Gemächern und standen ohne Zweifel um Paula's Lager ... Armgart hielt fort und fort seine Hände ...

Eine Handbewegung nur von Ihnen! Diese weiße Hand auf ihr Herz gelegt! Eine sanfte Frage nur von Ihrem Munde! O kommen Sie!

Armgart! – lehnte Bonaventura, voll Mismuth ohnehin gegen Armgart, ab; Armgart küßte ihm jetzt selbst seine Hand ...

Fragen Sie nach meinem Vater! Nach meiner Mutter! Ob es wahr ist, daß sie jede Stunde hier eintreffen können! Fragen Sie, ob die Zukunft uns alle, alle – unglücklich macht!

Bonaventura blickte finster. Er hörte zwar im Geist die Worte des Herrn, der durch Prophetenmund, Joel 2,28. 29 spricht: »Es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht der Herr, da will ich von meinem Geist über alles Fleisch ausgießen. Und euere Söhne und Töchter werden weissagen, euere Jünglinge werden Gesichte schauen und euern Aeltesten werden Traumgesichte erscheinen. Ja auch über meine Knechte und Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geiste ausgießen und sie werden weissagen« ... Dennoch wollte er mit der Hand über Armgart's Stirn streichen und ihr sagen: »Mädchen, laß doch nur treu und wahrhaft dein eignes Herz reden und du hast deine Zukunft gewiß!«

Nun aber ergriff Armgart blitzesschnell einen Ring an des Zögernden Hand ... Es war der Trauring seiner Mutter, jener, den der Onkel Dechant in dem Leichenhause des Sanct-Bernhard gefunden hatte, jener Ring, der als Erkennungsmittel vor dem entstellten Körper seines Vaters gelegen, derselbe Ring, von dem Bonaventura ähnlich wie Lucinde von Bickert's Schrift, gesagt hatte: In ihm liegt die ganze Lebensfrage unserer Kirche! Und noch ehe er wußte, was geschehen, hatte Armgart den Ring schon ihm abgezogen und war mit ihrem Raube davongeeilt ...

Sie eilte in den Vorsaal, dessen Thür sie offen ließ ...

Bonaventura, bestürzt über ein Vorhaben, das er nicht sogleich begriff, folgte ... Die wenigen Anwesenden, die aufgeregt in dem grünen Nebenzimmer standen, grüßend, wandte er sich Armgart zu, die mit ihrer Eroberung noch eine Weile sinnend vor dem Onkel Levinus stand, als wollte sie von diesem erst die Erlaubniß haben, Paula – mit dem Ringe zu magnetisiren ... Dann aber, ohne seinen fragenden und zürnenden Blick zu erwidern, ging sie rasch durch die offen stehenden Thüren dem von der übrigen Zahl der Besucher schon umstandenen Schlummerlager Paula's zu ...

Es waren so viel Frauen zugegen, der Verkehr durch alle geöffneten Zimmer hindurch war so gehindert, daß Bonaventura's Eintreten die Aufmerksamkeit nicht fand, wie sonst ... Aller Augen waren auf Paula gerichtet ... Auch einige geistliche Herren aus Witoborn waren zugegen und drangen in Bonaventura, den andern zu folgen ... Mit einer Empfindung, als wären die Engel vom Himmel gegenwärtig, drängte sich alles dem Vorzimmer zu vor Paula's Schlafgemach ...

Hier lag sie auf dem Ruhesopha ... Die Vorhänge waren zurückgezogen; einige Stiftsdamen standen um sie her, Armgart knieete vor ihr und steckte eben leise, nur von Bonaventura beobachtet, seinen blinkenden Raub an den Ringfinger der linken Hand Paula's ... Teppiche milderten jedes Geräusch der Umstehenden ...

Paula schien in der That Reden vor sich hin zu murmeln ...

O das ist schön! sagte sie endlich vernehmbarer und ihr fieberhaft angehauchtes Antlitz begann zu lächeln. Sie schien die Annäherung eines magnetischen Rapportes zu fühlen, ja schien sie wie eine geistige Nahrung einzusaugen ...

Wie wird es so licht und so hell jetzt! ... sagte sie plötzlich lauter und wie begeistert. Von der Sonne! ... Alles! Alles! ... Auch ihr Leib ist Licht! ... Die Lichttropfen gleiten ihr aus den Fingern!

Wem? fragten einige. Auch Bonaventura mit wehmuthumschleierten Augen ...

Onkel Levinus erläuterte mit gedämpfter Stimme und trotz der Gewöhnung an diese Erlebnisse doch erzitternd:

Das wird der Hochschlaf! Immer, wenn sie den höhern Grad des Hellsehens erreicht, spricht sie von sich selbst als von einer dritten Person! Es ist dann, als schritte ihr Geist aus dem Körper heraus, sodaß sie sich selbst sieht. Das Tröpfeln aus den Fingerspitzen ist der Anfang ...

Tante Benigna bemerkte jetzt den Ring an Paula's Finger, wagte aber keine Frage oder Einsprache zu thun und bangte nur, wie alle ...

Paula schwieg eine Weile, als wartete sie das Entgleiten des elektrischen Fluidums aus ihren Fingerspitzen oder die weitere Annäherung Bonaventura's ab ...

Auch Terschka trat inzwischen zu den ängstlich Harrenden ... er grüßte Bonaventura und die, die er heute noch nicht gesehen hatte ...

Wie ist das so schön! fuhr Paula in kurzen Sätzen fort ... Ach, die herrlichen Blumen! ... Rosen um dunkle Cypressen! ... Die gehen ja hoch hinauf bis ins grüne Laub! ... An den Blättern zittern Thautropfen, die die Sonne bescheint! ... Die sanfte Datura! ... Die stolze Magnolika! ...

Der Onkel schaltete bedeutsam ein:

Die absolute Wesenheit der Dinge! Erst kommt sie durch Blumen, dann durch bunte Ringe und Kreise! Es ist zuletzt die Welt des reinen Seins ohne Zeit und ohne Raum ...

Paula fuhr jedoch im Gegentheil fort:

Ein herrliches Schloß! ... Mit einer Fahne auf dem Thurm! ... Wald und Berg! ... Immer hört sie ein Glöcklein, das nicht aufhören will! ...

Onkel Levinus sah sich um und deutete mit stummem Blick nach oben. Er wollte sagen: Sie hört die Harmonie der Sphären ...

Hirten kommen aus den Thälern, fuhr Paula fort, und steigen zum grünen Wald hinauf! ... Wie in der Kirche ist's unter den Bäumen! ... Die Bäume werfen so lange Schatten! So lange! ... Vor großen Kirchenfenstern schimmern so die grünseidenen Vorhänge! ...

Onkel Levinus lächelte die Geistlichen und die Damen an, als wollte er sagen: Die langen grünen Schatten sind die Urbilder der Dinge! Die ewigen Grundformen! ... Und Tante Benigna bedauerte im stillen nur die Abwesenheit Püttmeyer's ... Auch Thiebold's, der zum Essen kommen sollte und durch die anwesenden Stiftsdamen abgesagt worden war, weil er heute wieder, wie so oft, dort zurückbehalten wurde zum Vierhändigspielen mit mindestens drei bis vier der Stiftsfräulein die Reihe herum ...

Und Armgart, die noch immer knieete, wandte ihren Kopf mit einem Bitteblick auf Bonaventura und langte mit dem Arme, als sollte er näher treten, Paula magnetisiren und sie ausdrücklich um ihre Anschauungen befragen ...

Bonaventura stand in scheuer, schmerzlicher Befangenheit ...

Paula aber that dem Onkel Levinus heute nicht den Gefallen, bei dem reinen Sein der Dinge zu bleiben, sondern fuhr fort:

Bienenstöcke sieht sie zwischen den mächtigen Bäumen! ... Das sind Kastanienbäume! ... Sie kennt sie! ... Die blühen schon! Die rothen Pyramiden! Und die Mandelbäume, die blühten gar schon ab! ... Die Bienen umschwärmen sie! ... Und immer, immer läutet die Glocke ... Nun sucht sie die Glocke ... sie hängt ja an einem Ast der Bäume, dicht vor der Hütte von Moos! ...

Onkel Levinus schien betroffen, daß sich in der Sphäre des reinen Siderismus heute soviel tellurische Ueberbleibsel finden sollten ...

Es ist ja fast – wie in – Italien! ... bemerkte inzwischen Terschka ...

Italien! ... Dies Wort genügte den Damen im Grunde noch mehr, als das reine Sein ... Was führte die Seherin nach Italien? ... Paula konnte mit irdischen Augen bis nach Italien sehen? ...

Die Messe liest er nicht! ... – sprach Paula nach einer Weile, während alles lauschte und Onkel Levinus noch immer nicht an eine Versetzung der Anschauungen Paula's nach Italien, sondern nur ins Geisterreich selbst glaubte ... Mit ganz lauter und bestimmter Anrede fragte er die Schlummernde jetzt: Wer? ...

Der Eremit! antwortete Paula ...

Sieht sie denn einen Eremiten? fuhr der Onkel fort, mit scharfer Betonung, etwa in der Art, wie ein Arzt mit einem Typhuskranken spricht ...

Mit weißem Bart! antwortete Paula kindlichsten Gehorsams ... Ein heiliger Gesang wallt herauf ... Sie tragen Fahnen –

Es ist eine Procession! wagte sogar ein Kanonikus aus Witoborn jetzt laut zu äußern. Vielleicht war auch er geneigt, eher an die Sphäre des reinen Seins, als an Italien zu glauben und in der Procession einen Beweis für die Rechtgläubigkeit des Himmels zu finden ...

Sie sieht keine Bilder, keine Fahnen ... antwortete Paula ... Sie kommen in der Hand mit Büchern ... Größer sind sie als die Breviere ... viel größer ...

Triumphirend blickte der Onkel um sich. Die Geistlichen und die Frauen erhielten wieder einen Anhalt für das Jenseits; denn ohne Zweifel waren diese großen Bücher, wenn nicht die Gesetzestafeln des Moses selbst, doch Schriften der Kirchenväter oder Missalien, die Paula in den Händen der rechtgläubigen, geisterhaften Gestalten sah ...

Sie lesen in den Büchern! ... fuhr die Schlafende fort ... Der Mann mit weißem Barte erklärt sie ... »Gott ist ein Geist«, spricht er, »und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!« Die sanfte Stimme! ...

Bonaventura stand athemlos. Sein Blick fiel auf Terschka, der ihm voll Erstaunen zuflüsterte:

Ich glaube die Gegend zu kennen ...

All die Blumen und die Käfer und die Bienen summen! ... Wie grün ist das! ... Smaragdgrün! Wie wenn in unserm Buchenpark die ersten Frühlingslauben sich wölben ... Aber das sind nun Eichen! ... Tief unten ist alles so milde, so weich und sanft ...

Wer ist der Redner? fragte Onkel Levinus scharf ...

Die Frauen erwarteten keine andere Antwort, als: Gott der Herr selbst!

Sie kennt ihn nicht! ... sagte Paula ...

Das Sprechen in der dritten Person hatte etwas Gespenstisches, das niemanden mehr bewegte als Bonaventura. Armgart's fortgesetztes Bitten lehnte er mit der Hand ab. Doch kaum sah Armgart dies Vorstrecken seiner Hand, so erhob sich das phantastische Mädchen, ergriff sie und wollte ihn dem Lager näher ziehen ...

Bonaventura machte nun in der That ein Kreuz über die ganze Länge der in schwarzer Seide gekleideten, in rührender Halbbewußtlosigkeit daliegenden, fieberhaft angehauchten Gestalt der Gräfin und trat wieder zurück ...

»Herr, wie so lange!« sprach jetzt Paula mit erhöhter Kraft. »Auf, schlage ihn, denn das ist der Tag, an welchem der Herr hat übergeben deinen Feind in seine Hand!« Die Hand auf das Buch hält er! ... Hält es hoch empor! ... »Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin!« »Der Odem Gottes weht über die Lande!« ... Sie kann jetzt nicht hören ... Die Frauen weinen ... Die Männer reichen sich die Hände ... Jetzt – jetzt – Ein Kelch – geht – um ...

Ein einziger Ton des Schreckens unterbrach Paula's Vision ... Ein Kelch geht um? Das mußte eine Versammlung von Ketzern sein! ... Das war die gemeinsame Empfindung ...

Sie trinken alle daraus! fuhr Paula mit Bestimmtheit fort ...

Einige der Frauen, die sich gesetzt hatten, erhoben sich ... Andere, die standen, mußten sich nach Sesseln umsehen. Die Geistlichen blickten fragend bald auf Bonaventura, bald auf den Onkel Levinus, der gewissermaßen für alle diese Dinge die Verantwortlichkeit zu übernehmen hatte ...

Es ist, sagte Paula – nicht die Messe –

In Bonaventura's Innerm war es, als fühlte er die Erde unter sich wanken ... Paula sprach wie seine innersten Gedanken aus ...

Das Buch ist die Bibel! sagte Paula ...

Der Schrecken vermehrte sich ...

Der schöne Pokal! ... Von rothem Krystall! ... Wie Blut? ... Ja er sagt: »Noch wird es in Strömen fließen, bis deine Burg, o Herr, Zion, deine Zinne, erobert ist!« ... Er ergreift den Kelch ... Die Hand ist so weiß ... wie der Schnee der Alpen ... dort oben ...

Längst zitterte schon in Bonaventura die Erinnerung an den geheimnißvollen Brief, den er empfangen, die Einladung, einst unter den Eichen von Castellungo zu erscheinen, dort ein neues Martyrium anzutreten, das der verbesserten Kirche ... Und wie dann Paula selbst ihre eigene schöne weiße Hand emporhielt und sein Ring, der Trauring seiner Mutter, zu aller Erstaunen an ihrem Ringfinger blitzte, konnte er sein Herz nicht länger bewältigen ... Aller Anwesenden uneingedenk, entsetzt über die Vergleichung der weißen Hand mit dem Alpenschnee und wieder doch von der frohen Hoffnung neu beseelt, daß sein Vater nicht in die Abgründe der Lavinen stürzte, nicht in der schaudervollen Morgue des Sanct-Bernhard vermoderte, nicht auf dem Friedhof zu Sanct-Remy auf dem Wege nach Aosta begraben lag, wiederholte auch er die Frage:

Wer ist der Redner?

Da schwieg anfangs Paula ... Dann aber, zum Zeichen, daß sie Bonaventura's Stimme wohl erkannt hatte, sagte sie, und sagte das wie vor Ueberraschung wonnig belebt:

Du fragst sie?

Alle – des Du's staunend – sahen auf Bonaventura ...

Schon aber sprach Paula weiter:

Es ist kein Greis! Weiß ist sein Haar, schneeweiß, aber seine Haltung noch wacker ... Wer es ist? ... Er ähnelt – dir! ...

Bonaventura zitterte ... Armgart ergriff seinen Arm krampfhaft ... doch überselig ...

Paula fuhr fort:

Seine Hütte gefällt ihr ... Drüben aber liegt das Schloß ... Die Fahne hat ihre Farben ... ihr Wappen ...

Wessen? fragte Terschka mit nicht mehr zurückzuhaltender Spannung ...

Paula schwieg jetzt ... Der Ton dieser Stimme störte sie ...

Onkel Levinus deutete auf die Schlummernde selbst und sagte mit dieser stummen Geberde, die Schloßfahne trüge die Farben der Dorste-Camphausen selbst ...

Dann ist es Schloß Castellungo! sagte Terschka mit höchstem Erstaunen. Der Eremit ist ein Deutscher, namens Federigo! Ich kenne ihn! Eine religiöse Sekte, die von Comtesse Erdmuthe dort beschützt wird, hat sich jetzt, wie so oft, um ihn versammelt! Ich wäre begierig, ob in diesem Augenblick, wo allerdings dort in dem schönen piemontesischen Thale der Frühling schon in vollster Blüte steht, in der That eine der von ihr geschützten Gottesverehrungen stattfände! Erfahren kann ich das und werde mich darum bemühen ...

Terschka näherte sich dem Ruhebett ...

Paula aber betete jetzt ... Sie sprach Worte, die minder auffallend klangen ... Maria und die Heiligen fehlten nicht ... Endlich schwieg sie ganz ... Einen Reiz, sie noch aus ihrem beginnenden, nun wirklich naturgemäßen Schlummer wach zu rufen, konnte nur eine Grausamkeit unerlaubter Neugier sein. Die Tante winkte, daß Paula der Ruhe bedürfte ...

Die Frauen gingen zuerst ... Die Geistlichen folgten ... Onkel Levinus begann von Gräfin Erdmuthe und ihren Reformen ...

Terschka entzog sich zwar dem für seine Stellung bedenklichen Gespräch, blieb aber mit Armgart zurück, die ihn festhielt und sich von Castellungo erzählen ließ, über das eines Abends Benno und Thiebold so harmlos gesprochen hatten, dabei sogar Porzia's gedenkend, als einer Schülerin des Bruders Federigo und vielleicht einer künftigen Gattin Hedemann's. Die Möglichkeit, daß Paula nur eine Reproduction der Phantasie gegeben hatte, lag nahe. Nur bewunderte Terschka, wie richtig alles zutraf, und Armgart ihrerseits staunte und grübelte, warum gerade jetzt Paula auf diese Anschauung kam. Sinnend und den Trauring betrachtend, den sie wieder zur Zurückgabe an den Domherrn an sich genommen hatte, ließ sie sich Castellungo so genau schildern, daß Terschka am Fenster hinter den Gardinen bei ihr stehen bleiben und flüstern mußte ... Sie kehrten lange nicht zu den Uebrigen zurück ...

Und doch war inzwischen neuer Besuch gekommen ... Wenn Bonaventura annehmen wollte, daß der Trauring seiner Mutter es war, der diese Kette von Anschauungen veranlaßt hatte, wenn er im Bruder Federigo sich seinen Vater denken, in der an ihn gerichteten lateinischen Einladung eine Andeutung des väterlichen Unwillens finden wollte über die Wahl seines Berufes und einen Drang der Sehnsucht des väterlichen Herzens auf ein Wiedersehen, dem dann eine Erörterung über die Ehe als unauflösliches Sakrament der Kirche folgen mußte – so fehlte, um ihn in die höchste Verwirrung zu versetzen, nur das noch, was ihm jetzt geschah ...

Der Regierungspräsident von Wittekind stand im grünen Zimmer und war eben erst angekommen ...

Zuckte der Schmerz der gewissen Ueberzeugung in Bonaventura: Dein Vater lebt noch und entzog sich nur der Welt, weil unsere Kirche nicht scheidet – so stand er dem Manne gegenüber, der die Hand einer Frau besaß, die seine Mutter war und die vielleicht in Bigamie lebte ... Noch mehr ... Der Präsident sprach zum Onkel Levinus, zur Tante Benigna und zu Bonaventura zugleich gewandt:

Ich fürchtete ihre Aufregung und ließ drüben eines der geheizten Fremdenzimmer aufschließen ... Gehen Sie zu ihr und begrüßen Sie sie lieber erst unter vier Augen!

Wen? konnte Bonaventura nicht mehr fragen; denn schon bestätigte der Präsident dem Ahnenden:

Ihre Mutter! Sie ist gestern Abend angekommen! Wir suchten Sie eben im Pfarrhause auf und hörten, daß Sie hier sind – Die Sehnsucht der vortrefflichen Frau kannte keine Grenzen mehr! Wir fuhren hieher! Sie verlangt nach Ihnen! Machen Sie sie glücklich!

Bonaventura verließ das Zimmer, geführt von Tante Benigna und dem Onkel.

8.

Bonaventura's Herz überfiel ein Krampf, der ihm die Unterstützung seiner Führer zur Nothwendigkeit machte ...

Im Vorsaal stand einer der zur glänzenden Livree noch mit Emblemen der Trauer geschmückten Diener des Präsidenten ... Er stand bereit, ihn in das Zimmer zu geleiten, wo ihn seine Mutter erwartete ...

Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen! hatte es einst in des Sohnes Brust gerufen ...

Wieder riefen ihm wilde Stimmen dies Wort, aber es waren nur noch Stimmen der Erinnerung ... Seine Brust trug schon zu schwer an tausend, tausend Bürden des Lebens und des Urtheils, zu schwer, als daß ihm noch die alte rigorose Strenge verblieben wäre ... Auf Paula vorhin sich niederwerfen, sie durch Küsse aus den Banden der dämonischen Mächte wach rufen – wenn er das gekonnt hätte! ... Alles hatte ihn gezogen, es zu wagen – nun durfte er doch in die friedenbringenden Arme eines Weibes sinken ...

Mit überströmender Rührung war er dem Diener gefolgt, der ihn weiter auf den Corridor hinausführte ... Die andern Begleiter, die heilige Weihe des Augenblicks erkennend, ließen ihn allein vorschreiten ... Der Diener öffnete eine der Thüren, über denen alte Wappen und Jagdtrophäen hingen ...

Bewußtlos, nichts von der Umgebung, selbst nicht sogleich die Mutter ganz wiedererkennend, lag Bonaventura an einem Frauenherzen ... Er, der Mann, weinte wie ein Kind ... die Stätte durfte er geweiht nennen, wo er die Thränen über all die Empfindungen niederlegte, die seit dem immer höher und höher sich steigernden Reichthum seiner schmerzlichen Lebenserfahrungen sich in ihm ansammelten ...

Die Mutter selbst war fast befremdet von der Weichheit seiner Stimmung ...

Sie hatte solche Begrüßung nicht erwartet nach der Abneigung und dem strengen Urtheil, das ihr vom Sohn über ihre zweite Vermählung bekannt war. Sie wußte eben nicht, wie im Menschenleben oft ein aufgesammeltes Bedürfniß sowol der Liebe, wie des Hasses demjenigen andern zu Gute oder zu Schaden kommt, der uns dann gerade zuerst begegnet und so begegnet, daß nur ein geringstes Wegnehmen von der schweren Last des Vorraths in unserer dafür zu eng gewordenen Seele das Nachstürzen auch alles übrigen bedingt ...

Frau von Wittekind war eine Frau hoch und schlank wie ihr Sohn ... Ihr Haar war noch dunkel ... Ihr Auge besaß eine energische Schärfe ... Beim Lächeln der Freude, das sich in die Rührung mischen durfte, zeigte ihr Mund noch wohlerhaltene Zähne ... Das Schwarz ihres Kleides stand ihr, wie wenn sie es auch zur Hebung ihrer reinen weißen Haut hätte gewählt haben können ... Die Finger waren wohlgerundet ... Die ganze Art hatte etwas Vornehmes und abgeschlossen Sicheres ... Besaß sie etwas ursprünglich Kaltes, so wurde dies durch die ergreifende Situation jetzt nicht ersichtlich ...

Sieben Jahre! ... begann sie ... Und du, mein Bona, mein Priester! ... Und Domherr schon! ... Und doch bist du immer, immer so kalt gewesen – deiner Mutter?!

Schon war Bonaventura gefaßter ... Er setzte sich mit der Mutter auf ein kleines Kanapee ... Es war ein rings mit alten Landschaftsbildern geziertes, behaglich enges Zimmerchen ... Umher blieb es still und ohne Störung ...

In jungen Jahren haben wir immer viel heroischere Ideen als im Alter! sagte Bonaventura niederblickend ...

Nennst du dich alt, mein Sohn! erwiderte die Mutter und streichelte die Wange des Erröthenden ... Zugleich wich sie dem von ihr angeregten Thema der bisherigen »Kälte« wieder aus ...

Vom Onkel Dechanten, von Frau von Gülpen, von der alten Renate, von Bonaventura's Hausstand, von Benno war die Rede ... Frau von Wittekind lebte in völlig neuen Verhältnissen, hoffte nun aber eine innigere Anknüpfung derselben wieder an das alte Vergangene ...

Wird der Präsident auf seinen Posten zurückkehren? fragte Bonaventura ...

Nein, mein lieber Sohn! sagte die Mutter. Die Güter, die der Vater hinterlassen hat, sind so umfangreich, die Bewirthschaftung ist in den letzten Jahren, wo die Wunderlichkeiten des Alten über alles Maß gingen, so vernachlässigt worden, daß es Wittekind's ganzer Kraft bedarf, um alles auf der gebührenden Höhe zu erhalten ...

Dann gibt er eine glänzende Aussicht auf Staatswirksamkeit auf! sagte Bonaventura. Oft hatte man geglaubt, gerade seine Hand würde stark genug sein, das Gubernium der aufgeregten westlichen Provinzen zu übernehmen ...

Wir haben darüber ernste Berathung gepflogen! entgegnete die Mutter. Meinem Gemüthe widersprach schon lange die falsche Stellung, in die er seinem Glauben gegenüber gerieth! Mit dem Vorangegangenen wird er brechen und sich dem Geist anschließen, der in diesen Gegenden herrscht. Es liegt darin für mein Herz eine tiefe Beruhigung!

Soweit ich unsern Volksstamm kenne, wird es einige Mühe kosten, das gegen ihn herrschende Mistrauen zu widerlegen! sagte Bonaventura aufhorchend. Zumal, da Herr von Wittekind – Bonaventura konnte nicht »Vater« sagen – in dem Rufe steht, seine frühere Stellung ganz mit Ueberzeugung ausgefüllt zu haben ...

Wohl! sagte die Mutter. Wittekind ist eine praktische Natur, wie in gewissem Sinn es auch sein Vater war ... Er liebt den Ruhm, vielleicht nur den Ruhm als gerechte Belohnung seiner Thätigkeit. Doch gibt er, soweit es geht, in vielem mir nach. Schon lange litt ich unter seinem Eifer für Administration und Beamtenthum. Jetzt hat er eine entsprechende Beschäftigung und wird, soweit ich ihn kenne, mit Behutsamkeit einlenken auf die neue Bahn, die auch seinem Gemüth eine größere Ruhe geben muß. Denn ebenso gut und weich kann er sein, wie er großmüthig und aufopfernd schon zu allen Zeiten war ...

In den letzten Worten lag eine rechtfertigende Erinnerung an Bonaventura's Vater, an seine Flucht, seinen Tod ...

Als Bonaventura schwieg, nahm die Mutter diese Erinnerung von selbst auf ... Sie ergriff des Sohnes Hand und sprach mit einer Fassung, die, so schon nach der ersten Rührung des Wiedersehens kommend, überraschen konnte:

Du bist reifer geworden, mein Bona! Du hast die Welt schon in anderm Lichte gesehen, als damals, da der Eindruck meiner Wiederverheirathung dir so befremdlich war! O, nenne mich keine Schuldige! Beurtheile mich nicht so hart, wie der damalige Generalvicar, der gefangene Kirchenfürst, der Wittekind haßte, weil er zu den Organen der Regierung gehörte! Als wir von der nahen Auflösung des Kronsyndikus hörten und da schon hierher reisen wollten, besuchten wir den strengen Mann in seiner Festungshaft. Er war von einem Spaziergang aus den Wällen zurückgekehrt und eben wollt' er die Tabackspfeife, die er unbekümmert um den Brand, den er in der Christenheit angezündet hat, immer noch frohgemuth fortraucht, wieder füllen, als ihm der Vater – Wittekind und ich gemeldet wurden. Dieser Besuch mußte ihn nicht wenig überraschen. Ich hatte Sie in andern Beziehungen wiederzusehen erwartet, Herr Präsident! sagte er, als er unserm Beileid staunend zugehört. Dieser Schritt wird Sie in eine schiefe Stellung bringen, wenn anders Sie mich nicht als ein Bevollmächtigter der Regierung besuchen! Wir benahmen ihm diese irrthümliche Voraussetzung und erklärten, daß wir Frieden zu schließen gedächten mit denen, mit welchen uns Geburt, Abstammung und gleiche Ueberzeugung in eine Reihe stellten. Er erwiderte: Es wird vielen so gehen, daß sie zur Erkenntniß kommen, und darum preis' ich mein Loos und will es gern ertragen! Ich bin zum Eckstein geworden! Die Bauleute wollten mich verwerfen; aber ein neues Gebäude wird über mir errichtet werden! Ein segensreiches und vielleicht für ganz Deutsch land! Er entließ uns gütig. Deiner gedachte er mit der mein ganzes Mutterherz mächtig überwallenden Prophezeiung, daß Gott dich zu großen Dingen erlesen hätte ... Schon wär' es im Werke, dich als Gesandten der Curie nach Wien zum apostolischen Nuntius zu schicken ... Du staunst darüber? ... Das wußtest du nicht? ... O, ich erkenne deine ganze Natur ... in deiner Bescheidenheit! ... Mein Sohn! Mein, mein Sohn! ... So sei auch versöhnt und nimm die Vergangenheit so licht und rein, wie der schöne Sonnenstrahl dort drüben glänzt über dem blendenden Schnee!

So zart und doch wieder so klug und gewandt in ihrer Denk-, Rede- und Gefühlsweise stand für Bonaventura die Mutter gar nicht mehr in seinem Gedächtniß. Wie hatte sich bei ihr das Vergangene verwischt! Ihm kam bei dem Bilde des Schnees, das sie brauchte, sofort die Erinnerung an den Tod seines Vaters ... Mit Bezüglichkeit wiederholte er: Ueber dem blendenden Schnee! ... Erst allmählich verstand die Mutter diese Wiederholung und Betonung, seufzte dann tief auf und fuhr fort:

Die gnadenreiche Mutter sei mein Zeuge, daß ich an einen Abgrund erst geführt wurde durch die Umstände, nicht durch meine eigene Schuld! Die Worte des heiligen Sakramentes der Ehe sagen: »Und er soll dein Herr sein!« Dies Wort, mein lieber Sohn, ist nicht allein darum gesagt, daß die Gattin ihrem Gebieter gehorsame, es ist auch darum gesagt, daß der Gebieter ihr wirklich ein Herr sei! Jede Frau hat das sehnsüchtige Bedürfniß, in ihrem Manne auch wirklich den Führer, den berathenden Freund, ja selbst in zweifelhaften und schwierigen Fällen einen befehlenden Herrn zu haben. Mir war das dein Vater nicht. Im Gegentheil, ich, ein älternloses Fräulein – Besitzthümer hatten ja die Wehrförders, mein Geschlecht, nicht und meine Erziehung war unvollständig – ich wurde der Gebieter für ihn! Nicht durch Laune oder Neigung zum Herrschen, nur durch die Umstände, die ihn unfähig machten, das Ruder selbst zu führen. Diese Asselyns sind ein herrliches, edles Geschlecht gewesen; es ist schmerzlich, daß dieser alte Friesenstamm aussterben muß – Benno kann doch nur den Namen fortführen. Franz, der Dechant, ist die Herzensgüte selbst, aber wie leichtsinnig! In seiner Jugend war er fähig die Bahnen der Geistlichen zu wandeln, die in Frankreich den Untergang der Religion verschuldet haben. Der zweite, Max von Asselyn, Benno's Adoptivvater, war ein tapferer, ritterlicher Held, ein Offizier von seltener Bravour, aber ganz so abenteuerlich, wie dies in unserm träumerisch eigensinnigen Volksstamm liegt. Was er unternahm, war befremdend. Bracht' er wol aus dem Kampf, wie andere, gerechte und nach Sitte erworbene Beute mit? Aus Spanien sah ich viele deutsche Offiziere, die dort unter Napoleon kämpfen mußten, mit mancherlei merkwürdigen Dingen heimkehren. Ein Wehrförder, Vetter von mir, brachte aus einem Kloster Bilder mit, aufgerollt wie Landkarten – er hat sie zu enormen Preisen verkaufen können. Max brachte entweder von einer Nonne oder einer – man sagt in seinen Armen gestorbenen – Geliebten einen Sohn mit – Benno, den er wenigstens sein nannte, wenn nicht in das Dunkel, das deinen Vetter umgibt, noch ein völlig anderer Lichtstrahl fällt und Max nicht einmal Benno's Vater ist. Der dritte Asselyn, Friedrich, mein Gatte, glich den andern nicht an Leichtsinn, aber an leichtem Sinn. Die Verlockung der Welt that ihm nichts, aber die Zerstreuung alles. Nichts wurde bei ihm zum festen Vorsatz; eine Sorglosigkeit, die an sich ihm liebenswürdig stand, machte ihn zum harmlosesten Kostgänger der Schöpfung. Ja, mein Sohn, was Fritz sein nannte, gehörte sogleich auch allen. Jede Schuld, die ihn drückte, bezahlte er in dem Augenblick, wo er konnte, uneingedenk, daß ihn sein guter Wille in neue Verlegenheiten stürzte. Die drei Brüder thaten ihr geringes Erbe zusammen, damit es Max bewirthschaftete. Dieser verband sich dazu mit einem jungen Oekonomen, Hedemann, einem Bauernsohn. Die Nachwehen des Kriegs waren verderblich; 1817 war ein Hungerjahr. Max starb. Die Verlassenschaft wurde von den beiden Brüdern verkauft und damit nur ein Käufer, der sich fand (es war der jetzt so heruntergekommene Rittmeister von Enckefuß) dazu erschien, borgten sie wieder selbst für diesen bei andern! So geschah alles, um hier nichts zu haben und da nichts! Nun gehört alles Unsrige hier den Münnichs. Wie gesagt, gute Menschen, diese Asselyns, aber –! Sieh, dein Vater wurde Regierungsrath. Sein Gehalt war gering. Er verschwendete wol nichts, doch die Unregelmäßigkeit seiner Berechnungen stürzte ihn aus einer Verlegenheit in die andere. Der jetzige englische Oberst von Hülleshoven, gleichfalls ein Sonderling, jünger als dein Vater, schloß sich ihm damals an, theilte ihm Liebhabereien mit, wie sie noch jetzt sein Bruder hier in den Thürmen dieses reichen Schlosses nach Wohlgefallen verfolgen kann; denn hier bezahlen die reichen Dorstes seine Thorheiten. Dein Vater ging ebenso mit Begeisterung auf alles Neue ein; er würde sich und seine Familie zu Grunde gerichtet haben ohne einen endlich denn doch wohlthuender wirkenden Freund, als jene Hülleshovens waren. Dies war Friedrich von Wittekind. Bald wurde der der Zahlmeister des Hauses. Dein Vater verwies mich selbst an ihn, um mit ihm zu rechnen! Wie sie beide Friedrich hießen, so wurden sie fast Eine Person! Dein Vater war im Stande, eine Thür zu öffnen und zu sagen: Ah, ihr seid es! Ihr rechnet! Ich störe euch? ... Wir saßen dann und rechneten in der That. Ehrgeizig war ich und mochte nicht, daß ein Makel auf unserm Hause haftete. Das, das, mein Sohn, ist ein höchst gefahrvoller Zustand für ein weibliches Herz! Ein Weib ist bedürftig der Liebe, gewiß! Aber ebenso sehr will sie auch die Werthschätzung der Menschen. Und noch mehr, sie will Hochachtung empfinden vor ihrem Mann. Die geregelte Ordnung ist für ihren Sinn etwas Unerläßliches. Ich gestehe, daß ich wohlthuend berührt wurde, wenn ich Wittekind nur eintreten sah, ihn, der damals nicht viel hatte, der mit seinem damals geizigen Vater in Kampf lebte und selbst kaum das Nöthigste erhielt, während, wie nur leider jetzt zu erwiesen ist, die größten Summen auch schon damals fortgingen, um die Folgen des frühern Leichtsinns jenes Gewaltthätigen zu verdecken; die jetzt offen liegenden Papiere seines Nachlasses gewähren grauenhafte Einblicke in seine moralischen Verschuldungen ... Kurz, mein Sohn, die Augenblicke, die ich im Anfang meiner Ehe, dich unterm Herzen, dann dich auf meinen Armen tragend, auf dem kleinen Hof Borkenhagen zubrachte, wo du geboren und getauft wurdest – Gott, noch immer steht mir der damalige Pfarrer Leo Perl, ein getaufter Jude, vor Augen! – diese Augenblicke, sag' ich, waren die glücklichsten meiner Ehe! Als diese Besitzung in andere Hände kam, ich immer in der Stadt bleiben mußte, dein Vater aus Schulden, Wuchernoth nicht mehr herauskam, wurd' ich moralisch das Weib seines Freundes, der ihm helfend zur Seite stand. Alles war Wittekind, alles entschied der. Der rechnete, der sorgte ... Reisen, die dein Vater machen mußte – Dienstreisen, weil er die damalige Regulirung der Klöster, die Einziehung herrenlos gewordener geistlicher Bibliotheken und Archive unter sich hatte – wiesen mich auf Monate ganz an Wittekind. »Laß dir doch von Fritz geben!« hieß es in den Briefen ... Guter Sohn, Asselyn erkannte diesen gefährlichen Zustand erst, als es zu spät war. Ich hatte mich an den Freund, der Freund hatte sich an mich gewöhnt. Nimm an, mein Sohn, du säßest im Beichtstuhl und hörtest das Bekenntniß einer beladenen Seele ... Denn eine Last trag' ich allerdings, eine schwere Last, eine kummervolle, die mir die Ruhe meiner Nächte raubt! ... Ach, Asselyn entfernte sich ohne Zweifel doch nur deshalb – – um den Freund und die Gattin glücklich zu machen. Fast muß ich ja glauben, daß der Gute, um uns in unserm Bund nicht zu hindern, sich selbst den Tod gegeben hat!

Die vielleicht noch größere Strafe, der Mutter zu sagen: Und wenn der Vater noch lebte? Wenn ihn soeben Gräfin Paula im Thal von Castellungo als Eremiten und den Freund glücklicher Hirten und Ackerbauer gesehen hätte? ... Bonaventura besaß nicht den Muth, diese Strafe der Mutter aufzuerlegen, so sehr ihn die klare, schneidende, vernunftbewußte Selbstrechtfertigung der noch jetzt anmuthigen Frau herausforderte, so sehr ihm wieder jetzt der Vater entgegentrat in der ganzen Liebenswürdigkeit seines träumerischen, von dieser Gattin gewiß nie verstandenen und sicher so nicht, wie verdient, beglückten Sinnes ... Doch auch die Schwäche besaß er nicht, der Mutter die Vorstellung etwa von einem Selbstmord des Vaters ganz auszureden. Und sie schien es sogar gern zu hören, daß sein Vater, wenn auch durch Selbstmord – wirklich todt war. Meinst du nicht? fragte sie halb zagend, halb zuversichtlich ...

Ich glaube es! war seine Antwort ...

Die Mutter stand auf. Ihre Haltung schien sagen zu wollen: So müssen wir uns Fassung geben, eine Genugthuung durch die Religion!

Die umsichtige Frau bat den Sohn, doch einige Tage auf Schloß Neuhof zuzubringen, sich inniger dem Präsidenten anzuschließen, ihre Aussöhnung mit dem Geist der Gegend zu bewirken, die Opferspenden zu vermitteln, die auch sie bereit wären überall zu geben, wo dadurch ihr guter Wille in das rechte Licht träte ... Endlich sagte sie noch:

Wittekind wird mannichfachen Rath und Beistand in seinen verwickelten Angelegenheiten bedürfen. Er war zweifelhaft, ob er sich deshalb an Benno wenden sollte! Ich rieth ihm dazu! Dein Urtheil zöge er aber vor, sagt er ... Wer ist hier dieser Herr von Terschka, von dem ich soviel reden höre?

Der Bevollmächtigte des Grafen Hugo von Salem-Camphausen, des Erben der Güter der im Mannsstamm ausgestorbenen Dorstes ...

Ein geschäftskundiger, kluger Mann hör' ich ...

Ein vielseitiger, gewandter wenigstens ...

Es rühmte ihn uns ein Jude, ein Gütermäkler ... Ich höre, Benno macht den letzten Versuch, die Rechte des Grafen Hugo anzuzweifeln ...

Nur möglich das, wenn eine Urkunde entdeckt würde, die dem Dorste'schen Familienstatut Kraft erst geben soll, wenn die Erben unsere Religion bekennen ... Sie fehlt und wahrscheinlich nur deshalb, weil sie niemals ausgestellt wurde ...

Es sind viele Urkunden in jener Zeit verschleppt worden, als nach Uebergang dieser Lande in westfälische und dann in unsere Herrschaft, die geistlichen Stifter und so viele Klöster eingingen! War zufällig ein Pergament besonders schön geschrieben, so schickte es dein Vater in das Museum der Hauptstadt, in die Bibliothek des Königs ... Dort fand ich schon manchen herrlichen Schatz wieder, den dein Vater uns vor Jahren gezeigt hatte, wenn er aus Witoborn oder sonst einer geistlichen Gegend heimkehrte ...

Bonaventura's Gedanken mußten jetzt wol auf Bickert gerichtet sein ... Zwei drückende Vorstellungen: Die gefälschte, bei einem Brand vielleicht hier, auf diesem Schlosse einzuschleppende Urkunde und Lucindens Eroberung aus dem Sarge in Sanct-Wolfgang! Beichtgeständnisse, die er nicht verrathen durfte ... Sie machten ihn zum Mitleidenden – zum Mitschuldigen ...

Die Mutter sah seine Abwesenheit ... Sie bemerkte mit gedämpfter Stimme:

Besonders ist Wittekind in eine Sache verwickelt, die nur innerhalb der geistlichen Sphäre bleiben soll! Ich kenne sie selbst nicht vollständig. Sie hängt mit einer großen Verirrung des Kronsyndikus zusammen und reicht in ihren Folgen sogar bis nach Rom. Auch der Onkel Dechant zu Kocher am Fall soll dabei eine Schuld zu tragen haben. Oft hab' ich schon gedacht: Hinge wol Benno's Herkunft damit zusammen? Aber wie er als Kind schon nicht dem Onkel Max ähnelte, so noch weniger dem Onkel Franz – Wittekind schüttelt darüber vollends den Kopf ... Nun, ich werde ja auch Benno wiedersehen und mit ihm plaudern! ... Wir müssen wol jetzt zur Gesellschaft, Bona! Ich erbebe, die junge Gräfin zu sehen, die so seltsame Zustände hat! Eie lag eben jetzt, wie ich höre, im Hochschlaf? Ich zittere vor Beklemmung! Was sah sie nur?

Ein Bild der Phantasie! sprach Bonaventura mit stockendem Athem zu der schon ganz in das gewohnte Gleis ihres Lebens wieder zurückgekehrten Frau. In Gedanken verloren hatte er der letzten Rede seiner Mutter schon nur noch halbe Aufmerksamkeit geschenkt und nur zur Andeutung, daß Benno des Dechanten Sohn sein könnte, gelächelt ... Mutter, hätte er fast gesagt, wie wenig würde Der Anstand genommen haben, Benno die frischen Wangen zu klopfen, ihm seinen schwarzen Bart und sein lockiges Haar zu zupfen und zu sagen: Junge! »Nichten« haben wir genug in der Dechanei gehabt, aber noch nie einen so echten »Neffen«, wie du bist! Das ist eine falsche Fährte! ... Nun aber gingen beide aus dem Zimmer und wandten sich nach vorn ...

Die Mutter hing sich in den Arm ihres Sohnes. Man sah, daß sie äußerlich beide sich angehörten. Den Wuchs und die hohe Gestalt hatte Bonaventura von dieser klugen und vorsichtigen Frau; das Herz vom Vater ...

Sie sagte: Mein Heiliger! zu ihm, lächelte und trat mit ihm in den Vorsaal.

Die Vorstellungen und Begrüßungen währten eine Weile und dann zerstreute sich alles ...

Bonaventura blieb zum Mittag ... Paula erschien wieder als wäre nichts gewesen ... Onkel Levinus und Tante Benigna wurden inzwischen von einer andern Gedankenreihe in Anspruch genommen und thaten geheimnißvoll. Frau von Sicking hatte ihnen geschrieben. Sie hatten viel geflüstert und gerade am meisten, wenn Armgart nicht im Zimmer war. Diese merkte dann bald, daß etwas auf sie Bezügliches im Werke war. Als sie den Namen der Stiftsdame Tüngel-Appelhülsen flüstern hörte, die sich der Bekanntschaft mit ihrer Mutter rühmte – sie war die zweite Partie, die Jérôme von Wittekind hatte machen sollen und war damals nur durch den Calfactor »Türck« und den Zorn ihrer Mutter über ein verdorbenes Kleid darum gekommen – sagte sie geradezu: Meine Mutter ist da! Die Tante fuhr sie darüber heftig an. Sie schwieg. Jetzt bekam auch Terschka durch einen Expressen aus Witoborn einen Brief und empfahl sich so rasch, daß er nicht einmal bis zum Ende des Mahls blieb. Armgart saß darauf wie besinnungslos. Noch ehe die Tante sich zu ihrem »Nicker« eingerichtet hatte, war sie verschwunden. Lange nach ihr zu suchen war man nicht gewohnt. Fehlten ihr vielleicht noch zu ihren »Vielliebchen« Nähseide oder Perlen, so ging sie, wußte man, zu Fuß nach dem Stift und scheute die einsamste Wanderung von fast zwei Stunden nicht. Onkel und Tante fuhren nach dem Kaffee in der That mit eigenthümlichem Geheimthun zu Frau von Sicking und ließen Bonaventura mit Paula allein ...

Allein – Paula und Bonaventura –

Allein, allein – zwei Seelen, die sich lieben!

Allein, allein –! Wenn auch der Liebe Ja,

Wenn stumm der Liebe Frageblick geblieben –

Allein, allein – doch ist der Himmel da!

Bei allen andern würde es nach Jahren geheißen haben: Weißt du noch, damals an jenem Nachmittag – im grünen Zimmer? – Wir sprachen vom Wetter, besahen Kupferstiche – da rief ich plötzlich: Himmel, wie voll die Hyacinthen blühen! ... Ich zählte ihre Glocken, weil ich Angst hatte, daß wir uns beim Besehen der Bilder zu nahe anstreiften! Und ich glaube gar, ich stellte mich dennoch kurzsichtig, nur um mit der Stirn dein goldenes Haar zu berühren! ... O, wie Feuerglut war es in meinem ganzen Sein – und du, du wußtest, jetzt ist der Stoff erschöpft, jetzt ist die Unbefangenheit beim Gespräch vorüber – beim Gespräch über was nicht alles, ich glaube über die alten Krater feuerspeiender Berge bei Kocher am Fall, über die byzantinische Baukunst, über die Philosophie Püttmeyer's! Gleich hattest du etwas anderes; auf die Musik die Bücher, auf die Bücher die Natur, auf die Natur die eben hereingebrachten Zeitungen! ... Und du erschrakst nicht einmal, als vom Diener an die Thür geklopft wurde ... So tändelten wir den Tag hin bis zum Abend, bis zur süßesten Dämmerstunde, wo endlich mein Auge kein anderes Licht begehrte, als das in deinen Augen strahle, endlich ich auch das so tollkühn sagte, ganz so vom »Licht in deinen Augen« ... Da erbebtest du, brachst zusammen und trotz all deiner List und Fassung lagst du in meinen Armen! ...

Armer Priester! ... Diese Stunde schenkte dir wirklich der Himmel! Er gab sie in ganzer, seligster Fülle! Er rief auch an diesem Nachmittage Paula nicht in die Sterne zurück, ließ sie nicht wachend träumen, nicht mit geschlossenen Augen sehen ... Sie blieb auf der Erde, in deiner Nähe, im lebendigsten, wärmsten Anhauch deines Athems – und du erstauntest sogar, daß Paula nicht entschlummerte, obgleich deine Hand an ihrem seidnen Kleide hinfuhr, oft auch – zufällig? – wirklich sie selbst berührte ... Du durftest dir sagen: Dir, dir ist sie beschieden! Du würdest sie durch die Liebe erlösen können von den magischen Banden, die sie gefesselt halten! ... Gott wollte die Ehe und gerade die Deine mit ihr! ... Alles, alles traf zu ... Auch bis zur Abenddämmerung, bis in die erste Stunde nächtlichen Dunkels hinein hattet ihr das volle selige Glück des Alleinseins ...

Und dennoch, du armer Levit, was durftest du wagen? Was zu gewinnen hoffen? ... Gingst du am Flügel vorüber und lehntest die Epheuranken zurück, die den goldgerahmten Spiegel beschatteten, so sahst du deinen langen Priesterrock! ... Sahst du in die geöffnete Kupferstichmappe und prüftest das Zeichen des alten Meisters, das unter dieser Radirung, unter jenem Holzschnitt versteckt und unleserlich stand, so mußte dir erinnerlich werden, daß Paula an deinem vorgebeugten Haupte bemerkte, wie die Schere dir die Mitte deines schönen Haares geraubt! Dem Schicksal konntest du sprechen: Des reinen Herzens Natur ist es, nicht alles zu wollen und viel entbehren zu können; aber auch zu grausam nimmst du, o Verhängniß, uns beim Wort und gewährst uns wirklich nichts! ... Paula's Wesen mußte Bonaventura ohnehin zu entweihen glauben durch eine zu stürmische Werbung. So unterblieb alles ... Situation und Wille, Charakter und – die Liebe selbst schmiegte sich unter die Tyrannei des Gelübdes.

Und doch allein, allein – zwei Seelen, die sich lieben! .. Wie bestrickend schon, wenn sich Paula selbst beurtheilte über das, was die Welt an ihr so voll Andacht bewunderte! Sie hätte eine Heuchlerin sein können und sie war es nicht. Sie hätte eine Despotin sein können und sie war es nicht. Sie war willenlos, eine durch sich selbst und andere Gefangene. Und so galt ihre Liebe Bonaventura auch nur, wie ein Priester sich lieben lassen darf – in Andacht, in geistiger Schwärmerei ... Sie hatte – wie diese Erziehung ist, die von Schiller und Goethe nichts weiß – nicht viel gelesen, nicht viel gesehen. Sie konnte über ihren Kreis hinaus an schwierigen geistigen Dingen nicht lange theilnehmen; sie stand bescheiden zurück, allem Höheren im Zustand jungfräulicher Ueberraschung zugewandt. Aber diese Weise stand ihr hoheitsvoll. Zu ihren Füßen sproßten Lilien, ihr Haupt trug eine Himmelskrone, ihre Schultern bedeckte ein langer, himmelblauer Mantel mit goldenen Sternen. Sie wußte nur das alles nicht von sich selbst. Sie konnte lachen und weinen mit Armgart, sie konnte furchtsam sein wie Tante Benigna, sie konnte mit dem Onkel Levinus an die Möglichkeit, Gold zu machen, glauben. So lebte sie hin ... Nun aber mit Bonaventura's Nähe wuchs ihre Kraft. Sie fing an, sich über sich selbst Rede zu stehen. Seit seiner Ankunft trat sie in allem und jedem mit festerm Willen auf. Das zu wissen beglückt ein zagendes Herz ohnehin und gibt ihm Muth, sich über das Geheimste wahr zu sein ... O wie die Liebe so stark macht! ... Paula fühlte es mächtig ... Sie hätte heute vielleicht zu ihrer Absicht, ins Kloster zu gehen, gedankenlos nein und sogar – ja! sagen können. Sie konnte alles, konnte selbst ein Gelübde ablegen und vielleicht es – betrügen, wenn nur Bonaventura sie an sich gezogen und mit einem Kuß ihr den Muth – seines, seines Lebens gegeben hätte.

In diesem stillen Zimmer, durch dessen Scheiben eben das Abendgold floß, unter diesen Epheuranken, deren grüne und welke Blätter den Priester an einen andern Abschied, den von Lucinden, erinnern mußten, über die Saiten eines geöffneten Flügels hin, dessen Resonanz von jedem durch die Zimmerwärme noch am Leben erhaltenen Insekt leise erbebte – standen sich zwei Menschen gegenüber, die die Natur zum gegenseitigen Besitz bestimmt hatte. Gregor VII. hielt den Arm dazwischen. Wo ist denn nun bei dieser eurer Satzung des Cölibats die Verklärung der Weiblichkeit, sie, die doch die Marienbilder in der aufgeschlagenen Kupferstichmappe verherrlichten, diese Bilder, die Bonaventura, Lucinden gegenüber, selbst einst so begeistert gedeutet hatte! Verunreinigt wird der Priester vom Weibe? Sein Opferdienst am Altar in den gestickten Kleidern vergangener Jahrhunderte macht ihn geschlechtslos? »Die Eunuchen des himmlischen Hofstaates sind wir!« sagte ihm oft schon der Onkel Dechant. »Trügen wir eine reine Liebe zu einem Weibe im Herzen, unsere Hand würde ja unrein, den Kelch zu berühren! Unrein, um die Oblate zu segnen! Die Nähe des Weibes zerstört die Kraft des Opfers! Und wenn wir auch gestern beichteten, daß wir die thierische Natur mit aller Entfesselung der Leidenschaften in gemeiner Berührung austobten: diese Sünde ist uns heute vergeben. Nur keine reine, nur keine dauernde, offene Liebe zu einem Weibe im Herzen und so an den Altar getreten! Gatte, Vater – wie kann eine solche Hand noch die Geheimnisse der Wandlung vollziehen! Frauenwürde, so denkt – Rom über dich!« ...

Eines der Marienbilder nach dem andern vergegenwärtigte Bonaventura den Abschied von Lucinden ... Paula hatte schon öfters nach ihrer frühern Gesellschafterin gefragt, Bonaventura hatte einsilbige Antwort gegeben ... Benno, Thiebold und Terschka rühmten sie ... Jetzt glich ihr eine der von den Künstlern meist so willkürlich erdachten Madonnen und Paula sagte dies auch ...

Bonaventura blieb die Antwort schuldig ...

Paula fuhr fort:

Denken Sie sich, wie ich damals nach Westerhof zurückkehrte und von Lucinden sprach, kannte sie ja hier jedermann! Ja ich selbst hatte sie schon als Kind gesehen, wie sie auf Neuhof wohnte und eines Tages dort auf einem goldenen Kahne ruderte! ... Als die Leute lachten, flüchtete sie in einen Taubenschlag! ... Sie wußte, daß ich aus dieser Gegend war, und nie verrieth sie ihre Bekanntschaft mit dem Kronsyndikus oder mit dessen Sohn oder mit dem Landrath oder mit dem Mönche Sebastus, dem jungen Doctor Klingsohr, der um ihretwillen, sagt man, die Religion wechselte und ins Kloster ging ... Sie ist jetzt in Ihrer Stadt und – Sie sehen sie oft?

Ich lebe nur für dich, Paula! ... In Bonaventura's Herzen riefen das tausend Stimmen ... Die Lippen sagten nur:

Zuweilen seh' ich sie!

Arglos fuhr Paula fort:

Auch sie war damals erst katholisch geworden! Alles das wußte niemand! Aber hatt' ich Furcht und Angst vor ihr! Wissen Sie noch, als ich Italienisch mit ihr lernte, da konnte sie Latein –!

Du aber sprichst in Zungen der Engel! riefen wieder die Stimmen; Bonaventura nickte nur still bejahend ...

In der Mappe sahen beide einen Holzschnitt der altdeutschen Schule, wo Jesus im Hause des Lazarus weilt und Maria Magdalena ihm die Füße wäscht ... Dies kleine Bild, voll Wahrheit und Lieblichkeit, ließ beide eine Weile verstummen ... Beim Umschlagen der Blätter ruhte ihre Hand dicht, dicht an der seinen ... Er fühlte die elektrischen Tropfen, von denen Paula im Schlafe behauptete, sie glitten ihr aus den Fingern und verlöschten auf dem Boden. Ihm verlöschten sie im Blut seines Herzens. Warum ergriff er nicht die sanfte, weiche Hand? Warum stieg er nicht auch mit ihr in den goldenen Nachen des Ideals, auf dem sie würdiger ruderte, als Lucinde! In ein »Taubenhaus« hatte diese sich geflüchtet!

Paula sagte:

Wissen Sie wol, daß ich oft Sehnsucht habe, Lucinden wiederzusehen? Ihr Geist war oft hart und grausam, aber stark. Sie konnte Muth einflößen, wie ein Mann. Auch unterbrach sie mein Leiden und ließ mich dann sein wie andere sind ...

Aber mit den größten Schmerzen! schaltete Bonaventura ein ...

Ich litt dabei, das ist wahr! sagte Paula. Die Aerzte meinten: Sie hob die Nervenströmung auf. Ich hatte tödliche Schmerzen in ihrer Nähe! Alles that mir wehe – jedes Wort, jede Bewegung von ihr! Aber ich sehne mich doch – ach! – so heraus aus diesem – Doppelleben!

In das Eine, Eine Doppelleben der Liebe! ...

Die Stimmen wieder sprachen auch das ... Die Arme thaten sich auf, um Paula zu umfangen, sie an sich zu ziehen ... Und doch sprach Bonaventura nur schüchtern:

Was bekümmert Sie jetzt daran?

Sonst schon war es Paula's Klage: Der Hochmuth! Die Selbstüberschätzung! Auch jetzt wiederholte sie diese »Furcht vor sich selbst« ...

Bonaventura sprach:

Stolz sein auf das, was uns die Vorstellung einer größern Vollkommenheit unserer selbst gibt, das ist keine Sünde. Jesus nannte sich – den Sohn Gottes! Aber – auch Trübsale werden Sie haben! Wissen Sie, daß Ihre heutige Vision Anstoß erregte? Als ich mit meiner Mutter zur Gesellschaft zurückkehrte, war man befremdet, wie Sie mit Theilnahme bei einem Bilde verweilten, wo Sie einen Gottesdienst sahen, bei dem der Kelch – von Allen getrunken wurde! ...

Was sah ich denn? fragte Paula träumerisch und erhob geisterhaft ihr Haupt ...

Herr von Terschka behauptete, einen Eremiten, der in der Nähe des Schlosses Castellungo die Landbewohner zu einem Gottesdienst versammelt, der dort wahrscheinlich unter dem Schutz der Gutsherrin, der Gräfin Erdmuthe, wirklich gehalten wird ...

Ich verweile oft bei jenem Schlosse! sagte Paula ... Man hat mich schon gefragt, ob ich nicht in Salem, nicht in Castellungo eine Urkunde entdecken könnte, die so emsig von den Feinden der Salems-Camphausen gesucht wird ... Benno erzählte davon; auch Terschka, obgleich dieser es nur mit leicht erklärlicher Zurückhaltung that ... Noch immer wird diese Urkunde gesucht ... Der Procurator Nück hat an Benno geschrieben, er möchte in Gegenwart Terschka's und des Onkel Levinus noch einmal die Archive von Witoborn und Westerhof durchsuchen lassen ... Beide sind auch bereit dazu ... Und so verläßt mich, seh' ich, die Angst der Seele selbst in meiner Traumwelt nicht. Sie zeigt mir wider Willen die Gegenden, wo – mein Schicksal entschieden wird ...

Ihr Schicksal? Paula! Welche Zukunft fürchten – Fürchten? Hoffen Sie? ...

Diese Worte sprach Bonaventura wirklich. Sein Innerstes wogte im Brand der Liebe und – der Eifersucht ...

Nichts, nichts mehr hielt er zurück von der Saat seiner Thränen, die ausgegangen war seit Jahren in den einsamen Stunden der Nacht und der Verzweiflung ... Seine Augen leuchteten ... Seine Arme hoben sich ... Ein Frühling des reinsten, göttlichsten Menschenthums schien um ihn her zu blühen und zu sprießen ... Er bebte ... schwankte ...

Und auch Paula zitterte ... Eben noch waren ihre tiefblauen Augen aufgeschlagen und blickten gen Himmel, den Augen einer Seherin gleich ... Jetzt senkten sich die langen schwarzen Wimpern ...

Aber ach! nur Katharina von Siena war es, die Heilige, die vor Bonaventura stand ... Sein zages, nazarenisches Herz erinnerte sich schon wieder: Dieser Blick gilt dem Himmel, dem Kloster! Er gilt deinem Stande! ...

Doch nur einen Augenblick beherrschte er sich so ... Bald fühlte er neubelebende Wonne ... eine Wonne seltsamster Glut, seltsamster Gedanken, seltsamster – Verirrungen sogar! Franz von Sales, der Heilige, stand vor ihm, vor dem ja auch einst eine Frau von Chantal kniete ... Eine Gattin, eine Mutter verließ ihre weltlichen Lebensbeziehungen, um dem Heiland zu dienen, dessen – einziger Apostel ihr dieser Bischof von Genf erschien! Und auch dieser nannte sie seine Philothea! Wo ist die Grenze der göttlichen Andacht und der Anfang menschlicher Liebe in den Briefen, die sie sich geschrieben haben? Ihr Gebet ging vielleicht wirklich empor zu Gott, doch sie beteten zusammen! Sie stiftete ein Kloster, er hütete es ... Sie starb, Franz von Sales segnete den Sarg ... sein Inhalt verweste nicht ... nach hundert Jahren öffnete man ihn ... da war alles Asche ... nur das Herz war unversehrt geblieben ... Dies Herz ... Kann es geirrt haben in jenem Irrthum? ... Gelogen in jener Lüge? Paula, Paula – meine Sinne schwindeln – solltest du mir wirklich vielleicht gehören können gerade, gerade – durch den geistlichen Stand? ...

Das war ein furchtbarer, frevelnder, romgeborener Gedanke ... ein Gedanke der Sünde, der Lüge gegen Natur und Gelübde ...

Aber dieser Gedanke – und sollten die Donner um ihn her rollen und Blitze zucken – durchzitterte ihn doch ... Seine Pulse flogen, seine Lippen bebten ... schon wagte er das bedenklichste aller Worte, das er in solcher Stimmung nur sprechen konnte:

Paula – wenn sich – die Urkunde – fände – wenn Sie dann, wie man allgemein glaubt – sich entschließen müßten – wirklich Ihre Hand – einem Manne zu geben – der doch nur – aus Standesrücksichten –

Paula hatte diese Worte eben abwehren wollen ... Sie wollte sie abwehren fast wie verkörperte Wesen, die schon eine Handbewegung zurückstoßen konnte ... Sie hielt, am geöffneten Flügel sich mit der Rechten haltend, die Linke dem Sprecher, dessen Athem schon ihren Mund berührte, bebend entgegen ... ein Moment noch und der Bund der Herzen war geschlossen ... ein Abgrund geöffnet, der Vorhang seines Allerheiligsten zerrissen, der »Bau der Kirche« zertrümmert ...

Da trat eine Störung ein ... Draußen gingen lebhaft aufgerissene Thüren ...

Jetzt erst erkannten beide, daß es um sie her völlig Nacht geworden war ...

Armgart trat stürmisch herein ... Sie kam im Hut, mit Pelzüberwurf, von der frischen Luft wie ein rosiger Apfel geröthet ... Sie war zwei Stunden Weges nach Heiligenkreuz zu Fuß gegangen und schon wieder zurück ...

Hinter ihr her kam Terschka ... gleichfalls in einem Pelzrock, den ein grünes Schnurwerk zierte ... Sporen klirrten an seinen Füßen ... er riß eine Jagdmütze ab ...

Terschka hatte, das erfuhr man, Armgart auf Heiligenkreuz, wohin gerade auch ihn jener Brief aus Witoborn abgerufen hatte, angetroffen und sie wieder zurückbegleitet – zu Fuß – über den gefrorenen Schnee hinweg ... Sein Roß mußte erst der neu angenommene Dionysius Schneid (dem sein Verkehr auf dem Finkenhof eine ernstliche Verwarnung zugezogen) aus Heiligenkreuz zurückholen. Terschka hatte es stehen lassen, weil er nicht neben Armgart reiten mochte, während sie zu Fuße ging. Sie erklärte, ihn unterwegs sprechen zu müssen; sie war in einer unbegreiflichen Aufregung. Auch das Fräulein von Tüngel-Appelhülsen war in der That bei Frau von Sicking ... Es geht etwas vor! sagte sie sich ... Es geht etwas vor! wiederholte sie drohend ... Sie wollte wieder nach Westerhof zurück. Da hieß es, Thiebold wäre noch im Stift und könnte sie begleiten ... Nun erst recht hätte sie nicht bleiben mögen ... So ging sie mit Terschka, der gekommen war, mit dem Verwalter einige dringende Rücksprachen zu nehmen ... Hätte Terschka gesagt: Setzen wir uns doch beide aufs Roß und jagen nach dem Schloß der Frau von Sicking! – sie hätte es gethan ... Daß sie ermüdet wäre, unmöglich den Weg zu Fuß machen könnte, wollte sie nicht hören ... Terschka erzählte alles das jetzt wieder, erzählte es dem überraschten Paar und war dabei in einer Aufregung, die beiden nicht entgehen konnte, und übersah die ihrige ... Armgart verschwand auf ihrem Zimmer ... Alles das bemerkte auch Bonaventura, begriff es aber nur halb; ihm fehlte jede Sammlung; selbst mußte er entfliehen ... Zwei Worte noch an Paula, die ihn mit holdseligst verlegenem Lächeln, mit jener Vertraulichkeit wie für alles, was ein Weib auf Erden und im Himmel dem Manne nur sein kann, ansah, und er war verschwunden.

Hinaus stürmte er in die schon hereingebrochene Nacht ... Nichts von einem Wagen, dessen Anerbieten man ihm nachrief, hörte er ... Schon war er unten an der Hauspforte ... Wie die eisige Luft seine heiße Wange streifte! Wie er fast die Locken, die er sonst trug, noch im Winde flattern fühlte! ... Ein Geist des Trotzes, der Herausforderung an die Ordnung aller Dinge war über ihn gekommen ... Er hätte das Geländer der kleinen Brücke einreißen mögen, an das er sich halten mußte, als er den hartgefrorenen, glatten Weg beschritt ... So flog er dahin ... Erst allmählich wurde es in ihm ruhiger ... Jetzt hätte er Musik hören mögen, rauschende, vollgestimmte – allmählich würde ein einziger süßer, sanfter und wenn den Tod bringender Accord seine ganze Empfindung ausgedrückt haben ...

So kam er im Pfarrhause an. Es war tiefdunkel; sein Zimmer nicht erwärmt; Müllenhoff nicht anwesend. In dessen Zimmern wartete er so lange, bis oben bei ihm die erwärmende Flamme loderte ...

Wie todt standen doch die Bücher da an den Wänden! Wo er hinsah, war von Strafe, vom Kirchenbann die Rede ... Er hörte im Geist das schütternde Gelächter Müllenhoff's, wenn er seinen eigenen Einfällen applaudirte, und lachte selbst ... Er hörte, wie ihn sein College jetzt nennen würde: Salonschlupfer, Lavendelseele ... Er lachte ... »Lieber können sechs Straßenlaternen eingehen, als ein ewiges Licht in einer Kapelle!« Das war heute früh ein Müllenhoff'sches Wort gewesen, das ihm beim Schimmer der ihm jetzt vorangetragenen Lampe einfiel ... Er lachte ... Und oben, oben in seinem Zimmer fand er zu seiner glückseligsten Ueberraschung dann einen Brief – aus Kocher am Fall – vom Onkel Dechanten ...

Nie noch hatte er so nach den geliebten Zügen gegriffen ... Nie noch war ihm so viel Musik entgegengerauscht und so viel Duft entgegengeweht, wie heute aus dem feinen Papier, aus den zierlichen halb arabischen Buchstaben dieser Handschrift, aus dem langen, reichen Inhalt ... Wie beglückend stimmte das alles zu dem Bilde Paula's, das nicht von seiner Seite wich ... Die Magd brachte den Thee ... Die Lampe verbreitete einen tieftraulichen Schimmer (Lampe, Service, Sofa, alles kam von Schlössern und Höfen der Umgegend und war von ausgesuchter Gediegenheit) ... Paula saß neben ihm im Geiste und sprach mit ihm im Geiste und ihr Schatten huschte an den Wänden geschäftig sorgend hin und her; er hatte eine Geisterehe geschlossen ... Als er allein war, sprach er leise mit seinem Weibe, redete es an und sagte: Paula! Meine süße, süße Paula! ... Dann schlug er sich an die Stirn, aber so sündigte er fort und fort – er hörte nicht auf an sie zu denken, ihrem Athem zu lauschen, ihre Hand zu streifen, hinaus in die Luft, ins Leere Küsse zu geben – was sollte ihn denn erschrecken, jetzt, wo er die Dechanei um sich hatte, des Onkels Devise hörte: »Ich mach's doch so leicht!« Die grünseidenen Decken und Gehänge in dem Arbeitszimmer der Dechanei sah er; die sanften Rollenthüren gingen, wie wenn Frau von Gülpen eintrat oder Windhack einen Besuch oder eine Constellation des Himmels meldete ... Er las – las, wie wenn eine neue »Nichte« ihm und dem Onkel Klavier spielte ...

Lieber Alter! schrieb der Onkel. So bist Du denn auf dem Schauplatz Deiner ersten Jugend angekommen und grübelst vielleicht, ob in den alten Kirchenvätern das Schlittschuhlaufen verboten ist! Ich habe Dich sonst oft genug auf dem Ententeich zwischen Borkenhagen und Westerhof dahingleiten und unserm alten Friesenursprung durch graziöse Zickzacks Ehre machen sehen – Nun siehst Du, die Apostel wußten nichts von zwanzig Grad Kälte, wie konnten sie vorschreiben, ob ein junger Domherr Schlittschuhlaufen darf u.s.w. u.s.w. Sage nur: Wie platt, wie rationalistisch oberflächlich ist das wieder! Gut! ... Ich beneide Dich zuvörderst um diese Triumphe, die deine Rechtgläubigkeit feiern wird, vorzüglich unter denen Weibsen! ... Fühlst Du's denn endlich, wie schön diese Veranstaltung Gottes ist, daß es Wesen gibt, die an der ganzen Weltgeschichte unbetheiligt bleiben und Alexander, Julius Cäsar und Innocenz III. nur auffassen unter dem Gesichtspunkt, ob solche Leute den Kaffee theurer machen, die Verlobungskarten seltener, die laufenden Moden durch plötzliche Trauergarderoben unterbrechen und dergleichen? Bewundere diese Geistesgegenwart, mit der mitten in unsern Schmerz hinein und während die Männer noch ohne jede Sammlung stehen, die Frauen schon wieder bei einem Sterbefall ihr schwarzes Seidenkleid bestellt haben! Sieh, so haben mich die jugendlichen Regungen meiner Petronella in Erstaunen versetzt, die zwar von ihrer leiblichen – lies nicht etwa: lieblichen – Schwester nichts geerbt hat, aber dennoch »Schanden halber« bereits in das zweite Stadium des äußern Schmerzes, in den grauen mit Violettschleifen eingetreten ist! Studire Weltgeschichte im Stift Heiligenkreuz! Zwanzig weibliche Wesen, die ohne Zweifel Deine Heiligkeit bewundern und vielleicht auch Dich endlich an die Wahrheit des Satzes erinnern werden: Mulier est hominis confusio!

Ich sehe Dich aber auch, lieber Sohn, wie Du Dich endlich aus Blumen und gestickten Tragbändern und Portefeuilles herauswindest und wieder Deinen feurigen Wagen des Elias besteigst, zunächst die Stufen des Altars und der Kanzel zu Sanct-Libori, dann wol auch die Treppen zu den Regierungscollegien, wo Du – »Gutes wirken« willst! Ach, mag Dir's dabei nur nicht so ergehen, wie mir damals, als ich wirklicher Dechant war und ein lutherscher Regierungsrath mir unter eine Rechnung für Oel, Wachs, Wein und Salz beim Salze regelmäßig beischrieb: »Ich frage wiederholt: Gehört denn in die Cultusrechnungen auch die Naturalverpflegung der Herren Pfarrer?« Wußte der Kerl nicht, daß zu unsern Taufen Salz gehört! Er glaubte, die Rechnung der Köchin hätte sich in die für das Cultusministerium verirrt. Ich schrieb damals an den Rand: »Salz ist ein gutes Ding; so aber das Salz dumm wird, womit soll man würzen! Lucä 14, 34.« – Du freilich wirst durch solchen »Druck« auf unsere »arme« Kirche nicht zum »Rechtgläubigen wider Willen« gemacht werden; denn nur Römlinge sehen nicht ein, welche verbesserte, wahrhaft glänzende Lage gegen früher wir bei alledem in partibus infidelium haben ... Doch nichts vom Kirchenstreit! Was sagst Du zu dem noch immer unter polizeilicher Aufsicht stehenden Hunnius? Neulich rief er vor einer Gemeinde, die leider nicht die zu Sanct-Hedwig in Berlin war, sondern nur die Stadtkirche in Kocher am Fall, sage die Stadtkirche in Kocher am Fall!: »Sanct-Paulus war seines Zeichens ein Teppich-, kein Schleier-Macher!« Diese seine Anspielung auf Professor Schleiermacher in Berlin fiel natürlich bei uns ganz auf den Weg.

Bona, ich warne Dich nur, Deinem Diöcesanklerus nicht etwa in jugendlicher Begeisterung Conferenzen vorzuschlagen, schriftliche Arbeiten zum Circulirenlassen, Lesecirkel, eine Archipresbyteriatsbibliothek und ähnliche Reformphantastereien, die uns arme Einsamkeitsschlucker und Trübsalbläser erheben, zerstreuen und bilden sollen! Du dringst damit nicht durch! Stelle Dich blind und taub für alles, was Du sehen und hören wirst! Unsere Kirche bessert sich einst, aber nur durch große Revolutionen. Bis dahin emancipire sich ein jeder für sich, mache sich zu einem kleinen Privat-Pantheon der gesunden Vernunft und soll ich Dir rathen, suche Dir in Witoborn höchstens nur die allerältesten Priester heraus, alte säcularisirte Benedictiner, einen alten Kapitular, der vielleicht ein armseliges Zimmerchen im Seminar bewohnt, nur um seine Einkünfte für ein paar Schwestern zu sparen. Da wirst Du vielleicht noch einen oder den andern Menschen finden von Gemüth, von herzverklärtem Geist, von lieben alten plauderhaften Erinnerungen an eine Zeit, wo Lessing seinen »Nathan« auch für uns gedichtet hat und mancher junge katholische Priester lieber eine schöne luthersche Predigt von Spalding und Reinhard ablas, als selbst eine viel weniger schöne schrieb. Da ist im alten Jesuitenstift ein Gang, wo alle Generale der Jesuiten abgebildet sind! Sieh sie Dir an! Einer schaut pfiffiger aus, als der andere; die Spanier sind besonders schlau, die Deutschen von einer kläglichen Unverbesserlichkeit, sämmtlich, wie es scheint, aus der dümmsten Gegend Deutschlands, aus dem Innviertel; nur einen sieh Dir recht an, der hat eine furchtbar lange Nase, scheint mir jedoch der gutmüthigste von allen. Die Nase ist ganz nur die Ablagerungsstätte für die Schnupftabacksdose. So sah der alte Rector dort aus, als ich bei Witoborn lebte und ein alter lieber Freund von mir, ein ehemals jüdischer Gelehrter, den ich in Paris kennen gelernt hatte, dort convertirte und ins Seminar trat ... A propos, solltest Du unsern harmonietrunkenen Herrn Löb Seligmann von hier sehen: die Hasen-Jette läßt ihn grüßen und von seinem Davidchen anzeigen, daß dessen Beine sich stärken und sein Geist von Tag zu Tag dem des jungen Samuel ähnlicher wird ... Findest Du unter den Priestern einen solchen kleinen alten dicken Mann mit langer Nase und einer Schnupftabacksdose in der Hand, dann grüß' ihn von mir, er kennt mich gewiß. Der alte Rector freilich ist jetzt todt ...

Sonst – wenn Du arme Kaplane siehst, für die das Wort Stolgebühren bisher nur erst im Examen vorgekommen ist und die am »Freitisch« bei ihrem Pfarrer verhungern müssen, nun, immerhin, lege für mich aus, Bona, falls Du auf anständige Art einige ihrer drückendsten Schulden tilgen willst und wende ihnen Meßstipendien zu, soviel nur Seelen am Vorhof des Himmels schmachten, und laß die armen Tröpfe nicht herumlaufen und um Messen betteln und bei jedem Sterbefall lungern, ob auch für sie ein Knochen von den zweihundert gestifteten Erlösungsbitten à 10 Silbergroschen abfällt! Und findest Du am Münster in Witoborn auch so arme, blasse, heisere Vicare, die statt der bequemen Domherren Brevier singen müssen und schon um den letzten Ton in ihrer Kehle gekommen sind (könnte doch Löb Seligmann aushelfen!), so zeig dem Bischof die stummen Opfer Roms und seufze immerhin in meinem Namen vorläufig wenigstens um deutsche Sprache statt lateinischen Gesangs!... Lebt denn dort noch die Quart? Muß denn auch da jeder neuernannte Pfründner den vierten Theil seines Einkommens dem Bischof zinsen? O würde das Geld doch angelegt für eines Priesters alte Tage, wo er freudlos, ohne liebende Hand, die für ihn sorgt, ohne ein Herz, das seine grämelnde Laune erträgt, in das Eremitenhaus ziehen muß oder in einen alten Profeßhof kommt, diese Invalidenhäuser der römischen Armeen, wo es zwar keine Stelzfüße, aber arme unglückliche Seelenkrüppel genug gibt! Bona, Bona – nun komm' ich doch in die Reformen! Man sagt, unterm Mikroskop wäre unser reinstes Quellwasser voll garstiger Infusorien – und Windhack behauptet das auch und verleidete sich dadurch schon zu lange das Wasser und trinkt fast zu viel vom Kocherer Wein –; aber an dem Sold, von dem der Priester sein Dasein bestreitet, läßt man ihn täglich zu schaudervoll sehen, wo er herkommt, läßt ihn zu naß aus allen Taufbecken in unsere Hand gleiten, wo auch noch jeder Seufzer oder Fluch der Armuth frisch am Gegebenen klebt ... Schule und Kirche möcht' ich doch so lange, bis die Heiden oder andere Apostel kommen und eine neue Religion bringen, vom Kleinhandel des eigenen Erwerbs befreit sehen.

Priesterwürde! Das laß ich vorläufig gelten! Aber sieh' Dich nur recht um und überzeuge Dich, wie jetzt nur ein ganz gewöhnlicher Unzufriedenheitsstoff, der in der Welt lagert und sich gern möglichst loyal und ohne zehn Jahre Festung austoben möchte, diesen neugepredigten Anhalt an Rom sucht! Der Jakobiner versteckt die rothe Mütze unter der Kapuze, der Provinzialgeist stemmt sich wider die Centralisation, den katholischen Plattdeutschen beschämt das vornehme Air des luther'schen Hochdeutschen, der Jurist vom Code Napoléon will nichts vom Landrecht, die Fürsten im Süden fürchten die Kraft der Fürsten im Norden; blos das, das, das gibt den feurigen Teig des jetzigen Umschwungs wie bei der Bildung der Erdrinde. Die Jesuiten und Jesuitengenossen kennen das alles und kneten den Teig und machen sie auch nur kleine Agnus Dei daraus, all ihre Süßlichkeit riecht nach Pech und Schwefel ... Du wirst Geistliche bei Witoborn sehen, die so liebfromm sind, daß sie sich nicht mehr die Zähne putzen, blos, weil sie fürchten, dabei Morgens, ehe sie nüchtern Messe zu lesen haben, etwas Wasser zu verschlucken! ... Und worauf beruht diese Dumpfheit des Geistes bei den Bessern? Auf dem Glauben, daß man – Vater, Mutter und Heimat kränke, wenn man irgendwie vom Althergebrachten abgehen wollte! Dem Gemüth schließen sich auch hierin Eigensinn und Eitelkeit an. Man glaubt, daß man von der Aufklärung wegen äußerlicher Dinge verspottet werde, wegen seiner Aussprache, wegen seiner dürftigen Gegend, wegen der Zurückgebliebenheit seiner Städte ... Nun trotzt man, doch auf seinen einsamen Höfen und Kampen die Lerche so gut trillern hören zu können, wie im schönsten Schweizerthal, trotzt, daß man in seinen dürftigen Städten doch manches liebe mit wildem Wein bewachsene Haus kenne, manches Fenster, wo Mädchenköpfe auch hinter Blumen herausschauen, wenn auch hier die Liebe nur plattdeutsch spräche ... Und so hält man denn mit Zähigkeit gerade fest an seinem Zopf! Das ist mit unserer Kirche überall so, seitdem die Reformation in dem stattlicheren Gewand der Wissenschaft und Bildung einhergehen durfte. Ueberall erscheint die Ketzerei den Leuten als eine Verhöhnung nicht etwa des Glaubens, man gibt bedenkliche Schäden an ihm zu, sondern als ein Geringachten – der vielen anderweitigen Gemüthlichkeiten, die sich für den Menschen an seine Jugend, an – seine liebe alte Großmutter anknüpfen ...

In Deutschland, laß mich in einem Briefe, wie ich ihn seit Jahren so lang nicht schrieb, fortfahren, in Deutschland sollte nun die Bildung und die gemeinsame Geschichte unsers Volks längst diesen Zwiespalt aufgehoben haben! ... Aber jetzt sieh, wie gesorgt wird, daß der Bruch ein ewiger bleibt! ... Du wirst im ganzen Stift Heiligenkreuz vielleicht nur ein einziges verstecktes und bestäubtes Exemplar vom Goethe, zwei oder drei Exemplare vom Schiller finden, dagegen alle Blumenlesen, alle nervenangreifenden Kräuterapotheken unsers Beda Hunnius ... Ich weiß nicht, ob es in Westerhof jetzt besser ist. Graf Joseph ging über Stolberg's Horizont nicht mehr hinaus. Levin von Hülleshoven ist ein geistvoller, unterrichteter Mann, schrullenhaft jedoch und höchst afterklug. Die Sicherheit, mit der er sich schon vor vierzig Jahren auf den Bau der Pyramiden verstand, während ihm jeder Backofen, den er bauen ließ, zusammenfiel, wird sich bei seinem Leben unter lauter Frauen nicht gemindert haben. Abenteuerliche Gelehrsamkeit ist alldort ein besonderes Steckenpferd. In jedem Dorf wirst Du die rechte Stelle finden, wo Hermann den Varus schlug. Ist es zweifelhaft, wo das Midgard der Asen lag, wird man immer gegründete Vermuthung für ein Torfmoor bei Eschede oder eine Wiese bei Lüdicke haben. Dieser hinter Vaterlandsliebe sich versteckende Hochmuth ist – allen Deutschen eigen! Er kommt bei keiner Nation so vor, nur Levinus würde vielleicht hinzusetzen: »Bei den Tschippewäern« ... Noch immer sitzen gewiß die Frauen dort und lauschen solchen Orakelsprüchen und auch Männer genug gab es, die vor der Weisheit des Barons von Hülleshoven den Hut abzogen ... Die Kunst ist bewunderungswürdig, mit der der Mensch versteht sich eine Gemeinde zu bilden! Selbst Windhack versteht das. Windhack und Levinus ziehen eben nicht die Gelehrten in ihr Vertrauen, sondern die Fischer, die Zöllner, die Teppichmacher, nicht die – Plato und Schleiermacher – doch genug von diesem Kapitel – –

Ich komme auf Westerhof zu sprechen, weil ich möchte, daß Du Deine liebevolle Versöhnlichkeit anwendest, um eine Ausgleichung herbeizuführen zwischen dem Ehepaar Ulrich und Monika. Ich höre, daß die Comtesse Paula Wunder verrichtet und in die Zukunft sieht. Bisjetzt hab' ich noch in allem, was ich davon erfuhr, zu viel Aberglauben der dort landesüblichen Sorte gefunden. Du wirst wol so gut sein, mich darüber ins Klare zu setzen; denn an und für sich hab' ich allen Respect vor den geheimnißvollen Ein- und besonders den – Ausgangspforten aus unserm räthselhaften Dasein – Sonst würd' ich Dich bitten, das schöne junge, Dir theure Wesen zu ersuchen, sich bei den Schicksalsmächten zu erkundigen, was über diese Verwickelungen beschlossen ist. Was wir hier so aus unsern sichtbaren Gestirnen entnehmen können, ist die kurze und bündige Absicht des jüngern, minder gelehrten, doch willensstärkeren Ulrich von Hülleshoven, nächster Tage nach Witoborn zu kommen, auf Westerhof ein kurzes und bündiges Wort zu sprechen und sein Töchterlein Armgart an sich zu nehmen. Zugleich flattert wie eine Taube um ihr vom Geier bedrohtes Nest auch die Mutter und wird, wie sie mir schreibt, nicht verfehlen, das zu beanspruchen, was ihr gehöre. Da könnten denn also diese zwei Menschen sich gegenübertreten und nach meiner Meinung die oft im Leben vorkommende Scene aufführen, daß sich zwei Leute gerade deshalb nicht verstehen, weil sie aus einem und demselben Stoff geschaffen und gerade füreinander bestimmt sind. Denn in der ersten Liebeszeit sucht man sein Gleichartiges – Du kennst das nicht – in der zweiten Liebeszeit sucht man sein Gegentheil und in der dritten Liebeszeit kommt man auf den richtigen Instinct der ersten Liebe wieder zurück und will nur das, was unserer Natur gleichartig ist. So ging es diesen zwei Menschen. Ein Zufall verband sie und sie gehörten sich einander. Da kam eine Willensprobe und sie scheiterte an ihren harten Köpfen. Jetzt scheinen sie vollkommen reif, sich gerade so zu lieben, wie man sich eben noch liebt, wenn man Kinder hat, die schon selbst wieder von Liebe sprechen. Auch das trifft zu: Jede Liebe, die sich in spätern Jahren noch bewähren soll, muß eine andere Nahrung haben, als die der erste Jugendlenz schon allein in seinem schönen Blütenduft findet. Ein Drittes muß sie haben, um dessentwillen sie da ist, um dessentwillen sie sich bewährt, nicht blos die übliche »Brücke« der Liebe zu den Kindern, sondern eine Idee und wäre es die Erziehung dieser Kinder, eine Erziehung höherer Art, eine mit Bewußtsein und Gedanken. Immer hab' ich gefunden, daß zuletzt doch in den gleichen Ideen eine unendliche Bindkraft liegt. Zwei Feinde, die sich auch nur Einmal in einer gleichen Idee begegnen, können sich versöhnen.

Bis zu Mariä Verkündigung bleibst Du wol noch in der dortigen Gegend; zur Osterzeit werden sie Deine Schultern in der Kirchenresidenz brauchen. Ich werde bald meine dreijährige »schwere Arbeit« antreten und auch meine »Visitation« an der Donau halten. Frau von Gülpen zittert schon wieder, mich Windhack allein überlassen zu sollen, sich zu denken, daß ich bei meinen alten Kreuzsternordensdamen eines Abends sanft beim Whist einschlummere, ein à tout in der Linken, ein »ich passe« auf den Lippen ... So ging ich am liebsten heim! ... Aber das kommt mir bei dieser Reise noch nicht, ich weiß es; ich habe die Ahnung, daß ich noch viel böse Ungewitterwolken sich entladen sehen soll. Der Oberprocurator Nück bot mir eine Commission an, die ich ablehnte. Cardinal Ceccone kommt von Rom als apostolischer Nuntius an die Donau. Ihm und dem großen Staatskanzler will man die Lage des gefangenen Kirchenfürsten und die Zukunft Deutschlands ans Herz legen. Don Tiburzio Ceccone zu sehen wäre mir von Werth; aber von seinem Munde dann auch hören zu müssen, was geschehen soll, um in das Vaterland Leibnizens und Kant's die Luft hinüberzuleiten, die man in den Hörsälen des Collegio Romano athmet – das könnte mein à tout beschleunigen. Uebrigens droht mir bei alledem eine gewisse Beziehung zu Rom. Auch Dir dürfte sie nahen, wenn Dich Dein Stiefvater in Vertraulichkeiten einweihen sollte – ich lese soeben, während ich dies schreibe – der Kronsyndikus ist gestorben! ...

Ruhe seiner Asche! – – –

Sorge, daß bei allem, was jetzt etwa zur Sprache kommen könnte, nur Priester zugegen sind; denn darin hatte Benno Recht: Der Beichtstuhl – – –

Genug für heute! Grüße ihn von mir – meinen armen – Zigeunerknaben! Wer weiß, ob ich jetzt nicht endlich mit ihm beredsam werden muß, wenn er mir, so wie Du im letzten Sommer, aus Gräbern der Vergangenheit alte Erkennungszeichen – unserer Sünden bringt –! Hast Du nichts mehr von dem Leichenräuber vernommen? ... Grützmacher und Schulzendorf sind recht verdrießlich – über verfehlte »Prämie« ...

Spät Abend ist's geworden – – Musik hör' ich schon seit lange nicht mehr – Die Tante correspondirt mit ihrer »Familie« und will mich durch eine noch immer nicht entdeckte Nachfolgerin ihrer letzten »Nichte« überraschen. Diese letzte ... kam, hör' ich, um – Deinetwillen! ... Bona, Bona, ich hätte die nicht von mir gestoßen ... Drei Tage war sie bei uns und sie sind eingeschrieben in die Chronik der Dechanei wie mit Flammenschrift ... Selbst den Tod des Lolo (von dem Du wol noch nichts weißt) schreibt die Tante auf Fräulein Schwarzens Rechnung ... Mit Beda Hunnius correspondirte sie und die Regierungsräthe lasen – und belachten alle diese mit Beschlag belegten Briefe ... Um so stolzer erhebt sie ihr Haupt ... Ich höre, sie beherrscht das ganze Kattendyk'sche Haus und niemand mehr, als – den Oberprocurator ...

Deine Liebe muß also – goldene Locken tragen? Muß – im Mondlicht wandeln? ... Seltsam! Seltsam!

Zerreiß diesen Brief nicht, sondern – verbrenne ihn! Man hat Fälle, daß zerrissene Briefe immer noch gegen uns zeugen können, falls man auf den Gedanken käme, nach unserm Tode uns heilig zu sprechen ... Ich glaube, Petronella setzt alles, was sie hat und doch noch zu erben hofft, daran, mir nach meinem Tode diese unverdiente Ehre zuzuwenden ...

Ich habe seit Jahren nicht soviel geschrieben ... Der Tod des Kronsyndikus versetzt mich – in wehmüthige Aufregung ... Lebe wohl, Bona, und denke nur immer, auch wenn Du vielleicht – – in diesen Tagen nicht das Beste von mir vernehmen solltest, ich war schwach – schwach – um der Liebe willen – – Und so fortan wie bislang Dein treuer Onkel.

So erheiternd auch anfangs die Stimmung dieses Briefes auf Bonaventura wirken durfte, der Schluß regte zu Besorgnissen und befremdlichem Nachdenken auf ...

Dennoch verweilte er nicht zu lange bei den trüben Schatten, die mit diesen Gedankenreihen in sein Inneres fielen. Zu sehr hatte er das Bedürfniß des Glücks und jede Vorstellung nahm bald wieder die holdeste, freundlichste Gestalt an ...

So endete der glücklichste Tag seines Lebens.

9.

In ähnlichen, doch zugleich vom tieflastenden Druck der Furcht beschwerten Stimmungen hielt sich auf seinem Zimmer ein Mann, in dessen Inneres wir zum ersten male einblicken wollen.

Nicht lange hatte Armgart in der schwebenden Pein der Ungewißheit über den Onkel und die Tante zu verharren brauchen ... Einige Augenblicke später, nachdem Bonaventura gegangen, kamen sie von der Gegend auf Witoborn zurück ...

Armgart's stürmischen Fragen nach dem Ort, wo sie gewesen wären, nach den Nachrichten, die sie mitbrächten, wurden schroffe Antworten zu Theil. Als sie von einer Verabredung sprach, die hinter ihrem Rücken getroffen worden, um sie dem Vater zu überliefern, schwieg man ... Aber auch sie verstummte plötzlich; denn Wenzel von Terschka sprach, um einen möglichen Zwist im Keime zu unterbrechen, von ihrer Mutter ...

Er nannte Monika von Hülleshoven die Seltenste ihres Geschlechts, einen Edelstein in dem Bunde aller der vortrefflichen Menschen, in deren Nähe er hier zu leben so glücklich wäre, eine Denkerin ohne die Runzeln der Stirn, die dem Gedankenleben zu folgen pflegten und die Leichensteine der Schönheit würden, eine Gelehrte, ohne daß man an ihren Fingern die Dinte sähe, eine Priesterin an den Altären einer noch unausgesprochenen Religion, die alle Menschen verbinden und glücklich machen würde ...

Auf dies überraschend enthusiastische Wort ermunterte Paula, die selbst noch wie berauscht war von ihrem geschlossenen Bunde mit Bonaventura, den Sprecher fortzufahren ...

Armgart unterbrach ihn aber und sagte aufwallend:

Meine Mutter wird in ihrem wiener Kloster keine andere Religion gefunden haben, als die des dreieinigen Gottes!

Auf diese entscheidende Aeußerung trat eine Stille ein und kein behagliches Gespräch ließ sich heute mehr anknüpfen ...

Nach dem Thee trennten sich alle ...

Als Wenzel von Terschka auf seinem Zimmer war, machte es ihm der Diener so zurecht, wie der »Rittmeister« seither gewohnt war immer den Abend noch zuzubringen ... Vor Mitternacht ging er nie zur Ruhe ... Zwei Zimmer mußten erleuchtet sein ... Auf drei, vier Tischen mußten Lampen stehen; denn auf jedem lag ein Actenstoß von diesem oder jenem Inhalt – zu verzweigt war die Geschäftsthätigkeit, der er sich zu widmen hatte ...

Geschäftlich war ihm seither alles vortrefflich gegangen ... Er konnte seinem Gönner und Freunde Grafen Hugo, er konnte der Mutter desselben, jetzt auch schon an Monika Berichte voll erfreulicher Ergebnisse schicken. Die letzten Chicanen, mit denen Nück noch drohte, waren durch seinen Bevollmächtigten, Benno, gemildert worden. Benno verfuhr mit Entschiedenheit, vermehrte jedoch die Schwierigkeiten nicht. Die Parcellirung war von der Regierung genehmigt. Löb Seligmann hatte die einzelnen Bestandtheile taxirt und schon Angebote vermittelt. Seligmann war hin und her; für seine Geschäftsthätigkeit hatte er eine neue Provinz erobert; kehrte er nach Kocher zurück, so blies er sich schon jetzt das Horn einer Extrapost für die letzte Station, auf der er diese kleine Prahlerei sich gestatten wollte ... Endlich wurde eine bedeutende Geldsumme sogleich flüssig durch die an Thiebold de Jonge verkauften Waldungen ... Nach Ostern konnte der neue Besitzstand vollständig angetreten werden.

Anfangs war in diesem Kreise Terschka der, der er überall gewesen. Ein Mann von vierzig Jahren und doch noch jugendlich; eine Natur, unheimlich manchem, weil er niemanden Stand hielt, doch erweckte er auch niemanden Furcht oder Besorgniß. Man konnte ihn nur nicht festhalten. Etwas Unstetes lag in seinem ganzen Wesen. Gefällig war er gegen jedermann. Seiner schmächtigen, zierlichen, gewandten Gestalt stand es, da einen Strickknäuel aufzunehmen, dort einer Cigarre Feuer zu geben und dabei doch schon wieder einen Befehl zu ertheilen, den er halb schon selbst ausführte. Thiebold fand ihn sogleich superlativ. Terschka schoß einen Vogel im Fluge, selbst im währenden Reiten. Seine Kunst, die Pferde zu zügeln, war der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Dennoch sagte Benno gleich, nachdem er ihn einige Tage lang beobachtet hatte: Dieser Mann ist nicht schlecht und doch hat er kein gutes Gewissen! ...

Von der verfehlten Begrüßung der Gräfin Erdmuthe war Terschka ganz in der Aufregung zurückgekehrt, die der letzten geheimen Zwiesprache zwischen Monika und der Gräfin entsprach, die den Uebertritt derselben zum Lutherthum und eine Vermählung mit Terschka wünschte. An dem Abend bei Piter Kattendyk hatte er ganz wieder in das Innere dieser jungen Frau blicken können, die sich, wie Luther sich aus Rom die Reformation, so aus einem Kloster die Freiheit des Denkens geholt hatte. Er begleitete sie, noch vor dem Auflauf in den Straßen, noch vor dem militärischen Conflict mit den Vereinen, in ihr Hotel, mußte aber Abschied nehmen, da seine Rückreise eines Gerichtstermins wegen unerläßlich war ... Nun schrieb er ihr ... Sie antwortete ... Es waren Briefe der Convenienz, wirkliche oder gesuchte Geschäftsanfragen ... Monika antwortete kurz und wich Dem aus, was ihre Empfindungsweise hätte misdeuten können ... Terschka hatte keine Berechtigung, auf das Herz dieser Frau zu rechnen ... Eine Frau empfindet bald, ob eine Werbung aus dem tiefsten Bedürfniß des Herzens oder nur aus der Phantasie entspringt ... Letzteres schien bei Terschka der Fall. Diese seltsame Naturerscheinung, silbergraue Locken auf einem halben Mädchenantlitz, körperliche Reize verbunden mit einem durchaus geistigen Leben – Terschka hatte sich in den Strudeln der Welt genug umgetrieben, um diese Verbindung neu und anziehend zu finden. Wie Terschka auch jugendlich aussah, im Grunde war er ermüdet. Vielleicht hätte er eine edlere Ruhe finden mögen. Vielleicht hätte er gern die Waffen der List und der Kühnheit, die er zwanzig Jahre lang geführt, niedergelegt zu den Füßen einer Liebe, die ihn dann immerhin hatte tyrannisiren mögen. Vielleicht hatte er das Bedürfniß, gut zu sein oder sehnte sich nach Erhebung. Frauen, die in sich gefestet sind, vermögen viel. Schon Gräfin Erdmuthe, die Terschka und ihr Sohn, Graf Hugo, vielfach betrogen hatten, hatte ihn gemildert, gezähmt und als dann eine Monika in diesen Lebenskreis eintrat, empfand Terschka für sie wie für ein Wesen, das ihn, so sagte er auch schon in Wien, von sich selbst befreien könnte und neugeboren werden lassen ...

Seit einigen Tagen kam in Terschka's Wesen etwas, was Benno's Wort vom bösen Gewissen zu bestätigen schien ... Vollends seit der Rückkehr vom Leichenbegängniß, seit dem gestrigen Abend im Finkenhof war Terschka wie zerstört ... Er unterzog sich seinen täglichen Geschäften, er rechnete unten im Rentamt mit den Beamten, sorgte für die Vorbereitungen der großen Jagd, war heute wieder früh in Witoborn, Nachmittags in Heiligenkreuz gewesen, besorgte seine Briefe, würzte das Gespräch mit Anekdoten, sprach über die Schweiz, Frankreich, Italien – in Rom war er mehr zu Hause, als er zu gestehen liebte – aber seine Sätze waren abgerissen, seine Uebergänge unvermittelt, seine Antworten zerstreut ...

Gleich gestern Abend, wo er vom Finkenhof heimgekehrt war, hatte er sein Zimmer zugeschlossen, die Lampen, die er angezündet fand, ausgelöscht bis auf eine, hatte die Vorhänge niedergelassen, als könnten die Pappeln von draußen verrätherisch hereinlugen, hatte seine Kleider abgezogen, sich – vor den Spiegel gestellt, das Hemd zurückgeschlagen, den Aermel aufgestreift und – auf den linken Arm in dem Moment sein Auge gerichtet, wo es klopfte ... Erbebend stellte er die Lampe nieder, ließ den Aermel herabgleiten und rief: Wer da? ... Ein Diener brachte ihm den Brief, den Armgart hatte unterschlagen wollen ...

Nur allein dieser Brief konnte ihn zerstreuen und beruhigen ... Er erbrach ihn, las ihn, las ihn wieder ... Es waren nur einfache Berichte über die Summen, die die Gräfin im Hotel zu bezahlen hatte ... Mittheilungen über ihren Aufenthalt, den Monika nicht mehr verlängern wollte, obgleich sie ihn in einem bescheidneren Zimmer des Hotels genommen hatte ... Nachrichten über die Ankunft der Gräfin in London und die erste Bekanntschaft mit Lady Elliot ... Kleine Neckereien auch über Lucinde, die Monika näher kennen gelernt hatte und die sie ihm um so mehr empfahl, als ihre Schönheit und ihr Geist an jenem Abend ihn ja, wie sie schrieb, sofort gefesselt und an eine glückliche Vergangenheit erinnert hätte – an jenen Pferdeankauf im Holsteinischen für Hugo's Regiment – Aber nicht ganz fand Terschka seine Heiterkeit wieder ... Gestern und auch heute nicht ... Der Bruder Hubertus konnte nickt erwähnt werden, ohne daß er erröthete ... Soviel er auch heute in der Gegend umherstreifte, er konnte ihm nicht begegnen ... er wünschte das und fürchtete es wieder ... Zum Kloster Himmelpfort zog es ihn und wieder jagte es ihn gespenstisch aus dessen Nähe ...

Zu den Besorgnissen, die ihn erschreckten, kam die Entdeckung, die im Benehmen Armgart's lag ... Warum hielt sie ihn heute so fest nach Paula's Vision? ... Was wollte sie überhaupt schon seit lange mit ihm? ... Errieth sie seine Liebe für ihre Mutter? ... Mistraute sie dem Briefwechsel, von dem sie sich unausgesetzt erzählen ließ? ... Heute war das auf der Wanderung von Heiligenkreuz mit ihm ein Ton gewesen, der ihn völlig befremden mußte ... Daß Thiebold und Benno um Armgart warben, sah er, und ein keineswegs zu scharfes Auge gehörte dazu, sich zu sagen, daß letzterer der Bevorzugte war ... Und dennoch, dennoch begann Armgart seit einiger Zeit ihm eine Theilnahme zu schenken, die ihn zu verwirren anfing ... Was hat nur das seltsame Mädchen? sagte er sich ... Auf der Wanderung heute kam sie von der Mutter ab und sprach wie im Traum, bis Terschka ihr geschworen hatte, er wisse nichts von der Nähe ihrer Mutter ... Selbst heute Abend ihr: »Gute Nacht, Herr von Terschka!« – wie klang das so süß und herbe zugleich, so innig und doch so beklommen, so absichtlich und doch so zurückgehalten! ...

Heute wieder schloß sich Terschka ein, was er sonst nie that ... Wieder konnte er erschrecken vor jedem unerwarteten Geräusch ... Dem Diener, der ihm die Zurückkunft des Rosses von Heiligenkreuz meldete, sagte er bei Gelegenheit des Namens Schneid: Ist das Der, der gestern auf dem Finkenhof unter dem Schutz des buckeligen Stammer erschien und falsch gespielt haben soll? ... Er hörte aber nicht weiter auf die Mittheilung, daß Baron Levinus dem Vagabunden nur noch eine dreitägige Frist als Probe seiner Haltung gestattet hätte ... Bonaventura hatte auf Bitten des alten Tübbicke selbst ein Fürwort für den ihm unbekannt gebliebenen, ja ihn vermeidenden Fremdling eingelegt ...

An Monika hatte Terschka jetzt schreiben wollen. Er wollte ihr Vorwürfe machen, daß sie beabsichtigte, wie er von andern hören müsse, in die Gegend zu kommen, ohne ihn in Kenntniß zu setzen. Verdien' ich Ihr Vertrauen nicht? hatte er sagen und sein ganzes Gefühl ausströmen wollen ... O, ich ahne es, Sie werden sich mit Ihrem Gatten verständigen! Ihr liebliches Kind wird Sie beide verbinden! Die Hoffnung meines Lebens ist dahin! ...

Nie hatte er so zu Monika gesprochen ... Sollte er es heute wagen? ... Heute? ... In den Stimmungen, die ihn seit einigen Tagen erfüllten! ... In diesen aufgeweckten Erinnerungen, in den quälendsten seines Lebens? ... In Ahnungen, Schreckensaussichten, die ihm plötzlich gekommen waren bei Nennung des Namens – Bosbeck? Bei Erwähnung jener beiden Knaben, die Hubertus einst aus dem Feuer rettete?

Erzählen wir von Wenzel von Terschka die Wahrheit.

1798 war er geboren und in der That ein Böhme und in der That vom Adel, wenn auch vom ärmsten.

Sein Vater, einer herabgekommenen Familie angehörend, diente zur Zeit der französischen Revolutionskriege im österreichischen Heere und stand bei Kinsky-Ulanen in jener Heerabtheilung, die anfangs unter Wurmser, später unter Erzherzog Karl gegen die französische Republik am Neckar, Rhein, an der Mosel mit abwechselndem Glücke focht. Seines Adels und Alters ungeachtet war seine Stellung nur gering. Er hatte Lieutenantsrang und bekleidete die Functionen eines Regimentsquartiermeisters. Ihm, der auf dem Marsche immer für die sichere Unterkunft der andern sorgen sollte, begegnete es, daß er bei einem Ueberfall selbst von seinem Regiment abgeschnitten und gefangen genommen wurde. Die französischen Armeen hatten sich damals in Nassau und bis nach Hessen hin festgesetzt, der Gefangene blieb am Rhein in der alten Stadt St.-Goar. Seine Lage war hart und zog sich in die Länge ...

Es war die Zeit des Rastadter Gesandtenmords, der die Welt mit Entsetzen erfüllte – man fürchtete Rache an jedem gefangenen Oesterreicher ... Der Quartiermeister von Terschka war verheirathet. Seine Frau gehörte dem niedern Bürgerstande an. Ursprünglich war sie eine wohlhabende Bäckerswitwe in einer böhmischen Stadt, die in zweiter Ehe ihr Geschäft verpachtet hatte. Die wenig gebildete, kaum halbwegs deutsch sprechende Frau besaß reichlich die Mittel, um dem, wie sie zu ihrem Schrecken in Erfahrung brachte, gefangenen Gatten zu folgen, setzte sich auf die Post, reiste an den Rhein, kam in St.-Goar an, verfiel jedoch, kaum im Wirthshaus abgestiegen, vor Anstrengung und Aufregung in eine Krankheit, die ihr und beinahe auch einem Kinde, das sie unterm Herzen trug, das Leben kostete ... Obgleich sie schon in zwei Monaten Mutter werden mußte, hatte sie sich dennoch diese Reise zugetraut ... Sie erlitt eine Frühgeburt und sah ihren Gatten, der von der oberhalb der Stadt gelegenen Festung herbeieilte, nur wieder, um für dies Leben von ihm Abschied zu nehmen ... Die Wache, die ihn begleitet hatte, stand voll Rührung. Es war ein herzzerreißender Anblick ... Die schon an Jahren vorgerückte Frau erlag dem Opfer ihrer Liebe. Wenzel, wie die Nothtaufe das kaum athmende Kind nannte, war ein Siebenmonatkind. Daher die eigenthümliche Unfertigkeit und scheinbare Unreife in seinem ganzen Wesen ... Die Hebamme nahm das halbtodte Kind an sich, besorgte das Begräbniß der Mutter, der Vater schrieb um Mittel nach Böhmen ...

Eine schmerzliche Zeit verging dem Gefangenen auf der Festung Rheinfels, die oberhalb des Städtchens St.-Goar liegt. Der Rastadter Gesandtenmord schien die Aussicht der Ranzionirung zu vereiteln und ließ eine Abführung ins Innere Frankreichs erwarten. Die aus Böhmen erhofften Gelder blieben aus. Der Krieg wüthete am Main und bedrohte sogar schon Thüringen ... Die Hebamme war keine besonders wohlwollende Frau. Sie hatte Noth mit dem schwer zu erhaltenden Kinde und drang auf eine Verpflegung bei andern Leuten, zu der dem Vater die Mittel fehlten ...

Ein Mitgefangener hörte das Seufzen und die Klagen des unglücklichen Kriegers, hörte das Schreien seines Kindes, das man ihm zuweilen brachte, und schlug ihm durch die Wand, die ihn von seinem Nachbar trennte, eines Tages vor, das Kind an seine Frau zu übergeben, die heimlich unten im Orte wohne, selbst nur ein Kind hätte und einem zweiten gewiß bis auf weiteres eine treue Mutter sein würde ... Für die Heimlichkeit des Aufenthalts seiner Frau in dem Orte gab er Gründe an, die so stichhaltig schienen, daß der Tiefgebeugte kein Arg hatte ... Terschka bewegte sich freier, als der Mitgefangene, der kein erwiesener Verbrecher war, sondern nur wegen mangelnder Legitimation, doch streng gehütet, gefangen saß ...

Die Noth und die Hoffnung auf baldige Ranzionirung bewogen Terschka's Vater, auf den Vorschlag einzugehen. Er erkundigte sich nach seinem Nachbar und nun erfuhr er freilich, daß es ein Mann war, den man für einen Gauner hielt. Es war ein Jude. Man vermuthete, daß sein angeblicher Name Sontheimer schwerlich sein rechter wäre, setzte aber hinzu, daß man sich auch irren könnte. Daß seine Frau im Orte lebte, wußte niemand und da Sontheimer zu dringend gebeten hatte, daß sie nicht genannt würde, schwieg der Kriegsgefangene und ließ sein kaum lebensfähiges Kind an den ihm von seinem Nachbar näher beschriebenen Ort, eine enge, dunkle Gasse dicht am Rhein, bringen ... Wie die Umstände waren, war das ein Glück für den Kriegsgefangenen, der durch eine so traurige Verkettung von Umständen um seine Freiheit, um sein Weib kam und noch obenein die Sorge um ein Kind vom Schicksal auferlegt erhielt! ... Haus und Herd gab es damals für Tausende nicht mehr ... Mit den Armeen zugleich zogen die Bewohnerschaften zerstörter und geplünderter Ortschaften mit Weib und Kind und wo sich Waaren und Gelder hingeflüchtet hatten, da lauerte die Nachstellung und der Ueberfall jener Verbrecherbanden, die wie giftige Pilze nach dem Regen aufschossen im ganzen verwüsteten nordwestlichen und südlichen Deutschland ...

Der Kriegsgefangene erhielt noch immer seine Freiheit nicht und dachte oft, obgleich der dazu nöthigen Mittel entblößt, an Flucht ... Auf der Festung hatte er freieren Aus- und Eingang, als die andern ... Der Jude Sontheimer wurde nicht ins Freie gelassen, sondern wie der gefährlichste Verbrecher gehütet, ohne daß man ihm etwas vorwerfen konnte ... Seine wilden Flüche erschreckten oft seinen Nachbar ... Voll Entsetzen dachte er an die Aufbewahrung seines Kindes in solchen Händen ... Besuchte er aber dann wieder Sontheimer's Frau, so fand er ein schönes junges Weib, das ihn zwar nur halb verstand (sie war eine Holländerin); aber die Ermahnungen des Kriegers wirkten so lebhaft auf ihr Gemüth ein, daß sie oft Thränen, vergoß ... Da wurde ihm freilich klar, daß es mit Sontheimer nicht richtig stand; er forschte dahin und dorthin, suchte, ob sonst niemand sein Kind an sich nehmen wollte ... Aber noch blieb ihm jede Hülfe vorenthalten ... Die Spuren einer so weichen Gesinnung bei jener jungen Jüdin bestachen ihn ... er ließ sein Kind um so mehr in ihrer Pflege, als sie auch die hingebendste war ... Es kostete bei der schwächlichen Gesundheit des winzigen Knäbleins nicht wenig Aufmerksamkeit, sein Leben zu erhalten ... Diese Pflege würde ihm in so wilder Umgebung, bei diesen Durchzügen und Einquartierungen von niemand anders gleich liebevoll und uneigennützig geleistet worden sein ...

Allmählich entdeckte der Gefangene durch die Wandgespräche die wirkliche Gefährlichkeit seines Nachbars ... Der Jude beschwor eines Tages den Krieger, den Gefängnißwärter niederzuschlagen und ihm die Schlüssel zu rauben ... Würden sie auf diese Art frei, so wollte er ihn »fürstlich belohnen« ...

Nun begriff der Kriegsgefangene vollkommen den Verdacht der Sicherheitsbehörden ... Die Welt war damals von Schrecken erfüllt vor jenen großen Verbrecherbanden. Durch die schlechte Justizpflege der Grenzgebiete Deutschlands und besonders der vielen geistlichen Regierungen hatten sich von Strasburg bis zum Niederrhein alle zerstreuten Elemente des Gaunerthums und der Heimatlosigkeit vereinigt und vorzugsweise durch die überwiegende Theilnehmerschaft der Juden wurde bewiesen, wie es sich an der christlichen Gesellschaft rächt, wenn sie die Juden in einem abgeschlossenen Druck, in der Verweigerung der Ansiedelung und freien Erwerbsübung erhält. Man zitterte vor Abraham Picard, der unter hundert Verkleidungen und täuschenden Entstellungen seiner Person immer den Händen der Justiz zu entschlüpfen wußte und von Holland bis zum Spessart mit seinen Genossen und überall versteckten Helfershelfern raubte und sengte ...

Mit sich kämpfend, was zu thun seine Pflicht war, stand der Kriegsgefangene verzweifelnd zwischen dem Verlangen, die Behörden auf die Gefährlichkeit seines Nachbars aufmerksam zu machen und zwischen der Sorge für sein Kind ... Voll Vertrauen zum Herzen des jungen Weibes wollte er sie zu Rathe ziehen ... Von seiner ihn immer begleitenden Wache geführt, kam er in die Stadt und in jene dunkle Gasse. Er sucht die Pflegerin seines Kindes, tritt in ihr Zimmer und findet die Jüdin entflohen ... Mit beiden Kindern war sie seit einem Tage verschwunden ... Außer sich, hielt er jetzt mit keiner seiner Enthüllungen, wenigstens über die heimlich in der Stadt anwesende Frau des Gauners zurück. Sontheimer wurde mit ihm confrontirt. Er stürzte auf den Verbrecher zu, den er zum ersten mal in ganzer Gestalt sah, verlangte Auskunft über den Ort, wo sich sein Weib verborgen haben könnte und hörte nun, wie dieser kecke, wilde, trotzige Mensch, von dem er bisher nur den aus dem vergitterten Fenster gesteckten Kopf gesehen hatte, sich mit einer Verschlagenheit herauszureden wußte, daß er aus Furcht vor Rache an seinem Kinde Anstand nahm, noch alles Fernere zu gestehen, was ihm Sontheimer zugemuthet hatte. Listig sagte dieser: Es ist nicht mein Weib gewesen, sondern das Weib eines andern, der mir schuldig ist und den ich in Nimwegen verklagen muß, wenn ich auf freiem Fuß bin! Laßt mich ziehen! Ich heiße Sontheimer, bin ein ehrlicher Mensch und werde euch die Frau in Nimwegen zeigen, wo sie auf der Utrechter Gracht wohnt!

Geschrieben wurde nun freilich hin und her. Aber gerade dem Niederrhein zu und in Holland wüthete die Kriegsfurie. Städte geriethen in Brand; in nächster Nähe waren die Bauern der Lahngegend, Hessens, am Main bis zum Spessart hinauf als Landsturm organisirt, – mitten in die von der Batavischen Republik heraufziehenden Heere hinein konnte sich der österreichische Krieger noch weniger wagen, selbst wenn er entfloh. Aus Sontheimer war nichts mehr herauszubekommen. Auch da nicht, als endlich der Kriegsgefangene frei und mit vorgeschriebener Reiseroute an die Oesterreicher zurückgegeben wurde. Er durfte nicht etwa in seine Heimat zurückkehren, er mußte nach Italien gehen, wo gerade Suworow die Russen und Oesterreicher gegen die Franzosen führte. Mit blutendem Herzen trat er seinen ihm vorgeschriebenen Weg an, ließ bei dem »Maire« von St.-Goar die Erkennungszeichen des flüchtigen Weibes und seines Kindes zurück, bat einige freundlichgesinnte Herzen um Nachrichten, wenn ihnen eine Kunde käme oder wenn der Jude Sontheimer entlarvt würde, und ging über Mainz nach Baiern, von dort über den Vorarlberg nach Tirol und Italien, wo er in der blutigen, für Oesterreich siegreichen Schlacht bei Novi den Tod fand.

Abraham Picard, der gefürchtete Räuber war es selbst gewesen, der bald nach der Entfernung des unglücklichen Kriegers in seinem Gefängniß auf dem Rheinfels ausbrach und noch eine Reihe von Jahren hindurch der Schrecken des Landes blieb. Jene junge Frau war in der That nicht sein Weib, sie war seine Schwiegertochter. Ihr Mann, sein Sohn Heyum Picard', verschaffte ihm zuletzt die Mittel zur Befreiung, nahm aber schon vorher sein Weib zur Sicherung mit sich hinweg. Abraham starb auf dem Schaffot, als die gemeinschaftlichen Maßregeln aller Regierungen diesem Raubwesen ein Ende machten. In den Niederlanden bildeten sich Freiwilligencorps, um den in ihren Schlupfwinkeln verschanzten Räubern förmliche Treffen zu liefern. Oft nach einer Gegenwehr, deren Heldenmuth einer bessern Sache würdig gewesen wäre, fielen die Häupter der Gefangenen bei den Franzosen unter dem Beil des Henkers, bei den Holländern wurden sie gehängt, manche kamen für Lebenszeit auf die Galeere. Den nur Verdächtigen oder den unzurechnungsfähigen Kindern der Verbrecher brannte man Erkennungszeichen auf die Haut, um sie controliren zu können und ihrer Verstellungskunst zeitlebens sicher zu sein. Die Kinder gab man unter die Obhut beaufsichtigter Familien.

Auf diese Art wuchsen Wenzel von Terschka und Jean Picard zusammen auf in einem holländischen Dorfe hart an der deutschen Grenze ...

Die Mutter des letztern erlag den Anstrengungen und den Mißhandlungen ihres Mannes Heyum Picard schon vor dessen Gefangennahme auf französischem Gebiet und seiner Abführung auf die Galeeren von Brest. Sie hinterließ ihren Pflegling sowol, wie ihr eigenes Kind der Aufsicht eines ältern Knaben, der bei einem Müller Namens Sterz in Arbeit stand – Hanne Sterz, die wir von den unterirdischen Gängen des Profeßhauses in der Residenz des Kirchenfürsten kennen, war einst das Weib eines Hehlers, der auf einer einsam gelegenen Mühle den Gaunern in die Hände arbeitete. Mittel zum Unterhalt fehlten nicht, sogar die reichlichsten gab es. Dieser ältere Knabe hieß Franz Bosbeck und gehörte jener Familie des Jehu Bosbeck an, eines Christen und ehemaligen Offiziers, den sein dissolutes Leben bis in die Berührung mit den verworfensten Kreisen der Gesellschaft führte und der sogar seinen christlichen Glauben abschwur und Jude wurde. Als seinen und seines Bruders Jan Frevelthaten ein endliches Ziel gesetzt wurde, als eine mit beispielloser Kühnheit ausgeführte Flucht aus einem Thurm in Nimwegen, wo Jehu Bosbeck neunzehn Monate mit den Füßen in Wasser stand, das Signal zu einer gemeinsamen Verfolgung auf Tod und Leben wurde, zogen sich alle zerstreuten Familienglieder, die thätigen und die nur hehlenden, in einem Versteck zusammen, einem Meierhof, der einem Mitverschworenen gehörte. Hier wurden sie umzingelt. Es gab einen Kampf, wie im offenen Kriege. Von Kugeln durchbohrt sanken die Verbrecher, die sich mit Verzweiflung wehrten. Ueber Leichen hinweg stürmten die Corps der Freiwilligen. Die Flammen ergriffen das ganze Anwesen. Das Hauptgebäude, ein stattliches Wohnhaus, war durch die gefüllten, in Brand gerathenen Fruchtscheuern eine einzige Feuersglut. Da war es, wo der vierzehnjährige Müllerbursch Franz Bosbeck, ein Verwandter des Hauptführers, zwei Stockwerke hoch aus den Flammen sprang, in jedem Arm einen Knaben, Wenzel von Terschka im linken, Jean Picard im rechten ... Wohlbehalten kam er auf den Boden; die rauchenden Trümmer verbargen ihn in ihrem dampfenden Gewölk, er entfloh, rettete sich zu jener Mühle zurück und als auch diese in Asche gelegt wurde, irrte er mit seinen beiden jammernden Pflegebefohlenen, abwechselnd bald den Einen, bald den Andern tragend, hinaus in Nacht und Verzweiflung ... Terschka war damals fünf Jahre alt, Picard etwas älter ...

Noch zuweilen schreckte Terschka die Erinnerung an diese frühesten Lebenseindrücke wie ein Fiebertraum. Heute waren es wilde, leidenschaftverzerrte Gesichter, wie sie Rembrandt und Honthorst malte, die er bei Laternenschimmer würfeln, Karten spielen, zechen sah ... Dann wieder sah er Gold- und Silbergeräth aufgehäuft, Säcke mit klingender Münze getragen ... Wieherndes Lachen schallte daher dahin. Plötzlich ängstliche Ausrufe des Schreckens über Verrath ... Dann blinkende gezückte Messer, geladene Pistolen ... er hörte fluchen aus einer Mischsprache von Holländisch, Deutsch, Jüdisch und Französisch ... Nichts aber hatte sich unauslöschlicher ihm eingeprägt, als jener Schreckensaugenblick des Brandes, des Hülfejammerns, des Sprunges aus dem Fenster. Alles das stand noch oft vor seiner Seele und doch war es ihm schon lange, als könnte es nicht gewesen sein und wäre nur die mit der Wirklichkeit verwechselte Erinnerung einer Erzählung. Aber das Schreckenvolle dieser Erinnerungen wurde durch ein auch ihm eingebranntes Mal immer wieder neu bestätigt. Er erhielt dies Mal ein Jahr nach jener Flucht. Zwar hatte sie ein der Hehlerbande zugehörender Scharfrichter aufgenommen. Ein Jahr wohnten sie am Fuße eines Hochgerichts. Hier, wo die Gerippe todter Pferde im Hofe moderten, hier unter den abscheuerregenden Vorkommnissen des Abdeckens, hier unter den Zurüstungen von oft massenhaften Hinrichtungen lebten die drei Flüchtlinge, bis sie dem Scharfrichter zur Last fielen und von ihm der Regierung ausgeliefert wurden. Diese gab ihnen den Stempel und lieferte den ältesten zu Schiffe nach Java; den zweiten gab sie nach Frankreich, wo sein Vater in Brest auf den Galeeren saß; den dritten gab sie einer zufällig in Rotterdam anwesenden Kunstreitergesellschaft. Auch diese Trennung von seinen beiden Gefährten war Terschka unvergeßlich. Der gutmüthige Franz Bosbeck weinte zwar nicht, wie er und Jean Picard thaten, aber er schied von seinen Pfleglingen mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes.

Wenzel von Terschka war von seinem achten Jahre an bis zum fünfzehnten Kunstreiter. Er kannte im allgemeinen seine Herkunft, sie wurde ihm sogar nach den Untersuchungsprotokollen und den Aussagen des Heyum Picard gerichtlich bescheinigt: aber noch lag die Welt in allgemeiner Kriegsnoth und eine Eroberung der Vater- und Heimatsrechte setzte damals, als Napoleon mit Oesterreich im Kriege lag, für ein unmündiges, so wenig empfohlenes Kind niemand durch. Halb Europa durchzog Wenzel von Terschka mit einer holländischen Kunstreitertruppe. Bald war der Knabe der Liebling der Gesellschaft des berühmten Jân van Prinsteeren und auch der Liebling des Publikums. Seine Behendigkeit und Gewandtheit übertraf alles. Im bunten Kleide auf dem Rosse, in Paris, in London, in den Seestädten erregte er Bewunderung, bis er einst in Amsterdam Unglück hatte und ein Bein brach ...

Der große Völkerkrieg gegen Frankreich begann jetzt, die Truppe löste sich auf. Ein aus Java heimkehrender Schweizersoldat nahm den langsam Geheilten mit sich nach seiner Heimat, nach dem Canton Unterwalden ...

Zu Stanz war es, am Vierwaldstättersee, wo 1816 für die neue Befestigung der restaurirten italienischen Staaten schweizerische Mannschaft geworben wurde. Wenzel von Terschka, achtzehnjährig, nahm Handgeld von den römischen Werbern, die, wie dies für Neapel geschah, so auch für den Kirchenstaat, eine ansehnliche Truppenmacht zum Schutz für unzuverlässige, erst neu hergestellte Zustände zusammen brachten. Als Lanzenreiter ging er nach Rom ...

An Gelegenheit, sich auszuzeichnen, fehlte es dem äußerlich zwar unscheinbaren, aber mit einer wunderbaren Elasticität begabten Jüngling nicht. Seine Reitkunst übertraf alles. Auch Muth und persönliche Tapferkeit waren ihm nicht abzusprechen, obgleich seine Weise von der seiner fester und sicherer auftretenden überwiegend schweizerischen Kameraden abwich. Die Schweizersoldaten sind in der Fremde das volle Abbild der heimischen Cantonalzstände; ihre Mannszucht ist von einer unerbittlichen Strenge; der Verkehr der aus den alten Landesgeschlechtern gewählten Offiziere mit den Gemeinen ist ein streng geschiedener, das Hinaufrücken in höhere Stellen ein den letztern völlig unmögliches. Indeß wurde Wenzel von Terschka Instructor der Reitschule. Voll Unmuth über die Dienststrenge jedoch und von einem sein Gemüth durchwühlenden Ehrgeiz getrieben offenbarte er sich dem Geistlichen der Truppe. Dieser gehörte den Schweizern selbst als Feldprediger an und erwarb ihm keine Erhörung seiner Wünsche um höheres Avancement. In dem deshalb immermehr sich steigernden Unmuth verlebte Terschka auf dem schönen classischen Boden qualvolle Jahre. Die täglichen Uebungen auf der römischen Campagna, in der Sonnenhitze, auf den dürftigen, schon vom Rosseshuf so vieler Kriege und Völkerwanderungen zerstampften und um jede Fruchtbarkeit gebrachten Heideflächen stimmten ihn oft zur Verzweiflung. Er versuchte den Uebergang zu den Truppen, die inzwischen von der päpstlichen Regierung selbst organisiert wurden; aber sein empfangenes Handgeld verwies ihn in die Reihen der Krieger, bei denen er nun einmal stand. Zuletzt reclamirte er seine Unterthanenschaft beim kaiserlich österreichischen Botschafter, durch dessen Kanzlei ihm auch die von ihm erbetenen Eröffnungen über seine in Böhmen befindliche Familie und sein mütterliches Vermögen zukommen sollten. Aber der strenge geregelte Gang des ganzen römischen Lebens, diese sich überall dort (wie in einem weitläufigen Palast, wo an jeder Treppe von Schildwachen uns eine strenge Zurückweisung wird, wo jede Thür ihre feierliche Aufschrift und ihr drohendes Wappen uns entgegenhält) beklemmend und angsterweckend gebende Geschäftsform verwies ihn immer wieder auf seine Kaserne, die nicht fern vom melancholischen Forum lag, unter den Trümmern der denkwürdigsten Vorwelt, nahe an jenen epheuumwucherten großen Thermen, die man nicht sehen kann, ohne an die grausamen Zeiten zu denken, wo unter dem Namen der Gladiatoren Hunderttausende in abgesteckten Lagern kostbar gemästet wurden, um als Fraß für die wilden Thiere oder, waren es Prätorianer, für den nicht endenden grausamen Krieg und die noch größere Grausamkeit der anstrengendsten Fußmärsche – von Indien nach Britannien zu dienen. Oft kam ihm unter den einsamen weidenbewachsenen Hügeln beim Fernblick auf die blauen Gebirge, beim Ahnen des hinter ihnen aufwogenden Meeres der Gedanke an Selbstmord, an Flucht, Desertion; denn zuletzt schreckte ihn selbst der gewaltsame Tod durch die strafende Kugel nicht mehr.

Da erlöste ihn von einem ihm immer qualvoller werdenden Schicksal der Monotonie, der Abhängigkeit im Dienstzwang und des unbefriedigten Ehrgeizes ein neuer Unfall. Nicht das Bedürfniß nach Vertiefung seines regen Geistes war es, das ihm Augenblicke des wildesten Einsetzens seines ihm verhaßten Lebens gab; nur vorzugsweise der gebundene Ehrgeiz, nur die gebundene Leidenschaft tobte sich aus, als er zum zweiten male ein Unglück zu Roß erlebte und von einem für unbezähmbar geltenden Neapolitaner in der That abgeworfen wurde und für todt auf dem Platze blieb. Sein Wagemuth war durch Umstände herausgefordert, die fast an die Zeiten seines Kunstreiterthums erinnerten. Die Schweizertruppen hatten sich 1821 ausgezeichnet bei Unterdrückung der Aufstände des Montferrat und Piemont. Don Tiburzio Ceccone, der jüngere Sproß einer Familie der Nobili, war als Vorsitzender der Prevotalhöfe gegen die carbonarischen Verschwörungen in kurzer Zeit zur höchsten Würde, zum Cardinalat, gelangt. 1819 war er, wie eine dunkle Sage ging, wie Holofernes von Judith, so von einem fanatischen Bürgermädchen Namens Lucrezia Biancchi fast ermordet worden und 1823 saß bei einem Besuche, den der Allgewaltige der Reitbahn der Schweizer-Lanciers zur Anerkennung ihrer geleisteten Dienste machte, neben ihm ein Kind von vier Jahren, bildschön – wie es hieß, seine, »Nichte«, wie Andere sagten, sein eigenes, das Kind – jener Lucrezia Biancchi, die noch im Kloster der »Lebendigbegrabenen« lebte ... Neben beiden in angemessener Entfernung, nahe genug, um auf keine Anrede des stolzen, üppigleidenschaftlichen, noch jugendlichen Herrn im schwarzen Kleide mit den rothen Strümpfen die Antwort schuldig zu bleiben, saß, zwar nicht mehr in erster Jugendblüte, aber immer noch in der Schönheit römischer Imperatorenmütter und wie eine gekrönte Heroine die Herzogin von Amarillas, eine frühere Sängerin Fulvia Maldachini ... Ringsumher saßen Würdenträger des römischen Hofes, alle auf einer mit bunten Teppichen belegten, mit Blumen geschmückten Estrade und den Reitkünsten der Arena zuschauend ... Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen würde zu dem Anblick gesprochen haben: »Offenbarung Johannis 16: Und ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Thiere und sie war bekleidet mit Scharlach- und Rosinfarbe und übergoldet mit Golde und Edelgesteinen und Perlen und hatte einen Becher in der Hand voll Greuel und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu« –

Wie anmuthig aber, wie freundlich, wie unschuldig machte sich das alles in der Wirklichkeit! Lachen und fröhliche Lust auf den Mienen, so rein wie der tiefblaue Himmel über ihnen, in dem nur wenige rosige Wölkchen wie kleine Montgolfieren schwammen! ... Die Trompeten schmetterten ... Das störte eine Nachtigall nicht, die in den Syringenbüschen nebenan sich einsam glaubte unter ringsum liegenden zertrümmerten alten Säulenschaften ... Wie schwatzte man durcheinander! ... Sorbetti gingen im Kreise, die der Koch Ceccone's bereitete, dann und wann mit seiner weißen Tellermütze hervorlugend hinter einem improvisirten teppichbehangenen Verschlage ... Terrassenartig stiegen rings die Hügel hinan und aus Villa und Kloster und hinter alten Tempelsäulen und Thermenbögen guckte die abgesperrte Neugier in das tieferliegende Bild der Arena, der schnaubenden Rosse und der Quadrille, die die besten Lanzenreiter ausführten auf Rossen, die zu tanzen schienen ... Neue kleine goldene Scudis waren geprägt worden mit dem Bildniß des Stellvertreters Christi, zierliche kleine Halbdukaten, mit beziehungsreicher Inschrift aus der Reversseite für den neuen Triumph der Ordnung und des Glaubens ... Eine ganze Büchse voll davon rüttelt die kleine Olympia, wie man die vierjährige Nichte nannte, und plaudert und plaudert, wieviel das Kriegsministerium jedem als buona manchia verabfolge, der die schöne Quadrille jetzt zu Pferde tanze ... Kein Sirocco weht ... Leichte milde Frühlingsluft nach langem Regen ... Ein Duft ringsum, wie herübergefächelt aus den Gärten der Hesperiden ... Und nun macht Ceccone sogar Witze und spricht, wenn die Rosse sich nicht nach Sitte aufführen, zu einem Mitglied des diplomatischen Corps – auch von Hesperidenäpfeln ... Frägt dann rasch die Frau des spanischen Gesandten ihren Mann: Qu'est-il qu'il a dit? so citirt Eminenz selbst mit graziös lächelnder Miene und so, wie auch nur ein Cardinal lächeln kann, einen Vers – aus Guarini's Schäfergedichten ...

Luft, Sonne, Licht, Farbe – Glück und Wonne ringsum – aber Wenzel von Terschka's Solo mislang doch. Sein Neapolitaner war nicht so leicht gebändigt, wie die Revolution des Generals Pepe. Der kühne Reiter liegt auf dem Boden und alle halten ihn für todt ... Dort herauf ragt das Coliseum, wo in solchen Fällen die alten Opfer ruhig aus den Schranken hinweggetragen wurden und der Römer gleichgültig zur Tagesordnung, einem neuen Kämpfer, überging. Ein Kreuz entsühnt jetzt die wilde Stätte und – was schuldigst du auch ewig nur Rom so ungebührlich an, du greise waldensische Herrin von Castellungo! – das Carrousel – hört auch hier sogleich auf ... Man trägt den für todt Erklärten in das Ospizo de Benfratelli ... Die halbe Büchse voll Paolis wird vorläufig sogleich für ihn allein bestimmt ... Die andere Hälfte der buona manchia erhalten die andern ohne weitern Gladiatorenkampf ... Die Herrschaften brechen auf und fahren von dannen ... Ecclesia abhorret sanguinem »Die Kirche will kein Blut« ...

Wie wurde der Instructor der Reitbahn bemitleidet! ... Man erfuhr: Drei Rippen waren ihm gebrochen ... das Uebrige zur Besinnungslosigkeit that die Erschütterung ... Nun hörte man vollends noch, daß der Unglückliche einen adeligen Namen trug ... Die besonderste Obhut nahm ihn in Schutz ...

Drei lange, traurige Monate lag Terschka bei den Benfratellen und war endlich geheilt. Er erklärte, kein Roß mehr besteigen zu können ... Er erbittet seinen Abschied und erhält ihn auch ...

In der That schleicht er siech und elend in Roms Gassen am Stabe dahin ...

Aus Böhmen hatte Wenzel von Terschka die Kunde erhalten, daß die Verlassenschaft seiner Mutter schon vor Jahren in Concurs gerathen war, Brand hatte ihr unversichertes Eigenthum entwerthet ... auch dachte er nicht mehr gern an Verwandte, die Bäcker waren. So voll Ehrgeiz steckte er, daß es ihn fast ärgerte, als der Laienbruder der Benfratellen, der ihn spazieren führte, an dem kleinen deutschen Friedhofe, der dicht an der Peterskirche liegt, sagte: Sehen Sie nur, Herr, fast alle Deutsche, die hier begraben liegen, sind Bäcker gewesen! Das Backen haben die Römer erst wieder aus Schwaben und Baiern gelernt! Alle diese alten Bilder an den Grabmälern sind deutsche Bäckermeister! Thatsächlich.... Terschka sah kaum hinüber ... Er blickte nur zu den Zimmern des Papstes hinauf, zu den Zimmern des Cardinals Ceccone, der im Vatican ein Stockwerk höher als der Papst wohnte ... Den Priestern, die im Hospital dienen, erklärte er endlich, als er völlig geheilt war, mit zagender Schüchternheit, daß er wol Lust verspürte, in den geistlichen Stand zu treten ...

Der Orden der Jesuiten war noch nicht lange wiederhergestellt und besonders zu ihnen zog es Terschka, da er sich die Kraft zu einem still beschaulichen Leben nicht zutraute. Er war nun fünfundzwanzig Jahre alt und hatte nicht viel gelernt, außer den lebenden Sprachen. Aber sein Geist war mächtig entwickelt gleich seinem Körper – er, der zwei Monate zu früh ins Leben gekommen! Sein Wunsch war ein Wagniß, das ihm mislingen konnte; aber er zeigte sich listig. Er hatte den Muth, an die kleine Olympia zu schreiben und ihr in dem schnell erlernten Italienisch durch ein Sonett zu sagen: »Du süße himmlische Kleine! Sei mein Schutzengel! Erwirke mir die Sporen des heiligen Georg, die mich nicht wieder, wie irdische, im Stich lassen sollen! Ich will für dich beten bei Ignazius von Loyola, der ja auch ein invalider Krieger war und jetzt der Gottesmutter so nahe steht, hilf mir auch auf diesen Weg, du süßer Engel! ...« Olympia, die Tochter jener Lucrezia Biancchi, die sich opferte, um den »Haß des Menschengeschlechts«, wie die Carbonari den obersten Richter der Prevotalhöfe nannten, zu tödten, hüpfte mit diesen Zeilen zur Herzogin von Amarillas, ihrer Erzieherin, ihrer Hofdame, wie man sagen konnte – Tiburzio Ceccone lebte auf fürstlichem Fuß und erzog das Kind der im Kloster der Vivi sepulti lebenden Mutter, die den Tod verwirkt hatte, wie sein eigenes – was gab es da nicht alles zu verschweigen und mit Schleiern zu bedecken! ... Die Herzogin zeigte dem Cardinal Abends beim Thee die in leiblichen Versen vorgetragene Bitte des jungen Schweizerlanciers, der Cardinal mit seinem feurigen Cäsarenkopf lachte und Wenzel von Terschka, dessen Antecedentien man noch nicht vollständig kannte, klopfte eines – an die Pforte des Collegium al Gesu ...

Kommt ihr niederwärts vom ehemaligen Capitol, laßt zur Rechten jene Kapuzinerkirche liegen, wo eine kleine hölzerne Figur, in die Gewänder eines Wickelkindes eingeschlagen, »Bambino« genannt, als Jesuskind gegen alle Anfechtungen des Lebens angerufen, ja sogar aus der Kirche in Procession abgeholt wird zu Sterbenden oder zu Wöchnerinnen, so steht ihr an einem kleinen Platz vor einer Kirche, die die reichste in Rom, nicht die geschmackvollste ist ... Die Façade, die innere Ausschmückung gehört der Kunstepoche Bernini's. Wagen über Wagen rollen bei ihren Stufen vor, Bettler in langen Reihen berühren die seidenen Gewänder der vornehmsten Damen und reißen den Eintretenden an der Thür große lederne Decken auf, die Vorhänge bilden. Drinnen empfängt dich ein mystisches Dunkel, Weihrauch, Lichterglanz, eine stickige Luft von Tausenden. Nirgends wird so laut gebetet, so sicher gesungen, so feurig gepredigt in Rom wie hier. Marmor und Gold sind verschwendet, Grabmäler stehen mit Statuen von großen Meistern geschmückt, kostbare Kapellen laufen ringsum; sie haben die bequeme Einrichtung, daß sie unter sich durch Thüren zusammenhängen und als trauliche Winkel dienen, in denen man hinter einem Pfeiler flüsternd verweilen oder einer im Schiff zu laut daherschallenden Kanzelrede in aller Stille folgen kann. Am östlichen Ende liegt eine kleine Ausgangsthür. Sie führt den Durchgehenden auf steinernem Fußboden in einen Nebeneingang – man sieht einen düstern Hof, in welchen Fenster eines großen todtenstillen Gebäudes hinausgehen, das sich dicht an die Kirche anlehnt. Kein Gefängniß ist es, obgleich die Fenster vergittert, ja theilweise mit Bretern vernagelt sind; es ist das Colleg der Jesuiten ...

Terschka's Anmeldung wurde durch die Empfehlungen des Cardinals erleichtert. Ein Oberer empfing ihn, legte ihm Fragen vor und – wiederholte diese Fragen noch einmal, nachdem sie schon beantwortet waren. Sonderbar, er fragte nach Dingen, die in vollem Gegensatz zu dem standen, was er ja soeben aus Terschka's Antworten gehört hatte. Sonderbar, dieser hatte gesagt: Ehrwürdiger Vater, ich hatte bereits bemerkt –! Ein andermal: Wenn ich schon gestand, keine todte Sprache zu kennen, so kann ich doch nicht Griechisch wissen –! Terschka ging ... Der Obere nickte ihm freundlich nach ...

Niemand ließ sich aber bei ihm wieder sehen. Er wohnte noch immer bei den Benfratellen ... Er war vergessen ... Wochenlang ...

Tag um Tag verging ... Terschka gerieth außer sich. Die Benfratellen klärten ihn auf. Der Obere hat Ihren Charakter prüfen wollen! Sie sind ungeduldig! Nur deshalb stellte er sich Ihnen vergeßlich und schwachsinnig, um zu sehen, ob sich bei Ihnen eine heftige Selbstständigkeit Ihres Wesens zeigen würde ...

Terschka verstand jetzt das Benehmen des Obern. Voll Verzweiflung über sich selbst wollte er wiederum an die kleine Olympia schreiben ... Thun Sie das ja nicht! hieß es allgemein ... So geh' ich noch einmal zu dem Obern! ... »Er wird Sie abweisen! Warten Sie in Geduld!« ... Vier Wochen wartete Terschka. Dann rief man ihn in der That wieder ... Er hatte »Geduld« bewiesen ...

Ein anderer Oberer erschien und lobte Terschka, daß er sich beherrscht und nicht gemahnt hätte. Auch er fragte vielerlei und Terschka antwortete schon viel ruhiger und mit größerer Vorsicht. Nur als der Obere sagte: So bleiben Sie denn jetzt gleich hier! und Terschka erwiderte: Ehrwürdiger Vater, ich habe erst meine Sachen zu ordnen! da veränderten sich die Gesichtszüge des Examinators ... Wieder hatte Terschka nicht bestanden. Wieder hatte er einen andern Willen als man vorausgesetzt ... Er ging, seine Verkehrtheit schon ahnend.

Und neue vier Wochen verstrichen, die er warten mußte!

Der Novize seufzte, aber er war schon demüthiger geworden. Sehnsüchtig ging er an dem Collegium vorüber, sah zu den Fenstern des riesigen Gebäudes auf; jede Wallung, anzuklingeln und sich in Erinnerung zu bringen, unterdrückte er und als man dann ihn endlich wirklich rief, schlich er ruhig und ergeben in das ihm angewiesene Zimmer ...

Man gab ihm ein Neues Testament, den Thomas a Kempis und Rodriguez über die Gesellschaft Jesu. Er konnte kein Latein. Er mußte dies und alles ganz von vorn erlernen – in seinem fünfundzwanzigsten Jahre! Aber alle Besuche, die er von zwei zu zwei Stunden bald von diesen, bald von jenem Ordensgliede empfing, verließen ihn mit dem Zeugniß, das sie den Oberen ablegen konnten, der junge Noviz besäße Geist und seltene Welterfahrung. Außerordentlich schien er gefallen zu haben. Nach acht Tagen erhielt er ein gedrucktes Examen, das er schriftlich beantworten mußte. Er konnte es deutsch oder italienisch thun ...

Schon in dieser Aufforderung zur vollständigen Darlegung seines Lebens lag für ihn ein Anlaß zu mancherlei Besorgniß. Sein Leben enthielt so gefahrvolle Dunkelheiten! Das Mal am Arme! Sein erster Beruf war der einer schnöden Schaustellung seiner Person gewesen! Wie konnte er auf eine künftige Priesterweihe hoffen! Er verzweifelte; denn zum Erfinden von Ausreden und Verschleierungen der Wahrheit verlor er in diesen Mauern schon ganz den Muth. Fast war es ihm auch, als käme man hier am siegreichsten durch, wenn man sich in allen Lagen ein für allemal auf Gnade und Ungnade ergab und sich ganz so nackt und so bloß darlegte, wie man wirklich war ...

Schon glaubte der Novize am Ziel seiner Wünsche zu sein, als er in dem gedruckten Formular auf eine Stelle stieß, wo es hieß, daß er sechs Monate noch außerhalb des Hauses der Gesellschaft leben müßte und erst sechs verschiedene anderweitige Proben durchzumachen hätte! Er traute seinen Augen nicht. Wieder ein halbes Jahr seines Lebens verlieren? Von jetzt an – es war zur Zeit der Sommermitte – bis zu Weihnachten wieder in einen halben Zustand zurückversetzt, wieder auf sich selbst angewiesen, auf die Unruhe und Ungeduld seines Herzens? Er hoffte auf Erlaß dieser Bedingung und glaubte an eine in diesem Statut nur so enthaltene und außer Uebung gekommene alte Förmlichkeit. Man holte dann das Blatt ab. Drei Tage vergingen. Schon nahm er am gemeinschaftlichen Mahle theil, schon hatte er sich manches einzelne Ordensmitglied, das ihm zusagte, herausgefunden, da wurde ihm mit freundlichster Miene angekündigt, daß er auf sechs Monate seine Zelle wieder zu verlassen hätte: einen Monat sollte er bei den Schülern des Collegium germanicum wohnen, einen Monat in San-Michele Kranke pflegen, einen Monat sich als Wallfahrer kleiden und in Rom und auf zehn Meilen in der Runde seinen Unterhalt durch Betteln suchen; dann zurückkehrend sollte er im Collegium täglich einen Monat lang die Stuben reinigen und endlich in einer entfernten Kirche der Vorstadt Knaben in den Anfangsgründen der Religion unterrichten, im sechsten Monat sollte er allen Predigten beiwohnen, deren in den hundert Kirchen Roms drei oder vier täglich und zu verschiedenen Zeiten gehalten wurden und darüber Referate geben und bei allen diesen Proben zu gleicher Zeit auch noch die lateinische Sprache erlernen ...

Aufschreien hätte Wenzel von Terschka mögen vor Verzweiflung, aber schon band er sein Bündel und schickte sich an, ruhig die Vorschrift zu erfüllen. Sein Auge blinzelte etwas; er hatte schon bemerkt, daß wie beim Opfer Abraham's der Wille hier manchmal für die That genommen wurde; er hatte schon bemerkt, daß man allmählich auch unter dieser strengen Disciplin abzuhandeln und abzumarkten versteht. Und in der That, man ließ ihn zwar aus seiner Zelle schreiten, wies ihn aber doch nur zwei Stockwerk höher, um ihn zu jenen deutschen Knaben und Jünglingen gelangen zu lassen, die in Rom zu Priestern erzogen werden. In dem mächtigen Gebäude war auch für diese Platz. Ein Rector empfing ihn, lächelte seines Alters, sprach ihm Muth zu und alles das in deutscher Sprache; Pater Xaver war aus dem Innviertel. Ein rothes Kleid mit einem schwarzledernen Gürtel mußte Terschka anlegen, wie seine Genossen. Um fünf Uhr mußte er aufstehen, das Sakrament in einer Kapelle besuchen, dann in einer Zelle Betrachtungen lesen, sie auswendig lernen, hierauf zur Messe gehen und erst um acht Uhr ein leichtes Frühstück nehmen, zu dem dann noch Matutine und Laudes aus dem Brevier zu sprechen waren; so ging es von Stunde zu Stunde weiter bis zur neunten des Abends, wo im Nu sämmtliche Lichter des Hauses erloschen sein und alle Schüler auf hartem Lager sich dem Schlaf empfehlen mußten. So erst acht Tage lang. Dann aber wurden die Vorschriften leichter. Glückliche Hoffnung, die ihn beseelte, er würde die fünf übrigen Monate erlassen bekommen! Sie erfüllte sich theilweise und in erfreulichster Art. Er brachte sie sämmtlich bei den deutschen Jünglingen zu, deren Unterricht er zu theilen hatte. Schon die Scham, unter Knaben ohne Bart verweilen und Latein von vorn beginnen zu müssen, beflügelte seinen Lerneifer. Er, der das Leben schon in allem kannte, was der natürliche Mensch mit Ungestüm zu fordern pflegt – saß hier auf der Schulbank, doch sein Kleid und sein physischer Bau ließen ihn dabei wenigstens äußerlich so jung erscheinen, wie die neunzehnjährigen ...

Seltene, aber glückliche Stunden waren es, wenn die rothgekleidete Schar in den ihr eigenthümlich angehörenden Weinberg wandern durfte, um dort einen Nachmittag, meist ballschlagend und wettlaufend zuzubringen. Dieser Weinberg lag nicht weit von seiner ehemaligen Kaserne, auf den Höhen des Monte Cölio, dicht an einer Kirche, die von außen die merkwürdigste, von innen die abschreckendste aller römischen Kirchen ist. Gerade den deutschen künftigen Priestern hat man die Rotunde des heiligen Stephanus gewidmet, einen alten, sehr denkwürdigen Bau, der mit Bildern grauenhafter Art geschmückt ist. Ausschließlich scheint sie dem Martyrium gewidmet. Da liegt die vom Henker abgerissene blutige Brust der heiligen Agathe auf der Erde; ein Tiger krallt seine Tatze in das Fleisch eines nackten Jünglings; der heilige Hippolyt wird, mit seinen Füßen an flüchtige Pferde gebunden, dahingeschleift – es ist eine blutige Anatomie, eine Morgue, in deren Anschauung gerade die deutschen Jünglinge in Rom – Erholung finden müssen! Wahrhaft erquickend war dann der zuweilen gewährte Besuch in den Gärten des Heiligen Vaters auf dem Quirinal. Die blauen, gelben, grauen Jesuitenschüler erfreuten sich damals dieser Gunst noch öfter, als die rothen; jetzt lernt man auch die Bedeutung dieser rothen Jünglinge schätzen. Wie berauschend, wie ewig an Rom fesselnd, bei Sonnenglut in diesen herrlichen, haushohen, kühlen Boskets von geschnittenen Myrten zu wandeln und da Trucco, ein Kegelspiel, zu spielen! Unter dieser Fülle von Oleandern, blühenden Aloes und Cactus! Unter diesen zahllosen Orangenbäumen, deren Blüten die Luft mit berauschendem Duft erfüllen! Ringsum tobt und wogt das lärmende Rom, die Wagen fahren, die Brunnen schäumen – auf diesem hochgelegenen Hügel verbirgt sich hinter einer chinesisch absperrenden hohen Mauer, dicht an dem Palast der zweiten Residenz des Heiligen Vaters (der Lateran, die dritte, ist ein Stiefkind der Päpste geworden), ein Garten, geschmückt mit allen Reizen der Natur. So dicht gezogen und beschnitten sind die edelsten Platanen, daß es unter ihnen bei glühender Mittagshitze kühl ist, Springbrunnen plätschern, die Lacerten schleichen unter den großen, bis zum Boden wuchernden Feigenblättern dahin, Marmortische und Sessel laden zur Ruhe in den erquickendsten Schatten, den jene zwei Stockwerk hohen geschnittenen engen Myrten- und Ligusterhecken hervorbringen helfen – sie sind in der Breite so schmal, daß man fast nur allein, nicht im Selbander durch sie hindurchschreiten kann. Hier reinigte die balsamischste Luft alle vier Wochen einmal die Brust vom erstickenden Schulstaub. Terschka, der Mann, der schon auf einer ansehnliche Höhe des Lebens Angekommene, der mit Erinnerungen schon für ein halbes Leben Ausgestattete, konnte hier eine Weile vergessen, daß er wieder zum Kinde geworden, konnte die marmornen Hermen bewundern, die rings von Epheu und Myrte umschlossen in den Boskets standen und oft Frauenbilder der alten Römerzeit von seltener Schönheit darstellten. Zwei dieser Hermen erklärte er in still unterdrückter, noch nicht abgeschworener Liebesglut für die Herzogin von Amarillas und das künftige Jungfrauenbild der Olympia. Sie sind noch jetzt von jedem zu finden vor dem kleinen Casino des Papstes, dicht in der Nähe der Treibhäuser, unter Gruppen von Aloes, zwei weibliche Köpfe voll Starrheit, Verwegenheit und jener Sphinxschönheit, die Terschka in seinem spätern Leben nur zweimal wiedersah, bei jener Angiolina in Dalmatien und bei Lucinden – unter den Offizieren in Kiel sagte er's damals ...

Nachdem Terschka nach zweijährigen Studien ins Collegium wieder hinunterzog, gaben seine Generalbeichten mancherlei Anstoß. Sein vergangenes Leben widersprach den Ansprüchen, die die Kirche an die Unbescholtenheit ihrer Priester macht. Sie duldet keine Entstellung des Rufes wie des Körpers, keine schwächlichen, krankhaften Gestalten, nichts, was irgendwie dem Makel der Welt verfallen ist und etwa dem Geist das Uebergewicht verleiht – auch Pater Sebastus hatte nicht die Weihen empfangen. Aber Wenzel von Terschka bot alles auf, sich Erhörung zu verschaffen und eine Vergessenheit der Jahre, wo er als Kind und Knabe unter Räubern und Gauklern lebte. Eine thatkräftige Natur muß zu einem Ziele, das sie sich einmal gestellt hat, irgendwie hindurch. Sie bereut vielleicht später die Anstrengungen, die sie machte, um des nicht befriedigenden Lohnes willen; aber den Werth des Lohnes, wenn man auch schon seine Geringfügigkeit ahnt, erwägt der nicht, dem eine Laufbahn Mühen macht und dessen Kopf voll Ehrgeiz steckt. Selbst den schon unbedingt gegen ihn entscheidenden Anstoß des Brandmals auf seinem Arme, das durch nichts hinwegzutilgen war, das jeder chemischen Beize, jeder blutigen Operation widerstand, überwand seine Geduld, sein inbrünstiges Bitten, zuletzt seine Intrigue; denn so unmöglich es fast war, außerhalb des Collegiums einen Briefwechsel zu unterhalten, Terschka übersandte wieder einen Brief an die Herzogin von Amarillas und dichtete wieder ein Sonett an Olympia Maldachini ...

Die Kleine, die als Italienerin von fünf Jahren schon so entwickelt und willensstark war, wie eine Deutsche von acht, setzte ihrem heiligen Georg Schild und Lanze durch ...

Die Väter lächelten und schienen eigenthümliche Pläne zu haben.

Terschka erhielt die Sottane, den schwarzen Leibgurt, die schwarzen Strümpfe und Schuhe ... sein Haupthaar wurde geschoren.

Ecco un nuovo fratello! rief eines Tages bei Tische der Novizenmeister den übrigen Novizen zu ...

Gräfin Erdmuthens Ausruf hatte damals Recht gehabt ... Terschka war Jesuit.

10.

Fünf Jahre vergingen dann ... Terschka zählte schon dreißig, als er Profeß der drei Gelübde wurde, der Armuth, der Keuschheit, des Gehorsams. Nun wurde er Priester aller Weihen. Zwei Jahre später, kurz nach der Julirevolution, legte er das vierte Gelübde ab, Gehorsam dem Heiligen Vater, unbedingtes Sichverwendenlassen für jeden ihm auferlegten Zweck. So stand er auf dem Gipfel seiner Wünsche.

Und keineswegs war er unbefriedigt. Der Autodidakt liebt sein Wissen, das er sich mühsam errungen hat. Er liebt es mit mehr Begeisterung, als ein von früher Jugend an dafür Geschulter. Und welche Bewährungen gab es nicht! Dienen mußte er unausgesetzt, knechtisch dienen, aber zugleich konnte er nach andern Richtungen hin oft auch schon souverän befehlen ... Jede Stufe der Unterwerfung mehr auf der einen Leiter gab auch zugleich auf einer andern eine Stufe der Erhöhung. Er besuchte die Hörsäle der wenige Schritte vom Collegium entfernt liegenden Universität. Hier, wo Hebräisch und Physik nicht nur in demselben Auditorium, sondern oft auch von demselben Lehrer vorgetragen wird, legte er den Grund zu einer Fülle von Thatsachen, die sein Inneres mächtig hoben. Und diese Erweckung, diese stete Gegenständlichkeit und Bewußtheit des Denkens! Schon die Anleitung zu den »Vorspielen« des Geistes oder zur »Erleuchtung«! ... Bonaventura kannte sie, diese Künste der »geistigen Lesung« und der »Vorspiele«! ...

Eine Betrachtung z.B. über das Verjagen der Wechsler aus dem Tempel mußte so geordnet sein:

Erst ist der einfache Stoff zu lesen; dann schlägt im Collegium plötzlich eine Glocke – mit dem ersten Schlag derselben stellt man sich rasch einige Schritte vom Betpult entfernt, denkt sich Gott und die Heiligen unmittelbar gegenwärtig, fällt auf die Knie, küßt die Erde und beginnt die lebendigste Phantasievorspiegelung eines Tempels, eines erhabenen Baues mit Säulen, mit einer, wie beim Pantheon halb eingebauten, halb in der Vorhalle aufgeschlagenen Reihe von Buden ... Das Geld klimpert, die Wechsler, wie sie nur auf der Via Condotti oder auf dem Corso stehen mit ihren Napoleond'ors und Papierscheinen, Wucherer mit Habichtnasen, wie sie nur unter den Tuchhallen am Eingang des Ghetto zum Kauf einladen, bieten ihre Waaren an, übervortheilen, schreien – schreien in die Messe der Santa-Maria Monticelli hinein, in die Klingel des Ministranten ... Nun erscheint der Heiland, das Haar von Lichtglanz umflossen, die Farbe des Rocks ist roth, der Ueberwurf blau, die Jünger stehen neben ihm ... Niemand von den Schreiern weicht aus, niemand achtet die An dacht derer, die der heiligsten Procession sich schon verneigen ... Da ergreift Christus – vielleicht einem Tempelvogt (Ausmalung seiner Tracht) – die Geißel, wirft die Tische um, das Geld rollt weit auf die Straße hinaus, das Volk wagt nicht einmal es aufzuraffen, der heilige Zorn ist wie Donnerrollen, sein Auge wie Feuerlohe ... »Mein Haus ist ein Bethaus und ihr macht es zur Mördergrube!« Das schallt dann in die Welt hinaus ... Nutzanwendung ... endlich Gebet ... So ist nach Jesuitenanleitung jeder Vorfall der heiligen Geschichte zu erfassen, so zu umschreiben, so in seine kleinsten Bestandtheile zu zerlegen und die Gedankenordnung nur innerhalb der Ruhestationen des sinnlichen Vorgangs zu wählen ... Die Wechsler: das ist die Sünde; der Augenblick der Reinigung: das ist die Buße; der Zustand nachher im Tempel: das ist die Erlösung ... Endlich die Vergleichung mit der Gegenwart und die Nutzanwendung auf das innere Herz ... bis das Ganze im »Colloquium mit Gott«, mit Gebet, schließt ... In dieser Weise wollte auch Müllenhoff versuchen, die Exercitien auf dem Schloß der Frau von Sicking einzurichten.

Für Wenzel von Terschka gab es immer mehr Bewährungen. Selbst seine ritterlichen Künste boten dafür Gelegenheit und wurden sogar absichtlich und ausdrücklich befördert. Die jungen Väter bestiegen zwar nicht selbst das Roß, aber sie voltigirten; Reck und Barren, wie bei den Turnern, fehlten nicht. Auch beaufsichtigten sie da und dort die Erziehungsanstalten. Hier besonders bewunderte man den »Pater Stanislaus«! ... »Stanislaus« nannte sich Terschka nach dem heiligen Stanislaus von Kostka, jenem jungen Polen, dessen erster Lebensschmerz damit begann, daß er von seinem Hofmeister und seinem älteren Bruder 1564 gezwungen wurde, zu Wien im Hause eines Lutheraners zu wohnen. Dieser junge Heilige wurde vom Beten und Nachtwachen, wie der heilige Aloysius, das Beichtvorbild unsers Thiebold, elend, kam von allen Kräften und näherte sich dem Tode. Da konnte er die heilige Wegzehrung nicht erhalten, weil sie der lutherische Wiener nicht in sein Haus gebracht haben wollte ... Nun erschien dem Knaben die heilige Barbara mit zwei Engeln zur Seite und brachte ihm die ersehnte Speise. Doch sollte er nicht sterben. Maria kam in jeder Nacht und setzte das Jesuskind auf die Decke seines Bettes und sagte ihm jedesmal, wenn er mit diesem gespielt hatte: Stanislaus, tritt in die Gesellschaft Jesu! Stanislaus von Kostka fand für seinen Wunsch in Wien nirgends Gehör. Der Provinzial der Jesuiten verlangte eine väterliche Bescheinigung. Der Vater, ein Senator der Krone Polens, schrieb von seinem Schlosse Rostkau im Posenschen, daß er diesen Beruf seines Sohnes nimmermehr wünschen könne. Stanislaus flehte den apostolischen Nuntius an. Vergebens. Er mochte klopfen an welche Thür er wollte, niemand erwies ihm damals in Wien die Gnade, ihn Jesuit werden zu lassen ... Da rieth ihm der Provinzial: Wandere gen Rom zu Franz Borgia, unserm General selbst! ... Also that er. Er entsprang seinem Hofmeister, seinem Bruder, zog Bettlerkleider an und ging über Augsburg zunächst nach Dillingen ... Hier im Jesuitenkloster mußte er bei Tisch bedienen und die Stuben kehren. Canisius, der berühmte Morallehrer der Jesuiten, entließ einen seinem Vater entsprungenen Sohn völlig einverstanden gen Rom ... Franz Borgia empfing ihn dort voll Güte und schützte ihn vor dem Zorn des polnischen Senators, der jetzt die Diplomatie zu Hülfe nahm, um sein Vaterrecht zu behaupten ... Stanislaus wurde Priester. Er war ein Muster jener »süßen Andacht«, die ein Antlitz wie mit Rosen verklären kann. Ihm mußte befohlen werden, nicht zu lange zu beten. Das wiederholte sich und wurde sein Todesstoß ... An den Folgen der Wehmuth, daß man so oft seine Andachtsglut unterbrach, starb der Jüngling, achtzehn Jahre alt. Man sprach den Märtyrer des verweigerten Betens heilig. Wenzel von Terschka hatte als Slawe ein Vorrecht auf seinen Namen, als es bei seiner Priesterweihe gerade drei Bewerber um den Namen Stanislaus gab. Dafür mußte er in der Kapelle San-Andrea, dicht in der Nähe der schönen Gärten des Quirinals, drei Nächte an dem Bild seines Heiligen wachen, an jener Statue, die den sterbenden Jüngling Stanislaus von Kostka darstellt, der Körper von weißem, die Kleider von schwarzem, das Bett von gelbem Marmor ...

Eines Tags wurde Terschka zum General der Jesuiten, einem Holländer, gerufen und erfuhr dort in holländischer Sprache folgende, ihn mächtig ergreifende Anrede:

Pater Stanislaus! Die Stunde ist gekommen, wo Sie durch Bewährung im Dienste Ihres Ordens Ihre Schuld der Dankbarkeit abtragen können!

Der Pater verneigte sich ... Er ahnte einen schon seit lange mit ihm bezweckten Plan ...

Es sind Ihnen große Indulgenzen zu Theil geworden! fuhr der General fort. Sie haben Wohlthaten von der Kirche erfahren, die zu den seltensten Fällen gehören! Der Empfehlung Ihrer Gönner werden Sie zeitlebens verpflichtet sein ...

Terschka verneigte sich tiefübereinstimmend. In den letzten Jahren war die besondere Protection des Cardinals Ceccone nicht mehr sichtbar gewesen, aber er bedurfte sie auch nicht, da seine Anschlägigkeit anfing, sich alle Wege zu bahnen, und er selbst mit seiner Lage zufrieden war ...

Ich ließ einen Rath über Sie halten! begann der General aufs neue. Man sprach für Sie und auch, wie es das Gesetz will, gegen Sie! Eine Stimme gab den Ausschlag, die, daß Sie vermöge Ihres ganzen Naturells dem Orden am besten dadurch dienen würden, wenn Sie – in die Welt zurückkehren! Ein Redner – das würden Sie nicht; zur Gelehrsamkeit und zum Unterricht fehlte Ihnen die Ruhe; Ihr praktischer Sinn wäre es, in dem sich alle Ihre Vorzüge und – Ihre Fehler zu einer möglichst guten Nutzanwendung vereinigten!

Terschka's schon gründlich jesuitisch gewordenes Naturell grübelte, wer wol sein Ankläger gewesen sein mochte ... Dergleichen war schwer zu erforschen. Seiner schmiegsamen Natur gelang es vielleicht. Doch wußte er, diese Contra mußten ja bei einem Gericht stattfinden, Fehler mußten mit Gewalt aufgesucht werden, nur um der Gerechtigkeit nichts zu vergeben ... Täglich wurde man so geübt im Beurtheilen der andern ... Gingen zwei Jesuiten spazieren, so mußte einer vom andern berichten, was sie unterwegs gesprochen hatten ...

Fassen Sie keinen Groll gegen irgendjemand! fuhr der General fort, der die in Terschka's Innerem sich entwickelnden Gedankenreihen übersah. Scheiden Sie von uns allen wie von Ihren Freunden! Auch nicht einer ist, der Ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren ließe; nur sind die Gaben mannichfach vertheilt und je mehr Ihnen der eine vom Einen nahm, desto mehr mußte er Ihnen vom Andern lassen! Vorzugsweise besitzen Sie Ein Talent – das Talent, sich beliebt zu machen! Viele versuchen sich darin. Nie aber sah ich so glückliche Erfolge, wie bei Ihnen! Sie werden in Wahrheit von uns allen vermißt werden ...

Pater Stanislaus lächelte bescheiden und harrte voll Spannung ...

Der Auftrag, der Ihnen ertheilt wird, hängt mit unsern Missionen zusammen ...

Mit unsern Missionen! ... Terschka erwartete ein Reiseziel – jenseit des Meeres ... Seine Wünsche waren indifferent, doch schien die Aussicht, jenseit der Meere oft große Gefahren bestehen zu müssen, nicht besonders lockend ... Dennoch beherrschte er sich ...

Jetzt lächelte sogar der General. Er mußte Pater Stanislaus bewundern, der nicht eine Miene verzog oder sonstwie seinen Verdruß zu äußern wagte ...

Ich meine die innere Mission, setzte der General hinzu, die Verherrlichung unsers Ordens in der Sphäre der Lüge und des Abfalls! Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Norden, von dem Sie herkamen! Zunächst auf den großen deutschen Kaiserstaat! Erinnern Sie sich, daß kurz nach dem Schisma, das die Kirche dem abgefallenen Augustinermönch verdankt, Oesterreich zu sieben Achttheilen – zu sieben Achttheilen! – von Rom abgefallen war! In Wien konnte ein Lutheraner sagen: In mein Haus laß' ich nicht die heilige Wegzehrung bringen! ... Durch uns ist das Kaiserreich in den Schoos der Kirche zurückgeführt worden! Die Mittel und Wege dazu waren mannichfach ... Sei Ihnen vorläufig diese Mittheilung über Ihre künftige Verwendung – als Anlaß zur Prolusio empfohlen ...

Damit war Pater Stanislaus für heute entlassen ...

Zur Prolusio –! ... Zum Vorspiel der Phantasie –! Aber wie nahm das Wort des Generals auch jetzt den ganzen Menschen gefangen! ... Terschka war Mönch, Jesuit, Priester geworden, um sich aus einem Leben aufzuschwingen, das seinem Ehrgeiz nicht entsprach. Adeliger Geburt und dennoch mußte er dienen ... dienen in einer Stellung, die ihm keine weitere Erhöhung für die Zukunft darbot ... Er ergriff den geistlichen Beruf als einzige Rettung und er war nicht undankbar. Nichts hatte er gewußt, als fremde lebende Sprachen, er wurde durch den Orden ein Mann höherer Bildung. Daß es andere Bildungsformen in der Welt gab, als die ihm gerade hier zu Theil wurden, ahnte er, aber er mußte wol die vorziehen, die gerade das aus ihm machten, was er für jetzt anders nicht hätte geworden sein können. In der That besaß er keine Rednergabe. Selbst in der Schule bewährte er sich nicht. Aber in der Erziehungsanstalt, die durch das Collegium geleitet wurde, gab es vielerlei von ihm glücklich beaufsichtigte Unterrichtsgegenstände; Reiten, Tanzen, Fechten wurde gelehrt. Das ja hat die Erziehung durch Jesuiten so begehrt gemacht. Eitle Schaustellung und Unterhaltung der Phantasie war von jeher und ist die Grundlage der Erziehungsanstalten, die Jesuiten leiten ... Terschka lernte die wunderbare Moral des Probabilismus kennen, die ihn wahrhaft blendete. Was nur im Menschen über den schwierigen philosophischen Unterschied zwischen »Gut« und »Böse« schlummert, hier fand er Aussprüche dafür voll Kühnheit und blendenden Schimmers. Der Wille wurde in dem Grade von der That getrennt, daß beide in eins zusammenfallen konnten und dennoch unterschieden wurden. Der Wille konnte rein und schuldlos bleiben, er konnte die That unmittelbar hervorgerufen haben und dennoch war letztere nicht sein, sondern nur ein Ergebniß – der Natur. So haben nicht die Materialisten unserer Tage die Willensfreiheit geleugnet, wie die Moral der Jesuiten schon lange die That zum Ergebniß der Umstände macht. In den mislichsten Situationen deckt sie dem Willen immer noch den Rücken. Listig und verschlagen, wie Terschka's Sinn von Natur war – wenn nicht so sehr aus Wohlgefallen am Bösen, doch aus dem Bedürfnis seine Kraft zu üben, und um der Voraussetzung willen, daß eben Bildung, diese ersehnte Bildung, zur Wehr und Waffe des Geistes werden müßte und es mit sich brächte, überall Widerstand zu leisten – lernte er, Bildung wäre die Kunst, sich das Leben spielend und ohne den mindesten Schein einer Gewalttätigkeit dienstbar zu machen.

Welche Vorstellungen weckte jetzt die »Prolusio«! Eine Mission nach Oesterreich! Der Abfall von der Kirche! Die verschiedenen Mittel und Wege, die einst eingeschlagen wurden, um sieben Achttheile einer großen Bevölkerung wieder in den alleinseligmachenden Schoos der Kirche zurückzuführen! Seine eigene Herkunft war vielleicht eine hussitische! Welche Studien weckte diese Anregung auf dem Gebiet der Geschichte, welche auf dem Gebiet der menschlichen Seele! Pater Stanislaus brannte auf die Enthüllungen, die ihm würden zu Theil werden. Ja er dachte sich einen tief angelegten Plan entweder auf Böhmen oder Ungarn, wo es noch Protestanten genug gab ... Verstand mußte zu seiner Aufgabe gehören; denn das durfte er sich sagen, von seinem Namensheiligen hatte er nichts, was im mindesten auch seinem Antlitz einen rosigen Verklärungsschimmer gegeben hätte; wenn er betete – ihm war der Befehl, nicht zu lange zu beten, niemals gegeben worden.

Erst nach vierzehn Tagen machte der General der Ungewißheit des jungen Professen ein Ende ...

Ihre Vorfahren, sagte er, eine Ahnung Terschka's bestätigend, als beide wieder allein auf der einfachen, allen andern Wohnungen gleichen Zelle des Generals waren, Ihre Vorfahren waren Hussiten! Abtrünnige waren auch sie schon vor Luther! Wir haben aber deren in Italien noch frühere! Es sind die Waldenser! Sie leben noch jetzt mit immer wieder nachwuchernder, unzerstörbarer Kraft im Piemont! Eine Gräfin von Salem-Camphausen, die hinterlassene Witwe eines österreichischen hohen Militärs, Protestantin, beschützt sie von einem ihr angehörenden Schlosse Castellungo aus! Es liegt zwischen Cuneo und Robillante, in dem blühenden Thal, das sich von der Alpenstraße des Col de Tende abwärts senkt! Die Umtriebe dieser Frau überschreiten alles Maß! Sie hat die Könige von Preußen, England, Schweden und Holland aufgerufen, den Waldensern größere Freiheiten zu gewinnen, als sie unter einer rechtgläubigen Bevölkerung in Anspruch nehmen dürfen! Gelang es schon in alten Tagen, das schöne Salzburg zu entvölkern und seiner reichsten Unterthanen zu berauben, die man zuerst mit dem Gift der kaum überwundenen Ketzerei verdarb und dann mit Geld und Gut in die protestantischen Lande lockte; gelang es erst in unsern Tagen, sogar aus dem altgläubigen, so gottgetreuen Tirol Colonieen nach dem uns gleichfalls wieder zurück zu erobernden Schlesien zu entführen: wie soll es werden, wenn mit Hülfe Englands immer weiter auch in das Herz Italiens hinein rechthaberisches Bibellesen und streitsüchtiges Dogma sich verbreitet? Dem Frevel dieser deutschen Gräfin ist ein Ziel zu setzen! Für ihre Dreistigkeit gebührt ihr ebenso eine Züchtigung, wie ein Vorbau den Erfolgen, die sie erringt oder erringen könnte ...

Die Aufregung des Generals war so groß, daß er aus der italienischen Sprache wieder in sein heimatliches Idiom verfiel. Terschka konnte, wie er wußte, mit völligem Verständniß folgen ...

Diese gefährliche Frau, fuhr der General fort, hat einen Sohn, der in diesem Augenblick bei einem kaiserlichen Reiterregiment noch als Lieutnant steht ... Er wird aufsteigen. Sein Glaubensbekenntniß ist das seiner Mutter. Sein Name ist ein hochgefeierter, wenn auch seine Mittel gemessen sind. Binnen kurzem dürften ihm bedeutende Reichthümer zufallen; denn eine zweite, rechtgläubige Linie, im Innern Deutschlands, ist im Begriff auszusterben. Es existirt nun zwar eine alte Urkunde, der zufolge die Bedingung, unter der die wiener Linie diese großen Besitzungen der andern Linie antritt, die Religion der aussterbenden sein müsse ... Diese Urkunde findet sich leider nicht. Sie wird seit Jahren gesucht ...

Terschka horchte nur immer ... Ein eignes Urtheil zu fällen wurde er nicht aufgefordert und fällte selbst keines ... Er wartete auf die genauere Angabe des Gegenstandes, auf den er zu achten hatte. Von der Weisheit der Väter seines Ordens war er vollkommen überzeugt ...

Der General verweilte jedoch nicht bei der Urkunde, sprach nicht von der Kunst jenes deutschen Convertiten Caspar Scioppius aus der Pfalz, der sein ganzes Leben an die Verherrlichung der Kirche gesetzt hat und seinerseits einer der berüchtigsten Falsarien war. Unter der Autorität von Kaisern und Königen und mit dem Titel eines Grafen von Clara-Valle fälschte er im 17. Jahrhundert Stammbäume und Urkunden, veranlaßte Processe dadurch und entschied sie. Vierzehn Jahre lebte er in Padua bei verschlossenen Thüren, aus Furcht, von seinen Gegnern, die zufällig Jesuiten waren, ermordet zu werden ... Er haßte sie und sie haßten ihn, nicht ihrer Moral wegen, nicht seiner Falsa wegen, sondern weil sie ihm sein Latein corrigirt hatten und er ihnen vorwarf, daß im Gegentheil sie keins schreiben könnten ...

Terschka lauschte mit athemloser Spannung; aber auch heute blieb die ihm gestellte große Aufgabe wiederholt nur im Stadium der Prolusio ...

Der General sagte:

Findet sich die Urkunde, so ist ein Familienabkommen getroffen, daß die letzte Erbin der Dorste-Camphausen sich mit dem letzten Erben der Salem-Camphausen vermählt – eine Rechtgläubige mit einem Ketzer! Findet sie sich nicht, und alle Zeichen sprechen dafür, so fallen an eine ketzerische Familie unermeßliche Reichthümer, in eine rechtgläubige Provinz kommt ein ketzerisches Element, das Scandalum jener Vorgänge im Piemont findet reichere Nahrung und das alles von einer Seite her, wo sich die Kirche einer solchen Störung am wenigsten versehen sollte, aus einer Gegend, wo die Wohlthaten der Rechtgläubigkeit ein Gemeingut sind und Maria Theresia sich bis auf den letzten Augenblick sträubte, jene gottlose Vernichtungsbulle unseres Ordens, die That eines unglücklich Verblendeten, der glücklicherweise nur im Auftrag der uns schützenden und glorreicher wiederherstellenden Vorsehung handelte, auch in ihren Staaten zu vollziehen!

Mit dieser Anregung der Phantasie wurde Terschka aufs neue entlassen ... Ueber die Andeutung jenes Widerstandes der Kaiserin Maria Theresia gegen die Bulle: Dominus ac redemptor kam er bald hinweg ... Maria Theresia gab der Aufhebung der Jesuiten erst dann ihr Placet, als man ihr, um sie von der Gefährlichkeit, Wortbrüchigkeit und Ungeistlichkeit der Jesuiten zu überzeugen, von ihrer letzten einem Jesuiten gesprochenen Beichte – aus Madrid eine Abschrift schickte ... Terschka wußte, daß der Orden diesen Verrat auf eine Intrigue der über ihren Fall frohlockenden Dominicaner schob ... Aber welche Fülle der Beziehungen doch! Welche Aussichten der Bewährung! Was sollte geschehen, was von ihm gefördert und unterstützt werden? Welche Hülfsmittel, welche Verbindungen gab es für ihn? Wohin hatte er die Reise zu richten? Zu jener so muthvollen, herausfordernden Gräfin? Zu jener jüngeren Paula? Sollte die Urkunde gesucht werden? Sollte die gemischte Ehe gehindert oder, wie so oft, in dem Sinne »dirigirt« werden, daß der junge Offizier seine Confession änderte? ... Allmählich trat in seine Combinationen immer mehr das Bild dieses jungen Kriegers ein. Er malte sich ihn aus in allen seinen Lebensbezügen. Es überkam ihn eine Ahnung, daß er vielleicht in dessen Nähe geschickt werden sollte ...

Diese Ahnung betrog ihn nicht. Der General eröffnete ihm nach einiger Zeit, daß er in die Nähe des Grafen Hugo von Salem-Camphausen geschickt werden sollte. Mitwirkungen und Erleichterungen würden ihm genannt werden. Seine Aufgabe leitete sein Souverän in folgender Weise ein:

Wir wünschen, daß Graf Hugo katholisch wird! Die Rücksichten auf seine Mutter und ihre Umtriebe, auf jene Provinz und die Erbschaft, im eventuellen Falle auf die Ehe, sind die nächsten und dringendsten Aufforderungen, drohenden Gefahren zu begegnen. Zuletzt ist das Werk auch schon an sich ein wohlthätiges. Doch ist es nicht leicht. Wir haben über den jungen Krieger Nachrichten, die für eine große Verehrung seiner Mutter sprechen. Solange sie lebt, würde er ihre Irrthümer schonen und schwerlich ihr die Strafe zufügen, die sie schon um ihrer Umtriebe willen gegen den Bischof von Cuneo und das Kapitel von Robillante verdient! Auch denkt der Orden nicht an ein plötzliches und schnell errungenes Resultat. Wir arbeiten in allem nicht für die Minute, sondern für das Jahr; ein Jahrhundert bedarf es, um durch Tropfen einen Stein auszuhöhlen – Sehen Sie die Statue des Sanct-Peter auf dem Vatican! Wer möchte glauben, daß man einen Fußzehen von uralter felsenfester Bronze so allmählich – hinwegküssen kann! Es gehört dazu eben ein Jahrtausend. Ihre Aufgabe geht in eine weite Fernsicht. Sie dürfen sich Zeit dazu nehmen. Sie dürfen Ihr ganzes Leben daran setzen und müssen es, um die Absicht nicht zu verrathen, die Sie mit Ihrer Handlungsweise verbinden – Sie legen Ihr geistliches Kleid ab! Der Orden dispensirt Sie von jeder Rücksicht auf Ihren Stand! Sie bleiben, was Sie sind – nie verwehend ist der Duft des heiligen Oels, das Sie salbte! Aber selbst das Zeichen der Demuth auf Ihrem Haupte müssen Sie schwinden lassen – Sie erhalten ein Patent als ein auf unbestimmte Zeit beurlaubter Rittmeister in päpstlichen Diensten! Denn gerade darin, daß Sie diesem Anschein, ein Krieger gewesen zu sein, auch wirklich zu entsprechen verstehen, lag – liegt der Grund, warum gerade Sie zu Ihrer Aufgabe gewählt wurden ...

Wenzel von Terschka stand betäubt ... Darum hatte man an seiner Vergangenheit keinen Anstoß genommen ... Darum gleich anfangs keine Erinnerung an seine vergangene Laufbahn ... Die Aussicht, mit der Erhebung, mit der Bildung, die er jetzt empfangen, ein weltliches Leben aufs neue, wenn auch nur zum Schein beginnen zu können, machte ihn schwindeln ... Der Stand, eine höhere gesellschaftliche Stellung, als die sein Vater bekleidete – alles wieder aufs neue, wenn auch in anderer Art, anerkannt ... Gehoben und gehalten von unsichtbaren, mächtigen Händen – – Er vermochte kaum sich zu sammeln und dem in aller Würde, mit feierlichem Ernst, ja mit Fanatismus ihm geschilderten Plane in allen seinen Einzelheiten zu folgen ...

Es ist unwahr, wenn man behauptet, Ignaz von Loyola oder seine Schüler hätten gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel. Dies Wort findet sich nirgends in ihren Constitutionen. Aber der Dechant von Sanct-Zeno, Franz von Asselyn, sagte schon einst zu Bonaventura, als dieser über ein Pamphlet eiferte, das die »Geheimen Verordnungen« der Jesuiten neu wieder abdrucken ließ: »Du hast Recht, mein Sohn, diese Schrift ist eine Lüge, die seit zweihundert Jahren entlarvt ist! Ich weiß es, ein polnischer Jesuit schrieb diese Monita secreta aus Rache an dem Orden, der ihn ausstieß, weil Hieronymus Zaorowski zügellos und unsittlich war und die Strafe seiner Obern verdiente. Nie haben diese Anleitungen zur Erbschleicherei, zur Verführung jugendlicher Gemüther, zur Bereicherung des Ordens, zur Verhetzung der Ehen, Verhetzung des Staatsfriedens, in den Gesetzen der Gesellschaft gestanden, aber – die Monita secreta sind ein Codex ex post! Sie sind die niedergeschriebene Praxis des Ordens! Sie sind die Tradition neben dem Grundtext! Der Talmud, wie mein alter Freund Leo Perl gesagt haben würde, die Mischna und Gemara neben der Thora! Jener rachsüchtige Pole erzählte scheinbar als verlangte Vorschrift, was sich nur durch die Verderbnis des Ordens allmählich als selbstverständlich in ihm festgesetzt hatte. Ich nehme ja einige glänzende Erscheinungen des Ordens aus. Aber die Gefahr desselben ist darum dieselbe, die Gefahr, die schon in seinem eigenen Wesen liegt, sogar in einer an sich geistvollen und denkwürdigen Eigenthümlichkeit desselben ... Die Jesuiten können für sich ein großes Verdienst in Anspruch nehmen. Sie können sagen: Ihr alle habt bisher nur den Christen im Auge gehabt; wir sind die ersten Priester gewesen, die auch dem Menschen ihre Aufmerksamkeit schenkten! Die Seele ist es, die ein Lieblingsstudium dieses Ordens wurde. Die Jesuiten, zu allen Zeiten von einem brennenden Ehrgeiz getrieben, wagten es, mit der Philosophie einen Wettkampf einzugehen. Sie wollten dem Christenthum die größten Glorien erwerben, selbst die, einen Cartesius überflüssig zu machen – Da mußten sie denn wol in die Arena des Denkens steigen! ... Und nun dachten sie den Menschen. Sie dachten ihn in der ganzen Schwäche, die uns Priestern durch den Beichtstuhl geläufig wird. Sie dachten ihn mit jener unsaglichen Geduld und Liebe, die wir für die Ausübung unsers Amtes gerade nach dieser Seite hin stündlich empfinden müssen. Sie dachten ihn in jenen steten Momenten der Reue, der Halbheit, der innern Wehmuth, die Großes will und doch in der Ausführung wieder der Natur unterliegt, und so entstand ihr berüchtigtes System der Erwägung, der Rücksicht, der Entschuldigung, der halben und der Viertel-Sünde, jener sogenannte Molinismus, der sich zuletzt noch unter dem Einfluß der von Paris und Versailles ausgehenden galanten Courtoisie und sentimentalen Veredelung früherer Roheit und Brutalität der Hofsitten in eine Moral der ewig lächelnden und achselzuckenden Duldung verwandelte und in die Absicht, in die Intention, in den Rückhaltsgedanken die moralische Verantwortlichkeit setzte, gänzlich die höhere und wahre Sittlichkeit preisgebend!« ... Für Wenzel von Terschka gab es kein anderes Denken, als das in den Formen dieses Molinismus ... Daß die Absicht des Ordens, den Grafen Hugo von Salem-Camphausen katholisch zu machen, eine höchst löbliche war, bezweifelte er nicht. Er harrte der Anleitung, wie er gerade als päpstlicher Rittmeister en retraite ein solches Ziel fördern sollte ...

Der General sprach:

Sie erhalten eine Liste von Affiliirten in Wien! Geldmittel – nicht im Ueberfluß; denn es wird sogar nöthig sein, daß Sie Schulden machen! Sie sollen eben suchen, sich dem jungen Grafen auf die natürlichste Art zu nähern! Sein Sinn ist offen und leicht. Das gemeinschaftliche Band könnte – Ihr altes Metier sein! Die gleiche Vorliebe für Pferde dürfte die Gelegenheit zur ersten Anknüpfung geben. Stellen Sie sich ihm nach kurzer Zeit als in Ihren Mitteln gebunden vor. Thun Sie das so, daß Sie dabei nicht allzu entblößt erscheinen, so wird er Vertrauen fassen! Sind Sie dankbar, so haben Sie sein Gemüth gewonnen. Ihre Vergangenheit war abenteuerlich genug. Sind Sie auch darüber zum Grafen Hugo leidlich aufrichtig, so bindet die Offenheit. Von Ihrem Priesterstand darf natürlich nicht die Rede sein ... sogar sehr, sehr selten von der Religion!

Terschka fand alles das in der Ordnung. Er fand, daß man auf diese Weise einen hochgestellten jungen Mann, von dem man eine Rückkehr zur Kirche wünschte, am besten beobachten ließ. Und als er nur noch zweifelnd aufhorchte, als er hörte, wie doch die Religion als Gesprächsstoff zwischen ihm und Grafen Hugo ausgeschlossen sein könnte – sagte der General:

Man kann die Rückkehr zu unserm Glauben mit Gewalt fördern, man kann sie aber auch von selbst entstehen lassen aus einem still sich meldenden Bedürfniß unsers Gemüthes. Aus welchen Stimmungen wählt man nicht das Gewand des Mönches! Sie, Bruder Stanislaus, traten in den Orden zunächst aus Ehrgeiz. Bei Gelehrten ist es oft der Ueberdruß an der Unfruchtbarkeit ihrer Forschungen. Fürsten und Standespersonen wechselten den Glauben infolge der Reue über ihr vergangenes leichtsinniges Leben. Graf Hugo liebt das Vergnügen. Vielleicht kommen Stunden der Erschöpfung, die dem Heil seiner Seele günstig sind. Diese benutzen Sie zu leichten und ganz wie zufälligen Erweckungen. Wir lassen Ihnen zu dieser Beobachtung Zeit. Leben Sie so harmlos mit ihm wie Sie wollen! Gehen Sie auf alle seine Verhältnisse ein! Geben Sie uns nur dann und wann Bericht; das Uebrige findet sich ...

Mit diesen dunkeln, nur der Ahnung von einem zuckenden Streiflicht erhellten Andeutungen verließ der Pater die Zelle des Generals, in drei Tagen das Collegium, in acht Tagen Rom. Seine Vorbereitung zur Rolle eines päpstlichen Rittmeisters machte er in dem Gasthofe der Croce di Malta.

Vorher hätte er sich gern noch dem Cardinal Ceccone empfohlen ...

Er wagte deshalb beim General eine Anfrage, erhielt die Erlaubniß, bat im Vatican um eine Audienz und erhielt sie bewilligt bei der Herzogin von Amarillas, bei der der Cardinal jeden Abend nach englischer Sitte den Thee trank ...

Die stolze Römerin, die einst in Rollen wie Semiramis geglänzt hatte, vor Jahren in Paris einen spanischen Herzog heirathete, der bald starb, und die dann in ihrer Vaterstadt anfangs mit gemessenen, späterhin reichen Mitteln ein Haus machte, empfing ihn allein und mit dem Stolz einer Frau, die allenfalls auch eine der Kaiserinnen hätte sein können, die sie ehemals spielte ... Es war der Kopf jener Herme aus den Gärten des Quirinals ...

Sie war in Deutschland bekannt und unterrichtete Terschka in der Art, wie man die Deutschen behandeln müsse ... Fest und bestimmt! sagte sie. Denn dies Volk ist voll List und Verschlagenheit! Dies Volk ist um so gefährlicher, als es sich die Miene der Ergebenheit und Treuherzigkeit gibt! Nie hab' ich eine falschere Nation gefunden, wie diese – und ich bin viel gereist –! Ohne Charakter ist sie in allem! Ich habe die schönsten und vornehmsten Frauen gesehen, die dem König Hieronymus den Hof machten und seine Gunst zu gewinnen suchten. Und dabei rühmen sich diese, besonders in der vornehmen Sphäre so gesinnungslosen, unpatriotischen Deutschen fortwährend ihrer Treue und Ehrlichkeit!

Terschka kannte Deutschland wenig und ließ sich belehren ...

Die Herzogin gab ihm eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln, ohne zu wissen, in welchen Aufträgen er nach Deutschland zu reisen hatte ...

Erst jetzt, in den gegenwärtigen Stimmungen Terschka's, kam ihm die Erinnerung, daß die Herzogin von Amarillas damals sicher von einer Gegend sprach, die mit der, in welcher er sich jetzt befand, die nämliche war ... Sie hatte damals Namen genannt, die seinem Gedächtniß erloschen waren ... Immer sinnender, immer vor sich hinbrütender hatte sie gesessen, das Haupt auf die vergoldete Lehne eines hohen Rococosessels gestützt, ja nicht einmal bemerkend, daß Olympia in einem seidenen Kleide durch die Zimmer rauschte, die »Nichte« des Cardinals, ihre Schutzbefohlene ... Dem jungen, inzwischen herangewachsenen, wenn auch nur kleinen Mädchen, das ihr dunkelschwarzes lockiges Haar mit einem goldenen Reifen umschlungen hielt und einen fast gehässigen, medusenhaften Ausdruck des Kopfes bekommen hatte, war die Erinnerung an den Tag in der Reitschule gänzlich entschwunden ... Die Herzogin erinnerte sie daran ... sie erwähnte nicht ohne Herzlichkeit die Gedichte, die ja Pater Stanislaus aus dem Collegium an sie geschrieben hätte ... Olympia machte eine spöttische Miene und wandte sich kalt und gleichgültig ab ...

Inzwischen wurde der Cardinal gemeldet ...

Wenn in Rom ein Cardinal einem Privathause die Ehre seines Besuchs ertheilt, muß ihm die Herrin desselben mit zwei Wachskerzen auf silbernem Leuchter entgegengehen und ihn wie einen Fürsten schon an der Treppe empfangen ...

Tiburzio Ceccone, der noch jugendliche, lebensmuthige Lenker der Gerechtigkeit im Kirchenstaat, erschien als ein noch immer schöner, imponirender Mann in der Tracht der Cardinäle, wenn sie außerhalb ihrer Functionen sind, im schwarzen Habit habillé mit rothem Vorstoß, rothen Knöpfen, kurzen schwarzen Beinkleidern, langen rothen Strümpfen, rothem Sammetkäppchen, darüber ein langer schwarzer Krämpenhut, auf dem Rücken ein schwarzes Abbémäntelchen ...

Der Cardinal entsann sich vollkommen des Paters Stanislaus und erkundigte sich mit forschend zusammengedrücktem Auge nach dem Ziel seiner Reise ... Die Befangenheit Terschka's, der ihm ausweichend antworten mußte, mochte er sehen, doch machte ihn seine Liebe zu Olympia so zerstreut, daß Terschka reden konnte, was er wollte – er würde nur zu allem wie abwesend genickt haben ... Offenbar war er über Terschka's Mission im Unklaren. Er pries die Fortschritte der Gesellschaft Jesu, namentlich im Kaiserstaate, und sprach von einer Stadt an einem großen Flusse, wo ihre Hauptniederlassung sein sollte. Die Herzogin glaubte gleichfalls eine solche Stadt mit einem Kranz von Bergen zu kennen, nannte aber den Fluß nur klein. Sie verständigten sich beide in der Geographie Deutschlands wie über ein Land, das im Grunde ein einziger großer wüster Wald wäre, bewohnt von einem Geschlecht von Menschen, die an Unbildung und dabei, wie die Herzogin wiederum hinzufügte, an Verschmitztheit ihresgleichen suchte. Sie ihrerseits schien Witoborn an der Witobach, der Cardinal Linz an der Donau im Auge gehabt zu haben – Deutschland war ihnen beiden ein und dasselbe Sibirien.

In Gnaden entlassen, empfahl sich Terschka, reiste ab und nahm bereits in Venedig seine neue weltliche Tracht an. Ueberall producirte er den Paß, der ihn als einen beurlaubten päpstlichen Rittmeister bezeichnete. Sein Talent, sich in seine neue Rolle zu finden, mußte bald sogar ihn selbst überraschen. Hätte er nicht annehmen müssen, daß, wie gewöhnlich, ihm ein Wächter gestellt wäre, der alle seine Schritte beobachtete, er würde seine Freiheit in vollen Zügen genossen haben.

Bald fand sich eine Gelegenheit, die Bekanntschaft des Grafen Hugo zu machen.

11.

Die erste Begegnung mit dem damals schon dreißigjährigen Grafen Hugo fand in Bruck an der Leitha statt, wo dieser in Garnison stand.

Wir schildern sie nicht, da sie sich schon aus allem entnehmen läßt, was wir von Terschka's persönlichen Talenten und aus den Erinnerungen der Gräfin Erdmuthe wissen.

»Das ist ja ein Jesuit!« hatte der edlen Frau sofort bei der ersten Bekanntschaft mit diesem neuen Freunde ihres Sohnes eine innere ahnungsvolle Stimme gerufen. Ein Beweis auch zugleich, daß Terschka damals noch ganz die Weise des Paters Stanislaus hatte.

Damals war Terschka noch höflich bis zum Unterwürfigen, zart bis zum Süßen. Er sprach und hörte zugleich auf das, was neben ihm von andern gesprochen wurde, und billigte es zwischen seine eigene Rede hinein, wenn er sie auch doch inzwischen fortsetzte. Er vertheidigte nichts, was irgendjemand unangenehm berühren konnte. Er sprach von seiner Jugend mit einem verklärten Blick gen Himmel und folgte der Phantasie der Gräfin bis auf die Anfänge der Hussiten, bis auf die Trommel aus Ziska's Haut, bis auf den Kelch in der Fahne der Utraquisten – all diese Vielseitigkeit und Nachgiebigkeit lernt sich aus der Kunst der »Prolusio«. Geistig war er so biegsam, wie er nun auch wiederum körperlich werden konnte. Seine Reitkunst war die magische Kraft, die bald den jungen Offizier und dessen Kameraden an den päpstlichen Rittmeister außer Diensten fesselte.

Nach einem halben Jahr empfand Terschka wol die vielen Bedenklichkeiten, die sich aus dieser Verbindung – für seine Gelübde ergaben. Ueberhaupt welches war das Ziel, auf das er zusteuern sollte? Der Graf hing sich an ihn mit der ganzen Innigkeit, die jungen Männern in jener Zeit eigen ist, wo hunderterlei Vorkommnisse ihrer fröhlichen Lebenslust Rath, Beistand, bald Schmeichler, bald Warner bedürfen. Bald schon konnte Graf Hugo nichts mehr ohne Terschka unternehmen. Terschka wurde der Vertraute aller seiner Liebes-, Ehren- und Geldhändel. Terschka's Klugheit, seine im Grunde schüchterne und maßhaltende Denkweise, seine Lebenserfahrung gaben in allen Lagen die Aushülfe. Dann sich aber dabei selbst freihalten von den Einflüssen eines solchen Umgangs, vermochte der Genosse nicht länger. Es gab Spiel- und Trinkgelage, Abenteuer, wie sie Boccaccio geschildert hat: wie sollte der Priester sich verhalten? Er bat seinen Vorstand in Rom um eine Beruhigung seines Gewissens.

Aus allem, was er erfuhr, trat ihm klar entgegen, daß ihn die oberste Ordensgewalt aller Rücksichten und Pflichten des Gewissens entband. Der Rittmeister Wenzel von Terschka sollte mit dem Grafen Hugo von Salem-Camphausen zwar nicht ganz nach den Worten des Mephisto verfahren:

»Umgaukelt ihn mit süßen Traumgestalten!

Versenkt ihn in ein Meer des Wahns!« –

sollte ihn nicht absichtlich in die Verderbniß locken, damit er auf der letzten Stufe des erklommenen Tempels der Freude niedersinke mit erschöpfter Kraft und Terschka in der Gewalt hatte, dann das eroberte Opfer dem Schoos der Kirche zuzuführen (oft hatte die Kirche diesen Triumph erlebt) – aber begleiten durfte ihn Pater Stanislaus auf Tritt und Schritt, durfte leben wie er, lieben wie er; nur die Heiligung des Mittels durch den Zweck durfte nicht fehlen. Mitten in diesem Taumel sollten die Ruhepunkte, die schon für den Grafen zuweilen eintraten, dann und wann für harmlose Erweckungen benutzt werden; Erweckungen, die jedoch nur gelegentlich, ganz nur wie zufällig und absichtslos einzustreuen waren ... So wenigstens beschied man ihn ...

Wie jedoch der menschliche Geist einmal ist, so kann er, wenn auch noch so geschult, niemals für sich gutsagen, wo ihm das Glück der freien Bewegung zu Theil wird. Terschka lebte mit dem Grafen Hugo bald nicht mehr wie der ihn Dirigirende, sondern wie der von seinem Zögling Dirigirte. Vollkommen hatte er mit der Zeit verstanden, was er sollte; er hatte Winke und Anweisungen erhalten, die in zweifelhaften Fällen sogar eher das Schlimme, als das Gute zu wählen anriethen und so war er dem natürlichen Zuge seines fast gleichalterigen Freundes gefolgt, ergab sich ihm mit voller Anhänglichkeit, liebte ihn und ließ sich von ihm beherrschen, statt daß er ihn beherrschte. Die Berichte, die er nach Rom einsandte, wurden unwahr. Terschka gab Zusicherungen über Richtungen des Gemüthes, in die sein Zögling verfallen wäre, die jeder Begründung entbehrten. Nun kam die Furcht der Obern, der junge Graf könnte in solcher Stimmung wol gar in die ascetische Richtung seiner Mutter verfallen. Kannte man auch ohne Zweifel im al Gesù das deutsche Sprichwort: »Der Weg nach Rom geht über Herrnhut!« so würde doch die ganze Bemühung verfehlt gewesen sein, wenn der Graf sich zuletzt in die Leitung seiner Mutter begeben und deren separatistische Entschiedenheit angenommen hätte. Demnach ertheilte man die Zustimmung zu dem Bedenken, ob Terschka die Kraft des weiblichen Princips, das den Grafen in leichterer Weise beherrschen konnte, verstärkte. Damals war ein eigentümlicher Collisionsfall im Leben des vornehmen Cavaliers eingetreten. Jene Angiolina, die er in der dalmatinischen Stadt Zara bei einer Kunstreitergesellschaft gesehen hatte, war von ihm in einem gemüthlichen Zuge seines Wesens, das von plötzlichen Einfällen beherrscht wurde, vor acht Jahren ihrer Truppe abgekauft und in eine Pension gegeben worden. Das elfjährige, bildschöne Mädchen hatte er dann und wann wiedergesehen, stets mit einer mächtigen Erregung seines Gefühls. Immer überraschender, immer reicher entfaltete sich die Bildung Angiolina's. Einmal gab er sie weit fort aus seiner Nähe, nur um sich nicht hinreißen zu lassen und nicht seinem Gefühl zu folgen. Die Neigung Angiolina's für ihren Wohlthäter war die gleiche. Auch sie floh die Bestrickung ihres Herzens, wenn der schöne junge Mann im glänzenden Harnisch vor ihr stand, das sonst so feurige Auge in milder Dämpfung auf sie niedersenkend. Einige Jahre lang währte dieser Kampf. Terschka wurde der Vertraute. Er nahm zuletzt Partei für den Gedanken, ein so reines Bild nicht zu zerstören. Graf Hugo hegte ihn selbst und litt doch darunter. Oft warf er sich dem Freunde an die Brust und rief: Ich kann nicht ohne sie leben! Von Rom kam eine dunkle Weisung, die fast an das Wort der Schrift erinnerte, daß ein Sünder dem Himmel lieber wäre, als zehn Gerechte ...

Pater Stanislaus sah das Maß der künftigen Reue sich mehren, wenn Verhältnisse eintraten, die nicht auf die Dauer so bleiben konnten. Die »Prolusio« malte es ihm aus: Endlich verläßt doch ein so vornehmer Herr seine Geliebte wieder – vielleicht war es eine Verbindung wie die Ehe – die Gräfin Paula verlangt nicht nur ihre standesmäßige, sondern die volle, auch sittliche Höhe ihrer Rechte als Gattin – der im stillen gedemüthigte Gatte wird schwächer und schwächer und muß der Gattin zuletzt – ein Opfer bringen, jenes, das, wenn auch stumm, die Gattin und die Kirche verlangen ... Aqua Toffana das der Jesuitenmoral! Gift aus einer nur zu vollkommenen Kenntniß unserer Natur gezogen! Wo ist da noch Sünde, wenn das Leben des einzelnen nur ein Theil einer großen Maschine wird, die wiederum nicht ein einzelner dirigier, sondern ein großes Ganzes, das Anfang, Mitte und Ende immer zugleich im Auge hat! Damit die Olive das klare, fließende Oel wird, muß nicht nur ihre saftige Hülle, auch ihr Kern zerstampft, auf der Mühle zermalmt werden; was kümmert dich die zerstörte schöne Frucht, wenn aus ihr ein Höheres hervorgeht, das der Einzelne, haftend an der flüchtigen, wenn auch schönen Erscheinung, gar nicht ahnen kann? Und es gibt eine Linie, die, trotzdem daß sie nur Einem Pole zustrebt, doch schwankend ist wie die Magnetnadel, die Grenze zwischen »Gut« und »Böse«. Die Uebergänge sind oft schroff; ganz deutlich unterscheidet sich das Oel vom Wasser; aber ebenso oft auch rinnen sie ineinander und das schwache Herz, der Sünde schon verfallen, glaubt immer noch unter der Herrschaft reiner und gerechtfertigter Instincte zu stehen! Shakspeare sah die Jesuiten erst entstehen. Sein Richard III., der im Stande war ein Weib am Sarge ihres ermordeten Gatten für sich zu gewinnen, hatte jenen Basiliskenblick, der erstarren macht und jede moralische Entschlußnahme tödtet. Klingsohr, der, eben von der Leiche seines Vaters kommend, in einer dunkeln Nachtstunde von einer wild tyrannischen, imponirend dämonischen, seinen Idealen vom alten Feudalgeist des Mittelalters entsprechenden Natur überredet wird, sie zu schonen – da gehen die schwindelnden Wege im Nachtleben des menschlichen Gemüthes, die niemand sicherer zu wandeln weiß über Dorn und Klippe, fest an der Hand haltend den, den sie führen, als die Jesuiten ... Wie sollst du dich dem Menschen nahen? Der Orden sagt: Ut si non bene ei succedant negotia! Wenn es ihm in seiner äußeren Lage gerade schlecht geht. Oder: Etiam optima commoditas est in ipsis vitiis! Auch aus den Schlechtigkeiten selbst heraus entwickelt sich manchmal ein guter Anlaß zur Bekehrung. Was hier zunächst nur vom Gewinn des Gemüths für die Gottseligkeit überhaupt gesagt worden ist, wurde es auch von jedem Gewinn für die Kirche selbst.

So lebte Terschka seit einer Reihe von Jahren als täglicher Begleiter, Secretär, Geschäftsführer seines wirklich von ihm geliebten Freundes, des Grafen Hugo von Salem-Camphausen. Sorglos durfte er auf alles eingehen, was zu dessen Lebensverhältnissen gehörte. Er durfte die Mutter des Grafen auf Schloß Salem und in Castellungo besuchen. Er durfte sich dem großen Proceß widmen, durfte reisen im Interesse desselben, durfte die Anhänglichkeit an seinen Freund ohne jeden Eigennutz zur Schau tragen. Der Orden rechnete nicht auf das fünf- oder sechsunddreißigste Lebensjahr des Grafen, er begnügte sich mit einem Schritt, den dieser vielleicht erst in seinem sechzigsten, siebzigsten that. Die Stunden kommen dann schon, wo ein alter Podagrist verdrießlich über die Welt wettert, die jung bleibt, während ihm selbst die Zeit das Haar gebleicht; die Stunden, wo man an einem kalten Winterabend bei Schneegestöber im warmen Zimmer sitzt, Anekdoten von der Vergangenheit durchspricht, die nicht mehr zünden wollen, und dann sagt: Terschka, Terschka, ich fange doch manchmal an zu moralisiren: was ist nun wol das Leben! Und dann zuckt ein solcher mit ihm altgewordener, nun auch weißhaariger Freund, der das Gnadenbrot des Protectors ißt, die Achseln, spricht mit feinem Lächeln von der Ruhe, die ihm denn doch zuletzt sein Glaube gewähre, und hat einen Kreis von alten Chorherren, von alten devoten Damen, wo er seine Abende behaglich zubringt und auf die der alte Freund eifersüchtig wird. Nun einmal das schon kühnere Wort hingeworfen: Wenn man denn doch einmal positive Dinge glauben will, lieber Graf, so soll man es auch ganz; lieber alles oder gar nichts! Und das wird dann oft entscheidend ... Daraufhin schrieb einst die Gräfin Erdmuthe aus Castellungo, daß Lady Elliot sie besucht hätte und voll Verzweiflung aus Rom gekommen wäre: vierzehn Engländer hätten zu gleicher Zeit in der Katakombe San-Calisto das Abendmahl nach katholischem Ritus genommen – eben auch deshalb: »Will man einmal positive Dinge glauben, dann auch gleich ganz; sonst lieber gar nichts!«

Terschka genoß das wiener Leben wie dafür geboren und erzogen. Er war der Matador der Gesellschaft und heiterer, als Graf Hugo, der mit den Jahren trübsinnig, nachdenklich und nur noch stoßweise von seinem alten Humor erheitert wurde. Terschka hatte seine Rolle nicht vergessen, aber sie erschreckte ihn eher wie die Mahnung an ein leicht herauskommendes Verbrechen, an dem er betheiligt war, als wie an eine ernste und ihm werthe Pflicht. Er konnte erbeben vor einem Brief mit geistlichem Siegel. Oft war es ihm in Abendstunden, wenn er über die Plätze Wien's eilte, als wenn in den dunkeln Schatten ihm eine verhüllte Person folgte. Die ganze Kette seines Lebens bis zu seinen ersten Anfängen lag dann vor ihm. Gedenke deines Mals am linken Arm! rief ihm einst Nachts im Novembersturm eine Stimme an der uralten Kirche Maria zur Stiegen ... Es war eine Gaukelei seiner erhitzten Phantasie. Er kam von Angiolina, wo es glückliche, unterhaltende Abendstunden gab ... Dann stürzte er in den Beichtstuhl der Piaristen zu Maria-Treu, auf den er von Rom aus angewiesen war ... Kehrte er von der Josephstadt ins Innere Wiens zurück, so war es ihm oft, als müßte ihm aus einem der Fiaker, die an einsamer Stelle hielten, unterm lachenden Sonnenschein ein Unbekannter plötzlich winken, ihn zum Einsteigen auffodern und ihn mit sich zurücknehmen geradeswegs nach Italien in die unterirdischen Kerker, die es im al Gesù gab ... Oft auch wünschte er's, wenn sein Gewissen zu heftig zu schlagen, seine Furcht zu heftig ihn zu erschüttern begann.

Für Terschka war der geistliche Stand nur das gewesen, was Andern die Schul-, Gymnasial- und Universitätsbildung überhaupt. Nur durch Sklaverei hatte er zu einer schöneren Freiheit gelangen können. Aber die Kette ließ ihn nicht. Er zog sie überall hinter sich. Er zog sie mit den Jahren schwerer und schwerer, unmuthiger und unmuthiger. Durch die ihm gestattete Freiheit trat er in eine lebhafte Welt der Discussion ein. Das war damals ein Geist der Freiheit, der Opposition gegen die Herrschaft des allmächtigen Staatskanzlers, eine Lust am Verbotenen und Versagten bis in die höchsten Kreise hinauf, ja bis in die der Unterdrücker selbst, die heimlich mit dem liebäugelten, was sie öffentlich verfolgten. Wie konnte er gegen die Mode des Tags Einspruch thun? Er scherzte mit den andern, lachte mit den Spöttern, vertheidigte nichts, was zumal, wär' es gerade von ihm festgehalten worden, über seine wahre Lebensstellung hätte Verdacht erwecken können. Doch nicht ungestraft wandelst du unter den Palmen! Du lernst die süße Luft der Freiheit lieb gewinnen! Die erquickenden Schatten laden dich zum traulichen Hüttenbauen ein! ... Terschka kämpfte mit sich, ob er die Fessel, die ihn hielt, nicht einst brechen, seinem Freund und der von ihm hochverehrten ehrwürdigen Mutter desselben ganz und für immer sich offenbaren sollte.

Die Bekanntschaft der »Frau in silbernen Locken« vermehrte bis zur Unwiderstehlichkeit in seiner Brust den Drang, diesen Entschluß zu ergreifen. Die Liebe als reine, geläuterte Flamme des Herzens kannte er nicht. Er war ein Wildling gewesen, ein Wanderer der Heide, ein Gaukler, ein Zigeuner. Je schreckhafter er auf das zurückblickte, was er einst war, je gewissensbanger er an seine unwiderruflichen Gelübde dachte, desto ungestümer wuchs sein Verlangen, in allem und jedem das reinigende Feuer der Bildung auf sich wirken zu lassen und die Schlacken der Seele von sich zu werfen. Gerade Monika's religiöser Freimuth durfte ihn fesseln. Frauen von Geist und Grazie kannte er genug, Allen war er werth; seine immer gleiche Weise war jeder weiblichen Natur willkommen, besonders da, wo sie im Mann vorzugsweise nur einen Ableiter ihrer Laune zu haben wünscht. Monika's Geist aber war positiv. Sie hatte Ueberzeugungen und konnte Partei ergreifen. Die Menschen sind so dumm, so dumm! Mit einem Zorn konnte sie das ausrufen, daß ihre Augen Funken sprühten. Terschka hatte nur immer zu beruhigen und in die Bahn des Hergebrachten zu lenken. »Sie sind der ewige Leimer und Versöhner!« sagte sie dann wol. »Sie vermählen den Großtürken mit der Republik Venedig! Was wäre die Welt geworden, hätte es nicht Frauen von Gesinnung gegeben! Perikles lernte Reden erst halten von Aspasien! Die Kraft der Römer lag in ihren Gattinnen und Müttern! Die Frauen haben das Mittelalter vor dem Uebermaß der Barbarei bewahrt! An jeden großen Namen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts knüpft sich eine Frau, die für ihn kämpfte, mit ihm litt, seinen wankenden Muth befeuerte! Napoleon herrschte noch heute, wenn er einer Frau von Geist, vielleicht der Staël, die ihn liebte – sie haßte ihn wenigstens nur aus Liebe – hätte vergeben können, daß sie häßlich war!« Graf Hugo sagte eines Tages in seiner trockenen und einfachen Art: »Das vergibt sich schon, meine gnädige Frau, wenn man nur eine solche häßliche Frau nicht dann auch sogleich wiederlieben soll!« Die Mutter fand den Beruf der Frauen für große Eingriffe ins Leben vollkommen bewiesen durch die Schrift. Sie pries nicht die immerhin etwas zweideutige That der Judith, wol aber die der Deborah, die alles Volk zum Kampfe wider Sissera auffoderte, ja jene Jaël sogar, die dem Sissera, als er schlief, einen Nagel durch den Kopf trieb; nur hätten diese Frauen alle dabei Gott die Ehre gegeben, was man von den atheistischen Gönnerinnen der »Herren Rousseau und Voltaire« nicht sagen könne. »Chère maman«, sagte Graf Hugo scherzend und voll Artigkeit den Dampf seiner Cigarre zum offen stehenden Fenster hinausblasend, »il y en a encore beaucoup de femmes, die uns den Kopf – ›vernageln‹! Mais, chère maman, – sie müssen hübsch sein!« Terschka vermittelte und kam auf Napoleon zurück, auf Josephine Beauharnais, auf die Liebe eines einfachen und rein – weiblichen Weibes – »Pah«, sagte Monika, »Josephine Beauharnais war empfindlerisch und verstand sich nur in türkische Shawls zu drapiren!«

Hätte Terschka, den Schwur vergessend, der ihn gefangen hielt, die Liebe Monika's gewinnen können, er würde sich zu allem entschlossen haben, was zur vollständigen Erreichung seines Glücks gehört hätte. Traten Beide zur Confession der Gräfin Erdmuthe, ihrer Gönnerin, über, so war ihre Verbindung möglich. Aber Monika vermied seine Bewerbung. Sie verstand sie nicht oder gab sich den Schein, sie nicht zu verstehen. Sie wich den Beweisen seiner Gefälligkeit aus. Es gab etwas, was sie von ihm zurückschreckte. Nur die stete Rückkehr der Gräfin auf ein gewisses, wenn auch nur angedeutetes und erst kurz wieder vor ihrer Reise nach England offen behandeltes Kapitel fing an sie zu beunruhigen. Sie floh vor einer Aufregung ihres Innern, die ihr unheimlich wurde; sie floh der Gefahr entgegen, Armgart in die Gewalt ihres aus Amerika zurückgekehrten Gatten übergeben zu sehen. Terschka folgte. Er folgte sogar in der Absicht, Kocher am Fall zu besuchen. Er wollte diesen vielbesprochenen, noch in räthselhafte Nebel und Schleier gehüllten Ulrich von Hülleshoven kennen lernen. Aber die Erbschaftsfrage rief ihn zu bald nach Witoborn. Hier lebte er jetzt seit einem halben Jahre, in dem ganzen, äußerlich mit bewunderungswürdiger Virtuosität verdeckten Zwiespalt seines zerrissenen Innern, in der steten Angst vor einer Mahnung aus Rom, im Kampf mit Entschließungen, die dann für ein ganzes Leben gelten mußten. Und wie war er jetzt so nahe gerückt allen maßgebenden Momenten seiner Vergangenheit; seiner nächsten in der außerordentlichen Katholicität der Gegend – seiner entferntesten in den plötzlichen Entdeckungen, die er über den Laienbruder Hubertus machen mußte! ...

Hatte er eine Ahnung, daß sich ihm bald die mächtige Hand, der er nimmermehr glauben durfte entronnen zu sein, mit Riesenkraft nahen würde, so sollte sie sich in der That erfüllen ...

Er verbrachte eine schlaflose Nacht ...

Am folgenden Morgen begann er seine gewöhnliche Thätigkeit. Er klopfte an die Thür des Onkels Levinus, plauderte und rauchte mit ihm, ließ sich von seinen alten Zauberbüchern, an die der Onkel nicht glaubte und die er dennoch mit hoher Andacht studirte, von seinen chemischen Präparaten erzählen, scherzte sogar über einen Homunculus, den der Onkel am Ende doch noch in der Retorte als seinen Erben und Fortpflanzer des Namens Hülleshoven hinterlassen würde ... er war dann einige Stunden im Rentamt, begrüßte die Damen nach der Toilettenzeit, begegnete auch schon wieder im Schlosse Thiebold, der wegen des inzwischen schon auf morgen angesetzten großen Jagdfestes gekommen war und mancherlei über seinen Ankauf zu besprechen hatte, später begegnete er Benno, der den Nicht-Einladungen der Tante zum Trotz doch ab und zu plötzlich auf dem Schlosse erschien, da auch für ihn im Schreibamt des untern Geschosses Veranlassung zu Nachfragen genug gegeben war ... Allen diesen Begegnungen zeigte Terschka seine gewohnte heitere und zuvorkommende Art und doch war sein Inneres in rätselhafter Unruhe ...

Armgart, bleich und angegriffen, begegnete ihm wieder mit der Postmappe und ließ ihn selbst seine Briefe suchen ...

Wiederum war ein Brief von ihrer Mutter darunter. Doch war das Couvert nicht mit ihrer Handschrift geschrieben. Der Poststempel zeigte auf einen Ort, der nur noch wenige Meilen entfernt war ...

Als wenn Armgart die richtige Ahnung hätte, daß dieser Brief, den Terschka befremdet an sich nahm und betrachtete, die Ankunft der Mutter verdecken sollte, fixirte sie den Empfänger ...

Oeffnen Sie ihn doch! sagte sie mit Bestimmtheit. Es ist doch wol nur ein Brief von meiner Mutter – nicht wahr?

Wie kommen Sie darauf? Sie sehen, die Handschrift –

Und jetzt freilich las Terschka am wenigsten ...

Ich weiß alles! sagte sie und warf die Mappe auf einen Tisch, der in der Nähe stand, und eilte davon ...

Terschka stand bestürzt. Ein Diener, der des Weges kam, hob einige herausgefallene Briefe und Zeitungen auf und trug die Mappe auf Terschka's Geheiß zum Onkel Levinus ...

Auf seinem Zimmer sah Terschka, daß Armgart recht hatte. Monika war in einer der nahe gelegenen kleinen Städte angekommen und deutete an, daß sie hoffte, in kurzem auf Westerhof zu sein. Sie machte Terschka nicht zum Vertrauten ihrer Absichten. Sie schrieb ihm nur um einer Einlage der Gräfin willen, die diese ihr mit besonderm Couvert abzusenden aufgetragen hatte; es war eine unbedeutende Sache, in der die Gräfin schrieb – sie wollte eben nur Monika zwingen, mit Terschka in Verbindung zu bleiben; sie war in ihrer Art eine ebenso fanatische Proselytenmacherin, wie die Jesuiten auch. Monika's Begleitschreiben wich allem aus, was ihr Terschka über das nächste Geschäftliche hinausgeschrieben hatte, ja es war förmlich ...

Terschka ging im Zimmer auf und nieder. Er verbarg den Brief und sagte sich: Vergebens! Vergebens! Diese Hoffnung erfüllt sich nicht! Das ist ein Traum gewesen, der nur in meiner Phantasie gelebt hat! Dahin ziehen dich deine Sterne nicht! ...

Nun mußte ihn Armgart's Wesen befremden. Er hatte ihm anfangs nicht viel nachgedacht. Seit einigen Tagen bildeten sich ihm in seinem Innern Gedankenreihen darüber. Liebt dich denn wol gar dies seltsame Mädchen? sagte er sich schon seit längerer Zeit. Sie wollte von ihm reiten lernen. Er hatte damit auch begonnen und sich überzeugt, welche Geister sich in ihrem Innern befanden – gebunden und wie entfesselbar! Heute war ihr Benehmen wieder zu auffallend gewesen ... Es flammte und brauste in seinem Innern ... So kalt die Luft ging, er mußte das Fenster aufreißen ... Träume, Wahngebilde der berauschendsten Möglichkeiten umgaukelten ihn ...

Da klopfte es an sein Zimmer und Benno war es, der nur flüchtig hereinschaute ...

Bester Baron, sagte er mit dem ihm eigenen ironischen Lächeln, das seine Lippen vorzugsweise Terschka gegenüber umzog; wissen Sie schon, das Obertribunal hat gestattet, daß Nück's Verlangen, noch einmal die Archive von Westerhof in Ihrer und meiner Gegenwart untersuchen und nach seiner verdammten Urkunde kramen zu dürfen, genehmigt wird! Herr von Hülleshoven hat dafür den nächsten Montag bestimmt. Ist es wol da auch Ihnen genehm?

Auf sein: Mit Freuden, Herr von Asselyn! war Benno schon verschwunden ...

Es lag in Terschka's Charakter, nicht zurückzubleiben, sondern trotz der größten Aufregung einem Besuche zu folgen und ihm die Begleitung zu geben. An die Cadenz der Höflichkeit, die in der Jesuitenerziehung gelehrt wird, war er gewohnt ...

Wie er hinaustrat, war Benno auf einer der kleinen Lauftreppen verschwunden ...

Nun aber sah er am entferntesten Ende des Corridors eine seltsame Gruppe ...

Dort stand Armgart und reichte eben Thiebold de Jonge die Hand ...

Thiebold küßte diese Hand und sie ließ es geschehen ...

Fast schien es, als hätte Thiebold auch einen bunten Gegenstand, den er in Händen hielt, mit Küssen bedeckt ...

Armgart schien sogar zu weinen ... Darauf deutete ein Taschentuch in ihrer Hand ...

Schweigend standen beide eine Weile in sich verloren; dann raffte sich Armgart auf, winkte mit der Hand ein Lebewohl und verschwand ...

Thiebold sah ihr lange nach, zog jetzt gleichfalls sein Taschentuch, trocknete sich – halb die Augen, halb trotz der Kälte, wie im heißesten Sommer, die Stirn und wandte sich, ohne aufzublicken, gleichfalls einer der Lauftreppen zu, die aus dem ersten Stock ins Erdgeschoß führten ...

Was ist das nur? sagte sich Terschka und schritt weiter, als müßte er Armgart anreden ...

Denn schon, schon faßten ihn die Geister der Versuchung. Eben noch hatten ihn die wenigen Worte Benno's über die Urkunde mit furchtbarer Macht an den Augenblick erinnert, wo sein General vor ihm stand und ihm sagte: Fände sich die Urkunde, die für die Antretung der Erbschaft unsere Religion bedingt, so würde sich das ganze Verhältniß ändern, die Gräfin würde durch einen Familienpact den Grafen Hugo heirathen müssen und die Aufgabe für uns würde eine leichtere werden! Man riefe ihn dann vielleicht – nach Rom zurück ...

Aber dieser wie Donnerton auf ihn einbrechenden Gedankenreihe konnte er nicht volles Gehör schenken, die Mittelstufen derselben wankten, Seligkeit und Qual rangen wie im Titanenkampf ... Es zog ihn vorwärts und vorwärts ... Was sollte dieser Abschied von dem jungen Thiebold sagen? Warum nur stand vor ihm der liebliche Engel so seltsam bewegt? ... Wie verklärt diese Augen! Wie ganz dem Bild ihrer Mutter gleichend! Sie aber noch die wirkliche Jugend, das wirklich blühende Leben – kein Silberschnee des Haares, der die Jugend Lügen strafte ... Und Terschka's Abenteurernatur wurde entfesselter. Losgebunden regte sich die Seele des Emporkömmlings, der sich an alles hält, was ihn erheben und fortreißen kann. Eine der Krallen des apokalyptischen Thieres nach der andern, der »Probabilismus« und die siebenköpfige jesuitische Moral des: »Besser ist besser!« packte ihn in furchtbarster Gewalt ... Taumelnd folgte er ...

Er kam an das Ende des Ganges, der, da das Schloß im Geviert gebaut war, hier nur der Anfang eines im rechten Winkel sich einsetzenden neuen war ... Hier sah er, daß Armgart ein in den Hof gehendes Fenster geöffnet hatte und hinunterwinkte ...

Dem ihm zunächstliegenden Fenster sein Auge zuwendend sah er, daß es nun auch Benno war, den sie mit schwacher, erstickter Stimme anrief ...

Benno unten verstand sie nicht sofort ...

Nun winkte sie ihm heraufzukommen ...

Benno eilte auf die erste der kleinen Treppen, die in den Hof gingen ...

Terschka zog sich zurück ...

Offenbar, sagte er sich, hat sie mit de Jonge eben eine Scene gehabt, die sie mit Asselyn ganz ebenso wiederholen will ...

Schon war Benno oben, schon hatte er dessen zwar leicht, aber doch ohne Zweifel tieferbebend Armgart dargebrachten Morgengruß vernommen ... Armgart erwiderte nichts ... Terschka hörte nur das Klappen einer Thür ...

Er trat dann wieder vor ... Armgart und Benno waren verschwunden ...

Das Zimmer, in das sie hatten gehen müssen, kannte er. Es war dasselbe, in dem neulich Bonaventura seine Mutter wiedergesehen. Nichts hielt ihn, am wenigsten die Moral seiner Bildung und Erziehung, zu versuchen, das Gespräch Benno's und Armgart's zu belauschen ...

Die Schlüssel der Zimmer standen ihm zu Gebote. Mit wenig Sprüngen war er beim Onkel Levinus, schützte das Interesse an einem alten Stammbaum vor, der in einem großen Speisesaal hing, nahm die Schlüssel von der Wand, schloß etwa fünf bis sechs Thüren entfernt von der, hinter welcher jenes Gespräch stattfand, einen Saal auf, schloß wieder hinter sich zu und ging vorsichtig und langsam durch die entweder offen stehenden oder nur leise aufzuklinkenden Verbindungsthüren hindurch bis zu dem Nebenzimmer des Fremdenstübchens ...

Auch dort trennte ihn von dem Gespräch nur eine Thür, an die er sein Ohr legte ...

Es war kalt und schauerlich still in allen diesen alterthümlichen Räumen, von denen einige mit großer Pracht ausgestattet waren ...

Ihn kümmerte nichts ... Er horchte nur ...

12.

Schon tief in seinen Erörterungen mußte das junge Paar vorgerückt sein.

Dennoch staunte Terschka, eine scheinbar so ruhige Conversation zu vernehmen ...

Nein, nein, sagte Armgart mit so leiser Stimme, daß auch nur Sein feines Gehör geschickt war folgen zu können – nein, nein, wissen Sie wol, lieber Freund, damals in Lindenwerth, als Sie uns zum ersten male besucht hatten? Es war ein Frühlingstag. Die Syringen blühten, die Nachtigall sang. Das Pensionat wanderte in die Sieben Berge. Sie, Asselyn, gingen mit uns und als wir in eine Schlucht kamen, die sich so wunderschön öffnete, ganz grün war sie und verlor sich dann in Felder mit goldenen Repssaaten – da hieß es, dies Thal wäre die Aue – und da sagten Sie blos: Hartmann von der Aue! ... Wer ist das? fragte ich ... Ein Minnesänger! sagten Sie und setzten hinzu: Kennen Sie das Gedicht vom armen Heinrich nicht –?

Eine Pause trat ein ... Benno schien sich zu besinnen ...

Vom armen Benno! sagt' ich wol – warf er leise und bedeutungsvoll ein ...

Nein, nein, erwiderte Armgart, diesem Tone ausweichend, vom armen Heinrich, dem zu Liebe sich einst eine fromme Jungfrau geopfert hätte ... Sie wollten's mir erzählen und die dummen Mädchen kamen dazwischen mit ihren Eseln – wissen Sie noch, sie wollten sämmtlich Esel reiten und die Steigbügel waren zu lang –?

Werden Sie denn morgen mit bei der Jagd sein? unterbrach Benno, der noch nicht zu ahnen schien, was Armgart Ernstes mit ihm vorhatte ...

Ich weiß es nicht! antwortete sie. Die Tante sieht soviel Gefahren ... Auch ist Paula heute wieder aufgeregter, denn je ...

Benno schien nur zuzuhören ...

Die Tante hatte den Münnichs versprochen, den Püttmeyer'schen Bildern beizuwohnen ... Ich wenigstens könnte mit zu diesen trotz der Trauer ... Aber ich weiß es noch nicht ... Erzählen Sie mir von Hartmann von der Aue und vom armen Heinrich!

Liebe Armgart, begann Benno, dieser arme Heinrich war ein schwäbischer Ritter, der in den heiligen Krieg zog und das Unglück hatte, statt mit großer Beute nur mit einer schweren Krankheit heimzukehren, die kein Doctor heilen konnte! Man nannte die Krankheit die Miselsucht. Ritter Heinrich war nicht einmal jung, vielleicht nicht besonders liebenswerth, er war ein guter Guts- und Grundherr. Einem seiner Vasallen, seinem Meyer, wie das altdeutsche Gedicht sagt, blühte ein Töchterlein, den Namen hab' ich vergessen – wollen wir sie – Armgart nennen?

Gewiß! antwortete Armgart und sprach dies ganz aus schwerem Herzen und voll ernster Zustimmung ...

Nun gut! Des Meyers Töchterlein, Armgart, hört von dem Leid des guten Ritters, der nach Salerno gereist war, wohin man damals reiste seiner in medicinischen Angelegenheiten berühmtesten Universität wegen ... Salerno liegt in Italien ...

Ich weiß! sagte Armgart auf Benno's nicht ganz harmlose Erklärung. Aber ihr: Ich weiß! war ohne jede Empfindlichkeit. Klärchen im »Egmont« konnte, abschließend mit dem Leben, ihr elegisches: »Weißt du, wo meine Heimat ist?« nicht ergebener sprechen ...

Nun kommt eine Botschaft aus Italien! fuhr Benno fort, der Ritter könnte genesen, hieß es, wenn eine Jungfrau rein sich fände, die für ihn in den Tod ginge. Ich kann im Augenblick nicht sagen, liebe Freundin – Sie müssen den Domherrn fragen, der in diesen Gedichten heimischer ist, als ich – ob der Ritter das Blut der Jungfrau trinken oder in seine geöffneten Adern aufnehmen sollte ... Letzteres ist auf der Universität Göttingen neulich, das heißt umgekehrt, vorgekommen; ein junger Student hat sich dazu hergegeben, sein Blut durch Transfusion in die blutleeren Adern einer jungen hinsiechenden Frau hinüberleiten zu lassen ... Die junge kranke Frau wurde neubelebt durch Studentenblut ... Wird sie ihn nicht ewig lieben müssen?

Scherzen Sie nicht, Asselyn!

Sie glauben nicht daran? Dann glauben Sie auch nicht, wie zwei Freunde es machen müssen, die scheiden und sich in der Ferne treue Kunde geben wollen? – Gesetzt wir beide! Ich reise nächster Tage ganz aus Ihrer Nähe – und wer weiß, auf wie lange! ...

Asselyn! unterbrach Armgart mit einem sanften Tone, setzte aber, sich sogleich beherrschend, hinzu: Wie machen es zwei Freunde, wenn sie sich trennen und sich voneinander Kunde geben wollen? ...

Sie ritzen sich gegenseitig eine Wunde, füllen das tröpfelnde Blut einer dem andern in die seinige und lassen so sie heilen! Reist nun der eine gen Amerika und der andere gen Asien, so können sie sich ohne alles Briefporto, ohne alle Telegraphie im Nu verständigen. Der eine will dem andern sagen: Ich grüße dich von ganzer Seele! – da nimmt er nur eine Stecknadel und sticht auf die geheilte Wunde. Im Nu fühlt der andere an derselben Stelle den Stich. Jetzt gibt er Acht; dieser erste Stich war nur ein: Hab' Acht! Nun nimmt er ein Blatt Papier, einen Bleistift und zählt die fernern Stiche, die er fühlt. So kommen bestimmte Buchstaben zusammen und zwei auf diese Art blutsverbundene Freunde können über tausend Meilen weit im Nu sich sagen: Es geht mir wohl! Ich liebe dich immer und ewig! Ich sterbe! ...

Benno! ...

Es dauerte eine Weile, bis Terschka Weiteres hörte ... Sein Herz schlug so laut, daß es ihm selbst hörbar wurde ...

Endlich schien Benno sich gefunden zu haben ... Wenigstens hörte Terschka die Worte:

Zwanzig Meilen nach dem Westen, da gibt es ja noch Postverbindung! Oder wollen Sie etwa weiter noch – nach dem Osten?

Vielleicht ...

Wohin?

Nach Wien!

Terschka horchte auf ...

Mit Ihrer Mutter! sagte Benno gelassen ...

Armgart schwieg ...

Mit wem? fragte er dringender ...

Erzählen Sie mir von der Tochter des Meyers! war Armgart's ausweichende Antwort ...

Mit wem? drängte Benno ...

Wie ließ sie ihr Leben für den kranken Ritter?

Mit wem? wiederholte Benno und rief diesmal so laut, daß Armgart ihn um aller Heiligen willen um Ruhe bat ...

Was that die Jungfrau? sagte sie dann ...

Fragen Sie den Domherrn! antwortete Benno mit hörbarer Erregung und voll Bitterkeit. Ich glaube, sie sollte sich auf den Secirtisch der Anatomie legen und sich von den Professoren zerschneiden lassen! Das Mädchen, ein zweites Käthchen von Heilbronn, reiste richtig nach Salerno, bietet sich auf der Anatomie zu jedem Experimente an – Die Professoren erstaunen und, wie beim Opfer Abraham's schon der Wille für die That gewirkt hatte, so wird auch hier der Ritter gesund und heirathet die Tochter seines Meyers ...

Das ist dumm! wallte Armgart auf ...

Wegen der Mesalliance? Oder erwarteten Sie den Opfertod?

Gewiß! ... Das Schicksal ist auch wol so gnädig, wie ihr Poeten! Wo etwas Notwendiges von den Umständen vorgeschrieben wird, geschieht es auch! Das steht in den Sternen!

Armgart! Sie wollen so eigensinnig sein, wie manchmal denn doch – die Liebe Gottes nicht ist? Welchen Opfertod suchen Sie denn?

Armgart schwieg ...

Sprechen Sie, Armgart –! Was wollen Sie in Wien –? Ich beschwöre Sie! ...

Benno errieth nicht, welche Gedankengänge in Armgart schlummerten, welchen Opfertod sie meinte ... Daß aber Wien und Terschka zusammenhing, das mußte ihm gewiß sein ... Terschka hörte, daß er eine Rede abbrach, die aus seiner mächtigsten Aufwallung zu kommen schien. Wie mit einer sich beherrschenden Stimme sprach er:

Ich denke, Sie leben nur der Vereinigung Ihrer Aeltern?

Das thu' ich auch! In wenigen Tagen werden sie verbunden sein!

Wer sagt Ihnen das?

Meine Ahnung!

Was der Mensch getrennt hat, kann kein Gott wieder zusammenfügen! Selbst Sie nicht, Armgart!

Atheist!

Können Sie wissen, was sich Ihre Aeltern vorzuwerfen haben?

Nichts haben sie sich vorzuwerfen! Und wenn –! Die Kirche scheidet nicht! Sagten Sie nicht oft, Vater und Mutter – beide sind Menschen voll Hochherzigkeit und Edelmut? Und sie sollten sich nicht angehören? Nicht ewig?

Liebe erzwingt sich nicht! Das – – das seh' ich ja!

Die Liebe ist ein Wahn!

Armgart!

Nur Gott ist die Liebe! Gott sagt, wen und was die Liebe wählen soll! ... Ha, Sie sprechen von Glück, Benno? Thorheit, Thorheit menschlicher Schwäche, die nur in Befriedigung ihrer eiteln Wünsche Beruhigung findet! Wohl! Schön muß es sein, herrlich zu leben, das geb' ich zu, wenn das Herz erreicht, wonach es verlangt ... Aber auch stückweise es hinzugeben, wenn es die höhere Pflicht begehrt, die Prüfung unserer Größe es will – darin kann ebenso viel Freude liegen – oder glauben Sie nicht, daß Hedwig von Polen glücklich war, als sie dem Ferdinand von Oesterreich, den sie liebte, entsagte und den Heiden Jagello zum Manne nahm, der ihr seine Taufe, die Taufe eines ganzen Volkes, zur Morgengabe brachte? Wie sie ihren Brautschleier der Mutter Gottes von Krakau schenkte, muß ihr das Leben anfangs wie unter einem schwarzen Gewitterhimmel dahingezogen sein! Dann aber umsäumte es sich rosig und gewiß, gewiß – sie wurde glücklich!

Armgart! rief Benno außer sich voll Erstaunen ... Und alles wurde jetzt still ... Terschka sah im Geist seinen Schutzheiligen, den achtzehnjährigen Polen Stanislaus von Kostka, dem beim Gebet sein Antlitz von Verklärungsschimmer überleuchtet gewesen ... Ebenso auch hörte er Monika, deren Methode, zu fühlen und zu denken, ganz dieselbe war, wie bei ihrer Tochter, wenn auch ihr Fühlen und ihr Denken andern Ergebnissen zugute kam ... Sein Herz verstand, was er hörte ... Dämonen raunten ihm zu:

Willst du mitleidig sein mit diesem jungen Mann, der seinen Abschied auf ewig – um deinetwillen erhält? Willst du thöricht sein und um einer solchen von Göttern zu beneidenden Hingebung willen gestehen, daß ihr Opfer – ihre Absicht, ihn – von ihrer Mutter zu trennen, auf einem Irrthum beruht? ...

Armgart! Armgart! Ich beschwöre Sie, was geht in Ihnen vor? rief Benno ...

Ich lebe – einem Gelübde! ...

Himmel, kann denn irgendeine That Gott wohlgefällig sein, die Ihr Herz Gefahren aussetzt, für die keine, keine Himmelskrone Sie entschädigen wird?

Lästerung!

Wem wollen Sie Ihr Herz, Ihre Hand zum Opfer bringen? Warum, warum nur lieben Sie – Terschka?!

Kein Aufschrei Armgart's erfolgte ... Alles blieb still ... Lange, lange blieb es still ... Terschka begriff nicht, warum beide plötzlich schwiegen ...

Allmählich begann Benno zu sprechen ... Er sprach so leise, daß Terschka nicht folgen konnte ... Dem Schlüsselloch Ohr und Auge zuzuwenden wagte er nicht, ungewiß, ob die nebenan herrschende Stille nicht jede seiner Bewegungen verrathen könnte ... Vor seiner Phantasie stand Benno in diesem Augenblick, als müßte er Armgart an beiden Händen halten, müßte ihr tief in die Augen blicken, müßte mit ruhiger Ergebung ihr die ganze Wahrheit seines Herzens enthüllen und ihr sagen: So sollst du hinschwinden, schöner Traum meines Lebens, und wer, wer konnte dich fesseln! Wer konnte dir werther sein, als ich! – –

Die Worte, die Terschka allmählich dann unterschied, lauteten:

Armgart! Wenn irgendjemand die Stimmungen kennt, in denen man, wie wir so oft in den Gärten des Enneper Thals nach den schwellenden Früchten über uns nicht langten, ebenso auch sein Glück dahinziehen läßt unerstrebt, so bin ich es! ... Aber bleiben Sie nur, Armgart! ... Ich wurde schon ruhiger, seit ich wußte, daß auch ein Freund Sie liebt! ... Denn wie wollen Sie es nennen, wofür die Sprache nur Ein Wort hat! ... Sie erklärten vorhin dem Freund ohne Zweifel mit derselben Bestimmtheit, wie mir, daß Sie aus unserm Leben auszuscheiden wünschen und unsere Bewerbungen ferner nicht mögen ... Nun denn! Ich nehme den Aschenbecher, wie er, der Fröhlichere – die Tasche für schnell verkohlende – Cigarren! ... Wer Ihr Herz besitzt, ich sagte es vorhin ... Herr von Terschka wird eine große gesellschaftliche Stellung einnehmen, wird Sie in das schöne Wien entführen, dort werden Ihnen Glück und Reichthum lächeln! ... Fliegen Sie mit ihm zu Roß dahin in flatterndem Gewande! ... Aber nehmen Sie ein Wort von mir zum Abschied! ... Ich bin Ihnen nichts mehr und nun – nun bin ich mir noch weniger, als schon seit lange ... Ihre Tante hat recht, mich wie einen Zigeunerknaben zu behandeln, den man nur aus Barmherzigkeit aufnimmt ... Ich bin ein verflogener Vogel und passe für euere Käfige nicht ... Doch ich werde Sie wiedersehen; das weiß ich ... Wissen Sie, Armgart, daß ich auch Das sicher und fest weiß – daß ich Sie trotz Ihrer von unserm Glauben gebotenen Himmelskronen – ich weiß nicht warum! – unglücklich finden werde? ... Und Sie bejahen das –? ... Aber auch Ihr rätselhaftes Martyrerthum wird Sie nicht befriedigen! Es gibt Naturen, die nicht aus Erdenstoff geschaffen scheinen und die dennoch mehr den Gesetzen der Erdenschwere unterliegen, als die gemeinen! Ihre Mutter schon rettete sich nur durch eine Flucht ganz aus der Welt heraus vor Gefahren, in die nun auch Sie sich begeben wollen; Ihre Mutter wird von Tausenden verurtheilt, ohne daß sie es verdient; sie wird verurtheilt und – sie leidet darunter ... Auch Sie, Sie, Armgart – werden den Beifall der Menschen vergebens suchen, wenn Sie ihn nicht mehr finden können ... Ich erschrecke vor Ihrer Zukunft!

Armgart erwiderte leise und sprach lange. Terschka konnte nichts verstehen, als daß sie nur vom Beifall Gottes und von ewiger Trennung sprach ...

Endlich wurde alles still ...

Die Thür ging ... Noch hörte Terschka nur ein plötzliches, heftiges, aus tiefster Seele kommendes Schluchzen ...

Armgart mußte allein sein ... Ihr Weinen wurde zuletzt so heftig, daß es sein Innerstes durchschnitt ...

Anfangs wollte er hinüberstürzen, sich ihr zu Füßen werfen, die Liebe, die wirklich nur ihm, ihm geweiht sein konnte, ablehnen, wollte die Wahrheit bekennen, daß er Priester wäre, ein gerade in ihren Augen todwürdiges Verbrechen begehen würde, schon an ihren Besitz auch nur zu denken – – Dann aber erschreckten ihn – erst die Thränen Armgart's ... er konnte ihr Weinen nicht mehr hören ... Er verlor die Besinnung ... Leise schlich er auf den Zehen durch die Zimmer zurück, kam zum großen Speisesaal, öffnete die Thür, die in den Corridor führte ... Alles war still ... Niemand wol hatte ihn beobachtet ... Durch ein Fenster in den Hof blickend, entdeckte er Thiebold und Benno, wie beide schweigend, vernichtet, erstarrt zur Erde blickend zum Portal des Schlosses hinausgingen, wahrscheinlich um gemeinschaftlich nach Witoborn – und in ein neues Leben zurückzukehren ...

Die Mittagsglocke läutete, die alles in dem kleinern Speisezimmer vereinigte ...

Tischgenossen, die der Zufall brachte, gab es in dem gastfreien Hause genug ...

Nun schon trat Armgart hinter Terschka hervor ... Tief verweint waren zwar noch die Augen ... Doch rang sie schon nach Unbefangenheit ...

Herr von Terschka, sagte sie mit leiser Stimme, ich will Nachmittag nach Heiligenkreuz ...

Der Wagen ist schon für die Damen bestellt! sagte er ... Wie mußte er sich beherrschen, nicht ihre Hand zu ergreifen ... Nicht in die Augen konnte er ihr sehen ...

Es sind mir ihrer zu viel ...

So bestell' ich zwei Wagen ...

Ich will zu Fuß gehen ...

Es wird Abend werden, ehe Sie fortkönnen ...

So können – so können Sie mich ja – begleiten ...

Damit stand Terschka allein ...

Auf dies Wort »begleiten« kämpften Himmel und Hölle ...

Terschka begriff vollkommen, was in Armgart vorging ... Sie hatte ein Gelübde gethan, um den versöhnten Aeltern anzugehören. Sie glaubte: Er wäre ein Hinderniß dieser Versöhnung –! Die Mutter wäre im Begriff, ihn zu lieben –! Deshalb – Deshalb –! Wie Glühstrom fiel es auf ihn: Deshalb reißt sie mich mit Gewalt von einer eingebildeten Liebe ihrer Mutter los und will mich selbst gewinnen – – – Die Möglichkeit, daß ein solcher Gedanke in ihr entstehen, dies Ertödten ihrer Neigung zu Benno möglich sein konnte, übersah er ... Armgart war katholisch! ...

Sollte er nun dies Wahngebild sich immer weiter ausbilden, immer verheerender im Herzen der lieblichen Jungfrau um sich greifen lassen? Um sich greifen lassen auf Grund einer Voraussetzung, die – das sah er ja beschämt – in Betreff Monika's eine völlig unbegründete war und auf Verwickelungen hinausführte, die nie zu lösen schienen –?

Im Abenddunkel sah seine Aufregung ihn mit Armgart allein dahinschreiten durch die Winterlandschaft ...

Im Geist sah er Armgart neben sich, im Pelz die Hände bergend, deren eine er vielleicht, von seinem Glück überwältigt, verwegen ergriff beim Eintritt in den dichtern Tannenforst ...

Im Geist hörte er, was sein Uebermuth, sein Leichtsinn ihr zu sagen wagen würde: Wie hab' ich Sie einst schon gesucht an jenem stürmischen Regentag, als die Jugend von Lindenwerth zur Villa in Drusenheim kam! Wie zog mich Ihre Flucht Ihnen nach! Den schnellsten Renner hätt' ich satteln lassen mögen vor Eifersucht, nur um der Dritte sein zu können unter denen, die in Ihrer Nähe weilen durften ...

Dann sah er Eulen auffliegen, die den Schnee von den Aesten verschütteten, auf denen sie gesessen ... Rehe, Hirsche – Unthiere, sah er aufgescheucht vom Vortreiben zur morgenden großen Jagd, durch die Gebüsche brechen ... Der Mond stieg am äußersten Rand des Horizontes empor ... Ausmalen mußte er sich, wie er würde Abschied nehmen müssen an der Allee, die nach Heiligenkreuz führt, und wie er würde zurückkehren, wenn sein alter, gewohnter Lebensübermuth ihn übermannt hätte ... Toll, toll würde er in die Nacht hinauslachen, bis – – plötzlich aus den Büschen an jedem Seitenwege ein Bote seines vergangenen Lebens träte – Jean Picard, sein Gespiele – Franz Bosbeck, sein Lebensretter – van Prinsteeren, der ihn einst zuerst aufs Pferd gehoben – jener Schweizersoldat, der ihn mit in die Alpen nahm – er hörte das Stampfen der Rosse in der Kaserne der Lanzenreiter zu Rom – sah die Benfratellen, wie sie ihn in das Spital an der Tiber trugen – dann hatten sie alle, alle Todtenhemden an und Larven über dem Antlitz; es war die Bruderschaft della Morte ...

So noch fiebernd, so in Jesuitenart schwankend, so im zagenden Begriff zur Gesellschaft einzutreten, erschütterten ihn zwei Thatsachen, die dann noch zu gleicher Zeit auf ihn eindrangen ...

Um ihn her war es plötzlich seltsam lebendig geworden ...

Er sah, daß es die Anzeichen einer neuen Vision der Gräfin waren ...

Er hörte, daß Stimmen des Erstaunens durcheinander gingen ...

Er sah Bonaventura kommen ... sah diesen von Tante Benigna, von Onkel Levinus in hastigster Aufregung begrüßt, sah das Erbleichen des Domherrn, als ihm die Mittheilung wurde, daß Paula im Hochschlaf läge und von den schmerzlichsten Anschauungen gefoltert würde ...

Zu gleicher Zeit bemerkte er aber auch auf dem Corridor, der zu seinen Zimmern führte, im weitesten Hintergrunde und grell von einem Sonnenstrahl beleuchtet – einen Mönch ...

Ein Lebender war das, der da herkam, aber seine funkelnden Augen schienen zwei Flammen aus den Höhlen eines Todtenkopfs zu sein ... Die Kiefern des Mundes bewegten sich ... Sie lächelten ihm von weitem so freundlich, daß die Grübchen auf den Wangen sich ausfüllten wie mit Blumen unter Leichensteinen ... Ein langes, weites, braunes Gewand hing wie über einem Skelet, das lässig, doch absichtsvoll daherschritt ...

Herr von Terschka? riefen Diener im Hintergrund ... Ist dort! sagten andere und schossen an ihm vorüber ...

Ahnend stand Terschka an der Schwelle des Eintrittsaales am Weihebecken ...

Der Mönch näherte sich ...

Zugleich sprach voll Schrecken Bonaventura, der neben Terschka stand: Um Gott, was sieht sie? ...

Eine Feuersbrunst! riefen mehrere Stimmen vom grünen Zimmer her ...

Unter Terschka wankte der Boden ...

Der Mönch kam näher und näher ...

Voll Schmerz und Verzweiflung liegt sie! erzählte man durcheinander ... Sie sieht ein Hans in Flammen! Sie fürchtet zu verbrennen! Kommen Sie! Helfen Sie, Herr Domherr!

Aber auch der, der einst Terschka aus den Flammen gerettet, kam näher und doch schien der Corridor sich weit, endlos zu erstrecken bis zu den Corridoren und Kerkern – des Al Gesu in Rom ...

Jetzt hielt der gespenstische Bruder einen Brief empor, der nur an Terschka gerichtet sein konnte, denn auf ihn, ihn blickte unverwandt das freundliche Nicken des Todtenhauptes ...

Es ist das Schloß, das brennt! berichteten neue Stimmen und riefen Bonaventura, dessen Hand Onkel Levinus ergriffen hatte, als sollte er Hülfe bringen und Paula beruhigen ...

Das ist Hubertus! sagte sich Terschka und an seinem Arm brannte das Mal in lichterlohem Feuer ...

Bonaventura war aus dem Vorsaal in das grüne Zimmer getreten wie ein Hülfebringender, wie ein Rettender vor dem Tod in Feuersgluten, die er um sich her, seiner Ahnungen eingedenk, durch die Fenster hereinbrechen, rings das Gebälk ergreifen, eine Welt in Asche legen sah ...

Und auch Terschka sollte folgen ... Onkel Levinus erwartete es und harrte ...

Doch der Mönch, was will – der Mönch? ...

Bruder Hubertus! sagte Onkel Levinus, ihn erkennend und nach obwaltenden Umständen erfreut begrüßend. Sie kämen schon zurecht, um auch hier aus Flammen zu retten? Die Gräfin hat eine schwere Vision ...

Bruder Hubertus trat lächelnden Mitleids naher, verbeugte sich, zuckte die Achseln, als wisse er gegen solche Offenbarungen der Gottheit keine Hülfe, und übergab an Terschka, diesen immer mit seinen Augen wie verschlingend, den Brief, den er ihm schon so lange entgegenhielt ...

Terschka ergriff den Brief ... Das Siegel war geistlich – – noch kam es nicht aus Rom ... Pater Maurus, der Provinzial der Franciscaner, schrieb ihm nur unter dem großen Siegel seines Klosters ...

Terschka erbrach und las ...

Jetzt zog ihn der Onkel, um das ihm wichtiger Scheinende in den Zimmern drinnen nicht länger zu versäumen ...

Ich werde kommen! hauchte Terschka – gelblichbleich war er geworden wie der von der Wintersonne gefärbte Schnee auf den Feldern ...

Noch einmal wandte er sich zu dem an der Thürschwelle harrenden und mit glühenden Augen ihn durchbohrenden Boten und sagte:

Ein Brief – für mich – schreibt Ihr Guardian wäre im Kloster angekommen – wissen Sie nicht – woher?

Mit einer Miene, die das seligste Gefühl ausdrücken sollte: Bist du denn, Mann mit dem mir so theuren Namen, mit der ahnungsvollen seltsamen Gestalt, bist du denn wol gar verwandt mit dem Kinde – oder selbst –? sprach dieser ein Wort, das dann für Terschka's Ohr erklang wie die Posaune des Weltgerichts:

Aus dem Kloster der Piaristen zu Maria Treu in Wien!

Terschka – verschwand jetzt ... Nicht zusammenbrechend, nicht niedergeschmettert von einem Wort, das ihm lauten durfte: Deine Stunde ist abgelaufen! sondern wie mit einem Muth auf Leben und Tod ... Er dachte an Armgart.

Der Mönch stand noch immer und sagte nur zu den Dienern staunend:

Wenzel von Terschka –!

Von den Vielbeschäftigten konnte dem Greise niemand Gehör geben.

Die Schlußkapitel dieses fünften Buchs erfolgen im Anfang des sechsten Bandes.

Sechster Band Fünftes Buch
13.

Noch in derselben Nacht schlug das Wetter um. Zum Schnee gesellte sich Regen. So begann die Jagd schon ganz mit Bestätigung der trüben Ahnungen, die Tante Benigna um die Nachtruhe gebracht hatten; Paula sah am Tag zuvor eine Feuersbrunst und zusammenstürzende Gebäude, die sie nicht zu nennen vermochte ...

Terschka war heute schon in aller Frühe aufgebrochen und hatte zum Schloß Münnichhof, wo sich die Mehrzahl der Mitglieder des großen Jagdfestes versammeln wollte, einen Umweg über Kloster Himmelpfort gemacht ...

Noch am Abend hatte er Armgart nach dem Stift Heiligenkreuz zurückbegleitet, war spät wiedergekommen, dann beim Thee nicht erschienen ...

Bonaventura hatte sich unmittelbar nach der Vision entfernt ... Mit leicht erklärlicher Aufregung hatte er Paula gefragt, welches Gebäude sie brennen sähe, und von ihr keine Antwort erhalten ... Ja er magnetisirte sie, um ihr Auge zu schärfen ... Sie verfiel dadurch in einen desto sanftern Schlummer, aus dem sie Niemand mehr wecken mochte ...

Onkel Levinus gehörte einer Familie an, die in den frühern geistlichen Zeiten die Landoberjägermeister der Fürstbischöfe von Witoborn gewesen waren. In jagdgemäßen Traditionen war er aufgewachsen. Aber von dem Ideal eines Nimrod stand er so weit entfernt, daß Tante Benigna vollkommen Recht hatte zu befürchten, man könnte statt der erlegten Hirsche und Rehe auch allenfalls ihn selbst, den weiland Candidaten des Erblandoberjägermeisteramts, auf dem Beutewagen nach Hause fahren. Wie sie ihm die Pelzkappe darreichte, den Fußsack seinem Leibschützen Soetbeer auf die Seele band, ja sogar diesem zuflüsterte, wenn der Baron einen feuchten oder zu langen Stand im Walde bekäme, den Fußsack bei der Hand zu behalten; wie sie das Lederfutter untersuchte, in welchem die prachtvoll damascirte Doppelflinte geborgen lag, da hätte nur die – frühere Armgart gefehlt, um diesen Abschied aus dem Tragischen ins Komische zu übersetzen.

Onkel Levinus bewegte sich in seinem Jagdcostüme, zu welchem sich noch die Wildschur gesellte, wie ein »Pelzmärtel« zur Weihnachtszeit. Aus Bär und Zobel konnte man ihn kaum herausfinden. Das Gesicht war erkennbar nur an zwei Brillengläsern, ohne die er heute behauptete keinen Rehbock zu treffen. Bei seinen Fabrikationen von Berliner Blau, Stärkemehl, Pottasche und künstlichen Düngererden hatte er nie die Brille nöthig; nur auf die Jagd nahm er sie mit, um den Spott, der ihn als Abkommen so vieler fürstbischöflicher Erblandoberjägermeister unfehlbar heute treffen würde, durch ein »kurzes Gesicht« zu mildern. Und dann war Graf Münnich als ein »schußneidischer« Cavalier in der ganzen Gegend bekannt. Der ist eifersüchtig auf jeden Schuß, der nicht aus seiner Büchse kommt! sagte der Onkel mit einem Ton, als fielen heute mindestens durch seine Kugel ein Dutzend Rehe ...

Eine Jagd in einem Walde, der im Frühjahr nicht mehr sein wird! seufzte Paula beim Abschied ...

Ja, alles wird weggeschossen, was Haar oder Federn hat! renommirte der Onkel ...

Bitte, bitte, Baron! fiel die Tante ärgerlich über einen so gefährlichen und herausfordernden und noch dazu, sie wußt' es ja, nur affectirten Ton ein; bitte, sehen Sie nur zu, daß man Ihre Pelzmütze schont!

Die Tante ließ es noch zweifelhaft, ob auch sie zu den Transparentbildern Püttmeyer's, die Nachmittags den Damen der vornehmen Jäger gezeigt werden sollten, kommen würde ... Sie wußte, es gab nachher ein stattliches Jagdbanket, und die Trauer Paula's gestattete weder ihr, noch Paula, sich in diesem Grade in die Zerstreuungen des Weltlebens zu mischen ... Von Armgart, sagte sie, ließe sich erwarten, daß sie mit den Stiftsdamen auf Schloß Münnichhof zu Püttmeyer's Triumphen kommen würde; diese hätten drei Equipagen aus Witoborn bestellt ... Zwei Stiftsdamen, Fräulein von Merwig und Fräulein von Absam, gehörten sogar zu den Jägerinnen und waren berühmt durch ihren Muth und ihre Fehlschüsse ...

Mit der Versicherung des Onkels, daß man sich verlassen könnte, er würde sich weder zu lange an dem Banket, noch an dem selbst in dieser frommen Sphäre nach den Jagdpartieen üblichen hohen Spiel beteiligen, entzog er sich endlich dem beklommenen Abschied ... Das leichte, trotz des Schneeregens offene und freie Jagdwägelchen rollte von dannen.

Unterwegs pfiff der Wind nicht wenig. Die Brillengläser des kühnen Jägers beschlugen; oft verlor er den Athem, wenn der Wind umsetzte und Leibschütz und Kutscher, die vor ihm saßen, nicht mehr als Windfang dienen konnten. Dennoch wurde er nicht müde, Jagdanekdoten theils selbst zu erzählen, theils sich erzählen zu lassen, Anekdoten, die bis in die glänzendsten Zeiten seiner Familie hinaufreichten und dem Ausspruch: Ecclesia sanguinem abhorret! keineswegs entsprachen; denn immer handelte sich's darum, wie Se. hochfürstbischöflichen Gnaden dazumalen entweder selbsten die Sau abgefangen oder sich von einem sichern Standorte aus Flinte auf Flinte, bereits geladen, hätten darreichen lassen und die herbeigetriebenen Rehe und Hirsche zum »Plaisix Serenissimi« zusammengemördert hätten ...

Gegen zehn Uhr war man auf Münnichhof ...

Auf diesem stattlichen Herrensitze, der noch mit Zugbrücken und einer Anzahl Lünetten für noch vorhandene alte eiserne Böller, mit Wällen und in einem großen ringsumher gehenden Arm der Witobach mit vorgeschobenen Eisbrechern oder sogenannten Dücs d'Alba ausgestattet war und im Innern des Hofs in die Blüte und Herrlichkeit des siebzehnten Jahrhunderts zurückversetzte, fand man den größten Theil der Gesellschaft wieder, die neulich dem Freiherrn von Wittekind dei letzte Ehre gegeben hatte ...

Der Hof war belebt von dem Jagdzeug des Grafen, das mit den Contingenten der benachbarten Herrschaften, vorzugsweise dem großen Jagdpersonal der Dorstes vermehrt worden war. Da standen die Wagen für die Jagdtheilnehmer und für die gemachte Beute. Treiber und Jagdbursche hielten die Schweißhunde an der Leine und mancher von letztern trug noch am Halse die »Korallen«, einen Stachelring, nach dessen Abnahme man voraussetzen konnte, das gereizte Thier würde um so gieriger an die wilde Arbeit gehen. Der musikalische Theil der Jagd war durch einige horngeschickte Jäger, vorzugsweise durch die in Jagdcostüme gekleideten Trompeter der Husarengarnison von Witoborn vertreten, ja sogar ein Bajazzo fehlte nicht – der buckelige Stammer hatte sich vom gräflich Dorste'schen Oberförster ein Costüm erbettelt und blies aus Leibeskräften mit den übrigen. In seiner grünen Mütze mit einer Feder sah er aus wie ein Heusprengsel und die Gräfin von Münnich, eine fromme Dame, die ohne eine kirchliche Buße nicht ins Theater ging, mußte im Kreise ihres Besuchs wider Willen über ihn lachen, als sie auf einen Balcon hinaustrat, der in den Hof ging, angelockt von einem Horusolo, das jedoch des Guten zu viel that und in Dissonanz verendete ...

Zu der Blüte des Adels, zu jungen und alten im Bann der hiesigen Anschauungen lebenden Cavalieren, auch Offizieren der benachbarten Garnisonen, hatte sich schon jetzt eine nicht geringe Anzahl Frauen gesellt. Amazonenhaft traten nur einige wenige auf. Mit Spannung erwartete man vorzugsweise die Damen aus dem Stifte ... Die Fräulein von Merwig und von Absam blieben ohne Zweifel schon auf dem für den Beginn der Jagd abgesteckten Standorte zurück, an dem sie vorüberfahren mußten und wo sich alle diejenigen einfinden wollten, die erst über Münnichhof einen Umweg gemacht hätten ...

Terschka war nicht zu sehen ... Jeder fragte nach ihm ... Fest stand, daß ihn seine Ritterlichkeit heute wieder zur Hauptperson des Tages machen würde ... In der That schon mit »Schußneid« sagte das Graf Münnich, ein schlanker, von Kopf bis zu Fuß jagdgemäß gerüsteter Herr, dessen Aufregung unter den zwanzig bis dreißig Cavalieren die lebhafteste war ...

Benno und Thiebold sollten gleichfalls kommen ... Letzterer als baldiger Herr des heute und bis zum Frühjahr zum letzten mal vom Jagdruf widerhallenden Waldes ... Der auch an ihn ergangenen Einladung hatte er um so weniger widerstehen können, als er nach den gestrigen schmerzlichen Erfahrungen für Benno's ihn »jetzt ängstigenden« Trübsinn und den minder gefährlichen eigenen die erheiternde Wirkung eines solchen Vergnügens geltend machte, auch »nicht leugnen« konnte, daß ihm ein vom jungen Tübbicke in Witoborn schleunigst nach dem Modejournal angefertigtes Jagdcostüm nicht übel stehen müßte ...

In dem großen Ahnensaal, in welchem neben den bis weit über den Westfälischen Friedensschluß hinausreichenden Familienporträts die wunderbarsten Hirschgeweihe hingen, solche sogar, die mit Baumästen verwachsen waren, nahm man ein Frühstück ein. Dann wäre man, da die, welche noch fehlten, aus dem gewählten Schießstande im Warten ungeduldig werden konnten, unfehlbar aufgebrochen, wenn sich nicht die Scene auf eine eigenthümliche Art durch das Eintreten einer Persönlichkeit geändert hatte, deren Erscheinen hier Niemand erwartete.

Ein magerer Herr in mittlerer Statur, in der sogenannten Armeeuniform, die Brust mit Orden bedeckt, trat ein ... Hinter ihm folgte ein Jäger, der, wie alle Leibschützen, die Flinte seiner Herrschaft trug ...

Der Landrath! ging es mit einstimmigem Murmeln durch die Reihen der aus ihren schon wieder angezogenen Pelzröcken und Ueberwürfen kaum erkennbaren Physiognomieen ...

Niemand war bestürzter, als der Wirth, Graf Münnich selbst ...

Was ist das? rief er erstaunt und allen hörbar ...

Bald stellte sich heraus, daß den Landrath von Enckefuß Niemand eingeladen hatte ...

Noch mehr ... Der feierliche Aufzug des in dieser Sphäre schon lange durch die Zeitereignisse Proscribirten hatte etwas Beängstigendes ... Daß dieser weiland »schöne Mann«, ein alter Cavalerieoffizier, sich mit der größten Beflissenheit seinen Bart, sein Haar gefärbt, ja sogar die Runzeln seines fast fleischlosen und nur aus Haut und Knochen bestehenden Kopfes weggemalt hatte, überraschte Niemanden. Auch heute hatte er seine allbekannte Toilette, dieselbe Chevalerie mit den Damen, dasselbe stramme Auftreten mit den hohen Stulpstiefeln, dieselben Scherze, die man an ihm gewohnt war ... Aber in so seltsamer Übertreibung kam alles an ihm zum Vorschein, daß man annehmen mußte, entweder hatte er bereits seinem vormittägigen Lieblingsgetränk, dem Cüração, stark zugesprochen oder er befand sich in allem Ernst in geistiger Unzurechnungsfähigkeit ...

Sofort bildete sich eine Phalanx gegen den Vertreter der Regierung, gegen den Mann, der einen Bruder des Kirchenfürsten im Duell erschossen hatte, gegen den Freund des Kronsyndikus, gegen den Vater des Assessors, des jetzigen Rathes von Enckefuß ... wiederum sah man die große Kluft des Vaterlandes und immer peinlicher wurde die Verlegenheit für den Jagdherrn ... Allgemein stellte man ihm in ergrimmter Aufregung die Zumuthung, er solle den unberufenen Eindringling bedeuten, daß sein Eintreffen auf Schloß Münnichhof ein Misverständniß wäre ... Sogar die Gräfin besaß den Muth, die Bedenklichkeiten ihres inzwischen zaghafter gewordenen Gatten zu überwinden und mit der Würde ihrer äußern Erscheinung, mit dem Hochgefühl ihres Zusammenhangs mit dem Träger der dreifachen Krone, den Landrath auf ein Misverständniß aufmerksam zu machen ... sie wollte sagen, daß sie sich ein Gewissen daraus gemacht haben würde, den Herrn von Enckefuß »mit Elementen« zusammenzuführen, »die ihm höchst unangenehm sein müßten« ...

Jetzt aber erfuhr sie durch die Dienerschaft, Herr von Enckefuß wäre durch die Nichteinladung zu einer Jagd, an der jeder Adelige der Gegend theilnähme, in einem Grade beleidigt worden, daß man ihn seiner für nicht mehr mächtig halten könnte. Stündlich hätte er die Einladung zur Jagd abgewartet, hätte sein Schießzeug hervorgesucht, es selbst geputzt, seinen Hund angeredet: Sie danken dich ab, Caro! Sie werfen dir einen Knochen vor, Caro! Sie setzen dich außer Brot, Caro! Dann wäre seine Ungeduld gestiegen, immer hätte er gefragt: Keine Einladung vom Grafen? Keine von Baron Levinus? Keine von Herrn von Terschka? Seit gestern hätte er dann eine Miene angenommen, als wäre die Einladung wirklich erfolgt. Nun hätte er seinem Bedienten befohlen, sich als Jäger anzukleiden. Auf die Einrede, er irre sich, die Einladung fehle, hätten die heftigsten Zornausbrüche geantwortet, sodaß man zuletzt vorgezogen, zu schweigen und sich in alles zu fügen. In diesem Zustand erschien er und scheinbar nicht im mindesten stolz. Er sprach leutselig mit allen, wie wenn sie seine besten Freunde und Bekannte wären ... Ein ängstlicher Waffenstillstand zwischen zwei feindlichen Lagern ...

Hinein in die Unentschlossenheit, was nun zu beginnen wäre, in den unheimlichen Eindruck des so außerordentlich sichern, ja fröhlichen Benehmens des Landraths ertönten die Signale des Aufbruchs, die Rüden schlugen an, johlten und heulten vor Jagdungeduld, die Jäger klatschten mit den Peitschen, der Zug kam in Bewegung, noch ehe man den Landrath entfernt hatte. Auch jetzt folgte er wohlgemuth und setzte sich auf einen der Wagen, gerade wie wenn er dazu gehörte. Da sein Diener nicht jagdkundig war, blieb derselbe zurück. Es schloß sich dafür dem Landrath ohne weitere Weisung einer der jedem Jagdtheilnehmer zum Beistand beorderten Jäger an ...

Die Fahrt dauerte nicht allzu lange. Bald gelangte man in den von hohen Tannen und Buchen bestandenen Wald ... Es war die letzte große Jagd in einem Walde, der hundert Jahre bedurfte, um das wieder zu werden, was er war ...

An einer Eichenschonung stand unter zwanzig Männern, die hier schon zu Fuß und zu Wagen harrten, einer, der sich in stillem Träumen das auch sagte und rings um sich blickend nachfühlte. Wie wenig liegt ein seiner Sinn in den Auffassungen der Menschen! Wie gehen sie ruhig an Thatsachen vorüber, an denen ein anderer mit Schmerz verweilt!

Benno war es, der auch das sich sprach ... In einen einfachen kurzen Militärmantel, grau mit rothem Kragen, war er gehüllt, einen Mantel, den er über seiner gewöhnlichen Kleidung trug. Fest an den Hüften war der Mantel zusammengeschnürt und hob gefällig seine schlanke Gestalt; ein schwarzer bürgerlicher Hut bedeckte sein blasses, leidendes Antlitz ... Ueber Thiebold mußte er lächeln, der in einiger Entfernung einen Kreis um sich hatte, dem schon wieder in bester Laune von ihm seine amerikanischen Abenteuer und sein berühmter Sturz in den Sanct-Moritz erzählt wurden ...

Für Benno's Jugendträume gaukelten hier die kleinen Elfen des Waldes daher dahin ... Noch einmal hielten sie unsichtbar ihren letzten Reigen unter den grünen Tannen, schwangen sich zum letzten mal auf den Nacken des Wildes, um ihm einen Weg durch das Dickicht zu bahnen vor seinen Verfolgern ... zum letzten mal waren die kleinen Seen, die sich hier und dort im Walde fanden und zu denen sonst im Mondlicht die Hirschkühe ihre Kleinen zur Tränke führten, von den Schatten hoher Bäume bekränzt ... Bald sollten diese Lichtungen, die sich unter der schmelzenden Schneedecke so geheimnißvoll und traulich im Holze öffneten, dem Winde preisgegeben sein, der über die zurückgelassenen todten Stumpfe der verkauften Stämme fegte ...

In einem Wald, den ein leichtsinniger Verschwender vor der Zeit lichtet, glaubt man oft Banket gehalten zu sehen von Junkern und geputzten Damen bei musicierenden Eichhörnchen und brummenden Borkenkäfern und taktschlagenden Spechten in den Zweigen ... Hier, da der Wald zu Eisenbahnschwellen benutzt wurde, brauste die Locomotive daher und schnaubte und pfiff so teufels- und aufklärungsgemäß, wie nicht blos Norbert Müllenhoff gesagt hätte, sondern selbst Onkel Levinus wiederholte, der, je besorgter er jetzt wurde, desto mehr zu sprechen anfing ... Benno war von ihm aufs freundlichste begrüßt worden ...

Levinus plauderte schon deshalb, um sich dem Jagdhumor zu entziehen, der auf der Fahrt vom Schloß Münnichhof und hier bei dem Halloh der ersten Begrüßung sich auf seine Kosten zu entwickeln begann. Man fragte ihn, welche Nummer seine Brille hätte, wie viel Wild er heute würde am Leben lassen, ob er es unter einem Sechszehnender thun würde und so fort in jenem jagdüblichen Schrauben, das bei allen schon in vollem Gange war ...

Ich kenne euere Pfiffe! rief Onkel Levinus. Ihr wollt uns nur sicher machen durch euere schlechten Witze! So wild werd' ich darum doch noch nicht, daß ich mich vor Zorn mit dem ersten besten Stand begnüge, der mir angewiesen wird! Das ist so eine Ihrer bekannten Finten, Graf Münnich, uns im Spaß alles übersehen zu lassen! Wir Landesoberjägermeister kennen das!

Man befand sich auf einer mitten im Walde liegenden Fläche, die auf einige hundert Schritte weit von Knieholz unterbrochen wurde und sich zur Aufstellung einer doppelten Schützenreihe, auf jeder Seite zwanzig, hinter Busch und Baum, vortrefflich eignete. Eine Freifrau von Stein, die schon vom Schloß mitgekommen war, ließ sich in einem Tragsessel von zwei Bauernburschen ins Holz tragen; eine schon bejahrtere Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß watete selbst durch den Schnee mit Wasserstiefeln, die ihr bis an die Kniee gingen ...

Die Wagen waren inzwischen nicht weit vom Eingang in den Forst zurückgeblieben ...

In der Ferne und immer näher kommend hörte man schon ein Rasseln und Schlagen in den Büschen und der Oberförster versicherte, es wäre die höchste Zeit, die Posten einzunehmen ...

Noch war keine rechte Einigkeit da, denn Terschka fehlte. Alle spähten nach ihm; nicht blos Onkel Levinus, nicht blos Benno und Thiebold, die hinter zwei mächtigen Erlenbäumen, die gabelförmig aus der Erde geschossen, zusammenstanden, Platz genommen hatten ... Terschka's Jagdkunst schien allen bestimmt, den Preis zu gewinnen ...

Da er ausblieb, wollte man beginnen ...

Der Onkel bedeutete die Signalisten und rief:

Diese Eile ist wieder nur eine euerer verdammten Finten! Statt mit Vorsicht und Bedacht die Plätze anzuordnen, wird nun alles mit Hast übers Knie gebrochen! Schweigt! Schweigt! sag' ich. Die verdammten Intriguanten haben alles abgekartet!

Endlich hörte man nur noch Ein Signal blasen; es kam aus der Ferne ...

Das wird Terschka sein! hieß es ...

Terschka kam in der That auf einer Jagdchaise dahergebraust und schon vor ihm – allgemeiner Jubel! – zogen im erweichenden Schnee drei Wagen voll Heiligenkreuzer Stiftsdamen, die eben Terschka einholen wollte ...

Das war ein Grüßen jetzt und Rufen und Lachen und Spotten ... Aus dem Gewirr der Regenschirme und Pelze und Schleier entwickelten sich zwei Jägerinnen, Fräulein von Merwig und Fräulein von Absam ... Und nun ertönte plötzlich noch eine Salve von Bravis und schallendem Händeklatschen ... Noch eine dritte Amazone sprang vom Wagen ... Es war Armgart von Hülleshoven.

Thiebold und Benno trauten ihren Augen nicht ... Sie riefen zum Erstaunen des Onkels diesem hinüber und jetzt nicht im mindesten zu dessen Schrecken ... Levinus dachte nur an sich ... Seine Stimmung wurde immer wilder und (vor Furcht) kühner: er lobte Armgart und verdammte alle Stubenhocker ...

Benno und Thiebold betrachteten sich mit stockendem Herzblut ... Es war Armgart ... Armgart, die trotz ihrer gestrigen Thränen aus dem einen der drei großen offenen Omnibus, der mit den andern zum Schloß Münnichhof weiter fuhr, heraussprang und von Terschka's Armen aufgefangen wurde ...

Sie trug einen blauen engen, gefütterten Tuchrock über einem grauseidenen Kleide, einen grauen runden Hut mit wallendem blauen Schleier, dunkle Handschuhe und einen carrirten blau-grün-rothen Plaid rings um ihre Schultern geworfen ...

Ihr Antlitz war geisterblaß ... Ihr Ausdruck, ihr Lächeln ließ ihre zwei weißen Zähnchen blinken, wie immer, wenn sie träumerisch abwesend war ... Sie grüßte Niemanden, blinzelte nur zu den beiden weißen Erlen hinüber, wo Benno und Thiebold standen, und ging wie ein Opferlamm willig dorthin, wohin sie Terschka stellte ... Ihr ganzes Wesen war gebunden, ihr Wille, des Menschen edelste Kraft, lag vor dem Altar der Gottesmutter ... Das ist die katholische Macht des »Gelübdes«.

Der Onkel rief ihr ein Willkommen zu und allerdings sprach er noch drohend:

Na ja! Ich dachte mir doch gleich so etwas! Das wird schön werden – mit der Tante! Jetzt nur Vorsicht! Vorsicht, Herzenskind!

Benno sagte voll Grimm und Verzweiflung zu Thiebold:

Eine förmliche Erklärung wird das heute! Eine öffentliche Vorstellung vor der Gesellschaft! Sehen Sie nur, wie alles flüstert!

Auch Thiebold »war im Begriff, außer sich zu gerathen«; aber hinter jedem der Jagdtheilnehmer stand ein Jäger und bediente das Schießzeug – man mußte etwas vorsichtig sein und that besser, zu schweigen ...

Pancraz! rief aber auch Terschka wild auf und ein Jägerbursche, in der grün und gelben Livree der Dorstes, sprang hinzu und bot Armgart die Flinte, offen bar schon im Einverständniß und nach gestern Abend mit ihr getroffener Verabredung ...

Sie nahm sie, wie wenn ihre Hand aus einer Urne ein Todesloos zog ...

Trara! Trara! Trara! begann es jetzt überall und Halloh! Halloh! An die Plätze! rief man ...

Nun lief alles und stellte sich erwartungsvoll ... Der mittlere Plan war leer ... Zwei Jägerreihen zogen sich vierhundert Schritt entlang ... Am äußersten Ende stand der immer laut perorirende Landrath ... Ein Rascheln, ein Knacken hörte man jetzt ... Siehe da! Fünf Hirsche brachen aus der rechten Flanke des Quarrés, das die Gesellschaft bildete ... Die Hunde, die noch an der Leine gehalten wurden, winselten ... Die Thiere standen noch Keinem schußrecht ...

Da plötzlich ruft eine Stimme – es war die des Grafen: – Tire haut!

Tire haut? ... Alles lachte ...

Der Lärm der Treiber hatte die gefiederten Bewohner der Baumkronen in Aufregung gebracht, aber der Onkel hatte ganz Recht, als er heftig lospolterte:

Was sind das für Sachen! Dieser verdammte Münnich! Nur die Aufmerksamkeit will er vom laufenden Wild ablenken durch die Vögel, die heute gar nicht in Betracht kommen! Es sind nur Flederwische da oben!

Doch über ihn her viel Schnee von einem abstiebenden Auerhahn ...

Pancraz sagte: Herr Baron! Oben »steht Alles ein«!

Während Armgart über den technischen Ausdruck von »einstehendem« Geflügel vom Onkel eine Belehrung zugeflüstert bekam, erscholl es Piff! Paff! ... Von allen Seiten ... Vier Hirsche lagen; der fünfte war durchgebrochen ...

Aber auch der Auerhahn stürzte herab ... Diesen hatte Terschka geschossen ...

Darüber gab es Verwirrung genug. Man hatte nun die Hunde losgelassen. Verwundet war das fünfte Thier entflohen. Auf dem Schnee sah man die Schweißspuren. Einige Hundert Schritt von der andern Flanke der Pläne, die man bestand, stutzte der Hirsch, machte, von den Treibern der andern Seite empfangen, Halt und wandte sich zurück. Nun stellte ihn die Meute und der Zunächststehende war berufen, das Thier zu schießen ...

Es waren gerade Benno und Thiebold ... Thiebold, »vorwitzig, wie auch nur ich sein kann«, schoß – schoß fehl ... Jetzt legte Benno an – wollte losdrücken ... Paff! Im Nu schon sank das Thier, von einer Kugel getroffen, die vom äußersten Ende der Jagdreihe kam ... Der Landrath hatte geschossen ... Aus einer Entfernung, wo ihm zum Schuß jede Berechtigung fehlte ...

Darüber gab es denn einen gewaltigen Lärm ... Diese Anmaßung war gegen alle Regel ... Die Kugel hätte fehltreffen, Jemanden verwunden, tödten können ...

Zornig schrie man durcheinander ... Dem Onkel wurde es immer wirrer zu Muthe ... Das fortgesetzte Knallen der Büchsen – an andern Orten brach neues Wild durch – die Nähe der Schießstände, das Pfeifen der Kugeln, Armgart's ihm jetzt doch »tollkühn« erscheinende Anwesenheit, alles mahnte zur Vorsicht und in leibhafter Gestalt sah er Tante Benigna neben sich, die mit den ängstlichsten Warnungen ihn beschwor, sich um aller Heiligen willen in keine Gefahr zu begeben ... Jetzt auch bemerkte er die geheimen Instructionen, die sein Leibschütz Soetbeer mitbekommen ... Hätte Soetbeer vor dem jetzigen Durcheinander etwas von »Fußsack« merken lassen, würde der Onkel es ihm schön gegeben haben; nun, in dem Geknatter und dem Pulverdampf, ließ er alles zu seinem Besten geschehen ...

Ein Rehbock kam mit zwei Riekchen und ging dicht an ihm vorüber ... Der Rehbock kam erstaunt und nicht einmal besonders geängstigt »dahergestapelt«, wie Fräulein von Merwig rief – die Familie des Fräuleins hing nach dem Onkel unfehlbar mit dem Geschlecht der alten Merovinger zusammen – der Bock schien zu wissen, daß wenigstens die beiden Rieken, die ihn begleiteten, sonst vor dem Schusse sicher sind, da man Weibchen nicht schießt; es galt aber einen Vertilgungskampf. Unter dem Beileid der kunstgerechten Jäger brachen auch diese zarten Thierchen zusammen und mit so vielen Kugeln, daß sich darüber neuer Streit erhob ...

Armgart war schon in fieberhafter Erregung gekommen ... jetzt stand sie zitternd und hielt sich an Terschka, der nach dem Meisterschuß auf den Auerhahn nicht mehr schoß und nur links und rechts spähte, vorzugsweise hinüberschielend auf Benno und Thiebold ... Benno gehörte plötzlich zu den wildesten Jägern ... Jede Ladung suchte er so schnell wie möglich los zu werden ... Thiebold bat ihn wiederholt, sich zu mäßigen ... Nach seinem Fehlschuß hatte er die Courage verloren ... Armgart kam ihm vor, sagte er, als wollte sie das Ziel aller Kugeln sein ... Und doch schien sie ein überirdischer Geist, den keine Kugel treffen konnte ...

Inzwischen fuhr der Landrath fort, eine Unvorsichtigkeit nach der andern zu begehen. Eine seiner Kugeln ging dicht am Handgelenk der Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß vorüber ... Die Fräulein aus dem Stifte, ohnehin gegen ihn tendenzgereizt, sprachen über den »tollen Mann« in Ausdrücken, die keineswegs verriethen, daß auch sie zu den Dichterinnen im Stifte gehörten ...

Auf der Jagd, in der Hitze des erregten Blutes, wählt man die Ausdrücke nicht und so hörte der Landrath eine Beleidigung nach der andern ...

Seltsam jedoch, er brach auf alles, was ihm von nahe und von fern zugerufen wurde, in Gelächter aus ... Man würde ihn fortgewiesen haben, wenn nicht jetzt auf ein gegebenes Signal der Stand geändert worden wäre, um mehr ostwärts zu ziehen. Dem Oberförster am des Wildes zu wenig ... Auf Rechnung des Windes schrieb er's ... Nun trat alles aus den Büschen hervor und zog weiter ...

Onkel Levinus aber war entschieden dafür, daß man erst den Mann entfernte, »durch den hier heute noch ein Unglück entstehen würde« ... Alle die, welche schlecht geschossen hatten, unterstützten seine Meinung ...

Meine Damen! rief der Landrath im Dahinwaten über die Pläne, wo inzwischen schon das gefallene Wild von dem dazu bestimmten Jagdpersonal schnell ausgeweidet wurde ... Amor schießt blind, immer blind und trifft doch! Haha! Hier soll man bei offenen Augen die Kugel im Lauf behalten? Korn und Visir! Ein Blinzeln von so schönen Damenaugen – und ich gehöre gleich zu den lumpigsten »Schneidern«, die's nur geben kann – Meck! Meck! Meck! Meck!

Die Amazonen, selbst die hinter Terschka einherschleichende und Benno und Thiebold wie ihr Gewissen vermeidende Armgart nicht ausgenommen, waren Kennerinnen der Jagd genug, um zu wissen, wie von ihm dies Meck! Meck! spottweise gerufen wurde, weil schlechte Schützen »Schneider« genannt werden. Fräulein von Merwig hatte den beständigen Beinamen des »Fräuleins von Anflicker«, den sie von ihrer Leidenschaft für die Jagd und ihrer geringen Trefffähigkeit fürs Leben zu behalten fürchten mußte. Doch schon aus dem Aerger, den sie über diesen Spottnamen empfand, konnte man sich denken, wie verletzend es wirkte, daß nun der Landrath allen Jagdgenossen unausgesetzt sein höhnisches Meck! Meck! nachrief ...

Die gutmüthigsten Naturen können auf der Jagd, besonders wenn die Füße kalt werden und die Hände lieber in den Pelzhandschuhen stäken, als harrend am kalten Lauf der Flinte, einen determinirten Anflug von Malice bekommen. Jetzt riefen sogar schon die früher schweigsamern Stimmen: Ungebetene Gäste wirft man zur Thür hinaus! Andere: Werft das Gescheite (das Eingeweide) in den Busch für die Füchse! Andere wandten sich zu den Damen: Meine Damen, Sie sprechen von Amor? Wir haben allerdings einen blinden Passagier unter uns!

Graf Münnich wollte keinen Eclat und bot alles auf, den Frieden zu erhalten ...

Darüber kam man an den neuen Stand, den der Oberförster bereits angeordnet hatte. Es war wieder eine Pläne, hier rings nur von Tannendickicht umgeben ...

Leider hatte sich der Oberförster verrechnet ...

So lange man auch harrte, so lange auch die Treiber rasselten und mit ihren Knütteln an die Bäume schlugen, keine »Pfote kam heraus« – zuletzt einen einzigen Hasen ausgenommen, dessen Erscheinen ein allgemeines Gelächter erregte ...

Lampen schoß in natürlicher Großmuth als zu geringfügige Beute Niemand, sondern durch die Stände hindurch wurde der Geängstete hin- und hergewiesen, bis er den Damen fast so nahe zugetrieben wurde, daß sie ihn an den Ohren hätten fassen können ...

Wieder störte der Landrath dies komische Intermezzo durch seinen aufgeregten Eifer. Er schoß den Hasen dicht vor den Füßen Armgart's nieder und hätte diese, die sich nichts gewärtigte, leicht verwunden können ...

Darüber brach der Unwille der ganzen Gesellschaft in helle Flammen aus ...

Armgart lag halb bewußtlos an einen Fichtenstamm gelehnt; die Flinte, die sie, ohne zu schießen, in der Hand gehalten, war ihr entfallen; Benno und Thiebold waren auf halbem Wege ihr zu Hülfe gesprungen, ja setzten sich selbst darüber dem nächsten Schusse aus ...

Ueber alles das entstand eine Scene der höchsten Aufregung ...

Sie mehrte sich, als der Landrath vorsprang und rief:

Wer raisonnirt hier? Ruhe! Ich befehle! Ich!

Jetzt stand er wuthschäumend auf der Mitte der Pläne ...

Ein gemeinsamer Ruf unterbrach ihn:

Er ist verrückt! Haltet ihn! Bindet ihn!

Wirklich schlug der tolle Mann um sich, drohte mit seiner Doppelflinte, deren einer Lauf wahrscheinlich noch geladen war, und würde ein Unglück angerichtet haben, wenn nicht Jemand hervorsprang, ihm die Arme zu halten. Man hielt Benno und Terschka zurück, auf die Jäger rechnend. Eine leicht erklärliche Scheu vor der ersten Verwaltungsbehörde der Gegend hielt die Nächststehenden noch eine Secunde ohne Entschluß –

Da theilten sich die Büsche und mit dem Rufe: Pax vobiscum! sprang mit auffliegender Kutte ein Franciscanermönch auf den Plan, hielt mit einem Arm die Flinte des Landraths und griff mit dem andern so geschickt beide durch die Luft fuchtelnden Hände des ungeberdig Drohenden und Rasenden, daß dieser zwar mit schaumbedecktem Munde sich fest und aufrecht erhielt, aber auch bewegungslos verharrte, nur noch machtlos seinen Bändiger anstarrend ...

Bruder Hubertus war es, der selbst weiland ein Jäger gewesen und den entweder das Gebell der Hunde, das Knattern der Flinten oder Terschka's Anwesenheit angezogen hatte – im Kloster hatte er sich vor wenig Stunden ihm zu nähern gesucht und war von Terschka schnöde abgewiesen worden ...

Die Gesellschaft, außer sich über den Vorfall, umringte die Gruppe und rief dem Mönch, der wie der bändigende Tod dastand:

Bewachen Sie ihn! Führen Sie ihn fort!

Ich will Ihnen Leute zurücklassen! rief Graf Münnich ...

Der Mönch schüttelte den Kopf, sich verbürgend, er würde schon allein den Unglücklichen in Sicherheit bringen ...

Inzwischen bliesen auf ein gegebenes Zeichen die Hörner ... Schon zog sich die ganze Gesellschaft in den dichtern Wald ... Armgart geführt von Thiebold – Terschka war im Augenblick, da Hubertus erschien, verschwunden ...

Still und stiller wurde es ringsum ... Die Signale nur hörte man, die den Treibern die Veränderung der Stellung ankündigten und die von diesen fernher wieder beantwortet wurden ...

Ein einziger schreckenvoller Augenblick ... Jedermann eilte, ihm zu entfliehen.

14.

Wie in nächtlicher Waldeinsamkeit zwei kämpfende Hirsche sich ihre Geweihe so ineinander gebohrt haben können, daß sie sich nicht mehr auseinander zu winden wissen, die Kraft der Stirnen nachlassen fühlen und beide ermattet und zum Sterben bereit, ja wie im Tode zuvor noch versöhnt, zu gleicher Zeit hinsinken, so standen sich der Mönch mit dem Todtenkopf und ein Irrsinniger gegenüber ...

Immer schwächer und nachgiebiger wurde der Widerstand des Wutschäumenden, der barhaupt, ohne seine herabgefallene Mütze, dastand mit schweißbedeckter Stirn. Zuletzt begann er, wie aus einem Traum erwachend, in Ohnmacht zu sinken ...

Der Mönch fing ihn mit ungeschwächter Kraft auf. Er hielt ihn unbeweglich in seinen Armen ... Kein Laut, keine Anrede kam aus seinem Munde ... Der Landrath brach zusammen und verlor die Besinnung ...

Einsamkeit ringsum ... Nur die düstern Tannen stille Zeugen des schreckhaften Auftritts ...

Beide Männer auf dem schmelzenden Schnee stehend ... Hubertus in Sandalen, der Nässe und Kälte nicht achtend, der Rittmeister mit Koth bespritzt bis zur Achsel ... Ein Gegensatz zu dem sich weitab verziehenden Lärm der Jagd, zu dem Knallen der Büchsen, zu dem Bellen der Hunde, zu dem noch jeweiligen Durchbrechen des Wildes, das scheu und stutzend hielt, der den Muth und die Geistesgegenwart eines Helden herausforderte ...

Den Arm des Landraths ließ der Mönch noch immer nicht. Er wollte ihn, wenn er zur Besinnung kam, verhindern, zu entfliehen und der Gesellschaft wieder nachzurennen; denn daß er mit einem Mann zu thun hatte, der das Licht der Vernunft verloren, hörte Hubertus bald an dem, was der Unglückliche allmählich zu sprechen begann ...

Ich bin der Landrath –! sagte er erwachend ...

Wohl! Wohl! Herr von Enckefuß! flüsterte der Mönch mit milder und beruhigender Stimme ...

Nehmen Sie sich vor mir in Acht! Ich kenne Sie sehr wohl! fuhr der Rittmeister nach einer Weile fort ...

Große Ehre, Herr Landrath!

Sie sind der Doctor Klingsohr!

Pater Sebastus jetzt!

Wie konnten Sie sich unterstehen, mich von meinem Freunde – Wittekind fortzuschicken? Das war ja mein bester, einzigster Freund! Und der – wollte doch sonst das Pfaffengesindel nicht! Laß mich, Kapuziner!

Der Mönch bedeutete den Rittmeister, der den Grafen Münnich mit dem Kronsyndikus verwechselte, auf dessen Jagden er früher den Matador gemacht, mit nickenden Zustimmungen ...

Nicht wahr? Ich bin eingeladen? fragte jetzt der Landrath kleinlaut ...

Diese Worte wiederholte er öfter und mit Pfiffigkeit und fuhr dann stolz fort:

Mein Vater hat die Schlacht bei Belle-Alliance gewonnen! Sagst du auch: Wellington? Landesverräther! Man muß euch hier alle niederschießen! Alle! Eher kommt keine Ruhe und kein Patriotismus ins Land!

Beide gingen dabei schon fürbaß ... Manchmal noch rangen sie, manchmal zankend, manchmal beruhigt still stehend ... Der Mönch ermüdete nicht, durch Eingehen auf die Vorstellungen des kranken Mannes ihn zu besänftigen ...

Der Tobende rief:

Ich werde euch zeigen, welche Verwandte ich habe! Ihr sollt euch wundern, wer meine Protection ist! Der König hat schon mehr als dreißigmal mit mir gesprochen! Betteln kann ich so gut wie andere, aber – ich gebe keine fünfzig Procent! Auf Spiel, da steht jetzt Strafe ... Haha! Tangermann! Zimmer 15! Leutenant von Barnekow und Rittmeister von Enckefuß – nehmt euch in Acht! Rittmeister a. D. ... Ade! ... Soll ich denn mit Gewalt ein Müller werden?

Dies letztere Wort sprach der Verwirrte plötzlich fast weinerlich ...

Ermuntert zur Nachgiebigkeit wurde er durch den Zuspruch des greisen Mönchs, der bald die Milde, bald die Energie selbst war, ihm in allem Recht gab, ihn in dem Glauben bestärkte, daß er der vornehmste, geachtetste und arrangirteste Mann der Provinz wäre und doch wieder festhielt, wenn er ungeberdig um sich schlug ... Hedemann, sagte Hubertus, das, das wäre ja der Müller, aber auch noch ein Oberst könnte hier ein Müller werden, setzte er plaudernd hinzu ...

Fehlte irgendetwas, um dem in seinem Wesen einfachen, ja trotz seiner Kraft kindlichen Mönch das Vertrauen des Unglücklichen zuzuwenden, so war es die Erwähnung seines Sohnes ...

Auf das Kichern und Lachen, mit dem der Landrath ein Dutzend mal auf die Erwähnung des Obersten hintereinander: Papiermüller! Papiermüller! rief, hatte er einen uneröffneten Brief hervorgezogen und stolz gerufen:

Na da kuck' einmal! Das ist von meinem Sohn!

Von Ihrem Herrn Sohn? hatte kaum der Mönch wiederholt und von seiner letzten Reise her dessen hoffnungsvolle Carrière gerühmt, so leistete der Landrath keinen Widerstand mehr, sondern ergab sich ruhig, folgte und sprach, auf den Brief deutend, mit Behagen:

Ja, mein Sohn, der ist in drei Jahren Minister! Den Adlerorden, den hat er schon – er darf ihn nur noch nicht zeigen! Alles weiß mein Junge ... Und wenn du schweigen kannst, Pfäffchen, sollst du hören, was mir mein Sohn geschrieben hat! Das ist die Handschrift, die an ihm der König so sehr liebt! Sein König! ... Das kennt ihr hier zu Lande gar nicht, was es heißt: Mein König! ... »Helft Leute mir vom Wagen ab« (sang er mit leiser Stimme), »mein König trank daraus!« ... Lies, Alter, und siehst du, der Bindestrich immer wie ein Grundstrich und der Grundstrich immer wie ein Bindestrich ... Das hilft nun nichts! Etwas Apartes muß der Mensch haben!

Mit der feierlichsten Würde seine Autorität behauptend öffnete er den vielleicht kurz vor dem Verlassen seiner Wohnung empfangenen amtlichen Brief und ließ, während er ihn vorlesen wollte, den Mönch mit einsehen ...

Nicht daß der Alte in der braunen Kutte neugierig war ... Ihm genügte, daß diese Gedankenreihen den Wahnwitzigen zerstreuten und daß er hoffen konnte, ihn so allmählich zum Meyer von Borkenhagen, dem nächsten Ort, zu führen, wo er gedachte ein Fuhrwerk anspannen zu lassen, um den Kranken nach Witoborn in seine Wohnung zurückzubringen ...

Plötzlich aber fiel ihm in dem Briefe, der eiligst und offenbar unter dem Siegel amtlicher Verschwiegenheit geschrieben war, ein Zeichen auf, vor dem ihn Schauder ergriff ...

War in dem Briefe – von ihm selbst die Rede? ...

Stammer (der als der Jagd unwürdig am fernen Waldrand bei der Wagenburg geblieben war) hatte an jenem Abend im Finkenhof Recht gehabt – Hubertus trug jenes bekannte Verbrecherzeichen auf seinem fleischlosen Arme ... Was sollte das jetzt –? Er sah dies Zeichen abgebildet in diesem Brief ...

Der Landrath hielt, wie ein Fernsichtiger, den Brief so weit von sich zurück, daß Hubertus während des Vorlesens mit einsehen konnte ...

Aber merkwürdig, der Irrsinnige las etwas völlig Anderes, als was im Briefe stand ...

Nur die Ideen las er aus ihm heraus, die in seinem Kopfe lebten, während Hubertus sogleich bemerkte, daß der Inhalt ein hochwichtiger und ihn persönlich betreffender war ...

Der Landrath las: Lieber Vater – die Canaillen helfen einmal nicht – Dieser Kattendyk ist und bleibt ein Esel – Nück hat Dir den Tod geschworen – Deine Widersacher triumphiren! Halt' aber aus, bis ich ans Ruder komme – Dann kann es mir und Dir nicht fehlen und Du zahlst es auch dem Präsidenten heim, gegen den Du viel zu lange zu stolz gewesen bist! – Warum lässest Du Dir Dein Schweigen nicht bezahlen? Warum schonst Du Räuber und Mörder und thust es umsonst? Weil Du zu stolz bist? Ha! Cavalier vom Tschako bis zum Sprungriemen! Lernt uns von Anno 13 kennen, einen Rittmeister von den braunen Husaren! Landfriedensbrecher! Ihr Römlinge! Die Cocarde erkenne ich euch ab! ... Auf die Jagd bekommst Du Deine Karte so gut wie hier jeder andere von Distinction! Monsieur le Baron d'Enckefuss est invité à la chasse!

Mit dem Brief salutirte der Rittmeister an seiner wachsledernen Mütze, die Hubertus ihm von der Erde genommen, dann getragen und allmählich aufgesetzt hatte ... Seine schwarzen Augen funkelten, die rothe Nase glühte, die Tusche seiner Gesichtsfarbe hatte sich im Regen verwischt und floß um den jetzt in seiner Grauheit sich verrathenden Bart. Jeder, der im Walde dahergekommen wäre und hätte die beiden schreckhaften Gestalten gesehen, wäre bebend zurückgewichen ...

Aber auch Hubertus hätte sich jetzt an dem Wankenden halten mögen ... Sein Geist war mächtig in der Kraft des Willens, nicht in der Combination ... Erst ohne Verständniß blickte er in die Schrift, die ihm der Landrath entgegenhielt, bald aber las er im klarsten Zusammenhange, die Pausen des Landraths nutzend, Folgendes:

»Lieber Vater! Eine Nachricht von Wichtigkeit, die ich Dir persönlich mittheile, damit Du Dir ganz allein das Verdienst dieser Entdeckung erwirbst und die Kränkungen, die der Parteigeist über Dich verhängt, durch Deine Thätigkeit beschämen kannst! Ein Verbrecher, der zwanzig Jahre in Frankreich auf den Galeren lebte, ist in unsere Gegend gekommen und hat sich sogleich bei seinem ersten Auftreten in seiner ganzen Gefährlichkeit gezeigt. Auf einem Kirchhof hat er einen Sarg erbrochen. Ein halbes Jahr hat er dann verstanden, sich in unserer Stadt an einem noch unbekannten Orte verborgen zu halten. Bei den Unruhen, die noch täglich in unserer Stadt über die Verhaftnahme des Kirchenfürsten sich wiederholen, wurde auch er bemerkt und ohne Zweifel steht er im Solde Nück's, dieses verschlagenen, heimtückischen Menschen. Hammaker, der uns allerdings seit Jahren das Nück'sche Treiben beaufsichtigte, wollte erfahren haben, daß dieser Kerl in Eure Gegend gehen würde, um daselbst etwas auszuführen, was Hammaker nicht zu wissen behauptete. So viel weiß ich, daß Jean Picard oder Jan Bickert (Hubertus stockte im Lesen und hielt sich an den vorstehenden Zweigen eines Busches) auf dem Wege in Eure Gegend ist, reich ausgestattet mit Geld. Suche auf Grund des nachfolgenden Signalements hinter eine mögliche Verkleidung zu kommen: Jean Picard ist gegen fünfzig Jahre, spricht schlecht deutsch, gut französisch, holländisch, hat mittlern Wuchs, röthliches Haar und eine stark orientalische Physiognomie. Auf seinem linken Arm befindet sich das Zeichen der französischen Galeren T.F.; auch soll sich, wie von der Verwaltung der Galeren in Brest geschrieben wurde, der holländische Verbrecherstempel (Hubertus starrte der Abbildung des Zeichens) auf ihm eingebrannt finden. Schließlich mach' ich Dich aufmerksam, daß auch soeben in größter Eile von hier eine Dir vielleicht von früher her nicht unbekannte Dame Lucinde Schwarz auf Witoborn gereist ist. Beobachte die Schritte derselben! Um so mehr, als ich vermuthe, daß ihre plötzliche Abreise im Zusammenhang mit irgendeinem wahrscheinlich auf Nück's Anstiften bezweckten Unternehmen des Jean Picard steht. Lucinde Schwarz wird Dir dicht in der Nähe sein und bei einer Frau von Sicking wohnen, an die sie von hier aus empfohlen ist. Beobachte sie und ihren Umgang und laß besonders das Schloß Westerhof bewachen, da ich eine Ahnung habe, daß sich gerade dort etwas ereignen könnte, was nicht in der Ordnung ist! Lieber Vater, in Eile ... Dein treuer Sohn E.«

Schon auf eine bloße Anerkennung der vortrefflichen Handschrift des Briefes hin konnte der Mönch ihn ganz an sich nehmen und behalten ... Seine knöcherne Hand zitterte, als er den Brief in seine Kutte steckte ... Er, der sonst so schnell Gefaßte, hatte die Besinnung verloren ...

Denn seit Monaten suchte er ja zwei Menschen, deren Andenken ihm in dem Augenblick aufs lebhafteste entgegengetreten war, als er die Anzeige erhielt, eine ermordete Frau hätte ihm ein Vermögen von zwanzigtausend Thalern hinterlassen ... Längst hatte er der Erinnerung an jene Entsetzliche sich entwöhnt ... Sein Leben lag ihm nur noch im flüchtigen Augenblick ... Nur in Gesprächen mit dem Pater Sebastus tauchte zuweilen ein altes buntes Bild verklungener Tage auf ... Sebastus sagte noch kürzlich in seiner Krankenzelle zu ihm: Hubertus! Sie müssen in Java gelernt haben Liebestränke brauen! Gewiß hatte die Frau einen Trank von Ihnen gekriegt! Denn zeitlebens dachte sie nur an Sie und ich will nicht hoffen, fuhr Sebastus fort, daß Ihre Erbschaft das Ergebniß einiger Giftmorde ist, in denen ihrerseits Frau von Buschbeck ihre Force gehabt haben soll! ... Hubertus, hocherstaunend, lehnte die Antretung der Erbschaft nicht ab ... Die grausame Zerstörerin seines Lebensglücks war durch die Hand jenes Mannes gefallen, der ihn einst in jenen Convict begleitet hatte, wo er am Pater Fulgentius ein so ernstes Strafgericht gehalten, indem er den, der den Tod zu lieben vorgab, auch wirklich nicht verhinderte aus dem Leben zu gehen. Damals noch war dieser hingerichtete Jodocus Hammaker ein junger Mann von Bildung, von Talent gewesen, ein Mann von angenehmen, gefälligen Formen ... Wie, hatte er gedacht, wie hatte ein solcher Mann so verwildern, so zum Mörder werden können! ... Das weckte ihm sein eigenes vergangenes Leben, eine Jünglingszeit, wo auch er am schaudervollen Rande des Verbrechens so gefahrvoll für seine Seele dahingeschritten ... Gedenkend des Tages, als er dem Mörder Jodocus Hammaker im Klostergarten von seiner Vergangenheit, von seinem Sprung aus einem brennenden Hause erzählte, kam ihm mit wehmuthvollen Klängen die Erinnerung an die beiden Kinder, die damals seiner Obhut anvertraut gewesen, diese Kinder, die Gott durch ein Wunder, durch seinen Muth errettet wissen wollte, diese Kinder, von denen er sich, als man ihn nach Java schickte, mit so bitterm Kummer seines jungen Herzens getrennt hatte ... Wo mochten sie wol sein? ... Das beschäftigte den »seltsamen Heiligen« in seiner Klostereinsamkeit wie schon sonst seit Jahren, so jetzt aufs neue und lebendiger denn je ... Was war aus ihnen geworden? ... Wie, wenn sie im Elend, auf dem Weg des Verbrechens lebten? ... Er erhielt diese ansehnliche Summe! Er mochte sie seinem Kloster nicht geben, seitdem der ihm und allen verhaßte Pater Maurus Guardian und sogar Provinzial geworden ... Wie, dachte er, wenn ich das Geld annähme, meine alten Pflegebefohlenen zu entdecken suchte und es ihnen zukommen ließe, falls sie's bedürfen sollten oder dessen würdig wären? ... Diese Vorstellung erfüllte den Greis mit solcher Lebhaftigkeit, daß er in der Einsamkeit der Klöster, auf den Wanderungen, die er im Auftrag des Provinzials zu machen hatte, stündlich darauf zurückkam: Wo lebt wol Wenzel von Terschka? Wo Jean Picard? ... Vor einem halben Jahr hatte er auf einer dieser Wanderungen die Nachricht über jene Erbschaft zuerst empfangen ... Gerade war er in Ordensaufträgen in Belgien gewesen, ging nach Holland, kam eben aus Gröningen zurück, hatte von Jean Picard nichts vernommen, als daß er nach einer Reihe von Jahren von Brest fortkam und in Paris verschollen sein sollte; von Wenzel von Terschka nichts, als daß er nach seinem Unfall in Amsterdam nach der Schweiz und von dort nach Italien gegangen war ... Nun begegnete er plötzlich vielleicht beiden! ... Hier! Hier – dem einen in einer vornehmen, glänzenden Stellung! Dem andern auf dem längst von ihm geahnten Wege des Verbrechens! ... Wenzel von Terschka war allerdings ein Name, der, wie er schon gehört hatte, in Böhmen so häufig war, wie die Namen Wilhelm von Schulz oder Heinrich von Schmidt in Deutschland sein könnten ... Aber die seltsame Aehnlichkeit der Züge mit denen jenes Kindes, das er bis zum fünften Lebensjahre gekannt hatte, als er an der einsamen Mühle des Müllers Sterz, dann bei einem Scharfrichter zwischen Zütphen und Deventer mit den Knaben lebte ... Allerdings, dieser vornehme Cavalier, der in so geheimnißvoller Weise heute mit dem Pater Maurus eingeschlossen war – im einsamen Bibliotheksaale des Klosters, der für diesen Zweck eigens hatte geheizt werden müssen – dieser stand ihm keine Rede, lehnte jede Frage nach seiner Geburt und Jugend und nach Angehörigen seiner Familie ab ... Jetzt aber – wirklich Jean Picard! Der lebte! Lebte hier! ... Ein Mann mit dem Verbrecherstempel, den er auf Terschka's linkem Arm bei der Jagd hätte entdecken mögen ... Und um so mehr! Diesem Picard gesellte sich der Name jener Lucinde, die er auf dem von ihm gemiedenen Schloß Neuhof selbst zwar nie gesehen hatte, die er aber in allem kannte, was sie dem armen, gebrochenen Pater Sebastus, dem weiland Doctor Klingsohr, so werth gemacht hatte und noch machte ... Auch sie in der Nähe! ... Sie, um derentwillen Sebastus noch jetzt in seiner Strafzelle klagte ... um derentwillen er, vor seiner Rückkehr aus Holland, mit einigen Fremden, die ihn besuchten, eine Flucht verabredet hatte ... Sie in Verbindung mit Verbrechern! ... Unmöglich, unglaublich! ... War sie in der That bei jener vornehmen Frau von Sicking, so beschloß er, soweit ihm die Ueberraschung, soweit ihm die Sorge um den Kranken, den er führte, jetzt schon einen Entschluß, den er zu fassen hatte, möglich machten, zunächst Lucinden aufzusuchen, ihr diesen Brief zu zeigen, ihr nach Jean Picard Fragen vorzulegen, ihr die Pflicht vorzuhalten, ihn jetzt zu unterstützen, soweit seine Kraft reichte, Verbrechen zu hindern, in denen dieser Unglückliche nur zu heimisch zu sein schien ...

In solchen Stimmungen, solchen Aufregungen und Ahnungen gewaltiger Conflicte mit seinem Klosterfrieden verlor er um den Kranken, den er führte, die Obhut, und Sorge nicht aus dem Auge ...

Das seltsame Paar hatte den Wald verlassen und entfernte sich von dem immer mehr verklingenden Lärmen der Jagd ...

So manches Reh war an ihnen vorübergesprungen ... In den kahlen Zweigen der Bäume rauschte es von den aufgescheuchten Bewohnern derselben ...

Schon war es Ein Uhr ... Die Jagd dauerte bis gegen Untergang der Sonne. An einer bestimmten Stelle waren die Vorbereitungen zu einem Imbiß im Freien getroffen. Vor fünf Uhr rechnete man nicht auf die dann im Schloß zu genießenden Leistungen der gräflich Münnich'schen Küche, während bis dahin die sich ansammelnden Damen der Jäger von Püttmeyer's Transparentbildern unterhalten werden sollten ...

Immer ruhiger, immer stiller und hinfälliger wurde der Landrath. Hubertus mußte bedacht sein, den Frierenden, fieberhaft Zitternden unter Dach und Fach zu bringen ... Der Regen mehrte sich. Auf dem an manchen Stellen spiegelglatten Boden war kaum noch fortzukommen ... Kaum hielt sich der Landrath noch aufrecht ... Hubertus mußte mehr ihn tragen als führen ... Der Wille des Kranken, aus Ueberreizung zur Ohnmacht Zusammensinkenden, Zähneklappernden äußerte sich nur noch durch Zeichen ... Ein so unendlich wehmüthiger Ausdruck war trotz der entstellten und beschmutzten Gesichtszüge aus ihnen herauszulesen, daß man wohl annehmen konnte, dem leichtsinnigen, ehrgeizigen Manne hatten die fortgesetzten Kränkungen seines Ehrgefühls, die er nun schon seit Jahren und besonders seit den letzten Monaten erfuhr, das Herz gebrochen.

Der dem Walde nächste Kamp war dem Mönche als der armseligste in ganz Borkenhagen bekannt ...

Hier wohnten jene im Kirchenbann befindlichen Aeltern Hedemann's ...

Daß gerade auch der Landrath es gewesen, der diese mit ins Elend gebracht hatte, wußte Hubertus ...

Er sah sich in der Gegend um ... Niemand war da, der ihm den ohnmächtigen Mann abnehmen und in ein Obdach tragen konnte, das er als Angehöriger der Kirche nicht betreten sollte ...

Er wagte jedoch die Sünde auf Rechnung der vielen, die er bald zu beichten haben würde, wenn er fortfuhr nach den Eingebungen zu handeln, die nun plötzlich durch Nennung des Namens Terschka und den Brief, den er in seiner Kutte trug, seinen ganzen Menschen erfüllten ...

Eine kleine Anhöhe ging es hinauf, die zu dem Erbe Hedemann's führte, zu den Alten, die für die Bestellung desselben seit Jahren nichts mehr gethan hatten ...

Da lag ihnen schon das Staket, das sonst das wie tief in die Erde gekrochene Haus einfriedigte, in einzelnen Theilen im Wege ... Am Brunnen, den kein Stroh vorm Erfrieren des Wassers schützte, lagen die Eimer leck oder eingefroren ... Eine Leine hing von einem der wenigen noch umstehenden Bäume zum andern; einige weiße Fetzen an ihr, aussehend vor Frost wie Vogelscheuchen, die gespenstisch im Winde flatterten ... Aus dem Hause drang ein blauer stickiger Qualm. Die Thür stand offen; ein Birkenstamm versperrte den Eingang, der vor Rauch kaum zu gewinnen war ... In der Küche am Herd saßen auf dem im Kamin brennenden Baum die beiden Alten. Hedemann's Mutter spann, der Vater schnitt Dauben und Klammern – ein Erwerb, den er auf Drängen des Meyers ergriffen, als der Sohn in der Fremde nicht ahnte, wie übel es mit den Aeltern stand; ein Erwerb, den er fortsetzte, obgleich er nun es nicht mehr nöthig hatte; ein Verlassen oder Verbessern ihres Kamps konnte Hedemann zwar ebenso wenig bewirken, wie ihnen eine Bequemlichkeit durch eine Magd oder einen Knecht anbieten ... am Nöthigsten aber fehlte es ihnen nicht mehr ...

Der Mönch wußte schon, daß er keinen Gruß bekam, daß ihn ein dumpfes Murmeln hinwies, sich das zu nehmen, was er begehrte ...

Selbst der ungewohnte Anblick, ein Mönch, der einen kranken vornehmen Herrn, den Landrath selbst, hereintrug und auf einen Futterkasten setzte – der Landrath fieberte und war besinnungslos – nichts konnte diese Leute aus ihrer welt- und menschenscheuen Fassung bringen ... Die Alte spann, der Greis schnitt seine Dauben ...

Hubertus fand jedoch Hülfe ...

Wie er an den Herd gehen wollte, um den großen Kessel abzuhenken, in dem sich immer in diesen Bauernhäusern das heiße Wasser befindet (er hoffte Butter und etwas Brot zu finden, um dem Kranken eine Suppe zu bereiten), bemerkte er in der gespenstischen Stille eine dritte Person in der Ecke des Kamins. Ein Mann saß da, über ein Buch gebeugt, in dem er las. Wie aus einem Traum erwachend fuhr der Leser auf und sah erst jetzt, was während seiner Zerstreuung geschehen war ...

Den Landrath erkannte Remigius Hedemann sogleich; denn dieser war es, der hier bei seinen Aeltern gesessen und inzwischen in seiner Lectüre sich nicht hatte stören lassen ... Er las in einer italienischen Bibel ...

Was ist das? fragte er, sich erhebend und voll Staunen den Rittmeister von Enckefuß betrachtend. Hat der Landrath ein Unglück gehabt?

Der Mönch erklärte in Kürze den Zustand des Leidenden und bat, sich seiner annehmen zu wollen ... Er wollte indessen, nach weiterer Besinnung, lieber zurück auf Münnichhof und den Diener des Landraths rufen mit einem Wagen, der den Unglücklichen nach Witoborn in seine Wohnung führen könnte ...

Nun half Hubertus dem unerwarteten Beistand, den er gefunden, um den Besinnungslosen auf ein Strohlager zu tragen ...

Sein Auge fiel dabei auf das starke Buch in kleinem Format. Er hielt dessen Sprache für Latein und drückte sein Erstaunen aus über die Gelehrsamkeit, die Hedemann aus Amerika mitgebracht ...

Da ist es kein Wunder, sagte er, daß Ihr in Witoborn Papier machen wollt!

Lächelnd erwiderte Hedemann:

Thut Buße und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen!

Im Anordnen des Ruhelagers erwachte der Landrath, besann sich jedoch weder auf die Lage, in der er sich befand, noch auf die Personen, die ihn umgaben. Seinen Bedienten verlangte er und seinen Pudel. Den letztern sah er deutlich vor sich und lachte, wie kahl er den Kerl geschoren hätte ... Er hielt die Finger spielend in die Höhe, als ließe er die Flocken durchgleiten, die er dem Thier kürzlich weggeschnitten ... Es waren die bekannten Geberden eines Sterbenden ...

Hubertus versprach, Hülfe so schnell wie möglich zu schicken ... Thut wohl euerm Feinde und so ihn hungert, speiset ihn! sagte auch er mit Bibelworten, das Verhältniß des Landraths zu dieser Hütte andeutend ... Zu seinem eigenen Nachtheil hatte ja der leichtsinnige Landrath diese Leute einst in ihrem patriarchalischen Glauben an die Heiligkeit des geweihten Priesterthums irre gemacht ...

Hedemann nickte diesem Wort, warf einen Blick auf die Kleidung des Mönchs und sagte, zunächst wol nur mit einer Andeutung des Kirchenbanns, in dem seine Aeltern lebten:

Darin sind wir ja einig! ...

Der Landrath blieb bei seinen Feinden ... Hedemann pflegte den Sterbenden und gedachte jenes Tags nicht mehr, wo ihn und Porzia Biancchi dessen Sohn beleidigt hatte im Wirthsgarten der Landstraße von Sanct-Wolfgang nach Kocher am Fall ...

Seine Mutter spann; sein Vater schnitzelte Dauben ...

Während Hubertus, beruhigt jetzt über das nächste Schicksal des Landraths, dessen Diener und Wagen auf Schloß Münnichhof zu suchen eilte und überlegte, wie er in Witoborn es versuchen wollte, sich bei Frau von Sicking einzuführen; während er überlegte, wie er Schloß Westerhof umspähen, Jean Picard entdecken, ihn vielleicht an einem Verbrechen hindern sollte – hatte sich auf Schloß Münnichhof immer zahlreicher jener Kreis der Damen gemehrt, die gleichfalls von Runen und von Zeichen, gleichfalls von Kreuzen und von Rädern sich ergreifen lassen wollten, freilich in einem andern Sinne, als der unbekümmert um Schnee und Regen dahinschreitende, tief den Todtenkopf in seine braune Kapuze hüllende gute alte Laienbruder ... Die Simultankirche, worin wir alle zu Einem Gott beten, war in einer Bauernhütte geweiht durch Nächstenliebe und vielleicht im Schloß des Grafen durch einen Denkergeist?

Doctor Laurenz Püttmeyer erschien gegen drei Uhr auf Schloß Münnichhof so feierlich, wie wenn er die erste Vorlesung auf dem endlich ihm überlassenen Lehrstuhl Hegel's zu halten gedächte ...

Noch kunstvoller als neulich hatten die Musen und Grazien von Eschede die Schleife seines weißen Halstuchs gebunden ...

So gründlich rasirt war er, daß man der Meinung hätte sein können, die Natur hätte ihn in das Geschlecht der Blaubärte versetzen wollen; denn offenbar war er mit dem frisch rasirten Kinn in die Kälte gegangen, wovon der Mensch bekanntlich blau wird ...

Auf der sauber gefältelten Hemdauslage strahlte eine echte Brillantnadel; die weiße Weste, obgleich etwas gelblich durch zu langes Kommodenliegen, war mit einer schweren Uhrkette garnirt ... Die elegantesten gelben Handschuhe, die nur in Eschede waren aufzutreiben gewesen, saßen, wenn auch mit etwas zu langen Fingern, doch das Feierlichste versprechend, auf seinen Händen, die heute das Ewige, das Unergründliche hinter ölgetränktem Papierrahmen sichtbar und anschaulich machen wollten ... Alles was der Doctor jener Curatel, unter der er stand, hatte abtrotzen können, schmückte ihn heute, auch der große Siegelring mit einem prächtigen Karneol, der freilich unter dem Handschuh etwas die Naht gesprengt hatte ...

Von einigen zwanzig vornehmen Damen wurde er mit jenem ironischen Lächeln begrüßt, das die vornehme Weltbildung dem der höhern Lebensformen ungewohnten Gelehrten immer bereit hält. Indessen war dies Lächeln, wenn auch satyrisch, doch nicht boshaft. Man ließ die hohe Wissenschaftlichkeit des Doctors um so mehr gelten, als man ja in ihm eine eigenthümliche, unter den besondern Bedingungen dortiger Landschaft stehende Denkergröße besaß. Seine mathematische Philosophie interessirte Jung und Alt in den gewählten, hier die übliche Landstraße deutschen Dichtens und Denkens gänzlich vermeidenden Kreisen und er schätzte sich glücklich, heute einen kurzen Ueberblick seines Systems den vornehmsten und angesehensten Damen der sonderthümlichsten Gegend des deutschen Vaterlandes geben zu können. Die Gräfin Münnich versicherte dem Denker von Eschede, daß er in dem jenseit des hohen Ahnensaals liegenden Zimmer bereits alle Vorbereitungen getroffen finden würde, die er in einem umständlichen Kanzleischreiben an die Frau Gräfin sich erbeten hatte: Ein dunkles, ganz verhangenes Zimmer, ein Gerüst, einige Näpfchen mit Oel, eine große Flasche Spiritus. Das Uebrige brachte er selbst mit und bat sich nur die Erlaubniß aus, vorläufig die Vorbereitungen treffen zu können, bis er die hochgeehrten gnädigsten Damen abrufen würde ...

Diese Spannung währte nicht lange. Bald wurden die Damen abgerufen und paarweise schritten sie dem glücklichen Seher nach. Lachend und doch beklommen ging es durch den Ahnensaal, wo schon aufs einladendste die Tafel zum großen Jagdbanket gedeckt wurde ...

Püttmeyer war so erfüllt von seiner Aufgabe, daß ihm völlig entging, wer unter den Damen zugegen war ...

Es waren jüngere und ältere, hohe und kleinere Gestalten, alle in gewählter Kleidung, mit Trauerzeichen alle – um den Kirchenfürsten ... Paula, Tante Benigna, Armgart – sie alle glaubte Püttmeyer zu sehen ... So verwirrt war er, daß er eine Gräfin und Freifrau mit der andern verwechselte ...

Noch brannten in dem Zimmer, das sie alle betraten, einige Kerzen ... Man mußte sich wenigstens orientiren können, wo man Platz nahm ...

Als dies geschehen, erloschen auch diese Kerzen und alles war stichdunkel ...

Kichernd und scherzhaft um Ruhe zischend und sich räuspernd saßen die vornehmen Frauen ... Püttmeyer rumorte, wie ein Puppenspieler, hinter einem großen transparenten Rahmen, der sich allmählich zu erhellen begann ...

Zuweilen schien ihm eines seiner Lichtchen umzufallen ... Die Gräfin rief dann, ob er nicht Beistand nöthig hätte? ... Nein! nein! Meine Allergnädigste! antwortete er ... Dennoch hörte man ihn entweder mit sich selbst oder mit einem Gehülfen sprechen ... Eine zarte, schüchterne Stimme schien die des letztern zu sein ... Himmel! hätte Armgart, wenn sie hier gesessen hätte, gewiß gedacht, vielleicht – steckt Angelika hinten, die glückliche Angelika! Wenn sie diesen Augenblick, diese hohe Anerkennung ihres Geliebten erlebte!

Das Zimmer war überheizt und die Damen bekamen schon eine eigenthümliche Exaltation von den Ausströmungen des Ofens ...

Nun mischte sich noch Weihrauchduft in den frühern, der etwas stark auf Verbrauch von Oel und Spiritus schließen ließ ...

Die Stimmung wurde immer erregter ... Man schwieg jetzt schon deshalb, nur um sich beherrschen zu können, und harrte der kommenden Dinge ...

Endlich klingelte Püttmeyer und mit einer nach Festigkeit ringenden Stimme sprach er:

Meine hochgräflichen – hmhm! – und hochfreiherrlichen Gnaden! – Hmhm! – Ich bin glücklich – den Entwickelungsgang meines Systems Ihnen in einer Reihe von Bildern so anschaulich machen zu können, daß Sie selbst prüfen mögen, ob wol meine Lehre – hmhm! – Ihre überzeugte Zustimmung findet! Denken Sie dabei nur immer, daß das, was in Gott Ein Moment ist, im Denken – durch Raum und Zeit seine – hmhm – Ruhepunkte haben muß! Auch unser – hmhm! – christlicher Glaube zerlegt Gottes Größe in ein Vorher und Nachher; denn wie würden wir sonst die Lehre von den – hmhm! – sieben Schöpfungstagen haben?

Ein Murmeln der Zustimmung ging durch den Saal ... Dann folgte tiefste Stille ... Die Weihrauchdüfte mehrten sich und jetzt begann sogar zu aller Ueberraschung etwas völlig Unerwartetes, eine ganz wunderbare Musik ...

Wo kam diese Musik her? Leise anschwellend hoben sich die Töne wie auf Aeolsschwingen. Was hatte der Zauberer von Eschede für ein Instrument mitgebracht? Es war keine Flötenuhr, kein Klavier, keine Orgel ... Es war von allen etwas ... Das Zimmer bebte von Wohllautsschwingungen, die die Luft zur klingenden machten ... Brausend schwoll es an, so mächtig und doch dann wieder so lind und lieblich, daß davon die ganze Seele erfüllt sein durfte ...

Und Niemand war erstaunter, als die Gebieterin des Schlosses selbst, die nicht hoch genug versichern konnte, daß sie kein Instrument besäße von solcher Wirkung, ja das eben vernommene nicht einmal zu nennen wisse ... Wenn Püttmeyer Orphische Urworte lehren wollte, konnte die Vorbereitung des Gemüths nicht mächtiger getroffen werden ...

Als die Töne verklungen waren, einer immer sanft dem andern sich entwindend, da erblickte man plötzlich die ganze Transparenttafel azurblau und aus dem tiefsten Grunde sei's des Himmels oder des Meeres entwickelten sich leise Schatten, die allmählich die Form einer Unzahl sich durcheinander rollender und sich einander durchschneidender Kreise annahmen ...

Püttmeyer sprach mit erhöhter Begeisterung:

Musik ist das Leben des Alls! Denn – das All besteht aus zersprengten – Atomen, die – sich suchen, sich finden – sich abstoßen, verfolgen! – Sehnsucht und Liebe, demzufolge auch Abneigung – hmhm! – und Haß – ist die Seele des Alls ...

Die Kreise bewegten sich auch theilweise zurück und es entstand ein Chaos so flimmernder Schatten, wie wenn das geschlossene Auge im Blutandrang ein Durcheinanderwirbeln von zahllosen Staubatomen sieht ... Dazu begann das seltsame Instrument in lebhaftern Rhythmen eine entsprechende Begleitung ... Nicht schrill oder in mistönender Malerei – seinem Wesen entsprachen nicht so grelle Ausdrucksformen – wol aber in Klagelauten, wie aus der tiefsten Tiefe des Schmerzes und aus der wehmüthigsten Verkennung der Liebe empor ...

Inzwischen schilderte Püttmeyer das aus dem Wirbeln der Atome sich ergebende Streben alles Geschaffenen und des Denkens über alles Geschaffene zum Kreise und die Transparenttafel verwandelte sich allmählich in einen lichten Kreis, die blaue Farbe ging in eine rothe über ... Die Frauen beanstandeten nicht im mindesten, was Püttmeyer, in immer flüssiger gewordener Rede, über das Symbol der Liebe, über den Ring, über die Schlange, selbst über die Schlangeneier sprach ... Das Auge sah in allem nur die herrlichsten Fata Morganen der Ahnung ...

Ueber die Musik, die zuweilen schwieg, hatte sich jetzt von einigen Damen, die eingeweiht waren, herumgeflüstert, daß sie auf einer Ueberraschung beruhte, die man der Gräfin bereitet ... Mit dem protestantischen Pfarrer Huber war jenes schöne alte Instrument, die Harmonica, nach Witoborn gekommen und, wie der Sinn der Frauen nun einmal ist, bald hatte sich verbreitet, daß dies Instrument zwar in der Art, wie man es handhaben müsse, nicht eben schön zu nennen wäre, in seiner Wirkung aber nur höchstens von dem seelenvollen Schmelz des Violoncells erreicht würde ... Jedermann begehrte es zu hören ... Man wußte, der »Pfarrer«, die »Frau Pfarrerin« – wenn diese heiligen Worte so zu gebrauchen nicht Entweihung war – die schon herangewachsenen – »Kinder« desselben spielten jenes Instrument mit großer Fertigkeit; aber weder des Mannes Haus zu besuchen war den hiesigen Verhältnissen angemessen, noch auch der »Würde« desselben zuzumuthen, daß er selbst oder seine Angehörigen sich mit seinen Leistungen bei ihnen hören ließen ... Um so größer die Ueberraschung, daß Püttmeyer das Allersehnte möglich gemacht hatte ... Schon erzählten die Flüsterworte, daß die Verehrerinnen des Doctors in Eschede diese musikalische Illustration der Philosophie ihres Schooskindes zu seinem größern Effecte durchgesetzt hätten, sie, die Armgart – in ihrer Voreiligkeit mit Kaffeekannen und Strickstrümpfen verglichen hatte! ... Der »Prediger«, wie man hier zu Lande Herrn Huber lieber nannte, hatte zu dem Vorschlag gelächelt, als er an die ihm schon durch seinen frühern Pflegbefohlenen, den Freiherrn Jérôme von Wittekind, bekannte Philosophie der Drechselbank erinnert wurde; er hatte eingewilligt in den Transport des Instrumentes und es heute mit Püttmeyern in einem verdeckten Wagen und sogar mit seiner Tochter abgesandt, die in der Kunst dies Instrument zu spielen ihn und seine Gattin schon übertraf ...

Püttmeyer empfand nicht die Genugthuung, die seinem verketzerten Werke: »Christus und Pythagoras«, durch diesen jetzt gern gesehenen Bund mit den Ketzern wurde. Ach, er war schon zu sehr in seiner steten Furcht vor Sakramentsentziehungen, dann auch in seinem Magisterium eingerostet, um von sich noch gegenwärtig zu haben, daß unter dem alten Schlafrock seines freudlosen verkümmerten Daseins doch noch immer die jugendlich schöne Psyche seiner Denkfreiheit mit bunten Schmetterlingsflügeln verborgen lebte ... Nicht ganz paßte auf ihn ein Wort, das Onkel Levinus neulich mit stolzem Bewußtsein bei Gelegenheit einer muthigen That sprach, die von einem deutschen Professor gekommen ... »Sind wir auch noch so verirrt in den Labyrinthen der Metaphysik, sind wir auch noch so vergraben im Sand, der die Eingänge zu den Pyramiden verschüttet, haben wir sogar als mit Orden umschnürte Geheimräthe uns ganz verloren in Scherwenzeln und Tellerlecken bei Diplomaten und reichen Glückspilzen, plötzlich ruft uns irgendein Signal an unsere stolze Fahne zurück und wir kämpfen doch wieder für die Freiheit und die Unabhängigkeit des Denkens, wir wissen selbst nicht wie!« ... Leider galt dies begeisterte Wort nur einer in diesem Kreise überraschenden großen That eines deutschen Gelehrten ... Dr. Guido Goldfinger hatte aus Anlaß des Kirchenstreites (richtiger seiner nah bevorstehenden Hochzeit mit Johanna Kattendyk und des Wunsches der Mutter wegen, daß die Tochter bei ihr blieb) seine außerordentliche, ohnehin unbesoldete Professur niedergelegt ...

Aber edler, viel höher stand Püttmeyer ... Er empörte sich nicht gegen seine Unterdrücker, zu denen auch die Geistlichen gehört hatten; er liebte die Kirche, die ihn auf den Index zu setzen gedroht; aber stolz fing er denn nun auch von sich zu reden an ... Wer würde seines Selbstvertrauens haben spotten mögen! ... Auch die Frauen blieben im Bann seiner mystischen Zeichen und nahmen einen flammenden Triangel für die Dreieinigkeit, nahmen ein dunkelglühendes Kreuz für die Offenbarung der Liebe, sahen die Offenbarung des Alls im Atom, des Ewigsten im Zeitlichsten ... Kommen und Gehen, Werden und Schwinden sind ja ohnehin Gedanken, die dem Frauendasein so urgegenwärtig sind ... Sie umspannen jetzt wie immer ihre Herzen wie mit magischen Fäden ... Und selbst Frau von Sicking, die frommste der Frommen, hätte nicht geahnt, daß diese Stunde sie ebenso feierlich stimmen würde, wie ihr nur je zu Muthe war im Moment der »Wandelung« beim heiligsten der Opfer ...

Andachtsvoll hörte man selbst manchem Scherz Püttmeyer's zu, selbst dem, daß das doppelte Dreieck, Pentagramm genannt, den magischen Zeichen der Zauberer angehöre, auch dem Gotte Gambrinus, setzte er lachend hinter dem muthmachenden Oelpapier hinzu, der damit in Göttingen anzeige, wo gutes Bier feil wäre, »worin jedoch nur ein tiefes Symbol des Frühlingsanfangs läge, ein Hausthür-Gedenkzeichen des Hexensabbats auf dem Brocken, da ja am 1. Mai der Hexen Ausritt stattfände, und zwar« – hier hätte den Doctor eine seiner Escheder Gönnerinnen allerdings ein wenig am Frackschoos zupfen sollen – »auf dem Bock, welches Thier denn auch sothanerweise bis gen München hin im innigsten Zusammenhang geblieben wäre mit dem ersten Labetrunk am ersten Tage des Wonnemonds« ...

Püttmeyer erhob sich aus diesen Gedankenreihen, die den Onkel Levinus zu einem Streite über Bock und Eimbock oder Eimbeck und Eimbecker Bier veranlaßt haben würden, in eine reinere Höhe, als er, angeregt wahrscheinlich von Göttingen und der gerade pausirenden Harmonica und einem Blick auf die Pfarrerstochter von Eibendorf, mit stolzem Selbstbewußtsein fortfuhr:

Heureka! meine Damen, ich habe gefunden! rief einst Pythagoras, als er seinen berühmten Satz vom Quadratinhalt der Schenkel des Dreiecks entdeckte! Heureka! soll auch der Titel meines nächsten Werkes sein? Zu Gott hoff' ich, daß sich mein Losungswort weiter verbreiten wird, als, wie ich heute erst erfuhr, in jene Berge drüben, wo ein treuer Anhänger meiner Lehre, Jérôme von Wittekind, den Dank für die ihm durch sie gewordene Anregung auf einen einfachen steinernen Würfel schrieb ... Mit der Anerkennung neuer Ideen, meine Damen, ist es zu allen Zeiten gewesen, wie mit diesem Gedenkstein ... In einem dichten, unzugänglichen Walde erschallt ihr erstes Echo, wie auch jenes Heureka! in der Nähe des Ortes Eibendorf sich jetzt nur noch ausjubelt ins Ohr der Einsamkeit, an einem nur von Schilf und Blumen umstandenen stillen See ... Kein Nachen fährt dahin auf diesem See, kein Fischer steht an seinem Ufer ... Ein solches einsames Heureka! ist nur anfangs für die Wildniß da, für einen Vogel, der auf ihm sich ausruht, für eine Lacerte, die sich ihr Lager im Moose gesucht hatte, das seinen Sockel überwuchert ... Die Zeit kommt dann aber doch, wo auch eine große und bequeme Landstraße zu einem solchen einsamen Steine hinführen wird! ...

Die Frauen murmelten Beifall ... Die Musik begann ihre anschwellenden Töne ... Püttmeyer rüstete sich zu seiner Mystik der Kegelschnitte ...

Vom Denkstein bei Eibendorf hatte ohne Zweifel die Tochter des Pfarrers ihm auf der Herfahrt erzählt ... Von jenem Heureka!, das Jérôme von Wittekind einst auf den Würfel schrieb, den er an der Stelle errichten ließ, wo er sein Elfenkind, Lucinde, im Riedbruch gefunden ...

Als Lucinde dort auf ihrer Flucht vor Oskar Binder ohnmächtig unter den Farrenkräutern und Glockenblumen zusammengesunken war, glitt allerdings eine Lacerte über sie hinweg, die sie damals nicht mehr fühlte ...

Hätte sie aber das Thier noch über ihre Hand gleiten gesehen, sie würde ohne Zweifel so aufgesprungen sein, wie eben unter den Zuhörerinnen sich eine Dame erhob mit einem Ausruf, als wenn ihr der Athem versagte und wirklich eine Schlange sie stäche ...

Die Dame hielt sich zwar an ihrem Sessel, beruhigte die erschreckenden Frauen mit einer Handbewegung, sprach, zum Sitzenbleiben auffordernd, ein: Bitte! Bitte! – schwankte jedoch der Thür zu und verließ das Zimmer ...

Lassen Sie! sagte Frau von Sicking, als die Damen und vorzugsweise die Herrin des Schlosses von einem nothwendigen Beistand sprachen ... Es ist die Mamsell, mit der ich gekommen bin! ...

Man glaubte sich auf die Versicherung der Dame, die sie eingeführt, verlassen und beruhigen zu dürfen ...

Die seraphischen Klänge der Harmonica tönten indessen fort und Püttmeyer erläuterte ...

15.

Lucinde war es, die sich aus dem qualmenden dunstigen Zimmer so plötzlich entfernt hatte ...

Sie floh in den großen, nun schon dunkelnden Speisesaal ... gejagt von Empfindungen, die zu, zu krampfhaft an ein Herz sich preßten, von dessen lauten Schlägen sie fürchtete, sie könnten noch in der rings sie umgebenden Stille vernommen werden ...

Nicht daß sie so überwältigend die Form des Vortrags, ihr Inhalt und die Andacht dieses vornehmen Auditoriums ergriff. Das sind Narren! sagte sie sich ... Nicht daß sie von Wehmuth ergriffen war beim Anhören der Harmonica, die ihr einen doch immer holdverklungenen Jugendmärchentraum zurückrufen mußte. Sie war im Stande, in dem Herangewachsensein der Kinder des Pfarrers, dessen Namen sie einst angenommen hatte, als sie die Bühne betrat, verdrießlich nur den Gradmesser ihres eigenen Aeltergewordenseins zu sehen ... Nicht daß sie Jérôme so rührte, der um ihretwillen Erschossene, Jérôme, der sie anbetete wie eine Heilige, Jérôme, der ihr, ihr jenes Heureka! der dankbarsten Erinnerung im einsamen Walde gerufen hatte ... Alles das waren Anwandelungen einer ihr fremden Sentimentalität ... Sie lebte nur der verzehrenden Sorge um das Allernächste.

Schon mit klopfender Brust war sie auf dem Schlosse Münnichhof erschienen ...

Schon mit dem größten Widerwillen war sie in jenes dunkle Zimmer getreten ...

So gefaßt und ruhig sie erschien, als Frau von Sicking sie als eine ihr aus der Residenz des Kirchenfürsten Empfohlene einführte und der Herrin des Schlosses vorstellte, sie trat auf einem Boden hier auf, der unter ihr wankte ...

Dennoch richtete sie sich hoch und majestätisch auf, als beim Vorstellen ihr Name genannt wurde und die Anwesenden die schlanke Gestalt, die in Trauer gehüllt war, musterten, das bleiche, erröthende Antlitz anziehend fanden, ein goldenes Kreuz, das unter einer Trauerecharpe von Spitzen auf der Brust blinkte, für ein Zeichen von Frömmigkeit nahmen. Jenes Mädchen, das in dieser Gegend vor längern Jahren, auf Schloß Neuhof, eine abenteuerliche Rolle gespielt und das gewiß einige unter den Anwesenden schon einmal gesehen hatten, erkannte niemand ... Diese schwarzen Augen schienen die Glut der heiligsten Andacht zu bergen ... Dieser etwas trotzige Mund schien nur im Beten geübt ... Lucinde sprach wenig und setzte sich zu den in immer größerer Anzahl sich sammelnden Damen wie ein Wesen voll Bescheidenheit, eine Bürgerliche, die den Abstand ihrer Stellung von der der andern erwog, obgleich diese gnädiglichst anzudeuten schienen, daß man auch durch Gesinnung geadelt sein könnte ...

Die Namen Neuhof, Asselyn, Benno, de Jonge, Stift Heiligenkreuz, Paula, Armgart, Kloster Himmelpfort gingen an ihr vorüber, ohne daß Jemand ihren Antheil bemerkte ...

Selbst wie sie die Lehne ihres Sessels ergriff, als die Stiftsdamen, die von Heiligenkreuz kamen, Fräulein Benigna von Ubbelohde und Gräfin Paula um ihr Fernbleiben von Püttmeyer's »chinesischen Schatten« entschuldigten und von ihrer gestrigen ängstlichen Flammenvision erzählten, bemerkte Niemand das Beben der zusammengepreßten Lippen, Niemand die Verlegenheit des Lächelns; auch nicht da, als Frau von Sicking sagte: Ja, ich hoffe Sie morgen auf Westerhof vorstellen zu können!

In dem luftleeren Zimmer, während der Bewunderung und des Lauschens auf die Orphische Weisheit des Sehers von Eschede, hielt es sie nicht länger ... Sie mußte aufstehen, gehen, reden können ... Als ihr Beispiel, wie dies der Nervenschwäche der Frauen geschieht, ansteckte, als bald eine zweite, bald eine dritte Dame entfloh, huschte sie noch aus dem dunkeln Speisesaal mit seinen blendend weißen Gedecken, seinen Gläsern, Schüsseln, Tellern, hinaus in das erste beste Zimmer, dessen Thür ihr zunächstlag ...

So betrat sie ein bereits zum Kartenspiel hergerichtetes, behagliches, trauliches Cabinet ...

Auch hier war es dunkel; aber sie hätte noch die Vorhänge herablassen, hinter sich zuriegeln mögen, so sehr fühlte sie das Bedürfniß, sich in der Einsamkeit zu den Aufgaben zu sammeln, die sie auf diesen für sie so gefahrvollen Boden hergeführt hatten ...

Jetzt, wo sie sich erschöpft auf ein Sopha niederwarf, jetzt knickte sie zusammen. Jetzt war sie so, wie sie schon seit einiger Zeit sich zu geben pflegte, ohne es zu wissen ... Etwas Spinnenhaftes hatte sie bekommen, Mageres, Lauerndes, von »Schmerz Gekrümmtes«, wie sie's nannte, wenn man deshalb ihr Vorwürfe machte ... Ihr hoher Wuchs sowol, wie die religiöse Rolle, die sie mit immer größerer Uebung, Gewöhnung, ja sogar schon Einverständniß spielte, brachten es mit sich, daß sie zu den vielen mittlern und kleinen »erbärmlichen« Wesen dieser Erde den Medusenkopf niederbeugte ... Unter den dichten dunkeln Flechten ihres schwarzen Haares, die sie wie ein Turban umgaben, heute das Werk der Kammerjungfer der Frau von Sicking (hier hatte sie nicht Treudchen, die ihr schon zuweilen hochaufstaunend weiße Härchen auszog), spitzte sich ihr Ohr und lauschte so, wie ihr Nück ärgerlich einst gesagt hatte, »jung-hexenhaft, daß man mutatis mutandis« – sie verstand ja diese Bedingung – »an die alte Frau Buschbeck denken könnte, wenn diese mit mir oder mit Hammakern vom Anlegen ihrer Kapitalien sprach!« ... Dann freilich konnte sie sich auch wieder aufrichten und sich besinnen auf ihre blühenden zwanziger Jahre ...

Lucinde war zu Frau von Sicking empfohlen worden durch Nück und die hochvornehmsten Kreise der Devotion ...

Sprach etwas gegen ihre Vergangenheit, so war sie ja eine Convertitin ...

Auch Frau von Sicking war in gleicher Lage ... Eine Nachkommin des tapfern Ritters, der mit dem Schwert, wie Ulrich von Hutten mit der Feder, gegen Rom sein Leben einsetzte, verließ sie den mit soviel Thränen und blutigen Opfern erkauften Glauben ihrer Väter ... Sie gehörte jenem Kreise der Gottseligkeit an, der sich jetzt so weit über Europa verbreitet, einem Kreise, in den einzutreten Lucinde das unwiderstehlichste Verlangen trug, seitdem sie wußte, daß auch Bischöfe und Erzbischöfe auf weichen Teppichen dahinschreiten und mit Behaglichkeit die Freuden der Geselligkeit mit andachtsvollen Seelen genießen können ... Frau von Sicking war reich ... Sie hatte ein Haus bei Witoborn, eine Besitzung im Süden Deutschlands, Absteigequartiere in allen geistlichen Städten Deutschlands und Belgiens ... Ihre Correspondenz erstreckte sich nach Rom wie nach den entferntesten Missionen des Sacré Coeur, nach Pondichéry und Guadeloupe ... Ihr Reisen, ihr Kommen und Gehen, ihr Correspondiren konnte man Intrigue nennen ... Dennoch lag auf allem, was sich an ihren Namen knüpfte, ein diesen Schein mildernder Duft von Andacht, von Beförderung des Menschenwohls, von Veredlung dieser Zeitlichkeit ... Jetzt waren die »Exercitien« ihre Parole ... Der Andrang dazu war so groß, daß Frau von Sicking über die Aufnahme wie eine Ordensmeisterin schaltete ... Der ostensible Grund, warum Lucinde Schwarz bei ihr erschien, war die flehentlichste Bitte der Frau Commerzienräthin Kattendyk, doch auch sie und ihre Töchter an diesen Exercitien theilnehmen zu lassen ... Lucinde war autorisirt, im Namen der Commerzienräthin die größten Opfer, die nur verlangt würden, in Aussicht zu stellen, wenn sie das Glück und die Ehre haben könnte, an dieser vornehmen »Andacht zum Kreuze« theilzunehmen ...

Seit gestern war Lucinde noch zu keiner Fassung gekommen über die Rückkehr in diese Gegenden, auf den Schauplatz, wo Bonaventura weilte, ohne Zweifel, wie sie ahnte, im glückseligsten Bunde mit ihrer frühern Pflegbefohlenen Paula ...

Noch sah sie mit dumpfer Starrheit durch das Fenster die vom Abendroth beschienenen weißen Höhen, auf denen Schloß Neuhof lag, wo der Kronsyndikus nicht mehr lebte ... Diese Kunde erschütterte sie nicht, lockte ihrem Herzen keine Rührung ab ... Sie sah einen gewonnenen Vortheil mehr und wahrhaft tröstlich erklang es ihr zu hören, als Frau von Sicking sprach: Die Frau Präsidentin von Wittekind scheint die Rolle in Vergessenheit bringen zu wollen, die ihr Gatte seither als Beistand der Regierung gespielt! Man ist hier entschlossen, nicht sofort auf ihre Wünsche einzugehen! Nur die Rücksicht auf ihren edeln Sohn, den Domherrn, kann die Gesellschaft bestimmen, ihren Empfindungen nicht schon jetzt einen entschiedenern Ausdruck zu geben! ... Selbst der blitzende Punkt dort in der Ferne, ein vergoldetes Kreuz auf der Kirche vom Kloster Himmelpfort, wo Klingsohr verweilte, beschäftigte sie nicht ... Diese weiße, mit Abendschatten sich füllende Ebene, auf die sie einst so sehnsuchtsvoll von Schloß Neuhof herniedergeblickt hatte wie in ein Land der Freiheit und des ungebundenern Glückes, als das war, das sie dort in einer nur scheinbar glänzenden Abhängigkeit hielt, bot nichts, was ihr Auge gesucht hätte, als das Schloß Westerhof, das indessen hinter den Wäldern nicht zu sehen war ...

Bei Bonaventura's Abreise hatte Lucinde den Vorsatz gefaßt, nur der Rache zu leben ... Ohne daß sie den Oberprocurator, den allmächtigen Dominicus Nück, einweihte in alles, was dieser von ihrem Herzen theilweise selbst schon wußte, theilweise errieth, war sie mit ihm vertraut geworden, denn seine Huldigung gab sich so maßlos, daß sie den Ausbrüchen derselben schon deshalb entgegenkommen mußte, um sein Benehmen der Gesellschaft nicht zu auffallend erscheinen zu lassen ... Er kannte ihre Liebe zu Bonaventura und mußte diese schonen ... Sie duldete seine von unreinern Wünschen scheinbar plötzlich frei gewordene Leidenschaft unter der Bedingung, daß Nück sie wie eine anderweitig Vermählte betrachtete ... Bonaventura wurde ihr bald wieder der alte Gott und nur noch die Tempel schwur sie zu zertrümmern, in denen andere ihm huldigten. Von jener Urkunde, mit der sie ihn sein ganzes Leben lang, wie sie gedroht, in Schach zu halten vermochte, sprach sie nicht zu Nück ... Der Schmerz und die Zeit hatten ihre Rachegefühle gegen Bonaventura gemildert ...

Nück wurde für sie ein psychologisches Räthsel ... Sein Lebensüberdruß war jene Krankheit, die sich bei allen jenen Menschen findet, die etwas anderes thun, als sie denken ... Könige haben wir gesehen, die geistesschwach wurden, weil sie eine Welt von schönen Gedanken, Plänen und Entwürfen in sich trugen und keine Menschen fanden oder – suchten, die sie bei ihrer Ausführung unterstützten. Der Muth, der schon zum Brechen mit den Rücksichten, die uns binden, bei ihnen nicht vorhanden war, fehlte vollends für alles Uebrige, was das Leben begehrt; ein geknickter Genius spielt zuletzt mit Puppen, die er an- und auszieht ... Und dann – dann wissen: Das ist unwahr! und es dennoch befördern – darum befördern, weil die Lüge einem andern zu Schaden kommt, den man haßt –! das untergräbt vollends die innerste Seele, wenigstens deren Ruhe ...

Nück konnte zu Lucinden auf ihrem kleinen Cabinet oder wenn sie ihn selbst, scheinbar in Aufträgen, in dem Zimmer besuchte, das zum Garten der Seminaristen hinausging – wenn sie vor ihm auf seinem unheimlichen Sopha saß, unter dem verhängnißvollen Ringhaken an der Decke – ganz wie der verzweifelnde Serlo sprechen: Es ist nichts mit unserm Hoffen und Glauben! Erde wird Erde! Wir düngen die Zukunft! Apostel oder Mörder – omnes una manet nox! (alle erwartet eine und dieselbe Nacht!) ...

Dennoch ging ein Mann mit solchen Ansichten in die Kirchen und Kapellen, bückte sich im Beichtstuhl und kreuzigte sich in der Messe ...

Nück konnte spotten über die Priester, konnte in seiner cynischen Art von reichen, wohlgenährten Pfründnern, die Lucinde in seinem Vorzimmer antraf, sagen: »Sehen sie nicht aus wie die rothen Fettäpfel, die die gebratene Gans ›Kirche‹ in ihrem Steiße trägt!« ... Sprang auch Lucinde bei solchen Worten auf, entfernte sich, so nahm sie doch das staunende Gefühl mit: Dennoch kämpfst du wie ein Löwe, offen und heimlich, für die Wiedereinsetzung des Kirchenfürsten? ...

Nück konnte so laut lachen über die Verlegenheiten der Regierung, daß es gellend dahinschallte in den Zimmern seiner Schwiegermutter, die er jetzt jeden Abend besuchte ... Das wird die Lernäische Schlange! rief er. Einen Kopf hauen sie herunter und zwei wachsen wieder! Ha, ha! Die Zeiten sind vorüber, wo die Schusterjungen, wenn sie in Berlin in einem Winkel am königlichen Opernhaus ihre Bedürfnisse befriedigen wollten, von den Gensdarmen hören konnten: »Wozu ist denn da drüben die katholische Kirche?!« ...

Solche Cynismen milderte die Lokalsprache, deren sich Nück bei seinen Bildern bediente ...

Die Frauen protestirten durch Aufstehen und heftigste Vorwürfe ... Bald aber setzten sie sich wieder und lachten über den Sonderling, der dann in die süßeste Courtoisie verfallen und den Liebenswürdigen spielen konnte ... Das graue Ungeheuer! nannte ihn, mit Wohlgefallen, seine eigene Schwägerin Johanna Kattendyk ... Guido Goldfinger, ihr Verlobter, applaudirte ihm, wenn Nück in seinen seltnern politisch-conservativen Anwandelungen polterte: »Aufklärung! Aufklärung! Kaum hat der dumme Bauer gehört, daß die Sternschnuppen nicht von Gottes Lichtputze kommen, wenn der Alte, im Flurhypothekenbuch der Menschheit vertieft, sich nur deshalb die Sternenlichter putzt, um ihre Sünden in desto deutlicherm Lichte zu sehen, so denkt er ja gleich: Nun all' gut, nun auch gleich Mistforke und Heugabel in die Hand genommen und auf die Zoll- und Rathhäuser gestürmt, wo die unbezahlten Steuerrester und Schuldverschreibungen liegen!« Bei alledem jubelte er jeder Nachricht von einem Pöbelauflauf, wenn er nur die »Neunmalweisen« in Verlegenheit setzte ...

Ein solcher Zustand der Seele wird zuletzt haltungslos, die Widersprüche heben sich auf, nichts bleibt übrig, als was Nück in seinen geheimsten Stunden war, ein Verzweifelnder, tief Lebensüberdrüssiger. Nächtlich konnte er umherrasen, in seinen grauen, alten Mantel gehüllt. Frau Schummel war dann die Vertraute der Phantasieen seiner entfesselten Sinne; Bedürfnisse hatte er, deren Befriedigung an einem Abend ein Vermögen kostete ... Plötzlich aber stieß er wieder alles von sich und predigte Buße und konnte an Selbstmord denken ... So überraschte ihn einst Hammaker und brachte ihn auf die uns bekannten Verirrungen des scheinbar sich Erhängenwollens ... In vertrautester Stille konnte er um diesen Hammaker klagen: »Was war denn nun das für ein Unglück, daß er den bösen Drachen umgebracht hat? Die natürliche Vergeltung ist das ja hier schon auf Erden! Jene hatte andere auf der Seele, diese hatten wieder andere und den Hammaker hätte dann auch schon Einer gerichtet!« ...

»Mädchen, kannst du lügen?« »Kannst du falsche Handschriften machen?« »Kannst du Feuer anlegen?«

So hatte Nück zu Lucinden gesprochen an jenem Piter'schen Festabend. Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Jean Picard wußte sie etwas von einer gewissen That, für die dieser durch Hammaker war gedungen worden. Nück war nie wieder auf diese Zumuthungen, ein Verbrechen zu unterstützen, zurückgekommen. Einiges hatte er von Lucindens Besuch im Profeßhause und von ihrer damaligen Todesangst in Erfahrung gebracht – die Erwähnung der »Spinozistin« Veilchen Igelsheimer brachte sie darauf ... Aber über alles Andere, was von ihm zum Gewinn des großen Processes der Dorstes verbrecherisch unternommen werden konnte, waren seit Benno's Abreise nach Witoborn die Schleier der Vergessenheit gefallen ...

So schien alles still und friedlich ... Lucinde wurde die Vertraute des Hauses, die Freundin, die Tochter, wie oft die Commerzienräthin ihr zuflüsterte – vorzugsweise, wenn sie der Mesalliance gedachte, die ihr durch Piter drohte. Denn Piter ließ nicht von Treudchen. Au contraire – seit seinem verunglückten Abend war er entschiedener, denn je, darauf bedacht, sich durch gänzliche Nichtübereinstimmung mit dem, was die gesunde Vernunft von ihm erwartete, allen Menschen so gefährlich wie möglich zu machen ... Der uns bekannte Entschluß Ernst Delring's, aus dem Geschäft auszutreten und die Stadt zu verlassen, wurde auch durch ein Ereigniß erleichtert, dessen betrübender Verlauf von Tieferblickenden geahnt werden konnte ... Lucinde war nach Witoborn in Trauerkleidern gekommen ... Das Hauptmotiv, mit dem sie das Herz der Frau von Sicking im Interesse der Kattendyk'schen Bitte zu rühren hoffen konnte, war Mutterschmerz und Geschwisterliebe ... Hendrika Delring war nicht mehr ...

Die sanfte, gute, liebevolle Frau, die Treudchen Ley einst so herablassend zu schmücken verstand; die so tief beklommen dem Gebet zugehört, als Treudchen niederkniete zur zurückgesetzten Madonna; die dann gleichfalls die Hände faltete – über der Hoffnung ihres Gatten, dem sie ihr Kind nach dessen ganzer Zukunft schenken wollte; Hendrika Delring, der von Piter tyrannisirte Flüchtling in den Beichtstuhl Bonaventura's, hatte die Schmerzen der Geburt nicht überstanden ... Ihr schon den Jahren nach auf solche Proben seiner Kraft nicht mehr angewiesener Körper leistete Widerstand; um die Mutter zu retten, mußte das Kind geopfert werden; bald darauf entwich auch ihr die Kraft, ein letzter Hauch des versagenden Athems und sie ging hinüber in ein Land, wo ihr die Taufe ihres Kindes keine Leiden mehr bereitete ...

Das Leben ist so! sprach Lucinde zu dem in Thränen verzweifelnden Treudchen, das sich bis zum letzten Augenblick treu bewährt hatte, sich nicht hatte nehmen lassen, die Todte zu entkleiden, zu waschen, sie für die Bahre zu schmücken ... Gerade das, worauf die meisten Vorbereitungen getroffen werden, gerade das, dessen Eintritt ins Dasein uns nicht hoch genug beschäftigen kann und an das wir all unsern Muth, all unsern Verstand, unser ganzes Herz setzen, das tritt nicht ein!

Lucinde sprach dies einem Urtheil in Serlo's Papieren über eine Dichtung nach. »Der Held mußte sterben! Wie kann man denn soviel reden und handeln lassen, um dem Misgeschick vorzubeugen, wenn das Misgeschick nicht wirklich ein Ungethüm ist, das Menschenkraft nicht überwindet? Die Götter strafen jede Einmischung in ihre Rechte. Das ist traurig, aber gar nicht so niederdrückend, wie es scheint. Wenn der Vorhang fällt, wenn die Menschen wieder an ihren abendlichen Kartoffelsalat gehen und sie hochvergnügt scheinen, daß nicht Gott, sondern die Birch-Pfeiffer die Welt regiert und die guten Seelen zuletzt doch ›sich kriegen‹, so glauben sie's im Grunde nicht. ›Romeo und Julia‹ kann kein Schauspiel sein. Der Tod – der ist zuletzt doch etwas Süßes für uns und die einzige Schönheit, die eine That ins Große verklärt. Wäre der Tod nicht, wir unternähmen nichts mehr, was unserm göttlichen Ursprung Ehre macht. Es ist, als forderte uns ein Preis heraus, je höher die damit verbundene Gefahr ist. Was wären wir, wenn das Schöne auf Erden sich halten könnte! Gerade der unterliegende Kampf gegen das Verhängniß zieht uns himmelan!«

Acht Tage nach dem Begräbniß Hendrika's wurde der Edeln ein Opfer gebracht, das reiner gen Himmel stieg, als alle Seelenmessen für sie, die auf Jahre hinaus von der Mutter gestiftet wurden. Treudchen Ley, die noch nicht ihr Trauerjahr um ihre Mutter vorüber hatte, kehrte in die theilweise schon geminderte volle Trauerkleidung zurück. Tief verhärmt war sie schon lange; ihr schönes blondes Haar verrieth nichts mehr von der alten gefallsamen Pflege. Schon lange nagten die bittersten Schmerzen an ihrer Ruhe. Piter hatte einem geheimen Familienconvent nicht beigewohnt. Als er das Resultat desselben erfuhr, das Beziehen des obern Stocks durch Goldfingers – Johanna sollte sich noch vor Beendigung der »Heiligen Botanik« verehelichen – erklärte er das ganze obere Stockwerk für sich allein zu bedürfen, für seinen nächstens zu eröffnenden Hausstand, und niemand anders, als »ein einfaches, bescheidenes Mädchen aus dem Volke«, keine »Staatsdame«, würde er heirathen. Ein Widerstand dagegen war deshalb auch schwierig, weil die ganze Familie Treudchen liebte und sie schon lange wie eine Verwandte behandelte. Da verschwand eines Tages Treudchen. Sie hinterließ die Kunde, daß sie bei den Karmeliterinnen war. Man konnte annehmen, daß sie den Schleier nahm. Cajetan Rother, der Beichtvater der Damen vom Römerweg, kam selbst zur Commerzienräthin und erklärte, schon lange trüge das junge Mädchen die schwärmerischste Liebe zur seligsten Jungfrau im Herzen und würde der Majestät ihres göttlichen Sohnes jedenfalls die Huldigung bringen, eine Braut Christi zu werden ...

Mitten in dem furchtbaren Revolutionsausbruch, den diese Nachricht im Kattendyk'schen Hause zur Folge hatte – Piter drohte nicht weniger, als die Kathedrale bis auf den letzten Stein zu schleifen – traten die Veranlassungen ein, die Lucinden bestimmten, sich selbst zur Dolmetscherin der Wünsche zu machen, die die Commerzienräthin in Betreff der vielbesprochenen neuen Unternehmung der Frau von Sicking hegte ...

Eines Tages kam sie aufgeregt in das Toilettenzimmer ihrer Gebieterin und erklärte mit angstentstelltem Antlitz, sie wollte selbst nach Witoborn reisen, um jene Bußfrage zu ordnen ...

Wally Kattendyk, hocherstaunt, weinte Thränen der Rührung über diesen edeln Entschluß, küßte Lucindens Stirn und Wange und drückte sie an die eben im Schnüren begriffenen Corsetverschanzungen ihres Herzens ...

Noch am selben Abend wollte Lucinde abreisen, unmittelbar nach jenem Besuch des Herrn Cajetanus Rother ...

Nück war Rothern auf der Treppe begegnet ... Er kam mit einer Anzahl in den Bart gemurmelter Vermuthungen über die seltsam geheimen Zusammenhänge der dieser Flucht Treudchen's zum Grunde liegenden Ursachen ... Piter war noch auf dem Polizeiamt und requirirte eine Hülfe, die ihm nach der Bulle De salute animarum nicht werden konnte, wenn Gertrud Ley auf ihrem Willen bestand und von ihrem Vormund in Kocher am Fall, einem ehrlichen Handwerker, die Zustimmung zum Eintritt ins Kloster brachte ...

Da hörte Nück von der Reise, die die nicht anwesende Lucinde beabsichtigte ...

Nach Witoborn? fragte er staunend. Das ist ja seltsam! setzte er hinzu und suchte Lucindens Zimmer ... Am Vormittag war sie zweimal bei ihm gewesen, ohne ihn zu finden ... Er hatte gerade beim Gericht plaidirt ...

Als Nück eintrat, fand er Lucinden vollständig zur Reise gerüstet ... Erst wollte sie mit einem Wort aufwallen, dann beherrschte sie sich und sank auf einen der mehreren Koffer nieder, die rings um sie her standen ...

Was ist denn, mein Fräulein? fragte er mit hoch aufgerissenen Augenbrauen ...

Ich reise – nach Witoborn! ... war die leise verhauchende Antwort ...

Hör' ich ja mit Befremden, erwiderte Nück ... Und mit Extrapost noch dazu? ... Im Hof unten steht Mutters Reisewagen ... Joseph begleitet Sie doch? ... Und nicht einmal das? ... Nur die Pferde fehlen noch? ... Liebste Freundin, welche Eile –? Alles das – der Exercitien wegen –?

Lucinde saß, die Hände aufgestützt ... Ihre Hand hielt die Bänder eines Reisehuts, der beinahe auf der Erde schleifte ... Allmählich hob sie von unten her den Blick und durchbohrte mit prüfender Schärfe die völlig ruhigen Züge des Oberprocurators ...

Sie waren bei mir, um Abschied zu nehmen –? fragte dieser voll erhöhten Erstaunens ...

Zweimal ... antwortete sie scharf betonend und doch durch seine Ruhe in ihrer Elasticität schon nachlassend ...

Gestehen Sie, wandte sich Nück ihr näher, es ist die Eifersucht, die Sie so mächtig ergreift! ... Sie haben von den Erfolgen des Domherrn gehört ... Tagelang ist er mit Gräfin Paula ... Er magnetisirt sie ...

Lucinde hielt die Hände über die Augen, als blendeten sie die Lichter, die auf dem Tische standen ...

Haben Sie schon vom Tod des Kronsyndikus gehört? fuhr Nück fort. Ich hörte, daß er sterben wird! Fürchten Sie, von seinem Testament ausgeschlossen zu sein?

Lucinde schwieg ...

Der Präsident von Wittekind ist nach Neuhof gereist ... Hätten auch Sie noch so viel Theilnahme für den alten Tyrannen, ihn noch einmal sehen zu wollen?

Lucindens Erinnerungen liefen geisterhaft an ihrer Seele hin ... Sie sah den Kronsyndikus in Hamburg aus dem Wagen steigen, als er sie, schon damals leichenblaß, bei den Geschwistern Carstens aufsuchte ... Sie sah ihn in jener Nacht in Kiel, wo er gespenstisch mit dem Degen in der Hand von seiner zweiten Frau sprach ... Dann aber drängte sich in die Theilnahme für ihn sein Schweigen, als sie mit Serlo's Familie umherirrte, darbte und vergebens auf seine Hülfe hoffte ... Sie zeigte sich zu seinem möglichen Tode ohne jede Theilnahme ...

Nun, in Nück's Benehmen keine Bestätigung ihrer Ahnungen findend, erhob sie sich und ging entschlußlos im kleinen Zimmer auf und nieder ...

Wollen Sie Klingsohrn das Mittel mittheilen, das ich Ihnen neulich sagte, um ihn aus dem Kloster zu bringen?

Alle diese Namen berührten Lucinden nur schmerzlich und trugen ihm ein: O schweigen Sie! nach dem andern ein ...

Ihr Reisegrund war in der That einer, den sie ihm nicht mitzutheilen wagte ...

Am frühen Morgen, als sie in die Messe gehen wollte, hatte sie eine Entdeckung gemacht, die sie mit eisigem Schrecken überlief ...

Am Posthof hatte sie vorüber müssen und war eines Briefes wegen in diesen eingetreten ...

Da stand ein Eilwagen, der soeben bespannt wurde ...

In Begriff einzusteigen sah sie in Pelzen, mit Handtaschen, Fußsäcken, sechs bis acht Passagiere harren ...

Eine dieser Gestalten fiel ihr auf und noch mehr fiel sie, wie sie sogleich sah, diesem Reisenden selbst auf ...

Kaum hatte sie einen prüfenden Blick auf einen Mann in einem wassergrünen Flausrock, mit einem rothen Comfortable um den Hals, geworfen, als sich derselbe auch sofort abwandte und die Hände schnell aus den Rocktaschen zog, in die er ruhig sie gesteckt hielt ...

Sie sagte sich: Das ist ja Bickert! ... Darüber konnte kein Zweifel sein ... Wuchs, Gesichtszüge waren unverkennbar, nur das Haupthaar ein anderes ... Sonst roth, war es jetzt dunkelschwarz und lockig ...

Sie mußte stehen bleiben und wandte sich, um den Verbrecher näher in Augenschein zu nehmen ...

Jetzt, sah sie, entdeckte er, daß auch sie ihn erkannt hatte, und immer mehr vermied er nun, ihr ins Angesicht zu sehen ...

Einen Augenblick that sie, als entfernte sie sich; doch nur um wieder zurückkehren zu können und sich vor die auf den Thüren befestigten Tarife zu stellen und scheinbar diese zu lesen ...

Jetzt wurde das Gepäck der Reisenden gebracht ... Sie hörte: »Nach Witoborn!« ...

Ihre Brust klopfte ... Sollte sie den Unglücklichen anreden, der ihr seine Nichtentdeckung, dem aber auch sie kürzlich eine große Hülfe und Rettung ihrer Ehre verdankte, ihn, der sie mit jenen Papieren aus dem Sarg des alten Mevissen, wie sie wenigstens glaubte, zur ewigen Herrin über Bonaventura's Schicksal gemacht hatte? ... Sollte sie ihn fragen, ob er es wäre, der nach Witoborn reiste? ...

Da fiel ihr seine Mittheilung über Hammaker's Anträge, sein Wort vom »rothen Hahn auf ein Schloß« ein, sein: Sapristi! als sie in dem unterirdischen Gang selbst von Westerhof, selbst von Nück begonnen hatte ...

Noch wogte ihre Angst um ein Verbrechen, in das sich nun Nück doch noch einließ, noch wogte die Furcht, hier so länger stehen zu bleiben, als die Namen der Passagiere aufgerufen wurden ... Der, der ihr Jean Picard schien, stieg mit der Bezeichnung: »Herr Dionysius Schneid« in den Wagen ... Sie hatte sich's wohlgemerkt; der Name wurde zweimal gerufen ...

Nun blies der Postillon ... Der Verbrecher fuhr von dannen ... Unter dem Eingang der Post drückte er sich in eine Ecke, um nicht beim Vorüberfahren ganz aus nächster Nähe beobachtet zu werden ...

In erster Aufregung flog Lucinde zu Nück, um aus seinem Benehmen zu erkennen, ob sie sich wirklich ihn, ihn selbst im Zusammenhang mit dieser Reise denken mußte – im Postbureau wurde ihr bestätigt, daß Herr Dionysius Schneid aus Strasburg seinen Platz bis Witoborn genommen hatte –

Dann sagte sie sich: Nein, wie kannst du Nück an Dinge erinnern, die von seiner Seite nur ein einziges mal und auch da nur so flüchtig und scherzhaft hingeworfen wurden? ... Sie wußte, um was es sich in jenem zu Nück's tiefstem Verdrusse verlorenen Proceß handelte, jenem Proceß, der Paula's Lebensschicksal entschied. Sie wußte, daß mit dem Fund der Urkunde Paula zwar ihr Erbe erhielt, aber auch das von einer durch die ganze Verwandtschaft festgehaltenen Etikette gestellte Ansinnen, sich mit dem um seine Hoffnungen betrogenen Grafen Hugo zu vermählen ... Ihrer Rache konnte an sich nichts Süßeres geboten werden als dieser schadenfrohe Hinblick auf – Bonaventura's Schmerz, und dennoch – zu mächtig wirkte entweder noch die Liebe und Sorge für ihn in ihrem für alles Uebrige abgestorbenen Herzen, um nicht zu erschrecken bei dem Gedanken, daß um den grausamen, sie »mit Füßen tretenden« Mann soviel Wildes sich begeben könnte, oder sie gedachte der Gefahr eines Frevels, der leicht dem Scheitern ausgesetzt sein konnte und sie selbst vielleicht in neue Wirren stürzte ... Schon war wiederholt ihr Name bei der Veröffentlichung der Beda Hunnius'schen Briefe genannt worden ... Sollte sich der Fluch ihres Daseins immer greller und greller erfüllen? ... Sollte sie durch diese wirkliche Ausführung geheimer Thaten auf die Bahn des Verbrechens hinübergeführt, ihrer Bekanntschaft mit Bickert überwiesen, um ihrer Erlebnisse auf dem Profeßhause willen wol gar dem öffentlichen Gerichte preisgegeben werden? ... Sie wünschte die Folgen der That mit heißester Begier, zitterte aber vor ihrem Mislingen ... Und nun ergriff sie die ihr eigene namenlose Angst, die sie immer hatte vor jeder Katastrophe, ehe sie da war. Flügel hätte sie sich geben mögen, den Verbrecher einzuholen, ihm nicht von der Seite zu weichen, ihn von seinem Vorhaben zurückzuhalten ... Noch einmal ging sie zu Nück, fand ihn aber wieder nicht ...

Die Ruhe des Nück'schen Hauses, die Ordnung des Geschäfts, der Reichthum, dem sie auf Tritt und Schritt begegnete, sagten ihr wol: Thörin, Thörin, wessen hältst du einen Nück für fähig! Für wahnsinnig würd' er dich halten, sprächst du davon! ... Und bin ich's vielleicht nicht selbst? ... Seh' ich mich nicht ewig mit Hammaker auf dem Schaffot, seh' ich mich da nicht mit meinen Brüdern, mit Oskar Binder, mit meiner Hauptmännin – alles so, wie ich's so oft träume! ... Die Stimmung einer wie von Furien Verfolgten und wie der höchsten Gewissensangst kam über die in sich haltlose und so tief ehrgeizige Seele ... Und um nur etwas zu thun, was den Augenblick festhielt, betrieb sie ihre Reise, schützte Gründe der Eile vor, ließ alle Anstalten wie zu einer Flucht treffen ... Sie glaubte wenigstens darin das Beste zu thun, daß sie, selbst wenn keine Verständigung mit Nück möglich war, doch in die Nähe des Verbrechers zu kommen suchte, um seinen Arm zu ergreifen und ihm zuzurufen: Die ewigen Mächte ziehen mich durch dich noch nicht rettungslos hinunter!

Das »Hessenmädchen« – die halbe Bäuerin – das war sie geworden! ... Geworden durch Schönheit, Ehrgeiz, Geist und – »Unglück!« ... Sie sah Nück in ihrem kleinen Zimmer jetzt an wie eine Verzweifelnde ... Ihm aber erschien sie bei alledem eine Zauberin; nur die rothen Kleider, die phantastischen Zeichen fehlten um ihre Schultern, der goldene Stab in ihren Händen; er hätte sie zur Priesterin welcher Religion sie wollte gemacht ...

Schon sprach er, mit heißen Seufzern sich ihr nähernd:

Sie sind krank! Lucinde!

Sie fuhr zurück, als vergiftete sie sein Athem ...

Sich sammelnd bat er sie, sich zu beruhigen und die Pferde abbestellen zu dürfen ... Seine Augenbrauen zuckten hin und her ... Er öffnete das Fenster, sprach in den Hof hinunter und bestellte die Pferde ab ...

Lucinde ließ nun alles geschehen ...

Kommen Sie! Was haben Sie? Sprechen Sie aufrichtig mit mir! Ich kann alles hören! begann er ...

Diese gleisnerische Ruhe war so entwaffnend, daß sie, als glücklicherweise die Thür aufging und die Commerzienräthin, Johanna, die Hausfreunde herbeigeeilt kamen und staunend von dem veränderten Reiseplan sprachen, einwilligte zu bleiben, zustimmte nach vorn zu gehen und ihre Furcht und ihr Bangen für den Augenblick beschwichtigte ...

Nück folgte mit Ingrimm ... Er war gestört worden in einer längst ersehnten Stunde ... Doch scherzte er alles hinweg und sagte, daß er es so weit zu bringen nie geglaubt hätte, sich wieder an Thee zu gewöhnen ...

Einige Tage vergingen Lucinden auf den Anblick der Harmlosigkeit des schreckhaften Mannes in einem Zustand scheinbarer Beruhigung oder der Abspannung ... Monika von Hülleshoven machte Condolenzbesuch und nahm Abschied, um ebenfalls auf Witoborn zu reisen ... Lucinde hätte sich der Hand dieser kleinen freundlichen und mit Rührung von Hendrika Delring sprechenden Frau anklammern und rufen mögen: Nimm mich mit! ... Doch Monika's Blick war ihr kalt und streng und es schien, als wollte auch sie schon nach seither öfter erfolgter Begegnung sagen – wie fast alle Frauen –: Wir gehören nicht zusammen!

Ihre Furcht erwachte aufs neue ...

Zu schreiben an Nück wagte sie nicht ... Täglich hatte Nück das Princip wiederholt, das sie schon bei der ersten Unterhaltung von ihm gehört: Nicht schreiben! ...

Schon nach drei Tagen war ihr Zustand völlig rathlos ...

Als sie gerade in den obern, schon von Delring verlassenen Zimmern des zweiten Stockes etwas räumte, kam ihr eines Morgens Nück entgegen. Es war wie zufällig. Hier, in den schallenden Zimmern, ohne Tisch und Stuhl, hier wagte er, nicht achtend der Erinnerung an eine Sterbestätte, auf der sie standen, eine Scene herbeizuführen, wie die erste gewesen an jenem Piter'schen Festabend und wie sie neulich ihm gestört worden war ...

Lucinde unterbrach ihn aber und sagte:

Wollen Sie mich wieder auffordern, das auszuführen, wofür Hammaker Bickert gedungen hat, der in diesem Augenblick vielleicht im Begriff ist, Ihren Proceß durch Mord brennerei zu entscheiden?

Nück sah sie mit seinen weit aufgerissenen weißen Augen an ...

Schon ertrug sie diese Augen, die ihr früher so entsetzlich gewesen ...

In – diesem – Augenblick –? Was reden Sie da? sprach er ...

Lucinde wiederholte ihre Frage ...

Hammaker? Wer ist – Sie kennen – was – wer ist – Bickert?

Diese Frage war eine heuchlerische. Die ersten Reden jedoch, die Nück in unterbrochenen Sätzen ausgestoßen hatte, schienen in der That unverstellt gewesen zu sein ...

Bickert, sagte Lucinde, jede Fiber in seinen Bewegungen beobachtend, Bickert ist jener Kirchhofräuber des Dorfes Sanct-Wolfgang ... Ich entdeckte ihn hier bei jener Gefahr im Profeßhause, von der ich Ihnen noch nicht alles erzählt habe ... Aber Sie, Sie hat er mir genannt als den Mann, der ihm die Mittel geben würde, für immer nach Amerika zu entfliehen, wenn er – staunen Sie nur! – zuvor auf einem Schlosse – Feuer angelegt und bei dieser Gelegenheit eine falsche Urkunde –

Himmel! unterbrach sie Nück ... Die Wände haben ja Ohren –! Was sprechen Sie da? ..

Sprachen Sie nicht einst selbst so zu mir?

Ich? ... Zu Ihnen? ... Wann?

Nück stand besinnungslos ...

In wessen Auftrag ist Dionysius Schneid nach Witoborn gereist? fuhr Lucinde mit überlegener Ruhe fort ...

Dionysius – Schneid –? Wer – ist – das?

Nück zeigte eine unverstellte Befremdung, war aber zugleich in eine Aufregung versetzt, die ihm, dem Kalten, Ruhigen, Allem gleichgültig Zuwartenden den Schweiß auf die Stirne trieb ... Kein Stuhl war im Zimmer, auf den er sich hätte niederlassen können ... Er taumelte zum Fenster hin, um sich dort zu halten; zufällig ergriff er eine noch zurückgebliebene Vorhangschnur und ließ diese sofort aus den Händen gleiten, stöhnend:

Ich hielt meinen Schutzengel von der Reise zurück! ... Ich fange an – zu – ahnen –! Jesus Maria! ... Ja, ja! ... Sie müssen fort, fort, sogleich! ... Wär' es denn möglich! Ich sah nichts, nichts als Ihre Liebe zum Domherrn ... Sogar die todten Schatten Serlo und Klingsohr beneid' ich noch –! Fort! fort! In diesem Augenblick!

Jetzt noch mehr erbebte Lucinde vor dieser Angst des sonst so muthigen Mannes ...

Wenn ich an jenem Abend, fuhr er mit ungewissem Stammeln und grauenhaftem Auf- und Abgehen seiner Kinnladen fort, über – die Urkunde – scherzte; wenn ich – die Urkunde nannte, die zu Ihrer Freude Paula zur Gräfin von Salem-Camphausen – machen könnte, so geschah's im Taumel der Freude, Sie allein zu sehen, Sie in Ihren Geheimnissen zu überraschen, Sie zu sehen an einem so berauschenden Abend in Ihrem Glanz, in Ihrer Schönheit ... Können Sie glauben, daß ich in meinem Haß so, so weit gehen konnte –? Aber ja, Sie haben Recht ... Ich Wahnsinniger, ich habe einst zu einem solchen Plane gelacht ... Ich habe drei verzweiflungsvolle Monate meines Lebens über dies Lachen hingebracht ... Drei Monate, wo Hammaker unter den Verhören der Richter stand ... Damals kam kein Schlaf über meine Augen ... Ich irrte umher, scherzte und – lachte, aber unterm Damoklesschwert ... Hammaker war – muß ich es doch zugestehen! – ein Höllenbrand ... Für seine verlorene Ehre, für die Bildung, die er besaß, rächte er sich am Menschengeschlecht ... Wie er mich auf dem Gewissen hat, darüber beicht' ich Ihnen, Lucinde, Ihnen – doch nur – wenn wir beide in Rom sind ... Lassen Sie mir dies Bild – in der Wüste meines Lebens! ... Hammakern ließ ich – schon seit lange – für sich – gewähren und suchte nur von ihm loszukommen ... Merkte er diese Absicht, dann konnt' ich sicher sein, einen neuen Anschlag von ihm zu gewärtigen ... Er war der dunkle Schatten meines Lebens – Und so unzertrennlich blieb er von mir, daß ich ihn sogar vor Gericht noch vertheidigen mußte! ... Die unglückselige Dose! ... Daß ich sie auch gerade ziehen mußte und ihm in sie den Griff verweigern! ... Eine Hölle grinste mich gleich an aus seinem Racheblick ... Ich sehe – sie ist jetzt losgelassen ...

Nück mußte sich halten ... Er war zu erschüttert – Lucinde dachte an Serlo, der einen Abend hatte zubringen können, zu rathen, wen wol Goethe in seinem »Clavigo« im Sinne gehabt, als er Carlos sagen läßt: »Ich, der ich dabei war, als dem Ersten der Menschen die Angsttropfen auf der Stirn standen« –? Lucinde hätte unter den vielen Beispielen verzweifelnd Ueberführter oder unerwartet vom Schicksal Geäffter, die Serlo aus seinem Leben nennen konnte, jetzt den Oberprocurator Nück anführen können ...

Eines Tages, fuhr Nück in stammelnder Rede und so, als würde schon durch seine Erzählung der Moment des Handelns versäumt, fort – eines Tages, als ich über die fehlende Urkunde in dem großen Processe klagte, sagte Hammaker, der ein Jurist war, seltene Kenntnisse besaß: Nück! Spielen wir doch – ein bischen Pseudo-Isidor! Sie verstehen das nicht ...

Doch! sagte Lucinde. Der heilige Isidorus von Sevilla hat die Regeln aufgeschrieben, nach denen sich allmählich euer kirchliches Recht bildete! Ein Geistlicher in Mainz, Benedictus Levita, gab hierauf diese noch einmal heraus, gefälscht aber durch Zusätze, die der Macht der Bischöfe über den Klerus günstig waren. Um nun wieder die Bischöfe sicher zu stellen vor den Folgen jener Verfälschung, ließen diese durch neue Fälschungen dem ersten Bischof in Rom die höchsten Ehren. Ohne diese Lügengewebe des falschen Isidorus von Sevilla gäb' es keinen Papst in Rom, keine dreifache Krone, die die Welt beherrscht, auch keinen Orden vom goldenen Sporen – –

Nück reichte gezwungen lächelnd mit der zitternden Hand zu Lucindens Stirn hinauf, als wollte er sagen: Werth bist du selbst eine Krone zu tragen! ... Mit einem Gemisch von Huldigung, von gemachter Frömmigkeit und Ironie warf er die Worte hin: Bei alledem sind Sie eine große Ketzerin! ... Dann fuhr er fort: Ja! Hammaker sprach von diesem Pseudo-Isidor, der allerdings Rom groß gemacht hat und Rom gedeihe doch! Gedeihe durch eine Lüge! sagte der Schurke. Ich lächelte – lächelte ohne Arg ... Ich beschwöre Ihnen dies! Ich beschwör' es – bei – Ihrer – Liebe zum Domherrn – denn an etwas anderes in der Welt glauben Sie doch nicht! Hammaker veranstaltete alles, was ich – zwar nur so obenhin, aber doch schon von Entsetzen ergriffen – plötzlich zu ahnen begann ... Immer hatte er etwas, was bald zu meinem Glück, bald zu meinem Verderben ausschlagen konnte ... Alle Kenntnisse besaß er, die dazu gehörten, eine falsche Urkunde im Geschmack alter Zeit aufzusetzen, sie aufs zierlichste zu copiren, sie mit chemischen Mitteln wie wurmstichig zu machen, sie mit Kaffeesatz zu bräunen ... Nur durch einen Act der List oder Gewalt konnte diese Urkunde in die Archive kommen ... Ich ahnte ein Vorhaben dieser Art, das mich ewig zu seinem Sklaven machen mußte ... Das wollte er denn auch ... Indessen – ich beruhigte mich – ich sah ja sein nahes Ende ... Im Gefängniß wär' ich gern einmal auf meine Furcht zurückgekommen, nur hatt' ich immer Feuer an den Sohlen, so oft ich mit ihm reden mußte ... Noch jetzt – sehen Sie – Nur an ihn zu denken und nicht schon handeln ist gefährlich – Sie müssen reisen, Lucinde ... heute, heute noch! ...

Lucinde stand mit klopfendem Herzen, ein Bild zwar des Schreckens, aber doch schon gefaßter, da sie die Mitfurcht eines so mächtigen Dritten hatte ...

Vielleicht irr' ich mich in den Voraussetzungen über die Verkleidung jenes Picard ... sagte sie ...

Nein, nein! Hammaker hat mir diesen Dank fürs Leben hinterlassen wollen! Nun weiß ich es für gewiß! Folge mir auch du! riefen die Teufel in seiner Brust, als er aufs Schaffot mußte ... In meinen Gefängnißgesprächen mit ihm deutete ich auf jene frühern Aeußerungen über den falschen Isidorus hin ... Da fuhr er auf und sagte höhnisch, daß ich ihm denn doch auch zu viel Devotion für meine Interessen zutraute ... Für – meine Interessen? fragte ich forschend, mußte aber schweigen und sehen Sie da, wie ich mit ihm stand – jedesmal daß ich bei ihm war, hatte ich Gift bei mir und wollte es ihm anbieten ... Einmal machte ich davon eine Andeutung ... Da sprang er auf mich zu und erschlug mich fast mit der Handschelle ... Ich entfloh, die Wache kam herein ... Ich hörte die nichtswürdigsten Worte hinter mir hergerufen ... Er glaubte nicht an seine Hinrichtung – er wollte die Buschbeck nur im Ringen, nur im Vertheidigungsstand gegen eine Wüthende erwürgt haben ... Voll Rache, auch gegen mich und meine scheiternde Vertheidigung, bestieg er das Schaffot. Seitdem athmete ich auf und ahnte nicht, daß er mich nach sich zieht ... Neulich merkt' ich etwas davon zum ersten male ... Ein Mensch kommt zu mir und stellt sich mir vor als ein von Hammaker Gedungener –

Den – Den mein' ich! ... bestätigte Lucinde ...

Als ein Mensch, der von mir tausend Thaler bekommen würde, wenn er auf Schloß Westerhof bei Witoborn im dortigen Archiv Feuer anlegte ... Bei dem dann entstehenden Tumult sollte er eine Urkunde, die er wohlverwahrt bei sich zu Hause hätte, in das Archiv bringen ... Ich stand erstarrt ... Mich endlich ermannend fuhr ich dem wüsten Menschen an die Gurgel und wollte die Wache rufen ... Darüber wieder entsank mir der Muth ... Ein Verdacht, ein Flecken würde immer geblieben sein ... So redete ich dem stumpfsinnigen, der deutschen Sprache kaum mächtigen Menschen zu, bat ihn vernünftig zu sein, solche Nichtswürdigkeiten nicht zum zweiten male gegen mich auszusprechen und gab ihm hundert Thaler zur sofortigen Abreise ... Wie bereu' ich die geringe Summe, die ich gegeben! Auch die Drohungen, die ich ihm nachrief! Ich fahre sofort auf das Polizeiamt! sprach ich ihm die Thür weisend; ich werde Sie anzeigen und beobachten lassen! ... Da erst besann ich mich: Hammaker wird ihm gesagt haben: Gelingt es oder nicht, so sind tausend Thaler mehr oder weniger für Nück's Furcht eine Bagatelle! Ewig kannst du auf die Art von ihm ziehen! Jedenfalls mehr, als wenn du in Westerhof uns, heute oder morgen, beide angäbest und zum Dank – dann doch auch mit ans Eisen müßtest! ... Ich höre alles das! ... Lucinde, wir erleben eine große Demüthigung ...

Nück brach fast zusammen. Er kam zu keiner Besinnung mehr, steckte mit seiner Furcht aufs neue Lucinden an, die an manche Beruhigung sich halten wollte, drängte in sie, abzureisen, Bickert aufzusuchen und durch ihre Beredsamkeit, natürlich auch durch so viel Geld, als sie nur mitnehmen wollte, den Verbrecher von seiner That zurückzuhalten ...

So reiste sie noch am selben Abend ab und kam nach Witoborn in der leidenschaftlichsten Erregung ...

Nur zu bald erfuhr sie hier, wo sich ein gewisser Dionysius Schneid befand ... Schon auf Westerhof! ... Schon am Ziel seiner gewinnsüchtigen und frevlerischen Absichten! ... Wie aber näherst du dich ihm? Wie rettest du dich vor Schimpf und Schande ... Im Geist sah sie sich durch alle diese Vorgänge auf der Bank vor den Assisen ...

Willenlos hatte sie sich heute schmücken lassen ... Willenlos war sie nach Münnichhof gefahren ...

Paula hatte schon eine Vision von einer Feuersbrunst gehabt! ... Das hörte sie dann ... Sie sah in Püttmeyer's Bildern immer nur Brand und Brand ... Sie mußte sich selbst wie schon aus den Flammen losreißen ...

Brütend, wie sie an Dionysius Schneid kommen sollte, saß sie in dem dunkeln Zimmer, zum Tod vernichtet ...

Entsetzt fuhr sie zusammen, als ein Bedienter den Kopf durch die Thür steckte und sie nach ihrem Namen fragte ... Vor ihren Blicken standen gleich Häscher und Richter ...

Der Bediente sagte, ein Mönch, ein Laienbruder hätte bei einigen Dienern, die von Witoborn mit gekommen wären, nach dem Fräulein gefragt und zu seinem Erstaunen gehört, daß sie selbst hier anwesend wäre ... Ob er sie sprechen dürfte? ...

Wer? fragte sie halb ablehnend, halb nicht begreifend ...

Ein Bruder Hubertus! Ein frommer guter Alter ... Aus dem Kloster Himmelpfort drüben ...

Hubertus? ...

Den Namen kannte sie ja ...

Aus Serlo's Erinnerungen sah sie den Pater Fulgentius vor sich, den Hubertus einst gerichtet hatte ...

Sie wußte auch, Hubertus war der ehemalige Verlobte ihrer Hauptmännin ... Der »Bruder Abtödter« war's, der Klingsohr zum Pater Sebastus gemacht hatte ...

Naht sich schon wieder die Kette, die dich ewig an das Vergangene schmiedet? rief es verzweifelnd in ihrem Innern ...

Sie wollte den Mönch abweisen ...

Doch, noch ehe sie erwidert hatte, öffnete sich die Thür und ein dunkler Schatten huschte herein.

16.

Vor der Unschönheit des Anblicks, der sich ihren Augen darbot, ergriff Lucinden ein Schauder ...

Das waren keine Züge, die dem Leben angehörten ... Jene Chinesenköpfe, die sie einst im verschlossenen Zimmer der Buschbeck gesehen, traten ihr entgegen ... So lächeln Mumien ...

Was wünschen Sie? fragte sie indessen mit sich sammelnder, ablehnender und hoffärtiger Kälte ...

Sie erwartete eine Botschaft von Klingsohr und konnte sich darum noch weniger zur Freundlichkeit stimmen ...

Mein geehrtes Fräulein – begann Hubertus mit seinem im wunderlichen Tonfall gesprochenen fremdartigen Dialekt und unterbrach sich dann schon selbst, um sich erst zu versichern, ob seine Rede unbelauscht blieb ...

Lucindens Schrecken mehrte sich ...

Was wollen Sie? sprang sie voll Furcht und Unwillen auf ...

Dunkler und dunkler war es geworden ... In einem Kamin, sah Lucinde erst jetzt, leuchteten noch halbglimmende Kohlen ...

Mein Fräulein, begann der Mönch aufs neue und mit Milderung seiner auffallenden Hast, Sie wohnen ja wol bei Frau von Sicking –?

Ja! Warum? ...

Sie heißen Lucinde –

Schwarz – was fragen Sie danach?

Ich möchte wissen, ob Ihnen der Name – eines gewissen – Jean Picard bekannt ist? ...

Lucinde mußte sich am Rand des Kamins halten ... Da war das tödliche Wort gefallen ... Das Geheimniß ihres Innersten ausgesprochen ... Die Welt wußte schon alles! ...

Der Alte sah die Vermuthung des Briefes bestätigt ...

Allmählich zog er aus der innern Tasche seiner Kutte das Papier ... Vor Aufregung lächelte er selbst ... Konnte eine so schöne, junge Dame mit Verbrechern bekannt sein? ... Bei seinem Lächeln gingen ihm die Winkel seines Mundes fast bis zum Ohr ... Es war nicht zu unterscheiden, ob der schreckliche Mönch ihr Vorwurf oder Theilnahme bezeigte ...

Lucinde stöhnte mit schwerem Athem:

Jean Picard? ... Den Namen hab' ich – einmal nennen hören ... Ja! ... Was soll es mit ihm? ... Er hat auf einem Kirchhof einen Sarg erbrochen ...

Der ... Der! Ganz recht! ... ergänzte der Mönch, entfaltete den Brief und prüfte Lucindens Benehmen, das sich vergebens zu fassen suchte ...

Wissen Sie, wo er ist? Sie würden den Behörden – mit der Angabe – einen Gefallen thun! sagte sie kleinlaut ...

Hubertus legte die Hand an den Knochen, der sein Kinn war, und betrachtete von unten her, forschend und mistrauisch, die kalte Ruhe, die sich ihm gegenüber so als völlig sorglos zu geben suchte ... Ob diese Ruhe gemacht war, unterschied er nicht ... Der gute Bruder hatte ein edles Herz, hatte viel erlebt, doch seine Geistesgaben waren nicht die hervorragendsten ...

Fräulein, sprach er, als Lucinde so erwartungsvoll fragend stand ... Hier ist ein Brief an die Behörden in Witoborn ... Der Regierungsrath von Enckefuß wünscht, daß Sie – ja Sie, Fräulein – von seinem Vater, dem Landrath, um Ihre Bekanntschaft mit diesem Jean Picard befragt werden ...

Lucinde hatte von Serlo einen Grundsatz angenommen. Dieser hieß: Droht dir eine Gefahr, und du weißt es und sie naht endlich, dann denke dir nur immer gleich die ganze Fülle des Elends! Laß nichts von beschönigenden Mittelstufen, von möglichen bessern Erwartungen aus! Sage gleich: Alles ist verloren! Und bricht dann doch nicht alles so herein, wie du fürchtetest, so hast du ja gleich eine kleine Abschlagzahlung wieder auf das Glück! ...

So sah sie sich jetzt, wo schon die Sicherheitsbehörden ihr Geheimniß wußten, geradezu bereits in Ketten und Banden ... Sie sagte sich: So wandelst du hin! So wird dein Loos sich erfüllen! Das wird aus einem Weibe, wenn – »es die Liebe nicht findet« ...! So war dir's, als du auf der Bühne scheitertest! ... So war dir's, als dir in der Dechanei gekündigt wurde! ... Nun sieh nur zu, was kommt! ...

Der Mönch betrachtete das ihm durch Klingsohr so wohlbekannte Mädchen voll Staunen und Mitleid ... Kreidebleich, wie der Rand des Kamins, stand sie und bemerkte nicht, daß ihr der Alte mit seiner knöchernen Hand den Brief selbst zu lesen gab ... Die Augen gingen ihr tief innenwärts ...

Lesen Sie's nur selbst, sagte der Greis und sprach dies schon wie strafend ...

Zu dunkel ist's! antwortete sie, wollte lesen und konnte nicht ...

Sie wandte sich, weil ihre Hände zitterten und hauchte:

Sagen Sie doch selbst, was darinnen steht!

Hubertus theilte ihr den Inhalt des Briefs im kurzen Zusammenfassen mit ...

Lucinde hörte ihr Todesurtheil ... Sie sah Flammen um sich her und konnte nicht entfliehen ... Sie hörte Sturm läuten von den Thürmen und rannte sinnlos mit den andern ... Grützmacher, der Wachtmeister aus Kocher am Fall, stand vor ihr mit seinem Signalementbuch und sprach sein: Na Paschol, Mamsell! ... Eine Emissärin hieß sie den Behörden schon lange ...

So stand sie wie eine Statue ...

Bei alledem sagte sie:

Dummheit! Ich sehe da die ganze – blonde – blauäugige – Weisheit des – Herrn von Enckefuß! ... Wie kommen denn Sie – Sie, ein Klosterbruder, dazu, von diesen Menschen – in – Criminalsachen gebraucht zu werden?

Der Landrath kennt diesen Brief noch nicht! sagte Hubertus. Auch soll er seinen Inhalt nicht erfahren – Darauf geb' ich Ihnen mein Wort – falls Sie mir sagen, Fräulein, wo ich – Jean Picard finde!

Lucinde wandte staunend ihr Antlitz ...

Und was geschah? Da lag das Papier schon auf dem halb im Verkohlen begriffenen Feuer des Kamins ...

Der Mönch hatte es eben hingeworfen und das plötzliche Wehen des Kleides, das entstanden war, als Lucinde hoffnungsbelebt einen Schritt zurückfuhr, brachte den Zugwind, an dem sich das Papier entzündete und langsam zu verbrennen anfing ...

Ich begreife Sie nicht –! flüsterte sie und fühlte bereits jene Serlo'sche »Abschlagzahlung wieder auf das Glück« – ihre Augen blitzten wie ein Sonnenstrahl aus Wolken ...

Mein Fräulein, begann der Mönch, mag dem sein wie ihm wolle, und was Sie auch mit solchem Volk zusammenbringt, ich gebe Ihnen den Schwur beim Patron meines Ordens, daß ich diesen Teufel kneble, binde, geradezu aufhänge, wenn ich ihn finde, um ihn von seinem Lasterleben zurückzuhalten ... Sagen Sie mir nur, wo ich ihn entdecke – diesen Jean Picard! ...

Waren denn das Worte der Verstellung? ... War denn dieser muthige, entschlossene Ton die Sprache eines Feindes oder Bundesgenossen?

Der Greis richtete jene Miene auf sie, die, das erkannte sie jetzt, Lächeln sein sollte ... Sie vertraute dem innigen Ton der heftigen Rede des Alten und fragte mit Wonneschauern glücklicher Hoffnungen:

Was haben denn aber Sie für ein Interesse an solchen Verbrechern, die, wie Herr von Enckefuß glaubt, meine Freunde sein können?

Bei Sanct-Franciscus! rief Hubertus ... Das ist, denk' ich, keine Kleinigkeit, wenn man in Liebe an Jemand jahrelang denkt, ihn wiedersehen will und wiedersehen muß und gerade im selben Augenblick von ihm erfährt, ein Dieb, ein Räuber ist's geworden, wie – die andern waren ... Sehen Sie diesen Picard milder an, so weiß ich nicht, warum, Fräulein. Ich habe in jungen Jahren ein paar gute Körner in den Schurken gelegt ... sind die so schlecht aufgegangen? So ganz der Apfel beim Stamm geblieben? Zwischen zwei Bäumen mach' ich im Wald eine Hängematte aus ihm und laß' ihn nicht eher zur Erde, als bis er vor Gott mir ein besserer Zeuge wird! Das schwör' ich Ihnen!

Wie kühlender Regen nach wochenlanger trockener Hitze überrieselten diese Worte Lucindens Furcht und Bangen ... Sie sah eine Möglichkeit, den Verbrecher von seinem boshaften Plane, Nück zu Geldzahlungen zu zwingen, zurückzubringen ... Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Bickert entsann sie sich seiner Scheu vor einem Madonnenbilde, entsann sich seines Ganges in den Beichtstuhl Bonaventura's ... Vielleicht war er nicht nur einer Drohung, sondern selbst einer Mahnung zum Besseren zugänglich ... Es lebte in ihm jene Ideenverwirrung, die die moralische Milde des Katholicismus in den Köpfen der Masse anrichtet ... Sie sündigt und beichtet und beichtet und sündigt ... Der Bravo läßt den Dolch weihen, der gedungen ist, einen andern zu morden ... Die gemachte Beute wird mit der Gottesmutter und mit den Heiligen getheilt ...

Um ihre Freude nicht zu verrathen, schwieg sie und redete auch da noch nicht, als Hubertus mit immer dringlicherer Eile fortfuhr:

Sie kennen ihn! Sagen Sie mir aufrichtig, ohne Furcht: Wo ist er? Verlieren wir keinen Augenblick! Ich will ein Wort mit ihm reden wie Jüngstes Gericht!

In Lucindens Innern zog es wie eine himmlische Musik auf ... Hubertus erschien ihr schön ... Sie hätte ihn küssen mögen ... Aber auch schon lachen vor innerstem Krampf und namenloser Freude ...

Sagen Sie mir es nicht? Mir? Mir nicht? Was sollte auf Westerhof geschehen? ...

Lucinde zuckte zusammen ...

Reden Sie? Ich bitte!

Ich will Ihnen vertrauen! sprach sie. Auch ich – möchte – den – verirrten – Menschen schonen! Eine elende Vorspiegelung hat ihn bestimmt, hieher zu reisen und ein Verbrechen auszuführen, das ich – Ihnen nicht anzugeben weiß, das aber gute – unschuldige Menschen – ja mich selbst in peinliche Lagen bringen kann! – Versichern Sie sich seiner Person! Haben Sie Einfluß auf ihn, so können Sie mir und manchem, der Ihnen dafür ewig danken wird, keinen größern Dienst erweisen, als wenn Sie ihn, wie Sie nur irgend können, unschädlich machen! Ich wünschte, Sie wären nicht so geldscheu, wie dies Klosterbrüder zu sein pflegen! Geld scheint das einzige Mittel zu sein, diese wüste Seele zum Bösen oder vielleicht ebendeshalb auch noch zum Guten zu lenken – und wenn ich Ihnen aus meinen Mitteln –

Das lassen Sie nur! unterbrach Hubertus. Sehen Sie, wie sich alles treffen mußte – Dem Schurken hielt ich zehntausend Thaler in Bereitschaft –! Sie staunen? ... Noch mehr! Das ist Geld, an dem Ihre eigenen Thränen haften, Fräulein! Ja Ihre! Ihre! ... Geld, das Sie, Sie mit erwerben halfen durch Hunger und Entbehrung! Jene Erbschaft der ermordeten Frau, die auch Sie auf dem Gewissen hat – fiel ja mir zu ...

Lucinde war es nicht gewohnt, etwas von ihren Thränen zu hören ... Und wie sich der ewig Unglückliche des Glücks entwöhnen kann und dessen Annäherung gar nicht mehr mit voller Beseligung fühlt, so entwöhnt sich auch das Herz, das man ewig kalt und empfindungslos nennt, der Anerkennung seiner bessern Gefühle ... Sie war mehr erstaunt als gerührt über diese Worte ... Sie erschrak sogar über sie; sie erinnerten an Klingsohr ...

Woher wissen Sie das? fragte sie ...

Durch Pater Sebastus! bestätigte Hubertus und musterte Lucinden mit dem ganzen Rückblick auf alles, was er über sie wußte und nach dem Eindruck, den sie ihm machte, jetzt wohl für glaublich halten konnte ... O wüßt' er, fuhr er mit freundlichem Nicken fort, daß Sie in seiner Nähe sind! Darf ich's nicht dem Armen sagen?

Wem? fragte sie ausweichend und befremdet ...

Heinrich Klingsohr! ...

Wir sprechen von den Gefallenen, nicht von den Erhöhten! sagte Lucinde mit einer der ihr geläufig gewordenen devoten Wendungen ... Sie finden den, den Sie suchen, auf dem Schlosse Westerhof! Unter dem Namen »Schneid« hat er dort eine Stelle gefunden ... Sein Aeußeres – Seit wie lange schon sahen Sie ihn nicht?

Ich habe das Merkzeichen meiner Kinder ... Und schon in Westerhof! ... Was wollt' er dort? ...

Warnen Sie ihn!

Warnen? ... Damit halte ich mich nicht auf! ... Ich trag' ihn auf einen Thurm und werf' ihn hundert Fuß tief, wenn er nicht Ordre hört! Ist aber an ihm noch zu flicken, so schaff' ich ihn nach Bremen und von da aufs Schiff und mag er dann nach Amerika gehen ...

Lucinde sagte sich selbst: Werde nur nicht übermüthig, seit du siehst, daß dich der Himmel noch liebt!

Hubertus begann eine Frage, die er nun auch noch nach Terschka richten wollte, unterbrach sich aber, weil in der Ferne die Jagdhörner ertönten ...

Also Westerhof! wiederholte er ... Schneid! ... Und – Sie – Sie Wilde, Wilde! Warum soll ich nicht den Pater Sebastus grüßen?

Einem Kloster ziemt kein Frauengruß! sprach sie mit Lächeln ...

Der Arme sitzt in Haft ... Wie hätt' ich ihm gegönnt, nach Lüttich zu entfliehen ...

So vertraut war Hubertus mit Klingsohr ...

In Haft? fragte sie ...

Wenn ihn nicht heute der Domherr von Asselyn frei bekommt ... Ja! ... Der wollte ein Wort für ihn beim Provinzial einlegen ...

Lucinde sah im Geist zwei, drei Räder gehen und sich selbst in ihrer Mitte ... Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alles rollte rundum – und nichts war fest ...

Noch einmal rief sie dem schon Abschiednehmenden und immer vor sich hin: »Schneid!« »Schneid!« Murmelnden und richtete lächelnd die Frage an ihn:

Wissen Sie nicht irgendeinen hohlen Baum? Eine vom Blitz erschlagene Eiche?

Im Düsternbrook! Gewiß!

In diesen Baum soll Klingsohr entfliehen! ...

In – einen – Baum? ...

Ich denke ... Wo möchte der Pater am liebsten sein?

Wo Sie sind oder – in Rom!

Nun gut! ... Der Weg nach Rom führt durch jenen hohlen Baum – Aber die Jäger kommen ... Ein andermal! ...

Was Jäger! Auch ich war einer – hier und in den Wildnissen Javas! Was Entbehrung und Anstrengung heißt, das kenn' ich ... Ich bin von Schlangen gebissen worden und Malayen sogen mir das Gift aus den Wunden ... Selbst lernt' ich Gift aus einem frisch gebrochenen Schlangenzahn saugen und keine Schlange mehr hatte seitdem Gewalt über mich ... Doch ja! Eine – Eine freilich! ... Aber was soll's mit dem Baum? Ich verstehe – nur – erst – halb und halb ...

Lucinde wiederholte Nück's Rath ...

Die Regel Ihres Ordens, sprach sie schnell und wie zwischen Thür und Angel, gestattet Ihnen Veränderungen Ihrer Lage, aber nur müssen Sie – vom Strengen zum Strengern übergehen! Flieht der Pater in einen Baumstamm, lebt dort als Einsiedler, erträgt die Härte des Winters, bleibt in Sturm und Regen, hütet sein Crucifix und kümmert sich nicht, wer oder was ihn ernährt, so hat kein Kloster Gewalt über ihn; das Bedürfniß größerer Gottseligkeit ist heilig. Kommt dann aber – der Frühling – kommen die Schwalben –

Ha! So entfliehen wir nach Rom!

Nach Rom? Auch Sie?

Auch ich!

Nun gut! Aber – ohne Sandalen! Ohne Kapuze! Statt des Stricks – mit dem Stachelgürtel! ... Nach der Regel des heiligen Petrus von Alcantara, die Sie vorgeben müssen, in Rom annehmen zu wollen ... Seinen getreuen Alcantarinern wird Sanct-Franciscus Verzeihung gewähren ... Die Prüfung ist groß ... Aber wo seh' ich Sie wieder? ... Man kommt! ... Morgen in der Frühe im Münster von Witoborn ...

Damit drängte sie den staunenden Bruder aus dem Zimmer, zog die Thür sofort wieder an sich und eilte die Reste des Briefs zu zerstören, ihr Haar, ihre Kleider zu ordnen und sich zur Rückkehr in die Gesellschaft zu sammeln ...

Ihre Brust athmete auf ...

Kann denn für dich, riefen tausend frohlockende Stimmen, noch ein Wunder geschehen? Selbst das Gefühl der Versöhnung mischte sich in ihren Jubel. Wurde das Verbrechen unterdrückt, so zog keine unerbittliche Hand mehr Paula von Bonaventura's Seite ... Auch das glaubte sie jetzt wünschen zu können. Mit erleichtertem Herzen, hoffnungsvoll kehrte sie in den jetzt schon von Kerzenlicht widerstrahlenden Saal zurück ...

Das ganze Schloß war inzwischen in Bewegung gekommen ...

Hörnerschall, Peitschenknallen, Hundegebell hörte man schon in nächster Nähe ... Die Jagd kehrte heim ... Jubelndes Halali wurde geblasen schon bis in den Schloßhof herein ...

Die Frauen standen im Saale und zum Empfang der Männer geschart ... Von Püttmeyer's Künsten waren sie noch alle wie Traumbefangene; der Glanz der Lichter, der Duft der Speisen rief sie in eine nicht minder behagliche Wirklichkeit zurück ...

Der Erfolg der Jagd war zuletzt der lohnendste gewesen. Das erlegte Wild kam in einer langen Wagenreihe an hoch bedeckt mit Tannenzweigen. Sämmtliche Treibleute, die den Tag über und schon gestern meilenweit mitgewirkt hatten, standen im Schloßhof und empfingen ihren Lohn für die gehabte Anstrengung. Man zahlte mit Geld und anerkennenden Worten. Der Graf hatte große Treffer von sich zu rühmen und war in bester Laune, denn der gefürchtete Terschka hatte weniger geleistet, als man erwartet; Terschka trug den Tannenschmuck an der grünen Mütze ohne jede Berechtigung zur Ueberhebung.

Nun auch traten der Dorste'sche Oberförster und seine Gehülfen, der Wildmeister und die Leibschützen mit den bisher zurückgehaltenen Glossen der echten Jägerpraktika hervor und erklärten jeden Schuß, wie er hätte sein müssen, berichtigten jedes Misverständniß, deuteten an, wie man jenen Rehbock, diesen Spießer hätte sogleich da oder dort aufs Blatt nehmen sollen ... Alle aber waren darin einverstanden, daß die Freude und das dann zuletzt doch nicht ausgebliebene Glück erst eingezogen waren, als der Landrath entfernt worden ...

Laut gesprochen wurde über diesen Zwischenfall nicht mehr viel; der Damen wegen flüsterte man nur; der Landrath mußte ja für »tollgeworden« gelten. Ueber etwa dabei Versäumtes beruhigte einer den andern, seit man von Hubertus' glücklich getroffenen Anordnungen und der Abholung des Landraths aus einem Bauernhause durch sein Fuhrwerk und seinen Bedienten wußte ...

Der Hinblick auf die Vorgänge im Hof hätte für die Frauen ein abschreckender sein sollen, denn das letzte erlegte Wild wurde hier von den Jägern ausgeweidet. Lunge, Herz, Leber, das Feiste in den Wammen, alles fiel den jagdkundigen Helfern zu nach Jägerrecht. Sorglich wurde weder hievon abgewichen, noch von den Trinkgeldern, die man dem in die Hand steckte, der das Tannenreis an Hut oder Mütze flocht. Der Anblick, an sich schon wild, machte sich malerisch schön durch die angesteckten Fackeln. Rings die alterthümlichen Wände und Galerieen. Schon allein das Getreibe der Hunde, die für die lang zurückgehaltene Gier jetzt durch ihren Antheil belohnt wurden, war eine Aufgabe für die Vereinigung der Talente eines Snyders und Rubens.

Dann wurde der Rückblick auf die Geschichte des Zusammensturzes dieser Thiere, die mit ihrem Blut den Boden bedeckten, mit einem Stimmeneifer begleitet, als handelte es sich um die größten Begebenheiten der Welt. Jeder stutzende Seitensprung eines Böckleins wurde noch jetzt belacht, nicht etwa weil die »nobeln Passionen« Empfindungslosigkeit mit sich bringen, sondern weil der Mensch an der Ausübung seiner Hoheitsrechte über die Natur doch zuletzt eine berechtigte Freude haben darf. Die Spottreden waren nicht mehr so scharf gesalzen, wie im Beginn. Hatten doch auch die jedem einzelnen mitgegebenen Jäger, des Tannenzweigs, d.h. Trinkgelds wegen, dafür gesorgt, daß zuletzt jeder auch noch so lateinische Jäger gleichsam wie von Samiel's Hand eine sicher treffende Freikugel bekam, und sollte sie auch nur in der diabolisch vermessenen Sicherheit bestanden haben, mit welcher unter fünf auf zwanzig fallenden glücklichen Schüssen einer sicher auf den von ihnen secundirten Herrn gerechnet wurde. Dieser glaubte es dann selbst und je dunkler es wurde, desto weniger Widerspruch auch bei den andern. Onkel Levinus strahlte vor Genugthuung und Zufriedenheit. Auch die Amazonen, selbst Fräulein von »Anflicker«, alle hatten getroffen und zeigten im Hof ihre Opfer ... Nur Armgart erklärte mit aller Offenheit, sie hätte nichts erlegt ... Sie war die einzige, deren Zähne vor Frost klapperten ... Sie suchte fiebernd den Ofen und hockte da wie ein Wurzelmännlein ... Terschka und Thiebold machten sich ständig um sie zu schaffen ... Benno sah man nicht mehr. Zu Thiebold's Leidwesen hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht und war mit lässig übergeworfener Flinte auf Witoborn zu hinausgeschritten in die stille Nacht ...

Der Graf war der höflichste Wirth ... Die Jäger, die jetzt bei der Bewirthung halfen, gingen mit Tellern, Flaschen, Servirbretern an ihm vorüber, als wenn er heute früh keinen einzigen von ihnen bei Seite genommen und wirklich gesagt hätte: Gegen Baron von Stein, gegen Graf Mengdenberg hab' ich nicht die mindeste Lust großmüthig zu sein! Wie sie mir, so ich ihnen! Laßt sie nur immer in Büsche treten, wo sie nicht mehr ein noch aus wissen! ... Aber auch nach dieser Jagdpraktik folgte jetzt Behagen, Genuß, Erholung ... Die Gattinnen, Töchter und Schwestern der Nimrods würzten nicht nur das Mahl durch ihre Erzählungen über den allgemein mit Verehrung begrüßten Doctor Püttmeyer, der sich hier wie ein aufgeschreckter Gnom des Waldgebirgs ausnahm, vorher sein Hemd gewechselt und das gute Fräulein Huber sogar ohne Dank für ihr Spiel hatte abreisen lassen (sie blieb nicht beim Mahl, trotz der Bitte der Gräfin), sondern sie hinderten auch den Ausbruch allzu wilder Natürlichkeiten, die Wahl allzu sorgloser Wortbezeichnungen, das Erzählen allzu derber Anekdoten.

An Gesundheiten fehlte es nicht. Der Graf ließ seine Gäste leben, die Gäste ließen Graf und Gräfin leben. Dann kam der Toast, der immer neu ist, wenn auch der gewöhnlichste von allen, auf die Damen ...

Unter diesen fand sich eine muthige Seele, die Freiin von Böckel-Dollspring-Sandvoß, die in ironischer Weise die Philosophinnen leben ließ ...

Diese rächten sich und ließen durch Mengdenberg die Amazonen leben ...

Die Amazonen brachten wieder einen Toast auf Doctor Püttmeyer aus; es war Fräulein von »Anflicker«, die ihn sprach. Man nahm diesen Toast mit Jubel auf. Er übertönte das Wohl aller andern um so mehr, als inzwischen die Husarentrompeter heraufgekommen waren und ihre Instrumente lustig in den Saal herein erschallen ließen. Fanfaren folgten auf Fanfaren, ein Jagdstücklein aufs andere; der grüne Heuschreck Stammer fehlte nicht und machte seine landbekannten Possen. Dann erhob sich der Oberförster, der an der Tafel theilnahm, und hielt eine Rede, die sogar theilweise an Thiebold gerichtet war, eine Rede, die sich in die altdeutschen Urwälder verlief, in einigen Sümpfen stecken blieb und endlich nach langen Umwegen, wo man wunder dachte wo er herauskommen würde, unter Thränenanflug bei seiner theuern, liebwerthesten, gnädigsten, jungen Herrschaft anlangte, bei der Comtesse Paula ...

Das gab dann einen Sturm von Beifall ... Alle Gläser klangen ... Auch das Glas Armgart's, die zwischen dem Onkel und Terschka saß, erklang ... Wie ihre Augen sich gefeuchtet hatten, bemerkte Niemand ... Gräfin Paula auf Westerhof erschien allen wie in der Glorie einer Schutzheiligen des Landes ...

Lucinde saß in einem Kreise von Offizieren ... Schon fing sie an allgemeines Interesse zu erregen ...

Terschka hatte sie sogleich erkannt und wollte Armgart auf sie aufmerksam machen ... Diese aber redete, um ihr Seelenleid, den ganzen Jammer ihres wahnbethörten Herzens zu verbergen, mit Püttmeyer, der ihr gegenüber saß, und entschuldigte ihre Nichtanwesenheit bei seinem Vortrag, der, sie sprach das im vollen Glauben, ja »so entzückend schön« gewesen sein sollte ...

Püttmeyer hörte indessen nur halb ... er wollte den ihm dargebrachten Toast erwidern und es ist ein eigener Zustand im Menschen, wenn er, so zu sagen, einen Toast im Leibe hat. Oder wie anders soll man die Lage nennen, die nicht unähnlich sein muß der Sehnsucht nach einer glücklichen Niederkunft? Sage man was man will, Steckenbleiben ist bitter und Geistesgegenwart ist nicht Jedermanns Sache, am wenigsten derer, die Geist haben. Da sitzt so ein toastschwangerer Mensch und die Speisen werden ihm servirt und er nimmt mit dem Löffel, was er mit der Gabel greifen soll, tief abwesend ist er und lebt nur in der Repetition der schönen Dinge, die er sagen möchte. Nun begegnet ihm noch das Unglück, daß ihm links ein Nebenmann fortwährend die Flammen der Begeisterung schüren will, mit dem Messer an ein Glas zu schlagen droht, zum Zeichen, daß hier Jemand sprechen wolle. Um Gottes willen noch nicht! ruft der verzweifelnde Demosthenes dazwischen, während er, statt sich in Muße sammeln zu können, wieder zur Rechten von einer unglückseligen Plaudertasche ins Gebet genommen wird, die ihn nichts ahnend über alles ausfrägt, über den Kirchenstreit, den Kirchenfürsten, über Roms Allocutionen, Concordate, Exercitien, Barmherzige Schwestern, Hoffnungen auf neue Klöster und Jesuiten ... Eine Erklärung: Beste gnädigste Frau Gräfin, schonen Sie mich, ich habe einen Toast im Leibe! kann ein Mensch von Geist unmöglich abgeben, da ein Toast nur immer die Schöpfung eines fast bewußtlosen, genial improvisirenden Mittheilungsdranges sein soll. Ein verzweiflungsvoller Zustand das! Um so mehr, wenn der rechte Moment vorübergehen kann, der, wo die Toaste, die nach vielen andern kommen, ihre Zündkraft verlieren ...

Püttmeyer hatte die Gräfin Münnich zur Linken, das Fräulein von »Anflicker« zur Rechten, Armgart sich gegenüber. Klopfte auch Jene nicht, einen »Zustand« an ihm bemerkend, vorschnell mit dem Messer an ihr Glas, so glaubte doch die Dame zur Rechten alles aufbieten müssen, den hochberühmten Denker so zu unterhalten, wie es einer Dame auch ihres vielseitigen Rufs geziemte; denn Fräulein von Merwig-Anflicker, eine Jungfrau in den Vierzigen, war von einem Unternehmungsgeist, der in allen Gebieten Courage zeigte, in der Musik, in der Plastik, in der Poesie, in der Declamation – nichts fehlte, als der Erfolg ...

Püttmeyer! Püttmeyer! Wahre deinen Vortheil! Gleiche dem Maikäfer, den der glückliche Knabe über die Hand laufen läßt! Im besten Bewundern seines schwarzen oder braunen Halsschildes, seiner behaarten Fußschienen, fliegt er dem Beobachter plötzlich auf und davon! Fräulein von Merwig-Anflicker reißt die Debatte an sich und dich mit hinein! Sie muß ja streiten, streiten bis zum Unschönen – sie stritt schon sogar einmal bis zu einem nur mühsam beigelegten Pistolenduell ... Die Offiziere necken sie heute über den Tisch hinweg mit ihrer Kunst zu reiten und ein feinerer Kopf unter ihnen spricht in Anspielung auf die ungedruckten Gedichte des Fräuleins – vom Hufbeschlag des Pegasus und vom Riemzeug und vom Geschirr der Sonnenrosse ... Nun erwidert sie:

Die Hufeisen des Pegasus sind dem Huf des Götterpferdes verkehrt angeschlagen! Wer seinem Wolkenflug nicht folgen kann, wer ihn nur zu würdigen weiß, wie der Aermste mit geknicktem Flügel auch wol über die Sandflächen der Erde dahinjagen muß, den führt seine Spur immer gerade nur auf die entgegengesetzte Seite hin, als wohin ihm die nichtsnutzige Kritik im Sande nachtrottet!

Das war ein Wort der Kraft und erntete nicht wenig Zustimmung und zerstreute nur leider Püttmeyern, den das sympathische Wort: Nichtsnutzige Kritik vollends aus dem Kreisen seines Toastes brachte ...

Aber die Sonnenrosse? – rief Onkel Levinus und hob sein Römerglas und genoß heute die ganze Freiheit seiner – ungeschlossenen Ehe ... Wie Sonnenrosse eingeschirrt werden, fuhr er begeistert fort, das kann man nur wissen, wenn man Aurora auf ihrem Gespann von einem Berg der Alpen begrüßt hat oder vom Capitol in Rom oder von einem Vorgebirge Griechenlands! Da hört man die Sonnenrosse, wie sie angeschirrt werden! Da sieht man's, wenn die ersten gelben Lichter über die dunkelblauen Wellen im Ost wie von einem Wind heraufgetragen erscheinen, das Meer geweckt wird aus nächtlichem Schlummer, dann sich alles purpurn und violett und blau malt! Immer unruhiger jauchzt das Meer der Sonne, wie einem Bräutigam entgegen! Was Correggio, Guido, Raphael gemalt haben, sieht man jetzt! Neptun, Jo und Jupiter und Europa! Tritonen! Alles bläst und spritzt Wasserstrahlen über sich her und auf Delphinen schwimmt ein Brautzug mit Blumen und flatternden Bändern! Nein, meine Herren und Damen, im Süden haben die Sonnenrosse gar keine Eisen an den Hufen. Nur hier, hier bei uns, hier wo sie ihren feurigen Wagen über die traurigen Eisschollen des Philisterthums schleppen müssen, hier, hier muß wol – die alte Westerhofer Schmiede dran!

Hurrah! Das gab eine Erregung ...

So konnte Onkel Levinus sprechen, wenn durch sein eigenes Philisterthum der Genius hindurchbrach ... Der Adel wußte, was er an dem Manne besaß. Er drückte ihm aus, was zu besitzen ihm Beruhigung gewährte, wenn man Schiller und Goethe ablehnt. Da waren ja Denken und Dichten, Wahrheit und Schönheit auch vertreten; wozu brauchte man die protestantische Welt? Auf Freiherrn Levinus von Hülleshoven war die ganze Provinz stolz; nur mußte er nicht von Rom, Griechenland und Jerusalem gleich auch nach Abyssinien und Cochinchina reisen ...

Deshalb kamen die Hörner gerade recht, die ein lustiges Jagdlied schmetterten ...

Schon war das reiche Mahl fast zu Ende, schon war der heute so auffallend schweigsame Terschka in der Nothwendigkeit, auf Rom sowol, wie auf den Hufbeschlag der Pferde Rede zu stehen – hatte er doch alle Offiziere durch seine Kenntniß des letztern, wie die Damen durch seine Kenntniß des erstern oft genug gefesselt – als Püttmeyer endlich, endlich an sein Glas klopfte. Beim fortgesetzten Gefülltwerden desselben hatte er bemerkt, daß seine Sinne plötzlich zu schwindeln anfingen und der Augenblick zu kommen drohte, wo der Mensch von Einsicht erkennt, daß er keinen Toast mehr bringen soll ...

Allgemeines Bravo und Klopfen an die Gläser ...

Püttmeyer steht auf ... Es war ein Moment, wo ihm der Boden unter den Füßen wankte. Hinter einem Transparent im Dunkeln hatte er stundenlang sprechen können – jetzt aber mußte er seinen ganzen Menschen aufbieten, um sich zu behaupten. Danken wollte er für das ihm gebrachte Hoch, wollte wiederum, wie sich's erwarten ließ, seiner Philosophie eine anerkennende Zukunft prophezeien ... Armgart sah durch ihre in Thränennebeln flimmernden Augen hindurch die sonnenbeschienene Warte des Geyerfels, von der Angelika Müller einst in einer schönern Stunde gesprochen: Da möchte man predigen! ... Schon war Püttmeyer's: Hochzuverehrende Damen und Herren! über seine Lippen, die etwas im Tone Schnuphase's sprachen; schon hatte er wiederum zum Beginn seiner eigenen Verherrlichung gelegenheitsgemäß gesagt: »Wie aus dem Wald, in welchem die edle Waidmannskunst vor wenigen Stunden, bald zum letzten mal ehe die Axt des Holzschlägers die alten Stämme niederlegen wird, ihr fröhliches Jagen erschallen ließ, in kurzer Zeit sich die Grundlagen einer jener Eisenstraßen erheben werden, welche das Gaslicht der Aufklärung auch endlich in unser Land, in das Land der Böotier«; – – und schon war nach dem stürmischen Jubel auf dies ironische Sichselbstverspotten durch ein Stichwort, mit dem die fragliche Provinz nicht selten bezeichnet wurde, und nach dem Wehen der Damentaschentücher, die in diesem Augenblick zu Kriegsfahnen wurden für den neueröffneten Kreuzzug gegen Ketzer- und Beamtenthum – Püttmeyer im Begriff, seinem »einsamen Denkstein« und seinem: »Heureka!« auch vor den Männern eine genugthuunggebende Zukunft zu verheißen, als – die Lacerte am Riedbruch auch in diesem Augenblick wieder dahinhuschte, wieder eine Dame aufsprang, wieder wie zur Flucht, und wieder Lucinde, die schon Allbeobachtete, nach der Thür suchte ...

Diesmal war aber die Störung nur das Signal eines allgemeinen Aufbruchs ...

Im Saal waren die Fenster nicht verhängt gewesen. Durch eine große dreigetheilte Balconthür hindurch hatte man einen erschreckenden Anblick ...

Feuer! riefen schon draußen Stimmen zu gleicher Zeit ... Feuer! wiederholte man von den Corridoren ... Ein Nordlicht ist's! rief Jemand im Saale, zur Beruhigung auffordernd ... Der glührothe Schein konnte nur einem Brande angehören ...

Eine Weile Todtenstille ... Der Schein war im Süden ...

In Witoborn ist's! riefen die einen ...

In Heiligenkreuz! die andern ...

Auf Westerhof! schrie Armgart und stürzte wie aus einem Traum erwachend, der den Tag über dumpf auf ihr gelegen, und mit fanatischer Erregung zur Thür hinaus ...

Die Rede und der Abend waren zu Ende. Püttmeyer stand an der Tafel, wie ein kalt gewordenes Gericht und konnte sich nicht finden. Es war ihm, als wäre ihm plötzlich auch sein eigener Verstand so davon-und zur Thür hinausgelaufen ...

Die Beruhigungen des Wirthes und der Diener konnten Niemanden mehr zurückhalten ...

Ein breiter glührother Schein blieb quer über dem schneebedeckten Rücken eines Tannenwaldes liegen ...

Am Zittern des Scheins sah man, daß die Flamme vom Winde bewegt wurde. Bald war der Schein stärker, bald schwächer; die Bewegung kam, wie in regelmäßigen Pulsschlägen. So unheimlich sah es sich an, daß die Frauen schon die Erscheinung fühlten, wie wenn die intermittirende Bewegung vom eigenen Herzen kam ...

Die Phantasie der einen machte sich durch Aufschrei Luft, die andern gingen wie in der Irre. Jede Natur, mochte sie sich eben auch ganz in der Beherrschung gegeben haben, die Bildung und Ueberbildung mit sich bringen, warf jetzt die Fesseln ab. Die schweigsamste wurde beredt, die lauteste verstummte. Schluchzen hörte man, Trostworte ... Alle aber riefen: Die arme Gräfin Paula! Und sie hat es vorausgesehen! ... Levinus, Armgart, Terschka und Thiebold waren schon verschwunden ...

Noch ehe diejenigen, die auf das obere Stockwerk und das Dach geeilt waren, zurückkehrten und die Nachricht brachten, es schiene in der That entweder das Schloß Westerhof oder die Liborikirche oder das Stift Heiligenkreuz zu brennen, war der Saal entleert ...

Im Hof drängte sich ein Gewühl kaum zum Durchkommen ... Die Pferde, die Spritzen wurden aus den Ställen und Remisen gezogen ...

Viele Herren, selbst Fräulein von Merwig setzten sich auf eine der Spritzen, um nur rasch an Ort und Stelle zu kommen ...

Dabei fehlten die Diener, die Jäger, die Mägde. Viele hatte schon der magische Reiz, den jede Feuersbrunst ausübt, angezogen, trotz der ernsten Warnung des Grafen, die Jedem verbot sich ohne Erlaubniß zu entfernen ...

Frau von Sicking war unter allen die verlassenste ... Doch war ihr Besitzthum glücklicherweise nicht genannt worden ... Sie ließ sich von Jedem, der noch nicht im Besitz seiner Pelze, Mäntel, Fußsäcke war, Bericht erstatten von der gestrigen Vision Paula's und sah sich zuletzt nach ihrer bei alledem doch fast zu auffallend schreckhaften Begleiterin um ... Wo ist mein Fräulein? rief sie ...

Ein Jäger sagte, das Fräulein wäre wie ein angeschossener Vogel gewesen plötzlich verschwunden ... Man suchte sie ... Lucinde war nicht zu finden ...

Mit Verdruß über »diese doch merkwürdigen Sonderbarkeiten«, aber mit interessanten Thatsachen für ihre weitverzweigte Correspondenz bereichert, fuhr Frau von Sicking allein nach Hause.

17.

Friede! ... Linder, sanfter, himmlischer Friede! ...

Du, der du Stirnen kühlst, die noch vom Kampf des Lebens erglühen, lindernden Balsam träufelst auf Herzen voll Kummer – deine heiligsten Tempel baut dir Mutter Natur!

Doch du segnest auch jedes bescheidene Dach, wo das Echo des schallenden Marktes verhallt, wo nur der Pendelschlag der Uhr – fernklingendes Schärfen der Sichel Saturn's! – uns in die grünen Matten versetzt, in die zeit- die raumlosen, die Paula's geschlossenes Auge erblickt! Segnest dem ermüdeten Wanderer sein Lager mitten auf Landstraßen! Segnest dem zum Tod ermatteten Krieger noch am Abend der verlorenen Schlacht, unbekümmert um des Siegers Ueberfall, mitten auf dem Weg seiner Triumphe, die Schlummerstätte! Zahllos sind die Wohnungen des Friedens auch noch auf dieser streitbewegten Erde ...

Traulicher jedoch spinnt sich nicht die Spinne in ihr Netz, als es die Liebe versteht. Glückliche, die erlaubte Liebe, die sieht sich noch zuweilen um und beobachtet die Welt, ob sie auch bei so viel Glück noch steht, beobachtet die Menschen, ob sie auch neidisch sind ... Aber die ungestandene, die verschwiegene Liebe hat Ohr und Auge verloren ... Sind da Sterne vom Himmel gefallen, sind Thürme eingestürzt, war ein Erdbeben – indessen der Lampe milder Schimmer das Antlitz der Geliebtesten beschien, indessen die Weiße ihrer Hand wetteifernd mit den Spitzen, an denen sie stickte, glänzte? Das Ohr hörte nichts. Schwirrte ein Käfer in ihrer Nähe, fiel eine zierliche Rolle aus ihrem Nähtisch zu Boden – das waren Weltbegebenheiten ...

So in traulicher Stille und Verlorenheit der Gedanken saß Bonaventura in diesen Stunden bei Paula ...

Nicht allein waren sie heute – Tante Benigna kehrte beiden im grünen Zimmer den Rücken und schrieb und las an einem geöffneten Schreibbureau ...

Sollte Armgart wirklich zur Jagd sein? Und: Wenn nur kein Unglück geschieht! ...

Das waren die beiden einzigen Worte, die, viertelstündlich wiederholt, die Liebenden störten ...

Bonaventura hatte seit vorgestern Abend den Weg zur Erde nicht mehr zurückfinden können. Er schwebte in Lüften. Verpflichtungen gab es nach allen Seiten hin, nach Schloß Neuhof zur Mutter, nach Himmelpfort zu Klingsohr, Briefe und geschäftliche Mahnungen drängten, auch Müllenhoff's, seines polternden Wirthes Zumuthungen; Sorge drückte ihn um Benno, auf dessen dunkles Leben der Brief des Onkels so seltsam neue Streiflichter hatte fallen lassen, auch ein längst bezweckter längerer Besuch bei Hedemann, alles das drängte auf ihn ein – aber er entschied sich für nichts, er entschloß sich zu nichts, es zog ihn nach Westerhof ...

Gestern gegen Mittag hatte Paula die Vision von den Flammen gehabt ... Er sah und hörte ihr angstvolles Ringen mit der unheimlichen Anschauung und mußte sie, da sie der Ruhe bedurfte, verlassen, gefoltert von den Bildern, die Paula sah. Es waren Bilder des Brandes und der Zerstörung. Es waren Bilder, die ihn an seine Beichtgeheimnisse, seine stummen schweren Bürden, erinnerten – Bürden, deren er sich nicht entledigen durfte ohne andere anzuklagen ... Sprechen durfte er wol: Terschka ist mir verdächtig! Oder: Wenn Nück etwas im Schilde führte! ... Aber das war auch alles ... mehr zu sagen war ihm nicht erlaubt; denn bei genauerm Hinweis wußte jeder sogleich, er stellte Beichtbekenntnisse bloß ...

Der Tag war so öde hingegangen, so einsam ... Sein Herz klopfte ... Wem sollte er sich vertrauen? Bei wem Beruhigung suchen! ... Ziemten seine Empfindungen dem Priesterherzen? ... Und hätte er sich vielleicht auch zu Benno, der selber litt, aussprechen dürfen, er räumte dem Stifter des Cölibats, Gregor VII. ein, daß kein Gefühl uns in der That mit größerm Egoismus erfüllt, als die Liebe ... Doch, setzte er hinzu, vielleicht nur die ringende, die kämpfende, nicht die glückliche Liebe ... Auf seinem Zimmer schloß er sich ein und las in seinen mitgebrachten Büchern erst im Augustinus, dann in seiner geliebten »Trutz-Nachtigall«, schrieb auch selbst in sein »Sünden-Brevier«, wie er ein kleines Büchlein seiner geheimsten Gedanken nannte:

Ich kann es nicht sagen – was jeder doch weiß!

Ich kann es nicht tragen – und trag's doch so heiß!

Ich kann es nicht finden – was überall liegt!

Ich kann es nicht binden – und hab's doch besiegt!

Ihr Sterne behütet's? Das dank' ich euch nicht!

Dich schelt' ich, o Mond, der sein Schweigen nicht bricht!

O Sonne, o Sonne! Mit strahlender Miene

Sag' du es der Welt, welcher Königin ich diene!

So im Lied sich tröstend und erhebend, voll Ahnung in den Frühling sich versetzend, in Wonneschauern schon die erste Lerche sehend, die im Felde aufsteigt, wirbelt, immer höher und höher sich schwingt, schrieb er:

Lerche, schwebst im blauen Feld,

Willst gen Himmel dringen?

Ist's dein Ton, der so dich hält?

Trägt dich so dein Singen?

Vöglein, Vöglein, wüßtest du,

Wie beim stillen Wandern

Durch die grüne Sonntagsruh'

Du voransteigst andern –

Wie in deinen Jubel sich

Andrer Jubel mischen,

Sich in deinem Sangesstrich

Mit im Blau erfrischen –

Folgend deinem Schwebeflug

Hoch und höher steigen –

Droben würdest bald genug

Du als Stern dich zeigen!

Es kamen Briefe aus seinem Kapitel ... Es kamen Anfragen, ob er nicht eine Mission nach Wien übernehmen wollte zur Begrüßung des dort erwarteten Cardinals Ceccone ... ob er auch seine Stimme mitgäbe zu diesem Protest und zu jenem Begehren ... Es kamen Müllenhoff's Exercitien und – die lächerlichste Scene von der Welt – denn schon wieder hatte man dem Pfarrer von Sanct-Libori einen Streich gespielt, schon wieder ein Neugeborenes an seiner Thür ausgesetzt, diesmal ein Lebendiges sogar, nur kein Kind, sondern ein frischgeworfenes Kätzchen, das mit einem Häubchen und wie ein Wickelkind eingeschlagen und befestigt bei erster Morgenfrühe in einem Korb vor seiner Hausthür wehwinselte ... In dem darob entstandenen Lärmen erst erfuhr Bonaventura, daß diese Verspottung bereits ähnlich neulich vorgekommen. Er suchte den Pfarrer zu trösten, der diesmal kleinsilbig wurde und das Toben und Androhen mit den Gerichten der Kathrein, dem alten Tübbicke und den Hausangehörigen verwies ... Dabei versicherte Tübbicke aufs bestimmteste: Es ist nicht die Schmeling! ... Bonaventura erfuhr, daß man für diese Streiche eine Hebamme im Verdacht hatte, die Müllenhoff öffentlich des »Teufels Großmutter« genannt haben sollte ...

O brächte doch der Cardinal Ceccone, stöhnte Müllenhoff, seinen Zorn mit einem Stück harten Schinkens beim Frühstück hinunterwürgend, o brächte er doch eine großmächtige Kette von einigen hundert Meilen im Umfang, daß man unsere deutsche Wildniß wieder an Roms Gesetz und Regel binden könnte! Nein! Frau von Sicking sagte mir gestern, und eine junge Dame, die soeben aus der Residenz des Kirchenfürsten bei ihr eingetroffen ist, bestätigt mir's, daß die Curie Sie entsenden will, Hochgeehrtester, den Cardinal zu begrüßen – nein, Sie werden einer solchen Ehre und Gelegenheit, bald Bischof in partibus, mindestens Weihbischof zu werden, nicht ausweichen! Die ganze germanische Kirchenprovinz bittet für Sie trotz Ihrer Jugend um das Pallium, wenn Sie ihr erwirken: Petri beide Schwerter! Oder wenn nur das eine, doch dies auf beiden Seiten geschliffen! ... Daran reihten sich einfach, wie der Pfeffer zum Schinken, in Müllenhoff's Reform: Bischofsrecht über jedes Amt in Schule und Kirche! Keine Stelle vergeben, wenn nicht durch die Hirten Christi! Kein Amt, keine Pfründe, keine Strafe, keine Belohnung mehr aus weltlicher Hand! Keine Berufung mehr auf weltliches Gesetz! Wer innerhalb der Kirche wagt, weltliches Gesetz gegen Geistliche anzurufen, excommunicirt! Priester sind jetzt schon zu erziehen von Kindesbeinen an, damit hernach kein Mangel ist! Religion auf keiner Schule mehr, als durch uns! Kein Placet, kein Transeat, kein Cabinetspaß für den Willen Roms! Gottesdienst überall, im Tempel und im Freien: Congregationen, Bruder- und Schwesterschaften nach Bedürfniß! Klöster mit ganzer und halber Regel! Selbstbeschauung, wer nur Lust hat, sich, sei's als Eremit allein, im Spiegel seiner Nacktheit zu erblicken oder im Bund mit andern in den Exercitien! Verkehr zwischen Rom und jeder Hütte von Baumzweigen, »wo nur ein stümpernder Sanct-Antonius oder Sanct-Hieronymus« beten will! Jeder Heller endlich, der der Kirche gehört, nur von unserer eigenen Regula de Tri verrechnet! ...

Alles das tobte die Verzweiflung aus, daß er Mutter Schmeling nicht sogleich unter den Hexenhammer einer geheimen, sicher wirkenden Inquisition bringen konnte ...

Unter den Zeitungen, Briefen, Visitenkarten, die Renate geschickt hatte, fiel Bonaventura die Traueranzeige über den Tod Hendrika Delring's auf. Er widmete ihrem Andenken die innigste Theilnahme. Er vergegenwärtigte sich die Wirkungen dieses Schicksalsschlags, der das Kattendyk'sche Haus betraf. Schon so frei, schon so entfesselt von seinen frühern Anschauungen war er, daß er sich sagte: Also ein Zeugniß für die Liebe weniger in der Welt! ... Von Lucindens Nähe hatte er keine Ahnung ...

In Witoborn fand er um Mittag alles von der Jagd erfüllt und von den Nachrichten, die schon über den Landrath eingelaufen waren ... Er selbst mußte sich geistlichen Aufträgen widmen und konnte deshalb auch nicht zum Kloster Himmelpfort, so gern er wollte ... Dann mußte er jedenfalls die in Westerhof heute so verlassenen Damen besuchen ... Onkel Levinus und Terschka konnten möglicherweise erst spät Abends zurückkehren ... Gegen vier Uhr fand er Westerhof einsam und still ... Die Dienerschaft war größtentheils zur Jagd ... Die Beamten sogar feierten – sie wohnten ringsum zerstreut in den entlegneren Wirthschaftsgebäuden ... Zwei Diener waren daheim geblieben und Dionysius Schneid war seines Ungeschicks wegen kaum zu rechnen ... Nur an weiblichem Personal war kein Mangel ... Er hörte sogleich, daß Paula heute wieder wohler war ... Wie immer mußte er sich erst Bahn brechen durch Hülfebegehrende, die sich auch von ihm die geistliche Segnung, die er im Vorübergehen spendete, nicht entgehen ließen ...

Jetzt erst – zweimal vierundzwanzig Stunden nach der Frage: Und wenn nun doch noch die Urkunde gefunden würde – und wenn man dann verlangen würde, daß Sie das Opfer brächten, die Hand des Grafen Hugo zu nehmen? ... sahen sich die Liebenden wieder ...

Paula's Antwort lag in den stummen Gegenfragen der Begrüßung: Und jetzt erst seh' ich dich wieder? Ist denn noch alles so, wie an jenem Abend? War es kein Traum? Hältst du Wort, Wort dir selbst und mir? ... Deutlich sprachen dies die ersten Grüße; doch mildernd und dämpfend mußte sich Tante Benigna's Nähe einmischen, ja Bonaventura's eigner Anblick. Der Gruß, einem Geistlichen, den die Kirche gezeichnet hat, dargebracht, verstand sich so von selbst zur Entsagung ... Sofort fiel eine süße Bangigkeit auf Paula's Herz und auch in Bonaventura's Zügen schmolz sein erstes frohes Lächeln zum mildesten Ernst ... Grade aber auch heute mußte die Tante nichts unterlassen, was den Eindruck der Würde eines Priesters mehrte und seine Erscheinung mit allen Glorien der Heiligkeit umgab ...

Sie begann bald die Nähe Monika's und Ulrich's von Hülleshoven einzugestehen ...

Jene hatte an sie selbst geschrieben und der heute so stille Abend war bestimmt, ihr zu antworten ...

Von Ulrich lag ein Brief an seinen Bruder vor ... Benigna durfte alles an Onkel Levinus Gerichtete öffnen ... es war schon vorgekommen, daß ein vortheilhafter Verkauf – von Schweinen, der Hauptbranche dortiger Viehzucht, versäumt worden war, weil Onkel Levinus einen Brief nicht erbrach, den er für die Abfertigung eines Recensenten hielt, mit dem er über alte römische Helme in Streit gerathen war ...

In diesen Briefen wurden an Schwester und Bruder die gleichen Ansprüche auf Armgart gestellt ... Tante Benigna las Monika's Brief –

»Liebe Schwester! Ich schreibe Dir im Vertrauen auf jene Versicherung Eurer Versöhnlichkeit, die Levinus der Gräfin Erdmuthe gegeben! Ist es Euch genehm, so erschein' ich auf Westerhof. Armgart verläßt auf ein Jahr das Stift, begleitet mich nach Wien, Italien; ich lasse sie zurückkehren, wenn ihr der Aufenthalt im Stifte Vortheile bringt, die sie nicht verscherzen dürfte ... Wollt Ihr Ulrich den Vorzug lassen, so kann ich Euch keine Beweise meiner größern Würdigkeit geben. Mein Herz kämpfte, ob ich nicht in einer längern Zuschrift das Urtheil meines Kindes gewinnen sollte; ich entschied dagegen. Darf ich, wie ich war und wie ich bin, in Euerm Kreise erscheinen und hab' ich Euern Beistand, daß die Erziehung einer Tochter der Mutter gebührt, und stellt sich Armgart gehorsam und ergeben einem Auge dar, dessen bei ihrem Anblick vielleicht ausbrechende Thränen sie für keine Selbstanklage zu halten berechtigt ist, so hab' ich das Glück meines Lebens erreicht! Entscheidet!«

Paula klagte diese Sprache der Kälte und des Hochmuths an ... Sie, die sonst so Gütige und Milde, sagte:

Welche Selbstzufriedenheit! Mir ist's ein Wunder, wie nur immer Herr von Terschka die Tante so rühmen kann ...

Bonaventura blickte nieder. Er durfte nichts von einer nähern Bekanntschaft mit Monika aus dem Beichtstuhl verrathen ... Doch stand ihm versöhnend das Bild des Abschieds vor Augen, den auch die Frau in silbernen Locken am Portal des Kapitels ihm gewinkt hatte, als Schnuphase seine Rede hielt ... Darauf hin sprach er wie bekannt von ihr und sagte:

Verbürgt sich so denn Herr von Terschka für sie –?

Ueberschwenglich spricht er von ihr –

Die Tante schwieg ... Sie hatte diese Neigung Terschka's wohl bemerkt ... Und Bonaventura gedachte der Fragen, die Monika über die zweite Liebe einer Geschiedenen an ihn gerichtet, aber auch des Vorzugs, den Armgart dem Fremdling zu geben schien und den er annahm – dieser Zweideutige ...

Die ängstliche Stille, die entstand, auch in Bonaventura, der sich sagte: Das Leben eines katholischen Geistlichen ist so ein ewiges Niederblicken! unterbrach Benigna durch die Vorlesung des Briefs von ihrem Schwager ...

»Lieber Bruder!« schrieb der Oberst. »Die Grüße, die Dir im Herbst schon Hedemann brachte, wiederhol' ich und bald soll, denk' ich, mein Handschlag folgen! Ich wäre schon bei Euch gewesen, aber ich suchte auf Bergbau mein Heil zu gründen und erwartete etwas von Kocher am Fall ... Indessen reichen die Mittel nicht aus für Versuche, die zuletzt ohne Lohn bleiben. So will ich denn nach Witoborn. Meine Pension ist nicht groß, wir hatten keine Wunden zu taxiren; man hat in England noch immer das System, die Wunden zu messen; zwei Zoll tief – 5 Pfund mehr; drei Zoll tief – 10 Pfund; ganz kalt – dann allerdings werden Witwe und Kind gut bedacht. Ich komme leider heil – und gesund und muß mich tummeln. Monika wird mir hoffentlich meinen Frieden nicht stören, den ich für mein Herz längst geschlossen habe. Ich bin in den Jahren, wo uns das Leben zuruft: Laß alles das der Jugend! Was ich noch Rest von dieser Jugend habe, das hätt' ich gern an Armgart gehängt; aber die glaubt, hör' ich mit Erstaunen, der Mutter zu nahe zu treten, wenn sie mir den Vorrang gibt! Nun hat sie gar ein Gelübde gethan – – Seltsame Welt, deren Anschauungen ich mich jenseit des Meeres – entwöhnt habe! Als guter Soldat will ich einstweilen den Waffenstillstand ehren, wenn er nach beiden Seiten hin aufrichtig gehalten wird. Empfiehl mich Schwägerin Benigna und dank' ihr in meinem Namen für alles Gute, was sie Armgart erwiesen. Mein Sinn ist, sagt Ihr, Eigensinn; ich kenne, was von uns Brüdern ich vom Vater, Du von der Mutter hast. Zuletzt ist aber das Leben so, daß wir, beim Zurückblicken auf unser Rechtgehabthaben, doch mit Trauer an unsere Schwächen, beim Zurückblicken auf unsere Irrthümer, immerhin doch an unsere Kraft erinnert werden. In Frieden und guter Hoffnung!«

Benigna las diesen Brief in einem Ton der Angst und Sorge, der seinem so versöhnlichen Inhalt widersprach. Auch sie war mit der Zeit so angesteckt von der Krankhaftigkeit der ganzen Sphäre, in der sie hier lebte, daß sie ihre eigene resolute Weise verloren hatte und sie nur noch zuweilen bei aufloderndem Poltern geltend machte. So sicher und fest, wie in diesen beiden Briefen, war auf Westerhof lange nicht gesprochen worden.

Paula, gedenkend des neulichen Abends, wo Armgart den an Terschka gerichteten Brief ihrer Mutter zurückbehalten hatte, sagte mit derselben Zuversicht wie damals: Sie versöhnen sich beide! Und Armgart hat es zur seligsten Jungfrau gelobt, daß auch sie nicht eher ruhen will! Die Sehnsucht beider nach ihrem Kinde wird das harte Eis der Herzen brechen! Was könnte noch dazwischen liegen? ...

Der Vermuthung Armgart's, auch ihre Mutter liebe Terschka, hatte sie gleich anfangs nicht nachleben mögen; Armgart's neue Gedankengänge kannte sie nicht ...

Sie war befremdet über Bonaventura's Schweigen ... Diesem hatte freilich Monika von Ehescheidung und zweiter Liebe gesprochen ...

Inzwischen sagte, Bonaventura's stillen Schmerzblick nicht beachtend, die Tante:

Ich schreibe beiden: Kommt und versucht Euer Heil! Armgart ist kein Kind, das sich regieren läßt! Ihre Stellung auch im Stift macht sie selbständig ...

So und ähnlich schrieb sie fort und ließ dem Flüstergespräch der beiden Liebenden Raum ... Freilich blieb Bonaventura – ein Priester und Paula – eine Leidende ... Wie die zarte Gestalt, die Künstlerhand aus Alabaster schuf, nur mit äußerster Vorsicht von prüfenden Händen berührt wird, so schonungsvoll mußte sich von selbst jedes Wort, jede Bewegung geben in Paula's Gegenwart ... Der Athem eines so räthselhaften Mundes; der feuchte Glanz eines Auges, das so geisterhaft in die Ferne sehen konnte! ... Wäre nicht das Gefühl gewesen: Risse ich dich mit mächtigem Arm an meine Brust und bedeckte deine Lippen mit Küssen, du würdest dem Leben angehören, das uns alle bindet, den Sinnen, die die Schranken unserer gemeinsamen Natur sind! – es hätte Bonaventura wohl bange werden dürfen in dieser unheimlichen, spukhaften Umstrickung von Fäden, die Geisterhände um Paula zu spinnen schienen ... Oft erschrak er, wenn die sanften schwarzen Wimpern sich über die blauen Augen senkten und das unendlichste Behagen in den edlen Formen des jungen Mädchens ihre Neigung auszudrücken schien, sanft zu entschweben in jenes dunkle Zwischenland zwischen Wachen und Traum, zwischen Leben und Tod, jenes Land, das hier den Menschen das Jenseits erschien ... Die weißen Hände sanken dann nieder in den Schoos ... Das ganze Sein der Kranken schien Nahrung einzusaugen, die aus der Luft ihr zuströmte, ja aus Bonaventura's Athemzügen ... Der unwiderstehlichste Reiz des Frauenthums, die hingegebene willenlose Schwäche, benahm ihm die Sinne ... Wäre in der wahren Liebe nicht der Vorbau des Herzens immer mächtig, daß es sich sagte: Entweihe Deine Gottheit nicht! Laß sie rein und unberührt von deinen stürmischen Wünschen! Lege deine Schätze für noch seligere Zukunft zurück! – er würde sich nicht haben halten können, mit seinen Armen diese seltsame Welt – an sich zu ziehen und zu zwingen, sich zur Menschheit zu bekennen ...

So kam schon die siebente Stunde ... Tante Benigna schrieb immer noch und störte die Liebenden nicht ... Sie wußte – und sie wußte nicht, sie sah – und sie sah nicht; sie war ganz in den ihr unbewußten Fesseln eines Idealanfluges, der, ob sie auch beim »Aufarbeiten ihrer Rester« am Schreibbureau Gänse, Enten, Schweine und Ochsen addirte, sie doch dabei wie ins Paradies versetzte, wo ja auch wildes und zahmes Gethier so fromm und heilig um den noch unberührten Baum der Erkenntniß wandelte ...

Tiefe Stille ... Nur die Tante sagt viertelstündlich:

Wo nur Armgart bleibt! ... Wenn die Jagd nur kein Unglück bringt! ...

Plötzlich fällt ein so seltsam heller Schein ins Zimmer ... Die beschlagenen Fensterscheiben klirren leise ... Anfangs beachtet niemand den Schein und das Klirren ... Jetzt dringt ein Geruch ins Zimmer, der selbst der Tante, die an die Consequenzen der Landwirthschaft gewöhnt ist, zu fremdartig vorkommen sollte ... Aber sie nimmt Anstand, dem Besuch zu verrathen, worauf man im Landleben alles gerüstet sein müsse ... Sie schweigt und räth auf die Küche und das verbrannte Nachtessen ...

Nun aber wird der Schein zu licht ...

Alle drei erheben sich zu gleicher Zeit ... Da hört man schon das Klirren von zerspringenden Fensterscheiben ... Das ist Feuer! ruft die Tante und greift an den Klingelzug ...

Schon stürzen die Mädchen den todtblassen Damen entgegen – sprachlos ... Statt ihrer spricht der in Glührothschimmer getauchte Vorsaal ...

Es brennt –?! wollte die Tante ausrufen ... Der Ton erstickte in ihrer angstgeschnürten Brust ...

Doch schon war sie hinaus ...

Bonaventura hielt Paula ... Die Mädchen hatten schon inzwischen gesagt, daß die Kapelle brenne ...

Menschenstimmen ... Rufen, Schreien ... Das Laboratorium! hörte man. Das Archiv! ... Zusammenkrachendes Gebälk, eingeschlagene Thüren ... Bonaventura, halb bewußtlos, übergab Paula den Mädchen, um selbst nach den Ausgängen des Schlosses zu sehen ... Die Treppen waren steinern ...

Im Hof entdeckte er eine mächtig lodernde Flamme, die aus der schon eingeschlagenen Thür der Kapelle wie eine gierige Zunge nach Nahrung suchte ... Noch schien sich das Feuer auf das Innere der Kapelle zu beschränken ... Wer aber wußte, was schon drinnen zerstört war! ... Dem Archiv suchte man durch andere Zimmer beizukommen ... Im Hof arbeitete mächtig eine der Spritzen, die sich im Schlosse befanden ... Tante Benigna leitete sie selbst ...

Noch aber fehlte es an Menschen ... Die Diener sagten dem Domherrn, man spanne bereits an ... Tante Benigna rief: Fahren Sie mit der Gräfin zum Stift!

Bonaventura kehrte zurück und sorgte für die Zurüstungen der Flucht ...

Paula fand er gefaßter ... Man eilte, nach Kleidern zu suchen ... Bonaventura verschloß schnell das offen gebliebene Schreibbureau der Tante und steckte den Schlüssel zu sich ...

Inzwischen mehrte sich der Zustrom der Nachbarn, die eine Riesenflamme jetzt nach außen hin hatten ausbrechen sehen, eine Flamme, die ihren Weg von dem in Brand befindlichen Altartabernakel in der That zum Archiv suchte, dem sich von außen nicht beikommen ließ, da die Fenster vergittert waren ... Der eine Flügel des Schlosses schien verloren; schon machte sich die Flamme durch das erste und zweite Stockwerk Bahn ...

Bonaventura verlor seine Geistesgegenwart nicht ... Die wichtigsten Schränke ließ er sich bezeichnen, ließ Silbergeräth packen und folgte den Weisungen Paula's, die gerade jetzt in den seltsamsten Zustand gerieth ... Nicht daß sie ihr Bewußtsein verlor, aber wie eine Traumwandelnde schritt sie dahin, wie eine Geisterjungfrau, die zuletzt, falls sie entfloh, auf einem Gespann von geflügelten Drachen entschweben mußte ... Sie gab Weisungen, Aufklärungen, wie eine Seherin im Sturm am Ufer des brausenden Meeres ... Dort! rief sie ... Die Kisten! Die Schlüssel hängen ja hier! Nehmt sie doch! ... Hier sind die Bücher der Grundverschreibungen! Da! Der Aufgang ist frei! ... Uebereilt nichts! Der Dachstuhl brennt, aber an den Eckthürmen ist alles von Stein! ... Leert das Laboratorium von brennbaren Sachen! Der Bau ist feuerfest! ... Seht, der Wasserstrahl trifft ja mächtig! ... Rettet nur das Archiv in den Keller! ... Ha, der Mann! Seht den Mann! Folgt ihm nicht! Nein! Nein! Ein Balken stürzt! ...

Niemand sah einen Mann, den sie von der Galerie des Hofes aus erblicken wollte ... Indessen ertönte ein furchtbares Krachen im Innern ... Nach innen mußte das zweite Stockwerk eingestürzt sein ... Die Flamme schlug schon oben zum Dach hinaus ... Von den beiden Eckthürmen aus bekämpfte man ihr Weiterdringen durch die hinaufgezogenen Schläuche zweier Spritzen, die von unten her nur wenig hatten wirken können ...

Dabei tönte die Schloßglocke hülferufend und mit herzzerreißender Eile schon seit einer Viertelstunde von einem dritten der vier Eckthürme ...

Paula lehnte jede Entfernung vom Schlosse, jede Schonung ihrer selbst ab ... War es der entschlossene Beistand Bonaventura's, war es die Erregung des Augenblicks oder welche Geister standen ihr zur Seite – sie befehligte wie die Gebieterin des Ganzen ... Sie war die Stammherrin der Dorste-Camphausen, die Letzte ihres Geschlechts ... Mit leuchtenden Augen, beschienen von Flammen, im erstickenden Qualm des Rauches verlor sie die Besinnung nicht ... Die Tante dagegen brach schon zusammen ... Wenigstens bedachte sie nur noch die Rettung des Kleinen und Einzelnen, während Paula im Ganzen lebte ...

Menschen waren nun endlich genug da, die Befehle gaben und befolgten ... Schon fehlten die Spritzen aus Witoborn nicht ... Gensdarmen kamen daher gesprengt ... Man isolirte das Feuer mit Erfolg ... Ueber die Entstehung schwankten die Meinungen ... Die einen leiteten das Unglück aus dem Laboratorium her, die andern aus einem Kohlentopf in der Kapelle, den vielleicht ein Andächtiger hatte stehen lassen ... Daß die Gräfin das Feuer schon gestern gesehen, war ein Wunder, wodurch die Anstrengung des Rettens, die Erhöhung der Stimmung gemehrt wurde ...

Bonaventura irrte in trüben Ahnungen und barg sich jetzt – vor Müllenhoff, der im Eifer angekommen war, aber seine Zunge nicht ruhen ließ, der Entrüstung Worte zu geben über Fräulein Benigna, die kaum ihn erblickend Besinnung gewann und geradezu ihn beschuldigte, die Ursache des Feuers zu sein ... denn ihm und seiner »Toilette« zu Liebe hätte man die Zahl der Vorhänge am Altar vermehrt, jene Sakristei hinter dem Altar improvisirt, ihm in dem engen Raum den seit Jahrhunderten dort verpönten Gebrauch von Licht gestattet ...

Den heftigen, ganz aus der geistlichen Sprache und Rücksicht fallenden Wortwechsel unterbrach die Ankunft eines Pikets Husaren aus Witoborn ... Man sperrte den Zudrang der Menschen, die von allen Richtungen herbeiströmten ... Nur wer sich ausweisen konnte, wurde jetzt noch über die kleine Brücke gelassen, die zu der Insel führte, auf welcher Westerhof lag ... Glücklicherweise war Windstille ... Die Funken flogen nicht an die nahen Wirthschaftsgebäude und Kornspeicher ...

Unter denen, die über die Brücke wollten, befand sich auch der allen wohlbekannte Bruder Hubertus ...

Er machte sich Bahu mit einer Gewalt, die unwiderstehlich war ...

Laßt mich, rief er den ansprengenden Reitern entgegen und keines Roßhufs achtend, drängte er zur Brücke hinüber und stürmte in die Gefahr, die inzwischen nachließ ...

Vorzugsweise war es jetzt, wie Paula ganz recht gesehen hatte, ein einziger Mann, der mit Anstrengung, ja mit Lebensgefahr dem Umsichgreifen des Brandes Einhalt that ... Es war dies jener Dionysius Schneid, dem man anfangs vergebens gerufen hatte, der sogleich die Pferde und den Wagen in den Wirthschaftsgebäuden für Paula bestellen sollte, der sich dort »eine Ewigkeit«, wie die Angst der Tante ein Dutzend mal ausrief, aufhielt, der aber auch jetzt beim Einreißen der Zwischenmauer, beim Absperren der Flamme einen verdoppelten Eifer zeigte ... Mit geschwärztem Antlitz, plötzlich rothen Haars, das Niemand seit dem Finkenhof wieder an ihm gesehen, saß er in einer buntgestreiften Stalljacke mitten in der Verwüstung des halb in Trümmern liegenden Flügels zwischen den beiden Thürmen, hob die Axt, zertrümmerte glühende Balken, um deren Zündkraft zu mildern, in kleinere Stücke, und arbeitete fast mit Wildheit allen andern zuvor, die sein Beispiel ermunterte ...

Hubertus kam mit dem Namen: Schneid! auf den Lippen. Wie mußte er erstaunen, als man ihm auf diesen Namen den Diener zeigte, der hoch im qualmenden Gebälk saß, die blinkende Axt in der Hand ...

Unmöglich! entgegnete er ...

Doch! Doch! rief man ihm zu und bezeugte seine Anerkennung über die Entschlossenheit des sonst so trägen Dieners ...

Im Hof war ein Gedräng und kaum zum Hindurchkommen ... Eimer, Spritzen, geborgene Geräthschaften bildeten schon einen hohen Haufen, über den die Menschen hinwegklettern mußten ... Den Mönch, den die zuweilen noch aufzuckenden blauen Flammen am wassertriefenden Gebälk in seinen allbekannten Todtenkopfzügen beleuchteten, würde man nicht geduldet haben, hätte man nicht gewußt, daß der riesenstarke Greis es liebte, in solchen Fällen sich nützlich zu machen ... Schon hatte er, immer den in der qualmenden Zerstörung sitzenden Schneid im Auge, von den Gensdarmen einen Eimer zugereicht erhalten, um Wasser zu holen aus dem glücklicherweise im Thauen begriffenen Teich, der die Insel bildete ... Schon war sein unwillkürliches Erbeben vor der Anrede durch die Beigeordneten des Landraths die Ursache, daß Hubertus mechanisch Folge leisten wollte, als ein noch einmal auf die Stätte der Zerstörung im obern Stock geworfener Blick ihm eine plötzliche Gefahr zeigte, in die der Diener des Hauses gerieth ... Sein eigener Zuruf erstickte schon in dem allgemeinen Geschrei: Er stürzt! Eine Leiter! Er ist verloren! ...

Der schwarzberußte Mensch, der wie ein Gnom der Unterwelt durch Feuer und Rauch sich den Weg zu bahnen suchte, wollte sich vor einem drohenden Mauersturz vom Dache retten, sprang auf ein verkohltes Sparrenwerk, das unter ihm zusammenbrach, stürzte tiefer und tiefer und schwebte zuletzt mit seinen Füßen, die ohne Halt im Leeren tasteten, über einem Abgrund, in den er unfehlbar hinunterstürzen mußte, da sich seine Hände nur am glühenden Stumpf eines Balkens halten konnten ... Eine Leiter war nirgend anzulegen ... Eine Minute noch – und unfehlbar fiel Schneid aus dem zweiten Stockwerk auf Steingeröll und Balken mit zerschmettertem Schädel nieder ...

Doch nur eine Secunde der Rathlosigkeit, wo man die Leiter anbringen sollte, die an sechszig Stufen zählte und hin- und herschwankte vor der Macht ihres Gewichts, da schon stand Hubertus und rief: Hinauf! Wer steigt hinauf? ...

In seinen knöchernen Armen hielt er die Leiter, daß sie frei schwebend stand wie gelehnt an eine Mauer ...

Klettert hinauf! rief er wiederholt und immer dringender redete er den Ablehnenden zu ... Habt keine Furcht! bedeutete er die, die die Leiter, so nur frei in der Luft gehalten, zu besteigen zögerten ...

Endlich wagte es Einer der Feuerleute aus Witoborn ... Schon berührten die Füße des in der Luft Hängenden die obere Sprosse der Leiter – er würde sich nicht haben halten können ohne einen Arm, der ihn umfing ... So kletterte der Mann an der aus freier Hand gehaltenen Leiter empor ... Wie eine Gerte bog sie sich, je höher er kam ... Hubertus stemmte sich aber fest wie ein Athlet und balancirte die ungeheuere Wucht ... Hülfe, die hinzukam, stieß er zurück mit dem Ruf: Gleichgewicht! – Das – kann nur Einer! – Mit den Zähnen knirschte er zum Zeichen seiner äußersten Anstrengung ...

Der Arbeiter war jetzt oben ... Er ergriff den schon Sinkenden, dessen Hände verbrannt sein mußten ... Jetzt zog er ihn zu sich herüber auf die Leiter ... Diese, vom doppelten Gewicht überlastet, bog sich ... Ein Schrei des Entsetzens unter allen Umstehenden, von denen einige hinzusprangen, um Hubertus wiederum zu unterstützen ... Doch »Zurück«! rief er ihnen allen aufs neue entgegen und klemmte die Leiter zwischen seine beiden Kniee, die Arme in der fünften und sechsten Sprosse eingeschlungen, sodaß er die gewaltige Last nur wie eine vom Sturm bedrohte schwanke Fahnenstange hielt ...

Der Arbeiter stieg nieder und brachte den Ohnmächtigen glücklich zu Boden ...

Je näher dem Mönche Jean Picard kam, je näher ihm der Anblick des Armes möglich wurde, auf dem er das verhängnißvolle Zeichen der Erkennung suchte, desto schwächer wurde die Kraft des Bruders, dessen Kutte hie und da an den noch brennenden Trümmern schon versengte ... Nun ließ er das Hinzukommen anderer geschehen ... Als der Arbeiter mit dem Geretteten auf unterster Sprosse stand, sank die Leiter in die Hände der Uebrigen ...

Hubertus holte einige Augenblicke Athem, hörte mit lächelndem Kopfnicken die bewundernden Beifallsäußerungen der Umstehenden und folgte dem Arbeiter, der den Bewußtlosen weg von der Brandstätte trug ...

Diesem bot man jetzt Hülfe, Erquickung, ein Lager in dem andern Flügel des Schlosses ...

Hubertus aber sagte zu dem Träger:

Laßt das alles, Landsmann! ... Ich trag' ihn schon selbst weiter! ... Mit Brandwunden weiß ich umzugehen! ...

Damit nahm er den Ohnmächtigen und trug ihn aus dem Gewühl und ganz aus dem Schloß hinaus in das inzwischen aufs neue und immer mächtiger vom Menschenstrom belebte Dunkel der Nacht ...

Während jetzt schon von allen Thürmen auf Meilen umher die Feuerglocken riefen, kamen auch die Theilnehmer der Jagd an ... Terschka voraus auf einem leichten Wagen ... Thiebold ... der Onkel ... Auch von Witoborn kamen Benno und Hedemann ...

Armgart machte sich Bahn durch alle ... Paula's hohe Entschlossenheit und muthvolle Haltung hörte erst auf, als sie in die Arme ihrer weinenden Freundin sinken konnte ...

Bonaventura stand voll Rührung und sprach, als die Gefahr vorüber schien, mit zitternder – tiefahnungsbanger Stimme ein Dankgebet, in das alle Nahestehenden mit entblößten Häuptern einstimmten ...

Die Thurmuhren schlugen zehn ... Jedes sagte: Wenigstens noch ein Glück, daß der Unfall so zeitig ausbrach ...

Wächter wurden für die Nacht bestellt ... Allmählich wurde alles stiller ... Die Gruppen lösten sich auf ... Man zerstreute sich ...

Auch die Schloßbewohner bedurften der Ruhe ...

Onkel Levinus fand sich leicht in neue Thatsachen, die er gedruckt las, schwerer in solche, die er selbst erlebte ... Er hatte mehr als sonst gewohnt dem Rebensafte zugesprochen, auch auf der Jagd selbst schon manche Herzstärkung genommen ... Um sich zu finden und im Nichtzuändernden zu orientiren irrte er mit einem offenen Lichte so lange im Schlosse auf und ab, bis ihn die Wächter aufmerksam machten, er könnte leicht den Brand aufs neue entzünden ...

Armgart flüchtete auf ihr Zimmer wie ein verstörter Geist ...

Terschka, dem man kaum die Anwesenheit des Mönchs Hubertus und dessen gewaltige That erzählt hatte, als er auch schon in seine unversehrt gebliebene Wohnung entschlüpfte, schien am längsten zu wachen ... Das Licht an seinen Fenstern erlosch erst nach Mitternacht ...

Bonaventura war mit Benno, Thiebold, Hedemann und Müllenhoff zu Fuß gegangen ...

Endlich breitete die stille Nacht über das Gemälde des Schreckens ihre dunkeln Schwingen ...

Schauerlich ist es, wenn nach solchen Begebnissen auf einsamem Lager der Schlummerlose das Krähen des Hahnes so laut und hell und wohlgemuth hört, wie zu aller Zeit, und doch sich sagen muß: Der anbrechende Morgen zeigt das Neue in seiner ganzen folgenschweren Größe ...

18.

Frau Schmeling, jenes Mütterchen, durch das, wie wir wissen, eine ganze Generation um Witoborn das Licht der Welt erblickt hatte, wußte ihre Nächte zu schätzen ... Der himmlische Vater läßt seine Kinder öfter bei Nacht in dies Freuden- und Jammerthal einschlüpfen als bei Tage ...

Selbst eine so große Begebenheit, wie der Brand auf Schloß Westerhof, brachte die alte Frau nicht aus ihrem zweistöckigen, stattlichen Häuschen, das nur ein klein, klein wenig abseits vom Wege zwischen Witoborn und Westerhof lag, zugänglich ihrer Stadt-und Landpraxis, umgeben von einer gewissen geheimnißvollen Verschwiegenheit, die das Zutrauen zu ihr seit nahezu vierzig Jahren nicht wenig gemehrt hatte ...

Aber im Bett litt es die alte und etwas reizbare Frau denn doch nicht ... Schon war sie zur Ruhe gegangen, als ihr einziger Hausbewohner, eine alte Magd, sie weckte und ihr die Schreckenskunde von dem Brand in Westerhof brachte ...

Mutter Schmeling war so ergrimmt auf den Pfarrer Müllenhoff zu Sanct-Libori, der ihr auf ihr fünfzigjähriges Jubiläum noch mit dem Kirchenbann hatte drohen und sie des Teufels Großmutter nennen können, daß sie geradezu herausbrummte: Ob's denn auch wirklich auf dem Schloß wäre? Und doch nicht etwa – in Sanct-Libori? ... Ein leises Kichern dabei, das hörte die Magd nicht einmal ... hörte nicht die still für sich ins Bettkissen, ja in einen kleinen grauen Bart gebrummten Worte: Kindtaufe! Kindtaufe! Hihi! Er läßt vielleicht schon illuminiren ...

Ne, ne! sagte die Magd, dat muot en groot Füer sin! und zeigte durchaus nach Westerhof ...

Und nicht minder plattdeutsch entgegnete Mutter Schmeling, so wolle sie denn up stahn und wenigstens Licht maken ...

Inzwischen unterhielt sie's, den großartigen Lärm zu hören, der sich auf der Landstraße entwickelte ...

Ihr Häuschen lag in einem Hohlweg, der sich von der Landstraße abwärts senkte den Gärten zu, die zur großen Besitzung der Frau von Sicking gehörten ... Im Sommer war das hier alles gar grün ringsum ... Lämmlein und – Schweine genug weideten auf den Triften und ein paar einsame alte Bäume, die hinterm Gärtchen des Hauses lagen, hatten sogar Ruf und Anziehungskraft durch die ihnen angehefteten Bildchen und frommen Sprüche und besonders durch eine erquickliche Aussicht und eine Bank, wo mancher Bauerbursch und manche Bauerdirne unter nächtlichem Sternenglanz in ernst bedeutsamem Gespräch mit der Alten verweilen und über Manches seufzen konnten ... Hundert Schritte davon lag eine Art Vorwerk von Witoborn, obgleich es nachher noch Strecken von Wiesen und von Kirchhöfen gab, bis man die Mauern der alten souveränen Bischofsstadt erreichte ... Jetzt jagten die Spritzen mit Fackeln nach Westerhof ... Gensdarmen sprengten dahin, zuletzt ein Piket Husaren ... Und die Menschen liefen und – lachten sogar, denn »Feuer ist eine Bürgerfreude!« sagt ein frankfurter Sprichwort ...

Daß aber die junge Gräfin das Feuer nicht beschwören kann! meinte die Magd, die, wenn's verlangt wurde, an Hexen glaubte ...

Dummer Schnack! antwortete Mutter Schmeling, die in diesem Gebiet bewanderter war. Eine weise Frau – sie verstand darunter eine Zauberin, keine sage femme – eine weise Frau kann wol andern Gutes thun, aber sich nicht selbst ...

Nach so tiefsinniger Aeußerung überlegte sie, ob wol im Bereich des Schlosses Jemand wäre, den Mutterhoffnungen demnächst auf ihre Hülfe anwiesen. Es kamen Fälle vor, wo gerade solche Schreckensaugenblicke Geburten beschleunigten, andere vereitelten ... Sie zählte an den Fingern, wie weit es noch mit der Moorbäuerin und Frau Leyendeckerin hin war ... Endlich bog Niemand vom Weg in ihren Hohlweg ab ... Sie verbrannte nur unnütz Oel ... Die Wand, wo sie schlief, faßte sich noch kalt an ... Sie wollte sich wie der zur Ruhe legen ...

Eine Stunde mochte sie vergebens den Schlaf gesucht haben – Der Lärm der Glocken, das Blasen und Trommeln in Witoborn, das Rasseln auf der Landstraße förderten die Ruhe nicht – als sie heftig an ihre Hausthür pochen hörte ...

Die Magd, die sich nicht nehmen ließ oben auf dem Dache nach Westerhof zu die malerische Aussicht zu genießen, kam erschreckt in die Stube zur ebenen Erde mit ihren klappernden Holzpantoffeln herabgelaufen und flüsterte der Alten, die aufhorchte:

Wat soll dat? Der alte Bettelpape bringt uns einen Menschen her – huckepack –

Die Hebamme wußte, wer der alte Bettelpfaff war ... So? sagte sie ruhig und erhob sich, trotz des Pochens noch zweifelnd ...

Einen Mann trägt er – ich sah ihn über die Lehmgrube kommen und dachte erst: Wer sucht nur da was? Nun kommt er gerade über'n Wall – und das da draußen, das sind sie –

Wieder pochte es stärker und stärker ...

Mutter Schmeling wurde aufs neue aus ihrem Bette getrieben ...

Ein Rock war bald übergeworfen ...

Mach mal auf! sagte sie ...

Einer Gefahr glaubte sie in keiner Weise gewärtig zu sein ...

Der ihr wohlbekannte Bettelbruder Hubertus trat mit seiner schweren Bürde ein, die er von Schloß Westerhof bis hieher getragen hatte. Er hatte Umwege gemacht, um die Landstraße zu vermeiden. Jetzt verließ ihn allmählich die Kraft. Welche Anstrengungen hatten aber auch die Erlebnisse dieses Tages von Beginn der Jagd an ihm schon zugemuthet! Er ließ den noch immer Bewußtlosen in dem Zimmer, dessen Eingang sogleich zur Rechten lag, auf einen alten Lehnstuhl sinken, rückte sofort zwei Stühle herbei, legte darauf die Füße der über und über geschwärzten abschreckenden Gestalt im gestreiften Kittel und sank selbst, anfangs sogar sprachlos, auf einen Stuhl, den ihm die alte Frau mit Erstaunen hinschob, während die Magd schon nach der Küche lief, um Torf für den kaltgewordenen Ofen zu holen ...

Heiliger Lazarus, was ist denn das – für ein Schornsteinfeger –? Der ist wol verunglückt – auf dem Schloß? sagte Mutter Schmeling und billigte das Erwärmen der Stube auch schon in Betracht ihrer selbst ...

Hubertus machte sich, allmählich wie zu Kräften kommend, mit der Bequemlichkeit seines in Erschöpfung Liegenden zu schaffen und trat mit dem Verlangen hervor, Mutter Schmeling sollte in ihrem verschwiegenen Hause ihre obern Zimmer für diesen allerdings beim Brande Verunglückten öffnen, den er anfangs nach Witoborn ins Spital hätte tragen wollen, nun aber lieber selbst verpflegen wolle ... es wäre ein Mensch übrigens, vollkommen reich genug, sie zu bezahlen ... Ein Wagen würde den Kranken jetzt zu sehr erschüttert haben ... Deshalb hätt' er lieber ihn selbst getragen ...

Ne, dat geiht nicht! Da oben? Bruder, dat geiht nicht!

Warum nicht ...?

Ihr wißt, ich habe Euch immer gern gedient, schon – als Ihr noch weltlich wart! Aber – dat geiht nicht!

Der Mann ist brav, seine Wunden schmerzen ihn – und die Kosten –

Das ist's nicht –

Oben ist's bewohnt! schaltete jetzt die Magd ein ...

Frau Schmeling unterbrach die Magd und sagte:

Bewohnt oder nicht ... Wat snakt sie? ... Aber ... Ja! Ich erwarte –

Wieder so eine – Prinzessin –?

Ja – ja ...

Was bringt's Euch denn ein? Ich selbst habe nichts! Der Mann da aber ist reich –

Mit zweifelhafter Miene blickten beide alte Frauen auf den sich allmählich Erholenden, der die Augen aufschlug, wieder sinken ließ und sich an die von einem spärlichen Lampenlicht erhellte kleine, nicht unfreundliche Stube erst allmählich gewöhnte ... Die Nähe eines Mönchs mußte ihn annehmen lassen, er wäre im Spital –

Die weitere Verhandlung über seine im obern Stock zu bewerkstelligende Unterkunft unterbrach das Verlangen einer Erfrischung, die der Gerettete mit Aufhebung einer seiner blutig rothen und an andern Stellen schwarzen Hände zu begehren schien ...

Hubertus lehnte noch das Erbieten der Frauen für Wasser oder Thee ab und zog aus seiner Kutte eine Korbflasche, die er dem Verschmachtenden an den Mund setzte ...

Dieser starrte die unheimliche Gestalt des Mönches an, trank ein angenehm duftendes gebranntes Wasser und athmete gestärkter auf ...

Frau Schmeling! Nehmen Sie den Mann nur auf! begann Hubertus aufs neue. Er ist wohlhabend! Ein Diener vom Schloß zwar nur, aber in guten Verhältnissen! Ich habe sein Geld zu mir gesteckt! Sehen Sie da, zehn Thaler! Ihr Bett und alle Ungelegenheiten, die er Ihnen macht, sollen vergütet werden! Wo kann er auch besser gepflegt werden, als bei Ihnen? Nur einen Tag! Dann sorgen wir ja schon weiter! Er will zu seinen Angehörigen! Das ist drei Meilen von hier und dahin fährt er morgen oder – übermorgen! So lange wird's doch gehen? ...

Frau Schmeling fuhr mit ihrem rechten Zeigefinger sinnend hinter dem rechten Ohr hin und her, während Schneid den Mönch anstarrte, nicht begreifend, was er da alles zu vernehmen bekam ...

Für einen Tag wollte denn Frau Schmeling zuletzt wirklich einwilligen und lehnte die hohe Bezahlung ab ...

Ich erwarte nur Besuch – sagte sie ...

Ja, ja! Ich weiß schon! scherzte jetzt hocherfreut Hubertus. Dann werden die Gardinen zugezogen! Bei Sanct-Franz! Ich kann ihn ja schon um deswillen nicht zu lange hier liegen lassen, weil hier nächstens der Kirchenbann anklopft ...

Darüber lachte zwar erst Frau Schmeling hellauf, zankte dann aber doch über derlei Reden ...

Nun, nun! beruhigte Hubertus ... Wir Mönche beten dann desto mehr für Sie! ...

Schneid sah nur immer den Sprecher und die Frauen an und sprach ein: Diable! nach dem andern vor sich hin und verschluckte seine Gedanken vor jedem Aussprechen ...

Frau Schmeling wetterte über den Pfarrer Müllenhoff, öffnete die Thür, leuchtete voran und schloß eine zweite Thür auf, die zur Treppe in den ersten Stock führte ... Man konnte diesem auch durch eine Hühnersteige und eine geöffnete Fallthür von der Küche aus beikommen ...

Hubertus bestellte heißes Wasser, einen Napf mit so viel Speiseöl, als nur im Hause vorräthig wäre und trug den jetzt Widerstrebenden die Stiege hinauf ...

Auf den Moment des Erschreckens und des gewaltsamen Sichloswindens, wenn Hubertus bei dieser Procedur heimlich dem von ihm Getragenen ein Wort der Erkennung zuflüstern würde, war er gefaßt ...

Soyez tranquille, Jean Picard! flüsterte er ihm mitten auf der Treppe ins Ohr ...

Auf das durch dies Wort wie von einem galvanischen Schlage getroffene mächtige Aufzucken, Umsichschlagen und Sichaufrichtenwollen des Halbgelähmten hielt ihn Hubertus, wie man einen Epileptischen bändigt, Glied an Glied ...

Oben empfing sie Frau Schmeling ...

Starr, mit aufgerissenen Augenlidern, sah Bickert in die festen Augen des Mönchs ... Es war ein Bild, wie auf der Guillotine sich ein Opfer niederwerfen mag, um nicht erst mit den Armen festgebunden zu werden ...

Doch ein feierliches ruhiges Schweigen lag sogleich wieder auf Hubertus' Lippen ...

Bickert ließ sich jetzt behandeln wie ein Kind ...

Wie eine Geistesverwirrung mußte es über ihn kommen, als der Mönch fortfuhr:

Waschen Sie ihm doch auch das Gesicht, Frau! Ei, ei, ei! Allerdings! Ihr sauberes, sauberes Bett! Für wen ist's denn diesmal bestimmt? ... Das ist ja gerade wie dazumal bei unserer armen Hedwig! Wissen Sie noch? Ziehen Sie nur gleich die Ueberzüge herunter! ... Aber ich will ihn doch erst ein bischen sauberer machen ... Seinen Rock hab' ich nicht mitgebracht, aber all sein Geld ... ja all sein Geld ... Nur heißes Wasser jetzt und das Oel ... Ich mach's so gut, wie im Spital ... Bis dahin war's mir denn doch für die Last zu weit ...

Es war ein geräumiges Schlafzimmer, einfach, aber sauber gehalten, wo Hubertus den aus seinen Schmerzen nicht mehr Aufstöhnenden, nur vor Furcht und Schrecken in einem starren Schweigen Beharrenden auf eine Strohmatratze legte, die er aus dem Bett genommen und auf die Erde gebreitet hatte ...

Dann nahm er das inzwischen heraufgebrachte Oel, verlangte Leinzeug, an dem im Hause kein Mangel war, und bestrich damit die verbrannten Hände, die er dann in die leinenen Streifen einschlug, den Einschlag mit Bändern befestigend ...

Bickert sah bei alledem bald ihn, bald die Frauen starr an und wagte keine Frage, erwartungsvoll, was in dieser Lage ihm noch werden sollte ... Hubertus plauderte immer fort, schilderte das Feuer, lobte die Aufopferung des Geretteten, sprach harmlose Vermuthungen über den Grund des Brandes aus und endete, wie nur so ganz gelegentlich, mit den Worten:

Im Feuer – ja da bin ich auch groß geworden, wenigstens in vierzig Grad Hitze – und schon früh hab' ich meine Haut zum Braten hergeben müssen! Einmal – ei schon als Junge – nein, ich konnte doch schon von den neuen Tabackstengeln rauchen, die die Spanier dazumal unter Napoleon mitbrachten – als ich zwei Stock hoch aus einem Brand hinuntersprang, zwei Schlingel im Arm, Jantje der eine und der andere – Wenzel hieß er ...

So elektrisch getroffen fährt im Käfig ein Panther auf, wenn er die Nähe seines Wärters spürt, streckt den Kopf, reckt die Ohren und starrt erwartungsvoll ins Leere, wie jetzt Bickert ...

Der Mönch drückte wieder ihn mit nervigem Arme, aber scheinbar ganz harmlos, nieder ...

Ruhig, ruhig! sagte er. Jetzt kommen wir ja an die Sonntagswäsche! Brav, Jungfer! brav! Nur her mit dem Schwamm! ... Schade wär's freilich um eure Betten! Und um eure Prinzessin! Eure weiße Unschuld! Richtig – Jantje! Von dem sprach ich ... Na, dem wäre schon damals besser gewesen, er hätte das Zeitliche gesegnet! Verstand hatte er ohnehin nur halbwegs! Manchmal – da kam ein bischen guter Wille zum Vorschein! Sonst – Hier her, Frau Schmeling! Gelt, Landsmann, der Schwamm thut gut? ... Ja, Mutterchen, könnten wir Pfaffen doch überall so die Sünden und Brandmale wegtilgen – – besonders die an uns selbst! ...

Während Frau Schmeling die Bemühungen der Pfaffen um solche Seelenwäsche nach ihren neuesten Erfahrungen als höchst problematisch schilderte und namentlich die neueste hierländische Seife als viel zu beizend verwarf, wusch Hubertus die entblößten Arme, auf denen er schon längst beim Herübertragen des Bewußtlosen vom Schlosse die verhängnißvollen Zeichen erblickt hatte ...

Seid Ihr denn da so kitzlich? fragte er, als Bickert dem Aufknöpfen der Jacke und dem Aufstreifen der Aermel wehrte ... Laßt doch! ... Franz Bosbeck, wie ich sonst hieß, ist ja keine zimpferliche Dame! Mir gegenüber – Ei Jantje, Jantje – Seid doch nicht so verschämt! Solche Muttermäler kenn' ich ja! So! Es macht sich ...

Die Frauen hörten diese Reden nicht alle; sie gingen ab und zu, trugen das schwarze Spülicht fort, trugen die Kleider hinaus, brachten ein frisches Hemd, frisches Wasser. Ehe dann zuletzt eine Suppe kam, die Hubertus schon beim Hinaufsteigen bestellt hatte, reichte er noch einmal dem mit geöffneten Lippen ihn Anstarrenden die Korbflasche ...

Bickert trank zwar, sprach aber für sich Fluch auf Fluch, wilde Worte, die er sogar – mit der Mutter Gottes bekräftigte ...

Welche denn? fragte rasch Hubertus. Doch wol die Mutter Gottes von Neus?

Eine in seinen heimatlichen Niederungen weit und breit verehrte Madonna ...

Eine andere! sagte Bickert, drückte seine Augen zu und sank aus seinem Trotz in Erschöpfung zurück ...

Mütterchen, flüsterte jetzt Hubertus, nun hilft da nichts! Die Nacht halt' ich hier oben Wache! Die Matratze liegt schon da; ein Kissen und ich schlafe wie ein Marder! Mein Kloster soll's hernach schon hören und mich freisprechen, wenn ich auf Reisen war und Heiden bekehrte ... Und sie warten ja auch sonst nicht allzu lange mit dem Kartoffelsalat und mit ihrer Grütze auf mich ... Morgen, da macht Ihr mein Leibgericht ... Speckpfannkuchen mit Kartoffeln ...

Während dieser Plaudereien, bei denen er oft an Lucinde, oft an den Landrath denken mußte, trug der Mönch den Verbrecher ins Bett, das aus einem Ueberfluß von Federn aufgehäuft war – dergestalt, daß immer noch davon weggenommen werden konnte und doch genug übrig blieb, den jetzt von dem heftigsten Fieberfrost Ergriffenen zu erwärmen ...

Die Wirkung, die der Mönch auf den Verbrecher ausübte, war die des Magnetiseurs ... Bickert war in physische Betäubung versunken ... Machtlos starrte er ins Leere ... Auch von jener Suppe konnten ihm nur einige Löffel eingegeben werden ... Sein zerschundener Kopf sank ins Kopfkissen zurück und bald schien es, als wenn er entschlief ...

Auch Hubertus übermannte dann die Anstrengung ... Er legte sich auf die Strohmatratze, zog ein Kissen unter den unbehaarten Kopf und in einer Viertelstunde war im Häuschen alles so ruhig, wie nur je zur Nacht die es antrafen, die Mutter Schmeling zu der geheimnißvollsten Feierstunde des Lebens abriefen ...

Der Morgen brach an ...

Es ist ein eigenes Düster, mit dem uns der Tag nach ereigniß- und verhängnißvollen Erlebnissen begrüßt ... Bleiern drückt dann die unabänderliche Nothwendigkeit; jeder Athemzug, der sonst sich frisch und sorglos von der Brust gerungen hätte, ist gehemmt von Furcht und Erwägung ...

Hubertus erwachte am frühesten und doch schlugen die Glocken von Witoborn schon sieben Uhr ... Die Tage brachen jetzt schon zeitiger an ... Hell genug war es, um sich schon im Hause zurecht zu finden ... Bickert schlief noch – wie eine jener Ratten, über die er in den unterirdischen Gängen des Profeßhauses sorgloser gelacht hatte, als er es heute beim Erwachen würde thun können ... Hubertus rechnete bestimmt darauf, daß sich zwei Erkundigungen durchkreuzen müßten ... Eine nach dem Befinden des Dieners, für den man vom Schloß aus Sorge tragen würde; eine, die von einer wiederholten Anzeige an die Behörden ausgehen und in dem gestrigen Helfer vielleicht schon den Urheber des Brandes suchen würde ...

Zunächst hatte er die Sorge um das Befinden des Landraths und die Auskunft, die Lucinde bei der Messe im Münster erwartete ...

Der Verbrecher schlief einen Schlaf, aus dem ihn Hubertus nicht wecken mochte ... Die Brust hob sich in so regelmäßigen Zügen, daß es ein Stärkungsschlaf schien, den der völlig verthierte und doch wieder furchtsame und feige Mensch deshalb bedurfte, um die Kraft zu gewinnen für Hubertus' weitere Pläne ... Immer noch kämpfte er mit sich, ob er einen Mordbrenner der gerechten Strafe entziehen durfte ... Schon während er die Flamme aus der Ferne auflodern sah und ihm der Gedanke kam: Das, das ist die That, zu der sich der Unglückliche hat dingen lassen! gab er die Absicht des Schutzes auf und beflügelte nur noch um Lucindens willen seine Eile – nicht fassen konnte er, wie ein ihm durch Klingsohr so anziehend gewordenes Mädchen sich an so verbrecherischen Vorgängen betheiligt wissen konnte ... Dann sah er doch wieder den, den er suchte, als den Thätigsten bei der Rettung ... Durch diesen unerwarteten Anblick gewann er neue Gunst für den Verlorenen ... Selbst wenn er sich sagen mußte: Der Verzagende warf sich nur deshalb unter die Rettenden, um nicht den Schein der Anstiftung zu haben, die Umstände zwangen ihn, seine Rolle zu wechseln – erfüllte ihn das Räthselhafte des ganzen Verbrechens mit dem Verlangen, erst aus Bickert's Munde selbst darüber aufgeklärt zu werden ... Dem Arm des Gesetzes ihn zu entziehen, konnte, nicht unter seinen Entschlüssen derjenige sein, der die Oberhand behielt ... Vorläufig jedoch wollte er ihn um Lucindens willen in Sicherheit bringen, ihn noch heute gegen Abend weiter befördern und ihm nur für den einen Fall auf den Weg nach Bremen verhelfen, daß er einen Menschen antraf, dem sich solche Hülfe noch mit gutem Gewissen gewähren ließ, und daß ihm keine durch die Brandstiftung verdeckte sonstige schwere Unthat zur Last fiel ... Um Aufklärungen über Bickert's Beginnen konnte er jetzt nicht drängen ...

Allmählich ließen sich auch die Frauen hören und sorgten für einen erquickenden Morgentrunk ...

Sollte vom Schlosse geschickt werden, sagte Hubertus, sich zum Gehen anschickend, so erzählt nur, daß ich ihn ins Spital tragen wollte, aber mit meinen Kräften nur bis hieher reichte! Was man an Erquickungen bringt, nehmt getrost an! Kann man ihn aber selbst schonen und von Niemanden sprechen lassen, desto besser! Ich ließe an Euerer Statt Niemanden zu ihm ...

Die Frauen versprachen zu thun, was in ihren Kräften stand ... Nur sagte die Schmeling:

Wenn aber die Gensdarmen kommen –

Die Gensdarmen? ...

Ich vermuthe ...

Die Gensdarmen? Warum die?

Mutter Schmeling fuhr mit dem gekrümmten Zeigefinger wieder hinter ihrem Ohre hin und her und machte nachdenkliche Mienen, obgleich sie sich dabei entschlossen auf ihre paar noch übrigen Zähne biß ...

Was habt Ihr denn nur? – fragte der Mönch ...

Mutter Schmeling stand nicht Rede, sondern lästerte über die Ordnungen der Welt. Sie stellte hundert Fragen in Aussicht, die ja bekanntlich ein Narr thun und auf Erden nicht der Weiseste beantworten könnte ...

Hubertus sah, daß diese Erwartung eines Besuchs durch die Gensdarmen nicht in Verbindung mit dem neuen Hauseinwohner und der Ursache des Brandes stand, forschte dann auch nicht länger und begnügte sich eingesehen zu haben, daß auf alle Fälle sein Plan, Bickerten weiter zu entführen, von ihm zu beschleunigen war ...

Um nach Witoborn zu kommen, nahm er den Feldweg und über die Kirchhöfe hinweg ...

Auf das vergoldete Holz und Gestein, auf die welken Kränze, hier und da auf die grünen Hängetannen blickend, sagte er sich: Der Abend deines Lebens ist längst da und wie kommst du noch einmal in deinen letzten Stunden zu solchen Dingen! Längst dem Leben entrückt, kannst du vom Abenteuer nicht lassen! Sonst, unter dem milden Pater Henricus ganz nur den stillen Werken des Klosters hingegeben, regt dich jetzt dieser schroffe und gewaltthätige Pater Maurus auf, läßt dich umirren wie einen verstörten Geist, treibt dich an die Bahre deines bösesten Feindes, des Kronsyndikus, nun gehst du schon mit Nachtunholden, die der Irrsinn und das Verbrechen aufscheucht! Vielleicht fliehst du wirklich noch mit Klingsohr in den hohlen Eichstamm und verbirgst dich vor den Gesetzen der weltlichen Obrigkeit und flüchtest dich in die den Franciscanern erlaubte Alcantariner Regel, die ein Heiliger stiftete, der vierzig Jahre lang nur knieend schlief, der in die Speisen, wenn sie ihm zu gut dünkten, Asche warf, der der Zeitgenosse Karl's V. im Kloster St.-Just, der heiligen Therese und – des Don Quixote war! ... Sonst stand Hubertus bei jedem Kinde, das ihm begegnete, still und konnte mit ihm plaudern, heute hafteten seine Gedanken nur an dem Namen Lucinde, Picard, Terschka – Von diesem letztern glitt noch alle Annäherung ab, wie Stahl vom spiegelglatten Eise ... So verloren in seinen Gedanken war er, daß er selbst den freundlichen Mann nicht sofort erkannte, der beim Austritt aus dem Wege zwischen den Kirchhöfen auf die Wallanlagen von Witoborn ihm in einem Einspänner, auf Schloß Westerhof zu vorüberjagend freundlichst nickte ... Der kleine Mann in einem blauen, am Kragen mit Pudelpelz besetzten Mantel, aus dem die weißesten Vatermörder wie Bram- und Reffsegel lugten, war Löb Seligmann, der vielgeschäftige Gütermakler, der neulich neben dem hochgemuthen Küfer gestanden hatte, als dieser sein Todtengericht hielt ... Hubertus wandte sich links den Mühlen zu, die von dem Witobachgrund herüber schon mit Donnerton hörbar wurden ... Es that ihm wohl, diese wilde Musik zu hören, die vorzugsweise durch die mittlere Mühle, ein gewaltiges an einem alten Thurm gelegenes Werk, hervorgebracht wurde; unmittelbar war noch ein weitrauschendes Wehr benachbart, das gestellt und dann in andere Abzüge gelenkt werden konnte; selbst im Winter fror hier nicht die Witobach ...

Aus diesem Thurm heraus kam in weißen, gleichfalls vom Brande Spuren tragenden Müllerkleidern Hedemann ...

Beide begrüßten sich, ohne sich vor dem Lärm des Wassers und der Mühle verständigen zu können ...

Hedemann sprach vom Landrath, vom Brande; aber Hubertus mußte den Kopf schütteln. Mindestens dreißig Schritte weit hatten beide über schmale und glatteisende Stege hinwegzuschreiten, um eine Stelle zu gewinnen, wo sie sich verständlich machen konnten ...

Der Landrath war noch in dieser Nacht gestorben ...

Sein Diener kam vom Schloß, erzählte Hedemann, und holte ihn ab ... Dann wurde es immer schlimmer und schlimmer mit ihm ... In seiner Erschöpfung blieb er und so hat er denn die ewige Ruhe ...

Was an der Ehre nagt, geht langsam, aber es trifft ... konnte Hubertus hinzufügen nach den Verhältnissen, die er kannte ... Für Bickert und Lucinden schien ihm diese Wendung besorglich ... Wie leicht konnte nun der junge Enckefuß selbst erscheinen ...

Vom Brand erzählte Hedemann mancherlei, was zwar schon Hubertus wußte, sich aber doch berichten ließ, – um alles noch nach anderer Auffassung zu hören ... Die Volksmeinung wollte sich noch immer für den in der Kapelle zurückgebliebenen Kohlentopf entscheiden ... Im Laboratorium war nichts versehrt ... Gerade dorthin hatte man das Archiv geborgen bis auf einige Schränke, die verbrannt sein sollten ...

Die Glocken läuteten von allen Seiten ... Die kirchen- und altarreiche Stadt wurde zu den vielen stillen Messen gerufen, die täglich vor der einen täglichen großen gelesen werden ...

Ins Münster mußte man niederwärts steigen ... In eine alte Vorkapelle führten erst mehrere Stufen ... Hier standen Grabmäler und Standbilder aus ältester Zeit ... Dunkelbraun und schwarz und lichtlos unheimlich war alles; dem Innern des Münsters selbst fehlte nicht das Licht ... Die Fenster waren nicht bunt ... Pracht und Kunstliebe zeigte sich wenig ... Nur der Hochaltar, der fast schon in der Mitte der Kirche begann, trug Embleme Jahrhunderte alter Auszeichnungen ... Messen wurden hie und da in Seitenkapellen gelesen ...

Hubertus wandelte, an jeder dieser Kapellen sich verneigend, auf dem steinernen Estrich lautlos dahin und forschte in den Betstühlen nach einer Knieenden in schwarzen Kleidern, die er unfehlbar anzutreffen erwarten durfte ... Von den Vorgängen auf dem Schlosse des Grafen Münnich konnte er nichts wissen ...

Eine der Bänke zum Knieen nach der andern musterte er ... Mit dem Schein eines bloß äußern Interesses durfte er nach seinem Stande nicht in dem heiligen Bau umherwandeln ... Seinen Rundgang mußte er durch ein Niederknieen da und ein längeres Beten dort an den Kapellen erklärbar finden lassen ...

Den Grad seiner aufrichtigen Verehrung vor den Heiligen kennen wir nicht ... Wir sehen nur, daß er hinter der Andacht der Uebrigen nicht zurückbleibt ... Wer ihn beobachtete, konnte annehmen, daß er durch die ganze Kirche, wie dergleichen oft geschieht, in dieser Form einen Rosenkranz abbetete ...

Lucinden entdeckte er nicht ...

Schon waren rings in den Kapellen die Wunderaugenblicke der »Wandlung« vorüber, schon konnten die murmelnden Priester nahe bei ihrem: Ite, missa est! angekommen sein ...

Da fiel neben der letzten Kapelle und schon dicht wieder am Eingang sein Blick durchs Fenster auf einen eben vorrollenden Wagen, dessen Kutscher eine Livree trug, die ihm als die gräflich Münnich'sche bekannt war ... Sollte er dort vielleicht eine Erkundigung einziehen? ...

Wie er im Begriff war, die Kirche zu verlassen und der düstern Vorkapelle sich zuzuwenden, begegnete ihm eine tiefverschleierte schlanke Gestalt, einen schwarzen Mantel von schwerem Pelz übergeworfen – wofür hatte die gute Wally Kattendyk nicht alles gesorgt! – den Sammethut zierte eine niederwärts gehende geschwungene Reiherfeder ... Das waren ja die Formen, die er suchte ...

Ein kurzes Zucken und Stillstehen der an ihm Vorüberschreitenden bestätigte seine Voraussetzung ...

Wohl konnte Lucinde auf den ersten Blick sehen, daß die Messen bald vorüber waren ... Aber auch stille Gebete genügten für ein längeres Verweilen in der Kirche ... Sie mußte es sein ... Hubertus, der sich an den mächtigen Pfeilern des mittlern Schiffs hin nachschlich, bemerkte, wie sie die entlegenste Gegend der Kirche suchte, einen Seitenwinkel mit kleinen runden Fenstern, wo ein alter Taufstein stand ... Alles war in diesem kleinen Viereck dunkel und still ... Hier kniete die Angekommene nieder und zog ihr Brevier ...

Auch Hubertus warf sich drei Schritte von ihr zu Boden ...

Das Schreckliche ist geschehen! murmelte die Beterin mit offenbar zitternden Lippen vor sich hin ...

Hubertus rückte näher ...

Was wird kommen? fuhr sie mit angsterfüllter Stimme fort ...

Hubertus, der sich in diese wunderliche Form der Zwiesprache nicht sofort finden konnte, erzählte das in dieser Nacht von ihm Erlebte ... Oft mußte er dabei in seinem Bericht innehalten, denn bald ging ein Meßner vorüber, bald ein Geistlicher, bald ein Singknabe, der von hier zum Orgelchor stieg ... Die Vorübergehenden mußten denken: Zwei Seelen das, die sich heute dem heiligen Ansgarius gewidmet haben! Denn gerade der Bekehrer der Friesen und erste Bischof von Bremen stand über ihnen ...

Bremen war freilich in minder geweihtem Sinn das Endziel der Hubertus'schen Mittheilung ...

Lucinde sagte:

Geben Sie doch in diesem Fall jede Rücksicht auf die Gesetze preis! Was ist denn überhaupt Strafe? Was wollen Sie der Obrigkeit ihre Sorgen erleichtern? Wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß diese Brandstiftung aus dem Gehirn eines gewiß einst seiner Strafe nicht entgehenden Bösewichts entsprang, aber ehrliche Leute in Verdruß bringen kann, so glauben Sie mir's! Entfernen Sie diesen Menschen auf ewige Zeiten aus dieser Gegend, ja aus unserm Welttheil! Welche Macht Sie auch über ihn gewinnen, Sie finden einen mit abergläubischer Schwäche gepaarten verstockten bösen Sinn, den Sie zu heilen und zur Besserung zu führen nur die kostbare Zeit verlieren! Seine That mag Gott richten! Theilweise hat er sie ja schon selbst gebüßt durch seine Beschädigung und gesühnt sogar durch Aufopferung! ...

Hubertus hörte in dieser Rede alles wieder, was er von Klingsohr über Lucindens wilde Natur wußte ...

Noch machte er gegen die mächtig bestürmende Kraft ihrer Worte die Einrede:

Aber der Schurke legte Feuer an! Was war seine Absicht? Welchen Gewinn konnte er daraus ziehen?

Hinderten ihn nicht vielleicht die Umstände am Stehlen? flüsterte Lucinde. Untersuchten Sie, wo er etwas geborgen hat, was er sich aneignete? Mit diesen Forschungen wird jede Stunde mir und andern verderblich und ich schwöre Ihnen, Sie erhalten einst die Aufklärung – ich würde sie Ihnen schon jetzt geben, wenn – Sie ein Priester wären!

Der Laienbruder mußte in diesem Augenblick ein Gebet murmeln. Denn die rings stehenden Bilder der Heiligen lockten auch andere Beter an ... Schon befürchtete er, daß eine daherkommende und jetzt still stehende Dame neben ihnen Platz nehmen würde ... Wie war sie zu verscheuchen? Er sah sie mit seinem Todtenkopfantlitz aus der Kapuze, die er über sich gezogen hatte, an; da erschrak sie, daß sie zurückfuhr und sich entfernte ... Es war Frau von Sicking selbst gewesen ... Sie hatte Lucindens Anwesenheit draußen vom Kutscher erfahren, der das Fräulein in erster Morgenfrühe zu ihr zurückbringen sollte ... Sie erkannte den Mantel Lucindens und die Reiherfeder ... Anreden durfte sie die Betende nicht ... Der schreckhafte Mönch vertrieb sie in der That zu einem Altar, der den Schmerzen Mariä gewidmet war ... Sie liebte Gottes Wort in einnehmenderer Erscheinung ...

Lucinde hatte ein scharfes Auge ... Sie erkannte Frau von Sicking nur etwas von der Seite aufblickend ... Mit bebender Stimme sprach sie zum heiligen Ansgarius:

Ich lasse Sie nicht, wenn Sie mir nicht versprechen, die Gefahr noch heute zu entfernen! Diesen Menschen vor allem, so weit Sie können! Unbekümmert um seine ruchlose That sollen Sie ihm die Mittel zur Flucht gewähren! Ist Ihnen dieser Mensch noch vor kurzem von Werth gewesen, warum wollen Sie ihn jetzt aufgeben?

Hubertus murmelte ein Gebet, denn Lucinde mäßigte sich nicht ...

Warum antworten Sie nicht? unterbrach sie ihn. Sie wissen doch wol, was weltliche Gerechtigkeit ist! Sie, der Sie Ihre Liebe geopfert bekamen, ohne den lachenden Triumph der Mörder gestraft zu sehen! Erst die göttliche Gerechtigkeit strafte die Buschbeck ... Waren Sie nicht der gottberufene Richter des Paters Fulgentius? ... Den Kronsyndikus strafte Gott dadurch, daß er den gefürchtetsten Tyrannen zum Kinderspott machte ... Hat Klingsohr eine Schuld auf sich, so sehen Sie ja sein tägliches Elend ... aus dem ich übrigens Sie und ihn befreien will ...

Hubertus betete ... Diese Seele riß zu ungestümen Thaten hin ...

Sie können Frost und Hitze ertragen ... Sie werden dem Pater Sebastus zur Seite stehen müssen, wenn er nach Rom – ohne – Schuhe gehen will ...

Kennen Sie – auf dem Schlosse – Wenzel von Terschka? ... fragte der Mönch, dieses Mädchens entschlossene Rücksichtslosigkeit zu allem für fähig haltend und zunächst in der That nur um ihrem Drängen auszuweichen ...

Unwillig über die unerwartete Querfrage, schwieg sie ...

Kennen Sie die Herkunft dieses Mannes, den ich nannte? wiederholte Hubertus ...

Was soll das? ... Das ist ein Cavalier aus Wien ... ein Böhme ...

War der Mann nie in Rom?

Lucinde schwieg und wiegte ungeduldig den Kopf ...

Sie kommen nicht selbst auf Westerhof? ...

Doch! ... Ich denke ... warum? antwortete sie endlich ...

Hubertus überlegte, ob er nicht Lucinden zur Vertrauten des Interesses machen sollte, das er, wie an Bickert, so auch an Wenzel von Terschka nahm ...

Frau von Sicking's Andacht mußte eben gestört worden sein ... Sie erhob sich und blickte auf die noch immer Betende, deren Geflüster ihr nachgerade auffallen konnte ...

Als sie näher kam, hatte wieder Hubertus kein anderes Mittel, sie zu entfernen, als seinen Blick ... Frau von Sicking ging an einen andern Altar ...

Ich beschwöre Sie, betete Lucinde, verlieren Sie keinen Augenblick! Jeder Moment des Zögerns ist verderblich –

Wollen Sie mir nur eines versprechen? – mußte Hubertus, und jetzt fast, der äußern Umgebungen wegen, nothgedrungen, sagen ... Sie haben mächtige Verbündete, große Beschützer ... Wollen Sie für uns sorgen, wenn wir in den Orden der Alcantariner treten und unbeschuht nach Rom entfliehen?

Lucindens eigene Wege deuteten schon lange nach Rom ... Sie kämpfte einen Augenblick, sagte dann aber doch – so mächtig fühlte sie sich in ihrer Anlehnung an Nück: –

Ich verspreche es Ihnen!

Nun erklärte sich Hubertus bereit, daß er sofort einen Wagen suchen wolle, mit dem er Jean Picard nordwärts den Bergen zu fahren könne ... Aufklärungen über die Absicht des Verbrechers würde er nicht früher begehren, als bis er in Sicherheit wäre ... Durch den Preis, den er in Aussicht stellen würde, nach und nach die Erbschaft zu gewinnen, hoffe er, sprach er, ein Mittel in der Hand zu haben, ihn in Amerika festzuhalten und zu einem tugendhaftern Leben zu führen ... Das Geld befinde sich noch auf dem Gericht in Witoborn und könne ihm vielleicht am besten durch einen Advocaten zukommen ... Hubertus nannte den auch hierorts allbekannten Nück ...

Nein, nein! lehnte diesen Namen Lucinde ab ...

Hubertus hatte kein Arg und erklärte, sich auch sonst wol helfen zu können ...

Damit erhob er sich und ließ die Beterin allein, die es auch ihm wie so vielen – »angethan« hatte ...

Allmählich erhob Lucinde ihr Haupt von dem Pult, vor dem sie kniete, schlug erschöpft ihr Brevier zu und trocknete die in der That von Angsttropfen befeuchtete Stirn ...

Sie hatte die Nacht nicht eine Stunde geschlafen ...

Frau von Sicking riß sich aus ihrer Anbetung los und schloß sich Lucinden an, die wie aus einem Traum erwacht sie begrüßte ...

Beim Austreten aus dem Münster erzählte sie, daß sie bei Gewittern und Feuersbrünsten in einen Zustand gerathe, der sie zwänge, sich in den dunkelsten Winkel zu flüchten ... Sie wäre in dem gestrigen Tumult aufgesprungen, hätte sich im ersten besten Zimmer eingeschlossen, auf alles Rufen und Klopfen keine Antwort geben können, bis erst im Schlosse alles still geworden und der Feuerschein nachgelassen hätte ... Dann hätte sie ihren Versteck verlassen. Die Gräfin Münnich hätte sie gezwungen, die Nacht auf dem Schloß zu bleiben; doch schon in aller Frühe wäre sie wieder aufgebrochen ... Sie hätte das Gelübde gethan, sämmtlichen Altären des Münsters nach der Reihe ihre Verehrung zu bezeugen ... Darum auch wäre sie zuerst in den Münster gegangen ...

An alledem war nichts Unwahres, aber Frau von Sicking hatte gestern doch schon manches über Lucindens Vergangenheit erfahren und war heute von einiger Zurückhaltung. Ihre Erzählung der Vorfallenheiten auf Schloß Westerhof, während beide im eigenen Wagen auf ihre Besitzung zurückfuhren, hatte die geheime Absicht, den frühern Beziehungen Lucindens zu Gräfin Paula näher zu kommen ...

Lucinde merkte dies allmählich, merkte auch die der Gräfin Paula nicht eben günstige Gesinnung der Frau von Sicking, die mit großer Schärfe urtheilen konnte ... Als sie Lucinden zur Chocolade festhielt, immer wieder von Paula und den zweideutigen und höchst »incorrecten« Visionen derselben begann, fiel ihr eine seltsame Beleuchtung auf die Pracht und Herrlichkeit dieser Niederlassung, auf die Teppiche, über die sie hinschritten, auf die kleinen verwickelt angelegten Cabinete mit gothischen schwarzen Möbeln, bilderbeladenen Wänden, auf die mit rothem Sammet überzogenen Betschemel ... Die Frau ist neidisch auf Paula wegen Bonaventura! sagte sie sich ... Wo sieht sie ihn denn? Fährt sie deshalb so oft zu Müllenhoff? ...

Frau von Sicking wollte gegen Mittag nach Schloß Westerhof zur Condolenz und forderte ihren Besuch auf, sie dorthin zu begleiten ...

Die eben auf einem silbernen Plateau überreichte neueste Post für Frau von Sicking gestattete Lucinden ihren Zorn und das Erglühen ihrer Wangen zu verbergen ...

Bei alledem aber, durch den ihr vom Himmel geschenkten Beistand des Laienbruders, durch – auch ihre Zähmung des »Bruder Abtödters« doch ermuthigt und auf ein günstiges Verlaufen aller dieser Gefahren hoffend, warf sie schon voll Uebermuth auf ihrem Zimmer ihr Brevier hin, wie – die Schöne, die vom Ball kommt, ihren Fächer, hinter dem sie eine Eroberung machte ...

Zur Wiederbegegnung mit Bonaventura und Paula interessirte sie sogar der mit Cherubimköpfen umrahmte Spiegel ...

Sie fand aber ihr Aussehen doch noch zu angegriffen, als daß sie schon heute diese Scene wagen sollte.

19.

Auch diesen beiden aus Witoborn zurückkehrenden Damen war im Vorüberfahren ein Gruß gespendet worden aus dem von Westerhof schon wieder heimkehrenden Wägelchen jenes gewissen Mannes im blauen Mantel mit dem schwarzen Pudelkragen ...

Löb Seligmann grüßte in der allerglückseligsten Laune ...

Hatte er auch in verschiedenen Spiegeln der Gegend, die er im Lauf dieses Winters und vor dem Frühjahr nicht mehr verließ, beim Rasiren seines Barts, beim Kämmen und Ansingen seines wolligen Haares eine nicht gewöhnliche Anzahl von grauen Löckchen bemerkt; doch kamen sie nur als ein zufälliger Tribut an seine Jahre, nicht als Folge von Kummer und Sorge ...

In der von so mannichfachen Aengsten und Bedrängnissen erfüllten Sphäre, die wir schildern, war er die zufriedenste, frohste, vielleicht die einzige »gesunde Natur«, wenn nicht am Körper doch an der Seele ...

Das Vertrauen, das ihm zuerst Terschka schenkte, das sich dann dem ganzen Adel der Gegend mittheilte, gab ihm einen Schwung, der nur von jener ihm manchmal eigenen Rührung über sich selbst gemildert wurde ...

Aber sogar diese Anwandelungen der Wehmuth wie sonst beim Hinblick auf Kocher am Fall, auf den Korb der Hasen-Jette, auf die schwachen Beine David's, auf die Blüte des Ghetto, Veilchen, die unter der Geldgier seines so unpoetischen und ihm unähnlichen Bruders Nathan schmachtete, kamen ihm jetzt seltener. Nur der hierortige Mangel an Opernmusik, die sonst seiner Seele ein so nothwendiges Labsal war, war eine Lücke in seinem Dasein. Von der classischen Anmuth der Arie: »Ha, das Gold ist nur Chimäre!« war er musikalisch tief überzeugt – die Textesworte unterschrieb er bei seinen gegenwärtigen glänzenden Einnahmen weniger – aber er mußte sie sich allein trällern.

Die Eroberung dieses gewissenhaften Kenners der Ackerkrume, der Ertragsfähigkeit der Güter, der einschmeichelnden Ueberredungskünste bald beim Bauer, bald beim Edelmann verdankte Terschka dem Vormittag auf der Villa des Herrn Bernhard Fuld in Drusenheim. Er ließ ihn nach Witoborn kommen und »schlachtete«, wie der Kunstausdruck lautet, bereits im voraus die Güter des Grafen Hugo ein, noch ehe die Uebergabe in allen Formen erfolgt war. In Terschka hafteten aus den Lebenssphären seiner frühesten Kindheit andere Eindrücke vom Judenthum, als er sie durch Löb Seligmann empfing. Heyum Picard und – Löb Seligmann! ... Letzterer mit den rührendsten Gleichnissen und Sprüchen aus dem Talmud, die ihm Gewinn auf Kosten der Ehrlichkeit verboten –! Löb citirte sie zuweilen mit einer gewissen jungfräulichen Verschämtheit ... »Wir haben ein Sprichwort, Herr Baron –!« Das die stehende und mit Erröthen gesprochene Phrase, mit der Löb ein solches Citat aus dem Talmud anbrachte – wie einen Traum aus der Menschheit kindlichsten Tagen ...

Eine wunderbare Kunst besaß Seligmann, alle Verhältnisse, in die das Leben ihm einen Einblick gestattete, – bis auf den Grund auszukosten. Selbst einen so entschieden negativen Umstand, wie den, daß Armgart von Hülleshoven damals, als er sich die Rettung der kleinen Pensionärinnen von Lindenwerth vor Wassersfluten so angelegen sein ließ, unter den zur Villa Dahinwatenden nicht anwesend war, benutzte er zur Anknüpfung einer Bekanntschaft, ja zu dem seelenvollsten Genuß, Nachgenuß der Thatsache: Also, Fräulein, Sie waren damals nicht dabei! ... Dabei sein Auge! ... In seinem Gemüth blieb's eine Nachbetrachtung mit den schmelzendsten Accorden ... Angelika Müller, die kannte er aus der Dechanei und die hatte er damals gesprochen und demzufolge besuchte er Püttmeyern – und Grützmacher hatte einst bei Witoborn als Gensdarm gestanden und demzufolge sah er sich dessen ehemalige Wohnung und Stall an und knüpfte die Bekanntschaften seiner Nachfolger an und – Also das ist ein Vetter von Ihnen? und ein einziges seelenvoll so durchempfundenes Verhältniß, erleichterte es auch sein Geschäft, das eben im Couragemachen zu Veränderungen und Expropriationen gemüthlich werthgewordenen Eigenthums bestand, so war es das doch nicht allein, was er dabei suchte ... Benno von Asselyn, mit dem er hier oft zu thun hatte, Benno, der ihn für seine Güterschlachterei als Student aus dem Roland »geschmissen« hatte, Benno war ihm eine lockerer Bekanntschaft von einem Heimatsgefühl, von einer Seelenerquickung, als sänge, da er ihn zum ersten male hier sah, sein ganzes Sein: »Ich komme aus der Normandie!« ... Ebenso elegisch betrachtete er Thiebold de Jonge ... Ebenso Hedemann; auch »unbekannterweise«, aber um seines Sohnes willen, den Landrath von Enckefuß, an dem ihn seine Geldverlegenheit um so mehr rührte, als er, gelegentlich von diesem um Hülfe angesprochen, bedauerte erklären zu müssen, daß er »Geschäfte dieser Art« nicht mache ... Mit Bonaventura vollends trat ihm die ganze alte Kathedrale von Sanct-Zeno in Kocher am Fall wie im Mondlicht entgegen; das Sterbebett der Nachbarin Ley; Treudchen und mit ihr der Blumenstrauß, den er an jenem Morgen für Veilchen gekauft hatte ... Alles das hob ihm Seele und Gemüth ...

Mit besonderer Andacht besuchte Löb das große Dorf Borkenhagen. Er betrachtete sich von allen Seiten jenes Pfarrhaus, wo »denn also« Leo Perl, sein leiblicher Vetter, abgefallen vom Glauben seiner Väter, gelebt hatte und gestorben war ... Er betrachtete die Fenster, die Walleinfriedigung, den Brunnen und die Scheuer dieser Wohnung mit einem so elegischen Rückblick, daß der jetzige Pfarrer das Fenster seines Studirzimmers öffnete und ihn fragte: Wünschen Sie etwas? ... Durch seine Seele zogen sich bei diesem rauhen Anruf alle Töne des Gefühls unverdienter Kränkung, die nur jemals sein angebeteter Bellini componirt hat ...

Von Veilchen wußte er über Leo Perl so viel Wunderbares ... Perl war ein Freidenker und doch – ein Kabbalist gewesen. In Paris hatte er in alten Pergamenten studirt und trotz Voltaire eine schreckhafte Geisterwelt anerkannt. Nun erschien ihm Leo Perl wie einer jener Rabbis, die durch gewisse Zahlenzusammenstellungen, die sie einer thönernen Figur auf die Stirn schreiben, diese lebendig machen. Eine solche Figur dient dem Zauberer, verrichtet ihm alle Geschäfte, macht das Schwierigste möglich und begehrt keinen andern Lohn dafür, als gut zu essen und zu trinken. Wischt dann ein Zufall die Zahlen von der Stirn des »Golem« oder der Rabbi vergißt eine gewisse Formel, so wird das Thonbild zum leibhaften Teufel und hat schon manchen Nachts im Bette erdrosselt. Gott – so immer kam ihm die Erinnerung an Leo Perl! ... Das war nun da die Kirche, wo dieser, ein Jude, celebrirt hatte! Das war nun da der Friedhof, wo er begraben lag! ... Und das waren die Lehmhaufen, aus denen er sich allenfalls so einen Golem hätte bilden können! ...

Im Kloster Himmelpfort, hieß es eines Tages im Wirthshause, lebten noch Mönche, die den Pfarrer Perl näher gekannt hätten ... Mit diesem Kloster kam Löb durch einen Besuch in Verbindung. Vor noch nicht acht Tagen wurde er in Witoborn »Bei Tangermanns«, durch den Küfer Stephan Lengenich überrascht. Der »Gerechtfertigte« kam wieder aus dem Gefängnisse, das er jetzt wegen seiner Betheiligung an jener Versammlung im Roland hatte als Strafe für geheime Verbindungen verbüßen müssen. Der vierschrötige, feierliche, exaltirte Mann trat in einem großen kaffeebraunen Mantel bei ihm ein und gab sich in so fragwürdiger Schreckhaftigkeit, daß Löb Seligmann unwillkürlich an eine seiner Lieblingsopern »Zampa« und das erste Auftreten des furchtbaren Räuberhauptmanns denken mußte ... Der Küfer kündigte ihm an, daß er sein Begehren nach dem Stück Tuch vom Jagdrock des Kronsyndikus (der bei seiner Ankunft noch lebte) zwar für einige Zeit durch Veilchen's Beredsamkeit hätte fallen lassen können, aber nicht für immer und am wenigsten für jetzt, wo er seit einem halben Jahr schon wieder die ganze Schwere des Unrechts dieser Welt und der Nichtrechtfertigung vor Menschen hätte erfahren müssen. Er verfluchte den Verführer Hammaker, der seinen Lohn gefunden. Er bereute den Verkauf des Blutackers in Drusenheim. Er war ganz in jener volksthümlichen Rachestimmung, die bei solchen Gelegenheiten unter welthistorischeren Bedingungen zu Masaniellos, John Hampdens und Andreas Hofers machen kann, in unserm Leben, wie es so kommt und geht, leider nur zu commandirenden Spritzenmeistern. Stephan Lengenich wollte zu näherer Auskunft über den Tuchstreifen ins Kloster zu dem Mönche Sebastus. Zitternd und doch voll hohen Interesses hörte Löb Seligmann die Proposition, ihn dorthin zu begleiten. Die wildesten Racheklangfiguren aus »Fidelio« und »Lucrezia Borgia« tanzten vor seinem Ohr und Auge ...

Glücklicherweise – so kann man hier wol sagen und da leugnete Veilchen die unmittelbare Vorsehung! – war der Kronsyndikus schon in den nächsten Tagen gestorben und Stephan Lengenich knirschte nur mit den Zähnen. Er kam, um einen Proceß gegen den Kronsyndikus einzuleiten. Eine festliche Einholung in die Keller der Moppes'schen Weinhandlung, wo ihm seine unterirdische Stellung verblieben war, hatte er um diesen Proceß verschoben. Nicht eher wollte er mit Blumen geschmückt wie Bacchus auf einem Fasse in die Keller getragen werden unter Männergesangbegleitung – der junge Moppes hatte selbst eine Cantate dazu componirt – als bis er, endlich im Besitz des Tuchstreifens, zum Landvogt gesagt: »Schließ' deine Rechnung mit dem Himmel, denn deine Uhr ist abgelaufen!« Nun war die Uhr abgelaufen ... Stephan Lengenich sprach mit Advocaten, die ihm keine Ermuthigung gaben. Seine »Entlastung« konnte er nur an der Eiche selbst vollziehen ...

So besuchte denn Löb Seligmann mit ihm das Kloster Himmelpfort, um auf alle Fälle den Streifen Tuch von Klingsohr zu fordern. Beide trafen den Pater auf dem Krankenbett. Siech und elend blickte er sie an. Vor dem Küfer, gegen den er einst falsches Zeugniß abgelegt hatte, schlug er die Augen nieder. Auch auf Löb Seligmann besann er sich; er hatte ihn einst trotz seiner Verehrung vor dem Judenthum in der Theorie, in der Praxis beim Zinngießer Klingelpeter zur Thür hinausgeworfen. Bekannt war ihm, daß Seligmann die Brieftasche bei Nathan, seinem Bruder, in der Rumpelgasse gefunden und von der Einlage dem Küfer Kunde gegeben hatte ...

Seligmann führte das Wort und erzählte, daß nur bisher durch Veilchen's Beredsamkeit, dann durch eine neue Haft, der Küfer in seinem Verlangen nach jenem Tuche wäre aufgehalten worden, nun aber begehre er dasselbe aufs bestimmteste von ihm. Klingsohr hatte eben die Kunde vom Tod des Kronsyndikus erhalten und gab das Tuch und ließ geschehen was wollte. Er fragte nach Veilchen. Löb erzählte von ihrer Güte und Milde. Klingsohr erwiderte:

Euch Juden steht es besser an, wenn ihr dem Shylock gleicht! ... Da Stephan Lengenich! Macht damit was Ihr wollt! Auch aus mir – und – meinem falschen Zeugniß! ...

Dumpfe Stille in dem Kämmerlein ... Der Mönch wandte dem Besuch den Rücken und streckte sich, lang wie er war, gegen die Mauer auf sein Lager ... Stephan Lengenich kannte sein Schicksal. Er sah in Klingsohr einen Gefangenen der Regierung, einen gottesfürchtig gewordenen Mann, den man verhinderte, für die Sache der Kirche zu wirken ... Ihn seines falschen Zeugnisses wegen jetzt noch zu verklagen verbot seine ganze Stimmung ... Auch würde ihn die Kunde, er hätte bei weltlichen Gerichten einen Mönch des Meineids beschuldigt, daheim um seinen Triumph gebracht haben ...

Pater, sprach er, Sie haben mir viel bitteres Leid angethan, durch das Unterschlagen dieses Tuchs vom Rock des Mörders Ihres Vaters, das ist wahr – jahrelang ... Aber ich – ich höre, die Regierung hat Sie mit Gewalt hieher geschickt ...

Löb Seligmann zitterte vor den Wirkungen, die dies theilnehmende Wort hervorbringen konnte ...

Seligmann! ...

Herr Lengenich! ...

Sie schwören uns –

Gott im Himmel! ...

In der That wurde eine Flucht besprochen ... Warum sollte der Küfer den Pater nicht nach Lüttich befördern helfen zu den Vätern der Gesellschaft Jesu?

Seligmann gab jede Versicherung, die Großmuth des Küfers zu ehren, aber – er mußte mehr erleben ... er war außer sich, als die Verabredung getroffen wurde, daß an zwei einsamen Pappeln, die Sebastus von seinem Lager aus bezeichnete, in der Dämmerung und am Tage des Leichenbegängnisses Lengenich's Wagen stehen sollte – dieser war mit eigenem Fuhrwerk gekommen ... Erst als Klingsohr zu Löb sagte: Sind Sie denn feiger, als ein Mädchen? Meine Flucht war ja von Ihrer – neuen Deborah veranstaltet! gab er nach ... Veilchen hatte allerdings, selbst hinterm Ofen noch, etwas vom Geiste der Deborah ...

Die Flucht scheiterte, wie wir wissen, an der Akustik der Krankenstube des Klosters ... Stephan Lengenich hatte seine Rede an der Eiche im Düsternbrook gehalten, hatte, wie sich an alles Erhabene so leicht der Schnörkelstrich des Lächerlichen knüpft, die Unterbrechung durch die Possen Stammer's erleben müssen, hatte die Genugthuung sowol der Unterstützung des Mönches Hubertus, wie der ihre Falschheit entlarvenden Ohnmacht jener Lisabeth, die ihn verrathen, verrathen um eine goldene Uhr, zu der sie schon lange mehr als eine Kette trug ... Alles Wunderbare war geschehen ... Der Zug ging vorüber ... Löb Seligmann zog den neuen Wilhelm Tell, der den Ruf des Tyrannen wenigstens noch mit Pfeilen des Wortes erlegt hatte, aus dem Gewirr des gestörten Leichenzuges ... Tangermann in Witoborn wurde nicht erst von dem großen Todten- und Weinrichter angeschmeichelt um seine Gelbsiegel, als es galt dem Gelungenen und noch Kommenden zu trinken, er stellte drei Rothsiegel als »die Sorte nicht« zurück, die ihm genügen konnte, seine Zunge zu befeuchten, während er den umstehenden Neugierigen Aufklärungen gab über sein ganzes großartigverschlungenes Lebensschicksal ... Im Sturm und zu allen Unternehmungen fähig, fand er sich dann mit seinem Einspänner an den beiden Pappeln beim Kloster ein. Er wartete, wartete zwei Stunden auf den Flüchtigen ... Pater Sebastus kam nicht ... Er fuhr dann ab, dem Triumphzug in seine Keller entgegen ...

Löb Seligmann aber dankte Adonai, als er von diesen Beziehungen zu einem so eigenthümlichen Staatsdemagogen befreit wurde, Beziehungen, in die er sich nur auf das magische Wort »Veilchen« und die Hoffnung wieder eingelassen hatte, im Kloster Himmelpfort würde er Bekanntschaften machen, von denen er etwas über Leo Perl erfuhr ...

Selbstverständlich war es, daß er sich einige Tage später die Brandstätte in Schloß Westerhof ansah ... Er hatte mit so vielen Adeligen in diesen Tagen zu thun, daß er vom Neuesten als Augenzeuge sprechen mußte ... Gerade bei einer Bekanntschaft, die er gemacht hatte, der mit dem Präsidenten von Wittekind und dessen geschäftskundiger Gattin, der Mutter des Domherrn von Asselyn, konnte ihm ein solcher authentischer Bericht die Bürgschaft eines angenehmen Eindrucks sein, falls er, wozu er Veranlassung hatte, sich gerade heute noch auf Schloß Neuhof begab ...

Mit Rührung hatte er den Arbeitern, die den Schutt aufräumten, im Wege gestanden; mit betrachtendem Schmerz hatte er sich dem Strahl einer noch immer gehenden Spritze ausgesetzt ... Er sah, staunte und schüttelte sich die Tropfen ab ... Es war ein förmlicher Einschnitt in die eine Seite des Schlosses entstanden. Links und rechts von der Brandlücke konnte man die offenen Zimmer sehen, wie nach Löb's Phantasie im Theater, wenn »Zu ebner Erde und erster Stock« gespielt wird ... Haufen von Büchern, Kisten und Kasten erinnerten ihn an die Rumpelgasse ...

Eben trugen Bediente und Arbeiter Körbe voll Schriften nach einem entlegenen Thurm ... Baron von Hülleshoven und Baron von Terschka, beide hatten heute kein Auge für ihn. Sie begleiteten die Körbe und hoben auf, was ihnen entfiel ... Es waren Schriften und Documente und gewiß lateinische und französische darunter, die – »für David Lippschütz den Ankauf von Schulbüchern ersetzt« hätten ... Auch sah sich schon Löb darauf einige an; sie wurden ihm mit Verweisen aus der Hand genommen ... »Dulden ist das Erbtheil meines Stammes!« lag in seinen Augen. Hatte er denn diese Bücher heimlich einstecken wollen? ... Auch Fräulein Benigna war heute den Umständen entsprechend von mehr abweisendem, als zuvorkommendem Benehmen gegen den Mann der praktischen Ackerwirthschaft ... Gräfin Paula schwebte da und dort hinter den Fenstern wie ein verstörter Geist. Er hatte viel von ihren Wundern und Ferngesichten gehört und befand sich darüber, wie seinem Glauben natürlich ist, im Zustande gelinden Zweifels. Ein Gespensterglaube, der sich an das Wunderbare durch Figuren von Lehm gewöhnen soll, die durch ein Zahlengeheimniß die Befähigung erhalten, jeden Freitag mehr als menschlich Schalet zu essen, kann im Gemüth nicht besonders für das Wunderbare stimmen ...

Nur Armgart berücksichtigte ihn plötzlich und sogar mit hohem Interesse ...

Als sie ihn sah, rief sie ihn voll Schrecken an:

Ha! Haben Sie wol Neues aus Kocher am Fall?

Mein gnädiges Fräulein –!

Ist mein Vater abgereist? Vielleicht schon in Witoborn? Reden Sie doch! ...

Mein Fräulein –! ...

Seligmann fand sich nicht sofort in die determinirte Frage ... Er genoß noch erst die Thatsache der Anrede als solche selbst ...

Als er sich dann in die Begebenheit gefunden, glich sein Antlitz den Gesetzestafeln, wie sie aussahen, als Moses auf den Sinai hinaufging ...

Armgart ließ ihn, da sein Schweigen nur ein umständliches Vorbereiten auf das Verschleiern seines Nichtwissens wurde, ebenso schnell stehen, wie sie ihn angeredet hatte ...

Das kostete wieder einige Zeit des Besinnens und wieder einige Spritzengüsse ...

Bei alledem aber doch höchst geschmeichelt und befriedigt von einer so ehrenvollen Aufnahme carriolte er auf Witoborn zurück ... Er führte sein halbbedecktes Wägelchen selbst ... Es gehörte einem witoborner Kutscher, dem er ein ansehnliches Pfand für die richtige Behandlung des Gauls hatte hinterlassen müssen ... Löb verstand sich aber auf alles, was zum Leben des Landes gehört ... Er war die seltsamste realistische Natur, die sich zum Ideal verklärte ... Sein Wissen und sein Thun erfüllt von Thatsachen der Wirklichkeit bis zum Klee und zum Dünger hinunter und doch sein Fühlen ganz Aether ... Seligmann war kein Pantheist oder Spinozist – (die Einwendung, die er einst gegen Veilchen's Pantheismus gemacht hatte, lautete: »Ei Veilchen, der Geist Gottes schwebte doch über den Wassern. Und Sie sagen: Er schwebte in ihnen?« ...) aber sein Gott blies alle Instrumente und in der Luft klang es ihm wie Sphärenmusik.

Bei Witoborn wieder angekommen, mußte Löb etwas langsamer fahren, denn die Wallanlagen sind erhöht ... Wieder begegnete ihm jener Mönch, der an der Eiche sich so nützlich gemacht hatte ... Wieder grüßte er ihn aufs verbindlichste ... Für die abschreckenden Gesichtsformen dieses resoluten Mannes hatte er kein Auge – Er dachte an Aufklärungen über Leo Perl ... auch über den armen »Feind« von ihm – über Sebastus –

Hubertus ging eine Weile neben seinem Wagen einher und redete Löb an ... Er ließ sich von der Brandstätte erzählen ... Der Verdacht über den Ursprung des Feuers haftete immer noch an dem Kohlentopf ...

Im Hören und Gehen verfolgte Hubertus einen Plan ... Als Löb Seligmann in die Stadt einbiegen wollte, bat er ihn, einen Augenblick still zu halten ...

Wollen Sie einsteigen? sagte der gefällige und seinen Absichten auf diese Art so nahe kommende Mann und rückte schon zur Seite ...

Hubertus sagte, er möchte gern einen Kranken, der hier dicht in der Nähe läge – er wäre beim Brande verunglückt – ins Kloster schaffen ... er verstünde sich auf das Heilen von Brandwunden besser, als die Aerzte im Spital ...

Aber ich muß auf Schloß Neuhof – entgegnete Löb, theils dem, was er schon merkte, ausweichend, theils gelegentlich auch die Orientirung über seine vornehmen Verhältnisse unterstützend ...

Das ist nur ein Umweg! – sagte Hubertus. Sie werden nicht viel um eine Stunde später ankommen ... Freilich, setzte er hinzu: Mit einem Kranken muß man langsam fahren ...

Und diese Worte kamen so vom Herzen, daß Löb schon gewonnen war. Gott soll dich segnen hundert Jahre! hörte er im Geist seine Schwester sagen ...

So stieg Hubertus schon ein und der Gaul lenkte dahin, wohin der Mönch mit den knöchernen Fingern deutete ...

Die Kirchhöfe gaben gleich den natürlichsten Uebergang des Gesprächs auf die gemeinschaftlichen Erlebnisse am Düsternbrook, auf den Küfer, auf Pater Sebastus, von dem Löb erfuhr, daß er für seine beabsichtigte Flucht in der Strafzelle sitzen mußte, auch auf den Tod des Landraths von Enckefuß ... Hubertus erzählte seine Betheiligung an den letzten Lebensstunden desselben und mehrte dadurch nicht wenig den Anschluß Seligmann's, der sein Selbander zwischen Jud und Christ nicht mit den Empfindungen genoß, die Andere aus Lessing's »Nathan« schöpfen, doch jedenfalls mit manchem wohlthuenden Accord aus »Templer und Jüdin« ...

Bald war es Mittagszeit ... Löb sprach von einem Wirthshause, wo man in einer Stunde würde füttern müssen ... Vor drei, vier Uhr erreichte man beim langsamen Fahren und Einschlagenmüssen von Vicinalstraßen das Kloster nicht ...

Hubertus stimmte zu und Löb begann schon von Borkenhagen. Da aber zeigte Hubertus auf das Haus der Mutter Schmeling, vor welchem sie halten wollten ...

Sie fuhren einen Seitenweg von der Landstraße ab ...

Plötzlich stutzte Hubertus. Er entdeckte einen Gensdarmen, der eben ins Haus der Hebamme trat ...

Unwillkürlich fuhr sein linker Arm auf die Kapuze, die sein kahles Haupt bedeckte, und drückte sie tief ins Gesicht ... Er fürchtete sein Erschrecken zu verrathen ...

Der Wagen hielt und Hubertus wußte eine Weile nicht, sollte er aussteigen, sollte er bleiben ... Ein Halbdach bedeckte beide, ihn und Seligmann ... Er drückte sich sogar an die Hinterwand zurück ...

Kommt der Mann von selbst herunter? ... fragte Seligmann, den Grund des Zögerns nicht begreifend, und stemmte seine Peitsche erwartungsvoll auf die Schöße seines blauen Mantels ...

Hubertus schwieg, ermannte sich und stieg aus ...

Mit Empfindungen, gemischt aus Theilnahme und Urtheil über Religionsunterschiede und Neugier über den Gensdarmen und die ihm unbekannte Hanthierung der Frau Schmeling sah Löb dem Mönche nach, der mit nackten Füßen, dürftig durch die Sandalen geschützt, in die Nebelnässe hinaustrat und zu dem sich verengenden Hohlweg erst nieder, dann aufwärts schritt ...

An der Hauspforte blieb Hubertus eine Weile stehen und horchte ...

Mutter Schmeling hatte in ihm unbekannten Angelegenheiten Gensdarmen bei sich erwartet ... Das wußte er ... Aber seiner Besorgniß schien es nun doch entschieden, daß der an den Landrath gegangene Brief in officieller Weise wiederholt worden war ...

War der Verbrecher erkannt, wie konnte er ihn da noch der gerechten Strafe entziehen! ... Schon ergab er sich und dachte: Arme Lucinde! ... So handelte und fühlte er schon im Bann ihrer bestrickenden Ueberredung ... So in Erregung schon durch ein abenteuerliches Leben als Eremit und die Flucht nach Rom ...

Hubertus hörte die Stimme der Schmeling und das Säbelrasseln des Gensdarmen, der eben die Treppe hinaufstieg ...

Je mehr sich dieser von der Schmeling zu entfernen schien, desto lauter erscholl deren Stimme. Jetzt unterschied er deutlich, was sie hinter ihm herrief:

Suchen Sie nur oben! Suchen Sie! Sehen Sie nur, ob bei mir Katzen entbunden werden! Aber daß Sie sich dabei nur vorm höllischen Feuer in Acht nehmen! Teufels Großmutter muß böse Katzen haben! Mies, mies, mies! ... Komm Mies und nimm dein Wochensüppchen von dem Herrn Gensdarmen! ... Herr Müllenhoff schickt dir's! Komm! – komm! ... Unser Kindchen hat zwar die Nothtaufe gekriegt, aber sie ziehen's mit Milch und Wasser auf! Großmutters Mieschen! ...

Hubertus, der kaum etwas von einer Katze gehört hatte, als er annehmen konnte, daß doch wol hier eine andere Fährte, als die des Brandstifters gesucht wurde, hatte die Beruhigung, den Gensdarmen, der, als er dann eintrat, schon wieder die Treppe herabstieg, lachend sprechen zu hören:

Schon gut, schon gut – Frau Schmeling! Wir thun eben, was uns befohlen wird! Ich höre und sehe und, was die Hauptsache ist, ich rieche nichts von Katzen bei Ihnen! Nämlich Katzen, die hier gejungt hätten! Schon gut! Schon gut! Ei, da kriegt Ihr ja Mittagsgäste! Wir haben heute alle Hände voll zu thun! ... Nun, er ist richtig hinüber, Väterchen! ...

Wer? fragte Hubertus, dessen Gedanken nur an Bickert hafteten ...

Der Landrath! ... Ja so! Den Menschen vom Schloß oben sucht Ihr? ... Wetter, das war gestern Abend Euer Meisterstück! ... Ich glaub's wol, daß Ihr ihn nicht weiter habt bringen können als bis hieher! ...

Frau Schmeling hielt schon inzwischen dem Landrath nicht die erbaulichste Nachrede ... Und der Gensdarm schilderte Hubertus' gestrige Rettung des gräflichen Dieners ... So ging denn diesem alles gemüthlich und beruhigend ...

Inzwischen fiel der immer doch noch nach Katzen spähende Blick des Gensdarmen auf ein junges Mädchen, das in der Küche stand ....

Ei Lene! sagte er erstaunt und fuhr mit zweideutigem Tone fort: Sie hier? Na! das dacht' ich wol, daß es mit Ihr so weit kommen würde! Geb' Sie nur keinen Unrechten an! ...

Frauen, wie Mutter Schmeling, sind immer in der Lage, bei vermöglichen Leuten für Ammen sorgen zu müssen und die Lene war ein blitzäugiges schwarzes Ding, das nächstens dazu empfohlen werden konnte ...

Ja, sagte die Hebamme höhnisch, auf dem Finkenhof kommt nun bald keine mehr zu Schaden! Der Finkenhof wird ein Betsaal ...

Bruder, Bruder, fuhr inzwischen schon wieder dem Mönche zugewandt der Gensdarm fort ... Die Leiter so lange frei zu halten, das hätte keiner fertig gekriegt! ... Und schon am Morgen bei der Jagd die Noth mit unserm Alten! ... Der ist denn also hin ... Guter Kerl ist er gewesen, das ist wahr, aber krank war er im Kopf schon lange; vor lauter Ambition! Wir sagten's nur keinem ... Als der Kronsyndikus begraben wurde, sagte er noch: Gebt Acht, nun weiß ich, was der arme Tropf mir vermacht hat ... Hier auf den Deetz zeigte er ... Was steht denn da draußen für ein Fuhrwerk? ...

So unterbrach schon wieder der Umsichtige sein Deuten auf den Kopf ...

Hubertus sprach ohne langes Besinnen, der Mann im Wagen draußen wolle ihm helfen den Kranken ins Spital bringen ...

Herr Seligmann? ... Das Fuhrwerk gehört Schöninghs ...

Mit diesen ruhig controlirend hingesprochenen Worten war der Scharfspähende in verhallender Rede zum Haus hinausgetreten und schon zum Hohlweg hinunter und auf Löb zu, der ihn mit herabgezogenem Hute begrüßte ...

Inzwischen hatte das Lachen und Zanken der Schmeling fortgedauert ...

Die Hauptrollen dabei spielten Staat, Kirche, Welt, Zeit, Sitte, Vorurtheil, das Gleichniß vom Splitter und Balken, der Pfarrer zu Sanct-Libori und ein junges Kätzchen, dessen Mutter man bei ihr suchte ...

Hubertus war zu beschäftigt mit seinem nächsten Vorhaben, um sich lange bei diesem Zwischenfall aufzuhalten ...

Wie geht's denn oben? fragte er, als die Magd ihm den gestern bestellten Speckkartoffelpfannkuchen brachte, dessen Fett- und Zwiebelgeruch das ganze Haus durchduftete ...

Suppe hat er und auch ein Stück Fleisch genommen! hieß es ...

Nun, dann wird er's ja aushalten können! Ich nehm' ihn jetzt – mit ins Spital oder ...

Hubertus murmelte während des Essens und sah sich, scheinbar ruhig, nach der vorerwähnten Lene um, die sich auch vor ihm versteckt hielt ...

Jetzt trat sie vor und stand mit kecken, funkelnden Augen vor dem Bruder und setzte dem Kopfschütteln desselben eine leichtfertige Geberde entgegen ...

So, so weit also, Lene! sagte Hubertus ... Das hätt' ich wissen sollen, als ich dir deine Briefe an den braven Wachtmeister schrieb, der dich heirathen wollte ...

Die Lene zog den Mund und ließ Mutter Schmeling reden ...

Die Lene ist heilig! kicherte diese. Ja, heilig, sag' ich Ihnen! Wer bei einem Pfarrer gedient hat, der kann gar nicht sündigen ...

Hubertus ließ sich auf so leichtfertige Anspielungen nicht ein ...

Inzwischen klatschte draußen Seligmann ungeduldig mit der Peitsche ... Es fing ihn an zu frieren, zu hungern und – die Zwiebeln und der Speck dufteten wol auch anmuthend zu ihm hinüber ...

Hubertus eilte nach oben und war im Begriff, in das Staatszimmer einzutreten ...

Als er die Thür öffnete, bot sich ihm ein erschreckender Anblick ...

Der Kranke stand im Hemde, mit den beiden eingewickelten Händen in abwehrender Stellung ... Furcht und Schrecken auf seinen Mienen ... Unfehlbar hatte ihn in solche Aufregung das Suchen des Gensdarmen gebracht, den er im Hause gehört hatte ... Zwar hatte der Gensdarm nur die Thür geöffnet und den gräflichen Diener in seiner gestreiften Jacke scheinbar schlafend gefunden und sich mit leichtem Murmeln ohne weiteres entfernt ... Aber Bickert war hinter ihm her aufgesprungen und stand jetzt da, wie auf Tod und Leben gerüstet ...

Jantje, Jantje! rief Hubertus, indem er sich schon zu einem Handgemeng rüstete ... Ihr erkältet Euch ja! ...

Wer ist Jantje? stöhnte Bickert, aber mit gesammelter äußerster Kraft ...

Ei sieh, sieh, du kannst reden! ... Ich dachte gestern – Bei so großem Schreck hat mancher einen Krampf im Kinnbacken weg – zeitlebens ...

Schreck? ... Worüber? ... Wer seid Ihr? ... Bringt mich aufs Schloß! ... Zu meiner Herrschaft, sag' ich ...

Hubertus wußte nicht, ob ihn der stumpfsinnige Mensch nicht mehr erkannte und keine Erinnerung hatte an den gestrigen Tag, keine Erinnerung an seine früheste Knabenzeit, die ihm gestern doch nicht ganz verklungen zu sein schien, oder ob er seinen Absichten mistraute und sich so nur verstellte ...

Es ist ja ein Kohlentopf gewesen! sagte er mit Schärfe und drängte damit den vor Kälte Zitternden ins Bett zurück. Jetzt aber ruhig da! Euere Stalljacke hält nicht warm ... ich habe unten eine tüchtige Roßdecke ... Ja, ein Kohlentopf war's, von dem das Feuer auskam! ... Nun, haltet doch nur! ... Ich ziehe Euch jetzt an! ... So war's nicht immer dazumal, wenn Hayum Picard an der Waldecke stand und pfiff und von der Windmühle pfiff's wieder und Abraham kam und – nein, seine Gevattern können wir nicht von Leon Levi und Moses Ocker sagen – die Taufe kam erst in Brest, wo sie einem dann – haha! – gleich so ein hübsches Pathengeschenk mit auf den Arm brannten ... Haltet doch nur! ... So zart hat uns freilich die Hanne Sterz dazumal Sonntags nicht geputzt! ...

Die Macht aller dieser Worte war niederschmetternd ... Der Verbrecher vermochte nicht dagegen aufzukommen ... Hubertus würde beim Ankleiden ruhig so haben fortfahren können, die Erinnerungen und das Gewissen des verstockt Niederblickenden zu wecken, wenn nicht vor Ungeduld, Neugier, Nächstenliebe, Anziehungskraft des Pfannkuchens Löb Seligmann auf der Treppe erschienen wäre und sich erboten hätte, den Kranken tragen zu helfen – »Gott! Bei deinen Kräften!« hörte er im Geist die Hasen-Jette sagen ... Dem Gaul hatte er die Leine gekürzt und ihn vertrauensvoll stehen lassen ...

Auf diese Art konnte Hubertus keine andere Verständigung herbeiführen, als soweit nöthig war, den jetzt Angekleideten zum Folgen zu zwingen ... Sich tragen zu lassen widerstand Bickert ...

Wohin? murmelte er ...

Gott im Himmel! sprach Löb Seligmann, staunend über diese Widersetzlichkeit ... Der Mann ist noch im Fieber ...

Wohl mußte er über die wilde Miene des Trotzes, über den Widerstand gegen eine Hülfe, die ihm so liebevoll geboten wurde, befremdet sein ...

Hubertus führte Bickert und sprach laut:

Daß ich Euch nur da am Arme nicht weh thue! ... Da, wo Ihr das Brandmal bekommen habt, Aermster! Ich meine, gestern ... Es sieht aus, wie wenn auf dem Arme chinesische Buchstaben stünden ... Chinesisch hab' ich lesen gelernt ... Ein Jahr später, als wir alle von Mynheer Kattrepel abgeholt wurden – wißt Ihr Vater Kattrepel unterm Dreibein – ich meine – als ich unter die Soldaten nach Java ging ... Ja Lene! Lene! ... Wachtmeister war ich auch einmal ... Und betrogen – das wurd' ich auch! ... So aber nicht, wie der brave Spikermann von dir! Leichtsinniges Ding! Laß dir's nur erzählen von Mutter Schmeling! ... Frau, rechnet Euch all Euer Gutes vor Gott an – und auch dies Werk der Barmherzigkeit – ich meine, wenn Ihr einmal zur Rede stehen müßt für Euere lästerlichen Reden über den Pfarrer zu Sanct-Libori und uns andere Gottesheilige ...

Im Verlassen des Hauses mußte Hubertus den auf dem glatten Boden bergab Ausgleitenden dennoch tragen ... Bickert wußte nicht, ging es mit ihm hinter Schloß und Riegel oder zur Freiheit ... Wer der Mönch sein konnte, dessen entsann er sich ... Dennoch, selbst wenn er ein Gegenstand nur wohlwollender Absichten blieb, erbitterte ihn die Entdeckung seiner Thäterschaft, die er so tief verschleiert geglaubt hatte und von der er auch jetzt annehmen konnte, daß sie hier Niemand außer diesem Mönche wußte ... Hammaker, der ihn gedungen und kurz vor seiner Verhaftung mit der Urkunde versehen hatte, war todt – Noch einmal erhob er sich, schlug um sich und rief:

Ich will auf's Schloß! ... Zu meiner Herrschaft!

Löb Seligmann fuhr so jählings zurück, daß er fast noch gefallen wäre zum Dank für all seine Menschenliebe ... Nur die Kraft und Geistesgegenwart des Mönchs halfen zuletzt zum Ziel ... Hubertus setzte den in eine Pferdedecke Eingeschlagenen entschlossen in den Wagen, wies Seligmann vorn auf den Bock, nahm neben Bickert Platz ... So fuhren sie alle drei von dannen ... Bickert zusammengekauert in der Wagenecke ... Hubertus neben ihm, voll Grübeln über seine weitere Hülfe und hinausstarrend in die winterliche Gegend ... Löb vorn mit zurückkehrender Heiterkeit und Redseligkeit, die sich um so mehr in kleinen zuweilen geträllerten Liedchen kund gab, als beim Ort Borkenhagen die Aufklärungen über Leo Perl beginnen sollten ...

An dem von Löb bezeichneten Wirthshause wurde halt gemacht und der Gaul gefüttert ... Auch Löb nahm hier mit Auswahl, was sich vorfand ... Hubertus verschmähte trotz seines Pfannkuchens nichts, was ihm noch hier die Küche schenkte ... Bickert aber lehnte alles ab ... Ja er fing an sich mit dem Gaul zu befreunden ... Hubertus blieb in der Nähe, um jede verdächtige Bewegung zu beobachten ...

Kennt Ihr mich also jetzt, Jean Picard? fragte er, indem er zu ihm mit einem Suppentopf herantrat und selbst mit dem hölzernen Löffel aß, den er immer bei sich führte ...

Bickert sagte, düster die buschigen Augenbrauen zusammenziehend und ihn voll Verlegenheit angrinsend: ...

Ich kenne Euch nicht und heiße auch nicht so ...

Das wäre schlimm! entgegnete Hubertus. Denn ich bring' Euch in mein Kloster, wo ich gerade für den, dem Ihr so ähnlich seht, eine hübsche Summe Geldes liegen habe ... Im Bettstroh, Brüderchen, heben wir uns manches auf ...

Der Verbrecher drehte sich vor Unruhe hin und her ...

Daß Ihr's brauchen könnt, weiß ich von einem wunderschönen Fräulein ... Weiß der Himmel, wie die an Euch gekommen ... Ja, es gibt manchmal seltsamen Geschmack ... Aber Amerika ist weit und einen guten Platz wollt Ihr doch auch haben, wenn Ihr zu Schiff geht, nicht einen, wo immer drei auf zehn sterben ... Särge gibt's auf dem Wasser nicht, das wißt Ihr ... Wer draufgeht, ins Wasser! ... Ganz so nackt, ganz so kahl, wie dazumal, wißt Ihr, der Todte war, dem ein Teufel seine letzte Ruhe störte ...

Bickert erhob sich starr ...

Rollt Ihr so die Augen? ... Im Mondschein hab' ich vielerlei gesehen, Löwen und Tiger ... Auch Menschen, die sie zerrissen hatten ... Aber keinen kalten Todten, dessen Seele schon im Himmel ist und der neben seinem Sarge liegt, in dem ein Mensch noch nach Geld sucht! ... War denn kein heiliges Bild in der Nähe, das dazu zu sprechen anfing? ... Hayum's Taufe mag freilich nicht tief gegangen sein ... Hanne Sterz aber war leidlich fromm ... Wo steckt die wol jetzt? ... Auch unter der Erde? ...

Bickert sah bei diesen scharf betonten und fast nach den Silben ihm zugezählten Worten empor wie zu einem Richtschwert ...

Inzwischen brachte Seligmann ein Glas Wein, das er dem Kranken anbieten wollte ... Die Kunde von dem beim Brand Verunglückten, durch Hubertus so aufopfernd Geretteten hatte sich im Wirthshause verbreitet ... Der Wagen wurde von Neugierigen umstanden ... Bickert verbarg sich in seiner Decke ...

Die Fahrt ging weiter, ohne daß Hubertus sich vollkommener mit Bickert verständigen konnte ... Bickert sah ihn wie den Boten seiner Richter an ...

Tapfer und frisch ermuthigt schwang Seligmann die Peitsche ...

Hubertus gerieth ins Erzählen und brachte Dinge zur Sprache, die nach allem, was von ihm erlebt worden war, wunderbar genug sein konnten ... Allmählich schien Bickert darüber zur Ueberzeugung zu kommen, daß wol am gerathensten sein würde, den guten Absichten des Alten, auf den sich sein verdüstertes Gedächtniß besann, zu vertrauen ...

Schon war es Dämmerung, als die langsam gehende Fahrt bei Borkenhagen am dortigen Pfarrhause ankam ...

Auf Löb Seligmann's Frage nach Leo Perl erwiderte Hubertus in der That:

Ja, den kannt' ich! Es war ein getaufter Jude! Juden – nehmen Sie's nicht übel, Herr – Juden sind die curioseste Nation ... In Java hab' ich sie gerad gefunden, wie hier ... Brave Seelen darunter, wie Sie, Herr, wahre Samaritaner ... Aber – auch schlimme – blutdürstige sogar – – Wo sie unter sich und nach ihren eigenen Gesetzen leben, begreift man, wie sie sonst steinigen konnten, hinter Propheten herliefen, die um Wunder fragten und wenn sie auch noch soviel thaten, sie ans Kreuz nageln ließen ... Das ist die alte heiße Sonne Asiens ...

Auch Löb fühlte in den Finales und bei den Chören der heroischen Opern immer etwas vom Blut der Makkabäer und gegen Bernhard Fuld hatte er an jenem Drusenheimer Sonntage wirklich im Geist nach dem Schwert gegriffen ... Doch lehnte er alle diese Ansichten über das Temperament seines Volks ab und sagte lachend:

Der Jude ist heiß, das ist wahr! Aber wie Gott der Herr ist er – ein Busch voll Feuer! Hat Einer Courage und greift zu, keiner verbrennt sich!

Bei Erwähnung des Namens Leo Perl und des Umstandes, daß Seligmann mit diesem Priester verwandt wäre, horchte Bickert auf ... Auch ihm war dieser Name erinnerlich – als Unterschrift unter dem lateinischen Papier, das er im Sarge des alten Mevissen statt Geld gefunden und an Lucinden gegeben hatte zur Uebergabe an Bonaventura ...

Ich sagte, fuhr Hubertus fort, daß ich den Pfarrer Perl kannte ... Aber eigentlich zum Kennen war der Mann nicht ... Er verrichtete sein Amt, war ein großer Redner, celebrirte wie ein Heiliger, stattlich stand er am Tabernakel ... Aber in seine Nähe ließ er Niemanden und die Leute fürchteten sich vor ihm ...

Warum ist er Christ geworden? ...

Aus Erleuchtung – denk' ich ...

Da oben hinterm Berg der Kronsyndikus und der Dechant von Asselyn in Kocher am Fall waren die Ursache seiner Erleuchtung ...

Auf den Namen »Asselyn« zuckten die Augenbrauen des Verbrechers und auch Hubertus kam von Seligmann's Fragen durch die Erwähnung des Kronsyndikus ab ...

Seligmann unterbrach jedoch sein Grübeln:

Sie haben Leo Perl nicht näher gekannt?

Nur einmal in meinem Leben hab' ich ihn gesprochen ...

Was hat er gesprochen? ...

Gesprochen hat er, um es recht zu sagen, vorher schon ein Jahr lang mit mir, aber durch Blicke ...

Durch Blicke ... Wie so Blicke? ...

Immer, wenn er mir im Feld begegnete, sah er mich mit seinen großen schwarzen Augen an ...

Warum sah er Sie an? ...

Ich war damals Jäger gewesen und eben erst ins Kloster gegangen ... Oft war mir, wenn ich ihn grüßte, als wollt' er mit mir reden ... Dann blieb ich stehen ... Aber er ging vorüber ... Das dauerte, bis seine schwere Krankheit kam ...

Welche? ...

Die Zehrung ...

Der starke Mann die Zehrung! ...

Wenn er hustete, krachte es wie ein Gewölbe ...

Gott im Himmel! ...

Ich ließ ihm ein Mittel anbieten ... Ich dokt're schon lange ein wenig ...

Es half nichts ...

Er nahm's gar nicht ...

Nahm's nicht ... Aus Stolz auf die Gelehrsamkeit ... auf seine Wissenschaften ...

Oder er wollte keine Furcht vorm Tode zeigen ... Das sagte er mir einst, als ich das einzige mal mit ihm gesprochen hatte ...

Warum sprach er mit Ihnen? ...

Er wollte mir für mein Mittel danken ...

Wollte Ihnen danken! ...

Bruder, sagte er, ich werde sterben ... In drei Tagen bin ich todt ...

Wußt' er das? ...

Wollt Ihr mir einen Gefallen thun?

Sprach der Pfarrer zu Ihnen ... Und Sie thaten ihn? ...

Finster zuckten seine Augen ... Er mußte wieder heftig husten ... Als sich die Brust beruhigt hatte und er wieder sprechen konnte, schickte er seinen Vicar hinaus ...

Seinen Vicar ...

Namens Langelütje –

Langelütje ...

Nun sah er sich um und sprach mit seiner heisern Stimme: Bruder Hubertus, ich habe von Euch manches Gute gehört! Aber auch Euch ist's schlecht im Leben ergangen! Auch Euch haben Liebe und Freundschaft betrogen ...

Was? Wen hat Liebe und Freundschaft betrogen?

Aber nicht alle sind so versöhnlich wie Ihr! ...

Wer sind die Andern? ... Wen hat die Liebe betrogen? ...

Andere bleiben, was sie sind, andere treibt die Rache –

Wen hat die Rache getrieben? ...

Bei diesem Worte erstickte des Pfarrers Stimme und der Husten begann so heftig, daß es wol eine Viertelstunde bedurfte, bis er sich erholt hatte ... Nun erhob er sich von seinem Lager und flüsterte mir zu: Da! Wenn ich todt bin, Bruder, seht – da hab' ich eine Schrift ...

Bickert's furchtentstelltes Antlitz bekam einen Ausdruck schärferer Fassungskraft ... Doch Hubertus merkte nichts davon ... Nur sorgen mußt' er, daß Löb nicht vor Ansammlung von Mittheilungsstoff für die Rumpelgasse sein Pferd aus dem Auge verlor ... Er fuhr fort:

Wenn ich todt bin, sagte der Pfarrer, da hab' ich eine Schrift ... Schwört mir zu Gott dem Allmächtigen, daß Ihr diese Schrift nie erbrechen wollt! ... Seht, sie ist mit meinem Kirchensiegel gesiegelt ...

Bickert fühlte handgreiflich in der Erinnerung dies Siegel des lateinischen Briefes ...

Tragt diesen Brief, sowie ich begraben bin, hört Ihr, nicht gestorben, sondern erst, wie ich begraben bin, so, wie sich einem Pfarrer geziemt begraben, versteht Ihr, nach Witoborn – hört Ihr, zum Bischof ...

Warum zum Bischof? brach Seligmann erstaunend aus, denn er war auf Testamentsgedanken gekommen und deutete im Ton an, ob katholische Pfarrer ein Testament nicht einfach bei den Gerichten niederlegen dürften ...

Zum Bischof! bestätigte Hubertus. Es war dies damals der Bischof Konrad ... Ein Freund meines guten Guardians, des Provinzials Henricus ... Ein sanfter, milder Greis, der den Pfarrer Perl getauft hatte, ihn im Seminar zu Witoborn unterrichtete, zum Priester weihte ... Ein guter, hoch in die Jahre gekommener, vergeßlicher Mann ... Er steht immer noch lebendig vor mir – mit einer Nase ... so lang ...

Hätten Sie die Nase gehabt und gemerkt, was in dem Briefe stand! ...

Das erfuhr ich nie ... Der Brief war an die Curie gerichtet und abzugeben an den Bischof ... Dem gab ich ihn ... Der Bischof erbrach, sah eine lange Zuschrift in Latein, legte sie zum spätern Lesen zurück und plauderte mit mir ... Nun – und das ist alles, was ich mit Leo Perl im Leben zu thun gehabt habe ...

Mit einer nur scheinbaren Geringschätzung sagte Seligmann: Was kann er geschrieben haben? ... Er wollte damit nur verschleiern, daß man ja hier eine außerordentlich wichtige Entdeckung anzunehmen hätte ...

Hubertus zuckte die Achseln ...

Warum war der Brief lateinisch? ...

Er hatte ohne Zweifel die Bestimmung, nach Rom geschickt zu werden ...

Warum nach Rom? ...

Weil der Heilige Vater alle unsere Wünsche in dieser Sprache zu hören wünscht ...

Warum schickte er seine Wünsche nicht selbst nach Rom? ...

Der Weg für einen Pfarrer geht nach Rom nur über seinen Bischof ...

Wissen Sie was? sagte Seligmann in immer mehr sich steigerndem Verlangen, hinter diesen letzten Willen seines leiblichen Vetters zu kommen ... Ich glaube, der Bischof hat den Brief gar nicht nach Rom geschickt ... Ich meine deshalb, weil er so vergeßlich war ...

Nicht unmöglich ...

Und wenn er ihn doch schickte, dann hat er vorher eine Abschrift genommen ...

Was für Rom bestimmt ist, muß für Rom bestimmt bleiben ...

Nein, ich sage, der Brief liegt noch drüben im witoborner Archiv und enthält die Anzeige, daß sein Vetter Löb Seligmann oder ein Kind von Henriette Lippschütz, Namens David Lippschütz, alle seine geheimen Ersparnisse erbt, die Bücher ausgenommen, die ein gewisses Fräulein Veilchen Igelsheimer kriegt, deren Liebe und Freundschaft ihn nicht betrogen haben, und die alten Kleider, die sind fürs Geschäft seines Vetters Nathan Seligmann bestimmt ...

Fragen Sie die jetzige Frau von Wittekind da oben! ... sagte Hubertus, von der nicht ganz im Scherz gemeinten Rede erheitert ... Ihr erster Mann war der Regierungsrath von Asselyn, der Vater des Domherrn von Asselyn ... Sie kann vielleicht –

Was kann die Frau, die ich ja heute noch sehen werde? ... sagte Löb und wandte sich auf Hubertus' Stocken um ...

Hubertus zeigte aber eben nach dem Kloster Himmelpfort, das jetzt erreicht war und nur noch allein seine Gedanken in Anspruch nahm ...

Wir sind am Ziel! sagte er, ließ halten und setzte nur noch, schon im schnellen Absteigen begriffen, hinzu:

Der Regierungsrath hat bald nach dem Tod des Bischofs alle Bibliotheken und Archive Witoborns zu ordnen gehabt ... Wenn er die Schrift damals noch vorfand, so liegt sie vielleicht in der Bibliothek des Königs; sie war wie in Kupfer gestochen ...

Diese Reden verhallten schon in den Zurüstungen des Aussteigens ... Die ernsteste und schwierigste Aufgabe war eben jetzt für Hubertus zu lösen, die, Bickert unbemerkt ins Kloster zu schaffen ...

Er lehnte ein Vorfahren am Kloster entschieden ab und weckte erst jetzt damit in Seligmann's Zügen einen Anflug von Staunen und Mistrauen ...

Es war dunkel geworden ... Das Wetter war ganz in Regen umgeschlagen ... Schwer senkten sich schon lange die Nebel über die nahen Höhen ... Einsam und still lag das Kloster ... Hier und da blitzte in einer Zelle ein Licht auf ... Um acht Uhr ging dort schon alles zur Ruhe ... Zwischen sechs und sieben fand der Imbiß zur Nacht statt ...

Vorzugsweise hatte Hubertus beim Erzählen immer die Kirche im Auge behalten ... Am Zifferblatt der Kirchthurmuhr schien er die Minuten zu zählen, die noch übrig waren bis fünf ... Um fünf wurde meistens die Kirche geschlossen ... Zugänglich war sie überhaupt nur in einem Nebeneingang, der halb schon ins Kloster selbst führte ...

An den beiden Pappeln, wo Stephan Lengenich so lange vergebens gewartet hatte, um den Pater Sebastus in seinem Wagen mitzunehmen, hielt nun auch Seligmann und sah, wie Hubertus, den Schlag öffnend, dem jetzt ruhig folgenden, immer stiller gewordenen Kranken den Arm bot, um ihm hinunterzuhelfen ...

Schon läutete es drüben zur Vesper ... Hubertus wußte, den Strang zur Vesperglocke zog Pater Ivo ... Vor dem konnte er ruhig vorübergehen und sogar Bickert im Arme tragen, der Pater würde nicht aufgeblickt, sondern nur gesungen haben: Maria, Maienkönigin!

Hubertus wandte sich an den über das Geheimnißvolle im Benehmen des Mönches jetzt immer mehr betroffenen Seligmann mit den Worten:

Guter Mann! Ich danke Ihnen von Herzen! Aber thun Sie mir jetzt nur noch einen Gefallen! Warten Sie noch ein Viertelstündchen ... Ich muß – erst die Bewilligung – des Guardians – einholen ... Ein Viertelstündchen! Dann vielleicht – komm' ich zurück ... Wo nicht, nun dann ist alles gut, dann dank' ich Ihnen herzlich und wollen Sie mir nur noch Eines zu Liebe thun, so sprechen Sie von unsrer Reise mit Niemanden, der nicht darnach frägt oder, besser noch, zu fragen ein Recht hat! Vor Allem von der Unterkunft des Mannes hier im Kloster schon zu Niemand – Sie wissen, es ist wegen der Doctoren! Wir sollen ja im Kloster nur – die Seelen heilen! ...

Seligmann, der nicht gern auf ungesetzlichen Wegen wandelte, versprach etwas befangen, warten und schweigen zu wollen ...

Hubertus führte den Kranken langsam dem Kloster zu und verschwand mit ihm allmählich hinter Hecken und im Abenddunkel ...

Jetzt erst bekam doch der ganze Vorfall mit seinem Samaritanerherzen etwas auffallend Abenteuerliches für Löb ... Perl's lateinischer Brief an den Bischof von Witoborn ... Die geheimnißvolle Uebergabe erst nach dem richtigen Begräbniß eines katholischen Pfarrers ... Die scharfe Betonung der Rache ... Nun dieser Abschied ... Er begnügte sich noch, in allem heute zu Erfahrung Gebrachten blos eine reiche Befruchtung der Phantasie, des Verstandes und des Herzens seiner kleinen Weisheit in der Rumpelgasse zu besitzen ... Aber das Dunkel der Nacht nahm jetzt zu ... Hier die Einsamkeit wurde gespenstisch ... Das Davonschleichen des Mönches mit dem Kranken, der, wie er erst jetzt bemerkt hatte, sogar seine Pferdedecke als Angedenken mitgenommen hatte – alles das bekam etwas Beklemmendes ...

Bei alledem verging die Viertelstunde ...

Es verging auch eine halbe ... Hubertus kam nicht zurück ...

Die bestimmte Weisung des Mönches, daß er weiter fahren konnte, wenn er nicht zurückkehrte, hatte Seligmann allerdings empfangen ... Indessen, gab er auch die Pferdedecke preis – er taxirte sie auf die Zinsen, die ihm die kleine Auslage vor Gott wieder einbringen würde – sein gefälliger Sinn bestimmte ihn noch zu bleiben oder wenigstens seinen Gaul nur langsam, und auch nur dem Kloster zu, sich in Bewegung setzen zu lassen ...

Er sah sich dabei nach rechts und links um und spähte, ob nicht doch noch der Mönch zurückkam ...

Alles blieb aber still und einsam ... In der Ferne sah er Häuser im Nebel schwimmen, aber in nächster Nähe befanden sich nur Felder, abgegrenzte Gärten, kleine Baumgruppen, keine Menschen ...

So erreichte er eine stattliche Allee, die zum Kloster führte, und hielt auch hier noch eine Weile ...

Da er durchaus Niemanden zurückkommen sah, fuhr er die Allee entlang dem Kloster zu und bekam immer mehr Mistrauen über all die sonderbaren Um stände, unter denen Hubertus seinen Pflegling mitgenommen ... Warum das alles so heimlich? sagte er sich ... Von jener Vorsicht, die man im Kloster wegen der Aerzte zu nehmen hätte, war er anfangs entschiedener überzeugt gewesen, als jetzt ...

Inzwischen stand er dicht an der stattlichen Treppe, die zum geschlossenen Portal der Kirche führte ...

Als es noch immer still blieb, wollte er endlich weiter fahren ...

Aber sein wißbegieriger Sinn bestimmte ihn, noch einmal einen Versuch zu machen, ob er nicht etwas von den beiden Verschwundenen in der Kirche selbst entdecken sollte ... Die Pferdedecke war an sich verschmerzt, er hätte aber doch gern gewußt, wo sie geblieben ...

Dicht an dem Ende der stattlichen Aufgangstreppe zur Kirche begann die Einfriedigungsmauer des Klosters ... Einige Schritte entfernt lag eine Thür, von der er durch den Besuch bei Pater Sebastus wußte, daß sie in einen kleinen Vorhof, dann zur Linken ins Kloster, zur Rechten durch einen Gang in die Kirche führte ...

An diese Thür ging er und drückte, mit einiger Beklemmung über seinen Antheil an den Ursachen, die den Pater Sebastus in Haft gebracht hatten, auf die Klinke ...

Die Thür ging auf ...

Alles war still ... Vorsichtig trat er einige Schritte weiter bis an den Gang zur Kirche ...

Da hörte er plötzlich einen lauten, entsetzlichen Schrei ... Gellend, markdurchdringend ertönte es ...

Der Schrei kam von der Kirche her und war wie die Stimme eines Erstickenden ...

Unmittelbar darauf hörte man noch ein furchtbares Krachen, das weit in der Kirche widerhallte ...

So bang ihm jetzt zu Muthe wurde und so fern ihm jede Melodie der Ermuthigung ins Ohr klang – etwa ein »Frischgewagt!« aus »Maurer und Schlosser« – er war mit zwei Schritten, die auf dem Steinboden ängstlich knirschend widerhallten, dennoch vollends der Thür der Kirche – noch näher getreten ...

Da hörte der Tollkühne eine leise Stimme singen, hörte einen Schlüsselbund drehen, sah Jemand aus der Kirche kommen und huschte erst jetzt zurück auf den kleinen Vorplatz, von dem man in die Halle trat, wo sich die Gänge links und rechts theilten ... Bei alledem dachte er: Ei was! Du kannst ja ein Verlangen tragen, dir die Kirche anzusehen ... So blieb er stehen ... Und was kann denn auch so Entsetzliches geschehen sein, da ja ein so ruhiger Zeuge zugegen war! ...

Die Kirchthür wurde zugeschlossen ... Ein Mönch ging vorüber und sang für sich ganz ruhig und friedlich ... Wie er Löb Seligmann erblickte, rief er aller dings plötzlich: Husch! ...

Dies Husch! war eigen ...

Husch! husch! wiederholte der Mönch und wehte doch nur durch die Luft, wenn auch schon ganz dicht unter Seligmann's Nase ...

Wie ein Donnerwetter sprang Löb denn nun doch von dannen, ließ die Mauerthür offen, rannte an seinen Wagen, sprang auf diesen hinauf, ergriff die Peitsche und lenkte den Gaul lieber von der Treppe ein wenig abwärts ...

Niemand kam ihm nach ...

Löb mußte annehmen, daß seine Aufgabe erfüllt war, und fuhr von dannen ...

Noch einmal fuhr er die ganze Länge der Kirche vorüber und seltsam! nun war es ihm, als sähe er an einem vergitterten Fenster der untersten Gewölbe einen Lichtstrahl ...

Er hielt sich indessen nicht mehr auf ...

Der entsetzliche Schrei, das furchtbare Krachen, das so gespenstisch in den Gewölben hin und her irrende Licht brachten ihn um allen Anhalt polizeigemäßer Beruhigungen ...

Noch drei Stunden brauchte er, bis er Schloß Neuhof erreicht hatte ... Noch einmal mußte er tränken und füttern, bis er die schönen Tannen des freiherrlich Wittekind'schen Parks sah ...

Dann ließ ihm allerdings die Präsidentin im Seitenflügel ein freundliches, wohlgeheiztes Mansardenzimmer anweisen, ließ ihm ein Essen vorsetzen und ihn auf morgen bescheiden ...

Vom Brand auf Westerhof war, wie er an der Bedienung sah, auch hier alles erfüllt ...

Nicht minder von Hubertus und von dem geretteten Diener ...

Löb konnte von alledem als Kenner berichten ...

Indessen – er hatte den Muth verloren, sich als einen Eingeweihten der Kirche zu bekennen ... Schon einmal war ihm die Begegnung mit einem Mönche übel bekommen ... Dies stille Husch! Husch! Jener Schrei, das Krachen, das Licht im untern Gewölbe – Es kam ihm eine Vorstellung, als setzte ihn das Schicksal vielleicht einmal selbst in Musik und verwandelte ihm sein jetzt sich so heiter anlassendes Leben in eine Oper mit tragischem Ausgang ...

Er riegelte die Thür zu und entschlief mit gespannter Erwartung auf die kommenden Enthüllungen ... Er faßte den Vorsatz, durch taktvoll diplomatisches Beherrschen seines Mittheilungsdranges, der Sphäre, in der er hier leben durfte, nach allen Richtungen hin Ehre zu machen.

20.

Das mußte man aber sagen – mochte auch der Kronsyndikus die letzten Jahre seines Lebens in Geistesschwäche zugebracht haben, überall sah man die von früher her stammenden Spuren seiner rastlosen Natur. Die Güter der Dorste-Camphausens waren dagegen im Verfall.

Rings um Neuhof erhoben sich stattliche Anlagen, die selbst noch aus der winterlichen Decke in ihrer Bedeutung für die Zeit des Wachsens und Blühens vielversprechend hervortraten ... Auf den Feldern, obschon sie hoch gelegen waren, bemerkte man selbst noch in den schneebedeckten Furchen die sorgfältige Cultur ... Kalköfen, Ziegeleien fanden sich auch hier, doch alles in stattlicherer Erscheinung, als bei den Dorstes. Der Holzschlag in den Waldungen war nach der Regel, mit Schonung und Voraussicht auch für künftige Zeit ... Die Buschmühle, wo einst der Deichgraf gehaust, war ein Meyerhof von ganz besonderer Pflege. Daß dem Deichgrafen dafür gleichfalls ein Ruhm gebührte, wurde nicht mehr viel erwähnt. Raschlebend ist unser Geschlecht oder – entschuldigt sich die Gegenwart durch die Sorgen, die auch ihr genug aufgebürdet sind? Traurige Kränze, die auf Friedhöfen Niemand mehr erneuert! Trauriger Herbst, der zwischen verrosteten Gittern Jahre lang hängen bleibt, bis der Wind zu Hülfe kommt und auch mit diesem einst so blühenden Frühling die Erde düngt!

Der Park schien unverfallen ... Die Ulmen, unter deren Schatten Lucinde so oft dahingehuscht, standen hoch und auch ohne Blätter stolz und vornehm ... Die Tannenbäume gaben dem Ganzen einen Schein des Sommerlebens ... Die Pavillons verriethen Bewohner, wie sonst. Nur der Teich war noch nicht aufgethaut; das große Geflügelhaus sah wie ein riesiger Strohmann aus; seine Bewohner mußten gegen die Kälte geschützt werden ... Wie stattlich war das Schloß! Wie gewandt waltete schon der Erbherr! Wie sah man auf dem Hof von den Fenstern in der Frühe schon alles in Bewegung! ...

Frau von Wittekind schritt trotz der Kälte und der feuchten Luft über den Hof und konnte, resolut wie sie war, Löb von der Verlegenheit befreien, eben die nähere Bekanntschaft mit zwei wilden Neufundländern zu machen ...

Gut geschlafen, Herr Seligmann? lächelte sie ... Sie bleiben doch den Tag über hier? ... Wir haben viel zu plaudern ... Aber erst nach Tisch! ... Machen Sie sich's bequem! ... – Sie sind unser Gast! ...

»Sie sind unser Gast!« – Seit dem: »Speisen Sie bei mir in Drusenheim!« das ihm im Herbst Bernhard Fuld so vielverheißend und so wenig erfüllend zugerufen, nahm Löb diese Phrase nicht mehr allzu wörtlich ... Schon wußte er auch, Frau von Wittekind war genau ... Sie liebte das Geld und verhandelte mit ihm mehr darüber, als ihr Gatte ... Löb sollte sein Urtheil über noch weitere Verbesserungen der großen Besitzungen geben und Vorschläge zu Verkäufen machen; an baarem Gelde war Mangel ... Auch in des Kronsyndikus echtem Testamente standen nicht kleine Legate zu bezahlen ...

Frau von Wittekind hob sich durch ihr schwarzes Atlaskleid, in das sie sich schon in aller Frühe geworfen hatte, stattlich von den weißen Wänden des Schlosses ab ... Sie schlüpfte behend über den mit Kieselsand bestreuten Hof. Ein eigenthümlicher Kopfputz von schwarzem Draht und Schmelzperlen zierte das noch schöne dunkle Haar der schlanken Frau, die gegen die gedrücktere und durch die Jahre verkümmerte Gestalt ihres Gatten sich wie eine noch jugendliche hervorhob ... Löb sollte sich erst, da Besuch erwartet wurde, auf den Nachmittag zu umständlicheren Conferenzen bereit halten ...

In den Zimmern, wo einst Lucinde und Klingsohr jene verhängnißvolle Abendstunde zubringen durften, wurde schon eine Tafel hergerichtet ... Noch waltete dabei die Lisabeth, die den Makler scheu von der Seite anblickte ... Löb wußte, daß sie ihm seine Bekanntschaft mit dem Küfer nachtrug. Sie war fast eine Dame geworden ... Nur durch die Angst, die letzte Stunde ihrer hiesigen Wirksamkeit dürfte bald geschlagen haben, mochte sie heute etwas freundlicher gestimmt sein, als schon lange in ihrer Art lag ...

Löb suchte Frieden und Freundschaft mit aller Welt und plauderte sich gern aus dem Herzen heraus in die Herzen hinein ... Das Schöne und Vornehme übte einen besondern Reiz auf sein ästhetisches Gemüth ... Silberne Geräthschaften, die man in die obern Zimmer trug, reizten seine Neugier nach dem Glanz, nach den Farben, dem Marmor, die oben verschwendet sein sollten ... Nur umschnoberten ihn noch die fatalen Hunde und hielten die schreckhaften Erinnerungen von gestern wach, auch die dunkeln Sagen von der Vergangenheit dieses Schlosses Neuhof ...

Erschreckt umherirrend und doch träumerisch alles bewundernd und taxirend kam Löb auf die große Treppe. Stufe für Stufe zählend, schlich er hinauf ...

Eine hohe Flügelthür stand mit beiden Schlägen offen ...

In diese trat er behutsam ein, seine Neugier durch Bewunderung maskirend ... Ein zuletzt vollkommen natürliches Staunen ergriff ihn über all diese Pracht ... Er hatte viele Herrenhöfe besucht; aber diese Schönheit an Stuccaturen und Malereien, an bronzirten Marmortischen, in denen man sich hätte spiegeln und rasiren können, war ihm noch nicht vorgekommen ... Reizend war eine links gehende Galerie, an den bemalten Wänden mit seidenen Divans und Glaskronen und Bronzeleuchtern geschmückt ... Die Malereien stellten Scenen, wie er sich ganz richtig sagte, aus dem Olymp vor ... Wie drang da der Klang des Liedes: »Vom hoh'n Olymp herab ward uns die Freude!« das manchmal die Studenten im Roland am Hüneneck sangen, in seine Seele! ... Das war nun diese »Freude« aus – »Olim's Zelten«. Leider machte er diesen Schnitzer zum Staunen und zum Lachen seines Neffen David Lippschütz, als er später diese Vorfallenheit in einem Briefe nach Kocher meldete – Er verwechselte »Olim's Zeit« mit der Zeit des Olymp ... Allerdings war auch hier eine Olim's Zeit! Für so verfängliche olympische Gegenstände, wie an diesen Wänden von Künstlerhand wiedergegeben waren, würde die Gegenwart nicht einmal die raschbereiten Künstlerhände aufgefunden haben ... Sie glichen den Fresken über Alexander und Roxane, die sich zu Rom von Rafael's Hand im Hinterzimmer der Galerie des Fürsten Borghese befinden.

In jetzt unverfänglicher, rein kunstkennerischer Stimmung verlor sich Löb immer weiter im Corridor und kam in einen großen Saal, der seinerseits etwas Schauerliches hatte – durch seine riesigen Dimensionen und seine Unwohnlichkeit und Kälte ... Der Saal war rings mit Spiegeln belegt ... In ganzer Figur, von seinen etwas zu kurzen schwarzen Beinkleidern an mit den hervorstehenden Knieen bis zum Scheitel seines heute ohne zu laute Musikbegleitung frisirten Haares, sich in Lebensgröße betrachten zu können – reizte Löb ... Er mußte im ganzen Saal auf den Fußzehen die Runde machen ...

Alles war still ... Er griff an den Girandolen die Glastropfen an und ließ sie hin und her baumeln ... Er erfreute sich an dem hellen Ton, den sie von sich gaben ... Dann taxirte er das Krystall, die Bronze, den Sammet, und war besonnen genug, die Kunst der Decoration höher anzuschlagen, als den massiven Werth ... Viele der Bronzirungen zeigten stark den »Zahn der Zeit«, jenen Begriff, den Veilchen in ihrem Humor vorgeschlagen hatte zum Namen des Nathan Seligmann'schen antiquarischen Geschäfts zu wählen ... In das Geschäft: »Zum Zahn der Zeit« gehörte bei näherer Besichtigung fast jeder dieser Plüsch- und Seidenstühle ... Und so bekam Löb auch Handelsideen zum besten seines Bruders ...

Darüber verging eine geraume Zeit ...

Als er sich dann endlich auf den Weg machte, um umzukehren, erschrak er bei einem flüchtigen Blick in den Hof ... Er sah aus einem eleganten Wagen einen Mönch aussteigen ...

Bruder Hubertus das? sagte er sich und die Erinnerung an die gestrigen Erlebnisse ergriff ihn mit schreckhafter Macht ...

Hubertus war es aber nicht ... Löb besann sich, es war Pater Maurus, der Provinzial und Guardian selbst ... Kam er etwa, um sich nach ihm zu erkundigen ...

Die Diener verbeugten sich tief ... Löb beruhigte sich ... Der Klosterabt schien mit freiherrlich Wittekind'schem Wagen aus seiner Zelle abgeholt worden zu sein ...

Vor Neugier und Gewissensbissen gerieth Löb bei dem Gedanken an seinen Rückzug in einen falschen Corridor ... Es liefen deren zwei in den großen Ballsaal ab ... Einer sah dem andern so ähnlich, daß Löb nicht wußte, war er durch den linken oder durch den rechten gekommen ...

Als er seinen Irrthum erkannte, mochte er nicht den weiten Weg umkehren, sondern hoffte, eine der mehreren kleinen Thüren, die er hier sahe, verbände vielleicht beide Corridore ... Er drückte eine derselben auf ...

Siehe da! Das war ja ein ganz seltsames Gemach ...

Er trat einen Schritt vor, orientirte sich im Dunkeln ... da – o Himmel! – fällt die Thür hinter ihm in ein Schloß, zu dem er keinen Drücker findet ...

Im Dunkeln durchtastet der plötzlich zu allen Schrecken nun auch noch selbst Gefangene die ganze Länge der Ritzen an der Thür dahin, reißt sich an der Spitze eines hervorstehenden Nagels die Veranlassung zum schmerzhaftesten Au! ein und steht mit einem blutenden Finger ... Was jetzt thun? ... Klopfen? ... Lärm machen? ... Seine Neugier selbst an die Oeffentlichkeit bringen? ...

Großen Männern gehen ihre Schatten voraus, sagt Jean Paul, und lebhafte Phantasieen erfassen sofort die äußerste Möglichkeit ... Löb Seligmann sah sich vor Discretion, vor Scham und vor jetzt vielleicht erst kaum halb bestrafter Neugier stumm ringsum ... Er sah sich hier eines langsamen Hungertodes sterben – ganz wie Florestan in »Fidelio« ...

Das Zimmer war ohne Fenster ... Es konnte nur benutzt werden durch Erleuchtung ... Höchst prachtvoll, wenn auch gleichfalls schon für das Geschäft »Zum Zahn der Zeit« brauchbar, war auch hier die Decoration ... Hier mußten sicher einst die üppigen Schönen auf schwellenden Divans geruht haben, wenn sie auf Bällen vor der Hitze des Tanzsaals flohen ... Das sind Cabinete, dachte er, wie die, in welche Don Juan die Tausend und Eins entführte ... Und um ihn her geigte und trompetete alles ... aber im Geist rief er mit dem Schrei der Zerline: »Hülfe! Rettung!« ...

Mit der linken Hand, die er der Vorsicht wegen lieber jetzt mit einem glücklicherweise in der Tasche vorgefundenen Pelzhandschuh bewaffnete, rutschte er an den Wänden entlang, immer noch in der Hoffnung, einen Drücker zu einer nicht sofort ersichtlichen andern Thür zu finden, und schon gewöhnte sich sein Auge an die Finsterniß ...

Und wirklich – die Hand fuhr jetzt auf eine Klinke – und ein neues Zimmer ging auf ...

Aber – auch dies Zimmer war ohne Ausgang ... Es war von gleicher Beschaffenheit, wie das vorige ... Auch hier war alles auf Beleuchtung berechnet ... Gott meiner Väter! seufzte Löb ... Er hatte manchen vornehmen Ball, selbst Bälle bei seinen Vettern Fuld, in der Ferne beobachtet; er konnte sich denken, wie prachtvoll das sein mußte, wenn hier alles von Lichtern widerstrahlte, Eis herumgegeben wurde, lachend und reizvoll dahingegossen die Schönen auf den Divans lagen, die Herren um sie her voll Bewunderung und Galanterie ... Da und dort sah er Spieltische ... Gold und Silber glänzte ihm unter den Karten entgegen – Aber links und rechts waren sämmtliche Drücker abgeschraubt ... Nur in der Mitte gingen die Thüren auf ... So zu einem dritten Zimmer, das er gleichfalls noch öffnete ... Die Luft war dumpf und stickig ... Hier war seit Jahren nicht gelüftet worden ... Löb wurde immer lebendigbegrabener ...

Schon schickte er sich an, seinen Weg durch die drei Verließe zurückzunehmen und sein Heil, mit dem Risico des Verlustes seiner Kundschaft auf diesem Schlosse, in einem durchdringenden Hülferuf zu suchen, als er hinter der Wand, da, wo es noch in ein viertes Zimmer gehen konnte, sprechen hörte ...

Jehovah sei Dank! war sein erstes Gefühl ... Er wußte, daß schon ein lautes Klopfen nun nicht mehr ohne Beistand bleiben konnte ...

Sollte er jetzt gleich an die hier ohne Zweifel wiederum befindliche Tapetenthür pochen oder sich vorläufig in Ruhe verhalten? ...

Das Gespräch nebenan schwieg plötzlich ...

Leise wagte er auf den in den inneren Verbindungsthüren vorhandenen, aber überall festgeschraubten Drücker den wunden Finger zu legen ...

Hier nun war die Thür verschlossen und sicher vermuthete man nebenan nur eine Wand und lehnte sich sorglos an sie an und war keines Lauschers gewärtig ...

Wieder begannen die Stimmen ...

Jetzt vernahm auch Löb Worte, hörte Namen, die ihm bekannt waren ... ja die Namen »Borkenhagen« – »Himmelpfort« – »Westerhof« fielen ... Nun schienen sie Anlaß zu Mittheilungen zu werden, die ihn interessirten und die vielleicht mit seinen gestrigen Erlebnissen zusammenhingen ...

Deutlich unterschied er die Stimme Terschka's ... Deutlich die des Präsidenten ... Zwei andere wußte er noch nicht recht hinzubringen ... Eine davon war ihm nicht gänzlich unbekannt ...

Kämpfend mit sich, was zu thun sei, ob er rufen oder schweigen sollte, ging er noch einmal leise durch alle Zimmer zurück, suchte überall, wo ein Ausweg sein konnte, seine Befreiung, fand diese aber nicht und beredete sich, entschlossen zu sein, zu rufen, zu klopfen, durch die geheime Tapetenthür mit seiner »fragwürdigen« Anwesenheit hervorzutreten in die feine Gesellschaft und ganz gehorsamst um Entschuldigung zu bitten ... In Wahrheit aber setzte er sich hin, um – zuzuhören ...

Jetzt erkannte er auch die dritte Stimme ... Den ehemaligen Vicar von Sanct-Zeno, den Neffen des Dechanten, den Domherrn von Asselyn ... Der Vierte war ohne Zweifel der Provinzial ... Sollte er da seinen hülfestehenden Septimenaccord einsetzen und ein so schönes Quartett stören? ...

Und es kam denn so, daß er auf einem Polstersessel dicht an der Thür verblieb ... Es kam denn so, daß er zum Horcher wurde mit und wider Willen ... Es kam denn so, daß er Dinge hörte, die ihm vor Frost die Erinnerung an den noch nicht überstandenen Februar weckten ... Es kam denn so, daß er eine der schweren Seidendamastdecken von den Tischen zog und, trotz der in ihnen befindlichen Motten, sie um sich schlang und sich einhüllte und daß er sogar noch eine zweite holte und sich wie ein Hoherpriester zu Jerusalem vorkam mit den Urim und den Thumim ... Denn die schweren Goldtroddeln hingen ihm quer über die Brust hinweg ...

Der Präsident von Wittekind sprach mit einer, wie es schien, höchst erregten und von seiner gewöhnlichen kalten Art ganz abweichenden Stimme fest und bestimmt die deutlich hörbaren Worte:

Ja, Herr von Terschka! Ich war vorbereitet auf einen Bevollmächtigten, den man in dieser betrübenden Angelegenheit mir von Rom aus schicken würde! ... Hm! Hm! ... Daß es aber Sie sein würden, gesteh' ich, hätte ich nicht erwartet ...

Seligmann brauchte nur von »Rom« zu hören, um mit gespannterer Aufmerksamkeit zu folgen ...

Herr Präsident, antwortete Terschka mit seiner Löb bekannten leutseligen Harmlosigkeit, die nur zuweilen, wie Löb gleichfalls hätte bestätigen können, unter vier Augen nachdrücklich abgelegt werden konnte; Herr Präsident, bei meiner nahen Verbindung mit dem Grafen Hugo ist der Auftrag, den ich vorgestern durch den Herrn Provinzial entgegengenommen habe, nicht so auffallend ... Ich kenne ja auch selbst sehr genau das außerordentlich liebenswürdige Mädchen, das halt so zu sagen eine Adoptivtochter des Grafen Hugo ist ...

Seligmann rüstete sich auf Vervollständigung seiner genealogischen Kenntnisse, die in diesen hohen Kreisen immer empfehlend sind ...

Ich muß Sie, lieber Sohn, sprach der Präsident und redete damit ohne Zweifel den Domherrn von Asselyn an, ich muß Sie mit dem Gegenstand unserer Verhandlung bekannt machen, welcher Sie jetzt nicht nur in Ihrer Eigenschaft als mein Sohn und Freund, sondern auch als geistlicher Rather und zuverlässiger Zeuge beiwohnen ... Man hat von Rom aus in einem an den Herrn Provinzial gerichteten Schreiben ausdrücklich ...

Diese Worte brachen für Löb nicht ganz verständlich ab ...

Eine Pause deutete die stumm bejahende Geberde des Pater Maurus an, der demnach zu den drei Löb jetzt bekannten Personen wirklich die vierte war ...

Mein Vater, fuhr der Präsident mit Erregung fort, hat leider aus dem himmlischen Gnadenschatz alle die Spenden nöthig, die er uns Sündern bietet ... Ich spreche dies mit Schmerz, aber offen aus ... Zu einer ganz besondern Kränkung für mich müssen die lebenden Zeugen seiner Verirrungen dienen ... Doch werden diese befriedigt werden und sie sind es zum Theil schon – – Nur Ein Verhältniß bot und bietet noch immer Schwierigkeiten. In Rom befindet sich eine Frau, von der man behauptet, sie hätte Ansprüche, sich die zweite Gemahlin meines Vaters nennen zu dürfen. Sie soll auch in der That von einem frühern Pfarrer – dieser – Gegend – ich glaube – Leo Perl –

Seligmann erbebte bei Nennung dieses Namens. Jetzt verwarf er alle Ermahnungen seines Gewissens, die ihm unausgesetzt zuflüsterten, sich ein Zimmer weiter zu setzen und sich nicht in die Geheimnisse der vornehmen Welt zu drängen ...

Nicht wahr? unterbrach sich der Präsident, als suchte er sich der Richtigkeit des Namens zu vergewissern ...

Die Herzogin von Amarillas kennt vielleicht den Namen des Geistlichen nicht mehr, der sie traute ... sagte Terschka ...

Der sie traute – haha! Das ist es! Mit meinem Vater nämlich, lieber Sohn! Es handelt sich um eine Frau, die nichtsdestoweniger, daß sie sich Frau von Wittekind-Neuhof zu nennen berechtigt sein will, doch 1813 von Kassel aus nach Paris flüchtete und dort eine neue Heirath vollzog mit einem spanischen Granden, leider einem Granden ohne Vermögen, dessen langer Titel sie lockte ... Von der schweren Sünde der Bigamie, scheint es, will die römische Curie die Herzogin von Amarillas freisprechen und sich jetzt plötzlich für die erste Ehe entscheiden ...

Herr Präsident, nein! sagte eine rauhe Stimme ... Ohne Zweifel war es die des Mönches ...

Bigamie! ... Zwei Männer auf einmal! ... Löb Seligmann schauderte vor einer Situation, die ihn zum Zeugen solcher Enthüllungen machte ...

Der Präsident, sich in seiner Anklage gegen Rom mäßigend, fuhr fort:

Allerdings gestehe ich, Herr Provinzial, nicht völlig klar zu sehen in dem Interesse, für welches Herr von Terschka auftritt, und wieder in dem, für das Sie beauftragt sind. So viel weiß ich und will es nicht leugnen, daß diese Frau von Wittekind-Neuhof zwei Kinder von meinem Vater besitzen soll; als Herzogin von Amarillas war sie gewissenlos genug, sie beide zu opfern ... Mein Vater, von dem muß ich es leider ebenso eingestehen, machte sich keine Sorgen um die Folgen seines – Temperaments – Er überließ diese Kinder, denen ich ihr Dasein und eine gewisse Berechtigung auf meine Anerkennung als natürliche Geschwister nicht im mindesten abstreiten will, dem Zufall, der sie dann auch wirklich seinen Augen entrückte ... Jetzt soll eines dieser Kinder entdeckt sein. Von wem entdeckt? Entdeckt in einem Augenblick, wo die Herzogin von Amarillas in Wien aufzutreten gedenkt, in Wien, wo, wie überall, Gesetze gegen Bigamie herrschen, falls – die Curie nicht hilft. Doch, wie gesagt, räthselhaft sind mir diese Entdecker einer Schwester – die ich haben soll. Es ist eine gewisse Angiolina – Pötzl, glaub' ich, ein Mädchen, das, wie Herr von Terschka sagt, zufällig vom Grafen Hugo vor Jahren gefunden worden – es war ja wol mein' ich bei einer – Kunstreitergesellschaft –?

Auf dies auffallend scharf betonte Wort trat eine Pause ein ...

Terschka schien die Frage überhört zu haben ...

Graf Hugo, fuhr in immer mehr sich steigernder Schärfe der Präsident fort, hat edel an dem Kinde gehandelt, das von jener sogenannten Frau von Wittekind, meiner Stiefmutter – auf der Landstraße verlassen wurde – bei jener damaligen Flucht der kasselschen Oper – Ich vergaß Ihnen nämlich zu sagen, lieber Sohn, Frau von Wittekind-Neuhof war ursprünglich eine italienische Sängerin ...

Hörten für Löb Seligmann die Gewissensscrupel schon lange bei Nennung des Namens Leo Perl auf, so fühlte er nun vollends die behaglichste Wärme, sowol unter seinen bunten Decken und auf dem gepolsterten Sessel, wie vor Antheil an dem Vernommenen selbst ... Ein Uebergang der Enthüllungen in die Sphäre der Oper ... Eine italienische Sängerin ... Er gedachte der Henriette Sontag, die eben damals eine Gräfin Rossi geworden war ...

Graf Hugo, fuhr der Präsident fort, hat sein Pflegekind lieb gewonnen, so lieb, daß er nicht abgeneigt sein soll, aus ihm seine Gemahlin zu machen ... Vortrefflich ginge das, wenn Angiolina Pötzl eine rechtmäßige Freiin von Wittekind wäre ... Herr von Terschka stellt mir das Ansinnen, diese Wendung der Dinge möglich zu machen ... Ich weiß nicht, ob dies auch der Antrag des Grafen Hugo selbst ist, und offen gestanden, ich kann es kaum glauben ... Würde er seine Schwiegermutter in Wien mit einem Proceß auf Bigamie empfangen wollen? ...

Auf diese scharf betonte Hervorhebung aller Dunkelheiten der in Frage stehenden Situation trat eine Pause ein ...

Aber mochte sich auch Seligmann diese Pause mit noch so viel stürmischen Passagen füllen, sein musikgeübtes Ohr hörte nimmer die Accorde, die in Bonaventura's Innern auf und nieder wogten und riefen: So sprichst du, du – von der Bigamie! Du, mit dem sich vielleicht auch – meine eigene Mutter in gleicher Sünde befindet! ...

Graf Hugo, fuhr der Präsident fort, wird ja nun jetzt so reich, daß er für sein Pflegekind unmöglich blos eine Ausstattung, unmöglich nur Geld begehren kann ... Meine junge Stiefschwester soll schön und geistig gebildet sein ... Herr von Terschka verglich sie schon lange mit jener abenteuernden Lucinde, von der Sie vielleicht schon hörten, lieber Sohn, vom Anlaß zum Tod meines armen Bruders Jérôme ... Ich meine jene Dame, von der man ja sagt, daß sie plötzlich jetzt in Witoborn wieder aufgetaucht ist ...

Wieder trat auf diese gelegentliche Anmerkung eine Pause ein ... Seligmann fand schwerlich ein Tonbild der Orkane, die bei diesen Worten tausend Instrumente durch das Herz eines der Hörer stürmten ... Lucinde in Witoborn! ... Bonaventura schien auf diese Mittheilung eine auffallende Bewegung gemacht zu haben ...

Ja, sagte wenigstens Terschka wie zu einem, der daran zweifelte, das genannte Fräulein war vorgestern auf Münnichhof ... Aber Sie erwähnen sie nicht zu ihrem Vortheil, Herr Präsident! ... Es ist eine Reihe von Jahren her, daß Graf Hugo und ich allerdings Ihrem Vater und diesem Mädchen, seiner damaligen Begleiterin, am Strande der Ostsee begegneten ... Wir kauften dort Pferde ein ... Mein Freund, der Graf, besprach mancherlei, was zu seinen hiesigen Erbschaftshoffnungen gehörte und worüber der damalige Vormund und Onkel der Gräfin Paula, Ihr Herr Vater, Auskunft geben konnte ... Die Rede kam auf jenes schöne Mädchen, das unter seinem Schutze reiste ... Ich verglich sie allerdings mit Angiolina ... Der Kronsyndikus gerieth über meine Analyse in die größte Verwirrung ... Die Nacht soll er eine aufgeregte Scene gehabt und nichts, als von seiner zweiten Gemahlin gesprochen haben und das wie von einem Wesen, dessen Vorhandensein sein Gewissen drückt ...

Nur irren Sie sich in einigen Punkten! fiel der Präsident mit seiner frühern Schärfe wieder ein. Sie verglichen jene Lucinde weniger mit Angiolina, als mit jener so bekannt gewordenen Olympia Maldachini in Rom ... Und darüber kam der Schrecken meines Vaters; der Name Fulvia Maldachini war der frühere Name der Herzogin von Amarillas ...

Seligmann sah jetzt große, wirkliche, echte, italienische Oper ... Maldachini! ... Welch ein Klang – schon – beim Hervorruf ...

Der Stand der Dinge ist der! fuhr der Präsident fort, der immer mehr sogar in eine drohende Vortragsweise kam. Mein Vater hat vor einigen Jahren, als er noch bei Geisteskräften war, eine Generalbeichte beim ehrwürdigen Pater Maurus niedergelegt. Diese war so inhaltsreich, daß sie vom Herrn Provinzial nach Rom geschickt werden mußte. Dort scheint sie einflußreichen Personen bekannt geworden, Personen, die an dem Erweis einer Bigamie der Herzogin von Amarillas mehr Interesse zu haben scheinen, als die vielleicht sehr vernünftige Frau selbst, die wenigstens seit Jahren nicht die mindeste Erinnerung an Schloß Neuhof verrathen hat. War ihr Gedächtniß zu schwach für zwei Kinder, die sie in Deutschland zurückließ, wie sollte es jetzt aufleben für das Bekenntniß einer Schuld, die vielleicht die römische Curie, aber nicht die bürgerliche Gesetzgebung verzeiht! Der Herzog von Amarillas war arm. Ein echter Grand von Spanien, besaß er nur seinen Namen, der in seiner ganzen Vollständigkeit acht bis zehn Güter repräsentirte, die im Monde liegen. Mein Vater schickte damals Summen nach Rom. In frühester Zeit wurden sie erbeten, in späterer gefordert; dann plötzlich verhallte alles, was dort für ihn drohend vorhanden lebte ... Wer aber nun jetzt es ist, der dort plötzlich wieder Sprache gewonnen hat, wer nun jetzt durch Sie redet, Herr von Terschka –

Angiolina ist so liebenswürdig, unterbrach Terschka aufs eiligste, daß ihr die Auszeichnung, mit Ihnen verwandt zu sein, wol zu gönnen wäre ...

Wer ist Ihr Auftraggeber? drängte der Präsident ...

Ich – wich, ohne Zweifel lächelnd, Terschka aus – ich kann nur sagen, man wünscht, daß ich in aller Stille die Verhältnisse sondire, namentlich das Factum herstelle, ob die Herzogin von Amarillas wirklich Ihre rechtmäßige Stiefmutter ist, Herr Präsident! Die weitern Folgerungen daraus, gesteh' ich, liegen mir ja noch gänzlich fern ...

Löb erkannte ganz seinen diplomatischen Terschka ...

Nun wohl, Herr Provinzial, wandte sich der Präsident an den Mönch, Sie sehen, es geschieht alles, um das Siegel zu brechen von jener Beichte, die Sie empfingen ... Ihr Ordensgeneral hat Ihnen nicht erlaubt, den Inhalt dieser Beichte zu erzählen, aber prüfen sollen Sie denselben; so ungefähr, denk' ich, schrieb man Ihnen ... So leg' ich denn in Ihrer Gegenwart, lieber Sohn, in Ihrer, Herr von Terschka, die Zeugnisse von sechs Cavalieren vor, die leider nicht mehr am Leben sind; sie haben der sogenannten Vermählung meiner Stiefmutter beigewohnt ... Dann aber bitt' ich Sie, Herr Provinzial, lesen Sie sich in die Handschrift des edeln Dechanten von Sanct-Zeno Herrn von Asselyn in Kocher am Fall, meines Schwagers, wie ich ihn nennen darf, hinein und theilen Sie uns hernach diese Zuschrift mit, die ich gestern Abend auf eine Stafette, die ich vor acht Tagen nach Kocher schickte, erhalten habe ... Sie wird uns über diese Ehe und über Leo Perl's dabei gespielte Rolle die genügende Auskunft geben ...

Löb mußte aufstehen ... Es war in der That zu viel, was auf seine Wißbegierde einstürmte ... Ja er bedachte: Erfährt man je, daß du Zeuge dieser Familiengeheimnisse warst, so steckt man dich vielleicht ein oder macht dich ebenso unschädlich, wie einen gewissen Lauscher in den »Falschmünzern« ... Er mußte seine Decken lüften, weil er in Transspiration kam ...

Nach einer Weile, in der Bonaventura ohne Zweifel voll Staunen oder – voll Besorgniß der Worte seines Onkels gedachte: »Lass' aber alles das unter Priestern bleiben!« und von Terschka's Anwesenheit immer mehr beunruhigt werden mußte, begann die rauhe und strenge Stimme des Pater Maurus:

»Mein insonderst geehrter Herr Präsident und lieber Herr Schwager! Ich habe das alles geahnt, was nach dem Tode Ihres Vaters kommen würde! Auch schon zu meinem Neffen, unserm guten Bonaventura, hab' ich mich in einer vor kurzem abgegangenen Zuschrift darüber ausgesprochen ... Es ist ein seltsamer Vorgang, auf den Sie hindeuten, und wohl versteh' ich Ihren Schmerz, Ihre tiefe Betrübniß! Beschämung – sagen Sie! Warum dies Wort – zu – Priestern? Wir Priester der römischen Kirche sind – bei solchen Dingen in – – unserm Element –« ...

Der Vorlesende stockte ...

Der Präsident sagte, wie es schien, mit Lächeln:

Sie werden hier eine Stelle finden, die Sie überschlagen dürfen! Indessen – –

Bonaventura mochte voll Besorgniß der Intoleranz des Provinzials gedenken ... Und auch Seligmann gedachte mit Schrecken des Dechanten, der so freundlich mit der Hasen-Jette verkehren konnte und nur deshalb nicht die untern Viertel am Fall zu Kocher besuchte, weil er zu sagen pflegte, »Reinlichkeit ist mein erstes Religionsdogma« ...

»Denn«, fuhr jedoch der Provinzial und ohne weitern Ausdruck der Befremdung über diese Freimüthigkeiten zu lesen fort, »denn unsere ganze Kirche beruht ja auf dem Natürlichen im Menschen. Wer unsere Kirche schildern will, muß vom Fleisch beginnen und im Fleisch aufhören. Die katholische Kirche erbaute Gott zu einer Hülfe für die Sünder. Sie ist deshalb in allem der Gegenpol der nackten Menschheit und darum eben nur auf diesen Gegenpol errichtet. Bei den Protestanten ist die Sünde eine Unterbrechung ihres vom Geist beginnenden und im Geist endenden Lehrgebäudes; aber bei uns ist sie das alleinige Wesen desselben. Darum liebt der natürliche Mensch den Katholicismus und wieder der Katholicismus« – –

Der Provinzial stockte und murmelte wieder ...

Seligmann dachte an die Rumpelgasse und den Unterschied der Religionen ...

Lassen Sie das! Lassen Sie das! ... unterbrach der Präsident im Ton seiner andauernden Wallung ...

Doch der Mönch fuhr fort:

»Da hatt' ich beim Abschied vom Obersten von Hülleshoven den Streit über die Frage: ›Was ist unser Genius!‹ Monika, des Obersten Gattin, schrieb mir einst: ›Unser Genius ist der Schutzgeist gegen unsere Schwächen!‹ Der Oberst sagte: ›Unser Genius ist der Fahnenträger unserer Kraft!‹ Beide haben Recht und beide Unrecht. Sie hätten sagen müssen, wie der Genius im Menschen entsteht ... Was ist der Genius – des Katholicismus – der Genius Napoleon's – der Genius Goethe's«? – ...

Wieder unterbrach der Präsident ... Wieder dachte Seligmann, wenn auch schon etwas schwieriger auffassend, an die Bereicherungen für Veilchen ...

»Napoleon war körperleidend«; fuhr Pater Maurus zu lesen fort. »Man kann leidend sein und doch sich ganz beherrschen. Die fallende Sucht aber kann man nicht beherrschen; das ist ein entsetzliches Naturgebot. Napoleon's Kammerdiener Marchand mußte ihn oft einschließen; des Kaisers Angst war: Jetzt überfällt dich dein Dämon! Napoleon's Genius war demzufolge der Geist, der ihn trieb, diesem Dämon zu entfliehen. Daher seine Unruhe, daher seine Liebe zum Frieden und doch die Unmöglichkeit, beim Frieden zu verharren, daher sein Vorwärtsdrängen, seine Art zu kämpfen, seine Auffassung über Welt und Zeit, sein Aberglaube, sein Wallensteinglaube an Ahnungen, seine Besuche bei Kartenlegerinnen, seine glühende Neigung zu Frauen und doch seine Kälte im Augenblick der Liebe – Napoleon ist das Leben eines Mannes, der sich unter einem unglücklichen Naturgesetz weiß. Alles, was er that und sprach, war auf dies Naturgesetz: Entfliehe deinem Fluch! bezogen. Goethe ist nicht anders zu verstehen, als aus einem Naturgesetz. Nur bezieht sich bei Goethe sein ganzes Denken und Fühlen auf ein anderes Factum – er hatte einen unehelichen Sohn. Diese Möglichkeit und sittliche Gêne mußte er durch sein ganzes Dasein, seine Dicht- und Weltauffassung vertheidigen. ›Legitim‹ oder ›Illegitim‹ – das wurde sein Grübeln und merkwürdig, sein schlechtestes Werk, die ›natürliche Tochter‹, war gerade aus den geheimsten Falten seines Herzens geschrieben ... Warum plaudere ich das alles? Ich könnte bitter sein und es so ausführen: Unsere ganze römische Kirche ist mit der Zeit auch allein über den Einen dunkeln Abgrund der Seele gebaut, daß wir Priester nicht heirathen dürfen ...«

Der Provinzial sprach ironisch:

Der Dechant gehört der philosophischen Zeit an ...

Er will sie auch nur schildern, sagte der Präsident und beruhigte Bonaventura, der auf die Mittheilung nur der Hauptsachen aus einem Briefe drängte, der ihm in ängstlicher Weise eine krankhafte Aufregung des theuern Onkels verrieth ...

»Ich schildere Ihnen die Zeit, in der unsere Sünden jung waren, die Zeit, in der ich mit dem Kronsyndikus bekannt wurde ... Es war gerade, als Goethe, unser damaliger Gott, den einzigen gefunden hatte, vor dem auch er zu Staub wurde. Dies eben war Napoleon, unsere zweite Gottheit. Es war in jenem Erfurt, da, wo Goethe schweigsam vor Napoleon stand, der Mann, der ewig die Natur suchte, vor dem Mann, der ewig die Natur floh. Ich befand mich gerade damals bei dem sogenannten ›Parterre der Könige‹ als ein der Diöcese Dalberg's angehörender Priester. Ihr Vater war in Erfurt erschienen als Syndikus der jungen Krone Westfalen bei den alten deutschen Ständen des Teutoburger Waldes ... Herr von Wittekind zog vor, in der Nähe der Pracht und Herrlichkeit des fremden Hoflagers zu leben. Und doch starb in Ihrem Vater trotz seines Leichtsinns ein Mann wie aus der Ritterzeit ... Die eiserne Hand, die Götz nur künstlich führte, schlug Ihr Vater natürlich. Ich habe gesehen, wie er von einer Tischplatte die Ecke abbog gleich August dem Starken von Sachsen, dem er leider nur zu sehr glich, wenn ihm auch dessen Sinn für Größe, die stolze Haltung und Bedeutsamkeit der Gesinnung versagt waren. Ein Nimrod war's, der zuletzt in wilder Baulust den Rest von Muth austobte, der ihm vom Jagdtreiben übrig geblieben. Sein Park, sein Schloß, seine Oekonomie müssen ihm Summen gekostet haben; aber er brachte sie durch Geiz wieder ein. Die Folgen seiner gewaltthätigen Natur, die genug von ihm verdeckt werden mußten, liegen Ihnen jetzt offen vor, die stärkste Prüfung, die der Kindesliebe beschieden sein kann« –

Pater Maurus besaß den Takt, einen Augenblick innezuhalten ...

Seligmann warf einen still beglückenden Rückblick auf seine eigene vorwurfslose Laufbahn als Garçon ...

»Der Handel mit der Fulvia Maldachini«, fuhr der Mönch fort, »stammt aus jener Zeit einer wilden Philosophie, aus jener Zeit, wo auch in des sonst so strengen Napoleon Heergefolge' der alte französische Leichtsinn sich wieder regen durfte. Seine Marschälle waren früher Perrükenmacher und Kellner. Als sie auf ihren Lorbern ausruhen wollten, konnten sie nur genießen, wie Perrükenmacher und Kellner, die das große Loos gewinnen, genießen. Napoleon hatte Verwandte, die er, um eine neue Legitimität zu begründen, auf Throne erhob, während seine Schwestern erklärte Courtisanen, seine Brüder Champagnerreisende waren. Der Hof des Königs von Westfalen riß in seinen Strudel Männer und Frauen vom deutschesten Ursprung. Ach, wir waren tief gesunken! Und noch jetzt – im Vertrauen – wir sind ein liebedienerisches Volk, geborne Fürstenknechte! Ich habe in Deutschland Bureaumenschen gesehen, die einem Nero und Caligula ebenso zuvorkommend würden gedient haben wie einem Antonin oder Marc Aurel ... Ihr Vater, ein junger Witwer – kein Stand ist gefährlicher, als der der jungen Witwen und Witwer – genoß noch einmal seine Jugendjahre. Trotz seines Amtes war er ein Händelsucher, ein Wettrenner, ein Don Juan ... Damals also besaß ich am Münster von Witoborn ein Kanonikat, das ich in alter Weise von einem Vicar verwalten ließ ... Ich war Priester geworden, wie andere unter die Soldaten gehen. Mein Bruder Friedrich studirte die Rechte, mein Bruder Max war ein Soldat. Als ich Priester geworden war, reiste ich in die Welt hinaus, war lange in Paris und kam nach Kassel, Erfurt und Witoborn – wie ein Abbé zurück. Goethe, Napoleon und – Grécourt waren meine Gottheiten ... Ich schloß mich meinem Landsmann, Ihrem Vater, an. Wittekind konnte so ansteckend lachen, daß man ihm gar nicht lange wegen seiner sonstigen Unarten zürnen konnte ... Wir waren ein Kreis wilder Gesellen und ich bekenne und darf es bekennen, da ich später mancherlei Unstern bestand, ich, ein Priester, ich entwarf nach Bildern aus Herculanum und Pompeji Zeichnungen, die in Kassel nicht etwa Frauen zweideutigen Rufs als lebende Bilder stellten, sondern die Gattinnen der Minister, die Töchter der Gesandten, Deutschlands ältester Adel!« ...

Eine Pause ließ Löb Zeit, sich die vorhin gesehene Galerie und die Frömmigkeit des jetzigen Adels dieser Gegend in Vergleichung zu bringen ...

»Eine der gefeiertsten Tagesschönheiten«, fuhr der Provinzial zu lesen fort, »war die Römerin Fulvia Maldachini. Sie war eine Sängerin in der italienischen Truppe, die König Jérôme neben der deutschen und französischen hielt. Das Repertoire überwachte der Kaiser selbst aus Paris oder aus dem Hauptquartier und verfuhr darin ebenso streng, wie bei Bildung der Ministerien, des Heers und jenes Schattens von Repräsentativverfassung, dem Ihr Vater seinen ›Kronsyndikus‹ verdankte. Ich seh' Ihren Vater noch, wie er die Syndikatsuniform zum ersten Mal anlegte und den Galanteriedegen umschnallte. Ungeduldig, sich bei Eröffnung der Landstände zu verspäten, war er nahe daran gegen seinen Bedienten die etwaige Schärfe des Spielzeugs zu versuchen. Der Maldachini sagte man nach, sie wäre besserer Abkunft, wäre durch Umstände veranlaßt gewesen, ihre Stimme zu verwerthen, eine Stimme, die uns Deutschen mehr Entsetzen, als Bewunderung einflößte. Sie hatte, so jung und schön sie war, in ihrer Kehle eine Tiefe, die mit Proserpina bis in den Tartarus hinunterstieg. Das Theater erdröhnte zwar von Beifall, wenn sie ein: Perfido! knirschte; aber wie ein Dolch lag es neben jeder Note, die sie sang und besonders – wenn man einmal nicht applaudirte« – –

Seligmann wußte nichts von Gluck und Piccini ... Aber Norma bot Vergleichungen ... Er verstand vollkommen dieses Knirschen, namentlich beim Nichtapplaudiren ...

»Es galt für unmöglich, die Gunst der Maldachini zu gewinnen ...« las der Mönch. »Das gerade reizte den Kronsyndikus. Die Schönheit der Erscheinung, ihre Gestalt war mächtig, das Geheimniß, mit dem sie sich umgab, bestrickend. Sie nahm die Huldigungen des Freiherrn von Wittekind an, namentlich seine Geschenke; dafür war aber nicht mehr sein Lohn als ein Zunicken im Theater. Sie lehnte sich an den Hof, der sie beschützte, an die große Zahl ihrer Verehrer. Der Kronsyndikus ertappte sich auf einer wirklichen Schwärmerei für sie. Feste bot er ihr, die sie annahm. Er ließ sie zur Fastenzeit, wo die Bühne geschlossen wurde, in den Sommerferien nach Neuhof in sechsspännigen Carrossen kommen ... Sie, Herr Präsident, und Ihr Bruder waren damals in Pensionen ... Die stolze Sängerin wohnte auf Schloß Neuhof wie eine Fürstin. Nichts aber entlockte ihr eine Zärtlichkeit, nichts eine Erwiderung der Liebesbetheuerungen, die ihr, wie mich Lauscher versicherten, der Freiherr auf den Knieen machte« – –

Lauscher! ... Seligmann bebte ... Hier, diese Cabinete waren doch wol die Orte, wo man auf Schloß Neuhof lauschen konnte ...

»Fulvia Maldachini verlangte die legitime Gemahlin des Freiherrn zu werden. Sie nannte sich eine geborne Marchesina und in der That, der Freiherr von Wittekind beschloß, sie zu heirathen ...«

Löb sah fast den Eindruck dieser Worte ... Sah fast Terschka's Lächeln ...

Mit einer Stimme, deren Sicherheit deutlich verrieth, daß für ihn in allen diesen Mittheilungen nichts Neues lag, las der Provinzial weiter:

»Dies Heirathsproject entsprach an sich ganz dem Charakter jener Tage. Man hatte nicht im mindesten das Gefühl, daß diese Napoleonischen Zustände nur eine Episode wären. Ein völliges Aufopfern des Stolzes und Heimatgefühls trat ein. Fast wäre Ihr Vater seiner Leidenschaft erlegen, wenn nicht seine Freunde dazwischengetreten wären. Freiherr von Malstatt, Graf von Dohrn, Baron von Liebetreu, die Andern – alle widersetzten wir uns. Als Fulvia kalt blieb, höhnisch die Lippen aufwarf und sich in ihren rothen Gewändern, mit dem grünen Kranz auf dem kurzgeschnittenen schwarzen Tituskopf, den Dolch im Busen, wie eine junge Medea zeigte und doch bestrickend schön, doch verheißungsvoll lächelnd wie der beginnende Frühling, da wurde zur Rettung Ihres, wie es schien, geradezu verlorenen Vaters ein Entschluß gefaßt. Wir verpflichteten uns, eine Farce aufzuführen. Fulvia konnte kein anderes Wort deutsch, als soviel nöthig war, kräftig zu fluchen. Sie lebte unter uns, wie im Grunde damals alle diese Fremden; sie lebten im eigentlichsten Sinne des Worts wie in der Verwirklichung eines Traums. So war auch ihr Deutschland nichts als Wald und Flur und Flur und Wald; nur vom Geld sah sie, daß es das allbekannte echte Silber und Gold war. Der Freiherr schlug ihr eine Ehe vor, die aus Familienrücksichten einige Jahre lang geheim bleiben müßte. Fulvia, die die große Stellung ihres Verehrers kannte, die von seinen mächtigen Verwandten wußte, die einsah, daß für gewisse Vermögensverhältnisse auch in Rücksicht auf die vorhandenen Söhne erster Ehe Schwierigkeiten entstehen konnten, willigte ein ... In dem Dünkel und Siegesübermuth, der sie, wie damals alle diese abenteuernden Fremden, gegen jede Vorsicht blind machte, steigerte sie sich selbst zuletzt zur Ueberzeugung, daß sie ihre allgemeine Anerkennung als Frau von Wittekind erst von spätern Zeiten abhängig machen müßte ... Nun ging unser Leichtsinn so weit, daß der eine künstliche Pacten schloß mit Siegeln von Aemtern, die nirgends existirten, der andere Correspondenzen mit der Familie eröffnete, der dritte falsche Dimissorialen des Pfarrers von Schloß Neuhof brachte, die nothwendigen Depense, die dem Freiherrn gestatteten, sich andernorts trauen zu lassen – kurz, wie es nur in einer Zeit möglich war, wo täglich die größten Ereignisse sich drängten, Throne wankten, Völker in Bangen und Zagen lebten. Wir erfanden und setzten dies Abenteuer unserer ›noblen Passionen‹ wie eine Fastnachtsposse in Scene« ...

Löb Seligmann schauderte über den ehrwürdigen Herrn Dechanten, der einst solcher Streiche fähig gewesen ...

»In Paris hatte ich einen jungen geistvollen Gelehrten kennen gelernt, eine höchst geniale Natur ... Er nannte sich Leo Perl und war ein Jude« ...

Löb's Athemzüge wurden ihm jetzt selbst fast vernehmbar. Er mußte aufstehen und zwei Schritte weiter gehen ... Dann stand er wieder still, um nichts zu versäumen, und horchte zitternd ...

»Perl war«, las der Provinzial, »aus der Gegend meines jetzigen Wohnorts gebürtig und seines Zeichens Rabbiner. Sein Aeußeres war ein gar stattliches. Nach Paris kam er, um in den dortigen Bibliotheken talmudische Manuscripte zu lesen. Ich lernte ihn kennen und schätzen. Im Geiste der Zeit, der nicht mehr der Geist des Deismus, sondern ein Bestreben war, irgendwie aus dem Deismus herauszukommen, standen wir uns nahe. Frömmler waren wir natürlich am wenigsten; das Leben nahmen wir leicht – ich wenigstens gab den Lebensanschauungen eines Alcibiades nichts nach« ...

Alcibiades! wiederholte sich Löb und wußte jetzt ein höheres Wort zur Bezeichnung des Leichtsinns ...

»Wir hatten aber ein Bedürfniß des Positiven. Freilich – wir suchten es eher in Indien und an den Quellen des Ganges, als in Judäa und an den Quellen des Jordan. Leo Perl war halb aus Scherz halb ernsthaft Kabbalist, was mich als Curiosität anregte. Er sprach die meisten lebenden und mehrere todte Sprachen. Sonst war er aufgewachsen wie ein echter Rabbinerknabe in alten Büchern und mikrologischen Studien; die Welt war ihm auf dem Gebiet des Parquets und der feinern Geselligkeit fremd, jedoch seine zähe Lebenskraft, sein Witz und manche Schalkhaftigkeit halfen ihm auch dort sich zu behaupten ...«

Gott im Himmel! sagte sich Seligmann und war nicht einverstanden mit dem Worte: Zähe Lebenskraft ...

»Zugleich war Perl gefällig und interesselos, wie ein Kind ... Ihm verdank' ich nicht nur den größten Theil meiner Ausbildung, die Läuterung meiner Lebens- und Kunstansichten – sogar meine Existenz« ...

Ein Mensch! rief Seligmann schmerzbewegt ...

»Durch Perl wurde ich auf das Stift Sanct-Zeno an seinem Geburtsort aufmerksam gemacht und auf dessen alte Rechte und Urkunden ... Er begleitete mich nach Deutschland und gab mir Mittel und Wege, diese einträgliche Stelle mit Hülfe des Kaisers von Oesterreich aus der Säcularisation zu retten und für mich zu gewinnen. Ich habe ihm für alles das ein treues Herz bewahrt und meine Schuld ist es nicht, wenn ich zu den vielen Erinnerungen an ihn nicht auch noch die an äußere Beweise meiner Dankbarkeit fügen kann. Plötzlich zog er sich von uns allen zurück ... Trotzdem, daß er infolge unsers Leichtsinns Christ wurde«

Löb saß wieder zusammengekauert wie ein Jäger auf dem Schnepfenfang ...

»Leo Perl hatte in seinem Wesen zwei unvermittelte Gegensätze. Der gewaltige Mann lebte höchst mäßig, entbehrte wie ein Stoiker und dachte doch wie Epikur. Er vermied die Frauen und duldete jede Ausgelassenheit« ...

Wie Veilchen! sagte Löb ...

»Er aß trocken Brot und sprach anerkennend über die, denen nur Trüffeln mundeten« ...

Wie Veilchen! ...

»Er erklärte sich für unfähig, einen vernünftigen Satz zum Druck zu stilisiren und seine zierliche Hand schrieb doch Briefe voll Geist« ...

Wie Veilchen! ...

»Perl war der strengste Kritiker, der jemals beizende Lauge im Urtheil über ein Ganzes mit der Fähigkeit verband, doch im Einzelnen die Tiefe der Absicht und die Schönheiten des Details zu erkennen« ...

Das wurde Löb zu hoch und – »beizende Lauge« führte ihn sogar zerstreuend auf Veilchen's Spitzenhandel ...

»Er tadelte in kleinen Aufsätzen ein Buch so, daß man dennoch den Verfasser lieb gewann. Alles das geschah mit so viel Bonhommie, daß man vor Lachen gesund wurde, wenn man seine Scherze las« ...

Seligmann hauchte wieder für sich hin: Wie Veilchen! ...

»Ich nannte ihn den zwölften Apostel, den Christus zum Ersatz für Judas Ischarioth hätte nehmen müssen. Auch versicherte er mich, sein Vorgänger Judas Ischarioth wäre der unglücklichste aller Menschen auf Erden gewesen: er wisse bestimmt, er hätte Christus geliebt: er hätte ihn mehr geliebt, als Johannes; er hätte Jesus nur verrathen, um ihn zur Entschiedenheit zu bewegen; er hätte sich erhängt aus Verzweiflung, weil ihn ein Werk der Freundschaft mislungen. Würde ihn Jesus, sagte Perl, drei Jahre lang um sich geduldet haben, wenn er nicht Eigenschaften an ihm erkannt hätte, die wenigstens denen der andern Apostel gleichkamen? ... So zwischen Ernst und Scherz, bald durch seine Behauptungen erschreckend, bald wieder wohlthuend, konnte Leo Perl plaudern. Wir gewissenlosen Cavaliere – immer ist es mir, als hätten wir nicht Ursache gehabt, uns der spätern Wendung seines Schicksals so zu rühmen, wie wir's zu unserer Beruhigung oft im Stillen thaten« ...

Leo Perl starb als christlicher Pfarrer in Borkenhagen ... sagte ein dumpfe Stimme, die wol Terschka's sein konnte ... Dies Wort schien auf die bindende Kraft eines geweihten Priesters berechnet zu sein ...

Vielleicht war er schon heimlich in Paris ein Christ! erwiderte der Präsident mit parodirender Ironie ...

»Leo Perl«, fuhr der Provinzial fort, »wurde von uns überredet, in den Betrug der Maldachini miteinzutreten. Ganz in der Laune, die wir an ihm kannten, griff er zum Champagnerglase und sagte lachend zu. Wir verlangten von ihm nichts Geringeres, als sich in ein Priestergewand zu hüllen und in einer entlegenen Kapelle, auf den Gütern eines der Mitverbündeten, bei nächtlicher Weile den Freiherrn von Wittekind mit Fulvia Maldachini zu trauen. Aufrichtig gesagt, ich erstaune noch jetzt über seine Zustimmung ... Ich kannte sonst die Gewissenhaftigkeit, die ihn beseelte, bei aller Leichtigkeit in der Beurtheilung anderer« ...

Auch für Löb verlor sich sein: Wie Veilchen! und der Spinozismus jetzt in drei bis fünf Jahre Gefängniß ...

»Perl war des Ritus so kundig, wie oft kein – Domdechant« –

Der Provinzial mußte wol im Lesen lächeln ... Seine Stimme klang heller ...

»Die vermessene, wahnwitzige Scene ging vor sich bei Lichterglanz und unter Assistenz eines Meßners, den eine Person spielte, die ich Ihnen nicht nennen will« ...

Eines Priesters also! sagte Terschka bedeutungsvoll, ohne den Dechanten selbst zu nennen ...

Wie es scheint! bemerkte der Präsident und setzte mit Bitterkeit hinzu: Sie suchen für Ihre Casuistik irgendeine geheime Schraube! Was das bürgerliche Recht mit dem Zuchthaus bestraft, wird bei uns das kanonische nicht zum Sakrament erheben! – Doch lesen Sie! Ich bitte! ...

»Eine katholische Trauung muß in dem Ort stattfinden, wo man lebt; dafür hatten wir die Demissorialien. Sie findet in der Regel des Morgens statt; dafür hatten wir wiederum einen Erlaßschein. Das in der Waldkapelle bei Nacht verbundene Paar bestieg eine Kutsche und reiste auf Schloß Neuhof. Dort lebte es dann so, wie es der Freiherr gewünscht hatte. Einstweilen noch kehrte die Maldachini in ihre Stellung zur Bühne zurück. Sie genas später eines Knaben, der auf den Namen der Mutter getauft und von einer Dame erzogen worden ist, die ich – gleichfalls nicht nennen kann« ...

Frau von Gülpen! blitzte es in Löb auf ... Doch nahm er diesen Gedanken zurück, da er nur die große Anzahl »Nichten« kannte, denen Frau von Gülpen eine so liebende Tante war ...

Länger dauerte freilich der Nachklang desselben Namens – bei Bonaventura ...

»Die Kämpfe der Maldachini, sich anerkannt zu wissen, gingen mit der Zeit aufs Aeußerste. Sie wurden um so gefährlicher, als sie Verdacht schöpfte und mit Entdeckung drohte. Nur weil ihr Perl öfters in wirklicher Priestertracht entgegentreten konnte, wurde sie beruhigt. Der Kronsyndikus hatte in seinen Neigungen keinen Bestand; bald wurde er gegen sie wie gegen alle; sein Leben auf Neuhof steigerte sich ja bis ins Sinnlose« – ...

Löb füllte die Pause, die entstand, mit der Empfindung: Muß ein Sohn das von seinem Vater hören! ...

»Bald erfuhr auch diese seine vermeintliche Gattin die gewöhnliche Tücke seines Sinnes. Sie kam zum zweiten mal in die Hoffnung und bestand mitten in dem Gewühl der Flucht des westfälischen Hofes von Kassel 1813 ihre Entbindung. Der Kronsyndikus, sich an den Zusammenbruch des Königreichs Westfalen haltend, verstieß sie ... Hülflos wurde sie von den Mitgliedern ihrer Gesellschaft in den allgemeinen Strudel des Schreckens und der Flucht mit fortgerissen ... Wir verloren sie aus den Augen und das für immer. Eines Tags erzählte mir Ihr Vater lachend, sie wäre in Paris eine Herzogin geworden ... Damals aber brach die Zeit an, wo über uns alle ernstere Stimmungen kamen. Unsere mannichfach neubedingten Lebensstellungen riethen uns, unsere Aufführung zu regeln und so entstand das Bedürfniß, auch über diesen Jugendstreich den Mantel der Vergessenheit zu breiten – zumal, da ich später von Leo Perl zu meinem Schrecken erfuhr, daß er diese Ehe –«

An dieser Stelle war es plötzlich dem Horcher, als hörte er eine Bewegung, die nicht von den Männern im Nebenzimmer kommen konnte, obgleich auch drinnen die durcheinander gehenden Stimmen ein Staunen auszudrücken schienen ...

Aengstlich sprang Löb zur Seite und hielt die Decken, die ihm entgleiten wollten ...

Alles war wieder still. Glücklicherweise ... Denn gerade die ihm werthesten Stellen der Bekenntnisse des Dechanten konnten ihm verloren gehen ...

Der Provinzial hatte inzwischen nicht weiter lesen können, denn Terschka sprach ... Terschka sprach von der Ehe und forderte Bonaventura auf, zu sagen, worin die katholische Ehe ein Sakrament wäre, ob durch den Priester oder durch die Verbundenen? ...

Die Lehre der Kirche läßt es kaum zweifelhaft! lautete die leise und mit tiefster Erschütterung gegebene Antwort des Domherrn ...

Der Präsident bat um genauere Erklärung ... Doch an dieser so hochwichtigen Stelle mußte Löb Seligmann den Schrecken erleben, daß sich jenes Geräusch wiederholte ... Es schien sogar aus dem dritten der dunkeln Zimmer zu kommen ... Bebend sprang er zur Seite und fiel fast über die Franzen seines improvisirten Hohenpriestermantels ... Dann aber war wieder alles still ...

Dafür aber waren die Männer nebenan im lebhaftesten Streit über die Ehe und das Sakrament ... Der katholische Glaube in allen Subtilitäten, deren Kenntniß plötzlich von Terschka mehr im Scherz als im Ernst angedeutet wurde, regte den Präsidenten so auf und veranlaßte seinerseits für die Rückhaltsgedanken der Kanonisten so heftige Wortbezeichnungen, daß der Provinzial mit entschiedener Stimme einfiel und rief:

Lesen wir wenigstens den Brief! ...

Dann fuhr er fort:

»Die Trauung selbst war allerdings eine Scene, die uns alle mit Schrecken überrieselte ... Die nächtliche Stille in dem mondbeschienenen Walde ... Die Klänge der Orgel« ...

Löb Seligmann konnte nicht nachfolgen ...

Der Himmel strafte ihn für die Schuld seiner Väter ...

Das Geräusch nahm zu, er hörte einen leise auftretenden Fußtritt – er bekam Gesellschaft ...

Unwillkürlich mußte er sich zur Erde ducken hinter einem der größern Sessel ...

Es kam Jemand, der gleichfalls die Vortheile der spanischen Wände des Schlosses genießen wollte ... Schon war seine Gesellschaft im zweiten Zimmer ...

Sie kam leise auftretend jetzt ins dritte ...

Es war eine Dame ... die Herrin des Schlosses selbst ... die Präsidentin ...

Löb sah seine Ehre und seine Zukunft auf dem Spiel, wenn die hohe Gönnerin ihn hier ertappte ...

Die Decken waren ihm schon entglitten ...

Fast fiel die vornehme Frau über sie; sie legte sie murmelnd auf die Tische ... Sie schien hier schon orientirt zu sein ... Es war die Mutter des Domherrn – und doch so völlig eine andere ...

Löb kniete hinter dem Lehnstuhl und berechnete schaudernd, wie die Frau sich wundern würde, wenn sie seinen Hut – Gott sei Dank! – Sein Hut war in einem Schlosse, wo er sich so heimisch fühlen durfte, auf seinem Zimmer geblieben ...

Die Präsidentin nahm wie er an der Wand Platz und schien so vertieft in die Worte, die der Provinzial las, daß er es wagte, zwischen zwei Uebeln das geringere zu wählen: Entdeckt zu werden oder über Leo Perl nicht völlig ins Reine zu kommen ...

Er mußte letzteres vorziehen ...

So kroch er auf allen Vieren in das nächste Zimmer, richtete sich dort behutsam auf, schlich in das erste Zimmer zurück und fand jetzt, wie er erwartet hatte, einen Drücker an der Thür, die auf den Corridor führte. Ein Griff war eben erst aufgesetzt worden ...

Sanft folgte jetzt die Thür dem Druck seiner Hand und nun sah er wohl, nun fehlte der praktikable Handgriff draußen ...

Leise zog er die Thür wieder an sich und verschwand und war befreit ...

Die hellste Mittagssonne schien ...

Sie schien so frühlingsahnungsreich, so erlösend von allen Banden des Winters und des Todes, daß er von einem Traum erwacht zu sein glaubte ...

Zu dem, was ihm noch an Vervollständigung der merkwürdigsten Geheimnisse seines Lebens fehlte, legte er das Gefühl hinzu, doch lieber im Sichern zu sein, lieber unentdeckt auf Fährten, die ihn leicht aus seiner gegenwärtigen glänzenden Laufbahn entfernen konnten ...

Schloß Neuhof wurde ihm zum »Schloß Avenel«.

21.

Benno – Benno – mein brauner Zigeunerknabe!

Du, du also der Sohn des Kronsyndikus und dieser armen, betrogenen, bemitleidenswerthen Frau –! ...

Du, der Bruder einer Angiolina, die das Schicksal in die wildesten Strudel warf und die die Gräfin von Salem-Camphausen werden kann, wenn ein ruchloses Gaukelspiel – – doch, doch nicht ganz misglückte ...

»Was du auch in diesen Tagen von mir hören dürftest, ich war schwach« – »um der Liebe willen« – hatte der Onkel geschrieben –

Nein, Onkel! Das war die Liebe nicht, deren heiligste Forderungen du nicht verstandest! Das war ein Hohn, gesprochen den Gesetzen der Natur! Die Natur willst du preisen? Nur in den Sinnen findest du sie! ... Onkel, Onkel, Theurer, dessen weiße Hand ich so gern küssen mochte, warum hast du uns das gethan! ...

So tiefschmerzlich und zugleich hochaufjauchzend freudig rief es in Bonaventura's Innern, während auch nicht einer der Hörer die Menschlichkeit besaß, zu fragen: Und was wurde denn nur aus jenem Bruder Angiolinens, der doch jetzt vielleicht siebenundzwanzig Jahre zählen müßte? ... Sind euch die Sünden des Mannes, dessen Leben so grauenvoll da aufgedeckt liegt, so schon geläufig, daß nicht Terschka, nicht der Präsident, nicht der Provinzial fragt: Wo ist das zweite Kind? Der Sohn? Was wurde aus dem? ... Hatte also Benno Recht, so oft er sprach: Alles das muß in den Beichtstühlen verborgen bleiben! ...

Terschka, der glatte, jedem ausweichende, immer lächelnde Sendbote, der jetzt vielleicht sogar das Herz einer Armgart bestrickte – wie hält er so seltsam geheimnißvoll die Fäden aller dieser Wirren in der Hand ... Er nennt vielleicht doch plötzlich Benno bei dem Namen, der ihm gebührt – Benno, dessen Ehrgefühl so krankhaft ist, wie Verdacht in der Liebe ... Nimmermehr dürfen diese Schleier gehoben werden, ohne daß Benno es will ... Nie, nie darf ihn dieser gräßliche Fluch seines Daseins überraschen auf dem Boden, auf dem er lebt ... Erführ' er davon, er stürmte fort von diesem Schauplatz der Lüge, die selbst deine spätere liebende Sorgfalt, Onkel, nicht veredelte ... Furcht war es, was dich bestimmte, Benno's Ursprung zu verbergen ... Die Zeiten hatten sich geändert, der Onkel wollte das Stift Sanct-Zeno erhalten, wollte, mußte die Pflichten eines Dechanten üben, erinnerte sich, daß er jetzt den unbescholtensten Priester zu spielen hatte ... Ohne Zweifel bat er den Bruder, der aus Spanien zurückkehrte, das Kind als sein eigenes mitzubringen – ohne Zweifel wurde deshalb selbst dem Kronsyndikus jede Spur des Knaben entzogen – Ja man gab ihn für jünger aus, als er war ... Benno ist älter, älter als du ... Daher die größere Reife seines Verstandes ... Alles, alles bot man auf, die Nachforschungen nach seinem Ursprung unmöglich zu machen ... Immer wieder mußten sie auf jene Scene zurückführen, bei der ein jetzt in Amtswürden stehender Priester als Meßner einen leichtsinnigen Juden in der ehelichen Segnung unterstützte, einen Juden – der – dann ihn selbst getauft hatte ... und in einer Segnung –

Hier verwirrten sich in Bonaventura die Vorstellungen ... Kaum hörte er noch der weitern Vorlesung zu ... Brachen doch alle diese Thatsachen auf ihn wie Blitze herein ... Und dazu dann noch die Nachricht: Lucinde ist dir gefolgt! ... Eine Kunde, die ringsum alles in Nacht verdunkelte ...

Diese Conferenz fand statt in jenem Zimmer, in dem einst Lucinde und Klingsohr sich hatten finden und vereinigen sollen, um den Kronsyndikus zu schützen ... Behagliche Wärme entströmte einem weißen Ofen ... Die Sonne schien hell und mild durch die Fenster ... Still war alles ringsum ... Auf dem Tisch, um den die vier Männer saßen, stand Schreibzeug, lagen Federn und Papierstreifen ... Terschka zerdrückte in seiner Ungeduld eine Federspalte nach der andern und kämpfte mit sich – seine Erinnerungen an das kanonische Recht nicht allzu sehr zu verrathen ... Scheu blickte er zu Bonaventura auf, als wollte er sagen: Das weißt du doch, daß das Concilium von Trident zu einer Trauung zwar den Ortspfarrer oder dessen zugestandene Stellvertretung und zwei Zeugen verlangt, daß es aber zum Stellvertreter sogar gestattet, einen noch nicht geweihten Priester zu nehmen? Das weißt du doch, daß das, was an einer Ehe das Sakrament ist, sich durch die Verbundenen selbst vollzieht und nicht im mindesten durch den bei allen andern Sakramenten als die Hauptsache vorwaltenden Priester? Das weißt du doch, daß sogar der Segen und alle Ceremonien bei einer Trauung an sich ganz überflüssig sind, wenn ein sich selbst einander die Ehe gelobendes und vollziehendes Paar nur einer Messe beiwohnt; ja daß auch eine Messe zwar gelästert und verunreinigt werden kann durch Misbrauch, aber dennoch ein Opfer bleibt, das, richtig ausgeführt, sich durch seine eigene Kraft vollzieht? Die von einem Priester im Stande der Todsünde gelesene Messe ist wirksam – wie sollte die von einem Juden in Priesterkleidern gesprochene einfache Segnung nicht wirksam gewesen sein bei einem Act, wo die heilige Mystik des Priesterthums wegfällt? ... Hier fand eine Trauung ohne Messe statt, in einer Abendstunde, die sonst nicht Sitte, aber wiederum nicht hindernd ist ... Endlich – schließt denn der Betrug, den man mit dem Pfarrer spielte, das gläubige und von Zeugen vernommene Ja! der Braut und des Bräutigams aus? Das Mysterium der Ehe liegt in denen, die aus sich selbst wie in Adam und Eva durch die Liebe ein Abbild der Menschheit wiedergeben wollen, nicht im ersten Priester des Paradieses, nicht in Gott, der sie zusammenthat; die Liebenden opfern durch sich, durch die Ehe Gott ... In der Ehe empfängt Gott oder der Priester; beide geben nichts ...

Das alles sprach Terschka nicht ganz ... So heimisch war er nicht mehr in den Prüfungen, die einst »Pater Stanislaus« zu bestehen hatte ... Aber Bonaventura las es wie Ahnungen aus seinen Augen, er, der seinerseits allerdings so heimisch in diesen Anschauungen war, wie der Onkel Dechant – in den Wandgemälden Pompejis ...

Der im Antlitz wie mit Purpur übergossene Präsident ersuchte den Provinzial weiter zu lesen ...

Dieser that es – und in der That lächelnd:

»Eine Scene war es, die uns sogar selbst mit Schrecken überrieselte ... Die nächtliche Stille in dem mondbeschienenen Walde ... Die Klänge der Orgel ... Wir kamen von einem Mahl, das Graf Altenkirchen gegeben hatte ... Die Diener blieben zurück ... Wir erklärten gegen Mitternacht, vom Kapellenthurm aus im Walde über die Baumkronen hinweg das Spiel der Mondstrahlen beobachten und eine Windharfe hören zu wollen, die über einen Durchhau der Tannen gespannt war ... Bereits war ich selbst voraus und fand Leo Perl im Ornat, einsam in der Kirche auf- und abgehend und mit sich selbst redend ... Wahrhaft schön sah er aus in seinem langen Kleide; die Stola, reichgestickt, hing über seiner Schulter ... Graf Altenkirchen spielte die Orgel ... Fulvia Maldachini wurde vom Kronsyndikus geführt ... Baron von Liebetreu trug die Schleppe ihres Kleides ... Sie schwebte dahin, wie Juno, als sie Zeus vor allen Olympiern zu seiner Gemahlin erhob ... Bei ihrem Stolz und Glück hatte sie von allem kein Arg ... Die Worte, die der Priester deutlich sprach: ›Willst du diese gegenwärtige Signora Maldachini, Marchesina von Santalto, zu deiner Gattin nach Vorschrift der heiligen Mutter Kirche annehmen?‹ verstand sie nicht, aber den Gebräuchen paßte sie scharf auf ... Der Wechsel der Ringe, alles erfolgte nach Vorschrift ... Perl war so heimisch in dem, was er zu thun hatte, daß wir darüber erstaunten ... Auch nicht eine Eigenheit des Ritus ging verloren ... Wir gingen dann zum Schloß zurück ... Scheu und in der That schon erschreckt von unserm Frevel ... Die Windharfe, von goldenen Mondstrahlen beschienen, klagte geheimnißvoll über die Tannen herüber. Noch klang die Orgel hinter uns her; Graf Altenkirchen blieb bis zuletzt, um die Kapelle zu schließen ... Wir hörten das Rascheln unserer Schritte auf dem grünen Wiesenplan, wo uns die Leuchtkäfer umglühten ... Der Weg war nicht zu nah bis zum Schlosse ... Glücklicherweise war die Italienerin in einer so überspannten Aufregung, daß sie uns alle zu sprechen zwang ... Es ging französisch, italienisch, deutsch durcheinander; aber wir fanden erst allmählich den Ton des Scherzes wieder ... Einer dann aber niemals mehr – Leo Perl« ...

Der Provinzial hielt inne – um das Gericht Gottes zu bezeichnen ...

»Der Freund«, fuhr er nach einer Weile fort, »hatte den Gedanken unsers Betruges, mein' ich, ganz ebenso leichtsinnig ergriffen, wie wir ... Zusammengesetzt in seinen Principien aus Voltaire und dem Zufall, den die Kabbala lehrt, scherzte er über alles, was Plan und Absicht im Leben ... In Alles müsse man sich blind werfen ... Auch in die Ehe ... Und lächerlich war ihm die Anmaßung dieser Italienerin, die ›soviel Werth auf sich legte‹ ... Er war eitel darauf, sich unsers Vertrauens zu erfreuen. Seine Lust an der Sache ging so weit, mit Befriedigung zu zeigen, wie vollständig ihm, einem Rabbiner, der Ritus unserer Kirche bekannt war ... Was konnte ihm geschehen bei einer Mitschuld so bedeutender Namen! ... Man setzte voraus, daß in Paris der Kaiser selbst lachen würde, erführe er den Betrug ... Geld, glaubte man, würde ausreichen, den Handel, wenn er bekannt würde, niederzuschlagen ... Da mußte uns denn freilich überraschen, daß wir plötzlich unsers fröhlichen Doctor Leo Perl's Spur verloren ... Gleich nach der Trauung war er verschwunden ... Mit sich mehrender Verlegenheit suchten wir ihn ... Wir erschraken nicht wenig, als wir in Erfahrung brachten, daß er Christ geworden und noch mehr, daß er sich zu Witoborn im Seminar befand ... Sofort eilte ich ihn aufzusuchen und hörte zu meinem Erstaunen, daß Leo Perl katholischer Priester werden wollte ... Als ich mit ihm sprach, erkannte ich ihn nicht wieder. Scheu blickte er zur Erde und wich allem aus, was ihn an die Vergangenheit erinnerte ... Sind Sie aus einem Saulus ein Paulus geworden? fragte ich ... Es gibt viel Wege nach Damascus! war seine Antwort. Er deutete an, daß für ihn der Weg zur Erleuchtung über die Mondscheinnacht in Altenkirchen gegangen ... Hat Sie der Frevel so erschreckt? fragte ich. Haben die Meßgewänder Sie zu unserm Ritus herübergezogen? ... Er verrieth vollkommen, daß er sich hatte taufen lassen im Schauer über seine That, im Schmerz um seinen Leichtsinn und wie von Christus selbst darum angeredet und ermahnt ... Er sprach ganz wie Augustinus in seinen Bekenntnissen. Wie diesen sein künstlich sophistisches Redneramt mit Gewalt zum Ernste gezwungen, so geschah es ihm auch mit seiner falschen Rolle ... Die Windharfe hätte ihm, sagte er, gerufen, was dem Redner Augustinus, als er unterm Feigenbaum in Mailand über sein stetes Lügen und rednerisches Prahlen weinte, die Kinderstimmen aus dem Nachbarhause: Nimm und lies! Nimm und lies! ... Als ich seinen Entschluß lobte und ging, wollten Andere sagen, der Kronsyndikus, der die Entdeckung zu fürchten anfing, hätte ihn mit Geld bestimmt ... So viel ist gewiß, daß er später seine erste Messe im Münster von Witoborn lesen mußte, nur damit die gerade anwesende Maldachini ihn sah ... Mir gegenüber wollte Perl behaupten, die Ehe derselben wäre gültig ... In unserm lebhaften Streit darüber unterbrach uns der Besuch seiner Verwandten ... Eine Jugendgeliebte hatte Perl gehabt, an die er Briefe schrieb, wie Plato an Diotima ... Er gestand zu, daß sie ein ganz einfaches Judenkind wäre, doch malte er sie sich wie ein hohes Phantasiegebilde aus, das er dann freilich desto leichter aufgeben konnte ... Nun fingen die Verwandten an, ihn aufs heftigste zu bestürmen ... Seine Schwärmerei war keine nachhaltige ... Verstand und Phantasie wechselten von jeher bei ihm ... Endlich erschien ihm eines Tages aus einem, seinem Zimmer im Convict gegenüberliegenden Hause am Fenster seine ehemalige Geliebte, geschmückt wie Esther, das Haar voll weißer Perlen und vom bräutlichen Schleier umwunden ... War es Traum oder Wirklichkeit, der Eindruck auf ihn wurde so mächtig, daß er zum Rector, dem spätern Bischof Konrad, eilte und sich ihm zu Füßen warf mit der Bitte, ihn wieder freizulassen; er könne nicht Priester werden ... Der gute Rector war gern bereit dazu ... Da aber soll der Kronsyndikus, Ihr Vater, dazwischengetreten sein, soll Leo Perl auf Neuhof entboten und ihn so in die Enge getrieben, ihn so eingeschüchtert haben, daß Perl ins Convict zurückfloh und wirklich Priester wurde ... Gleich nach der Messe im Münster erhielt er durch Ihren Vater eine vortreffliche Pfarre ... Seitdem sah ich ihn nicht wieder ... Er verfiel in Hypochondrie, blieb ein einfacher Landpfarrer und zeitlebens von einem verschlossenen Sinn ... Auch mich überschleicht Trauer und Wehmuth, gedenk' ich jener Tage ... Um den Sohn der Fulvia, um Ihren natürlichen Bruder, tragen Sie keine Sorge! Er lebt in Verhältnissen, die zur Grausamkeit machen würden, ihn über seine Herkunft aufzuklären. Ohne Zweifel erhielt Pater Maurus Anweisungen aus Rom. Diese werden, denk' ich, nicht weiter gehen, als daß er die Wahrheit erforschen soll. Er hat Ihnen einen Bevollmächtigten der Ansprüche Angiolina's in Aussicht gestellt. Theilen Sie diesem von allen meinen Geständnissen, die ich vor Gott und meiner Ehre vertrete, so viel mit, als zu seiner Aufklärung nothwendig ist. Ich wünschte, es wäre ein Priester; denn scheue ich mich auch nicht, vor meinen Mitleviten zu bekennen, was wir täglich ausrufen sollen: Mea culpa, maxima culpa! so wünscht' ich doch, die Gräber blieben unaufgedeckt. Was auf ihnen blüht, blüht gesund und schön und ist es auch Irrthum und Sünde – es ist! So unser ganzes Leben. Würde man Wahrheit pflanzen wollen, gedeiht sie – –?« ... Noch kamen einige Worte des Grußes an Bonaventura und – an die Lauscherin ... Das Bekenntniß war zu Ende ...

Die Blicke aller Anwesenden waren auf Terschka gerichtet ...

Terschka, zu Bonaventura's Schmerz kein Priester, sondern ein Laie, sollte jetzt sagen, wie weit seine Aufträge gingen ...

Der Provinzial schien eine völlig neutrale Rolle zu spielen ...

Terschka drückte eine der Federspalten, die er auseinander getrieben hatte, nach der andern wieder zusammen ...

Während der ganzen Sitzung, die er durch seine Geistesgegenwart zu beherrschen schien, hatte sein Inneres keine Ruhe gefunden ...

Wie – stand es mit ihm? ...

Am Morgen der Jagd war er im Kloster Himmelpfort gewesen ... Er fuhr dorthin voll äußerster Entschlossenheit ... Er wollte sich von seinem Orden losreißen, wollte sich der Gräfin Erdmuthe anvertrauen, wollte sich in ihren Schutz begeben und die Rolle eingestehen, die er auf Roms Betrieb hatte spielen sollen und die durch seine Freundschaft für ihren Sohn gehindert wurde – er wollte die Confession wechseln – wenn anders der trunkene Taumel, der ihm zu allen diesen Entschlüssen den Muth gab, andauerte und andauern durfte, – das Entzücken über Armgart's Hingebung – Armgart's, die schnell, schnell erobert werden mußte vor – den Enthüllungen, über die ihr Schaudern, hatte er einmal ihr Ja errungen – bei seinem Charakter zu spät kam ... Den Widerspruch ihrer katholischen Gesinnung glaubte er, einmal im Besitz dieser Eroberung und mit Hülfe der Mutter, nicht ernstlich fürchten zu brauchen ...

Vor drei Tagen hatte er Armgart nach dem Stifte Heiligenkreuz zurückbegleitet ... Er mäßigte seine Leidenschaft und unterließ doch nichts, was den Wahn des bethörten Mädchens verstärken, ihren Entschluß, ihn durch sich selbst von ihrer Mutter abzuziehen, befestigen konnte ...

Zitternd war sie an seiner Seite hingeschritten ... Im Waldesdunkel, vom Reiz der Einsamkeit verführt, wagte er, zärtlicher ihren Arm zu ergreifen ... Da erschreckte ihn der Mönch, der ihnen gefolgt war, Bruder Hubertus ... Dieser gesellte sich zu ihnen, ließ sie nicht wieder allein, ja Armgart hielt ihn absichtlich, nur um nicht von einem Thurm, auf dem sie sich zu befinden glaubte, himmelhoch niederzustürzen ... Armgart versprach zur Jagd zu kommen ...

Sie wollte, verfolgt von ihrem Gelübde, sich besinnungslos in den Strudel des Lebens stürzen ... Sie irrte dahin, nur um alles vergessen zu können, was sie ihrem Opfer zu Liebe that und thun zu müssen glaubte ... Ein nicht erfülltes Gelübde! ... Einst hatte sie aus Dank über eine Krankheit, die Paula bestanden hatte, Gott gelobt, funfzigmal an einem Tage die Antiphon Salve regina in deutscher Uebersetzung und einen Monat lang zu sprechen. Als sie diese Pflicht nachlässig betrieb, wurde sie sogar von Müllenhoff's mildem Vorgänger als im Stande der Todsünde befindlich erklärt ...

Terschka blieb die Nacht beim Verwalter des Stiftes ... Die Furcht, der Mönch mit seinen Erinnerungen würde sich ihm aufs neue anschließen, bestimmte ihn, nicht sogleich wieder den Weg zurückzunehmen ...

Am Morgen darauf mußte er zum Provinzial Maurus, dann zur Jagd ... Er fuhr sich selbst mit einem Jagdwagen und jagte querfeldein wie ein von Furien Verfolgter ... Wieder redete ihn auch im Kloster Franz Bosbeck an; wieder fragte er nach seinen Verwandten ... Und wenn ihm der Lästige das Dreifache in Aussicht gestellt hätte von dem, was er für seine Erben in Bereitschaft zu halten erklärte, er würde ihn wild angeschnaubt haben: Gehen Sie nach Böhmen! Meinen Namen tragen dort Hunderte! ...

Beim Pater Provinzial bebte er erwarten zu dürfen, daß er als Priester begrüßt, für etwaige Renitenz von den Vätern vielleicht selbst mit Enthüllung seines zweideutigen Ursprunges bedroht werden würde ... Gefesselt an Leib und Seele folgte er in die Bibliothek ...

Pater Maurus theilte ihm ein über Wien aus Rom gekommenes Schreiben mit, demzufolge er sich mit ihm verständigen sollte zur Beantwortung der Frage, die da lautete: Ist Angiolina Pötzl, wie sie von einer Theaterfamilie genannt wurde, die rechtmäßige Tochter der in zweiter Ehe sich Herzogin von Amarillas nennenden Fulvia Maldachini? Welche Umstände haben bei der Trauung derselben mit dem Kronsyndikus Wittekind obgewaltet? ...

Höchstes Erstaunen ergriff ihn beim Lesen der genaueren Motivirungen ... Angiolina eine Tochter des reichen, vor wenig Tagen bestatteten Kronsyndikus! Eine Tochter seiner Gönnerin in Rom! ... Hatte man das Interesse des Grafen Hugo für sein Pflegekind wahrgenommen und dem nachgeforscht? Warum das? ... Graf Hugo war es nicht, der ihm die Frage stellte: Ist Angiolina eine mir ebenbürtig Geborene? ... Rom fragte es, sein General!

Terschka hätte in der Stimmung, in die ihn die Furcht vor dem endlichen »Ablaufen seiner Stunde«, jetzt die Leidenschaft für Armgart versetzte, nichts gethan, den Vätern der Gesellschaft Jesu zu dienen, wenn ihn nicht die ganze Umgebung des Klosters und der lauernde Hubertus mit Furcht und Schrecken erfüllt hätte ... Und Pater Maurus, als Inhaber der Beichte des Kronsyndikus, die er der darin vorgekommenen Reservatfälle wegen seinem General in Rom, dem General der Franciscaner, hatte zuschicken müssen, schwieg zu allem und schon mußte er Terschka mindestens für einen Affiliirten der Jesuiten halten ...

So entschloß sich dieser, an einem der nächsten Tage auf Schloß Neuhof ganz im Interesse seines Freundes des Grafen Hugo und der schönen Angiolina zu sprechen ...

Er machte die Jagd mit, umschwärmte Armgart mit seinen Huldigungen, begrüßte mit Vertraulichkeit und allen Beweisen seiner gewohnten Galanterie Lucinden, zeigte beim Brande, über den er kein Arg hatte, seinen Thateifer und kam auf Schloß Neuhof mit dem Schein einer völligen Unbefangenheit an ... Er stellte sich, wie wenn der empfangene Auftrag ihm höchst lästig wäre und er nur opponirte, um seinen Auftraggebern die unerläßliche Schuldigkeit zu thun ...

Den Präsidenten brachten aber seine Aeußerungen über die Legitimität der zweiten Ehe seines Vaters in die leidenschaftlichste Erregung ... Ueberhaupt hatte dieser die Relicten seines Vaters verwickelter gefunden, als er erwartete ... Sein Ehrgefühl litt unter dem Ruf seines Namens schon lange und vollends gereizt war er über die Sprödigkeit, mit der man ihm und seiner Gattin hier entgegenkam ... Bonaventura fand heute an seinem Stiefvater Gefallen ... Fast betroffen war er von dem innigen Händedruck, mit dem ihn dieser begrüßt hatte ... Die Anrede: Mein Sohn und Freund! war so aufrichtig betont, daß Bonaventura aufs lebendigste für ihn Partei ergriffen hätte, wäre ihm nicht – der Gedanke an Benno, der nun in wirkliche und nach seiner Ueberzeugung legitime Verwandtschaft mit ihm trat, zu bestimmend gewesen ...

Terschka sagte auf die ganze Eröffnung des Onkels Dechanten mit einer spitzen und ironischen Betonung:

Ich bewundere den Muth dieser Geständnisse! Aber – die Ehe gilt ...

Herr von Terschka! rief der Präsident voll äußersten Unwillens ...

Gewöhnen Sie sich doch an diese Vorstellung! lächelte Terschka, Sie sollten Angiolina kennen lernen! Olympia in Rom –? Nein, da ist zu viel Kälte! Lucinde Schwarz hier –? Nein, da ist der Verstand zu zergliedernd ... Ei, und ich versichere Sie, ich gönne es Angiolinen, zu erfahren, daß sie an Jahren älter ist, als wofür sie gilt ...

Das Fräulein von Wittekind bezaubert ganz Wien durch ihre Reitkunst! Ich weiß es ...

Es war nur die Schuld Ihres Vaters, daß das kaum geborene Kind, dessen Alter, wie man in solchen Lagen gewohnt ist, falsch angegeben wurde – unter –

Die Gaukler gerieth! ergänzte der Präsident. Ich werde Sorge tragen, daß an Angiolina Pötzl nachgeholt wird, was versäumt wurde! ...

Thun Sie das nicht, Herr Präsident! erwiderte Terschka ... Fräulein von Wittekind entbehrt nichts, als ihren legitimen Namen ... Sonst ist ausreichend für sie gesorgt ...

Am wenigsten gönnen Sie ihr doch wol eine solche Mutter, die man bei ihrem Erscheinen in Wien mit einem Proceß auf Bigamie begrüßen würde! ...

Sie kennen die Herzogin von Amarillas? fragte jetzt Bonaventura, um den Eifer der Streitenden zu mildern ...

Als ich in der römischen Armee diente, sah ich sie oft und ich gestehe Ihnen gern, die Gründe nicht zu begreifen, die man haben kann, eine hochgestellte Dame mit diesen Nachforschungen zu beunruhigen – ...

Diese Gründe sollten Ihnen unbekannt sein? ...

Vollkommen! sagte Terschka und stutzte über einen wie Hülfe suchenden Blick, den der Präsident auf den Provinzial warf ...

Bonaventura ahnte von Seiten seines Stiefvaters einen noch heftigern Ausbruch der mühsam unterdrückten Stimmung und warf ihm einen bittenden Blick zu ... Die Hauptangelegenheit, das Austauschen der vor Jahren stattgehabten Vorgänge war ja beendet; das Aussprechen der Legitimität der zweiten Ehe hing von einer Entscheidung der römischen Gewissensräthe ab ... Ihn zog es nun nach Westerhof zu Paula, die nach dem schreckhaften Erlebniß dieser Tage seines Zuspruchs bedurfte ... Und Benno, Benno war auf dem Schloß ... Benno hatte die mit Terschka verabredete nochmalige Revision des Archivs, die jetzt einer neuen Anordnung gleichkam, auf heute Nachmittag anberaumt ... Wie bebte er dem ersten Gruße des Freundes – nun Bruders entgegen ...

Da wir unter uns sind, lieber Sohn, begann aufs neue der Präsident, dem Bitteblick erwidernd und das »unter uns« seltsam betonend, so will ich eine Vermuthung aussprechen. Ich gelte schon lange für keinen guten Katholiken ...

Als hätte der Präsident das Erschrecken seiner lauschenden Gattin gesehen, verbesserte er:

Ich kenne wenigstens meinen Ruf ... Die Regierung schenkte mir Vertrauen und ich habe als Patriot diesem Vertrauen zu entsprechen gesucht ... Das Zeugniß kann ich mir geben, daß ich darum meine Religion ebenso liebe wie andere. Nur die Anmaßungen der römischen Curie zu beseitigen, lag in meiner amtlichen Stellung und auch hier verfuhr ich mit Ueberzeugung. Zum Kirchenfürsten ging ich, weil es meine Gattin wünschte. Ich habe ihm offen ins Auge sehen können. Wenn ich es nicht gethan haben sollte, war es, um einen Gebeugten nicht zu kränken. Wir gehören einem gemeinsamen Staate an, der die gegebenen Zustände schont, ohne sich den Verbesserungen zu verschließen. Wollte der Himmel, die Nothwendigkeit der letztern würde nicht zu dringend! Verurtheilen Sie mich nicht, Herr Provinzial! Ich frage Sie – welch eine Institution ist allein schon unsere Beichte, die die geheimsten Athemzüge bis nach Rom vernehmen läßt! ...

Ein Rauschen an der Wand verrieth den Schrecken der Gattin ...

Erkennen Sie darin keinen Segen? erwiderte der Provinzial mit düster zusammengezogenen Augenbrauen ...

Der Präsident beherrschte sich und fuhr fort:

Es ziemt mir nicht, Behauptungen auszusprechen, die ich nicht beweisen kann! So weit aber hat doch mein Amt mich in das innere Leben der Hierarchie einblicken lassen, daß ich vollkommen zu verstehen glaube, welche Zusammenhänge diesen Belästigungen meiner Ruhe und Ehre zum Grunde liegen. Sie glauben, ich würde nicht die Berechtigung der Herzogin von Amarillas, sich meine zweite Mutter zu nennen, anerkennen? Ich würde nicht meine Geschwister an mein Herz ziehen? Sie irren sich! Ich bin bereit dazu, wenn die Ehe wirklich nach bürgerlichen, allgemein gültigen, deutschen Gesetzen als richtig geschlossen gelten könnte. Sie kann dies aber nicht – und ich glaube nicht daran, daß auch irgend Jemand von den Betheiligten in Wahrheit interessirt ist, daß dies geschieht ...

Nicht Angiolina, nicht Benno –? rief es in Bonaventura's Innern ...

Oder glauben Sie, Herr von Terschka, daß Sie Instructionen erhalten werden, noch eine gerichtliche Untersuchung über den Vorgang, den uns in so edler Offenheit der Dechant erzählt hat, in Angriff zu nehmen? Grell aufgedeckt, aller Welt bekannt soll dieser Vorfall werden? Was schrieben Ihnen darüber – die Jesuiten? ...

Terschka bot alle seine Verstellungskunst auf, um auf dies leicht hingeworfene, doch alle erschreckende Wort lächelnd wiederholen zu können:

Die Jesuiten! ...

Die Jesuiten! bestätigte der Präsident. Sie sind kürzlich wiederhergestellt worden. Sie sind schon mächtig genug. Aber die Macht des Ordens ist ihm noch nicht die alte. Die übrigen Orden wuchsen inzwischen in zu großer Autorität für ihn empor. Von den frommen Vätern des heiligen Franciscus droht allerdings seinem Ehrgeiz wenig Gefahr. Ihr General, Herr Provinzial, wird den Einblick in die Beichte meines Vaters verweigert haben; aber doch sind Sie angewiesen, die Bemühungen des Herrn von Terschka zu unterstützen. Ich weiß das! Bestreiten Sie es nicht! Die Dominicaner hätten es nicht gethan. Sie würden Ihnen, Herr Provinzial, geschrieben haben: Lehnen Sie jeden Beistand zu Untersuchungen ab, die den Jesuiten gegenüber eine bei uns niedergelegte Beichte compromittiren könnten ...

Herr Präsident! wallte der Provinzial auf und blickte auf Bonaventura, der ihm beistehen sollte ...

Ich klage Sie ja nicht an, Herr Provinzial! fuhr der Präsident fort und strich sich seine dünnen grauen Haare, als hätte er das Gefühl, wie sie sich unter seiner zunehmenden Erregung aufsträubten ... Ich sage nicht, daß Sie heute überhaupt schon zu Herrn von Terschka's Beginnen ein Ja oder ein Nein verriethen. Sie ließen ihn einfach gewähren. Ich will Ihnen aber nur Eines sagen, was Sie überraschen soll ... In tiefstem Frieden über alles, was uns hier beunruhigt, lebt in Rom die Herzogin von Amarillas ... Ohne Sorge rüstet die hochgestellte Frau sich zu einer Reise nach Wien ... Cardinal Ceccone hat sich seit Jahren an sie und ihren Umgang gewöhnt – Olympia, seine – Nichte – Sie kennen ja die Sage über Olympia – beherrscht die römische Welt und beherrscht ihn und die Herzogin – Ceccone, wie uns Männern vom Regiment wol auf unsere alten Tage geschieht, ist der Inquisitionen und Dolche müde. Er hat das Seinige für die dreifache Krone gethan. Aus Furcht ist er sogar – Affiliirter der Jesuiten geworden – Und doch, doch thut er dem Orden nicht genug ... Ceccone schließt Concordate, bekämpft die Revolution, bereichert den Index der verbotenen Bücher, verdammt Philosophieen und Glaubenssysteme, selbst die, die der Mutter Kirche ergeben sind, Ceccone läßt Donner und Blitz vom Vatican selbst über die neuen Eisenbahnen rollen – dem General der Jesuiten ist alles das noch nicht genug. Man erwartet, daß Ceccone nach Wien geht. Die Diplomatie und Staatskunst wollen den Frieden der Kirche mit unserm Lande vermitteln. Aber die Jesuiten nehmen diesen Augenblick wahr. Ihnen scheint er für Deutschland, für Europa entscheidend. Jetzt oder erst in einem Jahrhundert! So wollen sie den letzten Rest von Selbständigkeit, den sich der Heilige Vater noch durch seine nächsten Organe erhält, vernichten ... Nur den Befehlen des Al Gesù soll er folgen ... Nur eine Politik, eine Diplomatie nach kirchlicher Autorität vertreten ... Erst sollen Priester, Mönche, Bischöfe sprechen, dann Staatskanzler ... So stechen sie jetzt dem Cardinal, einem alten Richter und Advocaten allerdings voller Weltlichkeit, in die Ferse durch die Drohung: Die Frau, ohne die du nicht sein kannst, die Frau, die der Deckmantel deiner zärtlichsten Fürsorge für Olympia ist, verfällt einem Schicksal, das sie und Olympia und dich selbst an den Pranger stellt; sie war die Gattin zweier zu gleicher Zeit lebender Männer! Wozu würde sich nicht Ceccone entschließen, wenn er solche Gefahren von seiner Ehre, von der Ehre der Frauen, die er schätzt und liebt, abwenden muß! Welche Dispense sind da nicht nöthig, um solche Verbrechen zu sühnen! Welche Schwierigkeiten vor demjenigen Theil des geistlichen Ministeriums in Rom, der sich mit den Herzens- und Heirathssachen von hundertunddreißig Millionen Kindern der Kirche beschäftigt! Erkennen Sie nun die Möglichkeit, wie zuletzt dem Staat über solche Intriguen die Geduld reißt! ... Ich nehme von dem nichts zurück, was ich für die Freiheit der gemischten Ehen gethan habe ...

Das Rücken des Stuhls, auf dem der Provinzial saß, übertönte ein fortgesetztes Rascheln, das an der Wand hörbar wurde und immer noch Niemanden auffiel ... selbst nicht dem Präsidenten, der es ausdrücklich hören sollte ...

Wie ergriff jedes dieser Worte Bonaventura im Hinblick auf die Empfindungen, die – darüber eben auch – seine Mutter hätte hegen müssen ...

Terschka wagte nicht zu widersprechen ... Vollkommen von der Wahrheit dieser Enthüllungen überzeugt, sah er im Geist wieder seinen löwenmuthigen General, hörte die vor Jahren in Rom erhaltenen Anreden, sah den Feldherrnblick, der im Al Gesù das Nächste und Entfernteste vom kleinsten Menschen-bis zum größten Staatenschicksal zu benutzen versteht ...

Wohlan, fuhr der Präsident fort, ich bin beruhigt, wenn mir Herr von Terschka sein Ehrenwort gibt, vorläufig nichts weiter in dieser Sache zu thun, nicht in Witoborn oder sonst auf den Archiven verdächtigende Nachforschungen anzustellen, sondern vorläufig nach Wien oder – Rom hin zu berichten, daß dieser Handel von unsern Auffassungen und Gesetzen abgemacht und die Herzogin von Amarillas nicht die Frau von Wittekind ist ...

Was nur lähmte Terschka die ihm sonst so geläufige Zunge und ließ ihn über die scharfe Betonung des Wortes: »Sein Ehrenwort« erschrecken? ...

Der Präsident sagte noch einmal: Geben Sie Ihr Ehrenwort! ...

Terschka schwieg ...

Ihr Ehrenwort! Als Cavalier! ...

Als Terschka auch jetzt noch sinnend niederblickte und schwieg, sprach der Präsident mit ergrimmter leiser Stimme:

Ich vergesse – – Herrn von Terschka bindet an die Obern das Gelübde des Gehorsams! ...

Die Wirkung dieser Worte war mächtig ...

Der Präsident erhob sich; alle andern blieben sitzen wie gelähmt ... Terschka bleich mit halbgeöffnetem Munde ... Der Provinzial mit hoch aufgezogenen Augenbrauen ... Bonaventura mit einer Ahnung, die im Hinblick auf – den ketzerischen Grafen Hugo im Nu – die volle Wahrheit erkannte ...

Nehmen wir ein Frühstück, meine Herren! sprach im Gefühl seines wenigstens jetzt unwiderlegbaren Triumphes der Präsident und wollte, scheinbar unbefangen, vorangehen, um die Thür zu öffnen ...

Die drei Priester waren zwar auch aufgestanden, blieben aber noch immer wie erstarrt stehen ... Kein Wort kam von ihren Lippen ... Das Wort des Präsidenten konnte für einen Scherz gelten – aber man erkannte zu deutlich – der Falsche, Abtrünnige, der »Segestes«, wie ihn sein Vater genannt hatte, war zu diesem Kampf wohlgerüstet erschienen ...

Um die Vernichtung Terschka's, der, mit tausend Dolchen durchbohrt, sich am Stuhl zu halten suchte, zu mehren, ging der Präsident in leichtem, scherzendem Ton zu den Worten über:

Will Graf Hugo seine Güter hier selbst antreten, so würde er allerdings gut thun, sich erst in den Schoos der alleinseligmachenden Kirche zu begeben und Sie – Herr Pater Stanislaus, werden schon dafür sorgen ...

Ein Einspruch gegen diese Worte, die nur wie ein ironischer Scherz fielen, war nicht möglich; denn schon hatte der Präsident geklingelt, schon traten Diener ein. Nicht lange, so erschien Frau von Wittekind. Man setzte sich zu Tisch. Der Präsident entwickelte eine Heiterkeit, eine Fülle von Kenntnissen, die ihn scheinbar zum Sieger über seine Gegner machte, trotzdem, daß er ahnte, wie ohne Zweifel mit der Zeit zwei legitime Geschwister sich ihm zur Seite stellen würden ...

Bonaventura brach früher als die andern auf ...

Wie hätte er mit Terschka noch länger allein sein können ...! Wie noch länger den Blick ertragen mögen, der in Terschka's Augen der der tiefsten Vernichtung war! ...

Welche Enthüllungen! ... Terschka ein Jesuit! ... Abgesandt zur Convertirung des Grafen Hugo! ... Und mit welchen Mitteln sollte er ihn bekehren ... Mit welcher Kunst der Verstellung! ... Bonaventura's Erschaudern über Rom konnte bei der einen Thatsache nicht verweilen, denn schon die andere verdrängte sie ... Sah er auch im katholischen Sakrament der Ehe, das abweichend von den sechs andern, sich ohne den Priester, rein nur durch die Liebe vollzog, wieder seine vollen schönen großen Rosen in den Münstern glühen, was sollte er – mit Benno beginnen? ... Sollte er ihn lind und sanft auf seine Jugendtage zurückführen? Auf einen Kronsyndikus als Vater! Auf eine in Rom unter Verhältnissen, die sich aller klaren Beurtheilung entzogen, lebende Mutter! Auf eine Schwester in zweideutiger Lebensstellung ... Benno war, jetzt begriff er es ganz, älter, als man geglaubt ... Wie auch anders konnte Benno in seinen Erinnerungen das Bild einer schönen Frau haben, die aus einer prächtigen Kutsche stieg und ihn so oft voll Schmerz und Liebe betrachtete! ... Wer konnte dies anders gewesen sein, als die Frau, die eine rechtmäßige Geburt verbergen mußte und sicher den erlebten Betrug erst spät ahnte ... Als sie in die allgemeine Flucht des westfälischen Hofes gerissen wurde, blieb ihr kaum darüber ein Zweifel ... Da sie die tiefere Kenntniß der ihr beistehenden Kirchenlehre nicht besaß, ergriff sie Furcht, Haß, Scham, sodaß sie nichts mehr vom Vergangenen besitzen mochte und in ein neues Lebensverhältniß trat, leichtsinnig genug vielleicht ... Erst hatte Max von Asselyn, der aus Spanien zurückkam, Benno als seinen Sohn mitgebracht, dann erzogen ihn die Hedemanns, dann kam er in die Dechanei ... Alles das war verabredet um des Dechanten willen, dessen Existenz von einer plötzlich streng gewordenen Censur abhing. Ein Zug der Natur war es, daß sich Benno so eifrig die Sprache seiner Mutter aneignete und oft Bonaventura selbst anfeuerte, sich in ihr zu vervollkommnen ... Und neben Angiolina – neben einer zweiten Lucinde, neben einer in gewissem Sinne zweiten Rivalin Paula's – Graf Hugo liebte sie – dann noch Lucinde selbst ... Zuletzt hafteten alle seine Gedanken nur noch allein an dieser ... Gefolgt war sie ihm aufs neue ... Ewig sie sein Schatten! ... Auf Schloß Münnichhof, unter dem Schütze einer Frau von Sicking, wagte sie zu erscheinen ... Nichts fürchtete sie von Klingsohr, nichts von allem, was Bonaventura über ihr Leben aus ihrer unvergeßlichen Beichte wußte ... Es durchbebte ihn, gedachte er dieser Fessel seines ganzen Lebens ... Das war sie und das blieb sie und – zum Hasse, zum glühenden Hasse Lucindens konnte er sich nicht einmal erheben ... Nur fliehen mußte er sie ... Wer weiß, ob sie nicht rücksichtslos auf Schloß Westerhof erschien, Paula sich vorstellte und die Schmerzen, die sonst die Leidende in ihrer Nähe fühlte, erneuerte ... Wie er im verschlossenen Wagen seines Stiefvaters dahinfuhr zur Ebene nieder, da war es ihm doch, als müßte Lucinde ihm nachfliegen, umschwärmt von Raben, mit einem Zauberstab auf die Brandstätte deutend als den Anfang all des Unheils, das sie ihm vorausgesagt hatte ...

Indessen – auf den Feldern lag ein so milder Sonnenschein ... Der Frühling fing an sich so mächtig zu regen ... Die Wälder in der Ferne hatten in einer Nacht einen Schein bekommen, als trieben die Bäume schon ihre verjüngenden Säfte ... Heller, hoher Mittag war es ... In der Ebene mußte er den Schlag öffnen, um ganz die Sonne hereinzulassen ...

Und wenn es ihm allmählich wurde, als müßte schon die Lerche seines Frühlingsliedes steigen, so war es, weil sich zuletzt doch siegreich nur noch allein Paula's Bild in milder Anmuth auf sein inneres Auge senkte ... Das Gewitter in ihm verrollte ... Nur noch einzelne Schläge, nur noch das Zucken seines Auges vor einem letzten Leuchten des Blitzes – dann zogen die drohenden Geister der Luft immer ferner dahin ... Auch der innere Himmel blaute wieder und all sein Leben ruhte im Blick hinüber auf Westerhof ...

Dennoch, dennoch klagten die innern Melodieen:

Muß ich es ewig sehn! In deine Locken

Flicht doch dereinst den Kranz die fremde Hand!

Der Myrte silberweiße Blütenflocken –

Doch schimmern sie dir einst aus fernem Land!

Unsterblich Loos, an Sterbliche gegeben,

Dich zu umfangen für ein ganzes Leben!

O lächle nicht zu hold! Du kannst nicht wissen,

Wie Lächeln wird zu Hoffnungdämmerschein!

Wie sich das Licht entringt den Finsternissen

Und hüllt die Welt in Rosenwolken ein!

Du ahnst es nicht, wie deinem Zauberworte

Zu sel'gen Träumen sich erschließt die Pforte!

Es kann nicht sein! Es soll nur still verhallen!

Wie Zephyrhauch am holden Frühlingstag!

Wie in dem Strom die stillen Tropfen wallen!

Nur wie die Knospe bricht im Rosenhag! ...

Und rief's die Welt im Chor – Dennoch entsage!

Spräch' immer nur des Echos leise Klage – –

In Witoborn wurde Bonaventura von dem alten Meßner Tübbicke angehalten ... Dieser bat ihn aufs dringendste, erst nach Sanct-Libori zu fahren, wo Norbert Müllenhoff plötzlich erkrankt war und das Bett hütete ... Eben entbot er ihm einen Vicar und vielleicht, bat er, hätte der Domherr auch die Freundlichkeit, den Pfarrherrn in seinen Functionen zu unterstützen ... Beichten, Messen, alles würde in Stocken gerathen, wenn die Krankheit andauerte ...

Bonaventura mußte den Umweg über Sanct-Libori nehmen ... Sonntag war vor der Thür, aber nichts erschreckte ihn mehr, als die Aussicht auf Beichthören ... Er billigte als Aushülfe einen Vicar aus dem Seminar – aus demselben, aus dem einst Leo Perl gekommen ...

An der Besitzung der Frau von Sicking brauchte er jetzt nicht, wie er gefürchtet, vorüberzufahren ...

Den Pfarrer fand er in der That im Fieber ... Müllenhoff behauptete, sich beim Brand erkältet und über das Fräulein Benigna von Ubbelohde geärgert zu haben ... In Wahrheit aber waren nur die beiden Wiegen, die vor seiner Thür gestanden hatten, der Anlaß seiner Krankheit ... Wie der Gensdarm von der Schmeling zurückgekommen war und den ganzen Hausstand derselben geschildert hatte, auch die Anwesenheit des verunglückten Dieners auf Westerhof, auch die der Finkenhofer Lene und ihrer Umstände, da legte er sich ins Bett ...

Der Geschäfte gab es für den Eiferer so viele ... Gerade war der Kirchenconvent gekommen ... Er kam, um Strafen zu verhängen, um die neue Tanzordnung für den Finkenhof zu ordnen, um den Jünglings- und Jungfrauenbund für die Ostern einzuleiten ... Bonaventura mußte alle diese Neuerungen auf einen andern Tag verschieben ... Müllenhoff, wie sich bei einer so markigen und kernhaften Natur erwarten ließ, wand sich in ungeberdiger Ungeduld auf dem Lager. Vor Aufregung und Erhitzung durch den Thee, den ihm die Kathrein zu trinken gab, sah er wie zum Schlag treffen aus ...

Bonaventura sprach ihm zur Beruhigung ... Besaß doch auch nur er diesen sanften Ton, der Herder's Behauptung widerlegen müßte, daß die Sprache von den Menschen erfunden ist ... Diesen Ton, der tröstend zu den Leidenden spricht, der wie ein Balsamhauch über brennende Wunden fährt; den nicht die Zunge, den das Herz selbst einsetzt und gerade so einsetzt, wie der Schmerz seine Klage ... Diesen allein tröstenden Ton, den ein Arzt hat, wenn er, ein weiser Heilkünstler, in das Zimmer eines Kranken tritt ... den ein Vater hat, wenn er ein' Kind an sein Herz zieht und es ermuntert nur ihm, ihm allein seine jungen Leiden anzuvertrauen, ihm allein die Erstlinge seiner Schmerzen zu opfern ... Müllenhoff meinte zaghaft: Ich möchte Ihnen wol beichten! ...

Bonaventura hielt dies Wort für ein Zeichen der Todeserwartung, für ein Begehren, schon die Sterbesakramente zu empfangen ... Er bat den excentrischen Mann, sich nicht aufzuregen ... So unterblieb das Abschütteln einer, wie es schien, drückenden Last ...

Ein normirtes Vespergebet mußte Bonaventura im Stift Heiligenkreuz halten ... Das war unerläßlich; – wer zählt die religiösen Pflichten, die sich an die Altäre der alleinseligmachenden Kirche auf Stunde und Minute knüpfen! ... Kein Gotteshaus, und wär' es noch so klein, es hat seine Ordnung und seine bestimmten Tage, die nur ihm allein angehören ... Geburtstage im Kalender der Heiligen (die Geburt eines Heiligen ist sein Tod) gibt es mehr, als Tage im Jahre ... So reicht die Zeit kaum aus für die Reihe der Zeugen und Bekenner, deren Gedächtniß die Kirche feiert ... Jede Diöcese besitzt ein Programm seines Kirchenjahrs, so festgeordnet auf Ort und Minute, wie die Astronomie die Constellation der Gestirne bestimmt ...

Der Wittekind'sche Wagen blieb zu Bonaventura's Verfügung ... Er fuhr damit nach Heiligenkreuz und hielt das Vespergebet zu nicht geringer Ueberraschung der Stiftsdamen ... Gib Acht, du kommst nach Westerhof und triffst schon Lucinden! ... Dieser Gedanke verfolgte ihn ... Lange aber hatte ihm eine einfache kirchliche Function so wohlgethan, wie heute nach allen Aufregungen dies stille Murmelgebet in der kleinen dunkeln Kapelle des Stifts ...

Und das hätte dann allerdings den Damen behagt, wenn Bonaventura ihnen Beicht abgenommen ... Sie hätten sämmtlich ihren gewöhnlichen Arzt, Müllenhoff, sofort aufgegeben und dem neuen von sich weit, weit mehr, als nur Fastengebotverstöße eingestanden ... Wie »bedeutend« hätte sich jede in ihren Zweifeln und Beunruhigungen hingestellt! ... Fräulein von Merwig, die »Anflickerin«, hätte ihren starken Geist gedemüthigt und ein Mittel gegen den Ehrgeiz begehrt, nur um zu verrathen, daß es Dinge gab, worauf sie ehrgeizig sein konnte ... Fräulein von Absam hätte »Neid« in der Brust gehabt und damit verrathen, worauf ihre geheimen Sehnsuchten gingen ... Fräulein von Tüngel-Appelhülsen, eines der jüngern Mitglieder, erst im Anfang der vierziger, hätte vielleicht eine Indiscretion gebeichtet, die beinahe wie eine Rache herauskam. Sie war eine Verwandte der Schwester Scholastika, Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien. Aber die Tüngel-Heides und die Tüngel-Appelhülsens wichen voneinander ab wie Tag und Nacht. Unbekannt mit diesem Unterschied ging Monika jene Portiuncula unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, ob sie nicht bei ihr mit fremdem Namen absteigen und in Armgart's Nähe einige Tage leben und sich ihrer Nachbarschaft einwohnen könnte, ohne daß sie es wisse. Und auf diesen Brief hatte das Fräulein geantwortet, ganz so steif, ganz so beschränkt, wie ihrem Charakter entsprach. Monika hatte diesen Brief nicht vertrauenerweckend gefunden und nur noch kurzweg um Entschuldigung gebeten und ihre Hülfe abgelehnt. Aber – dumme Menschen sind immer gefährlich und gerade die klugen Leute machen dann auch noch gerade die dümmsten Streiche. Portiuncula hatte sich, aus Rache für diese Ablehnung, gestern Abend in ihrer ganzen Glorie gezeigt ... Zu Armgart, die seit dem Brand in Westerhof blieb, hatte sie unter Kichern und zweideutigen Anspielungen, ganz im Geist des Stiftes, gesagt: »Na ja, Fräulein von Hülleshoven, jetzt kann ich Ihnen doch sagen, Ihre Frau Mama ist schon in Eschede! Sie wohnt bei Schönians. Die Müllern, die Angelika steckt sogar von Paris aus dahinter! Ja, und von da geht sie noch heute zur Frau von Sicking, und denken Sie! wer wird sie da eingeführt haben? Niemand anders, glaub' ich doch, als die Person, die mir mein ganzes Lebensglück ruinirt hat, Sie wissen ja – die Schwarzin! O, ich könnte in Neuhof die Erbin so gut sein wie andere! Aber, wenn Sie morgen Abend beim Thee in Westerhof sitzen, da passen Sie mal auf, dann ist die Mutter da und hält Ihnen die Augen zu! Sie hat sich mit Benigna hinter Ihrem Rücken ausgesöhnt! Und wollen Sie von Ihrem Vater hören, so müssen Sie – aber verrathen Sie mich nicht – zu Hedemann nach Witoborn! Lassen Sie doch Ihren Herrn von Terschka da anfragen – Freilich – bei Hedemann wohnen Herr von Asselyn und Herr de Jonge ... Er – Sie Kleine, Sie fangen ja schon früh an! – –« Und nun kam alles so heraus, wie es ist in der Welt, wenn der Mensch sich einbildet, sein Leben und sein Handeln wäre nur für ihn allein da; alle wissen davon und oft mehr, als wir ...

Diese Beichten blieben jedoch aus ...

Es war schon Abend, als Bonaventura in Westerhof eintraf ...

Er fand das Schloß in eigenthümlicher Bewegung ... Im Vorhause hörte er aufs lebhafteste sprechen ... Die Diener standen in Gruppen ... Fast übersah man das Anfahren seines Wagens ...

Er achtete wenig darauf, da er sich schon erleichtert fühlte, nur kein Anzeichen zu sehen, das auf eine etwaige Anwesenheit von Besuch und wol gar Lucindens schließen ließ ...

Herr Domherr! hieß es. Bisjetzt haben Herr von Asselyn auf Sie gewartet und Herr de Jonge ... Beide empfahlen sich zur Rückreise und hätten Sie gern noch einmal gesprochen ...

Benno schon zurück? ...

Bonaventura hoffte, daß er ihn und Thiebold morgen noch in der Stadt fand ...

Ueber Terschka erfuhr er, daß in der That dieser und Benno, Thiebold und der Onkel, wie sie gewollt, am Nachmittag das Archiv geordnet hatten ...

Vom Hof aus leuchteten die Laternen, die, um Unglücksfällen vorzubeugen, die düstere Brandstätte erhellten ...

Klingeln erschallten von da und dort ...

Ist Paula – doch nicht – krank? dachte er bangend und wagte nicht zu fragen, ob dies Klingeln und Laufen der Gräfin gälte –

Die Herrschaften sind alle oben! hieß es ungefragt ... Und Herr von Terschka kleidet sich um ... Und auch Herr von Hülleshoven ...

Wozu umkleiden? dachte er ...

Eine Kammerjungfer des Hauses eilte an ihm vorüber, blieb stehen und sagte:

Herr Domherr – Sie wissen doch schon? –

Sein Blick deutete das Gegentheil an ...

Das Document – die langgesuchte Urkunde –

Eine Klingel zwang die Sprecherin, in Eile abzubrechen ...

Bonaventura blieb wie mit einem Riß durch sein Herz ... Indem stand ihm plötzlich Onkel Levinus zur Seite ...

Da sind Sie! Nun, Domherr, sprachen Sie schon Ihren Vetter Benno? ...

Was ist? ...

Sie hörten doch? Die Urkunde ist gefunden! Beim Räumen des Archivs! Sehen Sie, so hab' ich mich umkleiden müssen! Vor Ruß und Brandgeruch! Auch Herr von Terschka! Ein Wunder ist's! Staunen Sie nur! Unbegreiflich! Aber Sie wissen doch, die Urkunde, der zufolge Graf Hugo nicht erben soll, wenn nicht die Religion stimmt! Paula bleibt die Erbin! Darüber ist jetzt kein Zweifel ...

Bei allen Heiligen –

Wunderbar! Aber kommen Sie! Sehen Sie das Document! Wir fanden es mitten unter den geretteten Papieren ...

Schon stand Bonaventura in der geöffneten Thür des großen Vorsaals ... am Weihwasserbecken ... Besinnung hatte er nicht, sich zu benetzen ... Die Gruppe, die sich seinen Augen bot, ließ auch nichts anderes aufkommen, als zunächst den Gedanken: Paula stirbt! ...

Beleuchtet von Kerzen, die Diener und einige Mädchen in die Höhe hielten, stand Paula mit einer Pergamentrolle in den Händen, leichenblaß, Wachsfarben, wie ein Cherub des Himmels und wie schwebend im Chor der Seligen ... Armgart, zu ihr aufsehend, hielt sie in Andacht und Schrecken ... Die Tante Benigna hielt sie ebenso mit ihrer Rechten ... Paula las zwar, aber ihr Auge stand starr und wie gebrochen ... Die Worte: »Vorbehaltlich daß die jüngere Linie meinem Beispiel folgt und bis dahin in den Schoos der alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt ist« standen wie mit Geisterhand aus ihrer Stirn zu lesen ... Onkel Levinus sprach diese Worte ... Und nun trat Bonaventura ein ... Da erlosch Paula's Auge ganz ... Ihre Kniee wankten ... Mit einem Hauch des Schreckens verging ihr die Kraft, sich zu halten ... Ohne Bewußtsein lag sie in den Armen der Hinzuspringenden, die sie nebenan auf ein Sopha trugen ...

Wie mit Donnerton wollte Bonaventura rufen: Aber die Urkunde ist ja falsch! ... Doch auch ihn entwaffnete der Anblick derselben. Er kannte so viele solcher alten Urkunden. Diese trug die Spuren ihrer Echtheit unverkennbar ... Das Pergament war zermürbt, mannichfach zerbrochen, altersbraun ... Die Buchstaben der Handschrift im steifen Kanzleigeschmack der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege ... Während Paula nebenan ins grüne Zimmer getragen wurde, erzählte der Onkel die Art des Fundes, die Ueberraschung Benno's, die Zweifel Thiebold's, seine eigenen Untersuchungen ...

Aber Terschka? fragte Bonaventura außer sich ...

Betroffen – natürlich – erschüttert – Es ändert sich vieles – wenn nicht – ...

Alles! rief Bonaventura ...

Der Onkel bestätigte dies ... Sonst hörte er nichts und sah nichts, als die wahrscheinliche Geschichte der Urkunde ... Er bewies an den Brüchen des Documents, wie dasselbe zwei Jahrhunderte lang an der hintern Wand eines Schubfachs hätte müssen eingeklemmt gewesen sein ... Er hatte das Siegel der Dorstes nie in so richtiger Prägung gesehen ... Drei Sterne fand er wieder, die gerade Maximilian von Dorste zuerst in das Wappen des Hauses einführte ... Er bewunderte die damalige Schreibart einiger Dorfschaften, die zu den gräflichen Gütern gehörten ... Längst von ihm geahnte Ursprünge derselben sah er jetzt bewiesen ...

Paula blieb inzwischen auf dem Sopha; Armgart kniete vor ihr und barg thränenvoll ihr Haupt ...

Tante Benigna sagte halb bangend, halb von ihrem Standpunkt schon freudestrahlend:

Eine große Wendung! Paula – die Herrin des Ganzen! Das steht nun fest und bleibt unwiderruflich ...

Und auf ein Wort, das sie eben von den Rücksichten der Etikette beginnen wollte, trat Terschka ein, in schwarzen Kleidern, in völlig veränderter Haltung gegen sonst, bleich wie der Tod ...

Die Augen Bonaventura's wagte er nicht auszuhalten ...

Er verbeugte sich und blinzelte auf alle Umstehenden von der Seite, während er aufs neue die Urkunde ergriff ...

Wie oft hatte man sich aus Wien bereit erklärt, sich ihr unterwerfen zu wollen, falls sie gefunden werden könnte und überhaupt je ausgestellt wäre ... Es handelte sich um eine veränderte Stellung aller der Fragen, die bisher Rück vertreten hatte. Es handelte sich um die weitere Erbfolge, die eine völlig verschiedene wurde, wenn sie von Paula als Herrin ausging, als wenn von der jüngern Linie. Blieb Paula die Besitzerin, so hatte auch die weibliche Linie der Dorstes Erbrechte und da ergab sich auf diese Art nicht nur der berechtigtste Antheil drüben in der Person des Präsidenten auf Neuhof, durch diesen in Bonaventura selbst, sondern auch für viele entfernter wohnende Angehörende ... Gerade von dieser Seite aus war schon lange und besonders durch den Kronsyndikus wie eine felsenfeste Nothwendigkeit die Convenienzregel hingestellt worden, daß, wenn Graf Hugo nicht mit dem Erwerb dieser großen Güter, weil er nicht katholisch wäre, durchdränge, doch Gräfin Paula dann seine Hand annehmen müßte, um ihn und die jüngere Linie von ihrem tiefen Verfall emporzubringen ... Ein solcher Receß, wie er nun jetzt eintrat, gestattete Paula nicht die freie Disposition über ihr Eigenthum; Vettern und Muhmen und Kirche und Landschaft nahmen an den Pacten einer Ehe theil und legten die mannichfachsten Beschränkungen der vollen Besitzergreifung auch für Paula auf ... Paula, die darum aber doch die reiche Erbin blieb und höchstens aus freiem Willen, aus Hinopferung ihrer Hand etwas für die jüngere Linie thun konnte – für den Grafen Hugo, den Lutheraner, den Freund Angiolina's – den Freund des Freifräuleins von Wittekind, der Schwester Benno's! – Paula erhielt an die Freiheit ihres Willens Berufungen, denen wenigstens jetzt ihre Kraft nicht gewachsen war ... Alles das übersah Bonaventura voll Schrecken und Wehmuth ...

Terschka erklärte mit scheinbarer Ruhe und mit einer den Onkel und die Tante wohlthuend berührenden Mäßigung nur seine Ueberraschung zu diesem Schicksalsschlage ... Seinen unbedingten Glauben an die Urkunde verweigerte er nicht ...

Er erwähnte die Anstalten, die er getroffen hätte, sofort durch einen Courier nach Wien die neue Wendung wissen zu lassen, die man jedenfalls – er verbeugte sich gegen Paula – hoch in Ehren zu halten hätte ...

In seinem Innern kämpften die Entschließungen, die er fassen sollte ... Seine irrenden Augen suchten Armgart, die die ihrigen verbarg ...

Die Beichtworte, die Bonaventura von Hammaker und Bickert gehört hatte, lauteten auf »Feuersbrunst« und »falsche Urkunde« ... Ein Wie? ein Wo? und Wann? hatte er von keinem von beiden erfahren können ... Vielleicht hatte er in der That diese beiden Geständnisse in eine zu rasche Verbindung gebracht mit den Scherzreden Benno's bei jenem Abendspaziergang am Ufer des Stroms, die gelautet hatten: »Die Kunst, in alten Lettern auf Pergament zu schreiben, ist in unserer Stadt heimisch« ... Konnte er auch eine Wendung, die zunächst eine scheinbare Glückswendung für Paula war, so ohne weiteres auf diesen seinen Verdacht hin als ein Werk des Betrugs erklären? ... Wie er Terschka lesen und lesen sah, kam ihm sogar der Gedanke: Hat wol gar, in falscher Freundschaft für den Grafen Hugo, ein Jesuit dies Verbrechen gefördert – fördern müssen – in majorem Dei gloriam? ... Reißt man Paula mit Gewalt zu dem Mann hinüber den sie in den Schoos der Kirche führen soll und – führen wird! ... Sicherte man sich in Rom zwei Magnete zur Bekehrung: Paula – und Angiolina? ...

Paula erholte sich und ihr Auge suchte Bonaventura. Sie wollte den Rath der geliebten Stimme hören ...

Den Rath – des entmannten Abälard – an Heloisen ...

Die Aufregungen des Onkels, der Tante dauerten fort ...

Benno, der bisjetzt kaum von der Tante genannt wurde, erhielt plötzlich von ihr die höchste Anerkennung und Thiebold de Jonge verschwand. Eine Neigung zum Skepticismus, die Thiebold beim Anblick des wunderbaren Fundes und beim dadurch bedingten Rückgängigwerden seines Waldankaufs verrathen hatte, verdächtigte ihr Thiebold's Gemüth, sogar seine Grundsätze ... Die Tante sprach kein Bedauern aus, daß der junge sonst so liebenswürdige Herr von Jonge heute und nun für immer fehlte ...

Bonaventura verließ endlich das Schloß, dessen Bewohner sich nicht sammeln konnten ...

Terschka schien zögernd mit ihm sprechen zu wollen ... Er entriß sich ihm voll Grauen ...

Wie die Nebel um ihn her aufstiegen, wie rings alles in ein undurchdringliches Dunkel sich hüllte, so umnachtet in seiner Seele schritt er dahin und fast den Weg verfehlend ...

Erst die Glocken von Sanct-Libori wiesen ihm die rechte Straße ... Sie läuteten schon seit einigen Tagen auf die kommende Fasten-, Leidens- und Osterzeit ...

Aber in seinem immer tiefer und schwerer belasteten Innern griff das Kirchenjahr schon weiter hinaus – schon zum Tag der Verklärung und der Himmelfahrt:

Ostern! Ostern! Dein ErwachenFührt nur himmelwärts den NachenAufwärts aus der Erde Noth! –Ach, zu tödlich ist der Tod! – –Wer entronnen seiner Truhe,Sucht auf Erden nicht mehr Ruhe.

22.

Von der Etikette hatte die Tante zu Terschka gesprochen ... Etikette – das ist so ein Wort, das uns in Armgart's Welt zurückführt ...

Etikette war ihr von allen Erb- und Erbsketten schon von frühster Kindheitserinnerung an eine der härtesten und grausamsten – Auch im Stift wurde noch jetzt der Vorwurf des Mangels an Etikette nie anders ausgesprochen als mit jener Geringschätzung etwa, die den Mangel an sechszehn Ahnen begleitete ...

Wer das Geheimniß der Liebe in einer reinen, eben vom Kind zur Jungfrau erblühten Natur beobachtet hat, weiß es, daß sich die älteste aller Weltbegebenheiten im Mädchenherzen immer wie das Allerneueste wiederholt. Jede liebende Seele glaubt die Liebe zuerst erfunden zu haben ...

Die Tradition ist dann allerdings mächtig. Es gibt sechszehnjährige Oberflächlichkeiten genug, die die angeborne Nichtsbedeutung durch das schnellste Annehmen aller über Welt, Leben, auch die Liebe überlieferten Begriffe kund geben und ebenso basenhaft von der Liebe fühlen und sprechen, wie jede ihrer Tanten ...

Doch fehlen auch Erscheinungen nicht, die, wie die Schnecke ihr eigenes Haus, so sich ihre eigene Welt aus ihrem Innersten erbauen ... Erscheinungen, die erst lange, oft nach den gefahrvollsten, ja das eigene Leben bedrohenden Umwegen auf euere gemeinplätzlichen Entweder-Oders, euere »Liebe oder Haß«, euer »Wille oder Zwang«, euere »Natur oder Unnatur« ankommen, Gegensätze, die nun einmal die geltenden sind. Sie kommen dahin oft an erst mit gebrochenem Herzen, geknicktem Genius, für immer verbrauchter Lebenskraft ...

Weiß denn wol Armgart, was die Liebe ist? ...

Sie sollte es doch wol empfunden haben, wie es thut, im Arm eines Mannes zu ruhen, der von glühender Neigung ergriffen ist ... Sie sollte es doch wol wissen von damals, als sie vom Hüneneck herabstürmte und in Benno's Arme sank, der sie auffing und so lange hielt, bis sie wieder den verlorenen Athem gefunden ... Sie sollte Thiebold's »Schmachten« verstanden haben und aus der Pension vollkommen wissen, wonach sich schon so früh Tausende von jungen Mädchenherzen sehnen ...

Aber sie hatte nun eben nicht den Trieb, immer allein in sich selbst zu verharren ... Schon als Kind lebte sie nur für andere – sie lebte für Paula, die sie bediente, der sie half, die sie vertheidigte, so klein sie war. Der Freundin war sie ein Bannerträger, wenn auch nur gegen Sonnenstrahl und Regen ... Und die Tante ließ das Gefühl, daß sie auch selbst etwas war, niemals bei ihr aufkommen ... Sie wuchs auf unter Anklagen, daß sie, wie sie's nannte, überhaupt nur in der Welt wäre ... Bettina liebte als Kind den schon bejahrten Goethe deshalb, weil sie in Frankfurt nur von ihm hören konnte: Der kalte, herzlose, unpatriotische, fürstendienerische Egoist! ... Armgart hörte ebenso nichts, als daß sie einen herzlosen Vater, eine herzlose Mutter hätte ... Sie hörte, daß sie eigentlich ein Leben führte, das eine Beschämung der Verwandtschaft wäre ... Sie wäre ein Wildling ... Sie sollte nur sorgen, daß man sich nicht auch noch ihrer schämen müsse ... Dem alten Grafen Joseph war sie in der That selten bequem ... Geduldet wurde sie in Westerhof nur durch ein stetes Gemeistert- und Gestraftwerden ... Paula schützte sie, soweit Paula Kraft und Willen hatte ... Aber mit träumerischem Herzen ging Armgart doch im Schloß wie in der Fremde und mistraute jeder Huldigung, jedem Schmeichelworte, das ihr wurde ... Bettina fand einen einzigen Freund des verketzerten Goethe, die alte Mutter des Dichters ... Mit der »schwärmte« sie für ihn ... Mit der erfand sie sich eine Idealgestalt und hielt die fest ... Auch Armgart saß so auf einem Fußschemel und legte den Kopf in den Schoos einer einzigen theilnehmenden Seele und malte sich den Vater und die Mutter entgegengesetzt alledem aus, was ihr täglich von ihnen gesagt wurde ... Nur konnte Paula nicht, wie die Frau Rath, kleine Züge des Herzens von ihren so hart Angefeindeten erzählen, Erinnerungen der Kindheit, die ein Mutterherz bewahrt ... Aber Paula war doch die einzige, die zuhörte, wenn Armgart von alten Dienern und Beamten des Schlosses Erinnerungen an ihre Aeltern und besonders an die Zeit, wo sie ihnen so gewaltsam vorenthalten wurde, aufgetrieben hatte ... Der alte Tübbicke hatte ihr den Versteck im Laboratorium, die Krankheit der Mutter, das Ergrauen ihrer Haare erzählt ... Der alte Oberförster lobte jeden Soldaten, der sich im Frieden nicht gefalle und es mache wie Herr Ulrich von Hülleshoven und Hedemann, die in fremde Dienste und Länder gegangen wären ... Was nur unterhaltend, abenteuerlich, bedeutsam im Leben war, knüpfte sich für Armgart an die Aeltern ... Ihre Liebe zu ihnen wurde ihr wie ein angewöhntes Sprichwort, das man aus Laune und gerade zum Trotz in Gegenwart von Menschen, die sich aus Gründen, die uns nicht überzeugen können, darüber ärgern, nicht ablegt ...

Wie dann die Religion auf Armgart wirkte, wissen wir ... Die Religion war ihr wie dem Volk und wie im Mittelalter der ganzen Bildung der Anhalt alles Heroischen und Großen ... Man führte im Mittelalter die Vorgänge des Evangeliums auf öffentlicher Bühne auf, um zu zeigen, daß Tyrannen, wie Herodes, vor Gott nicht bestünden ... Was wollten denn nun diese bösen Philipps und Ludwigs von Frankreich gegen die vom Christenthum berechtigten Augenspiegel beginnen? ... »Hauspapen«, Französinnen aus klösterlicher Region legten den Grund der Bildung Armgart's ... Das Pensionat in Lindenwerth hatte nur auszubessern, ohne daß man dabei an besonders Neues ging ... Armgart lernte etwas zeichnen aus sich selbst ... Nie, daß sie dafür zur Ermunterung kam; nie, daß sie angefeuert wurde, einen Werth auf sich zu legen ... Sie war so anmuthig, so hold und lieblich – aber das war ja ihre Schuldigkeit – Himmel! Wie würde sie »gestanden« haben bei ihrer ohnehin so »schiefen Stellung«, wenn sie nun gar noch häßlich gewesen wäre! ... So warm und innig, wie Benno mit ihr sprach, so schwärmerisch wie Thiebold, das war alles nicht die Fortsetzung dessen, worauf sie im Leben früh angewiesen war ... Euere Liebe, ihr jungen Mädchen, ist nur das stündliche Eintreffen einer sechszehnjährigen Prophezeiung, die Folge des stündlichen Erwartens einer verheißenen Huldigung! ... Seht nur die blasse Klavierspielerin, wie sie ermattet am Fenster sitzt und hinter den Blumen die Vorübergehenden mustert und berechnet: Der da mit dem goldnen Knopf am Spazierstock und dem Bärtchen geht heute schon zum dritten Mal vorüber – gilt das dir? Und galt es ihr, so läßt sie auch gleich das Leben für ihn. Sie sagt das wenigstens den Aeltern. Werden die Annäherungen des jungen Manns von diesen nicht gewünscht, so verfällt sie in einen Zustand »unglücklicher Liebe«, der ein halbes Jahr dauert und mit dem ersten Winterball endet.

In Lindenwerth machte es Armgart, wie sonst in Westerhof; sie nestelte und bändelte und strickelte den ganzen Tag – für andere ... Sonst schnitzte sie den kleinen Kindern – sogar den Kindern der Bedienten Schiffchen von Borke und machte ihnen Püppchen aus Schneiderlappen, die der alte Tübbicke aus Witoborn von seinem Sohn mitbrachte ... In Lindenwerth hatte sie erst da, als sie die Ankunft der Aeltern in jener Gegend in Erfahrung brachte, das Bedürfniß, allein zu sein oder doch nur mit Angelika ... Benno's Liebe war ihr nur das Erwerben eines besten und einzigsten Freundes und Thiebold – das war dann nur der dritte im Bund dieser großen Verschwörung gegen die schlechten Menschen und Dinge in der Welt ... Da so sagen: In diesen treuen Seelen hab' ich zwei Menschen gefunden, die ich für mich festhalten will und von denen ich den liebsten mir zum Glücklichsein wähle ... Das empfand sie nicht – Und was gab es nicht alles Wichtigeres in der Welt! ... »Sie ist kalt«! »entdeckte« eines Tages Thiebold und in der That, ein Kuß war ihr ein Ausdruck der Seele – Benno hätte sie beim Abschied getrost küssen dürfen ...

Ein Gelübde ist dann in der katholischen Kirche etwas Hochheiliges. Die Kirche will in diesem Auslöschen der Freiheit zunächst eine Huldigung für Gott, dann eine für sich selbst. Jede Entäußerung der freien Verfügung über späteres Ja! und Nein! des Willens soll sich treu bleiben; selbst die Erkenntniß der Uebereilung, selbst die bitterste Reue soll die Erfüllung nicht hindern; denn so nur erhalte sich die Würde des Altars, dem ja die meisten Gelübde gewidmet werden, und vorzugsweise jene Regel und Ordnung im Beten und Fasten und in alledem, was dann zuletzt seine heiligste Gestalt im Klostergelübde findet ...

So blieb auch Armgart bei ihrem Wort: Die Stunde ist da, wo meine Aeltern auf mich Ansprüche machen! Jeder will den Vorzug meiner Liebe! Warum soll ich ihnen beiden die Hand nicht festhalten und ihr Priester werden zum neugeschlossenen Bunde! ... Terschka stört diesen Bund? Nun wohl! Terschka ist – furchtbar. Er ist der Freund des Grafen Hugo und die Mutter des Grafen ist die Freundin meiner Mutter – Sie liebt ihn vielleicht nur noch in ihren geheimsten Gedanken – ich will Paula glauben, die das Gegentheil versichert – aber Terschka ist voll List. Wohin mich auch mein Gelübde führt, Terschka soll meine Mutter nie beirren – nie – nie! ... Ich ahne meinen Untergang, aber ich opfere lieber mich selbst an Terschka und nehm' ihn, wenn er mich will ... Gott wird mein Beginnen »crönen«! ...

Und so kam es, daß Armgart zu Terschka sagen konnte: Begleiten Sie mich doch heute Abend nach Hause! ... So kam es, daß sie sprach: Soll ich morgen mit auf die Jagd? ... So kam es, daß sie gestern sagte: Wie lange bleiben Sie auf Schloß Neuhof? ... So – daß sie ihm sogar nachrief: Kommen Sie doch nicht zu spät! ...

Daß Terschka dann auch noch einen bestrickenden Zug des Unvermeidlichen hatte, that das Uebrige zu einem Entschluß, mit dem sie vielleicht unter Tausenden allein steht ... »Ich nehme nur Den, den ich liebe!« sagte einst eine Stiftsdame und that mit dem Wort unendlich groß. Armgart erwiderte: »Trivial!« ...

Bonaventura war gegangen ... Paula hatte sich zurückgezogen ... Man fand sich immer mehr und mehr in den Fund der Urkunde, wie man sich schon gestern in den Brand gefunden hatte ...

Armgart flatterte in der tiefen Verschüchterung ihres ganzen Seins dahin ... Einmal hörte sie das Wort »Etikette« zu Terschka sprechen, der mit Augen dasaß, die zwei Kratern eines Vulkans glichen ... Glaubt nur nicht, rief sie, daß Paula nun diesen Grafen Hugo nimmt! Sie geht in ein Kloster! ... Die Tante rief zornig: Und du gehst zu Bett! ...

Armgart ging, aber sie erschrak vor jedem Fußtritt, der gehört wurde, vor jedem Geräusch im Schlosse ... Fräulein von Tüngel-Appelhülsen hatte den Stachel in ihre Brust gesenkt, daß schon die Mutter bei Frau von Sicking wäre ... Bei Hedemann würde sie vom Vater hören ... Das nun klang in alles, was sie that und sprach, wie ein stürmisches Läuten hinein und wohnten nur Benno und Thiebold nicht bei Hedemann, sie wäre schon in aller Frühe zu ihm gerannt ...

Der Onkel entließ sie zur Ruhe mit einem herzinnigen Kuß auf die Stirn. Die Aufregung des Schlosses machte, daß nicht sogleich die Diener zur Hand waren; sie sagte in ihrer Weise darüber: Es geht wahrhaftig bei uns jetzt alles Hott und Tule! ... Terschka kannte diesen Ausdruck nicht ... Armgart, darum befragt und ohnehin immer mit schwarzen Seelen beschäftigt, leitete ihn von den Hottentotten her; für »Tule« fragte sie den Onkel ... Von den Hottentotten? wiederholte der Onkel ... Hott und Tule? ... Angeregt wie er war durch seine archivalischen Studien, hörte er diese Deutung mit Erstaunen, begann von Ultima Thule, als dem äußersten Norden der Alten, ließ »Hott« in der That als äußersten Süden gelten und hatte nun noch für die Nacht eines jener Objecte, mit denen er selbst in der Sterbestunde seinen bevorstehenden Tod vergessen konnte ...

Armgart ging in ihren Thurm, vor dem Fall ihres eigenen Schattens erschreckend ...

Spähend suchten die Augen, ob sie auch vor jeder Ueberraschung sicher war ... Sie riegelte heute zu, wie auf der Flucht ...

Eine Viertelstunde später, als sie fast entkleidet war, klopfte es ...

Wer sollte wol anders so vorsichtig klopfen als Terschka? ... Sie erbebte und meldete sich nicht ...

Terschka war es in der That und flüsterte:

Fräulein Armgart! Ihre Mutter kommt morgen ...

Sie hörte nur ...

Ich bin morgen früh in Witoborn zum Begräbnis des Landraths ...

Sie schwieg und zitterte ...

Haben Sie keinen Auftrag? ... Möglich, daß ich erst zurückkomme, wenn Ihre Mutter schon da ist ... Mein Gott! Ich bin so unglücklich, die Mutter nicht begrüßen zu können ... Aber ich werd's halt schriftlich thun ... Küssen Sie ihr doch in meinem Namen die Hand! ...

Teufel! sprach Armgart mit knirschenden Zähnen und sprang vom Bett herab, auf dem sie schon halb entkleidet saß ... »Küssen Sie ihr die Hand«! ... Eine jener Galanterieen, die in diesem tugendhaften Land mehr etwas Frivoles, als Artiges ausdrückten ...

Hören Sie denn aber? fuhr Terschka fort ...

Ja! sagte sie mit erstickter Stimme, doch laut genug, um vernehmbar zu werden ...

Sie wird oben am Cavaliersaal wohnen! fuhr Terschka fort. Die beiden Zimmer rechts; alles ist vorbereitet, ohne daß Sie davon ein Wort wissen sollen! Verrathen Sie mich aber nicht! ... Meine Blumen müssen einstweilen als Selam für mich sprechen! Von den Gerichten und Justizräthen rundum komm' ich morgen vor Abend nicht frei und einen Courier muß ich auch von Witoborn in erster Frühe noch nach England expediren ... Haben Sie doch ja ein wenig Mitleid mit mir! ...

Nach England, wo die Menschen protestantisch werden und fünfmal hintereinander heirathen dürfen! ... So fühlte Armgart ...

Terschka mochte nicht ganz das teuflische Raffinement besitzen, Armgart's Eifersucht erregen zu wollen, dennoch that er es mit seinen, der südländischen Galanterie angehörenden Worten wider Willen ...

Armgart blieb im Zustand der Verzweiflung zurück ... Nicht' nur daß die Mutter schon wieder vor dem Vater den Vorsprung hatte – wie sprach Terschka von ihr! Mit welchem Interesse! War alles, was er ihr in diesen Tagen an Huldigungen bewiesen, an Freundlichkeiten ihr abgerungen hatte, vergessen bei dem Gedanken: So nahe ist die »seltene Frau«, wie er sie nannte? ... Wie konnte dabei das Recht ihres Vaters bestehen? ... Sie hätte das Schloß wach rufen mögen ... Doch wagte sie nicht das Zimmer zu verlassen, da sie vor Terschka immer mehr ein Grauen befiel und sie düstere Ahnungen bekam ... Die finsterste und abgelegenste Gegend des Schlosses hatte er genannt ...

Der Entschluß stand fest, daß Armgart morgen nicht im Schlosse blieb. Sie wollte auf irgendeine Art nach Witoborn zu entkommen suchen. Erst bei Hedemann wollte sie forschen und dann bis aus weiteres zu den Frauen im Witoborner Clarissenkloster flüchten ...

So schlief sie spät ein ... Im Traum erschienen ihr Engel und Teufel im bunten Gemisch ... Auch Hedemann war unter den Teufeln ... Er war ihr bei jeder Begegnung strenger und strenger geworden ... Er verwarf ihre Grundsätze und ihr ganzes Leben auf dem Schlosse ... Er nannte die Art, wie man ihn dort empfangen und wie man noch jetzt die bevorstehende Rückkehr des Obersten entgegengenommen hätte, eine für diesen ehrverletzende ... Auf ein Urtheil, das sie, um diese Art zu entschuldigen, gegen den Vater auszusprechen wagte, unterbrach er sie mit dem Apostel (1 Kor.): »Ihr Kinder seid gehorsam den Aeltern in allen Dingen; denn das ist dem Herrn gefällig –!«

Am Morgen erfuhr sie, daß sie nicht allein es war, die eine unruhige Nacht durchlebt hatte ...

Im Gegentheil, ihre erschöpfte Natur bedurfte der Stärkung und hatte diese nach Mitternacht in einem tiefen, wenn auch kurzen Schlaf gefunden. So hatte sie nichts von dem Klingeln vernommen, das indessen alle Schloßbewohner erschreckte ... Paula, erfuhr sie am Morgen, war so unwohl gewesen, daß man zum Arzt hätte schicken wollen ... Sie war aufgestanden und durch die Zimmer gegangen wie eine Nachtwandelnde, hatte mit sich gesprochen und Dinge thun wollen, deren Zusammenhang Niemand verstand ... Ihre Dienerinnen hatten die Tante rufen müssen ... Diese rief dem Onkel ... Paula weinte, riß die Thüren auf und hörte keine der liebevollsten Beschwichtigungen ... Der Onkel faßte ihren Zustand als die natürliche Folge des neuen Erlebnisses, als die jetzt freiwerdende langjährige Spannung des Herzens und der Furcht auf ... So wäre es immer im Menschen, sagte er; die Gefühle hätten ihre Gesetze, wie die Mechanik ... Das sprach er höchst feierlich im gewirkten großblumigen grünseidenen Schlafrock und sein komischer Anblick störte dabei für Niemanden den erschütternden Eindruck, den Paula machte, die bis zum Morgen mit sich auflockernden Haaren hochaufgerichtet und geisterhaft dahinschritt und alle gerade durch ihr Schweigen und das eigene Nichtdeutenkönnen ihrer Thränen erschreckte ... Gegen Morgen schlief sie ein und konnte dann den Vormittag über nicht gestört werden ...

Mit den Zimmern am Cavaliersaal hatte es seine Richtigkeit ... Einer der Diener gestand es Armgart ... Man erwartete die Mutter ...

Mit den Blumen Terschka's sah es ebenso aus ... Sie standen in zierlichen Basen oben auf dem Tische ...

Auch den Brief an die Mutter hatte Terschka zurückgelassen ... Diesen aber nahm Armgart mit Gewalt an sich, um – sagte sie, ihn selbst abzugeben ...

Der Tante klopfte sie noch vor dem Frühstück an ihre Thür mit den Worten: Also die Mutter kommt? ...

Ja, Armgart! hieß es hinter dieser Thür. Aber ich sage dir, daß ich Schonung verlange! Wir gehen Tagen entgegen wie zum Jüngsten Gericht! ...

Dies starke Wort schnitt alles ab und trotzdem rauchte der Onkel den Corridor entlang kommend seine Pfeife und trug große schweinslederne Chroniken unterm Arm, in die die Urkunde eingelegt war ...

Richtig, Armgart! Ja, auch das erreicht jetzt sein natürliches Ziel! sagte er. Ordne getrost deine kleine Welt einer höhern unter; deine Mutter trifft heute Abend ein und sei ihr ein gehorsames Kind! Ich bin entzückt von ihren Briefen. Daß sie mit meinem Bruder nicht zusammentreffen will, verdenk' ich ihr nicht – Solche aus dem Verstand geschlossene Aussöhnungen erhalten sich nicht ...

Wie der Onkel das sagte, erscholl in weiter Ferne eine gewaltige Erschütterung der Luft ...

Sieh, sieh! sprach Levinus und horchte auf. Das ist die Salve, die die Husaren dem Landrath ins Grab mitgeben! ...

Noch eine zweite folgte ...

Still! So ehrt man einen ehemaligen Krieger! ...

Eine dritte ...

Ruhe seiner Asche! ...

Der Onkel klopfte die Asche seiner Pfeife aus und ging ...

Armgart blieb bei ihrem Entschluß zur Flucht ... Nur deshalb schwieg sie zu allem und entfernte sich ruhig ...

Im Lauf des Vormittags entwickelte sich die wunderbare Begebenheit der entdeckten Urkunde immer mehr in ihren Folgen und in den Echos, die dergleichen in den Gemüthern hervorruft ... Die einen fanden hier einen Triumph der alleinseligmachenden Kirche; die andern beklagten im stillen die gestörte Aussicht auf merkwürdige und unterhaltende Veränderungen ... Mancher hätte aber auch wieder fürchten müssen, in seinem bisherigen Verhältniß wenn nicht zu Westerhof, doch zu den übrigen Besitzungen der Dorstes gestört zu werden. Diese jubelten ... Bei wieder andern zeigte sich jener Zug der menschlichen Natur, daß man sich selbst an Unangenehmes zuletzt nicht gern umsonst gewöhnt haben will. Die Tante merkte hie und da dergleichen und sagte einigen der so sonderbar erstaunenden Besucher: Es ist Ihnen wol gar nicht einmal recht, daß wir hier im Besitze bleiben? ...

Mit dem geraubten Briefe auf dem Herzen, im Herzen zunächst mit dem Gedanken an eine Anfrage um den Vater bei Hedemann, irrte Armgart im Schloß und ließ sich ruhig die Reden gefallen, die die Tante an sie hielt und die ihr zuletzt freundlich zusprachen, ja ihr schmeichelten ...

Armgart, sagte sie fast mit Herzlichkeit, liebes Kind, ich wüßte doch gar nicht, was mir Freudigeres begegnen könnte, als gerade in diesen aufgeregten Stimmungen solch eine Beruhigung! Morgen muß ein Hochamt in Sanct-Libori stattfinden – Müllenhoff wird sich schon herausreißen und der Domherr ist ja da – ein Hochamt für diese längst ersehnte Stunde! Ich hatte ja nur diese eine Schwester! Liebte sie immer! ... Eine trostreiche Versöhnung! ... Auch Angelika Müller hat mir einen rührenden Brief aus Paris über ihre Begegnung mit Monika geschrieben! ... Monika war immer ein seltenes Wesen! Zu jeder Zeit! Ich glaube, ich kann sie nicht mehr von meinem Herzen lassen! Ja und wie freu' ich mich auch dieses Besuchs um Terschka's willen ... Der Arme muß in der That vernichtet sein! ... Er verehrt deine Mutter ... Das wird ihn emporrichten! ...

Die Tante lachte wie schadenfroh und war ganz ironisch gegen Terschka gestimmt ...

Ein Tag war es dann, an sich so hold, an sich so freundlich, so hellsonnig, so ganz gemacht zum Empfang von Glückwünschen, die von allen Seiten kamen ... Sogar die Leidenden wurden heute von der Treppe entfernt, um all die vornehmen Besuche durchzulassen ... Durch das Begräbniß des Landraths ließ sich in dieser Sphäre natürlich Niemand stören ...

Um elf erschien Paula in den Vorderzimmern, nachdem sie ihr tägliches Amt verrichtet, beim Frühgebet die Kissen zu segnen, mit denen sie heilte ... Aber sie sagte:

Meine Kraft ist hin! Diese Mittel helfen nicht mehr! ...

Man sprach ihr Muth und Fassung ein ...

Nein, erwiderte sie, ich bete auch nicht mehr so, wie sonst! Ich habe die Andacht verloren ...

Schon kamen die Advocaten aus Witoborn ... Sowol der, der gegen Nück processirt hatte, wie der, der Nück's bisheriger Bevollmächtigter war ... Andere, die an den Angelegenheiten des Hauses betheiligt waren ... Ein für den Grafen Hugo stehender Justizrath war der Frommsten einer und beugte sich tief der Urkunde, die ein Gebot der Kirche enthielt ... »Der Brand ist hochverdächtig! Die Zerstörung des Archivs hat die Veranlassung gegeben, das falsche Document an einen Platz zu legen, wo man ja hundertmal es schon hätte finden müssen!« Diese Worte sprach – allein Benno und doch auch nur bei sorgfältig beobachteten Thüren in Gegenwart Bonaventura's, der ihn in aller Frühe in Hedemann's Häuschen besucht hatte ...

Benno erfuhr jetzt von seinem in Rührung vor ihm stehenden, mit seltsamer Prüfung ihn betrachtenden Freunde mehr und mehr ...

Bonaventura gestand ihm, was er dachte; gestand ihm, er wisse aus einer Beichte, daß irgendwo, den Ort kenne er nicht, ein Verbrechen dieser Art, wie nun vielleicht in Westerhof stattgefunden, im Werke gewesen ... Bickert, der noch lebte, durfte nicht genannt werden; Hammakern nannte Bonaventura ...

Benno ging im Zimmer auf und nieder und rief:

Ich sage mich von Nück los! Noch heute reis' ich zurück! Ein Schurke ist's! Ich kündige ihm meine Stellung und – ich sag' es ihm warum! ...

Nimmermehr! entgegnete Bonaventura. Wie wäre das möglich! Wie kann man gegen die Ehre und Würde des Hauses der Dorstes auftreten! ...

Terschka wird es doch thun müssen! ...

Terschka! ... sprach Bonaventura zögernd ...

Die Advocaten des Grafen Hugo in Wien – ...

Was werden sie beweisen können! Und ändert sich denn auch so viel? Man wird in Paula drängen, bald – bald zu vollziehen, was schon lange für diesen Fall – die Convenienz anräth ...

Thiebold, der vom Begräbniß des Landraths kam und mit den Rüstungen zur Abreise drängte, störte den vollen Erguß der wehmüthigen und gegenseitig auch gar wohlverstandenen Empfindungen ...

Und wenn auch alles sich ausgeklagt hätte, was doch vergebens nach Worten rang, welcher Rest blieb nicht noch im Herzen Bonaventura's – beim Hinblick auf den trauernden Freund selbst! ......

Als von Armgart die Rede kam, von Terschka's Werbung um sie, erwiderte Bonaventura festen Tones und mit sicherer Bestimmtheit:

Darüber geb' ich Beruhigung ... Hier seh' ich bisjetzt nur das Unmögliche ...

Beide staunten des so entschiedenen Worts ... Nach Terschka's durch die Entdeckung der Urkunde veränderter Stellung aber konnten beide diese dunkle Antwort zuletzt in der Ordnung finden ...

Auch die Erwähnung Lucindens war nicht ausgeblieben und Benno betonte ihre Bekanntschaft mit Nück, ihre auffallende Hierherkunft, ihre, wie Benno und Thiebold versicherten, nun auch so schnell wieder bevorstehende Abreise ...

Gegen zwölf Uhr fuhr Bonaventura auf Westerhof und fand die ganze Lebhaftigkeit, die er erwarten durfte ...

Besuche kamen und gingen ... Auch von Armgart's Mutter und ihrer Nähe wurde gesprochen ... Die Stiftsdamen konnten eben nichts für sich behalten ...

Gerade als mitten im lebhaftesten Gespräch auch eine Mittheilung zündete von dem, wie es schien, in Ausführung gekommenen Plan, den hohlen Eichstamm vom Düsternbrook zum Aufenthalt zweier Eremiten zu machen, trat Paula ein ...

Ihr Blick schien sagen zu wollen: Die Mauern eines Klosters nehmen mich auf! In deiner Nähe! Da, wo Therese von Seefelden den Schleier trägt, da werde auch ich anpochen! ...

Man sprach von den Klöstern ... Man rühmte den sich mehrenden Zustrom zum beschaulichen Leben ... Eine der Besucherinnen wußte etwas von Treudchen Ley ...

Bonaventura hörte gerade nach einer andern Gruppe hin, wo Neuangekommene erzählten: Zwei Mönche hätten in letzter Nacht Kloster Himmelpfort verlassen und wären Eremiten im winterlichen Walde geworden ... Die Namen der Mönche und den Wald konnte man nicht bezeichnen ...

Bonaventura schwieg zu Allem ... Er kannte das Märchen von der versunkenen Kirche ... Ihre Glocke klang und klang und Niemand wußte, wo die Kirche gestanden ... Am Meer sagen die Schiffer, sie läge im Wellenschoos, wie ein mahnender Zeigefinger gen oben rage ihr Thurm zuweilen über dem Spiegel auf ... Die Jäger kennen die verlorene Kirche im Walde ... auch da läutet sie unsichtbar ... So tönte für Bonaventura durch alles, was Paula that und sprach und die Welt um sie her that und sprach, nur der eine Glockenton: Dem bin ich – im Walde – im Meere – im Tode –

Zu Aller Interesse wurde plötzlich Frau von Sicking gemeldet ...

Bonaventura hörte auch das nicht ...

Im Walde – im Meere – im Tode –

Paula hatte den gemeldeten Besuch, der zu gleicher Zeit eine Begrüßung von Seiten Lucindens sein konnte, erwarten dürfen ... Sie wollte ruhig bleiben, ruhig sich ergeben und doch richtete sie sich auf ... Nicht wie in bebender Erwartung vor Lucinden ... Schon im physischen Schmerz ... Noch ehe Lucinde im Vorsaal sein konnte, fühlte sie wie mit einem elektrischen Schlag schon die Annäherung ihres Gegenpols ... Armgart, die umirrend, wie sie war, Lucinden unten gesehen hatte, war heraufgeeilt, sah schon die Wirkung, die sie kannte, umschlang die Freundin, wollte sie hinwegführen; doch diese blieb und lächelte wie immer zu ihrem Schmerz ...

Die Anwesenden alle – Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß, Frau von Stein, Gräfin Münnich, Gräfin Styrum-Schorum, Fräulein von Merwig, Fräulein von Absam, die alle nun schon über Lucinden unterrichteter waren und die Verhältnisse annähernd übersahen – nahmen Paula's Lächeln für Takt und große Güte. Sie verwiesen mit strafendem Blick dem Fräulein von Tüngel-Appelhülsen ihren laut ausbrechenden Hohn über die »Person, welche« – Lucinde erschien in Begleitung der Frau von Sicking und war eine Büßerin geworden ...

Frau von Sicking, die zu jener Gattung der weiblichen Tartüffes gehörte, bei denen man ihrer Unergründlichkeit wegen besser thut, ihre Gottseligkeit einfach anzuerkennen und sie wirklich für das zu nehmen, wofür sie erscheinen wollen, ließ Lucinden in den Vordergrund treten und fand es vollkommen in der Ordnung, daß Gräfin Paula sogleich von ihr auf die Ueberraschung durch ihre ehemalige Gesellschafterin im orthopädischen Institut überging ... Sie selbst beobachtete die Mienen Bonaventura's ...

Sie sind es, Lucinde! sprach Paula, Lucinden die Hand reichend ... Erst so wenig Jahre getrennt und eine Ewigkeit ist's ... Meine Tante Benigna von Ubbelohde das! ... Meine Freundin Armgart von Hülleshoven ...

So stellte Paula mit der mildesten Miene die Nächsten vor und erst, wie sie an Bonaventura kam, stockte die Rede ...

Bonaventura erwachte aus seinen Träumen ... Er verfärbte sich über den plötzlichen, unerwarteten Anblick, wurde dunkelroth und verneigte sein Haupt – der ihn anredenden Frau von Sicking ...

Er sprach und sprach zu dieser und doch rief es nur in seinem Innern: Paula und Lucinde! ... War es wie Tag und Nacht, die da zusammenstanden, dann drückte nicht die bräunliche schwarzäugige Lucinde mit ihren Augenbrauen und aufgeworfenen Lippen die Nacht und Paula mit ihrem blonden Haar und rosig lichten Wangen den Tag aus – umgekehrt war's ... Paula war die träumerische Nacht, die Nordlandsmaid, die Mondpriesterin; Lucinde der Tag, die Tochter tropischer Zonen, die Sonnenjungfrau ... Dort Gefühl und Ahnung in jedem Blick, gestaltungsloses Sehnen, krankhafte Gebundenheit der Sinne; hier Verstand, Wachsamkeit, Willenskraft und Beherrschung der Leidenschaften bis zur schneidenden Kälte ... Beide in Trauertracht ... Paula's Kleid ein glänzender, rauschender Atlasstoff; Lucindens ein hochgehendes, den braunen Hals verdeckendes geflammtes Moirée ... Paula's Haar niedergleitend über die Schläfe in langen Locken, im Nacken die Flechten in schwarzen Kreppbändern verloren ... Lucinde trug ihren Hut mit der Reiherfeder ... Sie gab sich so, daß die adeligen Herrschaften Mühe hatten, aus ihrer »Tournüre« heraus die »Schulmeisterstochter« zu erkennen, als die sie ihnen nun bekannt war ...

Frau von Sicking's vor einigen Tagen schon beabsichtigter Besuch hatte erst heute zur Ausführung kommen können und Lucinde kam in der That zu Gruß und Abschied zugleich ... Ihre nächste Mission war erfüllt ... Wohin Hubertus den Brandstifter geborgen, erfuhr sie nicht, aber gestern Nacht noch beim Abendgebet im Münster kniete er hinter ihr und sprach: Alles ist geschehen! Seien Sie ruhig, ziehen Sie in Frieden und sorgen Sie jetzt nur für die beiden Eremiten, die in der Residenz des Kirchenfürsten und wenn sie mit den ersten Lerchen nach Rom ziehen sollten, einen Anwalt bedürfen werden! ... Schon im Hof hatte sich Lucinde von ihrem Entsetzen über die Brandstätte gesammelt, ihre Empfindungen über »den falschen Isidor«, der auf so fragwürdige und in ihren Folgen entscheidende Weise die junge Gräfin zur reichsten Erbin des Landes machte, geordnet, ebenso wie über den Anblick einer Ekstatischen, die zur heiligen Hildegard erhoben werden sollte und vielleicht im Traumschlaf sah – wo Dionysius Schneid verborgen war und wie Nück auf Lucindens Rückkehr harrte ...

Frau von Sicking war im vollen Strom der Erörterungen ... Beileidbezeugend über den schreckhaften Brand, glückverheißend zum folgenreichen Fund der Urkunde ... Ihre Sprechweise war leise ... Alle räumten ihr den Vorrang ein, daß man schwieg, um sie besser hören zu können ...

Man saß jetzt ... Nur Bonaventura stand noch rückgelehnt am Fenster ... Auch Armgart an der Stuhllehne Paula's, die Hand der Freundin haltend, um ihr Zittern zu mildern ... Bis zu einem so weit gehenden Ueberblick aller Beziehungen, daß Armgart auch Bonaventura am Widerstreit dieser beiden Naturen aufs mächtigste betheiligt sah, reichte ihr Auge nicht ... Paula's und Lucindens Liebe zu Bonaventura war ihr nur ein »Schwärmen« – jene Empfindung, die ein Mädchenherz in alle Himmel versetzen kann, nicht aber die Entsagung zum größten Schmerz der Erde macht ...

Lucindens Feierlichkeit war von Frau von Sicking's Begleitung ebenso bedingt, wie von der ersichtlichen Neugier der Anwesenden, die sie musterten ... Sie sprach anscheinend harmlos mit Armgart von der Begegnung im letzten Sommer an der Maximinuskapelle und von Benno von Asselyn ... Sie erzählte der jungen Gräfin vom orthopädischen Institut, von dessen Vorstand, von einigen jungen Mädchen, jenem guten Curatus Niggl, der die armen Verwachsenen, Blinden und Lahmen bei sich zum Kaffee lud ... Sogar Bonaventura wurde von ihr ins Gespräch gezogen ... Mit Niggl und Hunnius war er als Priester ausgeweiht worden ... Auch ein Wort über den Tod Hendrika Delring's konnte nicht ausbleiben, ebenso wenig wie die Kunde über Treudchen, die ins Kloster gegangen war ... Bonaventura blieb so erregt, daß er nun selbst zu fragen anfing ... Wie hat nicht jener große Staatsintriguant so Recht gehabt, als er sagte: Die Sprache ist erfunden, um unsere Gedanken zu verbergen! ...

Das allgemeine Gespräch kam wieder zurück auf die beiden Flüchtlinge in den Eichstamm und jetzt erst hörte Bonaventura die ihn doppelt erschreckende Kunde ... Denn er hatte nichts für Sebastus' Befreiung gethan und machte – seiner »priesterlichen Lässigkeit« Vorwürfe ... Streit mit dem Provinzial gab man als Ursache dieser Flucht an ...

Der Name Hubertus weckte im Gespräch die Erinnerung an die Rettung des Dieners, den man im Spital von Witoborn glaubte ...

Lucinde konnte sich sammeln und Kraft gewinnen, den Namen Klingsohr und das fortgesetzte Anblicken der Damen zu ertragen. Sie behielt dasselbe bleiche Incarnat, wie immer ... Sie zuckte nicht einmal mit den Augenwimpern ... Nur Bonaventura's Auge suchte sie zuweilen und dieser schlug dann das seine nieder ...

Frau von Sicking sagte dem Domherrn die schmeichelhaftesten Dinge – jetzt auch, als ob sie ihre geheimsten Abneigungen errathen glaubte, recht aufgetragen Lobendes über seine Mutter ... Gräfin von Styrum-Schorum kam heute schon von Schloß Neuhof herüber, wo die Kunde von den beiden Mönchen eine nicht geringe Sensation erregt hatte ... Der gesetzliche Sinn des Herrn von Wittekind, der sich solcher Nutznießung seines Waldes durch die Gensdarmen erwehren wollte, war überstimmt worden durch seine Gemahlin, die aufs dringendste gebeten hatte, dem frommen Verlangen dieser beiden Brüder nichts in den Weg zu legen ...

Da man dem Bericht Beifall murmelte, mußte Bonaventura für die Mutter danken ... Er dankte und bemerkte Lucindens Lächeln ... Triumphirend schien diese sagen zu wollen: Das alles, was ich hier sehe und höre, sind die Opfer, die mir der Gott der Rache bringt! ... Sie ließ sich Klingsohr und Klingsohr ins Ohr rufen; sie lächelte nicht einmal ... Ihre Blicke spannen nur lange Fäden und bald war ihr alles wie in einem großen Netze ... Mit leiser Stimme flüsterte sie mitten in die Schilderung des Lagers, das sich von Moos und Baumlaub die beiden Flüchtlinge in der Eiche und um diese her gemacht hätten, der Tante Benigna zu von dem Brand, von dem Eindruck, den ihr der Anblick der Flamme schon vom Schloß Münnichhof aus gemacht hätte ... Die Tante sah nichts von dem Blick, der diese liebevollen Worte begleitete, als wenn sie gelautet hätten: Die Welt soll noch in Feuer aufgehen und wie ihr hier alle sitzt und lächelt, weg habt ihr's doch! ... Sie bedauerte, morgen nicht der Dankmette beiwohnen zu können, die in der Liborikirche gehalten werden sollte ... Diesen alten Bau würde sie erst sehen, wenn die Exercitien begännen ... Ueber den Baustyl der Liborikirche und von byzantinischen Rundbogen sprach sie so unterrichtet, daß die Tante dem ihr zu »geistreich« werdenden Gespräch entschlüpfte und Lucinden mit dem Onkel Levinus in Verbindung brachte, der jetzt erst zur Gesellschaft hinzutrat ...

Auch der Onkel kam mit Nachrichten von den entflohenen Mönchen und von der Requisition derselben durch den Provinzial – und mit – Gensdarmen ...

Gensdarmen! rief man fast einstimmig ...

Das duldet Herr von Wittekind nimmermehr! rief Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß ...

In seinem Walde kann er geschehen lassen, was er will! ... hieß es ...

Der Onkel erzählte, was er unten von den Jägern vernommen ... Man fände beide in der berüchtigten Eiche, wo der alte Klingsohr gefallen ... Sein Sohn, der ehemalige Doctor, läge im Innern derselben auf einem Lager und läse sein Brevier ... Hubertus hämmere mit der Axt eine Hütte und einen Altar und einen Kochherd ... Die Nacht noch wäre eine Kälte von drei Grad gewesen ... Jetzt thaue es ... Die Bauern liefen scharenweise in den Wald und hülfen den Eremiten bauen und brächten so viel Nahrungsmittel, daß Hubertus den Scherz gemacht hätte, ob sie hier etwa einen Verkauf halten sollten? Dennoch nahm er den Ueberschuß und schickte ihn ins Kloster, wo sich »nun wol zwei Parteien bilden würden« sagte der Onkel lächelnd ... Zurück wollen sie nicht, fuhr er fort, sich mäßigend, da Niemand in seine Ironie einstimmte; Sebastus erbietet sich, für Jeden, dem seine Fürbitte von Werth sein könnte, täglich so viel Rosenkranzgebete zu sprechen, als man bestellt ...

So hatte man denn wieder ein Wahrzeichen der Zeit mehr, ein hocherfreuliches Thatsächliches. und die kluge Mutter Bonaventura's debütirte durch die Duldung der beiden Eremiten mit glänzendem Erfolg ... Bonaventura sah ihre Macht über den Präsidenten ...

Wenn ihr alle wüßtet, an welchen Fäden diese beiden Mönche geführt werden! ...

Diese Empfindung sprach Lucinde nicht aus ... Jede Erregung ihrer Gefühle niederkämpfend, hob sie sogar den Kopf langsam in die Höhe, als sich die Tüngel-Appelhülsen nicht nehmen ließ, zu sagen:

Sie kannten ja früher den ehemaligen Doctor Klingsohr? ...

Nur Ein Blick der Misbilligung folgte bei allen, die die Schärfe dieser Frage verstanden ...

Lucinde aber erwiderte ruhig und ganz in dem einfachen Ton, der hier üblich:

Der Pater ist ein Heiliger geworden ... Ich mühe mich, ihm gleichzukommen ... Es gelingt mir nicht ...

So blieb sie siegreich ...

Als man Beifall murmelte, konnte Bonaventura nicht anders als sich sagen:

Da strengt nur euern Witz an! Da muß alles zu Schanden werden! ...

Der Onkel war vom Bewohnen der Baumstämme, wie immer, auf die Urwelt und die Troglodyten gekommen und von diesen auf die Katakomben in Rom ...

Frau von Sicking kannte die Katakomben so genau, wie die Boudoirs ihrer Wohnungen in Deutschland und Belgien ... Sie erzählte von mehrern wieder neu eröffneten Grabstätten der alten Christen und Lucinde wußte sogar die Jahreszahl einzuschalten von der Verfolgung des Diocletian ... Levinus rückte ihr überrascht näher und näher ...

Da aber erhob sich schon Frau von Sicking ... Auch Lucinde mußte es thun ... Wie gab sie so sicher Paula die Hand und lächelte ihr und sprach vom Wiedersehen, vom Frühling, von Gesundheit und, leiser und demüthig, von ihrer Wunderkraft! Wie versicherte sie, daß sie für Paula bete, und bat, daß Paula dies auch für sie thun möchte ...

Der Onkel unterbrach diesen Abschied und hörte voll Leidwesen, daß das gelehrte Fräulein schon wieder abreise und erst zu den Exercitien zurückkäme – Die Commerzienräthin Kattendyk hatte in der That ihren Wunsch erreicht, hatte eine große Summe für die geheime Thätigkeit der Frau von Sicking versprochen, hatte auch der »Mutter Gottes von Telgte«, einem wunderthätigen Gnadenbild der Gegend, ein kostbares neues durch und durch mit Silber gesticktes Kleid angelobt, eine Prachtschöpfung aus den Ateliers der Damen Eva und Apollonia Schnuphase ...

Ein unendliches Weh lag auf den Zügen Bonaventuras, Paula's und Armgart's ... In dem: »Segne Sie Gott, Gräfin!« Lucindens lag etwas, als wenn ihr die Leiden aller Märtyrer für die Zukunft vorausgesagt würden ...

Bonaventura fühlte die Absicht dieses ihm nur allein kalt und wie ein Fluch erklingenden Tones ... Die Hand hätte er zurückreißen mögen, die erstarrt Paula in die schwarzen Handschuhe Lucindens legte ... Beide Frauen, die Geliebte und die Verschmähte, waren an Wuchs sich gleich; Paula schön an sich und noch mehr durch den Reiz der Jungfräulichkeit ätherisch wie ein Hauch; Lucinde wie eine Brunhild – durch ihre geheimnißvolle Kälte bestrickend ... Paula hätte Lucinden festhalten mögen, trotzdem daß sie fühlte: Das ist sie immer noch mit ihrem Haß gegen dich und mit ihrer Eifersucht! Sie ist es immer noch, die sich berufen glaubt, die Einzige zu sein, die über Bonaventura wachen dürfe! Sie, die sonst schon nicht ruhte und rastete in Annäherungen und Verhinderungen der Ruhe und des Glücks eines Mannes, der, wenn er lieben dürfte, seine Wahl doch so nicht treffen würde ... Aber Lucinde war das einzige Wesen, das sie vom Traumschlaf heilen konnte ... Seit der ersten Vision beim Eintritt Lucindens in das Institut, seit der ersten Einmischung der Eifersucht schon damals, als Paula, träumend, den geliebten Priester vom Bekennen der ewigen Gelübde abzuhalten suchte und Lucinde in diesem Priester Den in Erfahrung brachte, der ihr selbst eben der wiedererstandene Serlo erschienen – war in Lucindens unmittelbarer Nähe jenes Traumleben nie wieder eingetreten und sie sehnte sich ja, frei zu werden von diesen unheimlichen magischen Gewalten ...

Endlich war das ein Ausbruch von Urtheilen, als Lucinde und Frau von Sicking gegangen waren! Alle Schleusen waren aufgezogen ...

Paula und Bonaventura konnten sich eine Weile allein angehören ... Die Blumen, die am Fenster blühten, die im Wasserglase gezogenen Hyacinthen, die behenden Goldfischchen in kristallener Schale, all der lieblich trauliche Vorfrühling, den beide in der Nähe des Fensters genießen konnten, hätte sie fortreißen sollen, das warme blühende Leben auch Athem an Athem zu empfinden und sich leise zu sagen: Wir, wir gehören uns doch! ... Das lauschte aber und plauderte und klatschte und lauschte ... Es stand glücklicherweise nichts still, alles schritt vorwärts ... Selig wogen durfte wenigstens die Brust und auf die Lippen treten selbst ein lauteres Wort der Vertraulichkeit ...

Inzwischen fehlte Armgart, ohne daß man es sofort bemerkte ...

Armgart war Lucinden und Frau von Sicking gefolgt, hatte Hut und Mantel und eine große Tasche ergriffen, die schon im Vorsaal zu ihrer Flucht bereit lagen, hatte den Brief Terschka's in ihrem Busen verborgen und schlich den sich Entfernenden an das Hauptportal nach ...

Als sie einstiegen, sagte sie rasch:

Lassen Sie mich mit, meine Damen! Ich habe in Witoborn zu thun! Vergeben Sie! Ich störe nicht! Ich sitze hier rückwärts! ...

Schon saß sie ... Frau von Sicking lächelte zerstreut und meinte, sie wollten einen Umweg machen, um sich nach dem Befinden des Herrn Pfarrers Müllenhoff zu erkundigen ...

Das thut nichts! antwortete Armgart in Hast. Wenn Sie mir nur versprechen, mich dann von Ihrer Wohnung aus nach Witoborn fahren zu lassen! ...

Sehr gern! sprach Frau von Sicking, mächtig ergriffen, wie es schien, noch immer von Bonaventura ... Demoiselle Schwarz kann dann auch nach Witoborn mit Ihnen fahren! setzte sie wohlwollend hinzu ...

Lucinde saß tiefbrütend und hatte Mühe, ihre Nerven zu bekämpfen ... Jetzt war sie jenem Weinkrampf nahe, der sie nach langer Spannung zu überfallen pflegte ...

Armgart stellte Frau von Sicking über die Ankunft der Mutter zur Rede ...

Diese, sich in die Frage langsam findend, sagte:

Sie irren sich, kleiner Engel! ... Sie war gar nicht bei mir! Ich werde die Bekanntschaft erst später machen! ... Aber Sie haben recht! Fräulein von Tüngel und Demoiselle Schwarz sprachen von ihr ... Ich bot ihr schon lange meine Wohnung an und ich besinne mich – ich hörte ja – eine Grille von Ihnen ... Wie ist es doch damit? ...

Ein Gelübde, gnädige Frau! verbesserte Armgart ...

Frau von Sicking verzog die Miene zum Ernst und besann sich jetzt:

Nun wohl, jetzt weiß ich – Aber – Himmel – ich entführe Sie doch nicht? ... Wie war das Verhältniß? Richtig! Richtig! ... Ich lasse halten ...

Der Wagen flog aber pfeilgeschwind dahin ... So duldete die Tante nicht, daß die alten Pferde der Dorstets anzogen ...

Armgart bat, keine Besorgniß zu hegen; sie hätte dringend in Witoborn zu thun ...

Frau von Sicking beruhigte sich und verfiel wieder in ihre eigene Gedankenwelt ...

Auch Lucinde blieb lange tiefverloren im Nachklang des Ebenerlebten ... Alle andern Gefahren traten ihr gegen einen einzigen mit Bonaventura zusammen verlebten Augenblick zurück ...

Allmählich aber schien sie geneigt, von Armgart Notiz zu nehmen ... Sie erzählte einiges von ihrer Mutter, rühmte sie, gestand einen Brief der Commerzienräthin in Angelegenheiten ihrer Mutter zu, wandte sich dann in ihr Brüten zurück und nur noch einmal nannte sie Terschka ...

Armgart hätte sie für ein Lächeln dabei erdolchen mögen ...

Lucinde erzählte das ganze erste Begegnen mit Terschka in Piter Kattendyk's Gesellschaft ...

Armgart's beide Zähne blinkten ...

Frau von Sicking rügte mit großer Strenge die Absicht des »Herrn Obersten«, ihres Vaters, in Witoborn eine Fabrik zu gründen ... Und paßte das auch für seinen Stand, wie kann er gerade einen Zweig der Industrie wählen, der für Witoborn – ich kann es nicht anders nennen, sagte sie – eine Blasphemie ist ... Sie werden ihn jetzt wol bald selbst sehen ... Sagen Sie ihm das, mein Kind! Die Gesellschaft ist darüber außer sich ... Ein Hülleshoven legt eine Fabrikation von Papier an – in Witoborn! ... Denn sage man, was man will, das Papier ist eine Erfindung des Teufels ... die Buchdruckerpresse gewiß ...

Armgart hörte diese Ansichten nicht zum ersten mal und dachte ebenso und hielt in schmerzlicher Ergebung den Vater für angesteckt von englischen Einflüssen. Sie verfiel darüber in große Trauer ...

Lucinde bezeigte für Armgart noch immer nur ein vornehmes und geringschätzendes Mitleid ... Solche kleine Welt, die »auch schon mitreden will«, war ihr ein Gegenstand der Abneigung ...

Dennoch fing sie an etwas zu scherzen, als Frau von Sicking am Pfarrhause abgestiegen war, um sich selbst nach dem Befinden des Pfarrers zu erkundigen und ihn womöglich zu sprechen ... Sie neckte jetzt Armgart mit Benno und Thiebold ... Dann auch mit Terschka, den sie am Jagdabend trotz ihrer Aufregung bei Tafel scharf beobachtet hatte ...

Ihr kluger Blick sah sogleich, wie die Augen Armgart's aufleuchteten, als sie, in dem jungen Herzen wie mit einem spitzen Messer bohrend, sprach:

Aber was red' ich denn! Terschka schwärmt ja für Ihre Mutter! Und jeder wird das müssen! Sie hat graue Locken, das ist wahr! Aber sehen Sie, dort liegt noch der Schnee aus dem kleinen Dachwinkel der Liborikirche und alles rings ist wie belebt von Frühlingsahnung ... So auch – bei Ihrer Mutter ...

Dich kenn' ich jetzt ganz! hätte Armgart rufen und sich auf sie werfen mögen ...

Frau von Sicking kam zurück, becomplimentirt von Müllenhoff, der zwar noch ziemlich angegriffen aus sah, aber doch die Berathung mit den Gemeindevorständen in Sachen seines Dorfconcordates heute nicht ausgesetzt hatte ...

Müllenhoff war die Verlegenheit und das Hochentzücken selbst ... Er ließ den Bedienten nicht an den Schlag, nur um Frau von Sicking selbst hineinheben und die beiden andern Damen begrüßen zu können ... Esbouquet und Sammet und Seide thaten es ihm an ... Ohne Zweifel drückte er die zarten Glacéhandschuhe der Dame, die er in den Wagen hob ... Wol fünf Minuten lang sah er dein Wagen nach und würde sich unfehlbar aufs neue erkältet haben, hätte ihn nicht die Kathrein ins Haus zurückgezwungen ...

Die weitere Fahrt wurde noch schweigsamer, als die frühere ... Lucinde mußte über den Einfluß des Priesterthums auf die Ueberzeugungen der Frau von Sicking ihre Satyre unterdrücken ... Armgart verfiel, je mehr sie sich Witoborn näherte, in Angst und Wehmuth ...

Sie hatte von Lucindens Wesen auf die Länge nicht ganz die Wirkung, wie Paula ... Sie sah sie prüfend und prüfend an, verglich den Eindruck, den sie ihr im vorigen Jahre machte, mit dem jetzigen ... Sie fühlte sich eher schon durch sie angezogen, als abgestoßen ... Sie erzählte bereits am Pfarrhause Lucinden, warum Paula nach ihr so oft ein aufrichtiges Verlangen trüge ...

Paula's letzte Vision mußte sie erzählen ...

Wieder tadelte Frau von Sicking, daß die Comtesse nicht die reinen Anschauungen vom Kreuze hätte. Sie bestritt ein Vorhandensein des eigentlichen Hochschlafs, mit dem ganz andere Erscheinungen verbunden zu sein pflegten, nicht selten ein Abdruck aller Nägelmale des Herrn auf dem Körper einer solchen Himmelsbraut ...

Armgart war so tief unglücklich, daß sie auf diesen Angriff schwieg ... Sie preßte nur den Brief Terschka's an ihre Brust und sah und hörte im Geist schon die Mühlen Hedemann's und die Klingel an der Klosterpforte ...

Endlich war man auch beim stattlichen Gitter vor dem Landhause der Frau von Sicking angekommen ...

Diese stieg aus und bat Lucinden, das Fräulein nach Witoborn zu begleiten ... Die Angelegenheiten des jungen Herzens interessirten sie nicht ...

Lucinde hatte in Witoborn für ihre Abreise Vorkehrungen zu treffen und hoffte auch noch etwas im Münster von Hubertus zu erfahren, falls sich dieser aus dem Walde herauswagte ... Sie wollte fort, ehe der Rath von Enckefuß eintraf ...

Inzwischen hatte sie angefangen, dem jungen Kinde immer mehr Theilnahme zu schenken ... Hing doch Armgart mit dem Leben so vieler Personen zusammen, die ihr werth waren ... Offenbar befand sich die Kleine wieder auf der Flucht vor ihren Aeltern; die Gründe dafür waren landbekannt ... Allmählich verglich sie Armgart mit Treudchen Ley ... Wer ihr unbedingt gehorchte, dem konnte sie auch schmeicheln ... Sie zog ihre Handschuhe aus und fuhr mit den Fingern über Armgart's Stirn ...

Sie haben auch schon Sorgen? sagte sie ...

In Armgart's Antwortsblick lag:

Was gehen dich meine Sorgen an oder bist du – vielleicht doch nicht so schlimm, wie sie alle sagen? ...

Lucinde verstand diesen Blick ...

Man lästert mich wol recht auf Westerhof? Nicht wahr? ... sprach sie seufzend ...

Auf Westerhof? Da lästert man nicht! Aber in Heiligenkreuz, ja da stehen Sie schlecht genug angeschrieben ... Das kann ich Ihnen sagen ...

Lucinde warf verächtlich die Lippen auf ... Dann streckte sie die Hand aus und zog Armgart zu sich hinüber – Armgart hatte durchaus auf dem Rücksitz bleiben wollen – Ja sie hielt sogar Armgart's Hand fest, die den Brief zu bedecken suchte ... Der Brief wurde sichtbar, doch beachtete ihn Lucinde nicht ... So schlecht also hat man mich gemacht! ... wiederholte sie. Und gewiß ist es die Unbescholtenste von allen, Fräulein von Tüngel, die mich am meisten lästert! ... Hassen Sie denn nicht auch so die Dummheit? ... Diese Dame speculirte auf einen armen Phantasten, der sie allerdings um meinetwillen nicht mochte ...

Jérôme von Wittekind! Ich weiß alles ... Und – Ihr – Ihr Doctor Klingsohr ... Den trägt man Ihnen bitter und mit Recht nach ...

Lucinde zuckte die Schultern und sagte:

Den hab' ich nie geliebt ... Sieh, sieh, weißt du schon, was die Liebe ist? ...

Dies »Du« flocht sie, indem sie mit dem schwarzen Handschuh fingerdrohte, so gewandt und listig ins Gespräch, daß Armgart vor dem traulichen Ton zwar erschrak und von ihr abrückte, ohne ihr jedoch zürnen zu können; ihr kam das Du dann noch natürlicher, als sie sprach:

Lucinde! Dich sollte eigentlich jeder meiden! ...

So! entgegnete diese mit zuckenden Lippen und fiel in ihre kältere Art zurück. Das spricht Armgart! Ihre Mutter kommt heute und Sie fliehen wieder vor ihr – wieder mit zwei jungen Männern vielleicht – Sie müßten doch wol schon gelernt haben, wie Frauen leicht und unschuldig in einen falschen Ruf kommen können ...

Armgart wurde über die beiden jungen Männer roth ...

Alle Welt weiß ja schon von Ihrem Vorsatz! ... Ich lasse den Wagen halten und verhindere Ihre neuen Thorheiten –

Lucinde! ...

Freilich! Sagen Sie gleich, wo wollen Sie hin? ...

Zu Hedemann –

Dort finden Sie Ihren Vater –

Armgart sprang auf und sank durch die Bewegung des Wagens auf Lucindens Schoos ...

Diese hielt sie fest ...

Dann flieh' ich zu den Clarissinnen ins Kloster ... Oder in den Wald zu den Eremiten – oder in die weite Welt hinaus! ...

Lucinde mußte Armgart, die sich loswand, von ihrem Schoose freigeben ... Sie betrachtete das aufgeregte junge Mädchen halb mit Lachen, halb mit Rührung und ließ sich von Armgart's Gelübde erzählen ... Auch an Serlo's Töchter dachte sie bei ihrer Vergleichung ... Sie wandte sich Armgart zu, die wieder neben ihr saß ... Lucindens Augen hätten dabei vor List glänzen können und glänzten doch nur vor Theilnahme ... Ihr Mund öffnete sich ... Ihre ganze Erregung machte sie jung und schön, wie in den Tagen ihrer ersten Blüte ... Armgart athmete kaum, so bangte ihr vor der Begleiterin und dies Bangen wurde ihr ein wohliges ...

Lucinde, sagte sie tonlos, du kannst Latein, Italienisch, hast unsern Glauben angenommen ... aber ich fürchte mich doch vor dir ...

Weil ich so schlecht bin! ... erwiderte Lucinde vor sich hin und ihre schwarzen Augen verschlangen mit einer ungewissen Sehnsucht die braunen Armgart's ...

Du bist eine Schlange, eine Hexe, sagen sie ...

Dann bin ich es auch wol! Darauf verstehen sich ja die Menschen und besonders die Frauen ...

Armgart kämpfte immer mehr gegen die Bestrickung durch diese auch ihrer Lebensauffassung so verwandte Ironie ...

Seit ich lesen kann, seit Paula in die Anstalt kam, fuhr sie fort, hab' ich dich, Lucinde, fürchten gelernt ... Paula schrieb zwar immer von dir, ich sage dir das offen, mit Bewunderung ... Sie ist so gut, sie verehrt dich ... Wahrhaftig! ... Und ich weiß doch, daß sie eigentlich nur immer Angst vor dir haben sollte ...

Auch noch jetzt? sagte Lucinde mit dem Ton der Resignation und in Anspielung auf Bonaventura ...

In ihren Visionen sieht sie dich fortwährend ...

Und wie dann? ...

Nie gut ...

Diese Visionen lügen ... Kluge Armgart! ... Diese Visionen sind nur Widerspiegelungen aus Paula's eigenem Innern. Glaube mir's! ... Was würden wir nicht alles sagen und verrathen können, wenn wir so plötzlich den Willen und die Selbstbeherrschung verlören! ... Paula sieht nichts, was außer ihr ist. Sie sieht nur Bilder der Erinnerung, ihres Wissens und sonstigen Ahnens und Fühlens. Sie spricht nur die Gedanken aus, die sich im Menschen unbewußt sammeln und ihm in den Mund kommen, er weiß selbst nicht wie. Wenn du träumst, Armgart, ist es dir nicht gerade ebenso? ... Daß sie dann freilich, ohne es zu wissen, alles herausspricht, das ist eine fatale Krankheit ...

Armgart dachte allen diesen Worten nach, sagte dann aber doch:

Du irrst, Lucinde! Sah sie nicht kürzlich den Vater des Domherrn? ...

Von Asselyn? ... Warum nicht? Sie beschrieb ihn, wie man vom Lande der Seligen träumt ...

Nein, nein! Das wirkliche Italien war's, wo sie ihn sah ... Terschka – bestätigte alles ...

Unsere Vorstellung vom Paradiese ist – so etwas wie Italien ... sagte Lucinde, schwieg dann aber und ließ Armgart Recht behalten ...

Dadurch wurde diese noch sicherer ...

Dein armer Klingsohr! fuhr Armgart fort. Der liebt dich wol noch jetzt! Wie weit hin war der berühmt! Noch im letzten Herbst wurden seine Aufsätze jeden Abend bei uns vorgelesen. Alle sagten dann: Das ist der Sohn des Deichgrafen! Das ist der, der um – deine Lucinde, Paula, ins Kloster gegangen ist! Die Tante wollte nicht, daß ich erführe, was Liebe ist, und sagte: Ach was! Aus Schmerz um seinen Vater, aus Reue über sein Einverständniß mit dem Kronsyndikus ist er in's Kloster gegangen! ...

Ein Kloster ist für vieles gut – das siehst du an deiner Mutter und an dir ... sagte Lucinde ausweichend ... Also die Liebe solltest du nicht kennen lernen und nun kennst du sie? ... Herr von Terschka liebt jetzt statt deiner Mutter – glaub' ich – dich ...

Armgart ergriff Lucindens Hand und sagte mit erstickter Stimme:

Was sprichst du da ...

Ich sah es ja neulich bei dem Jagdbanket – den Augen der Männer sieht man das an! Terschka's Augen verschlangen dich ...

Lucinde! rief Armgart ablehnend – und ihr Auge verschlang doch auch die Augen Lucindens ...

C'est la vogue! ... Auch Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge lieben dich ...

Armgart nannte französisch die Sprache, die Gott geschaffen hätte, Dinge zu sagen, die andere Nationen zu sagen sich schämten ... Sie sagte das eben ...

Als Lucinde darüber lachte, fiel sie sich ihr abwendend ein:

Wähle du dir einen davon! ...

Lucinde ging auf den Scherz ein:

Hm, Thiebold de Jonge? sagte sie ... Ei, der ist sehr reich und das ist viel werth ... Aber ... Was hilft mir ein Mann, für den ich den Verstand haben muß! Dein Vater hat ihn aus dem Wasser gezogen, hör' ich. Mir würde er – ewig im Sanct-Moritz liegen ... Immer müßte ich ihn an den Haaren halten ... Seine Haare sind freilich hübsch ... Nun ja, mir recht! Um die Wahrheit zu sagen, ein rechter Mann muß ein bischen dumm oder lieber noch wild sein, dann ist's eine Lust, ihn ziehen und zähmen zu können ... Wahrhaftig, ich nähme den Thiebold noch lieber als den Benno ...

Armgart horchte einer Sprache, die sie – für frivol hätte erklären müssen und die sie doch fesselnd fand ...

Benno – der ist schön, interessant, aber – eingebildet! fuhr Lucinde fort. Der ließe keine Frau aufkommen ... Immer würde er ihren Verstand mit Ironie behandeln ... Nein, nein, diese Männer, die sich so klug dünken –

Armgart hielt Lucinden den Mund zu ...

Terschka freilich – fuhr diese fort ...

Das Kapitel verstehst du nicht ...

Lucinde machte sich frei und fuhr fort:

Terschka – das denk' ich mir so! Graf Hugo ist Terschka's Freund ... Geht Paula, deine Freundin, nach Wien, so wirst du, Närrchen, natürlich folgen wollen und da – macht sich denn alles ganz natürlich –

Nach Wien? unterbrach Armgart. Nach Wien? Wer geht nach Wien? ...

Ich höre doch ...

Sie geht in ein Kloster ... Wie ich ... Nur – daß ich schon heute gehe ...

Pah! Ihre Aufgabe, die Aeltern zu versöhnen, sagte Lucinde, ist nicht so schwer ... Es ist wahr, Ihre Aeltern hassen sich; aber es gibt einen Haß, der der unmittelbarste Gegenpol der Liebe ist und bei günstiger Gelegenheit sogleich in Liebe umschlägt. Man haßt dann nur, weil man eben nicht liebt, das ist ein großer Unterschied vom gewöhnlichen Haß. Der gewöhnliche Haß verachtet und will gar nicht lieben. Wenn man aber weiß: Einer ist nur außer uns im Leben, der uns ganz und gar aufhebt und vernichtet ... Nun ringst du gerade mit dem und mit keinem andern ... Weicht er oder weicht er nicht ... An ihm allein missest du deine Kraft ... An ihm deinen Werth ... O, das ist ein ganz anderer Haß ... Ja schüttle dein liebes Köpfchen nur ... Du verstehst das alles noch nicht ... Tage und Wochen lang nur immer auf Einen denken, immer nur für dessen Widerlegung, wenn er uns misverstand, leben, dem zum Widerspruch, aber auch nur um Den allein das Höchste und Kühnste beginnen, malen, dichten, philosophiren, entbehren; – alles das hat, ich weiß es vom Oberprocurator Nück – auch deine Mutter gethan und keiner ist ihr dabei doch bei all ihrem Zorn und ihrem Schmerz gegenwärtiger gewesen, als immer der Mann, der sie früher bändigen wollte, ehe sie die Lust der Freiheit gekostet, oder, wie man richtiger sagt – gebüßt hat ... Und wenn ich mir den Obersten vergegenwärtige, den ich kenne, den ich gesehen und gesprochen habe –

Armgart hing an Lucindens Lippen mit bebender Erwartung und hielt krampfhaft ihre Hand ... Daß diese ihr eigenes Verhältniß zu Bonaventura beschrieb, wußte sie nicht; so leidenschaftlich konnte sie sich die Liebe zu einem Priester nicht denken ...

Dein Vater, fuhr Lucinde fort, erschien mir bei einem kurzen Begegnen in Kocher am Fall eine Natur wie aus Granit. Lieben könnt' ich ihn nicht. Aber – nun kam Lucinde unbewußt in die Anrede mit »Sie« zurück – Ihre Mutter schon, die sieht nicht, glaub' ich, die Bibliothek, die in seinem Innern aufgebaut ist, von zehntausend Bänden Weisheit. Sein Bruder, Ihr Onkel Levinus, hat auch diese Bibliothek im Kopf, ich hörte das ja heute; aber der plaudert sie aus oder sie liegt krummbucklig in ihm durcheinander, bald orientalisch, bald spanisch, bald kocht er Gold, bald blos Seife ... Der ist nicht einmal das Conversationslexikon, wo es doch nach den Buchstaben geht ... Aber bei Ihrem Vater – da sieht man keinen einzigen Titel, keinen Einband, kein Schubfach, keine Rolltreppe – in alten Klosterbibliotheken ist's himmlisch, Armgart! – das ist alles von ihm verdaut und wirklich Fleisch und Blut geworden. Denke dir, Armgart – Lucinde ging aus ihrer Zerstreuung wieder in diese Anrede über – denke dir diesen Magen! Diese Gesundheit! ... Deine Mutter ist dann gerade ebenso ... Sie liebt deinen Vater, sowie sie ihn sieht – falls freilich nicht bereits dein schlimmer, höchst leichtsinniger – Terschka –

Armgart hielt gerade krampfhaft Terschka's Brief in der Hand und legte diese und den Brief auf Lucindens Mund ...

Nein! Nein! sagte Lucinde beruhigend und wiederholte halb spottend das allbekannte Gelübde Armgart's: In der Rechten die Mutter, in der Linken den Vater und so beide fürs Leben verbunden! ...

In Witoborn, wo es des Tags nicht blos zu jeder Stunde, sondern im Grunde immer läutet, hämmerte bereits der unruhige Hinkbote, der in der Glocke jedes Jesuitenthurms sitzt. Das ging wie beim Sägemann auf dem Weihnachtstisch ...

Armgart bat Lucinden, noch eine Weile auf den Wällen langsam hinfahren zu lassen ... Das Wetter wäre so schön ... Sie wollte zu Hedemann, wollte nach der Ankunft des Vaters fragen und dann ins Kloster zu den Clarissinnen ...

Lucinde that alles, wie gewünscht und beugte sich zum Schlag hinaus, um mit dem Kutscher zu sprechen ... Dabei entglitt ihrer Brust das Kreuz ...

Du bist katholisch geworden! sagte Armgart, es ihr zurücksteckend. Weißt du auch, was katholisch ist? ...

Katholisch sein heißt einen geheiligten Willen haben ...

Das ist recht! wallte Armgart auf. Wenn ich Hedemann gesprochen habe und ehe ich ins Kloster gehe, beten wir im Dom zusammen? ...

Ich reise heute ... entgegnete Lucinde ausweichend ... Sie – ins – Kloster! setzte sie nach einer Weile hinzu und gedachte Treudchen's, die gleichfalls nur einen vorübergehenden Schutz im Kloster suchte und dort vielleicht für immer blieb ...

Wann reisen Sie denn? ... unterbrach Armgart ihre Abmahnungen ...

In wenig Stunden ...

Und kommen nicht wieder? ...

Gegen Ostern ...

Armgart's Miene war so wehmuthvoll, als wollte sie sagen: Wer weiß, wo ich dann bin! ...

Lucinde sah diesen Schmerz, der sich durch ein Blinken der weißen Zähne ausdrückte ...

Sie nahm jetzt den Brief, den Armgart aus Zerstreuung wieder in der Hand hielt ... Sie wollte vom Gespräch über ihre eigenen Pläne und Absichten abkommen und sagte:

Das ist ja ein Brief an Ihre Mutter? ...

Armgart erschrak und bestätigte es kleinlaut ...

Wollen Sie ihr den Brief aus dem Kloster schicken? ...

Armgart blieb die Antwort schuldig ...

Haben Sie diese wunderliche kleine Handschrift? ...

Nein – Herr – von Terschka ...

Lucinde nahm den Brief, verglich den Umstand, daß Armgart diesen Brief nach Witoborn mitnahm, mit allem, was sie aus Armgart's Mienen zu lesen glaubte, und sagte:

Der Brief sollte in Westerhof Ihre Mutter begrüßen – nicht wahr? ... Nun sind Sie neugierig, was wol Terschka Ihrer Mutter schreibt, während er Ihnen zu gleicher Zeit – Machen Sie doch den Brief des leichtsinnigen Mannes auf! ...

Lucinde! rief Armgart und wie wenn einer Mutter ihr Kind ins Wasser stürzen will, griff sie nach dein Brief –

Lucinde gab ihn zurück ...

Was aber hatte sie schon gethan? ...

Mit einer einzigen Bewegung des Fingers hatte sie unter die Klappe des Couverts gegriffen und sie aufgerissen. So gab sie den Brief an Armgart zurück ... Es war eine Regung ihrer alten Natur ...

Für Armgart war das freilich zu viel ... Geschah ein Verbrechen, das so weit ging, ein fremdes Geheimniß nicht zu schonen, so mußte es feierlich, wenigstens erst mit einem Gebet zu Gott geschehen ... Diesera sche That lähmte ihr die Sprache ...

Lucinde lachte darüber ...

Abscheuliche! Jetzt erkenn' ich dich! rief endlich Armgart, nur zu einigen Worten sich sammelnd ...

Lucinde konnte nicht aus dein Lachen kommen ...

Schändliche! Schändliche! ...

So lesen Sie doch, Kind –

Ich verbitte mir –

Lucinde lachte ...

Sie verdienen –

Was? Armgart! Einen Kuß! ...

Nicht Ihre Armgart bin ich ... Demoiselle Schwarz! – Halt! Halt! ...

Sie rief dem Kutscher ...

Der Wagen hielt ... Es war am Eingang in den Witobachgrund ... Die Mühlen schienen eben zu rasten ... Es war still ringsum ...

Der Bediente sprang hinunter und öffnete den Schlag ...

Warum haben Sie mir das gethan! lenkte Armgart wieder zum alten gütigen Tone ein und hielt den Schlag zu ...

Lucinde, verletzt durch das plötzliche Herauskehren der Fräuleinswürde Armgart's, wandte sich ab und that, als verlöre sie mit solchen Possen nur die Zeit ...

Ich sehe es zu gut, sagte Armgart weinend, daß Ihr Uebertritt zu unserm Glauben nur eine Heuchelei war! Ja, Sie sind eine Schlange, die sich erst warm an unserm Herzen einnistet und dann das Blut aussaugt! Darum flieht auch alles vor Ihnen! Und ich, ich lasse mich bethören! Gerade wie die armen jungen Mädchen auf den Streckbetten damals! Nun fühl' ich wieder den fürchterlichen Stich im Herzen, wie damals, als ich Sie zum ersten male sah! ...

Lucinde wandte sich ab und beachtete sie nicht mehr ...

Da der Schlag Armgart's Händen entglitten war und das längere Offenstehen des Wagens Lucinden veranlaßte, ihren Mantel, wie gegen Frost, fester zu ziehen, stieg Armgart aus ...

Beide trennten sich, als wäre mitten in ihrem schönsten Flusse eine Melodie durch das Reißen einer Saite unterbrochen worden.

23.

Mit ihrem Bündelchen und dem erbrochenen Briefe schritt Armgart wie die verstoßene Hagar dahin' ...

Sie betrat die Gegend Witoborns, wo sonst das Wasser rauscht, die Räder brausen, die Sägemühlen kreischen, die Mittagszeit alles still gemacht hatte ... Die Witobach machte hier eine Biegung, die einen alten Gefängnißthurm, jetzt das Hauptwerk des ganzen Mühlenbetriebs, wie auf einer Insel liegen ließ ...

Hier und da wurde der Weg durchkreuzt von alten durchbrochenen Mauern und großen Schuppen ...

Hier also wollte der Vater seinen künftigen Wirkungskreis eröffnen, hier eine Erfindung des Satans befördern helfen und Papier machen ... Daß doch auch die Gebetbücher und Breviere des Papiers benöthigt waren, gab Armgart schon eine Erkräftigung gegen die strengen Vorwürfe der Frau von Sicking ... Aber – welch ein räthselhaftes Wesen allerdings im Papier liegt, sie fühlte es an dem Briefe, der ihr enthüllen konnte, was und wie Terschka ihrer Mutter zu schreiben wagte ...

Fernab, schon in der ersten Häuserreihe der Straßen, lag das freundliche Häuschen, wo Hedemann wohnte ... Und seit einigen Wochen hatten dort Benno und Thiebold gewohnt, sie, die sie aus ihrem Leben ausgelöscht zu haben glaubte und es doch so wenig konnte wie wieder die heutige Erinnerung zeigte ... Es war Mittagszeit ... Sie konnten, wenn sie beide noch nicht abgereist waren, eben beim bescheidenen Mahl ihres gastlichen Freundes sein ... Wie bewußtlos schritt sie dahin ...

Auf einem der schmalen Stege und geländerlosen Brückchen, die hier zu überschreiten waren, begegneten ihr zwei Bekannte ...

Der bucklige Stammer und Frau Schmeling, die Hebamme ...

Unwillkürlich erschauderte sie trotz des demüthigen Grußes, der von beiden ihr zu Theil wurde ... Stammer war im Kirchenbann, auch die Schmeling sollte hineinkommen ... Auch von Hedemann hörte man, daß sich zu Ostern, beim allgemeinen Communiongang, sein wahrer Kern enthüllen würde ... Die Aeltern Hedemann's waren gleichfalls im Kirchenbann ... Ja ihr eigener Vater galt für einen Freigeist, wie die Mutter ... Sie irrte wie am Scheidewege zwischen Himmel und Hülle ...

Wie lag das Gespräch mit Lucinden auf ihrem Herzen ... Was hatte sie an Anschauungen und wilden Lebensmaximen vernommen! ... Und sie fühlte ja auch schon lange, daß eine seltsame Musik durch ihre eigene Seele zog, fühlte, daß sie im Vergleich mit ihrer lichtreinen Paula längst in immer unheimlichere Schatten trat ... Sie konnte nichts nennen von dem, was sie so bedrückte ... Aber ihr erstes Gefühl war, zu sagen: Das ist die Sünde! ... Und gerade darin lag ihre Angst, daß in ihr tausend muthige Stimmen riefen: Was Sünde! Gib dich, wie du mußt! ... Dies Müssen war ihr dann wie ein Gezogenwerden schon von der Hand des Teufels ...

Grinsend sprang der berüchtigte Musikant zur Seite ... Auch die Hebamme schien betroffen, sich von dem Stiftsfräulein hier mit Stammer gesehen zu finden ... Sie knixte und erbot sich mit schneller Zunge zu einer Auskunft, da Armgart nicht wußte, wie sie aus diesem Labyrinth der kleinen Kanäle der Witobach herauskommen sollte ...

Ich wollte zu Hedemann ... sagte sie ...

Der ist eben im Thurm, mein gnädiges Fräulein! Eben ging er die Treppe hinauf ... Da! ... Sehen Sie ... dort die Thür! ...

Stammer deutete zu diesen Worten der Schmeling den kürzern Weg an, auf dem Armgart zu diesem Thurm gelangen konnte ...

Alles ringsum blieb still ... So viel Worte hätte man hier sonst ohne die lebhafteste Erhebung der Stimme nicht wechseln können ...

Der Thurm mußte bewohnt sein ... Eine alte Frau stieg von der Außentreppe nieder, in der Hand hielt sie einige Töpfe ... Aus einem Verschlage, an dem Armgart still stand, sah eine Ziege hervor und bohrte mit den Hörnern an der Oeffnung ... Selbst darüber wurde ihr ängstlich zu Muthe ... Vollends aber, als sie die Frau nach Hedemann fragte und an der Antwort sah, daß die Alte taub war ...

Armgart stieg nun von selbst einige Stufen höher in die offene Thür ...

Von hier wieder abwärts gehend, hatte das alte Mauerwerk im Erdgeschoß eine Küche, in die man hinunterblicken konnte ... Auf dem Herd unten lagen verglimmende Kohlen ... Eine enge steinerne, abgetretene Treppe führte nach oben hinauf ... Sollte sie sie besteigen? ... Sie sah sich erst nach einer Klingel um; die Alte folgte ihr schon dicht auf der Ferse und sprach nichts und betrachtete sie nur neugierig ...

Da wurde Armgart von oben angerufen und begrüßt ...

Es war Hedemann's Stimme; aber sie sah ihn noch nicht ... Nur die Füße bemerkte sie ... Sie mußte erst durch eine Fallthür den Kopf stecken, bis sie Hedemann von Angesicht sehen konnte ...

Fräulein Armgart, Sie sind es –? rief er ihr entgegen und reichte ihr die Hand, sie emporzuziehen ...

Hier sind Sie ja wie in einem Gefängniß ... sagte sie ...

Das war hier auch ehedem so etwas! sagte Hedemann ... Der Thurm gehörte zur Vogtei ...

Hedemann schien hocherfreut von diesem Besuch und setzte hinzu:

Aber darum ist es hier doch ganz angenehm! Kommen Sie nur näher! ...

Hedemann öffnete ein Gemach, das in der That warm und behaglich war. Zwar waren die Fenster kaum größer, als Schießscharten, aber da es ihrer vier waren und sie ganz hoch lagen, erhellten sie den Raum, der mit einem in einem Alkoven befindlichen Bett, einem alten Lehnstuhl, einem Tisch und einigen Stühlen besetzt war ... Tassen, Gläser standen auf einer Kommode ... Es war das Bild einer kleinbürgerlichen Wohnung ...

Um den Fußboden dieses Zimmers selbst zu betreten, mußten dann beide innenwärts noch einige Stufen hinuntersteigen ...

Armgart war glücklich, Hedemann hier oben allein sprechen zu können ... Sie warf ihren Muff ab, band den Hut auf, lüftete den Mantel und rückte sich dem behaglichen halb eisernen, halb Kachel-Ofen näher, um die Füße zu wärmen ...

Hedemann begleitete alle diese Bewegungen mit den Worten:

Nun, das ist gut! Das ist gut! ...

Was ist gut, Hedemann? ...

Daß Sie nicht in Westerhof bleiben! Heute kommt Ihre Mutter! ...

Sie wissen –? ... Und der Vater? ...

Das ist recht, Sie halten am Vater ...

An Vater und Mutter! Wie Sie's immer ja selbst sagten ...

Aergert dich aber dein Auge, so reiß es aus! ... Mit der Mutter können Sie nicht gehen, ohne den Vater zu kränken ...

Ich weiß es ... Und wann kommt der Vater? ...

Ich denke, jede Stunde ... Sie sind ein gutes Kind – In Ihren Jahren gehören Sie dem Vater! ...

Ich will zu den Clarissinnen gehen, Hedemann, und dort so lange warten, bis mich beide abholen ...

Da würden Sie den Schleier nehmen müssen! Daß beide zusammen kommen, würde lange dauern ...

Nun, dann – dann thäte es ja auch so – vor Gott nichts ...

Hedemann wallte über dies Wort auf und schien von plötzlichen Gedanken ergriffen ...

Haben Sie schon gegessen? fragte er ...

Essen und Trinken lehnte Armgart ab ...

Kommen Sie hinüber in mein Häuschen ... Benno und Herr de Jonge speisen heute nicht bei Tangermanns, sondern gönnen mir die letzte Ehre ... Vielleicht überrascht uns zum Nachtisch – der Oberst ...

Hedemann! ... Ich darf nicht ...

Sie bleiben dann auch gleich drüben ... Bei Ihrem Vater! ... Ja, dessen Schild und Ehrengarde müssen Sie nun werden! ...

Sie wissen ja schon von Lindenwerth, wie ich über alles das denke ...

Der Vater will keine Versöhnung ...

Ich aber will sie ...

Läßt sich ein Mann vorschreiben? ...

Aber die Mutter ...

Umstrickt Sie! Auf Westerhof ist gestern das große Loos gezogen! Die Urkunde hat sich gefunden ... Da mag es hoch hergehen ... Bleiben Sie getrost bei Ihrem armen gekränkten Vater ...

Hedemann –

Sie sind jetzt alt? – Sechszehn Jahre – denk' ich ... Warten Sie, ich kann es bis auf die Minute sagen –

Hedemann nahm ein Buch, das unter den Tassen und Gläsern lag und an seinem Einband schon als die Bibel zu erkennen war ...

Hier stehen sie alle, die zu meiner Familie gehören! ... Auch Sie gehören dazu ...

Guter Hedemann! ... Aber hier kann ich nicht länger bleiben ...

Sie – bleiben hier ...

Ich gehe nicht nach Westerhof zurück ... Das versprech' ich ... Aber ich will ins Kloster ...

Ins Kloster! Was da! Sie bleiben bei Ihrem Vater! Da steht auch Buch Sirach: »Bleibe treu dem Freunde in seiner Armuth!« ...

Armuth? ...

Arm und reich macht Liebe, Ehre, Anerkennung, Gerechtigkeit ... Armgart, Sie müssen jetzt zum Vater halten! Sie müssen die Netze der Mutter fliehen! Westerhof sogar, die Tante, den Onkel, alle, die den Obersten lästern ... Die Rede Ihrer Mutter wird süß sein, gewiß ... Erst aber müssen Sie dem Vater in die Arme fliegen – wie die Tochter Jephtha's, da er die Feinde geschlagen! Sela! ... Sechszehn Jahre, drei Monate und sieben Tage sind Sie alt! Da steht's! ...

Das kann ich nicht, Hedemann! sprang Armgart jetzt auf ... Denn sie erschrak vor der seltsamen Entschiedenheit des Mannes ... Wie könnt Ihr mir rathen, so meiner Mutter weh zu thun? ...

»Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen!« spricht Paulus – sondern – doch wohl umgekehrt ...

Hedemann, adieu! Schickt den Vater zu den Clarissinnen! Ich folge ihm nur, wenn er mit der Mutter kommt! ...

Der Rath des Herrn bleibt ewiglich! Sela! ...

Mit diesen Worten machte Hedemann einen gewaltigen Schritt auf die vier oder fünf Stufen hinauf, die von der Thür in das kleine Gemach hinunterführten ...

Was habt Ihr vor? rief Armgart entsetzt und sprang ihm nach ...

Und wie Hedemann noch eine Stufe weiter zurück gegangen war, kam ihr die Ahnung, daß er gegen sie etwas im Schilde führte ...

Jesus Marie! rief sie ... Ich werde – doch – wieder – gehen können –? ...

Das hat der Herr gefügt! sprach Hedemann und hielt schon die Thür in der Hand ...

Hedemann, was? ... Armgart stand schreckgelähmt ...

Nicht wie in Lindenwerth sind wir hier ... Nicht wieder wie damals in Nacht und Nebel vor Vater und Mutter entflohen ...

Hedemann! ...

Armgart, die diese Wendung ihres Vertrauens nicht für möglich gedacht hatte, schrie den Namen so laut, daß man sie auf hundert Schritte weit über die Insel hinaus hätte hören müssen ...

Aber auch im selben Augenblick griff Hedemann an eine links hängende Klingel und wie der Zusammensturz eines Hauses so brausend begannen sofort die Räder der Mühlen ihre kreisenden Bewegungen, die schrillen Töne der Sägen durchschnitten die Luft, das Wehr, das gestaut gewesen, entsandte seine Donnertöne ... Seine eigenen Gedanken begriff man nicht, viel weniger hörte man ein eigenes Wort oder das eines andern ...

Wie von einem Taumel überfallen schwankte Armgart zurück und ehe sie sich noch in den schrecklichen Augenblick gefunden und sich mit beiden Händen wie zum Angriff auf Hedemann gerüstet hatte, war dieser verschwunden ...

Nun stürzte sie die Stufen hinauf und rüttelte an der Thür ... Sie schlug wider sie mit beiden geballten Fäusten ... Die Thür war eisenbeschlagen und eisenfest ... Sie suchte einen Griff, einen Riegel, um zu rütteln – selbst diese fehlten, die Thür war von innen nur durch einen Schlüssel zu öffnen und dieser war abgezogen ... Mit der Behendigkeit eines flüchtigen Wilds sprang sie die Stufen wieder hinunter, riß einen der Stühle an die hoch gelegenen kleinen, kaum einen Fuß breiten Fenster, griff hinauf, um eines, das nach außen vergittert war, zu öffnen – vergebens, von den Fenstern war gerade dies nicht zu öffnen – Sie sprang hinunter, rückte den Tisch an die Wand, kletterte hinauf, suchte ein anderes Fenster zu öffnen ... Dies gelang ... Sie schrie hinunter ins Freie: Hülfe! Hülfe ... Der Ruf verhallte in dem Lärm des Mühlenwerks und des Wehrs ohnmächtig wie das Summen eines Käfers ... Kein Haus lag gegenüber, kein Weg führte daher ... Sie konnte rufen und rufen und erschöpfte nur die Kraft ihrer Stimme und den letzten Rest des Muthes, den sie dem so rasch ausgeführten Entschluß entgegensetzen konnte ...

Schon dachte sie: Es ist ein Scherz von ihm ... Er wird wiederkommen ...

Aber wenn er mit dem Vater käme? Wenn mein Gelübde – vereitelt wäre! ...

Als sie das Fenster der hereinströmenden Kälte wegen zugeworfen hatte, wieder niedergestiegen war, immer von dem betäubenden Geräusch begleitet, sank sie auf den Lehnstuhl nieder und ließ verzweifelnd die Hände zusammengefalten auf ihrem Schoose liegen ... Blasser und matter neigte sich ihr Haupt ... Der Hut entfiel ihr ... Sie lag in Betäubung ... Von dem dumpfsten Schmerze der Seele ebenso gefoltert, wie von dem grauenhaften, ihrer Stimmung hohnsprechenden Getöse um sie her ...

Das hatte sie nicht für möglich gehalten! Hedemann's Gefangene war sie ... Aus seinen Bitten, die ihr noch von den letzten Augenblicken an der Maximinuskapelle im Ohr klangen, waren Befehle geworden ... Sie konnte erwarten, daß nur ihr Vater sie hier befreien würde ... Jetzt hätte sie aus dem Fenster nach Benno und Thiebold rufen mögen ... Was half es ... Nichts war von ihrem Ruf zu hören ... Ihre Thränen brachen hervor ... Sie, die sich selbst gefangen setzen konnte, tagelang, sie konnte es nicht von andern sein ... Sie wollte aufspringen, wider die Wände rennen ... Ihre Muskeln hatten keine Kraft mehr, ihren Willen auszuführen ... Und was sie dann auch that, nichts ging ja helfend an gegen die Gleichmäßigkeit des Rauschens und Rollens und Donnerns um sie her ...

Dazu dann endlich noch der Brief, der geöffnete, der vor ihr auf dem Tische lag! ...

Sie sah ihn lange mit der innern Ermuthigung an, wenigstens den zu lesen und dadurch in eine vorherrschende, wenn auch schmerzlich zerstreuende Stimmung zu kommen ... Jetzt aber überfiel sie plötzlich wieder ein Rettungsgedanke; sie sprang auf und lief an die Klingel, um diese zu ziehen und vielleicht auf einen Augenblick so die Räder zum Stehen zu bringen ...

Sie zog so gewaltsam, daß sie den Draht in der Hand behielt ...

Die Räder gingen fort und fort und die stürzenden Wellen des Wehrs rauschten und rauschten nach wie vor ...

Nun saß sie wie vernichtet und wie ausgelöscht aus dem Leben ...

Allmählich entquollen ihr Thränen ...

Sie sah sich gestraft für eine Menge Sünden, die wie in langen trauervollen Bildern an ihrem Innern vorüberzogen ... Sie sah sich gestraft von Gott selbst ... Die Bibel lag vor ihr, ein Buch, das sie wenig kannte, ein Buch, das ihre geliebte Kirche nicht empfiehlt ... Hedemann hatte zwischen manche Seite Papierstreifen gelegt, manche Stelle unterstrichen. Epheser 6, 1: »Gehorsam seid, ihr Kinder, euern Aeltern!« ... Und wie, wenn sie eine Antwort gesucht hätte auf die Frage der Verzweiflung: Aber hab' ich denn nicht ein Gelübde gethan? so fand sie an einer andern Stelle, 1 Samuelis 15, 22, die Worte unterstrichen: »Gehorsam ist besser, denn Opfer.« ...

Aus ihren Träumen weckte sie – nur das rauschende Rad und die Woge ...

Ganz allein und vergessen war sie darum nicht ... Sie bemerkte eine halbe Stunde später ein näher kommendes Geräusch ... Es kam aus dem Ofen, der von außen geheizt wurde ...

Legte man noch Holz an? ...

Bald bemerkte sie einen vom Ofen herkommenden Speisegeruch ...

Sie ging hin und sah in der warmen Röhre ein starkes Brett mit einer Schüssel Suppe, mit Brot, Rindfleisch, Erdäpfeln und Braten ... Das war wie hingezaubert ... Die Speisen kamen von außen herein ... Sie übersah den Ofen, der nur zur Hälfte im Zimmer stand und von der andern Hälfte aus eine Klappe hatte, durch die man einen hier Eingeschlossenen verköstigen konnte, ohne daß man eintrat ... Sie sah von ihrem Alkoven aus noch einen kleinen Raum, wo sich sogar Geräthschaften zur Reinlichkeit befanden; selbst einen Verschlag, den sie rasch wieder schloß ... Der Thurm war für einen längern Aufenthalt eines hier oben völlig Isolirten eingerichtet ...

Gefangen! seufzte sie wieder und stellte die einfachen Geschirre auf den Tisch und untersuchte die Klappe im Ofen, die von ihrer Seite aus sich nicht in Bewegung setzen ließ ...

Das wird dir wol vom Abschiedsmahl Benno's und Thiebold's geschickt! ... Wenn sie wüßten, für wen diese Reste bestimmt waren! ... Hedemann, mein Kerkermeister, wird ihnen kein Wort davon sagen ...

Beim Umblick in dem kleinen Raum bemerkte sie immer mehr Dinge, die sowol einem längern Aufenthalt wie zur Befriedigung nächster Bedürfnisse dienen konnten ... Auch Wasser stand da, trinkbares ... Das Zimmer gehörte ohne Zweifel dann und wann einem der ersten Beistände Hedemann's bei seinem Geschäft; jetzt fanden sich nirgends Spuren eines eben darauf angewiesenen Bewohners ...

Sie aß nun einige Löffel von der Suppe und stellte den Rest der Speisen zurück ... Später nahm sie ihn doch. Die Natur machte ihre Rechte geltend ...

Sie hätte sich schon zu fügen angefangen, wäre sie nur nicht so gefoltert worden von dem Rauschen der Räder ... Das war doch, als rollte so ihr eigenes Leben um ... Nun, dachte sie, geht Terschka aufs Schloß, die Mutter ist vielleicht schon da, die Geheimnisse dieses Briefes enthüllen sich, dein Liebesopfer verwirft das Schicksal, der Traum der Legenden ist im Leben unmöglich ...

Wieder weinte sie ... und bald vor Zorn ... Sie schwur, das Aeußerste daranzusetzen, ins Freie zu kommen ...

Sie untersuchte wieder Thür, Wände, Fenster, den Ofen ... Die verbindende Platte war von Eisen ... Dann hoffte sie auf den Abend, auf den Stillstand der Räder, auf die Kraft ihrer jugendlichen Stimme ...

Nein, die Nacht läßt er dich nicht hier! sagte sie ...

In ihrem wilderregten Innern jagte sich Bild auf Bild. Bei allem verweilte sie, bei Lucinde, bei Bonaventura, bei Paula ... Zum Bilde Paula's vor ihrer Seele erhob sie die Hände in die Höhe und betete: Schließt sich dein Auge, Freundin, so frage deine Engel, wo ich weile! Man wird mich doch vermissen, man wird mich doch suchen; du wirst sagen, wo sie mich gefangen halten! ...

Nun weinte sie um die Verzweiflung derer, die nicht wissen würden, wo sie geblieben ...

Wieder blätterte sie in der Bibel ... Sie bedurfte dieser Zerstreuung auch deshalb, um des Briefs nicht zu gedenken, der sie magisch anzog ... Sie hatte ihn in ihren Hut und auf das Bett gelegt ... Noch konnte sie sich nicht entschließen, sich für ihre Sachen der Riegelhaken zu bedienen, die sich rings an den Wänden befanden ...

In der Bibel fand sie alle die Geschichten am Urquell wieder, die ihr aus ihrem Jugendunterricht so lieb waren, die Erzählungen des Alten und Neuen Bundes ... Und sie forschte nach Aehnlichkeiten ihrer Lage ... Sie verweilte bei Joseph's Liebe zu seinem Vater, bei Absalon's wildem Trotz, bei den Söhnen Eli's und deren strafendem Ende ...

Glocken hörte sie vor dem Lärm nicht schlagen ... Schon kam aber der Abend ...

Wenn nun ihr Vater hereintrat, was würde sie ihm sagen! ... Die Kraft, ihn zu begrüßen mit dem Wort: Du Grausamer, du hast mich um die Wonne des Heiligsten gebracht! hatte sie nicht mehr und stiller und immer stiller wurd' es in ihr bei dem Gedanken: Hättest du wol das Aeußerste gewagt und Terschka's Arm ergriffen und dich vor den Augen der Mutter für ihn bekannt? ... Sie hatte sich ausgemalt, das im entscheidenden Augenblick thun zu wollen, die Angehörigen zu Zeugen seiner Werbung zu machen und die Aeltern so zu überraschen; die Mutter, wenn sie Terschka liebte; den Vater, wenn er davon eine Ahnung hätte ...

Ein Licht stand auf der Kommode und ein Feuerzeug ...

Es war nur Ein Licht ... Es konnte nicht zu lange brennen und sie rechnete darauf, nicht zu schlafen und die Nacht an ihre Befreiung zu gehen und, wenn die Mühlen endlich innehalten würden, ihren Hülferuf zu erneuern ...

So verging die Zeit ... Sie zündete endlich das Licht an ... Es wurde ihr zu gespenstisch einsam, zu schauerlich ringsum ... Sie hörte und sah im Geist, wie man auf Westerhof sie suchte, wie man nach dem Stift schickte und wie die Mutter sich in gleicher Lage befinden würde, wie damals, als man sie ebenso in Lindenwerth nicht fand ... Sie gedachte der Geistertheorie des Onkels ... Sie hätte auf irgendeine Weise, um an sich zu erinnern, auf Westerhof spuken mögen, durch Anklingen an eine Tasse oder ein Aufklinken der Thüre ... Sie wußte, man brauchte nur ganz fest und bestimmt an jemand zu denken und davon erschiene man ihm ... Sie dachte sich, Paula versinkt in Schlummer, Bonaventura's Berührung bringt sie in den Hochschlaf und sie sagt: Armgart sitzt hinter Schloß und Riegel im witoborner Mühlenthurm! ...

In solchen Zuständen läuft es im Menschen hin, wie uns plötzlich eine Maus erschrecken kann im wohnlichsten Zimmer – wie uns eine Katze begegnet im lachendsten Blumenfelde. Sachen fielen ihr ein, lächerliche, als sollte sie wahnsinnig werden; zwei Groschen Schulden, die sie noch an eine Mitpensionärin in Lindenwerth zu bezahlen vergessen hatte; eine wundervolle purpurrothe Schleife, die sie an einem Morgenhäubchen der Frau Fuld auf der Veranda in Drusenheim bewundert hatte; ein Bändchen, das neulich dem Pfarrer Müllenhoff während der Messe am Halse hervorguckte; hundert kleine verworrene Thatsachen blitzten auf wie todt bisher in ihr aufgespeichert und machten Lucindens Theorie wahr, derzufolge im Menschen der Stoff zu tausend Propheten stäke, wenn nur eine Hand da wäre, die die Thore des in ihm versenkten Wissens ohne seinen Willen aufschlösse ... Und als sie Benno's und Thiebold's gedachte, stieß sie dumpf die Worte aus: Gott! Gott! Laß mir die Sinne! ...

Dann sprach sie ihr Gelübde noch einmal und bat die Gottesmutter, ihr zur Erfüllung desselben beizustehen. Sie wandte sich an die vierzehn Nothhelfer, jedem derselben nach seiner besondern Kraft ihre Bitte um Beistand vortragend. Die Angerufenen standen vor ihr, jeder mit dem Marterwerkzeuge, das ihm die Ehre der Heiligkeit gegeben. So gewohnt war sie die Litanei: O du gnadenreiche Mutter, du heiliger Joseph, du heiliger Michael und ihr andern lieben Engelein und Erzengelein! daß ihr die Bibel, nach der sie griff, wie ein fremdartiges Buch erschien. Sie gab ihr gleichsam nur das einfache Brot, ihr gewohntes Brevier eine viel süßere Kost ...

Aus dieser Betrachtung weckte sie wieder ein Gepolter des immer gleich warm bleibenden Ofens ...

Jetzt sprang sie rascher hinzu; aber schon war die Bescheerung da ... Ein Nachtessen, reicher, als die Tante Abends der Gesundheit für zuträglich hielt ... Schon war die Klappe unerbittlich wieder zugezogen ...

Wer mag der Rabe sein, der mich nährt? sagte sie, an den Propheten Elias denkend ... Die taube Alte? ...

Indessen sie aß und nicht ohne Appetit und nicht ohne Besorgniß vor dem Geschirr, das jetzt in der Küche fehlen würde, da sie das vom Mittag noch zurückbehalten hatte, und nicht ohne guten Willen, es selbst zu waschen und in den Ofen zu stellen und dabei rufen zu wollen: Nehmt's lieber mit, ehe ich's zum Fenster hinauswerfe! ...

Nach zu reichlichem Nachtessen Pflegte sie einzuschlummern und schon manche der schauerlichen Geschichten des Onkels waren ihr auf Schloß Westerhof dann verloren gegangen. Nur weil die Mühlen noch immer rauschten, dachte sie: Es ist noch früh! Es ist noch nicht einmal Feierabend! ...

Aber ihr Licht! Eine Talgkerze, gegen deren Duft sie an sich nichts hatte, da sie wenigstens in Lindenwerth keine andern gebrannt hatte und auch der Onkel oft genug Lichter goß, die aus allerhand Surrogaten neuentdeckt waren und noch viel schlechteren Geruch verbreiteten, als Talg – Ihr Licht war schon zum letzten Drittel niedergebrannt und sie hatte doch noch die lange, lange Nacht vor sich und ihren Plan mit dem lautesten Hülferuf ...

Schlafen sollte sie? Schlafen in diesem Bett? ... Das wollte ihr nicht einkommen ...

Sie deckte doch aber das Bett auf ... Dabei mußte sie den Hut wegnehmen, die Kleider – Der Brief fiel auf die Erde und die Einlage glitt aus dem Couvert ...

Wie sie sie aufhob, war's wie eine glühende Kohle ... Sie sah das Wort: »Freundin«

Das vollends war ein Stich ins Auge ... Und doch wagte sie nicht zu lesen ...

Sie ordnete die Schüsseln und Teller und stellte sie in den Ofen, der, wie es schien, ihre einzige Verbindung mit der Welt blieb ...

Das Bett war sauber und weiß ... mindestens so gut, wie ihr Lager in Heiligenkreuz ...

Sie versuchte es, sich zu legen ... Bald aber stand sie wieder auf ... Das Zimmer war zu heiß ...

Jetzt gedachte sie den Tisch an einen der Fensterspalte zu rücken. Aber schon ermüdete sie und ahnte, daß sie doch nur zu vergeblichen Versuchen zurückkehrte ... Schon ergab sie sich ... Die Mühlenräder gingen und gingen ... Keine Hand stellte sie ... Wen konnte sie rufen? Ost sogar dachte sie, Hedemann käme – in Kettenstrafe, wenn man seine ruchlose That erführe, und da wollte sie denn lieber dulden, schweigen und weinen ...

»Freundin!« ... Das Wort verließ sie nicht mehr ... Sich alle Beziehungen desselben ausmalend, versank sie, unentkleidet auf ihrem Bett ausgestreckt, in Träume und entschlummerte allmählich ... Schon hatte sie sich an das Rauschen des Wehrs und der Mühle, an das Sägen, das hirnzerschneidende, gewöhnt ... Ihr Einschlummern kam ihr wie ein Ertrinken, aber nicht mehr schmerzhaft vor ... Sie träumte von einem großen dunkelblauen Bande, das sie umringelte ... War es ein Thier? Eine Schlange? Immer enger und enger wurde das Band, endlich sah sie nichts mehr, als aus blauer Verstrickung hervor einen rosigen jugendlichen Kopf mit lachenden Mienen, mit langen, feuchten, schwarzen Haaren – Das war dann Lucinde, die, wieder freundlich geworden, ihr zunickte wie die Wasserfee ...

Sie mußte lange nach Mitternacht zur Ruhe gegangen sein; denn als sie erwachte, war es Heller Morgen ...

Die Sonne fiel schon ins Zimmer, ihr Lichtglanz rief sie aus ihrem dunkeln Alkoven ...

Die Besinnung auf ihre Lage kam ihr schnell genug ... Und das Donnergeräusch um sie her hatte wol nur während ihres Schlafes aufgehört ... Schon war wieder die Luft von demselben verwirrenden Geräusch erfüllt, wie gestern ...

Schwankend schritt sie aus dem Alkoven hinaus und sah sich in ihrem Gefängnisse um ...

Es war ihr, als hätte es gestern Abend anders ausgesehen ... Und bald auch bemerkte sie ein neues Licht ... Auch frisches Wasser stand auf dem Tisch ... Eine ordnende Hand mußte hier schon gewaltet haben, während sie schlief ... Nur der Klingeldraht hing zerrissen wie bisher ...

Im Ofen fand sie ihr Frühstück ...

Sie ergab sich jetzt ... Ihre Augen, noch geröthet von den gestrigen Thränen, füllten sich aufs neue mit dem Ausbruch ihres Schmerzes ... Sie klagte Hedemann's Grausamkeit nicht mehr an ... Sie wollte jetzt dulden ... Blinzelnd sah sie auf den zur Seite liegenden Brief, der jedoch keine Spur trug, daß er gelesen war ...

Sie machte sich zu schaffen, so gut es ging ... Das Zimmer war warm ... Die Bibel lud zur Erbauung, zur Zerstreuung ein. Sie las einige Seiten ... Dann ging sie an ihre Kleidung, die sie ordnete ... Zerknittert und zerdrückt war alles. Sie öffnete ihre Tasche, nahm ihr Nacht-, ihr Nähzeug heraus und sagte:

Diese Nacht wirst du, wenn man dich nicht befreit, dem Bett vertrauen und dich getrost legen! ...

Sie gedachte der Märtyrer in Indien, die ja so ein ganzes Leben lang im Kerker schmachteten ... Das Brausen der Luft um sie her nahm sie wie bestimmt, ihr das Gehör zu rauben ... Auch darüber lächelte sie seufzend ... Ein Geist der Ergebung war über sie gekommen ...

Den Brief Terschka's wollte sie lesen, wenn sie die Hoffnung baldiger Freiheit gewann ... Sie ahnte, daß er ihre Bereitwilligkeit zum Dulden aufregen, ihr ergebenes Martyrium stören würde ...

Stundenlang saß sie, das Haupt aufstützend und in grübelndes Sinnen verloren ... Sprang sie auch zuweilen auf und rief mit Wildheit: Nein! Nein! Ich will nicht länger! so brach sie sofort wieder zusammen, schlich an die Thür, an der sie still mit den Nägeln kratzte, plötzlich mit den Füßen stieß, allmählich aber schlich sie wieder auf das Sopha zurück und ergab sich ... Die Bibel fing an ihr vertraulicher zu werden ... Sie vermißte zwar die Gottesmutter in ihr und die Heiligen ... Aber sie konnte sich auch an Abraham und die Patriarchen halten ...

Kein lebendes Wesen um sie her bemerkte sie, als – einige Fliegen, mit denen sie schon Bekanntschaft machte ...

Wie sie gegen Mittag wieder im Ofen rumoren hörte, sprang sie auf und rief Drohungen und Zornausbrüche in die Oeffnung, deren Wand sich wieder geschlossen hatte ....

Niemand hatte geantwortet ...

Eine halbe Stunde raste sie umher und konnte sich nicht fassen ... Auch die gestrige Mittagsrast der Mühlen fand heute nicht statt ...

Ihre Kost war noch besser als gestern ... Ihr Wasservorrath reichte bis über die Nacht hinaus ... Sie beschloß diese Nacht früher zu Bett zu gehen, damit sie den heimlichen Besucher am Morgen nicht verschliefe, sondern aus dem Bett springend ihn überraschen könnte ...

Wenn Shakespeare seinen Menenius sagen läßt, nach Tisch wäre der Mensch dem Mitleid zugänglicher als mit leerem Magen, so stumpfen sich in der That mit zunehmendem Behagen des Körpers die heroischen Entschlüsse ab ... Nach ihrer Mahlzeit konnte Armgart dem Verlangen nicht widerstehen ... Endlich las sie den Brief Terschka's ...

Sie las mit jener Scheu, die bei Oeffnung eines Briefs sich zuvor auf das Gegentheil dessen, was man zu lesen hofft, mit dem ganzen Aufgebot des Entschlusses wappnet, sich dem Schicksal nicht gefangen zu geben ...

»Verehrte Freundin!« war das erste Wort ...

Doch nicht: »Geliebte Freundin!« sagte sie sich und hielt einen Augenblick inne, um neuen Muth zu schöpfen ...

Aber nicht zu lange währte die Hoffnung auf einen Ton, der ihr hätte beweisen können, wie voreilig sie urtheilte, wie überflüssig das Opfer war, das sie bringen wollte ...

Zu ihrem Entsetzen las sie:

»Ich begrüße Sie in einem Augenblick wieder, wo ich den Rath der weisesten Männer der Erde, die Hülfe der mächtigsten Gewalthaber anflehen möchte und wo ich nichts, nichts habe, dem ich vertrauen kann, als Ihr edles, starkes Herz! Sie, Sie sind die letzte Rettung meines Lebens! – – Wenn ich mich erinnere, wie mir die gütige Freundschaft der Gräfin Erdmuthe stets so nachsichtig war, wenn ich mich mit Dankbarkeit erinnere, wie oft für mich die Gräfin bei Ihnen und Sie bei der Gräfin gesprochen haben, so schöpf' ich Muth und denke mir, der Zusammenbruch meines Lebens läßt sich noch aufhalten! Ich habe in diesen Tagen Schmerzliches gelitten und furchtbar gekämpft. Bedenken Sie zu den innern Erfahrungen, die ich für meine Person allein machte, noch die Schreckenserlebnisse auf dem Schlosse! Der Brand, der Fund jener Urkunde, die unsern Freund, den Grafen, vollends zum Schattenbilde seines Namens und seiner gesellschaftlichen Würde macht! Ich weiß es, diese Bekenntnisse meiner Verzweiflung werden Ihnen räthselhaft erscheinen. Sie werden sie auf die Veränderung meiner Stellung zu Hugo und zur Gräfin, zu Ihrer mütterlichen Freundin, beziehen – – Aber das, was in mir vorgeht, liegt tiefer, tiefer – Ich muß ein Ende machen mit dem Elend meines Lebens. Der Wechsel der Religion ist ein leichter Schritt für eine starke Seele, die sich ihre eigene Philosophie gebildet hat; aber bei mir würde dieser Schritt mit Folgen verbunden sein, die meine Freiheit, nicht unmöglich mein Leben, wenigstens die Fortdauer meiner gegen wärtigen Lebensstellung bedrohen. Gern will ich untergehen, wenn ich wenigstens eine Hand finde, die mir den Tod versüßt. O nur das eine, eine Glück, einen letzten Preis für den Rest meines Lebens errungen zu haben, wenn es sonst auch in Nacht und Grauen dahinfährt. Ach, ich bin schwach! Ich möchte nicht den Kampf mit dem Geschick zu herbe kämpfen und das vermag ich nur durch Sie! Nur Sie blicken tief in das Menschenherz! Nur Sie können mit Engelzungen reden – reden, wo die irdische Sprache nichts Ueberzeugendes mehr hat. Ein Entschluß muß gefaßt werden ... In vierundzwanzig Stunden schon kann für mich alles verloren sein ... Deshalb schreib' ich Ihnen! Deshalb fleh' ich fußfällig, gewähren Sie mir heute Abend, wenn ich von Witoborn zurückgekommen bin und Sie den Umständen angemessen auf Westerhof begrüßt habe, eine Stunde der Verständigung. Ich weiß nicht, wo es anders sein kann, als auf Ihren Zimmern. Um zehn Uhr ruht alles im Schlosse. Nehmen Sie mich an! Hören Sie mich! Vielleicht schon am Morgen darauf will ich nach England entfliehen, zu unserer theuern Gräfin, die das Richtige in meiner Sache nur durch Sie allein finden kann! Denken Sie rein von mir, so rein, wie die Blumen sind, die Sie in meinem Namen begrüßen! Ich ahne, daß Ihre holdselige, wunderliebliche Tochter sich wiederum der Umarmung der edelsten Mutter entzieht: aber auch sie wird jetzt Frieden stiften helfen für Ihre Brust und für die meine. Ihre Hand, edelste Frau, wird eine segnende sein. Nur muß ich Sie heute Abend sprechen – muß – muß es! Ihr Urtheil hör' ich über Leben oder Tod – – Terschka.«

Pater Stanislaus hatte diesen Brief zum Theil in jenem seraphischen Ton geschrieben, der der Rhetorik der Jesuiten entspricht. Dennoch lag Wahrheit in ihm. Er wollte mit seinem Stand brechen und unter dem Schutz der Gräfin Erdmuthe, dieser heroischen Bekennerin ihres lutherischen Glaubens, sich vor den Folgen seiner Entlarvung sicher stellen ... Monika's Zeugniß wollte er bei der Gräfin für sich haben, wollte sich in den Folgen seiner für den Grafen empfangenen Mission enthüllen, wollte Monika das Räthsel zur Entscheidung vorlegen, wie er im Gegentheil ein Freund des Grafen wurde und seine römischen Aufträge vergaß. Wer konnte wie sie so tief und nach den obwaltenden Umständen alles überblickend ergründen, was zur Entschuldigung seiner Lage und – Lüge dienen konnte? Zuletzt wollte er in der That und Wahrheit seine Liebe für Armgart bekennen ... Diese Leidenschaft war so mächtig in ihm, daß sie alle seine Schritte bestimmte ... Gerade deshalb, weil diese Leidenschaft ihm Kraft gab, den muthigsten Entschluß seines Lebens auszuführen, hielt er sie fest und während er diese ebenso verzweiflungs- wie hoffnungsvollen Zeilen schrieb, stand nur Armgart vor seinen leuchtenden Augen ... Die Liebe, die den Mann auf der Höhe seines Lebens ergreift, die Liebe, von der er ahnt, daß sie die letzte sein wird, die noch erhört werden dürfte, hat eine unwiderstehliche Kraft.

Armgart aber las aus allen diesen Hülferufen nur im Gegentheil – die Liebe zu ihrer Mutter ... Jedes Wort dieser glühenden Rede war ihr ein Ausdruck der Zärtlichkeit nur für sie ... Für diese Liebe wollte Terschka seinen Glauben ändern und nach England entfliehen ... Die Mutter mußte ja dann ein Gleiches thun ... Von alledem hatten sich schon dunkle Sagen verbreitet ... Schon als man hörte, Monika reiste mit der Gräfin Erdmuthe nach England, war man auf einen solchen Schritt gefaßt ... Diese Voraussetzungen des Briefes, wie sicher waren sie ... Ein Angenommenwerden auf den Zimmern der Mutter in nächtlicher Stille konnte ihr nur beansprucht erscheinen nach längst vorausgegangener Vertraulichkeit ... Der letzte Hinweis des Briefs auf sie selbst war ihr nur der Ausdruck einer matten Rücksicht; in nichts, nichts entsprach er den seit acht Tagen ihr gewidmeten Zärtlichkeiten und Huldigungen – dieses treulosen Verräthers ... Das der Dank für das Opfer eines – Lebens! ... Hatte sie ihm nicht deutlich genug zu erkennen gegeben – daß sie ihn erhören würde, wenn auch mit blutendem Herzen, wenn er wollte – –? ...

Eine purpurne Glut des Zorns und der Scham färbte ihr Angesicht ... Sie rannte dahin ... Sie starrte den Brief unausgesetzt an und floh wieder wie Nattern seine Buchstaben ... Das also ist die aufgedeckte Seele eines Menschen! ... Das ist der Abgrund der Wahrheit, den das Lächeln der Lüge, die Blumen des Scherzes verhüllen! ... Namenloses Elend aller betrogenen Menschen! ... Und du, du Schimpf meines geliebten Vaters! ... Ich kann nicht, ich kann nicht erfüllen, was ich wollte! Die Mutter ist für mich verloren! Vergib mir, o Himmel! Vergebt mir alle! Vergib mir auch du, Hedemann! Ich will dulden! Will hier bleiben als deine Gefangene! Schwände das Licht des Tages doch ganz und säh' ich nichts mehr, als Nacht und Dunkel, sowie das Kind im Mutterleibe –! ...

Ein solches Bild zu wählen, war ihr nicht anstößig ... Natürlichkeit und ihre Wahrheit gingen ihr über alles ...

So beugte sie das Haupt auf ihre weißen Händchen, die sie aufstützte. Sie dankte, niederblickend, dem Himmel für die Lage, in der sie sich befand, dankte für das Brausen, das in ihr betäubtes Ohr drang ... So war es ja schön! ... So auch hätte sie jetzt untergehen mögen! ... O, diese Welt ist zu schlecht! – Ihrem Vater hätte sie auf dem Schoose sitzen mögen, den allein liebkosen mit allen verborgenen Zärtlichkeiten ihres Herzens und diese Zärtlichkeiten selbst dann wieder beweinen ...

Nichts aber geschah zur Veränderung ihrer Lage ... Sie blieb verurtheilt, auch diesen Tag, auch die Nacht so hinzuleben ... Sie konnte ihren ersten Entschluß nicht ausführen, konnte nicht zeitiger zur Ruhe gehen ... Immer nur saß sie und dachte: So wandelt euere Wege hin! So seid Lügner! So leugnet nur Gott und die Treue! So brecht euere Eide, enthüllt euere Sünden und schmückt euch noch sogar mit ihnen! Herr, laß mich nicht sitzen, da die Spötter sitzen! ... Wie erquickten sie die Psalmen! ... Die Bibel wurde ihr ein Trost ... Jedes ihrer Worte paßte nun auch auf sie ...

Spät ging sie zur Ruhe ... Da ihr ganzes Sein Schmerz und Ergebung geworden war, schlief sie jetzt still und fest und träumte nichts Erschreckendes ...

Am Morgen hatte sie doch richtig wieder den Besuch verschlafen ...

Gewiß war es die taube Alte, die indessen im Zimmer gewesen und aufgeräumt hatte ...

Armgart sah sich um und fand es so friedlich und wohnlich um sie her – ganz so, wie sie sich einen Aufenthalt im Kloster gedacht ... Das Zimmer war warm, ihr Frühstück fehlte nicht im Ofen, auf dem Tisch stand das frische Wasser, auch ein neues und ein besseres Licht – Zeichen einer noch vorauszusehenden längern Gefangenschaft ... Sie sah sich um, setzte sich dann und malte sich aus, was alles in ihrer nun schon dreitägigen Abwesenheit von Westerhof geschehen sein könnte ... Terschka sah sie mit ihrer Mutter doch auch ohne den Brief – heimlich und zärtlich verbunden ...

Da konnte sie eines nicht fassen, was ihr heute Morgen besonders neu und wohlthuend war ... Sie blickte um sich ... Es war etwas vorhanden, was gestern fehlte. Was nur mochte es sein? ... Blumen? Die dufteten nicht ... Musik? ... Jetzt erst bemerkte sie, daß es ja ganz still um sie her war ... So in sich verloren, so an ihre Lage gewöhnt war sie schon ... Die Mühlen standen ja, die Wasser rauschten ja nicht, die Sägen schwiegen ... Was ist das? erhob sie sich von ihrem Frühstück ... Das ist der Himmel! Die Musik liegt in der ewigen Stille nach dem Geräusch des Lebens! ... Unwillkürlich mußte sie die Hände falten ...

Vorgestern und noch gestern hätte sie dies plötzliche Schweigen um sie her benutzt zu ihrer Befreiung ... Heute, wo sie endlich wieder auch die Glocken hörte, riß sie nichts ans Fenster, drängte sie nichts dazu, um Hülfe zu rufen ... Ja selbst das Läuten des Münsters und der Jesuitenthurmglocke und der Dominicanerkirche – all diese Glocken konnte sie seit frühster Kindheit unterscheiden – alle diese Zungen der Luft redeten die Sprache ihres Innern nicht ... Sie sah in die Bibel und fand, daß dort die Psalmen und die Propheten andre Worte sprachen, als die sie jetzt sogar im Münster hätte hören können ...

Zum Fenster stieg sie hinauf, nur um doch etwas von der Außenwelt zu sehen ... Es war ein bedeckter Frühlingsmorgen, Nebel verhüllten die schon hoch stehende Sonne, Schnee und Eis waren geschmolzen ... Sie öffnete, um die frische verheißungsreiche Luft einzuathmen ... Sie sah Menschen vorübergehen ... Niemand blickte zu den kleinen Schießscharten des Thurms empor ... Auch waren die Wände so dick, daß ein hinter den kleinen Scheiben befindliches Antlitz nicht gesehen werden konnte ... Und rufen, Hülferufen war Armgart's Bedürfniß nicht mehr ...

Ruhig stieg sie von Tisch und Stuhl hinunter und ordnete ihre Kleidung, flocht ihr Haar, schmückte sich so einfach, wie sie seit Jahren gewohnt war ...

Die Mühlen standen immer noch still und schon berechnete sie, ob heute ein Feiertag war ... Die Fastnachtszeit war da ... In wenig Tagen war Aschermittwoch ... Heute begann zu Sanct-Libori die vierzigstündige Anbetung des allerheiligsten Sakraments ... Die Bilder aller Altäre der katholischen Christenheit sah sie jetzt, wie immer zur Fastenzeit, verhüllt werden, nur das Kreuz des Erlösers offen bleiben, um wenigstens für die Passionszeit allein auf diesen die Aufmerksamkeit zu lenken ... Alledem suchte sie in ihrer Bibel nachzuleben, soweit es noch zutraf ...

Gegen elf Uhr hörte sie ein näher kommendes Geräusch ... Nicht vom Ofen kam es, sondern von der Thür her ...

Sie hob ihr Dulderhaupt und sah ruhig auf die Thür, durch die ohne Zweifel Hedemann eintrat ... Sie wollte ihm nichts Zorniges sagen, obgleich sie im ersten Augenblick eine auflodernde Wallung nicht unterdrücken konnte ... Hülfebringende müssen doch wol eiliger kommen! berechnete sie ...

Draußen ging ein Schlüssel ... Die Thür öffnete sich ...

Armgart hatte sich nicht erhoben ... Ruhig den Kopf auf die Hand stützend und nur von ihrem Buch aufsehend saß sie da ...

Aber unwillkürlich mußte sie sich jetzt erheben ...

Hedemann kam nicht allein ... Er ließ einen Herrn und eine Dame vor sich eintreten ...

Die Besuchenden waren ein Paar ... Sie kamen Arm in Arm ... Die Dame war nicht groß, das Antlitz von einem schwarzen Schleier bedeckt ... Der Herr erschien stattlich, frischen und gebräunten Antlitzes, den Kopf mit einer dunkeln Tuchmütze bedeckt, die ein rund gehender goldener Streifen zierte ...

Hedemann sprach nichts ... Die Besuchenden blieben oben an der Thür stehen und blickten auf Armgart und die Stufen hinunter ...

Armgart überfiel eine seltsame Regung ... Ihr Herz schien eine Weile zu stocken ... Ein Zittern ergriff sie, als sie einen Schritt weiter wollte und den so lange auf sie Niederblickenden entgegengehen ...

Die beiden Fremden blieben oben und sahen nur stumm ins Zimmer hinunter ...

Der Herr mit der Mütze hatte einen schwarzen Ueberwurf um, ein buntes Tuch noch fast jugendlich um den Hals geschlungen – einen weißen aufrecht stehenden Halskragen – Fast hatte er etwas vom Onkel Levinus –

Da schlug die Dame den Schleier zurück ... Lange silbergraue Locken quollen unter dem dunkeln Sammethute hervor ... In den Augen der stummen, jugendlich schönen Frau, in den Augen des stummen Mannes blinkte ein feuchter Glanz wie Thränen ...

Armgart bebte ... ermannte sich ... glaubte ... zweifelte ... Endlich stürzte sie mit einem ausbrechenden Schrei auf beide schon die Stufen Herabkommenden und lag zunächst doch nur – in den Armen der Mutter ...

Während aber auch Ulrich von Hülleshoven sein Kind an sich zog und in Armgart's Auge zu blicken suchte, lag Armgart's Hand in der linken Hand Monika's und Monika's Rechte – hielt die edle, würdige Gestalt des Gatten umschlungen ...

Die Rührung dieser drei Herzen war unaussprechlich und auch Hedemann, der den Empfindungen als Dolmetscher dienen mußte, konnte nicht damit vorwärts kommen ...

Jetzt riß Monika ihr Kind fast wie eifersüchtig und wie gekränkt ganz an ihr Herz ... Armgart – noch tief mistrauend, und doch wie von himmlischem Lichtglanz geblendet, wagte nicht zu ihr aufzuschauen und wandte sich mehr und mehr zum Vater, aus dessen hellen blauen Augen eine so selige Welt der höchsten Himmelsreinheit sie anschien ... Ulrich drängte sie der Mutter zu und sprach in einem vor Rührung leisen, sonst männlich festen, wohllautenden Tone:

Das ist ein Sieg nach langem Kampf! O Gott, o Gott! Was sind deine Menschenherzen verkehrt! ...

Armgart, ihre Aeltern sprechen hörend, sank in die Kniee. Sie umschlang die Kniee des Vaters und reichte der Mutter mit krampfhaftem Zittern die Hand ... Dann blickte sie wieder zu ihnen beiden empor und sog ihre Bilder auf mit ihren braunen, schwärmerisch irrenden Augen ... Und wieder den Aeltern mußte es sein, als sähen sie hinunter in einen See, über dem Rosen und Lilien schimmerten – in die tiefsten Tiefen dessen, was auf Erden und im Himmel schön und gut ist – und wie in ihre eigene Jugend ...

»Selig, selig«, sprach Hedemann und faltete über seiner – grauen Müllermütze die Hände, »bist du, die du geglaubest hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn!« ...

»Und Maria sprach:« fuhr Armgart fast tonlos in den Worten des englischen Grußes fort, »Meine Seele erhebet den Herrn!« ...

Noch einmal traten Pausen ein, deren die vom höchsten Glück erschütterten Herzen bedurften ...

Dann folgten Verständigungen und diesen die Entschuldigungen Hedemann's ... Monika sah in der alten von Hedemann ihr dargereichten Bibel die Stunde der Geburt Armgart's verzeichnet und gab dann dem Gatten dies Blatt ... Dieser warf darauf einen mild überrascht und schmerzlich lächelnden Blick und zog voll vergebender Inbrunst Monika an sein Herz ... Der Oberst schien ein Mann, der mit dem Sturm der Jugend nicht die sanfte zärtliche Empfindung schon verloren hatte; alles, was er sprach, war eigenthümlich gemessen und bedacht, aber jugendlich innig und wohlthuend ... Monika staunte nur und strich wie in unbewußtem Träumen ihre grauen Locken ...

Wo wir uns wiedergefunden haben? sprach der Oberst ... Bei unserm Kinde! Bei deiner Liebe! Deiner – nun wandte er sich doch zu seinem Weibe – deiner vergebenden Liebe, Monika! ...

Beim Geist und bei der Wahrheit! sprach Monika mit leuchtenden Augen, zeigte auf die Bibel und stand neben der aufhorchenden, immer noch scheu vor ihr niederblickenden, immer noch zweifelnden Armgart wie eine ältere Schwester, so jung, so schön noch und keinesweges nur durch ihre leuchtende Verklärung ...

Hedemann sprach vom Kampf der Gerechten und Armgart begriff noch immer nicht, was die Aeltern so plötzlich verbunden hätte? ... Sie fragte dies auch leise ...

Monika sprach:

Dein Opfer hat uns verbunden, Kind! ... Kind – meiner Schmerzen! ... Deine Gefangenschaft! Hier dieser Thurm! Ist es nicht so? Hedemann! Wie dank' ich Ihnen! ...

Auch Ulrich wollte Hedemann danken, umschlang aber nur die Sprecherin und umschlang sie mit jener männlichen Würde, die den Ausbruch der noch jugendlich regsamen Leidenschaft milderte ...

Sie soll noch alles hören! sprach er. Nun aber kommt! Laßt uns im Triumph nach Westerhof fahren und zeigen, was wir mitbringen können! Nun, nun zieh' ich ein! ... Anders wär' ich dorthin nicht gegangen ...

Nicht blos Armgart, sagte Hedemann; sondern sich selbst bringen Sie beide mit ...

Monika's Ja! war so einfach, aber sie konnte nichts besseres sagen, als Ja! und reichte dem Gatten die Hand ...

Noch schien die Aussöhnung das Werk einer vor wenigen Minuten erst gekommenen Verständigung zu sein ... Monika schwankte noch dahin wie ein vom Wind bewegtes Rohr ... Kind und Gatten hatte sie in Einem Moment gefunden ...

Wen nur nehmen wir noch mit? rief der Oberst. Benno ist fort; mein »Geretteter«, Thiebold de Jonge, mit ihm – Selbst die schwarze Hexe, mit der du von Westerhof entflohst, Schwarmkind, ist nicht mehr da ... Der Domherr ist im Amte ... Ja, gestern noch suchte mich ein Herr von Terschka auf, der heute wiederkommen wollte ... Er wohnt auf dem Schlosse ... Wer begleitet uns im Triumph? Ganz Witoborn? ...

Armgart zuckte auf den Namen Terschka's zusammen und blickte zur Mutter hinüber, die sorglos und nur voll Wehmuth stand ... Offenbar gab das Herz des Kindes dem Vater den Vorzug ... Das sah Monika ... Sie sah es jetzt wieder an dem sonderbar scheuen und prüfenden Blick Armgart's ...

Terschka suchte dich wie einen verlorenen Edelstein! fuhr der Vater harmlos fort ... Und das bist du ja auch ... Ihm verdanken wir eigentlich Alles – Nicht wahr, Monika? ...

Armgart hörte und hörte ... Durch Hedemann reisefertig gemacht ging sie schon wie eine Führerin voraus ... Eros, der Griechengott, wie mit der Fackel voranleuchtend ...

Monika rühmte im Nachfolgen Terschka's Gefälligkeit ... Der Vater war ganz erfüllt von dem böhmischen Rittmeister ... Fast schien es, als hätte bei ihm Terschka um Armgart geworben ... Klar blickte sie über nichts und sah sich nur immer nach einem störenden Schatten zwischen ihnen allen um, zerpreßte den Brief, den sie auf der Brust verborgen trug, und deutete und deutete noch dies und das nach dem Lügengeist, den sie gestern als den Beherrscher des Lebens erkannt haben wollte ... Wie ist das nur? sprach sie vor sich hin und zog Vater und Mutter sich nach in die freie Gotteswelt ...

Jetzt begannen auch wieder die Mühlen, die Wasser rauschten ... Man stieg über die Schwelle des Thurms ... Die taube Alte sah ihnen verwundert und schelmisch lachend nach ... Unten standen Gesellen und Bursche und zogen die Mützen und weiter und weiter ging's ... Durch die Bächlein, über die Brücken ... Zu sprechen war hier nichts, nur zu sehen, nur der Druck der Hand zu fühlen ...

Der Thurm da hat euch verbunden? hauchte Armgart, als sie an den Wällen ankamen, wo unter der Allee ein Wagen auf sie wartete, ein Kutscher von Westerhof in den Dorste'schen Farben ... Sie schüttelte den Kopf und ihre lieblichen beiden Zähne blinkten ...

Die Seele des Thurms! sprach der Vater ...

Die Mühlen! Die Mühlen! lachte Hedemann und bat Armgart um Vergebung ...

Er selbst konnte nicht weiter dann folgen ...

So stiegen die Aeltern und Armgart allein ein ...

Im Wagen sah Armgart, daß das Band ihrer Aeltern in der That jetzt eben erst neugeschlossen war ... Das Auge des Vaters ruhte mit gleicher Wonne auf der Mutter, wie auf ihr ... Das Auge der Mutter war umflorter, als das seinige ... So dachte sie sich Braut-und Bräutigamswonne beim Heimfahren von der Kirche ...

Du begreifst es noch nicht recht? sprach der Vater ... Und so ganz licht und hell ist auch die Zukunft noch nicht, mein Kind! ... Die Zeit der Kämpfe – beginnt erst ... Da aber, als ich mich nach einem Beistand dafür umsah, da gerade fand ich die besten Bundsgenossen ... Weib und Kind ...

Monika blinkte ihm zu auf Armgart's Staunen:

Sie lebt und schwärmt wie Paula! ...

Das war so ein erster Zug von dem, was Armgart als das Wesen ihrer Mutter kannte ... Armgart verstand nicht ganz, was die Mutter meinte, ahnte aber die Gedankenwelt, die Vater und Mutter hegten und die sie verband. Da es die nicht war, die sie theilte, so verließ sie ein Zagen nicht ... Aber sie verurtheilte Niemanden ... Sie grübelte, was die Aeltern so recht, recht einen mochte und – wie die Mutter – mit Terschka stand ...

Da sie fürchtete, durch ihr Schweigen kalt zu erscheinen, sagte sie zum Vater:

Du warst noch nicht – auf – Westerhof? ...

Der Oberst schüttelte sein jetzt ernster werdendes Haupt ...

Nein! sprach er. Nur so konnt' ich ja dort ankommen! Wenn die Mutter dort war – – konnt' ich nur kommen mit unserm Kinde ...

So seinen Worten gleich die mildere Deutung gebend, blickte er träumerisch und sich auf die Vergangenheit besinnend in die Ferne ... Das da ist Sanct-Libori? sagte er ...

Die Mutter war bereits heimischer ... Es war der dritte Tag schon, den sie in Westerhof zubrachte ... In bangen Aengsten ... Das glaubte Armgart wohl ... Aber räthselhaft, wie sorglos sie von Terschka sprach ... Noch räthselhafter für Armgart, wie ihn der Vater so rühmen konnte ...

Herr von Terschka mußte gestern plötzlich zum Bischof! sagte der Vater. Er wollte doch heute in der Frühe wiederkommen ... Ja, wir glaubten erst, du wärst bei den Clarissinnen! Terschka wollte es behaupten und sagte, sie verbärgen dich dort ... Hedemann gestand noch nichts ...

Erst heute früh gestand er's, Kind ...

Als du kamst? ... fragte sie ...

Ja, Armgart, als ich – Ich kam zuerst ... Zum Vater ... Sieh mir ins Auge, Seelenkind! ...

Armgart hielt die Hände beider Aeltern und sah dabei noch immer nach rechts und nach links ...

Wann sagte es denn Hedemann? – stammelte sie, ungewiß noch über alles und mit liebenden Augen die Kälte ihres Fragens mildernd ...

Wo du warst? fiel der Vater ein. Da sagte er es, als er sah, daß du in unsern Herzen wohnst! Liebes Kind! Deine Mutter brachte mir durch ihr Anklopfen an meine Thür Lebensmuth, Stolz, Erhebung ... Sie hörte, daß sie mich so heftig in Westerhof anklagten ... Sie hörte von meinen Absichten aus Witoborn ... Sie war überrascht davon und vertheidigte meine Auffassungen der Zeit und des Berufs und meine Denkweise ... Sie hatte sich meiner Person entwöhnt und machte plötzlich einen ganz andern Menschen aus mir, als ich bin ... ja sie hatte sich – sollte man's glauben – in meinen schlimmen Ruf verliebt ...

Ulrich! fiel die Mutter ein ... Sie ist zu jung, um zu verstehen was über alles, alles im Leben geht und warum es heißt: »Im Anfang war das Wort!«

Armgart widersprach nicht ... In ihrer Seele klangen die Evangelien und die Stimmen aus der Bibel nach ...

Sie begriff – wenn auch mit tiefem Bangen – daß die Aeltern sich durch die Verwandtschaft ihres Denkens, durch die gleiche Richtung des Willens, durch den Muth ihrer Ueberzeugungen wiedergefunden hatten ...

Doch ließen beide ihr den Ruhm, daß sie, sie allein die letzte Entscheidung gegeben ... Monika war ja in der That zum Obersten mit den Worten eingetreten: Suchen wir doch zusammen unser verlornes Kind! ...

Da Armgart so oft schwieg, so tief versunken blieb in ihre stille Welt des Glücks und des noch immer nicht recht befestigten Glaubens an dies Glück, so hielten sie allmählich die Aeltern für weniger geistesreif, als sie ihnen geschildert worden. Sie beruhigten sich leicht darüber und sprachen mit ihr von der Gegend, vom Brand, von Paula, von der Erbschaft, von den Bewohnern des Schlosses Westerhof, von Bonaventura von Asselyn, der, wie Monika sagte, für den aufs Neue erkrankten Pfarrer die kirchlichen Handlungen verrichten helfe und schon für die nächsten Tage nach der Residenz des Kirchenfürsten zurückgerufen wäre ... Armgart gab klug und verständig ihre Erläuterungen und schon erfreute sie die Aeltern durch kleine Anflüge ihres Humors ... Harmlos ergingen sich die Aeltern in ihren Urtheilen über die Zeit und die Welt ... Was die Mutter von Paula berichtete, waren Zweifel an ihrer Seherkraft. Doch sie wurden milde vorgetragen und verriethen vor Armgart's Freundin Achtung. Die Mutter hatte nicht, wie Lucinde, Freude an ihren Verneinungen ...

Das Erstaunen, die Ueberraschung, der Triumph, der die drei Ankömmlinge dann auf dem Schlosse empfing, waren unverstellt und bei Allen schon um Armgart's, des wiedergefundenen Flüchtlings willen, der allerfreudigste ...

Benigna, die um Armgart's Schicksal, um Monika's plötzliche Parteinahme für ihren Gatten in heftigster Erregung zurückgeblieben war, vergoß Thränen, unaufhaltsam ... Onkel Levinus setzte sich die englische Militärmütze mit den goldenen Tressen auf und vergaß alle Anklagen über Standesetikette und Standesrücksichten, die Monika schon beinahe gestern von dannen getrieben hatten ... Auch wol jetzt noch spottete er über den Papiermüller, maß sich aber doch mit ihm an der Thür, wo sie einst vor dreißig Jahren sich in ihrem Wuchse gemessen hatten und richtig den Strich noch fanden – nur daß Levinus damals der größere, jetzt der kleinere war und Ulrich rief: Gewachsen bin ich doch wahrhaftig nicht! ... Nun dann bin Ich – zusammengekrochen! gestand Levinus und lachte nun Paula entgegen, die die wiederentdeckte Armgart an ihr Herz zog und vor Ulrich, Armgart's vielbesprochenem Vater, in Verlegenheit stand wie mit Rosen überhaucht ...

Terschka fehlte noch, wurde jedoch erwartet ... Auch Bonaventura, der noch in Sanct-Libori oder im Stift war ...

Verständigungen, Aufklärungen folgten ... Die Tante ging sogar auf einige Ketzergrundsätze ein ... Sie verwies als einen sträflichen Aberglauben die Abhängigkeit, in die man sich von unüberlegt ausgesprochenen »Gelübden« setzte ... Ja sie erzählte sogar, als Terschka und Bonaventura immer noch nicht kamen, mit leisem Kichern eine Geschichte von Müllenhoff's neuer Krankheit ... Sie wurde nur halblaut vorgetragen, drang aber doch zu Armgart's Ohr ... Nachdem hintereinander erst ein Püppchen, dann ein Kätzchen an des Pfarrers Hausthür wäre ausgesetzt gewesen, hätte man gestern in der Frühe ein wirkliches – lebendiges – neugebornes Kind, einen pausbacknen Jungen, hellschreiend in einem Korb gefunden ... Was von Urtheilen daran angeknüpft wurde, entging Armgart ... Sie war in der Stimmung eines Kinds am Weihnachtsabend, wenn die Bescherung längst da ist und der glücklich trunkene Blick noch immer irrt und irrt und erst noch das Oeffnen der lichterhellten Zimmer zu erwarten scheint ... Sie machte sich Vorwürfe über ihre der Mutter bewiesene Kälte ...

Wie beherrschte aber auch Monika schon alles durch ihren Geist, durch ihre Ruhe, ihre – Aehnlichkeit mit der Tante und doch so ganz ihr Anderssein! ...

Terschka blieb aus ... Und wenn er kam, was dann – was dann? – dachte Armgart ... Ja, ihr Opfer schien ihr in der That nicht vollzogen, das Band, das die Aeltern einigte, nicht fest genug – Nach solchem Briefe! Solcher Sprache! ... Kam Terschka, sie fühlte, daß sie dann noch, Gott zu Ehren, von einem Felsen springen mußte ... Sie hätte ihn begrüßt – als den Erwählten ihres Herzens ... Monika stand mit Rührung über Armgart's stetes Zurückgezogensein von ihr ... Oft auch mit dem Gedanken: Sie ist noch Kind; sie bleibt, so schön und hold sie ist, hinter der Erwartung zurück, die man mir von ihr gemacht hatte ... Ein trunkenes, blindes Verlorensein des Muttergefühls in dem wiedergefundenen Schatz ihrer Sehnsucht lag nicht in ihrer Natur, die auch eben deshalb von Paula prüfend genug beobachtet wurde ...

Immer hieß es dabei: Wo bleibt der Domherr? Wo Terschka? ...

Wurde Terschka's Name genannt, so richtete sich Armgart auf, um ihm sogleich mit geschlossenen Augen und wie mit zum Todesstoß dargereichter Brust entgegenzugehen ...

Monika blieb ruhig, befriedigt, glücklich ... Der Domherr hatte sie gestern und vorgestern vollkommen so harmlos begrüßt, als kannte er sie nicht ... Er hatte so viel natürliche Sorge um das Auffinden Armgart's und die Aussöhnung mit dein Obersten verrathen ... Ihre Philosophie, die die Reue bestritt, kannte kein Reuegefühl über ihr »maßloses Sichgehenlassen« im Beichtstuhl damals, als sie von einer »zweiten Liebe« gesprochen, nur um die Ehegesetze der katholischen Kirche anzugreifen ...

Paula bildete auch jetzt noch, wie immer, unter den Anwesenden den Mittelpunkt, so wenig sie diese Ehre suchte ... Monika fragte forschend ihre Schwester:

Warum ist sie – nur so unruhig? ...

Monika hätte eine Offenbarung ihres geheimnißvollen Traumlebens wünschen mögen ...

Benigna misverstand die Frage. Sie glaubte, Monika meinte Armgart ... Diese stand am Fenster und wartete auf Terschka und wie auf ihr Todesurtheil ... Sie wollte ihn so empfangen, daß alle sagen mußten: Das ist ein Paar ...

Benigna aber hatte, um schon wieder zanken zu können, mit dem Essen zu thun, zu dem schon gerufen wurde ...

Man ging zu Tische ...

Schon saßen alle, da rollte ein Wagen vor ...

Wol Terschka? rief der das Hundertste ins Tausendste redende und nun auch schon Papier machende Onkel ...

Armgart griff an ihr Herz ... Ihr Vater beobachtete sie ... Auch die Mutter ...

Ein Diener wollte eben sagen: Herr von Terschka hat hinterlassen – da meldete man den Domherrn ...

Paula erglühte ...

Und Monika bekam Ahnungen von Bonaventura als dem »Bruder Gottfried« der neuen Hildegard ... Paula's Sehergabe hatte in diesen drei Tagen, wo der Domherr wenig auf dem Schlosse war, geschwiegen ...

Endlich erschien Bonaventura ... Ernst und milde, wie immer ... Er grüßte die Neuverbundenen. Er wußte schon alles von Hedemann ... Von Witoborn kam er, wo er Armgart hatte suchen helfen und den Obersten begrüßen wollen ... Er beglückwünschte, mehr mit dem Auge, als mit den Lippen, forschte den Obersten nach dem Dechanten aus, verrieth der Frau in Silberlocken nichts, daß er all ihr Herzensleben aus dem Beichtstuhl kannte ... Mit Armgart sprach er sogar scherzhaft und drohend ... Aber bei alledem blickte er voll Trauer ...

Reisen Sie wirklich schon morgen? fragte der Oberst bedauernd ...

Bonaventura bestätigte seine Abreise, sprach von einem Auftrag nach Wien – von einer Erhebung sogar zum Domkapitular ...

Man beglückwünschte voll Ueberraschung ...

Paula senkte die Augen ...

Monika's Art war kein kleinliches Forschen; doch bemerkte sie die Gleichzeitigkeit des trauernden Ja und jener gesenkten Augen ...

Wie viel Gründe hatte nicht Bonaventura für seine Trauer ... Wie liebevoll und beziehungsreich sprach er von Benno und vom Dechanten ...

Als man wiederholt nach Terschka spähte, überraschte er alle mit dem Plötzlichen Worte:

Terschka? ... Sie wissen – also – noch nicht? ...

Die fragenden Blicke aller richteten sich zugleich auf ihn zum Zeichen, daß man ohne jede Ahnung war ...

Armgart hielt krampfhaft die Hand der Mutter und die des Vaters ... Sie saß zwischen beiden ... Beide verstanden allmählich ihre Aufregung und sahen die »Liebe« des jugendlichen Herzens ... Monika mit Schrecken ...

Herr von Terschka ist abgereist! fuhr Bonaventura fort ... Wußten Sie das nicht? ...

Abgereist? So plötzlich? fragten der Onkel und die Tante und sahen sich nach den Dienern um, die davon wissen mußten ...

Armgart beobachtete jeden Zug im Antlitz der Mutter und diese wieder in ihrem und beide saßen zum Tod erstarrt ...

Ich wiederhole Ihnen nur, was ich soeben in Witoborn aus Jedermanns Munde hörte ... Herr von Terschka war gestern Abend beim Bischof, heute in aller Frühe schon im Kloster Himmelpfort; dann will man ihn noch im Düsternbrook bei den beiden Eremiten gesehen haben ... Ein Pferd soll er in Witoborn in den Stall bei »Tangermanns« gestellt haben, das über und über mit Schweiß bedeckt war ... Dann nahm er Extrapost und ist abgereist ...

Die Tante klingelte den Dienern, die auch eben kamen und die Speisen hereintrugen ...

Monika blickte nieder – für sich fühlte sie wie erlöst. Terschka hatte sie auf dem Schloß gestern und vorgestern mit unbesonnener Vertraulichkeit verfolgt, ja in Erwartung, sie hätte seinen Brief erhalten, sogar gewagt, Abends an ihre Thür zu pochen, wo sie sich nur durch die Glocke helfen konnte ... Seitdem hatte sie ihm nicht mehr Rede gestanden und wies einen zweiten Brief zurück ... Aber – Armgart ...?

Von den Dienern erfuhr man, daß Terschka in aller Frühe mit einem großen Koffer nach Witoborn gefahren war; der Wagen war eben jetzt allein zurückgekehrt ...

Der Onkel, hocherstaunt, fragte:

Aber die Schlüssel seiner Zimmer? ...

Man übergab die Schlüssel ...

Daß nach dem Fund der Urkunde Terschka nicht lange hier verweilen würde, hatte man vorausgesehen. Dennoch war diese jähe, abschiedslose Entfernung aus seiner ihm, man sah es gestern und vorgestern, unbehaglich gewordenen Lage zu auffallend ...

Inzwischen blickten Alle auf Armgart ... Sie verschlang die Worte aus Bonaventuras Munde ...

Die Diener waren wieder abwesend ...

Ohne zu grelle Hervorhebung ließ Bonaventura, wenn auch mit Beben, die Worte fallen:

Sie werden bald vernehmen ... was ich in Witoborn schon aus Jedermanns Munde erfuhr ... Terschka ist ja seltsamerweise ... nicht in der Lage, jemals – zurückkehren zu können ...

Alle horchten auf ...

Terschka – war das nicht, was er uns allen erschien ...

Armgart hatte sich erhoben ... Jeder erwartete, sie würde ausrufen: Er ist vermählt! ...

Bonaventura sprach leise:

Terschka ist – ein Priester ...

Das Wort des Erstaunens erstarb auf aller Lippen ...

Noch mehr, fuhr Bonaventura fort und dämpfte die Stimme – man sagt es in der Stadt allgemein, er gehört dem Orden – der Gesellschaft Jesu an und hat in Rom das vierte Gelübde abgelegt ... Mein Stiefvater – scheint – die Gesetze gegen ihn geltend gemacht zu haben, die keinen Jesuiten im Lande dulden ... Oder – – man vermuthet, daß seine Mission zu Ende ist und man ihn schleunigst nach Rom zurückberief ... Nur zurückhaltend spricht man von diesem seltsamen Vorfall; doch scheint die Nachricht – unwiderleglich zu sein ...

Es gibt eine magische Lichtwirkung, die plötzlich die blühendsten, lebensfrischesten Physiognomieen in Larven verwandelt ...

So die Wirkung dieser Mittheilung ...

Was mußte man von Terschka's Metamorphose, was von seiner Verbindung mit den Camphausens in Wien, was von seinem Leben hier auf dem Schlosse denken? ...

Monika, die den Beziehungen Terschka's zur Familie des Grafen Hugo so nahe stand, konnte sich kaum im Sitzen erhalten ... Ihre Lippen bebten; ihr Auge rollte; ihre Brust hob sich; sie hatte einen – Fluch auf der Zunge ... Das sahen alle ...

Ihr Gatte betrachtete sie mit gleicher Empfindung und maß den Antheil, den er aus ihren Beziehungen zur Mutter des Grafen Hugo vollkommen zu würdigen wußte ... Er verstand die Entrüstung aus gleicher Gesinnung ...

Dennoch stammelte Monika:

Fast glaub' ich, man muß dem Manne nicht zu sehr zürnen! ... Er war vielleicht mehr ein Opfer, als ein Werkzeug! ...

Mehr konnte sie nicht sagen ... Denn alles war erschreckt durch Armgart ...

Diese stand wie wenn sie eine Geisterwelt um sich sähe ... Nicht daß sich ihr sofort das Räthsel des Briefs enthüllte, nicht daß sie sofort verstand, wie Terschka nur gerade diese Last der Seele hatte abschütteln, deshalb convertiren wollen ... sie sah nichts, als daß Terschka für die Mutter aufhörte ein Mann zu sein, aufhörte, verwirrend und bestrickend in Frauenseelen einzugreifen ... Ein Priester! ... Erlöst von einer Last, die von ihrem Herzen fiel, stieß sie einen lauten Ton der Freude aus. Sie stürzte auf die Mutter zu ... Jetzt erst, jetzt sie wiedergewinnend, jetzt ganz an sie glaubend, nachholend, was sie an ihr versäumt hatte, lichtumflossen nach so langer dunkler Irrung, umarmte sie die Befremdete stürmisch, küßte ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Hände, umfaßte ihren Leib und entfloh aus dem Zimmer ...

Was ist dem Mädchen? riefen alle – außer Bonaventura und Paula ...

Monika verstand allmählich auch das beharrliche und auffallende Schweigen beider und sagte, sich in ihren Vorstellungen Licht suchend:

Welch ein Wahn? ...

Sie sah purpurroth vor Bonaventura nieder und gedachte nun beschämt ihrer Beichte ...

Die Tante kannte Terschka's Neigung für ihre Schwester. Aber ihrer Verlegenheit half die Nachwirkung des Schreckens über Terschka. Von allem Unangenehmen gleich zur Abwehr gestimmt, hatte sie das Bedürfniß des Polterns ...

Sie ist eine Närrin! ... rief sie Armgart nach ...

Bald aber stockte auch ihre Rede – voll Grauen über die Verstellungskunst, deren Zeuge sie hier einen Winter über gewesen waren ...

Der Onkel gab sich offener. Er verweilte mit unausgesetztem Erstaunen bei der Mittheilung des Domherrn und fand sie für die Enthüllung römischer Zustände außerordentlich ...

Armgart's Platz blieb leer ... Man aß und suchte in zerstreuendem Gespräch Fassung zu gewinnen ... Was stören und die eben gewonnene Einheit trüben konnte, wurde vermieden ... Levinus rügte nichts am Bruder, die Tante nichts an ihrer Schwester ... Dafür behielten Ulrich und Monika für sich, was beide tiefschmerzlich von Rom, seinem Bau, seinem Bann über die Welt empfanden ...

Bonaventura und Paula empfanden alles das nicht minder ...

Dennoch erhielt Onkel Levinus scheinbar Recht, als er das Glas erhob und sprach:

Der Mensch ist so glücklich, wenn er die erste Summe seiner Ersparnisse zurücklegen und sagen kann: Das haben wir denn nun – und das Uebrige findet sich! ... Halten wir uns an das Glück, das wir sehen und – mit Händen schütteln! ... Hoffen wir, daß im Schoos der Zukunft mehr, mehr, viel mehr zu unserer Freude verborgen liegen wird, als wir ahnen! ...

Darauf klangen auch alle an ...

Die Tante lachte über das Levinus'sche Bild von »zurückgelegten Ersparnissen« ...

Plötzlich aber fiel allen Paula's Blick auf ...

Paula hatte von den Speisen wenig nehmen mögen ...

Ihre Erregung mehrte sich durch die Erwartung der Wiederkehr Armgart's ...

Sie fragte nach ihr ... Schon seltsam leise erklang ihre Stimme ...

Die Tante kannte diesen Ton und erhob sich ...

Paula blickte starr auf die großen silbernen Gefäße, die beim Mahle benutzt wurden ...

Die Tante rückte eine glänzende Vase zurück, in der sich Paula schon wie unbewußt spiegelte ...

Das glänzende Metall übte seine Wirkung ...

Paula begann mit Armgart zu sprechen, ohne daß diese im Zimmer war.

Ende des fünften Buchs.

Siebenter Band
Sechstes Buch
1.

Oesterreich und Wien! ...

Wer konnte sonst beide Namen neunen hören und vernahm nicht sofort Musik! ...

Und wenn dich auch jetzt noch mit Windesflügeln das Dampfroß in einem einzigen Tag von der Elbe an die Donau entführt, so grüßen den haltenden Zug mitten auf der Heide, mitten in der Nacht, zwei Stationen vor Ankunft in Wien, Clarinette und Geige ... Der Sturmwind fegt den Novemberregen an die Fenster ... Hinaus blickst du durch die beschlagenen Scheiben ... Nichts, als öde gespenstische Nacht vor deinem Auge – und doch empfängt dich Jubel und Lust ... Seltsames Bild ... Auf einen Stab gestützt, am Rand des Erdwalls, starrt ein Schäfer im zottigen Lammfell auf den haltenden Zug ... Ein Wanderhirt, der aus Ungarn kommt und weiter zieht mit seiner nächtlich rastenden Heerde ... Die österreichische Geschichte ... Einsame Nachtträume der Völker, still am Weg sich sehnend nach Erfüllung ... Unter lachender Lust und Freude ...

Am Donaustrand – auch da wispert es ebenso – leise und leise – um die alten Ritterburgen ... Klagelaute um versunkene Banner und Kronen ... Was liegt nicht begraben im feuchten Schoose der Donau! ... Was könnte sich nicht melden zur Auferstehung unter dem nächtlichen Sternenhimmel, wenn ringsum auf den düstern Bergwänden die Geisterjungfrauen geheimnißvoll ihre Harfen zu schlagen beginnen! ...

Von Tyrol und Salzburg her, aus den sagenhaften Schluchten des Untersbergs und von den echoreichen grünen Bergseen Steiermark erschallt die Zither ...

Die Zither, dies liebliche Instrument, könnte Sancta-Cäcilia statt der Orgel erfunden haben ...

Du kennst es nur aus dem lampendunstigen und cigarrendurchqualmten Keller der leipziger Messe, kennst es nur aus dem Concert aufgeputzter Jodeltyroler ... Aber auch da wird die Zither dich gerührt haben – so, daß du den Genius Oesterreichs hättest fragen mögen:

Was lachst du so traurig, was weinst du so froh?

Wenn so rührend die bebende Saite unter kraftvollem Finger ihre Schwingungen austönt ... Wenn der Ton, immer gebrochen, immer in der Geburt des Halls schon halberstorben und doch, neugefaßt vom kunstgeübten Finger, neubelebt, Riesenfermaten aus lauter kleinen zitternden Tremolos hält ... Wenn der Ton sich festklammert, gleich einem Knaben, der nicht ruht den höchsten Ast eines Blütenbaums zu erklettern ... Auf der höchsten Höhe, in die uns die Töne der Alpenzither schwingen können, welch ein Blick dann auf die Thäler der Erde! ... Deine Jugend siehst du, siehst den grünen Plan deiner Kindheit, athmest im Herzen auch die reinste Alpenluft ... Selbst unter dem »Soll und Haben« und dem Strumpf- und langen und kurzen Waarenhandel der leipziger Messe in Auerbach's Keller konntest du die Thränen nicht zurückhalten, wenn das berühmte Tyrolerquartett – nur nicht singt! Das schenke ihm die Muse! – nur die Zither schlägt ... Die Spielerin sammelt mit dem Notenblatt ... Im koketten Brustlatz, mit dem spitzen Hut ein unschönes Mannweib ... Aber – sie spielte dir – und sich auf der Zither – Oesterreich ... Sie spielte ein Ahnen, Suchen, Sehnen nach unbestimmten, dem Land und Volk selbst nicht klaren Zielen ... Sie spielte das Wittern einer Geisterluft, Morgengrauen schönerer Hoffnungen ... Sie spielte die Freude, die sich selbst nicht vertraut, und ein Leid, das dem Schöpfer zürnen möchte, weil er die Erde bei alledem und alledem – so schön erschuf ...

Musik ist der erste Gruß in Oesterreich ...

Auch in Wien ...

Die große Hauptstadt ist erreicht, die bremer echte Havanacigarre glücklich eingeschmuggelt ... Der Venusberg geöffnet ... Tannhäuser zieht den schwarzen Frack an und die gefirnißten Tanzstiefel und vertanzt sich das gebrochene Herz ... Strauß und Lanner! Sie geben schon lange Trost für die »Zerrissenheit« selbst im Alpengemüth – selbst für »Weltschmerz« im Pusztensohne ...

Hört diese Tänze! ... Ein Dämon liegt in ihnen ...

Wie mit Kirchenglocken fangen sie an, sanft und feierlich ... Das Adagio eines Meßganges ... Sittsamer, concordatsmäßiger Niederschlag der Augen ... Das führt, denkt man, geradeswegs nach Mariazell und Loretto –! ...

Plötzlich wirft der kaum geordnete Nonnenzug die Kapuzen ab ... Nun hüpft die Freude – erst wie! ein Füllen lustig über den Klee. Erst nur noch – ein fußtrillerndes Ausschlagen des Uebermuths ... Erst nur Kopfüber der Fröhlichkeit, Humor, der, wie Harlekin Colombinen, neckt, spaßelt, thaddädelt – alles so, wie sich nach dem genommenen Ablaßzettel im einleitenden Adagio vergeben läßt ...

Dann aber wird der Humor zur Selbstironie ... Der Walzer cancant, die Grazie tanzt auch hier wie in Paris mit Formen der Epilepsie, die Melodie geht rückwärts, läßt sich die Augen verbinden, tanzt unter Eiern, schiebt einen Karren auf dem Seil zum Thurm hinauf, geht auf beiden Händen, dreht sich als Kopf überm Rumpf herum und sagt dem Rücken »guten Tag«! ...

Halt! springt die Sittenpolizei dazwischen ... Metternich's Censur und Moral, die noch in den von uns geschilderten Tagen regieren, und der Dämon wird rasch wieder ein Kind, das unter Blumen spielt, ein Kind, das nur nach Schmetterlingen hascht oder vor einer Hummel entflieht – aber – welch einer Hummel! ... Brummelt die so spaßig, so taumlig, so torklig ... Baßgeige, wohin rennst du? ... Baßgeige, bist du betrunken? – Leute, entflieht! Entflieht! ... Staberl spannt seinen Regenschirm auf – haltet doch! Das gibt ja Sturm – Wo führt's dich hin? Zum »Stuwer?« ... Sind das Pot-à-Feu's? Döbler'sche Sträußchen? Sternschnuppen? ... Wohinaus? ...

Ins Firmament! Grad' in die Milchstraße, aber von Würsteln und Kringeln behangen ... In einen Kometenschweif von feurigen Nasen ... Ein einziger Strohhalm die schwindelnde Brücke, aus der alle Walzenden zugleich über den unermeßlichen Abgrund hinübermüssen ... Heiliger Nepomuck, jetzt hilf! ... Sie fassen sich alle an, klammern sich an die Rockschöße ... Strauß nimmt den Fidibus, steckt noch den Strohhalm über das Weltgebäude hinweg in Brand und nun müssen die Paare hinüber ... Die Glöckchen, die klingen, die Pickelflöte, die lacht, die Geigen, die quinkeln über den äußersten Steg hinweg ... Das gibt ein Unglück! ...

Aber – der Maestro bringt sie alle wohlbehalten in seine Schlußcoda zurück ... Baß, Trommel, Posaune finden sich in harmonischer Vereinigung bei den letzten Takten wieder zusammen ... Alles bricht in pyramidalen Jubel, in »Fanatismo« aus ... Der taktirende Maestro verbeugt sich gelassen und ruhig, »der Tanz ein Leben« oder »das Leben ein Tanz« ist beendet und nebenan – sind die Tische weiß gedeckt für die harmlosesten Bedingungen des irdischen Daseins – »Backhänerln«, »Roßbrateln«, »Beflamoths«, »lämmernen Hasen«, »Engländern« und allen möglichen Nationalgerichten der classischen Küche Oesterreichs ...

So war auch das Gewirr, in das Benno von Asselyn eingetreten ...

So übertäubt – im Spätherbst, beim Blätterfall und häufigen, noch warmen Regenschauern schon an die bevorstehenden Freuden des Winters erinnert – irrt er durch die Straßen Wiens – verfolgt von bunten Anschlagzetteln, Aufforderungen zu Lust und Freude ... Eben sehen wir ihn in die stolze Herrengasse treten ...

Fußgänger umdrängen ihn, Wagen rollen, Rosse sprengen dahin ... Nur immer Achtung! Ausweichen! Ausweichen! ... Auch den von den Regenschirmen niedergießenden Fluten ...

Einige Minuten verlieren wir den trotz seiner Aufregung bleichen jungen Mann mit seinem regenfeuchten, schwarzen Bärtchen, im triefenden, neuerfundenen Macintosh, vor Wirrwarr um sich her und in sich selbst – ohne Regenschirm! – ...

Aber bald tritt er aus einem hohen, mit Karyatiden geschmückten vornehmen Palast wieder hervor ...

Er sinnt: Wohin? ... Auf die Schottenbastei hinaus zur Linken? ... Auf die Freyung zu meinem guten Chorherrn hinüber, bei dem ich wohne? ... Zu den Zickeles, an die du empfohlen und für jeden Abend geladen bist? ... Oder noch in irgendein Theater? ... Das Burgtheater soll ja – in der Nähe sein ...

Da ruft ihn der Portier zurück ...

Verzeihen's! ... Den Dreimaster lüftend, fragt er: Waren's Herr Baron von Asselyn? ...

Mein Name! ...

Benno von Asselyn war schon zweimal unter dem hohen Portal des gräflich Salem-Camphausen'schen Palais gewesen, hatte, schon zweimal mit dem Hüter des Eingangs über die Nichtanwesenheit des Grafen gesprochen ... Diese Leute haben nur ein Gedächtniß für empfangene Trinkgelder ...

Ein Brief für Euer Gnaden vom Herrn Grafen Erlaucht sollte eben zum Herrn Baron hinübergetragen werden! ...

Der Brief lag auf dem Sims des kleinen Guckfensterchens der Portierstube ... Benno nahm ihn an sich ... In der Auffahrt des Palais brannte hochoben eine etwas düstere Lampe ... Der Portier deutete auf sein Stübchen und ein dort befindliches Licht, das zwar auch keine Millykerze war, aber es reichte hin für die kurze Lectüre ... Eine Secunde und Benno hatte gelesen, daß ihn Graf Hugo aufs dringendste morgen zum Frühstück auf seinem Schlosse Salem erwartete ...

Der Portier sah dem schlanken jungen Manne jetzt voll Spannung nach und ahnte und vermuthete etwas ... Die Bedienung eines großen Hauses hat ein scharfes Auge für die innern Angelegenheiten ihrer Herrschaft ... Hängt Der mit unser Aller Schicksal zusammen? mochte er denken und sah lange hinter ihm her, sah, wie der junge Mann davonschoß und so in Gedanken, daß er immer noch nichts vom Regen zu merken schien ...

Benno hatte sich rechts gewandt, ging, auf die morgende kleine Reise gespannt, und fühlte nun doch wol an seinem Hut und den Stiefeln, daß es Zeit war irgendwo unterzutreten ...

Er stand am Burgthor ...

Da las er an einer vom Thor geschützten Wand:

»K.K. Hofburgtheater.«

»Hamlet, Prinz von Dänemark.«

Er trat in das nahe kaiserliche Theater ...

Ein labyrinthisches, von kleinen Winkelgängen durchkreuztes Gebäude nahm ihn auf ... Schwer fand er sich zurecht bis zur »Kassa« ... Noch war diese offen, aber kein Billet mehr zu haben ... In Oesterreich gewöhnt man sich – mit Unrecht – nur an diejenigen Unmöglichkeiten zu glauben, die sich auch dem Klang des Silbers gegenüber nicht wegräumen lassen ... Benno's Zweifel fanden kein Gehör. Er verließ ohne Billet die »Kassa« und verwickelte sich in den Gängen ...

Ein gefälliger Herr, der sich verspätet zu haben schien und hinter ihm herging, wies ihn zurecht ... Der Ausgänge schien es mehrere zu geben ... Der freundliche Herr ließ es sogar geschehen, daß Benno in eine Wachtstube gerieth, die ganz den bekannten Kasernenduft hatte ... Grenadiere spielten hier Karten und dennoch huschten Damen in eleganten Kleidern hindurch, ja Benno stand sogar plötzlich zweien Gestalten gegenüber, die jedenfalls zu dem Gefolge des Königs Claudius von Dänemark auf der Bühne gehörten ...

Der fremde Herr sah Benno's Erstaunen und sagte zu ihm lächelnd:

Ei, Sie sind fremd, mein Herr? ...

Schon zog er die Dose gegen den Wachtstubengeruch ...

Nicht wahr, das erinnert Sie an eine Dorfkomödie? fuhr er fort. Aber es thut mir leid, daß Sie vielleicht mit diesem Eindruck weiter reisen! Sie haben kein Billet bekommen ... Wenn ich Ihnen einen Platz in meiner Loge – Bitte ... In allem Ernst ... Meine Loge liegt zwar nur im dritten Stock ... Despectirlich ist das aber keineswegs, lieber Herr! ... Ohne Spaß ... ich mache mir sehr ein Vergnügen daraus ... Kommen Sie nur! ...

Das gemüthliche Air des feinen Herrn war so einnehmend, daß Benno in der That nach einigem Zögern, aber auch fernerem Zureden folgte ...

Ich gehe voran! sagte sein Führer und plauderte im Gehen:

Nicht wahr, Sie denken hier an eine mögliche Feuersbrunst? ...

Er deutete auf die Enge der Logentreppen ... Man ging in die Stockwerke hinauf, wie auf einer Wendeltreppe zu einen: Thurm. Im seltsamen Contrast zu dieser Aermlichkeit standen die reichgallonirten Diener mit ihren Servirbrettern, auf denen sie »Gfrornes« trugen ...

Benno entschuldigte sich unausgesetzt über seine Dreistigkeit und schüttelte seinen Hut und seinen Macintosh ...

Im Gegentheil! erwiderte sein freundlicher Protector und ordnete inzwischen gleichfalls seine Toilette und mit einen: Kämmchen sein weißes, krauses Haar ... Die Dreistigkeit ist auf meiner Seite ... Sehen Sie nur, jetzt muß ich Sie auf meine beiden Plätze sogar durchs Paradies führen ... Aber zur Linken haben wir dennoch einen kaiserlichen Hofrath und zur Rechten einen Millionär von der haute finance ... Die Logen sind bis in den Kronenleuchter hin schon auf Jahre voraus gesucht ... Und wie ist das heute überfüllt ... Immer so bei denen classischen Stücken jetzt und besonders wann im Kärthnerthor eine durchgefallene deutsche Oper wiederholt wird ...

Durch die dichtgedrängte Galerie machte der Logenschließer dem gesprächig satyrischen Herrn Platz und nahm den nassen Macintosh, unter dem Benno sich glücklicherweise im Salonfrack befand ... Fast in der Nähe des Kronleuchters lag allerdings die Loge des freundlichen Führers ... Die Ränge waren eben nicht zu stark besetzt ... Desto voller war es unten ... Kopf an Kopf in einem langen düstern Saale, dessen Bauart mehr zum Hören, als Sehen des auf einer schmalen Scene Dargestellten bestimmt schien ... Eben sprach der Darsteller des Hamlet eine der längern wirksamen Reden in melodischem Tonfall, mit ebenso viel Kraft wie Anmuth ... Befangen suchte sich Benno in seine so schnell und überraschend ihm gekommene Situation zu finden ... Sehen konnte er allerdings vom Spiel so gut wie nichts ... Er mußte sich an die Worte halten und an seines Begleiters Erläuterungen, die von einem: Guten Abend! hier, von einem: Küß' die Hand! dorthin unterbrochen wurden ...

Die Beschwörungsscene war im Gange ... »Schwört auf mein Schwert!« sprach Hamlet, der mit hinreißendem, vielleicht zu vielem Feuer gespielt wurde ...

Im Saal war alles todtenstill ... Man hörte das dumpf aus der Erde kommende: »Schwört!« des Geistes ... Alles das hinderte aber ebenso wenig den Protector Benno's wie die Umgebungen immerfort dazwischen leise zu kritisiren und zu »plauschen« ...

Schau, schau! sagte ersterer. Das schreibt sich gewiß unser Herr Professor da auf ... »Schwört auf mein Schwert!« ... Nicht wahr, lieber Professor, das ist für ein italienisches Ohr rein kalmückisch? ... »Schwört auf mein Schwert!« ... Ich muß aber auch sagen, was der Deinhardstein da wieder für eine Uebersetzung genommen hat ... Oder soll's ausdrücklich ein Wortwitz à la Sa – Ei guten Abend, Resi! ... Ei, küß' die Hand! ... Wie kommt denn heute der Professor in Ihre Begleitung – Protegirt er auch den Herrn – Wie heißt der neue Debutant, den die Kaiserin protegirt? ... Kein Zettel da? ... Die Unordnung in denen Logen greift immer mehr um sich! ... Warum ist kein Zettel da? ...

Für Benno mußten diese Absprünge des Tons vom zartesten Gemüth bis zur schärfsten Ironie, jetzt an den Logenschließer zur entschiedensten Grobheit, höchst charakteristisch sein ... In einem und demselben »Geplausch« wurde der Logenschließer geputzt, ein junges, heiteres Mädchen, das vor ihm saß, angeredet, eine höchst steife, lange Figur, in einer weißen Halsbinde neben ihr ironisirt, der fremde junge Mann unterrichtet, die Darstellung beurtheilt, alles mit derselben Lebhaftigkeit und den leichtesten Uebergängen eines Seelenzustandes in den andern. Bald Gefrierpunkt der Kritik, bald Siedepunkt des Enthusiasmus ... Dazu noch die Dose gezogen und geschnupft und Benno nach dem wievielten Tag seines Aufenthalts gefragt, auch auf die Theuerung Wiens aufmerksam gemacht und bei alledem auch noch eine bedeutende Persönlichkeit in dieser Loge und in jener lorgnettirt ...

Die Ringsumsitzenden hatten im Grunde alle dieselbe Manier. Sie fanden wenigstens diese quecksilberne Beweglichkeit, dies Abspringen von der Hitze im Saal auf das heute »ein Bissel« mangelnde Feuer im Spiel »der Uebrigen«, von der brillanten Toilette dieser und jener Fürstin auf die »schauerlich« schlechte und abgenutzte Decoration in der Scene ganz in der Ordnung. Und bei alledem, wenn auch noch soviel kritisirt und »mechant« gefunden wurde, bei einem: Bravo! stürmte sich ein förmliches Liebesfeuer von Enthusiasmus urplötzlich entbrennend aus ... Trotzdem, unmittelbar darauf erfolgend, über dies und das ein leises: »Unter der Würde!« ...

Benno sah, daß diese Art, sich zu geben, aus dem Gemeingefühl einer Stadt entspringt, deren Bewohner sich gleichsam zu einer einzigen großen Familie bekennen ... Die Worte »Herz«, »Gefühl«, »Gemüth« wurden sowol hier, wie auf den Brettern gehandhabt wie eine Prise Schnupftaback ... Die schwungvolle Darstellung des Hamlet ausgenommen, war die Vorstellung mehr im Geiste Iffland's ... »Vater«, »Mutter«, alle diese Worte wurden mit einer besonders biedern Treuherzigkeit betont. An seinem Protector fiel Benno auf, wie er ihn trotz seiner kindlichen Harmlosigkeit doch ab und zu höchst scharf beobachtete ... Sogar eine klug lauernde Kälte lag in dem Blick der kleinen glänzenden Augen mit höchst scharfen grauen Brauen ...

Ein Zwischenact trat ein, den eine würdige Musik belebte ...

Benno konnte sich jetzt in seinen nähern und entferntern Umgebungen zurecht finden. Auch fiel er selbst schon auf – nach seiner schlanken edeln Gestalt, nach einem feinen Lächeln der anziehenden Gesichtszüge einigen Entfernteren ... Nach seiner fremdartigen Aussprache allen Nähersitzenden ... Die Plaudereien seines Protectors veranlaßten die vor ihm Befindlichen, sich öfters nach ihm umzusehen ...

Nur dem Italiener wurde das Umsehen schwer. Entweder war der Nacken zu steif oder nur die weiße Halsbinde war es. Flüchtig erhaschte Benno eingel bes, von Blatternarben entstelltes Antlitz. Um so lieblicher hob sich von ihm der schelmische Mädchenkopf ab, die Resi, wie sie sein Protector nannte ... Es war eine muntere Brünette, nicht mehr »zu jung«, die sich unausgesetzt gar lustig halb italienisch, halb deutsch mit ihrem Nachbar neckte. Der Italiener blieb auch kalt zu diesen Spöttereien. Seine Gesichtsformen schienen von einer Pergamenthaut überzogen zu sein, die sich nicht veränderte, auch wenn er selbst etwas sprach, das andre lachen machte ... Resi stritt mit ihm über den Charakter der Deutschen und nannte Hamlet einen Dänen, auf den die Malicen ihres Nachbars nicht im mindesten paßten ...

Ma questo strofinaccio ha frequentato una universitâ tedescha! sagte der Italiener ...

Benno verstand und sprach das Italienische wie seine Muttersprache ... Er durfte annehmen, daß der Professor, der Hamlet seiner Thatlosigkeit wegen einen »Waschlappen« genannt hatte, ein Musiker war. Resi lenkte ihre jetzt zorniger werdenden Erwiderungen immer auf das musikalische Gebiet ...

Sein Führer, der endlich den Theaterzettel bekommen hatte, las diesen laut, lachte dabei über den Streit, blinzelte Benno zu und sagte:

Der Laërtes – der soll engagirt werden ... Eine Empfehlung aus München ... Der ganze Hof ist deshalb zugegen ... Resi, wie kommt's, daß heute der Dalschefski seinen Platz abgetreten hat? ... Herr Professor, eine seltene Ehre für die deutsche Kunst! ... »Müller« heißt der Debütant ... Die allerhöchsten Herrschaften sind so außerordentlich gnädig ... Der Mensch kann aber seine Beine noch nicht halten ...

Benno würde an dem kleinen Kriege auf den Bänken vor ihm, wo sich noch eine ältere Dame und ein anderer Herr befanden, seine harmlose Freude gehabt und sein schmerzlich zerrissenes, hochgespanntes und sozusagen überbürdetes Gemüth erleichtert haben, wenn nicht plötzlich im Lauf der Neckereien sein Begleiter mit einem Namen wäre angeredet worden, der ihm das Blut erstarren machte ...

Und mehr noch ...

Kaum hatte er die Anrede: »Herr von Pötzl« zum zweiten mal vernommen, da stieg sein Schrecken bis zur Besinnungslosigkeit, denn im weitern Verfolg der wieder neubegonnenen Handlung auf der Bühne reichte ihm sein Führer das Perspectiv mit den geheimnißvoll geflüsterten Worten:

Jetzt aber! Jetzt schauen's! ... O ich bitt'! ... Da – Das ist merkwürdig! ... Unser Schicksal! Im Hamlet! ... Dieser Herr Müller ist gut empfohlen ... Nein, schauen's doch, Resi! ... Beim Staatskanzler – Alle die römischen Herrschaften ... Der Principe Rucca ... Und die Dame da ... Das ist die Herzogin von Amarillas ...

Benno lehnte das ihm dargereichte Perspectiv ab ...

Seine Hand zitterte ... Sein Athem versagte ihm ...

Bald richtete er sein Auge starr auf den Träger eines Namens, der – er wußte es jetzt – seiner Schwester Angiolina gehörte, bald auf die ihm noch im fernen Lampen- und Lichtdunst schwimmende Erscheinung – seiner Mutter – –

Das Spiel ging indessen weiter ... Aber es wogte ein Rauschen und Flüstern durch den Saal ...

Die eben eingetretenen fremden Herrschaften, die mit dem aus Rom gekommenen Cardinal Ceccone in Verbindung gebracht wurden, erregten das allgemeinste Aufsehen ... Es kamen immer mehr ...

Der Principe Rucca war ein junger Mann im rothen, gestickten Kleide ...

Auch der Name Maldachini wurde genannt ...

Alle Gläser richteten sich nach jener Logenreihe und Resi's Frage sogar: Ja, mein Gott, trägt denn der kleine Rothrock nicht gar ein schwarzes Pflaster überm Auge? mehrte Benno's Aufregung ... Denn nach einem erst heute früh erlebten Vorfall sah er, daß er mit den Personen, die er mit heißester Sehnsucht suchte und – mit Entsetzen und Grauen floh, bereits zusammengetroffen war, ja mit ihnen schon in einer Verbindung stand ...

Zweimal erwiderte er, auf alles Erläutern und Zeigen seiner Umgebungen.

Wessen – Loge – ist das? ...

Des Staatskanzlers! hieß es ...

Doch auch die Logen neben jener hatten sich inzwischen gefüllt ...

Benno kämpfte mit sich, ob er bis zu Ende bleiben sollte ...

Hamlet's Lage war seine eigene ... Auch mit ihm sprachen ja Geister, die außer ihm hier niemand sah ... Auch ihm sträubten Enthüllungen das Haar zu Berge; auch ihn hätten sie wach rufen sollen zu Thaten der Sühne und Gerechtigkeit ... Aber auch ihm lähmten hundert Erwägungen den Arm ... Wahnwitz, das fühlte er jetzt, kann den ergreifen, der ein Ungeheueres machtlos im Busen bergen soll ... Auflodern, allen zurufen hätte er mögen: Das ist ja meine Mutter! ... Er hätte seinen Nachbar anrufen mögen: Wie trägst du, du nur den Namen meiner Schwester? ... Ophelia, angeredet von Hamlet mit dem unendlich schön gesprochenen Abschiedswort: »Geh' in ein Kloster!« verwandelte sich ihm in die Trägerin seiner eigenen Leiden ... Daß man dann sagte, die Gräfin Olympia Maldachini sähe so keck sich um, wie in einem Ballsaal, ließ ihn vollends erbeben ... Auch sie kannte er ja ... Sie schon ihn ... Die Loge war zu entfernt für sein Auge ohne Bewaffnung durch ein geschärftes Glas ... Dennoch bog er sich schwindelnd über, um zu sehen – um starren zu können ...

Wieder war inzwischen der Vorhang gefallen ... Wieder begann eine Zwischenmusik ...

Der Professor, der inzwischen ebenfalls in große Aufregung gerathen war, erklärte, nur eben dieser »Römer« wegen hätte er den Platz des Professors Dalschefski übernommen ... Er zankte mit Theresen ... Er war aufgestanden und sprach jetzt mit höchster Lebendigkeit seiner bisher so starr gewesenen Gesichtszüge die italienischen Worte:

Ja! Das sind sie! ... Die Herzogin kenn' ich nicht ... Aber sehen Sie nur den Grasaffen, den Rucca! ... Und das, das ist die kleine Gräfin Olympia! ... Corpo di Bacco! ... Als zehnjähriges Kind schon hatte der Fratz sich in einen Apollino im Braccio nuovo verliebt, verlangte vom Cardinal Ceccone, ihrem – Onkel, ihm einen Kuß geben zu dürfen, springt selbst an den jungen marmornen Gott hinauf, umschlingt ihn und beide stürzen vom Postament herunter ... Thorwaldsen hat ihn restauriren müssen ... Und ein ander mal – ha, da hat – diese Olympia – –

Ich muß aber bitten! Schweigen Sie! unterbrach ihn Resi entrüstet ... Die Dame hat auch bis dahin Ihre Verleumdungen gehört! Eben richtet sie das Lorgnon auf Sie! ... Wahrhaftig ... Herr von Pötzl, schauen's doch! ... Das ist ja prächtig! Sie ruft den mit dem schwarzen Pflaster, auch die Herzogin und die sämmtlichen Cavalieri – geben Sie Acht, Professor, Sie müssen ihr Revanche geben, Sie unverbesserlicher Carbonaro! ...

Herr von Pötzl bestätigte alles, staunte und lachte übermäßig ...

Benno aber stand, als schwebte er, ein Fieberkranker, in den Lüften ...

Nein, die ist ungenirt! ... sprach alles ringsum durcheinander ... Wie in Neapel! ...

Sie grüßt wirklich hier herauf! lachte Herr von Pötzl ... In der That bestätigten alle, durch ihre Lorgnons blickend, daß die Kleine mit dem Diamantendiadem zu ihrer Loge hinauflache ...

Sie ergriffe eben das Taschentuch und winke herüber, ergänzte Resi ...

Wem gilt denn das? ... sagte Herr von Pötzl hocherstaunt und schaute sich überall um und fixirte endlich den Fremden neben sich, seinen Protégé ...

Dieser stand keiner Besinnung fähig ... todtenbleich ... Eben streckte Benno die Hand vor, um das ihm dargereichte Perspectiv zu ergreifen, da blieben ihm die Finger wie gelähmt hängen ...

Er sank bewußtlos auf seinen Sessel zurück ...

Sie sind unwohl! rief Herr von Pötzl erschrocken ... Ein Glas Wasser! Bitte ... oder kommen Sie ... Frische Luft! ...

Benno erhob sich allmählich, lehnte Hülfe ab ... Das Spiel begann eben wieder ... Er wandte sich zum Gehen ...

Ja, gehen Sie lieber, mein bester Herr, sagte Herr von Pötzl ängstlich besorgt ... Der Dunst der Lampen hier oben ist aber auch heute fürchterlich ...

Benno wollte ablehnen ... Herr von Pötzl führte ihn, während alles rings voll Theilnahme aufgestanden war, selbst durch die Sitzreihen der Galerie und hinaus auf den Corridor.

Es war der zweite Tag, den Benno in Wien verbrachte.

2.

Als im Beginn des diesjährigen Frühlings Benno von Asselyn mit seinem Freunde Thiebold de Jonge von Witoborn nach der Residenz des Kirchenfürsten zurückreiste, that letzterer »von seinem Standpunkte aus« alles Mögliche, die schmerzlichen Nachklänge des so gänzlich den »gehegten Erwartungen nicht entsprochenen« Witoborner Aufenthaltes zu mildern ...

Was nur aus dem unerschöpflichen Born seiner guten Laune zu schöpfen war, gab Thiebold zur Zerstreuung bereitwilligst her, und sogar seine eigene Person ...

Doch Benno blieb für alle Anschläge seines erfinderischen Genius unempfänglich ...

Ja er verdarb Thiebold sogar den »Spaß«, daß dieser Extrapost nehmen wollte, um in der »Einsamkeit der Landstraße« den »gegenseitigen Gefühlen« Luft zu machen ...

Benno kannte diese Thiebold'schen Extrapostfahrten mit ihren »gemüthlichen kleinen Aufenthalten« von vier bis fünf Stunden, ihren Nachtlagern, ihren Wirthshausbekanntschaften, ihren Abstechern auf gerade den Abend angesagte Casinobälle in kleinen Städten, zu denen sich Thiebold sans gêne wie ein alter Stammgast einzuladen verstand ...

Sie fuhren mit der Schnellpost und kamen auf diese Art rascher als mit Thiebold'scher Extrapost wieder zurück in ihre »laufenden Verhältnisse« ...

Das durch vier Mitpassagiere auferlegte Schweigen über die Resultate der Witoborner Erfahrungen hatte etwas Feierliches ... Thiebold verbrauchte seinen letzten Cigarrenvorrath mit Blicken der Resignation ... Er gefiel sich in dem von ihm sonst so oft an Peter unerträglich gefundenen System des Au contraire gegen sämmtliche Mitpassagiere, deren Behauptungen ihm in der Regel unbegründet und haltlos erschienen, ob sie nun den Segen der zu erwartenden Ernte oder die projectirten Eisenbahnlinien oder die Zukunft der damals neuerfundenen Stahlfedern oder den Kirchenstreit betrafen ... Thiebold wußte zwar, daß er durch seine unausgesetzten: »Erlauben Sie!«, mit denen er seine »thatsächlichen Berichtigungen« einführte, Benno zum stillen Märtyrer machte, aber es blieb ihm unmöglich, die Aufregung seines Gemüths, den »stellenweisen« Schmerz seiner Erinnerungen anders zu beschwichtigen, als durch eine auf fortwährende Berichte von »Augenzeugen« gegründete Polemik ... Nur in der Nacht traten Pausen der Ergebung ein, die Thiebold theils durch Schnarchen, theils durch Seufzer ausfüllte ... Hätte er nicht von Seiten Benno's das schnöde Wort: »Machen Sie sich nicht lächerlich!« gefürchtet, er würde von den Sternen gesprochen und die von Joseph Moppes immer so zart gesungene Arie mit nachgeahmter Waldhornbegleitung intonirt haben: »Ob sie meiner noch gedenkt?« ...

Als dann Thiebold seinem Vater hinter »Maria auf den Holzhöfen« über die »verfehlte Speculation« des Ankaufs der Camphausen'schen Waldungen, infolge des bedeutungsvollen Fundes der Urkunde und des Abbruchs aller Verhandlungen mit Terschka drei Tage vor der ihnen noch nicht bekannten Flucht desselben, berichtet und dafür ein: »Gesegn's Gott!« geerntet hatte, fand sich leider »noch immer die stille Stunde nicht«, nach der sein Herz sich sehnte, die Stunde, um mit Benno »alles durchsprechen« und das Thema variiren zu können: »Ist denn wol das alles ein Traum gewesen?« ...

Benno hatte sofort mit den Berichten zu thun, die er Nück zu erstatten hatte ...

Thiebold selbst war theils überhäuft mit Commissionen, die ihm die Stiftsdamen mitgegeben, theils war seine Ankunft die erfüllte Sehnsucht aller seiner übrigen Freunde, besonders Piter's, den Treudchen's Flucht ins Kloster und die bevorstehende mögliche Einkleidung des geliebten Wesens »rein in einen Schatten« verwandelt hatte ...

Erst die überraschende Mittheilung, daß sich auf einer Reise nach England Wenzel von Terschka einige Stunden in der Stadt aufgehalten, ohne jemanden zu besuchen, brachte den »Austausch der Gefühle zuwege«, nach dem Thiebold so dringend verlangte ... Eines Abends sechs Uhr war es, auf der Straße, die Sonne war noch nicht untergegangen, die letzten Austern, »auf die man sich allenfalls noch verlassen konnte«, waren aus Ostende angekommen ... Ein stiller Winkel auf dem Hahnenkamm lockte mächtig ... Benno wurde gezwungen zu folgen ... Benno tadelte keinen einzigen Vorschlag, den Thiebold über die Sorte Wein machte, die sie zu den noch »unbedenklichen« Austern wählen wollten ...

»Terschka geht denn also nach England, um die Gräfin über die Urkunde und die gänzliche Veränderung der Dinge auf Schloß Westerhof in Kenntnis; zu setzen« ...

Das war das wehmutsvolle Thema und anders noch konnten die Vermuthungen nicht lauten ...

Die zweite Schlußfolgerung war die Ahnung von einer Heirath Paula's mit dem Grafen Hugo ...

Die dritte die Unentbehrlichkeit Armgart's für Paula und demzufolge – die Heirath mit dem Freund des Grafen, mit Wenzel von Terschka, selbst ...

Nie hatte Thiebold seinen männlichen Freund so kleinmüthig gesehen, nie so nachgiebig gegen jede Vermuthung ... Benno lehnte selbst die Hypothese nicht ab, daß Armgart »keinem von ihnen beiden hätte wehe thun wollen« ... Beide Freunde redeten sich in das Unergründliche so hinein, daß Benno sich zuletzt die schwarzen Locken aus der heißen Stirn strich, wild den Arm aufstemmte und alle jene Anklagen des Schicksals ausstieß, die Thiebold sonst »unmännlichen Weltschmerz« zu nennen pflegte ... Heute »unterschrieb« er alles, was Benno in sein grünes Römerglas wetterte ... De Jonge! Ich fand Ihre Entsagung natürlich ... Ich würde Ihnen Armgart nimmermehr gelassen haben ... Vergeben Sie mir diese offenherzige Sprache ... Selbst auf Gefahr, Sie zu beleidigen ...

Unter Männern volle Wahrheit! entgegnete Thiebold und stieß die leeren Austerschalen zurück, um für neue Platz zu machen, die er wie mit einem Mordmesser behandelte ...

Sie konnte in der That nur mich lieben! ... Ich habe Vorzüge vor Ihnen ... Nicht daß ich lateinisch, griechisch und italienisch verstehe, de Jonge ... Sie sprechen englisch und spanisch ... aber mein Vorzug liegt im Herzen! ... Mein Herz kann lieben, das Ihrige nicht, de Jonge! ... Morden Sie mich dafür mit Ihrer Austerngabel! ...

Nein im Gegentheil! rief Thiebold und seine Augen leuchteten vor Begeisterung über seinen Freund ... Nein! Sie haben recht! Ich schaudere über mich selbst ... Ich kann lieben – nie aber auf die Länge! ...

Thiebold schenkte mit wilder Geberde die Gläser voll ... Sein ganzes Sein war aufgelöst in – Behagen nur allein über Benno's »edle Vertraulichkeit« ... Ja, zum Beweise, daß er Ursache zum Zorn hätte, doch sich »zu mäßigen wünsche«, warf er sein Glas hinterwärts in tausend Scherben ... Was kostet das? setzte er zum erschrocken herbeieilenden Kellner hinzu ... Diese Stunde ist mir in dem Grade feierlich, Louis, erklärte er dem Staunenden, daß nie wieder ein Mensch aus diesem Glase trinken soll! Geben Sie mir aber ein neues! ...

In dieser Art »sprachen« beide Freunde von sieben bis gegen Mitternacht in einer »stillen Stunde« ihre Witoborner und Westerhofer Erinnerungen, ihre Anschauungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »durch« ... Beide Jünglingsseelen nenne man deshalb nicht oberflächlich in ihrem Schmerz ... Männer bedürfen solches heftigen Ausbruchs ihrer Gefühle ... Benno tobte und fand es unerträglich, daß der Kellner sich unterstand, mit dem Besen die Splitter zusammenfegen zu wollen ... Hinaus! rief auch er ... Beide Freunde warm nicht im mindesten trunken ... Das ist die Jugendkraft ... Zorn, Eifersucht, Schmerz müssen in jungen Seelen solche Formen haben, um zu den einmal nicht zu ändernden Gesetzen des Lebens zurückkehren zu können ...

Acht Tage nach diesem Abend, der nichtsdestoweniger in Benno's Seele nur neue Wunden schnitt, nicht heilte, erhielten beide Nachricht, daß Terschka entflohen und ein Priester, ein Jesuit war ...

Das Staunen mußte das mächtigste sein ... Sie erfuhren die unglaubliche Kunde zu gleicher Zeit mit der Nachricht, daß Terschka in England zu bleiben gedächte, sich unter den Schutz Englands stellte, seinen Glauben entweder schon geändert hätte oder zu ändern gedächte und ohne Zweifel von Gräfin Erdmuthe, die einen Triumph über das Papstthum, eine Genugthuung für die entsetzenerregende Urkunde sah, Verzeihung erhalten würde ...

Ueber Terschka's Verhältniß zu Armgart mußte jetzt eine ganz neue Beleuchtung fallen und wieder begannen die Hoffnungen ...

Bonaventura war es dann, der, unterwegs da und dort in Amtsgeschäften aufgehalten, erst vierzehn Tage nach ihnen eintraf und diese Thatsachen bestätigte ...

Beide Freunde kannten Armgart's katholischen Sinn ... Aber stand nicht Armgart jetzt unter der Leitung ihrer Aeltern, deren freisinnige Richtung allbekannt war? ... Jeder wußte, daß Armgart's Aeltern sich um ihrer Principien willen ausgesöhnt hatten ... Graf Hugo ist Lutheraner, hieß es auf Nück's Schreibstube, Terschka wird zum Grafen Hugo zurückkehren ... Nück aber erklärte dies in Rücksicht auf Oesterreich für unmöglich ...

Bonaventura kam trauernd, ernst und schweigsam ... Es bestätigte sich: Er war Domcapitular geworden ... In so jungen Jahren ... Sein schnelles Emporsteigen auf der Staffel der geistlichen Würden war eine Folge der immer heftiger gewordenen Kämpfe mit der Regierung ... Die alten Bewohner des Domstifts erlagen diesen Aufregungen ... In auffallender Schnelligkeit raffte der Tod die schwachen Greise hinweg, die nicht mehr wußten, wie sie sich zwischen ihren geistlichen und weltlichen Oberhäuptern in der Mitte halten sollten ... Der Kirchenfürst und sein Kaplan Michahelles blieben gefangen ...

Bonaventura's Stellung zum täglichen Gottesdienst veränderte sich infolge seines Aufsteigens ... Doch bei feierlichen Gelegenheiten trat sie in desto höherer Bedeutung hervor ... Gleich die Osterzeit theilte auch ihm den ganzen Nimbus mit, den gerade in diesen Tagen die katholische Kirche um sich zu verbreiten weiß ... Auf die goldenen Gewänder, die Fahnen und Baldachine fällt gerade in dieser Zeit auch zugleich der Strahl der ersten Frühlingssonne ... Jerusalems Palmen grünen in den noch kalten Kirchen ... Ueber den Garten von Gethsemane breitet sich das abendliche Dunkel der Vigilien ... Selbst den Hahn der Verleugnung glaubt man bei all diesen Nachbildungen der heiligen Leidens- und Ostervorgänge in den katholischen Kirchen rufen zu hören – so weiß man das Alte wach zu halten ... Bonaventura bedurfte dieser schönen Phantasmagorieen, um – sein Leiden zu mildern und – sein Denken zu unterbrechen ...

Die Beichten kamen wieder, die Prüfungen in dem kleinen Flüsterwinkelchen, das Bonaventura nicht aufgeben durfte ... Renate bat ihn um Schonung seiner selbst ... Ihr Pflegling kam von Witoborn zurück um Jahre älter geworden ... Mittheilsam sprach er ihr wol von der Mutter und breitete alles aus, was diese ihm für die alte Dienerin sowol, wie für ihn selbst mitgegeben ... Aber es drückte ihn Schmerz und Unmuth ... Er war umsponnen von wie viel geisterhaften Fäden! ... Vision und Wirklichkeit hielten ihn in einem steten Zauberbann ... Seine alten Zimmer behielt er in dem großen Gebäude des Domstifts ... Gerade weil er so viel Neues in seinem Herzen trug, hatte er das Bedürfniß, äußerlich es beim Alten zu lassen ...

Bonaventura sah Benno wieder, sah Nück, auch Lucinden ... Wie gewaltige Veränderungen waren vorgegangen! ... Aeußerlich sowol, wie innerlich ... Benno konnte er nicht sehen ohne die tiefste Rührung ... Immer und immer empfand er den Reiz, dem Freunde die Binde von den Augen zu reißen und ihn ohne Rückhalt über seinen Ursprung aufzuklären ... Noch aber fehlten die vollen Verständigungen darüber mit dem Dechanten und seinem Stiefvater ... Von Stunde zu Stunde mußten sie kommen ...

Nück war und blieb Bonaventura ein Gegenstand des Grauens ... Der Unheimliche umschlich seinem Beichtstuhl und gab nicht undeutlich zu erkennen, daß er von mancher Bürde frei zu werden wünschte ... Bonaventura lenkte die Geständnisse, die bald aus diesem Munde an sein Ohr drangen, auf den Brand von Westerhof, auf die Urkunde ... Nück stellte sich da völlig nichtwissend ... Aber bei den Verirrungen seiner Phantasie blieb er stehen und fragte eines Nachmittags geradezu, was die Kirche riethe, wenn man sich von allen seinen Sünden und Schwächen aufraffen wolle und es auch könne, jedoch von dem einzigen dazu verhelfenden Mittel eingestehen müsse, daß es nicht minder der göttlichen Verzeihung bedürfe ... Bald kam die fast geflissentliche Hindeutung auf Lucinden ... Das war die ganze Absicht dieses Beichtstuhlbesuchs ... An Wahrheit und Aufrichtigkeit konnte einem Nück nicht gelegen sein ... Warum sprach er von einem Wesen, das er nicht nannte, das ihn frevlerisch bestricke, von einer verzehrenden Glut ihres Athems, von seinem Bedürfniß, sich von einem so starken weiblichen Willen beherrschen zu lassen, ja daß er schon jetzt nichts mehr ohne sie thäte? ... Nück sprach von einer Aenderung seines ganzen Lebens, von einer Aufgabe seiner Geschäfte, einem Zurückziehen ins Privatleben, von Ankauf eines Gutes, von Reisen in südliche Gegenden ... An allem ist sie betheiligt! sagte er seufzend und so betonend – als wollte er nur den Priester selbst damit durchbohren ...

Das rauhe, struppige Haar des hochberühmten Rechtsgelehrten neben ihm flößte Bonaventura den tiefsten Abscheu ein ... Er beeilte sich, von dem häßlichen Bild dieser Seele hinwegzukommen ... Abschüttelnd, was vom sogenannten Molinismus oder der Jesuitenmoral in solchen Fällen des Verhältnisses der größern zu kleinern Sünden gerathen wird: Sei wie die entwöhnende Amme! Verwandle, was du dem Sünder bietest, erst in einen dem Kind die gewohnte Milch vergegenwärtigen den Brei! sprach Bonaventura:

Was sind das für geringere Sünden, mit denen man größere austreibt! ... Lesen Sie die Schrift und Sie werden David's Leidenschaften und seine Reue finden! ... Ich will Sie an den Knaben David erinnern, wie er den Riesen Goliath erschlug ... Er hielt sich zu seinem Schleuderwurf fünf Steine bereit, obgleich ihm der Riese wol nicht für die Abschleuderung des zweiten Zeit gelassen hätte ... Ein Uebel rottet sich am besten dadurch aus, daß man ihm die Nahrung nimmt ... Ergreifen Sie noch vier andere Leidenschaften, ich meine edle Leidenschaften ... Sie werden dann an die unedle fünfte nicht mehr denken ... Beten Sie ein Ave auf dem Hügel der letztbegrabenen Angehörigen Ihrer Familie ... Friedhöfe zu besuchen, das wäre eine der Leidenschaften, die ich meine ... Legen Sie sich vier solcher steten Reservebeschäftigungen Ihres Thuns an und Ihre Phantasie hat eine Milderung ...

Hendrika Delring war gemeint ...

Was gibt es Heilenderes, als die Erinnerung an unsere Vergänglichkeit! ... Bonaventura wußte nur nicht, wie wenig Nück's verirrter Seelenzustand am Tode ein Grauen empfand ...

Lucinden sah Bonaventura oft genug, nur nicht mehr im Beichtstuhl, den er verboten hatte ...

Er sah sie besonders in der Zeit, wo die Kattendyk'sche Familie sich nach Witoborn zu den Exercitien der Frau von Sicking begab ...

Statt ihrer hatte sich erst Johannens Verlobter, der Professor a.D. Guido Goldfinger, an diese Uebungen anschließen wollen ... Da der praktische Mann jedoch angefangen hatte, sich, erst »nur der Zerstreuung wegen«, auf Delring's verlassenen Comptoirsessel zu setzen und Pitern im Familieninteresse der Jahresdividenden zu überwachen, so ging mit der Mutter und Schwester die Frau Oberprocurator ...

In dieser Zeit war Lucinde tagelang in den Kirchen, flüchtete auch oft in die Rumpelgasse zu Veilchen Igelsheimer, auch auf den Römerweg zu Treudchen Ley ...

Nück, in übermäßiger Freude über das gänzliche Verschollensein des Brandstifters Jan Picard, nicht einmal belästigt von dessen Drohbriefen um Geld, beruhigt sogar über Hubertus, der in der That mit Pater Sebastus auf Flucht nach Rom war, lebte nur seinen jetzt doppelt entfesselten Begierden ... Er suchte Lucinden mit allen nur erdenklichen Kundgebungen seiner Gefühle zu umstricken ... Er vernachlässigte seinen Beruf und gab sich Blößen vor allen seinen Arbeitern ... Benno bestätigte, was Bonaventura schon aus dem Beichtstuhl wußte ... Sie wollen mich jetzt verlassen, jetzt?! rief Nück Benno und seine Augen traten in ihre Höhlen zurück und ließen nur einen einzigen weißen Schimmer sehen ... Sie dürfen nicht! Sie müssen bleiben! ... Und ich habe es gut mit Ihnen vor! lenkte er ein. Sie müssen eine glänzende Carrière machen ... Dieser Staat hier bietet Ihnen nichts ... Herr von Asselyn, Sie bleiben? Wenigstens bis zum Herbst? ... Ich wickle dann mein Geschäft ab und gebe meine Praxis auf ... Werden Sie mein Nachfolger oder – ich erfinde noch etwas ganz Anderes für Sie ... On ne marche qu'avec les hommes! sagte Mirabeau, fuhr er fort ... An Menschen hänge dich an ... Die nur tragen dich, wie der heilige Christophorus das Kind übers Meer trug ... Meinungen, Ueberzeugungen, Pflichterfüllung – pah – das ist all nichts ... Ich setze Sie auf die Schultern von Menschen – ja des ersten Mannes in der weltlichen Christenheit und Ihren Cousin, den Domcapitular, auf die Schultern des ersten Mannes in der geistlichen ... Nur durch Menschen kommen wir vorwärts ...

Benno, von Nück oft so auf Kaiser und Papst verwiesen, lachte, hatte aber die tiefste Abneigung gegen ihn ... Da er in der Proceßfrage der Camphausen arbeitete, hinderte ihn die eigene Theilnahme, von Nück zurückzutreten, wie er am Tage nach dem Auffinden der verdächtigen Urkunde gewollt hatte ... Den Regierungsrath von Enckefuß sah er oft ... Er mochte von seinen Ahnungen nicht selbst beginnen und dieser wollte entweder durch Schweigen seine Maßregeln verschleiern oder war zu sehr vom Antreten seiner eignen traurigen Erbschaft in Anspruch genommen ... Dionysius Schneid durch Steckbriefe zu verfolgen, wie Herr von Enckefuß schon auf Schloß Westerhof vorgeschlagen, hatte Levinus von Hülleshoven nicht unterstützen wollen, obgleich die Spur des Verwundeten aufzufinden unmöglich war ... Hubertus, der ihn geborgen, wurde vernommen, aber seine Aussage lautete auf ein freiwilliges Weiterwandern eines Abenteurers, der für Pater Ivo und Löb Seligmann in den Gewölben einer Klosterkirche verschwunden war ... Löb Seligmann hatte sich noch nicht veranlaßt gefühlt, in einer so frommen Gegend mit Zeugenaussagen hervorzutreten gegen Klöster und hohe Adelssitze ...

Eines Tages – es war gegen Pfingsten – erhielt Bonaventura folgende Zeilen:

»Hochwürdiger Herr! Eine Novize bei den Karmeliterinnen, Gertrud Ley aus Kocher am Fall, wünscht schon seit lange Ihnen Beicht zu sprechen. Herr Cajetanus Rother verhinderte dies. Jetzt ist er lebensgefährlich erkrankt und bedarf eines Substituten. Es wird Ihnen ein Leichtes sein, von der Curie diese Stellung zu erhalten. Sollten Sie von dem Gerücht, daß Sie Comtesse Paula magnetisirten, Unannehmlichkeiten haben, so wollt' ich Ihnen nur bemerken, daß, wenn auch jeden, der sich auszeichnet, Neid verfolgt, doch in diesem Fall die Intrigue der Frau von Sicking bei Witoborn die Veranlassung etwaiger Verdrießlichkeiten ist ...«

Der überraschende Brief war ohne Namen, konnte aber nur, die Handschrift bewies es, von Lucinde kommen ...

Bonaventura war aufs Aeußerste betroffen ... Von der »Seherin von Westerhof« hatte er überall unbefangen gesprochen ... Die »Intrigue der Frau von Sicking«? ... Diese Dame war von ihm vernachlässigt worden; er hatte gleichgültig von ihren Bußunternehmungen gesprochen ... Dafür konnte sie an ihm Rache nehmen? ... »Paula magnetisirt?« ... Die Geistlichen der Michahelles'schen Richtung beklagten allerdings, daß Paula's Ekstase keine rechtgläubig religiöse war ... Die Indifferenten lächelten öfters zweideutig, wenn sie mit Bonaventura von seiner Reise sprachen. Der Weihbischof, ein Greis, hatte ihm manches mitgetheilt, was hinter seinem Rücken gesprochen wurde ... Sogar der Onkel Dechant hatte ihn in einem seiner jetzt öfter als sonst geschriebenen Briefe gewarnt vor bösen Gerüchten, auch Hunnius und Rother als seine Gegner genannt ... »Gib Acht«, schrieb er ihm, »greift die Intrigue um sich, so verbieten sie Dir trotz Deiner hohen Stellung noch den Beichtstuhl ... Halte Dich nur mit dem Generalvicar, der ein, aufgeklärter Mann ist ...«

Bonaventura hatte sich gelobt, Lucinden zu betrachten, als wäre sie nicht mehr für ihn auf der Welt ... Er hatte zu Renaten, als ihm diese mittheilte, jeden Abend ginge eine verschleierte Dame an einem auf eine kleine Gasse hinausgehenden Fenster seiner Zimmer vorüber und sähe minutenlang hinauf – bittend gesprochen: Reden Sie doch nicht mehr davon! ... Er wollte Lucinden vergessen ... Er wollte den Muth zeigen, sich nicht zu fürchten vor ihren Drohungen ... Bei jeder Leiche, die er segnete, sah er im Geist den Sarg von St.-Wolfgang offen und Lucinde mit dem »Geheimniß über sein Leben« ihn anstarren wie die Sphinx ... Er wollte auch jetzt von diesen Zeilen sich nicht erschüttern lassen, wollte nicht durch zu langes Verweilen bei ihrem Inhalt Lucindens wahrscheinliche Absicht unterstützen, mit Gewalt wieder Posten in seinem Innern zu nehmen ... Der Abschied von Paula lag zu schmerzhaft noch auf seinem Gemüth ... Er sah immer näher kommen, was ihm und Paula der Tod war, die von den Standesrücksichten gebotene Ehe derselben mit dem Grafen Hugo – mit dem Geliebten der leichtsinnigen und verlorenen Schwester Benno's! ... Das waren Fernsichten, gegen deren Düster das nächste Leid verschwand ...

Da kam in der That ein Brief von der Curie, worin ihm die Inspection der Klöster anzeigte, daß die Damen auf dem Römerwege wünschten, ihn für die andauernde Krankheit ihres Beichtvaters bei sich in Stellvertretung zu sehen ... An der kurzen Dauer, in der sich die Curie für die Genehmigung dieser Bitte entschied, sah er doch nur einen geringen Widerstand, der sich gegen ihn zu regen wagte ... Freilich bürdete man ihm nur zu schnell jede neue Last auf ...

So ging denn Bonaventura eines Tages in erster Morgenfrühe auf den Römerweg ...

Er gedachte der ihm so werthen Gertrud Ley, gedachte, wie wol Paula von diesem Kloster zu sprechen pflegte, wenn die Rede ging, daß sie möglicherweise den Schleier nähme ... Hier betete Schwester Therese, die ehemalige Verlobte des Pater Ivo, für das Heil der umnachteten Seele ihres Freundes, dem sogar noch ein Gelübde seiner entferntesten Ahnen zu einer Gewissensfrage hatte werden können ... Immer lehnte er die Wahl gerade dieses Klosters ab; denn sich Frauen denken zu müssen unter einem geistlichen Führer, wie Cajetan Rother, mußte ihm der Anblick des – von Würmern zernagten heiligen Brotes sein ... Er gedachte: Ist dies Haus, das so ganz versteckt und verbaut, äußerlich kaum neben einem kleinen Kirchthurm erkennbar, zwischen dem Waisen- und Jesuitenprofeßhause liegt, der Himmel auf Erden oder die Hölle? ... Wer ergründet das? ... Die Bischöfe dürfen wol zuweilen diese nur den Frauen gewidmeten Räume betreten; sie dürfen in die Zellen blicken ... Auch die Wahl eines fremden Beichtvaters, statt des gewöhnlichen, steht den Nonnen frei ... Aber wie viel Dinge sind erlaubt und man versagt sie sich doch ... Wie viel Klagen ersterben in Rücksichten ... Wehe denen, die in einem Gemeinwesen etwas wagen, das dem allgemeinen Esprit de corps widerspricht ... Bei den Nonnen macht sich vor allem die weibliche Natur selbst geltend, die räthselhafte Gattungsstimmung, für die die Männer selten richtiges Verständniß haben ... Die weibliche Natur wird an die Gesetze des Lebens, an Hinfälligkeit und Schwäche mehr erinnert als wir ... Die Männer bindet dann der Geist; ihre irdische Natur können sie zuweilen abstreifen ... Frauen aber stehen immer im Zwang eines gleichen Naturlooses und entbehren der völlig freien Selbstbestimmung ... Daher denn in einem Nonnenkloster der doppelt und dreifach gebundene Wille ... Ein einziges Gefühl bemächtigt sich aller; der Instinct leitet sie; selbst die Freisten werden hinübergezogen in ein allgemeines Sklaventhum ...

Das alles wußte schon Bonaventura ... Dennoch hoffte er auf Ausnahmen ... Verließ ihn selbst doch nicht die Vorstellung: Wer weiß, ob nicht eines der großen Benedictinerklöster in Oesterreich dir die Weltentsagung in anderem Lichte zeigen würde, als das Kloster Himmelpfort mit Klingsohr und Pater Maurus! ...

Die Aebtissin, die er fand, war eine Greisin ... Am Stabe daherwankend empfing sie den Domkapitular, der mit der ganzen männlichen Würde seiner äußern Erscheinung und in seinem Ornate kam ... Sie geleitete ihn in die Kapelle, wo sich die Vorrichtungen des Beichthörens befinden ... Das Kloster war von keiner zu strengen Regel ... Einige der Schwestern widmeten sich der Erziehung im Waisenhause, wohin sie durch ein Gewirr von Gängen gelangen konnten ... Die Annäherung des hochgefeierten Priesters schien Himmelsmanna für die verhungerten Seelen ... Da und dort tauchten eilende Gestalten auf hinter den Gittern der kleinen Kirche ... Leben und Bewegung, wenn auch geisterhaft und leise, regte sich ringsum ... Dicht am Tabernakel befand sich ein Zimmer ... Hier konnte sich Bonaventura ungestört allein angehören ... Ein Zugfenster zurückschiebend, sah er in einen düstern Gang, von dem ihn ein einfaches, nicht wie am allgemeinen Sprachgitter übliches doppeltes Gitter trennte ... Die Nonnen treten nicht frei in die Kirche. Sie wohnen selbst der Messe nur durch die vergitterten größeren und kleineren Mündungen ihres Klostergebäudes bei ... Hier und da diente ein kleiner Ausbau aus der Kirche ins Kloster zu Beichten, wenn deren mehrere zu gleicher Zeit zu nehmen waren bei etwaiger Ueberfüllung an Bewohnern ...

Bonaventura nahm in einem dieser kleinen Glaskästen Platz, während sein Akoluth Vorrichtungen traf zur Messe, die er hier morgen halten wollte ... Mit dem Pfingsttage naht die österliche Zeit ihrem Ende ... Schon waren die drei »Bitt-Tage« vorüber. Die morgende Vigilienfaste gehörte diesem Kloster als ein ganz besonderer Gründungs- und Seelenläuterungstag ...

Es war draußen heiß, in der Kirche kühl ... Hinter einem Gitter, das Bonaventura nicht ganz übersehen konnte, saßen die Harrenden in ihren braunen Kutten mit leichten weißen Mänteln und weißen Schleiern, einen schwarzen ledernen Gurt um den Leib ... Von jeder, die sich ihm nahte, hörte man auf dem steinernen Boden das Knarren der groben Lederschuhe, die anderswo die heilige Therese entfernt hat, als sie aus den Karmeliterinnen Barfüßerinnen machte, wie ihr Freund, der heilige Petrus von Alcantara, den Orden der Franciscaner verschärfte ...

Wer sollte glauben, daß auch diese abgeschlossene Frauenwelt Erlebnisse zu berichten hatte ... Ihre Verrichtungen waren so einfach ... Gebet, Messe, Essen und Trinken, weibliche Arbeiten, Singen, Beten und Schlafen ... Das war die Ordnung jedes Tages, etwa bei vier oder fünf ausgenommen, die Unterricht gaben – eine Licenz, zu deren Erlangung bis nach Rom hin hatte berichtet werden müssen ...

Nach den ersten fünf oder sechs Beichten, die schon die Zeit bis fast gegen elf Uhr einnahmen – Treudchen Ley mußte als Neuling bis zuletzt bleiben – übersah der still horchende und murmelnde Märtyrer schon das ganze Seelenleben eines Nonnenklosters ... Die hochbetagte Oberin sprach wie ein Kind ... Sie schien seit Jahren dieselben Fehler zu bekennen ... Sie hatte am Rosenkranzgebet einzelne Kugeln übersprungen ... Sie hatte um des geliebten Schlafes willen sich einigemal krank melden lassen ... Sie hatte bei einem Uebermaß von Fliegen in ihrem Zimmer sie durch eine Jagd getödtet in den Zwischenpausen ihrer – Gebete ... Alledem sprach Bonaventura milde und den Fehl eigentlich in anderm suchend, als die Beichtende .... Da seine Gewohnheit war, durch eine plötzliche Querfrage eingelernte Beichten zu durchkreuzen und lehrreiche Stockungen des Gewissens hervorzubringen, so gestand ihm auch diese gute alte Frau zuletzt ein, daß sie allerdings in Streit und Zank lebte ... Zunächst galt dann das Bedürfniß der Neue über leidenschaftliche Ausbrüche ihres Temperaments einer – Henne, die regelmäßig vom benachbarten Profeßhause der Jesuiten über die Mauer flog und durchaus ihre Eier hier bei den Karmeliterinnen im Garten legte. Um diese Henne und um diese Eier war das ganze Kloster in Aufruhr! ... Die Aufwärterin von drüben, die Hanne Sterz, begehrte von der verflogenen Henne die Eier und im Kloster war man verschworen, sie nicht herauszugeben, die Vicarin ausgenommen, Schwester Therese ... Das war nun die große, wochenlang alles ergreifende Frage unter diesen Frauen ... Daran waren alle betheiligt ... Wie oft saß Bonaventura zu St.-Wolfgang in seiner Jasmin-und Nachtviolenlaube und las die Worte der Braut im Hohen Liede: »Erquicket mich mit Blumen, labet mich mit Aepfeln, denn ich bin krank vor Liebe!« oder er übersetzte Lope de Vega's Sonett von jenen beiden Frauen, von denen Eva sogleich nach reisen Aepfeln griff und alles verlor, Maria aber nur nach der künftigen Blüte aus der Wurzel Jesse und alles gewann – Renate konnte aber auch da während dessen mit den Nachbarn um Aepfel zanken, die über den Zaun gefallen waren, um Trauben, die bei ihnen reisten, während der Stamm im Pfarrgarten stand ... Auf alles das ist ein katholischer Priester auch in der Beichte gefaßt ... Daß sich aber auch ein Kloster von achtzehn Bewohnern um die Eier einer Henne in Gewissensscrupeln befand, entsetzte ihn – um Paula's willen ...

Die Schwestern dürften die Eier der Gartenverwüsterin und Klosterfriedensbrecherin dem Nachbar vorenthalten, entschied er, wenn sie dies in der Absicht, zu strafen, thäten und die nachlässige Besitzerin der Henne gewöhnen wollten, ihre Henne besser zu hüten ... Sie würden es aber wahrscheinlich mit Schadenfreude gethan und sich am Besitz der Eier listig erfreut haben ... Da wäre es denn freilich ein Raub ... »Sammeln Sie jetzt die Eier und sind es ihrer jedesmal eine Mandel, so schicken Sie sie nebenan ins Waisenhaus!« ...

Als die Aebtissin mit diesem Bescheid gegangen war, kamen die alten Nonnen zuerst ... Das Warten schien ihnen beschwerlich zu fallen ... Rother hatte es auch so eingeführt, wahrscheinlich, um sie rascher zu entfernen ... Fanatismus für Formalitäten, wie er namentlich im ehelosen Stand die Frauen mit der Zeit alle Stadien der Qual für sich und andere durchmachen läßt, sprach sich umständlich genug aus ... Einige hatten dabei ein nervöses Zucken, andere eine Sprechweise, die vor Ueberhastung nicht einen einzigen geordneten Satz vorbringen konnte ... Dann hatte die Art, wie die von ihm auferlegten Bußen sofort ausgeführt wurden, wenn er den sich Entfernenden nachsah, etwas Erschreckendes durch den Mechanismus und den eiligen Eifer der Formalität ohne jeden Duft der Innerlichkeit ... Das Schönste am Weibe, die scheue Unsicherheit in solchen Bewegungen, die der Natur und dem sonstigen Triebe des Weibes widersprechen, fiel hier weg ... Das Zusammenleben in einem weiblichen Freistaat hob die Grazie auf, die aus dem Zusammenleben mit Männern entspringt ... Er sah eine Nonne eine Betglocke an Stricken so hastig ziehen, wie eine Magd den Brunnenschwengel regiert, wenn ihr Salat wartet ... Alles wurde mit dem reizbarsten Fanatismus hervorgebracht; die Regel der Tagesordnung, der Küche, der Bekleidung, des Backens, das Scheuern, Beten, Singen und Gewinnen von Geld durch weibliche Arbeiten, wie Blumenmachen, Stickereien, Wäschenähen und -zeichnen – alles wie im Krampf ... Eine beaufsichtigte die andere und ganz ersichtlich war es, daß hier nur die geringeren Seelenthätigkeiten des Menschen in beständiger Erregung blieben ... Man denke sich die alte Mönchsregel, die einst Sebastus zu Bonaventura wiederholte: »Wir Mönche kommen zusammen und kennen uns nicht, wir leben zusammen und lieben uns nicht, wir sterben zusammen und beweinen uns nicht!« – angewandt auf Frauen ... Das weibliche Herz verknöchert, das angeborne Bedürfniß der Liebe erstarrt! ...

Die Schulschwester Beate und die Vicarin Therese folgten sich unmittelbar ... Wie war jene so häßlich mit ihren Zahnlücken ... Und dabei war sie die Einzige, die dennoch zu lächeln versuchte – mit Wehmuth zu lächeln ... Sie hatte noch Formen des Zusammenhangs mit der Außenwelt ... Vorzugsweise schien der Geist der Intrigue in ihr mächtig zu sein ... Sie allein klagte Rothern an ... Sie sagte, sie wäre durch die Reihe der Jahre gewohnt, das Sakrament der Buße zu leicht zu nehmen ... Sie schlüge sich oft mit der Geißel um Fehler, die sie nur so eingestünde, um vor den andern nichts voraus zu haben ... Bonaventura ließ sich nicht irre machen, er rüttelte an der nur halbgeöffneten Thür des Gewissens und sah bald, der hinterhaltige Sinn des starkwilligen Mädchens öffnete nicht ... Sie blieb bei Oberflächlichem und mußte, da sie zuletzt nur noch gestand, ihr Herz wol zu sehr an ein Hündchen gehängt zu haben, hören, daß dies allerdings eine Sünde wäre, wenn sie dem Hunde die Liebe schenkte, die sie den Menschen versagte ... Voll Unmuth und Staunen über dies Wort erhob sie sich nach der ihr auferlegten Buße, drei Tage lang im Waisenhause für sich allein, ohne Bericht an die Direction, nie einen Fehler mit Züchtigungen zu bestrafen, sondern nur mit Worten ... Bonaventura hatte ihre Heftigkeit erkannt ... Sie verschwand eilends nach einer entgegengesetzten Seite hin, als die andern Nonnen ...

Schwester Therese, die ehemalige Freiin von Seefelden, war klein und blaß und schien mehr von Ergebung, als von Seelenschmerz verzehrt ... Sie gehörte scheinbar jener seltsamen Stimmung ihrer Standes-und Stammgenossen an, die die Begriffe der Etikette, Conduite, Tournüre vom Leben auch ohne alles weitere Nachdenken auf das Verhältniß zum geoffenbarten Gott und zur Kirche übertragen ... Auch sie zeigte zunächst kein besonderes inneres Leben. Sie hatte nur Formfehler zu beichten und Nachlässigkeiten, die sie sich in ihrem Unterricht zu Schulden kommen ließ ... Bonaventura rieth nur auf sie aus der feinern Sprechweise und dachte sich: Das ist also die Nonne, von der eine ganze Landschaft spricht und der sich Paula als Freundin zu nähern hofft! Welch ein Nimbus umgab sie aus der Ferne und nun – wie war auch sie schon abgestorben – schon so schattenhaft geworden – ...

Am Schluß der Beichte, die ihn Zweifelhaft ließ, ob er wirklich mit der Verlobten des Pater Ivo, des Mariensängers, gesprochen, rührte ihn die Selbstanklage, daß sie sich freute über jeden Tag, wo im Waisenhause der Schulunterricht ausgesetzt wäre ... So auch auf morgen ...

Widmen Sie sich dieser Thätigkeit nicht mit voller Befriedigung? ... fragte Bonaventura ...

Nein – lautete die zögernd gegebene, aber aufrichtige Antwort ...

Bonaventura tadelte eine solche Geringachtung der Versüßung des Klosterlebens ...

Hochwürdiger Vater, sprach Schwester Therese, das Kloster und das Leben gehen nicht Hand in Hand ... Wir sind Erzieherinnen, ja – aber die rechte Erziehung, die Erziehung zur Freiheit des Lebens kann nur von der Freiheit kommen ... Die Kinder wollen dem Leben erzogen sein und wir kommen nicht aus dem Leben ...

Mein Kind, entgegnete Bonaventura nichtzustimmend, jeder Christ muß in seinem Innern eine Stelle haben, um die es nur allein wie der Friede eines Klosters weht ... Selbst im rauschendsten Gewühl des Lebens, selbst im höchsten Genuß der Kraft und der Freude soll die Christenheit etwas achten, was ungefähr dem Leben mit ewig bindenden Gelübden gleichkommt ... Für diese heilige Stelle im Gemüth erzieht man überhaupt und erziehen Sie ... Selbst die Mütter können so nicht erziehen, wie die Erzieherin ... Die Mutter steht zu sehr unter dem Eindruck des eigenen Lebens, um Kindern immer allein den Werth des Hohen und Göttlichen und der von allem Erdenwust befreiten Bildung zu vergegenwärtigen ... Wollen Sie nicht in diesem Geiste erziehen? ...

Schwester Therese blickte einen Moment mit leuchtenden Augen auf und ging, wie es schien, ermuthigt für ihr langsames Sterben im Kloster ...

Bonaventura sah ihr voll Wehmuth nach ... Er hatte den Schmerz, sich sagen zu müssen: War denn dein Wort auch wol mehr, als nur eine Phrase? ... Du fürchtetest zu hören, daß selbst das Lehren und Unterrichten der Jugend einer vom Leben getrennten Kaste nicht gebühre; du fürchtetest, daß dir wol gar noch die letzte Glorie des Klosterlebens, die Krankenpflege, als Anhalt deines gläubigen Sinnes entzogen würde? ...

Zum Nachdenken über solche Zweifel blieb indessen keine Zeit ... Neue Stimmen murmelten schon ... Kleinigkeiten und Kleinigkeiten ... Rother gehörte zu denen, die da lehrten: Die Kirche will alles, auch das Kleinste wissen! »Was ist kleiner«, predigte Beda Hunnius über die Beichte, »als Regentropfen! Und dennoch entstehen daraus Ströme, die Häuser niederreißen! Was ist kleiner, als ein Sandkorn! Aber überladest du ein Schiff damit, so wird es in den Abgrund fahren!« Und darauf hin verlangte er in der Beichte jeden Regentropfen und jedes Sandkorn aus dem Privatleben seiner Gemeinde zu wissen ...

Wie sprach da wieder Eine mit der Geschwindigkeit einer Flattermühle, die im Korn die Spatzen verscheuchen soll ... Welche Fülle von Sünden gab es auch noch unter den Heiligen ... Die ganze Stufenfolge der »sieben Todsünden«, der »sechs Sünden in den Heiligen Geist«, der vier »himmelschreienden« Sünden und der neun »fremden Sünden« ... Und als kannte die Schwester Küchenmeisterin vollkommen die Unterscheidung dieser neun »fremden Sünden«, in welchen der Mensch erstens zur Sünde rathen, zweitens die Sünde befehlen, drittens in die Sünde einwilligen, viertens nur passiv zu ihr reizen, fünftens die Sünde loben, sechstens zu ihr stillschweigen, siebentens dieselbe übersehen, achtens selbst daran theilnehmen und neuntens sie bei etwaigem Anlaß blos vertheidigen kann – so blitzten alle diese Facettirungen der Jesuitendialektik auf in der Klage über die Verhältnisse des Marktes, der Speisekammer, des Backens, des dabei vorgekommenen Naschens und aller möglichen Sorglosigkeiten ... Hier tauchten jetzt auch zwei halb- und drei ganze Novizen auf und im sprudelnden Mittheilungsdrang zum ersten male mit Namennennung Treudchen Ley, die nach Bonaventura's Warnung, Niemand zu nennen, dann als die Kostgängerin bezeichnet wurde ...

Manches Wort aus dem lebensklugen Jesus Sirach, dem Montaigne und Knigge der Bibel, war eigene wie für die Schwester Küchenmeisterin geschrieben ... In ihren Bekenntnissen liefen ganz harmlos auch die Schüsseln mit unter, die im Kloster für Cajetan Rother zubereitet und in seine Wohnung geschickt wurden ... Am Sprachgitter der Eingangspforte mußten Schachteln und Körbe immer unterwegs sein, denn selbst seine Wäsche ließ der Pfarrer im Kloster waschen – sodaß es Bonaventura nicht Wunder nehmen konnte, von der folgenden Nonne, die die Schwester Wäschmeisterin war unter den heißesten Thränen ein Bekenntniß zu erhalten wo plötzlich wieder Namen fielen wie Eva und Apollonia Schnuphase ...

Die Wäschmeisterin beichtete:

Vor vierzehn Tagen kam ein Korb auf einer Kare vor der Thür des Klosters und so schwer stand am Gitter, daß die Damen Schnup –

Keine Namen! sagte Bonaventura ...

– die gerade im Kloster waren, selbst, sie vor dem Gitter zu heben, angreifen mußten ... Sie sagten, es wären lauter neue Servietten für die Wirthin »Zum goldnen Lamm« ... Sie wollten den Korb zum Zeichnen in die Zelle der Gertrud Ley tragen ...

Keine Namen! wiederholte Bonaventura aufs strengste ...

Ich sehe den großen Waschkorb und sage: Die Zelle der Kostgängerin ist dafür nicht groß genug ... Der Korb muß in die Nähstube ... Die beiden Fräulein widersprachen ... Ich werde darüber zornig und sage: Ich denke, ich bin hier die Wäschmeisterin! Nun ergaben sich die Damen – Sonst so hochmüthig und vornehm – heute trugen sie mit ihren feinen Händen und Handschuhen den Korb selbst und das fiel mir auf ... Durchaus wollten sie damit zur Kostgängerin ... Diese war im Chor ... Sie lernte singen ... Wie die beiden Fräulein so durchaus den schweren Korb, statt in die Wäschstube, an der wir schon standen, in die Zelle bringen wollten und niemand auf dem Gange war – die Schwestern waren alle im Chor – sagte ich und schon mit Furcht und Ahnung zu dem Fräulein Eva, der Aeltesten: – Was ist das heute mit dem Korb? Gleich machen Sie auf! ... Da wurden die Mädchen blaß wie die Wand und nun ich das sah, da riß ich selbst den Korb auf und – heiliger Joseph! – statt Wäsche stak – eine Mannsperson unter dem Deckel ...

Bonaventura mußte der Bekennerin Kraft zur Sammlung lassen ...

Ich weiß nicht, hochwürdiger Vater, fuhr sie fort, wo ich es hergenommen habe, daß ich nicht sofort in Ohnmacht fiel ... Ich schrie: Herr! Verlassen Sie jetzt nicht sogleich auf demselben Wege, wie Sie hereingekommen sind, so auch wieder hinaus dies Heiligthum unsrer allerseligsten Jungfrau und des gekreuzigten Jesus, so zieh' ich hier an der Glocke und rufe das ganze Kloster zusammen ... wehe dann Ihnen und Ihren Helfershelferinnen – Und Sie, meine Fräulein, wandte ich mich zu diesen – Aber nun konnte ich nicht weiter ... Die beiden Nichtswürdigen fielen in die Kniee und baten um alle Wunden Jesu, sie nicht zu verrathen ... Ein Glück für sie, daß die Orgel so laut ging ... Der junge Mann stand noch im Korb und wollte herausspringen, zog auch eine volle Börse, die er mir in die Hände drücken wollte ... Nein, schrie ich, danken Sie allen heiligen Märtyrern und Bekennern, daß die Schwestern im Chor singen und die Nähstunde schon geschlossen ist ... Entfernen Sie sich augenblicklich! ... Damit drückte ich den jungen Mann, so vornehm und stark er war, wieder in den Korb hinunter, zwang ihm den Deckel über den Kopf und die beiden Damen mußten ihn selbst wieder an beiden Henkeln zum Sprachgitter hinausschleppen, wo sie sich bald damit verhoben hätten, um ihn nur an die Oeffnung hinaufzubringen ... Da waren denn zwei Kerle, die schon auf alle Fälle bereit standen, nahmen die Last wieder an sich und trugen sie zur Straße hinaus wieder auf die Karre ...

Bonaventura konnte bei diesem auf Treudchen berechneten Besuch nur an Piter Kattendyk denken ...

Und Ihre Sünde? ... fragte er nach einer Weile, ohne sich das Bild: Piter im Waschkorb, in seinem komischen Effect – zu lange auszumalen ... Er fühlte sogar Antheil der Freude über einen Beweis so großer Liebe, die Treudchen hatte gewinnen können ...

Sünde? Daß ich den Vorfall – verschwieg – sagte die erschöpfte Wäschmeisterin ...

Verschwieg? Einer pflichtgetreuen That soll man sich gegen niemanden rühmen ...

Muß das Kloster nicht gesühnt werden? ...

Nein ...

Die beiden ruchlosen Frauen kommen noch immer und ich lass' es zu ...

Sie werden sich bessern ...

Als der Korb und die Frauen hinaus waren, rannt' ich umher wie sinnlos und –

Mußten es los werden? ... Erzählten es also doch? ...

Die Beichtende schwieg ...

Sie waren mir also jetzt eben unwahr! ... Das ist ein Frevel – ich will ihn verzeihen ... Die natürlichste Mittheilung, die Sie jedoch machen konnten, war die bei dem armen Kind, dessen Ruf durch diesen Vorfall so heillos bedroht wurde ... Thaten Sie das?

Der Pfarrer hat –

Die Stimme stockte ...

Dann ergänzte sie zagend:

Hat befohlen, ihr davon nichts zu sagen und – ohnehin – mit ihr kein Wort zu sprechen, das nicht – heilig ist ...

Bonaventura konnte nicht die Befehle seines Vorgängers brechen ... Er konnte ohne Gefahr für die geistliche Würde nicht fragen: Warum nur Geistliches mit Treudchen Ley? ... Er half sich wie öfter in diesem Theil seiner römischen Zauberkunst und hielt sich an die Gesinnung, die sich eben, im Bekennen, offenbarte, nicht an den schwierigen Fall selbst ... Er hatte die Nonne auf Lügen ertappt ... So sprach er denn von dem bedenklichen Vorfall selbst nicht mehr, sondern von der Wahrheit, deren Umgehung schon Adam mit Nachtheil sich hätte zu Schulden kommen lassen, als er den Genuß der verbotenen Frucht auf Eva schob, und schon Eva, als sie die Schuld wieder der Schlange zuschrieb ... Die Lüge der Lügen nannte er es aber, wenn man mit dem ausdrücklichen Schein, wahr sein zu wollen, dennoch lüge ... Er legte der Wäschmeisterin eine Buße auf, die seiner immer mehr zunehmenden Reizbarkeit und dem Verdruß, daß hier Alle etwas ausgeplaudert bekamen und nur Die nicht, der dadurch ein Beweis entging, wie sehr sie geliebt wurde, entsprach ... Er befahl ihr, sich der nächsten Beichte der – Kinder im Waisenhause anzuschließen, und sagte:

Mein Kind! Als Erwachsene lerne etwas bei dir behalten! ...

Die Wäschmeisterin entfernte sich mismuthig ...

Das Läuten einer Glocke, die eine Nonne mit der schon geschilderten Hast zog, zeigte Bonaventura an, daß er schon drei Stunden im »Holz der Buße« gesessen hatte ... Nur die Spannung, ob denn nicht endlich auch Treudchen Ley erscheinen würde, gab ihm Kraft, noch auszuharren ...

Da sah er denn endlich den Gang daher kommen eine kleine Gestalt im braunen Kleide – unverschleiert ... Ein Häubchen bedeckte den Kopf, der ihm aus dem Dunkel des Ganges allmählich erkennbar wurde ... Ein halbes Jahr hatte die lieblichen Züge des jungen Kindes, das schon so viel des Trüben erfahren hatte, mit melancholischer Verhärmung angehaucht ... Die blonden Haare, die bald unter der Schere der Klosterregel fallen sollten, waren in der unkleidsamen Haube versteckt ... Um so edler traten die Formen des blassen Antlitzes selbst hervor ... Die Melancholie hatte ihnen nichts von der angebornen Schönheit nehmen können ...

Treudchen näherte sich mit gefalteten Händen ...

Sie schien von einem Gebet zu kommen und leuchtete wie eine Verklärte ...

Hoffnungstrahlend und doch zaghaft schritt sie näher und legte jetzt, wie Bonaventura sah, mit ausbrechenden Thränen ihr Haupt auf das Holz, einer Verbrecherin ähnlich, die den Todesstreich erwartet ...

Was geht nur in dieser kindlichen Seele vor? dachte sich Bonaventura ... Welche Verwüstungen hat ein ruchloser, langsam, aber sicher wühlender Priester, der sie ohne Zweifel in diesem Kloster festhalten will, in ihr angerichtet? ...

Schon hatte Bonaventura, da Treudchen noch schluchzte, angefangen aus ihrer Seele zu beten und, wie sie für die Beichte gelehrt war, den Heiligen Geist anzurufen, der dem Menschen erleichtere, sich selbst zu erkennen – da vernahm er hinter sich in der kleinen Kirche ein auffallendes Geräusch ...

So wenig ihn sonst beim Spenden des Bußsakraments Reden, Singen, Wandeln in der Kirche zu stören pflegte, jetzt mußte er sein Haupt von der zusammengeschlagenen Stola erheben ... Er hörte einen lebhaften und unziemlichen Wortwechsel zweier Männerstimmen ...

Sein eigener Akoluth war es, der ihn begleitet hatte, und der Meßner vom Berge Karmel drüben, die miteinander stritten ...

Kaum hatte Bonaventura einige Worte unterscheiden können, ohne ganz die Ursache des Streits zu verstehen, als sich beim Umwenden seinem Auge der schreckhafte Anblick eines im Meßornat daherkommenden Priesters darbot, der, kaum sich aufrecht erhaltend, an den Chorstühlen mit den Händen entlang tastete und sich aus ihn zuschleppte ... Ein langes Scapulier hing ihm wie einem Mönch von den Schultern herab bis an die Knie ... Es war ein Abbild des bekannten Scapuliers, das die allerseligste Jungfrau im 13. Jahrhundert einem General der Karmeliter verehrte und mit dessen Nachahmung behangen jeder Sterbende den seligen Tod gewinnt ... Der Pfarrer vom Berge Karmel war es selbst, Cajetan Rother ...

Sonst eine hohe, wohlgenährte, mit glühenden Augen ein Bild des Lebens darstellende Persönlichkeit ... Heute dahinschleichend, gelb, von Fieberflecken entstellt und offenbar eben aus dem Krankenbett gekommen ... Gerufen vielleicht durch die beiden intriguanten Nonnen ... Er taumelte unsicher und in jeder Bewegung wie zum Zusammenbrechen ...

Bonaventura übersah sofort, daß auch diese üble Nachrede seines Glaubens, daß die Beichtväter der Nonnen von heftigster Eifersucht gegeneinander entbrannt sein könnten, keine Fabel war ...

Der Zorn, die Ungeduld, vielleicht auch die Furcht, vielleicht eine Anzeige der Nonnen, hatten den Mann vom Lager getrieben ... Ein fremder Wolf bricht in deine Hürde! stand auf seinem verzerrten Antlitz ... Er erschien begleitet von seinem Meßner, der gegen Bonaventura's Akoluthen schon seinen frechsten Einspruch erhoben hatte, und redete, erst noch mit gezwungener Freundlichkeit, heiser, vom dumpfhohlen Husten unterbrochen, auf drei Schritte den sich erstaunt erhebenden Bonaventura an:

Mein Herr Bruder! Ei danke! Danke! ... Ich bin ja gesund und wieder wohlauf ... Bitte! ... Sie sind – ja – sehr rasch und – auch hier wieder mein Nachfolger geworden – Ich erfahre das – soeben erst – Bitte – Erlauben Sie – ...

Bonaventura ging ihm entgegen und ergriff seine Hand, die sich eiskalt anfühlte ... Sie sind krank – sprach er ... Ich beschwöre Sie – Gehen Sie nach Hause – ...

Mit künstlicher Kraftäußerung schlug der Pfarrer an seine Brust und sprach so laut, daß es in der Kirche weithin schallte:

Gesund bin ich! ... Danke, Herr Bruder! ... Mit Gott! ... Mit Gott! ... Adieu! ...

Schon drängte er zu dem Gitter, in welchem Treudchen's Haupt unbeweglich lag und nicht aufblickte ...

In Bonaventura's Innerm wühlten alle Schwerter des Schmerzes ... Auch das, auch das ist möglich – bei unserm Priesterthum! ... Dein heiligster Name, Jesus von Nazareth, wird in solchem Mund zur Lästerung! ...

Bei dem Gedanken, daß dieser ruchlose Priester nur verzweifelte, Treudchen Ley könnte einem andern vertrauen, was ihre Seele belastete, ergriff es ihn mit solcher Wallung des äußersten Zornes, daß er, nichts mehr achtend von dem, was er sonst, selbst mit Bekämpfung seiner Ueberzeugungen, zu schonen pflegte, rief:

Sie unterbrechen eine heilige Handlung, die ich bereits begonnen habe ... Nach einer Stunde überlaß' ich Ihnen den Sitz in diesem Stuhle ... Jetzt aber gehen Sie! ...

Die Hände des Pfarrers griffen krampfhaft am Scapulier hin und her und wickelten sich bald in das lange Tuch hinein, bald aus ihm heraus ... Der Fiebernde konnte kein Wort gewinnen ... Die beiden Diener standen wie auf der Flucht in einiger Entfernung ... Bonaventura hatte noch die Selbstbeherrschung, am Gitter das Schiebfenster zuzuziehen und Treudchen von dieser unwürdigen Scene zu trennen ...

Herr Domkapitular! ... sprach Rother mit hämicher Betonung der ihm vorgesetztem Würde und tastete dabei zitternd nach dem Eingang in den kleinen Ausbau ... Es war eine Scene, die Bonaventura an sein Erlebniß mit dem Habicht erinnerte, dessen Fänge sich, wie ihn Pater Sebastus in der kleinen dunkeln Kapelle beim Kreuzgang der Kathedrale ergreifen wollte, ebenso an die Altarsäulen festgeklammert hatten, während der Raubvogel mit umgewandtem Kopf dämonisch seinen Angreifer anstarrte ...

Sich sammelnd, hauchte er jetzt leise:

Sie erinnern mich zur rechten Zeit an meine Würde! ... Ich befehle Ihnen – mir die Functionen zu lassen, die mir die Curie übertrug ...

Nun aber lachte Rother hellauf und zog unter seinem Scapulier einen Brief hervor, rief seinem Meßner, hielt den Brief in die Höhe und krächzte mit heiserer Stimme:

Da, Fangohr! ... Tragen Sie – den Brief sofort in – die Curie ... Die Kirche muß neu geweiht werden – das heilige Holz – exorcisirt –! ... Diese reinen Seelen meiner Himmelsbräute – verführt mir ein – Magnetiseur –! ...

Dies Wort wurde von dem sich Kraftgebenden wie eine Waffe geschleudert. Ein Wurfspieß konnte nicht drohender fallen. Der Brief war ein Protest des Pfarrers, den er schriftlich aufgesetzt hatte, und Fangohr, sein Meßner, ergriff ihn, um ihn zum Generalvicar zu tragen ...

Bonaventura stand starr ... Nichts mehr hörte er von alledem, was in fieberhafter Hast, mit frostklappernden Zähnen der selbst in Todeskrankheit noch unbändige Mensch an Verwünschungen und Anklagen gegen ihn schleuderte ... Ein dumpfes Brausen benahm ihm die Besinnung ... Alles um ihn her schwankte ... Seine edelsten Empfindungen waren entweiht, seine heiligsten Gefühle auf die Straße geworfen ... Einen Augenblick zuckte seine Hand, dem Meßner die Schrift zu entreißen ... Dann beherrschte er sich, ordnete seine in Verwirrung gerathenen Gewänder und verließ, ohne ein Wort der Erwiderung, vom tiefsten Entsetzen durchrieselt, eine Stätte, auf die das Wort des Heilands gepaßt haben würde: »Ihr macht mein Haus zur Mördergrube!« ...

3.

Schon nach einigen Tagen zeigte sich die Wirkung der nunmehr offen ausgesprochenen Anklage ...

Die geheimen Mächte, die alles Edle und Bedeutende in dieser Welt umwühlen, hatten endlich die Achillesferse des bisher so Unverwundbaren gefunden ...

Wer die Anklage zuerst formulirt, sie verbreitet hatte, war nicht zu sagen ... War es Frau von Sicking? ... In solchen Dingen macht sich alles von selbst und namenlos, bis dann einer hervortritt und für alle redet ...

Die Nachricht über den Vorfall im Kloster verbreitete sich blitzesschnell ... Die Mehrzahl sprach über den allgeliebten Priester ihr Bedauern aus und doch – das Mitleid ist ein Zoll, der, wenn auch mit noch so voller Hand gereicht, keine Zinsen trägt ... Ein Gefühl des Beistandes muß fruchtbar, muß die Liebe mehrend sein ... Hier stockte alles und im negativen Bedauern – verlor der junge Priester ...

Bonaventura, dessen ganzes Leben unter Roms Magie litt, war nun selbst ein Magier geworden ... Man theilte ihm die Anklage des Pfarrers vom Berge Karmel im Original mit ... Wie im Geist des Mittelalters stellte eine zitternde Handschrift Beschwerde über die Wahl dieses Stellvertreters, der ihm »seine Beichtseelen beschädige« ... Der Domkapitular von Asselyn hätte in Witoborn die Gräfin Paula von Dorste-Camphausen magnetisirt, hätte dadurch Visionen veranlaßt und da man den Geist, aus dem diese Thätigkeit der menschlichen Hand sich offenbare, noch nicht zu erkennen vermöge, da die Kirche trotz einzelner Beispiele der Anerkennung und Heiligsprechung der Prophetengabe doch über alles, was an Zauberei erinnere, den Stab breche und mit Moses Zeichendeuterei und Aberglauben verwerfe, so müsse er das Heil seiner Beichtkinder wahren und wünschen, daß die Seelen der Nonnen am Römerweg vor der Berührung mit einer so gefährlichen Natur, wie die des Domkapitulars, behütet würden ...

Diese Warnung vor Aberglauben kam aus dem Mund eines Mannes, der ein Scapulier trug, das den Sterbenden den Tod erleichtern soll! ... Aus dem Mund eines Mannes, den Bonaventura vernichten konnte, wenn die Gesetze Roms die Mittheilung dessen gestatteten, was ein Priester aus der Beichte weiß! ... Selbst die Frevel jener Verbindung der Schnuphases mit dem Kloster durften von ihm nicht angezeigt werden ... Und hätte Trendchen Ley gestanden, was sie, sie vollends drückte – mußte er nicht auch da schweigen? ... Das sah Bonaventura deutlich, was ihm diese Aermste hatte gestehen wollen ... Unter dem Schein der Religiosität hatte der Seelenmörder das zur Schwärmerei geneigte Kind mit geistlich-sinnlichen Vorstellungen erfüllen wollen ... Er hatte ihr Beten, Fasten, Kasteien in Formen vorgeschrieben, die unsicher auf der Grenzlinie zwischen Demuth und Schamlosigkeit hingingen ... Die furchtbarsten Strafen des Himmels hatte er ihr ohne Zweifel angedroht, wenn sie verriethe, was er sie lehrte, um dem Erlöser mit seinen blutenden Wunden auch körperlich ähnlich zu werden ... Angst um ihre Geschwister im Waisenhause, Verehrung vor Priesterhoheit und Priesterunfehlbarkeit überhaupt hatte das ungebildete Kind mit widerstrebenden Gefühlen zur Sklavin seiner Autorität gemacht ... Das alles, Bonaventura wußte es, war bei einem Cajetan Rother möglich und Treudchen Ley litt unter nichts anderm ... Der alte Pater Sylvester, von dem Serlo's Denkwürdigkeiten erzählten, hatte in seiner Weise im Seminar alle diese alten Methoden, Heilige zu machen, mit kindisch raffinirter Naivetät erzählt ...

Nück, der geistige Bundesgenosse solcher Frevel, und Lucinde umflatterten ihn wie mit schwarzen unheimlichen Schwingen ... Wieder erhielt er anonym folgende Zeilen:

»Sie werden von der Beichte suspendirt werden ... Um dies zu vermeiden, räth man Ihnen, selbst Vacanz zu begehren, um eine Reise zu machen ... Nur gehen Sie nicht nach Witoborn, wodurch Sie das Uebel vermehren würden, gehen Sie nach Kocher am Fall ... Uebernehmen Sie die Aufträge nach Wien, so gilt dies für einen Bruch mit der Regierung ... Doch wie Sie wollen; nur folgen Sie mit Vorsicht den Rathschlägen Nück's ...«

Der Athem stockte dem Priester beim Lesen ...

Nück begegnete ihm auf der Straße und rieth ihm, für immer mit diesem Staat zu brechen ... Wir müssen alle an Oesterreich halten! sagte er ... Fort! fort! ...

Was sollte Bonaventura thun! ... Der Rath Lucindens war klug, beachtenswerth ... Aber ein Rath aus diesem Munde! ... Nück's Absicht, ihn für immer zu entfernen, war unverkennbar ... Man kam ihm wieder mit dem Auftrag, nach Wien zu gehen ... Er sollte dem erwarteten Cardinal Ceccone und dem Staatskanzler die Vermittelung mit Rom und dem Landesfürsten, die Befreiung des gefangenen Erzbischofs, dem die Kirche zum irdischen Ersatz für seine Märtyrerkrone den Cardinalshut schicken wollte, aufs dringendste ans Herz legen ... Bonaventura war wie Benno ein Gegner der Waffengewalt, die die Regierung angewandt hatte ... Dennoch gingen sie beide so wenig mit dem Geiste, aus dem Nück alles leitete und einfädelte ...

In dieser zagenden Ungewißheit theilte ihm Kanonikus Taube, der Hausfreund der Kattendyks, im Ton des Bedauerns die Nachricht mit, daß man ihn bis zur Entscheidung der Frage über den Magnetismus durch die Pönitentiarie in Rom ohne Zweifel vom Beichtstuhl entbinden würde ... Er möchte sich, setzte der Weltkluge hinzu, rasch zur wiener Mission entschließen ... So entginge er allen seinen Neidern und Feinden ... Der Regierung bliebe er ja doch unter allen Umständen anstößig, wie jetzt sämmtliche Priester, die adelige Namen trügen ... Bleiben Sie so lange in einem Donauklöster, bis eine Pfründe offen wird! Ja, es sind die Tage des Exils! sagte er und ging zur Whistpartie bei der Commerzienräthin ...

Auf einzelne hervorragende Häupter legt sich in großen Krisen die Verantwortung. Es sind oft nur Loose des Zufalls. Irgendein Misverständniß, irgendeine unbegründete Annahme vertheilt die Rollen. Vollends kann ein katholischer Priester seine wahren Meinungen und Gesinnungen nicht kund geben. Bonaventura war gegen den damaligen so nüchternen und freiheitsfeindlichen Geist der Bureaukratie tief eingenommen, er war adelig, galt von früherher noch für gespannt mit seinem Stiefvater, dem Präsidenten, war intim mit dem hervorragenden Adel um Witoborn – wegen alles dessen galt er für einen Römling ... Wie konnte er dagegen protestiren! ...

Der alte Weihbischof übersah seine ganze Lage und rieth ihm gleichfalls, eine Vacanz zu begehren, um vorläufig in Kocher am Fall den kränkelnden Dechanten zu besuchen ...

Benno rieth ebenso ...

Niemand wußte besser, als Benno, wie Bonaventura dazu gekommen war, seine Hand auf Paula zu legen ... Er wurde dazu gezwungen, um Schmerzen zu stillen ... Armgart hatte mit Gewalt seine widerstrebende Hand ergriffen und geführt ... Dann war dafür der Oberst an seine Stelle getreten – schon bei dem Mittagsmahle, wo Paula eine Vision von ihrer Heirath hatte – auch bei seinem Abschied, wo er sie schlafend fand und sie ihn Bischof nannte ... Alles das – er hätte es so gern vergessen – rief man gewaltsam wieder in seinem Gedächtniß wach ... »Nach Witoborn?« Das war unmöglich ... Aber als Benno dann sagte: »Vielleicht übernehme ich selbst es, dem Cardinal Ceccone und dem Staatskanzler offen unsere ganze hiesige Lage zu schildern, Nück drängt in mich, daß ich seine Proceßacten befördere« – als Bennos fortfuhr und sagte, daß es ihn ewig südwärts zöge und er sich vorkäme wie ein Zugvogel, der wider Willen auch den Winter im Norden zubringen müsse, weil ihm die Flügel gebrochen wären; als er sagte, es wäre ihm, als hätte er sonst die Sprache Aegyptens verstanden, nun aber kämen die andern Störche im Frühjahr von der Reise zurück und plauderten Dinge von den Pyramiden, die er nur noch halb verstünde – da entschloß er sich, einige Wochen in der Dechanei des Onkels zuzubringen; denn zu mächtig schlug sein Herz, Benno endlich sagen zu dürfen, wo sein wahrer Dachgiebel zum Nestbauen im Norden und im Süden wäre – auf Schloß Neuhof und in Rom ... Vielleicht gab die Pfingstzeit, wo Benno nach Kocher nachzukommen versprach, die Stunde der Enthüllung ...

So reiste denn Bonaventura nach Kocher am Fall ...

Er fand den Onkel erregter denn je ...

Was sich auch seit den Enthüllungen über Benno's Ursprung in des Neffen Gemüth gegen den leichtsinnigen »Abbé« aus der Napoleonischen Zeit festgesetzt hatte, bald wich es dem edeln und versöhnenden Eindruck, den des Onkels liebevolle persönliche Erscheinung machte ...

Und nun fand er den Milden, Gütigen in einer fast krankhaften Aufregung und von allen seinen alten Principien der Gleichgültigkeit besorgniserregend verlassen ... Um zehn Jahre war er älter geworden, muthloser, verdrießlicher, die Fliege an der Wand konnte ihn ängstigen ... Leicht drohte auch eine Untersuchung für den alten leichtsinnigen Betrug ...

Frau von Gülpen war eine Mehrung dieser Unzufriedenheit des Greises mit sich selbst und keine Linderung ... Seit dem grauenvollen Erlebniß mit ihrer Schwester, seit der Hinrichtung des Mörders derselben war eine Schreckhaftigkeit über sie gekommen, die in allem Gefahren sah, selbst in dem Alleinwohnen auf der Dechanei ...

Wäre nicht Windhack's gute Laune die alte geblieben, das Leben seiner jetzigen Vereinsamung wäre dem Onkel ganz die Qual geworden, die der römische Priester für seine alten Tage fürchtet ...

Die Frage nach einer neuen Nichte war keineswegs unerörtert geblieben ...

Bonaventura erstaunte, auf wen der Onkel, angstvoll, sein Auge gerichtet hatte ...

Nach den ersten Begrüßungen, nach den ersten Auslassungen des Scherzes, sogar über die Ursache dieser Reise des Neffen, über den magnetischen Rapport desselben mit der schönen Seherin von Westerhof, folgte die Mittheilung, daß der Briefwechsel zwischen ihm und dem Präsidenten von Wittekind aufs lebhafteste andauere. Der Renegat Terschka hatte zwar Schweigen gelobt, aber man müsse alles höchst vorsichtig »applaniren«, auch mit der Schwester Benno's – Angiolina Pötzl in Wien ...

Auf diese hatte er für seine letzten Lebensstunden und zur Vorbereitung der Erkennungen sein Auge gerichtet und darüber nach Wien geschrieben ... Freilich war schlimme Antwort gekommen ... Graf Hugo lebte wie durch die Ehe mit ihr verbunden ... Wäre auch, hieß es, ein Bruch infolge der Heirath des Grafen mit Paula vorauszusehen, so eigne sich doch weder der Ruf noch das Naturell jenes vom Glück verwöhnten, in Erfüllung aller ihrer Wünsche auferzogenen Mädchens für die Rücksichtsnahmen einer geistlichen Wohnung ...

Der Präsident, Bonaventura's Stiefvater, überrascht und fast erschreckt durch Terschka's Flucht nach England und sein dortiges Auftreten unter Protestanten und Mitgliedern der italienischen Emigration, ließ jetzt in seiner Reizbarkeit gegen die Anerkennung seiner ihm bekannt gewordenen Geschwister nach, correspondirte mit Lehrern des Kanonischen Rechts und wurde vorzugsweise von seiner Gattin bestimmt, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß die heimliche und trügerisch geschlossene zweite Ehe seines Vaters vor der Kirche zu Recht bestünde ... Schon ergab er sich jeder Wendung der Zukunft und erklärte, auf weitere Nachforschungen seinerseits verzichten, auf Ausgleichungsvorschläge gefaßt sein zu wollen ...

Bonaventura staunte, daß sowol vom Kloster Himmelpfort wie von Wien und Rom aus über diese Angelegenheit ein plötzliches Schweigen eingetreten war ... Hatte sich Ceccone den Jesuiten unterworfen? ... Zuletzt war es seine Mutter, die in ihrer steten Gewissensbedrängniß und dem den Frauen eignen System der Vertuschung von selbst darauf kam, ihr Gatte sollte sich den Blick in die Zukunft dadurch erleichtern, daß er dem Schlimmen aus eignem Antrieb entgegenkäme ... Ihr mit wühlerischem Verstand um sich blickender Sinn erkannte zuerst, daß die ihr jetzt erst ganz offenbar gewordenen Beziehungen des Kronsyndikus zum Dechanten mit dem Dasein Benno's zusammenhingen ... Der Präsident hatte in einem eben beim Onkel angekommenen Briefe seine Ueberraschung über die ihm von seiner Gattin mitgetheilte Möglichkeit ausgesprochen und den Dechanten ersucht, den vortrefflichen jungen Mann, den er schon schätzte, den Freund seines Sohnes, des Domkapitulars, klug und besonnen seinem brüderlichen Herzen näher zu führen ...

Diese Enthüllung erfolgte dann in den Tagen, als Benno, nichts von dem ahnend, was ihm bevorstand, gleichfalls in Kocher erschien ... Auch Benno wohnte in der Dechanei ... Er kam heitrer und sorgloser, als man ihn seit lange gesehen hatte ... Er brachte Briefe von Thiebold, der sich soeben in Geschäftssachen in England befand und Wunderdinge berichtete über das Ansehen und die Geltung, die sich Terschka in London durch seinen wirklich erfolgten Uebertritt und den Anschluß an die Sache Italiens erworben hatte ...

Benno war besonders auch für Frau von Gülpen ein trostreiches Element. Ihr Herz hing an ihrem Zögling mit der ganzen Innigkeit, die bei Frauen zwischen polternden Vorwürfen, wie schlecht man seine Wäsche behandeln lasse, und der Angst, man könnte sich bei geringster Erkältung, z.B. auf Windhack's Sternwarte den Schnupfen holen, die hin- und hergehende Mitte hält ...

Dann war es an jenen Abenden, wo die Cassiopeja ihren funkelnden Schein zur Vorleuchte am Baldachin des Himmels macht, wo der »Schwan« aus Nordost sein mildes, wie ein flockenreines Gefieder strahlendes Licht erzittern läßt, unter dem Schmettern der Nachtigallen, die im Park der Dechanei nisteten, beim Duft der Hollunderblüten – als Benno im stillen Wandeln unter den einsamen Alleen aus Bonaventura's Mund das Geheimniß seines Lebens, seinen wahren Namen – Julius Cäsar von Wittekind erfuhr ...

Er erfuhr ihn allmälig ... Beim feierlichen Nachzittern des Stundenschlags der Kathedrale von Sanct-Zeno, nach einem feierlichen Gelübde, das ihm Bonaventura abnahm, nichts zu unternehmen; was nicht mit den Interessen seiner nächsten Freunde und jetzigen Verwandten im Einklang stand ... Er erfuhr zuerst den Namen und die Lebensstellung seiner Mutter ... So steigt die Sonne mit purpurrothen Gluten aus der Erde ... So kommt eine Friedensbotschaft an die Menschheit, verkündet von dem Klang unzähliger in den Lüften schwebender Harfen ... Eine Römerin! ... Aber noch fehlte der schrille Accord: Der Name des Vaters ... Die Schwere des Erlebnisses war zu niederdrückend ... Noch wurden nur die Namen Kassel, Altenkirchen, Rom, auch Wien, letzteres um der Schwester willen, genannt, noch erst die Auffassungen der Kirche und des Dogmas erörtert ... Fast sprachlos starrte Benno, der wie ein Träumender stand, allem, was Bonaventura sagte ... Die Freunde mußten sich unter Hollunderbüschen auf eine Bank niederlassen ... Die Schilderung der Scene in der Waldkapelle, wo seine Mutter von einem verbündeten Complott so ruchlos betrogen wurde, raubte Benno die Sprache ... Stumm blickte er auf die Lippen seines Freundes, der in seiner milden, innig zum Herzen sprechenden Weise entschuldigend erzählte und alles nannte bis auf den Namen – des Vaters ... Nenn' ihn nicht! rief Benno, als müßte er die Mutter rächen, wie Orest den Vater rächte ... Bonaventura sagte: Er ist todt ... Endlich nannte er auch diesen Namen ... Da brach Benno zusammen an des Freundes Brust ... Ein Gefühl der Scham überflog ihn und wie ein Gifthauch südlicher Luft nahm ihm den Athem ... Auf die so plötzlich aufgesprungene Blüte seines wunderbaren Daseins das störende Wälzen eines großen giftigen Skorpions ...

Tiefgeheimnißvoll ist das Blut, das durch die Geschlechter rollt ... Der gespaltene Funke wird da zur Flamme; die gespaltene Flamme mehrt sich an Kraft ... Ein Geschlecht kann auf Jahrhunderte die Signatur des Körpers und Geistes bewahren, wenn die Mischungen bedacht sind, immer wieder auch das Fremdartige liebend sich anzueignen ... Benno aber mußte mit erstickter Stimme sprechen: Ich ein Wittekind! ... Ist das, wie wenn Wettersturm aus den Schluchten des Teutoburger Waldes braust! Meine Ahnenreihe bis in die Sagenzeit ... Doch – Friedrich und Jérôme von Wittekind meine Brüder! ... Der Geist abgewelkt im Vater schon! ... Oder war das nur das Loos der Ichsucht? ... Ja, so gehen Despoten hinüber, die keinen Gegner finden, der sich mit ihnen mißt! ...

Alle die Beziehungen des Vaters, die Benno so gut kannte, wurden dem von Entsetzen Ergriffenen wie der Eingang in eine dunkle Höhle voll unheimlicher Gestalten, die er in Waffen betreten sollte ... Klingsohr, der Sohn des ermordeten Deichgrafen, der geistige Sohn des Kronsyndikus, stand plötzlich mit wirren Locken vor ihm und reichte ihm mit dem Brudernamen die blutige Rechte ...

Ein Fieber ergriff ihn ... Wie eine Mutter nach der Geburt ... Wie das Hemd des Nessus brannten alle diese Namen und Beziehungen ...

Angiolina – und – Pötzl – ein höhnischer Satyrkopf dieser Name hinter Rosenbüschen ... Wie kam der alte Schauspieler Pötzl bei den Kattendyks zu dieser Verlornen? ... Auch die Mutter, Herzogin von Amarillas – die »Freundin« eines Cardinals Ceccone – ...

Leiden unter etwas Angeborenem ist nicht zu schwer ... Der Krüppel, der Blinde, der Taube nimmt das Leben, wie es ihm die Geburt beschert ... Aber die Schönheit erst verlieren, das Häßliche erst gewinnen, plötzlich ein Blinder, plötzlich ein Tauber werden, das ist ein furchtbares Menschenloos ... Benno riß sich an jenem Abend aus Bonaventura's Armen und rief:

Ich könnte in die Wälder rennen wie ein Wolfsmensch! ...

Ruhe! Ruhe! sprach Bonaventura und beschwichtigte ihn durch seine Umarmung ...

Am Morgen nach diesem verhängnißvollen Abend war die Begegnung mit dem Onkel und mir Frau von Gülpen erschütternd ... Der Onkel grüßte mit Wehmuth und die Augen tief niederschlagend ... Er hätte die ewig dunkle Binde über Benno's Augen vorgezogen ... Das sagte er auch und lobte, als ihm Benno krampfhaft um den Hals stürzte, die Blindgeborenen, weil die alle so heiter blieben ...

Benno preßte nur stumm seine Hand ... Es lag die Verzeihung der Liebe und der Dank für ein ganzes, doch nur vom Dechanten ihm gerettetes Leben darin ... Reden konnte er nicht ... Das Blut rollte ihm wie ein ihm fremd gewordenes und ungebändigt durch die Adern ... Als er zu scherzen versuchte, sagte der Onkel: Das hat er ganz von seinem tollen Alten! Der konnte auch, wenn er wollte, ganz verteufelt liebens würdig sein! ... Dies Wort kam noch zur Unzeit ... Aber, als Benno düster die Augenbrauen zusammenzog, sagte der Dechant auch da: Wie sein Vater, der grimme Jäger! ... Der Onkel hatte das Bedürfniß, das Ueberseltsame wieder in das Altgewohnte zurückzulenken ... Da sprach denn, als auch Frau von Gülpen, Benno's zweite Mutter, sich ausgeweint hatte, Benno:

Nun bitt' ich nur um eines! Gebt mir meine fünf Julius Cäsar-Jahre heraus, die ich schon länger auf der Erde weile, als ich Erinnerungen habe – und die Taufscheine es wußten. Um wie viel früher hätt' ich jetzt Hoffnung, meinen Militärmantel abzulegen! ...

Alle nähern Umstände dieser Verheimlichungen wurden erzählt ... Mit dem ihm eignen scharfen, aller Lebensverhältnisse kundigen Ueberblick durchschaute Benno alle neuen und nicht offen kund zu gebenden Bedingungen seines Lebens ... Er beruhigte den Präsidenten in einem Schreiben, in dem er ihn als Bruder begrüßte ... Mit edler Selbstbeherrschung bot er jede Bürgschaft, daß seine langgeprüfte Geduld, die Ergebung in sein räthselhaftes Dasein ihn an Entbehrung äußerer Anerkennungen gewöhnt hätte ... Ja, der Adoptivname, den er einstweilen trage, »von Asselyn«, wäre ihm ja durch seine theuersten Freunde geheiligt, auch von der Krone genehmigt ... Er mache nur dann Ansprüche auf die Wiederherstellung seiner Stellung zum Leben, wenn niemand damit eine Kränkung widerführe, am wenigsten seiner noch lebenden Mutter ... Diese freilich in ihrer Ansicht über das Vergangene zu erforschen, ihr sich, wenn es irgend ohne Verletzung äußerer Rücksichten möglich wäre, zu nähern – dafür ergriffe ihn ein unwiderstehliches Verlangen ... Ebenso zöge es ihn zur Annäherung an Angiolinen ... Eine Reise nach dem Süden läge nun fest beschlossen in seiner Seele ...

Der Präsident antwortete voll Güte und gerührt dankend ... Er bot ihm reichere Mittel, als Benno annehmen konnte, da eine zu schnelle Veränderung seiner Lage leicht hätte Vermuthungen wecken können, die von allen Betheiligten nicht gewünscht werden konnten ... Auch Thiebold durfte nichts erfahren ... Der tolle Mensch, sagte Benno zu Bonaventura, thut in der Regel alles, was ich zu thun mich schäme, aber gern im Stillen manchmal thun möchte ... Er verhindert mich an Thorheiten, weil er sie selbst übernimmt ... Ich glaube, er übernähme dies Drohen mit meinem Geheimniß, dies Zupfen an Schleiern, die man allenfalls lüften könnte ... Besser, wir schweigen auch gegen ihn ...

Je lichter somit von der Dechanei aus der Blick auf das sonnige, waldumkränzte, solange geheimnißvoll verschleiert gewesene Schloß Neuhof wurde, desto düsterer blieb der auf Witoborn und Westerhof ...

Bonaventura hatte seit einem Vierteljahr sich nur im Entsagen geübt, auch nichts mehr von dorther vernommen, was ihn besonders wieder hätte aufregen können ...

Der Oberst, das erfuhr er erst hier, leitete die Vorbereitungen zu seinem Papierbetrieb ... Der muthige Mann fand die größten Schwierigkeiten ... Sie gingen bis zu muthwilligen nächtlichen Zerstörungen seiner Bauten ... Armgart und Monika mußten sich in ihrer ganzen Kraft zeigen ... Sie hatten ein kleines Hans in Witoborn gemiethet und es geschmackvoll, wenn auch einfach eingerichtet ... Hedemann schrieb an den Dechanten von einer Heirath mit Porzia Biancchi, der Tochter des Gipsfigurenhändlers ... Seine Aeltern waren schnell hintereinander gestorben ... Ein so schönes Familienverhältniß hätte sich jetzt begründen können, aber die Beunruhigung durch die lichtscheue Bevölkerung der Gegend war zu groß ... Armgart verlöre, hieß es, allen Halt in ihren Anschauungen ... Wo sie hinginge, müßte sie – »sie«! – Reden halten zur Vertheidigung – des Papiers und der Aufklärung! ...

Ulrich von Hülleshoven überflügelte bald die Herrschaft seines Bruders Levinus auf Schloß Westerhof ... Mußte ihm das gelingen schon durch seinen männlich festen Sinn, seine Lebenserfahrung, so kam der wohlthuende Eindruck hinzu, den er auf die Frauen machte ... Er war in der Lage, Monika's schroffe Entschiedenheit, die indessen den Dechanten noch immer in ihrer Correspondenz entzückte, zu mildern ... Während Monika bald das Stift Heiligenkreuz zum Feinde hatte, während sie die Frau von Sicking zur Aenderung ihres Aufenthalts bewog und in diesen Kämpfen von Armgart's wie aus einem Traumleben erwachendem gesunden und frischen Sinn unterstützt wurde, schlösse man sich, erzählte der Onkel aus Monika's Briefen, dem Obersten an, der zu begütigen und auszugleichen wisse ... Paula gewann ihn, das wußte Bonaventura, besonders lieb und erlag seiner magnetischen Einwirkung ... Der Oberst durfte sie nur berühren und sie versank in jenen Schlummer, der ihr einziges Labsal war im Schmerz des Nerven- und Seelenlebens ... Bonaventura beobachtete dies gleich an dem letzten Mittag vor Terschka's Flucht, wo Paula bei Tisch mit der abwesenden Armgart zu sprechen angefangen ... Der Oberst führte sie damals in ihr Zimmer und sie antwortete auf jede seiner Fragen ...

Bonaventura erzählte davon dem Onkel ...

Paula, berichtete er, ohne Zweifel übermannt von der seit dem Fund der Urkunde sie folternden Angst um den Grafen Hugo, hatte die bei Tisch fehlende Armgart gefragt, was sie am Schranke suche? ... »Am Schranke?« ... fragte man ... »Ein Kleid?« ... Nimm ein weißes, sprach sie, es steht dir besser! Auch die Myrte nimm! setzte sie hinzu ... Die Myrte? fragte der Oberst. Macht denn Armgart Hochzeit? ... Darauf stockte Paula und erwiderte: Armgart sucht ein Kleid für sie aus ... Sie meinte: für sich selbst ... Niemand hatte den Muth, zu fragen: Heirathest du denn? ... Ihr Kleid ist aber noch nicht fertig! sagte sie dann wie aus sich selbst und zeigte hinauf in die Luft mit den Worten: Sieh, sieh, die vielen Körbe! ... Fast so heiter sprach sie das, daß die Umstehenden an die Zahl der zunehmenden Bewerber denken mochten ... Aber Paula setzte hinzu: Korb an Korb! ... Am Altar der »besten Maria« stehen sie! ... Jetzt hätte leise die Tante erklärt: Terschka erzählte vom Schloß Castellungo, daß die nächstliegende Kapelle der »besten Maria« gewidmet wäre und die malerisch schönen Seidencocons oft in hunderten von Körben unter Blumen dort niedergestellt würden zur Segnung durch Priesterhand ... Paula entschlummerte dann ... Jeder sagte: Sie hat in den Körben die Anfänge ihres Brautgewandes gesehen ...

Der Onkel schüttelte den Kopf, versank aber über die Nennung des Namens Castellungo in ein staunendes Nachdenken ...

Bonaventura führte sich selbst noch oft seine letzten westerhofer Tage vor ... Er riß sich an jenem Mittag voll Verzweiflung los ... Er glaubte überhaupt keinen Abschied von Paula nehmen zu können und griff zur Feder, um seine Empfindungen niederzuschreiben ... Zwei Briefe entwarf er ... Einen in der stürmischsten Liebesbetheuerung mit dem Bekenntniß aller Gefühle, die auf dem geheimsten Grund seines Herzens lebten ... Es war ein trunkener Rausch der Herausforderung an sein Geschick und doch – er warf ihn in die Flammen ... Einen zweiten schrieb er milder, ersichtlich zum ewigen Abschied ... Auch diesen vernichtete er ... So stand er rathlos ... Da hörte er neben seinem Zimmer das Aechzen seines Wirths Norbert Müllenhoff, der im ersten Stockwerk schlief ... Das an der Pfarrhausthüre ausgesetzte Kind gehörte ohne Zweifel nur dem wunderlichen Zeloten ... Die Zukunft des Unglücklichen war zerstört, wenn die Rache der Hebamme, im Bund mit dem buckeligen Geiger, die finkenhofer Lene zum Geständniß vor Gericht brachte ... Einmal hörte er den Pfarrer in seiner Kammer laut ausrufen: Allmächtiger Schöpfer Himmels und der Erden! ... Es war ein Ruf wie aus der tiefsten Seele ... Die Hände wurden dabei zusammen geschlagen wie von einem Verzweifelnden – Dann war wieder alles still ... Bonaventura erbebte ... Es durchschüttelte sein Gebein, diesen Ausruf zu hören, der aus der Tiefe des Jammers kam ... Müllenhoff sah voraus, daß ihm eine zeitweilige Verweisung in das Strafkloster Altenbüren gewiß war ... Ein ewiger Makel haftete damit an seinem Leben, ein Hinderniß an jeder. Beförderung ... Hätte nicht auch Bonaventura in diese Anrufung des Schöpfers der Natur einstimmen und alle Elemente entbieten mögen, ihm beizustehen, die Zwingburg unnatürlicher Gesetze zu brechen? ... Er klopfte an die Kammer und trat ein mit der Frage an den Stöhnenden und jetzt mit zusammengefaltenen Händen wie bewußtlos Daliegenden, ob er ihm in irgend etwas vor seiner an demselben Abend bevorstehenden Abreise behülflich sein könnte ...

Anfangs fuhr Müllenhoff in gewohnter Grobheit auf ...

Dann besann er sich, bat für sein ungeberdiges Wesen um Verzeihung und wagte es, überwältigt schon von der unendlichen Milde in Bonaventura's Ton, unter dem Siegel der Beichte, seinen Vorgesetzten zu bitten, zur Frau Schmeling und zu jener Lene zu gehen und – den Versuch zu machen, die ihm drohende Gefahr abzuwenden ...

Bonaventura fand sich bereit dazu ... Er betrat das Häuschen der Hebamme, redete ihr, ihrer Magd und der noch anwesenden Lene, jeder erst unter vier Augen, dann allen zugleich zu, die Verfolgung des Pfarrers von Sanct-Libori zu unterlassen ... Die nicht kleinen Summen, die es zu bieten gab, um ein Schweigen nach allen Seiten hin zu erwirken, legte er aus ...

Ach, wie unrein schienen ihm seine Hände, als er sich aus diesem Hause entfernte! ... Die Küsse, die man ihm darauf gedrückt hatte, mehrten nur das brennende Gefühl, sich in unwürdiger Berührung befunden zu haben ...

Diese Verrichtung des Mitleids brachte Bonaventura um die Gelegenheit, den Düsternbrook und die beiden Eremiten zu besuchen ... Er hörte nur, daß sie vom Zustrom der Umgegend heimgesucht und Gegenstand der lebhaftesten Verhandlungen zwischen ihrem Kloster, seinem Stiefvater und den Behörden waren ... Jetzt waren sie auf dem Wege nach Rom ...

Auf Westerhof erschien er dann wirklich noch persönlich zur ernsten Abschiedsfeier ... Aber als Priester – als schwankes Rohr, als »Begriff, den zwei Jahrtausende mit bunten Kleidern behängen« ... Vor allem, was er dann doch vielleicht blindlings aus einer Todesurne hätte ziehen können, bewahrte ihn Paula selbst ... Sie war, erzählte er wieder dem Onkel, gerade entschlummert ... Der Oberst ließ seine Hand auf ihr ruhen und sprach mit ihr wie mit dem willenlosen Werkzeug seiner eigenen Kraft ... Verwandtschaftlicher Rechte sich bedienend, fragte sie der Oberst mit Vertraulichkeit: »Siehst du den, der eben ins Zimmer tritt?« ... »Sie sieht ihn!« lautete die Antwort ... »Willst du mit ihm sprechen?« ... »Sie stört ihn!« ... »Warum stört sie ihn?« ... »Er opfert.« ... »Siehst du einen Priester?« ... »Einen Bischof!« ... »Ist er allein?« ... »Kinder stehen um ihn!« ... »Sie tragen leinene Streifen am Arm?« ... »Du sagst es!« ... »So firmelt dein Freund die Knaben und die Mädchen ... Redet er? ... Sprich ihm nach, was er redet!« ... »Ich glaube an Gott, den Schöpfer Himmels und der Erden, an die Liebe, die Erhalterin der Welt, gelehrt durch Jesus Christus, an den Geist der Wahrheit, der uns zur ewigen Hoffnung führt!« ... Wieder traten die zahlreich Umstehenden befangen zurück ... Wieder war es eine jener »incorrecten« Visionen wie Frau von Sicking zu sagen pflegte ...

Paula sprach, nach des Onkels Ansicht, einen Glauben aus, den sie in Bonaventura's und des Obersten Innerstem zu lesen glaubte ...

Das erzählte aber Bonaventura nicht, daß er sich damals, noch ehe sie erwachte, losriß mit Thränen im Auge und abreiste, begleitet von den Dank- und Segenswünschen aller derer, die ihm nahe gekommen waren – von denen seiner Mutter an, die ihn in Witoborn noch an der Post überraschte, bis auf den Händedruck Müllenhoff's, der ihm flüsternd – »in monatlichen Raten« zurückzuzahlen versprach, was seine Güte unter dem Dach der Verschwörer für den neuen Concordatsstifter und exemplarischen Bußheiligen verauslagt hatte ...

Paula hatte Bonaventura als Bischof gesehen ... Der Onkel verlangte, daß Bonaventura auch in seinen Wirkungskreis nicht ohne eine höhere Würde zurückkehrte ... Begib dich, wenn sie dir nicht zu Willen sind, solange in ein Kloster! ... Ein Mensch wie du darf nur fallen, um desto größer wieder aufzustehen ... Und die Leiden des Gemüths seines Neffen wol überblickend, sprach er: Armer Thor, was senkst du das Haupt und kannst dich in dein priesterlich Erbtheil nicht finden! ... Zwei weibliche Schatten umkreisen dich! Ein dunkler und ein lichter! ... Jenen fliehst du und diesen wagst du nicht festzuhalten! ... Ich bin dir kein Muster, aber ich könnte dir bessere Naturen, als die meinige nennen, die auch eines Tages zwischen dem Gott in der Natur und dem Deus in pyxide wählten und für ersteren entschieden ... Und ein andermal sprach er: Sagst du für Franz von Sales gut? ... Ich theile alle Heiligen in drei Klassen ... Solche, die die verbotene Frucht bereits brachen und denen es dann, als sie satt waren, leicht wurde, in die Wüste zu gehen – in diesem Sinne haben wir noch jetzt Millionen Heilige und seit zwanzig Jahren bin ich der Allerheiligste unter ihnen – Dann in solche, die entweder geborene Narren waren oder es wurden, weil sie gerade auf den Naturtrieb hin, um diesen und nur diesen zu unterdrücken, das Tollste erfanden – wahre Casanovas der Frömmigkeit nenn' ich sie ... Ihre innerste Sinnenqual versetzte sich ihnen, wie bei einer jungen Mutter die Milch in den Kopf steigen kann, so in religiöse Narrheit ... Endlich die dritte Gattung sind jene ganz geschlechtslosen Constitutionen, bei denen die Tugend eine fehlerhafte Organisation ihres Körpers ist ... Diese Halblinge findest du meistens unter äußerlich imponirenden Gestalten ... Darauf hin konnte auch mein Leo Perl in Paris ruhigen Bluts zusehen, wenn sich die andern im Palais-Royal ergingen ... Sei überzeugt, alle die Heiligen, die nicht auf die Klasse I und II paßten, gehörten zur Klasse III! Wasserpflanzen, wo auch die ganze Kraft – wie da drüben auf meinem Weiher! – in den breiten, trägen, schönen Blättern liegt ...

Solche Gespräche gab es häufig, selbst in Gegenwart Benno's beim Wandeln durch den Park, unter den eben sich erst mit dem jungen Laub ganz schließenden Alleedächern, beim Zwitschern der Vögel, beim Duft der Blütenpyramiden der Kastanienbäume, der Maiblumen und Narcissen auf den Buchsbaumbeeten, beim Schimmern der Dotterblumen von den Wiesen her ...

Einmal an einem Strauch von Weißdorn still stehend, sagte Bonaventura:

Onkel, ich bin so weit gekommen, daß ich an einem solchen einzigen Blatt, wie du hier siehst, stundenlang beobachten kann! ... Sieh, es hat sich eben aus seiner Knospe entrollt! Wie zart dies Grün! Wie sanft aufgekräuselt die Windungen des kleinen Sprosses! Die kleinen Härchen, die auf dem jungen Keime sitzen, möchte man zählen! Es gibt nichts, was uns gegen alles das retten kann, was du schilderst, als die Betrachtung des Kleinsten! ... Ich heuchle dir nicht Frömmigkeit, nicht mehr Begeisterung für meinen Beruf, den ich schmerzlich erkannt habe – ich habe aber ein Vergessen des Allgemeinen und meiner selbst in einem kleinen stillen Glück wie dem hier – vor einem solchen Frühlingsblatt ...

Das sind bei mir die Radirungen und Kupferstiche ... sagte der Onkel, der für seine vorjährigen Warnungen gegen Rom eine frühzeitige Genugthuung erhielt ...

Benno mußte zeitiger nach der Stadt zurück ...

Er reiste an seiner Seele wie mit Adlerschwingen ...

Er hoffte sich zunächst von einem Staatsleben freimachen zu können, das damals für den Menschen in seiner angeborenen Freiheit keine Bürgschaft bot ... Er wollte im Herbst über Wien nach dem Süden ... Er widersprach dem Onkel nicht, als dieser, ohne daß es Bonaventura hörte, sagte:

Vielleicht kannst du die Angelegenheiten Paula's zu einem guten Ende führen! Vielleicht deiner verwilderten Schwester die Nachfolgerin geben, die dem Hause Salem-Camphausen unerläßlich ist! Schon hör' ich, daß die Gräfin Erdmuthe nach Schloß Westerhof reisen und versuchen wird, alle Bedenklichkeiten persönlich zu beseitigen ...

Bonaventura war bei diesen Worten wol zugegen, hörte sie aber nicht ... Er sah zu den Bäumen auf, unter denen sie dahinwandelten, und sprach, als beide näher kamen:

Wie doch seit Jahren der Fink immer nur wieder zwischen denselben Resten sich ansiedelt, die Nachtigall denselben dunklen Busch sich sucht, die Schwalbe in demselben Gesims an deinem Portale haust ... Ein solches Heimatsgefühl! ...

Jeder findet sein rechtes Nest ... sprach nach einigen weitern Schritten ruhigen Wanderns der Dechant ... Auch – Paula wird wissen, daß die Liebe zu einem römischen Priester nicht zu den Möglichkeiten dieser Erde gehört und – wird nach Wien gehen ...

Ich will sie selber trauen! fiel Bonaventura mit einem zuckenden Schmerzensausdruck ein ...

Es war ein Wort von solcher Schwere, daß der Dechant und Benno erschüttert schweigen mußten ... Letzterer gedachte auch des immer mehr ihm und Andern verklingenden Namens: – Armgart ...

Als Benno dann abgereist war, kam in der Dechanei ein neuer Brief von Monika ...

Das war ein Erguß frischer und gesunder Lebensanschauungen ...

Sie berichtete dem Dechanten von einer nothwendigen Reise des Obersten nach England – von einem vielleicht gelegentlichen Abholen der Gräfin Erdmuthe – von Armgart's Begleitung des Vaters nach England – von Paula's leider schon bedenklich eingerissener Gewöhnung an die magnetische Behandlung durch ihren Gatten – von der Angst und Sorge, die man nun ohne ihn über ihren Zustand haben müsse ...

Bei Erwähnung der gegen Bonaventura gerichteten Anklagen, deren Kunde schon bis Witoborn gedrungen war, sprach sie von dem einstimmigen Urtheil aller Betheiligten, daß die Ehe mit dem Grafen Hugo geschlossen werden müßte ...

Monika bekannte sich als entschiedenste Beförderin dieser Verbindung ... Graf Hugo wäre eine Natur mit Eigenschaften, die nur entwickelt zu werden brauchten, um vor ihm mehr, als Achtung, sogar für ihn Neigung zu empfinden ... Bequemen Temperaments, wollte er beherrscht sein und jeder müsse ihm eine würdigere Leitung wünschen, als er sie bisjetzt gefunden ... Was an Terschka noch allenfalls Gutes wäre, verdanke dieser dem Grafen ... Der jesuitische Intriguant hätte die Macht einer guten und harmlosen Natur so auf sich einwirken gefühlt, daß er an seinen Aufträgen irre geworden wäre ... Wenn Paula in ein Kloster ginge, würde sie nach wenig Jahren eine Beute des Todes sein ... Sie müsse die Gräfin von Salem-Camphausen werden ... Der Domkapitular von Asselyn müßte sogar die Kraft über sich gewinnen, selbst die Hand zu bieten zu dieser nach allen Richtungen hin bedeutungsvollen gemischten Ehe ... In dem lieblichen Salem, in dem, wie sie gehört hätte, noch glückseligeren Thale von Castellungo würde die junge Gräfin, als Gattin, als Mutter blühender Kinder, als Theilnehmerin an den vielen gemeinnützigen Unternehmungen der Gräfin Erdmuthe, Lebenslust und Lebenskraft gewinnen ... Alle, alle, ihre Schwester Benigna, Onkel Levinus, die Bewohner von Neuhof wären der gleichen Meinung ... Die einzige Armgart, die noch immer widerspräche, hätte sie auch deshalb mit dem Vater nach England geschickt, wo sie überhaupt bei Lady Elliot eine Zeit lang bleiben und neue gesunde, praktische Anschauungen gewinnen müsse ... Armgart hätte sich indessen bei einigen Conflicten in der That mit großem Muth benommen und wäre seit den drei Tagen Correctionsgefängniß im Mühlenthurm mehrfach anders geworden ... Die Begegnung mit Terschka fürchte sie nicht mehr; London wäre wie ein Ameisenhaufen; Armgart hätte Kraft und Charakter aus Instinct schon immer gehabt – jetzt fange sie auch an, zu wissen, was sie wolle ...

Das war eine Sprache, als sah man die kleine junge Frau ihre grauen Locken schütteln und mit blitzendem Auge, frischer Wange, ihren weißen Zähnen aller Bedenklichkeiten geringschätzig lächeln, die nach ihrem Sinn nur krankhafte Empfindsamkeit geltend machen konnte ...

Der Dechant war ganz gleicher Ansicht ...

In dem kleinen grünen Studierzimmer, wo die Worte nicht so ungehindert gewechselt werden konnten, wie unten im Garten und im Park, den zu besuchen nicht jedem Bewohner der Stadt erlaubt war, lasen Beide diesen Brief ...

Gestört von dem Rollen der Thüren und dem Horchen und Bangen Petronellens, erhob sich Bonaventura, riß sich von der Hand des Greises, die ihn halten wollte, los und eilte erst in den Park, den er eine halbe Stunde lang wie ein Geistesabwesender durchschritt, dann flog er auf sein Zimmer, um an Levinus von Hülleshoven zu schreiben ...

Er hätte mit Bedauern gehört, schrieb er, daß sich die Leidenszustände Paula's vermehrten, daß ihr Leben schon ganz abhängig zu werden drohte von einer Einwirkung, die beiden Theilen zuletzt die drückendsten Verpflichtungen auferlegte ... Auch von den fortgesetzten Bildern und dem Sinn der Träume des edeln Mädchens hatte er gehört und beklage schmerzlich, daß sie übel gedeutet würden ... O könnte man doch, klagte er, ganz den Vorhang schließen, der sie in ein Land blicken ließe, für dessen Beurtheilung der Welt alle Bedingungen fehlen ... Sie sollte dem Zug der Demuth folgen, der stets in ihrer reinen Seele der vorwaltende gewesen ... Nimmermehr aber sollte sie ihre Wünsche auf ein Kloster richten ... Er gestünde es offen, seine Einblicke in die Klosterwelt wären die enttäuschendsten ... Wie im Kloster Himmelpfort wär' es überall, nur vielleicht da ausgenommen, wo man Kranke heilte ... Paula wäre selbst des Arztes bedürftig ... So müsse sie denn hinaus auf die hohe Flut des Lebens ... Sie müsse Gott vertrauen und wie eine treue Magd sich jenem Dienste widmen, der dem Weib schon im Paradiese angewiesen worden, eine Gehülfin zu sein dem Manne ... Wenn sie den Grafen Hugo in sanfterer Weise, als durch die Intrigue der Gesellschaft Jesu versucht worden, in den Schoos einer Kirche führte, die ein Zusammensein im Schoose der Seligen auch von dem gleichen Bekenntniß auf Erden abhängig mache, so löste sie, wenn sie das wolle oder könne, eine sie vielleicht erhebende Aufgabe ... Ein Mann sei ja jedem Weibe, das von ihm zur Ehe genommen würde, vorher ein unbeschriebenes Blatt ... Selbst ein längeres Ergründen und Kennen des Verlobten schlösse ein Räthselhaftes nicht aus, das sich ganz erst in der Ehe selbst lüften könne ... Wie aber auch der Erfolg dieser Ehe sich ergäbe und wenn die Glaubensbekenntnisse sich auch nicht vereinigten, so sollte sie dem fremden Mann vertrauensvoll die Hand nicht weigern ... Ja, wenn ihm die Gräfin seinen eigenen Priesterberuf, den Beruf der Entsagung auf eigenes Glück und der Fürsorge nur für fremdes, zu einer besondern Weihe erheben wolle, so sollte sie ihm die Ehre und die in Gott empfundene Seligkeit gönnen, daß Er es wäre, der – entweder zu St.-Libori oder in Wien, wohin zu reisen er deshalb zu jeder Stunde bereit wäre – ihre Hand in die des Grafen Hugo legte ...

So schrieb er und als der Brief geendet und zur Post gegeben war, umarmte er den Onkel mit den Worten:

Laß mich so! ... Jeder Mensch schafft sich seine eigene Religion und ist sich sein eigener Priester!

4.

Mit gehobener Kraft verblieb Bonaventura noch einige Tage auf der Dechanei ...

Sein Ringen nach einer idealen Lebenshöhe hatte einen neuen Anhalt, einen neuen Rundblick gewonnen ...

Schmerzlich genug war er erkauft ... Aber er hielt ihn fest mit dem leuchtenden Aufblick der innern Verklärung und des Gefühls, sich eins zu wissen mit dem unerforschlichen Verhängniß ...

An die Wirkung seines Briefes in Westerhof mochte er nicht denken ... Er stürzte sich in das Allleben der Natur, umfaßte nicht mehr zagend und bangend blos das Einzelne ...

Beim Besteigen der grauen Berglehnen, die durch die noch wenig belaubten Weinstöcke noch kahler erschienen, umzog sich vor seinem Blick aus der eigenen Brust heraus alles wie schon mit den Früchten des Herbstes ... Mit Gewalt wollte er sich helfen; er grüßte freundlicher, er stand denen Rede, die ihm im Felde begegneten, auch denen, die ihm nachschlichen, wie – Löb Seligmann, der seit einigen Wochen in seine Heimat zurückgekehrt war und sich hoffnungsvolle Ernten auf Reps und Taback suchte, auf die er Vorschüsse gab ... Das war die sicherste Anlage seiner um Witoborn verdienten Gelder ...

Und wäre nun Bonaventura bei all seiner Menschenliebe doch darin weniger »Egoist« gewesen, daß er mehr aus andern heraus die Menschen und Dinge beurtheilt hätte, hätte er ein wenig mehr neugierige Vertiefung in das irrende Flimmern der kohlschwarzen Augen Löb's, ein wenig mehr Lesekunst geübt in den so eigentümlich fragwürdig stehen bleibenden Lachmienen desselben – er hätte ja selbst zu ihm sprechen müssen: Nicht wahr, Herr Seligmann, seitdem Sie zur Hälfte unser Viergespräch auf Schloß Neuhof belauschten, sagen Sie auch: »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt«? ...

In der That, so kann kein Beichtvater (in verbotener Weise) lächelnd an denen vorübergehen, die ihm gestanden, daß sie keineswegs das sind, was sie vor der Welt erscheinen, als Löb Seligmann im wogenden Kornfeld, unter blauen Cyanen, im Wiederklang der von seinem innersten Herzen gesungenen Rossini'schen Tyrolienne: »Blütenkränze, Lust und Tänze« den hochgestellten jungen Geistlichen nicht blos grüßte, sondern endlich einmal auch wie mit dem Wort: Ich weiß alles! anredete ...

Er näherte sich ihm auf Fußzehenweite ...

Sein ganzes Herz war übervoll von dem Frevel des Dechanten, den man noch »leicht auf die Festung bringen« konnte, von den leider nur halb erfahrenen criminalistischen Thatsachen aus dem Leben Leo Perl's, übervoll um so mehr, als er nur einer einzigen Seele auf Erden, Veilchen Igelsheimer, vollständige, der Hasen-Jette, seiner Schwester, und David Lippschütz nur leise Andeutungen über seine Geheimnisse gegeben hatte ...

Dennoch brachte sein Mund zum tiefgezogenen Hute, als Bonaventura stehen blieb und fragte: Wünschen Sie etwas, Herr Seligmann? in äußerster Verlegenheit nichts hervor von dem geheimen Betrug einer italienischen Primadonna, nichts von der Herzogin von Amarillas, nichts von Leo Perl's erster geistlichen Handlung auf Veranlassung des »Alcibiades« drüben in der Dechanei, als das Wort:

Ich wollte – um Vergebung – Herr Domkapipitular – wollte nur fragen – Erlauben Sie – ist wol noch Bröder's lateinische Grammatik gut genug – zu gebrauchen zum Unterricht für einen hoffnungsvollen Knaben? ...

Zu Gunsten des immer kräftiger auf die Beine gekommenen David Lippschütz, des kleinen Voltaire von Kocher, ließ Bonaventura sich auf alle Vorzüge eines wahrscheinlich durch Löb vom Antiquar erstandenen alten »Bröder« ein und nannte berühmte Gelehrte, die auch ohne den »Zumpt« ein classisches Latein geschrieben hätten ...

Nach diesen lehrreichen Auseinandersetzungen, denen Löb nur zu zerstreut zuhörte, war ein Rückblick auf Witoborn und Umgegend nicht zu vermeiden ... Löb erzählte, was er »nach dem Herrn Domkapipitular« noch erlebt hätte ... Zart und discret deutete er alles nur in leisen Contouren an ... Selbst die Gerüchte über Terschka, dessen plötzliche Abreise ihm manches schöne, bereits angeknüpfte Geschäft zerriß, tauchten in seinem Munde wie nicht mehr sicher zu verbürgende Sagen der Vorzeit auf ... Es gab auch dunkle Vermuthungen über einen gewissen Jesuitenorden und ein Uebergetretensein zur protestantischen Religion, die aber auch wie Verhältnisse aus der Zeit der Makkabäer aus Löb's discretem Munde hervorkamen ... Löb genoß zunächst nur das stille Wandeln mit dem vornehmen Priester, das Grüßen der Vorübergehenden, die gleichsam auch ihn setzt grüßen mußten ... Es war die Begebenheit an sich, die ihn erfüllte, ganz wie jenes schmeichelhafte Begossenwerden damals mit der westerhofer Spritze nach dem Schloßbrande ... Dies wie jenes ein Zustand feinerer Beziehungen ... Nur erst als von den beiden Flüchtlingen nach Rom, von den Eremiten, dem Düsternbrook die Rede kam, deutete er verschämt lächelnd seine Mitverdienste um die Rettung des verunglückten Dieners an ... Bonaventura wünschte mehr zu hören; der Diener war so auffallend verschwunden; ja er fragte, ob es wahr wäre, daß der Bruder Hubertus, der ihn davongetragen und im Kloster Himmelpfort eine Zeit lang verborgen gehalten haben sollte, eine Beziehung zu dem Fräulein Schwarz gehabt hätte, das bei Frau von Sicking wohnte – man spräche davon – Löb, Zeugenaussagen vor Gericht und etwaiges Schwörenmüssen wie den Tod fürchtend, ging nur gerade bis an die äußerste Grenze seines Wissens, erzählte die Fahrt des Kranken bis an das Kloster und würde vielleicht allmählich ein wenig den Schrei in der Kirche, das furchtbare Krachen und das Licht im Todtengewölbe in Aphorismen leise angedeutet haben, wäre die fortgesetzte Wanderung nicht durch die eben erreichte Stadt unterbrochen worden ... So zur Seite eines Priesters durch Kocher zu gehen, würde sich für die beiderseitige Stellung nicht geziemt haben ... Das gemüthliche Selbander wurde vom rauschenden Fall, von den Gerberwäschen und Metzgerklötzen unterbrochen ...

Auch mit Beda Hunnius, mit Major Schulzendorf und Grützmacher knüpfte Bonaventura wieder in flüchtiger Begegnung an ...

Jenem hatten die Zeitläufe bittere Erfahrungen bereitet ... Ein seraphischer Briefwechsel mit Lucinden und Joseph Niggl war zu den Acten der über ihn verhängten Untersuchung gekommen ... Der »Kirchenbote« erschien nicht mehr; um so größer war seine Ermuthigung durch die mächtige, mit brausendem Wogenschlag zurückgekehrte Flut der hierarchischen Bewegung nach kurzer Ebbe ... Er rühmte das kirchliche Leben jener östlichen Gegenden, wo Bonaventura im Winter gewesen und ihm besonders die reformatorischen Bestrebungen eines Norbert Müllenhoff wie Bonifaciusthaten erschienen ... Bonaventura lächelte ... Doch auch Beda lächelte ... Ueber den gegenwärtigen Urlaub des so schnell Gestiegenen ... Um seine Schadenfreude zu verbergen sagte er: Procul a Jove, procul a fulmine ... Er lobte seine Stadtpfarre ... Aber grade über Paula's Visionen mußte Bonaventura ihm bis an die Pforte der Dechanei erzählen ...

Schulzendorf war gekniffen und süßsäuerlich ... Die Zeitverhältnisse verhinderten den zu häufigen Besuch der Soupers in der Dechanei ... Seine Nase hatte einen Charakter von Pfiffigkeit bekommen, die jetzt weniger zu verrathen schien, wo Trüffeln, als wo – Verschwörungen lagen ...

Grützmacher gratulirte zu einem Avancement, das schneller gekommen wäre, »wie's bei's Militär« möglich gewesen ... Er klagte über den Dechanten, der alt würde ... Von seiner leider ohne »Prämie« gebliebenen großen Satisfaction »von wegen det ausgebuddelte olle Männeken«, sagte Grützmacher: Darüber sind wir »in's Reine« – Es war ein ehemaliger Galeerensträfling, der ein paar Jahre in Paris gelebt hat, dann hierher kam, Pferdehandel treiben wollte, gleich da schon die Leute anschmierte, dann auf ein paar Wochen Knecht im Weißen Roß war, hierauf den Coup auf Ihrem Kirchhof machte, der nichts einbrachte, nachher bei alten Kunden und Hehlern von Gaunern sich verkrochen hatte, vielleicht gar mit dem Hammaker, den Sie ja absolvirt haben, Herr Kapitular, bekannt war, und zuletzt soll er denn auch noch unter falschem Namen nach Witoborn gegangen »sind« ... Da das Feuer, sagen sie, hätt' er angelegt auf Schloß Westerhof ... Darüber hört man denn – hm! – freilich allerlei ... Aber jetzt, wie gesagt, ist er chappirt und wird wol in Amerika »sind« ... Und wenn Grützmacher hierauf, während Bonaventura aufmerksam zuhörte, zu seiner Frau sagte: »Ne, diese kathol'schen Pfaffen, doch nichts Aufrichtiges! Jetzt auch schon Der! Und ein ehemaliger Porteépéefähnrich das!« – so hatte er Recht. Jüterbogk und Rom reden allerdings seit drei Jahrhunderten verschiedene Sprachen und Bonaventura hörte ihm über die angeregten Punkte, gebunden durch Furcht, Beichtgeheimnisse und äußerste Spannung, zu ...

Dem Oheim gegenüber legte Bonaventura vor seiner Abreise eine übertriebene Scheu ab und theilte ihm nach kurzem Kampf mit, was er seither über den Inhalt des Sarges des alten Mevissen und über dessen Räuber erfahren hatte ...

Gab der Onkel auch nicht zu, daß sein Bruder Friedrich noch lebte, so mußte der alte Diener desselben doch ein Geheimniß bewahrt und in seinen Sarg Dinge gelegt haben, die mit einem Verlangen in Verbindung standen, daß sie einst vom Tode auferstehen sollten – zu irgendwelchem noch verschleierten Zwecke ...

Bonaventura erzählte dem Onkel, daß der Fund in Lucindens Händen wäre ...

Dem darüber Hocherstaunenden nannte Bonaventura auch die Drohung, die Lucinde ausgestoßen, und hielt nur zurück, als er die außerordentliche Aufregung sah, in die er damit den Onkel versetzte ...

Das ist ja erschreckend, sagte dieser ... Und du hast von ihr noch immer nicht diese Papiere verlangt? ... Mit Gewalt verlangt? ... So fliehst und verachtest du sie? ... Bona! So alt ich bin, durch meine Adern rollt Feuerstrom, so oft ich an die wenigen Tage denke, die dies Wesen bei uns zubrachte ... Ich nehme sie morgen wieder, wenn sie will ... Meine Macht im Hause hat zugenommen ... Hm! Hm! ... Was kann nur jene Schrift enthalten? ... Und von wem ist sie ausgestellt? ...

Auf die von Bonaventura zusammengefaßten nähern Angaben, auf die Mittheilung, jene Schrift, deren Urheber er nicht kannte, sollte ebensowol mit seiner persönlichen Ehre wie mit dem ganzen Bau der Kir che zusammenhängen, und Lucinde könnte alle seine Handlungen, selbst wenn er die dreifache Krone trüge, damit entwerthen, ja ungeschehen machen – lachte endlich der Onkel und hielt die Meinung fest:

Da hör' ich die verschmähte Liebe! ... Das sind jene Erfindungen, die die Frauen zu machen pflegen, wenn man mit ihnen »bricht« ... Regelmäßig gibt es dann Papiere, von denen es heißt, ihre Veröffentlichung würde uns »vernichten« ... Oder der Briefwechsel würde zwar ausgeliefert werden, aber »Abschriften würde man auf alle Fälle davon zurückbehalten« u.s.w. ...

Der Onkel rieth ernstlich mit Lucinden Frieden zu schließen ...

Das Leben ist so arm an Liebe, sagte er, daß man nie eine dargereichte Hand ablehnen soll ...

Als Bonaventura eine Liebe bezweifelte, die fortwährend in Haß und Rache überzuschlagen drohte, entgegnete der Onkel:

So sind sie ja alle! ... Meine eigene Petronella würde mich mit kaltem Blut an einer Pastete sterben sehen, wenn ich »mit ihr bräche«! ... Selbst die Buschbeck, deren grausamem Charakter ich den Besitz ihrer Schwester verdanke – letztere war jünger; Benno's Vater trat sie mir ab – aus Geiz – ab, um nicht »zwei von dieser Bande« ernähren zu müssen – selbst Brigitte von Gülpen, die älteste Tochter der Bischofsköchin und fürstabtlichen Blutes nicht unverdächtig, wäre besser geworden durch gewährte Liebe ... Die Idee, für einen treulosen Geliebten, der ins Kloster ging, die Menschheit zu tyrannisiren, Kindern und Mägden das Leben zu vergiften, sich selbst das Brot abzuhungern, vergegenwärtigt dir jene tiefe Bedürftigkeit des Weibes, unter allen Umständen ein Wesen sein zu nennen und wär's zuletzt nichts als ein alter, mit einer Flanelljacke bekleideter Mops, der am Asthma in den Armen seiner weinenden Gebieterin stirbt ... Deine Renate – wie alt ist sie? ... Nahe den Siebzigen ... Du wirst an einen Ersatz denken müssen ... Und wehe dir auch da, wenn sie deine Absicht merkt ... Schlage die Concilien nach ... Sie ließen lange zweifelhaft, ob die Frauen überhaupt Menschen sind ...

Bonaventura ließ, wenn auch zögernd, diese Auffassung der Drohungen Lucindens gelten ...

In fernern Gesprächen zeigte sich auch noch zuletzt, warum der Onkel regelmäßig bei Erwähnung des Schlosses von Castellungo in Nachdenken verfiel ... Das zufällige Aussprechen der Worte: Fiat lux in perpetuis! brachte zwischen beiden das Geheimniß des empfangenen lateinischen Briefes zur Sprache ... Der Onkel öffnete kopfschüttelnd sein Schreibbureau und reichte dem Neffen die ihm gewordene anonyme Aufforderung ... Sie war gleichlautend mit der, die auch Bonaventura empfangen hatte ...

Ich werde die bedenklichen Ehren eines Huß und Savonarola nicht mehr gewinnen, sagte der Onkel, und hüte auch du dich vor ihnen ... Welche Mystificationen das! ...

Bonaventura versicherte, daß sein Glaube feststünde, der Eremit von Castellungo wäre sein Vater ... Er wäre in Italien Waldenser geworden und hätte, ein Opfer der römischen Scheidungsgesetze, den Gedanken einer Kirchenverbesserung gefaßt ... Würde er auch an jenem 20. August der Versammlung, zu der er einlud, achtzig Jahre sein oder nicht mehr leben, so würde man doch seine Gemeinde finden ... Nach allem, was ich höre, schloß er, ist dort eine Simultankirche auf den Grund der Bibel errichtet worden, die bis dahin an Macht und Ausdehnung gewonnen haben kann ...

Wenn sie nicht die Jesuiten zerstören! unterbrach der Dechant ... Lieber Sohn! Welche Träume! Sehen sie meinem Bruder Friedrich ähnlich? ... Nein, nein – Mystifikationen! ...

Doch die Eichen von Castellungo grünen! entgegnete Bonaventura ... Castellungo gehört dem Grafen Hugo ... Frâ Federigo, ein Deutscher, lebt unter dem Schutz der Gräfin Erdmuthe ... Paula sah ihn deutlich und sagte in einer ihrer Visionen, er gliche mir ...

Der Onkel staunte, lächelte dann aber ...

Weil sie auch dich an einer Himmelsreligion betheiligt glaubt, die den Priestern erlaubt zu heirathen! ... Nein, nein ... Das alles ist nur Spuk und hängt mit den Umtrieben zusammen, die plötzlich jenen Terschka enthüllten ... Coni oder Cuneo steht in der anonymen Aufforderung? ... Fefelotti, Ceccone's Gegner im Conclave, ist soeben aus Rom verbannt und Erzbischof in Cuneo geworden ... Ihr armen Waldenser jetzt! Eure Bibeln werden bald confiscirt sein! ...

Den Anklagen, die der Onkel auf Ceccone, auf Fefelotti, auf alle, die mit Roms Intriguen zusammenhingen, schleuderte, lieh Bonaventura um so bereitwilliger sein Ohr, als jetzt auch durch Benno's Lebensschicksale sich ein Netz um sie alle her zu spinnen schien, dessen Fäden immer enger und enger wurden und ganz auf Rom führten ...

Zum Glück hab' ich euch beide – Ultramontanen bei Zeiten angehalten, italienisch zu lernen! scherzte der Onkel, ohne – darum doch den Beängstigungen, die in den betheiligten Gemüthern diese Dunkelheiten zurücklassen durften, sich ganz zu entziehen ...

Inzwischen kamen aus der Residenz des Kirchenfürsten Briefe vom Generalvicariat, die bis auf weitere Entscheidung Roms über den Magnetismus jede Beeinträchtigung des Domkapitulars in seinen Würden niederschlugen ... Rother's Anklage wurde als ungebührlich abgewiesen ...

Die Genugthuung war demnach vollständig ... Dennoch reiste Bonaventura voll Bangen ... Er sah das Alter und den Kummer des Onkels ... Er fürchtete sich vor einer Stadt, die er auch sonst schon gemieden ... Sein Ehrgefühl war doch verletzt worden ... Feinde wirkten gegen ihn und zu der Kraft sich zu erheben, die Haß oder Verachtung verleihen, vermochte sein Gemüth nicht ... Auch wo Lucinde weilte, konnte ihm niemals Frieden kommen ...

Er fand Briefe von Schloß Neuhof vor – auch vom Onkel Levinus ...

In letztern fand sich jedoch kein Wort über die doch gewiß mächtig, nach allen Seiten hin aufregend gewesene Wirkung, die sein Brief aus Kocher am Fall hervorgebracht haben mußte ... Nur die Anzeichen eines Besuchs der Gräfin Erdmuthe auf Westerhof mehrten sich ...

Bonaventura's Herkunft, seine würdige äußere Haltung, seine Kenntniß des Italienischen, alles das veranlaßte aufs neue die Bitten der Curie, er möchte eben sowol für die Befreiung des Kirchenfürsten wie für die Stockung aller kirchlichen Gerechtsame der Stellvertretung desselben die Reise nach Wien übernehmen ... Der Staatskanzler galt für einen Gegner der Jesuiten; auch Ceccone hatte mit ihnen seit dem Sturz Fefelotti's Friede geschlossen; vielleicht war in Wien der gute Wille zu gewinnen, die römische Curie zur Nachgiebigkeit zu bewegen ... Bonaventura sollte es sein, der den Unterhändler zum Frieden machte ...

Er entzog sich diesen Vorschlägen, solange er konnte ... Er wußte noch nicht, wie seine Reise in Westerhof würde aufgenommen werden ... Auch hörte er nur, daß vorzugsweise Nück es war, der alle diese Rathschläge ertheilte ... Konnte von solcher Seite Gutes kommen? ... Nück kam wieder in seinen Beichtstuhl und gab ihm in der That vier Davidssteine an, die er gegen den Goliath der Leidenschaft in seiner Brust in Bereitschaft hielt: Ankauf eines Ritterguts, sagte er, landwirtschaftliche Studien, Rückkehr zu alten Dichtversuchen, die er in seiner Jugend gemacht, und die Erlernung der türkischen Sprache ... Das Besuchen von Gräbern nütze ihm nichts, setzte er hinzu; ihm wär' es aus alter Liebe zum Tode, wie den Türken, die auf Gräbern Kaffee tränken ...

Eine Ahnung konnte der so von Nück offenbar verhöhnte Geistliche nicht überwinden, die, als spräche alles das nur die Eifersucht ... In einer Zeitschrift gab Nück mit voller Namensunterschrift als einen Wurf mit seinem dritten Davidssteine in Versen die Klage, daß man das Höchste, was ein Weib geistig einem Manne sein könne, doch nie ohne die Vertraulichkeit der Sinne gewinnen könne ... Die volle Unterschrift: »Dominicus Nück« beleidigte Stadt und Land ... Seine Freunde sogar sprachen von einer plötzlichen Enthüllung des »Pferdefußes« ... Goldfinger junior, inzwischen mit Johanna Kattendyk vermählt, rückte ihm aufs Zimmer und stellte ihn über diese muthwillige Zerstörung des Rufes der Familie zur Rede ... »Kümmern Sie sich um Ihre heilige Botanik oder, wenn Sie wollen, um unsere Conto-Currentbücher!« war die Antwort ... Es war nur Eine Stimme, der Oberprocurator hatte sich so nur in Lucinde Schwarz verlieben können und diese – widerstand ...

Benno arbeitete zwar noch bei dem unheimlichen Mann, streifte aber inzwischen leise alle Fesseln ab, die ihn noch an seine gegenwärtige Stellung gebunden hielten ... Auch seine Heimats-, seine Adoptions- und Unterthanenverpflichtungspapiere revidirte und ordnete er ... Er wollte nach Italien ... Seine Forschungen gingen mit Hülfe des Onkel Dechanten weit über Borkenhagen bis nach Kassel hinaus, wo die über die ersten Lebensjahre eines Julius Cäsar von Montalto gebreiteten Schleier nur noch von zwei Todten, dem Kronsyndikus und seinem Adoptivvater Max von Asselyn oder von seiner Mutter ganz gelüstet werden konnten ... Benno hatte bei allen diesen Unternehmungen nur zu hüten, daß nicht Thiebold, der im August aus England zurückgekehrt war, mit seiner gewohnten »Wißbegierde« hinter sein neues, zur Enthüllung noch nicht reifes, auch vor dem Tode des Dechanten wol völlig unmögliches Leben kam ...

Thiebold hatte die Reise nach England im Interesse seiner canadischen Holzgeschäfte machen müssen und, wie sich erwarten ließ, er kam höchst elegisch gestimmt zurück ... London ist nicht gemacht zum Romantischen! sagte er ... In dem Gewühl der Weltstadt war er dem Obersten von Hülleshoven, seinem Lebensretter, nur ein einziges mal begegnet und – ohne Armgart ... Letztere war auf dem Lande bei Lady Elliot ... Und da er erfuhr, daß auch gerade Terschka dort zum Besuch war, hielt er es für »unter seiner Würde«, sich dort anmelden zu lassen ... Nur die Gräfin Erdmuthe und Porzia Biancchi sah er in London und begleitete beide in ein Bibelgesellschaftsmeeting, zu dem sie vom Lande hereingekommen waren, und dann eine Strecke am Themseufer entlang auf der Rückreise nach dem Landsitz der Lady ... Er hätte, erzählte er, nur aus allem, was er mit ihr verhandelt, das Eine herausgehört, wie Terschka wieder in höchsten Gnaden bei ihr stünde ... Vom Obersten wußte schon Benno, daß seine kühle Gesinnung gegen den katholischen Glauben von den Erfahrungen herstammte, die er in Canada gemacht ... Das Leben in den Klöstern von Monreal hätte Anlaß zu gerichtlichen Untersuchungen gegeben und Hedemann hätte dann mit einer angeborenen pietistischen Anlage den Obersten auf ihren Reisen vollends angesteckt ...

Auch Bonaventura erfuhr diese Mittheilungen ...

Da sein Auge, träumerisch und irrend, immer nach dem Thal von Castellungo gerichtet war, so mußten die reformatorischen Bestrebungen auf dem Gebiet der katholischen Kirche mehr denn je Gegenstand auch der Unterhaltungen werden, zu denen er die Freunde öfters bei einem einfachen Mahl in seinen Zimmern einlud ...

Benno's Gesichtspunkte waren ausschließlich politische ... Er sah in der Kirchenspaltung den Untergang Deutschlands ... Er haßte das Betonen kirchlicher Streitigkeiten und lehnte deshalb auch die Ansprüche ab, die der Protestantismus auf größere Vorzüglichkeit machte ...

Wenn man den katholischen Glauben, sagte er, von dem Zwang, innerhalb kirchlicher Gemeinschaft leben zu müssen, befreien und die Verbindlichkeit der Autorität für die Freiheit des Gewissens aufheben könnte, so liegt eine freundlichere Lebensauffassung in all unsern Ceremonien, als im Pietismus ... Haben Sie in Gegenwart der Gräfin je eine wahre Freude über die Schönheit des Meeres und den blitzenden Spiegel der Wellen äußern dürfen, als Sie mit ihr die Rückreise machten, oder haben Sie irgendeinen weltlichen Gegenstand unbefangen nennen können? Hedemann hat uns wenigstens in Witoborn auf jede natürliche Aeußerung unserer Empfindungen einen scheinbar frommen, im Grund aber rechthaberischen Dämpfer zu legen gewußt ...

Bonaventura nannte indessen seinerseits die Erscheinung des Protestantismus nur deshalb unvollkommen, weil er nur durch das Bedürfniß, einen polemischen Gegensatz aufzustellen, hervorgerufen wäre ... Der Pietismus, sagte er, das ist ein Versuch, aus dem Protestantismus wieder zur Religion zurückzukommen; denn Protestant sein, heißt nicht: Christ sein, sondern nur: Nicht-Katholik sein ...

Und man müsse sich allerdings, fuhr er fort, eine Zeit denken können, wo auch der Katholicismus in seiner jetzigen Gestalt aufhörte ... Die Verbreitung der Philosophie würde dann bis in die kleinsten Hirtenthäler Spaniens und Siciliens gedrungen sein ... Ich verstehe, sagte er, unter Philosophie eine Aufklärung, die ihre Resultate mit verständlichen Allgemeinbegriffen in die Welt hinausgehen lassen kann ... Dann wird die Frage nur noch lauten: Was ist rein christlich? ... Dann werden sich Protestanten und Katholiken begegnen müssen im apostolischen Gemeindeleben ... Auf welchem andern Grunde soll man sich zuletzt wieder die Hände reichen, als auf dem der Bibel? ...

Mit Thiebold's schüchterner, aber fast mit latentem Fanatismus hingeworfener Bemerkung zu Benno: »Vorausgesetzt daß man überhaupt kein Heide ist, wie denn doch wol mehr oder weniger Ihr Fall, mein bester Freund!« schloß die Debatte im Scherz ...

Ohne zu auffallende Erlebnisse, ohne ein Lebenszeichen von Westerhof, ohne die Ankunft der Gräfin Erdmuthe, nahte sich schon der Spätsommer ... Benno wurde indeß erkoren, der Ueberbringer der Pacten zu sein, die bereits die Agnaten der Familie Paula's, die Landschaft und die Curie von Witoborn dem Grafen Hugo zur Unterschrift vorlegen wollten ... Der Präsident von Wittekind, Bonaventura selbst waren an diesen Pacten betheiligt und jener erschien dann auch plötzlich in der Residenz des Kirchenfürsten ...

Benno und Bonaventura wurden durch seinen Besuch in jeder Beziehung überrascht ...

Kein stürmischer, aber auch kein kalter Gruß war es, mit dem er Benno in der That seinen – Bruder nannte ... In der darauf folgenden kurzen Umarmung lag ein ganzes Leben ...

Die Sehnsucht Benno's, Mutter und Schwester kennen zu lernen, fand der sonst dem Abenteuerlichen wenig geneigte Mann natürlich ... Die Mittel, eine Reise nach Wien und Italien zu unternehmen, wurden reichlich von ihm dargeboten ...

Das Band des Blutes zwischen beiden Männern war so eigenthümlich bedingt, daß sie sich anfangs ohne Wallung des Erröthens nicht ansehen konnten ... Die in solchen Lagen so oft vom Gemüth vorausgesetzte Gegenwart eines unsichtbaren Geistes, der vom Land der Seligen herüber die Hände zweier so widerstrebender Interessen ineinander legt mit dem Friedenswort: Seid einig! konnte hier nicht vorausgesetzt werden ... Was sie umrauschte war der mitternächtige Flügelschlag der Eule ...

Der Hinblick auf Wien – auf die gemeinsame – Schwester mehrte den unheimlichen, erschütternden Eindruck ...

Der Präsident kam als Vertreter der Agnatenansprüche und als nächster Verwandter Paula's, er dachte über die Nothwendigkeit dieser Ehe ganz wie Monika ... Eine Schonung Bonaventura's, wenn sie ihm auch vielleicht als zu üben bewußt war, forderte nicht die Stellung eines Priesters und überhaupt eines solchen, wie sein Sohn ... Eher war die Erwähnung des Grafen Hugo um Benno's willen mislich ... Er erzählte von Angiolina, von der Herzogin von Amarillas, was er mit Vorbedacht erkundschaftet hatte. Sie werden vorziehen, den Namen der Asselyns für immer zu behalten und fortzupflanzen, da er ohne Sie aussterben würde! sagte er zum Bruder, den er – nicht Du nannte ... Die Gültigkeit der betrügerisch geschlossenen Ehe des Kronsyndikus mußte wiederholt zur Sprache kommen ... Geld würde es auf alle Fälle reichlich kosten, sagte er, bis die Sacra-Dataria in Rom, natürlich erst nach dem Tod des Dechanten, zu Ihren und Angiolinens Gunsten Ihre Deutungen des kanonischen Rechts geltend machte ... Auch in unserm Land würde dann die Anerkennung nur ein Gnadenact der Krone sein können, der sich kaum verbürgen ließe, da die Herzogin von Amarillas nicht einmal die Klägerin ist ... Sie wird sich hüten, das Verbrechen der Bigamie auf sich zu laden ... Sie wird immer sagen, daß sie zuletzt den Betrug durchschaut hätte ... Ich bin begierig auf Ihre Begegnung mit ihr ...

Die Auffassungen des Präsidenten widerstrebten zwar einer Verbindlichkeit derjenigen Ergebnisse nicht, die etwa Benno von einer Begegnung mit seiner Mutter heimbringen würde, nannten aber die katholische Lehre von der Ehe gefahrvoll und den bekannten Ehen des Schmieds von Gretna-Green nicht im mindesten unähnlich ... Julius Cäsar von Montalto war ein von der Mutter hergenommener Name, die sich Maldachini nur als Sängerin nannte ...

Bonaventura vertheidigte die Einfachheit der katholischen Ehe ...

Sie ist ein letzter Rest der apostolischen Zeit ... sagte er ... Die bürgerliche Gemeinde war damals die Kirche und die Kirche war die bürgerliche Gemeinde ... Zwei Liebende sagten vor dem gemeinschaftlichen Genuß des Abendmahls: Wir sind Eins! und keine Macht der Erde konnte sie trennen ...

Leider auch die Kirche nicht mehr! ... setzte der Präsident seufzend hinzu ... Gewiß sollte dann auch hier der eigene Wille höher stehen als ein Mysterium, das ein Mysterium zu sein aufhört, wenn sein Duft verflogen ist, die Liebe ...

Die eignen Familienbeziehungen wurden für die Fortsetzung des Gesprächs zu schmerzlich ...

Den heftigen Anklagen des Präsidenten gegen Terschka, Rom, die Jesuiten, Nück konnten die Freunde nicht widersprechen ... Auch hier hatte Friedrich von Wittekind Zusammenhänge, deren Kenntniß ihm nur aus amtlichen Quellen gekommen sein konnte ... Dennoch rieth er Benno, Nück nicht ganz aufzugeben und jedenfalls die Reise nach Wien im Auftrag der Dorste'schen Agnaten zum äußern Anlaß seiner weitern südlichen »Entdeckungsfahrt« zu machen ... Nur lassen Sie sich kein rothes Kreuz aufheften, um in päpstliche Dienste zu treten! fügte er hinzu ... Wenn Sie indeß von Nück an den Staatskanzler empfohlen werden, das nehmen Sie als interessante Reiseerinnerung! ...

Ich würde wie Posa reden! ... scherzte Benno ...

Thun Sie das ja nicht! Dann gibt er Ihnen eine Anstellung! entgegnete der Präsident ...

Man stritt über diesen Scherz ... Der Präsident sagte: Glauben Sie mir, der Staatskanzler stellt jeden noch so freisinnigen Posa an, der von guter Familie und katholisch ist ... Es hat aber gute Wege damit ... Sprächen Sie ihn, Sie würden den klugen Mann so liebenswürdig finden, daß Sie nicht ein einziges freisinniges Wort gegen ihn aufbrächten ... Er wird sogar liberaler sein als Sie – wenigstens fürchtet er mehr als wir die Jesuiten ... Wenn er jetzt den Schein annimmt, Rom beizustehen, so ist es nur, um unsern Staat zu schwächen ... Aber auch das wird er in Abrede stellen und dem jugendlichen Sinn jede Zustimmung abschmicheln ...

Bonaventura und Benno blieben Welfen – nicht im hierarchischen Sinn, sondern so wie Bonaventura einst zu Klingsohr hatte sagen können: »Nichts will im Grunde die Freiheit der Völker und des Menschen mehr, als die katholische Kirche!« ...

Der Präsident besuchte, zur Beruhigung des Dechanten, noch Kocher am Fall ... Er hatte sich als Beamter zur Disposition stellen lassen, weil seine Erbschaft ihn zu sehr in Anspruch nahm ...

Einige Wochen später war Benno zur Abreise bereit ... Bonaventura hatte kein Wort von Paula gehört ... Ihre ekstatischen Zustände dauerten fort, aber ihn selbst schien sie aus ihrem Leben gestrichen zu haben ... Es lag eine seltsame Strenge, eine Strafe in diesem Schweigen ... Er litt unsäglich ...

Benno erhielt von Nück die Papiere, die dem Grafen Hugo vorzulegen waren. So sehr er sich dagegen sträubte, mußte er dennoch Depeschen an Ceccone und den Staatskanzler mitnehmen ... Er konnte dies in der Fülle der ihm übergebenen Aufträge nicht ablehnen ... Der Dechant empfahl ihn an alle seine alten wiener Freunde und besonders Einen, bei dem er wohnen sollte ... Benno nahm dies an, obgleich er einsah, daß es ihn sofort nach Rom ziehen würde ... An die Möglichkeit, daß und in welcher Form Ceccone wagen könnte, die Herzogin von Amarillas sich nachkommen zu lassen, konnte niemand von den enger Verbundenen glauben ...

Thiebold blieb außerhalb aller dieser Geheimnisse und litt unter der Trennung von Benno wie ein Liebender unter der Trennung von seiner Geliebten ... Sein »Halt«, seine »Führung« war dahin ... Doch zerfloß er nur in jene bekannte Sentimentalität, die sich vor dem Uebermaß der Selbstrührung durch Poltern zu bewahren sucht ... Er packte Benno's Koffer, revidirte seine Garderobe und zerstörte ihm seine alten Brieftaschen, Haar- und Nagelbürsten, um ihm nur ein prachtvolles englisches Reisenecessaire zum Andenken mitgeben zu dürfen ...

Nicht ebenso »unausstehlich« aufmerksam, aber theilnehmend waren auch alle andern Bekannte Benno's ... Nur Piter hatte sich seit einiger Zeit zurückgezogen ...

Noch am Abend vor Benno's Reise kam Thiebold zu Bonaventura ins Domkapitel, wo er hoffen konnte Benno zu finden, und erzählte athemlos einen »schönen Skandal« ... Piter hatte Treudchen Ley gewaltsam aus dem Kloster entführt ...

Denken Sie sich, erzählte er, Piter soll bereits schon einmal im Kloster gewesen sein und zwar auf welchem hoffentlich »nicht mehr ungewöhnlichen« Wege? ... In einem Waschkorb! ... Ich versichere Sie auf Ehre! Eingepackt als Leinzeug, das von einer im Kloster gehaltenen Nähschule gesäumt, gesteppt, gezeichnet, gewaschen und gebügelt werden sollte ...

Bonaventura schlug die Augen nieder ...

Dieser Ueberfall, fuhr Thiebold fort, misglückte damals ... Aber – Sie wissen ohne Zweifel, Herr Domkapitular, die kleine allerliebste Blondine, die bei seiner verstorbenen Schwester diente – diese für ihn unbegreiflicherweise – nein, um es aufrichtig zu gestehen, ich kann mir diese Verirrung seines Geschmacks, »wenn Sie wollen« erklären ... Nicht nur nicht, daß die Kleine wirklich ein Bild von Schönheit, von Sanftmuth, von Anmuth – ohne Spaß – sondern auch – daß sie –

»Mehr Inhalt, weniger Kunst!« unterbrach Benno ...

Thiebold, gewohnt, von Benno'schen Dialog-Hindernissen gereizt zu werden, hörte nicht auf die Mahnung, sondern wandte sich an Bonaventura, der sein Studirzimmer den Freunden bereitwillig zum Rauchen hergab, und fuhr fort:

Sagen Sie selbst, Herr Domkapitular, finden Sie es nicht auch begreiflich? ...

»Nicht nur nicht –« schaltete Benno ungeduldig ein ...

Wer – sich – nur – irgend – auf Piter's – Standpunkt – zu – versetzen weiß – sagte Thiebold, jede Sylbe betonend ...

Ich kenne das junge Mädchen und wünsche jedem Glück, der dessen Liebe gewinnt – schaltete Bonaventura zur Beruhigung ein ...

Vollkommen meine Ueberzeugung! äußerte Thiebold mit einem Mitleidsblick auf Benno ... Nur eine »dergleichen Acquisition« konnte »Piter's Naturell Befriedigung gewähren« ... Eine Liebe darf manche Charaktere nicht »geniren« ...

Kurz, Thiebold erzählte von einer Verkleidung, in der sich Piter ins Kloster geschlichen hätte ... Früher wäre er im Waschkorb gekommen, diesmal aber als Mitglied der weiblichen Nähschule selbst ... Er hätte nicht einen einzigen seiner Sherrypunschfreunde zum »engern Complicen« gehabt. Der Gedanke wäre ganz original aus »seiner Seele allein« entsprungen. Vielleicht höchstens mit Hinzuziehung des Fräuleins Lucinde, die dem Treudchen diese Partie gönnte – »vermuthete« Thiebold ... Piter hätte sich in den einfachen Anzug einer Näherin geworfen, hätte seine interessante Erscheinung durch einen Strohhut mit Schleier unkenntlich gemacht und wäre so ins Kloster gekommen ... Das Glück hätte ihn begünstigt und vor einem zu langen Umherirren bewahrt ... Treudchen Ley wäre bald aufgefunden gewesen, er hätte sie in ihrer Zelle überrascht und ihr solange – Thiebold bediente sich des auf Piter anwendbaren Ausdrucks – »zugesetzt«, bis das schwache, willenlose Mädchen eingewilligt und mit ihm durch die Gänge, die ins Waisenhaus führten, das Kloster verlassen hätte ... Dort hätte sie noch erst ihre Geschwister unter Thränen geküßt und wäre dann spurlos verschwunden ... Piter hätte ohne Zweifel den Weg nach einer Gegend genommen, die derjenigen völlig au contraire gewesen wäre, aus der er jetzt »mit seinem Hause« correspondire ... Sein Schwager, der Professor außer Diensten, hätte im Sturm der Indignation sofort Procura bekommen, während die Commerzienräthin die »gewöhnliche Farbe ihrer Scheitel aus Anstandsrücksichten ins Kummergraue melirt« hätte ... Ohne Zweifel würde Piter nach einigen Monaten an der Hand seines jungen Weibchens »am Platz« zurückkehren und höchstens nur noch mit den Curatoren des von ihm entweihten Klosters, namentlich mit dem wiederhergestellten Pfarrer vom Berge Karmel, »einen schönen Tanz kriegen« ...

Bonaventura hörte alledem zu, wie ein Arzt seinen Kranken reden läßt und durch kein Lächeln verräth, daß die ihm mitgetheilten Symptome ihm in nichts überraschend, wenn auch auf völlig andere Ursachen hinzuleiten erscheinen, als sie der Kranke ausspricht ...

Die Belustigung seiner Freunde über »Piter als Nähmamsell« konnte Thiebold, trotz des Verdachts der Blasphemie, »nicht umhin« zu theilen und versprach sich davon für den stadt- und landersehnten nächsten Carneval ein »anregendes Motiv« ...

Benno reiste am folgenden Morgen ab und Thiebold gab ihm das Geleite bis auf eine Tagereise, Bonaventura nur bis zur Abfahrt des Dampfboots ... In seinem letzten Blick und Handdruck lag ein tiefes Bangen vor den Erfahrungen, denen Benno entgegenreiste ... Die Rührung des Abschieds konnte nicht zum vollen Ausbruch kommen – Thiebold's wegen, der theils mit den Kofferträgern zankte, theils dem Abschied der Freunde und den etwa dabei fallenden »letzten Wünschen« ein aufmerksames Ohr lieh ...

Nach einem jener abwechselungsreichen Tage, wie man sie auch nur auf einem menschenüberfüllten Dampfboot und dann nur mit Thiebold de Jonge, der Seele einer solchen Fahrt, verbringen konnte, nahm Benno auch von diesem Abschied ... Sie hatten noch eine Nacht in einem der schönen Hotels zugebracht, deren sich in der Nähe des Grabes der heiligen Hildegard mehrere erheben ... Wieder brach ein milder, sonniger Herbsttag an, als Thiebold frühmorgens thalwärts, Benno bergauf weiter fuhren ... Ihr Abschied war, wie Thiebold versicherte, nur auf kurze Zeit ... Der Landtag, der seinen Vater beschäftigte, trat zwar zusammen, würde aber der von der Ritterschaft und den Städten beabsichtigten Anträge zu Gunsten des Kirchenfürsten wegen sogleich aufgelöst werden ... Er würde dann nicht verfehlen, ihn eines Morgens in »Oesterreich und Umgegend« zu überraschen ...

Im Fremdenbuch ihres Hotels hatten sie den Namen Schnuphase gefunden ... »Stadtrath« Schnuphase ... Der von der Commune wegen seiner kirchlich-oppositionellen Richtung durch diesen Titel ausgezeichnete Mann reiste, wie zu lesen stand, gleichfalls nach Wien ... Prächtige »Unterhöltung« das! sagte Thiebold. Ein »Ersötz« für meine »unfreiwillige Kömik« ...

Dieser letzte »Stich« vertrieb die Rührung nicht, mit der sich beide Freunde umarmten ... Auch von Thiebold nahm Benno Abschied in dem seltsam ihn beschleichenden Gefühl, ihn nie wiederzusehen ... Er mußte sich abwenden, um das flatternde Taschentuch nicht mehr zu bemerken, mit dem ihm Thiebold so lange seine Grüße zuwehte, bis der Dampfer, der ihn trug, hinter dem grünen Vorgebirge des Niederwalds verschwunden war ...

Benno's Schiff ging später und legte in Rüdesheim an, um Güter und Passagiere aufzunehmen ...

In der That wurde ihm hier Stadtrath Schnuphase als Mitpassagier zu Theil ...

Herr Maria mit der röthesten Nase, sonst wie zu einer Audienz, in weißer Weste, im Frack, weißer Halsbinde, erschien auf der Landungsbrücke und ließ eine Menge Koffer, eine Equipage von wenigstens zehn Centnern Uebergewicht aufladen, darunter eine Kiste, der er eine Aufmerksamkeit widmete, als wäre sie ganz mit Monstranzen, Meßgewändern oder consecrirten Kerzen gefüllt ...

Anfangs bemerkte er Benno nicht ...

Herr Maria war in einem zärtlichen Abschied begriffen von einer hohen Gestalt, die ihm kräftiglich die Hand schüttelte ...

Benno erkannte den Moppes'schen Küfer, den Richter von der Eiche am Düsternbrook, den Richter seines eigenen Vaters, Stephan Lengenich ...

Wohl war ihm diese Begegnung eine unheimliche ... Er wich Schnuphasen aus, ergriffen wie von einem Omen ...

Doch allmählich, als das Schiff weiter fuhr und Benno, gegen den noch kühlen Morgenwind in einen Mantel sich verhüllend, vom Verdeck aus den Küfer lange auf der Brücke harren und mit abgezogenem Hut dann und wann noch den Stadtrath zum Scheiden grüßen sahe, löste sich der Druck der Erinnerung, der mit eisigen Krallen sein Herz erfaßt hatte ...

Auch der Stadtrath hatte ihn jetzt entdeckt, erkannt und mit Bewillkommnungen überhäuft ...

Wo reisen Sie hin, Herr Stadtrath? ... Auch nach Wien? ... fragte Benno gelassen ...

Herr Maria hätte Benno vor Freude über eine solche Reisebegleitung fast umarmt ...

Eben fuhren sie am Johannisberg vorüber ...

Er schilderte geheimnißvoll, was er oben gestern und heute gesehen auf dem in der Sonne leuchtenden Schlosse ...

Er schilderte die »Öpörtements«, den berühmten Schreibtisch, der ganz mit »S – piegeln« umgeben wäre, sodaß der hohe »S – tötsmönn«, indem er die Feder führte, immer sehen könnte, ob hinter ihm die »demögögischen Umtriebe« ... –

St! ... unterbrach Benno ... Die Kellerei! ... Erzählen Sie von der! ...

Der vor Begeisterung auch über diese Keller, wie er sagte, »sich noch in einem ungefrühs – tückten Zus–tönde befindliche« Stadtrath machte eine bedeutungsvolle Miene, sah nach Rüdesheim zurück, dann auf sein Gepäck und brach von dieser Frage mit eigenthümlicher Pfiffigkeit ab ...

Ich glaube gar, Sie haben geheime Aufträge an den Staatskanzler? fragte Benno ...

Wieder folgte eine mysteriöse und diplomatische Abschwenkung ...

Die Nase glühte in der Sonne ... Das weiße lockige Haar stand dem kleinen Haupte ganz staatsmännisch und bedeutungsvoll ...

Benno gab sich der Hoffnung hin, daß ihm seine Reise wenigstens von dieser Seite her Unterhaltung bieten würde.

5.

Stadtrath Schnuphase hatte den Mentor gefunden, den seine in diesem Sommer mannichfach geprüften Töchter mit Verzweiflung vermißten, als sie hörten, Herr Stephan Lengenich würde nur bis zum Schloß Johannisberg mitreisen ...

Sie wußten, wie der Vater bei seiner enthusiastischen Gemüthsart in der freien Luft, beim Anblick der hohen Dome, Domstifte, Kapellen, Kerzen und Schenken aus sich »herauszugehen« pflegte ... Erst in Wien selbst war Aussicht vorhanden, daß der so leicht angeregte Mann durch seine mitgenommenen Empfehlungen in eine geregelte Ueberwachung kam ...

Schon von Frankfurt am Main aus schrieb Schnuphase seinen Töchtern das Glück, das er gefunden, den Herrn Baron von Asselyn als seinen Begleiter zu haben ...

Es war ein Glück, das Benno theuer bezahlen mußte ... Denn Schnuphase heftete sich an ihn an wie eine Klette ... Und einen Auftrag an den großen Staatsmann hatte Schnuphase auf jeden Fall ... Worin – errieth Benno nicht ... Schnuphase, der ihn sonst bis in das Innerste seines Busens, bis auf alle geheimen Medaillen und Amulete, die er unter dem bloßen Hemde trug, sehen ließ, vermaß sich hoch und theuer, hierin müsse er schweigen – er hatte sich und seinem Schutzpatron drei Eide abgelegt – doch würde er bei dem großen Staatsmann für Herrn von Asselyn sprechen, falls er die Bekanntschaft wünschte; er würde ihn einführen, ja, wenn er wollte, zu seinem »Mitbevöllmächtigten« machen ...

Ums Himmels willen –! ...

Benno wollte erst im Scherz zustimmen, erschrak aber über die Möglichkeit, daß der Stadtrath wirklich in Sachen der Politik reiste ... Er konnte nicht auf den Grund kommen, ob es sich um den Weinkeller oder um die Staatskanzlei handelte ... Schnuphase bat ihn, seinen »Chöröcter« nicht zu compromittiren, indem er ihn reize, seine Geheimnisse zu »öffenbören« ...

Sonst ließ sich der kühnste aller Emissäre, wenn er dies war, in seiner ganzen Auffassung der Zeit und der schwebenden Fragen ohne alle Rücksicht gehen ...

Schnuphase hatte zwei Brieftaschen, die er bei jedem Stundenschlag zog ... Eine schien mysteriösen Inhalts ... Sie hing, wie Benno allmählich bemerkte, mit den Tageszeiten, Rosenkranzverpflichtungen und den dadurch gewonnenen Ablässen zusammen ...

Von Würzburg hätte Schnuphase gern nach dem Würtembergischen hinübergeschwenkt ... Bei Ellwangen lag die uralte Kirche der vierzehn Nothhelfer ...

Nur durch das Verlangen, zu beobachten, wie ihm das bairische Bier bekommen würde, vermochte ihn Benno zu einem schnelleren Betreten Altbaierus ...

Das thurmreiche Augsburg konnte nicht unberührt bleiben ... Mit Sehnsucht blickte Schnuphase, der dabei nie unterließ, als »Reisender« auch in seinem Geschäft zu wirken und bei allen Sakristeien anzuklopfen, auf die fern aufragenden Voralpen, wo die hochheiligen Wallfahrtsorte Andechs und Altötting lagen ...

Zwischen Augsburg und München erfuhr Benno zwar noch immer nichts von Schnuphase's diplomatischer »Mission«, aber von der geistlichen Partie derselben lüfteten sich Schleier ...

Schnuphase hatte Commissionen aus Belgien und Paris ... Er brachte Medaillen, Wunderwässer und Rosenkränze in allen Formaten, wie sie die neue geistliche Thätigkeit von Rom und Paris aus segnen und mit jenseitigen Wohlthaten erkräftigen ließ ... Er selbst war Mitglied »fast zu vieler« Vereine, wie er sagte, und suchte Benno für den Eintritt wenigstens in einige zu interessiren ... Mit dem Flüsterwort: Ich bin Rath eines Rosengartens! erklärte er Benno den »marianischen Bund« ...

Diese Erzbruderschaft will den Rosenkranz als ein Lebendiges, in den Personen Vertretenes darstellen ... 15 Personen stellen eine Rose vor; 11 Rosen, also 165 Personen einen Rosenstock und 15 blühende Rosenstöcke einen Rosengarten ... Schnuphase beaufsichtigte demnach einen Rosengarten von 2475 Personen oder, wie er im Styl der Andacht sagte, »von reuevollen und demüthigen Seelen« ... Die Ablässe, die die Mitglieder gewinnen, sind solidarisch und kommen nicht aus dem Verdienst des Einzelnen, sondern aus dem der Gesammtheit ... Man loost sie aus, sodaß die Hoffnung, eine Seele gewänne durch die Verpflichtung dieser Erzbruderschaft einen Ablaß von hundert Tagen oder eine Verkürzung der Pein im Fegefeuer etwa von hundert Jahren, sich nicht auf das eigene Verdienst, sondern auf das Verdienst eines – Mit-Rosenblatts begründet ...

Von dieser liebeseligsten aller Gemeinschaften konnte Schnuphase nicht reden, ohne daß in der That alle Rosen auch seines Antlitzes in ihren glühendsten Farben spielten ...

Das zweite Büchelchen enthielt die Stunden und Tage der Ablässe, die sich Schnuphase durch Verrichtung der von den verschiedenen Genossenschaften, zu denen er gehörte, vorgeschriebenen Devotionen erwarb ...

In München lebte Benno den Eindrücken der Kunst ...

In einem Kaffeehause traf ihn aus einer Zeitung, die er zufällig las, die Nachricht, daß in Wien eine Menge Römer, auch ein Principe Rucca angekommen wäre – in Begleitung der Gräfin Olympia Maldachini, seiner Verlobten, und der Herzogin von Amarillas.

Er sprang vom Tische auf ... So nahe rückte ihm die Entscheidung! ... Doch, doch folgte die Mutter dem Cardinal! ... Ha, rief es in seinem Innern, Du wirst diese Menschen in glänzenden Carrossen an dir vorüberfahren sehen, wirst vor ihnen entfliehen müssen ... Wie kannst du einen Tag in solcher Nähe bleiben! ...

So grübelte er verzweifelnd und doch wieder hocherhoben ... Das Schicksal kommt dir entgegen! rief er ... Es ließ ihn jetzt nicht mehr unter den Bildern, Statuen, Baumonumenten, unter – den Lächerlichkeiten Schnuphase's ...

Dieser war ganz der Vertreter der Lehre, daß die katholische Kirche die heiterste Lust am Dasein segne und heilige ... Wie gute Geschäfte er machte ... Wie kunstkennerisch er vom Bier zu reden begann, obgleich ihm nächtlich der Schlagfluß drohte ... Wie viel Verbindungen er knüpfte und zwar heiterster Art ... Beim Pschorr, beim Hackerbräu endete, was im Sanct-Peter, der ältesten Kirche der schönen Stadt, begonnen ... Der mächtigsten Bruderschaft »Maria-Hilf« gehörte Jean Baptist Maria bereits in ihrer belgischen Verzweigung an ... Wie heimisch war ihm nun das Gefühl, den münchener Sanct-Peter zu betreten, von dessen Kanzel herab 1683 jene Bitten an die Gottgebärerin ertönten, die nächst Sobieski's Säbel die Türken von Wien entfernten ... Sie wurden Anlaß zu unserer deutschen »Maria vom Siege« – wie die Schlacht von Lepanto und Don Juan d'Austria's Sieg einst zur italischen ... Kam Schnuphasen außer dem Anblick von zahllosen Kerzen an diesem hochberühmten »privilegirten« Altar von Sanct-Peter (einen »privilegirten« Altar zu sehen, ist dem gläubigen Gemüth ein Genuß, wie euch Weltlichen nur der Anblick einer classischen Stelle Italiens) ein weltlicher Gedanke, so war es der: Der Verein »Maria-Hilf« ist recht gemacht für eine Stadt der Maler ... Jedes Mitglied desselben muß bei seinem Eintritt geloben, ein Bild der allerseligsten Jungfrau im Hause zu haben ...

In Regensburg, wohin Benno seinen Gefährten mühsamer und mühsamer geschleppt hatte und wohin ihn zuletzt nur die Angst beschleunigte, es könnte seine dorthin auf dem Donau-Main-Kanal nachdirigirte Bagage und vorzugsweise die geheimnißvolle Kiste verloren gegangen sein, bestiegen beide das Dampfboot ...

Eine herrliche Donaufahrt dann! ... Die Passagiere: Soldat, Bauer, Bürger, wiener Bürger, Baron, österreichischer Baron, Geistliche; Passauerinnen, – die mit ihren Augen die »pössauer Kunst« üben – sagte Schnuphase ... Linzerinnen, hübsche, »doch etwas gör zu blösse« junge Mädchen mit großen goldenen Helmen auf dem Kopf – »die schon alle mit russischen ›Herrschöften‹ scheinen gereist zu sein –« schmunzelte er ...

Es war ein Gemisch, das sich an Buntheit sicher noch vermehrt hätte, ginge nicht noch immer die »Ordinari«, ein großes Floß, das Thiebold als Holzhändler vielleicht aus Esprit de corps und »einmal zur Abwechselung« vorgezogen hätte ...

Hinter Passau folgte die Revision der Pässe ... Die Identificirung der Personen ... Schnuphase flog so eifrig von der ersten »Vöslauer«, einem Wein, den er vorzugsweise zu studiren begehrte, auf und reichte seinen Paß so kühn über die Häupter aller Handwerksbursche hinweg, daß ihm Benno sagte: Aber machen Sie sich doch durch übermäßige Loyalität nicht verdächtig! ...

Die Gepäckrevision vermehrte Benno's Staunen über Schnuphase's Mission ... Die Mauthbeamten lasen gewisse ihnen vom Stadtrath dargereichte Zettel, griffen ehrerbietigst an ihre Mützen und ließen alles ununtersucht ...

Die geheimnißvolle Kiste, sah er bei dieser Procedur, war mit Wappensiegeln verschlossen ...

Benno's Gemüth gerieth in immer tiefere Spannung – abwechselnd der Freude und Trauer ... Er sah in die hellgrünen Wellen wie in einen Krystallspiegel mit magischen Bildern ... Er verglich, was ihm wohler gethan: Sein alter Irrthum oder jetzt die Wahrheit! ...

Die grünen Berge, die den Strom verengten, konnte er nicht sehen, ohne sich nicht auf ihren Spitzen Armgart zu denken ... Welche neue Erscheinungen standen ihm bevor ... Wie sollte er sich ihnen nähern ... Unter welchen Veranlassungen ... Er sah voraus, daß er, wie sein Bruder gesagt hatte, vielleicht vorziehen würde, das zu bleiben, was er war ...

In scharfen Contouren lagen die schon von frischgefallenem Schnee glänzenden steirischen Alpen vor seinem wehmuthumflorten Auge ... Die an den Ufern des buchten- und windungsreichen Stromes liegenden Städte schimmerten in heller Pracht mit ihren über und über weißgetünchten Häusern und Kirchen ...

Linz war erreicht ... Ein kurzes Nachtlager ... Dann die »Wirbel und Strudel«, die mehr zu reden als zu fürchten gaben ... Mitten in der Strömung auftauchende »Auen« und Inseln erinnerten an die »Weerthe« des andern geliebten Stromes – an »Lindenwerth« ... Mit schmerzlichem Sinnen gedachte Benno des vorjährigen Herbstes und seiner verklungenen Hoffnungen ... Eine verlorene Liebe ist wie die zerstoßene Perle, die den Becher eines ganzen Lebens würzt – wie der Tropfe zerflossenen Goldes, mit dem auf der Palette ein Maler alle seine Farben mischt ...

Benno sah jetzt, je näher er Wien kam, alles feierlich und geheimnißvoll ... Mit einem Herzen voll Gluck hätte sich ihm manches zugänglicher und verständlicher gemacht ... Das Schöne weckt vielen Gemüthern ohnehin nur Trauer ... Und schön war hier alles ... Auch hier ragten die hohen Bergkanten schroff empor wie der Geierfels und das Hüneneck ... Auch hier blinkten im wilden Gestrüpp der Büsche, im Geröll zerbröckelnder Burgmauern die Edelsteine der Sagen aus alten Zeiten ... Auch hier konnte auf so mancher Altane das Auge einen im Wind wehenden Schleier und das Winken der Gefangenen mit ihres Geliebten bunter Schärpe sehen ... Hohe Schlösser ragten wie Schloß Neuhof, seines Vaters stolzer, erinnerungsdüsterer Stammsitz ... Diese hier bargen Chorherren und Mönche ... Bonaventura hatte große Verehrung vor ihnen, weil ihre Bewohner, Benedictiner, den Wissenschaften oblägen ... Oft im Frühjahr, nach dem Kampf mit Rother, äußerte er die Meinung, sich hieher oder in die alten Bibliotheken der Schweiz flüchten zu können ... In einzelnen Booten und auf Flößen sah man Processionen, die zu Maria-Taferl wallfahrteten ...

Viele von den Pavillon-Passagieren kamen jetzt erst aus den Bädern zurück ... Es fanden Erkennungen und Begrüßungen statt, auch Misverständnisse und Entschuldigungen ... Dicht an vier in Linz aufgefahrenen kleinen Wägen mit dem überraschenden Inhalt von Löwen und Tigern, die als Nachzügler zu einer in Wien schon befindlichen Menagerie gehörten, erklärte ein Witzbold die Gefangennahme Richard Löwenherzens auf dem gegenüberliegenden Dürrenstein dahin: »Aber erlaubens, wann so ein Engländer auch mit einem Löwen statt 'nem Pudel reist, hat der Herzog von Oesterreich dazumal Ursach' gehabt, den Mann einstecken zu lassen!« ...

Schnuphase war wie im Vorhof des Paradieses ... In Linz war ihm schon der Geschäftsfreund entgegengekommen, an den er empfohlen war, der Mitbesitzer der Paramentenhandlung Pelikan & Tuckmandl auf der Currentgasse ...

Herr Calasantius Pelikan war eine kleine, dicke und sehr entschieden auftretende Natur, mit pechschwarzen, fast zottigen Augenbrauen, Ringen an den Fingern, in grünem Frack, rothem Halstuch, gelber Weste, dem lustigsten Farbencontrast, ganz als wäre das Erdenleben ein ewiger Fasching ...

Schnuphase schwamm in Entzücken über diese Aufmerksamkeit, ihm so auf Meilen entgegenzureisen ... Er zog Benno in die Besiegelungen ewiger Freundschaft hinein, die den Mittelpunkt der ganzen Schiffsconversation zu bilden anfingen ... Ja, im Bewußtsein seiner vertraulichen Beziehung zu dem zweitersten Manne dieses großen Staates ergab sich Schnuphase der sorglosesten Sicherheit, die auch bereits mit allen feineren Nuancen der von ihm erprobten Weine des Schiffskellers übervertraut war ... Er sah im Geist den Stephansthurm umringelt von oben bis unten mit Praterwürsteln ... Im »Sperl« hatte er durch Herrn Pelikan sogut wie schon einen »belegten« Eckplatz und in »Dommayer's«, in »Hietzing« wurden durch ihn und die mit ihnen speisten, bereits die Backhändln rar ... An der Table-d'hôte that es Schnuphase nun unter Champagner nicht mehr und Benno mußte nur immer hinterrücks an seinem Sommerrockärmel zupfen, um ihn nur zu bewegen, gegen seine Tischnachbarn den großen Allmächtigen aus dem Spiele zu lassen, den er halb schon seinen besten Freund nannte ...

Schnuphase's eigenthümliche »S – pröche« nannte Herr Calasantius Pelikan zum tiefsten Schmerz des Stadtraths: »Wol preußisch?« ...

Nach dem Diner schmollte darüber Schnuphase ... Dann aber, wieder ausgesöhnt, war er so neckisch gestimmt, daß er's nun auf die »Donauweibeln« abgesehen hatte ... Er begab sich schwankenden Fußes nach der Vorderkajüte und band dicht neben den reißenden Thieren ein Gespräch mit den blassen volksthümlichen Mädchen in goldenen Helmen an, sie fragend, ob sie keine Furcht hätten vor den furchtbaren Löwen, Panthern und Hyänen oder, wie der sich ebenso schmunzelnd hinter ihm hertrottelnde Calasantius ausdrückte »vor oall den talketen Koatzen?« ...

Immer fester aber und enger schlang sich das Band der neuen Eindrücke um Benno ... Eine »Musikbanda« kam aufs Schiff und spielte gellend auf ... Bei einer Frage um den Grafen Hugo von Salem-Camphausen verwickelte sich Benno in Gespräche mit Offizieren ... Seines fesselnden Eindrucks wegen gab man sich ihm gern hin ... Er studirte das eigenthümliche, zwischen Französisch und Wienerisch gehaltene Plauschen der österreichischen Aristokratie ... Der Erzähler dieser Geschichten hat das Wesen der meisten Menschen nach dem Durchtönen der von ihnen am häufigsten gebrauchten Vocale unterscheiden wollen, je nachdem die Menschen in A gesetzt sind (sie sind würdevoll und gleichmäßig), in I (sie sind verwundert und fröhlich), in O (Hypochonder), in U (Mystiker), in E (Tadelnde, Nergelnde, Mäkelnde). Die österreichische Aristokratie ist entschieden auf E gesetzt. Sie tadelt und kritisirt in einem fort ... Alle Erscheinungen fremder Küchen, Keller, Sitten sind ihr »mechant«; einiges wenige ausgenommen, das sie dann freilich auch ebenso entzückt »charmant« oder »supeeerb« findet, wozu das Zusammentreffen von Bedingungen gehören mußte, die Benno erst zu ergründen suchte ... Seltsame Welt, die ebenso viel Selbstbewußtsein wie einen plötzlichen Mangel aller Unterlagen offenbarte ... Selbst die allgemeine Heiterkeit und Lust schien sich zuweilen in eine nur vorgehaltene Maske zu verwandeln ...

Als Schnuphase in der Kajüte schnarchte, erwies sich Herr Calasantius dem Herrn Baron als ein Mann von Gefälligkeit ... Es war ein »nach Wien geheiratheter« Böhme ... Er hatte gehört, Benno würde in einem geistlichen Hause auf der Freyung wohnen und stellte nun den Paramentenhändler heraus ... Der Onkel Dechant hatte Benno an einen alten Freund und Correspondenten, den ehemaligen Chorherrn der Prämonstratenser, Herrn Pater Grödner, empfohlen, einen Gelehrten, der an öffentlichen Anstalten Unterricht gab ... Herr Calasantius Pelikan beschrieb den Mann und sein Haus ... Von seiner eigenen Niederlassung in der Currentgasse erzählte er, es wäre nahe jener Behausung, wo einst die allerseligste Jungfrau dem heiligen Stanislaus von Kostka erschienen wäre und ihm das Jesuskind zum Spielen aus die Bettdecke dargereicht hätte ... Der Herr Stadtrath würde bei ihnen wohnen ... Sein Schwager, der Herr Nepomuck Tuckmandl, wäre der Herbergsvater der Goldsticker, bewahre die Innungslade und ginge bei den Processionen voran ... Alles das würde jetzt wieder »so schön und neu« aufgerichtet und der Herr Stadtrath würde, im Vertrauen gesagt, unter sehr hoher Protection, einen »christlichen Gesellenverein« einrichten, was bei dem »Geist der Zeit« allerdings einige »Schwürigkeiten« haben würde ...

Auf jedes Uebermaß der Freude folgt Ernüchterung ... Schnuphase hatte nach dem Erwachen besorgliche Zustände – Nachwehen, Beklemmungen ... Die kommende große Stadt fiel ihm schwer aufs Herz ... Er beschwor Benno, ihn in dem Gewirr nicht zu verlassen ... Auch seine »Mission« flößte ihm Besorgnisse ein ... Er wiederholte in allem Ernst, daß er die »Audienz« lieber anträte mit »Unters–tützung« eines »gewöndteren Redners« ... Könnt' ich mich Ihnen doch nur ganz »öffenbören« – hauchte er ...

Nach Ihrer vornehmen Kiste zu schließen, sagte Benno, vermuth' ich, daß es der Protection des fürstlichen Kellermeisters bedarf, um in der ehrenvollen Eigenschaft Ihres Mitbeaustragten zu erscheinen ...

Schnuphase seufzte wie unter einer schweren Last ...

Es war schon dunkel, als endlich Nußdorf erreicht war ...

Die Mauth ist dann ein chemisches Reagens, das alle Verbindungen löst ... Jeder muß an sich selbst denken ...

Benno fuhr auf diese Art in die innere Stadt allein ...

Der aufgehobene Chorherr der Prämonstratenser, Herr Pater Grödner, war vollkommen unterrichtet und nahm ihn freundlich, wenn auch etwas befangen, in einem großen geistlichen Hause auf ...

Der Onkel Dechant hatte ihm vorausgesagt: Pater Grödner ist ein Hypochonder, wie im Grund ganz Wien nur deshalb ausgelassen lustig ist, um seine plötzlichen Anfälle von Hypochondrie zu vergessen ...

Benno erhielt einige ganz ihm allein angehörende Zimmer ...

So spät es war, eilte er den Abend doch noch ins Freie ... Das Gefühl: Hier leben dir eine Mutter – eine Schwester! drohte ihm die Brust zu zersprengen ... Jede weibliche Gestalt, die er an sich vorübergehen sah, betrachtete er mit prüfendem Auge ... Von Angiolinen hatte er gehört, daß sie Lucinden ähneln sollte ...

So schritt er planlos dahin und athmete ebenso das allgemeine Leben der großen Stadt wie das Geheimleben, das diese Steinkolosse gerade nur für ihn erschließen sollten ... Erst ein Regenschauer führte ihn nach Hause zurück ... Da der Chorherr ihn in nichts stören wollte, fand er ein Nachtmahl für sich allein ...

Am folgenden Morgen war das Wetter wunderschön ... Es hatte die Nacht hindurch geregnet ... Eine laue Luft wehte wie im Frühling ... Sein Wirth war schon freundlicher ... Der lange hagere Herr, bejahrter als er aussah, lud zu einer Spazierfahrt ein, sogar zum »Speisen« in Hietzing ... Er wollte vom Dechanten, von Monika, von der Seherin von Westerhof hören ... Und mit der Aebtissin der Hospitaliterinnen, Schwester Scholastika, bei welcher Monika so lange Jahre im Kloster gelebt hatte, war er auch bekannt ... Selbst von Bonaventura hatte er gehört ... Er sprach von Ceccone ... Dieser wohnte ganz nahebei ... Benno wollte die Depeschen an den Cardinal und den Staatskanzler übergeben ... Der Chorherr schlug einen Fiaker vor, den man nehmen wollte, um alle diese Commissionen mit Bequemlichkeit auszurichten ... Er gehörte, nach Aufhebung seines Klosters, schon seit Jahren einer höhern Studienanstalt an, die gerade Herbstferien hatte ... Alle Erläuterungen, die er gab, begleitete er mit einem eigenen seufzenden Lächeln ... Er sprach nicht drei Worte, ohne sich nicht selbst zu ironisiren ...

Als sie einen Fiaker genommen hatten, fuhren sie erst bei Ceccone in einem nahen und bescheidenen Palais vor ... Benno gab die Briefe von der Stellvertretung des Kirchenfürsten ab ...

Ihre Adresse ist nicht nöthig, sagte der Chorherr mit trockener Ironie ... Wo Sie wohnen, das weiß heute früh schon jeder – Polizeivertraute ...

Auf der Herrengasse vor dem Palais des Grafen Salem-Camphausen ertheilte ein Portier in den Camphausen'schen Farben den Bescheid, daß die Frau Gräfin verreist und der Herr Graf auf Schloß Salem wäre ... Benno übergab ein an diesen gerichtetes Billet, das er für diesen Fall bereit gehalten ...

Sie bringen dieser Familie die Erlösung, sagte der Chorherr, und müssen doch erst selbst anklopfen! ... Gerade wie in der Pastoraltheologie! ...

Noch ehe Benno aus seinem Nachsinnen erwacht war, stand der Wagen vor der Staatskanzlei ...

Auch hier stiegen beide aus und übergaben dem Portier die Briefschaften ...

Pressant! sagte der Chorherr zum Portier ... Se. Durchlaucht lesen die Briefe lieber des Morgens als des Abends ...

Der Portier hatte ihm die Briefe mit zu vielem Gleichmuth in seine Loge gelegt ...

Daß doch die Posten selbst für die Staatsmänner nicht sicher sind! sagte der Chorherr beim Einsteigen. Ich glaube, es kommt daher, weil die Staatsmänner ein schlechtes Gewissen haben und die Behandlung der Brieffelleisen kennen ... Wenn Sie Geheimnisse haben, mein Bester, so nehmen Sie nur ja erst Oblaten und dann Siegelwachs ... In solchem Fall muß wenigstens das Couvert abgerissen und aufrichtig darauf geschrieben werden: »Mangelhaft verschlossen« – –

Die Empfehlungen an ein Haus Zickeles wollte Benno abzugeben noch aufschieben ...

Haben Sie noch sonst eine Commission in der Stadt? ...

Benno kämpfte mit sich, die Namen Angiolina Pötzl und die Herzogin von Amarillas zu nennen ...

Er unterdrückte den Reiz und gab gern seine Zustimmung, daß nun der Wagen pfeilgeschwind zum Burgthor hinausfuhr ...

Die Unterhaltung konnte nur Erläuterung zu den bunten, mannichfach wechselnden Eindrücken der Fahrt sein ...

Maria Treu das! sagte der Chorherr auf eine Kirche deutend ... Wir haben Maria Stiegen – gehört jetzt den Jesuiten ... Maria Treu – gehört den Piaristen – La même chose – Maria Schnee – gehört den Italienern. In Rom zählt' ich fünfundzwanzig Marienkirchen ... Ich war in Rom ... Ei, da sehen Sie, auf dem Gebirg ist die Nacht schon Schnee gefallen! ... Da zu, wo Schloß Salem liegt ... Kennen Sie die Sage von Maria zum Schnee? ... Einige hundert Jahre nach dem Tod unsers Herrn und Erlösers wußte ein reicher Römer keinen Platz, wo er eine Kirche hinbauen sollte ... Die Gottesmutter erschien ihm und zeigte ihm den esquilinischen Hügel, auf dem die Nacht Schnee gefallen war ... Es ist ein ganz sinniger Zug, daß man den Italienern auch hier die Kirche »Maria Schnee« gegeben hat. Maria Schnee ist das Symbol von Rom in seinem Verhältniß zu Deutschland ...

Benno konnte sich allmählich denken, daß die Freundschaft des Onkels Dechanten für diesen Chorherrn wohlbegründet war ... Doch mochte er sich nicht von selbst in sein Inneres drängen ...

Bei dem zu Hietzing in einem besondern Cabinet eingenommenen Mahle ergab es sich, daß der Chorherr jene sich auf sich selbst stützende Kraft des reichen Klosterlebens alten Styls repräsentirte ... Ein lebhaftes Unabhängigkeitsgefühl trat immer mehr zu Tage ... Und beim Wein löste sich die Zurückhaltung des unterrichtet und höchst scharf urtheilenden Mannes vollends ... Der Chorherr war ein Bürgerssohn aus dem Salzburgischen, hatte große Reisen gemacht, gelehrte Werke herausgegeben und stand seit der Aufhebung seines Prämonstratenserstifts nur noch im losen Zusammenhang mit dem Klerus ... Immer heiterer und heiterer wurde er ... Das ganze gleichsam zurückgetretene Liebesgefühl und Liebesbedürfniß des katholischen Priesters, das sich bei würdigen Naturen in einem nicht zu misdeutenden Bedürfniß nach männlicher Freundschaft und namentlich zu Jünglingen ausspricht – wodurch gutgeartete höhere katholische Priesternaturen eine seltene Befähigung zur Erziehung gewinnen – kam auch bei dem bisher so trockenen alten Herrn ganz zum Vorschein ... Er konnte die Hand des jungen Mannes wie ein Verliebter drücken ...

Beim Dessert sprach der Chorherr schon wie ein Vater mit seinem Sohn ... Es war ihm nichts fremd von dem, was die Welt bewegte ... Nun kam das alles heraus ... Er las, was nur dem Gebildeten zu kennen geziemt ... Und sein Gelesenhaben und Wissen war, nun blitzte auch das auf, wie eine geheime Waffe gegen seinen eigenen Beruf, eine geheime Rüstung für die künftige Zeit ... Wie Benno die Donaureise beschrieb und freimüthig auf die Zeiten zu sprechen kam, wo, wie der Jesuitengeneral einst zu Terschka geklagt hatte, sieben Achtel der österreichischen Lande protestantisch waren, – wie er dann vollends den Bauernaufstand des Stephan Fadinger erwähnte und bei Gelegenheit der Wohnung Schnuphase's die Weigerung des frühern lutherischen Hauswirths des heiligen Stanislaus, das Allerheiligste in sein Haus kommen zu lassen – da sagte der Chorherr unerschrocken:

Wir werden noch einmal wieder zurückkommen müssen auf das sechzehnte Jahrhundert, mein Lieber! Wir werden noch einmal da anfangen, wo der gute Luther stehen geblieben ist, ehe die Habsucht der sächsischen und hessischen Fürsten den seltenen Mann in Beschlag nahm und die Ausartungen seiner Reform ihn erschreckten! Freilich ist ein Volk, das in einer Wallfahrt ein Gemüthsbedürfniß befriedigt, ein Volk, das sich zu einer Bruderschaft vom »Todesschweiß des Erlösers« zahlreich einschreiben lassen kann, nicht sofort durch Kant und Hegel für die Aufklärung zu gewinnen. Das Kreuz des Erlösers wird die Reform immer mittragen müssen! ...

Benno hörte die Ansichten Bonaventura's ...

Nach Tisch wandelten beide jetzt schon Vertrautgewordenen in dem bereits entlaubten herrlichen Park von Schönbrunn ...

Der Chorherr legte seinen Arm in den Arm seines jungen Freundes ... Mit dem Blick auf die Außenwelt, mit dem herbstlichen Laub, das vor ihnen der Wind dahinfegte, kehrte die Hypochondrie des Greises zurück ...

Das herrliche sonnige Wetter hatte die Käfige der Menagerie geöffnet ...

Benno folgte dem Zuge der andern Spaziergänger, folgte dem Lachen über die Kunststücke der Affen, dem Brüllen der Löwen, dem Gekrächz der Vögel ... Der Chorherr gab nach, obgleich er sagte:

Diese Gefangenen machen mich melancholisch ... Bestien gehören in die Wüste und der Mensch steht gar so feige vor dem Gitter und freut sich, daß er im Sichern ist ...

Wie sie im Strom der andern den Behältern näher gekommen waren und vor einem mächtigen Königstiger eine elegante Gesellschaft von Herren und Damen fanden, die mit italienischen Anrufen das unruhig hin-und hergehende, schon bedenklich den Schweif schlagende Thier reizten, sagte der Chorherr:

Und das fehlte nun auch noch! Die feigste Nation von der Welt hat hier Courage ...

Die Neckenden schienen sämmtlich Italiener zu sein ...

Einige Offiziere waren darunter, die der italienischen Nobelgarde angehörten ... Einige andere gehörten zum Civil ...

Den Mittelpunkt bildete eine einzige kleine junge Dame, die sich im Necken des Tigers bis zur Ausgelassenheit gefiel ... Die schlanke und gestreckte Gestalt des aufgescheuchten Thieres wand sich in gleichmäßigen Schritten bald rechts, bald links ... Das grünlichgraue Auge funkelte phosphorartig; es war auf die leuchtenden Farben des Kleides und vorzugsweise eines kleinen Sonnenschirms der jungen Dame gerichtet, die nicht aufhörte, mit einer rauhen befehlshaberischen Stimme den Tiger anzureden und in steigende Gereiztheit zu versetzen ...

Plötzlich fiel der kleine Sonnenschirm in den Behälter des in kurzen Sätzen stöhnenden Thieres, aus dessen Augen helle Funken zu sprühen schienen, Vorboten der ausbrechenden Wuth ...

Die italienischen Herren lachten laut auf ...

Benno, der dicht dabeistand, hörte vom Chorherrn die verächtlich geflüsterten Schiller'schen Worte:

»Herr Ritter, ist Eure Liebe so heiß,

Wie Ihr mir's schwört zu jeder Stund',

Ei, so hebt mir den Handschuh auf!« ...

Die sämmtlichen Umstehenden schienen entweder kein Deutsch zu verstehen oder nichts von der Schiller'schen Ballade zu wissen ...

Die Italienerin war jedoch vollkommen von dem eigensinnigen Temperament des Fräuleins Kunigunde im Gedicht ... Wie ein verwöhntes Kind beklagte sie ihren Ombrello und verlangte ihn zurück ...

Die Herren sprachen vom Wärter, den sie rufen wollten ...

Der Tiger kümmerte sich nicht, wie wenn er ihm doch gehörte, um den etwa einen Fuß vom Gitter entfernt liegenden Gegenstand, sondern ging nur nach wie vor schnaubend auf und nieder oder stellte sich zuweilen zum Sprunge ... Das Thier bot alle Veranlassung, ohne den Wärter den Sonnenschirm ruhig liegen zu lassen ...

Jetzt erst sah Benno das Antlitz der Kleinen ...

Es war äußerlich ein halbes Kind und doch zeigte sich eine Entschiedenheit der Mienen, die erschrecken konnte ... Die Haut, an sich zart und pfirsichweich, spielte ins Grüngelbe ... Die Augen schwarz, die Lippen rubinroth, die Zähne blendendweiß ... Das in Flechten unter dem Hute sichtbare Haar hatte ein echt italienisches Blauschwarz ... Die Augenbrauen riß sie hoch auf wie aus Zorn, Verlegenheit und Beschämung ... Alle Zähne sah man ... Ihr Wesen hatte selbst etwas Thierisches ...

Am ungeduldigsten und eifrigsten, dem fortwährend um ihren Ombrello klagenden Kinde von vielleicht schon zwanzig Jahren eine Beruhigung zu gewähren, zeigte sich ein junger eleganter Mann von derselben Unreife der äußern Erscheinung, doch mit ebenso sichern und lebhaften Manieren ... Die Kleine warf dem Dandy in gelben Glacéhandschuhen vor, daß er nicht einmal zwei Schritte bis ans Gitter zu gehen wagte aus Furcht vor den möglicherweise durchgesteckten Tatzen des Tigers ...

Die andern Italiener lachten und machten Späße über die Anwendung, die ein bengalischer Tiger von einem mailänder Sonnenschirm machen könnte ... Sie wollten jedoch nur den Wärter rufen ...

Die zornige junge Dame war nahe daran, um den Sonnenschirm herauszuholen, einem der Offiziere den Degen aus der Scheide zu ziehen ...

Perché ella ha quello spiedo! sagte sie ...

Inzwischen hatte Benno statt des »Bratspießes« sein leichtes Spazierstöckchen verkehrt ins Gitter gehalten und mit dem Griff desselben, während die linke Hand den erschrocken ihn ergreifenden Chorherrn zurückhielt, den Sonnenschirm aufgegabelt und herausgezogen ... Der Tiger blieb stutzend stehen ...

Mit dem geläufigsten Italienisch übergab Benno der ihm überrascht ins Antlitz sehenden Dame den Schirm:

Anche le fiere del deserto cognoscono la civiltâ, que si deve alle signore! ...

Grazie, Signore! sagte die junge Dame mit einer plötzlich veränderten Stimme ...

In diesem Dank, in dieser leichten Verbeugung lag eine Anmuth, die selbst den Chorherrn bestimmte, zu sagen:

Der Blick war es freilich werth, die »Artigkeit der Wüstenthiere auch gegen Damen« zu riskiren! ... Aber ein merkwürdiges Gesicht das! ... Ich möchte fast sagen die Schönheit der Häßlichkeit ... Eine Stumpfnase, eine gewölbte Stirn, ein mürrisch hängender Mund, aber alles wie der Blitz in Brillantfeuer verwandelt durch ein einziges Lächeln! ...

Benno fiel Lucinde ein ... Lucinde war schöner, edler gewachsen; aber bei der Fahrt von St.-Wolfgang nach Kocher am Fall im vorigen Jahre hatte sie so im Wagen neben ihm gesessen, so von phantastischen Schlössern geträumt, ganz mit diesen verklärt bestrickenden Augen ...

Die Italiener waren inzwischen verschwunden und hatten sich zu »Dommayer's« wahrscheinlich erst jetzt begeben ...

Benno und der Chorherr fanden ihren Wagen am Eingangsportal des Schlosses ...

Diese italienischen Nobili, die die Politik hier zu einer Garde vereinigt, sagte der Chorherr, kommen mir vor, wie sonst die Heerführer der alten Deutschen bei den Römern als Geiseln lebten ... Sie sollen die deutsche Weise annehmen und in Mailand keine Verschwörungen machen ... Es wird aber damit werden, wie mit dem Arminius ... Der lernte auch in Rom nur die Handgriffe der römischen Kriegskunst und schlug damit die Römer ... Vom Schwert dieser Italiener droht uns allerdings wenig Gefahr; aber sie haben Dolch und Gift und – Rom ... Doch – was thu' ich – hüten Sie sich ja, hier von Politik zu sprechen! ... Das Spionirsystem erstreckt sich bis ins Innerste der Familien ... Was die Polizei nicht thut, thut die Loyalität von selbst ... Die Sucht nach Auszeichnungen und Anerkennungen ist so groß, daß hier Menschen auf die gemüthlichste Weise mit Ihnen scherzen können und Sie dennoch denunciren – aus »Patriotismus« ... Wer weiß, ob Sie vor mir sicher sind! ...

Benno ergriff lächelnd den Arm des Greises und drückte ihn an seine Brust ...

Auf seine Aeußerung, daß denn doch wol Rom ein treuer Verbündeter des Kaiserstaats wäre, erwiderte der Chorherr:

Man glaubte eine Zeit lang, daß Cardinal Ceccone seine Macht verlieren würde ... Seine Gegner im Vatican, besonders Fefelotti, schienen zu triumphiren ... Aber es scheint, er hat mit den Jesuiten ein Compromiß getroffen und hält nun wieder alle Bannstrahlen in seiner Hand ... Sein Auftreten bei uns ist bedeutungsvoll ... Alles, was man für die innere Reform unserer Kirche gehofft hatte, scheint verloren ... Die unglückselige Manie der Fürsten und Staatsmänner, nur Eine Gefahr, die der Revolution, zu sehen, macht sie wider Willen zu Beförderern des Aberglaubens und der Hierarchie ... Der Staatskanzler haßt die Jesuiten ... Aber sie nehmen seine Devise an und sagen: Nous sommes conservateurs comme vous! ... Was will er machen! ... Dafür, daß wir den Jesuiten Deutschland geben, erbieten sich wieder die Jesuiten, an Oesterreich Italien zu lassen ... Doch in diesen italienischen Köpfen ist es selbst unter dem Purpurhut nicht geheuer ...

Benno, Ceccone's Stellung und die Zähmungsmittel der Jesuiten vollkommen aus seinem eigenen Dasein kennend, fragte schüchtern nach dem Cardinal und ob sein Gönner ihn gesehen hätte ... Er wagte nicht, tiefer zu dringen ...

Hier noch nicht! erwiderte der Chorherr ... Aber vor Jahren sah ich ihn in Rom ... Ich machte eine Reise dorthin zu einer Zeit, wo unser Deutschland noch erst wenig von der römischen Curie beachtet wurde ... Wie unschuldig nimmt sich auch unser deutsches Kirchlein Maria dell' Anima in Rom aus! ... Franzosen und Spanier haben sich da seit Jahrhunderten wahrhaft königlich zu vertreten gewußt ... Unser Kirchlein aber, das hat so etwas nur vom tyroler Geschmack und dennoch macht es den Eindruck des ehrlichsten und aufrichtigsten aller Gotteshäuser in Rom ... Auf die Phantasie wirkt's nit, das ist wahr; nur ein reines Herz und rechten Drang zum Beten muß Eins mitbringen, um darin Gefallen zu finden ... Aber – ja – vom Ceccone sprach ich ... Den sah ich öfters ... Ihn und die meisten Cardinäle ... Man muß sagen, diese Monsignori sind Menschen, für die Gott ein eigenes Paradies und eine eigene Hölle muß erschaffen haben ... Sie scheinen alle noch wie aus dem Stamm des Cäsar Augustus zu sein ... Quos ego! und das so mit einem smorzando – ganz nur so hingelächelt ... Neptun's Dreizack geschwungen mit weißen Ballhandschuhen – wie Sie auch immer Se. Heiligkeit sehen werden ... Sie wollen ja nach Rom? ... Immer hat der Heilige Vater, auch wenn er die Völker segnet, weiße Handschuhe an ... Diese Cardinäle! .. Da wird das Unmögliche möglich mit einer – kopfabschneiderischen Grazie ... Die Art, wie blos allein diese Ceremonienmeister des Himmels über die Marmorböden schreiten oder wie sie die Messe lesen, falls sie die vollständigen Weihen haben – – das »laßt« sich gar nicht beschreiben ...

Benno war im steten Bangen um die endliche Erwähnung seiner Mutter ...

Der Chorherr ließ in der Stadt vor dem Bankierhause Marcus Zickeles halten ...

Es war die Mittags- und Börsenzeit ... Er fand niemand als einen Buchhalter, dem er seine Creditive überreichte ...

Am Abend besuchte er das Kärthnerthortheater, wohin ihn der Chorherr nicht begleitete ...

Von der Herzogin von Amarillas erfuhr er durch Erkundigungen in den ersten Hotels, daß sie im »Palatinus« wohnte ... Er näherte sich mit klopfendem Herzen diesem Gasthof, sah das Eingangsthor mit Dienern in prächtigen Livreen besetzt, hörte italienisch sprechen ... Von einem Mohren hieß es, er gehöre dem Principe Rucca ... Mit der sogenannten »Gemüthlichkeit« der Wiener stand die kurze Art, wie er da und dort auf seine Fragen Auskunft ertheilt bekam, nicht immer im Einklang ...

Am folgenden Morgen sprach der Chorherr seine Verwunderung aus, daß noch kein Lebenszeichen von der Nuntiatur und der Staatskanzlei gekommen ...

Benno erwiderte:

Wie wäre denn das möglich ... Ich brachte keine Empfehlungsbriefe ... Man erwartet mich hier nur in der Herrengasse ... Wie weit ist Schloß Salem? ...

Mindestens vier Stunden! sagte der Chorherr und lud Benno zur Besichtigung der Gemäldegalerie im Belvedere und dann zu einem Spaziergang im Prater ein ...

Die Urtheile des Chorherrn über die Schätze der kaiserlichen Bildergalerie waren treffend und zeigten ein Bindeglied mehr zwischen ihm und dem Onkel Dechanten ... Wie warm und lebendig wurde er im Gegensatz zu »Maria vom Schnee« über Rafael's »Maria im Grünen«! ... Wie still und ruhig das alles ist! sagte er im Anschauen ... Die Kinder spielen noch mit dem Kreuz, das sie künftig tragen sollen! ... Und fast hastig führte er Benno zu Carlo Dolce's Bild: »Die Wahrheit« – analysirte es und sah sich dann scherzend um mit den Worten: Warum ein solches Bild – noch nicht verboten ist! ...

Beim Verlassen der nur flüchtig durchwanderten Säle zeigte der Chorherr eine italienische Villa mit noch grünem Rasen ... Der Sommeraufenthalt des Staatskanzlers! erklärte er ...

Zum Prater wurde ein Fiaker genommen ...

Als sie den schon völlig laublosen großen Park erreicht hatten, stiegen sie aus ...

Der Chorherr rief plötzlich:

Schauen Sie da! ... Ist das nicht Ihre gestrige Dame? ...

Eine Cavalcade von Reitern sprengte durch die Alleen ... In ihrer Mitte eine Reiterin, auf deren Identität mit der gestrigen Tigerbekanntschaft der Chorherr nur der Offiziere wegen schloß, die wieder der italienischen Garde angehörten ... Sie ritten zu schnell vor über, um sie zu erkennen ...

Inzwischen gingen sie weiter ... Der Chorherr nannte den Prater öde und langweilig ... Nur die Abendsonne, sagte er, macht ihn schön ... Wenn man so hinschlendert und sein Tagewerk vollbracht hat ... Dann freilich kommt die Schönheit – wie so oft – aus unserm Gemüth ...

Nach einer halben Stunde kamen sie zu dem im Prater befindlichen großen »Hamburger Berg«, dessen Schaustellungen und Sehenswürdigkeiten ...

Eine große Menagerie kündigte sich durch ihre ausgehängten Bilder, Papagaien und Affen an ...

Zieht Sie schon wieder so ein Spectaculum? sagte der Chorherr fast ärgerlich, als Benno einer dicken hinter Vorhängen sitzenden Dame zunickte, die auf dem Dampfboot ihre verspäteten Käfige begleitet hatte ...

Benno berichtete nur vom Dampfboot ...

Da plötzlich unterbrach ihn der Chorherr und zeigte auf die in der Nähe stehenden dampfenden Rosse der vorhin gesehenen Cavalcade ...

Die Italienerin wird schon wieder vor den Käfigen der wilden Thiere sein ... sagte der Chorherr und rief dann aufhorchend:

Da! ... Hören Sie! ...

Und in der That hörte man drinnen eine laute Stimme italienisch rufen ... Mitten durch das kurz ausgestoßene, fast hustende Brüllen eines gereizten Thieres vernahmen sie die Worte:

Eh! Tu! Muove ti! Dormi? Non essere si pigra! ...

Diese anstachelnden Worte, so unweiblich die Situation war, die sie begleiteten, übten auf Benno sowol wie den Chorherrn den Reiz, daß sie die Hütte betraten ...

In der That waren es die Italiener von gestern ... »Der weibliche Zwerg«, wie der Chorherr übertreibend sagte, stand diesmal mit der Reitgerte vor dem Käfig einer jungen Löwin und reizte sie zu einer solchen Wuth, daß warnend schon der Aufwärter herbeilief ...

Benno sah voll Staunen dem wilden Spiel der Italienerin zu ...

Die junge Löwin sprang bald an die Gitterstangen, bald rannte sie im Kreise und stieß Töne aus, die wie aus dem Widerhall einer mächtigen Felsenhöhle kamen ...

Im schwarzen Tuchrock, mit der linken Hand die lange Schleppe haltend, stand das kleine Wesen von gestern, dessen Kopf wenig über die Stellage, auf der der Käfig ruhte, hinausragte, und schlug mit der Reitgerte bald nach links, bald nach rechts in die Stäbe hinein ...

Wieder lachten die Herren und bedeuteten den Wärter, der Signora nicht ihr Vergnügen zu rauben ...

Schon lauschte die geputzte »Marchand' mod'«, wie sie auf dem Dampfschiff geheißen hatte, eine Holländerin, an dem rothen Vorhang ... Schon wurde ein junger Mann, ihr Begleiter, von ihr angerufen, sich ins Mittel zu legen, als die Italienerin von ihrem Uebermuth plötzlich abließ ...

Sie hatte Benno erblickt ...

Mit kalter Ruhe stand sie noch eben vor dem Käfig und trieb ihr Spiel ... Jetzt war sie wie entwaffnet ... Ein fast rosiger Hauch der Freude überflog sie ... Mit dem Schein der mädchenhaftesten Schüchternheit senkten sich die langen blauschwarzen Augenwimpern ... Mit schneller Fassung und plötzlich ihre Stimme mildernd sagte sie zu Benno:

Ecco il domatore delle bestie feroci! ...

Benno erwiderte – halb nur für sich –:

Ecco la Romana! ...

Perché Romana? fragte sie, scharf aufhorchend ...

Benno hatte »Romana« betont ...

Una lupa e stata la nutrice di Romolo ... sagte er, sprach aber wieder wie nur zu ihr allein ...

Ohne sich von der Voraussetzung, daß auch sie von einer Wölfin könnte genährt worden sein, getroffen zu fühlen, schloß sie sich Benno an zum Weiterwandeln ... Sie gingen die Käfige entlang ... All ihre Aufmerksamkeit für die wilden Thiere war verschwunden ... Sie wollte nur Benno festhalten, nur mit dem sprechen ... Ehrerbietig grüßte sie seinen Begleiter, in dem sie am langen Oberrock den Priester erkannte ...

Kennen Sie Rom? begann sie, noch über und über erglüht ...

Ich bin im Begriff, es kennen zu lernen ... sagte Benno ...

Sie reisen nach Rom?! ...

Ein Ausdruck der äußersten Freude kämpfte in ihren Mienen mit der Verlegenheit, sich in der ganzen Wirkung zu verrathen, die ihr schon seit gestern der junge anziehende Fremdling gemacht zu haben schien ...

Noch würde das Gespräch in kurzen Fragen des höchsten Interesses und in ausweichenden Erwiderungen so fortgegangen sein, wenn nicht ein tragikomisches Ereigniß dazwischengetreten wäre ...

Der elegante junge Mann mit den gelben Glacéhandschuhen von gestern war gleichfalls zugegen und etwas vorausgegangen ... Schon befand er sich am Ende der Breterbude, wo ein Elefant auf einer Art kleiner Bühne unter gemalten Drapperieen eingepfercht und an einem seiner mächtigen Füße festgebunden stand ... Das gewaltige Thier war vor den Zuschauern völlig frei ... Ehe sich der junge Mann seines Schicksals versah, hatte der sich schlängelnde Rüssel eine Schwenkung um ihn her gemacht und ihm in dem Augenblick, wo die Offiziere warnend Altezza! riefen, den Hut abgenommen ...

Die Altezza, demnach ein Fürst, stieß einen Schrei: Gesú Maria! aus, taumelte zurück und sank in Ohnmacht ...

Die Italienerin stand inzwischen, noch wie von Liebeswonne durchschauert ... Sie schien so abwesend, daß sie die Ursache des Rufs nicht verstand und nur den zusammenbrechenden jungen Mann sah, der noch in seinen Beinkleidern mit den Sporen obenein festhakte, an die Breterwand stürzte, die den ersten vom zweiten Platz trennte und sich wirklich die Stirn blutig schlug ...

Benno sah dies kaum, als er schon hinzugesprungen war und die Altezza aufgefangen hatte ...

Bei Nennung jener fürstlichen Würde befiel ihn jetzt ein Bangen ...

Der Hut war vom Wärter schon wieder zurückgegeben worden ... Die Begleiter hatten sich geflüchtet ... Sie schienen über den Elefanten ebenso erschrocken wie die Altezza ...

Voll Aerger über die störende Scene und im Nu ihren ganzen Gesichtsausdruck verändernd, sagte die Italienerin zu Benno's Begleiter:

Sehen Sie da, warum man lieber die Thiere liebt, als die Menschen! ...

Aqua! Aqua! E una carozza! rief sie gellend hinterher ...

Der Fürst fing an sich zu erholen, versuchte zu lachen und erschrak wieder über seine blutigen Handschuhe ...

Benno übergab ihn aus seinen Armen in die seiner Begleiter ... Er wagte nicht weiter mitzugehen, als bis an die Vorhänge ... »Altezza!« ... Waren nicht seine Mutter und Olympia in Begleitung eines italienischen Principe Rucca angekommen, des Verlobten Olympia's? ...

Die Italienerin rief ergrimmt aufs neue:

Non viene la carozza? Fatte subito! Al monte Palatino! ...

Palatino! ... Es war gewiß ... Doch »Monte Palatino«? ...

Dann zu Benno rasch sich wendend, warf der süßeste und zärtlichste Mund von der Welt wie mit Zaubermetamorphose und fast leise ihm ins Ohr die Worte:

Besuchen Sie uns – den Principe Rucca – morgen um elf Uhr ...

Wie sie das gesagt, verschwand sie – voraussetzend, daß Benno nicht folgen würde. Aber in ihrem Abschiedsblick lag ein Ausdruck aller Seligkeiten der Erde und des Himmels, ja als wäre Psyche überwunden worden von Amor ...

Das ist eine Eroberung! brach der Chorherr aus, als Benno wie betäubt stehen blieb ... Und Al monte Palatino! setzte er lachend hinzu ... Sie glaubt, der Gasthof zum »Palatinus von Ungarn« hätte seinen Namen von einem der sieben Hügel Roms ... So sehen diese Menschen überall nur sich ... Deutschland ist ihnen nichts als eine römische Vorstadt, wo zuweilen Schnee fällt ... Ich zweifle gar nicht, es ist die – Nichte des Cardinals Ceccone, eine Comtesse –

Maldachini! fiel Benno aus seiner Erstarrung kaum aufathmend ein ...

Eine Verlobte des Prinzen Rucca, den Sie – aus dem Felde geschlagen haben, Bester! Haha! ... Sie flüsterte Ihnen ja ein Rendezvous zu ... Um elf Uhr ... Auf dem Mons Palatinus! ...

Meine Mutter – die dritte in diesem Bunde! – riefen tausend Stimmen in Benno's Innern ...

Mit bebendem! Herzen und tiefbeklommenen Athems verweilte Benno noch einige Augenblicke ... Dann traten beide gleichfalls hinter den Vorhängen ins Freie und sahen, wie eben die Herren zu Pferde stiegen und ein herbeifliegender Miethwagen den Principe Rucca und die Italienerin aufnahm ...

Benno ließ nur den Chorherrn reden, der von der Weichlichkeit der italienischen Aristokratie sprach, leise Andeutungen über den Cardinal gab, der einen einzigen Winter nicht ohne seine gewohnten Umgebungen zu sein vermochte, vom Prinzen Rucca erzählte, daß sein Urgroßvater ein Bäcker gewesen – in Rom wäre alles käuflich, Grafen- und Fürstenhüte – nur die Cardinalshüte stünden noch im Preise ...

Der Name der Herzogin von Amarillas wurde in Pater Grödner's Geplauder nicht erwähnt, auch der nähere Zusammenhang Olympia's mit Ceccone zwar »möglicherweise« als das des Kindes zum Vater leise und ironisch angedeutet, aber ohne genauere Kenntniß des wahren Ursprungs, den Benno vollkommen wußte – wußte bis zu den Namen der Gebrüder Biancchi, deren Schwester die Mutter Olympia's war ... Luigi Biancchi, einer der Brüder des Napoleone und Marco Biancchi, sollte in dieser Stadt Musiklehrer sein ... Alles das war ihm durch seinen Bruder, den Präsidenten, vollständig bekannt geworden ...

Auch der Chorherr nahm jetzt einen Wagen ... In dem Lärm der Stadt verhallte der empfangene Eindruck und die Benno durchzitternde Empfindung: Das Schicksal ruft dich selbst zu deiner Mutter! ....

Daß er morgen um elf Uhr im Palatinus nach – dem Befinden des Fürsten fragen würde, stand fest bei ihm ...

Daheim fand er Karten von Stadtrath Schnuphase; auch von einem Herrn Harry Zickeles, der Einladungen zurückgelassen, das Großhandlungshaus Zickeles zu jeder Abendstunde als ein offenes zu betrachten ...

Es strömte dann ein anhaltender Regen ... Benno verbrachte Stunden der höchsten Aufregung auf seinem Zimmer ... Die Aufgabe, die ihm für morgen gestellt war, erforderte seine ganze Manneskraft ...

Gegen Abend erst ging er aus, suchte den »Palatinus«, gerieth in die Herrengasse, wo das vom Grafen Hugo empfangene Billet nun die morgenden Palatinus-Absichten durchkreuzte und ihn zwischen Mutter und Schwester, wen er zuerst sehen sollte, wählend stellte, kam mit irrendem, hin- und hersinnendem Grübeln in die Vorstellung des »Hamlet«, erlebte, daß Olympia es war, die in der Loge des großen Kanzlers neben seiner Mutter die Gläser auf ihn gerichtet hielt, ihm durch das ganze Theater hindurch auf italienische Art mit ihrem Taschentuch ein Zeichen des Grußes gab; erlebte, daß die Mutter das Lorgnon auf ihn richtete – – Die versagende Kraft trieb ihn aus seiner Loge – in Begleitung eines Mannes, der den Namen seiner Schwester trug!

6.

Um den Weg in seine Wohnung zu finden, konnte sich Benno keiner zuverlässigeren Hülfe bedienen, als des Herrn von Pötzl, der gleichfalls Hut und Regenschirm genommen hatte und ihm gefolgt war ...

Ueber den Namen dieses Mannes hatte sich Benno beruhigen wollen ...

Schon daheim, wo er so oft dem Kattendyk'schen Hausfreund begegnete, dem alten Pfleger der Bologneserhunde, dem als Gesellschaftsheloten benutzten Spaßmacher Ignaz Pötzl, der sich darum doch einen Thaler nach dem andern in die Sparkasse trug, hatte er diesen nicht weiter nach seiner wiener Verwandtschaft gefragt, seitdem einmal dessen Antwort lautete, der Pötzls gäb' es wie Sand am Meer und »mit einem alten Junggesellen, der einen Nothpfennig hinterließe, wäre dann auch noch alle Welt verwandt, ohne Pötzl zu heißen ...«

Fühlen Sie sich jetzt besser? hörte Benno hinter sich her reden. Die Luft wird Ihnen gutthun ... Ja, es ist ein überlebtes Gebäude! ... Wär's eine Kasern', so wär' sie längst umgebaut ...

Benno mäßigte seinen Schritt ...

Wo aber, lieber Herr, wo wohnen Sie denn? ... Vielleicht an der Mölkerbastei? ... Das wäre gerade auch mein Weg ...

Benno wohnte an der Freyung ...

Das kaum gesagt, war auch das gerade Herrn von Pötzl's Weg ...

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen ...

Wie sich beide vor dem Gewühl der Wagen durch ein schnelles Laufmanöver über die Fahrstraße hinweg sichern wollten, rief Herr von Pötzl einen an ihnen vorüberschießenden Herrn an:

Gehorsamer Diener, Herr von Zickeles! ...

Es war noch ein junger, schon mit starkem Embonpoint versehener Mann, der eben aus einem berühmten Laden mit »G'frornem« trat und noch rasch hinüber in die Vorstellung wollte ... Eine Mittheilung über ein misrathenes neues Stück in der Vorstadt mischte sich in seinen Gegengruß und zugleich die Frage, ob doch Herr Müller noch nicht seine große Scene gehabt hätte und ebenso ein forschender Blick auf Benno –

Benno, Herrn von Pötzl's Verlangen bemerkend, seinen Namen zu erfahren, ein Verlangen, das er hinter einer künstlichen Verlegenheit, ihn nicht vorstellen zu können, verbarg, fragte, ob Herr von Zickeles dem Hause gleiches Namens angehörte ... Er hätte eine Karte von »Harry Zickeles« gefunden ...

Mein Gott! ... brach Harry Zickeles aus, bekannte sich als Abgeber der Karte und rief: Doch nicht etwa der Herr Baron von Asselyn? ...

Benno überraschte mit der Bejahung Herrn Harry Zickeles ebenso, wie Herrn von Pötzl ...

Das ist ja einzig! rief Letzterer und hätte alle Vorübergehende über diese Spiele des Zufalls zu Zeugen anrufen mögen ... Gerade der »Herr Baron von Asselyn« war die Persönlichkeit, die »beide« »gesucht« hatten ... Herr von Pötzl demaskirte sich als Bruder des alten Komikers Ignaz Pötzl, der ihm von der Reise des Herrn »von« Schnuphase und von dem Herrn von Asselyn ausdrücklich »geschrieben hätt'« ... Aber nein! ... Und Sie geben mir nicht einmal die Ehre! ... Die Freud' und die Ueberraschung! ...

Benno hatte keine Anweisung auf die Bekanntschaft dieses so außerordentlich gefälligen Mannes erhalten ...

Dennoch ließ er es nun an dem Schein einer engern Verbindung mit dem Bruder nicht fehlen ... Machte er damit doch eine offenbare Freude und bahnte vielleicht seine Forschungen an ...

Die Erinnerung an den alten Thaddädlspieler zeigte das ganze »G'müth« des Herrn von Pötzl ... Jede Nuance der Charakteristik seines Bruders unterbrach er mit einem glückseligen: »Ja! Ja!« ... Und als Herr von Zickeles den Witz machte: Sagens doch nicht, Herr Baron, daß er wohlauf ist! Herr von Pötzl hört viel lieber das Gegentheil! Er will ihn beerben! ... erfolgte von Herrn von Pötzl nur ein einziges: »O Sie –!« Es lagen alle Schäkereien der Welt in dem Ton ...

Herr von Zickeles gab, wenn auch mit einigem Zögern, den »Hamlet« und den Applaus eines jungen Schauspielers auf, der auch an ihn empfohlen war ... Laërtes, den Herr Müller »spüllte«, hatte seine Hauptscene erst im letzten Act ... Herr von Zickeles ruhte nicht, bis der Herr Baron von Asselyn versprach, sofort, »aber auch auf der Stell'« in den Salon seiner Aeltern mitzukommen ... Jeden Abend wären sie nach dem Theater daheim und der Herr von Asselyn wäre vollends von seiner gerade aus Paris anwesenden Schwester Bettina Fuld und von deren Begleiterin, dem Fräulein Angelika »von« Müller, aufs allerallerdringendste erwartet ...

Angelika Mütter! ... Welch ein Mollaccord! ... Sanft und wohlthuend verbreitete er sich über Benno's erschrecktes Gemüth ... Er wollte folgen ... Hier war von keiner Willensfreiheit mehr die Rede ... Harry Zickeles hatte ihn schon unterm Arm ...

Herr von Pötzl folgte in Verklärung ...

Herr von Zickeles ließ nicht eher ab, bis sie alle drei vor dem Portal seines älterlichen Hauses standen ... Es lag jenseit des Grabens dicht in der Nähe eines großen Platzes, des »Hohen Marktes« ...

Herr von Pötzl war etwas schweigsamer geworden, aber so gleichsam, als wenn der Ueberstrom der Gefühle ihm die Worte raubte ...

Als Herr von Zickeles am Hause seiner Aeltern geschellt hatte, zog er die Uhr und sagte:

Freilich – glauben Sie wol, Herr von Pötzl, daß der Laërtes jetzt aus Paris zurückkommen ist? ... Ich bitt' schön, führen Sie den Herrn Baron zu meinen Aeltern hinauf ... Ich hab' – Der junge Mann ist mir und merkwürdigerweise auch – der Kaiserin Mutter empfohlen worden – Sehr ein hübsches Talent! – Ich – Oder – Doch lieber – Kommen Sie, Herr von Asselyn, ich führe Sie erst selbst auf und dann spring' ich noch ein bissel in den letzten Act ...

Nun keuchte der junge dicke Mann die Treppe voran ... Das Haus war viel heller erleuchtet, als das Palais des armen Schuldners der Zickeles, des Grafen Hugo ...

Auf der Mitte blieb wieder der Theaterfreund stehen, zog wieder die Uhr und schien die größte Angst zu haben, die Scene seines Günstlings, dem er, wie Herr von Pötzl elegischironisch sagte, seine gewohnte Protection durch einen stürmischen Applaus zugesagt hatte, zu versäumen ...

Endlich waren alle drei im ersten Stock angelangt ... Hier klingelte Herr von Zickeles und erst, wie er sicher war, daß der öffnende Bediente den Gast direct aus seiner Hand empfing und die Anmeldung fest hatte: »Herr Baron von Asselyn!«, bat er für eine halbe Stunde um Entschuldigung und stürzte, um im Burgtheater sein gegebenes Mäcenatenwort zu lösen, davon ...

Sehr ein vortrefflicher Mensch und – Kunstkenner! sagte Herr von Pötzl mit seiner jetzt entschiedener ausbrechenden maliciösen – Gemütlichkeit ...

Dann setzte er, beim Ausziehen der Oberröcke, Benno ins Ohr flüsternd hinzu:

Sie werden, wie ganz Wien weiß, hier erwartet wie der Onkel aus Amerika oder das Manna in der Wüste! ... Gebe der Himmel, daß Ihre Mission an den Herrn Grafen von dem glänzendsten Erfolge gekrönt wird! ...

Auf Benno's Lippe bebte die Frage: Wie aber kommst du und die arme dann geopferte Angiolina zu einem und demselben Namen –? ... Doch er mußte in die Salons der reichen Bankierfamilie treten ...

Herr von Pötzl »führte ihn auf« unter einer Flut von gemüthvollsten Reden, in denen er alles haarklein erzählte, was sich zum Erstaunen und »wie in einem Roman« seit dem Eingang zum Burgtheater bis zum gegenwärtigen Augenblick in Herrn Baron von Asselyn's Leben und dem seinigen zugetragen hätte ...

Die Räume waren erhellt, aber noch leer ...

Nur der Herr Vater, Herr Marcus Zickeles, und die Frau Mutter und noch einige ältere Herren und Damen waren anwesend ...

Sie bildeten Whistpartieen, die im vollen Gange waren, sodaß trotz der freundlichsten Bewillkommnung die noch nicht zu Ende gespielten Partieen eine ausführlichere Begrüßung unterbrachen ...

Der Vater und die Mutter verwiesen ihn mit aller Freundlichkeit auf den jüngsten Sohn des Hauses, der ihm besonders von Seiten der Mutter mit hoher Genugthuung und den Worten vorgestellt wurde: Mein Sohn Percival! ...

Percival Zickeles war noch ein unreifer, etwas schüchterner Jüngling, dem, wie es schien, der erste Buchhalter beispringen mußte, um die Honneurs zu machen ...

Benno war es sehr zufrieden, daß ihm selbst Herr von Pötzl, der seines »Aufgeführten« Bedeutung leise tuschelnd da und dorthin mittheilte, einige Ruhe ließ ...

Was lag nicht alles centnerschwer auf seiner Brust! ... Selbst die harmlose Erwähnung Angelika's, der »ewigen Verlobten« Püttmeyer's, weckte Erinnerungen, die ihn haltlos wie in Lüften schweben ließen ...

Angelika Müller trat auch wirklich ein ... Sie, in gesellschaftlichem Putz und Staat – Sie, die alte verblühte Erzieherin – sonst in einem halben Nonnenkloster – hier in einem israelitischen Hause ...

Kaum sah sie Benno, so stieß sie einen Schreck-und Jubelruf aus, der für die alte »Frau von Zickeles« im Spiele störend schien ... Sie wandte sich um und – stumm reichte Angelika jetzt Benno die Hand ... Ihr Lächeln war das alte ... Es zeigte die ganze Reihe ihrer riesigen, aber weißen, schön erhaltenen Zähne ... Eine lange Rosaschleife erstreckte sich von den mühsam zusammengelesenen blonden Haaren in den Nacken ... Sie trug ihre Arme, so mager sie waren, entblößt ... So befiehlt das Sklavenleben des Gouvernantenthums, den innern und äußern Menschen den Umständen gemäß zu metamorphosiren ... Auch den innern Menschen! ... Es war Angelika Müller und sie war es auch nicht ... Ein Jahr in Paris und auf Reisen – und dienen, dienen müssen fremden Launen ... Da sprach sie schon von Armgart wie von einer Jugenderinnerung ... Freilich gab es in Armgart's Leben die allerüberraschendsten Veränderungen ... Armgart in dem ihr sonst so verhaßten England! ... Näheres wußte sie nicht von ihr ... Nur durch Püttmeyer war die »treue Seele« im Zusammenhang mit ihrem alten Leben ... So mußte wol Benno erzählen ... Er that es voll Liebe und Güte und Schonung Püttmeyer's ... An diesem hielt Angelika unverbrüchlich fest ... Sie hatte in Paris für sein System gewirkt; sie hoffte auch in Wien einige rechtgläubige Spätlinge der Naturphilosophie für die Philosophie der Kegelschnitte gewinnen zu können ...

Frau von Zickeles wurde aufgeregter ... Die Gesellschaftsdame ihrer Tochter schien ihr zu sehr im Vordergrunde zu stehen ... Sie spielte zwar noch Whist, unterließ aber nicht, ihrer sich jetzt mehrenden Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen ... Nach jeder Karte, die sie ausgespielt hatte, rief sie: Joseph! Das galt dem Bedienten ... Oder: Pepi! Das galt dem Hausmädchen ... Fräulein Müller! Das galt der Gesellschafterin ihrer Tochter, der Frau Bettina Fuld ... Wenn sie: Percival! ihren Jüngsten, rief, so war es ein Ton besonderer Zärtlichkeit ... Sie hatte dem »hoffnungsvollen« Knaben nach einem Lieblingsdrama der Zeit diesen Namen nachträglich statt seines ursprünglichen »Pinkus« gegeben ...

Angelika Müller bekam Augenwinke, die ihr sagten, daß in den Zimmern außer dem Herrn Baron auch noch andere Herrschaften wären ...

So näherte sich denn dem »Herrn Baron« wieder Herr von Pötzl, zog die Dose, offerirte und genoß die Zinsen von dem auf den Fremden bereits gewandten Kapital von Zuvorkommenheit ... Er flüsterte über den Grafen Hugo ...

Den Kampf, ob er morgen den Besuch im Palatinus oder die Reise nach Schloß Salem aufgeben sollte, hatte Benno schon zu Gunsten seiner geschäftlichen Pflicht entschieden ...

Auf seine Aeußerung, er würde morgen früh dem Grafen Hugo auf Schloß Salem aufwarten, unterließ Herr von Pötzl nicht, die schöne Gegend, den Charakter des Grafen zu schildern, kleine satyrische Seitenhiebe hineinzuwerfen und ihnen wieder eine Fülle von Gemüth folgen zu lassen ...

Die Veränderung wird außerordentlich werden! sagte er ... Und wahrhaftig! Die Zickeles sind sehr dabei interessirt! ... Wo nur Herr Leo bleibt! ... Leo ist das Geschäft nächst dem Vater ... Ganz Metalliques, blos Abends Wohlthätigkeitsschwärmer ... Ich vermuthe, er sitzt in diesem Augenblick Comité ... Das Talent, ein gutes Herz zu zeigen, Herr Baron, ist in Wien sehr cultivirt, aber – kostspielig ... Herr Leo von Zickeles wird deshalb wol auch nie heirathen ... Er sieht sich seine Medaillen, Ehrenpatente, seine gedruckten Thränen der Witwen und Waisen an und behält sein von tausend Zähren des Dankes emaillirtes Herz für sich allein ...

Joseph! rief hier die Mutter ... Hat Herr von Asselyn G'frornes? ...

Joseph präsentirte ...

Herr von Pötzl fuhr fort:

Den zweiten Bruder, den Herrn Harry haben Sie schon kennen gelernt ... Auch der ist Vormittags aufrichtig Metalliques ... Aber die übrige Zeit gehört dem Enthusiasmus für Ruhm und schöne Künste ... Sie sehen, daß er sich viertheilen lassen kann, wenn er einem Schauspieler an einer gewissen Stelle einen Applaus versprochen hat ... Es ist schon vorgekommen, daß er einem Maschinisten »auf der Wieden« befohlen hat, an einem Abend eine Störung hervorzurufen, nur damit ein andres Stück herausgebracht werden mußte, als dasjenige, wo er ein gegebenes Applausversprechen wegen eines anderweitigen Theater-oder Concert-Engagements nicht erfüllen konnte ... Harry Zickeles führt jede in der Theaterzeitung neuangekündigte Unsterblichkeit, wenn sie nach Wien kommt, in die hiesigen Hallen des Ruhmes ein ... Sein größtes Leidwesen ist dabei nur, wenn sich sein Herz zwischen zwei Gegnern in zwei Hälften theilen muß ...

Pepi! rief die Mutter ... Hat der Herr Baron G'frornes? ...

Pepi präsentirte ...

Herr von Pötzl flüsterte:

Der dritte Sohn, Percival, ist, wie Sie wol schon an dem träumerischen Jüngling gemerkt haben werden, ein dichterisches Genie ... Vor zwei Jahren erst bekam er den Vornamen Percival ... Er hat Romanzen geschrieben wie Heine, blos daß er zur Abwechslung auch einmal den Palmenbaum, statt von einer Tanne, von einer Akazie geliebt sein läßt – Wissens, von wegen der »Grazie« ... Auch hat er einen »Ahasver« unter der Feder, in dem die geniale Idee vorkommen soll, daß Ahasver sich nach Wien begibt und im »Stock am Eisen« einen Nagel vom Kreuz des Erlösers einschlägt, gerade noch den letzten, der hinein geht, wodurch ihm die selige Ruh' zu Theil wird ...

Percival! rief die Mutter ... Hat Herr Baron G'frornes? ...

Percival fuhr wie aus Morgenrothsträumen auf, strich sich seine schönen langen schwarzen Haare zurück und machte eine Miene, als hätte ihm nur eine Geisterstimme gerufen ... Allmälig besann er sich aber auf den irdischen Begriff des »G'frornen« und offerirte davon mit einer Miene weltschmerzlichen Duldens ...

Herr von Pötzl nahm ihm die Schüssel ab mit der freundlichsten Anrede:

Sie, mein liebster bester Herr Percival! ... Ich glaub' fast, Sie sind schon wieder einen halben Zoll gewachsen ...

Percival schien die Anerkennung seiner Jugend gern zu hören und lächelte ...

Die Frau Bettina von Fuld – die kennen Sie? ... fragte dann Herr von Pötzl, als sie wieder an einem andern Fenster allein standen ...

Benno mußte diese Voraussetzung verneinen ...

O sie muß sogleich erscheinen ... Mit ihrem Gatten, der etwas in das diplomatische Fach spielt – ein Changeant, das in Homburg und Baden-Baden viel Geld kosten soll ... Dann ist noch die jüngere Schwester, die Jenny, da ... Die ist noch »im Kärnthnerthor«, wo eine abgeleierte Oper von Bellini gegeben wird ... Sie hat eine famose Stimme ... Wenigstens glauben das die Aeltern und der Professor Biancchi – ja – kennen Sie den Namen? ... Das ist derselbe, den Sie heut im Theater sahen ... Der wird nicht Ursache haben, diese Ueberzeugung von Jenny's Stimme zu bestreiten – denn er »laßt« sich die Stund' mit einem Dukaten zahlen ... Sie werden ohne Zweifel heute noch Gelegenheit haben, sich von dem Raffinement dieses Italieners mit dem Pergamentgesicht, das Sie heute sahen, näher zu überzeugen ... Kommt er mit, so laßt er sie singen ... Ich sage: laßt sie ... Denn das ist höchst merkwürdig ... Diese Musikprofessoren haben über ihre Schülerinnen eine Autorität wie ein Abrichter über seine Affen ... Wann der Alte in den Salon tritt, kriegt die Junge regelmäßig einen innern Ruck, wie eine Braut vor ihrem kommenden Bräutigam ... Vor keinem Menschen hat sie Courage, allein zu singen ... Steht aber der alte Italiener dabei und schlagt mit seiner unerschütterlichen Pierrotmaske die Noten um, so geht's: Perfido! Crudele! –

Mamsell Müller! rief jetzt wieder Frau von Zickeles ... Hat der Herr Baron G'frornes?

Angelika hüpfte zum Whisttisch ... Sie war so in Träumen versunken, daß sie nur den Ruf, nicht den Auftrag gehört hatte ...

Biancchi – Biancchi –! ... Auch über diesen Namen mußte Benno tiefbeklommen athmen ...

Angelika carambolirte inzwischen mit Herrn von Pötzl, der sich selbst unterbrechend mit der süßesten Miene und wie zum Kniebeugen anbetend auf Damen zulief, die eben ins Zimmer traten und vielleicht die Verlästerten selbst waren ...

Immer größer und größer wurde der Zustrom ...

Frau von Zickeles zankte mit dem Fräulein Müller über das, »was sie nicht gewohnt wär' zweimal zu sagen« und verwies sie jetzt auf die Ankommenden ...

Angelika's Rosabänder flogen einer Dame entgegen, die mit leuchtenden Augen lachend eintrat ...

Frau Bettina Fuld kam von der »Wieden« und berichtete über die im dortigen Theater gehörten, »unerhörten Plattitüden« ... lachte aber doch noch bis zum Ersticken darüber ... Benno erfreute sich des angenehmen Eindrucks, den er zum ersten Mal empfing ...

Dagegen war Herr Bernhard Fuld ihm zwar äußerlich bekannt, doch mußte er sich erst allmälig in ihm zurecht finden, denn er war so mit Bart überwachsen, daß man keine Physiognomie herausbekommen konnte ... Er trug sein Band der »ehrlichen Legion« ...

Benno fühlte Mitleid mit dem Grafen Hugo, zu dessen Leben er hier die Reversseite sah ...

Jetzt kam denn auch Harry zurück ... Er hatte noch dem Laërtes, als er die Rede für Opheliens und seines Vaters Tod gehalten, stürmisch applaudiren können, war dann nebenan in die Loge zur »Resi Kuchelmeister« gegangen und brachte diese und auch den Herrn Professor Biancchi mit ...

Noch erschien eine andere ältere auch der Musik angehörende Persönlichkeit, der Professor Dalschefski, ein Pole ... Es gab eben einen Zank, dessen Ursache Benno, den seltsamen Italiener, Bruder der alten Carbonari Marco und Napoleone fixirend, nicht sogleich ergründen konnte ...

Alles das ging bunt durcheinander und noch bunter, als nun auch Leo Zickeles aus einem seiner Wohlthätigkeitscomités nach Hause kam ... Die Whistpartieen waren zu Ende, die Spieler standen auf und eine Nebenthür wurde geöffnet, wo compactere Speisen auf einem Tische standen, auf den die Hungernden »wie die Wölfe« zufuhren ... Resi Kuchelmeister brauchte diesen Ausdruck ... Sie freute sich Benno wieder hergestellt zu sehen und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten schon – doch zugleich scharf ihn etwas musternd ...

Der alte Herr von Zickeles trat vertraulich zu Benno ...

Nach einigen Ermahnungen, sich einen Teller zu füllen, nahm er ihn bei Seite und erörterte den Stand der Angelegenheiten des Grafen ...

Ja, sagte er, Seine Erlaucht sind auf dem Schlosse Salem ... Die Frau Gräfin Mutter Erlaucht werden von Schloß Westerhof erwartet ... Hat die Comtesse Paula von Dorste-Camphausen eingewilligt? ...

Benno konnte keine Auskunft geben ...

Hm! fuhr der alte Herr fort ... Sie, Herr Baron, bringen doch vom Herrn Oberprocurator Nück schon die Stipulationes der Agnaten ...

Der Graf soll sie zuvor unterschreiben ...

Die Schuldenlast ist sehr groß und meine Lage nicht darnach, länger Geduld zu haben ... Ich würde Salem und Castellungo subhastiren müssen ...

Castellungo? ... Das gehört der Mutter ...

Schon längst hat sie es für den Herrn Sohn verpfändet ... Ohne den Zwischenfall mit Terschka wären wir schon näher am Ziele ... Die Urkunde – Allen Respect, Herr von Asselyn – Ich kenne Ihre Ansichten nicht – aber doch – sehr eine verdächtige Geschichte ...

Herr von Zickeles wollte sagen: Terschka hat im Auftrag Roms das Schloß angesteckt und dann eine falsche Urkunde producirt – Wenigstens las Benno diese Ansicht in den scharfen Mienen des Handelsherrn, der keineswegs zu Scherzen geneigt schien ...

Benno antwortete:

Terschka ist ja Protestant –

Protestant –! lächelte Herr von Zickeles und flüsterte: Die Jesuiten lassen ihn auch sein Protestant ...

Mit einem so furchtbaren Streiflicht über Terschka's Flucht und Aufenthalt in London stand Benno eine Weile sich allein überlassen ... Denn die Töchter umschmeichelten eben den Vater, fielen ihm um den Hals, liebkosten ihn – natürlich, um dabei auch den fremden Baron, dessen begeisterte Prophetin schon lange Angelika Müller gewesen, näher in Augenschein zu nehmen ...

Herr von Zickeles ließ sich Kinn und Wange streicheln, sagte auch der hinzugekommenen Resi Kuchelmeister viel Artiges, war ganz nur Patriarch und fuhr dann doch, als die Frauen forthüpften, streng wieder fort:

Sie werden es auf Salem sehr öde und einsam finden ... Falls Sie bis dahin zurück sind, seien Sie doch den Mittag morgen bei uns zu Tisch – Und überhaupt – Herr von Asselyn, an jedem Tag finden Sie bei uns Ihr Couvert ... Wenn die Gräfin zuletzt mit der wirklichen Entscheidung eintreffen sollte –

Herr von Zickeles konnte nicht weiter reden ... Auch Leo Zickeles nicht, der hinzugetreten war und sich ins Geschäftliche mischen wollte – Mein Gott, was ist! mußten Vater und Sohn zu gleicher Zeit fragen ...

Jenny weinte laut ... Weil Professor Biancchi mit Resi Kuchelmeister »eine Verschwörung« gegen sie eingeleitet hätte ... Eben jetzt erst hatte sie erfahren, daß Biancchi heute Dalschefski's Platz im Burgtheater benutzt und die Resi begleitet hätte ... Sie hatte bisher den Grund, warum er heute nicht im »Piraten« war, vergebens erforscht ...

Soviel etwa verstand Benno von der Ursache des Streits ...

Der Vater ging besorgt in das vordere Zimmer ... Frau von Zickeles folgte in großer Aufregung ...

Leo, der älteste Sohn des Hauses, der Wohlthätigkeitsschwärmer, ein ruhiger, kaltprüfender Mann, schenkte Benno Wein und sagte, ohne sich um den musikalischen Lärm zu kümmern:

Ja, Sie werden den Grafen sehr in Verstimmung finden! Aber man kann ihm doch nur Glück wünschen, daß namentlich auch – das Verhältniß aufhört mit dieser – Angiolina ...

So war das vernichtende Wort gefallen ...

Angiolina? sagte der hinzutretende Harry lächelnd und löste Leo ab, der von seinem Schwager, dem Diplomaten, in Anspruch genommen wurde ...

Haben Sie auch schon von dem Fräulein Pötzl gehört? fragte er und sah sich dabei schmunzelnd und scheu nach Herrn von Pötzl um ...

Wie hängt Herr von Pötzl mit – fragte Benno in abgebrochener Rede ... dieser – Dame – zusammen? ...

Bei Leibe, flüsterte Harry und drückte seine kleinen Augen vollends zu; nur nichts laut davon! ... Sie ist Herrn von Pötzl's Pflegetochter ... Er kennt sie aber seit Jahren nicht mehr, will auch nichts mehr von ihr wissen ... Auch zu uns kam sie sonst ... Herr von Terschka führte sie auf ... Später ging's nicht mehr – des Verhältnisses mit dem Grafen wegen, der sie als Kind hatte erziehen lassen und dann – ... Sie wissen ... Nur die Einzige, die sie noch zuweilen sieht, ist da die Resi ... Das ist überhaupt ein lieber Narr! ... Resi's Vater war unser erster Buchhalter und hinterließ ihr ein hübsches Vermögen ... Seitdem wohnt sie mit einer Tante und will seit zehn Jahren schon zum Theater ... Sie weiß aber nicht, daß das mit ihren fünfundzwanzig Jahren zu spät wird ... Meine Schwestern sind mit ihr auferzogen worden ... Sagen Sie ihr aber um Himmels willen nicht, daß Sie der Employé sind, der die Heirath des Grafen Hugo mit der Gräfin Dorste, der Geisterseherin, arrangiren soll ... Sie kratzt Ihnen sonst die Augen aus, so intim war sie noch vor kurzem mit Angiolina, die wirklich sonst eine Pracht von einem Mädchen ist ... Aber hören Sie, wie die Resi jetzt den Biancchi zurecht stutzt ... Sie müssen wissen, die Therese wohnt in Einem Hause mit den beiden Musikmeistern, die zusammenwohnen, obwol sie ganz verschiedene Systeme haben ... Theresens Lehrer ist der Dalschefski, ein Pole, und der ist für deutsche Musik; und unsere Jenny, die hat den Biancchi zum Lehrer und der ist natürlich ein fanatischer Italiener ... Der Pole und der Italiener wohnen, wie gesagt, in einem Quartier ... Auf der Currentgasse ... Und von Haus aus sind sie die besten Freunde ... Im Vertrauen gesagt wegen der Politik ... Aber in der Musik hassen sie sich ... Nun können Sie sich die Eifersucht der beiden Mädchen denken! ... Unsre Jenny weint eben, weil der Biancchi heute mit der Resi ins Burgtheater gangen ist, während sie im Kärthnerthor allein saß! ...

Welche geringfügigen Leiden! dachte Benno ...

Mehr konnte Harry nicht mittheilen; alles wurde still, weil die beiden Freundinnen allein das Wort führten ...

Jenny, nicht so anmuthig, wie ihre Schwester Bettina, mit schärferer orientalischer Zeichnung, voller, drückte ihr Taschentuch vor die Augen und behauptete, die ganze Vorstellung des »Piraten« wäre ihr heute verdorben gewesen durch das vergebliche Warten auf Biancchi ... Und dieser Mann würde inzwischen von Theresen in Beschlag genommen! ...

Der Pole Dalschefski, ein magerer, schmächtiger Alter mit grauen Haaren, immer halb lächelnden, halb melancholischen Ausdrucks, sprach in gebrochenem Deutsch:

Mein Freund Biancchi – er hat sehen wollen – die Loge von großem Kanzler – wo sind gewesen heute die italienischen Herrschaften aus Rom – hab' ich ihm gegeben meine Platz – ...

Unbesonnen genug von Ihnen! entgegnete ihrerseits die Resi ... Der fremde Herr Baron, der durch Zufall Zeuge unsrer Leiden gewesen ist, wird es bestätigen können, daß der Maestro durch seine gehässigen Bemerkungen uns die ganze Vorstellung verdorben hat ...

Wenn Therese Kuchelmeister laut sprach, schien es, als wäre dies für alle ein Zeichen, zu schweigen ... Angelika Müller raunte Benno, der an dem Italiener immer mehr Interesse nahm, ins Ohr:

Das ist unsre Armgart – ins Wienerische übersetzt ... Sie ist natürlich – aber bis zur Grobheit einer Küchenmagd ... Hören Sie nur! ...

Angelika schien vorauszusetzen, daß es zwischen Benno und Armgart immer noch wäre wie sonst ...

Unter allgemeinem Lachen sagte Resi, indem sie von ihrem Teller ein Ragout aß:

Ueberhaupt diese Italiener! ... Nein, die listige Artigkeit erst, mit der er in die Loge kam statt des Dalschefski, bis sich dann seine wahre Natur enthüllte ... So ist's auch in unserm Hause ... Wann der »Obers« zum Kaffee den beiden Herren zu schlecht ist – und es ist ein Leiden mit der Milch in Wien, nicht wahr, Frau von Zickeles? – so schicken sie zu mir herunter und meine Tante laßt sich regelmäßig bestechen, wann sie gerad' oben eine Sonat' von Beethoven spielen hört ... Dann, denkt sie, hat unser guter Dalschefski da die Oberhand, das arme fromme Lamm das ...

Alles lachte ... Dalschefski kicherte, als kraute ihm eine sanfte Hand – das Fell ...

Mit unerschütterlicher Ruhe, einer Mumie gleich, verharrte Biancchi unter dem Gelächter und that, als wenn er überhaupt kein Deutsch verstünde ...

Dalschefski sagte zu Benno, der im Antlitz des Professors Aehnlichkeiten mit Napoleone, Marco Biancchi und – Olympien suchte ...

O, sie ist schlimm! ...

Jenny Zickeles stand ihrem Lehrer als einem willenlosen Opfer fremder Intriguen bei, brachte ihm von den Speisen und schlug den Flügel auf ...

Der Schwiegersohn des Hauses, Ritter Fuld, schien vor dem Moment des Singens seiner Schwägerin ein Grauen zu empfinden, retirirte sich und zog Benno auf ein Kanapee ins Nebenzimmer ... Seine Gemahlin kam ab und zu ... Sie lachte fast zu viel – »ihrer schönen Zähne wegen«, flüsterte Herr von Pötzl schon bei ihrem Eintreten ...

Jenny, ihre Schwester, sang indessen eine majestätische Arie von Caraffa ... Biancchi schlug die Noten um ...

Benno betrachtete in den Pausen, die ihm Ritter Fuld gewährte, den Italiener ... Es mußte der »Onkel« Olympiens sein ... Nur etwas Außerordentliches hatte diesen Feind der deutschen Sprache und Kunst ins Burgtheater ziehen können ... Wie sprach er von dem Kind seiner Schwester Lucretia ... War nicht über seine todten Mienen ein plötzliches wildes Erzittern gekommen? ...

Die Arie endete natürlich mit großem Applause ... Auch Resi und Dalschefski klaschten – um alles wieder gut zu machen ... Herr von Pötzl war Fanatismo und zog auch Benno in die Wirbel und Strudel seiner Bewunderung, ob er gleich ihm hinterher leise ins Ohr ein: Pitoyable! raunte ...

Jenny stand am Piano und hielt die Hand ihres geliebten Maestro mit einer Zärtlichkeit, als wollte sie sagen: Du mein Licht, meine Sonne, du Ursache meines höhern Seins, du Erkenner und Bildner meiner unvergleichlichen Stimme! ...

Signore parla italiano –? fragte sie, um dem geliebten Professor das Gespräch zu erleichtern ... Denn Benno mußte sich jetzt dem Sonderling nähern, dessen Empfindungen er vielleicht nur allein hier verstand ...

Dieser blieb so kalt wie Eis ...

Benno fragte ihn in seiner Sprache, ob er die italienischen Herrschaften, die ihn heute ins Burgtheater gezogen hätten, schon aus Rom gekannt hätte? ...

Jetzt blitzte über das gelbe Antlitz ein heller Lichtschein ...

Nein, mein Herr, erwiderte er trocken. Einmal diese Leute gesehen zu haben, ist schon zu viel ...

Lieben Sie so wenig Ihre Landsleute? entgegnete Benno ...

Diesen Principe Rucca? ... sprach Biancchi. Haben Sie das schwarze Pflaster gesehen? Der junge Affe hat sich wahrscheinlich den Kopf an einer Fensterscheibe zerstoßen und geht nun mit einem Pflaster ins Theater, um Oesterreich glauben zu machen, ein solcher Italiener könnte ein Duell gehabt haben ...

Benno erzählte die Ursache der Verwundung, nannte die junge Gräfin Maldachini und sah das Auge des Italieners unter seinen schwarzen Brauen immer mehr hin- und herzucken ...

Ja mit Bestien muß die spielen! ... sagte er und fixirte Benno mistrauisch, als müßte er Anstand nehmen, sich ganz auszusprechen ...

Dalschefski horchte gleichfalls schlau ... Beide Männer schienen in ihrem innersten Wesen noch etwas anderes zu sein, als was sie hier vorstellten ...

Benno erkannte immer mehr, daß er wirklich Luigi Biancchi, den dritter der römischen Flüchtlinge, vor sich hatte, in deren Familie sich Hedemann hineinheirathen wollte ...

Jenny war überglücklich, die neue Bekanntschaft des Hauses sofort mit Biancchi so eng verbunden zu sehen ...

Wie beide ihr der Hitze wegen in ein Nebenzimmer folgen sollten, Benno auf eine Bestätigung des Ursprungs der Gräfin Maldachini gefaßt sein konnte, unterbrach Resi, die gefolgt war, die zur nähern Verständigung einleitende Frage Benno's: Haben Sie nicht Verwandte, die in Frankfurt am Main und London leben? ... mit den deutschen Worten:

Der hat gar keine Verwandte! Der ist in Italien auf einem Holzapfelbaum ganz für sich allein gewachsen! ...

Benno hätte wünschen mögen, die neckische Plaudertasche hielte sich jetzt entfernt ... Er konnte voraussetzen, daß Biancchi sich in tiefster Herzensbewegung befand, so ruhig auch wieder sein Aeußeres erschien ...

Da er auf die erneute Frage nach dem »Bildhauer« Biancchi, wie Benno den Gipsfigurenhändler, und nach dem »Maler«, wie er den Restaurator nannte, nur ein Kopfschütteln als Antwort bekam, ließ er Resi's Spott gelten ...

Glauben Sie ihm das alles nicht! sagte diese ... Die Leute, die Sie da nennen, die sind allerdings sämmtlich seine Verwandte! ... Oder sie mögen nicht weit von seinem Stamm gefallen sein ... Aber Dalschefski muß ihnen regelmäßig schreiben, daß der Onkel im Spital läge und sich selbst von milden Gaben anderer Menschen sein Leben kümmerlich friste ...

Ha ragione! sagte Biancchi ruhig und nahm eine Prise, die ihm sein persönlicher Freund und Stubengenosse, wenn auch musikalischer Gegner und Rival Dalschefski präsentirte ...

Besuchen Sie ihn in der Currentgasse, Herr Baron, sagte Resi ... Ein Haus mit drei Höfen, berühmt durch den heiligen Stanislaus nebenan ... Jetzt gehört es der Handlung Pelikan & Tuckmandl ... Da werden Sie jeden Mittag um zwölf Uhr, Hof Nr. 3, Thür Nr. 17 rechts diesen von mildthätigen Gaben lebenden italienischen Bettler über einer Pastete von Rebhühnern und dergleichen und dem besten Wein Deutschlands finden, eines Landes, das er so gründlich verachtet ... Unsere Musik schlecht zu machen hat ihm in diesem charakterlosen Wien ein Vermögen von fünfzigtausend Gulden eingebracht ... Nachts fürchtet er freilich zur Strafe die deutschen Diebe – und darin hat er Recht, es wird in Wien fürchterlich gestohlen – Frau von Zickeles! In der Josephsstadt ist schon wieder eingebrochen! – Dann ruft er in seiner Angst dem Dalschefski und wenn dieser edle Pole, der die deutsche Musik trotz der drei Theilungen Polens ehrt, es vorzieht, um zwölf Uhr Nachts zu schlafen, so weckt ihn dieser grausame Tyrann, macht Licht und schmeichelt ihn aus dem Bett heraus mit dem Zugeständniß, daß Mozart manchmal ein Italiener gewesen wäre ... O, wir kennen alle seine Verwandte. Eine Frau Giuseppina Biancchi zieht in Castellungo die besten Seidenwürmer ... Graf Salem-Camphausen hat sich's eine Untersuchung kosten lassen, als er der Angiolina Stunden gab und ihn auch da einmal Terschka um seine Verwandte zur Rede, er sich aber darüber völlig unwissend stellte ...

Mit größter Ruhe entgegnete der Maestro auf diese für Benno tief ergreifenden Einzelheiten:

Es ist ja bekannt, daß dieser Herr Graf von Salem seine Finanzen durch allerlei dumme Possen ruinirt hat ...

Da man lachte, so brach Resi in ein parodirendes: Perfido! Crrrrrudele! aus im Ton der italienischen Oper, sprang zum Klavier, variirte noch eine Zeit lang in diesem Ton heftige Verwünschungen gegen Biancchi, ging aber allmählich wie von Rührung über die Erwähnung Angiolinens und die wol jetzt in Erfahrung gebrachte Mission des fremden jungen Rechtsgelehrten ergriffen, in andere Melodieen über und sang zuletzt Schubert's »Wanderer« mit einem erschütternden Ausdruck der Empfindung ...

Benno hatte indessen nicht den Muth, weiter zu forschen ... Ueberall sah er, daß er Anknüpfungen seiner Interessen, voll äußerster Verlockung, sich zu enthüllen, fand und immer, immer war dazu der Begleiter der Schmerz ... Er hörte die Thurmuhren draußen feierlich in den schönen Gesang hineinschlagen ... Es war wie ein Ruf aus dem Jenseits ...

Als Resi zu Ende war, hätte er gehen mögen ... Wie disharmonisch war der ausbrechende Beifall! ... Herr von Pötzl raste und kein vertrauliches: Pitoyable! folgte ... Resi aber würdigte gerade ihn keines Blicks ... Es war, als wollte sie sagen: Wir haben eine Loge zusammen – müssen gemeinschaftlich unsere kritischen Empfindungen im Burgtheater los werden – aber ein Urtheil über ein Lied von Schubert gestatt' ich dir nicht ...

Zuletzt gab man noch Benno für seinen wiener Aufenthalt allerlei gute Rathschläge ...

Bernhard Fuld warnte vor den Fiakern – Herr von Pötzl, ihm leise ins Ohr raunend, vor den »Spitzln« – Frau Bettina Fuld mit einer leisen Anspielung auf Terschka, über den sie mit ihm einiges gesprochen hatte (staunend und lächelnd; sie lächelte zu Glück und Unglück), vor den Böhmen – Harry vor den immer sehr schlechten Eckplätzen in den Theatern – ja selbst Percival, den der Schlaf übermannte, thaute noch einmal auf und äußerte sich ganz praktisch über das Institut der »Hausmeister«, das zwar Trinkgelder bedinge, aber den Besitz eines Hausschlüssels überflüssig mache ...

Resi sagte:

Die Hauptsache, Herr Baron, bleibt immer die, daß Sie sich nicht bestehlen lassen! In Wien stiehlt alles! Nicht blos die Raizen und Rastelbinder – das sind noch die ehrlichsten von allen! Nur draußen in der Vorstadt, aber auch da nur in der alleräußersten, gibt's noch ein bissel Ehrlichkeit! Ganz verlassen könnens »Ihnen« blos auf die Ungarn! Sonst stiehlt in Wien alles ... Die Raizen stehlen weil sie's brauchen ... Die Italiener stehlen, weil sie die Ehrlichkeit für einen Mangel an Geist halten ... Die Böhmen stehlen, weil sie so wißbegierig sind ... Die Raben entschuldigen sich ebenso ... Die Polen, lieber Dalschefski, nehmen Sie mir's nicht übel, die stehlen auch; sie haben das Bedürfniß, die Liebe ihrer Herrschaft in Prügeln bewiesen zu bekommen ... Ja und alle diese Motive zum Stehlen lassen sich noch hören ... Aber die schlechteste Nation, Professor Biancchi, sind in diesem Punkt allerdings die Deutschen! Die stehlen aus dem ganz gemeinen Grund, dasjenige, was andern gehört, lieber selbst haben zu wollen ... Ich sage das in voller Ueberzeugung und nicht blos deswegen, weil der arme Biancchi sich über das Schubert'sche Lied schon wieder ganz gelb geärgert hat und morgen am End' die Stund' hier absagen laßt ...

In solche und ähnliche lustige Reden hinein wurden die Mäntel, die Shawls und Hüte aufgebunden ...

Phantastisch aufgeputzt wurde Biancchi von Jenny und Dalschefski von der Resi ... Große Shawls hüteten die geliebten alten Maestri vor »Verkühlungen« ... Ein charakteristischer Zug aller gebornen Wiener war, daß sie nun noch einstimmig das Klima ihrer herrlichen Stadt verwünschten ... Frau von Zickeles entwickelte sich jetzt erst in einer längern Rede ... Angelika Müller pries dafür ihr Landhaus in der »Briehl« ... Sie seufzte auf wie eine Märtyrerin, Benno, als stünde sie an der Maximinuskapelle, zuflüsternd: Ich hoffe auf eine stille Stunde! ... Harry Zickeles ließ sich nicht nehmen, Benno nach Hause zu begleiten ... Alles schritt hinunter ... Man trennte sich ...

Herr von Pötzl benutzte Harry's Holen eines vergessenen Halsshawls, um Benno zu sagen:

Der Harry ist in Wien »Führer« par excellence ... Wo wäre ein neu angekommener Name, den er nicht des Morgens auf den Graben spazieren geführt und des Abends nach Hause begleitet hätte! ... Leo hat seine Wohlthätigkeitsdiplome, Percival seinen »Ahasver«, der Harry wird Ihnen noch sein »Album« anbieten ... Dieses sechs Pfund schwere Buch folgt ihm nach Mailand, Paris und London ... Was nur Namen hat in der wissenschaflichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Welt, hat da mehr oder weniger hineingeschrieben: »Hommage à mon ami Zickeles!« Er ist der einzige Mensch, dem sich Meyerbeer, Thalberg, Liszt und andere Genien im Nachtkamisol und in Unterbeinkleidern beim ersten Morgenbesuch zeigen und – »Genirens Ihnen nicht, Meyerbeer, ziehen Sie sich ruhig an, Ihr Freund Harry Zickeles raucht die Cigarre!« –

O bitt' schön, lieber Herr von Zickeles (unterbrach er sich) – da sind Sie ja ... Ja, Sie Charmantester ... Nur keine Verkühlung ... Mein Weg ist in die Josephstadt ... Herr von Asselyn ... Hab' mich unendlich gefreut ... Aber ich hab' noch die Ehre – ...

Auf die schärfste Satyre folgte der gemüthvollste Händedruck erst an Harry, dann an Benno, und nun wohnte Herr von Pötzl doch in der Josephstadt, während ihn so lange, als er über Benno noch nicht im Reinen war, sein Weg auch über die Mölkerbastei und auf die Freyung geführt hatte ...

Harry ergriff Benno's Arm wie den eines alten Bekannten und gab über den schnell davon Huschenden die Erklärung:

Herr von Pötzl ist sehr ein rangirter Mann – Witwer – ohne Kinder – Die Angiolina war seine Pflegetochter – Graf Salem ließ sie auf seine Kosten von ihm erziehen – Sonst ist er – ursprünglich, glaub' ich, ein verdorbener Architekt ... Er hatte das Geschäft gepachtet, im Prater die Buden aufschlagen zu dürfen ... Dann baute er selbst Häuser oder lieh Geld auf andere ... Das hat ihn in die Höh' gebracht ... Als seine Frau starb, verließ ihn die Angiolina und ihm war's ganz recht, denn er hat einen großen Nagel im Kopf und hieße gar zu gern der »Edle von Krapfingen«, was eine Besitzung ist, die ihm gehört .... Die Leute sagen – aber ganz unter uns – hier an dem Gebäude (Harry zeigte auf ein düsteres, Benno schon bekanntes Haus – die Polizei) kennt der Mann alle Hinter- und Seitenthüren ... Nehmens sich ein bissel vor ihm in Acht ... Wir haben allerhand Spitzln ... Bezahlte und unbezahlte ... Wenn Sie in der kleinsten Garküche speisen, so weiß man hier in dem Hause schon Abends, in was für Münze Sie bezahlt haben ...

An dem stillen Priesterhause, Benno's Wohnung, mußten die lehrreichen Aufklärungen ein Ende nehmen ...

Ein großer eiserner Klopfer wurde noch von dem gefälligen Harry angeschlagen ...

Die Thür ging auf ... Benno nahm Abschied und versprach, wenn er morgen zeitig vom Schloß Salem zurückkehren sollte, die Einladung zum Mittagstisch anzunehmen, sonst aber jeden freien Augenblick in dem unterhaltenden, gastfreien, so zwanglosen Hause zuzubringen ...

Nun schritt er durch matt erhellte Gänge und kam in seine stillen Zimmer, wo er suchen mußte, nach soviel kaum zu Ertragendem, das heute das Geschick ihm verhängte, im Schlummer die Kraft zu gewinnen für sein ferneres – »Freudvoll und Leidvoll«.

7.

Ein schöner Spätherbstmorgen lachte Benno schon so heiter und sonnig auf seinem Lager an, als wollte der Himmel sagen: Muth! Muth! Nun nicht gewichen! ...

Benno frühstückte auf seinem Zimmer mit dem Chorherrn, der bei ihm anklopfte, und erzählte seine gestrigen Erlebnisse ...

Zur Fahrt nach dem Schlosse Salem bestellte der freundliche Wirth sofort einen Einspänner, der Punkt neun Uhr vor der Pforte des geistlichen Hauses warten sollte ...

Aber wie nun um elf? Wie das Rendezvous im Palatinus? fragte er neckend ...

Benno berichtete noch von der Begegnung im Theater und nannte den Namen der Herzogin von Amarillas, über die der Chorherr nichts Näheres wußte ...

Sie müssen Ihrer Eroberung ein Lebenszeichen geben, sagte er, sonst kommt sie noch hier am Hause vorgefahren ...

Benno wollte im Vorüberfahren am »Palatinus« seine Karte abgeben ...

Dann erzählte er von dem Abend bei den Zickeles und schilderte den eigenthümlichen Gegensatz desselben zu der Lage, in der er den Grafen Hugo anzutreffen erwarten durfte ...

Auch diesen Beziehungen, die eine Schilderung der Macht der Börse veranlaßten, stand der Chorherr zu fern ...

Als Benno andeutete, daß ihm durch alles, was er hier in Wien und Oesterreich sähe und höre, doch ein eigenthümlicher Ton der Trauer mitten durch die Freude hindurch zu gehen schiene, eine Verstimmung, ein Mangel an Selbstvertrauen und doch auch wieder kein Vertrauen zu andern, eine bald excentrische Hingebung, bald ein geheimer Krieg aller gegen alle, kurz eine völlig atomistische Zerbröckelung dieses herrlichen großen Ganzen – da sagte der Chorherr, aufs äußerste erregt und vom gemeinschaftlich genossenen Frühstück aufstehend:

Das eben bricht mir ja das Herz! ... – Das erkennen Sie also schon, daß, wenn auch unsere Machthaber nichts lieber wünschen, als die Bestätigung des Rufes, in dem wir als ein Volk von Phäaken stehen, lebend nur dem immerfort sich drehenden Bratspieß, doch dieser Vergnügungstaumel, in den sich unsere Bevölkerung zu stürzen liebt, um so herbere Aschermittwochsstimmungen zurückläßt? ... Aus all dieser Lustigkeit hörten Sie schon heraus: Wien ist krank! ... Mein junger Freund, ganz Oesterreich ist es ... Der Wahrheitstrieb, der tief in diesem Volk begründet ist, findet keine Befriedigung ... So verwandelt er sich in Mistrauen, kühle Prüfung, zuweilen leidenschaftlich hervorbrechende Begeisterung und wieder ebenso rasch kommende Ironie seiner selbst ... Die einen macht ein solches Wesen schlecht, die andern macht es melancholisch ... Was soll einst daraus werden! ... Die Masse ist gemüthvoll, ist gerechtigkeitsliebend, aber von einer beängstigenden Unbildung und Maßlosigkeit ... Die Vorstädte werden an sich noch wie von den Anschauungen alter Frauen regiert, die an den Straßenecken die Gemüse verkaufen ... Ein Schrecken vor Kometen oder vor dem möglicherweise alle Tage wiederkehrenden Türken oder vor dem Staatsbankrott ist die feststehende Stimmung des allgemeinen Volksgeistes ... Nun dieser Drang nach Oeffentlichkeit, nach Auszeichnung ... Alles was in den Polen, Ungarn, Böhmen, Italienern, namentlich aber in der lebendigsten aller Nationen, in – dem todten Israel lebt, impft sich unserm Volk hier auf ... Herrlich, wenn das alles einen würdigen Gegenstand fände ... Aber dafür die strengste Censur, die Verfolgung der Meinungen, die Unterdrückung der Lehrfreiheit und – als Ersatz für alles das, was die Oeffentlichkeit entbehren muß, die immer enger und enger sich ziehende jesuitische Ueberstrickung ... Kirche und Schule, Wissenschaft und Kunst sollen vom »josephinischen« Geist gereinigt werden ... Einsehend, daß es unmöglich, das Licht, das man fürchtet, in Säcken und dunkeln Kutten aufzufangen, arbeitet man jetzt an einem andern System der Bekämpfung des Neuen ... Man erbaut Gegengebäude ... Man hört die Rathschläge aus dem Al Gesù in Rom ... Und dem allem stimmt die öffentlich geheuchelte Loyalität gleichsam zu und doch – im tiefsten Grund – ist's nichts als Lüge – ... An der Lüge geht mein herrliches Oesterreich zu Grunde! ...

Die magern Hände des Greises zitterten ... Sie krümmten sich ... Sein Auge war umflort ... Er mußte hundert Schritte im Zimmer auf und nieder machen, bis sich sein Blut beruhigte ...

Ein Hausdiener brachte einen Brief, den gestern Abend ein fremder Herr bei ihm unten geschrieben, versiegelt und an Herrn von Asselyn adressirt hatte ...

Er war von Schnuphase ...

Benno mochte nicht lesen ...

Als sie beide wieder allein waren, nahm der Chorherr die Gedankenreihen, die ihn so tief erschütterten, wieder auf ...

Unsere gegenwärtigen Regenten – sind gegen die Jesuiten ... Regenten wollen keine Theilung ihrer Herrschaft ... Aber die Strömung ist zu groß ... Sie kommt zu stark und von hoch oben ... Immer größer wird die Zahl der mittelalterlichen Fanatiker, die mit feierlicher Salbung das ausführen, was Gentz nur vom Standpunkt der bloßen Staatsraison leicht und heiter hinwarf ... Damit das germanische Element in Deutschland nicht ganz an Preußen übergeht, muß der Protestantismus in sich selbst verwirrt, verdunkelt und zum Bundsgenossen Roms gemacht werden ... Alle Richtungen, die im Denken und Empfinden der Zeit irgendeine Verbindung mit dem Mittelalter zulassen, sollen von jetzt an nur noch allein gepflegt und ausgezeichnet werden ... Ich habe das Gefühl einer bangen Zukunft ...

Der sich natürlich aufdrängende Gedanke an den großen Staatskanzler bestimmte Benno, den Brief Schnuphase's zu erbrechen ...

Er las:

»Hochwohldieselben nicht zu Hause getroffen, zu haben beklage schmerzlichst, bitte inständigst, jedoch Hochdero ergebensten Diener in dieser großen Stadt nicht verlassen zu wollen, sondern, ihm hülfeflehend die Ehre zu geben für übermorgen anberaumter Hoher Audienz bei seiner Durchlauchtigsten Staatskanzler Hochdero ergebensten Diener begleiten zu wollen, da meine Angst vor den vorhabenden Mittheilungen alles, übersteigt was in solcher Lage jemals, empfunden zu haben entsinnen kann. Adresse: Pelikan & Tuckmandl, Currentgasse. Hochdero gehorsamst Schnuphase, Stadtrath. In Eile.«

Benno zerriß den Brief, warf ihn in einen Papierkorb und schwieg von dem Inhalt ...

Feierlich zündete der Chorherr eine Kerze an und sagte:

Briefe, die man nicht aufbewahren will, muß man verbrennen ...

Eine lange Pause, während der er feierlich die Stückchen Papier verbrannte ... Rauchen Sie eine Cigarre! sagte er dann mit weicher Stimme ... Sie sind jung! ... Und kommen Sie nicht zu spät zurück ...

Benno drückte dem Gehenden die Hand ... Es war ihm bei dem trefflichen Mann so wohl, als wäre er beim Onkel in der Dechanei ...

Auf eine seiner Visitenkarten schrieb er in italienischer Sprache: »– bedauert, für heute verhindert zu sein, persönlich nach dem Befinden Sr. Hoheit zu fragen« ...

Es waren diese Worte für den Principe Rucca bestimmt ... Buchstaben, die sich von seinem Herzen, von seiner Hand langsam losrangen, wie ein Fürst die Bestätigung eines Todesurtheils schreiben mag ...

Dann nahm er die ihm von Nück übergebenen Papiere, schloß sie in ein größeres Portefeuille, nahm einen warmen Oberrock, verließ sein Zimmer und bestieg den kleinen Wagen, der am Hause hielt ...

Am Palast des römischen Botschafters fuhr er vorüber, wie vor einem geheimnißvollen Cocon, in den sich eine Raupe gehüllt hat, die ihm zum bunten Schmetterling werden sollte ...

Am Palatinus hielt er ...

Die Vorhänge an den Fenstern des ersten Stocks hingen noch hernieder ... Einen Troß von Menschen sah er wieder im Portal stehen ... Wieder den Mohren des Prinzen Rucca ...

Benno übergab aus dem Wagen dem Portier seine Karte ... Die Hand zuckte. Er erschien sich jener Apollin, an den Olympia als Kind hinaufsprang, um ihn zu zertrümmern ... Eine heiße Glut durchloderte ihn, wenn er dachte: Sie erwartet dich um elf Uhr in den Zimmern ihres Verlobten, findet deine Karte, auch die Mutter nimmt diese in die Hand, liest deinen Namen – Ceccone kommt hinzu – Du wirst in Kreise gezogen, wo die Verführung dich umgaukelt, wo jeder Schritt für dein Herz und dein Urtheil zur Fußangel werden kann! ... Wirst du in solcher Lage, mit allen aus ihr entspringenden Verbindlichkeiten der Verstellung ausharren können? ... Da war es ihm, als riefe es um ihn her: Fliehe! Jetzt! Jetzt! Noch ist es Zeit! ...

Das Rößlein schwenkte ... Munterer sprang es dahin in eine ruhigere Seitenstraße ... In der Nähe eines seltsam gebauten Hauses, dessen Fenster den Schießscharten von Kasematten glichen und die doch einem Franciscanerkloster angehörten, wie der Kutscher erläuterte, lag ein altes Haus, am Portal mit dem Bild eines Heiligen und einer ewigen Lampe ... Er fragte nach der Currentgasse ... Die lag in einem andern Theil der Stadt ... Wie werth war ihm die Erinnerung an die freimüthige, herzige Therese ... Sie die Freundin seiner verlorenen Schwester ... Gräber! Gräber –! rief es in seinem Innern ... Warum öffnest du sie ... Fliehe! Fliehe! Noch ist es Zeit! rief es auch hier um ihn her ...

Durch ein kleines Thor auf das Glacis gekommen, fuhr er am Kloster der Hospitaliterinnen vorüber, wo er schon die Aebtissin, Schwester Scholastika, die geborene Tüngel-Heide, hätte besuchen müssen ... Er widmete ihr einen Sehnsuchtsgedanken an die ferne Armgart ...

Immer einsamer und einsamer wurden die Straßen ... Zuletzt gab es nur noch alleingelegene Häuser mit Gärten und Feldern, Fabrikgebäude mit hohen und rauchenden Schornsteinen ...

Endlich war die Landstraße erreicht und der ganze Vollgenuß gewährt der ungehindert eingeathmeten kräftigenden Herbstluft ...

Benno saß im warmen Oberrock bei offenem Verdeck ...

Bald bog der Wagen von der Hauptlandstraße ab ... Kleine Ortschaften, in denen gerade Markt gehalten wurde, boten den buntesten Anblick ... Der Himmel blieb sonnig und dunkelblau; nur an den Rändern des Horizonts, den die sanften Bergeshöhen abgrenzten, schimmerten die bunten Irisfarben des Herbstes, rosa, gelb und violett ...

Der Kutscher sah Benno's Wohlgefallen an der schönen Umgebung und rieth ihm zuweilen, zu Fuß einen kürzern Weg durch eine Waldpartie zu nehmen, während er die sich windende Landstraße weiter fuhr ... Aber durch die Eichen- und Buchenhaine war vor schon gefallenem Laub nicht hindurchzukommen ... Nur die grünen Tannenbestände ließen hier und da den Rath befolgen ... An manchen Durchblicken sah Benno weißschimmernde Klöster und Schlösser ... Der Blick ringsum öffnete bald diese, bald jene Fernsicht, bald zu einem schroffen Aufgang zu höhern Felsgesteinen, bald zur weiten, vom Pflug wieder neugeackerten, dunkelschwarzen Ebene ... Bonaventura – Armgart – Paula schritten immer im Geiste mit ihm ...

Endlich wurden die Aussichten begrenzter ... Die Hügelreihen zogen sich enger zusammen ... Der Kutscher deutete auf den Ausgang eines waldbewachsenen Grundes als den Anfang des zum Schloß Salem gehörenden Parks ... Nach einer längern Fahrt zwischen rings sich thürmenden, noch epheu- und moosbewachsenen, von kleinen behenden Cascaden überrieselten Felsen sah man den Weg sich öffnen und an der Abdachung der sich in eine neue große Ebene niedersenkenden Berglehnen eine hellschimmernde, in neuerm Geschmack angelegte Besitzung, der man in der Ferne noch nicht anmerkte, wie sie aus einem alten Renaissanceschloß entstanden war ... Alte Thürme waren da im englischen Castellstil neu ergänzt ... Balcone, Erker, gewölbte, mit Epheu und wildem Wein umzogene Fenster ließen sich schon aus der Ferne erkennen ... Eine Altane bot ohne Zweifel den Blick in die weiteste Ferne bis zur Donau ... Offene Galerieen, sonst wol mit Blumen besetzt, zogen sich um die Eckthürme hin ...

In nächster Nähe gewann jetzt alles ein gepflegteres Aussehen ... Fast unmerklich verlor sich die Straße in einen Park voll kleiner Pavillons, Tempel, Ruhebänken neben stürzenden Wassern; da und dort zeigte sich wieder eine freie, noch smaragdgrüne Waldstelle, auf der man hätte Rehe suchen mögen ...

Schon fuhr der kleine Wagen in den gekieselten Gleisen der Parkwege ... Die Fußwege nebenan waren sauber geharkt ... Sie schlängelten sich terrassenhaft niederwärts bis zum Schlosse, das bei größerer Annäherung sich immer stattlicher entfaltete und nun auch seine Nebengebäude, einen großen geräumigen Hof zeigte, den ein eisernes Gitter und in dessen Mitte ein hohes, mit dem Camphausen'schen Wappen geschmücktes Portal vom Park trennte, während der Fahrweg am Portal vorüber weiter ging und auf einer andern Seite wieder auf die allgemeine Landstraße zurückführte ...

So in der Nähe nun zu sein von all dem seither erzählten, vorgestellten, gefürchteten Leben einer fremden hochwichtigen Existenz mit all ihren eigenbedingten Lagen, ihren eigengeschaffenen und wieder für andere maßgebenden Zuständen – gewährte schon an sich eine ergreifende Stimmung ... Wie viel mehr noch das Gefühl: Hier weilt dir eine Schwester, die du nie gesehen, vielleicht nie anerkennen wirst! ... Hat Terschka wirklich Wort gehalten und geschwiegen? ... Unwillkürlich kam ihm die Erinnerung an den Park des Vaters auf Schloß Neuhof ... Dann raffte er sich auf – und doch suchte er wieder durch die laublosen Bäume hindurch nur ein abgesondertes Gebäude, das Casino genannt, in welchem, wie er schon in Kocher vom Onkel Dechanten gehört, seine Schwester für sich allein wohnen sollte ... Er sagte sich: Du bist ganz wie Bonaventura mit den Bürden seiner Beichten! ... Wenn du deine Schwester sähest – würdest du kalt und fremd erscheinen müssen ... Auch daß der Graf vielleicht das Opfer eines Betrugs durch eine falsche Urkunde ist, darf kein Gedanke sein, der dich irgendwie hier anwandelt ...

Im grasbewachsenen, gepflasterten Schloßhof war es, wie noch zur Mehrung seiner märchenhaft träumerischen Stimmung, menschenleer ...

Nur ein einziges Roß sah er, das gesattelt an einen eisernen Candelaber gebunden stand, deren vier eine Rampe schmückten, die die große Auffahrt bildete ...

Zu diesem trat durch die Thür eines Seitengebäudes, die zum Stalle zu führen schien, eben in sorgloser Haltung ein Reitknecht, den selbst die Ankunft des Einspänners nicht störte ...

Inzwischen war Benno dicht an die Rampe gefahren ...

Jetzt sah er erst, der Sattel des Pferdes war ein Damensattel ...

Ohne Zweifel war er für seine Schwester bestimmt ...

Nun mit dem beklommensten Herzen, jeden Augenblick gewärtig, ihr als Bote ihres Sturzes oder wenigstens ihrer künftigen äußerlichen Verleugnung zu begegnen, sah er dem Reitknecht zu, der den Sattel, fester schnürte und, während der Kutscher schon sein Roß ausschirrte, auf einen Diener deutete, der aus der hohen Glasthür, die von der Rampe zum Schloß führte, mit eilendem Schritt heraustrat ...

Auch dieser ging wie der Reitknecht in den »altfränkischen« Dorste'schen Farben – grün und gelb, doch in geschmackvollerer Vertheilung als in Westerhof ... Die Halbröcke von mattgelbem Tuch, kleine Verzierungen daran grün ... Eine weiße Weste, kurze schwarze Beinkleider und Strümpfe stimmten zu den artigen Manieren des von der Rampe Herabkommenden, der ein Kammerdiener zu sein schien ...

Offenbar war der Mann in großer Verlegenheit ... Er wußte, daß Benno erwartet wurde und entschuldigte den Grafen, der noch eine Abhaltung hätte ... Dann nahm er mit freundlicher Geschäftigkeit das große Portefeuille Benno's entgegen und lud den Gast ein, sich's so lange in einem Zimmer bequem zu machen, das er ihm anweisen wollte ...

Alle diese Worte hörte Benno kaum; denn an einem der hohen Fenster des obern Stockes, hinter den blutrothen wilden Weinblättern, die noch nicht ganz von ihrer üppigen Ausbreitung welk herniedergefallen waren, lüftete sich eben eine weiße Gardine und ein Frauenkopf sah heraus ... Nur ein Moment war's ... Sogleich fiel die Gardine wieder zu ...

Es war ein Kopf, ähnlich dem Lucindens ... Jugendlicher, von einem Ausdruck der äußersten Angst entstellt – ihm ähnlich ...

Er konnte annehmen, der Graf befand sich in einem Tête-à-Tête der größten Aufregung ...

Benno, mit dem Gefühl, jedes Auge, das hier auf ihn falle, müßte ihn anstarren um seiner Aehnlichkeit mit Angiolina willen, folgte mit kaum sich aufrecht haltender Betäubung dem Diener, dessen ganzes Benehmen die Furcht ausdrückte, es könnte der junge sehnsüchtig erwartete Rechtsgelehrte der Schallweite der obern Zimmer zu nahe kommen ... Von einem runden Eingangsvestibül führte er ihn sogleich in die entgegengesetzte Richtung, ja schloß Fenster und Thüren, die er offen fand, als könnte noch ein anderer Schall hereindringen, als der der Gespräche des Kutschers mit dem Reitknecht und das Unterbringen seines Gefährtes im gräflichen Stall ...

Endlich kamen sie in Zimmer, die des Grafen Wohnzimmer selbst schienen und nach dem Garten hinaus gingen ... Dieser war nur ein im Charakter etwas veränderter Theil des Parks ... Die Fahrstraße umschlängelte das Schloß und lag, kaum hundert Schritte weiter, wiederum dem Blicke offen ... Die Zimmer, die sie durchschritten, gingen bis in den alten Bau hinein, einen Thurm, von dem eine noch von welken Blumen umrankte Wendeltreppe in den Garten führte ...

Das Zimmer, in dem sich der Diener endlich empfahl, war düster, sonst höchst traulich ... Von oben her beschattete es das Dach der großen Altane des ersten Stocks, die man in der Ferne gesehen hatte, auch eine Fülle von Epheu, der von außen fast in das Zimmer hereinwuchs ...

Es liegt ein eigener Reiz in dem Betreten eines zum ganzen und vollen Ausleben eines fremden Ichs bestimmten Zimmers ... Offenbar hatte der Graf sein Ausbleiben dadurch mildern wollen, daß er Benno sogleich in die Räume führen ließ, die er selbst bewohnte ... Der Duft der besten Cigarren kam wie aus eben erst verronnenen blauen Wölkchen ... In der Mitte des Zimmers lag auf einem großen runden, zierlich ausgelegten Nußbaumtisch eine Auswahl von bunten türkischen und ungarischen Pfeifen ... Cigarrenkisten aus der Havannah waren noch nicht lange geöffnet ... Gelber türkischer Taback lag in einer antiken Schale von Metall ... Das sich dem mittelalterlichen Geschmack nähernde Zimmer war hochgewölbt ... An den Wänden hingen türkische Waffen, Roßschweife sogar, Gemshörner, Alpenhüte, geschmückt mit Gemsbärten ... Dunkelbraune Schränke, gothisch geformt, standen theilweise offen und zeigten goldenen und silbernen Militärschmuck, Säbel, Pistolen, Jagdflinten ... An den Fenstern waren Glasmalereien angebracht; der Fußboden, am Schreibtisch mit einer großen Tigerdecke belegt, war parkettirt in schönen symmetrischen Figuren ... Neben dem modernen und gußeisernen Ofen stand ein vollständiger Ritterharnisch von blankpolirtem Stahl ... Auf einer hängenden Etagère blinkten Trinkkannen, Krüge mit eingebrannten Sinnsprüchen, Becher aus Horn mit silbernen Griffen ... Der Schreibtisch stand frei, wohlgeordnet und bedeckt mit bunterlei Nippsachen ... Federn lagen, noch glänzend von frischgetrockneter Tinte, auf grünem querübergespannten Tuche ... Hinter dem Schreibtisch standen in einem dunkeln Winkel zu Fuß eines Porträts, das einen General und ohne Zweifel den durch einen Pferdesturz verunglückten Vater des Grafen darstellte, Hellebarden, Streitkolben, Morgensterne ... Ein kleiner Schrank enthielt eine Bibliothek von schöngebundenen Büchern, militärischen und landwirthschaftlichen Inhalts ... Eine altmodische Wanduhr mit hörbarem Pendelschlag schien der Pulsschlag des stillen und doch so lebendigen Zimmers zu sein ... Hier hatte Terschka gewaltet ... Hier Angiolina ... Benno's Blick fiel auf eine Console zwischen den beiden Fenstern, wo im Dunkeln eine Alpenzither lag und auf ihr – ein weiblicher Strohhut ...

Schon eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da kam der Kammerdiener zurück und entschuldigte den Grafen aufs neue ... Er wäre zwar im Schlosse, bäte aber den Herrn Baron aufs inständigste, ihm wegen seines Ausbleibens nicht zu zürnen ...

Benno sah aus den Zügen des Alten, welche Probe sein Herr zu bestehen hatte ... Er las einen Kampf der Liebe und Leidenschaft aus ihnen ... Er las aus ihnen Schmerz, Verzweiflung, Drohungen ... Er mußte krampfhaft seinen Hut festhalten, um nicht das Zittern seiner Hände zu verrathen ...

Der Diener wollte, da Benno eine Erfrischung zu nehmen ablehnte, wenigstens zu seiner Unterhaltung plaudern ... Er rückte einen beweglichen Lehnstuhl dem Fenster näher, um Benno die Aussicht zu deuten ... Er nannte die Klöster, die Kirchen, die Dörfer, beschrieb den Lauf der Donau, die wie ein Flechtwerk silberner Bänder in dem fast überall neugepflügten dunkelschwarzen Erdreich glänzte ... Leise nahm er dabei den Strohhut von der Zither, wollte ihn verstecken, besann sich aber, daß gerade dies Wegnehmen erst recht darauf aufmerksam machte und legte ihn wieder leise auf die Saiten, die nun – wie Geisteraccorde anklangen ...

Laß mich weinen, laß mich klagen!

Frage nicht, warum ich's muß!

Ist es nicht der Götter Schluß:

Leben steigt aus Sarkophagen

Seit des Lebens ersten Tagen!

So klang es in einem Liede Bonaventura's, das wehmuthsvoll in Benno nachtönte ...

Jetzt horchte der Diener auf ... Er schien etwas zu hören, was Benno entging ... Besorgt begab er sich in die offenen Vorzimmer und zog die Thüren, die vorher offen gestanden, sorgsam hinter sich zu ...

Benno war keine sentimentale Natur ... Die Ironie pflegte die Regungen seines Herzens hinwegzutändeln ... Hier aber kam ihm nichts mehr vom Humor zu Hülfe ... Er fühlte die Rechte des Menschenherzens in dem Leid seiner Schwester – mit Titanenkraft ... Armes Kind! ... Aber – auch du – arme Paula! ...

Benno nahm selbst den Hut von der Zither ... Schwarze Sammetbänder glitten über seine zitternden Hände ... Auf der Spitze des Huts waren fünf Sternchen von schwarzem Sammet befestigt ... Noch duftete der Hut von Angiolinens Haar ...

Da hörte er Thüren schlagen ...

Er legte den Hut auf die Zither zurück ...

Es war ihm, als müßte Angiolina gestürmt kommen und selbst ihren Hut holen ...

Ein Gefühl, sie zurückzuhalten und sie, die eben alles verlor, mit dem Schwesternamen zu begrüßen, überwältigte ihn einen Augenblick ... Wer denkt sich nicht zuweilen eine That des Heroismus, die, im Urrecht des Genius begründet, alle Schranken der Rücksicht durchbricht, eine That, die die ordnende Weltseele ebenso gut wie jede andere wieder mit dem Hergebrachten würde zu vermitteln wissen! ... Schon mußte er sich halten – wie jemand, der zu dicht an einen ungeahnten Abgrund gerathen und statt zu fallen, mit muthigem Entschluß den furchtbaren Sprung lieber selbst wagt ...

Da hört er vom Garten her den Hufschlag eines Rosses ...

Im regen- und nebelfeuchten Kiese der gleichmäßige Schritt eines Galoppirenden ...

Jetzt schwenkte das Roß ... Es war das von vorhin im Schloßhofe ... Es schwenkte vom alten Gemäuer zur Rechten her und dahin über die sich abdachende Straße quer am Schlosse vorüber ...

Darauf eine Reiterin ...

Nur Angiolina konnte es sein ...

Im dunkelwallenden Kleid saß sie hoch im Sattel ...

Ja als sie an der Front der Schloßfenster vorüber mußte, schien sie aus dem Sattel sich zu erheben und sank wieder zurück ... Ein Hut mit blauem Schleier schlug hinten über und fiel ihr in den Nacken ... Ein schöner Kopf, todtenbleich, mit dunkelschwarzem Haar und lichtverklärt vom durchsichtigen Aether sich abzeichnend ...

Das Roß wie im Fluge ... Die linke Hand hielt die Zügel, die rechte riß den Hut ganz vom Haupte ... Nun ragte die Gestalt schlank und lustig schwebend ... Die Hüfte zum Umspannen ... Benno suchte das Auge ... Das schien sie zuzudrücken ... Es war, als wollte sie nichts mehr von dieser Welt erkennen ... Immer weiter und weiter schlängelten sich die Windungen des Weges. Das Roß schwenkte ... Sie selbst schien wie von einer Schaukel gehoben ... Nun verlor sie sich hinter den Büschen ... Wieder tauchte sie auf ... Ein Bangen ergriff Benno bei dem immer mehr sich verlierenden, in den Büschen bald offenen, bald von ihnen gedeckten Anblick ... Wo raste sie so hin? ...

Oder – Wie ist das? ... Kehrt sie zurück? ... Ist sie nicht schon wieder in der Nähe? ...

Nein ... Neuer Rosseshuf erklingt ...

Der Reiter sind aber mehrere ...

Auch sie biegen von der Rechten her ums Schloß ... Eine Cavalcade ist's von mehreren Herren ... Eine Dame unter ihnen ... Olympia! ... Dieselben Begleiter, wie gestern ... Dieselbe kleine Gestalt über und über heute in hellblauem Sammet ... Gelbe Seide die Verzierungen ... Ein schwarzer Chapeau-Mousquetaire im grellsten Geschmack des Südens mit Goldtressen geschmückt ... Phantastischer Carnevalsanblick! ... Auch sie jagt dahin und erhebt sich ebenso beim Blick auf das Schloß ... Sie erkennt Benno ... Das Roß schwenkt ... Wild stieben die Reiter um sie her ... Eine neue Schwenkung ... Jetzt ist Olympia eingeschlossen von ihren Begleitern und auch sie verschwindet ...

Benno stand besinnungslos ... Er sah die Wirkung – seiner Karte ... Ohne Zweifel hatte man seine Wohnung erfragt, seinen Ausflug erfahren, die Richtung erkundschaftet und war ihm gefolgt ... Wieder die Statue des Apollin – von einem Panther umkrallt! So wirkte ihm diese Erfahrung ... So wild sich geliebt zu sehen – muß ja den Tod versüßen ...

Da gingen die Thüren und der Diener kam eilends zu dem Besinnungslosen ...

Eben kommen Seine Erlaucht! sagte er ... Seine Worte erklangen wie der Ton der Erlösung und glücklichen Hoffnung ...

Die Erscheinung, daß Herrschaften von Wien her oder der Umgegend die Durchfahrt durch den Park und an Schloß Salem vorüber benutzten, schien eine häufig vorkommende zu sein ... Der Diener achtete nicht darauf ...

Schon im Vorzimmer sprach eine hellkräftige Stimme mit jener Fassung, die der Weltbildung geläufig ist, eine Entschuldigung für das lange Ausbleiben ...

Graf Hugo trat ein ...

Eine schöne männliche Erscheinung ... Am Ende der Dreißiger ... Hochgewachsen wie seine Mutter Erdmuthe ... Das Haar braun, lockig; hie und da dünn an der Stirn und den Schläfen; Lippen und Kinn trugen den Bart desto voller ... Die Augen blau ... Der erste Eindruck vor den Bewegungen der Höflichkeit und einer nur mühsam verborgenen Erregung unbestimmt und fast zu lebhaft ... Der Graf trug ein kurzes, militärisches, weißes Hauscollet mit einer leichten Paspoilirung von Rosaschnüren an der Brust, an den Achseln und Aermeln; lange eng anliegende blaue Beinkleider, unten mit einem Besatz von glänzend lakirtem schwarzem Leder, das gegen Hausstiefel von bunter russischer Lederstickerei grell abstach ...

In einer Sprechweise wienerischen Tonfalls entschuldigte er sich, daß ihn Geschäfte abgehalten hätten, sich in eine vollständigere Toilette zu werfen ...

Alles das kam, als hätte er eben nur eine Abhaltung gehabt in seinen Ställen oder sonst bei einem Lieblingsgeschäft, das abgewartet werden mußte ...

Der Uebergang zum Rauchen, das Nöthigen auf ein dunkel gestelltes, ganz in der Ecke hinter dem Schreibtisch befindliches Kanapee, alles war so leicht, so im Ton der harmlosesten Zuvorkommenheit, daß jeder andere nicht gemerkt haben würde, wie die Art, mit der er in die Kissen zurücksank und wie von seinen Wangen die leichte Röthe der ersten Begrüßung verschwand, doch die äußerste Erschöpfung nach einer aufregenden Scene ausdrückte ... Im forschenden Blick auf Benno der völligste Ausdruck der Unbefangenheit über dessen Beziehung zu Angiolina ... Und kein Stutzen etwa über irgendeine Aehnlichkeit ...

Ungeordnet, abgerissen war alles, was der Graf von Benno's Aufträgen sprach ...

Dieser sammelte sich selbst erst durch das Aufschließen seines Portefeuille ... Die Eindrücke stürmten zu mächtig auf ihn ein ... Die Verlegenheit des Grafen wurde von der seinigen übertroffen ...

Herr Graf, begann er allmälig, da ich die Ehre habe – Frau Gräfin Mutter zu kennen und – den Bewohnern von Schloß Westerhof durch lange Jahre nahe stehe, so hab' ich – bei Veranlassung einer Reise nach dem Süden, gern die Aufträge übernommen, die mir Herr – Dominicus Nück gegeben ... Ich soll Ihnen – vorlegen, was die Agnaten der Dorstes, die Landschaft, die witoborner Curie zuvor gesichert wünschen müssen, ehe die Vermählung zwischen Ihnen und – Comtesse – Paula zu Stande kommt – worüber Sie wahrscheinlich schon die directe Entscheidung durch Ihre Frau Mutter erhalten haben ...

Kein Wort –! sagte Graf Hugo, immer noch wie scherzend ... Er versuchte, eine Cigarre anzündend, den Ton der Leichtigkeit beizubehalten ... Kein Wort, wiederholte er, das entscheidend wäre – Die Mutter kommt in diesen Tagen zurück – Sie kann schon heute da sein – Da werden wir ja – hören ...

Ich zweifle nicht, daß sie die Nachricht von Comtesse Paula's Einwilligung bringen wird – Ich wünsche Ihnen Glück zur Verbindung mit einem der edelsten Wesen der Welt ...

Graf Hugo schwieg ...

Die Cigarre, die nicht brennen wollte, fortlegend, sagte er:

Sie bringt mir ein großes Opfer ...

Es währte eine Weile, bis er, während er die Hand aufstützte, fortfuhr:

Ich bin beschämt davon ... Herr von Asselyn, das sind sehr traurige Nothwendigkeiten ... Sie werden ja unterrichtet sein – wie – alles das schon seit Jahren –

Mit diesem Worte stockte seine Rede ...

Benno sah, wie sich die hochgewölbte, männlichstarke Brust hob und senkte ...

Man sollte – sagte der Graf, wieder nach einem möglichst heitern Tone ringend – man sollte eigentlich niemals großmüthig sein ... Es war seit Jahrzehnden in unserer Familie die stehende Redensart: Allerdings wenn die Urkunde sich fände –! ... Nun ist sie da und alle unsere Bravaden werden beim Wort genommen ... Soll ich wieder aufs neue processiren? ... Soll ich die Urkunde angreifen? ... Soll ich die Verbindlichkeit als eine gefälschte leugnen? ... Ihr Staat duldet bei Testamenten keine Religionsverbindlichkeiten ... Das weiß ich vollkommen ... Ich würde selbst einem Gegner, wie Nück gegenüber, gewinnen ... Aber erst nach zehn Jahren ... Diese Zustände einer Proceßführung sind nicht mehr zu ertragen ...

Als Benno zustimmend schwieg, fuhr der Graf fort:

Die Leute sagen, die Urkunde wäre ein Extrastück Terschka's, befohlen aus Rom ... Aufrichtig, ich glaube das nicht ... Der arme Schelm hat uns alle betrügen müssen ... Das ist wahr ... Aber hierin ist er unschuldig ... Meine Mutter hat ernste Scenen mit ihm gehabt ... Ich will hoffen, daß ihm England den »neuen Menschen« anzieht, der, wie Sie wol wissen, zur Garderobe meiner guten Mutter gehört ... Die Arme! ... Ihr Eifer, ihre Bemühung rühren mich ... Ich will alles thun, was Mama auf ihre alten Tage Beruhigung gewährt ...

Benno breitete die Papiere aus und horchte den Worten, die nicht herzlos klangen, horchte um Terschka's willen, dem das Zugeständniß der Verschwiegenheit und einer wirklich geübten Discretion machen zu müssen, ihn fast schmerzte ...

Meine Religion ist in diesem Land sehr schwer gestellt, fuhr der Graf in den Papieren blätternd fort, ... Ich fürchte, Gräfin Paula wird darin am meisten Anstoß bei mir nehmen ... Zumal bei ihrer übergeistigten Richtung ... Ich hoffe, Ihre Papiere enthalten nichts von einer Bedingung, mir erst durch eine Conversion die Gemeinschaft auch des Himmels mit ihr sichern zu sollen? ...

Benno bestätigte diese Voraussetzung und berichtete, daß die Vorbehalte lediglich auf Besitzfragen gingen ...

Der Graf erklärte, alles das, was er da fände, schon mit wiener Advocaten besprochen zu haben und sagte, die Papiere zurücklegend:

Am liebsten fänd' ich in diesen Papieren ein Bild der Gräfin ... Wie ist es jetzt mit ihrer Krankheit? ... Meine Mutter schreibt nichts darüber ... Wahrlich, ich gestehe, ich würde verzweifeln, wenn sich alle diese Dinge hier so fortsetzten, wie in Westerhof ...

Man sagt, die Ehe hebt einen solchen Zustand ... entgegnete Benno ...

Graf Hugo erhob sich, sah zum Fenster hinaus und sprach mit einer Schüchternheit, die Benno an einem Mann, der die Gesetze des Lebens so leicht zu nehmen schien, kaum erwartet hatte:

Die Ehe! Eine Ehe, wie sie eben in unsern Standesverhältnissen so oft geschlossen wird –! Und ich soll dann nach Westerhof kommen ... Ich bin es kaum im Stande – ... So – fürcht' ich mich ...

Benno ehrte diese Ausbrüche des ringenden Ehrgeizes durch Schweigen ...

Ich weiß es sehr wohl, fuhr der Graf fort, wir Männer bringen mit unserm Herzen viel zu Stande ... Wir können aus unserer Liebe nicht das nur einmal vorhandene Kleinod machen, das eben die Frauen darin sehen wollen ...

Nach diesen mit einem leichten Seufzer und einem schärfern Fixiren Benno's begleiteten Worten verlor sich der Blick des Grafen wie innenwärts ... Er stand am Fenster, strich sich sein Haar, ergriff mechanisch von der Console ein kleines Fernrohr, wie Offiziere beim Felddienst führen, und sah weithin in die Ebene ... Es waren Bewegungen, die der Zerstreuung angehörten ...

Benno lenkte zu den Papieren zurück, die er in der Hand behalten hatte ...

Plötzlich blickte der Graf starr durch sein Perspectiv, das er zu verlängern anfing ...

Einzelheiten dessen, was den Grafen beim Sehen in die Ferne zu interessiren schien, konnte Benno bei der ohne Zweifel großen Entfernung nicht unterscheiden, aber die Gruppen der Reitenden waren es gewiß ...

Der Graf erblaßte, reichte Benno das Glas und sagte:

Was sehen Sie, Baron? ...

Benno sah zwei Reiterinnen, Angiolina und Olympia, im Wettlauf ... Die Offiziere schienen beide umringt zu haben ... Nach der selbst bei der großen Entfernung ersichtlichen Schnelle mußte es wie im Sturm dahingehen ...

Wer sind denn diese Unverschämten! rief der Graf mit ausbrechendem Zorn, sah sich nach dem Klingelzug um, nahm schnell wieder das Glas zurück und starrte hinaus ...

Sie umringen sie ja mit Gewalt! sprach er mit erstickter Stimme ... Sie will von ihnen los ...

Benno nannte den Namen der Italienerin ...

Offiziere der italienischen Garde! ... setzte der Graf hinzu ... Graf Zerbelloni scheint's ... Marchese Melzi ...

Zornfunkelnd sprühte des Grafen Auge ... Er sah sich um, wie nach Waffen ...

Dann bekämpfte er sich und trat vom Fenster zurück ... Der Wald unten verbirgt sie ... sagte er ...

Benno ergriff noch einmal das Glas ... Man sah nichts mehr ...

Ich kann mich auch geirrt haben ... sprach jetzt der Graf erschöpft und glaubte den Beruhigungen, die Benno gab ...

Nach einer Weile, in der Benno die wildesten Kämpfe des eigenen Herzens zu bestehen hatte, brach der Graf, anfangs mit nur leiser, allmälig aber lauter, weicher und wohlklingender Stimme, in die Worte aus:

O mein bester Herr von Asselyn! ... Was ist das doch für ein Menschenleben! ... Terschka's Maxime, wenn der arme Teufel sich zuweilen so ängstlich umsah – ich habe für Terschka Mitleid – war die: Wir können zu jeder Stunde annehmen, daß alles, was wir unser tiefstes Geheimniß glauben, jedermann bekannt ist ... Lieben Sie à la Egmont ein Mädchen in der Vorstadt und glauben noch so unbemerkt zu sein, wenn Sie zu ihr gehen – man hat Sie doch gesehen ... So will ich auch gar keinen Anstand nehmen Ihnen zu bestätigen, was Sie ohne Zweifel selbst schon beobachteten, daß ich soeben die furchtbarste Scene meines Lebens durchgemacht habe! ... Ayez pitié de moi ... Vous en dévinez la cause ...

Damit sank Graf Hugo auf sein dunkles Kanapee nieder, legte einen Fuß auf die Polsterung und bot ein Bild der tiefsten Erschöpfung ... Er schwieg ... Die lange Verstellung rächte sich ... Seine Kraft war dahin ...

Ganz leise flüsterte er allmälig, wie um Benno – zu zerstreuen:

Das da ist mein Vater! ... Als ich seinen Tod erfuhr, war ich noch ein Knabe ...

Benno bat, sich nicht aufzuregen und sich um ihn keinen Zwang anzuthun ... Er schlug vor, daß er sich allein in den Park begeben oder anspannen lassen wollte ...

Nein, nein! sagte der Graf ... Nur das Geheimthun erschöpft ... Nun geht es schon ...

Benno sah den ganzen Ausbruch der Liebe zu einem Wesen, das so wunderbar mit seinem eigenen Dasein verbunden war ... Ihm verhängte das Schicksal nichts Geringeres als dem Leidenden, der sich wenigstens aussprechen durfte ...

Ich versichere Sie, fuhr der Graf fort, ich habe den heiligsten Willen, fest und standhaft zu bleiben ... Ich sagte soeben: Die Stunde ist gekommen, die über mein Leben entscheidet! Ich gewinne die Hand einer Heiligen und kenne das Opfer, das mir und dem gemeinschaftlichen Namen gebracht wird – Wir müssen uns trennen ... Ich habe dich als halbes Zigeunerkind einst in Zara gefunden ... In Zara, wo ich die Pfeifen da kaufte und die Waffen an der Grenze erbeutete von Bosniern ... Ja, Baron, in Zara sah ich das kleine Mädchen hoch zu Rosse stehen ... Es war allerliebst ... Wenn das Kind durch die bunten Reifen, mit und ohne Sattel, gesprungen war und nur Ein Sprung war misglückt, so schüttelte sie den Kopf zu allen Beifallszeichen und rief: Niente! Niente! ... Es war eine italienische Truppe ...

Benno wandte sein Auge ab, das sich mit Thränen füllte ...

Die Unterhaltung in Zara, fuhr der Graf fort, dauerte vierzehn Tage ... Die Gesellschaft wollte abreisen und wir Offiziere hatten an dem Kind eine solche Freude, daß ich meinen Kameraden den Vorschlag machte: Kaufen wir's dem Führer ab! Wir wollen's erziehen lassen! ... Die Kameraden wollten nicht ... Da that ich's für mich allein ... Die Gesellschaft war klein; der Director machte schlechte Geschäfte ... Er ließ mir Angiolinen für zweihundertfunfzig Gulden ...

Oeffnet euch, ihr blauen Vorhänge des Himmels, daß ich meine Hände ausbreite zur Anklage eines Vaters, dessen Unthaten solche Opfer forderten! ... So rief es in Benno's Innern ...

Er konnte nur leise fragen:

Wem gehörte das Kind? ...

Es war wild aufgewachsen, erzählte der Graf ... Der Director wird's gestohlen haben, wie diese Leute wol thun ... Später haben wir nachgeforscht und kamen bis ins Reich hinaus ... Eine italienische Familie, die am kasseler Hof bei der Oper mit der Feuerwerkerei beauftragt war, hatte das Kind bei sich ... War's ein Kind dieser Italiener, ich weiß es nicht ... Der Krieg hetzte damals alles durcheinander ... Angiolina war elf Jahre, als ich sie mitnahm und noch einmal taufen ließ ... Ich gab sie einem gewissen Pötzl in Wien zur Erziehung ... Nicht wegen seiner – sondern wegen der Frau, die eine gute Haut war ... Da ist das Mädchen erzogen worden ... Es war eine Pracht, wie sie heranwuchs, sich bildete und keinen gewöhnlichen Geist besaß ... Ich ließ ihr die Sprachen und etwas Musik beibringen ... Das alles hab' ich im reinsten Sinn gethan ...

Benno schwieg, von innigstem Herzen zustimmend ...

Nachdem, fuhr der Graf sich selbst die Brust erleichternd fort, kam Terschka in meine Nähe ... Ich kann nicht sagen, ist's Zufall, weil das Mädchen damals die liebreizendste Erscheinung wurde, oder eine Folge der Eifersucht, weil Terschka ein Auge auf sie warf –

Der Jesuit! – warf Benno ein ...

En vacances! lächelte der Graf ... Aber sagen Sie das hier ja zu Niemand anders, als zu mir! Die hiesige Gesellschaft erklärt ihn für einen Abenteurer und Betrüger ... Verlassen Sie sich, die Jesuiten hatten ihn abgeschickt, mich katholisch zu machen ... Und er fing's sehr richtig an ... Wär' ich ihm in allem gefolgt, so säß' ich jetzt bei achtunddreißig Jahren mit beständigem Frieren und versucht' es vielleicht, ob mich nicht ein Ordenshabit erwärmte ... Eine Frage im Vertrauen, Herr von Asselyn! ... Ich hab' gehört, Ihr Herr Oberprocurator Nück litte – – an einem curiosen Spleen – an der Hängemanie ... Ist das wahr? ...

Man sagt es ... bestätigte Benno ...

Ich kannte einen dalmatinischen Schiffskapitän, der mich versicherte, das Hängen wäre der schönste Tod, man wüßte das ganz genau in der Türkei, wo die grüne Schnur zu Hause ist ... Und gerade ebenso wußte Terschka den allmäligen Untergang an Leib und Seele zu einem Genuß und einem Genuß ohne Gewissensbisse zu machen ... Daß er sich selbst dabei so erhalten hat, machte sein Mangel an Reue ... Nichts ruinirt mehr als die Reue, sagte er ... Terschka's Satz war: Betrachte jeden Menschen wie ein Glas, an dem man mit einem Instrument den Ton sucht, in dem es wiederklingt! Den Ton forcire dann – bis es bricht! ... So wußte er von Jedem seine innerste Natur zu entdecken, nach der setzte er sich mit ihm und kam auf die Art mit allen aus ... Bei mir stützte er sich auf Bagatellen – auf die Pferde ... In seiner Jugend muß er ein Kunstreiter gewesen sein ... Kurz, erst als Terschka sagte: Um Ihrer Frau Mutter willen müssen Sie anfangen, nicht so oft zu den Pötzls zu gehen – ging ich alle Tage hin ... Das Ende war, daß ich, als die Pflegemutter starb, Angiolinen vom Alten wegnahm, erst ihr Bruder und dann ihr Geliebter wurde ... Das ist manches Jahr her und ich kann wol sagen: Diese Liebe hat mich vom Untergang gerettet! Angiolina wurde mein Schutzgeist ... Nicht etwa durch Moral, die hier nicht am Platze ist ... Im Gegentheil, sie konnte trotzen, ausschlagen, lügen, sich rächen, wie nur einer, der gereizt wird ... Doch es gab nur einen Menschen in der Welt, um den sie das alles that ... Der trug einen Helm mit Federn, einen blanken Harnisch, wenn er im Dienst war, und außer Dienst und auf Urlaub, wie jetzt, war er ein Kind, das einen ganzen Tag damit zubringen konnte, für sie Pappkästchen zu machen ...

Benno warf in das Leben Blicke, wie er sie noch nicht gethan ...

Er wagte, sich auf des Grafen Standpunkt zu stellen und sagte:

Angiolina wird Ihnen – nach der Heirath – unverloren bleiben ...

Nein! entgegnete der Graf ... Ich habe die Absicht, wenn Comtesse Paula meine Gattin wird, sie in Wahrheit zu verdienen ... Glauben Sie mir, das Geschick meines Hauses, meines Namens, diese letzte Täuschung durch die Urkunde, die ich ohne einen furchtbaren Lärm für die Welt nicht abschütteln kann, erschüttern mich ... Ich war glücklich mit Angiolina, aber ich gefiel mir nicht in diesem Glück ... Sie war ein Weib mit allen Schönheiten und allen Untugenden ihres Geschlechts ... Großmüthig und rachsüchtig, offen und falsch, alles in Einem Herzen ... Zu ertragen war es nur von dem, der für sie die Welt war und – Zeit dazu hatte ... Es mußte aufhören ...

Benno gedachte bei Schilderung seiner Schwester der gemeinsamen Vaternatur ...

Diese Erfahrung mit Terschka, fuhr der Graf fort, hat mich aufgerüttelt ... Ich werde kein Kopfhänger werden und zu sprechen anfangen wie meine Mutter spricht ... Aber ich denke so: Hab' ich die Mittel, die mich aus meiner traurigen, schon vom Vater geerbten Finanzlage befreien, so nehm' ich meinen Abschied ... Ich werde bauen, pflanzen, für die Erhaltung meines fortblühenden Stammes sorgen ... Noch mehr, ich liebe Paula ... Sie lächeln? ... In der That, ich blicke voll Andacht zu ihr hinüber ... Ich bin eifersüchtig – auf das Kloster, das sie wählen wollte, Herr von Asselyn ...

Benno stutzte über die Betonung seines Namens. Sie war so scharf, daß sie fast Bonaventura zu gelten schien ...

Ich sagte Angiolina: Du erhältst deinen Lebensunterhalt, wie es meinem Adoptivkinde gebührt! Du ziehst zu deiner einzigen Freundin, die dir noch geblieben ist – einer gewissen Therese Kuchelmeister ... Diese will zur Bühne gehen; sie wird reisen ... Störe meinen Entschluß nicht, der unwiderruflich ist ... Von der Stunde an, wo ich einen Boten erwarte, dessen Vorlagen ich unterschreiben muß, räumst du drüben den Pavillon ... Ich sagte ihr das täglich, wiederholte es seit drei Tagen stündlich ... Ich bat sie um Hülfe gegen mich selbst, bat sie um ihren Haß, ihre Verachtung – Sie warf sich vor mir nieder und umschlang meine Kniee ... Tödte mich! rief sie noch im letzten Augenblick vor einer Stunde ... Erschieße mich! ... Sie reichte mir eine Pistole, die sie heimlich geladen hatte und bei sich trug ... Ich entriß sie ihr ... Da rollte Ihr Wagen an und es war aus ... Ich kann es selbst in der Schilderung nicht zum zweiten mal erleben ...

Benno hatte sich dem in den Sopha zurückgesunkenen, die Augen mit der Hand bedeckenden Grafen genähert ... Er hatte seine Hand, ob sie gleich selbst zitterte, auf die Schulter des kraftlos Zusammengebrochenen gelegt ...

So stand er eine Weile voll stummberedsamen Antheils und rang mit den stürmenden Geistern, die aus ihm selbst hervorzubrechen drohten ... Zu Hülfe kam seiner Selbstbeherrschung ein Klopfen des Kammerdieners und die Meldung, daß angerichtet wäre ...

Ein Frühstück ... auch das muß sein ... sagte der Graf und erhob sich ...

Benno blickte auf die geöffnete Thür ablehnend ...

Nein, nein! ... Kommen Sie –! sagte der Graf und führte Benno ...

Der Kammerdiener hielt sich in ehrerbietiger Ferne und schien den Grafen, der ein Gemisch von Gutmüthigkeit und Phlegma bot, nicht im mindesten zu stören, denn im Gehen fuhr dieser fort:

Sie ist auf ihrem Pferde, das sie behalten will, nach Wien ...

Franz hat sie doch wol, wandte er sich zum Kammerdiener, zur rechten Zeit eingeholt? ...

Am Meilenstein schnitt er ihr den Weg ab! sagte der Diener ...

Franz war der Reitknecht von vorhin ...

Obgleich Benno voranging, bemerkte er doch, daß der Kammerdiener hinter ihnen her den Strohhut ergriff und ihn auf dem Rücken haltend mit sich nahm, jedenfalls um aus dem Zimmer seines Herrn alle Erinnerungen an die abgeschlossene Vergangenheit zu entfernen ...

Graf Hugo war in dem Grade der Selbstbeherrschung fähig, daß er trotz seiner Erregung im Gehen an einen zweiten Diener, der sie in einem zwei Zimmer weiter gelegenen kleinen Eßsaal empfing, die Frage richtete:

Was ist das für eine Livree da draußen? ...

Diese Frage war mit einem Blick auf den Garten verbunden ....

Erst jetzt bemerkte Benno, daß ein Wagen mit vier Pferden langsam durch den Park fuhr, mit zwei seltsam costümirten Bedienten auf dem Tritt und einem phantastisch gekleideten Mohren neben dem Kutscher ...

Eine fremde Herrschaft aus Italien ist es! sagte der Diener ... Eine Dame sitzt im Wagen ... Sie gehört zu den Reitern, die noch nicht lange vorbeikamen ... Ein junger Herr ist bei ihr, der ein schwarzes Pflaster an der Stirn trägt ...

Principe Rucca – und – unsre Mutter! ... sagte sich Benno und suchte sich zu halten ...

Zum Tod erblaßt ergriff er den Sessel und ließ sich dem Grafen gegenüber nieder ...

Der Wagen war verschwunden ... Nur das Knirschen seiner Räder hörte man noch im feuchten Kiese ...

Ist Ihnen nicht wohl? fragte der Graf, jetzt erst bemerkend, daß sein Gast kaum die Serviette zu ergreifen vermochte ...

Es ist vorüber ... hauchte Benno mit äußerster Anstrengung sich bekämpfend ...

Mein Gott! Sie haben so lange gefastet! entgegnete der Graf und rieth erst zu einem Glase Wein ...

Benno lehnte alles ab ... Er ergriff den Löffel zur Suppe ...

In Gegenwart der Diener ließ sich das begonnene Gespräch zwar nicht ganz wie vorhin fortsetzen, aber es blieb ernst ... Man sprach über Wien, Oesterreich, über diejenigen Eindrücke, die jedem Fremden zuerst aufstoßen müßten ...

Der Graf schilderte die Lage der österreichischen Aristokratie als eben nicht beneidenswerth ...

Wir leben, sagte er, nach den Ansprüchen, die unser Stand und die Gesellschaft mit sich bringen; daher in einer fortwährenden Steigerung unserer Bedürfnisse. Unser Besitzthum verringert sich indeß an Werth ... Ich kann Ihnen die ersten Herrschaftsbesitzer nennen, denen ein einziges Reh in der Verwaltung ihrer Wälder durchschnittlich fünfhundert Gulden kostet und die von leidlicher Ordnung sprechen, wenn es um zehn Gulden an den Wildprethändler verkauft in der Rechnung steht ... Das ist die Incongruenz aller unsrer Lebensbeziehungen – ...

Durch Castellungo gehörte auch der Graf Sardinien an ... Er forderte Benno auf, den Besuch Castellungo's nicht zu versäumen ... Die dabei unvermeidlichen Uebergänge des Gesprächs auf bezügliche Namen und schwebende Interessen, auch auf die Cardinäle Fefelotti und Ceccone, brachten das Gespräch auf Bonaventura ... Der Graf blickte nieder und ließ sich erzählen ...

Man erwartet ihn ja wol auch hier? ... fragte er mit einem Ton, der Benno auffallen durfte ...

Gegen Ende des einem Diner vollkommen entsprechenden Mahles bemerkte man das längere Ausbleiben der Diener und eine lebhafte Bewegung in den Zimmern ...

Im schnellsten Trabe wurde ein Reiter vom Garten her vernehmbar ...

Die Diener blieben zuweilen beim Serviren wie angewurzelt an einer Stelle stehen, warfen sich bedeutsame Blicke zu und schienen sprechen zu wollen ...

Wieder hörte man Hufschläge ... Alles ringsumher bekam einen Ausdruck von Unruhe und Störung der bisherigen Ordnung, ohne daß man Ausrufe oder auch nur laute Stimmen hörte ...

Der Graf fragte endlich die am Büffet flüsternden Diener fast unwillig:

Was gibt es denn? ...

Da die Diener nicht antworteten, wiederholte er seine Frage und legte schon erblassend die Serviette nieder ... Er schien einer üblen Botschaft gewärtig ...

Franz ist zurück ... sagte der ältere Diener zögernd ...

Der jüngere fügte zagend hinzu:

Es hat – ein Unglück gegeben ...

Der Graf erhob sich ... Seine Augen zuckten ...

Daß es Angiolina war, die ein Unglück getroffen, verstand sich von selbst ...

Die Diener sahen zum Fenster hinüber ...

Was ist denn?! ... Ein Sturz vom Pferde?! ... rief der Graf oder wollte dies rufen ... Die kurze Frage kam nur noch halb von seinen Lippen ...

Benno war in gleichem Entsetzen aufgesprungen ...

Die Diener trugen dem Grafen einen Sessel nach; er hatte zur Thür gehen wollen und war zusammengebrochen ...

Verwundet doch – nur –? rief Benno, zu seinem Herzen greifend, als bräche es auch ihm im Krampf ...

Die Diener stockten und erklärten gleichzeitig und mit demselben Ton:

Lebensgefährlich! ...

Sie ist todt – hauchte der Graf ... Ich weiß es! setzte seine zitternde Stimme hinzu ... Seine Hände richteten sich wie die eines Irren gen Himmel ...

Die Diener bestritten diese schnelle Annahme ... Sie wäre sofort in ihren Pavillon getragen worden – sagten sie ... Ein Arzt wäre aus dem nächsten Ort gerufen ... Die fremden Herrschaften, die vorüberritten, wollten nach einem Stadtarzt schicken ...

Sie sind schuld an ihrem Tod! schrie der Graf und eine zuckende Bewegung ergriff seine Hände und Füße ... Franz! rief er ... Warum folgte ihr Franz nicht schon von hier? ...

Seine zornige Rede erstickte im Schmerz ... Es war nichts mehr zu ändern ... Seine Anklagen verhallten in den beiden Händen, die er vor die weinenden Augen hielt ...

Benno glich dem von Schlangen umringelten Laokoon, der Hülfe rufen will für sich selbst und den eignen Tod nicht achtet in der Angst um seine Lieben ...

Sie ritt bergab mit verhängtem Zügel! berichtete der Diener ... Allmälig ging das Pferd langsamer ... Sie schien es nicht zu achten ... Da stand es ganz still ... So saß sie im Sattel wie abwesend ... Indeß war Franz unten an der Landstraße und wartete am Ausgang des Parks beim Meilenstein ... Da kommen die Fremden im vollen Trab herunter ... Des Fräuleins Pferd scheut ... Sie verliert die Balance, verliert den Steigbügel ... Die Reiter, selbst im Niederschießen, können nicht innehalten ... Des Fräuleins Pferd bäumt sich, geht durch und gleich querfeldein ... Das Fräulein rafft sich auf, kniet mit dem rechten Fuß auf dem Sattel, erhebt sich, steht eine Weile hoch in der Luft und stürzt dann kopfüber ... Die Reiter waren oben auf der Landstraße ... Franz mußte ins Feld hineinreiten, sprang herunter, ließ sein Pferd laufen, fand das Fräulein blutend am Boden und schon bewußtlos ... Die Offiziere, Italiener, kamen näher, nahmen sie dann auf, legten sie querüber auf ein Pferd und führten sie langsam, indem einer der Herren ging, zum Casino ...

Graf Hugo war inzwischen schon umgekleidet ...

Er hatte sich in einen weißen Mantel geworfen, den die Diener hinten zuschnürten ... Seine Hand hatte keine Kraft mehr ...

Im Nebenzimmer hatte er die Fußbekleidung gewechselt ...

Eine militärische Interimsmütze lag auf dem Kopf lose und haltlos ... Die Hand der Diener mußte sie erst auf den braunen Scheitel festdrücken ...

Schluchzend stützte er sich auf Benno – auf einen Beistand, der selbst den Tod im Herzen trug ... Die Schwester gefunden – so! – und die Mutter arglos in der Nähe –! ... Er konnte keinen Gedanken mehr, sich selbst nicht festhalten ... Der Graf führte – ihn...

Den Einspänner Benno's und ein eigenes Gefährt, das schon im Hof gerüstet stand, lehnte der Graf ab ...

Ich fürchte mich vor Pferden ... sagte er heiser, mit erstickter Stimme ... Und – wir – kommen – setzte er bitter lächelnd hinzu – zu – einer Todten – auch zeitig genug ...

Damit lenkte er, wie ein zum Tod Verwundeter, vom Vestibüle des Eingangs den schwankenden Schritt zum Garten hin ...

Hier öffnete sich links eine lange Allee von schon kahlen, wie zu einer unabsehbaren Laube zusammengewachsenen Platanen ...

Durch ein Meer von raschelndem Herbstlaub schritten beide wie geisterhafte Schatten dahin.

8.

Links ragte eine sonnenbeschienene, mit Flechten, Moos und Epheu besetzte Bergwand ... Rechts lagen die Abdachungen des Gartens und Parks in die herrliche Ebene, ein Bild des Lebens, hinaus ...

Die Stämme der Platanenallee so weiß, so hellgrünlich schimmernd ...

Das gelbe Laub weithin leuchtend ... Unter den todten Zacken und gekappten Verästelungen der kunstvoll gezogenen Platanen ...

Die Sonne mittagshell ... Der Abschied der Natur so froh, so glückverheißend ... Wiedersehn im Frühling! rief alles ...

Aber aus den fernen Büschen sah man schon den Priester des nächsten Orts im Ornat daher eilen – mit den Sterbesakramenten ...

Der Graf blieb stehen ...

Die nachfolgenden Diener sprangen hinzu ...

Er deutete nur stumm auf die eilende Procession ...

Benno starrte ... Sein Blick irrte ... Er suchte den vierspännigen Wagen ...

Die Wanderung im raschelnden Laube dauerte eine halbe Stunde ... Sie glich dem Wandeln in einem Leichenconduct ...

Benno konnte nichts reden. Nicht ein Wort, nicht eine Miene des Grafen verrieth, daß Terschka seinem Freund die Scene vom Schloß Neuhof, die Verhandlungen zwischen drei Priestern und dem Präsidenten verrathen hatte ... Er kämpfte mit sich, ob er es jetzt nicht selbst thun, sich Angiolinens Bruder nennen sollte ... Die Last wurde zu schwer ...

Am Ende der Felswand, die sich zuletzt sanft abdachte; lag das Casino ...

Es war ein düsteres Gebäude ... Obgleich mit den schönsten Aussichten auf die Donau und zur Linken und rückwärts bis zu den steierischen Alpen versehen, war es doch ein für ein junges lebensfrohes Gemüth beängstigender Aufenthaltsort ...

Aus der Ferne gesehen mochte das Haus einen poetischen Anblick gewähren .... Es glich einem alten Maison-de-Logis aus der Rococozeit ... Rings war es von einer Allee von Riesentannen, mit Zweigen, die sich voll und schwer am Boden hinschleppten, umgeben ...

In der Nähe sahen die Bäume wie die Umgebung eines Mausoleums aus ...

Die untern Räume waren nur ein einziger großer Speisesaal mit Nebencabineten ... Ein Hinterhäuschen gehörte dem dienenden Personal und mochte die Küche bergen ... Auch dies war ganz in Tannen versteckt ... Im hohen Sommer mochte man hier Kühle und Schatten haben; jetzt war der Anblick nur in den kleinen runden Entresolfenstern der obern Etage wohnlich ... Unten schroff abwärts zog sich die Landstraße ... Auf einer Treppe von verwittertem, moosbewachsenen Erlenholz konnte man von da zum Casino hinaufsteigen ...

Die volkreiche Gegend mußte dem entsetzlichen Unglück schon eine Menge Zuschauer gebracht haben ... Eine Menschenmasse belagerte unten das Portal zur Treppe, das man schon geschlossen hatte ... Viele andere waren schon vorher eingedrungen und standen im Hause ... Andere liefen noch herbei durch den Park ...

Der Priester war bereits bei der Todten oder Sterbenden ... Weihrauchduft strömte den Eintretenden entgegen ...

Dem Grafen, der an Fassung gewonnen hatte, wich man aus ...

Daß sie zu einer Todten kamen, lag vorausverkündigt auf aller Mienen ...

Einige zum Dienst des Hauses gehörende Frauen wehklagten und schrieen laut ... Noch lauter beim Erscheinen des Grafen ....

Scheinbar ruhiger geworden blickte der Graf, der hier ein öffentliches Gericht für sich selbst zu bestehen hatte ... Er betrat zwei aus dem Hof ins Haus führende Stufen, durchschritt eine kleine Rotunde und ging in einen die ganze Länge des Casinos einnehmenden Saal, dessen theilweis herabgelassene Jalousieen dem Raum eine Düsterheit gaben, die zu dem schmerzlichen Anblick gehörte ...

Der Geistliche sprach schon seine Segnungen ...

Der Arzt, den man an der Sonde erkannte, die er noch in der Hand hielt, öffnete eine Decke ...

Auf einem langen runden Tisch lag auf Matratzen und Betten eine ausgestreckte, halb entkleidete jugendliche Gestalt ... Gestreckt und schlaff lagen die Arme und Füße ... Der edelgeformte Kopf war wachsfarben ... An den Schläfen quoll noch Blut aus der tödlichen Wunde ... Das lange schwarze Haar war aufgelöst; ein Theil lag abgeschnitten daneben ... Der Sturz hatte die Hirnschale zerschmettert und eine Blutergießung verursacht ... Schon trug das mit den regelmäßigsten Formen gezeichnete Antlitz jenen Ausdruck der Ergebung, den der Tod verleiht, jene ernste Strenge, die so hoheitsvoll mit jedem Abgeschiedenen versöhnt, selbst mit dem Verbrecher ... Brust, Hand, die Symmetrie aller Formen war wie von Künstlerhand ... Die Stirn nur klein, aber sanft und eben ... Die beiden schwarzen Augenbrauen über den schwarzen Wimpern zeichneten sich wie zwei ernste Fragezeichen ... Sie waren nicht rund, eher wellenförmig gezeichnet wie bei allen leidenschaftlichen Naturen ... Benno wagte noch nicht dauernd hinzusehen ... Er fürchtete sich, sich selbst wiederzufinden – und die Todte des Kronsyndikus ...

Während der Graf über die Leiche stürzte, lange nur schluchzend so ausgestreckt lag, dann auffuhr und rief: Ich kann diese Glieder nicht kalt fühlen! – betrachtete Benno allmälig sein Ebenbild mit dem tiefsten Grauen ...

Er glaubte, jeder müßte ihm zuflüstern: Das sind ja Ihre Züge ... Besonders der Wuchs und die mehr runden, als ovalen Formen des Kopfes waren dieselben wie bei ihm ...

Die linke Hand der Todten ergriff er und bebte zurück vor der Kälte, Erschlaffung und Feuchte der Haut ... An den wellenförmigen Augenbrauen erkannte er den Vater, den er im Winter bestatten half ...

Der Priester hatte geendet und sprach einige Worte, die nicht dem Formular angehörten, Worte ohne Strenge ...

Der Arzt vereitelte jede Hoffnung ... Das Halten eines Federflaums oberhalb der Lippen zeigte nicht die leiseste Bewegung ...

Der Graf bat mit leidender Stimme, ihn allein zu lassen ...

Auch Benno möchte eine Weile gehen ... Aber nur eine Weile, sagte er ... Er müsse noch mit ihm – jetzt aber mit der Todten allein reden ...

Es war ein schauerliches Verlangen ... Alle baten den Tiefgebeugten um Schonung seiner selbst ...

Da der Graf die Bitte wiederholte, ging man ...

Benno schwankte, ob er nicht bleiben sollte ... Der Strom der Uebrigen drängte ihn mit fort ...

Die Diener sorgten, daß sich alle Neugierigen und auch die wirklich Theilnehmenden nach und nach entfernten ... Man ließ niemand mehr ins Haus ...

Man brachte es auch dahin, daß sich allmälig die Menschen über die kleine Treppe oder in den Parkwegen entfernten ...

Benno stand unter den dunklen Tannen und suchte in dem vor ihm ausgebreiteten Panorama den vierspännigen Wagen ...

Er gedachte der Mondnacht auf Altenkirchen, wo die Mutter ihre Scheinehe schloß, dieser Nacht – auch unter solchen Tannen, die den Anfang all dieser schmerzlichen Geheimnisse gab ... Der Drang, sich zu offenbaren, war mächtig in ihm; aber, er fühlte auf die Länge, er mußte schweigen ... Er hätte in die weiteste Ferne entfliehen mögen ... Er zuckte auf bei jedem Geräusch ... Er glaubte den Wagen hören zu müssen, in dem die Schicksalsmächte die Mutter heranzögen ... Er sah Dämonen mit Fackeln die Rosse führen ... Die Rosse Feuer blasen aus ihren Nüstern ... Der Boden unter ihm wankte ...

Der Arzt und der Geistliche schlossen sich ihm an ... Er hätte auch sie fliehen mögen, wie alle ... Er mußte mit ihnen eine Weile unter den düstern Tannen auf und nieder gehen ...

Das ägyptische Todtengericht fehlte nicht ... Man ließ der Unglücklichen manche gute Eigenschaft ... Dennoch nannte man sie eine Verirrung des Grafen und verhieß für die Zukunft, wenn Angiolina am Leben geblieben wäre, keinen Bestand seiner ehelichen Treue ... Das hieß soviel, als: Sie ist zum Glück gestorben! ...

Benno war zu gebrochen, um dem festen Willen, der eben erst aus des Grafen Entschließungen gesprochen hatte, ein besseres Zeugniß zu geben ...

Es war ihm auch, als nähme er damit einen letzten Schmuck vom Grabe seiner Schwester ... Er ließ ihr den Schein der Gefahr für den Grafen ... Ein Gedicht mußte so in seiner Art würdiger verhallen ...

Die Begleiter kehrten zu neuen Ankömmlingen zurück ...

Zwei Aerzte kamen aus der Stadt ...

Noch waren sie von den italienischen Offizieren begleitet, die theilweise ihre Pferde den Dienern gelassen und jetzt einen Wagen genommen hatten ...

Olympia fehlte ...

Daß sich wieder der vierspännige Wagen würde sehen lassen, wurde für Benno immer gewisser ... Der Wagen hatte die Reiter verfehlt, hatte noch vielleicht eine weitere Ausfahrt gemacht und war mit dem Ereigniß noch nicht zusammengetroffen ... Benno's Fassung mußte sich auf das Alleräußerste rüsten ...

Er dachte sich: Wenn jetzt die Mutter käme! .. Dann immer noch schweigen? ... Seine Nerven zuckten, seine Lippen fieberten, seine Augen verdunkelten sich bei diesem Gedanken ... Er riß seinen Oberrock auf ... Er fürchtete zu ersticken ...

Die Offiziere näherten sich ihm und erzählten den Vorfall so, daß der Graf seine Gereiztheit gegen sie zurücknehmen mußte ... Auch waren sie schon an der Leiche bei ihm gewesen ...

Benno hörte nur ... Der Traum eines Fieberkranken währte fort ... Eben kam wirklich der vierspännige Wagen langsam die Landstraße daher ... Die Menschen, die bei Benno bald stehen blieben, bald vorübergingen, nannten den Namen der Herzogin von Amarillas ...

Die Offiziere gingen der Herzogin theils entgegen und theils ins Casino wieder zum Grafen ...

Benno blieb hinter einer der großen Nadellaubpyramiden ... Er stand, als müßte er sich vor dem ganzen Leben verbergen ...

Eine hohe stattliche Dame in den südlichen, für unsern Geschmack nicht üblichen Farbenzusammenstellungen, mit grünem Atlaskleide, einem rothen Sammethut mit Maraboutfedern, stieg die Erlenholztreppe hinauf, vermied das Casino, kam zu der Tannenallee und ging an Benno vorüber ...

Neben ihr hüpfte in trippelnder Unruhe Principe Rucca, noch immer mit dem schwarzen Streifen an der Stirn ...

Noch zwei Herren und ein Diener folgten ...

Der kleine Principe sah sich ängstlich um ...

Er wollte offenbar nur ungern bleiben ... Der Tod war hier so nahe ...

Da erkannte er Benno hinter den Tannen, begrüßte ihn mit der ganzen Ueberraschung, die in der Situation lag, nannte ihn den Salvatore della sua vita und stellte ihn der Herzogin von Amarillas vor ...

Den Sohn – der Mutter ...

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die »Stimme des Blutes« ist eine Täuschung ...

Wo der Geist nicht die Empfindungen regelt, können diese durch sich selbst nichts erkennen ...

Die Empfindungen der Liebe, der Freundschaft durchströmen uns mit wonnigen Schauern; aber erst die Seele ist es, der Wille, der Gedanke, der den Empfindungen Ausdruck und Klarheit geben muß ...

Die Herzogin von Amarillas, auf Benno aus einem bleichen Antlitz voll kalter Würde einen scharfen prüfenden Blick entsendend, wußte, daß dieser junge Mann der Gräfin Olympia, ihrer Pflegbefohlenen, zweimal begegnet war und daß heute in der Frühe, nach Abgabe der der Gräfin von den Dienern des Principe mitgetheilten Visitenkarte, die Adresse Benno's sofort von allen Lohnbedienten des Hotels hatte aufgesucht werden müssen ... Schon die Diener kannten das Interesse, das die junge Gräfin an dem »Lebensretter« des Fürsten nahm ... Nach einer Stunde wußte Olympia Maldachini Benno's Wohnung und seine Ausfahrt nach dem Schlosse Salem ... Die Herzogin sah in ihrem Zögling eine Leidenschaft entstanden von jener Consequenz, die ein wildes Naturkind sonst nur im Haß und Eigensinn besaß ... Olympia wollte ins Gebirg reiten und das Schloß Salem sehen ... Ein Widerspruch war nicht möglich ... Olympia beantragte diese anstrengende, weit über ihre Kräfte gehende Partie, die Herzogin versprach nachzukommen in Begleitung des Principe ... Olympia ritt mit den Freunden ihres Verlobten, erlebte – veranlaßte vielleicht das Unglück und war zur Stadt zurück ...

Der Name »von Asselyn« auf der abgegebenen Karte hätte sich der Sängerin Fulvia Maldachini vom Dechanten her befestigt haben sollen ...

Ihr klang in der Erinnerung ein deutscher Name wie der andere ...

Sie war Olympia mismuthig nachgefahren, verlor ihre Spur, ließ dem Gebirge zu weiter fahren, kehrte zurück und hörte von dem vorgefallenen Unglück ... Dem Principe war es peinlich, ein Haus des Todes zu besuchen ... Er kam nur herauf, um die italienischen Offiziere zu begrüßen ... Nachdem diese ihr Beileid bezeigt hatten, wollten auch sie mit ihm und der Herzogin zur Stadt zurück ... Einige Offiziere hatten noch ihre Pferde ... Für die Aerzte, für den Principe, für die Herzogin und die Unberittenen gab es jetzt zwei Wagen ...

Principe Rucca war für Benno die Zuvorkommenheit selbst ... Er konnte die Gefahr vor dem Elefanten nicht lebensgefährlich genug darstellen ... Er erzählte auch jetzt noch jedem, daß ihn ein Elefant gestern hätte zum Frühstück verspeisen wollen ... Benno antwortete und ließ das Erzählte gelten und wich ruhig aus ... Der Principe mußte von seiner Verlobten Befehle erhalten haben, die auf eine sofortige Fesselung des ihr so Werthgewordenen gingen ... Inständigst bat er, ihm gestatten zu wollen, daß er ihn heute Abend abholte und in eine Gesellschaft zum Cardinal Ceccone führte, der auch bereits das lebhafteste Interesse an den Tag gelegt hätte, ihn kennen zu lernen ...

Die Herzogin hörte mit einigem Interesse das im geläufigsten Italienisch geführte Gespräch, wandte sich aber ab und unterstützte diese Einladung nicht ... Ihr Lächeln gab ihr einen Schimmer der ehemaligen Schönheit ... Sie war von ebenmäßiger, schon zum Embonpoint übergegangener Gestalt ... Ihr Auge dunkelbraun und voll Feuer ... Die Augenbrauen überscharf gezeichnet ... Das Haar nicht echt ... Auch die Zähne schwerlich ohne Beihülfe der Kunst so wohl noch an einander gereiht ... Ihre Haut dunkel, etwas gelblich ... Die Wangen, die Nase, das Kinn, noch von plastischer Schärfe ... Würde man ihr den geschmacklosen Hut abgenommen, den falschen Scheitel entfernt, das graue Haar aus der Stirn nach oben zusammengewunden, gefärbt, vielleicht mit Goldstaub überstreut haben, so wär' es eine der Gestalten gewesen, in deren Betrachtung wir uns in Museen verlieren ... Eine Imperatorenmutter mit blutigen Erinnerungen ... Terschka, der Jesuitenzögling in Rom, sah einen solchen Kopf als Herme in den quirinalischen Gärten des Heiligen Vaters ...

Ist sie ganz todt, die Arme? näselte der junge Fürst ... Ist es eine Verwandte vom Grafen? .. Sind Sie gern bei Todten? ... Ich nicht ... Verweilen Sie noch lange hier? ... Kommen Sie mit uns zurück ... Diniren wir vielleicht zusammen? ... Waren Sie bereits schon im »Schwan«? ... Gefällt Ihnen diese Gegend? ...

Benno stand nur hörend und sehend ... Antworten zu geben war seine Zunge gelähmt ...

Die Herzogin durchschritt die kleine dunkle Baumanlage ... Als wenn sie Benno's Gedanken errathen hätte, der sich sagte: Sieh sie dir nur an, diese nordischen Tannen, die du so hassest! ... Sie belächelte nach einem kurzen conventionellen Bedauern des hier stattgehabten Unglücks, die Aeußerungen des Principe über die schöne Natur ... Um das schönste Panorama von Berg, Strom, Wald, Ebene und in der Mitte der von sonnigen Nebeln umzogenen Stadt mit dem riesigen St.-Stephan gleichgültig anzusehen, stieß sie mit der Fußspitze die Zweige aus dem Wege und verrieth nicht minder, wie der Principe, nur die größte Ungeduld, sich wieder entfernen zu können ...

Als sie hörte, daß die Offiziere noch im Hause wären, sagte sie, man sollte doch nur ruhig den Grafen seinem Schmerz überlassen ... Ist sie eine Verwandte von ihm? fragte sie dazwischen ... Mit einer festen Betonung ihrer tiefliegenden und bei längerem Sprechen ungleichen, ja rauhen Stimme schloß sie:

Was kann man da thun! ...

Nicht düstrer erhoben sich ringsum die herrlichen Bäume, als Benno nur so stand und sah und hörte ...

Die Offiziere waren wieder inzwischen aus dem Hause getreten und erklärten, nur noch auf die Aerzte warten zu müssen, die sie mit zurückzunehmen hätten ... Vom Grafen sagten sie, daß er in den obern Stock, in die Wohnzimmer der Unglücklichen gegangen wäre ... Angiolinens Stellung zum Grafen wurde mit drei Worten angedeutet ...

Die Herzogin horchte auf ... La Povera! sagte sie – und wollte fort ...

Für den Principe begann der Vorfall jetzt interessanter zu werden. Er bekam Lust, die Unglückliche zu sehen ...

Während er den Offizieren unschlüssig folgte, fragte die Herzogin den zurückbleibenden Benno, dessen starr auf sie gerichtete Augen ihr auffallen mußten ...

Aus welchem Theil Deutschlands sind Sie? ...

Benno, nun entschlossen, nannte denjenigen Theil, der sie aufmerksam machen mußte ...

Aus der Gegend von Kassel ...

Darauf hin betrachtete sie ihn schärfer ... Ihr Auge blitzte ... Vorher war sie nur so apathisch gewesen, weil sie an völlig anderes dachte – vielleicht an das, was Benno eben mit einem einzigen Worte traf ...

Benno hatte weniger von den Zügen des Kronsyndikus, als seine Schwester ... Er glich der Mutter ...

Ganz sich sicher fühlend, fragte sie:

Kennen Sie in jener Gegend ein Schloß – »Neiovo« –? ...

Sie meinte Neuhof ...

Benno's Lippen bebten ... Jede Möglichkeit, sich in ihrer Person geirrt zu haben, war nun verschwunden ...

Neuhof? sagte er leise ... Wittekind-Neuhof? ... Das sind von Kassel mehr als funfzehn Meilen ... Aber ... in der Nähe Kassels, fuhr er fort, liegt ... ein Schloß mit einem Park voll solcher Tannen, wie Sie hier sehen – Meinen Sie vielleicht – Altenkirchen? ...

Die Herzogin hatte einen Fächer in der Rechten ...

Schon auf den Namen Wittekind-Neuhof schlug sie mit diesem Fächer unausgesetzt in die Linke ...

Altenkirchen! sprach sie, fast die Sylben des schweren Wortes zählend, und nun traten ersichtlich hundert Fragen auf ihre Lippen ... Die braunen Augen blitzten ...

Eben kamen ihnen die Aerzte entgegen, zuckten die Achseln und riethen zum Gehen ... Sie sagten, der Graf hätte sich vor allen Zeugen seines Schmerzes verborgen und wäre oben auf Angiolina's Zimmern ...

Im Hofe war alles still ... Am Hause vorübergehend sah man, daß eine Dienerin mit verweinten Augen eben auch den großen Saal schließen wollte, in dem die Leiche zurückblieb ...

Die Herzogin stand auf das Wort »Altenkirchen« noch immer wie gebannt ...

Sie sah die düstere Hinterfaçade des Hauses mit den kleinen Entresolfenstern an und hauchte, wie von Erinnerungen durchschauert:

Wie ein Grabgewölbe das! ...

Eben hörte man das Drehen des großen Schlüssels ... Es klang wie ein: Es ist vollbracht! ...

Blick hin! ... Komm! ... Zum letzten mal ist es möglich, daß du das eine deiner Kinder siehst! ... rief es in Benno's Innern ... Die Seelenmesse für sie, von der du eben sprichst, wirst du versäumen! ... Jetzt, jetzt, wo du eben hörst, Graf Salem wäre ein Ketzer, laß dein Staunen, laß dein Fragen! In diesen stillen Saal ruft die letzte Stunde – ...

Kennen Sie die Familie der »Grafen« von Wittekind? ... fragte die Herzogin ...

Freiherren! verbesserte Benno ... Eben diesem Geschlecht gehört Neuhof ...

Die Herzogin stand eine Weile sinnend; dann fragte sie:

Sie bleiben noch hier? ...

Ich habe die Ehre, Ihnen heute Abend meine Aufwartung zu machen ...

Bei Cardinal Ceccone? ... Dort bin ich nie! ... Aber speisen Sie morgen bei uns – im Palatinus! ...

Benno hatte dieser Aufforderung gegenüber keine sofortige Sammlung ... Die Herzogin wollte, schien es, mit ihm über die Schauplätze ihrer Vergangenheit reden ...

Fürst Rucca, der nun doch vorgezogen hatte, seinem Auge den Anblick einer wenn auch noch so schönen Todten zu versagen, war bereits an der kleinen Holztreppe, als plötzlich wieder der Graf erschien ... Leise war er von oben gekommen, hatte schon seinen Mantel abgelegt, verbeugte sich der Dame, den Herren, reichte Benno die Hand und sprach:

Sie sehen, ich bin nun hier zu Hause ... Ich will hier so lange bleiben, bis die letzte schwere Pflicht erfüllt ist ...

Der Graf schien gekommen, um für heute von Benno Abschied zu nehmen ...

Die Herzogin sprach ihre Theilnahme aus ...

Madame, wandte sich der Graf zu ihr und sagte in französischer Sprache: Ich bin sehr unglücklich ... Ich habe ein liebendes Herz verloren ... Und zu Benno sich wendend, fuhr er mit unsicherer Stimme deutsch fort: Unsere Angelegenheit ist unterbrochen ... Ich bin heute keines Gedankens mehr fähig ... Fürchte auch jede Stunde die Ankunft meiner Mutter ... Es wäre ein großer Act der Freundschaft für mich, wenn Sie die Güte hätten und nach Wien eilten, meine Mutter zu begrüßen und zu sorgen, daß sie auf dies Schicksal schonend vorbereitet wird ... Sie liebte Angiolinen ...

Die Herzogin hörte so aufmerksam, als verstünde sie jedes Wort ...

Benno erbot sich zu allem und bat den Grafen nur, er möchte seinen Kutscher benachrichtigen lassen, daß er allein zurückfahren möchte ... Zur Herzogin gewandt, sprach er, in den beiden Wagen fände sich vielleicht noch ein Platz für ihn ...

Ohne Zweifel! sagte die Herzogin, aber – wandte sie sich jetzt zum Grafen, der sich zurückziehen wollte, und plötzlich wie im heroischen Entschluß: Ich will erst noch die Unglückliche sehen ...

Madame – lehnte der Graf ab ... Es ist ein schmerzlicher Anblick – ...

Perché! erwiderte sie ... Kennen Sie etwas Schöneres, als den Tod? ... Gestatten Sie mir dies Opfer ... Principe! rief sie ... Meine Herren! Bedienen Sie sich Ihrer Pferde und des zweiten Wagens! Ich folge mit dem Herrn von – –

Asselyn! – ergänzte der Fürst ... Die Herzogin hatte schon wieder Benno's Namen vergessen ...

Graf Hugo machte eine ablehnende Bewegung ...

Benno jedoch, fast von Freude erregt bei allem Schauer, bedeutete den harrenden Diener der Herzogin, vorauszugehen, er selbst würde später seine Gebieterin hinunterbegleiten ...

Der Graf ließ nun wieder den Saal aufschließen, bat mit stummer Geberde um Entschuldigung und kehrte über die Stiege in Angiolinens Wohnzimmer zurück mit der ihm von Benno gegebenen Versicherung, daß er sofort auf die Herrengasse eilen würde, um für den Empfang der Gräfin Mutter und die vorsichtige Einleitung der Schreckensnachricht zu sorgen ...

Die Herzogin betrat den dunkeln Saal ... Benno folgte, schon an die erschütternde Situation gewöhnt ...

Mit fester Hand lehnte er die hohe Thür an, die Dienerin bedeutend, sie beide allein zu lassen ... Ein spärliches Licht fiel in den weiten hohen Raum durch einen einzigen geöffneten Fensterladen ...

Die Herzogin trat näher und sah auf die Todte, von deren Antlitz Benno ein leichtes Tuch nahm ...

Welch schmerzlicher Anblick! ... hörte er sie leise sprechen ... Wie jung – wie schön! ...

Fünfundzwanzig Jahre ...

Fünfundzwanzig Jahre schon? ... Am Mund sieht man das und an der Stirn ... Großer Gott, die Stirn blutet noch ... Warum mußte sie auch der wilden Olympia begegnen! ... Ihr Roß scheute ... Daher wol dies Unglück ... Glauben Sie, daß die Gräfin die Schuld trägt? ...

Benno hätte sagen mögen: Oder Ich! Denn um meinetwillen kam Olympia! ... Eine elektrische Kraft gab ihm den Muth, zu erwidern:

Das Leben ist eine Kette von Ursachen und Wirkungen ... Wir geben uns auf diese Art alle einander den Tod ... Diese Arme würde hier auch ohne die Gräfin liegen ...

In der That? ... Aber der Graf betet sie doch an? ... fragte die Herzogin ...

Seine Liebe war ein schöner Traum ... Vor einigen Stunden sagte er ihr, daß sie erwachen müßte ...

Ich verstehe ... sprach die Herzogin seufzend ... Armes Kind, du wolltest kein Erwachen ... Wen heirathet der Graf? ...

Eine Gräfin Paula von Dorste-Camphausen, Nichte des Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof ...

Die Herzogin zuckte zusammen ... Sie erhob sich, sah geisterhaft um sich, betrachtete Benno, dann athmete sie tief und schwer und beugte wieder das Haupt ...

Benno war nicht so grausam gewesen, diesen Namen seines Vaters zu scharf zu betonen ... Er knüpfte gleichsam nur an die Erwähnungen von vorhin an ...

Sie kannten – diesen Syndikus der Krone? sprach die Herzogin nach Gleichgültigkeit ringend ...

Benno erwiderte:

Ich sah ihn nur auf der Bahre, als man ihn in die Gruft seiner Väter senkte – Er lag – ganz ebenso, wie hier – ...

Benno hielt inne, um nicht zu viel zu sagen ...

Eine lange Pause trat ein ...

Schon wollte sich die Herzogin, die das Bedürfniß zu haben schien, sich von Benno über jene Familie, der sie so nahe stand – im Wagen mehr erzählen zu lassen, zur Thür wenden ...

Jetzt oder nie! riefen Benno's innere Stimmen und so wagte er die Worte – »Seine Tochter« – die er nicht ausgesprochen, zu umschreiben ...

Ich denke mir, sagte er, daß der Kronsyndikus in seiner Jugend Aehnlichkeit mit den Gesichtszügen dieser Unglücklichen da hatte ... Sehen Sie nur diese Stirn ... Tritt sie nicht ganz so – trotzig hervor, wie – bei – jenem – Tyrannen? ...

Das Antlitz der Herzogin vibrirte ... Sie horchte der seltsamen Vergleichung hoch auf ...

Benno, dem Himmel dankend über seine Gewandtheit, in der Sprache seiner Mutter ohne das mindeste Hinderniß reden zu können, fuhr fort:

Sehen Sie, da liegt noch die Schere, mit der der Arzt die Haare von der Wunde wegschneiden ließ ... Die schönen Haare! ... Ich nehme diese Locken zu deinem Angedenken mit, arme – – Schwester! ...

Diese Anrede wurde fest, wenn auch mit zitterndem Herzen gesprochen ...

Die Herzogin fuhr jetzt zurück ... Sie mußte glauben, der junge Mann wäre plötzlich in Irrsinn verfallen ... Sie suchte ernstlich die Thür ...

Ich nenne dich Schwester! rief Benno noch lauter und bannte damit den Schritt der Entfliehenden ...

Finden Sie nicht, Herzogin, daß auch ich die Züge der Unglücklichen trage? ...

Die Herzogin blieb wie auf der Flucht ... Sie glaubte einen Narren reden zu hören ... Dennoch verglich sie ihn und die Todte ...

Deshalb nannt' ich die Aehnlichkeit mit dem Kronsyndikus – Denn, Herzogin, ich, ich bin mit dem Kronsyndikus verwandt ...

Die Herzogin konnte nicht von der Stelle ...

Asselyn! ... sprach Benno ... Hörten Sie denn nie mals diesen Namen? ...

Die Herzogin hörte nur und besann sich ... Da biß sie plötzlich krampfhaft auf ihre Lippen ...

Es gab doch einen Freund des Kronsyndikus ... Einen Abbate – Francesco ... Kannten Sie denn den Abbate Francesco nicht? ...

Die Herzogin machte eine Bewegung, als hätte sie der Stich einer Schlange getroffen ...

Ist das – Ihre Familie –? ... sagte sie mit lauerndem Blick ...

Benno schwieg ...

Die Herzogin wollte, beschlichen von einem furchtbaren Gedanken des Mistrauens, den unheimlichen Saal verlassen ... Sie sah sich um ... Sie schien sich auf noch einen andern Priester als den Abbate Francesco zu besinnen, auf den Pater Stanislaus; sie fragte: Graf Salem-Camphausen sagten Sie? ...

Aber gehen wir! lächelte sie und die Frage wie zurücknehmend ...

Vergebung, Herzogin! ... sprach Benno immer fester auftretend ... Ich kann mich nicht trennen ... Dies Blut ist mein eigenes ... Ein Geheimniß, Herzogin! ... Sie werden mich für wahnsinnig halten? ... Ich suche seit Jahren eine Schwester ... Ich glaube sie in dieser Unglücklichen gefunden zu haben ... Still, still! ... Unter uns! ... Noch einmal, finden Sie nicht, daß wir uns ähneln? ...

Die Herzogin bebte wieder zurück über den Ausdruck in den Zügen des jungen Mannes ...

Arme Schwester, fuhr Benno fort, zum Paradiese geleitet dich dein Schutzgeist mit trauernder Miene ... Sie wird Einlaß finden, Herzogin, nicht wahr? ... Denn ich und meine arme Schwester, wir beide haben eine Mutter, die uns verlassen konnte ... Eine Mutter ist die Vorsehung ihrer Kinder – aber Sie haben recht, was sagten Sie eben? Eine Mutter kann in ihrem Kinde den Vater hassen? ... War es nicht das? ... Nicht alle sind so groß und eitel, wie Ihr Cardinal Ceccone, der in seinem Kinde – die Mutter zum zweiten male liebt ...

Jetzt hatten sich Benno's Züge wirklich verzerrt ...

Die Herzogin, die an der Thür, erst um zu entfliehen, stand, drückte jetzt die Thür noch fester zu, blieb aber wie trotzend stehen ...

Vergeben Sie, Herzogin! fuhr Benno fort. Wir wollen die Ruhe meiner Schwester nicht stören ... Aber mein Geheimniß ... Nicht wahr, ein Geheimniß für Sie und mich? ... Auch ich glaubte von Zigeunern zu stammen, wie diese Arme, wenigstens aus Spanien glaubte ich zu kommen ... Ich entsinne mich einer Frau, einer jungen schönen Frau, die mich zuweilen – ich konnte nur ein Kind von drei oder vier Jahren sein – holdselig anlächelte, zuweilen auch wol eine Thräne auf mich fallen ließ; es konnten auch am Kindesauge nur ihre Diamanten haften geblieben sein ... Herzogin, da erfuhr ich plötzlich, daß ich eine Schwester habe ... Sie ist geboren mitten auf der Landstraße ... Mitten unter den Schrecken des Kriegs, auf der Flucht ... Vor fünfundzwanzig Jahren ... Von einer Mutter, die eine Italienerin, eine Sängerin war ... Sie hieß –

Basta cosi! schrie die Herzogin mit dem Ton der Furie ... Sie lief auf Benno zu, ergriff seine Hand, sah sich wild um, richtete ihre beiden noch der höchsten Glut fähigen Augen auf nur drei Zoll Nähe dicht in die seinigen und starrte ihn wie die Erinnye mit weißen Augen an ...

Schurke, der du bist! fuhr sie fort ... Nachfolger des Paters Stanislaus! Nun weiß ich alles ... Hier, hier in diesem Hause wohnte ja Pater Stanislaus, Wenzel von Terschka ... Sollst du es besser machen, als dieser undankbare Teufel, der dem Al Gesù seinen Spaß verdorben hat?! ...

Mutter –! rief Benno auf dies entsetzliche Wort aus der tiefsten Tiefe des Schmerzes, des Mitleids, der Liebe hervor ... Mutter, wie redest du! ...

Sein Ton war so zart, so innig, daß er von keinem Betrüger kommen konnte ...

Die Gefolterte starrte ihn an ... Die verzerrten Züge ihres Antlitzes milderten sich, das Auge, immer sich einbohrend in die Augen Benno's, verlor seine stechende Schärfe, immer schwankender wurde ihre Haltung, die Hände suchten einen Halt, sie sank – »Mutter?« hauchte sie ihm nach ... Benno stürzte auf sie zu und überwunden lag sie in seinen Armen ...

Eine Weile währte es, bis sie sich aus einer Ohnmacht erholte ...

Benno lüftete ihren Hut, der sofort niederfiel ... Das Haar verdeckte ein Netzwerk, unter dem ein ehrwürdiges Grau schimmerte ...

Allmälig erst gewann sie Sprache und hauchte, zu ihm aufblickend, noch tief zweifelnd, aber schon mit liebender Zartheit:

Ce – sa – re –? ..

Julius Cäsar ... bestätigte Benno, richtete die Augen auf die Leiche und sagte: Und diese nannte man Angiolina ...

Die Augen der Frau erhoben sich wie irr bald auf Benno, bald auf die Leiche, bald gen Himmel ...

So währte es eine Weile ... Dann gingen die Augen nur noch vom Sohn zur Tochter und vom Tode zum Leben hinüber ... Endlich riß sie sich wild los und schrie:

Licht! Licht! ... Die Fenster auf! ... Ich muß meine Kinder sehen! ... Meines Mörders Kinder ... Ha, ha! – Wach auf, wach auf, Mädchen! ... Ich kenne dich ja nicht – ...

Benno gewann zuerst die Fassung ... Man hörte Geräusch ... Schritte eines Kommenden ... Es klopfte leise ...

Der Graf war es, dem das lange Verweilen, das laute Sprechen bei der Leiche auffallen mußte ...

Die Herzogin lag ausgestreckt über der Leiche, verbarg ihr Haupt und war selbst wie entseelt ...

Der Graf durfte diesen Ausdruck weiblicher Theilnahme an einer Südländerin natürlich finden und folgte Benno harmlos, der ihn mit äußerster Beherrschung seiner selbst aus dem Saale zog ...

Die Herzogin blieb allein zurück ... Sie sah um sich, sie tastete hin und her, sie stürzte auf die Leiche, sie riß sich wieder auf, nahm ihren entfallenen Hut, drückte ihn auf das Haar, das sie erst zerwühlen wollte ... Dann nahm sie mit irrer Geberde die abgeschnittenen blutigen Haare und verbarg sie wie im Diebstahl ... Nun preßte sie wieder einen Kuß auf die Lippen der Todten, dann wandte sie sich und wollte wieder zurück ...

Der Graf stand inzwischen wieder in der Thür ...

Wir verweilten lange bei dem lieblichen Engel – sprach sie in kurzen Sätzen ... Segne Sie – Gott, Herr Graf, für die Liebe, die Sie ihr schenkten – Es gibt nur Eine Liebe – mag sie auch Namen haben, welche sie wolle ...

Benno bot ihr, da sie zusammenzusinken drohte, seinen ihm selbst zitternden Arm ...

Der Graf dankte für so viel Theilnahme und begleitete beide bis an die weißschimmernde Stiege, rieth freundlich zur Vorsicht, empfahl Benno seine vorhin ausgesprochene Bitte und nahm zum zweiten mal von einem Beileid Abschied, das alles das zu erkennen gab, was in ihm selbst vorging ...

Ohnmächtig sinkend, ja stürzend schwankte die Herzogin die gebrechliche Stiege hinunter ...

Unten standen zwei Diener ... Der Schlag des vierspännigen Wagens flog auf ... Benno trug die zusammengebrochene Frau mehr, als er sie führte ... Sie sank in ihren Sitz ... Er stieg ihr nach ...

Der Schmerz der Herzogin konnte allen erklärt erscheinen aus dem empfangenen, an das gemeinsame Menschenloos erinnernden Anblick ...

Die vier Rosse zogen an ... Pfeilgeschwind flogen sie dahin ...

9.

Cielo! ... Destino! ... Manda mi la morte! ...

So brachen die Empfindungen der Herzogin aus ... Benno ergriff die Hände der jetzt ohnmächtig zusammensinkenden Mutter ...

Es war wie eine zweite Geburtsstunde, die sie erlebte ... Ihre Zähne klapperten ...

Allmälig schlug sie die Augen auf, betrachtete Benno und wollte mit der Geberde einer Fieberkranken die mitgenommenen blutigen Haare küssen ...

Benno riß diese fort und umschlang die Mutter mit seinen Armen ...

Wieder versank sie in Ohnmacht und fieberte laut ...

In dem weichgepolsterten Wagen ging es auf der Landstraße eine Weile dahin wie in einem lautlosen Zimmer ...

Als der Wagen eine kleine Höhe bergan fahren mußte und es langsamer ging, schlug die Herzogin die Augen auf, rang die Hände, riß Benno an ihr Herz und küßte ihn ...

Du bist es! rief sie ... Wüßte es doch alle Welt! setzte sie hinzu ...

Mutter! lehnte Benno ihren Wunsch ab, der fast wie Besorgniß klang ...

Wer weiß es noch sonst? fragte sie ...

Ich hier allein! antwortete Benno und deutete auf sein Herz ...

Meine Ahnung ist erfüllt! sprach sie ... Mit bangem Herzen bin ich nach diesem Lande gekommen ... Ich ahnte, daß ich das alles, alles erleben würde ...

Nicht aber so! klagte Benno das Schicksal an ... So grausam nicht! ... Das Leben im Tode ... O zürnst du mir? ...

Sie schüttelte den Kopf ...

Niemand weiß es? fragte sie wiederholt und zweifelnd ...

Vier fremde Priester, bestätigte Benno, ich und mein Bruder – der Präsident von Wittekind – Friedrich ist mein Freund und der deine ...

Sie fand sich langsam zurecht ...

Aber wer weiß, begann sie, ob ich deine Stimme gehört hätte, wäre sie nicht von dem Schweigen einer Todten unterstützt gewesen ... Angiolina! ... Ja, ich hatte mich mit Haß gerüstet, mein Sohn ... Hätte Gott es nicht so verhängt, daß ich meine Kinder so – so wiedergesehen – wer weiß –! ... Angiolina! ... Eine – Verlorene! ...

Benno unterbrach diese Gedankenreihen und fragte liebend vorwurfsvoll:

Selbst auf deine Kinder wolltest du Haß werfen? ...

Ja, mein Sohn! bestätigte die Frau, deren Lippen noch wie von Fieberfrost auf und zu gingen ... Es liegt eine wunderbare Macht, fuhr sie, an Angiolinens Verirrung anknüpfend, fort, in dem Gesetz ... Aber eine Frau kann sich von ihm verirren und, wird sie nur geliebt, so vergißt sie alles, Urtheil der Welt und künftiges Gericht ... Täuscht sie aber der, den sie liebte und um den sie alle Sünden der Welt ertrug und selbst beging, so welkt ihr jeder Baum und jede Farbe verbleicht ihr und ich haßte dich schon damals ebenso, wie ich dich anfangs geliebt hatte ... Ich schleuderte – Angiolinen – dies Kind wie eine Last von mir ... Ihm zu Füßen! ... Da hast du, was dein ist, Schurke! ... Ich sah meine Geburt nur einmal – wie sie ins Leben trat ... Das wird vor Gott ein Verbrechen sein – aber er strafte mich jetzt schon, daß ich mein Kind so wiedersehen mußte ...

Sie versank in Thränen und küßte die blutigen Haare ...

Sei versöhnt! sprach Benno mit Milde und wie jeder, der an ein mühevolles Ziel glücklich angelangt ist, dann erschöpft zusammenbricht ...

Dir bin ich es, mein Sohn! wandte sich ihm die stolze Frau zu, jetzt, um ihn zu ermuthigen, mit zärtlichstem Tone, ja wie eine Braut so weich – aber – Medea – erhob sie sich wieder – Medea schlachtete dem treulosen Vater ihre Kinder ... Nein, nein! ... beschwichtigte sie gleichsam ... Wie kommt das alles – daß du hier bist? Suchtest du mich? Woher weißt du deinen Ursprung? ..

Benno sammelte sich und die Mutter am zweckmäßigsten durch die vollständige Erzählung der ihm allmälig gewordenen Enthüllungen ... Er schloß seine kurzgefaßten Mittheilungen mit dem Wort:

Die Kirche anerkennt deine Ehe! ...

Sprich das nicht aus! entgegnete sie ... Meine Feinde haben mir auch mit lächelnder Miene diese Andeutung gegeben ... Meinen Frevel, die Hand des Herzogs von Amarillas zu nehmen, die ich nahm aus Stolz und Scham über mich selbst, verzeiht das Gesetz; denn ich kannte die Lehre der Kirche nicht ... Ich wußte, daß mich dein Vater betrogen hatte und war frei ...

Wann erfuhrst du das? ...

Als ich einige Laute dieser eurer rauhen Sprache gelernt hatte, die du nur schön sprichst, du, mein Sohn! ... Als ich ein Flüstern zu verstehen anfing, wenn Wittekind mit seinen Freunden zusammen war, ich auf meine Anerkennung drängte und nicht mehr in meine Pflichten nach Kassel zurückkehren zu wollen erklärte, wenn ich auf Neuhof gewesen ... Ich erlebte die Grausamkeit des Mannes! – O mein Cäsar – hast du etwas in deinen Zügen von diesem Tyrannen – Jesus ja, du bist sein Bild! ...

Nicht im Herzen! sagte Benno, schlug die Augen nieder und zog die Mutter an seine Brust ...

Er warf mich eines Tages in einen Kerker! fuhr sie fort ... Er ließ mich hungern ... Ich schrie um Hülfe ... Zuletzt konnt' ich nicht mehr ... Er kam in die unterirdischen Gewölbe und kniete an meiner Thür nieder und weinte ... O Cäsar ... Er konnte bestrickend sein wie ein Kind, wenn er wollte und Nachsicht bedurfte ... Zweimal geschah das ... Ich saß in den untersten Gewölben und fror und hungerte – ich, sein rechtmäßiges Weib! Wie ich damals noch – und freilich nur noch das erste mal glaubte ... Ein Teufel von einem Weibe bewachte mich ...

Brigitte von Gülpen, ergänzte Benno ... Sie strafte der Himmel ... Sie ist ermordet worden ...

Gott wird ihrem Mörder zum Paradiese verhelfen! ... Ja, Brigida hieß sie –! Ich vergesse den Ton nicht, wenn sie sich meldete und ich rief: Wer da! ... Sie spitzte dann den Mund und lockte mich: Täubchen! ... Sie hätte mich würgen können wie eine Taube ...

So auch starb sie ... sagte Benno und erzählte den Tod der Hauptmännin ... Dann fuhr er fort: Aber sie hatte eine Schwester – Petronella hieß sie – Ihr dank' ich mein Leben, meine Pflege, meine Erziehung ... Meinem Onkel, dem Abbate Francesco, verdank' ich meinen Namen ... Ich hieß der Sohn seines Bruders ... Ich heiße Benno von Asselyn ...

Julius Cäsar von Wittekind heißt du! – und eine Weile nach mir Montalto! ... verbesserte sie stolz und fuhr in den sie erleichternden Erinnerungen fort ... War ich ermüdet und kraftlos und verhallte meine Stimme ohnmächtig an den Wänden, so kam dein Vater und beschwor mich, ihm zu vertrauen ... Er könnte mich noch nicht anerkennen, wehklagte er ... Er verlöre die Hälfte seines Vermögens ... Auf seinem Witthum beruhte seine ganze Kraft ... Mit der zweiten Heirath würde er der Sklave seiner Kinder werden ... Er nannte Namen, die ich bald vergaß, Verhältnisse, die meine Begriffe überstiegen ... Er bat, er flehte hinter dem Gitter ... Er knieete nieder, schilderte eine glänzende Zukunft ... Ich ließ mich bethören und versprach nachzugeben Diese Augenblicke, wenn er den Schlüssel zog, wenn er meine Schwüre hören wollte, daß ich ihm verziehe, erst ein Pistol mir entgegenhielt und dann doch wieder durch das Gitter mich mit Küssen verlocken wollte – O, was hab' ich gelitten, mein Sohn! ...

Benno umarmte sie, streichelte ihre Wange, küßte ihre Hände ... Er starb im Wahnsinn, sagte er ... Wie zur Sühne solcher Frevel starb er – ein Geächteter ... Einen seiner frühern Freunde hat er erstochen ...

Wär' es einer von denen gewesen, sagte die Mutter mit Bitterkeit, die mich in der Kapelle zu Altenkirchen betrogen! ... Und doch, du sagst es, einer von ihnen wurde dein zweiter Vater? ... Lebt der Abbate noch? ... Ich glaubte, gerade der wäre zur ewigen Verdammniß bestimmt! ... Gerade er machte und wie aus Achtung vor mir den Ministranten – ein Priester! ... Ich sagte ihm Dank, als wir ins Schloß zurückkehrten nach der Trauung, Dank für die Ehre, die er mir gewährt ... Seine Hand zitterte, als er dafür die meinige küßte ... Ein Jude war der falsche Priester – der mich drei Jahre lang betrog – Auch in der großen Kathedrale von – wie hieß der Ort – Witoborn – betrog –! ... Er las die Messe ... Ich wußte damals nicht, daß es seine erste war ... Später erfuhr ich's, als ich anfing, mich heimlich nach ihm zu erkundigen ... Kurz vor der Flucht des Hofes von Kassel, längst schon in Angst um Wittekind's kaltes Benehmen, in Hoffnung mit – Angiolinen, in Angst vor den wilden Kosakenhorden, die nach der großen Schlacht bei – Leipzig schon bis dicht an die Thore schwärmten, sagte mir Wittekind ins Gesicht, daß er mein Bleiben nicht dulden würde und daß ich sein Weib gar nicht wäre ... Trommelwirbel fielen in diese Worte ... Die Glocken läuteten Sturm – Feuer! rief es in den Gassen ... Schon brannt' es in den nächsten Dörfern ... Besinnungslos folgt' ich der allgemeinen Flucht ... In der unglücklichen Lage eines Weibes, wenn sie die Zwecke der Schöpfung erfüllen soll, ward ich von den Angehörigen der Truppe, zu der ich gehörte, fortgerissen ... Schon am Abend, in einer Scheune, auf dem Wagen eines Kunstfeuerwerkers unsers Ballets, kam ich nieder ... Ich raffte am andern Morgen den letzten Rest meiner Kräfte zusammenstoße das Kind, wie alles um mich her, von mir – Die Gesellschaft wird von den Vorposten der Russen auseinander gesprengt – Ich gelte für eine Todte – So kam ich auf einem Bauerwagen nach Frankreich, verfolgt von dem Hohn: Das ist der Hof des Königs Hieronymus! ... Ich verfiel in eine lange Krankheit, nach der ich mich erst allmälig auf alles besann, was vorher mit mir vorgefallen ...

Arme Mutter! sprach Benno und suchte sie zu beruhigen ...

Aber die Sprecherin war in mächtigster Erregung und fuhr fort:

Der Krieg kam näher und näher ... Ich benutzte meine ersten wiedererlangten Kräfte, an Wittekind zu schreiben; an den Bischof von Witoborn, dem ich noch Anstand nahm alles ganz wie es war mitzutheilen; an die Behörden ... Letztere wurden eben neu eingesetzt ... Wittekind antwortete nicht ... O die Scham und die Verzweiflung über meinen eigenen Unverstand waren noch größer als mein Rachegefühl ... Ich suchte mich der Welt zu verbergen, ich verrieth niemanden, was mir geschehen war ... Meine nächsten Vertrauten und Umgebungen waren durch die Zeitumstände von mir gerissen ... Nachrichten über ein Bauerhaus einzuziehen, wo du lebtest, wurde unmöglich ... So bracht' ich einige Monate in Paris zu ... Da lernte mich der Herzog von Amarillas, Marquis Don Albufera de Heñares, kennen ...

Die Mutter hielt inne, um neue Kraft zu schöpfen ...

Benno bat sie, sich zu schonen ...

Bei dem Wort, das er aussprechen wollte, er würde sie ja nun oft sehen können ... stockte er ... Wir sehen uns in Rom! sagte er ...

Nein, schon hier! wollte sie mit überwallendem Gefühl ausrufen; doch auch sie unterbrach sich jetzt und gestand, ihre Stimme dämpfend: Meine Lage ist – freilich nicht so – daß ich – ...

Benno sah, daß hier seine Aufgabe erfüllt war ... Was sollte er noch in Wien? ... Sollte er wie Hamlet einen ungeheuern Schmerz im Busen tragen und ihn vertändeln in der Gesellschaft, in einem Liebesroman mit Olympien? ...

Die Herzogin fuhr inzwischen fort:

Die Feinde hatten Paris genommen ... Ein Flüchtling vor Napoleon, kehrte der Herzog mit dem vertriebenen Ferdinand VII. nach Spanien zurück ... Er kam aus England und erkrankte in Paris ... Der Streit unserer Meinungen hinderte nicht die Annäherung der Sympathieen ... Der Herzog wohnte in einem Hause mit mir ... Er war alt und gebrechlich ... Seine gänzlich verarmte Lage rührte mich ... Ich fing wieder an zu singen und theilte mit ihm, was ich hatte ... Dennoch war alles nur Rache an Wittekind – der mich endlich mit Geldmitteln und höhnischem Spott und einer teuflischen Bitte um Verzeihung bedachte – Rache, daß ich ihm als Herzogin antwortete und ihm ebenso höhnisch, wie er geschrieben, auch ihm seine Kinder empfahl, für die er zu sorgen gelobte, die ich aber – Gott wolle es mir verzeihen! – wie alles verfluchte, was mich an ihn erinnern konnte ...

Benno erkannte die psychologische Möglichkeit ...

Nach einer starren Betrachtung der blutigen Locken Angiolinens fuhr die Mutter fort:

Ich reiste nach Madrid ... Der Herzog, mein Gemahl, hatte eine Stellung am restaurirten Thron der Bourbonen erhalten ... Bald aber kehrte Napoleon von Elba zurück; auch in Madrid erhob sich die Revolution ... Der Herzog erlag den Anstrengungen einer Flucht vor der Cortesregierung nach Portugal und starb ... Wieder stand ich allein, wieder ohne Schutz und Lebenshalt; jetzt bereuend, daß ich mich selbst so rasch zu dieser Veränderung meiner Ansprüche auf Wittekind hatte bestimmen können ... Ich reiste nach Rom ... Von dort begann ich in meiner ersten Verzweiflung, mit Schloß Neuhof zu correspondiren und einlenkende Schritte zu thun ... Später drohte ich ... Man schrieb mir oder ließ mir schreiben ... Ich empfing einiges Geld, im übrigen nur die alten höhnischen und bäurischen Scherze und Bitten um Verzeihung ... Las ich diese Briefe, so hörte ich das wiehernde Gelächter, das dein Vater zuweilen ausstoßen konnte für sich ganz allein – nur für sich allein ... Er jubelte dann über seinen Verstand und über die Dummheit der ganzen Welt ...

Das hat sich traurig gewendet! sagte Benno ... Jérôme, sein zweiter, schon geisteskranker Sohn, starb im Duell ... Auch Friedrich, der Erbe, ist nicht glücklich ... Doch bin ich mit Friedrich einverstanden und befreundet ... Er kennt meine Reise hierher und billigt die Begegnung mit dir ... Befiehl du selbst! ... Er ordnet sich allen deinen Wünschen unter ...

Die Herzogin horchte aufmerksam und überlegte ... Sie schien das Fortwalten des Geheimnisses vorzuziehen ... Wenigstens sagte sie:

Mein Sohn! ... Ich bin die Tochter eines Marchese im Ravennatischen, der sein Vermögen verlor ... Ich mußte früh an die Verwerthung eines Talents denken, das mich und die Meinigen erhielt. So legte ich den Namen der Marchesina von Montalto ab und nahm den der Fulvia Maldachini an ... Von Rom kam ich erst nach Parma ... Von dort nach Mailand, von Mailand nach Paris, von Paris nach Kassel ... Ich kannte diese ganze dortige fremde Welt nicht und verachtete sie zu sehr ... Meine einzige Umgebung war eine alte Römerin, die mich singen gelehrt hatte ... Sie war halb erblindet, erschien aber durch ihre Manieren wohl geeignet, meine Duenna vorzustellen ... Auch sie verstand die Welt nicht, in der wir mit Anstand lebten ... Ich genoß die größten Auszeichnungen und hatte selbst die List des Königs zu fürchten ... Ich war tugendhaft, mein Sohn! ... Ich war es vielleicht nur – aus Stolz ... Den Freiherrn erhörte ich erst, als er mir die heimliche Ehe anbot und ich sie vor Gott, einem Pfarrer oder dessen Substituten und mehr als zwei Zeugen, die hingereicht hätten, richtig geschlossen glaubte ... Meine Entbindung von dir fiel in die Zeit der Ferien an unserer Bühne ... Ich genas in einer der kleinen Meiereien, die zu den Besitzungen deines Vaters gehörten ... Eine Bäuerin nährte dich ... Noch war deine Geburt eines Familienstatuts wegen zu verbergen ... Aber du hattest meine ganze Liebe ... Nie konnte ich dich in den schmuzigen Umgebungen wie ein Bauernkind sehen, ohne nicht sofort mit deinem Vater die ernstesten Kämpfe über die endliche Enthüllung unsers Geheimnisses zu beginnen ... Anfangs erfolgten die Beschwichtigungen in Güte ... Die spätere Wendung erzählte ich dir ... Wäre ich nicht von den Pflichten meines Berufs, den ich liebte und den ich so viele Meilen von Neuhof entfernt ausübte, gebunden gewesen, ich hätte so lange mein Geheimniß nicht bewahren können ... Als ich endlich den Betrug durchschaute, übertrug ich meinen Haß auch auf meine Kinder ... Und ich sag' es dir, Cäsar, ich würde dich und Angiolina nie anerkannt haben ohne diese heutige Wendung des Geschicks, die mir so schreckhaft sagte: Die Rache lasse der Mensch dem Himmel! ... Oft befiel mich melancholische Sehnsucht nach den beiden Wesen, die ich unterm Herzen getragen ... Einmal – ja, da war ich nahe daran, mich zu entdecken, als jener Pater Stanislaus, den du kennst – ...

Wenzel von Terschka – ...

Nach Deutschland reiste und sich mir empfahl ... Ich lebte jedoch schon damals in Verhältnissen, die mir die Festhaltung meiner Stellung als Herzogin von Amarillas zur unbedingtesten Pflicht machten ... Und noch – jetzt, mein Sohn – ...

Die Erzählerin stockte und wandte sich ab ...

Benno glaubte die Beschämung zu sehen, die Anstand zu nehmen schien, von Cardinal Ceccone, ihrer dritten Verbindung, zu sprechen ... Ein unendliches Weh legte sich auf sein Herz ...

Mein Sohn, sprach die Herzogin, seine Gedanken errathend ... Wenn Cardinal Ceccone in allem so heilig wäre, wie in seinem Verhältniß zu mir, so würde man ihn nach seinem Tode kanonisiren ... Eher kannst du in Rom hören, daß – – Ceccone wie Papst Alexander Borgia seine eigene Tochter liebt, als das Wort – die Herzogin von Amarillas stünde in einer nähern Verbindung mit ihm, als der, die Duenna seiner – »Nichte« zu sein ... Mein Sohn, du siehst mich hier mit vier Pferden fahren, Bediente umringen mich, ein römischer Principe reicht mir den Arm, um mich in die kaiserlichen Theater zu führen, in die Loge des mächtigsten Staatsmannes der Welt – ich bin nichts weiter als eine Gouvernante ...

Benno ergriff gerührt die Hand der Mutter und sah in ihre umflorten Augen ...

Unter unsern Cardinälen, fuhr sie mit schmerzlichem Lächeln fort, gibt es einige, die wohl verdienen, Muster der Christenheit genannt zu werden ... Ihre Zahl ist nicht groß ... Die übrigen theilen sich in zwei Klassen ... In solche, die die Gelübde aus Indolenz halten, und solche, die die Natur nicht betrügen können ... Alle aber, selbst die letztern bewahren den Anstand ... Saltem caute! ist unsere römische Devise ... Um die immer prüfend und lauernd auf sie gerichteten Blicke der Menschen, namentlich der Priester, zu zerstreuen, zeigen die Cardinäle sich absichtlich ganz weltlich, leichtsinnig, gesellschaftsbedürftig und doch nicht anstößig. Das ist, wie die Frauen im Cicisbeat einen Deckmantel für eine in ganz anderer Sphäre versteckte Leidenschaft haben ... Jeder Gatte läßt seine Gemahlin ruhig mit dem Cicisbeo gehen ... Die ser ist der Freund des Hauses, der Freund des Mannes, der Beschützer der Frau, deren anderweitige Verhältnisse am wenigsten der Cicisbeo kennt ... So haben auch die Cardinäle ein Haus, an das sie attachirt sind, wo sie Audienzen geben, wo sie sich ausruhen, Whist spielen und wirklich, wenn auch mit den leichtesten Formen, die Tugend und Entsagung selbst sind ... Das weiß in Rom jedermann ... Cardinal Ceccone kann nach seinen Arbeiten in der Sacra Consulta nicht anderswo sich erholen, als bei der Herzogin von Amarillas, wo es hergehen würde so still und fromm, wie im Kloster von Camalduli, wenn nicht Olympia mit den Jahren immer gefahrvoller sich entwickelt hätte – Cäsar! – unterbrach sich die Sprecherin und betrachtete Benno mit einer Mischung von Staunen und Schrecken – wie nur war es möglich, daß gerade du, du mein Sohn, Cäsar von Wittekind, es sein mußtest, der – ... Doch – fuhr sie plötzlich auf – fliehe Olympia! Sie zerreißt, was sie liebt! ...

Benno gerieth in die größte Verwirrung ... Seine Ueberzeugung, daß er in Wien seit dieser Stunde nichts mehr zu vollbringen oder abzuwarten hätte, mehrte sich ...

Die Mutter fuhr fort:

Ich bin nicht die einzige Herzogin, lieber Sohn, die in Roms dunkelsten Gassen wohnte und nur – in den Kirchen, deren wir zu diesem Zweck Gott sei Dank genug haben, von einem ihrem Stand gebührenden Glanze umgeben ist ... Man ist arm, aber vom Munde darbt man sich den Miethwagen ab, der uns des Abends eine Stunde auf den Corso führt ... Sonst geht man des Tages zu Fuß ... Ein Schleier genügt, nicht einmal ein Bedienter ... Alle hundert Schritt liegt eine schöne geräumige Kirche, gebaut aus Marmor, mit stillen Kapellen, dunkeln Ecken, da eine Lampe, hier ein Schemel für die Füße, ein Bild von Domenichino, eine Sculptur von Michel Angelo – so kann man schon eine Stunde lang verträumen, ein Leben der Armuth anständig verschleiern ... Du wirst das sehen, wenn du in Rom bist ... Du gehst nach Rom! ... O wohl, wohl! ... Du sollst es ... Oder was – was glaubst du, mein Sohn? ...

Benno hatte die Miene gemacht zu fragen, ob sie es nicht wünsche ... Er sah, wie seine Begegnung sie bei alledem zu stören anfing ...

Die Kirchen, fuhr die Herzogin nach einigen zärtlichen Blicken fort, die Kirchen in Rom sind zum Beten da; aber sie verbinden zugleich den Zweck, eine Promenade zu sein, eine Promenade, die zu betreten nichts kostet ... Ich hörte einen Attaché der Gesandtschaft des Königs von Preußen, der erst einige Tage in Rom war, außer sich gerathen bei der Erzählung: Ich besuche den Carcer Mamertinus beim Capitol, die Kapelle, die über jenem Gefängniß erbaut ist, wo Sanct Peter vor seiner Hinrichtung gefangen saß, und ein Geistlicher tritt herein, kniet vor einem Betpult nieder, wendet das Antlitz zum Altar, zieht, ehe er betet, sein Taschentuch, seine Dose, nimmt eine Prise und dann erst faltet er die Hände! Factische Reiseerinnerung.... Dies Bild brachte den Lutheraner außer sich, beleidigte jedoch von uns Römern niemand ... Es war ein heißer Tag; der arme Dorfpfarrer, der die Merkwürdigkeiten der Stadt ansah, wollte sich ausruhen und benutzte die kühle Kapelle St.-Pietro in carcere ... Daß man sich an einem solchen Ort mit der Geberde des Betens ausruht, bringt die Rücksicht auf den Ort und diejenigen mit sich, die vielleicht ringsherum wirklich beten ... Die Kirchen Roms sind nicht Kirchen allein, sondern die ehemaligen Thermen der Kaiser ... Sie sind die Gärten und Promenaden der Stadt, die allen gehören, den Armen und Reichen, den Königen und Bettlern ... Ist denn nicht auch das Religion, was alle gleich macht? ... Wer gefallen ist, Könige, die ihre Krone verloren, können keine bequemere Stadt der Welt finden ... Für die, die ohne Demüthigung sein und vergessen wollen, ist Rom die Stadt der Städte ...

Diese Aeußerungen einer Frau, die in so unmittelbarer Nähe der Tonangeber der Christenheit lebte, mußten Benno wol die Frage wecken: Wiestehen ihre Ueberzeugungen im Verhältniß zur Kirche und zu dem Zweck der Sendung des Cardinals? ... Doch überwog jetzt noch das Interesse am Persönlichen ...

Fünf bis sechs Jahre, fuhr die Mutter fort, lebte ich in dem steten Kampf mit mir, welche Entschließungen ich fassen sollte ... Ich war nicht mehr jung ... Meine Schönheit, wenn ich sie je besaß, war verblüht ... Ich zog niemanden an, als dann und wann ein paar Priester, die bald wegblieben, als ich ihnen keine Tafel serviren konnte ... Zur Devotion hatte ich kein Talent ... Im Singen zu unterrichten widersprach meinem Stolz ... Ich processirte mit den Gerichten Spaniens; die Revolutionen und die Cortes wiesen mich ab ... Wittekind erlebte in meiner Verzweiflung einigemal die Drohung, daß ich nach Deutschland kommen und die Gerichte gegen ihn anrufen würde ... Ich ging so weit, mich über die Gesetze wegen unwissentlicher Bigamie zu unterrichten ... Ich überzeugte mich, daß meine Ehe nach kanonischen Regeln anerkannt werden konnte ... Dann aber hatte ich in Bigamie gelebt und mußte erst von dieser Sünde wieder befreit werden ... Das ist das besonders Schmerzliche am Unglück, es macht zuletzt feige ... Das Unglück verwirrt uns und läßt uns falsche, oft ganz unwürdige Maßregeln ergreifen ... Ich fand wenigstens meine Hülfe da, wo ich nimmermehr geglaubt hätte, daß ich sie suchen würde ...

Benno horchte voll höchster Spannung ...

Jenseit der Tiber wohnen in Rom jene Volksklassen, die sich noch eine gewisse Natürlichkeit, soweit sie bei römischer Unbildung möglich ist, bewahrt haben; Handwerker, die größerer, lichterer Räume bedürfen, als sie die innere Stadt diesseit der Tiber bietet ... In Trastevere wohnte ein Metzger, von dem ich mir zuweilen den Luxus gestattete, ein besseres Stück Fleisch, ein ganzes junges Lamm für die Küche zu bestellen ... Noch lebte meine alte Marietta Zurboni, die mich so lange Jahre begleitet hatte ... Nun war sie ganz blind; ich gönnte ihr zuweilen Festtage in Wirklichkeit, nicht blos die, die im Kalender stehen – Was ich da alles rede! unterbrach sich die Herzogin und starrte in die Ferne und in die noch nicht erreichte Stadt ...

Benno erkannte, daß die Mutter so plötzlich der Schmerz um die Todte, die nun schon in Entfernung fast einer Meile zurückgeblieben, ergriff ... Sie hielt beide Hände nach der Gegend hin, wo Schloß Salem lag ... Eine Geberde der Bitte um Verzeihung ... Sie küßte wieder die blutigen Haare ...

Benno beruhigte sie ...

Eines Tages, fuhr sie nach einem kurzen Weinen fort, hatte ich mich von Kirche zu Kirche bis Santa-Cecilia gebetet – dies war die einzige Art, wie ich als Herzogin am Tage ohne Equipage vegetiren konnte – Ich that, als könnte ich, da ich doch einmal bei Meister Pascarello in der Nähe war, bei dieser Gelegen heit, obgleich ich eine Herzogin war, auch wol mein Osterlamm selbst bestellen ... Hoheit, sagte er, warum sind Sie nicht zehn Minuten früher aus Ihrer Andacht erwacht! Soeben hatte ich noch fünf Lämmchen, weiß wie Schnee, so unschuldig, daß sie die heilige Agnes mit in den Himmel hätte nehmen können! ... Ich bedauerte ... Hätt' ich diese Ehre geahnt! fuhr er fort. Aber, den Heiligen sei Dank, die Kleinen kommen wenigstens in gute Hände und Gott segne, daß ihre Wolle dem Pascarello Ehre macht! ... Wer erhielt sie denn? fragte ich ... Der ehrliche Metzger zeigte über die Tiber hinweg und sprach: Wenn die Thierchen gebraten werden, Hoheit, einen solchen vornehmen Rost haben Sie doch nicht! Ich glaube fast, der des heiligen Laurentius selbst wird dazu genommen! ... Ich ahnte eine Bestimmung für die Kirche und Meister Pascarello erzählte mir noch eine Geschichte, die in Rom jedermann weiß ... Im Kloster der Nonnen, die man die »Lebendigbegrabenen« nennt, werden die Lämmer gezogen, aus deren Wolle die weißen, drei Finger breiten Schulterbinden, Pallien genannt, gefertigt werden, die Rom jedem neuernannten Bischof der Christenheit zuschickt ... Die Achselklappen zu den Uniformen der großen römischen Armee ... Die Lämmer können ihre zarteste Wolle nur jung liefern, werden nach der Schur geschlachtet und der Heilige Vater bewirthet mit dem Fleisch jährlich die zwölf Apostel, denen er die Füße wäscht; es sind Arme, die zu dieser Ehre schon lange auf einer Liste verzeichnet stehen ... In dem Kloster sagte Meister Pascarello, muß ein Wolf hausen oder eine Wölfin – verbesserte er sich –; denn ich habe die Ehre, des Jahres viel Lämmer dorthin zu liefern, mehr als in einem Jahr in der Christenheit Bischöfe sterben und neue gewählt werden! ... Seltsam! ... sagte ich gleichgültig und – betete mich wieder in meine dunkle Gasse bei Piazza Navona zurück, in der ich wohnte ... Ich erzählte diesen Vorfall einem Prälaten, der mich oft besuchte, obgleich ich ihn nicht mochte wegen seines giftigen und intriguanten Wesens ... Leider hatt' ich ihm schon mehr von meinen Lebensverhältnissen vertraut, als ich hätte thun sollen ... Es ist der jetzige Cardinal Fefelotti, wie man weiß, der Feind Ceccone's ...

Benno hatte diesen Namen als jetzigen Nachbar des Grafen Hugo in Castellungo heute nennen hören ... Auch wußte er, daß Olympia's Mutter im Kloster der »Lebendigbegrabenen« lebte ... Er fürchtete die Aufregung der Mutter und sagte:

Laß es! ... Du wirst mir noch oft erzählen können ...

Eine solche Stunde kommt uns nicht so bald! erwiderte sie seufzend ...

In Rom! ... Ich verlasse Wien ... sagte er ...

Nein! rief die Mutter leidenschaftlich, umschlang und küßte ihn ...

Ich gehe nach Rom ... Heute noch ...

Cäsar! rief die Herzogin wie im Ausbruch des äußersten Schmerzes und – doch voll Freude ...

Nach einiger Sammlung fuhr sie fort:

Fefelotti machte eine schlaue Miene und sagte: »Daraus erkenne ich ja die Wahrheit eines Gerüchtes! Monsignore Tiburzio könnte, mein' ich, von dieser kleinen Wölfin leicht seinen Cardinalshut zerrissen bekommen« ... »Sie wissen«, setzte er hinzu, »daß Tiburzio im nächsten Conclave den Purpur erhalten wird« ... Die Züge Fefelotti's verzerrten sich noch häßlicher, als sie schon von Natur sind ... Ich sah, daß er über einen Plan brütete ... Ceccone war schon damals der mächtigste Mann in Rom ... Er hatte die Revolution gebändigt, die Carbonari verbannt oder eingekerkert; man wußte, daß ihn eine Römerin, Lucrezia Biancchi, hatte ermorden wollen ...

Olympia ist das Kind einer neuen Judith! sagte Benno ...

Alle Welt weiß es jetzt ... bestätigte die Mutter ... Aber damals noch nicht ... Der Generalinquisitor Ceccone schlug die Untersuchung des Mordanfalls einer jungen Wäscherin auf ihn nieder und brachte die Mörderin heimlich zu den »Lebendigbegrabenen« ... Das fanatische Mädchen, das ihre Ehre geopfert hatte um ihn zu tödten, kam dort nieder ... Olympia wurde im Kloster fünf Jahre alt ... Es war ein Kind der Sünde – ein Kind der Lüge, der Wollust, des Mordes ... Von solcher Wildheit des Blutes war sie, daß sie mit den kaum geborenen Lämmchen spielend oft eines erwürgte ... Das Opfern dieser Lämmer ist eine heilige Procedur, die am Fest der heiligen Agnes öffentlich vollzogen wird ... An der Wolle soll noch jetzt niemand eifriger spinnen, als die schon in der Geburt ihres Kindes vom nicht abgewarteten Milchfieber irrsinnig gewordene Lucrezia – ...

Was ist Wahrheit! klagte es tief schmerzlich in Benno's Gemüth ... Ein riesiges Gebäude steigt auf, ein stolzer Dom ... Die Pfeiler ragen wie über felsenfestem Grunde ... Die Wölbungen sind wie für die Ewigkeit berechnet ... In den Rissen wächst, mit buntestem Farbenreiz sie verdeckend, die Flora der Phantasie und des Gemüths ... Die heiligste Andacht nimmt diese weißen Pallien mit den vier schwarzen Kreuzen darauf als die Sinnbilder jenes verlorenen Lamms, das der gute Hirte gesucht – und wie macht sich das alles in Wirklichkeit! ... »Rom blüht und gedeiht doch!« hatte Hammaker beim Vorschlag eines neuen, »falschen Isidorus« gesagt – ...

Die Mutter schien diesen schneidenden Contrast nicht nachzufühlen ... Die Römer nehmen, was von ihnen kommend die katholische Welt andachtsvoll verehrt, wie ihr tägliches Brot und als sich ganz von selbst verstehend ...

Ich gönnte Fefelotti nicht den Triumph seiner Intrigue, fuhr sie fort ... In einer jener Anwandlungen von Thatkraft und Muth, die schon längst bei mir aufgehört hatten, schrieb ich an Monsignore Ceccone und warnte ihn, er möchte auf der Hut sein und aus dem Kloster eine gewisse – kleine Wölfin entfernen ... Die Visitation durfte ohnehin kein Kind im Kloster dulden ... Dann auch noch warnte ich ihn vor den unbesonnenen Plaudereien Pascarello's in Trastevere ... Ich hatte mich genannt und durfte nicht erstaunen, unmittelbar darauf den Besuch des Monsignore selbst zu empfangen ... Ich fand in Ceccone einen Mann von hinreißendem Benehmen, angewiesen auf die Gunst der Frauen ... Ich für mein Theil fühlte, daß ich nichts mehr für einen solchen Mann besaß, als höchstens etwas Verstand und das unendlichste Vedürfniß nach Beistand, das zuweilen die Menschen bindet, besonders wenn sie nicht gut sind ... Gefällig sein heißt bei vielen, nur seine Macht zeigen wollen ... So entdeckte sich mir Ceccone ganz, dankte für meine Theilnahme, warnte vor Fefelotti, der sein Feind seit frühester Jugend und schon von der Schule wäre, und machte mir den Vorschlag, daß ich einen Palast bezöge, den er für mich miethen wollte, wenn ich Olympia zu mir nähme ... Noch mehr! Es wäre ihm lieb, sagte er, wenn ich ihr einen Namen, vielleicht von meiner Verwandtschaft gäbe ... Ich ging auf diese Vorschläge ein ... Ich gab Olympien den Namen, den ich in diesem rauhen und grausamen Lande zurückgelassen habe, Maldachini ... Den Grafentitel, den das Kind bekam, bezahlt man in Rom ... Principe Rucca's Urgroßvater war vor hundert Jahren ein Bäcker ...

Benno horchte nur ...

Meine Lage besserte sich ... Sie wurde glänzend ... Ceccone sammelte Schätze und hatte eine solche Liebe zu seiner Tochter, daß sie ihm, wenn wir noch in den Zeiten des »großen« Nepotismus lebten, eine Fürstenkrone werth wäre ... Die Krone des Prinzen Rucca entspricht nur noch der jetzigen Stellung des römischen Stuhls ... Aber die Zähmung der jungen Wölfin ist mir nicht gelungen ... Sie ist eine Blume, die aus Blut emporgesprossen ... Ihr Dasein verdankt sie einem Haß, der sich in Liebe nur verstellte ... Lucrezia Biancchi suchte die Bekanntschaft im Hause des Inquisitors durch eine Wäscherin, die für ihn arbeitete ... Sie begleitete diese, nahm ihr zuweilen die Uebergabe der Wäsche ab ... So begann ein Roman, den sie benutzte, um den Feind der jungen Freiheit Italiens wie Judith den Holofernes zu ermorden ... Wir haben ein schönes Land, aber – wilde Menschen ... Noch werden die Zeiten eisern werden ...

Benno war zu ergriffen, um von den Brüdern Lucrezia Biancchi's, von den Oheimen der »Gräfin«, zu sprechen, von der Nähe des alten Professors Luigi ...

Schlimme Stunden werden auch noch für uns allein kommen, mein Sohn! seufzte die Mutter ... Olympia hatte nie einen Wunsch, der unerfüllt blieb ... Sie heirathet den Principe nicht, um seine Liebe oder seinen Namen zu haben, sondern nur, um eine Frau zu sein ... Dadurch erst gewinnt ein Weib größere Freiheit ... Mein Sohn, Rom hat keine Erziehung, keine Bildung – keine Tugend – ... Es hat nur Leidenschaft und Verstellung – Wir haben die Formen der Devotion ... Diese vertreten den öffentlichen Anstand ... Alles Uebrige ist die größere oder geringere Kunst der Verstellung ... Tugend ist nur da, wo die natürliche Empfindung sie zugleich mit hervorruft, oder nur da, wo sie schon die natürliche Begleiterin von Stolz und Liebe ist ... Ein Staat von Priestern, die unter einem unnatürlichen Gesetze leben, kann nichts anderes hervorbringen ... Ich habe es einmal erfahren, was ein in Rom entstandener freisinniger Gedanke kosten kann ... Ceccone neigt, wie das im Alter so geht, zu politischen Verbesserungen und ist in seinem innersten Herzen Italiener, ja mehr noch, Römer ... Olympia sowol wie ich arbeiten auf die Erhöhung Italiens – eine Zukunft, die ohne Bruch mit Oesterreich nicht denkbar ist ...

Benno sah sich betroffen um ... Die Diener hätten hören können ... Schon näherte man sich den volkreichen Vorstädten ...

Seine Besorgniß war ungegründet ...

Fefelotti, fuhr die Mutter unerschrocken fort, der gleichfalls inzwischen Cardinal wurde, erhob sich wie die Schlange, die ein Fuß nicht ganz zertreten hat ... Diesen Winter war es ... Da begannen die Intriguen der immer mächtiger werdenden Jesuiten ... Ich sollte auf der Reise hieher, die schon lange zu Olympiens Ausbildung beschlossen war, die Anklage erhalten, die Gattin zweier Männer gewesen zu sein ... Zum Glück, wie ich hier wol sagen kann, starb der Kronsyndikus ... Aber die Intrigue ruhte nicht ... Wir haben uns der Feinde versichern müssen ...

Ceccone versprach dem Al Gesù, seinen Befehlen zu gehorchen –! ...

Ja! erwiderte die Mutter wie eine Römerin, die nur triumphiren wollte mit dem Berichte: Fefelotti ist gestürzt und in ein Erzbisthum verbannt ... Weit von Rom entfernt, im Piemontesischen, krümmt er sich jetzt, racheschnaubend, aber ohnmächtig ... Wir fühlen seine Hand nicht mehr ... Warum staunst du? ...

Benno unterdrückte seine Empfindungen ... In solche Umtriebe des Ehrgeizes machtbegehrender Priester mischt sich das Wohl der Staaten, die Freiheit der Völker, die Erleuchtung der Gewissen! ...

Die Mutter kam auf diese Vorstellungen nicht ... Sie sprach von Olympien ...

Ihre ersten Lebensjahre wurde sie im Kloster verborgen gehalten ... Das Kloster liegt nicht einsam ... Man hatte Ursache, das Schreien des Kindes zu ersticken ... Man erstickte es durch Liebkosungen und die Gewähr jedes Wunsches ... Ein Nein! gab es nicht bei Nonnen, die über eine Entdeckung zitterten ... Daß sie gleich anfangs eine Nonne aufnahmen, die Mutter wurde, machte die Habgier ... Ein Kloster ist bei uns für Wohlthaten und Geschenke, die man ihm spendet, zu allem fähig ... Diese Mönche und Nonnen gewöhnen sich so an die Vortheile, die ihnen die Besitzthümer ihres Klosters gewähren, daß sich die wunderbarste Einigkeit zwischen allen herstellt, wenn sie nur wissen: Das ist dein Antheil an dem gemeinsamen Gewinn ... Die Menschen der Entbehrung und Einsamkeit werden so; sie handeln im Charakter eines Ameisenhaufens, der eine einzige Ameise voll Intelligenz ist ... Dem Kloster dann heimlich entführt und in meine Obhut gegeben, erlebte Olympia einige entschiedene Anwandlungen meiner Neigung, ihr eine Erziehung zu geben ... Der Erfolg war nicht ermunternd ... Lassen Sie das Kind sein, wie es ist! sagte der zu einer Mischung von halb Trajan, halb Nero geborene Cardinal ... Nur ein Mensch von starkem Willen lebt siegreich in dieser halben Welt! setzte er hinzu ... Oft sah ich mir in der Galerie Borghese das Bild an, das Rafael von Cäsar Borgia gemalt hat ... Ein Kopf wie ein Räuberhauptmann, voll schreckhafter Männerschönheit ... Macchiavelli machte aus ihm das Muster eines echten Fürsten ... So war Ceccone in seiner Jugend und Olympia ähnelt ihm ... Sie bekam schon als Kind galante Briefe und Gedichte von denen, die ihren Schutz begehrten ... Sie wählte sich selbst ihre Gesellschaft ... Sie ließ Schäferknaben von ihrer Hürde in der Campagna wegnehmen und in prachtvolle Kleider stecken, um mit ihnen spielen zu können ... Ebenso oft aber auch nahm sie ihre Gunstbezeigungen wieder zurück ... Ich hatte Scenen mit dem Cardinal voll äußerster Aufregung ... Er konnte so grausam sein und mir sagen: Madame, Sie sind die Kammerfrau einer Fürstin, nichts weiter! ... Ich ertrug diese Ausbrüche des Dünkels und der Tyrannei, denn ich hatte zu viel gelitten und war angekommen an jenem schreckhaften Wendepunkt im Frauenleben, wo der Muth, die Hoffnung versiegt und uns die Angst vor dem Alter ergreift ...

Benno drückte der Mutter die Hand und sprach:

Trenne dich von dieser Welt und sei – ganz nur mein! ...

Wird das gehen? sagte die Mutter schmerzlich lächelnd und – ablehnend ... Sie küßte seine Stirn ... Nein! setzte sie in der That den Kopf schüttelnd hinzu ... Warum nicht? ... lag in Benno's betroffenen Mienen ...

Olympia hatte zum Glück die gute Eigenschaft, fuhr die Mutter ausweichend fort, daß ihr fester Wille zuweilen eine edle Sache ergriff ... Daß die Sache edel war, war dann nur ein Zufall ... Sie wählte immer nur diejenigen Standpunkte der Auffassung, die ihr der Zufall und eine persönliche Empfehlung boten ... So sind alle Vornehmen ... Brachte ein Pächter eine Bittschrift und hob ihr den Fächer auf, der ihr gerade entfallen war, so ruhte sie nicht, bis seine Wünsche erfüllt wurden ... Ebenso groß aber auch ihr Haß und ihre Rachsucht ... Einen jungen Geistlichen, der ihr die Beichte hörte, gab sie an, daß er sie im Beichtstuhl geküßt hätte ...

Benno entsetzte sich ...

Es war eine Lüge ... Sie führte diese Lüge mit allem Aufwand der Verstellung durch ... Der junge Priester hatte ihr einige Strafen auferlegt, denen sie sich nicht unterziehen wollte ... Der Unglückliche verdarb sein Schicksal vollends durch die seltsamste Grille von der Welt ... Er räumte ein, daß Olympia, damals vierzehn Jahre alt, recht gehabt hätte ... Es war ein Alcantarinermönch aus dem Norden Italiens, der der strengsten Regel der Franciscaner angehört ... Sie sah ihn eines Tages in der Sixtina und wollte ihn sofort zum Beichtvater ... Der Cardinal ließ den Pater Vincente aufsuchen und bestimmte ihn, in Rom zu bleiben ... Pater Vincente, bildschön, träumerisch von Natur, hatte durch seinen schweren Orden die Kraft der Nerven verloren ... Er erröthete bei jedem Wort, das man an ihn richtete ... Dennoch wurde er Olympia's Beichtvater und bezog das römische Kloster der Alcantariner ... Nach sechs Wochen endete dieser Roman in der Art, wie ich sagte ... Olympia rächte sich für seine Strenge und wollte ihm nicht länger beichten ... Sie log und alles sprach ihn frei ... Er aber – er hatte sich in der That in sie verliebt und gab etwas zu, was nur das Spiel seiner Phantasie gewesen sein mochte ... Er sagte: Ich habe sie geküßt! Thatsächlich.... Der Unglückliche schmachtete fünf Jahre in einer Strafzelle der Alcantariner ...

Olympia ist ein Teufel! wallte es in Benno auf und es auszusprechen hinderte ihn nur der Gedanke an den Pater Sebastus und den Bruder »Abtödter«, die nach Rom zu den Alcantarinern geflüchtet waren ... Lucinde, Bonaventura traten vor sein irrendes Auge ...

Die Mutter fuhr fort:

Als Pater Vincente eingeräumt hatte, daß er Olympien im Beichtstuhl küßte, erschrak sie selbst und bereute nun ihre That ... Sie schrie und weinte darüber ... Sie lief zum Cardinal und warf sich ihm zu Füßen ... Sie küßte seine Zehen, was sie immer als Ausdruck der höchsten Schmeichelei für ihn thut, da sie so ausdrücken will, daß ihm die dreifache Krone beim Tod des Papstes nicht entgehen könnte ... Sie schwur, daß sie gelogen hätte und bat um die Freilassung des Priesters ... Der Cardinal that alles, was in seinen Kräften stand ... Aber Pater Vincente verharrte bei seiner Versicherung, er hätte sie geküßt und verdiene seine Strafe ... Da war bei seinem General nichts auszurichten ... Erst vor kurzem kam uns die Kunde von seinem Schicksal in Erinnerung ... Es war die Rede davon, daß neben Fefelotti, der jetzt auf seinem Erzbisthum Cuneo, auch Coni genannt, sich befindet, gerade auch das Bisthum Robillante frei geworden ... Man sagte, daß dem »schlechtesten Christen« eigentlich der »beste Christ« gegenüberzustellen wäre ... Ceccone dachte an einen Beaufsichtiger Fefelotti's, die andern an einen wirklich heiligsten Priester ... Der ist nicht zu finden! hieß es allgemein ... Olympia besann sich eine Weile und sagte mit blitzenden Augen: Der beste Priester der Welt ist Pater Vincente bei den Alcantarinern! ... Als man staunte, sagte sie: Ich stürzte ihn ins Unglück und er wollte für seine Gedanken büßen! Macht ihn zum Bischof von Robillante! ... Man ging auf den Plan ein. Um so mehr, als man erfuhr, daß dieser Bischofssitz in der Heimat des Paters Vincente liegt ... Er ist aus dem Thal von Castellungo gebürtig ...

Castellungo? unterbrach Benno ...

Ein Thal am Fuße des Col de Tende im Piemontesischen ...

Das Schloß von Castellungo gehört dem Grafen Hugo, von dem wir eben Abschied nahmen! ...

Die Mutter horchte auf und setzte hinzu: Ja, die Gegend ist ketzerisch ...

Benno's Gedanken waren auf den »besten Priester der Welt« – auf Bonaventura gerichtet ...

Pater Vincente, fuhr die Mutter fort, die seines hochgespannten Antheils gerade über diesen Vorfall staunte, hatte seine Schuld gebüßt und war vom General seines Ordens längst wieder in seinen alten Stand eingesetzt; noch lebte er im Alcantarinerkloster, schlug aber die Ehre aus ... Er sagte, gerade vor jenem Thal von Castellungo wäre er geflohen ... So ist der Sitz noch unerledigt ...

Vor jenem Thal wäre er – geflohen? ... fragte Benno sinnend ...

Wir erfuhren nichts davon durch Pater Vincente ... Andere erzählten, die Ketzer in jenem Thale hätten sein Gewissen verwirrt ... Vorzugsweise ein Eremit – ein Deutscher –

Frâ Federigo! rief Benno ... Den Eremiten Federigo kannte er von dem Nachmittag des vorjährigen Sommers, als Benno, Hedemann und Lucinde mit dem Gipsfigurenhändler Napoleone Biancchi zusammentrafen und den St.-Wolfgangsberg erstiegen ... Daß Bonaventura auch seinen Vater in dem Eremiten von Castellungo vermuthete, wußte er nicht, wenn er auch selbst zugab, daß Friedrich von Asselyn noch lebte ... Die Vision Paula's von diesem Winter war auch ihm bekannt geworden; aber die Deutung, die ihr Bonaventura gegeben, war von diesem selbst schon aus Schmerz um seine Mutter nicht weiter ausgesprochen worden ...

Das träumerisch ausgemalte Bild: Bonaventura – Bischof in jenem Thale, wo Paula vielleicht auf dem Schlosse die Herrin und die Gattin des Grafen Hugo wird –! stand in magisch zauberhaftem Lichte einen Augenblick vor Benno's Auge ... Er sagte:

O ich weiß einen Priester der Erde, der würdig ist, Fefelotti gegenüberzustehen ... Einen Vetter von mir, Bonaventura von Asselyn ...

Ich nenn' ihn Olympien und er hat den Bischofssitz ... sagte die Mutter ...

Olympien! ...

Die Mutter wollte beginnen, von Olympiens Leidenschaft und dem Eindruck, den ihr Benno gemacht, zu sprechen ... Ihre Rede verhallte im Lärmen der jetzt wirklich erreichten Stadt ... Der Wagen durchflog die volkreichste Vorstadt ... Schon die vier Rosse allein machten auf dem Straßenpflaster ein Geräusch, das jede Verständigung im Wagen unterbrechen mußte ...

Der ganze Schmerz, die ganze Freude des Erlebten fiel noch einmal auf die Herzen der beiden so wunderbar Verbundenen ...

Die Herzogin riß an ihren Kleidern, in denen sie Angiolinens Haar verbarg, und rief:

O mein Sohn! Auch ich will nicht mehr leben! ...

Dann aber zog sie laut – fast lachend und wieder weinend den Sohn an ihre Brust ...

Erschreckend vor den Blicken von Menschen, die hereinsahen, faltete sie die Hände krampfhaft gen Himmel und betete mit den Geberden einer Verzweifelnden ...

Das ganze entfesselte Naturell der Südländerin machte sich geltend ... Oft schlug sie an die Stirn, als faßte sie nicht, was sie alles in diesen Stunden erlebt hatte ...

Benno suchte sie zu beruhigen ...

Der Graf, sagte sie, weiß nichts von den Gebräuchen unserer Kirche ... Erinnere ihn an die Seelenmessen ... Laß sie täglich lesen! ... Täglich sehen wir uns dann bei diesen Messen und wären wir beide auch nur ganz allein zugegen ... In den Begegnungen mit Olympia und dem Cardinal freilich – unterbrach sie sich ...

Mutter! Wenn ich nicht offen deinen Namen bekennen kann, kann ich hier – dir nicht mehr begegnen! rief Benno ...

Cäsar –! Cäsar! rief die erregte Frau ... Aber, ich ahne, fuhr sie fort, du liebst und hast schon dein Herz vergeben – Es ist wahr, Olympia ist deiner nicht würdig ... Sie ist häßlich ... Nein, nur wenn sie haßt ... Sie ist schön, wenn sie liebt ... Sie liebt dich ... Sie gäbe den Principe hin ... Doch nein, nein ... Das darf nicht sein ...

Benno sah, daß in seiner Mutter Verstand und Gemüth in stetem Kampfe lagen ...

Sie sagte:

Erweise dem Principe die Aufmerksamkeit, ihm heute zu Ceccone zu folgen ... Sei klug, sei vorsichtig mit Olympia ... Jeder Widerstand erhöht ihren Eigensinn ... Jetzt lad' ich dich nicht ein, in den Palatinus zu folgen ... Nicht wahr? ... Es war gewagt, daß wir dem Oheim nachkamen? ... Olympia hatte keine Ruhe ... Der Principe Rucca deckt die Convenienz ... Wir haben tausend Verpflichtungen hier ... Auch die, daß wir die Vertreter der Heiligen sind ... Ich bin nie beim Cardinal ... Auch Olympia nie vor andern ... Der Cardinal kommt zu uns ... Morgen, mein Sohn! ... Heute gehst du noch mit dem Principe? ... Wir beide sehen uns so, wie wir fühlen – bei Angiolina's Seelenmetten ... Da knieen wir nebeneinander und sprechen, wie und was das Herz will ... Das ist auch ein Gebet und – ein Geheimniß kann auch süß sein ...

Weiter konnte die aufs äußerste erregte Frau im überhasteten, eines ins andere drängenden Strom ihrer Empfindungen und Worte nicht kommen ... Schon hielten die vier in der Stadt zur letzten Anstrengung angestachelten Rosse in der belebtesten Straße Wiens nicht weit von dem »Monte Palatino« ...

Benno hatte ganz bewußtlos geklopft – der Wagen hielt – der Mohr öffnete – Nun mußte er aussteigen ... Ein krampfhafter Händedruck – ein Gefühl in ihm: Zum ersten und zum letzten mal – Gruß und Abschied? ... So stand er auf der Straße ...

Der Wagen flog weiter ...

Aus dem Traumreich kaum zu ahnender und doch so wirklicher Erlebnisse kehrte Benno in das rauschende Gewühl einer Stadt zurück, deren Bewohner – mitten unter solchen Verhängnissen – nur an den bunten Anschlagzetteln betheiligt schienen, die die Straßenecken bedeckten und zu Vergnügungen einluden ...

Erreicht! Erreicht, was du suchtest! hätte er unter den tausend Menschen ausrufen mögen, die um ihn her gingen – fuhren – auf Rossen dahinsprengten ... Eine Schwester gefunden – und so verloren –! ... Eine Mutter – Und auch sie? ... Auch sie! ...

Da stockten seine Empfindungen ... Eine unendliche Bangigkeit bemächtigte sich seines Herzens ...

Diese Mutter mußte er bewundern um ihres Geistes willen, ihrer Leidenschaft, ihrer Kraft ... Und doch – doch trennte ihn etwas von ihr, das er nicht nennen, nicht in klare Begriffe zerlegen konnte ...

Sie wünschte aufs entschiedenste die Fortdauer des Geheimnisses ... Das konnte er an sich nicht übel deuten ... Wie war es auch möglich, daß sie durch Enthüllung sich selbst und ihn so gänzlich in ihren Lebensstellungen veränderte ... Aber diese schnelle Hülfe, die sie in der Verstellung, ja in der List fand ... Er sollte zu Ceccone ... Sollte diesem schmeicheln ... Er sollte Freundschaft halten mit dem Principe Rucca und ihn täuschen ... Er sollte sich den Launen Olympiens gefangen geben ... »Sie ist schön, wenn sie liebt« ... Und er mußte sich, bei aller Wärme seiner Erinnerungen an Armgart, sagen: Ja, wenn sie lächelt, sproßt der Frühling ... Er fürchtete sich, ihr wieder zu begegnen ...

Ein Grauen befiel ihn, als er am »Stock am Eisen« vorüberging und, trotz der Lächerlichkeit der Erfindung, des Ahasver gedachte, der hier nach Percival Zickeles einen Nagel vom Kreuz des Erlösers eingeschlagen und dann die ewige Ruhe gefunden haben sollte ... Ruhe, Ruhe sollte auch dir nun werden! sagte er ... Heute noch solltest du diesen Boden verlassen und entfliehen! ... Du kennst deine Mutter ... sahst sie –! ... Ist es denn möglich, mit ihr im Zusammenhang zu leben ... Deutete sie nicht selbst an, daß sie Schonung bedürfen – sie von deiner Seite anerkennen würde? ... Deutete sie nicht an, daß ihr die Verbindung Olympiens mit dem Principe unerläßlich schien und du – du nur – störtest? ...

Die Vorstellung, daß er hier in Wien nicht länger bleiben konnte, daß er nicht die Kraft besitzen würde, eine solche Rolle der Verstellung durchzuführen, bildete sich ihm klar und fest aus ... Und fände sich auch, warf er sich ein, vielleicht die Kraft, so würde die Lust, sie zu üben, fehlen! Die Freude über dich selbst, die Zufriedenheit mit dir bliebe aus ... Dein Stolz würde leiden ...

So ging er, Trauer und Freude, Heimat und Fremde, Tod und Leben im Herzen, der Herrengasse zu, um ins Camphausen'sche Palais die Unglücksbotschaft entweder zuerst zu bringen oder, wenn sie ihm schon vorangegangen war, sie zu bestätigen ... Sein Herz blutete und Alles ging heiter und sorglos an ihm vorüber ... Niemand las von seinen Mienen, was er Grausames erlebt hatte ... Sein Innerstes erfüllte sich so mit Wehmuth, daß er sich immer entschiedener und fester sagte: Du vermagst diese Kraft des Versteckens mit einem großen Geschick nicht über dich zu gewinnen ... Laß alles einen schönen Traum gewesen sein! Fliehe! Reiße dich noch heute los bis aufs künftige! ... Der Mutter wird es ebenso sein ... In Rom dann –! In Rom! ...

In der Herrengasse war das auf dem Schloß des Grafen vorgefallene Unglück schon bekannt ...

Benno hatte es dem gesammten mit Bestürzung ihn umringenden Dienstpersonal mit allen Umständen noch einmal zu erzählen ...

Mit erstickter Stimme ordnete er die Verhinderungen an, die nöthig waren, um die Gräfin, die jeden Tag eintreffen konnte, vom Vorgefallenen nicht zu jäh zu benachrichtigen ....

Die Tischzeit bei den Zickeles war versäumt ... Auch würde Benno nicht die Stimmung gehabt haben, an einer gemeinschaftlichen Tafel theilzunehmen ... Er begnügte sich mit einem stillen Winkel in einer der schon dunkeln Nebenstraßen am Hohen Markt ... Sich verirrend kam er in die Currentgasse ... Er kämpfte mit sich, ob er zu Therese Kuchelmeister gehen sollte, der einzigen Seele, die nächst dem Grafen und der Mutter hier wol wahrhaft wie er mitfühlte ... Er mußte es aufgeben, aus Furcht – sich durch seine Thränen zu verrathen ...

Als er in seine Wohnung zurückkehrte, wurde von den Zickeles aus zu ihm geschickt ... Die Unglückskunde hatte sich schon verbreitet ... Harry kam dann selbst, abgesandt, wie er sagte, von Theresen, die in Verzweiflung wäre ...

Harry erhielt die Mittheilungen, die ihn fähig machten, von jetzt an bis Mitternacht jedem Vorübergehenden oder allen im Theater vor und neben ihm Sitzenden das Neueste mit der Versicherung zu erzählen: Ich war so gut wie selbst dabei! ...

Der Chorherr war noch nicht daheim ... Es war sechs Uhr, da kam auch Herr von Pötzl voll Bestürzung ... Mit und ohne Verstellung zeigte er das hohe Interesse, das gerade er an diesem erschütternden Vorfall zu nehmen hatte ... Mancher Charakterzug der so früh Hingeschiedenen vervollständigte das Bild eines Wesens, das an einer innern und äußern Heimatlosigkeit zu Grunde gegangen war ...

Benno's Lage war bei allen diesen Erörterungen die tiefschmerzlichste ... Die Frage: Ob Selbstmord oder nicht? wurde in Gegenwart des inzwischen gleichfalls bestürzt heimgekommenen Chorherrn erörtert ... Auch der hatte schon die Kunde vernommen ... Herr von Pötzl weinte ... Sein Taschentuch war über und über naß ... Er »verbürgte« sich für einen bloßen Unglücksfall ... Alle Welt kenne ja die Wildheit der Gräfin Maldachini ...

Der Chorherr stimmte ihm nicht bei, sondern sagte:

Selbstmord ist die Folge einer lange vorausgegangenen Abwägung der zu tragenden Leiden und der Kräfte, die sie tragen sollen ... Ueberwiegt die Summe jener, so hört die Willensfreiheit auf und jeder Athemzug sagt dann mit Seneca: »Die Thür steht ja offen – so geh' doch!« ...

Pötzl schauderte vor diesem heidnischen Worte ...

Der Chorherr sprach von dem Selbstmord eines geistvollen Benedictinermönchs, der sich von der Höhe eines der palastähnlichen Donauklöster in die Fluten gestürzt hätte ... Von einem kaiserlichen Censor, auch einem sinnigen Dichter, der sich aus Zerfallenheit mit sich und der Welt getödtet ... Er sprach, wie Ludwig Löwe so schön in der Burg als »Roderich« sagt:

»Und selbst die Träume sind nur Traum!« ...

Alle Erschütterung und wehmüthige Betrachtung Pötzl's schloß bei diesem die Bemerkung nicht aus, daß der Graf in den Entresolzimmern des Casinos wahrscheinlich den Nachlaß von Briefen und »dergleichen« mit Beschlag belegt, vertilgt und überhaupt wol die Erbschaftsfrage vereinfacht hätte ... Benno ging auf diese Gedankengänge, die die der Habsucht waren, ein, um etwas von Angiolinens Ursprung zu hören ... Wesentlich Neues erfuhr er nicht ...

Der Bemerkung, daß nun durch eine ebenso überraschende wie schmerzliche Fügung des Himmels die Willensfreiheit des Grafen und das Arrangement seiner Finanzen gesicherter wäre, konnte er sich nicht entziehen – um so weniger, als jetzt auch Leo Zickeles voll Schreck und Staunen kam und die nämlichen Gesichtspunkte brachte ...

Pötzl ging und flüsterte Benno ins Ohr:

Noch eins, Herr Baron! ... Ich kann Ihnen aus guter Quelle mittheilen, Ihre Anwesenheit erregt Interesse in – den höchsten Kreisen, sage den höchsten ... Seine Durchlaucht wundern sich, daß Sie sich nicht bei ihm persönlich gemeldet haben ... Stadtrath Schnuphase wird morgen von ihm empfangen werden ... Sehr begierig ist man, von Ihnen über – doch ich weiß nichts, als daß der Herr Oberprocurator von Nück hierher geschrieben haben, Sie hätten die Absicht, in diesseitige Staatsdienste zu treten ... Da werden Sie ja bald das Nähere erfahren ...

Benno horchte staunend auf und lehnte diese Nück'schen Voraussetzungen als völlig unbegründet ab ...

Pötzl ging klug und schmerzlich lächelnd – mit einer und derselben Miene ... Auch Leo Zickeles blieb nicht zu lange ... Die Bildung eines Comités zur Unterstützung von Hinterlassenen war hier nicht am Platze ... Der Chorherr wurde abgerufen ... Sein Blick war voll Trauer, ob er gleich Angiolinen nicht gekannt hatte ...

Schon schlug es sieben Uhr ... Um acht wollte Fürst Rucca kommen ... Es fehlte Benno jede Neigung, heute den Cardinal Ceccone kennen zu lernen ...

Entschlossen, sich zur Gesellschaft nicht anzukleiden, ging er mit steigendem Unmuth auf und nieder ...

Da kam der Chorherr eilends mit einem Schreiben zurück, das ihm eben für Benno – aus der Staatskanzlei zugekommen war ...

Ein kaiserlicher Rath schrieb: Seine Durchlaucht hätten die überbrachten Briefe empfangen und wür den, da der traurige Vorfall von heute bei Seiner Erlaucht dem Grafen von Salem-Camphausen ihm wol ohnehin für seine nächsten Aufträge Muße gäbe, es gern sehen, wenn die von Herrn Stadtrath Schnuphase in Aussicht gestellten mündlichen und die schriftlichen Mittheilungen des Herrn Dr. Nück von ihm ergänzt und bestätigt würden ... Seine Durchlaucht erwarteten ihn morgen in der Frühe um zehn Uhr ...

Benno betrachtete das überraschende Schreiben von allen Seiten, kaum seinen Augen trauend ...

Nun erst haftete er an Pötzl's Aeußerung: Nück empföhle ihn für den hiesigen Staatsdienst ...

Ist denn das eine gewaltsame Entfernung, die Nück über dich verhängt? ... Kann er meinem Blick, meinem Verdacht nicht mehr begegnen? ... Und darum die stete Aeußerung: Der Domkapitular muß ein Bisthum antreten – in Oesterreich, in Ungarn! ... Wohin möchte er uns nicht verbannen, nur um – Lucinden ganz für sich allein zu haben oder weil er fürchtet – wir mistrauten der Urkunde? ...

Benno's nicht minder erstaunter Wirth wünschte ihm Glück und setzte in seiner ironischen, durch einen elegischen Ton gemilderten Weise hinzu:

Es ist nur schade, daß der große Staatsmann die Gewohnheit hat, alles schon von selbst zu wissen ... Er sagt, er will von Ihnen lernen und wird Sie nur belehren ... Das ist seine Art ... Er fängt einen Satz an, Sie wollen ihn ergänzen, Sie rufen: Sire, geben Sie Gedan – – Da haftet sein Auge an Ihren Rockknöpfen und sagt Ihnen, wo in Oesterreich die besten Knopffabriken wären ... Sein Hauptgedanke ist jetzt unser Anschluß an den Zollverein, um den Supremat Ihres Staats zu beschränken ... Nehmen Sie getrost eine Anstellung – im Finanzfach ...

Das muß rasch kommen, erwiderte Benno, denn ich reise vielleicht schon morgen ...

Wie? rief der Ueberraschte ...

In allem Ernst! ...

Das Nichtglaubenwollen des Greises hinderte Benno nicht, zu erklären – Graf Hugo wäre von seinem Unfall zu sehr erschüttert, um mit ihm geschäftlich zu verkehren ... Er würde demzufolge seine Reise nach Italien beschleunigen ...

Der Chorherr wurde unwillig ... Er beklagte, den Abend nicht frei zu haben, um ihm diesen Plan gründlich durch eine Zerstreuung auszureden ... Er scherzte und sagte, er würde zu der Italienerin gehen, die heute früh schon um seinetwillen ihr stilles Hans alarmirt hätte und die würde ihn schon festhalten ... Wissen Sie denn nicht, welche Connexionen Ihnen für Italien und Rom entgehen? ... Die Menschen muß man, gleichviel ob sie gut oder schlecht sind, blos als Material benutzen, um sich daraus das Leben auf seine Weise zu gestalten ... Bleiben Sie heute Abend zu Hause, lesen Sie für diese möglicherweise folgenschwere Audienz im Conversations-Lexikon drüben bei mir, machen Sie's wie die Großen, wenn sie imponiren wollen ... Den ersten besten Artikel z.B. über die Muschelkalkversteinerungen lernen Sie auswendig und bringen Sie das Gespräch durch eine einzige geschickte Wendung auf – urweltliche Austern – Sie wissen, die Diplomatie beißt da immer an – und lassen Sie dann einige entsprechende Citate von Cuvier und andern fallen, so sind Sie ein gemachter Mann! Denn man wird glauben, »urweltliche Austern« wären bei Ihren Kenntnissen das tägliche Brot ... Nein, nein! ... Der Fürst steht freilich schon, hör' ich, auf dem Standpunkt des Fertigseins, wo sich ein Großer nach einer Audienz nicht mehr sagt: Wie hat mir der Mann gefallen? sondern: Wie hab' ich ihm gefallen? ... Aber das Ereigniß bleibt darum merkwürdig an sich! ... Sie bleiben und nehmen jedes Anerbieten ... Unser Curs steht noch leidlich ... Einmal fängt man überhaupt an ... Gewiß, gewiß! ... Ich werde Sie reisen lassen! ...

Der Chorherr schloß Benno fast ein ...

Es war acht Uhr ... In der Ferne hörte Benno das Rollen in den Straßen ... Es war wie das Rauschen des Meeres ... Nun begannen diese Abende der Geselligkeit ... Diese Sicherheit der Lüge und des Zwanges ... Mit Herzen voll Trauer können andere lächeln ... Wegtändeln sollst auch du solche Lebensbürden! ... Sollst morgen – nach diesem Heute? ... Nein, wie könntest du, ohne Aufsehen und mit einem triftigen Grund, schnell und ungehindert von dannen kommen? ...

Er ordnete seine Effekten ...

Da wurde an seine Thür gepocht und der Mohr des Principe Rucca, in weißen Kleidern mit Goldtressen, erschien, um ihn abzurufen ...

Der Wagen stünde unten ... sagte er in gebrochenem Italienisch ...

Benno entschuldigte sich und zeigte auf seine Haustoilette ...

Der Mohr verstand nur halb, ging und kam mit dem Principe selbst ...

Aber mein Himmel, rief dieser, was ist das! Sie hatten uns ja versprochen – ...

Vergebung, Hoheit, ich bedauere – Ich fühle mich nicht wohl ...

Aber der Cardinal erwartet Sie ja schon ... Sie müssen kommen! ...

Benno schützte seine Erschöpfung vor, die Nachwirkung der traurigen Eindrücke des Tages ... Auch eine wichtige Einladung auf morgen in der Frühe ...

Principe Rucca machte eine Physiognomie, wie ein Kind, dem man ein Naschwerk versagt ... Seine rothe gestickte Uniform schien er einen Augenblick zu vergessen ... Sein schwarzes Bärtchen wäre ihm ohne Zweifel sonst ebenso wichtig gewesen wie sein großer Stern auf der Brust – das Pflaster hatte er abgelegt – Jetzt zerzupfte er vor einem Spiegel die Feder an seinem Galahut ...

Ich kann mich ja nicht sehen lassen! sagte er ... Der Cardinal wollte Sie schon mit dem Bisthum überraschen für Ihren – Herrn – Bruder – nicht wahr? ... Die Herzogin hat ihm alles erzählt ... Die Gräfin hat sogleich an den Onkel geschrieben: Der heiligste Priester der Welt ist gefunden! ... Die Sühne für die Existenz eines Fefelotti auf Erden! Der Bruder des Herrn Baron von Asselyn! ... O machen Sie keine Scherze ... Kommen Sie! ... Ich wage ohne Sie nicht zum Cardinal zu fahren ... Ihr Bruder soll sogleich nach Wien kommen ... Wenn er nur etwas Italienisch spricht, so braucht er nur hier an unserer Kirche »Maria zum Schnee« dreimal zu celebriren und ist Bischof von Robillante ... Das Uebrige findet sich ...

Benno blieb bei seiner Weigerung ...

Der Principe mußte in seinen Wagen allein zurückkehren ... Er ging wie ein Kind, das eine große Strafe fürchtet, und verlangte fast einen Schwur, daß Benno morgen im Palatinus beim Diner nicht fehlte ...

In höchster Aufregung blieb Benno zurück ... Er hatte an Bonaventura, an den Onkel Dechanten, an seinen Bruder, den Präsidenten schreiben wollen ... Nun ging er rathlos in seinem Zimmer auf und nieder ...

Es schlug neun ... Es schlug zehn ...

Da klopfte es heftig am Hausthor und in dem stillen Priesterhause wurde es noch einmal lebendig von einer lauten Stimme, die nach ihm fragte ...

Er erkannte Harry Zickeles, der ihm noch einen an sein Haus adressirten Brief von dreifachem Porto brachte ...

Ich dachte, daß es Ihnen angenehm sein würde, den Brief bald zu haben – sagte er, als er sich erschöpft niedergelassen ... Aber daß Sie zu Hause sind! Wer hätte das erwartet! ... Ganz Wien ist voll von dem Unglück mit der armen Angiolina, das Sie erleben mußten ... Mein Bruder Percival laßt auf sie eine Ode drucken ... Der Graf muß in Verzweiflung sein ... Ich war in der Josephstadt ... Ein neues »Ausstattungsstück« ... Charmant für die dortigen Kräfte ... Aber morgen speisen Sie bei uns? ... Nein? ... Warum nicht? ... O dann kommen Sie den Abend! ... Der Laërtes von gestern ist engagirt ... Biancchi und Dalschefski arbeiten schon gemeinschaftlich, was sagen Sie! gemeinschaftlich, an einem Requiem für Angiolina ... Und haben Sie den Pötzl beobachtet? – Wissen's, als er bei Ihnen war, hat er unten auf den Leo gewartet und schon von der Erbschaft gesprochen ... Nehmen's Ihnen in Acht vor dem Mann! ... Er sagte, Sie erregten in höchsten Kreisen Aufsehen ... Man weiß, was bei ihm darunter zu verstehen ist – ...

Benno fand nur nothdürftig Zeit, einzuwerfen:

Der Staatskanzler hat mir für morgen früh eine Audienz anberaumt ...

Harry traute seinem Ohre nicht ...

Er sah Benno mit staunenden Augen an ...

Bei Seiner Durchlaucht –? wiederholte er, um sich ganz zu vergewissern ...

Morgen früh um zehn Uhr ...

Diese Thatsache war außerordentlich ... Sie bot Chancen für ein geheimnißvolles Beiseitnehmen aller Menschen ... Sie bot natürliche Nachwirkungen eines unausgesetzten: Aber der Harry Zickeles weiß es für ganz bestimmt ... Es ist von einer Staatsbegebenheit über man weiß noch nicht was die Rede! ...

Harry zog vor, sich sofort zu entfernen und seine Neuigkeit noch um elf Uhr nachts wenigstens bei einigen ihm bekannten vorübergehenden Nachtschwärmern und im Salon seiner Aeltern in Umlauf zu setzen ...

Für Benno hätte es sonst eine Erquickung gewähren dürfen, einen sechs Bogen starken Brief von Thiebold de Jonge lesen zu können ...

Heute – – verschob er es für den folgenden Tag.

10.

Nach einer fast schlaflosen Nacht, nach phantastischen wilden Bildern und gespenstischen Erscheinungen, die ihn um Mitternacht vom Lager trieben, Licht anzünden ließen und zwangen, auf dem Sopha mit gestütztem Haupt sich zu sammeln, nach neuen Versuchen, auf dem Lager Ruhe zu gewinnen und neuen Spukgestalten mit verzerrtem Antlitz, brach kaum der Morgen an, als sich Benno schon erhoben hatte und von der kühlen Herbstluft sein glühendes Antlitz erfrischen ließ ...

Noch mochte er im Hause niemand wecken ... Sein Herz war voll Fieberunruhe ... Er wollte Wien verlassen – durchaus – er dachte sich vielleicht sogar beim Staatskanzler zu entschuldigen ...

Ruhe für die Stürme, die in seiner Brust tobten, konnte er in dieser Audienz nicht finden ... Die Pein der Zweifel konnte sie nur mehren ... Sein Reiseziel war durch ein wunderbares Zusammentreffen aller Umstände in einem einzigen Tag erreicht; was er suchte, war gefunden – es zu besitzen war nicht möglich ... In Italien, dachte er, dort versuchen wir eine Form des neuen Daseins zu finden ... Er zog seinen Koffer hervor und fing ihn zu ordnen an, um zunächst über Triest nach Mailand zu gehen ...

Er sah Thiebold's Brief ... Er erbrach ihn in der sicher nicht ungegründeten Besorgniß, der Ton und Inhalt desselben würden zu seiner Stimmung nicht im mindesten passen ...

Dennoch las er ihn ... Die Buchstaben flimmerten vor seinen ermatteten – im Grunde nur der Thränen bedürfenden Augen ...

Thiebold schrieb ganz sorglos:

»Verehrter Freund! Sie werden es für eine meiner gewöhnlichen Redensarten halten, wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß ich in dieser Stadt nur noch vegetire! Seitdem Sie sich unsern bekannten klimatischen Einflüssen entzogen haben, kann ich keine verspätete Schwalbe und keinen lahmen Storch mehr sehen, ohne nicht von einem unwiderstehlichen Verlangen heimgesucht zu werden, Sie eines schönen Morgens mit meiner Ihnen nicht immer willkommenen Gegenwart zu überraschen ... Hätte ich nicht den alten Mann, meinen Vater, bei Beginn der Gansbraten-Saison in seiner Diät zu überwachen und wär' ich nicht für den Winter, wo endlich wieder getanzt werden soll, breitgeschlagen worden, einige Cotillons zu arrangiren, so würde mich keine Macht der Erde abhalten, selbst Ihr eigener Verdruß über meine Zudringlichkeit nicht, das Schrecklichste der Schrecken wahr zu machen und Sie in Person zu überfallen.«

»Aus Westerhof und Witoborn erfahr' ich wenig ... Mehr aus dem Stift Heiligenkreuz ... Siebzehntehalb Freundinnen hab' ich mir daselbst erworben durch meine Empfänglichkeit für Poesie, Austausch höherer Gefühle Nichtberechnung der Portospesen für Notensendungen, Parfümerieen, ja selbst Modesachen ... Ich sage in meiner Verzweiflung über diesen Reichthum bei jeder Gelegenheit zu Moppes: Sie können versichert sein, bester Freund, das Fräulein von Merwig hat sich in Ihr: ›Maikäferlein, flieg' auf!‹ verliebt und singt es täglich ... Aber ich flicke ihm weder die ›Anflickerin‹ noch eine der übrigen Veteraninnen als Correspondentinnen an ... Timpe, Effingh, Schmitz, Niemand nimmt mir diese Velinpapier-Correspondenz ab ... Und gerade jetzt, wo der alte Mann, mein Vater, wieder Land steht und in systematischer Opposition macht, gerade jetzt, wo ich mit dem Holzhandel mehr als zur Genüge beschäftigt bin ... Sie wissen, welche Empfindungen der Mensch zwischen einem Haufen Buchen- und einem Haufen Eichenholz haben kann!«

»Freilich, damals, als wir, im Winter, hinter zwei Erlen standen! Zwei Procent nur wär' es gewesen – aber unvergeßlich!!! – – – – – – Malen Sie sich diese Gedankenstriche mit Schiller, Goethe und Nück aus! Nück – das ist ein Skandal – dichtet – und wie! – Keinem Zweifel unterworfen, dieser Mann ist zum Tollhaus reif! ... Einen schwarzen Frack trägt er nicht, daran verhindert ihn seines verweigerten Ordens wegen ein Gelübde, aber grün mit Mattsilber, blau mit gelb, sogar rothe Sammetweste mit weißem Atlasfutter ... Piter ist nichts dagegen, der übrigens in Paris ganz glücklich verheirathet sein soll.«

»Nück's Gegenstand ist natürlich Niemand anders, als die Heilige, die einem On dit zufolge das Kattendyk'sche Haus verläßt, weil sie sich mit Guido Goldfinger, jetzt Procura, nicht vertragen kann infolge folgender –«

»Zwei Tage später. Soll ich denn auf die Geschichte zurückkommen? Na! Es war der erste ›Abend‹ nach Piter's Entführung der Gertrud Ley, dem bekannten Skandal auf dem Römerweg, als von Goldfingers in ihren neuen Räumen eine Gesellschaft gegeben wurde ... Rührender Hinblick auf die Zimmer des verbannten Piter, die Treppe, wo das leiseste Knarren ihn schamroth machte, auch auf die früh vollendete Schwester, die Delring – Delring jetzt in Antwerpen etablirt – großes Geschäft – möglicher Ruin von Kattendyks ... Kurz, Moppes und Timpe sehr gesprächig ... Kamen aus Paris, erzählten von einem neuen Mittel, das Piter gefunden hat, immer noch interessanter zu werden ... Statt: Au contraire! mit dem er uns, Sie wissen es, sogar bei Gräfin von Camphausen damals in Angleterre ausstach, statt seines impertinenten ewigen: Im Gegentheil! soll ihm Nück in einem Zornausbruch etwas anderes gerathen haben, um noch interessanter zu erscheinen, nämlich – sich dumm zu stellen ... Piter überlegte sich das ... Moppes und Timpe haben ihn in Paris besucht, wo er mit seiner kleinen Exnonne glänzendes Haus macht ... Richtig, statt nun wie bisher jähzornig aufzufahren und mit: Das verstehen Sie nicht! Im Gegentheil! um sich zu werfen, spielt Piter den von der Liebe Gezähmten, träumerisch und kindlich in dieser komischen Welt Umherirrenden, unbewußt die gewöhnlichsten Gegenstände aus Ueberfülle an Geist Verwechselnden; kurz, wenn von Schinken gesprochen wird, beschreibt er na! ein Thier, von dem man na! einen gewissen Theil seines Körpers mit besonderm Wohlgefallen auswähle und na! durch die Methode des Räucherns roh oder gekocht zu verspeisen pflege und ruft dann die Gesellschaft: Herr Gott, Sie meinen ja Schinken? so sagt er lächelnd sich besinnend: Na ja, richtig! ... Kurz er besinnt sich vor Ueberfluß an Geist nur ganz dunkel auf seine alte Köchin Kathrine Fenchelmaus im Hause seiner Aeltern und sagt auch z.B. bei einem Diner prima Sorte, das Moppes und Timpe bei ihm durchmachen mußten: Ich bitte dich, Treudchen, warum ißt man nur diesen Plât da mit der Gabel? ... So stellt er sich über alles so unwissend, wie vielleicht in Wirklichkeit sein Fall ist ... Aber die anwesenden Fremden schwuren, dies simpelhafte, nirgends mehr Land wissende Wesen müßte eine wahre innere Ueberschwemmung von Geist verdecken und Piter wäre eine der genialsten Offenbarungen unsers sich überlebt habenden und demzufolge wieder von vorn anfangen müssenden Jahrhunderts.« ...

»Doch ich komme von meinem Abend bei Goldfingers ab ... Also –«

»Zwölf Stunden später! ... Mein Brief wird, seh' ich, endlos ... Also denken Sie sich – erstens Lucinde ... Sie trug, da die Haustrauer zu Ende ist, in ihrem schwarzen Haar einen Turban von gelbem und rothem Kaschmir mit an beiden Seiten herunterfallenden Perlenschnüren ... Nie hab' ich sie so vornehm und so schlank gesehen ... Enganliegendes aschgraues Atlaskleid, gleichfalls mit gelben und rothen Bandschleifen besetzt ... Ich habe den Abend fast nichts als Toiletten beobachtet, weil dies nämlich der interessantere Theil meiner Correspondenz mit den Stiftsfräulein ist ... Da bei Goldfingers nicht eine einzige Adelige vorhanden war und ich, wie Sie wissen, in Witoborn und Umgegend zum Adel gehöre, so sammle ich ohne alle Anzüglichkeit für mich den Stoff zu einer Menge Fi-doncs und Abscheulichs, die mir aus dem Stift über die hiesigen Farbenzusammenstellungen bei Toiletten zur Antwort werden ... Ich bekomme auf die Art das Zeug, ein – förmlicher Kattundrucker zu werden ... Getanzt wurde nicht, aber nahe daran kam's; Nück, zum Stutzer adonisirt, intonirte Moppes' Maikäferlied und der ganze Chorus fiel ein ... Die herzlose Bande hatte die arme Hendrika schon vollständig vergessen und ich, seit Sie fort sind, immer wehmüthig gestimmt, ich verlor mich in dem Grade in Reflexion, daß die Frau Oberprocurator Nück, die bekanntlich in jeder Gesellschaft über Hitze klagt, in den Schatten meiner kühlen Denkungsart flüchtete, ja, daß mich sogar Lucinde als Fächer benutzte gegen Nück, den man allgemein unausstehlich fand ...«

»Wieder sechs Stunden später ... Na ja, mein Alter opponirt richtig gegen die Regierung in Sachen des Kirchenfürsten ... Wir werden schöne Späße erleben ... Also, wo blieb ich stehen? ... Anfangs ging es in unserer gewöhnlichen Cadenz fort: Langeweile, Thee, Langeweile, Klavier, Langeweile, Quartett – Endlich hatte Lucinde, die in ihrem türkischen Staat die bescheidene Magd spielen wollte, beim Serviren einige Teller zerbrochen, auch mehrere Kleider verdorben und mit dem Professor einen Zank angefangen, als dieser, ohne je in Asien oder, wie Moppes sagte, wenigstens im pariser Jardin des plantes gewesen zu sein, behauptete, das Holz der Cedern auf dem Libanon so gut zu kennen, wie deutsches Fichtenholz – denn, sagte er, zu seiner ›heiligen Botanik‹ hätte er vierzehn verschiedene heilige Kreuzpartikeln in Deutschland und der Schweiz gründlich studirt – unser Erlöser wäre auf Cedernholz gestorben ...«

»Lucinde, gereizt von den Vorwürfen über ihr Serviren, entgegnete: Entweder sind Sie im Irrthum oder der heilige Bernhard ist es ...«

»Wie so? rückte der Professor seine goldene Brille in die Höhe und mochte sich erinnern, daß vorm Jahr eine Etage tiefer Armgart's Mutter auch sehr schlimm mit ihm gestritten hatte ... Terschka erzählte es ...«

»Lucinde ließ sich nicht werfen ... Zornig, wie sie war, entgegnete sie: Nach dem heiligen Bernhard bestand das Kreuz des Erlösers aus Cedern-, Cypressen-, Oliven- und Palmenholz ...«

»Natürlich – mich als Holzhändler interessirte das ...«

»Nur Cedernholz! donnerte der Professor, bei allem Respect vor dem heiligen Bernhard ...«

»Die Commerzienräthin bat um Unterlassung solcher Streitigkeiten ... Sie können sich aber denken, verehrter Freund, daß mich der Gegenstand hinriß ... Mein Temperament zwang mich zu der bescheidenen Bemerkung: –«

»Wieder einen Tag später! Ich mußte gestern einer Holzauction in Euskirchen beiwohnen! ... Mein Alter ist in der Majorität und macht Enckefuß schön zu schaffen ... Den Telegraphen kann ich gar nicht mehr spielen sehen, ohne mir nicht zu sagen: Diese Manöver, die die Flügel machen, bedeuten: Stecken Sie nur gleich die ganze de Jonge'sche Familie, Vater und Sohn, zu Loch! ... Wo blieb ich gestern? Richtig; ich erlaubte mir die bescheidene Bemerkung, daß die Bauten des Königs Salomo bereits die ersten Grundlagen des Holzhandels, und zwar nach Tyrus, gelegt und bewiesen hätten, daß Palästina und Umgegend wenig Waldung gehabt hätte, demnach also, daß, als drei Kreuze auf dem Berge Golgatha auf einmal gebraucht werden mußten, diese leicht und wahrscheinlicher- und möglicherweise allerdings aus mehreren Holzarten genommen werden mußten ...«

»Da die ganze Gesellschaft über diese Bemerkung in ein sehr unpassendes Gelächter ausbrach – was mich verdroß, da ich mir bewußt war, wissenschaftlich gesprochen zu haben, so schnurrte mich der Extraordinäre a.D. an wie ein Kater, betrachtete mich von oben bis unten und machte Miene, als wollte er, um mich zu strafen, auf diese Aeußerung griechisch antworten ...«

»Sie wissen, daß ich nie hitziger werden kann, als da, wo ich mich nicht ganz sicher fühle ... Und gelehrte Seitenhiebe reizen mich vollends bis zur Tollkühnheit ... Moppes, Timpe, Schmitz, Effingh, alle standen jetzt um mich und suchten mich zu beruhigen ...«

»Mit maliciöser Zurückhaltung sagte der gelehrte Kerl jetzt lächelnd: Fräulein Lucinde ist so geistreich, daß ihre Erwiderung nur für einen Scherz zu nehmen ist ... Sie weiß sehr wohl, die Bemerkung des heiligen Bernhard ist ein Spiel des frommen Witzes und der Phantasie ... Der hochgelehrte Mann will an jede Gattung seiner vier Holzarten Betrachtungen anknüpfen ... Ohne Zweifel sucht er, ich kenne die Stelle nicht, in den vier Holzarten das Symbol 1) des Lebens – die Ceder, 2) der Trauer – die Cypresse, 3) des Trostes – die Olive und 4) des Friedens – die Palme. Ich habe die feste Ueberzeugung –«

»Weiter kam er aber nicht; denn ich unterbrach jedes seiner Worte ...«

»Schweigen Sie! fuhr er mich an, als wenn ich Piter wäre, und als ich ihm ein: Herr Professor! im Ton fast wie eine Maulschelle lançirte, mußte ich erleben, daß dieser niederträchtige Kerl an den Kamin geht, wo ein eiserner Holz- und Kohlenkorb steht, hineinlangt und mir feierlich ein Stück Eichenholz überreicht mit den Worten: Das ist Ihr Fach! ...«

»Nun kann ich Ihnen aber doch sagen, daß ich Beistand fand ... Wir Kaufleute halten in Einem Punkt unter allen Umständen zusammen – Anspielungen auf unsere Branche sind in dem Grade mauvais gout, daß ich – –«

»Wieder einen Tag später! Fast wurde mein Alter in die Deputation gewählt, die nach der Residenz zu Seiner Majestät abgehen soll ... Eine schöne Verwirrung hier ... Nück hat eine fürchterliche Adresse beantragt, fiel aber damit durch ... Enckefuß will ihn vor die Assisen bringen ... Nämlich – entre nous – das Gerücht geht, Hammaker wäre für Nück gerade zur rechten Zeit um seinen Kopf gekommen; der Brand und die Urkunde hätten vollkommen die Zweifel verdient, die mich, wie Sie wissen, bei Fräulein Benigna in Westerhof plötzlich in Ungnade und um meinen Adel brachten ... Da aber mein Vater in der Kirchenfrage ganz mit der Ritterschaft geht und wir plötzlich so populär sind, daß ich mir des vielen Grüßens wegen einen neuen Hut habe kaufen müssen, so schlug ich auch an dem Goldfinger'schen Abend den Professor vollständig aus dem Felde ... Nämlich ich wurde wild und sprach von einer nothwendigen mikroskopischen Untersuchung aller heiligen Kreuzpartikeln durch Professor Liebig und blieb bei meinen viererlei Holzarten und nannte zu Ehren der Beschäftigung mit Holz den Erlöser sogar selbst den Sohn eines – Zimmermanns ... Das machte aber Wirkung ... Kanonikus Taube erhob sich vom Whist und schlug die Hände über dem Kopf zusammen ... Der Professor verzog sich ... Seine Gemahlin sprang wüthend aus Klavier und paukte eine neue Tremolo-Etüde ... Und nach diesem Abend mußte denn die Commerzienräthin der Lucinde, die allerdings den ganzen Streit angefangen hatte, kündigen und das ist demnach das Allerneueste ... Sonst weiß ich nichts, als daß der Domkapitular wieder im alten Ansehen steht ... Man spricht von einer Predigt, die die Regierung sehr unangenehm berührt haben soll, über den Text: ›Fürchtet Gott, ehret den König!‹ ... Das soll Ihr Cousin so gewandt haben, daß ein Christ Gott zu fürchten, den König aber blos zu ehren brauchte ... Erzählt man –! ... Ich bin so vollständig wieder Heide, daß ich seit letztem Winter keine Kirche gesehen habe und um so mehr wieder Ihrer persönlichen Anleitung zur Tugend bedarf ... Bester Freund – verlier' ich an Ihnen in Zukunft vielleicht ganz meinen Halt? Man sagt allgemein, Sie gingen unter die Diplomaten! – Das könnte mich veranlassen, Sie wegen mancher höchst bedenklichen vertraulichen Aeußerungen zu mir zu denunciren und steckbrieflich verfolgen zu lassen. Adieu, theurer Freund! Wissen Sie denn auch, daß die alte Gräfin Camphausen hier durchgereist ist, ohne sich nach mir erkundigt zu haben! Postscript. Die Damen Schnuphase lassen ihren Vater bitten, sich nicht zu erkälten! ... Von London nichts – gar nichts! ... ›Ob sie meiner noch gedenkt!‹ – O! – – – Große Revolution im Männergesangsverein, parteiische Vertheilung der Solis, Sturz des Präsidiums, Austritt der Minorität, Bildung eines Oppositionsmännergesangsvereins ... Nächstens besuch' ich Kocher am Fall ... Schreiben Sie bald Ihrem – Unverbesserlichen! – – Compliment auch von Gebhard Schmitz an Herrn Ritter Fuld in Wien ›Man waiß schon‹ ...«

Wie lag das alles – nach Ton und Inhalt – dem bekümmerten und fieberhaft erregten Gemüth Benno's fern ...

Er legte den Brief – wehmüthig lächelnd in Thiebold's Geschenk, das große Reiseportefeuille, das vor ihm aufgeschlagen lag ...

In den Andeutungen über Nück, über den Kirchenstreit, Bonaventura's Predigt lag eine Mehrung der Sorgen ... Benno sah voraus, was der Staatskanzler von ihm hören und erläutert wissen wollte ... Er dachte an die Scherze mit seinem Bruder ... Einen »Posa« hatte er spielen wollen! ... Wie sollte er einem vielleicht wohlwollend Entgegenkommenden eine Seite entgegenkehren, die sich für seine Jugend und unbedeutende Lebensstellung nicht ziemte? ... Und doch – verlockend blieb die Begegnung immer! ... Unwahr blieb es, wenn er dem Fürsten in allem zustimmte – ihn glauben ließ, daß mit ihm Nück in Uebereinstimmung gehandelt hätte ... Er warf sich in die schickliche Toilette voll äußersten Unmuths ...

Der Chorherr kam herüber und machte ihm wegen seiner Zurüstungen zur Abreise, die er nun bestätigt sah, ernstliche Vorwürfe ...

Sie sind, sagte er fast gekränkt, auf der hohen Flut der Gunst und des Glücks! ... Ich schreibe heute dem Dechanten ... Gestern Abend war ich bei einer Anzahl alter Freunde und Freundinnen Ihres Onkels ... Alle wünschen, Sie zu sehen ... Und nun bekommen Sie – das Kanonenfieber ... Von einem vernünftigen Posa heißt es nicht: Nach Munkatsch! sondern: »Der Ritter wird künftig unangemeldet vorgelassen!« ...

Zur Mehrung der Verlegenheit, zur Schärfung der Vorwürfe des Chorherrn kam der Mohr des Prinzen Rucca, brachte eine wiederholte Mahnung, um vier Uhr das Diner nicht zu vergessen und schlug aus einem Rosaseidenpapier ein prachtvolles Bouquet, das aus dem Palatinus ihm von Altezza Amarillas oder von Excellenza Contessina geschickt wurde ... Der Absender blieb unaufgeklärt – selbst gegen ein überreiches Trinkgeld ... Es war ein mit italienischer Kunst gewundener Blumenstrauß von weißen Camellien, in der Mitte ein Herz von Pensées ...

Pensez – à – moi! scherzte der Chorherr und verließ Benno mit dem satyrischen Zublinzeln, daß er sich wol hüten würde, einen Boden zu verlassen, wo ihm jeder traurige Eindruck so hold und vielversprechend verwischt würde ...

Die weißen Camellien konnten nur der Gedanke seiner Mutter sein ... Aber den Muth, einem jungen fremden Mann überhaupt Blumen zu schicken, flößte ohne Zweifel nur die junge Gräfin ein ... Ihr Verlangen nach ihm schien keiner Beherrschung mehr fähig ...

Gegen zehn Uhr nahm Benno einen Fiaker und fuhr in die Staatskanzlei ...

In einem Gewirr größerer Gebäude, die in winkeliger Zusammenstellung allen Jahrhunderten angehörten, hier an die Babenberger, dort an die Zeit der Maximiliane, da an Kaiser Joseph erinnerten, liegt ein Haus mit mäßiger Fronte, einladend nur durch seine nach den Basteien hinaus gerichteten Seitenfenster ...

Der Wagen hatte sich pfeilgeschwind durch diese Winkel und kleinen Plätze hindurchgewunden ... Benno stieg aus ... Bereits ein zweiter Miethwagen stand vor dem Portal ...

Der Minister wohnte im ersten Stock ...

Ein großes dunkles Vorzimmer wurde durchschritten ... Dann kam man in ein lichteres, das eine schöne Aussicht auf die belebten Umgebungen der Stadt und den Volksgarten bot ... Hier hatte der Angemeldete sich aufzuhalten ...

Benno traf, wie er erwartet und gefürchtet, mit Schnuphase zusammen ...

Herr Maria stand unter dem Druck seiner »hochgespönten« Nerven ... Vom Sperl, aus Döbling, aus Hietzing, von allen möglichen Zerstreuungen, die die Tuckmandls und Pelikans ihrem Gastfreund trotz der Wundermedaillen und Paternostervereine bereiteten, erschöpft, schnappte und schnalzte er nach Luft ... Jetzt, beim Anblick des Barons von Asselyn, hob sich ihm etwas die Brust vor Freude und Ueberraschung ... Der Gruß des Herrn Thiebold de Jonge und die Mahnung an seine Leibbinden rührten ihn ...

Jedes Knarren einer Thür unterbrach die Mittheilungen ...

Benno war wie in einem Traum ... Er wußte nicht, wie er hierher gekommen ... Um seine Aufregung zu verbergen, fragte er scherzend:

Werde ich jetzt erfahren, welches Ihre geheime Mission war? ...

Schnuphase hob seine weißen Handschuhe gen Himmel ...

Da öffnete sich die Thür ...

Schnuphase verbeugte sich bis zur Erde ...

Der Eingetretene war noch nicht der Beherrscher aller europäischen Cabinete, sondern jener Hofrath, der an Benno geschrieben hatte ...

Die leutseligste Anrede von der Welt berichtigte Schnuphase's Irrthum ...

Der Herr Hofrath wandte sich an den Herrn Baron von Asselyn und entschuldigte Seine Durchlaucht, die noch einen Augenblick verhindert wären ...

Herr Stadtrath Schnuphase –? ...

Zu Dero –! ...

Die Kiste ist angekommen ...

Zu Dero –! ...

Zum ersten Mal in Wien? kehrte der freundliche Herr zu Benno zurück ...

In dem Augenblick wurde Stadtrath Schnuphase durch einen Bedienten abgerufen ... Nach einer Thür zu, die eben da wieder hinausführte, wo er hereingekommen war ...

Schnuphase flog und taumelte mehr, als er ging ...

Mit einem, wie es schien, stereotypen, an die »Gemüthlichkeit« Pötzl's erinnernden Lächeln, halb prüfend, halb zerstreut, setzte der hohe Beamte sein Examen über Benno's erstmalige Anwesenheit in Wien fort ... Bei völliger Bekanntschaft über die Zwecke der Anwesenheit des jungen Mannes kam er auf den gestrigen »grausamen« Unfall mit dem »Fräulein von Pötzl« ... Das, was ihm, wie er sagte, ihr Pflegevater selbst schon erzählt hatte, konnte Benno bestätigen ... Es folgte das herzlichste Bedauern und die Mittheilung, daß einige Wochen lang für die arme Seele in »Maria zur Stiegen« würde gebetet werden ...

Eine Klingel ging ...

Der Diener von vorhin öffnete eine andere Thür ...

Mit einem: Ich hab' mich sehr gefreut! und dem innigsten Händedruck wurde Benno von dem zuvorkommendsten aller Epigonen jener Gesellschaft, die der überfliegende Don Carlos mit dem Wort bezeichnet: »Da wo Ihre Domingos, Ihre Albas herrschen!« an die Thür begleitet ...

Noch zwei Zimmer und der unfreiwillige, von dem System des Staatskanzlers sonst mit jugendlicher Idealität urtheilende, jetzt wie ein geknicktes Rohr sich ihm nähernde – Posa stand vor dem neuen – Don Philipp ...

Der Gefürchtete war an Wuchs etwas kleiner, als Benno ... Schmächtig, ebenmäßig gebaut, mit feinen, geistvollen Zügen ... Die Stirn breit und hochgewölbt ... Die Augen blau, die Nase mäßig gebogen, die Farbe der nicht schmalen Wangen blaß ... Die Lippen durch lange Gewöhnung – auch die Ehe macht Ehegatten ähnlich – fast habsburgisch geworden, doch abwechselnd belebt von Ironie ... Besonders auffallend blieb die schöne, wenn auch stark gerunzelte Stirnfläche, mit weit auseinander liegenden Augenbrauen ... Das Haar schon ergraut und mit erzwungener Jugendlichkeit geordnet ... Die Sprache nicht leise, etwas unverständlich ... Benno wußte, daß der Staatskanzler am Gehör litt ...

Die freundlichste und herablassendste Begrüßung ...

Man setzte sich ... Nebenan hörte man ein Klingen von Gläsern ... Benno staunte ... Jedenfalls war Schnuphase auf der Höhe seiner Mission ...

Der Fürst ergriff eines von den eleganten großen und kleinen Büchern, die auf einem Tisch vor dem kleinen Kanapee lagen, steckte die Finger in die Blätter, klopfte in leichtem Taktrhythmus auf den Tisch und begann in geschmeidiger, fast zu regelrechter Rede alle ostensiblen Veranlassungen für Benno's Anwesenheit in Wien herzuzählen ... Dem Schmerz des Grafen Hugo, der zufälligen persönlichen Anwesenheit des Herrn von Asselyn bei dem Unglück mit Angiolina Pötzl trug er mit unverstellter Theilnahme Rechnung ... Dann kam er auf den Oberprocurator Nück, mit dem er seit Jahren »immer sehr gern zu thun« gehabt hätte, auf die Empfehlungen, die ihm »Doctor Nück« über Herrn von Asselyn und dessen Wünsche gegeben ...

Wünsche?! loderte es in Benno auf und sofort begann er auch:

Euer Durchlaucht wollen entschuldigen – ...

Ohne jedoch Zeit zu bekommen, irgend auch nur die einfachste berichtigende Aeußerung zu thun, hörte er den Fürsten sogleich auf den ihm von Wien her, ja schon vom »Parterre der Könige« in Erfurt sehr wohlbekannten Dechanten zu Sanct-Zeno übergehen; selbst Bonaventura war ihm genannt worden ... Des Fürsten Familie stammte selbst aus der Gegend von Kocher am Fall ...

Die Aeußerung, die der Staatskanzler auf die für Bonaventura gebrauchte Bezeichnung: Er wird ein Heiliger genannt! sofort folgen ließ, war charakteristisch ...

Ich wünschte wol, sagte er, der Adel folgte überall solchen Beispielen und nähme sich wieder etwas mehr der Kirche an ... Seitdem die Pfründen schmaler geworden sind, hat man sie nicht mehr für die jüngern Söhne der Familien so aufgesucht, wie selbst noch in meiner Jugend Sitte war ... Sagen Sie, würde Ihr Kirchenfürst den Muth gehabt haben, so für seine geistliche Pflicht aufzutreten und würde er mit soviel Glanz sein Martyrium durchführen, wenn ihm nicht sein Zusammenhang mit dem Adel des Landes zu Hülfe käme? ... Der Uebergang der geistlichen Stellen nur an Bürgerliche öffnet jenem kleinen Ehrgeiz zu sehr die Bahn, der mit Intrigue verbunden ist ... Dem Emporkömmling wird ja nie genug zu Theil ...

Wenig Verbindungsglieder fehlten hier und die Gedankenreihe war bei den Jesuiten angekommen, die der Staatskanzler haßte ... Doch unmittelbar flocht sich die Bemerkung ein:

Ein reizendes Geschöpf, diese Angiolina! Ich kann nicht glauben, daß sie sich selbst den Tod gegeben hat ... Sie wurde zornig über die, die ihr vorreiten wollten, und überschlug sich ... Jetzt ist's freilich eine freiwillige Handlung – ein Poëm, sagte man gestern ... Romantik und leider oft auch Logik machen sich sehr oft erst durch den Zufall ex post, gerade wie der Witz ... Manche Leute, die ich positiv als dumm kannte, galten aus diese Art für gescheut ... Weil sie immer schnell bei der Hand waren, einer zufälligen Wirkung eine prämeditirte Absicht unterzulegen ... Das wissen Sie gewiß, es gibt einen Humor der Thatsachen ... Viele Staatsmänner haben sich Jahre lang damit erhalten, den glücklichen Zufall sogleich für ihre Absicht auszugeben ... Besonders sind in diesem wohlfeilen Klugseinwollen die Politiker Ihres Staates – Bitte, Herr Doctor Nück schreibt mir, Sie wollten daselbst keine Carrière machen – Erzählen Sie mir doch von der dortigen Sachlage, Herr von – Sagen Sie, sind die Asselyns nicht eigentlich italienischen Ursprungs? ...

Benno hätte durchaus erwidern mögen, daß sich Nück in den Motiven seiner Reise nicht an die Wahrheit gehalten hätte, hätte alles erzählen mögen, was zur Erleichterung der heimatlichen Schwierigkeiten dienen konnte, mußte aber jetzt nur der gestellten Frage antworten und sagen:

Doch nicht, Durchlaucht! Friesischen Ursprungs ...

Sie sollen aber das Italienische à perfection sprechen ... fiel der Fürst sogleich ein ...

Ich wollte zunächst Italien sehen, um mich in der Sprache zu vervollkommnen und alte Studien wieder aufzunehmen – ...

Die italienische Sprache ist schwerer, als man anfangs glaubt, unterbrach der Fürst, der seine eigenen Gedankengänge festhielt ... Sie ist ebenso falsch und tückisch wie die Italiener selbst ... Man glaubt mit der Grammatik auf dem besten Fuße zu stehen et d'un tour de main on a perdu tout son latin ... Wo studirten Sie? ...

Benno nannte die betreffende Universität ...

Der Staatskanzler warf einen der ihm eigenen Augenblitze, die den für gewöhnlich milden, ja matten Ausdruck seiner Augen unterbrachen, scharf und bestimmt zu dem jungen Mann hinüber und hatte jedenfalls eine Rüge der deutschen Universitäten im Sinne, sprach aber doch:

Sie sind Jurist ... Arbeiteten bei Dr. Nück in der – Apropos, die Gräfin Paula von Dorste ist ja clairvoyant! ... Wie sich das in Wien ausnehmen wird, bin ich begierig ... Ein eignes Kapitel, die Clairvoyance! Ich habe sie in allen Stadien kennen gelernt ... Auch in ihrer Verbindung mit der Politik – und gerade bei Ihren aufgeklärten Staatsmännern! ... Fürst Hardenberg war ganz in die Hände der Pythonissen gerathen und hat auch, glaub' ich, aus diesen Quellen seine Begeisterung für die Freiheit Griechenlands in Verona geschöpft ... Die Verbindung mit der Religion ist mir weniger geläufig, aber unsere Salons sprechen davon mit Andacht ... Leider wird mit dem ersten Kind diese neue Quelle der Unterhaltung für Wien verloren sein ... Ihre Heimat ist ein seltsames Land, Herr von Asselyn, kernhaft jedoch und voll aufrichtiger Sympathie für uns ... Wir haben davon täglich Beweise ... In unserer Armee sowol wie im Klerus ... Kennen Sie die Aebtissin Scholastika? ... Eine Tüngel-Heide! ... Es gibt mehrere Linien der Tüngels? ...

Schon griff der allein Redende zum kleinen goldschnittgebundenen genealogischen Kalender, der auf dem Tische lag ... Er suchte die Tüngel-Heides und die Tüngel-Appelhülsens ...

Nebenan klangen die Gläser ...

Benno beobachtete nur und – resignirte sich schon ...

In Ihrer Provinz lebt noch fest und sicher die Ueberzeugung, fuhr der Fürst im Umblättern fort, daß es in jeder Politik nur Erhaltung oder Umsturz gibt ... Die Reform soll uns heilig sein, ja! aber sie muß aus den Elementen der Erhaltung und für die Erhaltung hervorgehen ... Nach Napoleon's Verwüstung des Bestehenden konnte und durfte nichts Anderes kommen ... Selbst Napoleon fing zuletzt an zu erschrecken vor einer täglich sich mehrenden Lust an Neuerungen ... Unter dem Zeitalter der Revolution haben die Völker zu viel gelitten ... Sie bedürfen auf hundert Jahre der Erholung ... Ich weiß nicht, was dann kommen wird, aber meine Aufgabe war, Halt zu gebieten und ich glaube, die nach mir kommen, werden noch lange dieselbe Notwendigkeit einsehen ... Ich gebe das sehr gern den jetzigen römischen Ansprüchen zu: Es ist auch so mit der Kirche ... Die schwarzen Herren hören freilich nicht gern, daß der Fels, auf den die Kirche gebaut wurde, irdisches Material ist so gut wie jede andere Steinart und daß einst eine Zeit kommen wird, wo die Philosophie sich verbreitet, wie das Klavierspielen schon jetzt bei unsern reichen Bauerntöchtern im Salzburgischen – Aha! Da! – »Die Tüngel-Appelhülsens. Wappen: Die geschlängelte Schaale eines Apfels« – Falls das nicht – glauben Sie nicht, Herr von Asselyn, ursprünglich eine Schleife war? Auch so ein Witz – ex post? ... Da sind ja die Camphausens! ... Zwei Linien – Seltsam! ... Bei uns lebt die protestantische und Gräfin Erdmuthe ist sogar eine gefährliche Fanatikerin ... Der Graf wird den Militärdienst quittiren ... Und – – Ja, der religiöse Riß in Deutschland wird oft beklagt – ich schätze ihn ... Deutschland kann nur durch das Gleichgewichtssystem bestehen ... Das hab' ich immer befördert und ohne Rückhaltsgedanken ... Der Zollverein ein gibt ein zu einseitiges Uebergewicht ... Sie kamen mit dem Herrn Stadtrath Schnuphase? ...

Ich reiste nur zufällig mit ihm ...

Doctor Nück schickt mir durch Sie alle Tabellen Ihrer Weinversteuerung, an der ich, wie Sie wissen, persönlich betheiligt bin ... Die Centralisation der Interessen Deutschlands ist nicht möglich ... Schon die natürlichsten Lebensbedingungen, Essen und Trinken, beruhen auf disparaten Organisationen ... In Frankreich, Spanien, Italien sogar, dem ich sonst doch jede andere Einheit absprechen muß und das ich nur für einen geographischen Begriff halten kann, hat die Lebensweise eine und dieselbe Bedingung ... Nehmen Sie aber unsere Verschiedenheiten! ... Die barocke Abwechselung schon unseres – Brotes allein! ... Wie verschieden die Charaktere des Weins am Rhein und an der Donau ... Vom Trank der Gerste gar nicht zu reden ... Man glaubt es mir nicht, aber ich bin gegen ein Uebermaß von Uniformirung ... Ich hasse den Josephinismus – nicht seiner Aufklärung wegen – behüte, nein! – sondern deshalb, weil er am Ende doch nur den absoluten Polizeistaat proclamirt ... Der absolute Polizei- oder Beamtenstaat kann zuletzt nur zur constitutionellen Monarchie führen, d.h. zur legalisirten Revolution und Republik ...

Die Phantasie Eurer Durchlaucht überspringt große Intervallen! sagte Benno mit Entschiedenheit ...

Geb' ich zu – erwiderte der Minister und ließ wieder einen jener scharfen Blicke auf Benno hinstreifen ... aber darin denk' ich ganz wie die Kirche .... Gutta cavat lapidem ... Apropos, was sagt der Graf Camphausen von dem sogenannten Baron von Terschka? ... Der Mensch ist in London Protestant geworden und der intimste Freund der italienischen Emigration ... Ein Ex-Jesuit – sagt man sogar – aber entre nous ...

Benno berichtete von dem ihm so verhaßten Namen, was er wußte, und wagte, angeregt von den Worten seiner Mutter, die Bemerkung:

Die größte Gefahr des Stabilitätssystems droht nicht unmöglich von Italien und Rom selbst ...

Sie meinen, daß die Zeiten des Cola Rienzi wiederkehren? lächelte der Fürst, nahm ein großes Kupferwerk, das vor ihm lag, schlug die Abbildung einer Burg auf und zeigte sie seinem Besuch mit den Worten:

Sehen Sie da die Burg in Böhmen, auf die Cola Rienzi flüchtete, als seine Zeit in Rom vorüber war! ... Zu uns! Nach Böhmen! ... Ja, fuhr er dann fort, die Italiener sind allerdings die elendeste Nation von der Welt und zu allem fähig! Diese Nation wird den Monarchen, von denen sie regiert wird, und uns allen in Europa noch viel zu schaffen machen, sie wird conspiriren, morden, vielleicht ein vorübergehendes Glück gewinnen, von einzelnen Mächten vielleicht begünstigt werden, von England, das für seine Waaren sich einen Absatz in Sicilien und Neapel zu verschaffen sucht – aber elend wird alles nach kurzer Zeit zusammenbrechen ... Wie Barbarossa werden wir dann die Städte in Asche verwandeln müssen! Wir werden den Pflug darüber hingehen lassen und Salz aussäen müssen, um eine neue Erde zu schaffen ... Das Salz werden deutsche, ungarische, böhmische Colonieen sein, unsere Sitten, unsere Verbesserungen, unsere Bürgschaften polizeilicher Ordnung ... Zurückrufen werden die Elenden uns dahin, wo sie uns verjagten, um nicht von ihren eigenen Landsleuten gemordet zu werden ... Gemordet von ihren neuen Häuptern ... Lesen Sie die Geschichte! ... So ging Crescentius unter ... Cola Rienzi flüchtete ... Was wollen Sie von einer Nation erwarten, wo alles käuflich ist! Wo die Furcht jeden zum Verräther macht! Wir haben alle Conspirationen in der Hand ... Von jeder Carbonarologe besitzen wir die Namen ... In Turin regiert ein Fürst, der als Kronprinz Carbonaro war ... Als er den Thron bestieg, lieferte er uns sämmtliche Listen der Venditas aus ... Ich zweifle nicht, daß er wieder als Carbonaro endet ... Lassen Sie Krieg kommen – behalten wir Herrn Thiers noch lange am Ruder Frankreichs und will sein Schüler, der Herzog von Orleans, sich die Sporen verdienen, so haben wir vielleicht Krieg und mit schwankenden Erfolgen ... Wir sind heute geschlagen – aber von dem Tag an, wo die Italiener dankbar und einig sein sollen, rufen sie wieder die Deutschen zurück und geben uns die alte eiserne Krone ... Dies Italien! Sie müssen es kennen lernen, Herr von Asselyn! Sie wollen dort hinreisen? Wollen Sie es bequem, so mach' ich Ihnen den Vorschlag, Depeschen nach Rom zu übernehmen – Freilich da müßten Sie sogleich und in diesem Augenblick reisen ... Würde Sie das hindern? ... Nück schrieb mir, fuhr der Fürst fort, die Verlegenheit und aufwallende Röthe der Freude im Antlitz des jungen Mannes bemerkend – Sie wollen eine politische Laufbahn antreten ...

Durchlaucht – nein! sagte Benno fest und bestimmt ... Der Gedanke: Da erlöst dich ja das Geschick im Nu! ließ ihn mit funkelnden Augen zustimmen ...

Sie meinen, Ihre Grundsätze sind noch zu jugendlich? Sie opponiren noch? Mein lieber junger Freund, die Staatskunst muß es machen, wie die Kellerei mit den Weinen ... Liegen die Fässer zu lange, so müssen sie aufgefüllt werden ... Alte Jahrgänge mit jungen ... Sie haben ohne Zweifel die Calamität gehört, die sich auf meinem Weinberg zugetragen? ... Ein nachlässiger Küfer hat sieben der besten Stück nicht aufgefüllt und nun sind sie Alterationen des Entwickelungsprocesses ausgesetzt – Dergleichen muß geheim bleiben ... Bitte ... Da Sie aber mit Herrn Stadtrath Schnuphase gereist sind – ...

Der Fürst öffnete die Thür und machte Benno zum Zeugen einer wie es schien sehr ernst genommenen Scene ... Ein feingekleideter, wohlbehäbiger älterer Herr, ohne Zweifel der Kellermeister des Fürsten, saß mit Schnuphase an Einem Tisch ... Vor ihnen eine Reihe kleiner Flaschen, die mit Zetteln beklebt waren ... Einige Dutzend Gläser standen in der Nähe, um nacheinander gebraucht zu werden, da der Duft des Weins sich in jedem gebrauchten Glase zu lange erhielt und eine Aufgabe erschwerte, die die zu sein schien, die Mischungen und Auffüllungen aufs strengste zu unterscheiden ...

Schnuphase und der Kellermeister waren aufgesprungen ... Letzterer mit zwei Gläsern in der Hand, die prüfendste Miene in den gerötheten Gesichtszügen ... Noch schienen Zunge und Nase nur mit Geschmack und Duft beschäftigt ... Schnuphase stand mit seinem »Glöse« ganz »Extöse« ... Der Duft, das Probiren, die Situation, die Nähe des größten Mannes der Zeit, die Satisfaction vor Benno, alles war ihm zu Kopf gestiegen ...

Es wird wol nicht anders gehen, bemerkte der Fürst, man muß unserer Verwaltung, die an dem Versehen ohne Schuld ist und den Küfer entließ, Recht geben und »Dorf« oder »Berg« zur Erkräftigung des »Schloß« wählen? ... Ganz wie Ihr jungen Staatsneuerer ja wollt! ... Gern adoptiren wir Euer junges Blut! ... Oder beides? wandte er sich ...

Schnuphase stand wie ein Retter des europäischen Gleichgewichts, obgleich er nahe daran war, das eigene zu verlieren ... Das Nippen an jedem dieser Gläser, das Streiten und Aeußern entgegengesetzter Zungenwirkungen, die wiederholt erprobt werden mußten, hatte ihn bereits zum Opfer des in ihn gesetzten Vertrauens gemacht ...

Der Fürst billigte jede Entscheidung der gemeinschaftlichen Berathung und ordnete an, daß auch beim heutigen Diner, wo Kenner der Weinblumen des Rheines entboten wären, die Proben servirt und einem Verdict derselben unterworfen würden ... Die maßgebendste Stimme behielten die beiden anwesenden Herren selbst und lieb wäre es ihm, sagte er, schon von ihrer schnellen Meinungsvereinigung zu hören ... Der Gegenstand war hochwichtig ... War für die nächste Auction irgend im Ruf der vernachlässigten Fässer etwas versehen und verbürgten sich nicht die ersten Zungen für die volle Integrität des Gewächses, so konnten dreißigtausend Gulden auf dem Spiele stehen ...

Es thut mir leid, sagte der Fürst in freundlicher Laune beim Zurückkehren in das vorher von ihnen eingenommene Zimmer, daß ich meine Einladung, mein Gast zu sein, nicht auch an Sie richten kann, Herr Baron! Die Aufgabe, die ich Ihnen vorschlage und der Sie, wenn auch nur Ihrer Reisekasse wegen, da Sie doch nach Italien wollen, sich immerhin unterziehen sollten, bedingt eine sofortige Abreise ... Um fünf Uhr Nachmittag geht die Eilpost ... Sie brauchen sich nur der Post zu bedienen ... Von Triest aus müssen Sie über Ancona zur See ... Das ist unerläßlich ... Nach einem halben Jahr kommen Sie auf demselben Wege – ich meine, ohne Ihrer eigenen Kasse wehe gethan zu haben – zu uns zurück und ich werde begierig sein, Ihre römischen Eindrücke zu vernehmen, falls Sie nicht vorziehen sollten, sie mir sogleich direct oder an die Allgemeine Zeitung zu schicken ... Wählen Sie für erstem Fall die Adresse eines unsrer Großhandlungshäuser ... Versteht sich, bald diese, bald jene ... Die Depesche händigt Ihnen der Herr Hofrath ein, mit dem Sie vorhin gesprochen haben ... Man soll Sie zu ihm führen! ... Glückliche Reise! Frohes Wiedersehen! ...

Der Fürst klingelte ...

Damit war die Audienz beendet ...

Es war Benno, als konnte er nicht von der Stelle ... Er hatte nicht widersprechen, hatte bei seiner Jugend, seiner gedrückten Stimmung überhaupt nur hören, – wenn er sprach, nur Nüchs Empfehlungen ablehnen wollen ...

So aber hundert angelegte Fäden – und nicht ein einziger ausgeführt! ...

Jetzt verstand er, was man »Treppenwitz« nennt ... Demosthenische Reden blieben auf seiner Zunge liegen ... Was mochte er nicht alles gesprochen haben! ... Dicht am Weltrade stand er ... Wie ein donnernder Wassersturz mußte ihm die Triebkraft erscheinen, die dies Rad in Bewegung setzte ... Noch blieb er wie von einem unsichtbaren Sprühnebel umrieselt und betäubt ...

Aber ein Diener folgte ihm und führte ihn schon zu dem Hofrath ...

Sie mußten noch eine Treppe höher steigen ...

Sollst du – oder sollst du nicht? ...

So stand er eine verhängnißvolle Secunde und sagte sich: Eine Gunst des Geschicks! ... Die Uebernahme dieser Verbindlichkeit verpflichtet dich zu nichts ... Du hast einen triftigen äußern Grund, vor Situationen zu entfliehen, die sich jetzt noch nicht von dir durchleben lassen!

So trat er in ein düsteres Zimmer ...

Hier wurde ihm die Depesche, ein einfach versiegelter großer Brief eingehändigt ...

Am besten trägt man das in einer kleinen Tasche, sagte der freundlichste aller Hofräthe, aber an einem Riemen! ... Haben Sie die Schnalle immer hübsch vorn auf der Brust! ... Schließlich hält das auch noch den Leib warm ... Für die Seefahrt gut ... Die Reisekosten sind für acht Tage berechnet, für jeden Tag zehn Dukaten ... Sie bekommen eine Anweisung auf die Cassa, Herr von Asselyn! ... Bitte! Nehmen Sie! ... Hier ist sie! ... Damit Sie keine weitere Mühe haben, werden wir einen Platz im Coupé reserviren lassen ... Sie zahlen ihn dann bei der Abfahrt ... Habe die Ehre, eine glückliche Reise zu wünschen! ...

Benno reiste als Courier ... Eine unverfängliche Gefälligkeit ... Er nahm die Depesche, die Anweisung ... Er ließ sich einige Zimmer weiter achtzig Dukaten zahlen ...

Das Ablehnen dieser Summe würde wunderlich erschienen sein und den Auftrag leicht rückgängig gemacht haben ...

Beim Verlassen des Palais fand er die Treppe belebt ...

Boten, Jäger, Diener liefen hin und her ...

Zwei Lakaien in auffallender Livree eilten hastig an ihm vorüber ...

Hinter ihnen schritt langsam die Treppe herauf mit schwebendem Gang und einer lächelnd um sich blickenden Sicherheit eine hohe, breitschultrige Gestalt in fremdartig priesterlicher Tracht ... Hinter ihm zwei andere, ebenfalls Priester ...

Benno empfing aus einem stark gerötheten Antlitz einen Blick des holdseligsten Grußes ...

Er trat zur Seite und erfuhr, daß es Cardinal Ceccone gewesen, der an ihm vorübergeschritten ...

Sein freundlicher Blick war ihm wie der Stich eines Messers ... Wenn ihn etwas aus Wien vertrieb, hätte nur noch diese Begegnung gefehlt ... Der üppigste Triumph, verbunden mit dem Schein der holdseligsten Demuth und wieder mit den unauslöschlichen Merkmalen einer schon von der Natur in den Augen, ja in den Ohren vorgezeichneten List ...

Welche Begegnung jetzt drinnen zwischen zwei nur äußerlich verbundenen Principien ... Der Fürst, der die Jesuiten haßte, der Cardinal, der auf seine alten Tage unter dem Druck der Frauen die »Freiheit Italiens« anbahnte ... Wie unfertig, wie halb, wie überlebt erschien ihm alles nach dieser Audienz ... Wie wehte ihn der Odem Gottes mit neuen, den Völkern und dem Jahrhundert verheißenen Offenbarungen an ...

Am Portal sah Benno die beiden Miethwagen in bescheidener Entfernung und hatte noch Zeit nöthig, sich zu besinnen, wohin er fahren wollte ...

Schnuphase kam, begleitet vom Kellermeister ... Ersterer hatte alle Ursache, dem kräftigen Arm zu danken, der ihn hielt ...

Die Aufforderung, in der »Stadt Triest« ein gemeinschaftliches Mahl einzunehmen, lehnte Benno ab, fuhr auf den Kohlmarkt und kaufte sich zunächst – die bewußte Reisetasche ...

Zu Hause angelangt, schrieb er an den Principe Rucca einige Zeilen und bedauerte seine plötzliche Abreise nach Rom, behielt jedoch das Billet bis um vier Uhr, wo man ihn erwartete, noch zurück ...

Lange kämpfte er mit sich, ob er seiner Mutter schreiben sollte ... Er konnte nicht anders ... Doch drückte er sich in einer Weise aus, die so unverfänglich war, daß sie jedermann lesen konnte ...

»Herzogin!« schrieb er. »Ich erhalte soeben einen Auftrag vom Fürsten Staatskanzler, der mich zwingt, augenblicklich abzureisen! Ich reise nach Rom und hoffe Sie dort in nicht zu entfernter Zeit zu begrüßen. Wien ist kein Ort, wo die Trauer einen andern Raum findet, als vor den Altären seiner Kirchen. Gedenken Sie in ›Maria zur Stiegen‹, wo die Seelenmetten Angiolinens gehalten werden, unserer Rückfahrt von jenem Hause des Schreckens ... Die dunkeln Tannen, die es beschatten, werden selbst im schönen Italien so lange vor meinen Augen stehen, bis ich Sie wiedersehe ... Benno von Asselyn.«

Von Olympia sprach er in beiden Briefen kein Wort ... Auch des Straußes, der vielleicht von Olympia kam, mochte er keine Erwähnung thun ...

Der Chorherr blieb über die schnelle, nun freilich motivirte Abreise im höchsten Grade verdrießlich ... Unbekannt mit den Empfindungen, die Benno von dannen trieben, schrieb er sie lediglich auf Rechnung des mächtigen Eindrucks, den der große Kanzler denn doch auf den jungen Mann gemacht hatte ... Er mußte ihm Glück wünschen zu einer vielversprechenden Carrière und sagte:

Sehen Sie, so mächtig ist nun doch der blendende Reiz eines bei alledem großen Mannes ... Man muß sich ergeben, hört nur noch und staunt und läßt an dem, was man haßt, das Menschliche in seiner vollen Geltung ... Protestiren Sie nicht! Sie sind jung! ... Geht es mir denn anders? Lieb' ich denn nicht auch mein Land und mein Volk? So lebt man in einer unglücklichen Ehe und kann sich nicht trennen ... Man weiß, man paßt nicht füreinander, aber es gibt so viel Bindeglieder des Interesses, so viel gemeinschaftliche Sorgen, so viel kleine Aussöhnungen wieder und so kurze Momente des Glücks, daß man immer wieder neue Hoffnungen schöpft ... 'S ist freilich ein Gemüths-Elend, an dem zwei Menschen und – ganze Staaten zu Grunde gehen können ...

Benno mußte schweigen ... Er hielt sich an die ihm von den Umständen auferlegte Nothwendigkeit seiner Abreise ... Er ertrug den Schein der Inconsequenz ...

Gern übernahm der sich allmälig in die Trennung findende Chorherr die Meldung an den Onkel ... Auch die Besorgung aller der Visitenkarten, die Benno noch zum Abschied zurückließ ... An den Grafen Hugo schrieb Benno Worte, die seiner Stellung und der Situation angemessen waren ... Worte des Trostes und der Hoffnung für die Zukunft ...

In das Comptoir der Zickeles mußte er seiner Creditbriefe wegen ... Es war über dem Schreiben, Packen und Expediren seiner Effecten hoher Mittag geworden. Der alte Herr Marcus war eben von der Börse zurückgekommen ... Leo befand sich in einem Comité ... Harry führte einen neuangekommenen Virtuosen ...

Den alten Herrn Zickeles überraschte Benno's Abreise nicht im mindesten ... Diese Bankiers grüßen ebenso gleichgültig beim Kommen wie beim Gehen ... Nur seine Tochter Jenny bedauerte er ... Sie hätte dem Herrn Baron noch etwas vorsingen wollen ... Eben wäre sie, sagte er, und auch Angelika Müller, der Benno sich so gern noch empfohlen hätte, mit Therese Kuchelmeister an den Ort gefahren, wo sich gestern das Unglück begeben ... Auch Dalschefski und Biancchi hätten sich dazu entschließen müssen ... Der alte Zickeles sah den Vorfall nur in seinen Folgen an und sagte:

Das Geschäft wird sich nun machen ... Der Graf ist jetzt in Wahrheit frei ... Es hängt lediglich jetzt alles von dem ab, was die Frau Mutter aus Westerhof mitbringt ... Wir werden ja sehen ...

Benno speiste dann noch mit dem Chorherrn, den des jungen Mannes Entschluß nun nicht mehr störte ... Auch der Schein des »Gefesseltseins« nicht ... Er glaubte, wie der Onkel Dechant, an Neuerungen und Besserungen nur infolge großer Erdrevolutionen in der Art der Gletscherbildung ...

Gegen vier, wo die Dinerstunde beim Fürsten Rucca war und die Herzogin und Olympia ihn hochklopfenden Herzens gewiß schon in glänzendsten Toiletten erwarteten, besorgte Benno seine Briefe in den Palatinus ...

Die Eilposten nach dem Süden gingen um fünf Uhr .... Man mußte sich schon um vier in Bereitschaft setzen ...

Der Chorherr begleitete seinen so schnell gewonnenen jungen Freund, der voll tiefster Trauer von dem edeln Manne schied und ihn bat, alle seine Liebe und Güte auf Bonaventura zu übertragen, falls dieser in der That nach Wien kommen und dann vielleicht gleichfalls bei ihm wohnen sollte ...

Man plauderte ... Aengstlich zog Benno die Uhr, aus Furcht, noch eine Wirkung seiner Absagebriefe zu erleben. Der Chorherr neckte ihn darum ...

Endlich saß er im Coupé, das ihm in der That durch einen Ministerialboten reservirt war ...

Schon benutzte er, da der Chorherr nicht gehen wollte, die Pause, die bis zum Schlagen der Abfahrtsstunde so langsam verrinnt, zu einem Abschiedsgruß an Angelika, den er auf einen Zettel seines Portefeuilles schrieb und dem Chorherrn mit einer Andeutung über Püttmeyer's Philosophie zu eigenhändiger Besorgung übergab – da kam ein Mann, der hastig nach Herrn von Asselyn fragte, und brachte eine Visitenkarte aus dem Palatinus ...

Von Gräfin Olympia? fragte lächelnd der Chorherr ...

Verzeihen, sagte der Lohndiener, Ihre Gnaden die Contessina wollten selbst kommen, aber der Fiaker muß falsch verstanden haben und hat sie und den Prinzen nach der Briefpost gefahren, wo die Courierposten abgehen, aber erst abends ...

Die Karte war von Benno's Mutter ... Auf der Rückseite stand ein einfaches: Al revedersi! ...

Benno sah, daß er das Rechte getroffen ...

Voll Angst horchte er auf, ob nur nicht noch Olympia und ihr Verlobter kämen ...

Er bat den Chorherrn, der »armen Seele« zu gedenken, für die zwölf Tage lang in dem schönen Kirchlein »Maria vom Gestade«, zur Schifferkönigin Maria – zur Schutzpatronin aller im – Hafen Eingelaufenen gebetet werden sollte ...

Der Chorherr drückte ihm zusagend die Hand ...

Der Postillon schwang sich auf den Sattel des Handpferdes, Benno rückte seine Depesche dahin, wo sie nach dem Bedeuten des Hofraths für seine Gesundheit am vortheilhaftesten lag, der Conducteur setzte sich neben ihn ...

Schon waren die funkensprühenden Schläge der sechzehn Rosseshufe auf dem Straßenpflaster verhallt, noch stand der Chorherr träumerisch sinnend auf seinen Bambusstab mit elfenbeinernem Griff gestützt, dem Wagen nachblickend – da kam ein Fiaker angebraust, aus dessen Schlag Principe Rucca und ein weiblicher Kopf sahen ...

Das Portal der Fahrpost wurde eben geschlossen ...

Pater Grödner stand schon zu fern, um die, wie es schien, heftigen Zornausbrüche der Italienerin zu hören ...

Lächelnd über die Jugend, über den Ehrgeiz, über Menschen, die Liebe finden dürfen und sie nicht mögen, kehrte er zurück in seine stille Klause ...

Die Bleistiftgrüße an Angelika Müller wollte er erst couvertiren, falls sein Versuch, sie ihr persönlich einzuhändigen, mislingen sollte ...

Indessen stand noch ein anderer junger dicker Mann athemlos und verzweifelnd an der Posthofthür ... Harry Zickeles kam zu spät – mit seinem Album.

11.

Glocken riefen nicht zu den Hochämtern, die in »Maria zur Stiegen« zum Gedächtniß Angiolina's gehalten wurden ...

Nicht brauste die mächtige Orgel vom Chor, als ihre Seele der Gnade und Verzeihung des Himmels empfohlen wurde ...

Still und geheimnißvoll sind schon an sich diese Trauermetten, die vor einem kleinen dunkeln Nebenaltar abgehalten werden, denen nur Anverwandte beiwohnen ... Hier trat die Rüge des geistlichen Gerichts ein ... Kaum daß die Austheilung jener kleinen Zettel gestattet wurde, die in katholischen Landen den Vorübergehenden mit einem Liebesblick in die Hand gesteckt werden, der sie auffordert, für die abgeschiedene, wenn ihnen auch völlig unbekannte Seele ein gedrucktes Gebet zu lesen ... Therese Kuchelmeister hatte diese Zettel sorgsam ausgewählt ... Hundert Exemplare eines für diese Fälle in den Kunstläden vorräthigen kleinen Bildes, drei Cherubim darstellend, von denen der eine das Jesuskind mit der Friedenspalme trägt, die beiden andern ein Kreuz und eine Dornenkrone – das Jesuskind lächelt, die drei Engel weinen – Auf der Rückseite ließ sie aufdrucken: »O Erschaffer und Erlöser aller Gläubigen, verleihe der dahingeschiedenen Seele deiner Dienerin Angiolina Pötzl vollkommene Verzeihung und Nachlassung aller Sünden, damit sie, von den Schmerzen des Fegfeuers befreit, dich als ihr letztes Ziel anschauen, lieben und in alle Ewigkeit loben und preisen möge!« ... Das feierliche Requiem Biancchi's, Instrumentation von Dalschefski, das sich ein Gesangverein mit Hinzuziehung Theresens und Jenny's auszuführen erboten hatte, wurde nicht gestattet ...

Unter großem Menschenzulauf hatte das Begräbniß auf dem stillen Dorffriedhof bei Salemhof stattgefunden ... Hier war es, wo sich ein junges Mädchen, einen Korb voll Blumen in der Hand, über den Sarg warf und ihren Schmerz in Worten Luft machte, die niemanden störten, ob sie gleich nicht von Seraphschwingen und Cherubsarmen sprachen, sondern einfach lauteten:

Hier ist's nun aus, du armer Narr! Bist auf Erden viel gehanselt worden! Aber der gute Gott da oben wird schon wissen, wo er auch für dich noch ein Platzt hat! ...

Therese Kuchelmeister überwachte alle die, die sich bei den in der Stadt von ihr bestellten und bezahlten zwölf Seelenmessen einfanden oder einzufinden versäumten ... Luigi Biancchi kam nur einmal und erntete dafür die Bezeichnung eines »Ungeheuers« von Undankbarkeit, da Angiolina die Musik der Italiener liebte ... Dalschefski, den die Nichtaufführung des Requiems wegen des in diesen Tagen außerordentlich erregten Biancchi, der dadurch eine Zerstreuung würde gehabt haben, verdroß, mußte dafür täglich anwesend sein ... Auch Herr von Pötzl versäumte nicht seine Schuldigkeit zu thun; zu dem Ruf, den er anstrebte, gehörte die strengste Unterwerfung unter alles, was Gefühl und Gemüth mit sich bringen ... Nicht auffallend war die jedesmalige Anfahrt eines vornehmen Wagens, aus dem die ersten drei male zwei Damen in tiefster Trauer stiegen und der Messe beiwohnten ... Therese nannte das die kleinste Schuldigkeit der »Mörderin« ... Zuletzt kam nur noch die ältere Dame allein ... Diese fehlte nie ...

Erst am Tage nach dem Begräbniß traf des Grafen Hugo Mutter ein ...

Auf ihrer Rückreise war sie aufgehalten worden ...

Sie hatte in Nürnberg einer Versammlung der dortigen Bibelgesellschaft beigewohnt ...

Unterwegs schon erfuhr sie vom Tod Angiolinens ...

Ihre Liebe zum Sohn ging so weit, daß sie diesen Verlust wie ihren eigenen fühlte ... Sie sah vorzugsweise nur Hugo's bei noch so jungen Jahren schon so väterlich empfindendes Herz betheiligt ...

Als der stattliche Mann an ihrem Halse einen Augenblick festhing und Thränen in seinem Auge blinkten, unterließ ihre Rede nichts, was seinem Schmerz wohlthun konnte ...

Sie erkundigte sich nach allen nähern Umständen des rührenden Abscheidens, verwies es aufs strengste jedem der Diener, der etwa ergänzende Berichte geben wollte, die auf Selbstmord schließen ließen ... »Richtet nicht, daß ihr nicht gerichtet werdet!« ...

Dies Wort sprach sie auch später noch mancher vornehmen Dame auf der Herren- und Wallnergasse ...

Im Herauskehren seiner geheimen Gedanken ist gerade die vornehme Welt nicht so behutsam, wie wir glauben ... Majestäten, Hoheiten, Excellenzen sprechen, namentlich in Oesterreich, ihre Stimmungen ebenso offen aus, wie sie die geringe Welt zu verbergen pflegt ... Man besprach schon beim ersten Besuch die Angelegenheiten des Grafen, verlangte Nachrichten von der bevorstehenden Heirath, verurtheilte das »horrible Benehmen des Terschka« und gab der stolzen Gräfin Gelegenheit, ihr Wort öfter zu wiederholen: Dieu est le juge veritable! ...

Die schnelle Abreise Benno's von Asselyn verdroß die Mutter ...

Sie wich den Fragen des Sohnes um Paula's Erklärung noch aus ...

Sie sagte ihm:

Du sollst alles hören ... Nur erst Sammlung und meine langvermißte Ordnung! ...

Inzwischen sprach sie doch schon zu Hugo und den vielen Besuchenden, zu den lutherischen Geistlichen und Glaubensgenossen, die sie sogleich begrüßten, von ihrem Leben bei Lady Elliot, von den Anstrengungen des Papismus, in England wieder Grund und Boden zu fassen, von den englischen Bischöfen, die leider irdische Machthaber geblieben wären und ein Verlangen trügen nach ungeistlichem Einfluß, von einem verblendeten Lehrer in Oxford, Professor Pusey, der ein System aufgestellt hätte, das auf halbem Wege den römischen Irrthümern entgegenkäme ... Dennoch schloß sie: Es ist eine Freude, den Ernst der Engländer zu sehen ... Die Frauen sind voll Muth und Charakter ... Sie beherrschen die Männer, das ist wahr, aber sie beherrschen sie zum Guten – Wofür sich in dieser Welt das Gefühl der Frauen ausspricht, das kann vielleicht auf einem Irrthum beruhen, aber dieser Irrthum schändet nicht ...

Muthig sprach sie in ihren eigenen Zimmern und bei den ersten Besuchen, die sie empfing:

Seit der Veranstaltung der Jesuiten, meinen Sohn durch Terschka dem Glauben seiner Väter abwendig zu machen, haben wir doppelt Ursache, jeden Schein der Anhänglichkeit an die Irrlehre zu vermeiden ... Gräfin Paula verlangt glücklicherweise von unserer Seite keine Annahme ihrer Religion ...

Ja, wandte sie sich zu einem lutherischen Geistlichen, Terschka lag zerknirscht zu meinen Füßen ... Im ersten Augenblick verstand ich nicht, was er mir zu offenbaren hatte ... Ich alte Frau zitterte ... Auch haß' ich schon an sich die Bezeigung einer Ehrfurcht, die nur Gott gebührt ... Ich betete zum Herrn um Kraft, Terschka's Geständnisse zu hören, setzte mich nach Fassung ringend in einen Sessel und hörte nun alles, was mit jener an diesem Unglücklichen bekannten anziehenden Beredsamkeit von seinen Lippen kam ... Da konnte ich wol anfangs vor Zorn ausrufen: »Der das Ohr gepflanzet hat, sollte der das nicht hören und strafen!« ... Nun aber kam ein reuiges Geständniß; der Entschluß, auf Englands freiem Boden zu bleiben, seine Irrthümer abzuschwören und zu unserm lebendigen Glauben überzutreten ... So verherrlicht sich Gott in seinen Verächtern ...

Graf Hugo theilte diese andauernde Befangenheit für Terschka nicht ganz, behielt aber seine Zweifel an Terschka's Aufrichtigkeit für sich ... Er war des Streitens müde ...

Der Abend bot die stille trauliche Stunde, in der sich die Gräfin über die Ergebnisse ihres Aufenthalts in Westerhof aussprechen konnte ...

In einem hohen, mit Sesseln überfüllten Rococozimmer hatte das Theewasser auf der Maschine zu sieden begonnen, als die Gräfin begann:

Mein Sohn, von Paula von Dorste, diesem seltsamen Wesen, trennt mich allerdings mehr, als ich wünschen möchte ...

Graf Hugo's Ahnung von neuen Hindernissen schien bestätigt zu werden ...

Ich fand, fuhr die Mutter fort, ein Wesen, das leider nur zu sehr ihrem Ruf entspricht ... Als ich Westerhof besuchte, war gleich die erste Begegnung entscheidend ... Die Tante Benigna, dann unsere herrliche, nur zu geisteshelle, winterlich helle Monika, die dich herzlich grüßen läßt, der Oberst, auch eine treffliche Persönlichkeit, Onkel Levinus, auch eine gute, nur etwas wunderliche Seele, alle begrüßten mich herzlich und voll Vertrauen – nur Paula war wie die verschüchterte Taube ...

Sahst du nie eine ihrer Visionen? fragte Graf Hugo ...

Nie! entgegnete die Mutter ... Mit meiner Ankunft hörte der Spuk auf ... Ich kann dir nicht leugnen, daß sie während der ganzen Zeit meiner Anwesenheit krank im Bett lag ... Ja, als ich hören mußte, daß meine Persönlichkeit, ich, ich allein es wäre, die ihr Schmerzen verursachte, gerieth ich außer mir ... Man nannte eine frühere Erzieherin von ihr, die ganz ebenso auf sie gewirkt haben soll ... Die Nähe eines Wesens also, das ihren Irrthümern widerstrebt, verursacht ihr Schmerzen! ... Zur Linderung ihrer Leiden berief man von Witoborn den Obersten, der mit wenigen Handstrichen sie auf Stunden beruhigte ...

Graf Hugo stand in großer Erregung auf und machte einige Gänge im Zimmer ...

Die Mutter fuhr fort:

Glücklicherweise beherrscht Monika das Schloß ... Ich schrieb dir schon, sie hat den Muth gehabt, Armgart, von der du meine Schilderungen kennst, nach England zu schicken, um dies liebe Kind aus der düstern, Verstand und Herz vergiftenden Atmosphäre jener Gegend zu entfernen ... Besonders aber auch, vertraute sie mir – o wie lieb' ich unsre Monika – deshalb, um auf Paula Armgart's Einwirkung zu hindern ... Denn wunderlich ist auch dies Kind ... Was wir allenfalls erreicht haben, hat Monika allein vollbracht ...

Allenfalls erreicht? wiederholte der Graf mit Befremden und Unmuth ...

»Alle eure Sorge werfet auf ihn; er wird es wohl machen!« sagte die Mutter ... Ich war vierzehn Tage in Westerhof ... Comtesse Paula blieb und blieb krank ... Ich sah sie nur zweimal in Toilette, bei der ersten Begrüßung, der sogleich die Krankheit folgte, und einmal, als die magnetische Behandlung durch den Obersten von besonderer Wirkung gewesen ... Sie ist sehr schön ...

Kein Bild von ihr? ...

In jener Gegend malt man nur die Heiligen, mein Sohn ... Ein Kinderporträt wollt' ich nicht mitbringen, da es nicht mehr ähnlich ist ... Sie ist schön, sag' ich dir ... Hoch und schlank und in allen Gesichtszügen edel ... Augen, Haar, alles von einem lieblichen Reiz ... Die Bildung tief, tief vernachlässigt ... Ja, mein Sohn, das ist entsetzlich ... Aber ihr Charakter sanft, leider freilich – versteckt und – von jener Zurückhaltung, die mir, du weißt es, an den Katholiken so peinlich ist ... Nichts Offenes, nichts Ehrliches ... Sie versichern dich der größten Freundschaft und du gewinnst kein Vertrauen ... Das große Priestergeheimniß hat sie alle mit umstrickt! ... Man glaubt, sie lebten in dem, was wir sie täglich treiben sehen – aber es umspinnen sie ganz andere Dinge ... Paula heilt noch immer und segnet Kissen und Amulete, aber sie sagt, daß sie selbst nicht mehr daran glaube ... Die Geistlichkeit wünscht ihre Visionen nicht, da sie merkwürdigerweise – nicht katholisch sind ... Monika sagte mir, es gäbe eine Partei, die heimlich dahin wirkte, sie für eine Besessene zu erklären ... Das ist Aberglaube ... Aber die Macht des bösen Feindes bleibt groß ... Wenn ich je an seine umgehende Macht und die Verschmitztheit des Teufels geglaubt habe, war mir's manchmal beim Anblick – dieser unstäten, irrenden, versteckten – Augen ...

Mutter! unterbrach Graf Hugo die von ihren in Westerhof empfangenen Eindrücken aufgeregte Greisin ...

Ich will das jungfräuliche Kind nicht anklagen – sagte die Mutter, fuhr aber ganz wie die heilige Hildegard fort: Glaubst du nicht, daß der Teufel auch die Gestalt der Engel annehmen kann? ... Doch – lenkte sie dann ein, ich klage die Comtesse nicht an und theile Monika's Meinung, daß die Ehe das alles ändere ... Aber ein Ja! ein Nein! von Paula selbst, von diesen halben Menschen, diesem Levinus, dieser Benigna zu gewinnen, war unmöglich ... Kurz vor dem Tage, wo ich die letzte Entscheidung wünschte, bekam ich endlich ein offenes Wort ... Aber – rathe, woher? – Aus London – von Armgart ...

Der Graf nahm einen Brief entgegen, den die Mutter den ganzen Tag auf ihrem Herzen getragen zu haben schien ...

Seufzend zog sie ihn hervor und entfaltete ihn mit den Worten:

Dieser Brief ist ein trauriger Beleg für die Verstockung der Gemüther durch das Papstthum ...

Graf Hugo nahm den Brief und las, nachdem er über die noch unfertige Handschrift wie die eines Kindes und die mit derselben so in Widerspruch stehende Wichtigkeit des Inhalts mit schmerzlicher Miene gelächelt hatte ...

»Liebes Großmütterchen!« schrieb Armgart ...

Die Gräfin unterbrach:

Ich wiederhole dir, daß dies, ich kann wol sagen, liebenswürdige Kind zwar mit den Engländern und namentlich mit Lady Elliot auf dem gespanntesten Fuße lebt, sich aber an mich, ich kann sagen, wie ein Hündchen angeschlossen hat – Ja, das Wort paßt ganz ... Die hohe Begeisterung, die ich für ihre Aeltern empfinde, namentlich für ihren Vater, den ich fast höher stellen muß, als Monika – Oder ist es blos meine Reue, daß ich ehemals Terschka's Bewerbung unterstützen konnte? ... Genug, Armgart liebt mich wie ihre Großmutter, erträgt alle meine Vorwürfe, murrt und knurrt dann wol ein bischen – ist aber gleich wieder gut ... Doch lies! ...

»Liebes Großmütterchen!« wiederholte der Graf ... »Wie sehr ich Dich liebe und wie ungern ich mit Dir streite, weißt Du! Porzia soll Dir« –

Porzia, erläuterte die Mutter, ist in Witoborn geblieben bei jenem Hedemann, der sich mit ihr in einen Briefwechsel einließ, ihr zu meiner Ueberraschung eine italienische Bibel schenkte und sie heirathen wird – ein Mensch, der mir so gefallen hat, daß ich ihn auf Castellungo besitzen möchte ... Frâ Federigo würde seine Freude an ihm haben ...

»Porzia soll Dir den Brief nur geben, wenn Du Dich wohl fühlst«, fuhr der Graf zu lesen fort. »Sind dann die Berge und dunkeln Wälder meiner Heimat um Dich und die guten treuen Menschen, wie es deren in ganz England keine gibt, so verzeihe mir, daß ich, ein Kind, in so ernste Dinge hineinzureden wage ... Leider kenne ich ja schon alles, was Gattinnen, Mütter und Mädchen im Leben zu dulden haben. Meine Haare sind mir im Geist schon so grau wie der Mutter. Ich bin weiter, als die jungen Ladies Elliot, die vor jedem Mann noch roth werden – müssen! ... Sage: müssen – Sie suchen alle mit Eifer, was ich bereits aufgegeben habe ... Meine siebzehn Jahre haben wie welke Blüten schon Samen der Erkenntniß hinterlassen ... Geprüfte Seelen suchen nicht mehr für sich das Glück ... Auch Paula sucht nicht für sich das Glück ... Aber klare Rechnung haben macht den Gentleman! sagt der garstige dicke Koch Deiner Lady, der sie genug betrügt –«

Ich höre die Mutter des Kindes! sprach der Graf lächelnd, doch durch seine Stimmung geneigt, zu überschlagen ...

Selbstgerechtigkeit! warf die Mutter ein ...

»Daß Ihr Euch der Urkunde unterwerft«, las der Graf weiter, »ist schön von Euch! ... Terschka rieth Dir noch vorgestern, sie durch einen Proceß anzuzweifeln ... Das konnte nur ein ehemaliger Jesuit rathen ... Das ist das Schlechte an den Jesuiten, daß sie so klug und pfiffig sein wollen, wie eben die Zweifler auch ... Glaube mir, unser himmlischer Vater hat auch für den katholischen Glauben vielerlei Wohnungen ... Katholisch und katholisch ist ein Unterschied ... Wir Rechtgläubigen seufzen genug über viele unserer Priester und möchten sie, besonders wenn sie so recht tabacksschmutzige blaue Sacktücher, grobe Pfundsohlen an den Stiefeln und harte Hände vom Heufahren und Mistabladen in ihren Höfen haben, fast hätt' ich gesagt prügeln, gerade wie, nach Onkel Levinus, die Russen mit ihren betrunkenen Popen thun ... Das wissen wir Katholiken unter uns selbst sehr gut und leiden darunter, bei der Messe sowol wie im Beichtstuhl ... Gewisse andere Priester mögen wir Katholiken auch wieder deshalb nicht, weil sie im Gegentheil wie die Tanzmeister sind ... Die, die immer süß den Mund spitzen und die Augen verdrehen und aus dem lieben Herrgott einen Conditor machen, von dem sie bei jedem Besuch Bonbons mitbringen, auch das sind für uns rechtgläubige Christen bloße ›Pfaffen‹ – und zu denen gehören meist die Jesuiten – alle aber auch nicht, Großmütterchen ... Dein Fefelotti mag freilich schlimm sein ...«

Du weißt, unterbrach die Mutter, wie unsere Bedrängnisse schon anfangen? ... Ich werde zu Cardinal Ceccone gehen müssen, um das Kapitel von Cuneo anzuklagen ... Doch – lies! ...

»Ebenso sagte Terschka, er wollte Beweise beibringen, daß eine gewisse Lucinde Schwarz, im Auftrag Deines ›Doctors aus dem Abgrund‹, an dieser Veranstaltung nicht unbetheiligt gewesen ... Ich halte Lucinden allerdings für fähig, Feuer anzulegen; aber es gibt Verbrechen, die so groß sind, daß sie ehrwürdig werden, zumal wenn sie Gutes stiften und Engel zu unwissentlichen Mitschuldigen machen« ...

So vertheidigt die Götzendienerin gegen Lady Elliot auch die gefälschten Rechte des Bischofs von Rom! ... warf die Mutter ein ...

»Großmütterchen, das hat mir von Dir gefallen«, las der Graf weiter, »daß Du dem falschen Heuchler, dem Terschka, endlich einmal über eine Sache unrecht gabst ... Der erleuchtete Mann hat ewig bei Dir recht ... Ganz vornehm und würdevoll lehntest Du die Zweifel ab und wolltest lieber Dich darein ergeben, daß Paula in ein Kloster und Euer Name und Euere Herrlichkeit zu Grund ginge, als wieder processiren und die andere Linie ins Zuchthaus schicken, wie Du sagtest ... Paula geht nicht ins Kloster ... Sie schreibt mir, daß ich es übernehmen soll, Dir ihre ganze Meinung zu sagen ... So wisse denn: Ja! sie nimmt Deinen Sohn, wenn –« ...

Graf Hugo war an dieser Stelle schon aufgesprungen und hatte den Brief voll Zorn und Abscheu von sich geschleudert ...

Schon hatte sein Auge die Bedingung gefunden, die jetzt die Mutter las, nachdem sie den Brief an sich genommen ...

Das ist es! seufzte sie ... »Wenn der liebste Beichtvater ihrer Jugend nach Wien reist, Deinen Sohn persönlich kennen lernt und dann entscheidet, ob sie ihm ohne Gefahr für ihre Seele die Hand reichen kann« ...

Der Graf war außer sich und rief: ...

Von Terschka – von hundert Zeugen weiß ich, daß sie diesen Priester liebt! .. Es ist Bonaventura von Asselyn ...

Die Mutter schwieg eine Weile, faltete den Brief zusammen und beschwichtigte den zornig Auf- und Abgehenden:

Aber sein Verwandter, der junge Benno von Asselyn, hat dir doch wohlgethan ...

Ich habe mich gewöhnen wollen, sprach der Graf, daß meine Gattin das Bild einer andern Neigung im Herzen trägt ... Ich würde mich bekämpft haben ... War ich doch selbst nicht treu ... Aber ich rang danach, treu zu werden ... Ich konnte Angiolina entbehren ... Der Himmel erleichterte mir diesen Kampf – ... Und nun soll der Geliebte Paula's mir persönlich gegenübertreten, mich prüfen, erst seine Entscheidung geben? ... Das ist mein Ruf? So werd' ich in Westerhof beurtheilt? Beurtheilt um ein Verhältniß, das der Himmel auf diese schmerzliche Art löste? Nein! Nun trotz' ich Allem! ...

Mein Sohn –! ...

Ihr Geliebter soll mich – prüfen! ...

Es ist ein Priester, mein Sohn, suchte die Mutter zu beruhigen ... Einer der besseren ... Ich hörte ihn predigen ...

Der Graf lehnte jede Beruhigung ab ... Das ist die Erklärung, die du von Westerhof mitbringst? fragte der Graf mit Entschiedenheit ...

Die Mutter zitterte über seine drohenden Mienen ... Mit bebenden Lippen sprach sie:

Ich zeigte den Brief Monika ... Diese, empört darüber, stürmte zu ihrer Schwester Benigna ... Benigna zog den Onkel Levinus ins Vertrauen ... So traten sie alle drei an Paula's Lager und fragten sie, ob so wirklich ihr Entschluß wäre? Ob sie wirklich so nach London geschrieben hätte? ... Ja! sagte sie, wandte sich ab, sah an die Wand, wo ihr Crucifix hing und ihr Weihwasserbecken – sprach kein Wort mehr und mit dieser Entscheidung kehr' ich zurück ...

Der Graf konnte sich nicht beruhigen ... Seine Erinnerung an die Hingebung Angiolinens, sein Stolz, die Erwägung seiner ihn zur Annahme solcher Bedingungen zwingenden Verhältnisse, ja eine Spannung sogar auf Paula, die zu einem tiefern Interesse geworden war, alles stürmte zu mächtig auf ihn ein ...

Er rief aus:

So beginne aufs neue der Proceß! Ich zweifle die Urkunde an ... Terschka muß helfen ...

Mein Heiland! rief die Mutter entsetzt und mit gefalteten Händen ... Darüber gehen wir zu Grunde! ... Die Zickeles subhastiren Salem und Castellungo ...

Mag es! rief der Graf wild und riß sich los ...

Verzweifelnd stand die Mutter und hörte das Verhallen seiner Sporen, das heftige Zufallen der Thüren, die er aufriß ... Nicht zu seinen Zimmern im Palais ging er ... Er wandte sich zur großen Treppe ... Sie eilte ihm nach ... Er war verschwunden ...

Graf Hugo stürmte dahin ... In seinen weißen Mantel gehüllt, mit klirrenden Sporen ... Sein Innerstes – gelähmt durch jenes tiefe Weh, das sich über unsern ganzen Menschen ausbreitet – wenn wir Rührung über uns selbst empfinden ...

Er irrte um die Freyung, wo sich ihm ein so schnell gefundener Freund so schnell wieder entzogen hatte ...

Er irrte in die Nähe der dunkel gelegenen Kirche, wo die Gedächtnißmetten für Angiolinen gehalten wurden ...

Er irrte einem Platze zu, wo sich die stolzen Gebäude des Kriegsministeriums erheben, bei dem er sein Abschiedsgesuch zurückzunehmen gedachte ...

So kam er zu den sogenannten »Obern Jesuiten«, zum Haus des heiligen Stanislaus ...

Eine Weile stand er trauernd in der dunkeln Gasse ...

Da hörte er einen getragenen Gesang aus einem hintern Hofe her mit einfacher Klavierbegleitung ...

Therese Kuchelmeister machte mit den Professoren Dalschefski und Biancchi das nicht zugelassene, in schneller Begeisterung gemeinschaftlich aus alten Studien zusammengestellte Requiem ...

Bei einem sanften Minore, in dem die Worte: Dona eis pacem! erklangen, ließ Therese mit den Worten: Jesus, der Graf! die Noten fallen.

12.

Einmal, eh' sie scheiden,

Färben sich die Blätter roth,

Einmal noch in Freuden

Singt der Schwan vor seinem Tod –

Und an edeln Bäumen,

Wenn der Winter vor dem Thor,

Bricht in irrem Träumen

Wol ein Frühlingsreis hervor –

Stirbt der Lampe Schimmer

In des Dochts verkohltem Lauf,

Zuckt mit hellem Flimmer

Einmal noch die Flamme auf –

Einmal wird gelingen,

Eh' mein Stundensand verrollt,

Mir von guten Dingen

Eines noch, was ich gewollt –

Eins wird sich erfüllen,

Eine Freude wird, wie Wein,

Schäumen – überquillen –!

Mag es dann geschieden sein.

So fühlte Bonaventura in einem Winter, wo die Novembertage noch fast sommerliche Sonnenstrahlen entsendeten und die Mandelbäume zum zweiten male zu blühen, die Hecken neue Sprossen zu treiben begannen ...

Die Vorlagen waren fertig, die Bonaventura, überdrüssig der wieder aufs neue begonnenen Anfeindungen – jetzt infolge seiner Predigt – sich in der That erboten hatte, dem Cardinal-Legaten in Wien zu überbringen ... Benno hatte überraschend schon aus Rom geschrieben und welchen Inhalt barg sein der Sicherheit wegen durch reisende Geistliche überbrachter Brief! ... Wie erschütternd, wie befruchtend für ein ganzes Leben! ... »Komm' auch Du herüber«, hieß es nach der Erzählung alles dessen, was Benno in so wenigen Tagen erlebt hatte; »ich weiß einen Bischofssitz in Italien, der nur allein Dir gebührt und der Dir angetragen wird, sobald Du in Wien angekommen bist und an einem gewissen Altar zu ›Maria Schnee‹ dreimal celebrirt hast« ... Er hatte den Sitz, um Aufregung wegen Paula zu vermeiden, nicht genannt ... Und vom Onkel Levinus war in der That die feierliche Aufforderung gekommen, seine Ermunterung zu Paula's Ehe zu wiederholen, aber nur erst dann, wenn er den Grafen Hugo persönlich gesehen, gesprochen und seine Würdigkeit geprüft hätte ...

Im ersten Schmerz nach dem Empfang dieses Briefes sagte Bonaventura: Das ist das erste strafende und herbe Wort, das ich aus Paula's Munde vernommen! ... Eine auferlegte Buße! Eine Strafe! ... Sie will, daß ich den Kelch, den ich ihr so kalt reichte, selbst leeren helfe! ...

Jedes Glöcklein in der Mette, jeder Orgelton sprach ihm jetzt: Sustine et tolle! Halte aus und trage ...

So wollte er denn reisen und länger fortbleiben ... Er wollte nach Italien, nach Rom ... Er nahm Urlaub auf ein Jahr ...

O du Kreuz, du Holz der Sühne,

Wahres Heil der Welt, o grüne,

Grüne, blühe, sprosse fort –!

war der Text seiner Abschiedspredigt ...

O crux, lignum triumphale,

Mundi vera salus, vale,

Fronde, flore, germine –

Worte des Hugo von Aurelia, die ihm Gelegenheit gaben, auch von der »Schönheit der Leiden« zu sprechen ...

Bonaventura stand wieder unter doppelter Anfeindung ... Ebensowol von der Regierungs- wie von der kirchlichen Seite ... Zwar hatte er die Genugthuung erhalten, daß gegen Cajetan Rother eine Untersuchung eingeleitet wurde, die der junge Enckefuß mit Erbitterung führte ... Bonaventura hatte in Betreff der jetzigen Madame Piter Kattendyk richtig geahnt, daß der ungetreue Hirt den religiösen Hang und Treudchens Trauer ebenso gemisbraucht hatte wie ihre geringen Geisteskräfte ... Er hatte sie zur Heiligen – methodisch erziehen wollen ...

Der Kampf der Curie, um eine solche Offenbarung bestialischer Verwilderung nur innerhalb der geistlichen Gerichtsbarkeit zu bestrafen, ging aufs äußerste ... Die Kirche ist gegen die Verbrechen ihrer Kleriker strenger, als irgend ein weltliches Gesetz; nur will sie dann allein strafen und dem Staat den Einblick versagen ... Bonaventura mußte Zeugenaussagen vor Gericht geben – Auch das mehrte sein Unbehagen. Er sehnte sich für immer fort ... Er hatte die Ahnung, nicht wiederzukommen ...

Je vollständiger die Rüstung Bonaventura's zu seiner Reise sich abschloß, je mehr sie den Charakter annahm, den nur allein Renate nicht bemerkte, daß er vielleicht in ein ganz nur der Gelehrsamkeit gewidmetes Benedictinerkloster an der Donau oder in der Schweiz trat, desto banger wurde ihm die Erinnerung – – an Lucinde ...

Wird sie, sie dich so ziehen lassen? sagte er ...

Er erfuhr von Thiebold, daß sie zwar aus dem Kattendyk'schen Hause zur Frau Oberprocurator Nück gekommen wäre, aber nur auf acht Tage, und daß sie plötzlich dort verschwunden war ...

Thiebold erröthete, als er gestand, daß Nück in seiner Verzweiflung auch zu ihm gekommen war und ihn gebeten hatte, beim Domkapitular anzufragen, ob dieser keine Auskunft über sie wisse ... Bonaventura nahm acht Tage vor seiner Reise keine Beichte mehr ab ... Er erschrak theils über die Voraussetzung seiner nähern Bekanntschaft mit Lucindens Verhältnissen, theils in Vorahnung, daß mit dieser Nachricht vielleicht wieder seine Reise in Zusammenhang gebracht werden mußte ... Die Abschiedsscene vor seiner Reise nach Witoborn, die Erinnerung an die damals gegen ihn ausgestoßenen Drohungen stand schreckhaft vor seiner Phantasie ...

Noch vor acht Tagen begegnete ich ihr in der Kathedrale, sagte er ... Sonst seh' ich sie ja schon lange nicht mehr, da sie meinen Beichtstuhl nicht – besucht ...

»Besuchen darf!« – hallte es in Thiebold wieder ... Es wußte dies die halbe Stadt ...

Nachdem Thiebold mit tausend Segenswünschen, mit guten Rathschlägen, mit Grüßen an Benno, mit Verwünschungen der großen Demosthenes-Rolle seines Vaters bei den Landständen gegangen war, fiel erst recht der Schrecken der Mittheilung über Lucindens spurloses Verschwinden auf Bonaventura's Brust ...

Es war am Abend vor der Abreise ... Sieben Uhr ... Draußen schon lange alles finster – Sein Gepäck geordnet ... Dann und wann blickte er auf die matterhellten öden Gänge des Kapitelhauses ... Es war ihm, als müßte es plötzlich pochen und als würde ihm wieder eine äußerste Erregung kommen ...

Konnte er sich verbergen, daß er Tag und Nacht an Lucinde dachte! ... Furcht vor ihren Drohungen zwang ihn dazu ... Jeder irgendwie bedeutendere Vorfall in seinem Leben weckte die Erinnerung an die ihn betreffenden Verhältnisse, die sie in ihrer ewigen Obhut zu haben erklärt hatte ... Diese Drohung, daß sie jeden Segen, den er zu verbreiten hoffte, in Fluch verwandeln könnte, vergaß er nicht und nahm sie, immer und immer wieder gedenkend, nicht so leicht, wie der Onkel ihm gerathen hatte ...

An diesem Abend vor seiner Abreise kam ihm wieder die trübe Vorstellung mit ganzer Macht ... In sich steigernder Angst hatte er seine Thür verriegelt ... Er hatte sich allen Abschieden entzogen ... Die Briefschaften an den Cardinal Ceccone, in denen die Curie um die Nachgiebigkeit Roms flehte, lagen in einem geheimen Fach eines seiner mehrern Koffer ... Er rechnete an seiner Baarschaft, siegelte die Briefe nach Witoborn und Kocher am Fall und wollte zeitig zur Ruhe ... Das Dampfschiff brach schon in erster Frühe auf ...

Er hatte die Karte vor sich ausgebreitet ... Sein Auge schweifte bald auf die nächsten, bald die entferntesten Gegenden ... Auf Kocher am Fall, wo ihn ein Bangen ergriff: Den theuern Onkel siehst du nicht wieder –! ... Auf Westerhof und Witoborn, wo so viele Herzen gerade jetzt mit gleichen Empfindungen an ihn denken mochten ... Paula! ... Ein verklungener Glockenhall ... Jene »letzte Freude« seines Liedes vielleicht – »aufschäumend« vor dem Tode ... Die eigene Mutter – die ihre Theorie vom Nichtwissen, das dem Menschen bei mislichen Dingen besser wäre, als Wissen, auch auf die Verhältnisse mit Benno übertrug und dem Sohn noch vor kurzem geschrieben hatte: »Wittekind ist so gewissenhaft; rege ihn nicht auf mit Benno's Mittheilungen aus Wien! Allein schon die Nachricht über den Tod Angiolinens raubte ihm die Ruhe der Nächte« ... Auf die Donau sah er dann, auf Wien und seine Umgebungen, wo er den Grafen Hugo prüfen sollte –! Prüfen, glaubte er, ohne daß es Graf Hugo wußte – Ach, es war wieder jene Welt der Beichtgeheimnisse, in denen er lebte, jene Welt, wo der Sohn vom Vater, die Tochter von der Mutter, der Schüler vom Lehrer, Gesinde von der Herrschaft spricht ... Schon hatte er jene katholischen Priesteraugen, die so irrend umgehen ... Wird es dir in Rom, auf das er blickte, gehen wie dem Augustinermönch Luther? ... Wirst du Castellungo berühren dürfen und deine Mutter – wirklich als in Bigamie lebend erkennen? ... Wirst du dich nur bei Nacht zu Frâ Federigo stehlen dürfen, wie Nikodemus zum Herrn? ... Wirst du so fortleben in deinem Beruf? Halb in Haß, halb in unerklärter Liebe zu ihm? ... Wo ist Versöhnung? ... Und siehst du Benno und die beiden flüchtigen Alcantariner? ... Siehst du das Schreckbild unsers Glaubens Klingsohr? ... Siehst du den »Abtödter«, der – vielleicht am Brand in Westerhof betheiligt ist? ... Sinnend fiel sein Blick auf die Karte dahin und dorthin ... Mit den Alpen brach sie ab ... Da lag noch der St.-Bernhard ... Da lag St.-Remy, wo sein Vater begraben sein sollte ... Da Aosta ... Dann dachte er wieder, grade diese Gegend müsse er meiden, eben des Vaters selbst wegen, der todt sein wollte ... Zuletzt ging es auf der Karte bergab gen Süden mit hundert kleinen Gebirgswässern, die wie Fäden eines Nervengeflechts dahinschossen, durchschnitten vom Längenmaß der Karte ... Castellungo, Cuneo und Robillante lagen tiefer abwärts, am Fuß der Meeralpen, jenseit Turins ...

So in das geheimniß- und verhängnißvoll Leere blickend, erschrak er vor einem plötzlichen Pochen ...

Er glaubte sich geirrt zu haben ... Das Pochen war leise und wiederholte sich nicht ...

Das große Gebäude war in seinem Haupteingang verschlossen ... Eines Ueberfalls verdächtiger Personen konnte er nicht gewärtig sein ...

Das Pochen erfolgte nach einer Weile zum zweiten mal und Bonaventura glaubte nun schon nicht anders, als Lucinde stünde draußen ...

Der erste Strom, der sich von seinem erregten Gemüth über alle seine Nerven ergoß, war Todschrecken ...

Seine Hand langte nach dem Klingelzug und klingelte ...

Es währte lange, bis seine trauernde Renate kam und die verweinten Augen barg ...

Sehen Sie doch, wer draußen ist! sagte er bebend ... Ist es – die Ihnen – bekannte – Person, so bin ich nicht zu sprechen ...

Mit diesen Worten ging er in das Nebenzimmer und horchte an der Thür, wer sich meldete ...

Renate hatte geöffnet ...

Die Stimme mußte nur leise sprechen ... Bonaventura konnte nichts vernehmen ...

Renate kam zurück und berichtete:

Es ist eine kleine gebrechliche Person ... Eine Jüdin, wie sie sagte ... Den Namen hab' ich nicht behalten ...

Eine Jüdin konnte zu Bonaventura nur kommen, um über die Taufe zu sprechen ... Der Fall war ihm neu ... Lucinde war es jedenfalls nicht ... Diesem Besuch konnte er sich nicht entziehen ...

Ich esse nur wenig zu Nacht, sagte er milder zu Renaten, und gehe dann zeitig zur Ruhe ...

Renate seufzte und ließ ihren »Sohn« allein ...

Er betrat sein Zimmer ... Die bescheidene Jüdin war auf dem Corridor geblieben ...

Treten Sie doch näher! sagte er und leuchtete mit der Studirlampe an die wieder von ihm geöffnete Thür ...

Eine kleine Person, in einen schön glänzenden schwarzen Atlasmantel gehüllt, der beim Verbeugen aufschlug und die rechte Schulter etwas höher zeigte, als die linke, in einem warm gefütterten großen Hut, aus dem zwei lange schwarze Locken und im Grund nur eine Nase heraussahen, trat einen Schritt näher und bat für die späte Störung um Entschuldigung ...

Womit kann ich dienen? fragte Bonaventura und stellte die kleine grünlackirte Studirlampe auf den Tisch, dem befangenen Besuch einen Sessel darbietend ...

Ich würde nicht gewagt haben – begann die kleine Gestalt – Herr Priester – Hochwürden – in so später Stunde – aber da ich – Verwandte – die von Ihrer Güte, lieber Herr – ich meine Herrn Seligmann in Kocher am Fall – ...

Herr Löb Seligmann! unterbrach Bonaventura die nur hustend, athemlos und räuspernd hervorgebrachten Worte mit der ihm eigenen Herzlichkeit ... Ist der Treffliche ein Verwandter von Ihnen? ...

Nicht zu nah und nicht zu fern! Gerade wie bei Verwandtschaften am besten ... lautete die schon dreistere Antwort Veilchen's, die jetzt ihren Namen Igelsheimer wiederholte und sich setzte, indem sie, als Bonaventura ihren Namen fragend nachsprach, sogleich fortplauderte:

Für unsere Namen können wir Juden nicht ... Die hat uns die Polizei gegeben ... Wenn auf die Aemter zu viel Moses und Isaaks und Abrahams kamen und die Schreiber nicht wußten, welches der Abraham Moses und welches der Moses Abraham war, so nahmen die Herren Actuare voll Zorn ganze Gemeinden her und sagten: Dem wollen wir bald ein Ende machen! ... Und da die Juden ohnehin die Vorstellung von Thieren auf der Jagd wecken, so kamen die schönen Namen Bär, Hirsch, Löwe, Wolf, Adler, auch Hausthiere: Ochs, Kuh, Rindskopf, Rindsmaul – Nur den Esel gaben sie keinem, weil Dummheit auf keinen von unsern Leuten passen wollte! Andere Namen sind nach den Orten gewählt, wo die Leute her sind, Fuld, Worms, Oppenheim – Ich weiß nicht, wo auf Ihrer Landkarte da mein Stammsitz Igelsheim liegen mag ...

Durch diese überraschend dreiste, aber anspruchslos vorgetragene Rede war Bonaventura gewonnen ... Er stützte den Arm auf seine Landkarte und rückte die Lampe näher, um, wie er sagte, vielleicht einen Familienzug mit der braven Frau Lippschütz zu entdecken, die in Kocher am Fall zu seinen speciellen Gönnerinnen gehört hätte ...

Ich bin aus der Art geschlagen! sagte Veilchen. Die Seligmanns sind sich untereinander nicht ähnlich. Der, bei dem ich wohne, Nathan ist er geheißen, in der Rumpelgasse, gleicht zu seinem Bruder, wie ein Holzapfel einem Paradiesapfel ...

Bonaventura hörte kaum den Namen der »Rumpelgasse«, als er sich auf Lucindens letzte Beichte, auf Klingsohr's Beziehung zu dem Trödler Seligmann und die dabei erwähnte Hülfe einer Jüdin besinnen mußte ...

Schon betroffen fragte er nochmals, womit er dienen könnte ...

Veilchen machte eine Pause und sprach, ihre zurückkehrende Verlegenheit durch das Lüften ihres Mantels verbergend:

Herr Priester! Ich möchte mir die Frage erlauben: Was halten Sie – von – der menschlichen Consequenz? ...

Bonaventura glaubte nun doch, daß von einem Religionsübertritt die Rede sein sollte und antwortete:

Sie kann eine große Untugend sein, wenn sie mehr ist, als Treue gegen uns und andere ...

Mit Erlaubniß ... Treue gegen andere kann nicht Consequenz sein, entgegnete Veilchen ... Was die andern Liebe und Treue nennen, die man ihnen gewähren soll, führt den Menschen immer im Kreise rundum ... Die Liebe ist ja das eigensinnigste Ding von der Welt und Gegenliebe kann nicht consequent sein ...

Bonaventura fand in diesen Worten keinen Uebergang zum Bedürfniß der Taufe ...

Ich sagte schon, sprach er, daß ich die gerade Linie in unsern Handlungen nicht liebe, wenn sie zum todten Gesetz wird ... Aber keine wahre Liebe wird Untreue gegen uns selbst verlangen ...

Herr Priester, die Liebe will den Löwen zum Hasen, den König zum Bettler, den Philosophen zum Narren machen – Können Sie bleiben, was Sie sind, so hört die Liebe auf ... Frauenliebe gewiß ... Eine Frau verlangt, daß der Mann um ihretwillen seinen Glauben abschwört ... Sie verlangt's nicht immer und nicht im ganzen Jahr und nicht bei feierlicher Gelegenheit; aber wenn sie gerade schlecht geschlafen hat, sagt sie: Das hilft gegen Kopfweh! und es muß dann sein ...

Wohl jedem, der von einer solchen Liebe verschont wird! entgegnete Bonaventura lächelnd ...

Aber alle Liebe ist so! meinte Veilchen ... Die Liebe will im andern untergehen, um in sich selbst – – desto schöner wieder aufzustehen ... So lieben wir einen Mann, so die Natur, so Gott ... Was ist Religion, Herr Priester? ... Gefühl von Kraft oder Schwäche? ... Bei den meisten wol nur von Schwäche ... Gott soll uns lieben, weil wir ihn lieben ... Er soll uns das ewige Leben dafür auswechseln ... So sind wir auch meist uns selbst getreu, d.h. »consequent«, weil uns Inconsequenz ein heroisches Opfer kosten würde ...

Wo sollen diese Sophismen hinaus? dachte sich Bonaventura ...

Sie werden ungeduldig! sprach Veilchen, blickte nieder, schwieg eine Weile und begann ihren Hut etwas aufzubinden ... Die Verlegenheit machte ihr heiß ...

Bonaventura nahm ihr ganz den Hut ab und legte ihn auf den Tisch ...

Danke! sagte sie, indem sie sich die langen Locken strich ... Ich bin eitel ... Sie könnten glauben, mein Gesicht wäre blos Nase ... Sie ist freilich mein stärkstes Organ geworden ... Alle Menschen haben in ihrem Alter einen Theil des Körpers, der die Oberhand gewinnt ... Beim einen ist's der Magen, beim andern die Galle, beim dritten die Leber – bei mir die Nase! ... Ein feines Organ! ... Der Sitz der Phantasie! ... Die Phantasie hab' ich in meiner dunkeln Rumpelgasse nöthig! ... Ich gehe des Jahrs nicht zehnmal an die Luft ... Ich will nicht! ... Was sag' ich – »will nicht!« ... Mein Wille stellt sich an den Kleiderschrank und wird verdrießlich, wenn er kein Kleid findet, das ihm zum Ausgehen paßt ... Consequenz! Wille! ... Ich kenne z.B. ein schönes junges Mädchen – ...

Veilchen hielt inne ... Ihr Auge blitzte forschend auf ...

Bonaventura athmete hörbar ...

Dem schönen Mädchen hab' ich oft gesagt: Deine Liebe, Kind, ist ein Irrthum; ist blos eine Lüge gegen dich selbst! Dich verzehren Eifersucht, Stolz! Deine Liebe gegen den gewissen Mann ist sogar blos Rache! Willst ihn nur quälen, immer an dich erinnern – sagst darum: Ohne ihn sterb' ich! ... Das Mädchen gibt's zu. Gibt zu, daß ich ihr sage: Du bedarfst dieser Einbildung, um Kraft zu haben, nicht gegen andere schwach zu sein! Möchtest sündigen – wenn die Natur sündigt – aber aus Berechnung klammerst du dich an deinen Wahn – nennst den Treue! ... Schüttelt sie den Kopf! ... Wahr ist's, das Mädchen ist geflohen vor einem schlechten Mann und wohnt versteckt in meinem Schlafstübchen und ist krank – aus »Liebe!« ...

Bonaventura hatte sich bei diesen Worten, die mit einem prüfenden, fast listigen Forschen der von unten her zu ihm aufblickenden Augen vorgetragen wurden, schon erhoben ...

Zwei Empfindungen kämpften in seiner Brust ... Ein Gefühl der Entrüstung über die dreiste Absicht dieses Besuchs und die Verzweiflung um Lucindens nicht endendes Wühlen ... Daß er eine Botin Lucindens vor sich hatte, sah er jetzt ...

Veilchen erschrak vor seinem Aufstehen und sagte einlenkend:

Bitte, mein Herr! Was ein römischer Priester gelobt hat, ich weiß es sehr gut und hab' es einst selbst er fahren ... Sie haben gewiß, setzte sie mit sich ermuthigendem, schärfern Ton hinzu, von jenem Leo Perl gehört – den Ihr Herr Oheim einst verführte – zu – einem gewissen Betruge ...

Dies Wort kam ganz muthvoll ...

Bonaventura starrte die kühne Sprecherin an, die über einen so mächtigen Blick dann doch den ihrigen wieder niederschlug ...

Bitte, Herr Priester! flüsterte sie ... Vergebung ... Aber wahr ist's doch ... Herr Leo Perl hatte mir die Ehe gelobt ... Ich weiß nicht, ob ich zum Lachen bin, wenn ich mit dieser Gestalt sage, daß ich nach Witoborn reiste mit unserer Base, Henriette Lippschütz, und mit ihrem Mann – und daß wir ein Fenster mietheten dem geistlichen Seminar gegenüber ... Ich war nicht schön, aber ich hatte noch Wangen um diese große Nase ... Ich hatte einen Mund noch mit Lippen ... Kein Bild war ich, aber weiße – unechte Perlen standen mir gut im schwarzen Haar ... Der arme Narr, der ein Heiliger werden wollte, weil er Jesum von Nazareth glaubte bei der falschen Hochzeit beleidigt zu haben – ...

Bonaventura konnte keine Worte für sein Erstaunen finden ...

Vom Kronsyndikus von Wittekind mein' ich die Hochzeit mit der Italienerin! ...

Veilchen, die einzige Vertraute Löb Seligmann's, sprach fest und bestimmt ...

Während Bonaventura vor Entsetzen sprachlos starrte, kehrte Veilchen auf die Erscheinung, die sie am Fenster abgegeben haben mochte, zurück und sagte:

Jedes Auge ist schön, wenn Thränen darin stehen ... So erregte auch mein bittender Gruß, mein verzweifelnder Blick in das geistliche Seminar hinüber, wo ich den gelehrten Mann hinter Eisenstäben erblickte, seine Verzweiflung ... Er wollte umkehren ... Ich erfuhr es ... Aber es war zu spät ... Um der Thränen willen, die ich Ihrem Oheim verdanke, Herr Priester, verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen in so später Nacht aufs Zimmer komme und Sie bitte: Hören Sie dem Fräulein Lucinde, ehe Sie reisen, und wenn in diesem Augenblick, noch einmal – einmal – die Beichte ...

Bonaventura war über die Bekanntschaft einer dritten Person mit diesen tiefsten Geheimnissen seiner Familie außer sich ...

Er stand nur, unbekümmert um Lucindens jetzt vorauszusetzende unmittelbare Nähe, unbekümmert um die durch einen solchen Nachtbesuch ihm drohende Beschädigung seines Rufes, und starrte die Sprecherin mit vor Schreck geöffneten Augen an ...

Fürchten Sie aber nichts, Herr Priester! sagte Veilchen ... Das schönste Wissen einer Frau ist das, das sie in ihr Herz einschließt ... Und was ich Ihnen sage, weiß ich auch nur von einem, der, wie unsere ganze Familie, vor dem Dechanten in Sanct-Zeno viel zu viel Verehrung und Liebe hat, um je davon einen Misbrauch zu machen ... Der Mann wird Sie sehen, Sie mögen ihn fragen, woher er diese Dinge in Kenntniß genommen hat und er wird Ihnen ausweichen und Sie blos fragen – nach Bröder's lateinischer Grammatik ...

Löb – Seligmann?! ... sagte Bonaventura mit tonloser Stimme ...

Von ihm weiß ich, fuhr Veilchen fort, daß Leo Perl mich nicht aus Untreue verließ, sondern gezwungen durch Umstände, die ihren Grund auch in seinem ungläubigen Aberglauben, seiner geistreichen Narrheit gehabt haben mögen ... Ich weiß aus hundert Briefen, daß er den menschlichen Willen bestritt und nichts gelten ließ, als den Zufall ... Er liebte Ihren Oheim so, daß ich darauf eifersüchtig wurde ... Er nannte überhaupt die Leichtsinnigen erst die wahren Menschen ...

Bonaventura hatte nun die äußerste Furcht um Benno's Geheimniß, um Lucindens neue Mitwissenschaft so gefahrvoller Verwickelungen ... Diese Furcht äußerte er zunächst ...

Werd' ich, sagte die Jüdin, da ich schon die Liebe des Mädchens zu Ihnen eine Rache genannt habe, noch neue Kohlen darauf schütten! ...

Dann bat sie, daß im Gegentheil der Herr Domapitular den gezwungenen Lauscher auf Schloß Neuhof schonen möchte ... Sie erzählte dessen Abenteuer ... Sie fügte hinzu, daß er zwar die Charaden gehört hätte, aber nicht ihre Auflösung ... Sie verlor sich in die Erinnerung an Leo Perl und schloß: Er fand den Hochmuth der Sängerin Maldachini gewiß nur lächerlich, weil er sagte: Was ist denn Eure Tugend? ... Die Bequemlichkeit der Umstände! ... Und seinem Freund, dem damaligen Kaplan von Asselyn, konnte er nichts abschlagen ... Seine Angst und die Scham kam erst, als er die Priesterkleider schon anhatte und die betrogene Frau vor ihm stand ... Da weiß ich, daß er gern hinausgestürzt wäre in den hellen Mondscheinwald und hätte, schon um zu büßen – denn büßen, das ist grade unser Jüdisches – die Kleider nicht wieder abziehen mögen ... Auch daß er zur Sühne an dem Betrug einen andern schönen Park, den in Kocher am Fall, aufgab, den Park, wo ich von ihm Spinoza und Liebe – ohne Leidenschaft kennen lernte, auch das ist diese Kasteiung, die die Christen blos uns Juden verdanken ... Das Christenthum ist die größte Schmeichelei an uns Juden ...

Ein Lächeln begleitete diesen Scherz ... Doch es erstarb schnell, da sie Bonaventura's Erregung sah ... Sie fuhr fort:

Vor seinem Tode gab Perl einem Mönch Namens Hubertus, er ist jetzt in Rom, eine lateinische Schrift, die dieser einem hohen Geistlichen in Witoborn übergeben sollte, aber erst dann, wenn er ohne ein Aergerniß begraben worden wäre ... Seltsam, daß ich diese Schrift gesehen habe ... Ich sah sie in der Hand des Fräulein Lucinde ... Es war in diesem Jänner ... Kurz vor Ihrer Abreise nach Witoborn ... Das Fräulein brachte die Schrift von einer gefährlichen Unternehmung mit, von der Sie ja wissen – als sie den Pater Sebastus aus dem Profeßhause befreien wollte ...

Bonaventura stand voll bebender Combinationen: Leo Perl – Seine Reue über den Uebertritt – der Zwang des Kronsyndikus – Seine Pfarre in Borkenhagen – Seine eigne Taufe durch Perl – die Schrift – Lucindens Drohung – ...

Veilchen fuhr fort:

Es war ein Brief, den ich nicht lesen konnte – in Latein – Aber vielleicht war es derselbe an den Bischof von Witoborn, von dem Löb Seligmann gehört hat, daß er leicht in die Hände Ihres seligen Herrn Vaters hätte kommen können, da dieser gleich nach dem Tode des Bischofs Konrad, der unmittelbar nach dem Tod des Leo Perl erfolgte – die geistlichen Archive – ordnete ...

Bonaventura hörte nur – ... Aber er hörte, wie der Verbrecher in Vorahnung eines über ihn gefällten Todesurtheils den Anfang seiner Sentenz lesen hört ... Er wollte nicht verrathen, was in ihm vorging ... Er wollte seinem Antlitz den Ausdruck der Ruhe und Fassung geben ... Umsonst ... Ein eisiger Frost durchschüttelte seine Glieder ... Seine Zähne fingen an zu zittern ... Er ahnte einen tiefen, tiefen, ewigen Verdruß seines Lebens ... Er that einige Schritte vorwärts und sank auf einen Sessel ...

Mein Gott im Himmel –! rief die Jüdin, erschreckend ebensowol über Bonaventura's Anblick, wie über ihr Unvermögen, einem ohnmächtig werdenden Manne helfen zu sollen ... Was ist Ihnen? ...

Bonaventura's Gedanken konnten nicht anders lauten, als:

Lucinde sagte, mit dem Inhalt jenes Briefes könnte sie dich ewig in ihren Händen halten? Deinen Segen könnte sie in Fluch verwandeln? Selbst wenn du die dreifache Krone trügest, könnte sie alle deine Handlungen ungeschehen machen? ... Was gibt ihr diese Kraft? ... Was gibt dir – diese Unkraft? ... Bist du – kein Christ –? ... Bist du nicht getauft –? ... Bist du nicht – richtig getauft –? ...

Nun schossen seine fiebernden Gedanken weiter:

Du bist von Leo Perl in den Tagen getauft, wo sein Gemüth von Reue über seinen Schritt, von Wuth über den Kronsyndikus, der ihn zwang, Priester zu bleiben, ergriffen war ... Diese Stimmung behielt er vielleicht lebenslang ... Seine ganze Stellung war die der Zerfallenheit mit sich, die der Reue über sein übereiltes Christwerden, der Rache für den Zwang, der ihm zuletzt auferlegt wurde, der jahrelangen Verstellung ... In dieser Schrift bekannte er sich schuldig, alle seine kirchlichen Functionen ohne Absicht und Direction des Willens vollzogen, dich und andere »ohne Intention« getauft zu haben ... Der Bischof starb schnell hinter Leo Perl ... Sein Vater nahm die Urkunde an sich und unterdrückte sie ... Leo Perl war todt, das Verbrechen war geschehen, nicht anders rückgängig zu machen, als durch neue Taufe ... Dein Vater, das Aufsehen einer solchen Handlung fürchtend, längst schon – ihrer Ehescheidungsverweigerung wegen – zerfallen mit der Kirche, behielt diese Urkunde, zerstörte sie jedoch nicht, sondern legte sie für künftige Enthüllungen zurück, band sie ohne Zweifel dem alten Mevissen auf die Seele ... Dieser nahm sie mit in sein Grab, wo sie lange Zeit unzerstört bleiben konnte, bis sie gefunden werden sollte, dann vielleicht – wenn es Frâ Federigo, vielleicht einst am Tag der Versammlung unter den Eichen von Castellungo, begehrte ... Picard fand dies Papier im Sarge und gab es Lucinden zur Uebergabe an mich ... Lucinde las es ... Sie, sie, die die ganze folgenschwere Wucht unserer Lehre von der Intention bei priesterlichen Handlungen kennt, die Lehre von der wirklichen Absicht, auch den äußern Ritus so zu meinen, wie man ihn vollzieht, sie, die schon höhnisch sagen konnte, Ulrich von Hülleshoven und Monika, die gleichfalls in jener Zeit von Leo Perl getraut worden, könnten in Rom bei der Behörde der Gnadenertheilung, der Sacra Dataria, ihre Ehe getrennt erhalten – Sie weiß es, daß du nach unsrer Lehre der von Rom ganz in die Priestermacht gegebenen Seele ein Ungetaufter bist, ein Nichttheilnehmer, noch weniger ein Förderer am Gottesreich ... Sie konnte dir drohen, daß alle deine Handlungen als Priester zurückgehen müßten, wenn sie, sie es wollte – Denn nach Roms Gesetzen bist du, ob auch getauft, ein Heide –! ...

Die Hände schlug Bonaventura vor die Augen ... Zwei Convertiten, Leo Perl und Lucinde, hielten das katholische Christentum an seinen Consequenzen fest ... Was Jedem Thorheit erschienen wäre, für die Welt, in der Bonaventura eingesponnen lebte, lag hier ein unermeßliches Aergerniß vor ...

Er besann sich und that, als wollte er nur einen plötzlichen Anfall von Unwohlsein verbergen ...

Es wird vorübergehen! sprach er und hielt die Jüdin zurück, die, thatunkräftig wie sie war, zwar nach Wasser sich umblickte, nicht aber darnach gehen konnte ... Obgleich Glas und Flasche hinter eben demselben Epheu standen, den damals Lucinde zerpflückt hatte ...

Das sah er, die Jüdin besaß nicht Lucindens ganzes Vertrauen ...

Ihre Flucht vor Nück, ihre Liebe hatte sie ihm gestanden ...

Die Jüdin hatte es vielleicht aus eignem Antrieb übernommen, den tugendstolzen Priester in seiner Abweisung menschlicher Schwäche wankend zu machen ...

Das aber sah er: Sie wußte nichts vom Inhalt der Leo Perl'schen Schrift, nichts von der Bedeutung der Intention in der katholischen Kirche ... Sagte sich Leo Perl bei der Taufe Bonaventura's: Ich habe nicht die Absicht, daß das, was ich eben thue, das ist, was die Kirche damit will! so war und blieb Bonaventura – ein Heide ...

Der Gefolterte, dem das Schicksal alle Prüfungen der Seele verhängt zu haben schien, hatte vom Stuhl, von dem er sich erhob, mühsam das Kanapee erreicht ...

Da sank die lange schlanke Gestalt allmählich und langsam nieder ...

Das blasse Haupt aufstützend rang er nach Fassung ... Seine Gedanken rollten ihm um wie die wirbelnden Kreise des Philosophen von Eschede ... Sie traten ihm wie ein buntes Flimmern vor die Augen ... Er wußte keine Vorstellung mehr festzuhalten ... Vorwürfe, Anklagen, mit denen sich das bedrängte menschliche Herz in solchen Lagen zu helfen pflegt, kamen ihm nicht natürlich und freiwillig ... Nur ein Chaos der schmerzlichsten Vorstellungen über die Thatsache und ihre Folgen war es ... Es rief ihm alles: Also auch das ist möglich! Möglich unter Menschen, die sich auf diese Art glauben unter die Herrschaft des Geistes gestellt zu haben! ... Das geschieht dir, dir mit deinem redlichen Willen, der dir befiehlt, nicht zu murren gegen dein halb schon bereutes Priesterjoch! ... Das geschieht dir in dem Augenblick, wo du dein größtes Opfer bringen wolltest, dein eigenes Grab zu graben, das Grab deiner Liebe! ... Nun noch dies! Noch dies! ... Und Lucinde die Zauberin dieses Spukes, der dich ein Leben lang wie Hexengruß im falben Mondlicht äffen wird! ... Sollst du deine Würde niederlegen? ... Sollst du dem Generalvicar dich anvertrauen und bekennen: Du bist kein Christ?! ... Sollen alle deine kirchlichen Handlungen, die deine ungetaufte Hand verrichtete, erst nachträglich von einem Spruch Roms die Kraft des Sakramentes erhalten! ... Nein! Nein! Nein! Ich trotze dem Geschick und lüge! Ich muß, ich muß lügen! ...

Die Jüdin sah diese Seelenkämpfe, zitterte, fragte, bat und – hoffte ...

Sie konnte seinem Gedankengang über den Inhalt des von Lucinden gefundenen Briefes nicht folgen ... Sie würde selbst aus dem Judenthum heraus, aus der Religion des Gesetzes, kaum begriffen haben, wie ein Gemüth, lebte es auch noch so sehr im steten Gewissenszwang, so doch über Sonnenstrahlen fallen, so über Spinnenfäden straucheln konnte ... Sie würde mit Christus gesagt haben: Ihr verschluckt Kameele und seigt Mücken! ...

»Das Christenthum ist die größte Schmeichelei an uns Juden« – und Bonaventura stand wie ein Verbrecher ... Dämonische Stimmen raunten ihm zu: Offenbare dich doch Lucinden! Was trennst du diesen Schatten deines Daseins von dir selbst? Lucindens Liebe, Verschwiegenheit, Frevelmuth? ... Mit ihr vereint ist ja alles still – Mit ihr vereint erstirbt ja der Hohn, der um dich her aus tausend Larven rufen wird: Auch du wandelst den Weg der Lüge! ...

Schieben Sie Ihre Reise einen halben Tag auf! sagte Veilchen ... Hören Sie die Beichte des armen Mädchens ... Sie will nichts, als Ihnen ein Bild ihres gegenwärtigen Innern geben, vieler Geheimnisse, die sie drücken, auch der Ursachen, warum sie so plötzlich das Haus des Oberprocurators verlassen hat ... Ich versichere Sie, es muß eine große Begebenheit gewesen sein, die sie zu mir getrieben – Zu mir, in die dunkle schmutzige Rumpelgasse, zu meinem unausstehlichen Nathan, den ich nun schon dreißig Jahre nehmen muß, wie er ist ... Ich möchte schwören, daß in Holland, wo sie den ganzen Tag putzen und scheuern, keine Stube so sauber und rein ist, wie meine Schlafstube im dritten Stock unseres Hauses, das wir glücklicherweise allein bewohnen, und doch thut mir das stolze Kind leid – im reinsten Glase Wasser sieht sie Judenthum ... Aber sie hat keinen Ort gewußt, wo sie sich verbergen sollte ... Ich dürfte nicht an Ihrer Stelle sein, Herr Priester ... Schon aus Neugier, was sie von der Marcebillenstraße verjagt hat ... Acht Tage ist sie bei mir ... Der Nathan sieht die Polizei jede Stunde kommen ... Ich hab' ihm versprochen, die Strafe aus meiner Gage zu zahlen – 30 Thaler jährlich, Herr von Asselyn! Ich bin der wohlfeilste Buchhalter an der deutschen Börse ... So hockt sie verzweifelnd auf meinem Kanapee, schreibt Briefe, zerreißt sie, hat nichts bei sich, als ein Bündel, mit dem sie aus dem Nück'schen Hause entflohen ist ... Hat der Mann Ihre Ehre verletzt? rief ich sie an ... Sie antwortete mir darauf nichts, sah aber aus, als käme sie vom Richtplatz und erst seit drei Tagen hör' ich sie weinen – weinen wie im Brustkrampf! ... Sie sagt: Mein Unglück ist, ich falle über mich selbst! Ich bin nur für die Schlechten da! Ich habe etwas in meiner Art, das selbst die, die mich lieben wollen, an einem einzigen Tage zu meinen Feinden macht! ... Könnt' ich ihm nur einmal noch alles sagen und beichten! sprach sie dann ... Ich gestehe, Herr Priester! Von dem Wort »Beichten« hab' ich keinen Begriff ... Je mehr ich bei mir selbst behalte, desto fester und besser werden meine Gedanken ... Ja die mauern sich dann erst recht aus wie ein Schwalbennest, das ganz sauber werden kann aus lauter kleinem Schmutz ... Müßt' ich alles, was ich denke und eben erlebte, so frisch und weich wieder von mir geben, würde ich wie ein leckes Faß ... Ich bin katholisch! sagte sie mir darauf ... Mein Gott, da stritt ich nicht mehr und weil ich die Neigung ihres Herzens schon durch die Bekanntschaft mit dem Herrn Pater Sebastus wußte und wie die Gefahr, nicht an Ihr Ohr zu gelangen, zu groß wurde durch Ihre Abreise, da sagt' ich: Wissen Sie – Ich will für Sie gehen, Fräulein, wie Eliezer ging auf die Werbung für Jakob ... Sie umarmte mich, begleitete mich bis hieher – Unten in der dunkeln Gasse da – sehen Sie, da steht sie und wartet ... Geben Sie der Armen den Trost, daß sie Ihnen noch einmal, nur als einem Priester versteht sich, ihr Herz ausschütten kann ...

Bonaventura's Gedanken sammelten sich in der Vorstellung, was Lucinde so plötzlich aus dem Hause Nück's entfernt haben mochte ... Auch an den Brand und an die Urkunde dachte er ... Er stand sinnend und zögernd ...

Die Jüdin blickte aus ihren klugen Augen mit jener List hervor, die auch das gutmüthigste Kind im Spiele hat, wenn es Freude an einem Sieg seiner Klugheit verräth, ohne damit Böses zu wollen ...

Bonaventura hatte sich erhoben ... Er hielt sich vom Fenster fern ...

Er überlegte und sah die Scene, die ihm mit Lucinden drohte ... Sie konnte jetzt nicht anders enden, als mit ganzer Vertraulichkeit über alles, was ihn drückte ... Ein gemeinschaftliches Geheimniß zu bewahren bindet die Seelen wider Willen ... Er hätte Lucinden nicht anblicken können ohne zu sagen: Den Brief des Geistlichen Leo Perl – gib mir zurück oder zerreißen wir ihn und laß' ihn zwischen uns ein ewiges Geheimniß bleiben! ... Sich einem Weib verpflichtet fühlen, raubt dem Mann seine Selbständigkeit und Dank ist schon an sich eine Pflicht, die eine edle Seele nie karg abträgt ...

Bonaventura ging eine Weile auf und nieder ... Er kämpfte ... Endlich hatte er entschieden ... Er wollte, er konnte nicht nachgeben ... Er sah in die Zukunft – ahnte, daß sie ihn immer und immer in Lucindens Bahnen führen würde ... Jetzt aber, jetzt in dem letzten Opferdienst seiner Seele für Paula, wollte er sich rein erhalten ... Er schüttelte sein Haupt und sprach: Ein andermal! ... Und für sich: Komme was komme! ...

Die Jüdin stand in der Nähe der Thür, schon ihren Hut in der Hand ...

Es schlug neun ...

Ich kann meine Reise nicht aufschieben, fuhr Benno fort ... Erklären Sie – Lucinden, ich käme – ja zurück – und dann – dann vielleicht ...

Veilchen schüttelte ungläubig den Kopf ...

Das bestreitet sie – sagte sie ... Sie behauptet, Sie kämen nie zurück ...

Bonaventura ließ, wie ein Ueberwundener, nur die Arme sinken und schüttelte ablehnend sein leidendes Haupt ...

Woraus schließt sie das? fragte er, vor Ueberanstrengung seiner Seele völlig kraftlos – ...

Veilchen erwiderte:

Man würde Sie in Wien fesseln, sagte sie ... Schon wäre ein Verwandter von Ihnen gefesselt worden ... Man würde Sie nicht sehen können, ohne die nicht zu beneiden, denen Sie immer angehörten ... Ich wiederhole ihre Worte ... Sie nennt schon einen Bischofssitz, der für Sie bestimmt ist, Herr Priester ... Robillante in Italien oder einen ähnlichen Namen ... Im Thal von – Castellungo – Das ist der Name ... Ich habe ihn behalten ...

Bonaventura faltete nur die zitternden Hände ...

Die beiden Mönche, fuhr Veilchen fort, die dieses Frühjahr von Witoborn entflohen, haben aus Rom geschrieben, daß in ihrem Kloster ein Mönch lebt, der ein Bisthum ausgeschlagen hätte, das ein mächtiger Cardinal gelobt hätte, dem heiligsten Priester in der Christenheit zu geben ... Und in Wien sind – Sie, Sie, Herr Domkapitular, schon dafür genannt worden ... Das wurde hereingeschrieben ... Lucinde weiß alles ... Sie werden in Wien mit diesem Anerbieten empfangen werden ...

Bonaventura hörte nur ...

Eine Besinnung, eine Fassung lag nicht mehr in seiner Kraft ...

So hörten Sie selbst das noch nicht? fragte die Jüdin, immer hoffend, den Zweck ihres Besuchs zuletzt noch erreichen zu können ...

Bonaventura hauchte:

Sie – berichten – mir – Wunderdinge ...

Er ließ sich die Namen noch einmal nennen ...

Es waren und blieben die Namen Robillante und Castellungo ... Die Orte, wo Paula leben sollte – wo Frâ Federigo lebte ... Er sah Benno, Olympia, Ceccone betheiligt ... Das war das von Benno erwähnte Bisthum ... Gaben es ihm wol gar – die Jesuiten? dachte er einen Moment ...

Verlassen Sie sich! fügte Veilchen hinzu ... Sie kommen nicht zurück ... Sie werden in Italien ein Bischof ...

Ohne noch zu widerreden, faltete Bonaventura, überwunden von den Fügungen seines Geschicks, aufs neue die Hände ... Er sah, wie mit übergeistigtem Auge, Paula auf dem Schlosse, auf dem sie einst in ihrer Vision die Fahne mit den Dorste'schen Farben erblickt hatte ... Seinen Vater sah er unter den Eichen von Castellungo ... Ein Glanz umfloß ihn wie die himmlische Morgenröthe ...

Dennoch schüttelte er den Kopf auf die wiederholten Bitten der Jüdin ...

Herr Priester! ... Das ist grausam, wallte diese auf ...

Solchen Worten zürnte er nicht mehr ...

Gute Nacht, Liebe! sprach er ... Dank für Ihre Verschwiegenheit – wegen dessen, was Herr Seligmann hörte, eine Verschwiegenheit, auf die ich bei unserm gemeinsamen Gott fest und heilig baue ... Sagen Sie aber Lucinden: Wer allwissend ist, ist auch allmächtig! ... Was kommt sie zu mir –! ...

Herr Priester –! bat Veilchen noch einmal inständigst ...

Komm' ich in der That nicht wieder, so wünsch' ich ihr alles Glück und jeden Frieden des Gemüths ... Ich danke Ihnen, daß Sie ihr Bote wurden ... Sie sind treu, was Sie auch gegen die Treue sagen ... Doch gehen Sie, ohne mich noch wankend machen zu wollen ... Es gelingt nicht ... Drohungen, die Lucindens Charakter entsprechen, schrecken mich nicht; ich kann, sagen Sie ihr's, alles ertragen ... Noch eins! Ist sie hülflos, so schreibe sie offen und getrost – an meinen Oheim in der Dechanei ... Das ist nicht wahr, daß alle vor ihr fliehen ... Der Onkel verehrt sie wahrhaft; er wird alles für sie thun ... Sagen Sie ihr das! Mein Oheim ist ganz der Freund, den sie sucht ... Sagen Sie ihr auch – daß ich glücklich bin über ihre Trennung von Nück und daß ich nie in dem Verhältniß ein Arg gefunden ... Nicht aber mehr ... Ich kann nicht anders ... Die Kraft fehlt mir, all die Bürden zu tragen, die mir ihre Beichte noch auferlegen würde ... In Zukunft! ... Ich reise morgen in erster Frühe ... Nun bleibt es dabei ...

Damit half Bonaventura Veilchen schon den Mantel auf die Schultern legen ...

Sie schüttelte den Kopf wie über die Thorheit der ganzen Welt ... Still befestigte sie ihren Mantel ...

Bonaventura leuchtete ihr hinaus und begleitete sie über den Corridor bis an die nächste Treppe ... Diese war erleuchtet ... Veilchen wandte sich noch einmal, sah den Priester mit ihren geöffneten Augen wie einen bemitleidenswerthen Wahnbefangenen an und schlich die Treppenstufen nieder ... Bonaventura wartete, bis er hörte, daß sie das Hausthor gefunden ...

Dir sind wol schon hundert wie mit unsichtbaren Ketten gebunden, die dir beichteten, sagte er sich, zurückkehrend in sein Zimmer, mit dem ganzen ausbrechenden Schmerz seiner Seele; aber wie du gebunden, du umstrickt bist von deinen eigenen Lebensräthseln, das ist ein Verhängniß wie im Haus – der alten Labdakiden! ...

Und des so wohlthuenden Eindrucks der Jüdin gedenkend, rief er laut:

Gott der Christen – Gott der Juden – Allah –! ... Zeus! ... Ja auch der Olymp herrscht noch ... Nicht alle Götter der Alten sind in nichts zerflossen ... Die Nemesis – die Tyche – die Keren haben ihr Amt behalten ...

Der Gedanke, daß ein Bisthum neben dem Schlosse, wo Paula wohnen sollte, für ihn eine Unmöglichkeit wäre, stritt mit der Ungewißheit über den Eindruck, den ihm Graf Hugo machen würde und nach dem er doch der Wahrheit gemäß entscheiden sollte ...

Sein Lager suchte er, um nur allein die müden Muskeln zu strecken ... Schlaf, wußte er, würde ihn fliehen ... Träumte er, so würde der Ungetaufte – vom Jordan träumen ...

In der That erhob er sich vor Sonnenaufgang ohne Stärkung ...

Es war ein nebeliger Morgen ... Er kleidete sich an ... Renate credenzte ihm den gewohnten Labetrunk ... Sie weinte ... Der gute und ernste Mann war ihr wie ein Sohn geworden und seit Monaten sah er krank und zerfallen aus und auf wie lange verreiste er ...

Auch in Bonaventura's Auge standen Thränen ... Er ahnte, daß er die alte Frau nicht wiedersehen würde ...

Rings blickte er auf seine Bücher, seine Bilder ... Es war ein Abschied auf ewige Zeit ...

Die Huldigungen, die seiner ersten Abreise gebracht wurden, fehlten auch dieser zweiten nicht ...

Für die von ihm etwa abgefallenen Seelen waren andere eingetreten und die Feierlichkeit der Begrüßung im Kapitelhofe war sogar noch größer, als früher durch Schnuphase's Rede ... Sie war geordneter ... Die Curie hatte an dem Erfolg dieser Reise das höchste Interesse ... Viele der alten Herren traten selbst an seinen Wagen ... Dies war ein ganz eleganter, den Bonaventura gar nicht bestellt hatte ...

Den von Glückwünschen fast Erdrückten hob Thiebold, der gestern nur zum Schein Abschied genommen hatte, in seinen eigenen Wagen ... Er hatte alles so arrangirt ... Der gestrige Abschiedsbesuch maskirte die Absicht, den Hochverehrten nicht blos bis an das Dampfboot zu begleiten, sondern auch noch eine Strecke weiter hinaus ...

Die Blumen wurden einem Altar der Kathedrale übersandt, an dem Bonaventura oft celebrirte ...

Thiebold ließ sich nicht nehmen, bis zum Hüneneck mitzufahren ... Zwei Stunden lang »zerstreute« er die stille, der Sammlung bedürftige Seele des unglücklichen Priesters ... Erst am Hüneneck verzogen sich die Nebel ... Die Gegend, selbst im Winteranfang lieblich wie immer, entschleierte sich ... Thiebold konnte nicht allen Empfindungen Ausdruck geben, die ihm der Anblick Lindenwerths, der Blick nach Drusenheim und dem Geierfels hinüber machte, wenigstens nicht in Bonaventura's Gegenwart ... Am Gasthaus zum Roland landete der Dampfer ... Thiebold stieg hier aus und erneuerte den Abschied ...

Als Bonaventura allein war und tiefbewegt Rundgänge, die denen in seinem eigenen Geisteslabyrinth glichen, auf dem Verdeck machte, das erst jetzt von seiner Reinigung und der Nebelnässe zu trocknen anfing, bemerkte er, gerade beim Hinblick auf die Maximinuskapelle und den Sanct-Wolfgangsberg, hinter dem sein altes stilles Glück lag, einen jungen Mann, der, mit dem Rücken an den Radkasten der Maschine gelehnt, ihn mit großen durchbohrenden Augen ansah ...

Die Gestalt war nicht zu groß, zierlich und behend ... Die Kleidung elegant ... Ein Mantel von dunkelbraunem Tuch mit offenen Aermeln, am Kragen besetzt mit schwarzem Sammet, das Futter von einem langflockigen Zeuge und Schnurtroddeln geschmackvoll zum Zusammenhalten des Mantels – Darunter ein schwarzer enganliegender Oberrock ... Die Cravatte schwarz; ebenso die Handschuhe ... Ein feiner ganz neuer Hut auf dem Kopf ... Die Haare kurzgeschnitten ...

Ueber den starren Ausdruck des bräunlichen zierlichen Antlitzes flog ein Erröthen und ein verlegenes Lächeln, als Bonaventura's Blick länger auf dem jungen Mann verweilte ...

Doch zerstreute ihn bald die theure, geliebte Gegend ...

Es ging vorüber an der Maximinuskapelle, am »Weißen Roß« ...

Bonaventura bemerkte den jungen Passagier nicht mehr ... Auch später bei gemeinsamer Tafel fehlte die Gestalt, die ihm den unheimlichen Eindruck einer Aehnlichkeit mit Lucinden machte ...

Hafenruhe konnte erst spät gegen Abend um zehn Uhr geboten werden ...

Der junge Passagier war verschwunden ...

Die Fahrt ging zuletzt im Dunkeln und bedurfte der Vorsicht ... Aber so kalt es wurde, die Passagiere verbrachten die längste Zeit lieber auf dem Verdeck ...

Bonaventura ging auf und nieder ... Ein Berg mit einem hochthronenden Schlosse führte ihm die Scene vor, die Benno mit dem Staatskanzler erlebt und geschildert hatte ... Es war schon bald bei Ankunft in der großen alten »goldenen« Stadt, wo die Rast für die Nacht stattfinden sollte, als Bonaventura wieder den jungen Mann erblickte, eingeschlagen in seinen weiten Mantel und nicht weit vom Steuerruder sitzend ...

Er rückte und rührte sich nicht ...

Ging aber Bonaventura an ihm vorüber, so war es ein einziger unter dem etwas breitrandigen schwarzen Hut und aus der Umhüllung des emporgezogenen Sammetkragens hervorzuckender Blitz der Augen – ein Funkeln, wie ein Käfer in der Nacht aufglüht, ein Funkeln, wie ein lauerndes Raubthier sich durch nichts, als seine Augen verräth ... Kein Laut, keine Bewegung, als ein Zurückziehen des lackirten zierlichen Stiefels, um dem Vorübergehenden Platz zu machen ... Die Situation, die Zeitdauer, alles bot dem Priester Muße, sich an die entsetzliche und doch fast beruhigende Vorstellung zu gewöhnen: Wenn das Lucinde wäre! ...

Beim Landen, beim Wohnen in einem »Rheinischen Hof« war die Spur des jungen Mannes verschwunden ...

Nach zwei Tagen und einem Aufenthalt in Frankfurt befand sich Bonaventura in der Stadt, wo er im Seminar gewesen ...

Es war dasselbe Seminar, von dem Serlo erzählte ...

Er besuchte alle ihm denkwürdigen Plätze der Erinnerung ... Die Altarstelle, wo er zum Priester geweiht worden ... Das Zimmer, wo Paula in der orthopädischen Anstalt lag ... Den Bischof, bei dem Lucinde convertirte ... Den Mitgeweihten Niggl, einen noch immer zwischen dem Naiven und Excentrischen unpraktisch, brausend und schnaubend hin- und herfahrenden, gutmüthigen Phantasten ...

Bonaventura sah und begrüßte alles wie zum letzten mal ...

Auch das berühmte Hospital des alten Bischofs Julius sah er ... In dem botanisch gepflegten Garten schien die Jahreszeit noch nicht der November ... Die Genesenden saßen zwar nicht im wärmenden Sonnenstrahl, aber die Irren rannten hin und wieder, gesticulirten und sprachen aufs zufriedenste mit sich selbst ...

Da wieder der Anblick des jungen Mannes vom Dampfboot ...

Kaum schoß er an ihm und an Niggl, der ihn begleitete, vorüber, so sagte dieser:

Wer war nur das? Das Gesicht ist mir so bekannt ...

Nach wenigen Augenblicken, wo der junge Mann verschwunden war, begann Niggl, von unbewußter Ideenassociation geleitet, von Lucinden als von einer Hocherleuchteten, von einer durch Nück und Hunnius und viele andere in alle Vorkommnisse des innern Kirchenlebens Eingeweihten ... Er scherzte über die ihm wohlbekannte Neigung derselben zu seinem Besuch ... Beda Hunnius hatte ihm darüber Mittheilungen gemacht ... Er wußte schon, daß sie von Nück sich entfernt hatte, und vermuthete, sie wäre nach Belgien, um Jesuitesse zu werden – »Redemptoristin« – nach dem äußern Ausdruck ...

Das Gespräch kam von dem verfänglichen Gegen stand ab ...

Bonaventura sah den jungen Mann nicht wieder, aber sein Herz bebte von den trübsten Ahnungen ...

Die Donau kam ... Bonaventura bewunderte den regensburger Dom und bestieg die Höhe, auf der König Ludwig die Walhalla erbaut hat ... Ein Aufenthalt dort oben wie Athemzüge im Aetherreich ... Unten die Erde mit ihren Mühen, hier oben die Himmlischen ... Ausgerungen haben Kampf und Leidenschaft ... Hier sind die Pforten der Welt des Plato, die Eichen im Haine Odin's ... Walkyren stehen zwar noch, die unerbittlichen Parzen, in marmornen Gebilden an der Schwelle des Tempels; aber sie scheinen Versöhnerinnen, nicht mehr Rächerinnen ...

Bonaventura stieg die Riesentreppe nieder – tieferfüllt von dem empfangenen Eindruck ... Da blickt er auf neue Ankömmlinge ... Eine Gesellschaft, die eben mit einem Boot aus Regensburg angekommen sein mochte, steigt ihm von unten her entgegen ... In ihrer Mitte – sein Reiseschatten, der junge Mann im braunen Mantel ... Dicht streift er, tief niederblickend, an ihm vorüber ... Zwei Schiffe kreuzen sich so auf dem Meere ...

Bonaventura konnte nicht stehen bleiben, nicht der spukhaften Erscheinung nachsehen ... Sie war schon wie seine Furcht, wie sein Gewissen geworden ... Beim jedesmaligen Begegnen fuhr ein schriller Ton durch die Luft: Du Ungetaufter! ... Und ebenso sagte das Lächeln des jungen Mannes: Bleibe ruhig, ich bin dein Schutzgeist! ...

Die regensburger Geistlichen, von denen Bonaventura begleitet war, führten den Erblassenden, Schwankenden noch in einem Wagen nach einem Oertchen, Straubing gegenüber ... An der Stelle, wo Agnes Bernauer ihren Tod in den Wellen gefunden, bestieg er das Dampfboot ... Er glaubte annehmen zu dürfen, daß er nicht allein fuhr – daß der junge Mann – Lucinde – schon auf dem Dampfer war ...

Er sah sie aber nicht ... Nicht die ganze Reise entlang, die zwei Tage dauerte ... Er glaubte nun doch an eine Täuschung in der Person ...

So kam er nach Wien ... Er sah zum ersten mal eine so rauschende, volkreiche Stadt, wohnte bei dem Chorherrn, der ihn ganz erst so zuwartend und prüfend wie Benno empfing, theilte die Aufgaben, die seiner im Gewühl dieser großen Stadt harrten, gewissenhaft ein, überlegte: Wie näherst du dich dem Grafen! ...

Darüber vergingen einige Tage ...

Die Gräfin Erdmuthe war zum Grafen Hugo auf Schloß Salem hinaus, um den grollenden Sohn hereinzuschmeicheln ...

Bonaventura hatte beim Cardinal Ceccone seine Briefe persönlich abgegeben, war in der That von dem liebenswürdigsten und zuvorkommendsten Benehmen eines Priesters, der die Grazie als Milderung der List über sein ganzes Wesen ausgegossen trug, mit dem Anerbieten des Bischofssitzes von Robillante begrüßt worden ... Olympia, die Herzogin von Amarillas, Benno wurden als seine Protectoren genannt ...

Alle seine Pulse flogen, als er, nach der von ihm um Bedenkzeit ausgesprochenen Bitte die Stufen des kleinen Palastes niederstieg ...

Er wußte nicht, wie er auf die Straße kam ...

Kaum blickte er auf, da rollte ein Fiaker vom Hause, der nur auf ihn gewartet zu haben schien ...

Aus dem Schlag blickte ein Kopf – der junge Mann im braunen Mantel ...

Pfeilgeschwind schoß der Wagen vorüber ...

Er verlor die Besinnung und verirrte sich in den Straßen ...

Wer Bonaventura sah, wer ihn nach einer Vorstellung anredete, wen er besuchte – jeder wußte, daß er Bischof werden sollte im Piemontesischen ... Jeder fragte nach seiner italienischen Predigt in »Maria Schnee«, die zugleich mit drei Messen bedungen war ...

Man fand diese Erhebung so natürlich ... Man sagte, der Domkapitular wäre ein Gesinnungsgenosse des Kirchenfürsten und in seiner Heimat »unmöglich« geworden ... Dort schied er aus ... Auch seine Gesundheit rathe ihm den Aufenthalt im Süden ...

Sofort in den Palatinus zu gehen vermochte er nicht ... Er zitterte, sich dort zu verrathen ... Aber es suchte ihn schon Fürst Rucca auf ... Olympia überhäufte ihn mit Geschenken und Zuvorkommenheiten, wie sie eben nur Priester anzunehmen gewohnt sind ... Er rüstete sich, noch unentschlossen, gedrängt vom Chorherrn – italienisch zu predigen ... An sich war es ihm ein Leichtes, da er die Sprache so gewandt, wie Benno, sprach ...

Noch immer sah er die Herzogin nicht ... Der Boden unter ihm wurde heiß wie Feuer ... Glühende Lava rann neben ihm ... Was soll aus Alledem werden! stöhnte er vor Schmerz über seine Lage ... Nun auch noch die fremden Leiden zu den eigenen! ...

Schon wußten auch die Zickeles, wohin ihn seine Creditbriefe führten, von seiner Ernennung und wünschten der Gräfin Erdmuthe Glück, ihn als einen Deutschen so in der Nähe zu haben ... Er mußte sich sagen: Das zerstört ja jede Möglichkeit der Ehe ihres Sohnes, wenn Graf Hugo die Absicht meiner Reise erfährt und – Paula's Empfindungen für mich kennt –!

In der That, die Gräfin empfing ihn mit der Kälte, die er erwartet hatte ... Haßte sie schon das römische Priesterthum an sich, war sie wie ihr Sohn tiefverletzt von der Bedingung, daß erst eines Beichtvaters Ja! oder Nein! über Paula's Willen entscheiden sollte, so war die Nachricht, dieser Beichtvater käme nun auch sogleich dicht in die Nähe Castellungo's, wo der Graf so gern ganz sich niedergelassen hätte, und folgte demnach seinem Beichtkinde, für sie ein wahrer Hohn, den die »Kirche« dem Stolz dieser Familie sprach ... Sie sah hier nichts als die Veranstaltung der Jesuiten ... Sie sah das fortgesetzte Wirken des Ordens, dem Terschka sich entzogen hatte ... Sie sah die Feindseligkeit des Erzbischofs von Cuneo, des Cardinals Fefelotti, der bereits gewaltsam in die Rechte der Waldenser eingegriffen hatte ...

Als Bonaventura von seiner ersten Begegnung mit der Gräfin mit dem Entschluß, lieber doch dieser Lockung des Ehrgeizes, dieser Lockung seiner Liebe zur Geliebten und zum Vater mit äußerster Kraft zu widerstreben, nach Hause kam, regnete es in Strömen ...

Schon war es spät ... Er konnte nicht sogleich auf der Freyung die Pforte finden, die die seinige war ...

Eine Weile dauerte es, bis er sich zurecht fand ...

Wie er geklingelt hatte, schlug unter den vielen Regenschirmen, die um ihn her sich fast den Platz benahmen, einer, ein dunkelblauseidener, auf ...

Indem er in sein Wohnhaus trat, erkannte er die langsam an ihm vorübergehende Gestalt im braunen Mantel und mit den schwarzen Handschuhen ...

Das Blau des Schirmes, das Gaslicht der Laterne, die gerade neben der Hauptpforte befestigt war, der mit Schnee untermischte Regen gaben dem Antlitz des jungen Mannes den Ausdruck des Todes ...

Kein Wort, nicht einmal ein zweiter Blick, nur ein Lächeln, wie: Siehst du nun? – und das Bild war vorüber ...

Bonaventura suchte wie vor einem Gespenst sein einsames Zimmer ... Er floh, als wenn Lucinde hinter ihm her huschte und höhnte: Heide! Heide! und dann doch sagte: Aber sei ohne Furcht! Ich sag' es nur dir! ... Sie ist es, rief er ... Sie ist es ... Was kann sie noch wollen? ...

Am folgenden Tage sah er endlich die Herzogin von Amarillas ...

Olympia ruhte nicht eher ...

Principe Rucca suchte ihn fast gewaltsam in den Palatinus zu führen ...

Ceccone war zugegen ... Es war äußerlich ein heiterer Abend ... Unter den Scherzen zitterte das tiefste Leid ... Angiolina wurde nicht erwähnt ...

Benno's Mutter fand er, wie sie dieser geschildert ... Unter dem Schein äußerster, ja abstoßender Kälte eine leidenschaftliche und dann doch wieder plötzlich kalt verständige Seele ...

Er und sie benahmen sich so, als wüßten sie nichts vom Tiefverborgenen ...

Olympia überhäufte ihn mit Schmeicheleien und Liebkosungen – um Benno's willen, den sie für seine Flucht einen Maledetto nannte, den sie nun bald in Rom strafen würde ...

Principe Rucca nannte den Baron von Asselyn schon den allerbesten Freund, den er in dieser Welt besäße ...

In einigen Wochen hofften alle in Rom zu sein ... Es schienen Menschen, hergekommen aus jener alten Welt der Imperatoren, wo die Frauen in ihren Ohrgehängen den Werth eines Königreichs trugen ... Sie fanden ganz in der Ordnung, daß der Bischof von Robillante sein Bisthum vom Kapitel verwalten ließ und den Carneval in Rom verbrachte ... Wie bewunderten sie Bonaventura's italienische Aussprache ...

Die Herzogin war bei all diesen wilden und leichtsinnigen Exclamationen – – die Duenna Olympia's – jene Arme, die sich von Kirche zu Kirche fortbetete, weil sie keine Kutsche bezahlen konnte ... Sie stand tief befangen und mit Zittern lauschend ... Die noch zum Leben verurtheilte – Niobe, wie sie Bonaventura's von ihr seltsam gefesseltem Auge erschien ...

Die Schwierigkeit der von Paula gestellten Aufgabe lähmte Bonaventura's Entschließungen ...

Wie sollte er dem Grafen sich nähern? Wie ihn nur annähernd ergründen? ...

Selbst Erkundigungen nur über seinen Ruf einzuziehen, widerstrebte ihm ...

Auch kannte jedermann und niemand mehr, als Bonaventura, sein Verhältniß zu Angiolinen ... Er wußte durch Benno, daß der Graf ehrenwerth war, ja edel von Paula sprach ... Er konnte nur nach Westerhof schreiben: Er ist vollkommen würdig! ... Dennoch – ihn sehen, eine Weile mit ihm leben, war unerläßlich ...

Die Mutter des Grafen betrachtete ihn indessen mit prüfenderen Augen, als er auf ihren Sohn gerichtet haben würde ...

Als der Graf hörte, Bonaventura sollte Bischof von Robillante werden, kam er noch weniger von Schloß Salem herein, von dessen Versteigerung man schon sprach ...

Bonaventura erfuhr letzteres von Angelika Müller ...

Diese, endlich einmal wieder in katholischen Berührungen recht sich ausschwelgend, sagte:

Gräfin Erdmuthe fährt hin und her, schickt Boten über Boten an die Zickeles ... Die Katastrophe ist reif ... An die Stelle des Adels tritt in dieser Welt die Börse ...

In diesen Zustand der Unentschlossenheit, die durch Lucindens verlorene Spur gemehrt wurde, hinein drängten sich die Vorbereitungen zur wirklichen Vollziehung seiner Bischofswahl, noch ehe er ganz entschieden zugesagt hatte ...

Das Kapitel von Robillante hatte seiner eigenen Wahl sich begeben und der römischen Curie die Besetzung mit einer ihr genehmen Persönlichkeit überlassen ... Bonaventura stand der Gräfin und dem Grafen gegenüber in einem Licht, das das ungünstigste von der Welt sein mußte ... Was sollte Paula denken! Was ganz Westerhof! ...

Da, zur Mehrung des falschen Scheins, mußte es geschehen, daß der unwiderstehliche Zug des Herzens, der Bonaventura nach den Eichen von Castellungo zog, eine Entscheidung erhielt, die ihn bestimmte, in der That die Mitra und den Krummstab anzunehmen, es mochte kommen, was da wollte – – ...

Er war bei Gräfin Erdmuthe gewesen, hoffte wieder vergebens, bei ihr den Grafen Hugo zu begrüßen ...

Die Gräfin empfing ihn mit äußerster Kälte, heute mit einer Aufregung des Zorns ...

Ihre Augen glühten, ihre Hände zitterten ...

Ha, brach sie nach den ersten Begrüßungen aus, da seh' ich die neuen Kämpfe, die mir beschieden sind! ... »Haltet Recht und Gerechtigkeit und errettet den Beraubten von des Frevlers Hand!« spricht der Prophet ... Ich muß nach Italien ... Fefelotti zertritt die Früchte meiner Anstrengungen ... Hab' ich darum mit soviel Kronen und Cabinetten unterhandelt! ...

Bonaventura erfuhr eine Schreckenskunde – auch für ihn ...

Die nach Witoborn zu Hedemann's Hochzeit reisende Mutter Porzia Biancchi's, die bei den Seidenwürmern zurückgebliebene Giuseppina Biancchi, Gattin des frankfurter Napoleone, Schwägerin des Professors Biancchi, der – ein echter Italiener – vor seiner Verwandtin plötzlich »verreist« war, hatte diese Nachricht eben mitgebracht ...

Der Eremit von Castellungo, Frâ Federigo, war spurlos verschwunden ...

Im Mund des Volkes ging nur Eine Stimme ... Der neue Erzbischof von Cuneo hatte ihn in die Kerker der Inquisition geworfen ...

Als Bonaventura diese Mittheilung hörte – als er den Strom von Anklagen und Verwünschungen, in denen sich die Greisin erging, auch nicht mit einem einzigen Wort unterbrach, sondern nur, wie die Wand so weiß geworden, den Bericht vernahm und sich ihn von der hereingerufenen alten Italienerin bestätigen ließ – wie er selbst dem kleinsten Zug der Mittheilung eine fieberhafte Aufmerksamkeit schenkte, hätte eine mit geringerem Selbstvertrauen begabte und nicht ganz nur in sich selbst lebende Persönlichkeit, wie die der Gräfin, wohl erkennen müssen, welche Umwälzungen im Innern Bonaventura's vor sich gingen ...

Sie sah in dem Zucken seiner Nerven, in seinen auf den Lippen ersterbenden Fragen und Antworten nur die Beschämung eines römischen Priesters ...

Jetzt bricht es aus, was die »Rotte Korah«, die Väter der Gesellschaft Jesu, über unser Haus verhängt haben! rief sie leidenschaftlich aus ... Dieser redlichste Freund der Armen, dieser wahre Priester Gottes, dieser Rathgeber, Tröster, Lehrer der Unglücklichen und Unwissenden, ein heimatloser Pilger, den ich seit Jahren schützte, ein Deutscher nach allem, was ich von ihm entdecken konnte, so oft ich seine einsame Hütte besuchte und eine Vergangenheit zu ergründen strebte, die er vielleicht notgedrungen verhüllt – schmachtet jetzt in den unterirdischen Kerkern des Kapitels von St.-Ignazio – ist vielleicht schon den Ketzerrichtern, den Dominicanern der Trinitâ zu San-Onofrio übergeben! ...

Und kein Beistand von der Regierung, fuhr sie fort ... Diese Regierung ganz in den Händen der Jesuiten ... Kein Beistand bei den benachbarten Geistlichen ...

Nicht bei mir?! rief Bonaventura mit mächtig hallender Stimme ...

Seine Augen leuchteten ...

Er stand aufrecht, erhoben, wie mit einem Blitzstrahl in seinen krampfhaft ausgestreckten Händen ...

Die Gräfin betrachtete die seltsame Bewegung, hörte das Wort des Beistands mit Theilnahme – aber, da nächst dem Glauben ihr der Sohn ihr Alles war, so sah sie jetzt nur die wirkliche Bestätigung des Gerüchts über Bonaventura's Bischofssitz – in der Nähe der lutherischen Salem-Camphausens – in der Nähe Paula's, ihrer – allenfallsigen Schwiegertochter ...

Die Entfremdung blieb die alte ...

Eine Annäherung an den Grafen war aufs neue gestört ... Eine bloße Formalität, die Bonaventura zur Beruhigung Paula's und der Verwandten schnell zu beenden glaubte, wurde immer unmöglicher ...

Er rannte dahin – wie von Rossen gezogen ... Er hatte sich noch von der Gräfin und von der alten Italienerin über seinen vermeintlichen Vater erzählen lassen ...

Jeder Zug bestätigte seine Ahnung ... Sein Vater lag nicht in dem Schnee der Alpen begraben, nicht in Sanct-Remy – er lebte – war seiner Freiheit beraubt ... Beraubt durch Fefelotti, dem er berechtigt sein konnte, gegenüberzutreten ...

Es gab jetzt keine Wahl mehr für ihn ... Er mußte Bischof von Robillante werden ... Paula gegenüber das zu bleiben, was er bisher war, ein Entsagender – diese Kraft für ein ganzes Leben sich zuzutrauen, entmuthigte ihn ja nichts ...

Wie aber jetzt die Vereinigung aller Interessen! ... Er hätte dem Grafen sich so gern ganz vertrauen, ihn in seine Seele blicken lassen mögen ... Die Heirath Paula's mußte stattfinden ... Aber auch von seinem Bischofsstabe konnte er nicht lassen ... Sollte er sich dem Chorherrn anvertrauen? ... Dem Cardinal Ceccone selbst? Sollte er dem Grafen an die Brust sinken? Gerade da sich ausweinen? ... Wäre Benno's Vermittelung möglich gewesen! ... Fast war es ihm ein Trost, den Doppelgänger Lucindens oder sie selbst zu sehen ... Er konnte annehmen, daß sie noch nicht alles, alles kannte, was seine Seele belastete ...

Daheim erwartete ihn Leo Zickeles, der älteste der Söhne des großen Handlungshauses, und beklagte aufs bitterste, daß der Gang der Geschäfte mit dem Grafen eine so üble Wendung zu nehmen drohte ... Alle Hoffnungen schienen zerstört, die Aussichten auf die Heirath schienen gescheitert ... Die Gräfin, hörte er, hätte neue Verbindungen mit Geldleuten eingeleitet ... Sogar an Herrn von Pötzl wäre eine Annäherung erfolgt ... Zweideutige Agenten riefe sie in ihr Palais ... Der »ungerechte Mammon« brachte die liebende Mutter um alle Haltung ...

Leo Zickeles sah in dem seufzenden Schweigen des jungen vornehmen Geistlichen nur – die Verstocktheit der Kirche gegen eine gemischte Ehe, äußerte sich aber darüber mit der seiner Stellung geziemenden Zurückhaltung ...

Am Abend durfte Bonaventura nicht beim Cardinal Ceccone fehlen ... Er ließ sich getrost als »Bischof von Robillante« begrüßen, komme was da wolle – und doch sagte er sich: Treulos handelst du an den Verwandten Paula's – an dem Grafen Hugo! ... Er war mit seinem ganzen Dasein zerfallen ...

Den folgenden Morgen hatte er verzweifelnde Briefe an den Onkel, an Benno geschrieben ... Aber er war willens, in die Kirche »Maria Schnee« zu gehen, die alle geistlichen Functionen, Messe, Beichtstuhl, Predigt ihm schon gestattete ...

Dann wollte er nach Schloß Salem fahren und den Grafen dort begrüßen – oder nicht eher weichen, bis er ihn gesprochen, ihm – er hoffte es – Vertrauen abgewonnen hätte ...

Um halb zehn Uhr erhielt er einen Brief vom Grafen selbst ...

Er war datirt aus der Stadt und vom frühesten Morgen ... Man hatte den Brief zurückbehalten, bis Bonaventura sein Zimmer öffnete ...

»Hochwürdigster Herr Domkapitular!« lautete er. »Noch immer ist es mir nicht möglich gewesen, in der Stadt Ihren Besuch zu empfangen und zu erwidern, da ich durch vielfache Geschäfte an meinen Landaufenthalt gebunden bin. Gestern Abend bin ich von Schloß Salem hereingekommen und zwar auf Grund eines Briefes, den ich von Herrn von Terschka aus London erhielt. Er wiederholt die Behauptung, daß die Urkunde, die unsere Linie um Hoffnungen betrog, die Jahrhunderte alt sind, eine gefälschte ist. Er verwies mich ausdrücklich auf eine gewisse Lucinde Schwarz, mit der ich mich über diese Angelegenheit verständigen sollte. Sie wäre, wie er gehört hätte, jetzt in Wien und stünde zum Herrn Oberprocurator Dr. Nück in Beziehungen der größten Intimität. Die Ehre und der Bestand meines Hauses stehen auf dem Spiele. Ich erkundigte mich noch gestern Abend nach dieser Dame und fand sie in der That hier anwesend. Ich sprach sie. Ich will jedes Aufsehen meiden, aber ich muß die Dame durch meine Mittheilungen für sichtlich in Verlegenheit gesetzt erklären. Wenn ich nicht sofort gegen sie einschreite, so ist es, weil mich eine außerordentliche Aehnlichkeit derselben mit einem Wesen rührt, das mir unendlich theuer war. Auf mein wiederholtes Androhen, daß ich nichts unterlassen würde, um eine Frevelthat aufzudecken, an der, wie ich weiß, meine Verwandte unbetheiligt sind, erklärte sie mir, sie würde nur eine Antwort zukommen lassen durch Eure Hochwürden – nach einer in der Beichte genommenen Rücksprache – – Somit ersuche ich Sie in aller Ergebenheit, haben Sie die Güte, von ihr in der Kirche der Italiener, wo Ihnen Kanzel und Beichtstuhl eingeräumt wurden, die Beichte entgegenzunehmen – und zwar heute in der Frühe, zehn Uhr. Ist diese mit Ihnen genommene Rücksprache vorüber, so bitt' ich mir die Stunde bestimmen zu wollen, wo ich die Ehre haben kann, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Um meine gute Mutter nicht aufzuregen, bitt' ich dringend um die Adresse: Professor Dalschefski, beim St.-Stanislaushause auf der Currentgasse. Mit aller Hochachtung Hugo, Graf von Salem-Camphausen.« ...

Bonaventura's Athem stockte ...

Er sah auf die Uhr ...

Es war schon dreiviertel auf zehn ...

Nach einigen Minuten Besinnung begab er sich, geführt vom Chorherrn, in die Kirche »Maria zum Schnee« ....

Bald standen sie auf einem kleinen Platz, wo ihn der freundliche Führer weiter wies ...

Die Sakristei liegt ein wenig abseits von der uralt ehrwürdigen Kirche ...

Wie er sich zitternd in geistliche Kleidung warf, starrten ihm durchs Fenster von einem Kreuzgang her alte Grabmäler und Statuen wie der Tod entgegen ...

Er betrat das Innere des gothischen, hellen, nur zu sehr modernisirten Gottestempels ...

Es war ihm, als träte er ein – in die Welt des Südens ... Doch auch wie ein heißer Sirocco wehte es zugleich ihn an ...

An einem der hohen Pfeiler ragte die Kanzel, wo er am nächsten Sonntag predigen sollte ...

Er verbeugte sich dem Hochaltar und schritt an dem Standbild Metastasio's vorüber – ...

Der Meßner führte ihn in einen Beichtstuhl, dicht an einem kleinen Nebenaltar mit brennender Lampe ...

Ein Bild des Gekreuzigten, zu dessen Füßen zwei Frauengestalten, alte Holzschnittwerke, beteten, zur Rechten – zur Linken das hohe Eingangsportal ...

In dem engen braunen Häuschen sank er zusammen, wie das Vorbild all seines Duldens – als diesem auf seinem Todesgang Simon von Cyrene zu Hülfe kam ...

Es schlug zehn Uhr ...

Wenig Secunden – und eine Gestalt – in weiblicher Kleidung – kniete neben ihm ...

Es war Lucinde.

Ende des sechsten Buchs.

Achter Band
Siebentes Buch
1.

Jenseits der Tiber, hoch auf dem Janiculus, liegt in Rom das Kloster San-Pietro in Montorio ...

Eine der schönsten Aussichten über die Siebenhügelstadt genießt man dort auf dem Platz vor einer Kirche, deren erste Anlage zu den urältesten gehört. In ihrer spätern Erneuerung verräth sie nicht ganz jenen mehr prächtigen, als schönen Geschmack, in welchem fast alle Kirchen Roms gebaut sind ...

Pinien und Cypressen bezeichnen die Stätte, von wo das Auge die im Abendroth verschwimmenden violetten Contouren des Horizonts bis zu den Sabiner- und Albanergebirgen verfolgen kann. In nächster Nähe schwimmt, von Abendnebeln durchzogen, das unermeßliche Häusermeer, durchschnitten von den Krümmungen der Tiber. Zahllose Kirchen ragen auf, zahllose Paläste, das Capitol mit seinen Trümmern aus der eisernen Römerzeit, die Engelsburg mit ihrem sein Schwert senkenden Sanct-Michael auf der Zinne ... Ein Bild, groß und herrlich wie die Vision einer Verheißung ...

Der erste Gedanke jedes Pilgers, der in Rom ankommt, ist die welthistorische Macht der christlichen Idee ... Die Schauer der Erinnerung an die blutige Märtyrerzeit begleiten ihn schon vom Fuß der Alpen ... In Rom angekommen, sieht er die Triumphe des Kreuzes ... Kein Tiber, kein Nero, kein Domitian beherrschen mehr das Universum ... Die Vexillen und blutigen Fasces der Imperatoren, unter denen der christliche Bekenner verspottet, gefoltert, den wilden Thieren vorgeworfen wurde, sind zerrissen und zerbrochen ... Der capitolinische Jupiter stürzte selbst vom tarpejischen Felsen; den Rand seines zurückgebliebenen Sessels ziert das Kreuz ... Das Kreuz triumphirt über Cicero, Cato, August, Seneca ... Es triumphirt ohne Rache ... Sanct-Michael auf der Engelsburg hält sein Schwert nicht drohend empor, sondern senkt es versöhnt zur Erde ...

So kann man fühlen, wenn Hunderte von Glocken nach San-Pietro in Montorio hinauf das Angelus tragen ... Der nächste Gruß kommt links aus San-Onofrio, von Tasso's Eiche herüber; zur Rechten von Santa-Cecilia über die botanischen Gärten aus Trastevere ... Hier oben bei den reformirten Franciscanern wird es später Nacht, als im Thal da unten, wo schon Hunderte von Lichtern aufblitzen ... Die Mönche sitzen soeben im Refectorium – essen Polenta – köstlichen jungen Salat aus ihrem eignen Garten ... Salz und Pfeffer, nicht Asche darauf gestreut, wie Petrus von Alcantara, der Stifter dieser – »Reformation« – mit seinem Salat es zu halten pflegte ...

Der fromme Pater Vincente, für den Bonaventura jetzt in Robillante Bischof ist, fehlt heute unter den Brüdern der braunen Kutte ...

Er liegt in seiner Zelle und erbittet sich von Gott Kraft und Sammlung zu dem harten Weg, für den gerade ihn heute ein Loos getroffen ...

Alle Klöster der von Almosen lebenden Orden sind eingeladen, heute in der Nacht auf Villa Rucca zu erscheinen, um dort die Gaben des jungen, heute vermählten fürstlichen Paars, die Abfälle der köstlichen Tafel zu empfangen ...

Der alte Fürst Rucca, Generalpächter der Steuern an der Nordküste des Kirchenstaats, will zeigen, daß das Sprüchwort falsch ist: »Unrecht Gut gedeiht nicht!« – Was kann gedeihlicher sein, als Almosen an Klöster und Bettler ...

Guardian und Brüder wußten, daß Pater Vincente einst um einen »Kuß in der Beichte«, den sein Gewissen und seine Phantasie ihm nur vorgespiegelt hatten, hier oben Jahre lang hatte büßen wollen ... Büßen zu dem Stachelgürtel, den Barfüßen und den aus drei Brettern bestehenden Betten, die hier Regel sind, noch hinzu! ... Ein Trost der Brüder war, daß doch noch nicht ganz gelebt werden mußte, wie der Freund der heiligen Therese, der Beichtvater des Einsiedlers von Sanct-Just (Karl V.), Petrus von Alcantara lebte, in einer Zelle, die kürzer war, als seine Leibeslänge! Ging man über den Hof hinweg, so fand man von Bramante eine Kapelle just über der Stätte erbaut, wo der Apostel Petrus einst mit dem Kopf nach unten gekreuzigt werden wollte – Sanct-Peter wollte nicht die Ehre haben, zu sterben, wie sein Herr und Meister ... Der Janiculus ist das zweite Golgatha. Was sagten, solchen Leiden gegenüber, drüben die dunklen Zellen mit eisernen Gittern, in deren einer der selige Bartolomäus von Saluzzo zehn Jahre hinbrachte, ein Priester, der die Dreistigkeit hatte, schon dem Rom seiner Zeit, Päpsten und Cardinälen, zu sagen: Nicht einer unter euch ist ein wahrer Priester! ...

Pater Vincente schien kein so wilder Feuerkopf. Ein Schwärmer aus dem Thal von Castellungo, gehörte er ohne Zweifel zu jener dritten Art der Heiligen, den Geschlechtlosen, von denen damals der Onkel Dechant gesprochen ... Im Süden sind vollkommen schöne Jungfrauen nicht so häufig, wie diese rein vegetativen, willenlosen, zuweilen bildschönen Jünglinge ... Ein Mönch lebte gefangen auf San-Pietro in Montorio, der den Pater Vincente nur einmal sah und sich sagte: »Nun begreif' ich Horaz und Alcibiades, Plato und – Platen –« ...

Wer konnte wol hier oben in Rom vom deutschen Dichter Platen sprechen? – – ...

Pater Vincente hatte das Loos gezogen, der Hochzeit seines bösen Beichtkindes beizuwohnen ... Er sollte die Speisen in Empfang nehmen, die man ihm in seinen Quersack schütten würde, den jedoch ein stärkerer Laienbruder tragen sollte ... Dieser Laienbruder war krank ... Das Fieber springt in Rom von einem Berg zum andern ... Im Monat Mai hockt der unheimliche Dämon auf dem Janiculus ... So hatte man beschlossen, einen der beiden deutschen Gefangenen, die hier in Rom auf der Höhe des freien Vogelflugs in strenger Haft saßen, ihm zur Begleitung mitzugeben ... Der eine, den die Mönche »den Todtenkopf« nannten, war so stark, daß er im ersten Anfall seiner Ungeduld die verrosteten Eisenstäbe seines Kerkers verbog und fast zerbrach ... Jetzt war Bruder Hubertus schon lange ruhiger geworden ... Er ließ nach dem letzten Vierteljahr, das er und Pater Sebastus noch für ihre Flucht aus dem Kloster Himmelpfort in Deutschland hier zu büßen hatten, ein nützliches Mitglied der Alcantarinergemeinde erwarten, falls Pater Campistrano, der General der Franciscaner, und der Cardinal-Großpönitentiar ihm und dem nur noch schattenhaft am Leben hängenden Doctor Klingsohr die Bestätigung gaben, daß ihre Absicht, zu den »Reformirten« ihres Ordens überzutreten, auf einem wirklichen Bedürfniß der Seele beruhte ...

Als Pater Vincente gehört, er müßte auf das ganz Rom in Bewegung setzende Hochzeitsfest der Gräfin Olympia Maldachini mit dem Sohn des reichsten aller Römer nächst dem Fürsten Torlonia gehen und unter den hundert Bettlern auch für San-Pietro in Montorio seine zarte, weiche, frauenzimmerliche Hand offen halten, die einen Bischofsstab hätte tragen dürfen, wäre er nicht voll Demuth gewesen, war er in seine Zelle gegangen, fastete und betete ... Dem »Bruder Todtenkopf« hatte man den Vorschlag gemacht, den voraussichtlich heute überfüllten Zwerchsack zu tragen ... Bruder Hubertus sang seit einiger Zeit so viel heitere Lieder, daß man den Versuch glaubte wagen zu dürfen, ihn ins Freie zu lassen, hinaus in eine allerdings fieberschwangere Mainacht ... Hubertus hatte erwidert:

Wohlan! Laßt mir aber den Pater Sebastus mit ... Es ist zu grausam, in Rom angekommen zu sein und neun Monate lang nichts davon gesehen zu haben, als eine Zelle von zehn Fuß Länge und zehn Fuß Breite ... Beim Kreuz des heiligen Petrus drüben, laßt ihn ohne Furcht mit mir gehen! ... Schon deshalb, weil er vielleicht ein Fieber mitbringt und ich dann Gelegenheit habe, euch zu zeigen, wie ich in Java das Fieber curiren lernte ... Der nimmt die Arznei, vor der ihr euch so fürchtet ...

Die Mönche lachten über diese Worte aus zwei Ursachen ... Einmal weil sie aus einem Kauderwälsch von allerlei Sprachen bestanden ... Holländisch, Deutsch, etwas Meßlatein und so viel Italienisch, als man auf einer Wanderung durch Italien bis hieher und in dem beschränktesten Verkehr mit der Welt erlernen konnte ... Dann, als man zum Uebersetzen den Pater Sebastus herbeigerufen, lachte man wieder über die Methode des Fiebercurirens, die nach Hubertus hauptsächlich in einer sonst nicht normalen Anwendung von Theer und Kuhmist bestehen sollte ...

Die Stimmung wurde dem Mitgehen des Paters Sebastus günstig ... Der Herbeigerufene trat in das Refectorium ein ... Er sah schon aus wie ein echter Nacheiferer des heiligen Petrus von Alcantara ... Hätte ihn sein General gesehen, er würde gesagt haben: Auch du, mein einst so wilder Kriegsmann, wirst mit der Zeit reif, die Wonne der heiligen Therese zu werden! So mochte einst der edle Ritter Don Quixote de la Mancha ausgesehen haben! So fleischlos hingen auch die Arme des Don Pedro von Alcantara, so voll Schwielen waren seine Kniee! So sah er aus, als er in der schauerlichen Einöde zu Estremadura seinen furchtbaren Tractat über den »Seelenfrieden« schrieb! ...

Armes Jammerbild des Wahns! ... Aber »doch noch ein Glück dabei!« sagt der gute Bruder Lorenzo in »Romeo und Julia« ... Dinte und Papier hatte man dem Pater Sebastus gelassen. Man hatte ihm Bücher gegeben, um sich in der italienischen Sprache zu vervollkommnen. Man hatte gefunden, daß er besser Latein verstand, als der Pater Guardian, der seit diesem deutschen Pflegbefohlenen seine Sprachschnitzer nicht mehr so oft vom General unten im Kloster Santa-Maria corrigirt bekam ... Der Gefangene tilgte sie zuvor ...

Pater Sebastus, fahl und bleich, mit übergebeugter, hohler Brust, hüstelnd, unsichern Ganges, flößte dem Guardian keine Besorgniß mehr ein, daß er entfliehen und sich dem wahrscheinlich doch nur noch kurzen Rest seiner Strafzeit entziehen könnte ... Der Guardian betrachtete seine Collegen, wie der heilige Vater im Consistorium die Cardinäle ... Quid vobis videtur? Worauf ein einmüthiges Stillschweigen die jahrtausendalte Regel ist ... Zustimmung schien auch hier aus Jedes Auge zu leuchten ... Bei dem »Bruder Todtenkopf« versah man sich ja, daß er keinen Schinken, keinen Büffelkäse als zu viel ablehnen, sondern den Sack so vollstopfen würde wie nur möglich – eben um seine Kraft zu zeigen, über die er etwas ruhmredig und plauderhaft war, der alte Polterer ... Man beschloß, den Pater Sebastus mitgehen zu lassen und unterrichtete nur noch beide, wie sie es anstellen müßten, um von Koch, Kellner, Haushofmeister des Fürsten Rucca mehr, als alle andern Klöster, besonders die nicht blöden Kapuziner von Ara Coeli, zu bekommen ... Das Hauptmittel, begriff schon Hubertus, war auch hier die Faust ... Wenn um Mitternacht die große Tafel, die der alte Fürst Rucca seinem Sohn und der »Nichte« des Cardinals Ceccone ausrichtete, zu Ende war, begann die Austheilung ... Brachen die Mönche um die zehnte Stunde auf, so kamen sie gerade recht ... Wogte es dann schon die ganze Nacht in jenen Straßen, die zur Villa Rucca führten, so ging für sie der Weg durch entlegenere Gegenden, wo sich rascher dahinschreiten ließ ...

Die Frate waren, in Hoffnung auf die große Beute, so nachsichtig, daß sie sogar in dem Verlangen des Pater Sebastus nach Siegelwachs heute nichts Sträfliches fanden und ihm die Mittel einer unerlaubten Correspondenz an die Hand gaben; – es sollte alles, was die beiden deutschen Mönche auf die Post gaben, erst hinunter an den General kommen ... Heute ging in den Würsten, Schinken, Käsen, den feinern Tafelresten, die man erhoffte, ein Brief unbemerkt hin, den Pater Sebastus fast sichtbarlich seinem Leidensgefährten Hubertus zusteckte, daß er ihn vorher läse und mit unterschriebe ... Er wollte noch eine Weile sich ruhen, den Brief dann siegeln, mitnehmen und irgendwie suchen »der Post beizukommen«, – das flüsterte er auf deutsch dem Leidensgefährten ...

Klingsohr hatte Rom, sein ewiges, hochheiliges Rom, bisher nur erst aus der Ferne gesehen ... Er kannte nur seit drei Vierteljahren diesen magischen Anblick zuweilen vom Fenster des Refectoriums ... Nun sollte er im Mondschein zum ersten mal den heiligen Boden betreten ... Die Sonne sank in ihrer goldensten Pracht ... Diesen Anblick hatte er zuweilen an Festtagen gehabt, durch die Olivenbäume des sich vom Fenster des Refectoriums abdachenden Bergabhangs hindurch ... Heute verweilte er länger bei ihm ... Sein dumpf gewordener Geist belebte sich ... Aus den matten Augen glitt ein Schimmer der Erwartung ... An den Bischof von Robillante hatte er geschrieben ... Robillante lag ja da, da, wo die Sonne ebenso schön unterging ... Er wußte, Bonaventura von Asselyn war jener Bischof dort geworden, der hier oben Pater Vincente hätte sein können, wenn er gewollt ... Vincente's Geschichte war das große Wunder, das man auf San-Pietro jedem erzählte, der etwas länger blieb, als nöthig, um die Bilder Sebastian's de Piombo in der Klosterkirche und die alten paolischen Wasserleitungen zu sehen ...

Unbeschreiblich ist die Schönheit des letzten Blicks der scheidenden Sonne Italiens, wenn ihre Strahlen sich zuletzt nur noch leise durch die grünen Zweige der Bäume stehlen ... Ein Olivenwald vollends ist an sich schon zauberisch ... Seine Schatten sind so licht, das Laub ist so seltsam graugrün blitzend ... Und wenn seine Stämme hundertjährig sind, so sind die Gestalten der Zweige und über dem Boden herausragenden Wurzeln so phantastisch, daß sie sich im purpurnen Dämmerlicht der Sonne zu bewegen scheinen wie die Bäume in den »Metamorphosen« Ovid's ... Ein magischer Sommernachttraum gaukelt durch einen solchen uralten Olivenhain ... Sieben, acht Stämme sind zu Einem zusammengewunden ... Wie Polypen von Holz sind sie aufgeschnitten, das Mark ist heraus und nur die Rinde noch zurückgeblieben, aber die trägt die graugrünen Blätterkronen mit den blauen kleinen Pflaumen der Frucht ganz so, als wäre Herz und Seele noch drinnen ... Diese groteske Welt, voll Fratzen, als hätte sie Höllen-Breughel geschaffen, schwimmt nun im Lichte und wird zu purem Golde; die untergegangene Sonne läßt am Horizont einen riesigen Baldachin der glänzendsten Stickerei zurück ... Flimmernde Goldfranzen hängen in Himmelsbreite an violetten und rosa Wölkchen ... Während nach der östlichen Seite hin schon die Nacht urschnell und tiefblau, mit sofort sichtbaren Sternen aufleuchtet, steht noch im Westen diese Phantasmagorie der Farbenmischungen eine wunderbare Weile ... Endlich wird auch sie röther und röther; die goldnen Franzen, die Stickereien von Millionen von Goldperlen erbleichen; dann wird der westliche Himmel dunkelblauroth ... Nun schwimmt der Olivenwald wie in einem Meer von aufgelöstem Ultramarin ... Die Nacht im Osten ist schon tiefschwarz ... Alles das lehrt – Ewigkeit des Schönen ...

In seiner dunkeln Zelle hatte Hubertus heute eine zinnerne Oellampe ... Sie war an sich armselig, aber sie konnte doch in Pompeji gestanden haben ... Der Docht brennt in der Mitte gleichsam eines Tulpenkelches aus vier Oeffnungen ...

Er las jenen Brief, den er mit Pater Sebastus verabredet, um durch Bonaventura's Vermittelung vielleicht für sie beide ein besseres Loos zu erzielen, als das ihrer durch den Spruch aus Santa-Maria da unten harrte und selbst für den Fall harrte, daß sie sich diesem römischen oder sonst einem Kloster der Alcantariner einreihen durften ...

Der Brief mußte so geschrieben sein, daß er im äußersten Fall auch in die Hand des Generals gerathen und sie nicht aufs neue compromittiren, nicht zur Fortsetzung ihrer Leiden Anlaß geben durfte ...

So hatte denn Dr. Heinrich Klingsohr, weiland göttinger Privatdocent, ganz im gebührenden Ton, wie etwa Pater Vincente gethan haben würde, wörtlich an Bonaventura geschrieben Vielen dieser Einzelzüge liegen Actenstücke zu Grunde.:

»Vivat Jesus! Vivat Maria! Halleluja! Friede sei mit Ihnen, hochwürdigster Herr und hochgnädigster Herr Bischof! Hat unser Ohr recht gehört, so ist ein Wunder geschehen! Hochgeehrtester Herr, Sie verweilen nicht mehr auf deutscher Erde, wo das Salz dumm geworden ist, Sie führen den apostolischen Stab im Lande der Verheißung! ... Hochgnädigster Herr und Bischof! Wir sind die beiden Flüchtlinge aus dem Kloster Himmelpfort, die wir schon einmal Schutz gefunden durch Ihre gnädigste Frau Mutter, als wir lieber unter den Thieren des Waldes und in einer Hütte von Baumzweigen wohnen wollten, als länger in der üppigen Völlerei der entarteten Minderbrüder des heiligen Franciscus. Lieblosigkeit, Zank, Mangel an gottseliger Gesinnung haben uns von einer Stätte getrieben, wo unser allerheiligster Herr Jesus von seinen eigenen Jüngern täglich noch gekreuzigt wird! In dem großen Feldzug, den die Kirche gegen den Belial der Aufklärung gerade in unserm Vaterland zu bestehen hat, sind diese Klöster, in denen sich nichts als der Schein der alten Regeln erhalten hat, nur zu Verschanzungen des bösen Feindes nütze. Provinzial Maurus hat an unsern General eine Liste unserer Verbrechen geschickt und so müssen wir denn, da man uns ohne Richterspruch verurtheilte, unser sehnsüchtiges Verlangen nach der reformirten Regel der Minderbrüder durch eine Gefangenschaft büßen, die hier auf San-Pietro in Montorio bereits drei Vierteljahre dauert; freilich schmachten wir in der Nähe des Kerkers, den der selige Bartolomäus von Saluzzo zehn Jahre lang innehatte ... Aber die Krone des Himmels zu gewinnen wird, ach! zu mühselig für die schwache Kraft unsrer Sterblichkeit ... Hochgnädigster Herr Bischof! Wir schöpfen wol Muth aus dem Vorbild der Märtyrer und heiligsten Apostel, aber unsere Kräfte schwinden, unsere Hoffnungen auf die Macht der Wahrheit erlöschen, zu schwer für menschliche Schultern ist, was wir seither erlitten! ... Von dem unterzeichneten Pater Sebastus, hochgnädigster Herr Bischof, wissen Sie aus einer denkwürdigen Stunde mit dem gefangenen Kirchenfürsten, daß er die Rettung seiner Seele dem ›Bruder Abtödter‹ verdankt, der im Gegentheil im Lebendigmachen sich auch hier schon mannichfach bewährt hat. O daß ich in einem einfachen, schlichten Menschen mehr fand, als in meinen weiland Genossen, Hochgebildeten, die mich durch die sophistische Moral der heidnischen ›glänzenden Laster‹ zum Tödten eines Mitmenschen, Ihres Verwandten, reizen konnten! Hubertus hat mich oft meilenweit Nachts auf seinen Greisesarmen getragen, wenn wir auf unserer Flucht mit nackten Füßen den Häschern zu entrinnen suchten. Vom Düsternbrook, von der verhängnißvollen blitzzerschlagenen Eiche an bis zu den trauernden Cypressen dieses heiligen Sanct-Peter-Kreuzes-Hügels verfolgte uns das Concil von Trident, nach dem ›ein entsprungener Mönch seinem Kloster zurückzuführen ist‹ ... Wir lebten von Wurzeln und Beeren, suchten die einsamsten Straßen des Rhöngebirges, des Schwarzwaldes und der Alpen auf ... Nie legten wir unser hären Gewand ab, unsers heiligsten Franciscus Ehrenkleid, das ich einst, Sie wissen es, im schnöden Rückfall um jene Lucinde verleugnen konnte ... Nie gönnten wir uns eine andere Erquickung, als unsern blutenden Füßen die kühlende Welle des Waldbachs ... Auf der Schweizergrenze ergriffen uns die durch Steckbriefe aufgewiegelten Häscher ... Nur der Kraft des Bruders Hubertus, die er indessen seinem Gebet zuzuschreiben bittet, gelang es, daß wir aus einer Polizeiwache auf dem Transport entsprangen und uns drei Tage und drei Nächte, dem Verhungern nahe, unter dem Heu einer Scheune verbargen ... Zu unserm Uebergang über die Alpen wählten wir die einsamste Straße, die des Großen St.-Bernhard ... So verschmachtet und verkommen waren wir, daß wir den Gerippen glichen, die dort von verschütteten Wegwanderern aufbewahrt werden« ... (Sebastus ahnte nicht, wie gerade diese Worte auf Bonaventura wirken mußten, wenn er den Brief empfing!) ... »Nur die Hoffnung auf Rom belebte uns ... Rom! Rom! rief es in unsern Herzen und gestärkt erhoben wir uns, wie verschmachtete Kreuzfahrer einst mit dem Feldruf:

Jerusalem! ... Aber auch in diesen heißersehnten Gefilden verfolgte uns die Hand des Paters Maurus. Jedes Kloster unsers Ordens drohte zum Gefängniß für uns zu werden. In den Reisfeldern Pavias, wo wir uns in giftigen Sümpfen verstecken mußten, ergriff mich das Fieber. In der Nähe jener prachtvollen Certosa, einer architektonischen Wunderblume deutscher Baukunst in einer Oede voll Trauer, trauriger als die Fieberkrankheit, glaubte ich zu sterben. Mein zweiter Vater rettete mich und der innere Stern des Morgenlandes schimmerte wieder am Wege ... Rom! rief es von unsichtbaren Geistern, in die zuletzt wirkliche Stimmen, die Stimmen der Pilger einfielen, denen wir uns anschlossen ... Alle meine Gräber öffneten sich in meiner öden Tannhäuserbrust ... Leiche auf Leiche erhob sich ... Die Wissenschaft, die Kunst, die Philosophie, die seraphische Liebe – alles wachte auf in dieser Sehnsucht nach Rom! ... Ich fühlte unendliches Leben in meinen Adern ... Wir kamen ein kahl Gebirge, die Apeninnen, hinauf und sahen das Meer – Zum zweiten male sah ich's und mein Führer kannte es von Indien ... Was blieb da noch die Ostsee! Nußschaale gegen einen Bethesdateich! – Dort, dort lagen Afrika, Asien – Hannibal stieg mit uns nieder, Scipio kam von Karthago – Hinan! Hinan! ... So wanden wir uns drei Wochen durch Etrurien hindurch nach dem Sanctum-Patrimonium ... Mit den Pilgern, mit manchen Verbrechern, mit denen uns die Nachtwanderung vereinigte, hofften wir: Rom ist die Stadt der Gnade! ... Ein Pilger rief: Rom ist mit Ablässen gepflastert! Ich verzieh einem Mund, der dem natürlichen Jubel des frommen Entzückens erwiderte: Noch mehr, denk' ich, dein eigen Herz! – Diese Denkerphrase – deutsch gesprochen! Ich verzieh dem Sprecher, weil er ein Greis war« ...

Hubertus hielt hier einen Augenblick inne ... Dieses greisen deutschen Pilgers hatte er oft gedacht ... Auch ihm und Klingsohr war er streng gewesen; aber eine verklärte und wieder andere verklärende Natur bei alledem ... Wo mochte wol dieser Reisegefährte weilen! ...

Dann fuhr Hubertus zu lesen fort:

»Wir mußten mit den andern oft in den Felsen schlafen, vermieden die großen Städte, deren Zinnen und Domthürme ich nur fernher aufragen sah, wie die Märchenerinnerungen meiner Jugend ... Parma! Florenz! Siena! Welche Klänge! ... Aber in Höhlen, oft zu Räubern, mußten wir flüchten, bis wir endlich in diesem öden Kesselthal ankamen, das Euch die ›wüste‹ Campagna heißt – Die wüste! Ihr leipziger Nationalökonomen, ein Hirtenland mußt' es ja sein, wo wieder die Krippe des Heiles steht! Hier darfst du ja, verlorene Welt, nur Schafhürden und Ställe suchen! Hier sollst du ja nur der Hirten Lobgesang hören wollen, der dich doch in Correggio's ›Nacht‹ entzückt, warum nicht in Wirklichkeit? ... Endlich eines Morgens ging die Sonne auf und wir sahen – die Stadt der Städte! Im Kern einer großen Muschel liegt, nächst Jerusalem, die köstlichste Perle! ... Das Auge unterschied die Peterskuppel ... Schon hörte das Ohr die Glocken der versunkenen Kirche, die in meiner Brust schon seit dreißig Jahren ›Rom‹ läuten; ich hörte sie – nun von sichtbaren Thürmen niederhallen – Hosiannah! rief alles um uns her ... La capitale du pardon! jauchzte ein Franzose ... Da umringen uns wieder die Häscher des Paters Maurus. Die in der Knabenlectüre vielbelachten – ›Sbirren‹ – häßliche Dreimaster von Wachsleinen auf dem Kopf – ... Sie wissen, wer wir sind. Sie wissen, woher wir kommen ... Sie führen uns über die Tiber zurück, die wir schon hinter uns hatten! ... In der Abenddämmerung geleiten sie uns einen jener riesigen Aquäducte entlang, die man nicht sehen kann ohne an Roms ewige Größe, an die fruchtlosen Belagerungen durch Attila, die Hohenstaufen und Beelzebub zu denken, führen uns durch ein entlegen Thor auf einen hohen Berg und hier in ein Gefängniß, das wir seit dieser Stunde nur zuweilen im Umkreis einiger hundert Schritte verlassen haben! ... Vor unserm Kloster stürzen sich die Wasser jenes Aquäductes, dem wir folgten, in ein Becken und gleiten nach Rom hinunter, das, sagt man, vom Geriesel der Brunnen und Cascaden wie ein einziger Quell des Lebens rauschen soll! – – Wir hier oben aber verschmachten! Wir müssen uns der Gewalt des Pater Maurus, die bis hieher reicht, ergeben! – ... Wohlan, die Ordnung herrsche in der Welt, selbst in den Händen unwürdiger Gotteswerkzeuge! Wir wollen unser Joch-Jahr dulden. Aber die Zukunft! Soll sie denn nur, nur den Tod bergen? ... Wenn Ihre große Güte, hochgnädigster Bischof, es übernähme, ein Wort des Zeugnisses für uns beim General zu sprechen! Wenn Sie Ihren Nachbar, den Erzbischof von Coni, Cardinal Fefelotti, der, wie man sagt, die Stelle des Großpönitentiars der Christenheit erhalten wird, für uns gewännen! Das Elend meines Lebens kennen Sie! Sie wissen, was ich dem Kreuz des Erlösers schon alles von Menschenschuld aufgebürdet habe! Sie kennen Klingsohr's Sünden – auch seine verwelkten Rosen – Sie wissen, welche Hand den Lebensfrühling mir zerriß ... Ueber Trümmern aber ist das Kreuz erstanden! Ich will meine Fahne nicht mehr lassen, die Fahne des geopferten Lammes! Lassen Sie mich nicht streiten unter sinnlosen Führern! Das ist das Schrecklichste, unter Mitknechten stehen, die nicht wissen, wessen Harnisch sie angethan haben! Müßten wir nach Deutschland zurück, zurück nach Witoborns öden Gassen, zu den dumpfen Wänden Himmelpforts, so würde der letzte Funke unsers Lebenslichtes erloschen sein! Lieber das Grab in Rom, als ein Leben im Leichentuch Deutschlands! Sie, Sie sind glücklich! Sie dürfen reden, hochwürdigster Herr und Bischof! Legen Sie Zeugniß für uns ab! Ein Wort von Ihnen zu unserm General, ein Wort zu Cardinal Fefelotti, und man wirft uns nicht mehr mit denen zusammen, die wie der Tag kommen und gehen. Auch mein guter Führer und Lehrer stürbe so gern in der Stadt der Katakomben. Er hat noch auf dem Amt in Witoborn eine Summe Geldes liegen, ungerecht Gut, das er der Sache der Gerechtigkeit schenken möchte. Er hoffte in Rom einen Erben zu finden, einen Krieger im Heer Seiner Heiligkeit, den zu erkundschaften ihm noch keine Muße geboten ward. Fände er diesen nicht, so würde er das Vermögen dem General seines Ordens anweisen ... Laßt ihn eine Weile suchen! Laßt uns doch noch irgend eine schaffende Thätigkeit! Der Trieb zu helfen ist Gradmesser noch vorhandener Lebenslust. Mit dieser neuen schönen Sonne, die wir Gefangenen nur zu spärlich sahen, ist er in uns zurückgekehrt. Ich jage nicht mehr dem Spuk der nordischen Phantome nach. Dieser blaue Himmel, diese göttliche Luft, diese immer gleiche Stimmung der Natur selbst im Blättergrün, das im Winter nicht entschwindet, ach! sie gießen einen so vollen Glanz der Schönheit selbst über unsre bescheidensten Wünsche, daß ich mir vorkomme, als hätte meine seitherige Vergangenheit nur unter meiner unrichtigen Geburt im Norden gelitten. Meine Zweifel schwinden. In einem römischen Sonnenuntergang glaub' ich an das Labarum des Constantin, das ihm in den Wolken erschien! Ich sehe das Tabernakel des Hochamts in jeder bunten Wolke dieses italienischen Himmels! Halleluja! Die Kreuzesfahne voran! In diesem Zeichen Sieg und Hoffnung! Retten Sie uns! Retten Sie uns! Heinrich Klingsohr, genannt Pater Sebastus a Cruce. San-Pietro in Montorio, im Mai 18**.«

Zu diesem Namen schrieb Bruder Hubertus:

»Eines hochgnädigsten Herrn und Bischofs gehorsamster Kreuzesträger und apostolischer Pilger Frater Hubertus.«

Diesen Brief ganz flüssig zu lesen und dann zu unterschreiben kostete dem »Todtenkopf« einige Mühe ... Seine knöcherne Hand kritzelte lange an den wenigen Worten ... An der Stelle, wo von seinem Geld die Rede war, hielt er besorgt inne ... Er gedachte mismuthig jenes Wenzel von Terschka auf Westerhof, von dem er schon lange ahnte, daß er dessen Versicherungen, er wäre nicht jener Soldat, der einst im römischen Heer gestanden, zu leichtgläubig hingenommen, von dessen Verbleiben aber, Ursprung, späterer Flucht, Uebertritt, gegenwärtigem Aufenthalt in London die Eremiten im winterlichen Walde, die Flüchtlinge durch Deutschland und Italien, die Gefangenen von Rom nichts erfahren hatten. Klingsohr kannte diesen Terschka nicht einmal dem Namen nach ... War die Erwähnung seines Geldes praktisch? ... Wie würde diese Stelle auf den General wirken, wenn er sie läse? ... Vielleicht ganz förderlich! dachte endlich Hubertus mit einiger Pfiffigkeit ...

Gegen zehn Uhr erhob er sich von seinem Maisstroh ... Aufgeschreckter denn je ... Dachte er an Terschka, Picard, sein Geld, so erschienen ihm Eulen und Fledermäuse und Brigitte von Gülpen rang unter ihnen die Hände und Hammaker's blutigen Kopf sah er und Picard hing am brennenden Dachbalken und den Pater Fulgentius, den er »richtete«, indem er ihn ruhig sich selber tödten ließ, sah er am Seile schweben ... Der Riegel seines Kerkers wurde klirrend zurückgeschoben ...

Der fieberkranke Laienbruder war es selbst, der, sich schüttelnd, den mächtigen Sack brachte ... Er geleitete Hubertus an Sebastus' Zelle ...

Auch hier fiel die eiserne Klammer ... Sebastus stand in erregter Spannung ... Rom und die langen Leiden hatten seinem sonst so vornehm verächtlich, so hochmüthig geringschätzend in die Welt und auf andere Menschen blickenden Wesen seit einiger Zeit eine vortheilhafte Veränderung gegeben ... Er ergriff den heimlich dargereichten Brief, siegelte ihn, während Hubertus dem Laienbruder, um diesen zu zerstreuen, seine Pillen rühmte und zu größerer Deutlichkeit das Verschwinden des Fiebers mit der Leere des mächtigen Sackes verglich ... Dann steckte Sebastus unter der braunen Kutte den Brief zu sich und folgte dem Laienbruder, der beide auf die Terrasse zu den rauschenden Wassern führte ...

Hier harrte ihrer Pater Vincente ...

Benedictus Jesus Christus! ...

In aeternum, Amen! ...

Die drei Mönche schritten den Hügel San-Pietro nieder in jene kleinen gespenstischen Schatten der Bäume und Häuser, die ein helles Mondlicht wirft ...

Alle drei schritten sie nach Rom hinunter in den gleichen Kutten ... Die Kapuze über den Kopf gezogen, um den Leib des heiligen Franz von Assisi fliegende weißwollene Schnur ... Die beiden Deutschen noch nach ihrer alten Regel in Sandalen ... Pater Vincente mit entblößten Füßen.

2.

Pater Vincente war wol schon dreißig Jahre alt; doch hatte er noch alles von der weichen Jünglingsschönheit des Antinous ...

Seine Augen waren sanft braun ... Die Farbe seines Antlitzes, und nicht ganz vom Widerschein der Strahlen des orangegelb über dem Albanergebirge herausgetretenen Mondes, war fast gelblich ... Das kurzgeschnittene und die so schöngeformten kleinen Ohren grell freilassende Haar dunkelschwarz ... Der braune, jetzt von der Kapuze bedeckte Nacken schweifte sich sanftgebogen ... Sein Mund war etwas aufgeworfen und wie zum Genuß des Lebens bestimmt ... Die hohle Wange stand in Verbindung mit sanften Erhöhungen an den Winkeln und Lippen ... Seine Gestalt hatte etwas Aetherisches; sie schien, wie dies einst dem heiligen Franciscus in Wirklichkeit geschehen sein soll, in den Lüften zu schweben ... Viele, die ihn kannten, prophezeiten auf sein Haupt – noch einst die dreifache Krone – wie man in der katholischen Christenheit jedem Leviten thut, der sich durch gottseligen Sinn auszeichnet ...

Die beiden Deutschen gingen hinter dem Italiener, wie seine Diener ... Doch wollte dieser nur ihr Führer sein ... Hubertus ließ sich auch nichts von seinem bestimmten, festen, muntern Naturell nehmen ... Was ihm durch den Sinn kam, plauderte er aus ... Die Bäume am Wege nannte er alte Bekannte aus Indien; die Düfte, die von den botanischen Gärten herüberkamen, analysirte er nach den Pflanzen, denen sie angehörten ... Den schmetternden Nachtigallen paßte er stillstehend auf; dem Mond drohte er, ihn, wenn er noch größer und ganz wie in Java würde, vor Freude in den Sack zu stecken ... Alles das, sagte er, ist darum so prächtig hier, weil es ohne die Schlangen und die Tiger ist! ...

Die Heiterkeit des wunderlichen Alten hatte seinen Leidensgefährten schon seit Jahren aufgerichtet ... Sebastus nannte ihn schon im Kloster Himmelpfort den zweiten Philippus Neri ... Philippus Neri war jener »kurzangebundene, humoristische«, römische Heilige, von dem Goethe in seiner italienischen Reise erzählt ... Könnte ich Ihnen den Schamanen und indischen Gaukler austreiben, sagte Sebastus schon oft, Ihre Wunderkraft und Heiligsprechung wäre verbürgt! Philippus Neri legte sich auf das Studium, den Menschen manchmal so unausstehlich zu werden wie möglich. So auch Sie! Es gelang freilich Ihrem heiligen Vorbilde nicht immer so ganz, wie Ihnen! Je mehr Philippus verletzte, desto mehr liebte man ihn. Ja sogar die Thiere liefen ihm nach. Hunde zu tragen – war sonst eine Strafe der Verbrecher; Philippus trug sich immer mit Hunden und duldete den Spott der römischen Jugend. In die Kirchen ging er und unterbrach die römischen Fénélons und Bourdaloues seiner Zeit gerade an ihren blumenreichsten Stellen. Da wollte er ihre Demuth prüfen, ob auch wol die geistreichen Rhetoriker nun ebenso gelassen blieben, wie sie ihren Zuhörern anempfahlen. Erschien ihm die allerseligste Jungfrau, so spie er sie an, und siehe da! es war eine Teufelslarve. Er sagte: Ihm müßte dergleichen viel herrlicher erscheinen! ... Die »Vernunft« in unserer Heiligengeschichte ist noch gar nicht genug geschildert worden ...

So sprach Klingsohr in Himmelpfort – Fast hätte er sich auch in Rom veranlaßt fühlen dürfen, wieder an diese alten Vergleichungen zu erinnern ... Hubertus sprach den ganzen Weg bis zum Ponte Sisto, der die Wanderer über die Tiber führte, vor Aufregung alles bunt über Eck durcheinander ... Ja er wagte sich an den Pater Vincente mit der italienischen Frage, nicht etwa wo das Capitol oder das Coliseum oder die übrigen Klöster des heiligen Franciscus lägen, sondern wo er die päpstliche Reiterkaserne finden könnte ...

Pater Vincente zeigte weit weg über die Tiber zur Peterskuppel hin und sprach von einer dort befindlichen Porta Cavallaggieri ...

Nun ereiferte sich Hubertus über den Mangel an Briefkästen ... Und daß auch die Hauptpost nicht ein mal des Nachts einen Briefkasten offen hielt, wie ihm Pater Vincente versicherte, rügte er ebenso, wie der heilige Philippus Neri mit den Institutionen von fünfzehn Päpsten, die er erlebt hatte, in stetem demokratischen Hader lag und noch wenige Jahre vor seinem Tode und schon im Geruch der Heiligkeit nahe daran war, statt als »heiliger Diogenes in der Tonne« in allerlei römischen Winkeln zu leben, als Staatsgefangener auf die Engelsburg zu ziehen ...

Als Hubertus die Unmöglichkeit, den Brief abzugeben, in deutscher Sprache beklagte, mußte er erleben, daß Pater Vincente sich umwandte und mit gebrochenem Deutsch einfiel:

Wisset Ihr denn nicht, daß Ihr keinen Briefwechsel führen dürft? Laßt mich doch nicht zum Beschützer einer unerlaubten Handlung werden! ...

Die betroffenen Mönche erfuhren zum ersten mal, daß Pater Vincente soviel Kenntnisse in den Sprachen besaß ... Sie mußten ihren Unterhaltungen einen Dämpfer auflegen ... Hubertus murmelte, verdrießlich über soviel Loyalität:

Sind wir wirklich im Lande der Mörder und Räuber? ...

So kam er in die andächtig und feierlich gehobene Stimmung Klingsohr's, um den jetzt nur noch bald die Volksstürme der Gracchen rauschten, bald die ersten feierlichen Gesänge der Katakombenkirchen ...

Die Wanderer hatten die innere Stadt betreten, die in ihren lebhaftesten Theilen jeder andern südlichen gleicht und außer den an den Häusern zahlreich angebrachten Balconen nichts Auffallendes hat. Die »ewige Stadt« zeichnet sich auch sonst am Tage durch ihre Schweigsamkeit aus, die gar nicht mit der lärmenden Weise Südeuropas stimmt. Die Herrschaft der Priester bedingt den Ton der Ehrfurcht und Zurückhaltung. Beim ersten Betreten macht Rom einen Eindruck, wie Venedig auf den Lagunen – lautlos gleiten die Gondeln über die dunkle Flut ... Jetzt war nun noch die Nacht hereingebrochen und vollends still lagen die hier so engen, den erwerbenden Klassen angehörenden Straßen und kleinen Plätze. Dunkle Schatten hüllten die verschlossenen Häuser ein. Nur da und dort brach der goldene Strahl des Mondes hervor und gab den schmutzigen Eckgiebeln, den verschwärzten Balconen, hochragenden Schornsteinen eine verklärende Beleuchtung. Die vielen Fontainen Roms belebten die Stille. Fiel der Mond auf die Strahlen und die Bassins, in die jene niederglitten, so glaubte man Büschel von Gold- und Silberperlen zu sehen. Oeffnete sich ein größerer Platz und zeigte eines der hohen Staatsgebäude, eine der Kirchen oder einen der in dieser Gegend seltenern Paläste, so sah man die Giebel, Thürme und Kuppeln in um so magischerem Lichte, als die Dunkelheit der Schatten daneben den Glanz derselben erhöhte. Dazwischen durfte das Auge dann und wann glauben, Schneeflocken auf den Höhen zu sehen. Das war dann weißer Marmor, ahnungerweckend aufblitzend ...

Klingsohr sah wie zum zweiten mal geboren um sich ... Die Erinnerungen umkrallten ihn riesig, als Pater Vincente, der sein hartes Wort wieder gut machen zu wollen schien, Erläuterungen zu geben begann ... Da sagte der sanfte Führer auch unter anderm auf ein wüstes Gewirr von Häusern zur Linken zeigend:

Der Ghetto der Juden! ... Die »Rumpelgasse« Roms! ... Ob auch hier, wo eine Nachtigall so mächtig schlug, wo die Fontana Tartarughe so traulich plätscherte, wo am Mauerwerk wie verstohlen eine schwarze Cypresse hervorlugte, ein Veilchen Igelsheimer leben mochte? ... Ob auch hier die nächtliche Vertauschung einer Mönchskutte möglich war gegen einen Ueberrock, mit dem ein toller Mönch in die Theater Roms lief? ... Lucinde huschte für Klingsohr schon lange, lange am Wege ... Da gab es schon so manchen schönen Kopf mit aufgelöstem Haar an einem Fenster, ein Mädchen, das eben schelmisch noch einmal den Mond anguckte und dann erst zu Bett gehen wollte ... Da tönte eine Guitarre ... Da scholl aus einer Schenke ein Jauchzen – das Schreien beim Morraspiel ... Jesus, mein Feldherr! mußte schon der ewige Fahnenflüchtling rufen ... Lucindens Gestalt begleitete den so tief Verkommenen in jeder schönen Situation, ihn, den wie der Brief zeigte, den er in seiner Kutte trug, die trübste Lebenserfahrung schon so tief gedemüthigt, ja zu der ihm sonst nicht eigenen Verstellung gebracht hatte ... Wie oft hatte nicht Lucinde, wenn Jérôme von Wittekind sie im Latein unterrichtete, von Rom gesprochen und ihm was sie gelernt wiedererzählt bei ihren Stelldicheins hinterm Pavillon unter den alten Ulmen auf Schloß Neuhof und noch in Kiel ... Im Profeßhause der Jesuiten hatte sie dem Gefangenen Bilder einer größern Wirksamkeit vorgegaukelt, deren Fernsichten bis nach Rom gingen ... Wo mochte sie wol jetzt weilen, sie, die in ihren auch im Kloster Himmelpfort später bekannt gewordenen, von der Regierung veröffentlichten Briefen an Beda Hunnius ihr Lebenssymbol nicht selten wiederholt hatte: An der Schwelle der Peterskirche möcht' ich sterben! ... Was alles mit ihr Hubertus in Witoborn vorgehabt, hatte Sebastus von diesem nicht ganz erfahren können ...

Pater Vincente blieb freundlich und milde ... Ging doch auch er mit der mächtigsten, gewiß auch ihm aufwachenden Poesie im Herzen dahin ... Klingsohr hatte das Erlebniß von dem Kuß in der Beichte gehört ... Er selbst kannte diese Schemen, die den heiligen Antonius peinigten, nur zu gut ... Und diese Luftspiegelung der erregten Sinne, für die der schöne Jüngling und Mann dort hatte fünf Jahre büßen wollen, vermählte sich heute! ... Er bettelte nun an ihrer Thür! ... Da war ja die Welt Heinrich Heine's, die ihn einst so umfangen gehalten ...

Das kommt, weil man »Madame« tituliret

Mein süßes Liebchen –

Jesus hilf! rief es in Klingsohr's Seele ...

Pater Vincente deutete auf eine rechts sich noch einmal öffnende Durchsicht über die Tiber und auf einen jenseits in den blauen Lüften schwebenden fernen Punkt und sprach:

Das da ist das Asyl der Pilger! Eine fromme Stiftung des heiligen Philippus Neri! ...

Hubertus lachte und drückte spähend seine schwarzen funkelnden Augen zu und hob die Kapuze in die Höhe und sah die so achtbaren Erinnerungen an einen Mann, mit dem er Aehnlichkeit haben sollte ... Und ganz im Neri'schen Geist sprach er in seinem holländischen Deutsch durcheinander, rasch, als wenn Pater Vincente folgen könnte:

Das Haus sieht groß genug aus, um den Seckel der Wirthe zu füllen! Ja – wer Gott liebt, dem müssen alle Dinge zum Besten dienen – namentlich die Wohlthaten, die er spendet! Pater, wo wir in Italien auch hingehört haben, bringen die Bettler, die Armen, die Pilger, die Wallfahrer den Stiftern erst recht das Geld ein. Wie so? Wir sind mit Wallern gezogen, klopften an alle Pilgerasyle und bekamen ein Essen, so schlecht – um sich davon abzuwenden! Aber wir sahen die Oberalmoseniere und Spitalprioren in Kutschen an uns vorüberfahren. Im Walde gab es besseres Laub zum Schlafen, als in solchen Pilgerbetten ... In Turin und in Parma flohen die Wallfahrer vor allen heiligen Asylen, weil sie, eben todtmüde angekommen, erst eine Procession durch die Stadt machen sollen, ehe sie zu essen kriegen ... Herrgott, wer vollends, wie wir, die Sehnsucht hat, 'nmal eine hübsche Stadt näher zu betrachten, eine Stadt, die man endlich mit müden Füßen erreicht hat, dem schließen sie die Pforte vor der Nase, wenn er sich auch nur fünf Minuten an einem gnadenreichen Altar verspätete – Campirt draußen! heißt's ... Da lernten wir den deutschen Pilger kennen – Woher kam er doch? Von Castellungo! Der alte Naseweis und Ketzer, aber ein redlicher Mann ... Der sagte uns: Es steht geschrieben: Nächst dem Gebet eines Heiligen ist nichts vor Gott wirksamer, als das Gebet eines Wallfahrers ... Freilich, das war Spott ... Ein andrer Pilger war bereits dreißig Jahre auf dem Wege nach Jerusalem und immer – bei Montefiascone kehrte er um, da, wo der gute Wein wächst – Est! Est! sagte der deutsche Pilger. Sie, Pater Sebastus, wußten gleich ein deutsches Lied dar auf, das der andre auch gekannt. Widrige Winde machten nach Jerusalem die Schiffahrt gefährlich! sagte der dicke Pilger nach Montefiascone seit dreißig Jahren. Der Schelm lebte von Hühnern und Gänsen – die man dem ewigen Kreuzfahrer nach dem heiligen Est! Est! nicht freiwillig gab ... Was zu schwer zum Forttragen war, half ihm ein dritter frommer Bruder verzehren, der eine Kette an den Füßen durch Spanien, Frankreich und Italien schleppte ... Nicht daß er von den Galeren kam – wenigstens sagte er's nicht – er kam aus Marokko, wo er der Sklaverei entronnen sein wollte, und das Stück Kette trug er jetzt ordentlich wie seinen – Orden ... Heiland, das Italien ist buntes Land! Haben die Leute nicht falsche Briefe mit großen Siegeln, wie nur echte Siegel aussehen können! Und wußten sie nicht alle Gebete, die den Seelen der frommen Stifter von Pilgerasylen im Himmel zugute kommen! ... Dort drüben also auch? ... Wird's besser da hergehen? ... Der heilige Philippus hat glücklicherweise das Gebet solcher verdächtigen Kreuzfahrer und erlösten Christensklaven nicht nöthig ... Manchmal muß ich dem deutschen Ketzer in seinen Zweifeln an allem von Herzen Recht geben ... Wo mag der Alte im Bart wol hingekommen sein? ... Ich ziehe in die Katakomben! sagte er immer ... Es klang wie Kyrie Eleyson ...

Der »heilige Mynheer«, wie Hubertus zuweilen von Sebastus genannt wurde, setzte beim Pater Vincente eine zu große Vollkommenheit in der Sprache voraus, die er ohnehin selbst nur mit vielen Freiheiten sprach ... Sein ganzer Ausfall auf die Wohlthätigkeitsanstalten der Kirche, die in den Schriften so vieler von Rom Verzauberten prunkend verzeichnet stehen, auf die mangelhafte Polizeiverwaltung, auf das ungeregelte Paßwesen bei Vagabunden – die ehrlichen Leute werden genug damit geplagt – erntete aus dem Munde des der Hochzeit Olympia's wehmüthig gedenkend dahinschreitenden Priesters nur die einzige Erwiderung:

Si! Si! Si! ... Quest' un' theatro antico ... Il theatro di Marcello! ...

Selbst die Erwähnung Castellungo's schien der Pater Vincente überhört und von dem Pilger nichts verstanden zu haben ... Und doch war es wol nur Frà Federigo, sein Lehrer, ein Deutscher, jener Mächtige, vor dessen Lehren er einst geflohen war und der fast schon den Bruder Hubertus zu seinen Anschauungen hinübergezogen zu haben schien ...

Sebastus hörte nichts von alledem ... Der starrte nur den im Schatten liegenden antiken Trümmerbau an ...

Hier aber war es lebhafter geworden ... Einzelne vergoldete Kutschen mit prächtigen Livreen jagten vorüber, die Pferde aufgeputzt mit hängenden rothen Troddeln am Ohr und mit bunten Geschirren ... An die Rennbahn der Alten ließ sich denken ... Sebastus dachte, da er vom Marcellustheater hörte – an die alten Tage von Göttingen – Seltsame Ideenverbindung! An den auch von Doctor Püttmeyer verherrlichten »Quincunx« – das Schenkenzeichen! ... Denn die »Goethe-Kneipe« mußte ja hier in der Nähe liegen, Goethe's Campanella, jetzt nur noch berühmt durch ihr Fremdenbuch und ihren schlechten Wein ... Die Trümmer des Marcellustheaters waren in Hütten und Paläste verbaut ... Dicht in der Nähe lag der Palast der Beatrice Cenci ... Auf alles das besann sich Klingsohr aus seiner alten »klassischen Zeit« ...

Aber auch die »romantische« wirkte mächtig ... Schon begegnete man im sich mehrenden Straßenleben andern Mönchen, die mit Körben und Säcken gleichfalls zur Porta Laterana liefen ... Kapuzinern in langen Bärten, Franciscanern aller Grade, Augustinern, Karmelitern; selbst die vornehmen Dominicaner erinnerten sich, daß sie das Gelübde der Armuth abgelegt hatten; auch sie schickten ihre »Brüder« auf die Hochzeit der Nichte des Cardinals ... Kein Trupp stand dem andern Rede ... Kein Lächeln hatten sie oder nur eines, das nicht im mindesten die phantastischen Gestalten als in einer tollen Mummerei begriffen und sich (Augur augurem!) erkennend darstellte ... Nur der Gewinnsucht galt es und dem Vorsprung, den ein Kloster vor dem andern suchte ... Die beiden Deutschen sahen ihre Mitstreiter im römischen Lager ... Welche Welt! ... Und hier nun doch noch so spät ein Leben und Bewegen? ... Da noch wird gekocht und geschmort auf offener Straße? ... Da noch werden Melonen ausgeschrieen? ... Noch Citronenwasser? ... Frische Kirschen? ... Klingen nicht sogar Geigentöne? ... Lacht nicht ein Policinell im Kasten? ... Das alles heute in der Hochzeitnacht Olympiens! ... Roms Saturnalien! ...

Noch haftete Sebastus' Phantasie, wie das in Rom so geht, bald an Goethe, bald an Winckelmann, bald an Ovid, bald an Horaz, die den Marcellus besungen haben, den Neffen des Kaisers Augustus, dem dies Theater da gewidmet ... Da erscholl plötzlich ein fernes Klagegeheul und ein hundertstimmiges Miserere ...

Es kam, wie Pater Vincente erläuterte, von der »Bruderschaft des Todes«, den Begleitern der Leichen, die in Rom bei Nacht begraben werden ...

In wilder Hast, als wenn der Todte die Pest verbreitete oder als wenn Christen einen eben gerichteten Märtyrer in die vor den Thoren gelegenen heimlichen Begräbnißstätten flüchteten, trugen Männer in langen, schwarzen oder weißen, über den Kopf gezogenen Kutten, die nur den Augen zwei kleine Lücken ließen, wie Gespenster einen Sarg dahin ... Andere dazu schwangen Fackeln ... Neben den Fackeln liefen Bursche und sammelten in Schalen das tröpfelnde Wachs, das sich wieder brauchen ließ ... Schnuphase hätte sich niedergeworfen wie alle – er schon vor solcher heiligen Sparsamkeit ... Mönche und Bruderschaften, einen Priester mit seinem Akoluthen und Meßknaben umringend, sangen: Miserere! in nicht endender Litanei ... Vor dem klingelbegleiteten Sanctissimum, das der Priester hoch in den Fackelqualm emporhielt, warf sich alles nieder ... Aber immer weiter, weiter, wie auf rasender Flucht, ging der Zug dahin ... Pater Vincente sagte – um die Leiche in eine Kirche jenseits der Tiber zu stellen, von wo sie erst der gewöhnliche Leichenwagen abholt ... Der Todtenkopf des »Bruder Abtödter« war Leben gegen die Vorstellung, daß unter allen diesen weißen und schwarzen Kutten und Kapuzen Skelette wandeln müßten ... Aus den kleinen Oeffnungen vor den Augen dieser Männer glühte es wie leuchtende Kohlen ...

Nehmen wir den Weg über das Capitol! sagte Pater Vincente, als sich die Mönche mit den andern wieder erhoben hatten und der wilde Zug vorüber war ... Ihn schien er nicht erschüttert, nicht so zur Eile gedrängt zu haben, wie den Pater Sebastns ... Zur Eile! ... Musterte eben die »Braut von Rom«, wie ein Schmeichler die junge Fürstin heute besungen, oder der Cardinal oder die Herzogin von Amarillas die Reihen der Mendicanten, die an der Pforte der Villa Rucca standen – er war ja dessen gewiß, daß San-Pietro in Montorio vor allen andern Klöstern bedacht werden würde ... Olympia zeichnete reuevoll sein Kloster aus ... Ihn bedrohte, das sagte man seit einiger Zeit, in der That der Hut des Cardinalats ...

Bei Klingsohr – wie war da nun freilich die Erinnerung dahin – an Goethe's Campanella –! ... Dieser schreckhafte Leichenzug – und jene Römerin, auf deren Rücken der Dichter des Faust hier einst Hexameter getrommelt zu haben vorgab, die Goethe, Klingsohr wußte es, erst in Weimar auf dem Rücken der »Dame Vulpius« trommelte, paßten nicht zusammen ... Memento mori! ... Auch Goethe hat es erfahren! sagte sich Klingsohr sinnend zum Capitol aufsteigend ... Hier, wo er den Becher der Lebenslust, kurz vor dem Scheiden der männlichen Kraft, in seinen vierziger Jahren noch einmal wie ein Sohn der Griechen getrunken hat, hier mußte er ja dem einzigen Sohn, dem Sohn jener in römische Reminiscenzen maskirten Thüringerin, an der Pyramide des Cästius, dem Begräbnißplatz der Protestanten, eine wahrere Grabesinschrift setzen ... Hier starb Goethe's einziger Sohn ... Flüchtig zog und fast schon von ihm in Rhythmen gebracht der Gedanke durch seine Seele:

Wo nur find' ich den Wirth zur Campanella! Der Schenke,

Wo ich Falerner gesucht – »Lacrymä Christi« nun fand!

Firnen aus Golgatha! Nicht aus den Trauben der Schlacke,

Die der Vesuv uns schenkt, Leidenschaft, wenn sie verglüht!

Deutscher Apoll! Hier war's, hier hast du Verse getrommelt –

Auf der Römerin Leib – schwelgtest in seliger Lust –

Und erfuhrst nur dein Maaß! Die Pyramide des Cästius

Blieb das Ende vom Lied! Blieb der Morgen der Nacht –!

Wahrheit und Lüge! O wohl, so mürrisch strafen die Götter!

Wandle gen Rom, o Mensch! Rom ist der Mensch und die Welt!

Ein tiefes, tiefes Schweigen folgte nun ... Glocken hallten von den Thürmen ... Man erstieg einen Calvarienberg – das sind die Stufen zum Capitol ...

Zur Linken wohnt – der heimatliche Gesandte, auf dessen Autorität vor drei Vierteljahren drei Gensdarmen am Ponte Molle auf die deutschen Flüchtlinge gewartet hatten! ... Zur Rechten – der tarpejische Felsen, der jetzt derselben Krone gehört ... Wie schüttelte Sebastus all diesen »Staub« von seinen Füßen! ... Wie hatte er für ewig dieser »ghibellinischen« Welt entsagt! ... Das Capitol! rief er und über seinen Sandalen schmerzte ihm der Fuß, so trotzig stampfte er vor dem Wappen seines Landesherrn auf ...

Da lag ein mittelalterlich Haus vor ihm, die Stätte des gebrochenen Capitols ... Einige Brunnenstatuen vor ihm und ein kleiner Platz, auf dem, vom Mond beleuchtet, Marc Aurel zu Pferde sitzt – Ein Gelehrter, der über dem Studium der Philosophie seine alten Schlachten vergaß! sagte Klingsohr mit Hindeutung auf die ihm nicht kriegerisch erscheinende Haltung des Reiters und auf – »Euern Friedrich, den sogenannten Großen –!«

Jetzt schlug es elf ...

Bergab ging es auf die Trümmerstätte des alten Forums ...

Ein Leichenfeld! sprach Pater Vincente ...

In seinen Erläuterungen ging er nicht über Petrus und Paulus hinaus ... Die Gracchen – Cicero! ... Das mußte sich Klingsohr selber sprechen ... Sein Blick starrte dem Untergang der Erhabenheit ...

Hubertus kannte von den alten Zeiten nur so viel, als nöthig war um zu begreifen, daß hier die begrabene Macht eines alten Volkes lag, das einst die Welt beherrschte ... Zertrümmerte Portale, einsame Säulen, Triumphbögen mit zerbrochenen Statuen ... Am Tag ein wüst erschütternder Anblick, den jetzt das Zauberlicht des Monds verklärte ... Dort oben auf dem Palatin wohnten die weltgebietenden Cäsaren ... Ein magisches Goldnetz hält die grünen Hügel und die Steine umwoben ... Wären diese vom Corso herüberrasselnden Wagen, diese lachenden Menschen nicht gewesen, die zu spät zu kommen fürchteten zu der auf Mitternacht angesetzten Hochzeits-Girandola, die durch die Fenster eines am milchblauen Himmel auftauchenden dunklen Gebäudes schon zu beginnen schien, wenn ein Knabe rief: Eine Leuchtkugel! – Der Knabe meinte einen Stern, der so plötzlich durch die Oeffnungen des Coliseums blinkte ...

Das Coliseum! ... Sebastus hätte wünschen mögen, Niemand hier zu sehen und zu hören und nur allein zu wandeln ... Allein mit Livius und Niebuhr ... Da ein Tempel, dort eine Basilika ... Wie mag es hier einst gesummt haben, als die Comitien des Volks versammelt waren und die Consuln Roms gewählt wurden! ... Wohin entläßt uns dies Thor? flüsterte er ... Ist es nicht der Triumphbogen des Titus, als er Jerusalem zerstört hatte? ... Sein »Credat Judaeus Apella« fiel ihm ein ... Doch der »Virtuose im Glauben« – hier hatte er keinen Zweifel zu hegen nöthig. Da an der Wand des Thors sah er den siebenarmigen Leuchter, den Tisch, die Schaubrote, die Jubeljahrposaunen, die Bundeslade ... Die erhabene Stelle war's, wo sich Jupiter und Jehova so nahe berührten! ... Aber – kein Jude geht gern unter diesem Bogen hinweg, kein Jude blickt gern auf jenes Riesengebäude, das dreißigtausend gefangene Juden gebaut haben sollen ...

Was Vincente so und ähnlich erläuterte, wußte Klingsohr alles ...

Aber kaum gedachte er Löb Seligmann's, dessen physische Kraft zum Streichen der Ziegel für diesen Riesenbau in keinem Verhältniß gestanden haben würde – als er Veilchens gedenken mußte ... Veilchens, die ihm einst bei seinen Besuchen in der Rumpelgasse gesagt hatte: »Sie sind ein Mensch der Selbstqual, der Reue, des Gewissens – ewig wird's Ihnen gehen, wie's dem Kaiser Titus ging, als er Jerusalem zerstört hatte! Da ist Titus zu Wasser gegangen mit seiner siegreichen Armee und ein Sturm zog herauf und die gefangenen Juden triumphirten, weil sie dachten, Gott hätte seine Rache auf das Meer aufgespart. Und Titus bekam Angst, spottete und sprach: Zu Land ist Adonai schwach, aber zu Wasser – da kommt er, scheint es doch, dem Neptunus gleich! Wahrlich, spottete er, Adonai hat die Sündflut befohlen, er hat die Aegypter im Rothen Meer ersäuft, er hat den Sissera am Strom Kischon geschlagen, er wird auch für Jerusalem seine Rache nehmen auf dem Mittelländischen Meer! ... Da aber ist gekommen eine Stimme aus dem Himmel und hat dem Spötter gerufen: Titus, Titus ich habe Jerusalem untergehen lassen wegen seiner Gottlosigkeit! Weil du aber meiner Langmuth spottest, so sollst auch du meine Macht kennen lernen, aber – zu Lande! Das Meer ward da stille und Titus betrat unter dem Jauchzen des Volks das feste Land. Wie er recht von Herzen über den Judengott lachte, flog ihm in die Nase eine Mücke, wie sie nur auf dem Lande vorkommt, und bohrte sich tief in sein Gehirn. Sieben Jahre hat Titus davon die schrecklichsten Schmerzen im Kopf gehabt, denn die Mücke starb nicht, sondern sie wurde immer größer und sie summte bei Tag und bei Nacht. Einst ging er bei einem Schmied vorüber. Bei den Amboßschlägen hörte die Mücke zu summen auf. Da stellte sich Titus dreißig Tage an den Amboß und die Mücke schwieg. Am einunddreißigsten aber fing sie wieder zu summen an; sie hatte sich an den Hammerschlag gewöhnt und Titus mußte sterben. Als sie sein Gehirn aufmachten, kam ein Thier zum Vorschein, so groß wie ein Vogel. Der Mund war von Kupfer und die Füße waren von Eisen – –« Nun schloß die Spinozistin: »Daß Sie sind katholisch und ein Mönch geworden, Herr Pater, das ist bei Ihnen die Schmiede gewesen und die Mücke ist nun auch vielleicht dreißig Tage still ... Aber ich will nicht wünschen, daß sie am einunddreißigsten wieder lebendig wird!« ...

Wie wurde sie aber schon so oft so lebendig! ... Schon damals wurde sie's beim Schweigen, das der Kirchenfürst dem Pater als Buße auferlegt hatte, beim Begegnen Lucindens in der Kathedrale ... Nun all dies Große und Majestätische Roms! ... Und wenn auch Klingsohr damals zu Veilchen sagte: »Jehova rächte sich allerdings an den Römern zu Wasser – durch die Taufe!« – wie summte ihm doch die Mücke jetzt und wisperte: Ist Golgatha die Welt? Haben die alten Götter keine Rechte mehr? ...

Klingsohr schritt dahin, fast wie einst in Göttingen, wenn er die Titel der hundert Bücher auf den Lippen führte, »die er schreiben wollte« ...

Pater Vincente, in dessen Seele es still und ruhig schien, lenkte zum Coliseum ein ... Er betrat es, den fremden armen Gefangenen zu Liebe ...

Wäre die Nacht nicht so hell und belebt gewesen, so würde dies mächtige Rund den Eindruck eines Schlupfwinkels für Räuber gemacht haben ... Es liegt so einsam – umwuchert von wildwachsenden Büschen, die oben aus den Fenstern herausbrechen; die Vegetation hat seit tausend Jahren in allen Stockwerken bis zur obersten Galerie Platz gegriffen ... Die Bogengewölbe, die geborstenen Säulen, die zertrümmerten Rundmauern waren im Mondlicht wie die Erscheinung eines Traums ... Von Luft und Licht gewoben schien dies Bild eine märchenhafte Täuschung ... Aber sicher, fest und natürlich widerhallte Schritt und Gespräch unter der Bogenwölbung des Eingangs; nur zu deutlich sah man drinnen die Sitze, von denen herab Tausende auf Menschenkämpfe einst blickten mit jenen Thieren der Wüste, die hinter den eisernen Gittern da geborgen und durch Hunger zur Wuth gereizt wurden ... In der Mitte steht zur Entsühnung solcher Erinnerungen an den tiefsten Verfall der Menschheit ein kleines Kreuz ... Rundum ziehen sich die Bilder eines Stationswegs ... Eine Heiligung, die edler gedacht als ausgeführt ist! ... Das sagte selbst Pater Vincente, der niederkniete und einen mit einem Kreuz bezeichneten Stein küßte, auf dem Hubertus mühsam las: »Wer – dies Kreuz – küßt, hat auf ein Jahr und 40 Tage – Ablaß.« ...

Hubertus folgte dem Beispiel des frommen Paters ... Natürlich mußte es auch der Mönch Sebastus thun, so wenig die Hoffnung, vierhundert Tage im Fegfeuer Linderung zu gewinnen, in diesem Augenblick seiner Stimmung entsprach ... Die Mücke des Titus schwieg nicht mehr. Er stand nicht mehr an seiner Schmiede ... Es ergriffen ihn die Schauer der Vergangenheit ... Wenn er auch nur des heiligen Augustin gedachte, der seinen Freund Alypius von seiner Leidenschaft für Gladiatorenkämpfe hier im Coliseum durch einen plötzlichen Schauer vorm strömenden Blut der sich Mordenden geheilt sah, so mußten ihm wol seine hohlen großen Augen rollen und Gedanken kommen, wie der, den er aussprach:

Hier dies kleine armselige Kreuz! Hier hätte Miche Angelo einen seiner Giganten herstellen sollen! So groß, so hoch, wie der Koloß von Rhodus! Bis an die obersten Sitze hätte der Blick eines Daniel reichen müssen, zu dessen Füßen die besänftigten Löwen sich schmiegten! Niederbohren mußte der Prophet mit dem Busch seiner Augenbrauen die wilden Thiere auf dem blutigen Sande um sich her und – die Thiere in den Herzen dieser Zuschauer! ... Marcus der Evangelist, der die Bibel emporhält, hätte wie ein Geisterbeschwörer stehen müssen, sein aufhorchender Löwe neben ihm, auch gebändigt, auch in die Falten seines Gewandes scheu sich schmiegend! Was soll dies kleine Kreuz! ...

Hier möcht' ich im Chor singen! sagte Hubertus ... Er übte seine Stimme so laut, daß es weit dahinschallte ...

Pater Vincente verstand sein deutsch gesprochenes Wort, nickte und entgegnete, das geschähe hier alle Freitage – von den Kapuzinern ... Zeigte er dabei auf die Fenster hinauf mit dem vom Nachtwind leise bewegten wildwuchernden Gebüsch, auf den Mond, der hinter den Oeffnungen bald hervorblitzte, bald sich versteckte – und dann sie selbst in der Mitte des riesigen Baues beleuchtete, wovon sie Schatten warfen wie – »kleine bucklige Gnomen«, so war dieser Vergleich aus Sebastus' Munde die von ihrem Führer wol kaum verstandene – ironische Antwort ...

Die Wanderer wandten sich der Eingangswölbung zu ... Klingsohr fand sich allmählich zurück in seine Gegenwart; sie näherten sich heiligen Stätten ... Sie bestiegen einen aufwärts gehenden Weg und kamen in eine Art Vorstadt, an deren äußerstem Ende einer der drei Paläste der Stellvertreter Christi liegt, der Lateran. In alten Zeiten als Burg der dreifachen Krone hervorragend vor Quirinal und Vatican, erhält sich der Lateran jetzt nur noch in seiner Autorität durch die Gerechtsame, die nebenan auf der ältesten Pfarrkirche Roms, Sanct-Johannes, ruhen, auf dem Heiligthum des größten der von Thiebold de Jonge einst so kritisch beurtheilten Kreuzessplitter, auf der Platte, auf der einst das Abendmahl eingesetzt wurde, auf dem Heiligthum jener hier aufgestellten »Heiligen Treppe«, an deren Fuß Petrus den Herrn verleugnete ... Sonst ist hier alles am Tag so still und öde, wie ein Sonntagsnachmittag in einer kleinen Stadt – in dieser Nacht rauschte ein buntes, bewegtes Leben ...

Alles drängte dem Thor zu, vorüber am Obelisken des Constantin und zur Straße, die hinaus nach Albano führt ... Militär sprengte dahin, um die Ordnung zu erhalten ... Wagen in grotesker Vergoldung, mit Bedienten, die hier dem neuesten englischen Geschmack, dort der Rococozeit angehörten, folgten sich einander – jetzt schon in langsamerer Fahrt ... Auf den Trottoirs und die langen Mauern der Vorstadtgärten entlang drängten die Bürger in ihren kurzen Jacken und Manchesterhosen, die kurzen Mäntel übergeworfen, weiße Hüte oder bunte Mützen auf den unrasirten braunen Köpfen ... Die Frauen selten noch in der Tracht der alten Zeit ... Englands Baumwolle hat die bunten Nationaltrachten schon aus Sicilien und Griechenland verjagt; die gelben Mädchen der Hindus gehen in Kattunröcken unsres Schnitts ... Nur der Kopf bleibt noch zuweilen national; hier war das dunkelschwarze Haar der Römerinnen schön geflochten, geziert vom bunten Kamm, vom silbernen Pfeil; selbst der Matrone wirres und weißes Haar blieb nicht ohne Schmuck ... Würde und Selbstbewußtsein liegt im festen Gang aller dieser dicken Krämer und Wurststopfer ... Von den ausgelassenen Späßen, mit denen sich bei solchem Anlaß jenseits der Berge die Volksmassen geneckt haben würden, fand sich wenig Spur ... Kein Anschluß; Jeder für sich ... Die Erwartung galt der »Girandola«, dem Anblick der geputzten Herrschaften, den ausgeworfenen Zuckerspenden und Schaumünzen ... Höflich bog man dem schwarzen Rock des Augustiners aus, der braunen Kapuzinerkutte, der weißen Schnur des Franciscaners, dem grauen Rock des Karmeliters, dem weißen des Dominicaners ... Alle diese kamen mit Körben und Säcken, mit riesigen Kannen sogar, ohne die mindeste Rücksicht auf lächerliche Störung ihres malerischen Effects ... Italien hat seine eigne Aesthetik ... Es besitzt Raphael – aber ein Offizier mit einem Regenschirm – ein Dorfpfarrer auf einem Esel – und zwei Reiter zugleich auf Einem Pferde erscheinen ihm nicht im mindesten lächerlich ...

Die herrlichen Gärten dann ... Leider nur mit hohen Mauern verschlossen, wie überall in Italien ... Hängen die Jasminkronen auch nicht herüber, so erfüllen sie mit ihrem Duft die Straßen um so ahnungerweckender ... Da und dort zeigt sich denn auch wol in den neidischen Mauern ein kleiner eiserner Ausbruch, durchzogen von blühenden Rosenranken oder purpurrothen Asklepiadeen ... Jenseits des Thors schweift der freie ungehinderte Blick auf die im blauen Licht schimmernde Campagna, auf die Gebirge; nun zur Rechten liegen Villen und Gärten, die sich an die des Lateran anlehnen ... Die fünfte oder sechste darunter ist die heut an einer bunten Illumination weithin schon kenntliche, vom Volk umwogte Villa Rucca ...

Vier mit blauen, rothen, gelben, violetten Lampen geschmückte Obelisken bilden die Eckpfeiler am heute geöffneten Eingangsgitter ... Die hohe Gartenmauer ist mit einer flimmernden Guirlande von Hunderten kleiner Flammen geziert ... Im Garten vor der beleuchteten Villa brennt eine riesige Sonne, rings umgeben von den kostbarsten Südpflanzen ... Perspectivisch berechnet, am Ende einer schimmernden Ahornallee glänzt ein sichelförmig niedergleitender Wasserfall, hinter dessen krystallnen durchsichtigen Fluten geschäftige Hände die Künste der Sanct-Peterskuppel-Beleuchtung nachahmen, die beweglichen Lampenständer auf- und niederschwenkend ... Musik hallt aus den beleuchteten Sälen der illuminirten Villa ... Dann und wann schießt in die magisch blaue, unendlich weiche, milde Luft schon eine Leuchtkugel, ein mit dem Mondlicht wetteifernder Vorbote des Feuerwerks ... Das ihm aufjauchzende Volk drängt bis an die große Sonne ... Von da ab werden nur noch die Mönche und die Träger von privilegirten Büchsen hindurchgelassen ... Todtenbrüder in ihren unheimlichen Hemden fehlen nicht ... Man hatte ausgesprengt, der Cardinal Ceccone spendete heute Gaben im Werth von dreitausend Scudi und die Aeltern des Prinzen Rucca die nämliche Summe ... Das Gerücht schien sich annähernd zu bestätigen ... Ein Harlekin ergötzte das Volk über das Gitter hinweg durch Würfe von Münzen ... Diese waren freilich nur noch von gebackenem Zucker, aber eine Tombola war im Gange, bei der einige silberne Uhren ausgespielt werden sollten, ohne daß man den Einsatz bezahlte – die Loose wurden über die Häupter hinweggeworfen ... Nächst Madonna Maria ist Fortuna die größte Heilige in Rom ...

Pater Vincente, Pater Sebastus, Bruder Hubertus wurden durch die Chaine gelassen, die die Soldaten und Gensdarmen zogen ... Man wies sie an ein Seitengebäude, wo vor einer noch geschlossnen Pforte eine förmliche Kirchenversammlung gehalten wurde ... Am heiligen Grab in Jerusalem mag es zur Osterzeit so aussehen, wenn sich die Mönche aller Orden der Christenheit zusammenfinden und je nach Umständen beten, Tauschhandel treiben oder – sich prügeln ... Die Türken sollen den christlichen »Caricaturen des Heiligsten« mit stillem Lächeln zusehen und abwechselnd bald zum Pfeifenrohr, bald zur Peitsche greifen ...

Klingsohr fühlte heute ähnliche Anwandelungen aus Goethe's »west-östlichem Divan« ... Er drängte vorwärts und staunte der Wiederkehr seiner alten göttinger Burschenkraft ... Hubertus warf schon hier einen Kapuziner, dort einen Karmeliter aus dem Wege ... Als die übrigen Franciscaner den heiligen Pater Vincente sahen, fielen sie ehrfurchtsvoll in den Ruf einiger Stimmen ein:

Platz dem Sack von San-Pietro in Montorio! ...

3.

Contessina Olympia Maldachini hatte zwar immer die Villa Rucca nach dem runden und geschweiften Rococostyl ihrer Bauart eine »altbackene Brezel« genannt und damit die empfindlichste Seite der Ruccas, ihren – von einem Bäcker herstammenden Ursprung berührt ...

Aber die geöffneten Räume der altmodischen marmornen Kommode, das große Oval des Saales mit den kleinen Seitenpavillons und den nach hinten hinausgehenden Terrassen, die fast noch eine Ausdehnung des Saales schienen, boten doch darum einen glänzenden Anblick ...

Ein solches Fest, wo das Auge unter Lichtern, Blumen, Statuen nicht mehr herausfindet, ob der Fuß innerhalb oder außerhalb eines Saales, in geschlossenen Räumen oder auf Veranden und Altanen verweilt, kann man nur im Süden feiern ... Die Gunst des Himmels muß eine sichere sein; kein Wölkchen darf das Vertrauen auf die Mitwirkung der Natur zur Lust der Menschen stören ...

In dem Saal, in den Nebenzimmern, auf den mit blendend weißen, silber- und krystallstarrenden Tafeln geschmückten Terrassen wogten einige Hundert der vornehmsten Gäste mit glänzender Dienerschaft ... Männer und Frauen in den reichsten Toiletten ... Die Römerinnen der hohen Aristokratie hie und da imposant; aber bei weitem die Mehrzahl doch nur zierliche, kleine, ja nicht selten verkommenere Gestalten, als die majestätischen, die unsre Phantasie in Römerinnen erwartet ... Auch die Männer sind nicht das, was wir von den Nachkommen der Scipionen erwarten ... Der junge Principe Rucca, in seiner rothen, goldgestickten päpstlichen Kämmerlingsuniform, der glückliche Bräutigam, der wirklich, wie ein Pasquill sie nannte, die »Katze Olympia« leidenschaftlich liebte, braucht dabei nicht mitzuzählen; noch weniger sein Vater, der immer wie ein alter schäbiger, heute einmal ordentlich gewaschener und lächerlich bunt ausgeputzter Bewohner des Ghetto aussieht ... Aber selbst Principe Massimo, der Nachkomme des Quintus Fabius Maximus Cunctator, der auf Napoleon's ironische Frage: Stammen Sie wirklich von diesem glücklichen Gegner des Hannibal her? stolz erwiderte: Das weiß ich nicht, Sire, aber man glaubt es von unserm Geschlecht bereits seit eintausendzweihundert Jahren! (eine Antwort, die nach Klingsohr's Auffassung der »Heiligen Treppe«, vor der alles Volk im Vorübergehen knixte, Rom und der römische Glaube auf alle Zweifel an seine Reliquien geben darf – »Sind diese Knochen nicht echt«, schrieb Klingsohr schon zur Zeit des Kirchenstreites, »so ist doch durch sein hohes Alter der Glaube an ihre Echtheit ehrwürdig«) – – Principe Massimo ist ein kleiner, feiner diplomatischer Herr, der mehr der Sphäre der Abbés, als der Imperatoren anzugehören scheint ... Da wandeln die Borghese, die Aldobrandini ... Gegen frühere Geltung sind es herabgekommene Namen, wenn auch immer noch so stolze, daß sie hier vielleicht nicht anwesend wären, schwebte nicht der Alter Ego des Stellvertreters Christi, Cardinal Don Tiburzio Ceccone, wie ein Apoll von sechzig Jahren durch die Reihen, lächelte bald hier, bald dort, stellte, als wäre er der Wirth, neue Mitglieder des diplomatischen Corps den Damen vor, begrüßte junge Prälaten, die sich eben erst in die Carrière mit einigen Tausend Scudi eingekauft haben, neckte die Damen ... Diamanten und Bonmots blitzen ... Die seidenen Gewänder streifen sich und die Galanterieen ... Das die Gemahlin des Fürsten Doria, eine Engländerin, hoch und stolz, sogar mit einem Orden geschmückt ... Dort die Fürstin Chigi, deren Urahnen unter dem wilden Papst Julius II. ihren Gästen bei solchen Gelegenheiten Ragouts von Papagaienzungen vorsetzten und die gebrauchten Silbergeschirre in die Tiber werfen ließen – »Jetzt würden sie vorsichtiger sein«, spottete schon oft Ceccone ... Napoleoniden fehlen nicht ... Ceccone gibt ihnen mit lächelnder Grazie Andeutungen, wie ihre demokratischen Bestrebungen ihm in Wien Gegenstand empfindlichster Vorwürfe für das Cabinet der gekreuzten Schlüssel gewesen wären ... Neulich hatten Räuber den Prinzen von Canino (Lucian Bonaparte) in seiner Villa Rufinella aufheben wollen ... Der Cardinal scherzt eben darüber mit ihm und sagt: Wenn man eine Million Lösegeld verlangt hätte, würden Eure Hoheit vielleicht nicht den »Congreß der Naturforscher« in Pisa begründet haben, der ja wol den Anfang der »Einheit Italiens« bilden soll! ... Ein scharfes Wort, harmlos vorgetragen, und doch so drohend, daß der Prinz hinter dem Mann im rothen Käppchen und in rothseidnen Strümpfen eine bedenklich ernste Miene macht ...

Saht ihr diese Miene? Ihr Piombino, Ludovisi, Odescalchi, Ruspigliosi –? ... Alle diese Namen, die freilich in den Listen des »jungen Italien« fehlten, fehlten doch nicht bei dem Widerspruch, den das Priesterregiment Roms seit tausend Jahren bei den Adelsgeschlechtern findet ... Den Gesprächen zufolge hätte niemand an die Stadt der sieben Hügel denken sollen ... Sie betrafen Theater, Concerte, Moden – aber doch auch Räuber, die nächsten Segnungen des heiligen Vaters, die reservirten Plätze bei den großen Kirchenfesten ...

Die lebhafteste Conversation führten die Offiziere und die Geistlichen ... Letztere, Roth- und Violettstrümpfe, sind gegen die Damen fast noch zuvorkommender, als die erstern, die vorzugsweise der Nobelgarde Sr. Heiligkeit angehören – schlanke hohe Gestalten, jüngere Söhne der Aristokratie; nur ihrer achtzig; aber Schooskinder der römischen Gesellschaft, Tonangeber aller offenen Freiheiten, die sich noch unter dem Priesterregiment gestatten lassen – der geheimen gibt es genug – die Begleiter Sr. Heiligkeit auf Reisen, die Anführer seiner öffentlichen Aufzüge – ein Graf Agostino Sarzana darunter – in goldstrotzender zinnoberrother Uniform mit blauem Kragen, weißen Beinkleidern, den schönen Römerhelm, mit schwarzen hängenden Roßhaaren und dem kleinen weißen Seitenbüschel daneben, schon in der Hand ... Das Souper war zu Ende ... Alles drängte dem Garten und dem Feuerwerk zu ...

Graf Agostino Sarzana war es, der eine Dame verfolgte, die sich nach dem Ausspruch Sr. Eminenz des regierenden Cardinals heute ausnahm wie eine »Tochter der Luna« ... Die Dame verschwamm im blauen Aetherlicht wie ein Gedanke voll Ahnung ... Sie tauchte auf, da und dort – und verschwand wieder in den dunkelgrünen und blauen Schatten wie die Luft ... Ihre Toilette war der Anlaß dieser Vergleichung des Cardinals, der sie gleichfalls mit Feueraugen verfolgte, wenn er sie auch nicht vor den vielen andern anwesenden, die seinem Herzen und – Beutel theuer waren, allein auszeichnete ...

Die Tochter der Luna, der Keuschen, deren heidnischen Ruf Ceccone als Priester der Christenheit nicht zu schonen brauchte, indem er ihr eine Tochter gab, trug ein blaßblaues Kleid von Donna-Maria-Gaze, einem durchsichtigen, damals neu erfundenen Seidenstoff, übersäet mit kleinen silbernen Sternchen ... Das Kleid war nicht ausgeschnitten; es verhüllte, der keuschen Luna schon entsprechend, Formen, die sich dennoch verriethen ... Als einziger Schmuck blinkte im dunklen Haar ein einfaches Diadem von blankem Silber, in Gestalt eines Halbmonds ... Es war ein Kopf, der sich mit seinem glattliegenden Scheitel und dem kräftig gewundenen Knoten im Nacken wie eine lebendig gewordene Statue aus den ägyptischen Sälen des Vatican ausnahm ... Um die dunkeln Augen lag eine gewisse erhitzte Röthe, wie sie bei leidenschaftlichen Naturen vorkommt ... Die Stirn war schmal; die Wange ebenso etwas zusammengehend, aber sanft zum spitzen Kinn niedergleitend; die untere Lippe trat mit Muth und Trotz hervor ... Es gibt plastische Gesichtsformen, die nicht altern ... Das Schönste war die Länge der Gestalt ... Die Dame war pinienhaft schlank ...

Graf Sarzana will unserer »Creolin« Unterricht im Italienischen geben? scherzte der Cardinal so laut, daß es alle Umstehenden hörten ... Die »Creolin« war wieder ein neues Stichwort für die »Tochter der Luna« und diesmal kam es vom Monsignore Bischof Camuzzi, dem ersten Secretär des Cardinals, der als Missionar Westindien bereist hatte ...

Eminenz, sagte Graf Sarzana, der schlanke junge Mann mit athletisch breiten Schultern, auf denen bei jeder seiner Bewegungen die goldenen Epaulettes hin-und herflogen, und strich sich den martialisch gezogenen Schnurrbart, Eminenz haben die Absicht, die ganze Welt zu reformiren! Auch die Garde Sr. Heiligkeit! Wenn ich noch länger in diesen Fesseln schmachte und nicht erhört werde, geh' ich nach San-Pietro in Montorio, nach dem die Dame mich soeben gefragt hat ...

Auf diese scharf betonte Lokalität und überhaupt auffallend grell gesprochenen Worte des Ritters Sr. Heiligkeit fistulirte ein Stimmchen nebenan:

Ja, in der That! Pater Vincente ist ja da! ...

Dies Stimmchen gehörte dem Bräutigam, der den Namen des bezeichneten Klosters gehört hatte und eben von der Pforte kam, wo er den seiner Person so schmeichelhaften Volksjubel und die Ausspielung der silbernen Uhren hatte controliren wollen ...

Wir werden das meiner Frau sagen müssen! fuhr er, vom Champagner erhitzt mit Lebhaftigkeit fort ... Erführe sie die Anwesenheit des Paters und dieser ginge, wie er gekommen, so wäre sie im Stande, mir die erste Gardinenscene zu machen ...

Die Abbés und Prälaten lachten über die Wonne, mit der jeder junge Ehemann von zwölf Stunden fortwährend den Begriff: »Meine Frau« im Munde führt ...

Inzwischen stiegen immer mehr Leuchtkugeln auf und das Feuerwerk schien seiner Entfaltung nahe zu sein ... Draußen riefen Tausende von Stimmen und klatschten bereits im voraus Beifall und die Musik fiel mit schmetterndem Tuschblasen ein ...

Der alte Rucca und die Fürstin Rucca Mutter – die jedoch noch keineswegs Matrone sein wollte und ihren Cavaliere servente aufsuchte, um ihm eine Strafrede für Vernachlässigung zu halten – schossen hin und her, sahen nach der Ordnung, sahen nach dem Aufbewahren der Speisereste – »für die Armen« – Der Schwiegervater Olympiens war bis zum Exceß ökonomisch ... Der kleine Mann mit einer orientalischen Habichtnase und dem Band des Gregoriusordens über der Brust klagte allen Prälaten über seine Domäne, die Zölle der adriatischen Küste ... Man nannte ihn gewöhnlich den »Blutsauger« ... Dies war ein Titel, der ihm gerade vor andern, die ihn ebenso verdienten, keinen Vorzug gab ... Nie aber hätte sich allerdings gerade der alte Fürst Rucca auf der Küste von Comacchio bis Ferrara sehen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, von den Schmugglern und seinen eigenen Zollbedienten todt geschlagen zu werden ...

Aber auch dieser alte Herr horchte mit dem schalkhaftesten Lächeln seines Nußknackerkopfes sowol nach der Erwähnung des Pater Vincente wie nach dem Unterricht der »Creolin« hin – er wußte ja, daß es eine Deutsche war ... Seinem Sohn rief er gelegentlich ein heimliches: Asino! nach dem andern ins Ohr, besonders wenn dieser die Monsignori vom Steuerwesen, den Finanzminister Roms, den Cardinal Camerlengo, nicht genug zu honoriren schien ... »Maulesel« nannte er ihn sogar, wenn er zu wild um Olympien her »trampelte« ... Klagte nun der junge Ehemann über die »schlimme Laune« seiner Frau, so schrieb der Alte das mit eigenthümlichem Meckern auf Rechnung aller Bräute am Hochzeitstag ... Dies Meckern machte, daß seine Nase und sein Kinn sich küßten und die Mundwinkel zurückgingen fast in die Ohren ... Der Cardinal Camerlengo, düster brütend wie Judas Ischarioth, der auch zuweilen nicht wissen mochte, wie er den Seckel für den ersten Kirchenstaat von dreizehn Personen füllen sollte, scherzte jetzt: Sie sind so guter Laune, Fürst? Im nächsten Jahr verlang' ich eine Million mehr! Die Zeiten werden schlechter und schlechter! Wir müssen aufschlagen, Hoheit Generalpächter! ...

Der alte Fürst drückte sein »Wie kommen Sie mir vor?« mit einer charakteristischen Geberde aus, die zwar stumm war, aber das ganze anwesende geistliche Ober-Finanz-Personal des Kirchenstaates lachen machte ...

Der Vielseitigkeit seines Geistes entsprach sein Sohn keineswegs ... Ercolano Rucca war von Wien beschränkter als je zurückgekommen ... Er konnte überhaupt immer nur Einen Gegenstand im Kopf haben ... War dieser erledigt, erst dann kam er auf den zweiten ... Oft aber dauert es bekanntlich Tage und Wochen, bis in dieser sublunaren Welt unter hundert Sachen Eine gründlich durchgesetzt ist ... Principe Ercolano sprach dann tage- und wochenlang nur von dieser Einen Sache, z.B. von der Kunst, Handschuhe zu verfertigen aus Rattenleder, was eine Idee war, die der Verwaltung des Steuerwesens Muth geben sollte, die nördliche Generalpacht im Hause der Rucca's erblich zu lassen ... Jetzt suchte er nur noch nach der Herzogin von Amarillas, die wegen Pater Vincente um Rath gefragt werden sollte ... Graf Sarzana hatte soeben noch mit der Herzogin gesprochen ... Auch die alte Fürstin suchte die Herzogin – wie deren Cavaliere servente, Herzog Pumpeo, versicherte – Dieser Herzog Pumpeo wollte in gerader Linie von Pompejus abstammen; auch er war ein armer Nobelgardist, aber ein Crösus an guter Laune und für Se. Heiligkeit selbst ein Spaßmacher, wenn gerade an ihn der Dienst im Vorzimmer oder bei der kleinen Garçontafel des Stellvertreters Christi kam ... Se. Heiligkeit ließ übrigens damals den Cardinal Ceccone schalten und walten – und um nichts zu verschweigen, sagen wir es offen und aufrichtig: Der »Zauberer von Rom« war bitter krank ... Der »Träger der Himmelsschlüssel«, der »Patriarch der Welt«, der »Vater der Väter«, der »Erbe der Apostel«, der »Hirt der Heerde«, war ein armer Mensch; er fürchtete den Gesichtskrebs zu bekommen Cardinal Wisemann's »Erinnerungen«....

Heda, Kamerad! ruft bei alledem champagnerberauscht Herzog Pumpeo dem Grafen Sarzana zu. Ich sehe die blaue Eidechse da, wo die Schwärmer prasseln! ... Hu, wie sie erschrickt! ... Dort huscht sie zu den Mönchen hinüber, von denen sie einer vielleicht in seinen Sack steckt und nach Santa-Maria trägt ... Sie ist eine »Beate« (Frömmlerin) ... Alle Eure Mühe, sie zu bekehren, scheint mir vergebens, Bruder – oder soll's vielleicht heißen:

Freut Euch, ihr Jungen!

Die Alten bezahlen!

Die Alten bezahlen,

Nur müßt ihr nichts sehen –

Nur müßt ihr nichts hören –

Weiter kam diese Lästerung auf Ceccone nicht ... Nun war die »Tochter der Luna« und die »Creolin« auch die »blaue Eidechse« und sogar eine »Frömmlerin« ...

Der Graf und der Herzog wandten sich armverschränkt beide dem linken Flügel der »Brezel« zu, wo erstens die Champagnerströme reichlicher flossen, zweitens die alte Fürstin Rucca, zornig mit den Augen runzelnd, auf Pumpeo, ihren Ritter, wartete und drittens eine wahre Batterie von Schwärmern losplatzte ... Das gab ein Angstgeschrei, bei dem die muthgebenden Soldaten nicht fehlen durften ...

Der Bräutigam kam inzwischen mit einer Dame zurück, die heute nicht zu den freudestrahlenden gehörte ... Auch die Toilette der Herzogin von Amarillas verrieth ihre Trauer ... Die Veilchen sind eine Blume, vor der bekanntlich jede Römerin, obgleich an Blumenduft gewöhnt, eine bis zur Ohnmacht gehende Abneigung hat; dennoch war das schwarzseidene Kleid der Herzogin ganz von blauen Veilchen durchwirkt; schwarze Spitzen saßen am Leibchen und am Rock ... Auch die grauen Haare waren in schwarze Spitzen eingehüllt ... Und nur um den Cardinal nicht zu sehr zu einem jener Blicke zu reizen, die ihm zuweilen bis zum Tod verwundend zu Gebote standen – seit einiger Zeit war er in dieser Art gegen sie wie ein Skorpion – hatte sie dem Anlaß der Freude, die zur Schau getragen werden sollte, das Opfer gebracht, Hals und Arme mit dunkelrothen Korallen und die Spitzen, die das graue Haar verhüllten, mit frischen Granatenblüten zu schmücken ... Warum soll sie er fahren, sagte sie in ihrem bei alledem stolzen und festen Tone, daß Pater Vincente zugegen ist? ...

Sie ist so verdrießlich ... fiel der besorgte junge Ehegatte ein ... Wir müssen es ihr auf alle Fälle sagen ... Durchaus ...

Die Herzogin erwiderte nicht minder mismuthig:

Sie kennen die Bescheidenheit des heiligen Mannes ... Olympia wäre fähig, ihn in die Gesellschaft zu rufen und mit ihm – zu kokettiren! ... Das letzte Wort unterdrückte sie freilich ...

Sie will ihn zum Cardinal machen ... Ehe es Fefelotti ohnehin thut ... Wir müssen ihn aufsuchen ...

Thun Sie das nicht! sagte die Herzogin. Ich werde es ihr selbst sagen und dann hören, was sie etwa wünscht ... Die Ernennung zum »Cardinal« überraschte sie nicht ... Sie kannte die Maxime der ehrgeizigen Cardinäle, für die Papstwahl entweder sich selbst in Bereitschaft zu halten oder, falls sie unterliegen sollten, irgendeine unschädliche, ihnen verpflichtete Puppe ... Pater Vincente's Geschichte war dem Klerus ganz Italiens bekannt ...

Das Feuerwerk entfaltete sich noch nicht in seinem vollen Glanze ... Die Bravis erschollen von nah und fern nur noch wie Ironie über die Verzögerung ... Das Gewühl des Volks wurde größer und größer ... Dabei gingen die abgetragenen Schüsseln bei den Mönchen und Repräsentanten der Spitäler und Bettlerherbergen um ... Schon begannen unter knallenden Champagnerkorken die Austheilungen ... Manche der devoten Frauen, der »Beaten«, betheiligten sich selbst an der Uebermittelung der Gaben ... Ihre goldbetreßten Diener standen dann zur Seite und überwachten die glänzenden Schmuckgegenstände, die sie trugen ...

Olympia, die »Braut von Rom«, besaß entweder die Reizbarkeit aller kleinen Gestalten, im Gewirr vieler Menschen nicht mit den ihnen gebührenden Ansprüchen hervortreten zu können, oder ihre Stimmung war in der That voll äußersten Verdrusses ... Sie lief nach rechts und nach links, redete mit diesem und mit jenem und trug auf der Stirn den ersichtlichsten Ausdruck einer leidenschaftlichen Nichtbefriedigung ... Ganz so mürrisch, wie sie heute in der Frühe in der Kirche Apostoli den Ceremonien der Trauung beigewohnt hatte, sah sie jetzt das »Bouquet« des Festes, das Feuerwerk herannahen ... Schon mahnten die Schwiegerältern, daß es passend wäre, sie führe ganz in der Stille während des Feuerwerks mit ihrem Gatten in das Palais der Stadt, das sie in der Nähe des Pasquino bewohnten – jenes alten Steinbildes, an dessen Fuß seit urältesten Zeiten die Satiren Roms angeklebt werden und von dessen Sockel die Polizei seit einigen Tagen jeden Morgen in erster Frühe Spottverse abgerissen hatte, die den Cardinal ernstlich an die Zeiten mahnen ließen, wo Sixtus der Fünfte solchen Pasquinospöttern die Zunge ausreißen ließ ... Gerade vor diesem Augenblick der Abfahrt schien aber Olympia Furcht wie zum Entfliehenmüssen zu haben ... Sie stand niemand Rede ... Dem Gatten nicht ... Dem triumphirenden – »Onkel« nicht ...

Ceccone weidete sich an seinem Liebling, dessen Bewegungen und Erscheinen sich wenigstens durch das Rauschen des schweren Seidentaffetkleides ankündigten, das sie unter ihrer Brautrobe von Spitzen trug ... Noch wehte ihr wie bei der Trauung und der ersten Messe, die das junge Paar anhören mußte, wie bei den conventionellen Andachten, die den Tag über an gewissen großen Altären und bei dem Besuch Sr. Heiligkeit, um den Segen des armen mit Tüchern umwundenen Mannes zu bekommen, gemacht werden mußten, der kostbare Spitzenschleier im Haar – statt der Myrte war er jetzt von einem Kranz von Orangenblüten umgeben ... Schon welkte dieser; schon welkten die gleichen Bouquets, die auf dem Kleide in gewissen Zwischenräumen zur Seite saßen; die Hitze des innern Saals, wo Olympia gesessen, war zu groß gewesen; sie riß auch und zerrte an allem, was sie hinderte ... Den bronzenen Hals schmückte ein Collier von Diamanten ... »Sie ist schön, wenn sie liebt« – hatte im vorigen Jahre die Herzogin gesagt ... Olympia liebte heute nicht ...

Ein kurzer Augenblick – hinter einer großen von Hortensien gefüllten Marmorvase – und Ceccone konnte Olympien an sich ziehen und sie voll väterlicher Bestürzung fragen:

Aber was hast du denn nur, mein geliebtes Kind? Was ist dir nur heute? ...

Jettatore anche voi! zischte Olympia mit rauher Stimme, stampfte den Fuß auf und stieß die weichen Hände des Priesters zurück ... Alle Welt will, daß ich sterben soll! setzte sie fast weinend hinzu ...

Ein solches Wort – dem »Onkel«! ...

Olympia hatte gesagt, Ceccone wäre gleichfalls ein mit dem »bösen Blick« für sie Behafteter, ein Jettatore, »wie alle Welt!« ... Das der Dank, daß er der öffentlichen Meinung trotzte und ungeachtet aller vom Pasquino abgerissenen Satiren auf die »Donna Holofernia«, auf die Vermählung derselben mit dem jungen »Judas Ischarioth Seckelträger junior«, und ähnlicher Anspielungen scheinbar heute so sorglos und unbefangen sein Haupt erhob ...

Auch er hatte ja der Sorgen genug! Aber ihm genügte im Augenblick vollkommen der lärmende Antheil der ewigen Stadt an seiner Person; ihm genügte die unabsehbare Wagenreihe der hohen Aristokratie und Prälatur, die bis in die dunkelsten Schatten der Landstraße hin sichtbar blieb ... Und nun ein Ausbruch solcher Nichtgenüge bei dem geliebten Kinde, das sich zuweilen auch gegen ihn zu empören an fing ... Er flüsterte:

Täubchen! Liebchen! ... Papagallo! ... Fiore di luce! ...

Suche dir die »Tochter der Luna«! ... erwiderte sie höhnisch und huschte fort ...

Der Onkel lachte über die »Eifersucht« seiner Nichte ...

Da wandte sie sich noch einmal ...

Onkel, sagte sie zornig, lache nicht! Ich möchte in diesem Augenblick sterben! ... Ich wünschte, du hättest nur wegen meiner an Pasqualetto geschrieben – nach Porto d'Ascoli – ...

Jesu! flüsterte der Cardinal, wurde kreidebleich und sah sich besorgt um ... Welchen Namen nennst du da? ... Pasqualetto – St! unterbrach er aufs strengste Olympiens Gegenrede ...

Der alte Rucca ging eben vorüber, spitzte die Ohren, grinzte seltsam und sagte für sich: Eh! Eh! Eh! ...

Vieldeutige Laute ... Olympia hatte einen Namen genannt, den er gehört zu haben schien ... Er wandte sich halb und halb zum Zuhören und liebäugelte einer Schwiegertochter, deren Hochzeit – mit seinem verlängerten Pachtcontracte zusammenhing – ...

Ceccone winkte ihm mit graziöser Handbewegung zu gehen ... Noch ist sie mein! sprach er süß und vor allen näher herantretenden Zeugen ... Dann legte er die zarten weichen Hände auf das Haupt der kleinen Meduse, zog sie wieder an die Hortensienvase und flüsterte:

Wie kannst du von Pasqualetto reden? ... Was soll er? ...

Mich stehlen und in die Berge schleppen! ... erwiderte Olympia ...

Ich beschwöre dich, mein süßer Papagai! fuhr der besorgte Vater fort und wollte Olympia noch weiter ins Dunkel mit sich ziehen, um sie herzinniger zu küssen, vielleicht sie an den Wagen zu führen, den der junge Gatte zu jeder Minute bereit zu halten versprochen hatte ... Schon rief er nach dem Mohren, der nach seiner Taufe den frommen Namen Chrysostomo führte ...

Statt des Chrysostomo kam aber der ganze Schwarm der Gäste ... Die Leuchtkugeln erhellten gerade die Vase mit den Hortensien und wo die Braut war, mußten doch alle sein ... Niemand erzürnte gern die wilde Olympia ... Es klang ihr jetzt ganz zu Sinn, daß ihr Gatte verspottet wurde über die Verzögerung des Feuerwerks ... Die Raketen haben den Schnupfen! hieß es ... In die Cascatellen ist Wasser gekommen! ... Die »Feuerräder« haben die Achse gebrochen! ... Man fürchtet, die »Frösche« werden hüpfen wie die Flöhe! ... Flöhe ... Wer solche Italienerworte hätte in dieser Sphäre für unziemlich halten wollen, mußte eine deutsche oder französische Bildung haben ... Der Südländer kennt keine Scheu der offenen Namengebung dessen, was natürlich ist ...

Die Herzogin von Amarillas machte inzwischen einen Versuch, sich Olympien zu nähern ... Aber Olympia entzog sich gerade ihr ... So beschloß denn die Herzogin, die Nachricht über den Pater Vincente für sich zu behalten ... Auch sie floh vor dem endlich beginnenden Feuerwerk ... All dies Knistern und Knattern, all diese Bravis und Ausrufungen waren der Mutter Julio Cäsares nicht zu Sinn ... Sie suchte den Garten, den Park, der zwar nicht unbelebt, aber dunkler war und an seiner äußersten Grenze Einsamkeit versprach ... In diesem Verlangen nach dem Pater Vincente, das die Braut ausgesprochen, lag für sie ein ihr wohlbekannter Ausdruck des Zorns über Benno's Nichtanwesenheit, über sein gänzliches Verschwundensein nach den beiden Märchenwonnentagen von Wien, lag der Ausdruck der Reue über die allzu schnelle Ernennung Bonaventura's zum Bischof von Robillante ... Benno hatte sich im vorigen Jahr nach Rom begeben und war dort nicht länger geblieben, als bis – die Mutter und Olympia ankamen ... Da war er nach dem Süden entflohen ... Er hatte sich aufs Meer begeben, war über Sicilien, Malta, Genua, Nizza nach Robillante gereist, wo er in diesem Augenblick bei Bonaventura verweilte; er stand mit der Mutter im Briefwechsel, er schrieb ihr unter fremden Adressen – sie hatte die ganze Bürgschaft seiner Liebe und Zärtlichkeit für sich; – aber vor einem Zusammenleben mit Olympien erfüllte ihn ein ahnungsvolles Grauen ... Aus dieser Misachtung der ihm so offen in Wien ausgesprochenen Liebe Olympiens war eine Gefahr für die Herzogin selbst, für Benno, für alle seine Beziehungen entstanden ... Die Theilnahme, die die Mutter für ihn nicht verleugnen konnte, wurde ihr von Olympien aufs heftigste verdacht ... Nun mußte auch noch die Herzogin in Wien ein junges Mädchen gefunden haben, das, der italienischen Sprache vollkommen mächtig, anfangs nur die Vermittelung mit den deutschen Verhältnissen erleichtern sollte ... Eine wohlberufene Convertitin, die von einer glühenden Sehnsucht nach Rom verzehrt wurde ... Die Herzogin hatte den Auftrag erhalten, die Würdigkeit dieser Empfehlung zu prüfen ... Sie sah sie, war von einer auffallenden Aehnlichkeit derselben mit ihrem Kinde Angiolina gerührt – es fehlte nur noch die Bekanntschaft dieses Mädchens mit Benno und Bonaventura, um sie nicht wieder freizulassen ... Es war nun aber Lucinde Schwarz selbst, die ihrer Stellung gefährlich zu werden drohte ...

Lucinde liebte nicht, ungefragt von ihrer Vergangenheit zu sprechen. Sie war nie in der Stimmung, gern von Schloß Neuhof, vom Kronsyndikus, Jérôme von Wittekind zu berichten ... Aber die Erwähnung fand sich zufällig und da stand sie schon in Wien Rede ... Die Herzogin horchte voll Erstaunen ... Auf die Länge war sie von Lucinden seltsam abgestoßen und wieder angezogen ... Man nahm sie mit nach Italien ... Erst später zeigte sich die Gefahr dieser »Eroberung«, wie Ceccone, überrascht von Lucindens Geist, sie genannt. Lucinde gewann Einfluß über alle ihre neuen Umgebungen, über den jungen Principe, über Olympien, den Cardinal sogar ... Jetzt war sogar schon Olympia eifersüchtig auf »die Tochter der Luna« ... Rom hatte Lucinden verjüngt ...

Das Boskett, das dicht an die zur Verlängerung des Speisesaals umgewandelte Terrasse stieß, bestand aus einer Pflanzung von Nuß- und Kastanienbäumen ... Aus seinem mäßigen Umfang heraus führten Gänge von beschnittenen Buchsbaum- und Cypressenwänden auf kleine Rotunden, in deren Mitte aus Farrenkräutern und Vergißmeinnicht Springbrunnen plätscherten oder Marmorstatuen glänzten, am Fuß von blühenden Cactus, von feurigen Schwertlilien umgeben ... Nun kamen die rechts zu den Gärten des Lateran sich ziehenden Beete ... Sie folgten sich in Abdachungen, die zu Cascatellen benutzt, von Grotten, von Muschel-, von Marmorverzierungen unterbrochen wurden ... Zur Linken, jenseits der großen Platanenallee und des flimmernden Wassersturzes führten riesige Taxuswände zu einer Altane, von welcher sich ein weites Feld von Weinstöcken wie ein einziges grünes Dach auf die Landstraße erstreckte ... Dorthinauf, wo sich unter wilden Lorberblättern ausruhen ließ, zog es die von den schmerzlichsten Ahnungen erfüllte Herzogin ...

Eine Weile noch wurde sie auf ihrem Wege von einem Naturspiel aufgehalten ... Das Licht des Mondes und der Widerschein des Feuerwerks wurden in ihren magischen Wirkungen noch übertroffen von zahllosen Glühwürmern, die bald grün, bald roth aufblitzend die Luft durchschwammen, auf den Sträuchern und Blumen wie Edelsteine funkelten, unwillkürlich die Hand lockten, die Luft zu durchstreifen und nach eitel Funken und Licht zu haschen ...

In diesem Augenblick glaubte die Herzogin die »Tochter der Luna« zu sehen, die am äußersten Ende eines der in den Ziergarten einmündenden Heckenwege – von zwei Mönchen verfolgt wurde ...

Sie staunte des auffallenden Anblicks ... Sollten von den Bettlern an der Pforte zwei so verwegen gewesen sein, sich hierher zu wagen? ... Oder konnte sich in falscher Verhüllung Räubervolk eingeschlichen haben? ... Eben waren die Mönche und die fliehende Donna Lucinda verschwunden ...

Oder hatte sie sich getäuscht? ... Hatte das mondlichtfarbene Kleid der Gesellschafterin sie irre geführt? ...

Da hörte sie das Lachen des Herzogs Pumpeo ... Offiziere kamen und junge Prälaten, die der Champagnerrausch von den alten Damen zu den jungen vertrieb ... Einige der schönsten hüpften an ihrem Arm – gleichsam nur auf der Flucht vor den gefährlichen Feuerfröschen ...

Die Herzogin blieb stehen ... Fast wurde sie umgerannt von dem aus einem andern der Gänge ihr eilend entgegentretenden Conte Sarzana ...

Sahen Sie die beiden Mönche, Graf? fragte die Herzogin ängstlich ...

Die der Donna Lucinda folgten? antwortete Sarzana mit Theilnahme ... Wo sind sie? ... Ich habe ihre Spur verloren ...

Beide durchkreuzten den Gang, den die übrige Gesellschaft herauskam, und eilten der dunklern Gegend jenseits der Platanenallee zu ... Der am Ende derselben funkelnde Wasserfall gab einen Schein von Belebung des Gartens, der sich indessen nicht bestätigte ... Alles blieb einsam und gefahrvoll ... Jetzt rief der Graf:

Ich sehe sie ... Dort beim Aufgang auf die Altane ... Was wollen die Frechen? ...

Conte Agostino lief mit seinen hohen Reiterstiefeln die nothwendigen fünfzig Schritte voraus und rief schon auf halbem Wege dem nächsten der Mönche ein donnerndes:

Que commande? ...

Als er näher gekommen, fand er Donna Lucinda mit geisterhafter Blässe im Gespräch mit den beiden Mönchen, die unausgesetzt wie Eindringlinge von ihm angerufen und für verkappte Gauner erklärt wurden ... Ging doch auch durch die Stadt das Gerücht, man hätte heute in einer Herberge am Tiberstrand den berüchtigten Räuber Pasquale Grizzifalcone aus der Mark Ancona gesehen, das Haupt aller Räuber- und Schmugglerbanden der adriatischen Meeresküste ... Es konnten seine Genossen sein ...

Die lange schlanke Deutsche hielt einen Brief in der Hand und sagte mit zitternder Stimme und im besten Italienisch:

Vergebung, Herr Graf! Es sind – zwei Landsleute von mir ... Sie ersuchen mich, eine Bittschrift zu übernehmen ... Ich werde sie besorgen, ihr – frommen – Väter –! Lassen Sie sie in Güte ziehen, Herr Graf! ... Willkommen in Rom, Pater – Sebastus und Frater – Hubertus! ... Wir sehen uns noch ... Gewiß! Gewiß! ... Felicissima notte! ...

Die beiden Mönche standen lichtgeblendet – wie Saulus am Wege von Damascus ... Sie konnten sich nicht trennen ...

Inzwischen war die Herzogin näher gekommen ... Sie erschrak bei dem Anblick Lucindens, die tieferschüttert schien ... Noch mehr entsetzte sie sich vor dem Anblick eines dieser Mönche, der mit seinem kahlen und wie fleischlosen Kopf aus seiner niedergefallenen Kapuze geradezu ein Bote des Todes erschien ...

Auch die Begleiter des Duca Pumpeo kamen, jetzt ohne die Damen, näher, nahmen die Mönche in die Mitte und geleiteten sie aus dem Garten ... Graf Agostino erhielt von Lucinden die Bitte und, als er darum noch immer nicht ging, fast den Befehl, sie zu verlassen ...

Die Herzogin sah Lucinden noch wie betäubt an den Sockel einer Statue sich lehnen, von welcher aus man auf die Plateforme jener Altane schreiten konnte ... Es war hier ringsum dunkel ... Die dichtbelaubten Bäume warfen düstere Schatten ... Die Herzogin widerstand nicht, Lucinden zu folgen ... Diese drängte auf die Altane hinauf, als fürchtete sie hier unten zu ersticken oder den Mönchen aufs neue zu begegnen ...

Sie sind ja auf den Tod entsetzt, mein Kind! sprach sie theilnehmend ... Erholen Sie sich ... Diese zudringlichen Bettler in Rom! ... Die Bittschrift war nur ein Vorwand! ...

Lucinde schlich nur langsam die Erhöhung hinauf ...

Oben angekommen, sagte sie:

Nein, nein! ... Ich kannte sie beide ... Ich wußte längst, daß sie in Rom sind – ich hätte sie aber lieber, das ist wahr, vermieden; ich – mag nichts mehr hören von Deutschland ... Die Bittschrift ist – an den Bischof – von Robillante ... Ich will sie besorgen ...

An den Freund meines Cäsar! ... staunte die Mutter und hätte nun gewünscht, die Mönche wären nicht vertrieben worden ...

Beide Frauen blieben auf der einsamen Altane, auf der sie sich auf Sesseln von Baumzweigen niederließen, unter einem Dach von künstlich gezogenem Lorber ... Vor ihnen lag vom Mond beschienen das große stille Meer der Weinstockblätter ... In der Ferne Feuerwerk und das lärmende Volk, das jeder Rakete ein Evviva! rief ...

Obgleich sich Lucinde allmählich zu fassen schien, kam die Herzogin doch nicht mehr auf die Mönche zurück ... Gerade diese durch Benno bedingten Wallungen des Interesses zu verbergen, besaß sie eine volle Gewandtheit ... Sie pries die erquickende Erlösung von dem rauschenden Gewühl, das sich nicht verziehen wollte ... Sie saßen so, daß sie durch die Büsche zugleich die Künste des Feuerwerks und über die Weingärten hinweg den stiller gebliebenen Theil der Gegend beobachten konnten ...

O, hier sind wir sicher vor dieser bunten Posse! sagte die Herzogin. Wenn die Lüge in der Welt so rauschend auftritt, wie sollte erst die Wahrheit sich ankündigen dürfen! ...

Die Wahrheit feiert ihre Triumphe in der Stille! entgegnete Lucinde, noch immer athemlos. Diese Triumphe sind die Glühkäfer des Geistes, die uns nur auf einsamen Wegen umschwirren! ... Wie heißt denn die Pflanze da, auf der ich vorzugsweise die Thierchen wie die Lichter auf unsern nordischen Weihnachtsbäumen antreffe? ...

Lucinde rang nach dem Ton der Gleichgültigkeit ...

Die rothen Disteln? Das sind Artischocken! sagte die Herzogin ...

Wächst so dummes Gemüse hier so wild und schön! ... Carciofoli! Ganz recht! ...

Eine kurze Pause trat ein ... Beide bewegten ihre Fächer und wehten sich Kühlung zu ... Mancher scherzhafte Vorfall des Tages, manche Neckerei an der Tafel, mancher Schmuck, manche überladene Toilette ließen sich besprechen ...

Das Gespräch stockte jedoch bald ... Es zeigte sich – diese beiden Frauen mußten anfangen eine sich für ein Hinderniß der andern zu halten ... Die Herzogin hatte sich längst gesagt: Hier ist meine Zeit um! Olympia ist meiner Führung entwachsen! Selbst den Cardinal, ihren Vater, lehnt sie für ihre neue Einrichtung als täglichen Gast ab – Schon hat sie's ihm angekündigt ... Ceccone sucht – eine neue Häuslichkeit! Diese Lucinde – lockt, reizt ihn – Ich sah es heute, er schien ganz außer sich ... Lucinde sollte, wie sich gebührt, zu Olympia ziehen ... Diese lehnt aber auch sie ab ... Soll also ich jetzt –? Ich? ... Ich ahne, was Ceccone aus ihr und – mir gestalten will ... Um sie »mit Anstand« zur Nachfolgerin – der Herzogin von Fossembrona, der Marchesina Vitellozzo zu machen, soll ich – als Deckmantel? – ... Nimmermehr! ... Das zu verweigern bin ich – Benno schuldig ... Aber Graf Sarzana! ... Diese Abenteurerin – wie sie in seinen Briefen Benno schildert – und Sarzana! ... Diese armen Teufel freilich – die – Sarzanas! ...

So empfand die Herzogin ... Klug aber und verstellungssicher, wie sie war, nahm sie das Gespräch nach einer Weile auf ...

Es ist wahr, sagte sie, das Leben bringt es mit sich, daß nur zuweilen die Stacheln der Disteln, das sind ja Artischocken, jenen nordischen Weihnachtsbäumen, die ich kenne, gleichen! Die Illumination der Lüge muß uns ermuthigen, an diese kleinen Glühkäfer in der Nacht der Wahrheit, an das hellste Licht, das Aetherlicht des Schmerzes, zu glauben ...

Lucinde konnte noch nicht geläufig erwidern ...

Eine Bittschrift an den Bischof von Robillante, sagten Sie? ... fuhr die Herzogin fort, als Lucinde den Brief träumerisch betrachtete und ihn seufzend in ihrem Busen barg ... Ist es wahr, daß dieser Priester eine Gräfin liebte, die seit einigen Monaten die Gattin des Grafen Hugo von Salem-Camphausen geworden ist? ...

Lucinde fixirte die Herzogin mit scheuen unheimlichen Augen ... Jetzt erst recht antwortete sie nicht ... Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie ja mit einer Frau zusammensaß, gegen die sie seit einiger Zeit sich hatte entschließen wollen, einem Serlo'schen Gedanken Gehör zu geben ... In Serlo's Denkwürdigkeiten stand: »Wenn ihr doch nur nicht ewig von Pflichten der Dankbarkeit bei Diensten reden wolltet, die Euch gar kein Opfer gekostet haben!« ...

Die Herzogin sprach sorglos, der bittern Stimmung ihres Herzens folgend:

Graf Hugo liebte – hört' ich und sah ich in Wien – ein junges Mädchen, das sich aus Verzweiflung – um ihr Schicksal den – Tod gab ... Ich sah – ihre – Leiche, ich sah seine Trauer ... Er schloß mit dem Leben ab und doch – doch – wie mögen auch bei dieser Vermählung die Raketen gestiegen sein! ... Ha, erinnern Sie sich in Wien der schönen Altane, von der wir Abschied nahmen am Tag vor unserer Abreise? ... Es lag tiefer Schnee auf den düstern Tannen ringsumher ...

Ich erinnere mich ... antwortete jetzt Lucinde, die sich von Klingsohr und Hubertus allmählich zurückfand. Sie betonte scharf. Sie hatte der Herzogin heute schon wieder Zurücksetzungen nachzutragen, die sie ihr in Mienen und Worten an der Tafel hatte wider fahren lassen ...

Ob wol das junge Paar an derselben Stelle wohnt, wo – die – arme – Geliebte – mit zerschmettertem Haupte lag? ... fuhr die Mutter Angiolinens, nichts ahnend fort ...

Das – junge – Paar wohnt – in der Stadt ... berichtete Lucinde – – von dem wirklich geschlossenen Bunde Paula's und des Grafen Hugo ...

Eine lange Pause trat ein ... Ein leiser weicher Windhauch kam vom Südmeer ... Im Weinberg zitterten die Blätter ...

Es ist doch gut, daß wir den Gespensterglauben haben! sagte die Herzogin feierlich ... Wir fürchten uns doch noch zuweilen ein wenig vor den Gräbern ... Die Alten verbrannten ihre Todten, glaubten aber doch auch an eine strafende Wiederkehr; der Geist des ermordeten Cäsar erschien den Mördern in der Schlacht bei Philippi ... Die Christen wollten von den Todten so wiedererstehen, wie sie in ihrer schönsten Lebenszeit aussahen ... Angiolina hieß – sie? ... Sahen Sie schon die Katakomben drüben? ... unterbrach sich die Erinnerungsverlorene ... Dort blitzt eine goldene Spitze im Mondlicht auf ... Das ist Santa-Agnese ... Dort steigen Sie einmal nieder mit einem guten Führer ... Philipp Neri, der Heilige, hat da unten wochenlang gewohnt ... Die Erde hier ringsum ist durchhöhlt ... Christen- und Römergräber in Eins ... Ein Leichenfeld! ... Das Leben ist's ... Wer war der eine dieser Mönche? Er sah ja wie der Tod ...

Wie die Auferstehung! hauchte Lucinde für sich ... Aber der erste Schrecken war bei ihr nun vorüber ... Sie hatte sich wieder in ihre gegenwärtige Lage zurückgefunden ... Ihr Auge fixirte die Herzogin immer unheimlicher ...

Diese erschrak über die fast schielenden Blicke des Mädchens ... Und beim Suchen nach einem gleichgültigen Gespräche schilderte Lucinde die Unzufriedenheit der jungen Fürstin Rucca ... Da betonte sie sehr scharf den Namen Benno's ...

Lucinde that das seit einiger Zeit in Gegenwart der Herzogin öfters ...

Lucinde hatte allerdings bemerkt, daß die Herzogin von Amarillas in einer geheimen Beziehung zu Benno stand ... Sie hatte schon in Wien das Interesse beobachtet, das diese Frau an ihrem frühern Aufenthalt in Deutschland, an Witoborn, an Schloß Neuhof nahm ... Sie wußte, daß sie eine Sängerin gewesen und – in Leo Perl's Bekenntnissen war ja von einem gewissen Betruge die Rede, den er an einer – nicht genannten Sängerin hatte ausführen helfen ... Sie war auf den Gedanken gekommen, ob nicht jene »zweite Frau« des Kronsyndikus, die der vom Wein Aufgeregte und schon an Wahnanfällen Leidende damals in jener Nacht in Kiel mit dem Degen von sich abwehren wollte, diese jetzige Herzogin von Amarillas sein könnte ... Ihrer wühlerischen Combination entging nichts von dem, was sich aus auffallenden Daten solcher Art irgendwie verknüpfen ließ ... Sie hatte auch schon Benno's ihr hinlänglich bekannte im Familienkreise der Asselyns und der Dorstes oft besprochene »dunkle Herkunft« in den Kreis ihrer Combinationen gezogen und staunte schon lange über Benno's Aehnlichkeit mit dem Kronsyndikus und mit der Herzogin ... Sie verfolgte diese Gedanken stets und stets seit dem Augenblick, wo sie bemerkt zu haben glaubte, daß die Herzogin gern über sie lächelte, sie gering behandelte und zurücksetzte ... Heute war Graf Sarzana, als er ihr den Arm geboten hatte, von der Herzogin auf eine andere Dame verwiesen worden ... Diese Kränkung hatte sie nur vergessen, weil sie später genug von Huldigungen überschüttet wurde ... Solche Geringschätzungen konnten sich aber wiederholen ... Daher sagte sie mit scharfspähendem Blick und sich aller der Vortheile erinnernd, die sie über die Asselyns hatte:

Der Todtenkopf? Nach dem Sie fragten! Ich lernte ihn in Witoborn kennen, in dessen Nähe ein Kloster liegt ... Es ist das Familienbegräbniß jener Wittekind-Neuhof, nach denen Eure Hoheit mich schon so oft gefragt haben ... Der vor länger als einem Jahr verstorbene Stammherr, der Kronsyndikus genannt, hat den Vater des andern, des zweiten Mönches, den Sie sahen, in einem Wortwechsel erstochen ... Dieser Unglückliche hieß Klingsohr und war des Freiherrn Pächter ... Der Todtenkopf aber war des Freiherrn Jäger und hieß Franz Bosbeck ... Aus Holland stammt er, war in Java, gewann auf dem Schloß Neuhof eine Stellung durch die Liebe einer bösen Frau, die dort regierte, Brigitte von Gülpen ... Da sein Herz an einem andern Wesen hing, rächte sich diese Frau und veranlaßte den Entschluß ihres Verlobten, der seine wahre Liebe durch den Tod verlor, sich in ein Kloster zu flüchten ... In Indien soll er von den Gauklern Künste der Abhärtung gelernt haben, weshalb er sich trotz Entbehrungen und Strapazen so rüstig erhält ... Der eine der beiden Mönche hatte eine Sehnsucht nach Rom, die der andre aus mir unbekannten Gründen theilte ... Beide entflohen, saßen bisher auf San-Pietro in Gefangenschaft und richten nun, wie sie mir sagten, in diesem Schreiben an den Bischof die Bitte, sich zu ihren Gunsten zu verwenden ... Sie fürchten sich, wie jeder, der einmal in Rom war, nach Deutschland zurückzukehren – ...

Lucinde hielt inne, weil sie die Wirkung ihres Berichtes beobachten wollte ...

Die Herzogin folgte mit der höchsten Spannung ...

Doch hatte Lucinde in der Kunst der Beherrschung ihre Meisterin gefunden ...

Nach dem ersten leisen Zucken der Mienen bei den Worten: »Familienbegräbniß der Wittekind-Neuhof«, trat trotz der aufs äußerste erregten Spannung und der sie blitzschnell durchzuckenden Vorstellung: Diese Schlange kennt dein ganzes Leben! eine Todtenkälte in die geisterhaft vom Mond beschienenen Züge der Herzogin und sie sagte nichts als:

Kommt der Nachtwind so vom Meere? Wovon bewegt sich das Laub in den Weinbergen? ... Sehen Sie nur, als wenn eine einzige große Schlange dahinkröche ... So hebt es sich hier und dort und sinkt wieder zusammen ...

Lucinde hatte nur ihr Auge nach innen gerichtet ...

Beide Frauen waren zu tief in ihre Erinnerungen, zu tief in die Rüstung des zunehmenden Hasses gegeneinander verloren, um einer Beobachtung über den Nachtwind längern Spielraum zu lassen ...

Die Herzogin ging nach Lucindens Mittheilungen in die Worte über:

Ich würde vorschlagen, lieber die Bitte dem Cardinal, bei dem Sie ja allmächtig zu werden anfangen, mitzutheilen, wenn nicht – allerdings Olympiens Laune zu schwankend wäre ... In der That schon oft sprach sie ihre Reue aus, einem Fremdling, wie jenem Bischof, so schnell den Fuß auf italienischem Boden gegönnt zu haben ... In ihren Lobpreisungen des Pater Vincente, der jetzt am Thor unter den Bettlern sein soll, erkenn' ich die Gedanken, die in ihrem Innern Gestalt gewinnen wollen ...

Lucinde beobachtete, ob wol die Herzogin ihr ganzes Interesse für Bonaventura kannte ...

Diese fuhr fort:

Auch ist der Bischof von Robillante in der That nicht vorsichtig ... Er hat dem Erzbischof von Coni mehr die Spitze geboten, als einem so ganz den Vätern Jesu angehörenden, jetzt als Großpönitentiar nach Rom zurückkehrenden Prälaten gegenüber gutgeheißen werden kann ... Sein Eindringen in San-Ignazio und die Trinita zu San-Onofrio hat die Dominicaner gegen ihn aufgebracht ... Die Dominicaner sind in gewissen Dingen mächtiger, als die Jesuiten ... Dieser Orden beruft sich auf die Privilegien der Inquisition ... Der Bischof ging an die weltlichen Gerichte ... Das war ein Beweis von Muth, aber auch eine große Unbesonnenheit ... Neun Waldenser, sieben Proselyten, die die Waldenser unerlaubterweise aufgenommen hatten, mußten von den Dominicanern, die sie einzogen, herausgegeben werden ... Um Einen, der fehlt, kämpft nun der Bischof noch immer ... Wie aber nur möglich, sich und andere um einen ketzerischen Fremden so aufzuregen! ... Allerdings einen Deutschen – aber in seiner Stellung gebührte sich gerade gegen seine Landsleute die Vermeidung aller Parteilichkeit – ...

Lucinde horchte mit gespanntem Antheil ... Sie kannte diese Gefahren Bonaventura's nur aus flüchtigen Andeutungen Ceccone's ...

Schreiben Sie ihm doch alles das, wenn Sie den Brief couvertiren sollten ... sagte die Herzogin ...

»Schreiben Sie ihm doch alles das –« ... Das hatte die Herzogin mit einem seltsamen Ton gesagt ... Es war der Ton, der etwa sagte: Ich weiß es ja, Sie sind die verschmähte Liebe dieses Bischofs! ...

Lucinde sagte, demüthig ihr Haupt senkend und nur im Blick die Fühlfäden verrathend, die sie ausstreckte:

Der Bischof rechnet, denk' ich – auf den Beistand der Gönner, die ihm – hier in Rom ihre alte Neigung – sofort wiederschenken würden, wenn – Herr Benno von Asselyn, sein – Vetter zurückkehrt und – nicht länger eine Furcht verräth, die – für einen Mann doch – kindisch ist ...

Welche Furcht? ...

Das Muttergefühl wallte auf ...

Aus Besorgniß, sich durch Vertheidigung des Sohnes zu verrathen, sagte die Herzogin gezwungen lächelnd:

Dürfen Sie am Hochzeitstag der Fürstin Rucca von der Furcht eines Mannes sprechen, der nicht der beglückte Gegenstand ihrer Liebe zu werden wünscht? ...

Alle Umgebungen der Herzogin und Lucindens wußten, wie das Bild der kurzen wiener Bekanntschaft von Schönbrunn und vom Prater immer noch vor Olympiens Seele stand ...

Lucinde sah sich in diesem Augenblick um ... Es war um sie her ein Geräusch hörbar geworden ... Ueber den Fußboden eilte eine jener kleinen Schlangen, deren Augen einen phosphorescirenden Glanz von sich geben ... Lucinde zog erschreckt den Fuß zurück, sah die künstliche Ruhe der an südliche Eindrücke gewöhnten und der Schlange nicht achtenden Herzogin und erwiderte nach einiger Sammlung:

Benno von Asselyn fürchtet, an die bestrickende Olympia ein Herz zu verlieren, das – ich will es Ihnen verrathen – einem jungen jetzt in London lebenden Mädchen gehört ... Sagen Sie aber nichts davon der Fürstin! ...

Die Züge der Mutter konnten sich nicht beherrschen ... Sie verklärten sich ... In ihrem brieflichen Verkehr hatte sie nie auf eine Frage nach Benno's Herzen deutliche Antwort erhalten ...

Wen liebt – Signore – Benno? fragte sie mit einer sich bekämpfenden Theilnahme, deren leidenschaftlichen Ausdruck jedoch ihr ganzes Antlitz verrieth ...

Er liebt unglücklich ... sagte Lucinde immer forschender und schon mit triumphirenden Blitzen aus ihren dunkeln Augen hervorlugend ... Sein bester Freund nächst dem Bischof und dem Dechanten Franz von Asselyn – Die Herzogin schlug ihre Augen nieder – ist ein junger reicher Kaufherr, Thiebold de Jonge ... Beide wurden, ohne es zu wissen, zu gleicher Zeit von einer Liebe zu einem Mädchen ergriffen, das damals noch halb ein Kind war ... Armgart von Hülleshoven ist ihr Name ...

Armgart von –? ...

Lucinde mußte den Namen wiederholen ... Der Mutter klopfte das Herz ...

Armgart von Hülleshoven ... sagte die Listige, die sich rüstete, der Herzogin ein für allemal das Geringschätzen ihrer Person zu verderben ... Sie ist, hauchte sie, die zärtlichste Freundin jener Gräfin Paula, die die Gattin des Grafen Hugo geworden ... Schon einmal geriethen beide Freunde um diese Neigung in Streit ... Einer entsagte zu Gunsten des andern ... Darüber fand Armgart Zeit, erst eine Jungfrau zu werden, die überhaupt an Liebe denken darf ... Ein wunderliches Aelternpaar hat sie aus Witoborn nach England geschickt, wo sie im Hause einer Lady Elliot lebt und ihre Zärtlichkeit für zwei Liebhaber zugleich an dem Widerstand gegen einen dritten prüfen kann ... Dieser hat das glücklichere Loos getroffen, jetzt in ihrer Nähe leben zu dürfen ... Es ist dies jener Wenzel von Terschka, der, wie man sagt, nur um ihretwillen Priestergelübde und Religion und was nicht alles aufgab – ...

Pater Stanislaus? sagte hocherstaunt und sich ganz vergessend die Herzogin ...

In der Ferne donnerten Böller und schmetterten rauschende Fanfaren ...

Sollten Sie in Ihrem Briefwechsel mit Herrn von Asselyn – ... wagte sich jetzt Lucinde ganz keck heraus ...

Ich? ... Mit wem? ... fuhr die Herzogin auf ...

Ja Sie, Hoheit, Sie allerdings – mit Benno von Asselyn – ... lächelte Lucinde ...

Die Herzogin war aufgesprungen ... Die Bewegung ihres Schreckens, die der Furcht zunächst vor Olympien galt, war erklärlich ... Der Schrecken konnte aber auch von etwas anderm kommen ... Die Zweige hatten in nächster Nähe gerauscht, wie unter Berührung eines leise Dahinschleichenden ...

Man ist doch sicher hier ... konnte noch die Herzogin ihren Schreck maskirend, fragen ...

Da deutete sie aber schon mit einem Aufschrei auf die grüne Decke des Weinlaubs, aus der sich spitze Hüte und Männerköpfe erhoben ...

Lucinde wollte im selben Augenblick entfliehen ... Vergebens ... Schon hatten sie von hinten zwei Arme ergriffen ...

Eine wilde Physiognomie, die nur die eines Räubers sein konnte, grinste sie an ... Ein widerwärtiger, dem gemeinen Italiener eigner, vom Genuß der Zwiebel und des Lauchs kommender Athem nahm ihr die Besinnung ... Sie konnte nicht von der Stelle ...

Die Herzogin war an den Aufgang der Altane gestürzt und rief:

Räuber! Räuber! Räuber! ...

Sie rief diese Worte – sie wußte selbst nicht, ob im Schrecken über den Ueberfall oder in dem über Lucindens Voraussetzung eines Briefwechsels zwischen ihr und Benno ... Sie wiederholte sie muthig, trotzdem daß unter dem Weinlaub alles lebendig wurde, wilde Männer in abenteuerlichen Trachten den Rand der Altane erkletterten, Pistolen und Dolche blitzten, Lucinde in die Arme eines Athleten geworfen wurde, der die Mauer schon erklettert hatte, während der erste, der bereits oben war und die im stillen Gespräch Verlorene von hinten überfallen hatte, Miene machte, nun auch die Herzogin zu ergreifen ... Die Räuber trugen die Tracht der Hirten, kurze Beinkleider, Strümpfe, Jacken, offene blaue Brusthemden; die Gesichtszüge waren von Bart und künstlichen Farben entstellt; die braunen sehnigen Hände eines dritten, der dem zweiten nachkletterte, stopften Lucinden, die vor Schrecken nicht einen Laut mehr von sich geben konnte, ein buntes Tuch in den Mund ...

Während die Herzogin, halb auf der Flucht, halb muthig wieder innehaltend, ihre Hülferufe fortsetzte, sah sich Lucinde schon in den Armen des Riesen, der sich, auf den Rücken zweier andern sich stützend, an die Wand feststemmte und die Beute herunterzog mit den der Situation völlig widersprechenden Beschwichtigungsworten:

Haben Sie doch keine Furcht, schönste Altezza! ... Ei, Eure Excellenza sollen so gut schlafen, wie in Ihrem eigenen Schlosse ... Es ist nur ein Spaß, Signora Excellenza ... Tausend Zechinen ... Ei, das wird eine so schöne Dame ihren Freunden schon werth sein ...

Da Lucinde den Muth einer Frau sah, die doch von ihr soeben so scharf verwundet worden, ergriff sie Beschämung ... Sie hielt sich an einem großen Oleanderstamm, der von draußen her an der Mauer aufwuchs, wühlte sich in dessen schwanke Zweige, die sie nicht lassen wollte, und widerstand um so mehr dem Räuber, als sie hinter sich ein wildes Geschrei hörte, das halb aus deutschen, halb aus italienischen Lauten bestand ...

Da ließ der Riese loser und loser ... Lucinde hielt sich mit allen Kräften ... Hinter sich hörte sie ein Ringen, ein Kämpfen ... Eine Ahnung erfüllte sie ... Sie krallte sich fester und fester ... Da ein Schmerzensschrei wie von einem Verwundeten in der Nähe ... Nun ein Pistolenschuß ... Jetzt stürzte sie selbst von der Mauer ... Der Rauch um sie her, ihr Sturz, die Angst, die Hoffnung – sie verlor die Besinnung ...

Als sie wieder zu sich gekommen, lag sie noch auf dem Boden des Weinbergs ... Eben ließ man von oben Leitern herab ... Die Terrasse oben stand voller Menschen ... Waffen klirrten noch immer ... Graf Agostino, seiner schweren Reiterstiefeln nicht achtend, stieg von oben hernieder ... Neben ihr lag in seinem Blut der gewaltige Riese, den ein Pistolenschuß getroffen hatte von der Hand eines Mönches. Der Muthige kniete neben einem andern Mönche, der verwundet am Boden lag ... Da hüllte sich ihr wieder alles in Nacht ...

Als sie aufs neue erwachte, befand sie sich in dem großen Saale der Villa ...

Wüst durcheinander standen die Tische und Sessel. Das Fest war zu Ende. Die Kronleuchter brannten nur noch dunkel. Die Zahl von Menschen um sie her war geringer geworden ... Düsterblickend stand Graf Sarzana ... Sein Auge hatte eine Macht, vor dem sie das noch so schwache ihrige niederschlug ... Sie hörte Ausbrüche des Erstaunens ... Wer hätte sich auch denken können, daß an einem so lebhaften Abend, unter so vielen Tausenden von Menschen Räuber es wagen würden, ihren gewöhnlichen Anschlag – Gefangennehmung von Personen, die sich durch Lösegeld loskaufen mußten – in Ausführung zu bringen ... Die Räuber waren unter dem dichten Weinlaubdach hinweggeschlichen, hatten sich der einsamsten Stelle des Gartens genähert und würden ihren Raub wenigstens mit Lucinden ausgeführt haben, wenn nicht die beiden Mönche, freilich auch ihrerseits in unerklärlicher Absicht, den gleichen Weg genommen und so ihr die Freiheit erhalten hätten ... Der Mönch mit dem Todtenkopf entriß einem der Banditen ein Pistol und schoß es auf die gewaltige Gestalt ab, die Lucinden schon davontrug ... Ihn selbst hatte dann ein leichter Messerstich verwundet ... Der jüngere Mönch aber, Pater Sebastus, war lebensgefährlich von einem Stilet verwundet worden ... Lucinde blieb unversehrt ... Sogar der Brief an Bonaventura war nicht aus ihrer Brust geglitten ...

Das gehört zu Italien! sprach eine Stimme ... Kommen Sie, wenn Sie können – Ihr Wagen wartet schon ... Die Fürstin ist schon lange fort ... Graf, Sie begleiten doch die Signora – ...

Lucinde sah die Herzogin von Amarillas nicht ... Sie hörte aus diesen Worten nur: Diese Signora – die die Tochter eines Schulmeisters vom Lande, eine Abenteurerin ist – die ehemalige Braut des einen dieser Mönche – die Genossin des andern bei gewissen, unenthüllbaren, heimlichen Dingen! – Lassen Sie lieber dies Geschöpf! ...

Durch die geöffneten Fenster schimmerten die Sterne ... Hätte sich allerdings Lucinde je einen solchen mit Klingsohr noch zu erlebenden Abend träumen lassen können, als sie in ihrem Pavillon auf Schloß Neuhof unter den Ulmen wohnte und H. Heine's Liederbuch las, das ihr Klingsohr geschenkt ... Klingsohr – um ihretwillen jetzt vielleicht todt! ...

Der Graf erbot sich voll Zuvorkommenheit zur Begleitung ... Die Mönche bleiben hier; sagte er ... Der eine ist zu schwer verwundet, der andere leichter ... Aber Pater Vincente bewacht und pflegt sie beide ... Auch ist schon ein Arzt bei ihnen ... Sie liegen drüben beim Haushofmeister ... Die Villa bleibt die Nacht über bewacht ... Der Bargello läßt zehn Mann Wache zurück ... Sie werden, denk' ich, ausreichen ...

In der That war nun auch alles schon zerstoben und verflogen ... Der alte Fürst Rucca war so rasch entflohen, als wenn er sich wirklich an der adriatischen Küste befunden hätte ...

Von dem getödteten Räuber versicherte man, es wäre der berüchtigte Pasquale Grizzifalcone selbst gewesen ... Cardinal Ceccone hatte sich nach dieser Recognition sofort von Lucindens Ohnmacht losgerissen, war in den Garten geeilt, wo die Leiche lag, und hatte sich jeden Gegenstand verabfolgen lassen, der sich in den Taschen des Gefallenen vorfand ... Dann war er eilends in seine glänzende Carrosse gestiegen und mit seinen beiden »Caudatarien« (Schleppträgern) in seine Wohnung gefahren, die mit der Sr. Heiligkeit unter einem Dache lag, nach dem Vatican ...

Graf Sarzana lächelte spöttisch bei diesem Bericht und bot Lucinden den Arm ... Sie schwankte ... Tief erschöpft schritt sie an den Wagen ...

Beide fuhren nach dem Palazzo Rucca am Pasquino.

4.

Ganz Rom war von der gestrigen Begebenheit erfüllt. Der Schrecken des Kirchenstaats, Grizzifalcone, war getödtet worden von einem deutschen Franciscanermönche! ...

Der Messerstich, unter dem der Genosse des Mönchs zusammengesunken war, hätte besser diesem gebührt! hieß es bei den Meisten ... Grizzifalcone wurde bemitleidet! ... – »Der Aermste starb ohne Beichte –!« sagten selbst die, die ihm vielleicht den längst verwirkten Tod gönnten ... Noch mehr! In der Sphäre der Prälatur, des Adels, des gebildeten Gelehrtenstandes gingen seltsame Versionen ... Da war Grizzifalcone nicht zufällig, sondern aus geheimen Absichten »ermordet« worden ... Man sah die Kutsche des Cardinals hin und her fahren ... »Was man solchen Staatsmännern alles aufbürdet! Man beschuldigt sie, selbst ihre besten Freunde nicht zu schonen!« ... So lautete ein bittres Wort, das aus der Sphäre der »Verschwörungen«, wir wissen nicht, ob des jungen oder des alten Italien kam ...

Die Aerzte, die der Cardinal in die fürstlich Rucca'sche Villa geschickt hatte, erklärten, daß die Wunde, die der deutsche Mönch und Gefangene von San-Pietro in Montorio empfangen, so besorgnißerregend wäre, daß sie einen Transport desselben auf die Tiberinsel San-Bartolomeo zu den Benfratellen für unerläßlich hielten ...

Der Laienbruder Hubertus kam mit einem leichten Verband davon ... Er ließ sich diesen nach seinen ihm eigenthümlich angehörenden chirurgischen Kenntnissen anlegen und bedauerte nur, nicht gleichfalls zu den Benfratellen kommen zu können, wofür nach Pater Vincente's Aeußerung keine Hoffnung war ... Wenn der Tragkorb den Pater Sebastus abholte, wollten sie ihm das Geleit geben und dann in ihre luftige Höhe nach San-Pietro zurückkehren ... Der Sack des Klosters war gestern über und über gefüllt gewesen; aber im Tumult des Ueberfalls, des Schießens, der allgemeinen Auflösung des Festes war er von irgend einer vorsorglichen Seele aufbewahrt, d.h. gestohlen worden ...

Der Stiletstich war dem verwundeten Pater Sebastus in die Rippen gedrungen ... Er hatte die Besinnung, athmete aber schwer und durfte nicht sprechen ... Was in seiner Seele lebte, mühte sich Hubertus statt seiner zu sagen ... Er traf nicht alles ... Pater Vincente, der neben den beiden auf Maisstrohbetten ruhenden Verwundeten und mit dem Luxus einer auf der Erde ausgebreiteten Matratze geschlafen hatte, berührte das Unsagbare schon näher, wenn er sprach: »So ist es mit all unsrer Sehnsucht! Ich kann mir den ken, daß ihr beide euer Leben lang nach dem Anblick Roms geschmachtet habt, und die erste Nacht, wo euch vergönnt war, euch am Ziel eurer Wünsche zu fühlen, mußte so verderblich enden! Im Coliseum priesen wir die menschlichere Zeit, die uns nicht mehr den wilden Thieren vorwirft! Raub und Mord sind darum von diesem Boden nicht gewichen! ...« »Man kann Italien nicht verwünschen, das neben Räubern auch einen Pater Vincente hervorbringt ...« dachte Hubertus ... Das sah er wol, Klingsohr's Bewegungen kamen nicht von den Phantasieen des Wundfiebers allein her ... Lucinde in Rom! ... Lucinde in so glänzenden Verhältnissen! ...

Hubertus hatte die Landsmännin bei ihrer Annäherung an die Bettlerschaaren zuerst erkannt und Klingsohr auf sie aufmerksam gemacht ... Diesem war sie anfangs eine Täuschung der Sinne, eine Luftspiegelung gewesen ... Soll diese erste römische Nacht mich toll machen! rief er ... Bald aber sah er, daß auch Lucinde sie erkannte, von dem Offizier, der sie begleitete, fortzukommen suchte und ängstlich ihren Anblick vermied ... Nun wagte er dem muthigern Bruder Hubertus zu folgen ... Sie umgingen den Stand des Feuerwerks, schlichen sich in den Park, in den Garten, sahen, wie Lucinde sich von ihrer Gesellschaft frei machte und entfloh ... Dennoch schnitten sie ihr den Weg ab ... Nun schien sie ihnen wirklich Gehör geben zu wollen und schon hatte Hubertus manchem Fragenden den Brief und die Landsmannschaft als einen äußern Grund bezeichnet, den ihr Verlangen haben durfte, jene Dame zu sprechen ... Endlich riefen sie ihr zu, redeten sie an – nun war sie gezwungen, sich ihnen zu stellen ... Hubertus wußte, was sie Klingsohr gewesen ... Dieser sah, wie Lucinde, Rom schon längst als das Höchste aus Erden an, als das Paradies der Seligen schon hienieden ... Beim ersten Wort, beim ersten Gruß erging er sich in jenem Entzücken seines geknickten Geistes, das ihm in so beglückender Situation, wie in den besten Zeiten seiner Vergangenheit, wiederkehren mußte ... Selbst die Eifersucht loderte auf, als Lucinde nach den Offizieren spähte, dann die Aufschrift des Briefes im Dunkeln zu erkennen suchte ... Zerreiße den Brief! rief er. Wir wollen ihn nie, nie geschrieben haben! Bist du hier nicht mächtiger, als ein Bischof! Wer feiert eine Hochzeit – als mit dir! Sieh diese Fackeln, diese Feuerflammen – wie Nero möcht' ich Rom anzünden, um deine Epithalamien zu singen! ... Jesus hilf, sprach diesmal voll Bangen Hubertus statt seiner ... Dazwischen kam die Herzogin und bald der Trupp der Offiziere und der jungen Prälaten ... Die beiden Bettler wurden verwiesen, hart bezeichnet mit den ihrer Keckheit gebührenden Worten ... Aber die Ungeduld, die Freude, die Spannung auf Verständigung nach so langer Trennung hatte sie beide wie im Wirbel ergriffen ... Diese wilde festliche Nacht konnte so nicht enden; sie schien alles zu erlauben ... Sie ließen den Pater Vincente beim Sack des Klosters, den die Köche, Diener und vornehmen Damen füllten ... Sie streiften zum Garten hinaus, erkannten die Möglichkeit, ihm von der Landstraße, vielleicht vom Feld her beizukommen ... Nur ein Wort noch Lucinden, nur noch eine Bitte um Wiedersehen, um die Begegnung in einer Kirche, etwa wie im Münster zu Witoborn zu den Füßen des heiligen Ansgarius ... So sahen sie jene schleichenden Räuber, wurden Zeugen des Ueberfalls, Lucindens Retter ... Klingsohr's Erinnerung an die Zeit der Mensur stählte seinen entnervten Arm; ohne Waffe erhob er ihn, rang gegen das geschwungene Stilet des Banditen, riß diesen nieder und erlag im Stürzen nur einer größern Gewandtheit und der gereizten Wuth der Entfliehenden, die den Garten sich beleben sahen, während Hubertus schon den Riesen zugleich mit Lucinden niederzog aus den Zweigen des Oleanders, in denen sie sich festhalten wollte ... Hubertus drückte das eroberte Pistol los – ohne Scheu, wie einem Jäger geläufig war, der schon manchen Wilddieb niedergeschossen hatte ...

Pater Vincente erfuhr, daß die gerettete Dame den beiden Deutschen werth und näher bekannt war ... Wieder offenbarte er die Vertrautheit mit einigen deutschen Worten ... Ueber sich selbst sprach Pater Vincente wenig ... Selbst die Neigung des gesprächsamen Hubertus, sich, wo er nur konnte, in der Sprache des Landes der Schönheit und der Banditen zu vervollkommnen, ergriff er nicht als Anlaß weltlicher Unterhaltung, sondern erinnerte ernst an jene Bitten, die für Kranke zu sprechen die vorgeschriebene Regel des kirchlichen Lebens ist ... Dann – ohne den Sack mit Lebensmitteln ins Kloster zurückzukehren –! Eine Aussicht war das auch auf einen Dorn zur Märtyrerkrone mehr ...

Um elf Uhr sollte der Tragkorb jener Benfratellen kommen, die einst auch Wenzel von Terschka so wohl verpflegt hatten ... Wäre Klingsohr nicht Mönch und bereits dem römischen Glauben gewonnen gewesen, so hätte man ihn jetzt in eine Anstalt gebracht, wo in Rom »Neuzubekehrende« (Katechumeni und Convertendi) in solchen Fällen leibliche und geistliche Pflege zu gleicher Zeit erhalten ... Das Geringste doch, womit sie dann für die Genesung beim Scheiden danken können, ist ein Uebertritt ...

Um zehn Uhr schon kam die junge Signora vorgefahren, die gestern hatte von Räubern entführt werden sollen und heute der Gegenstand des Gesprächs und der Aufmerksamkeit für ganz Rom war ... Man nannte sie, wie solche Verwechselungen vorkommen, bald eine Fürstin, bald eine »spanische Herzogin« ... Das »Diario di Roma«, die Staatszeitung Sr. Heiligkeit, war noch nicht mit dem aufklärenden Bericht erschienen, wenn die schweigsamste aller Zeitungen überhaupt von dem ärgerlichen Vorfall Act nahm ...

In Italien ist noch bei Hochzeiten die Sitte des »Lendemain« üblich ... Der Palazzo Rucca am Pasquino wurde von Wägen und den Abgeordneten der fünftausend privilegirten Bettler Roms (der »Clientela« der alten Römerzeit) den ganzen Tag nicht frei ... Auch nach dem Befinden der Donna Lucinda mußte gefragt werden ... Sie selbst hatte ein Dankopfer darzubringen für ihre Rettung ... Der nächsten Madonna gebührte der Sitte gemäß diese Huldigung ... So hörte sie die Messe in San-Giovanni di Laterano, dem der Rettung nächstgelegenen Gottestempel ... Graf Sarzana hatte sie auf diese Sitten beim Nachhausefahren aufmerksam gemacht ... Er war im Wagen zurückhaltender gewesen, als in der Gesellschaft ... Am Pasquino war er ausgestiegen ... Vom Wein, von den Abenteuern und dem Rendezvous bei der Messe – so ließen sich denn doch wol auch seine Andeutungen verstehen – erregt, declamirte er Verse an die Säule des Hadrian, an die Obelisken des Venetianerplatzes, an denen sie vorüberfuhren, misbrauchte aber nicht die Vortheile des Alleinseins mit dem offenbar zum Tod erschöpften Mädchen ... Als sie heute den Pasquinostein mit Gensdarmen besetzt fanden, sagte er: Ist diese Wache nicht selbst schon eine Satire? ...

Die Messe war wie immer in dem »stiefmütterlich« behandelten und gegen die Sanct-Peterskirche zurückgesetzten Gottestempel am Lateran einsam und der große, wie fast alle römischen Kirchen einem Concertsaal ähnliche Raum lag ganz in jenem Schweigen, das die Sammlung unterstützen konnte ... Lucinde kniete und träumte ... Graf Sarzana fehlte ... Er hatte sich in aller Frühe schon wegen seines Ausbleibens entschuldigen lassen – Im Duft des Weihrauchs sammelte sie sich ... Secreta – Canon – »Wandlung« – sie unterließ kein Kreuzeszeichen und dachte an die noch schlummernden jungen Ehegatten – an die Morgengeschenke, die Ceccone schon in aller Frühe für das junge Paar geschickt hatte – auch für sie lag eine kostbare Broche, Venetianer Arbeit, dabei – An Graf Sarzana's Schnurrbart und unheimliche Augen – An die schlaflose Nacht ihrer Feindin, der Herzogin von Amarillas – An Hubertus und seine Vertrautheit mit der ältesten Geschichte des Kronsyndikus – An Klingsohr's möglichen Tod – An Bonaventura ... Dann sang der Priester: Ite Missa est! ...

Mit gestärkter Kraft schritt Lucinde über die bunte Marmormosaik des Fußbodens dahin ... Sie trat aus den Reihen der großen Porphyrsäulen hinaus auf den Platz der »heiligen Treppe« und ließ sich von ihrem Bedienten in den Wagen helfen ...

Der Bediente erzählte, der ganze Weg bis zu Castel Gandolfo, wohin Se. Heiligkeit heute frühe hinausgefahren, wäre des Räuberüberfalls von gestern wegen mit Carabiniers besetzt und würde eben noch von einzelnen Trupps der Leibwache bestrichen, unter denen sich auch Graf Sarzana befunden hätte ... Deshalb hatte er bei der Messe fehlen müssen ... Lucinde konnte erwarten, daß Se. Heiligkeit selbst sie nächstens beriefen und ihr persönlich seinen Glückwunsch abstatteten ... Daß die Regierung hier über den Tod Grizzifalcone's anders dachte, als jeder gewöhnliche Freund der Ordnung, wußte sie schon ... Besonders sollte der alte Fürst Rucca daran auf verdrießliche Art betheiligt gewesen sein ... Er hatte ihr kaum einen guten Morgen! gewünscht, als er ihr auf der Marmortreppe seines Palazzo bei ihrer Ausfahrt begegnete und murmelnd in die Bureaux seines Parterre schlich ...

Die Fahrt zur Villa Rucca dauerte nur wenige Minuten ... Aber der Ueberblick einer Welt konnte sich für ein Wesen wie Lucinde in sie zusammendrängen .... Das Nächste: Sollte Klingsohr die Nacht über gestorben sein? war schon abgethan ... Vor einigen Jahren hätte Lucinde darin eine Gunst des Zufalls gefunden ... Auf ihrer jetzigen Höhe war ihr ein in Clausur eines strengen Klosters lebender ehemaliger Verlobter kein zu gefährliches Schreckbild mehr ... Sie hätte ja lieber mit Klingsohr und Hubertus mehr verhandelt ... Sie mußte es auf alle Fälle ... Der Herzogin von Amarillas wegen, die sie »unschädlich« machen wollte ...

Wie stand sie überhaupt jetzt zu dieser »Posse des Lebens?« ...

Sie lehnte in ihrem offnen Wagen, die Hände ineinandergeschlagen und auf ihren weißseidnen Polstern ausgestreckt, wie eine Fürstin ... Das also bot ihr denn doch in der That Rom! ... Sehet her, so lohnte sich jener Gang zu dem Bischof, bei dem sie einst ihre »hessische Dorfreligion«, das Lutherthum, abgeschworen hatte ... Der »Augenblick«, der goldene »Augenblick«, wie er jetzt dem auf dem goldenen Kreuz über der Kapelle »zur heiligen Treppe« blitzenden Sonnenschein glich, gehörte ihr, ihr, der »vom Leben Erzogenen«, mit »Thränen Getauften« – – wie sie im Beichtstuhl zu Maria Schnee in Wien, anzüglich genug für – den ungetauften Bonaventura, gesprochen hatte. Sie wollte diesen Augenblick ihr Eigenthum nennen; sie wollte ihn sobald nicht wieder fahren lassen ... Sie wußte, daß sie hinuntersteigen würde ... O, das kannte sie schon als ihr altes Lebensloos ... Aber bei einem Sturz kommt es auf die Höhe an, von wo herab! ... Die Bedingungen des künftigen Elends, das sie vollkommen voraussah, richteten sich nach der Lage, die sie verließ... So dachte sie: Jetzt oder nie! ...

Was ist das mit dem Grafen Sarzana? ... Warum will mich die Herzogin von Amarillas nicht bei sich behalten? ... Warum flüstert der Cardinal so lächelnd mit dem interessanten, geistvollen Offizier, der mir offenbar den Hof macht und doch – ... Warum lächelten beide so zweideutig? ... Seitdem Lucinde damals vor Nück zu Veilchen Igelsheimer entflohen war, hatte sie für die Verwickelungen des Lebens Gigantenmuth bekommen ... Sie hatte auch den Muth, vor nichts mehr – zu erröthen ... Sie ahnte, was zwischen Ceccone und dem Grafen Sarzana vor sich ging ... Daß sie nicht um Kleines zu erobern war, hatte sie wol schon gezeigt ... Ja – haßte sie nicht eher die Männer überhaupt? ...

In »Maria Schnee« hatte sie nicht Zeit gefunden, Folgendes zu beichten:

Sie hatte das Kattendyk'sche Haus um den Thiebold'schen Streit über die Kreuzessplitter verlassen ... Sie war zur Frau Oberprocurator Nück gezogen, die sich schon längst ihre wärmste Freundin und Bewundrerin nannte ... »Jede kluge Frau« – stand in Serlo's Denkwürdigkeiten – »macht die zu ihrer Freundin, die ihrem Platz bei ihrem Manne gefährlich zu werden droht. Kühlt sich durch eine nähere Bekanntschaft dann nicht an sich schon die Glut des Interesses beim einen oder andern ab, so hat die Frau den Vortheil, der Welt die böse Nachrede zu verderben ...« So dachte freilich die Oberprocuratorin nicht, aber die Wirkung blieb dieselbe ... Lucinde war bei den täglichen, mit Frau Dr. Nück gepflogenen Erörterungen über Kleiderstoffe, Farbenzusammenstellungen und die Echauffements ihres Gesichts nirgends vor ihrem Mann sicherer, als in seinem eignen Hause ... Dennoch verließ sie es, als sie eine grauenhafte Sage, die über Nück im Munde des Volkes ging, bestätigt fand. Er selbst hatte es ihr einst gesagt, daß sich ihm zuweilen eine Binde vor die Augen legte, die ihn verhinderte zu wissen, was er thäte .... Dann müßte er Hand an sich selbst legen ... Es waren wirkliche Thränen – »der Nervenschwäche«, die ihm flossen, als er sagte, in solcher Lage würd' er einmal sterben, wenn nicht ein Wesen um ihn wäre, das ihn vor Wahnsinn bewahrte ... Was halfen die »Davidsteine« aus seiner Beichte bei Bonaventura –! Was half die Erkenntniß, daß jeder, jeder Geist untergehen muß, der anders spricht und handelt, als er denkt – ... Am achten Tag nach Lucindens Einzug in sein Haus wollte sie ihm in seine Zimmer einen spätangekommenen Brief tragen und fand ihn hängend unterm Kronleuchter. Das Sopha darunter, das auf Rollen ging, war zurückgeglitten ... Der Anblick war furchtbar ... In Momenten der Gefahr bewährte sich Lucinde nicht. Sie sah Hammaker den schwebenden Körper hin- und herschaukeln; sie hörte die »Frau Hauptmännin« ein Wiegenlied auf ihrer Guitarre dazu klimpern; die Blätter in Serlo's Erzählungen vom Pater Fulgentius und Hubertus flogen auf ... Sie floh vor dem grauenhaften Anblick, ohne den Muth zu haben Lärm zu machen ... Ja sie fühlte mit grausigem Gelüst der That des Hubertus nach – ihn ruhig hängen zu lassen – den lebensmüden, gewissenszerrütteten Mann – der sie in so entsetzliche Verwickelungen des Lebens geführt, der so viel Verleumdungen und Zweifel über sie in Bonaventura's Urtheil verpflanzt hatte ... Aber nun vor sich selbst als dann einer Mörderin erbebend, konnte sie nichts thun als die Flucht ergreifen ... Sie raffte ihre wichtigsten Sachen zusammen, klingelte und lief wie von bösen Geistern verfolgt zu Veilchen Igelsheimer in die Rumpelgasse ... Die Nacht über mußte sie annehmen, daß der Oberprocurator – durch ihre Schuld! – todt war ... Sie blieb einige Tage versteckt, sie, die Mörderin des Verhaßten ... Allmählich erfuhr sie, daß Nück noch lebte und nur heftig erkrankt war ... Ueber diese Annäherungen ihres Lebens an Brand und Mord verließ sie die Residenz des Kirchenfürsten. Sie folgte Bonaventura nach Wien ... Gefeit gegen alles, zog sie Männertracht an und lebte wie ein Mann ... Sie hatte seitdem nichts mehr von Nück gehört, als daß er, zurückgezogen von den Geschäften, auf dem Lande wohnte ...

So war sie reif für Rom! ... Ihrem Auge hatte sich die sittliche Welt aller Hüllen entkleidet, wie nur einem katholischen Priester, der, um den Himmel lehren zu können, in den Vorkommnissen der Hölle unterrichtet wird ... Sie haßte und verachtete, was sie sah – und im Grunde nichts mehr, als die Männer ... Für diese hohen Würdenträger der Kirche, für diese Tausende von ehelosen Geistlichen, die Rom zählt, war ihr jeder Begriff von Tugend zur Täuschung geworden. Ist Rom »mit Ablässen gepflastert«, wie jener Pilger zu Bruder Federigo gesagt hatte, so sind die Sünden dort wie Straßenstaub ... Die Beichtstühle der katholischen Welt scheinen in Rom mit den Geheimnissen der Menschen seit zwei Jahrtausenden umgestürzt und ausgeschüttet worden zu sein ... Ja sogar der Heiligste der Menschen, der Bischof von Castellungo, war – »ungetauft«! ... Sein Rival, Pater Vincente, hatte für einen geträumten »Kuß in der Beichte« gebüßt! ... Lucinde nahm nichts mehr, wie es sich gab; sie zweifelte an Allem ...

Dem »ungetauften Heiligen« hatte Lucinde in Wien Dinge gebeichtet, die bei diesem allerdings ihren Besitz der Urkunde Leo Perl's in Schach halten konnten ...

Bonaventura durfte nach diesen Geständnissen ruhiger werden ...

Sie hatte in der That begonnen von ihrer Bonaventura schon bekannten Begegnung mit Räubern ... Sie hatte erzählen müssen vom Eindruck, den auf eine nicht von ihr genannte, aber leicht zu erkennende Person (Bonaventura ergänzte sich: »Nück!«) die Mittheilung gemacht hätte, daß jener Hammaker seinem frühern Gönner eine tödliche Verlegenheit hinterlassen wollte durch eine ins Archiv von Westerhof einzuschwärzende falsche Urkunde ... Sie hatte Nück's Betheiligung als eine nur passive dargestellt, ihren eigenen Zusammenhang sowol mit dem Brand wie mit dem Fund des Falsificats nur als die äußerste Anstrengung, das Verbrechen zu hindern ... Dennoch – sie gestand es, war es ausgeführt worden ...

Ein kurzer Schauder Bonaventura's – ein Seufzen – »Was muß ein katholischer Priester alles in der Beichte hören und verschweigen!« ...

Dann fuhr sie fort und berichtete vollständig, Jean Picard hätte sogar für seine Rettung und Flucht den Beistand eines Mannes gefunden, der zufällig in ihm denjenigen erkannte, für dessen Wohl er noch die letzten Anstrengungen seines Lebens hätte machen wollen ... (Bonaventura sagte sich: »Hubertus!« ...) Was aus dem Brandstifter geworden, wußte sie nicht ... Nück hätte das Geschehene nicht ohne die größte Gefahr für seine Ehre aufdecken können, wäre auch durch nichts dazu gedrängt worden, da sowol ein Ankläger fehlte wie die anfangs von ihm so gefürchteten Gelderpressungen des Brandstifters, der sich von seinem Unternehmen mit gutem Grund die stete Beunruhigung und Ausschröpfung Nück's hätte versprechen dürfen ... Picard war in einem Grade verschollen, daß man selbst seinen Tod – wer weiß, ob nicht von den Händen seines ungenannten, von Bonaventura errathenen Retters – annehmen durfte ...

Alle diese Vorgänge beichtete Lucinde in ihrer vollen Wahrheit, gedrängt von den Drohungen des Grafen Hugo ... Sie warf ihre Sorge auf die heilige römische, alleinseligmachende Kirche, auf die nahe Beziehung derselben zu Gott, auf den Schatz der guten Werke, der die reichste Vergebung aller der Sünden gestattete, die die weltliche Welt, die Welt des Gesetzes, die Welt der Fürsten, ihrer Helfer und Helfershelfer nicht zu wissen braucht – – ...

Das war die Lehre der Kirche, die ihr immer so wohlgethan ... Die gab ihr jenen Muth und jenes Talent, eine »Beate« scheinen zu können ... Was auch an Angst über diese Verbrechen in ihrer Seele lebte, sie warf alles auf Bonaventura ... Seiner Vermittelung der grauenhaften und für ihren Ruf, ihre Freiheit so gefährlichen Vorgänge vertraute sie – seiner »vielleicht noch für sie erwachenden« Liebe – seiner Furcht auch vor ihrem zweiten »Geheimniß« – über ihn selbst ... Zu Enthüllungen über die Ursachen der Flucht Lucindens aus dem Nück'schen Hause blieb die Zeit nicht gegeben ...

Den Ton der tiefsten Entfremdung gegen sie, einen Ton aus dem Urgrund der Seele, den Bonaventura nicht überwinden konnte, milderten die priesterlichen Formen ... Da erklang der sanfte Ton der Güte, da das stille Murmeln des Gebetes, da die ernste Ermahnung ... Furcht über ihre Mitwissenschaft an seinem eigenen tiefen Lebensunglück beherrschte ihn nicht ... Schon beim ersten Nennen Bickert's unterbrach er sie mit den Worten: Jener Verbrecher, dessen Reue Sie immer noch unvollständig machen durch das Zurückbehalten seines Raubes! Warum erhielt ich nie, was Sie von ihm besitzen? Ist Ihr Bedürfniß, sich an mir zu rächen, noch so lebhaft? Warum sagen Sie mir nicht, was ich aus dem beraubten Sarge von Ihnen zu fürchten habe? ... Alle diese Fragen ließ Lucinde ohne Antwort und ihn selbst verhinderte sein Stolz, verhinderte sein Schmerz um seines Vaters so schwer bedrohtes Schicksal anzudeuten, daß er den Inhalt der Leo Perl'schen Schrift kannte ... Vollends mahnte die nächste Gefahr, die vom Grafen Hugo mit Erneuerung des Processes drohte, zu dringend ... Zu dringend sogar die Möglichkeit, daß Lucinde ihrer Freiheit beraubt werden und die Beschlagnahme ihrer Papiere gewärtigen konnte ...

Nachdem Lucinde in Bonaventura's Ohr geflüstert hatte, was sie vom Brand in Westerhof und aus Nück's Mittheilungen über Hammaker's Vorhaben wußte, verlebte sie Stunden der höchsten Angst ... Sie durfte irgend eine Unternehmung, irgend eine Berührung mit dem Grafen Hugo erwarten ... Es wurden aber Tage daraus – zuletzt Wochen ... Niemand mehr erkundigte sich nach ihr ... Weder der Graf, noch Bonaventura ... Hatte dieser den Grafen so vollständig beruhigt, so ganz die von ihr eingestandene Fälschung der Urkunde verschleiert? ... Sie hörte Bonaventura's italienische Predigt; sie theilte die Bewunderung der Hörer sowol über den Inhalt, wie über die Form; sie frischte selbst ihre alte Kenntniß des Italienischen auf und nahm Unterricht darin ... Kein Wort aber kam vom Grafen, kein Lebenszeichen von Bonaventura, der inzwischen nach Italien abgereist war – ohne von ihr irgend einen Abschied gekommen zu haben ...

Anfangs sandte sie ihm einen zornigen Fluch nach, dann erstickte der Schmerz in Schadenfreude ... Graf Hugo war denn also wirklich nach Schloß Westerhof gereist und alle Welt erklärte die Heirath zwischen dem Grafen und Comtesse Paula für so gut wie geschlossen ... Paula vermählte sich! ... Es war das Gespräch der ganzen Stadt ...

Inzwischen fing sie an bittre Noth zu leiden ... Ihre Geldmittel waren erschöpft ... Was sollte sie beginnen? Welchen Weg einschlagen, um sich in dieser so schwierigen Stellung eines alleinwohnenden Mädchens zu behaupten? ... Durfte sie es ein Glück nennen, wenn sie hier plötzlich – Madame Serlo und ihren Töchtern wieder begegnete? ... Wol durfte die theaterlustige Stadt beide alte Gegnerinnen zusammenführen. Serlo's Kinder waren schnell herangewachsen und gefällige Tänzerinnen geworden. Sie protegirten Lucinden, die sie herabgekommen, eingeschüchtert, in schon schwindender Jugend sahen. Sie boten ihr nicht nur ihren eigenen Beistand, sondern auch den – ihrer Beschützer. Die Kinder waren leichtsinnig. Die Mutter »genoß« nun, wie sie sagte, ihr Leben nach langer Entbehrung; sie genoß es auch im Behagen, prahlen zu können; ja – »Herz« zeigen zu können, gewährte ihr, ganz nach Serlo's Theorie, eine eigene Genugthuung ... Frau Serlo – das war ein elektrischer Leiter für die ganze begrabene Vergangenheit Lucindens ... Sie erzählte jedem, was sie von Lucinden und Klingsohr, von Jérôme von Wittekind, vom Kronsyndikus wußte ... Daß Dr. Klingsohr in Rom gefangen saß, war allgemein bekannt; oft genug wurde Lucinde in die Lage gebracht, über diese Beziehungen Rede zu stehen ...

Sie wohnte in der ärmlichsten Vorstadt ... Empfehlungen von Beda Hunnius und Joseph Niggl öffneten ihr wol manches fromme Haus; die Gewohnheiten einer Convertitin behielt sie bei; sie blieb eine der eifrigsten Besucherinnen der Kirchen und Andachten; aber ihre Lage wollte sich nicht dadurch bessern ... Von Nück wollte sie nichts begehren ... In ihrer steigenden Noth dachte sie: Du schreibst an den Dechanten, wie ihr damals Bonaventura durch Veilchen hatte rathen lassen ... Sie unterließ es ... »Wenn es nicht die Asselyns wären!« ... Nun suchte sie selbst Stunden zu geben ... Ihre Musik suchte sie hervor ... Sie versuchte sich sogar in dem ihr gänzlich versagten Gesange ... Dies Letztere, um zugleich in der italienischen Sprache sich zu vervollkommnen und sich rüsten zu können zu ihrer letzten »Pilgerfahrt nach Rom« – »vor'm Zusammenbrechen« ...

Sie nahm Singstunden bei Professor Luigi Biancchi ... Sie waren bei diesem gesuchten Maestro theuer ... Aber für jede Stunde, die sie in der Currentgasse nahm, gab sie eine in der Weihburggasse, wo Serlo's Kinder wohnten ... Diese wollten den Cavalieren gegenüber, die die Tänzerinnen des Kärnthnerthors auszeichneten, ihre vernachlässigte Bildung nachholen ... Eine Weile ging das alles leidlich ... Aber wie viel Stunden ließen die undankbaren Mädchen, die sie einst auf ihrem Schoose geschaukelt und so oft auf ihrem Arm getragen hatte, absagen und rechneten sie nicht an! ... Zum Glück – bei ihrer Manie für die Ausbildung im Italienischen konnte sie so wol sagen – wurden eines Morgens die beiden alten Männer Biancchi und Dalschefski – verhaftet! ... Der Italiener, der Pole verschwanden auf dem Spielberg bei Brünn, wo die »schwarze Commission« über die Revolutionen tagte ...

Das Aufsehen, das dieser Vorfall in ganz Wien machte, der Schrecken, den darüber vorzugsweise Resi Kuchelmeister und Jenny Zickeles empfinden mußten, führte Lucinden diesen beiden Damen näher ... Vielleicht würde sie ganz in das Zickeles'sche Haus eingedrungen sein, wenn ihr nicht die noch bei Madame Bettina Fuld verweilende Angelika Müller, »die diese Abenteurerin schon seit Hamburg kannte«, mit mehr als drei Kreuzen entgegengetreten wäre ...

Kurz nach Weihnachten hatte Lucinde Tage der Verzweiflung ... Sie sprach italienisch, wie eine geborene Italienerin, aber sie hatte Schulden – Schulden – bis zum Ausgewiesenwerden aus Wien ...

Schulden machen den Menschen erfinderisch ... Sie wecken Genie bei Dem, der dergleichen nicht zu besitzen glaubt ... Die Resultate des Nachdenkens jedoch über die Mittel, sich zu helfen, sind nicht immer unserer moralischen Vollkommenheit günstig ... Lucinde war nie »gut«; Mittel und Wege, entschieden »schlecht« zu werden, boten sich ihr genug ... Das wohlfeilste darunter, sich unter die Protection irgend eines Mannes, der sie zu lieben vorgab, zu begeben, vermied sie – ... Aus zunehmender Abneigung gegen die Männer überhaupt? ... Wozu hatte sie so gut Italienisch gelernt! – ... »Freund der Seele, ich komme, um meinen Spuk mit dem Fund aus dem Sarge zu entkräften! Ich will ihn in deine Hände zurückgeben! Ich will mit dir die Frage erörtern: Was ist diese Welt, was Glaube, was unsere ganze dies- und jenseitige Seligkeit?« ... »Das blieb ihr denn doch noch immer übrig, noch einmal nach Robillante und Castellungo schreiben zu können ... Jetzt vollends, wo sich Paula in der That – dem Verbrechen der Fälschung? – hatte opfern müssen« – ...

Lucinde rechnete und wühlte ... Serlo's Kinder waren hübsch, aber ohne Geist. Ihre Lehrerin brauchte nur bessere Kleider anzuziehen, als sie sich erborgen konnte, und sie hätte schon die Aufmerksamkeit dauernder gefesselt ... Wie sonst, so auch jetzt ... Lucinde konnte verschwinden und auffallen; sie konnte als Magd und als Königin erscheinen; die Devotion war die Maske für beides ... Blinzelte sie nur einmal mit der vollen Macht ihrer kohlschwarzen Augen, gab sie sich mit dem ganzen Vollgefühl ihres übermüthigen Geistes, so erstaunten Grafen und Fürsten, die, mit Serlo's Töchtern und Madame Serlo plaudernd, die schlanke schwarze Lehrerin im einfachen Merinokleide nicht beachtet hatten ... Nach einem solchen Lächeln war ihr Mancher schon nachgesprungen, wenn die schlanke Kopfhängerin mit ihren französischen, von den Jesuiten de la Société de Marie herausgegebenen Geschichtsbüchern sich empfahl ... Madame Serlo hatte sie dann beim Wiederbesuch mit einem Hohngelächter empfangen ... Wäre Lucinde sentimental gewesen, sie hätte über dies ganze Familienleben ausrufen müssen: O wärst du noch zugegen, du abgeschiedener Geist des armen Vaters dieser Kinder! Sähe dein erbittertes Gemüth eingetroffen, was du schon alles ahntest, als du auf dem Sopha lagst – und ich die Uhr zog, die ich vom Kronsyndikus damals noch hatte, um nach der Stunde zu sehen, wo du die Arznei nehmen mußtest! ... Wie oft hatte Serlo gesagt: Und gesetzt, ich würde alt und erlebte, was ich voraussehe, ich kann mir denken, daß ich das Gnadenbrot bei den Meinigen annehme! Nicht wie den alten Lear hinausjagen würden sie mich; nein, ich bekäme die Reste von den Orgien, die sie feiern; ich würde lachen wie ein Lustigmacher, würde leuchten bis zur Treppe und die Trinkgelder nehmen, die dem Papa in die Hand gesteckt werden ... »Hunger – thut weh«! konnte Serlo dann wimmern, wie Edgar im Lear ...

An Menschenhaß und Weltverachtung nahm Lucinde immer mehr zu ... Sie hatte schon im Spätherbst bei einem Besuch des Praters die Entdeckung gemacht, daß die aufgeputzte Besitzerin jener Menagerie von einem jungen Mann begleitet war, über den die alte Holländerin mit ängstlicher Eifersucht wachte ... Lucinde wagte nicht ihn schärfer zu betrachten, seitdem sie entdeckte: Das war Oskar Binder, der entlassene Sträfling, der spätere Spieler unter dem Namen »Herr von Binnenthal«! ... Und von einem aufgehobenen Spielclub hatte sie gehört, den ein Herr »Baron« von Guthmann hielt ... Die Entdeckung war bei einer polizeilichen Recherche erfolgt, von der die ganze Stadt sprach ... Frau Bettina Fuld wünschte bei ihrer Abreise Andenken zu hinterlassen und kaufte zu dem Ende allerlei Schmucksachen. Sie wollte ihre Kasse nicht zu sehr in Contribution setzen und wandte sich auf den Rath der praktischen »Frau von Zickeles«, ihrer Mutter, an eine Auction im Versatzhause ... Wie erstaunte sie, dort jenes Armband verkäuflich zu finden, das ihr vor einem Jahr in ihrer Villa zu Drusenheim abhanden gekommen! ... Das verfallene Versatzstück war auf den Namen einer Frau von Guthmann eingetragen, derselben, die damals bei ihr so gastlich aufgenommen gewesen! ... Die Anzeige, die Arrestation erfolgte ... Lucinde las in den Zeitungen die nähern Angaben ... Wie versetzte die Hellauflachende das alles in ihre erste Jugendzeit ... Vom Lauscheraugenblick, als jene Frau vor ihrem spätern Mann auf den Knieen lag, fing ja ihr ganzes dunkles Leben an ...

Lucinde würde zur Verzweiflung gekommen sein, hätte ihr jenes Bild der Jugend nicht auch Treudchen Ley als freundlichere Erinnerung vorgeführt ... Durch diese beschloß sie sich zu helfen ... Sie schrieb an »Madame Piter Kattendyk« nach Paris, erzählte, daß sie in der größten Noth wäre, und bat um Hülfe ... Da kam ein unorthographischer, liebevoller Brief, der einen Wechsel auf hundert Dukaten einschloß ... »Das Glück liegt irgendwo, sagte sich Lucinde – wer es nur fände!« ...

In einem kurzen Sonnenschein des Glücks suchen wir die zuerst auf, denen wir gefallen möchten ... So eilte Lucinde zu Resi Kuchelmeister, deren gesunder Ton ihr in freundlicher Erinnerung geblieben war ... Sie fand diese in ausdauernder schmerzlichster Trauer über das Schicksal der beiden alten Männer aus der Currentgasse ... Resi war an sich so loyal, daß sie jedes dem Kaiserhause und ihrem großen schönen Vaterlande bedrohliche Unternehmen für eine Ausgeburt absoluter Nichtswürdigkeit erklärte; seitdem sich aber Dalschefski und Biancchi auf geheimen Umtrieben hatten betreten lassen, anerkannte sie wenigstens psychologische Möglichkeiten solcher Verirrungen – Frauen beurtheilen alles aus dem Herzen ... Biancchi war denn nur geizig gewesen zum besten der Conspirationen! ... Ein weitverzweigtes Netz von London über Paris, nach Italien, Ungarn, Polen hatte sich auch um ihn geschlungen! ... Und Dalschefski lächelte nur deshalb so ironisch, weil ein Greis mit Jugendmuth in den schmerzlichen Nachklängen des Finis Poloniae lebte ... Emissäre hatte »das arme Lamm« nach Krakau und Galizien befördert, Flüchtlinge, Mitverbundene – Spione ... Dem »elenden Pötzl« schrieb Resi, vielleicht mit Unrecht, das Unglück der beiden alten Männer zu, die mit ihren verwöhnten Bedürfnissen, mit ihren großen edlen Fähigkeiten jetzt in grauen Kitteln zwischen den Wällen des Spielbergs leben mußten ... Resi's Unmuth war ebenso groß, wie ihre Erbitterung über die Gesinnungslosigkeit der Zickeles, wo Jenny plötzlich that, als erinnerte sie sich kaum des »Schöpfers ihrer Stimme« – sie hatte inzwischen einen neuen Maestro gefunden, der die Methode des vorigen verwarf, wunderbare Enthüllungen machte über den falschen Gang ihrer bisherigen Tonbildung und ihres Stimmansatzes – »eine dilettantische Sängerin ist zu allem fähig!« sagte Resi ... Aber auch die Bühne gab sie inzwischen jetzt selbst auf ...

Wer kann den unglücklichen Männern helfen! ... dachte Resi ... Sie hatte so vielfache Beziehungen – die einflußreichste, Graf Hugo, war nicht anwesend ... Da fiel ihr ein: Die Herzogin von Amarillas hatte so treu ausgeharrt bei Angiolinens Seelenmetten ...

Zu dieser ging sie in den Palatinus ... Olympia, die sie immer noch die Mörderin Angiolinens nannte, war glücklicherweise nicht anwesend ...

Als die Herzogin die Bitte vernommen, die darauf hinausging, daß sie sich für einen Landsmann beim Cardinal, dieser aber beim Staatskanzler verwenden möchte, sagte sie voll Staunen: Luigi Biancchi! ... Sie hörte allem, was Resi in leidlichem Italienisch von einem ihr so wohlbekannten Namen erzählte, mit größtem Interesse und versprach auch das Möglichste zu thun ...

Die Herzogin konnte nichts thun ... Zu Olympien durfte kaum der Name Biancchi ausgesprochen werden, ebenso wenig wie zu Ceccone ... Resi vergab ihr den Nichterfolg um des Antheils willen, den die weiche Seele um Angiolinen zeigte ... Resi erzählte das Leben ihrer Freundin, soweit es ihr bekannt war ... Die Herzogin war über jede ihrer Mittheilungen zu Thränen gerührt ...

Resi's leidliche Gewandtheit im Italienischen bestimmte die Herzogin, von einem Verlangen der Gräfin zu sprechen, eine Deutsche als Gesellschafterin zu engagiren und sie vielleicht mit nach Rom zu nehmen ... Olympia glühte noch ganz für Benno und Bonaventura ... Die Herzogin trug ihr diese Stellung an ... Resi ergriff anfangs den Vorschlag und schien nicht abgeneigt ... Zuletzt legte sich die Anhänglichkeit der Wienerin an ihre Vaterstadt verhindernd dazwischen und so brachte sie »eine Schülerin Biancchi's«, ein Fräulein Lucinde Schwarz für diese Stellung in Vorschlag ...

Diese bewarb sich und reussirte ... Das System, sich anspruchslos, unbedeutend, vorzugsweise nur an den Uebungen der Religion betheiligt zu stellen, stand Lucinden bei allen Anfängen ihrer Unternehmungen bei ... So sehr es aufregt, stets in einer fremden Sprache reden zu müssen; so mächtig Phantasie und Herz von den Zaubern Italiens ergriffen wurden, sie beherrschte sich; sie suchte weder Mistrauen noch Eifersucht zu erregen ... Der Cardinal reiste erst später nach in Begleitung des jungen Fürsten Rucca ... Olympia, die Herzogin und Lucinde gingen voraus ...

Lucinde erkannte bald die Natur der Gräfin, die man flüsternd die Tochter des Cardinals nannte ... Sie erstaunte über die Leidenschaft, die sie für Benno von Asselyn zur Schau trug ... Jetzt erst erfuhr sie den eigentlichen Zusammenhang, wie Bonaventura zu einem Bisthum in Italien hatte kommen können ... Benno wurde in Rom erwartet; die Gräfin sprach von ihm, als sollte ihre Vermählung nicht mit Ercolano Rucca, sondern mit Benno stattfinden ... Nun – war er aber wieder entflohen ... Jetzt wurde sein Name mit Verwünschungen genannt ... Sie hütete sich wol, von ihrer Bekanntschaft mit Benno zu viel zu verrathen ... Bald war ihr der junge Principe Rucca eine Art Piter Kattendyk; der alte Rucca ein Stück Kronsyndikus; die Fürstin Mutter eine der vielen alternden Koketten, die sie in ihrem Leben schon kennen gelernt hatte ... Der allmächtige Cardinal hatte geistig alles von Nück; nur in seinen Manieren war das Streben nach Glanz und Anmuth vorherrschend ... Sie hatte einigemal scharfe Urtheile gefällt, Ansichten über die Zeit, die Verhältnisse Deutschlands ausgesprochen; bei einigen Festen ging sie in gewählter Toilette; da merkte sie – Ceccone warf verstohlene, glühende Blicke auf sie ... Es ließ sich ganz so an, als wenn sie eines Tages seine Beute werden sollte – ... Sie dachte über die Bedingungen eines so außerordentlichen Sieges nach ... Hätte sie sich je dergleichen von Rom träumen lassen! ... Nur die Herzogin von Amarillas wurde ihr mit einem jeweiligen sonderbaren Lächeln bedenklich ...

Den Lebensbeziehungen Bonaventura's war sie wieder in einem Grade nahe, der ihr die glänzendste Genugthuung werden mußte ... Sie sah, daß er sein Amt mit einem auffallenden Streit gegen den Erzbischof von Coni begonnen hatte ... Der Gegenstand desselben gehörte den Gerechtsamen der Inquisition an, die zwar nicht mehr mit Scheiterhaufen, aber immer noch mit Einkerkerungen strafen kann ... Die Dominicaner sind die Wächter des Glaubens; sie halten auf ihre Vorrechte um so eifriger, als die Jesuiten sie im übrigen überflügelt haben ... Der gestürzte, von Bonaventura befehdete Fefelotti war nicht im mindesten in dem Grade unterlegen, wie Ceccone gewünscht hatte ... Gegen einen unruhigen Bischof seiner Diöcese konnte ihn Rom vollends nicht fallen lassen ... Noch mehr; Fefelotti kam in die unmittelbarste Nähe des Vaticans zurück. Er wurde der erste geistliche Minister Sr. Heiligkeit, während Ceccone der weltliche war ... Jetzt wurde Bonaventura's Lage vollends schwierig – ... Noch ein anderer Schlag gegen ihn war in Vorbereitung, die Verurtheilung der dem apostolischen Stuhl aus Witoborn vorgelegten Frage über den Magnetismus – »ob sich ein Priester nicht durch magnetisches Handauflegen verunreinige« Thatsache.? ...

Mitten im Gewirr dieser sich durchkreuzenden Gerüchte und leider nur halbverbürgten Nachrichten, hörte Lucinde, daß Paula's Bund mit dem Grafen Hugo wirklich im Frühjahr war geschlossen worden ... Resi Kuchelmeister schrieb ihr authentisch diese Nachricht ... Resi schilderte, was sie gehört von der in der Libori-Kapelle bei Westerhof stattgefundenen Trauung ... Sie schilderte Paula's erstes Auftreten – in Wien – wie die geisterbleiche, mehr dem Himmel, als der Erde angehörende Gräfin ein Aufsehen sondergleichen mache, wie sie alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung setze ... Lucinde befand sich im Glück; das machte ihr Urtheil milder ... Bonaventura hatte Paula aufgeben müssen; das ließ eine Weile ihre Eifersucht schweigen ... Auf der Höhe des Verständnisses dieser unglücklichen Liebe stand sie ohnehin und wohl empfand sie, was in Paula's Seele vorgehen mußte ... Graf Hugo hatte ihr einmal eine schreckhafte Stunde des Lebens bereitet, er hatte zornig und drohend mit ihr gesprochen und so schrieb sie denn an Resi: »Das ist unser Frauenloos! Die Lilie vom See in einen Stall verpflanzt! Veilchenkränze vom Bachesufer in ein mit Tabacksqualm durchzogenes Zimmer! Hände, weich und weiß wie Schwanenflaum, blätternd jetzt in einem abgegriffenen Lebensbuch! Aber gewiß! Der Graf wird sie schonen! All die Künste der ›Egards‹, mit denen die Männer sich zu verstellen wissen, wird er entfalten ... Er wird sich auf den Ton der Tugend und Achtung vor dem Schönen stimmen! Wie wird er um sie her einen Tempel aus bunten Lügen-Wolken bauen, einen Tempel mit schönen Säulen und Vorhängen, die undurchsichtig sind, um – den Stall, die Cigarre, den Wein, die Untreue zu verbergen! ... Aber manchmal verwickelt sich denn doch der Sporn des plumpen Fußes in die zarten Teppiche, die auf dem Boden gebreitet sind; manchmal reißt er die Herrlichkeit der Lüge zusammen. Da stürzen die alabasternen Vasen, zerbrechen die kleinen Hausgötter des Friedens, der erlogene Seladon wird zum schnurrbärtigen Barbaren, wie ich sie alle gefunden habe, diese Erlauchts, diese Excellenzen, diese Durchlauchts ... Dann kommen Dinge zu Tage, die für uns Frauen wie Offenbarungen aus der Welt des Mondes sind! Seit dem Anfang der Welt belügen so die Männer die Frauen, misbrauchen mit ungroßmüthiger Kraft unsere urewige Schwäche, die immer wieder die Füße küßt, die uns getreten ... Vielleicht führt der Graf seine Rolle wenigstens durch bis zum stillen Verlöschen des Lichts, das ihm der Himmel zu hüten beschieden hat. Vielleicht besitzt er, da sie ihn gutmüthig nennen, wenigstens die Geduld des Ausharrens bis zum Ende ... Ich kann mir den Glauben der Aerzte nicht geben, die diese Paula wie eine welk gewordene Blume an solchen Küssen und Umarmungen aufleben sehen und eine gesunde Mutter mit sechs pausbackigen Jungen in Perspective dieser Ehe erblicken. Zieht der Graf nach Schloß Salem, so fällt aus der dortigen Luft allein schon ein Mehlthau auf die zarte Pflanze; selbst wenn sie nie erfährt, wer die andre arme Seele war, die einst dort in den kleinen Entresols des Casinos gehaust hat« ... Resi Kuchelmeister nahm diesen Brief sehr übel und antwortete nicht mehr ...

Es war eben in der Welt nur Ein Mann, der Lucinden liebenswerth erschien ... Hochthronender denn je unter allem Elend und aller Schwäche dieser Erde lebte er in seinem einsamen Alpenthale ... Wie gern hätte sie ihn in seinem jetzigen Glanz erblickt! In seiner langen weißen Dalmatica, mit seinem silbernen Bischofsstab, unter seiner spitzen Bischofskrone, die ein Haar bedeckte, das schon, wie sie bei ihrer Beichte zu Maria-Schnee gesehen, zu ergrauen anfing! ... Wie gegenwärtig war ihr alles, was Bonaventura über diesen Bund Paula's empfinden mußte ... Sie ängstigte sich um die Gefahren, die ihn bedrohten ... Hätte sie nur mehr davon erfahren ... Sollte sie sich an den Cardinal wenden? ... Ceccone hatte den Kopf mit dem »Jungen Italien« und den Vorwürfen des Staatskanzlers voll und Olympia sprach nur selten noch anders, als mit Hohn über den von ihr zum »Heiligsten der Christen« und zum Bischof ernannten Deutschen ... Die Herzogin schien ihr eher eine Bundsgenossin; doch mußte sie mit dieser – »erst einen Vertrag abschließen« ...

Eines Tages hatte sich Lucinde, als Olympia nicht anwesend war, nach einem kleinen Diner bei der Herzogin, dem der Cardinal, einige Prälaten und Offiziere beiwohnten, den Scherz erlaubt, den großen rothen Cardinalshut des erstern aufzusetzen und damit vor den Spiegel zu treten ... Das Gespräch war so lebhaft, das Lachen so natürlich gewesen, daß Lucinde sich diesen kleinen Rückfall in ihre alten »Hessenmädchen«-Naivetäten glaubte beikommen lassen zu dürfen ...

Una porporata! rief Ceccone mit glühenden Augen und beifallklatschend ...

Der große rothe Sammthut mit den hängenden Troddeln von gleicher Farbe stand dem schwarzen Kopfe in der That allerliebst ...

»Die Päpstin Johanna!« sagte ein Offizier, der Lucinden zu Tisch geführt hatte ... Er schien sich gut mit ihr unterhalten zu haben ... Man nannte ihn den Grafen Sarzana ... Er stand bei der Nobelgarde und war noch nicht lange von Reisen zurück ...

Der Cardinal drohte ihm für sein Wort schelmisch mit dem Finger, sagte, wie zur Strafe: »Nein! Die Gräfin Sarzana!« ... Damit setzte er Lucinden den schönen Helm des Offiziers auf ...

Eine Purpurglut überfloß sie ... Ihre verunglückte Johanna d'Arc auf der Bühne stand wieder vor ihr ... Sie hatte keine Kraft, ein Wort zu sprechen, keine Kraft, den Helm wieder abzunehmen, bis es Herzog Pumpeo that ... Der Cardinal hatte den seinigen ergriffen ...

Seit dieser Zeit wurde sie mit »Gräfin Sarzana« geneckt und von niemand mehr als von Ceccone ... Der Graf, der sie nach dieser Scene anfangs auffallend gemieden hatte, fing plötzlich sogar selbst an, den Scherz wahrmachen zu wollen ... Er zeichnete sie aus ...

Lucinde wußte, daß Don Agostino ein Graf »ohne Baldachin« war, d.h. ohne Stellung zum hohen römischen Adel. Ein Marchese ist mehr als ein römischer Graf. Sie wußte, daß Graf Sarzana arm war und unter Cavalieren nach dem Schlag des alten Husarenrittmeisters von Enckefuß lebte. Galanterie und die Kunst, mit 1500 Scudi für sich und ihre Diener auszukommen, erfüllte das Leben dieser »armen Ritter« – unter denen sich Frangipanis und Colonnas befinden ...

Wie sich aber die Neckereien mit der »Gräfin Sarzana« mehrten, trat ihr die Vergleichung des alten Enckefuß mit diesen römischen Rittern noch in einer andern Beziehung entgegen ... Der alte Husarenrittmeister hatte Ehrgeiz, Ritterlichkeit, Treue, Aufopferung für gute Freunde, Tugenden, die die Fehler seines Leichtsinns vergessen ließen ... Seltsam aber, sagte sie sich, diese romanische Art besitzt von alledem wenig oder gar nichts und regiert doch die Welt! ... Die anständigsten Menschen hatte Lucinde hier gewinnsüchtig und schmutzig geizig gefunden; ein gewisser Adel der Auffassungen, der ihr selbst noch in der äußersten Entartung des heimischen Junkerthums, im Kronsyndikus, bei ernsten Krisen erinnerlich war, fehlte hier ... Sie sah anständig gekleidete Männer Abends in die Kaffeehäuser zu den Gästen treten, die Achsel zucken und den Hut hinhalten – um einen Bajocco zu erhalten ... Selbst die Herzogin von Amarillas fand in solchen Vorkommnissen nichts als die allgemeine Consequenz des südlichen Lebens ... Mit dem äußern Schein der Demuth verband sich, wo Lucinde hinblickte, eine Gewöhnlichkeit der Anschauungen, die selbst ihre leichte Art zu denken und zu urtheilen noch überschritt ... Im Theater, das sie wegen Olympiens Koketterie besuchen mußte, sah sie zwanzig Tage hintereinander dieselbe Oper oder Farce ... An manchen Stellen, wo Rührung hervorgebracht werden sollte, zitterten wol die Stimmen der Sänger, der Schauspieler; die Taschentücher wurden gezogen; aber meist waren es Ausbrüche von Klagen, die ihr weit eher lächerlich vorkamen ... Anderes wieder, das selbst für sie roh und herzlos erschien, ging bejubelt oder als »großartig« vorüber ... Maßstab aller Beurtheilungen war die Klugheit oder Dummheit, die man bewiesen. Eine geschickt ausgeführte List erntete Bewunderung ... Und nicht anders im täglichen Leben. Der alte Rucca war, wie alle sagten, ein Gauner. Er stand im besten Einvernehmen mit den Cardinälen ... Sein Sohn hatte die Eitelkeit eines Affen. Seine Kameraden waren ebenso. Anmaßung, Unwissenheit überall ... Einige der römischen Junker trieben Politik und hielten sich zur »nationalen« Partei. Ihre Unzufriedenheit bestand darin – daß im Sanct-Peter bei großen Festlichkeiten »die Gesandten und die Fremden die Plätze erhielten, die ihnen gebührten«! ... Oder sie fanden, daß der Kirchenstaat zu sehr von Paris, Neapel und Wien beherrscht wurde; sie wollten die Herrschaft der alten Geschlechter wiederherstellen. Selten, daß sich einmal bei der Herzogin eine unterrichtete Persönlichkeit einfand. Die »Prälaten« besaßen Kenntnisse, mehr noch, angeborenen Geist; aber eine Einbildung verband sich damit, die jedes Maß überschritt. Nach ihnen war jede Wissenschaft zuerst in Italien entdeckt worden ... Wenn Cardinal Ceccone »auf sein Alter Neuerungen liebte«, so bestanden diese nur in dem eifrigsten Verlangen, den Einfluß der fremden Cabinette zu beseitigen ... Seitdem hatte freilich der Staatskanzler auch ihm von dem »Salz« gesprochen, das auf das dem Erdboden gleichzumachende Mailand gesäet werden müßte ... Doch ging alles so keck, so sicher, so maßgebend her! ... Diese elende Verwaltung! ... Die Zölle befanden sich in den Händen von Pächtern, die so rücksichtslos verfuhren, daß Zahlungsunfähige wider Willen zu Flüchtlingen, Räubern und Mördern wurden ... Auf Anlaß des gestern von Hubertus niedergeschossenen Pasqualetto wußte Lucinde zwei Thatsachen. Einmal daß sämmtliche fremde Weine, die Ceccone trank und seinen Gästen vorsetzte, unversteuerte waren. Zweitens daß Graf Sarzana gesagt hatte: Diese Kugel hat den Pasqualetto für seinen letzten Räuberspaß zu früh gestraft! Er wollte ja von morgen an ehrlich werden! Er war nur hier, um nach Porto d'Ascoli mit einer Pension zurückzukehren! ...

Die scharfen und freisinnigen Urtheile des Grafen kamen nur in vereinzelten Augenblicken ... Sie schienen einer Stimmung des Hasses gegen den Cardinal zu entsprechen, des persönlichen Hasses; denn die sämmtlichen Sarzanas waren Creaturen des Cardinals und ihm auf Tod und Leben verpflichtet ... Don Agostino hatte Verwandte, die nicht gerade des Abends in den Kaffeehäusern achselnzuckend bettelten, aber für jede Gefälligkeit eine Bezahlung verlangten ... Die Schwester des Grafen war eine Geliebte Ceccone's gewesen – alt geworden hütete sie seine Landökonomieen ... Ein Bruder von ihm verwaltete des Cardinals Oelmühlen – ... Als er sich zu viel Privatvortheil aus ihnen gepreßt hatte, ließ ihm der Cardinal die Wahl zwischen dem Tribunal del Governo oder der Heirath einer seiner vielen Nichten, die er nicht alle so auszeichnen und unterbringen konnte wie Olympia ... Ceccone trieb, das entdeckte ganz aus sich selbst Lucinde, die Ostentation mit dieser Nichte nur deshalb, weil so der Schein gewonnen wurde, als hätte er überhaupt nur Eine dergleichen zu versorgen! ... Der Cardinal lachte überlaut, als ihm Lucinde zwei Tage nach dem aufgesetzten Purpurhut diese Andeutung mit einem verschämten Blinzeln durch die Finger ihrer vors Gesicht gehaltenen linken Hand gab ... Ein dritter Verwandter des Grafen war durch Verheirathung mit einer andern Geliebten des Cardinals Aufseher aller Häfen geworden ... Und Don Agostino? ... Pah, dachte Lucinde, sieht Ceccone ein, daß du nicht, wie hier Sitte ist, durch eine Verheirathung mit seinem Majorduomo oder seinem Koch zu erobern bist? ... Sollst du deßhalb, deßhalb die Gräfin Sarzana werden –? ... In diesen Grübeleien lebte sie jetzt ... Es gab Entschlüsse zu fassen fürs Leben ... Es standen Erwägungen bevor, die die außerordentlichste Anstrengung des Verstandes, der List, der Berechnung, vielleicht – des Herzens kosteten ...

Sie hatte noch keinen klaren Entschluß gefaßt – ... Aber das stand fest: Benno von Asselyn urtheilt gering über dich und seine Mutter infolge dessen lächelt und zuckt dir die Achseln! ... Das soll nicht mehr sein! Dies Lächeln der Herzogin von Amarillas soll ihr ein für allemal verdorben werden! ...

Lucinde wollte auf Villa Rucca den beiden ihr so nahe stehenden Mönchen die Theilnahme alter Freundschaft und Dankbarkeit nicht versagen, sich aber im übrigen durch sie vergewissern, ob die Herzogin jene Betrogene von Altenkirchen, jene Römerin war, von der auf Schloß Neuhof soviel Sagen gingen, die Hubertus doch wol wissen mußte ...

Einen fatalen Eindruck machte es ihr jetzt beim Anfahren, daß sie die Villa Rucca keinesweges in der Stille antraf, die sie zur Ausführung ihrer entschlossenen Absichten bedurft hätte ... Nicht nur wurden eben von einer Menge Arbeiter die Spuren des gestrigen Festes, entfernt, sondern auch eine Gerichtscommission war zugegen, die die gestrigen Vorfälle aufnahm und der nun gerade ihr Erscheinen zu statten kam, um von ihr noch einige an sie gerichtete Fragen beantworten zu lassen ... Der Cardinal sogar und der alte Fürst Rucca waren zugegen ... Sie hörte schon, daß beide am Ort des gestrigen Ueberfalls mit den Mönchen Hubertus und Vincente im Gespräch verweilten ... Ueber Sebastus erfuhr sie, daß es mit seiner Wunde nicht gut stand und die Benfratellen jeden Augenblick erwartet wurden, ihn abzuholen ...

Auch dem Cardinal und dem Fürsten war sie im höchsten Grade und als Dolmetscherin willkommen ... Beide suchten mit dem drolligen Laienbruder, dessen Aeußeres vom Dienertroß belacht wurde, eine Verständigung, die Pater Vincente nur mühsam vermittelte ... Lucinde wurde sofort gerufen, in den Garten zu kommen ...

An der Stelle des gestrigen Erlebnisses harrten ihrer die drei geistlichen Herren und der alte Rucca im lebhaftesten Gespräch ...

Hubertus grüßte sie mit aufrichtigster Freude und drückte nur mit Trauer Befürchtungen wegen seines Freundes Sebastus aus ... Seine Augen sagten: Sei dankbar! Es geschah alles um dich! Bleibe uns ein guter Engel! Entsende den Brief – wenn er noch nöthig ist – Deinen Verbindungen gegenüber! Du weißt, was wir beide seit Witoborn gemeinschaftlich zu tragen haben! ...

Lucinde beglückte und beruhigte ihn durch einen ihrer gütigsten Blicke ...

Pater Vincente und der Cardinal erhielten von ihr die Ehren, die der kirchlichen Stellung derselben gebührten ... Pater Vincente – »der Rival Ihres Bonaventura um die nächste vacante Heiligenkrone« –! wie neulich Olympia zur Herzogin gespöttelt hatte – Ceccone das Bild des Versuchers, der mit einiger Reserve über alle Schätze der Erde gebietet ... Lächelnd stand er und schien Lucinden mit geheimnißvollen Zeichen begrüßen zu wollen ... Aber sie blieb voll Demuth ...

Der alte Fürst war wie ein luftschnappender Hecht, der sich nicht in seinem Elemente befindet ... Vor dem heiligen Pater Vincente mußte er Ehrfurcht bezeugen und ärgerte sich doch, daß dieser nicht geläufiger deutsch verstand ... Mit gemachtem süßsauern Lächeln verwies er Lucinden auf den von Pater Vincente vorgetragenen Stand einer Verhandlung, der zufolge sie erfuhr, daß der Räuberhauptmann Pasquale Grizzifalcone in der That nach Rom gekommen war auf Veranlassung – zunächst des Fürsten Rucca ...

Sie traute ihrem Ohre nicht ... Der Fürst versicherte jedoch ungeduldig: Ebbêne! und wendete sich zu Vincente mit einem drängenden Parla dunque! nach dem andern ...

Lucinde hörte, daß der berüchtigte Verbrecher, der schon vielfach sein Leben verwirkt hatte, hier auf dieser Villa erwartet worden war zu einem friedlichen Gespräch, das der Fürst mit ihm unter vier Augen hatte halten wollen ...

Pasqualetto, wie er im Munde des Volkes hieß, hatte die Bürgschaft der Sicherheit verlangt ... Diese hatte er erhalten auf das dem Fürsten gegebene Ehrenwort – des Cardinals ...

Dieser nickte ein Ja! und setzte sich jetzt ...

Zur Summe, die der Räuber als Bedingung seines Erscheinens verlangte, hatte dieser »dumme Kerl«, wie der Fürst sagte, noch eine »buona manchia« extra verdienen wollen; eine Summe von einer der »Prinzessinnen«, die sich vielleicht im Garten zu sicher dünkten ... Vielleicht auch – eine Geisel für seine Sicherheit zu denen, die er schon in den Schluchten der Mark Ancona besaß ... Dies setzte der Fürst mit einem seltsamen Streiflicht auf das »Ehrenwort« des Cardinals hinzu ...

Sie hätten nun gestern beinahe noch zwei solcher Geiseln gefunden, aber Pasqualetto hätte leider dran glauben müssen ... Leider! betonte der alte Fürst in allem Ernst und corrigirte sich nur pro forma: Der Bluthund! ... Dabei sah er über die Mauer, wo noch die Spuren der gestrigen Verwüstung nicht getilgt waren ...

Der Nimmersatt! ergänzte Ceccone ironisch und ließ zweifelhaft, wen er meinte ...

Lucinde orientirte sich allmählich ...

Der Fürst erging sich in der heftigsten Anklage eines Menschen, der hier den Staatsbehörden völlig in der Eigenschaft einer gleichberechtigten Macht gegenüberstand ... Dabei richtete er seine Vorwürfe geradezu wie die öffentliche Meinung gegen Hubertus ...

Dieser Arme verstand sie nicht und suchte nur mit seinen glühenden Augen, die im Knochenschädel hin-und herfunkelten, zu deuten, was seine Ohren nicht begreifen konnten ... So viel merkte er allmählich, daß er den hohen Herren wol gar keinen Gefallen mit seiner raschen Anwendung des Pistols gethan hatte ...

Der Cardinal wiegte sich im Sessel, brach über sich Lorberblätter, die er in seiner flachen Hand zerklopfte, und beobachtete nur scharf fixirend Lucinden ... Daß diese die Mönche Hubertus und Sebastus kannte, schien ihm darum von Interesse, weil sich die kleinen pikanten Episoden der gewöhnlichen Devotion und amazonenhaften Kälte dieses fremden Mädchens immer zahlreicher einzufinden begannen ...

Durch diesen Tod, krächzte der alte Fürst offen zu Hubertus heraus, haben Sie die heilige Kirche um eine große Gelegenheit gebracht, Gerechtigkeit zu üben! ... Sie hätten sich getrost von hier sollen entführen lassen, schöne Signora! scherzte er, sich mäßigend ... Ich würde mit Vergnügen das Lösegeld gezahlt haben – Der Cardinal da hätte den Rest hinzugefügt – setzte er mit sardonischem Lächeln und seine Aufregung zügelnd hinzu ...

Senza il supplimento! ... Ohne das Agio! erwiderte der Cardinal ebenso trocken ironisch ... Er streckte seine rothen Strümpfe vor sich auf die unteren Sprossen eines Sessels aus ... Sein Bein war noch untadelhaft ... Kopfnickend bestätigte er alles Erzählte, nur mit einer gewissen ironischen Bitterkeit ...

Sie können alles wieder gut machen, fuhr der alte Fürst zu Hubertus fort, wenn Sie sich die Gnade des Pater Campistrano erwerben und wirklich diese Reise nach Porto d'Ascoli unternehmen wollen ...

Nach Porto d'Ascoli? fragte jetzt Lucinde staunend über die Anrede, die sie übersetzt hatte ...

Beim Namen des Pater Campistrano blickte Pater Vincente besonders ehrfurchtsvoll – ...

Hubertus stand unbeweglich, dem alten knorrigen Myrtenstamm nicht unähnlich, an den er sich lehnte ... Er hatte schon vorhin von einer Reise nach der Küste gesprochen – das war richtig – er verstand nur noch zu dunkel den Zweck und sah auf Lucinden als Hülfe ...

Diese wollte sich erst vollständiger zurecht finden, wollte auch die Interessen des Cardinals erst sondiren, ehe sie vermittelnd eingriff ... Wie den Cardinal diese Klugheit entzückte, die er vollkommen übersah! ... Ceccone schien gleichgültig, spielte mit seinem Augenglase, fixirte bald Lucindens Toilette, bald das Curiosum der Gesichtszüge und Gestalt des deutsch-holländischen Laienbruders, das er belachte ...

Hubertus hatte allerlei Dinge von einem Pilger, von einem Deutschen gesprochen, die ihrerseits Lucinde nicht verstand ...

Erst allmählich lüftete sich ihr folgender, größtentheils von Pater Vincente vermittelter Zusammenhang ...

Der Räuber Pasqualetto war, wie im Musterstaat der Christenheit, im Eldorado der katholischen Sehnsucht, üblich, unter dem Versprechen der Sicherheit nach Rom entboten worden, um für eine bedeutende Summe dem Fürsten Rucca Mittheilungen über die Lage seiner Interessen an der adriatischen Küste zu machen ...

Der Gewinn, den der gefürchtete Räuber von seinen Unternehmungen zog, mußte sonst mit seinen Gefährten getheilt werden; diesmal wollte er die Frucht langer Verhandlungen, eine lebenslängliche Pension ganz für sich allein, wollte seine Wohnung inskünftige in der frommen Stadt Ascoli nehmen und sein bisheriges Leben der Nachsicht der Behörden empfehlen ... Solche letzte Friedensschlüsse der Regierungen mit den Fra Diavolos der Landstraßen sind in Italien nichts Seltenes und für Jedermann daselbst das Erwünschtere, weil Sicherste ... Wenn auch zugestanden werden muß, daß sich Ceccone und das Tribunal gegen diese Uebereinkunft sträubten, so wußte doch Fürst Rucca seinen Wünschen Nachdruck zu geben und nicht blos im Scherz sagte er zu den höchsten Richtern: Fürchtet ihr, daß eure Namen auch auf der Liste derer stehen werden, die mir die Füllung des Schatzes des Heiligen Vaters mit der Zeit unmöglich machen? ... Besonders sah wol gar Ceccone den Enthüllungen des Pasqualetto mit unheimlicher Spannung entgegen ... Der Fürst hatte heute ganz den übeln Humor, der jeden Gastgeber am Morgen nach einem Feste, wenn es auch noch so schön ausfiel, zu erfüllen pflegt ... Er äußerte ihn in aller Offenheit mit den Worten: Ich glaube, diesen Mord des armen Pasqualetto hat jemand auf dem Gewissen, der sich fürchtete, auf zehn Jahre zurück seinen Champagner versteuern zu müssen! ...

Der Cardinal zog verächtlich die Lippen ... Lucinde sah, daß, wenn der Cardinal hier etwas fürchtete, mehr im Spiele sein mußte als sein unversteuerter Champagner ... Doch auch schon diese Beschuldigung durfte den Cardinal mit Recht reizen ... Er verwünschte alle die, die der Kirche und ihren Cardinälen Uebles nachsagten ...

Hubertus horchte nur ...

Der Räuber war, erfuhren er und Lucinde, am Tiberstrand mit einigen alten Kameraden aus San-Martino, einem bekannten Räubernest im Albanergebirg, in Berührung gekommen und hatte bloß den Spaß am Feste seines versöhnten Feindes noch als »Zugabe zum Fleisch« ausführen wollen ... Die Verständigung zwischen dem Fürsten Rucca und Pasqualetto war auf brieflichem Wege vor sich gegangen – wenn auch mit der größten Schwierigkeit ... Der Schmuggler- und Räuberhauptmann konnte natürlich selbst weder lesen noch schreiben ... Für sein Vorhaben, die Hehler unter den Kaufleuten und die mit ihnen und den Schmugglern unter einer Decke wirkenden Zollbedienten anzugeben, mußte er sich eines verschwiegenen Beistandes, der schreiben und lesen konnte, bedienen. Für solche Fälle gibt es in Italien die Mönche, falls sie – schreiben können ... Aber selbst diesen hatte Pasqualetto nicht getraut. In Ascoli wollte er seine Tage in Ruhe beschließen; er war wol auch gerüstet, die Rache der von ihm Verrathenen zeitlebens gewärtigen zu müssen, hatte sich auch deshalb für die Schlimmsten unter den Defraudatoren die Verzeihung erbeten; aber er vertraute sich sogar den Mönchen nicht gern an. Wo fand sich auch bei ihnen der Muth, Vermittler eines so eine ganze Provinz in Furcht und Schrecken versetzenden Strafgerichts zu werden! Die Mönche mehrerer Klöster, bei denen er anklopfte, baten ihn himmelhoch, keine dergleichen Thorheit zu begehen und in solcher Form reuig werden zu wollen! Wendet Euch doch an uns und die Madonna! sagten sogar die Aebte ... In der Kathedrale von Macerata gab es ein wunderthätiges Marienbild, das alles vergab ... Kurz Pasqualetto war loyaler, als die ehrwürdigen Väter und vollends als die einsam wohnenden Landpfarrer, die sich mit einer solchen Provocation der Rache der Betheiligten am wenigsten einlassen wollten ... Wie sehnte sich der riesige Pasqualetto, der eiserne Pfosten aus Brettern ausbrechen, nur nicht schreiben konnte, nach einem Dolmetscher seiner Wünsche! ... Kaum daß er einige Mönche so weit brachte, für die Verständigung mit dem Generalpächter der Steuern die ersten Einleitungen zu treffen ...

Hier wollte der Fürst wieder selbst erzählen ... Pater Vincente trug ihm alle diese Geschichten mit einem zu elegisch eintönigen Klange und wie von der Sündhaftigkeit dieser Welt wenig erbaut vor ...

Man hörte indessen doch aus des Priesters Munde:

Seine Hoheit waren seit lange in ihren Einnahmen nicht so verkürzt gewesen, wie in den letzten Jahren. Während die statistischen Ausweise aller Staaten eine Zunahme der Zollerträgnisse erwiesen, sanken in schreckenerregender Weise die des Kirchenstaats. Ein Gewebe von Defraudationen hatte sich gebildet, das neben dem geregelten Steuerwesen des Staats und der Pächter ein zweites der Schmuggler, der treulosen Zollbedienten und Consumenten bildete. Fürst Rucca schwur, daß er im vorigen Jahr den Ausfall einer halben Million gehabt und in diesem Jahr würde das Uebel noch ärger werden. Er wollte ein Gericht mit Schrecken halten. Wozu war Ceccone's Nichte seine Schwiegertochter geworden ...

Pater Vincente sprach letzteres nicht alles ... Lucinde ahnte es ... Der Pater senkte die langen schwarzen Augenwimpern ... Wie sah er so heilig aus ... Ceccone fing an, ihn schärfer zu beobachten ... Er dachte: Fefelotti will Dich zum Cardinal machen? ... Das ist von meinem Gegner theils Koketterie mit der Mode der Frömmigkeit, theils eine erneute Schaustellung der Lebensweise Olympiens und eine Verurtheilung meines Systems ... Die geistliche Intrigue ergreift jedes weltliche Mittel ... Ceccone versank in brütendes Nachsinnen ...

Hubertus aber und Lucinde erfuhren:

Pasqualetto wollte sich durchaus noch immer nicht nach Rom begeben, aber auch seine Liste von Kaufleuten, reichen Grundbesitzern, vielen vornehmen Männern in Rom, vorzugsweise von Zollbedienten und Helfershelfern der Schmuggler blieb ungeschrieben ... Das Geschäft rückte nicht vorwärts ... Endlich begab sich Pasqualetto mit seinen nächsten Vertrauten in die Gegend von Loretto ... Dort wollte er nächtlich einen Pfarrer überfallen und ihn mit geladener Flinte zwingen, niederzuschreiben, was ihm »unter dem Siegel der Beichte« dictirt werden würde ... Da fiel ihm vor Loretto ein Haufe Pilger in die Hände. Diese, so arm sie waren, plünderte man aus und entdeckte, daß einer derselben, der der ärmste von allen schien, nur eine Bibel (ein verbotenes und allen Steuerbeamten als zu confisciren bezeichnetes Buch) und ein Taschenschreibzeug besaß ... Diesen glücklichen Fund hielt man fest ... Ein Gefangener, der schreiben konnte! ... Ein Bettler, der sich, wenn es sein mußte, aus der Welt schaffen ließ, ohne daß viel Nachfrage danach war ... Diesen Unglücklichen schleppten die Räuber mit sich und hielten ihn seit Monden gefangen. Es war ein Greis, krank, hinfällig; er kam von den Alpen her, hatte nach dem südlichen Italien gewollt – er nun war der Vertraute einer hochwichtigen Staatsaffaire geworden ...

Und hier eben war es, wo schon bei der früheren Erörterung dieser Dinge Hubertus in seiner regsten Theilnahme aufgewallt war ...

Ingleichen gab auch Vincente jetzt wie vorhin über diesen gefangenen, dem Verderben preisgegebenen Pilger Zeichen eines gesteigerten Interesses ...

Den Pilger zwangen die Räuber, Nachts über die wildesten und schroffsten Felsenwände zu klettern und mit ihnen in einsamen Höhlen zu campiren ... In einer verlassenen Zollwächterhütte am Meeresstrand fand sich nach drei Tagen das nothwendige Papier und nun begann die Correspondenz mit Rom ... Das war ein Verkehr wie zwischen zwei Cabinetten ... Grizzifalcone ging vorsichtig zu Werke ... Die Actenstücke seines Verrathes mehrten sich ... Der Pilger mußte Namen und Orte, alle Waaren, die seit Jahren nicht versteuert gewesen zu sein sich die Schmuggler entsannen, alle Hehler, auch die Schlupfwinkel niederschreiben, wo die Waaren geborgen wurden, Fischerhütten bei San-Benedetto, Leuchtthürme am Fosso Bagnolo, Felsenschluchten bei Grottamare, Zollwächterhäuser beim Hafen von Monte d'Ardizza – nichts blieb ungenannt ... Der unglückliche Pilger hatte Bogen vollgeschrieben mit Geständnissen, die dem Fürsten Rucca Gelegenheit zu einem Strafgericht geben sollten ... War nun dies Convolut mit Pasqualetto mitgekommen? ... Wo befand es sich? ... Es fehlte ...

Hier fragte Lucinde, warum sich der Fürst diese Papiere nicht schon früher hätte zuschicken lassen ...

Er erwiderte, er mistrauete der Post ...

Wer kann sich auf Eure Post verlassen! sagte er bitter und zornig ...

Der Fürst, entgegnete Ceccone sich bekämpfend, wollte nur noch mehr vom Pasqualetto erfahren, als was dieser wagen würde niederschreiben zu lassen ...

Lucinde sah, daß es den alten Fürsten mächtig gereizt hatte, gerade die Würdenträger der Kirche, die festesten Säulen der Prälatur, einer Aristokratie, die noch immer in ihm den Nachkommen eines Bäckers sah, wenn nicht zu compromittiren, doch necken und in Schach halten zu können ... Er glaubte nicht, daß der Räuber schriftlich diese und ähnliche Namen angeben würde ... Deshalb wünschte er das persönliche Erscheinen ...

Vincente's Stimme erhöhte sich jetzt seltsam ... War es deshalb, weil sich die Zahl der Unglücklichen, die in den Händen der Räuber lebten, mehrte und es dem Frevel galt, daß sogar das gesalbte Haupt eines Bischofs in diese blutigen Dinge verwickelt wurde? ...

Lucinde hörte, daß Grizzifalcone endlich hatte kommen wollen ... Doch ließ er vorher noch den Bischof von Macerata verschwinden ... Vom Besuch eines Weinbergs, zwischen den Bergen dahinreitend, war der hohe Prälat nicht wieder nach Hause gekommen. Pasqualetto hatte sich seiner als einer Geisel versichert ... Im »Diario di Roma« wurde die Schuld dieses Ueberfalls allerdings nur dem Pasqualetto zugeschrieben; aber wie sehr man versicherte, daß die bewaffnete Macht ausgezogen sei, den gefangenen Prälaten zu befreien, man konnte seiner nicht habhaft werden und wollte es auch nicht – das sagte sich Lucinde ... In der officiellen Zeitung stand nichts von diesem geheimen Zusammenhang eines so betrübenden Vorfalls mit einem großen Staatsact der dreifachen Krone ...

Nun endlich erscheint Pasqualetto. Vielleicht, um sich noch sicherer zu stellen, raubt er vom Hochzeitsfest des Fürsten Rucca noch einen der Gäste ... Da unterliegt er selbst! Alle Hoffnungen sind dahin! Die Verhandlungen eines Jahres vereitelt! ...

Der Stand der ganzen Frage beruhte jetzt auf dem Leben und der Freiheit zweier Gefangenen, von denen der eine ein hoher kirchlicher Würdenträger war, der andre die Kenntniß der Liste hatte ...

Wäre nur diese Liste gerettet! seufzte der Fürst .... Die Gerichtspersonen hatten ausgesagt, daß sich, als man die Kleider des Erschossenen untersuchte, in den Taschen Amulete, Muttergottesbilder, geweihte Schaumünzen genug vorfanden, auch sämmtliche Briefe eines Kochs des Fürsten, der die Correspondenz geführt hatte; aber weder in den Taschen, noch in der Spelunke, wo Pasqualetto abgestiegen war, noch bei gefangenen Complicen fand sich die Liste, auf die die ganze Sehnsucht des Fürsten brannte ... Nun bereuete er, den schriftlichen Verkehr durch die Post nicht vorgezogen zu haben. Nun bereuete er seine gestrige Angst, die ihn bestimmte, so eilends zu entfliehen ... Wie bitter deutete er dem Cardinal an, daß dieser die Liste wahrscheinlich gestern sogleich aus der Tasche des Ermordeten selbst zu sich gesteckt hätte ...

Es waren freilich nur Blicke und Flüsterworte, die die in Demuth fern Stehenden nicht hörten ... Lucinde verstand sie aber ...

Der Cardinal nannte in allem Ernst den Zischelnden jetzt einen Hanswursten und verlangte von ihm – ja von Ihnen, Altezza! – den Bischof von Macerata heraus ...

Pater Vincente hatte vom Schicksal des Bischofs mit bebendem Ton gesprochen ...

Pasqualetto ist todt! rief Ceccone. Wo finden wir das gesalbte Haupt eines der frommsten Priester der Christenheit wieder! ...

Und wo – wo find' ich – die von dem Pilger geschriebene Liste! fiel der ergrimmte Fürst ein ...

Der Koller des Zorns ergriff den kleinen Mann zum Schlagtreffen. Wenn er den fremden Franciscanerbruder nicht um seine vorschnelle Art, hier in Rom auf Spitzbuben Pistolen abzuschießen, persönlich mishandelte, wenn er sich durch die Ankunft der Donna Lucinde hindern ließ, die Worte, die er vorhin gesprochen, zu wiederholen: »Ihr hättet eine Zofe wie diese, und wäre es auch Eure spanische Herzogin selbst gewesen, zehnmal sollen zum Teufel fahren lassen –! Wo in aller Welt ergreifen hier Mönche die Waffen!« so war es, weil er wiederholt von Hubertus verlangte, daß dieser seine Uebereilung durch eine That voll Muth, Entschlossenheit und Discretion wieder gut machen sollte ...

Hubertus stand erwartungsvoll und im höchsten Grade bereit dazu ...

»Wie soll ich es?« fragte nur über die näheren Einzelheiten statt seiner Lucinde ...

Sie hörte jetzt noch mehr von jenem Pilger ... Hubertus hatte erklärt, diesen Pilger zu kennen ... Unfehlbar müsse es derselbe gewesen sein, mit dem er über die Apenninen geklettert und zuerst beim Besuch der »heiligen Orte« des Sanct-Franciscus auf der Penna della Vernia zusammengetroffen war ... Das Leben dieses Pilgers hing ohne Zweifel von einem Haar ab, falls er noch unter den Räubern geblieben war und unter den Zollbedienten die Kunde seiner Beihülfe zum Verrath sich verbreitete, die Kunde seines vielleicht abschriftlichen Besitzes der Liste ... Hubertus hatte schon so viel von diesem Pilger erzählt, daß Lucinde begreifen konnte, warum auch Pater Vincente lebhaft für ihn eingenommen schien und einmal über das andere das Schicksal des armen Gefangenen beklagte ...

Lucinde hörte das Gepolter des Fürsten ... Sie hörte, was sie übersetzen sollte ... Die Schilderung der unzugänglichen Schluchten am Meer, wo Pasqualetto zu hausen pflegte ... Die Schilderung der List und Verschlagenheit, mit der man allein sich diesen eigenthümlich organisirten Banden zu nähern vermochte ... Die Schilderung der Ehren und Auszeichnungen, die den Pilger hier in Rom erwarten sollten, wenn ihn Hubertus glücklich auffände und über die Gebirge brächte ... Sie übersetzte eine wiederholte Aufforderung des Fürsten an Hubertus ... Reiset nach der Gegend von Porto d'Ascoli! Sucht, da Ihr muthig und unerschrocken seid, das Gefängniß des Bischofs von Macerata und des Pilgers von Loretto! Alle Briefe, die Pasqualetto seit Monaten schon mit mir wechselt, sind von diesem frommen Mann geschrieben, den die Räuber zu diesem Behuf gewiß in den unwegsamsten Höhlen verborgen halten ...

Ceccone ergänzte:

Der Bischof von Macerata ist ein Greis – ...

Der Bischof von Macerata ist ein Greis, sagen Seine Eminenz – fuhr Lucinde fort ... Aber mit allen Fähigkeiten der Jugend ausgestattet, setzen Seine Hoheit, den Pilger meinend, hinzu ... Seine Briefe – der Cardinal meinen die Klagen des armen Bischofs – sind gewandt und in jeder Beziehung vollkommen, meinen Seine Hoheit – Beide sprechen zu Euch: Kann eine fromme Seele dulden, daß die Mittel, die den Stellvertreter Christi auf Erden in seiner nothwendigen Würde erhalten sollen, durch Schurken, ungetreue Haushalter, Judasse verkürzt werden? ... O hätt' ich das Verzeichniß, spricht der Fürst, das dieser Mann unter den Flinten der Räuber schreiben mußte! Oder könnte den Pilger, wenn Ihr ihn findet, Eure Entschlossenheit überreden, Euch die vorzüglichsten Namen zu nennen, die auf diesem Papier zur Schande der Christenheit glänzten! Die Namen von Herzögen und Excellenzen behält man doch wol –! ... Ich will ihm hier in Rom die glänzendste Wohnung einrichten, will ihn schadlos für alles halten, was er erduldete! ... Suchtet Ihr den Pilger und – den Bischof, sagen der Cardinal, so würdet Ihr eine Krone mehr im Himmel gewinnen! Ich fahre sofort, sagen Seine Hoheit, nach Santa-Maria und werfe mich dem Pater Campistrano zu Füßen, um Eure Verzeihung, Eure Freiheit zu gewinnen, damit Ihr einen Zweck vollführt, der Euch in jeder Beziehung den Dank der Christenheit erwerben wird! ...

Hubertus übersah jetzt in voller Klarheit das an ihn gestellte schwierige, lebensgefährliche Begehren ...

Aber seine Bereitwilligkeit, einer so ehrenvollen, wenn auch den Tod – und nicht allein von Räuberhand – drohenden Aufgabe sich zu unterziehen, gab sich mit der ihm eigenen Liebe zu Abenteuern um so mehr kund, als ihm die Ueberzeugung innewohnte von einer Identität des Pilgers mit jenem Deutschen, den er trotz seiner Ketzerei auf der Reise nach Rom liebgewonnen ... Zuletzt konnte er hoffen, durch solche Dienste, die er dem Heiligen Vater leistete, auch für seine Wünsche über die Person Wenzel's von Terschka ins Reine zu kommen ... Hatte er bei seinem General die Freiheit gewonnen, so wollte er unerschrocken seine desfallsigen Wünsche vortragen, ehe er die Reise antrat ... Das Vertrauen, heil und gesund nach Rom zurückzukehren, besaß er vollauf ...

Jetzt ergänzte mit verklärten Augen Pater Vincente seine Mittheilungen ... Alles, was Hubertus erzählt und Lucinde übersetzt hatte, traf auf die Erinnerungen zu, die Pater Vincente vom Bruder Federigo zu Castellungo hatte ... Auch Lucinde kannte ja diesen Deutschen, bei dem Porzia Biancchi sich die Fähigkeit erworben, sich als Müllerin Hedemann in Witoborn mit ihren deutschen Mägden verständlich zu machen ... Endlich sprach sogar zu ihrem höchsten Erstaunen der Cardinal:

Gelobt sei unsere gute Mutter Kirche! Diesem Pasqualetto verdanken wir, wie es scheint, mehr als einen großen Gewinn! Nicht daß ich Hoffnung habe, Eure Hoheit in den Stand gesetzt sehen, Ihre Klagen über die Diener der Gerechtigkeit und unsere Subalternen bestätigt zu erhalten – ich würde nur auf die Aussagen eines Räubers am Fuß des Schaffots, nicht auf die Lügen eines Bösewichts etwas geben, der sich mit lächerlichen Hoffnungen schmeichelte, ja noch als Bürgermeister von Ascoli ein Leben der Achtung führen zu können wähnte –; aber darin hat er uns einen großen Gewinn verschafft, daß er den edeln Söhnen des heiligen Dominicus Gelegenheit gibt, die Milde zu beweisen, die sie gegen Ketzer schon zu lange ausüben! ... Signora, Sie fragten mich vor kurzem nach den Streitigkeiten des Bischofs von Robillante? ... Hören Sie, was eintreffen muß! ... Wenn der apostolische Eifer des Herrn von Asselyn sein neues Vaterland beschuldigt, daß Ungläubige hier spurlos in den Kerkern der Inquisition verschwinden können – so erleben wir die glänzendste Genugthuung! Frommer Bruder, rettet den Bischof von Macerata! Wagt Euch in die Klüfte, wo diese Räuber hausen! Rettet aber auch diesen Pilger! Gebt den Beweis, daß dieser Flüchtling, den von uns die sardinische Regierung reclamirt, den die Gesandtschaften Englands, Schwedens, der Niederlande, Preußens in den Händen der Dominicaner vermuthen, in keinem heiligen Inquisitionsofficium, weder sonstwo, noch hier in Rom, festgehalten wird! Er ist gefangen! Ja! Aber von Räubern! Er muß, auf den Tod bedroht, diesen die Beförderung der öffentlichen Wohlfahrt erleichtern, wodurch ihm Verzeihung werden könnte für die viele Mühe und Sorge, die uns bereits die Nachfragen nach dem Verschollenen nicht blos von Castellungo und Robillante aus, sondern von Turin, London, Berlin und Wien gemacht haben! Fefelotti wird mir, so wenig er es sonst um mich verdient hat, dankbar sein, wenn ich ihm den Beweis an die Hand liefere, daß nichts mehr im Wege steht, sich mit seinem feuerköpfigen Nachbar zu versöhnen! Guter Bruder! Ihr seid von einem Blut, das Euch zu leicht in Euern schönen Kopf steigt! Wandert getrost, wandert immerhin! Leiht dem Vorschlag eines Eurer drolligen Ohren! Laßt für Euch in Santa-Maria Seine Hoheit jenen Fußfall thun! Euch wird es Segen bringen und einem so vornehmen Mann, wie ihm, nichts schaden! ...

Ceccone hatte sich lächelnd erhoben und schüttelte Hubertus, dessen Augen vom Feuer seines Unternehmungseifers blitzten, die Hand ... Dieser küßte die seinige voll Demuth ... Pater Vincente stand aufhorchend und feierlich ... Lucinde staunte des Zusammenhangs aller dieser seltsamen Unternehmungen ... Nur der alte Rucca zweifelte – Ceccone schien ihm auf alle Fälle eine doppelte, ihm wahrscheinlich nur feindliche Rolle zu spielen ...

In diesem Augenblick hörte man in der Ferne das Läuten einer kleinen Handglocke ...

Das Glöcklein der Benfratellen! sagte der Cardinal. Sie kommen mit der Tragbahre, den zweiten unsrer tapfern deutschen Lanzknechte des Heilands abzuholen! ... Frater Hubertus, gebt ihm vorläufig das Geleite; grüßt Euern Guardian in San-Pietro und dann – ans Werk! Ihr seid, bei Sanct-Peter, der rechte Mann für diese Aufgabe, die ich Niemand in Rom so gut wie Euch anzuvertrauen wüßte ... Ihr aber, Pater Vincente, wandte sich Ceccone ehrerbietig zu diesem; – die junge Fürstin Rucca hatte gestern das dringendste Verlangen nach Euerm Segen ... Ich hoffe, Euer Kloster wird mit dem Thier nicht unzufrieden sein, das, statt Eines Sackes, Euch jetzt zwei zu tragen draußen empfangen soll! ... Die Zeiten müssen wiederkehren, wo unsere rothen Hüte auf die Stirn von Priestern gedrückt werden, die dem Volk das Schauspiel der Demuth geben ... Laßt mir die Ehre, den rothen Zaum von einem meiner Rosse zu nehmen und den Esel zu schmücken, den Eure Hand durch die Straßen Roms führen wird! ...

Dies war keine jener südländischen Artigkeiten, nach denen der Spanier sein eigenes Haus demjenigen anbietet, der dessen Lage reizend findet; es versteht sich von selbst, daß das Anerbieten abgelehnt wird ... Bei Pater Vincente lag in der That eine Bezüglichkeit des Ernstes nahe. Er durfte voll Erröthen und mit Nachdruck die angebotene Auszeichnung ablehnen ...

Grüßen Sie die junge Fürstin, sprach er leise zum Cardinal, und sagen Sie ihr, daß ich oft für das Heil ihres neuen Bundes beten werde ...

Er faltete die Hände ... Das Glöcklein der Benfratellen erklang düster und traurig ... Vincente's Auge erhob sich, wie von einem sanften Liebesstrahl entzündet ... Die beiden so weltlichgesinnten Männer mußten erleben, daß Pater Vincente sie zum Beten zwang ... Ecce, Domine, sprach er mit dem Psalmisten in einer eigenthümlich erhöhten Stimmung, tu cognovisti omnia, novissima et antiqua! Quo ibo a Spiritu tuo? Et quo a facie tua fugiam? Si ascendero in coelum, tu illic es! Si descendero in infernum, ades! Vide, si via iniquitatis in me est et deduc me in viam aeternam! Amen! ...

Es war ein Gebet wie die Sühne für die sündhafte Weltlichkeit aller dieser Verhandlungen ...

Vincente's Augen blieben gehoben wie mit der Bitte, ein Strafgericht des Himmels abzuwenden ... Der Geist Bartolomeo's von Saluzzo, der Geist des Philippo Neri schien über ihn gekommen ... Sein schöner, weicher Mund betonte scharf die Worte: »Via iniquitatis!« ... Er richtete damit die Falschheit und Unreinheit dieser Welt und schüttelte fast den Staub von seinen Füßen, als er dann Hubertus' Hand ergriff und ihn fast fortführte, als würde ihm eine Seele abwendig gemacht, die ihm anvertraut war ...

Bei alledem blieb es entschieden, daß der Fürst zum General der Franciscaner fuhr und diesen unternehmenden Mönch sich auserbat, der den Grizzifalcone getödtet hatte und nichtsdestoweniger den Muth besaß, noch den Bischof von Macerata und den Pilger von Loretto retten zu wollen ... In dem Muth, der zu einer solchen Unternehmung gehörte, lag allein schon die Bürgschaft des Erfolgs ... Dem Italiener imponirt jede Kühnheit ... Bald mußten über den »Bruder Todtenkopf in der braunen Kutte« Sagen hinausgehen – märchenhaft und wie ein entwaffnender Schrecken ...

Ceccone starrte mehr noch dem Pater Vincente ... Ist das Papst Sixtus V., der sich als Cardinal solange unbedeutend stellte, bis er als Papst die Maske abwarf? dachte er ... Nun sah er sogar den alten Heuchler, den Fürsten Rucca, beim Abschied an der Villa den Strick des Paters ergreifen, diesen küssen, dann sogar niederknieen, Hubertus und Lucinden gleichfalls, alle um den Segen des begeisterten Sprechers zu empfangen ...

Diesen Segen ertheilte Pater Vincente mit dem verzückten Liebesblick des Sanct-Franciscus ...

Die Jesuiten haben ihren Popanz für den Stuhl der Apostel gefunden! sagte sich Ceccone ... Er blickte staunend den beiden Mönchen nach, die sich jetzt empfahlen, begleitet von dem alten, gleich einem Aal sich bis in die Villa windenden Fürsten Rucca ...

Das Glöcklein der Benfratellen tönte draußen fort, und fort ...

Miracolo! rief Ceccone Lucinden zu und pries galant die Dienste, die sie geleistet ...

Lucinde stand gedankenverloren ... Sie sah nun die Gefahren, die den Bischof von Castellungo umgaben ...

Der Cardinal konnte jetzt sich nicht weiter aussprechen ... Die »Caudatarien«, die ihn an eine Sitzung im Vatican und die Anwesenheit seines Secretärs zu erinnern hatten, standen harrend in der Nähe ...

Ceccone plauderte, wie gleichgültig, von der heutigen Speisestunde im Palazzo Rucca und seufzte über seine Sorgen ... Eine »Hochzeitsreise« hatte Olympia abgelehnt. Sie feierte ihren »Lendemain« nach italischer Sitte .... Vor hunderttausend Zeugen ... Heute Abend sollten zwei Musikchöre die halbe Nacht hindurch am »Pasquino« spielen ... Große Feuerbecken beleuchteten dann den Platz ... Fässer, mit Reisholz gefüllt, Pechkränze wurden abgebrannt ... Der Volksjubel sollte nicht enden ...

Der Fürst war in der That schon nach Santa-Maria zum General der Franciscaner gefahren ...

Die Benfratellen befanden sich im Nebenbau, um den Pater Sebastus zu holen ...

Pater Vincente leitete das bequemere Heraustragen ...

Hubertus suchte noch einen Moment Lucinden beizukommen, der sich eben Bischof Camuzzi genähert hatte ...

Lucinde verbeugte sich ausweichend dem Priester, der sie gestern eine »Creolin« genannt, und versicherte Hubertus, soweit es in der Eile ging, daß er sich aus seiner Haft als entlassen betrachten dürfte. Den Brief an Bonaventura gab sie darum nicht zurück ... Eine Gelegenheit, sich dem Bischof in Erinnerung zu bringen, behielt sie fest ... Und konnte sie ihm doch auch jetzt Aufklärungen und Warnungen über den Bruder Federigo schreiben ... Sie forderte Hubertus auf, sie erst noch im Palazzo Rucca zu besuchen, wenn er wirklich den Bischof von Macerata und den Pilger entdecken und befreien gehen wollte ... Ihr unternehmt das Kühnste und doch thut ihr, als rieth ich in Witoborn gut, als ich damals sagte: Flieht in einen hohlen Baumstamm? fragte sie lächelnd ...

Hubertus, der unruhige Waldbruder, hätte die endlich errungene Freiheit des Wanderns und des Lebens wieder in freier Luft laut ausjubeln mögen ... Ohne die mindeste Furcht bejahte er und zeigte nur traurig auf den verdeckten Tragkorb, den eben die schwarzen Söhne des heiligen »Johannes von Gott« aus dem Hause brachten ...

Lucinde zuckte bedauerlich die Achseln und neigte sich auch diesen Mönchen ...

Der Cardinal sprengte in seinem Wagen mit den weißen, purpurgeschirrten Rossen zur Porta Laterana hin ... Die »Caudatarien« fuhren in einem zweiten Wagen ... In einem dritten mußte Monsignore Camuzzi, Bischof in partibus, der erste Secretär des Cardinals, folgen ...

Lucinde wartete, bis das Glöcklein der Benfratellen verklungen war ... Hinter dem verdeckten Korbe, der ebenso eilends dahingetragen wurde, wie Klingsohr in letzter, Nacht die Leiche hatte tragen sehen, trottete der vorher erwähnte, von Ceccone's Majorduomo besorgte Esel mit den zwei mächtig gefüllten Säcken ... Pater Vincente schritt mit demüthig gesenktem Haupt und hielt den Esel an einem einfachen Zügel ... Hubertus hatte einen Jasminblütenzweig am Portal der Villa gebrochen und wehrte damit, gedankenvoll in sich selbst verloren, dem Thier die Fliegen ab ...

Nun setzte Lucinde sich in ihren Wagen und fuhr mit blitzschneller Eile an dem unheimlichen Tragkorb und dem Esel vorüber ...

Unter dem weißen ausgespannten Leintuch des Korbes lag Klingsohr –! ...

Sie schauderte – als sie im Vorüberfahren wie auf ein Leichentuch blinzelte ...

Der Wagen fuhr am Coliseum vorüber, durch den Bogen des Titus, die Basilika entlang ... Der Kutscher ließ das Capitol links und lenkte zur Säule des Trajan ...

Lucinde lebte innenwärts ... Sie merkte nicht, daß sie schon an Piazza Sciarra, dicht in der Nähe des »Schatzes der guten Werke« war ...

Hier hielt der Wagen ...

Der Kutscher blickte sich fragend um, ob sie nicht zur Herzogin von Amarillas wollte, die hier wohnte ...

Sie winkte: Weiter! Weiter! ...

Sie mußte zu Olympien ...

Die höchste Zeit war es, diese nach ihrer Brautnacht zu begrüßen ...

Sie durfte nicht fehlen zur Chocolade, die heute das junge Paar allen Gästen, die ihre Aufwartung machten und die Neuverbundenen mit lächelnder Zweideutigkeit nach ihrem Befinden fragten, in goldenen und silbernen Tassen mit eigner Hand zu credenzen hatte.

5.

In dieser »Stadt der Wunder« bewohnte die Herzogin von Amarillas einen dem Cardinal gehörenden, äußerlich dunkeln und ganz unansehnlichen Palast in einer der den Corso durchschneidenden Straßen zwischen Piazza Sciarra und der Gegend um Fontana Trevi ...

Mit seiner verschwärzten Außenseite stand aber das heitere und bequeme Innere in Widerspruch ...

War der Thorweg geöffnet, so sah man wol erst einen kleinen düstern Hof, umgeben von einem hier und da von Marmorkaryatiden geschmückten viereckten Arcadengang von Travertingestein, sah in der Mitte ein kleines blumengeschmücktes Bassin, das ein wasserspritzender Triton aus Bronze dürftig belebte, sah Remise und Stallung kaum von den Arcaden bedeckt; aber die hinteren Fenster des einen Flügels gingen in einen hier ungeahnten kleinen Hausgarten von Rosen, Myrten und Orangen hinaus. Sie hatten ein volles, schönes Licht und gewährten im geräuschvollsten Theil der Stadt ein friedlich beschauliches Daheim. Zudem war in der Einrichtung dieser hohen und geräumigen Zimmer nichts gespart. Es war eine Wohnung, die verlassen zu müssen Schmerz verursachen durfte ...

Und doch konnte die Herzogin dies Ende voraussehen ... Der Cardinal behauptete seit einiger Zeit, ihre Augen nicht mehr ertragen zu können. Was Olympia von ihm gesagt, das sagte er von der Herzogin ... Ihre Augen hätten für ihn die Wirkung des »Malocchio« ... Der Italiener hat vor dem »bösen Blick« eine selbst von Aufgeklärten nicht überwundene Furcht ...

Diese üble Wirkung ihrer Augen, von der sie hörte, erläuterte die Herzogin nur aus Ceccone's Gewissen. Wol müssen meine Augen einen giftigen Eindruck auf ihn machen, sagte sie ihrem alten Diener Marco, der schon früher im Unglück bei ihr gewesen und nur des Alters wegen nicht damals mit nach Wien gefolgt war ... Meine Augen nennen ihn undankbar ...

Keineswegs wollte die Herzogin sagen, daß der »böse Blick« eine Fabel ist. Als echte Italienerin glaubte auch sie an Menschen, die »Jettatore« heißen. Diese können Krankheit und Tod »anblicken« ... Sie hatte ihre alte Freundin und Gesellschafterin Marietta Zurboni schon lange begraben, aber die Fabel- und Traumbücher derselben waren ihr und dem alten Marco geblieben ... Konnte sie doch zittern vor Angst, als eines Tages Olympia, die ebenso dachte wie sie, sagte: »Seh' ich im Leben diesen Signore d'Asselyno wieder und er verräth, daß ich Wahnwitzige ihm in zwei Tagen meine ganze Seele zum Geschenk gegeben, so laß' ich die Erde aus der Stelle ausschneiden, die sein Fuß berührte, und hänge sie – in den Schornstein! ...« Um Jesu willen! hatte die Herzogin erwidert, du wirst solche Sünden unterlassen! ... Sie wußte, daß ein solcher Zauber einen Abwesenden langsam zum Tod dahinsiechen läßt ...

Olympia war nach dem ersten Rausch der Flitterwochen und den vorauszusehenden Zankscenen mit ihren Schwiegerältern ins Sabinergebirg gezogen ... Dort und im Albanergebirg besaßen die Ruccas und Ceccone prächtige Villen ... Der welt- und menschenkluge Cardinal hatte zur Zähmung des wilden Charakters der jungen Fürstin angerathen, sie zu beschäftigen ... Er hatte (schon von der ihm immer vertrauter werdenden Lucinde) einige anonyme Briefe an sie schreiben lassen, in denen von Unterschleifen in der Verwaltung dieser Güter die Rede war ... Das wurde dann ein Feld für die erste unruhige Thatenlust der jungen Ehefrau ... Einige Wochen hindurch, vielleicht einige Monate konnte man Hoffnung hegen, daß sie sich auf diese Art in ihrer neuen Stellung als Fürstin und Gattin gefallen würde ... Bis dahin hatte sie ohne Zweifel mit den Aeltern vollständig gebrochen, hatte das Personal in der Rucca'schen Verwaltung umgewandelt, hatte soviel Scenen des Zanks, soviel angedrohte Dolchstöße, auch Fußfälle und Handküsse erlebt, daß sie vollauf damit beschäftigt war ... Lucinde und der Cardinal stimmten ganz in dem Serlo'schen Wort überein: »Die Seele des Menschen will gefüttert werden, wie der Magen« ...

Die Herzogin erzürnte den Cardinal immer mehr durch ihre Festigkeit, Lucinden als Mitbewohnerin ihrer Behausung abzulehnen ... Lucindens neuliches Wort von ihrem »Briefwechsel mit Benno« war beim Begegnen nicht wiederholt worden ... Der Schrecken über den gleichzeitigen Ueberfall durch die Räuber konnte ein Misverständniß veranlaßt haben ... Das sagte sie sich zu ihrer Beruhigung ... Die »Abenteurerin«, wie sie in der That Benno mehrmals genannt hatte, wurde auch auf Villa Torresani, einem Erbgut der alten Fürstin Rucca, wo die junge Fürstin wohnte, abgelehnt ... Lucinde wohnte mit der alten Fürstin beim Wasserfall von Tivoli, in einer andern Rucca'schen Villa, Villa Tibur ... Niemand kam nun noch zur Herzogin, da der Cardinal nicht kam ... Seltener und seltener kam sie auch selbst aus ihrem Palast heraus, in dem es gespenstisch öde und einsam wurde ... Wie mußte sie bereuen, ein Wesen von so gefährlicher Schmiegsamkeit in die Kreise ihres bisherigen Einflusses gezogen zu haben! ... Lucinde wurde immer mehr die Seele in dem alten und dem jungen Rucca'schen Kreise ... Und wenn sie sich geirrt hätte! Wenn Lucinde wirklich von einem Briefwechsel zwischen ihr und Benno gesprochen! ... Dann fehlte nur noch das eine Wort: Benno von Asselyn ist ja dein Sohn! und ihre Niederlage war entschieden ... Olympia würde, erfuhr sie das von Lucinden, gesagt haben: Nun versteh' ich alles! Du, du warst es, die den Angebeteten von mir entfernt gehalten hat ...

Daß den Cardinal, von dem sich die junge Fürstin nicht minder wie von ihr zu befreien suchte, eine Leidenschaft für die fremde Abenteurerin ergriffen hatte, wurde immer mehr ein öffentliches Geheimniß ... Und bei alledem konnte niemand die Huldigung des Grafen Sarzana begreifen ... Hätte es sich um eine Scheinehe gehandelt, die die Schulden eines leichtsinnigen Cavaliers decken sollte, so würde man in Rom, in der Stadt der Heiligung des Priestercölibats, dies Benehmen Don Agostino's begriffen haben; denn diese Arrangements kamen hier zu oft vor, um aufzufallen – wenn auch die Contracte nicht in die Archive der Curie niedergelegt wurden ... Don Agostino war aber keiner der Leichtsinnigsten unter den »Achtzig« ... Da er Kenntnisse besaß und sie zu vermehren liebte, galt er seinen Kameraden für einen Pedanten ... Die Wartung seiner Uniform, seines Pferdes, noch mehr seiner kleinen Häuslichkeit war bis in die minutiösesten Dinge sauber und zierlich ... Seine Familie war verwildert, das wußten alle, die Umstände hatten die Creaturen geistlicher Würdenträger aus ihr gemacht, deren Unregelmäßigkeiten sie decken mußte ... Graf Sarzana würde die Hand keiner Dame auch nur zweiten oder dritten Ranges in Rom haben ansprechen können ... Aber eine Geliebte des Cardinals zu nehmen zwang ihn nichts ... Noch weniger begriff man seine Leidenschaft, wenn sie eine aufrichtige war. Lucinde konnte die Capricen des ermüdeten Alters reizen, sie konnte die Vorstellung einer Vernunftehe durch eine darum noch nicht ausgeschlossene Möglichkeit jugendlicher Reminiscenzen mildern; was war sie aber einem jungen, noch in Lebensfrische befindlichen Krieger? ... Sie besaß freilich Geist, Belesenheit, Koketterie ... Fesselte ihn das? ... Seine Kameraden pflegten ihn mit seinem Einsiedlerleben, das der Lectüre gewidmet war, zu necken und sein wärmster Freund sogar, der Herzog von Pumpeo, hatte ihm den Beinamen des »Küsters vom Regiment« gegeben ...

Bei alledem ließ es sich immer mehr dazu an, daß die Herzogin den Palast würde zu verlassen und – dem jungen Ehepaar Sarzana einzuräumen haben ...

Ihrem Julio Cäsare schrieb die Mutter von allen diesen ihren Leiden und Befürchtungen nichts – nichts von den Gefahren, die ihr durch Lucinden drohten ... Einestheils wollte sie Benno's bei solcher Mittheilung leicht vorauszusehende Absicht ihr zu helfen nicht früher hervorrufen, als nöthig war; anderntheils vermochte es ihr Stolz nicht, Befürchtungen auszusprechen, die sie mit dem größten Zorn erfüllten, so oft sie nur an sie dachte ... Benno hatte ihr die Versicherung gegeben, daß der einzige Vertraute ihres Briefwechsels nur Bonaventura war ...

Die Herzogin lag eines Morgens noch in ihren Hauskleidern auf einer Ottomane und blätterte in den französischen Zeitungen, die in Rom verboten sind, vom Cardinal aber gehalten und nach alter Gewohnheit, wenn sie benutzt waren, noch an sie abgeliefert wurden ...

Sie las um so lieber in ihnen, als die einheimischen Blätter fast von nichts als von Festen und großen Ceremonieen berichteten, zu denen sie nicht mehr geladen wurde ... Auch bei einem großen Ereigniß, das vier Wochen nach Olympiens Hochzeit statthatte, bei der wirklich erfolgten Einkleidung des Paters Vincente – zum Cardinal hatte sie gefehlt ... Sie hatte gefehlt bei einem Fest, das wiederum Rom in Bewegung setzte ... Bei einem Fest, wo Olympia und Lucinde die üblichen Honneurs des ersten Cardinalempfanges machten ... Bei einem Feste, das eine Woche dauerte und alle Zeitungen erfüllte ... Der neue Cardinal Vincente Ambrosi fand sich voll Demuth, aber ganz gewandt in seine neue Würde ...

Unmuthig warf die Herzogin die einheimischen Blätter fort; wieder auch war im Gebirg eine große Kirchenfestlichkeit gewesen, bei der die junge Fürstin Rucca als erster Stern am Himmel der Gnade und Wohlthätigkeit geglänzt haben sollte ...

Schon ergriff sie die Feder und wollte dem Cardinal schreiben, sie bedürfte Unterhaltung ... Sie bäte, wollte sie sich in ihrer Bitterkeit ausdrücken, um einige Einlaßkarten für den Tag, wo die Räuber guillotinirt werden würden, deren man als Complicen Grizzifalcone's allmählich viele aufgegriffen hatte – Die Mission des Bruders Hubertus war ihr durch die vorläufig erfolgte Befreiung des Bischofs von Macerata bekannt geworden ... Sie wollte ihrem Schreiben hinzufügen, der Cardinal vergäße seine Weine, die in ihrem Keller lagerten; es waren unversteuerte ... Sie grübelte Ceccone's Intriguen nach ... Benno's letzter Brief lag vor ihr, in dem dieser auf Anlaß des von Lucinden an Bonaventura eingesandten Briefs der beiden deutschen Flüchtlinge und eines inhaltreichen Couverts, das sie hinzugefügt, geschrieben: »O fände sich doch dieser Wanderer nach Loretto! Wäre es der, den mein Freund seit fast dreiviertel Jahren sucht! Er wird es nicht sein ... Die Dominicaner haben ihre anderen Gefangenen herausgeben müssen – diesen schickten sie nach Rom, wo ihre Gefängnisse unzugänglicher sind, als hier ... Ceccone verweigerte bisjetzt die Genehmigung, die Kerker des heiligen Officiums untersuchen und den Dominicanern einen Beweis von Mistrauen geben zu lassen ... Fra Federigo schmachtet in ihren Händen wie Galiläi, Bruno, Pignata und so viele andere Opfer der Unduldsamkeit!« ... Daß schreckenvolle Dinge in Rom möglich waren, wußte die Herzogin ... Sie wußte, daß Ceccone mit dem Meisten, was er that, eine andere Absicht verband, als die man voraussetzte ... Zwischen dem alten Rucca und dem Cardinal war es zu einer andauernden Spannung gekommen, seitdem Hubertus zwar durch eine List den Bischof ans Tageslicht gebracht hatte, aber von einer Entdeckung des Pilgers nichts hören und sehen ließ, ja seit einiger Zeit von sich selbst nichts mehr ... Schon war das Gerücht verbreitet, daß die Carabinieri der Grenzwache vorgezogen hätten, statt den römischen Abgesandten in seinen Bemühungen zu unterstützen, ihn – todt zu schlagen ...

Sie sah überall Gewalt und Intrigue ... Sie kannte Ceccone's Ansichten über die Zeit und die Menschen ... Menschenleben kümmerte ihn wenig, wo durchgreifende Zwecke auf dem Spiele standen ... Durch einen der Verwandten Sarzana's, eine der von ihm beförderten Creaturen, hatte Ceccone alle Häfen auch der Nordküste in seiner Obhut ... Wer konnte wissen, was aus dem Rucca'schen Sendboten geworden war ... Jenseits der Apenninen, am Fuß des Monte Sasso, an der Grenze der Abruzzen war jede Controle abgeschnitten ... Dorthin hatten sich in der That die letzten Wege des kühnen deutschen Mönches spurlos verloren ...

Die Zeitungen waren »mit ihren Lügen«, wie die Herzogin vor sich hin sprach, durchflogen ... Es war gegen Mittag ... Sie konnte an den Besuch einer Messe denken ...

Da bemerkte sie, daß im Hause laut gesprochen wurde ...

Sie wollte klingeln ... Marco war beim Pantheon auf den Gemüse- und Fleischmarkt, um ein Mittagsessen einzukaufen; die Dienerinnen waren an der Arbeit ...

Schon hörte sie Schritte ... Schon unterschied sie die Stimme Olympiens ... Dann war wieder alles still ...

Die Herzogin glaubte sich getäuscht zu haben ... Schon öfter war ihr geschehen, daß ihre aufgeregte Phantasie Menschen nicht nur hörte, sondern deutlich vor sich sah, Menschen, die mit ihr sprachen ... Sie brauchte nur ihren geheimen Schrank aufzuschließen, brauchte nur Angiolinens blutiges Haar aus einem großen Pastell-Medaillon des Herzogs von Amarillas zu nehmen, dies Haar nur eine Weile vor sich hinzulegen – und sie sah Angiolinen sich langsam an ihren Tisch begeben und hörte sie laut mit ihr sprechen. Benno trat in dieser Art jeden Abend in ihr Zimmer ... Sie hatte nach ihm die Sehnsucht einer Braut – eine Sehnsucht voll Eifersucht ... Aber kein Madonnenbild mehr konnte sie sehen in dieser madonnenreichen Stadt, ohne voll Zärtlichkeit an Armgart von Hülleshoven zu denken, die ihr Lucinde als ihres Cesare Ideal bezeichnet hatte ...

Die Stimmen kamen wieder näher ... Diesmal rief wirklich Olympia:

Da nicht! Nein, nein! ... Dort geht der Kamin entlang! ... Die Hitze ist für ein Bett unerträglich ...

Was will – die Mörderin meiner Tochter? fuhr die Herzogin auf ... Weiß sie wirklich noch, wo ich wohne? ... Will sie wol wieder zu mir ziehen oder was soll – das Bett – von dem sie spricht? ...

Man rückte nebenan die Möbel ... An einer andern Stelle des Hauses hörte man ein so starkes Hämmern, als sollten Mauern eingeschlagen werden ...

Indem öffnete sich die Thür und aus dem Empfangssalon trat die kleine Fürstin, in glänzend outrirter Toilette; Lucinde, nicht minder gewählt gekleidet; die Schwiegermutter, eine noch immer anziehende, jedenfalls gefallsüchtige Frau; Herzog Pumpeo, der für ihren Liebhaber galt; hinter ihnen zwei junge elegante, wohlfrisirte Prälaten; zuletzt auch Graf Sarzana ...

Alle schienen überrascht zu sein, die Herzogin zu finden ... Sie wollten sogleich, Olympia ausgenommen, wieder zurück ... Sie hatten die Herzogin nicht anwesend vermuthet oder thaten wenigstens so ... Olympia hielt sie jedoch fest, schritt weiter, achtete nicht im mindesten auf die am Tisch beim Sopha erstaunt Verharrende, sondern rief, das Zimmer durchschreitend:

Hierher würd' ich rathen, von jetzt an das Eßzimmer zu verlegen ... Oeffnen wir diesen Balcon, so hat man das beste, was dieser alberne Garten bieten kann, etwas Kühle ... Chrysostomo! Wir nehmen hier ein Frühstück! Setzen Sie sich, Lucinde! ... Graf, Sie werden hungrig sein! Kommen Sie doch! Wir sind ja, denk' ich, bei uns! ...

Mit Widerstreben und in offenbar ungekünstelter Verlegenheit war Graf Sarzana gefolgt, hatte sich stumm der Herzogin, die hier nicht mehr wohnhaft geglaubt wurde, verbeugt und trat in das Balconzimmer zu den übrigen, die unterdrückt kicherten – Lucinde ausgenommen, die von einem der Prälaten geführt wurde und scheu zur Erde blickte ...

Die junge Fürstin, die kaum bis zum Thürdrücker, einem schönen bronzenen Greifen-Flügel, reichte, warf zornig die Thür zu ...

Im ersten Augenblick hätte die Herzogin ihr nachspringen und sie zerreißen können ... Viper, Schlange, Basilisk! zitterte es auf ihren Lippen ... Die Worte erstickten ... Sie hatte in diesem Augenblick keine andere Waffe, als ein lautes, gellendes Lachen ... Hahahaha! schallte es nebenan zur Antwort ... Olympia erwiderte in gleichem Tone ...

Dabei klirrten Gläser, Messer, Gabeln ... Olympia hatte hieher ein Frühstück beordert ... Der Mohr Chrysostomo wollte ihr durch eine andre Thür folgen ... Schon trug er ein Plateau voll Gläser und silberner Gefäße ... Die Herzogin ergriff wenigstens diesen und warf ihn zur Thür hinaus ... Dann schloß sie sämmtliche Thüren so hastig, als fürchtete sie, ermordet zu werden ...

Nebenan lachte und sprach Olympia mit gellender Stimme fast immer allein ... Sie that wie jemand, der hier noch zu Hause war ... Demnach wurde die Herzogin, da sie nicht von selbst ging, zum Hause hinausgeworfen ... Hatte Olympia vielleicht erfahren, wer Benno war? ... Verdankte die Herzogin diese Demüthigung Lucinden? ... War diese wirklich in ihr Leben eingedrungen oder woher dieser plötzliche Angriff, diese Scene ohne jede Vorbereitung? ...

Die Herzogin besann sich, daß Olympia dergleichen Stücke auch ohne alle Veranlassung auszuführen liebte ... Es konnte ein momentaner Einfall sein ... Sie hatte sich wahrscheinlich für einige Tage mit ihrer Schwiegermutter ausgesöhnt, hatte von dieser vielleicht eine Anerkennung für einen neuen pariser Kleiderstoff gefunden; daher ein gemeinschaftlicher »Carnevalsspaß« auf Kosten einer Person, »die der Lächerlichkeit zu verfallen« anfing ...

Die Herzogin weinte ... Sie dachte an die Jahre, die sie an dies Wesen dahingegeben, an die sorgenvollen Stunden, wenn Olympia krank gewesen ... Sie hätte, da sie deren Natur entschuldigen und Ceccone dafür verantwortlich machen mußte, diesem an den Hals fahren und ihn erwürgen können ... Sogar Lucindens Haß auf sie ließ sie gelten; denn sie hatte abgelehnt, der Deckmantel eines Verhältnisses zum Cardinal zu sein ... Aber auch Lucinde wieder versöhnt mit Olympia? ... Olympia hatte damals diese Erklärung der Herzogin gebilligt. Die Herzogin hatte geglaubt, von Olympiens Eifersucht auf Lucinden Vortheil ziehen zu können ... Nun sah sie das Leben dieser Menschen des Müßiggangs und des Glücks, diese Zerwürfnisse, diese Versöhnungen um nichts ... Um irgend ein auf der Villa Torresani gesprochenes Schmeichelwort Lucindens war Olympia im Stande zu sagen: Was ist das nur mit der Herzogin? Ihr Palast soll jetzt bald nur Ihnen und Sarzana gehören! Machen wir doch kurzen Proceß! ... Oder etwas dem Aehnliches war vorgefallen ... Männer waren zugegen, Priester ... Graf Sarzana sogar, der sie zwar immer kalt, aber doch höflich behandelt hatte ...

Sich aus diesem Zimmer entfernen konnte die Herzogin nicht, da das ganze Haus sich belebt hatte ... Von den Köchen der jungen Fürstin war ein Frühstück überbracht worden ... Ein Troß von Dienerschaft schien aufgeboten ... Dabei arbeitete man im Nebenzimmer zur Linken, klopfte, hämmerte – Es waren Schreiner und Tapezierer ... Die Gardinen wurden abgenommen, die Tapeten abgerissen ... Das Ganze war eine Unterhaltung des Uebermuths ... Wer konnte so schnell hier einziehen wollen? ... Die Declaration des Grafen Sarzana war doch wol noch in einiger Entfernung ...

Vernichtet sank die mit Gewalt Verjagte auf ihr Kanapee ... Ihre Brust hob sich in hörbaren Athemzügen ... Sollte sie rufen: Megäre, lade noch deine Mutter zu deinem Gelage, die tolle Nonne drüben aus den Gräbern der »Lebendigbegrabenen«! ... Was half das alles! ... Sie hatte nicht einmal den Muth, dem alten Marco zu erwidern, der ihr am Schlüsselloch wisperte ... Sarzana, Sarzana! sprach sie wiederholt vor sich hin ... Auch Er läßt die Mishandlung einer Frau zu und ißt und trinkt und stößt mit dem Teufel in Menschengestalt an! ... Sie malte sich das alles wenigstens so aus ...

Mit doppelt starker Stimme, damit die Herzogin nebenan nichts davon verlor, rief beim Mahle Olympia und fast immer allein sprechend:

Wie viel Lösegeld würde wol damals Don Pasquale für Sie gefordert haben, Signora Lucinda? ...

Wie sagen Sie, Graf? ...

Zum Gelde würde es gar nicht gekommen sein? ...

Sie hätten sie mit Ihrem Säbel herausgehauen? ...

Haha! Ich weiß noch ein anderes Mittel, falls die Herzogin mit gefangen gewesen wäre; ein Mittel, wo durch sie alles in die Flucht geschlagen hätte! ... Durch eine ihrer alten Arien ...

Schallendes Gelächter ...

Gewiß hatte sie auf meiner Hochzeit die Hoffnung, zum Singen aufgefordert zu werden ... Darüber vergaß sie den Auftrag meines Mannes, mir die Anwesenheit des Cardinals Ambrosi anzuzeigen ...

Jetzt blieb alles still ...

Das war der Grund dieses plötzlichen grausamen Einfalls? ... Nimmermehr! sagte sich die Herzogin ... Oder doch –? ... Die Erhebung des Paters Vincente war auffallend genug ... Man schrieb sie der Absicht zu, dem neuen Großpönitentiar, Fefelotti, zuvorzukommen, der diesen Mönch zur nächsten Cardinalswahl empfohlen hatte ... Ceccone hatte sich rasch des neuen Cardinals selbst bemächtigt ... Olympia hatte die Honneurs seiner Ernennung im dazu hergeliehenen Palazzo Rucca gemacht; alle Welt war verliebt in den schönen jungen Cardinal Ambrosi, der wie ein Ganymed, ein David im Purpur aussah; gar nicht unmöglich, daß Olympia ihre erste Untreue als Frau zu einer geistigen machte und wieder in leidenschaftlicher Andacht für einen Priester schwärmte, den sie schon einmal so unglücklich gemacht hatte ...

In der That – die Herzogin konnte hören:

Zieht sonst niemand hier ein, den der Onkel lieb hat, so ist das kleine Haus ganz geeignet, von einem so bescheidenen Priester bewohnt zu werden ... Ich mache dem Cardinal Ambrosi seine ganze Einrichtung ...

Cardinal Ambrosi soll hier wohnen! ... Benno's Nachfolger in deinem oberflächlichen Herzen! ...

In der That wurde das Gespräch rücksichtsvoller geführt ... Die Herzogin verstand nichts mehr ...

Herzog Pumpeo machte den Wirth und schenkte ein ...

Trinken Sie, Graf Sarzana! rief er ... Oder haben Sie noch immer Ihre geringe Meinung über den Champagner, den Sie damals auf unserer Landpartie nach Subiaco – vor drei Jahren – das »Bier der Franzosen« nannten? ...

Graf Sarzana, Sie sind überhaupt inconsequent! fiel Olympia ein ... Wie konnten Sie je die Deutschen und die Franzosen so hassen! Jetzt lieben Sie – ein deutsches –

Halt, Principessa! unterbrach einer der Prälaten ... Wir lieben in diesem Augenblick nichts als die Heiligen ... Die Signorina hier kennt alle Gebräuche der Beatification vom Tu es Petrus an bis zur Rede des Advocatus Diaboli ...

Wenn nächstens die Seele der Eusebia Recanati heilig gesprochen wird, fiel der andere der Prälaten ein, wer wird da wol die Rolle des Advocaten der Hölle übernehmen? ...

Schweigen Sie! Keine Lästerungen, Monsignore! unterbrach Olympia mit energischem Ruf ...

Die Herzogin lachte bitter auf und sprach für sich:

Fürchtest du diese »heilige« Eusebia, weil sie dich – an deine Mutter erinnert? ... Oder ängstigen dich die Ansprüche, die der Teufel selbst an die Heiligen macht – wie vielmehr an deinesgleichen! ...

Graf Sarzana's Stimme, ein voller wohlklingender Baryton, wurde mit den Worten vernehmbar:

Cardinal Ambrosi lebt noch vierzig Jahre ... Also erst in 140 Jahren ist es möglich, auf seine Kanonisation anzutragen ... Auch bei ihm wird jemand den Auftrag bekommen, geltend zu machen, welche Rechte auf ihn der Teufel hat ... Abbate Predari! ... Gesetzt, Sie bekämen diese Aufgabe! Wie würden Sie Ihr Thema anfassen? ... Halten Sie eine Rede gegen den Cardinal zum Besten der Hölle! ... Vergessen Sie dabei nicht diesen schönen Palast! ...

Und die nichtswürdige Art, wie er eingeweiht wurde! ergänzte die Herzogin ...

Und die zerbrochenen Beine, als die Tribüne einstürzte, auf der die Menschen bei seiner ersten Messe im Sanct-Peter standen! ... bemerkte die alte Fürstin ...

Die schlechten Plätze, die gewöhnlich der römische Adel bekommt! ergänzte der zweite der Prälaten, ein jüngerer Chigi ...

Lassen Sie mich! rief sich räuspernd Abbate Predari ... Die Rede halte ich! ... Ich kann von Ambrosi's erster Jugend anfangen, von seinen ersten Ketzereien bei den Waldensern ... Ich war sein Schulkamerad in Robillante ...

Dann wird nur zu sehr die Stimme des Neides aus Ihnen sprechen! unterbrach ihn Olympia, die befürchten mußte, in dieser Rede selbst eine Rolle zu spielen ... Genug! Genug! unterbrach sie aufs neue die Ermunterungen zu einer Rede, die durchaus Abbate Predari halten wollte ... Gewiß würde er sie nicht so gewandt haben, als Advocat des Teufels zu sagen: Siehe, ich sandte dir einst eine meiner Botinnen in den Beichtstuhl! ... Olympia wollte aber nichts von allen diesen »Blasphemieen« hören und erklärte, jetzt denjenigen strafen zu wollen, der dies Thema aufgebracht hätte, den Grafen Sarzana – ...

Wissen Sie, Lucinde, wandte sie sich zu dieser, daß ich früher eine Neigung für den Grafen hatte? ... Ich will es Ihnen nur gestehen! ... In meiner kurzen Geschichte mit Don Pallante, die Sie kennen, machte dieser Herr da den Vermittler und die Vermittler wissen oft die Thränen so gut zu trocknen, daß sie selbst an die Stelle der Ungetreuen treten ... Ich liebte Don Agostino, den Boten Pallante's – aber beruhigen Sie sich! – nur drei Tage lang ... O mir war er zu gelehrt, zu pedantisch, zu spöttisch, zu eingebildet – er las zu viel ... Viel lesen, das beweist, daß man wenig eigenen Geist hat ... Graf! Ich rathe Ihnen, sich bei der Entzifferung der Obelisken und Pyramiden anstellen zu lassen ... Wenn Sie nicht im nächsten Carneval tanzen, geb' ich Sie zu unsern gelehrten Eminenzen oben am Braccio nuovo im Vatican in die Lehre, zu Angelo Mai und Giuseppe Mezzofanti! ...

Die Männer lachten dieser Spöttereien ... Die Schwiegermutter rief sogar: Auf das Wohl des Küsters vom Regimente! ... Ihr Herzog Pumpeo hatte diesen Witz gemacht ... Pumpeo bat um Frieden und brachte das Wohl aller schönen Spötterinnen aus, denen sein Freund bereits vergeben hätte ...

Die Empfindungen der völlig ignorirten Herzogin, die zuletzt nur noch das Klappern der Schüsseln und Klingen der Gläser und ein Durcheinander von Witzen und Anekdoten, in denen Pumpeo und die beiden Prälaten excellirten, hörte, lösten sich wieder in Thränen auf ... Nur die Stille des präsumtiven Sarzana'schen Ehepaars versöhnte sie ...

Als das Frühstück beendet, die Gesellschaft entfernt, die Dienerschaft mit den Resten der Mahlzeit gefolgt war, nahm die Herzogin die Unschuldsbetheuerungen der ihr noch gebliebenen Dienerschaft entgegen, vor allen die Versicherungen des fast weinend eintretenden alten Marco, und suchte noch am selbigen Tage eine andere Wohnung. Sie wollte zu einem Miethbureau und dann in der Runde zur Besichtigung von Wohnungen fahren ...

Als sie den Wagen bestellt hatte, erfuhr sie, daß auch Wagen und Pferde auf Befehl der jungen Fürstin Rucca fortgeführt wären ...

Auf diese Nachricht sank sie in Ohnmacht ... Der »Intendente« des Hauses, der bisher alles für sie bezahlt hatte, zuckte die Achseln; es war ein von Ceccone eingesetzter Koch ... Er gestand, daß er schon lange vom Cardinal nur mit Widerstreben die Zahlungen für die Bedürfnisse des Hauses erhalten hatte, packte dann seine Sachen und zog nach Villa Torresani ins Gebirge, wo es hoch und herrlich herging ... Die Erklärung hinterließ er, daß sich hier wahrscheinlich das ganze Hauswesen zur Bedienung des Cardinals Ambrosi neugestalten würde ...

Marco machte Vorschläge von Wohnungen, die der Bedachtsame schon lange für diesen voraussichtlichen Fall in Augenschein genommen ... Noch an demselben Abend und bis in die Mitternacht zog die Herzogin um ... Sie nahm ein Stockwerk von mehreren gesund gelegenen und schön möblirten Zimmern auf der Höhe des Monte Pincio ... Die dortigen luftreinern Straßen konnte sie als Vorwand der Veränderung nehmen ... Um sich nicht als zu tief gefallen darzustellen, setzte sie alle ihre Ersparnisse daran ...

Zu alledem läuteten nun die Glocken der dreihundertfünfundsechzig Kirchen Roms – brausten die Orgeln – schmetterte die Janitscharenmusik der Hochämter – wandelten unter Pfauenfederwedeln und Baldachinen die wohlgenährten Pairs der Kirche – rannten die Engländer nach den Katakomben und convertirten – schwärmten die Deutschen von den Bildern des Fiesole – knieten die Franzosen in Trinita di Monti drüben und küßten die Hände einer Gräfin-Aebtissin der hier eingepfarrten »Soeurs grises« aus den ersten Geschlechtern Frankreichs ... Rom spielt seine äußere heilige Rolle mit Glanz ... Wer kennt das Innere ...! ...

An Benno schrieb die vernichtete Frau auch noch jetzt nicht alles, was ihr begegnet war ... Sie erschien sich zu tief gedemüthigt ... Zu lange Jahre hatte sie auch die den Umgang verscheuchende und die Menschen vereinsamende Wirkung des Unglücks kennen gelernt ... Dann beredete sie sich, sie wollte lieber erst die Antwort auf einen Brief an Ceccone abwarten, in dem sie von ihren Empfindungen nichts zurückgehalten hatte ... Schließlich hatte Benno selbst seit Wochen nicht geschrieben ... Sie fing für die Sicherheit ihres Briefwechsels immer mehr zu fürchten an ...

Am vierten oder fünften Tage weckte sie aus einem Zustand der Erstarrung, den das fortgesetzte Nichteintreffen eines Lebenszeichens von Benno mehrte, der erste Besuch, den sie in ihrer neuen Wohnung empfing ...

Eine glänzende Equipage stand am Hause ... Sie kam aus Villa Tibur und brachte Lucinden ...

Mit kalter Ruhe und Sammlung führte sich diese bei ihr mit den Worten ein, der Cardinal hätte sie beauftragt, der Herzogin einen Jahrgehalt anzubieten, den er ihr mit Dank für die geleisteten Dienste ausgesetzt hätte ... Er bedauerte, fügte sie hinzu, den Einfall der jungen Fürstin, an dem er schuldlos wäre – wie wir alle – sagte sie ... Olympia schwärme für den Cardinal Ambrosi und – wollte wol auch alle diejenigen strafen, die dem Bischof von Robillante den Ruf des ersten Priesters der Christenheit gegeben hätten – setzte sie lächelnd hinzu ... Cardinal Ceccone, schloß sie, würde selbst gekommen sein – ...

Wenn er nicht meine bösen Augen fürchtete! unterbrach die Herzogin und in der That konnte ihr Blick den Tod androhen ... Der ausgesetzte Jahrgehalt reichte kaum für die Wohnung und die für Italiens Sitten so nothwendige Equipage aus ...

Lucinde zuckte die Achseln ...

Zu allzu vielen Erörterungen schien sie nicht aufgelegt ... Sie hatte Eile, käme überhaupt selten in die Stadt – ihr ganzes Wesen war voll Unruhe, gemachter Vornehmheit, Uebermuth ...

Unter andern war sie eben bei Klingsohr gewesen ...

Sie kam von Santa-Maria, dem Mutterkloster der Franciscaner ...

Dort hatte sie den glücklich geheilten und zu Gunst und Gnaden angenommenen Pater Sebastus am Sprachgitter gesprochen ...

Sie hatte ernste Dinge mit dem vor Schwäche noch an den Händen Zitternden, aber in ihrem Anblick Ueberglücklichen verhandelt ...

Nach dem, was sie schon von Hubertus, als dieser von ihr Abschied genommen, über die zweite Gemahlin des Kronsyndikus in Palazzo Rucca erfahren, ließen die jetzt endlich möglichen Mittheilungen Klingsohr's keinen Zweifel, daß diese zweite Gemahlin allerdings eine ehemalige kasseler Sängerin Fulvia Maldachini, dann also die – Herzogin von Amarillas gewesen sein mußte ... In dem lateinischen Bekenntniß Leo Perl's hatten die Namen gefehlt und auch noch jetzt bei Verständigung mit Klingsohr hütete sie sich, die Fingerzeige allzu grell zu geben ... Sie mußte dann auch den kaum Genesenen schonen ... Gab ihm das Wiedersehen einen erhöhten Ausdruck der Spannung und Kraft, so forderte sein todblasses Aussehen, seine gekrümmte Haltung, die der eines Greises glich, zur Schonung auf ... Von Benno sprach sie zu Klingsohr nicht, da auch Hubertus nichts von Kindern dieser zweiten Ehe gewußt hatte ... Noch war sie schreckhaft erregt von Klingsohr's Hosiannah des Dankes für ihren Beistand, vom Triumphgesang seiner Hoffnungen für eine neue Zukunft in Rom, wo »selbst der Tod mit leichterer Hand abgewehrt würde, als anderswo« ... Er hatte ihre ihm durchs Sprachgitter dargereichte Hand krampfhaft festgehalten und sie mit Versen begrüßt, die schon bereit gehalten schienen, wenn er sie wiedersehen würde ... Er gab Minerva, die Weisheit, Maria, den Glauben, hin – Sie, sie, die Botin Aphrodite's, gäb' ihm allein die volle Lebenskraft ...

Pallas Athene! Wär' ich immer

Gefolgt nur Deinem Schild und Speer –

Ich wäre längst ein Abendschimmer,

Begraben in dem ew'gen Meer!

Was zog mich denn mit Zauberbanden

Hinauf zu Schnee und Alpenhöhn?

Was ließ in fernen, heil'gen Landen

Mich Ziele noch und Wünsche sehn?

Todmatt und krank, gedörrt die Lunge –

Nahst Du dem Auge kaum, dem Ohr,

Raff' ich mich schon mit Löwensprunge

Ein Held zu neuer That empor ...

Was komme jetzt? Nur Du gebiete!

Zum Frühling wird des Kerkers Haft!

Maria –? Pallas –? Aphrodite,

Du bist die Lebens- – Liebeskraft!

Sie sagte dem Wahnbethörten, fieberhaft Blickenden, von Reflexionen Umgewirbelten lächelnd, daß ihn der Cardinal bei der Congregazione del' Indice für die Beaufsichtigung deutscher Kunst und Wissenschaft verwenden wollte Die Stelle Augustin Theiners aus Schlesien.... Von Hubertus wußte man auch in Santa-Maria noch nichts ... Klingsohr versicherte, die Entschlossenheit seines tapfern Freundes würde sich in jeder Lage zu helfen wissen ...

Sie wohnen hier sehr hübsch? ... fuhr Lucinde, sich im Empfangzimmer der Herzogin umsehend und von ihrer Erschöpfung durch die empfangenen Eindrücke sammelnd, fort ...

Hundert Fuß vom Erdendunst entfernter, als an Piazza Sciarra ... lautete die Antwort ...

Lucinde drückte der Herzogin wiederholt ihr Bedauern über die neuliche Scene mit Olympien aus und versicherte, ihrerseits angenommen zu haben, daß die Herzogin bereits ausgezogen wäre ...

Der Cardinal hatte, denk' ich, die Absicht, dies Palais – Ihnen als Aussteuer anzubieten? sagte die Herzogin ...

Immer hörte Lucinde von dieser Frau nur gewisse höhnische Betonungen ... Immer nur gewisse Zweifel der Ironie ...

Graf Sarzana wird den Dienst bei Seiner Heiligkeit nicht aufgeben? fuhr die Herzogin fort ... Sie hoffen ein stilles und glückliches Leben führen zu können? ... Vergessen Sie nicht, wenn der Cardinal Ambrosi die Wohnung zu beziehen ausschlagen sollte, einige Verbesserungen – des Küchenherdes im Palais vorzunehmen ... Sonst ist alles gut im Stande ... Schwach sind die Frauen wahrlich nicht, wenn sie ihre Empfindungen aussprechen ... Lucinde kannte auch darauf hin ihre Mitschwestern ... Aber der »Küchenherd« schien ihr denn doch eine Anspielung geradezu auf die Zeit, wo sie eine Magd war ...

Sie sehen mehr, als ich, Hoheit! sagte sie, sich ergrimmt auf die Lippen beißend ...

Sind die Verhältnisse noch nicht so weit? ... fuhr die Herzogin fort ...

Die Verhältnisse! ... Welche Verhältnisse? ... Eure Hoheit haben mich in diese Verhältnisse empfohlen ...

Sie sind auch dankbar dafür ... lächelte die Herzogin ironisch ...

Sie aber sind nicht großmüthig, Hoheit! sagte Lucinde. Ich höre, daß Sie diese mögliche Zukunft zu verhindern suchen und mich nickt für würdig halten, eine Gräfin zu werden. Ich bin allerdings keine geborene Marchesina von Montalto, wie Sie! Ich bin eine einfache deutsche Bäuerin – das ist wahr! Oder hat man Ihnen aus Robillante anders geschrieben? ...

Aus Robillante –? Mir? ... So hört' ich – also neulich am Hochzeitstage – doch recht? ... Wie kommen – Sie denn – ...

Sie stehen im Briefwechsel mit Robillante ... unterbrach Lucinde schnell und entschieden ...

Mit – Ihrem Bischof –? ... entgegnete die Herzogin, noch mit einer gewagten Sicherheit, aber schon erzitternd ...

Mit Ihrem Sohne Benno von Wittekind-Neuhof, mein' ich ... warf Lucinde wie einen den Sieg verbürgenden Trumpf aus ...

Die Herzogin wollte erst auflachen ... Dann deutete sie auf Lucindens Stirn, als wenn ihr Verstand nicht in Ordnung wäre ...

Lucinde erhielt sich in unbeweglicher Ruhe und wiederholte langsam, was sie soeben gesprochen hatte ...

Die Herzogin ergriff Lucindens Arm, starrte sie mit aufgerissenen Augen an und schwankte an die Thüren, um wenigstens diese fester anzuziehen ...

Sie litt nicht für sich – was hatte sie zu fürchten! ... Sie litt für Benno, der seines zweideutigen Ursprungs nicht froh zu werden schien ...

Sie – sind – wirklich – ein Teufel! ... hauchte sie, sich halb ohnmächtig niedersetzend ...

An diesem »Wirklich«, sagte Lucinde, erkenn' ich die mich betreffenden Stellen Ihres Briefwechsels ... Jenseits der Alpen ist man noch immer nicht im Reinen, für welchen Ofen der Dante'schen Hölle ich passe ... Aber Ihr Sohn ignorirte mich doch mit einer gewissen mitleidigen Toleranz ... Ein vortrefflicher Mensch, nur mit dem Einen Fehler, daß er zu den Männern gehört, die Verstand bei Frauen für Anmaßung halten ...

Eine lange Pause des Triumphes trat ein ... Die Herzogin raffte sich allmählich empor und suchte, um Luft zu schöpfen, das Fenster ...

Ich spreche eine Vermuthung aus, die ich beweisen kann! ... fuhr Lucinde ihr nachblickend fort ... Leo Perl hieß der Geistliche, der Sie traute ... Ein Jude war es und es geschah auf dem Schloß Altenkirchen ... Ich kenne viele Folgen dieses abscheulichen Betruges, arme Frau! ... Benno von Asselyn ist die beste davon ... Ein trefflicher Mensch, sagt' ich, ob er gleich dem Kronsyndikus ähnelt und – Ihnen ... Madame, Sie wissen, daß ich nur wenig Freunde im Leben gefunden habe ... Lassen Sie mir die, die ich hier gewinne ... Ich verspreche Ihnen, Sie werden von mir unbehelligt bleiben ... Ich weiß vom Cardinal, daß hier nur die Jesuiten und der General der Franciscaner Ihr vergangenes Leben kennen, Olympia im Allgemeinen ... Arme Frau! Aber da die erste Hochzeit falsch war, konnte man Sie nicht der Bigamie anschuldigen, was Ihre und Ceccone's Feinde thun wollten ... Sie wurden glorreich gerechtfertigt ... Ihr Geheimniß dann mit Benno – das weiß niemand außer mir ... Ich werde es zu bewahren wissen, nur – bitt' ich von jetzt an und befehl' es Ihnen, lächeln Sie nicht mehr, wenn mein Name genannt wird – genannt, ob nun in Verbindung mit dem Cardinal oder mit dem Grafen ... Lassen Sie sich von Ihrem Sohn nichts über mich erzählen, was Sie veranlassen könnte, etwaigen Hoffnungen, die ich habe, welche es auch sein mögen, schaden zu wollen ... Das ist es, was ich Ihnen schon am Hochzeitsfest zu sagen hatte und nur verschob, weil die Räuber uns hinderten und wir im Gebirge kaum zur Besinnung kommen ... Noch Eins und in aller Aufrichtigkeit ... Erneuern Sie die Warnungen für den Bischof von Robillante! ... Schreiben Sie Ihrem Sohn davon! ... Man erwartet Fefelotti ... Dieser bringt die Einleitung eines Processes auf Absetzung des Bischofs ... Das wäre entsetzlich, wenn sich Bischof Bonaventura um eine ketzerische Persönlichkeit so fortreißen, von Gräfin Erdmuthe auf Castellungo so bestimmen ließe ... Der Cardinal meinte es aufrichtig, als wir den Pilger zu entdecken suchten ... Es ist nicht seine Schuld, daß Hubertus so räthselhaft an der Grenze der Abruzzen verschwunden ist ... Hören Sie aus alledem, daß ich der Meinung bin: Wir sind Freunde, Verbundene, Herzogin! ... Waffenstillstand, Friede zwischen uns! ... Kein Wort an Olympien! Nimmermehr! Verlassen Sie sich auf mich! Das versprech' ich Ihnen ... Aber jetzt muß ich auf Villa Tibur zurück ... Der Weg ist weit ... Achthundert Scudi nur, Herzogin; ich find' es erbärmlich! ... Aber – was kann ich thun! ... Sagen Sie das Ihrem Sohne – Benno ... Sie sind glücklich, einen solchen Sohn zu besitzen! ... Wo fanden Sie ihn? Wie erkannten Sie sich? ... Sie haben recht; für die Fürstin war er zu gut ... Nie, nie darf sie davon erfahren ... Ihre Rache würde keine Grenzen kennen ... Regen wir uns nicht auf! ... Sie kennen jetzt meine Wünsche – meine Befehle! ... Auf Wiedersehn! ...

Lucinde war verschwunden, wie sie gekommen ... Sie hatte, um die Bedienung in Bereitschaft zu halten, selbst geklingelt ...

Die Herzogin blieb zurück, erstarrt – gebunden an Händen und Füßen ... Sie fühlte ganz die Wirkung, die Lucinde beabsichtigt hatte ... Mußte sie »diese Schlange an ihrem Busen erwärmt« – sie selbst nach Rom geführt haben! ... Unter diesem Damoklesschwert sollte sie nun leben! ... Was thun? Was um Benno's willen unterlassen? ... Ihre Correspondenz schien ihr nicht mehr sicher, trotz der Adressen, die an die geringsten Leute hier und in Robillante gingen ... Diese Sprache, diese kurze Eröffnung, diese Schonungslosigkeit! ... Benno ihr Sohn! ... Von Angiolinen, der Lucinde selbst so ähnelte, hatte sie geschwiegen ... Wußte sie nichts von ihr? ... Sie wußte genug, um sie in ewige Fesseln zu werfen ...

Alles das mußte die vereinsamte Frau nun in sich selbst verwinden ... Trotz des Vorwands mit der »bessern Luft des Monte Pincio« verließen sie alle ihre Bekannte ... Sie hatte ohnehin nie die erste Rolle spielen dürfen, solange sie mit Ceccone und Olympia lebte ... Was war sie der Welt! ... Jetzt bereuete sie zu klug gewesen zu sein und sagte: Wie viel haben bei alledem die Menschen voraus, die sich allein den Ausbrüchen ihres Temperaments hingeben! Sie erleben immer noch etwas mehr Unglück und Demüthigung, als wir andern, die wir so klug sein wollen, das ist wahr; aber ihre Personen fesseln und lassen ihre Verhältnisse vergessen ... Nicht einmal ein paar alte Prälaten hatten das Bedürfniß, bei ihr zu speisen ... Von Benno keine Andeutung, wie sie sich verhalten sollte ... Seine Briefe blieben aus ... Sie war in Verzweiflung ...

Ihr Geist hatte seit einem Jahr ganz in dem geliebten Sohn gelebt ... Seine Briefe waren wie an ein Ideal gerichtet. Nur einen einzigen Tag hatte er die Mutter gesehen und gesprochen und gerade darum war ihm alles an ihr neu und reizvoll geblieben ... Die ganze, seit so lange von ihm beklagte Heimatlosigkeit seines Daseins fand in ihr Ruhe und Sammlung ... Und auch sie lebte nur in seinen Mittheilungen und bildete sich aus ihnen, so fragmentarisch sie waren, jetzt ihre Welt ... Sie las zitternd alle seine letzten Briefe ... Sie waren der einzige beglückende Eindruck, der ihr noch geblieben ... Da lag die schöne Alpengegend Piemonts ... Da lagen die Thäler, die schattenreichen Kastanien- und Nußbaumwälder, in denen sich der Geliebte mit Bonaventura erging ... Da schilderte Benno das rege Leben der Bewohner und die blühendste Seidenzucht ... Ort reihte sich an Ort – erkennbar war jeder Weiler an den viereckigen Kirchthürmen mit heitern Glockenspielen ... Schlösser standen auf höchster Höhe, gebrochene Zeugen der Wildheit des Mittelalters, tiefer abwärts von diesen Trümmerstätten lagen wohnliche neue Sitze des Adels, darunter Castellungo, erkennbar schon in weiter Ferne am wehenden Banner der Dorstes ... Wie oft hatte der Kronsyndikus sie vor Jahren versichert, daß gerade um dieser Dorstes willen seine zweite Ehe noch geheim bleiben mußte ... Sie sah Benno hinüber- und herüberreiten zwischen Robillante, einem freundlichen Städtchen, und Castellungo ... Die alte Gräfin Erdmuthe bediente sich seiner als Vermittlers zwischen ihr und dem Bischof, den sie seltner sah, obgleich er ganz in ihrem Sinne wirkte und Benno nicht genug von Bonaventura's Muth schreiben konnte, der jenen von der Gräfin beschützten Waldensern ihre Gerechtsame wahrte ... Sie sah die Eichen von Castellungo, die verlassene Einsiedlerhütte, die Processionen zur Kapelle der »besten Maria« ... Seltsam durchschauerte sie etwas von Geheimnissen, die auf allen diesen Beziehungen liegen mochten ... Sie wußte schon so viel, daß dem Bischof jene Gräfin Paula werth gewesen, die inzwischen die Nachfolgerin ihres Kindes geworden ... Sie fühlte die Dämmerungsschleier so vieles Zarten und Ahnungsvollen, das auf jenen Gegenden lag, und die sich schon ihr selbst auf Auge und Herz zu legen anfingen ... Selbst die Anstrengungen Bonaventura's, jenen Eremiten den Händen der Inquisition zu entreißen, machten ihr einen eigenthümlich persönlichen Eindruck ... Wie ein stilles Abendläuten war alles, was von dort herüberklang ... Nun sollte sie an Benno die unheimliche Nachricht schreiben: Dein Geheimniß ist in den Händen dieser Lucinde, die mich entwaffnet, versteinert hat – ich konnte ihr nicht widerreden – konnte dich nicht verleugnen! Schien sie doch voll Antheil für unser aller Schicksal! ... Die Nachricht, jene düstern Gemäuer von Coni, die erzbischöfliche Residenz würde ihren Souverän, den grimmen Fefelotti entsenden und dieser würde neue Schalen angesammelten Zornes bringen, um sie über die ihr so werthen Menschen auszugießen, war wie das Anrollen eines Gewitters, das – »doch wol auch Benno selbst hören mußte« ... Sie wußte nicht, was beginnen ... Wenn er nur endlich, endlich selbst schriebe! ...

Zunächst mußte die Kraft ihres stillen Liebescultus für den Sohn und die Erinnerung ihr helfen ... Sie legte sich schon lange auf, die Plätze zu besuchen, von denen sie wußte, daß Benno bei seinem Aufenthalt in Rom vorzugsweise von ihnen gefesselt worden. Benno hatte an der Ripetta gewohnt, mit der Aussicht auf die Peterskirche. Er hatte seine Betrachtungen an so manches geknüpft, was sie bisher verhindert gewesen, wieder in Augenschein zu nehmen und nach Benno's Weise auf sich wirken zu lassen. Sie staunte nun, alles so zu finden, wie Er ihr geschrieben – in Briefen, die ihr ein Heiligthum wurden und die sie in ihren einsamen Stunden wieder und wieder las. Jetzt sagte sie: Ja, er hat Recht: Die Peterskirche macht keinen gewaltigen Eindruck! Die gelbangestrichenen Säulenarcaden drücken sie zum Gewöhnlichen herab! ... Sie sagte: Er hat Recht: Das Innere der Peterskirche ist kalt; man athmet hier nur in der Sphäre des Stolzes und der Vermessenheit der Päpste! ... Er hat Recht: Die Engelsburg ist wie ein Reitercircus! ... Er hat Recht, wenn er schreibt: Als ich nach Rom kam, erschien mir der Engel auf ihrer Spitze wie ein Lobgesang auf die Idee des Christenthums, jetzt nur noch wie eine Satyre! ... Er hat Recht: Die Kirchen sind Concertsäle; nicht eine hat die Erhabenheit eines deutschen Domes! ... Er hat Recht, wenn er schreibt: Unter den Bildsäulen der Museen verweilt' ich lieber, als unter den Bildern; sie lehren Vergänglichkeit und Trauer und das Museum auf dem Capitol ist geradezu die heiligste Kirche Roms; nur dort hab' ich Thränen geweint, unter den gespenstischen Marmorgöttern, den Niobiden, den sterbenden Fechtern, den gefangenen Barbarenkönigen! ... Er hat Recht: Kein christlicher Sarkophag hat mich so gerührt, wie im Lateran die heidnischen Aschensärge mit den zärtlichsten Inschriften: »Gattin dem Gatten!« ... Er hat Recht: Nichts hass' ich wie das Coliseum! Ich kann es nicht mehr sehen ... Er hat Recht: Wie wenig kann ich mich mit Michel Angelo befreunden! So oft ich von ihm ein Werk erblicke, hab' ich das Gefühl, er hätte etwas geben wollen, worauf die gewöhnlichen Vorstellungen vom Schönen nicht passen – Raphael hat allein das Einfache und Richtige! Was ein Ding sein muß, das ist es bei Raphael; bei Michel Angelo ist's immer etwas anderes, als das natürliche Gefühl erwartet ... Raphael's Bilder betrachtete sie nun stundenlang – die Madonnen waren dann Armgart – süßer heiliger Friede senkte sich auf Augenblicke in ihre Brust – Dann fuhr sie wieder auf und ängstigte sich um die Ahnung, daß sie Benno nicht wiedersehen würde ... Nun fehlte ein Brief schon seit Wochen von ihm ... Und ihr Herz, ihre ganze Seele war so voll – so übervoll –! ...

Es war die Zeit, wo in Rom jeder, der nur irgend kann, auf dem Lande lebt ... Die Herzogin mußte sich diesen Schutz gegen die Wirkungen der »Malaria« versagen ... Neulich war sie in ihrem vom Schrecken des Gemüths gehetzten »Wiederaufsuchen Roms nach Benno's Anschauungen« beim Kloster der »Lebendigbegrabenen« angekommen ... Sie fand da einen schönen, luftreinen Garten ... Oefters schon war sie hinübergegangen zu diesen Schwestern der »reformirten« Franciscaner; sie wohnten an Piazza Navona, nahe der Tiber ... Sie, die Mitwisserin eines schweren Geheimnisses, blieb dort gut aufgenommen, aber um achthundert Scudi jährlich kauften die Andern ihr Schweigen ab ... Sie, sie war es nun, die diesem Kloster die Last Olympiens abgenommen ... Nicht alle Gründe hatte sie Benno erzählt, die die fromme Genossenschaft damals bestimmten, eine so gewagte Handlung zu begehen wie die, eine Nonne einzukleiden, die ihnen eine geheime Commission des peinlichen Tribunals als eines Attentats auf den Inquisitor Ceccone verdächtig überwiesen hatte und die schon allein deshalb abzuweisen war, weil sie möglicherweise niederkommen konnte. Nichts seltenes, daß Verbrecher den Klöstern zur Aufbewahrung übergeben werden; aber eine Braut des Himmals, die gesegneten Leibes war – von einem Monsignore, der einen Mordanfall unter Umständen von ihr erlitten hatte, die keine nähere Untersuchung des Frevels wünschen ließen ... Das Kind blieb am Leben und wurde nicht aus dem geräumigen Kloster entfernt. Man hatte Gründe für diese Zurückbehaltung. Vorzugsweise fürchtete man, solange man ein pflegbefohlenes Kind lieber selbst hütete, weniger für den Ruf des Klosters, das leicht seine gegenwärtige Auszeichnung, die Pallien weben zu dürfen, verlieren konnte und sie an andere abtreten mußte, die auf diese Ehre und den Gewinn eifersüchtig waren ... Außerdem hatte dies Kloster noch eine Ehrenaufgabe, auf welche die jungen Prälaten neulich anspielten ... In der zu ihm gehörigen Kirche befand sich eine »Mumie« ... Dies war der Leichnam der Stifterin des Klosters, einer Franciscanerin, die im Jahr 1676 die strengere Regel Peter's von Alcantara angenommen hatte. Bei zufälliger Oeffnung ihres Sarges im Beginn dieses Jahrhunderts fand man die Schwester Eusebia Recanati nicht verwest. Der Leichnam hatte sich in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten, während die Gewänder, der braune Rock, der schwarze Schleier, das weiße Kopf- und Halstuch zusammenfielen. Ohne Zweifel ein Wunder. Seit dreißig Jahren petitionirte das Kloster um die Heiligsprechung der Eusebia Recanati, die in einer Kapelle der Kirche, in einem verschlossenen Schrank, unter Verglasung, in sitzender Stellung an gewissen Tagen dem Volk gezeigt wurde. Seit dreißig Jahren bestand eine Commission zur Prüfung der Ansprüche, die Eusebia Recanati auf den Schmuck des Heiligenscheines hatte. Dem Kloster wäre die wirklich erfolgte Heiligsprechung und ein unversehrter Heiligenleib zur Quelle des größten Gewinns geworden. Aber die Orden regten sich voll Eifersucht – die schwarzen Oblaten und Ursulinerinnen, die weißen Camaldulenserinnen und Karthäuserinnen, die hellbraunen Olivetanerinnen, die schwarzweißen Philippinen, die schwarzbraunen Augustinerinnen die weißschwarzen Dominicanerinnen, die braunen Karmeliterinnen und Kapuzinerinnen, die blauen Annunciaden, die rothen Sakramentsanbeterinnen und hinter ihnen die entsprechenden Mönchsorden mit allen ihren Generalen. Die geringere bloße »Seligsprechung« der Mumie genügte den »Lebendigbegrabenen« nicht, sie wollten der Christenheit eine heilige Eusebia geben, die in der That dem Kalender noch fehlte. Sie bewiesen, daß diese schrecklich anzusehende, verschrumpfte, braunem Leder gleichkommende Eusebia Recanati, ein Grauenbild, geschmückt mit den glänzendsten Kleidern und mit goldenen Spangen befestigt, Wunder verrichtete, Lahme gesund machte, Blinde sehend. Die Opposition blieb aber zu stark ... Dreißig Jahre schmachteten die Nonnen schon nach Entscheidung der Cardinäle! Als einen vorläufigen Ersatz erhielten sie das Pallienweben, in dem sie sich, dreißig an der Zahl, auszeichneten wie Penelope auf Ithaka; Ceccone war es, der sie so in ihren Hoffnungen auf die Heiligsprechung der Mumie, die sie nicht aufgaben, ermunterte. Auch wären sie gewiß schon durchgedrungen, seitdem sie das Meisterstück ihres guten Willens, die Verheimlichung eines Prälatenkindes, durchführten; wenn nur nicht auch Fefelotti und die Jesuiten ihre Feinde geworden wären. Diese beschützten die neuen vornehmen Orden, die Salesianerinnen, die Annunciaden, die Sakramentsanbeterinnen, vorzugsweise die Damen vom Herzen Jesu. Die Jesuiten ließen mit jenem Schein »wahrer Aufklärung«, der ihnen überall an geeigneter Stelle so geläufig ist, alle Wunder, die die Mumie vollzogen haben sollte, ärztlich untersuchen und erklärten sie für null und nichtig. Die Professoren der Jesuiten lehrten auf der »Sapienza« (der Universität Roms) die Heilkunde und Naturwissenschaften. Die Gutachten, die ihre Commission für die Heiligsprechung der Eusebia Recanati übergab, waren von einer Freimüthigkeit, als hätte sie Humboldt verfaßt. Die Waffen der Wissenschaft, die in den Händen der Jesuiten glänzen, senken sie nur dann, wo es gilt höhere Zwecke zu salutiren ...

In solchen Klöstern, wo ein Industriezweig getrieben wird, z.B. Blumenmachen, sieht es wie in einer Fabrik aus. Man läßt anderwärts Zöglinge und Kinder zur Mithülfe zu; die »Lebendigbegrabenen« repräsentirten ihr kleines »Manchester« für sich ... Ihr Fleiß hielt gleichen Schritt mit der Sterblichkeit unter den Bischöfen von 131 Millionen Seelen. Sie schoren und spannen und webten und die Herzogin von Amarillas konnte einige Uralte unter ihnen nicht anders betrachten, als unter dem Bild der Parzen Clotho, Lachesis und Atropos. Auch Lucrezia Biancchi spann und spann ... Dazu sang sie alte Lieder – Freiheitslieder, die sie von ihren Brüdern gelernt hatte, weniger von Napoleone, als von Marco und Luigi ... Für einen kleinen Schwestersohn von ihr, den die »schöne Wäscherin« vom Tiberstrand erzog, als sie die neue Judith zu spielen begann, hatte der liebevolle Ceccone großmüthigst gesorgt ... Dieser war, als seine Oheime Luigi und Napoleone nur durch die Flucht von den Galeeren freikamen, als Marco sogar zum Tode verurtheilt, dann zu den Galeeren begnadigt, endlich verbannt wurde, erst sieben Jahre alt. Ceccone ließ den kleinen Achille Speroni verschneiden und zum Sopransänger der Sixtina machen ...

Die Herzogin besuchte am Abend nach der Schreckensscene mit Lucinden den Garten dieses Klosters ... Da saß die Mutter Olympia's, die Mutter eines Kindes, dem ihre Seele fluchte, als sie es empfing, die irrsinnige, magere, hohläugige Lucrezia und spann wie immer ... Selbst aufgeschreckt wie ein verfolgtes Wild, erzählte sie ihr von ihres Bruders Luigi Gefangenschaft ... Die Spinnerin hielt einen Augenblick inne und zeigte auf die Wolle am Rocken und auf den langen Faden, den sie aufgewickelt hatte ... Das ist recht! Er muß Geduld haben! ... sagte sie und feuchtete den Faden an ...

Ja, sagte die Herzogin, du meinst die Zeit! Schwester Josepha – so war sie beim Einkleiden getauft worden –, der lange Faden ist die Zeit! Auf den müssen wir viel, viel aufreihen! ...

Die drei Parzen in der Nähe lächelten und nickten Beifall ...

Die Herzogin beneidete fast die Schwester Josepha ...

Dies arme Wesen, das einst auf einen Mann, in dessen Arm sie ruhete, ein Messer zücken konnte, wußte nichts von ihrem Kinde, das eine Fürstenkrone trug und Menschen tyrannisirte ... Sie hatte die fixe Idee von ausbleibenden Briefen – Briefen, die Gott, Jesus, St.-Johannes, die Heiligen an sie schrieben – es waren die Briefe ihrer verbannten Brüder ... Ihrer Brüder, die in den Gefängnissen Roms, unter den Torturen gesessen hatten, die vom Rechtswesen des Mittelalters gerade im Kirchenstaat noch am längsten zurückgeblieben sind ...

Als die Herzogin aus dem Klostergarten, von den kleinen Lämmern, von den Webstühlen zurückkam, war sie über ausbleibende Briefe so trostlos wie Schwester Josepha ... Nun mußte sie auf alle Fälle Benno den Vorfall mit Lucinden, überhaupt alles berichten, was ihr seit fünf Tagen widerfahren war ... Seit Benno's letztem Brief waren Wochen verflossen ... Täglich fragte sie bei einem Lotteriecollecteur, der eine große Correspondenz unverfänglich führen durfte, ob nichts für sie angekommen wäre ... Endlich, endlich durfte doch wol ein Brief – morgen eintreffen ...

Er kam aber auch morgen nicht ... Auch nicht am nächsten Tage ... Schon fragte die Verzweifelnde und wie auf der Flucht vor sich selbst Dahinwankende das Orakel der Karten, das sie stundenlang vor sich ausgebreitet hatte und bei verschlossenen Thüren durchforschte ... Sie nahm eines jener schöngeformten eisernen Gestelle, in die man in Italien die Waschschüssel stellt, und stand wie Pythia am Dreifuß, um an den Wellenschwingungen, die ins Wasser geworfene Kiesel hervorbringen, zu erkennen, ob die Ringe, große oder kleine, Glück oder Unglück bedeutende wären ... Sie nahm Asche vom Feuer des Herdes, streute sie Nachts auf den Sims eines vom Wind bestrichenen Fensters und schrieb mit zitterndem Finger die Frage, ob Benno gesund wäre ... »Sano?« ...

Am Morgen dann las sie mit banger Erwartung, was der prophetische Wind aus den Buchstaben gemacht haben würde ... Das Orakel antwortete: Santo ...

Wie, dachte sie den Tag über – er ist doch nicht auch in ein Kloster gegangen? ... Auch er will uns ein Priester werden? ...

Damit quälte sie sich einen Tag ... Kein Brief kam ... Am Abend schrieb sie wieder: Sano? ...

Am Morgen las sie in dem verwehten Aschenstaube: Cane ...

Himmel, dachte sie jetzt und raufte sich wie wahnsinnig das Haar, ein toller Hund hat ihn gebissen! ...

Am dritten Tage las sie: Caro ...

Das machte sie ein wenig ruhiger ... So war er vielleicht nur verliebt und vergaß sie um – wessentwillen? ... Armgart's? ...

Am vierten las sie: Sale – Salz oder Verstand –? ...

Die Ironie des Zufalls lehrte sie nicht, daß sie ihre Thorheiten lassen sollte ... Sie grübelte, worin Benno's Schweigen gerade jetzt ein besonderer Beweis von Verstand sein konnte ...

Als sie am Tage, wo sie Sale gelesen hatte, von einer Corsofahrt nach Hause kam, am Hause des Lotteriecollecteurs wieder nichts für sich gefunden hatte, schleppte sie sich fast zusammenbrechend die Treppe hinauf ...

Eben wollte sie ihre Hauskleider anlegen ... Da hörte sie von der Straße her einen Wagen anrollen und still halten ...

Nach einer Weile klingelte es und Marco kam mit hochaufgerissenen Augen und brachte die Wundermär:

Cardinal – – Fefelotti! ...

Die Herzogin traute ihrem Ohr nicht und erhob sich ...

Es war in der That der Erzbischof Fefelotti, Cardinal und Großpönitentiar der Christenheit – in eigener Person ...

Von solchem Besuch ahnte sie jetzt nichts Uebles ... Das »Salz« des Orakels – »Verstand« traf zu ...

Nicht besonders älter war Fefelotti geworden, seitdem die Herzogin ihn zum letzten male gesehen ... Im Gegentheil, die Ruhe in Coni, die Sicherstellung seiner Unternehmungen durch die Jesuiten, die Nothwendigkeit, die gottseligste Miene zu zeigen, hatte die sonst sehr lebhaften Verzerrungen seiner unschönen Gesichtszüge gemildert ... Sind die Hunde aus den Wölfen entstanden, so stellte Fefelotti jenen Uebergang dar, wo möglicherweise die Wölfe zuerst anfingen sich in den Gewohnheiten des Hausthiers zu versuchen ... Seine runde Nase, seine buschigen Augenbrauen, sein von Pockennarben zerrissenes Gesicht war dasselbe wie sonst, aber eine heilige, gesättigte Ruhe lag auf seinen Mienen ... Konnte er doch wahrlich lächeln über seinen neuesten Sieg ... Konnte er doch lächeln über seine Rückkehr aus einer Verbannung – wo er für den »schlechtesten Christen« hatte gelten sollen, dem man den »besten« zur »Versöhnung der Gottheit« gegenübergestellt! ... Konnte er doch lächeln über Ceccone's ohnmächtiges Schnauben, von dem er sogleich andeutete, daß es sich jetzt schon an Frauen auszutoben anfinge ... Das war nun jene Dame, zu der Fefelotti sonst als Prälat so gern gegangen war, die aber seine Intrigue mit der »kleinen Wölfin« bei den »Lebendigbegrabenen« und die Verhinderung der Cardinalserhebung Ceccone's so eiligst gekreuzt hatte ...

An ein Verschleiern seiner Empfindungen denkt in solchen Fällen kein Italiener ... Fefelotti lachte sich weidlich aus ... Sowol über die Höhe der Treppen, die er hatte ersteigen müssen, wie über die Möbel, wie über die Dienerschaft und – ein »Sommerlogis« auf dem Monte Pincio ...

Sie kluge Frau, sagte er, ich habe Sie immer so gern gehabt! Wie konnten Sie sich nur von meiner Fahne entfernen! ... Sie haben sechzehn Jahre Ihres Lebens verloren ... Wie hoch ist die Pension, die Ihnen mein alter Freund Don Tiburzio zahlt? ...

Die Herzogin hatte die Schule der Leiden in einem Grade durchgemacht, daß sie sich weder über Fefelotti's Besuch allzu erstaunt zeigte, noch auch Ceccone's Undankbarkeit ganz nach den Empfindungen schilderte, die sie darüber hegte ... Sie wünschte dem Großpönitentiar Glück zu seiner neuen Erhebung, ließ die von ihr betonte wahrscheinlich nahe bevorstehende Papstwahl nicht ohne Bezüglichkeit für die Hoffnungen des ehrgeizigen Priesters – sie klagte aber Ceccone keineswegs allzu heftig an ...

Fefelotti sah die Schlauheit der weltgewandten Frau ... Sich mäßigend schlug er die Augen nieder, beklagte die Leiden Seiner Heiligkeit und gestand offen, daß durch die Wiederherstellung des Jesuitenordens, dessen Affiliirter er schon seit lange war, in die schwankenden und von den Persönlichkeiten der Päpste abhängigen Zustände der Kirche endlich Festes und Dauerndes gekommen wäre ... Seine eigene Wiederberufung bewiese, daß sich ohne den Rath des Al Gesù nichts mehr in der katholischen Welt unternehmen lasse ...

In der Art, wie Fefelotti es sich dann unter den von dem trippelnden Marco inzwischen angezündeten Kerzenbüscheln bequem machte, wie er sogar herbeigeholte Erfrischungen nicht ablehnte, lag das ganze Behagen ausgedrückt, sich bei einer Frau zu befinden, die nach aller Berechnung menschlicher Natur seine Verbündete werden mußte ... Von Ceccone's »häuslichen« Verhältnissen ließ er sich erzählen ... Er hatte seine Freude an dem kleinsten Verdruß, den »seinem Freunde« das Schicksal bereitet hatte ... Er stellte sich wie ein in einem kleinen Landstädtchen begraben Gewesener, nur um recht viel Neues, Ausführliches und pikante kleine Details erfahren zu können ... Und die Herzogin war klug genug, trotz ihrer Abneigung gegen den häßlichen Mann, dessen falsche Zähne nach jedem Satz, den er sprach, ein eigenes Knacken der Kinnlade von sich gaben und gegen den Ceccone noch jetzt ein Apoll war, doch dies Verlangen nach Befriedigung seiner Schadenfreude nicht ganz unerfüllt zu lassen ... Sie gab eine ungefähre Schilderung der Mühen und Sorgen, unter denen Ceccone's Ehrgeiz allerdings stöhnte und schmachtete ...

Fefelotti schlürfte Sorbett ... Seine Zähne bekamen vorübergehend einen bessern Duft von den Orangen, aus denen es bereitet war und sie knackten jetzt nur noch von der Berührung mit dem Löffel ... Immer mehr gewöhnte sich die Herzogin an das Wiedersehen eines Mannes, der ohne Zweifel doch nur allein der Anstifter der den Jesuiten nicht geglückten Verfolgung gegen sie wegen Bigamie gewesen ... Kannte er alle Geheimnisse ihres Lebens? ... Kannte er die Existenz Benno's? ... Ihr Antheil an seinem Kampf mit Bonaventura, gegen den er vielleicht einen Proceß auf Absetzung instruirte, rüstete sich, ihn möglichst unverfänglich über dies und anderes zu befragen ... Sie ließ dem Gefährlichen den Vorschmack der Annehmlichkeiten und Vortheile, die er denn doch durch diesen Besuch gewinnen konnte ...

Roms Lage ist schwierig, sagte Fefelotti bei Erwähnung des Ceccone'schen Aufenthalts in Wien ... Auf der einen Seite bilden wir das Centrum der Welt, auf der andern das Centrum Italiens ... Wir sollen rein geistlich und für die Ewigkeit auf die Gemüther wirken und sind von allen politischen Strudeln des Tags ergriffen ... Die neue Zeit hat dem apostolischen Stuhl eine fast unerschwingliche Aufgabe gestellt ... Ohne die weltliche Würde kann die geistige Souveränetät des Heiligen Vaters nicht auf die Dauer bestehen ... Beides für die Zukunft zu einen, erfordert die äußerste Anstrengung ... Ich billige ganz, wenn Ceccone seine kleinen Koketterieen mit den sogenannten »Hoffnungen Italiens« zu unterlassen angefangen hat ... Erzählen Sie mir noch mehr – von Wien! ...

Die Herzogin bestätigte, daß Ceccone von Wien in seinen politischen Neuerungstrieben bedeutend abgekühlt zurückgekehrt wäre. Der Fürst Staatskanzler hätte ihn belehrt, daß die Tribunen Roms sich immer zuerst am Entthronen der Päpste und am Halsabschneiden der Cardinäle geübt hätten ...

Fefelotti lachte mit vollem Einverständniß ... Die Herzogin dachte an Benno und seine Freunde ... Sie gab der guten Laune des Schrecklichen die gewünschte Nahrung ... Sie erzählte: Ceccone hätte beim Nachhausefahren von einer solchen Scene mit dem Staatskanzler immer nur Fefelotti! Fefelotti! gerufen ...

Bestia! unterbrach der Cardinal ...

Dann hätte Ceccone Olympien geschildert, was »politische Reformen« wären ... »Nur Ein Bedienter für dich, monatlich nur Ein Paar neue Handschuhe und die Nothwendigkeit, deine Hemden selbst nähen zu müssen!« ...

Fefelotti hielt sich die Seiten vor Lachen ...

Ich bin mit Ceccone's politischer Haltung ganz einverstanden, sagte er ... Sie ist jetzt streng und fest ... Sie läßt sich auf keine Transactionen mehr ein ... Rom ist unterwühlt von Verschwörungen ... Verbannung nur und Galeere können helfen ... Das geringste ist das Verbot aller zweideutigen Schriften ... Wissen Sie – apropos – nichts Näheres über – Grizzifalcone –? ...

Die Herzogin hörte Gesinnungen, die sie haßte, verbarg jedoch ihre Aufwallung hinter einem Erstaunen über das, was Grizzifalcone mit Roms – Politik gemein haben könnte –? ...

Der Cardinal drückte seine kleinen Rattenaugen zu ... Ein bedeutsames Knacken seiner Zähne trat wieder an die Stelle seiner Worte ... Der Duft der Orangen verflog ... Glücklicherweise nahm er eine zweite Schale Sorbett ...

Die Herzogin mußte die Geschichte der Gefahr erzählen, die sie an Olympiens Hochzeitstage überstanden hatte ... Lucindens Name mußte genannt werden ... Dieser war ihm keineswegs unbekannt ...

Eine Neubekehrte? warf er ein ...

Sie hütete sich ein Wort der Misachtung zu sagen ...

Fefelotti kehrte dringender auf Grizzifalcone zurück ... Glauben Sie, sagte er, daß Ceccone jene für den Fürsten Rucca bestimmte Liste in den Taschen des Räubers fand und einsteckte? ... Ich glaube nicht ... Diese Liste besaß Ceccone ohne allen Zweifel schon vorher in Abschriften genug ... Er brauchte sie ja – Hm! ... Räthselhaft sind die Aufträge, die dem wilden deutschen Franciscanerbruder gegeben wurden ... Nun sagt man ja, er wäre spurlos verschwunden ... Mit jenem Pilger zugleich ... Hörten Sie davon? ... Der Pilger und der Mönch sind von den Zollwächtern, die verrathen zu werden fürchteten, ohne Zweifel todt geschlagen worden ...

Die Herzogin entsetzte sich ... Und warum »brauchte Ceccone die Liste«? ...

Eine Weile verzog sich der bisherige heitere Ausdruck der Mienen Fefelotti's, seine schwarzen Brauen senkten sich auf die kleinen Augen, die ein verderbliches wildes Feuer zu verbergen schienen ...

Dennoch suchte er die Stimmung des Scherzes zurückzuführen und sprach lieber von Olympien, die er beschuldigte, in der »Argentina« bei allen neuen Opern die Stellen zu beklatschen, die für die Tausende von Carbonaris, die auch in Rom wären, oft ein Losungswort gäben ... Das Junge Italien hat allein zwölf Logen in Rom! schaltete Fefelotti ein ... Doch erzählen Sie von Olympien! ...

Die Herzogin hörte nur und hörte ...

Fefelotti sah, daß die Herzogin in politischen Dingen nicht mehr Ceccone's Vertrauen besessen hatte ... In die Argentina geht Olympia jetzt seltener, sagte sie mit bitterer Erinnerung an den neulichen Spott Olympiens über ihre Beziehung zur Musik ... Sie verlangte von mir, daß ich erklärte: Unsere neuere Musik anhören zu müssen verdiente, daß die Componisten mit den Ohren angenagelt würden ...

Diese Strafe trifft in der Türkei die Bäcker, wenn sie schlechtes Brot backen! ... Dieser Witz wird den alten Rucca geärgert haben, wenn er ihn hörte ... sagte Fefelotti ...

In dieser heitern Weise dauerte die Unterhaltung fort ... Auch auf den Cardinal Ambrosi kam Fefelotti zu sprechen ...

Ich habe ihm, sagte er, sofort eine Amtswohnung anweisen lassen, indem ich ihn zum Vorstand der »Congregation der Reliquien und Katakomben« machte ... Vielleicht ist er so galant, Olympien mit der Heiligsprechung der Eusebia Recanati ein Gegengeschenk für seine Erhebung zu machen ... Sie wissen doch noch, daß wir einst um die kleine »Wölfin« bei den »Lebendigbegrabenen« auseinander gekommen sind – Sie schlimme Frau, die Sie mir auch in Wien einen noch gottseligeren Priester auf Erden entdeckt haben – Ja Sie! Sie! Ich weiß es – Meinen Nachbar bei Coni – den magnetischen Bischof Bonaventura von Asselyn ... Sie haben ihn zuerst Olympien empfohlen ... Der Spott dabei auf mich kam allerdings wol nur von dem kleinen Grasaffen ...

Die Herzogin spitzte ihr Ohr ... Jedes Wort in diesen leichten Scherzen und drohenden Neckreden war bedeutungsvoll ... Ihr Palais an Piazza Sciarra stand also noch leer ... Cardinal Ambrosi hatte sich Olympiens Verehrungscultus entzogen ...

Bonaventura's heiliger Ruf wurde keineswegs von ihr abgelehnt ... Mit einem fast schelmischen Trotz berief sie sich auf das Urtheil der deutschen Kirche ...

Gut, daß ich mich an diesem Eindringling auf italienischen Boden habe überzeugen können, wie gefahrvoll diese deutsche Kirche wird, erwiderte Fefelotti ... Kaum in sein Amt eingeführt, begeht der Freche eine Unthat nach der andern ... Der Verbündete einer Ketzerin, die auf dem Schlosse Castellungo haust, wahrt er den durch die Milde der Zeiten übrig gebliebenen Resten einer schismatischen Sekte die Rechte, die sie verbrieft besitzen wollen, bestreitet das ihnen streng eingeschärfte Verbot, Proselyten zu machen, behauptet, die Dominicaner hätten außer diesen gefänglich eingezogenen, dann freigegebenen religiösen Fanatikern noch einen Eremiten eingekerkert, der den Wohlthäter des Volkes machen wollte und nur ein Verbreiter ruchloser Lehren war ... Auch dieser Eremit war ein Deutscher! ... England und Deutschland! Das wird unser Kampfplatz werden! ... In Deutschland ist es schon wieder wie zur Zeit Luther's ... Ein Priester ist aufgestanden, der dem Bischof von Trier die Aussetzung des Heiligen Rocks zum Verbrechen am »Geist der Zeit« macht! ... Die ketzerischen Bewegungen auf dem Gebiet der Lehre, ja des Cultus nehmen überhand ... Erkundigungen, die wir über den Bischof von Robillante eingezogen haben, machen ihn zur Absetzung reif ... Und der blinde Wahn dieses Mannes geht so weit, hieher nicht als ein Angeklagter, sondern als ein Richter kommen zu wollen ...

Hieher –? Er wird berufen? ... fragte die Herzogin erbebend vor Angst und doch auch vor Freude ...

Der Bischof behauptet, fuhr Fefelotti in gesteigerter Aufregung fort, die Nachricht, daß man jenen Eremiten in der Mark Ancona als Pilger gesehen hätte, wäre ein absichtlich ausgesprengter Irrthum ... Dieser Eremit wäre nach Rom überführt worden und säße hier in irgendeinem Kerker ... Der Pilger von Porto d'Ascoli, erklärte er noch kürzlich, wäre ein anderer ... Seit man jetzt verbreitet, er wäre ermordet worden, hatte ich eine Scene mit ihm, die zu seiner sofortigen Verhaftung hätte führen müssen, wäre nicht die besonnene Vermittelung eines seiner Verwandten von ihm dazwischen getreten ...

Des Signore – Benno –? ... fragte die Mutter nach Gleichmuth ringend ...

Der Cardinal bestätigte diesen Namen ...

Benno lebt denn also noch! ... dachte die Mutter und verbarg hinter Bewegungen, die ihr als Wirthin eines so hohen Besuches zukommen durften, das Gemisch ihrer Freude und Besorgniß ... Fefelotti sprach Benno's Namen harmlos aus ... Er schleuderte nur seinen Bannstrahl über Deutschland und Bonaventura ... Dann fragte er wiederholt nach Lucinden ... Er wußte, daß sie dem Cardinal nahe stand und Aussicht hatte, Gräfin Sarzana zu werden ... Nach den Berichten der kirchlichen Fanatiker Deutschlands nannte er sie eine Hocherleuchtete, der sich nur die eine Schwäche nachsagen ließe, für jenen Bischof von Robillante eine unerwiderte Liebe im Herzen getragen zu haben ...

Die Herzogin nahm ihm nichts von allen diesen Vorstellungen ... Sie sah, dem Großpönitentiar lag das Leben aller Menschen aufgedeckt ... Er fragte wiederholt, was die Herzogin über Donna Lucinde wisse und ob sie gut mit ihr stünde ...

Die Herzogin sah, daß Fefelotti bei Ceccone eine Spionin suchte ... Vielleicht fand er sie in Lucinden ... Sie hütete sich, Lucinden nach ihrer Auffassung und eigenen Erfahrung zu charakterisiren ... Eine Vermittelung dieser Bekanntschaft durfte sie aus nahe liegenden Gründen – um Ceccone's willen – ablehnen ...

Es war schon halb elf Uhr, als der Cardinal sich endlich erhob ... Er hatte ein paar angenehme, höchst trauliche, für ihn mannichfach anregende Stunden verbracht ... Er hatte sich schnell wieder in den römischen Dingen orientirt ... Er versprach wiederzukommen ... Dann küßte er der Herzogin mit aller Galanterie die Hand, sagte ihr die Tage und die Orte, wo er »zum ersten male aufträte« – d.h. die Messe lesen oder sie mit Pomp anhören würde ... Das waren Schauspiele, wo sich alles, was zur Gesellschaft gehörte, versammeln mußte ... Er versprach ihr die »besten Plätze«, unter andern zu einem morgenden Gebet von ihm in der Sixtina ...

Daß ich, sagte er beim Gehen, Ceccone's Feind nicht mehr sein will, beweise ich dadurch, daß ich den Schein von ihm entferne, als könnte er einer Dame, der er sich lebenslang verpflichtet fühlen sollte, wie Ihnen, undankbar gewesen sein ...

Mit dieser artigen Wendung empfahl er sich ...

Die ganze Dienerschaft, die der alte Marco rasch durch einige Hausgenossen vermehrt hatte, stand in den Vorzimmern ... Die Umwohner hatten sich den Schlaf versagt, um dem Schauspiel der Abfahrt eines Cardinals beizuwohnen ... Fefelotti's Pferde trugen am Kopfgestell der Zäume die rothen Quasten. Die Kutsche war vergoldet; zwei Lakaien sprangen hinten auf, während ein dritter mit dem Ombrellino an der Hausthür wartete und beim Einsteigen den kleinen stämmigen Priester begleitete, der seinerseits nur einfach, nur mit dem rothen dreieckigen Interimshut erschienen war ...

Einige Freude empfand die gedemüthigte Frau denn doch über diesen Besuch ... Sah sie auch Gefahren über den Häuptern der ihr allein noch im Leben werthen Menschen sich zusammenziehen, so blitzte doch in solchen Nöthen ein Hoffnungsstrahl auf durch die Beziehung zu einem so mächtigen Mann, der glücklicherweise ihren vollen Antheil an den Schicksalen der Bedrohten nicht ahnte ... Benno hatte jener Scene beigewohnt und ihren schlimmen Ausgang gemildert ... Sie wollte noch einen Tag warten und dann auf jede Gefahr hin dem Sohn mittheilen, worin sie alles ihre Sorge auf ihn, seinen Rath und seinen Beistand werfen müßte ... Die Vorladung Bonaventura's schien noch nicht entschieden zu sein ...

Am Abend nach dem Besuch Fefelotti's kam die Herzogin aus der Sixtinischen Kapelle, wo Fefelotti sein »erstes Abendgebet« gehalten hatte ... Der kleine Raum war überfüllt gewesen ... Der Qualm der Lichter die Atmosphäre so vieler Menschen ließen sie fast ersticken ... Fefelotti hatte der Herzogin in aller Frühe schon einen reservirten Sitz zur Verfügung gestellt ...

Wie kräftig sprach er sein »Complet« – las den 90. Psalm Qui habitat in adjutorio Domini, sang mit jenem conventionellen Ton, der vom Herzen sanft der Rührung den Weg durch die Nase läßt, sein Gloria Patri, worauf die Kapelle mit Simeon's Lobgesang: Nunc dimittis antiphonisch einfiel ... Nicht eine der zu Ceccone's engeren Beziehungen gehörenden Persönlichkeiten war zugegen ... Ceccone hatte die ersten Weihen, er nahm vor kurzem auch die letzten; er übte sich täglich im Messelesen, um seinerseits mit den unerläßlichen Bedingungen zur Papstwahl hinter andern nicht zurückzubleiben ... Fefelotti's Virtuosität in allen kirchlichen Functionen war ihm ein Gegenstand besondern Neides ...

Die Herzogin versank auch hier wieder in die schwärmerischste Sehnsucht nach ihrem Sohn ... Gerade diese kleine Kapelle, die für die Hausandacht der Päpste bestimmt ist, enthielt Michel Angelo's »Jüngstes Gericht« ... Man sieht nur noch ein wüstes Durcheinander dunkler Farben an den lampenrußgeschwärzten Wänden ... Benno hatte ihr geschrieben, der berühmte Gesang in dieser Kapelle hätte ihm nie die mindeste Erhebung gewährt; die unglücklichen Verstümmelten, die zur päpstlichen Kapelle gehörten, hätten im Discant gesungen wie Hühner, die plötzlich den Einfall bekämen, wie die Hähne zu krähen; die Bässe wären küstermäßig roh; die alten Weisen Du rante's und Pergolese's kämen in ihrer einfachen Erhabenheit unwürdig zu Gehör ... Und für alles das schwärme der deutsche Sinn! Diese Sixtinischen Kapellenklänge allein schon wirkten wie ein Zauber der Sehnsucht nach Deutschland hinüber! Erst der germanische Geist, der schon sonst das Christenthum überhaupt zur weltgeschichtlichen Sache des Gemüths gemacht hätte, hätte auch hier wieder in das Abgestorbenste, in die Kirchenmusik, neues Leben gebracht ... Wie klang das alles der Herzogin beim Schlußgebet des Erzbischofs von Coni nach: Omnipotens, sempiterne Deus! ...

Gestern Nacht hatte sie in die Asche »Sano?« geschrieben und der Wind hatte in der That an diesem Morgen »Canto« daraus gemacht ... Darum war sie mit Hoffnung in die Kapelle gefahren ... Sie war im Wagen die Treppe hinauf gekommen an den salutirenden, hanswurstartig gekleideten Schweizern vorüber; sie hatte, vorschriftsmäßig vom schwarzen Schleier verhüllt, zur Menschenmenge nicht aufgeblickt vom kleinen ihr reservirten Plätzchen aus ... Die von Michel Angelo in die Hölle geschleuderten Bischöfe und Cardinäle waren ihr heute nicht wie sonst Gegenstände der Zerstreuung, wenn sie in ihnen zum Sprechen ähnlich getroffene noch lebende Würdenträger suchte ... Das verschrumpfte Antlitz Achille Speroni's auf dem Singchor sah sie ohne Lächeln ... Speroni, der Cousin der jungen Fürstin Rucca, stand in seinem violetten Rock mit dem weißen Spitzenüberwurf und der rothen Halsbinde anfangs wie ein Mann, sang auch eine Zeit lang wie ein Mann: Maria, ad te clamamus exules filii Evae! ... Dann aber, bei den für einen exul filius Evae doppelt rührenden Worten: »Maria zu dir seufzen wir auf, weinend und flehend, in diesem Thal der Thränen!« sprang der Unglückliche in die äußerste Kopfhöhe über, fistulirte eine Weile und war zuletzt bei den für einen Entmannten erschütternden Worten: »Zeig' uns, Maria, die gesegnete Frucht deines Leibes!« ein vollständiges Frauenzimmer ... Die Herzogin kannte nicht wörtlich den Inhalt dieser für die Trinitatiszeit normalen abendlichen Horengesänge; sie verstand nicht, wie die Worte in schneidender Ironie zur Verstümmelung des Sängers standen; im Geist aber hörte sie Benno's Aeußerung: Schon um diese krähenden Hühner der Sixtinischen Kapelle allein muß die römisch-katholische Kirche, wie sie jetzt ist, untergehen! ...

Mancher lächelnde und ironische Blick haftete an der Herzogin ... Er sollte ihrem Sturz gelten ... Sie dagegen durfte diesen Monsignores, Ordensgeneralen, Uditores und Adjutantes di Camera nicht minder ironisch lächeln ... Wie nur eine Hofdame bei einer großen Cour die Geheimnisse all dieser so steif sich verbeugenden Welt von ihrer Reversseite übersieht, so blickte auch sie auf alle diese tonsurirten Häupter, die das Frauenthum aus ihrem Leben ausgeschlossen zu haben schienen und die alle, alle doch gerade vom Frauenthum am meisten abhängig waren – nächst ihrem Ehrgeiz ...

Ihren Wagen behielt sie und befahl dem Kutscher, sie heute auf den Corso und in den Park der Villa Borghese zu fahren ... Sie kam sich wie wiederhergestellt vor ...

Wie sie gegen neun Uhr nach Hause kam, hörte sie, daß ein Fremder nach ihr verlangt hätte ... Er wollte morgen zeitig wiederkommen – hieß es ...

Dem beschriebenen Wüchse nach war es Benno ... Ein dunkler, voller Bart, der das ganze Gesicht beschattete, ein grauer Calabreserhut – das stimmte freilich nicht zu ihrer Erinnerung ... Aber – wer konnte es denn anders sein? ...

Zu Nacht speiste sie nichts vor Aufregung ...

Mit zitternder Hand schrieb sie in ihre Asche: »Sano«?

Kaum, daß sie einige Stunden schlief ...

Am Morgen las sie: »Salve!« ...

In der That lag sie einige Stunden später in Benno's Armen.

6.

Ein geliebter Freund, der aus weiter Ferne von Reisen zurückkehrt, breitet zuvor seine Geschenke aus ... Benno brachte genueser Korallenschmuck und mailänder Seidenstoffe ... Kostbarer aber, als alles, war sein eigenes Selbst ...

Und war er es denn auch wirklich? ... War es jener liebenswürdige junge Mann, der vor einem Jahr am Kärnthnerthor zu Wien aus dem vierspännigen Wagen der Herzogin von Amarillas sprang? ... Aeußerlich machte er geradezu den Eindruck eines Italieners ... Gestern, frisch vom Postwagen gekommen, hatte er noch einen Calabreser aufgehabt ... Heute hatte er der Mode zwar den Tribut eines schwarzen Hutes gebracht, seinen verwilderten Bart ein wenig gestutzt; aber das lange schwarze Haar, die Bräune des Antlitzes, die leichte, heitere Beweglichkeit, alles das war nicht so, wie es die Mutter kannte aus den wenigen unvergeßlichen wiener Augenblicken des äußersten Schmerzes und der äußersten Freude ... Aber es war schöner noch; es war verwandter, heimatlicher als in der Erinnerung. Sie erstickte seine ersten Worte mit ihren Küssen und Umarmungen ... Er war es – ihr Julio Cäsare ...

Nichts ist anziehender als ein lebensmuthiger, froher, sorgloser junger Mann ... Ihm gehört die Welt ... Alles, was die Gegenwart bietet, muß sich ihm zu Gefallen ändern ... Der Tag rauscht dahin, Jahre vergehen; den Reichthum seiner Lebenskraft scheint nichts zu berühren ... Gefühle, Leidenschaften, Gedanken, mit denen das Alter geizt, von denen die Erfahrung nur noch Einzelnes und Abgegrenztes entgegennimmt, ihm ist das alles noch eine in sich zusammenhängende große Welt, die den ganzen Menschen ergreift, alle Sinne zu gleicher Zeit, die Seele und den Leib – den Leib und die Seele ...

Benno verrieth anfangs nur die Stimmung, in die ihn die glückliche Lage versetzen durfte, von seinem Bruder Wittekind anerkannt worden zu sein ... Seine Geldmittel flossen nach Bedürfniß ... Schon hatte er sich bei Sopra Minerva eine Wohnung gemiethet ... Endlich – er war bei seiner Mutter ...

Allmählich erstaunte er, die Mutter auf dem Monte Pincio zu finden ... Wie oft hatte er im letzten Herbst den Palast betrachtet, wo er wußte daß sie wohnte ...

Das ihm nun enthüllte Schicksal der Mutter durfte ihm, was die Geldmittel anbelangte, gleichgültig erscheinen ... Dennoch betraf es ihn tiefschmerzlich ... Mehr noch, er deutete fast mit Vorwurf an, wie verdrießlich es ihm war, diese Veränderung erst jetzt zu erfahren ...

Warum, mein Sohn –? fragte die Mutter voll Besorgniß ...

Er wäre dann vielleicht nicht gekommen! sagte er ... Die Betroffene erzählte ihm die Einzelheiten ihres Bruchs mit Ceccone ...

Dieser Elende! rief Benno ... Dann aber sprach er dumpf vor sich hin: Hätte ich – das geahnt! ...

Aber was hast du? fragte immer besorgter die Mutter ... Du rechnetest auf Olympiens Liebe –? setzte sie angstbeklommen, wenn auch lächelnd hinzu ...

Benno erröthete und erwiderte nichts ... In seinem Schweigen lag – ein aufrichtiges Ja! ...

Die Mutter stand mit bebenden Lippen vor ihm und hielt seine beiden Hände ...

Benno verhieß jede Aufklärung ... Jetzt sprach er von einem Freund, der ihn vielleicht bei dem jungen Fürsten Rucca schon angemeldet hätte ...

Ich Thörin! wehklagte die Mutter. Ich mistraute der Sicherheit unserer Briefe und schrieb dir nichts ...

Die Mutter wagte noch nicht von Lucinden zu sprechen ...

Benno wurde zerstreuter und zerstreuter ... Er schützte für eine vorläufige Entfernung das Suchenmüssen seines Freundes vor ... Dieser hatte bereits vor ihm eintreffen wollen ... Er erzählte nur noch einiges von Bonaventura's schwieriger Stellung, vom Dank, den sich sein Freund erworben durch die Befreiung einiger Opfer der Inquisition, von Bonaventu ra's Mistrauen in die ihm von Rom durch Lucinde und die Mutter gewordenen Mittheilungen über die Identität jenes Pilgers mit dem Eremiten Fra Federigo, der sich nach allgemein dort verbreiteter Meinung in den Kerkern der Inquisition zu Rom befinden müsse, von der bedenklichen Feindschaft Fefelotti's, die es indessen zu einer förmlichen Anklage durch die Congregazione de Vescovi e Regolari noch nicht hatte kommen lassen ...

Die Mutter wagte sich mit einigen ihrer Erfahrungen hervor ... Sie erzählte von Fefelotti ... Sie erzählte endlich auch – Lucindens Mitwissenschaft um das Geheimniß seines wahren Namens ...

Von dieser Seite konnte nur das Verhängniß kommen! erwiderte Benno mit den lebhaftesten Zeichen der Betroffenheit ...

That ich recht, mit einem solchen Dämon Frieden zu schließen? fragte die Mutter und las voll Angst in seinen Mienen ...

Gewiß! gewiß! sagte er fast abwesend ...

Er wollte gehen und den Freund suchen ... Offenbar kämpfte sein Inneres irgend einen gewaltigen Kampf ... Die Mutter sah es und wollte ihn nichts lassen ...

Als er dann aber doch gegangen war mit dem Versprechen, gegen Abend zurückzukehren, als sie in die letzte Umarmung die ganze Empfindung ausgeströmt hatte, die sie vorm Jahr nach ihrem: »Auf Wiedersehn!« in ihr Herz verschlossen und angesammelt, überfiel sie jenes Bangen, von dem wir selbst nach der mächtigsten Freude und dann ohne allen Grund erschreckt werden können. Salve! Salve! rief sie ihm zwar nach und ihres Orakels dankbar gedenkend. Aber nun wuchs das wiedereroberte Glück zu solcher Höhe, daß sie ein Schwindel ergriff. Ist es denn möglich, rief sie, sein Vaterland scheint nicht mehr dieser kalte Norden zu sein! Er spricht im Geist seiner Mutter, nicht blos so schön in den Lauten unserer Zunge! ...

Daß sie in dieser Seligkeit nicht lange verweilen durfte, machte sie weinen ... Was hat er mit Ceccone – was mit Olympien? ...

Zwei Stunden war er bei ihr gewesen ... Nun erst dachte sie allem nach, was er gesprochen ...

Er hatte politische Aeußerungen fallen lassen ... Er hatte nach einigen freisinnigen Namen, nach Lucian Bonaparte gefragt ... Himmel, rief sie, ich sollte erleben, daß ich eine Römerin werde wie die Mutter der Gracchen! Cäsar, Cäsar, ich bin nicht so stark wie Cornelia! Ich zittere vor Gefahren, in die du dich begibst ...

Was ist ihm nur verdorben durch meinen Bruch mit Ceccone –? grübelte sie ... Bedarf er eines so Mächtigen? ... Fühlt er sich nicht sicher? ...

Sie erschrak, daß er von einem Gang auf die österreichische Gesandtschaft als von etwas für seine Lage Ueberflüssigem sprach ... Er lehnte den Wunsch eines Zusammenhangs mit Deutschland ab ...

Nun drängte sich anderes in ihre Erinnerung an diese seligen zwei Stunden ... Wie sinnig hatte er das Pastellmedaillon des Herzogs von Amarillas betrachtet! ... Wie wehmuthsvoll umflorte sich sein Auge, als sie dies Medaillon öffnete und Angiolinens blutiges Haar hervorzog! ... Sie hatte ein geheimes Fach eines Schreibsecretärs aufgezogen und ihm Erinnerungen an Kassel, Schloß Neuhof, Altenkirchen gezeigt, die gefälschten Demissorialien, die Zeugenaussagen der Freunde Wittekind's ... Alle dem sprach er Worte voll Ernst und Charakter ...

Zuletzt nahm sie alles leichter ... Sein Lächeln war zu lieb und sicher gewesen ... Er hatte sie zu innig umarmt, zu oft an den Spiegel geführt und sich mit ihr verglichen; ihre Hände küßte sie an den Stellen, wo er sie geküßt hatte ... Sie fühlte ihre Jahre nicht mehr, sie gedachte ihrer grauen Haare nicht, sie liebte Benno mit dem Feuer eines Mädchens, das ein Abbild ihrer Träume gefunden ... Zu Lucinden hätte sie hinausfahren und ihr rufen mögen: Was willst du uns! ... Ueber Armgart, von der sie sogleich gesprochen, hatte sich Benno nur träumerisch ablehnend geäußert ...

Alle ihre Unruhe sammelte sich jetzt in der Sorge um ein würdiges Empfangen des Sohns für den Abend ... Er kam dann vielleicht mit seinem in Aussicht gestellten und vielleicht gefundenen Freunde ... Letzterer hätte drei Tage schon vor ihm in Rom sein sollen, hatte Benno erzählt und seinen Namen mehrmals genannt ... Daß sie ihn behielt, war von einer Italienerin nicht zu verlangen ... Auch Marco und die andern Dienstboten, die befragt wurden, ob wol jemand nach Baron d'Asselyno im Hause gefragt hätte, behielten ihn, obgleich ihn Benno auch ihnen nannte, nur unter dem Namen des vielleicht noch kommenden »Signore biondo« – des »blonden Herrn« ... Sonst schien man wegen eines so außerordentlich warm begrüßten Fremden wie Benno im Hause nicht zu neugierig ... Marco beherrschte sich ... Er war das Prachtexemplar eines italienischen Bedienten ... Schon in den Vor-Ceccone'schen Zeiten der Herzogin hatte er Abends ihren Kammerherrn, Vormittags die Scheuerfrau gemacht ... Jetzt sank er zwar nicht ganz zu dieser Vielseitigkeit herab, aber den Koch mußte er doch heute Abend mit dem Kammerherrn zu verbinden wissen ... Er versprach ein Souper herzurichten, wie es sich für eine Herzogin gebührte ... Die Mutter ordnete und schmückte die Wohnung und – sich selbst ... Das Haus war in Aufregung ... Una conoscenza della Padrona – aus Wien ... Wozu brauchte es weiterer Aufklärung ...

Das beste Zimmer der Etage bot einen Ausgang auf eine prächtige Altane – das Dach eines vorgebauten, niedrigeren Hauses ... Hier war die Plateforme mit riesigen großen Blumentöpfen bestellt, mit kleinen Orangen-, großen Oleanderbäumen ... Die geöffnete Thür ließ die Wohlgerüche der Pinciogärten in das einfache, heute doppelt sorgfältig geordnete Zimmer einziehen ... Noch wurden Teppiche auf die Stellen gebreitet, die die Blumenstöcke leer ließen ... Das die unschuldigste Nachahmung der »hängenden Gärten der Semiramis« ... Ein ungehinderter Fernblick zeigte ein Häusermeer, aus dem die Kirchen, Säulen und Obelisken, schon von der sinkenden Sonne beleuchtet und rosig verklärt, emporragten ... Die Luft noch wie frühlingsmilde ... Die Mutter hätte der Welt rufen mögen: Wo ist heute eine Festesfreude, wie bei mir! ...

Marco lief hin und her und kaufte ein ... Mag er ein wenig die Ohren spitzen, mag er sogar denken: Das ist wol gar der Vielbesprochene, um den die Fürstin Rucca so manche Tasse zerbrach und so manchen Teller an den Kopf der Diener schleuderte! ... So dachte sie ...

Aber nun: Was wird Olympia sagen! ...

Da stand sie beim Arrangement ihrer Blumen still und flüsterte: Wohl! Wohl! Was wird Olympia sagen! ... Mehr schon zu fassen und zu denken vermochte sie noch nicht ...

Benno kam dann rechtzeitig und noch vor dem Abend ...

Der Freund war nicht angekommen ... Er hieß Thiebold de Jonge – »Tebaldo«, wie man wenigstens den Vornamen behielt ...

Ist es wol der? fragte die Mutter und erzählte was sie von Lucinden über Armgart's drei Freier wußte ...

Benno zog die gelben Handschuhe aus, knöpfte den schwarzen Frack auf, strich den langen lockigen Bart, der auf die weiße Weste niederglitt, und sagte:

Es ist unwürdig, von Armgart in einem Augenblick zu sprechen, wo ich nur zu sehr verrathe, daß – ich bedauere, von Olympien vergessen worden zu sein ...

Wieder dasselbe Räthsel, wie heute früh ...

Die Mutter begriff diese Aeußerung nicht ... Aber sie wußte, daß die Aufklärung nicht fehlen sollte ... Jetzt hatte sie nur mit Benno's Person, mit dem Glück, ihn zu besitzen, zu thun und war wie eine Braut mit ihm ... Eine Braut ist in den ersten Tagen ihres Glücks ganz nur von stiller Prüfung und Beobachtung erfüllt, wie sich der Geliebteste in der ihm jetzt gestatteten engeren Vertraulichkeit des Umgangs ausnimmt; wie ihm die Berührung mit ihrem eigenen kleinen Dasein steht; wie ihre Blumen, ihre Bücher, ihre kleinen Pedanterieen am Nähtisch von ihm beurtheilt werden; wie in die tägliche Ordnung des Aelternhauses sein Wesen sich bescheiden oder vielleicht gar – o Wonne und Glück! – ihre aparten Ansichten über diesen Brauch und jenen Misbrauch den Aeltern gegenüber unterstützend fügt ... Wohl dem Bund, wo dann alles so still beklommen Beobachtete die Seligkeit des Besitzes mehrt, kein plötzlich ausbrechender Thränenstrom verräth, daß oft ein einziges, allzu sorglos hingeworfenes Wort den Cultus eines ganzen ersten Jugendlebens stürzt – Welten wie Spinneweben zerreißt ... Wohl dem Bund, wo die Harmonie der Herzen dann auch eine des Geistes und unsers irdischen, oft allerdings launisch bedingten Daseins wird! ...

Benno spöttelte immer noch gern und war nie ein – Zwirnabwickler, wie Armgart die Männer nannte, die sie nicht mochte. Aber »Mutter Gülpen« in der Dechanei hatte ihn doch ein wenig für die Schwächen der Frauen erzogen. Wo er mußte, fügte er sich dem Ton, den die Frauen lieben. Auch Gräfin Erdmuthe hatte nachgeholfen. Er kam so geschult, so rücksichtsvoll und artig, daß die Mutter ihre Freude hatte zu sehen: So nimmt er sich aus vor andern! So gleicht er – dem bösen Vater und so gleicht er ihm auch nicht! ... Das Haar unter dem großen Medaillon des mit Orden bedeckten weißlockigen Herzogs von Amarillas hatte er sich wieder betrachten zu dürfen erbeten ... Benno sah ebenso voll Wehmuth den Inhalt der Kapsel, wie mit Interesse das Bild des greisen Herzogs, der in jedem Zug den Spanier verrieth ...

Die Politik war in der That die Seele von allem, was Benno in längerer und ausführlicherer Erörterung sprach ... Er sah sich um, ob sie unbelauscht blieben ... Die Mutter führte ihn auf die nun dunkelnde Altane hinaus ... Hier war alles still ... Da saßen sie unter den duftenden Blüten ... Ihre Hände ruhten auf dem Schoos der Mutter ineinander ...

Benno's die Mutter außerordentlich überraschende Berührung mit den politischen Umtrieben der Jugend und den Flüchtlingen Italiens beruhte auf einem persönlichen Erlebniß ... Nachdem er seiner Fürsorge für Bonaventura's Gefahr noch einmal alles hatte berichten lassen, was die Mutter von Fefelotti vorgestern gehört, erzählte er es ...

Sein Grübeln über den Anlaß aller dieser Lebenswirren – es war Bonaventura's Schmerz um das traurige Geschick seines Vaters – unterbrach er fast gewaltsam ...

Er erzählte, daß er vorm Jahre mit den Depeschen des Staatskanzlers nach Triest und von dort zu Schiff nach Ancona gereist wäre – den kürzesten Weg, um Rom in Zeit von acht Tagen zu erreichen ... Auf diesem Dampfboot hätte er eine Bekanntschaft gemacht ... Ein hoher stattlicher Mann wäre ihm aufgefallen, ein Greis mit weißen Haaren, aber kräftigen dunkelgebräunten Antlitzes, eine Erscheinung, vor der die Bemannung des Schiffes ebenso wol, wie die Passagiere die größte, wenn auch etwas scheue Hochachtung bezeugt hätten ... Bald hätte er erfahren, daß dieser in einen grauen militärischen Oberrock, sonst in Civil gekleidete Mann einer der ersten Namen des Kaiserreichs wäre, Admiral der österreichischen Flotte, Francesco Bandiera Geboren 1780 in Venedig.... Italiener von Geburt, Venetianer aus den alten Geschlechtern, hatte Bandiera die angeborene Seemannsnatur zu Gunsten des Staates ausgebildet, dem ihn die Geschicke Europas nach dem Sturz Napoleon's zugewiesen ... Er hatte die kaiserliche Marine ebenso vervollkommnet, wie ihrer Geschichte Lorbern errungen – er befehligte die österreichische Fregatte »Bellona«, die noch vor kurzem ein englisches Bombardement von Saint-Jean d'Acre unterstützte ... Reisen nach Amerika hatte er gemacht und trug, wenn er sich in ganzer Repräsentation seiner Würde hätte zeigen wollen, die Brust mit Orden bedeckt – ...

Die Herzogin kannte die Lage dieses Mannes ... Sie wußte, warum sein Blick so traurig und die Ehrfurcht vor ihm so scheu gewesen sein mußte ...

Zwei seiner Söhne, bestätigte Benno, hatten die Loyalität des hochgestellten Vaters auf eine in Oesterreich mit Indignation, in Italien mit Jubel aufgenommene Weise compromittirt ... Attilio und Aemilio Bandiera standen als Marinelieutenants unter ihrem Vater. Wir geben nur Thatsachen. Mit dem Pistol in der Hand und im Bund mit einigen Verschworenen hatten sie sich das Commando der Fregatte »Bellona« erzwingen und mit ihr nach der Küste der Romagna segeln wollen, wo ein gleichzeitig organisirter Aufstand den Versuch einer Insurrection erneuern sollte, der schon einmal bei Forli und Rimini gescheitert war ... Bandiera selbst, der Admiral, ihr Vater, hatte sich damals den für einen Italiener zweifelhaften, für einen Oesterreicher achtbaren Ruhm erworben, die Trümmer der in Rimini und Forli gesprengten Insurrection – Louis Napoleon Bonaparte war unter den Entkommenen, sein älterer Bruder unter den Gefallenen – zur See vernichtet zu haben ... Aber der Ueberfall der Fregatte »Bellona« mislang ... Die beiden dem »Jungen Italien« affiliirten Söhne des Admirals entflohen ... Bandiera, vor dem Kaiserstaat in seinen Söhnen compromittirt, riß sich im ersten Anfall seines Schmerzes die Epauletten von den Schultern, band sich die goldene Schärpe ab, legte seine Würde nieder und begab sich nach seinem Landgut Campanede bei Mestre an den Lagunen Venedigs; er bekannte sich seiner Stellung für nicht mehr würdig ...

Die Herzogin kannte alle diese ergreifenden Vorfälle ...

Wohl kannst du denken, fuhr Benno fort, wie mich der Anblick dieses Greises erschütterte! ... Die markige Gestalt war vom tiefsten Schmerz gebeugt ... In die Wellen blickte Francesco Bandiera wie Jemand, der den Tod einem Leben ohne Ehre vorzieht ... Abgeschlossen hielt er sich von der ganzen Equipage des Schiffs ... Ich hörte flüstern, er wollte nach Korfu, wohin seine Söhne geflohen waren, wollte ihnen zureden, zurückzukehren, sich dem Kriegsgericht zu stellen, das sie ohne Zweifel zum Tode verurtheilen würde – er wollte sie ermuntern, sich der Gnade des Kaisers zu empfehlen und eine Gefängnißstrafe zu büßen, die vielleicht keine lebenslängliche war ... Auch ihm persönlich konnte dann noch vielleicht möglich bleiben, eine Stellung zu behalten, die er trotz seiner Jahre liebte ... Das Blut eines alten Seemanns fließt unruhig und geht nicht im gleichen Takt mit dem Leben auf dem Lande ...

Die Mutter verstand die Schwere eines solchen Schicksals und horchte ... »Eine Mutter«, sagte sie, »ist die Vorsehung ihres Kindes!« Das waren deine Worte, mein Sohn, als wir an Angiolinens Leiche standen! ... Ein Vater aber, fuhr sie fort, ist der Sohn selbst ... Das ist nur Eine Person mit ihm – Vater und Sohn, beide haben nur eine und dieselbe Ehre – ...

Benno seufzte ... Er verfiel auf Augenblicke in ein Sinnen. Nicht um den Kronsyndikus, wie die Mutter dachte ... Ebenso hatte Bonaventura gesprochen, der keine Ruhe mehr im Leben finden zu können erklärte, solange er wüßte, in einem Kerker der Inquisition schmachtete sein Vater ... Benno theilte die Ueberzeugung, daß Fra Federigo Friedrich von Asselyn war ... Er sah Conflicte kommen mit Friedrich von Wittekind, der ihn todt glauben mußte ... Sich aufraffend fuhr er fort:

Die Begegnung des Vaters mit seinen Söhnen schien eine Scene des höchsten Schmerzes werden zu müssen ... Ich betrachtete den gebeugten Helden mit jener Rührung, die das tragische Schicksal einflößt ... Doch gerade meinen Blick vermied er ... Es hatte sich herumgesprochen, daß ich als Courier für die Regierung reiste. Meine Tasche mit den Depeschen verrieth mich; Geheimhaltung war mir nicht anbefohlen worden ...

Benno war schon so auf die Weise des politischen Lebens in Italien gestimmt daß er den besorglichen Blick der Mutter wohl verstand ... Ein Courier mit österreichischen Depeschen ist in Italien nicht vor dem Tode sicher ...

Die Fahrt dauerte zwei Tage und zwei Nächte ... erzählte Benno. Die Küste der Romagna kam und verschwand wieder. Die hohen Apenninen sah das Fernrohr bald, bald verloren sich die zackigen, zuweilen schneebedeckten Höhen. Jenseits derselben lag Rom! ... Auf die Länge war nicht zu vermeiden, daß Bandiera mit mir in Gespräche verwickelt wurde. Er erkundigte sich nach meiner Heimat. Da er sie nennen hörte, sprach er von einem mir unendlich theuern Namen, der aus dortiger Gegend gebürtig ist. Den englischen Obersten Ulrich von Hülleshoven hatte Bandiera auf der Rückreise von Rio Janeiro, wohin er die Erzherzogin Leopoldine von Oesterreich als Kaiserin von Brasilien überführt hatte, in Canada kennen gelernt ...

Den Vater deiner Armgart! ... sagte die Mutter lächelnd ...

Benno erwiderte:

Du sahst wol an Lucindens Schilderung, daß diese Liebe mehr ein Gegenstand des Spottes als des Glückwunsches ist ... Schon hab' ich mich gewöhnt, sie wie meinen Stern des Morgenlands zu betrachten, dem die Lebensreise unbewußt folgt ... Ich hoffe um so weniger auf Erfüllung, als der Freund, den ich jeden Augenblick erwarte, ebenso leidet wie ich ...

Mein Sohn, sagte die Mutter voll Theilnahme, es gibt in der Liebe vielerlei Wege ... Die gerade Straße führt nicht immer zu dem was für uns bestimmt ist ... Hoffe! ...

Benno hielt einen Augenblick inne und schüttelte seine ihm fast auf die Schultern reichenden schwarzen Locken ... Nach einer Weile fuhr er fort:

Auf diese Mittheilung, die mich außerordentlich überraschte, wurde ich mit Admiral Bandiera vertrauter ... Daß der vom Staatskanzler mir gegebene Auftrag eine ganz zufällige Veranlassung hatte, schien ihn fast zu erfreuen ... Er faßte Vertrauen, als ich ihm sagte: Die Jugend des jetzigen Europa wächst in neuen Anschauungen auf! Zwei Offiziere, die ihren Eid brächen, könnte man freilich nicht entschuldigen; aber wie oft hätten auch die Völker und die Fürsten in diesen Zeiten ihre Eide brechen müssen! ... Nein, wallte er auf, ich schieße sie nieder, die Fahnenflüchtlinge, Verräther an ihrem Kaiser, ihrem Schiff, dem sie angehörten, dem Palladium ihrer Ehre! ... Die Erregung, mit der der greise Admiral diese Worte sprach, glich der des Brutus, der seine Söhne zu richten hat ... Dennoch könnt' ich erwarten, daß diese Reise nach Korfu, wo die Söhne ein Asyl bei den Engländern gefunden hatten, die Wendung der Versöhnung nahm. Ich bemitleidete den Greis, dessen Inneres von Folterqualen zerrissen schien ... Die Mutter nahm schon längst Partei für die Söhne ... Sie machte eine jener verächtlichen Mienen, von denen auch nur, wenn innerliche Abneigung sie ergreift, die Südländerin ihre Gesichtszüge entstellen läßt ...

Ihren Pahs! und Ehs! erwiderte Benno:

Ich rechnete zu des Paters Leiden die mir vollkommen ersichtliche Liebe und Theilnahme für seine Söhne ... Sie schienen die Augäpfel seines Lebens ... Beide Söhne waren der Stolz der Mutter, die nach Mailand geeilt war, um die Gnade des Vicekönigs anzurufen ... Sie hatte tröstende Versprechungen zurückgebracht, falls die Flüchtlinge reuig wiederkehrten ... Ja im Stillen gährte in des Alten Brust die Regung des geborenen Italieners. Er glaubte vollkommen an die Möglichkeit dieser Verirrung, schrieb er sie auch nur auf Rechnung der Verführung – Er, er wollte ihnen lieber die kaiserliche Kugel vor die Stirn brennen lassen, rief er aus, als sie mit diesen Mordbrennern und Mördern in London, Malta, Korfu, wo die Junten des »Jungen Italien« säßen, Hand in Hand gehen zu sehen – Bald jedoch setzte er hinzu: Dort suchen und finden sie die Kugel sichrer, als wenn sie nach Venedig zurückkehren, ihren Richtern sich stellen und ihr Schicksal der Gnade des Kaisers empfehlen! ... Was thun solcher Jugend, fuhr er wie – ein Italiener zu calculiren fort, ein paar verlorene Jahre? Bis dahin ändert sich vieles. Aemilio, mein jüngerer, ist kräftig; Attilio, der ältere, zarter – erst dreiundzwanzig Jahre alt ...

Das Auge der Herzogin leuchtete hell auf ... Ihr Herz schlug für die jungen Flüchtlinge, die zu jenem Bunde gehörten, von dem zwölf Logen auch in Rom wirken sollten – zu jenen Verschwörungen, um derentwillen Fefelotti und Ceccone scheinbar Frieden geschlossen ... Nur blieb sie besorglich gespannt ... Wie konnte diese Begegnung Veranlassung sein, daß Benno so plötzlich nach Rom kam und sogar, wünschen konnte, Ceccone und Olympien wieder zu begegnen ... Ihre Augen, die wie glühende Fragezeichen auf dem sonnenverbrannten Antlitz des Sohnes hafteten, sprachen: Was willst du mit alledem? ...

Mutter, sagte Benno liebevoll, ich gestehe dir's, ich habe bei allen diesen Beziehungen nur an dich gedacht, habe aus deinem Sinn heraus darüber geurtheilt – du hattest mich schon in Wien zum Italiener gemacht ...

Divino! flüsterte die Herzogin und küßte Benno's Stirn ...

Benno drückte ihre Hand und fuhr fort:

Ich empfand Mitleid mit dem Vater und den Söhnen ... Auch die Söhne schienen ihren Vater zu lieben und die Schande vollkommen zu erkennen, die sie ihm bereiteten ... Er erzählte die rührendsten Züge ihrer Anhänglichkeit ... Wie erkannt' ich das schöne Band, das einen Sohn an seinen Vater fesseln kann – wie den Schmerz, nicht mit ihm dieselbe Bahn gehen zu dürfen! ... Ich vergegenwärtigte mir den Mann, dessen Namen auch wir tragen sollten und sagte mir: Hättest du ihn im Leben zur Rechenschaft fordern dürfen, wer weiß, ob sein Anblick dich nicht entwaffnet hätte ...

Orest tödtete seine Mutter! wallte die Herzogin auf ...

Aber die Furien verfolgten ihn! entgegnete Benno ...

Ein unheimliches Brüten trat in die Augen der Herzogin ... Sie schien sich auf die Momente Wittekind's zu besinnen, von denen sie selbst erzählt hatte, daß sie bestrickend sein konnten ... Sie brütete, ob sich Benno etwas daraus machen würde, sich mit der Zeit einen Wittekind zu nennen ... Fefelotti konnte mit einem Federstrich ihre Ehe legitimiren ... Für wissentliche und unwissentliche Bigamie gab es in Rom dicht an der nächsten Straßenecke die officielle Entsühnung ...

In Ancona nahm ich Abschied von dem greisen Helden, fuhr inzwischen Benno fort. Obgleich das Schiff einen Tag rastete, blieb der Admiral auf seinem Elemente. Anconas Thürme schreckten ihn. Er hatte die Fahne des »Jungen Italien« auf ihnen gesehen. Er hatte die Flüchtlinge von Forli und Rimini aufgefangen und an die Kerker des Spielbergs ausgeliefert ... So lohnte ihm die Nemesis ... Er drückte meine Hand, ermahnte mich, wenn ich Aeltern hätte, ihnen Freude zu machen, empfahl sich dem Obersten von Hülleshoven und zeigte nach Südost, zu den jonischen Inseln hinüber. Die Heimat des Ulysses! sagte er ... Ihm würde keine Ruhe mehr werden, deutete er damit an. Er wollte seiner Weinreben in Campanede warten. Der Gedanke an seine Gattin, die Mutter dieser geliebten Söhne, füllte sein Auge mit Thränen ...

Die Herzogin machte eine Miene, als wollte sie sagen: Ah bah! Was hilft das uns! Kümmere dich nicht um ihn! ...

Ich erlitt in Ancona eine Verzögerung, fuhr Benno fort, weil gerade damals Grizzifalcone den Weg nach Rom besonders unsicher machte ... Der Eilwagen fuhr in Begleitung eines Detachements Carabiniers ...

Ueber den Angriff bei Olympiens Hochzeit, über die Gefahr der Mutter, den Tod des Räubers hatten sich die Briefe genugsam ausgesprochen ... Dennoch kam Benno mit neuem Bedauern darauf zurück ... Dafür kürzte er die Schilderung seines Aufenthalts in Rom ab, der bis zum Carneval und bis zur Ankunft der Mutter gedauert hatte ...

Da entflohst du wieder! ... sagte sie. Bereitetest meiner Sehnsucht die schmerzlichste Enttäuschung! ... Nun ich von deiner Liebe zu Armgart weiß, versteh' ich es – und alles das nennst du deutsch! Deutsch ist euch die Ehrlichkeit –! ... Dein Vater war nun auch ein Deutscher und dennoch – Doch fahre fort! ... Ich ahne – sagte die Mutter mit zagender Stimme – du lerntest die Gebrüder Bandiera selbst kennen ...

Ich ging nach dem Süden, sprach Benno mit bejahender Miene, sah Neapel, schwelgte in Sorrent, kletterte über die Felsen Capris und Ischias, lernte die Sprache des Volks, die eine andere als die der Grammatik ist, und reiste nach Sicilien ... Ich machte die Reise mit einigen Engländern, die ich in Sorrent kennen gelernt hatte im Hause der Geburt Tasso's ... Wir stimmten beim Anblick einer alten Bronzebüste des Dichters überein, daß nach diesem Abbild Tasso die häßlichste Physiognomie von der Welt gehabt haben müßte und dadurch seine Stellung zu Leonore d'Este eine neue und komische Beleuchtung erhielte ... Ich blieb mit diesen heitern Engländern zusammen ... Wir reisten nach Palermo ... Dort besuchten wir ein englisches Kriegsschiff, das im Hafen lag ... Wir dinirten am Bord desselben; köstlicher und fröhlicher, als ich seit Jahren auf dem Lande gelebt ... Der Wein floß in Strömen ... Die Engländer meiner Bekanntschaft waren mit dem Kapitän von der Schule zu Eton her bekannt ... Am Tisch saßen zwei junge Männer, Italiener, die bei dieser ausgelassenen Schwelgerei die Zurückhaltung und Mäßigkeit selbst waren ... Sie sprachen Deutsch und Englisch, waren bildschön, hatten Augen von einem glühenden und doch wieder so milden Feuer – ...

Wie du! unterbrach die Mutter wie mit dem Ton der Eifersucht ... Sie weidete sich an Benno's Anblick, der ein edler und männlicher war ...

Sage, wie – verkleidete Angiolinen! ... entgegnete Benno ... Die Söhne Bandiera's waren wie Castor und Pollux ... Redete man den einen an, so erröthete statt seiner der andere ... Nach Tisch wurde auf dem freien Element bei einem Sonnenschein, der alle Herzen der Menschen mit Liebe und Versöhnung hätte erfüllen sollen, politisirt ... In der Ferne lag das rauschende wilde Palermo mit seinen Kuppeln und Thürmen; sein Kauffahrteihafen mit Hunderten von Masten; das englische Kriegsschiff mit achtzig Kanonen lag dicht am Castell und diente zur Unterstützung einer Differenz des englischen Leoparden mit der Krone Neapels Die bekannte »Schwefelfrage«.... Dicht lag es an dem abgesonderten Festungshafen Castellamare ... Ich erzählte den Brüdern meine Begegnung mit ihrem Vater und fragte nach dem Resultat ... Sie sehen es, sagten beide zu gleicher Zeit und zu gleicher Zeit füllten sich beider Augen mit Thränen ... Abwechselnd, wie nach Verabredung und doch nur infolge ihrer guten Erziehung und brüderlichen Eintracht, sprach immer der eine und dann erst der andere. Ihr Gemüth schien ein einziges Uhrwerk zu sein. Was auf dem Zifferblatt der eine zeigte, schlug mit dem Glockenhammer der andere ... Sie erzählten, daß sie wol gewußt hätten, welchen Kummer sie dem Vater und der Mutter bereiteten und wie sie des erstern ehrenvolle Laufbahn unterbrächen. Sie hätten aber schon lange keinen freien Willen mehr. Einmal eingereiht in den Bund des »Jungen Italien« müßten sie vollziehen, was ihnen befohlen würde. Die Befehle kämen von London, Malta und Korfu. Nur durch diese blinde Unterwerfung und gänzliche Gefangengabe seiner eigenen Persönlichkeit könnte eine große Zukunft erzielt werden. Italien müßte frei von den Fremden, frei von seinen eigenen Unterdrückern, müßte einig werden und eine große untheilbare Republik. Ich mochte, weil dieser Wahn zu eingewurzelt schien, ihn nicht bekämpfen ...

Wahn? unterbrach die Mutter. Glaubst du, daß diese Ceccones, diese Fefelottis so zittern würden, wenn sie solche Hoffnungen für Wahn hielten? ... Alle Cabinete Italiens fürchten sich vor diesen beiden Jünglingen ...

Die Republik, sagte Benno, ist nur möglich für Völker, die in dieser Staatsform eine Erleichterung für ihre übrige tägliche Sorge, für eine vom Gewinn oder von der Furcht gestachelte einzelne Hauptthätigkeit ihres geselligen Verbandes finden. Sie ist möglich bei einem Volk, das in der Lage ist, sich täglich vertheidigen zu müssen, wie die Republiken Griechenlands; sie ist bei leidenschaftlichen und den Erwerb liebenden Ackerbauern, wie in der Schweiz, bei leidenschaftlichen Industriellen, wie in den Niederlanden und in England, bei Handeltreibenden, wie in Holland und Amerika möglich. Jede Nation aber, die sich Zeit zum Träumen lassen darf, die nichts erzielt, nichts hervorbringt, Nationen, wie sie Südamerika, Spanien, Italien, selbst Deutschland bietet, sind unfähig zur Republik ...

Die Herzogin erwiderte:

Der Italiener liebt den Gewinn mehr, wie Einer ...

Italien sind nicht die Gastwirthe! entgegnete Benno und wollte dem Thema ausweichen ...

Die Mutter aber hielt es fest und sah in Italien die Republik unter dem Schutz eines verbesserten Papstthums wieder aufblühen ... Rom beherrscht noch einmal die Welt! sagte sie. Das erhöhte, zur wahren Capitale der Christenheit erhobene Rom! ...

Mit oder ohne Jesuiten? ... fragte Benno ironisch ...

Ein spanischer Jesuit lehrte, es sei erlaubt, Tyrannen zu morden ...

Ketzerische Tyrannen! ...

Marco hatte sein Souper beendigt, hatte sich in seinen schwarzen Frack geworfen und ging lächelnd und schmunzelnd wie ein alter Hausfreund drinnen im Salon auf und ab ...

Mutter und Sohn mußten schweigen, weil der Alte näher kam, auf die Blumenterrasse durch die halbgeöffnete Thür blickte und fragte:

Altezza werden nicht mehr auf den Corsofahren –?

Marco that, als wäre es ganz in der Ordnung, wenn man hier jeden Abend ein gewähltes Souper fand ...

Hier ist unser Corso –! sagte die Mutter ...

So will ich die Pferde ausspannen lassen ... blinzelte Marco und ging ...

Die Pferde waren gar nicht angespannt gewesen ... Ein Miethkutscher in der Nähe lieferte sie nach Bestellung ... Wurden sie nicht bestellt, so war es eine kleine Ersparniß ...

Benno, der diese kleinen Manöver, die Marco machte, um die Armuth seiner Gebieterin zu verbergen, mit Rührung bemerkt hatte, lenkte, da die Herzogin den Nachtimbiß noch etwas verschieben zu wollen Marco nachgerufen hatte, wieder auf seine Erzählung ein ... Er schilderte den Eindruck, den ihm die Brüder Bandiera gemacht hätten, als einen so nachhaltigen, daß er seit jenem Besuch des Kriegsschiffs in den Interessen dieser jungen Männer wie in denen seiner ältesten Freunde lebte ... Ich habe, sagte er, an jungen Bekannten Deutschlands die gleichen Stimmungen und Ueberzeugungen oft bespöttelt und ihnen keine Lebensfähigkeit zugestanden; aber selten auch fand ich einen idealen Sinn in solcher Reinheit, eine dem Unmöglichen zugewandte Ueberzeugung so fest und als selbstverständlich aufrecht erhalten. Diese Brüder hatten sich ebenso zu Kriegern wie zu Gelehrten gebildet. Sie sprachen von den Wurfgeschossen bei Belagerungen mit derselben Sachkenntniß wie von Gioberti's Philosophie. Sie hatten Ugo Foscolo, Leopardi, Silvio Pellico, alles, was die Censur in Oesterreich verbietet, in ihr Lebensblut aufgenommen und bei alledem blieben sie Jünglinge, die wie aus der Märchenwelt gekommen schienen. Daß sie sich unter den Eindrücken der See, der rohen Matrosen, des zügellosen Hafenlebens so rein hatten erhalten können, sprach für die Mutter, die sie bildete, für die strenge Mannszucht, die der Vater übte ... Den Aeltern, sagten sie, hätten sie Lebewohl sagen müssen für diese Erde ... Der Vater hätte sie anfangs begrüßt wie – Schurken. Geschieden wäre er von ihnen wie ihr Bundsgenosse. Er wohne jetzt zu Campanede wie ein Sklave, der nur schon zu alt wäre, noch seine, Fesseln zu brechen. Die Mutter würde ihm die Freude an seinen wenig genossenen Blumen und Früchten versüßen und ihn von seinen jungen Tagen erzählen lassen, da sie fünfundzwanzig Jahre mit ihm verheirathet wäre und nicht fünf Jahre ihn besessen hätte. Mögen Venedigs Gondeln, sprach Attilio, mit ihren geputzten Sonntagsgästen, mit ihren Stutzern und Damen unter leuchtenden Sonnenschirmen, an Mestre vorüberfahren und auf Campanede's kleine Häuser deuten, wo ihr Vater wohne – sie würden nicht lachen, sie würden ihm – um ihretwillen stille Evvivas bringen ...

Ha ragione! sagte die Mutter fest und bestimmt ... Sie hatte keine Theilnahme für den Vater, sondern nur für die Mutter und die Söhne ...

Doch wollte sie diese nicht als Märtyrer, sondern als Sieger sehen ... Die Rosse sollten ihnen vom Schicksal so wild und stolz gezäumt werden, wie den olympischen, die sich drüben auf dem Monte Cavallo aus des Praxiteles Hand bäumten ... Diese Evvivas, sagte sie, werden bald laut werden und Sieg bedeuten! ...

Benno zuckte die Achseln ... In seinen Mienen lag der Ausdruck des Zweifels ... Es lag aber auch der Ausdruck der Kämpfe in ihnen, die schon lange in seinem Innern vor sich gingen ... Er war nie ein Ghibelline gewesen im Sinn der Bureaukratie Deutschlands wie sein Bruder, der Präsident – aber ein Welfe zu werden, wie etwa Klingsohr, Lucinde, andere Abtrünnige, widerstand ihm ebenso ... Der Mutter konnte er seine irrenden Gedankengänge nicht mittheilen ... Er erzählte nur ...

Zunächst berichtete er, wie er die Brüder auf dem Kriegsschiff täglich besucht und mit ihnen politisirt und philosophirt hätte, bis das Schiff die Anker lichtete und nach Malta segelte ... Später, als die Hitze in Sicilien und bei seinen Wanderungen auf den Aetna zu unerträglich geworden, wäre auch er ihnen nach Malta gefolgt; er hätte sie auf dem felsigen Eiland mitten unter den für sein Gefühl zweideutigen Elementen der emigrirten Verbannten wiedergefunden wie zwei Engel des Lichtes ...

Schreckhaft, fuhr er in seiner Darstellung fort, war die Seefahrt selbst ... Nach Tagen der drückendsten Hitze sprang das Wetter um und ich erlebte einen Sturm. Die Küste Siciliens wurde ein einziger Nebelball. Das dunkelgraue, bald nur noch einem weißen Gischt gleichkommende Meer wälzte sich wie von einem unterirdischen Erdbeben gehoben. Das Schiff, ein englischer Dampfer, sank und stieg, wie von geheimen Schlünden ergriffen, die es bald hinunterzogen und wieder ausspieen. Jeder Balken ächzte. Der Regen floß in Strömen. Das Arbeiten der Maschine mehrte unsere Beklemmung, die den Untergang vor Augen sah. Schreckhaft, wenn nur immer die Räder der Maschine hochauf ins Leere schaufelten – man fühlte dann die furchtbare Gewalt des Dampfes, der keinen Gegenstand fand und die Esse hätte sprengen müssen. Aber in diesem Toben und Rasen des Sturms und des Wassers erkennt man die allgemeine Menschenohnmacht und ergibt sich zuletzt – fast wie der Träger einer Schuld, die gleichsam unser Vorwitz schon seit Jahrtausenden gegen die Natur auf sich geladen hat. Auf dem engen Lager der Kajüte hingestreckt, erfüllte mich zuletzt Seelenruhe, auch wenn in der Nacht das Schiff auf ein Riff oder ein ihm begegnendes Fahrzeug geschleudert worden wäre. Der Tod infolge einer Naturnothwendigkeit hat, wenn man sich daran zu gewöhnen Zeit bekommt, nichts Schreckhaftes mehr ... Ich erzähle das alles, weil Aemilio Bandiera ganz ebenso vom Segeln auf den Wogen der Zeit sprach ...

Die Mutter machte alle möglichen Zeichen der Abwehr und des Protestes gegen eine solche Ergebung in das Unglück ... Mitgefühl und Aberglaube lagen auf den gespannten Zügen ihres Antlitzes, das jedesmal, wenn eine edle Leidenschaft es erregte, einen lichtverklärten Anhauch ehemaliger Schönheit erhielt ...

Attilio setzte hinzu, fuhr Benno fort, bei solchen Schrecken stünden soviel unsichtbare Engel zur Seite und fingen den Streich der Nothwendigkeit auf und soviel, Tausende riefen: Uns ging es ja ebenso! ... Oft, wenn ich mit den Brüdern auf dem Molo von La Valette spazieren ging, rings das weite Meer wie nach beruhigter Leidenschaft in lächelnder Majestät lag, wenn ich mich in allem erschöpft hatte, was die Geschichte und die gesunde Vernunft gegen die italienische Form, die Freiheit der Völker zu erringen, lehrten – antworteten sie: Das mag auf euch passen, aber nicht auf uns! Und auch auf euch paßt es nur den Männern, nicht der Jugend! Die Jugend und ein unreifes Volk folgen der Ueberlegung nicht, sondern dem Instinct. Wir wissen, daß unsere Einfälle, die wir da oder dort in das Erbe der Tyrannen machen, noch scheitern müssen. Aber weit entfernt, daß sie darum dem Spott unterliegen, lassen sie immer etwas zurück, was dem nächstfolgenden Versuch zugute kommt. Immer ist wenigstens Ein heroischer Zug, Ein überraschender kleiner momentaner Erfolg vorgekommen, der dann für den nächsten Versuch ermunternd wirkt; man hatte ein Schiff, einen Thurm erobert, es waren einige der Gegner gefallen – Wenn Sie Recht haben sollten, daß die Freiheit immer nur eine Folge eines andern historischen großen Impulses ist – wie Graf Cesar Balbi lehrt, der für Italien erst den Untergang des osmanischen Reichs als erlösend betrachtet – so muß für eine solche möglicherweise eintretende Krisis die Gesinnung vorbereitet sein. Wir müssen diese Aufstände, so nutzlos sie scheinen, nur allein der Anregung wegen machen. Sie werden noch lange Jahre hindurch scheitern, manche Kugel wird noch die Besiegten mit verbundenen Augen in den Festungswällen niederstrecken, manches Haupt wird auf dem Henkerblock fallen: das thut nichts; alles das hält nur die Frage wach und bereitet vor für ihre künftige Entscheidung ...

Die Mutter horchte voll Grauen ...

Als ich entgegnete: Lehrt durch Schriften und Gedanken! – lachten beide und erwiderten: Italien und ein Kind begreifen nur durch Beispiele! Der Buchstabe, Dank der langen Beschränkung desselben, kommt unserm ungebildeten, wenn auch geistesregen Volk nicht bei; hier will man sehen, hier mit Händen greifen, die Wundenmale berühren! Von den Jesuiten erzogen, wird dies Volk belehrt, daß die Patrioten lächerlich und schwach wären. Aber das Beispiel eines Aufstands in Genua oder Sicilien oder in der Romagna muß deshalb auf einige Tage das Gegentheil beweisen. Italien bewundert Räuber um ihres Muthes willen! ergänzte Attilio. Was ist der Tod! fiel Aemilio, der jüngere, wieder ein. Schreckhaft nur, wenn man im Leben Dinge verfolgt, die sich ausschließlich an unsere eigene Person knüpfen. Aber schon der Krieger gewöhnt sich und sogar im Frieden durch die Tausende, die mit ihm in gleicher Lage sind, von seinem Ich als einem völlig Gleichgültigen zu abstrahiren. Einer da mehr oder weniger – wen darf das schrecken! Vollends, sprach der ernstere und ruhigere Attilio, wenn man die Philosophie zu Hülfe nimmt! Die Erde ist ein Atom im Weltgebäude; diese Luft, diese Gestirne, diese Welten, diese Bäume, diese Menschen sind nur Schatten eines andern wahren Seins, das mit unzerstörbarer Göttlichkeit über dieser Welt der flüchtigen Erscheinungen thront! ...

Die Herzogin erhob sich, überwältigt von den angeregten Empfindungen ... Sie wollte, wenn von Italien die Rede war, nur vom Siege, nur von Kränzen des Triumphes hören ... Der Tod ist nur für die Feigen da, für die Tyrannen! rief sie ...

Auch Benno war in höchster Erregung aufgestanden ... Auch durch seine Adern pulste das Blut in mächtigerer Strömung ... Nach einigen Gängen hin und her auf der dunkelgewordenen Altane beruhigte er sich und fuhr leiser sprechend fort:

Ich blieb länger auf Malta als meine Ueberlegung hätte gestatten sollen ... Die liebenswürdigen jungen Männer, mit denen ich auch über Deutschland, über unsere Dichter und Denker so gut wie über Italien sprechen konnte, fesselten mich zu lebhaft. Ich wußte nicht, um was ich sie mehr lieben sollte, ob um ihrer Freundschaft und brüderlichen Eintracht willen oder um einen sich so bewundernswerth ruhig gebenden Fanatismus. Was nur Schönes in der Menschenbrust leben kann, das hatten diese Jünglinge sich zu erhalten und auszubilden gewußt. Die Schilderung der Sternennacht auf den Lagunen Venedigs, in der sie nach ihrer von London erhaltenen Weisung beschließen mußten, zu Verräther an ihren nächsten Lebenspflichten, an ihres Vaters Ehre, an ihrer eigenen, am Herzen der Mutter zu werden, war erschütternd – Sie erzählten, daß sie unschlüssig gewesen wären, ob sie sich nicht selbst erschießen sollten ... Ich nannte im Gegentheil das Martyrium unserer Zeit: Sich dem nicht entziehen, worauf uns Geburt, Stellung und das Vertrauen der Menschen angewiesen haben! ... Möglich, daß ich dies Axiom zu sehr von Priestern entnahm, die unter dem Druck ihrer Gelübde leben müssen und sie nicht brechen wollen – aus Furcht, einer Sache zu schaden, die sie in ihrem Wesen lieben ... Mit einem Wort – ich ließ ein Herz voll Freundschaft in Malta zurück ... Auch voll Dankbarkeit ... Das felsige Eiland fesselte mich mit seinen geschichtlichen Erinnerungen länger, als ich hätte bleiben sollen; bald bildeten sich unter den Flüchtlingen zwei Parteien; eine, die das Vertrauen der Brüder Bandiera zu mir theilte, eine andere, die mich für einen Spion erklären wollte. Meine Kurierreise von Wien war bekannt geworden und sprach gegen mich. Ich fing an mich vertheidigen zu wollen und, wie in solchen Fällen es geht, verwickelte mich dadurch nur desto mehr. Ich fürchtete Concessionen zu machen, die über mein noch nicht reifes Nachdenken über diese Fragen hinausgingen. Die Mischung der Charaktere, die ich antraf, war abenteuerlich genug. Kaum waren reine und consequente Gesinnungen unter Menschen vorauszusetzen, unter denen ein wankelmüthiger, schwacher, aus Furcht vor seiner Schwäche wieder tückisch gewaltsamer Mensch wie Wenzel von Terschka eine Hauptrolle zu spielen scheint ...

Auch Pater Stanislaus war zugegen? ... wallte die Mutter erschreckend auf ...

Nicht in Person – er dirigirt von London aus ...

Wo er dein Nebenbuhler ist – ...

Lucinde hat dich gut unterrichtet! ... sagte Benno ... Da sprach sie sicher auch von Thiebold de Jonge? ...

Auch von ihm ...

Thiebold wurde die Ursache, daß ich endlich von Malta und den immer bedenklicher gewordenen Verpflichtungen aufbrach ... Mein Freund war nach Italien gekommen und wartete auf mich in Robillante ... Wenn ich dir die Versicherung gebe, daß Thiebold de Jonge zwar das närrischste Italienisch spricht, aber das beste Herz von der Welt und eine Freundschaft für mich hat, wie sie nur die Brüder Bandiera gegeneinander besitzen, so wirst du mir vergeben, wenn ich ihn zum Vertrauten – meiner ganzen Lebenslage gemacht habe ...

Die Mutter horchte auf ...

Noch mehr! fuhr Benno fort. Ich habe nur im vollen Einverständniß mit ihm gewagt hierher zu reisen und einen Plan zu verfolgen, der – mir – eine Sache des Herzens war ... Indessen – jetzt ...

Welchen Plan? fragte die Mutter, noch immer der letzten Aufklärung harrend ...

Marco meldete sich im Eßzimmer mit dem Geklapper seiner Anrichtungen ...

Benno sprach leiser:

In so hastiger, völlig unüberlegter Eile hat mich die Freundschaft für die Brüder Bandiera hergeführt ... Nachdem ich Malta verlassen, blieben sie mit mir im Briefwechsel ... Ich kann sagen, es sind die ersten Männer, die mir im Leben nächst meinem Freund Bonaventura imponirten. Selbst wo ich ihre Ansichten verwerfen muß, rühren sie mich. Ich ordnete mich ihnen schon in Sicilien unter ... Ich möchte diese herrlichen Jünglinge ebenso meinem Leben, wie dem Leben der Menschheit erhalten; ich möchte sie dem Vater, der Mutter erhalten, ihnen, die zwar äußerlich tief gebeugt und voll Demuth an den Ufern der Lagunen wandeln, innerlich aber doch ihren Stolz auf »die Knaben« behalten haben – ... Mein Gott! Die Stunden der armen Unglücklichen sind gezählt – ...

Wie? Warum? ... rief die Mutter ...

In wenig Wochen vielleicht schon – flüsterte Benno ...

Ein Aufstand?! fuhr die Mutter empor und hielt Benno's Hand mit ihrer eigenen krampfhaft ausgestreckten Rechten ...

Ein umfassend vorbereiteter! sprach Benno leise ... Es gilt Rom selbst! Der Herrschaft Ceccone's! Der Einschränkung dieses freiheitsfeindlichen Papstes ... Man erwartet Mazzini in Genua, Romarino in Sardinien, erwartet einen Aufstand in Sicilien ... Die Brüder Bandiera sind von Malta aufgebrochen ... Sie ließen zweifelhaft, wohin sie gingen ... Einige ihrer Freunde waren weniger gewissenhaft ... Sie dirigirten Flüchtlinge, die über die Alpen aus der Schweiz kamen, nach Robillante ... Unter mancherlei Gestalten, als Pilger, als Mönche reisen sie vorzugsweise nach der adriatischen Küste der Romagna ... Dort, bei Porto d'Ascoli, dort, wo seltsamerweise jener Pilger und der deutsche Mönch verschwunden sind, soll alles vorbereitet sein zu einem Handstreich ... Die Brüder Bandiera werden eine Landung befehligen ... Ancona, Ravenna, Bologna werden von den Verschworenen an einem und demselben Tage überfallen werden ... Der Erfolg kann meiner Ueberzeugung nach kein glücklicher sein ...

Warum nicht? rief die Mutter.

Die Brüder werden in die Hand Ceccone's fallen ....

Nimmermehr! ...

Sie werden das Schaffot besteigen ... Die Führer all dieser Aufstände des »Jungen Italien« sollen, das ist die gemeinschaftliche Verabredung der betheiligten Cabinete, auch des Cabinets der gekreuzten Himmelsschlüssel, den Tod durch Henkershand erleiden ...

Jesu Maria! rief die Mutter ...

Ich sehe diese edeln Jünglinge das Schaffot besteigen! ... Das ist die Angst, die mich nach Rom geführt hat ...

Die Mutter stürzte an den Hals ihres Sohnes ...

Nun hatte sie die Ursache, warum Benno wünschte, sie wäre bei Olympien und – Olympia begrüßte ihn noch mit ihrer frühern Neigung ...

Benno hatte gehofft, so den Brüdern Bandiera das Leben retten zu können ...

Marco! Einen Augenblick! Laß doch! Laß doch! rief die Mutter in den Salon und warf die Glasthür zu ...

Als sie mit Benno auf der Altane abgeschlossen war, warf sie sich ihm wiederum mit Ungestüm an die Brust ...

Ich Olympien zürnen! sprach sie. Nimmermehr! Wenn du ihrer bedarfst, so hab' ich nichts von ihr erduldet! Laß sie mich mit Füßen getreten haben – wenn sie dich nur liebt, wenn sie deinen Wünschen nur Erhörung gibt – Jesu Maria, nur diese Söhne Italiens vor dem Henkersschwert bewahrt ...

Benno stand gedankenverloren ...

Die Mutter fuhr fort:

Ich weiß es, Ceccone brütet furchtbare Dinge ... Er muß es thun ... Fefelotti, das Al Gesù, der Staatskanzler, seine eigene Liebe zur Macht treiben ihn dazu ... Aber – sei ruhig, mein Sohn! ... Laß Olympien in deinen Armen ruhen! Laß sie die Hände zu deinem stolzen Nacken erheben ... O sie sind zart, diese Hände ... Sie mordeten – nur Lämmer ... Olympia ist ein Kind! Noch jetzt! Noch jetzt! ... Vielleicht, daß du, du sie zum Guten erziehst! Vielleicht, daß du mit deinem Liebeskuß das Eis ihres Herzens aufthaust! ... Sie kann schön sein, wenn sie liebt! sagt' ich dir schon in Wien ... Sie kann vielleicht auch gut sein, wenn sie liebt! ... Mein Sohn, habe Muth, vertraue! Wir Frauen sind alles, was ihr aus uns macht! ... Fliege hin zu ihr, höre das Jauchzen ihrer gestillten Sehnsucht, fühle die Glut ihrer Zärtlichkeit, sei, sei, was sie will –! ...

Es ist zu spät –! erwiderte Benno ...

Um meinetwillen zu spät? fuhr die Mutter fort und raunte ihm ins Ohr: Ich beschwöre dich ... Ich habe dich hier nie als einen Rächer für mich erwartet ... Pah! Attilio Bandiera hat Recht: Was sind unsere Personen! ... Das Vaterland ist die Losung ... Sollen diese Jünglinge, deine Freunde, die Hoffnungen Italiens verderben –? ... Nimmermehr! ... Ein Kuß von deinem Munde und Olympia zerreißt alle Todesurtheile! ...

Benno strich sich das Haar in wildester Erregung ... Seine Augen glühten ... Seine Brust hob sich ... Der Raum der Altane war zu eng für das mächtige Ausschreiten seines Fußes ...

Ist es denn aber auch gewiß, fragte die Mutter leise, gewiß, daß diese Invasion bevorsteht? ...

Die Küste der Adria ist reif zum Aufstand! flüsterte Benno ... Die Zollbedrückungen Rucca's sollen unerträglich sein ... Die achtbarsten Kaufleute arbeiten der Insurrection in die Hände ... Und hier in Rom –

Zwölf Logen gibt es hier! ... fiel die Mutter ein ...

Benno schwieg ... Er schien mehr zu wissen, als er sagte ...

Die Brüder Bandiera, fuhr die Mutter fort, sind, wenn ihr Beginnen scheitert und sie nicht fallen oder entfliehen können, nicht anders vorm Tode zu retten, als durch Olympia ... Ich weiß es, selbst die Hand des Heiligen Vaters scheut das Blut der Rache nicht mehr für die, die die dreifache Krone antasten – Auch das zweischneidige Schwert Petri ist gezückt – Laß alles! Geh' zu dem jungen Rucca! Verständige dich mit deinen wiener Freunden – Auch mit Lucinden! Kenne mich nicht mehr in Rom! ... Ich verlange es! ...

Benno stand, immer in dumpfes Brüten verloren ...

Ich verlange es! wiederholte die Mutter ... Weiß ich dich nur in meiner Nähe! Kann ich deine Stirn nur zuweilen küssen! ... Laß mich, mein Sohn – Du fühlst wie ein Sohn meines Landes! Das macht mich allein schon glücklich! Benno – Soll ich so dich nicht lieber nennen – nicht Cäsar? ... Wage du dich nicht selbst an Dinge, die mich um das Glück deiner Liebe bringen müssen ... Oder – doch? ... Thu, wie du mußt! Nur geh' morgen zum jungen Rucca, den du – in Wien vorm Tode durch einen Elefanten rettetest ... Dein Name, dein Anblick wird Wunder wirken ... Ich kenne Olympiens verzehrende Sehnsucht ...

Nach den Begriffen des italienischen Volks ist Größe der Empfindung mit List vollkommen vereinbar ... Wie ihr mir, so ich euch! lautet die Moral des Südens ... Die Herzogin schilderte die Lächerlichkeit des jungen Ercolano Rucca, sein Prahlen mit jenem Angriff eines Elefanten auf ihn, die Sehnsucht, die er noch immer nach dem Bestätiger seines Muthes ausspräche, seine Sorglosigkeit Olympien gegenüber, die bald über sie gekommene Langeweile, die sie vorläufig im Gebirge in Reformen der Ackerwirthschaft austobe ... Zwar wäre sie auf die Grille gekommen, den ehemaligen Pater Vincente, von dem ich dir in Wien schon erzählte, sagte sie; zum Cardinal zu erheben und ihn jetzt wie ihre Puppe zu behandeln, die sie schmückt ... Aber dein erster Gruß löscht alle diese Flammen aus – ...

Im Lauf der sich überstürzenden Schmeichel- und Ermuthigungsreden der Mutter bemerkte Benno:

Von diesem Vincente Ambrosi hab' ich in Robillante seltsame Dinge gehört ... Jener Eremit von Castellungo bekannte sich zu den Lehren der Waldenser, die das erste apostolische Christenthum besitzen wollen ... Eine zahlreiche Gemeinde bildete sich ... Zu ihr gehörte ein junger Zögling des Collegs von Robillante, der sich zum Priester bilden wollte. Die Lehren des Eremiten zogen ihn an ... Oft soll er Tage und Nächte bei ihm im Walde zugebracht haben. Die Gesetze verbieten aufs strengste den Uebertritt zu den Waldensern. Eines Tags verschwand der junge Ambrosi und war Franciscaner geworden ... Man schickte ihn zu seiner weitern Ausbildung nach Rom. Seine dortigen Schicksale erzähltest du ... Ueberraschend ist es, daß mancher in Robillante glaubt, er hätte sich durch sein Buß- und Leidensleben nur einem von jenem Eremiten ihm ertheilten Auftrag unterzogen und stünde noch jetzt mit ihm in Verbindung ...

Die Herzogin hörte nichts mehr ... Sie war zu erfüllt von der einzigen Nothwendigkeit, daß Benno zu Olympien müßte ... Sie blieb bei ihrem Wort:

Olympia läßt von allen, wenn du erscheinst! ... Du bleibst der Sieger! ...

Wenn sich Benno im Lauf dieser Ermunterungen und Versicherungen allmählich scheinbar für überwunden erklärte, ja sogar dem Ernst seiner Mienen einige Streiflichter des Scherzes folgen ließ, so war ein Gedankengang daran schuld, den die Mutter nicht sofort verstehen konnte ... Er sagte, mit dem Kopf nickend:

Bin ich nicht glücklich? ... Ich habe eine Mutter, die mich verzieht und mir gegen alles Verdienst schmeichelt; einen Bruder, der mir bei Torlonia einen Creditbrief offen hält, von dem ich dir die Pension Ceccone's verdoppeln zu können hoffe; einen Oheim, der mich und Bonaventura zu seinen Erben macht, wenn auch Frau von Gülpen bis an ihr Lebensende, die Nutznießung seines Vermögens behält; dann hab' ich in meinem jungen Leben schon vier wahre Freunde gefunden, Bonaventura, Thiebold, Attilio, Aemilio ... Nun höre noch dies, Mutter! Ich wollte nicht übermüthig sein ... Ich wollte mich in die Strudel des Wiedersehens der jungen Fürstin mit Vorsicht wagen ... Hatten wir Stunden der Trauer zu erwarten, mein Freund Thiebold de Jonge sollte uns Erheiterung bringen ... Das Idol seines Herzens – schon einmal hat er es mir geopfert ... Und auch jetzt wollte er meinem Gewissen einen tapfern Beistand leisten ... Mit einer Gemüthsruhe, die nur verständlich ist, wenn man die persönliche Bekanntschaft dieses närrischen Menschen gemacht hat, sprach er, als er meinen Kampf und die Furcht sahe, mich nach Rom zu begeben: Bester Freund – – ...

Noch hatte Benno das Lieblingswort Thiebold's: »Ich kann mich vollkommen auf Ihren Standpunkt versetzen« nicht ausgesprochen, als es draußen heftig klingelte ...

Wer stört uns! rief die Herzogin, stand auf und wollte Befehle geben, die sie für niemand anwesend sein ließen ...

Schon aber klingelte es zum zweiten mal ...

Mutter, sagte Benno, das kann nur mein stürmischer Freund sein! An dieser kurzen Pause zwischen dem ersten und zweiten Klingeln erkenn' ich Thiebold ... Gegen alle Verabredung hat er sich verspätet ... Ich ging zu Land, er den kurzen Weg über Genua zu Wasser – ...

Man hörte die laute Stimme eines radebrechenden Fremden, der nach »Ihrer Hoheit der Herzogin von Amarillas« verlangte ...

Er ist es! sagte Benno ... Ich bin wenigstens froh, daß er noch am Leben ist! ...

Die Mutter wußte, daß der alte Marco die Gewohnheit hatte, vertraute Gespräche seiner Gebieterin nicht zu unterbrechen ... Sie wußte, daß er solche Störungen mit völlig unklarem Bewußtsein, ob Altezza zu Hause wäre oder nicht, zu beantworten pflegte ... So kam er auch jetzt mit einer fragenden Miene ... Aber kaum sah er: Willkommen! im Antlitz seiner Gebieterin, so war er auch schon wieder draußen und mit den heitersten Scherzen hörbar ... Die gute Laune kam wieder, da er sah, es fing um seine Gebieterin an lebhafter zu werden ...

Thiebold de Jonge trat ein ...

Er sah aus wie ein Räuberhauptmann ... Nur mit dem Unterschied, daß dieser einmal gelegentlich, etwa zum Behuf einer ihm von Aerzten vorgeschriebenen Badereise, eine elegantere Toilette gemacht hat ... Sonst konnte er von seiner »Verwilderung kein Hehl machen« ... Die Gesichtsfarbe war braun »wie ein kupferner Kessel« ... Sein Bart wie die Mähne eines Löwen ... Sonst trug er sich vom Kopf bis zum Fuß in Nankingstoffen ... Auf dem weißausgelegten Hemd von bielefelder Leinwand blitzte eine Brustnadel von Diamanten, die abends jedem Räuber eine Aufforderung zu einem kühnen Griff erscheinen durfte ... Weste, Pantalons, gefirnißte Stiefel, alles war von jener Fashion, die dem Modejournal und den heimatlichen Gewohnheiten entsprach ... Mindestens glich er bei alledem doch einem »Schiffscapitän, der zweimal die Linie passirte« ... Mit einem Gemisch von Worten, das wahrscheinlich bedeutete: »Ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten, Frau Herzogin!«

kam er über die Schwelle des Salons gestolpert ... »Noch taumelte das kaum verlassene Schiff mit ihm« ... An seinem Strohhut, den er, wie er Benno zuraunte, »in erster Verlegenheit« zerdrückte, flatterten zwei rothe Bänder, wie am Hut eines Matrosen ... Seine Corpulenz hatte zugenommen ... Bei alledem war er anziehend und für Italien als Blondin doppelt interessant ...

Seinen Freund Benno noch in der Hauptsache ignorirend, radebreche er, immer zur Herzogin gewandt, daß er eben angekommen wäre und seinen Freund aufgesucht und dessen Spur bei Piazza Sciarra und endlich auf dem Monte Pincio aufgefunden hätte ... Bitte, Hoheit, ich bin nur da, um ihm meine Adresse, die auf ein vis à vis seiner Wohnung lautet, zu bringen oder etwa eine Verabredung für morgen zu treffen oder falls Hoheit heute Abend noch Befehle hätten, sie auszuführen – Ich werde überhaupt in Rom lieber Eurer Hoheit, als einem Menschen folgen, der mir den Weg über Genua angerathen hatte, ohne zu wissen, daß die Dampfschiffe von Genua nicht auf Passagiere warten, die sich von wunderbaren Kaffeehäusern und Hotels in Nizza und Genua nicht gut trennen können ... So bin ich aus Zerstreuung in Genua sitzen geblieben und wider Verabredung um fünf Tage zu spät gekommen, hoffe indessen, daß der von meinem Freunde beabsichtigte Feldzug auch ohne die Tranchéen, die ich – ...

Dies schwierige Bild aus der Kriegstaktik auszuführen scheiterte nicht gerade an Thiebold's Sprachkenntnissen, wol aber an seinem Gedächtniß ... Er hatte seine Rede italienisch gehalten und auswendig gelernt ... Die Ehren, die er der Herzogin ließ, waren ungefähr die, die er etwa in Deutschland einer regierenden Landesmutter von Braunschweig oder Nassau hätte erweisen müssen ...

Die Herzogin reichte dem närrischen Signore Tebaldo die Hand und bat ihn, sogleich zum Souper zu bleiben ... Sie klingelte, ließ ihr kleines Mahl anrichten, trat am Arm Tebaldo's in ein Eßzimmer, wo die kleine Tafel sinnig geordnet war, und fand sich in ihn so gut, als hätte sie ihn seit Jahren gekannt ... Das Gefühl, in ihm einen Mitwisser des Geheimnisses zwischen ihr und Benno zu sehen, durfte sie nicht stören; Signore Tebaldo war nur durch die ihm nicht geläufige Sprache und die Anwesenheit der Diener verhindert, sofort jeden »Zwang als bei ihm völlig überflüssig« zu bezeichnen und die »Sachlage« und die »vollendete Thatsache« und überhaupt alles auf »seine natürlichen Voraussetzungen zurückzuführen« ... Sein Sprachgemisch, zu dem sich als letzte Aushülfe Französisch gesellte, sein Benehmen gegen Benno, die Art, wie er die Terrasse »himmlisch« und »stellenweise die drei Treppen belohnend« fand, die Kritik des »kühlen Speisesaals«, die Leichtigkeit, mit der er seinen Stuhl ergriff und die entzückende Natur Italiens, selbst mit »radicaler Unerträglichkeit« solcher Strecken wie von Civita-Vecchia bis hierher, die Einfachheit der Sitten, die Frugalität der Soupers – »mit Ausnahmen« – anerkannte, Roms Trümmerwelt als einen »das Auge mehr oder weniger beleidigenden polizeilichen Skandal der Jahrhunderte« bezeichnete, alles das hatte etwas so Vertrauenerweckendes und über jede Schwierigkeit sogleich Hinwegsetzendes, daß die Herzogin nicht die mindeste Scheu vor ihm empfand ... Zwischen eine Erzählung über seine Reiseabenteuer von Robillante bis hierher und die ersten Erfahrungen in einem römischen Hotel, das er sofort verlassen hätte, weil der »erste Cameriere sich gegen ihn das Benehmen eines Ministers erlaubt hätte«, ließ er bei Abwesenheit der beiden Diener die kühn stilisirten Worte fallen:

Altezza, anch' io suon un' filio perduto, ma ritrovato! ... Auch ich hab 'nmal eine Mutter gehabt, die in einem Zeitalter gestorben ist, von dem ich mir nur noch eine dunkle Erinnerung bewahrt habe! Jedoch an jedem Sterbetag der frühvollendeten Dulderin hab' ich mit dem alten Mann, meinem Vater, eine Messe für sie lesen lassen und ging in die Kirche, was sonst meine Gewohnheit weniger ist ... Gott, das sind jetzt zwanzig Jahre her und oft hat mich schlechten Menschen diese Gewohnheit genirt. Aber ich that's um meines Vaters willen. So lang' ich lebe und es noch Kirchen gibt, setz' ich diese Gewohnheit fort an jedem vierzehnten October, Tag des heiligen Burkard, vorausgesetzt, daß unsere Kalender stimmen, Hoheit! ... Ich bin nicht ganz so aufgeklärt, wie mein Freund da – Asselyn. Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, Herzogin, auf jede Hostie – selbst eine wunderthätige – beschwören, daß ich mir die Ehre, Mitwisser Ihres »übrigens längstgeahnten« Geheimnisses zu sein, durch eine Discretion verdienen werde, die Ihnen möglicherweise selbst auf die Länge peinlich werden dürfte! ... Unglaublich! Wirklich – der Kronsyndikus –! Na, wissen Sie, Benno, wie wir damals bei dem Leichenbegängniß – ... Doch kein Wort! ... In der Kunst, sich dumm zu stellen, hab' ich die Vortheile voraus, die einem gemeinschaftlichen Freund von uns zugute kamen, der eines Tags die Entdeckung machte, daß durch systematisches Ignoriren sich am besten die Ignoranz verdecken läßt! ... Bruto e muto! ... So wahr wie –

Marco's Kommen unterbrach einen, wie es schien, auf Haarsträubendes berechneten Schwur ...

Die Herzogin verstand aus den französischen Beimischungen seiner Rede, was er andeuten wollte, und Benno küßte die Hand der Mutter – Thiebold bat um die gleiche Gunst ... Die Glückliche saß, wie sie sagte, wie die Perle im Golde ...

Marco schien ihr alles das von Herzen zu gönnen ... Er sah auf nichts, als auf die Leistungen seiner Kochkunst ...

Die trauervollste, ernsteste Stimmung mußte durch Thiebold de Jonge immer mehr gemildert werden ...

Thiebold erzählte, bald italienisch, bald deutsch, bald französisch und noch öfter Benno zum Uebersetzen veranlassend, von einem aus Paris von Pitern vorgefundenen Brief ... Er verbreitete schon damit über die Züge der Herzogin den Ausdruck einer Heiterkeit, die sie seit Jahren nicht gekannt hatte ... Thiebold's Humor hatte die seltene Eigenschaft, beim Scherz dem etwaigen Ernst, der eingehalten werden mußte, nicht im mindesten seine Würde zu nehmen ... Jede vom ab- und zugehenden Marco und seinem Genossen, der eine stattliche Livree trug, gelassene Pause, benutzte er, die Saiten zu berühren, die in Benno's Innern zu mächtig nachbebten ... Wie wuchs die Verehrung vor ihrem Sohn, als die Mutter sah, daß Benno solche Freunde gewinnen konnte ... Thiebold äußerte in noch verstärkterem Grade die Besorgniß, die Benno über das Schicksal der beiden Männer hatte, die ihm so werth geworden ... Er theilte »unbekannterweise« ganz diese Sympathie für die Gebrüder Bandiera – ohne allen Neid ... Er sah eine Sorge im Gemüth des Freundes und suchte ihr abzuhelfen; das war ihm Aufgabe genug ... Ohne selbst Politik zu treiben, konnte er sich »dergleichen Wahngebilde von einem fremden Standpunkt aus vollständig erklären« ... Es war der immer gleiche Trieb der Gefälligkeit, der in Thiebold's Herzen so freundliche Wirkungen hervorbrachte. Dieser Trieb verband sich mit dem behaglichen Gefühl seiner sorglosen Lebenslage, seiner reichlichen Mittel, vorzugsweise dann freilich auch – mit dem ungewissen Halt seiner eigenen Bildung. Sah er kluge Leute von einer Sache interessirt, so war er selbst klug genug, ihren Meinungen »vollständig Rechnung zu tragen« ... Italien und Rom »waren nun einmal da« ... Die Interessen dieses »überhitzten und in einem südlichen Klima gelegenen Landes« waren ebenso abzuwarten, wie der Hemmschuh des Vetturins ... Vollends war »die Guillotine kein Spaß« ... Thiebold besaß jene seltene Toleranz, die eine fremde Welt um so mehr achtet, je weniger sie davon versteht ...

Nur schade, daß die Herzogin der »neuerfundenen Mischsprache« Thiebold's nicht immer folgen und so recht die Gegensätze und Natürlichkeiten genießen konnte, die in dieser empfänglichen Seele zu gleicher Zeit Platz hatten ...

Die Nacht war herniedergestiegen ... Millionen Sterne funkelten am dunkeln Himmel ... Auf der Altane, auf die man nach dem Souper, dem sogar Champagner nicht fehlte, zurückkehrte, brannte eine Lampe ... Drei so traulich Verbundene saßen unter dem Duft der Blumen und in dem ganzen Zauber südlicher Natur, der sich selbst beim nächtlichen Gewirr der Städte nicht verliert ... Glocken läuteten; die Luft, die nach dem Untergang der Sonne anfangs kühl geweht, hatte wieder ihre alte Weiche gewonnen; die Lampe warf geheimnißvolle Reflexe in das tiefdunkle Grün der hohen Zierpflanzen und zog schwirrende kleine Käfer an, die in ihr eine lichtere Schlummerstätte zu finden glaubten, als die Orangen- und Granatenblüten, in deren Kelchen sie schon gebettet lagen ... So erliegen wir den Ausstrahlungen höherer Ziele, die ein Gesetz unserer schwachen, dem Irrthum unterworfenen Natur rastlos uns auch dann noch suchen läßt, wenn wir uns schon längst hätten genügen sollen ...

Benno und die Mutter knüpften an die frühere, von Thiebold unterbrochene Stimmung an ... Thiebold konnte nun selbst das sagen, was eben Benno als seine Hülfe in der möglicherweise verhängnißvollen Wiederbegegnung mit Olympien hatte berichten wollen ...

Ja – Armgart –! seufzte Thiebold ... Wir lieben ein und dasselbe Mädchen, Hoheit, und längst hab' ich entsagt zu Gunsten meines Freundes. Ich beanspruche nur noch bei ihm Pathenstelle ... Seine Großmuth lehnt nun freilich mein Opfer ab und darin hat er Recht: Der Gegenstand unserer Liebe neckte einen mit dem andern ... Diese Cigarrentasche, die von ihr ist – sehen Sie, Hoheit, diese so – mangelhafte Arbeit – deutet auf eine Berechtigung, das Andenken der Geliebten gleichsam zur Lebensgefährtin machen zu dürfen, während mein Freund einen Aschenbecher erhielt, ein Mobiliar, das sich nur in den vier Wänden benutzen läßt ... Er vergaß es in Robillante – ich hab's mitgebracht, lieber Freund – ... Andererseits könnte damit freilich das Princip der Häuslichkeit angedeutet sein ... Genug – »sei dem, wie ihm wolle« und wie sehr wir besorgen müssen, daß eine raffinirte Natur wie die des Ex-Paters Stanislaus mit Hülfe der so fanatisch lichtfreundlichen Aeltern uns beide aus dem Felde schlägt, ich habe meinem Freund als einzigen Ausweg aus dem Labyrinth seiner möglichen Verirrungen mit Fürstin Rucca den Ariadnefaden meiner eigenen Liebe zu ihr vorgeschlagen ...

Die Herzogin begriff nicht ...

Altezza! Ich kenne überraschende Wirkungen der blonden Haare in Italien! unterbrach Thiebold Benno's Erläuterung ... Ich habe haarsträubende Erfolge erlebt! Ich werde noch mehr gewinnen, wenn ich Fortschritte in dieser verdammten – göttlichen Sprache mache, die mich beschämend genug an mein altes Latein – Secunda – erinnert ... Ich liebe die Fürstin Rucca bereits bis zur Narrheit! Ich werde Benno's Erfolge paralysiren ...

Die Herzogin fragte nach dem Sinn dieser Worte und fixirte den Sohn, den Thiebold nicht aufkommen ließ ...

Es ist dies: Ich, ich liebe Gräfin Olympia Maldachini bereits aus dem Garten von Schönbrunn, schon aus der Menagerie im Prater ... Die Erzählungen über sie wirkten so auf mich, daß ihr die Wahl zwischen mir und Benno unmöglich werden soll ... Schon vor fünf Tagen sollt' ich im Palazzo Rucca meine Karte und einen Empfehlungsbrief von Benno an den jungen Elefantenkämpfer abgegeben haben ... Nun ist es später geworden und der Fürst ist auf dem Lande ... Ich reise morgen in erster Frühe nach Villa Torresani, auch nach Villa Tibur, wo Lucinde wohnt, im Widerspruch mit allen, die sie verdammen, bekanntlich eine leidenschaftliche Neigung von mir ... Scherz bei Seite, Hoheit, die Schilderung der Persönlichkeit der Fürstin Olympia hat mehr, als meine Neugier erregt. Grüner Teint, blaue Haare, Wuchs bis Benno's Taille – ich werde Lucinden sofort Erklärungen machen und um die Vermittelung meiner Wünsche bitten. Ich mag diese kleinen Figuren! Armgart ist auch nicht groß. Ich werde der Fürstin zeigen, was bei uns in Deutschland schwärmen heißt. Weiß ich dann auch, daß mich die spätere Ankunft Benno's, die ich in Aussicht stelle, aus dem Sattel heben wird, so werd' ich doch sein Schicksal so lange durchkreuzen, aufhalten und nur über meine Leiche hinweg ihn zum Sieger über diese gebietende Göttin des Kirchenstaates werden lassen, daß darüber das Schicksal der Gebrüder Bandiera sich entschieden haben dürfte ... Ich weiß nicht, ob ich deutlich gewesen bin, Hoheit? ...

Die Mutter begriff halb und halb und sah lachend auf Benno, der eine abwehrende Miene machte ...

O, fuhr Thiebold auf, ich weiß durchaus nicht, ob es nach genommener Verabredung ist, daß mich mein Freund Asselyn hier in unserm Plan durch ein ironisches Lächeln unterstützt! ... In Robillante waren wir einig: Wir wagen uns beide in die Höhle des Löwen! Wir bitten die Herzogin von Amarillas um ihre Protection! Wir unterwerfen uns Sr. Eminenz dem Cardinal Ceccone in gebührender Demuth! Wir lassen in dieser großen, vornehmen Welt, in der Sie leben, gnädigste Frau Herzogin, unser Licht leuchten so gut es geht und sollte mir mein Freund Asselyn wirklich von jenem grünen Teint und jenen blauen Haaren in Gefahr für seine Tugend gerathen, so verderb' ich ihm jedes Rendezvous und setze das so lange fort, bis Rom entweder eine Republik geworden ist oder Ceccone, was mir wahrscheinlicher erscheinen dürfte, die Sentenz für die Gebrüder Bandiera zu unterschreiben hat – ...

Die Herzogin sah den Irrthum Thiebold's über ihre gegenwärtige Lage, unterstützte aber seinen überraschenden Einfall durch jede Geberde ... Sie unterdrückte jede Einsprache Benno's, nannte Ceccone ihren Freund, ihren Gönner, Olympia ihr treuestes Pflegekind ... Sie ermuthigte beide, mit der jungen Frau ihr Heil zu versuchen ...

Es schlug nun elf Uhr ...

Thiebold mahnte an den Aufbruch ...

Benno blieb traurig und schien keinen Willen mehr zu haben ...

Die Mutter ließ ihn nur mit den Beruhigungen scheiden, die sie verlangte ... Er mußte versprechen, morgen im Palazzo Rucca nach dem Principe Ercolano zu fragen und seine Karte abzugeben – Thiebold sollte inzwischen schon ins Gebirge und auf die Villa Torresani reisen ...

Das alles stand fest und unwiderruflich ... Die Mutter führte Benno an das Medaillon des Herzogs von Amarillas, ergriff seine drei Schwurfinger und flüsterte ihm – »bei Angiolinens Angedenken!« – einen Schwur ... Er sollte geloben, daß er sich mit Lucinden verständigte und in die Welt Ceccone's und Olympiens einträte, ohne die mindeste Rücksichtsnahme auf irgendetwas, was ihr persönlich begegnet war ...

Benno erwiderte: Rom ist die Tragikomödie der Welt! ... Er gab der Mutter in dem, was sie vorläufig begehrte, nach ...

Beim Nachhausegehen war Thiebold entzückt von dieser »seltenen Frau« ... Er verwünschte seine mangelhaften Kenntnisse im Italienischen, schwur, täglich sechs Stunden Unterricht nehmen zu wollen und erstaunte dann nicht wenig, als ihm Benno beim Herabsteigen von jener großen Treppe, die auf den spanischen Platz führt, erzählte, daß sich die Stellung seiner Mutter zu Ceccone und Olympia gänzlich verändert hätte ...

Nun erst begriff Thiebold die kalte Aufnahme, die er an Piazza Sciarra erfahren hatte, als er dort nach der Herzogin von Amarillas fragte ...

Er verwünschte die römische Welt nicht wenig ...

Dann verglich er Rom bei Nacht mit seiner Vaterstadt bei Nacht ... Die Beleuchtung war hier »unter der Würde« – Rom verwarf bekanntlich damals als »revolutionäre Neuerung« nicht blos die Eisenbahnen, sondern auch die Gasbeleuchtung Thatsache.– ...

Die Freunde verabredeten sich, morgen in alter Weise gemeinschaftlich zu frühstücken und das Weitere ernst zu berathen ...

Thiebold wollte zu Benno kommen ...

Den Aschenbecher vergaß ich in Robillante! rief Benno Thiebold nach, als dieser schon an die Pforte seiner Wohnung geklopft hatte, die derjenigen Benno's gegenüber lag ... Bringen Sie ihn doch morgen früh mit ...

Das einzige Wort, mit dem Benno die zum Tod betrübte Stimmung seines Innern verrieth.

7.

Die Wirkung einer Karte, auf der zu lesen stand: » Monsieur Thiebold de Jonge, recommandé par le Baron Benno d'Asselyn« war außerordentlich ...

Sie fiel in die Siestenstunde, wo auf Villa Torresani die junge Fürstin Rucca bei herabgelassenen Jalousieen auf schwellenden Polstern ausgestreckt lag und vielleicht in Liebesschauern vom schönen Cardinal Ambrosi träumte ...

Sie fuhr empor ...

Halbentkleidet lag sie auf einem Ruhebett ausgestreckt ... Dicht war sie gegen die bösen »Zanzari« in Musselinvorhängen eingehüllt ... Mit halbschlafendem Brüten hatte sie ein Deckenbild des Bettes, eine Amorettenscene von Albani angestarrt ...

Diese Villa war der Mittelpunkt einer durch Kunst und Natur zum reizendsten Aufenthalt bestimmten Schöpfung ...

Die Villa Torresani lag auf Bergabhängen hingehaucht wie im tändelnden Musenspiel ... Alles an ihr war leicht, zierlich und gleichsam ohne Mühe geschaffen ... Die Treppenaufgänge waren in ihren Geländern mit zierlichster Symmetrie durchbrochen, auf ihren Wangen mit Statuen, Aloë- und Cactustöpfen geschmückt ... Wo sich bei jeder neuen Etage die Treppe zwiefach theilte, plätscherten Springbrunnen oder muschelblasende Tritonen ... Oben auf der gekieselten Plateforme erhob sich ein Bau voll Pracht und Schönheit, in zwei Stockwerken, verschwenderisch geziert von Säulen, Nischen, Statuen, abgeschlossen hoch oben von einer Attika, deren vier Ecken freischwebende Marmorbilder begrenzten ... Eine silberweiße Herrlichkeit war es, weithin leuchtend aus einem dunkeln Boschetto von Lorberhecken und urmächtigen Eichen ... Hier rauschten die Wasser, dort sangen die Vögel, summten die Käfer ... Weit hinaus zur Ebene verfolgte das Auge die gelblichen Fernsichten herbstlicher Stoppelfelder; sie milderten sich durch die quer hindurchlaufenden Weingehänge und die breitastigen, nicht ängstlich beschnittenen Pappeln ... In der Ferne erhob sich Rom, die Peterskuppel, sie, der immer hocherhobene Finger, der die Welt aus dem Erdendunst gen Himmel weisen soll ... Wer aber schweift hinaus bei so beglückender Nähe! ... Hier waltete die Kunst und die in ihren Weihemomenten überraschte Natur ... Durch die zur Erde gehenden Fenster des Palastes sah man die an den Capitälen bronzirten schwarzen Marmorsäulen eines großen Speisesaals mit dem weißschwarzen Marmorgetäfel des Fußbodens ... Nach hinten empfingen die Schlaf-und Siestenzimmer die Kühle einer angrenzenden Cypressengruppe, den Duft des zur Berglehne reichenden Blumengartens, in dem die Pflanzen eines noch tieferen Südens im Winter durch Glasdächer geschützt wurden ... Dort reiften Bananen ... Dicht am Fenster, wo Olympia schlief, hauchte eine Gruppe Gardenien aus ihren weißen, großmächtigen Blütentrichtern und aus der wollüstig feuchten Wärme der fortdauernd zu erneuernden Berieselung einen Duft aus, gegen den der Duft der Rose verschwand ...

Olympia lachte im Halbschlaf – Sie lachte sogar des Cardinals Ambrosi, der sich ihren Sorgen für eine seiner würdige Einrichtung durch den eifersüchtigen Fefelotti hatte entziehen müssen ... Dann erschrak sie, weil den – Cardinal-Conservator der Reliquien nichts als Todtenschädel umgaben ... Durch eine nahe liegende Ideenverbindung kam sie auf den deutschen Mönch Hubertus und Grizzifalcone ... Sie warf sich auf die andere Seite und wieder lachte sie ihrer Schwiegermutter, die sie fortwährend hofmeistern wollte ... Sie lachte Lucindens, des Cardinals und der Herzogin von Amarillas – ...

Da eben erscholl das Klopfen des betreßten Dieners – Da kam die Karte ...

Drei, vier Klingeln gingen durcheinander, als sie die Karte gelesen hatte ... Portier, Diener, Kammerzofe – wem hatte sie nicht alles Befehle zu ertheilen! ...

»Recommandé par le Baron d'Asselyn« ...

Die Fürstin, außer sich, weckte ihren nebenan schnarchenden Ercolano ...

Für diesen war sogar ein Brief vom Signor d'Asselyno durch den draußen harrenden mit Extrapost vorgefahrenen Monsieur Thiebold de Jonge selbst überbracht worden ...

Sie herrschte dem schlaftrunkenen Gatten zu, er sollte den Fremdling so lange unterhalten, bis sie sich in Toilette geworfen hätte ... Den Brief nahm sie selbst und erbrach ihn ...

Benno von Asselyn beklagte in diesem Briefe sein bisheriges Los, das ihn in der Welt hin- und herzureisen gezwungen und erst jetzt nach Rom zurückgeführt hätte ... In acht Tagen spätestens würde er dem Fürsten seine Glückwünsche und der Fürstin sich selbst zu Füßen legen ...

So schallen auf der Insel Ceylon plötzlich wunderbare Klänge aus der Luft ... So richtet sich die Blume auf, die nach langer Dürre ein stürzender Regen erfrischt ... Olympia flog in ihre Garderobe ...

Thiebold de Jonge hatte inzwischen in einer Empfangsrotunde Gelegenheit, die Geschichte der alten Kunst zu studiren ... Neun Marmorstatuen zierten sie, geschmackvoll in Nischen angebracht; sie sowol wie der Mosaikfußboden gehörten dem wirklichen Alterthum an ... Hier war alles echt ... Das alte Rom war hier noch nicht untergegangen ...

Später hat es Thiebold oft erzählt, wie ihm der erste Anblick der »kleinen Heuschrecke«, die nach einer halben Stunde in gelbnaturseidenen, mit grünen Blättern und bunten Blüten bedruckten Gewändern hereinrauschte, Lexikon, Grammatik, Alberti's Complimentirbuch in vollständigste Verwirrung brachte ... Die »gelbe Hexe« wäre viel, viel anziehender gewesen, als er erwartet ...

Dennoch mußte er sich früh erholt haben ... Er »reussirte« schon beim ersten Gruße ... Benno hätte sich getrost noch acht Tage in Rom können versteckt halten ... Thiebold beschäftigte den Fürsten und die Fürstin schon am ersten Tag mit all den Erfolgen, die wir als die gewöhnliche Belohnung seiner geselligen Talente kennen ... Sogar ein Begrüßen der Villa Tibur wurde ihm am ersten Tag nicht möglich ... Das Französische unterstützte die Verständigung ... Olympia und Ercolano ließen den liebenswürdigen »Baron« de Jonge nicht wieder frei ...

Der Brief, die Ankunft Thiebold's hatten sich verspätet ... Folglich erschien Benno schon am Tag nach dem Siestentraum ...

Ercolano holte ihn aus Rom ab und er holte ihn im Triumph ... Da hatte denn der junge Römer den Mann, der es möglich machte, die Geschichte von seinem »Kampf mit einem Elefanten« zu wiederholen ... »Dies ist der Herr, der mich damals in Wien –« ... Ercolano erdrückte Benno mit seinen Umarmungen ...

Und siehe da! ... Als Benno auf Villa Torresani ankam, hatten sich gerade – Thiebold und Olympia schon bei einem Ausflug in den Gebirgen verspätet ...

Es konnte kein Wunder nehmen, daß in drei Tagen Thiebold und Benno schon auf der Villa Torresani selbst wohnten ... Im Garten gab es mehrere, die reizendste Aussicht gewährende Pavillons ... Diese allerliebsten kleinen Häuschen mit den grünen Jalousieen! hatte Thiebold seltsam kokettirend zur Fürstin gesagt und sogleich wurde eines für sie aufgeschlossen ... Es war die Zeit, wo alles auf dem Lande lebte ... Was wollen Sie in Rom, was in Tivoli! – wo die Freunde sich eingerichtet hatten im Gasthof zur Sibylle – Sie wohnen bei uns! jubelte Ercolano ... Lucinde wohnte tausend Schritte weiter von den Wasserstürzen Tivolis ... Weder Benno noch Thiebold hatten sie begrüßt und schon wohnten sie in dem Pavillon der Villa Torresani ... Die Italiener sind sonst nicht gastfrei ... Hier aber traten Gründe ein, diese beiden jungen Fremdlinge nicht wieder frei zu lassen ... Schon das erste Zusammentreffen des Besuchs mit einer Visite der Schwiegermutter, das Hinzukommen anderer Nachbarschaften entschied – ... Alle sagten: Diese beiden Deutschen werden die Löwen der römischen Gesellschaft! ...

Thiebold's Kunst, die Menschen und Verhältnisse in Verwirrung zu bringen, ohne die erstern übermäßig zu reizen und die letztern zu unglücklich ausgehen zu lassen, bewährte sich auf eine bestrickende Art ... Benno konnte in der That einige Tage zweifelhaft sein, ob nicht Thiebold den Sieg davontrug ... Thiebold hatte sogar den Muth, des Abends sentimental zu werden ... Beim Anblick der Wirkungen, die er damit auf die junge Fürstin machte, erleichterte sich ihm die anfangs beklommene Brust, erheiterte sich sein Rundblick auf die Verhältnisse, in die ihn die Sorge um zwei dem Tod bestimmte Freunde Benno's wider alle Neigung gezwängt hatten ... Benno, dem die Fürstin noch gleichsam schmollte, blieb ernst und düster ...

Nun haben wir's, sagte Thiebold, als Benno das reizende Gartenhaus mit seiner Aussicht auf das vom Kaiser Hadrian »Tempe« genannte glückselige Thal mit ihm bezogen hatte und voll Verdruß die glänzende Einrichtung, die bronzirten Sessel, die Sammtkissen, die Verschwendung an Marmor und Krystall sah, nun werden Sie eifersüchtig auf mich! ...

Wir streiten uns, entgegnete Benno, wie zwei Fechter, die zum Tode bestimmt sind! Auf dem Programm der Niedermetzelungen geschieht dem einen weniger Ehre, als dem andern! ... Bin ich darum wol – etwa traurig? ...

Das Verhältniß Olympia's zu Benno war in Wahrheit dies: Als sie mit Benno zum ersten male allein war und von Wien zu reden begann, erbleichte sie, zitterte und verließ, keines Wortes mächtig, das Zimmer ... Um nur Fassung zu gewinnen, gab sie sich den Schein mit ihm zu schmollen ...

Eine Täuschung nur ... Sie war auf dem Gipfel alles Erdenglücks ... Sie ritt, sie fuhr, wie in ihrer fröhlichsten Zeit ... Thiebold machte sich zu ihrem dienenden Cavalier und sie ließ sich's gefallen ... Thiebold plauderte zu amusant, war immer lebhaft und gefällig – immer »präsent« – das wollen die Frauen – ... Sie konnte vollkommen mit zwei solchen jungen Männern zu gleicher Zeit fertig werden ... Thiebold hatte Recht, wenn er sagte: Unsere Tugend rettet ihr Embarras de richesses! ...

An lange Einsamkeit und ein ungestörtes Begegnen war freilich wenig zu denken ... Die Fürstin war eine Neuvermählte, Ercolano rauchte nicht eine Cigarre ohne sie, trank nicht ein Glas deutscher »Birra« ohne Benno und sein Leben bestand aus Trinken und Rauchen ... Reiter und Fuhrwerke belagerten die Thore der Villa Torresani ... Zankte auch wol der alte Fürst, der aus der Stadt ab und zu kam, über einen Landaufenthalt, der seinen Zweck, zu sparen, gänzlich verfehlte, so war nun einmal Olympia die Nichte des regierenden Cardinals und hatte als solche den Zustrom der Fremden und Einheimischen ... Da gab es hundert Monsignori, die Carrière machen wollten; Aebte, Bischöfe kamen von nah und von fern; Fefelotti sogar ordnete sich Ceccone's gesellschaftlicher Stellung unter ... Fremde kamen, die aus Kunstinteresse, andere, die aus Frömmigkeit, die meisten, die aus Geselligkeitstrieb nach Rom wallfahrteten ... Das Princip der römischen Aristokratie, so unzugänglich wie möglich zu sein, ließ sich hier nicht durchführen ... Olympia wollte nicht aufhören, die Beherrscherin Roms zu bleiben ...

Und wie war die Zeit bewegt ... Couriere kamen und gingen ... Außerordentliche Botschafter von Neapel, Florenz und Modena gab es zu empfangen ... Schon hörte man von Verhaftungen in Rom ... Von Aufhebung einzelner »Logen« ... Die Gefängnisse der Engelsburg und des Carcere nuovo füllten sich so, daß die Gefangenen des Nachts, mit starken Escorten, nach Civitavecchia und Terracina geschickt wurden ... Von ungewöhnlichen Streifcolonnen hörte man, die durch die Gebirge zogen ... Die Marine Neapels, Sardiniens, Oesterreichs kreuzte in den Gewässern von Genua, um Sicilien her und im Adriatischen Meere ... Schon wurden allgemein die Brüder Bandiera als Anführer von Trupps genannt, die demnächst an verschiedenen Stellen Italiens landen würden ...

Ceccone, der Benno sehr artig begrüßt und dem devoteren Gefährten Thiebold die Hand zum Kusse gereicht hatte, war, das beobachteten beide, in äußerster Aufregung ... Seine Kutsche fuhr hin und her ... Sie wurde regelmäßig von zwölf Berittenen der Nobelgarde begleitet, wenn er nach Castel Gandolfo fuhr, wo der Heilige Vater eingeschlossen lebte und mismuthig über sein Körperleid die Bullen, Breves und Allocutionen unterschrieb, die man ihm aus den verschiedenen Collegien seiner Weltregierung überbrachte. Bücher wurden verboten, Excommunicationen ausgesprochen ... Wächter der Kircheninteressen gab es genug ... Wenn auch der Hohepriester nichts las, als medicinische Schriften, nichts hören wollte, als ärztliche Consultationen ... Seine Zuflucht war damals, wie bekannt, ein deutscher Arzt geworden ...

Olympia hatte in der That jetzt keine geringe Abneigung gegen die »Erhebung Italiens« ... Sie räderte und köpfte – »Ein paar Handschuhe monatlich – Ein Bedienter nur – Und deine Hemden selbst flicken –«? Mazzini, Guerazzi, Wenzel von Terschka – jeden erwartete, wenn man seiner habhaft wurde, ein eigener Galgen ... Bekanntlich unterschreibt der Heilige Vater nie die Todesurtheile selbst; man überreicht sie ihm – wenn er nichts dagegen einwendet, hat die Gerechtigkeit ihren Lauf ... Man kann die Religion der Milde nicht milder betrügen! sagte Benno ...

Als Benno zum ersten mal mit Ceccone beim jungen Rucca dinirte, bedurfte er der ganzen Erinnerung an die Verstellungskunst – des ihm schon einmal in seinem Leid aufgegangenen Hamlet ... Er gab jede Auskunft, die der geschmeidige Priester zu hören wünschte ... Er widersprach keinem Urtheil, das sich ja auch hier nicht berichtigen ließ ... Er hörte nur mit Schrecken: Wir wissen alles! Wir sind unterrichtet über die Personen! Wir kennen die Orte ... Wir wissen, wo die Fackel der Empörung zuerst auflodern soll! ... Zwanzig Mitglieder der »Junta der Wissenden« haben auf die Hostie geschworen, mich binnen einem Jahre zu tödten! ... Ich weiß, daß geloost worden ist! Ich weiß, daß ein Mann in Rom, in meiner unmittelbaren Nähe leben soll, der die Aufgabe hat, mich zu ermorden! ... Nun wohlan! Ich will es aufgeben zu forschen – sonst mistrau' ich jedem, der mich grüßt, jedem, der in die Nähe meines Athems kommt ...

Eben war bei Tisch gesprochen worden von einigen Königsmördern, die kurz hintereinander in Frankreich guillotinirt wurden ... Benno horchte, ob bei allen diesen Schilderungen ein Advocat Clemente Bertinazzi würde genannt werden, der ihm als Mittelpunkt der Verschwörer in Rom bezeichnet worden und – der ihn sogar selbst erwarten durfte ... Er erblaßte, als Cola Rienzi genannt – Rienzi's Haus am Tiberstrand geschildert wurde – Bertinazzi wohnte dicht in der Nähe ...

Niemand sprach von Bertinazzi ...

Benno bedurfte der neuen Anmahnung seiner Mutter, um in dieser peinlichen Lage harmlos und unbefangen zu bleiben ... Nur endlich zu Lucinden zu gehen, beschwor sie ihn ... Immer noch war er nicht auf die Villa Tibur gekommen ... Die Schwiegermutter Olympiens war wieder einmal mit ihrer Tochter im Streit – Lucinde sollte »Farbe halten«, und nicht auf Villa Torresani erscheinen ... Das verlangte die alte Fürstin ... Und die junge verlangte gleiches von ihren Hausgenossen ... Ceccone emancipirte sich ... Das sahen Benno und Thiebold mit Erstaunen – Nach den Diners fuhr Ceccone auf Villa Tibur ... Die Voraussetzung, daß Graf Sarzana dennoch dieser Donna Lucinde in redlichster Absicht den Hof machte, hörte Benno in der That ... Noch hatte er diesen Cavalier nicht gesehen ... Aber die Art, wie in Italien die Ehe geschlossen wird und um ihrer Unauflöslichkeit willen sich mit allen Verirrungen der Leidenschaft vertragen muß, hatte er genug beobachtet ... Lucinde – eine Gräfin! ... Er konnte sich nicht genug die Wirkung davon in Witoborn, Kocher am Fall und in der Residenz des endlich freigegebenen Kirchenfürsten ausmalen! ...

Thiebold war nicht mehr zurückzuhalten, Lucinden zu besuchen ...

Er kam von ihr zurück und hatte sie außerordentlich vornehm gefunden ... Sie gäbe Audienzen wie eine Fürstin ... Sie hätte sich höchst bitter über Benno beklagt, der sie nicht zu begrüßen käme ... Nur die Nähe eines »Conclaves von Prälaten«, darunter Fefelotti, hätte verhindert, daß er sich darüber ganz mit seiner »alten Freundin« ausgesprochen – mit ihr, die ihm den Streit über die Kreuzessplitter als Ursache ihrer gegenwärtigen Anwesenheit in Rom dankte ...

Olympia hörte diesen Bericht voll Neid und sagte grimmig lachend:

Benissimo! Die Kammerzofe meiner Schwiegermutter! ...

Sie aber werden sie nicht sehen ... Ich verbiete es ... wandte sie sich zu Benno ...

Benno brauchte sich nicht zu verstellen, wenn er seine Geringschätzung Lucindens andeutete ... Da aber mahnte jetzt sogar der Cardinal um den Besuch in Villa Tibur ... Olympia hörte diese Flüsterworte und wollte aufs neue widersprechen ...

Benno warf einen einzigen Blick auf sie und sagte: Ich reite morgen hinüber, Eminenz! ...

Die junge Fürstin sah empor zu ihm, wollte bitter schmählen, dann schlich sie still davon ... Welch ein Glück beherrscht zu werden von dem, den man liebt ... Wie gern hätte sie so ihr ganzes Leben ihm zu eigen gegeben ...

Der Cardinal sah das und verstand alles ... Er lachte dieser demüthig niedergeschlagenen Augen, mit denen sein Kind, erst zornig aufwallend, sich beherrschte und hinter den Säulen des Eßsaals verschwand ... Dergleichen war ihm an Olympien noch nicht vorgekommen ...

Am andern Tage fuhr sie dann aber doch mit Thiebold und ihrem Mann nach Rom – eines Modeartikels wegen, sagte sie – Sie schmollte mit Benno ... Als dieser fest blieb und bat, ihm ein Pferd nach Villa Tibur bereit zu halten, weinte sie und zog ihre Fahrt bis zum Abend hinaus ... Lucinde schien ihr die Einzige, die ihren beiden Freunden gefährlich werden konnte ...

Benno durfte hoffen, Lucinden allein zu finden ... Er hatte gehört, daß auch die alte Fürstin in Rom war, wo sie öfter verweilte als auf dem Lande – Pumpeo's wegen – Seine erste Aufwartung hatte Benno ihr in Rom gemacht ...

Lucinde, die Benno in so vielen sich widersprechenden Situationen, in Demuth und Glück, in Verzweiflung und Uebermuth, schön und häßlich, fromm und heuchlerisch, verführerisch und abstoßend gesehen hatte – Sie jetzt auf solcher Höhe! ... Ihr sich beugen zu müssen, von ihr durchschaut zu werden, sich und seine Mutter abhängig von ihrer Großmuth, von ihrer Selbstbeherrschung zu wissen – wol durfte ihn das alles mit Bitterkeit und Mismuth erfüllen ...

Er umritt das schon im Abendgold schwimmende Tivoli und suchte dem Bett des Anio von der Seite seines rauschenden Sturzes beizukommen ... Der Lärm des Städtchens oben, die Schrei-Concerte der Esel, das Lachen und Schwatzen des Volks, das Begegnen der Fremden hätten seiner Stimmung wenig entsprochen ...

Anfangs mußte er sich vom Rauschen des Wasserfalls in seinen verschiedenen Spaltungen entfernen, dann kam er ihm wieder näher ... Vögel flogen über ihn her, wie aufgeschreckt vom Donnerton der stürzenden Gewässer. Sie flogen zur Linken – Unglücksboten, wie er nach antikem Glauben sich sagen durfte beim Anblick des wohlerhaltenen Vestatempels, der oben auf der Höhe schimmerte, und in Erinnerung an die Sibylle Albunea, die einst hier die Orakel verkündete ...

Liegt die Villa Tibur so nahe dem Rauschen des Anio? sprach er zu sich selbst und gedachte – Armgart's, die einst so im Rauschen der Mühlen von Witoborn Ruhe und ihre Aeltern gefunden hatte ...

Die schon dunkle Schlucht mit ihren silbernen Schaumterrassen, ihren feuchtkühlen Grotten, ihrem wilden Baum- und Pflanzengewucher blieb zur Rechten ... Villa Tibur lag noch höher in die Berge hinaus ... Nur wie ein fernes Meeresrauschen, immer gleich, immer rastlos, nie endend als nur durch die einstige Zerstörung dieser Felsen beim Weltgericht – so mußte der Sturz vernommen werden in der kleinen Villa, die sich durch Olivenwälder und Bergzacken endlich unterscheiden ließ ...

Hoch oben glänzte noch der goldene Sonnenschein, der hier unten im Geklüft schon fehlte ... Die Cypressen an der endlich erreichten Thorpforte standen so ernst, wie nebenan einige Hermen ... Ein Reitknecht in Livree war zunächst zur Hand, der schon ein Roß am Zügel hielt ... Das Roß des Grafen Sarzana! dachte Benno ... In der That war dieser der Herr des Knechts ... Er erwartete ihn, sagte er, jeden Augenblick von oben ... Gleich an der Pforte, lag ein Wirthschaftsgebäude, wo, wie Benno sah, an Dienern kein Mangel war ... Ihnen gab er zur Hut das Pferd aus Ercolano's, ihres jungen Fürsten, Stall ...

Ueber sich schlängelnde und terrassirte Wege ging es aufwärts zur Villa, die sich an Großartigkeit mit Villa Torresani nicht messen konnte ... Sie war so klein, daß Lucinde hier höchstens nur zwei Zimmer bewohnen konnte ... Schön aber war auch sie, wenn auch alterthümlicher, als die auf der andern Seite des Berges ... Die Decke des Vestibüls enthielt Lunettenbilder von ersten Meistern ... Der Garten bot Laubengänge und Boskets ... Man zeigte einen Gang hinunter, den die Weinrebe aus lieblichen Guirlanden bildete ... Dort sollten Donna Lucinda und Graf Sarzana verweilen ... Dieser Gang endete in einem Rundbogen von geschnittenen Myrten ...

Hob sich hier vom dunkelgrünen Hintergrund in blendendweißem carrarischen Marmor eine in Schilfblättern kniende Nymphe mit einem Schöpfkrug als eine Erinnerung an die Wasserwelt des fernher rauschenden Anio an sich schon bedeutungsvoll ab, so noch mehr die an das Postament dieser Gruppe gelehnte Gestalt Lucindens ...

Benno sah, was das Glück vermochte ...

Lucinde, die in St.-Wolfgang von der alten, über die Alpen ihrem Pflegling, dem Bischof, gefolgten Renate verachtet wurde, von Grützmacher nach einem Steckbrief verglichen, von Tante Gülpen aus der Dechanei verwiesen, Lucinde, die sich in der Residenz des Kirchenfürsten nur durch Nück's Interesse für sie erhielt, die nicht unverdächtig der Theilnahme an einem Verbrechen auf Schloß Westerhof geblieben war – sein Beichtwissen durfte Bonaventura auch an Benno nicht verrathen – sie, die Bonaventura in Männerkleidern nach Wien gefolgt war – soviel hatte Benno von ihm erfahren – sie, ein Kind der Armuth, in ihrer ersten Jugend eine Magd – ... Da stand sie jetzt – in einem purpurrothen Kaschmirshawl, den sie um beide Arme geschlungen hielt ... Ihr weißes Gewand lag eng an ihrer schlanken Hüfte ... Ihr Haar, um den Kopf in Flechten gewunden, war frei ... Im starren Auge lag die alte Unheimlichkeit des Blicks, ihre Rache an dieser Welt für etwas, das sie vielleicht selbst nicht angeben konnte ... Ihre blinzelnde Augenwimper, ihre leise, zurückhaltende Sprache ... Letztere schon in der Todtenstille angedeutet, die Benno antraf, obgleich ihr gegenüber auf seinen langen Degen sich stützend Graf Sarzana stand, den bebuschten silbernen Helm in der Hand ... Dennoch unterhielten sie sich ... Benno konnte den Bewerber erst erblicken, als sein Fuß schon in die Myrtenrotunde eingetreten war ... Vorher stand nur Lucinde seinem Auge ersichtlich – Sie, die Richterin über das Geheimste, was mit seinem Dasein zusammenhing ...

Herr von Asselyn! sprach Lucinde Benno dem Grafen vorstellend – ohne einen Schritt weiter zu gehen oder sich in ihrer Stellung zu verändern ...

Zu Benno sagte sie lächelnd: Kommen Sie also endlich? ...

Sie hatte den Ankommenden schon beim Absteigen vom Pferde gesehen und längst ihrem Blute Ruhe geboten ...

Graf Sarzana hatte sich eben entfernen wollen ...

Benno betrachtete Lucinden, die so ruhig that, als hätte sie ihn erst gestern zum letzten mal gesehen, betrachtete den Cavalier, der in so seltsamer Umstrickung lebte ... Beide mit dem größten Befremden ... Graf Sarzana war ein Mann zwischen den Dreißigen und Vierzigen ... Seine Augen ruhten auf Benno mehr finster, als freundlich ...

Er verneigte leicht sein Haupt und sagte, daß er schon von Signor d'Asselyno gehört hätte ... Benno hatte auf den nahe liegenden Besitzungen des Cardinals Verwandte des Grafen gesprochen, die da und dort die Oekonomie verwalteten ...

Ein Brautpaar konnte Benno kaum zu sehen glauben ...

Die Kälte und Ruhe Lucindens war der Ausdruck der höchsten Abspannung ...

Graf Sarzana schien aufgeregter, wenigstens stand ein unausgesetztes Streichen der Haare seines Helms mit seiner scheinbaren Ruhe im Widerspruch ...

Unwillkürlich bot sich für Benno die Vergleichung mit Paula und dem Grafen Hugo ... Wie anders dies Gegenbild! ...

Der Abschied des Grafen verzögerte sich ...

Benno's scharfes Auge glaubte einen gemachten Zug von Verachtung vor dem sich Empfehlenden auf Lucindens Lippen zu sehen; sie wollte wol nur damit an ihre Liebe für Bonaventura erinnert haben ... Aber auch der Graf schien nur eine eingelernte Rolle zu spielen ... Zwar blieb er artig und plauderte noch einige Dinge, die einen Fremden interessiren durften. Die Stunden, wo der Heilige Vater seine Segnungen ertheilt, sind jedem Fremden in Rom von Wichtigkeit; sie sind das, was anderswo die Wachparaden und Manöver. Einige Paläste, einige Sammlungen sind schwer zugänglich ... Graf Sarzana's Erbieten zur Vermittelung war freundlich ... Auch schien er unterrichtet und behauptete Sammler zu sein ... Er bewunderte, wie beide Deutsche sich in die italienische Art gefunden hätten, rühmte die deutschen Schulen und schien vorauszusetzen, daß Lucinde eine Erziehung genossen hätte, die ihr die Kenntniß des Lateinischen schon durch die Fürsorge des Staats verschafft hätte ... In allem, was er sprach, lag ein Anflug von Ironie ...

Graf Sarzana hatte auf ein Convolut von Papieren gedeutet, das auf einer Bank lag ...

Das sind deutsche Acten! sagte Lucinde und fuhr fort: Der Graf thut, als wenn ich so frischweg die Gedichte lesen könnte, die drüben auf den Wasserfall Catull gemacht hat! ... Ich verstehe das Breviarium – Das ist alles ...

Der Graf that, als hinderte ihn am Gehen eine Zärtlichkeit, die Benno für gemacht halten mußte ...

Er wollte Lucinden die Hand küssen, die ihm diese mit Koketterie entzog ... Ihre Reserve hatte immer etwas Anlockendes ... Der Graf hörte in der Ferne das Stampfen und Wiehern seines schönen neapolitanischen Rosses und konnte nicht fortkommen ...

Unter anderm sprach er von einem Fest, das der Heilige Vater noch dem jungen Rucca'schen Ehepaar nachträglich geben wollte ... Es war eine Gunstbezeugung, die nicht zu selten ertheilt wird, ein Mahl im Braccio nuovo des Vatican ... Die dort aufgestellten Meisterwerke der alten Bildhauerkunst werden dann im Glanz der festlichsten Beleuchtung gesehen ... Lucinde kannte diese Wirkung noch nicht und bedauerte, daß nur Eine Dame, die die Honneurs macht, dabei zugegen sein dürfte – diesmal Olympia ... Der Vatican, bestätigte Graf Sarzana, gilt allerdings für ein Kloster ... Lucinde kannte allerlei Ausnahmen von der Regel der Klöster ... Ihr Lächeln konnte beim Nennen der im Braccio nuovo aufgestellten Sculpturen dem Vorfall mit dem von Thorwaldsen restaurirten Apollin gelten ... Sie that, als sähe sie ganz die Furcht, die Benno schon in Wien hatte, für die junge Fürstin das zu werden, was dem Uebermuth des Kindes jene Statue gewesen ... Ihr Blick blieb forschend ... Inzwischen zeigte sich der Graf unterrichtet über die Meister und die Schulen, denen jene Bildwerke zugeschrieben werden ...

Endlich ging er und bald hörte man nur noch das Klirren seiner Sporen, bald nur noch den Hufschlag seines dahinsprengenden Rosses ...

Nun kommen Sie! sagte Lucinde. Wir haben dort einen bequemeren Platz und ich bin ermüdet ...

Sie deutete an, daß sie den Grafen nicht im mindesten liebte und von seiner Bewerbung nur fatiguirt würde ...

Mit einigen Schritten befand man sich in einem ringsumschlossenen traulichen und völlig einsamen Bosket, wo mehrere gußeiserne Sessel standen ...

So finden wir uns wieder! ... sprach sie jetzt ... Und ich sehe schon – Sie kommen voll Zorn auf mich! ... Hat mich die Herzogin so verklagt? ...

Im Gegentheil, erwiderte Benno, des Mädchens, ihrer Umgebung, ihrer Haltung staunend; meine Mutter rieth mir, mit Ihnen Frieden zu schließen ... Sie wissen, ich habe das immer als das beste Mittel erkannt – mit Ihnen auszukommen ...

Ein Lachen deutete an, daß sie sich nicht verletzt fühlen wollte ...

Nun, nun, sagte sie, verwundern Sie sich nur erst recht aus! ... Ja, das ist hier Italien, das ist Rom, die Villa des Mäcenas drüben – das hier Villa Tibur! ... Nicht wahr, wer das alles von Ihrem und unserm Leben geahnt hätte, als ich unreifes Kind auf Schloß Neuhof lebte, unter Männern voll Grausamkeit und Tücke, von denen der ärgste Ihr Vater war! ... Der beste von allen – war mein guter, närrischer Jérôme, Ihr – Bruder! Seltsam! Ich hatte dort schon Träume, die mir alles zeigten, was seither eingetroffen ist ... Ich sah Ihre Mutter – wie oft! – in den Kellern des Schlosses ... Ich sah die alte Hauptmännin Buschbeck mit der Giftschale in der Hand ... Ich sah das Dasein Ihrer Mutter in den Visionen Ihres Vaters ... Wie ich Ihnen dann zum ersten mal an der Maximinuskapelle begegnete! ... Wissen Sie noch? Sie trugen den rothen Militärkragen jener blonden, hellblauäugigen Sandlandsklugheit, der Sie Gott sei Dank! Valet gesagt haben ... Frau von Gülpen ahnte schon meine Mitwissenschaft an so manchem und wies mich deshalb aus der Dechanei ... Wie ich diese stille Stätte des Friedens und der Hoffnung verlassen mußte, brach mir das Herz ... Ihr Onkel war so gut ... Und Ihnen ist er der Retter Ihres Lebens geworden! ... Ich liebe, im Vertrauen gesagt, die Reue nicht, ganz wie die Spinozisten – alle Magdalenenbilder sind mir schrecklich – Aber schön und ein ganzes Leben verklärend war Ihres Pflegvaters Reue über einen schlimmen Antheil, den er doch wol auch an Ihrem Dasein hatte – denn der Kronsyndikus war sein intimster Freund ... Wie geht es dem Dechanten? ...

Er freut sich jeder frohen Botschaft aus Italien ...

Grüßen Sie ihn von mir! ... »Frohe Botschaften aus Italien!« ... Kämen ihrer nur mehr! ... Ich fürchte, ihr, ihr gerade siedet und kocht ihm nichts, was ihn laben wird ... Euer Bischof bringt ein Ungestüm über die Berge, das diesseits nicht am Platze ist ... Wer ist denn nur jener Eremit, um den er sich noch ins Verderben stürzt? ... Ein Deutscher! ... Erinnern Sie sich Ihrer Scherze zu dem Gypsfigurenhändler, als wir über den St.-Wolfgangberg keuchten? ... Halt! unterbrach sie sich plötzlich ... Ich vergaß die Papiere, wo wir standen ... Holen Sie sie mir! ...

Benno folgte, wie von einem mächtigen Willen regiert ... Er hörte und hörte nur ... Ueber den Eremiten hatte sie harmlos und sozusagen waffenlos gesprochen ...

Nach wenigen Schritten war Benno zurückgekehrt und gab Lucinden ein Pack sauberer Velinpapierbogen, die deutsche Scripturen enthielten ...

Sie war aufgestanden und setzte sich wieder ...

Sie ahnen schwerlich, was diese Papiere enthalten! – sprach sie, das Convolut neben sich legend ...

Sie verwies ihn auf den nächsten Stuhl ...

Ich höre, Sie und Klingsohr sind die Referenten der Curie in deutschen Angelegenheiten geworden! erwiderte Benno ... Wir haben, wissen Sie gewiß, eine Reformation in Deutschland ... Sind das die betreffenden Actenstücke? ...

Sie schüttelte den Kopf, ließ den angeregten Gegenstand fallen und fixirte nur Benno mit prüfenden Blicken ...

Seltsam! sagte sie ... Ihr Haar ist von der Mutter ... Die Augen haben Sie vom Vater ... Ihr Blut scheint von Natur langsam zu fließen, wie – durch Kunst bei Ihrer Mutter ... Ihr Verstand, der ist hitzig, wie beim Kronsyndikus – und wissen Sie, ich hätte Sie schon in St.-Wolfgang mit ruhigem Blut in allerlei Unglück sehen können – Nicht dafür, weil Sie kein Interesse für mich hatten – Armgart hatte es Ihnen schon damals angethan – Nein, Sie trugen den Kopf so schrecklich hoch – um Ihrer Klugheit willen! ... Das haben Sie ganz von Ihrem Vater ... Der konnte auch jedem einen Thaler geben, wer ihn klug nannte ... Ich lästere ihn nicht ... Mir war der Schreckliche gütig ... Nur zuletzt nicht mehr ... Hätt' er mich da noch aufrecht gehalten, ich würde nicht so elend in die Welt hinausgefahren sein ... Es – ist – nun so ...

Dafür machen Sie jetzt Ihren Weg! fiel Benno mit Bitterkeit ein ... Wann werden Sie Gräfin Sarzana sein? ...

Sie hörte auf diese Frage nicht, sondern sagte träumerisch:

Wenn ich rachsüchtig wäre ...

Manche bezweifeln Ihre Großmuth – ...

Und wenn ich sie nun nicht hätte, habt ihr mich nicht dahin kommen lassen? ...

Etwa auch meine arme Mutter? ...

Der Herzogin, das ist wahr, war ich zu Dank verpflichtet; aber sie war nicht gut gegen mich ... Wir Frauen wissen, daß wir Ursache haben, uns im Leben an eine starke Hand zu halten ... Nun finde ich hier vielleicht eine solche ... Konnt' ich ertragen, daß Ihre Mutter über mich lachte und ihrem Briefwechsel mit Ihnen, den ich voraussetzen durfte, Ihre und des Bischofs Urtheile über mich entnahm und weiter verbreitete? ... Ich leugne nicht meine Herkunft und meine ehemalige Lage ... Ich weiß auch, daß mich im Leben noch niemand gemocht hat, und habe mir längst darüber mein System gemacht. Ich ahne sogar – im Vertrauen – daß auch diese Herrlichkeit hier bald zu Ende sein wird ... Aber was ich mir an Unglücksfällen ersparen kann, das will ich denn doch nicht unterlassen haben. Ihrer Mutter, einer höchst gefährlichen, völlig in sich unklaren, halb ehrlichen, halb listigen Frau, einer echten Italienerin, mußt' ich einen Vergleich anbieten ... Ich will wünschen, daß sie die Bedingungen ebenso hält, wie ich sie halte ... Sie sind mit der jungen Fürstin Rucca intim, fragen Sie sie in einer Schäferstunde, ob ich geplaudert! ... Selbst über Armgart werden Sie sie nicht unterrichtet finden – Sie Ungetreuer! Was wird Armgart sagen! Nicht nur Sie, sondern auch Herr de Jonge brechen ihr die Treue! ... Meine Herren, sie erfährt alles! Darauf verlassen Sie sich ... Herr von Terschka wird sie von allem in Kenntniß setzen ... Apropos, hüten Sie sich doch vor den politischen Grillen Ihrer Mutter ...

Benno mußte anerkennen, daß der Ton des Wohlwollens durch alle diese Reden klang ... Dennoch lag er auf der Folter und hätte mit einem einzigen Wort die Maske seiner Selbstbeherrschung abwerfen mögen ...

Werden Sie den Namen Asselyn behalten? fragte Lucinde nach einer Weile ...

Benno konnte die quälende Erörterung nicht mehr pariren ... Auch sah er, daß sich ihr Sinnen immer mehr und mehr auf den Bischof richtete ...

Der Name Asselyn – erwiderte er – klingt dem Italiener nicht fremd – ...

Der Präsident, Ihr Bruder, ist kinderlos – fuhr sie fort – Wenn Sie da – Nein, nein – lassen Sie die Wittekinds aussterben! Bleiben Sie der räthselhafte »Sohn der Spanierin«, der Neffe des guten Dechanten, ein Asselyn! ... Ich habe mir viel Mühe gegeben, hinter Ihr Geheimniß zu kommen, das ist wahr ... Aber es wissen nicht mehr darum, als der Bischof, ich, ohne Zweifel der Dechant und meine alte Freundin, Frau von Gülpen ... Aber Thiebold de Jonge scheint eingeweiht ... Das ist thöricht ... Sie müssen ihn freilich erprobt haben ... Ganz so dumm, wie Piter Kattendyk ist er nicht ... Sagen Sie, wie können Sie Dergleichen um sich ertragen! ...

Benno erhob sich und sagte halb scherzend, halb im Ernst:

Nun wollen wir von den neuesten mailänder Moden sprechen ... Sonst erleben Sie, daß ich Sie auf Pistolen fordere ...

Pistolen! sagte sie kopfschüttelnd. Auch das kommt, in Italien nicht vor ... Wer uns hier beleidigt, fällt durch das Stilet eines Rächers, den man dafür bezahlt ... Das ist schrecklich und doch – ist es nicht eine unendliche Wonne, aus den deutschen Verhältnissen erlöst zu sein? ... Rom hat seine Lügen, seine Schlechtigkeiten – aber dieses Maß von schwatzhafter Tugend, eitler Sittsamkeit, biederer Langeweile von jenseits der Berge gibt es hier gar nicht ... Erzählen Sie mir aber –! ... Ja wie geht es Nück? Ich weiß durch Herrn de Jonge, daß er ohne seine Frau in Wien ist und noch unentschlossen sein soll, ob er nach dem Orient geht oder nach Rom ...

Ein solches unentschlossenes Umherblicken wird seine Halsschmerzen vermehren ...

Sie sind boshaft! ... Lucinde erröthete und schwieg ...

Woher erfuhren Sie die näheren Umstände meines Geheimnisses? Gewiß ist vorzugsweise Nück betheiligt? ... begann Benno, der endlich mehr die Oberhand gewann ...

In diesem Augenblick läutete es von Tivoli herüber ... Lucinde senkte den Blick und sprach für sich den englischen Gruß ...

Benno durfte der frommen Sitte sich nicht entziehen ...

Darüber hatte sie Zeit gewonnen und kam auf die verfängliche Frage wegen Nück nicht zurück ...

Die Dämmerung war hereingebrochen ... Ueber die Höhen des Gebirgs sah man Streifen des Monds schimmern, die bald ihr mildes Licht über die dunkelnde Schlucht verbreiteten ...

Läßt mir der Bischof nichts, gar nichts sagen? begann Lucinde ...

Nein! erwiderte Benno und sprach der Wahrheit gemäß ...

So war es ja immer, sagte sie mit stockender Stimme ... Lieblos entzogt ihr mir die rettende Hand! ... Hinweggeschleudert habt ihr mich wie ein Wesen ohne Bildung! ... Wie hab' ich gerungen nach euerer Freundschaft, nach euerer Schonung nur ... Kalt, grausam habt ihr mich zurückgestoßen! ... Nun mußt' ich mir freilich selbst helfen ... Das ist die größte Feigheit der Männer: Ein Weib um ihrer Thorheit willen leiden sehen und sie dann auf Vernunft und Besinnung verweisen ... Vernunft und Besinnung haben wir ja nicht ... Nur in der That, sei's der That der Liebe, sei's dem Rausch des Wahns oder dem Klagegeschrei der Enttäuschung, nur in Handlungen und Zuständen sind wir, was wir sind ... Vernunft und Besinnung! ... Nachdenken und Reflexion! ... Was soll das uns! ... Ich vergebe dem Bischof – doch nie, was er alles, alles an mir gethan hat ...

Benno wußte kaum, was er einem weiblichen Wesen erwidern sollte, das auf einen katholischen Priester Rechte der Liebe zu haben behauptete ... Er begnügte sich, die Wildaufgeregte zu beruhigen mit einem einfachen und ironischen:

Sie beteten doch eben voll Frömmigkeit das Ave Maria – und verlangen das Unheiligste ... Sie haben nie das Gemüth dieses edelsten der Menschen verstanden ...

Ein Gemüth ist's, wie das dieser Bildsäule! sagte Lucinde zornig ... Als wenn ein Priester von seinen Gelübden sprechen könnte, der sie doch einer andern gegenüber nicht hält! ... An jenem Abend auf dem Friedhof von St.-Wolfgang schon, wo wir unter den – – Gräbern wandelten, funkelten die Sterne herab, als wollten sie sagen: Halte sie doch fest, die Stunde der Versöhnung! ... Sieh, dies wahnsinnige Weib, so sprachen die Sterne, hat zwei Jahre geschmachtet nach Wiedervereinigung mit dir! Nun kommt sie und pocht, voll Hoffnung an deine Hütte! Du – du opferst sie aber schon der alten Magd, die dich bedient! ... Lachen Sie nicht! – Die Sterne sprachen mehr ... Sie sagten: Du schmähst ihre Verehrung, die so ganz ohne Interesse, nur ein reines Opfer der Liebe ist! – Ich bin um diesen Mann katholisch geworden – ich wäre schon glücklich gewesen, nur dann und wann mit ihm sprechen zu dürfen ... Daß ich seine Magd hätte sein können, mich wirklich als Bäuerin bei Renate verdingen, davon will ich gar nicht reden ... Ich war heimisch in ihm, als ich ihn das erste mal sah ... Ich fand einen Menschen wieder, der todt war und in ihm sein Testament zurückgelassen hatte ... Schon damals, als Ihr Vetter geweiht wurde, kannte ich seine Zukunft; ich kannte die ganze kommende Zerrissenheit seines Gemüths; wußte, daß er dort enden würde, wo er jetzt steht – an einem furchtbaren Abgrund, den nur noch seine äußere Würde deckt ... Ich kannte alles, was ihm über die Leiden dieses Daseins hinweggeholfen hätte ... Er verschmähte es ... Nun folg' ich dem Ruf in die Dechanei, erlebe die Demüthigung, zum Hause hinausgeworfen zu werden; ich klammere mich an den Saum seines Kleides, an den Teppich der Altäre, die sein Fuß berührt; ich wage mich in die schwierigsten, demüthigendsten Lebensverhältnisse, nur um eine Erhörung meines – um Güte und Vertrauen – Gott, ich sage nicht: um Liebe – verschmachtenden Herzens zu finden ... Keine Hülfe! ... Nichts als die kalte Sprache der Lehre und Ermahnung ... Mit der Zeit konnt' ich ihm furchtbar erscheinen, konnte ihm drohen, ich that es auch – ... Als ich dennoch mich bekämpfte, dennoch von dem beweinenswerthen, rasenden, wahnsinnigen Gefühl für diesen Mann mich beherrschen lasse, alle meine Waffen senke, sind' ich noch immer keine Regung der Versöhnung, kein Wort der Güte, keines des Vertrauens! ... Noch in Wien stößt er den Nachen zurück, auf dem ich mich zu ihm geflüchtet ... Das ist wahr – er nahm mir in Wien eine Bürde ab, die mich zum Tod niederdrückte – aber kaum fließen meine Thränen, so läßt er mich auch wieder hinaus auf die stürmende See in ein Leben, das bisher nur Noth und Demüthigung mir gebracht ... Jetzt hab' ich einen kurzen Augenblick des Glücks! Er macht – euch alle schwindeln ... – Mich nicht! Ich weiß, was ich thue! ... Ja! Wie eine Bettlerin – will ich nicht wieder vor euern Thüren stehen! ...

Lucinde war aufgestanden ...

Benno erbebte vor ihrem Blick ... Er fürchtete für Bonaventura's schwierig gewordene Stellung ...

Sie sind bei alledem dem Bischof werth ... sagte er und mit voller Ueberzeugung ...

Sie anerkannte diese Aeußerung, fuhr aber fort:

Weil er mich fürchtet! Weil ihr alle mich fürchtet! ... Ich habe mich freilich rüsten müssen gegen euch! Gesucht hab' ich nichts – ich fand alles von selbst ... Auf dem Schlosse Ihrer Väter hab' ich schon als Mädchen von sechzehn Jahren die sibyllinischen Bücher aufgeschlagen gesehen und verstand nur noch nicht die Zeichen, die in ihnen wie durchstochene blutige Herzen funkelten ... Jetzt liegt mir jeder Traum der Kindheit offen ... Ich verstehe das Wimmern und Seufzen in den Ulmen des Schloßparks von Neuhof, ich sehe die Verwirrung euerer ganzen Familie und euer – tragisches Ende ... Mit dem Bischof hab' ich Mitleid ... Er liebt, ein umgekehrter Jupiter, statt eines Weibes eine Wolke ... Erzählen Sie mir von Paula! Ich denke, ich verdiene, daß Sie sich's etwas kosten lassen, mich wenigstens – zu unterhalten ...

Diese Worte waren freundlich ... Benno mußte ihr den vorangegangenen Ton des übermüthigen Emporkömmlings vergeben ...

Sie setzte sich wieder ...

Benno sollte es ebenfalls thun ... Angezogen hatte sie ihn niemals so wie heute ... Die Leidenschaft verjüngte Lucinden zu ihrer ersten Jugendschönheit ... Ja sie fiel sogar in ihren naiven »Hessenmädchen«-Ton ...

Also – Paula! Bitte, bitte! ... Erzählen Sie! ...

Ich kann Ihnen nur erzählen, sagte Benno, was alle wissen! Ich ehre den Bischof zu sehr, als daß ich ihm durch unberufene Fragen Gelegenheit geben sollte, sich über Gefühle auszusprechen, die ihm schmerzlich sind – ...

Die Wunde nicht berühren, heilt sie euch! ... schaltete Lucinde ein ...

In den meisten Fällen ist es auch so ... Ob beim Bischof und bei Paula – ich weiß es nicht ... Ich kann nur berichten, daß dieser Ihnen so undankbar erscheinende Bonaventura an Verklärung und Hoheit der Gesinnung von Tage zu Tage wächst ... Er entschwebt dem Irdischen und ich mag ihn durch Fragen nicht niederziehen aus seinen reinen Höhen ... So viel aber weiß ich, daß doch Er es war, der Sie vor allen mislichen Folgen Ihrer Verbindung mit Nück geschützt hat ... Ich weiß, Graf Hugo gab seine Absicht, die Urkunde anzuzweifeln, erst nach einer langen Unterredung mit dem Bischof auf ...

Lucinde horchte ...

Sagen Sie selbst, fuhr Benno fort, was hätte den Bischof verhindern können, dem Grafen zu rathen: Handeln Sie getrost nach allem, was Ihnen Terschka mitgetheilt hat! Zu offen lagen aller Welt die räthselhaften Vorgänge des Brandes in Westerhof. War ich nicht selbst ein Zeuge derselben? Dieser Bruder Hubertus – der – leider – so räthselhaft auch – jetzt verschollen ist – ...

Den ich unter die Räuber und Mörder schickte? ... sagte Lucinde verächtlich ...

In der That – überall stellen sich seiner Vernehmung eigenthümliche Hindernisse entgegen ... Den Dionysius Schneid hat er gerettet, hat die Hälfte seiner Erbschaft aufgenommen und nach London geschickt, wohin dieser Mensch, unzweifelhaft ein Brandstifter, über Bremen entkommen sein soll ...

Also wer und was schützte mich – – vor dem Zuchthause? ... unterbrach Lucinde ...

Wenigstens vor der Anklagebank schützte Sie Graf Hugo von Salem-Camphausen ... Er that dies infolge einer Bürgschaft, die doch ohne Zweifel nur der Bischof für Sie übernahm ... Er mag dem Grafen Dinge über Sie gesagt haben, die Ihnen nicht würden gefallen haben; aber sie bestimmten ihn, sich dem Unvermeidlichen zu fügen ... Er hat die Urkunde anerkannt – ...

Lucinde hätte gern gesagt: So kann also euer Bischof wirklich auch – lügen? ... Sie hörte nur voll Spannung über die Folge von Bekenntnissen, von denen Benno nicht einmal zu wissen schien, daß sie in kirchlicher Form stattgefunden hatten ...

Dann, fuhr Benno fort, erfolgte die Verständigung mit Schloß Westerhof ...

Worin lag zuletzt für Paula die Bürgschaft des Werthes, den Graf Hugo, nach dem Zeugniß, das der Bischof ihm ausstellen sollte, ihr haben durfte? fragte Lucinde ... Die Bedingung, die Paula gestellt haben soll, kannte ja die ganze katholische Welt ...

Ich denke in der Art, sagte Benno, wie Graf Hugo die Ergebnisse seiner Rücksprache mit Ihnen aufnahm ... Beide Charaktere lernten sich zum ersten mal kennen, sprachen sich aus und schätzten sich ...

Ganz und ohne Rückhalt? zweifelte Lucinde lachend ...

Ich traue ihm zu, daß er ehrlich zu Bonaventura sagte: Sie lieben die Gräfin Paula! ...

In der That? ...

Sie freilich glauben nicht an Wahres und Gutes in dieser Welt ...

Nie an den Sieg des Wahren und Guten ...

So weiß ich keine andere Erklärung ... Der Graf kennt ebenso Paula's Empfindungen für Bonaventura wie Bonaventura's für Paula ... Dieser blieb mit jenem einen Tag auf Schloß Salem allein und die Folge war die Reise des Grafen nach Westerhof ...

Eine Andeutung, daß der Graf – katholisch werden wird! sagte Lucinde. Er hat unsere Religion in den Bekenntnissen eines Priesters achten gelernt ... Was sagt die Mutter dazu? ...

Benno schwieg eine Weile ... Er wußte allerdings, daß der Graf seit jener Unterredung von der tiefsten Verehrung Bonaventura's durchdrungen war ... Er wußte, daß die alte Gräfin auf Castellungo sich auf Grund dieser Verehrung mit bangem Herzen zum Bischof von Robillante verhielt und die Freundschaft des Grafen für den Bischof nur deshalb nicht nachdrücklicher bekämpfte, weil dieser ihre Theilnahme für die Waldenser und für den Eremiten Federigo theilte ...

Benno erstaunte, daß Lucinde, die alles wußte, was ihn und Bonaventura betraf, nicht in diesem Eremiten den Vater Bonaventura's sah ...

Alle diese Rückhaltsempfindungen verbarg er unter den Worten:

Die beste Religion, die wir haben könnten, wäre eine auf die Erkenntniß der tiefsten und edelsten Möglichkeiten und Fähigkeiten unserer Menschenbrust begründete! Liebe, Freundschaft, Vertrauen, alles Edle im Menschenherzen – ich dächte, das ist die einzig wahre Bürgschaft der Gottesnähe ...

Lucinde zeigte auf den kleinen Vestatempel, der auf der Höhe des Gebirges über dem Katarakt wie ein weißer Nebelring schwebte ...

Sogar Benno von Asselyn schwärmt! sagte sie. Nein, diese Religion, die Sie da nennen, ist keine ... Oft schon hat die Gottheit versucht, ob sie sich im reinen Menschenthum offenbaren könnte ... Die Götter kamen auf die Erde in allem Reiz der menschlichen Phantasie ... Da verwilderten sie ... Dann kamen sie noch einmal im Reiz des menschlichen Duldens ... Auch das – im Vertrauen gesagt – erlag – für den Denker ... Die Götter wohnen jenseits dieser Welt ...

Es war still ringsum ... Das Dunkel mehrte sich ... Lucinde warf ihre religiöse Maske ab ...

Aber als wenn sie Reue darüber befiel, so ergriff sie die Papiere, erhob sich und deutete auf einen Weg zur Villa, wo es heller war ...

Dabei sprach sie:

Sie haben ganz Recht! Paula, Graf Hugo und Bonaventura gehören einer einzigen Kirche an ...

Doch die Kinder? sagte sie plötzlich, zu den Religionsformen der Erde zurückkehrend und des oft an ihr nagenden Bundes gedenkend, den der heilige Franz von Sales gerade mit einer verheiratheten Frau, mit der Stifterin der Visitandinen geschlossen – ...

Nein! Nein! beantwortete sie sich selbst ihre Frage ... Die werden nicht kommen! ... Wenigstens nach dem Urtheil der Aerzte nicht – Die Gräfin hat ihre Visionen noch immer ... Sogar jetzt in Witoborn, wohin sie nach dem wiener Winter mit dem Grafen gereist ist ... Die in Salem heftig eintretende Rückkehr ihrer Visionen, die Aufregung derselben für Wien, das Andrängen der Aerzte, die Neugier der Forscher und Träumer brachten beim Grafen den Entschluß zu Wege, seine Güter um Westerhof zu besuchen ... Vielleicht regte sich in Paula die Sehnsucht nach des Obersten von Hülleshoven magnetischer Hand ...

Ueberraschend! entgegnete Benno ... Diese Nachrichten hatten wir selbst noch nicht in Robillante ... Woher wissen Sie alles das? ...

Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Papiere, die ihm Lucinde entzog ... Seine Neugier mußte sich steigern, als sie fortfuhr:

Auch Sie sollten nun doch für immer in Rom bleiben und sich hier nützlich machen ... Sie sollten Partei ergreifen ... Wem kann das Glück mehr lächeln als Ihnen? ... Fürchten Sie sich doch nicht so sehr vor einem Roman mit Olympia Rucca! ... Die Zeiten sind vorüber, wo böse Frauen ihre ausgenutzten Liebhaber vom Thurm zu Nesle stürzten ... Jetzt geben sie ihnen Anstellungen und manchmal sogar – Frauen ... Bleiben Sie in Rom! Nehmen Sie hier eine Stelle, die nicht zu gebunden ist! ... Schon ließ Sie, hör' ich, der Staatskanzler in eine verlockende Zauberlaterne blicken ... Für Ihre Heimat haben Sie seit Ihrer Courierreise doch den Credit verloren ... Auf dem Venetianischen Platz kann ich das große schöne Haus mit dem schwarzgelben Banner nie ansehen, ohne nicht die Stelle wenigstens eines österreichischen Legationssecretärs an Sie zu vergeben ... Rom ist die Welt ... Und selbst wenn Sie Rom nur studiren wollten – ich kenne Ihr Verhältniß zu Ihrem Bruder, dem Präsidenten von Wittekind nicht – so brauchen Sie dazu ein Leben ... Sie können hier jeden Tag eine andere Inschrift, jeden Tag einen andern Marmorstein vornehmen ... Und verstellen Sie sich nicht! Ganz gleichgültig ist Ihnen Olympia keineswegs ... Man flieht nicht so eifrig vor dem, was man verachtet ... Wär' ich ein Mann, mich würd' es sogar reizen, diesen Panther zu bändigen ... Schwärmen Sie in der That noch immer für die Lindenwerther – Kindereien? ...

Da Sie alles wissen, erwiderte Benno mit dem Ausdruck jener Toleranz, die Männer ein für allemal der kecken Rede aus Frauenmund zu gewähren haben, was wissen Sie von Armgart? ...

Von den englischen Cardinälen, entgegnete Lucinde, von jenen Aermsten, die sich alle drei Jahr dem Martyrium aussetzen, sich in England von den Roheiten John Bull's beschimpfen lassen zu müssen, hat Cardinal Talbot Armgart in London gesehen ... Bei guter Laune verglich er sie dem Heiland, der als Kind im Tempel predigte ... Sie legt die Bibel aus, wie ihre Mutter ... Eine Krankheit das – nur findet sie bisjetzt noch immer das in der Bibel, was die Engländer erst sehen, wenn sie in den Katakomben waren ... Wenn sie nicht auf die andern Thorheiten der Engländer einginge, würde man sie kaum dulden ... Glücklicherweise reitet sie nicht nur und schießt, sie schwimmt und angelt auch ... Sie könnte die Herzogin von Norfolk sein, hör' ich, wenn die Auswahl ihrer Bewerber nicht zu groß wäre ... Ob sie für die beiden jungen Männer, die ihr einmal eine Flucht aus der Pension erleichterten, noch die alte Pietät bewahrt, zweifl' ich fast ... Im Bericht des Cardinals erfuhr ich nichts davon ... Mit Baron Terschka hat sie sich ausgesöhnt ... Ja, ja, die Gefühle junger Mädchen wollen ihre Nahrung haben. Thut man auch gar nichts, lieber Herr, um sie an sich, zu erinnern, so unterhält solche kleine Koketten mehr noch der Haß, den sie auf manche. Menschen werfen, als eine bald verklingende Liebe aus dem Pensionat ...

Benno widersprach nicht ... Er war in die Erinnerung an sein zu Armgart gesprochenes Wort, sie würde noch einst lange in der Irre gehen und dann voll Wehmuth an ihn zurückdenken – so versunken, daß Lucinde eine Frage wiederholen mußte, die sie an ihn gerichtet hatte:

Was halten Sie von Paula's Visionen? ...

Ich glaube nicht an sie, aber sie können zutreffen, sagte Benno ...

Das ist ein Widerspruch ...

Nein! ... Niemand kann freilich sehen, was erst die Zukunft ins Leben rufen muß ... Aber ein Auge wie Paula's blickt unbeirrt von den Verhältnissen, die uns andere zerstreuen ... Wir würden alle ein wenig sozusagen allwissend sein, schärften wir nur unser inneres Auge, jenes Auge, das nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen sieht ...

Nun – dann hoffen Sie! ... Paula sieht Armgart in ihren Visionen – immer nur mit Ihnen verbunden ... Sie staunen? ... Ueber diese Papiere? ... Nun ja, freilich, das sind Abschriften der Visionen Paula's ... Genau gesammelt seit einer Reihe von Jahren und fortgeführt bis in die neueste Zeit ... Ich erwarte schon morgen aus Witoborn eine neue Sendung ... Wer sie niederschreibt, weiß ich nicht. Frau von Sicking – oder Norbert Müllenhoff in ihrem Auftrag – möglich ... Sie wissen vielleicht nicht, daß Fefelotti die Frage zu entscheiden hat, ob das magnetische Leben innerhalb des Christenthums Berechtigung hat ... Ich fürchte, man wird den Magnetismus verwerfen ... Die Concilien sprechen nichts davon ... Mich ängstigen die Gefahren des Bischofs, wenn ich auch beim Lesen dieser Blätter lachen – freilich auch viel mich ärgern muß ... Ich sehe die Zipfelmütze des alten Onkels Levinus und seine gelehrten Forschungen – Ich sehe die Tante Benigna und ihre Schweinemast ... Aber auch vieles Andere ... Nur seltsam! Die wahren Verhältnisse der Asselyns und Wittekinds, wie ich sie kenne, sind Paula unbekannt ...

Benno wurde eben von einem der näher gekommenen Diener mit einem Blick befragt, ob sein Pferd in Bereitschaft gehalten werden sollte ...

Im Wandeln waren sie schon dicht bei der Thorpforte angekommen ...

Reiten Sie jetzt zurück! sagte Lucinde ... In Italien ist die Nacht unheimlich ...

Und Sie, Sie übersetzen diese Visionen ins Italienische? fragte Benno erstaunt ...

Im Auftrag Fefelotti's! bestätigte Lucinde ... Fefelotti ist es, der die Kirche regiert ...

Und glauben Sie nicht, daß man dem Bischof hier die Kerker der Inquisition öffnet und jenen greisen Bewohner des Thals von Castellungo herausgibt? ...

Das ist nicht möglich – und zwar deshalb nicht, weil man ihn gar nicht in Gewahrsam hat ...

Das glaubt der Bischof nicht ...

Aber es ist so ... Als es hieß, Pasqualetto hätte den Vielbesprochenen in Gestalt eines Pilgers von Loretto gefangen genommen, freuten wir uns alle des Beweises, den jetzt die Dominicaner nicht mehr zu geben brauchten, indem sie ihre Gefängnisse öffneten ... Letzteres thun sie nicht ... In Rom gewiß nicht, verlassen Sie sich darauf ... Hubertus wurde entsandt, den Pilger aufzusuchen ... Seither sind leider beide verschwunden ... Warnen Sie den Bischof, diesen Streit nicht wieder aufzunehmen ... Fordert man ihn vor die Schranken eines geistlichen Gerichts, schlägt man hier in den Archiven nach, wo über Tausende von Seelen der katholischen Welt – Geständnisse und Aufklärungen liegen – ...

Lucinde hielt inne ... Sie konnte nicht wissen, ob nicht in der That die Curie von Witoborn von Leo Perl's Geständnissen damals nach Rom Bericht gemacht hatte ...

Daß man die Frage über den Magnetismus anregt, ist mir schon ein Beweis, wie man in unsers Freundes Vergangenheit einzudringen sucht – fuhr sie nach einiger Besinnung fort ... Ich wünsche ja aufrichtig, daß Bonaventura hier eine ganz andere Krone als die des Märtyrers trägt ... Wäre er darum nach Italien gekommen, um hier – in einem Kloster elend unterzugehen –? ...

Die Wasser des Anio rauschten so mächtig, daß sie das Gespräch übertönten ... Beide hatten die Eingangspforte mehrmals umkreist ... Das Roß scharrte schon im Kieselsande ...

Es wird zu spät! sagte sie. Ich lade Sie nicht ein, bei mir zu einem Nachtimbiß zu bleiben ... Auch ist die Fürstin Ihnen gram ... Sie hat ihrem Sohn Vorstellungen gemacht über die Aufführung seiner jungen Frau ... Sie verlangt – hören Sie's nur – daß Sie und Thiebold von Villa Torresani wegziehen ... Das alles findet sich – besonders wenn Sie der guten Dame selbst ein wenig den Hof machen ... Wir haben soviel gemeinschaftliche Sorgen! ... Aber – vielleicht auch Freuden! ... Glückauf in Rom! ... Geben Sie mir die Hand! Lassen Sie uns Verbundene bleiben! ...

Benno reichte die erstarrte, kalte Hand ...

Lucinde schied mit einer Miene der Protection, wirklicher Theilnahme und – Koketterie ... Sie sagte:

Versprechen Sie mir, daß Sie auf Villa Torresani nie anders von mir reden, als so, daß ich Männern noch in einer einsamen Abendstunde gefährlich werden könnte – ...

Damit schlug sie nach ihm mit einer Päonienblüte, die sie am Wege abgebrochen hatte und in ihrer gewohnten Weise zu zerzupfen anfing ...

Der Diener hatte den Rücken gewendet ...

Die deutsche Unterredung schützte beide vor dem verfänglichen Inhalt ihrer Worte ...

Benno schwang sich in den Sattel ...

Lucindens »Auf Wiedersehn!« war wie ein Gruß zu einer Reihe der unterhaltendsten und vertraulichsten Beziehungen auf lange, lange Zeit ...

Benno schied halb außerordentlich gefesselt, halb in der Hoffnung, binnen wenig Wochen vom giftigen Hauch dieser ganzen Atmosphäre befreit zu sein – ...

Der Weg war dunkel und abschüssig ...

Er mußte langsam reiten ...

Hinter der finstern, scheinbar vom Silber des Wassersturzes mehr als vom Mond erleuchteten Schlucht unterhalb Tivolis verbreiterte sich der Weg ... Die Krümmungen des Anio hatten hier Anbau ... Zur Linken ragten die Trümmer der zu einer Schmiede gewordenen Villa des Mäcenas mit dem Schimmer der Cascatellen, die aus ihren Fenstern gleiten, und mit Feueressenglut auf ... Ringsum war es still, doch nicht einsam ... Einzelne Wanderer hielten am Wege inne ... Da und dort erhob sich aus den hohen, noch nicht abgeernteten Maisfeldern ein spitzer Hut ...

Benno ritt tief verloren in Gedanken ...

Paula, Bonaventura, alles was ihm theuer war, umschwebte ihn ... Welche Welt gestaltete sich in seiner Brust! Welches Chaos rang zum Lichte! Es waren nichts als glühende Tropfen, die Lucinde auf seines Herzens geheimste Stätten hatte fallen lassen ...

Allmählich belästigte es Benno, von drei Reitern, in der Tracht römischer Landbesitzer, mit hohen Flinten auf dem Rücken, ledernem Gürtel, Gamaschen bis weit übers Knie, auf unruhigen, ohrspitzenden Maulthieren, fast in die Mitte genommen zu werden ... Eben wollte er seinem Roß die Sporen geben, um sich dieser unfreiwilligen Begleitung zu entziehen, als die Reiter innehielten, wie der Blitz abschwenkten und zur Schlucht zurückritten ...

Hatten sie sich in seiner Person geirrt? ...

Wenige Secunden und Benno begriff, daß ihr Auge und Ohr schärfer als das seinige gewesen war ... Er hörte den gleichmäßigen Trab bewaffneter Reiter ... Bald sah er einen Trupp Carabinieri, denen in einiger Entfernung eine Kutsche folgte ...

Es war die Kutsche des Cardinals Ceccone ... Benno gab seinem Pferd die Sporen ... Windschnell suchte er vorüberzufliegen ... Er mußte vor einem zweiten Reitertrupp abschwenken, der die Arrièregarde des Wagens bildete ...

In die unheimlichsten Gespenster schienen sich ihm jetzt rings die Bäume und Felsen zu verwandeln ... Wie von einem Höhnen der Natur verfolgt, sprengte er dahin ... So schuldlos ihm sein eigenes Innere erscheinen durfte, immer mehr Schrecken begehrten Einlaß in seine Brust ... Ist das Rom, das gelobte Zauberland der Christen –! ... Ceccone fuhr soeben zu Lucinden, die der Mann im Purpur ohne Zweifel allein wußte ... Die Unterredung mit ihr hatte Benno's ganzes Interesse gewonnen ... Er hatte erkannt, daß Lucinde in der That aus dem Trieb ihrer Liebe zu Bonaventura auf Wegen wandeln könnte, wo man ihr eine Anerkennung nicht versagen durfte ... Nun stürzte alles zusammen ... Er sah nur noch – die Buhlerin ...

Wie glücklich war er, als er, die hohen spitzen Aloes und Statuen erblickend, die die Treppengelände der Villa Torresani zierten, unterschied, daß in den Sälen kein Licht war ...

So war Olympia doch noch nicht zurück ... Und sie blieb wol über Nacht in Rom ...

Er sprang vom Pferde und flüchtete sich in die Einsamkeit seines Pavillons ...

Wer waren die drei Reiter? ... Schwerlich Räuber ... Man kennt dich in den geheimverbundenen Kreisen als einen Freund der Bandiera – du hast die Begrüßungsformeln des »Jungen Italien« und dennoch weilst du in der Nähe eines Mannes, den – Mord und Verrath umschleichen –! ...

In seiner gewagten Doppelstellung glaubte Benno sich nicht mehr lange halten zu können ... Es mußte zu Entscheidungen, zu Entschlüssen fürs Leben kommen ...

So suchte er die Ruhe, von der er wußte, daß er sie nicht finden würde ...

Man brachte ihm noch einen Brief, der während seiner Abwesenheit angekommen war ... Die verstellte Handschrift war die der Mutter ...

Die Mutter schrieb, daß sich in seiner Wohnung, dann bei ihr selbst der berühmte Advocat Clemente Bertinazzi hatte erkundigen lassen, ob Herr von Asselyn nicht bald aus dem Gebirge zurückkehrte ...

Das war eine Mahnung, der er sich entschließen mußte, Folge zu leisten ... Sie konnte gefährliche Folgen nach sich ziehen, wenn er nicht auf sie hörte ...

8.

Als nach Mitternacht Olympia von Rom zurückgekehrt war und sie ihm dann in der Frühe beim Wandeln im Garten begegnete – Thiebold freilich immer in der Nähe, heute mit dem Begießen von Blumen beschäftigt – sah Benno wol, daß auf die Länge des Freundes Beistand nicht mehr vorhielt ... Mit der Gießkanne und ähnlichen Hülfsmitteln konnte er nicht überall hin folgen ... Olympia wollte heute sogar ihre Schmähungen über Lucinden Benno nur allein vertrauen ...

Menschen wie Thiebold können für den Umgang unentbehrlich werden; doch erfüllen sie nicht die Phantasie ... Sie lassen sich als Freunde, als Gatten, nicht als Liebhaber denken ... Benno erhielt seinen vollen Platz in Olympiens Herzen und die Stunde rückte näher und näher, wo die zunehmende Vertraulichkeit um so mehr eine schwindelnde Höhe erreichen mußte, als sein »bester Freund« Ercolano plötzlich schüchtern und verlegen zu werden anfing. Die Mutter hatte in der That seine Eifersucht angeregt ... Das Wohnen auf seiner Villa hatte sie eine lächerlichen Beweis von Schwäche genannt ... Olympia trotzte der Zumuthung, die deutschen Freunde aus ihrer Nähe entfernen zu sollen ... Darüber ging Ercolano wie in der Irre ...

Thiebold war bald nur noch der Vertraute ihres Geheimnisses mit Benno ... Er wurde nichts als eine »schöne Eigenschaft« seines Freundes mehr ... Thiebold übernahm die Commissionen ihrer Launen, für die sie den Angebeteten selbst zu hoch hielt ... Thiebold mußte »das Verhältniß zum Cardinal Ambrosi« lösen, d.h. die letzten Aufmerksamkeiten und Geschenke überbringen, die noch für dessen Einrichtung bestimmt waren ... Sonst aber ärgerte sie sich schon lange über Thiebold's Allgegenwart ... Bald hatte dieser Unbequeme gerade an derselben Stelle, wo niemand anders als Benno erwartet wurde, seine Brillantnadel, bald sein Portefeuille verloren; er suchte und fand den Freund immer an einer Stelle, wo sie mit Benno allein zu sein hoffte ... Wenn sie geneigt wurde, beide aus dem Pavillon der Villa Torresani nach einer ihr noch bequemeren Besitzung des Cardinals umzulogiren, so war es, weil Thiebold wahrhaft Benno's Schatten blieb ...

In Rom spielte selbst im Sommer eine Operntruppe ... Olympia besuchte diese Vorstellungen wieder ... Das Sitzen in den Logen bot Zerstreuung, kokette Unterhaltung, neckendes Fächerspiel, Gelegenheit zum Hin- und Herfahren, Abholen, Sichbegleitenlassen, Verfehlen u.s.w. ...

Da die Freunde trotz der Schönheiten des Landlebens doch von den Merkwürdigkeiten Roms gefesselt sein mußten und manchen Tag in der Stadt blieben, so wollte die junge Fürstin zu gleicher Zeit mit Villa Torresani auch die »Brezel« an der Porta Laterana bewohnen ...

Die Aeltern waren entschieden dagegen und beriefen sich auf die Ehepacten, die jeden Punkt der Vergünstigungen bezeichneten ... Sie verlangten, daß ihre Schwiegertochter die Villa Torresani bis zu einem bestimmten Tage nicht verließ ... Manchen Menschen, sagte Lucinde zu Thiebold, der hier vermitteln sollte, ist es Bedürfniß, sich zu ärgern ... Wenn die Fürstin ihre Tochter in ihrer Nähe entbehren sollte, entgeht ihr ein Motiv der Aufregung ... Die Mutter ist so gut gewachsen, daß sie sich gern ihrer Schwiegertochter als Folie bedient ... Wir Frauen heben nicht den Arm auf, ohne nicht zu berechnen, wie unser herabströmendes Blut ihn weißer machen muß ... Bester Herr de Jonge, heirathen Sie niemals! ...

Vierzehn Tage – drei Wochen gingen in dieser Weise vorüber ...

Zum Glück hatte man Anzeichen, daß die Nachricht einer Insurrection jeden Augenblick von der Küste des Adriatischen Meers kommen mußte ... Couriere gingen und kamen; die bewaffnete Macht war aufgeboten, vervollständigt, marschfertig ... Die Consulta hielt täglich Sitzungen ... Der Verkehr mit den auswärtigen Gesandten nahm Ceccone's ganze Aufmerksamkeit in Anspruch ... Von Angst und Sorgen sah er in der That niedergedrückt aus ...

Wie beim herannahenden Sturm jede Hand ihr Haus verschließt und den Gefahren der Zerstörung vorzubeugen sucht, so zeigte sich auch jetzt in den Umgebungen dieser Machthaber mehr politisches Leben, als sonst ... Mancher Mund sprach sogar beredt und frei ... Manche geheime Hoffnung sah eine Erfüllung voraus und verrieth vorschnell ihre Freude ... Jene große Mehrzahl von Menschen, die als Ballast nur den ruhigeren Gang der Fahrt entscheidet, gleichviel unter welcher Flagge ihre Fahrzeuge segeln, warf sich unruhig hin und her ... Vorahnend machte sie gleichsam nur ihr Gepäck leichter, um bequemer von einem Lager ins andere überlaufen zu können ... Wie richtig hatten diese Bandiera die Italiener beurtheilt! sagte sich Benno. Der Erfolg ist hier alles! Der Muth einer That entscheidet ihre Bedeutung ...

Nur in der Priestersphäre waltete unerschütterliche Zuversicht ... Dort stand es fest, daß ein Kampf mit dem Interesse »Gottes« Jeden zerschmettern müsse – »Selbst die Pforten der Hölle werden dich nicht überwinden!« lautete der tägliche, seit dreihundert Jahren im Mund der Katholiken übliche Refrain, der auch hier über das Antlitz der jungen und alten Prälatur einen lächelnden Sonnenschein verbreitete ... Den »bösen Mächten« gehört ja die Welt, dem Zufall, der Intrigue, der Selbstverstrickung alles Guten – Wie kann – gesetzt die Revolution wäre das Gute – »in dieser Welt das Gute siegen!« hatte Lucinde ganz im Geist der Jesuiten gesagt ...

Unter den Freigesinnten gab es zwei Richtungen, die sich mit Schärfe bekämpften. Für die ausführlichere Begründung ihrer Ansichten fanden sich in England, in Frankreich, in der Schweiz und auf den Inseln um Italien Gelegenheiten zum Druckenlassen ... Die eine Partei wollte ein einiges Italien, an dessen Spitze der Heilige Vater als wahrer Friedensfürst und Verbreiter aller Segnungen stehen sollte, die durch die Christuslehre dem Menschen verbürgt und nur noch nicht genug anerkannt sind ... Die andere sah im apostolischen Stuhl die gefährlichste Anlehnung der Despotie, verwies den Papst aus den Reihen der Souveräne, ließ ihm nur allein noch die Bedeutung, Pfarrer einer Metropolitankirche der Christenheit, der Peterskirche, zu heißen und nahm seinen irdischen Besitz in die allgemeine Verwaltung eines republikanisch regierten Italiens ... Freiheit von Oesterreich wollten beide Parteien. Die Souveräne und Würdenträger der Hierarchie waren auf die Hülfe dieses Staates angewiesen; die Väter der Gesellschaft Jesu machten die Vermittler zwischen Wien und allen denen, deren Besitz in Italien bedroht war ... Da die Jesuiten dem Staatskanzler zu wesentliche Dinge überwachten, da sie zu viel Dämonen der Weltverwirrung ihm mit gebundenen Händen überlieferten, so hatte er sich wol gewöhnen müssen, sie zu schonen und ihnen über seine eigene Macht hinaus den Paß zu gewähren, den sie gewinnen wollten für die ganze Welt ... Das übrige Deutschland, selbst im Norden, gehörte schon den Jesuiten ... Der Kirchenfürst war freigegeben ... Der Protestantismus schien alles Ernstes zur Unterwerfung wieder unter Rom durch die Innere Mission und die Wiederaufnahme der Romantik vorbereitet zu werden ...

Das Wunderlichste war der Contrast, in welchem die Rücksichten der Geselligkeit zu den Zerwürfnissen in der Rucca'schen Familie standen ... Selbst wenn Ceccone keine Fremden zu bewirthen hatte, keine Prälaten aus der Provinz, keine Gesandten und hohe Reisende, so fehlten doch auf Villa Torresani Ercolano's Freunde nicht, die jeunesse dorée Roms, Aristokraten, deren Leben nur von Liebesabenteuern und den neuesten Moden erfüllt wurde ... Der Baron d'Asselyno und der Marchese de Jonge wurden in alle Geheimnisse derselben eingeweiht ... Niemand verbreitete mehr Geräusch von seinem Dasein, als die jungen Prälaten ... Diese geistlichen Stutzer machten das Glück der Familien zweifelhaft ... Der Eine nahm dabei die Miene eines Tartufe, der Andre die stolze Zuversicht eines künftigen Papstes an ... Ehrgeiz und Selbstgefühl drückte jede ihrer Lebensäußerungen aus ... Einige Jahre hatten sie in der Gefangenschaft der Jesuiten gelebt, die die Studien an sich gerissen haben; dann traten sie in die Welt mit all den Ansprüchen, die schon eine geringe Bildung unter einem Volk voll Ignoranz geben darf ... Sie standen spät des Morgens auf, machten wie Frauen ihre Toiletten, ließen sich stutzerhaft frisiren, schlugen in ihren Listen nach, wo sie seit lange in diesem oder jenem Hause nicht zum Besuch gewesen – Den Tag über rannten sie müßiggängerisch durch Rom und seine Kirchen ... Manche ihrer Liebesabenteuer nahmen sie ernst und führten duftende, oft versificirte Correspondenzen ... Alles das verband sich auf das leichteste mit einer ununterbrochenen Ehrfurcht vor diesem Altar, jenem Crucifix, vor jeder geweihten Stelle, die zu küssen die Sitte verlangte, selbst wenn damit kein besonderer Ablaß verbunden ... Die Religion ist in Rom ein Gesetz der Höflichkeit, wie bei uns das Hutabnehmen und Grüßen vor Hochgestellten oder guten Bekannten ...

Ercolano hatte nach einer heftigen Scene mit seiner Mutter vorgezogen, dem Baron d'Asselyno eine legitime Stellung als Ehrencavalier seiner Gattin zu geben ... Das ist in Italien eine sociale Position wie etwa die jedes Geschäftscompagnons ... Ercolano wollte keinen Bruch. Er war im Stande, außer sich in den Gartenpavillon zu rennen und Benno zu beschwören, »besser« mit seiner Frau zu sein, nachgiebiger, aufmerksamer ... Sie drohte, krank zu werden, wenn Benno Zerstreuung, Abwesenheit, Melancholie verrieth und sie vernachlässigte ...

Zwei Tage vor dem glänzenden Fest in dem Braccio Nuovo des Vatican war eine große Gesellschaft auf Villa Torresani ...

Olympia saß in den Reihen der Geladenen und lebte nur für Benno ... Ihre Augen sogen sich den seinigen mit dem zärtlichsten Verlangen ein ... Die Mutter Ercolano's verließ voll Verdruß darüber sogleich nach Tisch die Villa Torresani ... Herzog Pumpeo eilte ihr nach, um sie zu beruhigen ... Sogar Thiebold wollte folgen ... Er hatte die Absicht, Lucindens Rath zu befolgen und die feindselige Stimmung der alten Fürstin durch ein neues »Opfer seiner Tugend« zu paralysiren ... Lucinde hielt ihn jedoch zurück ... Der Augenblick war nicht günstig; Herzog Pumpeo galt für einen Raufbold ... Sarzana fehlte gleichfalls nicht ... Lucinden führte er zu Tisch ... Sein Benehmen war lebhafter, denn je ... Ausgelassenheit stand ihm aber nicht ... Lucinde mußte sagen: Benno überragt alle ...

Nach der Tafel besuchte die Gesellschaft eine der großartigsten Trümmerstätten, die in jener Gegend das Alterthum zurückgelassen hat, die nahe Villa des Kaisers Hadrian ...

Weitverzweigt ist dieser Riesenbau, den Benno in elegischer Reflexion das Sanssouci jenes alten Kaisers genannt hatte ... Thiebold begann, diesen Gedanken seines Freundes in die entsprechenden Einzelheiten zu zerlegen ... Die Zimmer sah er, wo Kaiser Hadrian nach Tisch den Kaffee trank und junge hoffnungsvolle Dichter und Künstler ermunterte, in ihren Studien fortzufahren ... Hier blies Hadrian die Flöte! sagte er ... Hier lagen seine Lieblingshunde begraben! ... Dort spielte er wahrscheinlich Billard! ... In der That war hier das Leben eines Kaisers jener Universalmonarchie in allen Momenten beisammen ... Raths- und Erholungssaal, Bäder, sogar die Kasernen fehlten nicht, in denen die zur Bewachung commandirten Legionen untergebracht wurden ... Für allzu heiße Tage schien gesorgt durch einen halbunterirdischen, bedeckten Gang, den einst die kostbarsten Mosaikfußböden, die schönsten Frescobilder und eben jene Statuen geziert hatten, die sich jetzt im Braccio Nuovo des Vatican versammelt finden ...

Hier nun war es, wo sich plötzlich die Gesellschaft in den Gängen verirrte und beim Lachen über die Vergleichungen des Marchese de Jonge, der eine ganz neue Art von Alterthumskunde lehrte, auseinander kam ...

In einem Seitenraum dieser Gänge blieb Benno mit Olympia allein zurück ... Thiebold's Stimme klang in weiter Ferne; kein Fußtritt wurde mehr hörbar ... Der Augenblick, den Benno immer noch verstanden hatte, nur flüchtig andauern zu lassen, der entscheidende, den seine eigene Selbstbeherrschung immer noch vermieden, Thiebold's List durchkreuzt hatte, schien gekommen ... Jetzt, wo es vielleicht nur noch acht Tage währte, daß die siegreiche oder gescheiterte Unternehmung der Gebrüder Bandiera dieser falschen Position des Herzens und der Gesinnung ein Ende machte ...

Olympia hielt Benno zurück und sagte mit einer einzigen Geberde, die einem Strom begeisterter Worte glich:

Wir – sind – allein! ...

Und ihr Flammenblick schien diese Trümmerwelt neu zu beleben ... Die verwitterten Moose und Schnecken an den feuchten Wänden verschwanden ... Die hier und da noch erkennbaren Farben der alten Wandgemälde glühten zu Bildern der Mythenwelt auf ... Amor und Psyche, Venus und Adonis schwebten ringsum ... Selbst der Fußboden wurde belebt zum kunstvollsten Mosaik ... Wohl konnten der beglückten Phantasie noch die goldenen Armsessel stehen, vor denen die schöngefleckten Felle der Leoparden und Tiger gebreitet lagen ...

Benno mußte seinen Arm um die luftige Gestalt winden, mußte ihre Linke, eine Kinderhand, weich wie Flaum, an sich ziehen und küssen ... Die junge Frau blickte zu ihm auf mit jenem Ausdruck der Liebe, der in der That ihre Züge verschönte ... Ihr Mund zitterte; ihre Augen waren von einem so hellen Glanz, als spiegelten sich die Bilder, die sie aufnahmen, in einer reinen Seele ... Mit weicher zitternder Stimme, die ihre Worte wie aus einem der Welt ganz an ihr fremden Register der Stimme ertönen ließ, hauchte sie:

Ja, ich sollte dich hassen, du Treuloser! ... Wüßtest du – was ich alles um dich gelitten – um dich für Thorheiten beging ... Rom, die Welt hätt' ich zerstören mögen und am meisten mich selbst ...

Benno hatte schon Tausenderlei zu seiner Entschuldigung gesagt ... Auch wollte sie jetzt nichts mehr vom Vergangenen hören ... Ihre Lippen wollten gar keine Worte ... Sie verlangten nur die Berührung der seinigen ... Die blendend weißen Zahnreihen blieben wie einer Erstarrten geöffnet stehen ... Liebe verklärte jede Fiber ihres Körpers, wurde das Athmen der Brust, das ersterbende Wort ihres Mundes – Das Geheimniß der Welt Liebe, Religion Liebe, Leben Liebe ... Sie senkte die langen Wimpern über die im träumerischen Vergessen verschwimmenden, ihren Stern ganz innenwärts und hoch hinauf einziehenden Augen ...

Leicht lag sie ihm im Arm wie eine Feder ...

Benno, kaum noch seiner Sinne mächtig, zuckte absichtlich wie über eine Störung ...

Da die Fürstin nur in den Bewegungen des Geliebten lebte, machte sie die gleiche Geberde ... Jeder Zug der Schönheit verschwand auf eine Secunde ... Das Ohr spitzte sich ... Das Auge blickte groß und starr ...

Alles blieb aber still ... Nur über die feuchten Mauertrümmer sickerte draußen ein Wässerchen ... Und im Nu, wie von unsichtbarer Musik regiert, verwandelten sich ihre Züge zur seligsten Harmonie ... Ihr Sein war nur Eine Hingebung, Eine Hoffnung ... Die zartesten Sylphenglieder schwebten in Benno's Armen ... Er hätte sie emporschleudern können; wie ein Kind würde sie sich um seinen Nacken mit den Armen festgehalten haben ... Auf diesen ihren entblößten Armen schimmerte ein großmächtiges goldenes Armband – eine einzige Spange nur, von unverhältnißmäßiger Größe ... Das Gold blitzte in Benno's Augen ... Er küßte den Arm um dieses goldenen Glanzes willen, der wie ein Zauber auf ihn wirkte ... Seine Knie wankten ... Erst jetzt war er in gleicher Höhe mit ihr ... Er verlor die Besinnung ...

Olympia war es, die sein glühendes Antlitz mit Küssen bedeckte ... Sie nannte ihn Verräther! Treuloser! Geliebter! ... Sie versicherte, ihn nicht mehr lassen zu können, ihn bis in den Tod lieben zu müssen – ... Benno! sagte sie dann, fast die Buchstaben zählend, und nichts mehr anderes sprach sie ...

Aber dennoch will das Glück seinen vollen Ausdruck haben ...

Diese Statuen, die hier einst standen, rief sie endlich, kann ich nicht mehr anrufen, Zeugen unserer Liebe und Hörer unserer Schwüre zu sein ... Vernimm, mein Freund! Im Braccio Nuovo bin ich auf dem Fest des Heiligen Vaters! Ich bin nur allein dort! Nur bis elf Uhr darf im Vatican der Fuß eines Weibes verweilen! Die Männer werden sich so zeitig nicht von dem Bacchanal Sr. Heiligkeit trennen wollen! Geliebter, mein Auge sieht dich auf dem Fest in allem, was die Statuen Schönes bieten ... Antinous, Apollo bist nur du ... Das genügt – gehe du selbst nicht auf dies Fest! ... Sei aber um die elfte Stunde an Villa Rucca, wo ich – übernachten will ... Dort, an der Stelle, wo Pasqualetto Lucinden und die Herzogin entführen wollte, ist ein leicht zu gewinnender Eingang in die Villa ... Ersteige die Mauer! ... Du kennst die Stelle an der Veranda ... Dorthin begeb' ich mich, wenn ich vom Fest zurückgekommen bin ... Ich werde vorschützen, im Garten noch frische Luft schöpfen zu wollen und find' ich dann dich – so bleibst du in meinen Armen – ... Schwöre mir's, daß du kommst! ... Zwei Nächte noch – Schwöre! ...

So lag einst Armgart an Benno's Brust – Sie »das Vögelchen« in seiner Hand, wie er sie damals genannt ... Die Genien senkten die Fackeln ... Keine Störung, keine Hülfe ... Feuer loderte durch Benno's Adern; die Berührung hatte die Glieder seines Körpers mit elektrischen Strömen erfüllt ... Auf der Lippe brannte ihm der Ausruf: Ich komme! ... Nur ihre Lippen hinderten ihn, ihn wirklich auszusprechen ...

Da zuckte sie aber plötzlich selbst auf ... Diesmal war es nicht der sickernde Tropfenfall am moosbewachsenen Gestein, es war der Fuß eines eilend Daherschreitenden ... Ich komme! war noch nicht gesprochen ... Die Fürstin nahm sein Ja! aus seinen Augen, von seinen Lippen ... Die Störung verdroß sie nicht mehr ... Das junge Paar fuhr auseinander und gab sich die Miene, als wär' es hier nur aufgehalten worden von einer gleichgültigen Absicht ... Benno ließ die Fürstin frei, trat seitwärts, suchte etwas Blinkendes unter den Steintrümmern an der Bogenlichtung des Gemäuers ... Die Fürstin that, als wartete sie nur auf ihn, um weiter vorwärts zu schreiten ...

Der Zeuge, der sie überraschte, war Lucinde ...

Da ihr Antlitz glühte, so war sie rasch gegangen ...

Als sie sah, daß sie das Paar zu stören fürchten mußte, kam sie wie auf einer harmlosen Promenade und that, als suchte auch sie nur, selbst eine Verirrte, auf diesem Weg zur übrigen Gesellschaft zurückzukommen ... Sie leuchtete im festlichen Glanz ... Ein leichter Sommerhut mit kleinen Federn schwebte lose auf ihrem gescheitelten Haar ... Ueber dem hellfarbigen seidenen Kleid trug sie einen großen breitgewebten Shwal von phantastisch bunten, grünen, rothen und gelben Querstreifen ... Indem sie scheinbar ruhig die Hände übereinander legte, schlugen die beiden Flügel dieses Shawls zusammen und machten den Eindruck einer Erscheinung aus der Zigeuner- oder Zauberwelt ...

Sie wollte Olympien nicht erzürnen, vermied auch die leiseste Spur eines Lächelns und sagte nur athemlos:

Ich suchte Sie, Herr von Asselyn ... Ich bekam eben vom Cardinal, der sich empfohlen hat, Mittheilungen, die nicht gut sind – ...

Worüber? fragte Olympia ohne allen Verdruß ... Sie bot Benno den Arm, um weiter zu wandeln ...

In der Ferne hörte man die Annäherung der Gesellschaft ...

Lucinde beherrschte ihre Erregung ... Konnte sie doch diesen Augenblick der Leidenschaft Olympiens für Benno zu irgendeinem Vortheil benutzen ...

Ich höre, sagte sie, daß die Gefahren Ihres Vetters, des Bischofs, immer drohender heraufziehen ... In der That ist er förmlich nach Rom beordert und befohlen worden ...

Was kann ihm geschehen? fragte Olympia, sich an Benno's Arm pressend ...

Benno wiederholte, wie mit Beschämung:

Der Bischof von Robillante ist nach Rom beordert worden? ...

Ich kann nicht sagen, fuhr Lucinde fort, ob wegen Prüfung des Magnetismus von der Pönitentiarie oder wegen der Dominicaner und seiner Vorwürfe gegen die Gerechtsame der Inquisition ...

Der Bischof von Robillante? sagte Olympia leicht und obenhin ... Was thut das ihm und uns! ... Tod seinen Feinden! ... Fefelotti soll ihm sein eigenes Erzbisthum abtreten müssen! ... Das will ich! Ich! Ich! Der Hut des Cardinals soll ihn für jede Kränkung entschädigen ... Das will ich! Ich schütze ihn – und seine Freunde ...

Sie blickte voll Zärtlichkeit auf Benno ...

Lucinde hielt ein Papier in Händen, das sie halb in ihrer Brust verborgen getragen und zaghaft halb hervorgezogen hatte ... Es war ein in lateinischer Sprache gedruckter kleiner Zettel ... Die an alle Cardinäle vertheilte Anfrage des Domkapitels von Witoborn über den Magnetismus! erklärte Lucinde, als Olympia dies Papier ihr abgenommen hatte ...

Benno nahm das Blatt, versprach, es Bonaventura zu senden und fragte, ob es nicht möglich wäre, den Freund zu einer nur schriftlichen Vertheidigung zu veranlassen ...

Nein! Nein! Er soll persönlich kommen! sagte Olympia ... Er soll seine neuen Würden selbst mit nach Hause tragen! ... Ein Asselyn! ... Ein Kampf? ... Divertimento! ... Wer sind seine Gegner? ...

Nach einem Augenblick des Nachdenkens sagte sie lachend:

Ha, ich besinne mich, die Dominicaner! ... Wohlan, reisen wir selbst nach Porto d'Ascoli, um den deutschen Mönch und den Pilger zu suchen! ... Ich weiß, worauf hier alles ankommt ...

Olympia kannte die geheimnißvollen Umstände, unter denen Pasqualetto nach Rom gekommen war ... Sie kannte das Interesse, das ihr Schwiegervater an jenem Vermittler dieses Wagnisses, an dem Pilger von Loretto hatte ... Sie kannte die Botschaft, die der deutsche Mönch Hubertus übernommen; kannte die mannichfachen Deutungen, die man jetzt dem spurlosen Verschwinden sowol des Suchenden als des zu Findenden geben wollte ...

Mein Oheim soll alle seine Zweifel lösen! fuhr die Fürstin fort ... Noch ist, denk' ich, Cardinal Ceccone, was er war ... Man sagt, eine Revolution ist im Anzuge ... Nun wohl! Sie wird mit dem Schaffot endigen! Wer will uns hindern, die Gesetze zu handhaben! ... Ich danke Ihnen, Signora, für Ihre Theilnahme zum Besten der Asselyns ... Niemand soll diesem Heiligsten der Priester, der unter meinem Schutze steht, ein Haar krümmen ... Nicht das erste mal, daß ich von den Fußzehen des Heiligen Vaters nicht früher aufgestanden bin, bis ich nicht die Gewährung meiner Bitten erhielt – und – die Zahl der Knienden nach mir war – nicht klein ...

Das alles, mit dem Ton des größten Uebermuthes gesprochen, klang wie beruhigende Musik ... Lucinde fühlte ganz die Erquickung, die diese Worte gaben ... Auch Benno stellte sich, sie zu fühlen ... Olympia weidete sich an den Wirkungen ihrer Macht ...

Schon war inzwischen der nachgebliebene Rest der Gesellschaft sichtbar geworden ... Graf Sarzana kam fast schmollend auf Lucinde zu und erklärte, sie überall gesucht zu haben ... Er bot ihr den Arm und entführte sie fast wie mit Eifersucht ...

Thiebold bildete den Mittelpunkt der Lustwandelnden ... Er war in einem nationalökonomischen Streit mit dem alten Rucca begriffen und zeigte sich nicht im mindesten befangen, als »Marchese« seine Kenntnisse der Holzcultur zu verrathen ... Sah er doch auch nach allen Seiten hin diesen römischen Adel mit Speculationen beschäftigt ... Einige der nähern Verwandten Ercolano's, die die Nacht über auf Villa Torresani bleiben wollten, glichen vollkommen den Zickeles und den Fulds ...

An ein ungestörtes Alleinsein für den Ablauf des Tags mit Olympien war für Benno glücklicherweise nicht mehr zu denken ... Der unheimliche, Benno zuweilen mit zweideutigem Blick fixirende Sarzana war zwar mit Lucinden auf Villa Tibur gefahren, andere fuhren nach Rom, die Nachbarn zerstreuten sich in ihre Villen, aber genug blieben zurück, die Olympien in Anspruch nahmen ... Genug, die auch unbefangen darüber plaudern konnten, daß Donna Lucinda und Graf Sarzana sicher in kurzer Zeit durch das Band der Ehe verknüpft sein würden ... Schon im Herbst würden sie das kleine Palais bei Piazza Sciarra beziehen, hieß es ... Olympia hörte wenig darauf – Sie ließ allen ihr Glück; hatte sie doch ihr eigenes ... Jeder Blick aus ihren Augen verwies auf die elfte Stunde nach – noch zwei Sonnenuntergängen ... Für Benno – die ausgelöschten Fackeln seines Lebens, denen eine ewige Nacht folgen mußte ...

Einen Punkt in sich zu wissen, wo es nicht hell und rein im Gemüth ist, wird dem edeln Sinn zum tiefsten Schmerz ... Jeder unbelauschte Gedanke fällt dann in ein Grübeln zurück: Wie kannst du diesen Flecken von dir tilgen! Wie kannst du Ruhe und Zufriedenheit mit dir selbst gewinnen! ... Jünglinge, Männer können zuweilen in die Lage kommen, an Frauen Empfindungen zu verströmen, die nur formelle Erwiderungen ohne wahre Betheiligung des Herzens sind ... Irgendeine Schonung fremder Schwäche galt es da, irgend ein mildes Entgegenkommen gegen einen Wahn, der sich so schnell, wie wol die Wahrheitsliebe mochte, nicht im verirrten Frauengemüth heilen ließ ... Verstrickt dann zu sein in die Folgen solcher Unwahrheit, die sich das Herz, um seiner thörichten Schwäche willen, vorwerfen muß, leiden zu müssen um etwas, was man so gar nicht empfunden, so gar nicht gewollt hatte, das sind Qualen der Seele, die an ihr brennen können wie das Kleid des Nessus ...

Nach dieser Scene in den dunkeln Gängen der Villa Hadriani saß Benno am Whisttisch bei den geöffneten Fenstern des schönen Gesellschaftssaals der Villa Torresani ... Da gab es einen Seitenflügel, dessen Zimmer ganz zur nächtlichen Herberge der Verwandten und Gäste bestimmt waren ... So saß im Saal bis zur neunten, zehnten Stunde noch eine große Gesellschaft beisammen ... Die milden Düfte der Orangenbäume zogen in die Fenster ein ... Phalänen mit durchsichtigen Flügeln schwirrten um die Glasglocken zweier hoher bronzener Lampen, die, aus dem Boden zwischen den Säulen sich erhebend, hier einen Atlas vorstellten, der die Weltkugel trägt, dort eine schwebende Eos, die zwei Leuchtgläser auf ihren Fingerspitzen balancirt ... Auf schwellenden Ottomanen rings an den Wänden des Saals entlang streckten sich die ermüdeten Schönen, die halbschlafend sich keinen Zwang mehr anlegten ... Andere schlürften Sorbet und wehten sich mit ihren Fächern Kühlung, hingegossen an den offenen Fenstern auf niedrigen Sesseln, die kaum einen Fuß hoch über dem Marmorboden sich erhoben ... Weich und lind zog die Nachtluft herein ... Bis in die Fenster wuchsen die üppigen Beete ausgewählter Pflanzen mit ihren seltsam gestalteten Blütenkelchen, an sich schon Symbolen der Freiheit der Natur, Symbolen des allbindenden alles entfesselnden Liebestriebs – wer kann Blüten von Orchideen, Lilien, Nymphäen, Gardenien sehen, ohne an die Mysterien des Lebens erinnert zu werden ... Ein fernes leises Rauschen konnte vom Sturz des Anio kommen – es konnte auch der Sang der Cicaden sein ...

Trenta due! schnarrten die Methusalems der Rucca-Familie beim Spiel ... Der Alte selbst war bei seinem Sohn geblieben und nicht nach Villa Tibur gefahren, wo er überhaupt nur selten verweilte, weil er dort morgens nicht zum Auszanken all seine Arbeiter beisammen hatte ... Aber auch diese genossen abendlich ihren Lebenstraum ... Einige sangen in schmelzenden Tenortönen: »Amore re del mondo!« ... Andere spielten bei Laternenschimmer die Morra – leidenschaftlich und wild und wie alles in Italien gleich auf Leben und Tod ...

Felicissima notte! ... sprach endlich gegen halb elf Uhr Olympia zu Benno, als sie von des schon halb schlafwandelnden Ercolano Arm entführt wurde ...

Es klang wie der letzte Gruß – einer Braut vor dem Hochzeitstage ...

Gegen Thiebold konnte sich Benno nicht mehr aussprechen ... Die Lose waren zu ernst, zu furchtbar bestimmend gefallen ...

Thiebold sprang dem zum Pavillon Vorauseilenden von der Gesellschaft angeregt und lachend nach ...

Benno erzählte, als sie durch den Garten huschten, von Bonaventura's Gefahr, von seiner Berufung vor ein geistliches Gericht, vom Stab, der für immer über Paula's Seelenleben gebrochen wurde ...

Thiebold fand sich aus seinen römischen Verwickelungen mit Schwierigkeit in die eigentliche Aufgabe der Freunde zurück ...

Die aus Thiebold's Vaterstadt gekommene, an sich wohlwollende, die Anschuldigungen der Frau von Sicking und des Cajetan Rother sogar zurückweisende Anfrage enthielt Stellen, die in deutscher Uebertragung lauteten: Dieser Anfrage wörtlich entlehnt.

»Ist die Person, über welche die Manetisirte gefragt wird, abwesend, so ist dazu eine Haarlocke von deren Haupte vollkommen hinreichend. Sobald die Haarlocke in ihrer Handfläche ruht, sieht sie schlafend und mit geschlossenen Augen, wo diese Person verweilt und was sie thut« ...

Eine Haarlocke! ... sprach Benno ...

Schon ergrauten des theuern Freundes Locken ...

Und seine eigenen –? ...

Er sah den Aschenbecher Armgart's ... Gedachte des Abschieds – des Briefwechsels durch – »ausgetauschtes Blut« ...

Thiebold verstand Benno's heute so düsteres Leid nur aus Bonaventura's Gefahr und vertröstete, übermüdet von den Huldigungen, die seine Galanterie so vielen Contessinen und Principessen dargebracht hatte – und die wiederum auch ihm zu Theil geworden waren, sich entkleidend, mit Olympiens und Ceccone's Schutz ...

»O so wolle«, übersetzte Benno eine andere Stelle, »eine hohe Curie nach deren Weisheit, zur größern Ehre des Allmächtigen, zur größern Wohlfahrt der Seelen, die unser Heiland so theuer erlöst hat, entscheiden, ob alles das eine göttliche oder nur satanische Einwirkung ist« – Gleichfalls.

Benno schleuderte das Papier von sich ...

Die Versicherung Thiebold's, daß Olympia alle schützen würde, konnte wenig nachhaltenden Trost gewähren ...

Thiebold ermunterte zum Ausharren ...

Mit größter Spannung sprach er von dem Fest im Braccio Nuovo, auf das er sich nicht nur in der Toilette, sondern auch mit einem Handbuch der Antiquitäten gründlich vorbereiten wollte ...

Am folgenden Morgen – wieder ein Brief der Mutter und – unter dem mit verstellter Handschrift geschriebenen Couvert, wieder die kurze Anzeige, daß sich Advocat Clemente Bertinazzi aufs neue nach Signore d'Asselyno hätte erkundigen lassen ...

Benno kleidete sich rasch an, ließ im Stall des Fürsten ein ihm immer zu Gebot gestelltes Roß satteln, verbarg sich vor jedermann, selbst vor Thiebold, und sprengte sofort und in höchster Eile nach Rom.

9.

Unterweges hatte Benno ein Misgeschick mit seinem Pferde ... Er mußte dem Thier, das sich den Fuß verstauchte, mitten auf der Heide, in einer Schäferhütte der Campagna, einige Stunden Ruhe gönnen ...

So war es schon spät Nachmittag, fast Abend geworden, als er in Rom ankam ...

Er mußte sogleich das kranke Pferd in Palazzo Rucca den Leuten des alten Fürsten übergeben ...

Dann eilte er in seine Wohnung ...

Sein Zustand war der der Verzweiflung ... Für morgen erwartete ihn die junge Fürstin auf Villa Rucca ... Zu gleicher Zeit mahnten ihn die Freunde der Gebrüder Bandiera ... Nicht umsonst war er in die Kreise der Revolution getreten ... Unsichtbare Geister nicht nur, nicht nur die Stimmen seines Innern, sondern wirkliche Personen, die ihn beobachteten, ihn vielleicht richteten, verlangten eine Entscheidung ....

Todt blickte ihn die »Stadt der Städte« an ... Nur Opfer des geistigen Despotismus sah er überall ... Jeder Abbate, der an ihm vorüberhuschte, lächelte ihm wie mit geheimem Hohn ... Die Menschen gingen und kamen so gedankenlos und leer ... Die Trümmer des Alterthums waren ihm mehr denn je nur Gräberstätten – und was war – die lebendige Gegenwart? Aus Gebetbüchern an den Schaufenstern der Buchläden sprach sie ...

Es war fast Abend ... Er fürchtete sich, zur Mutter zu gehen ... Die Scham, eingestehen zu müssen, wie weit er mit Olympien gekommen, hielt ihn zurück ... Aber dennoch, dennoch mußte er nach einer Trennung von mehreren Tagen sie begrüßen, mußte um die auffallenden Mahnungen Bertinazzi's nähere Erkundigungen einziehen ...

Er nahm ein leichtes Mahl in der Nähe des Corso ...

Im Winter besuchte er, um den Kaffee zu trinken, öfters das Café Greco ... Sonst setzte er sich gern zu den deutschen Malern, die im Café Greco hausen ... Aber auch hier war es ihm jetzt nur unheimlich geworden ... Die Monotonie klappernder Dominosteine, das Rascheln der Tassen auf den schmuzigen Marmorplatten der Tische, die rauhen Kellnerstimmen, die in den lächerlichsten Tonschwingungen Erfrischungen, die aus der Küche herausgebracht werden sollen, ausschreien, die phantastisch aufgeputzten Bettler an der Schwelle, die sich als Modelle vermiethen zu jener unwahren Welt, die die Romantik der Maler noch immer in ihren Ateliers mit südlichen Staffagen gruppirt, während Italien diese Trachten und Sitten naturwüchsig nur noch an wenig Stellen bewahrt hat – vollends die Künstler selbst konnte Benno schon lange nicht mehr sehen, ohne auch sie der Fortpflanzung jener lügenhaften Zauber anzuklagen, mit denen Rom die Welt gefangen hält ... Die Akademie sage ihnen schon, was sie allein hier finden sollten ... Selten, daß sich eine Urkraft gegen die Tradition erhöbe und von Rom nicht blos Lehren, sondern auch Warnungen mitnähme ... »Eine phrasenhafte Welt, in die ich alle diese Künstler verstrickt gefunden habe! Klingsohr – das wäre ihr Mann! Klingsohr müßte auch hier mit der Cigarre sitzen und orakeln!« ...

Benno begab sich, da er auf den Monte Pincio wollte, in ein Café am Spanischen Platz ... Da konnte er eine deutsche Buchhandlung übersehen, besucht von ab- und zukommenden Geistlichen, die sich nur Schriften kauften, die in Wien, München, Regensburg, Münster und Köln erscheinen ... Er sah die augsburger »Allgemeine Zeitung«, auf die ihn der Staatskanzler angewiesen hatte ... Er fand in allem Deutschen nur noch die Spuren Klingsohr's ... Es war ihm jener fortgesetzte Vatermord, dessen dieser sich fast in Wirklichkeit schuldig gemacht hatte ... Er sah in Deutschland überall vom hohen Roß der gelehrten doctrinären Anmaßung die grünen Saaten der Neubildungen im Geistesleben der Völker zertreten und was gab den geheimen Druck der Sporen? Das egoistische Interesse der Fürsten, des Adels, der Geistlichkeit ... Die Bewegung um den »Trierschen Rock« hatte immer mehr um sich gegriffen ... Die »Allgemeine Zeitung« verrieth ihm, wie selbst nach Witoborn die Bewegung hinüberzuckte ... Er dachte an Monika, Ulrich von Hülleshoven, Hedemann ... An Gräfin Erdmuthe und – ihre apokalyptischen Bilder über Rom ...

Es gibt Naturen, die vom Zweifel und einer Weltauffassung der Ironie in überraschender Plötzlichkeit zu einer Leidenschaft überspringen können, die an ihnen völlig unvermittelt erscheint ... Es gibt Naturen, die jede Voraussetzung, die sogar nur von ihrer Besonnenheit gehegt werden durfte, plötzlich durch die thörichtsten Handlungen Lügen strafen ...

Die Umstände hatten Benno aus der Bahn des heimatlichen Lebens und Denkens hinausgeworfen ...

Jene Courierreise, von den Umständen so harmlos geboten, gab ihm den Anstoß zu einer immer mehr um sich greifenden Revolution seines Innern ... Auf dem Capitol beim Gesandten seines engern Vaterlandes war er deshalb vorm Jahr kalt empfangen worden ... Aber auch auf dem Venetianer Platz beim Gesandten Oesterreichs, wo er ausgezeichnet worden, erwartete man vergebens seine Wiederkunft ... Durch ein zufälliges Begegniß, durch einen Antheil seines Herzens, genährt durch die Erinnerung an seine Mutter, genährt durch die Mahnung, daß römisches Blut in seinen Adern floß, hatte er sich den hervorragenden Erscheinungen des »Jungen Italien« genähert – ... Schon hatte man ihm mehr Vertrauen geschenkt, als er begehrte und als vielleicht von andern gutgeheißen wurde ... Und dennoch lebte er in vertraulichster Beziehung zu Menschen, die er haßte und die er aus Grund der Seele hätte meiden sollen ... Diese Gegensätze unterwühlten seine Ruhe, brachen seinen Muth ... Auf seinem Antlitz fühlte er eine brennende Maske, ein Mal der Scham ... Sein Glaubensbekenntniß des Sichergebenmüssens in Lagen, in die uns die Laune des Zufalls gestellt hätte, war dahin ... Nimm Partei! riefen ihm geheimnißvolle innere Stimmen schon seit jener Stunde, als sich ihm die Mutter in Wien in der ganzen Einseitigkeit ihrer Nationalität offenbart hatte ... Als er dann Italien selbst gesehen, als er auch Bonaventura in so wunderbarer Schnelligkeit auf den gleichen Boden verpflanzt gefunden, da führten die gemeinschaftlichen Anschauungen, die übereinstimmenden Ergebnisse des Nachdenkens beide auf die feste Ueberzeugung, daß nur in Italien und vorzugsweise aus der römischen Frage heraus die Entscheidung der weltgeschichtlichen Schicksale Europas zu suchen wäre ...

»Die Zeit deiner großen Revolutionen«, hatte Benno noch vor kurzem an den Onkel Dechanten geschrieben, »ist näher, als Du in Deinem friedlichen Asyle ahnst! ... Die Frage, um die sich Beda Hunnius so erhitzt, die Frage eines Bruchs der deutschen Kirche mit Rom ist nur ein Symptom ... Rom und die große Sache der Geistesfreiheit können zu ihrem Abschluß nur durch die politischen Schicksale Italiens kommen ... Wird der Schemel der irdischen Macht dem Stellvertreter Christi unter den Füßen weggerissen, dann kann ihm nichts mehr von seinen alten, auch den geistigen Druck der Welt unterstützenden Machtansprüchen bleiben ... Eine Weile wird er sich noch Patriarch von Rom nennen dürfen; aber jede neue Phase der Geschichte nimmt ihm eine Würde nach der andern ... Damit bricht der Bau der Hierarchie und das schon halbvollendete Werk der Jesuiten zusammen« ...

Ob auch der Katholicismus? ...

Benno hatte seinen zwischen Katholicismus und Protestantismus in der Mitte gehenden Standpunkt offen dargelegt ... Er hatte dem Onkel geschrieben:

»Ich glaube nicht an die propagandistische Kraft des protestantischen Geistes; ich zweifle sogar an dem entscheidenden Ausschlag, den die Völker der germanischen Zunge überhaupt noch der Geschichte geben ... Das germanische Mutterland ist in zwei Hälften gespalten: Oesterreich hat die Gedankengänge der romanischen Welt angenommen; Preußen hat die kühne Neugestaltung Friedrich's des Großen nicht zu verfolgen gewagt ... Die germanische Welt wäre nur insofern kraftvoll, als ausschließlich mit ihr der Protestantismus geht ... Eine durch Oesterreich vertretene germanische Welt ist keine oder der Name Deutschland wird zum Schrecken jeder Nation, die ihre Freiheit anstrebt ... Nun aber lieb' ich Deutschland, liebe seine Bildung, anerkenne seinen Beruf ... So seh' ich keine Hülfe, die ihm geboten werden kann, als den Untergang Roms, die Zertrümmerung derjenigen Bestandtheile der katholischen Kirche, die uns Katholiken von einer engern Gemeinschaft mit den Protestanten trennen ... Ein gestürztes Papstthum wird Deutschland einigen; ein frei gewordenes Italien wird Oesterreich erinnern, wo Kaiser Joseph die Kraft des Kaiserstaates suchte – in einer Fortsetzung des Fridericianischen Zeitalters der Preußen ... Gibt es einen Katholicismus ohne den Papst? ... Das ist die große Frage der Befreiung der Gewissen ... Und wird sie in dem Sinne beantwortet, daß Rom aufhört, die Metropole der katholischen Kirche zu sein, was kann, das ist die zweite Frage, von ihrem Leben zurückbleiben, um die Schranken zwischen ihr und den Protestanten niederzureißen? ... Bonaventura will die Bibel und eine geläuterte Messe ... Es sind seine täglichen Gedanken – sie erfüllen ihn ganz ... Ich selbst besitze zu wenig das Bedürfniß des – Cultus, um darüber ein Urtheil zu haben« ...

Benno fand die Mutter nicht daheim ... Marco, der ihn bei jedem Besuch mit größerm Befremden musterte, versicherte, er würde sie beim Kloster der »Lebendigbegrabenen« oder vielleicht jenseits der Tiber finden ... Sie hätte Sancta Cäcilia, der heiligen Sangesmuse, ihrer alten Schutzpatronin, »der sie so vieles Gute dankte«, ihre Verehrung bezeugen wollen ... Von bedenklichen Vorfällen meldete Marco nichts ... Der Advocat Bertinazzi hatte in der That zweimal anfragen lassen ...

Was ist Religion! sagte sich Benno – als er sich auf den Weg machte zu den »Lebendigbegrabenen« ... Bei ihnen war heute die Mumie ausgestellt ... Die Menschen standen noch bis auf die Straße hinaus und jeder hatte dem gläsernen Kasten ein Leiden vorzutragen ... Starr hing das braune Schreckbild der Eusebia Recanati an seinen goldenen Klammern ... Die Menschen berührten den Glasschrank und erwarteten Hülfe ... Selbst aus der Zahl der Falten ihrer Kleider suchten sie sich die Nummern – die sie für die nächste Tombola setzen wollten! ... Die Masse ist unverbesserlich! sagte sich Benno ... Die Eingeweide der Vögel oder die Gewänder einer Mumie – gleichviel! Auch in der protestantischen Kirche läßt die Hebamme unter dem Kissen des Täuflings die Nabelschnur der Gebärerin mittaufen –! ... Nur auf die Vertheilung der Herrschaft kommt es an, nur darauf, was im Gesetz den Vorzug hat, die Vernunft oder die getaufte Nabelschnur – Alles andere macht die Strömung der Luft, der Wind, das ansteckende Beispiel – Ohne den Widerstand der Priester und der Doctrinäre könnte der Deutschkatholicismus sogar den Rationalismus zu einer Art von Mystik erheben, deren die Menschheit nicht scheint entbehren zu können ...

Weder vor der Kirche, noch im Kloster bei Olympiens Mutter fand sich die Herzogin ... Equipagen gab es genug; keine mit dem Wappen des Marquis Don Albufera de Heñares, Herzogs von Amarillas, ein Wappen, das der Miethkutscher auf seine Wägen zu setzen gestattet hatte ... Benno wollte nach Sancta Cäcilia, zu welcher Kirche gleichfalls ein Kloster gehörte ...

Es war nun in den Straßen dunkel geworden, obgleich die Abendröthe noch schimmerte ... Das Volksgewühl begann in dieser Gegend wie täglich bei Untergang der Sonne ... Da wogten die Menschen durcheinander, da erscholl jener Lärm des Südens – um ein Nichts, um ein Paar alte Schuhe, um Schwefelfaden, um etwas Wasser mit einem Stückchen Eis ... Immer glaubt man, ein Kauffahrteischiff wäre eben angekommen und lüde die Schätze beider Indien aus ... Schon dampften Maccaroni in den auf offener Straße errichteten Küchen ... Fische wurden gesotten in Pfannen, über die – wende dich ab, deutscher Geschmack! – der aufgekrämpte rothnackte Arm der Volksköchin die Oelflasche gießt ... So mancher Arbeiter hält jetzt erst sein Mittagsmahl auf Piazza Navona ... Die Fleischerbuden bieten noch feil ... Seltsam geformt und fast an die alten Arenen erinnernd sind die zertheilten Stücke, an denen die Knochen mehr als bei uns zurückbleiben ... »Unsere Sitten das und unsere Sitten sind gut!« – liegt auf den Mienen dieser schreienden, singenden, schmausenden – dann auch dazwischen wieder betenden Welt – ... Die Thüren der erleuchteten Kirche Santa Agnese stehen weit offen ... Auf ihren Stufen im herausströmenden Weihrauchduft lagert sich in bequemster Behaglichkeit das südliche Abendleben ...

Vorüber am Pasquino – am Palazzo Rucca – am Ufficio delle SS. Reliquie e dei Catacombe, wo Cardinal Ambrosi wohnt ...

Benno stand schon zu mehreren malen an dem grauen spanischen Gebäude mit den vergitterten Fenstern ... Er dachte: Da hinten im düstern Hofe wohnt ein Mensch, der ein Geheimniß ist! ... Bonaventura erfuhr sein Leben von mir ... Er floh vor einem Sektirer – hatte die Mutter erzählt ... Und doch soll er mit Fra Federigo im Einverständniß leben? ...

So bilden sich die Sagen, so verknüpft der Volksglaube ... Das Volk kann das Seltene sich nicht denken ohne unmittelbare Beziehung zu Gott; das Edle kann ihm nie ohne Wunder sein; zwei große Men schen können ihm nicht ohne das Band des Einverständnisses leben – ... Dieser einfache, ascetische Mönch erhielt eine Geschichte, von der er schwerlich selbst eine Ahnung hatte ... Benno mußte auf den Beistand auch dieses Cardinals rechnen, wenn Bonaventura in Rom erscheinen sollte ... Eine Regung der Dankbarkeit für Fra Federigo ließ sich bei ihm voraussetzen ...

Und Fra Federigo selbst! ... Benno's eigene Erinnerungen trugen von Friedrich von Asselyn kein Bild ... Nur aus Bonaventura's Charakter, nur aus dem Bestreben seines Vaters, für die Welt seinem Weibe zu Liebe ein Gestorbener sein zu wollen, konnte er sich die Züge erklären, die allgemein von jenem Einsiedler unter dem Laubdach eines waldensischen Eichenhains erzählt wurden ... Von Gräfin Erdmuthe wußte er, daß sie eines Tags vor längern Jahren aus einem waldensischen Gottesdienst zu Fuß nach Hause kam, mit einem ihrer Diener auf dem Heimweg deutsch sprach und darüber von einem Mann angeredet wurde, der hinter ihr her ging, sich als Deutscher zu erkennen gab, auf einer Fußwanderung nach den Seealpen begriffen zu sein erklärte und durch Zufall jener Predigt beigewohnt hatte, die ein Geistlicher gehalten, der keinen katholischen Ornat trug ... Der Fremdling konnte diese fast altlutherischen Sitten des Gottesdienstes nicht unterbringen und ließ sich über die Waldenser von einer Dame unterrichten, in der er mit Ueberraschung einer geborenen Freiin Hardenberg, aus altem norddeutschen Geschlecht, begegnete ... Ihm selbst, sagte er, wären die Gedichte eines Hardenberg (Novalis) von größter Anregung gewesen ... Dann – bei einer Kapelle – zur »besten Maria«, an der sie vorüber mußten – bekannte er sich der über die Anerkennung eines Verwandten freudigerregten Frau zwar als Katholiken, sagte aber: Was hat wol Ihr frühvollendeter Vetter unter jener Maria verstanden, die er zum Anstoß der Seinen so oft besang! Doch wol nur Sophia von Kühn, die er liebte und die ihm starb, noch ehe sie die Seine geworden! So wird unser eigenes Leben zuletzt die lauterste Quelle unserer Religion ... Hardenberg-Novalis sang, fuhr er fort:

»Wenn alle untreu werden,

So bleib' ich dir doch treu –!«

Er sang es in so persönlicher Freundschaft für den Erlöser, daß ich diesem Lied mein Glaubensbekenntniß verdanke ... Die Religion muß für jeden Einzelnen sein eigenes persönliches Verhältniß zu Gott werden und die Kirche soll nur so viel dazu mitthun und mithelfen, wie ein Wächter, der ein Stelldichein der Liebe hütet! Alles andere, jede andere Einmischung in unsere innere Welt ist vom Uebel! ... Die Gräfin, die ihren herrenhutischen Glauben annähernd richtig gedeutet sah, bat den Fremdling, auf Castellungo einige Tage Rast zu halten ... Er zögerte anfangs, folgte aber doch, da er ermüdet und offenbar im Beginn einer Krankheit schien ... Diese überfiel ihn denn auch, als er das stolze Schloß beschritten und die erste freundliche Bewirthung der Gräfin genossen hatte ... Sein überreizter Zustand gab sich sogleich in einem heftigen Strom von Thränen kund, dem ein Fieberfrost und eine lange Nervenkrankheit folgte ... Die Gräfin widmete ihm die größte Sorgfalt und erfüllte zugleich die Bitte, die sich in einzelnen lichten Momenten von seinen fahlen Lippen stahl, daß sie keine Nachforschungen über seinen Namen und seine Herkunft anstellen sollte ... Er hätte keine Verwandte mehr, wollte todt sein und bäte, ihn nicht anders als Friedrich zu nennen – Das Reich des Friedens, sagte er, find' ich nicht mehr auf dieser Erde, ich zöge gern hinüber; mir selbst aber den Tod zu geben, wäre vermessen; unsichtbare Fesseln halten mich auch noch – doch bin ich nicht mehr, was ich war – ich bin ein Todter ... Die Gräfin hatte Benno erzählt, daß der Fremdling damals wenig über vierzig Jahre zählte, eine seltene Bildung besaß und mit den Lehrsätzen seiner Kirche um persönlicher Erlebnisse willen in Spannung schien ... Oft hätte sie ihn für einen flüchtigen Priester gehalten ... In ihn zu drängen und Namen und Stand von ihm zu begehren, widersprach ihrer Sinnesart, ja die Verehrung vor dem »Signor Federigo«, wie ihn sogleich die Schloßbewohner nannten, wuchs bei ihr zu einer so innigen Freundschaft, daß die schon gereifte Frau, damals Witwe, sein Scheiden nur mit größter Betrübniß würde erlebt haben ... Er seinerseits faßte die gleiche Neigung für die edle Dame, deren religiöse Denkweise nicht ganz mit der seinigen übereinstimmte, die aber Verbindungsglieder gemeinschaftlicher Ansichten und Stimmungen bot ... So knüpfte sich zwischen beiden ein seelisches Band, das aus den Erzählungen der Gräfin mehr von Benno geahnt werden konnte, als ihre Worte schilderten ... Sie ließ die jedenfalls auf Friedrich von Asselyn passende Aeußerung fallen, daß der Fremdling die Wappen und Farben ihres Hauses von der ältern Linie her kannte, sie oft mit Rührung betrachtet hätte und selbst wol dem Adel angehörte ... Fast wie aus Furcht vor Begegnungen, die gerade auf diesem Schlosse nicht unmöglich waren, hätte der Fremde sowol den langen Bart, der ihm in seiner Krankheit gewachsen war, nicht entfernen, noch auch auf dem Schlosse selbst länger wohnen mögen ... Unter dem Schutz der Gesetze, die aus aufgeklärtern Zeiten, als die unserigen, stammten und den die Gräfin so muthig wiedererobert hatte, verweilte er eine halbe Meile vom Schlosse entfernt in einem Hause, das er sich im Wald aus Baumstämmen selbst gezimmert hatte ... Die Menschen der Umgegend nannten ihn »Fra Federigo« ... Man rühmte seine Kenntnisse in der Heilkunde, in Sachen des Ackerbaus und der Güterbewirthschaftung ... Er kannte das Recht, die Geschichte, die Lehnsverhältnisse in allen europäischen Gesetzgebungen ... Anfangs ließ er sich nur mit Widerstreben von den Umwohnenden besuchen. Zuletzt, wenn die Gräfin auf längere Zeit nach Wien mußte, war sein Rath allen und ihren eigenen Verwaltern unumgänglich ... Unter seiner Eiche hielt er eine Bienenzucht und nahm in dieser summenden Gesellschaft, zu der noch eine Ziege und ein Hund gehörten, immer mehr die Weise eines Eremiten an, der, geschieden von der Welt, auch sein Aeußeres nicht mehr nach den Gesetzen der Gesellschaft einrichtet ... Briefe empfing er nicht; ebenso las er anfangs keine Zeitungen; später desto theilnehmender, bis er sich, diese Lectüre versagte, nur um nicht den Reiz der Rückkehr in die Welt zu mehren ... An Anfechtungen durch die Geistlichen und Behörden fehlte es nicht ... Seine Anspruchslosigkeit und der Schutz der Gräfin bewahrte ihn vor größern Unbilden ... Bis dann freilich die Jesuiten immer mächtiger und mächtiger wurden und die Eifersucht der Dominicaner reizten ... Hof und Cabinet von Turin kamen in die Hände der Jesuiten ... Nun begannen Verfolgungen, Einkerkerungen ... Bald nach Fefelotti's Erscheinen verschwand plötzlich der inzwischen zum Greise gewordene gütige und allgeliebte Waldbewohner ... Eines Morgens fand man seine Siedelei leer; seine Ziege hatte noch ihr Futter für einige Tage, ebenso sein Hund, der angebunden war ... Als er losgeschnitten wurde, rannte er schnurstracks nach Coni bis in das dortige erzbischöfliche Ordinariat, wo die übrigen Gefangenen saßen ... Dort wurde er festgehalten und eingesperrt ... Als man ihn eines Tags losgerissen fand, behauptete man, ihn in Robillante gesehen zu haben und zwar, wie die Gräfin Benno versicherte, mit eingeklemmtem Schweif, herabhängenden Ohren, trauernd hinter einer düstern und verschlossenen Kutsche herlaufen, die von zwei Gensdarmen begleitet wurde ... Die Kutsche kam aus dem Officium der Dominicaner zu San-Onofrio und fuhr der großen Straße gen Osten zu ... Das Thier, sagte sie, hatte die Witterung seines Herrn und konnte ihm in seiner verschlossenen Kutsche nicht beikommen ... Selbst als man später vom Auftauchen Fra Federigo's bei Loretto und unter den Räubern der Mark Ancona gehört hatte, ließ sich die Gräfin nicht nehmen, daß jene noch an einigen andern Orten auf ihrer geheimnißvollen Fahrt gesehene Kutsche ihren Freund nach Rom abgeführt hätte – eine Ansicht, die niemand mehr als Bonaventura theilte – er, der sie mit einem Schmerz nachfühlte, dem Benno in Gegenwart der Gräfin nur einen unvollkommenen Ausdruck geben konnte ... Benno's Ansicht: Dein Vater erfuhr deine wunderbare Ernennung zum Bischof von Robillante und floh aus eigenem Antrieb vor dir und vor dem möglichen Wiedersehen deiner Mutter und Friedrich's von Wittekind! – ließ Bonaventura in einem Augenblick gelten, im andern trat ihm wieder das Bild der verschlossenen, von Gensdarmen nach Rom geführten Kutsche wie eine Mahnung entgegen, nicht eher zu ruhen und zu rasten bis sein greiser Vater aufgefunden war ...

Benno wurde aufs mächtigste von diesen Räthseln ergriffen beim Hinblick auf San-Pietro in Montorio, wo Bruder Hubertus gewohnt hatte ... Er hatte die Mutter in Trastevere gesucht ... Auch in Santa-Cecilia, bei den Benedictinerinnen, fand er sie nicht ... Nun wollte er einen Miethwagen nehmen und nach Monte Pincio zurückfahren ... Da im allerletzten Abendsonnenstrahl leuchtete so schön und verklärt, San-Pietro in Montorio auf ... Wo konnte er sich bessere Kunde vom Bruder Hubertus holen, als dort oder vielleicht – bei Sebastus in Santa-Maria? ... Letztern zu meiden drängte ihn alles ...

Er erstieg den Hügel, auf dem die Paolinischen Wasserleitungen sich sammeln, klopfte an das Kloster, neben einer Kirche, der einst Raphael seine Transfiguration gemalt ...

Von den beim Nachtimbiß sitzenden Alcantarinern kam einer an das Sprachgitter und sagte auf Benno's Fragen:

Wir wissen von dem deutschen Bruder nur, daß man ihn noch in Ascoli sah ... Die Leiden des Bischofs von Macerata sind im Druck erschienen und Ihr werdet sie gelesen haben ... Seine Befreiung ist dem wunderthätigen Marienbild von Macerata beizuschreiben, das eines Tages spurlos verschwand Thatsache.... Das Volk gerieth in Aufregung und beschuldigte das Kapitel von Macerata, das Bild weggeschlossen zu haben, um auf diese Art die Räuber zu zwingen, den Bischof freizulassen ... In der That bemächtigte sich eine solche Unruhe der Gegend, daß die Genossen des Grizzifalcone Angst bekamen und sich herbeiließen, lieber den Bischof auf freien Fuß zu stellen ... Der Heilige hat viel dulden müssen – das Marienbild ist dann wieder erschienen ... Von Bruder Hubertus, der dem Domkapitel jene Hülfe angerathen hat und so ohne alle Mühe den Bischof rettete, ist seither nichts mehr vernommen worden ... Wir wissen, er hat den Grizzifalcone getödtet in einer Nacht, wo wir ganz andere Dinge von ihm erwarteten ... Ein Tollkopf war's ... Er auch nur allein konnte sich unter Räuber begeben, deren Hauptmann er getödtet hatte ... Auch von dem Pilger wißt Ihr, der dem Grizzifalcone für seine Bekehrung hat alles lesen und schreiben müssen? ... Ein Franciscanerbruder sprach vor einigen Tagen bei uns vor und hat ausgesagt, man hätte den Mönch mit dem Todtenkopf und mit ihm zugleich den Pilger jenseit der Grenze in den Abruzzen gesehen ...

Auf Benno's dringenderes Forschen rief der Pförtner den Guardian ...

Dieser kam und versicherte, beide Verschollene wären auch schon lange nicht mehr in den Abruzzen, sondern in Calabrien, wo sie ein Wallfahrer in dem schluchtenreichen Silaswalde wollte gesehen haben ...

Im Silaswalde! ... An der äußersten Grenze Italiens – Auf den meerumbuchteten Landzungen Neapels schon – in den ältesten Hainen der Welt von Eichen-und Kastanienbäumen – ... Immer weiter und weiter rückte die Beruhigung des aufgeregten und selbst so düster bedrohten Freundes in Robillante ... Würde Benno sich freier bewegt haben, er hätte sich an Ort und Stelle begeben, um nach dem geheimnißvollen Pilger zu forschen ... Die Ungewißheit, der Einfall der Gebrüder Bandiera, die Furcht vor Olympia's Rache, Bangen vor den Mahnungen Bertinazzi's hielten ihn von der Ausführung dieses Vorsatzes ab ...

Benno kämpfte mit sich, ob er die Mutter heute aufgeben und nicht lieber sofort zu Bertinazzi gehen sollte, den er erst morgen in erster Frühe hatte besuchen wollen ...

Die volle Nacht war hereingebrochen, als Benno von San-Pietro niederstieg ...

Die Einsamkeit des Weges beflügelte seinen Schritt ... Schon im zweifelhaften Abendlicht sind die nächste Trümmerhaufen und Gartenmauern Roms unheimlich ...

Er wandte sein Auge vom Anblick der Peterskuppel ab ... Das Bild: Morgen um diese Stunde werden dort die marmornen Bilder des Vatican lebendig! machte ihm das Blut erstarren ... Er kannte diesen Braccio Nuovo ... Hundert lachende Priester sah er in festlichen Gewändern, bei Fackel- und Kerzenschein, durch die mit den Marmorsärgen der ersten Christen geschmückten Corridore schreiten ... Die Statuen der römischen Kaiser wurden lebendig und schlossen sich ihnen an ... Im Saal des Braccio Nuovo schimmerten Bankettische, Vasen voll Blumen, silberne Urnen voll Eis mit dem »Bier der Franzosen«, wie Sarzana gesagt hatte; alles im glänzenden Licht, ausgeströmt von zahllosen Kerzen ... Die Julien, Livien und Agrippinen der Imperatorenzeit kamen mit ihren faltenreichen Gewändern in den Saal und setzten sich zu den Zechenden ... Da thront Ceccone, mit dem Rücken gelehnt an die berühmte Gruppe des Nil ... Sechszehn kleine Genien kugeln sich übermüthig auf dem kolossalen Sinnbild der Ueppigkeit und Fruchtbarkeit ... Der lachende Silen blickt auf den neugeborenen Bacchus dicht neben Bischof Camuzzi ... Fefelotti liebäugelt mit der berühmten Statue des Demosthenes, die soviel zierliche Fältchen wirft; mehr, als ein Redner voll Natürlichkeit seiner Toga erhalten konnte, als er gegen Philipp von Macedonien donnerte ... Nun trommelt die Schweizergarde ... Immer neue Gäste kommen im Purpur vorgefahren und die Medusenhäupter nicken ihnen den Gruß; die Athleten erheben sich, die Isispriesterinnen verneigen sich ... Olympia – läßt lachend vor Erwartung den Arm auf dem Sockel ihres Apollin ruhen – ... Oder blickt sie finster wie die »verwundete Amazone« –? ... Er ahnte, daß sie diesmal seiner Flucht aus Villa Torresani nicht im mindesten zürnte, sondern fest und sicher ihn für morgen erwartete ...

Die Qual der Entschlußlosigkeit trieb Benno dahin, wie von Furien gepeitscht ...

Er kam der Tiber näher ... Die Brücken, die in die innere Stadt führten, waren entlegen ... Hie und da ging eine Treppe nieder, wo in einem angebundenen Kahn ein Schiffer sich streckte und auf einen Verdienst wartete ... Er wollte sich übersetzen lassen ...

Wie ein Träumender blickte er um sich ... Hier in der Nähe sind die Spitäler ... Es konnte nicht befremden, daß da und dort jene gespenstischen Gestalten der Todtenbruderschaft auftauchten ... Die Begräbnisse finden des Nachts statt ... Memento mori! ... Benno erblickte einige dieser bald weißen, bald schwarzen Kutten in Kähnen auf dem gelblichen Strom dahingleiten ...

Die Via Lungaretta schien ihm heute endlos ... Er hatte übersehen, daß er die Abbiegung zur Bartolomäusbrücke schon hinter sich hatte und sich an Ponte Rotto befand, einer Gegend, wo es schwerlich Fiaker gab ...

Sollte er den Besuch der Mutter für heute aufgeben? ... Sollte er zu Bertinazzi gehen? ...

Da schritt wieder vor ihm her ein schwarzer Todtenbruder ... Er kam aus dem engen Winkelwerk der Häuser heraus und stieg eine Treppe nieder ... Hier glänzte die Tiber auf ... Im Abenddunkel boten die Lichter am Ufer und die in den Strom hineingebauten Mühlen einen besonders lebhaften Anblick ... Eine Schar von Bettlern und Straßenjungen zeigte Benno hinter einem Gebäude den Kahn, den der Todtenbruder suchte ...

Es zog auch ihn zum Tode ... Er musterte die stolze Haltung seines Gefährten ... Oft verbargen sich unter diesem Kleide die angesehensten Nobili, wenn sie gerade die Reihe des Dienstes in der Bruderschaft ihres Viertels traf ...

Benno rief dem Schiffer, ihn noch mitzunehmen und stieg die Stufen nieder ...

Der schwarze Leichenbruder, eine hohe, schlanke Gestalt, hatte eben zum Abfahren winken wollen ... Jetzt erst, da er noch einen Passagier sich nachkommen sah, setzte er sich ...

Auf dem trüben, ungleichen, strudelreichen Bett der Tiber glitt der leichte Kahn dahin, geführt von einem jungen halbnackten Burschen, der den vom Kopf bis zum Fuß verhüllten Todtenbruder scheu betrachtete und vor Freude über die glückliche Eroberung zweier Passagiere statt eines eine Weile sprachlos blieb ... Rings funkelten immer heller und zahlreicher die Lichter von den Ufern auf ... Auch bei den Benfratellen drüben war Licht ... Mancher Leidende mochte dort eben seinen letzten Seufzer aushauchen, mancher Genesende die Hände zum Dankgebet erheben ... Die hie und da auftauchenden Sterne spiegelten sich nur matt in den trüben Wogen, auf deren Grund so tausendfach die Reste der Jahrhunderte schlummern, so mancher Fund, dessen Entdeckung das Entzücken des Forschers sein würde ... Auf der Quattro-Capi-Brücke war es so lebhaft wie auf Piazza Navona ... Noch stachelten verspätete Fuhrleute ihre riesigen weißen Ochsen, deren stolzgewundene Hörner nur eines Kranzes bedurften, um den Opferthieren Griechenlands zu gleichen ... Noch zankten Treiber mit ihren schreienden, in Italien so heißblutigen Eseln ... Die Glocken läuteten ... Ein solcher Abend scheint im Süden erst das Erwachen zum Leben zu sein ... Kähne glitten dahin mit aufgehäuften Gemüsen und Früchten schon für den morgenden Markt ... Die Ruderer mußten Acht haben; von den Tausenden von Trümmersteinen, die in dem Bett des geschichtlichsten aller Ströme ruhen, ist die Fahrt auf ihm keine ebenmäßige ...

Benno, tiefermüdet, redete den Todtenbruder, von dem er nur die Augen sehen konnte, mit den Worten an:

Dieser Dienst in der Nacht hat sicher seine Beschwerlichkeit ...

Der Todtenbruder antwortete nicht ...

Die Römer sind sonst höflich ... Benno glaubte nicht verstanden worden zu sein, wiederholte seine Worte und setzte hinzu:

Aber Sie lösen sich häufig ab? ...

Der Todtenbruder zog statt der Antwort jetzt sogar seine schwarze Kopfbedeckung so, daß selbst seine feurigen Augen verdeckt blieben ...

Seltsam! dachte Benno ... Der Mann ist schwerlich taub ... Er trägt vielleicht ein Leid wie du ...

Benno schwieg und hörte auf den Schiffer, der in italienischer Gewohnheit schon für jede andere Gelegenheit sich empfahl, wo die Herrschaften vielleicht wieder die Tiber befahren wollten ... Er nannte sich Felice und beschrieb seinen Vater, der den Stand an Quattro-Capi drüben hätte und der beste Schiffer von der Welt wäre ... Benno kannte, was man alles bei solchen Gelegenheiten in Italien zu hören bekommt; jede neue Kundschaft wird sogleich fürs Leben festgehalten ...

Er war nicht in der Stimmung, die Unterhaltung mit Felice fortzuführen ... Er sah auf den Todtenbruder, der vielleicht das Gelübde des Schweigens abgelegt hatte ... Vielleicht war es ein Vornehmer, den sein nächtliches Amt verdroß ...

Wieder glitt eine Barke mit zwei Benfratellen, die von der Bartolomäusinsel kamen, vorüber ... Auch diese hatten ihre Kapuzen über den Kopf gezogen ... Sie wurden von einer dritten Barke gekreuzt, die gleichfalls ein Mitglied der Todtenbruderschaft führte – in weißer Verhüllung ...

Der Gedanke lag nahe, an eine große Sterblichkeit zu denken, die über Rom gekommen ... Im Herbst pflegte sich seit einigen Jahren regelmäßig die Cholera einzustellen ...

Felice besaß den angeborenen Scharfsinn der Italiener ... Eine angeschnittene Melone, die neben dem Mantel Felice's lag, betrachtete Benno mit einem Blick, der bei so vielen Todeserinnerungen keinen Appetit danach ausdrückte und Felice las sogleich die Gedanken in der Seele seines zweiten Passagiers, denn er sagte:

Eh! ... Sie kommt dies Jahr nicht wieder ...

Benno wußte, was Felice meinte, mochte aber die Conversation nicht fortführen ...

Felice aber im Gegentheil ...

Signore, flüsterte er, als handelte sich's um einen Gegenstand der größten Discretion, ich stehe drüben bei Capo di Bocca – dicht an der Apotheke ... Da, wo meine Mutter die Melonen verkauft ... Saftige, Herr! ... Sehen Sie, versuchen Sie! ... Signore! Nein, sie kommt dies Jahr nicht wieder ... Die Krankheit mein' ich, Signore ... Der Padrone der Apotheke hat es selbst an die Leute gesagt ... Signor, bei Capo di Bocca ... Rufen Sie nur immer: Felice! ...

Woher weiß der Padrone der Apotheke, daß die Cholera diesmal nicht wiederkommt? fragte Benno, um dem Redestrom ein Ende zu machen ...

Signore! Weil sie kein Gift mehr verkaufen dürfen ... Er sagt' es gestern erst dem Wirth der Navicella ... Signore, das ist das Kaffeehaus drüben, wo mich jeder findet, der nur am Ufer nach Felice – ...

Gift verkaufen? Wozu Gift –? unterbrach Benno, der sich die Pein dieser Kundschaftsempfehlungen abkürzen wollte ...

Haha! lachte Felice und stieß sein Ruder auf ein hartes Gestein, das – vielleicht der Torso einer Statue des Praxiteles war ... Die Brunnen vergiften sie nicht mehr ... Das glauben die dummen Leute ... Eh –! ... Die Brunnen! ... Haha, Signore! ... Aber machen Sie eine Partie, Herr – Nach Ceri, Herr – Ceri ist die älteste Stadt der Welt – Ich nehme meinen Bruder mit ... Morgen? ... Meinen Bruder Beppo ...

Warum sagt ihr: He? und lacht – Was glauben die klugen Leute über die Cholera –? ...

Felice machte eine Miene, als durchschaute er alle Geheimnisse der Welt ...

Was ist's, wenn die Apotheker kein Gift mehr verkaufen dürfen? wiederholte Benno ...

Gift? ... Nicht verkaufen? ... Die Apotheker sagen's und die armen Leute glauben's ... Aber die Reichen – die bekommen Gift, soviel sie wollen ... Und die Aerzte – die brauchen's gar nicht aus der Pharmacia zu kaufen ...

Die Armen? Die Reichen? Die Aerzte ... Wie hängt das alles zusammen? ...

Felice machte Mienen, die Benno allmählich verstand ... Er ließ nur einfach die eine Hand vom Ruder los und fuhr damit hinter's Ohr mit ausgespreizten Fingern ... Eine Miene, die etwa sagte: Wir sind nicht so dumm, wie wir aussehen – die Aerzte vergiften zur Zeit der Cholera auf Befehl der Reichen die Armen – ... Signore – nach Ceri! fuhr Felice fort, als Benno verstanden zu haben schien und seinerseits gleichfalls eine Geberde machte, die mit südländischer Offenheit soviel sagte, als: Felice, du bist ein Esel! ... Ceri ist die älteste Stadt der Welt! ... Vielleicht morgen – ich nehme noch meinen andern Bruder mit – Außer Beppo noch den dritten, den Giuseppe ...

Die Cholera ist also eine Krankheit, die von obenher befohlen wird! unterbrach Benno ... Alle Jahre soll einmal der Staatskörper von seinem Ungeziefer gereinigt werden! Nicht so, ihr Thoren? ...

Die Miene und Betonung Felice's drückte das starrste Festhalten seiner Meinung aus ... Wie wenig ihm daran lag, seine Gesinnung über die Aerzte, Apotheker und die Reichen in Rom geändert zu bekommen, sagte die Mahnung:

Herr, die Tiber kennen selbst die Römer noch nicht alle ... Gewiß, Herr, selbst wenn Sie ein Römer sind, haben Sie noch nicht Castellana gesehen ... Civita Castellana ist das Wunder der Welt ... Wenn wir Morgens um vier Uhr einen Kahn nehmen, natürlich – mit Beppo, mit Giuseppe und Francesco – Francesco, Herr, ist mein vierter Bruder ...

Das erzählt man allerdings aus der Cholerazeit, unterbrach Benno mit Entschiedenheit ... Wer einen Feind hatte, tödtete ihn bei dieser Gelegenheit; schlechte Frauen vergifteten ihre Männer, schlechte Männer ihre Frauen, ruchlose Kinder ihre Aeltern ... Im allgemeinen jammervollen Klagen und Sterben ging eine Leiche mit der andern, ohne daß man danach fragte, ob wol das Gift, an dem sie den Geist aufgeben mußten, aus der schlechten Luft oder – aus den Kellern kam, wo nur die Ratten daran sterben sollten ... Sagt man nicht das? ...

Diese Frage richtete Benno an den schwarzen Todtenbruder ...

Fast getroffen von Benno's Worten hatte sich dieser von seinem Sitz erhoben ... Vom Nachthimmel sich abzeichnend stand die Gestalt in schöner, langer, schlanker Haltung – ein Bote des Minos, ein Abgesandter des Richters aus der Unterwelt ...

Benno hatte noch einmal geglaubt den Versuch machen zu sollen, den stummen Passagier zu einer Antwort zu bewegen ...

Der Todtenbruder sprach in der That auf seine Frage ein leises und hohles:

Man – sagt – das ...

Benno horchte der Stimme und fuhr fort:

Eine entsetzliche Vorstellung, sich so feige Mörder denken zu müssen, die eine Zeit der allgemeinen Auflösung des Vertrauens, eine Zeit der Trauer benutzen, um mit gedecktem Rücken einen dann wahrscheinlich sichern Mord auszuführen ...

Wieder schien der Todtenbruder von diesen Worten eigenthümlich berührt ... Er schwieg, fiel nicht zustimmend ein, drückte keine Verachtung eines so feigen Mordes aus, sondern wandte sich nur ab, um durch seine kleinen Augenöffnungen auf die bald erreichte Brücke der »Vier-Häupter« zu sehen ...

Als sich nun auch Benno erhob, gerieth der Kahn in ein Schwanken ...

Felice spreitete rasch die Beine aus und hielt das Gleichgewicht ...

Um seine ohnehin wie auf der Flucht vor dem Schmerzlichsten befindlichen Gedanken nicht zu sehr aufzuregen, fragte Benno:

Kennst du das Haus des Rienzi, Felice –? ...

Im selben Augenblick sprach aber auch der Todtenbruder noch eine Antwort auf Benno's Aeußerung von vorhin ...

Sie kam verspätet, kam aus der kleinen Oeffnung der Kapuze, die nur allein dem Mund und der Nase das Athmen erlaubte, dumpf und hohl ...

O gewiß – es gibt – genug der Falschheit – in der Welt ...

Diese Worte klangen seltsam ... Sie klangen wie von einem Ergrimmten ... Wenigstens wurden sie durch die Zähne gesprochen ...

Benno, der selbst eben gesprochen hatte, verstand nicht sogleich und fragte:

Es gibt –? sagten Sie? – ...

Genug der Falschheit in der Welt! wiederholte der Todtenbruder scharf und gereizt ...

Benno horchte auf ... Diesen Ton der Stimme glaubte er zu kennen ... Noch kürzlich, vielleicht erst gestern hatte er diese Stimme gehört ... Wer ist das –? sagte er sich staunend und haftete auf einer Erinnerung an einen der bei Olympien gesehenen Gäste – Zunächst an den Fürsten Corsini – der in der That seinen Palast jenseits der Tiber hatte ...

Der Todtenbruder kehrte ihm jetzt den Rücken ...

Eben fuhren sie unter der Brücke Quattro-Capi hinweg ...

Wo liegt das Haus des Rienzi? wiederholte Benno noch einmal, sich zu Felice wendend ... Er mußte dabei dem Klang der Stimme nachdenken ...

Signore, das Haus des Rienzi kenn' ich nicht, erwiderte Felice eiligst, aber ich versichere Sie, nach Civita Castellana ist es die schönste Reise von der Welt ... Auch Cicero hat da gewohnt ... Es geht gegen den Strom, aber wir nehmen noch meinen fünften Bruder –

Euere Brüder sind zahllos! unterbrach Benno ungeduldig ... Dann nach dem Todtenbruder sich wendend, sagte er: Wo hat nicht alles in Italien Cicero gewohnt! ... Cicero und Virgil sind dem Italiener geläufig wie die Heiligen ... Aber Cola Rienzi, euer Volkstribun, ist euch unbekannt geblieben, Felice! ...

Jetzt glaubte Benno für bestimmt annehmen zu dürfen, daß der schwarze Leichenbruder unter seiner Kapuze lachte ...

Es war ein Lachen des Hohns ...

Prinz Corsini konnte das nicht sein ... Corsini gehörte zu den Freimüthigen, aber er war in seinen Manieren höflich ...

Unter dem ersten Hermenkopf der »Vierhäupterbrücke«, eines alten Römerwerks, stieg der Todtenbruder aus ... Er schien voll Ungeduld die Steintreppe erwartet zu haben ... Beim Abschied bot er Benno auch nicht den leisesten Gruß ... Seinen kupfernen Obolus warf er dem Schiffer in die Mitte des Kahns wie ein Almosen ...

Felice's Grazie Eccellenza! sagte wenig über seinen Stand ...

Benno zahlte mehr, als üblich ... Da durfte er sich nicht wundern, daß Felice, den er fragte, ob er den Todtenbruder kenne, behauptete, diesen nicht blos öfters, sondern alle Tage zu fahren ... Er nannte ihn einen Herzog, einen Principe, »wenn er auch nur zahlte, was in der Regel« ... Daß er Cardinäle fahre, offen und geheim, Principessen, mit und ohne Schleier, setzte er ermuthigend hinzu ... In jener Unermüdlichkeit, mit der der Italiener seinen Einen Gedanken des Gewinns, darin ganz dem Juden gleich, festhält, kam er wieder auf die Reize einer Stromfahrt von zwei Tagen bis zu dem Ort zurück, zu deren Merkwürdigkeiten nun auch noch der Eingang in die Hölle gehören sollte ...

Benno war endlich von ihm befreit und ging, umrauscht vom Lärm der Straßen ...

Das Benehmen des Todtenbruders, sein stolzes, festes Dahinschreiten am Quai, das Benno noch beobachten konnte, sein höhnisches Lachen, die scharfe Betonung über die Falschheit der Welt veranlaßte Benno, dem Unfreundlichen noch einige Schritte weiter als nöthig zu folgen ... Er hatte Worte gehört, die sein Innerstes erschütterten ... Wandelte er denn auch auf Wegen, die offene und gerade waren? ...

In wenig Augenblicken war die gespenstische Erscheinung verschwunden ... Benno sah ein offenes Thor, durch das der Todtenbruder mit seinem flatternden schwarzen Gewande hindurchschritt ...

Benno befand sich hier bei den Hinterpforten größerer Häuser, die nach vorn dem Theater des Marcellus zu liegen ... Hier gibt es kleine Gärten, kleine Pavillons ... Die Dunkelheit verbarg den unschönen Anblick italienischer Hinterfronten mit ihren schmutzigen Galerieen, ihren ausgehängten alten Teppichen, ihrer aufgehängten zerrissenen Wäsche, ihren schmutzigen Geräthschaften und jenem Colorit der Wände, dessen vorherrschender Ton ein verfängliches Gelb ist ... Alles das vergißt man freilich in Italien um einer einzigen Palme willen, die aus solchem Gewirr in einem kleinen Gärtchen versteckt emporwächst ...

Auch hinter jener Pforte, wo der Todtenbruder verschwunden war, lag, wie Benno jetzt sah, ein solches Gärtchen ...

Wer wohnt hier? fragte er einen am Wasser mit dem Ausladen eines verspätet angekommenen Kahns Beschäftigten ...

In diesem Palazzo –? erwiderte der Angeredete und bot sofort statt der Antwort, auf die er sich die Miene gab, sich gründlich besinnen zu wollen, vorerst seine Waaren an, die der Herr gerade hier am zweckmäßigsten angetroffen hätte ... Walzbreter zur Bereitung von Nudeln, hölzerne Löffel, einen Steinkrug zur Aufbewahrung seines Oels ... Wer in Italien handelt, glaubt, daß man sich zu jeder Zeit aus dem Gebiete gerade seiner Branche assortiren könne; in die Eilwägen hinein reicht man zinnerne und blecherne Küchengegenstände, »die man jetzt gerade wohlfeil haben könnte« ... Und auch dieser Mann wahrte erst seinen Vortheil und zeigte auf hundert Schritte weiter seinen Laden ...

Aber den Besitzer des »Palazzo« konnte er nicht nennen ... Dann war es eine großmüthige Regung von ihm, daß er, als Benno keinen Steinkrug für sein Oel mitnahm, doch einen andern Mann anrief und diesen fragte:

Wer wohnt in dem Palazzo? ...

Nach vorn hin, hatte Benno inzwischen gesehen, stand allerdings ein stattliches Gebäude ...

Ein Advocat ... Ein reicher Mann – hieß es ...

Ein Advocat? ... Vielleicht Bertinazzi? dachte Benno und sah sich nach einem mittelalterlichen alten Hause, dem des Rienzi, um ...

Wie auch bei uns die Kinder in die Läden treten und fragen können: Wollen Sie mir nicht sagen, wie viel die Uhr ist? und, wenn sie's gehört haben, als Zugabe ihrer Frage ein Paar Rosinen verlangen, so tauschten sich auch hier mit den paar Worten die Interessen der sich versammelnden Italiener aus ... Benno bekam so viel Anerbietungen von Waaren, so viel Verlangen nach Bajocci, so viel Anerbietungen zum Führen, zum Tragen, zum Helfen, daß er zu dem seiner Natur wenig entsprechenden Mittel greifen mußte, aus der Geberdensprache der Italiener eine Miene zu wählen, die die einzige ist, der die unerträgliche Zudringlichkeit weicht ... Macht jemand diese Miene, so ist der Italiener gewiß, einen Landsmann vor sich zu haben, von dem er nichts zu erwarten hat ... Benno streckte nicht gerade die Zunge aus, was in solchen Fällen, um vor dem italienischen Bettelgesindel Ruhe zu bekommen, das allersicherste Mittel ist; er warf nur einfach den Kopf in den Nacken mit der Miene eines gleichsam vor Hochmuth Närrischgewordenen ... Da ließ man ihn gehen ...

In der That hatte er aber doch erfahren, daß dieser Hausbesitzer, dieser reiche Mann und Advocat – Signore Clemente Bertinazzi war ...

Bertinazzi! ...

Wieder blickte er auf die Pforte und siehe da, wieder trat jemand, diesmal ein Mönch mit heraufgezogener Kapuze ein ...

Das sind Verschworene! sagte sich Benno ...

Der Gedanke überlief ihn wie siedende Glut ...

Er sann und sann nun um so mehr: Wer war der schwarze Todtenbruder, der dich offenbar kannte, der dir seine Verachtung ausdrückte – trotz deiner Erwähnung Rienzi's ...

Benno wandte sich in größter Aufregung wieder der Brücke zu ... Hier hatte er einen Fiaker zu finden gehofft ...

Schon suchte er danach nicht mehr ... Es trieb ihn in die Straße, nach der hinaus das Wohnhaus des Advocaten seine Vorderfront hatte ...

Auch hier bemerkte er, rasch nacheinander kommend, zwei weiße Todtenbrüder, die in dem offenen Thorweg des Hauses verschwanden ...

Bertinazzi hält eben seine Loge ...

Diese Vorstellung stand nun fest bei ihm ...

Sollte er folgen? ...

Er hatte das Losungswort ... Er trug in seinem Portefeuille ein Zeichen von Silberblech mit einem aus den Flammen sich erhebenden Phönix ... Beides hatten ihm die Brüder Bandiera für den Fall gegeben, daß er in Rom die Bekanntschaft des Advocaten Bertinazzi machen wollte, dem sie aufs wärmste über ihn geschrieben zu haben behaupteten ...

Mit lautklopfendem Herzen kehrte er zur Flußseite zurück ...

Hier war es jetzt stiller geworden ... Ruhig wogte der Strom ...

Den Besuch der Mutter gab er auf ... Schon schlug es zehn ...

Im Hause des Advocaten, dem er von der Gartenseite näher zu kommen suchte, war alles still und dunkel ... Es mußte eine gewaltige Tiefe haben; die Entfernung vom Ende des Gärtchens bis zur Vorderseite war eine ansehnliche ...

Wieder näherte sich ein Schatten der Gartenpforte – ... Wieder huschte dieser an Benno vorüber und ging ins Haus ...

Benno stand – wie am Scheidewege seines Lebens ... Der Gedanke an morgen war ihm an sich schon der Tod – was verschlug es, wenn er den letzten Anlauf nahm und sich in den Abgrund stürzte? ...

Wo sollte er die Stimme, den Wuchs, den Gang des schwarzen Todtenbruders hinbringen ...

Eine fieberhafte Ideenverbindung zeigte ihm die drei Reiter, die ihm im Gebirge so seltsam den Weg hatten abschneiden wollen ... Erschien sein Umgang mit den Tyrannen Italiens denen verdächtig, an die er empfohlen war? ...

Voll Unruhe begab sich Benno abermals nach vorn ...

Jetzt sah er einen Kapuziner zu Bertinazzi eintreten ...

Und nur ihm schien alles das aufzufallen; die Straße hatte ganz ihr übliches Leben ...

Schon griff Benno nach seinem Portefeuille und überzeugte sich, daß er das Symbol des Phönix bei sich hatte ...

Einen in Hemdärmeln vor der Thür seiner Taverne stehenden Wirth fragte er:

Ist das – da drüben – ein Kloster? ...

Nein, Signore! war die Antwort ... Das Haus, des Advocaten Bertinazzi ...

Ich sehe Mönche eintreten ...

Bei einem Arzt und Advocaten, Herr, sagte der Wirth lachend, hat alle Welt zu thun ... Und nicht jeder zeigt's dann gern ... Mancher Principe wartet auf den Abend, wo er die Kutte des Todtenbruders umlegen darf – Und – nun – die Pfaffen gar ...

Der Wirth machte eine Miene, als wäre Rom einmal die Stadt des Carnevals und der Carneval stünde nicht blos im Februar im Kalender – sondern zu jeder Zeit und dann hätten am meisten die Priester ihre Heimlichkeit ...

Die Geberdensprache des Südens ist die Sprache der größten Deutlichkeit ...

Benno mußte, um dem vertrauensvollen Manne zu danken, seinen Wein versuchen ...

Es war nicht der Wirth der nahen Goethe-Campa nella ... Der Orvieto, den Benno begehrte, war gut ... Stürmisch rollte das Blut in Benno's Adern auch ohne den Wein ... Er war in einer Stimmung, die Welt herauszufordern ...

In dem dunkeln Gewölbe der Kneipe saßen beim qualmenden Licht der Oellampe Männer aus dem Volk ... Die Unterhaltung betraf noch immer den Grizzifalcone ... Einige Häuser weiter hatte der Räuber gewohnt, als er die Courage gehabt, nach Rom zu kommen ... Man erzählte seine Heldenthaten ...

Man rühmte auch den Muth der beiden deutschen Mönche ...

Benno horchte und horchte ...

Der Wirth pries sich glücklich, den Pasqualetto nicht beherbergt zu haben ... Die Polizei hätte jeden Winkel der Herberge an der Tiber nach dem Tode des Räubers durchsucht ... Alle Welt wußte, daß niemand durch diesen Tod glücklicher war, als die Zollbediente, auf deren Strafe der alte Rucca es abgesehen hatte ...

Die Pfiffigen und Klugen haben hier immer Recht ... Um den Grizzifalcone blieb es »Schade, daß er nicht – Gonfalionere in Ascoli geworden« ...

Benno hörte lachen – die Gläser aufstampfen – hörte Gesinnungen, die denen der Lazzaronis Neapels entsprachen ...

In seinem Innern klangen die Worte des Attilio Bandiera: »Man muß die Völker zur Freiheit zwingen!« ...

Damals hatte er noch erwidert: »Mit der Guillotine?« ...

Neue Welten waren in ihm aufgegangen ...

In jenem Hause konnte er das Schicksal der Freunde erfahren, um die er sich in so große Gefahren des Lebens und der Seele gewagt hatte ... Der Tag, vielleicht die Stunde konnte ihm dort genannt werden, wann die Brüder in Porto d'Ascoli landen mußten, wann Ravenna, Bologna sich erhoben ...

Er sagte sich: Es ist der Weg des Todes! Sollst du ihn beschreiten? ...

Und gehst du ihn nicht schon? antwortete eine Stimme seines Innern ... Bleib' auf deiner Straße – des Verhängnisses! ...

Wild mit der Rechten durch seine Locken fahrend erhob er sich ... Stürmenden Muthes verließ er die Schenke ... Sie rufen mich! sprach er vor sich hin und sah – jene Geister des Beistands, von denen ihm Attilio gesprochen ...

Auf der Höhe seines Lebens war er angekommen ... Dahin also hatten alle Ziele seines Schicksals gedeutet ... Er sah seine ersten Anfänge wieder – fühlte den Kuß jener schönen Frau, die sich trauernd über ihn beugte, wenn sie aus dem Wagen gestiegen – Die in Spanien erworbenen goldenen Epaulettes seines Ad optivvaters Max von Asselyn blitzten auf ... Zigeunerknabe, du bist in deiner Heimat! klang es um ihn her wie aus tausend silbernen Glöckchen ... Dann wieder waren es Geigentöne – wie sie damals der bucklige Stammer zwischen seinen Erzählungen von der Frau, die nur die deutschen Worte: »Tar Teifel!« kannte, auf dem Finkenhof strich ...

Du gehst! sagte er sich und schritt dem Hause näher ...

Und dennoch würde Benno vorübergegangen sein, wenn nicht die menschlichen Entschließungen unter dämonischen Gesetzen stünden ...

Der eine Flügel des offen stehenden Hausthors war soeben von einer nicht sichtbaren Hand von innen geschlossen worden ... Eben bewegte sich der andere Flügel, um gleichfalls zuzufallen ... Der Anblick dieser kleinen, noch eine Secunde offen gelassenen Spalte bestimmte den wie vom Schwindel Ergriffenen und halb Besinnungslosen rasch vorzutreten und die beiden Worte zu sprechen:

Con permesa! ...

Eine Stimme antwortete:

Que commande? ...

Eine kurze Pause folgte ...

Die Schlange wechselt ihr altes Kleid! ...

Das Erkennungswort des »Jungen Italien« war aus gesprochen ...

Es war kein freier Wille gewesen, der diese verhängnißvollen Worte von Benno's Lippen brachte ... Es war ein fremder Geist, der aus ihm sprach, ja – der ihn diese Losung ganz deutlich und fest aussprechen ließ ...

Er trat in den wiedergeöffneten Flügel und befand sich in einem dunkeln Gange ...

Die Thorpforte fiel hinter ihm zu ...

10.

Kommen Sie aus der Schweiz? fragte aus dem Dunkel heraus eine heisere rauhe Stimme ...

Das menschliche Wesen, dem die Stimme angehörte, entwickelte sich seinem Auge erst allmählich als eine Frau ...

Ich will Sie dem Herrn anmelden ... lautete die seinem Schweigen folgende Rede ...

Ein Schlorren, ein asthmatisches Keuchen ... Ein langes Verhallen der Schritte ... Diese Räume schienen endlos zu sein ...

Es ist geschehen! sprach er zu sich selbst und sagte fast hörbar:

Also nur die aus der Schweiz Kommenden erkennt man an diesem Losungswort, das ich von den Bandiera weiß! ...

Benno zog sein Portefeuille, um das Zeichen des Phönix zur Hand zu haben ...

Die Flüchtlinge, die sich in Robillante an ihn wandten, um in allerlei Verkleidungen weiter zu kommen, hatten auch ihm ein solches Zeichen entgegengehalten ...

Wenn die ohne Zweifel in diesem Augenblick hier versammelte Verschwörung entdeckt – wenn er selbst mit den Mitgliedern derselben aufgehoben wurde! ...

Darin sah die Zerrüttung seines Innern, die Hoffnungslosigkeit seiner Seele kein Unglück mehr ...

Beim Suchen nach dem Portefeuille fand Benno ein Mittel, sich Licht zu machen ... Nach italienischer Sitte führte er ein Streichfeuerzeug bei sich ... In den finstern großen Häusern Italiens hilft man sich auf diese Art gegen die überall mangelnde Beleuchtung ... Kleine brennende Wachsenden reichen aus für jeden zu erkletternden vierten Stock ...

Benno sah nun eine Halle, die in einen gedeckten und überbauten Hof führte ... Da hingen alte Bilder an den feuchten Wänden ... Sollte hier die Tiber zuweilen so weit austreten, um diese Häuser überschwemmen zu können? ...

Die Alte, die mit einer Lampe zurückkam, unterschied er nun ... Sie war vom Alter gekrümmt und schien aus dem Reich der Nacht zu kommen ...

Mit der Lampe den Fremdling beleuchtend, sagte sie:

Der Herr soll wiederkommen –! ...

War dein Losungswort eine Beschwörung, die nicht kräftig genug wirkte? sagte sich Benno ...

Jetzt überreichte er sein zweites Creditiv, das Zeichen von Silberblech und eine Karte mit seinem Namen ...

Die Alte nahm beides, betrachtete es flüchtig und entfernte sich wieder ...

Inzwischen ging Benno in den Hof, der überbaut war ... Wieder sah er einen langen Gang ... Sessel standen in diesem an den Wänden, ohne Zweifel für die Clienten vom Lande, die an jedem Markttag die Schreibstuben der Advocaten belagern ... Er verglich Nück's Lage mit der Bertinazzi's ... Jener der leidenschaftliche Freund der Jesuiten und allen Umtrieben derselben ganz wie ein geheimer Verschwörer zugethan; dieser, wie er wußte, ein Angehöriger der Familie jenes Ganganelli, der als Papst die Jesuiten aufgehoben hatte, und im Geist seines Ahnen fortwirkend ... Das System der Menschen- und Lebensverachtung mußte bei beiden dasselbe sein ...

Die Alte kam zurück und winkte nun schweigend ... Sie zeigte nach hinten, kehrte noch einmal in den Hof und zur Pforte um, die sie mit einem eisernen Querbalken verschloß, und bedeutete Benno, der bei einer Stiege angekommen war, diese nicht zu betreten, sondern auf eine Thür zuzugehen, die sie öffnete ... Es war eine jener südlichen Matronen, die die Freude eines Balthasar Denner gewesen wäre, des Runzelmalers ...

Durch einige mit Büchern und Landkarten gefüllte Zimmer hindurch kam Benno jetzt erst an eine andere Treppe, die er ersteigen mußte, um endlich bei dem unter den Römern hochberühmten Doctor der Rechte Clemente Bertinazzi einzutreten ...

Dieser trat ihm lächelnd entgegen ...

Benno fand einen langen, hagern Mann ... Der Ausdruck seiner Gesichtszüge war der jener fanatischen und träumerischen Beharrlichkeit, die sich zunächst als mathematische, oft pedantische Strenge zu geben pflegt ... Ebenso verband sich die Pedanterie mit Schwärmerei bei Luigi Biancchi, dem armen Gefangenen von Brünn; ebenso leidenschaftlich war in seiner träumerischen Welt der trockene und magere Püttmeyer ... Diese Menschen wußte Benno unterzubringen ... Sie hatten nicht die Schönheit der Willensäußerung, die Grazie der Lebensformen Bonaventura's; aber der feste, beharrliche Sinn war derselbe ...

Clemente Bertinazzi hätte in seinem langen Hauskleide, das ihm bequem um die magern Glieder hing, ebenso einen alten Geizhals darstellen können, der über seinen Schätzen wacht und sich nächtlich mit einer alten Dienerin in diesem weitläufigen Hause ängstlich abschließt ... Doch die allmählich erglühende Kraft seiner Augen verrieth edlere Eigenschaften ... Bald sah Benno, daß dem Mann ein eigenthümlicher Flor über seinen Augen und den untern Anfängen seiner Stirn lag, jener geistige unbestimmte Dämmer, der sich vorzugsweise bei mystischen Naturen findet ...

Endlich, endlich, Signore d'Asselyno! sagte der Advocat und streckte die Rechte aus zum traulichen Gruße und zugleich den Eindruck prüfend, den ihm der junge Mann in Gestalt und Haltung machen würde ...

Benno d'Asselyn! ... erwiderte dieser bestätigend und legte seine zitternde Hand in die des Advocaten ...

Warum kommen Sie erst jetzt? Ich weiß von Ihnen schon seit lange über Malta her, wo sich die Brüder Bandiera für Sie verbürgt haben ... Man hat Sie dort verdächtigen wollen ... Allerdings kann man Ihre Beziehungen zu unsern Tyrannen zweideutig finden ... Ich hörte, Sie lernten unsere Machthaber in Wien kennen und da dachte ich: Um so besser, wenn Sie diese Menschen beobachten ... Ich vertraue jeder Bürgschaft, die die Bandiera leisten ...

Kennen Sie meine Freunde persönlich? sprach Benno noch in Befangenheit und ausweichend ...

Nein ... erwiderte Bertinazzi und zog, um das Bild eines alten Garçon zu vervollständigen, eine Tabacksdose ... Aber ich habe Ursache von Ihnen das Beste zu denken ... Ja auch sonst hab' ich das Princip gehabt, fuhr er schnupfend und von unten her Benno musternd fort, nicht zu weise sein zu wollen ... Die Verschwörer, die überall Spione wittern, haben nie mein Vertrauen gehabt ... Haben Sie noch ein drittes Erkennungszeichen außer dem Gruß und dem Phönix? ...

Benno verneinte ...

So gehören Sie den Vertrauten an, nicht den Wissenden ...

Die Zahl dieser Vertrauten, wußte Benno, war in Italien so groß, wie bei uns die der Freimaurer ...

Sind die Wissenden die oberste Spitze? fragte er ...

Die oberste noch nicht! entgegnete Bertinazzi ... Sie haben durch den Phönix den zweiten Grad – einen vorbereitenden – und vielleicht gar ohne Schwur ... Die Wissenden sind erst der dritte ... Der vierte sind die Leitenden ... Erst der fünfte ist der höchste ... Das ist der Grad der Namenlosen ... Zu diesem gehör' ich nicht einmal selbst und weiß kaum, ob in Rom ein »Namenloser« existirt ...

Diese Organisation kann sich halten und wird nicht verrathen? ... fragte Benno – unwillkürlich der Worte Ceccone's – über seinen Mörder gedenkend ...

Sie kann an einzelnen Theilen verrathen werden und wird es auch, antwortete Bertinazzi ... Aber die Theile sind nicht das Ganze ... Einer kennt den andern auch noch nicht auf dem Standpunkt der Wissenden ... Derjenige, der wie ich den Grad der »Leitenden« hat, kennt immer nur zwölf Wissende ... Diese, die eine Loge bilden, sind sich untereinander selbst völlig unbekannt ... Die Gruppe, zu der Sie gehören, ist groß und an Vertrauten mögen wir wol in Rom allein dreitausend haben ... Der erste Grad vollends, derjenige, der die Losung kennt, ist dem Verrath am meisten ausgesetzt ... Sie werden genug Priester und Verdächtige in diesen Reihen finden ... Ich würde Ihnen auch noch auf den Phönix nicht Gehör gegeben haben in so später Stunde, wenn ich nicht glaubte, daß Sie irgendeine wichtige Sache zu mir führte ... Weiß man in den hohen Kreisen, daß in diesen Tagen – ...

Der Advocat hielt forschend inne ...

Ich beunruhige mich über das Schicksal der Gebrüder Bandiera, sagte Benno ... Man erwartet ihren Einfall ... Wann findet er statt? ...

Bertinazzi's Miene drückte eine Verlegenheit über diese Frage aus ... Er sagte:

Für solche Dinge haben Sie den Grad nicht ...

Dann aber, und gleichsam, um seine Ablehnung zu mildern, kam er auf Benno's Lebensverhältnisse ...

Seltsam – Sie werden, hör' ich, von der kleinen Fürstin Rucca gefesselt ... Der Unseligen! ... Nun, nun – Sie sind jung und pflücken die Kirschen, wo sie reif sind! ... Von Geburt sind Sie ein Deutscher ...

Meine Mutter ist eine Italienerin ...

Gut – gut –! Und Sie bringen nichts, was mit Ceccone – Fefelotti – Rucca oder irgendeinem unserer Tyrannen zusammenhängt? ...

Benno schwieg ...

Einige Zimmer weiter schien laut gesprochen zu werden ...

Ohne Zweifel hatte Benno die Loge unterbrochen und störte Bertinazzi ...

Dieser nahm auch eine Lampe vom Tisch und sagte aufhorchend und mit ausweichender Miene:

Ich habe mich gefreut – Sie besuchen mich wieder? ...

Auf Benno's Lippen brannten die Fragen: Befindet sich hinter jenen Wänden nicht jetzt die Loge –? ... Wer war jener schwarze Todtenbruder? ... Was hab' ich zu thun, um die Stunde des beabsichtigten Aufstands zu erfahren? ...

Natürlich, daß seine Stimmung diese Fragen unterdrückte ...

Aber sein Zögern gab dem Advocaten Veranlassung zu den leicht hingeworfenen Worten:

Treten Sie doch in den dritten Grad! ... Sie schwören nur, die Unabhängigkeit und Freiheit Italiens mit jedem Mittel zu fördern, das von den Führern Ihnen vorgeschrieben wird ...

Mit jedem Mittel –? ... Auch mit dem Mord? – sagte Benno nach einiger Ueberlegung ...

Das ist der vierte Grad ...

Zu dem Sie gehören? ... wallte Benno auf ...

Der vierte Grad anerkennt nur zuweilen die Nothwendigkeit des Todes für Verräther und Tyrannen ... Erst der fünfte Grad vollzieht ihn ... Ich sagte schon, ein »Namenloser« befindet sich vielleicht in diesem Augenblick weder in Rom noch in Italien ...

Ceccone weiß, daß ihn ein Verschworener tödten soll ... sagte Benno ...

Bertinazzi horchte auf, schüttelte dann aber den Kopf und sagte:

Das spricht aus ihm die Furcht ... Sein Tod ist von niemand beschlossen worden ... Er hat Feinde, die der sonst Allwissende vielleicht an seinem eigenen Busen nährt ... In Italien sterben die Menschen zuweilen, etwa wie bei der Cholera, aus gelegentlichem Versehen ... Ja, er soll sich in Acht nehmen ... Aber nun bitt' ich – mich in der That zu entschuldigen ... Ich habe mich gefreut, daß Sie an uns dachten –! Wirken Sie in Ihrem Kreise durch die Gesinnung, soviel es geht und – verweilen Sie nicht zu lange in ihm! ... Man könnte Sie falsch beurtheilen wie schon einmal in Malta ...

Benno's Blut ließ sich nicht mehr beruhigen ...

Wann landen die Gebrüder Bandiera –? sprach er mit drängender Hast ...

Bertinazzi zuckte die Achseln und erwiderte:

Darüber – muß ich schweigen ...

Die Landung wird in Porto d'Ascoli stattfinden ...

Haha! erwiderte Bertinazzi ... Das erwartet Ceccone –? ...

Der Advocat stand von plötzlichem Zorne geröthet ... Ein krampfhaftes Zucken glitt über seine Züge ...

Doch Sie verstehen meinen Unwillen nicht – beruhigte er Benno und sich selbst ... Die Loge erwartet mich ... Bleiben Sie der Gesinnung treu, deren mich zwei edle Menschen über Sie versichert haben ... Und in allem Ernst – theilen Sie mir aufrichtig die Gefahren mit, die uns von den Tyrannen drohen, wenn Sie dergleichen durchschauen ... Für heute nun – gute Nacht! ...

Benno hielt den Arm des Advocaten, der ihm freundlich hinausleuchten wollte ... Ein fernes Geräusch, das wol aus der Loge kam, fesselte seine Aufmerksamkeit ...

Warum konnte Bertinazzi so aufwallen über die Erwähnung jenes Hafens an der adriatischen Küste? ...

Alle Verwickelungen seines vergangenen, seines künftigen Lebens sah Benno jetzt in einem einzigen Augenblick mit magischer Helle ...

Geboren durch ein Verbrechen, geboren ohne einen Vater, auf den er sich mit Ehren berufen konnte, geboren ohne eine Mutter, die er sorglos sein nennen durfte, gehegt, gehütet von Frauen, von Priestern, hatte er eine Einwurzelung im deutschen Leben um so weniger finden können, als auch daheim die Knechtschaft waltete ... Alles, was damals in Deutschland rang und zum Lichte strebte, war in diesem Augen blick sein Bundsgenosse ... Deutschland wollte frei sein von demselben Geist, dessen Consequenzen Italien gefesselt hielten ... Von Italiens Tyrannen gingen die Bannflüche über Freiheit und Aufklärung in die Welt aus ... Drei Gestalten traten ihm schon immer aus der Geschichte vors Auge – sie lebten und wirkten gleichzeitig: Friedrich Barbarossa, der Kaiser – Hadrian IV., der Papst – Arnold von Brescia, der Tribun von Rom ... Wer sollte nicht die Größe des Hohenstaufenkaisers bewundern – und doch schloß Barbarossa Frieden mit Hadrian, seinem wahren Feinde, und überlieferte ihm zur Besiegelung eines Actes der Falschheit, den der nächste Augenblick zerriß, einen der edelsten Menschen, Schüler Plato's, Petrarca's, einen Weisen, der nach langen Irrfahrten in Frankreich und der Schweiz elf Jahre lang Rom ohne die Päpste regierte, der die Kirche verbesserte, der Vorläufer der Waldenser und der Reformatoren wurde ... Barbarossa sah mit seinen bluttriefenden Söldnerscharen den Scheiterhaufen auflodern, mit dem sich unter dem schützenden Banner des deutschen Adlers Hadrian an seinem geistigen Todfeind rächte ... Unsere Zeit kann nicht mehr mit Friedrich Barbarossa, sie muß mit Arnold von Brescia gehen ... Auch Benno's Vater war kein Ghibelline – Doch war er ein Welf im schlechten Sinne ... Wie der Kronsyndikus wollte sich Benno nicht zu Roß schwingen und die eigene Fahne und die Freiheit seiner Hufe wahren im Geist Heinrich's des Löwen, vor dem Barbarossa einst kniete und vergebens um Hülfe die Hände rang ... Auch der welfische Geist Klingsohr's war nicht der seine ... Er wollte die Vernichtung des Ichs zum Besten des Allgemeinen ... Die Form der Freiheitsthat, das lehrten die Bandiera, ist in unsern Tagen die Verachtung der materiellen Welt ... Diese, die nur anerkennt, was in Glanz und Würde steht, diese, die den Widerschein der regierenden und mit momentaner Macht ausgestatteten Thatsachen in hohler Gesinnung liebedienerisch auch auf sich zu lenken sucht, diese, die für äußerstes Unglück hält, gehässig gekennzeichnet zu werden durch den Widerspruch mit dem Gegebenen, hatte Benno schon längst verachten gelernt ... In diesem einen magischen Augenblick hörte er eine himmlische Musik der Ermuthigung ... Voten des Friedens schwebten über die Erde und retteten ihn von allen Folgen seiner falschen Stellung – retteten ihn vor den Schrecken – vielleicht des nächsten Tags ... Bonaventura war unter diesen Seligen – Bonaventura, umringt von den Erfüllungen seiner Träume, von den Tröstungen seiner Klagen ... Was in so vielen stillen Nächten von Robillante nur von des Freundes beredten Lippen gekommen, schien in himmlischen Gestalten verkörpert zu sein ... Bertinazzi's erwartungsvoller Blick sagte: Ich rette dich vor dir – vor Olympien – vor dem geistigen Tode – ... Und fändest du auch den wirklichen, wäre der nicht besser als solch ein Leben –? ...

Benno entschloß sich, nur noch Italiener zu sein und der Revolution den Schwur des dritten Grades zu leisten ...

Wenn Bertinazzi über diese Erklärung lachte, so war es ein Lachen ohne Falsch ... Es war das Lachen über einen erwarteten und zutreffenden Erfolg ...

Bertinazzi hob von der Wand über seinem Schreibtisch einen Spiegel und stellte ihn auf die Erde ... Dann drückte er auf die scheinbar leere Wand ... Sie öffnete sich ... Benno sah einen Schrank mit verschiedenen Schubfächern ...

Das sind die Acten meiner Loge! sagte Bertinazzi und ließ Benno in Papiere einblicken, die mit allerhand mystischen Zeichen beschrieben waren ... Ohne Zweifel eine Chiffreschrift, die ohne den dazu gehörigen Schlüssel nicht gelesen werden konnte ... Den Schlüssel behauptete Bertinazzi in seinem Kopf zu tragen – nur mit diesem allein würde man seine Geheimnisse entziffern ...

Die Handbewegung auf seinen Kopf als Preis der Eroberung seiner Geheimnisse war der Ausdruck höchster Entschlossenheit ...

Benno sah in den Fächern einen leeren Raum, der seinem Schicksal bestimmt sein konnte ... Bertinazzi schrieb verschiedene Adressen auf, die ihm Benno gab und wieder andere, die dieser für Mittheilungen an ihn empfing ... Dann verbrannte er vor Benno's Augen alles, was Benno selbst geschrieben hatte, auch seine Visitenkarte ...

Hierauf legte er ihm das Formular eines Eides vor und gab ihm als Erkennungszeichen des dritten Grades einen gußeisernen Ring, den er auf den kleinen Finger der linken Hand Benno's anpaßte mit den Worten:

Ein Stück der gebrochenen Sklavenkette der Welt ... Ich werde Sie den Versammelten unter dem Namen Spartakus vorstellen ... Auch Spartakus, der zuerst in Italien das Wort: Freiheit! ausgesprochen hat, war ein Fremder ... Den Eid müssen Sie in der Loge selbst leisten ... Lesen Sie ihn zuvor! ...

Benno nahm ein Papier, das ein Gelöbniß enthielt, dem »Jungen Italien« als ein »Wissender« zu dienen – mit Leib und Seele, mit Wort und That, mit der Spitze des Schwerts im offenen Kampf, mit dem Beistand bürgerlicher Hülfsmittel bis zum Betrag des vierten Theils seines eigenen Vermögens – endlich mit steter Werbung zur Mehrung des Bundes ... Alles das auf die Unabhängigkeit Italiens von fremder Herrschaft, Einheit im allgemeinen, Freiheit im besondern ... Die republikanische Form blieb unerwähnt ... Der Eid wurde auf christliche Symbole geleistet ...

Es gibt eine Partei, sagte Bertinazzi, die den Schwur allein auf den Todtenkopf vorziehen möchte ...

In Benno's Ohr klang das Wort des alten Chorherrn wieder, der ihm in Wien gesagt: Das Kreuz des Erlösers wird die Reform mittragen müssen! ... Auch Bonaventura dachte so ... Ihm waren diese Formeln gleichgültig ...

Nun erschloß Bertinazzi einen andern Schrank und nahm ein Hemd der Todtenbruderschaft heraus, ein weißes, dazu eine gleichfarbige Kopfverhüllung – nur mit zwei Oeffnungen für die Augen und einer für den Mund ...

Nehmen Sie diese Kleidung! sagte er ... Legen Sie sie inzwischen an ... Wenn Sie eine Klingel hören, treten Sie in diese Thür, durch die ich Sie jetzt verlasse, um in die Loge zu gehen ... Sie haben Zeit genug, sich umzukleiden ... Niemand wird Sie erkennen ... Ich führe Sie unter dem Namen »Spartakus« ein ...

Bertinazzi ging und ließ Benno allein ...

Benno legte die Tracht an – Sie war ihm – sein Todtenhemd ... Der Schlag der Stunden von den Thürmen klang nicht so geheimnißvoll, wie der leise, singende Ton einer Pendeluhr über dem Spiegel, der wieder an seine alte Stelle gehängt war ...

Ob du deinen Begleiter von der Tiber finden wirst? dachte Benno und sah seine völlig unerkennbare Gestalt im Spiegel ... Es war ihm, als gliche er jetzt erst dem Hamlet, jetzt erst dem Brutus ... Er schöpfte Muth – nicht blos für den nächsten Augenblick, sondern für morgen, für alles, was die Zukunft in ihrem Schose trug ...

Die Klingel erscholl ... Benno öffnete die Thür ...

Anfangs nahm ihn ein Gemach auf, das des Advocaten Schlafzimmer schien ... Ein grünseidener Vorhang trennte den kleinen Raum in zwei Theile ... Eine Lampe zeigte ihm die Thür, die er noch mit seinem flatternden Kleide zu durchschreiten hatte ... Vor seinem gespenstischen Bilde, das ihm ein anderer Spiegel zurückwarf, erschrak er selbst ...

Nun betrat er einen hellerleuchteten Saal, in welchem um einen Tisch, auf dem sich ein Crucifix, ein Todtenkopf und ein Rosenkranz befanden, auf Stühlen im Kreise eine Anzahl der wunderlichsten Gestalten saß ...

Alle, die Benno das Haus hatte betreten sehen; Todtenbrüder, wie er selbst, Mönche in Kutten, einige als Bettler, andere als Kohlenbrenner, die Unverhüllten mit schwarzen Masken ...

Bertinazzi war in seiner gewöhnlichen Haustracht geblieben, allen erkennbar ...

Schwarze Todtenbrüder erblickte er zwei ... Benno konnte den, mit dem er über die Tiber gefahren war, nicht sogleich von dem andern unterscheiden ...

Ihn selbst kannte außer Bertinazzi Niemand ...

Bertinazzi begann, man möchte das Omen nicht übel deuten, daß sie ihrer dreizehn wären ... Der vierzehnte fehle einer Reise wegen ... Doch auch unser Spartakus – wandte er sich zu Benno – ist vorurtheilslos genug, einen Aberglauben zu verachten, der nur die Thoren schrecken kann ...

Benno konnte sich nicht von dem Eindruck dieser Voraussetzung bei den Genossen des nächtlichen Rathes überzeugen ... Ihre Mienen blieben ihm verborgen ...

Inzwischen hatte er sich gerade einem Sessel gegenüber gesetzt, auf dem er die äußere Gestalt des Todtenbruders zu erkennen glaubte, mit dem er über die Tiber gefahren ...

Dieser selbst konnte nicht im mindesten annehmen, daß sein Mitpassagier ihm gegenüber saß ... Bertinazzi hatte Niemand sagen dürfen, wer Spartakus war ...

Den Schwur leistete Benno, indem er sich an den Tisch stellte und die ihm schon bekannten Worte, die ihm noch einmal jetzt von Bertinazzi vorgesagt wurden, mit einem Ja! bekräftigte ... Das Kreuz war ein Symbol der Leiden, die man für seine Ueberzeugung nicht abzulehnen gelobte; der Todtenkopf drückte die Verachtung jedes Erdenlooses aus, falls die gemeinschaftlichen Hoffnungen scheitern sollten; der Rosenkranz bezeichnete all die Freuden, die im Siege der Freiheit lägen ... Auch die Bewillkommnung durch die übrigen sprach Bertinazzi vor und überließ den Anwesenden nur die Bekräftigung durch ein Ja! ...

Die nächste Verhandlung knüpfte sich an einen während Bertinazzi's Abwesenheit ausgebrochenen Streit ... Diese Männer schienen nicht mehr das volle Bedürfniß zu haben, sich gegenseitig unbekannt zu bleiben, obgleich die Masken und Umhüllungen die Stimme dämpften und veränderten ... Man sprach nach dem Act der Aufnahme eines neuen Mitgliedes lebhaft durcheinander ... Benno sah, kaum eingetreten, in der Einheit schon die Verschiedenheit ... Die schönen italienischen Laute wurden mit Reinheit gesprochen, ein Beweis für die Bildung der Genossen ... Der Gedanke an den Fürsten Corsini kehrte Benno zurück ... Er erwartete die Stimme zu hören, deren Klang er nicht vergessen konnte ...

Aber die schwarzen Todtenbrüder Benno gegenüber enthielten sich ihrerseits des Austauschs der Meinungen, die über manches nicht die gleichen waren, ganz wie schon Bertinazzi angedeutet hatte ...

In der That schien man über die Gebrüder Bandiera gesprochen zu haben ... Benno glaubte von einer Aenderung der Pläne der Brüder zu hören ... Mehrfach wurden die Jesuiten genannt ...

Ein wie ein Kohlenbrenner und demnach als alter Carbonaro Gekleideter stieß einen Stab auf den Fußboden und sagte, die Maske nur lose mit der Hand haltend:

Und noch gibt es Stimmen, die das Heil Italiens, ja der Welt von Rom erwarten? ... Diese dreifache Tiara soll der Friedens- und Freiheitshut der Völker werden? ... Die Schlüssel Petri sollen die Zukunft der Menschheit erschließen? ... Ehe nicht der letzte Beichtstuhl der Peterskirche verbrannt ist, kann über die Erde kein Friede kommen ...

Wie immer schüttet Ihr das Kind mit dem Bade aus! hieß es unter einer der mehreren, diese Meinung abwehrenden Kapuzen ...

Und Ihr könnt Euch nicht trennen von dem Blendzauber Euerer Theorieen! fuhr der Kohlenbrenner fort ...

Sagt vielmehr, nicht von den Beweisen der Geschichte! ... erwiderte sein Gegner ...

Das Vergangene! sprach der Kohlenbrenner erregter ... Ha, die Abendröthe ist schön, sie verklärt zuweilen einen stürmischen Regentag; aber sie geht der Nacht voran ... Wo Ihr hinseht, leidet die Menschheit an der Macht und dem Einfluß, den sie noch dem römischen Zauberwesen gestattet! Von dem Tag an, wo sich ein einziger Bischof über die Rechte der andern erheben konnte, gestützt auf das alte Ansehen Roms und so manche Fälschung, die der Uebermuth schon damals wagte, hat das Christenthum seine Segnungen für die Menschheit verloren. Was die Christuslehre der Menschheit brachte, ist wie Lesen, Schreiben, Rechnen ein Erforderniß der allgemeinen Bildung geworden; die Institutionen, die uns die Herkunft dieser Bildung, ewig ihre erste Geburt gegenwärtig erhalten wollen, sind das Verderben der Jahrhunderte ... Einen Hirten empfehlt Ihr mit Wölfen statt treuer Hunde? Einen Hohenpriester mit Scheiterhaufen und Schaffotten? Wir Römer, wir gerade müssen die Welt zum drittenmal erobern, erobern durch die Vernichtung der Hierarchie! ... Durch einen einzigen Messerschnitt müssen wir vollbringen, was Europa durch Tausende von Büchern, Kathedern, Kanzeln nicht hervorbringen konnte! Wir kennen das Papstthum nur als eine weltliche Behörde; als solche muß sie fallen; mit ihr fallen müssen die Cardinäle, die Generale der Orden, die höchsten und mittelsten und untersten Spitzen dieser Anstalten der Verdunkelung – erst dann ist die christliche Welt erlöst! Kommt uns nicht diese Losung von unsern Obern, so ist alle Mühe vergebens! Ihr seht's an der ruchlosen Intrigue von Porto d'Ascoli ...

Benno konnte die leidenschaftliche Rede nicht mit der ihm auf der Lippe schwebenden Frage unterbrechen, was in Porto d'Ascoli geschehen wäre ...

Mehrere Stimmen riefen durcheinander:

Sie wird kommen! ...

Sie wird kommen und ihr Erfolg wird dennoch ausbleiben! sprach zur Widerlegung des Kohlenbrenners mit einer feinen, eleganten Betonung eine andere Maske, deren äußere Tracht einen Kapuziner vorstellte ... Ist der Sitz des Papstthums nicht schon einmal in Avignon gewesen? War nicht Napoleon der Schöpfer eines weltlichen Königthums von Rom? ... Mit je größerer Demüthigung die dreifache Krone getragen wird, mit desto hellerem Heiligenschein umgibt sich die Theokratie ... Die Menschheit sieht nun einmal im Papstthum einen zum ersten Königsrang Erwählten aus dem Volke und kehrt immer wieder darauf zurück ... Sie sieht einen Monarchen, den nur seine Tugenden auf den Thron beriefen ... Sie hat an ihm einen Beistand gegen die Mächtigen der Erde ... Napoleon ras'te gegen Pius und Pius sprach ruhig: Du Komödienspieler! Als Napoleon noch heftiger tobte und mit dem Aeußersten drohte, sagte er noch verächtlicher, wenn auch mit gesteigertem Schmerz: Du Tragödienspieler! ... Wenn den Papst der Despotismus tödtet, so bietet er ruhig die offene Brust; der Begriff lebt wieder auf in seinem Nachfolger ... Aendert di Gesetze Roms, bessert die Sitten, laßt den apostolischen Stuhl theilnehmen an allen Fortschritten der Zeit, macht unmöglich, daß die Greuel von Porto d'Ascoli die Kunst des Regiments in Italien heißen und wieder ein Segen kann der Menschheit werden, was man jetzt nur zu voreilig ihren Fluch nennt! ...

Benno staunte der Dinge, die in Porto d'Ascoli vorgefallen sein mußten ... Wenn er nun auch zu fragen gewagt hätte – so war die Aufregung der Streitenden ein Hinderniß ... Sie war zu groß geworden ...

Ich höre die träumerische Weisheit eures gemäßigten Fortschritts! sprach der Kohlenbrenner von vorhin ...

Und von den beiden schwarz verhüllten Leichenbrüdern fiel jetzt der eine, ihn unterstützend, ein:

So habt ihr seit dreißig Jahren für die Freiheit Italiens declamirt, geschrieben, gedichtet, gewinselt, gebetet! ... Das sind die frommen Wünsche eurer freisinnigen Barone, eurer aufgeklärten Bischöfe! Da soll das Weihwasser nur von unreinen Bestandtheilen gesäubert, der Katholicismus nur wahrhaft zu einem Liebesbund der Menschheit erhoben werden ... Und in dieser Gestalt behaltet ihr alles, was ein Fluch der Menschheit geworden ist! ... Ihr behaltet die Gebundenheit der Gewissen, die Gelübde, die Unfreiheit des menschlichen Willens – alles, wovon eine kurze Weile die Praxis einen milden Sonnenschein verbreiten kann, aber auf die Länge wird alles wieder wie die schwarze dunkele Nacht werden! ... Ihr wollt die Hierarchie, Rom und die Cardinäle – nur nicht die Jesuiten mehr? Werdet ihr die allein ausrotten können? Wodurch? Durch ein Verbot? Wenn alles übrige bleibt? Hat das Zeitalter der Aufklärung, hat Voltaire sie ausrotten können? Ich spreche nicht von dem Gift, an dem ein Ganganelli starb; ich spreche von jener List, die aus Wölfen Schafe machte, von jener List, die sich der Menschheit so unentbehrlich zu geben wußte, daß sogar die aufgeklärtesten Staaten, Borussia unter Friedrich, Russia unter Katharina, die Jesuiten als Lehrer beriefen! Sie sind unvertilgbar durch das Princip der Wissenschaft, dessen Lüge sie als Fahne aufstecken. Ob sie nun diesen oder jenen Namen tragen, bleiben sie unvertilgbar, solange überhaupt unsere Kirche besteht! ... Diese katholische Kirche, unter deren heiligster Oriflamme Menschen wie Grizzifalcone für den Bestand des apostolischen Stuhls wirken durften! ...

Der Sprecher war nicht der Mitpassagier von der Tiber gewesen ... Nun war es also der, der fortdauernd schwieg ... Brütend sah dieser vor sich hin, blieb unbeweglich und zog nur zuweilen seinen Fuß in die schwarze weite Umhüllung zurück und streckte ihn wieder vor ...

Letztere Geberde wiederholte sich, je lebhafter der Streit wurde ...

Wollt ihr deshalb die katholische Kirche zerstören? riefen mehrere Stimmen auf einmal ...

Eine andere setzte hinzu:

Sie ist wenigstens dem Italiener nicht zu nehmen ... Schreibt das nach London, wo man glaubt uns protestantisch machen zu können! ...

Wer will das? riefen andere Stimmen und unter ihnen aufs heftigste die des Kohlenbrenners ...

Der Italiener, fuhr der letzte Sprecher für die Kirche fort, ist und bleibt Katholik ... Ich sage nicht: Geht und seht das Volk sich beugen vor einer Mumie, die es anbetet! Geht und seht den Aberglauben, der die Stufen der heiligen Treppe mit den Knieen hinaufrutscht! Seht den Schmerz, der sich einer ganzen Stadt bemächtigen konnte, als ihm ein geliebtes Marienbild abhanden kam! ... Ich finde den Aberglauben überall, selbst bei Sokrates, der an seinen Dämon, bei Voltaire, der an sich selbst glaubte .... Nicht an sich selbst zu glauben, das ist der Katholicismus, der unausrottbar ist, so lange das Christenthum die Lehre von einem Mittler zwischen Gott und dem Menschen aufstellt ... Hat Italien irgend einen politischen Reformator gehabt, den ihr euch ohne Verehrung vor dem Mysterium der Messe denken könnt? ... Selbst Savonarola war kein Huß und kein Luther ... Der frostige Gedanke des Zweifels konnte nie die Oberherrschaft über Gemüther gewinnen, die nur Phantasie und Leidenschaft sind ... Und wo nun der Katholicismus sich nicht ausrotten läßt, da – ...

Ließe sich nicht die Hierarchie ausrotten? riefen andere Stimmen. Das bestreiten wir! ...

Rom ist das reine Priesterthum – fuhr der Vertheidiger der Hierarchie fort und ließ sich nicht irre machen ... Rom kann der Duft, der höchste Auszug des katholischen Priesterthums bleiben ... Alles, was für die schweren Pflichten des katholischen Priesters seine Belohnung, seine Erquickung, sein Entzücken ist, ist der Blick auf die Würden, die er erklimmen kann – auf das letzte Ziel, das ihm vom Tabernakel der Peterskirche in Rom leuchtet ... Die Theokratie ist kein Gedanke der Macht, der Herrschaft, kein Gedanke der reinen Aeußerlichkeit und Weltlichkeit – ... Sie ist – ...

Ein Wahngebilde der Phantasten! Ein Schlupfwinkel der Räuber und Mörder! donnerte der Kohlenbrenner ... Wie könnt ihr von einem geläuterten Papstthum sprechen! Wie könnt ihr den Papst an die Spitze unserer Reform stellen! ... Das wird vielleicht die Frauen gewinnen, die weichmüthigen Seelen, aber nie gibt es ein Fundament für die Hoffnungen Italiens ... Ein Menschenalter verrinnt und wieder tauchen Ceccones und Fefelottis auf – ... Sie, die beiden Arme des Papstthums, die sich verschränken konnten in Thaten, wie dieser teuflische Plan gegen die Gebrüder Bandiera war ...

Die Bandiera? sprach jetzt Benno laut und vernehmlich dazwischen ...

Die streitenden Principien – den Kampf der Lehren Gioberti's und Mazzini's – verstand er, aber die Ursache desselben blieb ihm fremd ...

Alle wandten sich ...

Benno war es fast, als regte sich sein Gegenüber, der zweite der schwarzen Leichenbrüder, noch lebhafter als bisher ...

Aber die stürmende Rede des Kohlenbrenners übertönte alles – auch eine Antwort auf Benno's Frage ...

Rom bleibt so lange das Verderben der Welt, fuhr dieser fort, als seine Gestalt nicht eine rein weltliche, der geistliche Hof für immer aufgehoben wird ... Ich bin im Princip für die Republik ... Doch ich werde gegen sie sein müssen, weil leider sie es ist, die, auf die Massen und deren geringe Bildung gebaut, uns immer und immer wieder in Rom die Macht der Päpste zurückgeführt hat ... Ich muß aus praktischen Gründen gegen sie sein ... Wir müssen nach Rom ein weltliches Königthum in den Formen der Neuzeit verpflanzen ... Ha, die Könige! – ... Die, die ich so liebe, und besonders die, die mit der Lüge der constitutionellen Formen gekräftigt sind, die wissen sich auszudehnen und zu befestigen ... Das sind Schmarotzerpflanzen, die Boden und Luft brauchen und beides nur zu bald gewinnen werden ... Die pflanzen an die Stelle der geistlichen Legitimität ihre weltliche; die sorgen für ihr Geschlecht, für die, die ihm dienen ... Wir müssen Rom einem Könige schenken, selbst wenn keiner die Hand danach ausstreckt! Wir müssen ihm den Köder unserer eigenen Freiheit bieten, die wir ihm eine Weile opfern! ... Ich gebe Rom an den, der das Meiste bietet und das Wenigste verlangt ... Dem Türken, wenn er es begehrt! ... Nur nicht einem Volkstribunen, der sich bisjetzt nur noch durch den Aberglauben der Masse hat halten können und zuletzt so regiert, wie die Ceccones regierten – durch die Räuber ... In hundert Jahren hat der Italiener eine Bildung und Erziehung gewonnen, dann – ...

Zwei Anhänger der Republik – einer darunter hatte deutlich die Stimme eines Buonaparte, den noch vor kurzem Benno an Rucca's Tafel gesehen – stellten diese retrogade Wendung, die auch noch jetzt die Republik nehmen würde, in Abrede ...

Die Mehrzahl widersprach aber allen diesen Anschauungen ... Sie blieb bei dem Glauben, daß gerade durch die dreifache Krone Italiens Zukunft am ehesten gewinnen würde ... Die Fürsten böten keine Bürgschaft ... Die Läuterung des Papstthums von seinen unreinen Elementen, die Sicherung einer bessern Wahl der Umgebungen des Heiligen Vaters, die Auflösung des Jesuitenordens schien der Mehrzahl die sicherste Aussicht für die Verwirklichung ihrer Hoffnungen ... In der Abwehr der Fremden waren alle einig ... Diejenigen, die der Hierarchie überhaupt, dem Priesterwesen und der katholischen Kirche abgeneigt waren, blieben in der Minderzahl ... Und jetzt lachten sie selbst darüber, daß in Italien besonders erhebliche Wirkungen durch Volksunterricht, Verbesserung der Schulen, die Verbreitung nützlicher Schriften zu erreichen wären ...

Benno sah, daß er sich unter Männern der höheren Gesellschaft befand, die in der Mehrzahl sich noch vor äußersten Schritten hüteten ... Die Idee des Papstthums möglichst von weltlichem Einflusse zu reinigen, die nächst bevorstehende Wahl auf einen Italiener voll Nationalgefühl und politischer Aufklärung zu lenken, die Cardinäle, die jetzt den meisten Einfluß hätten, unschädlich zu machen und den Volksgeist so zu beleben, daß er an allem, was zur Erhebung Italiens geschähe, ein Interesse nähme – das blieb die Losung der Majorität ... Unter den Hoffnungen für die Papstwahl wurde Cardinal Ambrosi genannt, den freilich wieder andere eine Creatur der Intriguanten und Tyrannen nannten ... La morte a Ceccone! La morte a Fefelotti! war die Schlußbekräftigung ... Dieser Ausruf kam einstimmig ... Er drückte einen Wunsch, eine moralische Verurtheilung, wie unser Pereat! – keine Losung zum Morde aus ...

Dennoch folgte Todtenstille ...

Jetzt fragte Benno, was den Unwillen der Versammlung in Betreff Porto d'Ascoli's und der Brüder Bandiera veranlaßt hätte ...

Er hatte leise, wenn auch nicht verstellt, gesprochen ...

Alle horchten dem wohllautenden Klang der Stimme des neuen »Spartakus« ...

Bertinazzi nahm das Wort und sagte:

Die Brüder Bandiera werden nicht in den Kirchenstaat einfallen ...

Das überrascht mich ... sprach Benno voll freudiger Wallung überlaut und vergessend, seine Stimme zu verändern ...

Bertinazzi reichte Benno einen Brief Attilio's ... Benno übersah ihn ... In jeder Zeile bekundete er seine Echtheit ...

Lest ihn! sprach Bertinazzi ... Ihr seid neu in unserm Kreise und wißt nicht, wie tief Rom und die Welt, die sich noch von Rom beherrschen läßt, gesunken sind ...

Benno las mit starrem Auge ... Seine Hand zitterte ... Ceccone, Olympia entschieden nicht über das Leben der Freunde –? ...

Inzwischen ließ Bertinazzi einige Schriften circuliren und theilte jedem Exemplare aus ...

Benno war solange seiner fieberhaften Erregung allein überlassen ...

Er las, daß die Lenker des Kirchenstaats gemeinschaftlich mit den Jesuiten einen Plan angezettelt hatten, demzufolge die »Verjüngung Italiens« als der Wunsch – nur der Räuber und Mörder erscheinen sollte ... Grizzifalcone war ausersehen worden, dies Werk in Ausführung zu bringen Thatsache.... Bis nach London hin verzweigte sich eine falsche Fährte, auf der die Verschwörer in die Lage kommen sollten, Bundsgenossen nur der Schmuggler und der Räuber zu werden ... Man hatte vom Vatican aus eine falsche Correspondenz mit Korfu angeknüpft, um das dortige Comité glauben zu machen, an der Küste des Adriatischen Meers, in Porto d'Ascoli, wäre alles reif, eine Invasion zu unterstützen ... Während der alte Principe Rucca nur seine Zölle im Auge hatte, richtete Ceccone seine Blicke weiter ... Auch ihm war das Erscheinen des Räubers in der Hauptstadt der Christenheit willkommen ... Auch seine Verhandlungen mit ihm, die gleichfalls jener Pilger geleitet hatte, bezweckten eine große Anerkennung des Reuigen ... Die Liste, deren wesentlichen Inhalt er lange schon vor dem alten Rucca kannte, sollte den Schrecken, den Grizzifalcone's Verrath unter den Zollbedienten und Schmugglern verbreiten mußte, zum Verderben der Revolution ausbeuten ... Ceccone ließ die Ortschaften, wo, wie ihm durch londoner Verrath bekannt geworden, die Brüder Bandiera landen sollten, so durch die Anzeigen, die dem Fürsten Rucca gemacht wurden, einschüchtern, daß die Räuber, die Schmuggler, die Zollbediente die Fahne des Aufstands als Hülfe und Rettung begrüßen mußten ... Wie diese Elemente die Revolution verstehen würden, lag auf der Hand ... Hier konnte nur Mord, Brand, Plünderung im Gefolge der dreifarbigen Fahne gehen ... Die reinsten, edelsten Zwecke mußten von Brandschatzungen, lodernden Flammen, Zerstörung der Wohnstätten des Friedens begleitet sein ... Dies Mittel, die Revolution zu entstellen, hatte man in Europa schon überall angewandt ... Die Bauern Galiziens, entlassene Sträflinge hatten Mord und Brand über Paläste und Hütten verbreitet ... Was Szela, der Schreckliche, später in den Eichen und Graswäldern Podoliens wurde, sollte schon Grizzifalcone in der Romagna sein ... Den Communismus schürten die Jesuiten, alle Extreme der freien Ideen förderten sie, um die öffentliche Meinung vor den Neuerungen zu erschrecken ... Im Kirchenstaat sollten alle, die durch das Strafgericht Rucca's bedroht waren, auf das Signal warten, die Fackel der Anarchie zu schwingen ... Fermo, Ascoli, Macerata sollten in Feuer aufgehen ... Italien sollte sich mit Schaudern von Freiheitsbewegungen abwenden, die der Welt solche Schrecken brachten ...

Aus dem ergreifenden Gemälde dieser von den Cardinälen der Christenheit, von den Rathgebern des Heiligsten der Heiligen angezettelten Intrigue erhob sich der Protest Attilio's Bandiera, wie die Taube weiß und rein am dunkeln Gewitterhimmel aufsteigt – Attilio erklärte, noch zeitig genug gewarnt worden zu sein ...

Wie Benno mit bebenden Lippen diesen Protest las und sah, daß sich die Losung verändert hatte – wie er las, daß eine Schar von entschlossenen Männern den Versuch machen würde, von Calabrien aus nach Neapel vorzudringen – wie er sogar den Silaswald genannt fand – ja wie sich ihm ein Flor vors Auge legte – als die Namen Fra Hubertus – Fra Federigo auf dem Papier wie Irrlichter auf dunkelm Moore tanzten – wie er ein Wort von einem »abgesandten Franciscanerbruder« noch mit den letzten Stunden in San-Pietro in Montorio in Verbindung bringen konnte und – ihn die Aufklärung über alles zu belohnen schien, was Bonaventura's nächste Sorge war, da hörte plötzlich sein Ohr ein dumpfes Murmeln um sich her ...

Er blickte auf ...

Die Männer waren schon vorher aufgestanden ... Jetzt befanden sie sich in einer Gruppe ... Der schwarze Todtenbruder stand mitten unter ihnen in heftiger Gesticulation ... Bertinazzi bat um Ruhe ... Vergebens ... Das Durcheinanderflüstern mehrte sich ... Timoleon! rief Bertinazzi ... Nehmen wir unsere Plätze ... Nein, nein! riefen andere ... Laßt Timoleon reden! ...

Der schwarze Todtenbruder schien ungern lauter zu sprechen ... Doch nun mußte er es thun ... Alles stand erwartungsvoll ...

Ich hatte nur die Absicht – – eine neue Loge zu stiften ... sagte er dumpf und hohl ...

Benno hörte die Stimme vom Nachen ... Die Augen des Sprechers funkelten unheimlich durch die beiden Lücken seiner Kapuze ... Sie waren auf Bertinazzi gerichtet, der mit diesem Wunsch einer neuen Logenbildung nicht einverstanden schien und beschwichtigend rief:

Laßt das! Laßt das! ...

In diesem Augenblick streifte ein Rockärmel Benno's Wange ...

Der Freund der Päpste, der Kapuziner war es, der seine Hand ausgestreckt, Attilio's Brief ergriffen und das Papier in die Flamme eines der Lichter gehalten hatte ...

Benno, betäubt noch von dem nicht vollständig überlesenen Inhalt, erbebend vor dem Anblick der Namen, die sein Innerstes erfüllten – vor dem Silaswald, in dessen Nähe jetzt, an Punta dell Allice, die Invasion stattfinden sollte – zu gleicher Zeit mit einer Erhebung in Sicilien und Genua – Benno wollte dies Beginnen, ein Zeichen wol gar des Mistrauens gegen ihn, verhindern und sprach:

Soll ich diesen Brief nicht so gut kennen wie ihr? ...

Da hatte die Flamme schon den Brief verzehrt ...

Benno sah, daß das Flüstern vorhin, dies Entziehen des Briefes aus dem Erkennen seiner Stimme durch den schwarzen Todtenbruder entstanden war ... Er richtete vor Aufregung seine Augen so zu Bertinazzi, daß sie wie Flammen diesem entgegenglühen mußten ... Denn auch ihm war der Ton seines Anklägers immer bekannter und bekannter geworden ... Es fehlte nur noch ein einziges mal, daß jener sprach, und ein unglaublicher Name, der Name eines offenbaren Verräthers, brannte ihm auf der Zunge ...

Bertinazzi hatte sich in der That zu seinem Beistand erhoben ...

Wieder drangen die Stimmen in den Leichenbruder, zu reden ...

Dumpf sprach dieser:

Wir sind in diesem Augenblick zu dreizehn ... Der vierzehnte, unser Franciscaner, fehlt ... Wir dürfen eine neue Loge bilden ... Ja, dies will ich ... Ich thu' es ... Die dazu notwendigen Zwölf werd' ich finden – ...

Benno starrte den Sprecher an ... Er wußte, wer gesprochen – – ...

Dann ist Bertinazzi's Loge verpflichtet, Euch eine Hülfe zu geben! ... sprach der Kapuziner ...

Einer von uns trete zu Timoleon's neuer Loge! riefen mehrere ...

Loost! Loost! ... erscholl es von anderer Seite ...

Warum loosen! erwiderte der schwarze Todtenbruder, der den Namen »Timoleon« führte ... Ich nehme jeden von euch, der sich freiwillig dazu erbietet – doch – nicht – Spartakus! ...

Wieder sprangen alle von ihren Sitzen ... Was vorhin nur schien einzelnen angedeutet worden zu sein, erscholl jetzt vor aller Ohr ... Die Verschworenen zogen dichter ihre Hüllen vor die Augen ... Sie traten auf Benno zu ... Schon streckten sich einige Hände nach seiner Köpfverhüllung ...

Zurück! rief Bertinazzi mit einer Stimme, die an den Wänden widerhallte ... Ich bürge für Spartakus ...

Für einen Verräther?! ... Einen Deutschen?! ... Einen Spion Osterreichs?! ... rief Timoleon ...

Verräther –? Ich? ... Graf Sarzana! Wer ist hier – der Verräther? ...

Sarzana! rief die ganze Loge voll Entsetzen ...

Ein Augenblick und vier, fünf Dolche blitzten ... Sie blitzten nicht nur Spartakus, sondern auch Timoleon entgegen ... Der Name »Sarzana« klang wie: Eine Creatur Ceccone's! ... Kaum hatte auch Benno jetzt noch den Beistand des Meisters der Loge ... Einen Namen zu nennen war ein Bruch aller Gesetze ... Bertinazzi trat den gezückten Dolchen entgegen und rief: Die Loge ist aufgelöst! ... Friede! Friede! Friede! ...

Die Lichter wurden ausgelöscht ...

Eine kraftvolle Hand drängte Benno aus dem wilden Tumult ... Eine Thür sprang auf ... Mit dem Ausruf: Unglücklicher! stieß ihn sein Retter – der Kohlenbrenner, wie Benno zu erkennen glaubte – in das Dunkel eines engen Corridors ...

Ein Augenblick der Besinnung ... Benno griff nach einer der kleinen Wachskerzen, die er in der Tasche trug ... Damit tastete er vorwärts, um eine Mauer zu finden, an der er das Wachslicht durch Anstreifen entzünden konnte ...

Er fand die Mauer ... Er hatte Licht ... Er blickte um sich ... – –

Am Ende des langen Corridors stand ein Trupp Gensdarmen, der mit angeschlagenen Carabinern lautlos sich auf die Loge zu in Bewegung setzte.

Ende des siebenten Buchs.

Neunter Band
Achtes Buch
1.

Mühsam windet sich ein mit fünf Rossen bespannter Reisewagen die Höhen eines kahlen Gebirges hinan ...

Die Straße ist es, die von Nizza über den Col de Tende nach dem Piemont führt ...

Kreidige Felsen, Reste vulkanischer Zerstörungen, heben sich schimmerndhell vom tiefblauen Himmel ... Die Vegetation wird immer lebloser, je näher dem höchsten Kamm der vom mächtigen Rückgrat der Schweizer- und Savoyer- sich abzweigenden Seealpen ... Noch jetzt, noch am Ende des Juni, liegt Schnee in einzelnen versteckten Spalten, die ein schneidend scharfer Wind bestreicht ...

Zeitig waren die Passagiere von Sospello aufgebrochen ... Sie hatten Vorspann nehmen müssen ... Bald verließen sie den Wagen, um den Pferden die Last zu erleichtern ... Drei Frauen, die rüstig zuschritten, schienen an Anstrengungen gewöhnt ... Ein Kind, das bald ermüdete, ließ man wieder einsitzen ... Die beiden Männer schritten anfangs mit wetteifernder Ausdauer ...

Bald aber ermüdete auch von ihnen der eine ... Ein heftiger Husten zwang ihn oft, still zu stehen ... Nun machten ihm die übrigen Vorwürfe über die Anstrengungen, die er sich zumuthete ... Er lächelte eine Weile, schüttelte den Kopf, deutete an, es würde gehen ... Zuletzt zwang man ihn, in den Wagen zu steigen ... In einen grauen Leibrock mit Metallknöpfen gekleidet, schien er ein Diener zu sein – ein weißes Staubhemd darüber flatterte im Winde ...

Im Wagen nahm er das etwa dreijährige Kind, ein heiteres, schwarzäugiges Mädchen, auf den Schooß ... Eine der Frauen – man hätte sie für die Zofe der beiden andern Damen halten dürfen – ging im ärgsten Staube neben dem Schlage des Wagens und reichte zuweilen die Hand hinauf, die der Kranke dann mit Liebe drückte, während gleichzeitig ein sanfter Blick seines Auges auf die Frauen deutete, die seine Begleiterin nicht aus dem Auge verlieren sollte ...

Jene aber nahmen die kürzeren Wege und kletterten wie die Ziegen, die in Schaaren auf den kahlen Höhen die wenigen Stellen suchten, wo die Vegetation von ihren üppigsten Entfaltungen, die die Reisenden noch gestern begleitet hatten, in letzten Kräutern und Grashalmen erstarb ... Gestern noch Oliven, Gärten voll Orangen, Gebüsche von Myrten und hier und da die einsam träumende Dattelpalme; noch in Sospello die nächsten Anhöhen bewaldet von Kastanien – jetzt aber schon seit einer Wanderung von zwei Stunden nichts als niedriges Buschwerk und selbst die Alpenflora durch die große Trockenheit des Bodens gehindert ... Hier und da leuchtete wol das schöne Himmelblau der Genzianen ...

Die beiden Frauen, in breitrandigen, am Kinn befestigten »Nizzahüten«, deren Strohgeflecht fest genug ist, um von den jeweiligen Windstößen nicht bald diese, bald jene Gestalt zu gewinnen, sammeln dem Kinde, der kleinen Erdmuthe, was sie allenfalls an blauen, auch hier und da noch weißen und rosenrothen Blumen entdecken können ...

Die Alpenrose findet sich hier nicht, sagte die ältere und kleinere Dame; sie muß doch mehr Schnee und Eis haben, um fortzukommen ...

Vielleicht jenseits – auf dem niedergehenden Abhang – entgegnete die jüngere und nickte vertröstend der Kleinen zu, die verlangend von der Straße her aus dem Wagen ihr Händchen streckte, an ihrem hastigen Begehren durch den Fahrenden gehindert, der sie auf seinem Schooße schaukelte ...

Der Arme! Wie er hustet! seufzte die ältere der Frauen mit Hindeutung auf den Mann im weißen Staubhemd ... Sie fügte hinzu: Er hätte gar nicht aussteigen sollen ...

Auch die Nähe eines Kranken kann bald zur Gewöhnung werden ... Selbst ein hoffnungsloser Zustand wird zuletzt mit Ergebung in die einmal nicht zu ändernde Lebensordnung seiner Umgebungen hingenommen ...

Auf den schottischen Hochgebirgen fand ich, wie hier am Mittelmeer, nahm die jüngere mit Beziehung auf die fehlende Alpenrose wieder die frühere Aeußerung auf, ganz die gleichen Blumen ... Dieselben Formen haben sie, dieselben Farben ... Auch die langen Wurzeln, mit denen sie sich festklammern müssen, um den Stürmen zu trotzen ... Die Stiele sind immer kurz ... Keine wagt sich zu sehr über den schützenden Boden hinaus ... Und siehe da! Die kleinen Sternblümchen schon verwelkt! ... Alles wie in Schottland ... Ein kurzer schöner Frühling – kein Sommer – gleich der Winter ...

Die Mutter, die wir an ihren grauen Locken als Monika von Hülleshoven erkennen, war schon an sich bewegt vor Erwartung des Ziels dieser Wanderung ... Noch heute konnte sie hoffen, endlich nach langer, langer Trennung die greise, dem Tod nahe Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen auf Castellungo zu sehen, die Pathe da der kleinen Erdmuthe Hedemann ... Mehr als zehn Jahre nach den Tagen damals in der Residenz des nun auch schon zu seinen Vätern versammelten Kirchenfürsten, als die Gräfin so fest darauf gerechnet hatte, ihre geliebte Monika würde schon den nächsten Frühling in Castellungo zubringen ... Was war nicht alles dazwischengekommen, bis sie die edle Greisin endlich auf ihrem schönen italienischen Schlosse wiedersah ... Nun ergriff sie noch Armgart's Wort: »Ein kurzer Frühling – ohne Sommer – gleich der Winter!« ... Auf wen wol paßte die Vergleichung mit dem Leben der Alpenblumen mehr, als auf sie, die jetzt – achtundzwanzigjährige – unvermählte Armgart! ... Sie hatte sich mit den Jahren dem Vater da, der, um sich etwas zu verschnaufen, mit einem Ziegenhirten plaudert, nachgebildet, war in Wuchs gekommen und ein hochaufgeschossenes, schlankes Fräulein geworden, wofür sie nie Aussicht gegeben ... Um so zarter und behender waren ihre Glieder geblieben ... Der Kopf unter dem Strohhut war wol jetzt vom Steigen rosig erglüht; sonst aber sah ihr Antlitz bei weitem blasser aus, als in ihrer Jugend und als noch jetzt die Mutter aussieht, die an ihrer apfelgleichen Frische und Rüstigkeit nichts eingebüßt hat ... Jenes ihr eigene halbe Lächeln mit den beiden schimmernd weißen Vorderzähnen hatte Armgart behalten, aber es gab ihr jetzt eher etwas Strenges; ihre schönen Augen waren ernst und fast ein wenig starr geworden ... Eine Jungfrau, die mit ihren Hoffnungen abschließt, macht schmerzhafte Krisen der Seele durch ...

Im übrigen würde Monika, die immer die Gegenwart und die nächste Pflicht im Auge behielt, kaum so in Rührung gekommen sein über diese Vergleichung ... Noch in Sospello, wo sie den Berg taxirte und dem Posthalter, der drei Pferde Vorspann begehrte, eines als einen Misbrauch abgehandelt hatte, war sie wie immer laut und entschlossen gesprächsam gewesen ...

Jetzt lag das Jenseits des hohen Kulms geheimnißvoll vorm Auge ... Nun konnte sie nur mit Wehmuth auf die da und dort sich sorglos bückende Armgart sehen – konnte sich nur sagen: Arme Alpenblume auch du! Auch du hattest einen schönen Mai- und Wonnemond, dann sogleich den Herbst und vielleicht – den ewigen Winter! ...

Armgart aber rief jetzt lachend:

Fühlt ihr nun, daß der Col de Tende sich sehen lassen kann? ... Ich sagt' es ja gleich nach allem, was ich in Nizza erzählen hörte ... Den Gipfel erreichen wir noch vor drei Stunden nicht ... Seht ihr auch da oben noch das Haus? ... Da füttert der Postillon noch eine Stunde und auch wir werden ohne Collation nicht fortkommen ...

Armgart schien die Ruhe und Ergebung selbst geworden zu sein ... Sie war selbst um Paula und ihre liebe alte Gräfin, ihr ketzerisches »Großmütterchen«, nicht aufgeregt, die auch sie seit zehn Jahren nicht gesehen hatte und dort – jenseits der kahlen Höhe morgen, eine Sterbende, finden sollte! ... Paula! Sogar von ihrer geliebtesten Freundin hatte das Leben und die bewegte Zeit sie fast im Geist verdrängen können ... Zu den bitteren Kämpfen, die sie alle und zumal ihre Familie seit zehn Jahren durchgemacht, gehörte ein wehmüthiger, wenn auch unausgesprochener Zwiespalt Armgart's mit Paula, hervorgerufen durch die so mannichfache Verschiedenheit der Meinungen und Ueberzeugungen ... Nächster Anlaß dieser Reise war keinesweges allein das dringende Bedürfniß, sich endlich wiederzusehen, sondern mehr noch der zufällige Umstand, daß Hedemann, der sich in einer bewegten Zeit dem Wohl des Obersten von Hülleshoven geopfert hatte, heftig an der Brust erkrankt war, Genf, wo der Oberst mit den Seinigen seit den letzten Jahren gewohnt hatte, erst mit Nizza vertauschte und dann in der Heimat seiner Porzia für immer zurückbleiben – vielleicht dort sterben wollte ... Die Aerzte hatten ihn aufgegeben ... Doch die Auflösung eines so kraftvoll gebauten Körpers ließ einen langen Kampf erwarten ...

Ulrich von Hülleshoven, dessen Locken nun auch schon ergraut sind, schreitet schon wieder wacker voraus ... Seit Jahren begleitete ihn auf solchen und ähnlichen Wanderungen immer derselbe mächtige Alpenstab ... Er kehrte diesen jetzt um, hielt das Ende mit der eisernen Spitze oben und streckte den Griff seiner Frau und Tochter zu mit der scherzenden Aufforderung, sich festzuklammern, er wollte sie hinaufziehen ... Aber Armgart stemmte im Gegentheil beide Hände an seinen Rücken, um ihm hinaufzuhelfen ... Vorwärts! Vorwärts! rief sie und ihre Kraft gab ihr das Zeugniß noch der Jugend ...

Porzia unterhielt sich indessen mit dem Postillon über ihre endlich wieder begrüßte Heimat, in der sie die Aeltern nicht, die in Deutschland waren, nicht die alten Seidenwürmerkammern ihrer mütterlichen Hütte fand, aber die Pathin ihres Kindes, die edle Gräfin, die sie einst nach England mitgenommen hatte ... Die kleine Erdmuthe plauderte bald deutsch, bald italienisch ... Da sie so viel vom Sterben hörte, fragte sie, ob es von hier in den Himmel ginge ...

Das war nun alles so, wie es war und nicht anders sein konnte ... Darum brannte die Sonne so drückend wie nur in jedem Juni, pfiff ein scharfer, der Hitze widersprechender Wind aus Nordost herüber – hüpften die Ziegen, zankten die Hirten, grüßten die über den Berg gekommenen Fuhrleute, die in zweirädrigen, maulthierbespannten Karren den guten Wein von Coni und Robillante nach diesseits führten, und – zankte auch wol Monika, die, als der Postillon am Wirthshaus wirklich hielt und die Locandiera auf die Bestellung einer Collazione lauerte, sagte:

Das muß man den Leuten ganz abgewöhnen, den Reisenden ihren freien Willen rauben zu wollen ... In Italien soll man nur immer den Muth haben, in jeder Lage Ja! oder Nein! zu sagen ...

Sie ließ der kleinen Erdmuthe nur Milch geben ...

Mutter, entgegnete Armgart, milde lächelnd, dies Haus ist in der Voraussetzung gebaut worden, daß man hier nach Eiern und Schinken, nach Wein und vielleicht selbst nach einem kalten Huhn frägt ... Es zu bauen hat Mühe gekostet ... Die Galerie da, die Thüren, die Verschläge sind von Holz und Holz wächst hier nicht ... Unser Leben ist ja eine einzige große Verschwörung der verbündeten Menschheit gegen den Schöpfer, der uns vieles doch so gar, gar schwer gemacht hat, besonders die Existenz ... Muß denn nun immer alles so regelrecht gehen? ... Wenn es nach mir ginge, ich kehrte in jedem Wirthshause ein – ich bestelle auch hier Schinken, Eier und Wein ...

Das waren nun so die kleinen Intermezzis des gemeinschaftlichen Reisens, wo sich die gegenseitigen Stellungen ergaben ... Der Oberst ging gern auf den Ton seiner Tochter ein, der ihm sympathisch war, wenn er auch wol sich hütete, die Mutter in solchen Fällen ganz Unrecht behalten zu lassen ...

Der kleine Imbiß wurde bestellt ... Am öde und einsam gelegenen Wirthshause wurde es mit der Zeit ganz lebhaft ... Die Weinfuhrleute richteten an den abgestiegenen und sich ganz, als wäre er gesund und nur ein Diener, benehmenden Hedemann die Frage, ob sie denn auch Neuigkeiten aus der Welt mitbrächten und vor allem von Rom Entscheidendes über die Belagerung der ewigen Stadt durch die Franzosen ...

Armgart trat über diese Fragen zur Seite und Monika wußte, warum sie es that ... Nun bestellte die Mutter selbst noch mehr, als Armgart gewollt hatte ...

Auch der Oberst verstand Armgart's Beiseitetreten, seufzte und bedeutete Hedemann, der den Fuhrleuten in gebrochenem Italienisch kurz erzählte, was er wußte, daß er sich dem scharfen Winde nicht aussetzen und sogleich ins Zimmer treten sollte ...

Hedemann erwiderte mit einer Stimme, die seine alte Kraft und Männlichkeit nicht mehr erkennen ließ, daß ihm wohl wäre ... Auf dieser luftreinen Höhe, unter dem blauen Dach des Himmels hatten aus dem Munde eines rettungslos Dahinsiechenden die Worte der Ergebung einen doppelt wehmüthigen Nachdruck ...

Nach einer Rast von mehr als einer Stunde erklommen die Gefährten neugestärkt die Spitze des nun immer noch kahler werdenden Passes ... Wie glich ihr mühsames Aufwärtsschreiten den Kämpfen ihres eigenen Lebens selbst, denen erst jetzt eine etwas glücklichere Ruhe gefolgt war! ...

Aber Muth! leuchtete aus dem Auge Monika's, Hoffnung! aus dem Auge Armgart's ...

Des Vaters kräftige Hand half jetzt den Klimmenden nach und mancher Scherz über die Possirlichkeiten der Kleinen erheiterte die Stimmung, trotz Porzia's Trauer, trotz Hedemann's wiederholtem: Die Gräfin ruht wol schon in Gottes Schooß! trotz aller der Mischungen von Freude und Schmerz, die ihnen die Nennung der Namen Paula's, des Grafen Hugo und des jetzigen Erzbischofs von Coni, Bonaventura von Asselyn, bereiten durften.

2.

Das waren denn jene muthigen Menschen, die einige Jahre hindurch, schon vor Paula's Vermählung, mit einer Stadt wie Witoborn, mit einer Landschaft wie die um Kloster Himmelpfort und weit hinaus in die Ebene hin, einen geistigen Kampf zu beginnen gewagt hatten, in dem sie auf alle Fälle unterliegen mußten ...

Sie waren nur Sieger über sich selbst geworden oder trugen, wie Hedemann sich ausdrückte, das Sterben des Herrn am eigenen Leibe, auf daß an ihnen auch das Leben des Herrn offenbar würde ...

Der Oberst hatte sein kleines Vermögen, auch fremdes, auf die Anlage einer Papierfabrik verwandt ... Gerade deshalb, weil in jener Gegend diese Industrie brach lag, hatte er geglaubt, die Wasserkraft der Witobach und die schon vorhandenen Mühlenwerke für eine solche Unternehmung nutzen zu können ... Die Kapitalien wurden vom Onkel Dechanten, sogar zuletzt vom Onkel Levinus dargeboten, letztere allerdings nur von Paula entlehnt – vor dem mächtigen Blick und der bündigen Rede Monika's verstummte auf Schloß Westerhof jeder Widerspruch ... Lenkte doch auch sie die so wünschenswerth gewordene friedliche Ausgleichung mit der jüngeren Linie der Camphausen in einer so entschiedenen Weise, daß überall die nächsten äußerlichen Sorgen schwanden ... Endlich hatte auch der Oberst magnetische Gewalt über Paula ... Unentbehrlich war er ihr geworden in jenen Zeiten, wo sich in Paula's Herzen die schmerzlichsten Kämpfe vollzogen, Kämpfe, die ihren Körper zu zerstören drohten – ihr Wachschlummer, ihre Visionen, die sonst lindernd auf sie gewirkt hatten, traten nach und nach zurück ...

Der Oberst mußte seiner Pensionsansprüche wegen dann auf kurze Zeit eine Reise nach England machen ... Um Paula's Leiden kehrte er zeitiger heim, als er im Interesse Armgart's wünschen konnte ... Diese hatte er mitgenommen, da sie trotz der Aussöhnung ihrer Aeltern, trotz der Befreiung von Terschka's Werbungen ein tief in sich verschüchtertes Leben darbot und in ihrem Stift Heiligenkreuz um so weniger sich heimisch fühlte, als Armgart, wie Lucinde, zu jenen Naturen gehörte, die selten die Anerkennung der Frauen gewinnen ... Was sie that, wurde wenigstens in ihrer Heimat abenteuerlich gefunden; was sich an ihren Namen knüpfte, wurde ihr zur Ungunst gedeutet ... Sie hatte, sagte man, Benno von Asselyn, Thiebold de Jonge, vielleicht selbst Terschka »auf dem Gewissen« ... Die Scheu der katholischen Rechtgläubigkeit vor allem, was den Nimbus ihrer Kirche gefährden konnte, verhinderte, daß man um Witoborn offen von Terschka, als von einem »Jesuiten der kurzen Robe« sprach, von einem Proselyten dann, der Glauben und Gelübde in London gewechselt ... Die Aufregung der Gegend um die Vorgänge auf Westerhof, um den Brand, um die Urkunde, den vielleicht erneuerten Proceß, das mögliche Auftreten und Erstarken lutherischer Elemente in dortiger Gegend wurde so groß, daß Armgart den Vater auch ganz gern begleitete ... Er ließ sie zurück bei Gräfin Erdmuthe, die bei Lady Elliot theils in der Stadt, theils auf dem Lande wohnte ...

Armgart wurde allmählich den Töchtern der Lady unentbehrlich; sie hatte in der Gesellschaft Erfolge, die die Aeltern nicht stören mochten ... Selbst die Nähe Terschka's beunruhigte sie nicht ... Ihr Vater hatte ihn in London wiedergesehen, hatte seinen Muth, mit den Jesuiten zu brechen, bewundert und vermittelte eine Verständigung des Flüchtlings mit dem Grafen Hugo ... Letztere gelang äußerlich, zumal da der Graf durch Terschka die Aufforderung erhielt, der beim Brand von Westerhof gefundenen Urkunde entschieden zu mistrauen und unerschrocken wieder aufs neue den Proceß zu beginnen ... Als man Terschka's Einfluß auf diese von Wien verlautenden Drohungen erfuhr, wollten ihn zwar auf Schloß Westerhof Tante Benigna und Onkel Levinus als einen unverbesserlichen Sohn der Hölle darstellen, Monika aber fand sein Benehmen in der Ordnung und erklärte, daß sie an des Grafen und Terschka's Stelle ebenso handeln, vor allem Lucinden in Wien, den Mönch Hubertus in Rom, den Doctor Nück in der Residenz des Kirchenfürsten vernehmen, ja verhaften lassen würde ... Als dann Bonaventura, nach Lucindens Beichte zu Maria-Schnee in Wien, dies große Aergerniß von einer der ersten Familien Deutschlands abgewandt hatte, als Graf Hugo plötzlich auf Westerhof erschien und Paula nach dem ausdrücklich und wunderbarerweise von Robillante gekommenen Zeugniß Bonaventura's: Dieser Mann darf dir gehören und du ihm! jetzt willenlos geworden, ja durch Bonaventura's plötzliche Verpflanzung auf einen Boden, auf den sie ihm gebührenderweise – als Gattin des Grafen – sogar folgen durfte, überwältigt, ja davon wie berauscht, nachgegeben hatte, gewannen der Oberst und Monika eine mächtige Anlehnung auch an den von ihnen immer empfohlenen Grafen ... Dieser schätzte und verehrte schon lange die ehemalige Bewohnerin des Klosters der Hospitaliterinnen in Wien ... Paula selbst fand er dann unter dem magnetischen Rapport des Obersten ... Sein eigenes beklommenes, tief verdüstertes, erst durch jenen mit Bonaventura auf Schloß Salem hingebrachten »Einen Tag« dem Leben wiedergewonnenes Gemüth schloß sich zuletzt besonders innig dem frischen, lebendigen Sinn der Bewohner Witoborns, den »Papiermüllers« an, wie Oberst Hülleshoven und die Seinen spottend von der ganzen Provinz und den adeligen Genossen genannt wurden ...

Und anfangs machten sich die Verhältnisse ganz nach Wunsch ... Monika's Rath war für die irrend hin-und hertastende Schwester Benigna, für den vom Erscheinen des Grafen Hugo um alle Fassung gebrachten Levinus unerlaßlich ... Paula's Aufregung mußte freilich die Freunde und Verwandte mit Schrecken erfüllen ... Sie schlief zwei Wochen lang nicht eine Nacht und sprach und that dabei doch alles, was man verlangte, ordnete ihre Ausstattung, wobei sie selbst wie eine Magd angriff, der ein höheres Geheiß geworden ... Wenn alles erstaunte: »Der Domkapitular ist Bischof in Italien!« – wenn man lächelte: »Bischof in dem Sprengel, wo die Güter der künftigen jungen Gräfin Salem-Camphausen liegen!«, so hörte und sah Paula nichts von Alledem ... Graf Hugo wurde ihr in der That noch der liebste von all den Menschen, die es außer Bonaventura und Armgart in der Welt gab – war er nicht der Bote, der Bevollmächtigte Bonaventura's – war er nicht zart und rücksichtsvoll in seinem Benehmen ...? Paula war scheinbar so lebensmuthig geworden, daß sie selbst dem Trostworte Monika's nachdenken konnte: »Un mariage de raison! Le comte renoncera à tout droit de possesion –!« ... Freilich hörte sie nicht, was Monika zur Schwester Benigna hinzusetzte: Muß man französisch sagen, was uns nicht erröthen lassen soll! ... Sie hörte das Schmollen nicht über die Unnatur des katholischen Priesterstandes, über die Unnatur des Lebens der höhern Stände überhaupt ... Doch allerdings erklärte Monika, hier keinen andern Weg zu wissen, als den »eurer üblichen Convenienz« – ... Die Familienzweige der Dorstes durften nicht auseinander gehen ...

Niemand unterstützte diese Wendungen mehr, als Bonaventura's Mutter, die Präsidentin von Wittekind-Neuhof ... Ihr war es fast, als könnten nur so die düstren Schleier gewahrt bleiben, die sich inzwischen schon theilweise von Angiolinen, von Benno und von der Herzogin von Amarillas gelüftet hatten ... Wenn Graf Hugo fand, daß gerade er es »nicht um Benno und Bonaventura von Asselyn verdient« hätte, auf Schloß Neuhof so scheu empfangen zu werden, so gab seine »lutherische Religion« einen Entschuldigungsgrund für eine Scheu, eben in ihm den Pflegevater, den Geliebten Angiolinens zu sehen ... Durfte man doch die Besorgniß hegen, ihn wol gar von dem flüchtigen Terschka über alles unterrichtet zu wissen, was damals in jener von Löb Seligmann belauschten Verhandlung zur Sprache gekommen war ... Die kluge Präsidentin wollte ihren Gatten, den »Büreaukraten«, wie er um Witoborn hieß, mit dem Geist der Provinz versöhnen und nahm sogar an den Exercitien der ab- und zugehenden, seltsamerweise dem Schloß Westerhof entschieden feindlichgesinnt bleibenden Frau von Sicking Theil ...

Schon war Paula, opferfreudig und nunmehr in ihrem katholischen Sinn heilig überzeugt, daß sie gerade durch ihre Heirath dem Abgott ihrer Seele, einem Priester, noch eine Glorie des Himmels mehr gäbe – ihrem Gatten nach Wien gefolgt, als man immer anregendere und überraschendere Mittheilungen aus England erhielt ... Terschka spielte in London eine glänzende Rolle ... Auch dort standen ihm fördernd seine geselligen Talente zur Seite ... Sein Bruch mit dem katholischen Glauben, seine Flucht vor den Jesuiten, zu deren Orden er gehört hatte, sein Anschluß an Giuseppe Mazzini, den italienischen Agitator, und dessen Freunde, alles das gab ihm selbst in den Kreisen der englischen Aristokratie einen Nimbus ... Armgart begegnete ihm in den hohen Kreisen, in denen sie lebte ... Freilich sah sie in ihm ihrerseits nur das Abbild jener düstern Tage, wo sie geglaubt hatte, sie müßte sich dem ungewissesten Schicksal opfern, um nur ihre Mutter vor einer Verirrung zu bewahren, die die Aussöhnung mit dem Vater unmöglich machte ... Aber ihre ganze Verachtung vor dem innerlich hohlen, nur gesellschaftlich verwendbaren Mann durfte sie ihm nicht ausdrücken, da die Aeltern selbst zu viel auf seine gegenwärtige Gesinnungsänderung hielten, die Gräfin Erdmuthe ihm verziehen hatte, Lady Elliot ihm eine Stellung über allen Makel gab ...

Die Briefe, die in Witoborn bei dem »Obersten Papiermüller« ankamen, brachten immer überraschendere Mittheilungen ... Um Terschka fingen an sich Gerüchte zu verbreiten, als spielte er eine doppelte Rolle ... Er hätte nicht aufgehört das zu sein, was er war ... Ganz übereinstimmend mit jener vom alten Zickeles in Wien zu Benno gethanen Aeußerung: »Die Jesuiten lassen ihn auch sein Protestant!« ... Schon verlautete mancher Zweifel an seiner fanatisch zur Schau getragenen lutherischen Kirchlichkeit und italienischen Freiheitssympathie ... Armgart sprach von ihm als von einem »ewig Gezeichneten« ... Sie lehnte seine Begleitungen ab, schlug die Huldigungen aus, die ihr seine immer noch lebhafte Galanterie und unbeugsame Elasticität im geselligen Verkehr brachte ... Manche behaupteten, schrieb sie, Terschka spiele leidenschaftlich und wäre stets in Verlegenheiten ... Letzteres mußte wol der Fall sein; denn man bemerkte, daß ihm der Präsident von Wittekind Geld schickte ...

Armgart selbst befand sich im Punkt der Religion immer noch da, wo sie gleich anfangs mit ihrem, inzwischen nach Westerhof, Wien und Italien gegangenen »ketzerischen Großmütterchen« Gräfin Erdmuthe gestanden ... Lady Elliot besaß denselben Bekehrungseifer, wie Gräfin Erdmuthe – hätte sie nicht Gegner gefunden, sie würde sie gesucht haben ... Da kam nun ihrer dogmatischen Streitsucht ein geistesfrisches Mädchen nach Wunsch, das von den Entdeckungen, die Armgart an dem Glauben ihrer Aeltern machte, in einer steten, oft, nach Empfang von witoborner Briefen und Nachrichten, fieberhaft kampflustigen Beunruhigung lebte ... Die Engländerinnen konnten Armgart um die Geltendmachung ihrer noch ungebrochenen katholischen Gesinnung nicht zürnen; denn einmal war und blieb sie in ihrem Wesen für eine weniger engherzige Beurtheilung, als die in Stift Heiligenkreuz, die Anmuth selbst und ebenso bestrickend war die eigenthümliche Art ihres Wahrheitssinns, der seinerseits aus freiem Trieb selbst nichts schonte, was ihr am katholischen Leben die flüchtige und entstellte äußere Erscheinung war. Sie behauptete, nur den Kern festzuhalten, und rechnete dann freilich dazu das Martyrium, ihren Umgebungen so beschränkt und lächerlich wie möglich zu erscheinen. Sie aß am Freitag kein Fleisch, sie machte ihre Kreuze, sie ging in die Messen; sie sagte: Das ist blos meine Religion, euch lächerlich zu erscheinen! ... Wenn man ihrer spottete und sie fragte: Wie viel Jahre Ablaß und Milderung für die Läuterung im Fegefeuer sie schon gewonnen hätte? zeigte sie ihr Büchelchen und gab die Addition von einigen Millionen Jahren an mit den Worten: Die Ewigkeit ist lang! ...

Aber im Grunde der Seele wurde sie über dies und anderes doch ernster und bekümmerter ... Aus ihrer sichern, ja trotzigen Lebens- und Denkweise, die von einigen großartigen, bis zum Anerbieten glänzender Heirathspartieen gehenden Huldigungen unterbrochen wurde, weckten die, trotz ihres Protestes dagegen, doch zur halben Engländerin Gewordene mehre der erschütterndsten Botschaften, die fast zu gleicher Zeit in England eintrafen ...

Die eine war die Nachricht von jener Bewegung um den »Trierschen Rock«, der sich die Aeltern, Hedemann und einige Gleichgestimmte, selbst in dem urkatholischen Witoborn, angeschlossen hatten ... Die Aeltern hatten in der That förmlich mit der Kirche gebrochen ... Sie hatten eine deutschkatholische Gemeinde gebildet, der sich auch Protestanten anschlossen ... Den Gottesdienst leiteten abwechselnd durchreisende, von ihren Pfarreien oder Vikarieen gewichene Kaplane ... Statt der Orgel spielte die Tochter des Pfarrers Huber die Harmonika ... Sogar Püttmeyer wurde seinen Gönnern und geistigen Gefängnißwärtern rebellisch und ließ sich einigemale bei jenen Erbauungen betreffen, bis dann Angelika Müller von den Adeligen aus Wien verschrieben wurde und die Rechte einer zwanzigjährigen Verlobung geltend machte, um den großen Mann in die Kirche und die Beichtstühle von Eschede wieder zurückzuschmeicheln ... Manche in gemischten Ehen lebende Gatten oder Brautpaare entschlossen sich, diesen Ausweg einer neuen Kirche aus allerlei confessionellen Bedrängnissen zu ergreifen ... Der protestantische Staat, damals überwiegend jesuitisch inspirirt, erschwerte die Bildung auch dieser witoborner Gemeinde, konnte sie aber nicht hindern ...

Für Witoborn und Umgebung war hiermit ein Aergerniß ohne gleichen gegeben ... Norbert Müllenhoff betheuerte auf der Kanzel der Liborikirche: Die Familie des Obersten von Hülleshoven und sein Anhang müßte aus dieser rechtgläubigen Gegend, wo bisher nur Gottes Athem geweht hätte, weichen, es kostete was es wolle! ... Stutzig wurde er zwar, als die alte Hebamme, auch der buckelige Stammer und sogar die Finkenhof-Lene der neuen Religion sich anschlossen – Das ist das schmerzliche Verhängniß der besten Principien, daß sie anfangs die umirrenden und moralisch heimatlosen Naturen zuerst anlocken! – Aber sein Wort verhallte nicht und da die Familie Hülleshoven nicht wich, da die Gemeinde sich durch die achtbarsten Elemente vergrößerte, so kam es zu Aufläufen, zu Beschädigungen der Fabrik, zum Einschreiten der bewaffneten Macht ... Allen diesen Prüfungen setzte die kleine Gemeinde, die ihre schlechten Elemente bald ausschied, Muth und Entschlossenheit entgegen ... Sie vergrößerte sich durch die Arbeiter der Fabrik, die aus fernen Gegenden genommen werden mußten, weil auf Priestervorschrift heimische schon gar nicht mehr in sie eintreten durften ... Damals holte sich Hedemann die Keime seiner Krankheit ... Der Vielgeprüfte, der an seinen verkümmerten Aeltern erlebt hatte, wohin getäuschtes Vertrauen zur Priesterwürde führen konnte, wollte nach beiden Richtungen hin auf dem Platze bleiben, wollte den Betrieb des Geschäfts ebenso abwarten, wie den Ausbau einer von Rom abgefallenen, apostolischen Kirche ... So gewaltig seine Körperkraft war, sie erlag diesen Mühen, Beunruhigungen, Nachtwachen, Kämpfen, die bis zum Handgemenge gingen ... In einer kalten Winternacht, als Hedemann im Mühlenwerk noch spät allein gearbeitet hatte, ging er, über und über in Schweiß gebadet, in seine nahe gelegene Wohnung ... Dort warf ihn ein auflauernder Haufe Fanatiker in die an ihrem Ursprung nicht frierende, aber eiseskalte Witobach ... Mit Stangen hatten sie den Unglücklichen verhindert, aus dem bis an seine Brust gehenden Strom herauszukommen ... Sein Hülferuf, der Hülferuf Porzia's, die schon im Bett lag und durch die lärmende Scene ans Fenster getrieben wurde, verjagte die böse Rotte und endlich konnte der Mißhandelte ans Ufer ... Fieberfrost durchschauerte ihn; eine lange Krankheit warf ihn aufs Lager ... Von dieser Nacht an schrieb sich der Keim einer Krankheit, die seine Lungen zerstörte ...

Noch aber würde vielleicht Armgart auf solche Schreckenskunden nicht aus England zurückgekehrt sein, hätte sich nicht auch um dieselbe Zeit auf ihre stillverschwiegene Liebe zu Benno und Thiebold – die seltsame Einigkeit beider Namen dauerte fort – der trübste Schatten gesenkt ... Die Nachricht, daß sich Benno in die Verschwörung der Brüder Bandiera eingelassen hätte, gefänglich eingezogen und auf die Engelsburg gebracht war, hatte nur vorübergehend erschütternd gewirkt; denn wenige Wochen darauf kam die frohe Botschaft seiner Befreiung ... In diesen Wochen aber fühlte Armgart erst, daß es ihr wie Fürstin Olympia Rucca ging und Thiebold doch nur »eine schöne Eigenschaft an Benno mehr« war. Sie hatte Benno sonst nur, wie sie selbst glauben wollte, schwesterlich geliebt; gibt es aber in der Liebe Stufen? ... Gott, Weib, Kind – es ist dasselbe allzündende Feuer, entglommen demselben Altar, entlodert derselben Sonne – nur verehren will dies Gefühl und zuletzt erst erkennt es sich ganz – in der Sehnsucht nach Erwiderung ...

Im stillen hatte sich diese Sehnsucht immer höher gesteigert ... Wer schärfer beobachtete, sah, Armgart hatte ihre Heiligen, von denen sie sprach; sie hatte noch Heiligere, von denen sie schwieg ... So war Paula ihrem wehmüthigen Blick schon lange der Sphäre des Irdischen entrückt – sie billigte ihre Ehe, aber sie trauerte doch um sie ... »Katholisch sein heißt einen geheiligten Willen haben«, hatte sie einst zu Lucinden gesagt – diese Lehre war groß und doch in den meisten Fällen – schmerzlich ... Ebenso mit Benno und Thiebold ... Sie hatte beide in ihrer Verblendung um Terschka's Willen gekränkt, von beiden für immer Abschied genommen – wie gedachte sie jener Scene in der Kapelle mit Thiebold, des Abschieds von Benno, als dieser sie so tief beklagte! ... Sie schrieben sich nun nicht, einer ließ den andern nichts von sich hören – und doch war alles, was Armgart erlebte, nur wie ein Stoff zum künftigen Bericht an beide, deren sie als Freunde so gewiß zu bleiben glaubte wie ihres Schattens ... Sie tummelten sich ja jetzt nur in der Welt, wie sie; sie würden schon wieder zusammenkommen und Benno würde dann alles vergeben, was zu vergeben war, würde ausgleichen, was auszugleichen – Damals hatte sie einem alten Herzog, der sie, für so arm und papistisch sie galt, zu seinem Range erheben wollte, gesagt, sie wäre verlobt ...

In jenen Wochen der Angst und Verzweiflung um Benno's Schicksal, hätte sie sogar Terschka's Rath und Beistand angehen können; denn zu, zu verlassen fühlte sie sich ... Wem sollte sie sagen, was ihr Benno von Asselyn gewesen und geworden! ... Sie flatterte wie ein zum Tod verwundeter Vogel und suchte nun auch Terschka selbst auf – sie schrieb ihm ... Aber gerade jetzt fehlte der sonst so Zudringliche, jetzt verbarg er sich – wo und warum? ...

Sie erhielt einen Brief von Schloß Neuhof, in welchem sich eine Einlage des Präsidenten für Terschka befand ... Diese wollte sie ihm überschicken; es hieß, Baron Terschka wäre verreist – einige Italiener sagten, seine Abwesenheit hinge mit dem Aufstand der Brüder Bandiera zusammen, die von Korfu nach Calabrien eingebrochen waren, mit ihrer kleinen Schaar geschlagen wurden, im Silaswalde lange umirrten, dann von einigen Gefährten verrathen und in Cosenza – standrechtlich erschossen wurden Thatsache. – – ...

Den Zusammenhang des Geschicks dieser edlen, damals von ganz Europa bemitleideten Jünglinge mit Benno kannte sie nicht ... Sie hörte nur überall den Schrei der Entrüstung über die Grausamkeit der Regierung Neapels ... Sie durfte damals noch das Aeußerste auch für Benno fürchten ... Im Begleitschreiben der Einlage an Terschka las sie, daß der Präsident sofort die Vermittelung der Regierung zu Gunsten Benno's in Anspruch genommen hatte, aber der traurige Bescheid war gekommen, daß diese den ehemaligen Landwehrmann Benno von Asselyn schon lange als fahnenflüchtig, zum mindesten als aus dem Unterthanenverband ausgeschieden betrachten und ihn seinem Schicksal überlassen müsse ... Man solle sich an Oesterreich wenden, hatte es mit bitterer Betonung geheißen, in dessen Diplomatie er eingetreten schiene seit seiner »Courierreise« nach Rom ...

Bald aber kam die Kunde, Benno wäre befreit und von der Engelsburg entflohen ... Terschka war es, der diese Botschaft brachte ... Von ihrer Liebe konnte er sich an Armgart's Jubel überzeugen ... Seiner Erzählung nach wurde Benno mit dem Advocaten Bertinazzi und einigen angesehenen Männern gefangen genommen ... Ein Graf Sarzana konnte sich nicht unter ihnen befunden haben; denn von Lucinden erzählte Terschka zu gleicher Zeit, daß ihre schon in London bekannt gewordenen Hoffnungen, eine Gräfin Sarzana zu werden, nicht die mindeste Störung erlitten hätten ... Durch eine Fallthür war es dem größten Theil der überraschten Loge möglich gewesen, einen aus dem Hause des Advocaten führenden geheimen Ausgang zu gewinnen ... Nun aber wäre Benno frei, befände sich in Marseille und müßte in diesem Augenblick in Paris sein ... Der Stachel, den Terschka mit den Worten: »Man sagt, die allmächtige Nichte des Cardinals Ceccone hätte ihn befreit!« in ihr Herz drückte, haftete nicht allzu lange, denn Terschka führte den Stich nur zögernd; er schien vollauf mit dem Brief des Präsidenten beschäftigt – mit welchem er über die von ihm noch zurückgehaltene vollere »Orientirung des Grafen Hugo in Betreff Angiolinens und der Herzogin von Amarillas« schon lange correspondirte und – rechnete ...

Während Armgart nun von Tag zu Tag auf Nachrichten aus Marseille oder Paris harrte oder wenigstens aus Witoborn oder Kocher am Fall – auch mit dem Onkel Dechanten correspondirte sie – erfuhr sie die überraschende Anwesenheit Paula's und ihres nunmehrigen Gatten wieder auf Schloß Westerhof ... Paula hatte sich in Wien nicht heimisch fühlen können und war in ihre magnetischen Zustände zurückverfallen ... Der Oberst stand mit ihr im Rapport – Graf Hugo sah ihr jeden Wunsch am Auge ab ... Noch mehr, als die Provinz erleben sollte, der deutschkatholische Oberst magnetisirte die Gräfin Dorste, entführte sie ihr Gatte selbst diesen Conflicten und wollte mit ihr nach Italien ... Die Mutter des Grafen sah darin nichts als die äußerste Schwäche ihres Sohnes, der sogar seine Gattin dem Priester zuführe, den sie liebe ... In jenen Tagen geschah dies alles, wo Bonaventura in Rom war, um sich zu vertheidigen wegen seines Schutzes waldensischer Sektirer, ja wegen seines Rufs, ein Magnetiseur gewesen zu sein ...

Wie mußte Armgart erstaunen, als Terschka die Botschaft brachte: Bischof Bonaventura kehrt nach dem Thal von Castellungo als Erzbischof von Coni zurück! An die Stelle seines grimmen Feindes Fefelotti! ... Wieder war es, wenigstens in Terschka's Darstellung, Fürstin Olympia Rucca, die als die Retterin und Vorsehung auch dieses Asselyns genannt wurde ... Schon setzte Terschka mit zweideutigem Lächeln hinzu, Fürst Ercolano Rucca hätte sich zum Attaché der Nuntiatur in Paris machen lassen und seine Frau wäre ihm vorausgeeilt, um in Paris – eine Wohnung zu bestellen ...

Noch glitt aller Verdacht von Armgart's reiner Seele ... Nur das Eine begriff sie nicht, warum von Thiebold nichts verlautete, warum Benno nicht nach London kam, wo sich doch alle Freunde Italiens sammelten, auch die Trümmer jener so unglücklich gescheiterten Bandiera'schen Expedition ... Terschka konnte dann nicht länger bei ihr gegen Benno wühlen ... Wieder war er für einige Zeit vom Schauplatz der Gesellschaft Londons verschwunden ...

Seit dann Bonaventura in der That mit glänzender Genugthuung Erzbischof von Coni geworden war, hörte sie von Westerhof, mit Ausnahme der ihre Aeltern betreffenden Nachrichten, eine Weile nur Frohes und Gutes ... Noch war Paula in Westerhof ... Armgart schrieb ihr, sie möchte alles aufbieten, die Aeltern vor dem Aeußersten ihrer Unternehmungen zu bewahren ... Als sie Briefe erhielt, die hier jede Möglichkeit der Einwirkung in Abrede stellten, kämpfte sie mit sich, ob sie nicht sofort abreisen sollte ... Sie würde diesem Triebe gefolgt sein, wenn nicht von ihrer Mutter das ausdrückliche Verbot gekommen wäre ... Die Mutter fügte hinzu, daß sich auch gegen Paula's und des Grafen längeres Verweilen in der Provinz Intriguen zeigten ... Die Geistlichen hätten gegen die Wunderkraft Paula's gepredigt ... Der Zustrom derer, die Heilung begehrten, hätte, seitdem überall in den Beichtstühlen der Besuch Westerhofs widerrathen würde, abgenommen ... Die Ehe mit einem Lutheraner, die geistige Verbindung mit einem Deutschkatholiken könnte ja auf alle Fälle nur Unheil bringen ... Man trüge sich mit Abschriften der Gesichte, die Paula unter des Vaters magnetischer Hand gehabt hätte, und fände in ihnen einen Himmel und eine Erde, die mit den rechtgläubigen Bedingungen nichts gemein hätten ... Während Paula alle Obliegenheiten ihres Glaubens noch immer erfülle, erschiene ihr in ihren Wahn- und Ahnungsgebilden weder der blutende Christus, noch sein durchstochenes Herz, weder das Lamm mit der Fahne, noch die Mutter Gottes ... Sie sähe Tempel, aber sie wären ohne Hochaltar; sie sähe Opfer, aber sie schienen nichts als der Duft der Blumen zu sein ... Paula behaupte, von jedem Dinge die Seele zu erblicken und diese trüge nichts zur Schau von einem Verlangen nach Erlösung ... Meist schwebte alles, was sie sähe und erkenne, über einen unermeßlichen Regenbogen hinweg ... Armgart's Bildung und Stimmung war reif genug, zu sagen: Sie sieht aus den inneren Erfahrungen ihres Herzens das Land ihrer Sehnsucht, wo es keinen Haß und keine Verfolgung mehr gibt! ... Die Mutter sagte: Sie sieht, unter meines theuern Gatten Hand, das Land der Wahrheit ... Der Onkel Dechant schrieb: Sie sieht – Italien! ...

Die Gegensätze hatten, das erkannte Armgart, um Witoborn eine Höhe erreicht, wo es keine friedliche Ausgleichung mehr gab ... Schon hatten Monika und Benigna, Ulrich und Levinus Hülleshoven wieder ihre natürlichen Stellungen eingenommen und trotzdem, daß oft der Oberst nach Westerhof kam, innerlich gebrochen ... Selbst Graf Hugo war geneigt, für die Bewahrung des Alten Partei zu nehmen, wenigstens keinen Anstoß erregen zu wollen durch zu auffallende Begünstigung der kleinen Ketzergemeinde in Witoborn ... Und Monika sagte offen, daß Paula noch den Grafen zu ihrem Bekenntniß hinüberziehen würde ... Briefe voll äußersten Schmerzes kamen darüber aus Castellungo von des Grafen Mutter ... Armgart schrieb hin und her zur Vermittelung, zur Aufklärung ... Vergebens; der Bruch zwischen ihrer Mutter und Westerhof wurde unheilbar ... Graf Hugo konnte sich nur mit Schwierigkeit, Oberst Hülleshoven unter keinerlei Bedingung mehr in Witoborn halten ...

Armgart's Aufregung wuchs, als der Onkel Dechant, der von allen diesen Vorgängen, von Benno's Schicksalen, von den allmählichen Entdeckungen über dessen Herkunft seine schon dem Erlöschen nahe Lebensflamme noch einmal neu und nicht wohlthuend geschürt sah, gerade ihr, der er sich, seit Armgart's vertrauensvoller Bitte um seine Hülfe beim Aussöhnen ihrer Aeltern, besonders theilnehmend zugewandt hatte, aus Kocher schrieb: »Zu den Mislichkeiten des Kampfes deiner Aeltern gehört vorzugsweise die ausbleibende Unterstützung durch den Staat ... So tiefe Wurzeln hat bereits die durch die katholische Reaction geschürte Reue über den Abfall von Rom bei den maßgebenden Protestanten geschlagen, daß sich niemand findet, der diese große Bewegung einer Reform des römischen Glaubens würdig unterstützt ... Die protestantischen Regierungen fühlen ganz das, was die Jesuiten zum Staatskanzler gesagt haben sollen: Wir sind Conservatoren! Wir erhalten und bekämpfen eben das, was ihr! ... Die Fürsten Deutschlands suchen die kleinste Aenderung des Gegebenen zu hindern, im Vorgefühl, daß ein einziges weggenommenes Sandkorn zur stürzenden Lavine anwachsen könnte ... So muß diese denkwürdige Bewegung, da sie ohne den Beistand tieferer Geister bleibt, in sich ersterben, ja sie wird zum Gewöhnlichen herabgezogen und, ganz nach den Anweisungen der Jesuiten, zu einer Sache mehr oder weniger nur des Pöbels gemacht werden« ...

Die kindliche Liebe, die Bewunderung, die Armgart vor der treuverbundenen Zärtlichkeit ihrer Aeltern erfüllte, entwaffnete ihren Widerspruch gegen alles, was von den Aeltern unternommen wurde ... Wie es verzweifelte Aufgaben mit sich zu bringen pflegen, die Wahl der Hülfsmittel, die die Aeltern ergriffen, konnte sie unmöglich alle billigen ... Selbst der ruhige, kaltblütige Vater ließ sich vom trotzenden Sinn der Mutter zu Unbedachtem fortreißen ... Allen Adelsgenossen der Gegend bot er das Schauspiel eines mit Absicht den Nimbus seiner Geburt Zerstörenden ... An seiner Fabrik betheiligte er sich wie ein Arbeiter, ließ sich wie ein Schreiber in seinem kleinen Wohnhause mit der Feder hinterm Ohr erblicken, unterschrieb die kleinsten geschäftlichen Veröffentlichungen mit seinem vollen Namen und löste auf diese Art jeden Zusammenhang mit seinen Standesgenossen ... Und doch rührte es Armgart, daß die Mutter bei allen diesen Dingen gleichsam nachholte, was sie in zwölfjähriger Trennung ihrem Manne zu sein unterlassen hatte ...

Zur selben Zeit, als es dann plötzlich hieß, Paula ist wirklich nach Italien gereist – es mußte in schnellem Entschluß geschehen sein, da Armgart nicht einmal von Paula selbst die Nachricht erhielt – erlebte Armgart den Schrecken, daß Thiebold in London war und sie nicht besuchte ... Terschka war seit einiger Zeit ihren Blicken ganz entschwunden, sie konnte von ihm über diese betrübende Erfahrung keine Aufklärung erhalten ... Allmählich hörte sie, daß Thiebold in jener trüben Gensdarmenzeit seinerseits in der Heimat sich auch nur mit Mühe von politischem Verdacht über seinen Aufenthalt in Rom hätte reinigen können ... Ueber Benno hörte sie, daß der Präsident für ihn die freie Rückkehr zu erwirken gesucht hätte, aber auch damit nicht durchdrang ... Die Mutter schrieb ihr nach allerlei seltsamen Andeutungen über Benno's jetzt immer mehr sich lüftende Herkunft, daß ihr alter Freund undankbar genug gegen diese Verwendungen protestire; Benno wollte, hätte er aus Paris geschrieben, jetzt ganz nur noch Italiener sein ... »Man weiß ja«, schrieb die Mutter, »wer alles seine Flucht ermöglicht hat! ... Die dir wol noch bekannte Lucinde Schwarz hat das römische Staatsruder in Händen! ... Ist die Abenteurerin vielleicht einer Regung von Dankbarkeit für die Familie gefolgt, die ihr und dem Doctor Abaddon, Herrn Oberprocurator Nück, das Zuchthaus ersparte? ... Wie solche und ähnliche Menschen Rom nach Gutdünken regieren, ersieht man ja aus Bonaventura's Laufbahn ... Trotz des Staatsverbrechens seines Anverwandten Benno, trotz der gegen ihn erhobenen Anklage über seine Antecedentien als ›Magnetiseur‹, trotz seiner an und für sich höchst achtbaren Unterstützung der waldensischen Bewegungen Italiens ist er nach einem kurzen Aufenthalt in der ›ewigen Stadt‹ als Erzbischof in die Thäler seiner neuen Heimat zurückgekehrt, nachdem er vorher Lucinden in der Kirche der Heiligen Apostel in Rom mit einem päpstlichen Gardisten getraut hat ... Freilich soll die in Paris verweilende Fürstin Olympia Rucca, die Beherrscherin des Kirchenstaats, alles möglich machen – –«

Hier brach der Brief mit räthselhaften Gedankenstrichen ab ... Centnerschwer wälzten sie sich auf Armgart's vereinsamtes Herz ... Es folgten dann in dem verbitterten, im Ton höchster Reizbarkeit geschriebenen Briefe noch Scherze über den Onkel Levinus, der in allen Bibliotheken nachschlüge, um eine klare Vorstellung über das alte Cuneum, jetzt Cuneo oder Coni, zu gewinnen – Tante Benigna vergliche die Ehrfurcht, die hier zu Lande vor dem entthronten Kirchenfürsten geherrscht hätte, die Trauer über seinen nach seiner Freisprechung bald erfolgten Tod, die Festlichkeiten der Inthronisation seines Nachfolgers mit dem Bilde der Festlichkeiten in Coni, zu denen wol Paula nun persönlich erscheinen würde – Paula's Gatte hätte vor seiner Abreise seine Besitzantretung vollständig geordnet, hätte die Verträge mit den Agnaten abgeschlossen, hätte das voraussichtliche Erlöschen seines Stammes mit dem Präsidenten von Wittekind, dem nächsten Erben, zum Gegenstand gerichtlicher Punktationen gemacht – und da dann auch der Präsident ohne Kinder wäre, so wäre manche geheimnißvolle Seite aus dem Lebensbuch des verstorbenen Kronsyndikus, des Tyrannen, jetzt zur offenen Kunde gelangt – Noch läge ihr zwar nicht offen, warum in letzter Instanz das ausschließliche Erbrecht Bonaventura's durch eine anderweitige Beziehung gemodelt werden könnte – aber man spräche jetzt allgemein, durch Hülfe des kanonischen Rechts könnte selbst Benno noch vor Bonaventura die Vorhand gewinnen – Nicht unmöglich, schrieb die Mutter, daß eine in Rom, jetzt in Paris lebende Herzogin von Amarillas, eine ehemalige Sängerin aus Kassels westfälischer Zeit, mit dem Kronsyndikus eine geheime Ehe geschlossen hat und Benno ihren Sohn nennen darf –! ... Benno Sohn des Kronsyndikus! ... Ueber alle diese so räthselhaften und ganz nur abgerissen mitgetheilten und mit religiösen Betrachtungen schließenden Dunkelheiten durfte Armgart wol in eine Aufregung gerathen, die sie der Mutter kaum schildern konnte ...

Sie sah Benno in Rom – in Paris – in den Armen einer Mutter, die eine Herzogin war – eine Fürstin hatte ihn gerettet – Lucinde war eine Gräfin Sarzana geworden –! ... Noch flossen ihre Thränen nicht; noch glaubte sie an den Sieg des Guten und Edeln; noch standen nur lichtverklärte Bilder vor ihren Augen ... War nicht das Höchste möglich –: Graf Hugo führte Paula nach Coni zum Freund ihrer Seele! ... Sie sah noch ihre magisch seraphische Welt, ihre in den Wolken schwebenden Rosenkränze, ihre großen Thaten der Entsagung und der opfernden Liebe ... Aber schon die Vorstellung: Benno ein Sohn des Kronsyndikus! – das war ja ein Bild wie aus der Welt des Teufels, an die jetzt auch die Mutter nach ihren religiösen Ausdrücken zu glauben schien ...

Der Onkel Dechant, den Armgart's reife und inhaltreiche Briefe besonders zu erfreuen schienen, schrieb ihr: »Nun hat deine sonst so treffliche Mutter gar den Standpunkt einer bloßen Vernunftopposition gegen den Katholicismus verlassen! ... Der der deutschkatholischen Bewegung gemachte Vorwurf, es läge ihr ja kein Bedürfniß nach Religion, am wenigsten nach dem Christenthum, zu Grunde, bestimmt sie, sich dem Einfluß unterzuordnen, den Hedemann um so mehr auf sie ausübt, als die freudige Geduld und werkthätige Liebe, mit der dieser Treueste sich seinem Beruf widmet, allerdings jeden, der sein Leiden, den schmerzlichen Hinblick auf die junge Frau sieht, die sich so innig ihm anschloß, ergreifen und rühren muß ... Aber eine Monika verirrt sich in die trübe Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben! ... Ich mußte deiner Mutter schreiben: ›Durch den Grundverderb unserer Kirche, den auch ich in unsern Ehegesetzen finde, sind Sie aus dem Denken und Fühlen Ihrer Jugend hinausgedrängt worden – aber daß Sie, Sie einen Teufel durch den andern austreiben, das ist beklagenswerth! ... Sie herrliche, klare, geistesfrische Frau, wie kommen Sie zu Hedemann's Bibelgefangenschaft? ... So oft ich dem von Amerika angesteckten Quäker hier beim Obersten begegnete, erkannte ich die unwürdigste Abhängigkeit des Menschen, die vom Buchstaben ... Unsere Zeit ist nicht zu neuen Religionsschöpfungen gemacht, die einzige Religion des Bruchs mit aller Religion etwa ausgenommen, und was wir von Verbesserung unserer kirchlichen Zustände gewinnen können, wird immer nur die Folge gelegentlicher Veranlassungen sein ... Selbst zu Luther's Zeiten war es nicht anders ... Deutschland hatte sich damals in seiner Reichsverfassung überlebt, die Fürsten waren zu mächtig geworden und suchten sich zu kräftigen durch alles, was schwach und leicht zu erobern war; sie rissen die geistlichen Güter an sich und so zerfiel der Zusammenhang mit Rom von selbst ... Aehnliche Umwälzungen werden auch wir wieder erleben und aus Benno's traurigen Verirrungen erseh' ich wenigstens eine schöne und große Hoffnung ... Was er von Italien schreibt, der arme Verlorene, ist herrlich ... In der Geschichte straucheln die Bewegungen der Massen und Interessen über einen Strohhalm und ich juble im Geiste dem neuen Tag entgegen, wenn Italien dem Papstthum selbst den Schemel unter den Füßen wegzieht ...‹«

Wie erschrak Armgart! ... »Traurige Verirrungen?« ... »Der arme Verlorene?« ... Schon flossen ihre Thränen ... Sie schrieb an Bekannte in Paris, ihr von einer gewissen Herzogin von Amarillas zu berichten ...

Am Tage darauf kam wieder ein Brief aus Kocher am Fall ... Der Dechant, wie aus Reue, die Mutter bei Armgart angeklagt zu haben, schickte ihr auch eine eben erhaltene Antwort der Mutter auf seinen Brief ...

Die Mutter hatte dem Dechanten geschrieben, daß sie sonst immer so gedacht hätte, wie er, und mit Hedemann und Erdmuthe hätte sie in gleicher Weise gestritten ... Indessen wäre der Vorwurf, daß die Gegner Roms ohne ein religiöses Bedürfniß überhaupt wären, zu empfindlich für die Sache der geistigen Freiheit geworden und deshalb hätten ihre Angehörigen den Beweis liefern müssen, daß sie dem gemeinschaftlichen Urquell des Lichtes näher stünden, als ihre Feinde ... »Ich erkannte«, las Armgart, »daß die Verneinung nur auf der Schärfe eines Messers geht und dabei keinen Schritt vor dem Ausgleiten sicher ist ... Das erkannt' ich, als ich in unsrer kleinen Gemeinde, die eines Tages ohne Lehrer war, reden wollte ... Man kann nicht reden, wenn nicht aus der reichsten Fülle des Stoffs ... Jede andre Belebung zum Sprechen ist todt und hülflos ... Hier einen Satz zugeben, dort einen wegnehmen, da halb, da beinahe halb dies oder jenes wollen oder sagen, das erzeugt vielleicht das Feuerwerk eines feinen und ironischen Kopfes, aber es leuchtet nur eine Weile und verpufft ... Nun sah ich, warum unser herrlicher Hedemann immer und immer sprechen kann ... Einfach ist seine Rede, aber sie hat die Fülle der Beredsamkeit und erwärmt ... Warum? Ich mußte mir sagen: Aus dem Vollen nur kann ein lebendiger Glaube kommen und sich auch im Aussprechen lebendig bewähren! ... Glaube ist nicht die blinde Annahme des Übernatürlichen, sondern Versenkung in die ganze Erscheinung einer Sache ... Das Evangelium wird dem Glaubenden wie ein Freund, auf den man schwört, weil man ihn in einer großen Probe einmal erkannt hat ... Die Ueberzeugung, daß die Bewährung im Einen da ist, erleichtert das Vertrauen dann auch auf die Bewährung im Andern ... So versenkt' ich mich in die Schrift und die beiden Hauptgegenstände ihrer Verherrlichung, in Gott und seinen Sohn ... Mehr braucht die Religion der Menschheit nicht ... Diese beiden großen Bilder haben so tausendfache zarte Pinselstriche, daß sie jede andere Weisheit überflüssig machen ... Nicht daß ich Wissenschaft und Kunst zurückwiese und wie Omar alle Bücher verbrennen wollte, wenn nur die Bibel bleibt; aber ein ganzes volles Leben und ein Leben der Gemeinsamkeit zwischen vornehm und gering, zwischen gelehrt und arm an Geist ist nur durch die Schrift möglich ... Und dieses gemeinsame Feld ist nicht etwa eng und das Ergehen auf ihm bald ermüdend; im Gegentheil, ich entdeckte einen Schatz nach dem andern, als ich die Bücher noch einmal zu lesen begann, die ich früher als eine Quelle der Verdunkelung des Verstandes geflohen war ... Ich finde die höchste Weisheit in dem, was uns belohnt für das Gebot des Apostels: Forschet in der Schrift! ... Das menschliche Herz will nun einmal Liebe und Liebe muß fühlen und Gebet ist Erhöhung des Gefühls, Sammlung zum Aufblick. Worauf? Auf das Bessere und die Besseren ... Die große Zahl von Besseren, die die Katholiken als Heilige verehren, sind die zu üppige Erweiterung eines Gefühls, das an sich ganz richtig ist ... Die Liebe gestaltet alles persönlich und das ist denn der persönliche Gott, der lebendige, der unmittelbar auf uns wirkende, der Gott der Offenbarung ... Mein Glaube sieht im persönlichen Gott keine irdische Gestalt, sie zieht das Unaussprechliche und Unbegreifliche nicht in die Sprache der Dichter und Propheten herab; für mich und für die, die fühlen wie ich, ist der persönliche Gott die Wirkung seines Vorhandenseins in uns; seine größte Offenbarung war die in jenem, der den Muth hatte, sich deshalb auch geradezu Gottes Sohn zu nennen ... Nehmen Sie nur einmal wieder die Evangelien in die Hand, mein theurer Freund, und nicht Ihren Horaz und Virgil! Wischen Sie weg, was auf diese ehernen Tafeln der Witz, der menschliche Spott und selbst die gelehrte Kritik geschrieben haben, und sehen Sie dann, was übrig bleibt ... Von dem Tage an, wo ich priesterlich fühlte – und jeder Religionsstifter muß priesterlich fühlen, keine Religion macht sich am Theetisch – von dem Tage an ist mir die Erscheinung unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi aufgegangen wie die meines besten Freundes ... Ich wandle mit ihm am See Tiberias, ich spreche mit ihm bei seinem Freunde Lazarus vor, ich sehe die Fußtapfen, die er hinterlassen hat und die überall gesegnete sind ... Sein Leiden ist ganz persönlich das meine; seinen Todeskampf ring' ich mit; er lehrt mich am Kreuz lieben und vergeben ... Auf Liebe, Glaube, Hoffnung, begründet durch Christus und einen persönlichen Gott, müssen wir unsere Kirche erbauen –« ... Darunter hatte denn der Onkel mit seiner alten zitternden Hand und in seinem friedlichen Sinn geschrieben: »Im Grunde ganz unverfänglicher Glaube des Petrus Waldus, in Ruhe gestorben um 1200, aber in seinen Anhängern, den Waldensern, gekreuzigt, gerädert, geviertheilt, verbrannt bis auf den heutigen Tag. Fiat lux in perpetuis!« ...

Das Unkatholischste, was sich denken läßt, ist eine in der Kirche sprechende Frau ... Aber Armgart, ohnehin schon in einem geknickten Zustande, fühlte sich durch diesen Brief der Mutter vollends daniedergebeugt ... Weniger empfand sie Rührung um das Bekenntniß der Mutter, als um den tiefinnern, soweit schon gekommenen Schmerz, der ihm offen zu Grunde lag, um die ungeheure Aufregung, den Bruch der Seele in dieser stolzen Frau zu erkennen zu geben ... Sie sah die erbangende Liebe für den Vater, Liebe für den von seiner Krankheit gebeugten Hedemann ... Ein schlichter, wissenschaftlich ungebildeter Mann hatte durch die immer gleiche Gediegenheit seines Charakters und die unerschütterliche Consequenz seiner Denkweise die Oberherrschaft über seine Umgebungen gewonnen ... Die Mutter wollte nichts mehr wissen von der Herrlichkeit und Einbildung dieser Welt – sie wollte fühlen wie der geringsten einer und ihr Gatte folgte dem Beispiel, das sie mit so beredten und feurigen Worten zu erläutern wußte ... Armgart durfte sich bei Alledem wenigstens sagen: Du allein hast die Aeltern so verbunden! ...

Voll Rührung schrieb sie der Mutter, sie wolle nun zu ihnen kommen ...

Die Mutter, ihr selbst sich nicht im mindesten ebenso weich offenbarend, wie dem Onkel, entgegnete ihr: »Kind, du weißt, daß Paula, dein einziger hiesiger Anhalt, den ich gestatten würde, in Italien ist ... Daß du deine Stelle im Stift einnimmst, wieder mit Benigna, die dich mir einst schon raubte, in Westerhof lebst, ist nicht möglich ... Es wäre ein Bruch mit allem, was unser Stolz, unsere Erhebung geworden ist ... Diese Menschen hier sind ja wahnsinnig ... Gott der Herr wird auch an ihnen gute Gründe finden, warum er sie nicht ganz verwirft; ich verwerfe sie ... Im Stift Heiligenkreuz würdest du nur zu unserer und deiner Kränkung deine Stelle einnehmen ... Glücklicherweise ist dir auch gestattet, deine Pension auswärts zu verzehren ... Wir sehen jedoch ein, daß unsere eigenen Wege für deine Jugend noch zu rauh sind! Bleibe also noch getrost bei deiner trefflichen Lady!« ... Dann folgte eine Antwort auf die Frage nach den räthselhaften Andeutungen über Benno's Ursprung in dem letzten Briefe der Mutter, die Versicherung, daß Benno der Bruder des Präsidenten von Wittekind wäre und noch eine Schwester besessen hätte, die einst Graf Hugo entdeckt, erzogen, geliebt und daß er lange ihr trauriges Ende beweint hätte ...

Das war, alle ihre Lebensgeister erschütternd, gerade der empfangene Eindruck, als sie nun von jener Freundin in Paris, die von ihr um die Herzogin von Amarillas befragt wurde, Aufklärungen erhielt, die diese, ohne das nähere Interesse Armgart's zu kennen, in aller Harmlosigkeit gab ... Die Herzogin von Amarillas, hieß es, hat aus erster Ehe einen Sohn, der sich Cäsar von Montalto nennt und sie mit einer wahrhaft schwärmerischen Liebe verehrt ... Herr von Montalto ließ sich in Conspirationen ein und gerieth in die Engelsburg ... Seine Retterin, sagt man, war die Nichte des Cardinals Ceccone selbst, die ihm hierher nachgereiste Fürstin Olympia Rucca ... Herr von Montalto soll anfangs nur an die Hülfe seiner Mutter, der Herzogin von Amarillas, geglaubt haben ... Natürlich ergriff er die Hand, die ihm die Mittel bot, aus einer so verzweifelten Lage zu entfliehen ... Schon die Untersuchung, schon die bis zur Tortur gehenden Fragen nach den übrigen Mitgliedern der nicht ganz gesprengten Loge, die Fragen nach dem Zusammenhang seiner Verhältnisse mit denen jener in eine Falle gelockten Gebrüder Bandiera, erzählte man uns, hätten jahrelang dauern können ... Herr von Montalto erkannte erst durch die Bequemlichkeit der ihm gebotenen Hülfsmittel, durch den Fund eines geregelten Passes, durch die sichere Einschiffung in Civita-Vecchia auf einem nach Marseille bestimmten Handelsschiff die mächtige Hand, die über ihm waltete ... Wenige Wochen und die pariser apostolische Nuntiatur erhielt einen neuen Attaché im Fürsten Ercolano Rucca ... Seine Gattin, eine allerliebste kleine Hexe, wenn ihr Teint auch fast grünlich ist und ihr Wuchs einem Däumling gleicht, doch mit Augen wie funkelnde Diamanten und einem wahrhaft märchenhaft blauschwarzen langen Haar, das sie in reizenden Flechten trägt, und die Herzogin von Amarillas wohnen gemeinschaftlich in einem und demselben Palais der Rue Saint-Honoré ... Beide stehen im Vordergrund der pariser Gesellschaft ... Cäsar von Montalto wird täglich mit der wilden Italienerin gesehen, die Furore macht ... Ich höre, die französische Regierung hat von Metternich Befehl erhalten, alle italienischen Flüchtlinge auszuweisen ... Herr von Montalto wird dann wahrscheinlich mit seiner Mutter und der Fürstin Rucca nach London kommen ...

Düstere Nacht legte sich nach dieser Mittheilung auf Armgart's Auge ... Nun wußte sie alles ... Und doch sollte sie ihre Geisteskraft zusammennehmen, um aus London zu entfliehen ... Denn bleiben konnte sie nicht ... Sie lebte in der großen Welt, sie konnte, sie mußte den Ankömmlingen begegnen ... Sie mußte, vor dem Verlorenen entweichend, in die Heimat zurück ... Nun erst verstand sie gewisse Aeußerungen in den Briefen des Onkel Dechanten, verstand, warum er ihr überhaupt so oft und so eingehend schrieb – Er wollte sie zerstreuen, vorbereiten auf die Entdeckung ... O mein Gott! Beteten ihre zitternden Lippen, als sie nach diesen Briefen suchte ... »Wir Men schen«, hieß es noch vor kurzem in einem derselben, »sind das Product unserer Verhältnisse ... Die Freiheit des Willens ist eine Illusion ... Die Tugend, auf die Spitze getrieben, wird Laster ... Dem Mann gehört die Welt und gewisse Dinge müssen ihm kaum bis an die Knöchel reichen ...« – – Das waren halbe Scherze, schienen nur Aeußerungen zu sein, um Frau von Gülpen zu necken oder den alten Windhack mit seinen auf dem Monde entdeckten vorurtheilslosen Sitten und Einrichtungen zu vertheidigen; aber – nun sah sie, ein wie bitterer Ernst ihnen zu Grunde lag –! Der Ernst, daß Benno durch den Einfluß seiner Mutter, durch die Rührung und Liebe für sie, endlich durch die Dankbarkeit für seine Retterin aus ihrem Lebensbuche gestrichen war ...

Es bestätigte sich, daß Fürst Ercolano Rucca Attaché in London wurde ... Sie schrieb nichts darüber nach Witoborn ... Ein klares Gefühl wurde ihr überhaupt nicht mehr zu Theil ... Auch nicht in den jeweiligen Anwandelungen des Hasses gerade gegen Benno's Mutter, die von andern Bekanntschaften, die in Paris waren, als eine hochmüthige Frau geschildert wurde ... Dem Haß auf den Vater konnte sie ihre Kinder opfern! sagte Armgart, nun den Verhältnissen immer vertrauter und den von der Mutter und vom Dechanten erhaltenen Aufklärungen folgend. Gott hat sie schon in Angiolinens Tod bestraft; sie wird auch noch Benno's Verderben sein! ... Cäsar von Montalto! ...

In Fieberhast flog Armgart nach Deutschland zurück ...

Sie überraschte die Aeltern, die ihr Kommen nicht ahnten ... Sie fand die ganze Verwirrung, die sie erwarten durfte – den Vater mit Pistolen bewaffnet ... Das Besitzthum verkauft; ein Anerbieten, sich an einer großen Fabrik im Magdeburgischen zu betheiligen, war vom Vater für sich und Hedemann angenommen worden ... Sie wollten reisen ... Hedemann, ein Schatten gegen sonst, doch in der That von einer wunderbaren Durchgeistigung ... Auch die Mutter gab sich seltsam feierlich ... Nur der Vater blieb, wie immer, ruhig, natürlich und entschieden ...

Die Gründe, warum Armgart so rasch und unvorbereitet aus London kam, lagen insofern auf der Hand, als über die Ausweisung der Flüchtlinge aus Frankreich genug in den Zeitungen gesprochen wurde und Marco Biancchi, Porzia's in London lebender Onkel, von einem Besuch bei Cäsar von Montalto schrieb, dem er vor einigen Jahren den Rath zur schnellen Abreise aus Deutschland verdankte ... Doch wurde aus Schonung von alledem nur ausweichend gesprochen ... Wie fühlte sie aber diese Schonung! ... Wie durchbohrte sie die harmlose Frage der in Eschede der Welt entrückten Angelika Müller nach Benno, als sie der seltsamsten Hochzeit beiwohnte, die je geschlossen wurde, der zwischen Püttmeyer und seiner alten Verehrerin! ... Zwei in sich vertrocknete Menschen, die noch alle Stadien der Aufregung, sogar der Eifersucht durchmachten! ... Frau von Sicking, Gräfin Münnich, Präsidentin von Wittekind, Benigna von Ubbelohde, alle drangen auf die Ehe Püttmeyer's, die doch erst durch das Erringen des Hegel'schen Lehrstuhls hatte möglich werden sollen; sie erwirkten eine Beförderung des von Pfarrer Huber's harmonicaspielender Tochter bedenklich Begeisterten zum bischöflichen Archivar in Witoborn und die Versetzung Huber's ... Wie war Armgart, durch ihren dreijährigen Aufenthalt in London, allen diesen kleinen Anschauungen entrückt ... In ihrem Stifte war sie nur einen Tag ... Nach Westerhof durfte sie der Mutter wegen auch nur ein einziges mal – ... Tante Benigna und Onkel Levinus umschlangen sie voll Inbrunst und hätten jetzt alles darum gegeben, das sonst so viel gescholtene Kind bei sich zu behalten und schon fingen wieder die alten Entführungspläne an ... Da entschied der Vater für den Ausweg, daß Armgart, die zwar nicht zu den Deutschkatholiken übertreten, wol aber mit Freuden in die Gegenden der Elbe mitziehen wollte, wohin die Aeltern gingen, die Mühseligkeit dieser Irrfahrten nicht theilen, sondern nach Kocher am Fall zum Onkel Dechanten, zur lange schon kränkelnden »Tante Gülpen«, ziehen sollte ...

Armgart erfüllte dies Gebot der Aeltern und zog nach Kocher am Fall ...

Hier war sie denn des mit dem freudigsten Willkommen! sie aufnehmenden Dechanten letzte und würdigste »Nichte« ... Tante Gülpen hatte sie nicht aus dem Wochenblatt verschrieben, hatte sie nicht auf fremde Empfehlung in die Dechanei geschmuggelt ... Sie war in Wahrheit eine nahe Verwandte und gab der immer schroffer gewordenen Beurtheilung gegen den Dechanten keinen Anstoß ... Franz von Asselyn erklärte, sich auf seine letzten Lebenstage keiner solchen »Eroberung« mehr gewärtig gewesen zu sein ... In dieser holden äußern Anmuth besaß er alles, was seinem Auge, in Armgart's innerm Wesen, was seinem Herzen wohlthat ... Da waren einige gute Elemente der Feuernatur Lucindens ohne die verheerenden Folgen derselben; da war die ewig dienende Natur Angelika Müller's ohne deren trockene Regelmäßigkeit ... Da hatte er eine der Seelen, von denen er sagte: Die gehen in solche kleine Vögel über, wie sie unter meinem Baum am Fenster nisten! ... Von Armgart's Seelenwanderung versprach er sich vorzugsweise den Besuch seines Grabes, von dem er oft und gern sprach ... Er war gerüstet, täglich hinabzusteigen ... Die Aufregungen der letzten Jahre waren für ihn zu mächtige gewesen ... Seine heitere Laune kam schon seltener und währte nicht lange ...

Während nun der Oberst unter den mannichfachsten Bedrängnissen in Deutschland umirrte – in Magdeburg lösten sich bald die angeknüpften Verhältnisse – und sich zuletzt, ermüdet durch die gänzlich durch den Protestantismus selbst zerstörte Hoffnung auf eine große geschichtliche Bewegung der Geister, nach der Schweiz begeben hatte, verlebte Armgart noch einige Jahre in Kocher am Fall ... Die Eindrücke hier waren nicht immer erhebend ... War auch die Verbindung mit allen den ihr werthen und theuren Menschen gerade durch die Dechanei die lebhafteste, so erfolgten doch selten Mittheilungen, die eine wahre Freude verbreiten durften ... Die schmerzlichsten von allen betrafen Benno ... Sie waren so trüb, daß selbst Thiebold nur einmal nach Kocher kam ... Einmal hatte sich Thiebold mit der ganzen Liebe und Hingebung seines Gemüths, wenn auch wie immer als »närrischer Kerl« sich einführend, einige Tage zum Gast der Dechanei gemacht, hatte, »über sich, als Mann, fast schamroth«, die Reife Armgart's, ihre vorgeschrittene Bildung, die Sammlung ihres Charakters bewundert, hatte italienische Anekdoten, Reiseabenteuer erzählt, von Nück berichtet, dem in Italien, andere sagten im Orient Verschollenen, hatte von Schnuphase, der eine Pilgerfahrt zum heiligen Grabe mit Stephan Lengenich und mehreren andern Erleuchteten bezweckte, erzählt – aber die Art, wie er von Benno's italienischer »Nationalisirung«, von den Erlebnissen in Rom, vom gegenwärtigen londoner Wirken und Treiben Benno's als eines »mit Gott und der Welt zerfallenen« Sonderlings und Grillenfängers sprach, überhaupt als von einem Menschen, den man »nach dem allerdings bedauerlichen Ende der Gebrüder Bandiera« gar nicht mehr wiedererkannte – alles das sagte genug, um sein einziges – das dann »etwas deutlich gegebenes« Wort zu verstehen: »Als wir ja damals für immer Abschied nahmen in der westerhofer Kapelle!« ... Armgart lächelte zustimmend, sie verstand, was Thiebold mit »für immer« sagen wollte ... Thiebold war dann nach dem kocherer Besuch gleich nach London gegangen, wo er oft monatelang verweilte ... Von dem Luxus und den Extravaganzen Olympiens konnte sein Bericht nicht genug erzählen ... Drei Briefe von Olympien wurden ihm nach Kocher mit einem Carissimo nach dem andern nachgeschickt ...

Für Armgart gab es in Kocher Zerstreuungen der in Wehmuth erbangenden Seele an sich genug ... Darunter freilich auch die erschütterndsten ... Der Onkel wollte noch einmal vor seinem Ende nach seinem geliebten Wien, wohin ihn die Curatverhältnisse des Doms von Sanct-Zeno riefen – da starb an einer Erkältung Windhack ... Und als für das alte treue, gelehrte Factotum der Versuch mit einem neuen Diener gemacht werden sollte und der Dechant dabei blieb, reisen zu wollen, kam aus Wien die Nachricht, sein alter würdiger Gastfreund, Chorherr Grödner, wäre dem österreichischen Landesspleen erlegen und hätte sich erhängt ... Die Schrecken mehrten sich dem tieferschütterten Greise; Frau von Gülpen that des Nachts, wo sie schon sonst um jedes kleine Geräusch aufstehen konnte und nun nicht mehr den Lolo als Führer hatte und überall ihre Schwester, die Hauptmännin, und ihren Mörder, den Hammaker, sah, und dennoch das nächtliche Rumoren und Wandeln und Pochen an alle Thüren, ob sie auch gut verschlossen wären, nicht lassen konnte, einen unglücklichen Fall – woran sie starb ... Und wenige Monate darauf legte sich auch der Dechant und hauchte seine edle Seele in Armgart's Armen aus ...

Sein Testament hatte Franz von Asselyn schon lange geändert und sein ansehnliches Vermögen in drei Theile zerlegt, für Bonaventura, Benno und Armgart ... Benno, in einem Briefe Thiebold's, und Bonaventura, in directer Zuschrift an Armgart, verzichteten zu ihren Gunsten ... Armgart war nun ein vierundzwanzigjähriges wohlhabendes und mit einer auch von Heiligenkreuz sich mehrenden Rente ausgestattetes Stiftsfräulein ...

Alle diese erschütternden Vorgänge erlitten diejenigen Unterbrechungen, die das Traurige haben – andere sagen das Gute –, das Leben selbst beim größten Schmerz immer noch erträglich und anziehend zu machen ... Die Sonne leuchtete auch so und die Blumen blühten auch so ... Für Armgart gesellte sich zu den Zerstreuungen der Dechanei, zu kleinen Reiseausflügen, zu Briefen von nah und fern und zu jenen Fortschritten der innern Bildung, die uns sogar selbst überraschen und erfreuen dürfen, die Steigerung des Interesses, das an ihrer Person genommen wurde ... Mancher Offizier mit dem flatternden Husarendolman ritt im Park der Dechanei täglich die Schule, um nur von ihren Fenstern aus beobachtet werden zu können; mancher junge Beamte interessirte sich für die alten Möpse und Papagaien der in Kocher lebenden Honoratioren, um nur auch bei ihren Kaffees zuweilen der interessanten jungen Stiftsdame zu begegnen ... Armgart blieb jugendlich wie ihre Mutter, wenn sie »im Geist auch schon eisgraue Haare« hatte und über die Rosenzeit des ersten Mädchenfrühlings hinweg war ... Sie gehörte dem Leben an, wo es sich nur regte, nicht um seine Freuden zu genießen, sondern um seine Räthsel zu belauschen und seine Aufgaben zu lösen ... Am liebsten wandelte sie mit dem Onkel, wie er in seinen letzten Tagen liebte, über den Friedhof ... Schon lange und seit dem Tode Windhack's und der Mutter Gülpen sagte der Onkel nicht mehr: »Der allein richtige Gattungstrieb des Menschen ist der, leben zu wollen; kommt der Tod, so ist er da und es kann ja auch einmal eintreffen, daß gerade unsereins den Beweis führt, daß das Sterbenmüssen seit Jahrtausenden nur ein bloßes Versehen der Aerzte gewesen! Die Wissenschaften machen so außerordentliche Fortschritte!« ... Diese Lebensfreudigkeit, sonst auch zu Benno und Bonaventura ausgesprochen, hielt im letzten Jahre nicht mehr Stand ... Er liebte die Gräber und las ihre Inschriften ... Aus jeder ihrer goldenen Lettern hörte er seine eigene Grabschrift heraus, bestellte sich, wie er die seine haben wollte, und sah im Geist die Leute an einer solchen Stelle eines kleinen Kreuzgangs hinter dem Sanct-Zeno stehen und lesen: »Hier ruht in Gott« – Nun setzte er wol hinzu: »Der alte Narr, der –« ... Eine Selbstkritik folgte ... Alles das plauderte er im langsamen Gehen und bestellte sich in der Nähe des einst ihn im Kreuzgang deckenden Steines Rosen und Vergißmeinnicht ... Armgart erfreute ihn dabei durch Eines – durch jenes gründliche Eingehen auf seinen Tod und sein Begräbniß – eine Tugend, die viel besser wirkt, als ein ewiges Weg- und Ausredenwollen des Sterbens ... »Darin kann ich Karl V. ganz verstehen, daß er sich Probe begraben ließ!« sagte sie ...

Des Dechanten Hauptbeschäftigungen im letzten Lebensjahr waren seine Briefe mit Cäsar von Montalto und Bonaventura ... Armgart erfuhr wenig von ihrem Inhalt – aus den von Italien kommenden nur das, was Paula und Gräfin Erdmuthe betraf ... Oft fuhren Onkel und Nichte zusammen nach Sanct-Wolfgang, besuchten das Pfarrhaus, auch das erbrochene, jetzt wohlerhaltene Grab des alten Mevissen ... Ja noch ein Studium nahm der Dechant in seinem letzten Lebensjahre vor, die italienische Sprache ... Oft sprach er von Bonaventura's Vater und versenkte sich in dessen Entwickelungsgang. Als Paula einmal schrieb, sie lerne provençalisch, die Sprache der Troubadours, rühmte der Dechant seinen »verstorbenen«, im Schnee des Sanct-Bernhard »so elend verkommenen« Bruder, der in seinem immer romantisch gewesenen Jugendsinn auch diese Sprache sich angeeignet hätte vom dritten Bruder Max, dem Offizier, dem Adoptivvater Benno's, der die Kenntniß derselben aus dem südlichen Frankreich und den Pyrenäen mitbrachte ... Er las die Minnesänger und vergaß seine Acten! sagte der Dechant träumerisch von seinem Bruder Friedrich ... Es war ein Thema, über das er in ein langes, seltsames Schweigen verfallen konnte ... Ueber Benno's Ursprung wurde wenig gesprochen ... Die Erinnerung an die falsche Trauung im Park von Altenkirchen war dem Greise zu unheimlich ...

Kurz vor seinen letzten Stunden raffte der Greis noch den Rest seiner Kraft zusammen und ließ sich über mancherlei in einem langen Briefe an den Erzbischof von Coni aus, den er schon theilweise Armgart dictiren mußte ... An gewissen Stellen nahm er selbst die Feder und ließ Armgart nicht lesen, was seine zitternde Hand geschrieben ... Er verbreitete sich über alles, was noch in Bonaventura's Leben, nach seinem Wissen, unaufgelöst und zu verklingen übrig blieb ... Auch die Losung: Fiat lux in perpetuis! wiederholte sein entschwebender Geist still vor sich hinmurmelnd ... Armgart schrieb mit Erstaunen und schon an Irrereden glaubend: Nun würde er diese Worte nicht mehr unter den Eichen von Castellungo, sondern im Vorhof der Seligen hören; sein Huß- und Savonarola-Scheiterhaufen würde die läuternde Flamme des gelösten Weltenräthsels sein! Sollte Bonaventura noch einst, dictirte er, den Eremiten im Silaswalde sehen, so mög' er ihm sagen: Im Leichenhause des großen Sanct-Bernhard hätte auch er eine neue Offenbarung über Gott und die Welt gefunden – – Da besann sich der Greis und stockte ... Er ließ sich die Feder in die Hand geben und versuchte selbst weiter zu schreiben ... Die Hand versagte den Dienst ... Armgart mußte noch den Brief vor seinen Augen verschließen und dann sorgsam siegeln ...

Man senkte den Greis unter die kalten Steine des Kreuzganges, pflanzte aber um die Oeffnung des Bogens, der in den Friedhof führte, Rosen und Vergißmeinnicht ...

Beda Hunnius, auf dem nun ganz von den Jesuiten eroberten Terrain, auch jenseits der Elbe, wieder zu Ehren gekommen, wurde sein Nachfolger ... Zu seinem Kaplan machte sich dieser neue Dechant den in Lüttich erzogenen Schifferknaben von Lindenwerth, den Thuriferar von Drusenheim, Antonius Hilgers ... Der Arme hatte die ganze Erziehung und Abrichtung erhalten, wie sie Rom für seine Priester beansprucht ... Er war noch ärgerer Zelot als Müllenhoff ...

In dem schweren Amt der Bestattung und der Uebernahme der Hinterlassenschaft fand Armgart Beistand und überwand alles voll muthiger Entschlossenheit, noch ehe ihr Vater zu ihrer Hülfe aus der Schweiz herbeigeeilt kam ... Armgart hatte ganz Kocher zu Freunden ... Ihre Maxime war, bei jedem, der »ihr etwas zu haben schien«, still zu stehen und zu fragen: Ist etwas zwischen uns? ... Das konnte sie selbst dem hämischen Hunnius gegenüber, der mit ihr wie mit jeder »Nichte« der Dechanei gegen deren Bewohner zu conspiriren suchte ... Sie erfreute ihn durch ihre Empfänglichkeit für seine geistliche Poesie ... Die »Dichterapotheke« von Weihrauch, Myrrhen, Narben, Aloë und ähnlichen Spezereien, die so stark aus seinen Versen »stank«, wie der Onkel sagte, erinnerte sie doch noch immer an die Zeit ihrer ersten Jugend, wo sie den Rosenkranz mit seinen fünf schmerzhaften, fünf freuden- und fünf glorreichen Geheimnissen in alle Himmel ausgebreitet sah, die Sonne als Monstranz und die Seelen als beflügelte Kreuze dem großen Herzen Gottes mit der lodernd über ihm thronenden Flamme zufliegend ... Die Zeiten dieser Anschauungen waren freilich auch bei ihr vorüber ... Nur hielt sie an ihrer allgemeinen Stimmung fest und die blieb eine gebundene – schon um Paula's willen, die ihr in der Ferne wie eine leuchtende Glorie, ein Ziel der Sehnsucht und heißesten Wünsche verblieb ...

Unter den Beileidbezeugenden erschien auch Löb Seligmann ... Er war ja so engverbunden der Dechanei, so engverbunden auch den Geheimnissen von Westerhof, von Kloster Himmelpfort und Schloß Neuhof ... Seitdem man allgemein wußte, daß Benno von Asselyn der Sproß einer ruchlos geschlossenen Ehe des Kronsyndikus war, hatte endlich auch Löb seine Miene vertraulicher Protection gegen den Dechanten gemildert ... Diesem hatte er sich wirklich eines Tages ganz offenbart, als er gerade von Reisen zurückkehrte und auch voll Wehmuth Veilchen Igelsheimer auf den Friedhof hatte tragen helfen ... Sein Auge weinte ... Die sanfte Zimmerblume war an ihrer stillen Hektik dahin gegangen und hatte den rauhen Nathan von ihrem Husten befreit, den ihre zarte Schonung, sagte Löb, sich nur des Nachts gestattete! Am Tag, da hielt sie jeder unter den lachenden Masken und bunten Schellenkappen für wohlauf und gesund ... Bis zum letzten Augenblick hatte Veilchen zum »Carneval des Lebens« gescherzt – und selbst noch im Tode waren ihre langen Locken so schwarz wie in ihrer Jugend geblieben, wo sie in eben diesem Park der Dechanei Spinoza kennen gelernt ... Der Dechant, nicht wenig erschreckend über Seligmann's befremdliche Beichte, sagte damals zu ihm: Auch daran trag' ich schuld, daß Leo Perl diese bescheidenen Mädchenträume nicht erfüllte! ... Löb, durch und durch »Trauermarsch« aus »Montecchi und Capuletti«, erzählte dem Dechanten mehreremale, in mannichfachen Variationen, was ihn das Schicksal in Schloß Neuhof belauschen ließ ... Er gab aber die Bürgschaft seiner Discretion fürs ganze Leben und hatte gleich alles doppelt erzählt, gleich auch für die, vor denen er zu schweigen gelobte ... Armgart wurde die besondere Flamme Löb's ... Wie oft auch besuchte sie die noch lebende »Hasen-Jette« und hörte dort die Neuigkeiten – über ein seidenes Kleid, das Frau Treudchen Piter Kattendyk schickte, über die in Rom eine Gräfin gewordene »damalige Lucinde Schwarz«, von der auch Veilchen noch oft gesprochen hätte, über die Barone von Fuld, die den Seligmann zuweilen noch in Drusenheim sahen, aber nicht mehr zum »Speisen« einluden, ohnehin, seitdem sie die Rothschilds stürzen wollten; vor allem aber die Entzückungen der glücklichen Mutter über David, ihren Sohn ... David Lippschütz war auf die Beine gekommen, hatte Schulen, hatte schon einige Jahre die Universität besucht und war bereits ein berühmter Dichter ... David Lippschütz und Percival Zickeles in Wien vertraten vorzugsweise diejenige neueste lyrische Schule, der es »die Loreley angethan« hat ... Allerdings kostete diese Liebe zur Nixe des Rheins dem Onkel Seligmann viel Geld ... Monat für Monat gingen seine mit einem frommen »Jehova« beschriebenen Zehnthalerscheine (ein bekannter jüdischer Heck-, Vermehrungs- und Verlustabwendungs-Segen) in die Ferne und suchten den David unter nordischen Tannen und südlichen Palmen, tiefunten am Kyffhäuser beim schlummernden Rothbart oder auch »dort oben auf luft'gen Höh'n, wo Adler die Nester sich bau'n«, und ähnlichen halsbrechenden Adressen auf ... Dafür war aber auch David Lippschütz mit Percival Zickeles der Träger der neuesten Romantik, blies mächtig des Knaben Wunderhorn in allen Zeitschriften und sorgte dafür, daß dem deutschen Volk seine Nixen, Zwerge, Held Siegfried, sein Ritter Tannhäuser, vor allem aber die Anerkennung solcher Bestrebungen nicht abhanden kam ... Ja Beda Hunnius sogar blieb zuweilen auf dem Markt in Kocher am Fall stehen und fragte die ihm begegnende Hasen-Jette: Ja, ist denn das da wirklich euer – es folgte ein intolerantes und liebloses auf Reinlichkeit gehendes Eigenschaftswort – euer David, der jetzt soviel die Nixe belauscht, so ihr Goldhaar strählt mit dem silbernen Kamm? ... Die Mutter, allerdings gedenkend, wie ungern ihr David sonst sich kämmen ließ, bestätigte leuchtendes Auges die volle Identität ... Die reiche Frau Piter Kattendyk, weiland Treudchen Ley, erzählte sie, hätte den David auch in Wien – Piter, noch im Bruch mit seiner Familie, war meist auf Reisen – »zur Tafel gehabt« ... Eine solche Hunnius'sche Anrede wirkte dann unten im Ghetto von Kocher am Fall mit einem spät verklingenden Echo als belohnender Ersatz für all die Summen, die der Onkel auf die Länge nicht mehr ganz mit dem Humor in die grünen Fluten warf, mit dem er sonst beim Rasiren die Barcarole sang: »Werft aus das Netz gar sein und leise« ...

Der brave Grützmacher war nach der Gegend von Jüterbogk zurückversetzt worden und wohlbestallter Schleusenmeister an einem jener Kanäle, die Elbe und Oder verbinden ... Und Major Schulzendorf hatte das eigenthümliche Loos gezogen, eine große Strafanstalt für sittliche Verwahrlosung zu dirigiren, die zu den Werken der »Innern Mission« gehörte, jener bekannten, hier offen, dort geheim wirkenden Bundesgenossenschaft der Jesuiten ... Einer seiner Söhne, der die Rechte studirt hatte, war bereits bis zum Präsidenten eines Regierungsbezirks, als Nachfolger des Herrn von Wittekind-Neuhof, avancirt ... Dieser kluge Mann hatte die Gewohnheit gehabt, auf Reisen, selbst an offner Table-d'hôte, vor der Suppe erst die Hände zu falten und zu beten ... Diese Gewohnheit wurde in den maßgebenden Kreisen bekannt und so wohl aufgenommen, daß man ihn in seiner Carrière einige Zwischenstufen überspringen ließ ...

Oberst Hülleshoven nahm nach des Dechanten Tode seine Tochter mit nach der Schweiz, wo er und Hedemann, soweit letzterer noch konnte, sich in industriellen Unternehmungen zu bewähren suchten und Monika jede Aufforderung ergriff, theilzunehmen an irgendeinem Werk der Gesinnung und der auch den Frauen gestatteten öffentlichen Bewährung ... Sie hatten abwechselnd in Basel-Landschaft, dann im Aargau, zuletzt am Genfersee gewohnt ... Der Oberst leitete Ingenieurarbeiten für die schweizerische Armee; Hedemann bebaute mit Porzia's Hülfe das Feld; Monika reiste viel; sie hatte zuletzt eine große Vorliebe für Genf und die calvinistischen Anschauungen ... Daß sie sich das Denken durch eine immer weiter gehende Vertiefung in Christus vereinfachen zu müssen erklärte, war theils die Rückwirkung Hedemann's, theils der auch jetzt nicht nachlassende Trotz gegen Armgart ...

Der unruhige Sinn der Aeltern ging glücklicherweise im gleichen Takt; uneins mit der Welt und der Zeit, waren sie doch einig mit sich ... Sie kauften jetzt – in jener Hast, die Monika eigen war – mit Armgart's bedeutendem Gelde sofort eine herrliche Besitzung, die Armgart gehörte, dicht am Genfersee ... Es war das Schloß Bex, das einem Patricier Berns gehört hatte – dicht in der Nähe jenes Waldes, wo sich im Jahr 1689 von den aus ihren Thälern in Italien mit Feuer und Schwert vertriebenen Waldensern 900 wieder sammelten und unter Heinrich Arnaud's tapferer Führung jenen Heldenzug über den Genfersee, durch Savoyen hindurch und zurück in ihre heimatlichen Thäler unternahmen, eine Unternehmung, die nach dem Aufgebot zweier Truppencorps Ludwig's XIV. und Victor Amadeus' vollständig vom Siege gekrönt wurde ...

Als sie das Schloß bezogen, entdeckte man freilich hundert Fehler und hätte es gern wieder veräußert ... Aber Armgart sagte nun: Ihr reißt euch gleich das Bein ab, wenn euch der Schuh drückt! ... Sie drang darauf, das Schloß, den Park, die schönen Weinberge mit allem, was daran schadhaft war, zu behalten ... Dabei grenzte sie sich ihr Leben eigenthümlich streng von dem der Aeltern ab ... Sie hatte ihre eigenen Zimmer, Freitags ihre eigene Mahlzeit, manchen Abend sogar in ihrem Flügel Gesellschaft für sich und die Aeltern eine andere in dem ihrigen ... Der Ton war mild, oft innig ... Die Aeltern wußten, was im Innern ihres Kindes zu schonen war und woher sie den Anlaß zu ihrem jetzt schon eigenthümlich gehaltenen, allmählich sogar spröden und ablehnenden Wesen nahm ... Benno von Asselyn, überall anerkannt als Halbbruder Friedrichs von Wittekind und demgemäß mit Lebensgütern reich gesegnet, verweilte nach wie vor als Cäsar von Montalto in London – bei ihm die Mutter und die Fürstin ...

Diese Existenz währte einige Jahre, bis eine unerwartete Wiederbegegnung den schon mächtig hereinzubrechendrohenden Stillstand und Abschluß in Armgart's jungfräulichem Leben unterbrach und überhaupt die Schicksale der ganzen kleinen Colonie wieder in neue Bewegung brachte.

3.

Eines Winterabends herrschte auf Schloß Bex eine große Aufregung ...

Sie galt einer Karte, die man, heimkehrend von einer Thalfahrt an den See, auf dem großen grünverhangenen, von einer brennenden Ampel beschienenen Tische des Eintrittsvestibüls vorgefunden hatte, wo regelmäßig die Karten der inzwischen dagewesenen Besucher niedergelegt wurden ...

»Der Baron Wenzel von Terschka« lautete die Aufschrift ...

Dazu sein Wappen und die mit »p.f.v.« bezeichnete Ecke eingebogen ...

Terschka! ... rief Monika erstaunt und reichte Armgart die Karte ... Der lebt noch! ...

Seit lange hatte man von ihm nur gehört, daß er nach Amerika gegangen war ...

Armgart, die nun schon über die Mitte der Zwanzig gerückte schlanke, stattliche Herrin von Schloß Bex, schlug ihren Schleier auf, der sie beim Heimfahren im offenen Wagen gegen die rauhe Winterluft geschützt hatte, und sah, so erröthet sie war, sogleich erblassend auf die Karte, die in ihren Händen zitterte ...

Erregt ergriff auch der Oberst die Karte ... Düster drückte er die Augenbrauen zusammen und wieder holte mehrmals:

Ist der aus Amerika zurück! ...

Armgart hatte den Abend für sich allein sein wollen ... Es war der 28. Januar, der Tag der heiligen Paula ... Sie hatte ihren Kalender, den sie auf eigene Art einhielt ... Schon freute sie sich auf die Wärme ihres Zimmers ... Am Kamin wollte sie sitzen, ihren Thee für sich allein nehmen, ihre alten Angedenken hervorsuchen und über den Montblanc hinweg so stark und lebhaft nach Castellungo und Coni, wo Paula mit ihrem Gatten in Bonaventura's unmittelbarer Nähe wohnte, hinüberdenken, daß Paula, dachte sie, sie sehen müßte ... Schon hatte sie sich ausgemalt, wie zu gleicher Zeit, während die Uhr über ihrem Sopha tickte, Paula den Brief las, den sie ihr zu ihrem Namenstage geschrieben ... Vielleicht war der, wie man hörte, in viele Händel verwickelte Erzbischof bei ihr ... Schwerlich die alte Gräfin ... Aber gewiß alle Freunde und Verehrer, die einer so hochgestellten Dame, wie Paula, auch dort nicht fehlen konnten ... Sie hatte in jenem Briefe von Sancta-Paula geschrieben, jener römischen jungen Witwe, die sich von ihren Kindern trennen konnte, um die Stätten Jerusalems zu sehen und mit Hülfe des heiligen Hieronymus über dem Grab Christi ein Kloster zu bauen ... Und um so lieber träumte sie von jenem eigenthümlichen Verhältniß, in dem ihre Lieben dort lebten, als sich vieles davon aus Paula's Briefen doch nur zwischen den Zeilen ersehen ließ und der immer und immer besprochene endliche Besuch des Thals von Castellungo seine Mislichkeiten bot ... Ohne die Aeltern mochte sie nicht gehen und mit ihnen hatte es der religiösen Differenzen wegen ebenso seine Schwierigkeiten, wie in Rücksicht auf den Vater, der mit Paula im magnetischen Rapport gestanden hatte ... Diese Zustände hatten in Italien abgenommen; aber Gräfin Erdmuthe, so sehr sie die Familie der Hülleshovens schätzte und liebte, schien eine verstärkte Rückkehr derselben zu befürchten, wenn sich ihrer Schwiegertochter wieder die alten Elemente ihres Umgangs näherten ... Die alte Gräfin trug schon schwer genug an Bonaventura, den sie lieber ganz gemieden hätte, wäre nicht einst sein Eifer so muthvoll für ihren Eremiten aufgetreten ... Die Reise über die Alpen war unter solchen Umständen nur ein Sehnsuchtsziel der Familie geblieben ...

Dies stille Abendträumen mußte sich Armgart nun versagen ... Denn mit dem Namen Terschka zog Beunruhigung ins ganze Haus, Schrecken vorzugsweise in ihre eigene Seele ... Ein eisiger Winter war es wieder ... Sie sah sich wie damals im frosterstarrten Walde zwischen Westerhof und ihrem Stifte, sah an ihrer Seite den dämonischen Schmeichler, von dem sie damals mit Recht geglaubt hatte, daß er die Mutter berückte ... Ein Schauder ergriff sie in Erinnerung an ihr Gelübde, an ihr Suchen der Gefahr, an ihre Hingebung an diesen Mann ohne jede Spur der Neigung, an alles, was sie um ihn verloren und freiwillig geopfert hatte ... Wieder in ihrer Nähe dieser Schein der Harmlosigkeit, diese leichte zutrauliche Manier, die nichts begehren zu wollen schien und eben deshalb sogleich alles besaß? ...

Vater und Mutter, die sich mit politischen Dingen deshalb ausdrücklich nicht befaßten, weil ihrer religiösen Richtung vorgeworfen wurde, daß sie nur die maskirte Revolution wäre, hatten nichts mehr über Terschka's Leben und Treiben vernommen ... Nur das eine war ihnen zu Ohr gekommen, daß Terschka in irgendeiner Weise, welche, wußten sie nicht, sogar mit dem Untergang der Brüder Bandiera in Verbindung stand, einem Ereigniß, an dem der Oberst den schmerzlichsten Antheil nahm, da ihm in Amerika der Vater der Jünglinge bekannt geworden war und durch Thiebold auch dessen an Benno aufgetragenen Grüße ihm ausgerichtet wurden ... Noch hatte man vernommen, daß Terschka in dem Augenblick London verließ, als Benno dort ankam ... Eine große Geldsumme, die ihm später, als er wieder zurückgekehrt war, von Witoborn aus zugekommen sein sollte, mußte, glaubte man im engern Kreise des Obersten, vom Präsidenten auf Neuhof herrühren, der mit ihm über die Enthüllungen der zweiten Heirath seines Vaters schon längere Zeit in näherer Verbindung stand ... Dann war er nach Amerika gegangen ...

Monika konnte nie wieder ganz das Bild jener wiener Zeiten bannen, wo Graf Hugo und Terschka so heiter und sorglos verkehrten, die alte Gräfin trotz erster Abneigung gegen Terschka für ihn schwärmte, ja sie selbst von ihm mit einer Leidenschaft verehrt wurde, die ihr Herz in Unruhe, ihre Entschlüsse in Schwankungen versetzte ... Daß Terschka, der schon immer und immer mit dem Uebertritt umging, wie Monika selbst, die Hoffnungen auf ihre Gegenliebe damals, als er Armgart und deren förmliches Sich-ihm-anbieten, um die Mutter von ihm abzuziehen, kennen gelernt hatte, aufgab, schien ihr natürlich zu sein; eine alte Theilnahme löscht sich im Frauengemüth nie aus; wo sie einmal Partei genommen, sind ihre Entschuldigungen unerschöpflich ...

Nur Armgart, die nun schon wieder ganz allein in ihrer Abneigung zu stehen fürchtete, sagte: Er hat irgendeine Schuld auf seinem Gewissen! Diese jagt und verfolgt ihn! Diese treibt ihn vom Guten auf, wenn er das Schlechte eben verlassen hatte und das Gute lieben möchte! Diese macht ihn zum Werkzeug jedes energischen Willens, der ihm imponirt! ...

In ängstlicher Spannung saßen sie beim Thee; der Sturm mehrte sich, manche Zweige an den ächzenden Pappeln, die in nächster Nähe des Schlosses standen, brachen ... Jeden Augenblick, glaubte man, müßte die Glocke an der Eingangspforte gezogen und Terschka's Rückkehr gemeldet werden ...

Es wurde neun, zehn Uhr ... Schon wollte man zur Ruhe gehen, da zog es an der Glocke ... Es war eine weibliche Stimme, die sich hören ließ ... Porzia Hedemann kam noch so spät aus ihrem dem See näher gelegenen Häuschen ... Sie hatte sich nicht überwinden können, ihren theuren Gönnern und Beschützern noch von einem Besuch des Barons von Terschka zu erzählen ... Freude strahlte aus ihrem Auge und ergänzte ihre gebrochene deutsche Rede ... Terschka hatte in gewohnter Weise die Spuren seines Erscheinens sogleich angenehm bezeichnet, hatte von Mitteln gesprochen, die unfehlbar die kranke Brust Hedemann's heilen müßten ... Alle Zauber Amerikas breiteten sich schon um ihn, als nun auch der Oberst einräumte, die Indianer besäßen Heilmittel, von denen sich die Weisheit unserer Aerzte nichts träumen ließe ... So schwebte schon Terschka, noch ehe man ihn wiedersah, in dem gewohnten Nimbus seiner Liebenswürdigkeit ...

Am folgenden Tage erschien er in der That ...

Er war in Genf abgestiegen, kam in einem Einspänner dahergeflogen, den er selbst führte, und sah in seinem schnurbesetzten Pelzrock, von Wetter und Sturm geröthet, trotz seiner fünfzig Jahre, noch immer ganz stattlich aus ... Die kleinen Formen des Siebenmonatkindes konnten eher, als plastischer ausgebildete, durch die Jahre zusammengehen ... Sein Auge hatte das alte lebhafte Feuer; sein kurzgeschnittenes Haar war, trotz der Beängstigungen, die sein Gemüth die Reihe von Jahren hindurch schon ausgestanden haben mochte, nur von einem leichten Hauch der Verwandlung in Grau überflogen ... Mit einer Unbefangenheit gab er sich, als setzte die Gegenwart die nur kurze Zeit unterbrochen gewesene und völlig ungestört gebliebene Vergangenheit fort ...

Die befangenen Mienen des Obersten klärten sich auf, als Terschka mit Begeisterung von Amerika sprach ... Monika sah in jeder Freude ihres Gatten ihre eigene und schürte dies Behagen ... Vom frühern Jesuiten, von der Umwandelung in einen Protestanten, vom Freunde der italienischen Emigranten konnte um Armgart's willen nicht lange die Rede sein ... Diese noch unverheirathet zu finden, sagte Terschka, überraschte ihn nicht, denn er hätte sie und ihre Familie auch jenseits des Oceans nicht aus dem Auge verloren ... Sein Wesen blieb harmlos; nicht eine Miene verrieth: Du liebtest einst diese Mutter, deren Locken nun immer silberner geworden! Und wie nahe warst du, auch die Tochter, diese immer noch blühende, schöne, reiche Herrin von Schloß Bex die Deine zu nennen! ...

Hedemann wurde gerufen ... Trotz seines »Sterbens in Christo« kam er neubelebt ... Porzia war hoch in der Hoffnung und der Gedanke des Todes, sonst ein ihm so lieber und vertrauter, erfüllte ihn jetzt mit Trauer ... Terschka versprach, ihn seines Mittels wegen zu besuchen ... Im Plaudern hatte er eine noch auffallend genaue Kenntniß aller Verhältnisse und Personen, mit denen er sonst gelebt, verrathen und bedurfte darüber keines Unterrichts, den er eher noch selbst ertheilen konnte ... Ohne Schärfe ließ er zuweilen und wie zufällig eine Anspielung auf den natürlichen Sohn des Kronsyndikus, Cäsar von Montalto, oder auf die Fürstin Rucca fallen ... Er übertrieb, bei Gelegenheit des Grafen Hugo, das Princip der Dankbarkeit, sagte aber auch, in Anspielung auf Benno's Dankbarkeit für seine Befreierin, die Fürstin Olympia:

Meine Damen, als ich noch ein Jesuit war, kam im Colleg zu Rom die Frage auf die Dankbarkeit ... Wir trieben Moral nach allen möglichen Unterscheidungen hin; aber von Dankbarkeit war wenig die Rede ...

»Seid dankbar in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an euch!« sagte Hedemann und freute sich der vorgeführten Bilder aus der alten Zeit Witoborns ...

Das ist aber die Dankbarkeit nicht, nahm die streitsüchtige, schon außerordentlich angeregte und ein gewähltes Mittagsmahl anordnende Monika auf, die Terschka meint ... Sie wollte hören, wie es mit Terschka's religiösem Innern stand ... Terschka hatte vom Tode Ceccone's gesprochen, der wol auch die Ursache gewesen sein mochte, sagte er harmlos, daß seine Nichte seit Jahren nicht nach Rom zurückkehrte ... Ebenso lange war Ceccone todt – er war unter seltsamen Umständen gestorben ...

Auch der Oberst achtete nicht darauf, daß sich Armgart dem Fenster zuwandte; er sah nur und freute sich dessen, wie geheimnißvoll seine Frau für den Mittagstisch sorgte ...

»Und seid gewurzelt und erbaut in ihm und seid fest im Glauben, wie ihr gelehrt seid, und seid in demselben reichlich dankbar!« wiederholte Hedemann zum festen Zeugniß, daß die Bibel die Jesuitenlehrer beschäme ...

Die Mutter, während Armgart schwieg und am Fenster auf den See und die im Violett strahlenden Schneeberge Savoyens blickte, wollte heute gar nicht Hedemann's Partie nehmen und meinte, manches Verhältniß des modernen Lebens, manche Verpflichtung unserer künstlichen und unnatürlichen Verhältnisse ließe sich kaum aus der Bibel herleiten ... In diesen Gegenden, wo der Bibelglaube und die religiöse Phrase fast an jedem Bissen Brot, den man in den Mund nimmt, haftete, war Monika allerdings etwas weltlicher geworden; aber auch die Erinnerung an die schönen Stunden, die sie in Wien verlebt, erregte sie ...

Hedemann ließ die Meinung nicht aufkommen, daß die Schrift nicht die umfassendstverpflichtende Dankbarkeit anempföhle ... David war dankbar gegen Abjathar, den Sohn Abimelech's, der für David gestorben ... David war dankbar gegen Barsillai, den achtzigjährigen, den er mit nach Jerusalem in seine Burg nehmen wollte, weil er ihm früher in Noth gedient ... David war dankbar dem Gedächtniß Jonathan's, des Sohnes Saul's, der ihm angehangen, und rief in alle Lande: Wo ist jemand übriggeblieben von dem Hause Saul's, daß ich Barmherzigkeit an ihm übe um Jonathan's willen?! ...

Dennoch hielt Monika die Frage der Dankbarkeit in einem andern Sinne fest und sagte:

Die Dankbarkeit, die Terschka meint, heißt nicht das Erweisen von Wohlthaten an den, der auch uns Wohlthaten erwies, sondern die Unterordnung des eigenen Willens und Interesses unter den Willen und das Interesse eines andern für ein ganzes Leben lang – ...

Eine Stille trat darauf ein ... Terschka genoß ihre Wirkung und sagte, so hätte er sich allerdings dem Grafen Hugo hingegeben und ganz von ihm regieren lassen ... Unsre Professoren auf dem Collegium, fuhr er fort, ließen wenigstens nicht mit offnen Worten, aber halt ziemlich deutlich keine Dankbarkeit gelten, die eine eigene Benachtheiligung voraussetzte ... Den Vortheil, den sie auf alle Fälle gewahrt wissen wollten, nannten sie die eigene Vollkommenheit ... Hatten wir nicht einen ganzen Tag Disputation über die Frage: Ist man verpflichtet, hundert Zechinen einem Mörder auszuzahlen, der sich dafür erbot, einen Mord zu begehen? ... Der erste Satz war natürlich: Solange der Mord nicht vollzogen ist, kann auch von Zahlung gar keine Rede sein ...

Man lachte ... Selbst Armgart mußte es ...

War aber halt der Mord vollzogen, fuhr Terschka fort – wie dann, wenn der Anstifter in den Beichtstuhl kommt und, nachdem nun sein Vortheil bereits gewahrt ist, jetzt keine rechte Lust mehr bezeugt, die hundert Zechinen zu bezahlen? ... Darüber waren die Meinungen der Theologen getheilt ... Einige glaubten, daß das Geld, ob vor oder nach der That, wenn auch versprochen, unter keinerlei Umständen bezahlt zu werden brauchte ...

Schändlich! rief Monika aufwallend ... Selbst dem Mörder muß man die Treue halten ...

Sie urtheilen, meine Gnädigste, fiel Terschka ein, grad' wie der heilige Liguori, der Stifter der Liguorianer, unser Schutzpatron, auch urtheilte ... Rund und fest hat der Liguori erklärt: Die hundert Zechinen müssen dem Mörder unter allen Umständen bezahlt werden! ...

Das beste Wort, das ich je von einem Jesuiten gehört habe! fiel die Mutter ein und setzte die Entwickelung ihrer Moral der Hochherzigkeit und des Edelmuthes fort, bis der Oberst von der Dankbarkeit hinzugefügt hatte, daß er Beispiele aus seinem eigenen Leben kenne, wo sie manche Charaktere vollständig aus ihrer Bahn gelenkt hätte, wo Menschen, einmal verpflichtet, nie wieder ihren freien Willen bekommen hätten, Offiziere, die das Opfer eines einmal unbedacht geschlossenen Verhältnisses sogar mit ältern Damen geworden und elend untergegangen wären ... Da erst verstanden denn Monika und Hedemann die wechselnde Gesichtsfarbe Armgart's und setzten das Gespräch, dessen Bezüglichkeiten sie sich jetzt auf Benno deuten konnten, nicht fort ...

Aber von Lucinden und einem seltsamen Zusammenhang des überraschenden Todes ihres Gönners, des Cardinals Ceccone, wußte nun Terschka Dinge zu erzählen, die, wenn sie auch fragmentarisch bleiben mußten, weil sie für Armgart's Ohr nicht gemacht waren, doch die ganze Behaglichkeit verbreiteten, durch Terschka wieder in einen Zusammenhang mit der Welt zu kommen ... Armgart hörte aus dem Flüstern nur, daß Graf Sarzana gleichfalls als Flüchtling in London und gleich in den ersten Wochen seiner Vermählung von seiner Frau getrennt lebte ...

Acht Tage verflossen und Terschka war in dieser und ähnlicher Art auf Schloß Bex die Hauptperson geworden ... Die Mutter konnte schon sagen: Was sollte denn nun auch werden, wenn jedem Menschen, der einmal strauchelte, der Kainsfluch immer und ewig auf der Stirn gezeichnet bliebe! ... Warum gibt es denn keine großen Männer mehr? ... Weil die Keime dazu in unserer Civilisation falsch aufblühen und leider zuweilen eher in den Zuchthäusern, als in den Walhallen reifen! ... Verpflanzt doch nur einmal unsern Herrn und Heiland in das Zeitalter der Gensdarmen! ... Würde Jesus von Nazareth drei Jahre haben lehren und hin- und herwandeln können? ... Nicht drei Tage hätte sein hochheiliges Lehramt gedauert ...

Von Lucinden, Gräfin Sarzana, hatte Terschka, wie nun Armgart vertraulich von der Mutter erfuhr, erzählt, daß die Klügste ihres Geschlechts das Opfer einer Intrigue geworden war, die auch nur in Italien vorkommen konnte ... Graf Sarzana war in der That ein Verschworener des »jungen Italien«, theils aus Ueberzeugung, theils aus Rache gegen Ceccone, der seit Jahren seine Familie entwürdigte und wahrhaft misbrauchte ... Auch ihm wollte der Cardinal die Hand einer Frau geben, die nur ihm gehören sollte ... Hatte der Cardinal Berechtigung, von Lucinden solche Hoffnungen zu hegen oder nicht, der Gardist Sr. Heiligkeit ging wenigstens scheinbar auf den Vertrag ein ... Seine Rache wollte einen erlaubten Anlaß haben, Ceccone gelegentlich aus der Welt zu schaffen ... Die Ehe wurde vollzogen; der gerade in Rom anwesende neuerhobene, glänzend gerechtfertigte, wie von unsichtbaren Armen geschützte Erzbischof von Coni hatte früher Gräfin Paula nicht trauen können – aber Lucinde wollte diesen Vorzug genießen und Terschka hatte sogar angedeutet, daß Lucinde Mittel besäße, den Erzbischof zu allen möglichen Dingen zu zwingen ... Kaum hatte das Sarzana'sche Ehepaar jenen Palast bezogen, in dem früher die Herzogin von Amarillas wohnte, so verbreitete sich ein Gerücht, der Cardinal hätte bei einem Abendbesuch in diesem Palast einen unglücklichen Fall gethan ... Blutend fuhr er nach Hause ... Wol ein Jahr hätte er sich dann elend hingeschleppt, hätte sehen müssen, wie Fefelotti seinen ihm immer mehr abgerungenen Einfluß gewann und wäre zuletzt still vom Schauplatz verschwunden und sogar außerordentlich heilig gestorben ... Bald aber nach jener Nachricht von dem »unglücklichen Fall« wäre Graf Sarzana heimlich aus Rom entwichen, seine Gemahlin in ein Kloster, das der »Lebendigbegrabenen«, gegangen, wohin schon einmal ein dunkler Vorfall aus dem Leben des Cardinals sich der Welt entzogen hätte – ... Jetzt wisse es alle Welt, hatte Terschka erzählt, Graf Sarzana hätte seine Gemahlin in einer »Scene« mit dem Cardinal überrascht, die Thür gesprengt und auf frischer That auf ihn den Degen gezückt ... Der Stoß war nicht tödtlich und erst nach einem Jahr erlag Ceccone den Folgen der Wunde ... Gräfin Sarzana wäre seitdem noch gar nicht lange erst wieder aus dem Kloster ans Tageslicht gekommen ...

Armgart wußte freilich aus Briefen, die aus dem Thal von Castellungo kamen, daß Gräfin Sarzana schon seit zwei Jahren in Genua lebte, ja sogar in Coni erwartet wurde ... Sie sagte also: Alles das wird sich auch wol noch anders verhalten! ...

Ueberhaupt kannte Terschka von den Verwickelungen im Leben der Nahebefreundeten Monika's und Ulrich's mehr, als diese in ihrem reinen Sinn hören mochten ... Selbst Lucinden ließ der Oberst, der sich ihrer wenig entsann und von der er nur hatte erzählen hören, das Urtheil angedeihen: Wir wissen nicht, ob die Menschen, die sie verurtheilen, recht haben oder nicht; aber für soviel Unglück, als auch gerade ihr beschieden zu sein scheint, könnte sie jeden fast dauern und ihre Erbitterung gegen die Welt gar nicht wunder nehmen ...

An den in jener Gegend üblichen Erbauungsstunden und religiösen Versammlungen, an den Streitigkeiten über die Erbsünde und die Gnade nahm Terschka, der nun eingebürgert blieb, ohne besonderes Interesse theil ... Geistige Bedürfnisse lagen ihm überhaupt, wenn sie Ernst voraussetzten, fern ... Wenn von Paris, London und Wien die Rede war, seufzte er sehnsuchtsvoll ... Anfangs kehrte er immer wieder, wenn er Schloß Bex besucht hatte, nach Genf zurück ... Zuweilen kam von dort mit ihm Gesellschaft, anfangs achtbare Persönlichkeiten, die in einer mit Fremden überfüllten Stadt leicht gefunden sind ... Der einförmige Kreis des Landlebens im Winter erhielt durch ihn Belebung; sogar mehr, als man wünschen konnte ... Es stellte sich eben eine Toleranz gegen den Erzähler seiner Abenteuer und Reisen wieder her, die alle Bedenklichkeiten des Vergangenen vergessen zu haben schien ...

Nur Armgart blieb gegen den nur zu schnell wieder zu Gnaden Angenommenen kalt, vermied ihn, wo sie konnte, blieb, wenn er nicht noch vor Nacht nach Genf heimkehrte, vorsichtig auf ihren Zimmern und lebte ihrer innern Welt, die sie schon so früh verstanden hatte zu ihrem Universum zu machen ... Ein Kind, das mit einem aus Baumrinde geschnittenen Schiffchen sich stundenlang den Ocean träumen konnte, war sie sonst; jetzt kannte sie den großen Ocean des Lebens und suchte auf diesem nur ihre kleinen Schiffchen ...

Der Oberst und Monika waren im Grunde doch nur Gemüthsmenschen und entbehrten, ungeachtet ihrer steten Berufung auf den Verstand, eines scharfen psychologischen Blicks ... Sie übersahen, daß es eine Verkommenheit im Menschen gibt, die dem Kenner selbst durch den äußern Schein des größten Behagens hindurchschimmert, wie eine nur scheinbar gepflegte Toilette durch eine zerrissene Naht und ein nicht gehörig verstecktes Bändchen in ihren geheimen Schäden sich verräth ... Eine solche im Sinken begriffene Natur lacht und scherzt dann und am Uebermaß des Widerhalls läßt sich erst erkennen, wie innerlich alles so hohl ... Jedes Wort hört der scheinbar so unbefangen Sprechende dann gleichsam selbst zuerst; sein Gang ist berechnet; der Schatten, den er wirft, ängstigt ihn ... Unruhig sucht er dann Haltpunkte und Anlehnungen ... Sie sind aber ganz wie im Zufall und wie im Traum gewählt ... Eine alabasterne Vase, ein Spiegel, um im Bilde zu bleiben, ist von dem Vorsichtigsten dann zertrümmert, er weiß nicht wie ...

Für die sich ganz ebenso zeigende tiefinnere Verkommenheit Terschka's hatte Armgart einen klarsehenden Blick ... Während der Unheimliche den Vater durch seine Ställe und seine Vorschläge für die Oekonomie fesselte, die Mutter durch hundert Aufträge, die von ihm für Genf übernommen wurden, Hedemann und Porzia durch Heiltränke, die in der That vorübergehende Linderungen verschafften, sah allein Armgart mit Schrecken, wie Terschka schon so im Zuge des Eingreifens in alle Verhältnisse auf Schloß Bex war, daß ihr bereits die Geldsummen verloren schienen, die ihm anvertraut wurden ... Sie sah eine Lebendigkeit um sich her, die sie im höchsten Grade beunruhigte ... Terschka's Genossen, jetzt größtentheils Franzosen von unheimlichen Manieren, gingen ab und zu ... Schon wurden Jagdpartieen arrangirt ... Oft war die Tafel, ohne irgend eine Einladung, zwanzig Personen stark ... Der Oberst liebte die Jagd und Monika unterstützte diese Neigung ohnehin, weil sie – sie sagte es scherzend – gutmachen wollte, daß der Anfang ihres früheren Zerwürfnisses mit ihm ein Lachen über die Fehlschüsse des eben Erheiratheten war ... So ging es hinauf in die Schluchten der Berge, gerade wie um Witoborn her in die Wälder ... Monika, der es an Gründen nie fehlte, wenn etwas Inconsequentes durch Gesetze der Notwendigkeit entschuldigt werden sollte, fand diese Bewegungen dem Gatten zuträglich, sorgend nur, daß Armgart von den Zumuthungen der Theilnahme verschont blieb ... Wohl kannte sie Armgart's Erinnerung an jenen Tag, wo sie, todtbetrübt und die Mutter an Terschka gebunden glaubend, sich infolge ihres Gelübdes in die gräflich Münnich'sche Jagd stürzen konnte, um für die Erkorene Terschka's zu gelten ...

Der Winter verstrich ... Armgart saß nicht immer mit ihren Büchern im Zimmer ... Sie unterstützte Hedemann und Porzia im Reinigen und Schwingen der Sämereien, stieg in die Keller und wahrte die Wurzelgewächse gegen üble Wirkung dumpfer und feuchter Luft, benutzte jeden sonnigen Tag, wo der Boden der großen Gemüsegärten sich auflockert, um die Aussaat solcher Pflanzen zu leiten, denen längeres Verweilen des Samens im Schoos der Erde nützt, ließ die Obstspaliere und manche freischwebende junge Pflanzung mit Stroh umhüllen, unterstützte gegen den Sturm, der oft aus dem Walliserland und vom großen Sanct-Bernhard her mit Ungestüm wehte, die jungen Obstbäume mit kräftigen Stecken, ließ die Weinstöcke niederlegen und gerade wenn ihr Blumengarten dicht voll Schnee lag, säete sie die ersten Boten des Frühlings, Primeln und Aurikeln – ihr Same darf die Erde nur leise berühren, nicht in sie eindringen – ... Bei diesen Beschäftigungen, auch beim Pflegen der Hyacinthen, die in ihren Zimmern, wie ehemals bei Paula, die grünen Keime ansetzten, trug sie ihr seltsames Lebensloos und gab, wie in einem spanischen Gedicht, das Bonaventura auf Westerhof einst ihr und Paula vorgelesen, »Des Gärtners Lohn« – auf die Frage:

»Herr, unter Steinen und Moosen

Was schöpfst du soviel aus dem Born?«

durch Blick, Rede und ganze Haltung die Antwort:

»Dir will ich benetzen die Rosen! –

Mir will ich benetzen den Dorn!«

Es war ein Nonnenleben ohne Klausur, das ihr Ideal zu werden schien ... Die Welt hüllte sich ihr in eine Trauer, die sie nicht deuten, ja in einen Schmerz, den sie kaum anerkennen mochte ... Sie wurde ablehnend und streng; vielen erschien sie kalt ...

Der Frühling war gekommen, die Hollunderbüsche blühten, die Kastanienbäume setzten ihre braunen Knospen an, der Leman braute jene durchsichtigen, sonnigen Nebel, die die wild aus den Bergen stürmende »Bise« nicht mehr zerriß ... Terschka wohnte nun schon oft wochenlang auf dem mit allen Reizen der Natur sich schmückenden Schloß Bex ... Zu andern Zeiten wieder überredete er den Obersten, mit ihm nach dem fremdenüberfüllten Genf zu gehen ... Wer das Gefühl hat, mit gegebenen Zuständen in Bruch zu leben, ergreift gern die Gelegenheit, aus seiner Isolirung herauszutreten und da sich anzuschließen, wo von den unbefangener Urtheilenden die langentbehrte Zustimmung nicht ausbleibt ... Diese reichen Patricierfamilien Genfs mit ihren strengen calvinistischen, aber in andern Dingen wieder republikanisch unbefangenen Formen wurden eine Welt, in der sich Monika sorglos bewegen durfte ... Sie sprach gut französisch, konnte mit den Professoren der Universität Streitigkeiten führen, die für jeden Zuhörer genußreich waren, der Rath des Obersten wurde in mancher technologischen und Ingenieurfrage begehrt, Terschka war die Seele der auch in Genf vorhandenen aristokratischen Gesellschaft ... Von den Flüchtlingen, den Polen, Italienern, Deutschen, hielten sich alle in Entfernung ...

Aber gerade von dieser Seite aus gab es scharfe Augen und der geschmeidige, lebensschlaue Böhme, der überall nach Macht, Einfluß, Stellung trachtete, mußte erleben, daß ihm schon manches fehl schlug ... Bald hieß es sogar auch hier: Er spielt eine falsche Rolle! Er hat sie schon in London gespielt! Sein Gewerbe kann nur das eines Spions sein! Er correspondirt mit Wien und Rom! ... War dem nun so oder nicht, Terschka blieb jener Jesuitenzögling, der zwar mit scheuer Vorsicht seinen Weg Schritt für Schritt macht, nie aus sich selbst heraus, sondern immer nur aus den andern die Situationen seines Lebens entwickelt, niemals kann er recht ein Herr werden, immer nur Diener ... Durch sein Dienen verpflichtet man sich die Menschen und zuweilen sind die Menschen edel und heben dafür den andern, der uns dient, wie einst mit ihm Graf Hugo gethan; jetzt aber hatte er zuletzt doch nur noch den Obersten und Monika für sich, hundert Zerwürfnisse und Streitigkeiten schon gegen sich ... Bereits hieß es beim Obersten und Monika: Man müßte doch aus dieser Gegend fort! Man müßte doch Bex verkaufen, so schön es auch wäre! Schon wegen – Hedemann's sollte man in eine mildere Gegend ziehen! ...

Die Herrin von Schloß Bex hatte auch hier, trotz ihrer Schroffheit, Verehrer und Bewerber ... Angesehene Namen aus Genfs Patricierfamilien, umwohnende Grundbesitzer, Reisende, wiederum auch mancher Engländer, huldigten Armgart mit oft maßlosem Eifer ... Die Mutter wünschte die endliche Verheirathung; auch der Vater; schon deshalb, um den Schein aufzuheben, als bestimmten sie die Tochter ihres Vermögens halber unvermählt zu bleiben ... Alledem geberdete sich Terschka trotz seiner fünfzig Jahre eifersüchtig, als scheute er mit der Jugend keinen Wettkampf ... Nicht daß er seine eigene Liebe zur Schau trug – wenigstens warf er ein: Ich werde so lächerlich nicht sein! – immer aber hatte er Gründe, die Bewerber zu verdächtigen und suchte Scenen herbeizuführen, die zuweilen so ausarteten, daß die Frauen, vor allem Armgart, wahrhaft darunter litten ... Conflicte gab es, wo man erstaunen mußte, wie ein einziger Mensch, dem der wahre innere Halt des Charakters fehlt, dennoch einen ganzen Lebenskreis verwirren und beschäftigen kann ... Zuletzt standen auch endlich die Hülleshovens mit Terschka so allein, daß ein Entweder-Oder sich ihnen als unabweisbar aufdrängen mußte ... Terschka, fünfzig Jahre alt, in Fällen, wo sein Benehmen Zeugen hatte, muthig und entschlossen, wo er allein war, hinterlistig, feige sogar oder doch nur schlau, konnte schon wieder die Hände vor die Augen legen, weinen wie ein Kind und sein Lebensloos beklagen, sodaß die Frauen entweder mit einstimmen oder entfliehen mußten, um sich nur dem magischen Einfluß eines Gauklers zu entziehen, der die besonnensten Menschen bethörte, seine geschworensten Feinde irre machte und, das sah man nun wohl, Armgart noch erobern wollte ...

Terschka hatte Schulden; der Oberst konnte ihm nicht mehr helfen ... Monika schmollte mit ihm tieferbittert, seitdem er, ganz nur wie zum Scherz, die Aeußerung hatte fallen lassen, er würde, wenn Armgart es beföhle, in den Schoos der römischen Kirche zurückkehren ... Armgart besuchte zuweilen die Messe in einem zwei Meilen höher hinauf gelegenen katholischen Dorfe ... Terschka fing an, sie dorthin zu begleiten ... An der Kirchthür wartete er dann, bis sie zurückkam ... Wieder wurde ihr der Mann wie die Schlange, deren Athem den Vogel besinnungslos macht ... Sie stand ohnehin mit ihrem katholischen Gefühl hier allein und nun gesellte sich diesem, wie sympathisch ergriffen, Terschka zu ... Monika sagte ihm seitdem, so oft er sich auf dem Schlosse sehen ließ, mit dem Ton des gebietendsten Ernstes: Terschka, verlassen Sie uns endlich! ... Der Oberst er klärte in Güte: Terschka, Ihre Rolle ist hier ausgespielt! Reisen Sie mit Gott! ... In leisem, gemüthlichem Ton konnte er dann seufzen: Ich gehe! ... Er ging und kam wieder ... Nur einen Augenblick blieb er dann, schwieg und warf einen Blick des tiefsten Schmerzes auf Armgart ... Nicht lange währte es, so kniete er hinter ihr in der Messe des kleinen Kirchleins im Gebirge ... Armgart erhob sich dann, sprach nicht mit ihm beim Verlassen des Gottesdienstes und wich ihm für den Heimweg aus, aber sie sammelte nur mühsam die Kraft dazu, wankte, wenn er sich ihr näherte, suchte zu entfliehen und konnte nicht von der Stelle ... Alles, alles, als wär' er durch sie und um ihretwillen im Begriff, wieder Katholik zu werden und als wär' er's schon längst geworden, wenn er nur sicher wüßte, ob er in diesem Fall seines Priestergelübdes entbunden würde ... Er behauptete, deshalb in Genf alle Bibliotheken nachzuschlagen ...

So überraschte er Armgart einst auf ihrem Zimmer ... Seine Jahre verwünschend, nannte er die Empfindungen, die ihn beherrschten, wahnsinnig, dennoch erklärend, gewisse Namen, die gerade damals als Armgart's Bewerber genannt wurden, tödten zu können; er drohte sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und hoffte bei solchen Worten nur, durch Armgart's Erklärung, daß sie ihn für jung, lebensberechtigt und ihrer endlichen Erhörung für vollkommen würdig hielte, aufgerichtet zu werden ... In wilder Hast ergriff er ein an der Wand hängendes Crucifix, küßte es mit leidenschaftlicher Inbrunst und bat dem »heiligen Holze«, wie er es nannte, mit lauter Stimme ab, was seither von ihm ruchlos am katholischen Glauben verbrochen worden ... Seinen Priesterstand würde er nicht zu erneuern brauchen, sagte er – weil er ihn ja ewig geschändet hätte ... Alles das kam mit einer Wahrheit von seinen Lippen, als machte er im Al-Gesù eine jener rhetorischen Uebungen durch, wo sich ein Sprecher in einer von ihm geschilderten Situation ganz wie ein Schauspieler verlieren muß ...

Armgart stand am Fenster und zitterte ... Terschka sprach, als wäre sie nicht anwesend ... Laut recitirte er eine Litanei an die allerseligste Jungfrau ... Er kniete nieder, um sein Gelübde auszusprechen, in den Schoos der von ihm verlassenen Kirche zurückzukehren, auch wenn ihm, dem Leviten, nie wieder Vergebung zu Theil werden würde ... Engel würden dann für ihn die Hände erheben und vielleicht im Jenseits eine besonders begnadete Seele ihn rettend in ihren Schoos nehmen ...

Ohne Zweifel erwartete Terschka, daß Armgart ihn emporziehen, irgend mit ihm einen Ausweg aus dem Labyrinth seiner Verhältnisse bereden würde ... Aber so sehr sich in ihr die alten Stimmungen des Selbstopfers, die Seligkeiten des gebundenen Willens regten, die Jugendzeit mit ihren Schwärmereien war vorüber ... Mit einem verachtenden Ausdruck ihrer Augen, der den unverkennbarsten ewigen Bruch zwischen ihr und Terschka verrieth, rief sie: Nein! Nein! Nein! ließ ihn auf dem Teppich vor ihrem kleinen Hausaltar liegen und entfloh aus dem Zimmer ...

Da begegnete ihr der Vater, sah ihre Aufregung, traf Terschka, noch mit dem Crucifix, das er unaufhörlich küßte, in der Hand, schleuderte ihm einige Verwünschungen zu und wies ihm die Thür ...

Terschka erhob sich von der Erde, auf der er gekniet hatte, schwankte eine Weile, taumelte unentschlossen, maß den Obersten, halb als ob er an seinem Halse sich ausweinen, halb – als ob er ihn tödten wollte ... Und als dieser wiederholt rief: Sie sind ein unverbesserlicher Abenteurer! Man weiß alles von Ihnen! Sie sind unter Räubern erzogen, Sie sind ein Kunstreiter – noch haben Sie nicht aufgehört den Jesuiten zu dienen! Die Brüder Bandiera sind durch Sie verrathen worden – durch einen gewissen Jan Picard – ha, kennen Sie den Namen –? – da erblaßte Terschka, erhob sich lautlos und verschwand – ...

Allgemein glaubte man, er säße in Genf im Schuldgefängniß ... Seine Sucht, sich in den vornehmsten Kreisen zu bewegen, Cavalier zu sein, Matador der Gesellschaft, hatte ihn in nicht endende Verlegenheiten gestürzt ... Nach und nach aber verbreiteten sich Gerüchte, er wäre in den Canton Freiburg gegangen und hätte sich dort reuig in das dortige, damals allgewaltige Collegium der Jesuiten zurückbegeben ... Die Strafen, die ihn in diesem Fall dort erwarteten, mußten, wenn er nicht schon früher Verzeihung gefunden, furchtbare sein – deshalb wurde auch von andern die Möglichkeit eines so gewagten Entschlusses bezweifelt ...

Auf Schloß Bex stellte sich der Friede wieder her und die Gegensätze versöhnten sich in der einstimmigen Verwerfung eines sittlich Haltungslosen, an den man vergebens Milde, Langmuth, Wohlthaten verschwendet hätte ... Die Schulden, die Terschka beim Obersten nicht getilgt hatte, konnten als Vorwand dienen, in Freiburg nach ihm Erkundigungen einzuziehen .... Man gab dort eine kaltausweichende Antwort ... Der Uebermuth der im Steigen begriffenen klerikalen Partei hatte gerade damals, in der von Bürgerkämpfen zerrissenen Schweiz, den höchsten Grad erreicht ...

Aber nur noch eine kurze Weile und es schlug die Stunde einer großen Bewegung ...

Jener dreifachgekrönte arme leidende Mann mit dem tücherumwundenen Antlitz auf dem apostolischen Stuhl hatte seinen letzten Seufzer ausgehaucht, wie ihn die Stellvertreter Christi aushauchen – einsam, verlassen, in den schauerlich öden Marmorsälen des Vaticans ein dem Reiz nach Neuem allzulang verweilender Gast ... Draußen eine unruhige, großer Umänderungen harrende Menge, die die neue Bescherung, das beginnende Conclave und den Namen und die Person eines neuen Trägers der Himmelsschlüssel erwartet ... Der Sterbende ist dann nur noch eine leere Hülfe ... Nur noch einige geringe Würdenträger bleiben bei ihm, die auf den Augenblick harren, wo ihnen gewisse Functionen für den Todesfall der Päpste vorgeschrieben sind, das Zerbrechen der Siegel, das Aufbewahren des Fischerrings, das Läutenlassen einer kleinen silbernen Glocke der Peterskirche ... Ertönt diese geheimnißvolle Glocke, dann müssen alle Gerichte aufhören, alle Glocken Roms fallen mit schauerlichem Geläute ein; auf allen Tribunalen wird die Feder ausgespritzt und nicht die Trauer, sondern – die Freude beginnt ... Armer Stellvertreter des Gottessohns! ... Nun verlassen dich die Deinen, die sonst vor dir knieten! ... Nun eilen sie sich, ihre gesammelten Schätze in Sicherheit zu bringen ... Nun schleichen sie schon von deinem Sterbebett, noch ehe du erkaltet bist! .. Noch einmal tastet dein erstarrter Arm nach einem Glockenzug, du jammerst um einen Labetrunk Wassers und niemand will kommen, dir deine verschmachtenden Lippen zu benetzen! ... Wo sind sie, die Köche, die Haushofmeister, die Frauen deines Barbiers, des Allgewaltigen, den du zum Camerlengo erhoben hattest? ... Sie sind beim Packen ihrer Papiere, bergen ihr Gold, ihr Silber ... Sowie das Auge ihres Herrn gebrochen ist, verweist sie die jahrtausendjährige Regel sofort aus dem Bereich der neuzulüftenden und frisch zu reinigenden Gemächer des Nachfolgers ... Das ist der Brauch, der nach Rom von Byzanz herübergekommen zu sein scheint – Im Orient ist der Tod das Gesetz, das sich auch auf die Umgebungen eines sterbenden Sultans erstreckt ... Sogar seinem Arzt sieht der sterbende Herr der Kirche an, daß ihn der Unmuth drückt um den Verlust seiner Stelle – diese alten Cardinäle haben seit Jahren schon ihr Leben auf eigene Art eingerichtet und nichts verpflichtet sie, das Privatleben ihres Vorgängers fortzusetzen oder zu ehren ... Nicht die jugendliche Sorglosigkeit eines geborenen Erben nimmt Besitz vom Throne, nicht die Pietät eines Verwandten, eines Bruders für einen Bruder, eines Neffen für seinen Onkel, sondern ein fremder Greis folgt einem fremden Greise, die langjährige Verwöhnung eines Hagestolzen und die vollkommen schon hartnäckig eingewurzelte Lebensart eines Cardinals den Gewohnheiten und Launen eines dahingegangenen andern ...

Neun Tage währt dann äußerlich Klage und Trauer, aber im Stillen läuft und flüstert die Neugier und Intrigue von Haus zu Haus ... Wer wird der Nachfolger sein! ... Couriere kommen und gehen, die Diplomatie hält Besprechungen, Parteien bilden sich, Stimmen werden gezählt, die Frauen werben und stiften Versöhnungen, alte Cardinäle vergessen, daß die Aerzte sie längst aufgaben, sie werden jung, haben keine Gicht und keine Wassersucht mehr, die Frivolen werden fromm, die Frommen weltlich – ... Welche Gedanken würden sichtbar werden, wenn diesen Cardinälen (siebzig sollen es sein – nach der Zahl der Aeltesten der Stämme Israels), die im Sanct-Peter die Messe um Erlangung des Heiligen Geistes für die Neuwahl hören, die Decke der demüthig gesenkten Häupter gelüftet würde! ... Nun ziehen sie feierlich in den Quirinal und finden da die wunderlichsten Holzverschläge für sich hergerichtet ... Schon haben tagelang die Maurer alle Thore des Palastes außer einem einzigen vermauert, schon sind mindestens zweihundert Fenster in ihren Fugen mit Kalk und Mörtel verstrichen ... Die vierzig oder funfzig anwesenden Wähler leben ohne frische Luft, wie ebenso viel Mönche, und so lange abgesperrt von der Welt, bis der Geist der Erleuchtung zum Siege, zur richtigen Stimmenzahl geholfen hat ... Sie leben in schnellgezimmerten, auf die langen Corridore verpflanzten Zellen, die aussehen, wie Meßbuden ... Jede hat ein kleines Fenster auf den Corridor ... Die unbequeme Lage ist peinlich und unterstützt die Neigung, einig zu werden ... Haß und Abneigung schwinden mit dem Druck der Entbehrungen ... Fefelotti's Pracht- und Bequemlichkeitsliebe, eingesperrt in einen solchen weihnachtlichen Hirtenstall! Fefelotti ohne die Hülfsmittel – nur allein seiner Toilette! ... Der einzige Cardinal Vincente Ambrosi und einige Ordensgenerale mochten wenig den Unterschied von ihrer gewohnten Lebensweise spüren ...

An dem Hauptthor, gegenüber den Rossen des Monte-Cavallo, sind vier Oeffnungen mit Drehrädern angebracht, durch welche die Speisen eingeschoben werden ... Die Massen des Tag und Nacht ringslagernden Volkes sehen es wohl – Fefelotti entbehrt kein einziges seiner Leibgerichte; die verdeckte Tragbahre verbreitet den köstlichsten Duft ... Aber der seither Allmächtige muß sich gefallen lassen, daß ein mit der polizeilichen Controle des Conclaves seit Jahrhunderten betrauter Fürst Chigi jede Pastete mit eigener Hand aufschneidet und sich überzeugt, ob sie im Füllsel nichts Geschriebenes enthält, keinen Brief vom Staatskanzler des Kaisers von Oesterreich, keine Mahnung aus Frankreich oder Spanien, kein Billet einer Verehrerin, die auf dem Corso Francesco angstklopfenden Herzens wohnt und Mittel und Wege sucht, mit den heiligen Holzverschlägen in Verbindung zu bleiben und die Stimmen zu addiren, ja von außen her den Cardinalbischof von Ostia mit dem Cardinalgeneral der Kapuziner, den Cardinaldiakon der Santa-Maria in Via Lata mit dem Cardinalpriester von Santa-Maria della Pace zu versöhnen ... Hülfe, Hülfe – durch die fremden, noch nicht angekommenen Cardinäle! schrieb Fefelotti in einer mit der Gräfin Sarzana verabredeten Chiffreschrift, die aus Compotkirschkernen, Geflügelknöchelchen und andern Resten seiner Mahlzeit bestand ... Die Antworten ertheilte ihm die Gräfin und manche andere seiner Angehörigen unter der Etikette jener Weine, die ihm nicht vorenthalten werden durften ... Fürst Chigi betrachtete jede Flasche am Lichte, ob sich nicht im Burgunder vielleicht unterm Kork ein verdächtiges Telegramm befand – die Etiketten abzureißen unterließ sein Mitleid mit einem Manne, der nicht einerlei Wein genießen konnte und ohne Etikette vielleicht die Sorten verwechselte – ...

Anfänglich hatte der gottselige, heiligstrenge Sinn des Hüters der Katakomben und Reliquien, des Cardinals Vincente Ambrosi, des geheimnißvollen Flüchtlings vor dem Eremiten von Castellungo, des Beichtvaters der kleinen Olympia Maldachini, des Gefangenen im Kerker des heiligen Bartholomäus von Saluzzo und des dem Erzbischof von Coni seit sieben Jahren innigstverbundenen Freundes die allermeisten Hoffnungen ... Aber eigenthümlich, wie selbst die Frommsten und Trefflichsten unter den heiligen Wählern nicht ganz der Meinung leben, daß der zu Wählende ein durchgreifender Reformator sein müsse ... Man wollte denen, die nur einen politischen Kopf, einen Lenker des Kirchenstaats, einen Politiker im Geist der Cabinete Neapels und Modenas begehrten, ebenso wenig das Feld räumen, wie einer kleinen Anzahl, die überzeugt war, es müßte ein Freund der neuen politischen Ideen, der Hoffnungen Italiens gewählt werden ... Die Verwirrung wurde die größte ... Darin aber waren alle, jetzt wie immer, einig, daß der Stellvertreter Christi ein Mittelwesen zwischen Hart und Weich, zwischen Strenge und Milde sein müßte – Nicht zu heilig und nicht zu weltlich –! Nil humani a me alienum! die Losung ... Fefelotti täuschte sich indessen gründlich ... Bei jedem Scrutinium schmolz seine Stimmenzahl ... Auf die besten Freunde war kein Verlaß mehr ... Fefelotti legte sich ins Bett, um durch Abwesenheit zu schrecken; dann, als dies Mittel fehl schlug, erklärte er sich für in Wahrheit krank, so krank, daß man ihn nach Hause tragen sollte – nach der Praxis früherer Wahlen war das eine erwägenswerthe Empfehlung – denn um so schneller machte er einem Nachfolger Platz ... Vergebens – Die Cardinäle lachten – Fefelotti regierte draußen die katholische Christenheit, aber nicht mehr fünf Stimmen im Conclave und er bedurfte zwei Drittel aller Stimmen! ...

Seit sieben Jahren war Cardinal Vincente Ambrosi aus seiner früher im Mönchsgewand so passiven Rolle mit überraschender Energie herausgetreten ... Er hatte die Hoffnungen aller seiner Protectoren getäuscht ... Schon vor sieben Jahren hatte der junge Cardinal mit Entschiedenheit Bonaventura's Partei genommen und diesem kurz vor Lucindens Einsegnung in der Apostelkirche mit unverhohlener Freude die Botschaft einer Genugthuung gebracht, die ihm der Heilige Vater mit Einsetzung auf Fefelotti's verlassenen Hirtensitz schenkte ... Ambrosi, nun schon graulockig, aber immer noch der »Ganymed unter den Cardinälen« genannt, trat bei allen Gelegenheiten hervor, wo irgendein Misbrauch abgestellt oder wenigstens öffentlich gerügt wurde ... Er sowol wie der Erzbischof von Coni, dann ein neuer General der Dominicaner, auch der General der Theatiner und mehre erste Pfarrer Roms, galten für muthige Kämpfer gegen die Herrschaft der Jesuiten ... Nachdem noch selbst Cardinal Ceccone gegen sie gestritten hatte, war mit Fefelotti Schule, Haus, Kirche, diesseitiges und jenseitiges Leben dem Al-Gesù gebunden in die Hände gegeben worden ... Man trug zwar ruhig, man beugte sich dem Joch Fefelotti's, das schwerer noch drückte, als das Ceccone's; im Conclave aber hörte plötzlich alle Verstellung auf ... Da zitterten die Mächtigen, da erhoben sich die Schwachen ... Nehmt Ambrosi oder – mich! donnerte der lange weißbärtige, kahlköpfige General der Kapuziner, ein mit kaustischem Witz begabter Greis ... Sich selbst zu empfehlen, seine eigenen Tugenden zu preisen ist im Conclave durchaus erlaubt ... Das wispert dann nachts auf den langen Corridoren ... Da schleichen die schlaflosen Greise von Thür zu Thür; da wird geflüstert und hoch und theuer geschworen und Vortheile werden versprochen und die Stimmen schon für künftige Aemter und Einnahmen ver- und erkauft ... Ambrosi hatte bereits zwanzig Stimmen und bot sie dem General der Kapuziner ... Darüber gerieth das Conclave in Entsetzen ... Der? hieß es. Ein neuer Sixtus V., der Rädern und Köpfen zur Tagesordnung macht! Nimmermehr! scholl es durch die Bretterwände und verdrießlich legte sich nun auch dieser Alte ins Bett und brummte: Wählt wen ihr wollt! ... Als er sich bald in sein Schicksal gefunden hatte, pochte der General der Dominicaner, der die Jesuiten über alles haßte, an seine Thür und bat: Bruder, wollt Ihr denn das Feld verlassen? Wählen wir doch wenigstens einen, der uns vom Al-Gesù befreit! ... Der alte Kapuziner erwiderte: Ihr seht ja, wie sie ihm alle verkauft sind! Aber ihr habt Recht! Wollen wir nicht ganz erliegen, schlagt eine Tabula rasa vor, einen Menschen, von dem bisher nichts gesprochen wurde! Einen Menschen, der unter uns ist und den Niemand kennt! Geht alle Namen durch und von wem ihr nicht wißt, ob er Jesuit oder Carbonaro oder Theologe oder Heide ist, den ruft durch Inspiration aus! ... Das Ausrufen durch Inspiration ist eine eigenthümliche Wahlmethode; mitten im Debattiren, Beten, Singen springt plötzlich ein Inspirirter auf und ruft: N.N. soll es sein! ... Diese an Luft, Bewegung, ihre häusliche Ordnung gewöhnten Greise sind durch ihr gefangenes Beisammenleben und die stete Spannung dann so nervenerregt, daß solche Rufe zuweilen Erfolg hatten und unter Scenen krankhafter Verzückung Wahlen durch Acclamation zu Stande kamen ...

Der Kapuziner kannte selbst keine solche Tabula rasa ... Aber General Lanfranco kannte eine ... Es gab einen der jüngern Cardinäle, der während aller dieser nun schon mehrtägigen Kämpfe der eingesperrten Priester wenig gesprochen hatte und als Erzbischof aus der Provinz den meisten unbekannt geblieben war ... Jeder dieser Gepurpurten hatte schon eine lange Chronik seines Lebens, der heilige Cardinal der Katakomben die allbekannteste – ... Von diesem aber wußte man nur, daß er einem Grafengeschlecht in einer kleinen Stadt an der nördlichen Meeresküste, dem Schauplatz der Thaten Grizzifalcone's, angehörte, in seiner Jugend an dem Uebel der fallenden Sucht gelitten hatte, darum sowol vom Eintritt bei der päpstlichen Nobelgarde, wie anfangs vom Priesterstande abgewiesen wurde, dann in die besondere Pflege vornehmer Frauen gerieth und durch deren Betrieb endlich auch zum Priesteramte zugelassen wurde. Durch das Gebet der Fürstin Colonna verlor er jene Krankheit ... Vollends verlor er sie durch eine Seereise, eine Reise nach Amerika ... Zurückgekehrt erklomm er eine Würde nach der andern und um Rom hatte er sich als Erzbischof von Spoleto das besondere Verdienst erworben, daß er einen Revolutionshaufen unter Anführung Louis Napoleon's durch Zahlung von 6000 Scudi an den Freund desselben, Sebregondi, von ihrem Marsch auf Rom zurückgehalten haben soll 1831....

Der Erwählte fiel in Ohnmacht, als auf begeisterte Empfehlung Ambrosi's und der beiden Generale aus dem Scrutinium mit der vollen Stimmenzahl sein Name hervorging ... Beinahe hätte sich gezeigt, daß das Gebet der Fürstin Colonna und die Seereise noch nicht die volle Wirkung erlangt hatten ... Alle mußte es rühren, daß, nachdem man sich zugeflüstert hatte, in der ewigen Stadt wäre einst ein Jüngling verzweifelnd am Strande der Tiber auf- und niedergegangen in der Absicht sich in die Wogen zu stürzen – Militär und Klerus hatten ihn um sein bemitleidenswerthes Körperleiden abgewiesen – nun das Schicksal in dieser selben Stadt die dreifache Krone auf sein Haupt hob! ... Der Erwählte erholte sich in den Armen Ambrosi's und der Ordensgenerale; man legte ihm die Kleider seiner neuen Würde an und nannte ihn der Welt und zeigte ihn den Völkern ...

Dem Stuhl Petri, sagt man, naht sein Verhängniß ... Diesmal erst hatte ihn ein Anhänger jener Partei bestiegen, die damals in Bertinazzi's Loge vom Kohlenbrenner – es war Pater Ventura – die der Phantasten genannt wurde ... Durch den Patriarchen von Rom sollte vorerst nur Italien erlöst und die katholische Christenheit über das allen Völkern ihre Freiheit raubende Wirken der Jesuiten beruhigt werden ... Liebenswürdig ist der Eindruck jedes guten und gläubigen Willens ... Wie im rosigen Lichte schwimmt noch jede auf ihn gesetzte Hoffnung ... Will sie scheitern, so müht sich die edle Absicht, ihr den Sieg zu erleichtern, wirft aus dem zu schweren Fahrzeug Ballast über Ballast, will nur das Glück, nur den Erfolg, nur den Sieg, den ewigen Sonnenschein ... Umrauscht vom jauchzenden Zuruf der Völker hebt sich dann die Brust und wagt und wagt und wofür sonst jeder Wille gefehlt haben würde, doch wird es vollzogen; Vertrauen heißt die Hand, die den Zagenden weiter und weiter führt; schon kann er das Läuten der Glocken, die Freudenfeuer, die donnernden Salven der Geschütze, das tausendstimmige Hoch der Liebe nicht mehr entbehren ... Der neue Zauberer vollzog das Verhängniß eines Wunderthäters von größerer Macht, der über die Geschicke der Menschen thront ... In der That brachte nach Italien die erste Botschaft vom Evangelium der Freiheit – ein Papst ...

Doch es war und blieb – eine phantastische Wahl! ... Ein junger Student, ein Graf, ein neugekleideter Priester hatte einst auf dem Marktplatz zu Sinigaglia nachts seine Predigten gehalten, unter freiem Sternenhimmel umgeben von erleuchteten, mit Tausenden von Menschen geschmückten Fenstern, an einem improvisirten Altar, auf dem im Augenblick, wo in poetischen Bildern von seinem beredten Munde das Fegefeuer geschildert wurde, eine große Schale von Spiritus angezündet wurde, sodaß hoch die blaue Flamme aufschlug und den Platz, die Fenster, das Antlitz aller Hörer geisterhaft beleuchtete Préliminaires de la Question Romaine. London 1860.... Nun aber schlugen freilich andere Flammen auf ... Erst wurden die Kerker geöffnet, die Verbannten zurückgerufen ... Bertinazzi hatte bis dahin auf der Engelsburg geschmachtet; er wurde im Triumph durch die Straßen gezogen ... Die wenigen, die sich damals, als Benno gefangen genommen wurde, durch eine Versenkung retteten – Graf Sarzana hatte zu ihnen gehört, Benno hatte sich in dem Leichenbruder nicht geirrt – waren größtenteils nach England geflüchtet und kehrten nun zurück ... Auch Sarzana, der, wie man sagte, »aus Misverständniß« der Mörder Ceccone's geworden, kehrte heim – Benno dachte oft an sein stilles Tibergespräch mit dem Unheimlichen »über die misverständlichen Morde zur Cholerazeit« – ... Die Herzogin von Amarillas, die Fürstin Rucca, auch Cäsar Montalto kamen von London ... Rom war überfüllt mit Fremden, mit Flüchtlingen, Enthusiasten ... Die Freudenbezeugungen, die Feste, die Ovationen nahmen kein Ende ... Waren es doch – – die Theaterflammen vom Markte zu Sinigaglia –? ...

Anfangs machten sich die Ereignisse von selbst ... Es gibt Zeiten, die ohne Hinzuthun von Menschenwitz nur die Additionen der Vergangenheit sind ... Das Anathem, das über so vieles bisher geschleudert worden, wurde ihm jetzt von selbst zum Segen ... Nicht blos die Eisenbahnen wurden von dem Bann der Gottlosigkeit, der auf ihnen ruhen sollte, befreit, nicht blos die von Rom als Teufelswerk verworfene Gasbeleuchtung; nicht blos die »materiellen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts«, wie Thiebold mit Satisfaction sagte, wurden anerkannt ... Pater Ventura – General der Theatiner – predigte und entflammte das Volk auf offener Straße mit noch viel weiter greifenden Aufklärungen über die neue Zeit ... Im Coliseum, wie Klingsohr einst verlangt hatte, sprach Ventura's flammende Beredsamkeit und erläuterte den Römern, was ihrer geringen Bildung zu begreifen fast noch versagt war ... Ein Fuhrmann aus Trastevere, Brunetti, der jene Schenke liebte, wo Benno damals den Orvieto getrunken, ein Freund des Wirths, dessen Weinkeller mit dem Bertinazzi's in Verbindung stand und damals die Flucht eines Theils der Verschworenen ermöglichte, Retter des »Kohlenbrenners«, des Grafen Terenzio Mamiani, des Advocaten Pietro Renzi, die alle bei Bertinazzi zum »jungen Italien« geschworen hatten, schwang sich auf seinen zweirädrigen Karren und wurde ein so beliebter Volksredner, daß sein Ruf als »kleiner Cicero« (Ciceruacchio) durch die Welt erscholl ... Freisinnige innere Reformen wurden versucht ... Der alte Rucca, ohnehin entsetzt über die Rückkehr seiner Schwiegertochter aus London, wo sie fast das ganze Vermögen ihres Onkels, des Cardinals, vergeudet hatte, verlor die Pacht her Zölle, die ihm Fefelotti bereits für den ganzen Kirchenstaat verschafft hatte ... Der Schrecken und der Widerspruch der Cardinäle, die Besorgniß der Gesandten wurde durch vorsichtige Allocutionen niedergehalten ... Die Amnestie fand ihre unbeschränkte Ausführung ... Aus Beethoven's »Fidelio« kennt ihr jene rührenden Züge von Staatsgefangenen – Schaaren, zerlumpt, verhungert, hohläugig, gingen so aus den überfüllten Kerkern hervor ... Das Volk holte sie im Triumph, hob sie auf Wagen, schmückte und bekränzte sie ... Bürgerwachen wurden gebildet ... Ja eine Aussicht auf eine Repräsentativverfassung zeigte sich, als eines Morgens ein Decret die Vorstände der Provinzen aufforderte, Männer des öffentlichen Vertrauens zu bezeichnen, die die Regierung in den nothwendigen Reformen des Kirchenstaats durch Rath und That unterstützen sollten ... Die Bewegung griff weiter und weiter ... In der That bewährte sich, wie noch die Welt durch Rom getragen und regiert wird ... Mit dem, wie sonst im Schlechten, so hier im Guten sich gleichbleibenden Zauber Roms griff die Bewegung über Italien hinaus, stürzte den Julithron, rief in Frankreich die Republik hervor, brach die Knechtschaft Deutschlands, verjagte den Staatskanzler, entfesselte alle Völker, die in unnatürlicher Zusammenkoppelung zu dynastischen Zwecken mit Aufgebung ihrer eigenen Nationalität um so weniger länger leben mochten, als gerade die zunehmende Förderung der Volksbildung an nichts anderes zunächst angeknüpft hatte, als an die Erhebung des Sinns für Sprache, Geschichte, eigenthümliche Volkslebensart ... Auch Dalschefski und der nunmehr ganz zusammengegangene, mumienhaft vertrocknete Luigi Biancchi kamen vom Spielberg herunter und Resi Kuchelmeister weinte in ihren Armen ... Auch sie gingen nach Rom, wo aus London Marco Biancchi eintraf – Napoleone blieb bei seinen Gipsfiguren, bei seiner Giuseppina, seinen Kindern und Ersparnissen in Deutschland und ohnehin war er mit seiner Tochter Porzia Hedemann gespannt. Sie hatte sich nicht bereit finden lassen, in Witoborn ein Depot für seine Heiligen zu übernehmen ... Da aber bangte dem nächtlichen Schwärmer vom Marktplatz zu Sinigaglia – ... Die blaue Theaterflamme war ihm wider Willen zu einem Fegefeuer schon hienieden für Gut und Böse geworden ...

Größer und größer wurde der Druck der Mahnungen von Fürsten und Staatsmännern auf den Träger der dreifachen Krone ... Immer weiter griff der Zwiespalt im geheimen Consistorium ... Fefelotti, das Al-Gesù, dessen Bewohner sich beim ersten Anbruch der großen Veränderungen geflüchtet hatten (die jesuitischen Rundhüte sind seitdem ganz in Italien abgeschafft und eckige geworden wie die Hüte aller andern Priester), alle Vertreter des geistigen und weltlichen Despotismus suchten den dreifach gekrönten Schwärmer zur Besinnung zu bringen ... In der That stutzte er ... Seine Wonne war zu sehr nur die äußere Acclamation gewesen ... Diese blieb schon zuweilen aus; der tausendstimmige Mund des Volks schwieg zuweilen bei seinen Segnungen und solche Kränkungen wurzeln im Gemüth eines Mannes, der, wie alle Italiener, den Beifall liebt ... Schon schmollte er zuweilen ... Er fand Freunde und Freundinnen, die sein Schmollen für gerecht nahmen ... Noch nannte er seine Erfahrungen die gewöhnlichen Belohnungen des Undanks ... Mit der Zeit vergrößerte sich die Zahl derjenigen, die mit ihm nicht gern in der Minorität standen ... Endlich sollte gar sein kleines Heer zu den Kämpfern stoßen, die Oesterreich gegenüber mit den Waffen behaupten wollten, was bisher nur in Liedern gesungen, in Declamationen gesprochen worden ... Da fing die Hand, die die Fahnen zum Unabhängigkeitskriege segnen sollte, zu zittern an ... Die Zeit der Dictatoren, der Consuln und Tribunen Roms mit dem ganzen Gefolge der Demüthigungen des geistlichen Primats schien im Anzuge ... Nun rief der Heilige Vater vom Balcon des Quirinal herab: »Gewisse Rufe, die nicht vom Volke, sondern von wenigen herrühren, kann ich, darf ich, will ich nicht hören!« ...

Es sanken die Fahnen der Erhebung Italiens gegen Oesterreich ... Die von Sardinien erhobenen Banner mit dem weißen Malteserkreuz zersplitterten ... Das »Schwert Italiens« brach in Stücke ... Das hatt' ich nimmermehr gewollt! erklärte der Zauberer aller dieser Stürme; Prospero, der Beherrscher der Winde, ging zum Sieger über ... Er dachte noch nicht wieder an Fefelotti, den er haßte; noch bot eine starke Hand, die den Nachen Petri retten sollte, Pellegrino Rossi ... Als dieser vom Dolch eines Mörders durchbohrt, der Vatican von einer Revolution belagert wurde, Kugeln in die Gemächer des Stellvertreters Christi flogen – da verkleidete sich der Ueberwundene in den Diener eines deutschen Grafen, täuschte seine Wächter und überließ die ewige Stadt ihrem Verhängniß, den Sie gern, den Bertinazzis, Venturas, Sarzanas, allen denen, die auf Crucifix, Todtenkopf und Rosenkranz geschworen hatten für eine Sache, der sie jetzt auf dem Capitol als Rächer saßen – Sarzana, das wußte jetzt alle Welt, hatte an Ceccone die geheiligte Rache eines Italieners geübt ...

Rom war eine Republik geworden und stand unter dem Bann der kirchlichen Excommunication ... Die Stadt selbst kümmerte die Ungnade des Himmels wenig; – in einem mit Priestern und Mönchen überfüllten Lande fanden sich Hände genug, die die nothwendigsten Sacramente ertheilten ... Das »Schwert Italiens« rüstete sich am Fuß der Alpen zu einem zweiten Gange ... Viele Flüchtlinge der Staaten, wo die frühere Ordnung schon wiederhergestellt war, strömten nach Rom ... Cäsar von Montalto – Italiener geworden – nach manchem bittern Seelenkampfe – nun schon mit ergrauendem Haar, fehlte nicht unter denen, deren Namen bei Wahlversammlungen und Ehrenämtern auftauchten ...

Alles das verlautete nach und nach bis zum Genfersee – dann aber nach Nizza hin, wohin man von Schloß Bex in der That übersiedelte ...

Monika hätte sich anfangs selbst in diese Bewegung stürzen mögen ... So vieles sah sie, was, bei aller Uebereinstimmung, doch noch, nach ihrer Meinung, anders, besonnener, vorsichtiger hätte unternommen sein können ... Jener Trieb, der 1793 eine Manon Roland in den Rath der Männer und aufs Schaffot führte, regt sich in großen Krisen bei jeder Frau von Geist – und keine große Begebenheit der Geschichte ist ohne die Mitwirkung der Frauen geblieben ... Aber die Besorgniß um den Gatten, die Rücksicht auf den dahinsiechenden Hedemann, die Gewöhnung an die biblischen Auffassungen der Ergebung in den Rathschluß Gottes hinderten die Ausführung der sich anfangs wirr durchkreuzenden Entschlüsse, die zuletzt nur am Ziel einer Entäußerung des Schlosses Bex anlangten ...

Als die Franzosen der Republik gegen die Republik Rom zogen, sah die Familie von Nizzas Molo aus die leuchtenden Segel ihrer Flotte ...

Nizzas mildes Klima war für den Winter dem leidenden Freunde von einigem Nutzen gewesen ... Der Oberst und Monika verschlangen die Zeitungen des Café Royal ... Armgart hatte sich dem Zeichnen und Malen ergeben und hörte aus der Welt nur das Allernothwendigste ... Sie wohnten in einem Gartenhause, nicht weit vom Ufer des Meeres ... Tag und Nacht vernahmen sie den gleichmäßigen Schlag der Wogen an das Gemäuer der Meerterrasse ... Einen Winter gab es hier nicht ... Selbst im Januar konnte Armgart im Freien, unter dem immergrünen Laub von Lebenseichen ihre kleinen Landschaftsskizzen ausführen, während Erdmuthe, Porzia's Kind, um sie her auf den mit zerbröckeltem Marmorkalk bestreuten Wegen zwischen den buchsbaumumfriedigten Beeten des kleinen Ziergartens sich tummelte ... Armgart hörte, daß in Rom drei Männer das Heft in Händen hielten, Terschka's früherer Beschützer, nach dem Untergang der Bandiera entschiedenster Gegner Mazzini, mit ihm Saffi und Armellini ... Graf Sarzana befehligte einen Theil des Heeres ... Oft wurde Cäsar Montalto genannt – einmal als Befehlshaber einer Truppenabtheilung, die in den Umgebungen Porto d'Ascolis eine Gegenrevolution unterdrückte; die Räuberelemente wurden noch immer benutzt, um den gestürzten Machthabern als Anhalt zu dienen und an andern Orten wurde, eine Veranstaltung derselben Intrigue, der Fanatismus bis zur Schreckensherrschaft gesteigert – Opfer über Opfer fielen dann unter den Dolchen dieser wahnsinnig Gemachten oder Erkauften ... Alles das waren bekannte Stratageme aus dem geheimen, allerdings ungeschriebenen, aber praktisch vorhandenen Codex der Monita secreta Loyola's ...

In diese Schrecken der aufgeregten Leidenschaft donnerten nun die Kanonen der Belagerung Roms ... Die Höhe, bis zu der die Bewegung durch Rom gekommen, sollte selbst in den Augen der französischen Republik aufhören, die sich schon für den Uebergang zum Kaiserreich rüstete ... Wir kommen als Freunde! riefen die Abgeordneten der Franzosen – aber Rom antwortete durch eine Rüstung zum Kampf auf Leben und Tod ... Avezzana, Garibaldi, Sarzana befehligten ... Der Kampf entbrannte an der Porta San-Pancrazio zu einer Schlacht ... Die Römer siegten ... Die Franzosen, ohne Enthusiasmus für ihre Aufgabe, zogen sich zurück ... Vom Norden kamen die Heersäulen Oesterreichs, vom Süden die des Königs von Neapel ... Spanier landeten und die Franzosen erhielten Verstärkung ... Vergebens rief das römische Triumvirat: »Ein fester Zug waltet im Herzen des römischen Volkes: der Haß gegen die Priesterherrschaft, unter welcher Form sie auch auftrete, der Widerwille gegen die weltliche Herrschaft der Päpste!« Note an Lesseps vom 16. Mai 1849.... Der Kampf entbrannte aufs neue ... Die Franzosen nahmen die Villa Pamfili und die Villa Corsini ... Garibaldi stürzte sich mit seiner italienischen Legion auf die letztere und ließ sie wieder im Sturm angreifen ... Drei Stunden der äußersten Anstrengung und es gelang, die Franzosen von den Wällen zu vertreiben, zwölfhundert Todte bedeckten das Feld; wieder war der Sieg den Belagerten geblieben ... Aber die Uebermacht war zu groß; nicht endender Kanonendonner verwirrte die Gemüther; glühende Bomben flogen bei Tag und bei Nacht, die Luft war ein Feuermeer; unter Schrecken, die dem entsetzten Volk dem Weltuntergang gleichzukommen schienen, ließen sich über Rauch und Trümmern die ersten Franzosen in der Stadt sehen ... Am 2. Juli empfing Oudinot die Capitulation ...

Noch vor diesem Tage, während sich das blutige Schauspiel des untergehenden republikanischen Roms vollzog, hatte sich die Aufregung der Gemüther nicht länger in Nizza beruhigen können ... Der Aufenthalt daselbst war ohnehin im Sommer zu widerrathen. Trockene scharfe Winde wehen von den Alpen her, die Luft ist heiß, spärlich die Erquickung des Schattens, der kreidige Boden setzt einen dem Athem beschwerlichen beizenden Staub ab – die kleine Colonie suchte sich durch Ausflüge in die Berge zu helfen, suchte die kühleren, von einer üppigen Vegetation geschmückten Schluchten der Cimiés auf – aber das Steigen ermüdete Hedemann ... Blieb er auch meist daheim und athmete die Blumendüfte zahlloser Gärten, wo allabendlich Tausende von Orangeblüten frisch gebrochen in die Fabriken künstlicher Duftgewässer getragen werden – alles das, was man von Schönheit und Wohlbehagen als Grund zum Bleiben sich einredete, half zuletzt nichts, um die große Vereinsamung der Gemüther zu verbergen ... Nun schrieben Paula und ihr Gatte von Gräfin Erdmuthens zunehmender Schwäche, von einer bedenklichen Erkrankung, bevorstehender Auflösung, vom dringendsten Verlangen der Gräfin, sie alle noch einmal zu sehen – nun beschloß man, die bisher aufrechterhaltenen Ueberzeugungen über die Schwierigkeit dieser Begegnungen, alle Gründe dieses gegenseitigen langen Vermeidens zu durchbrechen und die Reise anzutreten ... Paula war von ihrem magnetischen Leben befreit ... Was die Nähe des Erzbischofs nicht mehr hervorrief, konnte doch wol nicht mehr der Oberst wecken ...

Zu den Beweggründen der Reise gesellte sich ein nicht zu unterdrückendes Interesse für Benno von Asselyn ... Bellona's Sichel war in mächtiger Arbeit ... Graf Sarzana befand sich bereits, hieß es, unter den Gefallenen ... Benno's Schicksal wurde selbst in Paula's Briefen für eine gemeinsame Sorge erklärt ... Armgart irrte oft einsam wie die Möve am Meeresstrand ... Entsagt ein Frauenherz, so bildet sich mit den Jahren ein Cultus des Gemüths, der unbewußt die Rechte auf sein Verlorenes übertreibt, ja sich das, was nie besessen und genossen, wie ein wirkliches, ein volles Glück ausmalt ...

Und so erklomm denn jetzt die kleine, aus so eigenthümlichen Elementen bestehende Colonie den Col de Tende ...

Sie alle trugen über die Felsen hinweg eine Welt voll Trauer ... Ihr Innerstes war schwerbeladen und doch schienen sie am Nächsten interessirt ... An Steinen, an Blumen, am Plaudern des Kindes ... Weiß man denn, was von den Fähigkeiten unserer Natur mehr zu hassen ist, die schnelle Gewöhnung an Glück oder die schnelle Gewöhnung an Unglück! ...

Nun ist die Höhe erreicht ... Aber der niederwärtsgehende Weg blieb noch unabsehbar bis zu den grünen prangenden Thälern, die erwartet werden durften ...

Kahle und öde Gesteine ringsum ... Einsame Sennerhütten wechseln mit Holzschuppen, Zufluchtstätten des Wanderers im Wintersturm ... Mächtige Steine müssen an ihnen die Schindelbedachung gegen die Stürme festhalten ... Zwischen Felsen und Wasserstürzen, oft wunderbaren Lichtungen, wo überrascht der Blick bis in die Cottischen Alpen hinüberschweift, zwischen Resten alter Römerbauten und zerbrochenen Schlössern der rauhesten Zeit des Mittelalters hindurch, war dann endlich gegen Mitternacht das Städtchen Limone erreicht ...

Hier überraschte die Reisenden Graf Hugo, der die Aufmerksamkeit gehabt hatte, ihnen entgegenzukommen ... Er kam ohne Paula ... Der alte freundliche, herzliche Ton der Bewillkommnung half sogleich über die lange Reihe von Jahren hinweg, wo man sich nicht gesehen hatte ... Armgart und der Graf sahen sich sogar zum ersten mal – Sie staunten einander an ... Das ist das Große im Menschen – zwei erdgeborene hülflose Wesen können sich betrachten, wie ein nur einmal in der Welt vorhandenes Schauspiel der Natur und wie eine Begebenheit, die so, wie in dieser Erscheinung, nirgend und niemals wiederkehrt ...

Nach einer Versicherung des Grafen, daß die Mutter noch einige Tage leben würde, überließen sich die Ermüdeten dem aufgethürmten Maisstroh in einem Wirthshause, das – in Limone! – den Namen führte »Grand Hôtel de l'Europe« ...

4.

Im Widerspruch mit dem im goldensten Sonnenglanz strahlenden Limone lag am frühen Morgen auf den Mienen der nach so langer Trennung sich Begrüßenden der Ausdruck der Trauer ... Die Ankömmlinge sahen wohl, daß den Grafen gestern nur die Besorgniß, die von seiner Mutter so heißersehnten Freunde möchten nicht mehr rechtzeitig eintreffen, bis nach Limone getrieben hatte, von wo er über den Col Stafetten aussenden wollte, als sie dann endlich ankamen ... In erster Morgendämmerung hatte ein reitender Bote den Wink des Arztes gebracht, daß seine eigene Rückkehr zu beschleunigen war ...

Graf Hugo hatte gealtert ... Sein braunes Lockenhaar war lichter geworden und an vielen Stellen ergraut ... Die stattliche Haltung war der zurückgebliebenen Gewohnheit seines militärischen Standes zuzuschreiben; seiner Stimmung entsprach sie nicht ... An seinen Antworten auf Monika's Bewunderung der entzückenden Gegend sah man, daß Schloß Castellungo ein Ort der Trauer war ... Auch Paula war, erfuhren sie, von Coni, wo sie wohnte, heraufgekommen und harrte ihrer in Castellungo ...

Der italienischen Sitte gemäß, wo Rang und Reichthum ihren äußern Ausdruck finden müssen, fuhr mit dem Reisewagen des Obersten auch ein Staatswagen, ein Viergespann prächtiger Rosse vor und erlaubte die Theilung der Gesellschaft ... Obgleich sich Armgart zum Grafen hingezogen fühlte, blieb sie doch bei den Hedemanns ... Monika, der Oberst, Graf Hugo nahmen die Plätze der offenen großen Equipage ein, die von einem buntgekleideten Kutscher vom Sattel aus geführt wurde ... Zwei Bediente leuchteten in neuen Livreen mit den Dorste'schen Farben ... Man konnte sich nach Westerhof versetzt glauben, wenn die schöne Natur und der blaue Himmel nicht zu sehr an die Glückseligkeit Italiens erinnert hätte ...

Die Gespräche ringsum, schon im Gasthof und im Städtchen, berührten auch die Weltbegebenheiten ... Armgart hatte gehört, daß die Kämpfe in Rom zwar noch fortdauerten, aber schon für die Republik hoffnungslos waren ... An einem geheimen Blick der Aeltern sah sie, daß auch von Benno gesprochen wurde ... Zitternd stand sie, mochte hören und auch nicht – jetzt saß sie abwesend, fast fiebernd, auch in Folge der gestrigen Anstrengung und einer nur kurzen Nachtruhe .... Neben ihr suchte sich Porzia, in den Wonneschauern des Wiedersehens ihrer Heimat, durch ein Durcheinandersprechen zu helfen; sie erklärte, jedes Haus, jede Mühle und grüßte jeden Vorübergehenden, als müßte sie noch von allen gekannt sein ... Erdmuthe langte nach den Früchten, die aus den Gärten blinkten – Armgart nahm sie auf den Schoos, um sie zurückzuhalten ... Dabei schwankte sie doch selbst vor Freude und Bangen in ihrer hochgespannten Brust ...

Nach zweistündiger Fahrt, die unter Kastanien-und Nußbäumen, oft wie unter dem Laubdach eines Parkes dahinging, hielt plötzlich der vorausfahrende Wagen des Grafen ... Eine Biegung des zuweilen von rauschenden Bergwässern unterbrochenen Weges verhinderte noch, die Ursache des Haltens zu entdecken ... Als Armgart's Wagen näher gekommen war, sah sie unter einer Pflanzung von Eichen, die am Wege auf einer grünen Böschung standen, eine Gruppe sich herzlich Bewillkommnender ... Eine Dame, die, vom blauen Sonnenäther sich abhebend, hingegeben in den Armen des Vaters und der Mutter lag und doch zugleich mit einem weißen Tuch in die Ferne wehte, um die noch Zurückgebliebenen schon zu begrüßen, konnte wol nur Paula sein ...

Im ersten Augenblick hätte Armgart laut rufen und alle ihre krampfhaft zusammengedrängten Empfindungen in einem Schrei lösen mögen ... Ihr Wagen flog jetzt dahin und hielt ... Der Schlag wurde geöffnet; sie schwebte, sie wußte nicht wie ... Paula lag überwältigt in ihren Armen und senkte ihr Haupt auf die Schultern der athemlosen Freundin ...

Daß beide weinten, trotz der Freude – lag es nur allein im Hinblick auf die Sterbende in Castellungo? ... Angenommen wurde es ... Ihr krampfhaftes, in kurzen Sätzen erfolgendes Schluchzen, das beiden ihre Empfindungen erleichterte, sagte wol mehr ...

Ein dritter Wagen, mit dem nun noch Paula gekommen war, nahm diese und Armgart allein auf ... Sie wollten für sich und hinter allen zurückbleiben ... Die andern, dabei eine Italienerin, Begleiterin Paula's, fuhren voraus ... Nun erst begrüßten sich die Freundinnen ganz so, wie sie es für sich allein bedurften; nun erst sahen sie, was sie inzwischen geworden – sie spiegelten sich in ihren thränenblinkenden Augen ... Paula trug keine Locken mehr ... Sie bot vollkommen das Bild einer Dreißigjährigen ... Sie war noch nicht verblüht, hatte aber Linien des Grams auf ihrer Stirn und um den Mund jene Einschnitte, die nicht mehr weichen wollen ... Ein leichter, mit blauen Florentinerblumen geschmückter Strohhut umrahmte ihr edles Antlitz ... Die Freundinnen prüften sich fort und fort, Auge in Auge ... Wer beide beobachtete, konnte zweifelnd bleiben: Sind das zwei Jungfrauen oder zwei Witwen? ...

Das also das Land deiner Verheißungen! ... Das das Land – deiner Träume ... begann Armgart sich nun erst findend und in der immer paradiesischeren Gegend umblickend – ...

Der Bediente war auf die andern Wägen geschickt worden ... Der Kutscher hatte mit seinen Rossen zu thun ... Die Freundinnen konnten annehmen, daß sie allein waren ...

Seit ich hier bin, träum' ich schon lange nicht mehr, erwiderte Paula ... Ich sehe irdisch wie alle ... Die Luft dieser Berge ist gesund ... Du und die Aeltern, alle müßt ihr nun bei uns bleiben ... Mein Gatte – sagt' er es nicht schon? – sehnt sich freilich in die Welt zurück ... Der Kriegslärm lockt ihn schon lange, um wieder in die Armee zu treten ... Aber – ihr bleibt ...

Die Beziehung zu dem Lande hier war im Kriegssturm gewiß die bitterste und schwerste? unterbrach Armgart ...

Die Mutter glich alles aus – erwiderte Paula ... Sie war – so hochverehrt ... War! ... O, daß ihr zu solcher Trauer kommt! ...

Und auch wir bringen Leid ... Der arme Hedemann! ...

Paula war voll herzlichsten Antheils ... Die Freundinnen sprachen wehmuthbewegt von Westerhof, Witoborn, vom Stift Heiligenkreuz ... Neuigkeiten gab es genug ... Vom Erzbischof von Coni war noch nicht die Rede – nur von Coni selbst, wo Paula wohnte ...

Coni ist zwölf Miglien von hier ... sagte sie und bediente sich der italienischen Bezeichnung für eine Entfernung, die Armgart auf drei deutsche Meilen zu deuten wußte ... So weit lag etwa von Heiligenkreuz Schloß Neuhof entfernt ... Jedes Wort, das die Freundinnen wechselten, weckte heilige Erinnerungen ...

Paula deutete auf einen zur Linken sich erhebenden grünen Hügel, auf den sich terrassenförmig ein Stationsweg hinaufschlängelte und oben eine kleine Kirche malerisch vom blauen Hintergrunde abhob ...

Die Kapelle der »besten Maria!« erklärte Paula der den landschaftlichen Reizen schon als Künstlerin lauschen den Freundin ...

Diese konnte in einem Augenblick, wo sie schon soviel trübe mit dem Religionszwiespalt zusammenhängende Verhältnisse theurer Angehöriger besprochen hatten, in dieser Hindeutung auf die »beste Maria« nur einen Anlaß finden, an das unsichtbare und ohne Bild verehrte Princip der schmerzverklärten weiblichen Liebe überhaupt zu denken ... Sie faltete die Hände und sagte:

Das also der Altar, wo die Cocons gesegnet wurden, die dein Brautkleid werden sollten! ...

Paula erröthete ...

Armgart hielt eine Lobrede auf den Grafen, rühmte den Eindruck, den er mache, seine Natürlichkeit, seine Trauer um die Mutter ...

Er ist gut! bezeugte Paula ...

Das der beste Schmuck eines Mannes! entgegnete Armgart mit Andeutung ihrer eigenen trüben Lebenserfahrung ...

Nun schwiegen die Freundinnen ... Was sie fühlten, verstanden sie ja ... Ihr Briefwechsel hatte nichts von ihren tiefern Lebenslagen verschleiert, wenn sie auch nicht in Allem gleicher Meinung waren ...

Die Zahl der Wegwanderer, der Fahrenden, Reiter mehrte sich inzwischen ... Obgleich die Embleme des katholischen Cultus nicht fehlten, bemerkte doch Armgart Landleute, die einen eigenen Ausdruck der Mienen hatten und der ihr aus Lausanne und Genf bekannt war ... Sie forschte für sich nach Waldensern – nach der ganzen Sehnsucht Hedemann's und ihrer Aeltern ...

Ein Städtchen kam mit einer mächtigen, dem Ort kaum angemessenen Kathedrale ... Eine hochgewölbte Kuppel ragte weit über das ganze Städtchen hinweg ...

Das ist Robillante! sagte Paula ...

Armgart's Augen fanden schon von selbst vor dem Thor der Stadt das bischöfliche Kapitel ... Ein mächtiges Gebäude im Jesuitenstyl, die Kirche daneben mit Kuppel und schnörkelhafter Façade ... Die Kirche hatte ein Glockenspiel und intonirte soeben mit kurzem Ansatz den Schlag der zehnten Stunde, dem dann ein Musikstück, wie eine Galopade, folgte ...

Das war nun in Italien nicht anders ... Bonaventura hatte hier als Bischof, erzählte Paula, die Melodie geändert ... Sein Nachfolger hatte wieder die Tänze zurückgeführt ...

Mit dieser kurzen Erwähnung waren denn auch jene Kämpfe angedeutet, die der fremde Eindringling auf diesem Boden zu bestehen hatte ... Im letzten Revolutionssturm hatten sie nachgelassen ... Jetzt, nach Piemonts Demüthigung, begannen sie wieder ... Auch gegen die neue, in Turin im Bau begriffene Waldenserkirche hatte der neue Bischof von Robillante energischen Protest erlassen ...

Armgart's Phantasie hatte inzwischen Spielraum, sich auszumalen, wie dort Bonaventura in dem von ehrerbietig grüßenden Priestern umstandenen, nicht endenden Palaste wohnte und wie auch einst Benno und Thiebold hinter jenen stattlichen Fenstern mit den Balconen und grünen Jalousieen dort von ihm aufgenommen wurden – ...

Die Stadt selbst wurde umfahren ... Wieder glänzte im Sonnenschein Berg und Flur ... Nur die vielen, um der Seidenwürmer willen entlaubten Maulbeerbäume störten den malerischen Eindruck ... Wieder folgten die Grüße von Landleuten, die auf Armgart einen schweizerischen Eindruck machten ...

Waldenser! bestätigte auch Paula ... Wohlhabende Leute darunter ... Dank der Fürsorge der Mutter ... Unsere Gemeinde hier ist nur klein – ... Die Mehrzahl wohnt dort oben ... In den Thälern um Pignerol sind ihrer Tausende ...

Schon suchte Armgart's Auge nach Castellungo ... Viele Schlösser gab es, die auf den grünen Hügeln, den Vorbergen hinterwärts aufstarrender schrofferer Felswände, leuchteten ... Paula deutete auf einen schimmernden Punkt in weiter Ferne – eine unter einem tiefdunkeln Waldkranz hervorragende Flagge ...

So krank die Mutter ist, sagte sie, hat sie zu eurem Empfang das Aufziehen aller Fahnen befohlen ... Auch eure Farben und die der Hardenbergs werdet ihr finden ... Bei hohen Festen sind alle Zinnen damit geschmückt ... Bald wird die schwarze Trauerfahne wehen ...

Das Gespräch kam auf die Waldenser zurück und Paula sprach von ihnen, ohne das mindeste Zeichen der Abneigung ... Alle diese Verhältnisse umschlang hier schon lange das gemeinsame Band der Schonung und Familienrücksicht ... Eine Frage wie die: Wird wol Graf Hugo nach dem Tode seiner Mutter katholisch werden? kam nicht von Armgart's Lippen; edle Bildung scheut nichts mehr, als das Aussprechen des Namenlosen; sie läßt das Misliche an sich kommen, ohne es zu rufen ... Wie Paula, ihr Gatte und der priesterliche Freund in Coni zusammenlebten, wußte ja Armgart seit Jahren aus dem Briefwechsel der Freundin ... Sie kannte, was hier im Herzen edler Menschen möglich, freilich auch nach der Anschauung ihrer Mutter und der Mutter des Grafen ein sprechender Beweis für die tiefe Verwerflichkeit der katholischen Kirche war ...

Um dieser Schonung ihres Verhältnisses zu Bonaventura willen berührte auch noch Paula nichts, was zum Unaussprechlichen in Armgart's Seele gehörte ... Seitdem Benno ein Opfer der Dankbarkeit für Olympia geworden, hatte er aufgehört, für diese ohnehin im Politischen nicht mit dem herrschenden Zeitgeist gehenden Kreise anders, als in den Bildern alter Zeit zu existiren ... Der Graf hatte schon in Limone seine alte Anhänglichkeit an Oesterreich zu erkennen gegeben ... Die Gegend würde ihn, sagte er, in dieser anarchischen Zeit mit dem feindseligsten Mistrauen betrachtet haben, wäre die Mutter nicht so hochverehrt ... Paula verschwieg nun auch nicht, daß sie alle anfangs dem Ruf des Erzbischofs geschadet hätten ... Armgart erkannte an allem, was sie so abgebrochen hörte, daß nach dem Tode der Gräfin irgendeine große Entschließung im Werke war ... Der Tod Sarzana's wurde von Paula bestätigt ... Von Lucinde, von Cäsar von Montalto hatte man keine Nachricht ...

Im Austausch der durch alle diese Namen und Verhältnisse hervorgerufenen Empfindungen entdeckte man endlich die deutlichen Umrisse des sich allmählich als Beherrscher eines dichtbevölkerten Thals und einer kleinen Ortschaft erhebenden, aber mehr den Bergen zugelegenen Schlosses ... Wohl konnte Armgart begreifen, wie sich Graf Hugo's Vater mit diesem Prachtgebäude hatte in Schulden stürzen müssen ... Castellungo gehörte der Gräfin, aber ihr Gatte hatte beigetragen, es weit über ihre Mittel zu einem leuchtenden Mittelpunkt der reizenden Landschaft zu erheben – es war der einzige Adelssitz, der hier noch an die Zeiten der gebrochenen Burgen der Tenda und Saluzzo erinnern konnte ... Thürme erhoben sich mit gezackten Zinnen, mit Altanen, freischwebenden luftigen Brücken – alles hätte, ohne den düstern Flor, der auf dem Ganzen lag, einen um so anziehenderen Aufenthalt verheißen können, als die Reize der Natur, wie ihm schmeichelnd, sich rings um den mächtigen Bau lehnten ... Eine üppige Fruchtbarkeit, gute, freundliche Menschen, die ihre Wohnungen bis weit hinauf über die Berggelände hatten, alles das machte den wohlthuendsten Eindruck ...

Wie schmerzlich, daß die Diener, die den auf dem bequemsten Schlängelpfade bis zum Schloß anfahrenden Wägen entgegeneilten, schon in ihren Mienen die angebrochene letzte Stunde der Gräfin berichteten ...

Hedemann, nach dem die Sterbende ein besonderes Verlangen trug, stand schon an der Eingangspforte unter den mächtigen Wappenschildern von Marmor und sah sich in der weiten schönen Gegend und in den blumengeschmückten Höfen des Schlosses mit einem Blick um, als wollte er sagen: Hier wirst auch du dein letztes Lager finden! ...

Eilends stiegen alle aus ... Bangklopfenden Herzens folgte man dem Grafen, der Monika den Arm bot ... Paula wurde vom Obersten geführt, der sich noch scheute, sich ihr zu sehr zu nähern ... Aber Paula's gen Himmel erhobener Blick schien den Dank aussprechen zu wollen, daß sich ihr Leben schon lange unter die allgemeinen Bedingungen der Natur gestellt hätte ... Fest klammerte sie sich an den ihr sympathischen Mann – den Vater ihrer geliebten, so langentbehrten Armgart ... Auch der Mutter warf sie nur Blicke der Liebe und Versöhnung zu ...

Der Aufgang, das Treppenhaus, alles gab sich in hohem Grade würdig ... Decken lagen ausgebreitet auf Marmor und Granit ... Die Diener gingen leise auf und ab in reicher Zahl ... Die alte Gräfin hielt auf den Glanz ihres Hauses; zumal, seitdem die frühere Entbehrung geschwunden ... Ordnung und Sauberkeit waltete auf allen Gängen ... Die steigende Mittagshitze verlor sich in Schatten und Kühle ... Im Schmuck der dann betretenen hohen, luftigen und hellen Zimmer herrschte ein gewählter Geschmack ... Graf Hugo's Liebhaberei waren schon in Salem kunstvolle Möbel und gediegene Einrichtungen ... Schon in Limone deutete er dem Obersten an, daß ihn Langeweile nie beschlichen hätte – zu thun gäb' es bei großem Besitz immer und oft fehle ihm die Zeit, alles allein zu besorgen – Schloß Salem war unverkauft geblieben und seit diesen zehn Jahren jährlich von ihm auf einige Wochen besucht worden ... Für die Ankömmlinge, die er gern für immer gefesselt hätte, war ein ganzer Flügel des Schlosses eingerichtet ... In einem hellleuchtenden, säulengeschmückten Saale stand dann eine von Silber und Krystall glänzende, gedeckte Tafel ... Hier fanden sich alle Schloßbewohner beisammen ... Und wohl sah man, daß der Todesengel waltete ... An einer hohen, schwarzen, reich mit Holzschnittarbeit gezierten Thür standen weinende Frauen ... Einige davon erkannten sogleich von alten Zeiten her Porzia und begrüßten sie ... Auch Monika und Armgart fanden Bekannte, jene aus Wien, diese aus London ... Inzwischen öffnete der Graf jene schwarze Thür und bedeutete die Freunde ihm zu folgen ... In einem Vorzimmer sollten alle so lange verweilen, bis er die Mutter auf die endliche Ankunft derselben vorbereitet hätte ...

Von einem würdigen Manne in schwarzer Kleidung, der ein Prediger schien, wurden zuerst der Oberst und Monika allein hereingerufen ... Paula schloß sich ihnen an ...

Nach einer Weile rief Paula auch Armgart herein ...

Dann durften Hedemann und Porzia und mit ihnen das kleine Pathenkind kommen ...

In einem grünverhangenen Eckzimmer lag auf einem Rollsessel ausgestreckt die Mutter des Grafen, schon einem ausgelebten Körper ähnlich ... Ihre knöchernen Hände hatte sie auf der gepolsterten Lehne des Sessels liegen ... Sie fühlte wol kaum noch die Küsse, die die um sie her Stehenden oder Knieenden auf die kalten Finger drückten ... Porzia schluchzte laut – die andern schwiegen ehrfurchtsvoll, wenn auch ihre Augen voll Thränen standen ...

Gräfin Erdmuthe winkte, daß niemand wieder hinaus gehen sollte; sie wollte sie alle in ihrer Nähe behalten ... Die Augen lagen tief in ihren Höhlen ... Doch erkannte sie jeden ... Lichtstrahlen der Freude, daß sie Menschen, die ihr zu allen Zeiten so werth gewesen, noch einmal sehen konnte, brachen unverkennbar aus ihren, schon halb erstarrten Zügen ...

Wo gehst du denn hin? sprach die kleine Erdmuthe, da die Gräfin ihre Rede mit einem mehrmaligen: »Ich gehe –« begonnen hatte ...

In einen schönen – Garten –! ... antwortete die Sterbende mühsam jede Sylbe betonend ...

Wol in den, in den auch der Vater geht? ... fragte das Kind und wurde um dieser Fragen willen leise von Porzia weggezogen ...

Aber die Gräfin langte nach ihrem Pathchen und wehrte allen, ihm sein zutraulich Fragen zu verbieten ...

Hedemann stand hinter dem Stuhl der Sterbenden und verrieth sein Leiden durch seinen Husten ... Die Gräfin hatte ihn mit besonderer Theilnahme begrüßt ... Da sie ihm nun, sich nach ihm wendend, zuflüsterte: »Ei – du – frommer – und – getreuer Knecht!« fiel er, das Wort des Kindes bestätigend, ein: »Gehe ein zu deines Herrn Freude!« ...

Eine Pause trat ein, unterbrochen vom Weinen Porzia's, auch jetzt vom Weinen des erschreckten Kindes ...

Als es stiller geworden, winkte die Matrone dem Obersten, der ihr in Witoborn und Westerhof immer einen so vortheilhaften Eindruck gemacht hatte und dem sie schon aus Reue über ihre Absicht, Monika mit Terschka zu vermählen, besonders ergeben war, und sprach mit ihm ... Es währte lange, bis der Oberst verstand, was sie wollte ...

Wie ist es – mit – Rom? verstand er endlich ...

Er nannte ihr mit scharfbetonten Worten die gegenwärtige Sachlage des Kampfes ... Der Sieg der Franzosen wäre, sagte er, so gut wie entschieden ...

Sie überlegte lange, was gesprochen worden ...

Monika errieth ihren Gedankengang und half dem Aussprechen desselben nach ... Dieser Sieg, sagte sie dicht am Ohr der Gräfin, wird noch einmal die Herrschaft des Heiligen Vaters wieder zurückführen – bis – einst – ...

Die Gräfin verfiel in einen röchelnden Husten, ergänzte aber, als der krampfhafte Anfall vorüber war, mit einer überraschenden Kraft: Bis einst die wahren Streiter kommen ... Das ist das Lamm auf dem Berge – und mit ihm hundert – und vierzigtausend ohne andere – Waffen – als – ...

Nun versagte die Stimme der Gräfin und Hedemann und Monika fielen ergänzend ein:

Als – den Namen des Herrn ...

Den Namen des Herrn aus Monika's Munde zu vernehmen schien der Gräfin außerordentlich wohlzuthun ... Sie hatte früher an ihr den »rechten Grund« vermißt, wußte nun aber aus Briefen schon lange, um wie viel die jüngere Freundin ihr näher gerückt war ...

Der Sohn trat heran, um die Erregung der Mutter zu beschwichtigen ...

Die Mutter hielt seine Hand fest und sah ihm mit weitgeöffneten Augen ins Antlitz ...

Warum läuten die Glocken? ... fragte sie ihn feierlich ...

Es klangen keine Glocken ... Nur im Nebenzimmer regte sich der Arzt, der hochberühmte Doctor Savelli aus Coni, der mit einem Glase näher trat, an dem nur so der silberne Löffel erklang ...

Die Mutter hörte wol diesen Klang und deutete ihn auf das Läuten von Glocken und starrte wie ins Leere ...

Nimm, Mutter! sprach der Graf mit liebevoller Bitte und reichte ihr selbst das Glas dar, das kräftig und würzig duftete ... Es war die letzte Stärkung eines von seinen Lebensgeistern immer mehr Verlassenen – edler Tokayerwein ...

Die Mutter betrachtete das Glas und erkannte wohl, daß das dargereichte Getränk Tokayer war ... In ihrem Ideengang unterbrochen, sah sie den Sohn mit einem schmelzenden Liebesblick an ... Nun zog sie ihn näher und heftete die Augen auf ein gerade vor ihr befindliches lebensgroßes Bild, das den Vater Hugo's in Generalsuniform darstellte ... Der Sohn verstand ihre Empfindungen ... In Ungarn hatten ja er und der Vater gestanden ... Er trocknete den Schweiß vom kalten Antlitz der immer mehr sich Aufregenden ...

Hinter dem Arzt trat der Mann hervor, der alle anfangs empfangen hatte ... Es war der Geistliche, der »Barbe« des jenseits des Waldes, der sich hinter dem Schloßgarten erhob, gelegenen Waldenserdorfes, ein Herr Baldasseroni ... Er hatte bisher für sich in Diodati's italienischer Bibel gelesen ...

Die Mutter sah zu ihm hinüber, langte nach der Bibel, ließ sie sich auf den Schoos legen und setzte mit zitternden Händen das Glas mit dem Tokayerwein darauf ... An seinem Inhalt, deutete sie an, wollte sie sich nach und nach erquicken ... So sitzend hielt sie lange des Sohnes Hand ...

Sie wiederholte aber, daß sie Glocken hörte, und murmelte, das Ohr gegen das Fenster richtend:

Glocken haben die Armen ja nicht – und keine Thürme ... Nimm nicht die Glocke – von Federigo's – Hütte ... hörst du, mein Sohn? ...

Der Graf nickte mit einer Miene, die fast vorwurfsvoll war ... Er that, als traute sie ihm Unwürdiges zu ...

Dann winkte sie Monika und Armgart, daß auch sie näher treten sollten ... Beide nannte sie Du und langte nach Monika's Locken, streichelte ihr auch die thränenfeuchte Wange und legte ihre und Armgart's Hände ineinander ... Dabei sprach sie langsam jenen ihren Lieblingsvers, der sie einst mit dem deutschen Fremdling verbunden hatte:

Wenn alle untreu werden,

So bleib' ich dir doch treu,

Daß Dankbarkeit auf Erden

Nicht ausgestorben sei – ...

Wieder trat eine Pause ein – jene Stille, die man den Engel nennt, der durchs Zimmer geht ...

Die Kleine verscheuchte ihn ... Da sie den Ernst der Scene störte, so duldete jetzt die Leidende, daß Armgart und Porzia das Kind den Dienern im Nebenzimmer zuführte ...

Die Sterbende starrte wie tief innenwärts und hörte nur ihre Glocken ... Sie war so abwesend, daß man sanft das Glas mit der Bibel von ihrem Schoose fortnehmen konnte, ohne daß sie es bemerkte ...

Ein großes Wasser – sprach sie dann in abgerissenen Sätzen, wird gehen und ein Donner wird ertönen – lass' – die Glocke unberührt – Zum Gericht – des Herrn – Schwöre mir's, mein Sohn, auch – wenn – du dem Thiere folgst – ...

Mutter –! rief der Graf voll äußersten Schmerzes – und vielleicht weniger über den Verdacht, daß er seinen Glauben ändern könnte, als über die Sorgen, von denen sich die Mutter noch in ihrer letzten Stunde beunruhigen ließ ...

Die Hochaufgerichtete fühlte den Stachel ihrer Worte in – Paula's Herzen nach ... Diese stand bescheiden hinter ihrem Sessel und beugte trauernd ihr lichtblondes Haupt auf die hohe schwarze Sammetlehne ... Jetzt zog sie ihr Gatte näher und Paula kniete nieder ...

Die Mutter gab ihr ein Zeichen versöhnlicher Gesinnung durch eine Aeußerung, die nur der Graf und die näher Eingeweihten als eine solche verstehen konnten ... Sie tastete nach dem Buche, das man weggenommen ... Als Baldasseroni es ihr wiedergeben wollte, sagte sie:

No! No! Signore! ... La Nobla – Leyçon ...

Der »Barbe« ging in das dunklere Nebengemach und brachte ein altes kleines Pergamentbändchen, in welchem er blätterte ...

Sie –! ... sprach die Gräfin und deutete auf ihre Schwiegertochter ...

Mit erstickter Stimme, vor der Sterbenden knieend, las Paula in einer seltsamen Sprache aus diesem Buche vor ... Es war kein Italienisch und kein Französisch, doch eine wohllautende Sprache ... Man hörte Reime ... Monika, Armgart und der Oberst glaubten das Patois von Nizza zu erkennen ...

Paula las allmählich mit Begeisterung ... Sie nur und Graf Hugo begriffen, wie die Mutter gerade in dieser Zumuthung, ihr aus der Nobla Leyçon vorzulesen, eine Versöhnung mit Bonaventura aussprach, den die Mutter mit unausrottbaren Gefühlen des Mistrauens verfolgte – trotz der damals alles für seine Stellung aufs Spiel setzenden Verwendung desselben für den in Neapel verschollenen Frâ Federigo, trotz seines zehnjährigen Kampfes gegen Lug und Trug im hierarchischen Leben um ihn her – sie konnte eben nur die ihrem Sohn abgewandte Seele seiner Gattin festhalten, deren Kinderlosigkeit, die unmoralischen Consequenzen im römischen Priesterleben, endlich die mögliche Gefahr, daß ihr Sohn nach ihrem Tode übertrat und den mystischen Bund, der hier zwischen drei Personen waltete, immer noch enger und enger schließen half ...

Die Nobla Leyçon ist das älteste in provençalischer Sprache geschriebene Gedicht der Waldenser ... Niemand verstand einst die provençalische Sprache so vollkommen und so rein und wußte den umwohnenden Waldensern ihre alten, sämmtlich in der Sprache der Troubadours geschriebenen Werke so zu übersetzen und zu erläutern wie Federigo, der diese Sprache kannte, noch ehe er von der Sekte der Waldenser wußte ... Auch Bonaventura, immer von den Erinnerungen und Sorgen um seinen Vater geleitet, auch in seinem Interesse für die Blüten der alten Kirchenpoesie, kannte diese alte Mundart und Paula erlernte sie in Coni ihm zu Liebe ... Daß nun die Mutter im Stande war, sich von ihr noch zum letzten mal aus diesem Buche, einem für Paula allerdings ketzerischen, vorlesen zu lassen, war ein Act der Liebe, der Versöhnung, ein Gruß an den Erzbischof ... Ihre Aufforderung gab auch Paula wahrhaft Schwingen ... Sie las so laut die schönen wohlklingenden Verse, als wollte sie sagen: Im Geist rufst du nun ja auch noch Bonaventura an dein Lager und versöhnst dich mit dem edelsten der Menschen! ...

Als Paula bis zu den Worten gekommen war:

»Intrate in la sancta maison!«

blickte sie auf ...

Die Mutter schien entschlummert ... Paula erhob sich ...

Aber auch die Sterbende hob die Augen, sah eine Weile, als wäre sie abwesend, starr um sich und sprach:

»Ich bin – der Weg – die Wahrheit und das Leben – niemand kommt – zum Vater, denn durch mich!« ...

Das sahen alle, sie verweilte in den Erinnerungen an die Hütte jenes Einsiedlers, den sie so wahrhaft verehrt und lieb gehabt und von dem sie seit seiner Entweichung nichts mehr vernommen, als, in einem einzigen Abschiedsbriefe für dies Leben, die Bitte an jeden, der ihm Gutes erwiesen und noch erweisen wollte, nie, aber auch nie mehr nach ihm zu forschen ...

Intrate in la sancta maison! ... wiederholte sie mit einem Aufblick gen Himmel ...

Monika und Armgart, die das noch im Nebenzimmer plaudernde Kind nun ganz entfernt hatten, gingen hin und wieder ...

Immer stiller wurde es – still wie schon im Grabe ... Jeder hielt den Athem zurück ... Da noch einmal streckte die Sterbende die Hände aus und flüsterte mit dem Hohenliede, sicher in Anregung ihres Gedächtnisses durch Armgart's Abbildung der im Herzen Gottes als befiederte Kreuze aufsteigenden Seelen:

»Hätt' – ich – Taubenflügel!« ...

Mit diesen Worten sank sie, von Schmerzen überwältigt und nach Erlösung ringend, zurück ... Lange noch wehrte sie Bilder ab, die sie beängstigten ... Ihre Stimme blieb erstickt ... Ihre Hände sanken erstarrt ... An ihrem geöffnet stehenbleibenden Munde traten kleine Schaumbläschen hervor ... Sie war noch nicht ganz todt, aber schon zeigte ihr Antlitz jene herbe Strenge, die unsern Gesichtszügen der Tod verleiht ...

Der Arzt, der Geistliche traten eilends näher ... Leise begab sich alles aus dem Zimmer und trat in den Saal zurück, während die Sterbende auf ihrem Lehnsessel von Dienern unter Hugo's Leitung sanft zurückgerollt wurde in die dunkleren Nebenzimmer ...

»Ach, hätt' ich Taubenflügel!« ... wiederholte Hedemann ...

Auch ihm erklang dies letzte Scheidewort der edlen Frau wie der Ruf nach Erlösung von den Schmerzen, die auf seiner kranken Brust lasteten ...

Im Saale, in welchen alle zurückkehrten, brach die Theilnahme in ihrer ganzen bisher zurückgehaltenen Macht aus ... Die Frauen schluchzten ... Auch die Männer traten bei Seite ... Monika trat bald zum Gatten, bald zu Hedemann, der am Fenster saß und Weib und Kind liebevoll an sich gezogen hatte ...

Es war dann ein Trauermahl, das in dem schönen Raume genommen wurde ... Unsere menschliche Natur erscheint uns nie geringer, wird nie von uns unlieber befriedigt, als wenn unsere himmelentstammte Seele aufjammern möchte vor Schmerz und doch unser Leben und Sein unter dem Druck des physischen Erdenverhängnisses steht ...

Noch ehe das Mahl, dessen stärkende Wirkung alle bedurften, zu Ende war, wurde dem Grafen heimlich eine Botschaft überbracht, die ihn bestimmte, sofort aufzuspringen und sich zu entfernen ...

Alle folgten ihm erschreckt ...

Der Bote sagte, die Gräfin hätte vollendet ...

Bebend folgte man dem Grafen ... Paula vor allen, deren Brust von so vielen Schmerzen durchwühlt wurde, deren Gründe sich von den Andern wol ahnen ließen ... In ernsten Krisen erkannte sie, wie sehr der Graf zu lieben war ...

Der Arzt und der Geistliche lüfteten die Vorhänge des Schlafzimmers ... Der schöne sonnenhelle Tag schien herein und beleuchtete die Züge der Entschlafenen ... Sie hatte, hörte man, noch versucht, die Worte nachzusprechen, die über ihrem Bett unter ein Bild des ihr verwandten Dichters Novalis-Hardenberg geschrieben waren:

»Und wenn Du Ihm dein Herz gegeben,

So ist auch Seines ewig dein!« ...

Da stockte die Zunge wie gelähmt ... Sie hatte ausgehaucht ...

Nun läuteten in der That fernher die Glocken ... Die ehernen Zungen eines andern Bekenntnisses waren es ... Auch Gesänge mischten sich ein, dicht in der Nähe ... Diese galten der Entschlafenen ... Ein Chor von Kindern stimmte ein geistliches Lied unter ihren Fenstern an ... Regelmäßig an jedem Nachmittag hatte sich die Gräfin von den Kindern der Waldensergemeinde, die vom Gebirg herunterkamen, diese Erquickung erbeten – der Pfarrer erklärte dies den Hörern ...

Jetzt kam auch ein Herr Giorgio, der sogenannte Moderatore oder Kirchenvorstand der kleinen Colonie und brachte zu aller Erstaunen eine Schrift, die die Gräfin in seine Hand gelegt hatte mit dem Bedeuten, sie erst ihrem Sohne zu zeigen, unmittelbar wenn sie die Augen geschlossen hätte ...

Der Graf erbrach das unversehrte Siegel, las und theilte die Wünsche der Mutter den Umstehenden mit ...

Sie hatte befohlen, erst in der kleinen Kirche des Schlosses ausgestellt, dann aber in der Kirche der Waldenser und nicht in der Schloßkirche begraben zu werden ...

Der Graf erkannte, daß dieser Bitte die Voraussetzung zum Grunde lag, er würde Castellungo nicht behalten ... Aufregungen, wie sie mit dem Aussprechen und Erörtern dieser Voraussetzung verbunden sein konnten, hatten sie jedenfalls bestimmt, ihm ihr Verlangen nur schriftlich auszusprechen ...

Porzia ließ sich nicht nehmen, die Leiche zu entkleiden, Hedemann nicht, den Katafalk zu ordnen, dem noch für denselben Abend im Betsaal des Schlosses jeder nahen durfte, der der Abgeschiedenen seine letzte Ehrfurcht bezeugen wollte ...

Es kamen ihrer von nah und fern ... Der Betsaal drückte die ganze Geschichte und Richtung der Gräfin aus – schon an den Bildern, die rings an den Wänden hingen ... Der tapfere Heinrich Arnaud in kriegerischer Tracht ... Bischof Scipione Ricci, der die Souveränetät der Concilien gelehrt hat und vom römischen Stuhl als Lutheraner verdammt wurde ... Graf Guicciardini, der kürzlich in Florenz Protestant geworden ... Der Engländer Oberst Beckwith, der sein ganzes Vermögen den Waldensern schenkte ... Der mächtigste Beistand der Gräfin, Friedrich Wilhelm III. von Preußen, hatte unter den Porträts den ersten Platz ...

Die Reisenden richteten sich inzwischen in den für sie vorbereiteten Zimmern ein ... Mit einer eigenthümlich bedingten Theilnahme beobachteten sie, wie eifrig Graf Hugo bemüht war, den Erzbischof in Coni noch vor Anbruch des Abends über das Ableben seiner Mutter mit Angabe aller Einzelheiten in Kenntniß zu setzen ... Ja er zeigte erst Paula den Brief und diese fügte noch die mehrmalige Aeußerung um die Glocke jenes Eremiten hinzu, um den sich Bonaventura so verdient gemacht ... Ueber Paula's Lesen aus der Nobla Leyçon hatte schon Graf Hugo geschrieben ...

Paula schien in der That erkräftigt und gesund ... Sie ertrug den lange und voll Rührung auf ihr ruhenden Blick und die unmittelbare Nähe des Obersten, ohne die Befürchtungen zu bestätigen, die man so lange Jahre über diese Wiederbegegnung gehegt hatte ... Monika sagte: Fast scheint es, als wäre eine Kraft über sie gekommen, die sie früher nicht gekannt hat – die Kraft des Willens ...

Armgart trauerte ...

Ob darüber, daß unter denen, auf deren Leben ein letzter Segen und eine letzte versöhnte Erinnerung hier zurückgeblieben war, ein einziger ausgestoßen und unberücksichtigt blieb – Benno von Asselyn? ...

Oder über ein unausgesprochenes, ersichtlich vorhandenes Leid der Freundin, ihres Gatten und des hohen Geistlichen in Coni – ein Leid, das schon mit gesteigerter Offenheit von ihrer Mutter als ein unerlaubt unnatürliches verworfen wurde? ...

Oder endlich über den Heimgang ihres »Großmütterchens« nur allein? ...

Der Aufenthalt in Castellungo hatte jedenfalls erschütternd und bedeutungsvoll begonnen ...

5.

Nach Beisetzung der Gräfin in der von ihr selbst erbauten, oberhalb Castellungo's in den Bergen liegenden Kirche der Waldenser, einer Feierlichkeit, zu der aus den Bergen und aus der Tiefe des Thals auch die Rechtgläubigen, Jung und Alt, herbeiströmten, aus den Thälern von Saluzzo und Pignerol, wo die Waldenser in Masse wohnen, von allen Gemeinden die »Barben«, »Evangelisten«, »Moderatoren« – nach diesem Tage hätten nun ruhigere Stunden eintreten können, wenn nicht die politische Welt die Aufregung wach erhalten und nun auch Hedemann's Abschied vom Leben sich genähert hätte ... Die Freude am Tod war bei diesem wieder bereits eine solche, daß er sich in seinen Gebeten Vorwürfe machte, ihn zu eifrig zu wünschen ...

Rom war inzwischen gefallen ...

Die letzten Spuren der Revolution wurden in ganz Italien getilgt ... Die ersten Vorzeichen jener Zeit brachen an, die in drei Jahren wieder die Kerker nur des Kirchenstaats allein mit sechstausend Menschen füllen sollte Thatsache.... Fefelotti ergriff jetzt auch noch das weltliche Ruder außer dem geistlichen ... Staat und Kirche gehörten ganz den zurückkehrenden Jesuiten ...

Auch in der kirchlichen Sphäre der Umgegend zeigte sich manche Wiederkehr des Alten ... Die Jesuiten hatten in Coni ein von Fefelotti begünstigtes Collegium besessen, das sie freilich nicht wieder beziehen durften, da Sardiniens Verfassung sie verbannte ... Aber schon war in Schule, Staat und Kirche ihr dennoch geheimwirkender Einfluß bald wieder ersichtlich ... Robillante und Pignerol waren zwei Bischofssitze, die ausdrücklich schon lange durch Männer besetzt wurden, die dem deutschen Eindringling, dem Erzbischof von Coni, wo sie nur konnten, wehren sollten Monsignore Charvaz, Bischof von Pignerol, warf sich Karl Albert von Sardinien zu Füßen, um ihn von seinen Begünstigungen gegen die Waldenser zurückzuhalten....

Der Oberst und Monika konnten inzwischen dem Grafen im Ordnen des Nachlasses seiner Mutter, in Auszahlung einer Menge von Legaten an die Gemeinden der Thäler hier und drüben am Fuß des Monte Viso behülflich sein ... Der Graf war es, der am meisten darauf drängte, daß Paula nach ihrem Wohnhause in Coni zurück sollte ... Armgart wollte sie begleiten ... Wohl, sprach sie ihr dringendstes Bedürfniß aus, den Erzbischof zu begrüßen, der sich, seiner Stellung gemäß, vom Leichenbegängniß der Gräfin hatte entfernt halten müssen ...

Monika, die zwar zu Paula's Heirath dringend gerathen hatte, empfand und tadelte doch, was sie das Anstößige dieser Beziehung nannte, im höchsten Grade ... Hatte sie schon sonst die Partie des Grafen genommen und ihn über das Meiste entschuldigt, was sich seinen jungen Jahren vorwerfen ließ, so erklärte sie vollends mit ihm Mitleid zu fühlen, seitdem sich jenes mystische Dreiblatt gebildet hatte, dem womöglich fern bleiben zu wollen sie sich auf Schloß Bex gelobt hatte ... Nun sah sie dies Verhältniß einer »Standesehe« in nächster Nähe ... Und das sei denn die rechte Höhe, sprach sie schon eines Tages in Paula's Gegenwart, Opfer über Opfer anzunehmen, nur deshalb, weil man wisse, sie würden von schwachen Menschen ohne Murren gebracht ... Ja sie sagte schon zu ihrem Gatten: Der Graf leidet, weil er Paula liebt – und zu Armgart: Auch Paula, scheint es, ringt mit ihrem Herzen, weil sie den Grafen mehr als achten muß ...

Daß Paula und Armgart zum nächstbevorstehenden Bonaventura-Tage in Coni sein und der Celebration der Messe durch den Erzbischof an diesem Tage beiwohnen wollten, konnte Monika nicht hindern ... Doch bekam es Armgart bitter zu hören, warum sie gerade diesen Tag wählen wollten ... Die Mutter sagte, daß sie den Doctor Seraphicus, wie Sanct-Bonaventura in der Vätergeschichte heißt, nicht im mindesten zu jenen Bekennern und Märtyrern zählen könne, die allenfalls auch die Freude evangelischen Sinnes sein dürften ...

Ich schätze den heiligen Bonaventura noch höher, entgegnete Armgart, als die andern Märtyrer, die nur zufällig in den Tod gingen und der Nachwelt nichts von ihrem Leben hinterlassen haben ...

Von ihrem Leben? entgegnete aufwallend die Mutter ... Dieser Johannes von Fidanza ist ja das Prototyp aller katholischen Schwärmer! Dieser heilige Bonaventura hat mit seinem sogenannten Gemüth alles verklären und verschönern wollen, woran wir noch heute leiden ... Was nur immer Gregor und Innocenz aus weltlichen Rücksichten für die Kirche erfunden haben, umgab dieser Italiener mit dem Schein beinahe der Philosophie ... Mariendienst, Cölibat, Entziehung des Kelches – alles, alles, was das Tridentinische Concil später in die todesstarren Formeln gezwängt hat, brachte dieser heilige Bonaventura als Gemüthssehnsucht in Curs, gerade wie auch jetzt wieder mit dem Dogma der ohne Sünde geboren sein sollenden Mutter Gottes geschieht ... Mir ein Räthsel, wie euer Erzbischof zu den Freisinnigen zählen kann, schon in Deutschland unter den Anfechtungen der Fanatiker leiden mußte und immer noch seine Krone, immer noch seinen Krummstab trägt ... Wären solche Männer vor einigen Jahren wahr gewesen und in den Zeiten der Bedrängniß zu uns übergetreten, wie anders stünde es mit der Sache des Lichts und des Evangeliums! ...

Hedemann und der Vater dachten ebenso und sagten das Nämliche ...

Armgart aber stritt schon lange nicht mehr gegen dies stete Verurtheilen, seitdem sie für ihre frühere Behauptung, daß Bonaventura seine Erhöhung weder Lucinden noch Olympien verdankte, kürzlich Recht erhalten hatte. Ihr richtet und richtet, wie ihr's eben versteht! sprach sie damals und verwies auf bessere Erkenntniß der wahren Sachlagen, wenn sie auch leider meist im Leben zu spät käme ... Hier in Castellungo wurde für bestimmt eine schon früher von Paula brieflich ausgesprochene Versicherung wiederholt, daß der aus Robillante gebürtige Cardinal Vincente Ambrosi vor zehn Jahren in Rom der eigentliche Freund und Fürsprecher Bonaventura's gewesen ... Armgart verwies auch jetzt die Ankläger auf die Siege, deren sie sich ja täglich rühmten ... War nicht vor kurzem der vom greisen General der Kapuziner als Dekan der Studien über die römischen Theologen als Examinator gesetzte de Sanctis, Professor der Theologie, Parochus an Maddalena, Beichtvater in den Gefängnissen der römischen Inquisition, von den Jesuiten in seinen wahren Gesinnungen erkannt, gefangen gesetzt worden, entflohen und in Malta zum Protestantismus übergetreten –? 1847.... Wisset ihr, sagte sie mit Ironie, was in Bonaventura's Innern vorgeht und was euch alles vielleicht noch von ihm werden kann? ...

Die hinterlassene Bibliothek der Gräfin war eine Fundgrube der interessantesten Anregungen für Monika, den Obersten und Hedemann ... Auch Baldasseroni und Giorgio waren Männer, die auf Kosten der Gräfin in Genf, Tübingen und Berlin studirt hatten ... Ihr Ton gab sich milde und rücksichtsvoll – sie wußten, was bei ihrer jetzigen Schloßherrschaft zu schonen und zu achten war ... Auch sie gaben dem Erzbischof das Zeugniß, daß allein schon sein persönliches Erscheinen in Rom alle Intriguen hätte entwaffnen müssen und daß er noch täglich diese Macht der Beschämung über seine Gegner übe ...

Ein Glück, daß Armgart's Vater die Schroffheiten der Mutter milderte ... Eine Rechtfertigung der amerikanischen Weise, sich zur Religion zu verhalten, sagte er beim Durchmustern eines Schranks voll Alterthümer und beim Anblick einer kleinen Schaale, die wie eine Tasse aussah, aus der einst Huß den Wein beim Abendmahl dargereicht haben sollte, find' ich in dem Schicksal des Kelches ... Das Trinken aus einem und demselben Gefäß ist vielleicht in der That nur einer Gemeinde möglich, wo sich alles so persönlich nahe steht, wie zur Zeit der Apostel und der ersten Bekenner ... Wo noch der Liebeskuß als Gruß der Verbundenen möglich war, war auch die Ertheilung des Kelches möglich ... Als jedoch die christliche Lehre Staatskirche wurde, als ganze Völker im nächsten besten Flusse getauft werden mußten, mußte vieles von den ersten Satzungen des Glaubens verloren gehen ... Welcher Reiche gab da noch seine Reichthümer hin und warf sie, statt in die Kasse einer ihm befreundeten Gemeinde, in das weite, wüste Meer, des Proletariats! ... Wer setzte noch gern die Lippe an ein Gefäß, aus dem Hunderte und noch dazu zur Zeit der einst so allgemeinen Pest und des Aussatzes tranken! ... Man hat das Christenthum eine Weltreligion genannt; sie ist es auch dem Geiste nach, nicht nach dem Buchstaben ... Wer den apostolischen Anfängen nachgehen will, muß die Freiheit Amerikas wünschen, wo sich jede Form, Gott zu dienen, auf eigene Art befestigen kann ... Geschieht es dort würdelos, so ist nur der Mangel an Bildung schuld ... Unsere Gotteshäuser und die Priester, die in ihnen lehren und Ceremonien abhalten, sollten, wie ich von Ihnen höre – er wandte sich an Baldasseroni – nach dem Ausdruck des Bruders Federigo nur noch Hüter und Wächter des Christenthums sein, gleichsam die Sänger, die Dichter, die Historiker der Kirche – ohne sich den mindesten Eingriff in die Lebens- und Gesellschaftsformen gestatten zu dürfen ...

Solcher Streitigkeiten gab es viele ... Sie konnten zu tagelangen Verstimmungen führen – namentlich wenn Armgart sagte: Ein Einzelner gewonnen ist nichts – Könige, die ohne ihre Krone kommen, sind vollends nichts; die müssen gleich ihre Reiche mit bringen ...

Wieder den heutigen Streit unterbrach Paula's Eintreten ... Schon hatte Armgart musternd unter den waldensischen Schwertern, hussitischen Kelchen, den alten Bibeln, Luther- und Zinzendorf-Ringen gesagt:

Ihr habt doch auch eure Reliquien! ...

Zu einer Erwiderung kam es nicht, da Paula allerlei Geschäfte mitbrachte, die sich auf die sittlichen Zustände der Gegend bezogen ... Seit dieser langen Reihe von Jahren hatte Graf Hugo für sich und Paula den Weg der Zerstreuung eingeschlagen ... Nicht nur beschäftigte er sich und Paula mit einer umsichtigen Pflege der hier so reizenden und reichen Natur, sondern auch mit den Vorkommnissen seiner gesellschaftlichen Beziehungen, mit Aufgaben der Wohlthätigkeit ... Der gute Wille, nützlich sein zu wollen, ist bei gebildeten und gutgearteten Vornehmen immer rege und hier kam ein fast ängstliches Verlangen hinzu, durch solche äußere Werkthätigkeit aus dem Versenken in zu große Innerlichkeit entfliehen zu können ... Monika mußte freilich schon wieder lächeln, wenn sie sah, mit welcher emsigen Umständlichkeit und mit welchem offenbaren Nichtberuf für praktische Bewährungen die junge Schloßherrin, nun die souveräne Gebieterin von Castellungo, die an Glücksgütern gesegnete Herrin von Westerhof, von Schloß Salem, Besitzerin eines Palastes in Coni, ihre unerschöpfliche Wohlthätigkeitsliebe zu einer segensreichen und mit Vorsicht gespendeten zu machen sich mühte, wie sie in die Hütten der Armen trat, momentane Hülfe, aber selten, nach Monika's Meinung, den rechten Rath und die rechte Warnung brachte ... Sie weiß nicht, sagte sie, wie sie sich schon mit ihrer Krone am Giebel der Eingangsthür in solche Hütten den Kopf stößt, vollends, wie sie zuletzt bei solchen Leuten mehr Aufsehen und Schrecken, als Freude, wenn nicht gar Schlimmeres, zuweilen Spott, hinterläßt ... Sie spricht mit diesen Menschen wie ein Buch ... Sie werden sie alle zu Gevatter bitten – Das pflegt noch die nützlichste Folge solcher vornehmen Herablassungen zu sein ...

Da nach dem Wunsch des Grafen, dem gleichfalls solche Herbigkeiten nicht erspart wurden und der dann oft träumerisch von Wien als einem Ausweg aus allen Labyrinthen sprach, der Oberst fürs erste hier als Verwalter wohnen bleiben sollte – auch gegen die winterlichen Verheerungen der Berggewässer sollten Brücken und Wehre gebaut werden – so sammelte auf dem Schlosse schon allabendlich Monika die hervorragenderen Persönlichkeiten der Umgegend zu einem behaglichen Kreise und hatte für diese sichere und feste Einwohnung ganz den Beifall sowol des Grafen wie der gütigen Paula, deren weicher Sinn keiner ihrer Schroffheiten aufbieten konnte ... Die italienische Sitte kennt nicht die deutsche Unterscheidung zwischen den Ständen ... Der größte Theil des umwohnenden Adels war nach deutschem Gesichtspunkt eine wohlhabende Bauernschaft – die Contes und Markeses ritten mit hohen Lederkamaschen über ihre Felder und sprangen nicht selten ab, um bei den Arbeiten mit anzugreifen ... Aeltere Diener gehörten mit zur Familie ... Gemeindevorsteher, Forstwarte, Recheneibeamte sammelten sich allabendlich in den unteren Räumen des Schlosses und selbst der Graf und der Oberst setzten sich manchmal zu ihnen und verschmähten nicht den Trunk aus gemeinschaftlichem Krug ... Einige reiche Seidenweber, die zu den Waldensern gehörten, hatten sich sonst allabendlich auf dem Schlosse im engern Kreise der verstorbenen Gräfin eingefunden; sie blieben auch jetzt nicht aus; um so weniger, als in der That das Benehmen des Grafen die Besorgniß erwecken durfte, die Mutter hätte in seiner Seele recht gelesen. Man sah ihm eine große Unruhe an; man fürchtete allgemein den Verkauf Castellungos, ja sogar seinen Religionsübertritt ... Wenigstens schiene ihm, sagte man, daran zu liegen, nicht allein nach Oesterreich zurückzukehren, sondern nur mit Paula, für die es dann, so offen lag allen das bekannte Verhältniß mit Coni, eine letzte große Entscheidung geben müßte ...

Des österreichischen Grafen vertrauliche Stellung zum Erzbischof hätte dem letztern in den Augen der Italiener schaden müssen, wenn nicht die alte Gräfin so beliebt gewesen wäre und seinerseits auch Bonaventura ein Anhalt aller Freigesinnten ... Schon mit dem Hirtenstab des Bisthums Robillante hatte er gewagt, den Neuerungen Fefelotti's die Spitze zu bieten ... Als er dann zur Verantwortung für die Vorwürfe, die er den Dominicanern wegen Frâ Federigo zu machen gewagt hatte, nach Rom gefordert wurde und statt dort verurtheilt zu werden als Nachfolger Fefelotti's heimkehrte, hatte er den muthigsten Kampf begonnen, den ein Fremder auf diesem gefahrvollen Boden nur wagen konnte ... Dem Colleg San-Ignazio zu Coni entzog er sogleich eine Kirche, auf die die Patres Jesuiten, damals noch nicht verbannt, Ansprüche machten – er setzte bei den Stadtbehörden durch, daß diese ihn in seiner Weigerung unterstützten ... Ein gewöhnliches Hülfsmittel der Jesuiten, das sie bei neuen Niederlassungen, um sich die Herzen der Umwohner zu gewinnen, anwenden, besteht in dem Schein bitterster Armuth, den sie sich geben. Plötzlich erschallt dann durch die Stadt die ängstliche Kunde, die unglücklichen Väter verhungerten hinter ihren Mauern. Nun rennen fanatische Sammler durch die Häuser und rufen um Hülfe. Man bricht fast gewaltsam mit dem gesammelten Gelde, den Speisen, den Kleidungsstücken in das Colleg ein und findet auch in der That die armen Väter beim Gebet – verschmachtet, abgezehrt, vom gezwungenen Fasten fast leblos Vor einiger Zeit so zu Münster in Westfalen geschehen.... Bonaventura bewies jedoch dem Rector Pater Speziano, der dieselbe Komödie aufführte, und dem Magistrat der Stadt, daß das Colleg aus dem Profeßhause in Genua eine regelmäßige Einnahme bezog, die weit über die Einkünfte der sämmtlichen andern Klöster der Stadt zusammengenommen ging ... Den Bischof von Pignerol zwang er, ein höchst gehässiges Institut zu schließen. Man entzog unter allerlei Vorwänden den Waldensern ihre Armenkinder, besonders ihre Waisen, taufte sie schnell nach römischem Ritus und gab sie nicht wieder her ... Jedes uneheliche Kind der Waldenser gehörte an sich schon diesem »Ospizio dei Catecumeni« ... Als vorgekommen war, daß eine Gefallene, um ihr Kind zu behalten, sich auf die höchsten Spitzen des Monte Viso vor den Gensdarmen geflüchtet hatte und Kind und Mutter im Schnee elend umgekommen waren Thatsache., wallte Bonaventura's Zorn so auf, daß er nicht eher ruhte, bis jenes Ospizio geschlossen wurde ... Das Verkommen im Schnee – – gehörte ohnehin zu den erschütterndsten Vorstellungen seines Gemüths und zumal, da seines Freundes, des Cardinals Vincente Ambrosi, Vater, Professor der Mathematik in Robillante (er erfuhr dies zu seiner höchsten Ueberraschung in Rom), eines solchen Todes im Alpenschnee wirklich verstorben war ...

Von Genua aus, wohin sich Gräfin Sarzana begeben hatte, als sie wagte, wieder aus Tageslicht zu kommen von den »Lebendigbegrabenen«, in deren Kloster sie sich geflüchtet hatte nach dem Attentat ihres Mannes auf Ceccone, wurde der Kampf mit den freisinnigen Richtungen Italiens um so erbitterter geführt, als Genua auch für die Pforte der Mazzini'schen Einflüsse und des englischen Ketzerthums galt ... Fefelotti bot alles auf, die weibliche Bundsgenossenschaft der Jesuiten gerade in Genua zu mehren und zu kräftigen ... Ein Orden, der sich offen »Jesuitessen« nannte, »Töchter Loyola's«, gestiftet vor zwei Jahrhunderten, hatte sich nicht erhalten können; Papst Urban VIII. schaffte ihn schon 1631 ab ... Aber unsere Zeit hat diesen Orden erneuert – vorzugsweise in den Damen vom Heiligen Herzen Jesu (Sacré Coeur) ... Sie leiten, schaarenweise von Frankreich kommend, die Erziehung der vornehmen Stände und halten auch außerhalb ihrer Klöster Schulen für die ärmere Klasse; sie sind in weiblicher Sphäre das, was die Väter der Gesellschaft Jesu für die Erziehung in männlicher ... Wo diese Heiligen Schwestern vorangehen, folgen ihnen in noch nicht einer Generation ihre Brüder, die Jesuiten, nach ... Sie bereiten ihnen den Weg; sie wecken in den Familien, bei allen Müttern, Vätern, Kindern, eine solche Sehnsucht nach diesen Rathgebern nicht nur der Seele für ihre jenseitige Bestimmung, sondern des ganzen auch diesseitigen Lebens, daß die Berufung der Väter nicht lange ausbleibt ... Umwälzungen folgen dann in den Familien, in der Gesellschaft ... Der süße Ton der Andacht, verbunden mit den feineren Rücksichten der Geselligkeit und Eleganz, führt dieser Congregation des Sacré Coeur alle jungen weiblichen Herzen zu ... Mütter, oft bereuend, was sie selbst in ihrem Leben verschuldeten, glauben in ihren Töchtern durch so zeitige Fürsorge alles nachholen zu können, was sie an sich selbst versäumten ... So strömte auch in Genua und Turin die weibliche Jugend den Herz-Jesu-Damen zu ... Zweigvereine bildeten sich unter dem Namen der »Dorotheïnerinnen« bei den Frauen, der »Raffaëliner« bei den Männern, der »Leonhardiner« unter den Klerikern ... Die obere Leitung aller dieser weitverzweigten und auf ein System gegenseitiger Ueberwachung (in den lieblichsten Ausdrücken, als: »Bewahre dir den Duft der geistlichen Blume zur einstigen festlichen Ausstellung am Altare!« d.h.: Lebe so, daß es dich nie verdrießen wird, in den Conduitenlisten von andern nach deiner geistlichen Aufführung beurtheilt zu werden!) begründeten Genossenschaften hatten die Superioren der Jesuitenklöster ... Ihnen gehörte das Beichtbedürfniß, Tod und Leben dieser Seelen und ihres ganzen Anhangs ...

Die Stadt, das Land wußten, wie nahe der Erzbischof von Coni wiederum bei den äußersten Gefahren für seine Stellung angekommen war, als die neue Aera der Hoffnungen Italiens anbrach ... Schon vorher war eines Tages Lucinde – sie zählte nun schon dreißig Jahre – in Coni erschienen und hatte, man sprach wenigstens so, dem Erzbischof aus Rom die ernstesten Warnungen gebracht ... Die Leiden, die ihm dieser fast ein Vierteljahr dauernde Aufenthalt Lucindens in Coni zuzog, gehörten seinem Innenleben an und konnten nur von wenigen verstanden werden ... Graf Hugo war es, der die Gräfin Sarzana damals mit Gewalt aus der Gegend vertrieb; er erinnerte sie an Nück und den Mordbrenner Picard ... Hier erst erfuhr die kleine genfer Colonie, daß Lucinde von hier nach einem Abend verschwunden war, wo auf Castellungo im Kreise der alten Gräfin, die sie nur widerstrebend empfangen hatte, die Rede auf den Bruder Hubertus kam, der noch im Silaswalde beim Eremiten Federigo leben sollte ... Man hatte erfahren, daß Hubertus einen der Verräther der Brüder Bandiera entdeckt und in seinem wilden Zornesmuthe gerichtet haben sollte – einen Belgier oder Franzosen, den die Emigration aus London absandte, um von Korfu aus die Bandiera zu unterstützen ... Viele behaupteten – erst jetzt erfuhren dies die alten Bewohner Witoborns – daß dieser Genosse Boccheciampo's Der den Verrath leitete. jener Jan Picard gewesen, der ohne Zweifel den Schloßbrand in Westerhof angelegt und damals spurlos verschwunden war ... Allen schien ein Zusammenhang Lucindens mit diesen Vorgängen erwiesen ... Graf Hugo lehnte die Aufklärungen ab, die von ihm den Freunden gegeben werden konnten ... Man drängte in ihn ... Erst als sogar Terschka's Name als dessen, der jenen Picard der Emigration empfohlen und später Vortheile vom Scheitern der Expedition gezogen haben sollte, mitgenannt wurde, brach man von den dunkeln, Monika, den Obersten und Armgart erschreckenden Vorgängen ab ... Von Gräfin Sarzana sah man wol, daß ihr Muth, ja ihre Keckheit, auf Castellungo zu erscheinen, ihr theuer zu stehen gekommen war ... Paula behandelte sie mit Artigkeit, der Graf aber nur als eine Störerin der Ruhe seines Freundes Bonaventura und die alte Gräfin vollends wandte der Apostatin den Rücken ... Statt ihrer erschien dann die rechte Hand Fefelotti's selbst, Abbate Sturla aus Genua ... Die Welt erzählte sich, daß Sturla's erster Besuch beim deutschen Erzbischof einige Stunden gedauert und bei diesem eine Aufregung hinterlassen hätte, die ihn mehrere Wochen aufs Krankenlager warf ...

Bald nach Sturla's Abreise gingen dunkle Gerüchte von einer neuen Reise des Erzbischofs nach Rom, ja von baldiger Niederlegung seiner hohen Kirchenwürde, von seinem bevorstehenden Eintritt in den Benedictinerorden und seinem Uebergang in ein deutsches Kloster ... Da brach die neue Aera an ... Abbate Sturla, der inzwischen in Turin und Mailand gewesen (auch hier war der Erzbischof ein Deutscher Gaisruck.) und über Coni nach Genua zurückkehren wollte, predigte in Robillante ... Sturla erlaubte sich am Schluß seiner Rede gegen das in wenig Wochen umgewandelte Rom die Wendung: »Laßt uns beten für das Seelenheil des Heiligen Vaters! Laßt uns beten, daß Gott ihn vor dem Schicksal, ein Atheist zu werden, bewahren möge!« Sturla's eigene Worte. Da verlangte Bonaventura, daß der Bischof von Robillante dem Abbate die Kanzel verbot und zeigte den Obern desselben in Genua an, Sturla schiene ihm dem Wahnsinn nahe gekommen und müßte angehalten werden, sich Geistesübungen zu unterwerfen ... Sturla floh mit der wachsenden Bewegung nach Frankreich und Spanien Thatsachen....

Nach einer wilden, an Hoffnungen und ebenso vielen Täuschungen reichen Zeit, wo namentlich Graf Hugo in der größten Aufregung lebte und unter dem Druck seines politischen Doppelverhältnisses bis zu sichtlicher Verzweiflung litt, war Sturla der erste, der in Genua wieder die alten Umtriebe begann ... Noch ehe die Franzosen im Kirchenstaat landeten, erhob schon die Reaction ihr Haupt ... Was sich zwei Jahre wie die Schwalben im Sumpf versteckt gehalten, flog wieder auf ... Die Dorotheïnerinnen hatten sich in Pisa, in der Nähe von Florenz, niedergelassen ... Die Leonhardiner suchten wieder die Priester für das Gelübde der »Ignoranz« zu gewinnen ... Die Raffaëliner waren jene füßliche Bruderschaft, die dem Rosenbunde Schnuphase's entsprach, sich und andere als Blume pflegte und begoß und die kleinen Insekten der Fehler und Sünden, die etwa dem Wuchs der Nachbarblüte gefährlich werden konnten, in Form von Angebereien, letztere in kleine beschriebene Zettel gewickelt, in eine monatlich am Altar aufgestellte Büchse warf ... Diesen Bündnissen gehörte der mächtigste Einfluß auf die politischen Wahlen für Staats- und Gemeindeleben ... Nach Toscana kehrte eine Dynastie zurück, die sich gelobte, ganz nur die Jesuiten walten zu lassen ... Jede Bibel, die in eines Katholiken Hand gefunden wurde, wurde verbrannt ... Pater Speziano wagte aus der Schweiz nach Coni zu schreiben, er würde mit acht Priestern, fünf Scholaren und sieben Laienbrüdern zu San-Ignazio wieder einziehen und getrost das Martyrium des Kerkers erdulden ... Beichtstuhl, Schule, Pensionat, Universität, Oberaufsicht der Nonnenklöster, Missionspredigt, die ganze Richtung vorzugsweise dieses freisinnigen Staates sollte aufs neue zu einem äußersten Kampf den Fehdehandschuh hingeworfen erhalten ... Nun war Rom gefallen und die Einnahme der ewigen Stadt das Signal für die Rückkehr aller alten Positionen Fefelotti's ...

Das Interesse an Ruhe und Ordnung blieb allerdings bei den Possidenti das überwiegende; selbst bei den Waldensern, größtentheils fleißigen und wohlhabenden Bauern ... Verwünschungen genug wurden gegen Garibaldi ausgestoßen, der den nur unnützen Widerstand durch das Sprengen der Tiberbrücken um einige Tage hatte verlängern wollen ... Abendlich las man die Schilderungen aus dem »Monitore Romano«, wie die einrückenden Soldaten zwar mit Zischen und den Rufen: »Nieder mit den Pfaffen! Nieder mit den Fremden!« empfangen wurden; aber das Drama der Befreiung Italiens von äußern und innern Feinden hatte ausgespielt ... Die Vertheidiger Roms hatten den Versuch gemacht, sich nordwärts durchzuschlagen ... Dort kamen ihnen die Colonnen der Oesterreicher entgegen ... Man erstaunte, wie Garibaldi die Trümmer seines kleinen Heeres noch bis nach San-Marino führen konnte, wo dann alles sich auflöste und wohin irgend möglich zu entkommen suchte ...

Die ersten Acte der wiederhergestellten Priesterherrschaft wurden oft besprochen ... Die flüchtigen Jesuiten, hörte man, waren im Al-Gesú wieder eingezogen ... Statt des Monitore kam wieder das alte censurirte »Diario« ... Auch Gräfin Sarzana, las man, kam nach Rom ... In den Todtenlisten, die allmählich bekannt wurden, befand sich ihr Gatte als Gefallener ... Eines Abends wurde unter den Verwundeten auch Cäsar von Montalto genannt ...

Die Gesellschaft befand sich gerade am Vorabend des Bonaventuratages, an dem in erster Morgenfrühe der Graf, Armgart und Paula nach Coni reisen wollten, im großen Speisesaal, als aus den Zeitungen diese Nachricht vorgelesen wurde ... Das Gespräch war bunt durcheinandergegangen ... Einigen Gutsbesitzern der Umgegend, die von Monika's Stellung zur Kirche keine rechte Vorstellung hatten und von Hoffnungen sprachen, die man noch auf Se. Heiligkeit und dessen persönlichen guten Willen setzen dürfte, hatte diese geradezu erwidert: Solche Menschen sollen erst noch geboren werden, die, wenn sie von Natur eitel sind, ertragen, daß man ihnen auch nur eine einzige ihrer gewohnten Huldigungen entzieht ... Solche Naturen schmollen ewig, wie die Koketten, die uns ein Wort über ihren Teint nicht vergeben können ... Von Dem erwarten Sie nichts mehr ...

Paula war wegen Benno's aufgestanden ... Armgart erblaßte sogleich und saß still in sich versunken ... Graf Hugo nahm die Zeitungen, aus denen Baldasseroni vorgelesen hatte und wiederholte voll Schmerz: Also – Cäsar Montalto – verwundet ...

Der Vater, die Mutter sahen auf Armgart ... Paula wollte sich der Freundin hülfreich erweisen; denn langsam erhob sich jetzt Armgart ...

Man konnte zum Glück hinter der Theilnahme für eine Störung, die dem Grafen wurde, die Betroffenheit verbergen ...

Diesem hatte man eben einen Brief überbracht, mit dem Hinzufügen, auf der Terrasse draußen harre der betreffende Herr, der ihn abgegeben, und wünsche den Grafen selbst zu sprechen ...

Graf Hugo hatte die wenigen Zeilen des Billets wieder und wieder überflogen und stand halb auf dem Sprunge, zu gehen, halb kämpfte er mit sich zu bleiben – ob aus Theilnahme für Benno, ob aus Interesse für Armgart, ob vor Erstaunen über den Brief, ließ sich nicht unterscheiden ... Erst auf Paula's an ihn gerichtete Frage, wer so spät ihn noch zu sprechen käme, faßte er einen Entschluß ...

Der sonst so Aufmerksame erwiderte seiner Gattin kein Wort ... Wie abwesend verließ er den Saal ...

Die übrige Gesellschaft fand in alledem kein Arg und blieb noch beisammen ... Angeregt plauderte man durcheinander, auch nachdem Paula und Armgart sich entfernt hatten ... Stumm, doch innig theilnehmend hatten ihnen die Aeltern nachgeblickt, blieben aber um so mehr im Saale, als jetzt auch der Graf fehlte ...

Nur durch einige Zimmer brauchten die Freundinnen zu schreiten, um auf eine Altane zu treten, von der sich in den Garten blicken ließ ... Es war ein milder Juliabend, der nach brennender Hitze des Tags die sanfteste Kühlung brachte ... Der Mond, dessen vollen Strahl Paula noch immer vermied, war im abnehmenden Licht ... Nur die Sterne erhellten die stille Nacht und weckten, wie sie so dicht auf der Höhe der Seealpen lagen, Sehnsucht in die Ferne, Sehnsucht nach dem großen jenseitigen Meer ... Die Terrasse, auf die Graf Hugo hinausgerufen, lag unter der Altane zur Seite und stieß an ein offenes Gewächshaus, in das man eintreten konnte, um sich, wenn man wollte, dort auf Ruhebänken behaglich niederzulassen ...

Benno verwundet –! sprach jetzt Paula und zog liebevoll die tiefergriffene Freundin an die Brust ...

Alles geht hin –! Was bleibt übrig! ... hauchte Armgart leise und schien gefaßt ...

Wird er sterben? ... lehnte Paula ab ...

Ich begrub ihn längst – erwiderte Armgart, mit sich kämpfend, um nicht, wie sie sagte, – »thöricht« zu erscheinen ...

Eine Thräne aber perlte an ihrem Auge ... Die Freundin küßte ihre Stirn ... So lagen sie eine Zeit lang aneinander ...

Vom Saale herüber erscholl wieder die lebhafte Unterhaltung der Gesellschaft ...

Wie wird dir's wohl thun, begann Armgart, um mit Gewalt die Gedanken an Benno zu verscheuchen, wenn du wieder in deinem Hause in Coni bist! ... Ich glaube nicht, daß dir für immer die hiesige Welt behagen könnte ...

Der Graf und ich, erwiderte Paula im Gegentheil, wären dennoch lieber hier ... Aber müssen auch wir nicht in Coni um den Freund erbangen? ... Oft ist uns, als könnte sein Lebenslicht in Einer Nacht erlöschen ...

Nenne sie nicht beide zusammen! ... fiel Armgart ein ... Dann schwieg sie lange und sagte entschuldigend: Benno liebte fast zu sehr seine Mutter ... In ihr liebte er Italien ... Italien ist ein Gift ... O diese Mutter! ... Sie trägt die Schuld an allem ... Sie hat ihn auch jetzt getödtet ...

Paula hörte, was schon so oft von den Freundinnen besprochen worden ... Sie kannte die Mutter Benno's nur aus den Schilderungen, die Bonaventura und Lucinde von ihr gegeben ... Die aus dem Munde der letztern gekommenen waren wenig vortheilhaft für die Herzogin von Amarillas – auch Angiolinens, ihres Kindes Schicksal hinderte den Grafen, mit besonderer Anerkennung von ihr zu sprechen ... Alles das waren schmerzliche Erinnerungen, wehmüthige Vorstellungen für beide ...

Armgart bekämpfte sich, schwieg und setzte sich, ihr Haupt aufstützend, auf einen der gußeisernen Sessel, die unter einem zeltartigen Dach von gestreiftem Zeuge standen ...

Nach einer Weile fragte sie:

Wer mag den Grafen so spät noch abgerufen haben? ...

Man entdeckte den Grafen nicht ... Vielleicht war er weiter hinaus in den Garten gegangen, der offen, in nächtlicher Stille und mit seinem berauschenden Dufte vor ihnen lag ...

Paula sagte, sie brauchten wol über das Verbleiben des Grafen keine Besorgniß zu hegen; sie setzte sich zu Armgart, die es beklagte, dem Erzbischof zu morgen kein würdiges Geschenk bringen zu können ... Wol mochte sie inzwischen an den Aschenbecher gedacht haben, den sie einst Benno gegeben ...

Paula sagte:

Dich selbst wieder zu sehen, wird ihm die liebste Gabe sein ...

Wie fürcht' ich seine Begegnung mit meinen Aeltern! ... fuhr Armgart fort ...

Paula bestätigte diese Furcht, wenn sie sagte:

Oft spricht der Freund: Auch wenn zwei dasselbe sagen, ist es darum noch nicht dasselbe! ...

Sie deutete damit den verschiedenen Grund an, auf welchem von beiden Parteien das Leben der Kirche gebessert werden sollte, setzte aber begütigend hinzu:

Aber auch mein Glaube ist schon längst, daß alles, was wir zu sehen und zu begreifen wähnen, eine Täuschung ist ... Ist das ein Haus? Sind das Berge? Wir nennen es so ...

Das mein' ich nicht! widersprach Armgart ... Die Verstandeskräfte, die uns nun einmal gegeben sind, sind unsere sichern Wegweiser ... Wir haben gar kein Recht, ihnen zu mistrauen ... Für uns ist wahr, was sie sagen ... Gibt es eine andere Wahrheit, so kommt sie uns gar nicht zu ...

Waren es die gewöhnlichen Sinne, die mich einst bei wachem Auge schlafen und wachen ließen bei geschossenem? entgegnete Paula ... Damals als dem heiligen Stuhl meine Angelegenheit vorgelegt und mein Zustand verurtheilt wurde, glücklicherweise ohne Nachtheil für Bonaventura, hab' ich ein Heft in die Hand bekommen, wo vieles verzeichnet stand, was ich gesprochen haben soll ... Als ich alles das las, war mir's doch wie einem Menschen, der sich an den Glauben gewöhnen soll, schon einmal vor seiner Geburt gelebt zu haben ... Das glauben freilich auch viele und trauen dem Schöpfer die Armuth zu, den Stoff, aus dem er Menschen bildete, so sparsam aufbewahren, so vorsichtig verwerthen zu müssen ...

Armgart gedachte lächelnd des Dechanten, dem sie Gleiches gesagt, als er sie in einen Vogel verwandelt prophezeite ...

Ich las damals, fuhr Paula fort, daß aus mir heraus eine Macht gesprochen hätte, die Frau von Sicking die des Teufels nannte ... Meine angebliche Wunderkraft, die Kraft des Gebets verlor sich in der That; schlimme Sagen wurden über mich verbreitet; als ich gar den lutherischen Grafen ins Land zog, erlosch an mich der Glaube ganz ... Nun sah ich, was mein Traumreden war; es war die stille Ansammlung von tausend unausgesprochen in mir lebenden Urtheilen und die für sich selbst fortarbeitende Unruhe des Geistes, der seine Eindrücke wider Willen aussprach ... Ich sah einen neue Himmel und eine neue Erde; warum? Weil ich eine Welt haben wollte für mich und Bonaventura ... Ich sah die Kirchenväter; sie schlugen andere Bücher auf, als die wir kennen, lesen und befolgen sollen ... Ich sprach, zumal aus der Seele deines Vaters, Dinge, die ich glaube jetzt auch ohne Hellschlaf verkünden zu können – freilich fehlt mir der Trieb dazu ... Die Sprache, die deine Mutter redet, ist die nicht, die ich dann wählen möchte ... Doch glaube mir, Armgart, auch der Erzbischof denkt wie deine Aeltern; oft verheißt er Zeiten der größten Umgestaltung – nur müsse die Kraft, die sich dann bewähre, eine gesammelte und vorbereitete sein ... Rüste dich, manches an ihm zu entdecken, was dich überraschen wird – ...

Dem Gedanken, meine Aeltern zu versöhnen, sagte Armgart, hab' ich meine Jugend geopfert und es scheint, mein ganzes Leben wird diesem Opfer folgen ... Trennen kann ich mich nicht mehr von dem milden und gütigen Sinn des Vaters und dieser wieder hat alles in der Mutter, was ihm sein Leben noch zur Freude macht ... Was ihn sonst an ihr verletzte, gerade das ist jetzt seine Erhebung geworden ... Beide seh' ich treuverbunden und darum trag' ich alles und murre nicht und durch Schweigen helf' ich mir oft mehr, als durch Worte ... So hoff' ich, komm' ich auch mit dem Erzbischof aus, der mir ohnehin zu allen Zeiten mehr streng als nachsichtig war ...

Paula suchte der Freundin liebevoll diese Voraussetzung zu nehmen und umarmte sie ... Beide standen schön und schlank im Abendlicht ... Paula schien jetzt kleiner – doch war die Höhe der Freundinnen gleich ... Paula küßte Armgart's Stirn ...

Wie vieles von dem, was ich in meiner Krankheit sah, ist eingetroffen, sagte sie, und nur das eine – eine Bild, wo ich dich und Benno immer nur verbunden erblickte, traf nicht zu ...

Du sahst mich mit ihm auf Felsen, entgegnete Armgart, sahst mich mit ihm am Ufer des Meeres ... In jeder Gefahr war ich ihm zur Seite ... Ist das nicht alles eingetroffen? Jetzt – bin ich auch bei ihm und bald – – bald – ...

Armgart –! unterbrach Paula die düstere Erwartung und zog die Freundin an sich, der ein Strom von Thränen entquoll ...

Dann entwand sich Armgart mit stürmischer Geberde und trat an den Rand der Altane, ihr Haupt auf die hohen Vasen der Blumen legend ...

Eine Weile dauerte Paula's beruhigendes Streicheln der Stirn, der Wangen und der Hände der Freundin ...

Ein leichter Abendwind erhob sich und brachte noch würziger die Düfte der Rosen und Orangen ... Nun wandte sich Armgart und erinnerte, daß sie schon in aller Frühe aufbrechen müßten ... Sie wollten zur Ruhe gehen ...

Da ist der Graf ... unterbrach sich Paula im Gehen und deutete auf den Garten ...

Armgart entdeckte unter den dunklen Schatten des Schlosses, heraustretend aus einem Boskett von Lorberbüschen, die mit hochstämmigen Camellien durchzogen waren, den Grafen mit einem Begleiter ...

Kaum hatte sie hingeblickt, so stieß sie einen unterdrückten Schreckensruf aus und sagte:

Das ist ja – Terschka! ...

Paula hatte Terschka's Bild im Gedächtniß fast verloren und lehnte die Richtigkeit der Erkennung ab ...

Armgart versicherte aber:

Er ist es ... Verlaß dich ... Das ist sein Gang ... Das seine Art, so mit den Händen zu fechten ...

Der Dämon seines Lebens –! sprach Paula dumpf und mit einer Theilnahme für den Grafen, die die Macht der Gewöhnung über ihr Herz verrieth ... Sie konnte nicht liebevoller von einer Gefahr für Bonaventura sprechen, als jetzt von einer für den Gatten ...

Der nächste Gedanke an eine für den Grafen zu befürchtende persönliche Gefahr konnte nicht lange anhalten ... Der Graf ging ruhig ... Nur der dunkle kleine Schatten neben ihm schwankte – ... Jetzt standen die Wandelnden still ...

Armgart fuhr von einigen hohen Cactustöpfen der Balustrade zurück, die sie verbargen – erbebend vor dem Blick, den Terschka durch das Dunkel der Nacht auf sie herüberwarf ...

Was kann er wollen? ... fragte Paula ängstlicherregt ... Die Freundschaft, die sie für ihren Gatten empfand, ließ sie mit einem einzigen Blick die Gefahren übersehen, die im Gefolg einer solchen Wiederbegegnung eintreten konnten ... Daß Terschka zu den Jesuiten zurückgekehrt war und vielleicht in Freiburg, wo noch vor kurzem Hunderte der vornehmsten Adligen erzogen wurden, streng, doch mit offenen Armen, vorläufig – als Lehrer der Reitkunst aufgenommen wurde, hatte oft Graf Hugo selbst gesagt ... Unmittelbar nach Terschka's vorausgesetzter Rückkehr zum Orden brachen die Ereignisse an, die die Jesuiten von Freiburg verjagten ... Paula kannte jetzt alles, was Pater Stanislaus einst bei ihrem Gatten im Auftrag des Al-Gesú hatte sein sollen; gerade diese Gedankengänge hatten so oft Veranlassung gegeben, im kirchlichen Glauben das Aechte vom Falschen zu unterscheiden und Bonaventura's Entrüstung über die seelenmörderische Thätigkeit der Jesuiten zu theilen ... Paula wußte, daß die verführerischen Plane des Paters an ihres Gatten gesundkräftiger Natur und Terschka's Mangel an Selbständigkeit scheiterten ... Was er wäre, hatte oft der Graf zu Paula gesagt, verdankte er dem Leben und – dem Tode Angiolinens, dann freilich vorzugsweise dem einen Tage, den Bonaventura mit ihm auf Schloß Salem zugebracht ... Verließ sich auch Paula auf die Wahrheit dieser Worte, so war doch schon lange ein trüber Stillstand in des Grafen Leben eingetreten ... Die unerwiderte Zärtlichkeit für seine Gattin, sein mannichfach getheiltes Herz, die jetzige Erfüllung aller seiner äußern Wünsche hatten einen Zustand der Muthlosigkeit hervorgerufen, aus dem sich emporraffen zu wollen sein fester Wille schien ... Der Tod der Mutter, die Ankunft des Obersten schien Pläne zu erleichtern, deren Ausführung nun vielleicht in die Hand – Terschka's gerieth? ... Paula gerieth in die heftigste Erregung ...

Armgart, aus natürlichen Ursachen selbst erbebend, konnte nicht alles übersehen, was sich so in Paula's Seele an Angstgedanken jagen konnte ... Aber sie fühlte die Hand der Freundin erkalten, fühlte, daß in Paula's Brust eine Theilnahme für den Gatten zitterte, die ihr schon lange viel mehr, als nur die Folge der Gewöhnung an ihn schien ... Staunend und ihres eigenen Schreckens nicht achtend sagte sie:

Beruhige dich! Sieh, wie friedlich beide nebeneinander gehen ...

Ausgesöhnt! ... Und – dem Walde zu! ... sprach Paula voll Bangen ...

Eben gingen der Barbe Baldasseroni und der Aelteste der Waldenser denselben Weg dem Walde zu ... Im untern Schlosse wurde es lebendig; die Gesellschaft trennte sich, Diener waren in Bewegung ... Armgart glaubte, daß man Paula's Befürchtungen nicht zu theilen brauchte ... Sie stockte eine Weile, ob sie den Aeltern von Terschka's Nähe sprechen sollte, unterließ es aber, aus Besorgniß, daß ihnen mit dieser Nachricht die Nachtruhe geraubt würde ... Zu Paula's Beruhigung zog sie zwei Diener ins Vertrauen, die sie beauftragte, in einiger Entfernung dem Herrn und seinem Gast zu folgen ... Der Abendwind wurde frischer; sie sollten dem Grafen und seinem Besuche Mäntel nachtragen ... Armgart zog die Freundin in ihr Schlafgemach, dessen Thüren auf die Altane hinausgingen ... So lange wollte sie bei ihr bleiben, bis der Graf zurück wäre ... Schon allein das Bedürfniß, sich über die gebundenen Stimmungen ihrer Seelen auszusprechen, hielt sie inzwischen beide wach ...

In der That hatte sich Armgart nicht geirrt ...

Terschka war es – und in leichtem, unpriesterlichem Reisekleide ... Er hatte den Grafen um einen unbemerkten Empfang gebeten und demzufolge ihn draußen auf der Terrasse begrüßt ... Die Ruhe, die die Frauen am Grafen beobachtet hatten, kam von einer innersten Erkältung her, mit der er dem enthusiastischen Gruß und der beredsamen Darstellung eines abenteuerlichen Irrgangs durchs Leben vom Tage seiner Abreise nach Amerika an bis zum gegenwärtigen Augenblick gefolgt war ... Damals als ich Ihnen rieth: Greifen Sie die Urkunde an! Sie ist falsch! Lassen Sie jene Lucinde verhaften! konnte alles noch anders werden; aber Sie folgten mir nicht! hatte Terschka, an den durch die Abreise nach Amerika unterbrochenen Briefwechsel anknüpfend, offen ausgesprochen und angedeutet, um wie viel weniger grausam ihn dann die Schläge des Misgeschicks getroffen haben würden ...

Graf Hugo war auch darin eine vornehme Natur, daß er sich sogar gegen das Zweideutige und Schlechte nicht mit sofort aufwallender Entrüstung, nur mit einer Art naiver Ironie, ja einer scheinbaren Toleranz verhielt, die jedoch tief erkältend und alles Ungebührliche von sich ablehnend wirkte ... Ein sich immer gleiches entwaffnendes Lächeln lag dann auf seinen Gesichtszügen, sein wienerisch gemüthlicher Accent bekam eine ironische Schärfe, die verwirrte ... So bemerkte er auch jetzt mit einem Schein von Humor:

Wirklich, mein alter guter Terschka, wenn ich Ihnen dienen kann, so sagen Sie es offen! ... Ich bin ja reich ... Mama starb vor kurzem ... Verfügen Sie über mich! ...

Terschka kannte diese Manier, fürchtete sie und erwiderte nach einer Weile:

Graf, das ist alles zu spät! ... Was ich brauche, brauchen darf, das hab' ich ja ... Ich muß arm bleiben, wie mein unseliges Gelübde befiehlt ... Ja, ja, Graf, ich kann nicht mehr zurück – bleibe, was ich war und – wieder bin ... O, diese Kämpfe – diese Martern! ... Aber Graf – – Wenn Sie – Sie wollten – ...

Ich? ... Was soll ich wollen? ... sagte der Graf ...

Mit dem Ausdruck des höchsten Schmerzes stockte Terschka und sah sich um, ob niemand ihnen folgte ...

Der Graf wiederholte mit dem Ton der alten Sorglosigkeit, wenn auch scharf aufhorchend, mehreremal:

Sie sind also wieder Katholik, Priester, Jesuit – haben in dieser wilden Zeit – wo? – in Tirol gelebt? ...

Unter fremdem Namen leitete ich die Erziehung der Söhne eines Grafen von Wallis in Steiermark ...

Versteckten sich bei den Gemsen und auf den Eisfeldern der Tauern ... Hören Sie, da thaten Sie recht ... Ich hörte, daß Ihre alten Freunde in London einige Dolche für Sie geschliffen hatten, die Ihnen – den Tod der Brüder Bandiera heimzahlen sollten ...

Sprechen auch Sie diese Verleumdung nach? ... wallte Terschka auf und begleitete seine Rede mit den heftigsten Gesticulationen ...

Durch wen sollte die Erhebung von Porto d'Ascoli zu einer Espèce Räuberfeldzug werden? ... entgegnete der Graf mit Schärfe und wiederholte, was durch Bonaventura und Benno's frühere Briefe ihm erinnerlich war ... Durch einen gewissen Boccheciampo und Jan Picard, den man aus London nach Korfu geschickt hatte, um an jener Expedition teilzunehmen ... Das Experiment misglückte ... Der Einfall fand in Calabrien statt ... Aber doch ereilte die Nemesis einen Ihrer Abgeordneten durch den Bruder Hubertus, der Ihnen, hör' ich, schon in Westerhof eine unheimliche Erinnerung gewesen sein soll ... Was hatten Sie gegen den Mönch mit dem Todtenkopf, den »Bruder Abtödter«? ... Ihren Sendling soll er wie den Grizzifalcone in Rom bedient haben ... Daß die Italiener doch noch manchmal vor uns Deutschen Respect bekommen! ...

Alles das schrieb Cäsar Montalto aus London an den Erzbischof? ... entgegnete Terschka mit funkelnden Augen ... Ich versichere Sie Graf! Es sind Lügen ...

Der Graf hatte die Anklage ausgesprochen, die Terschka seit einigen Jahren verfolgte; die Anklage, die ihn nach Amerika getrieben; die Anklage, die ihn, aus Furcht vor den Flüchtlingen in Genf, zuletzt die Pforten des Asyls von Freiburg wieder aufsuchen, ja in den Zeiten der entfesselten Revolution sich ganz in der Welt verbergen ließ ... Der Graf that dabei so, als wenn es ihm gar nicht einfiele, Terschka's etwaige, höchst respectable Motive verdächtigen zu wollen ...

Man verlangte damals für die Bandiera, begann Terschka, entschlossene und verzweifelte Männer ... Ich schickte einen solchen ... Es war ein Mensch, der mir in London, ich gesteh' es, unbequem wurde ... Ich habe Ihnen nie ein Hehl gemacht, Graf, daß, ohne meine Schuld, meine erste Jugend abenteuerlich war ... Nun führte mich eine zufällige Begegnung mit einem Menschen zusammen, der sich an mich klettete, mich auspreßte, belästigte in jeder Weise ... Ich wußte ihm nichts zu bieten, als das Handgeld der Verschwörer ... Noch mehr, ich suchte diesen Picard zuerst in Londons Tavernen aus freien Stücken auf; ich war ihm als Brandstifter von Westerhof auf der Spur ... Zwar leugnete er, vermaß sich hoch und theuer – ich setzte ihm aber – in Ihrem Interesse, Graf – so lange zu, bis ich, ohne Ihre dringende Abmahnung, diesen Gegenstand weiter zu verfolgen, ohne Zweifel der Wahrheit über den Schloßbrand auf den Grund gekommen wäre – ...

Sie wußten, daß es ein Gauner war, sagte der Graf, und empfahlen ihn doch jenen Flüchtlingen, deren Partei ich nicht nehme, die aber, mein' ich, einige brave Menschen in ihren Reihen zählen ... Empfahlen ihnen einen Kerl, der ganz gewiß jener Diener auf Westerhof war, Dionysius Schneid ja wol, für den Ihr alter Hubertus hätte verantwortlich gemacht werden müssen, wenn der alte Freund und zuweilen nicht zurechnungsfähige Protector Ihrer Jugend, einer unter Räubern zugebrachten Jugend, nicht damals mit dem Doctor – Klingsohr ja wol – entflohen wäre – ...

Graf –! unterbrach Terschka mit verdrossener Geberde und hielt, vorauseilend, beide Hände an seine Schläfe, als könnte er Dinge nicht hören, die – das Mal auf seinem Arm erglühen machten ...

Nun, nun, beruhigen Sie sich nur! rief ihm der Graf nach und folgte langsam ... Mein Vorwurf trifft nur die Möglichkeit, wie Sie Ihren Freunden in London einen notorischen Bösewicht haben empfehlen können! ...

Meine Freunde! wiederholte Terschka und lachte ... Was ist, was war mir diese Freiheit Italiens! Diese Aufstände, diese Bewegungen! ... Ich bin zu Grunde gegangen an meinem Bedürfnis, andere froh und glücklich zu sehen ... Jesus, mein Ehrgeiz war schon da befriedigt, wenn ich unter dem Schein der Freundschaft so viele Jahre nur Ihr Bedienter war ... Protestiren Sie nicht, Graf! ... Ich liebte die Geselligkeit, habe die Rechte, die sie gab, nie mißbraucht, ich lebte ihren oft sehr schweren Pflichten ... Sie haben es gesagt, das unglückliche Gespenst meiner geringen Herkunft ist es, das mich überall verfolgt ... Sie haben sich gut erinnern –; ich gestand es Ihnen selbst – damals, als Sie sich von dem lieblichen – Kinde in Zara nicht trennen konnten ...

Terschka sah den Eindruck seiner an dieser Stelle in Weichheit übergehenden Stimme am Stillstehen des Grafen ... Ein stürzendes Bergwasser begrenzte den Garten ... Eine Erlenbrücke führte hinüber ... Der Graf lehnte sinnend über die weißen Stämme dieser Brücke hinweg und blickte in die rauschende Flut ...

Angiolina! fuhr Terschka in melancholischem Tone fort ... Ach, wenn du, du noch lebtest! ... Nie würde dein alter, verwitterter, lebensmüder Freund so tief ins Elend gerathen sein! ... O, diese Zeiten! ... Graf, oft hör' ich sie noch im Geiste weinen und – lachen ... Wie sie lachen konnte – die Angiolina – wie sie halt wieder gut machte, was ihre Wildheit zerstört hatte ... O Graf, um Angiolinen schont' ich ihren Bruder – noch vor drei Tagen sah ich ihr Bild wie zum Verwechseln vor mir – in den Zügen dieses – mir immer nur impertinent gewesenen Bruders – ...

Sie sahen – Montalto? erhob sich der Graf vom Geländer der Brücke ... Wo? ... Er soll ja verwundet sein – ...

So wissen Sie noch nicht, daß er in Coni beim Erzbischof ist? ...

Wer? fuhr der Graf auf ... Benno von Asselyn? – in –? ...

Coni! Auf meiner Fahrt von Genua hierher begegnet' ich ihm ... Vor wenig Tagen ... Ich glaubte da mals nicht, daß er noch den nächsten Tag überlebt ... Aber er ist, verlassen Sie sich, in Coni – ...

Der Graf gerieth in die höchste Aufregung ... Dachte er auch nur an die morgende Fahrt nach Coni, so war Grund genug vorhanden, sich zur Umkehr zu wenden ...

Lassen Sie mir diese letzte Stunde! bat Terschka und ergriff die Hand des Grafen ... Es ist die letzte – meiner Freiheit! Graf, lassen Sie uns so nicht scheiden! ... Ich bin eine elende Ruine, zu Grunde gerichtet, verloren ... Das ist mein Unglück, ich kann ohne die Vorsehung anderer Menschen, ohne eine Kette nicht leben ... O diese Kette – wie ist sie unendlich – und ach! – wie schwer –! ...

Sie sind also in der That der Pater Stanislaus wieder! ... sagte der Graf nicht ohne wärmeren Antheil ...

Die Fessel ist dehnbar aber sie reißt – nie! ... antwortete Terschka im Tone der Vernichtung ...

Eine dumpfe Pause trat ein ... Eine öde Stille, ... Nur die Blätter der Bäume fingen mächtiger und mächtiger zu rauschen an ...

Der Graf empfand die ganze Verwerflichkeit eines Ordens, den er schon lange gelernt hatte vom Katholicismus selbst zu unterscheiden ... Aber er empfand mit Terschka persönlich Mitleid ...

Sie Aermster gehen also nach Rom! ...

Zum Gericht! fiel Terschka ein ...

Und kommen direct? ...

Von Genua – ...

Da sahen Sie – Benno von Asselyn! ...

Auf dem Wege nach Coni ... Ich sprach ihn natürlich nicht ... Schon in Witoborn war er mein Todfeind ... Ich sah ja Armgart eben – auf der Altane ... Graf, es wird kühl ... Schließen Sie Ihr Kleid ... Armgart wird erstaunen – ihren Benno wiederzusehen – ...

Die nächtlichen Wanderer standen am Eingang zu jenem mächtig sich ausdehnenden Eichenwalde, der die noch unzerstörte Einsiedelei des Eremiten barg ... Sie schritten in die sich mehrende Dunkelheit hinaus ... Eben gingen der Pfarrer und der Gemeindeälteste an ihnen vorüber und sprachen, als beide stillstanden und sie vorüberließen, ein: Salute! ...

Buon viaggio! durfte der Graf erwidern, da die Wanderer bis zu ihrem Gebirgsthale eine weite Strecke hatten ...

Terschka wandte sich abseits, um nicht erkannt zu werden ... In früheren Jahren war er nicht selten hier gewesen und geredet wurde noch oft genug von ihm ... Er kannte hier Weg und Steg ...

Werden Sie denn auch für diese Schwärmer, fragte er den Vorausgehenden nach, ebenso ein Protector sein, wie Ihre Mutter? ...

Die Gesetze protegiren sie ... entgegnete der Graf und sah, nur noch Benno's gedenkend, nach der Uhr ...

Terschka wollte ihn nicht lassen ... Er suchte ihn in Interessen zu verwickeln, die für beide gemeinschaftliche waren ...

Man sagt, begann er, daß Ihre Freundschaft für den Erzbischof von Coni – Ihre Zärtlichkeit für – Ihre Gemahlin jetzt vielleicht – nach dem Tode – Ihrer Mutter – – ...

Der Graf hörte nicht ... Seine Gedanken waren nur dem Schlosse und Coni zugewandt ...

Warum bin ich nur so feige und tödte mich nicht selbst! ... unterbrach sich Terschka mit wilder Geberde und weckte somit gewaltsam den Grafen aus seinem fortgesetzten Brüten ...

Sie erwarten wirklich jetzt erst in Rom die ganze Strenge Ihres Ordens für Ihre Flucht! ... sagte der Graf, mit zerstreuter Theilnahme auf seine Worte hörend ...

Terschka erwiderte nichts, sondern blickte nieder ...

Sie haben mir von den Exercitien des heiligen Ignatius erzählt! fuhr der Graf, um ihn zu beruhigen, fort ... Werden Sie also in einer dunklen Zelle zubringen müssen mit einem Todtenkopf auf Ihrem Betpult, mit dem Bild einer – verwesenden Leiche in Ihrem Bett –? Kommt in Jesuitenhäusern vor....

Terschka schwieg ...

Das sind doch in der That nur kindische Dinge ... Auch hab' ich gehört, daß Sie Ihren Uebertritt, Ihren Verrath am Orden, wenn Sie wollen, als eine wohlberechnete Strategie darstellen dürfen, als ein Mittel, desto besser zu Ihrem Ziel zu gelangen – ...

Ja – was war – denn mein Ziel? fiel Terschka mit zustimmendem Aufhorchen ein ...

Der Graf bereuete diese Andeutung gegeben zu haben ...

Sie werden, begann Terschka anfangs lebhaft, bald aber seine Stimme dämpfend, als könnten die Blätter der immer mehr bewegten Bäume seine Worte weiter tragen, Sie werden in diesem Thal, in diesen öden Wäldern nicht ewig bleiben wollen ... Ihre Liebe zu den Waffen wird sich wieder regen, zumal wenn Sie sehen, daß eine Zeit kommt, wo nur noch die Waffen die Welt regieren ... Oft schon sind Ihnen glänzende Anerbietungen zum Rücktritt in die Armee gemacht worden ... Ihre Lage, zweien Staaten angehören zu sollen, zumal zweien, die sich unausgesetzt befehden werden, wird Sie zuletzt zu einem Entschluß veranlassen müssen ... Ich weiß nicht, wohin Sie Ihre Ueberzeugung zieht ... Katholisch sein! ... Selbst in jenen lächerlichen Exercitien des Ignatius liegt ein – dumpfer Ernst – mache nur Einer mit, was ich in Freiburg habe erleiden müssen ... Die Revolution machte dem schrecklichen Kinderspiel, das man mit mir trieb, ein Ende ...

Was in Freiburg unterbrochen wurde, wird in Rom wieder aufgenommen werden –? ...

Ja Graf –! Aber gesetzt, Sie nähmen wieder bei Ihren alten Waffengefährten Dienste, Sie lebten in Wien, wofür sich doch zuletzt die Sehnsucht Ihres Herzens entscheiden wird – Gesetzt – Sie brauchten ja Castellungo nicht zu verkaufen – die Nothwendigkeit für Ihre Gemahlin, in des Erzbischofs Nähe leben zu müssen – ...

Was reden – Sie! ... unterbrach der Graf ...

Vergebung! schmiegte sich Terschka in demüthiger Geberde ... Sie misverstehen mich – Ich meine, der Oberst von Hülleshoven ist ein Projectenmacher und eigensinnig wie seine Frau ... Hedemann wäre für die Verwaltung Castellungos zu brauchen gewesen – Aber der ist – ja wol auch todt? ...

Sie sind – ein schneller – Reiter! ... entgegnete Graf Hugo, sich erst langsam beruhigend ... Nie noch hatte jemand gewagt, ihm persönlich die Nothwendigkeit, Paula in des Erzbischofs Nähe zu lassen, so offen auszusprechen, wie Terschka ... Ihm war Bonaventura nothwendig, Er nur blieb in des Freundes Nähe –! So und nie anders hatte sich seit Jahren das Verhältniß im Munde seiner Umgebungen gestalten dürfen ...

Wollen Sie diese herrliche Besitzung zu Grunde gehen lassen? fuhr Terschka immer demüthiger fort ... Konnten Sie über meine Art, in Westerhof zu Geld für Sie zu kommen, klagen? ... Behalten Sie mich hier! ...

Ich verstehe nicht – entgegnete der Graf ...

Ich fürchte mich vor Rom ... Man wird Dinge von mir verlangen – die über meine Kraft gehen ... Die einzige Möglichkeit der Rettung für mich wäre, daß ich draußen in der Welt eine Aufgabe fortsetzte ... Was ich Ihnen früher im Geheimen war, Graf, wenn ich es offen würde – und – sagen könnte –...

Der Graf horchte auf ...

Treten Sie über! ... Lassen Sie mein jahrelanges Werk endlich mit Erfolg gekrönt sein! ... Thun Sie es öffentlich, so soll es mir nicht zu schwer werden, es meinen Obern so darzustellen, als wenn alles, was ich mir seither habe zu Schulden kommen lassen, nur ein Mittel war zu höherm Zweck ... Thun Sie es geheim, wohlan dann desto besser ... In diesem Fall würd' ich Ihr Gewissensfreund bleiben, würde Ihr Wächter scheinen dürfen und könnte so fortleben, wie bisher – selbst unterm Schein, Priesterstand und was nicht alles verwirkt zu haben ... Oesterreich erhält die Weisung, meine Lage zu ignoriren – Piemont schützt uns ohnehin ... Werden Sie katholisch, Graf! ...

Graf Hugo brauste nicht auf und entsetzte sich nicht ... Es gab eine Stelle in seinem Innern, die von Terschka's Vorschlägen elektrisch berührt wurde ... Die Jesuiten waren ihm nicht der Katholicismus ... Religion nannte er übliche Sitte und Landesart ... Der geselligen Spaltungen, die in seiner frühern militärischen Stellung für ihn als Akatholiken lagen, erinnerte er sich ungern ... Den stolzen Muth seiner Mutter, gerade im Widerspruch mit weltlichen Rücksichten zu leben, besaß er nicht ... Mehr noch, wirkliche Liebe zu Paula fing ihn zu bestimmen an ... Um sich, um die Mutter aus bedrängten Verhältnissen zu reißen, hatte er eine Standesehe geschlossen, ohne Paula die Zumuthungen einer Gattin zu machen – ... Und die ersten Jahre war es ein Verhältniß gewesen, wie auch nur je eine Vernunftehe unter hochgestellten Personen geschlossen wurde ... Als aber Paula in Italien, in Bonaventura's unmittelbarer Nähe lebte, als sich die hochgespannte Leidenschaftlichkeit dieser Beziehung milderte, als die bescheidene Unterordnung des Grafen unter den Erzbischof diesen nicht minder, wie Paula rührte – die Jahre und die Reife des Geistes bringen allem Menschlichen sein Maß und lehren uns die wahren Güter des Lebens in Höherem suchen, als im persönlichen Glück – da hegte Graf Hugo Hoffnungen auf sein Weib ganz mit der Werbung eines Liebenden ... Das Aussterben seines Stamms, die der Möglichkeit, noch einen Erben zu gewinnen, immer mehr gezählten Stunden – schon allein diese Rücksicht verlangte ein Entweder-Oder ... Und da glaubte denn Graf Hugo schon lange, daß er sich und Paula diese Entschlüsse durch seinen Uebertritt erleichtern würde ... Den kirchlichen Beziehungen seiner Mutter war er entrückt; die fortzusetzende Verbindung mit den Waldensern setzte eine größere geistliche Neigung voraus, als er sie besaß ... Aus solchem Indifferentismus, verbunden mit Resignation des Gemüthes, erfolgte schon oft ein Uebertritt zur römischen Confession ... Und so konnte er Terschka's Vorschläge hören, ohne sie sofort von sich zu weisen ... Hatte er nicht auch eine Reihe der glücklichsten Jahre mit diesem Menschen verlebt, oft über seine Rathschläge den Stab gebrochen, oft sie dennoch befolgt –? ... Zwischen ihm und Terschka hatte von jeher die mitleidige Toleranz eines Herrn für einen erwiesenermaßen nicht immer ehrlichen, aber bei alledem in seiner Art unersetzlichen Diener geherrscht ...

Der Abendwind erhob sich mehr und mehr ... Wolken legten sich über die Sterne ...

Graf Hugo ließ Terschka reden – ließ sich ihm bald rathen, bald schmeicheln – ließ sich von ihm den Rock zuknöpfen, aus Besorgniß, der Graf möchte sich »verkühlen« – Bald an dieser bald an jener Stelle seines Gemüthes wurde er berührt ... Auch das Glück schilderte Terschka, das er sonst hier gefunden haben wollte bei des Grafen Mutter ...

Die Herrliche, Gütige! sprach Terschka ... In London – da lag ich zerknirscht zu ihren Füßen ... Sie schickte mir einen Geistlichen, dem ich meinen Glauben abschwören sollte ... Oeffentlich in einer Kirche hab' ich es nicht gethan – ich ging zum Abendmahl und nahm es in beiderlei Gestalt ... Graf, darin sind wir – einig; was mich einst zum Priester machte – was war es? ... Für mich waren die Weihen nichts, als eine Erlösung vom Gewöhnlichen ... Die klugen Väter erkannten es zu spät und gaben mir einen Auftrag, der mich dem Weltleben zurückgab ... Kann man den Jesuiten, den Soldaten der Kirche, verdenken, daß sie Werth auf den Besitz eines Namens legen, wie des Ihrigen? ...

Graf Hugo verabscheute, was er hörte, aber – er dachte an Paula und die Zukunft seines Namens ... Der Zauber des gebundenen Willens lag schon lange auf ihm ... Was jeder verworfen hätte, was Monika Unmoralität nannte, vertrug sich bei ihm mit manchen geheimnißvollen Stimmungen der Seele ... Es gab keinen andern Ausdruck für sein Gefühl, als den, daß die reinere Natur des Katholicismus, die Natur, die selbst ein Terschka nicht entweihen konnte, geheime und mystische edle Dinge verklärte ... »Der erste Beichtstuhl wurde aus dem Baum der Erkenntniß gezimmert« hatte die Gräfin Sarzana vor einigen Jahren hier gesagt ... Graf Hugo versank immer mehr in ein brütendes Nachdenken ...

Terschka erging sich in Lobpreisungen des katholischen Glaubens vom Standpunkt der Weltlichkeit, die beide früher so eng verbunden hatte ... Und hätte ihn ein noch schlimmerer Ruf verfolgt, als der, den der Graf kannte, es lag zu viel Gemeinsames in ihren Lebensbezügen, ihre Erinnerungen trafen so oft auf einem Punkte zusammen, daß ihn der Graf nahm, wie er sich gab ... Terschka knüpfte immer und immer an Angiolinen an ... Und der Graf wußte, wie energisch Terschka auf Schloß Neuhof für sie gesprochen hatte ... Terschka kam auf Angiolinens Mutter, die Herzogin von Amarillas, die aus London erwartet würde und wieder in Rom wohnen wollte, wenn sie nicht, unterbrach er sich, wol gar noch hierher kommt, um ihren, wie ich glaube, hoffnungslosen Sohn aufzusuchen ...

Der Graf gab alle diese Möglichkeiten zu, hörte sie aber voll Schrecken und Wehmuth ...

Terschka erzählte von Fürstin Olympia, deren Verhältniß mit Benno schon seit lange nicht mehr das alte gewesen sein sollte ...

Der Graf hörte Terschka's welt- und herzenskundige Auffassungen; aber so groß seine Theilnahme für Angiolinens Bruder war, so sehr er Benno's Seelenkraft bewunderte seit jenem Schreckenstage auf Schloß Salem, wo Schwester und Mutter in einem und demselben Augenblick von ihm gefunden und verloren wurden, so sehr ihn der Eindruck ergriff, den nun Benno's Anwesenheit in Coni auf alle, vornehmlich Armgart hervorrufen mußte – sein Fragen und Forschen nach Diesem und Jenem war nur ein Verbergenwollen der größeren Sorgen, die sein Inneres um Paula drückten ...

Terschka sah seinen Einfluß wiederkehren, sah, wie Graf Hugo sich an seinen Ton, seine alte Weise gewöhnte ... Er blickte um sich ... Sie waren tief im Waldesdunkel vorgedrungen und Zeit hätte es werden müssen, an die Rückkehr zu denken ... Immer mehr und mehr verstärkte sich der Wind, der von den Bergen wehte ... Die schwanken Wipfel der Bäume ließen Raum hier und da zu Durchsichten, wie in einem kunstvoll angelegten Park ... Die Wanderer gingen einen Bach entlang, der behend unter den jetzt hin-und hergepeitschten Blütenbüschen dahinschoß ... Nur allmählich erhob sich die grüne Bergwand ... Schon war die Einsiedelei Federigo's in der Nähe ... Eine Gruppe der mächtigsten Eichen stand auf der Höhe so dicht beieinander, daß ihre Baumkronen von fern her zu einem jetzt im Winde den Einsturz drohenden Dach verwachsen schienen ... Ich war vor drei Tagen noch in Genua, erzählte Terschka, des Brausens und Rauschens um ihn her nicht achtend, wo eben Sturla aus Barcelona angekommen war ... Dort schon hört' ich, daß sich Cäsar von Montalto, schwer verwundet, unter den Trümmern der römischen Aufstandsarmee befand und auf dem Wege nach Coni war, ohne Zweifel zum Erzbischof ... Auf der steilen Riviera di Ponente begegneten wir ihm ...

Wir? wiederholte der Graf ...

Pater Speziano und ich – ...

Pater Speziano! Wagt ihr euch so weit schon wieder ins Land! ...

Wir stiegen in Robillante aus – wohin ich bis morgen früh – zurück muß ... Incognito – bis – – nach Rom – Graf! ...

Erzählen Sie! ...

Durch Vintimiglia fuhren wir im Postwagen und hielten eine Weile, ohne auszusteigen ... Vor einem Kaffeehause, wo unsere Pferde gewechselt wurden, stand ein halb offner Wagen ... Sehen Sie da! rief Pater Speziano und deutete auf den Wagen ... Ein Kranker lag in ihm zurückgelehnt ... Ich blicke näher – mich schützten die Jalousieen des Postwagens – und erkenne den Bruder Angiolinens ... Sollt' ich es wagen auszusteigen und ihn anzureden? ... Sein Zustand sah dem eines Sterbenden ähnlich ... Speziano hielt mich zurück ...

Der Graf gerieth in eine Stimmung des unsaglichsten Schmerzes ... Sollte alles dem Verhängniß verfallen, überall der Tod seine Opfer suchen! ...

Wo sind Sie abgestiegen? fragte er noch einmal, ehe sie sich zur Rückkehr wandten ...

In Robillante – ... Aber für diese Nacht unten in San-Medardo beim Pfarrer ...

Und die Herzogin – seine Mutter –? ...

Ist mit Fürstin Olympia eilends aus London gekommen ... Die letzten Nachrichten von diesen Frauen hatte man aus der Schweiz ... Erfuhren sie von Montalto's Verwundung und Gefahr und seiner Reiseroute, so kommen sie ohne Zweifel hierher ...

Olympia –! rief der Graf und dachte an eine nothwendig werdende Vorbereitung Armgart's auf so erschreckende Möglichkeiten –.. Vielleicht klopfte er noch jetzt dem Obersten und zog zunächst diesen ins Vertrauen ...

Aber werden Sie katholisch, Graf! drängte Terschka ... Es ist die Religion der reinen Menschlichkeit ... Krönen Sie mein Werk, dem ich dann achtzehn Jahre meines Lebens geopfert habe – So läßt es sich wenigstens darstellen ... Die Mittel, die ich anwandte, sind natürliche gewesen und ich bin gerettet – ... Sie erlösen mich von Strafen, die alles überschreiten werden, was meine Natur erträgt ... Das Al-Gesú macht ein Endurtheil über mich – ... Ich habe keine Kraft, einem Geschick zu trotzen, das mich in die Mitte der beiden mich verfolgenden Parteien nimmt ... Wollt' ich auch zum zweiten male entfliehen, ich wäre vor Mazzini's Rache ebenso wenig sich er wie vor der des Al-Gesú ... Graf, werden Sie katholisch! ... So hab' ich wenigstens Ruhe vor Denen, die auf mich die ersten Rechte hatten ...

Terschka versicherte dann, daß ihn Pater Speziano nach Rom führen müsse wie einen Gefangenen ...

Der Graf stand schon lange wie eingewurzelt ... Er blickte um sich und sah, daß er in dem Hain des Eremiten unter dem majestätischen Dach der uralten »Eichen von Castellungo« stand ... Noch glänzte die von Birkenzweigen und verwittertem Moos gebaute Hütte ... Noch lag wie sonst der Verschlag für Federigo's treuen Hund, den »Sultan«, wie er hieß, unverändert; noch die Hütte für die Ziege, beide Thiere, die die einzige lebende Gesellschaft des Freundes seiner Mutter waren ... Eine mächtige runde Steinplatte, verwittert und mit gelblichen Moosflechten überzogen, die als Altar zu dienen pflegte, stand in der Mitte des mächtigen Rundes, über dem die Baumkronen sich schüttelten im zunehmenden Sturm ... Noch hing in den ächzenden Zweigen des stärksten dieser Bäume die Glocke, durch deren Ruf der Einsiedler in einiger Verbindung mit der Welt blieb ... Die schlummernden Vögel auf den Zweigen schienen zu träumen, mancher leise Laut erscholl, mancher Vogel flog erschreckt vom Neste ... Der Wind bewegte durch die Zweige auch die Glocke ... Zuweilen schlug sie an – leise, geheimnißvoll, geisterhaft – Graf Hugo sah ein ganzes Leben ihn hier wie mit stiller Bitte mahnen; er hörte den Ruf der Mutter, als sie ihn um die Erhaltung der Glocke – um die Erhaltung Castellungo's und des Glaubens seiner Väter bat ...

Terschka erkannte diese Zauber der Bestrickung für den Grafen ... Oft hatte er hier selbst den Eremiten gesprochen, hatte sich mit dem »Sultan« in der Hütte dort geneckt; er wußte, daß dies treue Thier dem vermeintlichen Gefangenen der Inquisition gefolgt sein sollte ... Noch deutlich sah er die Gräfin auf einem Sessel von Baumzweigen, auf dem sie hier oft stundenlang bei ihrem Schützling zu verweilen liebte ... Gerade damals war Terschka hier zum ersten mal gewesen, als sich die Sage von Vincente Ambrosi verbreitet hatte, der vor Frâ Federigo's Lehren geflohen wäre ...

Träumend stand der Graf und blickte auf die Glocke, deren Bewegungen immer stärker und stärker wurden ... Er fuhr auf, als er Fußtritte hörte und die beiden Diener sah, die gefolgt waren und jetzt näher kamen, um die Mäntel anzubieten ...

Mechanisch nahm er den einen und bot Terschka den andern ... Dieser nahm ihn schnell, nur um die Diener zu entfernen ... Lebhafter und lebhafter drängte er auf Entscheidung ... Er schilderte alles, was er wünschte, als ein Facit von Umständen, die gebieterisch gegeben wären ...

Der Graf lauschte der Glocke unter den Bäumen, die die heftigen Windstöße in Bewegung erhielten ... Der ungleiche Klang war wie die unregelmäßigen Athemzüge einer von Angst bedrängten Seele ... Das Bild der sterbenden Mutter stand dem Sohn vor Augen ... Ihr Wort: »Du wirst dem Thiere folgen!«, ihre Bitte für diese Glocke, ihre Bitte für den jetzt schon in so wilder Störung begriffenen Frieden dieses einsamen Ortes sprach ihm aus dem Wehen jedes zitternden Blattes ...

Lassen Sie, Terschka! schnitt er jetzt, wie aus Träumen erwachend, alle Vorstellungen ab, die ihm dieser im Ton einer unverstellten Verzweiflung machte – Es war eine Proselytenwerbung so eigner Art, wie sie auch nur durch Jesuiten veranstaltet werden konnte ... Keine Salbung, keine Ueberzeugung – eine Sache nur der Etikette und der praktischen Psychologie ... Der Graf widerstand ... Dort hinaus führen Sie meine Diener auf kürzerm Weg nach San-Medardo zurück, sagte er ... Was die Zukunft bringen wird, weiß ich nicht ... So, wie Sie es begehren, Terschka, wird und kann es nicht sein ...

Graf! flehte Terschka ... Ist das Ihr letztes Wort ...

Mein letztes, Terschka! Mein Inneres – Sie haben es errathen – ist zerrissen und unglücklich ... Noch weiß ich nicht, was werden soll und ob ich länger mein Loos ertrage ... Ich liebe – mein Weib! ... Aber Ihr Auskunftmittel – – Weiß ich doch kaum, ob die Gräfin gerade dies noch begehren würde –! ...

Graf, um so mehr! fiel Terschka ein. Allbekannt ist die Gesinnung des Erzbischofs ... Auch die Gräfin, sie, die einst eine Seherin war, erkaltete in ihrer alten Glut und Andacht für den Glauben ... Es ziehen Gefahren für Ihren Freund herauf, denen er jetzt erliegen dürfte, jetzt, wo die Richtung der Zeit sich ändern wird ... Verachten Sie meinen Beistand nicht – auch ein Sturla kann mich kennen lernen ... Aber nehmen Sie mich wieder auf! Schützen Sie mich durch Ihren geheimen Uebertritt! Ich lenke alles, was Ihr Herz, Ihre Natur, das Glück Ihrer Freunde verlangt ... Und Monika, selbst den Obersten gewinn' ich – pah durch einen einzigen Tag ... Selbst Armgart soll nicht vor mir entfliehen ... Ich bin ja – ein Greis – alt – ich entwaffne halt jeden durch meine Ergebung – durch meine Demuth ... Graf, zum letzten mal, ich, ein Abtrünniger, rettungslos Verlorener, ich darf mit einem großen Zweck leben, wie und wo ich will – ich darf mit den Waldensern gehen – Protestant scheinen ... Nur besuchen Sie die Messe in Coni, in Robillante – wo Sie wollen – man liest sie Ihnen geheim ... Dann gehen wir zuletzt alle nach Wien – Ihre Gattin folgt – Ihr erstes Kind wird auf einen Heiligen getauft – Das ist die Sprache der Welt, der gesunden Vernunft, der Verhältnisse, in denen Sie leben, die Sprache des Trostes, der Erhebung für – die Gräfin selbst – ...

Der Graf schüttelte den Kopf und entgegnete:

Ein Abschied fürs Leben ... Wir sehen uns nicht wieder –! ...

Haben Sie Mitleid mit mir –! rief Terschka ...

Die Glocke schlug unausgesetzt ... Die Bäume rauschten im Sturme ... Die Natur war im Aufruhr ... Der Graf ging jetzt und wie auf der Flucht ...

In französischer Sprache rief ihm Terschka nach:

Graf! Ich beschwöre Sie! ... Sie werden es einst aus eigenem Antriebe thun ... Thun Sie's jetzt um mich, um Ihren alten – treuen – unglücklichen Freund! ..

Die Glocke tönte ... Mit hellen, mit klagenden, mit stärkeren, mit schwächeren Klängen ...

Noch einmal wandte sich der Graf zu Terschka, wartete, bis dieser näher kam, bot ihm die Hand und sagte ihm ein letztes Lebewohl – ... Unsere Wege sind getrennt, setzte er hinzu ... Erde und Himmel können vielleicht für mich bürgen und für das, was ich thue oder lasse, Sie nicht mehr ... Das sag' ich alles ohne Groll, Terschka, ohne Sie kränken oder verurtheilen zu wollen; ich urtheile, Sie wissen es, über Menschen überhaupt nicht; lassen Sie alles wie es ist ... Beschütze Sie jetzt der Himmel, Terschka! ... Sans adieu! Sans adieu! ...

Der Graf schritt mächtig zu, gleichsam – um dem drohenden Unwetter zu entfliehen ... Auch begann es in der That zu regnen ...

Ein Diener blieb bei Terschka in dem wildbewegten Eichenhain zurück ...

Der Graf sah sich nicht mehr um ... Ohnehin ging es bergab ... Er eilte wie jetzt selbst vom Sturm ergriffen ...

In einer halben Stunde hatte sein Fuß das Schloß erreicht ... Die Frauen wachten noch ... Aber er wollte ihnen nicht die Nachtruhe nehmen durch die Mittheilung über Benno ... Sein Mund blieb auch dem Obersten noch geschlossen über alles, was er gehört ... Sein Auge durchwachte aber die ganze Nacht und sein Ohr vertausendfachte ihm alles, was er vernommen ... Die grünen sturmbewegten Wipfel der Eichen rauschten um ihn her wie ferne Donner ... Der Geisterton der klagenden Glocke wurde eine Mahnung, als bedrohte eine Feuersbrunst die Welt und – vor allem die theuersten Menschen, die um ihn her in Ruhe schlummerten. – Hatte es also zehn Jahre und erst des Todes seiner Mutter bedurft, um seinen ganzen innern Menschen so mächtig aus einem Zustande der Lethargie zu erwecken –! ...

Terschka stand eine Weile vernichtet, bis er sich sammelte ... Endlich erhob er trotzig sein Haupt, das nun schon durch die Jahre eine natürliche Tonsur trug, griff in die Tasche – gab dem Diener ein Trinkgeld und ließ sich im Gehen erzählen von den Bewohnern des Schlosses, vom Tod der Gräfin, vom morgenden Fest in Coni, von den Ueberraschungen für den Erzbischof, von den Reiseplänen des Grafen, von der dem Obersten hier schon gegebenen Stellung, von Monika's Reformen, von Armgart ... Auch von Federigo ließ er den Diener plaudern, vom Einsiedler, der noch im Silaswalde leben sollte, nachdem er in die Hände der Räuber gefallen, aus denen ihn Frâ Hubertus – wie alle Welt erzählte, mit Hülfe seines Hundes, des treuen Sultan – errettet haben sollte ... Terschka forschte mit kurzen Fragen diesem unheimlichen Namen nach, forschte Allem, was von Franz Bosbeck, seinem ehemaligen Retter, den die Nemesis schon zum Richter über Jan Picard gemacht, im Volksmunde hier bekannt war ... Auch Frâ Hubertus mit dem Todtenkopf sollte noch leben ... Er erstaunte – künstlich ... Alles, was er hörte, war ihm schon bekannt – ...

Frost durchschüttelte seine Glieder – Jetzt erst warf er des Dieners Mantel um, den er bisher überm Arm getragen hatte, und bat um die Angabe eines kürzern Weges, um ins Thal und dort zum Pfarrer zu gelangen ...

Der Wind hatte aufgehört ... Regenströme ergossen sich ... Noch schützten ihn und den Diener hier und da die Bäume der Alleen ... Sie umgingen das geheimnißvoll nächtlich schlummernde Schloß ... Eine Weile sah es Terschka mit dem Blick verzweifelnden Neides an ... Dann fragte er den Diener, ob er sich auch der Gräfin Sarzana erinnern könnte ... Auch von ihr ließ er sich einiges erzählen ... Den im spottenden Ton gemachten Bericht über diesen Besuch unterbrach er mit den dumpf vor sich hingesprochenen Worten: Auch sie – ist in Rom! ...

Terschka befahl jetzt dem Diener, ihn allein zu lassen ... Den Mantel sollte er morgen vom Pfarrer im Thal abholen ... Es war über die elfte Stunde – rings stichdunkel ... Durch ein labyrinthisches Gewinde von Gärten, über schwellend brausende Bäche – endlich an einem malerisch gelegenen Friedhof mit unheimlich blitzenden Kreuzen vorüber erreichte er das Pfarrhaus San-Medardo ...

Aus einem geöffneten Fenster, wo noch Licht brannte, begrüßten ihn die heisern Worte:

Ecco! Ecco! Al fine venuto! ...

Sie kamen von Pater Speziano und klangen wie die Beruhigung eines angsterfüllten Kerkermeisters, dem ein entflohener Gefangener endlich wiederkehrt ...

6.

Als derselbe Tag noch goldensonnig am unbewölkten Himmel geleuchtet hatte, fuhr ein kleiner, mit Staub bedeckter Halbwagen langsam auf der Landstraße zwischen der Stura und dem Gesso dahin, zweien Bergströmen, die hinter Robillante in ihrem Lauf miteinander wetteifern ... Um die Dämmerung gelangte das kleine Gefährt an die Thore einer Stadt, die in frühern Jahrhunderten stark befestigt gewesen sein mußte ... Noch erhoben sich in dem alten Cuneum Römerthürme; noch erstreckten sich rund um die Stadt zackige Mauern und tiefe Gräben ...

Die Straßen Conis, einer 15000 Einwohner zählenden Stadt, waren am südlichen Thor eng und düster, aber belebt von einer schwatzenden, muntern Bevölkerung, wie sie in Italien der Abend auf die Gasse lockt ... Kinder, Frauen, Greise, nichts bleibt dann daheim im geschlossenen Raume; selbst die unterste Volksklasse sitzt in Hemdärmeln, Manchesterjacken, Blousen vor Kaffeehäusern, raucht, trinkt, schwatzt, streitet über die Tagesneuigkeiten, für deren Kunde ein einziges Zeitungsblatt ausreicht, da unter zwanzig meist nur einer lesen kann ...

Gesang ertönte ... Drehorgeln durchkreuzten sich in ihren Melodieen ... Der Kutscher erfuhr in dem Lärm erst von Andern, daß hinter ihm sein Passagier nach ihm verlangte ...

Er wandte sich theilnehmend ...

Coni ist eine ansehnliche Stadt ... Aber die schlechtgepflasterte Straße mußte dem Passagier, der ausgestreckt im Innern der Halbchaise lag, empfindlich werden ... Der Kutscher erfuhr, er sollte langsamer fahren ... Zugleich wurde nach dem Palast des Erzbischofs gefragt und von einem Dutzend Stimmen die Antwort ertheilt ... Man begleitete den Wagen, der einen Kranken führte ... Es war ein todtbleiches, männlich gefurchtes Antlitz mit vollem wilden, hier und da ergrauten Bart ... Benno war damals ein Mann von vierzig Jahren ...

Die Straßenjugend folgte dem Wagen, der auf einen großen Platz einbog, einen Exercirplatz, wie es schien; rings war das mächtige Quarrée mit duftenden Lindenbäumen besetzt ... Nicht zu entfernt von einer stattlichen Kirche lag hinter einem gegitterten Vorhof ein großartiges Gebäude, vor welchem der Kutscher in seinem weißen Hute, seiner braunen Jacke, seiner rothen Halsbinde ebenso sicher anfuhr, wie der Führer einer sechsspännigen Carrosse ... Er wußte ja, daß er dem Erzbischof einen theuren Verwandten brachte ...

Ein Carabinier mit gezogenem Säbel hielt vor der hohen Eingangspforte des Palastes Wache ... Er deutete auf die Klingel, die der Kutscher, der schon abgesprungen war, nur anziehen sollte ... Ein Diener erschien ... In einer Art Livree von schwarzem Frack, schwarzen Beinkleidern, schwarzen Strümpfen und Schnallenschuhen ...

Der Kutscher hatte schon eine Karte in Bereitschaft, die dem Diener zur Anmeldung des Besuches übergeben werden sollte ... Zugleich bat er um Hülfe, den Kranken aus dem Wagen zu schaffen ... So wie er da läge il povero, brächte er ihn dritto aus Genua ... Miracolo! setzte er mit beredsamem Blick hinzu – er brächte einen Mann, der nur durch ein Wunder noch lebte ...

Benno, bleich, mit blassen Lippen, starren Gliedern, auf einer halb zum Sitzen, halb zum Liegen eingerichteten Matratze, hörte und sah alles, was sein Führer trieb, aber er schwieg ... In der That schien er an den äußersten Grad der Erschöpfung angelangt ... Noch manches Jugendliche hatte sich in seinen Zügen erhalten ... Schmächtig und mager schien er geblieben, aber sein Haupthaar war fast grau, wie der mächtige Bart hier und da von gleicher Farbe ... Geronimo, der Kutscher, erzählte den sich schon mehrenden Dienern, zu denen sich Priester gesellten, der Kranke hätte in Rom einen Schuß in die Brust bekommen und die Kugel säße noch fest; die Aerzte hätten behauptet, der Verwundete würde, nachdem die Anstrengungen der Flucht von Rom nach Genua ihn schon dem Tode nahe gebracht, eine weitere Reise schwerlich überstehen, aber nichts hätte ihn abbringen können, seinen Transport bis nach den Thälern von Piemont zu verlangen. Ihn selbst zwar hätte das Hospital gemiethet und ihm als Ziel seiner Reise nur Nizza genannt. Daß es Coni und dort das erzbischöfliche Palais sein sollte, erfuhr Geronimo erst vom Verwundeten selbst in Vintimiglia. Dieser konnte die Arme nicht bewegen, konnte keine Briefe schreiben – sie aber von andern schreiben zu lassen, hätte er abgelehnt. Niemand sollte erfahren, wohin seine Reise ging. Selbst im Spital hätte man sein wahres Ziel nicht wissen sollen ... Wenn der Verwundete jedem die Fährte der Nachfrage nach ihm abschneiden wollte, so war es wol die natürliche Lage eines politischen Flüchtlings ...

Schon wurde Benno emporgehoben und auch die Schildwache griff mit an ... Der Leidende überwand die Schmerzen, die ihm diese Bewegungen zu verursachen schienen ... War doch die Sehnsucht seines Herzens erfüllt, die letzte Freude seines Lebens gewährt ... Geronimo hatte recht berichtet – Benno wollte allen denen, die noch an seinem Leben Interesse haben konnten, selbst seiner Mutter, verborgen bleiben ... Deshalb vertraute er selbst dem Spital in Genua nichts über seine Absichten, am wenigsten der Post – ... Und selbst die Feder zu führen, verbot ihm sein Zustand ... Still in Bonaventura's Armen zu sterben, war alles, was er vom Leben noch begehrte ... Diesen hoffte er zu finden, auch ohne sich ihm angekündigt zu haben ... So kam es, daß ihn hier niemand erwartete ...

Die Diener jedoch, auch wenn sie den Namen »Cäsar Montalto«, der auf der Karte stand, nicht zu deuten gewußt hätten, thaten darum nicht befremdet ... Was sollte nicht bei ihrem Herrn ein Sterbender seine letzte Zuflucht suchen können –! ...

Noch war der Fremde nicht bis an die große Marmortreppe getragen worden, als auch schon von oben her, gefolgt von Priestern und Dienern, der Erzbischof in seinem wallenden Hauskleid, einem priesterlichen Rock mit violettem Ueberwurf und goldener Kette, in athemloser Hast erschien, sich über den unglücklichen Freund warf, ihn in beide Arme schloß und unter Thränen an sein Herz drückte ...

Mein Bruder –! rief er unausgesetzt ...

Mehr konnte nicht von seinen Lippen kommen – und Mein Bruder! Mein Bruder! hatte er auf der Stiege schon, abwechselnd in deutscher und in italienischer Sprache, gerufen ... Italienisch, um seine Umgebungen über den Anlaß eines so außergewöhnlich großen Schmerzes und sein Verlassen aller Formen der Etikette, die in diesem Hause waltete, gebührend aufzuklären und sie aufzufordern, in seine Trauer miteinzustimmen ...

Das Bedürfniß, zu helfen, drängte nun sofort jede andere Empfindung zurück ... Schon wurden die ersten Aerzte der Stadt gerufen ... Schon hörte man oben Thürenschlagen, ein emsiges Rennen, ein Klopfen und Hämmern, um Zurüstungen für ein Lager zu treffen ... Das ganze, nur von Priestern bewohnte Haus war in Bewegung ...

Die Worte: Wie konntest du in diesem Zustand eine solche Reise unternehmen! kamen nur halb von Bonaventura's Lippen ... Laßt! bat der Majorduomo, ein stattlicher Herr mit einer silbernen Kette auf der Brust und wehrte der Ueberzahl der helfenden Hände ... Nach Benno's Wunsch leitete dieser dann allein den Transport ...

Auch für den Erzbischof war Sorge zu tragen ... Am eisernen Geländer der mächtigen Treppe hielt er sich mühsam aufrecht; anfangs vermochte er den Männern, die Benno hinauftrugen, vor physischer Schwäche nicht zu folgen ... In meine Schlafkammer! war alles, was er zu sagen vermochte, und wieder doch zum Kutscher mußte er sich wenden, der auf die Anrede des Majorduomo, woher sie kämen, vor dem Erzbischof sein Knie beugte und Segen – und Trinkgeld begehrte ... Ohne den Auseinandersetzungen Geronimo's, so wichtig sie ihm waren, länger zuzuhören, riß der Erzbischof unter seinem Ueberwurf sein Almosenbeutelchen hervor und reichte dem Knienden den ganzen Inhalt ...

Jetzt raffte sich der Erzbischof auf und schwankte am Geländer der Stiege entlang ... In den hohen weiten Sälen des ersten Stockwerks standen alle Thüren geöffnet ... Die letzten Abendsonnenstrahlen beleuchteten die kostbaren Tapeten von Seide, die bunten Malereien, die sich sein Vorgänger Fefelotti für die kurze Zeit seines Verweilens in diesen Räumen hatte anfertigen lassen ... Die Fußböden waren parquettirt ... Die Wände starrten von Bronze und Krystall ... Die Wohnung eines Fürsten schien es zu sein und erst in dem mit grünen Vorhängen von einem Bibliothekzimmer getrennten Schlafgemach des Erzbischofs sah es einfacher aus ... War auch hier nicht die rauhe Kasteiung sichtbar, die einst Bonaventura beim Kirchenfürsten am großen vaterländischen Strome beobachtet hatte und die in dem dem Schönen abgeneigten Sinn desselben eher ihren Grund gehabt haben mochte, als im ascetischen Bedürfniß, so hatte doch Bonaventura hier sowol wie in seinen nächsten Zimmern die Spuren der Ueppigkeit seines Vorgängers so weit getilgt, als das dem Palast erblich angehörende Mobiliar von ihm verändert oder entfernt werden durfte ... Da lag nun Benno schon auf seinem einfachen Lager, verlangte von allem, was ihm zur Erfrischung angeboten wurde, nur ein kühlendes Citronenwasser, vor allem Ruhe und – allein zu sein mit dem geliebten Freunde, der an sein Bett niederkniete, um Benno's glühheiße Hand zu küßen ... Alle Umgebungen waren in Bestürzung über den Schmerz des Erzbischofs, – ... Noch dazu wurde ihm dies Erlebniß am Abend seines Namenstages ...

Der Majorduomo sorgte dafür, daß die Verwandten allein blieben und nur die Aerzte noch zugelassen wurden ... Auch zu einem Kloster der Barmherzigen Brüder wurde geschickt, um einen erfahrenen Krankenwärter zu holen ... Mit den von Fefelotti eingeführten Töchtern des heiligen Vincenz von Paula hätte man dem Erzbischof nicht kommen dürfen – ...

Die Freunde waren allein – allein mit dem letzten Strahl der Sonne, der sich durch die herabgelassenen Vorhänge stahl – allein mit dem Todesengel, dessen dunkler Fittich seit einiger Zeit von Bonaventura's Lieben nicht mehr weichen zu wollen schien – allein mit den Rückblicken auf ein so tief verfehltes Leben, wie es Benno geführt, auf ein so tief vereinsamtes, wie es Bonaventura mitten im rauschenden Gewühl der Zeit und der Welt führte ... Wie brachen die schönen freundlichen Sterne der Jugend wieder aus den Wolken, die sie so lange verschleiert gehalten hatten ... Wie klang ein Ton so wehmüthig und klagend durch die bangen Seelen der Freunde und sprach: Das, das wollten wir – und das haben wir gefunden! ...

Bonaventura's Lippen bebten, ob sie fragen sollten: Weißt du denn auch, wie dein irrend Leben gerade jetzt hier angekommen ist bei seinen ersten Anfängen – und daß die liebliche Armgart in unsrer Nähe weilt? Weißt du, daß ich aus Deutschland den Besuch meiner erkrankten Mutter, den Besuch Friedrich's von Wittekind, deines Bruders, soeben gemeldet erhielt? Wird dich denn auch, ohne ihre letzten Küsse, deine in der Schweiz genannte Mutter sterben lassen? Wird jene Verirrung, die für immer die Flügel deines Lebens knickte, Olympia, deinen Tod ertragen können, jene Circe, die deine Sinne verwirrte mit dem Zaubertrank ihrer – wer kennt den Inhalt der Mischungskünste, die eine Frauenhand bietet! Oder – nun kehrten ihm Klänge des längst abgebrochenen Briefwechsels wieder – war es deine eigene Seele, die dich berauschte, deine eigene Natur, die sich des Höchsten vermaß und sich doch besiegen ließ von dem, was die Menschen dir immer und du dir selbst als dein ärmstes deuteten – deinem Gemüth! ... Dankbar wolltest du sein –! Deutscher nicht mehr bleiben – seit du eine von Deutschen gemishandelte Mutter gefunden – und, fast möcht' ich nach deinen Briefen sagen, mehr noch – seit die Bandiera deine Freunde geworden, die Bandiera, die die Kugel des Henkertodes traf – Benno, Benno, welche Dämonen haben dich fortgeschmeichelt von Deutschlands Herzen und hinüber in soviel Irrgänge deines Lebens und in dies ersichtliche Ende! ...

Zehn Jahre –! sprach jetzt Benno mit einer dumpfen, heisern Stimme, die sich mühsam von seiner keuchenden Brust rang ...

Rege dich nicht auf! entgegnete Bonaventura und setzte sich auf den Rand des Bettes ... Schlummre! ... Du bedarfst nur der Ruhe! ...

Benno winkte, daß Bonaventura die Vorhänge am Fenster lüften möchte ... Er wollte den Erzbischof sehen, wollte vergleichen, wie auch ihn das Leben nach so langer Trennung gezeichnet hätte ...

Bonaventura erfüllte sein Verlangen und sah Benno's – noch volles, aber ergrautes Haar – ... Sein eigenes, war ebenso gefärbt ... Die Magerkeit des Erzbischofs hatte zugenommen ... Die glanzvollen Augen lagen tief in ihren Höhlen ... Furchen umgaben den Mund ... Aber die edle Bildung des Kopfes, die Gestalt selbst konnte durch die Spuren der Jahre nicht geändert werden und vielleicht der jüngste und noch immer jugendlichste Kirchenfürst in Roms Hierarchie blieb er nächst Vincente Ambrosi in Rom bei alledem ...

Bonaventura sprach von der Kunst der hiesigen Aerzte .... Vom Doctor Savelli, der das Leben der Gräfin Erdmuthe so lange erhalten hätte ... Von dem Arzt der Garnison, der sich auf den letzten Schlachtfeldern bewährt hätte ...

Benno schüttelte das Haupt und erwiderte:

Die Kerze ist – nieder ...

Bonaventura konnte solcher Schwäche gegenüber nichts entgegnen ... Man brachte den Erquickungstrank ...

Der Freund reichte ihn dem Verschmachteten und als er getrunken, winkte nach einer Weile Benno selbst, daß das Fenster wieder verhangen würde ... Fieber durchschüttelte ihn plötzlich ... Sogar auf die grünen Vorhänge des Bibliothekzimmers, durch die sich zu viel Licht stahl, deutete er ... Sie wurden zurückgeschlagen und dafür die Thürflügel ganz geschlossen ... Die Erschöpfung schien durch den Lichtreiz gemehrt zu werden ...

Bonaventura bat ihn vor allem, nur zu schweigen ... Reden und Denken griffe ihn ersichtlich an ... Nur fühlen, träumen sollte er – glücklich sein – ... Du bist – bei mir! sprach er mit der ganzen Innigkeit liebevoller Sorge und fast schon hätte er, an Armgart denkend, gesprochen: »Bei uns« – ...

In Benno's Auge, das wol von Armgart weit-, weitab irrte, traten Thränen ... Er schwieg und lehnte das Haupt zur Seite, jetzt in der That, wie um zu schlummern ...

Nun fast störte es, daß die Aerzte kamen ...

Sie nahten sich dem Lager, streiften die Decke auf und riethen, trotzdem daß der Kranke sich nicht bewegen konnte und mochte, ihn ganz von seinen Kleidern zu entblößen ... Die entzündete, den Lungen nahe Stelle, wo die Kugel sitzen mußte, war bald gefunden ... Der Kranke zuckte mit einem kurzen Schrei auf, als sie berührt wurde ... Die Kugel herauszunehmen hätte den sofortigen Tod veranlaßt ...

Im Blick der Aerzte lag die Andeutung, daß auch so die Auflösung schwerlich ausbleiben würde ... Die Ruhe, ja die starre, krampfartige Erschöpfung, in der sie den Kranken fanden, verordneten sie durch nichts zu stören ... Zwei Barmherzige Brüder, die inzwischen gekommen waren, wußten, was sie die Nacht über zu beobachten hatten ... Jetzt galt es, den von der Untersuchung seiner Wunde Ohnmächtigen sich allein zu überlassen ...

Bonaventura kehrte, die Hände gen Himmel erhebend, in seine hohen, so prachtvollen, durch die eigenthümlichen Anordnungen, die er ihnen gegeben, wohnlich umgestalteten Zimmer zurück ...

Sein einfacher Abendimbiß, der inzwischen aufgetragen wurde, konnte ihn nicht zum Niedersitzen bewegen ... Nur wie schwebend schritt er dahin, faltete die Hände und sah nieder wie ein Verzweifelnder ... Ein einziger Augenblick – wie hatte dieser so den Frieden um ihn her verwandeln können! ... Den Frieden! ... Hatte seine Seele Frieden? ... Erlosch um ihn her nicht ein Auge nach dem andern? ... Das tragische Geschick, das über sein Haus und über sämmtliche Angehörige desselben hereingebrochen schien, hatte er erst heute wieder gesehen, als vom Präsidenten die Nachricht gekommen, daß die Aerzte seiner Mutter den Aufenthalt im Süden vorschrieben ... Sie würden nach Neapel gehen, hatte der Präsident geschrieben ... So nahe dem Silaswalde! seufzte Bonaventura – und die Mutter bat ihn inständigst, vorher noch in Rom mit ihr zusammenzutreffen –! ...

Eben noch hatte Bonaventura an seinen Freund, den Cardinal Vincente Ambrosi, geschrieben – hatte sich ihm auf Besuch angemeldet ... Eben noch hatte er ihm die Nachricht mitgetheilt, daß Pater Speziano wagte, heimlich eine Nacht in Robillante sich aufzuhalten, in Begleitung des Doppel-Apostaten Terschka ... Wie mußte bei solchen Bildern die Erinnerung an die alten Tage des Glücks und der Hoffnung über ihn hereingebrochen sein ... Im Lehnsessel, am Schreibtisch, an feinem hohen Fenster hatte er gesessen und beim Abendläuten in die rosige Glut des Himmels geschaut ... Morgen war sein Namenstag ... An den schönen Strom der Heimat hatte er denken müssen, an sein kleines erstes Pfarrdorf Sanct-Wolfgang, an eine Gemeinde, wenn sie zum ersten mal den Namenstag ihres Seelsorgers feiert ... Das stille Leben eines Landpfarrers hatte ihm wieder als ein so beneidenswerthes Glück vorm Auge gestanden ... Er hörte die Frühglocke seiner Kirche; von seinem Gärtchen aus zählte er die Reihe der Kirchgänger; fühlte seine erste Pfarrersangst, ob ihrer auch genug kämen, um ihm die Beruhigung zu geben, daß sie ihn liebten ... Wieder sah er sich auf dem engen, kaum zum Umwenden ausreichenden Platz vor seinem Hochaltar, hörte seinen eigenen Gesang und in der markigen edlen Sprache der Heimat, die er nun schon so lange auf immer abgeschworen, seine Predigt ... Wie sah er denn auch nur gerade heute den alten Mevissen so ernst und feierlich in seinem Stuhl sitzen, den treuen Hüter der Geheimnisse, die so ganz, ganz anders, als vielleicht sein Vater gewollt, in sein Leben griffen ... Auch seines Kainsmaals gedachte er, jener noch immer unenthüllten Beichte Leo Perl's, eines Spuks, der ihn freilich nicht mehr wie sonst schreckte ... Die Jahre und die innern Revolutionen seiner Ueberzeugung hatten ihn allmählich bewahrt, über die Thorheit eines wahnwitzigen Priesters dauernd in solcher Verzweiflung zu leben, wie anfangs ... Das erzbischöfliche Pallium trug er nicht wie eine gleißnerische Hülle innerer Unwahrheit; mit sichrem Vertrauen auf seine Lebenskraft hatte er sich ein Ziel gesteckt, dem er nachlebte, ein Ziel, das nur durch den Hirtenstab eines mächtigen Bischofs erreicht werden konnte, ein Ziel, dem die Enthüllung seiner unvollendeten Taufe eine Glorie mehr werden sollte ... Als Lucinde von ihm mit dem Grafen Sarzana getraut wurde, hatte er mit ihr Frieden geschlossen (sie schickte ihm an jedem Namenstage, anfangs aus dem Kloster, der Lebendigbegrabenen, später aus Genua, dann aus Rom, das letzte mal aus Venedig, zu diesem Tage ein Angedenken und ihr diesjähriges war bereits wieder von daher eingetroffen – von ihrer alten Drohung, »ihn vernichten zu wollen«, war nichts mehr zurückgeblieben, als eine Art Superiorität, die ihr wenigstens in des Erzbischofs Nähe, z.B. bei ihrem Besuch in Coni eine Stellung sicherte, auch wenn andere sie eine Jesuitin, wol gar eine Brandstifterin nannten ... Ihr diesjähriges Geschenk war ein Kelch von Krystall, umsponnen mit silberner Filigranarbeit, eine Arbeit aus den Werkstätten Venedigs, von wo sie noch ihre Begleitzeilen datirt hatte ... Sie wäre auf dem Wege nach Rom, hatte sie geschrieben, »um den Raben auf den Leichenfeldern ihren Mann zu entziehen und ihn anständig begraben zu lassen« ... Wie hatte sich das alles mit den Jahren umgewandt! ... So weilten Bonaventura's Gedanken in fernen glücklicheren Zeiten – da kam diese neue trübe Mahnung an die Gegenwart ...

Bonaventura hatte nun den steten Anblick und Umgang Paula's, hatte die seltenste Freundschaft des Grafen, hatte die unermüdliche Sorgfalt Aller für sein Wohl, hatte die edelsten Freuden der Geselligkeit, jede nur erdenkliche Fürsorge und Ueberraschung, die sonst nur einem Gatten von seinem Weibe, einem Vater von seinen Kindern kommt – und doch fehlte das Glück ... Der Kampf mit Roms Hierarchie war ihm an sich eine Freude – er hatte hier und da offene und geheime Bundesgenossen – aber Inneres und Aeußeres in ihm war nicht ausgeglichen ... Nur das Nächste brauchte er zu betrachten – im Grafen sah er Krisen entstehen, die zu neuen Kämpfen der Seele führen mußten – und, blickte er in die Ferne, war denn jenes in die Ferne gerückte Räthsel des Eremiten, seines Vaters, gelöst? – – ...

Friedrich von Asselyn, sein Vater, war damals nur vor seinem Sohn aus Castellungo entflohen ... Er wollte todt sein und das Schicksal sendete ihm in seine Verborgenheit gerade den eigenen Sohn! ... Er erblickte darin die Entdeckung seines Geheimnisses ... Seit den lebensgefährlichen Abenteuern, die er bestehen mußte, lebte er jetzt im Silaswalde – ... Cardinal Ambrosi hatte erst vor Kurzem wieder geschrieben, daß sein Jugendlehrer dem muthigen Kirchenfürsten ewig Dank wissen werde für die Mühe und Sorge, die er ihm damals, mit Gefahr seiner hohen Würde, gewidmet; daß er ihn aber fort und fort beschwöre, bis zu einer bestimmten Stunde seiner Lebensspur nicht zu folgen, ja daß er ihm das heilige Versprechen abnähme, ihn bis dahin nie mehr unter den Lebenden zu suchen – ... Fiat lux in perpetuis! hatte diese erneute Bitte des Eremiten geschlossen ... Das Losungswort der Briefe, die ihm und dem Onkel Dechanten einst aus Italien gekommen waren – der Augenblick der Versammlung unter den Eichen von »Castellungo« an einem Sanct-Bernhardstage ... Noch lag dieser Tag um Jahre hinaus und doch mußte er bestimmend und bindend wirken ... Mußte nicht Bonaventura des Vaters Bitte schon um seiner noch lebenden Mutter willen erfüllen? ... Zu seiner Beruhigung diente, daß dem Vater ein treuer Wächter im Silaswalde geblieben war, sein Retter aus Räuber- und Mörderhand, jener kühne Laienbruder Hubertus ... Wie die Reise der Mutter nach Neapel in diese Räthsel eingreifen konnte, hatte sich der Sohn mit banger Spannung eben vergegenwärtigt ... Cardinal Ambrosi war inzwischen der innigste Vertraute seines Lebens geworden – nur wußte derselbe nicht, daß Federigo des deutschen Freundes Vater war; Vincente Ambrosi und Bonaventura hatten sich so gefunden, daß in den Zeilen, die er ihm eben geschrieben, jene Beziehung ausgenommen, sonst die geheimsten Saiten seines Innern widertönen durften ...

Ein Erzbischof kann, wie ein Fürst, nicht frei gehen und wandeln; er ist der Gefangene seiner Würde ... Im Speisezimmer wurde Licht angezündet und der Haushofmeister kam mit bittender Miene, Excellenza möchte sich nicht dem Mahl entziehen und die nothwendige Stärkung zu sich nehmen ... Der Erzbischof aß nicht allein ... Eine Anzahl Hausbewohner, Hülfspriester, Secretäre, Schüler, waren seine regelmäßigen Tischgenossen ...

Gelassen gab Bonaventura den Bitten nach, setzte sich zur Tafel auf seinen Ehrensessel und sah voll Wehmuth auf ein neben ihm liegendes Buch, das er befohlen hatte, heute Abend neben ihm aufzuschlagen ... Es war ein Theil der Werke des heiligen Bonaventura, denen er sich seines Namenstages wegen hatte widmen wollen ...

Es ist mein Namenstag morgen – sprach er mit leiser Stimme und im reinsten Italienisch; ich beschäftigte mich gerade mit unserm Doctor seraphicus ... Die Stelle, die ich vorlesen wollte, – (er blätterte mit seinen magern weißen Fingern) – ich kann sie nicht wiederfinden ... Lesen Sie, wandte er sich erschöpft zu einem jungen Vicar, der bei ihm den Freitisch genoß – eine jede Stelle wird auf unser Leben passen ...

Der junge Mann las, was er fand: »O wär' ich doch jener Baum des Kreuzes und wären die Hände und Füße des Gekreuzigten an mich geheftet gewesen, so hätt' ich zu jenen Menschen gesprochen, die ihn vom Kreuze abnahmen: Nimmermehr laß' ich mich trennen von meinem Herrn; begrabt mich mit ihm! Doch da ich das dem Leibe nach nicht thun kann, so thu' ich es der Seele nach. Drei Stätten will ich mir im Gekreuzigten erwählen; die eine in den Füßen, die andere in den Händen, die dritte in seiner Brust! Dort will ich athmen und ruhen! Dort wohnen, trinken aus dem Quell ihrer unaussprechlichen Liebe! Oft wandelt mich Furcht an, ich möchte herausfallen aus diesem Aufenthalt! Glückselige Lanze, glückselige Nägel, die ihr diesen Weg des Lebens uns öffnet! O wäre es mir vergönnt gewesen, jene Lanze zu sein, nimmermehr wär' ich dann aus dieser göttlichen Brust zurückgekehrt!« ...

Lästerung! unterbrach der Erzbischof plötzlich aufwallend und nahm das Buch an sich ...

Alle erschraken ... Doch bei näherer Besinnung war ihnen diese Kritik nicht befremdlich an ihrem Oberhirten, der die Wärme der Religion nur beim Lichte suchte ...

Er winkte mit der Hand und deutete an, daß man unbehindert den Speisen zusprechen sollte ... Da er selbst nur wenig aß, konnte er seinen Tischgenossen sagen:

Wohin verirrt sich nicht der spielende Witz einer Andacht, die mit der Feder in der Hand betet! ... Wahrheit! Wahrheit! ... Und vor wem denn mehr, als vor dem Herrn der Welten, vor dem Gedanken: Was ist die Ewigkeit! ...

Dann erzählte er von Benno's Leben – bis seine Thränen ihn hinderten ...

Der Haushofmeister, der am untern Ende der Tafel vorlegte, kannte Benno noch von seinem Aufenthalt in Robillante her ... Es war ein schlichter Mann, der dem Erzbischof von dort gefolgt war und Ordnung und Sparsamkeit in Fefelotti's Hinterlassenschaft gebracht hatte ... Daß der sich jetzt Cäsar von Montalto nennende, verwundete Vetter des Erzbischofs vom Kriegsschauplatz in Rom kam, war kein Geheimniß und mehrte das Interesse; in diesem Lande war das Urtheil über Italiens Angelegenheiten freigegeben ... Allgemein nahm man die Möglichkeit, in so krankem Zustand von Rom bis hierher reisen zu können, für ein Hoffnungszeichen möglicher Genesung ...

Bonaventura dachte anders ... Es hat ihn nur gezogen, hier sein letztes Lager zu suchen ... Noch einmal wollte er in seinen Anfang zurück ... So nur war ihm dies Suchen eines letzten Wiedersehens erklärlich ...

Das bescheidene Mahl war zu Ende, als das lebhafte Gehen der Thüren nach dem Schlafzimmer zu auf ein Vorkommniß im Zustand des Kranken schließen ließ ... Der Erzbischof erhob sich eilends und ging in die anstoßenden Zimmer ... Alle folgten ... Einer der Brüder kam ihnen mit einem Gefäß voll Schnee entgegen, den man anwenden wollte, um den Blutandrang zum Kopf des Kranken zu mildern ...

Bonaventura hörte ihn laut phantasiren ... Als er näher gekommen war, fand er Benno hochaufgerichtet im Arm des andern Bruders, seiner nicht bewußt – auch Bonaventura nicht erkennend ... Es schien, als befehligte er noch auf den Breschen der Mauern Roms – als riefe er die Wankenden zusammen ... Mit erhöhter Stimme sprach er bald italienisch, bald deutsch, bald englisch ... Er redete Personen an, die er leibhaft vor sich sah ... Sarzana! rief er und lachte sogar ... Da haben Sie's denn nun! ... Leichenbruder! ... Auch Hamlet hatte erst Muth, als eine Ratte hinter der Wand raschelte! ... War's nicht so auch mit Ihnen, Ihrer neuen Loge damals –? ... Stehen Sie jetzt auf, Sarzana! ... Ich bitte Ihnen ab, daß ich Sie für einen Verräther hielt ... Ein tollerer Hamlet waren Sie freilich noch als ich ... Achtung aber der Dame, die da kommt und die eine Krone zu tragen würdig ist – Nein – es ist – ja nur die Kammerjungfer – ...

Bonaventura las aus Benno's wilden und lachenden Mienen die Erinnerungen, die ihn quälten ... Die letzteren schienen Lucinden zu gelten ... Er redete dem Freunde zu, sich zu fassen ... Seine Hand strich ihm das Haar aus der Stirn ...

Endlich schien der wie von Gespenstern verfolgte und wie um Hülfe bittende Blick des Phantasirenden den Freund zu erkennen ... Seine wilde Rede stockte ... Das Auge starrte um sich; der Kopf neigte sich zum Kissen zurück und nur die abwehrenden Hände verriethen, daß die Gedanken des Leidenden keine heitern waren ... Fort! Fort! rief er und suchte sich der Annäherung von Menschen zu erwehren, dann murmelte er vor sich hin in jetzt nicht mehr zu verstehenden Lauten ... Allmählich trat eine Entkräftung ein, so bedenklich, daß die hinzugekommenen Aerzte dem Bewußtlosen Stärkungen einflößen mußten ... Darüber verfiel er in einen Halbschlummer ...

Inzwischen war im Nebenzimmer ein Bett aufgeschlagen worden ... Bonaventura hatte angeordnet, daß hier, in seiner Bibliothek, sein Nachtlager sein sollte ... Man beschwor ihn, seiner selbst zu schonen – Morgen in erster Frühe wollte er die Messe lesen ... Er erwiderte: Nachtwachen bin ich gewohnt ... Dann trat er ans Fenster und deutete an, daß ein Unwetter heraufzöge; man möchte die Fenster schließen und sich zur Ruhe begeben ... In der That brauste ein plötzlicher Wind, warf offenstehende Thüren und Fenster ... Man entfernte sich und ging scheinbar zur Ruhe ... In Wahrheit schmückte man heimlich den Palast zum morgenden Feste ...

Der Kranke lag, als Bonaventura an sein Lager zurückkehrte, in Schlummer versunken ... Sein Athemzug ging schwer und ungleichmäßig ... Die Brüder schlossen nebenan die Fenster und Thüren – das Brausen des Windes nahm zu ... Auch die Thür, die das Schlafcabinet vom Bibliothekzimmer trennte, wurde wieder geschlossen ... Bonaventura trat in letzteres zurück und war nun allein – unter seinen Büchern, von denen die meisten ihm über die Alpen (ohne Renate, die gutversorgt daheimgeblieben bald nach der Trennung von ihrem Pflegling starb) nachgekommen ... Seine Studirlampe brannte auf dem grünbehangenen Tische ... Die Glocken schlugen zehn ...

»Nachtwachen bin ich gewohnt« ... Bonaventura war es schon in seinen glücklicheren Tagen ... Wie viel mehr in denen, die seiner Reise nach Wien folgten ... Seinen Brief an Ambrosi holte er hervor ... Ambrosi hatte dem Heiligen Vater auf seiner Flucht folgen müssen ... Nun zog er wol wieder mit ihm in Rom ein ... In Rom, wohin auch ihn, den Sohn – die Mutter rief ... Bonaventura hatte vor zehn Jahren Rom nur flüchtig kennen gelernt ... Damals war er als ein Angeklagter erschienen, anfangs in seinen Schritten gehemmt, dann, als sich alles zum Guten wandte, von Huldigungen der maßlosesten Art, durch die Herzogin von Amarillas, Olympien, Lucinden, am wenigsten freigegeben ...

Damals war Benno bereits durch die Hülfe der Frauen gerettet ... Die Herzogin von Amarillas hatte sich mit Olympien durch die Sorge um ihren Sohn ausgesöhnt ... Daß Benno ihr Sohn, verkündete sie nun selbst; ihr verzweifelndes Muttergefühl hatte ohne jedes Besinnen den Schleier des Geheimnisses zerrissen – und Lucinde, die vorher so gefürchtete Mitwisserin des Geheimnisses, wurde nun ohne Scheu die Dritte im Bunde; die Herzogin hatte jede Demüthigung vergessen ... Zwei Menschen gab es nur, die helfen konnten, Olympia und Lucinde – ihr erschienen sie jetzt wie Engel und gottgesandte Heilige ...

Als Benno in Sicherheit war, errichteten die Frauen Pforten des Triumphes für Bonaventura ... Fefelotti mußte ihn von ganz Rom wie auf Händen getragen und sogar vom Heiligen Vater begnadet sehen ... Ermüdet und beschämt von soviel Glück und Erfolg, hatte Bonaventura den Trost, zu sehen, daß seine Sache wenigstens von einigen unabhängigen Männern und Richtern aus Ueberzeugung gefördert wurde ... Er hatte gehört, daß seine Angelegenheit besonders freundlich Ambrosi vertrat ... Diesen seltsamen Menschen, für den er ja selbst in Robillante Bischof geworden und von dem er mit doppelt begründeter Rührung vernommen, daß sein Vater ein Professor in Robillante war, der auf einer Alpenwanderung, wo Vermessungen von ihm vorgenommen werden sollten, umgekommen – diesen besuchte er jetzt ... Wie drängte es ihn, zu hören, ob sein Vater, der einen solchen Tod nur fingirt hatte, wirklich als Lehrer oder Verführer zu ketzerischen Gesinnungen mit ihm in näherer Verbindung stand ...

Im früheren germanischen Collegium liegt die »Custodia der Reliquien und Katakomben« ... In dem untern Geschoß des düstern Palastes befinden sich lange, an den Fenstern vergitterte Säle, in denen die alten Steinsärge ihres Inhalts entleert, die vermoderten Knochen gesäubert und in grünangestrichene Kisten gesammelt werden ... Nach den Inschriften der Särge werden die Namen der Bekenner festgestellt ... Findet man kleine Phiolen mit einer eingetrockneten Flüssigkeit, die vielleicht Blut war, so hegt man die Ueberzeugung, die Knochen eines Märtyrers gewonnen zu haben ... Ueberall liegen hier Glassplitter, zerbrochene thönerne Lampen, selbst Kleiderreste einer uralten Vergangenheit ...

Soeben war Cardinal Ambrosi beschäftigt, einen von einem Professor des Collegiums, einem Jesuiten, »getauften« heiligen »Xystus« nach Amerika zu versenden, wo man in Mexico das dringendste Bedürfniß ausgesprochen und viel Geld darum nach Rom gesandt hatte, für eine neugebaute Kathedrale den kostbarsten Schmuck in einem heiligen Reliquienleib zu besitzen ...

Bonaventura wartete in einem Nebenzimmer und gedachte an das Wort: »Ich ziehe in die Katakomben!« ein Wort, das Frâ Federigo zu Klingsohr und Hubertus gesprochen hatte ... Ueber Hubertus hatte sich Bonaventura schon bei Klingsohr beruhigt, den er mehrmals in Santa-Maria besuchen wollte, endlich nur im Archiv des Vatican fand, wo Pater Sebastus die deutschen Schriften excerpirte, die Rom auf den Index setzt – Wohl eine Thätigkeit, die Bonaventura an Benno's Wort vom Vatermorde erinnern konnte, dessen dieser den Sohn des Deichgrafen mehr bezichtigte, als seinen eigenen Vater, den Kronsyndikus ... Klingsohr's demüthiger Brief aus San-Pietro in Montorio nach Robillante, den Lucinde damals besorgen sollte und besorgt hatte, stand im auffallendsten Widerspruch – mit einer Cigarre, die Pater Sebastus am offenen Fenster in der Nähe der Loggien des Raphael zu rauchen wagte ... Soviel stand fest – die Situation hier oben, dieser Blick auf die Größe Roms, dieser heraufströmende Duft aus den lieblichen Gärten des Vatican – es verlohnte sich, mit dem deutschen Vaterland, mit Schiller, Goethe, Kant gebrochen zu haben ... Klingsohr analysirte sein Glück mit der ganzen Kraft der ihm zu Gebote stehenden poetischen Reproduktion – ... Die »dummen, albernen Wahngebilde« in den Büchern vor ihm, die ewige Schönheit Raphael's um ihn her – auch Lucindens beseligende Nähe – alledem wußte der kahlköpfige, hektisch hustende Mönch goldene Worte zu leihen ... Von Hubertus berichtete er, daß dieser den Pilger von Loretto aus der Gefangenschaft der Räuber mit Lebensgefahr befreit hatte, dann aber leider, den Verfolgern ausweichend, mit dem Geretteten nach dem Süden verschlagen wäre ... Hubertus unterhandelte damals mit dem General der Franciscaner um die Erlaubniß, in dem Kloster San-Firmiano, am Eingang in den Silaswald, für immer bleiben zu dürfen und schon hatte seine Bitte die Unterstützung Lucindens und Ceccone's gefunden – Beide waren froh, den Unheimlichen in der Ferne zu wissen ... In ruhiger Ergebenheit ließ Bonaventura Klingsohrn die Gelegenheit, alle Erfahrungen seines Gemüthes gegen einen Mann durchzusprechen, der ihm so mannichfach nahe stand ... Und wie orakelte Klingsohr! ... Am längsten verweilten seine Einfälle und Paradoxen diesmal beim Leben – der »Thierseele« ... Hubertus sollte den Pilger mit Hülfe eines Hundes, ohne Zweifel des seinem Herrn bis nach Loretto und dann bis an die Bai von Ascoli nachgelaufenen »Sultan« entdeckt haben ... Den Pilger selbst charakterisirte Klingsohr als einen Deutschen, der der alten Zeit des Turnerthums und der Romantik entlaufen wäre und »sozusagen Eichendorff ins Protestantische übersetzt hätte –«, wahrscheinlich hätte er in Loretto »die Andacht statistisch studiren« und das hochheilige Wunder von der durch die Lüfte nach Loretto getragenen Heilandskrippe in der Darmstädter Kirchenzeitung lächerlich machen wollen ... Grizzifalcone hätte einen scharfen Blick verrathen, als er diesen Mann zu seinem Schreiber machte ...

Bonaventura hielt seinen heftigsten Zorn und Unwillen zurück und rühmte nur die Bildung des Verschollenen ...

Klingsohr räumte diese ein und erzählte: Als wir in einer Nacht im Walde campirten und ich nicht schlafen konnte, sang er, neben mir im Moose liegend, ein provençalisches Lied ... Von einer edlen Dame, glaub' ich, der ein in den Kreuzzug ziehender Ritter seinen Hund und seinen Falken zurückläßt ... Ich übersetzte es – glaub' ich:

Weil ich Dich, Liebste, lassen muß,

Wie darf ich je noch fröhlich werden!

Nimm hin noch mit dem letzten Kuß

Das Liebste mir nach Dir auf Erden! – –

Bonaventura ging dann erschüttert ... Er sah ja den Abschied des Vaters von Gräfin Erdmuthe ... Als er erfahren hatte, daß sich in Santa-Maria vielleicht eine Möglichkeit fand, mit dem Silaswald in Verbindung zu treten, als Klingsohr mit elegischem Aufschlag seiner schwimmenden hellblauen Augen von Lucindens Macht und Einfluß und, Bonaventura's fast spottend, von ihrer baldigen Grafenkrone gesprochen hatte, verließ er ihn, um ihn nicht wiederzusehen ... Klingsohr behandelte ihn, im Hinblick auf Lucinden, mit Vertraulichkeit, fast Protection ...

Es währte eine halbe Stunde, bis Ambrosi, den er für fernere Nachforschungen im Silaswalde zu interessiren hoffte, sich ihm widmen konnte ... Er sah sich die auch in seinem Wartezimmer befindlichen alten Marmorsärge an ... Auf allen Verzierungen derselben fanden sich die nämlichen Embleme des Glaubens an Auferstehung ... In roher Darstellung, ohne Zweifel von Fabrikhänden gefertigt, waren die Verstorbenen als Jonas im Bauch des Walfisches dargestellt, ein Mythus, der den Formen der Schönheit wenig entgegenkommt – ebensowenig wie der auf allen Särgen wiederkehrende Fisch, der in seinem griechischen Namen die Anfangsbuchstaben für Jesus und seine Erlöserwürde ausdrückt ...

Endlich erschien der Cardinal ... Bonaventura fand eine kleine Gestalt, von weiblichweichen Formen, von einer noch ebenmäßigeren Schönheit, als sie ihm oft war geschildert worden ... Ambrosi's Lächeln war sein, sarkastisch sogar, seine Sprache sanft und melodisch ...

Was er Bonaventura zur ersten Begrüßung sagte, schien ein Herzensbedürfniß auszudrücken, das schon lange von ihm genährt wäre und in dem Wunsch nach inniger Bekanntschaft mit einem Manne bestünde, der einen Bischofssitz einnahm, der vor einem Jahre ihm bestimmt gewesen ...

Nach Entschuldigungen dann für die Eile, die die Verpackung des heiligen Xystus hätte, da ein Segelschiff in Civita-Vecchia nach Mexico bald die Anker lichte, nach den ersten schärferen Forschungen in der Natur der beiden sich in ihrem innern Grund bereits bekannten Männer, sagte Bonaventura beziehungsvoll:

Es weht mich aus diesen Symbolen, so unschön die Formen sind und so – man kann wol sagen, roh, einem Bauer gleich, die Gestalt Jesu abgebildet wird, doch eine seltsame Weihe an ... Man sieht einen nächtlichen Gottesdienst geheimnißvoller Verbrüderung in einer unterirdischen Krypte ...

Die nahe Erwartung des Heils liegt in diesen mystischen Zeichen! sprach Ambrosi und führte seinen Besuch an den Steinsärgen entlang, auch an noch uneröffneten ... Der Geruch in diesen Sälen war peinlich genug; die Stimmung aller Anwesenden seltsam beklommen; nicht gerade des Moders wegen, sondern wie im verschütteten Pompeji nicht Ein Glasscherben von den Arbeitern mitgenommen werden darf, so hier keiner dieser einträglichen Knochen, die im Preise von Juwelen standen ... Ein Priester mußte den andern bewachen und die Wächter hatten wieder über sich ihre Wächter ...

In der That – als wenn man eine Orphische Nachtreligion mit geheimnißvollen Wunderzeichen dargestellt sähe! sprach Bonaventura, staunend über die an den Särgen angebrachten Basreliefs ...

Der Cardinal unterrichtete seinen Besuch über die neuesten Forschungen in den Katakomben ... Dann sagte er: Die Gleichheit aller Särge und die gemeinsame Begräbnißstätte erweckt die Vorstellung von einer fast familienartig zusammenhängenden Gemeinde ...

Inzwischen wurden dem Cardinal eine Kerze und Siegelwachs entgegengehalten ... Ein großes Petschaft zog er aus seinen Kleidern und versah mit dem Wappen der gekreuzten Schlüssel und der dreifachen Krone die Stricke und die Nähte der Emballage ...

Nachdem wollte der Cardinal seinen Besuch in die obern Zimmer führen; wieder fand sich eine Störung ... Gleichsam als käme alles zusammen, was den Gedanken wecken mußte: Sind denn das nicht Heuchler, die einen gottseligen Sinn haben wollen und solchem Aberglauben huldigen? – traten ihm die Superiorin, die Vicarin und Sacristanin der »Lebendigbegrabenen« in ihren braunen Röcken und weißen Schleiern als Abgeordnete ihres Klosters entgegen, um das Fürwort des jüngsten der Cardinäle für die Heiligsprechung ihrer Mumie zu gewinnen ... Sie verneigten sich tief ... Ambrosi nahm ruhig ein Verzeichniß aller Wunder entgegen, die weiland Eusebia Recanati schon bewirkt haben sollte ...

Bonaventura sah, daß Ambrosi nicht lächelte, sondern ernst die Blätter überflog, sie zu sich steckte und die Angelegenheit der Nonnen zu prüfen versprach ... Beide begegneten sich als katholische Priester ... Beide waren erzogen und emporgekommen in ihrem Beruf ... Jedenfalls kannten sie keine Reform, als die auf Grundlage des katholischen Lebens ... An einen Uebertritt zum Lutherthum denkt nicht der alleraufgeklärteste, nicht der allerunabhängigste unter den Katholiken ...

Als die Nonnen sich entfernt hatten, saßen zwei Menschen, Heilige, wie sie oft genannt wurden, sich gegenüber und forschend ruhten auf einander ihre Blicke ... Der eine war ein Märtyrer des Duldens und stand deshalb jetzt erhöht ... Der andere wurde immer verfolgt und entfloh nur von Würde zu Würde ... Jener ein contemplativer Charakter, dieser zum Handeln und zur praktischen Bewährung geneigt ... Die Ruhe beider die gleiche; beim einen war sie ein Wachen wie über einen Schatz von schönen Hoffnungen, die alles Leiden endlich belohnen würden, beim andern wie über einen Schatz voll Ergebung, dem kein neues Leiden mehr eine Ueberraschung bieten konnte ...

Ambrosi lobte Bonaventura's Eifer für die Waldenser, nicht weil er ihre Lehre billigte, sondern weil die Waldenser ihre Rechte hätten ... Voll Theilnahme und beruhigend sprach er über den Eremiten, den er einen Landsmann des neuen Erzbischofs nannte und im Silaswalde wußte ... Die Berichte, die er gab, bestätigten, was Bonaventura inzwischen schon zu seiner Beruhigung erfahren hatte ...

Als Bonaventura von Frâ Federigo nähere Kunden zu hören wünschte, wich allerdings sein Gönner aus und rühmte nur – die Gegend um Robillante ...

Auf einsamen Wegwanderungen hab' ich da die großen Begebenheiten kennen gelernt, die dem Einsamen Stoff zur Betrachtung geben – sagte er ... Mein erstes Evangelium war tagelang ein Vogel oder eine Wolke ... Als ich später in die Schule, ins Seminar, ins Kloster kam, fand ich freilich, daß ich infolge dieses Träumens alles, was eine Unternehmung werden sollte, linkisch anfaßte; der Erfolg war immer kleiner, als meine Absicht ... Da begann ich nichts mehr und nun hatt' ich alles ...

Gefahrvoll für die Welt, griffe solcher Quietismus um sich! ... sagte Bonaventura mit aufrichtigem Tadel ...

Darauf machte mich Frâ Federigo aufmerksam, dem ich mein Leiden klagte ... fuhr der Cardinal mit voller Zustimmung, offenbar über seine Worte wachend, fort ...

Warum suchten Sie ihn auf? ... fragte Bonaventura ...

Ich wollte deutsch von ihm lernen, um in die Schweiz zu reisen ... Ich brachte es nicht weit ... Ihre Heimatsprache ist schwer und wir plauderten wenig über die Grammatik, mehr über Gott und die Welt ...

Bonaventura sah den Einfluß seines Vaters auf den jungen Theologen und fragte:

Sie wußten, daß Sie mit einem Ketzer sprachen? ...

Das wußt' ich ... Ich ging auch mit großer Angst zu ihm ... War ich aber bei ihm und es wurde Nacht und ich ging dann heim, so erschien ich mir wie Jakob, der auf dem Felde einem Engel begegnete und im Nebel mit ihm rang ... Ich kämpfte oft einen Riesenkampf gegen diese mächtige Erscheinung und doch suchte ich meinen Gegner wieder auf, gerade weil ich bei ihm die Kraft fand, um mit jenem Engel im Nebel, mit Gott zu ringen ... Jeder Schlag, den ich von Gottes allmächtigem Geist empfing, verbreitete Kraft durch meine Glieder ... Sie hatten Recht, mein theurer Bruder, sich für diesen edlen Landsmann zu verwenden ... Ich denke, Sie sind jetzt über ihn beruhigt? ...

Bonaventura's Brust hob sich mit dem Gefühl der Beseligung und zugleich der Spannung auf die Möglichkeit, daß Ambrosi seine nähere Beziehung zum Eremiten kannte ...

Ist es wahr, begann er nach einigem Schweigen, während dessen seine Augen umirrten, daß Sie doch zuletzt vor seinen Lehren geflohen sind? ...

Der Cardinal erröthete, wie öfters, so auch jetzt – gleich einem Mädchen ... Dann wiegte er den schönen Kopf wie über die Seltsamkeit aller solcher Gerüchte und über sein Antlitz verbreitete sich ein mildes Lächeln ... Er hatte geschwiegen, aber seine Geberden sagten ein Ja! und wieder auch ein: Nein! ... Nur ein Italiener oder ein Orientale besitzt die Fähigkeit eines so ausdrucksvollen Mienenspiels ...

Ein Mönch zu sein! fuhr Bonaventura beobachtend fort. Konnte – Sie das so reizen – so zu den staunenswerthesten Entbehrungen –? ...

Ein Mönch in alten Tagen, unterbrach der Cardinal die ihm dargebrachte Huldigung mit lächelnder Miene, war ein lebensmüder Einsiedler ... In den unsern bedeutet er entweder weniger oder – mehr ... Ich stellte mir mit meinem Verlangen nach Gott eine Aufgabe ... Ist es nicht mit unserm ganzen Glauben so, daß wir unsere Schultern nur zum Tragen göttlicher und unsichtbarer Dinge stärker machen wollen? ... Diese Reliquien, diese Seligsprechung, von der Sie eben hörten – diese rechne ich auch zu dem, was mit dem Baldachin des Himmels, der Offenbarung, der Verehrung für überirdische Dinge überhaupt zu tragen ist ... Warum tragen wir es noch und handeln danach? ...

Noch? wiederholte Bonaventura ...

Ein flüchtiges Zittern bewegte die Augen- und Mundwinkel des Cardinals ... Wieder folgte ein viel sagendes Mienenspiel, ein beredsames Schweigen ... Wie mit plötzlicher Erleuchtung glaubte Bonaventura eine Vision zu sehen ... Dieser Priester, sagte er sich, ist ein Schüler deines Vaters! ... Alle Grundsätze desselben hat er eingesogen! ... Um sie in die katholische Kirche einzuführen trachtete er danach, eine hohe Würde zu erklimmen, die ihm möglich machte, Reformator mit Erfolg zu sein ... Unter allen Mitteln, um zu steigen, wählte er das – eines Lebens der Ascese ... Bonaventura gedachte der Mahnung an die Eichen von Castellungo, an den Tag des heiligen Bernhard, an den Tag, wo Scheiterhaufen oder göttliche Läuterungsflammen der Kirche sich erheben würden ... Fiat lux in perpetuis! schwebte auf seinen Lippen ... Schon wollte er die geheimnißvolle Losung aussprechen ...

Da fuhr der Wagen mit dem heiligen Xystus vom Hause ab ... Nicht zu weit entfernt vom Sopha, auf dem sie saßen, stand ein Tisch, auf dem eine Anzahl jener gelben, wie Ockererde zerbröckelnden Reliquienknochen lag ... So mußte er seine Vision wol als eine Vorstellung des Wahns wieder von seinen Augen bannen ...

Sie sind befremdet, sprach der Cardinal, der ihn so in Gedanken verloren fand, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich diesem Ihnen vielleicht verdrießlich erscheinenden Amte sogar mit Liebe obliege? ... Es erinnert mich doch gewiß an Eines – an den Tod, der unser aller sicherstes Loos ist ...

Aber diese Reste der Vergangenheit verehren? entgegnete Bonaventura mit wiederkehrendem Muthe ... Sogar Wunder verlangen von diesen – todten Knochen? ... Ich habe in meinem Wirken als Pfarrer und Bischof die Reliquienanbetung – nie unterstützt ...

Es war ein gewagtes Wort, das Bonaventura gesprochen – ... Der Cardinal nahm es ruhig hin ...

Der Aufgeklärte und Denkende, sprach er, wird immer trauern, wenn er sieht, daß diesen todten Resten der Vergangenheit eine göttliche Ehre erwiesen wird ... Aber trägt man denn nicht auch den Ring einer Geliebten, das Haar einer theuern Mutter, und treten Sie nicht mit feierlichem Gefühl in die Gruft der Scipionen, die Sie auf der Via Appia finden? ... Ist nicht der Besuch der Gräber die heiligste Gelegenheit, unsere irdischen Gedanken zu läutern und von uns so vieles abzustreifen, dem wir allzu thöricht nachjagen? ... So möcht' ich auch diese Gebeine, die man tausend Jahre lang heilig hielt, nicht sofort, wie die Sansculotten mit den Gräbern der französischen Könige in Sanct-Denis thaten, auf die Straße werfen ... Aber den wahren Sinn des Sicherinnerns im Kirchenleben wünsch' ich allerdings gedeutet und die Verehrung vor den Reliquien nur zu einer Sache der Dankbarkeit gemacht ... Bewundert doch, möcht' ich rufen, den Zusammenklang der Zeiten! Diese von uns fortgeführte Melodie alter Hoffnungen und Tröstungen! ... Wer kann die Heiligen mit einem Federstrich tilgen! Sie leben so gut wie Christus ... Aber auch hier: Sie können immer mehr dem rein äußerlichen Bann ihrer Bilder entschweben, können immer mehr in ihren irdischen Farben erbleichen und vergeistigt in die Herzen der Menschen einziehen – das soll und muß und wird kommen – ... Aber wie soll unsere Kirche diese Formen so schnell zertrümmern ohne Gefahr, auch das Gute zu verlieren, das sich an sie knüpft? ... Zumal in südlichen Ländern, wo Jahrtausende hindurch die Religion nur auf dem Weg der Phantasie in die Herzen zog ...

Bonaventura sah die Richtung seiner eigenen Stimmungen ... Auch ihn band Pietät ... Doch hatte sein Glaube angefangen, alles auf die Bibel zu geben ... Und er sagte dies ...

Sorgen Sie nur, daß sie alle lesen können! ... erwiderte der Cardinal mit einem Seufzer ...

Das Bild des Aberglaubens im Volke, der Unbildung der Massen lag nun ganz vor den beiden freigesinnten Priestern ... Ambrosi hörte die beredte Schilderung des Bischofs, wie Deutschland so weit voraus wäre ... Wie Italien dagegen zurückstand, zeigte die Erinnerung an die Gefangenschaft Federigo's unter den Räubern – alle ihre Qualen verdankte der Unglückliche allein seiner Schreibekunst ...

So sprachen beide noch lange fort und Bonaventura ahnte die Erfüllung seiner kühnsten Träume in den Gedanken einer gleichgestimmten Seele ... Die Formen der katholischen Kirche aufzugeben und so zu denken, wie Luther dachte, war ihnen nicht gegeben – sie wollten diese Formen zurückgelenkt sehen in die Bedürfnisse des Gemüths, diese geläutert durch einen Geist, dessen allgemeiner Ausdruck die Anerkennung der bisher im katholischen Kirchenleben verpönten Bibel war ... Im Haß gegen die Gesellschaft Jesu waren sich beide gleich; beide gelobten, sie mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen ... Das läßt mich meinen Krummstab lieben, daß er in diesem Feldzuge ein Commandostab ist, keine schwache einzelne Kriegerwaffe –! ... sagte Bonaventura ... Bald verrieth Ambrosi's leuchtendes Auge, daß auch ihm der Protest eines einzelnen Pfarrers oder Mönches nur ein Tropfen auf einen glühenden Stein war; das zischt auf und hinterläßt nichts, als ein wenig Rauch ... In der Frage, die er dann an den Bischof richtete, ob er diesen oder jenen Namen der Hierarchie schon kannte, lag die Andeutung, wie schon die Zahl der Gegner Ceccone's und Fefelotti's im Wachsen war ...

Bonaventura versprach, sich den genannten zu nähern ... Die hohe Wonne, die dem Menschen Uebereinstimmung gewährt, verklärte sein Angesicht ... Noch mehr, selten ist das Glück gewährt, noch in späteren Lebensjahren, in Stellungen, die den Anschluß der Herzen nicht mehr erleichtern, eine Freundesbrust zu gewinnen ... Das hob ihm jetzt die seinige ... Das Gespräch wurde lebhafter und zutraulicher ... Diesem Priester, den Bonaventura einen »heiligen Scheinheiligen« hätte nennen mögen und mit mancher ähnlichen Erscheinung der Kirchengeschichte, mit Philippo Neri verglich, hätte er sich ganz entdecken mögen ... Kämpfend mit dem, was in ihm hindernd noch dazwischenlag und doch schon auf sein Bedürfniß der vollen Hingebung zielend, sagte er:

So vieles in unserm Glauben ist wie die Beichte ... Auch ihr liegt eine Erfahrung des Gemüths zum Grunde, die ohne höhere Einbuße niemanden entzogen werden kann ... Aber wie sie jetzt besteht, ist sie doch der unwürdigste Zwang ... Eine Zeit wird kommen, wo man erkennt, daß sie dem Priester das Unmögliche zumuthet ... Was drückt unsere innere Würde mehr als die Beichtbürden, die wir tragen, ohne das Gute befördern, das Schlechte, das wir erfahren, verhindern zu können ... Wenn die Unmöglichkeit und der nothwendige Heuchelschein des katholischen Priesterthums erst erkannt sein wird, dann – ...

Bonaventura brach ab und erhob sich, weil ein Geräusch vernehmbar wurde ...

Auch der Cardinal erhob sich und betrachtete Bonaventura mit heißen, glänzenden Augen ...

Ich möchte nur von dem die Beichte hören, dem ich sie selber spräche, sagte er ... Ein Austausch des Vertrauens unter Freunden – ...

Ihnen – – könnt' ich wahr sein – ... wallte Bonaventura in seiner deutschen, vom Herzen kommenden Regung auf und hielt dem Cardinal die Rechte hin ...

Der Cardinal nahm sie zitterndbewegt – ...

Da trat einer der Caudatarien ein und erinnerte an die vorgerückte Stunde ... Eine Sitzung des Consistoriums rief ihn ab ...

Der Caudatar ließ die Thür offen, durch die er gekommen und wieder gegangen war, und harrte im Nebenzimmer ...

Es handelt – sich heute – um Ihre Ernennung zum Erzbischof von Coni – sprach Ambrosi tief bewegt. Sie sollen an die Stelle Fefelotti's kommen ...

Bonaventura's Mienen drückten einen Schmerz aus, als trüg' er zu schwer schon an seinem gegenwärtigen Kleide des Nessus ...

Der Cardinal winkte ihm – zu schweigen – Die Zahl der Diener, die draußen harrten, mehrte sich ...

Denken Sie an Ihren Commandostab! sprach er ... Es muß ein Feldherrnstab sein –, den wir in unsern Händen haben! Was ist ein – einzelnes Kriegerschwert! ...

Der Ton dieser Worte war so muthig, so offen – daß Bonaventura seine Vision bestätigt sah ... Ambrosi hatte Jahre lang sich selbst getödtet, um eine Auferstehung zur That zu feiern ... Kein Zweifel, daß diese Annahme die richtige war ... Und nun hätte er weiter forschen, von seinem Vater beginnen mögen, fragen, ob nie über dessen Herkunft, über dessen frühere Verhältnisse von ihm gesprochen wurde – nur seiner Mutter wegen hemmte er den Drang der Mittheilung, der immer höher stieg – Endlich begann Ambrosi, der Umgebung lauschend, von gleichgültigen Dingen ... Ein Schimmer von List sogar blitzte aus seinem Antlitz ... Einige Worte wagte er in deutscher Sprache; seine Gedanken wurden nicht klar; er sprach wieder italienisch ... Anerkennend urtheilte er von Klingsohr's Gelehrsamkeit ... Vom Bruder Hubertus sagte er:

Dem kommt es zu statten, daß der geistliche Stand im Süden Europas etwas anderes ist, als im Norden ... Unsere Mönche sind schwer an ihre Regel zu bannen ... Sie ergreifen jede Gelegenheit, ihrem Temperament zu folgen und viele gibt es, die immer unterweges sind ... Aufträge gibt es genug und wenn sonst kein Entschuldigungsgrund vorliegt, wird dem Drang zum Betteln als einer heiligen Vocation Gehör gegeben ... Ich war zugegen, wie der Todtenkopf den Auftrag erhielt, den Bischof von Macerata zu befreien, und noch dringender, den Gefangenen des Grizzifalcone, den Pilger von Loretto ... Eines gelang ihm durch List, das andere, hör' ich, durch wunderbare Abenteuer, an denen – sogar die Treue eines Hundes betheiligt ist ... Der Cardinal erzählte, was Bonaventura durch Klingsohr wußte ...

Die Vertraulichkeit kehrte wieder ganz zurück ... Mit leiser Stimme gaben sich diese Gefangenen ihrer Würde der Geständnisse immer mehr ... Ambrosi gab die Bestätigung der Schilderungen, die Bonaventura von Benno nach seiner Befreiung von Frankreich aus über die Loge bei Bertinazzi und den Brief Attilio Bandiera's erhalten hatte ... Bonaventura hörte die Vermuthung, daß sein unglücklicher Vater in seiner Gefangenschaft die Doppelrolle Grizzifalcone's hatte unterstützen müssen, die Dienste, die er dem Fürsten Rucca im Interesse der römischen Finanzen und die er dem Cardinal Ceccone im Interesse der Politik leisten sollte ... Nur angedeutet zu werden brauchte diese Vermuthung, um auch die Gefahr auszusprechen, in die sich Federigo gestürzt haben würde, wenn er, durch die Kunst der Federführung zum Vertrauten des verschmitzten, beutegierigen Räubers geworden, nach Rom gekommen wäre und seine Geständnisse wirklich dem alten Rucca hätte aus dem Gedächtniß wiederholen wollen ... Ich würde sagen, schloß der Cardinal, vom erglühten Aufhorchen seines Besuches nicht zu auffallend befremdet, ich würde sagen, beide, der Gefangene und sein muthiger Befreier, verabscheuten die Rückkehr in eine so verderbte Welt, wenn nicht auch der stille Waldesfriede, den sie dann gefunden haben, wiederum von menschlicher Verworfenheit wäre heimgesucht worden; man sagt, daß im Silaswald der von Grizzifalcone angelegte Verrath zum Ausbruch kam und auch dort der muthige Mönch seine Mission der strafenden Gerechtigkeit an einem der gedungenen Verräther vollziehen konnte ...

Bonaventura hörte zum ersten mal von den näheren Umständen, unter denen die Invasion der Bandiera gescheitert war ... Bisher hatte er nur gewußt, daß die kleine Schaar durch einige aus ihrer Mitte verrathen wurde ...

Die Caudatarien hatten sich zurückgezogen, blieben jedoch hörbar ... Der Cardinal sah auf die Uhr ... Er hatte nur noch einige Minuten Zeit ...

Wir sehen uns leider so bald nicht wieder! sprach er mit Trauer ... Ich muß einige Tage von Rom fort und auch Sie werden Eile haben, in Turin die Wünsche des Consistoriums früher geltend zu machen, ehe dort die Intriguen Fefelotti's ankommen ... Lassen Sie sich's nicht verdrießen, daß Ceccone es ist, der Ihre Erhöhung fördern muß ... »Die Gottlosen richten ihre Schemel auf und erheben nur die Gerechten« ...

Nicht wiedersehen – Nach Turin eilen – dachte Bonaventura mit Schmerz und stand im Kampf mit sich selbst ... Sollte er dem Cardinal sagen, daß es auch ihn aufs mächtigste nach dem Silaswalde zog? ... Aber – wie konnte er es – da sein Vater offenbar nur vor ihm, nur vor seines Sohnes wunderbarer Verpflanzung nach Robillante geflohen war ...

Cardinal Ambrosi sagte, daß er nichts unterlassen würde, sich durch die Klöster über Federigo's Befinden zu unterrichten und dann seinem muthigen Vertheidiger über ihn Kunde zu geben ... Ohne das mindeste Anzeichen, als wäre ihm Federigo's näheres Verhältniß zu seinem Besuche bekannt, kam er wieder auf seine Heimat und seinen eignen Vater zurück ... Dieser war ein Lehrer der Mathematik auf dem Lyceum zu Robillante gewesen, hatte eine Alpenreise gemacht, war nicht wiedergekehrt und nie wieder aufgefunden worden ... Um im Berner Oberland, wo er Höhenmessungen hatte vornehmen wollen, Spuren seines Verbleibens aufzufinden, hatte der junge Student des Seminars von Robillante bei Federigo Deutsch lernen wollen ... Die Reise, die er dann wirklich gemacht, war ohne Erfolg geblieben ...

Bonaventura, der dies Verhältniß nie so vollständig übersehen hatte, wie nach dieser Erzählung, stand wie an einem Abgrund ... Warum nur trat ihm die furchtbare Morgue auf dem Sanct-Bernhard vors Auge! ... Er gedachte: Wie muß diese Eröffnung des jungen Mannes damals auf den Vater gewirkt haben, der eine mit dem Vater des Cardinals so ganz gleiche Lage – nur fingirt hatte – ...

Federigo konnte damals – wol noch nicht lange – bei Castellungo sein –? fragte er ...

Als ich ihn zuerst sah? ...

Als Ihr Vater vermißt wurde – ...

Einige Wochen erst ...

Sprach Ihnen – Federigo – nie – von den Gefahren des Schnees – denen auch – Er –? ...

Ambrosi blieb dem plötzlich stockenden Wort ein unbefangener Hörer und verweilte nur bei seinem eigenen Leid ... Ohne Mutter, ohne Verwandte, wär' er nur der Zögling der Liebe seines Vaters gewesen ... Als er ihn verloren, hätte er ein Gefühl der Theilnahme bei allen gefunden; doch ein solches, das ganz seinem Schmerze gleichgekommen, nur bei Federigo ... Dieser Edle hätte seine Thränen aufrichtig zu denen gemischt, die er selbst vergossen ... Er hätte ihn seinen Sohn genannt – ...

Bonaventura stand über eine dunkle Ahnung zitternd ...

Er versicherte mich, fuhr Ambrosi, des Sichabwendens seines Besuchs nicht achtend, fort, für bestimmt, daß mein Vater todt wäre, er säh' es im Geist, – doch sollte ich ihn nur aufsuchen ... Verlorenes, wenn auch Unwiederbringliches suchen wäre so gut wie es finden – wenigstens fände man anderes, neue Schätze ... Seine Thränen deutete mein Gönner nicht allein auf die Theilnahme für den Vater, sondern auch auf die Erkenntniß, daß auch ihm aus tiefster Reue über seine begangenen Fehler, aus Suchen nach ewig Verlorenem erst die Kraft der Erhebung geworden wäre ...

Bonaventura verbarg die Thränen in seinem Auge – er verrieth nichts von einer Ahnung, daß des Vaters fingirter Tod – wol gar mit dem wirklichen Tode des Professors Ambrosi zusammenhing ... Wenn hier eine Schuld des Vaters vorläge? dachte er schaudernd ... Seine Hände zitterten ... Das erbrochene Grab des alten Mevissen, die aufgefundenen Angedenken, die Urkunde Leo Perl's, alles trat ihm gespenstisch entgegen ... Sein Vater – konnte doch – kein – Verbrecher sein –! ...

Ist Ihnen nicht wohl? fragte Ambrosi, ihm näher tretend ...

Bonaventura hätte sich ihm an die Brust werfen, alles offenbaren, alles von sich und von seinem Vater eingestehen mögen ... Aber diese neue Verwickelung wieder – war zu beängstigend – sie zwang ihn, seine Worte zu hüten ... Nachdem er sein Befinden als wohl bezeichnet, wagte er noch ein Entscheidendes, indem er leise, gleichsam nur in Hindeutung auf den verschollenen Vater Ambrosi's, die Worte sprach:

Räthsel – Räthsel ... Fiat lux – in perpetuis! ...

Eine Bewegung in den Mienen des Cardinals blieb aus ... Sein Antlitz blieb ruhig ... Von einem besondern Sinn dieser Worte schien er nicht betroffen ...

Nun mahnten die Caudatarien wiederholt ... Ambrosi mußte Abschied nehmen und sofort für längere Zeit, da ihn unmittelbar nach dem Consistorium Ausgrabungen am untern Lauf der Tiber zu einer Reise veranlaßten ... Noch sprach er sein sichres Vertrauen aus, daß der an die Krone von Piemont gehende Vorschlag, das Erzbisthum Coni an den Bischof von Robillante zu geben, Erfolg haben würde – rieth aber, nach dem Entschluß des Papstes sofort nach Turin zu reisen ... Er wünschte Bonaventura Glück und trennte sich von ihm, nur noch mit einer bedeutungsvollen Erinnerung an die einst zwischen ihnen auszutauschende Freundesbeichte und einer vollkommen unbefangenen Versicherung, daß es aufgeklärte, brave und wohlwollende Priester auch in Rom gäbe ... Ueber den Eremiten im Silaswalde würde er ihm unfehlbar binnen kurzem nach Coni schreiben ...

Bonaventura wurde vom apostolischen Stuhl zum Erzbischof von Coni vorgeschlagen ... Auch Ceccone verlangte, daß er, um Intriguen vorzubeugen, sofort nach Turin eilte ... Den Cardinal Ambrosi hatte Bonaventura seitdem nicht wiedergesehen ... Aber ihr Briefwechsel blieb der lebhafteste, blieb die Fortsetzung ihrer ersten Begegnung ... Bonaventura sah das Wachsen des Lichts und der Aufklärung auch in Italien ... Ambrosi gestand in aller Offenheit, daß schon lange und noch immer eine fortgesetzte Beziehung zwischen ihm und Frâ Federigo bestand ... Aber das Wort desselben: Er beschwöre den Erzbischof von Coni, bis zu einer bestimmten Zeit seiner Spur nicht zu folgen! wurde von ihm ohne die mindeste Ahnung der Verwandtschaft wiederholt; es wurde nur auf die Lage des Erzbischofs, seine Theilnahme für einen Deutschen bezogen ... Unterwarf sich Bonaventura diesem Befehl? ... Die That eines Mannes, sagte er sich zuletzt über diese schmerzliche Lücke seines Lebens, darf nicht halb sein ... Darf ich den Vater hindern, seinen Ausgang aus dem Leben so weit zu vollenden, als er ihm ohne den Selbstmord möglich schien? ... Noch lebt die Mutter ... »Es ist eine der grausamsten Handlungen, die es geben kann, jemand an einem schon begonnenen Selbstmord hindern«, hatte ihm der Onkel Dechant geschrieben und noch in dem letzten, theilweise Armgart dictirten Briefe an Bonaventura stand: »Ich nehme dein Ehrenwort, Bona – nehme es nicht vom Priester, sondern vom Asselyn, daß du vor dem Tod deiner Mutter den Eremiten vom Silaswalde nie suchst – nie kennst –« ... Bonaventura gelobte es ... Sein Brief kam zwar nach Kocher am Fall zu spät, das Gelöbniß blieb aber gegeben ...

Mit Freuden riß sich damals der so mannichfach gebundene und durch seinen Beruf, durch das ihm auch in Rom geschenkte Vertrauen so mannichfach willensunfrei gewordene Priester von der ewigen Stadt los ... Er sah die Leidenschaft Olympiens für Benno – er sah die Aussöhnung der ihm schon in Wien nur wenig sympathischen Mutter mit ihren ärgsten Feindinnen ... Er sah die Zurüstungen der Reise, durch die Ercolano Rucca »an die Brust seines besten Freundes zu gelangen« wünschte ... Er ahnte alles, was kommen mußte, las es aus den Mienen Lucindens, die wol auch ganz offen sagte: »Benno liebt ja Olympien! Man liebt mit Leidenschaft nur das, was man versucht sein könnte unter andern Umständen zu hassen! Er sieht alle ihre Fehler, aber er wird sich überreden, sie verbessern zu können. Und ist es unmöglich? Wir Frauen sind die Erzeugnisse unseres Glücks oder unseres Unglücks!« ...

Bonaventura traute Lucinden mit dem Grafen Sarzana, nachdem er die Bedingung gemacht, daß ihm Beichte und Examen (beide müssen jeder Trauung vorangehen) vom Pfarrer der Apostelkirche, der die Cession gegeben, abgenommen wurde ...

Wie traten ihm die Stimmungen jener Tage aus dem Briefe wieder entgegen, mit dem Lucinde ihr heutiges Geschenk begleitet hatte! ... Grade heute hatte sie ihm geschrieben: »Dieser Sarzana! So hat er denn die Glorie seines Lebens gefunden, der tückische Schurke, den sie in die Grube geworfen haben ordentlich mit Ehren! An den Galgen gehörte er von Rechts wegen – wenn ich auch die Posse mitmachen und ihm durch eine Beisetzung eine anständige Entsühnung geben will ... Ich beschwöre Sie, mein hochverehrter Freund! Lassen Sie doch von nun an Ihre kleinen Fehden gegen den Geist der Zeit! Mit unversöhnlicher Macht ergreift Rom jetzt die Zügel und ich weiß, es wird niemand mehr geschont werden! Der Schrecken wird die Welt regieren – und es ist gut so, denn die Tyrannen hab' ich immer menschlicher gefunden, als die Philosophen, die Humanitätsschwärmer, die Tugendhelden, die Volksfreunde, die Aufklärer, die Pietisten, die Gensdarmen, die Vertreter der unendlich suffisanten Ordnung und Richtigkeit des Lebens – die fand ich immer grausam, herzlos und da, wo sie recht tüchtig Widerstand finden, recht feige und erzdumm ... Denken Sie nur allein an die Intrigue, die mich damals zur Gräfin Sarzana machte – muß man nicht das italienische Volk gehen lassen, wie es ist? Eine Bestie ist's und zum Gehorchen bestimmt ... Und, mein Freund – die Kirche! Ich begreife in der That Ihr Reformen nicht! ... Die katholische Kirche ist gerade darum so schön und rührend, weil sie ganz und gar eine Antiquität ist. Mir ist sie nun auf die Art geradezu eine wurmstichige alte Kommode geworden, in der ich meine liebsten Siebensachen, meine alten verblaßten Bänder, meine alten zerknitterten Ballblumen liegen habe ... Aus meinem im Herzen noch manchmal wiederkehrenden Frühling leg' ich dann und wann eine Rose in die alten Schubläden hinein und deren Duft durchzieht dann die alte beweinenswerthe Herrlichkeit ... Ein bischen moderig bleibt's immer, nun ja! aber der Duft der Rose dringt doch auch in das alte, wurmstichige Holz mit den messingenen Ringen und schnörkligen Schildern dran ein – ach! auch schon manche Thräne ist mir in den alten Rumpelkasten gefallen ... Lassen Sie doch Ihre Principien, hochverehrter Freund! Der alte Gott sorgt ja schon selbst für seine Anerkennung! ... Der Vernünftigste, den ich seit lange beobachtet habe, war Ihr Vetter Benno, von dem ich gar nicht einen solchen Cäsar Montalto erwartet hätte – den dummen Rückfall ausgenommen, der ihn nach Rom unter die Narren von 47 trieb! ... Glauben Sie mir, er hat in Paris und London glückliche Stunden verlebt; er nahm, was sich ihm bot, und reflectirte nicht ... Kommen Sie nun auch endlich einmal ordentlich nach Rom? – Sie müssen Cardinal werden, und mehr! Nur beschwör' ich Sie, machen Sie es einst, wenn Sie die dreifache Krone tragen, wie es alle machten, nicht etwa wie unser jetziger Phantast, der sich auf den Vatican, die Hochwarte des wenigstens mir sicher bekannten Universums, wie ein Kind hinstellen und aus einem thönernen Pfeifenstummel Seifenblasen puhsten konnte! ... Wie leben Sie denn, mein hochverehrter Freund? ... Ist die alte Gräfin auf Castellungo entschlafen in jenem ›HErrn‹, bei dem nur sie allein courfähig war? ... O, des Hochmuths dieser Frommen! ... Finden Sie nicht, mein hochverehrter Freund, daß Jesus in den Evangelien eigentlich nur recht bei denjenigen steht, die sich gegen Gesetz und Regel auflehnen, tief in der Irre gehen und mit den respectabeln andern Leuten auf gespanntem Fuße leben? ... Rauft einer am Sonntag Aehren aus, gleich entschuldigt er ihn; wäscht ihm eine Frau die Füße mit kostbaren Salben, gleich sagt er: Laßt doch die gute Närrin! Alles, was Jesus that, war, wie's die andern Leute nicht thun – ... Und das wäre denn der Herr für diese wohlanständigen, vornehmen Seelen, deren Sünden höchstens Neid und Hochmuth sind? Nimmermehr! ... Auch das hat mich katholisch gemacht, daß mein allersüßester Jesus Mein ganz aparter Freund ist ... Im Dunkel einer kleinen Kapelle, da ein Gekennzeichneter, ein polizeilich Verfolgter, vom vornehmen Pharisäervolk Gesteinigter wie ich, gehört er ausschließlich Mir an ... Vor dem dunkelsten Altar, da, wo von einem Crucifix, von einem schlechten Tüncher geklext, die Tropfen Blutes am Haupt und in der Seite, zum Greifen dick, herunterfließen, da hab' ich den Liebling meiner Seele und hör' es, als sagte er: Lucinde – Alte, wie geht es dir? Bist du immer noch in der Irre, immer noch unverstanden und ohne Herzen, die dich lieben? ... Das ist wahr, vor der allerseligsten Jungfrau, zu der Sie mir vor langen Jahren riethen, mich besonders vertrauensvoll zu beugen, vor Maria entzündet sich noch immer nicht ganz mein Herz, wie ich möchte ... Ach, die Königin des Himmels hat einen Sohn verloren, hat den gelästert gesehen – das sind gewiß, gewiß große Leiden – aber sie selbst litt nicht viel unter Lästerungen ... Maria ist noch immer meine Feindin, wie alle Frauen ... Grüßen Sie Paula, die ich mehr liebe, als sie glaubt ... Hindern Sie den Grafen nicht, katholisch zu werden ... Es wird sich dann alles zwischen Ihnen leichter machen ... Die katholische Religion ist die der menschlichen Schwäche – und eben in seiner Schwäche liegt die Größe des Menschengeschlechts ...«

Jahr ein, Jahr aus kamen diese Ausbrüche einer erbitterten Welt- und Lebensanschauung ... Näherer persönlicher, so innigst von ihr gesuchter Umgang war ihm mit Lucinden vor einigen Jahren in Coni unmöglich gewesen – eben durch die Art, wie sich ihre Denkund Gefühlsweise mit einer scheinbar tiefüberzeugten Art, allen, selbst den bigottesten Vorschriften der Kirche nachzukommen, vertrug und wie sie ihm dadurch den katholischen Glauben, dem er immer noch sein Tieferes und Besseres abzuringen suchte, ganz verhaßt machen konnte ...

Unrichtig getauft zu sein hatte Bonaventura nur damals schrecken können, als er es zuerst erfuhr und das Bekenntniß eines verbitterten Hypochonders in den Händen einer rachsüchtigen Feindin wußte ... Diese Feindschaft hatte sich durch Paula's Heirath, durch Lucindens nothwendig gewordene Beichte zu Maria-Schnee in Wien gemildert, ja sie hatte wieder der alten Hoffnung und dem alten Werben um Bonaventura's Liebe das Feld geräumt ... In Bonaventura's Innern gingen soviel Veränderungen vor, daß ihm an ein Verhältniß, das er nur zum größten Triumph derjenigen Richtungen hätte aufklären können, die er bekämpfte, die Gewöhnung kam ... Einen Augenblick, der in den immer höher gesteigerten Wirren der Zeit einst ihm noch kommen müsse, einen Augenblick großer Entscheidungen dachte er als ihm ganz gewiß beschieden. Dann wollte er zur Widerlegung des tridentinischen Concils sich erheben und sagen: »Priester oder Gott – das ist die Frage! Hat Christus seine Vertretung in der Gemeinde oder nur im geweihten Vorstand derselben? Kann der Wille eines schwachen Menschen deshalb, weil er gesalbt wurde, die Menschenseele zu seinem Spielball machen? Seht, ich bin getauft nach allen Regeln der apostolischen Einsetzung der Taufe! Und doch, doch bin ich ein Heide, wenn unsere Seele von Priestern abhängt! Unsere Kirche steht und fällt mit der Entscheidung über mein Lebensschicksal!« ... Dann sich denkend, daß alle seine Würden von ihm niedergelegt werden müßten, alle kirchlichen Acte, die er vollzogen, für ungültig erklärt, sich vorstellend, daß er in ein Kloster gehen, sich neu taufen, neu weihen lassen müßte, fühlte er das mächtigste Verlangen, bei irgend einer großen Krisis der Zeit seine Lage selbst zu offenbaren ... Einstweilen hatte er Leo Perl's Beispiel befolgt und eine Urkunde aufgesetzt, die nach seinem Tode erbrochen werden sollte ... In ihr hatte er seinen Fall ausgeführt ... Noch wußte er nicht und kämpfte mit sich, ob er dies Bekenntniß in die Hände des römischen Stuhls selbst oder nur in die seiner näherverbundenen Freunde legen sollte ... Innerlich war er mit sich im Reinen – er verachtete den Spuk des Zufalls ...

Nur der höhnende Schatten desselben konnte ihn zuweilen schrecken – Lucinde ... Aber selbst als sie von Castellungo im äußersten Zorn damals geschieden war, selbst da hatte sie zu Bonaventura, der sie, um Abschied von ihr zu nehmen, im Kloster der Herz-Jesu-Damen besuchte, auf ein Kästchen gedeutet und versöhnt gesagt: »Dort liegt mein Testament! Sie überleben mich und ich vermache Ihnen alles, was ich hinterlasse – cum beneficio inventarii – meinen Schulden! Sie finden Serlo's Denkwürdigkeiten, die, wie ich Ihnen schon vor Jahren sagte, die Schule meiner Kunst wurden, Leiden zu ertragen. Glauben Sie mir, Thomas a Kempis war nichts als der geistliche Serlo und Thomas a Kempis hat ganz die nämliche Philosophie, nur daß der Mönch seine Verachtung der Welt und Menschen in religiöse Vorschriften kleidete ... Wenn Thomas a Kempis anräth, Gott zu lieben, so wollte er nur wie der Schauspieler Serlo sagen: Verachtet die Welt und die Menschen! ... Dann finden Sie – noch –« setzte sie stockend und leise hinzu: »die Hülfsmittel jener – Rache, die ich Ihnen einst in einem kindischen Wahnsinnanfall geschworen hatte –« ... Und die Sie noch immer nicht Ceccone oder Fefelotti auslieferten? warf Bonaventura ein ... Lucinde erhob sich, nahm einen Schlüssel, der an dem immer auf ihrer Brust blinkenden goldenen Kreuze hing, ging an ihr Kästchen und schloß es auf ... Nehmen Sie, sagte sie und deutete auf ein gelbes, vielfach gebrochenes großes Schreiben mit zerbröckeltem Siegel ...

Es war ein Moment, an den Bonaventura oft zurückdenken mußte ... Damals drängte sich alles zusammen, was oft so centnerschwer auf seiner Brust lag und nun – ein Augenblick der seligsten Erleichterung –! ... Aber wie ein Blitzstrahl fuhr es auch zu gleicher Zeit durch sein Inneres: War und ist dein Leben und Ringen wirklich nicht mehr, als die Furcht vor diesem zufälligen Verhängniß? Bist du nicht Herr deines Willens, Schöpfer deiner Freuden und Leiden? Wie kannst du erbangen vor einer Anklage, die du verachtest, weil sie die teuflische Verhöhnung der christlichen Idee ist? ... Bonaventura wandte sich und sagte: Behalten Sie! ... Lucinde verstand diese Weigerung im Sinn eines ihr geschenkten Vertrauens und wurde davon so überwältigt, daß sie eine Weile hocherglühend und in zitternder Unentschlossenheit stand, dann ihr Knie beugte und sich vor Bonaventura zur Erde niederließ ... Gräfin, lassen Sie! bat er erbebend und der alten Scenen gedenkend ... Lucinde neigte den Kopf bis auf seine Füße ... Ein in der Nähe entstandenes Geräusch mußte sie bestimmen, sich zu erheben ... Man hörte Schritte ... Noch ehe sie den Schrein geschlossen, den Schlüssel wieder zu sich gesteckt hatte, trat die Aebtissin der Herz-Jesu-Damen ein, die nicht verfehlen wollte, dem Erzbischof bei seinem Klosterbesuch die schuldige Ehrfurcht zu bezeugen ...

Einige Zeit nach einem ihm unvergeßlichen Seelenblick, den damals Lucinde auf ihn warf, war es Bonaventura, als fand sich in den Drohungen Sturla's, der von Genua kam, ein Anklang an die Urkunde Leo Perl's ... Doch konnte er sich auch irren ... Der kecke Jesuit hielt ihm ein Bild der deutschen Geistlichkeit vor, dessen Züge auf den fremden Eindringling passen sollten, und unter anderm lief die Bemerkung unter: »Unglaublich, was die Archive Roms von Deutschland mittheilen könnten, hätte nicht die Kirche vor allem an ihren eigenen Organen Aergerniß zu vermeiden!« ...

Wie bitter, und sogar triumphirend waren im Briefe Lucindens die Andeutungen über Paula! ... Auch er fühlte es ja nach, was die lutherischen und abgefallenen Freunde der Familie oft genug unter sich sagten: Solch ein unnatürliches, jede Empfindung verletzendes Verhältniß ist nur auf katholischem Gebiete möglich! ... An sich, vor den Augen der Welt war jede Rücksicht auf Misdeutung gewahrt – Paula war die Nichte des Kronsyndikus, Bonaventura der Sohn des Präsidenten, ihres Vetters – die Verwandtschaft war die allernächste des Blutes und Graf Hugo durfte, ohne Anstoß zu erregen, in Coni einen schönen Palast bewohnen, wo im Kreise einer Geselligkeit, die Paula mit Mitteln zu unterhalten wußte, die sich ihr in dem fremden Lande mit sonst nicht gewohnter sicherer Beherrschung zu Gebote stellten, allabendlich der Erzbischof verweilte ... Meist war Musik das Organ der Verschmelzung oft schroffer Gegensätze, ja Paula wurde erfinderisch und ergab sich jenem schönen Triebe, nach- und vorauszudenken allem, was über rauhe Stunden des Lebens zerstreuend hinweghelfen kann ... Aber ein Vorwurf des Gewissens fehlte nicht bei Alledem – es war ein Verhältniß, an dem, wie sich Bonaventura sagte, »Gott keine Freude haben konnte« ...

Ein zärtliches Ueberwallen der Liebe hatte sich in Bonaventura und Paula längst gemildert ... Auf Entsagung blieb ihr Gefühl ja auch gleich anfangs begründet ... Und lenkt nicht jede Liebe, selbst die leidenschaftlichste, zuletzt die Flut in ruhiger wallende Strömung? ... Kuß und Umarmung! Was sind sie denn, als ein letztes Ziel, ein Zerreißenwollen jedes Rückhaltgedankens, der Brücke, die den geliebten Gegenstand noch einmal zur alten persönlichen Freiheit zurückführen könnte; Kuß und Umarmung werden begehrt und gewährt, weil sie den Begehrenden und Gewährenden als Ich vernichten, künstlich gleichsam eine gemeinschaftliche Schuld erzeugen, die beide Theile fast zwingt, auf ewig Eins zu sein ... Aber bald tritt die volle Beseligung der Liebe nur im Austausch des seelischen Lebens ein. Ineinander zu leben ist dann nur noch ein Bedürfniß des Herzens. Kommen erweckt ein Jauchzen der Brust und Gehen ist die Hoffnung nur auf den Gruß, auf das Lächeln des Wiedersehens ... Dann zerlegt sich in seine Stunden der Tag, in ihre Minuten die Stunde, jedes Atom der Zeit ist erfüllt vom Glück der Gewöhnung an so viel willkommene Freuden und noch willkommenere Sorgen – Das ist das Glück, das auch in der Ehe, lange schon vorm Ersterben der Leidenschaft, Ausdruck des wahren Besitzes bleibt ...

In diesem letzten Stadium des Verbundenseins der Liebe befand sich der Erzbischof, nachdem er in jedem früheren längst überwunden hatte ... Jeden Abend war er auf dem Schloß des Grafen, das mitten in der Stadt lag und einer der vielen weiland großen Familien des Landes gehört hatte, die im Lauf der Zeiten zu Grunde gingen und nichts behielten, als die glänzende Hülle ihrer Vergangenheit ... An diesen Palast schloß sich ein Garten, altmodischen Geschmacks, wie die Gärten auf den Borromäischen Inseln ... Der Graf hatte eine Aufgabe, diesen Garten der freien Natur zurückzugeben ... Ein geselliger Kreis wurde vor dem Kriege durch nichts gestört ... Später blieben freilich nur Einige, die sich durch die Empfindungen des Grafen nicht stören ließen ... Gewiß wäre der Graf, als die Revolutionen ausbrachen, nach seinem deutschen Vaterland zurückgekehrt, wenn nicht auch dort die Verwirrung für seine Denkweise das Maß überschritten hätte ... Seit lange hatte Oesterreich gesiegt – er mäßigte den Ausdruck seiner Freude und konnte infolge dessen bleiben ... Bonaventura kannte die Sehnsucht nach Thätigkeit, die den Grafen bestimmen mußte, entscheidende Entschlüsse zu fassen, ja er kannte des Grafen Sehnsucht – nach einem Erben – ... Noch mehr, Graf Hugo liebte Paula ... Es mußte kommen, daß dies zehnjährige Zusammenleben in Coni aufhörte ... Und doch, doch kannte er den Grafen dafür, daß dieser im Stande war, die Nachricht von seiner Berufung zur Mutter nach Rom mit den Worten aufzunehmen: Die Frau Präsidentin ist krank und Herr von Wittekind in Rom? Das wird Ihre Kraft übersteigen, mein theurer Freund, wir müssen Sie begleiten; wir gehen mit nach Rom ...

In solchen, sein Inneres zerreißenden Stimmungen, zu denen sich an jedem der ihm besonders wichtigen Gedenktage seines Lebens noch der Hinblick auf den mit jedem Tag sich dem Abscheiden vom Leben nähernden Vater gesellte, verweilte Bonaventura heute unter seinen Büchern ... Hier, wo ihn so oft die nächtliche Stille geheimnißvoll umfing – hier, wo sein Gemüth der Muttersprache noch zuweilen ein Opfer brachte, wie in den Versen:

Du wunderbare Stille,

Wer deutete dich schon,

Im Erd- und Himmelschweigen

Den Weltposaunenton!

Die namenlose Sehnsucht

In flücht'ger Welle Gang,

In stiller Brunnen Plätschern

Den mächt'gen Rededrang!

Wenn Mondenglanz die Rose

Sanft zu entschlummern ruft

Und Nachtviole trinket

Den Thau der Abendluft,

Wenn frei die Sterne treten

Aus ihrem blauen Zelt,

Worin das Licht der Sonne

Sie Tags gefangen hält –

Wie predigt da die Rose!

Viole singt im Chor;

Das kleinste Blatt hält Tafeln

Der Offenbarung vor!

Es rauschet und es klinget

Ein jeder todte Stein;

Der Stäubchen allgeringstes

Will nur verstanden sein!

Nur in die dunklen Schatten

Hat Gott das Licht gestellt,

Nur in die öde Wüste

Die Herrlichkeit der Welt;

Nur brechend nimmt ein Auge

Den rechten Lebenslauf!

O, schließet euch, ihr Zauber

Der ew'gen Stille, auf!

Der buntfarbigen Blume sich zu vergleichen, die, hochragend und stolz, doch erst aus welken Blättern emporsteigt – so erhebt sich die Lilie über den am Fuß des Schaftes schon beginnenden Tod – dafür besaß seine Selbstschau zu viel Demuth und doch – nun schon wieder um ihn die »heilige Stille« und ein brechend erst den rechten Lebenslauf nehmendes Auge – –! ...

Ein wilder Sturm, wie er in Berggegenden oft ohne die mindeste Vorbereitung entsteht, hatte sich erhoben und störte die Stille der Nacht ... Während die Fensterläden des Palastes gerüttelt wurden, der Wind in den rauschenden Wipfeln der Bäume des großen Platzes tobte, konnte kein Schlaf über Bonaventura's Auge kommen ... Und doch nahm der morgende Tag seine ganze Kraft in Anspruch. Er wußte, daß sich Stadt und Umgegend nicht nehmen ließen, den Namenstag ihres Oberhirten zu feiern ... Schon nach fünf Uhr wollte er die Messe lesen ... Nie ergriffen ihn die Anfangsworte der Messe: »Der du meine Jugend erfreust, o Herr!« mächtiger, als an diesem Tage der Jugenderinnerung ...

Wo das Gehör einen Dienst der Liebe verrichtet, versagt die Natur den Schlaf ... Bonaventura mochte sich zuletzt auf seinem Lager noch so ermüdet strecken, sein Ohr lauschte jeder Bewegung im Nebenzimmer ... Sturm und Regen hatten aufgehört, der Morgen graute schon und noch hatte Bonaventura kein Auge geschlossen ...

Eben mochte sich vielleicht für einige Minuten die ermüdete Wimper gesenkt haben, als sie sich sofort wieder erhob ... Bonaventura hatte das schnelle Auftreten der dienenden Brüder gehört ... Erschreckend über eine mögliche Verschlimmerung im Befinden des Kranken, sprang er, wie er war, halbangekleidet, vom Lager ...

Als er die Thür geöffnet hatte, fand er, von einem Licht beschienen, den Leidenden aufgerichtet ... Die dienenden Brüder reichten ihm eben von einer Arznei ... Benno lehnte das Glas ab ... Als er Bonaventura erkannte, sagte er, er hätte lange und fest geschlafen ... In der That blickte sein Auge weniger fieberhaft und seine Hand, die er in der Bonaventura's ruhen ließ, hatte die feuchte Wärme, die fast auf eine Krisis schließen ließ ...

Welche Zeit ist's? fragte er ...

Man sah auf die Uhr und nannte die vierte Stunde ...

So geh zur Ruhe! bedeutete er den Freund ...

Dieser nahm jedoch an seinem Lager Platz und sagte, daß er der Ruhe nicht mehr bedürfe ...

Auf dies beharrlich wiederholte Wort der Liebe wandte der Kranke sein Haupt nach den beiden Mönchen und gab seinen Wunsch zu erkennen, mit dem Erzbischof allein zu sein ...

Ein Wink desselben und die Mönche traten in ein Nebencabinet, das nach Osten lag ... Beim Oeffnen der Thür sah man den ersten Frührothschimmer der aufgehenden Sonne ...

7.

Ehe ich vom Leben scheide – begann Benno ...

Mein theurer Freund, unterbrach ihn Bonaventura, du wirst leben! ...

In deinem Gedächtniß – im Gedächtniß manches, der auf meine Zukunft Hoffnungen setzte und schwer begreifen wird, warum sie nicht erfüllt wurden und warum sie gerade so – so – endigen mußten ... Meine Minuten sind gezählt ... Noch deinen Namenstag feir' ich, dann ist das Liebste da, was ich – vom Weltgeist begehre ...

Freund! ... unterbrach Bonaventura voll äußersten Schmerzes ... Diese Worte Benno's wurden so zuversichtlich, so fest gesprochen, daß sie keine Widerlegung zuließen ...

Ich will nicht sterben, sagte Benno, ohne mit den letzten Segnungen unserer Kirche versehen zu sein ... Sorge dafür ... Die Rücksicht deines Hauses erfordert es ... Wer mit den Priestern ein Leben des Kampfes geführt hat, mag sich im Tode ihre Nähe verbitten; ich kämpfte nicht mit ihnen – meine Gegner sucht' ich mir auf andern Schlachtfeldern auf ... Einem deiner Vicare werd' ich beichten, daß ich nie an Religion betheiligt war ... Sie war mir kein Bedürfniß ...

Bonaventura schwieg ... Er wußte, daß keine Confession so sehr religiösen Indifferentismus bei Gebildeten erzeugt, wie die katholische ...

Einen Kranken erquickt nichts mehr, als von seinen Umgebungen die Anerkennung zu hören, daß er krank ist; einen Sterbenden nichts mehr, als die Anerkennung, daß er stirbt ... So kam es, daß Benno mit jener Kraft der Stimme sprach, die in letzten Augenblicken oft wunderbar wiederkehrt ...

Ich erfülle, sagte er, das Geschick unseres Hauses – wie mir einst in Rom der feindliche Dämon deines Lebens verheißen hat – als Lucinde jene Klagen ausstieß, die ich dir vor Jahren – von London berichtete ... Vor – fast zehn Jahren! ... Deinen letzten Brief hab' ich in meinem Portefeuille – und heute erst beantwort' ich ihn durch mein – Testament ... Was könnt' ich dir sagen, nachdem ich mit allem gebrochen, was andere von mir voraussetzten? ... Skeptiker, Indifferentist – das gibt eine imposante Lebensstellung, wenn man in die Lage kommt, nur reflectiren zu brauchen, sich die Zähne zu stochern, im Salon die Beine übereinanderzuschlagen ... Stell' einen der Weisen, die im Chor der Tragödie den Heroen so gute Lehren geben, selbst auf die Breter, er macht die Tragödie zur Burleske ...

Benno hielt inne, sammelte neue Kraft und lehnte Bonaventura's Entgegnungen mit einem Zeichen der Hand ab ...

Ich saß auf der Engelsburg, fuhr er fort, mit Räubern, deren Ungeziefer mich die Freiheit ersehnen ließ ... An sich ist die Freiheit zu verlieren kein besondres Unglück ... Ich hätte Steine klopfen können, um ungestört über mich und die Dinge und dann vielleicht endlich Gott nachzudenken ... Nur der Schmuz des Gefängnisses entsetzte mich ...

Wieder hielt der Kranke inne ... Wieder fuhr er, um des Freundes Nachsicht bittend, nach einer Weile fort:

Eines Tags stand die Thür meines Kerkers offen und eine Mutter war es, die ich glücklich machte durch meine Flucht ... Selbst Lucinde nahm es ernst mit meinem Schicksal, war ganz bei der Sache, ohne meiner Verkleidung zu spotten – Der arme Bertinazzi erhielt die Galeere auf Lebenszeit ... Als ich die Hinrichtung der Bandiera erfuhr, brach mein Lebensmuth – die Mutter – konnte mich damals – gängeln wie ein Kind – ...

Bonaventura folgte aufmerksam allen diesen schmerzlichen Erinnerungen ...

Man soll die Seinen nicht analysiren ... fuhr Benno fort in offenbarer Wallung gegen seine Mutter ... Wo Uebermaß im Verkehr der Herzen waltet – da welkt nur zu bald die Blüte ...

Bonaventura wußte, daß Benno von London im tiefsten Bruch von seiner Mutter und von Olympien sich losgerissen und gleichsam nach Rom nur entflohen war ... Er hörte nun alles das, neigte sein Ohr dicht an den Mund des Freundes und bat ihn nur, sich zu schonen ...

Meine Retterin, fuhr Benno in Erregung fort, war die Fürstin Olympia Rucca ... Es hat schon oft Seelen gegeben, die plötzlich den Teufel in seiner Rechnung betrogen – Die Heiligengeschichte erzählt von ihnen ... Eine Heilige ist Olympia nun nicht geworden ... Aber aus einer Tyrannin wurde sie eine Sklavin ... Ich habe nie so dienen sehen, wie Olympia ein Jahr lang dienen konnte ... An einem Tigerkäfig hab' ich sie kennen gelernt; sie war nun selbst gezähmt zu einem der jungen Lämmer, die sie – als Kind erwürgt haben soll – aus – Zärtlichkeit ... Solche Frauen gibt es nicht – in – deiner germanischen Welt! ...

In meiner? ... fragte Bonaventura mit leisem Vorwurf ...

Benno schwieg eine Weile ... Dann sprach er einen Vers des Bonaventura'schen Gedichtes:

»Einmal, eh' sie scheiden,

Färben sich die Blätter roth –«

Er legte in den Ton der Recitation die Anerkennung deutschen Wesens im Denken und Empfinden, fügte aber, hinzu:

Als ich mein Lebensräthsel erfuhr, als ich meine todte Schwester sah, die Mutter an ihrer Leiche kennen lernte, ergriff mich Haß gegen alles, wofür ich bisher und worin ich gelebt hatte ... Ich brach mit einem Vater, der lügen und morden konnte; ich brach mit einem Staat, der damals keine freien Bürger duldete; ich brach mit einem Volke, das der Tyrann andrer Völker sein konnte; ich folgte in allem meiner Mutter, deren Namen ich annahm ...

Bonaventura kannte diese Umwandlung, die nicht der seinigen glich ...

Nicht lange war ich in Paris, fuhr Benno fort, so erschien Olympia, ausgesöhnt, engverbunden mit meiner Mutter, die mich anbetete ... Du mußt wissen – – als ich Olympien zum letzten mal gesehen hatte, war mir in – der Villa Hadrians durch eine seltsame Scene – durch die Umgebungen – durch die Umstände, die meine Sorge um das Schicksal der Bandiera heraufbeschworen, – – ein Stelldichein von ihr aufgedrungen worden ... Es war ein Zwang, der sich nicht ablehnen ließ ... Was dem Mann Bettelpfennig, wird dem Weibe Krösusschatz – kann ein Mann mit Bettelpfennigen geizen! ... Tugend –?! – – Ich fühlte eine mächtige Hand, die mich zurückhielt – ich suchte fast den Tod, um dem Wiedersehn auf Villa Rucca zu entfliehen – ... Olympia und das Schicksal hielten sich an mein erzwungenes Ja! ... Nicht Nacht war es, als ich sie wiedersah in einem eleganten Salon – in der Rue Rivoli zu Paris – sie hatte mich befreit – ich hieß Cäsar Montalto, haßte die Tyrannen, liebte meine Mutter, Italien – dennoch wehte Afrika's Wind vom Meer herüber, Millionen Blüten hauchten ihren Duft in linde Abendstille ... Die Fürstin nahm sich den Dank, wie sie ihn begehrte ...

Wieder trat eine Pause ein ... In Bonaventura's Blick lag die Anerkennung alles dessen, was hier möglich gewesen ... Saß er nicht an einem Leichenstein, der versöhnt –? ...

Frankreich, England, das Land der schönsten Frauen konnte an sich kein Schauplatz für die an Triumphe des persönlichen Erscheinens gewöhnte Nichte Ceccone's sein ... Der Cardinal wurde ein Opfer der dir bekannten Italienerrache ... Olympia gerieth in Bedrängnisse und die Reihe, ihr zu helfen, kam nun an mich ... Einander nützlich sein – veredelt – bindet – fesselte hier aufs neue ... In Olympia kehrten Regungen des Gefühls, die sie schon dem Mönch Vincente Ambrosi einst bewiesen hatte, zurück ... Sie ertrug den Verlust ihrer glänzenden Lebensstellung, ertrug die ihr folgende Verringerung ihrer Hülfsmittel ... Einige Jahre fand sie in der That in mir die Fülle ihres Glücks wie ein Kind ... Diese abzuwehren war unmöglich ... Wie die Schlange ihr Opfer nicht läßt, fand ich bei jeder Pforte, durch die ich hätte entfliehen wollen, meine Bestimmung ... Diese war verloren an – zwei Frauen ...

So dachte auch die Welt und entschuldigte dich ... warf Bonaventura mit mildem Tone ein ...

Ein Zustand des Elends blieb es ... fuhr Benno fort, während seine Züge einen Ausdruck des höchsten Schmerzes annahmen ... Jedes einzelne Leid fühlte ich wie das natürliche Kettenglied der Folgen, die ich über mein Leben heraufbeschworen hatte, als ich dem südlichen Blut in meinen Adern folgen wollte ... Ich wollte Partei nehmen für die betrogene Hälfte meines Erdenlebens und – von Wahn zu Wahn, von Traumbild zu Traumbild lockte mich die mütterliche Welt, die mir zuletzt ein Gift wurde, das mich – langsam tödtete – ...

O mein Freund! war alles, was Bonaventura aus der Tiefe seines Herzens entgegnen konnte ...

Beklage mich nicht! sprach Benno ... Ich hatte zahllose, flüchtige Stunden des Glücks; ich trotzte der Sehnsucht meines Gemüths ... Reich ist der menschliche Geist an Gedanken, die einen Kampf gegen die innern Vorwürfe des Gewissens unterstützen, ja auf Augenblicke ihn siegen und triumphiren lassen ... Ich durfte mir ein – künstliches Pflichtenleben schauen – die brüderliche Freigebigkeit des Präsidenten entzog mich den Sorgen für meine Erhaltung ... Ich las, studirte, schrieb – ... Da ich für einen Italiener gelten wollte, hatte ich Mühe und Verdruß genug durch die Vorbereitung zu dem, was nun – gescheitert ist ... Welche Menschen! Verunreinigend durch ihre Schwächen und Laster die heiligen Dinge, die sie im Munde führen – ... Freilich – die Gegner –! Sind sie nicht ebenso verächtlich? ... Ich kannte sie ja alle, die Diplomaten von Paris und London ... Nur in den Formen liegt der Unterschied ... Oft gab es Stürme im Glase Wasser – elende Streitigkeiten; doch konnten sie mit dem Schiffbruch der Betheiligten enden ... Terschka – wo wol mag – der Schurke – hingerathen sein –! ...

Bonaventura ließ dem Freund den Glauben an eine hienieden schon waltende Nemesis ... Drängte es ihn auch, von Terschka's Beziehung zum Verrath der Bandiera zu erfahren, so gab er es doch auf – denn die Kraft des Freundes drohte zu versiegen ...

Benno schloß eine Weile die Augen; dann erhob er sie wieder und ließ die irrenden Sterne derselben wie ausruhen an der Decke des immer mehr sich erhellenden Zimmers; unbeweglich starrten sie wie in eine unergründliche Tiefe ...

Es gab auch Edle unter diesen Kampfgenossen! begann er aufs neue wie mit feierlicher Andacht ... Euch hab' ich folgen wollen, ihr Brüder, die ihr den grausamsten Tod erlittet! Ihr leuchtetet mir voran, Dioskuren am Himmelszelt auf weißen Rossen! ... Die Welt sich zu erschaffen aus freiem Willen – ist edler Mannestrotz! ... Lernt' es auch, als ich, ein Katholik, dem heimatlichen Staate trotzte ... Haben mir's später bitter heimgezahlt, als – dem Präsidenten – auf seine Verwendung die Antwort – wurde: Ist ja österreichischer Cabinetscourier –! ... Warum wurde Germanien nur so – russisch ... Lebt – denn – noch – Nück? ... Und – schreibe sogleich – wenn ich – ... an – Thiebold – ...

Weiter reichte nicht mehr die erschöpfte Kraft, die sich übernommen hatte ...

Die Aerzte kamen ... Schon läutete draußen von allen Thürmen das Angelus ... Es war fünf Uhr ... Der helle Tag lag hinter den Vorhängen der Fenster ... Benno hatte sich eine zu große Anstrengung zugemuthet und war erschöpft in die Kissen gesunken ... Fast schien seine Zunge gelähmt ... Die Aerzte sagten, die letzte Stunde ließe sich nicht vorausbestimmen ... Sie baten den Erzbischof, sich zu schonen ...

Bonaventura rief die Mönche und überließ ihnen und den Aerzten die Sorge für den Geliebten, für den von heißen Qualen – der Seele Zerrissenen ... Zur Frühmette wollt' er nun in den Dom, wo an diesem Tage seit Jahren die Stadt gewohnt war, ihn erwarten zu dürfen ...

Bonaventura's Aufmerksamkeit, in die Mittheilungen Benno's verloren, hatte nichts vernommen von den Zurüstungen der Ueberraschungen, welche ihm Verehrung und Liebe bereiteten ... In sein Wohnzimmer getreten, fand er die Wände mit Blumen geschmückt ... Kostbare neue Teppiche lagen über die Stühle gebreitet ... Geschenke von Gold und Silber standen auf den Tischen ... Alte Werke, seltene Drucke und Holzschnitte hatte ihm Graf Hugo hinlegen lassen ... Der Haushofmeister, die Caudatarien, ihre Glückwünsche ertheilend, nannten die Namen der Geber, unter denen Paula's Name obenan glänzte ...

Es lag in seinem Berufe, daß sich Bonaventura in seine goldstarrenden Gewänder werfen mußte ... Die Bischofskrone prangte auf seinem Haupte ... Schon spiegelte sich die nach der allmählich wieder ruhiger gewordenen Nacht goldig aufgegangene Sonne in den kostbaren Edelsteinen ihrer Verzierung ... Unter einem von sechs Knaben getragenen Baldachin, begleitet von allen im Treppenhause versammelten Abgeordneten der Kirchen und Klöster der Stadt, den Civilbehörden, den Oberoffizieren des Militärs, trat der Erzbischof, gebeugt und trauernd, aus dem Eingang des Portals, das mit Guirlanden geschmückt war ... Der Vorhof innerhalb des Gitters war leer, draußen wogte die Menschenmenge ... Die halbe Stadt war in Bewegung ... Selbst einer vom Erzbischof sonst verfolgten Unsitte, der rauschenden den Musik des Militärs bei Kirchenfesten, konnte heute, auf Anlaß eines solchen Freudentages, nicht gewehrt werden ... Jung und Alt schloß sich der glänzenden Procession an, die in den Dom zog ... Bonaventura hatte sonst diese Ueberraschungen an seinem Namenstag unmöglich machen wollen; hatte kurz vorher Reisen angetreten oder war ein andermal in ein Kloster gegangen ... Allmählich aber hatte er auch hierin der Landessitte nachgegeben und dem Onkel Dechanten beigestimmt, der ihm geschrieben: »Nimm doch Liebe, wo sie geboten wird! Ist die Zeit angethan, sich der Ernte seiner Saaten zu entziehen! –?« ... Angeregt von solchem Zuspruch konnte er wol einmal auch ausrufen und den gewohnten Klageruf seiner Selbstgespräche unterbrechen:

Nimm an der Welt dein ganzes Theil,

Nimm es mit vollen Händen!

Was du verschmähst, wird nicht zum Heil,

Nicht zum Gewinn sich wenden!

Der Blüten nur im Lenz gedenk',

Die rings den Rasen decken,

Vom Apfelbaume ein Geschenk

Den Winden, sie zu necken!

Und doch im Herbst – der liebe Baum

Was er an Früchten spendet!

Erinnern kann er sich noch kaum

Der Blüten, die verschwendet.

Zur Erde blicke nicht hinab,

Wenn Götter dich umschweben!

Für jeden ist das kühle Grab,

Für jeden erst das Leben?

Für jeden dreifach ein Genuß

Und Einmal nur Beschwerde!

Es wogt ein sel'ger Ueberfluß

Der Freude durch die Erde!

Heute dagegen trug er im Herzen »Maria's achtes Schwert«, wie er jene Leiden nannte, die jedem nur allein verständliche, nur allein von Gott ihm zu tröstende und zu heilende wären ... So schritt er in seinem Trauer-Triumphzug, unter dem Geläut der Glocken dahin ... Die große, mit drei Kuppeln gebaute, dem vorigen Jahrhundert angehörige Kirche war überfüllt ... Seine Ministranten waren heute seine nächsten Würdenträger ... Den geheimnißvollen Ritus der Messe aus der Kirche zu verbannen würde sich Bonaventura nicht verstanden haben ... In einem gelegentlichen Streit mit Gräfin Erdmuthe hatte er gesagt: »Allerdings, die Messe sollte in der Landessprache gelesen werden! Aber ich gebe auf die stummen Augenblicke in der Messe mehr, als auf die gesprochenen ... Ein Gottesdienst muß mehr als nur eine Predigt sein ... Unsrer Messe ist lediglich der Schein, daß sie ein unblutiges Opfer wäre, sonst nichts von ihren mystischen Vorgängen zu nehmen ... Kirchen, die nur um der Predigt willen da sind, müssen ja mit der Zeit leer stehen – wer verbürgt denn nur dem Preise Gottes immer würdige Sprecher, Zungen, die nicht anstoßen, Kehlen, die nicht heiser und rauh erklingen? ... Was macht die Gotteshäuser der Protestanten so leer? Die alleinige Herrschaft der Kanzel und die Einsamkeit am Altar! ... ›Gott wohne nicht in Häusern, von Menschenhänden gemacht?‹ Gewiß! Aber der gewölbte Raum der Kirche sagt Ihnen, daß Gott nich Ihr Gott allein ist, nicht der, den Sie in Ihrem ›Kämmerlein‹ sich zurecht gemacht haben, sondern der Gott des Universums! ... Gerade da muß Ihr Eifer, ihn persönlich für sich aus der Masse der um seine Gunst Werbenden herauszugewinnen, um so lebendiger angefacht werden; die Entschließungen Ihrer Brust können erst in der Kirche erkennen, wie schwer es ist, unter so vielen, die seine Liebe zu gewinnen suchen, gleichfalls mit Würde zu bestehen ... Still dann zu sein in einer Kirche mit tausend andern Stillen – das ist, denk' ich, die feierlichste Aufforderung zur Einkehr in sich selbst ... Oder – soll die Religion ohne Formeln sein? Dann ist sie Philosophie ... Daß die Philosophie eben Wahrheit des Lebens werde, zwingt sie, die Religion bestehen zu lassen ... Der protestantische Gottesdienst sagt nur: Wir sind nicht katholisch! – Das ist gewiß wahr und war historisch richtig – Soll aber diese Zeit des Protestes ewig dauern? Kann ein Gottesdienst der ewigen Negation bei den Protestanten Sinn haben, wenn die katholische Kirche sich läutert? ... Eure Predigt wird sich unsere Messe zu Hülfe rufen müssen, um – schon allein die Herrsch- und Streitsucht Eurer Parteien zum Schweigen zu bringen ... Dann werden die Protestanten nicht mehr Nichtkatholiken, die Katholiken nicht mehr Nichtprotestanten, sondern beide erst wahre Christen sein –« ...

Unter den Anwesenden waren Paula und Armgart zugegen ... Beide eben von Castellungo angekommen – beide eben von der schmerzlichen Ueberraschung unterrichtet, die ihrer harrte ... Der Graf hatte ihnen Benno's Anwesenheit und Lebensgefahr erst gemeldet, als sie sich trennten, er, der Protestant, zu Benno's Lager eilte, sie mit dieser Nachricht nun in die Messe schwankten ... Erkundigungen, welche Graf Hugo auf der Herfahrt eingezogen, hatten ihm bestätigt, daß Benno wirklich in Coni war ... Mit diesem Stich im Herzen sank Armgart unter die tausend Beter nieder, die am Fuß des Hochaltars knieten ...

Sollte sie weniger vermögen, als jener Priester dort, den die gleiche Nachricht nicht hinderte, laut seine Psalmen zu singen? ...

Als die Feierlichkeit vorüber und Bonaventura auf einem kürzern Wege, unbemerkt und in einfacher Kleidung, in seine Wohnung zurückgeeilt war, fand er den Grafen schon lange mit Benno beschäftigt ... Die beiden Frauen harrten in einem Gemach, wo des Kirchenfürsten Audienzen gegeben wurden, vom Schmerz überwältigt und in Thränen gebadet ... Natürlich hatte man bereits die Veranstaltung getroffen, daß der Erzbischof heute nur noch seinen nächsten Freunden gehörte ... Die Glückwünschenden wußten nun, welches Leid diesem Hause an einem Freudentage beschieden war ...

Graf Hugo hatte dem Sterbenden Armgart's Anwesenheit angezeigt ... Den Frauen hatte er dann nicht verschwiegen, wie diese Nachricht Benno erschütterte ... Bonaventura richtete sein Auge auf Armgart – auch er hatte sie seit so vielen Jahren nicht gesehen ... Sie war ihm aber wie gestern erst von ihm geschieden ... Ihr gemeinsames Leid verband sie sofort und sein seelenvoll auf sie gerichteter Blick schien fragen zu wollen: Aermste, wie trägst – nun gar erst Du das alles –? ...

Ein Gesang der christlichen Dichtkunst spricht aus, was edle Herzen bei höchstem Leid erfüllt ... Das »Stabat mater« in seiner unnachahmlichen Magniloquenz ... Jacopone da Todi war der Dichter dieser Threnodie der verlassenen Liebe, die zurückgeblieben am letzten Rest ihres Daseins, dem todten Leib des Geopferten, trauert ... Die Erde ist verfinstert; die Menschen, von Furcht und Bangen erfüllt, sind geflohen – Gott hat seine größte Offenbarung gegeben und doch leiden und weinen grade diejenigen Menschen, denen seine große Wohlthat zuerst zugute kommt ... Wer kennt denn, was uns frommt –! ... Jacopone hatte sein Stabat aus eigenem Schmerz gedichtet ... Zeitgenosse Dante's, berühmter Rechtsgelehrter, Liebhaber der Weltfreuden, sah er bei einem Fest eines vornehmen Hauses die Decke des Tanzsaals einstürzen, sah die edelsten Frauen todt oder verwundet – und sein eigen Weib, eine blühende Schönheit, hoffnungslos aus den Trümmern davongetragen ... Man entkleidete die Sterbende und unter den rauschenden Prachtgewändern trug sie, die eben nach des Gatten Wunsch noch heiter und scheinbar lebensfroh getanzt hatte, ein grobes Büßergewand ... Jacopone, von Beschämung und Schmerz überwältigt, verlor den Verstand ... Die Verwirrung seiner Gedanken hellte sich erst allmählich auf; doch beherrschte ihn ein räthselhafter Zustand, welchen er nicht bewältigen konnte; er redete in der Irre und wußte es, daß er so redete; er wußte die Weisheit der Welt, aber er vermochte nicht, in ihr sich auszudrücken ... Endlich meldete er sich am Thor eines Klosters, um als Mönch aufgenommen zu werden ... Die eben neugegründete Regel des Franz von Assisi wies ihn ab, wenn er nicht Beweise seines Verstandes gäbe ... Da zwang er den sich jagenden, fiebernden Gedanken seiner Seele gewaltsamen Halt auf und dichtete, wie zu gleichem Zweck einst Sophokles den Chor »Im roßprangenden Land«, so sein »Stabat mater« ... Nun erhielt er die Aufnahme ... Beweise seines wiedergekehrten Geistes gab er dann ferner genug, gab sie auch im Freimuth seiner Gedichte ... Ueber die Sophisten von Paris schwang er die Geißel seiner Satire ... Dem aus den Felsschluchten der Abruzzen auf den apostolischen Stuhl berufenen Einsiedler Petrus von Morrone, der als Cölestin V. dem verwilderten Rom die Zügel halten sollte, sagte er:

»Jetzo kommt an Tageshelle,

Was du sannst in stiller Zelle –

Ob du Gold, ob Kupfer, Eisen,

Muß sich jetzt der Welt beweisen!«

Dante ging einst zu einem Turnier und blieb unterwegs im festlichen Gewande an einer Goldschmiedbude stehen, um eine Spange zu kaufen, die noch seinem Kleide fehlte ... Da sah er ein Buch auf der Lade des Goldschmieds liegen und fing, während die Wagen und Reiter an ihm vorübersausten und der Goldschmied die passende Spange suchte, zu lesen an ... Noch kannte er die Gedichte Jacopone's nicht ... Immer mehr vertiefte er sich in die Ergüsse einer verwandten Seele, überhörte die Mahnungen des Goldschmieds, sich zu eilen, und versäumte das Turnier ... Als bereits die Kämpen mit zersplitterten Lanzen nach Hause ritten, stand Dante noch immer in die Pergamentblätter verloren, die ihm der Goldschmied nicht verkaufen wollte ... Lucinde, die Dante nicht leiden konnte, sagte bei Erzählung dieser Geschichte: Da sieht man, wie die Dichter ihre Rivalen lesen! Mit einem Neid, der ihnen Hören und Sehen vergehen läßt! ...

Paula und Armgart wurden an Benno's Lager gerufen ...

Armgart beugte sich über den todblassen Mann ... Die Thränen, die ihr sonst versagten – rannen jetzt in Strömen ... Benno mit seinen grauen Locken lag starr und drückte die Augen zu ... Seine Lippen sogen die Tropfen ein, die über seine Wange aus Armgart's Augen rieselten ... Daß es Armgart war, die so weinte, wußte er ... Er wußte auch, daß Paula in der Nähe stand ...

Allmählich trat eine Todtenstille ein ...

Des Sterbenden Stimme erhob sich wieder, aber die Worte, die noch verstanden wurden, gaben den Entfernterstehenden keinen Zusammenhang ...

Nur Armgart, die sich dicht über ihn beugte, verstand allmählich:

Armgart – nordische – kalte – Maid! ...

Lebe! Lebe! rief Armgart und küßte die Stirne Benno's, strich die grauen Locken vom perlenden Schweiße zurück und weinte so heftig, als wollte sie jetzt die Beweise ihrer Herzensglut nachholen ...

Einst – warnt' ich dich – vor – deiner Zukunft, Mädchen! ... Ich – – Thor –! ...

Die Worte, die noch folgten, blieben auch Armgart nicht vernehmlich ...

Der Graf trat näher ... Paula wandte sich erschüttert zum Vorzimmer ...

Indessen war Bonaventura eben eiligst abgerufen worden ...

Auch Armgart wollte sich erheben und zurücktreten ... Der Sterbende ließ ihre Hand nicht frei ...

Armgart starrte Alledem mit Blicken, die dem Grafen Sorge um sie selbst einflößen mußten ... In ihrem Antlitz lag eine ihrer ganzen Natur fremde, fast wilde Geberde ...

Unser – guter – Thiebold! sprach Benno ... Schreib's – dem besten – Freund – der Erde – ... Auch – Du – Mit – Bona –! ...

Armgart versprach jeden seiner Aufträge zu erfüllen und setzte mit bitterm Lächeln, ja wie mit prophetischem Schwünge hinzu:

Stummes Räthsel der Frauenbrust! ... Starrer Mund, der nicht reden kann, wenn doch ein Mädchenherz überquellen möchte vom Drang nach helfenden Worten! ... Lieber erstirbt das eigene Leben in uns, als daß die Lippe zu brechen wäre, die Starrsinn schließt! ... Ach nur dir, nur dir hab' ich jeden Gedanken meiner Brust geweiht! Nur dir jeden Schlag des Herzens – dir hab' ich gesprochen in öden, sternenlosen Nächten – ...

Armgart –! hauchte Benno und erhob sich – geisterhaft und streckte seinen Arm so aus, daß der Graf, aufs tiefste von diesem freien Bekenntniß der Liebe überrascht, vom Zuspätkommen eines so heroischen Muthes erschüttert, sich zwischen die Umschlungenen drängen mußte ...

Benno sah ihn lange und wildfremd an ...

Freund – meiner – Schwester Angiolina! sprach er, wie jetzt ihn erst erkennend ... Bezeuge – was – die – Liebe eines – Weibes – vermag –! ...

Auch in des Grafen Augen traten Thränen ...

Bona! Bona! wandte sich Benno an diesen, der eben zurückkehrte ... Dann sah er sich fieberhaft um, sah Armgart mit dem zärtlichsten Blick der Liebe an und sank in sein Kissen zurück, die Hand Armgart's krampfhaft festhaltend ...

Bonaventura kam, durch irgend eine neue Veranlassung sichtlich aufgeregt ... Das Geflüster der Aerzte, die im Nebenzimmer sich befanden, mehrte sich ... Auch verbreitete sich Weihrauchduft ... Der Priester, den Benno begehrt hatte, war in der Nähe mit dem Sterbesakrament ...

Aber noch eine andre Ursache schien Anlaß der Erregung des Erzbischofs zu sein ... Er nahm den Grafen bei Seite und flüsterte ihm, während Benno in ekstatischer Begeisterung: »Einmal – eh' – sie – scheiden«, sprechen wollte und auf Armgart als die »letzte Freude« seines Lebens deutete ...

Dieser Taumelkelch des letzten Entzückens sollte entweder zu hoch aufschwellen oder sich bitter – vergällen ... Bonaventura berichtete laut die eben gemeldete Ankunft eines sechsspännigen Reisewagens, der, mit einigen Damen besetzt, sofort am Portal des Hauses angefahren wäre ... Die eine der Damen, die ältere, wäre schon in den Vorzimmern – während die andere noch im Wagen verweilte ...

Armgart erhob sich ... Eine Todtenstille trat ein ... Auf Bonaventura's Lippen lag die Ergänzung des Berichtes: Die Fürstin Olympia – und die Herzogin von Amarillas ...

Alle blickten auf Benno, ob er gehört hätte – ...

Das – Sakrament – ... sagte er leise ...

Die Umstehenden, zu denen sich jetzt in höchster Angst auch Paula gesellte, glaubten, daß Benno die Worte des Erzbischofs nicht verstanden hatte ...

Deine Mutter ist da ... Bereite dich, sie zu empfangen ... wiederholte Bonaventura mehrmals und dicht an seinem Ohre ...

Schon vernahm man eine wehklagende Stimme in der Nähe, der sich die Stimmen der Mönche gesellten, die nach vorn gegangen waren und die plötzliche Bestürmung des Kranken hindern wollten ... Paula und der Oberst gingen schleunigst, um ihre Bitte zu unterstützen ...

Bonaventura hielt den Freund in seinen Armen, der mit Geberden, die denen eines flehenden, fiebergeängsteten Kindes glichen, ihn ansah und sprach:

Die besten Jahre – meines Lebens hab' ich ihnen – geschenkt – Der Tod – sei wenigstens mein und – sei euer – Laßt mich – von ihnen – frei ... Fort! Fort! ... Beide! – Beide –! ...

Eiligst war der Graf an die Thür, welche in die Bibliothek führte, getreten und hatte diese verriegelt ...

Benno sah diese Handlung, dankte mit zitternd ausgebreiteten Händen, sah flehend in Bonaventura's Augen krampfte sich um seinen Hals wie ein Schutzsuchende, wie ein Verfolgter, und wiederholte sein erschreckendes, wie Gespenster verscheuchendes Fort! Fort! ...

Bonaventura, ohne Fassung, that jetzt nur alles, was Benno's nächsten Wunsch unterstützen konnte, verriegelte auch noch die zweite Thür, die in jenes Cabinet führte, in welchem die Mönche sich aufgehalten hatten und jetzt der Priester mit dem Sakrament harrte ... Im Bibliothekzimmer wurde es still ...

Bonaventura bat wiederholt, die Mutter und die Freundin nicht abzuweisen ...

Rufe den Priester – entgegnete Benno – Ich kann – nicht mehr – italienisch – sprechen ... Armgart – mein Cherub! Helft, helft mir –! ... Fort! – ... Und – Beide! – ...

Du wirst leben, Freund! betheuerte Bonaventura, in der That noch in Hoffnung auf die große Kraft, die soviel Erregungen zu ertragen fähig war ... Wie könntest du bei diesem Entschluß verharren? ...

Ich riß mich – von meinen – Fesseln los und gelobte, sie – nie wieder – anzulegen! ... Ich sehe dich, Schwester –! ... Mag die Selbstanklagen, die wilden Worte nicht – hören ... Friede! – Friede! – Friede! ... Mein – Gefühl für diese Mutter war – wie der angesammelte Schatz meiner unerwiderten Liebe zu allen Menschen der Erde ... Was hab' ich ihr – nicht alles hingegeben ... Als diese heiligen Flammen verloderten, sah ich nur die Asche – Berechnung – Eigenwille – List, Rache, Haß ... Hab's – lange ertragen – ... Abgerechnet – nun mit – ihr und – ihrem Schatten – ... Stille – nur Stille – um – mich her ... Ich – ersticke – noch – vor – südlicher – Luft –! ...

Bonaventura und Armgart erbebten ... Sie sahen zehn Jahre eines Lebens voller Qualen, eines Lebens ohne Willen, eines Lebens der Gebundenheit und eine furchtbar ausbrechende Reue ... Wie sollten sie helfen –! ... Eben mußte auch die Fürstin heraufgekommen sein – Wieder wurde es im Bibliothekzimmer unruhig ... Man hörte das Schluchzen und laute Reden italienischer Frauenstimmen ...

Benno bat mit stummem Blick, die Thür nicht zu öffnen ... Die Kraft seines Blicks stand in wunderbarem Contrast mit dem ersichtlichen Zunehmen seiner Schwäche ...

Ich will gehen, Freund ... sprach Armgart athemlos ... Laß' sie ein, sie, denen du jahrelang ihr Glück gewesen bist ...

Benno hielt krampfhaft ihre Hand fest und ebenso die des Erzbischofs ... Die Frauenstimmen verhallten wieder und nun sagte Bonaventura, er wolle gehen und sie beruhigen, Benno würde inzwischen selbst auf einen andern Entschluß kommen ...

Nein ... Nein –! ... sprach dieser und fuhr in kurzen Unterbrechungen fort: Priester! ... Wenn der letzte – Wunsch eines – Sterbenden – dir heilig ist, bewahre mich vor diesen Klagerufen! ... Die Todten – hören noch lange – hören die Klagen um – ihr – Abscheiden ... Angiolina, auch du vernahmst – den Ruf der Mutter –! ... Abgerechnet – Stille – Stille – wie im Walde – die Blätter – rauschen – an unserm – schönen – Strom – Armgart! – Laßt – – mich – ...

Im Hinblick auf Hüneneck, Drusenheim und Lindenwerth schien sein Bewußtsein zu erlöschen ... Erschöpft sank Benno in die Kissen zurück ...

Bonaventura fragte Armgart, ob sie die Kraft behalten würde, eine Weile allein beim Freunde auszuharren, bis er den Vicar schicken würde ...

Armgart verneigte bejahend das Haupt ...

Bonaventura verließ durch die hintere Thür das Zimmer, machte einen Umweg durch mehrere der Gemächer und kam in den Empfangssaal zu den Aerzten und den Brüdern, die er glücklicherweise allein fand ... Er bedeutete sie, leise und unbemerkt mit dem Priester und dem Sakrament zum Lager des Kranken zu treten ... Dann ging er ins Nebenzimmer, aus dem die wildesten Weherufe der Frauen erschallten ...

8.

Vier Personen traf Bonaventura, die wol die größten Gegensätze der Charaktere und der äußeren Erscheinung bildeten ...

Olympia, die jetzt Dreißigjährige, in Reisekleidern ...

Die Herzogin von Amarillas, eine weißhaarige Matrone – redend gegen die verschlossene Thür, ja an ihr – mit den Nägeln kratzend ...

Graf Hugo, der die Herzogin von Amarillas, nachdem sie ihm als Angiolinens Mutter bekannt war, heute zum ersten male sahe ...

Die reine, nur in der Hoheit ihres Schmerzes strahlende Paula trostspendend und versuchend die Frauen zu beruhigen ...

Olympia ging, wie die Löwin im Käfig, auf und nieder ... Schmerz, Reue, tiefbeleidigter Stolz kämpften in ihren Mienen ... Reue – denn sie hatte seit einigen Jahren mit Benno in Streit gelebt, hatte ihm, als er ohne sie nach Rom gegangen war, Lebewohl für immer gesagt ... Die kleine Gestalt war bewegt von Athemzügen, die ihr mächtig die Brust hoben ... Ihre seidnen Gewänder rauschten ganz schrillenden Tones ...

Die Herzogin, ohnehin von der Reise erschöpft, sank zitternd, beengt von den Umgebungen, auf einen Sessel ... Sie blickte auf den Grafen, auf die Thür ... Ihr ganzes Benehmen drohte mit einem Ausbruch von Irrsinn ...

Der Graf mußte sich mit Paula beschäftigen, die keine Kraft besaß, diesen wilden südlichen Leidenschaften, denen, wie man deutlich ersah, Benno's Kraft schon in Paris und London hatte erliegen müssen, länger die Spitze zu bieten ...

Noch ahnten die Ankömmlinge nicht die Ablehnung Benno's ... Sie jammerten nur um die lange Verzögerung, die Vorbereitung des Todkranken auf ihr Erscheinen ... Sie wußten doch, daß Armgart von Hülleshoven am Krankenlager war ... Olympia kannte diese als Benno's Jugendliebe ... Ihre Mienen glichen dem elektrischen Leuchten eines dunkeln Gewölks, das ein Ungewitter birgt ...

Als die Herzogin und die Fürstin Bonaventura eintreten sahen, stürzten sie auf ihn zu, warfen sich ihm an die Brust, umklammerten sogar sein Knie und beschworen ihn, sie wissen zu lassen, wie es ihrem Cäsare erginge ... Sie wollten den Geliebtesten sehen ...

Graf Hugo und Paula traten in die vorderen Zimmer ... Sie sahen am Benehmen des Erzbischofs eine feierliche Bewegung des Ueberlegens, eine ernste Entschlußnahme ... Wohl kannten sie die Strenge, deren sein sonst so mildes Gemüth unter Umständen fähig war, kannten die ganze Aufrichtigkeit, mit welcher in solchen Lagen selbst der Schein der Grausamkeit von ihm nicht gescheut wurde ...

Meine Damen! begann er in italienischer Sprache ... Welches traurige Wiedersehen! ... Tröste Sie wenigstens die Gewißheit, daß mein edler Freund in den Armen von Menschen weilt, die ihn lieben ...

Mehr, mehr, als wir?! – Als wir?! – Lassen Sie uns zu ihm! riefen beide Frauen zugleich und wie im Ton der wildesten Eifersucht ...

Erfüllen Sie mir eine Bitte, sprach Bonaventura ... Die Augenblicke des Geliebten sind gezählt ...

Er stirbt? ... riefen beide zugleich und die Mutter brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus ...

In wenig Stunden ist seine edle Seele hinüber ... Lassen Sie ihm die Ruhe – die jetzt um ihn her waltet ... Eben versieht ihn – die Hand des Priesters ...

Ohne mich, ohne – sein Weib? – fiel die Fürstin ein ...

Sie konnte nicht ganz ihre Rede vollenden ... Ein strafender Blick traf sie sowol aus dem Auge des Erzbischofs, wie aus dem des Grafen, der die Thür zuzog ... Dem Grafen war die Wiederbegegnung mit diesen Frauen eine so aufregende, daß Paula jetzt ihn beruhigen mußte ... Angiolinens Tod, der Ritt Olympiens durch den Park von Schloß Salem stand vor seinen Augen ... Die Herzogin war im Casino damals anfangs seinem Schmerz theilnehmend verbunden gewesen – die Zeit, die Ueberlegung, die Beurtheilung des Preisgebenkönnens ihrer Kinder hatte die freundliche Stimmung des Grafen von damals verändert ...

Beruhigen Sie sich beide, sprach der Erzbischof, ich achte die Ansprüche, die Sie auf den letzten Händedruck des Freundes haben – ...

Meines Sohnes! verbesserte die Herzogin und richtete ihr Auge auf die Thür, die zu den nach Benno's Lager auf andrem Wege führenden Zimmern offen stand und jetzt von Bonaventura geschlossen wurde, indem er sprach:

Nehmen Sie an, Sie hätten für immer von Ihrem Sohne Abschied genommen – ...

Für immer –? – riefen beide Frauen und Olympia fügte mit gellender Betonung hinzu: ...

Er will uns nicht sehen –? ...

Bonaventura schwieg ...

Die Mutter blickte wie geistesabwesend um sich ... Dann schien sie nachzudenken, welche Empfindungen ihren Sohn zu dieser Erklärung hätten bestimmen können ... Endlich raffte sie sich mit leidenschaftlichem Entschluß auf und wollte an die Thür des Bibliothekzimmers ...

Der Erzbischof vertrat ihr den Weg und wollte jedes störende Geräusch verhindern ... Herzogin –! ... sprach er fest und bestimmt ...

Dann seine Stimme mildernd und auf die der Herzogin sich anschließende Olympia blickend, begann er:

Geben Sie diese Beweisführung Ihrer Liebe auf! ... Niemand zweifelt daran! ... Aber der letzte Augenblick eines Sterbenden, sein letzter Wille sei Ihnen heilig ... Vereinigen Sie Ihre Klagen mit den unsrigen, weinen Sie mit uns –! ... An seinem Bett wacht die Liebe seiner Freunde – ... Lassen Sie ihm die stille Ruhe des Abschieds vom Leben ... Er entschläft – in Gott ... Er bat nur um Eines – um – ewige Ruhe ...

Welche Liebe? wandte sich jetzt Olympia mit einer Miene, als hätte sie des Erzbischofs Worte nicht verstanden ... Meinen Gatten will ich sehen – denn das ist er –! ...

Sie rasselte an der Thür, bis Graf Hugo eintrat und ihr nicht endendes Mia anima! Mio cuore! zu beschwichtigen suchte ...

Wie aus einer fremden Welt verhallten diese Klagelaute – ohne Echo, ohne ein Zeichen, daß sie drüben vernommen und erhört wurden ...

Graf Hugo schloß noch die von innen verriegelte Bibliothekthür ab, steckte den Schlüssel zu sich, ging zu Paula zurück und blickte nur im Vorübergehen auf den Erzbischof, andeutend, ob er nicht besser thäte, zu Benno zurückzukehren und zu versuchen, ihn umzustimmen ...

Aber Bonaventura stand regungslos ...

Wir stören die heilige Handlung des Abbate Orsini, sagte er ... Beten können wir auch hier ...

Olympiens Augen wurden weiß vor Zorn ... Ihre Gestalt schien wie von Luft ... Sie schwebte hin und her und murmelte eine Reihe zusammenhangloser Worte, die dem Erzbischof sehr wohl als Erinnerung an sein Emporkommen und Verurtheilung seiner Undankbarkeit verständlich waren ...

Nichtsdestoweniger wiederholte er: Beten wir! ...

Drüben hörte man die Klingel des Ministranten ... Weihrauchduft durchzog die Zimmer ...

Die Herzogin weinte nur noch ...

Bonaventura sprach ihr mit weicher Stimme:

Die Seele unseres Freundes ist ebenso krank, wie sein Körper ... Lassen Sie ihm den letzten Frieden, um den er gebeten ... Mich, einen Priester, bat er, die Mutter und die ehemalige Freundin selbst dann noch fernzuhalten, wenn sein Auge gebrochen ist ... Es muß ihm ein heiliger Ernst mit diesen Wünschen sein ... Kann ich etwas dagegen thun? ... In jener Zeit, wo der Freund nur noch Ihnen und Italien angehörte, muß er schwer gelitten haben ...

Wahnsinn! ... Wahnsinn! ... rief Olympia ...

Sagen Sie: Verklärung und Erhebung vom Irdischen! entgegnete Bonaventura ... Ein Gericht hat er nicht über Sie halten wollen, sondern über sich ... Sie können nicht begreifen, wie sein Leben von Deutschlands heiligen Eichen ausging, wie die Wipfel der Tannen, unter denen Sie einst betrogen wurden, Herzogin – wir alle wissen es mit Beschämung – doch ihm die süßesten Märchenträume sangen ... Anfangs wand er sich künstlich vom Zauber seiner Heimat, seines deutschen Vaterlandes los und verbitterte künstlich sein Gemüth gegen die Welt, in der er lebte ... Da fand er dann Sie und der künstliche Haß wurde ein scheinbar natürlicher ... Ihnen, dem Lande seiner Mutter, Ihren Interessen, Ihren Hoffnungen widmete er sich ganz ... Das wurde zum Fieberbrand, der ihn zuletzt verzehrte ... Der nordischen Sehnsucht zum Süden ging es immer so ... Nun aber, nun weht ihn noch einmal die Kühle aus den deutschen Eichen an – umgaukeln ihn die Bilder aus den grünen Tannenwäldern der Heimat des Mannes, der ihn erzog, seines wahren Vaters, des Dechanten – lassen Sie ihm diese letzte Erquickung des Verlorenseins in seiner deutschen Jugend nach dem heißen Sonnenbrand, während Sie drei ja einst – genug zusammen glücklich waren – ...

Die Zauberei eines Mädchens seh' ich, das ihn in seinen letzten Augenblicken bestrickt! unterbrach Olympia und ihre Zähne glänzten, wie sie der Wolf im Anblick seiner Beute wetzt ...

Lästern Sie nicht, Fürstin! sprach Bonaventura voll Unwillen, doch kehrte er zur Milde zurück und sagte zur Mutter: Reisen Sie mit Gott, Herzogin! ... Sie haben lange ein Herz besessen, das sich Ihnen opferte ... Wenn dies Herz im letzten Augenblick umfangen sein will nur von jener Einsamkeit, die den armen verstoßenen Knaben, der sich selbst so oft einen Zigeuner im Leben nannte, umfing, wenn er an die grünen Wälder zurückdenkt, die Sie verfluchten, weil Ihr Ehrgeiz dort betrogen wurde, lassen Sie ihm diese Erinnerungen ... Armgart von Hülleshoven schloß ebenso die Augen seines zweiten Vaters, des Dechanten ... Ich vermochte nichts gegen einen Wunsch des Freundes, der so fest, so unwiderruflich fest ausgesprochen wurde – ...

Die Herzogin weinte und schien sich zu ergeben ... Sie erinnerte sich der letzten Jahre in London, die unausgesetzt für Benno nur Qualen geboten hatten – Olympia hatte wieder angefangen, ihre tyrannische Natur, Eifersucht und jede Plage geltend zu machen – ... Die Mutter verstand, was Benno gethan, als er floh, und was er eben that – sie verstand, warum sein schroff gewordener, verdüsterter Sinn so und nicht anders aus dem Leben scheiden wollte ...

Olympia fühlte die gleiche Berechtigung so harter Strafe, aber sie ergab sich nicht ... Starr blickte sie zur Erde ... Sie hatte sich allmählich setzen müssen ... Ihre Brust kochte vor Rache und Eifersucht ...

Die Thränen der Herzogin rührten den Erzbischof ... Er gedachte der eigenen Mutter, die nun auch vielleicht bald vom Leben schied und im brechenden Auge das Gefühl einer großen Schuld zeigen konnte ... Er bemerkte die wiederholt bittenden Blicke des Grafen, der von Olympiens Kälte und ihrem drohenden Schweigen allmählich das Schlimmste befürchtete ... Schon hatte er gehört, daß sie in Verbindung mit Gräfin Sarzana stand ... Jetzt mußte er sogar der Terschka'schen Drohungen gedenken ... Bitte! sprach er zum Erzbischof und deutete an, daß man besser thäte, den Versuch zu machen, ob sich nicht Benno umstimmen ließe ...

Wollen Sie mir versprechen, sich ruhig zu verhalten? erwiderte Bonaventura ... Ich will noch einmal an Ihres Sohnes Lager treten ...

Die Frauen hoben flehend die Hände, selbst Olympia ...

Da trat Paula, die inzwischen durch die andre Verbindung der Zimmer in der Nähe der Sakramentsertheilung geweilt hatte, ihm entgegen und sank weinend in die einzigen Arme, die sich ihr entgegenstrecken durften – die ihres Gatten ... Sie sagte mit erstickter Stimme:

Er ist hinüber ...

Der Ausdruck des Schmerzes bei den beiden Italienerinnen war unverstellt ... Sie schwiegen eine Weile, wie vom Strahl des Himmels getroffen – und in der That wie bestraft für all' die Qual, welche Frauen, unter dem Vorwande der Liebe, über die Freiheit des männlichen Willens und ein nothwendiges Sichbewußtbleiben seiner Kraft verhängen können – ...

Sie drängten, Benno sehen zu wollen – die Mutter wie eine Irrsinnige – ...

Bonaventura erinnerte sie, wie oft der Freund von Angiolinens Tod gesprochen, wie oft er behauptet, die Schwester hätte die entsetzliche Scene zwischen ihm und der Mutter noch hören müssen, die Todten verließen die Erde weit langsamer als wir glaubten ... Und eben noch hatte der Freund in diesem Sinn um die Stille seines Sterbelagers gebeten ... Bonaventura bat die Frauen, zu bleiben ... Selbst Klagen, selbst Thränen nicht in seiner Nähe! ... Er hätte dies dem Freunde geloben müssen ...

Abbate Orsini ging eben mit den Sterbesakramenten an der offengebliebenen Thür vorüber ...

Der Anblick der Monstranz gebot den verzweifelnden Frauen Ruhe und Selbstbeherrschung ...

Bonaventura benutzte diesen Moment, um sich zu entfernen ... Graf Hugo begleitete ihn ... Es drängte beide an das Lager des todten Freundes ... Beide durften es Paula überlassen, mit der ihr eigenen Güte des Tons, mit der ihr im bittersten Leid eigenen Hoheit den zurückbleibenden Frauen Worte des Trostes zu spenden ...

Die Fürstin sah, daß die Herzogin dieser edlen Erscheinung gegenüber schon lange die Fassung verloren hatte, ob sie gleich wußte, daß diese blonde Deutsche die Ursache des Bruchs zwischen dem Grafen und Angiolinen war ... Oft, wenn von ihrem Ritt durch den Park von Schloß Salem als Ursache des Todes Angiolinens gesprochen wurde, hatte Olympia die Schuld auf diese Gräfin und ihr Geld geworfen ... Jetzt auch sah Olympia allmählich schon verächtlich zu ihr empor und sprach zur Herzogin, die auch von den Jahren schon tiefgebeugt schien, ein Andiamo! nach dem andern; ja als diese mit den Nägeln in ihrem Antlitz wühlte, brauchte sie die kalten Worte: Keine Schwäche! ... Die Nähe des nun wirklich eingetretenen Todes beängstigte im Grunde niemanden mehr als Olympien ... Sie hätte den ehemals heißgeliebten Freund vielleicht nicht einmal im Tod betrachten können ... »Nichts ist schöner, als der Tod!« hatte einst die Mutter Benno's gesagt, als sie zu Angiolinens Leiche trat ... Sie wiederholte dies Wort – ... Sie kannte aber Olympiens abergläubische Furcht, ergab sich und sagte nun schon, daß sie auch ihrerseits fürchtete, dem Anblick zu erliegen ... Die aufgeregt hin- und hereilenden Bewohner und Diener des Hauses konnten es zuletzt natürlich finden, daß die greise Dame, die zum allgemeinem Staunen die Mutter des Hingeschiedenen war, langsam die Treppe niederstieg und am Portal in ihren Wagen sank ... Die Fürstin ging der Schluchzenden zur Linken ... Paula begleitete sie zur Rechten ...

Auf der Mitte der Stiege waren ihnen noch der Erzbischof und der Graf nachgekommen und begleiteten sie beide bis zum Portal ... Noch einmal bat Bonaventura um Vergebung und lud die Frauen ein, in einigen Stunden wiederzukommen – Graf Hugo träfe Anstalten, dem Geschiedenen einen militärischen Katafalk zu errichten mit allen kriegerischen Reliquien, die sich noch in Benno's Gepäck vorgefunden hätten ... Ohne Zweifel strömte die ganze Stadt herbei, den römischen Republikaner zu sehen ... Die Herzogin versprach, in einigen Stunden zu kommen ...

Olympia schwieg ... Sie sah sich mit Verachtung und einer vor Zorn bitterlächelnden Miene um ... Ihre Gedanken schienen abwesend ... Fast war es, als wollte sie die Menschen messen, die sie sah, und etwa wahrnehmen, bis wie weit sie an ihnen ihre Rache kühlen könnte ...

Der Graf bot sofort den beiden Scheidenden eine Wohnung in seinem Palais an, ja er traf in ihrer Gegenwart Anordnungen, sie bis zum Begräbniß und noch auf längere Zeit würdig bei sich zu beherbergen ...

Die Herzogin sah gerührt und bittend auf Olympien ... Diese nickte gelassen mit dem Kopf und ließ zum Hotel fahren ...

Olympia hatte anders beschlossen ...

Von den flehentlichsten, ja fußfälligen Bitten der Herzogin, daß sie beide wenigstens bis zum Begräbniß blieben, erfuhren nur zufällige Lauscher an den Thüren des Hotels ... Trotz Benno's Beistand, trotz der Mittel, die ihr Benno schon bei seiner Abreise nach Rom lebenslänglich ausgesetzt hatte, war die Herzogin schon wieder nur die Duenna Olympiens ... Sie hatte gegen diesen wilden Charakter keine Kraft des Widerstands ...

Olympia fragte die gebeugte, reuevolle Frau mit durchbohrender Ironie, ob sie Verlangen trüge, Armgart von Hülleshoven kennen zu lernen –? ...

Alle Welt erstaunte, als sie dann Postpferde bestellte ... Diese kamen nicht sofort und schon machte sie dem Wirth eine Scene ...

Ihr Reisewagen fuhr an, sie bezahlte den Aufenthalt dieser wenigen Stunden und schritt ruhig die Treppe des Hotels nieder an den geöffneten, rings von Menschen umstandenen Schlag ihres Reisewagens ... Die Herzogin kam nicht ... Olympia ließ den Postillon eine Mahnung blasen ... Zehn Minuten und die Herzogin erschien ...

Wären die Frauen noch einen Tag geblieben, so hätte sich ein Zwiespalt, der, wie sämmtliche über diese Abreise erstaunten Freunde fürchten mußten, nicht ohne Folgen bleiben konnte, durch eine glückliche Vermittlung vielleicht gelöst ... Thiebold de Jonge traf am Morgen nach dem erschütternden Heimgang Benno's ein und bot eine wahrhafte Erquickung allen trauererfüllten Herzen, die er hier antraf ... Auch der Oberst und Monika waren von Castellungo herübergeeilt, sogar Hedemann, der dem ersten Jugendleben Benno's so nahe gestanden hatte ... Thiebold, der in innigster Verbindung mit Benno geblieben war, hatte kaum von den ersten Opfern der Belagerung Roms an Porta Pancrazio gelesen, als er sich »vom Geschäft« losriß und »bei allem Unglück den glücklichen Gedanken« hatte, erst über Coni und Castellungo zu reisen ... Mit dem ganzen Schmerz der hingebendsten, treuesten, bis über den Tod ausdauernden Freundschaft traf er den Freund schon vom Leben geschieden ... Bebend trat er an den ausgestellten Leichnam, weinte wie ein Kind – ordnete aber doch sogleich des Freundes graue Locken mit seiner Linken und drückte mit der Rechten Armgart's Hand, die ihn gewähren ließ ... Fand er von allen gebeugten Herzen den Ton der natürlichen Ergebung zuerst wieder und konnte, den theuern, mit seinem Leben so innig verwachsenen Freund betrachtend, mit liebevollster Prosa sagen: »Merkwürdig; eigentlich hat er sich nicht verändert!« so konnte er doch sein »Er hat mich erzogen!« mit einem Schluchzen sprechen, wie eine mit vierzig Jahren »mutterlos dastehende Waise« ... Die Verbindung mit Benno war ungetrübt geblieben; seine von unermüdlichem Hin- und Herreisen begleitete Vermittlerschaft hatte in den stürmischen letzten Lebensjahren des Freundes die äußersten Katastrophen zu verhindern gewußt ... Jetzt war alles so gekommen, wie jener Scherz in den zauberischen Tagen auf Villa Torresani bei Rom nicht ahnen ließ und wie er doch, nach den Regeln der Nemesis, hatte enden müssen ...

Armgart und Thiebold konnten an Benno's Leiche noch manche Melodie aus alten Zeiten vernehmen ... Diese Melodieen rissen freilich schmerzlich ab – »Durch wessen Schuld –?« lag in Thiebold's Blicken, als er die hohe, so seltsam anders, als er erwartet, entwickelte Gestalt Armgart's betrachtete und an den räthselhaften Abschied erinnerte, den sie ihnen beiden einst im Schloß zu Westerhof – ihres Gelübde wegen – hatte geben können ... Jetzt erdrückte ihn fast eine Art »Ehrfurcht« vor Armgart's Geist und gereiftem Urtheil ...

Die Veränderung des tiefbetrübten Lebenskreises wurde die mächtigste, als Bonaventura unmittelbar nach Benno's Bestattung zu seiner inzwischen in Rom angekommenen Mutter gerufen wurde und in der That der Graf, trotz aller Gährungen seines Innern, erklärte, das Bedürfniß zu haben, auch seinerseits den Präsidenten zu begrüßen und deshalb mit Paula den Erzbischof zu begleiten ... Monika erglühte über diese Ausrede, die einer ganz andern Rücksichtsnahme galt, vor mächtigster Regung einer Entrüstung, die sie sich nur gerade jetzt in dieser allgemeinen Trauerstimmung auszusprechen scheute ...

Ein Glück, daß Thiebold's rege Fürsorge für alle und über alles wachte ... Das Begräbniß des Freundes, die Ausschmückung des Grabes, das Errichten eines Denksteins, alles das fiel auf seinen Theil und nichts ließ er sich von dem, »was sich ja von selbst verstände«, nehmen ... Er sagte: »Auf unserm gegenseitigen Contocorrent hat Benno noch so viel Saldi und Ueberträge zu gute, daß ich sie in diesem Leben nimmermehr auslöschen kann!« ...

Armgart, wie die Sonne am herbstlichen Tag, dankte ihm voll wehmüthiger Freude – so für sein Kommen wie für sein längeres Bleiben – ...

9.

Zwischen dem Ionischen und dem Mittelmeer erstreckt sich die eine Hufeisenhälfte des südlichen Italien und berührt in ihrer Spitze beinahe das Haupt der alten Trinacria, Siciliens ...

Die Scheide zwischen beiden Meeren bilden die Ausläufe der Apenninen mit den hohen Bergspitzen des Monte Januario und Monte Calabrese ...

Zwischen beiden erhebt sich eine bewaldete, hier in schroffe Felsklüfte zerspaltene, dort in grüne, weidenreiche, aber engumschlossene Thäler sich absenkende Gebirgskette, der Silaswald ...

Wer da weiß, daß man auf dem Aetna, während unten die Dattelpalme und Feige grünt, auf der Höhe von Schneestürmen überfallen werden' kann, begreift, daß zwar auch der benachbarte Silaswald an seinen Füßen und an beiden Meeren hin die ganze Pracht der südlichen Vegetation entfaltet, auf seinen Höhen aber und in seinen Schluchten den Alpencharakter der Schweiz tragen muß – schmale, an reißenden Berggewässern hingehende Wege, Thäler, die von hohen Felsen umgeben sind, auf denen Adler horsten, Wälder, an die sich seit Jahrhunderten die Axt nicht legte, weil die Mittel und die Kräfte fehlen, die Stämme in die Ebene zu führen ... Oft wirft die Sonne ihre südlichen Strahlen senkrecht in die feuchten Felsritzen und läßt in ihnen eine tropische Luft entstehen, wie in einem Treibhause; aber an anderen Stellen pfeift dann wieder durch die offenen Lücken zwischen den von Zwergeichen umkränzten Spitzen des Hochgebirgs die Bora so eisig, daß die Hirten ihre ungegerbten Schaffelle, mit denen sie den nackten Körper bekleiden, über und über zusammenbinden müssen wie die Grönländer ... Weiße spitze Hüte decken die schwarzbraunen, scharfgeschnittenen Köpfe mit ihren dunkelbraunen Augen, deren lange schwarze Wimpern manchen Physiognomieen einen sanften, gutmüthigen Ausdruck geben ... Andere blicken dafür wieder desto wilder ... Die Schaffelle sind am Leib nach innen, an den Füßen nach außen gekehrt und bis zum groben Holzschuh hinunter durch Schnüre befestigt ... Ein braunrother Mantel dient als Decke für die Nacht oder gegen die zuweilen urschnell ausbrechenden Gewitter ... Die Thätigkeit der Silaswaldbewohner ist größtentheils Viehzucht ... Die Ziegen Calabriens, die zu Tausenden an den schroffen Felsabhängen ihre Nahrung suchen, während die Hirten den Dudelsack blasen oder auf der alten Pansflöte vielstimmiges Echo wecken, liefern jene elegantesten Handschuhe von Paris und Mailand ...

Wer im Silaswald nicht Ziegen treibt oder für Schafe und Rinder die fetteren Weideplätze sucht oder Kohlen brennt, verlegt sich auf das einträgliche Gewerbe des Schmuggels, seit uralten Tagen für dies buchtenreiche Land ein ebenso überliefertes wie der Raub ... Hier weht die classische Luft, die uns umfängt, wenn wir von den Thaten des Hercules, der die Landstraßen säuberte, von Theseus, von den strengen Gesetzen der Republiken des alten Griechenland lesen ... Von Osten her weht hellenische Luft, vom Süden sarazenische ... Flibustierthum ist die eigentliche Lebensbewährung aller dieser am Meer wohnenden Völker, die auch schon deshalb das Leben nicht so ruhig, wie andere, nehmen können, weil unter ihnen der Boden vulkanisch wankt und zu sagen scheint: Was du dir nicht heute genommen vom Ueberfluß der Erde, das verschlingt vielleicht schon morgen der uralte Neid der Götter auf unser Menschenglück – ...

Wenn sich auf einem zweirädrigen, aber menschenüberfüllten, von einem Pferd und einem Maulthier zugleich gezogenen Karren, der in Kalkstaub gehüllt die Felsenstraße von Cosenza sich hinaufwindet, die Furcht ausspricht, daß auf dem Wege bis Spezzano der Abend hereinbrechen würde und mancher seine kleine Baarschaft an ein mit Flintenläufen unterstütztes: Gott grüß! hingeben müßte, so hatte sie vollkommene Begründung ... Nur dürfen ebenso die acht Personen, die an dem zweirädrigen Karren wie Bienen an einem Baumast hängen, dem Impresario der Gebirgsdiligença, Meister Scagnarello, Recht geben, der die unausgesetzten, bald liebkosenden, bald drohenden Anstachelungen seiner Thiere mit einem lauten Lachen unterbrach, als ein Handschuhmacher aus Messina in seinem sicilianischen Dialekt noch von dem furchtbaren Räuber Giosafat Talarico zu meckern anfing und vom Scagnarello hören mußte:

Das wißt ihr also noch drüben nicht, wer euer vornehmer Nachbar geworden ist? ... Auf Lipari, dicht vor eurer Nase, könnt ihr den Vater Giosafat und seine ganze Familie wie einen Prätore leben sehen ... Seine Excellenz der Minister waren selbst von Neapel nach Cosenza gekommen, sprachen ein ernstes Wort mit dem tapfern Mann und für achtzehn Ducati monatlich vergnügt er sich jetzt auf der Jagd am Strand der See ... Sie klagen in Cosenza, daß seitdem so wenig wilde Gänse mit dem Südwest zufliegen ...

Die Gesellschaft, die auf dem Karren trotz eines Umfangs desselben von nur acht Fuß Länge und sechs Fuß Breite doch in mehreren Stockwerken saß, ordentlich, dem Preise nach, ein Coupé, ein Intérieur und eine Impériale hatte, ja noch Körbe, Säcke und Felleisen in einer wahren Laokoon-Verschlingung unterzubringen wußte, mußte bestätigen, daß Meister Scagnarello vollkommen Recht hatte ... Nachdem die Regierung in Cosenza damals an einem Tage zwanzig Insurgenten, die Brüder Bandiera an der Spitze, hatte erschießen lassen, mußte sie wol des Blutes für einige Zeit genug haben ... Del Caretto, gewöhnlich der »Henker Neapels« genannt, kam nach Cosenza, nahm die Fürbitte des Erzbischofs für die durch einen glücklichen Zufall gefangene Bande des Giosafat Talarico, der an Morden und unzähligen Räubereien mit Pasquale Grizzifalcone in der Mark Ancona wetteifern konnte, in ernste Erwägung und vollzog es wirklich, was der alte Principe Rucca in Rom und der selige Ceccone nur für eine erwägenswerthe Möglichkeit gehalten hatten ... Lipari erhielt den Giosafat zwar nicht als Bürgermeister, wie sich, vor dem Schuß des deutschen Mönches Hubertus, Grizzifalcone von Ascoli geträumt hatte, aber er lebte daselbst freier und vergnüglicher, als Napoleon auf Sanct-Helena ... Mit den achtzehn Ducati hatte es seine vollkommene Richtigkeit Gregorovius' »Siciliana«....

Darum war es aber im Silaswald noch nicht eben viel geheurer geworden ... In Cosenza sah man ja hinter den Gittern eines Thurms dieser alten Stadt, wo einst am Busento Alarich, der Gothenkönig, sein geheimnißvolles Grab gefunden, genug halbnackte Gefangene um Almosen betteln und, wenn sie keins erhielten, hinterher eine höhnische Frazze schneiden ...

Bis die Diligença Signors Scagnarello in der Nothwendigkeit war, um der engen Wege willen die Thiere so zu spannen, daß sein Maulthier voran, sein Rößlein hinterher ging, war die Zahl seiner Passagiere bedeutend zusammengeschmolzen ... Der Handschuhmacher traf die Ziegen, die er erhandeln wollte, schon in Pedaco, dann wollte er sich um den unheimlichen Silaswald herum nach Rossano auf die große Ledermesse begeben – ein Männlein war's, wie die feinen Leute dort gehen, in dunkelgrüner Jacke, kurzen braunen Beinkleidern, braunen Strümpfen und schwarzen Kamaschen, mit einem braunen Mantel und einem weißen Hut, so spitz wie ein Zuckerhut, eine rothe Feder darauf, als gehörte auch er zur Bande des Talarico ... Hinter ihm her wurde vielfach gelacht, auch von zwei Priestern, die hier in vergnüglichster Weise ganz zum Volke gehören und oft vertrauter mit den Räubern sind, als mit ihren Verfolgern ... Zuletzt blieb dem Scagnarello von Männern nur noch ein Soldat treu, der den Weg von Cosenza zu Wagen machte, obgleich er zu den berittenen Scharfschützen gehörte – Sein Pferd lag hüftenlahm, erzählte er, in Spezzano, einem Oertchen, das sonst keine Besatzung hatte, heute aber mit Soldaten überfüllt war – eine Erscheinung, die die Passagiere nicht zu sehr überraschte, denn wo waren nicht die Truppen jetzt nöthig, um heute eine Verhaftnahme eines noch aus den kaum beschwichtigten Stürmen der letzten Jahre zurückgebliebenen versteckten Compromittirten vorzunehmen, morgen eine wiederum drohende neue Conspiration zu ersticken – Sicilien und Calabrien hatten auch für ihre politischen Vulkane geheime Zusammenhänge genug ...

Außer dem Soldaten blieb auf dem Karren noch eine Frau mit einem Kinde, die weiter wollte als bis Spezzano und schon seit Cosenza mit Signore Scagnarello in Unterhandlungen stand, was sie wol zahlen würde, wenn sie die Diligença noch bis in die letzte fahrbare Gegend des Gebirges benutzte, bis nach San-Giovanni in Fiore hinauf ... Eigentlich wollte sie zum Franciscanerkloster San-Firmiano, wo die hierorts bekannte Welt aufhörte; denn jenseits Firmianos begann die Wildniß, die nur den Räubern, einigen Hirten und den Geistern gehört, sowol den alten dorthin gebannten classischen, als welche im Volksglauben besonders noch Cicero und Virgil spuken, wie den neueren muselmännischen, besonders seeräuberischen, vorzugsweise dem berüchtigten Renegaten Ulusch-Ali und ähnlichen Dämonen, die schon manchen hier in die Hölle abholten ...

Sechs Uhr war es und doch lag das enge Thal, aus dessen Mitte Spezzano auf einem hochgelegenen Felsen hervorragte, schon in einiger Dämmerung ... Nur das Städtchen selbst oben langte noch in den vollen goldenen Sonnenschein ... Der Ort war schwer zu erreichen ... Langsam wand sich der Weg auf und ab, oft tief hinunter über das brückenlose wilde Rauschen hier des Crates, dort des Busento, die querdurch vom Wäglein mit Sack und Pack passirt werden mußten, bald wieder hinauf in die steilste Höhe, wo es dann einen entzückenden, die Phantasie dieser Reisenden wenig beschäftigenden Fernblick auf das dunkelblaue Meer bis hinüber zu dem Felseneiland Lipari gab ... In den Schluchten war die Vegetation die üppigste, aber kaum ließ sich begreifen, wie sich an den schroffen Abhängen den Kastanienbäumen beikommen ließ, um die schweren Lasten, die sie trugen, abzuernten ...

In Spezzano, einem Oertchen von einigen hundert Seelen, einem Durcheinander von Lumpen, Schmutz, von wie Wäsche aufgehängten frischgewalzten Nudeln, von wildwuchernden riesigen Feigenbäumen an Schutthaufen alter Castellmauern, fanden die beiden letzten Passagiere die größte Aufregung durch die Soldaten, die schon einen Tag hier campirten ... Das rasselte mit langen Säbeln über die höckerigen Straßen, die fast erklettert werden mußten. Die Pferde konnten nur am Zügel geführt werden ... Außer den Reitern gab es ein Detachement Fußschützen, die zur Schweizerarmee gehörten – Leute, die nicht eben heiter blickten, da die militärische Zucht in den Schweizerregimentern von furchtbarer Strenge ist und die Offiziere gegen die Gemeinen mit einer das deutsche Gemüth wahrhaft verletzenden Unfreundlichkeit verfahren ... Fast scheint es, als hätten die in der Schweiz so wenig bedeutenden höhern Ansprüche einiger alten Adelsgeschlechter, besonders in den Urcantonen, durch die militärische Organisation der Fremdenregimenter sich in Rom und Neapel eine Satisfaction für die heimatliche Abschaffung des Mittelalters holen wollen ...

Was aber mag denn nur vorgehen? fragte jetzt doch Signor Scagnarello, als er seinen Pepe, das Maulthier, und seine Gallina, das Rößlein, ausspannte und ganz Spezzano zusammenlief, um die wichtigen Begebenheiten des Tränkens, Fütterns, Verwünschens der Wege, Verwünschens der Fliegen, des Ausscheltens des noch trinkscheuen »Pepe«, Schmeichelns der alten geduldigen »Gallina« lachend und spottend mit durchzumachen – (in Italien geht das nicht anders und Neapel scheint vollends die Stammschule aller Possenreißer zu sein und trotz der schönen, edlen, malerischen Gestalten, die überall sich lehnten und kauerten, den Uebergang vom Affen- zum Menschenthum zu vertreten) ... Was mag nur vorgehen? rief Scagnarello im Stall ... Die Kopfsteuer haben wir doch schon am Ersten bezahlt und die Vettern des Talarico – die hoffen ja auch auf ihre Anstellung beim Zollfach und halten sich ... Das Fest der Madonna von Spezzano ist erst übermorgen und zu unserer Illumination, seh' ich, hilft von den Soldaten Keiner, obgleich die Offiziere beim Pfarrer wohnen ... Die Swizzeri bringen uns nie etwas, sondern holen nur ... Von Spezzano –! ... Unser armes, frommes Spezzano! ... Bauen sie nicht schon wieder der heiligen Mutter Gottes einen Triumphbogen und die Bora hat erst zu Maria Ascensione alle Lampen zerbrochen –! ...

Von den durch die letzten Abstrafungen revolutionärer Regungen gründlich abgeschreckten Bewohnern Spezzanos konnte niemand diese starke Einquartierung begreifen, noch auch von den Soldaten, die ihre eigene Verwendung nicht kannten, darüber eine Aufklärung erhalten ... Ein bunter Kreis bildete sich um das von Scagnarello gehaltene Gasthaus, die »Croce di Malta«, wo seine Giacomina die Militärchargen bewirthete und des Hausherrn Einmischung in ihr Departement nicht litt ... Die Offiziere hörten dem Handel der von Cosenza mitgekommenen jungen Frau zu, die, ihr Kindlein im Schose, auf einem verwitterten Steinblock saß und ihre Weiterreise nach San-Giovanni in Fiore in die Wildniß hinein und zwar aufs lebhafteste erörterte ... Alles bewunderte den Muth Scagnarello's, der sich bereitwillig fand, nach einer einstündigen Rast seines Pepe, noch bis in die späte Nacht hinaus in die Berge zu fahren. Die alte Gallina besaß die Ausdauer nicht, wie der wilde ohrenspitzende Pepe, dem die Freuden im »Torre del Mauro«, dem besten und einzigen Wirthshaus von San-Giovanni in Fiore, so lebhaft von seinem Herrn geschildert wurden, als müßte die ganze außergewöhnliche Unternehmung, die der Frau baare zwei Ducati (Thaler) kostete, erst von seiner gnädigsten Zustimmung abhängen ...

Die Frau, die sich ihrerseits des freundlichsten Gesprächs der auf guten Erwerb bedachten Giacomina zu erfreuen hatte, kam aus Nocera, das über Cosenza hinaus dicht am Meere liegt ... Sie hätte ihrem Kinde zufolge noch jung sein müssen; aber sie trug schon, wie hier überall die Frauen, die Spuren zeitigen Verblühens ... Sie war die Frau eines Krämers in Nocera und konnte sich etwas zu Gute thun auf die Feinheit ihres Hemdes, das mit schönen Spitzen besetzt theils über ihr Mieder hinauslugte, theils an den Achseln sichtbar wurde, wo die Aermel ihres braunen Kleides nur durch Schnüre am Leibchen befestigt waren ... Auf dem Kopf trug sie ein rothgelbes Tuch, das in Ecken gelegt flach am schwarzen Scheitel auflag und mit seinen Enden, die mit gleichfarbigen Franzen besetzt waren, an sich gar schelmisch in den Nacken fiel ... Die schwarzen Augen der sonst schmächtigen und behenden Frau gingen hin und her, schon vor Aufregung über die wilde Bewegung in dem sonst so friedfertigen Spezzano ... Ihre kleine Marietta zappelte bald nach den bunten Lampen, die schon an den Gerüsten für das Madonnenfest hingen, bald nach den bunten Uniformen der Soldaten, von denen einige Liebkosungen mit ihr wechselten wie »Bisch guët?« »Willsch Rössli reita?« und ähnliche deutsche Herzenslaute, die auch keineswegs der Mutter in ihrem Sinn verloren gingen; denn auch ohne Wörterbuch, und keinesweges nur durch den Austausch von Blicken und Geberden, verstehen sich in guten Dingen alle Nationen – nur Haß und Eigennutz hat die Verschiedenheit der Sprachen erfunden ... Durch den dolmetschenden Beistand der Umstehenden kam es heraus, die Frau war an den Gewürzkrämer Dionysio Mateucci in Nocera verheirathet, hieß ursprünglich Rosalia Vigo und wollte nach San-Firmiano, wo ihr Bruder im Kloster lebte ...

Auf diese Mittheilung hin belebten sich Scagnarello's Züge und niemanden mehr, als dem Pepe wurde nun voll Staunen und Verwunderung die ganze Geschichte dieser Frau erzählt ... Die Rosalia Vigo! Die Schwester des ehemaligen Pfarrers von San-Giovanni in Fiore! ... Das ist nur gut, daß Herr Dom Sebastiano (der Pfarrer von Spezzano) beim Erzbischof in Cosenza ist – denn noch in seiner letzten Predigt an Mariä Ascensione nannte er ihren Bruder einen Unglücklichen, der im Fegfeuer noch einmal so lange sitzen müsse als andere, weil ihm sein geschorenes Haupt mit heiligem Priesteröl gesalbt wäre und bekanntlich Oel im Feuer nicht eben löscht ... Scagnarello war nunmehr auf die interessantesten Neuigkeiten und noch ein ganz besonders gutes Trinkgeld gefaßt ...

Vollends hörte er von der Absicht der Schwester des Pfarrers, ihren geliebten Bruder wol gar aus San-Firmiano ganz abzuholen und mitzunehmen ... Der seitwärts schielenden Blicke einiger alten Bettler von Spezzano, des Murmelns einiger Graubärte, der Bekreuzigungen einiger Matronen, die Hexen nicht unähnlich sahen, achtete Scagnarello nicht – obgleich er alles zu deuten verstand und vollkommen wußte, wie sehr es eine ganz eigene Bewandtniß hatte mit der Geschichte des Pfarrers von San-Giovanni in Fiore ... Ach, auch Rosalia Matteucci verstand, warum einige alte Schäfer, die in der Nähe standen und den Soldaten gegenüber ihre Flinten, über ihre Schaffelle hinausragend, mit aller Keckheit trugen – sie wollten zur Messe nach Rossano – auf ihre großen Hunde blickten und deren Blässe berührten, die der Pfarrer von Spezzano mit Weihwasser besprengt hatte ... Pepe und die Gallina und alle Pferde, Esel und Maulthiere, alle Hunde und Katzen, überhaupt was nur irgend mit dem Menschen hier in näherem Umgang lebte – das wilde Heer des nächsten Umgangs der Flöhe u.s.w. ausgenommen – hat in Italien durch Priesters Hand die Heiligung empfangen Ueblicher Brauch....

Mit dem allgemeinen, die junge Frau mehr beschämenden, als erhebenden Rufe: Das ist die Rosalia Vigo! Die Schwester des Pfarrers von San-Giovanni in Fiore! fuhr die Schweigsame und nun recht in Gedanken Verlorene endlich nach sieben Uhr aus dem noch hellsonnigen Spezzano in die schon dunkeln Felsenschluchten nieder ... Schauerlich durfte es ihr erklingen, als am Fuß des Felsens, auf dem Spezzano liegt, ein Schweinehirt, der dem auf dem zerbröckelten Gestein des Weges hin- und hergeschleuderten Karren Platz machte, ihr einen Willkommen kommen und Abschied auf einer riesigen Meermuschel blies ...

Scagnarello offenbarte im Fahren dem Hirten, der ihnen folgen konnte – sogleich ging es wieder bergauf – sein abenteuerliches Unternehmen, noch in die lichte Mondnacht hinaus bis in den Torre del Mauro von San-Giovanni fahren zu wollen ... Rühmte er sich auch nicht, mitzutheilen, was er damit verdiente, so schilderte er doch die Fahrt als eine, die sich schon allein durch die guten Leute von San-Giovanni belohne ... Im Grunde alles nur, um die vollere Zustimmung des Pepe zu gewinnen, dessen beide Ohren an dem furchtbaren Klange der Muschel einen musikalischen Genuß empfunden haben mußten; Pepe schlich, wie in sehnsuchtsvolle Gedanken verloren ...

Auch Rosalia blieb nachdenklich ... Ohnehin an Unterhaltung durch den Lärm der rauschenden Gewässer, die wieder ohne Brücken zu passiren waren, gehindert, begann sie ihre Marietta in Schlummer zu singen ... Sie brachte dies zu Stande nicht etwa durch ein heiteres Wiegenlied, sondern durch einen einzigen, lang gehaltenen Ton in A ... Diesen setzt die italienische Mutter so lange endlos fort, bis ihr Kindchen einschläft ... Eine Melodie würd' es ja wach erhalten – ...

Auch Scagnarello rief seinem Pepe unausgesetzt ein Wort, das freilich im Gegentheil ein Wachbleiben und muntres Traben hervorrufen sollte: Maccaroni! ... Der Neapolitaner legt dabei den Ton auf die letzte Silbe ... Soll es dem Zugthier die Hoffnung erwecken, am erreichten Ziel seines Führers Lieblingsspeise theilen zu dürfen, oder ist es noch ein alter Rest der hier einst üblich gewesenen Griechensprache, wo Μακάριε! ein Schmeichelwort war, wie: »Du altes gutes Haus!« –? Gleichviel, Pepe that sein Möglichstes ... An die Stelle der Liebkosungen traten freilich auch zuweilen die in Italien üblichen energischen Peitschenhiebe ...

Zur Linken sah man nach einer Stunde nichts mehr, als einen Wald von riesigen Farrenkräutern, die sich zum Ufer des auf dem Gebirgskamm entspringenden Neto niederzogen ... Zur Rechten starrte die schroffe Felswand ... Jenseits der Anhöhe leuchteten noch in der Sonne die Kronen eines Buchenwaldes, die dann jede weitere Aussicht versperrten ...

Miracolo! ... begann jetzt Scagnarello; ihr sagt, Euer Bruder würde San-Firmiano verlassen können und wieder nach San-Giovanni in seine Pfarre kommen, die er vor zehn Jahren – der Aermste –! – hat verlieren müssen? Warum doch? ...

Die Frau unterbrach ihr Singen und mußte die kleine Marietta aufheben, die sich noch nicht ganz wollte zum Schlafen bändigen lassen ...

Ihr glaubt, sagte sie, auf eine solche Pfarre, wo die Birnen aus nichts, als kleinen Steinen bestehen? ... Nein, ich glaube nicht, daß in San-Giovanni auch jetzt noch ein anderer Wein wächst, als den zu meiner Zeit kaum die Ziegen getrunken hätten ... Signore! Nein! ... Seine Excellenza hat mir eine bessere Hoffnung gemacht ... Mein Bruder wird Pfarrer zu San-Spiridion in Nocera ...

Ho! Habt ihr Euch nicht versprochen, Frau? brach Scagnarello in Erstaunen aus und Pepe benutzte ein Sichumwenden seines Herrn, um sogleich still zu halten ... San-Spiridion in Nocera? ... Da tauscht er ja mit keinem Erzbischof drüben in Sicilien ... Dies setzte er mit einem Avanti! und einem tüchtigen Peitschenhieb hinzu ... Freilich – in Sicilien hab' ich ein Kloster gekannt, wo die Brüder verhungerten, wenn sie nicht abends mit der Flinte aufpaßten, ob Engländer vom Aetna kamen ... Aber in Nocera soll Euer Bruder Pfarrer werden! ...

Scagnarello war gutmüthig genug, seine Meinung: »Ich dachte, daß ihm sowol im Jenseits, wie schon hienieden die ewige Verdammniß bestimmt ist« – nicht auszusprechen ...

Bei San-Gennaro! sagte die Schwester Paolo Vigo's; ich dächte, daß er sich diese Auszeichnung redlich erworben hat ... Zehn Jahre hat er büßen müssen und die Heiligkeit ist er selbst geworden ...

Wißt Ihr für ganz gewiß, daß sie ihn losgeben? äußerte Scagnarello mit bescheidenem Zweifel und der giftigen Rede des Pfarrers von Spezzano gedenkend ...

Der heilige Erzbischof von Cosenza, fuhr die Frau fort und reichte ihrem mildurtheilenden Führer, der die schlimmen Ansichten der übrigen Bewohner von Spezzano gegen ihren Bruder nicht zu theilen schien, eine Flasche Wein aus einem ihr zu Füßen stehenden großen Korbe, der mindestens auf eine Woche mit all' den Dingen versehen war, die man, nach ihrer Erfahrung, hinter San-Giovanni in Fiore nicht mehr als in der Welt auch nur gekannt vorauszusetzen berechtigt war – der heilige Erzbischof von Cosenza, sagte sie zuversichtlich, hat es noch gestern betheuert ... Ich bin dreimal von Nocera herübergekommen und jedes mal war der heilige Herr liebreicher und gnädiger mit mir ... Alles hab' ich ihm erzählt, warum mein Bruder ins Unglück gekommen ist – ...

Redet nur nicht davon! ... unterbrach sie jetzt Scagnarello mit einigem Schaudern, die Flasche zurückgebend, aus der er einen kräftigen Zug gethan hatte ... Der Trunk hatte, schien es, sein Gedächtniß gestärkt, das ihm anfangs versagte, als es sich um den Gewinn von zwei Ducati handelte ...

Rosalia Mateucci nahm die Flasche, stellte sie wieder in den Korb und schwieg in der That ... Sie verstand vollkommen, daß es gewisse unheimliche Dinge im Leben ihres Bruders gab, von denen man in solcher Abenddämmerung und in der stillen Gebirgswildniß nicht sprechen soll ... Ohnehin galt der Silaswald für verzaubert ... Es ist dies die Ruhestätte, wo noch immer der »große Pan schläft« ... In Abenddämmerung begegnen uns hier noch Satyrn mit Bocksfüßen und Hörnern genug, sehen aus den Bäumen noch nickende langhaarige Dryaden, ertönt oft noch ein schrilles Lachen in der Luft und niemand weiß, wo all die vergessenen Schelmerein des Alterthums am Tage sich versteckt halten; des Nachts sind sie da ...

Rosalia Mateucci begann wieder ihr Wiegenlied ...

Die Sonne war höher und höher an die Buchengipfel gestiegen und endlich ganz verschwunden ... Schon hatte der Mond sich in dem weiteren Himmel, der auf kurze Zeit jetzt zur Rechten sichtbar wurde, mit silbernem Glanze gezeigt ... Die Straße, die eigentlich nur ein jetzt ausgetrocknetes Flußbett war, zwängte sich durch zwei Felsen, die sich so nahe standen, daß sie oberhalb, einige hundert Fuß höher, durch eine Brücke hätten verbunden werden können ...

Scagnarello wußte nun allmählich im vollen Zusammenhang, daß seine Passagierin Rosalia Vigo, die jüngste Schwester ihres Bruders Paolo Vigo war, der in Neapel Theologie studirt hatte und doch nur die ärmste Pfarre der Welt, zu San-Giovanni in Fiore im Silaswalde, gewann ... Ein feuriger, muthiger, wissensdurstiger Jüngling, hatte er aber diese Pfarre bereitwilligst angetreten, weil sie mit einer Aufsicht über das naheliegende Kloster San-Firmiano, eine Art geistlicher Strafanstalt, verbunden war; andererseits weil das Innere des theilweise unzugänglichen Silaswaldes noch von Ketzern bewohnt sein sollte, welche sich aus urältesten Zeiten dort erhalten haben und mit zerstreuten Anhängern in Verbindung standen, die an gewissen Tagen, auf nur ihnen bekannten Wegen, dort zusammenkamen Ph. J. von Rehfues' Schriften.... Seinem jugendlichen Glaubenseifer hatte sich die Bekämpfung und Ausrottung dieser Secte gerade empfohlen ... Die Ketzer trieben Zauberei, besonders mit Hülfe der Bibel ... Da erfuhr dann aber alle Welt, daß im Gegentheil auch Paolo Vigo plötzlich von ihnen verwirrt wurde, die Bibel auf die Kanzel von San-Giovanni mitbrachte und auf Denunciation des Pfarrers von Spezzano suspendirt, ja nunmehr selbst in jenes Kloster der Pönitenten verwiesen wurde, wo er hatte erziehen und bessern wollen ... Der Guardian dieses Klosters mußte in San-Giovanni solange die Messen übernehmen, während die übrigen pfarramtlichen Handlungen von Spezzano aus verrichtet wurden ...

Rosalia Mateucci wußte gegen die Auffassung des Pfarrers von Spezzano und des Signor Scagnarello über ihren Bruder an sich nichts einzuwenden ... Doch behauptete sie, daß ihr Bruder, wenn auch eine Zeit lang von Zauberern verblendet, doch nie im Stande gewesen wäre, in die unkatholischen Greuel mit einzustimmen ... Daß Paolo Vigo beschuldigt wurde, vorzugsweise gegen Einen, den auch Scagnarello vollkommen als einen gefürchteten Hexenmeister kannte, Nachsicht geübt zu haben – das alles ließ sich nicht wegleugnen ... Auch nicht die haarsträubende Geschichte von einem feuerschnaubenden, geradezu aus der Hölle gekommenen Hunde, welcher auf dem Markt von San-Giovanni in Fiore einst laut geredet und die Seele des Pfarrers in seine Gewalt zu bekommen begehrt haben sollte, obgleich derselbe ihn dann mit eigener Hand todtschoß ... Scagnarello wußte das alles und sagte beim Anstreifen an diese unheimlichen Erinnerungen: Bitte! Bitte! – fragte aber doch, ob sich die Frau noch des Skeletts erinnerte, das dazumal ihren Bruder um den Tod des höllischen Hundes so in Harnisch gebracht hätte? ...

Des Frâ Hubertus! sagte die Frau mit einem halb beklommenen, halb freudigen Tone ... Er lebt noch ... Ich weiß es ja –! ...

An seinen Knochen kann man zwar von Fleisch kein Pfund mehr zählen! entgegnete Scagnarello, aber – gewiß lebt er noch – und ich will Euch nur gestehen – ich hatte mich nicht heute Nacht noch in den Wald gewagt, könnten wir nicht hoffen, noch den Bruder Hubertus einzuholen ...

Heilige Mutter Gottes! rief die Frau freudig erregt und wagte die gefährlichste Stellung von der Welt in Scagnarello's zweirädrigem Karren. Sie stand auf, hielt ihre schlafende Marietta mit Gefahr, selbst überzustürzen, im Arm und reckte spähend den Hals in die Weite ... Saht Ihr denn den Frâ Hubertus? rief sie und lugte in die dunkle Ferne ...

Beruhigt Euch! sprach Scagnarello und bezog diese Aufregung misverständlich auf eine Anwandlung von Furcht ... Wenn ich meiner Frau, meinen Kindern und dem Pepe zugemuthet habe, mich bis Mitternacht noch auf die Straße zwischen Spezzano und San-Gio hinauszulassen, so ist es, aufrichtig gesagt, geschehen, weil ich hörte, daß Frâ Hubertus uns ein paar hundert Schritte voraus ist ... Denn was der Frate nun auch sein mag, ob ein Russe oder von Geburt ein Türke, wir alle haben ihn hier anfangs gleichfalls für den leibhaftigen Boten der Hölle gehalten – ja da erst gar, als er den fremden Mann nicht weit von hier in den Neto gestoßen –! ...

Ich bitte Euch! ... sagte die Frau sich niedersetzend ...

Aber habt darum keine Furcht! fuhr Scagnarello fort ... Holen wir den Bruder ein, so haben wir mit ihm ein Regiment Soldaten ... Der Pfarrer von Spezzano, im Vertrauen gesagt, mag ihn noch jetzt nicht – aber darum hat der Bruder, der soeben in Neapel war, doch hohe Gönner und Beschützer und, was seine Leibeskräfte anlangt, so kenn' ich manchen, der ihm noch jetzt abends aus dem Wege geht – ...

Er war in Neapel – Und ist zurück! ... Ich weiß es ja – weiß alles – ... rief Rosalia freudig und verstummte dann. Letzteres zum Aerger Scagnarello's ... Er merkte, daß es etwas ganz Neues aus dem Leben seiner Passagierin zu erfahren gab ... Diese wich seinen Fragen aus und versank in eine wehmüthige Stimmung ...

Es knüpften sich ihr aus der Zeit, wo sie vor Jahren ihres Bruders Wirthschaft in San-Giovanni geführt hatte, an diesen »Bruder mit dem Todtenkopf« Erinnerungen voll Schrecken ... Ihr Bruder Paolo hatte lange liebevoll für die Seinigen gesorgt, hatte ihnen jede Ersparniß nach Salerno, wo sie her waren, geschickt, hatte, der gute Sohn, die Gebühren seiner er sten Messen nur seiner Mutter verehrt ... Zwei Jahre war sie dann bei ihm im Silaswalde gewesen und hatte das Ihrige gethan, ihm einen so traurigen Aufenthalt einigermaßen erträglich zu machen ... Aber Paolo Vigo verfiel in Melancholie, zumal durch die Nähe des Klosters San-Firmiano selbst ... Seinem Gemüth mußte es schmerzlich sein, so viel verabscheuungswürdige Priester kennen zu lernen, die in jenem in Felsen eingezwängten, eine melancholische Aussicht in eine düstere Waldgegend bietenden Kloster leben mußten ... Außerdem lebten hier alle ehrlichen Leute damals im Kampf mit Giosafat Talarico ... Die Räuber der Abruzzen, die Genossen des Grizzifalcone, standen mit denen Calabriens in einem Schutz- und Trutzbündniß und bedrohten unausgesetzt die Sicherheit der Einsamwohnenden ... Schon waren aus dem Kirchlein in San-Giovanni die heiligen Geräthschaften des Opferdienstes gestohlen worden ... Kein Wunder, daß der Pfarrer sich mit Waffen versah und zu jeder Zeit eine geladene Flinte über seinem Bett hängen hatte ... Nun geschah es aber eines Tages, daß die Bewohner von San-Giovanni in der größten Aufregung durcheinander rannten, auf dem Marktplatz, dicht vorm Fenster des Pfarrers auseinander flohen und sich in ihren Häusern versteckten ... Rosalia und ihr Bruder traten ans Fenster und erkundigten sich nach dem Grund des lauten Geschreis ... Da hieß es, im Orte wär' ein toller Hund ... Vom Fenster aus erblickte man in der That ein wandelndes Thiergerippe, die Zunge lang aus dem Munde hängend, die Haare borstig aufwärts gebäumt – es war ein Hund, der einem verhungerten Wolfe glich ... Kaum konnte das entsetzliche Thier sich aufrecht erhalten ... Schon knickte es zusammen und taumelte dann wieder wildschnappend auf, bis es aufs neue zusammensank ... Der Pfarrer erwies den Bewohnern von San-Giovanni die Wohlthat, in rascher Regung die Flinte zu ergreifen, abzudrücken und das Ungethüm niederzuschießen ... Und eben die Folgen dieser raschen That waren die seltsamsten ... Sie lagen in Schleier gehüllt, endeten aber damit, daß Rosalia's Bruder oft tagelang abwesend war, mit dem Bruder Hubertus gesehen wurde, sogar einen Ziegenhirten in San-Giovanni, der schon seit lange für einen Ketzer galt, an seinen Tisch nahm, zuletzt mit der Bibel auf der Kanzel erschien und in einer Weise predigte, die einen so großen Anstoß erregte, daß ihn sein Diöcesanbischof suspendiren mußte ... Man ließ ihn bis auf Weiteres im nahgelegenen Kloster wohnen und verbot ihm seine kirchlichen Functionen und Reden ... Aus dieser provisorischen Maßregel wurde ein Zustand, welcher Jahre dauerte und nicht mehr enden zu wollen schien ... Die Stolgebühren von San-Giovanni behagten auch dem Dom Sebastiano von Spezzano ...

Scagnarello war durch die Hoffnung, bald den riesenstarken Bruder Todtenkopf einzuholen, so ermuthigt, daß er, trotz der schauerlichen Einsamkeit, wagte, auf alle diese unheimlichen Dinge anzuspielen ... Es ist eine Pflicht unserer Seelenhirten, sagte er nach einer Betrachtung über feurige Hunde, die sich öfters hier den Schäfern nächtlich zugesellen, für das geistige und leibliche Wohl der Ihrigen zu sorgen ... Der Pfarrer in Spezzano ist gewiß ein Santo, aber auch er heilt die Kröpfe und kann Geister bannen ... Meinen Pepe da hat er mit allen Weihen versehen ...

Rosalia Mateucci hatte das Thema des verhängnißvollen Hundes verlassen ... Scagnarello richtete jedoch mit umspähender Miene an sie die Frage:

Frau – noch seh' ich den Bruder Franciscaner nicht – sagt: Ist es wahr, hat der den Hund ganz feierlich begraben –? ...

Kaum war das aus der Hölle gekommene Thier, erzählte sie, gefallen, so kam, wie wir damals glaubten, ein Abgesandter des Satans, der die ihm verfallene unreine Seele abholen sollte ... Auf dem Platz erschien ein langer hagerer Mönch mit einem Todtenkopf, der, wie die Magd erzählte, im Kloster Firmiano vor kurzem erst Herberge gefunden hatte ... Die Kinder liefen ihm aus dem Wege – eine Sprache hatte er, wie unser Truthahn, wenn ich mein rothes Kleid anziehe ...

Das alles hat sich geändert! unterbrach Scagnarello ... Jetzt fürchten ihn nur noch die Leute mit zu langen Flinten und besonders der Schmied von Spezzano ... Denn ein Hufeisen bricht er wie trockene Nudeln entzwei, wenn die Arbeit schlecht ist ... Gäule heilt er, die schon unter den Galgen kommen sollten ... Talarico! Der bekam Angst vor ihm, als er hörte, daß das der Frate war, der in Rom dem Grizzifalcone den Garaus gemacht ... Nun, bei San-Firmiano! Der heilige Vater hat ihn auch gewiß nur hergeschickt, daß er's dem Giosafat ebenso machen sollte ... Signora, ich hörte aber doch – mit dem Hund hatt' es Dinge auf sich, die einen guten Christen um die Absolution bringen können ... Andere meinen, der Alte mit dem Todtenkopf hat wenigstens seitdem nichts mehr mit der Hölle ... Ein Heiliger ist's geworden, wie nur der Erzbischof von Cosenza auch – und – Euer, unter uns gesagt, vortrefflicher Bruder – ...

In voller Glückseligkeit über diese Anerkennung sagte Rosalia:

Ja, Signor! ... Ich glaube es für gewiß, daß Frâ Hubertus sich zu Gott gebessert hat ... Gerade von ihm hat mir der heiligste Erzbischof von Cosenza gesagt: Geht getrost, liebe Frau! Bis Ihr in San-Giovanni in Fiore seid, ist Frâ Hubertus von Neapel zurück gekehrt ... Und nun ist er da ... Und ich denke doch, es muß alles gut werden ...

Scagnarello erhielt noch einmal die Flasche, leerte sie und lobte sehr den Wein von Nocera ...

Auf seine Frage, was nur der Todtenkopf in Neapel gethan hätte, erhielt er die Antwort:

Der heilige Erzbischof schickte ihn nach Neapel, um sein Begehren beim rechten Mann vorzubringen ...

Beim rechten Mann? ... wiederholte der Kutscher ... Und welches Begehren – ...

Daß die Bewohner von San-Firmiano nicht mehr – wie die Canarienvögel von Cosenza gehalten werden ... Sind sie denn nicht alle Santi geworden? Hat mein Bruder sie nicht bekehrt? Hat der Todtenkopf ihnen nicht allen die Schrecken der Hölle zu Gemüth geführt, die er so gut kannte –? ... Ich sage Euch, bis nach Nocera hin steht das Kloster im Geruch der Heiligkeit –! ...

Scagnarello wußte vollkommen, daß unter den Canarienvögeln die gelbgekleideten Galerensträflinge zu verstehen sind, die in Neapel öffentlich im Dienst der Straßen- und Hafenpolizei arbeiten müssen ... Auch über die gute Aufführung der Bewohner von San-Firmiano herrschte, nur Eine Stimme und Alle wußten, daß Dom Sebastiano darüber nicht reden konnte, ohne so zornig zu werden wie ein Puterhahn ... Nach einer seiner letzten Predigten gab es Tugenden, die blos vom Teufel kämen – ... Doch war Scagnarello vorsichtig und hielt seine Meinung zurück ...

Die Einsamkeit, welche dann und wann nur vom Gruß eines Hirten oder eines mühsam ausbiegenden Eseltreibers unterbrochen wurde, hörte bei Annäherung an San-Giovanni auf ... Es wurde lebhafter rings im Gebirge ... Zwar war die Nacht nun ganz hereingebrochen, Nebel stiegen auf, welche die Feuchtigkeit der Luft so vermehrten, daß Scagnarello und Rosalia ihre braunen Mäntel übernahmen; der mondscheinblaue Luft- und Nebelhauch gab den grünen Waldabhängen, den einzelnen Wiesenteppichen eine geisterhafte Beleuchtung; aber, wo der Strom der Gewässer am Wege nicht zu rauschend stürzte, da hörte man deutlich und von mannichfachem Echo weitergetragen, das Locken und Rufen der Hirten an ihre Heerden, die zur Nachtruhe unter den mächtigen Eichen sich lagerten, hörte das Blasen einer einsamen Schalmei oder an einer andern Stelle das unaufhaltsame und unerschöpfliche Lungen voraussetzende Schnurren eines Dudelsacks ... Jagdschüsse erschollen sogar zuweilen dicht über den Häuptern der Gefährten und machten den Pepe stutzig und unterbrachen dann die Reise durch ein Intermezzo von Apostrophen, die Scagnarello an die Vernunft des Thieres richtete ... Tüchtige Peitschenhiebe unterstützten die Beweiskraft ...

Um ein verhältnißmäßiges Stück war man schon ganz in die Nähe San-Giovannis gekommen ... Rosalia erkannte die Gegend ... Die mit Früchten überladenen Kastanienbäume, die zuweilen am Wege standen, rauschten ihr wie mit vertrautem Gruß ... Dort stand ein altes Gemäuer, das der urältesten Zeit Groß-Griechenlands angehörte ... Der Mond schien durch die zerklüfteten Fenster ... Sie kannte jeden dieser, bald als Aufbewahrungsort des frischgemähten Heus, bald als Versammlungsort der Hirten bei Unwettern benutzten Orte ... Ihr Herz wurde ihr immer frohbanger und zagendhoffnungsvoller ...

Scagnarello erzählte jetzt von einem Stein, an welchem sie bald angekommen sein müßten, wo Frâ Hubertus vor Jahren mit jenen zwei Männern gerungen hätte, die im Silaswald umirrten und die »Freimaurer«, welche später in Cosenza erschossen wurden – die Bandiera und ihre Genossen – verrathen wollten ... Denen begegnete »dort oben am Kreuz«, erzählte er, der Bruder mit dem Todtenkopf, redete den einen, den er kannte, in fremder, ich glaube russischer Sprache an und warf ihn jählings von oben da am Kreuz hinunter in den Neto ...

Die Bürgersfrau von Nocera, die sich auf Betrieb des Bruders vortheilhaft mit einem Verwandten verheirathet hatte, war in diesen Ereignissen bewandert ... Sie konnte lesen und schreiben und führte ihrem Mann sein Hauptbuch ... Was im Silaswald vorging, hatte sie seit Jahren um des geliebten Bruders willen mit dem größten Interesse verfolgt ... Lebhaft stand ihr in Erinnerung, wie man sich damals gewundert, warum der fremde Mönch, ein Sohn des heiligen Franciscus, wiederum auch für diese wilde That so heil und ungestraft davonkam ... Diesmal wie bei Gelegenheit der immerhin bedenklichen Todesart des Grizzifalcone ... Rosalia sprach noch jetzt dies Erstaunen nach ...

Er hat gute Freunde, sagte Scagnarello ... Er hat sie da, wo sie am meisten nützen können – in Rom ... Und wenn man Rom hat, hat man Neapel ... Damals, als der Freimaurer in den Neto flog, sah und hörte man lange nichts mehr vom Frâ Hubertus ... Mit Einem mal war er wieder da und der Sindico von Spezzano zog den Hut vor ihm ab ... Hätte der Bruder die Weihen, er wäre längst in San-Firmiano Guardian ...

Rosalia kannte alles das und schwieg, in Hoffnung auf die Geltendmachung eines so großen Einflusses in Neapel ...

Nach einer Weile fragte Scagnarello:

Signora – wart ihr denn auch schon dazumal an – den – ich meine, an den Bluteichen –? ...

Die Frau erschrak über diese Frage und schwieg ...

Ich meine, habt Ihr ihn nie gesehen? fuhr Scagnarello leise und lächelnd fort ...

Die Frau wußte vollkommen, was und wen Scagnarello mit seiner Frage meinte ...

Hm! Hm! räusperte er sich und fuhrt fort: Ich möcht' es, bei San-Gennaro, auch einmal wagen und ihn besuchen ... Nur um die Nummern zu hören, die ich im Lotto spielen soll ... Da war ein Mann von Cotrone – wißt Ihr, was er dem gesagt hat, als der die nächsten Nummern hören wollte, die herauskommen –? ...

Er sollte arbeiten und auf Gott vertrauen –? ... antwortete Rosalia ...

Nein, entgegnete Scagnarello – Das kann sich Jeder selbst sagen –! Dem Mann von Cotrone hat er gesagt: Wer gab dir früher deine Nummern? ... »Der Pfarrer von San-Geminiano in Cotrone!« ... Kamen sie heraus? ... »Nein! Auch die auf den Namen Mariä nicht!« ... Warum nicht auf den Namen Mariä? ... »Der Pfarrer rechnete die Nummern nach den Buchstaben aus – M. war 12. Sie kamen aber nicht heraus« ... Ich verstehe! Kannst du lesen? ... »Nein!« ... Auch nicht das ABC? ... »Nein!« ... Im Namen Maria kommt zweimal A vor – das gab zweimal 1 ... »Da nahm der Pfarrer für das zweite 1 das Doppelte; manchmal das Dreifache; so hab' ich zehn Jahre auf ›Maria‹ und die Heiligen gesetzt, aber nicht mehr gewonnen, als ausreichte, um den Pfarrer zu bezahlen –« ... Der Pfarrer ließ sich bezahlen? ... »Ich bezahlte die Messen, die meine Todten aus dem Feuer erlösten!« ... Nun, mein Sohn, sagte der Alte von den Bluteichen, so nimm einmal den Namen »Jesus!« Siehst du, das sind auch fünf Buchstaben, auch fünf Zahlen und die letzte nimm dann gleichfalls doppelt – 9. 5. 18. 20. 36 ... – So hab' ich sie behalten –! unterbrach sich Scagnarello – Gewinnst du, sagte der Hexenmeister, dann danke deinem Erlöser durch gute Anwendung des Geldes! Verlierst du aber, so nimm an, daß er dir eine christliche Lehre geben wollte und dich blos durch deine Arbeit reich machen wird! ... Der Mann aus Cotrone spielte und gewann – eine Terne; es ist auch so ein ganz reicher Mann ... Das Ding sprach sich aus; alles setzte auf den Namen Jesus; es hat aber keinem mehr so glücken wollen, wie dem Mann aus Cotrone ...

Rosalia seufzte über diese Zaubereien und sann über Scagnarello's Aeußerung, daß der Mann von Cotrone wol noch eine besondere Anweisung bei diesem kabbalistischen Spiel des Einsiedlers von den Bluteichen hinzu empfangen haben müßte ... Sie hatte die vollkommene Geneigtheit, dieser Meinung zuzustimmen ... Zuletzt bat sie ihn beim Blut des heiligen Januarius, von solchen durch die Hölle angerathenen Lottonummern, auch von den Bluteichen, von den nächtlichen Versammlungen, welche dort die Geister hielten, besonders aber von dem erschossenen feurigen Hunde und den blutigen Thaten des Bruders Hubertus zu schweigen und auf eine baldige glückliche Ankunft in San-Giovanni zu hoffen ...

Nach einer halben Stunde, welche Scagnarello im schmollenden Gespräch mit Pepe und zuletzt mit Klagen über die theuere Zeit und die von der Hitze versengte zweite Heuernte zubrachte – letzteres im Interesse eines erhöhten Trinkgeldes – deutete er mit der Peitsche auf einen im Mondlicht grell beleuchteten Gegenstand an demselben Wege, welchen sie fuhren ...

Schon lange hatte auch schon Rosalia ihr Auge auf diesen Punkt gerichtet und fragte jetzt:

Seht Ihr denn da etwas, Signor? ...

Es ist – so wahr ich Napoleone heiße – endlich der braune Bruder ... Ich wette um meinen Pepe – er ist's ...

Sein Maccaroni wurde jetzt wacker durch die Peitsche unterstützt ...

Die Frau konnte nicht umhin anzuerkennen, daß Scagnarello's Vermuthung über einen an einem hölzernen Kreuz auf einem Stein sitzenden Mönch Wahrscheinlichkeit für sich hatte ... Die braune Kapuze war halb niedergeschlagen; so schwarz und starr konnte darunter hervor nur ein Kopf lugen, der so gut wie keiner war oder wenigstens nur dasjenige, was übrigbleibt wenn von einem Kopf Haare und Fleisch weggenommen werden ...

Scagnarello, jetzt vollends ermuthigt und sogar von dem hinter den Felsen her immer heller und heller läutenden Glockenthurm von San-Gio schon angenehm überrascht, schwang seine Peitsche und gab der hochgespannten Frau, die glücklich war, schon jetzt dem Manne zu begegnen, welcher die gute Kunde aus Neapel nach San-Firmiano bringen sollte, jede tröstliche Versicherung ...

Ein Franciscaner, in Sandalen, mit brauner Kutte, den weißen wollenen Strick um die magere Hüfte, saß in der That auf dem Stein am Wege ... Es war Frâ Hubertus ... Er saß am Gedächtnißkreuz des von ihm vor Jahren hier in den brausenden Neto geschleuderten Jân Picard ... Als er die Klingel des Pepe hörte, stand er auf und ging fürbaß ... Er schien keine Neigung zu haben, auf eine verspätete Equipage zu warten und sich in seinen wahrscheinlich düster angeregten Empfindungen stören zu lassen ...

Ihn einzuholen wäre beim Bergauf unmöglich gewesen, wenn ihm nicht Scagnarello alle möglichen Interjectionen nachgerufen hätte aus jenem unerschöpflichen, in seinem Reichthum noch von keinem Gelehrten würdig abgeschätzten Wörterbuch der neapolitanischen Natursprache ... Zu den thatsächlichen Motiven, welche Scagnarello mit civilisirteren Worten einmischte, um den rüstigen Greis zum Stehenbleiben zu bewegen, gehörte, in seltsamen Abkürzungen freilich, die ganze Geschichte der Frau, welche hinter ihm hochaufgerichtet stand, in der Linken mit dem schlafenden Kinde, in der Rechten mit ihrem Tuch, mit dem sie unablässig wehte; gehörte endlich auch ein Gruß vom Erzbischof von Cosenza und die ganze Ausmalung aller der Glückseligkeiten, die sich nun in San-Firmiano und in San-Spiridion zu Nocera begeben würden ...

Der lange hagere Knochenmann stand endlich still und lachte des tollen Gewälschs ... Sein Kopf wurde darüber ein einziges – Gebiß von Zähnen ...

In der »Campanischen« Sprache, jenem Italienisch der Neapolitaner, in welchem die Buchstaben mit allen nur erdenklichen Freiheiten behandelt werden, oft der eine ganz für den andern eintritt und statt »Michel« Kaspar gesagt wird, hatte Hubertus in der That Fortschritte gemacht ... Er blieb stehen ...

Dann freilich entsprach seinem ersten frohen Gruß an die ihm sehr wohl erinnerliche Schwester Paolo Vigo's keineswegs sein fernerer Mittheilungsdrang ... Letzterer schüttelte er zwar als alter Freund die Hand und nahm das jetzt erwachte, schreiende Kind auf den Arm, versichernd, daß seine Sehnsucht, den trefflichen Bruder der Signora nach sechs Wochen wiederzusehen, nicht minder groß, als die ihrige nach so vielen Jahren wäre – ja er kannte das schöne dem Bruder winkende Gotteshaus zu San-Spiridion in Nocera vollkommen und gab zu, daß der Erzbischof von Cosenza hinlänglich heilig wäre, um auch weissagen zu können ... Gewiß! Gewiß! Es wird alles gut werden! wiederholte er zum öftern ... Aber – dem ganzen Wesen fehlte die rechte, von Innen kommende Freudigkeit ...

So kommt Ihr von Neapel und habt noch nichts Bestimmtes erfahren? fragte die Frau voll Bestürzung über dies Benehmen und lud den frommen Bruder ein, neben ihr Platz zu nehmen ...

Hubertus folgte dieser Aufforderung, nahm die noch an Schönheitsanschauungen nicht gewöhnte und wenig vor ihm erschreckende kleine Marietta auf den Schoos, sang ihr eine alte holländische Liedstrophe und versicherte, die Hoffnung wäre das schönste Lebensgut, das sich der Mensch nur immer frisch in allen Nöthen bewahren müsse ...

Die Hoffnung? ... Bei San-Gennaro! rief die Frau und zitterte ... Weiter bringt Ihr nichts von Neapel zurück, als – Hoffnung? ...

Und schöne Feigen! Seht die Feigen! erwiderte Hubertus und reichte deren aus seiner Kutte Marietten eine Hand voll, während die Frau ihm bereits ihre Eßwaaren angeboten hatte ...

Was kann mir alles das helfen? wehklagte Rosalia Mateucci ... Hab' ich darum so viele Jahre die Reise von Nocera nach Cosenza gemacht? ... Haben wir darum zwanzig Ducati an die Mutter Gottes Della Salute und abermals funfzehn an den heiligen Gennaro von Cosenza bezahlt? ...

Das wird sich einbringen, Frau ... Hofft in Gottes Namen! wiederholte Hubertus ...

Inzwischen fing er mit einem bei weitem dringlicheren Interesse an, dem Meister Scagnarello sein Erstaunen über die neue Garnison von Spezzano auszudrücken ... Was wollen nur all diese Reiter und Jäger wieder? Geht der Weg nach Frankreich durch den Silaswald? ...

Scagnarello deutete an, daß nicht gut von solchen Dingen zu reden wäre, seitdem hier schon die besten Leute zu den »Canarienvögeln« in Neapel gekommen wären ...

Guter Bruder, was bringt Ihr von Neapel? ... drängte die Frau ... Ihr redet von Canarienvögeln ... Nur zu wohl weiß ich, die Raben, die schwarzen, die hacken dem heiligen Franciscus gern die Augen aus ...

Steht das wo geschrieben? entgegnete Hubertus und schien betroffen von dieser Rede, die er vollkommen verstand und für ebenso prophetisch hielt, wie sie wohlgesetzt war ... Die Jesuiten (diese nur konnte Rosalia unter den schwarzen Raben verstanden haben), hatten allerdings hier die Hauptentscheidung ... Auf den Spruch der Jesuiten hatte der Erzbischof von Cosenza als die letzte Instanz verwiesen, von welcher hier alles abhängen würde ... Alle Welt wußte, daß zwar in den Bewegungstagen zwanzig Kutschen voll Jesuiten aus Neapel hatten entfliehen müssen, sie waren aber in vierzig wiedergekommen und die rechte Hand des Herrschers über dies unglückliche Land blieb des Königs Beichtvater, Monsignore Celestino Cocle, Erzbischof von Neapel, ein fanatischer Agent des Al Gesú, eben jener »rechte Mann«, von welchem die Wünsche der Bewohner San-Firmianos abhängen sollten ...

Zehn Jahre, erzählte wehklagend die Frau, hab' ich meine Kniee gebeugt vor dem heiligen Erzbischof von Cosenza ... Jeden Quatember, wenn neue Priester geweiht wurden, lief ich zu Fuß die zehn Miglien von Nocera nach Cosenza und beugte meine Kniee auch nach der Messe noch ... Wenn der heilige Herr in seinen Palast ging, rief ich ihn um Gnade an für meinen unglücklichen Bruder ... Und immer gab er mir seinen Segen und sagte: Ihr seht ja, liebe Frau, die Pfarre von San-Giovanni bleibt ihm offen; das Sacro Officio prüft lange, aber gründlich –! ... Heiliger Gennaro! ... Zehn Jahre prüfte das Officio –! ... Ich wußte nicht, ob mein Bruder noch lebt –! ... Wir schickten – mein Dionysio ist gut – was wir nur vermochten – bald an den ehrwürdigen Guardian, bald an den heiligen Erzbischof – aber meines Paolo Briefe meldeten nichts von seiner baldigen Freiheit ... Sogar damals, als doch alles frei wurde, als selbst die, denen zeitlebens die Kugel am Fuß zu tragen besser gewesen wäre, zu Ehren kamen, kehrte mein Bruder nicht aus dieser traurigen Einöde zurück ... Damals hatte nur Marietta leider das Fieber, mein Dionysio mußte unter die Guardia civica, Jeder war froh, wenn in seinem Garten noch die Feigen wuchsen – Verdienst gab es nicht ... Dann aber, als die Ruhe wiederkehrte, als alle Welt erzählte, wie die Gefangenen und Verwundeten in San-Firmiano christlich verpflegt wurden, da fiel ich vor dem heiligen Erzbischof in der Kirche selbst auf die Kniee und bat vor allem Volk um Paolo's Freiheit ... Zum Glück – verzeih' mir's die heilige Jungfrau! – war gerade unser Pfarrer von San-Spiridion gestorben und weil ich hörte, daß sich zehn Pfarrer um die Stelle bewarben und sie vorerst keiner bekommen sollte, weil auf ein Jahr die Einkünfte auch dem heiligen Erzbischof gutschmecken, kauft' ich nochmals, nach allem, was schon draufgegangen war, für zehn Ducati Wachskerzen und schenkte sie in Cosenza der heiligen Rosalia ... Seitdem hieß es: »Seid gutes Muthes, Frau, reist getrost nach San-Giovanni – In San-Firmiano sind Wunder geschehen – Der Guardian hat einen Boten nach Neapel geschickt an das heilige Officio. Wir wissen es ja, das ganze Kloster ist heilig geworden – Sie bekommen alle die besten Stellen in der Christenheit, denn die Mutter Kirche ist gütig und belohnt jeden, welcher sie liebt – ja, und ein Bote, Frâ Hubertus, muß bald zurück sein von Neapel –« ... So sprach der Erzbischof und das ganze Kapitel stimmte ein ... Da vertraut' ich denn und machte mich auf den Weg und jetzt bin ich da und Ihr seid es auch und nun bringt Ihr doch nichts und schweigt –? Ihr wißt, denk' ich, nur zu gut, daß mein guter Bruder nur durch Euch ins Elend gekommen ist .... Ohne Euch könnte er längst in Nocera Bischof sein ...

Diese muthige, für Scagnarello zum Bewundern sachgemäße und kenntnißreiche, nur am Schluß etwas frauenzimmerlich ausfallende Rede hatte Hubertus theils mit seufzenden, theils mit begütigenden Worten begleitet ... Scagnarello hoffte, der schwer Beleidigte würde mit einer Rechtfertigung früherer Misverständnisse, vor allem mit Rückblicken auf die wunderbare Geschichte vom feurigen Hunde vernehmbar werden; aber Hubertus beschäftigte sich allein mit dem Kinde und sang seine »russischen« Lieder ...

Rosalia Mateucci ersah nun wol aus Allem, daß Hubertus kein Vertrauen auf den Erfolg seiner Mission hatte, und fuhr in ihren Klagen über diese arge Welt fort ... Sie ließ dabei jedem seine äußere Ehre, bezeichnete ihn aber bei näherer Betrachtung um so mehr als Spitzbuben ... Vom Standpunkt einer vermögenden Krämerin von Nocera gab sie einen Rückblick auf die ganze bewegte Zeit der letzten Jahre – namentlich auf die wilde Anarchie, welche damals entstand, als die in Neapel durch Lazzaroniaufstand und Schweizerregimenter gesprengte Nationalvertretung sich in Cosenza noch einmal, unterstützt von einem Aufstand der Calabresen, wieder gesammelt hatte, doch von jenem ehemaligen Räuber, spätern General Nunziante, im Süden, vom General Lanzi im Norden angegriffen mehr durch Uneinigkeit, als Ueberlegenheit der Truppen sich auflöste ... Die Bewaffneten wurden damals zu Flüchtlingen, und wie es im Süden geht, zu Wegelagerern und Räubern ... Dieser anarchische Zustand hatte im Silaswald erst seit kurzem aufgehört ... Das Kloster San-Firmiano hatte lange Zeit nur ein Gefängniß und Lazareth sein können, wo die Brüder sich wahrhafte Verdienste erwarben ... Und nun sollten alle diese guten Thaten ohne ihren Lohn bleiben? Märtyrer sollten sich bewährt haben und keine Krone gewinnen –! Da müßte ja der Giosafat von Lipari als ein wahrer Retter ersehnt werden und mit der Zeit in Neapel am königlichen Schlosse kein Stein mehr auf dem andern bleiben ...

Hubertus entgegnete in leidlichem »Campanisch« auf diese unausgesetzten Verwünschungen, die schon Marietta's Weinen und Scagnarello's loyalen Protest zur Folge hatten:

Beim heiligen Hubert, meinem Schutzpatron! Frau, ich kann Euch versichern, daß ganz San-Giovanni und wer anders noch von damals am Leben ist, sich freuen wird, Euch und die kleine Marietta zu sehen ... Euern heiligen Bruder nehm' ich nicht aus, wenn ich auch zweifle, daß Eure Hoffnung, ihn als Pfarrer in San-Spiridion nach Nocera zu bekommen, so bald in Erfüllung geht, zugleich auch, ob dies seinen Wünschen entspricht ... Indessen beruhigt Euch! ... Ei, so weint nicht! ... Ich will Euch sagen, wie es ist ... Ich hätte gute Freunde und Gönner – sagt man? ... Nun, das San-Officio in Neapel war sackgrob – ... Aber gut – ich fand immer, die Leute sind geneigter, uns Gehör zu geben, wenn sie grob sind ... Leider, leider – kann ich dasselbe nicht vom Ohr und Mund Seiner Majestät, Monsignore Celestino, sagen ... Das ist wahr, artig war er ... Dem mußt' ich haarklein erzählen, was seit Jahr und Tag hier in diesen Bergen vorgegangen ist! ... Und wenn ich jetzt so schlummerköpfig nachdenklich bin, so ist es blos, weil ich, aufrichtig gesagt, meine Erzdummheit bereue ... Ich ging auf alle seine Artigkeiten ein ... »Gut! Gut! Das freut mich! Um so besser! Und was wünschen die guten Brüder von San-Firmiano?« – ... Ich Tropf! Das hätt' ich mir doch sagen sollen, daß es mit all diesen Süßigkeiten nur bitter stand –! ... Wir Brüder haben in San-Firmiano um nichts gebeten, als um was die Hechte bitten, wenn in einem Teich ihrer zu viel sind ... Laßt Euer Licht leuchten vor den Leuten! hat schon unser allerheiligster Erlöser gesagt – und nur deshalb sehnen sich unsere Gefangenen von San-Firmiano in ihre Klöster und Pfarreien zurück, um zu zeigen, daß sie aus Wölfen gute Hirten geworden sind ... Seht nun, das alles hab' ich in Neapel vorgetragen; aber – Ei was! Bei Alledem kann ich mich irren! Es ist im Namen unsres heiligsten Erlösers gar nicht unmöglich – wir finden in San-Firmiano fröhliche Gesichter und Euer edler Bruder lacht hellauf, wenn er morgen früh – eher rath' ich nicht bei unserm Kloster anzupochen – die Ueberraschung hat: Gelobt sei Jesu Christ! von seiner Schwester zu hören und gar von der Kleinen da – wie heißt sie? ... Alles heißt hier Marietta ... Kommt niemand von Euch auch einmal – auf den Namen – Hedwigis –? ...

Diese Worte waren so gutmüthig, endeten mit einem so elegischweichen Tone, daß Rosalia Mateucci der wohlthuenden Wirkung derselben sich nicht entziehen konnte ... Sie sagte: Bei San-Gennaro! Hat denn San-Gio jetzt gar die neue Beleuchtung von Neapel –! Seht, wie hell es da liegt! ... – Nun lachte sie freudiglich ...

Scagnarello fand die Aufnahme des Mönches beim Erzbischof von Neapel ebenfalls nicht so bedenklich und im Gegentheil außerordentlich schmeichelhaft ... Nun versteh' ich, sagte er, warum die Leute Recht haben, wenn sie sagen, daß sogar Seine Heiligkeit in Rom ein alter Freund und Bekannter von Euch wäre und Euch schon in Rußland kannte; denn unser heiliger Vater ist weitgereist! – ... Ja aber auch mit Recht! Habt Ihr nicht das hochheilige Erbe Petri vom Grizzifalcone befreit? ... Wußte denn auch der Erzbischof das alles von Euch? ... Hm! auch vom Kreuz – da überm Neto? ... Und – hm! hm! – von Eurem – feurigen Hunde? ...

Auf den ich Euch manchmal aufbinden möchte! schnitt Hubertus die neugierige Rede ab ... Was schlagt Ihr nur so grausam auf Euern armen Pepe! In Spezzano, vor Eurer Abfahrt nach Cosenza, da konntet Ihr ihm gewiß schmeicheln! Da konntet Ihr ihn nennen: Pepito! Mein zuckersüßes Brüderchen! Unterwegs aber ist alles vergessen! ... Der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehs und Wort halten muß man Jedermann – selbst seinem Maulesel! ... Ein alter Jäger weiß ich, daß im Wald und auch draußen in der Welt unsere besten Freunde – wie oft – doch nur unsere Pferde und unsere Hunde sind! – ...

Hubertus sprach voll Scherz, aber auch voll Wehmuth und hörbaren Anklangs an einen Gegenstand, der ihn rührte – ... Doch kam er nicht auf den Hund ... Im Gegentheil zeigte er Rosalien die sich jetzt ein wenig öffnende Gegend, an deren östlicher und walddunkler Grenze, dicht unter den glänzendsten Sternbildern, eine schwarze Thurmspitze in die Höhe ragte – das Kloster San-Firmiano ...

San-Giovanni war erreicht ... Ein Bergflecken, wo sich vor Jahrhunderten einige Menschen um einige halbzerstörte Thürme der Normannenzeit angesiedelt und einige hundert Nachkommen hinterlassen haben, die keinen Anblick für Götter bieten ... Aber ein Maler hätte darum doch seine Lust an diesem Städtchen gehabt ... Die Thurmmauern ragten von Epheu überwuchert ... In riesiger Ausdehnung spazierte der immergrüne Kletterer bis auf die Felsen hernieder und an diesen wieder, wie eine einzige Wiese, entlang bis zu den rauschenden, sich hier vereinigenden Gewässern des Neto und des Arvo ... Ein viereckiger Glockenthurm der Kirche war der Mittelpunkt einiger im wirren Durcheinander von den beiden Wildbächen sich aufdachenden sogenannten »Straßen« ...

Nun erst entdeckte man, warum es scheinen konnte, als wäre in San-Gio die Gasbeleuchtung eingeführt ... Schon in einiger Entfernung hörte man die beim Morraspiel üblichen, aber in San-Gio nie so laut vernommenen Flüche und Verwünschungen ... Auch deutsche Laute wurden hörbar ... Pechkränze und Bivouakfeuer loderten auf ...

Auch San-Giovanni war von Soldaten überfüllt ...

Hubertus sah das voll äußersten Erstaunens, sprang vom Wagen und eilte in wilder Erregung auf den Marktplatz ...

10.

Der »Torre del Mauro« eine Locanda, die einer Scheune ähnlich sah, war erreicht ...

Man fand sie von Soldaten in Beschlag genommen ...

Ein Leutnant in einer jener überladenen südeuropäischen Uniformen, mit Troddeln und Stickereien, die bei uns keinem Obersten zukommen würden, stand mit der Cigarre im niedrigen rauchgeschwärzten Thor eines von brennenden Spänen erleuchteten Hofraums ...

Die Bivouakfeuer brannten auf dem Platz vor der Kirche ... Dünste von gebratenem Speck, von Zwiebeln, von Käse ließen auf einen eben abgehaltenen reichlichen Abendimbiß schließen ... Viele der Soldaten, in Mäntel gehüllt, schnarchten schon auf ausgebreitetem Stroh unter freiem Himmel ...

Diese fliegenden Corps waren in den letzten Zeiten im Silaswalde so oft gesehen worden, daß sie eigentlich niemanden besonders auffallen durften ... Nur Hubertus, schon aufs bedenklichste aufgeregt, sah neues Unheil und Scagnarello, der sich mit San-Gios Einwohnerschaft in lebhafteste Conversation versetzt hatte, schürte jetzt seine Besorgniß – denn Dom Sebastiano von Spezzano hatte allerdings kürzlich gepredigt, San-Gio müßte noch einmal untergehen wie Sodom und Gomorrha ...

Den Mönchen wurde von Del Caretto's und Celestino Cocle's Regierung wenig getraut ... Ein Schweizeroffizier, welchen Hubertus in deutscher Sprache um die Ursache dieser Expedition anging, schien zwar vom Laut der Muttersprache freundlich berührt, aber Ordre hatte auch er, nichts verlauten zu lassen ... Auf den im verlassenen Pfarrhaus einquartierten Oberoffizier verweisend, mischte er sich unter die andern Offiziere, die sich mit ziemlich derben Späßen auf Kosten einer Frau unterhielten, die »der schöne Mönch wol nicht in sein Kloster entführen, sondern ihnen überlassen würde –« ...

Hubertus wandte sich einem Hause zu, das hier ein Ziegenhirt ersten Ranges, ein »Rico«, ein Reicher bewohnte ... Messer Negrino hieß er; er war ihm besonders befreundet ... Leider aber war dieser im Ruf der Ketzerei stehende erste Bürger von San-Gio nicht zu Hause ... Mit seiner Heerde war er unterwegs und vielleicht auf der Messe von Rossano ...

Schon wußte ganz San-Gio, wer mit Scagnarello gekommen war ... Schon hatten sich Gruppen von alten Bekannten gebildet, welche die Schwester ihres in San-Firmiano wohnenden ehemaligen Pfarrers sehr wohl erkannten und sich zu Theilnehmern einer Verhandlung über die Frage machten, ob es gerathener wäre, daß Rosalia Mateucci noch mit ihrem Kinde dem Bruder Hubertus folgen und am Eingangsthor des Klosters unter einem Dach, das die Madonna schützte, übernachten oder in einem Bette bleiben sollte, das ihr der alte, hocherfreut sie begrüßende Meßner ihres Bruders in seinem niedrigen Häuschen anbot ... Scagnarello hatte schon den Pepe ausgespannt und mußte ihm die Streu im Freien machen, da den Stall die Soldaten eingenommen hatten ... Als weltkundiger Mann hatte er zum Bleiben gerathen ... Es schien ihm, als würde Paolo Vigo schwerlich sich ihm morgen als Rückpassagier anschließen können ...

Hubertus, vom Hause Negrino's zurückkehrend, scherzte bei allen diesen Verhandlungen mit Jung und Alt, nahm die jetzt verdrießlich aus der Ruhe gekommene Marietta auf den Arm, gab Auskunft über seine Reise sowol dem »Sacristano« wie dem »Sindico«, welchem letztern er einige auf seine Reise übernommene Aufträge ausgerichtet hatte – aber die Soldaten, deren Absichten auch die erste Magistratsperson des Ortes nicht zu deuten wußte, beunruhigten ihn so sehr, daß er von Rosalia Mateucci für heute Abschied nahm und sofort nach San-Firmiano aufbrach, um, wie er versprach, schon beim Mitternachtgebet dem Bruder die frohe Kunde zu bringen und diesem zur Ueberlegung Zeit zu lassen, wie er am passendsten seine Schwester empfangen wollte ...

Unter den Scherzen der Soldaten, die Hubertus seines Todtenkopfes wegen schon gewohnt war, verließ er den Platz und begab sich in großer Spannung nach seinem Kloster ... Der Sindico, der zugleich die Post von San-Giovanni hielt, hatte versichert, daß allerdings amtliche Briefe seit einigen Tagen für den Guardian des Klosters genug angekommen wären ... Das gab ihm Hoffnung ... Der Sindico wußte, Hubertus hatte die in San-Firmiano seit Jahren Eingekerkerten in Neapel erlösen wollen ... Zöglinge waren sie alle der seltnen Strenge dieses einfachen Mönches, Zöglinge des ihm von Frâ Federigo eingepflanzten leidlich evangelischen und aufgeklärten Geistes ... Mit seiner Fürbitte war Hubertus von Cosenza nach Neapel verwiesen worden ... Hier hatte er nur die Dominicaner verdrießlich und unfreundlich, alle andern Behörden gütig und ganz erfüllt von der ihm immer gewährten Nachsicht gefunden ... Allerdings wurde Hubertus von Rom protegirt ... Seit Jahren hatte man ihm gestattet, in Firmiano zu leben; sogar die Untersuchung über den Tod eines Genossen des Boccheciampo war ihm erlassen worden; man gestattete ihm all die Freiheiten, ohne welche sein unruhiges Temperament nicht leben zu können schien ... Der Sindico konnte nicht genug schildern, was ihm die angekommenen Briefe schon von Außen inhaltreich und bedeutsam erschienen wären ...

Hubertus verließ San-Gio ... Einsam ging er den dunkeln Weg ...

Seine aufgeregte Phantasie brachte diese Soldaten mit seiner Reise in Verbindung ... Der Erzbischof von Neapel hatte eine Menge Fragen an ihn gerichtet – vorzugsweise über Frâ Federigo ... Dem hohen Herrn war alles bekannt gewesen, was diesen Einsiedler betraf, der deutsche Ursprung desselben, seine Flucht aus einem piemontesischen Thal, seine dortige Förderung ketzerischer Bestrebungen, seine Gefangenschaft unter den Genossen Grizzifalcone's, dann Hubertus' muthige Befreiung desselben ... Daß Frâ Federigo noch lebte, wußte der Erzbischof nicht minder, ja er beschrieb mit genauester Ortskenntniß ein von Bergen umschlossenes enges Thal im Silaswalde, wo jener Flüchtling unter den sogenannten Bluteichen seit vielen Jahren einsiedlerisch lebte ... »Bluteichen« hießen jene uralten Stämme aus den Tagen, wo auch in Calabrien für die evangelische Lehre Blutströme geflossen waren und Scheiterhaufen loderten ... Paolo Vigo war infolge einer Bekanntschaft mit Frâ Federigo in seinen Kanzelreden verdächtig und dem Kloster Firmiano zur Correction übergeben worden ... Allen diesen Verhältnissen hatte der Erzbischof seine volle Aufmerksamkeit geschenkt, wußte, daß Cosenzas Kirchenfürst vom Guardian zu San-Firmiano Bericht über Bericht über die Umwandlung erhielt, welche mit den unter seine Obhut gegebenen Spielern, Fluchern, Gotteslästerern vor sich gegangen war und dennoch gab er auf die Frage, ob nicht endlich die jetzt so anerkennenswerthen Bewohner des Klosters in ihre Aemter zurückkehren durften, keine entscheidende Antwort ...

Bruder Hubertus hatte in San-Giovanni einige Stärkung zu sich genommen ... Der alte Franz Bosbeck, der noch im hohen Alter einer ungebrochenen Kraft sich rühmen zu können gehofft hatte, war er nicht mehr ... Die lange Kette seiner Lebenserfahrungen war zu drückend und schwer geworden ...

Schon war es über zehn Uhr – nach italienischem Zifferblatt die dritte Stunde – seine Klostergenossen mußten schon schlafen – wecken wollte er niemand, da ohnehin die Matutin in den nächsten zwei Stunden sie wach rief ... So unterbrach er sein Steigen auf dem schmalen Felsenpfade und setzte sich auf einen verwitterten, mit Moosflechten überzogenen Stein, traurig hinausblickend in die grüne Wildniß, in die stille Mondnacht, in die rauschenden Wasserstürze am Abhang des Felsens – hinaus in jene noch entlegenere Einsamkeit, wo ein deutscher Schwärmer seit länger als zehn Jahren unter Büchern, Schriften und ländlichen Beschäftigungen sich vergraben hatte – ...

Alles nächste rundum und in der Ferne war grabesstill – auch San-Giovanni, das zum Handausstrecken vor ihm liegen blieb, ob er gleich um eine Stunde Weges schon von ihm entfernt war ... Die Schwester Paolo Vigo's wiedergesehen zu haben, die Erwähnung des »feurigen Hundes«, der Anblick des Kreuzes über dem Neto – alles das hatte mächtig die alten Erinnerungen seines Lebens geweckt – ...

Welche Reihe von Schicksalen konnte er überblicken –! ...

Seine Jugend verlebt unter Räubern ... Die einsame Mühle eines Diebshehlers ... Die Gefangennahme der Picard'schen Bande ... Das Hochgericht ... Die Meeresfahrt des holländischen Rekruten ... Java mit seinen braunen Menschen, Palmen, Löwen, Schlangenbeschwörern ... Wieder dann Europa ... Deutschland, zur Zeit Napoleon's – Schloß Neuhof mit seinen grünen Wäldern – Der grimme Wittekind – Hedwig, seine geopferte Liebe ... Brigitte von Gülpen's Betrug – ... Die Flucht in ein schützendes Kloster – die Verwilderung der dortigen geistlichen Zucht – sein treuer Beistand durch Abt Henricus – seine Reisen – seine That am melancholischen Bruder Fulgentius, den seine Hand vom Riegel nicht losschnitt, an dem er sich erhängt hatte – die Begegnung mit Hammaker, einem so hochgebildeten Manne, der dennoch ein Mörder werden konnte – mit Klingsohr – mit Lucinden – die Flucht in den blitzgespaltenen Eichbaum – die Flucht nach Italien – die Gefangenschaft auf San- Pietro in Montorio – die Nacht auf Villa Rucca – Pasqualetto's Tod – dann seine Reise, um den Bischof von Macerata und den Pilger von Loretto zu entdecken – ...

Wie führte ihn schon allein die Erwähnung des treuen »Sultan«, welcher durch Paolo Vigo, den Pfarrer von San-Giovanni, ein so trauriges Ende nehmen sollte, so lebhaft in die Tage zurück, wo Italiens Reiz dem »christlichen Schamanen«, wie ihn Klingsohr genannt, die alte Abenteuerlust weckte –! ...

Als damals Hubertus, entlassen und abgesandt vom Fürsten Rucca, vom Cardinal Ceccone, von Lucinden und vom frommen Mönch Ambrosi, dem bischöflichen Kapitel von Macerata gerathen hatte, die wunderthätige Madonna zu verbergen, hatte er sich die Bevölkerung der nördlichen Felsenküste des Kirchenstaats zu Bundesgenossen für die Ausführung der Befreiung des Bischofs gemacht ... Durch die Volkswuth über die fehlende Madonna geängstigt, lieferten die Anhänger Grizzifalcone's den Bischof ohne Lösegeld aus ... Ueber den Pilger von Loretto jedoch hatte Hubertus vergebens gesucht, irgend etwas in Erfahrung zu bringen ... Schon konnte sich Verdacht regen, daß wol gar der gespenstische fremde Mönch, der, ohne sich deutlich ausdrücken zu können bettelnd bald hier bald dort auftauchte, selbst der Mörder des Grizzifalcone sein mochte ... Hubertus mied die ausgestellten Wachen der Schmuggler, mied die Gensdarmen, welchen er schwerlich, in Folge der Rucca'schen Drohungen, eine willkommene Erscheinung sein konnte, und quartierte sich auf einer Strecke von zehn Miglien bald an der Küste bei Fischern, Zöllnern ein, bald landeinwärts sich wagend, in Klöstern oder bei einsamen Häuslern ...

Vorausgeeilt war er der Kunde, daß Grizzifalcone in Rom von der Hand eines Mönchs gefallen war ... Er vernahm sie zuerst im Kreise von zechenden und ihre Beute theilenden Schmugglern ... An der Art, wie sie ihre Dolche schwangen und ihm Rache schwuren, erkannte er seine Gefahr ... Von den vielen Wohnungen, welche der Räuberhauptmann innezuhaben pflegte, hatte er eine nach der andern durchspäht und nichts konnte er in ihnen von einem Gefangenen entdecken ...

Da schloß sich ihm eines Morgens ein Hund an, der, von langer Wegwanderung so hinfällig wie er selbst, ihm zur Seite schlich, anfangs ihm einen unheimlichen Eindruck machte, dem er ausweichen mußte, der aber dann immer mehr sein Mitleid erregte ... Mit dem Wenigen, was er selbst noch an Eßwaaren bei sich trug, erquickte er das verhungerte Thier ... Der Hund umschnupperte ihn, wie einen alten Bekannten ... Auffallend war ihm der stete Trieb des Thiers, zum Meeresstrand zu gelangen ... Schon war vorgekommen, daß gegenüber kleinen Eilanden, die vom Felsenufer abgerissen aus dem Meeresspiegel aufragten, sein Begleiter ins Wasser sprang, hinüber zu schwimmen versuchte und vom mächtigen Wogendrang zurückgeworfen, winselnd wieder zu seinen Füßen kroch ... Hubertus war ein zu guter Jäger, um sich nicht zu sagen: Dem Thier muß irgend eine große Sehnsucht inne wohnen, der nur die Sprache fehlt ...

Jener Felseneilande gab es hie und da größere ... Sie schienen bewohnt; wenigstens wurden sie dann und wann, besonders im Abenddunkel, von Nachen umfahren ... An einem der schroffsten, zu welchem gewiß eine schützende Bucht gehörte, die sich, da sie dem Meere zulag, dem Auge nur entzog, entdeckte Hubertus die Segel eines schon leidlich großen Schiffes ... Das Benehmen des Hundes, das Spitzen seines Ohrs, sein heiseres unterdrücktes Bellen erschien ihm immer auffallender ... Schon nahm Hubertus an, das treue Thier hätte wol gar dem Pasqualetto selbst gehört und suchte zu den nächsten Verbündeten des Räubers zurückzukommen ...

Seine Erkundigungen machten ihm immer mehr und mehr wahrscheinlich, daß jene wie ein riesiger Felsenzahn aus dem Meer aufragende Klippe die Stelle war, die er suchte ... Eine unruhige, über Entschlüsse brütende Nacht verbrachte er auf dem Steingeröll am felsigen Ufer ... Hubertus setzte sich der Gefahr aus, vom Anwachsen der Flut verschlungen zu werden ... Ueber ihm ragten die starren Häupter der Küste, umflattert von aufgeschreckten Seegeiern ... Zuweilen ließen sich oben die Stimmen dort hanthierender Menschen vernehmen ... Um Mitternacht tauchten auf dem Wasserspiegel Segel auf ... Deutlich sah Hubertus, wie nur immer und immer drüben die eine Klippe gesucht wurde ... Schon richtete sein bei Nacht doppelt wachsamer Hund Auge und Ohr mit starrem Verlangen hinüber ...

Plötzlich hörte Hubertus in der Nähe des Ufers ein Rauschen ... Er erhob sich von seinem Versteck am Fuß des feuchten Felsens, den nur zu bald wieder die herantretende Flut bespülen konnte, hielt dem Hund, um durch sein Bellen nicht verrathen zu werden, fest die Lefzen zusammen und lauschte, ob es wol eine Barke war, was am Kieselsand die Felsenküste entlang so anschlug und vom Wellenschlag mehr geworfen, als getragen wurde ...

Vom Seetang, auf welchem Hubertus ruhte, kroch er vor und entdeckte einen Kahn, den ein einziger Ruderer mit größter Anstrengung führte ... Ein Moment und Hubertus rief sogleich in seiner humoristischen Zutraulichkeit: Heda, seid Ihr's denn –? Endlich! Endlich! ...

Ja, Tonello! lautete die Antwort ... Sind die Kisten herunter? ...

Die Kisten herunter –? dachte Hubertus –. Sie lassen oben an Stricken die Schmuggelwaaren herunter, die zu Wasser dann am Ufer entlang weiter geführt werden sollen – ... Rasch hatte er seine Kutte ausgezogen, sie wie einen Mantelsack zusammengerollt, auch die Sandalen von den Füßen geschnallt, alles, um nicht auf den ersten Blick als Mönch erkannt zu werden ... Ebenso schnell nahm er die volle Sprache eines Holländers an ... Da er der Tonello nicht sein konnte, wollte er sich wenigstens für einen mit Tonello im Einvernehmen stehenden fremden Matrosen geben ...

Inzwischen war die Barke ganz um den Felsenvorsprung herumgekommen ... Ihr Führer war ein junger Bursche ... Nicht wenig erstaunte er, hier statt des Tonello einen halbnackten Menschen zu finden, der sich ihm durch unverständliche Reden, aber deutliche Geberden, vorzugsweise durch ein Zeigen bald aufs Meer, bald auf seinen Hals, dem gewiß die Schlinge drohe, als einen Ausreißer von seinem Schiffe zu erkennen gab, der mit den oben vorausgesetzten Helfershelfern im Einvernehmen stand ...

Ohne weiteres deutete Hubertus an, der Schiffer möchte ihn ja in seine Barke aufnehmen und auf den Felsen hinüberfahren, wohin schon lange die andern, so sprach mit unwiderstehlicher Beredsamkeit sein Mienenspiel, voraus wären ...

Durch sein Fragen bestimmte der Bursche schon immer selbst die Antworten, die Hubertus geben konnte ... Und bald war die Barke dem Ufer so nahe, daß sein Hund nur einen Satz brauchte, um hinüberzuspringen ... Hubertus folgte, ergriff noch ein zweites Ruder, das am Boden lag, und deutete auf den Felsen, dem zusteuern zu sollen der Bursche unausgesetzt in einer kauderwelschen Sprache von ihm bedeutet wurde; die Genossen hier am Meer gehörten allen Nationen an; vorzugsweise fehlten flüchtige Matrosen von Dalmatiens Küste nicht, deren Sprache vielleicht nach des Knaben Meinung es war, die der halbnackte Mensch mit dem grinsenden Todtengesicht sprach ... Hubertus hatte seine Kutte mit seiner weißen Schnur umwickelt ...

Je mehr Hubertus durcheinander sprach, desto sichrer wurde der Knabe und noch sichrer mußte ihn das Benehmen des Hundes machen, der mit vorgestreckter Schnauze und aufgereckten Ohren wie auf dem Sprunge stand – keine Muskel rührte, das Auge unverwandt dem Felsen zu gerichtet ... Die glückliche Erwartung des Thiers verrieth dann und wann ein leises kurzes Bellen ...

Die Fahrt dauerte länger, als sich Hubertus vorgestellt ... Das Meer lag durchaus ruhig und doch ging bis zum Landen eine Stunde hin ...

Die wunderlichsten Bewegungen, Sprünge und das kurze Bellen des Hundes mehrten sich ... Kaum war der Nachen an einem zum Landen geeigneten Vorsprung des Ufers angekommen, so war Hubertus nicht mehr im Stande, dem Knaben Auskunft zu geben; denn sein Hund sprang wie der Blitz aus dem Nachen und im Zanken darüber, im Begehren, den Flüchtling festzuhalten, konnte ihm Hubertus nacheilen ohne damit aufzufallen ... Satz über Satz ging es vorwärts, als wäre der Hund auf der Insel zu Hause – ... Kaum konnte Hubertus folgen ...

Nun mußt' er wol fürchten, der Hund möchte den Räubern gehören, deren Anwesenheit ihm jetzt aus Tonnen, Waarenballen, großen runden Flaschen, wie sie auf Schiffen gebraucht werden, unzweifelhaft wurde ... Erkannte man ihn, so hatte seine letzte Stunde geschlagen ...

Alles blieb still ... Die Waaren lagen aufgespeichert unter den Wölbungen hoher Felsgesteine, verborgen von wildwucherndem Strauchwerk ... Manche dieser Wölbungen waren tiefgehende Höhlen ... Der hellste Mondschein ließ alles deutlich erkennen ... Im Schneckengang wand sich der oft schlüpfrige und unterm Fuß zerbröckelnde Felsenpfad hinauf, bis endlich ein lautes Bellen des Thieres anzeigte, daß seine Anstrengungen belohnt waren ... Hubertus folgte und sah, wie der Hund an einem Holzgatter kratzte, das einen mannshohen Felsenspalt verschloß ... Offenbar war dieser hinterwärts sich erweiternde Raum eine menschliche Wohnung ... Hell schien an einer andern Seite, der See zu, durch einen kleinern Spalt das Licht des Mondes ...

Kaum hatte Hubertus, den Hund beschwichtigend, die Pforte des Gitters ergriffen und sie geschlossen gefunden, kaum einige Geräthschaften wie Tische, Sessel unterschieden, so beschien auch vom jenseitigen, zum Meer gehenden Spalt aus der Mond eine auf einem Lager am Boden ausgestreckte menschliche Gestalt ...

Die Freude, die Aufregung des Hundes war nicht mehr zu stillen ... Hubertus schwebte zwischen Leben und Tod – ... Gleichviel ob dort der Pilger, der Gefangene Pasqualetto's, lag oder ein Angehöriger der Räuber, sein Leben hing an einem Haar ... Er packte den Hund und erstickte ihn fast durch Zusammenwürgen der Kehle ...

Der Schläfer auf dem Lager erhob sich indessen ... Hubertus sah einen Kopf, den ein langer weißer Bart umflutete ... Es war nicht möglich, die Gesichtszüge zu erkennen ... Die Gestalt erhob sich allmählich ... Der Mondstrahl der jenseitigen Felsöffnung beleuchtete sie ... Der Mann kam langsam näher und mit einer Hubertus nun bekannten Stimme hörte er auf italienisch: Was ist dein Begehr? – Weißt du nicht, daß der Eingang am andern Gitter ist –? ...

Jetzt unterbrach der Gefangene sich schon selbst ... Er erkannte den Hund und sank zu diesem nieder ... Machtlos streckte er durch das Gitter die Hände nach ihm aus ...

Hubertus ließ die Kehle des Thieres jetzt frei und sagte in deutscher Sprache: Mann! Mann! Du bist es! Gott gelobt! Ich komme, dich zu befreien! Erhebe dich! Auf! Auf! Verweilen bringt Gefahr – ...

Noch hatte Frâ Federigo, der es war, nicht die Sprache gewonnen; er sah nur auf seinen Hund ... Aus Piemont bis hieher war ihm das treue Thier gefolgt ... Hubertus konnte nun dem Thier nicht mehr wehren; durch lautes Bellen gab es seine Freude kund ... Aber ohne Zweifel gab es auf dem einsamen Felsen Schläfer, die geweckt werden konnten ... Auch Federigo erhob sich jetzt von seinem Niederknieen, hielt seine Hände durchs Gitter, zog den sich aufbäumenden Sultan zärtlich an sich und suchte ihn zu beruhigen ...

Inzwischen entdeckte Hubertus die Stelle, wo ein Eingang hinter dem Felsen an der Meeresseite lag und wie dieser zu erreichen war ... Er entdeckte ein Bret das von den Räubern aufgelegt und wieder weggenommen werden konnte und das den Zugang zur Höhle bildete ... Das Bret stand an die Felsenwand gelehnt und mußte über eine Spalte gelegt werden, unter welcher ein tiefer Abgrund gähnte ... Hubertus hatte Mühe, den Hund zurückzuhalten, der schon Miene machte, hinüberzuspringen ...

Glücklicherweise schwieg jetzt Sultan und winselte nur vor Begier, über die furchtbare Lücke zu kommen! ... Hubertus legte das Bret sorgfältig auf und konnte auf eine andere Kante des Felsens gelangen, auf welcher sich bequem bis zu jener dem Meere zu gelegenen Oeffnung gehen ließ, die in halber Manneshöhe den Eingang bildete ...

Da fand denn Hubertus seinen Reisegefährten, den Pilger von Loretto ... Er fand den greisen, einem Schatten ähnlichen Bewohner dieses grausamen Behälters, eines Nestes für Raubvögel – fand ihn in den Umarmungen seines Thieres, die Augen voll Thränen und sprachlos vor Bewunderung und Freude ...

Zu Verständigungen war keine Zeit gegeben ... Hubertus, gleichfalls vom Pilger sofort als der Gefährte jenes deutschen Mönches Klingsohr erkannt, drängte zu sofortiger Flucht ... Laßt mich hier sterben! sprach Federigo ... Doch Hubertus zog ihn an die Oeffnung und deutete auf Stimmen, die am Fuß des Felsens ihm vernehmbar schienen ... Es ist die Welle, die brandet! sagte Federigo und tastete schon unwillkürlich nach seinem Pilgerkleide, raffte einige Wäsche zusammen und suchte seinen Stab ...

Ich bringe Euch nach Rom! sprach Hubertus. Mich schicken Eure Befreier! Wer weiß, ob diese Bösewichter, wenn ich auch den Kahn gewinne und allein entfliehen wollte, Euch nicht inzwischen an einen andern Ort führen, falls ich auch morgen mit der Küstenwache hier einträfe und Euch abholen wollte ... Kommt lieber sogleich! ... Ihr habt Recht, nur die Brandung ist's! ... – Wohlan – Gut Heil –! ...

Hubertus half dem Greise zusammenraffen, was um ihn her ausgebreitet lag und nur irgend rasch zu erfassen war ... Selbst die Decken, auf denen er schlief, bürdete er sich auf; die Papiere, auf die ihn Rucca so ausdrücklich verwiesen hatte, ballte er zusammen ... Der Hund hüpfte und tänzelte nur um beide her und schon waren sie zur Oeffnung hinaus, schon schwankte Federigo auf dem schmalen Stege über die grausige Tiefe – schon rafften sie die andern Sachen zusammen, die sie ans Gitter der größeren Oeffnung geworfen hatten, schon schickten sie sich an, in eilendem Schritt den Felsenpfad hinunter zu entfliehen und das Ufer und den Nachen zu gewinnen ...

Das kluge Thier, gleichsam als merkte es die Vorsicht, die hier zu üben war, begleitete sein Laufen und Wiederlaufen, sein Springen und Schmeicheln nur mit einem leisen freudigen Winseln ... Aber dennoch war es auf dem Eilande lebendig geworden ... Federigo hielt inne ... Lichter schwankten unterwärts am Gestade auf und nieder, Fackeln leuchteten auf, Laternen ... Durch einen Spalt des immer noch schroffen Gesteins sah Hubertus, daß der Knabe den Nachen verlassen hatte und wahrscheinlich zum Lager der Räuber gegangen war und diese geweckt hatte ... Vorwärts! Vorwärts! trieb er den Befreiten an ... Dieser folgte, sprach aber besorgt den Namen Grizzifalcone's aus ...

Wißt Ihr denn nicht, daß Euer Peiniger todt ist? flüsterte Hubertus ...

Er ist todt – seit acht Tagen – wiederholte er dem Staunenden und setzte hinzu: Und ich bin es selbst, der ihn erlegte ...

Unglücklicher! rief Federigo voll Entsetzen über diese Tollkühnheit und die mögliche Rache seiner Genossen ... Er hielt aufs neue seine Schritte an ... Nun aber war schon der Weg zu schroff, als daß sein Fuß sich noch selbst regieren konnte; er mußte vorwärts wider Willen ...

Indessen wuchs der Lärm an den Stellen, wo man Licht bemerkt hatte ... Nur noch hundert Schritte waren die Fliehenden entfernt vom Nachen; dennoch konnte der kurze Weg den Tod bringen ... Die Gefahr wuchs, als Sultan die Herbeieilenden bemerkte, wüthend zu bellen anfing und sich zum Angriff rüstete ... Schon sprang er einigen Männern entgegen, die mit Pistolen und Flinten, halbnackt und schlaftrunken, von einem Felsenvorsprung her sich näherten ...

Indessen hatte Hubertus den Nachen gewonnen und den ermatteten Federigo mit Gewalt vom Ufer zu sich herübergezogen ...

Sultan! Sultan! riefen beide im schaukelnden Kahne, den Hubertus schon losband ...

Da blitzte Pulver auf den Feuerröhren der Ankommenden auf, Schüsse fielen, Kugeln sausten ... Darüber flog der Nachen vom Ufer ...

Sultan, der nachsprang und von Federigo's ausgestreckten beiden Armen nachgezogen werden sollte, sank unter, getroffen von einer Kugel, die seinem Herrn gegolten ... Von der unruhigen Brandung geschleudert flog der Nachen machtlos in die Weite ... Das treue Thier blieb auf dem Meeresgrund oder in der Gewalt der Verfolger zurück ...

Mit einem Schmerz, der sich in lauten Jammertönen kund gab, brach Federigo auf dem Boden des Fahrzeugs zusammen – ...

Ja – dieser wunderbaren Nacht mit ihrem Gefolge von Freude und herzzerreißendem Leid mußte jetzt Hubertus gedenken auf dem stillsten Orte der Welt, in diesem einsamen Gebirgsthal Calabriens, ruhend auf einem Stein, um den selbst die Eidechsen und Käfer jetzt schliefen ... Bilder des Kampfes, Bilder neuer Gefahren traten vor sein erregtes Gemüth ... Eine Ahnung, welche mit dem von Neapel hinweggenommenen Eindruck der Falschheit zusammenhing, sagte dem schlichten Mann, der alles, nur kein Menschenkenner war: Wenn sich Federigo's ruheloses Leben erneuerte! Wenn der hochbetagte Greis in seinem düstern Waldesdunkel nicht länger sicher bliebe! ...

Seit jener Flucht vom Felseneiland bei Ascoli waren fast zwölf Jahre vergangen ... Doch traten gerade heute alle Einzelheiten derselben vor die Seele des einsamen, hier wie am Grabe der Natur wachenden Wanderers ... Er gedachte, wie damals der erste Schmerz um den Verlust des wie man glauben mußte todten Thieres alles andere überwog – wie die Flüchtlinge damals sich vorstellen mußten, wie oft der brave Sultan gefangen gewesen sein mußte, um ein Jahr zu brauchen, die Spur seines Herrn von Piemont bis zur Mark Ancona wiederzufinden –! ... Und am Ziel seines edlen Naturtriebes Ein Factum. mußte das treue Thier zusammenbrechen – ...

Aber Hubertus gedachte nun auch, wie damals mit dem anbrechenden Tage die Sorge wuchs und ihre Kräfte nicht mehr ausreichten, den Nachen zu regieren – wie der Nachen ans Ufer getrieben wurde und die Landung neue Gefahren brachte, da Federigo dem Vorschlag, sich den Grenzbeamten zu überliefern und nach Rom zu fliehen, aufs allerentschiedenste widersprach, immer und immer als das Ziel seiner vor dreiviertel Jahren unterbrochenen Pilgerschaft nach Loretto, das er sich nur der Merkwürdigkeit und des allgemeinen Pilgerstromes wegen hatte ansehen wollen, nur den Silaswald in Calabrien bezeichnete ... Wie erbebte noch jetzt des guten Bruders Theilnahme unter der Erinnerung an die seltsamen Gründe, welche für diese Reise damals Federigo angab und Hubertus wol schwerlich sämmtlich erfahren hatte – ...

Die von Ceccone geleiteten Fäden der Verlockung der Bandiera in einen Aufstand der Räuber hatten ebenso in Federigo's Händen gelegen, wie die jener Mittel, durch welche sich Grizzifalcone die Erkenntlichkeit des Fürsten Rucca erwerben wollte ... Jene Listen, welche er dem Räuber hatte schreiben müssen, besaß er – er warf sie zu Hubertus' Erstaunen zerrissen ins Meer ... Lebhafter war Federigo's Drang, die Insurgenten in Korfu zu warnen ... Federigo hoffte irgendwo eine Post anzutreffen, um einen Brief nach Korfu an die ihm wohlbekannten Adressen der Emigration zu schicken ... Dies that er dann auch ... Um die Landung in Porto d'Ascoli zu hintertreiben, um vor den Namen zu warnen, die bisher nach Korfu gleichsam als Einverstandene und zur Invasion Ermunternde geschrieben hatten, ergriff er die erste Gelegenheit, um einige Zeilen aufzusetzen ... Hubertus erfuhr, daß der Gefangene in jener Höhle Briefe, deren Zusammenhang und Bestimmung er nicht kannte, anfangs harmlos geschrieben ... Als er die Absichten ahnte, die ihm die unheimlichsten schienen, zwangen ihm nur noch die furchtbarsten Qualen und Drohungen der von Cardinal Ceccone gedungenen Räuber die Feder in die Hand – ...

Eine Folge der, des unsichern Postganges wegen, mehrfach aufgesetzten, aber in Korfu richtig angekommenen Briefe war dann die Landung der Bandiera in Calabrien ... In jenem Briefe Attilio's, von welchem damals in Bertinazzi's Loge sich Benno so mächtig hatte aufregen lassen, waren diese Mittheilungen Federigo's sämmtlich wiedergegeben worden ...

Langsam kamen der Gerettete und Hubertus, welcher sich von seinem neuen Freunde nicht zu trennen vermochte, durch die Abhänge des Monte Sasso und durch die Abruzzen ... Endlich erreichten sie jenen alten Wald, in welchem Federigo seine Tage beschließen wollte ... Die religiösen Gespräche des Pilgers, seine genaue Bekanntschaft mit jenem deutschen Landstrich, wo Hubertus soviel Freude und Leid erfahren, des Pilgers Bekanntschaft mit soviel Personen, die in die schmerzlichsten Schicksale seines Lebens verwickelt waren, fesselten ihn in dem Grade an den deutschen greisen Sonderling, daß er sich nicht mehr von ihm trennen mochte ... Durch ihn ließ er dann an Lucinden nach Rom schreiben, bat sie, seinen Aufenthalt vorläufig noch dem Cardinal und dem Fürsten Rucca zu verschweigen, fügte hinzu, sie möchte ihm insgeheim von seinem General die Erlaubniß erwirken, in San-Firmiano, einem Franciscanerkloster, bleiben zu dürfen, das glücklicherweise in der Nähe des Ortes lag, wo sich Federigo seine Hütte gebaut ... Sein früherer Pflegling, Pater Sebastus, war genesen und hatte eine seinen Wünschen entsprechende Stellung gefunden ... Lucinde vermittelte alles, was er wünschte und seine Bitte wurde gewährt ...

Durch eine wunderbare Fügung des Zufalls traf es sich auch, daß gerade dies plötzliche Verschlagenwerden nach dem Süden Italiens zugleich die Anknüpfungen an eine so lange von Hubertus verfolgte Absicht bot, sein von Brigitte von Gülpen ererbtes Vermögen dem verhaßten Kloster Himmelpfort zu entziehen und zweien Personen zuzuwenden, die ihm seine von Gott ihm auf die Seele gebundenen Kinder schienen, da sie einst in seinen Armen gerettet blieben bei jenem verzweifelten Sprunge aus der Höhe eines brennenden Hauses in Holland ...

Einer derselben hatte seine Güte nicht verdient ... Und doch hatte wiederum Jân Picard, damals Dionysius Schneid genannt, aus dem Brand von Westerhof von ihm gerettet werden müssen ... Anderthalb Jahre war es damals her, daß Löb Seligmann am Eingang zur Kirche des Klosters Himmelpfort jenes furchtbare Krachen gehört und im Todtengewölbe Licht gesehen hatte ... Damals benutzte Hubertus die gerade noch im Bau begriffene Begräbnißstätte des Kronsyndikus, um den muthmaßlichen Brandstifter im Todtengewölbe der Kirche zu verbergen ... Die mächtige Marmorplatte, auf welche Namen und Würden des Geschiedenen gemeißelt werden sollten, ließ er oberhalb der Grube niederfallen, in die sein damals noch unwiderstehlicher Arm den Verwundeten über die hinunterführende Leiter trug ... Für einige Augenblicke machte er dann Licht und bereitete unter den Särgen dem Kranken ein Lager ... Seine Drohungen mußte Jân Picard aus einem so entschlossenen Munde für Ernst nehmen ... Drei Tage und drei Nächte verpflegte ihn Hubertus, ohne in den Verstockten dringen, ganz seine auf Westerhof vollführte That erforschen zu können ... Sein Interesse für Terschka, seine Sorge für den auf seiner Zelle und unter des Pater Maurus' Zucht verzweifelnden Klingsohr bestimmten ihn, diese Last sich je eher je lieber abzuschütteln ... Lucinden hatte er das Wort gegeben, ihn nicht zu verrathen ... Zugleich vertraute er dem Ton der Verstellung, die von einer dumpfen Bigotterie, die in Picard lebte, unterstützt wurde, nahm von ihm das Gelöbniß der Besserung entgegen, ließ den gegen religiöse Eindrücke nicht Verschlossenen bei einem der auf den Gräbern angebrachten Kreuze schwören und vertraute dem Versprechen, daß der Zögling der Galeeren nach Amerika auswandern und dort mit Hülfe der großen Summe, die er ihm für diesen Fall bestimmt hatte, ein neues Leben beginnen wolle ... Diese Summe, vor kurzem erst erhoben, trug Hubertus in Papieren bei sich ... Die Ueberraschung und Geldgier des Räubers nahm die Form einer Dankbarkeit an, die aufrichtig schien ... Picard vermaß sich hoch und theuer, an den Ufern irgend eines der Ströme Amerikas Grundbesitz kaufen und sein Leben hinfort nur noch der Reue und Arbeit widmen zu wollen ... Nach einigen Tagen, während ihn Hubertus unter den Särgen verpflegt hatte, brachte er ihn mit größter Behutsamkeit auf den Weg nach Bremen ...

Picard ging, wie wir wissen, über London und gerieth unter seine gewohnte Gesellschaft ... Er verthat die für England nicht zu große Summe in kurzer Zeit ... Ohne Mittel, fiel er in seine frühern Gewohnheiten zurück ... Die französische Sprache, deren er mächtig war, die anfänglich ihm so reich zu Gebote stehenden Summen hatten ihn in Verbindungen gebracht, die weit über die Sphäre gingen, auf welche seine rohe Bildung angewiesen war ... So war es möglich geworden, daß er Terschka begegnete, den er von Westerhof kannte ... Ohne sich ihm als Dionysius Schneid zu erkennen zu geben – seine kunstreichen Perücken sind uns vom Finkenhof her bekannt – knüpfte er an die ihm von Hubertus ausgesprochenen Vermuthungen über Terschka's Person an, erinnerte an ihre gemeinschaftlich bei einem Müller, später bei einem Scharfrichter verlebte Jugendzeit und hatte, da sich Terschka, trotz der lockenden Aufforderung, die sein Jugendgespiele an ihn richtete, er sollte sich getrost die auch ihm bestimmte Summe vom alten Jugendkameraden, Franz Bosbeck, dem jetzigen närrischen Mönch Hubertus kommen lassen, befremdet und höchst entrüstet zeigte und diese Reden zurückwies, die Frechheit, Terschka's Rock- und Hemdärmel aufzureißen und ihm das holländische Brandmal der Verbrecher auf seinem Arm zu zeigen ... Terschka, nun zum Schweigen verurtheilt, kämpfte mit sich, was er thun sollte ... Hubertus war nach Italien gegangen; eine Correspondenz mit dem in Rom auf San-Pietro in Montorio Verweilenden war nicht möglich, ohne sein Geheimniß noch mehr zu compromittiren; – die große Summe reizte ihn aber – für ihn bestimmt war sie in Witoborn niedergelegt ... Terschka mußte sie zu bekommen suchen ...

Einstweilen suchte sich Terschka Picard's selbst zu entledigen ... Die Reihen der Emigrationen waren von je gemischt ... Mit dem Schein des politischen Flüchtlings umgibt sich der betrügerische und flüchtige Bankrottirer, der Spion, der falsche Spieler ... Unter den verbannten Karlisten und Sicilianern gab es Charaktere, für deren erste Lebensanfänge niemand gutsagen konnte ... Nicht nur Ceccone's Intrigue, die Intrigue der meisten Regierungen ging in England dahin, irgendwie in das innere Getriebe der Conspirationen einzutreten. Zu Horchern und Provocatoren geben sich dann reine Charaktere nicht her – so mußten sich den oft phantastischen und der Welt unkundigen Edelgesinnten Betrüger zugesellen ... Das große Weltgewühl erschwert die gegenseitigen Prüfungen ... Picard, der seit Jahren schon verschiedene Namen geführt und in den abwechselndsten Lagen gelebt hatte, schloß sich den für Malta und Korfu geworbenen entschlossenen Revolutionären an ... Boccheciampo, ein ehemaliger sicilianischer Bravo, ging wie jeder andere Flüchtling unter einer Mehrzahl unbescholtener und den reinsten Ueberzeugungen lebender Männer .... Diesem schloß sich Picard an ... Mit goldenen Ringen, Uhrketten überladen, nannte er sich einen Belgier van der Meulen ... Boccheciampo leitete jene Intrigue des Cardinals Ceccone, der zufolge mit den römischen Invasionen der Flüchtlinge, um sie zu compromittiren, die Räuberelemente der Mark Ancona und der Abruzzen verbunden werden sollten ... Van der Meulen reiste mit Boccheciampo über Gibraltar und Malta nach Korfu ... Hier musterten die Bandiera ihr Fähnlein und beurtheilten es im besten Vertrauen auf die Bürgschaft der londoner Absender ... Schon sollte ein von ihnen gemiethetes und commandirtes Schiff nach Porto d'Ascoli in See stechen, als die Briefe des von Hubertus befreiten Federigo ankamen und die Insurgenten vor einer ihnen gelegten Falle warnten ... So spielte sich der Schauplatz der demnach schon im Keim hoffnungslosen Unternehmung auf eine andere Stelle Italiens, wo eine gleichzeitige Erhebung Siciliens in Aussicht gestellt wurde ...

Hier offenbarten sich die schlechten Elemente, die sich unter den Insurgenten befanden Mazzini hat über die Vorwürfe, die ihm wegen seiner mangelhaften Ausrüstung der Bandiera'schen Expedition gemacht wurden, eine eigene Rechtfertigungsschrift herausgegeben.... Mit der dreifarbigen Fahne marschirten die Verschworenen, die in Punta d'Allice landeten, über Rossano auf Salerno zu, wo gleichfalls eine Erhebung angesagt war ... Aber im Gegentheil; vorbereitet fand man überall nur den Widerstand; sämmtliche Bürgergarden waren einberufen ... Wuchs auch der Haufen der Insurgenten von Ort zu Ort, so konnte er doch die erste Begegnung mit regulären Truppen nicht aushalten ... Die Trümmer des zersprengten Corps suchten Schutz auf dem hohen Kamm der Apenninen ...

Hier irrten sie bis auf die höchsten Gipfel und bis da hinauf, wo im schmelzenden Schnee die Ströme des Neto, Leso, Arvo ihren Ursprung nehmen ... Hubertus erfuhr im Kloster, daß die Bandiera mit zwanzig ihrer Angehörigen in jene Schlucht gedrungen waren, wo unter den Bluteichen Frâ Federigo seine Hütte erbaut hatte ... Unruhig, ob sich die Nachricht bestätigte, daß von Spezzano aus eine Militärcolonne in den Wald rücken sollte, verließ Hubertus sein Kloster, ging die Windungen des Neto entlang und begegnete zweien zerlumpten, Banditen ähnlichen Männern, die in Eile daherlaufend und sich scheu umblickend ihn anriefen: Sind in San-Giovanni Soldaten? ... Kaum waren sie so nahe, um unter seine Kapuze zu blicken, so wandte sich der eine ... Die Stimme, die Hubertus gehört, schien ihm bekannt; der flüchtige Blick hatte ihm eine selbst in solcher Verwilderung erkennbare Physiognomie ins Gedächtniß gerufen ... Das ist ja Picard! sagte er sich mit dem höchsten Erstaunen und beflügelte seine Schritte, die Flüchtigen einzuholen ... Je lebhafter sie von ihm verfolgt wurden, desto schneller eilten sie vorwärts ... Bei San-Giovanni machten sie einen Umweg und schlichen unterwärts durch die Kornfelder ... Hubertus folgte rastlos; zumal da er sah, wie sie sich furchtsam die Mauern entlang drückten und den Schutz der Gärten suchten ... Es ist Picard! wiederholte er sich. Picard, den ich in Amerika glaubte! Picard, der die Kraft meines Armes fürchtet! ...

Der Ideenkreis unsres guten Hubertus war klein – aber klar trat ihm Picard's Theilnahme an jener von Porto d'Ascoli aus irregeleiteten Unternehmung vors Auge ... Eine Gefahr, sowol für die ihm durch Federigo's Mittheilung bemitleidenswerth gewordenen Brüder Bandiera, wie für Federigo, welcher die der deutschen Sprache Kundigen vielleicht gastlich aufgenommen – stand lebhaft vor seinen Augen ... Ahnend, daß die Flüchtlinge trotz der Soldaten ausdrücklich Spezzano suchten, schnitt er ihnen bei seiner schon gewonnenen Terrainkenntniß den Weg ab ...

Inzwischen kletterten die Flüchtlinge aus der Tiefe, die keinen Weg mehr bot, zur obersten Saumthierstraße empor ... Hier erwartete sie jedoch schon der schreckhafte Mönch, ein Knochenskelett ... Hubertus trat ihnen muthig entgegen ... Picard! rief er, noch zweifelnd; aber Picard war es, er erkannte den Räuber ... Zurückbebend sagte dieser, und zum Tod erschrocken, in deutscher Sprache: Jesus Maria! Seid Ihr es, Bosbeck? Ich glaubte Euch in Rom! Dort wollt' ich Euch aufsuchen! Steht uns bei! Wir müssen nach Spezzano ... Sind Soldaten in Spezzano? unterbrach der andere auf italienisch ... Picard fuhr fort: Ist alles vorüber, Alter so erzähl' ich Euch, wie schlecht es mir am Ohio gegangen ... Und wieder rief mit wildem Ungestüm der andere: Sagt rasch, rasch, rasch; sind Soldaten in Spezzano? ...

Was wollt ihr mit Soldaten? antwortete Hubertus, der wohl begriff, daß des Italieners Worte nach Soldaten ein Verlangen nach ihnen und keine Besorgniß ausdrückte ... Sie werden euch fangen –! setzte er forschend hinzu. Gewiß seid ihr von der Bandiera-Bande aus Korfu ...

Das mag recht sein! erwiderte der andere – es war Boccheciampo ... Aber nur schnell! Schnell! Führt uns auf dem kürzesten Wege nach Spezzano! ...

Aus Dem, was die athemlosen und erschöpften Männer sonst noch vorbrachten, ersah Hubertus, daß sich beide von den übrigen Flüchtlingen getrennt hatten, sich mit den ausgestellten Posten der bewaffneten Macht in Verbindung zu setzen hofften und ohne Zweifel einen Zug anzeigen wollten, welchen, wie er erfuhr, der Rest der Insurrection von den Bluteichen aus diese Nacht über den Kamm der Montagne delle Porcine hinweg unternehmen wollte, um den Meerbusen von Squillace und von dort die See zu gewinnen ... In San-Giovanni di Fiore, hörte er, würde dieser Zug um Mitternacht ankommen und leicht von den Truppen aufgehoben werden können, wenn diese ihm nicht sofort bis zu den Bluteichen entgegengehen wollten ... Hubertus sah die verrätherische Absicht ...

Diesen Zug wollt ihr angeben? fragte er und hielt schon Picard's Arm fest ...

Picard kannte die Stärke des Mönchs und erblaßte nicht wenig über die funkelnden Augen, deren unheimliche, einer Kraftentfaltung vorausblitzende Macht er aus seinen Jugenderinnerungen heute zum zweiten mal wieder erkennen sollte ...

Mit dem Narren in die Hölle! rief Boccheciampo, Hubertus' Gesinnung ahnend, zog ein Pistol und ergriff zu gleicher Zeit Picard's Arm, um seinen Gefährten zu befreien und ihn sich nachzuziehen ...

Einen Augenblick fuhr Hubertus vor dem Pistol zurück, sah auch, mit einem zuckenden Blitz des Auges, daß Picard mit der Linken ein blankes Messer aus seinen Lumpen zog ... Doch schon hatte den wilden Mönch der Anblick zweier Bösewichter, die, um den Preis ihrer eigenen Freiheit, andere ins sichere Verderben ziehen wollten, zur Wuth entflammt ... Seine Hand drückte Picard's Arm so mächtig, daß dieser aufschrie und seinen Arm für gebrochen erklärte ...

Hubertus suchte am Felsen seinen Rücken zu decken, ohne dabei Picard's rechten Arm loszulassen ...

Laßt mich! schrie dieser, drängte vorwärts und drohte mit seinem blitzenden Messer in der Linken ... Wie ein dem Ertrinken Naher, mit der ganzen fieberhaften Kraft, deren selbst die Feigheit fähig ist, wenn sie sich vor äußerster Gefahr zu retten sucht, suchte sich Picard loszuwinden und dem Italiener zu folgen, dessen Pistol sich jetzt zur Mehrung seiner Wuth als nicht geladen erwies ...

Nun mußte Hubertus auch Boccheciampo abwehren ... Alle drei rangen ... Hubertus gegen zwei ... Immer näher kam der wilde Knäul dem jähen Abgrund des Felsenweges ... Mit verzweifelnder Anstrengung wollten sich die Ringenden der andern Seite zuwenden, wo die Felswand wieder höher emporstieg ... Da riß sich mit einer höhnischen Lache Boccheciampo plötzlich aus dem Knäul los, stürzte die andern vom Rand des Weges in die Tiefe und entfloh ...

Mit einem gellenden Schrei suchte Picard sich im Fall zu halten – Vergebens; die beiden Sinkenden glitten tiefer und tiefer ... Unten rauschte die wilde Flut des Neto ... Hubertus hielt sich an einer hervorragenden Strauchwurzel – ein Moment – und er hörte, daß Picard, der die Besinnung verloren hatte, unaufhaltsam in die zuletzt nur noch schroff sich absenkende Tiefe stürzte ...

Eine Besinnung, eine Entschlußnahme war anfangs auch für Hubertus nicht möglich ... Eine Viertelstunde verging, bis er so viel Kraft gesammelt hatte, um sich wieder auf die Straße hinaufzuarbeiten ... Da hörte er in der Ferne Schüsse ... Als er auf die Straße kam, hatte sie ein Piket Soldaten besetzt und hielt Boccheciampo gefangen ... Auch den Mönch nahm man mit und ließ ihn streng bewachen ...

In der Nacht krönte sich Boccheciampo's Verrath ... Aus dem Thurm zu San-Giovanni, in welchen Hubertus, ohne die Flüchtlinge warnen zu können, gefangen gesetzt wurde, vernahm er, wie oberhalb Firmiano's, wo ein einsamer, unbekannter Waldweg über den höchsten Gebirgskamm führt, ein kurzer verzweifelter Kampf der kleinen Schaar stattfand, die auf ihrem Wege gekreuzt und zuletzt gefangen genommen wurde ... Boccheciampo hatte den Soldaten die richtige Anzeige ihres nächtlichen Zugs gemacht ... Man führte die Verlorenen nach Cosenza – ...

Auch Frâ Hubertus wurde später dorthin abgeführt ... Der Erzbischof nahm sich des Klerikers an, berichtete an den General der Franciscaner nach Rom und wieder kam die Weisung, den Worten des Bruders Hubertus vollen Glauben zu schenken und ihm jede Nachsicht zu gewähren ... Die Nachforschung nach dem verunglückten Gefährten des mit Pension nach Stromboli geschickten Boccheciampo gerieth ins Stocken ... Einige Wochen nach Hinrichtung der Bandiera, kam Hubertus auf freien Fuß ...

Wie Hubertus erst heute wieder jene Stelle des Ringkampfs gesehen, wie er jetzt zu jenem Felsenpfade über sich emporblickte, der damals ein Todespfad für zwanzig Menschen geworden war, brachte ihm die bange Stimmung seines Gemüths in voller Gegenwärtigkeit auch den Augenblick zurück, wo er damals, nach Entlassung aus seiner Haft in Cosenza, von jenem Kreuze aus, das er am verhängnißvollen Orte vom Sindico zu San-Giovanni auf Befehl der Regierung errichtet fand, ein Wagstück vollführte, welches allen, die davon erfuhren, unglaublich erschien ...

Mit Stricken, Hacke und Beil stieg der Tollkühne am schroffen Felsabhang nieder und suchte dem Opfer beizukommen, das dort unten noch im feuchten Schose des an jener Stelle von Menschenfuß noch nicht berührten Neto ruhte ...

Im Ringen hatte Hubertus bemerkt, daß Picard unter seinen zerlumpten Kleidern ein Portefeuille trug, auch Geld und Geldeswerth bei sich hatte ... An letzterm lag ihm nichts; im erstern aber fand er vielleicht Aufklärungen über die ihn wahrhaft empörende und mit höchstem Zorn erfüllende Täuschung, der er sich hingegeben vor noch nicht zwei Jahren, als er glaubte, Picard wäre nach Amerika gegangen ... Nur eine so von frühster Jugend gehärtete, an jede Lebensgefahr gewöhnte Natur, wie die seinige, konnte die Schwierigkeit dieser Unternehmung überwinden ... Hundertmal glitt sein halbnackter Fuß am zuletzt völlig senkrechten, glücklicherweise strauchbewachsenen Abhang aus ... Nichts hielt dann die Wucht des Körpers, als ein Zweig, eine Wurzel, welche die schon blutig zerrissene Hand unterstützte ... Wo ein hervorragender Stein oder ein Ast kräftig genug schien, befestigte der Muthige mitgenommene Stricke, die den Rückweg erleichtern sollten, falls sich aus der Tiefe der Schlucht selbst kein anderer Ausweg bot ... Ganz allein, und ohne irgend einen Zeugen sich an diese muthige Unternehmung wagend, kam Hubertus, blutend an Armen und Füßen, endlich bei den an dieser Stelle gehemmten, in einem Kessel wildtobenden Fall des Neto an ...

Hoch spritzte der Schaum des von zerrissenen Felsblöcken zurückgeworfenen Gewässers auf – weitab nur vom Rande des Strombetts ließ sich an den Büschen mühsam weiterklettern ... Die Kohlenaugen des alten Jägers spähten rundum ... Hubertus fand, daß der Wildbach irgendwo ein Hemmniß hatte ... Von Weißdornbüschen wildüberwuchert zeigte sich ein Vorsprung, um den das schäumende Gewässer sich herumzwängen mußte ...

Endlich fand sich – unter den Büschen das Schreckbild einer zerschmetterten und verwesten Leiche ... Der Kopf war schon unkenntlich, aber die andern Glieder hatten sich noch unzerstört erhalten – die kühle Wasserluft verzögerte die Auflösung ...

Eine Weile währte es, bis Hubertus es wagte näher zu treten und den vollen Anblick des Schreckens dauernd zu ertragen ... Ein Dolch, den er nach Landessitte in seiner Kutte trug, schnitt die Kleider der Leiche auseinander ... In den Taschen lag noch Geld, eine Uhr; die Brieftasche war nicht zu finden ... Hubertus durchsuchte den ganzen Körper ...

Das Portefeuille war verschwunden ... Ohne Zweifel war es beim Sturze aus der Tasche geglitten ... Aber auf dem steinigen Grund der krystallenen Woge blinkte Gold auf ...

Hubertus blickte weiter um sich ... Da lagen auch Blätter Papier, eingeklemmt in die spitzen Steine ... Die nassen Blätter gingen beim Aufnehmen auseinander ... Hubertus sah, daß es Bruchstücke waren, die einem Paß oder einem ähnlichen Document angehörten ... Wieder suchte er mit spähendem Auge ... sie fanden sich, jetzt auch am Ufer, einzelne zerstreute Blätter ... Vom Regen und vom Schaum des Neto waren sie so aufgeweicht, daß sie schon beim Aufnehmen unter der Hand auseinandergingen ... Dennoch nahm er alles vorsichtig an sich und wickelte es zum Trocknen in sein Taschentuch ...

Nach langem Suchen dann nichts mehr findend, nahm er einige wild durcheinanderliegende Steine, bildete in Manneslänge in der Erde eine Höhlung, warf in sie die Reste des verwesten Körpers und bedeckte alles mit den Steinen und buschigen Weißdornzweigen, die er mit dem Dolch abschnitt ... Uhr und Geld nahm er in sein Bündel noch hinzu, sprach einen kurzen Segen und machte sich auf den Heimweg, dessen noch gesteigerte Schwierigkeiten die Gewandtheit seines Körpers überwand ...

Von jener Brieftasche fand sich nichts mehr – er durfte sich sagen, daß die Papierreste, die er gefunden, hinreichten, um einem so kleinen Behälter schon einen ansehnlichen Umfang zu geben ... Das Geld floß dem nächsten Opferstock an der Kirche von San-Giovanni zu; die Uhr und die Papiere wurden bei passender Gelegenheit für einen Besuch bei Federigo aufgespart ... Sie zu lesen verhinderten – natürliche Schwierigkeiten ...

Nicht zu oft durfte es Hubertus wagen, die Bluteichen zu besuchen ... Nur dann ging er, wenn ihn zu mächtig die Sorge für den immer mehr verwitternden Greis ergriff – nach einem stürmischen Wetter, nach einem Briefe, deren zuweilen welche für Federigo – dann waren sie eingelegt an Hubertus – beim Guardian einliefen; diese kamen von Rom und waren, wie Hubertus gelegentlich bemerkte, in seltsamen Chiffern geschrieben ...

Als den Mönch eines Tages wieder die Hütte seines Freundes mit seinem, dem Leichnam abgenommenen Funde beherbergte, betrachtete dieser die Uhr mit äußerstem Erstaunen ... Der Eremit erkannte sie für die seinige ... Nicht daß sie ihm jetzt geraubt war, sie hatte ihm vor vielen Jahren gehört ... Daß Picard sie aus dem Grabe des alten Mevissen gestohlen, konnte durch die Mittheilungen des Mönches theilweise errathen werden – Hubertus wußte, daß Picard auf dem Friedhof eines deutschen Dorfes ein Grab erbrochen hatte ... War es das des alten Mevissen –? dachte Federigo. Welche Verwickelungen konnten dann entstanden sein, falls sein Vertrauter an solchen Erinnerungen noch mehr in die Grube mit sich genommen hatte! – ... Mit einer Aufregung, die Hubertus an seinem Freunde sonst nicht gewohnt war, durchflog dieser die Papierreste, die sich in Picard's Nähe gefunden hatten ... Ihr Inhalt schien ihn allmählich zu beruhigen ...

Aus einigen Brieffragmenten ergab sich aber eine Beziehung Picard's zu Terschka ... Sie hatten sich, das ersah man deutlich, in London gekannt ... Die Briefe waren vorsichtig abgefaßt und enthielten sogar besonnene Mahnungen, manche Ablehnung der Picard'schen Zudringlichkeit – Terschka's Ton war hier in hohem Grade vertrauenerweckend – ...

Die nunmehrige Entdeckung der Thatsache, daß sich Hubertus damals auf Schloß Westerhof in Terschka's Person nicht geirrt hatte, nahm ihn trotz Terschka's damals so schroffer Ablehnung für ihn ein ... Die Klage Terschka's über seine eigene hülflose Lage, auch die zufälligerweise in diesen Briefen von ihm ausgesprochene Reue über seine schnöde Behandlung des »guten Franz Bosbeck«, der ihm so wohlgesinnt gewesen, alles das konnte Hubertus nicht hören, ohne an sein noch in Witoborn bei einem Advocaten stehendes Geld zu denken ... Auch Federigo kannte von Castellungo her den Lebenslauf Terschka's, kannte seinen Uebertritt zu einer Confession, die an Federigo und den Waldensern der nur in jüngeren Jahren fanatisch katholische Mönch zu achten gelernt hatte, und rieth dazu, diesen Wink des Schicksals zu beachten ... Wenn Hubertus doch einmal sein Vermögen dem Kloster Himmelpfort entziehen wollte – und nach seinem Tode würde Pater Maurus in Himmelpfort sich schon zu Gunsten seiner Ansprüche regen und geltend machen, daß Hubertus nur als ein auf Urlaub befindlicher Mönch seiner Provinz betrachtet werden konnte – so sollte er sich eilen, dem Erben, den er sich nun einmal gewählt und der hoffentlich besser damit verfahren würde, als Jân Picard, seine, wie man sähe, dringend ersehnte Hoffnung nicht zu entziehen – Die Partheilichkeit, die Gräfin Erdmuthe für Terschka von jeher gezeigt, hatte sich auch dem Einsiedler mitgetheilt ...

Durch ihn, als Schreibkundigen, zugleich durch den wohlgesinnten Guardian des Klosters Firmiano, leitete Hubertus eine Verhandlung mit den Gerichten im fernen Witoborn ein, der zufolge Terschka die Summe, die er diesem gleich anfangs bestimmt hatte, richtig in London ausgezahlt erhielt ... Es währte ein Jahr, bis diese Procedur zu Stande kam ... Terschka's Dankesbriefe hoben nicht wenig das Gefühl des alten Mannes, der sich einer guten That bewußt war und oft mit Schmerz von seinem Schicksal sprach, das ihn gerade über die, denen er Gutes erweisen wollte, zum willenlosen und wie von Gott bestimmten Richter machte ...

Die Räthsel, die den deutschen Pilger umgaben, hatten sich für Hubertus nur theilweise gelüftet ... Bald nach dem Vorfall mit jener Uhr, einem Zusammentreffen, das Federigo am wenigsten aufklären mochte, kam das Ende des treuen Sultan, der, von seiner Wunde geheilt und einen Augenblick die Freiheit nutzend, seinem Herrn wieder bis auf mehr als funfzig Meilen gefolgt war und am Ziel seiner Sehnsucht durch den Pfarrer von San-Giovanni so misverständlich sein Ende finden mußte Gleichfalls Factum....

Lebhafter denn je gedachte Hubertus heute der Folgen, welche damals eine an sich so entschuldigte That des edlen Paolo Vigo nach sich zog ... Er gedachte seiner Klagen damals, als sein zufälliger Ausgang aus dem Kloster, um zu terminiren, ihn nach San-Gio führte, ein Volkshaufe um den verendenden Hund stand, er ihn erkannte, ins Kloster trug, ganz so, wie zuweilen Sanct-Philippo Neri, mit dem ihn Klingsohr so oft verglichen, abgebildet wird ... Paolo Vigo erfuhr die Geschichte des Hundes, war davon aufs tiefste ergriffen und besuchte den Eremiten unter den Bluteichen, gleichsam um seine rasche That zu entschuldigen ... So knüpfte sich zuletzt eine Freundschaft, die auch ihn ins Strafkloster Firmiano brachte ...

Hier aber zeigte sich die gute Wirkung solcher Nachbarschaft ... Jähzorn, Völlerei, alle Leidenschaften, von denen das Amt des Priesters geschändet wird, fingen dort allmählich zu verschwinden an ... Nicht genug konnte der Guardian, ein milder gutgesinnter Mann, nach Cosenza rühmen, wie sich seine Pfleglinge gebessert hätten ... Schickte man aber eben deshalb schon seit lange niemanden mehr her? ... Nahm man eben deshalb niemanden mehr fort? ... Es war, als wenn dies stille Waldkloster in der Welt vergessen war ... Hatte Hubertus Recht gethan, so ausdrücklich die Jesuiten an die Existenz desselben zu erinnern? ...

Gerade Diesem vorzugsweise nachdenkend, hörte Hubertus jetzt die Uhr des Klosters die vierte, d.i. die elfte Stunde schlagen und machte sich, von Unruhe getrieben, noch früher auf den Weg, als er anfangs beabsichtigt hatte ... Ueber die Höhen wehte ein frischer Nachtwind ... Noch eine halbe Stunde brauchte er, bis er am Klosterthor die Glocke zog ...

Hier sollte ihn aber dann sogleich ein glücklicher Zufall begrüßen ... Es war Paolo Vigo selbst, der heute den Pförtnerdienst verrichtete ... Eine edle Gestalt voll ernster Würde, mager, abgezehrt, begrüßte ihn ... Der Pförtner trat Hubertus mit dem frohesten Willkommen entgegen ...

Hubertus sah ihn voll Erstaunen, band sich seine beim Steigen losgegangene Kuttenschnur fester und sprach:

Das muß ja dem Guardian ein Traum eingegeben haben, Euch gerade heute an die Thür zu stellen! Ihr seid noch wach? Ich bitte Euch, bleibt es ja! ... Weckt unsere Schlafsäcke die Matutin, so laßt Euch nur vom Guardian auf der Stelle Urlaub geben – ...

Nicht wahr? Um unsern Vater aufzusuchen –? ... fiel Paolo Vigo mit lebhaftester Erregung ein ... Ich konnte mir doch denken, daß Ihr gerade zum zwanzigsten August wieder zurücksein würdet ...

Zum zwanzigsten August –? ... Verderbt mir den Willkomm nicht! entgegnete erschreckend Bruder Hubertus ... Bei Sanct-Hubert! Wo hatt' ich meinen Kalender! ... Haben wir heute den heiligen Rupert und bei Witoborn die ersten Schnepfen – –! Und ich – ich – – Esel –! ...

Morgen ist doch Sanct-Bernhard! bestätigte Paolo Vigo. Wißt ihr das nicht –? ... Ich stehe wie ein Soldat auf Schildwacht und bitte Gott, mir eine gute Ablösung zu geben ... Ihr seid voll guter Anschläge, Bruder; sagt, wie fang' ich es an, sofort zu den Bluteichen zu kommen! ... Drei Nächte hatt' ich denselben Traum und keinen guten mein' ich ... Ich hörte an meiner Zelle kratzen, wie von einem Hunde, der herein wollte ... Ich sah im Geist den guten Sultan vor mir ... Oeffnete ich dann, so fand ich nichts – ... Dreimal das hintereinander! – Ich glaube an solche Dinge nicht – aber ich meine doch – Federigo ist krank oder es geschieht ihm sonst nichts Gutes – ...

Der heilige Bernhard ist morgen –! sprach Hubertus dumpf und vor sich hinsinnend, immer besorgter und im Ton des härtesten Vorwurfs gegen sich selbst ... Leb' ich so in den Tag hinein! ... Ihr träumtet vom Sultan? Und ich träume schon seit Neapel von nichts, als von Wölfen, die an den Bluteichen eine Lämmerheerde fressen ... Wißt Ihr hier denn auch nicht, warum unser San-Giovanni drüben so voll Soldaten steckt? ...

San-Giovanni? ... entgegnete Paolo Vigo bestürzt ...

Euer Pfarrhaus und alle Scheunen sind voll .... Auch in Spezzano siehts wie im Lager aus ... Ist morgen Sanct-Bernhard –! ...

Glaubtet Ihr, daß ich um irgendetwas Anderes Urlaub wünschte, als um an diesem Tage – Nun Ihr wißt doch, daß ich jedesmal, wo ich an diesem Tage nicht bei den Bluteichen war, erklärte, ein Jahr aus meinem Leben verloren zu haben –! ...

Hubertus hatte sich inzwischen durch die niedrig und rundbogig gewölbten Gänge zum Refectorium begeben, wo noch auf dem Speisetische die Lampe brannte ... Paolo Vigo folgte ihm in den anmuthig kühlen, von kleinen gewundenen Säulen arabischen Geschmacks getragenen Raum ... Ein Schrank enthielt die Vorrichtung, sich zu einem hier immer bereitstehenden Kruge voll Wein durch Drehen eines Hahns frisches Quellwasser zur Mischung zu verschaffen ... Das Wasser tröpfelte hörbar von den oberen Bergen zu ... Hubertus war erschöpft; Paolo füllte einen der im Schrank stehenden hölzernen Becher mit Wein und Wasser und erwartete vom so schweigsam gewordenen Sendboten nähere Aufklärungen über Verhältnisse, die beiden gleich theuer und werth waren ...

Alles ringsum blieb still ... Nur die Wasserleitung tröpfelte geheimnißvoll und lauschig in dem wieder geschlossenen Schrank ... Düstere Schatten warf die matte Lampe durch die alterthümliche Halle ...

Briefe sind ja von Cosenza gekommen? ... fragte Hubertus, der die Meldung der Ankunft Rosalia Mateucci's über die andern, ihm viel wichtigeren Dinge vergessen hatte ...

Briefe von Cosenza? Nein! Aber vom Sacro Officio aus Neapel! entgegnete Paolo Vigo und setzte hinzu: Leider! Sie geben dem Guardian keine Hoffnung ... Spracht Ihr denn nicht den Monsignore? ...

Die bange Vorstellung, die den Alten schon lange beschäftigte, es könnte einen Schlag auf Federigo und seine geheimverbundenen Anhänger gelten, trat mit quälender Gewißheit vor seine vom mühevollen Wandern ohnehin erhitzten Vorstellungen; aus fieberhaftem Blut steigen nach körperlichen Anstrengungen Wahnbilder und krankhafte Gedanken auf ... Der zwanzigste August war seit zehn Jahren in den fast unzugänglichen Schluchten des Silaswaldes ein Tag, wo anfangs nur drei oder vier Männer, jetzt schon oft zwanzig bis dreißig mit ihren Familien sich versammelten ... Hubertus äußerte seine entschiedensten Besorgnisse und Paolo Vigo redete sie ihm keinesweges aus ... Schon berechnete Paolo, ob nicht vielleicht die Einquartierung in seinem Pfarrhause Anlaß geben könnte, den Guardian um Urlaub zu bitten – ... Sinnend fuhr er fort, man müßte doch morgen in erster Frühe in San-Giovanni hören können, was die Soldaten wollen ...

Was sie wollen – hm! hm! fiel Hubertus ein – Wenn ich an die lachende Miene des Monsignore denke und denke an den Golf von Neapel, der im Sonnenschein funkelt wie ein Paradies und doch den Vesuv im Leibe hat, so wird mir bange wie einer Mutter um ihr Kind ... Der zwanzigste August! ... Mein Sohn, ich bitte Euch, mich dem Guardian nicht zu melden ... Ich bin noch nicht angekommen ... Hört Ihr! ... Lebt jetzt wohl! In drei Stunden bin ich an Federigo's Hütte und schicke Jeden nach Hause, der etwa heute oder morgen kommen sollte, um für die Seelen der armen Märtyrer Pascal und Negrino zu beten ...

Guter Bruder! entgegnete Paolo Vigo ablehnend und erklärte auch seinerseits zu dieser Warnung bereit zu sein ... Ihr muthet Euch ein Uebermaß zu ... O, daß ich statt Eurer hinauffliegen könnte! ... Soldaten! sagtet Ihr? ... Ich sagte ja gleich, daß der aus Neapel vom Sacro Officio angekommene Brief ebenso hinterhaltig ist, wie schon lange das Benehmen des Erzbischofs von Cosenza ... Und der Monsignore gab Euch in Nichts einen tröstlichen Bescheid? ...

So artig war er, sprach Hubertus, wie Papa Kattrepel in meiner alten Stadt Gröningen, der jeden Armensünder, wenn er ihm den Kopf abschlug, erst um Verzeihung bat ... Laßt mich doch jetzt nur sogleich gehen ... Schon hör' ich den Rumor da oben ... Mitternacht muß vorüber sein ... Geht! Geht! ... Ja, all ihr Heiligen, daß ich es nicht vergesse! Bei Sanct-Hubert's Bart, wo hab' ich meine Gedanken! Gütiger Gott, mach' auf mein Alter keinen Schwabenkopf aus mir! ... Mein Sohn, laßt Euch getrost Urlaub geben nach San-Gio! ... Da werdet ihr ja eine Person finden, die viel lieber hat, Euch schon morgen wie sonst in Eurem Hause oder beim alten Meister Pallantio die Polenta auf den Tisch zu stellen – lieber, als den steilen Weg hieher zum Kloster erst heraufzuklettern –! ...

Eine Person? Die Polenta? Wer? fragte Paolo Vigo und ließ sich von Hubertus die überraschende Begegnung mit dem keuchenden Pepe, mit Scagnarello, Rosalia und Marietta Mateucci erzählen ...

Gütiger Himmel! rief Paolo Vigo in doppelter Freude – ... Erst aus Liebe zu seiner seit Jahren nicht gesehenen Schwester – dann um die Gelegenheit, nun auf alle Fälle Urlaub zu bekommen ...

Hubertus mußte sich jetzt verstecken, wollte er unangemeldet bleiben ... Schon ertönte die Glocke, welche die sämmtlichen Bewohner des Klosters weckte und in die Kirche rief, wo sie singen mußten ...

Während Paolo Vigo in größter Ueberraschung, in Spannung und Rührung stand und jedenfalls entschlossen blieb, den Guardian um die sofortige Erlaubniß zu bitten, seiner geliebten Schwester und ihrem holden, von ihm noch nie gesehenen Kinde entgegenzugehen und außerhalb des Klosters übernachten zu dürfen, schlüpfte Hubertus eine vom Refectorium in die Zellen führende enge Wendeltreppe hinauf, um wo möglich, ehe die Frate kamen, seine Zelle zu erreichen und dort sich zu verbergen ... Schon hörte man einen Mönch, der heute das Amt des Weckers hatte, in einem entfernten Gange an die Zellenthüren pochen ... Der Regel des heiligen Franciscus gemäß rief er alle Schläfer aus ihren süßesten Träumen ...

Hubertus erreichte glücklich und unbemerkt seine dunkle Zelle ... Sie war nicht breiter und nicht tiefer, als zwölf Fuß, und enthielt als Bett einen Sack von Maisstroh – die Decke darüber war so grob wie seine Kutte ... Von Glasfenstern war keine Rede; nur eine rohgezimmerte Holzjalousie schützte gegen die im Winter oft schneidend kalte Luft ...

Hubertus warf sich auf sein Lager ... Er hatte vor Uebermüdung jene Empfindung, die ihn an die Zeiten erinnerte, wo auch er sich in Java an Opium gewöhnt hatte ... Traumartige Bilder traten vor die wachen Sinne ... Alles schwebte um ihn in Licht und Farbe und Licht und Farbe war auch wieder wie Musik ... So soll einem an Erstickung Sterbenden der Tod sein ... Gestalten, die ihm wie Hexen hätten erscheinen dürfen, waren ihm jetzt freundlich und nickten ihm mit süßem Lächeln ... Mit seiner noch nicht besonders geläuterten Religion nannte Hubertus das die Triumphe des Teufels, den er namentlich auch beim nächtlichen Chorsingen um zwölf Uhr Mitternacht gern in Thätigkeit wußte und oft schon hinter dem großen Missale mit seinem Hörnerkopfe als einen höhnischen Mitsänger oder am Weihwasserkessel, den verunreinigend, erblickt hatte ... Er rüttelte sich wach und horchte nur, ob der Lobgesang in der Kirche bald vorüber sein würde ...

Die Lampen in den Händen, schlichen die Mönche und geistlichen Züchtlinge erdfahl und schlaftaumelnd durch die Gänge ... Hubertus, der auch hier schon manchen Verschlafenen – wie oft sonst Klingsohrn! – um solche Stunde auf den Armen in den Chor getragen hatte, lauschte dem öden Widerhall ... Endlich sangen einige zwanzig Stimmen ... In einfacher Cantilene wurde ein Psalm vom Guardian verlesen und seinen Worten an bestimmten Stellen von den andern respondirt ...

Als nun wieder alles nachtstill geworden war und jeder auf seiner Zelle wieder sein Lager erreicht hatte, erhob sich Hubertus von dem seinigen ... Hatte Paolo Vigo Urlaub erhalten, so mußte ein andrer Pförtner für ihn eingetreten sein und jedenfalls erwartete ihn dann der Beurlaubte nirgend anderswo, als in seiner eignen Zelle ...

Letztere erreichte Hubertus ungesehen, trat bei Paolo ein und fand ihn in der That bereit, das Kloster zu verlassen ... Auf die freudige Botschaft, seine theure Schwester wäre in San-Giovanni, war ihm die Erlaubniß ertheilt worden, ihrem Besuch zuvorzukommen und sie, wenn ihn sein Herz dazu triebe, überraschen zu dürfen ... Bleibt aber Ihr zurück! setzte Paolo Vigo bittend hinzu ... Alter, Ihr seid zu erschöpft ... Und nur darin steht mir bei; geht morgen früh meiner Schwester entgegen und haltet sie vom Kloster eine Weile entfernt, bis ich um die achte Stunde von den Bluteichen in San-Gio wieder zurück sein und Euch Alle bei meinem alten Meßner Pallantio begrüßen kann – ...

Wie zwei Jünger, die für ihren Meister ihr Leben zu lassen bereit sind und um den Vorzug in den Beweisen ihrer Liebe streiten, so standen sie am offenen Fenster und stritten, ob es nicht gerathener wäre, Paolo Vigo überließe den Gang nach den Bluteichen, um die am Morgen dort Versammelten zu warnen, an Hubertus und ginge lieber selbst nach San-Gio zur Ueberraschung für seine Schwester ...

Mein Sohn! bat Hubertus ... An mir ist wenig gelegen ... Wenn aber Euch zum zweiten Mal eine Strafe träfe, wie sie Euch schon einmal so lange Eure Freiheit gekostet hat! ... Jetzt brächet ihr ja geradezu auch das Herz Eurer Schwester! ... Sie versprach, am Morgen zum Kloster zu kommen ... Ihr liebliches Kind wird Euch die Wange küssen ... Wagt nichts Neues wieder, nachdem Ihr schon so lange gebüßt habt ...

Paolo Vigo hatte jedoch den Geist empfangen, der in edlen Dingen den Menschen unwiderstehlich zum Selbstopfer treibt ... Eine heilige Glut durchloderte ihn, seine Augen funkelten, wie die Sterne über den leise Flüsternden ... Er ergriff die Hand des Greises und sprach:

Weiß ich doch nicht – ich ahne die letzte Stunde unseres Freundes ... Krank ist er zum Tod schon seit lange und es geht das Gerücht, daß sein stilles Wirken entdeckt ist ... Seit jenem letzten Brief, den Ihr aus Rom brachtet, muß eine große Veränderung mit ihm vorgegangen sein ... Ich sah ihn seitdem nur einmal – und da schon wollte er Abschied nehmen für immer, wogegen meine Worte kaum aufkommen konnten ... Es schien, als wenn er eine wichtige Kunde aus der Welt empfangen hatte, die ihn zur Auferstehung, zur Beendigung seiner Einsiedlerschaft und zur Rückkehr ins Leben rief ... Schon aus freien Stücken schien er gehen zu wollen und nun ahn' ich, er hätte besser gethan, dieser Regung zu folgen – ... Wenn man ihn heute holte, am Tage der Versammlung, ihn in die Kerker der Inquisition würfe –! Lebt wohl, Alter –! ...

Nicht ohne mich –! ... sprach Hubertus und blieb dem Unheilverkündenden unabweislich zur Seite ...

Mein Fuß ist jünger, als der Euere! bat Paolo und wollte nicht dulden, daß Hubertus weiter, als bis an die Zelle des Pförtners folgte ...

Während noch beide, und mehr mit Geberden als mit Reden, die ohnehin geflüstert werden mußten, stritten, erscholl in einiger Entfernung außerhalb des Klosters ein klagender musikalischer Ton ... Er kam von einer Pansflöte, wie sie hier die Hirten blasen ... Aus kleinen Rohrstäben ist eine einfache Scala zusammengesetzt, die unter geübten Lippen eine in nächtlicher Einsamkeit wohllautende Wirkung hervorbringt ...

Horch! rief Paolo Vigo und bedeutete Hubertus, Acht zu haben ...

Die Flöte blies eine Melodie ... Es waren die einfachen Töne eines Kirchenliedes ...

Tanto – Christo – amiamo! ... sprach Paolo Vigo mit Ueberraschung der Melodie nach ... Es ist die Erkennungslosung der Freunde ... Man ruft uns ... Seht ihr, eine Gefahr ist da ... O – mein Gott –! ...

Auch Hubertus lauschte voll höchster Betroffenheit und räumte ein, so könnte sich nur ein Verbündeter zu erkennen geben ...

Herüber von der Mauer des Klostergartens tönte die sanfte Flöte fort und fort ... Sie blies das alte Waldenserlied »Tanto Christo amiamo –« zu Ende ...

Pater Cölestino! rief nun schon Paolo Vigo mit starker Stimme in eine Oeffnung, die aus dem Corridor in die Zelle des Pförtners führte ... Ich gehe ... Bemüht Euch aber nicht ... Ich öffne schon ... Gelobt sei Jesu Christ! ...

Amen! rief Pater Cölestino von drinnen her und ließ getrost den Beurlaubten den Riegel selbst zurückschieben ... Nur langsam erhob er sich, um ihn wieder anzuziehen ...

Doch auch Hubertus war inzwischen schon ungesehen entschlüpft und kaum konnte Paolo Vigo ihm folgen ...

Mit raschen Schritten gingen beide dem Orte zu, wo aufs Neue unausgesetzt die Melodie der Hirtenflöte ertönte ...

Endlich, an einem breitastigen, der Klostermauer sich anschmiegenden türkischen Haselnußstrauch entdeckten sie einen alten Hirten und einen Knaben ... Letzterer war es, der die Flöte blies ...

Der Hirt war ein wohlbekannter alter Freund ... Er gehörte zu den Nachkommen des von den Waldensern hochgefeierten Negrino Starb den Hungertod in Cosenza.... Ein äußerlich schlichter, doch kluger und allgemein geachteter, auch wohlhabender Ziegenhirt, der alte Ambrogio Negrino aus San-Gio ... Oft reiste der schlichte Mann mit seinen Heerden bis Salerno und trieb einen einträglichen Handel mit den Gerbern selbst von Palermo und Messina ... Heute, als Hubertus in seinem Hause vorsprechen wollte, hatte man ihn auf der Messe zu Rossano geglaubt ... Inzwischen kam er heim und hatte Veranlassung gefunden, sofort wieder die Flinte überzuwerfen, mit seinem jüngsten Sohn Matteo aufzubrechen und, wie er ankündigte, nach den Bluteichen zu eilen ...

Ihr Herren! rief er den Ankommenden entgegen. Gott segn' es, daß ihr kommt! ... Ich sage euch! Es gibt eine große Gefahr für unsern Vater Federigo ... Die Soldaten in San-Gio wissen von nichts, als von Morden, Brennen und Gefangennehmen ... Und wen? – Das haben Offiziere im Weinrausch ausgeplaudert ... Um vier Uhr brechen sie auf und umzingeln die Bluteichen – ... Ueber den Aspropotamo her kommen die andern – ... Wer mag ihnen verrathen haben, daß heute der zwanzigste des Monats ist! ... Bleibt daheim – Herr Pfarrer, und auch ihr, guter Hubertus ... Nur deshalb raubte ich euch die Nachtruhe, weil ich euch warnen wollte, falls euch der Geist getrieben hätte, heute auch an den Eichen zu erscheinen ...

Nimmermehr, wir gehen mit Euch! fielen Hubertus und Paolo Vigo in banger Besorgniß ein ...

Beide achteten der Bitten Ambrogio Negrino's nicht ... Sie verharrten dabei, sich ihm anschließen zu wollen – ... Unwiderstehlich zöge sie ihr Verlangen, dem greisen Freunde in einer Stunde so großer Gefahr nahe zu sein ... Ohne Clausur, wie sie eben waren, wollten sie die glücklicherweise ihnen zu Gebote stehende Freiheit nach dem Bedürfniß ihres Herzens benutzen ...

Matteo! rief Paolo Vigo dem nach San-Gio zurückgeschickten Knaben nach; geh sogleich zu Meister Pallantio, meinem Küster, wecke die Signora, die diesen Abend bei ihm angekommen ist und sprich zu ihr: Sie sollte unter keinerlei Antrieb morgen hinauf nach San-Firmiano gehen ... Morgen in erster Frühe, so Gott will, um acht oder neun Uhr würd' ich schon selbst bei ihr vorsprechen – ...

Ambrogio Negrino unterbrach:

Heiliger Priester, wenn man Euch an den Bluteichen träfe – ...

Wirst du ausrichten, Matteo, wiederholte Paolo Vigo, was du gehört hast? Willst du einen herzlichen Gruß an meine liebe Schwester und die kleine Marietta bestellen? ...

Matteo gab jede Beruhigung und wandte sich mit diesen Aufträgen nach San-Gio zurück ...

Die drei Verbundenen gestatteten sich keinen längern Aufenthalt, sondern machten sich sofort auf den mühevollen Weg, der zu den Bluteichen führte ...

11.

Paolo Vigo's Wort: »Er nahm Abschied von mir wie auf ewig« wurde nun auch von dem alten Ziegenhirten wiederholt ...

Es fiel ihnen allen auf die Seele, als würden sie den Geliebten nicht wiedersehen, wenn sie sich nicht eilten, es noch einmal jetzt zu thun ...

Daß sie zu dem Ende die Würfel ihres eigenen Looses warfen, kümmerte sie wenig ...

Sie hofften jedoch auf ihr zeitiges Eintreffen ... Wenn noch Zeit zum Ergreifen und Ausführen eines Entschlusses gelassen war, so sollte sich ihr Freund, nach Negrino's Meinung, am sichersten über den Monte Gigante hinweg nach dem Meerbusen von Squillace begeben oder im äußersten Fall in einer in der Nähe befindlichen Höhle verbergen ...

Jährlich nur einmal, am 20. August, fanden sich die letzten Trümmer der einst so zahlreich im unteren Italien ausgebreiteten Söhne des Peter Waldus zusammen ... Drei Jahrhunderte waren seit jenen Scheiterhaufen verflossen, die auch die Fortschritte der Reformation in Calabrien geendet hatten ... Frâ Federigo fand davon im Silaswalde keine andern noch ersichtlichen Spuren, als die »Bluteichen«, wo einst Hunderte der Reformirten und Waldenser – wie die Schafe mit dem Messer abgestochen wurden ... Zufällig begegnete ihm dort ein alter Ziegenhirt, Ambrogio Negrino, der ihm diese Dinge erläuterte und sich dann selbst als einen Nachkommen des Märtyrers Negrino zu erkennen gab ... Ihm verdankte der Einsiedler die Bekanntschaft mit noch einigen andern Trümmern der alten Sekte ... Gehörten sie auch alle der herrschenden Kirche an, so hatten sich doch alte Gebräuche, Erkennungszeichen, Gebete, letztere meist in provençalischer Sprache in ihren Familienkreisen erhalten – Ambrogio Negrino besaß ein altes Buch, das er selbst nicht lesen konnte – die waldensische Nobla Leyçon ... Federigo übersetzte sie ihm – anfangs allein; bald brachte Negrino andere mit, die gleichfalls diesen Gruß ihrer Vorvordern aus alten Jahrhunderten aus seinem Munde vernehmen wollten ...

Der Kreis von Verehrern und Freunden des Einsiedlers, der seinerseits noch unter dem besonders über ihm wachenden Schutze des Mönchs Hubertus zu San-Firmiano stand, mehrte sich wider Willen Federigo's ... Von Nah und Fern wurde sein Rath begehrt ... Freilich hielten ihn die Meisten für einen Hexenmeister ... Wie Paolo Vigo veranlaßt wurde, ihn zu besuchen, wurde erzählt ... Aus seinen wiederholten Wanderungen in die Wildniß und den ihr folgenden Erörterungen entstanden in Paolo Vigo Zweifel, ernste, kummervolle Betrachtungen; er verrieth die Resultate derselben in seinem Wirkungskreise und erlitt die Strafe einer, wie wir gesehen, nicht endenden Suspension und Einsperrung in San-Firmiano ...

Der Einsiedler, erschreckt von solchen Vorkommnissen, bat fort und fort seine Freunde, ihn der todesähnlichen Stille in seinem Waldthale zu überlassen ... Hubertus besorgte dann und wann einen Brief, den der deutsche Sonderling nach Rom schrieb und von dorther beantwortet erhielt ... Das war des Eremiten einziger Verkehr mit der Welt ... Er lebte vom Honig seiner Bienen, von Früchten, die er selbst zog, von Vorräthen, die seine Freunde ihm brachten ... Zuletzt war es Sitte geworden, daß alle die, welche auf dreißig Miglien in der Runde gleichsam unter des alten Ambrogio Negrino Controle standen, ihn wenigstens einmal im Jahre besuchten, am 20. August, den er nach langem Sträuben endlich als Erinnerungstag an die alte Schreckenszeit festgesetzt hatte ...

Ich habe es immer gefürchtet, sprach Hubertus, die athemlose Eile des Wanderns unterbrechend, und ließ sich wiederholt erzählen, was der weltkundige, weitgereiste Hirt, ein Greis mit langen weißen Locken, sonnenverbranntem braunem Antlitz, von den Reden der Offiziere gehört hatte ... Um vier Uhr, wiederholte Ambrogio Negrino in einer gewählteren Sprache, als dem hier üblichen Patois, rücken die Truppen von San-Giovanni aus, vertheilen sich in den Bergen und wollen von verschiedenen Seiten dem Thal der Bluteichen so beizukommen suchen, daß sie die ketzerische, dem Teufel opfernde Versammlung mitten in ihren Greueln aufheben können ...

Die Möglichkeit einer so irrthümlichen Auffassung ihrer Versammlungen war ihnen nach dem Geist ihrer Umgebungen vollkommen erklärlich ... Sie verweilten nicht bei dem Ausdruck ihres Schmerzes über ein so großes Misverständniß; sie überlegten nur ... Die Versammlung mußte verhindert und Frâ Federigo, wenn sein Entkommen unmöglich war, in einer Felsenspalte verborgen werden, welche Ambrogio Negrino schon lange für diesen Fall aufgefunden und jedem Uneingeweihten unzugänglich gemacht hatte ...

So sehr auch die Männer eilten, sie konnten nicht hoffen, vor Anbruch des Morgens an Ort und Stelle zu sein ... Auf dem kürzeren Pfade, den sie einschlugen, um an die Abhänge der oft schneebedeckten Serra del Imperatore zu kommen, begegneten sie Niemanden ... So durften sie annehmen, daß die geheimverbundenen Getreuen sich längst schon auf den Weg gemacht, ja an der Hütte ihres Meisters schon die Nacht verbracht hatten ...

Die Wanderer kannten sich in ihrer Theilnahme für den einsamen Bewohner des Waldes und hatten nicht nöthig, diese noch durch viel Worte kundzugeben ... Sie tauschten nur ihr Urtheil über die kürzeren Wege aus, wenn die Wildniß überhaupt noch etwas bot, was einen Weg sich nennen ließ ... Nur kleine ausgetrocknete Strombetten waren noch die besten dieser Wege; diese gingen verborgen unter Gestrüpp und Büschen hin ...

Die Nachtluft wurde frischer ... Nebel stiegen auf, die den leichtbekleideten Wanderern ein frostiges Schauern verursachten ... Der Hirt bot Paolo Vigo seinen langhaarigen Mantel, den dieser nicht abschlug ... Zum Glück trug der Pfarrer Schuhe, nicht, wie Hubertus, Sandalen ...

Hubertus hatte, als wäre ihm seine ganze Kraft ungeschwächt zurückgekehrt, sein dolchartiges Messer gezogen ... An manchem Gebüsch von Steineichen, wo durch die stachlichten Blätter schwer hindurchkommen war, schnitt er die Zweige nieder und machte die Wildniß wegsam ... Dann kamen zuweilen Buchenhaine, die wie zum nächtlichen Reigen der Elfen bestimmt schienen; so licht und traulich glänzten sie im abnehmenden Mondlicht und unter den allmählich erblassenden Sternen ...

Eine Sorge der Verbundenen konnte sein, ob nicht auch den Lauf des Neto herauf von Strongoli oder aus Umbriatico über den Aspropotamo und Gigante her schon Corps Bewaffneter herüberkamen und das Thal der Bluteichen bereits früher eingeschlossen hatten, als es von ihnen erreicht wurde ...

Schon war es vier Uhr ... Schon sah man die zunehmende Helle ... Immer matter wurde die Scheibe des Mondes, immer röthlicher erglänzten am blauenden Himmel die Sterne ... Schon zeigte sich auf Serra del Imperatore, einem Berg, der an manchen Stellen gen Ost offen und riesig groß vor ihnen lag, die dunkelrothe Glut der aufgehenden Sonne ... Die Spitze des Aspropotamo war die erste, die vom Sonnenlicht hell aufleuchtete ... Aengstlich spähten sie rundum, ob nicht irgendwo am Rand des von andern Seiten zugänglichen, in grünen und grauen Nebeln schwimmenden Thales eine Waffe blitzte ...

Wie sie fast erwartet hatten, so geschah es auch ... Als sie mit hellem Tagesanbruch endlich in der Ferne die Bluteichen sahen, entdeckten sie ein reges Gewimmel von Menschen unter den mächtigen Baumkronen ... Bald erscholl auch aus der Tiefe, zu der sie niederstiegen, ein vielstimmiger Gesang ... Er erklang gegen die dumpfe Litanei in San-Firmiano wie ein jubelndes Schwirren der Lerche in blauer Luft verglichen mit dem trüben Ruf der Unke ... Reine helle Frauen- und Kinderstimmen schwangen sich wie geflügelte Tongeister über die Laubdächer ... Sie sangen die auch ihnen wohlbekannten einfachen Hymnen, die aus alten Zeiten stammend das Lob des Höchsten priesen und die heilsame Veranstaltung der Erlösung und die Hoffnung aller Christen ... Dazwischen läutete ein Glöcklein, von welchem sie wußten, daß es denen, die vielleicht noch entfernt waren, den Weg zur Hütte andeuten sollte ... Alles das geschah wie im tiefsten Frieden ...

Wol hätten die Wanderer sich sagen mögen: Wer wollte diese stille Andacht stören! Wer könnte hier etwas finden wollen, was vor Gott oder Menschen ein Verbrechen wäre! ... Dennoch mußten sie eilen, die gefahrvolle Feier zu unterbrechen ...

Nach einer kurzen Stille, welche die Wanderer durch einen die Betenden erschreckenden Zuruf aus der Ferne nicht unterbrechen mochten, begannen die Stimmen aufs neue und ließen nach einem vollen, mächtig an den Bergwänden widerhallenden Gesang jene Pausen eintreten, von denen die Wanderer wußten, daß sie die bis zu ihnen herauf nicht hörbare Stimme Federigo's füllte ... Federigo sprach dann die Worte vor, die zu singen waren ... Alles das, erinnerungsfrisch vor ihre Seele tretend, bewegte sie um so mächtiger, als noch immer der Anblick der Hütte selbst verborgen blieb ...

Endlich aber zeigten sich die Windungen von Radgleisen, die im grünen, weichen, oft morastigen, dann von den herrlichsten Farrenkräutern überwucherten Boden von kleinen Karren zurückgeblieben waren ... Es mußten heute von weitweg, auch von Rossano und Conigliano die dem Ziegenhirten wohlbekannten Nachkommen der Waldenser erschienen sein ... Der helle Lichtstrahl des immer höher und höher über dem Meeresspiegel heraufgestiegenen Sonnengeschirrs fiel auf die obern Ränder des Thals ... Die Nebel zertheilten sich und nun hatte ihr besorgter und zugleich verklärter Blick die volle Aussicht auf die Gruppe der Menschen, die da unten versammelt waren und die sie meist kannten ... Kinder lagen im Grase; andre hielten die Mütter auf ihren Armen; Männer in zottigen Schafspelzen, andere im kurzen Rock des Alpenjägers, Fischer, die vom Meer herübergekommen, in ihren rothen Mützen und ihren braunen Mänteln – alle umstanden die Hütte ... Ein Haufe von nahezu achtzig Seelen, hochbetagte Greise darunter; aller Mienen mit jenem Ausdruck, den eine gutmüthige Denkart geben ... Noch verdeckten sie das Bild des Mannes, der ihnen, auf die zufällige Veranlassung seiner Begegnung mit Ambrogio Negrino, zehn Jahre lang hier nichts, als nur die Geschichte ihrer unglücklichen Vorfahren erzählte und nicht hindern konnte, daß sie von ihm Belehrung und Anleitung zu reinem Sinn, zur Beurtheilung des Glaubens begehrten, in welchem sie leben mußten ... Federigo enthielt sich jeder Aufwiegelung ihres an die Gebräuche der herrschenden Kirche gebundenen Gewissens ... Auch war die Höhe der Bildung, die im Waldenserthal bei Castellungo geherrscht hatte, hier nicht anzutreffen ...

Schon wollte Negrino hinunterrufen, da hinderte ihn die jetzt hörbar werdende weiche, volle, innig zum Herzen dringende Stimme des Sprechers ... Die dem Volk vollkommen verständliche, wenn auch fremdartige italienische Rede desselben fesselte sie ... Was bestimmte nur die Warner, diese Feier nicht zu unterbrechen! Was gab ihnen so urplötzlich ein felsenfestes Vertrauen auf den Gott, der sich in jedem Menschenherzen, auch in dem der Verfolger, offenbaren müsse –! ... Hubertus kündigte sich sonst durch scherzende Töne an, die ihn bei Jung und Alt im Gebirge bekannt machten; jetzt beschien der erste Sonnenstrahl, der sich durch den Imperatore und den Gigante stahl, die glänzende Stirn, die weißen Locken des Freundes und Lehrers, sein unter weißen Brauen aufgeschlagenes begeistertes Auge – jetzt stand er im Pilgerkleid von schwarzem rauhwollenem Tuch, mit entblößtem Halse, um den Leib einen schwarzen Seidengürtel, so hoheitsvoll und edel, daß alle drei aufhorchen und den Fuß hemmen mußten ... Die Farbe des Antlitzes, die Hände, alles sah am Freunde blasser und krankhafter aus als sonst ... Das von ihren Augen wieder aufgenommene theure Bild eines Greises, den für seine letzten Lebenstage noch durch die Erregung seines Geistes ein jugendliches Feuer durchglühte, schloß doch in der That die Besorgniß nicht aus, daß diese Lebenstage kaum bis zum beginnenden Winter andauern konnten ...

Federigo sah die Dahereilenden nicht ... Sein Blick war nach innen gewandt ... Schon sprach er Worte, welche die Kommenden allmählich im Zusammenhang verstehen konnten ... Zu den Erweckungen der Waldenser hatten im Piemont gewisse Formen einer öffentlichen Beichte gehört ... Wie die ersten Christen sich ein Gemeindeleben aus ihren Privatbeziehungen bildeten und eine Oeffentlichkeit der letzteren einführten, bei welcher nicht fehlen konnte, daß die persönlichsten Leidenschaften zur Klage und Rüge kamen, so walteten die Diaconen und »Barben« auch bei den Waldensern des Amts der Gerechtigkeit und des Auflegens von Bußen und Strafen ... Ebenso trat auch hier bei diesen Versammlungen einer nach dem andern vor und wurde entweder aus eigenem Antriebe oder durch Mahnung veranlaßt, sich zu vertheidigen, sich zu erklären, Lehre oder Versöhnung anzunehmen ... Hubertus und Paolo Vigo kannten den Segen, welchen diese Verständigungen der kleinen Gemeinde unter ihren Gliedern schon seit lange hervorgebracht hatten Rehfues' »Neue Medea«. – ...

Unterwegs hatte Paolo Vigo seinen Begleitern, so wenig sie auch durch Gespräch ihre Schritte hemmen mochten, doch gelegentlich wiedererzählt, warum Frâ Federigo, als die Genossen Negrino's ihn endlich zur Abhaltung mindestens Einer Versammlung im Jahre überredeten, gerade den Tag des heiligen Bernhard dazu wählte ... Nicht nur, daß in der Höhe des August die wichtigsten Ernten beendet waren, Frâ Federigo hatte ihm auch das Gedächtniß des Abtes Bernhard von Clairvaux als ein festzuhaltendes Spiegelbild frommerer Zeiten dargestellt, wo einsichtsvolle freimüthige Priester noch zu heilsamen Zwecken in den Rath der Großen traten ... Siebenhundert Jahre war es her und in der Blütezeit des Mittelalters, als ein hoher Ernst die Völker ergriff und Männer erstehen ließ, die in einer wilden, kriegerischen Epoche kaum von solcher Weihe und Thatkraft erwartet werden durften ... Damals, als die Philosophie in Frankreich, England und Italien erblühte, die Dichtkunst sogar über das rohere Deutschland hie und da einen milden Glanz der Sitten verbreitete, die Kreuzzüge einen seltenen Aufschwung des Gemüths und der Phantasie hervorriefen, zerstörte Rom und die Herrschaft der Päpste noch nicht alle Hoffnungen der Völker und verdunkelte noch nicht alle Lichtschimmer einer besseren Aufklärung ... Ein einfacher Bürger in Lyon, Pierre Vaux (Peter Waldus), las damals die Bibel in einigen Abschnitten, welche in die gewandteste und poesiefähigste Sprache damaliger Zeit, die provençalische, übersetzt waren ... Ein wunderbarer Lichtglanz überfiel ihn beim Lesen des den Laien gänzlich unbekannten Buches – gerade wie die Jünger, die nach Christi Tod im Dunkeln wandelten, plötzlich an ihrer Seite einen Wanderer bemerkten, der so mächtig die Schrift auslegte ... Waldus las seine Entdeckungen Befreundeten vor, ließ auf seine Kosten die Bibel noch vollständiger in die Sprache seiner Landsleute übersetzen und nahm die einfachen Formen des ersten apostolischen Christenthums an ... Sein Vermögen gab er seiner Gemeinde; ihre Priester, denen die Ehe unverboten blieb, wählte die Gemeinde selbst; von den Sacramenten behielt man nur Taufe und Abendmahl; letzteres hörte auf ein mystischer Act zu sein und blieb nur noch ein Opfer der Erinnerung; es war eine Reformation ohne Schulgezänk, ohne Disputation der Theologen, eine Läuterung der Lehre allein durch das Herz ... Mit reißender Schnelligkeit verbreitete sich das Wirken der Waldenser ... Ein ganzer Gürtel Europas von den französischen Abhängen der Pyrenäen an bis nach Süditalien fiel vom herrschenden Kirchengeiste, vom weltlichen Streit der Päpste mit dem Kaiser und von Geistlichen ab, die damals sogar die Waffen führten und oft im glänzenden Harnisch zu Roß saßen, im wildesten Kampfgewühl die zum Segnen bestimmte Hand mit Blut besudelnd ... Mit einem warmen, lebendigen Eifer für die apostolische Reinheit der Lehre und des kirchlichen Lebens ging Hand in Hand die Gesittung ... Gerade dieser Gürtel Europas wurde der blühendste an Gewerbfleiß, Erfindungen, in Künsten und Wissenschaften ... Immer weiter und weiter schwang sich ein lichtheller Iris-Bogen über Europa ... Burgund, Deutschland, Böhmen erglänzten von seinem siebenfachen Strahl ... Wo der Webstuhl sauste, wo die Industrie der Städte mit dem Betrieb des Ackerbaues zu regem Austausch ihrer Erzeugnisse verkehrte, da erschollen auch bald die neugedichteten Lieder zum Lob des Höchsten ... Ganze Städte, ganze Länderstrecken hatten schon keinen andern Gottesdienst mehr, als den der Waldenser, der Humiliaten, Armen Brüder, der selbst die Kirchen und ihre Pracht für überflüssig erklärte und jeden grünen Rasenplatz, jedes Laubdach einer Eiche für eine Gott wohlgefällige Kapelle erklärte ...

Paolo Vigo schilderte die furchtbare Verfolgung, welche von Rom aus über diese Bekenner des reinen Christenthums anbrach ... Die Päpste nannte er, die zum Morden aufforderten ... Jene Schreckensthaten des Abtes von Citeaux und jenes Vorbildes eines Alba, des Grafen Simon von Montfort, schilderte er, wie sie mit Feuer und Schwert Männer, Weiber, Kinder vertilgten ... Damals kam der Satz der römischen Kirche auf: »Ketzern ist keine Treue zu halten«; päpstliche Legaten schwuren auf die Hostie, daß, wenn die Ketzer ihnen die Mauern öffneten, sie nur allein mit einigen Priestern einziehen würden, um die bethörten Bewohner zu bekehren; geschah es aber, so warfen sie die Priesterkleider ab, zogen verborgene Schwerter, die Reisigen der fanatisirten Glaubensarmee brachen nach und kein Säugling auf dem Mutterarm entkam dem allgemeinen Blutbade ... Beutegier, Habsucht schürten die Verfolgung ... Simon von Montfort, Abt Arnold schlugen herrenlos gewordene Länderstrecken zu Fürstenthümern zusammen ... Damals war Raimund, Graf von Toulouse, das unglückliche Oberhaupt der bedrängten evangelischen Bekenner, wie späterhin das Haupt der Hugenotten Coligny ... Endlich flüchteten sich die letzten Reste dieses unablässigen Mordens in die Berge, die Pyrenäen, die Alpen, die Apenninen ... Jahrhundertelang erhielten sie sich dort, trotz einer sie auch hier erreichenden zweiten blutigen Verfolgung, die dann das Werk der neuen Kreuzritter wurde, der Jesuiten ... Damals griffen sie in den Thälern Piemonts wieder zu den Waffen ... Zu den tapfern Namen, die in älteren Tagen mit Maccabäermuth ihre heilige Sache, Haus, Herd, Weib und Kind vertheidigten, gesellten sich neue, wie Heinrich Arnaud, der in offener Schlacht mit einer kleinen Schaar Tausende zurückgeschlagen hatte, sich über die steilsten Felsen Piemonts zurückzog, ein Lager in einer Schlucht wie eine Festung erbaute, acht Monate lang, nur von Kräutern lebend, mit seiner kleinen Schaar gegen die Kanonen kämpfte, die auf sein kleines Häuflein von den Felswänden aus ein mörderisches Feuer unterhielten, bis sich Arnaud endlich mit dem Rest seiner Schaar, 350 an der Zahl, einen ruhmvollen Abzug erkämpfte ... Wie dann auch in Calabrien die Waldenser hingesunken waren, hatte Federigo oft genug erzählt ... Damals starb Negrino in Cosenza den Hungertod, Pascal in Rom auf dem Scheiterhaufen ... Oft hatte Federigo's rührende Stimme geklagt, daß besonders solche Thorheiten verderblich wären, die selbst in den Gemüthern der Edeldenkenden Raum gewinnen könnten ... Bernhard von Clairvaux, Abt eines Klosters in Frankreich, Lehrer seines Jahrhunderts, ein Orakel der Fürsten, ein Rath ihrer Rathgeber, ein Straf- und Bußprediger der Geistlichkeit, sogar den Päpsten ein: Bis hierher und nicht weiter! gebietend; – ach! auch der, wie die heilige und so edle Hildegard, sah in den Thaten und Lehren der Waldenser nur die Eingebungen des Teufels –! ... Ambrogio Negrino und Hubertus waren nicht befähigt, sich zu all den Bildern und Erinnerungen aufzuschwingen, die von Paolo Vigo's fiebernderregten Lippen kamen ...

Herr, erleuchte die Weisen! verstanden jetzt auch die Ankömmlinge aus Federigo's Rede ... Mildere ihr Vertrauen auf die eigene Kraft! Wecke dem Guten und Gerechten Deine Fürsprecher im Rath der Großen! Ersticke den Durst nach Rache im Gemüth beleidigter Machthaber! ...

Es schien in der That, als wollte Federigo von seinen Freunden Abschied nehmen ... Mehr als sonst riß ihn heute seine Rede hin ... Er berührte katholische Punkte, die er sonst vermieden hatte – er wollte Niemanden die Möglichkeit nehmen, mit seinem Pfarrer in leidlicher Verbindung zu leben ...

Mit großer Wehmuth sprach er:

Der heilige Bernhard kann uns in vielem ein Vorbild sein – hochragend wie jener Berg im Norden, der mit ewigem Schnee bedeckt, seinen Namen trägt ... Wisset, daß Bernhard jene Lehre, nach welcher auch die Mutter Jesu ohne Sünde empfangen sein soll, für Sünde hielt –! ... Ihr fragtet mich darum, weil der Heilige Vater diese neue Lehre zu verehren befohlen hat –! Nun wohl! Eines Weibes Name ist heilig, wohl trägt Maria die Erdkugel in Händen, wenn Maria die Kraft bedeuten soll, deren ein schwaches Weib in seinem Aufschwung fähig ist ... Wohl ist zu fassen möglich, wie die alte wilde grausame Zeit, die heidnische, die selbst des Heilands spottete, der am Kreuze sich selbst nicht hätte helfen können, doch vor einer Mutter erschrak, vor einer Mutter sich beugte – o noch den Mörder befällt vor seiner Hinrichtung die Trauer um den Kummer, den er seiner Mutter bereitete ...

Hier stockte der Redner und wollte abbrechen ... Aber einige Stimmen unterbrachen ihn und deutlich vernahm man aus einem schlichten Hirtenmunde, der dazwischen sprach, die Worte:

Wo Maria dann auch ganz die Königin des Himmels werden soll, wo bleibt ihr Sohn? Wo kommt der wahre Mittler zu seiner ihm allein gebührenden Ehre? ...

Im höchsten Grade gespannt horchten die Ankömmlinge und sogen die Worte ein, welche Federigo erwiderte:

Lasset das gehen –! ... Seht, es war ja sogar ein anderer Heiliger – Bonaventura sein Name – ein Heiliger, der zur Zeit jenes Bernhard lebte – auch der hat den Psalm David's genommen: »Herr, auf dich traue ich, laß mich nimmermehr zu Schanden werden!« – und hat in jedem Seufzer des Vertrauens und der Liebe zu Gott an die Stelle Gottes – ruchlos, um es nur auszusprechen – ein Weib mit seinen menschlichen Fehlen und menschlichem Elend gesetzt: »Maria, auf dich traue ich –! Mutter Gottes, du hast mich erlöset!« So den ganzen Psalm –! ... Und dennoch danken wir auch dem heiligen Bonaventura so viel Entsiegelungen der frischesten Lebensbrunnen des christlichen Geistes – ...

Nein, unterbrachen die Stimmen der Aufgeregten, er lästerte –! ...

Ich beschwöre euch, rief Federigo, habt Mitleid mit jenen armen Verblendeten, in deren Schoose ihr, kummervoll genug ihre Bräuche theilend, voll Bangen und voll Zagen lebt ... Laßt sie die Altäre einer Frau zu Ehren mit Zierrath und mit Bändern schmücken –! Laßt sie ihr Gebet des Morgens, des Mittags und des Abends wenigstens an Etwas richten, was dem Heiland verwandt ist –! ... Aber das ist wahr (nun erhob sich des Sprechers Stimme, von dem man sah, daß ihn die Gesinnungen seiner Umgebungen fortrissen), wenn Maria es ist, die uns erlöst und vor Gott vertreten soll, so konnten jene Räuber, die mit dem Giosafat eure Hütten verbrannten, eure Heerden raubten, getrost auf ihrer fühllosen Brust ihr Bildniß tragen –! ...

Eine freudige Zustimmung ging mit Zornesruf durch die Reihen – ...

Wehe einem Kind, fuhr Federigo, aufgeregt und ganz sich vergessend fort, das für seine Bewährung im Leben nur die Nachsicht einer Mutter hat! ... Nie, nie, wenn auch heute in Spezzano die Lampen brennen werden, nie sollt ihr auf Fürsprache nur der Mutterschwäche hoffen! Denkt an die klugen Jungfrauen, die im Dunkeln ihr Oel hüteten und die Lampen nur anzündeten, wenn ihr rechter Bräutigam, der Heiland, kam! ... Nein, ich sehe es, ihr glaubt nicht an die Wahrheit eines gotteslästerlichen Bildes, das sich in einer der großen und herrlichen Kirchen Milanos befindet und das einen Traum unsres heutigen heiligen Bernhard darstellen soll –! ... Zwei Schiffe steuern dem Himmel zu; des einen Steuer führt der Herr; des andern Maria ... Jenes bricht zusammen und seine Mannschaft sinkt in den Abgrund; dieses gleitet sicher dem Hafen des Himmels zu – Maria streckt ihre hülfreiche Hand nach den Scheiternden aus und nun kommen auch sie in den Hafen der Gnade, sie, die mit Christo gingen, sie, die mit Christo verloren sein sollen, sie, nur noch erlöst durch Maria –! ...

Ein Ausruf des Schreckens über solche Lehren theilte sich selbst Negrino, Hubertus und Paolo Vigo mit ...

Zorn regt sich in eurer Brust? sprach Federigo – Eure Blicke sagen: Nimmermehr kann solches ein Heiliger auch nur geträumt haben! ... Ihr sprecht: Du von Rom verrathener, von Rom auf das Steuer eines untergehenden Schiffes verwiesener Heiland, du, du bist allein der wahre Führer! Deine Hand streckte sich einst aus und ließ über Wellen den Verzagenden sogar hinweggehen! Der Nachen, den du, du gezimmert hast, Sohn des Zimmermanns, die Flagge, die du als Wahrzeichen aufgesteckt, sie, die dein mit dem Blut beschriebenes Kreuz trägt, sie sollte nicht die glückliche Fahrt, die Einkehr in den Hafen der Seligen gewinnen? ... – Doch wohin verirren wir uns – meine Freunde –! Ihr müßt in eure Wohnungen zurück – wieder sein, was euch drei Jahrhunderte zu sein zwangen – müßt leben mit den schuldlosen Nachkommen der Mörder euerer Urväter – Vergebt ihnen im Geiste der Liebe und Hoffnung –! Versagt euern Priestern nicht die Spenden, die sie noch begehren dürfen! Auch die Spenden der Andacht nicht, die in diesen Ländern üblich! Ein Korn Goldes ist immer noch bei dem schlechten Blei verdorbener Lehre! Noch ist die Zeit nicht reif, wo der Schmelztiegel Gut und Böse scheiden wird! Aber das Lamm wird bald das fünfte Siegel aufthun, von welchem ich euch schon oft gesprochen habe! Unter den Altären des Himmels werden die Seelen derer, die erwürgt wurden um des Wortes Gottes willen zu zeugen beginnen, daß es auf Erden weithin widerschalle! ... Die Stunde kommt näher –! O, bald wird die Freiheit im Glauben und Denken auch für Italien anbrechen! Auch in diese Thäler wird der Lichtstrahl einer neuen Sonne dringen! Läutert euch für diesen großen Augenblick! Thut das Gute, tragt im Herzen euren reinen Sinn und eure geläuterte Hoffnung! Wenn ich – ach! heute von euch scheide – ja, Geliebte ich scheide von euch! Es ist das letzte, letzte – Mal – ...

Warum mußte nur das Ohr der drei Ankömmlinge und aller in Thränen gebadeten Hörer so gebannt sein von dem allgemeinen Schluchzen, Wehklagen, von den Thränen des Redners, daß jene sich still hinter einer der Bluteichen verbargen und die Worte ihres Freundes und Lehrers nicht stören mochten –! ...

Jetzt mußte Hubertus, der Schärferspähende, die er stickte Abschiedsrede Federigo's unterbrechen, mußte auf die ihnen gegenüberliegenden waldbedeckten Berge deuten und in wilder Hast wie ein Verzückter rufen:

Besteigt den Nachen Jesu! Rettet, rettet euch! ...

Und auch aus dem um den Greis zusammengedrängten Haufen mußten nun wol andere, die seinen Leib zu umfassen, seine Hände, seine Füße zu küssen nicht hindurchdringen konnten, ihr Auge auf die von Hubertus bezeichnete Stelle gerichtet und unter den Bäumen an einzelnen offenen Stellen schon dieselbe Störung erblickt haben ... Ihr Ruf fiel in den des Mönches ein ...

Voll Entsetzen erkannten Paolo Vigo und Ambrogio Negrino, die mechanisch dem voranstürmenden Hubertus gefolgt waren, die Flinten der gefürchteten Jäger von Salerno, die in der That, unabhängig vom Corps in San-Giovanni, über den Aspropotamo und Gigante gekommen waren ...

Schon stand Hubertus mitten unter den in noch wildere Aufregung gerathenden, theilweise zu den Waffen greifenden Verbündeten ... Die Frauen flüchteten sich zu ihren Karren ... Die Kinder drückten sich schreiend an ihre Väter, die rathschlagend zusammentraten ... Hubertus hatte Federigo schnell begrüßt und seine Hand ergriffen, um ihn den Weg zu führen, den Ambrogio zum Entkommen für den sichersten hielt ...

Federigo deutete gelassen auf eine andere Stelle des dichten Waldkranzes, wo die rothen Pünktchen sich mehrten, die Federbüsche an den Hüten der Jäger von Salerno ... Die von San-Giovanni erwarteten Truppen hätten allerdings vor drei Stunden noch nicht eintreffen können ... Dies war ein Detachement, das vom Meerbusen von Squillace gekommen ...

Nun war alles auseinander gesprengt und raffte die Karren, die ausgelegten Geräthschaften, die Kinder zusammen ... Die Männer standen unentschlossen, ob sie zur Flucht oder zu Widerstand schreiten sollten ... Heute zum erstenmal hatte ihr stetes Drängen, daß ihr Freund und Rathgeber sie über Rom, über die Priester und die Lehre der Kirche aufklären sollte, eine Erhörung gefunden – Den Greis hatte der Schmerz der Trennung fortgerissen ... Vier Männer, unter ihnen Ambrogio, schwangen ihre Flinten über Federigo's Haupt ... Die Hitze des südlichen Temperaments war bei diesen Männern von ihrer religiösen Denkart nicht überwunden worden ... Hatte man auch nur ein Dutzend Schußwaffen, funfzehn Alpenstäbe waren mit Eisen beschlagen; Messer, welche die Fischer und Kohlenbrenner am Gürtel trugen, waren lang und geschliffen ... Hubertus wartete nur auf das Zeichen, das Federigo geben sollte ... Er selbst hatte sich mit einem: Halt da! denen gegenübergestellt, die ihn nicht kennen mochten und das Erscheinen eines Mönches und eines Priesters für die Vorboten einer unentrinnbaren Gewaltthat ansahen ...

Meine Freunde! rief Federigo in die wilde Bewegung ... Verschlimmert die Sache nicht noch mehr, als sie schon ist! ... Wir wissen, daß diese Krieger das Gebirge durchstreifen seit den blutigen Aufständen an den Meeresküsten ... Wer weiß, ob sie nur uns suchen ... Wo Weiber und Kinder zugegen sind, konnte nichts Uebles geschehen ...

Ambrogio Negrino mußte ihm diese Voraussetzung nehmen ... Er erzählte, was von ihm in San-Giovanni gehört worden ... Paolo Vigo und Hubertus riethen, lieber sofort das Aeußerste anzunehmen und die Sicherheit zu suchen ... Seit dem Aufstand der Bandiera war nicht vorgekommen, daß sich zu gleicher Zeit eine so große Anzahl von Soldaten in diesen Gegenden hatte erblicken lassen ... Viele der Frauen hatten Soldaten im Leben nicht gesehen ... Sie standen starr vor Entsetzen und mehrten die Rathlosigkeit der Männer, von denen die Mehrzahl sich vertheidigen wollte ...

Federigo bat alle, sich der Sorge um ihn selbst zu entschlagen und nur auf die eigene Rettung bedacht zu sein ... Den Zumuthungen zur Flucht widerstand er entschieden, ordnete die Leute so, daß sie in zerstreuten Haufen sich auf die Heimkehr über solche Wege begaben, die nur ihm bekannt waren ... War auch das Thal so eng, daß ein auf dem Gebirgskamm plötzlich fallender, schon als Alarmzeichen dienender Schuß ringsum in siebenfachem Echo widerhallte, so fehlten Auswege nicht und nicht alle Gebirgsspalten konnten zu gleicher Zeit besetzt sein ...

Inzwischen mehrten sich die verdächtigen Zeichen und schon wurden die militärischen Commandos hörbar ...

An ein Entrinnen ist nicht zu denken! sagte zu aller Schrecken der jetzt für immer dem Verderben geweihte Pfarrer von San-Giovanni ... Ambrogio und Hubertus schilderten zu wiederholter Bestätigung, was sie in San-Giovanni und Spezzano gesehen hatten ...

Inzwischen war von den Entschlosseneren unter den Männern ein Rückzug angeordnet worden, der vielleicht über die Serra del Imperatore möglich war ... Eiligst warf man die Geräthschaften auf die Karren, gebot den Kindern Ruhe, brachte die Maulthiere und Esel in Bewegung und in einer Viertelstunde war es um Federigo's Hütte still geworden ... Nur noch Hubertus, Paolo Vigo und Ambrogio Negrino blieben zurück ...

Inständigst bat sie der Greis, jenen Felsenspalt, den er kannte und für vollkommen sicher erklären mußte, statt seiner aufzusuchen ... Eilt euch, meine Freunde! sprach er ... Kümmert euch nicht mehr um mich ... Meine Stunden sind gezählt und ich habe nicht einmal eine schlimme Hoffnung für mich – ich habe sie nur für euch ...

Wir sind dort alle sicher ... entgegnete Ambrogio ...

Ich beschwöre euch, geht allein! wiederholte Federigo ... Ich suche mein Ende ... Laßt, laßt mir, was beschieden ist –! ... Ich versichere euch, es wacht nicht nur Gott über mich, sondern auch manche Freundesseele unter den Menschen ... Soll ich euch, meine geliebten, theuern Freunde, unglücklicher machen, als ihr jetzt schon mit euerm getheilten, zaghaften Herzen seid? ... Gott ist mein Zeuge, ich pflanzte nichts in euch, was nicht schon in euch war! ... Ich hielt euch zurück, euch den größten Gefahren preiszugeben ... Wenn ich mich dem Drängen nach Entscheidung heute fügte, so ist es billig, daß mich die Folgen allein treffen ... Flieht, flieht –! ... Bewahrt euer Geheimniß, lehrt diese Menschen das ihrige hüten – bald brechen neue Zeiten an! ... Vielleicht vernimmt noch Euer Ohr den Sieg des Evangeliums von Rom! ...

In diesem Wettstreit – die Verehrer des Greises wollten sein Schicksal theilen – mehrte sich die Unruhe ringsum ... Das Thal wurde lebendiger ... Von Aexten getroffen brachen hie und da die Zweige zusammen ... Hier blitzten Flinten auf, dort entluden sich welche ... Federigo wehrte Hubertus, der ihn auf seinen Armen forttragen wollte ... Rettet nur euch! bat er wiederholt ... Für mich ist gesorgt ...

Alle starrten, als sie sahen, wie Federigo jetzt in seine Hütte trat, dort ein brennendes Licht ergriff, die Flamme an die Wände hielt, die von dürrem Moose gefugt waren, und seine Einsiedelei in Flammen steckte ...

Paolo Vigo suchte das verzehrende Feuer abzuhalten von den Gedankenschätzen, die hier in Büchern und Blättern aufgehäuft lagen und aus denen er jahrelang Trost und Erhebung geschöpft hatte ... Aber die Papiere und Bücher brannten schon und bald züngelte die Flamme um die ganze Hütte ...

Gedanken an Rettung und Flucht verließen nun die drei Freunde gänzlich ... Willenlos ließen sie den Greis gewähren ... Sein Betragen war seltsam ... So fast, als käme ihm dieser Ueberfall erwünscht, ja als wäre er früher oder später auf einen solchen vorbereitet gewesen ...

Aus dem Brande ergriff er einige wenige Bücher, um sie zu retten und seltsamerweise noch drei Stäbe, von denen er jedem der Freunde einen einhändigte mit den Worten:

Schützt euer Leben und euere Freiheit – ... Bewahrt aber, jeder von euch, wie irgend möglich, diesen Stab, den ich euch auf die Seele binde –! ...

Nun vollends blieben sie wie angewurzelt stehen ...

Er wiederholte seine Worte und setzte hinzu:

Sucht mit äußerster Anstrengung euch diese Stäbe zu erhalten ... Wenn ihr nicht entweichen wollt, ihr Armen, so bitt' ich nur noch dies ... Es kommt ein Augenblick, wo ich oder irgendwer euch mittheilt, welche Anwendung ihr von diesen Stäben machen sollt ...

Die Hütte brannte nieder ... Eine Viertelstunde darauf waren auf einer rauchenden Trümmerstätte alle vier die Gefangenen der Inquisition ...

Fünfzehn auf der Flucht noch aufgegriffene Männer, an ihrer Spitze auf einem und demselben Karren Federigo, Hubertus, Paolo Vigo und Ambrogio Negrino, kamen am Abend desselben Tages zu Spezzano nicht nur von Reitern und Fußvolk geleitet an, sondern vom Schwarm der Bewohner des halben Gebirgs ...

Das Kirchenfest von Spezzano mit all den Späßen, die mit tausend Lichtern und Lampen die Gottheit, wie die Chinesen den Neumond feiern, war im vollen Gange ...

Die Ketzer von den Bluteichen! hieß es – ... Und mancher staunte, darunter einem alten Bekannten zu begegnen ... An der Spitze des Zugs befand sich der »Hexenmeister, der von den Fanatikern verspottet, von den meisten mit unheimlichem Grauen betrachtet wurde ... Die Mehrzahl wurde nach Cosenza abgeführt ... Die vier verbundenen Freunde kamen nach Neapel ...

Der Abschied, den sie alle von einander und von den Ihrigen nahmen, ließ selbst die von ihrem Pfarrer fanatisirten Bewohner von Spezzano glauben, daß die Ketzer Menschen bleiben wie andere ... Das Weinen der Frauen steckte an ... Die Volkshaufen konnten zuletzt von den Mönchen und Priestern, die anhetzen wollten, nicht mehr recht zu Beschimpfungen entflammt werden ...

Am meisten rührte der Abschied, den Rosalia Mateucci von ihrem in San-Giovanni in solcher Lage begrüßten Bruder, dem Pfarrer Paolo Vigo, nahm ... In Spezzano entriß ihm zwar eine Frau das Kind, das er segnen wollte, aber das halbe San-Giovanni, das bis Spezzano mitgezogen war, trat dazwischen und Scagnarello erbot sich sogar, die weinende Rosalia nach Cosenza umsonst zu fahren ... Was sie an Geld bei sich trug, hatte sie dem heißgeliebten, unglücklichen Bruder aufgezwungen, den in so unwürdiger, diesseits und jenseits verlorner Erniedrigung wiederzusehen ihr das Herz brach ... Paolo Vigo sprach laut über die Freude, leiden zu dürfen um des Heilands willen ... Als er laut betete, senkten sich die Häupter ... Niemand unterbrach seine feierlich erhobene Rede ...

Paolo Vigo zog allem, was ihn treffen konnte, das Glück vor, bei Federigo zu sein ... Alles hatte man ihm genommen, nur den Stab nicht, den auch die beiden andern Gefangenen trugen ... Der Pfarrer von Spezzano zeigte dem Guardian von San-Firmiano, der seinen beiden Klosterangehörigen bis Spezzano gefolgt war, eine Vollmacht des Erzbischofs von Cosenza, der zufolge das Kloster die beiden Leviten nicht reclamiren durfte ...

Rosalia Mateucci schwur dem hochheiligsten Erzbischof von Cosenza eine Rache – wie sie nur vom Blick einer Neapolitanerin begleitet sein konnte ...

Transporte von Gefangenen waren und sind in diesem Lande an sich etwas Gewöhnliches ...

Der Wagen, begleitet von sechs Schweizer-Dragonern, glitt niederwärts – der kreidigen, staubbedeckten Landstraße und – den blauen Wogen des Meeres zu – hin nach Neapel, wo Hubertus, mit Verzweiflung sich allein als den Urheber aller dieser Schrecken anklagend, nur einen einzigen Gegenstand suchte – die Rauchsäule des Vesuv« ...

12.

Was Lucinde vor Jahren geahnt hatte, daß sie nach einer kurzen glänzenden Periode des Glücks nur zu bald wieder in Elend versinken würde, war allerdings nach dem Tode Ceccone's für einige Zeit eingetroffen ...

Aber wie sie am Tage nach dem Hochzeitsfest Olympiens berechnet hatte, sie war wenigstens die rechtmäßige Gräfin Sarzana geblieben ... In ihrer Theilnahme an den Demonstrationen modischer Kirchlichkeit lag eine Versöhnung für alles, was in zweideutiger Weise ihren Ruf treffen konnte ... Sie war eine Büßerin, trug nur dunkle Farben, senkte ihr ohnehin schon zur Erde sich neigendes Haupt in dem Grad, daß die jetzt fast Sechsunddreißigjährige einen gekrümmten Rücken bekommen zu haben schien und mit ihren noch immer blitzenden Feueraugen die Menschen, das Leben und die Welt von unten her um so unheimlicher betrachtete ...

Jetzt, wo Friede und Ruhe wieder in Rom eingezogen war, hatte sie sogar die Mittel gefunden, eine Art »Kreis« um sich zu ziehen ... Die Sorge um einen solchen »Kreis« ist nicht gering; sie ist mit steter Aufregung und mancherlei Aerger verbunden ... Sie hatte einen Donnerstag proclamirt, an dem ihr Haus allgemein und massenhaft zugänglich war, während sonst zu ihrem engern Kreise nur wenige »Intimitäten« gehörten ...

Diese Wiederherstellung war ihr in diesem Herbst und Winter nach vielen Mühen gelungen ... Die »Donnerstage« der Gräfin Sarzana waren besucht ...

Die Wohnung, die sie innehatte, gehörte dem ältesten Rom des Mittelalters an und lag in der »Straße der Kaufleute« ... Hier standen alte Paläste, die den herabgekommenen Geschlechtern alter Tage gehörten; dunkle, verwitterte Steinmassen, im Erdgeschoß und Bodengelaß oft zu Waarenmagazinen benutzt, umgeben von baufälligen Nachbarhäusern ... Es lag ein gewisser Nimbus um diese alterthümlichen Wohnungen und selbst im dritten Stock, den die Gräfin Sarzana bewohnte, war einer dieser Paläste leidlich »anständig«, auch wenn man im Eingang an den Fässern eines großen Kaufmannsgeschäftes vorüber mußte und die Treppen mit Wollsäcken verengt fand, die innenwärts auf die oberen Böden gewunden wurden ... Darum hatten die inneren Gemächer, zumal wenn sie erleuchtet waren, doch durch Bauart und architektonische Ausschmückung ein beinahe fürstliches Aussehen ... An ihren »Donnerstagen« bedienten mehre Diener in Livree ... Für gewöhnlich hatte die Gräfin nur ihrer zwei ... Auch eine Equipage, eine gemiethete freilich, durfte nicht fehlen ...

Es war ein Geheimniß, woher die Einnahmen dieser deutschen Dame flossen ... Oft hatten ihr Bonaventura, Paula, Graf Hugo vergeblich Pensionen angeboten ... Ceccone's letzter Wille verlangte, daß sie zeitlebens das kleine Palais bewohnte, in welchem ihm Graf Sarzana den Tod gegeben ... Sie bezog es nicht; verwerthete aber die Vergünstigung durch Vermiethung ... Als Olympia in London selbst nicht mehr mit ihren Einnahmen auskommen konnte, stellte sie die Bedingung, daß Gräfin Sarzana das Palais ihres Onkels entweder bezog oder die Nutznießung an sie, seine Erbin, abtrat ... Lucinde zog letzteres vor ... Nun, wo ihr jährlich tausend Scudi fehlten, traten die harten Zeiten ein ... Ihre »Missionsreisen« wurden ihr zwar bezahlt, sie wohnte in Ordenshäusern, auch hatte sie eine Hülfe, die ihr manchmal in äußersten Fällen beistand – die alte Fürstin Rucca ... Nur wurde auch diese vom Herzog Pumpeo so in Anspruch genommen, daß sie Schulden hatte und dann im Gegentheil von Lucinden zu borgen kam ... Lucinde nahm in solchen Fällen keinen Anstand, über die Börsen derer zu gebieten, die unter ihren Bekanntschaften reich waren ... So bei Frau von Sicking, die auf ihren geistlichen Tendenzreisen oft nach Rom kam und Lucindens Protection begehrte ... Treudchen Ley, deren Gatte, Piter Kattendyk, sich nicht nur in die ernste Lebensaufgabe geworfen hatte, Stadt- und Commerzienrath zu werden, sondern sich auch mit der so schmählich von ihm beleidigten Kirche und Religion auszusöhnen (Professor Guido Goldfinger hatte das Geschäft gerettet und schwang sein Scepter über die Hauptbücher mit tyrannischer Gewalt), auch Treudchen Piter Kattendyk ließ ihrer Freundin Gräfin Lucinde Sarzana eine regelmäßige, wenn auch nur kleine Pension auszahlen ... Goldfinger hatte diese als Tribut der Familie, desgleichen infolge letzten Willens der selig verblichenen Schwiegermutter Wally Kattendyk, anerkannt und sogar etwas vergrößert unter ausdrücklicher Nebenbedingung, daß Lucinde in der Peterskirche an einem gewissen Altar für das Haus Kattendyk und die Angehörigen desselben jährlich eine Messe lesen lassen sollte – sie erstand sie wohlfeiler, als von Deutschland aus möglich war ...

Alle diese Hülfsmittel würden nicht ausgereicht haben, z.B. dem Andenken des Grafen Sarzana, trotzdem, daß er für die Sache des »Atheismus« gefallen war, auf dem Kirchhof an Porta Pancrazio ein glänzendes Denkmal zu setzen, im eigenen Wagen zu reisen, einen alten Palazzo in der Strada dei Mercanti zu bewohnen, einen Jour fixe, regelmäßig zwei Bediente und eine Equipage zu halten – wenn nicht Lucinde noch einen Beistand gefunden hätte, welcher der frommen Convertitin seltsamerweise – aus der Türkei kam ...

Gräfin Sarzana kannte Italien und wußte, daß dort Speculation nicht schändet ... Sollte es allmählich herauskommen, daß sie einen Handel mit allerlei kostbaren türkischen Waaren, Shwals, Seidenstoffen, Kleinodien trieb – was that ihr das –! ... Diese Dinge kamen ihr aus Kleinasien zu, wo in Brussa, an den Abhängen des Olympos, da wo einst im ambrosischen Licht die Götter Homer's gethront, Abdallah Muschir Bei wohnte, ein vornehmer reicher Mann, Renegat, niemand anders, als der ehemalige päpstliche Sporenritter und Oberprocurator Dominicus Rück ...

Wir kennen die Schreckensscene, als Ceccone, der ohne Lucindens Plaudereien nicht leben konnte, in einem Cabinet, dessen Thür durch Zufallen von innen sich von selbst verschloß, bei ihr verweilte, Sarzana mit blanker Klinge die Thür sprengte und nach dem Cardinal stach ... Als damals Lucinde zu den »Lebendigbegrabenen« geflohen war, ließ sich eines Tages am Sprachgitter ein Fremder melden, welcher seinen Namen nicht nennen mochte ... Ueberall Mord und Verrath fürchtend, wagte sich Lucinde nicht ans Gitter, sondern ließ sich verleugnen ... Dieselbe Meldung kam acht Tage später wieder ... Als sie nun tiefverschleiert und wie eine Nonne am Gitter erschien und den Mann erkannte, welcher sie zu sprechen wünschte und den sie zum letzten mal gesehen als einen fast von ihrer eigenen Hand Erhängten, erbebte sie, überflog in schneller Fassung die gegenwärtige Stellung, in der sie sich befand, ihre Rücksichten, die Gesinnung, die sie zur Schau tragen sollte, wechselte nur wenige kalte Worte mit ihm und gab sich ganz den Nimbus, der ihr als Gräfin und Fromme gebührte ... Bei einer dritten Meldung nahm sie den unheimlichen Besucher gar nicht an ... Inzwischen blieb sie bei den alten Parzen des Klosters wohnen und sah die wahnsinnige Lucrezia Biancchi in ihren Armen sterben ... Jetzt schrieb ihr Rück ... Ob sie denn ganz die deutsche Heimat vergessen hätte, ob sie ihn für unwürdig hielte, dem Puppenspieler Weltgeist hinter die Coulissen zu sehen, mit einzublicken in die Gedankenmaschinerie einer großen, stolzen und die Welt verachtenden Seele, wie die ihrige – oder ob sie Furcht haben könnte – vor wem? – vor was? – Vor sich selbst – doch gewiß am wenigsten! – Wol gar vor ihm –! ... Er bot ihr, die in so viele Geheimnisse seines Daseins eingeweiht war, die ihn vor den schrecklichen Folgen der Rache Hammaker's vom Hochgericht hernieder bewahrt hatte, den Mitgebrauch seines Vermögens, das er, nach einer Trennung von seiner Frau, so weit an sich gebracht hatte, als ihm sein eigen Erworbenes nicht entzogen werden konnte ... Zur Ehe nehmen konnte er Lucinden nur dann, wenn beide die Religion wechselten ... Auch das schlug Nück vor ... Er schilderte den »schwarzen Falken«, einen Indianerhäuptling voll Tapferkeit, Großmuth, Gerechtigkeitliebe, der an nichts geglaubt hätte, als an den »großen Geist« – ... Er erläuterte die Philosophie Buddha's mit wenig Federstrichen – ... Jedenfalls schlug er nicht den verhaßten »Rückschritt« des Protestantismus, sondern, wenn sie wolle, Islam oder Judenthum vor ... Lucinde war damals so unglücklich, daß sie diese Zeilen lange mit Aufmerksamkeit betrachtete. Es war ein Brief in den Wendungen, wie sie Nück liebte – Cynismus abwechselnd mit Melancholie ... Offen gestand er, daß er sich daheim nicht mehr hätte halten können; zu schlimme Gerüchte hätten ihn verfolgt; ein ruheloser, unstäter Geist irre er jetzt von Stadt zu Stadt und wiche Jedem aus, der sich, weil er wisse, daß er einen Kopf, zwei Arme und zwei Beine hätte, ein vernünftiges Wesen dünke ... Rom, für dessen Macht und Herrlichkeit er sonst seine eigene Vernunft eingesetzt, erschiene ihm eine wüste Einöde ... Er müsse sein altes von Hause mitgebrachtes Rom nehmen und über die langweilige Stadt, die er hier anträfe, »überstülpen«, um hier nur auszuhalten ... Nur den ihm geistesverwandten Klingsohr hätte er besucht und von diesem die Empfehlung eines ehemaligen türkischen Priesters, der Christ geworden, erhalten ... Um seinerseits umgekehrt vielleicht ein Türke zu werden, lerne er von diesem die türkische Sprache ... Er bot Lucinden an, sein Weib zu werden und mit ihm nach Kairo zu gehen ...

Sie antwortete ihm nicht und Nück verschwand dann aus Rom ... In Neapel vervollkommnete er seine Kenntnisse im Türkischen, ging nach Stambul, von da nach Brussa ... Ohne ihr die ihm bewiesene Kälte nachzutragen, schrieb er Lucinden als Abdallah Muschir Bei ... Die beredtesten Schilderungen zeigten ihn als leidlich glücklich; er beschrieb seine Einrichtung, den Harem seiner Frauen; – nur bedauerte er, daß er krank und alt wäre ... Gerade dies von Erdbeben heimgesuchte, jedoch über alle Beschreibung schöne Brussa hätte er gewählt, weil die berühmten Schwefelquellen der Stadt »direct aus der Hölle flössen« ... Seinen Justinian könne er nun nicht mehr verwerthen und hätte auch nach so langer Advocatenpraxis ein unwiderstehliches Bedürfniß nach Ehrlichkeit ... Deshalb wolle er – Kaufmann werden, wie sein Schwager Guido Goldfinger – im Orient befleißigte der Kaufmannsstand sich wirklich der Ehrlichkeit ... An den berühmten Seidenwebereien Brussas betheiligte sich Abdallah Muschir Bei mit Kapitalien ...

Jetzt antwortete ihm Lucinde und es vergingen seitdem nie sechs Monate, wo nicht über Stambul und Venedig her ein Geschenk an kostbaren Stoffen, seidenen oder wollenen, an Teppichen und Shwals, auch an kostbaren Geschmeiden für sie ankam ... Da in diesen Briefen jeder seinen Standpunkt beibehielt, so konnten sie nicht ohne Reiz zur Fortsetzung bleiben ... Abdallah verharrte dabei, daß er Lucinden geliebt hätte, liebe und lieben würde in Ewigkeit ... Auch noch jetzt könnte er seinen Sklavinnen nur Geschmack abgewinnen, wenn seine Phantasie sie in Lucinden verwandelte ... Die Geschenke Abdallah's zurückzuschicken oder abzulehnen war zu umständlich – Lucinde behielt sie und verkaufte sie gelegentlich, wenn sie in Noth war ... Ein einziger Shwal half ihr dann auf Monate ...

Ihre demnach mit türkischem Geld unterhaltenen »ultramontanen Donnerstage« wurden von allen jenen Menschen besucht, die nach Rom ziehen, wie die Weisen des Morgenlands nach Bethlehem ... Alle Nationen waren hier vertreten ... Die süßlächelnden jesuitischen Abbés der Franzosen; die englischen Katakombenwallerinnen, die im feuchtmodernden Tuffgestein die anderthalbjahrtausendalten Fußtapfen der Wiseman'schen »Fabiola« suchten; deutsche Künstler, die den Untergang des Geschmacks von den zu weltlichen Madonnen Raphael's herleiteten und an Giotto anknüpften; Gelehrte, die alle gangbaren Geschichtsbücher umschrieben, so, daß sie immer das Gegentheil dessen, was die deutschen Kaiser erstrebten, als das Richtigere darstellten, die Päpste zu allen Zeiten Recht behalten ließen – meist fanatische, geistvolle Menschen – und Gräfin Sarzana wußte selbst Die unter ihnen zu fesseln, die nicht die Intrigue liebten ... Das Deutsche, mit dem sie oft begrüßt wurde, behauptete sie vergessen zu haben; schon lange sprach sie ihr Italienisch mit Feinheit und jedenfalls in jenem rauhen, tiefliegenden Ton, der am gewöhnlichen Organ der Italienerinnen den bekannten Wohllaut ihres Gesangs bezweifeln lassen könnte ... Ihre Kunst, einen Abend belebt zu machen, Niemanden zu lange im Schatten stehen zu lassen, galt für musterhaft ... Gelehrte Streitigkeiten duldete sie bis zu einem gewissen Grade, der jedoch bei weitem über den der Oberflächlichkeit hinausging – ... Viel hockte sie unter Büchern, die ihr Klingsohr bis an seinen vor einigen Jahren erfolgten Tod zutrug – die Hektik, die Cigarre und der Orvieto untergruben ihn –; sie lernte unaufhörlich und konnte aus Bibel und Kirchenvätern eine Menge Beispiele für Behauptungen anführen, die den größten Lichtern der Sapienza und des Collegio anregend waren ... Ihr Vorsprung war dabei der, daß sie alles Vergangene so nahm, wie Gegenwärtiges ... Die Menschen hatten nach ihrer Auffassung zu allen Zeiten dieselben Schwächen, dieselben Bedürfnisse; die Forderungen der Natur waren sich zu allen Zeiten gleich ... »Sonderbar!« sagte sie – »Die Gelehrten sind auf diese Voraussetzung so wenig gerüstet! Für das Natürlichste, für den Gebrauch eines Nasentuches in der Hand Cicero's, muß ihnen erst ein Citat aus einem alten Schriftsteller die beruhigende Anlehnung geben!« ...

Von Klingsohr, dem es gegangen, wie den deutschen Lanzknechten im Mittelalter, wenn sie bis zu dem altgefährlichen Capua kamen, schrieb ihr Abdallah Muschir Bei: »Ist er nun zu seinem Vater und zum Kronsyndikus! O, dieses eitlen Prahlers! Er erstrebte eine Bedeutung, zu welcher ihm weniger Fleiß und Beharrlichkeit, wie er vorgab, als schöpferisch geistige Kraft fehlte! Statt letzteres offen einzugestehen, schmähte er die Trauben, die ihm zu hoch hingen! Das ganze deutsche Volk ist wie Klingsohr und gewiß fressen es auch noch einmal die Kalmücken und Tartaren!« ... Lucinde theilte diese Ansichten ... Als sie die ihr von Klingsohr hinterlassene Habe desselben musterte, Brauchbares verkaufte, seine Papiere, seine angefangenen philosophischen Werke unbarmherzig ins Feuer warf, sogar seine Gedichte, in denen doch nur sie besungen war, ließ sie sich selbst von jener Brieftasche nicht rühren, die einst in Klingsohr's und ihrem eigenen Jugendleben eine so große Rolle gespielt hatte ... Nachdem sie einen Augenblick zweifelhaft gewesen, ob sie dies Angedenken an die düsteren Verwickelungen im Hause der Asselyns und Wittekinds nicht gleichfalls mit in jenes Kästchen von Ebenholz legen sollte, das ihren ganzen Lebensschatz enthielt – mit zu den noch unverkauften Gold- und Silbergeschenken Nück's – zu all den Briefen und Blättchen, die sie von Bonaventura's Hand besaß – zu Serlo's Denkwürdigkeiten und zur Urkunde Leo Perl's – verbrannte sie es – gerade an einem Tage, wo drei deutsche Pilger bei ihr vorgesprochen hatten, die zu Fuß nach Rom gewallfahrtet kamen, Stephan Lengenich, Jean Baptiste Maria Schnuphase und der Paramentensticker Calasantius Pelikan aus Wien ... – Alle drei erhielten zeitig den gesandtschaftlichen Rath abzureisen – sie betranken sich täglich ...

So gab es der Abwechselungen genug, zu denen sich dann die Reisen, der Aufenthalt in Genua, in Coni gesellte, bis die Revolutionen ausbrachen, wo sich Lucinde in Venedig und glücklicherweise durch die Hülfe hielt, die ihr aus dem Orient kam ...

Jetzt war ein halbes Jahr seit »Wiederherstellung der göttlichen Ordnung« verflossen ... Wieder war die römische Saison, kurz vor dem Carneval, in aufsteigender Höhe ... Wieder war ein »Donnerstag« gewesen ...

Lucinde saß, zufrieden mit der Zahl ihrer heutigen Gäste, mit der Erinnerung an ihre eigenen Einfälle und Repliken, die sie zum Besten gegeben (was mustert man nicht alles nach einem Gesellschaftsabend am Effect, den man im Leben machen soll oder will!) ... Die Herzogin von Amarillas war zugegen gewesen, noch immer tief in Trauer gehüllt – im übrigen starr, versteinert, bis zum Peinlichen unbeweglich geworden ... Olympia Rucca, die zur Besserung ihrer Finanzen mit ihren Schwiegerältern Frieden geschlossen hatte und sich gleichfalls noch derselben Trauer widmete, die auch nicht Ercolano, ihr Gatte, um Cäsar Montalto abgelegt hatte – Ercolano sah in Benno's Verhältniß zu Olympien nur eine persönliche Aufopferung der Freundschaft zu Gunsten seines Friedens, zur Vereinfachung seiner Sorgen um eine »nun einmal schwer zu behandelnde« Frau – »Es gibt solche Ehemänner –!« sagte Lucinde ... Auch Fefelotti, der wiederum allmächtige Cardinal, war dagewesen und hatte Lucinden durch eine heimlich zugeflüsterte Mittheilung erfreut ... Sie hatte den Athem des Mannes zwar nicht gern in ihrer Nähe, aber sie hörte doch mit Vergnügen, was er ihr heute zugezischelt ... Es erfüllte sich also, daß (irgendwo in Europa) mit einem hochbetagten lutherischen Landesvater, bei dessen Hoftheater die beiden Fräulein Serlo als Tänzerinnen engagirt, dann im geheimen zu Freiinnen von *** erhoben waren, durch Vermittelung dieser Favoritinnen ein für Rom günstiges Concordat abgeschlossen werden sollte ... Hatte auch Lucinde, die dies Arrangement zu Stande gebracht, gerade kein besonderes Interesse an der Summe, die man ihr zahlen wollte, wenn die Freiinnen von *** nebst ihrer alten Mutter so lange weinten und sich kasteiten und sich abhärmten und den alten Landesvater selbst beim Champagner und nachts zwölf Uhr, wenn er im Mantel verhüllt nach Hause schlich, durch ihre Gewissensbisse peinigten, bis dieser nachgab und den für ein protestantisches Land schmählichen Vertrag mit Rom abschloß Ein Factum? – ihr genügte schon, sich die Curie gründlich verpflichtet zu haben und bitterlächelnd – an Serlo's Phantasieen über die Zukunft seiner Töchter denken zu können – ...

Heute war ein neuer Gast zum dritten mal dagewesen – Pater Stanislaus aus dem Al Gesù, Wenzel von Terschka ... Sechs Monate hatte dieser Verlorene in Rom verweilt, ohne daß ihn jemand erblickte ... Man sagte allgemein, er hätte eine qualvolle Gefangenschaft, dann eine glorreiche Umänderung seines Sinnes zu bestehen gehabt und nun wäre er nahezu ein Heiliger geworden ... Jedem, der etwa erstaunte, wie hier möglich gewesen, daß ein Mann erst Priester, dann als solcher weltlich beurlaubt, beauftragt, in kurzer Robe sich in die allgemeine Gesellschaft zu mischen, dann in London zum Ketzerthum übergetreten war, wieder nach Rom zurückkehrte, sein altes Priesterkleid – »re quasi bene gesta« sagte Lucinde – wieder anzog – Dem wurde erwidert: All diese Wandelungen im Leben Wenzel von Terschka's beruhen auf Verleumdung! Nie war er vorher ein Priester! Nie war er ein Protestant! Jetzt erst führte ihn das Bedürfniß der Heiligung über ein leichtsinniges Leben in die geschlossenen Räume eines Bußhauses! Erst jetzt ist er geistlich geworden; jetzt in den Orden des heiligen Ignaz getreten – und auch jetzt erst heißt er Pater Stanislaus ... Allen denen, die etwa an der Richtigkeit dieser Darstellung zweifeln mochten, mußte dieselbe glaubhaft erscheinen, wenn sie die hohle Wange, das düster irrende Auge, den scheuen Blick, den fast verstummten Mund, eine erschreckende Vernichtung an einem Mann wiederfanden, der sonst in Gesellschaften wie Quecksilber glitt ... Der dritte Donnerstag war es heute, wo der unheimlich brütende, willenlos gewordene – alte Mann bei Gräfin Sarzana saß ... Mit dem Schlag der zehnten Stunde brach er jedesmal auf; er, dem sonst die Nacht gehören mußte ... Punkt fünfzehn Minuten nach zehn mußte Pater Stanislaus hinter seinen düstern Mauern sein ...

Lucinde urtheilte über diese Eindrücke, wie über etwas, was sich von selbst verstand auf dem Gebiet ihres Wirkens und Lebens ... Sie, die ja auch in dieser Weise zu den Wiedergeborenen gehörte, ließ ganz ebenso Terschka gelten ... Sie begrüßte ihn ohne jeden Schein einer Kritik und gab dem Pater Stanislaus die Ehre, die seinem Stande gebührte ...

Nur ein einziges nagendes Gefühl quälte Lucinden unausgesetzt ... Sie, die sonst die Reue als »unnütze Selbstquälerei« verwarf, bereute doch Eines ... Es war ein Wort, das ihr einst bei ihrer ersten Bekanntschaft mit Cardinal Ceccone über den damaligen Bischof von Robillante entfallen war: »Ich besitze in meinen Händen etwas, was ihn auf ewig vernichten kann!« ... Daß ihr dies Wort hatte entschlüpfen können, war nur möglich gewesen im ersten Rausch über die ihr gewordenen neuen Erfolge – auch im Zorn nur über Bonaventura's damalige Abreise von Wien ... Bonaventura hatte sie in einer Stadt, wohin sie ihm verkleidet durch ganz Deutschland nachgereist war, zurückgelassen, ohne sich weiter um sie zu kümmern ...

Oft hatte sie diese Aeußerung, die sie auch aus Furcht vor den Drohungen des Grafen Hugo that, wenn sie daran erinnert wurde, in Abrede gestellt, hatte ihren Sinn harmlos zu deuten gesucht; aber Ceccone, Olympia, die Herzogin von Amarillas hatten die Aeußerung behalten, oft wiederholt und so rückhaltlos wiederholt, daß sie Fefelotti bekannt wurde ... Dieser, von Haß und Rache gegen Bonaventura seit Jahren unveränderlich erfüllt, hatte der Vorgeschichte Bonaventura's nachgespürt, dem Verschwinden seines Vaters, dem beraubten Sarge auf dem Friedhof von Sanct-Wolfgang ... Nach ihrer fernern frühern Aeußerung: »Käme, was ich habe, zu Tage, so müßte der Unglückliche auf ewig in ein Kloster!« fehlte nicht viel, daß die seit dem Tode Benno's zu einem großen Schlage der Rache Verbundenen, Fefelotti, Olympia, die Herzogin, schon aus sich selbst heraus die volle Wahrheit trafen ... Zu einer solchen Entsagung konnte nur Jemand gezwungen werden, der mit einem dem Priesterthum widersprechenden Makel behaftet war ... Selbst die Besuche Terschka's, sein lauerndes Umblicken und grübelndes Schweigen schien dem Privatgefühl Lucindens, das von ihrer öffentlich gespielten Rolle abwich, mit einer Verschwörung gegen Bonaventura – sogar mit ihrem Kästchen in Verbindung zu stehen ...

Bonaventura war noch in Rom – mannichfach begnadet und höher noch gehoben, als er schon stand ... Im Sommer angekommen, hatte er seine Mutter sterbend gefunden, sie aus dem Leben scheiden sehen, von seinem Stiefvater, der dann nach Deutschland zurückkehrte, Abschied genommen und eben nach Neapel reisen wollen, als er durch einen jener plötzlichen Einfälle, welche an dem inzwischen wieder auf den Stuhl Petri zurückgekehrten Statthalter Christi alle Welt kannte, zum Cardinal erhoben wurde ... Quid vobis videtur? hatte es aus des heiligen Vaters Munde im Consistorium geheißen und alles blickte auf Fefelotti ... Die alte Regel, zu solchen persönlichen Willensacten des Papstes zu schweigen und ihm die volle Gerechtsame seines Herzens zu lassen, Cardinäle nach eigener Gemüthsregung zu ernennen, wurde auch hier innegehalten so sehr sich die Zeiten verändert und die Porporati den Charakter einer Ständekammer angenommen hatten, aus deren Majorität weltlichverpflichtete Minister kamen ... Die Trauer eines Sohnes um seine Mutter war die nächste Ursache dieser Erhöhung ... Ein Erzbischof mußte hierher nach Rom zu solchem Leide kommen – –! Der heilige Vater konnte ihm dafür nur den Purpur schenken ...

Fefelotti schäumte vor Wuth über die ewigen »Rückfälle« des »unverbesserlichen Schwärmers«, der die dreifache Krone trug ... Er stürmte zu Lucinden, warf ihr die Veränderung ihrer Gesinnungen für den Verhaßten vor, reizte sie durch Paula's Glück, die gleichfalls in Rom war, und verlangte von ihr geradezu – jenes Gewisse, das sie gegen die »Creatur einer ihm feindlichen Partei«, wie er Bonaventura nannte, seit Jahren in Händen hätte ...

Die düstern schwarzen Augenbrauen zusammenziehend stellte Lucinde ihre ehemalige Aeußerung wiederholt in Abrede ... Jetzt zumal, wo sie mit Bonaventura auf dem Fuß neuer Hoffnungen stand ... Ihre Jahre schreckten sie nicht – ... Sie hatte die drei verbundenen Freunde Bonaventura, den Grafen Hugo und Paula nicht aus dem Auge verloren ... Sie beobachtete scharf ... Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß sich im Herzen dieser drei Verbundenen große Kämpfe vollzogen; Bonaventura sprach für die Wünsche des Grafen, der ganz nach Wien übersiedeln oder wie der in Militärdienste treten wollte ... Paula stand an einem Scheidewege – ob Rom, ob Wien ... Ging sie nach Wien, so waren die Würfel gefallen – Diese Ehe hatte dann ihre natürliche Ordnung gefunden ... Und Bonaventura –? ... Lucinde war so erregt von dem Gedanken, Bonaventura wäre als Cardinal nun an Rom gebunden, müsse dann und wann von Coni herüber kommen, könne sich ihr, ihrer Macht, ihrem Einfluß nicht entziehen, daß sie Fefelotti mit Indignation von sich wies und diesen Gegenstand nie wieder zu erwähnen bat ...

Auffallend war es, daß der neuernannte Cardinal, dem am Tage der Uebergabe des Purpurhutes eines der ersten Fürstenhäuser Roms die üblichen Honneurs machte – Olympia, die Herzogin von Amarillas wohnten diesen Festen nicht bei – doch noch so lange in Rom verblieb ... Der Herbst war gekommen – sogar auf den Winter kehrte der jüngste der Cardinäle immer noch nicht nach seinem Erzbisthum zurück ... Niemand wußte die Veranlassung dieser verzögerten Abreise ... Bonaventura selbst schützte für sein Bleiben Studien über Rom vor ... Sein einziger Umgang war Ambrosi und die Salem-Camphausen'sche Familie ... Selbst als es mit Olympia zu den unangenehmsten gesellschaftlichen Reibungen kam, blieb dennoch Bonaventura bis in das neue Jahr hinein ... Er will den Carneval sehen! hieß es ... Man beruhigte sich scheinbar, nur Fefelotti umgab ihn mit Spionen ...

Auch Lucinde forschte ... Ganz leise hatte sie einige Fäden von einem Verkehr aufgegriffen, welchen der neue Cardinal mit Neapel, ja mit dem Silaswalde unterhielt ... Ende August schon hatte sie in Erfahrung gebracht, daß Frâ Hubertus und jener Einsiedler, welcher ihnen vor Jahren soviel zu schaffen gemacht, auf Befehl der Inquisition gefangen genommen worden ... Noch zuckte Fefelotti, den sie deshalb befragte, die Achsel und sagte: Die Jesuiten ließen diesen Ketzer allerdings gefangennehmen, mußten ihn aber mit seinen Genossen an die Dominicaner ausliefern! Sie kennen die Eifersucht der weißen Kutten gegen die schwarzen! ... Lucinde hörte, daß Bonaventura's Verbleiben in Rom mit Geheimnissen des Sacro Officio zusammenhing; die klare Uebersicht des Tatsächlichen fehlte ihr noch ... Sie durfte erbangen über ein Wiederbegegnen mit Hubertus; aber sie wollte glücklich sein, wollte hoffen – faßte alles im heitersten Sinne auf und fürchtete für nichts ...

Heute saß sie in der allerlebhaftesten Spannung ... Der Grund, warum sie heute noch nicht zur Ruhe gehen wollte und konnte, war kein anderer, als die noch wie im Sturm der Mädchenbrust gefühlte Spannung ihrer Ungeduld, ob die für morgen früh beim ersten Morgengrauen angesetzte endliche Abreise des Grafen – mit oder ohne Paula stattfand – ...

Das gräfliche Paar lebte sehr zurückgezogen in einem der großen Hotels an Piazza d'Espagna ... Der Schleier des Geheimnißvollen, welcher Bonaventura, der seinerseits bei Ambrosi wohnte, und die Freunde umgab, war selbst für Lucinden in den meisten Dingen undurchdringlich ... Lucinde hatte auch für die gegenwärtige Situation nichts anderes erspähen können, als die Absicht des Grafen, in erster Morgenfrühe die längst beabsichtigte und immer wieder aufgeschobene Reise nach Deutschland anzutreten ... In erster Morgenfrühe sollte ein Bekannter eines ihrer Bedienten von Piazza d'Espagna, wo dieser im Hotel aufwartete, die Nachricht bringen, ob Graf Hugo – mit oder ohne seine Gemahlin abgereist war ...

Reiste der Graf mit Paula, so war es ihre Absicht, für ihre noch immer glühende Liebe eine neue Demonstration zu versuchen ... Sie wollte beim Cardinal Ambrosi vorfahren, wollte die Urkunde Leo Perl's, eingesiegelt, mit einem Schreiben an Bonaventura versehen, am Palast der Reliquien abgeben – sie wollte die Bitte hinzufügen, den Empfang ihr durch eine ausdrückliche Meldung an ihren Wagenschlag oder einen Gruß am Fenster beantworten zu wollen ... Reiste Paula nach Wien, so hatte sie die Absicht, sich aufs neue in der Glut ihrer nur mit dem Tode ersterbenden Liebe zu zeigen, selbst mit Gefahr, den Bund, der sich gegen Bonaventura verschworen zu haben schien, zu Gegnern zu bekommen und die Protection Fefelotti's zu verlieren ... An ihre schon grauen Haare, an ihren gekrümmten Rücken, an ihre sechsunddreißig Jahre sollte sie dabei denken –? ... Was ist einem Weib von Geist – ihr Spiegel! Liebesfähigkeit gibt ihr der Wille und des Willens ewige Jugend! ... Da scheut sie keinen Wettkampf mit der glatten Wange des Mädchens – eine »Jungfrau« war sie ohnehin geblieben bei allen ihren Herzensconflicten mit Oskar Binder, Klingsohr, Serlo, Nück, Ceccone, Fefelotti – Gräfin Sarzana war sie nur am Altar geworden ...

Lucinde nahm aus ihrem Schreibbureau ihr Kästchen ... Es hatte die Form einer größern Reisecassette, war von schwarzgefärbtem Holz und mit einem guten Schloß versehen ... Sie schloß es auf – blätterte in Serlo's Papieren – ließ einige Brochen von Türkisen und Diamanten am Lichte funkeln – verlor sich in Träume, überlegte den Brief, welchen sie schreiben wollte, verschloß ihr Kästchen wieder und wollte nun zur Ruhe gehen ...

Als sie in ihrem Schlafcabinet begonnen hatte sich zu entkleiden, hörte sie in der Nähe ein Geräusch ... Es war ein eigenthümlicher Ton, dessen Ursache sie sich nicht erklären konnte ...

Sie ergriff ihr Licht ...

Indem sie um sich leuchtete, fiel ihr ein, daß sie im Nebenzimmer ihr Schreibbureau offengelassen und ihr Kästchen nicht wieder eingeschlossen hatte – ...

Darüber schon zitternd trat sie ins Nebenzimmer, fand hier alles still, verschloß rasch ihr Kästchen und blickte um sich ... Wieder erscholl der fremdartige leise Ton, der von irgend woher draußen und dicht neben ihrem Fenster hörbar blieb ... Jetzt hätte sie den Ton so erklären mögen, als bewegte der Wind einen Klingeldraht ...

Da ein solcher nicht in der Nähe und die Luft still war, die Nacht eher schwül, als windbewegt, so konnte jenes Geräusch vom Winde nicht herkommen ... Es dauerte fort ... Sollten Diebe in der Nähe sein? ... Ihren Dienstboten zu rufen, versagte ihr bei diesem Gedanken schon der Athem ... Sie wohnte zwar in einer lebhaften Straße, aber mit dem Gegenüber eines alten unbewohnten Palastes ... Lauter Ruf hätte auch vielleicht die Diebe entwischen lassen ...

Jetzt bemerkte sie, während jener leise schnurrende Ton fortdauerte, am Fenster einen Schatten, wie von einem Seil ...

Ihr Auge blieb auf diesen hin- und herschwankenden Schatten starr gebannt ...

Sie klingelte jetzt heftig ... Im gleichen Augenblick stürzte vom Dach über ihr ein Ziegel oder sonst ein Gegenstand auf die Straße, der unten zerbrach ...

Auf ihren Balcon, der vielleicht gar durch ein Seil von oben her sollte erstiegen werden, hinauszustürzen hatte sie keinen Muth ... Der große weite Saal, zu welchem jener Balcon gehörte, war unheimlich; um zu den Bedienten und Mädchen zu gelangen, mußte sie ihn durchschreiten ...

Sie klingelte wiederholt und bekam endlich die Hülfe ihrer Leute ...

Vom Balcon aus entdeckte man in der That einen vom Plattdach herabhängenden Strick ...

Die Diener, leidlich beherzte Bursche aus dem Gebirg, sprangen, ungeachtet alles Abmahnens, mit großen Küchenmessern einen Stock höher und von dort, wo sich die Waarenlager eines Tuchhändlers befanden, auf die Plattform ...

Hier regte sich nichts ... Man hatte nur den freien, sternenhellen Himmel und ein unabsehbares Durcheinander von Schornsteinen ... Der Dieb hatte sich also bereits in eines der Nachbarhäuser geflüchtet ...

Luigi, einer der Bedienten, fand das Seil, das mit dreifachem Knoten um einen hohen Schornstein gewunden war und das jedenfalls einen Menschen halten konnte, der sich – etwa auf diesem Wege zum Balcon hätte hinunterlassen wollen ...

Ueber dem lauten Rufen und Erörtern wurde auch die nächste Nachbarschaft im zweiten und dritten Stock lebendig ... Die Mägde machten sich durch das lauteste Schreien Muth ...

Die Nachforschungen, jetzt von den Nachbarn unterstützt, führten zu keiner Entdeckung, welche den Strick erklären konnte ... Beim Schein des von Lucinden in ihr Schlafcabinet getragenen und da erst von ihm entdeckten Lichtes hatte sich ohne Zweifel der Dieb aus dem Staube gemacht ... Die Gräfin mußte warnen, die Untersuchungen auf dem Boden fortzusetzen, da die Lichter hin und her flackerten ... Jetzt erst erkannte sie, in welcher feuergefährlichen Nachbarschaft sie lebte –! ... Die Tuchhändler des Ghetto hatten hier ihre Vorräthe an Tuch und Wolle liegen ... Das Parterre war allerdings so verfallen, daß dem Besitzer des Hauses auf anderm Wege für diese Räume keine Miethe mehr wurde ...

Als es still geworden, der Strick abgeschnitten, die Schlösser und Riegel der Schränke untersucht waren und alles wieder zur Ruhe ging, warf sich die Gräfin in höchster Aufregung auf ihr Bett und ließ sich von den schreckhaftesten Bildern peinigen, die diesen Ueberfall als wirklich vollzogen ausmalten ...

Und wenn er sich wiederholte –? Wenn der Dieb wol gar im Hause, in den Zimmern noch versteckt wäre? ...

Sie hatte sich eingeriegelt und ihr kostbares Kästchen jetzt mit in ihr Schlafcabinet genommen ...

Allerdings lag es nahe, an ihre wunderlichen Handelsgeschäfte, an ihren häufigen Verkauf von Pretiosen zu denken ... Ihr aber bildeten sich andere Vorstellungen ... Sie dachte an die abenteuerlichsten Absichten – sie sah einen Abgesandten Fefelotti's, der sich ihres Kästchens bemächtigen sollte ... Die längst verbleichten Bilder Picard's, Hammaker's, Oskar Binder's tauchten mit frischen Farben vor ihren Augen auf ...

Der Morgen erst bot Beruhigung, der ermuthigende, alles belebende Sonnenschein ... Rings öffneten sich die an jedem Fenster in Rom angebrachten Markisen, die sich Lucinde freuen konnte diese Nacht nicht geschlossen gehabt zu haben; denn nur so hatte sie hören können, was am Fenster vorging ...

Von allen Bewohnern der Straße schien das nächtliche Ereigniß erörtert zu werden ... Neugierige sammelten sich, blickten nach oben und disputirten ... Noch einmal suchte man auf den Dächern die Spur des Diebes und fand noch manchen Ziegelstein losgerissen und manchen alten leeren Blumentopf zertrümmert ... Aber die Oeffnung, wo der Dieb niedergestiegen und entkommen sein mußte, konnte in einer Häuserreihe, welche sich bis an Piazza Navona zog, nicht entdeckt werden ...

Um sechs Uhr kam eine Botschaft, welche die Theilnahme Lucindens für jede andere Angelegenheit, selbst für den Besuch des Polizeimeisters (natürlich eines Prälaten) und die Untersuchung des von ihm als corpus delicti entgegengenommenen und vielleicht auf Entdeckungen führenden Stricks zurückdrängte ... Ihr Kundschafter zeigte ihr an, daß Graf Hugo nach fünf Uhr in einem leichten Reisewagen, welchen drei Pferde zogen und dem sich ein hochbepackter vierspänniger, Gepäck und Dienerschaft führend, anschloß, abgereist war ... Paula war nicht zurückgeblieben ... Sie folgte ihrem Gatten nach Wien ...

So war denn die Entscheidung erfolgt – das jahrelang Keimende endlich zur Reise gediehen – ... Neue Sterne – neue Bahnen ... Paula folgte den Mahnungen ihres einst gegebenen Jaworts und zahlte die lang gestundete Schuld der Ehe ... Lucinde erkannte die ganze Tragweite dieser Veränderungen; ihre Phantasie ging über sie noch hinaus ... Nun galt es in Bonaventura's Leben die freigewordene Stelle einnehmen ... Und wie ergriff sie die Aufgabe, die ihr ein neues Hoffen stellte –! ... Entschieden und offen wollte sie den Geliebten vor den geheimen Conspirationen der Herzogin und der Fürstin warnen, die schon seine Heimat, Castellungo, Neapel und die Verließe der Inquisition in den Kreis ihrer Forschungen gezogen zu haben schienen ... Sie wollte ihm den nächtlichen Ueberfall anzeigen, den sie heute erlebt hatte und Veranlassung daraus nehmen, zunächst die Urkunde einzusiegeln und einen Augenblick zu erspähen, wo sie Bonaventura bei seinem Freunde sicher zu Hause fand ... Auch sie hielt sich in seiner Nähe einen Spion, einen Priester, welchen dem fremden Kirchenfürsten seit einem halben Jahr die Congregation der Bischöfe zur Verfügung gestellt hatte ...

Ihre tägliche Messe hörte sie – »um es mit keinem zu verderben« – bald hier, bald dort ... Sie kleidete sich an und fuhr zunächst an einen Ort in der Nähe des Ambrosi'schen Palastes, wo ihrer an jedem Morgen jener Priester harren und ihr sagen mußte, wo sie den Freund den Tag über sehen könnte, was er beginnen, wo celebriren, wo in Gesellschaft sein würde ... Der junge Abbate sprang dann an den Wagenschlag; sie lehnte ihm ihr Ohr hin und erfuhr, wo sie hoffen konnte Bonaventura zu begegnen ...

Heute hörte sie zwei Nachrichten ... Eine erfreuliche, die, daß beide Cardinäle dem großen Sprachenfest der Propaganda beiwohnen würden, sie also Bonaventura sehen könnte – ... Dann eine erschreckende – beide Cardinäle würden einen Ausflug nach Neapel machen ...

Es war Winterszeit und letztres schon glaublich ... Konnte sie aber nicht folgen? ... Konnte sie nicht den neuesten Ausbruch des Vesuv sehen wollen oder vom römischen Winter, der diesmal sogar Eis gebracht hatte, gleichfalls vertrieben werden? ... Andrerseits sah sie mit zunehmendem Befremden die wichtige Rolle, die im Leben Bonaventura's Neapel zu spielen anfing – ...

Mit diesen wichtigen Kunden fuhr sie in die nächste Kirche – die des Al-Gesú, in der eigentlich Jeder die Messe hören mußte, wenn er zum guten Ton, namentlich zum triumphirenden der Reaction gehören wollte – ...

Während sie dort, über ihre nächsten Entschlüsse brütend kniete, saß Bonaventura in den düsteren Zimmern des Katakombenpalastes in der That voll tiefster Trauer ...

Die Unfähigkeit des Grafen, länger seine Liebe zu beherrschen, hatte im Wettkampf dreier Herzen den Sieg davongetragen ... Noch vor einigen Tagen hatte Paula vom Eintritt in ein Kloster gesprochen – ... Der Tod der Präsidentin von Wittekind war unmittelbar und in der ganzen Herbigkeit eines sich nur ungern dem Gesetz der Natur bequemenden Scheidens von den Freunden miterlebt worden – ... Nun erfuhr Bonaventura, daß das stille Gute Nacht! des gestrigen Abends der Höhe seines Lebens gegolten hatte ... Nun konnte es nur noch abwärts gehen ... Es war zwischen den Freunden so verabredet worden, daß sie sich ganz ohne Abschied trennten ...

Die nächste Zerstreuung, die nächste Füllung der Lücke seines Innern bot die Reise nach Neapel ...

Ambrosi kannte jede Beziehung im Leben seines Freundes ... Als Bonaventura's Mutter gestorben war, ging eine Anzeige dieser Entscheidung in den Silaswald ... Bonaventura würde die Botschaft selbst überbracht haben, hätte ihn nicht noch des Präsidenten Gegenwart und tiefste Betrübniß zurückgehalten – dann, als der Präsident abreiste und nun der Vater, wenigstens für ihn, auferstehen, der Sohn ihm an die Brust sinken konnte, seine Ernennung zum Cardinal ...

Federigo's Absicht, selbst nach Rom pilgern zu wollen, hatten die Freunde nicht erfahren können ... Denn die jesuitische Reaction, die mit dem Jahre 1849 über Europa hereinbrach, drang selbst bis in jenen dunkeln Winkel eines calabrischen Waldes und machte den Einsiedler zum Gefangenen ... Monsignore Cocle, Bevollmächtigter Fefelotti's, hatte jene Versammlung des 20. August gesprengt und sämmtliche Ketzer des Silaswaldes festnehmen lassen ...

Ambrosi mußte das Aeußerste aufbieten, Bonaventura von unüberlegten Schritten zurückzuhalten ... Sofort nach Neapel zu reisen, dort an die Pforte der Inquisition zu klopfen, wie Bonaventura wollte – es war für einen Cardinal und Erzbischof unmöglich, falls nicht davon zu gleicher Zeit Vater und Sohn die größten Nachtheile haben sollten ... Ambrosi kannte aber den Haß der Dominicaner gegen die Jesuiten, die Inquisition gehörte jenen; er zog den General-Inquisitor ins Vertrauen ... Pater Lanfranco wirkte in der That im günstigsten Sinne nach Neapel ... Bald wurde, zur Wuth der Jesuiten, der alte Negrino freigegeben, selbst Paolo Vigo sollte unter gewissen Bedingungen zu Ostern das Sacro Offizio verlassen ... Von Frâ Federigo sowol wie von dem, auf Betrieb der Jesuiten, aufs heftigste von den Franciscanern reclamirten Hubertus hieß es, beide würden nach Rom geschickt werden, sobald die Acten spruchreif wären und den letzten Spruch sollte dann das heilige Officium von Rom fällen ...

Alles das wurde allerdings in einem Stil verhandelt, wie er den in solchen Fällen ehemals üblichen Scheiterhaufen entsprach ... Im geheimen gab aber Pater Lanfranco die Versicherung, daß schon bis zur Weihnachtszeit beide Gefangene in Rom sein würden; schon jetzt würden sie besser gehalten, als jemals andere in ähnlicher Lage ...

Alles das geschah aus Achtung vor den Empfehlungen zweier Cardinäle und vorzugsweise den Jesuiten zum Trotz – ... Eine sofortige Unterbrechung der üblichen Proceduren war nicht möglich ... Federigo galt für einen Waldenser, war beschuldigt, Proselyten gemacht zu haben, Bonaventura mußte sich ergeben in Das, was zunächst nicht zu ändern war ...

Ambrosi bat den Freund in Rom auszuharren ... Er beschwor ihn, sein Interesse für den unglücklichen Vater nicht zu sehr zu verrathen – unfehlbar würde er ihn damit nur verderben – ... Die beiden Frauen, die vor Jahren die maßlosesten Huldigungen vor dem Bischof von Robillante zur Schau getragen hatten, saßen jetzt im Palast des alten, zum schäbigsten Wucherer gesunkenen Rucca, auf Villa Tibur und Torresani, und ersannen nichts als Kränkungen für einen Priester, dessen Erhöhung sie nicht hindern konnten ... Die Herzogin hatte sich dem Präsidenten mit kalter vornehmer Haltung als seine Stiefmutter vorgestellt ... Obschon Erbin eines Vermögens, das Friedrich von Wittekind seinem natürlichen Bruder ausgesetzt hatte, gab sie sich doch die Miene, diese Mittel nicht zu bedürfen ... Beide Frauen waren jetzt verbunden mit Fefelotti ... Sie sahen Terschka bei sich, sie hatten Geheimnisse, die selbst die schlau aufmerkende, freilich immer sanft erscheinende, immer demüthig ergebene Gräfin Sarzana nicht erfuhr ... Ambrosi bat, alles seiner Führung und der nächsten, sicher nicht zu entfernten Zeit zu überlassen ...

Mit Ambrosi war jener Austausch der Freundesbeichten, von welchem sie vor Jahren gesprochen hatten, wirklich erfolgt ... Einer sah auf den Grund des andern ... Ja – Ambrosi war ein Schüler Federigo's und nur glücklicher, als Paolo Vigo ... Ambrosi war ein Märtyrer geworden – um einst mehr zu sein, als ein Mönch ... Was ist ein Dorfpfarrer, sagte er in der That, ganz nach Bonaventura's Ahnung, der mit einem Bischof einen Streit beginnt! ... Nur ein mit dem Papste Streit beginnender Bischof reformirt die Kirche! ... Das war seine Losung ... Die politischen Stürme unterbrachen seine Entwickelung, aber die Stunde reifte ... Vor dem 20. August 18** hatte auch er dem Bruder Federigo geloben müssen, nichts zu sein, als Katholik wie die andern ...

Bonaventura hatte dem Freunde offen gestanden, wer Federigo war ... Mehr noch – er hatte ihm gesagt, daß ihm – die Taufe fehlte ... Getauft bist du mit dem Geiste Gottes! war die Antwort des muthigen Priesters, der ihm ebenso offen gestand, er hätte sein Leben daran gegeben – einst Statthalter Christi zu werden ... Sein Gebet um Kraft und Ausdauer war nichtsdestoweniger ein reines, ein aufrichtiges ... Er brauchte seine Tugend nicht zu heucheln ... Einmal nur strauchelte er, als Olympia von ihm gesagt hatte, seine Lippen hätten im Beichtstuhl ihren Mund berührt ... Ach, er hätte sie geliebt! gestand er dem Freunde. Er hätte sein Bekenntniß darüber, als er bestraft werden sollte, nicht zurückgehalten – Aber – seltsam! selbst dieser Fanatismus, dem Geist einer Sache, nicht ihrem Buchstaben wahr sein zu wollen, hätte sich ihm in Segen verwandeln müssen – für um so heiliger hätte man ihn seitdem gehalten –! ... Wenn Bonaventura sagte: Die Welt erkennt noch Heilige, wenn es ihrer nur gäbe –! – so überhoben sich beide nicht – ihr Sinn war der der Läuterung, Demuth und Entsagung – ...

Die Rettung der katholischen Kirche ist ein allgemeines Concil ... In dessen Hände legt der Statthalter Christi seine Gewalt nieder – ... Das war ihre Losung und beide liebten das Kreuz ... Daß die Religion nicht Philosophie sein könne, verstand sich ihnen, ebenso von selbst, wie, daß der Katholicismus nicht zum Lutherthum übergeht ...

Der treuverbundene Freund hatte dem Trauernden, dessen Liebe zu Paula aufs tiefste aus den eigenen Entbehrungen seines Lebens von ihm nachgefühlt werden konnte, unausgesetzt Nachrichten vom Vater aus Neapel gebracht, hatte ihn um Mäßigung gebeten, hatte alles gethan, um die Ungeduld des Sohns von übereilten Schritten zurückzuhalten ... Bis zur Weihnachtszeit wollte sich Bonaventura zufrieden geben ... Aber die Roratemessen kamen, die Weihnachtskrippen, das neue Jahr brach an – die Gefangenen kamen nicht. Nun wollten sie allerdings beide selbst nach Neapel ...

Den Vormittag des 6. Januar brachte Bonaventura mit geschäftlichen Briefen zu, die an sein erzbischöfliches Kapitel gerichtet werden mußten ...

Er speiste allein – Ambrosi war auswärts und durch sein Amt bis über Mittag gehindert ...

Als Ambrosi zurückkam, begleitete er den Freund zur Piazza d'Espagna, wo die Missionäre der Propaganda ihr großes Sprachenfest hielten ...

Dort mußten sie Pater Lanfranco finden ... Ertheilte ihnen dieser keine Beruhigung, so wollten sie am nächsten Morgen nach Neapel reisen ...

Der Saal war überfüllt ... Alle Welt ergreift in Rom die Gelegenheit, Würdenträger der Kirche in reicher Anzahl versammelt zu sehen ... Erschienen sie hier auch nicht in ihren großen außergewöhnlichen Prachtgewändern, so trugen doch viele ihre regelmäßigen Ordenskleider ... Griechen, Armenier, Kopten, Maroniten befinden sich immer in ihren eigenthümlichen Trachten ... Auch für den Freund der Physiognomik gibt es schwerlich einen interessanteren Genuß, als soviel markirte Priesterköpfe zu studiren ...

Bonaventura und Ambrosi kamen an, als die Feierlichkeit schon im Gange war ...

Die Schüler der Propaganda, jüngere und ältere Scholaren, darunter manche bereits geweihte Kleriker, sprachen in all den Zungen, in welchen sie einst auf Missionsreisen die Botschaft des Heils zu verkündigen hofften ... Wenigstens konnten Proben von einem Viertelhundert Sprachen vernommen werden ...

Ein erhabener Gedanke – ergreifend seine Bedeutung – aber die Ausführung brachte Späße mit sich ... Drollig erklang es dem italienischen Ohr, wenn ihm Slavisch gesprochen wurde ... Ambrosi hatte Bonaventura in eine Falle gelockt ... Er wollte ihn aufheitern ... Als beide ankamen, lachte die Versammlung grade über die Art, wie sich eine Lobpreisung des Höchsten im Polnischen ausnahm ...

Bonaventura glaubte anfangs in einen Concertsaal zu treten ... Bald entdeckte er die kleine Fürstin Rucca, die in elegantester Toilette neben ihrem Ercolano saß und so vertraulich mit diesem lachte, als hätte die zehnjährige Episode ihres Lebens mit Benno gar nicht stattgefunden ... In einer gestickten ordenüberladenen Uniform saß Ercolano, lorgnettirte die Damen und klatschte wie im Theater mit seinen hellen Glaçeehandschuhen Beifall, wenn eine gewandte Zunge rasch über die schwierigen Passagen der fremden Idiome hinwegkam ... Neben Olympien saß zur andern Seite die Herzogin von Amarillas mit schneeweißen Haaren; sie blickte mit unversöhnlichem Groll auf Bonaventura ... Olympia beugte sich demuthsvoll dem Cardinal Ambrosi und verzehrte ihn noch jetzt mit süßlächelndem Gruß – eine Geberde, die ihr auch jetzt noch angenehm stand; gegen Bonaventura dagegen verwandelte sie die süßen Züge in jene ihr eigne plötzliche Kälte und verneigte nicht einmal ihr Haupt, wie dies die Herzogin doch beiden that ...

Gräfin Sarzana fehlte nicht ... Sie hatte in ihrer Nähe so viele, die sich mit ihr unterhielten, daß ihr Olympia schon neidische Blicke zuschoß ... Der von Ambrosi den Freunden bestellte Sitz war zufällig dem der Gräfin Sarzana so nahe, daß sie mit Bonaventura einige Worte wechseln konnte ... Natürlich galten diese der Abreise Paula's ... Schließlich sagte sie:

Morgen in der Frühe, um zwölf Uhr – find' ich Sie da in Ihrer Wohnung, Eminenz? ... Zu keinem Besuch ... Nur einen gewissen Gegenstand wollt' ich an Ihrem Portal abgeben und eine Beruhigung über den richtigen Empfang haben ... Und denken Sie sich – diese Nacht sollte – bei mir – ...

Ein schallendes Gelächter machte ihre fernere Rede für Bonaventura unhörbar ... Ein Neger hatte eben madagassisch gesprochen und Gurgeltöne hervorgebracht, die noch kaum der menschlichen Sprache anzugehören schienen – ...

Bonaventura war über Lucindens Anblick, ihre Rede, ihr Bedauern wegen Paula's ergriffen ... Welche glänzende Toilette hatte die Gräfin gemacht –! ... Sie trug ein schwersammetnes Kleid von dunkelrother Farbe ... Arme und Hals waren frei ... Den allzu grellen Effect milderte ein schwarzer um den Hals festzugehender Spitzenüberwurf ... Um den Nacken schlang sich eine Kette von schwarzen Perlen – mit jenem goldenen Kreuze, das sie nie ablegte ... Hier und da war ihr Haar schon grau; ein kleines schwarzes Spitzentuch, das an beiden Seiten mit Brillantnadeln festgehalten wurde, lag darüber ... Die unter den Spitzen vorschimmernden immer noch wohlgerundeten braunen Arme trugen am Handgelenk kleine zierlich gewundene Schlangen aus schwarzer Lava ...

Vorzugsweise schien Fürst Ercolano die Claque zu leiten ... Eine Côterie ihm ähnlich aufgeputzter Dandies schlug auf seinen Wink die Hände zusammen, so oft eine halsbrechende Passage ohne Stocken von den Lippen der Sprecher glitt, unter denen sich Neger und Malaien befanden ... Selbst das heilige Hebräisch fand keine Gnade vor den Ohren dieser Zuhörer, denen die andächtiger gestimmten Fremden schon zuweilen zischen mußten ... Freilich klangen einzelne Sprachen komisch genug; andere desto melodischer; z.B. Türkisch ... Als türkisch gesprochen wurde, schlug Gräfin Sarzana die Augen nieder ... Fürchtete sie, um Abdallah Muschir Bei beobachtet zu werden –? ... Das Arabische klang schroff, rasch, »wie Rosseshuffschlag« Neigebaur: »Der Papst und sein Reich.«... Ein syrischer Priester sprach kurdisch; in sanftem Wellenschlag flossen oft die Idiome der wildesten Völker ... Dunkel dagegen und trübe erklangen die Sprachen des Nordens, das Englisch der Irländer und Schotten ... Einige förmliche Wettreden wurden aufgeführt, an denen mehrere Sprecher theilnahmen ... Auch das Holländische wurde hörbar – Deutsch durch den rauhesten oberbairischen Dialekt, der nicht im mindesten Anklang fand und vorzugsweise von Olympien lächerlich gefunden wurde, indem sie höhnische Blicke auf Bonaventura warf ...

Ein unverkennbarer Blick aus den Augen der Gräfin Sarzana sagte: Sprächest Du das Deutsche, so wär' es Wohllaut und die Sprache der Götter! ...

Die Stimmung, in welcher sich Bonaventura befand (vor ihm lagen die Fenster der von Paula heute verlassenen Wohnung; sie waren geöffnet, mit Spuren der Abreise ihrer bisherigen Bewohner) bestimmte ihn, ihrem Blick durch milden Ausdruck des seinigen zu erwidern ... War es eine durch die deutsche Sprache geweckte Rührung beim Gedanken an die Heimat, beim Hinblick auf alles, was sein Leben, das Leben seiner Nachbarin auf dem Boden des Vaterlandes schon durchlaufen hatte und wie sie beide das Gewand einer fremden Nationalität angezogen hatten und jetzt in der That durch ihre Lage Verbundene waren – oder welches andere Gefühl ihn ergriffen haben mochte – sein Blick blieb voll Milde und Antheil ... Lucinde hätte gewünscht, die Rückgabe der Urkunde schon für heute angesagt zu haben ... Sie suchte nach einer Gelegenheit, sich ihm verständlich zu machen und hatte ihn auf alle Fälle wegen Neapels zu befragen – ...

Vor Bonaventura saßen mehre Mönche in schlichten Ordensgewändern ...

Unter ihnen befand sich Pater Lanfranco, der General der Dominicaner ...

Ambrosi blinzelte seitwärts auf Bonaventura und flüsterte ihm die Bitte, an den General keine Frage wegen Federigo's zu richten ... Neben dem General saßen zwei fremde, wie es schien, angesehene Weltpriester, denen sich anmerken ließ, daß sie zu den Affiliirten der Jesuiten gehörten ... Römischkatholische Geistliche haben darin einen Blick, der sich selten täuscht ...

Pater Lanfranco in seiner weißen Kutte saß mit gebeugtem Haupte, unbeweglich; am kahlen Scheitel war ersichtlich nur sein Gehör in Thätigkeit ... Ein südfranzösischer Kopf, scharf ausgeprägt ... Ein Schädel nicht rund, eher länglich und nach oben viereckt auslaufend, wie die getrocknete Feige ... Bei einem Lobgesang auf Maria in provençalischer Sprache wurde seine unbewegliche Gestalt lebendiger ...

Ein italienischer Zögling trat auf und sprach malaiisch – die Abwechslung blieb die bunteste – ...

Als der Redner in seinem wunderlich lautenden Vortrag stockte, sagte einer der Nebenmänner des Generals:

Im Sacro Officio sollen Ihre Brüder in Neapel einen Mönch haben, der diese Sprache besser versteht! ...

Sie kommt mir vor, entgegnete Lanfranco in fremdartigem Italienisch, als balancirte ein Jongleur auf der Lippe mit geschliffenen Messern; da kann wol eins zur Erde fallen ...

Bonaventura konnte nicht den Namen Neapels nennen hören ohne aufzuhorchen ... Noch dachte er nicht an den Bruder Hubertus, dessen ehemaliges Leben in Java ihm bekannt sein durfte ...

Nach einer Weile wurde auch ein auf dem Programm verzeichneter holländischer Vortrag gehalten, für welchen der General der Jesuiten, ein Holländer, competent gewesen wäre – er war nicht anwesend ...

Diese Probe ging geläufiger ...

Der General der Dominicaner sagte zu seinem Nebenmann:

Ist Ihr Malaie nicht auch mit dem Holländischen vertraut? ...

Gewiß! sagten seine beiden Nebenmänner zu gleicher Zeit und einer fügte hinzu:

Jener Bruder Franciscaner, der vor Jahren den Pasqualetto erschoß ...

Bonaventura, erkennend, daß von Hubertus die Rede war, wollte sich in die Unterhaltung einmischen, als ihn Ambrosi mit einer heimlichen Handbewegung zurückhielt ...

Merkt Ihr denn nicht, mein Freund, flüsterte er ihm zu, daß es nur darauf abgesehen ist, Ihre Aufmerksamkeit zu erregen? ...

In der That warfen die beiden Weltgeistlichen flüchtig schielende Blicke auf die hinter ihnen Sitzen den und trugen ihre Plaudereien so stark auf, daß Ambrosi's Verdacht sich bestätigte ...

Der General schien wie Ambrosi zu denken und schwieg ...

Doch nun wurden von seinen Nebenmännern auch die Ketzer des Silaswaldes erwähnt ... Frâ Federigo's Name fiel, für beide, Bonaventura und Ambrosi, ein elektrischer Schlag ...

Immer wieder unterbrach der Redeactus, das Beifallklatschen und Lachen, das Blättern in den Programmen eine Unterhaltung, die der General offenbar auf andere Gegenstände zu lenken suchte, als die waren, an denen seine Nebenmänner festhielten ...

Jetzt sagte der Gesprächigste, der dem General zur Linken saß:

Eure Gnaden werden am besten die Bücher lesen können, welche bei jenem Hexenmeister im Silaswald gefunden wurden; die meisten verbrannte er in seiner Hütte ... Sie sind in provençalischer Sprache geschrieben ...

Sind die Gefangenen eingetroffen? fragte jetzt der andere ...

Ich hörte bei Monsignore Cocle, fuhr der erste fort, daß Einer von ihnen kaum die Anstrengung der Reise überleben wird ...

Dennoch sind sie da! sprach Lanfranco scharf und bestimmt und schnitt damit das Gespräch ab ...

Die Wirkung dieser Worte, wurden sie nun in berechneter Weise so betont gesprochen oder nicht, war keine andere, als daß sich Bonaventura sofort erhob und zum Gehen Bahn machte ...

Das Aufsehen dieser Entfernung, der sich auch Cardinal Ambrosi anschloß, war allgemein ... Jetzt sah man recht, wie diese beiden Priestererscheinungen das Interesse der römischen Gesellschaft bildeten ... Für ihren hohen Rang zwei noch so jugendliche und männlich schöne Gestalten ... Der eine schlank und ernst wie die Cypresse, der andere blühend wie ein Rosenstrauch ... Von manchem Maler, mancher englischen Touristin, wurden ihre Züge verstohlen aufgefangen ... Beide senkten ihre Augen ... Jener, um nur seiner Sinne mächtig zu bleiben und im überfüllten Saal nicht ohnmächtig zu werden; dieser mit der ihm eignen lächelnden Schüchternheit, die ihm selbst in seinem jetzigen reiferen Alter geblieben war ... Der Salonwitz nannte beide Freunde die »Inséparables«, andere »Castor und Pollux«, andere »Orest und Pylades« – natürlich mit jenen verdächtigen Nebenbeziehungen, die dem katholischen Priesterstand zur Strafe anhaften werden, solange er das Weib verschmäht ...

Im Vorsaal wurde dem Cardinal Ambrosi von einem Dominicaner ein Brief übergeben ... Er erbrach ihn rasch ...

Als die beiden Freunde in ihrer alterthümlichen vergoldeten Kutsche saßen, gab Ambrosi den Brief an Bonaventura ... Er enthielt die Worte:

»Die Männer von Calabrien sind angekommen ... Dem Besuch des Erzbischofs von Coni bei seinem Diöcesanen, dem Einsiedler von Castellungo, steht nichts im Wege – Leider findet er den Mann, trotz aller ärztlichen Bemühungen, dem Tode nahe ...«

Zum Vatican! rief Bonaventura dem Kutscher mit fieberhaft zusammenschlagenden Zähnen ...

Beruhige dich –! sprach Ambrosi und zitterte doch selbst ...

Wir treffen ihn sterbend –! ... Wie ich geahnt! – Meine Strafe –! ...

Ambrosi versuchte Hoffnungen auszusprechen ... Die Stimme versagte ihm ... Wie eine Mutter nach ihrer Geburtsstunde von Fieberschauern erschüttert wird, so lag Bonaventura in Ambrosi's Armen ... Selbst dem Befremden, das Ambrosi über die Reden der beiden Geistlichen aus Neapel auszudrücken versuchte, konnte sein Ohr nicht mehr achten ...

Der Wagen jagte über den Corso, der Tiberbrücke zu und zum Vatican – ...

Für viele der beim Sprachenfest Zurückgebliebenen hatte die Sitzung durch die Entfernung der beiden gefeierten jungen Cardinäle ihr Interesse verloren ... Da sie nicht wiederkamen, so entfernten sich auch andere ... Sogar Olympiens Wagen und der der Herzogin rollten bald dahin ... Vor ihnen hatten sich schon die beiden Weltgeistlichen entfernt ... Nun ging auch der General der Dominicaner ...

Lucindens scharfes Auge beobachtete wohl, wie alles das in irgend einem Zusammenhange stand, wie irgend etwas vorgefallen sein mußte, was erschütternd in das Leben ihres Heiligen griff ... Was konnte es sein –! Ihr konnte etwas verloren gehen –? ... Was hatte Olympia im Werk? ... Auch ihr war nur ein flüchtiger Gruß von ihr zu Theil geworden – ... Schon oft hatte auch Olympia nach dem Inhalt ihres Kästchens verlangt – ... Schon oft hatte auch sie von den Geheimnissen der Inquisition gesprochen und ihre Thorheit verwünscht, die sie vor Jahren die Dominicaner, um Bonaventura's willen, beleidigen ließ – ...

Lucinde, hochaufgeregt, erhob sich ... Daß sie am Palast der Katakomben halten und durch ihren Bedienten hinaufsagen ließ: Gräfin Sarzana erkundige sich, ob Seine Eminenz ein Uebelbefinden betroffen hätte? war in der Ordnung ... Sie erfuhr, daß beide Cardinäle noch nicht zurück waren ...

So konnte der Gesundheit des Freundes nichts Bedenkliches begegnet sein – ...

Sie sann den Gründen seiner schnellen Entfernung vergeblich nach und verlor sich in Vorstellungen wunderlicher Art ... Und wie es dem Menschen geht, daß er seine eigne Betheiligung am Schicksal andrer nur allein vor Augen hat und, sei's im guten oder schlimmen Sinne, diese übertreibt, so stand ihr auch nur ihr Geheimniß über Bonaventura's Taufe vor Augen. Es ist entdeckt –! sagte sie sich ... Sturla wußte davon ... Es fehlt noch die authentische Bestätigung – die Urkunde aus meiner Hand –! ... Man wollte sie schon diese Nacht stehlen – ... Sie hätte ihm Leo Perl's Brief noch heute zurückgeben mögen ...

Bei alledem – welch glückliche Beziehung schien sich nun doch, ohne Paula, wiederherzustellen –! ...

Die Wonnen eines liebenden weiblichen Herzens sind nicht zu ermessen ... So nur allein am Fenster des Geliebten einige Minuten harren, so nur die Kunde empfangen zu dürfen, man würde die Anfrage ausrichten – er kommt – er denkt an dich – er besinnt sich auf den gewissen Gegenstand – er lächelt – er erinnert sich der beiden Abschiede, die ich von ihm nahm, jener beiden Male, wo ich vor ihm auf der Erde lag – alles das schon allein kann eine Welt des Glücks für ein wahnbethörtes, für die größten Lebenshoffnungen von kleinen Almosen zehrendes Herz werden ...

Die Gräfin kam in ihre heute aus Besorgniß doppelt erhellte Wohnung gerade zur rechten Zeit, um sich mit dem Monsignore Vice-Camerlengo, dem Gouverneur von Rom, zu verständigen ... Auch dieser Beamte war ein Priester ... Er ertheilte den im Kirchenstaat in solchen Fällen üblichen Bescheid: Lassen Sie es auf sich beruhen, Eccellenza –! Entdeckt man die Sache, wie sie ist, so könnte es – noch schlimmer werden! ...

Lucinde kannte Rom ... Der hohe Prälat blieb eine Weile zum Plaudern; dann war sie allein – frei – schloß sich in ihr Zimmer ein und begann den Brief, der die Urkunde begleiten sollte ... Sie hauchte in diese Zeilen ihr ganzes Leben ...

13.

Besucht man in Rom die Peterskirche, läßt sich ihre geheimen Kammern aufschließen, die gleich fürstlichen Antichambren eingerichteten Sakristeien, und schreitet man dann über einen kleinen, der deutschen Nation uralt angehörenden Kirchhof und an Gebäuden vorüber, in denen die Wäsche des heiligen Vaters und das Leingeräth zum Kirchengebrauch im Sanct-Peter gereinigt und getrocknet wird, so findet man in einer engen menschenleeren Gasse ein unschönes Eckgebäude mit kleinen, unregelmäßigen Fenstern – ein Gebäude, das einer alten Kaserne gleicht ...

Ein unförmliches Thor sieht vollends dem Eingang zu einer Festung ähnlich ... Im düstern Hofe befindet sich ein Wachtposten ... Man gefällt sich in Rom darin, dies Gebäude der Welt als ein solches zu zeigen, das sich gleichsam überlebt hätte ... Es ist der Palast der Inquisition ...

Michael Ghislieri, als Pius V. Anstifter der Bartolomäusnacht, war einst der Besitzer dieses Palastes und machte ihn den Dominicanern zum Geschenk ...

Im vorderen Hause wohnen die Inquisitoren und ihre »Familiaren« ... Dann kommen zwei Höfe, die von einem Mittelgebäude getrennt werden ... Im hintern Hause liegen die Gefängnisse des Sacro Officio ...

Im achtzehnten Jahrhundert war auch in die katholische Kirche der freisinnige Geist der Zeit gedrungen – die Franzosen der Republik fanden 1797 die Gefängnisse der Inquisition leer ... Ihre Folterkammern und unterirdischen Verließe konnten nicht entfernt werden; sie blieben grauenvoll genug anzusehen, wie nur ein alter Hungerthurm von Florenz oder Pisa ... Die Römlinge behaupten, die Revolution von 1848 hätte das Bedürfniß gehabt, wirkliche Gefangene, »Opfer der Inquisition«, jedenfalls menschliche Gebeine, Todtenschädel, Zangen und Folterinstrumente vorzufinden und die Dictatoren der Republik hätten zu dem Ende das Arrangement getroffen, dergleichen vorfinden zu lassen ... Einige Professoren der Sapienza sind noch jetzt bereit, zu erzählen, daß ein ganzer Vorrath von Gerippen, Knochen, unter andern das Skelett einer Frau, von deren Schädel noch das schönste Haar niederfloß, aus der Anatomie zu diesem Zweck wäre geliefert worden ...

Als noch lebenden Gefangenen entdeckte der stürmende Volkshaufe von 1848 einen einzigen ... Einen ägyptischen Erzbischof, der hier seit Jahren eingekerkert saß; widerrechtlich hatte er die erzbischöfliche Weihe empfangen, entkleidet konnte er derselben nicht mehr werden, der Duft der priesterlichen Salbung verfliegt selbst am Verbrecher nicht – so mußte der ägyptische falsche Kirchenfürst sich gefallen lassen, hier im lebenslänglichen Kerker Erzbischof eines Pyramidengrabes zu sein ... Die Aegypter lieben und verehren die Thiere ... Der Gefängnißwärter, ein Laienbruder der Dominicaner, besaß einen Vogel ... Diesem hatte der falsche Erzbischof die schönsten Weisen gelehrt, ihn täglich gefüttert – einige Jahre lang ... Da brach der Volkshaufe ein, befreite ihn – der Aegypter kehrte in die Welt zurück, wußte aber nicht, was er in ihr beginnen sollte ... Er hatte Sehnsucht nach seinem Vogel und bat, ihn lebenslänglich in seinen Kerker zurückzulassen Thatsache.) ...

Die alten Verließe, in denen es einst nicht so idyllisch herging, sind noch da; sogar die Reste des Neronischen Circus, auf welchen diese ganze Umgebung des Vatican gebaut wurde ... Folterkammern, und nicht aus heidnischer, sondern christlicher Zeit, eiserne Ringe an den Mauern, Inschriften an den Wänden, die von den Gefangenen herrühren, wie: »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen leiden, denn das Himmelreich ist ihrer« – Alles das findet sich ... Auch die Stätten sind da, wo die Bekenner des geläuterten Glaubens verbrannt wurden, wie jener Luigi Pascal aus dem Silaswalde ... Hier liegen noch zu Tausenden die Exemplare jener oft kaum noch aufzutreibenden Bücher, die Rom verbrennen ließ ... Die Proceßacten aller Inquisitionsopfer liegen hier beisammen zu Kapiteln in der Geschichte des menschlichen Geistes, die noch geschrieben werden sollen ... Und noch jetzt stehen über der Schwelle jedes Kerkers Bibelsprüche, die gewiß oft mit grausamem Hohn die Seele des Gefangenen verwunden mußten, wenn er sie beschritt und las: »Du wirst verflucht sein, wenn du eingehst, und verflucht, wenn du ausgehst!« – Wörtlich zu lesen.) ...

Die Verurtheilung der Bibelleser und der Verbreiter des Protestantismus durch die Inquisition fehlt allerdings auch noch jetzt keineswegs ... Die Dominicaner von Florenz, die einst ihren eigenen Prior Savonarola verbrannten, thaten auch noch gegen das Madiai'sche Ehepaar 1856.) ihre Pflicht ... Aber die Folterwerkzeuge und Hinrichtungen sind jetzt in Italien an die politischen Gefängnisse übergegangen ... Vorführungen und Verurtheilungen im schwarzverhangenen Saale des Tribunals mit dem Wappen Pius' V. und dem Porträt des heiligen Dominicus kommen nur noch selten vor ... Die Qualificatoren und Familiaren der Inquisition sitzen dann wie beim Gericht der Vehme ... Die Fenster sind verhangen – Altar und Crucifix stehen unter einem Baldachin von schwarzem Sammet – sechs Wachskerzen sind angezündet ... Zur Seite erhebt sich eine schwarze Estrade, auf welche der Pater Ankläger tritt, um die Beschuldigungen vorzulesen ... Beginnt ein Gericht, so öffnet ein Official der Inquisitoren die Thür und ruft: Ruhe! Ruhe! Ruhe! Es nahen die heiligen Väter! ... Dann treten diese, in ihren weißen Kutten, schwarzen Mänteln und Kapuzen, feierlich ein, knieen vor dem Altar, beten, erheben sich, und ihr Führer, der Inquisitor-Commissarius, beginnt den heiligen Erleuchtungsgesang: »Veni Creator spiritus« ... Dann ergreift der Vorsitzende die silberne Klingel und die Angeklagten müssen erscheinen – in braunen Kleidern, um den Hals den Strick, in der Hand eine brennende Kerze ...

Auch ein aus Neapel hereingebrachter »waldensischer Geistlicher« und ein Laienbruder des heiligen Franciscus, der eines unsteten, abenteuerlichen Lebens angeklagt: war, mit ihnen ein Geistlicher, welcher trotz seiner Klausur in einem Strafkloster dennoch zu mehreren von jenem Geistlichen verführten ketzerischen Seelen hielt, endlich ein alter Hirt aus Calabrien hatten allerdings so noch im vorigen Jahr vor einem Gericht der dortigen Inquisition gestanden ...

Das heilige Officium von Neapel lieferte sie auf höhere Weisung nach Rom – wohin drei von ihnen vor kurzem angekommen waren ... Verschmachtet der Eine – nicht infolge der an ihm verübten Martern oder peinlicher Entbehrungen, sondern durch die Jahre ... Die beiden andern gedrückt durch Kummer und Sorge um diesen ihren greisen Mitgefangenen ... Negrino wurde in den Silaswald zurückgeschickt ...

Einen Tag vor ihrer Abreise von Neapel standen sie alle vier vor dem dortigen Gericht zum letzten mal – ... Den Bruder Federigo mußten schon da die Laienbrüder der Dominicaner tragen ... Was ihnen allen zur Last gelegt wurde, hatten die Gefangenen eingestanden ... Der Spruch war nicht zu hart ... Die Jesuiten wollten das Verderben dieser Leute – so trotzten die Dominicaner ... Das ist die innere hierarchische Welt ... Hubertus sollte zu seinem gleichfalls in Alarm gebrachten Orden zurück in die Strafzellen auf San-Pietro in Montorio ... Federigo sollte seinen Spruch in Rom empfangen ... Paolo Vigo hatte geloben müssen, Italien zu verlassen ... Negrino wurde auf einige Jahre excommunicirt und unter polizeiliche und kirchliche Aufsicht gestellt ...

Die Oberaufsicht über die Gefängnisse der Inquisition hat nicht der General der Dominicaner allein, sondern mit ihm ein Maestro del Sacro Palazzo, gleichfalls ein Dominicaner, zu gleicher Zeit Haushofmeister des Papstes, nach unserm Sprachgebrauch Kammerherr und Oberhofmarschall ... Die Aufsicht im Inquisitionspalast selbst führt ein einfacher Prälat des Officiums ...

Dieser war keinesweges erstaunt, in so eiliger Hast zwei Cardinäle vorfahren zu sehen ... Der General, – dieser war es, der dem Cardinal Ambrosi geschrieben – hatte bereits auch ihn instruirt ... Der Erzbischof von Coni hatte ordnungsgemäß die seelsorgliche Competenz für den ehemaligen Eremiten von Castellungo ... Waren vollends beide Deutsche, so konnte der Besuch ganz in der Ordnung erscheinen ... Im Vatican waren Bonaventura und Ambrosi gerngesehen; der Maestro del Sacro Palazzo, Hofmarschall Pater Tommaso hatte schon seit längerer Zeit zu allen, jene Ketzer aus dem Silaswald betreffenden Wünschen Ambrosi's seine Zustimmung gegeben ...

Cardinal Ambrosi stieg zuerst aus und erklärte mit bewegter Stimme, Monsignore d'Asselyno wünsche Einlaß in die Zelle des sogenannten Frâ Federigo ...

Der Prälat setzte der Erfüllung dieses Wunsches nichts entgegen und machte dem noch im Wagen sitzenden Cardinal d'Asselyno die Anzeige, der General und Pater Tommaso hätten bereits die entsprechenden Befehle gegeben ...

Bonaventura stieg aus – ... Seine Caudatarien mußten ihm aus dem Wagen helfen ...

Ambrosi kannte Hubertus von ihrem Zusammenleben im Kloster San-Pietro in Montorio her ... Nicht auffallen durfte es, wenn auch er wünschte, solange zu einem der Gefangenen gelassen zu werden ... Hubertus war ein Mitglied des Ordens, dem er selbst angehörte ...

Der Prälat erklärte, daß Hubertus und Paolo Vigo versprochen hätten, sich bis auf weiteres nach San- Pietro in Montorio zu begeben – aber der Aelteste der Gefangenen, Frâ Federigo, wäre bedenklich erkrankt und schiene seinem Ende nah ... In Ambrosi's Antlitz zuckte es schmerzlich auf – er wollte die vielleicht letzte Begegnung zwischen Vater und Sohn nicht stören ... Obschon selbst von mächtigster Sehnsucht nach seinem alten Lehrer ergriffen, ließ er Bonaventura den Vortritt ...

Der Prälat führte seinen hohen Besuch über den Hof eine Stiege hinauf, wo sich die Cardinäle trennen mußten ... Noch geleitete Ambrosi den halb ohnmächtigen Freund bis vor die Zelle, die er bat für diesen aufzuschließen ... Ueber ihr standen die grausamen Worte aus dem 109. Psalm: »Der Satan muß stehen zu deiner Rechten!« Vorhandene Inschrift.... Wie auch die Jesuiten alles aufboten, die Dominicaner zur Ausübung ihrer alten Gerechtsame zu zwingen, doch konnte man sagen: Der Katholicismus dieser Form ist todt und das Al-Gesú kann und wird ihn nicht wieder lebendig machen ...

Die Thür steht offen! sprach der Prälat ... Zwei Väter sind beschäftigt, dem Unglücklichen die letzten Tröstungen zu geben ... Aerzte hat er abgelehnt ... Doch sind deren in der Nähe ... Sie geben keine Hoffnung – ...

Die letzten Tröstungen! – sprach für sich Ambrosi und setzte laut hinzu: Ueberlaßt die Vorbereitung sei nem Oberhirten! ... In der Stille der Einsamkeit wird die Seele des Armen seinen Mahnungen zugänglicher sein ...

Der Prälat, einverstanden und verbindlich sich verbeugend, öffnete ohne Argwohn die Thür ...

Zwei weißgekleidete Mönche saßen in einem dunklen Vorgemach und lasen mit lauter Stimme im Brevier ... Der Prälat winkte ihnen aufzuhören und ihm zu folgen ... Sie traten mit ihm hinaus ...

Bonaventura's Seele drohte den Körper zu verlassen ... Bewußtlos hob er den Fuß über die Schwelle – Die Thür wurde leise hinter ihm angelehnt ... Hinter dem dunklen Vorgemach folgte ein Zwischenzimmer ... Es wurde durch eine Lampe erhellt, die in einem dritten Raum, in einem Alkoven stand ... Noch konnte der athemlos und zitternd Stehende nicht das Lager entdecken, wo jener ihm nun endlich zugängliche – Begriff lag, der einen Augenblick nach dem Gruß der Liebe und des Erkennens vielleicht für immer aus dem Leben schied ... Ein Begriff –? ... Wenn die Person, die ihn erfüllte, dennoch eine andre war –? ...

Eine Weile verharrte Bonaventura in einer unbeweglichen Stellung ... Alle Lebensströme schienen in diesem Augenblick ihm zu stocken ... Eine unendliche Freude und ein unendlicher Schmerz stritten um die Herrschaft in seinem Innern ...

Qui – viene? ... erscholl es jetzt mit einem Ton, der dem Lauschenden durch die Seele schnitt und der ihm nicht bekannt war ...

Bonaventura schritt näher ... Jetzt sah er, daß in einem Winkel des Alkovens ein Bett stand, auf welchem eine Gestalt in einem braunen, warmwollenen Büßerkleide lag ... Er sah nur die langen weißen Haare des ihm abgewandten Hauptes ... Auch eine erwärmende Decke lag auf dem ausgestreckten Körper ...

Siete – voi, miei – cari – figliuoli? ... fragte die Stimme und setzte die Anwesenheit der Mönche voraus ...

Die Stimme durchschnitt des Sohnes Herz ... Nun war es doch wie ein Klang, den er kennen mußte – ein Klang wie die Erinnerung eines Weihnachtliedes der Jugendzeit ...

Legite dunque! ... La vostra lettura – non mi dispiace ... sprach der Greis mit matter Stimme – Die Bewegung, welche die Rede unterbrach, schien von Fieberfrost zu kommen ...

Bonaventura trat einen Schritt vor und fragte, mit leiser Stimme und in deutscher Sprache:

Habt Ihr es kalt, mein – Vater –? ...

»Kalt« und »caldo« die beiden Sprachen Gegensätze ... Bonaventura sprach so leise, daß vernehmbar nur das Wort »kalt« von seinen Lippen kam ...

Caldo! Caldo! sprach der Greis mit Misverständniß und deutete mit beruhigtem Ton an, die Wärme der Decke genüge ihm ....

Bonaventura sah nun vollkommen die langausgestreckte Gestalt – die sich ein wenig wandte, da der Schatten, welchen der Angekommene auf die weißgetünchte Wand fallen ließ, den Greis zu befremden und aufzuregen schien ...

Caldo – nahm Bonaventura, sich jetzt ein Herz fassend, das Wort wieder auf und setzte in italienischer Sprache die verhängnißvolle, den Moment der Erkennung, wenn es sein Vater war, entscheidende Frage hinzu: Caldo come sotto una coperta di neve –! ...

Auf dies Wort: »Warm wie unter einer Schneedecke?« – folgte erst eine Todtenstille ... Dann richtete sich der Greis auf, sank, da die Kraft nicht ausreichte, auf seine beiden Arme zurück, die sich gegen das Lager anstemmten, und richtete die mit weißen Brauen umbuschten Augen weit aufgerissen auf die im Glanz ihrer Cardinalswürde vor ihm stehende Gestalt ...

Er mochte denken: Kommt ihr endlich – und bist du Ambrosi oder mein Sohn? ...

Nun sah Bonaventura das von den Spuren des Alters, des Kummers und der nahenden Auflösung zerstörte Angesicht, sah Züge, die nur mühsam aus dem weißen Barte, aus dem langhinflutenden Haare zu er kennen waren – aber – es war sein Vater ... Hatte ihm der Ton der Stimme schon die volle Bestätigung gegeben, jetzt bedurfte es keiner weiteren Versicherung ... Langsam sank Bonaventura zur Erde nieder und beugte sein Haupt vor dem Greise, der nur durch diese Zeichen der Liebe und durch die kostbaren Gewänder seinen Sohn erkannte – ... Durch die lange Reihe der Jahre hatte auch dieser eine Veränderung seines Ausdrucks erfahren, die jenen Jüngling, dessen Bild der Vater im Herzen trug, nicht wiedererkennen ließ ...

Bona –! hauchte der Greis ... Was weckst du – mich vom – Tode –! ... Ich liege – unter dem Schnee – der Alpen ...

Und der Tod der Mutter – erst – durfte den Schnee schmelzen! ... wehklagte Bonaventura mit thränenerstickter Stimme und mit einem wie vorwurfsvollen, doch innigzärtlichen Ton ...

Der Greis legte die mageren, zitternden Finger auf das purpurrothe Sammetbaret und die Tonsur des Sohnes ... Wie ein Blinder, der durch Tasten sich erfühlen muß, was sein Auge nicht erkennt ... Schon war er auf sein Lager zurückgesunken, als er mit Thränen hauchte:

Der Mensch ist sich – seine eigene Welt ... Was zürnst du mir –! ... Dann – lange ihn betrachtend – fügte er fast scherzend und doch tief wehmüthig hinzu: Ich – kenne – dich nicht ...

Mein Vater! rief Bonaventura, des Ortes, wo er sich befand, nicht mehr achtend, beugte sich über den Greis und bedeckte ihn mit seinen Küssen ...

Die Thränen mehrten sich in des Greises Augen, die sich wieder schließen mußten ... Leise sprach er:

Nur eine – kurze – Auferstehung! ...

Lebe, mein Vater! ... Ist denn kein Arzt hier? ... O, verschmähst du alles? ... Daß ich einen Heiligen Gottes nicht noch erhöht sehen soll –! ...

Die rechte Hand des Greises deutete eine Weile nach oben – warnte zur Vorsicht, wobei ein unendlich liebevoller Blick der Augen ihn unterstützte – dann sank die Hand kraftlos auf die Decke ...

Eine Pause trat ein, die nur vom stillen Weinen Bonaventura's und von den liebkosenden Bewegungen seines Vaters unterbrochen wurde ...

Hat dich Gott so erhöht! ... sprach der Greis, die Gewänder des wiederholt Knienden berührend ... Und als dieser schwieg und die Zeichen seiner Würde mit Geringschätzung betrachtete, setzte er hinzu:

Als du – Bischof in Robillante wurdest, da – mußt' ich fliehen ... Denn eines Mannes – That soll – nicht halb sein ... Ich wollte nicht – mehr für die Welt – am wenigsten die Meinen – am Leben sein ... Deine Mutter – wollt' ich glücklich machen ...

Sie wurde es nicht –! ... sprach der Sohn ...

Der Greis erwiderte nichts ...

Damals schon wollt' ich dich einem Schicksal entreißen, dem du nun doch erlegen bist –! fuhr der Sohn fort und betrachtete die elende Umgebung ... Man wird dich mir herausgeben müssen ... Man soll dich in einer Sänfte in meine Wohnung, in die Wohnung deines edeln Ambrosi tragen – ...

Ambrosi! sprach der Vater und faltete voll Verehrung die Hände ... Wo ist – er –? ...

Ich rufe ihn – fuhr Bonaventura fort ...

Der Greis tastete nach seiner Hand und sprach:

Zum – Ketzer – und mich – in das Haus – der Cardinäle? ... Ich sehe – auch so – mit Freuden auf meine – Saat ... Herzen fand ich, in denen sie aufgegangen ... Auch in den euern ... Mein Geheimniß – bleibe bedeckt – vom – Grabe ...

Vater! flehte Bonaventura, wir beide sehnen uns nach dem Martyrium! ... Auch Vincente ist angekommen an der Grenze seiner großen Gelübde ... Nur auf der Höhe wollte er leiden, wie Jesus auf einem Berge litt ... Dank, Dank deiner Lehre ... Er ist heilig – nicht ich! ...

Der Greis faltete, allen diesen Worten scharf aufmerkend, seine Hände und sprach:

Die Zeugen des gekreuzigten – Lammes seh' ich – in weißen Gewändern ... Sind das – die Glocken – der Peterskirche – die so läuten –? ... Kann – auf Erden – Stolz wol ewig – währen? ...

Mit bangem Herzen hatte sich Bonaventura erhoben und eine hölzerne Bank dem ärmlichen Bette nähergerückt ... Erschüttert von dem, auch ihm aus der Seele gesprochenen Worte, daß die Peterskirche nur den Eindruck des Stolzes mache und beschämt vom Pomp seiner bunten Kleider, bat er wiederholt:

Schon die sechste Stunde ist es ... Alles ist dunkel ... Ich lasse eine Sänfte bringen und sie tragen dich in die Wohnung Ambrosi's ... Und das Officium gestattet es ... Mehr noch, ich bekenne dich als meinen Vater ...

Mein Sohn! wiederholte abwehrend der Greis ... Unser Geheimniß decke das Grab ... Schon um Wittekind's willen ... Ich habe den seligsten Tod ... Schöner, als ich ihn je geträumt ... Konnt' ich nicht in meiner Wildniß – bittrer enden? ... In Castellungo – ... Horch, was – läuten – so – die Glocken –! ...

Die Augen des Greises wandten sich wie innenwärts ...

Jedes Wort ist ein ewiger Vorwurf meines Innern! nahm Bonaventura mit äußerstem Schmerz die abbrechende Rede des ohne Zweifel in Erinnerungen an Gräfin Erdmuthe und an seine Hütte bei Castellungo verlorenen Vaters auf ...

Dieser betrachtete ihn und sprach liebevoll mit zurückkehrendem Bewußtsein:

Nein, mein Sohn! ... Vor dem Tode – deiner Mutter dich wiederzusehen – das hätt' ich nicht ertragen ... Lieber hätt' ich vor Schaam mir selbst den Tod gegeben – den ich nun auch – in – Jesu Namen – ...

Gib uns nicht den Schmerz, daß du nicht mehr leben willst –! unterbrach Bonaventura ...

Laß nur noch die beiden treuen Seelen – entgegnete der Greis, die mich so oft – erquickt, so oft dem Leben – erhalten haben, nicht ohne deinen Schutz – wenn du, hoff' ich, noch Schutz verleihen kannst, nachdem du – einem Ketzer – deine Theilnahme bewiesen ...

Einem Ketzer! Vater! ... sprach Bonaventura und setzte dicht am Ohr des Greises hinzu: Ich selbst – bin ich – denn nicht – selbst – ein Ungetaufter! ...

Der Greis wandte die Augen auf den Sohn voll Bestürzung ...

Was Leo Perl einst – dem Bischof von Witoborn – bekannte – ich sollte es ja erfahren! fuhr Bonaventura fort ... War es nicht dein Wunsch? ... Im Sarge deines alten treuen Dieners fand sich ja – ...

Mein Wunsch? unterbrach der Vater staunend und seine letzte Kraft zusammenraffend ...

Bonaventura hielt inne ... Die Aufmerksamkeit des Greises war zu erregt ... Auch machte ihn ein oberhalb des Zimmers wie von einem Fußtritt vernehmbares Geräusch einen Moment betroffen ...

Dann begann er leise eine Erzählung vom ersten Eindruck, welchen damals das Verschwinden des Vaters auf die Welt und ihn gemacht hätte, vom neuen Bund der Mutter, von des Onkels Fürsorge für ihn, von seinem eigenen Entschluß, Priester zu werden, von seiner Pfarre in Sanct-Wolfgang, einem Ort, wo dann zufällig des Onkels Max ehemaliger Diener schon seit Jahren sich niedergelassen hatte ... Bonaventura erzählte, wie treu der alte Mevissen sein Geheimniß gehütet – treu, falls er gewußt, daß der Verschollene lebte ... Dann schilderte Bonaventura die beim Tode Mevissen's vorgefallenen Dinge, welche durch Hubertus dem Vater nur hatten unvollständig bekannt werden können ... Eben war er an die Beraubung des Sarges angekommen, als ihm der veränderte Blick des Vaters auffiel ... Bonaventura mußte sich unterbrechen und fragen:

Vater – wie ist dir –! ...

Dieser antwortete schon nicht mehr und lag wie betäubt ...

Bonaventura eilte, um nach Wasser zu suchen ... Aus einem Glase, das er mit Wasser gefüllt fand, benetzte er dem Greise die Stirn ...

Noch einmal schlug Friedrich von Asselyn die Augen auf ... Liebevoll ließ er das Beginnen des Sohnes gewähren ... Plötzlich starrten seine Augen nach einer Uhr, die an der Wand hing, und er sprach:

Laß dir – von meinen Begleitern – die ich deiner Liebe empfehle – ...

Vater! ... unterbrach Bonaventura, voll Entsetzen die Veränderung der Gesichtszüge, ein krampfhaftes Zucken des Kinns, ein Schütteln der Hände bemerkend ...

Die – Stunde – ist – – hauchte der Sterbende mit kaum noch vernehmbarem Ton ...

Bonaventura wollte die Mönche und etwaigen andern heilkundigen Beistand rufen ...

Der Vater hielt noch krampfhaft seine rechte Hand fest ...

Bonaventura's Linke nahm mit seinem Taschentuch vom Mund des Sterbenden schon leichte Schaumbläschen ... Zugleich vernahm er noch die Worte:

Laß dir von meinen Begleitern – laß dir von ihnen – die Pilgerstäbe geben ... Dort der meine ... Ich sehe ihn nicht ... Ist's ein Baum – ... Er grünt – und wächst –! ... Sieh die kühlen – Schatten ... Die Zweige wie sie – dicht – ...

Vater, dich täuscht dein Auge ...

Bonaventura sah die Kennzeichen des Todes, deren er in kurzer Zeit so viele hatte sammeln müssen ...

Ein Baum – wie die Eichen in – Castellungo ... Ha! Sieh – das Feuer! ... Sieh, von rosigen Wolken – alles bedeckt ... Von Licht – und – Wonne des Triumphs ... Sie kommen von allen Zonen und bekennen das Lob des Höchsten ... Ils – engendron – Dio – in lor – – mesêmes ... – In sich Gott und – Gott – in – uns ... – Die – Nobla Leyçon – hörst du – der – Waldenser – Lobgesang – ...

Vater! flehte Bonaventura und mühte sich, dem Sinn dieser Worte zu folgen – – Ich rufe Ambrosi – den Arzt – ...

Der Sterbende beherrschte noch einmal sein unaufhaltsam ihn fortreißendes Irrereden und fuhr fort:

Die Nobla Leyçon nimm – öffne die Wanderstäbe – meiner – Führer ... In ihnen – findest du – mein Leben – und deines – ... Kennst – – die Nobla – Leyçon? ...

Ich kenne sie ... hauchte Bonaventura mit stockendem Athem und die schweißbedeckte Stirn des Vaters trocknend ... Er verstand, daß in den Wanderstäben der Gefangenen ihm ein letzter Gruß gesagt werden sollte ...

In kurzen abgerissenen Sätzen sprach der Vater:

Sie können nicht lesen, was – die Chiffern sagen – ... Der Schlüssel – ist – die Nobla Leyçon ... Im – Anfang – war das Wort – und das Wort – ...

Bonaventura's Lebensgeister blieben in fieberhafter Spannung, während die des Vaters entschwanden ...

Die Nobla Leyçon – macht die Chiffern – der Pilgerstäbe – zu Worten ... O frayres – entende – una – nobla. – A – und – B ... Mein Alpha und – Omega – »Herr bleib – mit – Deiner – Gnade –« ...

Der Irreredende erhob die Stimme zum Singen – ...

Die ersten Worte der Nobla Leyçon enthalten das Alphabet – des – Testamentes, das du mir – hinterlassen wolltest –! sprach Bonaventura dicht am Ohr des Sterbenden – ...

Amen! sprach der Greis und sank zusammen ...

Und wieder regte es sich in der Nähe ... Und wieder war es, als huschten oberhalb schleichende Fußtritte ...

Diesmal kam auch Geräusch von der Thür ... Ohne Zweifel setzten die Harrenden voraus, daß die Beichte des Ketzers vorüber war .... Wenn sein Seelenhirt noch länger blieb konnte es sein, daß ihm auch aus seiner Hand die letzte Oelung und das Abendmahl ertheilt wurde ...

Die Thür öffnete sich ... Der General der Dominicaner trat selbst herein, die Monstranz in der Hand ... Ein Assistent hinter, ihm mit den Werkzeugen der letzten Oelung ... Die Thür blieb offen ... Draußen standen Cardinal Ambrosi, der Prälat des Hauses – Bruder Hubertus und Paolo Vigo folgten – beide freigegeben, um ihre Wanderung auf San-Pietro in Montorio anzutreten, wohin man auch Paolo Vigo zunächst verwies ... Schon hielten beide ihre Habe und ihre Stäbe in den Händen ... Alle Dominicanermönche murmelten draußen das Confiteor ...

Der Sterbende erhielt noch einmal einen Augenblick seine Geisteskraft, übersah, was geschehen sollte, übersah die Lage des Sohnes ... Mit letzter Kraft der Stimme murmelte er – zuerst das lateinische Confiteor, dann begann er italienisch und ging allmählich in die deutsche Sprache über mit den Worten:

Lasset uns beten! ... Ich bekenne – an der – katholischen Kirche alles, was wir ihr – schuldig sind – aus dem Geist der Liebe – und der Dankbarkeit ... Wer in dieser Kirche – – geboren wurde – ...

Weiter vermochte der Sterbende nicht zu reden ...

Schon wollte Ambrosi von seinem Gefühl übermannt, vortreten, als ihn die laute Rede des calabrischen Priesters veranlaßte, diesem den Vortritt zu lassen ...

Paolo Vigo trat vor, beugte sich am Sterbelager nieder und erhob die Stimme, um zu vollenden, was zu sprechen nicht mehr in seines Lehrers Kraft stand ...

Wer in dieser Kirche geboren wurde, sprach Paolo Vigo fest und bestimmt und des Generals und der Cardinäle nicht achtend, der hat sie gelernt unter dem Bilde einer Mutter verehren ... Nun wohl – ein reiferer Verstand des erwachsenen Kindes erkennt die Schwächen seiner Aeltern; doch wird ein Sohn die silberne Locke des Vaters schonen und selbst Flecken am Ruf ihrer Mutter die Tochter übersehen ... Was die Kirche an heiligen Gebräuchen besitzt, seh' ich allmählich – entkleidet seiner dunkeln, unnatürlichen Zauber – ... Priester! Legt die Gewänder der Ueppigkeit und des Stolzes ab! Werdet Menschen! Redet die Sprache, die euer Volk versteht, auf daß der Ruf: Sursum corda! auch wahrhaft zum Empor der Herzen wird ... Laßt die Messe, wenn sie geläutert wird! Ein Zwiegespräch sei sie mit Gott – ... Bilder des Gekreuzigten – tragt sie im Herzen –! Und solange die Völker der Erde nicht aus eitel Weisen bestehen, solange noch Heide und Muselman die strahlenden Ordenszeichen ihres Glaubens verehren, verehrt auch äußerlich das Kreuz ... Macht es jedoch lebendiger noch in euch – ... Lebendig macht alle Ströme des Heils –! ... Hinweg mit Dem, was das Herz erstarrt –! ... Freiheit dem Gebundenen ... Sakrament sei nicht die eiserne Fessel –! ... Im Tod rufe dir den Arzt der Seele – wenn ein Zeichen und ein Wort von ihm statt – deiner reden soll ... Netzt sogar dem müden Wanderer, wie Magdalena dem Herrn, die Glieder ... Erquickt ihn, wenn er es begehrt, durch – das Brot des Lebens! – ...

Die Umstehenden erkannten aus diesen Worten der Verzückung wohl die Irrlehren, für welche Paolo Vigo versprochen hatte, Italiens Boden zu verlassen ... Doch der General warf einen Blick auf die Mönche, die Paolo Vigo umringten ... Sein würdiges Benehmen gebot ihnen Ruhe ... Er übergab dem Erzbischof das heilige Brot, das dieser dem Sterbenden reichte ...

Auch mit dem Salböl benetzte Bonaventura die Stirn und die Hände des Entschlafenden ... Heiliger, als dies Oel aus geweihtem Gefäß, ließ er auf die immer mehr erstarrenden Züge des Sterbenden seine Thränen rinnen, unbesorgt um die rings im Kreise ersichtliche Befremdung ...

Die Ceremonie jener gewaltsamen Bekehrungen wie sie hier in diesen Räumen oft genug vorgekommen sein mochten, war vorüber – ... Die überfüllten engen Räume entleerten sich ... Ein Arzt hielt dem Sterbenden den Puls ... Cardinal Ambrosi, der dem Sohn bisjetzt in allem den Vorrang gelassen, beugte sich über den Entschlummernden, der ihn nicht mehr erkannt hatte, und sprach:

Er ist – hinüber – ...

Pater Lanfranco wußte und erzählte, daß der Erzbischof in diesem Sterbenden einen nahen Verwandten getroffen hatte ...

Bonaventura wandte sich ... Als der Freund die Augenlider des Sterbenden schloß, durchbrach sein Gefühl jede Rücksicht ... Zu mächtig zerriß der Schmerz sein Inneres ... Ueber die ausgestreckt liegende erstarrte Gestalt warf er sich und rief in italienischer Sprache, daß alle es hörten:

Lebe – wohl – mein theurer Vater –! ...

Die Priester, die Mönche und Aerzte sahen bestätigt, daß der deutsche Cardinal in diesem waldensischen Prediger, der seiner Herkunft nach gleichfalls ein Deutscher war, einen nahen Verwandten – padre, einen »Freund«, einen »Gönner« – wiedergefunden hatte ... Ein Wunder war es, das ganz Rom beschäftigen mußte ... Aber selbst den Heiligen Vater durfte es rühren, zu hören – Cardinal d'Asselyno hatte im Kerker der Inquisition einen ihm aus seiner Jugendzeit unendlich werthen Angehörigen gefunden und ihn in seiner letzten Stunde bekehrt ... So nur und nicht anders konnte seines Ruhmes neue Mehrung lauten ...

General Lanfranco hatte sich zuerst entfernt ...

Bonaventura war vom Freund emporgezogen worden ... Hubertus und Paolo Vigo, jener in der Franciscaner-, dieser in der Büßerkutte, drückten ihre Lippen auf die Wange des Gestorbenen – auch auf Bonaventura's beide Hände ... Bedeutungsvoll gab ihm Paolo Vigo seinen Stab und sagte – er möchte sich darauf stützen ...

Bonaventura ergriff den Stab ... Der andere, den ebenso Hubertus trug, konnte gefunden werden, von wem er wollte – niemand hätte seinen Inhalt entziffern können ... Der dritte, der Stab Federigo's, war vielleicht in der That nicht zu finden ... Niemand brauchte sich darum zu beunruhigen ...

Daß die beiden Cardinäle noch länger blieben, war nicht zu rechtfertigen ... Das Leben des Greises war entflohen ... Hubertus hatte sich über ihn gebeugt, hatte eine Wollflocke seiner Kapuze an seinen Mund gelegt – sie bewegte sich nicht mehr ...

Mit einem letzten Scheideblick ebenso sprachloser wie, wenn die Sprache auch nicht versagt hätte, unaussprechbarer Rührung rissen sich beide Cardinäle vom ärmlichen Lager los, auf welchem sie den abenteuerlichsten Schwärmer, einen Märtyrer der Ehegesetze der katholischen Kirche, als Leichnam zurückließen ...

Die Bestattung mußte freilich an jener Stelle erfolgen, wo die Asche der verbrannten Märtyrer, eines Pascal, eines Paleario moderte ... Aber bei allem, was die Sachlage hier mit sich brachte, war doch für ein ehrenvolles Begräbniß, wenn auch innerhalb dieser Mauern, gesorgt ... Schon morgen in allererster Frühe wollten die Freunde zurückkehren ...

Das düstere Gebäude war jetzt von Kerzen erhellt, die die Laienbrüder der Dominicaner trugen ... Schon kamen einige derselben, um die Leiche in die Todtenkammer zu bringen ...

Hubertus hielt den die steinernen Stufen hinunterschwankenden Bonaventura, den er in Witoborn als Domkapitular so oft gesehen und nun den leiblichen Sohn seines geliebten Federigo nennen durfte – Ambrosi hatte ihm auf seiner Zelle sein so lange verschlossenes Auge geöffnet, auch die Gründe genannt, die ein Verschweigen des Geheimnisses und selbst noch in dieser Stunde, um des Präsidenten von Wittekind willen, dringend anriethen – ... Jetzt begriff Hubertus, wie mit dem Tod der Mutter Bonaventura's die Sehnsucht des Eremiten sich regen durfte, in die Welt zurückzukehren; begriff, wie seine Gefangennehmung im August ihm so willkommen, ja nach den Mittheilungen aus Rom, die von Ambrosi kamen, nicht unerwartet erscheinen durfte; Hubertus begriff schließlich auch die Schonung, die ihnen allen zu Theil wurde ...

Ambrosi nahm den zweiten Alpenstab ... Die Uhr des Verstorbenen hatte der Prälat an sich genommen – sie gehörte, den Regeln des Hauses gemäß, den Laienbrüdern ...

Bonaventura stützte sich nicht auf den empfangenen Stab ... Er schritt voll Fassung, wenn auch tief sein Haupt zur Erde neigend, dem Ausgang zu ...

Inzwischen beschäftigte die Aufmerksamkeit der mit staunender Bewunderung vor zwei für ihre fromme Opferfreudigkeit so wunderbar belohnten Cardinälen die Treppe niedersteigenden Begleitung derselben ein Lärmen draußen auf der Straße ... Eine Glocke der Peterskirche läutete in unablässiger Hast ... Es war die Feuerglocke des großen Doms ... Andere Glocken fielen mit gleicher Eile ein ... An der nahen Porta Cavallaggieri, wo die Kasernen liegen, erscholl das Blasen einer Trompete ... Trommeln lärmten ...

Eine Feuersbrunst! hieß es ...

Ein nicht zu häufiger Vorfall im steinernen Rom ...

Die erst langsam dahinschreitende Begleitung bewegte sich allmählich rascher ... Bonaventura und Ambrosi blieben mit ihren nächsten Begleitern, langsamer durch die Höfe schreitend, allein zurück ...

Da verschwand plötzlich auch Hubertus ... Er war nicht dem Drängen nach dem Hausthor gefolgt ... Es hieß, er wäre zurückgekehrt ...

Seht da! Wer ist der Mann? rief plötzlich, alle erschreckend, seine Stimme von einer Galerie herab, die rings um den Hof ging ... Er rief diese Worte einem Manne nach, der in gebückter Haltung an einer andern Stelle der Galerie durch eine Thür verschwand ... Es war ein Mann in einem schwarzen, fast priesterlichen Oberkleid gewesen ... Rasch war derselbe in eine hohe Glasthür, die auf die Galerie führte, zurückgetreten ...

Ein einziger leidensvoller Blick, den Bonaventura vom Hofe aus in die Höhe warf, ließ in Ambrosi den Gedanken entstehen: Glaubt der Freund – daß er belauscht wurde –? ...

Hubertus blieb verschwunden ...

Inzwischen aber waren die Cardinäle zu sehr ergriffen, um dem Zwischenfall lange nachzudenken, und standen schon am geöffneten Schlage ihrer Kutsche ... Auch die Caudatarien bestätigten eine Feuersbrunst ... Zugleich hatten sie von einem soeben hier gestorbenen deutschen Verwandten des Cardinals d'Asselyno gehört und durften nichts Auffallendes darin finden, daß die Cardinäle tief erschüttert waren, herzlich von dem im Kreise einiger Dominicaner stehenden Paolo Vigo Abschied nahmen, ebenso wenig, wie, daß ihnen letztrer als Andenken an den Pilger von Loretto zwei Wanderstäbe in den Wagen nachreichte ...

Hubertus war inzwischen nicht zu finden ... Die bestürzten Mönche, die ihn und Paolo Vigo nach San-Pietro in Montorio escortiren sollten, suchten ihn ...

Beide auf San-Pietro schon morgen zu besuchen und sie dem dortigen Guardian zu empfehlen, wurde von Ambrosi versprochen ...

So stiegen die Freunde ein ...

Die Menschen ringsum rannten indessen der Piazza Navona zu ... Dort sollte das Feuer sein ... Ueber die Tiberbrücke von der Engelsburg abschwenkend sahen beide die Rauchsäule ...

Bonaventura's Haupt lag auf den Schultern des Freundes ...

Ambrosi ließ ihn schweigend gewähren ... Worte des Trostes helfen nicht in solcher Lage ... Auch ihn betrübte es, daß er nicht noch einmal Frâ Federigo umarmen und ihm sagen konnte: Sieh, bis hieher kam ich durch deinen Rath und deine Lehre! ... Er hatte vorgezogen, alle Gefahren zu bewachen, alle mislichen Zeichen draußen den Dominicanern zum Guten zu deuten und dem Freund die Vorhand zu lassen ... Er hatte sich in allem, was seither geschehen, kraftvoll und entschlossen gehalten ...

Was sollen die Stäbe? fragte er endlich sanft, als sich der Wagen in den Straßen mühsam durch das Gewühl der Menschen Bahn machte ...

Bonaventura nahm sie und betrachtete sie voll Rührung ... Noch konnte er nichts erwidern ...

Inzwischen hatten sie den Corso erreicht, auf dem wenigstens für Wägen Platz blieb ...

Endlich in ihrer entlegenen Wohnung angelangt, schwankte Bonaventura aus dem Wagen und sank, als beide allein waren, ohnmächtig zusammen ...

Lange währte es, bis sich der Unglückliche erholte ...

Auf Ambrosi's dringendes Verlangen mußte er einige Stärkung zu sich nehmen ...

Dann trat ein stilles Weinen ein ... Die Natur erholte sich erst, als sie ihre Rechte gefordert hatte ...

Mit den ersten Worten, deren er fähig war, bat Bonaventura um ein Exemplar der »Nobla Leyçon« ...

14.

Zu seinem höchsten Erstaunen erfuhr der Freund die nähere Bewandtniß, die es mit den Stäben haben sollte ...

Es waren Hirtenstäbe, wie sie in Calabriens Bergen getragen werden ... Die Griffe gewunden – die Spitzen von Eisen ...

Griffe und Spitzen, das sah man bald, ließen sich abschrauben ... Das Innere fand sich ausgehöhlt ...

In beiden Stäben befand sich eine mit lateinischen Buchstaben beschriebene Rolle Papier ...

Das Geschriebene war ein Durcheinander von unaussprechbaren Wortformen ...

Die »Nobla Leyçon« gab den Schlüssel ... Die Buchstabenordnung war dieselbe, die bereits in dem zwischen Ambrosi und Federigo gepflogenen Briefwechsel gewaltet hatte ... Beide Rollen hatten denselben Inhalt ...

Schon entzifferte Ambrosi ein Wort nach dem andern und schrieb auf, was er gefunden ... Er stockte ... Es war deutsch – die Ausübung einer schon lange geläufigen Fertigkeit wurde gehindert ...

Ambrosi bat den Freund, sich zu ruhen ... Inzwischen, sagte er, wollte er versuchen, den Inhalt, soweit ihm möglich, mechanisch zu dechiffriren ... Das Vertrauen des Freundes gehörte ihm in allem ... Es konnte auch hier kein Geheimniß mehr geben, dessen Kunde sie nicht theilen wollten ...

Nach wenigen Stunden schon, während die sonstige Stille der nach hinten hinaus gelegenen Wohnzimmer des alten Gebäudes anfangs noch vom Lärm der Glocken und Feuersignale gestört wurde, Bonaventura stillverzweifelnd sein Haupt stützend und zum Tod erschöpft auf einem Ruhelager sich wand und sein ganzes vergangenes und zukünftiges Leben an sich vorübergleiten ließ, unterbrochen vom Bild der letzten Liebesblicke des Vaters, kam Ambrosi in hoher Aufregung mit einer Anzahl Blätter, auf welche bereits ein großer Theil der Eröffnungen Federigo's an seinen Sohn mechanisch niedergeschrieben war ... Die deutsche Sprache kannte er zu wenig, um ganz zu verstehen, was, Buchstabe an Buchstabe gereiht, seine Blätter bedeckte ...

Es war nun auch von draußen her still geworden ... Schon mochte die zehnte Stunde geschlagen haben ...

Bonaventura konnte leicht die Buchstaben zu Worten fügen und die Sätze durch Punkte trennen ... Durch gegenseitige Unterstützung kamen die Freunde zu folgender Entzifferung:

»Mein Sohn! Das ist ein Brief, den dein Vater dir aus dem Jenseits schickt –! ... Höre – richte und gedenke mein –!« ...

»Du erfuhrst von den Zeiten, wo ich einst beauftragt war, den Uebergang Witoborns an unsere Regierung zu regeln ... Du kennst die Gründe, welche mich damals den Tod wünschen ließen ... Oft, oft überfielen mich Gedanken an Selbstmord –! .... Sie hafteten nicht, weil Selbstmord nur denkbar ist im Zustand einer Verzweiflung, die mit dem ganzen Leben abzuschließen vermag – Das war nicht meine Lage ... Wohl ging mein Blut stürmisch, wenn ich sah, wie mein Weib am besten meiner Freunde hing, dieser an ihr; dacht' ich aber an die Mittel, mich solcher Schmach zu entziehen, so lockte mich wol die Welle des Stromes, der Blitz der tödtlichen Waffe eine Weile; bald aber erkannte ich dann wieder, wenn nur die Gesetze unserer Kirche über die Ehescheidung andre wären, daß der Anfang eines neuen Lebens voll neuer Bewährung für mich anbrechen könnte – ... Ich wollte den Wunsch des geistig schon lange ehelich verbundenen Paares erfüllen und würde eine Scheidung durch Confessionswechsel möglich gemacht haben – aber in diesem Punkte würde die Mutter nicht meinem Beispiel haben folgen können – aus innerem Triebe nicht – auch ihres neuen Gatten wegen nicht, der sich kaum würde entschlossen haben, schon aus Rücksicht auf den schlimmen Ruf seines Vaters, dem Geist der Provinz ein Aergerniß zu geben ... So kam ich, ohnehin von manchem Misverhältniß zu meinem Beruf getrieben, auf den Entschluß, mir den Schein des Todes zu geben – ...«

Die Entzifferung ging noch bis jetzt aufs leichteste von statten ...

»Ich ließ dich einem neuen Vater und die Mutter einem neuen Gatten zurück, der ein reicher Mann war und für euch beide sorgen konnte ... Außerdem hattest du den Onkel. Hatte zwar mein Bruder Franz schon den Adoptivsohn meines Bruders Max, den dieser aus Spanien mitgebracht, in seine väterliche Obhut genommen –« ...

Wie? unterbrach Bonaventura seine Worteintheilung und Uebersetzung des Berichtes für den aufmerkenden und in Bonaventura's Familienverhältnissen völlig heimischen Freund; kannte selbst der Vater nicht die Herkunft Benno's? ... Er las staunend weiter:

»– so gestattete ihm doch sein gutes Herz und seine Vermögenslage, auch dich in deiner Laufbahn zu befördern, die dir ohnehin, da du Soldat werden solltest, bald die volle Selbständigkeit geben konnte ... Zur Ausführung meines Vorhabens bedurfte ich Beistand ... Ich konnte mich auf einen Menschen verlassen, der, seines Zeichens ein einfacher Tischler, mit meinem Bruder Max unter Napoleon in Spanien gedient hatte, ihm eine Rettung seines Lebens verdankte, aber auch ohne diesen Anlaß ein Muster von Pünktlichkeit und Verschwiegenheit gewesen wäre ... Ihr alle, die ihr mich überleben werdet, vor allem auch du, Benno von Asselyn, niemand von euch wird je geahnt haben, daß mit dem schweren Amt, einen kaum geborenen Knaben aus Spanien mitzubringen, dieser alte treue Mevissen in Verbindung stand – ... Selbst mir bekannte es der Brave nie, warum auf seinem Todbett Max die Weisung hinterlassen, eine Summe, die ich ihm noch schuldete, in besserer Zeit, wenn ich könnte, einem in der Nähe Kochers am Fall, in Sanct-Wolfgang, wohnenden und von dort gebürtigen Tischler, einem ehemaligen Soldaten seiner Compagnie, auszuzahlen ... Da die Zahlung nicht drängte, ich auch die Summe nicht sofort besaß, sprach ich zu niemand davon, am wenigsten zu unserm guten Bruder Franz ... Letztrer würde die Summe gegeben, aber auch die Verwendung derselben haben erfahren wollen ... Benno war schon damals zum Hüfner Hedemann in Borkenhagen bei Witoborn gegeben ... Ohne Zweifel ist Benno entweder das Kind einer spanischen vornehmen Frau oder einer Nonne ... Mevissen kannte das Geheimniß; er hütete es wie ein Soldat die Parole seines Wachtpostens ...«

Bonaventura mußte voll Rührung ausrufen:

Guter, kindlicher Sinn des Vaters –! ... Alle diese Dinge – wie waren sie so ganz anders und nur dir blieben sie verborgen! ... Die Neugier seines ältesten Bruders, meines freundlichen Erziehers war seine Furcht! ... Und gerade in dessen Händen lagen, selbst dem Bruder verborgen, die Fäden aller der Veranstaltungen, die für den armen geopferten Benno getroffen werden mußten –! ...

Ambrosi kannte die Beziehungen und vermochte voll gesteigerten Antheils zu folgen ...

»Es drängte mich, endlich jene Schuld von einigen hundert Thalern an den alten Soldaten in Sanct-Wolfgang zu berichtigen ... Als ich Abschied von meinem bisherigen Dasein und meinem Namen nehmen wollte, besuchte ich deshalb den kleinen Ort, den Mevissen bewohnte ... Ich fand einen räthselhaft verschlossenen Menschen; einfach und würdig sein Benehmen; obschon nicht mehr jung, hatte er geheirathet, sein Weib war gestorben; ohne Kinder hielt er eine kleine Tischlerwerkstatt für die einfachen Bedürfnisse des Landlebens, die ihn ernährte ... Die Summe, welche ich ihm schuldete, mochte er früher mehr bedurft haben, als jetzt; dennoch hatte er nicht gedrängt ... Nach den ersten Verständigungen sah ich wohl, daß sich Mevissen jene Summe durch irgend einen werthvollen Beistand, den er dem Bruder geleistet, verdient hatte ... Ich suchte den Anlaß seiner Bewährung zu erfahren und zeigte mich voll Neugier schon aus Interesse für Benno's Vater, meinen zu früh vollendeten Bruder Max ... Ich grübelte, forschte – kein anderes Wort kam von den Lippen des schlichten Mannes, als daß mein Bruder – sein bravster Chef gewesen ... Angezogen von soviel Ehrlichkeit und Charakterstärke, beredete ich ihn, mich als Diener auf einer Schweizerreise, die ich machen wollte, zu begleiten ... Er nahm diesen Vorschlag an und ihm verdank' ich die Ausführung meines gewagten Unternehmens – ... Den Schein zu erwecken, daß ich zu den Opfern der Lawinen des großen Sanct-Bernhard gehörte, das war die Aufgabe ...«

Ambrosi seufzte ... Bonaventura's Herz klopfte voll gespannter Erwartung ... Es war die noch nicht ganz enthüllte Stelle im Leben des Vaters ...

»Im Canton Wallis, zu Martigny, legt' ich alles ab, was an mich erinnern konnte. Ich hatte mir neue Kleider gekauft, die in einem Packet verborgen werden mußten, das Mevissen trug – Das meiste, was mein Koffer enthielt, hatten wir verbrannt – ... Der Dunst, den die verbrannten Papiere und die sengenden Kleider verbreiteten, fiel im Gasthof zu Martigny auf; so hielten wir mit unsern Zerstörungen inne ... Einiges mußte auch für das Leichenhaus auf dem großen Sanct-Bernhard zurückbehalten werden ... Mevissen's Handschlag durfte mir genügen, um die Gewißheit zu haben, daß von ihm sein Geheimniß würde mit ins Grab genommen werden ... Unter dem Zurückbehaltenen befand sich vielleicht eine seltsame Urkunde, von welcher ich dir reden muß – aus Gründen, die du er fahren sollst – ...«

Bonaventura verstand das schmerzliche Lächeln seines Freundes ... Es galt der Erinnerung an die Qualen, die sich früher, in seinem jetzt überwundenen Glauben, der unrichtig Getaufte über seine Lage bereitet hatte ...

»Mein Sohn! Ich rufe dir mit der Schrift: ›Wer Ohren hat, zu hören, der höre!‹ – – Ich hatte in Witoborn mit dem Husarenrittmeister von Enckefuß, dem neuen Landrath des neugebildeten Kreises, die Besitzergreifung, namentlich die Archive aus einer heillosen Verwirrung zu ordnen, in welche sie während des Krieges gerathen waren, wo man die wichtigsten Acten zu Streu für die Pferde benutzt hatte ... Bischof Konrad war ein wohlwollender, aufgeklärter Mann ... Ich hatte sein Vertrauen gewonnen; auch er liebte, wie ich, alte Drucke, Miniaturen, kunstvolle Heiligenschreine, ohne daß er darum, wie ich, auch geistig unter den Ranken und Blüten der damals modischen Romantik und Phantastik wohnte ... Auf einem Krankenlager, von welchem er nicht wieder erstehen sollte, übergibt mir der Bischof einen soeben empfangenen Brief des am selben Tage zur Ruhe bestatteten Pfarrers von Borkenhagen, eines getauften Juden ... Nehmen Sie das! sprach der Bischof. Es ist das Testament eines Narren! Ich soll es nach Rom schicken! Wahnsinn! Doch – da manches Geheimniß Ihrer Familie betheiligt ist – zerreißen Sie die Stilübung –! Sie ist lateinisch geschrieben – ...«

»Ich las den Erguß eines melancholischen Gemüthes, das, zerfallen mit sich selbst und mit der Welt, in diesem Brief das Judenthum für die vollkommenste Religion erklärte, die Lehre Jesu nur eine von Jesus nicht beabsichtigte Abweichung vom Judenthum nannte und sich in seiner letzten Stunde von einem Gaukelspiel lossagte, das er jahrelang mit Bewußtsein getrieben hätte ... In dieser Ueberzeugung, hieß es in dem merkwürdigen Briefe, hätte er zwar nicht damals gehandelt, als er den Glauben gewechselt – damals hätte er Jesus und der christlichen Kirche etwas abzubitten gehabt – aber die Erinnerung an seine Verwandte, die Thränen einer verlassenen Geliebten hätten ihn bestimmen sollen, wenigstens nicht auch Priester zu werden ... Er hätte es werden müssen; er hätte die Weihen annehmen müssen aus Furcht vor einem Tyrannen, dem Kronsyndikus auf Schloß Neuhof ... Mißhandlung, Drohung, sogar Weinen und Flehen dieses Mannes hätten ihm so lange zugesetzt, bis er Priester wurde ... Jahrelang aber hätte er sein Amt mit Unlust und ohne Ueberzeugung geführt ... In diesem Sinne, schrieb er, hätte er die Sakramente ertheilt, ohne die entsprechende Richtung des Willens ... Getauft hätt' er in bestimmter Voraussetzung, daß das, was er that, eine leere Formel war ... So zunächst alle Verwandte des Kronsyndikus – sogleich seinen ersten Täufling, Bonaventura von Asselyn ... Seine erste Trauung, zwischen Ulrich von Hülleshoven und Monika von Ubbelohde, gleichfalls Verwandte seines Peinigers, wäre von ihm vollzogen worden, ohne den Willen und die Ueberzeugung, daß er wollte, was er that ... Mit diesem bittern Hohn gegen sein Geschick, zu welchem sich die Andeutung über eine unrichtige Ehe gesellte, die einst irgendwo von ihm vorher schon hätte geschlossen werden müssen – und wie zu vermuthen war, auch diese auf Anstiften des Krönsyndikus – wollte der menschenfeindliche Mann, der ein Rabbiner, ja, wie man aus einigen Stellen seines Briefes ersah, ein Kabbalist geblieben war, aus dem Leben scheiden ...«

Bonaventura erkannte jetzt die Gründe, warum Lucinde vor Jahren, damals, als sie seinen Epheu zerstörte, von Monika's Ehe als von einer löslichen gesprochen ...

»Meine Empfindungen waren damals noch so katholisch, daß ich über diese Entdeckung den größten Schmerz empfand und darüber anders dachte, als mein hochbetagter freidenkerischer Bischof, der einige Tage nach Uebergabe der Urkunde an mich gleichfalls aus dem Leben schied ... Aber sollte ich meiner Familie, meinem eigenen Kinde noch einen neuen, von mir mit Entsetzen empfundenen Makel anhängen? ... Ich dankte der Vorsehung für diese glückliche Wendung, die ein so wichtiges Document in meine Hand gelangen ließ ... Sollte ich sie zerstören? Daran verhinderte mich mein rechtgläubiges Gemüth, ja der feste Entschluß, eines Tages deine richtige Taufe nachholen zu wollen ... Und in diese Schrecken und Beunruhigungen meines Gewissens mischte sich die immer mehr gesteigerte Trauer um mein unseliges Verhältniß zu deiner Mutter ... Ein treuer, aufrichtiger Freund, den ich um so mehr liebte, als seine kühle und verständige Natur zu meinem eigenen Wesen die heilsamste Ergänzung bot, konnte sich einer Leidenschaft nicht entwinden, die die einzige war, welche ihn vielleicht je überkommen ... Noch mehr, ich war von ihm abhängig; die Güter des Lebens, die ich nie zu verwalten wußte, verbanden uns, während alles andere uns hätte rathen müssen, uns zu trennen ... Eine Lage entstand, die vor der Welt meine Ehre in einem Grade bloßstellte, der mich über mich selbst verzweifeln machte ... Ich sprach nie von dem, was mich drückte, und doch erkannte ich alles, was vorging ... Ich sah, daß Wittekind meinen Haushalt bestritt, meine Schulden bezahlte, die Entscheidungen in jeder Frage gab, wo meine Zustimmung kaum noch begehrt wurde ... Schon gab ich mir die Miene, solche Zustimmungen von meiner Seite gar nicht mehr zu beanspruchen – ich vergebe deiner Mutter; sie folgte ihrem weiblichen Sinn, der sich an Starkes und Verwandtes halten will – unwahr ist es, daß sich nur die Gegensätze lieben – ...«

Die Freundschaft der Lesenden, grade die aus dem Gefühl entsprungen war, sich verwandt zu sein, mußte diesen Ausspruch bestätigen ... Bonaventura dachte an die Sterbeaugenblicke seiner Mutter, die in Einem Punkte ruhigere gewesen waren, als er erwartet hatte – ihr zweiter Gatte hatte mit der Ueberzeugung von ihr Abschied nehmen dürfen, daß ihr ganzes Glück und ihre wahre Lebensbestimmung nur er gewesen ... Bonaventura gedachte des Tages, wo auf Schloß Westerhof die Mutter ihm gesagt hatte, gern beuge sich ein Weib dem Worte: »Und er soll dein Herr sein!« – wenn der Gatte es nur wäre –! ...

»O mein Sohn, damals verehrte ich noch eine Kirche, die einer Form zu Liebe zwei Menschen, und wenn sie sich hassen und wenn sie sich zum Anlaß ewiger Verwilderung werden, doch aneinanderschmiedet – eine Kirche, die dem frivolsten Priesterwillen eine Macht über unser ewiges und zeitliches Wohl gibt ... Aber mein Sinn sollte sich ändern ... Er änderte sich in dem Grade, daß ich nicht für mich allein der Wohlthat der Erleuchtung theilhaftig werden wollte ... Als du Geistlicher wurdest, als ich hörte, du hättest dich den Römlingen angeschlossen, da erfreute es mich zu vernehmen, daß Mevissen jene Urkunde da mals beim Verbrennen meiner Effecten im Gasthof zur Balance zu Martigny zurückbehalten hatte ... Mein braver Begleiter schrieb mir zuweilen und unter anderm meldete er: ›Einiges hab' ich nicht verbrennen mögen ... Besonders auch Geschriebenes nicht ... Es ist bei mir sicher wie im Grabe ... Und sollte sich einst noch einmal Ihr Wille ändern oder eine andere Zeit kommen, wo Sie bereuen, was Sie gethan – dann lassen Sie in Gottes und seiner Heiligen Namen mein Grab öffnen. Was ich nicht vernichtete, finden Sie dort!‹ ... Und dies Grab ist erbrochen worden –! ... Ich weiß es – ein Räuber, dessen Hand mein treuer Hubertus richtete, hat die Witterung gehabt, daß ein Schatz – der Liebe mit diesem armen Manne begraben wurde –! Daß es zu spät sein mußte, ihn zur Verantwortung zu ziehen und mich zu beruhigen über das Verbleiben jener Urkunde –! In deinem eignen Dorfe mußte ein Fluch zu Tage kommen, den deinem Leben ein wahnwitziger Priester geschleudert –! Hast du ihn nie vernommen, so vernimm ihn von mir! ... Bona, du bist Würdenträger einer Kirche, die ein Recht beansprucht, dich sofort aus ihrem Schoose auszustoßen ... Warum? ... Weil es ein Priester so wollte –! Mit einem Zucken seiner Miene, einem tückischen Hinterhalt seiner Gedanken wollte –! Bona, verkünde diese Vermessenheit des katholischen Priesterthums –! ... Verkünde sie der Welt! Zeige, wohin die Anmaßung der Concilien und der Päpste geführt hat! Frage, ob alle die neugetauft werden müssen, die du tauftest – alle die neu verbunden, die du verbandest – alle Sünden noch einmal vergeben, die du vergeben –! ... Ich wünschte, daß die dreifache Krone dein Haupt zierte und du sagen könntest: Höre, höre, Christenheit – wenn Roms Gesetze Recht behalten, so ist sein oberster Priester jetzt – ein Heide –! ...«

Tieferschüttert hielten die Freunde in ihrer Arbeit inne ... Schon schlug die mitternächtige Stunde ... Eisige Schauer überliefen sie ... Ein Diener kam und schürte die schon erloschene Flamme im Kamin ... Einen kurzen Bericht, den er vom jetzt gelöschten Brande an Piazza Navona gab, hörten die Tiefergriffenen kaum ... Abwesend war ihr Geist, ergriffen ihr Ohr und ihr Auge von dem, was sie dem entrollten Papier entzifferten, ebenso wie von den Andeutungen eines Zukunftbildes, das sich mit himmlischen Farben vor ihrem geistigen Blick entrollte ...

»Doch«, fuhr Bonaventura fort, die Buchstaben zu lesen und zu übersetzen, die Ambrosi mit Geschicklichkeit zu Papier brachte – »kehre mit mir zurück auf den Tag meines scheinbaren Todes! ... Gefahrvolle Schneestürme hatten geweht und mühsam erklommen wir die mächtige Höhe ... In der Nähe des Hospizes warfen wir Pilgermäntel über, ließen uns die Morgue aufschließen und, während Mevissen beschäftigt war, den führenden Augustinerbruder nach einem der dort aufgestellten Gerippe, vor welchen alles, was an und bei ihnen gefunden wurde, beisammen lag, zu fragen und ihn zu zerstreuen, legte ich vor einen der jüngst Verunglückten, der mir an Wuchs ziemlich glich und an dem durch seinen Sturz zerschmetterten Kopf völlig unkenntlich war, mein Portefeuille und den Trauring deiner Mutter – ...«

Ambrosi sagte:

Vor meinen Vater –! ... Wie hat das Schicksal uns so wunderbar verbunden –! ... –

Bonaventura, erlöst von dem jahrelang ihn quälenden Bilde eines unheimlicheren Zusammenhangs der Todesarten ihrer Väter, der natürlichen des Professors Ambrosi, der künstlichen Friedrich's von Asselyn – konnte nur mit seinen zitternden beiden Händen die linke Hand Ambrosi's ergreifen und mit stummer Geberde aussprechen, was er empfand ...

»Als ich dann noch die Portefeuilles vertauscht hatte, fiel mir erst die ganze Schwere meiner That aufs Gewissen ... Mein Führer, muthvoller als ich, mahnte zum Gehen – seine Absicht mußte sein, soviel als möglich für die Augustiner nicht wiedererkennbar zu erscheinen ... Am Hospiz, wo uns die Mönche einluden, einzutreten, trennte sich Mevissen – er mußte es schnell thun, um unsere Physiognomieen nicht zu lange dem Gedächtniß der Nachblickenden einzuprägen ... Es war ein Abschied für ewig und dennoch ging Mevissen – wie zu einem Wiedersehn auf den folgenden Tag – ...«

Solche Treue lebte jahrelang neben mir und dem Onkel – ohne ihres Ruhmes zu begehren –! schaltete Bonaventura ein ...

»Aber, der Gedanke: Die Spur jenes Unglücklichen, für welchen du nun genommen werden wirst, blieb vielleicht den Seinigen auf ewig verloren – du hast ein Verbrechen auf dich geladen, größer, als dein Selbstmord gewesen wäre! – der verfolgte mich bald mit allen Schrecken eines bösen Gewissens ... Im Portefeuille des Todten, für welchen man mich nehmen konnte und sollte, fand ich keinen Namen, nur Höhenmessungen und Zahlenreihen ... Noch im ersten Eifer meiner scheinbaren Selbstvernichtung warf ich diese Anklage gegen mich in die Tiefe eines Waldstroms ... Ringend, mich in die Stimmung meines alten Leichtsinns, meiner romantischen Sorglosigkeit, meiner angebornen lässigen Natur zurückzuschmeicheln, umging ich Turin ... Die Thäler, die ich mit meinen neuen Kleidern durchwanderte, waren zufällig Waldenserthäler ... Ich kannte die romanische Sprache ... Aber ich floh vor allem, was mich an Religion erinnerte ... Nur mein romantischer Trieb gab mir Kraft, nur jener phantastische Sinn, der dem Schönen und Reizvollen sich ergibt und moralischer Imputationen nicht achtet ... Ich wollte nach Genua, wollte mit dem Rest meiner Baarschaft zu Schiff gehen und mir in Südamerika ein neues Leben begründen ... Ueber Coni hinaus wurde ich krank; seelisch und körperlich angegriffen, schleppt' ich mich jetzt nur noch langsam vorwärts ... Scheu mied ich die große Straße und ruhte mich oft in Wäldern ... Da war es denn, wo ich in einem einsamen Thale aus einem schönen Hause einen vollstimmigen Choral vernahm ... Ich trat in einen neugebauten Raum, wo ein Redner geistliche Erweckungen hielt ... Der Gottesdienst war bald zu Ende ... Ich sah eine hohe stolze Dame, der, als sie aus dem Hause trat, alle ehrerbietig auswichen, ich grüßte sie und folgte ihr ... Zu meinem Erstaunen sprach sie mit ihrem Diener deutsch ... Ich redete sie in gleicher Sprache an ... Dies gethan zu haben, bereute ich freilich sofort, denn ich hörte ihren Namen und mußte erstaunen, mich in der Nähe eines entfernten Zweigs meiner eigenen Familie zu befinden ... Entfliehen konnte ich nicht; ich war zu hinfällig, wurde krank, kam dem Tod nahe und befand mich monatelang in einem Zustand fast der Geistesabwesenheit ... Als ich genas, war ich so von Dankbarkeit und Ehrfurcht vor dieser edlen Frau erfüllt, daß ich mich nicht mehr von ihr trennen konnte ... Da ich mich als Katholiken bekannt hatte, durfte sie in meiner Absicht, als Einsiedler in ihrer Nähe zu leben, nichts Auffallendes finden ...«

In Bonaventura's Innern klangen die Lieder des Dichters Novalis ... Sein Vater klagte sich nur allein an ... Was sein träumerischphantastischer Sinn hätte aus dem Geist der Zeit entschuldigen können, ergänzte nur die Liebe und Bildung des Sohnes ...

»Die Gewissensschuld, der Schmerz um meine That auf dem Hospiz, die Gewißheit, daß aus meinem geglaubten und bestätigten Tode bereits ein neues Leben in der aufgegebenen Heimat erblüht war (die Gräfin erzählte mir von einer Heirath des Präsidenten von Wittekind, eines Cousins der reichen Erbin, mit der sie zu processiren angefangen – eine Zeitungsannonce nannte den Namen der Gattin Friedrich's von Wittekind –) alles das gab mir eine tiefe Traurigkeit und mehrte den Abschluß mit dem Leben ... So entstand die Neigung, mich um die Lehre der Waldenser zu kümmern ... Gräfin Erdmuthe gab mir die alten Schriften, die sie gesammelt hatte und die in ihrem Text vielleicht niemand so verstand, wie ich ...«

Auch Ambrosi war in ein tiefes Erinnern versunken und schien kaum zuzuhören ...

Bonaventura chiffrirte inzwischen für sich weiter und las ...

Die Darstellung des Vaters lenkte jedoch auf jene Empfindungen zurück, die sich in Ambrosi's Innern angesponnen haben mußten; deshalb begann der Freund aufs neue die laute Mittheilung ...

»Ich würde vergebens gerungen haben, aus meinen durch die Ehegesetze geweckten Zweifeln an Roms Hierarchie zu einer Versöhnung mit dem ewigen Grund aller Dinge, der in unserm Gewissen den einzigen Weg zu seiner Erkenntniß vorgezeichnet hat, zu gelangen, wenn nicht ein wunderbares Erlebniß mich zum Frieden mit mir selbst gebracht hätte ... Alle Schätze der Erde sind nichts gegen die Seligkeit eines erlösten Schuldbewußtseins ... Dann streckt jubelnd die Dankbarkeit ihre Hände gen Himmel und ruft: Verhängniß, Zufall oder wie dein Name sein mag, ewiges Gesetz des Lebens, ich bringe dir den Dank einer befreiten Seele bis in den Sphärensang der Sterne –! ... Unter den vielen, die in meine Waldhütte kamen, um sich Raths zu erholen, wie ich ihn grade geben konnte, kam auch ein anmuthiger Jüngling ... Seine Mienen hatten einen melancholisch trauernden Ausdruck ... Ich konnte ihn nicht sehen, ohne sogleich mit tiefster Wehmuth auch deiner zu gedenken ... Es war verboten, daß sich die geistlichen Schüler von Robillante, überhaupt rechtgläubige Seelen meiner Hütte nahten – dennoch geschah es – ich wurde ein Beichtiger wider Willen ... Auch diese Schüler, die sich oft in den Wäldern tummelten, gingen nicht, ehe ich nicht jedem gethan oder gerathen, wie und was er wollte ... Vielen Umwohnern mußt' ich Briefe schreiben, andern über ihre Geldsachen rathen, manchen lehrte ich die Sprachen, auch deutsch – Knaben wie Mädchen ... Jener Schüler aus Robillante wollte Deutsch lernen ... Die Gabe der Sprachen schien dem jungen Novizen versagt; desto reger war sein Forschereifer in Aufgaben der Phantasie und des Gemüths ... Vincente Ambrosi wollte Mönch werden; ich that nichts, um ihn in diesem Entschluß wankend zu machen, kämpfte auch nicht gegen seinen Glauben, den er mit Hingebung und innerlich ergriff ... In ihm liebte ich dich ... Schon lange bewohnte ich meine einsame Hütte und war noch ohne Seelenruhe, immer noch gefoltert vom Hinblick auf den Sanct-Bernhard und meinen Betrug ... Meine Thränen feuchteten oft mein nächtliches Lager ... Oft trieb es mich, nach dem Hospiz zurückzukehren und nach allem zu forschen, was seither dort geschehen war ... Aber die Vorstellung: Deine Gattin hat sich mit dem Freund vermählt und darf nicht in Bigamie leben! schreckte mich; man konnte mich erkennen; diese einsam wohnenden Mönche behalten die wenigen Eindrücke, die ihnen werden, desto lebhafter ... Immer und immer aber sah mein gefoltertes Gewissen die größten Verwickelungen entstanden aus den verwechselten Portefeuilles, aus dem Hinlegen meines Ringes unter die Sachen, die einem andern gehörten, dessen Spur nun verloren und der, für mich geltend, begraben wurde ... Was half mir das Glück meines äußeren Schicksals, die liebevolle Sorge und der Schutz meiner Gräfin – ... Mir fehlte Seelenfriede ... Diesen fand ich erst, als mich wieder jener Priesterzögling besuchte, der oft in diese Gegend Almosen zu suchen ausgeschickt wurde ... Er klagte über die Nichtbefriedigung seines Innern und erschloß mir zum ersten mal, warum sein Gemüth stets so krank, sein Sinn so traurig war ... Er hatte bei unsrer ersten Begegnung früher Deutsch von mir lernen wollen, weil er nur zu sehr bedauerte, es in einer ernsten Sache, von der er damals nicht sprach – es ließ sich an den Selbstmord des Vaters denken – nicht verstanden zu haben ... Er wäre das einzige Kind seiner Aeltern; seine Mutter, eine Frau von hoher Bildung, wäre eben aus dem Leben geschieden gewesen, sein Vater, Lehrer der Mathematik am Colleg zu Robillante, um sich in seinem tiefen Schmerz aufzurichten, hätte ihn ins Seminar gegeben und eine Fußreise in die Alpen angetreten ... Um die Savoyer und Deutschen Alpenzu vergleichen, hätte er vier Wochen ausbleiben wollen und wäre nicht zurückgekehrt ... Da alle Nachforschungen ohne Resultat blieben, machte sich nach einigen Monaten der Sohn auf den Weg, um wenigstens Einiges über des Unglücklichen Schicksal in Erfahrung zu bringen ... Der Vater war die Straße über den kleinen Bernhard, den Bernhardin, gegangen, hatte von da aus die Walliser, die Berner Alpen besucht – überall fand er des Vaters Spuren, auch auf der Heimkehr noch am Genfersee, noch in Martigny, ja bis zum Hospiz hinauf ... Da war dann plötzlich derjenige, von welchem er geglaubt hatte, daß es unfehlbar nur sein unglücklicher Vater hätte sein müssen – ein anderer, den gleichfalls der Schneesturm überfallen, ein von einem deutschen Domherrn und seinem Diener damals erst vor einigen Wochen in Saint-Remy begrabener, ein Deutscher, Friedrich von Asselyn genannt – Den Namen hatte er deutlich und richtig aufgeschrieben; er stand in Saint-Remy auf meinem vom Bruder Franz gesetzten Grabstein – ...«

Die Freunde konnten an dieser Stelle nichts thun, als sich gerührt die Hände drücken ...

»Weinen durfte ich bei der Erzählung des Jünglings – denn sein Leid hätte jeden gerührt ... Mein Weinen war aber ein Weinen der Freude, das der junge Geistliche nicht begreifen konnte ... Ich rief ihm, da mein Entschluß, mein Geheimniß zu hüten, so lange deine Mutter lebte, feststehen sollte: Ich kann dir nicht sagen, mein Vincente, daß dein Vater lebt; aber glaube mir, die Stunde der Trauer, als alles dir zu sagen schien: Du findest ihn, wenn auch im schreckhaftesten Bild des Todes, und du sahst dich dann doch in deiner schmerzlichen Hoffnung getäuscht – diese Stunde, mein Sohn, wird dir gelohnt werden mit ewigen Himmelskronen! ... Der Jüngling deutete alles im Bilde ... Ich wurde ihm näher verbunden und tiefer verloren wir uns in die großen Aufgaben des Lebens ... Von dieser Zeit an erhob sich mein Inneres zum Dank gegen Gott ... Denn Dank gegen Gott, das ist das Gefühl, dessen Ausdruck wir tausendmal im Munde führen und doch nur selten verstehen, selten in die Ursachen seiner wahren Beseligung zergliedern können ...«

Wieder hielten die Freunde inne ... Wieder besiegelte ihr Händedruck den gottgeschlossenen Bund ihres Lebens ...

»Nun wagte ich, auch an die Läuterung Anderer, an die der Kirche zu denken ... Gräfin Erdmuthens Glaube überträgt unser Glück auf die Wohlthat der Erlösung durch die Gnade ... Dies Bild der Gnade begriff ich und pries am Glauben der Protestanten, daß sie, die so Vieles aufgaben, was sie noch wie andere Christen hätten hüten und tragen sollen, sich das Bewußtsein einer fast persönlichen Wahl und Führung Gottes gewonnen hatten ... Ich sah die Hand der Vergebung vor mir, ich fühlte an mir selbst die wider Verdienst geschenkte Gnade des großen Erlösungswerkes ... Nun verstand ich die reinen, andächtigen Bücher der Waldenser, kindliche Hingebungen an die Schrift ... Die Bibel wurde mir ein Buch göttlich geführter Menschenschicksale ... Liebe, Glaube und Hoffnung wurde mein Evangelium ... – Warum mehr? Und wozu irgend etwas, was nicht auf diesem Grunde ruht? ... So lehrte ich an manchen Tagen unter meinen alten Eichen und die Menschen kamen von nah und von fern, bis die Verfolgungen sie hinderten ... Da hätt' ich denn schon den wirklichen Tod suchen können, wenn in dieser Welt auf solchen Drang der Tod gesetzt ist ... Immer entschlossener theilt' ich die Ueberzeugung der Gräfin, daß das Verderben der Welt der Stuhl des Antichrists in Rom ist ... Die Fortschritte der Bibelverbreitung, das Wirken englischer Missionäre gerade auf italienischem Boden, die enge Verbindung zwischen Politik und Religion gerade in diesem Lande, der erwachende Freiheitsdrang Italiens, der nur allein über die Zerstörung der Priesterherrschaft Roms hinweg sein ersehntes Ziel des Volks-und Bürgerwohls erringen kann, alles das erfüllte mich mit hoher Spannung ... Ja, in einer solchen Stunde kam mir der Gedanke, nicht allein meinen zweiten Sohn, Vincente Ambrosi, für die Sache einer großen Reform zu gewinnen – ihn nannt' ich auch in diesem Sinn schon mein – sondern auch meinen ersten, der, wie ich hörte, in die Netze der Römlinge gefallen war ... Noch schob ich es auf, bis ich hörte, daß sich Dein Wahn sogar an den Unternehmungen jenes Kirchenfürsten betheiligte, von denen mir die Gräfin in höchster Aufregung leidenschaftlichster Parteinahme für den gekrönten Vorkämpfer des Protestantismus in Deutschland erzählte ... Da schrieb ich dem Bruder Franz und dir, Bonaventura, sub sigillo confessionis eine Aufforderung zu einem Tag des Concils unter den Eichen von Castellungo ... Es war eine That, die selbst die Möglichkeit, mich, deine Mutter, uns alle zu beschämen, nicht scheute, eine That der Uebereilung gewiß, geschehen in jener alten Hast, die ich noch nicht ganz überwunden hatte – Ach, es sollten Prüfungen kommen, die mein Blut in ruhigere Wallung, mein Denken in kühlere Erwägung brachten – ...«

Cardinal Ambrosi mußte bestätigen, daß Bonaventura's Vater schon damals von seiner baldigen Entfernung aus Castellungo gesprochen ...

Die Geständnisse kehrten auf den in heftigste Erregung gerathenen, auf und niederschreitenden Vincente selbst zurück ...

»Wie aber erreicht man ein allgemeines Concil? Wie setzt man die Majestät dreier Jahrhunderte des Lichts zum Richter über das Concil von Trident? Arme Mönche und Landpfarrer haben keine Stimme im Rath der Kirche! Ein Cardinal, ein Papst muß es sein, der dem Schöpfer das Wort nachstammelt: ›Es werde Licht!‹ Und wie wird man Cardinal, wie Papst –!– So sprach mein Schüler eines Tags mit bebender Stimme. ›Dazu sind alle Wege offen!‹ erwiderte ich lächelnd. ›Keiner ist freilich sicher!‹ Einer, setzte ich hinzu, wäre neu, der: In Rom ein Mönch im alten Sinn der Väter zu sein! ›Werde ein Heiliger, mein Sohn!‹ sprach ich ... Das will ich werden! antwortete Vincente ... Ich erschrak, ergriff seine Hand und fuhr fort: Mein Sohn, kein Urtheil über die Menschen und Dinge dieser Erde darf dann früher über deine Lippen kommen, bis die kühle Erde oder der Purpur deine Stirn bedeckt! ›Das schwör' ich zum dreieinigen Gott!‹ sprach Vincente Ambrosi und ging nach Rom – ...«

Ambrosi hatte sich niedergelassen, legte sein Haupt auf den Tisch und faltete die Hände ...

Auch Bonaventura's Schweigen war ein Gebet ...

Nach einer feierlichen Stille sagte er:

Und ich, ich mußte dir das letzte Wiedersehen deines Vorläufers und Apostels rauben –! Den Blick – der Bewunderung –! ...

Er ist jetzt unter uns! sprach Ambrosi mit verklärtem Blick gen Himmel ... Und wie bald – einigt uns alle – das große Gottesherz –! ...

Eine lange Pause trat ein ...

Dann mahnte Ambrosi selbst, daß der Freund fortfuhr ...

Dieser las: »Als mein treuer Schüler nach Rom zu den strengen Alcantarinern gepilgert war, hätte ich in hoher, göttlicher Freude in meiner Klause leben können, wenn ich mich nicht einige Jahre später hätte zu jenen Briefen hinreißen lassen ... So lebte ich mit Zittern und Zagen unter den Eichen von Castellungo, hoffend und wieder erbangend, erbangend, daß meine Entdeckung nahe war ... Mevissen mußte todt sein – ich hörte nichts von ihm ... So ging noch ein Jahr, noch ein zweites hin ... Da kam plötzlich die Nachricht, daß mein eigener Sohn als Bischof in Robillante erwartet wird –! ... Ich wußte nichts vom Zusammenhang dieser wunderbaren Wendung, ich sah nur die Wirkung meiner Mahnung an die Eichen von Castellungo ... Dein Denken, dein Fühlen entnahm ich aus dem, was ich allein von dir wußte ... Es war mir verhaßt; ich hätte fürchten müssen, dich in die traurigsten Conflicte zu verwickeln ... So entfloh ich ... Ich bot alles auf, dir, deiner Mutter, deinem zweiten Vater die volle Freiheit eueres Lebens zu lassen, mir nur den Schein meines Todes ... Ambrosi wurde der treue Vermittler zwischen deiner Liebe und meiner Furcht ... Ich hörte von deiner veränderten Richtung, von deinen Kämpfen, deinen Siegen ... Ist es nicht gut, zu entbehren um einen Gewinn? ... Sah ich dich nicht, ob hier, ob dort, in meinen Armen, vereint mit dir in jenen großen Opfern, die nie ausbleiben werden, solange die Erde in ihren Bahnen der Dunkelheit und der Sehnsucht zum unsterblichen Lichte rollt –! ... Ich fürchtete nichts von den Schrecken dieser Welt – nichts von den Schrecken Italiens ... Müssen sich nicht selbst die Drohnisse der Natur in Quellen der Freude verwandeln, wenn sie uns die Gemeinsamkeit des Erdenlooses lehren und das Bild eines großen Zweckes aufstellen, dem aus Tod erst an der ewigen Schöpfungsquelle die Erfüllung wird! ... Wenn ich dir schildern sollte, wie ich auf meinem Pilgergang nach Loretto, in der Gefangenschaft der Räuber, im Silaswald in jener Waldeinsamkeit, die ich in meinen Jugendträumen so oft gepriesen und ersehnt, hin und her bewegt wurde von einer Welt andringender, mich stets beschäftigender Thatsachen, wie ich namentlich im Hinblick auf dich und deine große Laufbahn von Zweifel, Hoffnung, innigster Vater- ja Freundesliebe bewegt wurde – dann soviel freundliche Genien fand, die mich auch wiederum einen Jüngling wie Ambrosi, entsagungsmuthig, willensstark und willensrein finden ließen – Paolo Vigo – wie ich nun drei schon einem Gottesreiche gewonnen sah, das mit klingenden Harfen näher und näher den Nebeln der Erde kommt – ...«

Bis hierher hatten die Freunde gelesen, als die Lampe erlosch und sie sahen, daß der helle Morgen tagte ...

Sie hatten das Schwinden der Zeit nicht bemerkt ... Auch das Verglimmen des Feuers im Kamin nicht ... Nun meldeten sich die Rechte der Natur im Gefühl, daß es Winter war ...

Draußen läuteten die Morgenglocken ... Sie waren so selig ergriffen von Freundschaft, Liebe und Hoffnung, daß ihnen die Besinnung auf die Welt, sogar der Hinblick auf die in den öden Mauern des Inquisitionspalastes liegende Hülle der edlen, schwärmerischen Seele, die hier zu ihnen sprach, wie ein Traum, eine märchenhafte Jugenderinnerung war ...

Den Rest der Blätter wollten sie auf den stilleren Abend lassen und wenige Stunden noch ruhen ... Dann hatten sie die Absicht, zunächst zum General der Dominicaner zu fahren und dem zu danken ... Hierauf wollten sie in den Inquisitionspalast, später nach San-Pietro in Montorio ...

Schon hörte man von der Straße her den Lärm des Tages ...

Eben wollten die Freunde sich trennen, als sie bemerkten, daß der Diener, welcher die auf dem entlegenen Zimmer Eingeschlossenen nicht ferner hatte stören dürfen und auch inzwischen geruht hatte und sie staunend noch nicht zu Bett gegangen wiederfand, noch eine Eröffnung für sie bereitzuhalten schien ... Er sagte, daß die trübe Nachricht erst nach Mitternacht gekommen wäre und er nicht sofort sie zu melden gewagt hätte ...

Es war verhängt, daß sich keine Ruhe auf die leidüberladenen Herzen senken sollte ...

Die Feuersbrunst hatte auf Via dei Mercanti statt gefunden ... Sie war seit Jahren eine der größten, die in Rom stattgefunden ... Die daselbst in einem alten Palast befindlichen Waarenmagazine waren von den wüthenden Flammen zerstört worden ... Von oben und unten sich begegnend hatten sie die Stiegen unbetretbar gemacht ... Man beklagte Verlust an Menschenleben ...

Ambrosi und Bonaventura fragten nach Gräfin Sarzana ...

Der Diener berichtete ihren Tod ...

Ein Franciscanerbruder, erzählte er und die sich mehrende Dienerschaft ergänzte seinen Bericht, hätte retten wollen ... Muthig stürzte sich der Mönch in die Flammen, zumal als man zu sehen glaubte, daß eine Dame, die oben einen Ausgang aus der Zerstörung suchte, einem Räuber ein Kästchen entriß, das sie mit Verzweiflung und hülferufend vor ihm zu wahren suchte ... Auf einer mit Eisenblech beschlagenen Leiter erreichte der Mönch den Balcon, der schon mit brennendem, zur Rettung bestimmtem Geräth überhäuft war, kletterte in ein vom wirbelnden Qualm und mit knisternden Funken erfülltes Zimmer, wo durch die zersprungenen Fensterscheiben hindurch deutlich das Ringen der Dame mit einem Mann erblickt werden konnte, dem sie jenes Kästchen nicht überlassen zu wollen schien ... Der Mönch machte sich Bahn, ergriff den kleinen Schrein, warf ihn auf die Straße – in die verzehrende Glut, die ihn sofort zerstörte ... Die Flamme loderte so hoch auf, daß bereits die glühend gewordene Leiter brannte ... Eine neue versuchte man anzulegen ... Vergebens ... Noch einmal hörte man aus dem allgemeinen Lärm der Verwüstung und Zerstörung heraus die Stimme des Mönchs, der seine schon brennende Kutte abgerissen hatte, hörte den mächtigen Ausruf: »Schon einmal gelang es, Brüderchen!« ... Da verloren sich die italienischen Worte, die der Muthige noch verständlich gerufen hatte, in eine fremde Sprache ... Mit dem einen Arm ergriff der Mönch den Räuber, mit dem andern die Gräfin Sarzana, hob beide hochhinweg über die brennenden Geräthschaften auf dem Balcon und schickte sich zum Sprunge an ... Die Balken des Daches stürzen, die Flamme sucht mit gierigem Schlund die schon Erstickenden ... Jetzt, mit dem Ausruf: Noch einmal in Jesu Namen! springt der Rettende in die Tiefe ... Mit zerschmetterten Gliedern lagen drei Menschen auf der Straße – bedeckt von den brennenden Balken und dem Schutt der Zerstörung – ... Sie lagen todt – ...

Während Bonaventura erstarrt zur Bildsäule, von Ambrosi gehalten, jedes Wort wie die Spitze eines Dolches fühlte, doch mit dem innigsten Antheil sein Ohr darhielt, fuhr der Bericht fort:

Nun stellte es sich heraus, daß der eine der beiden Männer jener deutsche Mönch war, der einst den Grizzifalcone erschossen hat, Frâ Hubertus ... Der andere hat sich keineswegs als Räuber herausgestellt ... Es war – ein Freund der unglücklichen frommen Gräfin, der nur allein zum Helfen gekommen war – ein Priester des Al-Gesú, Pater Stanislaus ... Die Gräfin Sarzana wurde über die Engelsbrücke getragen, noch hatte sie einige Besinnung; sie erreichte das Krankenhaus der Deutschen nicht mehr ... An den Stufen der Peterskirche hielt die Bahre ... Dort ist sie verschieden ...

Bonaventura war auf einen Sessel gesunken ...

Den todten Pater Stanislaus, hieß es, holten seine Ordensbrüder ... Frâ Hubertus hätte, versicherte man, mit seinem Muth und seiner unbändigen Kraft den schreckhaften Ausgang auf alle Fälle verhindert, wär' er nur anfangs auf dem Brandplatz verblieben ... Aber mitten im Gewühl behauptete er die Spur eines Mannes verloren zu haben, dem sein leichtbeschwingter Fuß aus dem Sacro Officio gefolgt war und den er im Gedräng der Menschen aus den Augen verlor ... Darüber verstrich die Zeit ... Endlich erblickte er in jenem vermeintlichen Kampf mit Gräfin Sarzana den Gesuchten, rief Worte in einer unverständlichen Sprache hinauf, kletterte in die Höhe – alles stand entsetzt ... Es war – als wenn der Tod, ein Knochengeripp, beleuchtet vom blutrothen Schein der Flammen, die schon brennenden Sprossen der Leiter herabklimmen wollte, zwei Leben im Arm – Der Erfolg des Sprunges gab dem Sensenmann, was er suchte – ...

Die Erzählenden hielten auf einen Wink Ambrosi's inne ...

Bonaventura vernahm nichts mehr.

Neuntes Buch
18??

Selbst am brausenden Donnerton des Wassersturzes nistet ein Vogel im traulichen Versteck ...

Die ermüdete Menschenseele, Erquickung bedürfend, sucht sich ihre Ordnung aus den Schrecken der Zerstörung, sucht – und findet ihre alte, ihr so wohlbekannte Gewöhnung an Freud' und Leid – auch in Sturm und Ungewitter ...

Am Fuß eines alten unschönen Gemäuers in Rom, die Pyramide des Cestius genannt und, der Inschrift zufolge, das Grabdenkmal eines wohlhabenden Kochs aus Kaiser Augustus' Zeit, schmettert in die blaue sonnige Frühlingsluft eine Nachtigall ...

Die Sängerin der Haine würde vielleicht entfliehen, wenn die Fittiche der Nachtunholde, das ringelnde Schleichen einer Schlange sie umkreisten – die Wildheit der Menschen stört sie nicht ...

Kanonen donnern – ... Wilde Lieder erschallen – ... Tausende von Menschen üben sich im Dienst der Waffen ... Die Nachtigall singt ihre Klage unter Rosenbüschen ...

Am Fuß des alten Gemäuers breitet sich ein Kirchhof aus ...

Wohlgewählt dieser Platz beim alten Cajus Cestius, Koch und Gastwirth in dem alten Rom –! Auch Herberge gab er ohne Zweifel den Fremden – den Griechen, Persern, Afrikanern ... Und dieser Kirchhof hier gibt jetzt den Juden und Ketzern Herberge, wenn sie in Rom ihr Auge schlossen ... Diese Rosen und Lilien an dem alten Gemäuer, wo die Nachtigall schlägt, gehören dem Kirchhof der Protestanten ...

Rom ist in Waffen ...

Ein Dictator ist erstanden ... Eben steht er oben und überschaut an diesem entlegenen Ende der Stadt, vom Monte Testaccio aus, die Ebene mit seinem Fernrohr ... Eine kräftige, gedrungene Gestalt mit gebräuntem Antlitz, schlichtem, schon weißem Haar, fast deutschen Augen ... Ein Italiener ist's mit dem grauen Reiterhut und einer rothen wallenden Feder drauf ... Sein militärischer Stab begleitet ihn ...

Von hier aus sieht man deutlich drei Heere zu gleicher Zeit, die in Latiums großer Ebene, der Campagna, so lagern, wie einst die Cimbern und Teutonen hier und zur Zeit der Völkerwanderung die Hunnen lagerten ... Dem Meere zu liegt das Heer der Franken ... Dem Gebirge zu das Heer der »Deutschen« – was eben »Deutsche« unter Oesterreichs Fahnen sind – ... An der südlichen Seite liegt das Heer der Italiener, im Bund mit der Erhebung in Rom und seinem sieggewohnten Führer ...

Der Monte Testaccio ist ein seltsamer Berg ... Vom Abfall der Küchen, die eine Verwaltung, die im Alterthum sorgsamer als die spätere päpstliche war, hier auf einen Haufen an die Thore der Stadt schaffen ließ, hat sich ein Hügel erhoben, in welchem Unkraut wuchert auf angeflogener Erde, die, in die Ritzen eingedrungen, den Mörtel dieser zu einem Ganzen vereinigten Scherben bildet ... Wie mancher schöne Henkelkrug liegt da in Trümmern –! ... Wessen Hand mag ihn einst an die dürstende Lippe gesetzt haben –! ...

Noch sind die Götter des friedlichen Hauses nicht ganz von diesen Gefäßen gewichen, die ihnen einst geweiht waren ... Der Monte Testaccio ist ausgehöhlt und verbreitet süßen Kelterduft aus zahllosen Weinkellern ... Hier hatte vielleicht schon Cajus Cestius seine Weinvorräthe ... Ueber diese Trümmer gibt es Treppen, Estraden, Lauben von Akazien- und Holunderbüschen, wo die, die einen Guten im Kühlen zu schätzen wissen, in Hemdärmeln sitzen und das schöne »Aller Weisheit sich entschlagen« üben, das in Rom von jeher beim Becher geliebt wurde ...

Auch heute fehlen, wie nicht die Nachtigall und die Rosen unter den Gräbern, so auch die Trinker nicht ... Massenhaft durchforschen sie die heiteren Katakomben des Testaccio ... Wilde und sanfte Gestalten gemischt – Priester und Mönche sogar – in Waffen, die meisten mit rother Blouse – die Büchsen sind in Haufen zusammengestellt ... Der nahe Kirchhof stört da Niemanden – hat doch der Tod seit Jahren in Italien furchtbare Ernten gehalten ... Throne brachen zusammen ... Völker kämpften gegen Völker ... Die letzte Entscheidung über Italiens Wiedergeburt ist nahe herbeigekommen ...

Die Waffenruhe trat ein durch den Tod des Stellvertreters Christi ...

Ihrer mehre sind sich in kurzer Frist gefolgt ... Einige Greise sanken in stürmischer Zeit dahin, wie schon sonst ein Stephan II. nur drei Tage auf jenem Stuhl saß, auf welchem man, nach Innocenz' III. Wort, »zwar weniger, als Gott, aber mehr, als ein Mensch ist« – Bonifaz VII. ermordete ihn. Auch dieser wich in einem Jahre schon vor Donus II. Auch Clemens II. Freiherr von Horneburg, ein Deutscher, blieb in jener Schwebe zwischen Himmel und Erde nur ein Jahr; Gregor VIII. nur wenige Wochen ... So herab bis zu Pius VIII., der gleichfalls nur wenig über ein Jahr die Himmelsschlüssel trug ... Seitdem kamen andere und schon hatte Frankreich in Avignon, Oesterreich in Salzburg einen oder den andern wählen und krönen lassen ...

Das neuntägige Trauergeläut unterbrach den Kanonendonner in der Campagna und Roms Dictator, bestürmt von seinen Kriegern, bestürmt vom freisinnigen Theil Europas, daß Er am wenigsten noch in Rom eine Papstwahl dulden möchte, erhob dennoch sein Schwert und sprach:

Der letzte der Reihe! ... Doch hört sein Wort! Ist es ein Prätendent auf die weltliche Herrschaft Roms, wie sie alle waren, so senden wir ihn zu den beiden Heersäulen draußen, deren Bajonnete ihn halten mögen, den Schatten ohne Macht und Würde ... Ist es aber ein Nachfolger Petri im Geiste Petri, ein Friedensfürst und Apostel, so soll die Welt seine segnende Hand nicht entbehren ... Dann wird unser Schild ihn tragen ... Unser ihm zujubelnder Beifall feiert eine Erlösungsstunde der Menschheit ...

Drei Tage dauerte nun schon das Conclave von nur noch dreißig Cardinälen ... Immer noch eine ansehnliche Zahl von Anwesenden unter den meist unvollständigen Siebzig – in solcher Zeit –! ... Offen und ehrlich hatte der Dictator in die Welt gerufen, daß jeder, der den Purpur trüge, unbekümmert an die Thore Roms pochen dürfe; Rom würde ihm öffnen und ihn schützen ...

So ruhten denn nun seit zwölf Tagen die Waffen und an das Schreckensvolle, an brennende Dächer, stürzende Thürme, an die Verheerungen der Seuchen, hatte sich die bedrängte Stadt schon wieder so gewöhnt, daß zwölf Ruhe- und Trauertage Festtage schienen ... An die Thore, die mit haushohen Barrikaden befestigt waren, hinter die Schanzkörbe der Mauern wagten sich die Frauen, die Kinder, die Greise ... Bang und erwartungsvoll umstanden sie die Batterieen, die mit brennenden Lunten den Monte Cavallo umgaben, wo die Cardinäle eingemauert und den Heiligen Geist erwartend saßen ...

Der Dictator hatte wieder sein Roß bestiegen und sprengte mit seinem Stab vom Fuß des Testaccio dem Thor der Bocca della Veritâ zu und zur Stadt zurück ... Er blickte sorglos ... Durch nichts verrieth er, daß die Welt in diesem Augenblick einer Mine glich, die ein einziger Funke in die Luft sprengen und ihn vor allem selbst vernichten konnte ...

Lächelnd grüßte er zwei ihm wohlbekannte Damen in Trauer, welche die allgemeine Erlösung vom Schrecken dieser Tage benutzten, um den Sonnenschein, die Nachtigall, die Rosen und die Gräber zu besuchen ... Von bebenden Hoffnungen, schmerzlichen Erinnerungen bewegt, suchten sie Erholung auf dem Friedhof ...

Ein blühender Knabe von sieben bis acht Jahren saß munter und ruhig vor ihnen ...

Die Reiter bogen aus und ließen den offenen Wagen hindurch ... Mitten durch die Zelte und Gruppen der singenden oder sich im Kriegsspiel übenden Krieger hindurchfahrend, steigen die Frauen, der Knabe und ein Diener am Thor des Friedhofs der Protestanten aus ... Sie tragen Kränze in den Händen ...

Der kleine grüne Fleck dieses Todtenackers war in den letzten Stürmen sichtlich verschont geblieben ... Manche der Ahornbäume, die seine Alleen bildeten, lagen zwar niedergesägt; ebenso Sträucher mit verwelkten Schneeballen oder Jasmindolden; die Gräber waren verschont geblieben ... Der stille Geisterhauch, der doppelt geheimnißvoll über diese in der Fremde Gestorbenen hinweht, schien ruhige Grüße der Sehnsucht nach dem Vaterlande hinüber oder von dorther zurückzutragen ... Aeltern, Geschwister, Kinder der hier Ruhenden weilen in der Ferne ... Manchem jenseits der Alpen Weinenden ruht hier sein ganzes Glück – unter einem – wie oft! – nur einfachen grünen Hügel ... Doch prangen auch auf marmornem Monument die Bildnisse berühmter Künstler, Gelehrten, hochgefeierter Staatsmänner ... Meist sind die Züge der Abgebildeten leidend – man sieht es, der Geschiedene hatte noch auf diese milde weiche Luft, auf diesen heitern Sonnenschein seine Hoffnung gesetzt und sie betrog ihn – ... Dürftige Holzkreuze mahnen an manchen armen jungen Maler, der in Italien sein Ideal gesucht und in einem römischen Spital in einer einzigen Fiebernacht es finden sollte ...

Jetzt halten die beiden Damen in Trauer – hohe, schlanke, edle Gestalten, gefolgt vom Diener und geführt vom voranspringenden Knaben – vor einem Denkstein, auf welchem der Name zu lesen steht:

»Graf Hugo von Salem-Camphausen.«

Sie nehmen dem Diener ihre Rosen und Lorberkränze ab, die dieser aus dem Wagen mitgebracht, und legen sie auf das Grab, das erst kürzlich seine Vollendung erhalten hatte ... Graf Hugo, nicht in die Dienste seiner Armee zurückgetreten, hatte auf Schloß Salem seiner Gattin gelebt und dem Sohn, den sie ihm gebar ... Benno Thiebold Bonaventura Graf von Dorste-Salem-Camphausen wurde lutherisch getauft ... Graf Hugo starb bei allem Glück an einem Siechthum des Herzens – es hatte seit Jahren der Kämpfe zu viel bestanden ... In Rom hatte er Genesung gehofft und heute vor einem Jahr erlosch sein Auge ... Das da ist sein lieber Sohn – er wird erzogen von zwei Müttern statt einer – ... Von Paula und von Armgart ... Letztere ist nun auch schon von grauen und nicht (wie bei ihrem auf Castellungo noch mit dem Vater lebenden streitbar rührsamen Mütterchen) verfrühten Locken ...

Das heutige Opfer der Freundschaft und Dankbarkeit konnte nicht lange währen; denn die bangen weiblichen Herzen entdeckten bald, daß sie zu allein waren in so wildem Kriegerjubel – ... Es war eine Stunde Allerseelen ... Sie gedachten voll Innigkeit aller Todtenhügel, die sich ihnen in der Welt schon erhoben ... In der Ferne das noch immer von Armgart mit Rosen und Vergißmeinnicht umfriedigte Grab des Onkels Dechanten – Benno's – der Tante Benigna, des Onkel Levinus – des Präsidenten von Wittekind – ... Auch in der Nähe gab es trauervolle Erinnerungen ... Nicht weit von hier, auf dem Kirchhof der Laterangemeinde, lag ein Hügel, der die Herzogin von Amarillas bedeckte, von welcher man sagte, daß sie ein Jahr vor ihrem Ende nachts wie ein verstörter Geist in ihren Zimmern umirrte und die Ruhe suchte, die ihr nur noch der Tod geben konnte ... Am Vatican befand sich Lucindens Grab ... Im Inquisitionspalast ein Hügel, der Bonaventura's Vater deckte .... Bruder Hubertus' Asche ruhte auf San-Pietro in Montorio ... Terschka's Ruhestätte kannte man nicht ... Die Frauen suchten und forschten auch nicht nach ihr – ebenso wenig, wie nach den Umständen, unter denen Lucinde, Terschka und Hubertus aus dem Leben gingen ... Es gab darüber grauenvolle Sagen – Armgart und Paula glaubten ihnen nicht; nicht mehr um der Religion willen, sondern deshalb, weil ein weibliches Herz die Schleier böser Dinge ungern gelüstet sieht ... Wo ist der Widerhall zu finden, die ganze Grabesrede, die jedem dieser Menschen gebührte! ... Nur in Gott ruhen sie; nachfühlen und von ihnen träumen mag der Dichter ... Paula und Armgart waren gerechter als andere – was man von Lucinden sprach, erschöpfte selbst ihrem Urtheil nicht die volle Wahrheit ...

Oder sollte Lucinde wirklich den Tod gefunden haben, überrascht bei einem Briefe, den sie gerade an Bonaventura schrieb –? ... Vor einem offenen Kästchen, in welchem Documente lagen, die – mit den Schicksalen der Familien Wittekind und Asselyn zusammenhingen, mit Benno's Ursprung, wie man glaubte, mit seines Vaters betrügerischer zweiter Ehe, mit dem scheinbaren Tod des weiland Regierungsraths von Asselyn –! Was ließ sich nicht alles an unheimlichen Stellen im Leid dieser Familien auffinden –! ... Oder sollte es wahr sein, daß Fefelotti, das Al-Gesú und Olympia im Bunde jenes Kästchen bei Gelegenheit einer Feuersbrunst ebenso wollten verloren gehen lassen, wie die verhängnißvolle falsche Urkunde, die Hammaker geschrieben, einst bei jenem Brande zu Westerhof gefunden wurde –? ... War es wirklich Terschka, der diesen Raub hatte auf sich nehmen wollen – – müssen – ihn schon lange versuchte –? ... Hatte Terschka's Ohr im Inquisitionspalast, in welchen nur die Verschlagenheit des ehemaligen Anwohners der Porta Cavallagieri sich einzuschleichen wußte, die Beziehungen belauschen sollen, die zwischen Bonaventura, und dem deutschen Einsiedler aus dem Silaswald obwalteten –? ... Und hatte die Feuersbrunst zu früh begonnen und der Mönch mit dem Todtenkopf, der alte Freund aus ihrer Jugendzeit, der zwischen Westerhof und Himmelpfort so oft im wogenden Kornfeld traulich mit ihnen plauderte und scherzend ihnen Cyanenkränze wand, seinen seit Jahren gesuchten zweiten Schützling in dem Augenblick wiedergefunden, wo ihn zugleich auch über diesen der Himmel zum Richter machte – freilich mit dem Einsatz seines eignen Endes –? ...

Wandte sich alledem ein grübelndes Forschen und Staunen zu, so ließen die beiden Frauen andere die geheimen Fäden offen und klar darlegen; sie selbst verglichen das Meiste, was im Schoose Gottes ruht, dem stillwaltenden Naturgeheimniß, das oft ein einfaches Summen schwärmender Käfer im heißen Sommerbrand tiefer auszudrücken scheint, als Bibliotheken voll Menschenweisheit – ... Mochten sie nicht glauben, daß ein Falter, der von Blume zu Blume fliegt, vom All mehr schon erfahren hat, als wir –? ...

So war es ihnen, wenn man von Lucinde sprach ...

Eine Stunde verging ... Die düstern Vorstellungen schwanden im Hinblick auf die Enthüllungen des Conclave ... Bonaventura, der muthige Bekämpfer der jetzt überall aus Italien vertriebenen und nur noch in Spanien und Deutschland nistenden Jesuiten, Bonaventura, der noch immer in Coni wohnende Segner alles dessen, was Fefelotti von Trident und Brixen, zuletzt von Salzburg, Wien und Würzburg verdammte – auch er war eingezogen in den wiederum vermauerten Palast des Quirinal ...

Von ihrer Wohnung aus, die sie in Palazzo Ruspigliosi genommen, hatten die Frauen den Einzug der Cardinäle mit angesehen ... Die lange Procession war durch die Krieger hindurchgegangen, deren drohendes Toben der Dictator beschwichtigten mußte ... Tausende bis in die höchsten Dächer und Schornsteine hinauf blickten nieder auf die seit lange zum ersten mal wieder zusammengekommenen höchsten Würdenträger der in Auflösung begriffenen Hierarchie ... Noch befanden sich unter ihnen manche der Alten und Unverbesserlichen ... Da eine hagere, leichenfahle Gestalt, gebeugt von der Last der Jahre, aber funkelnden ehrgeizigen Auges ... Dort eine beleibte, freundlich lächelnde, selbst mit dem Bäuchlein grüßende und nicht minder hoffnungsvolle – trotz der Sorgen, die auf dieser erledigten Krone lasteten ... Hier eine mit wirklichem Schmerz niederblickende, der schweren Zeit gedenkend – ... Geprüft waren sie alle, diese »letzten Märtyrer«, durch die bittersten Erfahrungen, zum mindesten durch ihre ungewohnten Entbehrungen ... In dieser diesmaligen Wahl entschied sich die Frage der säcularisirten Hierarchie für immer ...

Unter ihnen schritt Cardinal Vincente Ambrosi – gern als der künftige Stellvertreter Christi bezeichnet ... Noch immer gab er ein wohlthuendes Bild männlicher Schönheit ... Schneeweiß sein Haar, schwarz die scharfe Augenbraue ... Ihm galt der Zuruf der Römer – ... Um so mehr, da man wußte, daß das alte Recht der drei großen rechtgläubigen Dynastieen Frankreich, Oesterreich und Spanien gegen ihn geübt werden sollte – das Recht, daß, als Bevollmächtigter einer dieser Monarchieen, ein Cardinal gegen ihn protestiren durfte ... Gegen Einen nur und Einmal nur durfte protestirt werden – dann »stirbt die Biene, wenn sie den Stachel in ihren Feind senkte«, wie Cardinal Wiseman sagt ...

Auch Fefelotti folgte ... Krumm, ganz vom Alter gebeugt, citronengelb, geführt von zwei Conclavisten ... Ein Zischen und Höhnen der Masse verfolgte ihn, wie mit Spießruthen; jeder Mund hatte eine andere böse That von ihm zu erzählen ... Auch die Feuersbrunst vor Jahren auf Strada dei Mercanti wurde nur ihm, nur der Fürstin Olympia Rucca mit ihm im Bunde zugeschrieben ... Letztere war nach Spanien entflohen und lebte ihre angeborene Natur, vielleicht auch innern Schmerz, jedenfalls die Zerstörung und den gänzlichen Verfall, den solchen Naturen das Alter verhängt, in den Stiergefechten von Madrid, im Muth der Espadas und Picadoren aus ... Alle Trümmer des ehemaligen Roms verendeten in Spanien – Der junge Rucca befand sich dort mit seinen Orden, mit seinen Titeln und dem klingenden Werth aller seiner verkauften Güter – ...

Ein Glück für Fefelotti, daß ihm im Zug der Cardinäle Bonaventura d'Asselyno folgte – sein Gegner, ein Name, den Italien verehrte – ... Sogleich verstummte der Hohn, als die rollenden Augen dieser wilden Men schenden Erzbischof von Coni sahen ... Auf Bonaventura paßten die Worte Samuelis: »Sieh nicht auf sein Angesicht, noch auf die Höhe seiner Gestalt – sieh auf sein Herz« ... Angesicht und Gestalt ragten im Zuge majestätisch und doch sprach nur jeder von seinem muthigen Geist, von seinem edlen Herzen – Nach des Präsidenten von Wittekind Tode wußte alle Welt die Geschichte Federigo's ...

Drei Tage hatte das Volk durch einen kleinen Schornstein am Quirinal den aufsteigenden Rauch beobachtet, der vom Verbrennen der Wahlzettel im Ofen der Kapelle des Conclave kommt ... Im kleinen Garten, der zu dem von seinem Besitzer verlassenen und deshalb leicht zu ermiethenden Palast Ruspigliosi gehörte, wandelten Paula und Armgart schon seit drei Tagen auf und nieder wie mit Flügeln, die ihr Wille gewaltsam niederhalten mußte; bangfrohe Sehnsucht und Erwartung hob ihre Seelen, als wäre nur noch der Aether ihr Bereich ...

Die dreifache Krone gewinnt nur Er –! sprach Armgart zur Freundin, der sie Führerin und Lenkerin aller ihrer Lebensentschlüsse geworden ... In deinen Jugendträumen hast du ihn so gesehen; so wird es sich auch erfüllen! ...

Was sah' ich nicht alles und die Erfüllung – – blieb aus! ... sprach Paula ...

Alles kam anders – als wir erwarteten, aber es traf zu – zum Guten –! ...

Armgart durfte gewiß so sprechen in Rücksicht auf den eignen Frieden, der in ihr Inneres eingezogen war ... Thiebold's Hand hatte sie abgelehnt, aber die fortdauernden Beweise seiner Freundschaft ließ sie sich gefallen; wenn die Trennungen zu lange dauerten, konnte sie seine erheiternde Nähe kaum entbehren ... Thiebold, reich und guter Laune, gefällig, alles zum Besten wendend, reiste zwischen den »letzten Trümmern seiner schöneren Vergangenheit« hin und her ...

Sein Pathe, Benno, wie er genannt wurde, hatte jetzt nur die Krieger im Auge, die Kanonen an den Schanzkörben hinter dem braunen Gestein der Cestiuspyramide, die dreifarbigen Fahnen und die blitzenden Bajonnete auf dem nahegelegenen alten Römerthor ...

Als ich heute in unserm Hause das Bild des Guido an der Decke betrachtete, sprach Paula, den Aufgang Aurorens über die Gewässer, mußt' ich deiner Erzählung gedenken, die du nach dem Schreckenstage des Westerhofer Brandes vom Jagdgelag auf Münnichhof gabst – an des seligen Onkels Schilderung der Farben, die dem Aufgang der Sonne über Meereswogen vorangehen ... So geh' ich auch heute ganz in Licht und Purpur ...

Armgart drückte die Hand der Freundin und sprach:

Wir sind bis zu Gräbern gekommen und haben immer noch Hoffnungen für diese Erde –! ...

Während sie so plauderten auf dem marmornen Sarkophage, versunken in Träume und Erinnerungen, und ihre Augen dem Knaben folgten, der nach Schmetterlingen haschte, erbebte plötzlich die Luft vom Donner eines Kanonenschusses ...

Die Krieger ringsum griffen zu den Waffen ... Auch auf dem Monte Testaccio wurde es lebendig ... Der Schuß kam von der inneren Stadt ...

Bald fielen, während die Kanonenschüsse sich wiederholten, Glocken ein ... Immer mehr und mehr der ehernen Zungen begannen auf allen Thürmen zu läuten ... Ueber die ganze Stadt wehte ein einziger klingender Luftstrom ...

Die Wahl ist vollzogen! rief Armgart und brach auf ... Der Knabe wurde gerufen ...

Sicher war es jetzt kaum zum Hindurchkommen, wenn man auf den Monte Cavallo zurückfahren wollte ... Paula mußte schon geführt werden ... Sie schwankte in zitternder Erwartung ...

Der Donner der Kanonen, das Läuten der Glocken währte fort ...

Pfeilgeschwind schoß der Wagen durch die Vorstädte ... Im Innern der Stadt mußt' es langsamer gehen ...

Haben wir das versäumt! klagte Armgart und zu gleich erwartungsvoll forschend, so oft der Wagen im Gewühl der Truppen, der Bivouaks, der Volksmassen halten mußte ... Sie fragte, was man wisse ...

Man hörte nur Trommeln, Commandowörter, Drohungen sogar – ...

Zu den Waffen! schrie das Volk und von Trastevere stürmten die Menschen in wilder Wuth über die Brücken ...

Was mag es geben! fragten sich die Frauen, voll Bangen über eine unerwartete Wendung ...

Daß zur bestimmten Stunde aus dem kleinen Schornstein nicht Rauch gekommen war, galt bis jetzt für das einzige Zeichen, daß Jemand das richtige Zweidrittel der Stimmen für die Wahl erhalten hatte ... Wer es war? wußte noch niemand ... War es Fefelotti – dann Tod und Verderben –! ...

Dem Monte Cavallo zu, wo nur denen Platz gelassen wurde, die beweisen konnten, daß sie dort wohnten, hieß es:

Fefelotti ist es nicht ...

Aber auch Ambrosi war es nicht ...

Man hatte gehört, daß von den drei weißen Gewändern, die für den neugewählten Papst bereitgehalten werden müssen, nicht dasjenige geholt worden war, das zu einer kleinen Gestalt paßte ... Anfangs hieß es: Man holte das mittlere ... Endlich, schon an dem von Truppen umlagerten vermauerten Palast, lärmten die Rufe wie bei den Vorbereitungen zu einem Bühnenspiel durcheinander: La roba grande! ...

Halb ohnmächtig über die Schlußfolgerungen, die sich aus diesem üblichen Vorspiel eines überlebten Vorgangs ziehen ließen, kam Paula am Thor des Palazzo Ruspigliosi an ... Armgart sprang aus dem Wagen – eilte durch die Säle, riß eines der von den Dienern und deren Freunden und Angehörigen nicht belagerten Fenster auf und blickte in den schon vom Abendlicht beleuchteten menschenübersäeten Platz ... Hoch und herrlich bäumten sich über dem Gewühl von Menschen, Rossen, Kanonen, Waffen aller Art, wehenden Fahnen die Kolosse der Dioskuren, die Phidias und Praxiteles geschaffen ... Jeder der ehernen Rossebändiger hatte in der einen freien Hand die dreifarbige Fahne ...

Armgart rief nach Paula ...

Diese schwankte näher – krampfhaft ihren Sohn umfassend ... Ueber dem Portal des päpstlichen Palastes am großen Fenster wurde es lebendig ... Eine Mauer, vor wenig Tagen erst aufgeführt, rissen in wilder Hast Arbeiter im Schurzfell, nieder ... Stein auf Stein fiel ... Die Balconthür wird frei ... Ein lieblichster Abendsonnenstrahl fällt auf die bunten Gewänder der Männer, die jetzt auf dem Balcon erscheinen ...

Cardinal Ambrosi tritt hervor, jubelnd vom Volk bewillkommt ... Er trägt eine Rolle in der Hand ... Trotz des Purpurstrahls der Sonne und seiner Gewänder erschien er vor Aufregung hocherröthet ...

Das Jauchzen, das Rufen der Menge, die ihn gleichsam für eine getäuschte Hoffnung schadlos hielt – er konnte nicht der Gewählte sein – hörte endlich auf ... Todtenstille trat ein, unterbrochen vom Krachen der Kanonen auf der Engelsburg, vom Läuten der Glocken ...

Ambrosi, wie Johannes der Täufer den Ruhm seines Freundes Jesus verkündete, rief mit lauter Stimme:

Annuncio vobis gaudium maximum! ... Habemus Papam eminentissimum Cardinalem Archiepiscopum Cuneensem Dominum Bonaventuram d'Asselyno ...

Trommeln wirbelten, Trompeten schmetterten – Fahnen flatterten ...

Von seinem Roß herab salutirte der Dictator mit seinem im Sonnenstrahl blinkenden Schwert dem neuen Bischof Roms, einem Deutschen ...

Wohlgefällig und neugierig murmelnd ging es durch die Reihen ... Der Name war bekannt und in seinem Ruf bewährt ... Es war eine Wahl, die zugleich ein Symbol der Universalität und Unparteilichkeit der Kirche erscheinen durfte ...

In italienischer Sprache fuhr Ambrosi fort:

Der erste Papst, der nicht heilig gesprochen wurde, hieß Liberius I .... Der neue Bischof von Rom nennt sich in Demuth Liberius II ....

Die Spannung mehrte sich ...

Ambrosi fuhr fort:

Liberius II. nimmt die Wahl unter der von den Cardinälen zugestandenen Bedingung an, daß seine erste That als gekrönter Bischof von Rom die Berufung eines allgemeinen Concils ist ...

Der Dictator schwang sein Schwert ... Ein Sturm der freudigsten Unterbrechung folgte ... Die Krieger riefen wie mit ehernen Zungen: Evviva! ...

Ambrosi fuhr fort:

Auf daß sich jedes katholische Herz auf die seit dreihundert Jahren ruhende Frage der Kirche und Lehre, auf eine Kirchenverbesserung nach dem Wort Gottes, Christi und der Apostel vorbereite, gibt das versammelte Conclave der zweiten Bedingung des neuen Herrschers der Kirche die Zustimmung: In allen Sprachen der Christenheit ist das Lesen der Bibel gestattet! Von allen Kanzeln der katholischen Christenheit sollen die Völker ausdrücklich sieben Wochen lang und in jeder Abendstunde dazu aufgefordert und angeleitet werden –! ...

Der Dictator nahm seinen Reiterhut mit der wallenden Feder vom greisen Haupte ... Geisterhaft lag ein heiliges Schweigen über dem Menschenmeer ...

Endlich schloß Ambrosi:

Und daß das Concil in heiliger Stille, fern vom Geräusch der Waffen und weltlichen Störungen gehalten werde, so ist dafür ein stilles Alpenthal Italiens bestimmt in der Erzdiöcese des Gewählten ... Zwischen Coni und Robillante im Piemont liegt das Schloß Castellungo ... Dorthin und zum 20. August dieses Jahres, zum Tag des heiligen Bernhard von Clairvaux ist die Versammlung der Bischöfe der Christenheit ausgeschrieben! ... Betet, daß der Geist Gottes die Stätte und die Stunde segnen möge! ...

Der Jubelruf nahm an Kraft und lufterschütternder Macht noch zu, als, von den üblichen Gewohnheiten der Papstwahl abweichend, diesmal der Gewählte selbst vom Cardinalvicar vorgeführt wurde und an dem riesigen Fenster in den Kleidern seiner Würde erschien ...

Diese Kleider sind eines Zauberers Tracht – In Persien tragen sich so die Eingeweihten der Geheimnisse der Natur ...

Aber der neue Zauberer von Rom erschien, ob auch unter silbergesticktem, weißen Traghimmel, ob auch in der Sottana von weißem Moor, ob auch die weiße Mozzetta auf der Brust, ob auch mit dem rothsammetnen Baret auf, dem edlen Dulderhaupt, doch wie ein Mensch der Demuth und Schwäche, wie ein Vater, ein Freund, ein Bruder aller Menschen – ...

Alle blickten zu ihm auf voll Liebe ... Lang umflossen die weißen Locken das allmählich freudig niederlächelnde Haupt des Gewählten ... Die Hände streckten sich segnend über die in endlosen Jubel ausbrechende Menge; an der Rechten blitzte der mächtige Fischerring Petri – ...

Die Abendsonne beglänzte einen Verklärten ... Als ihre Strahlen sein braunes Auge trafen, mußte er es schließen ... Er schloß es auch um des thränenvollen Blickes willen auf jene beiden Frauen am wohlbekannten Fenster, deren weiße Tücher ihm: Hosiannah, Sieger und Ueberwinder –! entgegenwinkten – ...

Das sah der letzte der Päpste wol nicht, wie hinter den Frauen ein kräftiger Männerarm sich Bahn machte und einen Knaben emporhielt ... Thiebold war es, plötzlich angekommen und keine Gefahr des Krieges scheuend ... Wie konnte Er – fehlen bei solchem Augenblick der Verheißungen und Erfüllungen –! ...

Endlos war der Jubelruf des Volks ...

Ging es zum Frieden mit der Welt oder zur letzten Entscheidung mit dem Schwert – die hier Versammelten riefen die Forderung der Jahrhunderte, die unvertilgbar ewige Losung und das gottgegebene Erbe der Menschheit:

Freiheit –! Freiheit –! Freiheit –!

Ende.