Die Geschichte meines Urgroßvaters : ELTeC ausgabe François, Louise von (1817-1893) ELTeC conversion Leonard Konle 37948 129 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Die Geschichte meines Urgroßvaters François, Louise von Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Leipzig: Insel-Verlag, 1918.Erstdruck (anonym) unter dem Titel »Aus dem Leben meines Urgroßvaters« in: Europa, Leipzig (editorErnst Keil) 1855, Nr. 3; [erste Buchausgabe in: Hellstädt und andere Erzählungen, 3. Band, Berlin (Otto Janke) 1874.]

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Einleitung

Wenn ich dir, lieber Leser, die Geschichte des alten Bürgers, meines Urgroßvaters, erzähle, so setze beileibe keine tiefsinnige Absicht in mir voraus, keinen großartigen Standpunkt oder kühnen Griff in die Region des Zopftums; nicht eine spirituelle historische Auffassung, eine vaterländische moralische, wohl gar ästhetische Tendenz. Denke ja nicht etwa an einen Nettelbeck oder Lorenz Stark und Wirt zum Goldenen Löwen.

Tu mir das nicht zuleide, guter Leser, verdirb mir nicht die Freude an meinem Urgroßvater; lege lieber seine Geschichte aus der Hand, bevor du sie angefangen hast. Willst du mir aber den Gefallen erweisen, sie anzuhören, so siehe von vornherein in mir nichts als einen Enkel, den es glücklich macht, von dem Werte seiner Ahnen zu plaudern, auch wenn diese Ahnen nur schlichte Bürger eines kleinen Landstädtchens gewesen sind, und von der Geschichte meines Urgroßvaters erwarte nichts als das Leben eines Mannes, der unangefochten bis zum letzten seinen Zopf im Nacken und seinen Gott im Herzen trug.

Sein Bild hängt noch heute über dem Sofa seiner Enkelin, meiner lieben Mutter. Er mochte etwa fünfzig Jahre zählen, als er, wie jeden Sonntagsmorgen nach der Kirche, am offenen Fenster seiner Ladenstube stehend, die städtische Garnison, zwei Kompagnien von Prinz Xaver, zur Wachtparade auf den Markt marschieren sah. Da trat ein junger Mensch an ihn heran, der demütig seinen Hut abzog und schüchtern fragte: Ob Herr Haller nicht geneigt seien, sich von ihm malen zu lassen? Er betreibe diese Kunst.

Ich habe in meines Vorfahren Leben keinen weiteren Zug aufzuspüren vermocht, welcher Neigung oder Eitelkeit eines Mäzen bekundet haben würde. Heute aber: ein rascher Blick auf den bittstellenden Künstler – und er ward's! Der junge, blasse Mensch sah aus wie guter Leute Kind. Wie sorgfältig gebürstet war sein knapper Rock, aber wie abgetragen und fadenscheinig! Wie blank gewichst glänzten die Stiefeln, aber wie bedenklich drohten die Flicken auf den Ballen wieder auszuplatzen! Und das mitten im Januar! Er mochte wohl der Truppe angehören, die seit voriger Woche, nicht wie in der guten alten Zeit in der Scheune des Gasthofs zum Goldenen Scheffel, nein, Gott sei's geklagt! im ehrwürdigen Rathaussaale ihre Schauspiele zum besten gab, in dem nämlichen Saale, wo vor dreißig Jahren David Hallers Hochzeitsfest gefeiert worden war.

Ob es nun die Vorstellung dieses Zeitenwandels bewirkte, oder eine noch weheleidigere Erinnerung, kurzum, eine jähe Röte stieg in meines Ahnherrn Gesicht, und ein Schatten tiefer Traurigkeit breitete sich über seine sonst so freundlichen Züge. Er winkte den Komödianten in die Ladenstube und ward ohne Handeln mit ihm einig um sein Porträt; gleichviel ob in Wasser oder Öl, aber versteht sich in natürlicher Couleur und in voller Figur. Zwei Sitzungen und drei Laubtaler Honorar wurden bewilligt, die Ausführung der Muße des Künstlers überlassen.

Vor Ablauf der Woche war das Bild fix und fertig unter Glas und Rahmen, das Honorar erstattet; aber noch selbigen Abends lohnte der großmütige Bürger extra und heimlich mit einem Paar neuer rindslederner Stiefeln und sechs Ellen vom derbsten, grünen Kalmuck aus seinem Geschäft dem Verfertiger sein wohlgelungenes Stück.

Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Näheres, oder eigentlich Ferneres über diesen doppelter Kunst beflissenen Jüngling in Erfahrung zu bringen; er würde eine interessante Staffage für mein Stilleben abgegeben haben. Denn obgleich ich fast zweifle – ich bin kein Kenner –, ob das werte Familienbild einem Kunstwerk entspreche, da es in ein paar Tagen gefertigt worden ist und im Grunde doch nur drei Laubtaler gekostet hat (Stiefeln und Kalmuck waren ja Geschenk!), so lasse ich mir es nicht nehmen, daß der blasse, junge Mensch ein großer Künstler gewesen oder geworden ist, denn das Bild leibt und lebt.

Gerade so habe ich meinen Urgroßvater fast dreißig Jahre später noch gekannt; gerade so sorgfältig aus der Stirn gestrichen und im Haarbeutel zusammengefaßt das starke, nunmehr auch ohne Puder schneeweiße Haar; genau nach dem nämlichen Schnitt der grüne Pattenrock und die safrangelbe Weste über dem rundlichen Leib; dieselben feingefältelten Busenstreifen, das in den Zipfeln gestickte Halstuch, die goldenen Schnallen an der schwarzen Manschesterhose; die weißseidenen Strümpfe und blanken Schuhe und vor allem dasselbe schöne, volle, ja rosige Gesicht mit dem seelenfreundlichen Blick, gerade so stand er an dem nämlichen halbrunden Fenster seiner Ladenstube und sah die Kompagnien allerdings eines anderen Regiments als des Xaver auf die Wachtparade ziehen, wenn Sonntags früh meine Mutter und ich über den Marktplatz kamen, um seine Mittagsgäste zu sein.

Der alte Herr hatte, soviel ich weiß, eine einzige Liebhaberei: das waren Uhren. Von jeder Leipziger Messe brachte er eine Uhr, in jeder Auktion forschte er nach einer Uhr. Ein Stück Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts hätte ich an den Uhren über und auf dem Schreibpult meines Urgroßvaters studieren können, wenn ich bei seiner Lebzeit nicht noch ein gar zu einfältiges Menschenkind gewesen wäre. Da standen und hingen sie nun alle nach der Größe gereiht und waren also gestellt, daß eine zu schlagen immer anfing, wenn die andere aufgehört hatte. Das Bimmeln war mein Gaudium, Nummer Eins aber, nach der Rathausuhr uns gegenüber gerichtet, der Regulator des Hauses.

Sobald die zwölfte Stunde ausgehoben hatte, stellten wir vier uns hinter unsere Stühle. Der Urgroßvater nämlich, die Großmutter, die Witwe seines einzigen Sohnes, deren einzige Tochter, meine Mutter, und ich, wieder ein einziges Kind. (Obgleich es in diese Geschichte just nicht gehört, will ich beiläufig bemerken, daß der, welchem der fünfte Platz an dem Familientische gebührt haben würde, mein Vater, zur Zeit dieser Erinnerungen beim Kleistschen Besatzungskorps in Frankreich stand und von da ab verschiedentlich das Quartier wechselte, bis er als Landwehrmajor dauernd in meine mütterliche Heimatsstadt versetzt wurde. Was aber die ledigen Gehülfen des Geschäfts und des Gesindes anbetrifft, die beide an Werkeltagen am Herrentische teilnahmen, so tafelten die ersteren sonntägig nach Belieben außerhalb des Hauses, die letzteren unter sich in der eigentlichen Eßstube, die nach dem Hofe hinaus gelegen war. Um der gebührlichen Abwartung dieses Leutetisches willen war der der Familie auch von der elften Stunde in die zwölfte hinausgerückt.)

Also wir standen mit gefalteten Händen hinter unseren Stühlen; der Urgroßvater betete laut, dann verneigten wir uns gegeneinander, setzten uns, und das Mahl begann. Auf zinnernem Gerät nichts als Suppe und Braten; nur an hohen Feiertagen, inklusive der Geburtsfeste der Familie, der noch Lebenden und der Toten, eine Schüssel mehr: gewöhnlich Polnischer Karpfen. Aber wie delikat war alles zubereitet! es zerging einem auf der Zunge. Ach, diese Gänse! Sie wurden auf dem Hofe gezogen; nicht etwa genudelt, das heißt unmenschlich gemartert, nein sattsam gefüttert, ganz nach ihrem gänslichen Belieben. Und dieses Füllsel von Beifuß und Borsdorfer Äpfeln! Kein Enkel ißt wieder solchen Gänsebraten; schon um sein Andenken auf die Nachwelt zu bringen, hätte ich die Geschichte meines Urgroßvaters und seines Hauses schreiben müssen.

Wir tranken auch Wein, alten guten Rheinwein; jeder ein Glas und der Urgroßvater zwei; nie mehr und nie weniger. Sobald der Braten aufgetragen war, stand der alte Herr auf, zog das schwarze Käppchen von seinem weißen Haar, klingte an den grünen Römer und sprach mit lauter Stimme: »Seiner Kurf .... hm, hm! Seiner Majestät dem König!« Unsere Stadt gehörte nämlich zu denen, welche kürzlich nach dem Frieden einem gewissen Kurfürsten genommen und einem gewissen König abgetreten worden waren. Schon hatte sich die Jugend an den letzteren und an den Staat, welchen er repräsentierte, angeschlossen; die Alten aber, und mein Urgroßvater unter ihnen, hingen vor wie nach an dem, der ihr guter Kurfürst geblieben, auch nachdem er dem Namen nach ein König geworden war, dessen Haar sich mit dem ihren gebleicht und der so vieles erduldet und verloren hatte. Sein Leben lang hatte David Haller mit jedem ersten Tropfen, der seine Lippen benetzte, die Gesundheit Seiner Kurfürstlichen Gnaden getrunken; nun wurde es ihm herzlich sauer zu sagen: Seiner Majestät dem König! Aber: »Alle Obrigkeit ist von Gott«, darum schluckte David Haller die alte Liebe hinunter und tat seine Schuldigkeit in diesem wie in jeglichem Stücke.

Die Tafel war aufgehoben, die Danksagung laut vom Urgroßvater gesprochen; wir wünschten uns eine gesegnete Mahlzeit. Die Großmutter, selber schon nahe den Sechzigern, knickste bis zur Erde und küßte dem Herrn Vater ehrerbietig die Hand. Wie aber die Zeiten sich geändert hatten, daß sah man wieder einmal deutlich an dem Mahlzeitsgruße meiner lieben Mutter. Die schlanke, holdselige Frau mit den sanften, schwarzen Augen umarmte den Greis und sagte lächelnd: »Wohl bekomm's Ihnen, Väterchen!« Und gar ich, ich nannte ihn du und Papa, kletterte auf seinen Schoß, zupfte ihn am Haarbeutel und leckte ein Stückchen Zucker, das er in seine Kaffeetasse getaucht hatte.

Der Urgroßvater trank nämlich Sonntags seinen Kaffee schwarz und gleich nach dem Essen, wegen des Wachbleibens in der Nachmittagskirche. Zwar war es nichts Auffälliges, im großen Bürgerstuhle neben der Kanzel ein Weilchen einzunicken; die Mehrzahl der würdigen Herren ruhte während der Predigt auf der harten Bank so sanft als ohne Predigt daheim im gepolsterten Ohrenstuhl. Meinem Urgroßvater aber entging keine Silbe von dem göttlichen Wort; sein frommer Wille und der Kaffee hielten ihn rege.

Bei aller Andacht indessen möchte dieser nachmittägige Kirchgang wesentlich als pflichtschuldiger Akt des Bürgers und Ratsherrn, guten Beispiels halber, zu betrachten sein; Herzens halber war er schon einmal im Gotteshause gewesen; früh um fünf in den Metten. Denn nur ein einziges Mal seit seinen Mannesjahren, an einem bitterbösen Lebenstage, hat David Haller diese morgendliche Betstunde versäumt, und alles, was der bedrängte Mensch mit seinem Gewissen und mit seinem Herrgott abzumachen hatte, das machte er ab in dieser stillen Feier.

Aus den Metten ging es dann regelmäßig, ob's regnete oder ob die Sonne schien, im Winter noch bei Sternenschein auf den Gottesacker, zu welchem der Schlüssel in der Tasche des Sonntagsrocks seinen Platz hatte. Dort ruhte er eine gute Weile zwischen den Gräbern seiner Vorangegangenen auf einer Bank, an deren Stelle er einmal versenkt sein wollte und versenkt worden ist. Bevor aber um acht seine Schwiegertochter mit dem Hausgesinde zum großen Morgengottesdienste aufbrach, da saß er schon wieder gelassen und freundlich wie alle Tage vor seinem Pult in der Ladenstube, der einzigen, in welcher ich ihn jemals gesehen habe. In einem Alkoven, richtiger: in einer anstoßenden kalten, stockdunkeln Kammer schlief er. Heutzutage würde man es für den hellen Tod eines Menschen halten, in solchem luft- und lichtlosen Raume aus- und einzuatmen: David Haller, dem nie in seinem Leben ein Finger weh getan hat, ist nahezu achtzig Jahr darin geworden.

Seine Schwiegertochter wohnte im oberen Stock, neben der guten Stube, die meinerzeit nur noch geöffnet ward, um gelüftet und gereinigt zu werden. Früherhin hatte alljährig an dem Tage, an welchem der Hausherr Bürger und Meister geworden war, für städtische Honoratioren und werte Freunde ein Traktament in dieser guten Stube stattgefunden und David Haller bei dieser Gelegenheit gezeigt, daß er zu leben verstehe und einen würdigen Aufwand nicht scheue. Die Hausfrau, die natürlich in Küche und Keller alle Hände voll zu tun hatte, erschien erst, wenn der Kaffee gereicht ward, die Gäste zu begrüßen und für die Ehre zu danken, die ihrem armen Hause erzeigt worden sei.

Wie gesagt, zu meiner Zeit hatten diese Festlichkeiten aufgehört; ich weiß nicht, ob infolge der beiden großen Sterbefälle in der Familie oder des Königlichwerdens, das einen Wechsel in den Beamtenverhältnissen mit sich gebracht hatte. Die gute Stube blieb unbenutzt.

Nach dem Tode ihres Schwiegervaters und bis zum eigenen lebte die Großmutter weiter in dem alten Hause, das nun mein elterliches geworden war, eine rührige, muntere Matrone, auch dann noch, als der Körper schon recht gebrechlich und das Ingenium zum Fassen und Behalten merklich schwach geworden war. Ihr fehlte der große Haushalt; es fehlten die alten Genossen und Zeiten. Wenn ich, gegen Abend aus der Schule kommend, sie in ihrem Zimmer besuchte, rief sie mir einmal wie das andere entgegen:

»Ich sitze hier wie auf einer wüsten Insel. Erzähle mir was Neues, mein Lämmchen.«

»Es passiert gar nichts Neues, Großmutter,« erwiderte ich.

»Nun denn was Altes, Sohnemann.«

»Ich bin noch so jung, ich weiß gar nichts Altes, Großmutter.«

»So erfinde was, mein Junge, lüge was; die Zeit wird mir gräßlich lang.«

»Erfinden kann ich nichts, und lügen darf ich nicht. Aber weißt du, Großmutter, erzähle du mir was vom seligen Urgroßvater; das hör ich so gern.«

Und gleich war sie im Zuge. Stundenlang hörte ich die alten oft gehörten Geschichten von neuem mit an. Oftmals mochte ich wohl an etwas anderes dabei denken; unwillkürlich aber prägten sie mir sich ein, so, als hätt ich mit dem alten Mann, der mir ein liebes Bild hinterlassen hatte, Stück für Stück erlebt. Die Großmutter erzählte nämlich allezeit nur gern von ihrem Schwiegervater; die Erinnerung an seinen Sohn machte sie traurig. Den hatte sie wohl geliebt, aber jenen hatte sie verstanden; darum wurde sie immer wieder jung, wenn sie an ihn zurückdachte.

Die alte Frau hatte eine Redensart, mit der sie ihr Temperament bezeichnete. »Ich, wie ein Wetter!« hieß es Satz um Satz. »Ich, wie ein Wetter, zum Bette heraus! Ich, wie ein Wetter, die Treppe hinunter oder den Boden hinauf!« und so weiter.

Ihr Schwiegervater wird diese Redensart im Leben niemals angewendet haben, und sie würde auf ihn niemals anwendbar gewesen sein.

»Ich, wie eine Uhr,« hätte der von sich sagen dürfen, wenn er selber nicht der Meister gewesen wäre, der streng nach seinem Gewissen und nach seines Gottes Gebot den Gang dieser Uhr und ihren Schlag gerichtet hätte.

Erstes Kapitel Ein Wunder!

Die alten Geschichten fielen mir heute alle wieder ein, als ich nach langer Abwesenheit von der Heimat über unseren Friedhof ging, der sich so malerisch in einer Schlucht zwischen zwei schützenden Bergen hinanzieht. Die Gräber meiner mütterlichen Familie liegen liebreich gepflegt auf dem höchsten Punkt, von dem weit hinaus man den westlichen Horizont überblickt. Die Sonne sank wie in einem grünen Rahmen und spiegelte ihre letzten Strahlen im still dahingleitenden Flusse.

Der älteste der alten Leichensteine meiner Ahnen trägt unter der unvermeidlichen Urne seiner Zeit die folgende Inschrift:

»Allhiero ruht in Gott weiland Meister Andreas Haller, Bürger und Tuchmacher hiesigen Orts. Der Herr hatte sein Haus gesegnet. Er überlebte drei Ehefrauen, deren Gebeine an seiner Seite schlummern, und allwelche ihm zweiundzwanzig Kinder gebaren, von denenselbigen eilf ihn hienieden beweinen, eilf ihm in das ewige Freudenreich vorangegangen sind.«

Das älteste von diesen eilf überlebenden Kindern war mein Urgroßvater David Fürchtegott Haller. Bei vierzehn Jahren hatte er schon eine Mutter und eine Stiefmutter verloren; von des Vaters allererster Frau lebten gar keine Nachkommen mehr. Über seine Kindheit schweigt die Familientradition, und die zuverlässigen Nachrichten über ihn reichen nur bis zu der denkwürdigen Silvesternacht 1758. Er ging dazumal in die Katechismuslehre und sollte an Palmarum zum ersten Genusse des heiligen Mahles zugelassen werden.

Also Silvesterabend. Meister Andreas hatte mit seinen Eilfen und dem Gesinde den landesüblichen Heringssalat verzehrt, der an keinem heiligen Abend, wie viel weniger am Neujahrsheiligenabend fehlen darf. Denn wer, heute noch wie vor hundert Jahren, am Silvester nicht Hering und am Gründonnerstag nicht etwas Grünes oder mindestens frischen Honig genossen hat, wie dürfte der die Hoffnung hegen, das Jahr über Glück, will sagen Geld, zu haben? Der Abendsegen war verlesen; nach der alltäglichen Hausordnung würde jeder sein Kokellämpchen angesteckt haben und zu Bett gegangen sein. Aber Silvester war ein Ausnahmstag, an welchem keiner rechtzeitig zur Ruhe wollte und auch die Kleinsten sich nur zögernd entfernten, mit dem Vorbehalt, um Mitternacht wieder aufwachen und mitjubeln zu dürfen.

Meister Andreas setzte sich in den tiefen, ledernen Ohrenstuhl am Fenster, in welchem er sein Mittagsschläfchen zu halten pflegte. Er wußte nicht recht, wie er die drei ungewohnten Stunden hinbringen sollte. Wie sonst an Festtagen zu einem Krug Bier in den Ratskeller gehen, das Haus an dem unruhigen Abend mit Mägden und Kindern allein lassen, wagte er nicht; würde in so feierlichen Entscheidungsstunden auch nicht schicklich befunden worden sein; die guten Freunde aber, die sonst, als seine Hausfrau noch lebte, am Silvester vorgesprochen waren, um ein Gläschen Punsch aufs neue Jahr zu leeren, sie blieben heuer aus.

Warum sie eigentlich nicht kamen, der reiche Gerbermeister Hans Adam Vogel, der ein Witmann, und Keller, der Russe, der gar nicht verheiratet war, die also beide keine Abhaltung haben konnten, weiß ich nicht zu berichten, bemerken aber will ich an dieser paßlichen Stelle, warum Keller, der Kürschner, den Namen »der Russe« bekommen hat. Er behauptete nämlich, auf der Wanderschaft bis hinten noch über Moskau hinaus gekommen zu sein, und erzählte die wunderlichsten Schnurren von den Menschen und Bären in dieser pelzreichen Gegend. Mochte dieser und jener auch viele seiner Eis- und Schneeabenteuer bezweifeln, ein jeder hörte sie doch gern, und keiner wurde müde, wenn Keller, der Russe, erzählte.

Meister Andreas blieb demnach zu Haus und allein, und da er just nichts Wichtigeres mehr zu tun wußte, gab er seinen Gedanken Audienz, und über diesem ungewohnten Zeitvertreib nickte er ein. Eine Weile saßen die beiden ältesten Knaben, ohne sich zu rühren, ihm gegenüber; als es aber auf der Straße immer unruhiger ward, duldete es sie nicht länger im Hause; Silvester ist ja der Abend der Freiheit. Ganz leise auf den Zehen schlichen sie zur Tür hinaus.

Es war eine bitterkalte Nacht, ein schneidender Ostwind pfiff; der Fluß und selber die Brunnen waren eingefroren, kein Flöckchen wärmenden Schnees deckte Gärten und Felder. Trotzdem aber waren die Straßen belebt; Hökerinnen, die Feuerkieken zwischen den Füßen, hielten Obst und Heringe feil, auf die Gefahr hin, die unabgesetzten Äpfel erfrieren zu sehn; in manchen Häusern wurde der Christbaum wieder angezündet, in allen brannte Licht; man wachte und saß gesellig beieinander.

Von zehn Uhr ab wird's immer reger und lauter; Knaben und ledige Bursche ziehen straßauf, straßab in Erwartung des Stundenschlags, der zwei Jahre trennt. Die Hallerschen Brüder schließen sich ihnen an; das ungewohnte nächtliche Umherstreifen ist ein Pläsier trotz Sturm und Frost. Sie trampeln mit den Füßen und hauchen sich in die Hände. Auch Singen und Juchheien erwärmt das Blut. Je näher die verhängnisvolle Stunde rückt, um so dichter drängt sich der Menschenknäuel nach dem Markt. Die Stadtpfeifer erscheinen auf dem Rathaussöller. Man öffnet die Fenster, schaut und spannt. Die vorlauten Stimmen, die mit einem Prosit Neujahr! herausplatzen, werden immer häufiger, kaum daß noch einer sie verhöhnt in der Angst, den ersten Glockenschlag zu verpassen.

Da – endlich! – ein einziger, einstimmiger Schrei! Alle Fenster fliegen auf, alle Menschen draußen und drinnen stürzen sich in die Arme. Dann Glockenläuten, vom Turme Posaunenschall: Herr Gott, dich loben wir.

Schweigend, mit gefaltenen Händen lauscht alt und jung dem ersten Vers. Beim zweiten fallen die Stimmen ein, und: Herr Gott, dich loben wir! schallt's durch die kalte Nacht aus tausend Menschenherzen.

Allmählich verliert sich die Menge, hier und dort noch einen Gruß nach einem hellen Fenster werfend. Auch die Brüder eilen heim; sie hatten drüben an der Ecke gestanden, dort, wo die Schösserwitwe wohnte, mit deren Tochter David in die Abendmahlsstunden und Sonntags in das Kirchenexamen ging, und als mit dem ersten Glockenschlage das helle Köpfchen sich am Fenster zeigte, da hatte David seine Biberkappe geschwenkt und gerufen: »Prosit Neujahr, liebes Christelchen!« Klappernd vor Frost treten sie nun wieder in das Zimmer, wo der Vater rechtzeitig aus seinem Schlummer erwacht ist, küssen seine Hand, nippen ein Spitzgläschen heißen Punsch aufs neue Jahr und gehn zur Ruh!

Um ein Uhr ist im Ort kein Laut und Tritt mehr rege; alles liegt im ersten, festen Schlaf, und lange bleibt daher ein rotes Flämmchen unbemerkt, das anfänglich schwach, aber immer stärker und breiter aus einem Fenster des Eckhauses züngelt, vor welchem David dem hübschen Kinde ein frohes Neujahr zugerufen hatte. Die Lohe hatte schon weit um sich gegriffen, als des Türmers erster Feuerschrei erscholl. Und die müden Schläfer sind so schwer zu ermuntern, und der Wind bläst immer schärfer von Morgen her, und alles Wasser ist fest gefroren, und auf die Löschanstalten vor hundert Jahren nach denen von heute zu schließen, – o, wie ist es da natürlich, daß eine Stunde später eine unzähmbare Glut die unglückliche Stadt überströmt.

Wie beschriebe ich aber das Entsetzen in dem so nahe bedrohten ururgroßväterlichen Hause? Die Gefahr machte den alten Andreas zum Jüngling. Er schrie und riß seine verblüfften Kinder aus den Betten, trieb und zerrte sie in die Ladenstube, aus deren niederem Fenster äußerstenfalls ein Sprung sie retten konnte, und stellte den Gottlieb als ihren Wächter an. Nun erst eilte er, um mit David von Hab und Gut das Wertvollste zu bergen. Aber wo ist David? Niemand hat ihn gesehn. »David, David!« kreischen die Stimmen wirr durchs Haus. Keine Antwort, keine Spur. »David, David!« schreit händeringend der Vater und stürzt vor die Tür.

Und siehe, da drängt der brave, starke Junge sich durch das Gewühl. Er trägt die halbtote Schösserin auf seinen Armen wie ein Kind und schleppt ihr kleines Christelchen, an seinem Rockschoß geklammert, hinterdrein. Sein erster Gedanke ist die Gefahr der unglücklichen Frauen gewesen, in deren Hause das Feuer ausgekommen ist. Ohne Bedenken stürmt er hinüber und findet die Witwe, wohl den Flammen entronnen, aber von Entsetzen gelähmt, von Rauch halb erstickt auf den Fliesen des Flurs liegend, in Gefahr, totgetreten oder von den zusammenstürzenden Balken erschlagen zu werden; neben ihr steht das jammernde Kind, das sich vergeblich bemüht, sie aufzurichten. In diesem äußersten Augenblicke erscheint der Knabe wie ein rettender Engel; er trägt die Witwe in das bis jetzt verschonte väterliche Haus, legt sie auf das Himmelbett in der schon erwähnten dunklen Kammer und eilt hinaus, seinem Vater beizustehn.

Fast vierundzwanzig Stunden saßen die zehn armen Kinder, ohne ihre nächsten Beschützer wiederzusehn. Soweit ihre Blicke reichten, Markt und Straßen ein Feuermeer! Sie sahen die Sonne nicht auf- und nicht untergehn, nur Flammen, Flammen, Flammen; sie hörten keinen Stundenschlag, kein frommes Festgeläut, nur Sturm, Sturm, Sturm. Sie drängten ihre Köpfchen gegen die Scheiben; die Scheiben waren sengend heiß, aber nicht eine war geborsten; die Kleinen saßen wie in einer Arche inmitten des tobenden Elements.

Wie das zugegangen ist? Ganz naturgemäß ohne Zweifel. Keinem Menschen würde hundert Jahre später der erklärlichste Grund für die Rettung just dieses einzigen Hauses gemangelt haben. Der alte Haller fand keinen natürlichen Grund, aber er suchte auch keinen: er sah und glaubte Gottes Wunder.

Die alte Schwarzwälder Uhr hatte eben wieder Mitternacht geschlagen, als er mit David zu seinem zitternden Häuflein zurückkehrte. »Der Herr hat Großes an uns getan,« rief er ihnen entgegen. »Preiset ihn, danket ihm, meine Kinder!«

Sie sanken auf ihre Knie, der Greis voran. Sein Kopf neigte sich auf den Stuhl am Fenster, in welchem er gestern den Jahreswechsel erwartet hatte. Regungslos lag er eine lange Weile; eines der Kinder nach dem anderen erhob sich und schielte lautlos zu dem Vater hinüber; sie glaubten ihn vor Erschöpfung eingeschlafen.

David wollte sich entfernen, um sich noch einmal den Löschenden auf der Straße zuzugesellen. Der Wind hatte sich gelegt, dem Umsichgreifen des Brandes war zunächst Einhalt getan, aber die Glut noch keineswegs gedämpft; ein jacher Windstoß konnte sie von neuem verbreiten. Draußen welch sinnbetäubendes Gekreisch und Gewirr, und hier im Zimmer alles so feierlich still und geborgen.

Er stand schon unter der Tür, als sein Blick noch einmal auf den Vater fiel. Die steif gestreckten Glieder und die Blässe der Wangen befremdeten ihn. Er umfaßte ihn, um ihm eine bequemere Lage auf dem Kanapee zu geben: der Vater regte sich nicht; David rüttelte ihn, er rief ihm ins Ohr: keine Antwort, kein Lebenszeichen! Die Haut war wie Eis, das Auge gebrochen, die Stirn voll kalter Tropfen, der Atem still. »Tot!« schrie David; »tot!« widerhallten die Kinder im Chor.

David stürzte nach einem Arzt. Wo aber in dem Wirrsal einen finden? Stundenlang irrte er umher und kehrte endlich zurück mit dem ersten besten Feldscher, der ihm in den Weg gelaufen war. Der Feldscher beleuchtete den Körper von allen Seiten, begoß ihn mit kaltem Wasser, hielt ihm einen brennenden Schwefelfaden unter die Nase, legte ein Federchen auf die Lippen, – keine Regung, kein Hauch! Meister Andreas Haller war tot. Schreck und Angst hätten ihm das Herz abgedrückt, erklärte der Feldscher.

Zweites Kapitel Noch ein Wunder!

Ein wahres Glück, daß die Frau Schösserin und Christelchen im Hause waren! Sie vergaßen ihre eigne Not über der fremden und hatten alle Hände zu rühren, um das Hauswesen nur einigermaßen in Rand und Band zu halten. Der arme David fand keinen ruhigen Augenblick für seinen Schmerz. Was lastete nicht alles auf dem guten Jungen, was sollte er nicht alles bedenken und beschaffen!

Nur allein das Begräbnis! Er hatte bei der Bestattung der Stiefmutter gesehn, hatte es oftmals aus des lieben Seligen Munde gehört, wie sehr derselbe auf Anstand und Würde, ja auf ein gewisses Gepränge bei derlei Feierlichkeiten hielt. Nun aber in dieser allgemeinen Bestürzung: zeigten Prediger und Küster, und Kirchenvogt und Leichenbitter, und Totengräber und der Tischler – wegen des Sarges, – und der Zinngießer – wegen der Handhaben des Sarges, – und der Kantor – wegen der Kurrende, – und der Türmer – wegen des Läutens, – und der Stadtpfeifer – wegen der Trauermusik –: zeigten sie nur ein Fünkchen Bereitwilligkeit für den armen, zitternden Knaben? Und nun gar vollends das gute Leichentuch, das mit der silbernen Stickerei und den Fransen, das der wohllöblichen Schneiderinnung dreihundert Taler anzuschaffen gekostet, dafür alljährlich aber auch an dreißig Taler Leihgeld von den Honoratiores eingetragen hatte, war das gute Leichentuch nicht mit der Wohnung des Altmeisters verbrannt? Und der Ratskellerwirt, er, der immer so stolz gewesen war, die Bewirtung der Leidtragenden zu übernehmen und zu allseitiger Zufriedenheit auszuführen, hatte er nicht den Kopf geschüttelt, ihm den Rücken zugekehrt und schier verächtlich ausgerufen: »Aber, Davidchen, um Jesu Christi willen, ich frage dich, wer soll denn nachfolgen? Es wäre ja schade ums liebe Gut, schaffte ich's an.«

Es war abends gegen zehn, als der arme, müdegehetzte Knabe nach Hause zurückkehrte. Die Schösserin, die Kinder, das Gesinde, alles schlief oder rang mit dem Schlafe. Der Leichnam war unten in der Ladenstube liegen geblieben; da ruhte er, auf ein Brett gebunden und mit einem weißen Laken zugedeckt, auf dem Kanapee, das mit schwarzem Leder bezogen war; aber niemand erzeigte dem Seligen den Liebesdienst der letzten Wacht. Wer hätte auch Kraft und Mut dazu gefühlt nach den beiden grauenvollen Nächten?

So matt er war, so eindringlich die Frau Schösserin abmahnte und sagte: »Es kann dein Tod sein, Davidchen, und deinem Vater hilft's ja nichts, der wacht ja doch nicht wieder auf«, der treue David entschloß sich ohne Besinnen zu dieser Pflicht; er nahm ein Licht und ging hinunter. Ihn fror, ihn schauderte, seine Zähne schlugen aneinander, die Knie schlotterten; wankend erreichte er einen Stuhl, der Kopf sank kraftlos auf den Tisch.

In dieser äußersten Erschöpfung hatte er regungslos gelegen lange, er wußte nicht wie lange. Jählings schreckt er auf. Er spürt Geräusch, leise, ganz leise. Sind das nicht Tritte? klopft es nicht? geht nicht die Tür? hört er nicht seinen Namen »David« flüsternd und bebend wie Geisterhauch? Heiland der Welt, wie fliegen seine Glieder, wie hämmert sein Herz, wie tropft der eiskalte Schweiß von seiner Stirn! Er will den Kopf in die Höh recken, will um sich blicken. Die Blicke sind wie gelähmt, der Nacken wie umklammert von einer ehernen Faust.

In dieser Folterqual kommt es über ihn wie eine Eingebung. »Vater, in deine Hände befehl ich meinen Geist,« betet er; ob er's laut gebetet, weiß ich nicht; aber er betet's im Herzen, und – wundervolles Wort! kaum ist es verhallt, so richtet sich der Nacken in die Höh, der Kopf wendet sich nach der Tür, und – was erblicken seine Augen? Ein Gespenst?

Ach nein, just das Gegenteil von einem Gespenst, ein liebes, rundes Kindergesicht, wenn auch die Bäckchen kreideweiß gefärbt sind, und Hände und Füße zittern wie dürres Laub. Christelchen, ein klapperndes Kaffeegeschirr im Arm, steht wie eingewurzelt unter der Tür.

»Ich habe dir was Warmes gekocht, Davidchen,« hauchte sie kaum vernehmlich, ohne sich zu nähern. »Komm doch her und hol's. Du bist ja noch nüchtern, armer Junge!«

»Ja, wie verschmachtet!« versetzte David, »mir ist, als stürbe ich auch.«

»Trink ein Schälchen,« nötigte die Kleine. »Aber schwarz, David; es sind keine Möhren drin.«

Er nahm das Brett aus ihrer Hand, trug es auf den Tisch, schenkte ein und stürzte eine Tasse hinunter. Das ungewohnte, heiße, starke Gebräu wirkte gleich einem Zaubertrank; in der nächsten Minute fühlte sich David so kräftig und rege wie je.

»Wie das gut tut!« sagte er, indem er dem lieben Mädchen dankbar die Hand reichte. »Aber du zitterst, du bist wie Eis, du fürchtest dich wohl, Christelchen?«

Sie nickte und blickte scheu nach dem Kanapee. Nach einem Weilchen jedoch sagte sie: »Seit du aber mit mir redest, Davidchen, ist mir ganz getrost geworden; gib mir nur deine Hand, dann fürcht ich mich gar nicht mehr.«

Sie schlüpfte bei diesen Worten aus ihren Pantöffelchen und schlich an Davids Hand zum Tisch, schenkte ihm eine zweite Tasse ein, nippte, auf sein Nötigen, ein paar Schlucke aus derselben und fühlte sich so gestärkt wie er selbst. Nun ging sie zum Ofen, fachte das Feuer an und stellte die Kanne in der Röhre warm, alles ganz allein und beherzt, aber ganz behutsam und sachte, daß der Tote nicht dadurch gestört werde. Und als sie es ihrem jungen Freunde auf diese Weise zu seinem schweren Dienst behaglich gemacht hatte, nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm über den Flur bis zur Treppentür geleiten.

»Du hast mir eine große Güte getan, Christelchen,« sagte David gerührt, »ich werd es dir niemals vergessen.«

»Ach, ich weiß ja,« antwortete sie, und ein Tränenstrom überflutete ihre Wangen, »ich weiß ja, wie es einem armen Kinde zumute ist, dem der Vater auf dem Leichenbett liegt. Und ich habe doch noch meine gute Mutter, die du mir aus dem Feuer gerettet hast, David, aber ihr armen Waisen seid ganz allein auf der weiten Welt.«

Sie sprang die Treppe hinauf, und er ging wieder hinein zu seinem Toten. Verwaist, allein, ganz allein auf der weiten Welt, er und die zehn kleinen Geschwister! Der Gedanke wurde ihm zum ersten Male klar in seiner vollen Bedeutung. Keinen Menschen, keinen nahen Verwandten, der für die armen Kinder Sorge trug, und die allgemeine Not in der Stadt, welche die Not des einzelnen so wenig in Betracht kommen ließ! Er hatte den Vater mit der Stiefmutter öfters darüber reden hören, daß der Erwerb wohl allenfalls hinreiche, um die starke Familie zu ernähren, daß aber an Zurücklegen wenig zu denken sei; was sollte aus den hülflosen Kleinen werden? Der Gedanke vernichtete ihn fast.

Er trat zu der Leiche und schlug das Tuch zurück; da lag er, der teuere Mann, der Versorger aller, fast unverändert, aber so kalt, so steif! Er warf sich über ihn und umklammerte ihn mit seinen Armen; seine Tränen fielen in Strömen auf das weiße Totenangesicht.

»Erwache, Vater, erwache!« schluchzte er, seine Hände ringend. »Vater im Himmel, Mutter im Himmel, laßt euere armen Kinder nicht ganz allein auf der Welt!«

Alles Grauen war von ihm gewichen; er fühlte gar nicht mehr die Nähe einer Leiche, er fühlte nur seine ungeheuere Qual. Lange lag er unbeweglich über den Toten gebeugt. Er hörte den Glockenschlag zwei. Auf der Straße war es ruhig geworden; die unglücklichen Menschen hatten endlich auch Schlummer und Obdach suchen müssen; man hörte nur die Tritte der Wächter, die neben den glimmenden, rauchenden Trümmern auf und nieder schritten.

Plötzlich war es dem Knaben, als fühle er die Hände des Vaters sich leise beleben, – aber es ist wohl die Wärme der eigenen Hand, die sich der toten mitgeteilt hat. Jesus Christus, was ist das? Färben sich nicht ein wenig die fahlen Wangen? Oder sollte es eine Flamme von den Brandstätten drüben sein, welche auflodernd diesen rötlichen Schimmer werfen? Aber jetzt – eine Regung der Fingerspitzen, ein leiser Pulsschlag – darf er es glauben? Und warum nicht glauben? Hat nicht Gott, der Herr, erst gestern abend ein Wunder an diesem Hause getan? Er löst die Schnüre von dem steifen Brett, reibt die Schläfen, die Hände, das Herz des teueren Manns; er zieht seine Lippen auseinander und flößt ein paar Tropfen heißen Kaffees in seinen Mund, er hörte sie gleiten, nicht rollen, noch etliche, noch etliche; er legt sein Ohr an des Vaters Mund, seine Hand ihm ans Herz; ja, das war Atem und Pulsschlag, keine Täuschung der Sinne! Er richtet den noch immer ungefügigen Körper in die Höhe, gibt ihm eine sitzende Stellung, noch einmal wirft er sich unter heftigem Schluchzen an seine Brust:

»Lebst du, Vater?« ruft er, »ach lebe, lebe!«

Der alte Mann schlägt die Augen auf, blickt verwundert in des aufgeregten Knaben Gesicht und fragt mit schwacher Stimme:

»Brennt's noch, David? Warum schreist du so, mein Sohn?«

»Ach! Ach! Herr Vater,« stammelte der Knabe, »ich dachte, – ich dachte, Sie wären gestorben!«

»So würde ich anjetzo die Freuden des Paradieses schmecken,« entgegnete gelassen Andreas Haller.

Drittes Kapitel Kein Wunder!

Lieber Leser, ich weiß, was du sagen willst: zwei schauerliche Schicksale gleich in den ersten beiden Kapiteln, wo der Held noch nicht einmal zum heiligen Nachtmahl gegangen ist, wenn das so fortgeht bis in sein achtundsiebenzigstes Jahr, wie soll eine zartbesaitete Leserin es ertragen?

Aber es geht nicht so fort, gewiß und wahrhaftig, es geht nicht so fort. Ich gebe die heilige Versicherung: mein seliger Urgroßvater hat ein friedfertiges Leben geführt, und mit den schauerlichen Ereignissen sind wir zu Ende.

»Himmel! Das ist ja noch viel miserabeler,« höre ich entgegnen; »zwei spannende Tage am Anfang des Lebens und der Geschichte und hinterdrein etliche sechzig langweilige Jahre. Heißt das anordnen, schreiben, romantisch gliedern? Ja, heißt es nur haushalten, die erste Nutzanwendung, die man doch, wahrlich, aus einer Bürgergeschichte ziehen müßte?«

Lieber Leser, ich wiederhole es: ich bin ein Enkel und erzähle, was mein Urgroßvater erlebt hat, so wie es mir kund geworden. Wäre ich ein Dichter, schriebe ich eine Novelle, o, achte mich nicht so gering, ich würde meinen Stoff anders behandelt haben. Glaube mir, so lieb es mir ist, das alte urgroßväterliche Haus am Markt, in welchem ich diese Ereignisse zu Papier bringe, ja, so lieb es mir ist, ich hätte es niederbrennen lassen bis auf den Grund, hätte es wohl gar über mein Herz gebracht, einen oder die andere von meinen seligen Urgroßonkeln oder Tanten unter den rauchenden Trümmern als kleine, nackte Leichen hervorzuziehen; oder lieber noch – denn ich neige im Grunde mehr zum Romantiker als zum modernen Exaktiker – lieber noch, wäre ich ein Dichter, würde ich den großen historischen Brand meiner Vaterstadt an das Ende meiner Novelle und um einige Jahre hinausgeschoben haben, wo der Held schon ein Jüngling, nicht erst ein Knabe war. Ich hätte ihn dann gezeichnet, wie er, einem Cherub gleich, anstatt der alten Schösserin, sein blondes Mädchen durch die lodernden Gluten trägt und tot neben der Toten niedersinkt. – Ja, ich gestehe noch mehr: Gott mag mir die Sünde vergeben, aber ich hätte es wahrhaftig geschmackvoller gefunden, wenn mein seliger Vorfahre in jener denkwürdigen Nacht wirklich abgeschieden und nicht wieder aufgewacht wäre, wenngleich ich freilich mich fragen muß: Hätte David Haller wohl der Musterbürger werden können, von welchem noch heute die Alten des Städtchens reden als von einem Ersten und Besten ihresgleichen, der Ehrenmann, dessen Andenken seinen Urenkel begeistert, allen kritischen Anfechtungen Trotz zu bieten und sein Biograph zu werden, wenn er als vierzehnjähriger Knabe schutz- und hülflos, bettelnd vielleicht, die Trümmer seines Vaterhauses zu verlassen gezwungen war?

Dem sei nun, wie ihm wolle, ich kann's nicht ändern. Meister Andreas Haller hatte wirklich nur vierundzwanzig Stunden in Ohnmacht gelegen, sein Haus stand unversehrt, und er schaltete und waltete darin noch manches Jahr mit gewohnter Umsicht und Pünktlichkeit.

Seine Gesundheit indessen scheint infolge jenes grausamen Anfalls gelitten zu haben, und ich schreibe es diesem Umstande zu, daß er nicht zum vierten Male eine Ehefrau zu Gottes Altar geführt hat, wie dieses vor jener Unheilsnacht seine Absicht gewesen sein soll. Ja, ich habe dringenden Grund zu der Vermutung, daß die Frau Schösserin die Würdige gewesen ist, auf welche seine Wahl gefallen sein würde, und ich sehe mit Bedauern auch in diesem Betracht, welch ein hübsches Stück romantischer Verwicklung mir durch jene unglückselige Ohnmacht aus dem Garne gegangen ist. Sobald nur einigermaßen ein Steinmetz im Städtchen seine Hände frei hatte, ließ Andreas Haller die Tafel meißeln, deren Gedenkspruch noch heute die Blicke der Vorübergehenden auf unsere Torfahrt lenkt. Der Spruch lautet:

»Gott des Allmächt'gen starke Hand Bewahrt' dies Haus beim großen Brand, Als neunundneunzig neben ihm Verzehrt' des Feuers Ungestüm.«

Mein Vorfahre hat diesen Vers selber gedichtet, und da außer demselben keine Probe einer poetischen Ader in seinem Nachlasse oder in der Erinnerung seiner Zeitgenossen aufgespürt werden konnte, so bin ich zu dem auch für meine eigene Person recht ermutigenden Schlusse gelangt, daß es durchaus keiner übersprudelnden Gaben bedarf, um, wenn nur irgend die anregende Gelegenheit sich bietet, ein recht erfreuliches Talent an den Tag treten zu sehen.

Die Frau Schösserin und ihre Tochter verließen, sobald eine kleine Wohnung aufgefunden worden war, ihr gegenwärtiges Asyl. Das erheischte der Anstand; alles Entbehrliche aber an Haus- und Vorrat wurde der armen Witwe, die Hab und Gut eingebüßt, zur ersten Einrichtung von Meister Andreas zum Geschenk gemacht; das erheischte die Christenpflicht. Sie arbeiteten fleißig. Ja, Christelchens Hände waren so flink und geschickt, daß ihr die ehrenvolle Aufgabe übertragen werden konnte, für die wohllöbliche Schneiderinnung ein neues Leichentuch, noch prächtiger als das verbrannte, mit frommen Sprüchen und Sinnbildern in Silber zu besticken. Länger als ein Jahr war sie von Sonnen-Aufgang bis Niedergang mit dieser Arbeit beschäftigt, und es mußte ein eigenes Gefühl erwecken, das helle Köpfchen so unverdrossen emsig über dem düsteren Werke ihrer Hände zu erblicken. Natürlich fand sie zu diesem erst ununterbrochene Muße, nachdem sie, gleich unserem David, am Tage Palmarum aus der Schule entlassen und kirchlich eingesegnet worden war. Die feierliche Handlung gewährte in diesem Jahre eine vorzugsweise Erhebung in Betracht des großen Brandes, welchen der Herr Superintendent zum Hauptgegenstande seiner Rede machen konnte. Auf herzerschütternde Weise erinnerte der fromme Mann daran, daß dieses Feuer ein Vorgeschmack der ewigen Höllenqualen, welche der Sündigen harren, gewesen sei und ein Flammenzeichen unseres Herrgotts zur Reue und Buße über unsere, wie dermalen Sodom und Gomorra, in ihren Lüsten schier erstickende Stadt. Völlig zerknirscht von dem Eindruck dieser gewaltigen Worte, wie von der Enthüllung so ungeahnter teuflischer Spuren in ihrer nächsten Umgebung legten David und Christelchen Mittwoch nachmittag ihr reumütiges Beichtbekenntnis ab, um darauf am Grünen Donnerstag, nachdem sie sämtliche Anverwandten, Paten, Lehrer und Freunde des Hauses um Vergebung ihrer zahllosen Beleidigungen und Vergehungen angefleht hatten, am ersten Genusse des Leibes von unserem Herrn und Heiland teilzunehmen.

Es wird bei dieser Gelegenheit kaum zu übergehen sein, daß und warum Christelchen an diesem hochwichtigen Tage weniger gesammelt und mehr mit sich selber beschäftigt erschienen ist, als man es dem frommen Kinde nach der Zerknirschung des letzten Palmsonntags hätte zutrauen sollen. Man will beobachtet haben, daß sie zweimal mit sichtlichem Wohlgefallen über ihr schwarzes Gros de Tours-Kleid gestrichen sei und den scharfen, rauschenden Ton bemerklich gemacht habe, welcher durch diese Bewegung entstand.

Ach, schon Jahr und Tag hatte die arme Schösserwitwe zur Beschaffung eines würdigen Anzugs für ihre Tochter gearbeitet und gespart, und nun war der sauer erworbene Schatz mit allen anderen Habseligkeiten ein Raub der Flammen geworden. Gewiß, ein Hartes für die vortreffliche Frau, sich ihre Tochter, so guter Leute Kind, an ihrem Ehrentage in einem Kleide von Serge einhergehend vorzustellen, und die Serge obendrein geborgt, auch hatte sie allen Ernstes darüber nachgesonnen, die heilige Handlung um ein Jahr hinauszuschieben. Aber, abgesehen davon, daß es gegen alles Herkommen gewesen sein würde, ein Kind länger als vierzehn Jahre ohne die Erneuerung seines christlichen Taufbundes zu belassen, welche Aussicht konnte die Verarmte haben, binnen Jahr und Tag eine so schwere Anschaffung zu bestreiten? Man mußte sich Gottes unerforschlichem Ratschlusse auch in diesem Stücke fügen und die Schmach auf sich nehmen; aber die Prüfung war hart für ein Mutterherz. –

Der letzte Stich am schwarzen Sergekleide war eben getan, da – da kommt eines Abends von Leipzig die gelbe Kutsche (sie hatte sich heute des schlechten Weges halber um ein Stündchen verspätet, gewöhnlich fuhr sie recht gut die Meile in vier Stunden). Die gelbe Kutsche bringt einen Brief an »die Wohl-, Ehr-, Sitt- und Tugendbelobte Jungfer, Jungfer Löfflerin, anbei ein Paquet in Wachsleinwand.«

Der Postillion zeigt dem Schirrmeister an, daß ein Paket an Löfflers Christelchen in der Schoßkelle liege; der Schirrmeister teilt den kuriosen Fall dem Postschreiber mit, der Postschreiber drückt seine höchste Verwunderung gegen den Postmeister aus. Die Frau Postmeisterin hält sich während des Pferdewechsels gewöhnlich in der Nähe ihres Ehegatten auf, denn da sie keine Kinder, wohl aber eine hülfreiche Seele besitzt, unterstützt sie ihren Herrn in seinem Geschäft und sieht die Briefe und Pakete durch, welche auf der Station liegen bleiben. So gerät denn auch diese Sendung in ihre Hände, und welchen Eindruck sie hervorbringt, nun, das läßt sich vorstellen, wenn man erwägt, daß weder die Frau Schösserin noch ihre Tochter jemals einen Brief erhalten oder abgesendet haben. Und nun gar ein Paket! Von wem mag es nur sein? Was mag es enthalten? Sie untersucht den Umschlag: Wachsleinwand. Sie führt ihn zur Nase: Wachsleinwand. Sie bohrt mit dem Finger hinein: die Wachsleinwand gibt nach, also nichts Festes, aller Wahrscheinlichkeit nach Zeug. Sie reibt mit der Hand, horcht dicht am Ohr: ein eigentümlich scharfer Ton – am Ende gar Seidenzeug! Sollte es möglich sein, Seidenzeug! Sie hält den Brief gegen das Licht, aber das Papier ist zu dick, kein Buchstabe durchzulesen. Die Frau Postmeisterin hat immer so viel Mitleiden für die arme Schösserwitwe gehegt, ihr freundschaftliches Gemüt läßt ihr keine Ruhe, sie erklärt ihrem Eheherrn: Da der Briefträger schon Feierabend gemacht habe, wolle sie selber das Paket noch fix hinüberbesorgen, man könne doch nicht wissen, was es enthalte.

Die Witwe und ihre Tochter waren, wenn möglich, noch mehr erstaunt als ihre Gönnerin, ja beinah erschrocken. Sie wollten eine Namensverwechslung voraussetzen, aber das »Jungfer Löfflerin« war deutlich zu lesen und keine Löfflerin weiter im Ort. So griffen sie denn zu mit zitternden Händen und öffneten, die Mutter das Paket und die Tochter den Brief. Da sie noch in die Schule ging, wäre sie mit dem Lesen von Geschriebenem wohl fertig geworden, aber sie vermochte es vor Schluchzen nicht, die Frau Postmeisterin mußte ihr das Blatt aus der Hand nehmen und fortfahren.

Ja, unverhofft kommt oft! Christelchens Gevatterin, in Leipzig verheiratet, durch die Nachricht von dem großen Brande in ihrer Vaterstadt aufgerüttelt, erinnert sich zum ersten Male im Leben der übernommenen Christenpflichten und macht ihrem Patchen das heilige Nachtmahlskleid zum Präsent.

Die drei Frauen waren anfänglich sprachlos; dann aber lösten sich Herzen und Zungen. Welch ein Stoff, und wie reichlich! Man hätte zweimal Rock und Kontusche daraus schneiden können. Nein, diese Seide! Die stand von selber wie ein Brett und rauschte wie ein Gießbach! Solches Zeug war natürlich nur in Leipzig zu kriegen; das konnte im Leben nicht verwüstet werden, nein, in Ewigkeit nicht! Wieviel mochte nur die Elle gekostet haben?

Ich bin außerstande, diese letztere Frage zu beantworten, daß aber die guten Frauen in ihrer Herzensfreude übertrieben, das kann ich bezeugen. Der Stoff war zu verwüsten, ich selber habe die letzten Flicken davon als Futter in meinem ersten Schulrocke aufgetragen. Wenn ich mich aber über diesen, dem Leser vielleicht geringfügig dünkenden Zwischenfall etwas umständlich ausgelassen habe, so geschah es, weil er als ein neuer Beleg gelten kann für die wunderbare Weltordnung, die aus dem größten Unsegen einen immer noch größeren Segen sich entwickeln läßt. Die Waise des seligen Schössers würde ohne den Brand allerdings standesgemäß in Seide am Tische des Herrn erschienen sein; aber doch nur in leichtem Taft. Der Taft mußte erst verbrennen, das Stadium der Serge in Demut überwunden werden, auf daß sie, die Waise nämlich, in schier unverwüstlichem Gros de Tours zu Gottes Ehre erscheinen durfte.

Nach dieser zweifelsohne dem frommen Sinne meines Urgroßvaters entsprechenden Auslegung kehre ich zu ihm selber zurück, wie er, unberührt von dem Dämon der Weltlust, der seine junge Freundin kitzelte, in ungestörtem Ernst das gnadenreiche Sakrament empfing. War er von Natur schon gesetzt und tüchtig, niemals zerstreut und allezeit bei der Sache, so hatten die jüngst erlebten gewaltigen Eindrücke ihn nur noch völliger gereift. Und so gelobte er sich denn heute im innersten Herzen, ein Christ zu sein und zu bleiben. Ein Christ, das hieß nach der bürgerlich protestantischen Auffassung jener Tage: tugendhaft sein und Gottes Willen tun; und ich glaube, wenige Menschen haben sich im Leben so Wort gehalten als dieser gute Knabe.

Er wurde nun dem Namen nach erst der Lehrling, dann der Geselle seines Vaters, in der Tat aber sein Gehülfe und seine rechte Hand. Das Geschäft nahm einen blühenden Aufschwung, seitdem Auge, Hand und Kopf dieses besonnen tätigen, klugen Jünglings sich demselben widmeten. Er war am ersten und letzten wach im Hause; nie sah man ihn müßig, nie ermüdet, aber auch niemals aufgeregt und übereilt. Bei sechzehn Jahren zeigte er in Arbeit, Erholung und Ruhe ein Maßhalten, das man Weisheit nennen dürfte, wenn ein so großes Wort sich für einen so jungen Menschen schicken wollte. Daher ward er denn auch von den Vätern der Stadt als Muster gepriesen und von den Arbeitern und Dienern seines Vaters recht von Herzen geliebt. Es schaffte sich lustig unter seinen Augen, pflegten sie zu sagen; denn er verstand es, selber wenn er Schweres von ihnen forderte, sie guter Dinge zu erhalten durch einen Zug von Humor, ein »Späßchen«, wie man es nannte, das gelegentlich in unveränderter Gestalt wiederkehrte und wozu die Neigung, trotz aller großbürgerlichen Würde, ihm bis in das späteste Alter treu verblieb.

Auch sein Äußeres entwickelte sich früh und vorteilhaft. Im siebenzehnten Jahre war er schon vollständig erwachsen und begann »auszulegen«, das heißt stark zu werden. Er war groß und regelmäßig gebaut, hatte ein schön geschnittenes, offenes, blühendes Gesicht mit blauen Augen so freundlich ernsthaft, wie sein ganzes Wesen; er hielt sich kerzengerade, bewegte sich gemessen, ja etwas feierlich, wie es einem Bürgersohne ziemte, und kleidete sich immer mit der ausgesuchtesten Sauberkeit. Wenn er Sonntags früh zur Kirche ging im zeisiggrünen, goldgeknöpften Manschesterrock, mit schneeweißen Strümpfen und Schnallenschuhen, das sorgfältig gepuderte Haar auf dem Rücken zusammengebunden in den längsten und stärksten Zopf der ganzen Gemeinde, so konnte das Auge nicht anders als mit Wohlgefallen auf ihm weilen, und man mußte dreist erklären, daß er unter sämtlichen Bürgersöhnen nicht seinesgleichen habe.

Da er noch nicht Meister war und kein Recht auf einen Sitz im großen Bürgerstuhl neben seinem Vater besaß, nahm er seinen Platz auf dem Chor. Zufällig saß gerade unter ihm im Schiff die Jungfer Löfflerin, und er konnte es gar nicht vermeiden, sooft die Gemeinde sich erhob, ihr helles Köpfchen und den zierlichen Wuchs, freilich nur von hinten, vor Augen zu haben und zu sehen, wie ehrfürchtig tief sie sich neigte, sobald von Altar oder Kanzel der Name unseres Herrn und Heilands verkündigt ward. Auch ihre helle, frische, von der Katechismuslehre her wohlbekannte Stimme glaubte er beim Singen zu unterscheiden, und im Herausgehen traf es sich immer ganz von selbst, daß sie unter der Pforte aufeinanderstießen. Er zog seinen dreikrempigen, goldgebordeten Hut und sagte, sich verbeugend:

»Gehorsamer Diener, Jungfer Löfflerin!«

Sie machte einen Knicks und erwiderte:

»Gehorsame Dienerin, Mosjö Haller!«

Und beide setzten ihren Weg nach Hause fort.

Die Frau Postmeisterin will bemerkt haben, daß bei diesen zufälligen Begegnungen die beiden Abendmahlskinder jedesmal purpurrot geworden seien bis unter den Puder. Aber die Frau Postmeisterin sah zuzeiten ein wenig zuviel. Ich schreibe nicht gern Böses von Toten, aber wahrhaftig, ich stehe dafür ein, daß sie geradezu gelogen hat, wenn sie bis an ihr Lebensende behauptete, daß am zweiten Osterfeiertage Anno zweiundsechzig in der Frühkirche der Mosjö Haller ganz verstohlen ein Blümelein Vergißmeinnicht der Jungfer Löfflerin auf ihr Gesangbuch hinabgeworfen, daß die Löfflerin über und über wie ein Scharlach geworden sei und das Blatt umgewendet habe, lange ehe die Seite zu Ende gesungen war. Das blaue Blümchen ist allerdings auf das Buch des jungen Mädchens hinuntergefallen und konnte bis zu ihrem Tode an derselben Stelle von »Jesus meine Zuversicht« gefunden werden; aber kein Zug in David Hallers Leben berechtigt zu der leichtfertigen Voraussetzung, daß es nicht zufällig seinem Knopfloch entglitten sei, dahinein er es gesteckt hatte, als er es, das erste des Jahres, am Morgen im väterlichen Garten fand.

Viertes Kapitel Der Sternkönig

So wäre ich denn in der Geschichte meines Urgroßvaters schon bis zum Frühling des Jahres zweiundsechzig vorgeschritten. Auch in seinem Herzen war heller, frischer Frühling; frohschaffendes Leben, wohin er sich wendete.

Am Sonntage nach Ostern wurde im Schießhause das erste Sternschießen gefeiert; die großen Schützenfeste der beiden Gilden mit glattem und mit gezogenem Gewehr, das Vogel- und Mannschießen, fielen in den hohen Sommer. Meister Andreas war Mitglied beider Gesellschaften und ein namhafter Schütze; sein Sohn fühlte Lust und Geschick, ein ebensolcher zu werden, blieb aber, solange er nicht Bürger und Meister war, von der Ehre dieser Genossenschaften selbstverständlich ausgeschlossen.

Dieses Sternschießen war nun ein Vergnügen, das sich alljährlich die jungen, ledigen Bürgersöhne veranstalteten, und unser David nahm zum ersten Male daran teil.

Sein gutes Glück hatte sich auch heute bewährt; er hatte die Scheibe ins Schwarze getroffen, war Sternkönig geworden, durfte den Tanz des Abends, den er sten Tanz seines Lebens, aufführen, den Ball eröffnen, wie wir heute sagen.

Der Schießhaussaal war recht ansehnlich lang, doch gebe ich zu, daß er ein wenig breiter hätte sein können. Keller, der Russe, der behauptete, er gliche einer »Quehle«, hatte indessen gut spotten. In seinem Moskau konnte man allerdings weitläufiger bauen, denn Eis und Schnee, aus welchen zu seiner Zeit die Paläste und Schießhäuser dahinten bestanden haben sollen, sind freilich ein wohlfeileres Material, als unsere Balken und Ziegel. Ich will übrigens auch zugeben, daß der Saal nicht übermäßig hoch gewesen ist; aber das ist eine handgreifliche Übertreibung von Keller, dem Russen, wenn er versicherte, der lange David habe sich beim Tanzen immer bücken müssen, um nicht mit dem Kopfe an die Decke zu stoßen. Denn, urteile selber, einsichtiger Leser, hätte mein Urgroßvater wohl so lustig dreinschauen können, wenn er bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung in Lebensgefahr geschwebt? Ach, und wie lustig sah er aus! Das einzige Mal in seinem ganzen Leben was man so sagt lustig!

Er sollte die erste Menuett aufführen. Ja, mit wem nun wohl? Mit Christelchen? Das wäre ihm allerdings am leichtesten geworden, denn zwischen Abendmahlskindern besteht immer eine Art von kameradschaftlicher Vertraulichkeit. Mit Christelchen als Partnerin würde die Würde eines Vortänzers ihn weit weniger verlegen gemacht haben als mit jeder anderen. Aber einmal dachte er es sich doch noch angenehmer, Christelchen im raschen Ländler zu schwenken, und zum zweiten, so jung er war, so sah er doch ein, daß auf Rangverhältnisse einige Rücksicht genommen werden müsse und daß die blutjunge, von ihrer Hände Arbeit lebende Tochter der armen Witfrau nicht den ersten Tanz mit dem Sternkönig aufführen dürfe. Die Ehre gebührte einer Älteren und Höhergestellten; ohne Zweifel keiner anderen als der Jungfer Sophie Vogelin, der einzigen Tochter des schon erwähnten reichen Gerbermeisters Hans Adam Vogel.

Sie war nicht mehr in der ersten Blüte, vielleicht schon mündig, sie sah ein wenig blaß und traurig aus, die Jungfer Vogelin, und was am schlimmsten für sie war, sie hatte keinen ganz geraden Bau, wie man zu sagen pflegt, einen kleinen »Verdruß«; zwar nur einen ganz kleinen, aber doch einen Verdruß, und verdrießlich bleibt das immer. Indessen ein Hindernis war es nicht, daß mehrere angesehene Bürgersöhne und selber der Postschreiber – wie seine Frau Patronin versicherte – sich um die Hand der reichen Erbin bemühten. Vergebliche Mühe! Jungfer Sophie teilte einen Korb nach dem anderen aus, und da sich unmöglich annehmen ließ, daß sie freiwillig eine alte Jungfer zu werden verlange, so hieß es von ihr, sie trage große Rosinen im Sack und lauere auf einen Studierten. Ihre selige Mutter, eine geborene Leipzigerin, war auch schon ein wenig überspannt gewesen, und durch sie das unnütze Bücherlesen, samt anderen absonderlichen Schrullen, der Tochter in den Kopf gesetzt worden. Hatte sie doch sogar den alten, schwachen Hans Adam überredet, in der Auktion des seligen Herrn Amtshauptmanns das schöne Klavier zu erstehen und dem Mädchen beim Kantor Sing- und Spielstunden geben zu lassen. Da sitze sie nun abends nach neun, wenn der Vater zu Bette sei, und klimpere oft die halbe Nacht hindurch, aber um ihresgleichen kümmere sie sich wenig.

Als der junge Sternkönig die Tochter von seines Vaters Freund zur ersten Menuett aufzog, sprach er in seinem Leben das erste Wort mit ihr. Er teilte nicht im entferntesten die Vorurteile der anderen über ihre Person. Im Gegenteil: Meister Hans Adams anderes Wort war sein »Fiekchen«, der alte Mann wußte nicht, wie er sein stilles, häusliches Kind genugsam rühmen solle. Das hatte David oftmals mit angehört, und er nahte sich ihr daher voll großer Wertschätzung. Ja, so hochachtungsvoll war ihm zumute, daß er wirklich in Verlegenheit geriet, welche würdige Unterhaltung mit ihr zu beginnen.

Nachdem er einige Zeit bedenklich an seinem Busenstreifen gezupft hatte, fragte er endlich errötend: »Lieben die Jungfer Vogelin das Tanzvergnügen?«

»Ich habe noch niemals getanzt,« antwortete sie mit sanfter Stimme, indem sie das dunkle, große Auge zu Boden schlug und ihre Wange sich ein wenig färbte, »und ich bin auch heute nur hier, weil mein Vater es wünschte.«

Lege es der Leser meinem Urgroßvater nicht als Einfalt aus, daß er sich durchaus auf keine neue Wendung des Gespräches besinnen konnte. Ich versichere, daß er im späteren Leben niemals um ein Wort zu rechter Zeit verlegen gewesen ist und daß er auch an jenem Abend noch nach Herzenslust geplaudert hat. Im Ländler nämlich mit Christelchen! Das ging hast du nicht gesehen, die Lippen und die Füße! Sie trippelte wie eine Bachstelze, die muntere Christiane, und wie sie lachte! Vielleicht ein wenig zu laut für eine wohlerzogene Jungfrau, aber das Herz im Leibe lachte einem mit.

Er führte sie schon zum zweiten Male nach einem Tanze auf ihren Platz zurück. Ein neuer begann, ich glaube ein Englischer. Sie waren wirklich zu sehr außer Atem, sie mußten einmal überschlagen, und da just kein anderer Platz im Saale als der im Ofenwinkelchen ledig war, setzten sie sich nebeneinander und plauderten. Sie kamen auf die Vergangenheit, auf ihre Abendmahlsstunden; auf sein »Prosit Neujahr«, das sie wohl unterschieden hatte, auf die zwei schrecklichen Nächte, die darauf folgten. Er nannte sie »Christelchen«, wie vormals, und sie, da sich Davidchen doch nicht schickte und Mosjö Haller nicht über ihre Lippen wollte, sie nannte ihn lieber gar nicht. Fröhlich, ja ausgelassen, wie sie gewesen waren, die guten Kinder, nach und nach wurden sie ernsthaft, ja traurig. Er gestand ihr, daß, als er den ersten wiederkehrenden Atemzug seines Vaters gespürt, er auf seine Knie gesunken und seinem gütigen, wunderbaren Gotte gelobt habe, nur seinen Willen zu tun jederzeit, auch wo es schwer sei und kein Mensch es fordere.

Wie er das dem jungen Mädchen sagen konnte, mit welchem er noch vor einer halben Stunde so unbefangen gespaßt und getanzt? David Haller hätte es früher oder später in seinem Leben nicht begriffen, wie er das einem Menschen sagen konnte.

Sie waren erschrocken, auf einmal alles im Aufbruch zu finden. Es mußte mehr als der eine Englische gewesen sein, den er mit ihr im Ofenwinkelchen verplaudert hatte. Wie ein Pfeil sprang sie in die Höhe und den guten Freundinnen nach, mit welchen sie zum Tanze erschienen war. David hatte die größte Lust, sie nach Hause zu begleiten, kannte aber die Frauenzimmer ihrer Gesellschaft zu wenig und war zu schüchtern, sich deren Erlaubnis zu erbitten. So waren sie denn die beiden Letzten, die den Saal verließen, er nahm ihre Hand und sagte:

»Gute Nacht, liebes Christelchen!«

Sie blickte zu ihm auf – war das eine Träne in ihren blauen, freundlichen Augen? Er fühlte einen leisen Druck seiner Hand, ein Schauer überrieselte ihn vom Kopf zur Zeh – das liebe Mädchen war verschwunden.

Junge Kameraden forderten ihn auf, mit ihnen nach Hause zu gehen; er wich ihnen aus. Er wollte allein sein und nahm einen Umweg, um nur von keinem Nachfolgenden bemerkt zu werden. O dieser Heimgang! Ihm war nicht, als ob er den Berg nach der Stadt herniedersteige, ihm war, als ob er flöge, oder schwebe wie selige Geister.

Nach und nach ward er ruhiger, besonnener. Das bürgerliche Element, sein eigentliches Element, machte sich Bahn. Er fand, daß es nötig sei, einen Plan über seine Zukunft zu fassen, wollte den Vater bitten, seine Wanderschaft bald antreten zu dürfen, und heimgekehrt, sich im Orte niederlassen, um Christelchen freien und klein anfangen, ganz klein, wie zwei arme Menschen es müssen, aber fleißig und glücklich sein, wie die Fleißigsten und Glücklichsten auf Erden. Er konnte sich diese Vorstellung nicht weiter ausmalen, selbst in der dunklen Nacht mußte er die Augen niederschlagen vor so beschämender Freude.

In dieser seligen Stimmung kam er zu Hause an und war erstaunt, ja erschrocken, seinen Vater noch wach und seiner harrend zu finden.

»Dem Herrn Vater ist doch nicht wieder ein Unfall zugestoßen?« fragte er ängstlich.

»Nein, mein Sohn,« antwortete Meister Andreas mit noch feierlicherer Stimme als gewöhnlich, »ich fühle mich nicht schwächer denn allezeit seit meinem grausamen Zufall. Ich habe deine Rückkehr nur erwartet, maßen ich heute zu einem letzten Entschlusse gekommen bin und am Tage des Trubels zu viel ist für einen ungestörten Diskurs. Du bist doch nicht müde und bist nüchtern in deinem Geiste, mein David?«

»Wach und nüchtern, Herr Vater, wie am Morgen,« versetzte David, durch diese ernsthafte Einleitung ein wenig beängstet.

»So schenke mir aufmerksam Gehör, mein Sohn,« sagte der Alte, besann sich ein Weilchen und fragte darauf:

»Hast du dir schon einen Lebensweg vorgezeichnet, David?«

Der Jüngling wurde rot wie Scharlach. Ist es einem Vater gegeben, in der Seele seines Kindes zu lesen? war eine Spur von einem entscheidenden Händedruck in seinen Augen geschrieben? Nach einer Pause stammelte er verlegen:

»Ich habe nur des Herrn Vaters Befehl abgewartet, um meine Wanderschaft anzutreten.«

»Eine Wanderschaft wird für dich kaum notwendig sein, mein Sohn,« entgegnete Meister Andreas. »Unser Gewerbe ist sozusagen kein Handwerk. Wir haben keine Innung, ich bin der einzige Tuchmachermeister im hiesigen Ort. Der Herr Bürgermeister, mein hochverehrter Gönner, sprachen heute in der Dämmriche bei mir ein und äußerten sich zufriedenstellend über das Stück blauen Tuchs, das ich mir erlaubt habe ihnen zu einem neuen Roquelaure als Präsent zu offerieren. Es war von der feinsten Nummer in unserem Laden, und der Herr Bürgermeister erklärten, daß ein solches Tuch dem holländischen nichts nachgebe und der ganzen Stadt zur Ehre gereiche. Des weiteren fügten sie hinzu, daß in Betrachtnahme deiner wohlbekannten Solidität, mein Sohn, man im Rate keinen Anstand nehmen werde, deine Mündigsprechung vor der Zeit erfolgen zu lassen und dir das Bürger- und Meisterrecht auch ohne vorherige Wanderschaft auszufertigen. Du trittst als Teilnehmer in mein Geschäft und wirst nach meinem Ableben dessen Eigentümer.«

»Wie soll ich dem Herrn Vater meine Dankbarkeit bezeigen?« sagte David, gerührt die Hand des alten Mannes küssend.

»Danke mir nicht zu früh, mein Sohn,« versetzte der Vater ernst; »ich stehe im Begriffe, ein schweres Joch auf deine jungen Schultern zu laden. David,« fuhr er nach einer neuen Pause fort, »David, ich kann es mir nicht verhehlen, daß meine Kräfte rasch abnehmen und daß ich dieses Jahr schwerlich überleben werde.«

David fuhr erschrocken in die Höhe, der Vater hielt ihn zurück: »Sei ruhig, mein Sohn,« sagte er gelassen, »ich scheide mit Freuden von hinnen, wenn ich nur gewiß bin, meinem Hause einen Herrn und meinen Kindern einen Versorger zu hinterlassen. Und dieserhalb habe ich heute nachmittag mit dem Herrn Amtmann eine Besprechung gehabt und bin gesonnen, morgen meinen letzten Willen auf dem Amte niederzulegen, insofern du, mein Sohn David, dich mit seinem Inhalte einverstanden erklärst.«

Wieder wollte David einfallen, aber der Alte ließ ihn nicht zu Worte kommen; er hatte sich lange auf diese Ansprache vorbereitet, als auf einen feierlichen Akt am Schlusse des Lebens, und fürchtete aus dem Texte zu geraten.

»Unterbrich mich nicht, David,« sagte er, »und erwäge meine Rede still für dich. Mein Haus, mein Geschäft, das gesamte Inventarium, kurzum, alles was bei meinem Tode mein heißt, vermache ich dir als Vormund deiner Geschwister; unter der Bedingung und in der heiligen Voraussetzung, daß du dieselben standesgemäß erziehen, für ihr Fortkommen sorgen und einem jeden bei seiner Großjährigkeit das kleine Kapital aushändigen willst, das ihm, nach dem im Testamente angegebenen Taxwerte, von meiner Hinterlassenschaft zusteht. Bist du bereit, David, ein so schweres Vermächtnis zu übernehmen?«

»Mit Gottes Hülfe, ja, mein Vater,« antwortete der junge Mann nach kurzem Besinnen mit fester Stimme. Der Vater drückte seine zum Gelöbnis dargebotene Hand und begann von neuem:

»Noch bin ich nicht zu Ende, mein Sohn; das Wichtigste kommt zuletzt. Du kannst diese Aufgabe nicht allein zu Ende führen, du bedarfst einer Gehülfin, einer Hausfrau; du mußt heiraten, David.«

»O, mit Freuden!« fiel David, rot wie ein Scharlach, aber äußerst bereitwillig ein.

»Du wirst in zwei Monaten achtzehn; bist verständig und kräftig wie ein Dreißiger, es ist nicht zu früh, dich nach einer Ehegattin umzusehn.«

»Durchaus nicht, Herr Vater, durchaus nicht,« bestätigte der Sohn.

»Aber wo eine finden, David. Die Wahl ist schwer, sehr schwer, mein Sohn.«

»O, ganz und gar nicht schwer, mit des Herrn Vaters Erlaubnis.«

»Über die Maßen schwer, sage ich dir, lieber David, ist es, eine gesetzte, gute und reiche Frau zu finden.«

»Reich? warum denn reich?« fragte David, auf ein mal kleinlaut.

»Weil du arm bist und Großes bewerkstelligen sollst, David.«

»Wir werden fleißig sein, und Gott wird uns segnen, wie er den Herrn Vater gesegnet hat, der auch ohne Vermögen seinen Hausstand angefangen.«

»Aber nicht mit zehn Geschwistern außer der eignen Familie zu erziehn und zu versorgen. Deine Lage ist weit schwieriger, als die meinige war, mein Sohn. Du brauchst eine kluge und eine reiche Frau, sonst gehst du zugrunde. Seit Jahren habe ich in Stadt und Umgegend für dich umgeschaut und nur ein einziges Mädchen gefunden, das wie geschaffen für dich ist.«

»Und welches?« Das Wort mußte der Vater dem Sohne von den Lippen lesen, so leise lispelte er es, während sein Herz so hörbar klopfte, daß es ein Wunder ist, wie der Vater nicht dadurch gestört werden konnte.

»Meister Vogels Fiekchen,« antwortete er ein wenig zögernd. Der junge Mann war wie vom Donner getroffen; er brachte kein Wort über die Lippen, und seine Augen wurzelten im Boden.

»Sie ist etliche Jahre älter als du,« fuhr Meister Andreas wieder ganz geläufig fort, »und das ist viel wert zu dem Amte, das sie übernehmen soll. Ein Kind kann nicht Mutter von zehn Kindern sein. Und daß sie nicht schön ist, wird dir bald so gleichgültig werden wie nur was, Davidchen; nichts ist im Ehestand entbehrlicher als leibliche Reize; ich weiß das aus eigner Erfahrung. Aber Fiekchen ist ein braves und kluges Frauenzimmer, das deinem Hause Ehre machen wird. Sie erhält ihr Mütterliches gleich ausgezahlt und hat einmal von ihrem Vater ein schönes Erbteil zu erwarten. Mein guter Freund Vogel ist schon lange über die Sache mit mir einig; sie liegt ihm am Herzen wie mir selber, und er hat seine Tochter darum heute auf das Schießhaus geführt, auf daß die Bekanntschaft eingeleitet werde und die Angelegenheit so bald als möglich ins reine komme, sintemal Meister Vogel nicht zweifelt, daß sein Fiekchen mit Freuden ja sagen wird.«

Der Vater hatte längst geendet, und der Sohn saß noch immer wie festgebannt. Ihm deuchte, er habe einen tiefen Fall getan und könne sich nicht besinnen, wo er wäre.

»Du bist betroffen, David,« sagte endlich der Vater, nachdem er vergeblich auf eine Antwort gewartet, sich erhebend, »ich nehme dir das nicht übel. Guter Rat kommt über Nacht. Überlege dir die Sache und sage mir morgen deine Resolution. Der Herr lenke dein Herz, mein Sohn, auf daß dein alter Vater mit Frieden in seine Grube fahren möge.«

Fünftes Kapitel Lebewohl, liebes Christelchen!

Wie der junge Mann diese Nacht hingebracht hat, brauche ich keinem meiner Leser zu beschreiben. Wer hätte nicht einen ersten, goldenen Traum verschwinden, oder gar einen langen, heißen Wunsch zu Grabe tragen sehen? Aber diese Wolke, welche die Erstlingsblüte seines Herzens überschwemmte, war sie segenverheißend oder niederschmetternd für sein Gemüt? Er konnte es nicht entziffern, die kalte Flut war allzu jählings über ihn losgebrochen. Die ganze Nacht hindurch saß er regungslos am Fenster seines Kämmerchens, nahm von Zeit zu Zeit einen Anlauf, sich seine Lage klarzumachen, und konnte doch niemals zum reinen Abschluß kommen. Scheute er sich, so früh seine Freiheit aufzugeben, ein Mann zu werden, ehe er ein Jüngling gewesen, und ein ernstes, gesetztes Leben zu führen vor der Reifezeit? – O nein, er scheute sich nicht. Alle seine Vorstellungen waren die eines gesetzten, ernsthaften Mannes, und noch vor einer Stunde hatte er mit Jubel daran gedacht, sich seiner Freiheit zu entledigen. – Bangte ihm vor der Last der Pflichten, die er auf sich nehmen sollte? – O nein, ihm bangte nicht; hatte er doch im guten Vertrauen auf Gottes Hülfe vorhin so freudig ja gesagt, als der Vater die ernste Frage an ihn richtete. War die erkorene Braut ihm zuwider? – Hier stockte er – aber nein, nein, beileibe nicht zuwider; er konnte nur nicht an sie denken; er fühlte nur immer von neuem den letzten Blick aus Christianens blauem Auge, den leisen Druck ihrer warmen, weichen Hand; er mußte nur immer wieder in der mondhellen Nacht seinen Kopf hinüber nach dem Fensterchen wenden, hinter welchem das liebe Kind seine Sternkönigsfreude verträumte. Ja, das war's, das war's! Darum zitterte er und schauderte er!

Und doch in wenigen Stunden sollte er sich erklären. Er sann auf Umwege, auf Vorbehalte. Er wollte dem Vater alles geloben, alles, nur nicht dieses eine, wollte sich Aufschub, Zeit zur Prüfung erbitten. Wenn er sich nun aber erinnerte, daß gerade dieses eine der Kern und Stern von seines Vaters Beruhigung war, wenn er sich vernünftigerweise eingestehen mußte, daß der Vater recht habe und eine wohlhabende Frau zur Einlösung seines Wortes notwendig sei; wenn er zurückdachte an jene qualvolle Nacht, wo ihm kein Opfer so groß schien als der Schmerz, seine kleinen Geschwister schutz- und hülflos in der Welt zu wissen; wenn des alten Mannes Todesahnung auch ihn beschlich, seine verfallende Gestalt mahnend ihm gegenübertrat, dann wurde er wieder unruhig, schwankend und ratlos. Sein Kopf glich einem Schattenspiel, in welchem die widersprechendsten Bilder sich drängten und scheuchten. Keines vermochte er zu halten, keines zu bannen, was sollte er tun?

Der Morgen graute. Er meinte, im Freien werde er klarer werden, und ging in den Garten, der sich terrassenartig hinter dem Hause den Schloßberg hinanzieht. Hier hatte er vor acht Tagen jenes erste Vergißmeinnicht gepflückt, das jetzt bei »Jesus meine Zuversicht« vertrocknete. Heute blühten alle Frühlingsblumen frisch und bunt – ach, er hatte keine Lust eine Blume mehr zu pflücken!

Die Sonne stieg auf, ein tägliches Schauspiel für den fleißigen Jüngling. Ob er aber in diesem kurzen hehren Augenblicke schon oftmals etwas anderes empfunden hatte, als die Lust des Erwachens und das Verlangen, zu schaffen? Ich glaube es nicht. Heute sah er die Sonne aufgehen, nicht nur als den leuchtenden Tagesstern, heute sah er und fühlte Gottes Auge, das seine Welt überstrahlt, vor dessen Blick kein Hehl ist und ein jeglicher unsträflich wandeln soll.

Unsträflich wandeln, was heißt das? Davids Enkel, vielleicht schon seinem Sohne, würde es geheißen haben: Folge deiner Neigung, deinem Herzen; das ist Freiheit, das ist der Gottheit Wille. Für David hieß es: Halte Gottes Gebot; ehre Vater und Mutter, tue deine Pflicht.

Mit entblößtem Haupte und gefaltenen Händen blickte der junge Mann hinauf, bis die Sonne voll und klar am Himmel stand, und er zerdrückte die letzte Träne, als er langsam die Terrassen niederstieg. Ruhig und freundlich, nur etwas blässer als alle Tage, trat er an seines Vaters Bett, faßte seine Hand und sprach:

»Mein Vater, ich werde Ihren Willen tun, so wahr Gott mir helfe.«

»So wird der Segen deines Vaters dir Häuser bauen auf Erden und eine Hütte im Himmel,« erwiderte der alte Andreas.

Und noch an selbigem Morgen zog der alte Andreas das gestickte, rhabarberfarbige Sonntagshabit an und ging zu seinem guten Freunde, Meister Hans Adam Vogel, für seinen Sohn David um die Hand seiner Tochter Sophie anzuwerben, und da er ein redlicher Mann war, Meister Andreas, so bat er seinen alten Freund, der Tochter in seinem Namen reinen Wein einzuschenken in betreff der schweren Obliegenheiten, die sie voraussichtlich mit ihrem Ja zu übernehmen haben werde.

Am andern Morgen erschien Meister Hans Adam Vogel im Hallerschen Hause gleichfalls im Sonntagshabit, aber von hechtblauer Farbe, und erklärte dem Mosjö Haller in Gegenwart seines Herrn Vaters, daß seine Tochter Sophie ihr feierliches Jawort gebe und daß es ihr heiliger Wille sei, ihrem künftigen Ehegatten eine treue Gehülfin zu werden in Anbetracht der Obliegenheiten, welche er seiner Familie gegenüber übernehme.

So war denn mein Urgroßvater ein Bräutigam und schon für den nächsten Johannistag, an welchem Tage er sein achtzehntes Jahr zurücklegte, seine Hochzeit anberaumt.

Vom nächsten Sonntage ab ging David Haller nicht mehr in den großen Morgengottesdienst, sondern früh um fünf in die Metten. Die ganze Woche hindurch war er mit doppeltem Eifer tätig; – was galt es in einem Hause nicht alles zu beschicken, in welchem binnen wenigen Wochen eine junge Frau ihren Einzug halten sollte! – Ja, es fällt mir schwer, von meinem frommen Ahnherrn zu berichten, was ihm in den Augen manches guten Christen, an dessen Achtung mir für ihn gelegen wäre, Eintrag tun wird; daß er nämlich selber an Sonn- und Festtagen nach den Metten sich keine Ruhe gönnte, sondern unermüdlich beschäftigt war, die Korrespondenz seines Vaters zu führen und seine Bücher in Ordnung zu bringen.

Er sah und hörte auf diese Weise keinen fremden Menschen mit Ausnahme des Sonntags abends bei seinem Schwiegervater, wo er immer einen zahlreichen Kreis von Verwandten und guten Freunden versammelt fand, und es war auf diese Weise durchaus nichts Auffälliges, sondern ganz in der Ordnung, daß er am Hochzeitstage noch nicht ein Wort unter vier Augen mit seiner Braut geflüstert und ihr, auf Ehre! noch nicht einen einzigen Kuß gegeben hatte. Gleichermaßen war es der ganzen Stadt wohl begreiflich, daß die Jungfer Vogelin vor Freude über den schmucken, jungen Bräutigam wie ein Röschen aufzublühen begann, dahingegen der Mosjö Haller, im Drange seiner vielfältigen Anstrengungen, sichtbarlich blaß und mager wurde.

Der reiche Meister Vogel ließ es sich nicht nehmen, die Hochzeit großartig auszurichten; denn mit einer stillhäuslichen Trauung, wie sein Fiekchen sie im Sinne hatte, nein, mit solchem Verstoß gegen Verwandtschaft und Freundschaft fängt man einen gesegneten Ehestand nicht an. Drei Tage wurden für die Festlichkeiten festgesetzt, vom wohledlen Magistrat beide Rathaussäle zum Zweck von Schmaus und Tanz hochgeneigtest preisgegeben, eine Gesellschaft von mehr als hundert Personen aus Stadt und Umgegend eingeladen. Sogar ein Ratsherr aus Leipzig, ein reicher Lederhändler und Geschäftsfreund Meister Vogels, stellte sein Erscheinen in Aussicht und erschien wirklich.

An jenem hochwichtigen vierundzwanzigsten Junius stand der junge Bräutigam schon vor Tagesanbruch am Fenster seines Kämmerchens. Er wäre gern in den Garten gegangen und hätte wieder die Sonne aufsteigen sehen wie an seinem Verlobungstage. Aber er durfte nicht vom Platze weichen, denn er wartete auf den Friseur.

Dieser vielgeplagte Mann hatte seit gestern mittag keinen freien Augenblick gehabt; er war ein Meister in seiner Kunst, und keiner wollte bei solcher Gelegenheit von einem geringeren bedient sein. So saßen denn manche der Gäste die halbe, ja die ganze Nacht hindurch aufrecht, ohne sich zu rühren, um das Kunstwerk auf ihren Häuptern nicht aus der Ordnung kommen zu lassen, und es ist mir nur lieb, daß der einsichtige Mann für meinen Urgroßvater eine Morgenstunde bestimmte, denn ein Hochzeitstag hat doch manche Strapaze, und ein paar Stunden nächtlicher Ruhe mögen dem jungen Bräutigam wohlgetan haben.

Jetzt blickte er hinaus auf den Markt, dessen abgebrannte Häuser zum großen Teil neu aufgerichtet standen und mit Gewinden von Kornblumen und Rosen geschmückt waren. Es war ja Johannistag heute; da hing in jedem Fenster, da lag auf jedem Grabe ein Kranz zu Ehren des Täufers. Regnete es in der Nacht oder fiel ein starker Tau und tropften am Morgen die Blumen, so hatte St. Johannes getauft, und es bedeutete Gedeihen für Haus und Stadt. Überhaupt ist Johanni ein Segenstag; was man an ihm unternimmt, gelingt; heilsame Kräuter, an dem Tage gepflückt, heilen kräftiger und schneller. Und Johanni war gleichzeitig David Hallers Geburts- und Hochzeitstag; wie hätten sein Leben und Ehestand nicht gesegnete sein und bleiben sollen!

Obendrein fiel dieser sein Hochzeitstag just auf einen Dienstag, das glücklichste Omen nach seines Vaters Meinung und Erfahrung. »Davidchen,« hatte er wohl zehnmal gesagt, »machst du einmal Hochzeit, laß es ja nur an einem Dienstage sein. Ich habe drei Ehefrauen begraben und mit einer jeden gelebt wie im Paradiese; aber ich habe sie auch jedesmal an einem Dienstage heimgeführt.« Wäre Johanni auf einen Mittwoch oder Freitag gefallen, die Tage des Verrates und Todes unseres Herrn, Meister Andreas hätte den Segen des Täufers drangegeben und die Hochzeit seines Sohnes auf nächsten Dienstag verschoben, vorausgesetzt, daß hinter dem Datum kein Krebszeichen im Kalender stand.

Kurzum: alle Vorbedeutungen waren die günstigsten für meinen Urgroßvater, als er ein Viertel nach neun in die haushohe, gelbe, blumenbekränzte Gevatterkutsche, die einzige Staatskarosse des Städtchens, stieg, um seine Braut zur Kirche abzuholen. Es würde wohl keinenfalls schicklich für einen Bräutigam gewesen sein, sich allein in der Hochzeitskutsche mit seiner Braut zu unterhalten. Natürlich tat es mein Urgroßvater auch nicht. Aber wenn es sich nun auch ge schickt hätte, ja wenn es erforderlich gewesen wäre, was in aller Welt hätte er wohl sagen sollen? Die Situation war gar zu neu für ihn. Die Braut sprach selbstverständlich auch nicht; beide saßen stumm, mit niedergeschlagenen Augen nebeneinander, erst in der Kutsche, dann in der Sakristei, in welcher sie die sich nach und nach versammelnden Gäste erwarteten. Die Vornehmsten wurden im Brautwagen abgeholt, andere mit geringeren Vehikeln befördert, etliche in Sänften getragen; die jüngeren Männer gingen zu Fuß, und so dauerte es denn eine gute Weile, ehe der Zug sich ordnete.

Im Schiffe der Kirche, wie auf den Emporen, stand es Kopf bei Kopf; noch bei keiner Gelegenheit hatte man die Kirche so voll gesehen. Die Traurede war lang und erhebend. Selbst der Ratsherr aus Leipzig versicherte, selten entsprechendere Worte vernommen zu haben. Allgemeines Aufsehen erregte insbesondere eine Stelle, welche der Herr Superintendent zum gerechten Ruhme des Brautpaares anbrachte. »Ihr schließt eueren Ehebund«, so lautete sie ungefähr, »aus Gott wohlgefälligen Gründen, nicht aus vergänglichem Gelüste schließt ihr ihn. Du, vielgeliebte Braut, achtest nicht auf Rang noch Reichtum und solche Schätze, welche Motten und Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen; und du, teuerster Bräutigam, fragst wenig nach Jugend und Schönheit des Leibes, oder solchen Gaben, die da schneller verwelken als Gras oder verblühen wie die Blume des Feldes« usw. usw.

Ja, das war treffend und schön ausgedrückt! Auch mag die ernste, an diesem Tage wieder sehr blaß aussehende Braut diesen geistlichen Ruhm wohl noch tiefer als alle anderen empfunden haben, denn die Frau Postmeisterin, welche ihr gegenübergestanden und sie aus purer Teilnahme nicht aus den Augen gelassen hat, will bemerkt haben, daß sie bei der Stelle von Jugend und Schönheit purpurrot geworden und mit der Hand nach dem Herzen gefahren sei.

Nach der Trauung fuhr man gleich auf das Rathaus, um vor der Tafel noch die Glückwünsche und Geschenke der Gastfreunde entgegenzunehmen. Die junge Frau wurde von allen Müttern und Töchtern auf das herzlichste umarmt und geküßt, auch von den verheirateten Männern, nur natürlich nicht von ihrem eignen. Derselbige war eben fertig mit allen Verbeugungen und Händedrücken an jung und alt und stand in einer der tiefen Fensternischen des Saales zagend und ungewiß, was nunmehro von ihm verlangt werden könne, als eine kleine, zierliche Gestalt, die ihren Glückwunsch noch nicht gestammelt hatte, ganz leise auf ihn zugetrippelt kam. Christiane in ihrem schwarzen Abendmahlskleide!

David hatte während der gesamten Feierlichkeit seine Augen so wenig vom Boden erhoben, daß er sie heute zum ersten Male gewahr wurde, eigentlich zum ersten Male seit jenem glücklichen Sternkönigsabend. Er fühlte sein Herz zusammenbeben, ihm war zumute wie einem Verbrecher. Sie hatte wie alle anderen sagen wollen: »Gottes Segen zu Ihrem Ehebunde, Herr Haller!« Aber Tränen erstickten ihre Worte; sie reichte ihm nur stumm die Hand und hielt die andere vor ihre tropfenden Augen. Aber David verstand ihre Absicht, er drückte ihre Hand und flüsterte:

»Lebe wohl, liebes Christelchen!«

Und zwei große Tränen rannen über seine Wangen.

Sechstes Kapitel Von einer braven Frau

Mit diesem Lebewohl bin ich an einem wichtigen Punkte im Leben meines Helden angekommen; ich sinne und messe und rechne nur immer noch an welchem. Der nachsichtige Leser hat mir zwar zugestanden, keinerlei Kunstansprüche an mich oder meinen Urgroßvater zu machen. Wenn ich aber dieses teueren Mannes Figur auf seinem Bilde, wenn ich seinen gesamten Lebenswandel in Betracht ziehe, so finde ich in beiden ein so herrliches Ebenmaß, daß es mir würdig, ja beinahe unerläßlich erscheint, auch seine Geschichte nach einer edlen Regel zu ordnen. Zum Exempel nach der vom goldenen Schnitt, die sich, nach allem, was ich von ihr verstehe, ausnehmend für ein Bürgerleben zu eignen scheint.

Minor, Major, Summa. Nun, die Summa wäre klar: nämlich das Leben; die beiden Teile, in welche sie zerfällt, sind das ledige Leben und das eheliche. Die Hochzeit ist der goldene Schnitt, der sie scheidet. Soweit wäre alles in der Ordnung. Aber nun kommt die Schwierigkeit: welches soll Major sein, vor der Hochzeit oder nachher? Wenn ich die Ereignisse zusammenzähle und die Aufregungen, welche sie in meinem Urgroßvater hervorgerufen haben: den Brand, die Leiche, das Abendmahl, das Sternschießen et cetera, so müßte vor der Hochzeit Major sein, ich bringe nachher nicht so viele wieder zusammen. Aber für diese Einteilung will wieder die Zeitrechnung gar nicht stimmen. Der Leser weiß, daß mein Urgroßvater an seinem Hochzeitstage erst achtzehn Jahr alt wurde, und da er ein Alter von achtundsiebenzig erreichte, so blieben mir sechzig für den Minor, das ist höchst unbillig und ohne Kunstgeschmack, namentlich bei einem so tätigen und resoluten Helden wie dem meinen.

Ich komme aus diesem Labyrinthe nicht heraus: vor der Hochzeit soll nicht Major sein, nach der Hochzeit auch nicht, aber doch die Hochzeit der goldene Schnitt; so bleibt mir nur eine schwache Hoffnung, den letzteren noch bei einer anderen Gelegenheit anzubringen, welche die herkömmliche Ordnung eines Menschen- und Bürgerlebens nicht wesentlich abändert, in der Tat aber ein späteres Minor finden läßt, das sich zu dem früheren Major verhält, wie dieses zu der Summa beider, also strikte nach der Regel. Diese Gelegenheit gegenwärtig näher zu bezeichnen, untersagt mir die Sorge für die Spannung meines geliebten Lesers. Ich habe mein künstlerisches Streben an den Tag gelegt, mit meinem Helden geht es noch immer bergauf, und ich fahre getrost in seiner Geschichte fort.

So begann denn David Haller jenes Wirken und Weben, das nicht nur seiner Familie, nicht nur seiner Stadt, nein, seiner ganzen heimatlichen Gegend zu einer Quelle des Segens geworden ist. Er wurde der erste, große Industrielle viele Meilen in der Runde, wurde Landwirt, Fabrikant und Kaufherr, und das alles auf ganz unmerklich sicherem Wege. Organisch, würde man heute sagen, entwickelte sich eines aus dem anderen, aus dem Kleinen das Größere, aus dem Größeren das Große. Kein Zug von den halsbrechenden Spekulationen, welche in unseren Tagen Millionäre zu Bettlern und Bettler zu Millionären machen.

Er fing damit an, das Heiratsgut seiner Frau zur Erweiterung seines Betriebes zu verwenden, kaufte die Wolle von den umliegenden Gütern, ließ sie kämmen, im Winter von den Bauern der Gegend spinnen, in städtischen Werkstätten sie zu Tuchen verarbeiten. Wo Tauben nisten, fliegen Tauben zu. Der erworbene Überschuß ward in Grund und Boden angelegt, eine bedeutende Schäferei gegründet, auf diese Weise ein Teil der zu verarbeitenden Wolle selber erzeugt und die Schafzucht veredelt. Mit jedem Jahre wuchsen nach außen hin Einfluß und Ansehen, nach innen Wohlstand und Gedeihen des Hauses Haller. Dieses alles steht aber im Gedächtnis der Nachkommen seiner Mitbürger und überdies in unserer städtischen Chronika verzeichnet. Es ist nicht das, über welches ich zu berichten habe.

Meister Andreas hatte seine gebrechliche Natur richtig abgeschätzt: ehe das Jahr zu Ende ging, starb er, und diesmal, ohne hienieden wieder aufzuwachen. Wie er es angeordnet, wurde seine Familie nun die seines Sohnes, und David Haller löste sein Jünglingswort als ein Mann. Er erzog seine Geschwister zu einem tüchtigen bürgerlichen Leben, die Brüder zu einem Gewerbe, je nach Neigung und Fähigkeit, die Töchter zu sittsamen, fleißigen Hausfrauen. Sobald die ersteren selbständig wurden, die letzteren heirateten, und im Laufe der Zeit taten sie es alle, zahlte und stattete er sie aus nicht nach ihrem Anspruche an das kleine väterliche Erbe, sondern nach der großmütigen Fürsorge des brüderlichen Vormunds, und blieb auch in Zukunft ihr Rater und Helfer in jeglicher Not.

Aber Christiane, was wurde aus ihr? War der gewissenhafte Mann in dem zartesten Punkt so fühllos? Dachte er in seinem Schaffen und Wirken nie mehr an das selige und an das traurige Lebewohl von dem lieben, blauäugigen Kinde? Teurer Leser, wenn ich wahrhaftiglich berichten soll, so kann ich dir diese Frage nicht beantworten. Keine Seele hat meinem Urgroßvater eine derartige Erinnerung angemerkt, und in der Tat hat er auch sehr wenig Zeit für Erinnerungen gehabt. Überdies sah er Christelchen nicht wieder, und was das Sehen bei derartigen Stimmungen auf sich hat, das ist ja eine allbekannte Sache. Kurzum, lieber Leser, ich weiß es nicht.

Nachholen aber will ich an dieser Stelle, was ich an der rechten zu erzählen vergessen habe: nämlich, daß die kleine Löfflerin am zweiten Tage der Hochzeit beim Tanzfeste nicht erschien. Sie habe sich gestern beim Schmause den Magen verdorben, meinte die Frau Schösserin, die sich durch dieses Unwohlsein ihres Töchterchens nicht abhalten ließ, bis nach dem Großvater wacker beim Tanzen auszuhalten. Denn bei derlei Gelegenheiten machte alles seinen Sprung, jung wie alt, was nur Beine hatte und sie noch rühren konnte.

Indessen verbreitete sich schon an jenem Abend unter der Hochzeitsgesellschaft eine schier unglaubliche Munkelei. Es sollte gestern bei Tafel richtig geworden sein zwischen der kleinen Löfflerin und ihrem Tischnachbar Keller, dem Russen. Die Meister Andreas und Hans Adam schüttelten die Köpfe, ließen auch ein warnendes Wörtchen gegen die Mutter Schösserin verlauten. Der Keller, meinten sie, sei trotz seiner grauen Haare ein Larifari, der nichts als Raupen im Kopfe habe, und seine Torfgrubenspekulation, die breche ihm bei guter Zeit den Hals; denn welcher Mensch mit gesunden fünf Sinnen werde sich seine Öfen durch schwarze, stinkende Erde verschmieren lassen, wenn ihm das schönste Buchenholz in Fülle zu Gebote stehe?

Die Frau Schösserin mußte diesen Einwänden Beifall geben; mit dem Rumor hatte es aber dennoch seine Richtigkeit. Der alte Hagestolz hatte wirklich gestern beim ersten Spitzgläschen nach der Suppe Feuer gefangen und, Sonderling wie er nun einmal war, gegen allen Brauch und Anstand, ohne jegliche Präliminarien und Mittelspersonen seiner hübschen Nachbarin schon beim Braten einen Antrag gemacht; ja, mehr noch! – so ansteckend wirkt die erste Lizenz – noch beim Kuchen des jungen Mädchens Jawort aus ihrem eigenen Munde erhalten.

In wenigen Wochen waren sie Mann und Frau. Daß sie keine Hochzeit ausrichtete, konnte man der armen Witwe allerdings nicht für ungut nehmen; daß aber eines Vormittags gleich nach dem dritten Aufgebote das Brautpaar, bloß von der Mutter begleitet, über Land fuhr, um sich in einer elenden Dorfkirche still und verstohlen zusammengeben zu lassen, wie arme Sünder, machte natürlich viel Rederei. Sie schienen sich indessen wenig darum zu kümmern, zumal sie bald darauf die Stadt für immer verließen. Keller hängte die Kürschnerei an den Nagel und zog einige Stunden seitab in einen Flecken nahe den Feldern, unter welchen er die verdächtigen Braunkohlenlager erwittert hatte. Die Schösserin folgte ihren Kindern nach; bald waren alle drei im Städtchen so gut wie vergessen und will's Gott! mitsammen glücklich geworden.

Und endlich Sophie, die ältere, ernste, unschöne Sophie, ward denn auch sie nun glücklich? Konnte, lernte ihr junger schöner Mann sie lieben? Ja, mein guter Leser, wenn ich nur wüßte, was du unter »lieben« verstündest? Im Bürgerstande vor hundert Jahren fühlten die Menschen, welche ein Ehepaar werden wollten, sich beileibe nicht von einer geheimnisvollen Naturgewalt, die man späterhin »Liebe« nannte, zueinander getrieben, ohne daß sie eigentlich gewußt hätten warum. Man liebte sich, weil man sich kannte, nicht, weil man sich nicht kannte; die Liebe war ein Akt des Charakters und eine Wirkung der Gewohnheit; man wollte einen Zweck, nicht eine Person. Darum gab es auch so wenig unglückliche Ehen in jener Zeit.

Ich weiß recht wohl, welche erhabenen Gefühle jene ehrbaren verdrängt haben; ich weiß, daß auch diese erhabenen Gefühle wieder ein überwundener Standpunkt geworden sind, daß wir, als freie Menschen, zwar die Liebe in allen ihren Stadien zu zergliedern, vielleicht auch zu durchlaufen vermögen, aber nur selten noch aus Liebe in den Ehestand treten, sondern entweder aus greifbareren Gründen, oder gar nicht: alles dies weiß ich und noch manches nebenbei sogar aus Erfahrung über diesen delikaten Punkt; ob aber mein Urgroßvater meine Urgroßmutter wirklich geliebt hat, in irgendeinem neueren Sinne geliebt, das weiß ich wahrhaftig doch wieder einmal nicht.

Soviel steht indessen fest: David Hallers Hausstand wurde das Muster der Stadt. Niemals fand selber die Frau Postmeisterin einen Makel: keine Laune der Frau, keine Ausschreitung des Mannes, keinen Hader unter Arbeitern und Gesinde. Alles ging seinen leisen, aber sicheren Schritt. Man sah Frau Sophie fast niemals außer ihrem Hause, selber nicht regelmäßig in der Kirche. Sie kränkelte und lebte vorzugsweise in ihrem Zimmer im oberen Stock, von welchem aus sie das große Hauswesen führte, ordnete und anleitete, was ihre heranwachsenden Schwägerinnen als tätige Schaffnerinnen ausführten. Es blieb ihr dabei noch immer manche stille Stunde, um sie, freilich ganz gegen die Gewohnheiten ihres Standes, bei einem Buche zu verbringen, mit welchem ein Bruder ihrer seligen Mutter, ein Studierter und Professor an der Thomasschule in Leipzig, ihr gelegentlich ein Präsent zu machen pflegte, so daß sie nach und nach eine gar artige, kleine Sammlung besaß. Auch ihrer Musik war sie treu geblieben, nur daß sie jetzt nicht mehr, wie als Mädchen, am späten Abend ihre Lieder sang, sondern in der Dämmerstunde, ehe ihr David kam.

Ach, warum kam er doch immer so spät und blieb so kurze Zeit, der geliebte Mann? Sooft Sophie seinen Tritt zur gewohnten Stunde hörte, wurde sie rot bis unter die Spitzen der Haube und das bis zu ihrem Ende, niemals ist sein Kommen oder Gehen ihr gleichgültig geworden. Ja, fast will mich bedünken, ihre Liebe habe einen volleren Pulsschlag gehabt, als jenen ehrbar behaglichen, eheständischen Takt, dessen ich oben erwähnte.

Wie glücklich war sie, wenn ihr David abends einmal nicht gar zu ermüdet bei ihr weilte, wenn er ein Stündchen mit ihr plauderte und nicht nur von der Wirtschaft; oder gar, wenn er sie bat, ihm etwas zu singen oder vorzulesen. Sie wählte dann immer ein Stück von seinem Gellert, dem Dichter, den er schätzte und liebte wie keinen sonst. Ja, noch als Greis habe ich ihn mit Tränen der Rührung »Wie groß ist des Allmächt'gen Güte« und mit Tränen des Vergnügens die Geschichte »vom Hute« und »vom grünen Esel« rezitieren hören.

Nur in einem einzigen Punkte stimmte mein Urgroßvater nicht mit seinem Dichterliebling überein, das war dessen Spott über die Weiber und Scheu gegen die Ehe. Nein, David Haller schloß keinen Abend seine Augen, ohne Gott recht von Herzen für eine so tugendhafte und kluge Ehefrau, wie seine Sophie war, gedankt zu haben.

Ehe es wieder Johanni wurde, gebar sie ihm einen Sohn. Sie war schwer krank, so daß der alte Hans Adam einen berühmten Professor aus Leipzig holen mußte, um ihr wieder aufzuhelfen. Der Professor verordnete der zarten Frau in Zukunft Stille im Hause und Bewegung im Freien: eine kuriose Vorschrift für eine Bürgersfrau jener Zeit, wo just das Gegenteil in der Ordnung war. Aber in diesem wohlgeregelten Hauswesen konnte auch solch eine Vorschrift durchgeführt werden, ohne eine Störung hervorzubringen.

Der Knabe blieb ihr einziges Kind. Sie nannten ihn Joseph. Der Vater dachte dabei an den frommen biblischen Namensahn, der Mutter schwebte noch außerdem ein neueres Bild vor der Seele: die schöne, edle deutsche Kaiserin mit ihrem Erstgeborenen auf dem Arme, umringt von einem Volke, das ihre Anmut und Hoheit wie ihr Unglück todesmutig begeisterte. Sophiens Sohn sollte Joseph heißen, wie einst sein Kaiser heißen würde!

Ich will bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, daß meine mütterlichen Ahnen dem kühnen, philosophischen König, welchem Europa eben im Begriffe war den Namen des Großen beizulegen, recht von Herzen abhold waren, ja fast ihn verachteten. Freilich zum Abholdsein hatten sie Grund; denn was mußten ihr Land, ihre Gegend und selber die Stadt nicht alles durch ihn leiden! Was aber die Geringschätzung anbelangt, so war allerdings einer seiner glänzendsten Siege in unserer Nachbarschaft erfochten worden, ist aber der Glückliche denn auch immer der Gerechte? Hatten nicht feige, übermütige Verbündete das deutsche Heer in ihr Verderben gezogen? Hatte man irgend etwas Majestätisches oder Heldenartiges in der dürftigen, gebeugten Figur des Siegers zu erkennen vermocht, als er im abgetragenen Mantel, mit kotigen Reiterstiefeln vor und nach der Bataille unsere Stadt passierte? Mußte man es nicht höchst unköniglich, ja höchst unanständig finden, was er zu der gnädigen Frau, der Gemahlin des reichsten Gutsbesitzers unserer Pflege, gesagt hatte, als er nach jener Schlacht auf ihrem Schlosse übernachtete? Der Gutsherr war kurfürstlich königlicher Kammerherr, und da er den Zorn des übermütigen Triumphators fürchtete, hielt er sich während dessen Anwesenheit verborgen, wie man munkelte im Schafstall. Seine Gemahlin dahingegen, ihr siebenjähriges Söhnchen in kurfürstlicher Fähnrichsuniform an der Hand, war couragiert genug, den königlichen Gast an der Pforte ihres Schlosses zu empfangen und mit würdevollem Anstand die Abwesenheit ihres Gemahls zu entschuldigen. Der hohe Herr geruhten sich längere Zeit mit der schönen, klugen Dame zu unterhalten und ihr beim Abschiede die Hand reichend zu sagen: »Ein Glück, Madame, für Ihr Haus und Ihren Sohn, daß Sie die Hosen angezogen haben statt Ihres Gemahls.«

Die Hosen! Man wollte es anfänglich in der Bürgerschaft nicht glauben, daß Er »Hosen« gesagt und noch obendrein zu einer Dame von Adel, einer geborenen Gräfin. Es wurde aber von Ohrenzeugen versichert, und mein Urgroßvater hatte einen Grund mehr, an dem Helden des Tages zu zweifeln und seinen Kurfürsten zu verehren, dessen Lippen ein solcher Ausdruck nimmermehr verunziert haben würde.

Siebentes Kapitel O Joseph!

Das war ein gewaltiger Sprung vom kleinen Joseph zum großen Friedrich! Ich tue ihn retour und bin nun wieder bei dem Knaben und seiner Mutter.

Er wurde ihre Welt. Von seinem ersten Lebenstage an, darf man wohl sagen, war er des Vaters Widerspiel: klein, dürftig, schwarz und traurigen Auges. Aber sie liebte ihn wie ihren David, ja, wenn Liebe sich wägen ließe, mehr als ihren David: denn David brauchte ihre Liebe nicht, und Joseph lebte von dieser Liebe. Tag und Nacht kam er nicht von ihrer Seite; seine kleine Wiege wurde ihr nachgetragen, wenn sie auf der Terrasse hinter ihrem Hause saß; die warme Sonne tat ihnen beiden so wohl. Sie sang auch mehr als sonst, seitdem sie ihn besaß, denn der Kleine wurde immer still und freundlich, sobald sie sang. Überhaupt waren es nur zwei Triebe, welche sich gleich früh und gleich stark in dem Knaben hervortaten: die Liebe zur Mutter und die Liebe zur Musik. Seine kleinen Händchen reichten noch nicht an die Tasten, als er schon auf eine Fußbank kletterte und die Melodien, die er von seiner Mutter hörte, nachzuspielen suchte. Im regelmäßigen Lernen dahingegen zeigte er sich späterhin schwach, Lesen- und Schreibenlernen fiel ihm schwer, Rechnen war und blieb ihm ein Greuel, eine verschlossene Welt seines Vaters Zahlenwelt. Die Lehrer konnten wenig Hoffnung auf ihn bauen und bedauerten den tüchtigen Vater um dieses einzigen, schwächlichen Kindes willen.

Und dieser Vater? Ich habe eine Bemerkung gemacht, lieber Leser; wahrscheinlich keine neue, da sie aber die einzige Bemerkung in meiner ganzen Geschichte ist, will ich sie dir nicht vorenthalten. Ich habe nämlich gefunden, daß die Vaterliebe, wie stark auch immer der Trieb, nicht jederzeit fertig ist wie die Liebe der Mutter, daß sie oft sich erst an einem Spätlingskinde, ja an einem Enkel in voller Macht erweist. Und so vermute ich denn auch, daß der neunzehnjährige David etwas zu jung war für das Vatergefühl und etwas zu unerfahren für die Kindererziehung. Er sah den Knaben wenig, aber wenn er ihn sah, schüttelte er den Kopf. Schüchtern oder trotzig, verschlossen, niemals fröhlich mit andern Kindern spielend, klimperte der Junge auf dem Klavier oder hockte, nachdem er einmal die Mühe des Lesenlernens überwunden hatte, in einem Winkel und las, aber nicht in seinen Schulbüchern oder anderen erbaulichen und nützlichen Schriften, sondern bunt durcheinander allerlei phantastische Kost, wie der Zufall sie ihm in die Hände würfelte.

Was sollte aus dem Knaben werden? Die Frage wurde immer bedenklicher, je näher die Entscheidung über einen Beruf heranrückte. Es gab im Grunde nur einen einzigen für ihn, das fühlte auch die Mutter: der alleinige Sohn und Erbe mußte das immer mehr emporblühende Geschäft des Vaters handhaben lernen, um es eines Tages fortführen zu können. Freilich eignete er sich gar wenig dafür. Indessen wofür denn mehr? Studieren? Gelehrter, Prediger, Advokat, Arzt werden? Aber Joseph wollte ja nicht lernen, wann und was er sollte. Wozu hatte er denn Lust? Zur Musik allerdings. Aber Musikant? Der Sohn des reichen, angesehenen David Haller Stadtpfeifer oder Organist? Nein, der Gedanke konnte selbst seiner zärtlichen Mutter nicht beikommen; auch ihrem Sinne nach stand es fest: des Sohnes Beruf sei, den Bau des Vaters fortzuführen, bei dessen sicherem Fundament die spätere Arbeit ja auch schwächeren Händen gelingen werde. Sie sann und sann und wußte endlich ihren Mann für den ersonnenen Ausweg zu gewinnen, wie sie denn in allen Stücken einen entscheidenden Einfluß auf ihn übte, sooft sie einen solchen begehrte. David fand ihre Ansichten immer so vernünftig und gütig, so unwiderleglich, daß er die seinigen jederzeit zurückzog, noch ehe er sie ausgesprochen hatte. In betreff von Josephs Erziehung aber sah er sich selber so ratlos, daß Sophiens Einsicht immer seine einzige Zuflucht blieb.

Wohl fühlte er sein Blut zuzeiten kochen, wohl nahm er hin und wieder einen Anlauf, mit handgreiflicher Strenge gegen Trägheit und Eigensinn zu Felde zu ziehn. Aber der verschmitzte Junge war selten aus seinem Asyl in der Mutter Nähe hervorzulocken, und wenn diese dann dem erzürnten Vater mit aufgehobenen Händen entgegentrat und flehete: »Aber, mein David!« da war der Angriff mit diesem einzigen Worte zurückgeschlagen.

Es wurde demnach beschlossen, Joseph in Leipzig die Handlung erlernen zu lassen; nach zwei Seiten hin ein angezeigter Ausweg, da nach der einen das Hallersche Geschäft sich je mehr und mehr aus einem gewerblichen in ein kaufmännisches umwandelte; nach der anderen die große Stadt zu mannigfaltiger, des Knaben Neigung entsprechender Ausbildung Gelegenheit bot. Ein namhaftes Handelshaus sollte ihn in die Lehre, der Oheim an der Thomasschule in Kost und Obhut nehmen.

Ein halber Tod war für Sophie das Scheiden des geliebten Kindes, des unzertrennlichen Gefährten ihrer stillen Tage. Auch nahmen ihre Kräfte von der Zeit an sichtlich ab, und nur des Montags, wo regelmäßig Josephs Briefe eintrafen, flackerten sie flüchtig wieder auf. Briefe? Nein, Tagebücher sollen es gewesen sein und wirklich recht interessante Schriftstücke, nicht bloß für seine Mutter. Schade, daß sie nicht auf den Enkel gekommen sind!

Ein ganz absonderliches Verhältnis würde aus diesem Briefwechsel herauszulesen gewesen sein, das heißt ein absonderliches für meiner Vorfahren Zeit und Stand. In keinem Verhältnis wurden ja einstmals weniger Worte gemacht als in dem zwischen Eltern und Kind; durch Gehorsam bezeugte man sein Vertrauen, nicht durch Vertraulichkeit. Ob nun mit der ungebundenen Rede und Gegenrede die Geratenheit ab- oder zugenommen hat? Über diese wichtige Frage der Erziehungsstatistik ist mit meiner großelterlichen Korrespondenz ein bedeutendes Material verloren gegangen.

Der träge, träumerische Knabe soll eine Sprache geführt haben, eine Feder, wie selber seine Mutter sie ihm nimmer zugetraut haben würde. Wie wußte er die Eindrücke der großen Stadt zu schildern! Den Gelehrtenverkehr in des Oheims Hause, die Gewandhauskonzerte jeden Donnerstag, und vor allem das Theater, diese Feenwelt, das Theater! O, welches mütterliche Herz könnte es meinem urgroßmütterlichen verargen, daß es so eifrig dafür Sorge getragen hat, seinem Liebling diese Herrlichkeiten nicht verlöschen zu lassen! Mit anderen Worten: des Lieblings leere Börse immer von neuem zu füllen und in diesem einen, außereinzigen Stücke mitunter sogar gegen den Willen und hinter dem Rücken ihres David zu handeln?

Was nun Vater David anbelangt, so fragte er bei jedem Meßbesuch den Lehrherrn nach seinem Gutachten über den Sohn und erhielt jederzeit eine Antwort, welche ihm für den Augenblick grundwenig Klarheit gab, mit welcher er sich jedoch immer von neuem zufriedenstellte, nachdem er ihre Auslegung aus dem Munde seiner klugen Sophie vernommen hatte.

Dem Namen nach war Joseph also ein Handlungsdiener; in der Tat aber führte er das Leben eines Studenten. Ich meine nicht das eines Studierenden, sondern eigentlich das Gegenteil. Der Oheim war Pädagog, konnte sich daher um die Erziehung von Angehörigen nicht kümmern. Er hegte überdies bis zum letzten die Hoffnung, das Hallersche Elternpaar von der kaufmännischen Laufbahn ihres Sohnes abzulenken und diesen selbst für die eines Gelehrten zu gewinnen, die der Oheim als die einzige ehrenvolle des Bürgerstandes schätzte. Wahrscheinlich, aber diplomatisch nicht festzustellen ist es auch, daß es jener philologische Einfluß gewesen ist, der den Lehrherrn veranlaßte, dem Volontär Haller mehr als üblich durch die Finger zu sehen. Wie weit es derselbe daher in der Wissenschaft der doppelten Buchführung gebracht hat, möge zu bemessen dem Enkel erlassen bleiben.

Mit Genugtuung dahingegen darf versichert werden, daß Joseph während seines dreijährigen Leipziger Aufenthaltes drei musikalische Instrumente mit angenehmer Fertigkeit spielen lernte, daß er die Bildungsstätte des Theaters selten unbesucht und wenig schöngeistige Nummern des Meßkatalogs unerforscht gelassen hat. Daß er das Zopfband löste und seinen Haarwuchs in teutonischer Freiheit auf die Schultern wallen ließ, daß er statt der Schnallenschuh Kniestiefeln und statt der Kniehosen lange Pantalons anlegte, auch noch für anderweitige Menschenrechte schwärmte, braucht vielleicht nicht erst, soll aber doch gebührentlich in Erwähnung gebracht werden.

Er war in diesen drei Jahren nur dreimal zu Hause gewesen und hatte seine geliebte Mutter jederzeit so freudig belebt, ihre bleichen Wangen so jugendlich gerötet gefunden, daß er die Fortschritte ihrer zehrenden Krankheit nicht bemerkte. Auch ihr Gatte täuschte sich über dieselben, da er Sophie nur in den erregenden Abendstunden sah und nie eine Klage aus ihrem Munde hörte.

Es waren die ersten Tage des März, die so heimtückisch den Frühling heucheln und für Kranke doch zerstörender als selbst der Winter sind. Da geschah es eines Morgens, daß David, seelenruhig vor seinem Pulte schreibend, in dringender Eile hinauf zu seiner Gattin gerufen ward. Er war betroffen; in einer neunzehnjährigen Ehe kam es zum ersten Male vor, daß Sophie die regelmäßige Tagesordnung durch ein Verlangen unterbrach.

Er fand sie freundlich ernst wie immer, aber bleich und sichtlich matt auf ihrem Ruhebett liegend. Sie winkte ihn dicht an ihre Seite, faßte seine Hand und sprach mit leiser Stimme:

»Ich fühle es rasch mit mir zu Ende gehen, mein David, darum – –«

Er war wie vom Blitz getroffen; in tödlicher Angst trieb er das Mädchen nach dem Arzt, wollte selbst fortstürzen, um Hülfe zu suchen.

»Laß das, Lieber,« sagte Sophie, ihn bei der Hand zurückhaltend, »er hilft mir nicht mehr. Bleibe bei mir, David.«

Er setzte sich auf die Bettkante. Die Brust war ihm zugeschnürt. »David,« fuhr sie nach einer kleinen Stille fort und errötete dabei zum letzten Male im Leben: »David, du hast mich nicht lieben können, aber du bist sehr, sehr gütig gegen mich gewesen. Gott segne dich dafür.«

»Ich dich nicht lieben können, Sophie?« schrie David verzweiflungsvoll auf. »Dich nicht lieben, Sophie? Welche Frau verdiente höhere Liebe? Bist du nicht der Stolz meines Herzens und der Segen meines Hauses gewesen?«

Sie versuchte seine Hand zu drücken und sah zu ihm auf mit einem Blick, in welchem er schon die Verklärung zu erkennen glaubte, so viel Wehmut und so viel Seligkeit lag zugleich darin. Ihm wurde immer bänger, und der Arzt kam nicht.

»David,« begann Sophie von neuem, »mein Herz ist schwer um Joseph. O, wär es bei mir, das geliebte Kind! Aber nein, nein. Ich danke Gott dafür, daß er mich nicht sterben sehen muß. Ach, mein David, liebe ihn, wie ich ihn liebe. Habe Geduld mit ihm, David. Er ist nicht wie du; nicht stark und fest wie du. Schone ihn, liebe ihn auch um meinetwillen.«

»Du wirst leben, Sophie,« rief David, indem er zerknirscht an ihrem Bette niedersank, »für mich und Joseph leben.«

»Droben!« hauchte sie mit einem Blick gen Himmel.

Ein Vaterunserlang schwiegen er und sie. Beide hatten ihre Hände gefaltet. Dann hob Sophie mit kaum hörbarer Stimme wieder an: »Versprich mir, David – –«

»Alles, Sophie, alles, was dir Frieden gibt,« sagte David, seine Hände ringend, unter bitterlichen Tränen.

Sie unterdrückte ein Schluchzen, sie rang in einem nicht bloß körperlichen Kampf; nach einer Pause aber sprach sie mit einem Rest von Kraft und voller Klarheit: »Du bist noch so jung, David, so lebenskräftig, du kannst nicht allein bleiben. Für dein Herz und Haus bedarfst du der Gefährtin. O, wie oft in diesen Jahren, da ich meinen Tod vorausgefühlt, wie oft hat meine Seele gesucht nach einer, der ich meinen Platz, der ich dich und Joseph gönnen möchte, die jünger und liebenswerter ist als ich, aber euch liebt, wie ich euch liebe. – Nur eine nicht, – David, – nur sie nicht, – David – –«

Ihre Stimme versagte. Man hörte die Tritte des Arztes auf dem Flur.

»Um Josephs willen – nur sie nicht, – nicht sie, – o Joseph!« keuchte Sophie. Ein roter Strom entquoll ihrem Munde. Der Arzt trat ein. Angstvoll starrte ihr Auge in das ihres Gatten wie um Trost in ihrer Todesqual. Kaum eine Minute – und die Qual war zu Ende.

Achtes Kapitel Noch einmal: O Joseph!

Joseph stand am Grabe, als seine Mutter versenkt ward. Seine Knie schwankten. Er wäre in die Grube getaumelt, wenn der stärkere Vater ihn nicht gehalten hätte. Nie hat ein Sohn inniger um seine Mutter getrauert. Es war sein erster Schmerz und der einzige, den er begriff. Alles andere dünkte ihm gleichgültig. Er wußte nicht, was fortan mit dem Leben beginnen. Sollte er nach Leipzig zurückkehren, wo er so glücklich gewesen war? Fort aus den Räumen, die ihre Gegenwart geheiligt hatte, fort von ihrem Grabe? Zum ersten Male im Leben regte sich überdies in ihm ein Keim von dem Triebe, welcher das Lebensprinzip seines Vaters war, von dem Triebe einer Pflicht. Durfte er den Vater verlassen? Mußte er nicht versuchen, ihm ein Gefährte, ein Gehülfe zu werden? Aber wie das beginnen, wie sich sammeln zu gleichgültigem Tun nach dem ungeheuersten Schmerz?

Anders der Vater. Auch er trug Herzeleid; auch er fühlte, daß ein guter Geist aus seinem Hause gewichen sei, er weinte nachts in seiner Kammer und suchte im Gebet die Selige heim am Throne ihres Herrn. Aber das besonnene Tagewerk ward nicht durch seine Trauer gehemmt, nicht eine Stunde versagte ihm die äußere Fassung, welche dem Manne und Bürger bei schweren Lebensprüfungen ziemt. Den Sohn ließ er gewähren, wenn auch mit Sorgen; er sann nur immer wieder und wieder darüber nach, wie er das fremdartige Wesen lind und leise genug fassen sollte, um es Sophiens Liebe gleichzutun. Joseph war und blieb unzugänglich, antwortete auf alle Fragen mit einem dürren Ja oder Nein; saß versunken in der Mutter Zimmer, auf ihrem Lieblingsplatz im Garten, auf ihrem Grabe. Als die Jahreszeit vorrückte, schweifte er tagelang in der Gegend umher; aber immer allein, er floh allen Umgang; sein bloßer Blick rief dem Begegner zu: »Weiche von mir, störe nicht meinen Schmerz!« Der Vater wurde immer unruhiger einem Zustand gegenüber, der auch die körperliche Gesundheit des Jünglings sichtlich erschütterte. Er gab das still Gewährenlassen auf, und es verging kein Tag, daß er ihm nicht eine Ansprache hielt über die Notwendigkeit, sich in Gottes unerforschlichen Ratschluß zu fügen, über die Pflicht, seine Erdenbestimmung zu erfüllen, und die Gewißheit eines ewigen Wiedersehns. Joseph, ach! schien verstockt gegen die gültigsten Wahrheiten.

Nach und nach wurde es dem Vater zur Überzeugung, daß nicht Gram allein, sondern mehr noch die träge, schlendernde Lebensweise des Jünglings Leib und Seele also zerrütte. Er überwand daher seine Scheu und mahnte ihn so glimpflich als möglich zu einem Einblick und Eingriff in die förderliche Tätigkeit seines Hauses. Joseph nahm einen Anlauf; er setzte sich an des Vaters Pult und klappte das große Buch mit dem Hallerschen Kredit und Debet auf. Unmöglich. Die Zahlen stimmten nicht; so trockene Schemata konnte auch ein Geringerer füllen; diese gleichlautenden Briefe allenfalls eine Maschine schreiben. Er suchte einen lebendigeren Verkehr, ging zu den Wollkämmern, zu den Spinnern und Webern. Aber zu welchem Ende diese geistige Tortur? War es ihm nicht mehr als gleichgültig, ja unterschied er es auch nur, ob das Material eine Probe weicher oder härter war, das Haar ein wenig länger oder kürzer gekämmt, ein wenig feiner oder gröber gesponnen der Faden, loser oder fester das Gewebe? Nein, so weit war er noch nicht geheilt, hätte nicht geheilt sein mögen, um über solchem Mechanismus eine Mutter zu vergessen.

An einem Sonntag, als die Glocken zum Frühdienst läuteten, sagte der Vater: »Du gehst niemals zur Kirche, mein Sohn. Gottes Wort würde dich stärken.«

Joseph zuckte die Achseln und schwieg.

»Deine selige Mutter war so fromm und hielt ihres Gottes Haus so hoch in Ehren!«

»Meine Mutter!« rief Joseph, nahm seinen Hut und ging in die Kirche. Als er um die Mittagszeit nach Hause kam, fragte der Vater:

»Nicht wahr, mein Sohn, du fühlst dich getröstet?«

»Getröstet durch diese Salbaderei?« entgegnete Joseph verächtlich.

»Versündige dich nicht, Joseph!« rief der Vater mit Entsetzen.

»Abgedroschene Gemeinplätze und dieser näselnde Singsang! Die Geduldsprobe war zu stark. Mitten in der Litanei lief ich fort!«

Mein Urgroßvater besaß ein robustes Nervensystem; aber bei dieser Lästerung wurde er blaß und jählings purpurrot. Es kochte in ihm und drohte überzuwallen. Dennoch faßte er sich auch diesmal und sagte nach einer Pause mit Ruhe: »Mein Sohn, der fromme Mensch trägt allezeit mehr aus seines Gottes Hause, als er hineingetragen hat; er vernimmt das unvergängliche Wort auch aus gebrechlichen Lauten.«

Joseph schwieg, aber zur Kirche ging er nicht wieder; den vorwurfsvollen Blick des Vaters, sooft die Glocken läuteten, schien er nicht zu verstehen.

So schlichen die Tage hin ohne Plan, ohne Arbeit, ohne Freude für den jungen Mann; selber musizieren mochte er nicht mehr; es fehlte ihm ein Echo in einem Menschenherzen; es war eine klägliche Existenz.

Der Sommer verging; Herbstregen und Stürme schnitten die Streifereien im Freien ab, unter Seufzen und Brüten kam Martini heran, das Fest der Schulkinder, ein Sporn den Kleinen, die es werden sollten; kaum minder ersehnt als der Heilige Christ.

Seit Tagesgrauen wogte ein fröhliches Treiben in Häusern und Straßen; das Wetter war abscheulich; drei Wochen hatte es fast ohne Unterlaß geregnet, und auch heute ging es, wie man so sagt, naß nieder. Die Füßchen blieben oftmals stecken im schwarzen Morast der großenteils ungepflasterten Straßen: ein Anlaß mehr zu Lust und Jubel für das kleine Volk. Im besten Sonntagsstaat sammelte es sich auf dem Markt; die Mädchen, die guter Leute Kind waren, trugen sogar weiße Kleider und Kränze auf dem Kopf; den Jungen war das Haar in nagelneue Beutelchen gebunden. Nach den Klassen geordnet, die Kurrende voran, das hohe Lutherlied singend, ging nun der Zug durch alle Hauptstraßen nach dem Schulhaus hinter der Kirche. Körbe voll Äpfel und Nüsse wurden in den Händen getragen, auch Weinflaschen und gebackene Martinshörner auf grün verzierten Brettern. An bunten Spießen prangten gelbe Zitronen, Fahnen wehten; inmitten jeder Klasse schnatterte die fette Martinsgans, in einem Deckelkorb von den vier Stämmigsten befördert; voran aber schritten Oberster oder Oberstin, die auf blankem Zinnteller, in einen Stettiner Apfel geklemmt, eine klingende Spende trugen. Sie war durch Sammeln batzenweise aufgebracht und jedes Stücklein blank geputzt worden, um heute nebst den eßbaren Gaben in feierlicher Rede dem hochzuverehrenden Hirten von seiner untertänigen Herde in pflichtschuldiger Dankbarkeit gewidmet zu werden. Der hochverehrte Hirt dankte mit nicht minder wohlgesetzten Worten und lud seine ihm von Gott anvertraute Herde ein, am Nachmittag das hohe Freudenfest mit ihrem getreuen Hirten zu begehen.

Es war ein saurer Tag, saurer selbst als der des Examens in der Woche vor Ostern, ja der sauerste im ganzen Jahre, dieser Tag Martini für die alten, würdigen Herren. Denn sie alle hatten graue Haare: der Rektor, der Kantor, die beiden Mädchenlehrer; nur der Bakkalaureus, der eine Karriere erst erhoffte, stand noch in den Vierzigen. Denn welcher Vater von damals hätte seiner Tochter zumuten mögen, vor einem bartlosen Jüngling, kaum dem Seminar entlassen, Respekt zu hegen? Oder solch einem Jüngling gestatten, seinen Jungen braun und blau zu schlagen? Respekt und Stock bedürfen der Jahre. Heutzutage, wo ersterer der Sitte nach, letzterer wenigstens dem Gesetz nach aus der Mode gekommen ist, da können freilich Seminaristen und selber Seminaristinnen das Lehren betreiben, wie ein leichtes Spiel; zu meines Urgroßvaters Zeiten war auch das Spiel ein schweres Arbeitsstück.

Ja, wer euch sah, euch graue, gebückte Männer in schwarzem Manschester; sah am kurzen, trüben Novembernachmittag in der niedern, heißen Klasse hinter der Kirche, zwischen einer undurchdringlichen Wolke von Qualm und Staub; wer euch sah: drehen, springen, tanzen, klettern, Kaffee einschenken, Lichte schneuzen, Spiele angeben, Frieden stiften und den Stock applizieren; wer euch hörte: singen, pfeifen, Ruhe gebieten, klatschen, drohen, schreien, die Geige spielen, fluchen und zu guter Letzt noch beten; ja, wer euch also hörte und sah, der konnte nicht ein menschliches Herz im Busen tragen, oder er mußte gestehen, daß kein Mensch saurer sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdiene als ein Lehrer überhaupt und ein Lehrer am Martinstag insbesondere; und verachten, wie mein Urgroßvater es tat, mußte er jene neuernden Schreier und Neidhammel in der Gemeinde, welche schon dazumal anfingen, die Martinigaben eine erbärmliche Bettelei zu schelten und auf die Abschaffung dieses einem lutherischen Herzen teueren Zolls zu dringen.

Joseph stand neben seinem Vater am offenen Fenster der Ladenstube, als die fröhliche Prozession sich auf dem Marktplatze entwickelte. David hatte seinen herzlichen Spaß an dem bunten Gewimmel; er rief und nickte den Kleinen zu, lachte hellauf über das Patschen und Waten und Steckenbleiben und Auf-die-Nase-fallen in dem handhohen, schwarzen Moraste; er fühlte sich selber wieder zum Kinde werden mit den Kindern; hätte er doch so gern eine eigne Kinderschar besessen und statt des Einzigen ein Dutzend, wie einst die Geschwister, zu versorgen gehabt.

Wie anders Joseph! Der Anblick der glücklichen Kleinen, die harmlos und ahnungslos einem dunklen Leben entgegengingen, machte ihm das Herz weich und schwer. »Wie bald wirst du weinen, du lachendes Kind!« sagte er zu sich selbst; »wie manches von euch wird bald ein anderes weißes Kleid, als das euch heute schmückt, umhüllen; wie manches wird tief und still gebettet werden, um auszuruhen von seiner Martinsfreude!«

Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Eine feste Burg ist unser Gott!« schallte es von unten herauf; der Vater, fromm die Hände faltend, stimmte ein. Joseph dachte an seine Kindheit, wie er am Vorabend des Festes sich vor Schlafengehen ein kleines Martinshorn aus Brot geknetet, ein Glas Wasser daneben gestellt und gebetet hatte: »Marteine, Marteine, mache Wasser zu Weine!« Und wenn er beim Erwachen ein rosinengespicktes Martinshorn und ein Glas Wein an der Stelle gefunden, wie ihm dann niemals ein Zweifel gekommen war, daß der große Mann Gottes die Macht habe, fromme Kinder mit einem artigen Wunder zu erfreuen.

Seine Erinnerungen weilten noch bei der, welche die Seele seiner kindlichen Freuden gewesen war, als eine jache Verwirrung, ein schallendes Jauchzen und Lachen seine Blicke auf die Szene vor dem Hause zurücklenkte. »Ein Hochzeitbitter! Ein Hochzeitbitter!« jubelten die Sänger des Lutherliedes; der Zug löste sich auf, alt wie jung umringte die lustige Person, die hoch zu Roß sich Bahn durch die Menge brach. Ein mächtiger Flitterstrauß prangte an jedem Arm, ein dritter am dreikrempigen Hute; Dutzende von Tüchern und Bändern an Mann wie Gaul befestigt, flatterten beim Reiten gleich Flügeln in die Höhe. In Faxenschneiden und Possenreißen wurde dem Dorfgenie Ehre gemacht, endlich unter dem Juchhei des Chors vor dem Hallerschen Hause Posto gefaßt und in lustigen Reimen Meister David Haller und sein Mosjö Sohn für den Sonntag früh nach Bielitz eingeladen zu Mieke Bullens Hochzeit mit ihrem Schatz. Beifallklatschen und endloses Gelächter lohnte das wohlgelungene Redestück.

»Wir sollten die Einladung annehmen, mein Sohn,« sagte David Haller. »Kein Stand darf gering geschätzt werden, und Herablassung ziemt dem angesehenen Manne. Überdies ist Bulle der reichste Bauer der Umgegend; seine Grundstücke grenzen an die unseren; ich kaufe seine Wolle, seine Knechte und Mägde spinnen im Winter für unser Geschäft. Ich für meine Person werde zur Trauung mindestens jedenfalls hinunterfahren. Begleite mich, mein Sohn.«

Halb gedankenlos willigte Joseph ein. Die Hausmagd brachte mit einem Glas Wein den zusagenden Empfehl und heftete noch ein Seidentuch mehr an des bunten lustigen Reiters Rock. Mit einem Vivat hoch! auf Meister Haller setzte derselbe noch bunter und lustiger seinen Umritt fort, der Zug ordnete sich von neuem, und »Eine feste Burg ist unser Gott« schallte es zum grauen Novemberhimmel hinauf.

Neuntes Kapitel Zu Hülfe!

Am Sonntag früh waren Vater und Sohn in einem leichten Einspänner, ihrem eigenen Geschirr, auf dem Wege nach Bielitz, das angenehm in der Aue, von eichenbewaldeten Höhen umhegt, gelegen war. Warum die ersten Anbauer das Dorf und manche seinesgleichen nicht von vornherein auf jenen Höhen angelegt haben, sich lieber den alljährlichen Überschwemmungen aussetzten und mit der Zeit durch einen mühsamen Dammbau sich vor diesen schützten, das würde durch Vernunftsgründe nicht erweislich sein. Genug: das Dorf stand, wo es stand.

Auch heute war der Fluß, vom anhaltenden Regen geschwellt, aus seinen Ufern getreten und hatte nur hart am Berge einen allenfalls passierbaren Fahrweg übriggelassen. Schwierig und langweilig genug ging's bei alledem vorwärts, und obgleich meine Vorfahren bei guter Zeit aufgebrochen waren, sie langten vor dem Hochzeitshause erst an, als der Zug, zum Kirchgange geordnet, bereits unter dem Scheuntore stand. Voran die Musik, dann Pastor und Schulmeister mit dem Brautpaar, darauf die lange Reihe der Gäste, je zwei und zwei, ein Männlein und ein Weiblein. Man wartete nur noch auf die beiden vornehmen Stadtbürger.

Sie stiegen hastig aus und eilten auf zwei Frauenzimmer zu, welche man ihnen als Partnerinnen übriggelassen zu haben schien. Joseph reichte der Zurückstehenden die Hand; David, allezeit höflich, verbeugte sich gegen die Vordere, während er halbabgewendet den Hut gegen den Brautvater schwenkte, der im Drang der nachfolgenden Bewirtung so wenig wie die Brautmutter an der Kirchenfeierlichkeit teilnehmen konnte. Flöten und Geigen stimmten ein zum Dessauer Marsch, der Zug setzte sich in Bewegung; Haller und Sohn mit ihren Partnerinnen fügten sich in die Reihe.

Noch hatte David nicht Zeit gehabt, sich sein Frauenzimmer zu betrachten, als dasselbe die Unterhaltung eröffnete. »Sie kennen mich wohl gar nicht wieder, Herr Haller?« fragte halbschüchtern eine herzliche Stimme.

Wie ein Blitz fuhr's meinem Urgroßvater in die Glieder. »Christelchen! Meister Kellerin, wollte ich sagen.«

Zwanzig Jahre hatten sie sich nicht gesehen, und jetzt blickten sie sich in die Augen verwundert, ja schier erschrocken, wie vor einer Traumgestalt. Waren sie's denn wirklich? Waren sie andere, neue Menschen geworden, wie das in zwanzig Jahren im Grunde ja in der Ordnung ist?

David, o David freilich, wenn Christiane vor ihm erschrak, so geschah's, weil er seit zwanzig Jahren der nämliche geblieben war; breiter allerdings, aber darum nur stattlicher, kaum merkbar gealtert. Ein schöner Mann jetzt erst recht; weit und breit fand man nicht seinesgleichen. Es war der alte Jugendfreund, der Christelchen gegenüberstand. Was aber die Jugendfreundin anbelangt, ei nun ja, auch sie erkannte einer wieder. Ihr Augenpaar schaute noch immer so freundlich drein, ihre Wangen glänzten weiß und sogar noch etwas röter, wie zu der Zeit, da Keller, der Russe, bei ihrem Anblick ausgerufen hatte: »Bei Gott, ein Mädchen zum Anbeißen!« Selbst der schwarze Gros de Tours rauschte noch wie am Tage der Einsegnung. Aber allerdings ihre Taille war nicht mehr so schlank wie dazumal, keineswegs zum Umspannen; die rundliche Fülle gab ihr etwas Mütterliches, eine Würde, an die sich der Jugendfreund erst gewöhnen mußte und die ihn beim ersten Anblick schreckartig überraschen mochte.

Sie betraten die Kirche, ohne weiter ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Die Mannspersonen stellten sich rechts vom Altar, die Frauenzimmer links; die Traurede hob an. Aber mein Urgroßvater war nicht so andächtig wie bei heiligen Handlungen sonst; die Aufregung überwältigte ihn. Warum eigentlich? begriff er selber nicht. Es war ihm ja doch keineswegs eine Neuigkeit, daß die Meister Kellerin in den Witwenstand getreten war. Er hatte es noch bei Lebzeiten seiner Sophie in Erfahrung gebracht und den herzlichen, ja leidenschaftlichen Anteil, den die Selige an diesem Schicksal genommen, aufrichtig bewundert. Sie war leichenblaß, zitternd und sogar ein paar Tage lang bettlägerig darüber geworden, und das nach zwanzig Jahren, daß sie die flüchtige Bekanntin nicht mit Augen gesehen. Freilich, sie hatte ein gutes Herz, seine Sophie, und der ihr die Neuigkeit brachte, hatte hinzugefügt, daß Keller seine Familie in dürftigen Umständen zurückgelassen habe. Er wäre, wie alle Welt prophezeit, an seiner Braunkohlenspekulation zugrunde gegangen, und seiner Witwe bleibe nichts übrig, als in die Stadt zurückzuziehen und durch irgendein kleines Geschäft die Erziehung ihrer vier Unmündigen möglich zu machen. Alles das hatte David Haller seit dreiviertel Jahren gewußt.

Auch das hätte er sich allenfalls denken können, daß er seine Jugendfreundin hier unten in Bielitz zu Mieke Bullens Hochzeit vorfinden werde; ihr Wohnort lag nur ein Wegstündchen fern auf den Höhen, die Bielitzer Schulmeisterin war David als eine Kellersche Anverwandte bekannt, und derlei Freudenfeste werden, zumal von Witwen, ja immer gern mitgenommen. Nein, alles das war's nicht, was meinen Urgroßvater dermaßen außer Fassung setzte. Nicht in Christianens Person und Schicksal, in seinem eigenen Gemüt mußte die befremdliche Wandlung vorgegangen sein. »War sie es denn nur?« fragte er sich immer von neuem. Ihn deuchte, es hätte eine andere sein müssen, deren Augenstrahl und Händedruck ihm dereinst das Innerste erschüttert hatten, deren Wiedersehen er so ängstlich geflohen. Weit eher ihre Nachbarin, das junge Frauenzimmer, das sein Joseph geführt hatte und das jetzt neben der Kellerin ihm gegenüberstand. Er konnte seine Augen gar nicht von dem herrlichen Geschöpf verwenden. Wer mochte es nur sein? Wie kam es hierher?

Noch war er nicht ins klare gekommen über sich und sie und jene dritte, als der Zug sich in voriger Ordnung wieder in Bewegung setzte.

Als sie über den Gottesacker gingen, sagte die Witwe: »Ich muß mich sputen heimzukommen; meine Jungen sind ohne Aufsicht; ich hatte nur mein Lenchen glücklich zu dem Feste herunter bringen wollen – – –«

»Lenchen? Ihre Jungfer Tochter?« unterbrach sie David Haller und wurde feuerrot.

»Ja, Herr Haller, meine Älteste. Sehen Sie dort das kleine Ding, das der junge Stadtbürger führt.«

»Der junge Bürger ist mein Sohn, Meister Kellerin, mein einziger Sohn!«

So standen die alten Freunde denn Hand in Hand und schauten mit großen Augen eines auf des anderen Kind. Das also war sein Sohn! Ach, wie wenig glich der blasse, trübselige junge Mensch dem blühenden Sternkönig vor zwanzig Jahren! Das also war ihre Tochter! Ei, wie viel stattlicher, wie viel schöner war sie als die Mutter, da sie in ihrem Alter stand. Wenn selber ein alter Liebhaber dieses Einsehen hat, da muß es ja wohl wahr sein, guter Leser.

Und freilich war's wahr! Kein kleines Ding, hoch und schlank gewachsen wie eine Tanne, mit großen funkelnden, schwarzen Augen und purpurnen Lippen, die Haut ein wenig dunkel, aber rosig durchglüht, zeichnete sie sich vor allen Frauenzimmern aus, deren David sich erinnerte; und dieses rasche, lebendige Wesen! Wie munter sie mit seinem Joseph plauderte, wie herzhaft sie lachte! Vater und Sohn schaueten und horchten wie verzaubert.

»Nun, wie gefällt Ihnen meine Lene, Herr Haller?« fragte die Witwe, als Eltern und Kinder aufeinanderstießen.

Eine unbescheidene Frage in der Tat. Sie gefiel meinem Urgroßvater ausnehmend; aber das konnte er doch nicht sagen. Er wurde rot und machte eine stumme Verbeugung.

Das junge Mädchen hatte aber kaum seinen Namen gehört, als sie, fröhlich in die Hände klatschend, auf ihn zusprang und rief:

»Nein, das ist aber merkwürdig! Akkurat so wie Sie habe ich mir den schönen Herrn Haller ausgemalt, von dem mein Mütterchen immer so viel Liebes erzählt hat.«

Mein Urgroßvater errötete und verbeugte sich schon wieder. Gleich darauf wendete er sich an Joseph mit der Frage: »Soll ich das Anspannen bestellen, mein Sohn?«

»Jetzt schon?« entgegnete Joseph gedehnt.

»Um so besser, wenn du zu bleiben Lust hast,« sagte der Vater. »Freund Kilian würde es sowieso übel vermerkt haben, wollten wir seinen Schmaus verschmähen.«

»Ich aber lasse mein Lenchen unter gutem Schutze zurück,« meinte die Witwe. »Die Nacht über bleibt sie bei der Muhme in der Schule. Guten Appetit, Herr Haller, und viel Pläsier.«

Durfte David die alte Freundin den weiten Weg allein zurücklegen lassen? Wäre es nicht freundlich und schicklich gewesen, sie in seiner Kutsche nach Hause zu geleiten? Er schwankte – blickte – ohne Zweifel nur der übernommenen Schützerpflichten halber – von der Mutter auf die Tochter und von der Tochter auf die Mutter und entschied sich endlich zu dem Auskunftsmittel, die Witwe zwar in seinem Fuhrwerk, aber durch einen von Bullens Knechten fahren zu lassen. In zwei Stunden konnte das Geschirr zurück sein und er mit Joseph noch vor Dunkelwerden den Heimweg antreten.

Als er die Witwe zum Wagen führte, bemerkte er, daß das Wasser bedenklich im Steigen sei. Er fragte nach rechts und links, ob der Damm sich auch zum Widerstande hoch und fest genug erweisen werde? »Ja, wenn's der Frühlingsstrom wäre, könnt es was auf sich haben!« meinte man. »Herbstfluten dahingegen machen blinden Lärm.«

Bei alledem schien unter dem Rauschen und Brausen die Hochzeitsfreude doch einigermaßen zu Wasser zu werden; die Gesichter wurden immer länger, und man hörte von Zeit zu Zeit einen Engel durch die Versammlung fliegen. Selbst in der Scheune, wo die niederen Gäste samt Knechten und Mägden mit Bier und Schnaps freigehalten wurden, ist es, soviel mir bewußt, zu keiner Tätlichkeit gekommen. Dem schönen Feste war ein Dämpfer aufgedrückt und nur Vater und Mutter Bullen keine Spur von Sorge anzumerken, so völlig gingen sie auf im Eifer ihrer splendiden Bewirtung, im unermüdlichen Zerlegen von Braten und Kuchen, im Umherreichen immer frisch gefüllter Schüsseln. Gekocht war schmackhaft und würzhaft, Muskate, Safran und sogar Kardamum an keinem Gerichte gespart; auch machte der Wein an der Herrentafel Vater Bullens eignem Berggewächs alle Ehre.

Herr Haller senior hatte natürlich den Respektsplatz obenan neben der Frau Pastorin, einer recht angenehm unterhaltenden Siebzigerin, leider ein wenig taub. Ihr Nachbar war indessen gegen seine Mode zerstreut; selbstverständlich nur des Wassers wegen; nebenbei hätte er aber doch auch gern gewußt, ob sein Sohn, der in der ausgeräumten Schlafkammer Platz gefunden hatte, bei guter Laune sei, ob das schöne Lenchen an seiner Seite sitze und wie er sich mit ihr unterhalte?

Joseph saß allerdings an ihrer Seite, und so wenig er selber unterhielt, so unterhielt er sich doch ausnehmend gut. Als dreijähriger Hausgenosse eines gelehrten Junggesellen, befand er sich zum ersten Male in der Nähe eines jungen weiblichen Wesens und war doch durch die Vertrautheit mit seiner Mutter an weibliche Empfänglichkeit und Auffassungsweise gewöhnt. Ein Menschenkenner von heute würde ihn selber vielleicht eine weibliche Natur genannt haben oder eine frauenhafte. Schon sein seliger Großvater, Meister Hans Adam, der allezeit den Nagel auf den Kopf traf, pflegte zu sagen: »Fiekchen, an deinem Jungen ist ein Mädchen verdorben.«

Da begann denn nun heute ein ganz neues, seltsames Etwas sich in dem Jüngling zu regen; ein Etwas, das er sich selber nicht hätte deuten können, das er zu deuten aber auch nicht verlangte. Er hörte kaum, was das muntere Kind an seiner Seite plauderte, welche merkwürdige Eindrücke sie so in Verwunderung setzten, welche wichtigen Erlebnisse sie mit so unschuldiger Lust berichtete. Auf ihre Ansprachen antwortete er halb wie im Traum.

»Sie sind wohl krank, Mosjö Haller?« fragte sie endlich verwundert.

»O nein! wohl wie noch nie!« antwortete er.

»Aber warum starren Sie mich denn so groß an?«

»Weil Sie so schön sind, Magdalene.«

Lenchen wollte sich totlachen. Sie war freilich sehr schön; aber wußte sie's denn? Hatte sie sich jemals um Schön- oder Häßlichsein bekümmert? Die Tochter Kellers, des Sonderlings, war überhaupt mehr wie ein Landmädchen, als eine Bürgertochter aufgewachsen; hätte sie sonst, ohne sich im geringsten beleidigt zu fühlen, es bloß lächerlich finden können, daß ihr junger Bekannter von einer Stunde ihr sein Wohlgefallen so unverblümt ausdrückte und sie sogar schlechtweg bei ihrem Taufnamen nannte, statt Jungfer Kellerin, wie sich geziemte?

Lenchen aß mit dem besten Appetit; zumal von dem saftigen Fladen aus Malz und Mohn. »Nehmen Sie doch auch ein Häppchen,« nötigte sie ihren Nachbar.

»Ich danke Ihnen,« antwortete er ablehnend.

»Kosten Sie doch nur einmal.«

»Ich danke Ihnen.«

»Essen Sie denn immer so wie ein Vogel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen's nicht? Haben Sie denn gar keine Leibgerichte?«

»Nein.«

»Sind Sie aber ein kurioser Mensch, Mosjö Haller! Darum sehn Sie auch so blaß und spärlich aus. Ich wollte Sie schon ein bißchen auffüttern, wenn ich Ihre Frau wäre!«

»Meine Frau, Sie, Magdalene!« rief Joseph wie elektrisiert.

»Ich meinte nur so von wegen der Küche,« versetzte sie unbefangen, indem sie ein Stück Kuchen zum Mitnachhausenehmen in einen Papierbogen wickelte.

Tumult vor dem Hause und jacher Aufbruch in der Nebenstube machte dem interessanten Gespräch ein Ende. Die Flut drohte den Damm an einer Stelle zu durchbrechen, deren Ausbesserung auf die müßige Winterzeit verschoben worden war. Mit Herbstwassern hatte es ja niemalen viel auf sich gehabt. Und nun doch! Die Männer stürzten nach der gefährdeten Stelle; David Haller voran, die Seele aller, die, benommen von Schreck und hochzeitlichem Trunk, Hand ans Werk zu legen hatten.

Auch Joseph und Magdalene folgten dem Schwarm. Das Mädchen war wie im Fieber. Wäre sie nicht zurückgestoßen worden, sie hätte selber mit Sand und Steine zum Erhöhen und Befestigen zugetragen. Nun rannte sie wenigstens von Haus zu Haus, zog Ochsen und Pferde aus den Ställen, half beim Anspannen und rief wie Davids Echo den Arbeitern zu nach Schaufeln und Schippen und Karren voll Dünger und Lehm. Die Schulmeisterin, die ihr begegnete, sagte: »Du machst ja alles der Quere, Lene, und verdirbst dir nur dein gutes Kleid. Geh doch nach Hause!«

Aber hört sie wohl? Sie schürzt sich bis über die Knöchel, läuft hin und wider wie ein Wiesel, schreit, sie weiß selber nicht wonach und wozu. »So rühren Sie sich doch auch, Mosjö Haller,« ermunterte sie Joseph. »Sehn Sie doch nur den Herrn Vater und stehn nicht so steif wie eine Statua!«

»Was soll ich denn tun?« fragte Joseph verwirrt.

»Du kannst hier gar nichts tun, mein Sohn,« sagte hinzutretend der Vater. »Was geschehen kann, ordne ich an. Geh ins Dorf und sorge, daß alles Bewegliche auf die Böden geräumt und das Vieh auf die Höhen getrieben werde. Die armen Leute haben den Kopf verloren, und bei einem Dammbruch steht sogar das liebe Leben in Gefahr. Entferne vor allen die Kinder, hörst du, Joseph, die Kinder. Sobald du aber die notwendigsten Einleitungen getroffen hast, so eile, fortzukommen. Nimm auch die Jungfer Kellerin mit, die in der Schule nicht sicher ist. Im Wirtshause auf dem Zornhügel wollen wir uns treffen und den rückkehrenden Wagen erwarten.«

Der Vater eilte zu den Dammarbeitern zurück, und der Sohn ging ins Dorf, seinen Auftrag auszuführen. Aber wie ungeschickt stellte er sich dabei an, wie verhallte seine Stimme, wie falsch berechnete er Raum und Zeit, wie schlecht verstand er es, den schreienden, händeringenden Weibern Mut und Besonnenheit einzuflößen!

Desto flinker mein Lenchen! Die war an ihrem Platze, nun da sie wußte, was das Gebotene war. Treppauf, treppab, hui, wie ein Wetter! Überall selber angefaßt, die Kinder aus den Wiegen, das Vieh aus den Ställen und hinaus auf die Berge; Betten und Kleidungsstücke oben auf die Böden, von Haus zu Haus, gefolgt von Joseph wie von ihrem Schatten.

Mehr als einmal mahnte er: »Denken Sie an den Heimweg, Magdalene, es dunkelt, die Flut kann jeden Augenblick über uns kommen.«

Immer aber hatte sie nur noch dies zu tun, jenes zu sagen, zu guter Letzt nur noch im Schulhause ihre Saloppe zu holen.

Endlich brachen sie auf. Die Sonne war unter; das letzte Haus lag hinter ihnen, die Kirche nahe; sie hatten den nächsten Weg über den Gottesacker eingeschlagen, um die Höhen zu erreichen.

Da, jählings, ein Rauschen und Brausen von allen Seiten. Ehe sie es fassen, umflutet sie der Strom. Die Kirchtür steht offen. Hinein! der Strom ihnen nach. Im Nu ist der Boden bis zum Altarplatz überschwemmt.

Sie flüchten auf die Treppe, die innerhalb zum Chor und weiter hinauf in den Turm führt; am Fensterchen spähen sie hinaus in die Gegend. Soweit im Dämmerschein die Blicke noch tragen, eine glitzernde Woge; der Damm durchrissen, die niedrigen Häuser bis zum Giebel unter Wasser; keine Menschenseele zu erspähn, zu errufen, zu erreichen; nur aus der Ferne wildes Gekreisch und Gebrüll. Und die Flut unheimlich hoch und immer höher am Kirchboden schwellend; auf dem Totenhof draußen alle Leichensteine überspült, die Holzkreuze geknickt und im Strudel umhergetrieben, und die beiden fremden Menschenkinder allein, hülflos allein wie in einem weiten, kalten, dunklen Grabe!

Ach, wie zittert und schauert die arme Magdalene! Die Zähne klappern gegeneinander wie im Fieberfrost, irdisches und überirdisches Grauen schüttelt den schönen Leib; Erstarren und Verhungern und Ertrinken und Erschlagenwerden und gespenstisches Wimmeln der Gebeine, die ringsum aus ihren Gruben gespült werden: ein Schrecknis jagt das andere, eine Todesangst die andere. Mut und Leben sind dahin; sie wirft sich auf den Boden, ächzt und schluchzt, schreit und betet kraus durcheinander alle Liederverse und Katechismussprüche, die sie in der Schule gelernt hat. Ist das das nämliche Mädchen, das am Mittag so munter plauderte und noch vor einer Stunde so tapfer und hülfelustig ihre Glieder regte?

Ist das aber auch der nämliche Jüngling, der vorhin so ratlos und hülflos im Gedränge stand? Hatten sie die Geister verwechselt? Alles, was den ihren niederdrückte: Ort, Stunde, Verlassenheit, Gefahr, hob den seinen über alle Ängste hinaus; ein unnennbares Etwas elektrisierte ihn zu einer Wärme und Freudigkeit, daß die schöne Mitverlassene mitten unter Schluchzen und Beten die Bemerkung nicht unterdrücken konnte: »Barmherziger Heiland! Mosjö Haller, Sie sind ja wie ausgetauscht! Ich glaube, das Elend macht Ihnen Spaß, und Sie freuen sich, daß wir sterben müssen.«

»Sterben in deinen Armen, Magdalene!« rief er aus.

»Ach, mit dem armen Menschen ist's auch nicht mehr richtig,« dachte sie und blickte ihn scheu von der Seite an, während er sie vom Boden in die Höhe zog.

Es war Nacht geworden; draußen heulte der Wind und jagte zerteilte Wolken über die halbvolle Scheibe des Monds; jach wechselnd drang ein bläulicher Schimmer bis in die düstersten Winkel des Kirchenschiffs. Die Altarkerzen, die nach der Trauung zu löschen vergessen worden waren, flackerten unstet hin und wieder; das hohe schwarze Kreuz in ihrer Mitte warf einen langen Schatten auf den glitzernden Wasserspiegel. Die Glocken der benachbarten Kirchspiele läuteten Sturm, verzweifelnde Stimmen schrieen fernhin um Hülfe, und statt der Antwort gurgelte hämisch das entfesselte Element.

Joseph ließ die jammernde Magdalene auf einen Absatz der Chortreppe nieder, hüllte sie in seinen Mantel und umfaßte ihre eisig starren Hände. Die seinen glühten, und seine Pulse flogen. Sie drückte die Augen zu vor dem grausigen Kirchenbild zu ihren Füßen und wurde allmählich ruhiger. Sooft aber die Turmglocke die Stunde anschlug, schreckte sie in die Höhe, sank auf die Knie und betete laut für Mutter und Brüder, für Mosjö Josephs und ihr eignes junges Leben, für die unglücklichen Überschwemmten und für die himmlischen Geister, deren Gebeine in ihrer Grabesruhe so grausam gestört worden waren. Einmal fragte sie ihren Unglücksgefährten: »Sind Sie denn gar nicht in Angst um Ihren lieben Vater, Mosjö Haller?«

»Mein Vater ist ein besonnener und ein tüchtiger Mann,« antwortete Joseph. »Er gerät nicht leicht in eine Gefahr, oder er weiß ihrer Herr zu werden. Er wird auch uns zu Hülfe kommen, liebe Magdalene.«

So suchte er sie zu beruhigen, und es gelang ihm; ihre Klagen verstummten allmählich. Er selber bedurfte keiner Beruhigung; er fühlte sich frei und lebensfreudig wie seit vielen Monden nicht; er atmete gleich einem Erlösten, dem eine eiserne Klammer von Herz und Haupt gefallen ist. Die entzündete Phantasie trieb ihn über seine Umgebung hinaus in verschleierte Gebiete; Worte strömten von seinen Lippen, wie er keine je gesprochen noch in seiner Seele geahnt hatte. O, hörtest du ihn, Sophie? Auch von dir redete er, der Heißgeliebten, Heißbeweinten. Sein Herz klopfte, seine Tränen flossen. In unsagbarem Sehnen schlang er den Arm um des schönen Mädchens Leib.

Magdalene war still geworden unter seiner Rede; nur dann und wann schluchzte die Stimme noch auf wie die eines unter Tränen entschlummernden Kindes; ihr Kopf sank auf seine Schulter hinab – ihn schauerte, sein Atem stockte. »O Magdalene, Magdalene!« flüsterte er, »sie hat mich allein gelassen, ganz allein auf der Welt. Liebe du mich, wie sie mich liebte.«

Sie gab keinen Laut. Er hörte ihren gleichmäßigen Atemhauch – sie schlief!

Was in ihm vorging in der dunklen Nacht, das schöne schlummernde Mädchen an seinem Herzen – wenn ich's zu sagen wüßte, ich möchte es nicht sagen, lieber Leser. Er fühlte, daß er ein Knabe gewesen und ein Mann geworden war. Leise berührten seine Lippen das dichte Haar auf ihrer Stirn, ganz leise, um sie nicht zu erwecken; er regte sich nicht, er hielt den Atem an sich und hätte den lauten Schlag seiner Pulse hemmen mögen, nur um still, ganz still die unausdenkbare Seligkeit ihrer Nähe zu empfinden. Die Stunden schwanden, ohne daß er sie ermaß. Draußen noch immer Sturm und jammernder Hülferuf; noch immer das Rauschen und Brausen der Flut. Drinnen immer länger, immer dunkler das Kreuz auf der spiegelnden Flut und er mit der Geliebten allein wie in der Allkraft heiligem bergendem Schoß!

Zehntes Kapitel Nur nicht die Eine

Der Leser kennt hoffentlich nun meinen Urgroßvater schon ebenso genau, wie sein Sohn Joseph ihn kannte, und weiß, daß durch diesen braven, starken Mann den Bedrängten Hülfe kommen wird. Ich will daher – obgleich ich's haarklein vermöchte – seine Überlegungen und Unterhandlungen nicht einzeln aufführen, nicht die Schritte, die er tat, die Opfer, die er brachte, die Gefahren, die er bestand, nur einfach berichten, daß am andern Morgen eine kleine Flotille von Kähnen, in Stadt und Umgegend geworben, unter seiner Führung in dem unglücklichen Dorfe anlangte. Es war die äußerste Zeit; denn der Mehrzahl der armen Lehmhütten drohte der Einsturz. Er überließ den zur Flucht drängenden Bewohnern sämtliche Fahrzeuge und ruderte in dem seinen, gelenkt von einem kräftigen Schiffer, die Dorfstraße entlang. Haus für Haus, Scheuer für Scheuer wurde nach den vermißten Kindern geforscht; niemand hatte sie gesehen, niemand von ihnen gehört, seitdem sie kurz vor dem Dammbruch im Zwielicht durch das Dorf gegangen waren. Im Wirtshaus auf dem Zornhügel hatte David sie nicht vorgefunden; weder der eine noch die andere waren über Nacht in ihre Heimstätte zurückgekehrt. Hatte die Flut sie überholt, ehe sie die Höhen erreichten? Sie dem reißenden Strome zugetrieben?

Ja, das war Todesqual, als der unglückliche Vater am letzten Hause vorüberfuhr, jeden Winkel durchsucht, hundertmal mit weitschallender Stimme »Joseph!« gerufen und keine Antwort erhalten hatte. Ja, das war Todesqual, als er: »Verloren, verloren!« schrie und auf den Boden des Fahrzeugs niederstürzte.

Der alte Schiffer weinte; starker Menschen Schmerz wirkt so ergreifend. »Der alte Gott lebt noch,« tröstete er, wie man so eben tröstet, wenn man selber die Hoffnung aufgegeben hat, und er zeigte dabei mit dem Ruder nach dem Gotteshause, dessen Fenster im Strahle der untergehenden Sonne in Gold und Purpur erglänzten.

Den verzweifelnden Mann durchzuckte es wie damals, als er die Pulse seines toten Vaters wieder schlagen fühlte. »Nach der Kirche, Kunz, rudere nach der Kirche!« rief er aus.

»Die Kirche steht unter Wasser,« entgegnete kleinlaut der Schiffer.

»Rudere zu, rudere zu!«

Was war das, Orgelklang? Wie schön leucht't uns der Morgenstern! Davids Leibchoral. »Sie sind's, sie sind's!« Es ist sein Joseph, der die Orgel spielt. »Joseph! Joseph!« ruft er mit freudezitternder Stimme. Das Turmfensterchen wird aufgerissen. »Magdalene, Magdalene!« Er springt aus dem Kahn, bis über die Knie im Wasser erreicht er das Portal; gegenüber dem Kreuz entblößt er sein Haupt, faltet die Hände und danket Gott.

Das junge Mädchen flog die Treppe herunter und sprachlos vor Seligkeit an seine Brust. Er nahm sie in seine Arme, wie ein Kind, und trug sie in den Kahn. Ohne Umstände hatte der alte Schiffer auch den Mosjö Joseph in Beschlag genommen; stumm in der mannigfachsten Aufregung ruderten sie den Höhen zu und erreichten in wenig Minuten das Wirtshaus, vor welchem sie das gestrige leichte Fuhrwerk antrafen.

Da Lenchen leidenschaftlich nach ihrer Mutter verlangte, bestieg David ohne Aufenthalt mit ihr den Wagen, Joseph zog es vor, im Wirtshause zu nächtigen; der Aufregung folgte die Abspannung; er fühlte sich erkältet und müde, wollte allein sein, nichts mehr sehen noch hören, nur ruhen und träumen.

Väterlich und ritterlich sorgte mein Urgroßvater für seinen Schützling. Lenchen mußte ihre Füße in seinen großen Fuchsmuff stecken; er schlug seine weite Wildschur über ihren Leib. Dem armen Kinde kehrten unter dieser Sorge Leben und Laune zurück; ausführlich erzählte sie nun alle Schrecknisse und Todesängste, aus welchen der gute, liebe, beste Herr Haller wie ein Engelsbote sie erlöst hatte. Die Dankbarkeit malte mit starken Farben und sehr ins Detail. Nur seltsam! Fast schien es, als ob Jungfer Lenchen diese haarsträubenden Gefahren mutterseelenallein erduldet habe. Sooft der Name ihres Unglücksgefährten wie von ohngefähr über ihre Lippen lief, stockte das Wort in ihrem Munde, und eine Purpurwelle wogte über das noch immer bläßliche Gesicht. Das Abenddunkel deckte zum Glück die verräterische Couleur, und David Haller wußte den Zartsinn zu schätzen, der einem Vater die nachträgliche Mitleidenschaft um seinen einzigen Sohn zu ersparen suchte.

David Haller hatte einen Sohn, der sich zum Manne gereift fühlte, er selber aber, wir wissen es, war noch nicht vierzig Jahr, das heißt verhältnismäßig noch ein junger Mann, und ein Mann in unverbrauchter Lebensfülle. Es wurde ihm seltsam zumute an dem stillen Abend im engen Raume unter einer wärmenden Hülle mit dem schönen, jugendlichen Geschöpf. Was bedeutete die Unruhe, die ihn ergriff? Was waren das für Träume, die wie alte, längst vergessene Schattenbilder seine Sinne umgaukelten? Warum schauerte er? Warum zitterten die Zügel in seiner Hand? Warum überlief es ihn heiß und kalt? Drohte ihm ein Fieber nach der überstandenen Seelenqual?

Er deutete diese Wallungen nicht, und Lenchen ahnete sie nicht einmal; sie plauderte immer munterer, je mehr sie sich ihrem Mutterhause näherten. Das war ein Wiedersehen, ein Empfang! Zu Füßen fiel die gute Christiane dem Manne, der ihr einstmals schon die Mutter und heute wieder ihr liebstes Kind gerettet hatte. Davids innerstes Herz ward gerührt. Ein trauliches Heimwesen, ein sauberes, heiteres Stilleben, ein Bild biederer Genügsamkeit erquickte sein Gemüt. Und wie wohlerzogen, wie rührig und anstellig waren die Kinder, von Lenchen, dem ältesten, an bis hinab zum kleinen fünfjährigen Michel.

Natürlich mußte Kaffee gekocht werden, den werten Gast zu ehren und zu erwärmen. Hurtig sprang Peter zum Bäcker hinüber, denn möglich war's ja immer, daß er noch etwas Heutiges zum Eintunken übrig hatte; der Paul langte aus dem Eckschränkchen die guten Meißener Tassen mit der Malerei von »Fels und Vogel« und die messingene Zuckerschachtel, die, funkelte sie gleich wie Gold, er doch verstohlen mit seinem Rockzipfel noch ein wenig blanker putzte; der kleine Michel aber mahlte die Bohnen und reichte sie der Schwester, die, ein schneeweißes Schürzchen vorgebunden, am Ofenloch kniete und ihrem Lebensretter den Labetrunk filtrierte.

Alles in dem engen Witwenstübchen wehte den reichen David Haller wohlig an; er fühlte sich wie zu Hause. Das heißt nicht in seinem eigenen Hause, das seit Sophiens Tode und Josephs Heimkehr aus einem still-ernsten ein gar ödes, trübseliges Haus geworden war; nein, nein, weit eher wie in seinem Vaterhause, da, wo er hingehörte von Natur. Es wurde ihm schwer, sich loszureißen. Sie drückten und küßten ihm die Hände; sie liefen und riefen und knicksten und winkten ihm nach. Er sprang in den Wagen und jagte davon.

Ja, ja, er jagte. Der maßvolle Bürger, er jagte wie ein Junker. Ihm war, als ob ihm Flügel gewachsen wären. Er hatte diese Empfindung schon einmal gehabt vor langen, langen Jahren, er konnte sich nur nicht mehr besinnen, wann und wo.

Mitternacht war vorüber, als er zu Hause anlangte. Er war die vorige Nacht nicht zu Bett gekommen; heute legte er sich, aber auch heute konnte er nicht ruhen. Er sprang auf, ging in der dunklen Kammer auf und ab, legte sich dann wieder und fand wieder keine Rast. Fieberte er, träumte er denn? Aber seine Augen standen ja offen, und er hörte den Pendelschlag seiner Uhr. Und dennoch, dennoch umschwebte ihn und umschwebte ihn immer wieder eine liebliche Gestalt, fühlte er einen Hauch, eine Nähe, eine Berührung, einen Schauer vom Kopf zur Zeh; er reckt seine Arme nach ihr aus, da – siehe, da jählings scheucht sie ein Schemen! Da steht seine Sophie, weiß wie in ihrer Sterbestunde, mit gebrochenem Blick, und eine Geisterstimme flüstert in sein Ohr: »Nur nicht die Eine! Nur die Eine nicht!« Dann wieder sieht er seinen Joseph, ringend inmitten einer Wogenflut, seine Arme emporstreckend und schreiend: »Zu Hülfe, Mutter, zu Hülfe!« Und dann wieder schwebte jene Liebliche heran, und wieder der Schemen und die Geisterstimme: »Nur nicht die Eine! Nur die Eine nicht!«

Er riß sich endlich mit Gewalt aus dieser halbwachen Behelligung heraus, stand wieder auf, zündete Licht, trank ein Glas Wasser, dessen Kühlung er für gewöhnlich weder liebte noch bedurfte, und setzte sich in seiner Ladenstube ans Fenster. »Was ist mir, wie ist mir?« fragte er sich laut. »Was bedeutet das mit der Einen, wer ist die Eine?«

Er hatte bis heute nicht mit der flüchtigsten Wallung an eine andere gedacht, als seine eine, einzige, selige Sophie; sooft er aber sich deren angstvolles Abschiedswort vergegenwärtigte, hatte er auch keine andere Bedeutung darin weder gesucht noch gefunden, als eine unbestimmte mütterliche Sorge um Josephs Sohnesrecht und Wohl; und Gott war ja sein Zeuge, wie fest es in seinem Gewissen stand, treu seinem Verspruch, Josephs Wohlbefinden höher als das eigene zu halten. Woher nun auf einmal diese bänglichen Traumgesichte?

Der Morgen graute, und er war noch zu keinem zufriedenstellenden Abschlusse gekommen. Er bestellte das Anspannen und schlug die Straße nach dem Zornhügel ein, um seinen Sohn heimzuholen. Der scharfe Morgenwind kühlte seine Stirn; er atmete freier. Als er den Berg jenseit der Vorstadt hinanfuhr, sagte er ruhig zu sich selbst: »Was hab ich mit der einen oder der anderen zu schaffen, was mich um sie zu grämen? Steht meine verklärte Sophie nicht am Throne ihres Herrn und fleht, daß der mir ins Herz gibt, was meinem Sohne und mir selber nütze ist?«

Indessen: Gedanken und Mücken wird man nicht los. Man jagt sie fort, aber sie kommen immer wieder und stechen immer ärger. So ging es meinem Urgroßvater heute mit der Einen. Es gelang ihm nicht, sie sich aus dem Sinne zu schlagen. Warum sollte er es aber auch? Er fühlte sich jetzt fieberlos und klar im Kopf. Besser die Frage gründlich zu erörtern und ein für allemal abzutun, als sich immer von neuem von der Einen umschwärmen und quälen zu lassen. Also: Wer war die Eine?

Ganz unzweifelhaft keine seiner städtischen Bekanntschaften; aus welchen Gründen keine, das weiß ich selber zwar so genau, als mein Urgroßvater es in jener Morgenstunde wußte, dem Leser möchte es zu erfahren aber vielleicht überflüssig dünken. Item keine aus unserem Ort. Das Herz des gründlichen Mannes hatte während der bisherigen Untersuchung ganz gelassen pulsiert. Nun, da er sich in der Gegend umschaute, begann es zu klopfen. Sollte – konnte die Eine Kellers Lenchen sein? Aber nicht doch, o nicht doch, nein! Niemals hatte seine Sophie sie gesehen, schwerlich um ihre Existenz gewußt. Und wenn auch gewußt, was hätte sie gegen das unschuldige Kind einzuwenden vermocht? Hatte sie nicht selber nach einem schönen, liebenswerten, und zumal nach einem jungen Weibe als ihrer Stellvertreterin ausgeschaut? Nein, Christelchens Tochter war – Christelchen – halt! Sollte er nicht hier auf der richtigen Fährte sein? Lenchen, so viel stand fest, war die Eine nicht, aber Lenchens Mutter, Christiane, ja freilich, sie konnte, ja, sie mußte die Eine sein.

Es war ihm dazumal nicht weiter aufgefallen, aber jetzt fiel es ihm ein, wie verlegen, ja verstimmt seine Selige allezeit geworden, sooft die Rede auf die Tochter der Schösserin gekommen war. Und letztlich die gewaltige Aufregung bei der Nachricht von Kellers Tode! Warum eigentlich dieser Widerwille, diese Aufregung? Eifersüchtelnde Erinnerungen, – seine ernste, fromme Sophie? Furcht, die feine, leise Zucht ihres Hauses unter ungefügigeren Händen ausarten, ihren Sohn mit einer ungleichartigen Persönlichkeit in ein schiefes Verhältnis geraten zu sehen? Angst, daß unter der Sorge für die Kinder der Witwe die für den vielbedürftigen eigenen Sohn sich abschwächen, in der erwachenden Jugendliebe die Liebe zu Joseph und das Bild seiner Mutter erblassen werde?

Welches nun aber auch die unergründlichen Gedanken meiner Urgroßmutter gewesen sein mochten, über zwei Punkte war es ihrem Witwer plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Erstens: daß die Eine, vor welcher der lieben Seligen in ihrer Sterbestunde gegraut hatte, zuverlässig Kellers Tochter nicht, zum zweiten aber, daß Kellers Witwe diese Eine aller Wahrscheinlichkeit gemäß gewesen war; und seelenberuhigt fuhr er in den Flecken der Witwe ein.

Elftes Kapitel Keine

Infolge dieser Seelenberuhigung war mein Urgroßvater nämlich zu der ganz natürlichen Einsicht gelangt, daß es nur der Menschlichkeit und Höflichkeit entsprechen würde, wenn er, bevor er seinen Sohn, den Langschläfer, vom Zornhügel abholte, sich bei den lieben Freunden in der Nachbarschaft erkundigte, wie nach der erlebten Drangsal ihr Befinden sei.

Gedacht, getan. Er schlug einen Bogen nach dem Flecken, stellte sein Geschirr beim Sonnenwirt ein und ging hinüber in das Witwenhaus, sich zum voraus darauf freuend, welche Augen sie machen würden, wenn er so unerwartet wieder ihnen gegenüberstände. Im Zimmer wurde laut gesprochen, sein Klopfen daher überhört; so klinkte er uneingeladen die Tür auf, und siehe da: wieder der gestrige Kaffeetisch mit den guten Meißener Tassen und der blitzblanken Zuckerschachtel, wieder fröhliche Kindergesichter und Mutter Christiane Freudentränen weinend, und auch wieder ein vornehmer Stadtgast: Mosjö Joseph Haller, sein Herr Sohn. Zwei Menschen wurden feuerrot; nicht etwa Joseph, der völlig gelassen blieb, aber Lenchen und mein Urgroßvater.

Der Leser wundert sich vielleicht, daß ich diesen gesetzten Mann in meiner Geschichte so oft erröten lasse. Ich beteuere aber, längst noch nicht so oft, als es ihm im Leben begegnet ist. Ja, noch im spätesten Alter machte dieses Merkmal der Unschuld sein schönes Antlitz wieder jung.

Er hatte sich eine heitere Ansprache ausgedacht, konnte sich aber plötzlich nicht mehr auf dieselbe besinnen; auch die Familie kam ihm gar nicht mehr so zutraulich wie gestern vor, ja beinah verlegen. Kurzum, den Kaffeetisch abgerechnet, war der Unterschied groß.

David Haller reichte seinem Sohne die Hand und sagte mit einem Ausdruck von Staunen: »Die Gefahr scheint dir nicht übel bekommen zu sein, Joseph; mich deucht, du wärest gewachsen über Nacht.«

»Ein anderer wenigstens bin ich geworden, mein Vater,« erwiderte Joseph mit einem herzinnigen Ton, den der Vater noch nicht von ihm gehört hatte.

Alle schlugen bei den Worten die Augen zu Boden, nur Joseph nicht; er führte das Wort, und als nach einem Viertelstündchen der Vater zum Aufbruch drängte, nahm er ohne Umstände Magdalenens Hand, drückte sie erst an seine Lippen und dann sogar auch noch an sein Herz. Der Vater traute seinen Augen kaum. Wie hätte er, der Vater, zu solchem Bezeigen wohl die Dreistigkeit gehabt?

Nun saßen sie nebenander im Wagen und wechselten nicht ein Sterbenswort. Zu Hause angelangt, machte Joseph Miene, dem Vater in sein Zimmer zu folgen, da derselbe aber verschiedene geschäftliche Anfragen vorfand, zog Joseph sich in das seine zurück, setzte sich und schrieb bis ins Abenddunkel, indem er mit lauter Stimme die Schriftworte vor sich hin deklamierte. Die Frau Postmeisterin – denn die würdige Dame lebte noch immer, wenn auch hoch bei Jahren, und half ihrem Ehegatten in seinem Beruf – also die Frau Postmeisterin wollte sich vom Tage tun, als kurz vor Expeditionsschluß der junge Mosjö Haller, kaum aus schwerer Lebensgefahr erlöst, wie ein Irrwisch angeflogen kommt und einen fingerdicken Brief an Jungfrau Magdalene Kellerin zur Besorgung mit dem nächtlichen Felleisen dringend anempfiehlt. O, wenn dieser Brief durchsichtig gewesen wäre, die Frau Postmeisterin würde eine ruhigere Nacht gehabt haben.

Als nach dem Abendessen die Tischgenossen sich zurückgezogen hatten, trat Joseph bei seinem Vater ein und bat um eine Unterredung. Der Vater wünschte wichtiger Geschäfte halber die Unterredung auf morgen verschoben, da der Sohn aber drängte, auch sich kurz zu fassen versprach, setzte jener sich im dunklen Schatten der Lampe an seine Fensterecke und stemmte die rechte Hand gegen seine Brust.

»Mein Vater,« so hob Joseph mit entschlossener, aber bewegter Stimme an, »mein Vater, Sie sagten heute, ich sei über Nacht gewachsen. Lassen Sie mich Ihnen wiederholen, daß Sie recht gesehen haben. Das Herz ist mir aufgegangen und ein ungeahnter Lebensgeist in mich eingezogen.«

Der Vater schwieg und blickte vor sich nieder.

»Ich liebe, mein Vater, liebe mit aller Glut der Seele!«

»O, nur nicht die Eine!« flüsterten Legionen Stimmen in David Hallers Brust, aber sein Mund blieb stumm.

»Ich liebe einen Engel, den der Herr alles Lebens im Angesicht des Todes in meine Arme legte –«

»In deine Arme!« schrie David auf und fuhr in die Höh, als ob ihn eine Natter gebissen hätte.

»Ja, Vater, sie ist die Meine geworden, für Zeit und Ewigkeit die Meine. O, mein Vater, geben Sie meinem Bunde mit Magdalenen Ihren Segen,« rief Joseph, indem er in höchster Erregung auf seine Knie sank.

Dem Vater legte es sich über die Augen wie ein schwarzer Flor; kalte Tropfen traten auf seine Stirn; ihm war, als ob einer von ihnen beiden eine Sünde begangen habe, eine Sünde wider den heiligen Geist. Nach einer Pause faßte er sich jedoch; er wußte ja, wie leicht sein Sohn natürliche Gefühle ein wenig überspannte. »Joseph,« stammelte er, »Joseph, eine Bekanntschaft von wenigen Stunden – –«

»Aber welche Stunden, Vater! Ich habe in dieser Nacht mehr empfunden und erfahren, als andere ein langes Leben hindurch. Solche Stunden eignen den Menschen dem Menschen an. Ein unauflösliches Band hat sich in dieser Nacht geknüpft.«

Den Vater grauste es. Wieder währte es eine Weile, bis er sich gesammelt hatte und mit kaum hörbarer Stimme die Frage hervorbringen konnte: »Und bist du gewiß, daß sie – sie dein – dein Gefühl erwidert?«

»Sie ist rein wie eine Blume und unerfahren wie ein Kind – –,« der Vater atmete hoch auf – »noch faßt sie die Tiefe meiner eigenen Liebe nicht; aber sie hat sie angenommen und mir gelobt, die Meine zu werden und zu bleiben. O, teuerster Vater, kennten Sie diesen Engel, wie ich ihn kenne – –«

Ach, kannte er ihn denn nicht? Besser als dieser Neuling im Leben, besser als irgendein Mensch auf der weiten Welt?

Er machte noch manchen Einwand, suchte manche Ausflucht, die er selber als Einwände und Ausflüchte, nicht als Gründe erkannte: Josephs Jugend und Arbeitsscheu, des Mädchens Armut und dergleichen. Auch blies Joseph diese Einwände um wie leichte Kartenhäuser. War der Vater, als er ein Weib nahm, nicht jünger gewesen als er? War er, Joseph, nicht eines reichen Mannes Sohn? Und wie würde er arbeiten, mit Kopf und Händen schaffen, der Geliebten das Leben auszuschmücken; wie wenig würde er selber bedürfen, einzig leben von der Seligkeit seiner Liebe!

In anderer Stunde und Stimmung würde der Vater vielleicht diese über Nacht aufgeschossene Tatkraft belächelt haben. Heute lächelte er nicht. Es war ihm wieder einmal, als hätte er einen tiefen Fall getan und müsse sich erst besinnen, wo er wäre. Ja, besinnen; das hieß sich mit seinem Gott beraten.

Sein Bett war am anderen Morgen unberührt, und gleich nach Sonnenaufgang kehrte er heim von Sophiens Grabe. Mit leisen Schritten stieg er die Treppe zu des Sohnes Zimmer hinan. Joseph schlief noch und lächelte im Morgentraume wie ein glückliches Kind; ein leichtes Rot färbte die sonst immer bleichen Wangen. Der Vater stand lange mit gefaltenen Händen und blickte auf ihn nieder. Dann ging er, unbemerkt, wie er gekommen war, an sein Tagewerk.

Nach dem Frühstück faßte er des Sohnes beide Hände und fragte mit feierlichem Ernst: »Ist es dein heiliger Wille, Joseph, und fühlst du dich stark genug, ein Weib zu lieben und zu schützen bis ans Ende deiner Tage?«

»Von ganzer Seele ja, mein Vater,« antwortete Joseph zuversichtlich.

»So habe ich gegen deine Verbindung mit Magdalene Kellerin nichts weiter einzuwenden. Gott und deine Mutter im Himmel, der ich deine Wohlfahrt angelobt habe, wollen ihren Segen dazu geben.«

Am nämlichen Nachmittag trat David Haller schon wieder in das arme Witwenstübchen, aber nicht mit einem Scherzwort auf den Lippen, sondern mit der geziemlichen Würde eines Vaters, der für seinen Sohn als Werber kommt. Daß das mütterliche Jawort unschwer zu erreichen war, braucht nicht versichert zu werden. Die gute Christiane schluchzte vor Glückseligkeit und pries die allmächtige Hand Gottes, die aus der höchsten Not noch einen Segen ersprießen lassen kann. Aus der Überschwemmung sogar einen Mann für ein armes Kind.

Lebhaft und ahnungslos trat bei diesen Worten das arme, schöne Kind ins Zimmer. Sie war auf der Rolle gewesen und trug mit dem ältesten Bruder einen Henkelkorb frischer Wäsche, weiß wie Schnee und blank wie ein Spiegel. Sie war eine tüchtige, gewandte Arbeiterin, jede rasche Bewegung ihr eine Herzenslust. Schade, daß ein so derbes Schaffen nicht in der Natur ihres künftigen Wirkungskreises lag und daß, was stillsitzend verrichtet werden muß, ihrem munteren Wesen widerstand.

Sprachlos, beide Hände vor dem glühenden Gesicht, vernahm sie den ehrenvollen Antrag, zu welchem die Mutter in ihrem Namen die Einwilligung gegeben hatte. »Ach,« meinte gerührt die aufrichtige Witwe, »wie konnten wir armen Leute uns einbilden, daß Sie so bald Ja und Amen sagen werden, Sie guter, lieber, allerbester Herr Haller?«

Magdalene neigte sich bis zur Erde und küßte dem Vater ihres Verlobten demütig die Hand. Er hielt die ihre eine Weile fest, drückte sie dann an sein Herz und sprach mit klaren Tränen in den Augen:

»Gott sei mein Zeuge, Magdalene, daß Sie mir wie eine eigene Tochter werden sollen.«

Zwölftes Kapitel Die Leiden des jungen Werther

Ei, welch ein rascher, feuriger Bräutigam war mein Großvater! Tag für Tag in der heillosen Jahreszeit eilte er, zu Fuß oder Wagen, zu der Geliebten hinüber; er lernte sogar reiten, um sie schneller zu erreichen, und als gegen Weihnachten die Familie nach der Stadt und in das nämliche Eckhaus übersiedelte, in welchem der Leser vor vierundzwanzig Jahren die Bekanntschaft des blonden Christelchens gemacht hat, wie war Joseph da geschäftig, das kleine Heimwesen zu einem frohen Empfange auszuschmücken. Ein »Willkommen!« prangte über der Tür, die Fenster standen voll blühender Hyazinthentöpfe; auf Lenchens Nähtischchen lag ein schwungvoller Liebesgruß, und darüber hing unter einem Kranze von Immortellen der seligen Mutter Schattenriß. Joseph hatte ihn in Leipzig fertigen lassen nach einem, welchen er selber in goldenem Medaillon auf dem Herzen trug, und es war im Leben sein erstes freiwilliges Opfer, sich auf ein paar Tage von dem heiligen Andenken zu trennen.

Nun befremdete es ihn freilich, daß sein lebhaftes Bräutchen beim Betreten des Zimmers diese sinnigen Aufmerksamkeiten gar nicht bemerkte, nur gleich das Fenster aufriß und in die Hände klatschend rief: »Ach, du meine Güte, wie groß, wie schön! Das da drüben ist wohl das Rathaus, Mutterchen? Aber nein doch. Da stehen ja der Herr Vater vor der Ladentür und winken und nicken mir zu. In diesem Schlosse sollen wir künftighin wohnen! Herr Joseph, Herr Joseph, sehen Sie doch an der Ecke den schönen Offizier! Nein, ist der aber stramm und blank. Und da unten der Weihnachtsmarkt! Die vielen Heringe und Äpfel und ganze Buden voll Spielsachen und Puppen!«

Ihre Bewunderung fand kein Ende; sie war ja zum ersten Male in einer Stadt, sah diese Herrlichkeiten zum ersten Male. Wollte Joseph gerecht sein, durfte er ihr jene Achtlosigkeit nicht übelnehmen.

Auf der anderen Seite durfte aber auch David es nicht übelnehmen, wenn der Sohn nicht, wie er sich zugetraut hatte, gleichzeitig mit dem Bräutigam ein Geschäftsmann ward. Auch er mußte sich an den neuen Zustand gewöhnen lernen. Nachdem der Vater jedoch monatelang auf das Erwachen hausväterlichen Pflichtgefühls in Joseph gewartet hatte, kam er zu der Überzeugung, daß sein Plan, das junge Paar selbständig zu etablieren, an Josephs Untüchtigkeit scheitern müsse, und, da er für sein Teil unverbrüchlich gesonnen war, zu keiner zweiten Ehe zu schreiten, zu dem Beschluß, die Kinder in sein eigenes Haus und Geschäft aufzunehmen und das tätige Lenchen als Vorsteherin der großen Wirtschaft auf den rechten Platz zu stellen.

Vor Ablauf des Trauerjahres konnte von der Hochzeit natürlich nicht die Rede sein. Auch drängte Joseph keineswegs nach derselben. Die Gegenwart war ja so lieblich, warum hätte er sich einen anderen Zustand wünschen sollen? Sah er nicht jeden Tag die schöne Geliebte, wußte er nicht, daß sie sein war? Warum denn gleich heiraten und haushalten?

Freilich, wenn er sie nur ein einziges Mal allein hätte sehen können! Nur einmal unter vier Augen mit ihr reden, sie ohne Zeugen an sein Herz drücken! Immer aber saß die Mutter mit den drei lauten Buben in dem einzigen, engen Witwenstübchen. Auf die Dauer ein unbehaglicher Zustand! Von was sollte man sich die langen Winterabende hindurch unterhalten?

Jungfer Lenchen zwar ging der Stoff zum Erzählen und Fragen nicht aus; sie wußte allezeit etwas Neues oder wollte etwas wissen. Schade, daß ihr Bräutigam sich so wenig um das Neue kümmerte! Wenn das aufmerksame Lenchen die Bemerkung gemacht hatte, daß die Nachbarin rechts schon wieder Kuchen gebacken und die Nachbarin links schon wieder ein neues Kleid in der Kirche angehabt habe, dann kam es sogar vor, daß Joseph verdrießlich sagte: »Beschäftige dich doch nicht mit so gleichgültigen Dingen, Magdalene!« Waren das gleichgültige Dinge? Mit was für Dingen sollte in aller Welt sich denn ein Mensch beschäftigen? Sie schmollte ein Weilchen und knüpfte dann mit voriger Munterkeit eine neue Unterhaltung an, zwar nicht gerade von Kleidern und Kuchen, aber doch etwa von Braten und Saloppen, für welche Freund Joseph leider ebensowenig ein eingängliches Verständnis offenbarte.

Es war zu bedauern, daß die Witwe nicht wie Mutter Sophie ein Klavier besaß. Musik würde die langen Abende anmutend verkürzt haben. Indessen: »Musik ist die Sprache liebender Seelen,« so tröstete sich Joseph. »Meine Magdalene wird ihren Sinn verstehen, auch wenn er nur in einfachen Lauten gestammelt wird.«

Freudig belebt steckte er daher eines Abends seine Flöte ein und ging hinüber. Lenchen war über den köstlichen Einfall vor Freuden außer sich. »Blasen Sie, blasen Sie, englischer Herr Joseph!« jubelte sie.

Sie konnte sich nämlich durchaus nicht daran gewöhnen, ihn bloß Joseph oder gar du zu nennen. Es war gegen ihr Gefühl, wie das Herr und Sie gegen das seine. Er mußte es schon als einen Sieg betrachten, daß er ihr endlich den Mosjö Haller ausgetrieben hatte.

So setzte er sich denn in das Halbdunkel des Erkers, dem Schattenriß seiner Mutter gegenüber und begann eine sanfte Liederweise, deren Textworte anhoben: »Wie der Tag mir schleichet, ohne dich verbracht.« Die Melodie umfaßte, wenn mir recht ist, nur drei Töne und wurde dem großen Philosophen Rousseau als eine Art Mustermelodie für seine Ur- und Naturmenschen zugeschrieben. Joseph aber, obgleich er kein Ur- und Naturmensch genannt werden kann, verstand es, den wehmütigen Grundton mannigfaltig zu modulieren. Er hauchte sein ganzes Herz in die Flöte, vergaß, wo er war, wer um ihn war, selbst Magdalenen. Sein Sehnen galt einem Wesen, das er nicht besaß, noch jemals besitzen konnte; solch einem Wesen, das man ein Traumbild nennt.

Er fuhr daher wie ein aus tiefem Schlummer Aufgeschreckter in die Höh, als Lenchen voller Ungeduld ihm zurief: »Aber das klingt ja wie ein Sterbelied, Herr Joseph. Ich bin ganz traurig geworden von Ihrer Musik.«

»Kannst du denn auch traurig werden, Magdalene?« fragte Joseph, ach, nicht mit einem Bräutigamsklang.

»Ich nicht traurig? Ach, du lieber Heiland, wie habe ich geweint, als mein guter Vater starb. Nicht wahr, Mutterchen, wie hab ich geweint! Und wenn ich an ihn denke, da weine, ja, da weine ich noch.«

»Sonst niemals, Magdalene?«

»Nun, warum denn wohl sonst? Hab ich nicht alles, was mein Herz begehrt? Mein Mutterchen, die guten Jungen und obendrein einen so herzallerliebsten Bräutigam, der mir alles zu Gefallen tut und heute abend gewiß auch noch ein lustiges Stückchen bläst.«

Ihre heitere Unschuld versöhnte ihn, und als sie immer dringender bat, widerstand er nicht länger und blies einen Ländler. Lenchen aber faßte einen der Brüder nach dem anderen und am Ende gar die gutmütige Mutter und hüpfte und drehte sich mit ihnen so lange in der kleinen Stube herum, bis alle fünf schwindelnd auf das Kanapee niedersanken. Joseph steckte seine Flöte ein und ging nach Hause; soviel sie ihn aber auch späterhin bitten mochte, vor seiner Braut blies er nicht wieder Flöte.

Nach einiger Zeit sagte er zu sich selbst: »Der heimliche Sinn der Musik ist meiner Magdalene verschlossen. Sie hat aber einen regen Geist, der, ohne daß sie's ahnet, nach Ausfüllung schmachtet. Lektüre wird das Mittel sein, das auf angenehme Weise ihre Bildung fördert und unsere Abende kürzt.« Er suchte unter den Büchern seiner seligen Mutter. Sein Blick fiel auf eines, das er fast am Vorabend ihres Todes gelesen – o, mit welchen Entzückungsschauern gelesen! – gekauft, verpackt und ihr gesendet hatte. Sie war schon tot, als es anlangte; das Buch lag noch unberührt; Josephs Hände zitterten, als er danach faßte. Aus der Überschrift dieses Kapitels weißt du, lieber Leser, daß es der ›Werther‹ war, in jenen ersten achtziger Jahren noch immer das Buch aller Seelen.

Wie auf Flügeln eilte er hinüber; seine Wangen waren hochgerötet. Mutter und Tochter bezeugten eine freudige Erwartung: »Nichts ging ihnen über eine hübsche Geschichte,« wie sie sagten, »zumal, wenn man sie nicht selber zu lesen brauchte.«

Als Joseph just das Buch aufgeklappt hatte, klopfte es, und herein trat Vater Haller, der in einer häuslichen Angelegenheit den Rat der Witwe einzuholen kam und nun auf die dringende Einladung der beiden Frauen gern versprach, mit einem freundschaftlichen Warmbier und den ›Leiden des jungen Werther‹ bei ihnen den Abend über fürliebzunehmen.

So sehr sich Joseph auf die Vorlesung gefreut hatte, er hätte dieselbe für heute nun gern aufgegeben; er erlaubte sich sogar ein Gesellschaftsspiel, schwarzen Peter oder Rapuse in Vorschlag zu bringen; da der Vater aber sich entschieden für den ›Werther‹ erklärte, hob er seinen Vortrag an.

Anfänglich mit Unmut. Bald aber hatte er, wie neulich über dem Flötenspiel, alles um sich her vergessen und lebte in einer anderen Welt; er war nicht mehr der Joseph, dessen Braut an seiner Seite spann; er war der elende Wilhelm, der sich in Glut um eines anderen Mädchen verzehrte, er rang die Hände, er zitterte, er schluchzte laut.

»Halten Sie ein, Herr Sohn!« unterbrach ihn die gute Mutter; »um Gottes willen halten Sie ein! Die Geschichte greift Sie allzusehr an.«

»Das dumme Zeug greift Sie an, Herr Joseph?« fragte Lenchen, hinter ihrem Spinnrad hell auflachend. »Ach, das ist ja wohl ganz und gar unmöglich. Aber meinetwegen, lassen Sie's gut sein und uns lieber ein bißchen diskurieren. Solche Hansnarren wie diesen Werther kann ich nicht ausstehen.«

Joseph schlug das Buch zu und maß seine Braut mit einem Blick, vor welchem sein Vater erschreckte. So wenig ich annehmen kann, daß mein Urgroßvater mehr als sein künftiges Schwiegertöchterchen Geschmack an dem unglücklichen Werther gefunden hat, so versuchte er um Josephs willen es doch mit einem einlenkenden Wort: »Mit dem jungen Menschen, dessen Geschichte so natürlich klingt, daß man sie für erlebt halten möchte und auch von dir, mein Sohn, wie ein Erlebnis vorgetragen worden ist, mit dem armen, jungen Menschen hat es gewiß kein gutes Ende genommen,« sagte David. »Du solltest derlei Bücher meiden, Joseph. Man lernt nicht aus ihnen, was man im Leben braucht.«

»Man lernt das Schöne lieben,« entgegnete Joseph.

»Aber nicht das Rechte tun.«

»Und was ist das Rechte, Vater?«

»Hier, wie überall, die Treue ehren und die Versuchung fliehen. Des Jünglings Leidenschaft kann das liebenswürdige Mädchen in die Irre führen.«

»Wenn das Mädchen dieses Jünglings wert wäre, müßte sie seine Leidenschaft erwidern und – –«

»Ihr heiliges Verlöbnis brechen? Joseph, Joseph!«

»Ach lieber gar!« rief Lenchen dazwischen; »der brave Albert hat Lotten gewiß zehnmal besser gefallen als dieser trübselige Lehnerich. Was wird denn am Ende aus dem langweiligen Menschen?«

»Er stirbt.«

»Er stirbt? Ach lieber gar! An was denn?«

»An seiner Liebe. Er schießt sich tot.«

»Ach, der gottlose Mensch! Nein, so was Schlechtes hätte ich ihm gar nicht einmal zugetraut. Von dem will ich nun kein Wort mehr wissen; den wollen wir in der Hölle braten lassen und noch eine Partie schwarzen Peter spielen.«

Joseph war so auffällig verstimmt, daß der Vater den schwarzen Peter ausschlug und mit dem Sohne aufbrach. Auf dem Wege sagte Joseph:

»Magdalene ist sehr unreif; ohne jedes höhere Streben. Von wahrer Liebe hat sie keine Ahnung. Wir werden uns niemals verstehen lernen.«

»Joseph, Joseph!« entgegnete der Vater, eine bittere Wallung niederkämpfend, »lerne erst du dieses reine Kinderherz verstehen und verschone es und dich selber künftighin mit einem Zeitvertreib, der alle Zucht und Gottesordnung auf den Kopf stellt.«

Dreizehntes Kapitel Lenchen im Trauerspiel

Ich habe nicht umhin gekonnt, mehrere Kapitel hindurch meinen Großvater zum Helden von meines Urgroßvaters Geschichte zu machen und diesen vortrefflichen Mann ungebührlich in den Hintergrund treten zu lassen. Erleben wir es denn aber nicht alle Tage in Palästen und Hütten, wie das Schicksal von Söhnen und Töchtern allmählich zu dem der Eltern wird und diese guten Seelen wenig Freuden oder Leiden mehr erfahren als die ihrer Kinder und Kindeskinder? Nur die, welche wir in keinem Palast und auch in keiner eignen Hütte zu suchen haben, die armen Allerärmsten unter uns, sie lösen ihren Nachwuchs halbschürig wie die Brut des Feldes von sich ab und bleiben die Helden ihrer eignen Geschichte bis zum Ende am Bettelstab oder Altenspittel. Gottlob! zu diesen armen Allerärmsten gehörte mein Urgroßvater mit seinem treuen Vaterherzen und seinem reichen Vaterhause nicht; und nur noch ein einziges Kapitel Sohnesheldentum Geduld, so werden wir den vortrefflichen Mann wieder gebührentlich in den Vordergrund treten sehen.

Joseph ging nun nicht mehr alle Abende zu seiner Braut. Der ›Werther‹ hatte seine Bücherlust wieder angefacht; er ließ sich von Leipzig das Neueste kommen. Eine reiche Auswahl, buntfarbig und heißsprudelnd wie in deutschen Landen noch keine gesprudelt hatte; Tag und Nacht saß er über den herrlichen Schätzen wie gebannt; die Poesie weckte auch die Schwester Musik, und diese beiden Gefährtinnen brachten ihn sogar, glimpflicher als sein Vater gefürchtet hatte, über die schmerzlichsten Erinnerungstage hinweg, denn es wurde jetzt jährig, daß seine Mutter starb.

Kein Wunder daher, daß auch die Lebenden über Ritter-, Räuber- und anderweitigen Dichtergestalten ein wenig verabsäumt wurden. Zum Frühling, meinte er, wenn er mit der Geliebten im Freien sein, Wald und Flur mit ihr allein durchstreifen könne, dann werde ihm in ihrer Nähe wohler werden als jetzt in der engen, heißen Stube, neben der geschäftigen Mutter und den lärmenden Knaben.

Aber der Frühling kam, und die Spaziergänge blieben aus. Die Witwe Kellers, des Sonderlings, war eine vorurteilslose Frau und Mutter; sie hielt ihrem künftigen Eidam Unerhörtes zugute: den täglichen Besuch, das Du und manche andere Vertraulichkeit, die in ihrem eignen Brautstande nicht stattgefunden hatte; ihre Tochter aber mit dem jungen Manne allein in der Irre herumschweifen zu lassen, nein, das hätte sie doch nicht zugestehn dürfen, selber wenn ihr Lenchen ein Verlangen danach gespürt. Das liebe, verständige Kind sah jedoch nicht im entferntesten ein, was für ein Vergnügen es gewähren könne, so sonder Zweck noch Ziel querfeldein zu laufen, sich nur die Kleider staubig zu machen und die Schuhe auszutreten. Ja, dann und wann einmal aufs Schießhaus oder in eine Schenke über Land, wo man Kaffee trinkt und gute Freunde findet, das wär ein anders Ding; aber mutterseelenallein in die freie Natur, nein, das war nicht nach Lenchens Geschmack.

So gewöhnte Joseph sich denn wieder an seine vorjährigen Streifereien, nur daß er heuer von seinen lieben Büchern begleitet war, und zu seiner Braut kam er nur noch selten. Sein Vater war verstimmt, und als er eines Tages Lenchen und ihre Mutter in Tränen schwimmend fand, weil sie den Treulosen länger als eine Woche hindurch nicht mit Augen gesehen hatten, fühlte er sich erbittert. Ja, zum ersten Male im Leben fühlte David Haller sich gegen einen Menschen erbittert, und dieser Mensch war sein Sohn. Er sparte keinen Vorwurf, forderte mit Strenge einen tatkräftigen Entschluß und drang auf einen festen Termin für seine Verheiratung.

Joseph hatte sich noch niemals unsanft angefaßt, nie einem Widerstande gegenüber gesehen; und nun in unbilliger, engherzigster Weise wie ein Schulbube gescholten zu werden, nur weil er gerne las und spazieren ging? Gab es denn genügsamere Neigungen oder unschuldigere Freuden? Er zeigte sich verhärtet, ja verstockt und erklärte endlich kurz und barsch, daß er sich noch zu jung fühle, sich schon jetzt fürs Leben zu binden, auch nicht nötig zu haben glaube, sich mit widerstrebender Arbeit abzuquälen, da das Erbteil seiner seligen Mutter für seine mäßigen Bedürfnisse ausreiche.

Nach dieser heftigen Begegnung sah der Vater ihn nur noch am Mittagstisch und auch da nicht regelmäßig. Davids Blut kochte, seine Galle schwoll bei jedem Anblick, bei jedem Gedanken an den Ungeratenen; und doch mußte er an sich halten, mußte ihn schonen um seiner seligen Mutter willen und gegen seine Braut ihn sogar entschuldigen. Seine – des Vaters nämlich, nicht des Sohnes – Scham und Verlegenheit den beiden betrübten Frauen gegenüber wuchs von Tage zu Tage. Er sann und sann auf kleine Linderungsmittel; besuchte sie niemals ohne ein Naschwerk oder Geschenk für das Töchterchen; berichtete haarklein über die Fortschritte, welche die Einrichtung für das junge Paar in seinem Hause machte, und freute sich dann immer, wenn er das liebe Gesicht sich erhellen sah und das der Mutter mit dem ihren wie Bild und Spiegelbild.

Eines Nachmittags jedoch wollten keine Beschwichtigungsmittel anschlagen, weder das begütigende Wort, noch die schön gestickten Manschetten und gebrannten Mandeln, die er in seiner Tasche mitgebracht; ja, die Nachricht, daß der nankingfarbige, rotgeblümte Kattun, den der Vater zum Möbelbezug für die künftige Wohnstube aus Leipzig verschrieben hatte, angelangt und bereits dem Sattler übergeben sei, machte das Leidwesen nur ärger. Die Mutter weinte still vor sich hin, und Lenchen schluchzte laut. Ach, wer werde denn den Genuß von all dem schönen Hausrat der seligen Frau Mutter haben, den der gütige Herr Vater für das junge Paar aufpolstern und frisch polieren ließ, und manches neue Stück obendrein? Lenchen, das arme Lenchen, ach, gewißlich nicht! Nicht nur, daß Herr Joseph seit Wochen nicht mehr nach seiner Braut gefragt hatte, er grüßte nicht einmal mehr nach ihrem Fenster, wenn er aus dem Hause ging; und die freie Natur war es auch nicht mehr allein, in welcher er seine Zeit hinbringe, denn er sitze jeden Abend in der Komödie, die seit zwei Wochen so wunderschön im ›Scheffel‹ gespielt werde, und zu seiner Braut hatte er nicht ein einziges Mal gesagt: »Komm mit!« Es sei ja offenbar, daß er sie im Stiche lassen, daß er Schimpf und Schande bringen werde über eine arme Familie, die ihm nichts, auch gar nichts zuleide, aber alles, was sie gewußt, zuliebe getan hatte.

Mein Urgroßvater saß während dieses Klageliedes wie auf Kohlen. Es war ihm klar, daß ein letztentscheidender Kampf mit dem Sohne nicht verzögert werden dürfe, und sein innerstes Wesen drängte zu diesem Kampfe; zuvörderst aber galt es, die beiden jammernden Frauen stillezumachen, und Lenchen selber hatte ihm das Mittel dazu an die Hand gegeben.

»Ich bin eigentlich gekommen,« so hob er nach einem kleinen Räuspern an, »die Frau Schwester« – (seit der Verlobung ihrer Kinder nannten sich David und Christiane Herr Bruder und Frau Schwester) – »die Frau Schwester und Jungfer Lenchen einzuladen, mich heute abend in das Theater zu begleiten. Es soll ein ausnehmend lehrreiches Stück gegeben werden, wie ich just von der Frau Postmeisterin gehört habe, welche den Theaterbesuch keinen Abend versäumen.«

Ja, das wirkte; wirkte so erhellend wie ein Sonnenstrahl am Novemberhimmel. Eine Komödie! Die beiden Frauen konnten sich gar keine Vorstellung von einem dergleichen Wesen machen, das Komödie hieß; sie hatten noch nie eine Komödie gesehen, nicht einmal eine Puppenkomödie; nur die Mordtatsbilder am Jahrmarkt; es mußte etwas Wundervolles sein, so eine Komödie. Mein Urgroßvater besaß natürlich mehr Erfahrung in diesem Kunstgebiet. Er hatte während seiner Leipziger Meßreisen wiederholentlich und nicht ohne Vergnügen das Theater besucht, vornehmlich wenn ein heiteres Singspiel gegeben ward. Das ›Donauweibchen‹ war sein Lieblingsstück, und ich erinnere mich noch, wie fröhlich ihn meine Mutter machte, wenn sie ihm vorsang: »In meinem Schlößchen ist's gar fein« oder:

»Ich bin vom Kopf bis auf die Zeh Die kleine muntre Salome.«

In seiner Heimatstadt aber, wo alle Welt ihn kannte, würde sein großbürgerliches Anstandsgefühl sich dagegen gesträubt haben, sich durch die Faxen verlaufenen Gesindels, wofür Komödianten, zumal bei wandernden Truppen, doch ohne Ausnahme galten, unterhalten zu lassen.

Indessen, wir wissen es ja schon, einer Pflicht zuliebe wußte David Haller nicht nur seine Neigungen, sondern, was schwerer ist, seine Abneigungen zu überwinden; und so begab er sich gegen Abend, obgleich es ihm in Kopf und Herzen von Vorhaben und Vorsätzen rumorte, an jedem Arme eines seiner Frauenzimmer, zur Aufführung in die Scheune des Goldenen Scheffels, die in ihrer leeren Zeit vor der Ernte für den gegenwärtigen Zweck kunstmäßig täuschend in einen Saal verwandelt worden war. Der Räumlichkeit hatte mein Urgroßvater demnach sich nicht zu schämen, und auch an den Kunstgenuß durften hohe Ansprüche erhoben werden, denn es war ja die Hofgesellschaft einer unfernen Residenz, die während des Sommers in einem Badeorte gespielt hatte und vor Eintritt der Wintersaison so bei Wege unsere Stadt beehrte, nicht zum Nachteil ihrer Kasse, heute abend wenigstens. Kein Apfel konnte mehr auf die Erde, als die Meinen die für sie belegten Plätze auf der vordersten Reihe einnahmen, und noch immer rollten die Equipagen der adligen Rittergutsbesitzer der Umgegend in den Hof; die Musik mußte ihre Bänke dem Publikum überlassen, alles drängte sich, ein Stück zu sehen, das, wie die Zeitungen verkündet hatten, in ganz Deutschland mit allen Schauern des Unerhörten aufgenommen worden war, und in diesem Stück eine Liebhaberin als Gast, die als ein Wunder von Genie und Schönheit gepriesen wurde. Das Stück, von einem jungen Feldscher, namens Schiller, abgefaßt, hieß ›Die Räuber‹, und die schöne Liebhaberin – nein, deren Namen behalte ich für mich.

Es ist mir sehr zweifelhaft, daß der Held des Trauerspiels und seine Kommilitonen in höherem Maße als an jenem Winterabend der unglückliche Werther nach meines Urgroßvaters Geschmack gewesen sein würden. Aber mein Urgroßvater blickte gar nicht auf die edlen und unedlen Missetäter vor den Kulissen; er hörte kein Wort von ihren packenden Reden, und selber das lautschluchzende Interesse seiner Nachbarinnen erweckte ihm keines. Seine Augen verfolgten nur immer mit Entsetzen den jungen Mann, den sie an der entgegengesetzten Seite des Saales nur allzu deutlich erkannt hatten. Ganz vorn in die Ecke gedrückt, die Arme übereinander gekreuzt, eine Fieberröte auf den Wangen, unverwendet auf die Bühne starrend, so stand Joseph unbeweglich, und nur wenn Amalia, die hohe, herrliche Amalia, mit ihrem wildfliegenden Haar und losen Busentuch seines Vaters Augen ein Greuel, in die Szene trat, wurde er Feuer und Flamme, klatschte wie ein Besessener in die Hände und schrie »Bravo!« länger und lauter als irgendein Junker im Saale. Sooft aber der Vorhang gefallen war, öffnete er die kleine Tapetentür, die dicht an seiner Seite auf die Bühne führte, verschwand hinter derselben und kam erst wieder zum Vorschein, wenn ein neuer Akt begann. Wo ging er hin? Was machte er hinter den Kulissen, kannte er das Komödiantenvolk? Oder gar – –? Der Vater konnte den Gedanken nicht ausdenken, das Herz im Leibe wendete sich ihm um. Er hätte den Sohn bei den Haaren zurückziehn, mit ihm dem wüsten Spektakel entfliehen mögen und durfte doch kein Aufsehn erregen, mußte still sitzen und tun, als wär er mit Blindheit geschlagen.

Er hatte derartig Platz genommen, daß sein breiter Rücken den beiden Frauen als Schirm gegen die herzbrechende Entdeckung dienen mußte, hätte diese Fürsorge aber sparen dürfen, denn Lenchen und ihre Mutter waren, während der Vorhang offen war, dermaßen mit den Augen und, wenn er gefallen, dermaßen mit den Zungen bei den Gebrüdern Moor, die so ganz anders waren, als man sich regierende Grafensöhne vorgestellt hatte, daß ein Bürgerssohn Joseph Haller weder im Saale noch auf der Welt für sie existierte.

In der höchsten Aufregung, entschlossen zu einem Strafgericht, langte David in seinem Hause an. Sein Sohn war noch nicht zurückgekehrt. Er legte sich nicht und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Von Stunde zu Stunde trat er in die Kammer des Hausmanns, um nach Joseph zu fragen. Allemal vergebens. Er erfuhr auf diese Weise, daß der junge Herr schon wochenlang immer erst gegen Morgen heimzukommen, dann aber bis gegen Mittag zu schlafen pflege. Welch grausamere Entdeckung hätte ein Vater, wie dieser, machen können? Sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Der Morgen kam, aber Joseph auch am Morgen nicht. Und wie es Unheilstage gibt, an denen sich alles gegen uns verschworen zu haben scheint, so wurde dem aufgebrachten Vater auf Schritt und Tritt Öl in die Flammen gegossen. Es kam der Barbier, es kam der Friseur; es kam die Frau Postmeisterin und machte ein Ständerchen vor der Ladentür, an welcher David Haller ungeduldig nach seinem Sohne ausschaute, es kamen noch andere Kunden sei nes Tuchgeschäfts. Alle waren voll von der gestrigen Aufführung. Und heute werde sie wiederholt; aber nicht im ›Scheffel‹, sondern auf dem Gute eines reichen Barons, der nach einer lustig verzechten Nacht die gesamte Gesellschaft hinaus auf sein Schloß habe fahren lassen. Die flottesten Junker der Umgegend mitten darunter. Und nicht Junker allein, auch ein gewisser Jemand, ein Stadtkind, solle sich dem Zuge angeschlossen haben und für Demoiselle N. N., die schöne Räuberbraut von gestern abend, lichterloh in Flammen stehn.

David Haller, ein Feind städtischer Klatschereien, hatte ähnliche Anspielungen in den jüngstverflossenen Tagen arglos außer acht gelassen; heute fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und gleich einem Flammenzeichen brannte das öffentliche Ärgernis in sein Vaterherz. Hier tat rasche, gewaltsame Hülfe not.

Die Zeit drängte; es war Freitag; spätestens übermorgen war er genötigt, zum Abschluß eines Gutskaufs, der kühnsten und stolzesten Spekulation seines bisherigen Geschäftslebens, eine Reise anzutreten, die ihn wohl eine Woche hindurch vom Hause fernhalten konnte. Er warf sich vor, daß diese Angelegenheit seine Aufmerksamkeit von des Sohnes lästerlichem Treiben abgelenkt habe. Was geschehen sollte, mußte heute und morgen geschehen. Das Nächstliegende war Josephs Entfernung während des nur noch kurzen städtischen Aufenthalts der Komödianten. Joseph sollte den Vater auf der Reise begleiten.

Der Tag verging unter beschleunigenden Anordnungen für den Hausstand des jungen Paars. Joseph kam nicht, er kam auch nicht während der Nacht. So blieb denn keine Wahl als Handeln auf eigne Hand kraft der väterlichen Autorität.

David Haller ging zum Superintendenten, seinem vertrauten Seelsorger und Freund, entlud vor ihm sein schweres Herz und fand des würdigen alten Herrn vollständige Zustimmung zu seinem Rettungsplan. Morgen, am Sonntag, sollte Josephs und Magdalenens erstes Aufgebot von der Kanzel verkündet werden; das dritte, mit dem zweiten vereint, acht Tage später erfolgen; der Vater selber wollte die Erlaubnis zu diesem abkürzenden Verfahren auf der Durchreise bei dem geistlichen Konsistorium in Leipzig erwirken. Einer stillen Trauung unmittelbar nach der Heimkehr stand auf diese Weise kein Hindernis im Wege; die Flitterwochen, nach Belieben ausgedehnt, würden auf dem neuerworbenen Gute zugebracht werden und bei der Heimkehr der jungen Eheleute, will's Gott! Gras über den ärgerlichen Anstoß gewachsen sein.

Erst nach vollbrachter Abmachung mit dem geistlichen Freunde eilte David zu der Witwe und deren Tochter, um deren Zustimmung einzuholen. Der Vater fühlte es selber am tiefsten, welch eine peinliche Neuerung in der Plötzlichkeit und Heimlichkeit dieser Präliminarien lag, in des Bräutigams Entfernung unmittelbar vor dem feierlichen Akt und der des jungen Paares nach demselben; auch das Opfer einer großen Hochzeit mochte Lenchen schwer genug fallen; wie oft hatte sie sich dieselbe stattlich und vergnüglich ausgemalt! Bei alledem aber dankten Mutter und Tochter meinem Urgroßvater mit Freudentränen, sie nannten ihn den Retter ihrer Ehre und ihres Glücks. Die schwere Frage blieb nur, ob Meister Liebezeit das Hochzeitkleid, dessen Stoff Vater Haller bereits auf der Ostermessen eingekauft hatte – es war von maigrüner Farbe, Davids Leibcouleur –, in den acht Tagen fertigbringen werde.

Spät am Abend kehrte der Vater in sein Haus zurück. Joseph war noch immer nicht heim, kam auch nicht in der Nacht, nicht am frühen Morgen. Nie in seinem Leben hatte David Haller solchen tobenden Aufruhr in sich empfunden als in dieser Nacht, selber in jener nicht, wo er, es war jetzt fast jährig, mit allen Ängsten um das Leben des einzigen Kindes rang, und nicht in der darauffolgenden, in welcher er einen Traum von Jugendglück dem Jugendglück des Sohnes opferte. Er versuchte es nicht einmal, ein Auge zu schließen, ging seit einundzwanzig Jahren zum ersten Male morgens nicht in die Metten und seit Sophiens Tode nicht zu ihrem Grabe; ja, zum ersten Male stieg in ihm der Vorwurf auf, daß sie, Sophie, nicht bloß er selbst, schuld an des Sohnes Entartung trage.

Er hatte die äußerste Stunde zur Reise herankommen lassen. Sein Fuhrwerk stand seit dem Morgengrauen angeschirrt. Durfte er sich entfernen und Joseph in seinem Verderben zurücklassen? Sollte er den anberaumten Termin versäumen, den so heiß erstrebten Besitz aufgeben? Das schöne Gut einem Mitbewerber zuschlagen lassen? So schwankte er hin und her, und schon läuteten die Glocken zur Kirche und zum ersten Aufgebot, schon war er im Begriffe, auch dieses letzte Opfer zu bringen und auf die Reise zu verzichten – als Joseph in das Haus trat.

Übernächtig erschöpft, wollte er an dem Vater vorüber und die Treppe hinauf in sein Zimmer schlüpfen. Der aber packte seinen Arm, zog ihn in die untere Stube, schloß die Tür hinter sich ab und – und was hier zwischen Vater und Sohn vorgegangen ist, das ist als Geheimnis von beiden in die Grube mitgenommen worden. Ich weiß nur, daß der Sohn anscheinend ruhig, aber noch fahler als vorhin, ja einer Leiche gleich, hinauf in das Zimmer seiner Mutter wankte; der Vater hochrot, flammenden Blicks, mit gewaltsam kämpfender Brust, so wie kein menschliches Auge vorher oder nachher ihn gesehn hat, ohne Wort noch Gruß für seine in der Torfahrt versammelten Leute, in den Wagen gesprungen und fortgefahren ist.

Sonnabend nacht kehrte er heim. Das Geschäft war nach Wunsch zu Ende geführt, ein reicher Zuwachs an Ansehn und Wohlstand ihm geglückt, mein Urgroßvater war Rittergutsbesitzer geworden. Doch stand nichts von Freude in seinen Zügen geschrieben, und nur das Wort: »Mein Sohn?« entrang sich seinen angstvoll zitternden Lippen. Die Antwort lautete, daß der junge Herr am nämlichen Tage wie der alte das Haus verlassen habe und bis heute nicht zurückgekehrt sei.

Halb besinnungslos taumelt der Vater in sein Zimmer; ein Brief von des Leipziger Oheims Hand fällt in seine Augen; seine Glieder fliegen, indem er ihn erbricht und nach einer Inlage faßt, die Josephs Schriftzüge trägt und vom Tage der Abreise noch aus seinem Hause datiert ist.

»Vor Ihnen,« – so liest der Vater mit flimmernden Augen, – »vor Ihnen, dem nächsten Verwandten meiner unvergeßlichen Mutter, meinem eignen väterlichen Freunde, rechtfertige ich einen Entschluß, den nur der verzweifelnde Kampf um die höchsten Lebensgüter als äußerste Notwehr zu fassen vermag. Der einzige Sohn verläßt das Haus seines Vaters, seiner Mutter Grab, eine Braut am Altar, Besitz und Heimat für immer; er irrt in die Fremde, weil er – weil er, wenn er bliebe, wie in einem vorzeitigen Grabe ersticken müßte; weil es eine Stimme gibt im Menschenherzen, die lauter fordert als die des Blutes und der sogenannten Pflicht. Sagen Sie meinem Vater ein ewiges Lebewohl. Er konnte nicht anders, aber ich konnte es auch nicht. Möge er mich als einen Gestorbenen betrachten und sich unter Fremden einen Sohn suchen, der nach seinem Gesetz und nach seinem Rechte zu handeln versteht. Alles, was er in seiner Umgebung für das Meine halten möchte, sei sein. Verfüge er darüber nach seinem Ermessen. Mir bleibe nichts als die göttliche Freiheit, das Schöne zu lieben und ihm zu dienen mit jeder Lebenskraft. Wollen Sie mir eine letzte Wohltat erweisen, so schreiben Sie mir jedes Jahr am Geburtstage meiner seligen Mutter, ob die Rosen auf ihrem Grabe blühn und ob mein Vater lebt und glücklich ist. Ich werde Ihnen regelmäßig den Ortsnamen bekannt machen, nach welchem Sie unter dem Namen Freihold poste restante Ihre Briefe zu adressieren haben.«

Diese Abschiedsworte klangen David Haller wie ein Todesurtel seines Sohns und seiner selbst. Ja, hätte Gott, der Herr, durch einen Strahl vom Himmel an seiner Seite das einzige Kind zerschmettert, der Schlag würde ihn nicht so harsch getroffen haben. Aber Ehre und Treue, Zucht und Tugend, alles was David Haller höher achtete als die vergängliche Menschenhülle, aber Gottes Ordnung ihn mit Füßen treten sehen, die Liebe seines Vaters, das Glück seiner Braut, seines Hauses Ehre opfern sehen, kalten Herzens opfern der Sünde, das war härter, härter als der Tod. Sein Sohn ein Landstreicher, sein Sohn ein Komödiant, sein Sohn in den Netzen eines buhlerischen Weibes! – O, niemals hat ein Vater bitterlicher um ein Kind gelitten als David Haller in dieser jammervollen Nacht.

Vierzehntes Kapitel Dennoch die Eine!

Der Morgen dämmerte, die Mettenglocken läuteten. Zitternd und schwankend vollbrachte der gekränkte Vater seinen sonntägigen Pilgergang. Heimgekehrt von Sophiens Grabe, schrieb er den folgenden Brief:

»Wenn ich mich an Dir vergangen habe, mein Sohn, einst in unväterlicher Säumnis und jüngst in unväterlichem Zorn, so habe ich dafür gebüßt in dieser Nacht, da ich Deine Flucht erfuhr. Vergib mir, Joseph, wie ich Dir vergebe, und wie Gott, der Herr, Dir und mir vergeben möge. Ja, ich vergebe Dir, flehe Dich an, beschwöre Dich nur um eines: rette Ehre und Frieden Dir selber, mir und Deiner angelobten Braut. Fühlst Du Dich noch zu jung, um Dich fürs Leben zu binden, hegst Du das Verlangen, die Welt zu sehn, reise so lange und so weit Dich gelüstet, aber versprich heimzukehren und halte Wort. Weißt Du einen ehrbaren Beruf, der Deinen Neigungen besser zusagt als der Deiner schlichten Vorfahren, so ergreife ihn, aber halte ihn fest. Zähle in allem auf den Beistand Deines Vaters, spare ihm kein Opfer, Du bist sein einziges Kind. Nur spare ihm und Dir selbst die Schmach des Verrats und unauslöschlicher Sünde.«

Und sechs Monate später schrieb er noch einmal:

»Joseph, Du hast die Hand, welche der Vater Dir bot, nicht ergriffen, sein flehendes Wort nicht erwidert. Heute spreche ich das letzte. Es ist der Sterbetag Deiner Mutter. Ich habe ihr in meinem Herzen gelobt, für Dich einzutreten und Dich höher zu halten als mich selbst. Dieses Gelöbnis werde ich erfüllen. Vom heutigen Tage an warte ich sechs Monate bis zu der Stunde, wo Deine Flucht jährig wird, auf Deine Heimkehr oder ein Geständnis Deiner Reue. Warte ich vergebens, so ist mein Entschluß gefaßt, ich tue meine Pflicht. Nicht vermag ich der armen, beschimpften Braut den Gatten zu geben, der sie schützt und liebt bis ans Ende seiner Tage. Aber einen Vater und ein Vaterhaus habe ich ihr versprochen, und einen Vater und ein Vaterhaus wird sie finden. Noch einmal: Schreibst Du nicht binnen heute und sechs Monden, so wird Magdalenens Mutter mein Weib und Magdalene meine Tochter vor Gott und der Welt. Nun wähle, Joseph; zuvor aber höre: Du kennst die angstvollen Abschiedsworte Deiner seligen Mutter; Du weißt, daß sie flehte: ›Nur nicht die Eine, nur die Eine nicht!‹ Nun wohl, diese Eine, vor der ihr bangte in ihrer Todesstunde, um Deinetwillen, Joseph, bangte, diese Eine ist keine andere als die Frau, die ich nun dennoch zu Deiner zweiten Mutter machen werde. Gott ist mein Zeuge, Joseph, ich tue diesen Schritt für Dich, nicht für mich. Um, soviel an mir ist, Dein Unrecht zu sühnen, um im Geiste Deiner Mutter zu handeln, verletze ich das Wort, das sie sterbend von mir forderte, das ich in der Stille meines Herzens ihr ins Jenseits mit hinübergegeben habe. Mein Herz möchte brechen unter der Last dieser Pflicht. Erspare sie mir, mein Sohn; kehre um, kehre heim, gib uns allen den Frieden wieder, den auch Du, ja Du zumeist, nicht mehr Dein eigen nennen wirst.«

Diese beiden Briefe, heute noch wohlerhalten und ein teurer Familienschatz, sind der Höhepunkt in David Hallers Leben. Was zwischen ihnen lag, durfte ich übergehn. Ohne meine Schilderung, Leser, sahst du Lenchens blasse Wangen und ihrer Mutter rotverweinte Augen, hörtest die Trostworte und Stichelreden teilnehmender Freunde und maltest den Aufruhr in der Bürgerschaft über diesen nie dagewesenen Fall dir aus. Ohne meine Versicherung wußtest du aber auch, daß der umsichtige Vater keinen Weg unbeschritten gelassen hat, um eine zuverlässige Kunde über den Geflüchteten zu erhalten. Seine Reisen führten zu keinem Ziel; den Briefen folgte keine Antwort, und nur auf indirektem Wege erlangte er endlich eine Auskunft, welche die letzte Hoffnung vernichtete.

So tat denn David Haller den Schritt, durch welchen er des Sohnes Untreue zu sühnen glaubte; er tat ihn mit freudiger Ruhe um Gottes willen. Am zweiten Christtage wurde die Frau seine Gattin, deren Besitz er einst seinem Vater geopfert hatte, und das Mädchen seine Tochter, dem er um seines Sohnes willen entsagt.

Und damit wäre ich denn an dem Punkte angelangt, auf den ich schon einmal gedeutet habe als meiner Geschichte goldenen Schnitt. Von welcher Seite ich mir diesen Punkt betrachte, da funkelt er wie im Sonnenstrahl. Wäre meine Geschichte ein Roman, bei dieser zweiten Hochzeit müßte sie enden, da sie aber meines Urgroßvaters Leben schildern soll, habe ich ihr noch ein Kapitel zuzufügen.

Im Hallerschen Hause begann nun wieder ein Treiben wie nach dem ersten Ehebunde; die Stiefkinder wurden erzogen und versorgt wie einst die Geschwister, Haus und Geschäft nach den früheren Grundsätzen geführt; Sophiens feiner, stiller Sinn, nachwirkend durch ihren Gatten, blieb beider dauernder Regulator, denn niemals hat eine Hausfrau ihrem Eheherrn mit freudigerem Gehorsam gedient als Christiane ihrem David.

Und auch Lenchen lebte wieder auf, da des Vaters Fürsorge ihr den Wechsel von Tätigkeit und Zerstreuung gewährte, deren sie zum Wohlsein bedurfte. Sie lernte wieder plaudern und lachen, sie tanzte mit den jungen Bürgersöhnen beim großen Vogelschießen und mancher anderen frohen Gelegenheit, und an Freiern hat es der schönen Stieftochter des reichen Haller, dessen einziger Sohn in der Fremde verschollen war, wahrhaftig nicht gefehlt. Für keinen aber hatte sie ein Herz. Sie nannte den Namen des Jünglings nicht wieder, dem sie ihre Treue bis zum Tode verlobt hatte, aber sie bewahrte diese Treue, und im heimlichen Seelenkämmerlein, da, wo die Hoffnung wohnt, blieb sie des verlorenen Joseph Braut.

Fünfzehntes Kapitel Lukas am Fünfzehnten und Schlußkapitel

Zehn Jahre waren seit Sophiens Tode verflossen, als mein Urgroßvater eines Morgens einen Brief erhielt. Wäre die Frau Postmeisterin nicht zur ewigen Ruhe eingegangen, die würdige Dame würde Unerträgliches erduldet haben, denn die Adresse war in lateinischer Sprache abgefaßt, der Stempel der eines nie geahneten Orts, der weit hinten im Zigeunerlande liegen sollte, und unser sprachkundiger Herr Rektor konnte den Inhalt nur mit Mühe entziffern und bewahrte standhaft das Schweigen, das er seinem Freunde Haller gelobt hatte.

Im Laufe dieses Tages übergab mein Urgroßvater sein Testament, packte drei mächtige Seehundskoffer und viele Kober mit Betten, Wäsche, Kleidern und Vorräten aller Art, bestellte Extrapost und betraute seine Frauenzimmer mit der Verwaltung von Haus und Geschäft während seiner Entfernung in einer wichtigen Angelegenheit. Am anderen Morgen reiste er ab. Die beiden Frauen waren betreten und betrübt. Als aber nach Ablauf mehrerer Wochen wiederholentlich Briefe von dem Vater einliefen, zwar aus Ortschaften, von deren Lage sie sich keine Vorstellung machten, aber mit der Kunde seines Wohlbefindens und Wohlgelingens, da beruhigten sie sich und taten mit froher Lust, was sie vermochten, den fehlenden Herrn im Hause zu ersetzen.

Nach Monaten des Alleinseins erbrachen sie endlich einen letzten Brief, gezeichnet aus Leipzig, und Lenchen las ihrer Mutter die folgenden Worte vor:

»Wenn ihr diese Zeilen erhaltet, so nehmt die Heilige Schrift in eure Hand und lest in Andacht das fünfzehnte Kapitel des Lukas vom eilften Verse ab. Ihr werdet dann wissen, was ihr zu tun habt, wenn ich morgen abend heimkehre und einen mit mir bringe, der verloren war, aber wiedergefunden, der tot war, aber lebendig worden ist.«

Und am anderen Abend hielt ein Reisewagen vor der Tür, und der kräftige Vater trug auf seinen Armen den verlorenen Wiedergefundenen, den toten Lebendiggewordenen, seinen schwachen, kranken, unglücklichen Sohn zurück in das Vaterhaus. Mutter und Schwester hielten sich verborgen, aber das Haus stand geschmückt und erhellt wie zu einem Fest, Blumen dufteten in Sophiens Zimmer, geöffnet und reingestimmt war das alte Klavier und bekränzt der Schattenriß, der darüber hing. Die Diener trugen ihre Sonntagskleider und weinten helle Freudentränen.

Der Vater legte den Sohn auf der Mutter einstiges Ruhebett und sprach: »Du bist in deinem Hause, mein Kind, Gott lasse es dir zur Heimat werden.«

Joseph aber sprang vom Lager auf, warf sich zu Boden, umklammerte seines Vaters Knie, drückte die Stirn in seinen Schoß und weinte bitterlich. –

Und nun tröpfelte die Zeit ihren Balsam. Joseph genas körperlich unter der beiden Frauen heiterer Pflege und auch sein Gemüt muß sich ja wohl aufgerichtet haben, denn es wird dem Leser ja längst kein Geheimnis mehr sein, daß das treue Lenchen am Ende doch noch meine Großmutter geworden ist und nach ihrem eignen Dafürhalten eine glückliche Frau. Zum rechten Mannesfrieden hat es Joseph nach den Stürmen der Jugend aber dennoch nicht gebracht; sein innerstes Mark war gebrochen mit einer, deren Lebensschiff auf hoher Flut gewogt hatte und im Sumpfe versank. Niemals hat Joseph ihren Namen vor heimischen Ohren genannt; aber eine goldene Locke von ihrem Haupte lag mit dem Schattenriß der Mutter auf seinem Herzen bis in sein frühes Grab.

Der Vater überließ den Kindern das in jener Unglückswoche erworbene Gut; dort spannen sich ihre Tage ab zwischen Lust und Leid; dort erwuchs jene zweite, schönere Sophie, welche David Hallers Augen- und Herzenstrost im Alter und meine Mutter geworden ist.

Für ihn, David Haller, kam die Drangsal der Franzosenkriege, schwere Verluste an Hab und Gut, der Wechsel der Landesherrschaft, zuletzt der Tod von Sohn und Frau; aber keine Gebrechen und Lasten des Alters, weder an Seele noch Leib, kein Irren und Fehlen auf seiner langen Bahn. Ebenmäßig, wie ich es in der Einleitung angedeutet habe, wickelte sein Dasein sich ab bis zur letzten schönen Stunde.

Es war der Abend vor dem ersten Advent, an welchem er gewohnt war mit den Seinen das heilige Mahl zu genießen. Meine Mutter hatte ihm den Abendsegen gelesen und er mit ganz besonderer Rührung ihr gute Nacht gesagt. Zu rechter Stunde klopfte die Großmutter am andern Morgen an seine Tür, ihn für die fromme Feier zu wecken; da er nicht antwortete, öffnete sie leise und trat in die Kammer. Die Nachtlampe vor seinem Bette flackerte im Verlöschen und beleuchtete ein Bild heiligen Friedens. Die Bibel, in welcher der Greis vor dem Entschlummern gelesen, lag offen auf seiner Brust, die Hände waren sanft darüber gefaltet, die Züge ruhig und der Kopf geneigt wie die eines Schlummernden. Aber das Herz stand still; inmitten der tiefsten Andacht hatte es aufgehört zu schlagen.

Und drei Tage nach diesem weinten viele mit uns an seinem Grabe und sagten Amen zu dem Spruche seines geistlichen Freundes:

»Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatze seines Herzens.«

Und dir, mein Leser, und mir und allen Menschen wünsche ich, daß dieser Spruch mit gleichem Rechte uns nachgerufen werde.