Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von
dem Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die
Erde steckte und einen Hof baute. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das
namengebende Geschlecht im Volke verschwunden, machte ein Lehenmann den Dorfnamen
zu seinem Titel und baute ein Schloß, von dem niemand mehr weiß, wo es gestanden
hat; ebensowenig ist bekannt, wann der letzte »Edle« jenes Stammes gestorben ist.
Aber das Dorf steht noch da, seelenreich, und belebter als je, während ein paar
Dutzend Zunamen unverändert geblieben und für die zahlreichen, weitläufigen
Geschlechter fort und fort ausreichen müssen. Der kleine Gottesacker, welcher sich
rings an die trotz ihres Alters immer weiß geputzte Kirche legt und niemals
erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten
Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter; es ist unmöglich, daß bis zur Tiefe
von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den
menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen
hat. Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit
in die Erde kommen und den ebenso alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen
rings entstammen; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden,
welche auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht wurde und also so gut zur
Familie gehört wie jene Tannenbretter und nicht hindert,
Das Dorf zählt kaum zweitausend Bewohner, von welchen je ein paar hundert den gleichen Namen führen; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen, weil die Erinnerungen selten bis zum Urgroßvater hinaufsteigen. Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen, sonnen sich diese Menschen darin, so gut es gehen will, rühren sich und wehren sich ihrer Haut, um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen, so sind sie sattsam überzeugt, daß sie eine ununterbrochene Reihe von zweiunddreißig Ahnen besitzen müssen, und anstatt dem natürlichen Zusammenhange derselben nachzuspüren, sind sie vielmehr bemüht, die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen. So kommt es, daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können, ohne zu wissen, wie es zugegangen ist, daß der Großvater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt jeder selbst zu besitzen, wenigstens diejenigen, welche nach seiner Lebensweise für ihn wirkliche Tugenden sind, und was die Missetaten betrifft, so hat der Bauer so gut Ursache wie der Herr, die seiner Väter in Vergessenheit begraben zu wünschen; denn er ist zuweilen trotz seines Hochmutes auch nur ein Mensch.
Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches, unverwüstliches
Vermögen der Bewohner. Dieser Reichtum blieb sich von jeher so ziemlich gleich;
wenn auch hie und
Die Einteilung des Besitzes aber verändert sich von Jahr zu Jahr ein wenig und mit jedem halben Jahrhundert fast bis zur Unkenntlichkeit. Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher, um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen.
Mein Vater starb so früh, daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören; ich weiß daher so gut wie nichts von diesem Manne; nur so viel ist gewiß, daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner engeren Familie war. Da ich nicht annehmen mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei, so halte ich es für wahrscheinlich, daß sein Vermögen durch eine zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vettern, welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß, die, wie die Ameisen krabbelnd, bereits wieder im Begriffe sind, ein gutes Teil der viel zerhackten und durchfurchten Grundstücke an sich zu bringen. Ja, einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kinder wieder arm geworden.
Dazumal war es nicht ganz mehr jene Schweiz, welche dem Legationssekretär Werther
so erbärmlich vorgekommen ist, und wenn auch die junge Saat der französischen
Ideen durch einen ungeheuern Schneefall östreichischer, russischer und selbst
französischer Quartierbilletts bedeckt worden war, so gestattete doch die
Mediationsverfassumg einen gelindert Nachsommer und
Geistige Bedürfnisse waren in diesen Kreisen nicht viele vorhanden; die weltliche
Bibliothek des Pfarrers bestand, wie ich
Aber diese ganze Herrlichkeit barg bereits den Keim ihres Zerfalles in sich selbst. Der Pfarrer hatte einen Sohn und eine Tochter, welche beide in ihren Neigungen von denjenigen ihrer Umgebung abwichen. Während der Sohn, ebenfalls ein Geistlicher und dazu bestimmt, seinem Vater im Amte zu folgen, vielfache Verbindungen mit jungen Bauern anknüpfte, mit ihnen ganze Tage auf dem Felde lag oder auf Viehmärkte fuhr und mit Kennerblicke die jungen Kühe betastete, hing die Tochter, sooft sie nur immer konnte, die griechischen Gewänder an den Nagel und zog sich in Küche und Garten zurück, dafür sorgend, daß die unruhige Gesellschaft etwas Ordentliches zu beißen fand, wenn sie von ihren Fahrten zurückkehrte. Auch war diese Küche nicht der schwächste Anziehungspunkt für die genäschigen Städtebewohner, und der große gutbebaute Garten zeugte für einen ausdauernden Fleiß und treffliche Ordnungsliebe.
Der Sohn endigte sein Treiben damit, daß er eine begüterte rüstige Bauerntochter
heiratete, in ihr Haus zog und alle sechs Werktage hindurch ihre Äcker und ihr
Vieh bestellte. In Anwartschaft
Denn eines Tages geschah es, daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde
durch die Ankunft eines schönen, schlanken Mannes, der einen feinen grünen Frack
trug nach dem neuesten Schnitte, enganliegende weiße Beinkleider und glänzende
Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen. Wenn es regnerisch aussah, so führte er einen
rotseidenen Schirm mit sich, und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm
in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen Anstrich. Dieser Mann bewegte
sich mit einem edlen Anstande in den Gassen des Dorfes umher und trat freundlich
und leutselig in die niederen Türen, verschiedene alte Mütterchen und Gevattern
aufsuchend, und war niemand anders als der weitgereiste Steinmetzgeselle Lee,
welcher seine lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte. Man kann wohl sagen
ruhmvoll, wenn man bedenkt, daß er
Es waren nur wenige gleichgesinnte Arbeitsgenossen, welche die ersten, seltenen
und verborgenen Keime bildeten zu der Selbstveredlung und Aufklärung, so den
wandernden Handwerkerstand zwanzig Jahre später durchdrangen, und welche einen
Stolz darauf setzten, die besten und gesuchtesten Arbeiter zu sein, und dadurch,
verbunden mit Fleiß und Mäßigkeit, die Mittel erlangten, auch ihren Geist zu
bilden und äußerlich wie innerlich schon in ihren Wanderjahren als achtungswerte,
tüchtige Männer dazustehen. Überdies war dem Steinhauer in den großen Werken
altdeutscher Baukunst ein Licht
In der Stadt fing jener junge Baumeister damit an, daß er einige Arbeiter
anstellte und, selbst arbeitend vom Morgen bis zum Abend, kleinere Aufträge aller
Art annahm und darin so viel Geschick und Zuverlässigkeit zeigte, daß noch vor
Ablauf eines Jahres sein Geschäft sich erweiterte und sein Kredit sich begründete.
Er war so erfinderisch und einsichtsvoll, gewandt und schnell beraten, daß bald
viele Bürger seinen Rat und seine Arbeit suchten, wenn sie im Zweifel waren, wie
sie etwas verändern oder neu bauen lassen sollten. Dabei war er immer bestrebt,
das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden, und war froh, wenn ihn seine Kunden
nur gewähren ließen, so daß sie manche Zierde, manches Fenster und Gesims von
reineren Verhältnissen erhielten, ohne daß sie deswegen den Geschmack ihres
Baumeisters teurer bezahlen mußten. Seine Frau aber führte mit wahrem Fanatismus
das Hauswesen, welches durch verschiedene Arbeiter und Dienstboten schnell
erweitert wurde. Sie beherrschte mit Kraft und Meisterschaft das Füllen und Leeren
einer Anzahl großer Speisekörbe und war der Schrecken der Marktweiber und die
Verzweiflung der Schlächter, welche alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten
mußten, einen Knochensplitter mit auf die Waage zu bringen,
Dies tätige Leben versetzte den unermüdlichen Mann in den Mittelpunkt eines weiten
Kreises von Bürgern, welche alle zu ihm in Wechselwirkung traten, und unter diesen
bildete sich ein engerer Ausschuß gleichgesinnter und empfänglicher Männer, denen
er sein rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen mitteilte. Es war nun um die
Mitte der zwanziger Jahre, wo in der Schweiz eine große Anzahl gebildeter Männer
aus dem Schoße der herrschenden Klassen selbst, die abgeklärten Ideen
Zu diesen verschiedenen Elementen kam und berührte sie gemeinschaftlich der
griechische Freiheitskampf, welcher auch hier, wie überall, zum ersten Mal in der
allgemeinen Ermattung die Geister wieder erweckte und erinnerte, daß die Sache der
Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei. Die Teilnahme an den hellenischen
Betätigungen verlieh auch den nicht philologischen Genossen zu ihrer übrigen
Begeisterung einen edlen kosmopolitischen Schwung und benahm den hellgesinnten
Gewerbsleuten den letzten Anflug von Spieß- und Pfahlbürgertum. Lee war überall
mit voran, ein zuverlässiger, hingebender
Doch sollte dies aufgeregte Leben auf andere Weise Unheil bringen. Lee hatte sich,
bei seinen gehäuften Arbeiten in steter
Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an als
das, was er wirklich besitzt; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter
immer mehr mit Sehnsucht nach meinem Vater erfüllt, welchen ich nicht mehr gekannt
habe. Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarerweise um ein volles
Jahr vor seinen Tod zurück, auf einen einzelnen schönen Augenblick, wo er an einem
Sonntagabend auf dem Felde mich auf den Armen trug, eine Kartoffelstaude
Wenn ich bedenke, wie heiß treue Eltern auch an ihren ungeratensten Kindern hangen
und dieselben nie aus ihrem Herzen verbannen können, so finde ich es höchst
unnatürlich, wenn sogenannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und preisgeben,
weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben, und ich preise die Liebe
eines Kindes, welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verläßt und
verleugnet, und begreife das unendliche, aber erhabene Weh einer Tochter, welche
ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schafotte beisteht. Ich weiß daher
nicht, ob es aristokratisch genannt werden kann, wenn ich mich doppelt glücklich
fühle, von ehrlichen und geachteten Eltern abzustammen, und wenn ich vor Freude
errötete, als ich, herangewachsen, zum ersten Male meine bürgerlichen Rechte
ausübte in bewegter Zeit und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir
herantrat, mir die Hand schüttelte und sagte, er sei ein Freund meines Vaters
gewesen und er freue sich, mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen; als dann
noch mehrere
So aber muß ich mich darauf beschränken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schicksal entgegenschreite, mich, zusammenzufassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken: Wie würde er nun an deiner Stelle handeln, oder was würde er von deinem Tun urteilen, wenn er lebte. Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebensschnur, deren Anfang niemand kennt, in meinen schwachen Händen zurückgelassen, und es bleibt mir nur übrig, sie mit Ehren an die dunkle Zukunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen, wenn auch ich sterben werde. – Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwischenräumen, wiederholt geträumt, der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Glück und Freude bringend, zurückgekehrt, und sie erzählte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, während ich, von einem heiligen Schauer durchweht, mir vorzustellen suchte, mit welchen Blicken mich der teure Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde, wenn er wirklich eines Tages so erschiene.
Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für seine Witwe eine schwere Zeit
der Trauer und Sorge. Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des
vollen Umschwunges und erforderte weitläufige Verhandlungen, um sie ins reine zu
bringen. Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen,
Unternehmungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche
einzuziehen an allen Ecken und Enden; Vorräte von Baustoffen mußten mit Verlust
verkauft werden, und es war zweifelhaft, ob bei der augenblicklichen Lage der
Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig bleiben würde, wovon die bekümmerte Frau
leben sollte. Gerichtsmänner kamen, legten Siegel an und lösten sie wieder; die
Freunde des Verstorbenen und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu, halfen
und ordneten; es wurde durchgesehen, gerechnet, abgesondert, gesteigert. Käufer
und neue Unternehmer meldeten sich, suchten die Summen herunterzudrücken oder mehr
in Beschlag zu nehmen, als ihnen gebührte, es war ein Geräusch und eine Spannung,
daß meine Mutter, welche immer mit wachsamen Augen dabei stand, zuletzt nicht mehr
wußte, wie sie sich helfen sollte. Allmählich klärte sich die Verwirrung auf, ein
Geschäft um das andere war abgetan, alle Verbindlichkeiten
Das erste, was meine Mutter begann, war eine gänzliche Einschränkung und
Abschaffung alles Überflüssigen, wozu voraus jede Art von dienstbaren Händen
gehörte. In der Stille dieses Witwentumes fand ich mein erstes deutliches
Bewußtsein, welches seinen Inhaber zur Übung treppauf und – ab im Innern des
Hauses umherführte. Die untern Stockwerke sind dunkel, sowohl in den Gemächern
wegen der Enge der Gassen als auf den Treppenräumen und Fluren, weil alle Fenster
für die Zimmer benutzt wurden. Einige Vertiefungen und Seitengänge gaben dem Raume
ein düsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu entdeckende Geheimnisse
für mich; je höher man aber steigt, desto freundlicher und heller wird es, indem
der oberste Stock, den wir bewohnten, die Nachbarhäuser überragt. Ein hohes
Fenster wirft reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und
wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs, welcher einen hellern Gegensatz
zu den kühlen Finsternissen der Tiefe bildet. Die Fenster unserer Wohnstube gingen
auf eine Menge kleiner Höfe hinaus, wie sie oft von einem Häuserviertel
umschlossen werden und ein verborgenes behagliches Gesumme enthalten, welches man
auf der Straße nicht
So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem höchsten Wesen, ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit, kein Recht und kein Unrecht und ließ Gott herzlich einen guten Mann sein, wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde.
Ich fand aber bald Veranlassung, in ein bewußteres Verhältnis zu ihm zu treten und
zum ersten Mal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben, als ich, sechs
Jahre alt, mich eines schönen Morgens in einen melancholischen Saal versetzt sah,
in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und Mädchen unterrichtet wurden.
In einem Halbkreise mit sieben andern Kindern um eine Tafel herum stehend, auf
welcher große Buchstaben
Am Nachmittage wurde ich wieder in die Schule geschickt, und ich trat mit großem
Mißtrauen in die gefährlichen Hallen, welche die Verwirklichung seltsamer und
beängstigender Träume zu sein schienen. Ich bekam aber den bösen Schulmann nicht
zu Gesicht; er hielt sich in einem Verschlage auf, welcher eine Art Geheimzimmer
vorstellte und ihm zur Einnahme von kleinen Kollationen diente. An der Türe dieses
Verschlages befand sich ein rundes Fensterchen, durch welches der Tyrann öfters
den Kopf zu stecken pflegte, wenn draußen ein Geräusch entstand. Die Glasscheibe
dieses Fensterchens fehlte seit geraumer Zeit, so daß er durch den leeren Rahmen
sein Haupt weit in die Schulstube hineinstrecken konnte zur sattsamen Umsicht. An
diesem verhängnisvollen Tage nun hatte der Hausmeister gerade während der
Mittagszeit die fehlende Scheibe ersetzen lassen, und ich schielte eben ängstlich
nach derselben, als sie mit hellem Klirren zersprang und der umfangreiche Kopf
meines Widersachers hindurchfuhr. Die erste Bewegung in mir war ein Aufjauchzen
der herzlichsten Freude, und erst als ich sah, daß er übel zugerichtet war und
blutete, da wurde ich betreten, und es ward zum dritten Male klar in meiner Seele,
und ich verstand die Worte Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben
unsern Schuldigern! So hatte ich an diesem ersten Tage schon viel gelernt; zwar
nicht, was der Pumpernickel sei, wohl aber, daß man in der Not einen Gott anrufen
müsse, daß derselbe gerecht sei und uns zu gleicher Zeit lehre, keinen Haß und
keine Rache in uns zu tragen. Aus dem Gebote, seinen Beleidigern zu vergeben,
entsteht, wenn es befolgt wird,
Im Verlaufe der ersten Schuljahre fand ich nun häufige Gelegenheit, meinen Verkehr
mit Gott zu erweitern, da die kleinen Erlebnisse sich vermehrten. Ich hatte mich
bald in den Weltlauf ergeben und tat, wie die andern Kinder, was ich nicht lassen
konnte. Dadurch war ich abwechselnd zufrieden und geriet in Bedrängnis, wie es das
Wohlverhalten oder die Vernachlässigung meiner Pflichten nebst allerhand
kindischem Unfuge mit sich brachten. In jeder üblen Lage aber rief ich Gott an und
betete in meinem Innern in wenigen wohlgesetzten Worten, wenn die Krisis zu reifen
begann, um eine günstige Entscheidung und um Rettung aus der Gefahr, und ich muß
zu meiner Schande gestehen, daß ich immer entweder das Unmögliche oder das
Ungerechte verlangte. Oft war es der Fall, daß meine Sünden übersehen wurden; und
alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen,
welche um so vergnüglicher waren, als mir der Sinn für die Verdientheit der Strafe
so lange verschlossen blieb, bis ich bewußte Fehler beging. So bestand der Stoff
meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung das eine Mal bat ich um die
gelungene Probe eines schwierigen Rechenexempels oder daß der Vor gesetzte für
einen Tintenklecks in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde; das andere Mal,
ein zweiter Josua, um Still stand der Sonne, wenn ich mich zu verspäten drohte,
oder auch um Erlangung eines fremden leckeren Backwerkes. Als die Jungfrau, welche
ich die weiße Wolke nannte, einst für lange Zeit verreiste und eines Abends bei
uns Abschied nahm, während ich schon in meinem Bettchen lag, jedoch alles hörte,
bat ich meinen himmlischen Vater in sehnlichen Ausdrücken, er möchte bewirken, daß
sie mich hinter meinen Vorhängen nicht
Eines Tages wurde ich zur Strafe über die Mittagszeit in der Schule zurückbehalten
und eingeschlossen, so daß ich erst auf den Abend zu essen bekam. Das war das
erste Mal, wo ich den Hunger kennen und zugleich die Ermahnungen meiner Mutter
verstehen lernte, welche mir Gott vorzüglich als den Erhalter und Ernährer
jeglicher Kreatur anpries und als den Schöpfer unsres schmackhaften Hausbrotes
darstellte, der Bitte gemäß Gib uns heut unser tägliches Brot! Überhaupt gewann
ich für die Nahrungsdinge Interesse und manche Einsicht in die Beschaffenheit
derselben, indem ich fast ausschließlich den Verkehr von Frauen mit ansah, dessen
Hauptinhalt der Erwerb und die Besprechung von Lebensmitteln war. Auf meinen
Wanderungen durch das Haus drang ich allmählich tiefer in den Haushalt der
Mitbewohner ein und ließ mich oft aus ihren Schüsseln bewirten, und
undankbarerweise schmeckten mir die Speisen überall besser als bei meiner Mutter.
Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Rezepte ganz die gleichen sind, doch ihren
Speisen durch die Zubereitung einen besondern Geschmack, welcher ihrem Charakter
entspricht. Durch eine kleine Bevorzugung eines Gewürzes oder eines Krautes, durch
größere Fettigkeit oder Trockenheit, Weichheit oder Härte bekommen alle ihre
Speisen einen bestimmten Charakter, welcher das genäschige oder nüchterne,
weichliche oder spröde, hitzige oder kalte, das verschwenderische oder geizige
Wesen der Köchin ausspricht, und man erkennt sicher die Hausfrau aus den wenigen
Hauptspeisen des Bürgerstandes; ich meinerseits, als ein frühzeitiger Kenner, habe
aus einer bloßen Fleischbrühe den Instinkt geschöpft, wie ich mich zu der
Meisterin derselben zu verhalten habe. Die Speisen meiner Mutter hingegen
ermangelten sozusagen aller und jeder Besonderheit. Ihre Suppe war nicht fett
Nun geschah es aber, daß in dem Maße, als ich ihn deutlicher erfaßte und sein
Wesen mir unentbehrlicher und ersprießlicher wurde, mein Umgang mit Gott sich
verschämt zu verschleiern begann und, als meine Gebete einen gewissen Sinn
erhielten, mich eine wachsende Scheu beschlich, sie laut herzusagen. Meine
Infolge dieses rührenden Bestrebens und auf das Zureden einer nichtsnutzigen Heuchlerin wollte sie eines Sonntags, als wir uns eben zu Tische gesetzt hatten, das Tischgebet einführen, welches bis dahin nicht üblich gewesen in unserm Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein kleines altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und nicht weiterkonnte!
Das Essen dampfte auf dem Tische, es war ganz still in der Stube, die Mutter
wartete, aber ich brachte keinen Laut hervor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber
ohne Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen, und sie ließ es für diesmal
bewenden, da sie mein Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt. Am
folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt, und sie wurde nun ernstlich
bekümmert und sagte: »Warum willst du nicht beten? Schämst du dich?« Das war nun
zwar der Fall, ich vermochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es getan, es
doch nicht wahr gewesen wäre in dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte Tisch
kam mir vor wie ein Opfermahl, und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor
den duftenden
»Nun sollst du nicht essen, bis du gebetet hast!« sagte die Mutter, und ich stand auf und ging vom Tische weg in eine Ecke, wo ich in grolle Traurigkeit verfiel, die mit einigem Trotze vermischt war. Meine Mutter aber blieb sitzen und tat so, als ob sie essen würde, obgleich sie es nicht konnte, und es trat eine Art düstrer Spannung zwischen uns ein, wie ich sie noch nie gefühlt hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie ging schweigend ab und zu und räumte den Tisch ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Stäubchen darin wäre, wieder herein und sagte: »Da kannst du essen, du eigensinniges Kind!« worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Tränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ, sobald die heftige Bewegung nachließ. Auf dem Wege zur Schule ließ ich es nicht an einem vergnügten Dankseufzer fehlen für die glückliche Befreiung und Versöhnung.
Als ich in späteren Jahren im Heimatdorfe auf Besuch war, wurde ich an das
Ereignis lebhaft erinnert durch eine Geschichte, welche sich vor mehr als hundert
Jahren mit einem Kinde dort zugetragen hatte und einen tiefen Eindruck auf mich
machte. In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel
eingelassen, welche nichts als ein halbverwittertes Wappen und die Jahrzahl 1713
trug. Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes und erzählten
allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von demselben, wie es ein
vornehmes
Die eigentliche Geschichte war nun die, daß das kleine Mädchen, einer adeligen,
stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig, eine hartnäckige Abneigung gegen
Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbücher zerriß, welche man ihm
gab, im Bette den Kopf in die Decke hüllte, wenn man ihm vorbetete, und kläglich
zu schreien anfing, wenn man es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich
vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab. Es war ein Kind aus
einer unglücklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des Anstoßes sein.
So beschloß man, als es durch keine Mittel von der unerklärlichen Unart abgebracht
werden konnte, das Kind jenem wegen seiner Strenggläubigkeit berühmten Pfarrherrn
versuchsweise in Pflege zu geben. Wenn schon die Familie die Sache als ein
befremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes Unglück auffaßte, so betrachtete
der dumpfe, harte Mann dieselbe vollends als eine unheilvolle infernalische
Erscheinung, welcher mit aller Kraft entgegenzutreten sei. Demgemäß nahm er seine
Maßregeln, und ein altes vergilbtes »diarium«, von ihm herrührend und im
Pfarrhause aufbewahrt, enthält einige Notizen, welche über sein Verfahren sowie
das weitere Schicksal des unglücklichen Geschöpfes hinreichenden Aufschluß geben.
Folgende
»Heute habe ich von der hochgebornen und gottesfürchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten, alsogleich quittiret und Bericht erstattet. Ferner der kleinen Meret (Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen züchtigte, nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge. Hat die Kleine zwaren jämmerlich geschrieen und de- und wehmüthig um Pardon gebeten, aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmähet, so ich ihr zum Lernen vorgehalten. Habe sie derowegen kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still geworden ist, bis sie urplötzlich zu singen und jubiliren angefangen, nicht anders wie die drey seligen Männer im Feuerofen, und habe ich zugehöret und erkennt, daß sie die nämliche versificirten Psalmen gesungen, so sie sonsten zu lernen refusirete, aber in so unnützlicher und weltlicher Weise, wie die thörichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben; so daß ich solches Gebahren für eine neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nemen gezwungen ward.«
Ferner:
»Sahe mich heute gezwungen, die kleine Demoiselle von allem Verkehr und Unterhalt mit denen Baurenkindern abzusperren, weill sie mit selbigen in das Holz gelauffen, allda gebadet im Holzweiher, das Bußhemdlein, so ich ihr ordiniret, an ein Baumast gehenkt hat und nackent davor gesprungen und getanzt und auch ihre Gespanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizet. Beträchtliche Correction.«
»Heut ein großer Spectakel und Verdruß. Kame ein großer, starker Schlingel, der
junge Müllerhans, und richtete mir Händel an von wegen der Meret, welche er
alltäglich schreien und heulen zu hören vorgegeben, und disputirte ich mit
demselben, als auch der junge Schulmeister, der Tropf, herankam und drohete, mich
zu verklagen, und fiel über die schlimme Creatur her, herzete und küssete sie etc.
etc. Ließ den Schulmeister alsochgleich arretiren und zum Landvogt führen. Dem
Müllerhans muß ich auch noch beikommen, obgleich selbiger reich und gewaltthätig
ist. Möchte bald selber glauben, was die Bauersleute sagen, daß das Kind eine Hexe
sey, wenn diese
»Diese ganze Woche habe ich einen Mahler im Hause tractiret, so mir Madame
übersendet, damit er das Portrait der kleinen Fräulein anfertige. Die bedrängte
Familie will das Geschöpfe nicht mehr zu sich nemen und allein zum traurigen
Angedenken und zur bußfertigen Anschauung, auch von wegen der großen Schönheit des
Kindes, ein Conterfey behalten. Insbesundere will der Herr nicht von dieser Idee
lassen. Meine Ehefrau verabreicht dem Mahler alltäglich zwei Schoppen Wein, woran
er nicht genug zu haben scheinet, da er allabendlich in den rothen Löwen gehet und
dort mit dem Chirurgo spielet. Ist ein hochfahrendes Subject und setze ihm daher
öfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor, welches in dem Quartal Conto der
Madame zu vermerken ist. Wollte anfenglich mit der Kleinen sein Wesen und
Freundlichkeit treiben und hat sie sich sogleich an ihn attachiret, daher ich ihme
bedeutet habe, mir in meinem Procedere nicht zu interveniren. Wie man der Kleinen
ihr verwahrte Habit und Sonntagsstaat herfürgehohlt und angelegt benebst der
Schapell und der Gürtlen, so hat sie großen Plaisir gezeiget und zu tanzen
begonnen Diese ihre Freude ist aber bald verbittert worden, als ich nach dem
Befelch der Frau Mama 1 Todtenschedel hohlen ließe und in die Hand zu tragen gab,
welchen sie partout nicht nemen wollen und hernachmalen weinend und zitternd in
der Hand gehalten, wie wenn es ein feurig Eisen wär. Zwaren hat der Mahler
behauptet, er könne den Schedel aufwendig mahlen, weill solcher zu denen
allerersten Elementen seiner Kunst gehöre, habe es aber nicht zugegeben, sintemal
Madame geschrieben hat: ›Was das Kind leidet, das leiden auch wir, und ist uns in
seinem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben, so wir für ihn's thun können;
derohalb brechen Ew. Wohlehrwürden in Nichts ab, Euere Fürsorge und Education
betreffend. Wenn das Töchterlein dereinst, wie ich
»Habe heut plötzlich ein Contreordre erhalten in Betreff des Tableau und soll nun selbiges nicht nach der Stadt spediren, sondern hier behalten. Es ist Schad um die brave Arbeit, so der Mahler gemacht hat, weil er ganz charmiret war von der Anmuth des Kinds. Hätt ich es früher gewußt, so hätt der Mann für diesen Kostenaufwand mein eigen Conterfey auf das Tuch mahlen können, wenn die schönen Victualien nebst Lohn einmal drauff gehen sollen.«
»Es ist mir fernerer Befelch zu Handen gekommen, mit aller weltlichen Instruction abzubrechen, besonders mit dem Französischen, da solches nicht mehr nöthig erachtet werde, so wie auch meine Gemahlin den Unterricht auf dem Spinett sistiren solle, was der Kleinen leid zu thun scheinet. Vielmehr soll ich sie fortan als ein einfaches Pflegekind tractiren und allein fürsorgen, daß sie kein öffentlich Ärgernuß gebe.«
»Vorgestern ist uns die kleine Meret desertiret und haben wir große Angst
empfunden, bis daß sie heute Mittag um 12 Uhr zu obrist auf dem Buchenloo
ausgespüret wurde, wo sie entkleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne saß und sich
baß wärmete. Sie hatt' ihr Haar ganz aufgeflochten und ein Kränzlein
»Mit dem Meretlein gehet es wiederum besser, jedoch ist sie mehr und mehr verändert und wird des Gänzlichen dumm und stumm. Die Consultation des herbeygeruffenen Medici verlautet dahin, daß sie irr-oder blödsinnig werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey; er offerirte sich auch zu derselbigen und hat verheißen, das Kind wieder auf die Beine zu bringen, wenn es in seinem Hause placiret würde. Ich merke aber schon, daß es dem Monsieur Chirurgo nur um die gute Pension benebst denen Präsenten von Madame zu thun seye, und berichtete derohalb, was ich für gut befunden, nemlich daß der Herr seinen Plan nunmehr an ein Ende zu führen scheine mit seiner Creatur und daß Menschenhände hieran Nichts changiren möchten und dürften, wie es in Wirklichkeit auch ist.«
Nach Überschlagung von fünf bis sechs Monaten heißt es weiter:
»Es scheinet dieses Kind in seinem blöden Zustande einer trefflichen Gesundheit zu genießen und hat ganz muntere rothe Backen bekommen. Hält sich nun den ganzen Tag in den Bohnen auf, wo man sie nicht siehet und weiter nicht um sie bekümbert, zumalen sie weiter kein Ärgernuß giebet.«
»Das Meretlein hat sich in Mitten des Bohnenplatz ein kleinen Salon arrangiret, so
man entdecket, und hat dorten artliche Visites acceptiret von denen Baurenkindern,
welche ihme Obst und andere Victualia zugeschleppet, so sie gar zierlich vergraben
und in Vorrath gehalten hat. Daselbst hat man auch jenen
»Die rothen Backen sind wiederum von ihr gewichen und behauptet der Chirurgus, sie werde es nicht mehr lang prästiren. Habe auch schon an die Eltern geschrieben.«
»Heut vor Tag schon muß das arme Meretlein aus seinem Bettlein entkommen, in die
Bohnen hinauß geschlichen und dort verschieden seyn; denn wir haben sie alldort
für todt gefunden in einem Grüblein, so sie in den Erdboden hineingewühlet, als ob
sie hineinschlüpfen wollen. Sie ist ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr
Hemdlein feucht und schwer vom Thau, als welcher auch in lauteren Tropfen auf
ihren fast röthlichen Wänglein gelegen, nicht anders denn auf einem Apfelblust.
Und haben wir einen heftigen Schrecken bekommen und bin ich in große Verlegenheit
und Confusion gerathen den heutigen Tag, dieweill die Herrschaft aus der Stadt
angelanget, just wie meine Ehefrau verreiset ist nach K., um allda einiges Confect
und Provision einzukaufen, damit die Herrschaften höflichst zu tractiren. Wußte
derohalb nicht, wo mir der Kopf gestanden und war ein großes Rennen und Laufen,
und sollten die Mägde das Leichlein waschen und ankleiden und zugleich für ein
guten Imbiß sorgen. Endlich habe ich den grünen Schinken braten lassen, so meine
Frau vor acht Tagen in Essig geleget, und hat der Jakob drei Stück von denen
zahmen Forellen gefangen, welche noch hin und wieder an den Garten kommen,
obgleich man die selige (?!) Meret nicht mehr zum Wasser hinauß gelassen. Habe zum
Glück mit diesen Speißen noch ziemliche Ehre eingeleget
»Dieses ist der allerwunderbarste und schreckhafteste Tag gewesen, nicht nur
allein seit wir mit dieser unseligen Creatur zu schaffen, sondern der mir
überhaupt in meiner ruhsamen Existenz aufgestoßen ist. Denn als die Stunde
gekommen und es zehn Uhr geschlagen, haben wir uns hinter dem Leichlein her in
Bewegung gesetzet und nach dem Gottesacker begeben, indessen der Sigrist die
kleine Glocken geläutet, was er aber nicht mit sehrem Fleiße gethan, dieweil es
fast erbärmlich geklungen und das Geläute zur Halbpart vom starken Winde
verschlungen worden, der unwirsch gewehet hat. Und war auch der Himmel ganz dunkel
und schwül, so wie der Kirchhof von Menschen entblößet außer unserer kleinen
Compagnie, hergegen außerhalb denen Mauren die ganze Baursame vereiniget und hat
neugierig die Köpfe herüber gerecket. Wie man aber so eben das Todtenbäumlein in
das Grab hinunter senken wollen, hat man ein seltsamen Schrei gehört aus dem
Todtenbäumlein hervor, so daß Wir auf das Heftigste erschrocken sind und der
Todtengräber auf und davon gesprungen ist. Der Chirurgus aber, welcher auch
herzugeloffen, hat schleunigst den Deckel losgemacht und abgehebt, und hat sich
das Tödlein als lebendig aufgerichtet und ist
»Heute hat der Medicus nach unterschiedlichen Experimenten erklärt, daß das Kind wirklich todt seye, und ist es nun in der Stille beigesetzt worden und nichts Weiteres arriviret usf.«
Ich kann nicht sagen, daß, nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt
eines Ernährers und Aushelfers für mich gewonnen hatte, er mein Herz in jenem
Alter mit zarteren Empfindungen oder tiefgehenden Gemütsfreuden erfüllte, zumal er
aus dem glänzenden Gewande des Abendrotes sich verloren, um in viel späterer Zeit
es wieder umzunehmen. Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach,
so fuhr sie fort, vorzüglich im Alten Testamente zu verweilen, bei der Geschichte
der Kinder Israel in der Wüste oder bei den Kornhändeln Josephs und seiner Brüder,
bei der Witwe Ölkrug und dergleichen oder ausnahmsweise bei der Speisung der
fünftausend Männer im Neuen Testamente. Alle diese Ereignisse gefielen ihr
ausnehmend wohl, und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor, während
letztere mehr einem pflichtgemäß frommen Erzählen Raum gab, wenn das bewegte und
blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde. Sosehr ich daher den
lieben Gott respektierte und in allen Fällen bedachte, so blieben mir doch die
Phantasie und das Gemüt leer, solange ich keine neue Nahrung schöpfte außer den
bisherigen Erfahrungen; und wenn ich keine Veranlassung hatte, irgendeinen
angelegentlichen Gebetvortrag abzufassen, so war mir Gott nachgerade eine farblose
und langweilige Person, die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbarkeiten
reizte, zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne
verlor. So gereichte es mir eine Zeitlang zu nicht geringer Qual, daß ich eine
krankhafte Versuchung empfand, Gott derbe Spottnamen, selbst Schimpfworte
anzuhängen, wie ich sie etwa auf der Straße gehört hatte. Mit einer Art
behaglicher und mutwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung
Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlossen, welche meiner suchenden Phantasie zu Hilfe kam und mich von diesen unfruchtbaren Quälereien erlöste, indem sie, bei der Einfachheit und Nüchternheit meiner Mutter, für mich das wurde, was sonst sagenreiche Großmütter und Ammen für die stoffbedürftigen Kinder sind.
In dem Hause gegenüber befand sich eine offene dunkle Halle, ganz mit Trödelkram
angefüllt. Die Wände waren mit alten Seidengewändern, gewirkten Stoffen und
Teppichen aller Art behangen. Rostige Waffen und Gerätschaften, schwarze
zerrissene Ölgemälde bekleideten die Eingangspfosten und verbreiteten sich zu
beiden Seiten an der Außenseite des Hauses; auf einer Anzahl altmodiger Tische und
Geräte stand wunderliches Glasgeschirr und Porzellan aufgetürmt, mit allerhand
hölzernen und irdenen Figuren vermischt. In den tieferen Räumen waren Berge von
Betten und Hausgeräten übereinandergeschichtet, und auf den Hochebenen und
Absätzen derselben, manchmal auf einem gefährlichen einsamen Grate, stand überall
noch eine schnörkelhafte Uhr, ein Kruzifix oder ein wächserner
Dort hatte Frau Margret diejenigen Gegenstände zusammen gehäuft und als Zierat
angebracht, welche ihr in ihrem Handel und Wandel am besten gefallen, und sie nahm
keinen Anstand, etwas für sich aufzubewahren, wenn es ihr Interesse erweckte. An
den Wänden hingen alte Heiligenbilder auf Goldgrund und in den Fenstern gemalte
Scheiben, und allen diesen Dingen schrieb sie irgendeine merkwürdige Geschichte
oder sogar geheime Kräfte zu, was ihr dieselben heilig und unveräußerlich machte,
sosehr auch Kenner sich manchmal bemühten, die wirklich wertvollen Denkmäler ihrer
Unwissenheit zu entreißen. In einer Truhe von Ebenholz bewahrte sie goldene
Schaumünzen, seltene Talerstücke, Filigranarbeiten und andere köstliche
Spielereien, für welche sie eine große Vorliebe trug und die sie nur wieder
veräußerte, wenn ein besonderer Gewinn sich damit verband. Endlich war auf einem
Wandgestelle eine beträchtliche Zahl unförmlicher alter Bücher aufgespeichert,
welche sie mit großem Eifer zusammenzusuchen pflegte. Es waren verschiedene
Bibeln, alte Kosmographien mit zahllosen Holzschnitten, fabelgespickte
Reisebeschreibungen, vorzüglich kuriose Mythologien aus dem vorigen Jahrhundert
mit großen zusammengefalteten Kupferstichen, welche vielfach zerknittert und
zerrissen waren; sie nannte diese naiv geschriebenen Werke schlechtweg Heiden-
oder auch Götzenbücher. Ferner hielt sie eine reiche Sammlung solcher
Volksschriften, welche Nachricht gaben von einem fünften Evangelisten, von den
Jugendjahren Jesu, noch unbekannten
Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerb und emsiger Tätigkeit mochte es auch
kommen, daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen
waren. Die Unermüdlichkeit und stetige Aufmerksamkeit dieser Menschen, welche
öfter bei ihr verkehrten und ihre schweren Lasten abstellten, volle Geldbeutel aus
unscheinbarer Hülle hervorzogen und ihr zum Aufbewahren anvertrauten, ohne irgend
ein Wort
Da sie jedoch ebenfalls Gott fürchteten und eine scharf ausgeprägte Religion hatten, so gehörten sie noch eher in diesen Kreis, als man zwei weitere Personen darin vermutet hätte, welche allerdings irgend anderswo zu suchen waren als gerade hier; und doch schienen sie eine Art unentbehrlichen Salzes für die wunderliche Mischung zu sein.
Es waren dies zwei erklärte Atheisten. Der eine, ein schlichter, einsilbiger
Schreinersmann, welcher schon manches Hundert Särge gefertigt und zugenagelt
hatte, war ein braver Mann
Dieser Art war die Versammlung, welche an vielen Abenden, zumal im Winter, bei
Frau Margret zu treffen war, und ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich
plötzlich am Tage oft in dem kurzweiligen Gewölbe mitten unter den Geschäftigen
und am Abend zu den Füßen der Frau sitzen fand, welche mich in große Gunst
genommen hatte. Ich zeichnete mich durch meine große Aufmerksamkeit aus, wenn die
wunderbarsten Dinge von der Welt zur Sprache kamen. Die theologischen und
moralischen Untersuchungen verstand ich freilich in den ersten Jahren noch nicht,
obschon sie oft kindlich genug waren; jedoch nahmen sie auch schon damals nicht zu
viele Zeit in Anspruch, da sich die Gesellschaft immer bald genug auf das Gebiet
der Begebenheiten und sinnlichen Erfahrungen und damit auf eine Art von
naturphilosophischem Feld hinüberverfügte, wo ich ebenfalls zu Hause war. Man
suchte vorzüglich die Erscheinungen der Geisterwelt sowie die Ahnungen, Träume
usw. in lebendigen Zusammenhang zu bringen und drang mit neugierigem Sinne in die
geheimnisvollen Lokalitäten des gestirnten Himmels, in die Tiefe des Meers und der
feuerspeienden Berge, von denen man hörte, und alles wurde zuletzt auf die
Ein anderes ergiebiges Feld für abenteuerliche Kunden war der Katholizismus mit
seinen hinterlassenen leeren Klosterräumen und den noch lebendigen Klöstern,
welche etwa in der katholisch gebliebenen Nachbarschaft sich befanden. Dazu trugen
die
Der Mann der Frau Margret, Vater Jakoblein genannt, von ihr schlechthin Vater, war
funfzehn Jahre älter als sie und näherte sich den Achtzigen. Er besaß eine fast
ebenso lebhafte Einbildungskraft wie seine Frau, dabei reichten seine Erinnerungen
noch tiefer in die Sagenwelt der Vergangenheit zurück; doch faßte er alles von
einer spaßhaften Seite auf, da er von jeher ein spaßhaftes und ziemlich unnützes
Männlein gewesen war, und so wußte er ebensoviel lächerlichen Spuk und verdrehte
Menschengeschichten zu erzählen als seine Frau ernsthafte und schreckliche. In
seine frühste Jugend waren noch die letzten Hexenprozesse gefallen, und er
beschrieb mit Humor aus der mündlichen Überlieferung geschöpfte Hexensabbate und
Bankette ganz genauso, wie man sie noch in den aktenmäßigen Geschichten jener
Prozesse, in den weitläufigen Anklagen und erzwungenen Geständnissen liest. Dieses
Gebiet sagte ihm besonders zu, und er versicherte feierlich von einigen seltsamen
Auch in dem Gespensterwesen war er sehr erfahren; doch auch hier verdrehte sich
ihm alles zum Lustigen. Die Angst,
Auf diese Weise ergänzte er trefflich das phantastische Wesen seiner Frau, und ich hatte so die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen, was man sonst den Kindern der Gebildeten in eigenen Märchenbüchern zurechtmacht. Wenn der Stoff auch nicht so unverfänglich war wie in diesen und nicht für eine so unschuldige kindliche Moral berechnet, so enthielt er nichtsdestoweniger immer eine menschliche Wahrheit und machte, besonders da in dem vielfältigen Sammelkrame der Frau Margret eine reiche Fundgrube die sinnliche Anschauung vervollständigte, meine Einbildungskraft freilich etwas frühreif und für starke Eindrücke empfänglich, etwa wie die Kinder des Volkes früh an die kräftigen Getränke der Erwachsenen gewöhnt werden. Denn was ich hörte, beschränkte sich nicht allein auf diese übersinnliche Fabelwelt; sondern die Leute besprachen auch auf die leidenschaftlichste Weise ihre eigenen und fremde Schicksale, und hauptsächlich das lange Leben der Frau Margret und ihres Mannes war reich an ernsten und heitern Geschichten, an Beispielen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Not, Verwicklung und Befreiung; Hunger, Krieg und Aufruhr hatten sie gesehen; jedoch ihr eigenes Verhältnis zueinander war so sonderbar von Leidenschaften bewegt, und es traten so ursprünglich dämonische Gewalten der Menschennatur darin zutage, daß ich mit kindlich erstauntem Auge in die wilde Flamme sah und schon tiefe Eindrücke empfing.
Während nämlich die Frau Margret die bewegende und erhaltende Kraft in ihrem
Haushalte war, den Grund zum jetzigen Wohlstand gelegt hatte und jederzeit das
Heft in den Händen hielt, war ihr Mann einer von denjenigen, welche nichts Eigenes
gelernt haben noch tun können und daher darauf angewiesen sind, mehr den
Handlanger einer tatkräftigen Frau zu machen und auf eine müßige Weise unter dem
Schilde ihres Regimentes
Sogleich schwoll ihm der Kamm gewaltig, und er drohte, die schlimmen Ratgeber
hinter sich, der bestürzten Frau mit den Gerichten, wenn sie nicht seinen Anteil
an dem »gemeinschaftlich erworbenen« Gute herausgäbe. Sie fühlte wohl, daß es mehr
um einen gewaltsamen Raub als um ein ehrliches Rechthalten zu tun sei, und
sträubte sich mit aller Kraft dagegen, zumal sie wußte, daß sie nach wie vor die
einzig erhaltende Kraft im Hause sein würde. Sie hatte aber die Gesetze gegen
sich, da diese nicht auf eine Ausscheidung der beitragenden Kräfte eingehen
konnten, und zudem gab der Mann vor, sich allerlei mutwilliger Anklagen bedienend,
sich nach geschehener Teilung von ihr trennen zu wollen, so daß sie betäubt und
beschwatzt wurde und, krank und halb bewußtlos, die Hälfte von allem Besitze
herausgab. Er nähete sogleich seine schimmernden Goldstücke, je nach der Art, in
lange, wurstartige Beutel, legte dieselben in einen Koffer, den er am Boden
festnagelte, setzte sich darauf und schlug seinen Helfershelfern, welche auch
ihren
Doch in jeder Jahreszeit einmal, wenn in der Natur die großen Veränderungen
geschahen und die alten Menschen an die schnelle Vergänglichkeit ihres Lebens
erinnerten und ihre körperlichen Gebrechen fühlbarer wurden, erwachte, meistens in
dunklen schlaflosen Nächten, ein entsetzlicher Streit zwischen ihnen, daß sie
aufrecht in ihrem breiten altertümlichen Bette saßen, unter dem einen buntbemalten
Himmel, und bis zum Morgengrauen, bei geöffneten Fenstern, sich die tödlichen
Beleidigungen und Zankworte zuschleuderten, daß die stillen Gassen davon
widerhallten. Sie warfen sich die Vergehungen einer fern
Dann stellten sie sich darüber zur Rede, welchen Grund das eine denn zu haben glaube, das andere überleben zu können, und verfielen in einen elenden Wettstreit, wer von ihnen wohl noch die Genugtuung haben werde, den andern tot vor sich zu sehen.
Wenn man am Tage darauf in ihr Haus kam, so wurde der greuliche Streit vor jedem Eintretenden, ob fremd oder bekannt, fortgeführt, bis die Frau erschöpft war und in Weinen und Beten verfiel, indes der Mann anscheinend munterer wurde, lustige Weisen pfiff, sich einen Pfannkuchen buk und fortwährend irgendeine Flause dazu hermurmelte. Er konnte auf diese Weise einen ganzen Morgen hindurch nichts sagen als immer: »Einundfunfzig! einundfunfzig! einundfunfzig!« oder zur Abwechslung einmal: »Ich weiß nicht, ich glaube immer, die alte Kunzin da drüben ist heute früh spazierengeritten! sie hat gestern einen neuen Besen gekauft! ich habe so was in der Luft flattern sehen, das sah ungefähr aus wie ihr roter Unterrock; sonderbar! hm! einundfunfzig« usf. Dabei hatte er Gift und Tod im Herzen und wußte, daß seine Frau durch das Betragen doppelt litt; denn sie hatte keine Bosheit noch Mutwillen, um den Kampf auf diese Weise fortzusetzen. Was aber beide in diesem Zustande sich zuleide taten, bestand dann gewöhnlich in einer verschwenderischen Freigebigkeit, womit sie alles beschenkten, was ihnen zu nahe kam, gleichsam als wollte eines vor des andern Augen den Besitz aufzehren, nach dem ein jedes trachtete.
Der Mann war gerade kein gottloser Mensch, sondern ließ, indem er in der gleichen
wunderlichen Art wie an Gespenster
Jede der Ehehälften hatte eine zahlreiche Verwandtschaft blutarmer Leute, welche
im Lande zerstreut wohnten. Diese teilten unter sich die Hoffnung auf das
gewichtige Erbe um so mehr, als Frau Margret, zufolge ihrer hartnäckigen Abneigung
gegen unverbesserlich arm Bleibende, ihnen nur spärliche Gaben von ihrem
Überflusse zukommen ließ und sie nur an Feiertagen gastlich speiste und tränkte.
Alsdann erschienen von beiden Seiten her die alten Vettern und Basen, Schwestern
und Schwäger mit ausgehungerten langnasigen Töchtern und bleichen Söhnen und
trugen Säcklein und Körbe herbei, welche die kümmerlichen Gaben ihrer Armut
enthielten, um die alten launenhaften Leute für sich zu gewinnen, und worin sie
reichere Gegenspenden nach Hause zu tragen hofften. Diese Sippschaft war schroff
in zwei Lager geschieden, die sich in dem Streite, der zwischen den Hauptpersonen
herrschte, ebenfalls den Hoffnungen auf den frühern Tod des Gegners hingaben, um
einst ein vergrößertes Erbe zu erhalten. Sie haßten und befeindeten sich ebenso
stark untereinander, als die Leidenschaften Margrets und ihres Mannes das Vorbild
dazu abgaben,
Solcherweise ging es viele Jahre, bis die alte Frau Margret mit dem Sterben den
Anfang machte und in jenes fabelhafte Reich der Geister und Gespenster selber
hinüberging. Sie hinterließ unerwarteterweise ein Testament, welches einen
einzelnen jungen Mann zum alleinigen Erben einsetzte; es war der letzte und
jüngste jener Günstlinge, an deren Gewandtheit und Wohlergehen sie ihre Freude
gehabt hatte, und sie war mit der Überzeugung gestorben, daß ihr gutes Gold nicht
in ungeweihte Hände übergehe, sondern die Kraft und die Lust tüchtiger Leute sein
werde. Bei ihrem Leichenbegängnisse fanden sich sämtliche Verwandte beider
Ehegatten ein, und es war ein großes Geheul und Gelärm, als sie sich also
getäuscht fanden. Sie vereinigten sich in ihrem Zorne alle gegen den glücklichen
Erben, welcher ganz ruhig seine Habe einpackte, was irgend von Nutzen war, und auf
einen großen Wagen lud. Er überließ den armen Leuten nichts als die vorhandenen
Vorräte an Lebensmitteln und die gesammelten Seltsamkeiten und Bücher der Seligen,
insofern sie nicht von Gold, Silber oder sonstigem Gehalte waren. Drei Tage und
drei Nächte blieb der wehklagende Schwarm in dem Trauerhause, bis der letzte
Knochen zerschlagen und dessen Mark mit dem letzten Bissen Brot aufgetunkt
In dem Hause aber blieb der alte Mann allein und einsam zurück mit dem
zusammengeschmolzenen Reste jener früheren Teilung. Er lebte noch drei Jahre und
starb gerade an dem Tage, wo das letzte Goldstück gewechselt werden mußte. Bis
dahin vertrieb er sich die Zeit damit, daß er sich vornahm und ausmalte, wie er im
Jenseits seine Frau haranguieren wolle, wenn sie da »mit ihren verrückten Ideen
herumschlampe«, und welche Streiche er ihr angesichts der Apostel und Propheten
spielen würde, daß die alten Gesellen was zu lachen bekämen.
Endlich ging er aus wie ein Licht, dessen letzter Tropfen Öl aufgezehrt ist, schon vergessen von der Welt, und ich, als ein herangewachsener Mensch, war vielleicht der einzige Bekannte früherer Tage, welcher dem zusammengefallenen Restchen Asche zu Grabe folgte.
Gleich dem Chorus in den Schauspielen der Alten hatte ich von meiner frühsten
Jugend an das Leben und die Ereignisse in diesem nachbarlichen Hause betrachtet
und war ein allezeit aufmerksamer Teilnehmer. Ich ging ab und zu, setzte mich in
eine Ecke oder stand mitten unter den Handelnden und Lärmenden, wenn etwas
vorfiel. Ich holte die Bücher hervor und verlangte, wessen ich von den
Sehenswürdigkeiten bedurfte, oder spielte mit den Schmucksachen der Frau Margret.
Alle die mannigfaltigen Personen, welche in das Haus kamen, kannten mich, und
jeder war freundlich gegen mich, weil dieses meiner Beschützerin so behagte. Ich
aber machte nicht viele Worte, sondern gab acht, daß nichts von den geschehenden
Dingen meinen Augen und Ohren entging. Mit all diesen Eindrücken beladen, zog ich
dann über die Gasse wieder nach Hause und spann in der Stille unserer Stube den
Stoff zu grollen träumerischen
Daraus nur mag ich mir unter anderm eine Geschichte erklären, welche ich ungefähr
in meinem siebenten Jahre anrichtete und die ich sonst gar nicht begreifen könnte.
Ich saß einst hinter dem Tische, mit irgendeinem Spielzeuge beschäftigt, und
sprach dazu einige unanständige, höchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung
mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehört haben mochte. Eine Frau saß
bei meiner Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter
aufmerksam darauf machte. Sie fragten mich mit ernster Miene, wer mich diese
Sachen gelehrt hätte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich
verwunderte, einen Augenblick nachsinnend, und dann den Namen eines Knaben nannte,
den ich in der Schule zu sehen pflegte. Sogleich fügte ich noch zwei oder drei
andere hinzu, sämtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, mit denen ich kaum
noch ein Wort gesprochen hatte. Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu
meiner Verwunderung nach der Schule zurück sowie jene vier angegebenen Knaben,
welche mir wie halbe Männer vorkamen, da sie an Alter und Größe mir weit
vorgeschritten waren. Ein geistlicher Herr erschien, welcher gewöhnlich den
Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand, setzte sich mit dem Lehrer
an einen Tisch und hieß mich neben ihn sitzen. Die Knaben hingegen mußten sich vor
dem Tische in eine Reihe stellen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Sie
wurden nun mit feierlicher Stimme gefragt, ob sie gewisse Worte in meiner
Gegenwart ausgesprochen hätten; sie wußten nichts zu antworten und waren ganz
erstaunt. Hierauf sagte der Geistliche zu mir: »Wo hast du die bewußten Dinge
gehört von diesen Buben?« Ich, war sogleich wieder im Zuge und antwortete
unverweilt mit trockener Bestimmtheit: »Im Brüderleinsholze!« Dieses ist ein
Gehölz, eine Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in
Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt wie bei dieser Erzählung. Es kam niemand in den Sinn, etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen, ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei? Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhang, daß der eine und andere der Knaben nachgewiesenermaßen die Schule geschwänzt hatte, gerade um die Zeit, welche ich angab. Man glaubte meiner großen Jugend sowohl wie meiner Erzählung; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schweigens. Die Angeklagten wurden unschuldig verurteilt als verwilderte bösartige junge Leute, da ihr hartnäckiges und einstimmiges Leugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten; sie erhielten die härtesten Schulstrafen, wurden auf die Schandbank gesetzt und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt.
Soviel ich mich dunkel erinnere, war mir das angerichtete Unheil nicht nur
gleichgültig, sondern ich fühlte eher noch eine
Die Betroffenen waren sämtlich, was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen könnte, ruhige, gesetzte Knaben, welche bisher keinen Anlaß zu scharfem Tadel gegeben und aus denen seither stille und arbeitsame junge Bürger geworden. Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene Unrecht, und als sie es jahrelang nachher mir vorhielten, erinnerte ich mich ganz genau wieder an die vergessene Geschichte, und fast jedes Wort ward wieder lebendig. Erst jetzt quälte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wut, und sooft ich daran dachte, stieg mir das Blut zu Kopfe, und ich hätte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben, ja sogar die plauderhafte Frau anklagen mögen, welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ursprung derselben nachgewiesen war. Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten, als sie sahen, wie mich die Sache nachträglich beunruhigte, und sie freuten sich, daß ich zu ihrer Genugtuung mich alles einzelnen so wohl erinnerte. Nur der vierte, der viele Mühe mit dem Leben hatte, konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem spätern Alter und trug mir die angetane Unbilde so nach, als ob ich sie erst heute, mit dem Verstande eines Erwachsenen, begangen hätte. Mit dem tiefsten Hasse ging er an mir vorüber, und wenn er mir beleidigende Blicke zuwarf, so vermochte ich sie nicht zu erwidern, weil das frühe Unrecht auf mir ruhte und keiner es vergessen konnte.
Ich hatte mich nunmehr in der Schule zurechtgefunden und befand mich wohl in
derselben, da das erste Lernen rasch, aufeinanderfolgte und täglich fortschritt.
Auch die Einrichtung der Schule hatte viel Kurzweiliges; ich ging gern und eifrig
hinein, sie bildete mein öffentliches Leben und war mir ungefähr, was den Alten
die Gerichtsstätte und das Theater. Es war keine öffentliche Anstalt, sondern das
Werk eines gemeinnützigen Vereins und dazu bestimmt, bei dem damaligen Mangel
guter unterer Volksschulen, den Kindern dürftiger Leute eine bessere Erziehung zu
verschaffen, und sie hieß daher Armenschule. Die Pestalozzi-Lancastersche
Unterrichtsweise wurde angewendet, und zwar mit einem Eifer und einer Hingebung,
welche gewöhnlich nur Eigenschaften von leidenschaftlichen Privatschulmännern zu
sein pflegen. Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten für die Einrichtung und für
die Ergebnisse dieser Anstalt, die er zuweilen besuchte und in Augenschein nahm,
geschwärmt und oft den Entschluß ausgesprochen, meine ersten Schuljahre im
derselben verfließen zu lassen, schon darin eine Erziehungsmaßregel suchend, daß
ich mit den ärmsten Kindern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zubrächte und
aller Kastengeist und Hochmut so im Keime erstickt würden. Diese Absicht war für
meine Mutter ein heiliges Vermächtnis und erleichterte ihr die Wahl der ersten
Schule für mich. In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet,
zur Hälfte Knaben, zur Hälfte Mädchen, vom fünften bis zum zwölften Jahre. Sechs
lange Schulbänke standen in der Mitte, von dem einen Geschlechte besetzt; jede
bildete eine Altersklasse, und davor stand ein vorgeschrittener Schüler von elf
bis zwölf Jahren und unterrichtete die ganze Bank, welche ihm anvertraut war,
indessen das andere Geschlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum stand,
Die Kleidung, welche ich damals erhielt, war grün, da meine Mutter aus den
Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneiden ließ, für den Sonntag
einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen
Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der
Nachlaß zur Herstellung von grünen lacken und Röcklein aus bei der großen Strenge
und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich
von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen »grüner Heinrich« erhielt und
in unserer Stadt trug. Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald
eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung
meiner Beobachtungen und chorartiger Teilnahme an allem, was geschah und gehandelt
wurde. Ich drang mit den verschiedensten Kindern, je nach Bedürfnis und Laune, in
die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern
gesehen, während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute
ansah und dann wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret
zurückzuziehen, wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab. Sie freute sich, daß
ich bald imstande war, nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen, sondern auch die
in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die
arabischen Zahlen, die sie nie verstehen lernte. Ich verfertigte ihr auch allerlei
Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel, welche sie aufbewahren und bequem
lesen konnte, und wurde auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber. Schon sah
sie, die mich für ein großes Genie hielt, einen ihrer zukünftigen,
Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quälend und unheimlich und sind eine
unliebliche Erinnerung geblieben. Das eine war die düstere kriminalistische Weise,
in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde. Es lag dies teils noch im Geiste der
alten Zeit, an deren Grenze wir standen, teils in einer Privatliebhaberei der
Personen und harmonierte übel mit dem übrigen guten Ton. Es wurden ausgesuchte
peinliche und infamierende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter, und es
verging fast kein Monat ohne eine feierliche Exekution an irgendeinem armen
Sünder. Zwar wurden meistens wirkliche Bösewichte betroffen; es war aber immerhin
verkehrt, indem
Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die
Stunden, während deren wir uns damit beschäftigen mußten. Ein kleines Buch voll
hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem Leben der
biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand bejahrter und verstockter
Menschen zu beschäftigen, mußte während der so unendlich scheinenden Jugendjahre
in ewigem Wiederkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt
werden. Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklärungen,
Aber auch aus meinem innern und äußern Spiel-und Lustleben wurde der liebe Gott verdrängt und konnte weder durch die Frau Margret noch durch meine Mutter darin erhalten werden. Für lange Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einer prosaischen Vorstellung, in dem Sinne, wie die schlechten Poeten das wirkliche Leben für prosaisch halten im Gegensatze zu dem erfundenen und fabelhaften. Das Leben, die sinnliche Natur waren merkwürdigerweise mein Märchen, in dem ich meine Freude suchte, während Gott für mich zu der notwendigen, aber nüchternen und schulmeisterlichen Wirklichkeit wurde, zu welcher ich nur zurückkehrte wie ein müdgetummelter, hungriger Knabe zur alltäglichen Haussuppe und mit der ich so schnell fertig zu werden suchte als möglich. Solches bewirkte die Art und Weise, wie die Religion und meine Kinderzeit zusammengekuppelt wurden. Wenigstens kann ich mich, trotzdem daß jene ganze Zeit wie ein heller Spiegel vor mir liegt, nicht entsinnen, daß ich vor dem Erwachen der Vernunft je einen Andachtschauer, wenn auch noch so kindlich, empfunden hätte.
Ich betrachte diese halb gottlose Zeit gerade der weichsten und bildsamsten Jahre,
welche deren wohl sieben bis achte andauerte, als eine kalte öde Strecke und weise
die Schuld einzig auf den Katechismus und seine Handhaber. Denn wenn ich recht
scharf in jenen vergangenen dämmerhaften Seelenzustand zurückzudringen versuchte,
so entdecke ich noch wohl, daß ich den Gott meiner Kindheit nicht liebte, sondern
nur brauchte. Jetzt erst wird mir der trübe kalte Schleier ganz deutlich, welcher
über jener Zeit liegt und mir dazumal die Hälfte des Lebens verhüllte, mich blöde
und scheu machte, daß ich die Leute
Desto eifriger verkehrte ich im stillen mit mir selbst, in der Welt, die ich mir
allein zu bauen gezwungen war. Meine Mutter kaufte mir nur äußerst wenig
Spielzeug, immer und einzig darauf bedacht, jeden Heller für meine Zukunft zu
sparen, und erachtete in ihrem Sinne jede Ausgabe für überflüssig, welche nicht
unmittelbar für das Notwendigste geopfert wurde. Sie suchte mich dafür durch
fortwährende mündliche Unterhaltungen zu beschäftigen und erzählte mir tausend
Dinge aus ihrem vergangenen Leben sowohl wie aus dem Leben anderer Leute, indem
sie in unserer Einsamkeit selbst eine süße Gewohnheit darin fand. Aber diese
Unterhaltung sowie das Treiben im wunderlichen Nachbarhause konnte doch zu letzt
meine Stunden nicht ausfüllen, und ich bedurfte eines sinnlichen Stoffes, welcher
meiner Gestaltungslust anheimgegeben war. So war ich bald darauf angewiesen, mir
mein Spielzeug selbst zu schaffen. Das Papier, das Holz, die gewöhnlichen
Aushelfer in diesem Falle, waren schnell abgebraucht, besonders da ich keinen
Mentor hatte, welcher mich mit Handgriffen und Künsten bekannt machte. Was ich so
bei den Menschen nicht fand, das gab mir die stumme Natur. Ich sah aus der Ferne
bei andern Knaben, daß sie artige kleine Naturaliensammlungen besaßen, besonders
Steine und Schmetterlinge, und von ihren Lehrern und Vätern angeleitet wurden,
dergleichen selbst auf ihren Ausflügen zu suchen. Ich ahmte
Nun versuchte ich es mit den Schmetterlingen und Käfern. Meine Mutter verfertigte
mir ein Garn und ging oft selbst mit mir auf die Wiesen hinaus; denn die
Einfachheit und Billigkeit
Auch diese Unternehmung scheiterte endlich, als ich zum ersten Male eine große
Menagerie sah. Sogleich faßte ich den Entschluß, eine solche anzulegen, und baute
eine Menge Käfige und Zellen. Mit vielem Fleiße wandelte ich dazu kleine Kästchen
um, verfertigte deren aus Pappe und Holz und spannte Gitter von Draht oder Zwirn
davor, je nach der Stärke des Tieres, welches dafür bestimmt war. Der erste
Insasse war eine Maus, welche mit eben der Umständlichkeit, mit welcher ein Bär
installiert wird, aus der Mausefalle in ihren Kerker hinübergeleitet wurde. Dann
folgte ein junges Kaninchen; einige Sperlinge, eine Blindschleiche, eine größere
Schlange, mehrere
Bei Frau Margret tat sich mir die nächste Spielerei auf. In einer verrückten Theosophie, welche ich unter ihren Büchern fand, war eine Anweisung enthalten, die vier Elemente zu veranschaulichen, nebst andern kindischen Experimenten und den dazugehörigen Tafeln. Nach diesen Vorschriften nahm ich eine große Phiole, füllte sie zum Vierteile mit Sand, zum Vierteile mit Wasser, dann mit Öl, und das letzte Vierteil ließ ich leer, das heißt mit Luft gefüllt. Die Materien sonderten sich nach ihrer Schwere auseinander und stellten nun in dem geschlossenen Raume die vier Elemente vor, Erde, Wasser, Feuer (das Brennöl) und Luft. Ich schüttelte sie tüchtig durcheinander, daraus entstand das Chaos, welches sich wieder aufs schönste abklärte, und ich saß sehr vergnügt vor der höchst gelehrten Erscheinung.
Dann nahm ich Bogen Papier und zeichnete darauf, nach den Angaben jenes Buches,
große Sphären mit Kreisen und Linien kreuz und quer, farbig begrenzt und mit
Zahlen und lateinischen Lettern besetzt. Die vier Weltgegenden, Zonen und Pole,
Himmelsräume, Elemente, Temperamente, Tugenden und Laster, Menschen und Geister,
Erde, Hölle, Zwischenreich, die sieben Himmel, alles war toll und doch nach einer
gewissen Ordnung durcheinandergeworfen und gab ein angestrengtes, lohnendes
Bemühen. Alle Sphären wurden mit entsprechenden Seelen bevölkert, welche darin
gedeihen konnten. Ich bezeichnete sie mit Sternen und diese mit Namen; der
glückseligste war mein Vater, zunächst dem Auge Gottes, noch, innerhalb des
Dreieckes, und schien durch dieses allsehende Auge auf die Mutter und mich
herunterzuschauen, welche in den schönsten Gegenden der Erde spazierten. Meine
Widersacher aber schmachteten sämtlich in der Hölle, wo der Böse mit einem
ansehnlichen Schwanze begabt war. Je nach dem Verhalten der Menschen
In der Theosophie war ferner anbefohlen, geschmolzenes Wachs in Wasser zu gießen,
um ich weiß nicht mehr was zu versinnbildlichen. Ich füllte mehrere Arzneigläser
mit Wasser und belustigte mich an den Bildungen, welche durch das hineingegossene
Wachs entstanden, verschloß die Gläser und vermehrte dadurch meine gelehrte
Sammlung. Dieses Gläserwesen sagte mir sehr zu, und ich fand einen neuen Stoff
dafür, als ich einst mit tiefem Grauen durch eine anatomische Sammlung lief,
welche dem Krankenhause beigegeben war. Einige Reihen von Embryonen und Föten in
ihren Gläsern jedoch erwarben sich meinen lebhaften Beifall und boten einen
trefflichen Gegenstand für meine Sammlung dar, indem ich dergleichen nachzubilden
versuchte. In einem Schranke verwahrte die Mutter die aufgeschichtete Leinwand
ihrer Mußezeit in rohen und gebleichten Stücken, und daselbst lagen auch,
verborgen und vergessen, mehrere Scheiben reinlichen Wachses, die verjährten
Zeugen einer einstigen fleißigen Bienenzucht. Von diesen brach ich immer
ansehnlichere Stücke los und formte nun im kleinen solche großköpfige wunderliche
Burschen, wie ich sie gesehen, und bestrebte mich, die Verschiedenheit ihrer
phantastischen Bildung noch zu vergrößern. Ich trieb Gläser auf, soviel ich
konnte, von allen Formen und Größen, und richtete die Bildwerke darnach ein. In
langen schmalen Kölnischwasserflaschen, denen ich die Hälse abschlug, baumelten
ebenso lange schmächtige Gesellen an ihrem Faden, in kurzen dicken Salbengläsern
Die Sache machte Aufsehen. Frau Margret ließ sich erzählen und die bemalten Bogen nebst übrigen Trümmern zeigen und fand alles höchst bedenklich. Sie befürchtete, daß ich am Ende in ihren Büchern gefährliche Geheimnisse geschöpft hätte, welche bei ihrem mangelhaften Lesen ihr selbst unzugänglich wären, und verschloß die bedenklichsten Bücher mit höchst bedeutungsvollem Ernste. Jedoch konnte sie sich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren, da es sich zu bestätigen schien, wie hinter diesen Sachen mehr stecke, als man geglaubt habe. Sie war der festen Meinung, daß ich auf dem besten Wege gewesen sei, durch ihre Bücher ein angehender Zaubermann zu werden.
Über solchen Mißgeschicken verleidete mir die einsame Beschäftigung im Hause, und ich schloß mich nun einigen Knaben an, welche sich gut zu unterhalten schienen, indem sie in einem großen alten Fasse Komödie spielten. Sie hatten einen Vorhang davorgezogen und ließen eine begünstigte Anzahl Kinder respektvoll harren, bis sie ihre geheimnisvollen Vorbereitungen geendet. Dann wurde das Heiligtum geöffnet, einige Ritter in papiernen Rüstungen führten ein gedrängtes Zwiegespräch tüchtiger Schimpfreden, um sich darauf schleunigst durchzubleuen und unter dem Fallen des durchlöcherten Teppichs tot hinzustrecken. Ich wurde bald eingeweiht als ein anstelliger Junge und brachte vor allem aus einen bestimmtern Stoff in das Faß, indem ich kurze Handlungen aus der biblischen Geschichte oder den Volksbüchern auszog und die vorkommenden Reden wörtlich abschrieb und durch einige Wendungen verband. Ich fand auch, daß es wünschbar wäre, wenn die Helden einen besondern Eingang hätten, um vorher ungesehen auftreten zu können. Deshalb wurde in die Hinterwand ein Loch gesägt, geschnitten und gekratzt, bis ein Wohlgewappneter bescheiden durchkriechen konnte, was sehr possierlich aussah, wenn er mit seinen donnernden Reden begann, ehe er sich völlig aufgerichtet hatte. Sodann wurden grüne Zweige geholt, um das Innere des Fasses in einen Wald umzuwandeln; ich nagelte sie ringsherum fest und ließ nur oben das Spundloch frei, durch welches überirdische Stimmen herniederzuschallen hatten. Ein Knabe brachte eine ansehnliche Düte Theatermehl und hiemit ein neues prächtiges Element in unsere Bestrebungen.
Eines Tages wurde David und Goliath gegeben. Die Philister standen auf dem Plane,
führten sich heidnisch auf und traten
Jedoch vermißten wir dies verbotene Paradies nicht allzusehr, da bald darauf eine
deutsche Schauspielergesellschaft in unsere Stadt kam, um mit obrigkeitlicher
Bewilligung vor den Bewohnern das leichte Haus der Leidenschaften in einem
vollkommenern Maße aufzubauen, als bisher von Liebhabern und Kindern geschehen
war. Der wandernde Künstlerverein schlug seinen Sitz in einem Gasthause der Stadt
auf, wandelte den
Übrigens zog uns das belebte Haus nicht nur während der abendlichen Vorstellungen an, sondern wir hatten auch während des Tages genug vor demselben zu stellen und zu beobachten, teils um die bewunderten Helden und Königinnen in ihrer verwegenen und anmutigen Tracht und Haltung aus und ein gehen zu sehen, teils um keine Maschine, keinen Korb mit roten Mänteln und Degen, kein Requisit aus den Augen zu verlieren, welches hineingetragen wurde. Vorzüglich hielten wir uns auch vor einem offenen Hintergebäude auf, wo ein kühner Maler inmitten einer Anzahl Töpfe, aufrechtstehend und die eine Hand in der Hosentasche, mit einem unendlich verlängerten Pinsel Wunder auf das ausgebreitete Tuch oder Papier warf. Ich erinnere mich deutlich des tiefen Eindruckes, welchen die einfache und sichere Art auf mich machte, mit welcher er duftige und durchsichtige weiße Vorhänge um die Fenster eines roten Zimmers zauberte; mit den wenigen weißen, wohlangebrachten Strichen und Tupfen auf dem roten Grunde ging ein Licht in mir auf, der ich vor solchen Dingen, wenn sie in der nächtlichen Beleuchtung vor mir standen, begriffslos gestaunt hatte. Es dämmerte die erste Einsicht in das Wesen der Malerei; das freie Auftragen von dichten deckenden Farben auf durchsichtige Unterlagen machten mir vieles klar; ich begann nachher der Grenze dieser zwei Gebiete nachzuspüren, wo ich ein Gemälde zu sehen bekam, und meine Entdeckungen hoben mich über den wehrlosen Wunderglauben hinaus, welcher es aufgibt, jemals dergleichen selbst zu verstehen.
An den Abenden, wo gespielt wurde, waren wir vollzählig und unfehlbar auf unserm
Platze und schlichen wie die Katzen um das Gebäude herum. Da ich bei der
Sparsamkeit meiner Mutter keine Möglichkeit sah, auf legalem Wege in das Innere
des
Wir standen eines Abends ziemlich mutlos vor einer Seitentür, als eben der Faust
gegeben wurde. Wir hatten gehört, daß man den famosen Doktor Faust, den wir
genugsam kannten, nebst dem Teufel und allen seinen Herrlichkeiten sehen würde,
fanden aber heute alle Hindernisse unübersteiglich, welche auf unsern gewohnten
Schlupfwegen sich entgegenstellten. So hörten wir betrübt die Klänge der
Ouvertüre, welche von den vornehmen Liebhabern der Stadt aufgeführt wurde, und
zerbrachen die Köpfe über einem noch möglichen Eindringen. Es war ein dunkler
Herbstabend und regnete kühl und anhaltend. Es fror mich, und ich dachte ans
Nachhausegehen, zumal sich die Mutter über das abendliche Umhertreiben beklagt
hatte, als die dunkle Tür sich öffnete, ein dienstbarer Geist heraussprang und
rief:
Nun wurden wir auf die Bühne geführt, wo wir von zwei großen Meerkatzen lustig
begrüßt und in aller Eile für unsere bevorstehende Aufgabe unterrichtet wurden.
Wir begriffen dieselbe bald und leisteten eine gelungene Probe verschiedener
Purzelbäume und Affensprünge, spielten auch zierlich mit einer Kugel, so daß wir
bis zu unserm Auftreten entlassen wurden. Wir spazierten gravitätisch unter dem
Gedränge herum, das sich auf dem schmalen Raume zwischen den vier wirklichen und
den gemalten Wänden schob und mischte; ich schaute unverwandt bald auf die Bühne,
bald hinter die Kulissen und beobachtete mit hoher Freude, wie aus dem
unkenntlichen, unterdrückt lärmenden und streitenden Chaos sich still und
unmerklich geordnete Bilder und Handlungen ausschieden und auf dem freien, hellen
Raume erschienen wie in einer jenseitigen Welt, um wieder ebenso unbegreiflich in
das dunkle Gebiet zurückzutauchen.
Indessen fühlte ich mich plötzlich beim Schwanze gefaßt und rücklings in die
Hexenküche gezogen, wo bereits sämtliche Katzen umhersprangen und ein Schein und
Gefunkel unzähliger
Die Zeit unseres Wirkens ging endlich vorüber, und ich machte meinen ersten und einzigen guten Sprung, als ich leidenschaftlich vom Schauplatze abtrat oder sprang und mich möglichst in die Nähe des gesehenen Bildes zu bringen suchte. Aber in demselben Augenblicke befand sie sich ihrerseits einsam in der Handlung, und ich konnte sie nur wieder von ferne sehen.
Sie schien irgendeinen tiefen Verdruß in sich zu tragen, und daher war ihr Spiel
halb aus Anmut und halb aus sichtbarem
Der Vorhang war gefallen, und alles lief auf dem Theater bunt durcheinander, während ich einigen Papieren nachschlich, welche ich in den Händen des Direktors und der Künstler vorhin bemerkte und in einem Winkel hinter einer gemalten Mauer fand. Ich gelüstete sehr, Einsicht zu nehmen von dem Geschriebenen, welches so große Wirkung hervorgebracht; daher war ich bald in das Lesen der Rollen versenkt. Aber obgleich ich die körperlichen Erscheinungen gefaßt und empfunden hatte, so waren doch nun die geschriebenen Worte, als die Zeichensprache eines gereiften und großen männlichen Geistes, dem unwissenden Kinde vollkommen unverständlich; der kleine Eindringling fand sich bescheidentlich wieder vor die verschlossene Türe einer höheren Welt gestellt, und ich schlief über meinen Forschungen schnell und fest ein.
Als ich wieder erwachte, war das Theater leer und still, die Lampen ausgelöscht,
und der Vollmond goß sein Licht zwischen den Kulissen über die seltsame Unordnung
herein. Ich wußte nicht, wie mir geschah noch wo ich mich befand; doch als ich
meine Lage erkannte, ward ich voll Furcht und suchte einen Ausgang, fand aber die
Türen verschlossen, durch welche ich
Hierauf sagte sie: »Es ist nun am besten, du bleibest bei mir, bis es Tag ist; denn Mitternacht ist längst vorüber!« und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch einige Türen in ihr Zimmer, wo sie vorher schon geschlafen hatte und durch mein nächtliches Spuken geweckt worden war. Dort ordnete sie am Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht, und als ich darauf lag, hüllte sie sich dicht in einen sammetnen Königsmantel, legte sich der Länge nach auf das Bett und stützte ihre leichten Füße gegen meine Brust, daß mein Herz ganz vergnüglich unter denselben klopfte Somit entschliefen wir und glichen in unserer Lage nicht übel jenen alten Grabmälern, auf welchen ein steinerner Ritter ausgestreckt liegt mit einem treuen Hunde zu Füßen.
Infolge der Sorge und Verwirrung, welche durch mein nächtliches Wegbleiben entstanden, war mir das abendliche Umhertreiben und der Besuch des Theaters streng untersagt worden; auch am Tage wurde ich sorgfältiger beaufsichtigt und in meinem Umgange mit den Kindern der armen Leute beschränkt, welchen man fälschlicherweise eine verderbliche und ansteckende Ungebundenheit zuschrieb. So hatten die fremden Schauspieler die Stadt verlassen, ohne daß ich jene Frau, der mein Herz nun ganz gehörte, wiedergesehen. Als ich vernahm, daß die Gesellschaft fortgereist sei, bemächtigte sich meiner eine tiefe Traurigkeit, welche längere Zeit anhielt. Je unbekannter mir die Gegend war, wo sie hingezogen sein mochte, desto mehr war mir alles Land, welches jenseits der Berge lag, ein Land unbestimmter Wünsche und dunklen Verlangens.
Um diese Zeit schloß ich mich enger an einen Knaben, dessen erwachsene,
lesebegierige Schwestern eine Unzahl schlechter Romane zusammengetragen hatten.
Verlorengegangene Bände aus Leihbibliotheken, geringer Abfall aus vornehmen
Häusern oder von Trödlern erstanden, lagen in der Wohnung dieser Leute auf
Gesimsen, Bänken und Tischen umher, und an Sonntagen konnte man nicht nur die
Geschwister und ihre Liebhaber, sondern Vater und Mutter, und wer sonst noch da
war, in die Lektüre der schmutzig aussehenden Bücher vertieft finden. Die Alten
waren törichte Leute, welche in dieser Unterhaltung Stoff zu törichten Gesprächen
suchten; die Jungen hingegen erhitzten ihre Vorstellungskraft an den gemeinen
unpoetischen Machwerken, oder vielmehr sie suchten hier die bessere Welt, welche
die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte. Die Romane zerfielen hauptsächlich in zwei
Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der üblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in
Wir trafen bald darauf, als es gerade Meßzeit war, am Seeufer zusammen, vor den
Krambuden flanierend, die dort in langen Straßen sich aneinanderreihten, und
begrüßten uns wie Macbeths Hexen mit: »Was hast du geschafft?« Wir standen vor dem
Magazine eines Italieners, welcher neben südlichen Eßwaren auch glänzende
Bijouterien und Spielereien feilbot. Feigen, Mandeln und Datteln, Kisten voll
reinlich weißer Makkaroni, besonders aber Berge ungeheurer Salamiwürste reizten
den Sinn meines Gesellen zu kühnen Phantasien, indessen ich zierliche Frauenkämme,
Ölfläschchen und Schalen voll schwarzer Räucherkerzchen betrachtete und ungefähr
dachte, wo diese Dinge gebraucht würden, da wäre es gut sein. »Ich habe soeben«,
begann mein Lügengefährte, »solch eine Salamiwurst gekauft, zur Probe, ob ich für
mein nächstes Bankett eine Kiste voll anschaffen
Das war das allererste Mal in meinem Leben, daß ich einen Schul- und Jugendgenossen schlug; ich konnte denselben nicht mehr ansehen, und zugleich war ich vom Lügen für einmal gründlich geheilt.
In dem lesebeflissenen Hause wurden indessen der Vorrat an schlechten Büchern und die Torheit immer größer. Die Alten sahen mit seltsamer Freude zu, wie die armen Töchter immer tiefer in ein einfältig verbuhltes Wesen hineingerieten, Liebhaber auf Liebhaber wechselten und doch von keinem heimgeführt wurden, so daß sie mitten in der übelriechenden Bibliothek sitzenblieben mit einer Herde kleiner Kinder, welche mit den zerlesenen Büchern spielten und dieselben zerrissen. Die Lesewut wuchs nichtsdestominder fortwährend, weil sie nun Zank, Not und Sorge vergessen ließ, so daß man in der Behausung nichts sah als Bücher, aufgehängte Windeln und die viefältigen Erinnerungen an die Galanterie der ungetreuen Ritter, wie gemalte Blumenkränze mit Sprüchen, Stammbücher voll verliebter Verse und Freundschaftstempel, künstliche Ostereier, in welchen ein kleiner Amor verborgen lag, und dergleichen. Alles in allem genommen will es mir scheinen, daß auch dieses Elend sowohl wie das entgegengesetzte Extrem, die religiöse Sektiererei und das fanatische Bibelauslegen armer Leute, wie ich es im Hause der Frau Margret fand, nur die Spur derselben Herzensbedürfnisse und das Suchen nach einer besseren Wirklichkeit gewesen sei.
Bei dem Sohne dieses Hauses machte sich, als er größer wurde, die vielgeübte
Phantasie auf andere, nicht minder bedenkliche Weise geltend. Er wurde sehr
genußsüchtig, lag schon als Handelslehrling in den Wirtshäusern als ein eifriger
Spieler und war bei jedem öffentlichen Vergnügen zu sehen. Dazu brauchte er viel
Geld, und um sich dieses zu verschaffen, verfiel er auf die sonderbarsten
Erfindungen, Lügen und Ränke, welche ihm nur
Ich war nun zwölf Jahre alt, so daß meine Mutter auf meine weitere Schulbildung
denken mußte. Der Plan des Vaters, daß
In der Tat brachte jeder Tag neue Veränderungen in meine bisherige Lebensweise. Seit alter Zeit war die Jugend der Städte in den Waffen geübt worden, vom zehnten Jahre an bis beinahe zum wirklichen Militärdienste des Jünglingsalters; nur war es mehr eine Sache der Lust und des freien Willens gewesen, und wer seine Kinder nicht wollte teilnehmen lassen, war nicht gezwungen. Nun aber wurden die Waffenübungen für die sämtliche schulpflichtige Jugend gesetzlich geboten, so daß jede Kantonsschule zugleich ein soldatisches Korps bildete. Mit den kriegerischen Übungen war das Turnen verwandt, zu welchem wir ebenfalls angehalten wurden, so daß einen Abend exerziert und den andern gesprungen, geklettert und geschwommen wurde. Ich war bisher aufgewachsen wie ein Gras, mich biegend und schmiegend, wie jedes Lüftchen der Lebensregungen und der Laune es wollte; niemand hatte mir gesagt, mich grad zu halten, kein Mann mich an See und Fluß geführt und da hineingeworfen, nur in der Aufregung hatte ich ein und andern Sprung getan, den ich mit Vorsatz nicht zu wiederholen vermochte. Mein Temperament aber hatte mich nicht dazu getrieben, wie etwa die Söhne anderer Witwen, da ich keinen Wert darauf legte und viel zu beschaulich war. Meine jetzigen Schulgenossen hingegen bis auf den kleinsten herab schwammen alle wie die Fische im See herum, sprangen und kletterten, und hauptsächlich wohl nur ihr Spott nötigte mich, mir einige Haltung und Gewandtheit zu erwerben, da sonst mein Eifer bald erkaltet wäre.
Aber noch viel tiefer sollten die Veränderungen in mein Leben einschneiden. Ich
trieb mich in einer Genossenschaft herum, welche sämtlich mit einem mehr oder
minder genugsamen Taschengelde versehen war, teils aus häuslicher Wohlhabenheit,
teils auch nur infolge herkömmlichen Brauches und sorgloser Prahlerei der Eltern.
An Gelegenheit, Ausgaben zu machen, fehlte es noch weniger, da nicht nur bei den
gewöhnlichen Übungen
Auf Pfingsten ward einst ein großer jugendlicher Feldzug angeordnet; sämtliche
kleine Mannschaft, einige hundert an der Zahl, sollte mit klingendem Spiel
ausrücken und, über Berg und Tal marschierend, die bewaffnete Jugend einer
benachbarten Stadt besuchen, um mit derselben gemeinschaftliche Paraden und
Übungen abzuhalten. Es herrschte eine allgemeine Aufregung, gemischt aus der
Freude der Erwartung und aus der Lust der Vorbereitung. Kleine Tornister wurden
vorschriftsmäßig bepackt, Patronen wurden so viele als möglich über die bestimmte
Zahl angefertigt, unsere Zweipfünderkanonen sowie die Fahnen bekränzt, und
überdies ging unterderhand das Gerede, wie unsere Nachbaren nicht nur schmucke und
gedrillte Soldaten, sondern auch aufgeweckte und lustige Zecher und Kameraden
wären, daß es also nicht nur gelte, sich möglichst blank und strack zu halten,
sondern jeder sich gut mit Taschengeld zu versehen hätte, um den berühmten
Nachbaren auf jede Weise die Stirne zu bieten. Dazu wußten wir, daß dort die
weibliche lugend ebenfalls teilnehmen, festlich gekleidet und bekränzt uns beim
Einmarsche begrüßen und daß nach dem gemeinschaftlichen Mahle getanzt würde. Auch
in dieser Hinsicht waren wir nicht gesonnen, uns etwas zu vergeben; es hieß, jeder
solle sich weiße Handschuhe verschaffen, um beim Balle ebenso galant als
militärisch zu erscheinen, und alle diese Dinge wurden hinter dem Rücken der
Aufseher mit
Am Pfingsttage war ich schon früh auf den Füßen; unsere Trommler, als die
allerkleinsten auch die muntersten Bursche, durchzogen in ansehnlichem Haufen die
Stadt, umschwärmt
Zur Mittagszeit machte der Zug in einem sonnigen unbewohnten Talkessel halt; der
wilde Boden war mit vielen einzelnen Eichen besetzt, um welche sich das junge Volk
lagerte. Wir Leute der Vorhat aber standen auf einem Berge und schauten zufrieden
auf das fröhliche Gewühl hinunter. Wir waren still geworden und schlürften den
stillen glanzvollen Tag ein; der alte Feldwebel lag froh an der Erde und blinzte
in den ruhevollen Horizont hinaus, über blaue Ströme und Seen hin. Obgleich wir
noch nichts von landschaftlicher Schönheit zu sagen wußten und einige vielleicht
in ihrem Leben nie dazu kamen, fühlten wir alle doch ganz die Natur, und das um so
mehr, als wir mit unserm Freudenzuge eine würdige Staffage in der Landschaft
bildeten, selbst handelnd darin auftraten und daher der empfindsamen Sehnsucht
untätiger Naturbewunderer enthoben waren. Denn ich habe erst später erfahren und
eingesehen, daß das müßige und einsame Genießen der gewaltigen Natur das Gemüt
verweichlicht und verzehrt, ohne dasselbe zu sättigen, während ihre Kraft und
Schönheit es stärkt und nährt, wenn wir selbst auch in unserm äußern Erscheinen
etwas sind und bedeuten ihr gegenüber. Und selbst dann ist sie in ihrer Stille uns
manchmal noch zu gewaltig; wo kein rauschendes Wasser ist und gar keine Wolken
ziehen, da macht man gern ein Feuer, um sie zur Bewegung zu reizen und sie nur ein
bißchen atmen zu sehen. So trugen wir einiges Reisig zusammen
Im Scheine des Abendgoldes sahen wir endlich die befreundete Stadt vor uns, aus
deren mit Blumen und grünen Zweigen bekleidetem altertümlichen Tore die so wie wir
gerüstete Jugend uns entgegentrat, umgeben von den schaulustigen und freundlichen
Eltern und Geschwistern. Ihre Artillerie löste uns zu Ehren eine Anzahl von
Schüssen; wir betrachteten mit kritischem Auge, wie die kleinen Kanoniere neben
der Mündung mit ebenso zierlicher Verrenkung sich zurückbogen, wenn die Lunte sich
dem Brander näherte, und nach dem Schusse ebenso hampelmännisch sich mit dem
Wischer auslegten, wie das alles bei uns üblich war. Noch mehr Ursache zur
Eifersucht gaben uns die hübschen Perkussionsgewehre, womit unsere Kameraden
einherzogen, da wir selbst nur alte Steinschlösser hatten, welche sich dann und
wann erlaubten zu versagen. Die Regierung dieses Kantons stand ein wenig im
Geruche, in ihrem aufgeweckten Sinne für alles Gute und Schöne manchmal mehr
Aufwand zu machen, als sich mit haushälterischer Bedächtigkeit vertrüge, und harte
demgemäß für ihre Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit, wo
dergleichen erst bei größeren Militärstaaten in der Einführung begriffen waren. So
hörten wir denn, während unsere Freunde uns wohlgefällig erklärten, wie bei ihnen
während der Ladung die Bewegung von »Pulver auf Pfann'« nun wegfiele, unsere
erwachsenen Begleiter heimlich einen bedächtigen
Das Fest des andern Tages erfüllte alle Erwartungen. Der Wetteifer ließ beide Parteien bei den Übungen gleich wohl bestehen; gegen die Perkussionsgewehre unserer Nebenbuhler aber hatten wir einen andern Trumpf auszuspielen. Indem ihre Artillerie nämlich nur blind zu schießen gewohnt war und keine Kugeln kannte, schoß die unserige so geschickt nach dem Ziele, daß das bei solcher Gelegenheit stehende Sprichwort: »Die Kleinen machten es wahrlich besser denn die Großen!« diesmal nicht ganz unrichtig war und die Nachbaren dem ernsthaften Richten der Geschütze verwundert zuschauten.
Ein großes Festmahl, welches einige tausend junge und alte Menschen vereinigte,
wurde auf einer grünen Wiese eingenommen. Beliebte Jugendfreunde hielten
Tischreden und trafen in denselben das Rechte, indem sie, anstatt uns in hohlem,
frühreifem Ernste zu halten, in reinem Humor den Ton unschuldiger Fröhlichkeit
anstimmten, ihr Alter vergaßen, ohne kindisch zu tun, und uns dadurch desto
leichter lehrten, die Freude nicht ohne Witz zu genießen. Darauf zog eine Reihe
feiner Mädchen aus dem Tore an uns vorbei auf einen geebneten Rasenplatz und lud
uns mit Gesang zu Spiel und Tänzen ein. Sie waren alle weiß und rot gekleidet und
entfalteten sich in der lieblichsten Blüte vom kindlichen Lockenkopfe bis zur
angehenden Jungfrau;
Als ich mit Sonnenuntergang das Haus meiner Mutter betrat, bestaubt und
sonnverbrannt, die Mütze mit einem Tannenreise geschmückt, die Mündung des
Gewehrchens und der eigene Mund prahlerisch von Pulver geschwärzt, da war ich
nicht mehr der gleiche, wie ich ausgezogen, sondern einer, der sich mit den
kecksten Führern der Knabenwelt in verschiedene Verabredungen und Versprechungen
eingelassen hatte zur Fortsetzung des begonnenen Tones. Hauptsächlich sollten die
tanzkundigen Feintuer und Weichlinge, wie wir sie nannten! verhindert werden, uns
bei der einheimischen Schönheit etwa in den Schatten zu stellen; wir wollten daher
ihren zierlichen Künsten ein derbes militärisches Wesen, kühne Taten und allerlei
Streifereien und Unternehmungen entgegensetzen zur Begründung eines bedenklichen
Ruhmes. Voll von diesen Ideen und noch voll der durchlebten Freude, die ich
sowenig erschöpft hatte als sie mich, fühlte ich mich in der besten Laune und
erging mich in unserm
Meine neuen Freunde ließen mir nicht Zeit, aus meiner Verirrung zu kommen; schon der nächste Tag, an dem ich, selbst eine Art von Größe, in der renommiertesten Gesellschaft unserer Stadt zu sehen war, weckte alle neuen Erinnerungen wieder; die Nachklänge des Festes gaben Gelegenheit, den Rest meiner Barschaft anzubringen und dagegen erneute Lorbeeren einzutauschen. Für einen der nächsten Sonntage wurde ein großer Spaziergang verabredet, welcher wieder eine Demonstration gegen die Feinspinner werden sollte. In meinem Leichtsinn hatte ich nicht bedacht, woher ich die nötigen Mittel nehmen wolle, also auch keinen Vorsatz gefaßt; als aber der Augenblick da war, griff ich wieder in den Schrein, ohne etwas anderes zu fühlen als das zwingende Bedürfnis und eine Art dunklen Entschlusses, daß es das letzte Mal sei.
So ging es den ganzen kurzen Sommer hindurch. Die veranlassende Laune war längst
verflogen, die Teilnehmer hatten sich dem ordentlichen Lauf der Dinge wieder
gefügt; auch über mich hätten Maß und Bescheidenheit ihre Herrschaft
wiedergewonnen, wenn nicht eine andere Leidenschaft aus der Sache erwachsen wäre,
nämlich die des unbeschränkten Geldausgebens, der Verschwendung an sich. Es reizte
mich, jeden Augenblick die kleinen Herrlichkeiten, wonach jedes Alter gelüstet,
kaufen zu können; immer hatte ich die Hand in der
Jedoch trotz allem befand ich mich jenen ganzen Sommer hindurch in einem
unheimlichen und peinvollen Zustande, dessen Erinnerung, verbunden mit derjenigen
an den blauen Himmel und Sonnenschein, an die stillen grünen Waldschenken, in
welche wir uns zu heimlichen Gelagen verkrochen, eine seltsame Empfindung
wachruft. Meine Genossen mußten längst gemerkt haben, daß es mit meinem Gelde
nicht mit rechten Dingen zugehe; aber sie hüteten sich sorgfältig, einen Verdacht
zu äußern oder die leiseste Frage an mich zu tun; vielmehr stellten sie sich, als
ob sich alles von selbst verstünde, waren mir stillschweigend behilflich, die
auffälligen blanken Silberstücke umzuwechseln, ohne in Erörterungen einzugehen,
und als die Herrlichkeit ein Ende nahm, wandten sie sich ganz trocken und
unbeteiligt von mir, ganz wie erwachsene brave Geschäftsleute, welche in aller
Seelenruhe auch den Gewinn der Unredlichen
Er war anderthalb Jahre älter als ich, hatte sich indessen enger an mich
geschlossen als alle übrigen, so daß wir eine besondere Freundschaft pflagen und
jeden freien Augenblick zusammensteckten. Er ergänzte mich vortrefflich und sagte
mir daher sehr zu. Meine Unternehmungen gingen immer auf das Phantastische, Bunte
und Wirksame aus, während er durch Genauigkeit und Sorgfalt der mechanischen
Arbeit meinen flüchtigen und rohen Entwürfen Zweck und Ordnung verlieh. Meierlein
ließ mein Geheimnis ebenso vorsichtig bestehen wie die anderen, obwohl es für
seine verständige Aufmerksamkeit noch weniger eines sein konnte; doch ließ er
nicht ebenso zwischendurch seine Einsicht ahnen, sondern bestrebte sich vielmehr,
mich von den zu leichtsinnigen Ausgaben abzuhalten und meine Wünsche auf scheinbar
nützliche und gute Dinge zu richten mit gesetzten Worten, was dem Verkehr mit ihm
einen soliden Anstrich gab. Nur für sich selbst war er mit noch größerm Eifer
bedacht als die übrigen, und sich nicht begnügend mit meiner unmittelbaren
Freigebigkeit, errichtete er mit großer Einsicht ein Schuldverhältnis zwischen mir
und ihm, indem er sich haushälterisch aus meinem Gelde eine kleine Kasse
ansammelte, aus welcher er mir, wenn ich augenblicklich nicht über mein Kästchen
konnte, mäßige Vorschüsse machte, die wir gemeinsam verbrauchten und die er in ein
niedlich angefertigtes Büchelchen eintrug, dessen Seiten mit Soll und Haben
ansehnlich überschrieben waren. Überdies wußte er mir eine Menge kindischer
Gegenstände zu verkaufen, deren Betrag er fleißig in sein Buch setzte. Seine
Gewandtheit in den verschiedensten Übungen verwertete er ebenfalls; er war mein
dienstbarer Dämon, der alles
Sie richtete einen strengen und bekümmerten Blick auf mich und sagte dann: »Schau
einmal in dies Kästchen!« Ich tat es mit einem halben Blicke, der mich seit langer
Zeit zum ersten Male wieder den wohlbekannten innern Raum der geplünderten Lade
sehen ließ. Er gähnte mir vorwurfsvoll entgegen. »Es ist also wahr«, fuhr die
Mutter fort, »was ich habe hören müssen und was sich nun bestätigt, daß sich mein
guter und sorgloser Glaube, ein braves und gutartiges Kind zu besitzen, so grausam
getäuscht sieht?« Ich stand sprachlos da und sah in eine Ecke; das Gefühl des
Unglückes und der Vernichtung kreiste in meinem Innern so stark und gewaltig, als
es nur immer im langen und vielfältigen Menschenleben vorkommen kann; aber durch
die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Versöhnung und
Befreiung. Der offene Blick meiner Mutter auf meine unverhüllte Lage fing an, den
Alp zu bannen, der mich bisher gedrückt hatte; ihr strenges Auge war mir wohltätig
und löste meine Qual, und ich fühlte in diesem Augenblicke eine unsägliche Liebe
zu ihr, welche meine Zerknirschung durchstrahlte und fast in einen glückseligen
Sieg verwandelte, während meine Mutter tief in ihrem Kummer und in ihrer Strenge
beharrte. Denn die Art meines Vergehens hatte ihre empfindlichste Seite, sozusagen
ihren Lebensnerv getroffen einesteils das kindliche blinde Vertrauen ihrer
religiösen Rechtlichkeit, andernteils ihre ebenso religiöse Sparsamkeit und
unwandelbare Lebensfrage. Sie hatte keine Freude beim Anblick des Geldes; nie
übersah sie unnötigerweise ihre Barschaft; aber jedes Guldenstück war ihr beinahe
ein heiliges Symbolum des
Sie ging tiefbewegt auf und nieder und sprach: »So weiß ich nun nicht, was werden soll, wenn du dich nicht fest und für immer bessern willst!« Damit legte sie das Kästchen wieder in ihren Schreibtisch und ließ den Schlüssel desselben an dem gewohnten Ort.
»Sieh«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob du, wenn du deine paar Geldstücke noch verbraucht hättest, alsdann auch nach meinem Gelde, welches ich so sparen muß, gegriffen haben würdest; es wäre nicht unmöglich gewesen; aber mir ist es unmöglich, dasselbe vor dir zu verschließen. Ich lasse daher den Schlüssel stecken wie bisher und muß es darauf ankommen lassen, ob du freiwillig dich zum Bessern wendest; denn sonst würde doch alles nichts helfen, und es wäre gleichgültig, ob wir beide ein bißchen früher oder später unglücklich würden!«
Es begannen gerade acht Tage Ferien; ich blieb von selbst im Hause und suchte alle Winkel auf, in denen ich den Frieden und die Ruhe der früheren Tage wiederfand. Ich war gründlich still und traurig, zumal die Mutter ihren Ernst beibehielt, ab- und zuging, ohne vertraulich mit mir zu sprechen. Am traurigsten war das Essen, wenn wir an unserm kleinen Eßtischen saßen und ich nichts zu sagen wagte oder wünschte, weil ich das Bedürfnis dieser Trauer selbst fühlte und mir sogar darin gefiel, während meine Mutter in tiefen Gedanken saß und manchmal einen Seufzer unterdrückte.
So verharrte ich im Hause und gelüstete nicht im mindesten ins Freie und zu meinen
Genossen. Höchstens betrachtete ich einmal aus dem Fenster, was auf der Straße
vorfiel, und zog mich sogleich wieder zurück, als ob die unheimliche Vergangenheit
zu mir heranstiege. Unter den Trümmern und Erinnerungen meines verflogenen
Wohlstandes befand sich ein großer Farbenkasten, welcher gute Farbentafeln
enthielt, statt der harten Steinchen, die man sonst den Knaben für Farben gibt.
Ich hatte schon durch Meierlein erfahren, daß man nicht unmittelbar mit dem Pinsel
diese Täfelchen aushöhlen, sondern die selben in Schalen mit Wasser anreiben
müsse. Sie gaben reichliche, gesättigte Tinten, ich fing an, mit diesen Versuche
anzustellen, und lernte sie mischen. Besonders entdeckte ich, daß Gelb und Blau
das verschiedenste Grün herstellten, was mich sehr freute; daneben fand ich die
violetten und braunen Töne. Ich hatte schon längst mit Verwunderung eine alte in
Öl gemalte Landschaft betrachtet, die an unserer Wand hing; es war ein Abend; der
Himmel, besonders der unbegreifliche Übergang des Gelben ins Blaue, die
Gleichmäßigkeit und Sanftheit desselben reizte mich stark an, ebensosehr der
Baumschlag, der mich unvergleichlich dünkte. Obgleich das Bild unter dem
Mittelmäßigen stand, schien es mir ein bewundernswertes Werk zu sein, denn ich sah
die mir bekannte Natur um ihrer selbst willen mit einer gewissen Technik
nachgebildet. Stundenlang stand ich auf einem Stuhle davor und versenkte den Blick
in die an haltlose Fläche des Himmels und in das unendliche Blattgewirre der
Bäume, und es zeugte eben nicht von größter Bescheidenheit, daß ich plötzlich
unternahm, das Bild mit meinen Wasserfarben zu kopieren. Ich stellte es auf den
Tisch, spannte einen
Allein doch nicht alles. Denn als ich nun wieder in die Schule trat, bemerkte ich,
daß mehrere Schüler, um Meierlein versammelt, die Köpfe zusammensteckten und mich
höhnisch ansahen. Ich ahnte nichts Gutes, und als die erste Stunde zu Ende war,
welche der Rektor der Schule selbst gegeben, trat mein Gläubiger respektvoll vor
ihn hin, sein Büchlein in der Hand, und erhob in geläufiger Rede seine Anklage
wider mich. Alles
Während der übrigen Unterrichtsstunden schrieb ich ein Briefchen meinem
Widersacher, worin ich ihn versicherte, daß ich ihm nach und nach meine Schuld
abtragen und ihm jeden Kreuzer zustellen wolle, den ich von nun an ersparen
könnte. Ich rollte das Papier zusammen, ließ es unter den Tischen zu ihm hin
befördern und erhielt die Antwort zurück: Sogleich alles oder nichts! Nach
Beendigung der Schule, als der Lehrer fort war, stellte sich der Dämon an der Tür
auf, umgeben von einer schaulustigen Menge, und wie ich hinausgehen wollte,
vertrat er mir den Weg und rief: »Seht den Schelm! Er hat den ganzen Sommer
hindurch Geld gestohlen und mich um fünf Gulden dreißig Kreuzer betrogen! Wißt es
alle und seht ihn an!« – »Ein artiger Schelm, der grüne Heinrich!« ertönte es nun
von mehreren Seiten, ich rief ganz glühend: »Du bist selbst ein Schelm und
Lügner!« Allein ich wurde überschrieen, fünf oder sechs boshafte Bursche, welche
stets einen Gegenstand der Mißhandlung suchten, scharten sich um Meierlein,
folgten mir nach und ließen Schimpfworte ertönen, bis ich in meinem Hause war. Von
jetzt an wiederholten sich solche Vorgänge beinahe täglich; Meierlein warb sich
eine förmliche Verbindung zusammen, und wo ich ging, hörte ich irgendeinen Ruf
hinter mir.
Von dieser Zeit an trafen wir nie wieder zusammen; er mochte aus meiner
verzweifelten Entschlossenheit herausgefühlt haben, daß er im ganzen doch an den
Unrechten gerate, und vermied
Wir waren schon konfirmiert, er etwa achtzehn, ich sechszehn Jahre alt; wir
begannen uns selbständiger zu bewegen und lernten nun Verhältnisse und Menschen
kennen. Wenn wir an öffentlichen Orten zusammentrafen, so vermieden wir, uns
anzusehen, aber jeder weihte seine Freunde in seinen Haß ein, welcher manchmal um
so gefährlicher zu wirken und auszubrechen drohte, als nun ein jeder mit solchen
jungen Leuten
Eines Tages, als ich des Hauses bereits ansichtig war, führte mich mein milder
Stern durch eine Seitenstraße einen andern Weg; als ich einige Minuten später
wieder in die Hauptstraße einbog, sah ich viele erschreckte Leute aus der Gegend
jenes Hauses herkommen, welche eifrig sprachen und lamentierten. Um die Wegnahme
einer alten Windfahne auf dem Turme zu
Es durchfuhr mich, als ich die Kunde vernommen und schnell meines Weges weiterging, wohl ein Grauen, verursacht durch den Fall, wie er war; aber ich mag mich durchwühlen, wie ich will, ich kann mich auf keine Spur von Erbarmen oder Reue entsinnen, die mich durchzuckt hätte. Meine Gedanken waren und blieben ernst und dunkel; aber das innerste Herz, das sich nicht gebieten läßt, lachte auf und war froh. Wenn ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam geschaut, so glaube ich zuversichtlich, daß mich Mitleid und Reue ergriffen hätten; doch das unsichtbare Wort, mein Feind sei mit einem Schlage nicht mehr, gab mir nur Versöhnung, aber die Versöhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich konstruierte zwar, als ich mich besonnen, rasch ein künstliches und verworrenes Gebet, worin ich Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergessenheit bat; mein Inneres lächelte dazu, und noch heute, nachdem wieder Jahre vorübergegangen, fürchte ich, daß meine nachträgliche Teilnahme an jenem Unglücke mehr eine Blüte des Verstandes als des Herzens sei, so tief hatte der Haß gewurzelt!
Um wieder zu jener Schulzeit zurückzukehren, so kann ich nicht bekennen, daß
dieselbe hell und glücklich gewesen sei.
Es lehrte an unserer Schule ein Mann, welcher mit gutem Willen und ehrlichem Sinn
eine große Unerfahrenheit, mit der Jugend umzugehen, und ein schwächliches und
seltsames Äußeres verband. Er hatte in dem Kampfe, welcher den Umschwung der Dinge
und besonders das erneute Schulwesen herbeiführte, tapfer mitgewirkt und war in
der altgesinnten Stadt als ein leidenschaftlicher Liberaler verschrieen. Wir
Knaben waren allzumal gute Aristokraten, mit Ausnahme derer, die vom Lande kamen.
Auch ich, obgleich meines Ursprunges halber auch ein Landmann, aber in der Stadt
geboren, heulte mit den Wölfen und dünkte mich in kindischem Unverstande
glücklich, auch ein städtischer Aristokrat zu heißen. Meine Mutter
Gleich beim Beginne der neuen Schulen, als der ungeschickte Lehrer seine Tätigkeit
mit vieler Gemütlichlkeit antrat, brachte ein Schüler, der Sohn eines fanatischen
Stadtbürgers, mit wichtigen Worten die Nachricht unter uns, wie der Lehrer
geschworen hätte, uns Aristokratenkinder mit eiserner Rute zu bändigen. Er war
nämlich in einer Gesellschaft aufmerksam gemacht worden, wie er es teilweise mit
einer durch altes Herkommen übermütigen und ausgelassenen Stadtjugend zu tun haben
wurde, worauf er antwortete, er werde mit den Bürschlein schon fertig zu werden
wissen. Auf obige Weise dargestellt, wurde diese Rede nun, wahrscheinlich nicht
ohne Zutun der Alten, unter unsere verstandlose Masse geworfen, und sie begann
sogleich zu wirken. Wir nahmen den Handschuh auf; die Verwegensten eröffneten
einen geordneten Widerstand und ein leichtes Geplänkel des Unfuges. Schon dies
verwirrte ihn, und anstatt mit Sarkasmen und ruhiger, überlegener Entschiedenheit
die Angreifer zurückzuwerfen, rückte er sogleich mit seiner Hauptmacht und dem
schweren Geschütze vor, indem er jeden kleinen Mutwillen, auch jede unabsichtliche
Tat blindlings mit den schwersten und einflußreichsten Strafen belegte, die ihm zu
Gebote standen und welche sonst nur in seltenen Fällen angewandt wurden. Dadurch
entzog er sich in unsern Augen den guten Rechtsboden, da wir in der Abschätzung
des Verhältnisses zwischen Strafe und Vergehen eine große Übung besaßen. Seine
Strafen wurden bald wertlos und zuletzt eine Ehrensache, ein Martyrium. Es
entstand offener Lärm in den
Ich hatte mich lange Zeit ziemlich ruhig verhalten und nur den zahlreichen
Auftritten behaglich zugesehen. Gegen den Mann selbst verging ich mich nicht ein
einziges Mal, da es mir widerstrebte, einem Erwachsenen gegenüber aufzutreten.
Erst als das Hinausschieben der ganzen Klasse begann, suchte ich auch teilzunehmen
und bewerkstelligte dies durch kleine Streiche oder wischte auch so mit hinaus;
denn erstens ging es sehr lustig her draußen, und zweitens hätte ich um keinen
Preis bei den wenigen verpönten Gerechten bleiben mögen, welche in der Stube
saßen. Desto lauter wurde ich, wenn ich einmal draußen war, half Aufzüge und
Umgänge anordnen und überließ mich, nach langer Zurückgezogenheit, einer so wilden
Freude, daß mir das Herz heftig klopfte und mein Blut ganz in Wallung war, wenn
wir bei dem folgenden Lehrer wieder an unseren Plätzen saßen. Ich kann mir fest
gestehen, daß ich mich damals über die Freude selbst freute und keinerlei Bosheit
in mir trug. Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit dem Armen, welches
ich zu äußern aber unterließ, um nicht lächerlich zu werden. Einst traf ich ihn
ganz allein auf einem Feldwege; er schien einen Erholungsgang zu machen;
unwillkürlich zog ich ehrerbietig meine Mütze, was ihn so freute, daß er mir
zuvorkommend dankte und mich dabei so märterlich ansah, als ob er um
Barmherzigkeit flehte. Ich wurde gerührt und dachte, daß es anders werden müsse.
Gleich am nächsten Tage
Nach seiner Entfernung wurde es still unter uns; die Lärmbedürftigen und
Schlimmgesinnten wandten sich unbehaglich hin und her, zehrten von der Erinnerung
und konnten sich nicht zurechtfinden. Eines Abends, nach dem Schlusse des
Unterrichts, ging ich ruhig meiner Wege und näherte mich meiner Wohnung, als ich
rufen hörte: »Grüner Heinrich! hierher!« Ich kehrte mich um und erblickte in einer
anderen Straße eine ansehnliche Schar Schüler, welche durcheinandertrieben wie ein
Ameisenhaufen und sehr geschäftig schienen. Ich erreichte sie, man teilte mir mit,
daß man in Gesamtheit dem verabschiedeten Lehrer noch einen Besuch abstatten und
ein rechtes Schlußvergnügen veranstalten wolle, und forderte mich auf
teilzunehmen. Der Plan wollte mir gar nicht einleuchten, ich lehnte kurz ab und
ging weg. Jedoch die Neugier drehte mich, daß ich von ferne nachzog und sehen
wollte, wie es abliefe. Der Haufen bewegte sich vorwärts; andere Schulen, deren
Bestandteile um diese Zeit alle in den Gassen wimmelten, wurden angeworben, daß
bald ein Zug von hundert Jungen aller Art sich fortwälzte. Die Bürger standen
unter den Türen und betrachteten mit Verwunderung das Tun, ich hörte einen sagen:
»Was mögen die Teufelsbuben nur wieder vorhaben? Die sind bei Gott fast so munter,
als wir gewesen sind!« Diese Worte klangen in meinen
Dies Attentat war denn doch zu auffällig gewesen, als daß die oberen Behörden länger hätten zusehen können. Sie verlangten eine strenge Untersuchung. Wir wurden in einem Saale versammelt und einzeln aufgerufen, um vor ein Tribunal zu treten, welches in einer Nebenstube saß. Das Verhör dauerte einige Stunden, die Zurückkehrenden gingen sogleich weg, ohne Bericht zu geben; zwei Dritteile der Versammelten waren schon fort, und noch wurde ich nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zuletzt alle, welche aus der Verhörstube kamen, mich ansahen, ehe sie weggingen. Zuletzt hieß es, der ganze Rest solle hereinkommen mit Ausnahme des grünen Heinrich.
Endlich kam die Reihe an mich; der letzte Trupp erschien wieder und hieß mich
hineingehen. Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt aber keine Antwort;
vielmehr sputeten sie sich ängstlich von hinnen. So trat ich in die Nebenstube,
halb von Neugierde vorwärtsgedrängt, halb von jener beklemmenden Furcht
zurückgehalten, welche die Jugend vor den Alten empfindet, wenn sie in ihnen an
Verstand überlegene und allmächtige Wesen voraussetzt. Es saßen zwei Herren am
obern Ende eines langen Tisches, an dessen Fuß ich stand, einige Stücke Papier und
ein Schreibzeug vor sich. Der eine war der nächste Vorsteher der Schule, der auch
selbst Unterricht erteilte und mich kannte, der andere ein höherer gelehrter Herr,
welcher wenig sagte. Zu jenem stand ich in einem eigentümlichen Verhältnisse er
war ein gemütlicher Poltron, gern viele Worte machend und froh, wenn ein Schüler
durch bescheidene Widerrede ihm Gelegenheit
Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt, doch gemächlich nach Hause; das Ganze schien mir nicht sehr würdig zu verlaufen Zwar fühlte ich eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten Lehrer. Zu Hause erzählte ich der Mutter den ganzen Vorgang, worauf sie mir eben eine Strafrede halten wollte, als ein Amtsdiener hereintrat mit einem großen Briefe. Dieser enthielt die Nachricht, daß ich von Stund an und für immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei. Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit, welches sich sogleich in mir äußerte, war so überzeugend, daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ, da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten Es ist nicht zu brauchen!
Wenn über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein tiefer und anhaltender Streit
obwaltet, so kann man füglich die Frage, ob der Staat das Recht hat, ein Kind oder
einen jungen Menschen, die gerade nicht tobsüchtig sind, von seinem
Erziehungssysteme auszuschließen, zugleich mit in den Kauf nehmen. Gemäß jenem
Vorgange wird man mir, wenn ich im spätern Leben in eine ähnliche ernstere
Verwicklung gerate, bei gleichen Verhältnissen und Richtern wahrscheinlich den
Kopf abschneiden; denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen heißt
nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen. In der
Tat haben auch häufig die öffentlichen
Der Staat hat nicht darnach zu fragen, ob die Bedingungen zu einer weiteren Privatausbildung vorhanden seien oder ob trotz seines Aufgebens das Leben den Aufgegebenen doch nicht fallenlasse, sondern manchmal noch etwas Rechtes aus ihm mache er hat sich nur an seine Pflicht zu erinnern, die Erziehung jedes seiner Kinder zu überwachen und weiterzuführen. Auch, ist am Ende diese Erscheinung weniger wichtig in bezug auf das Schicksal solcher Ausgeschlossenen, als daß sie den wunden Fleck auch der besten unserer Einrichtungen bezeichnet, die Trägheit nämlich und Bequemlichkeit der mit diesen Dingen Beauftragten, welche sich für Erzieher ausgeben.
Der Kummer und die Niedergeschlagenheit meinerseits waren nicht allzu groß; ich
hatte dem Lehrer des Französischen einige Bücher zurückzustellen, da er mir mit
Wohlwollen ehrwürdige Franzbände französischer Klassiker zu leihen pflegte. Auch
führte er mich einige Male in einer großen Bibliothek umher, mir respektvolle
Vorbegriffe vom Bücherwesen beibringend. Als ich zu ihm kam, drückte er mir sein
Bedauern über das Geschehene aus und gab mir zu verstehen, wie ich es nicht allzu
hoch aufzunehmen hätte, da seines Wissens die Mehrzahl der Lehrer, gleich ihm,
nicht unzufrieden mit mir wären. Ferner lud er mich ein, ihn zu besuchen und
seinen Rat zu holen, wenn ich Lust hätte, das Französische weiter zu betreiben.
Ich sah ihn zwar nicht wieder im Wechsel der Zeit; aber seine Worte
Meine Mutter hingegen befand sich in großer Bedrängnis; sie konnte bestimmt
annehmen, daß der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht abgeschlossen haben
würde, wenn er noch lebte, und doch sah sie bei ihren beschränkten Mitteln keine
Möglichkeit, mir Privatlehrer zu halten oder mich auf eine auswärtige Schule zu
schicken, noch konnte sie sich den Beruf denken, welchen ich nun am besten
ergriffe, da gerade für eine einsichtvollere Selbstbestimmung der erweiterte
Gesichtskreis der nun verschlossenen höheren Klassen hätte Gelegenheit bieten
sollen. Meine häusliche Beschäftigung hatte in letzter Zeit beinahe ausschließlich
in Zeichnen und Malen bestanden, und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in
einem sonderbaren Verhältnis zur Schule. Dort galt ich für nichts weniger als für
einen talentvollen Zeichner. Monatelang klebte der gleiche Bogen auf meinem
Reißbrette; ich quälte mich verdrossen ab, einen kolossalen Kopf oder ein Ornament
mit dem magern Bleistifte zu kopieren; Dutzende von Linien wurden ausgelöscht, bis
die richtige stehenblieb, das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und
verkündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. Sobald ich aber nach Hause
kam, warf ich diese Schulkunst beiseite und machte mich mit eifrigem Fleiße hinter
meine Hauskunst. Nach jenem ersten Versuche, eine gemalte Landschaft zu kopieren,
hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen; da
ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß, mußte ich sie auf eigene Faust ins
Leben rufen und tat dieses mit anhaltendem Fleiße. Der gemalte Ofen unserer Stube
enthielt eine Menge kleiner Landschaftsmotive, eine Burg, eine Brücke, einige
Säulen an einem See und solches mehr; ein altes Stammbuch der Mutter sowie eine
kleine Bibliothek verjährter Damenkalender aus ihrer Jugend
Das Heimatdorf lag in einem äußersten Winkel des Landes; ich war noch nie dort
gewesen, so wie auch die Mutter seit manchen Jahren es nicht mehr besucht hatte
und die dortigen Verwandten, mit seltenen Ausnahmen, nie in der Stadt erschienen.
Nur der Oheim Pfarrer kam jedes Jahr einmal auf seinem Klepper geritten, um an
einer Kirchenversammlung teilzunehmen, und schied immer mit kordialen Einladungen,
endlich einmal hinauszuwandern. Er erfreute sich eines halben Dutzends Söhne und
Töchter, welche mir noch so unbekannt waren wie ihre Mutter, meine rüstige Muhme
und geistliche Bäuerin. Außerdem lebten dort zahlreiche Verwandte des Vaters, vor
allen auch seine leibliche Mutter, eine hochbejahrte Frau, welche, schon längst an
einen zweiten, reichen und finstern Mann verheiratet, unter dessen harter
Herrschaft in tiefer Zurückgezogenheit lebte und nur selten mit den Hinterlassenen
ihres früh gestorbenen Sohnes einen sehnsüchtigen Gruß aus der Ferne wechselte.
Das Volk lebte noch in der stillen Einschränkung und Entsagung vergangener
Jahrhunderte, wo besonders die Frauen, wenn sie einmal durch einige Meilen
getrennt waren, einander nicht wieder oder nur bei seltenen, hochwichtigen
Ereignissen sahen, bei welchen es alsdann wahrhaft episch herging und Tränen der
Rührung und schmerzlicher oder froher Erinnerung ihren Augen entflossen, während
die Männer wohl sich vom Orte bewegten, aber in ernstem Geschäftssinne an den
Türen halbverschollener Verwandter vorübergingen, wenn sie keinen Rat zu bringen
oder zu holen hatten. Jetzt ist das Volk wie der lebendiger geworden; durch die
erleichterten Verkehrsmittel, durch das wiedererstandene öffentliche Leben und
zahlreiche Volksfeste veranlaßt, bewegt es sich fröhlich von der Stelle und macht
damit zugleich seinen Geist wieder jung und fruchtbar, und nur beschränkte Eiferer
predigen
Meine Mutter befahl mir, insbesondere der einsamen überlebenden Großmutter so viele Zeit als möglich zu widmen und in Ehrerbietung und Liebe bei ihr auszuharren, solange es ihr gefiele, mich um sich zu haben und von meinem Vater, ihrem Sohne, zu reden.
So machte ich mich eines Morgens vor Sonnenaufgang auf die Füße und trat den
weitesten Weg an, den ich bis dahin unternommen hatte. Ich genoß zum ersten Male
das Morgengrauen im Freien und sah die Sonne über nachtfeuchten Waldkämmen
aufgehen. Ich wanderte den ganzen Tag, ohne müde zu werden, kam durch viele Dörfer
und war wieder stundenlang allein in gedehnten Waldungen oder auf freien heißen
Höhen, mich oft verirrend, aber die verlorene Zeit nicht bereuend, weil ich
fortwährend in meinen Gedanken beschäftigt war und zum ersten Mal, durch mein
stilles Wandern bewegt, von der ernsten Betrachtung des Schicksals und der Zukunft
erfüllt wurde. Kornblumen und roter Mohn und in den Wäldern bunte Pilze
begleiteten mich längs der ganzen Straße; wunderschöne Wolken bildeten sich
unablässig und zogen am tiefen stillen Himmel dahin; ich ging immerzu, indessen
mich das selbstgefällige Mitleid mit mir selbst, welches mir die Welt aufgedrängt
hatte, wieder überkam, bis ich gegen alle Gewohnheit bitterlich weinte. Ich wußte
mich vor Betrübnis nicht zu lassen und saß an einer schattigen Quelle nieder,
immer schluchzend, bis ich mich schämte, mein Gesicht wusch und über mich selbst
erbost den Rest des Weges zurücklegte. Endlich sah ich das Dorf zu meinen Füßen
liegen in einem grünen Wiesentale, welches von den Krümmungen eines leuchtenden
kleinen Flusses durchzogen und von belaubten Bergen umgeben war. Die Abendsonne
lag warm auf dem Tale, die Kamine rauchten freundlich, einzelne Rufe klangen
herüber. Bald befand ich mich bei den ersten Häusern, ich fragte nach dem
Pfarrhofe, und die Leute, welche an meinen
So gelangte ich zu der Wohnung meines Oheims, welche von dem rauschenden Flüßchen bespült und mit großen Nußbäumen und einigen hohen Eschen umgeben war; die Fenster blinkten zwischen dichtem Aprikosen- und Weinlaube hervor, und unter einem derselben stand mein dicker Oheim in grüner Jacke, ein silbernes Waldhörnchen, in welchem eine Zigarre rauchte, im Munde und eine Doppelflinte in der Hand. Ein Flug Tauben flatterte ängstlich über dem Hause und drängte sich um den Schlag, mein Oheim sah mich und rief sogleich: »Haha, da kommt unser Neveu! das ist gut, daß du da bist, schnell heraufspaziert!« Dann sah er plötzlich in die Höhe, schoß in die Luft, und ein schöner Raubvogel, welcher über den Tauben gekreist hatte, fiel tot zu meinen Füßen. Ich hob ihn auf und trug ihn, durch diesen tüchtigen Empfang angenehm begrüßt, meinem Oheim entgegen.
In der Stube fand ich ihn allein neben einer langen Tafel, die für viele Personen
gedeckt war. »Eben kommst du recht!« rief er, »wir halten heute das Erntefest,
gleich wird das Volk dasein!« Dann schrie er nach seiner Frau, sie erschien mit
zwei mächtigen Weingefäßen, stellte sie ab und rief: »Ei, ei, was ist das für ein
Bleichschnabel, für ein Milchgesicht? Warte, du sollst nicht mehr fort, bis du so
rote Backen hast wie dein seliger Vater! Wie geht's der Mutter, was ist das, warum
kommt sie nicht mit?« Sogleich richtete sie mir an der Tafel ein vorläufiges Mahl
zu und schob mich, als ich zögerte, ohne weiteres auf den Stuhl und befahl mir,
stracks zu essen und zu trinken. Indessen näherte sich Geräusch dem Hause, der
hohe Garbenwagen schwankte unter den Nußbäumen heran, daß er die untersten Äste
streifte, die Söhne und Töchter mit einer Menge anderer Schnitter und
Schnitterinnen gingen nebenher unter Gelächter und Gesang; der Oheim, seine Flinte
reinigend, schrie ihnen zu, ich wäre da,
Am frühen Morgen, als Sonnenglanz durch das Laubwerk ins Zimmer drang, wurde ich
auf eigentümliche Weise geweckt. Ein junger Edelmarder mit zartem Pelze saß auf
meiner Brust und beschnüffelte mit den feinen hastigen Atemstößen seiner spitzen
kühlen Schnauze meine Nase und huschte, als ich die Augen aufschlug, unter die
Bettdecke, blinzelte da und dort hervor und versteckte sich wieder. Als ich aus
dieser Erscheinung nicht klug wurde, brachen meine jungen Vettern aus ihrer
Schlafkammer, in welcher sie gelauscht hatten, lachend hervor, veranlaßten das
behende Tier zu den anmutigsten und possierlichsten Sprüngen und erfüllten das
Zimmer mit Fröhlichkeit. Dadurch herangelockt, drang eine Meute schöner Hunde her
ein, ein zahmes Reh erschien neugierig unter der Tür, eine prachtvolle graue Katze
folgte und schmiegte sich durch das Getümmel, die spielenden und zutäppischen
Hunde würdevoll ab weisend; Tauben saßen auf dem Fenster, Menschen und Tiere, die
ersteren kaum halb angezogen, jagten sich durcheinander. Alle aber hielt der kluge
Marder zum besten und schien viel eher mit uns zu spielen als wir mit ihm. Nun
erschien auch der Oheim mit dem rauchenden Waldhörnchen, uns eher noch zu
Ich sah mich wieder an den langen Tisch versetzt, um welchen die zahlreiche
Familie mit ihren Schützlingen und Tagewerkern versammelt war. Letztere kamen
schon von mehrstündiger Arbeit und erholten sich von der ersten leichten Müde, von
der erstarkten Sonne als Morgengruß gesendet. Alles aß kräftige Hafersuppe, in
welche reichlich Milch gegossen wurde; nur am obern Ende, zwischen Vater, Mutter
und der ältesten Tochter, herrschte die Kaffeetasse, und ich, als Gast diesem
vornehmen Anhängsel beigefügt, sah mit Neid in die frische Suppenregion hinüber,
wo fröhliche Späße getauscht wurden. Doch bald brach die Gesellschaft wieder auf,
um zur Arbeit auf dem fernen heißen
Ihr Mann erschien, ein diplomatischer und gemessener Bauer; er begrüßte mich mit
freundlicher Teilnahmlosigkeit, und nachdem er mit einem Blicke gesehen, daß ich
eine ähnliche »phantastische«
Ich blieb einige Stunden bei ihr, ohne daß, wir viel sprachen; sie saß stillvergnügt neben mir und schlief endlich lächelnd ein. Über ihre geschlossenen Augen ging eine leise Bewegung wie das Wallen eines Vorhanges, hinter welchem etwas vorgeht, man ahnte, daß sich dort Bilder in zartem, verjährtem Sonnenscheine zeigten, und die freundlichen Lippen verkündeten es in schwachen Regungen. Als ich mich erhob, um behutsam fortzugehen, erwachte sie sogleich, hielt mich an und betrachtete mich fremd; wie in ihrer Person das meinem Dasein Vorhergegangene groß und unvermittelt vor mir stand, mochte ich als die Fortsetzung ihres Lebens, als ihre Zukunft dunkel und rätselhaft vor ihr stehen, da meine Tracht wie meine Sprache von allem abwich, worin sie sich lebenslang bewegt hatte. Sie schritt gedankenvoll in die Nebenkammer, wo sie in einem hohen Schranke einen Vorrat neuer Kleinigkeiten aufbewahrte, die sie von fahrenden Krämern zu kaufen pflegte, um sie gelegentlich an das junge Volk zu verschenken. Statt eines mächtigen Taschentuches ergriff sie, ihres blöden Gesichtes wegen, ein kleines rotseidenes Halstuch, wie es Landmädchen tragen, und gab mir es, noch in das gleiche Papier gewickelt, in dem sie es gekauft. Ich mußte ihr versprechen, jeden Tag zu kommen und nächstens einmal dort zu speisen.
Klein Vetter hatte sich längst entfernt, und ich suchte allein meinen Heimweg, das
rote Tüchelchen in der Tasche. Bei einem Hause vorbeigehend, bemerkte ich einige
derbe Kinder, welche wie der Blitz hineinliefen und dort lärmend etwas riefen.
Eine Frau kam heraus, holte mich ein, kündigte sich als Base an und fragte, ob ich
denn nichts von ihr und ihrer Familie wisse? Ich bejahte die Frage, indem ich mich
entschuldigte, sie nicht gekannt
Nachdem ich noch den Stall besehen und in der Scheune jeder Kuh eine Gabel voll
Klee hinübergeschoben, verabschiedete ich mich; die Base ließ es sich aber nicht
nehmen, mich ein Stück Weges zu begleiten, um mich schnell noch einer anderen Base
vorzustellen, wo ich mich nicht lange aufzuhalten brauche für dieses Mal. Ich fand
eine freundliche Matrone, nicht ganz von dem edlen und feinen Wesen meiner
Großmutter, aber doch anständig und wohlwollend. Sie wohnte allein mit einer
Tochter, welche früher, einer häufigen Sitte gemäß, zwei Jahre in der Stadt
gedient, dann einen vermöglichen Bauern geheiratet hatte und nach dessen baldigem
Tode nun als Witwe lebte. Kaum zweiundzwanzig Jahre alt, war sie von hohem und
festem Wuchse, ihr Gesicht hatte den ausgeprägten Typus unsers Geschlechtes, aber
durch, eine ungewöhnliche Schönheit verklärt; besonders die großen braunen Augen
und der Mund mit dem vollen runden Kinn machten augenblicklichen Eindruck. Dazu
schmückte sie ein schweres dunkles, fast nicht zu bewältigendes Haar. Sie galt für
eine Art Lorelei, obschon sie Judith hieß, auch niemand etwas Bestimmtes oder
Nachteiliges von ihr wußte. Dies Weib trat nun herein, vom Garten kommend, etwas
zurückgebogen, da sie in der Schürze eine Last frischgepflückter Ernteäpfel und
darüber eine Masse gebrochener Blumen trug. Dies schüttete sie alles auf den
Tisch, wie eine reizende Pomona, daß ein Gewirre von Form, Farbe und Duft sich auf
der blanken
Es war schon tiefer Nachmittag, als ich endlich das Haus meines Oheims wiederfand,
und zwar verschlossen, weil alle Bewohner ins Freie gegangen; doch wußte ich, daß
ich durch Scheune und Stall ein Schlupfloch finden würde. In der Scheune sprang
mir das Reh entgegen und schloß sich mir unverweilt an; im Stalle sahen sich die
Kühe nach mir um, und ein lediges Rind tappte halbwegs auf mich zu und machte
Anstalt, einen
Der Oheim hatte schon seit einigen Jahren dem geistlichen Stande entsagt, um sich
ganz seinen Neigungen hinzugeben. Da die Gemeinde ohnehin willens war, ein neues
Pfarrhaus zu bauen, kaufte der Oheim dazumal das alte Pfarrhaus von ihr, welches
ursprünglich eigentlich der Landsitz eines Herren gewesen war und daher steinerne
Treppen mit Eisengeländern, in Gips gearbeitete Plafonds, einen Saal mit einem
Kamine, viele Zimmer und Räume und überall eine Unzahl fast schwarzer Ölgemälde
enthielt. In dieses Wesen hinein hatte der Oheim, unter das gleiche Dach, seine
Landwirtschaft geschoben, indem er einen Teil der Wohnung herausgebrochen, daß
sich beide Elemente, das junkerhafte und das bäuerliche, verschmolzen und durch
wunderliche Türen und Durchgänge verbanden. Aus einem mit Jagden bemalten und mit
alten theologischen Werken versehenen Zimmer sah man sich, wenn man eine
Tapetentür öffnete, plötzlich auf den Heuboden versetzt. Unter dem Dache fand ich
eine kleine Mansarde, deren Wände mit alten Hirschfängern und Galanteriedegen
sowie mit unbrauchbarem Schießgewehr bedeckt waren; eine lange spanische Klinge
mit trefflich gearbeitetem stählernen Griffe war ein Prachtstück und
Gegen Osten sahen die Fenster des Hauses in das Wirrsal von Obstbäumen und
Dachgiebeln des Dorfes, aus welchem der erhöhte Kirchhof mit der weißen Kirche wie
eine geistliche Festung emporragte; nach der Abendseite schaute die hohe lange
Fensterflucht des Saales über ein sattgrünes Wiesental, durch welches sich der
Fluß in vielen Armen und Windungen buchstäblich silbern schlängelte, da er
höchstens zwei Fuß tief war und wie Brunnenwasser in lebendigen heftigen Wellen
über weißes Geschiebe floß. Jenseits dieses Wiesengrundes stieg eine waldige
Berghalde auf, an welcher alle Laubarten durcheinanderwogten, von grauen
Felswänden und Kuppen unterbrochen. Die untergehende Sonne aber hatte einen freien
Ausgang über fernere Blauberge und übergoß das Tal alle Abend mit Glut, daß man an
den Fenstern des Saales im Roten saß, ja die Röte drang durch diesen hin, wenn
seine Türen geöffnet, ins Innere des
Mein Oheim trat, von einer Aufsichtswanderung zurückgekehrt, zu mir herein und sah
mich mit Verwunderung von meinem Krame umgeben. Die kindliche Renommisterei und
Keckheit
Er holte eine alte Mappe herbei, welche mit einer ansehnlichen Schnur umwickelt
war, und indem er sie öffnete, sagte er: »Ich habe bei Gott diese Dinge längst
vergessen, ich seh sie selbst einmal gern wie der! Der gute Junker Felix liegt in
Rom begraben, schon manches lange Jahr; er war ein alter Junggesell, trug
gepuderte Haare und ein Zöpfchen noch anfangs der zehner Jahre; er malte und
radierte den ganzen Tag, ausgenommen im Herbste, wo er mit uns jagte. Damals, zu
Anfang der zehner Jahre, kamen ein paar junge Herren aus Italien zurück, worunter
ein Malergenie. Diese Bursche machten einen Teufelslärm und behaupteten, die ganze
alte Kunst sei verkommen und würde eben jetzt in Rom wiedergeboren von deutschen
Männern. Alles, was vom Ende des vorigen Jahrhunderts her datiere, das Geschwätz
des sogenannten Goethe von Hackert, Tischbein und dergleichen, das sei alles
Lumperei, eine neue Zeit sei angebrochen. Diese Redensarten störten meinen armen
Felix
Wir durchblätterten nun die vergilbten Papiere; es waren ein Dutzend Baumstudien in Kreide und Rotstift, nicht sehr körperlich und sicher gezeichnet, doch von einem eifrigen dilettantischen Streben zeugend, nebst einigen verblaßten Farbenskizzen und einer großen in Öl gemalten Eiche. »Dies nannte er Baumschlag«, sagte mein Oheim, »und machte ein großes Wesen daraus. Das Geheimnis desselben hatte er im Jahre 1780 in Dresden erlernt bei seinem verehrten Meister Zink, oder wie er ihn nannte. Es gibt, pflegte er zu sagen, zwei Klassen von Bäumen, in welche alle zerfallen, in die mit runden und die mit gezackten Blättern. Daher gibt es zwei Manieren die gezackete Eichenmanier und die gerundete Lindenmanier! Wenn er bestrebt war, unseren jungen Damen das geläufige Schreiben dieser Manieren beizubringen, so sagte er, sie müßten sich vor allem an einen gewissen Takt gewöhnen, zum Beispiel beim Zeichnen dieser oder jener Blattart zählen: ›Eins zwei, drei – vier fünf, sechs!‹ – ›Das ist ja der Walzertakt!‹ schrieen die Mädchen und begannen um ihn herumzutanzen, bis er wütend aufsprang, daß ihm der Zopf wackelte!«
So gewann ich auf dem seltsamen Wege einer Tradition, deren Träger selbst der
Sache fremd war, den ersten Anhaltspunkt.
Er ergriff aus einem Winkel, wo eine Menge alter spanischer Rohre versammelt war, einen tüchtigen Stock, gab mir auch einen solchen, pustete aus seinem Waldhörnchen den abgebrannten Zigarrenstumpf heraus, steckte einen frischen Glimmstengel hinein, pfiff aus dem Fenster in weithin schallenden Tönen, worauf sogleich die Hunde aus allen Ecken des Dorfes wie der Blitz herbeisprangen, und wir zogen, umgeben von den bellenden Tieren, dem abendlichen Bergwalde zu.
Bald war die Meute weit voraus und im Gehölze verschwunden; aber kaum begannen wir
die Höhe hinanzusteigen, so hörten wir sie über uns anschlagen und in voller Jagd
am Berge hinziehen, daß die Schluchten widerhallten. Meinem Oheim lachte das Herz,
er zog mich vorwärts und behauptete, wir müßten rasch nach einer kleinen Waldwiese
eilen, um das Tier zu sehen; doch auf dem Wege horchte er auf und änderte die
Richtung, indem er rief: »Es ist bei Gott ein Fuchs! dorthin müssen wir gehen,
schnell, pst!« Kaum hatten wir einen schmalen Pfad betreten, welcher neben einem
trockenen Waldbache
»Genug für heute«, sagte er, »nun laß uns noch da vornenhin gehen, wo du das Hochgebirge sehen kannst, dem du jetzt ein bißchen ferner gerückt bist.«
Am entgegengesetzten Rande des hohen Feldes, wo die Föhren sich, lichteten, sah man über zuerst grüne, dann immer blauer werdende Bergrücken hin nach dem Gebirge im Süden, welches in seiner ganzen Ausdehnung von Ost nach West vor uns lag, von den Appenzeller Kuppen bis zu den Berner Alpen, aber so fern wie ein Traum.
Indessen wir auf einem andern Wege nach Hause kehrten, wechselten die reizenden Bilder vor meinen Augen bis in die Schatten der Nacht hinein und schlossen mit dem hellsten Mondscheine, der auf Mühle, Pfarrhaus und auf dem Wasser flimmerte, als wir anlangten. Die jungen Leute jagten sich auf dem Platze unter den Eschen umher und drängten einander in das Flüßchen, die Töchter sangen im Garten, und die Muhme rief aus dem Fenster, ich sei ein Landstreicher, den man den ganzen Tag nie gesehen habe.
Der nächste junge Tag ließ mich von allen Seiten mit dem Rufe Maler! begrüßen.
Guten Morgen, Maler! Haben der Herr Maler wohl geruht? Maler, zum Frühstück! hieß
es, und das Völklein handhabte diesen Titel mit derjenigen gutmütig spottenden
Freude, welche es immer empfindet, wenn es für einen neuen Ankömmling, den es
nicht recht anzugreifen wußte, endlich eine geläufige Bezeichnung gefunden hat.
Ich ließ mir jedoch den angewiesenen Rang gern gefallen und nahm mir im stillen
vor, denselben nie mehr aufzugeben. Ich brachte aus Pflichtgefühl die erste
Morgenstunde noch über meinen Schulbüchern zu, mich selbst unterrichtend; aber mit
dem grauen Löschpapier dieser melancholischen Werke kam die Öde und
Ungeduldig ging ich, ein Lehrbuch der Physik in der Hand, hin und her und durch mehrere Zimmer, bis ich in einem derselben die weltliche Bibliothek des Hauses entdeckte; ein breiter alter Strohhut, wie ihn die Mädchen zur Feldarbeit brauchen, hing darüber und verbarg sie beinahe ganz. Wie ich denselben aber wegnahm, sah ich eine kleine Schar guter Franzbände mit goldenem Rücken, ich zog einen Quartband hervor, blies den dichten Staub davon und schlug die Geßnerschen Werke auf, in dickem Velinpapier, mit einer Menge Vignetten und Bildern geschmückt. Überall, wo ich blätterte, war von Natur, Landschaft, Wald und Flur die Rede; die Radierungen, von Geßners Hand mit Liebe und Begeisterung gemacht, entsprachen diesem Inhalte; ich sah meine Neigung hier den Gegenstand eines großen, schönen und ehrwürdigen Buches bilden. Als ich aber auf den Brief über die Landschaftmalerei geriet, worin der Verfasser einem jungen Manne guten Rat erteilt, las ich denselben überrascht vom Anfang bis zum Ende durch. Die unschuldige Naivetät dieser Abhandlung war mir ganz faßlich; die Stelle, wo geraten wird, mannigfaltig gebrochene Feld- und Bachsteine auf das Zimmer zu tragen und danach Felsenstudien zu machen, entsprach meinem noch halbkindischen Wesen und leuchtete mir ungemein in den Kopf. Ich liebte sogleich diesen Mann und machte ihn zu meinem Propheten. Nach mehr Büchern von ihm suchend, fand ich ein kleines Bändchen, nicht von ihm, aber seine Biographie enthaltend. Auch dieses las ich auf der Stelle ganz durch. Er war ebenfalls ein hoffnungsloser Schüler
Es ist bei der besten Erziehung nicht zu verhüten, daß dieser folgenreiche und gefährliche Augenblick nicht über empfängliche junge Häupter komme, unbemerkt von aller Umgebung, und wohl nur wenigen ist es vergönnt, daß sie erst das leidige Wort Genie kennenlernen, nachdem sie unbefangen und arglos bereits ein gesundes Stück Leben, Lernen, Schaffen und Gelingen hinter sich haben. Ja, es ist überhaupt die Frage, ob nicht zu dem bescheidensten Gelingen eine dichte Unterlage von bewußten Vorsätzen und allem Apparate der Geniesucht gehöre, und der Unterschied mag oft nur darin bestehen, daß das wirkliche Genie diesen Apparat nicht sehen läßt, sondern vorweg verbrennt, während das bloß vermeintliche ihn mit großem Aufwande hervorkehrt und wie ein verwitterndes Baugerüst stehen läßt am unfertigen Tempel.
Den berückenden Trank schöpfte ich jedoch nicht aus einem anspruchsvollen und blendenden Zauberbecher, sondern aus einer bescheidenen lieblichen Hirtenschale; denn bei allen Redensarten war dies Geßnersche Wesen durchaus einfacher und unschuldiger Natur und führte mich für einmal nur mit etwas mehr Bewußtsein unter grüne Baumschatten und an stille Waldquellen.
In der Biographie machte ich auch die Bekanntschaft mit dem alten Sulzer, welcher
in Berlin des jungen Geßner Gönner gewesen; wie ich nun unter den Büchern einige
Bände der »Theorie der schönen Künste« bemerkte, nahm ich sie als in mein
neuentdecktes Gebiet gehörig in Beschlag. Dies Buch muß seinerzeit eine gewaltige
Verbreitung gefunden haben, da man es fast in allen alten Bücherschränken findet
und es auf allen
Kaum nahm ich mir nach Tische noch Zeit, bei der Großmutter einen kurzen Besuch abzustatten, ein kleines Testamentchen mit Goldschnitt und silbernem Schlößchen, das sie für mich bestimmt hatte, einzustecken, und eilte wieder davon. Die Großmutter sah mir, so weit ihre schwachen Augen reichten, etwas wehmütig nach; denn sie hatte mir die heilige Gabe mit besonderer Liebe und Feierlichkeit einhändigen wollen. Aber ich schwand ihr eilig aus dem Gesichte, allein begierig, meine angefachte Kunsteinsicht an den Mann oder vielmehr an die Bäume zu bringen.
Mit einer Mappe und Zubehör versehen, lief ich bereits unter den grünen Hallen des
Bergwaldes hin, jeden Baum betrachtend, aber nirgends eigentlich einen Gegenstand
sehend, weil der stolze Wald eng verschlungen, Arm in Arm stand und mir keinen
seiner Söhne einzeln preisgab; die Sträucher und Steine, die Kräuter und Blumen,
die Formen des Bodens schmiegten und duckten sich unter den Schutz der Bäume und
verbanden sich überall mit dem großen Ganzen, welches mir lächelnd nachsah und
meiner Ratlosigkeit zu spotten schien. Endlich trat ein gewaltiger Buchbaum mit
reichem Stamme und prächtigem Mantel und Krone herausfordernd vor die
verschränkten Reihen, wie ein König aus alter Zeit, der den Feind zum Einzelkampfe
aufruft. Dieser Recke war in jedem Aste und jeder Laubmasse so fest und klar, so
lebens- und gottesfreudig, daß seine Sicherheit
Da traf ich auf eine junge Esche, welche mitten in einer Waldlücke auf einem niedrigen Erdwalle emporwuchs, von einer sichernden Quelle getränkt. Das Bäumchen hatte einen schwanken Stamm von nur zwei Zoll Dicke und trug oben eine zierliche Laubkrone, deren regelmäßig gereihte Blätter zu zählen waren und sich, so wie der Stamm, einfach, deutlich und anmutig auf das klare Gold des Abendhimmels zeichneten. Weil das Licht hinter der Pflanze war, sah man nur den scharfen Umriß des Schattenbildes; es schien wie absichtlich zur Übung eines Schülers hingestellt.
So ging die erste Woche meines ländlichen Aufenthaltes angenehm zu Ende, und um diese Zeit wußte ich schon etwelche Bäume voneinander zu unterscheiden und freute mich, die grünen Gesellen mit ihren Namen begrüßen zu können; nur hinsichtlich der Kräuterdecke des feuchten oder trockenen Bodens bedauerte ich erst jetzt wieder lebhaft die Unterbrechung der botanischen Anfänge in der Schule, da ich wohl fühlte, daß für die Kenntnis dieser kleinen, aber weit mannigfaltigeren Welt einige grobe Umrisse nicht genügten; und doch hätte ich so gern die Namen und Eigenschaften aller der blühenden Dinge gekannt, welche den Boden bedecken.
Auf den ersten Sonntag meiner Anwesenheit war schon ein Besuch verabredet worden,
welchen wir jungen Leute hinter dem Walde abstatten wollten. Dort wohnte auf einem
Meine drei Basen, von zwanzig, sechszehn und vierzehn Jahren, mit städtisch
verwelschten Namen Margot, Lisette und Caton, hielten am Sonntagnachmittag lange
Konferenz in ihren Kämmerchen, einander wechselseitig besuchend und die Türen
hinter sich abschließend. Wir Bursche, deren Toilette längst beendigt war, harrten
ungeduldig und konnten nur durch Schlüssellöcher und Türspalten bemerken, daß die
Kleiderschränke weit geöffnet und die Mädchen mit wichtigen Gebärden ratschlagend
davorstanden. Um uns die Zeit zu vertreiben, begannen wir die
Dies alles mußte um so größern Eindruck machen, wenn man bedachte, daß die guten Mädchen Autodidaktinnen waren und in Sachen des Putzes ganz allein und ratlos in der Welt dastanden; denn ihre Mutter hatte einen Abscheu vor aller Stadtkleidung und riß jedesmal, wenn sie aus der Kirche kam, die Spitzenhaube, welche sie als Pfarrfrau trug, sogleich herunter. Die Damen des neuen Pfarrers, außerdem die einzigen im Dorfe, waren stolz, unzugänglich und bezogen ihren Putz fertig aus der Stadt. So waren meine Basen ganz auf sich selbst, auf eine Dorfnähterin und auf einige Traditionen des Hauses gewiesen, welche sie als eifrige Forscherinnen der dunklen Vergangenheit entlockten. Deswegen waren ihre Erfolge doppelt achtungswert, und wenn wir sie mit einem spöttischen Ah! empfingen bei ihrer heutigen Erscheinung, so war dieser Spott nur ein verstellter und die Maske einer aufrichtigen Bewunderung.
Indessen entsprach unsere Tracht an kühner und eleganter Mischung vollkommen
derjenigen der Jungfrauen. Die Vettern trugen Jacken von ziemlich grobem Tuche,
welchen aber der Dorfschneider einen kecken, ja höchst gewagten Zuschnitt
Man konnte auf zwei Wegen zu der Wohnung des alten Schulmeisters gelangen:
entweder mußten wir einen langgedehnten Berg hinter dem Dorfe ersteigen und, längs
auf demselben fortgehend, endlich jenseits niedersteigen, wo wieder ein Tal lag,
ähnlich dem unserigen, nur kleiner und runder und beinahe ganz mit einem tiefen
dunklen See erfüllt; oder wir konnten längs des Flusses unser Tal durchwandern und
mit dem in Gehölzen
Wir zogen es vor, mit dem kurzweiligen Flüßchen den Hinweg zurückzulegen und erst in der Abendkühle über den Berg heimzukehren, und unsere bunte, weithin glänzende Gesellschaft bewegte sich bald durch das grüne Tal hin, bis wir in eine reizende Wildnis gelangten, wo der Wald von beiden Seiten an das Gewässer niederstieg und dasselbe kühl und dunkel überschattete. Bald faßte er es mit undurchdringlichen Laubwänden ein, daß wir die überhangenden Zweige zurückbiegen mußten; bald weitete er sich aus und ließ eine Schar lichter, hoher Tannen auf sonnigem Boden vorrücken; dann lagen herabgestürzte Felsblöcke am Rande und im Wasser und verursachten Wasserfälle, indessen zurückgebliebene Trümmer aus dem Gebüsche der Abhänge hervorragten; kleine Seitenwege lockten ins Dunkel, und überall enthüllten sich die lieblichsten Geheimnisse. Die roten, blauen und weißen Gewänder der Mädchen leuchteten herrlich in dem dunklen Grün, die Vettern sprangen von Stein zu Stein, daß ihre Goldknöpfe aufblitzten und mit den Silberkringeln der Wellen wetteiferten. Allerhand Getier machte sich sichtbar, hier sahen wir die Federn einer wilden Taube, die unzweifelhaft von einem Raubvogel zerrissen worden, dort schoß eine Schlange durch die Uferwellen über die glatten Kiesel hin, und in einer abgetrennten Untiefe hatte sich eine schimmernde Forelle gefangen, welche mit ihrer Schnauze ängstlich an den abschließenden Steinen herumtastete, bei unserer Annäherung aber einen Sprung machte und im strömenden Elemente verschwand.
So waren wir unbemerkt um den Berg herumgekommen, die holde Wildnis erweiterte
sich und ließ mit einem Male den stillen dunkelblauen, mit Silber besprengten See
sehen, der mit seiner friedevollen Umgebung im lautlosen Glanze eines
Sonntagnachmittages ruhte. Ein schmaler Streifen bebauter Erde zog
Der Schulmeister merkte bald, daß ich ein williger Zuhörer und auf seine Fragen nach Vermögen einzugehen bereit sei. Nachdem er mich über die neuen Schuleinrichtungen angelegentlich befragt, fuhr er fort: »Aber etwas bunt muß es doch noch zugehen! Da habe ich eben in der Zeitung gelesen, daß in einer Abteilung unserer Kantonsschule die bekannten Störungen endlich dadurch gehoben worden, daß man den untauglichen Lehrer und den unnützesten Schüler, einen wahren kleinen Revolutionär, zugleich entfernt und dadurch die Ruhe gründlich hergestellt habe. Daß man nun den Lehrer entlassen hat, scheint mir ganz vernünftig, wenn man ihn nur anderweitig versorgt; hingegen mit dem Schüler will es mir nicht recht einleuchten; es will mich bedünken, als ob man demselben damit verdeutet habe Du bist nun außer unsere Gemeinschaft gestellt und magst zusehen, was du aus dir machst! Dies ist nicht christlich gehandelt, und unser Herr und Meister würde das verirrte Schaf gewiß zunächst unter die Falten seines Mantels genommen haben. Kennt Ihr, liebes Vettermännchen, den verstoßenen Knaben?«
Der Mann weckte durch diese Frage die peinvollen Erinnerungen und durch ihre Fassung zugleich eine tiefe Wehmut in mir auf, und ich antwortete kleinlaut, ich wäre es selbst.
Ganz erstaunt trat er einen Schritt zurück und betrachtete mich mit großen Augen;
er war verlegen, einen angehenden Teufel in so harmloser Gestalt so nahe vor sich
zu sehen Doch hatte ich ihn schon ein wenig für mich eingenommen, und
»Ich habe mir es doch gleich gedacht«, versetzte er, »daß die Sache ein Häklein habe; denn ich sehe und will es gern glauben, daß der Vettermann ein junger Mensch ist, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden läßt! Doch erzählt mir nun den Verlauf dieser schlimmen Geschichte recht getreulich, es nimmt mich sehr wunder, wie sich darin die Schuld und das Unrecht verteilen!«
Nachdem ich dem freundlichen Schulmeister den ganzen Hergang aufrichtig und weitläufig, zuletzt etwas leidenschaftlich, berichtet, da ich zum ersten Mal seither mein Herz leeren konnte, besann er sich eine Weile, indem er verschiedene Hm! und Soso! hervorstieß, und fuhr dann fort:
»Das ist ein ganz eigenes Geschick! Zuerst müsset Ihr nun Euch nicht überheben und
etwa einen hochmütigen Groll auf das Erlittene begründen, welcher Euch für das
ganze Leben schädlich sein könnte! Ihr müsset bedenken, daß Ihr doch das Unrecht
und den Mutwillen der übrigen geteilt habt, und Euch hienach glücklich preisen,
daß Ihr in so frühem Alter schon von Gott selbst eine ernste Strafe und Belehrung
empfangen; denn das, was Euch, widerfahren, ist nicht die Gerechtigkeit der
Menschen, sondern ein unmittelbares Eingreifen des Herrn der Welt, womit er Euch
frühzeitig gewürdigt und gezeigt hat, daß er mit Euch, nicht zu spaßen gedenkt,
sondern Euch seine eigenen strengen Wege führen will. Nachdem Ihr also dieses
scheinbare Unglück dankbar und reuevoll angenommen und das vermeintliche Unrecht
vergeben und vergessen, müßt Ihr allein darauf bedacht sein, dem Ernste dieses
Erlebnisses entsprechend fortzuleben, und gewärtig, daß jede Abweichung von der
Bahn der Tugend sich an Euch empfindlicher rächen werde als an anderen, auf daß
Ihr dadurch in der Übung des Guten gerade fleißiger und stärker werdet als viele,
denen nicht solches geschieht.
Diese Reden gefielen mir ausnehmend wohl; obgleich ich den ernsten moralischen Sinn derselben nicht sonderlich faßte, so ergriff ich doch den Gedanken an eine höhere Bestimmung und Leitung Gottes höchst lebendig und dünkte mich glücklich, mich unter dem besondern Schutze Gottes in meinen Neigungen zu wissen; es ging mir ein heller Stern auf, und ich sagte unumwunden: »Ja, ich möchte ein Maler werden!«
Bei dieser Antwort stutzte mein neuer Freund fast noch mehr als bei dem frühern Geständnisse, weil er in seiner Abgeschiedenheit von allem Verkehre der Welt am wenigsten an dies Wort gedacht hatte. Doch besann er sich ebenfalls schnell und sprach:
»Ein Maler? Ei sieh, das ist seltsam! Doch lasset sehen! Es war allerdings eine
Zeit, wo es Maler gegeben hat, welche von göttlichem Geiste erfüllt waren, welche
den dürstenden Völkern einen Trunk himmlischen Lebens reichten in Ermangelung des
lebendigen Wortes, das wir jetzt haben. Allein so wie schon dazumal diese Kunst
nur zu bald ein eitler Flitterkram der hochmütigen Kirche geworden, so scheint sie
mir heutzutage vollends ohne innern Kern und ein bloßes Gebaren der menschlichen
Eitelkeit und Fratzenhaftigkeit zu sein. Ich habe zwar durchaus keine Kenntnis von
den Künsten, wie sie jetzo in der Welt praktiziert werden, kann mir aber desto
weniger vorstellen, wie sich ein ernsthaftes und geistiges Leben dabei führen
»Zuvörderst will ich ein Landschaftsmaler werden«, erwiderte ich, »und habe dazu allerdings große Lust und hoffe, der liebe Gott werde mir auch das Geschick geben!«
»Ein Landschaftsmaler? das heißt, merkwürdige Städte, Gebirge und Weltgegenden abbilden? Hm! Dieses scheint mir nicht so übel zu sein, da lernt man wenigstens die Welt kennen und kommt weit umher; Länder, Meere und allenfalls auch, die Menschen dazu; aber dazu gehört besonderer Mut und eigenes Glück, wie mich dünkt, und vor allem soll, meines Erachtens, ein junger Mensch darauf denken, wie er im Lande bleiben und sich redlich nähren, auch seinen Mitbürgern sich nützlich, und seinen Eltern dienstbar erweisen kann!«
»Die Landschaftsmalerei, die ich im Sinne habe, ist nicht sowohl, was Ihr hiemit darunter versteht, Herr Vetter! als etwas ganz anderes!«
»Nun, und das wäre?«
»Sie besteht nicht darin, daß man merkwürdige und berühmte Orte aufsucht und nachmacht, sondern darin, daß man die stille Herrlichkeit und Schönheit der Natur betrachtet und abzubilden sucht, manchmal eine ganze Aussicht, wie diesen See mit den Wäldern und Bergen, manchmal einen einzigen Baum, ja nur ein Stücklein Wasser und Himmel.«
Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, sondern auf eine Fortsetzung zu warten schien, fuhr ich auch fort und geriet nun meinerseits in eine ordentliche Begeisterung und Beredsamkeit hinein. Der zwischen Sonnenglanz und Waldesschatten schwebende See ruhte majestätisch vor den klaren Fenstern; von fernem Bergrücken schienen einige schlanke Eichen, die in die himmelhohe Sonntagsluft stiegen, mir zuzuwinken, fern, leise, aber eindringlich; ich blickte unverwandt nach ihnen wie auf eine höhere Erscheinung, indem ich sprach:
»Gibt es denn eine solche Art der Kunst, und wird sie anerkannt?« fragte der gute Schulmeister ganz verblüfft.
»Jawohl«, erwiderte ich, »in den Städten, in den Häusern der Vornehmen, da hängen schöne glänzende Gemälde, welche meistens stille grüne Wildnisse vorstellen, so reizend und trefflich gemalt, als sähe man in Gottes freie Natur, und die eingeschlossenen gefangenen Menschen erfrischen ihre Augen an den unschuldigen Bildern und nähren diejenigen reichlich, welche sie zustande bringen!«
»Also dieser kleine See zum Beispiel, diese meine holdselige Einsamkeit würde ein genugsamer Gegenstand sein für die Kunst, obgleich niemand den Namen kennte, bloß wegen der Milde und Macht Gottes, die sich auch hier offenbart?«
»Ja gewiß! Ich hoffe noch, Euch diesen See mit seinem dunklen Ufer, mit dieser Abendsonne so zu malen, daß Ihr mit Vergnügen diesen Nachmittag darin erkennen sollt und selbst sagen müßt, es sei weiter hiezu nichts nötig, um bedeutend zu sein, das heißt, wenn ich ein Maler werden kann und etwas Rechtes lerne!« setzte ich hinzu.
»Jetzt habe ich alter Mensch wieder etwas Neues gelernt«, sagte mein Vetter gerührt, »es ist doch höchst merkwürdig, in wie vielen Weisen der menschliche Geist sich äußern kann. Mir scheint, Ihr seid auf einem guten und frommen Wege, und wenn Ihr ein solches Stück zustande bringen könnt, so möchte es leidlich so verdienstvoll sein als ein gutes geistliches Frühlings- oder Erntelied. He, ihr Knaben!« rief er den jungen Fischkennern zu, welche immer noch an ihrem Geschäfte waren, »holt ein Gefäß und sucht ein tüchtiges Gericht Fische aus, Aale, Forellen oder Hechte, daß die Weiber sie backen können!«
Indessen waren die Mädchen wieder in die Stube gekommen und hatten teilweise unser
Gespräch angehört, so daß der redselige Mann nicht verlegen war, auf einen neuen
Stoff überzugehen und alle für denselben pflichtig zu machen. Ich selbst wurde
wieder still und ziemlich befangen, da die zierliche Anna ungehört wieder da war
und leise mit einer Base flüsterte. Der Alte sprach nun von der Ernte, von den
Weinhoffnungen, von den Baumfrüchten mit den Mädchen, aber alles in einer feinen
und salbungsvollen Weise, mir nebenbei manche Aufklärung gebend, wenn er meine
Unbekanntschaft mit diesen Dingen voraussetzte. Ich aber sagte fürder nichts,
sondern befand mich glücklich und wohlgemut in der Nähe des lieblichen
Ein lieblicher Speiseduft verbreitete sich, zog die Knaben herbei und veranlaßte
den Schulmeister, auf ein Zeichen der alten Köchin, zum Aufbruch in das obere
Stockwerk aufzufordern. Dort war ein kleiner, heller und kühler Saal, welcher
zwischen seinen ganz geweißten Wänden nichts enthielt als einen länglichen Tisch,
Stühle und eine alte Hausorgel. Der Tisch war gedeckt, wir setzten uns zu einem
fröhlichen Abendessen, welches aus den Fischen bestand, so die Vettern mit wenig
Bescheidenheit ausgewählt hatten. Ländliches Backwerk und Früchte und ein milder
heller Wein, an der Höhe hinter dem Hause gewachsen, bereicherten das einfache und
in seiner Art doch festliche Mahl; der Alte würzte es mit sinnigen Reden, die
Jungen scherzten und gaben sich naive Rätsel und Wortspiele auf, und dies alles
übergoldete ein gehobener sonntäglicher Ton, anders als ob man zu Hause, und
anders als ob man in einer gewöhnlichen Bauernfamilie wäre. Als wir uns genugsam
erfrischt, schritt der Schulmeister zu der Orgel hin und öffnete dieselbe, daß die
glänzende Pfeifenreihe zutage trat und das Innere der beiden Flügeltürchen das
gemalte Paradies zeigte mit Adam und Eva, Blumen und Tieren. Er setzte sich davor;
wir mußten uns in einen Kreis um ihn herumstellen, Anna teilte einige alte
Musikbücher aus, und nachdem ihr Vater etwas präludiert, sangen wir zu seinem
Spiele und Vorsang einige schöne kirchliche Sommerlieder und hernach einen
künstlichen Kanon. Wir sangen in heiterer Freude und aus voller Brust und doch mit
Maß und Haltung; die Dankbarkeit gegen den Augenblick brachte bessere Musik hervor
als die strengste Schulprobe, und ich selbst ließ mein inneres Glück unbefangen
und frei in den Gesang strömen; denn dieser Tag war für mich wieder neuer und
schöner als alle früheren. Wenn wir einen Vers geendigt hatten, erklang über den
See her, von einer Wand im Walde, ein harmonisch verhallendes Echo, die Orgeltöne
Doch nun mußten wir aufbrechen, da die Sonne sich schon den Bergen näherte; der
Schulmeister entließ uns mit Zufriedenheit und verabschiedete mich mit
entschiedenen Zeichen seines Wohlwollens. Ich mußte ihm versprechen, auf meinen
Streifzügen so oft als möglich in sein Tal zu kommen und in seinem Hause meinen
Sitz aufzuschlagen, als ob er ebenfalls mein Oheim wäre. Anna wollte uns noch bis
auf die Berghöhe begleiten, und so machten wir uns viel aufgeregter und lauter auf
den Weg, als wir gekommen waren. Die Mädchen, so schon durch ein Nichts, durch die
bloße freie Gelegenheit in die höchste Stimmung reiner mutwilliger Lust versetzt,
sangen fort und fort mit glänzenden Augen und verlockten uns mitzusingen, indem
sie Welt- und Vaterlandslieder anstimmten. Dazwischen machte sich eine
gegenseitige Neckerei mit Herzensangelegenheiten unter den Geschwistern geltend,
das ganze süße Geplauder jenes hoffnungsreichen Alters befreite sich aus den
offenen Gemütern und umspann alle mit gern gehörten Anspielungen, verstelltem
Widerstande und schelmischer Rückantwort. Nur Anna schien vor den Angriffen sicher
zu sein, während sie hie und da einen schüchternen Scherz hinwarf, und ich sagte
gar nichts dazu, weil mein Herz voll war von den Begebnissen des Tages. Wir
standen nun auf der Höhe, welche im Glanze der untergehenden Sonne schimmerte; vor
mir schwebte die federleichte, verklärte Gestalt des jungen Mädchens, und neben
ihr glaubte ich den lieben Gott lächeln zu sehen, den Freund und Schutzpatron der
Landschaftsmaler, als welchen ich ihn heute in dem Gespräche mit dem Schulmeister
So wechselten wir unsere Taufnamen, verzagt und spröde; aber der meinige schlüpfte wie ein Flötenton in mein Ohr, und als Anna schnell und ängstlich im Schatten ihrer Bergseite verschwand und wir auf der unserigen niederstiegen, hatte ich zwei Dinge erworben einen großen und mächtigen Kunstgönner, der unsichtbar über der dämmernden Welt hauste, und ein zartes Frauenbildchen, welches ich unverweilt in meinem Herzen aufzustellen wagte.
Ich konnte den unbestimmten Zwischenzustand nun nicht länger ertragen, sondern
suchte unter meinen Sachen nach feinem Papier, um einen Brief an meine Mutter zu
schreiben, den ersten in meinem Leben. Als ich ganz zuoberst am Rande das »Liebe
Mutter!« hinsetzte, schwebte sie mir in einem neuen Lichte vor; ich empfand diesen
Fortschritt und Ernst des Lebens wohl, und meine Schreibgeläufigkeit ließ mich
anfänglich im Stiche und kaum die ersten Sätze finden. Doch führten mich die
Schilderungen meiner Reise und der sonstigen Erlebnisse bald vorwärts, und meine
Beschreibung fiel nur allzu geschmückt und prahlerisch aus. Ich trug ein großes
Behagen zur Schau und ein gewisses sonderbares Bestreben, welches sich nachher
mehrmals wiederholte, auf meine Mutter mit einem glücklichen Befinden und mit
meinen verschiedenen Taten und Abenteuern ein Art Eindruck zu bewirken, eine
förmliche Sucht, auf drollige Weise sie zu unterhalten und zugleich dadurch mich
geltend zu machen. Alsdann ging ich auf den Zweck meines Schreibens über und
erklärte unverhohlen, daß ich nun durchaus glaubte, ein Maler werden zu müssen;
und infolgedessen bat ich sie, sich vorläufig umzusehen und mit den verschiedenen
Erfahrenen unserer Bekanntschaft sich zu beraten. Die Familien berichte und Grüße
sowie einige wichtige Aufträge über kleine Gegenstände bildeten den Schluß des
Briefes; ich faltete ihn eng und künstlich zusammen und verschloß ihn mit meinem
Nach dem Empfange dieses Briefes begab sich meine Mutter in ihre Staatskleidung, schlicht und einfarbig, bauschte ein frisches Taschentuch zusammen, das sie in die Hand nahm, und begann feierlich ihren Rundgang bei den ihr zugänglichen Autoritäten.
Zuerst sprach sie bei einem angesehenen Schreinermeister vor, welcher viel in guten Häusern verkehrte und Weltkenntnis besaß. Als Freund meines seligen Vaters hielt er in Freundschaft zu uns, so wie er auch die Bildungsversuche jenes Kreises eifrig fortsetzte. Nachdem er Vortrag und Bericht der Mutter ernstlich angehört, erwiderte er kurzweg, das sei nichts und hieße so viel, als das Kind einer liederlichen und ungewissen Zukunft anheimstellen. Hingegen wußte der Schreiner bessern Rat, wenn einmal etwas Künstlerisches ergriffen werden müsse. Ein junger Vetter von ihm hatte sich in einer entfernteren Stadt als Landkartenstecher ausgebildet und genoß eines guten Auskommens, so daß er in den Augen seiner Sippschaft als etwas Rechtes dastand. Daher erbot sich der Ratgeber, mich aus besonderer Freundschaft in der Nähe dieses Mannes unterzubringen, wo ich dann, wenn wirklich etwas Tüchtiges in mir stäke, es nicht nur bis zum Stechen, sondern zum Selbstentwerfen der Landkarten bringen könne, indem ich meine Zeit wohl anwende zur Erwerbung der nötigen Kenntnisse. Dies wäre dann ein feiner, ehrenvoller und zugleich ein nützlicher und in das große Leben passender Beruf.
Mit vermehrten Sorgen und Zweifeln gelangte meine Mutter zum zweiten Gönner und auch einem Freunde ihres Mannes. Derselbe war ein Fabrikant von farbigen und bedruckten Tüchern, welcher sein ursprünglich geringes Geschäft nach und nach erweitert hatte und sich eines wachsenden Wohlstandes erfreute. Er erwiderte den Bericht meiner Mutter folgendermaßen:
»Dieses Ereignis, daß der junge Heinrich, der Sohn unseres
Er führte hierauf meine Mutter in seinem Geschäfte herum und zeigte ihr die bunten Herrlichkeiten, die geschnittenen Holzmödel und vor allem die kühnen Kompositionen seiner Zeichner. Es leuchtete ihr alles vollkommen ein und erfüllte sie wieder mit Hoffnung. Abgesehen von dem gesicherten und reichlichen Er werbe, welchen ein gewandter Geschäftsmann verbürgte, war ja diese ganze Kunst dem Dienste der Frauen gewidmet und so reinlich und friedsam, daß ein Sohn in ihrem Schoße wohl geborgen schien. Auch mochte es vielleicht eine Ader verzeihlicher Eitelkeit erwecken, wenn sie sich in einen der bescheideneren Stoffe meiner Erfindung gekleidet dachte. Sie war so mit diesen angenehmen Gedanken beschäftigt, daß sie für diesmal ihre Wanderung einstellte, um sich ganz in denselben zu ergehen.
Der folgende Tag jedoch rief sie wieder zur Erfüllung der sonst väterlichen Pflicht auf und führte sie mit neuen Sorgen und Zweifeln auf den Weg. Sie gelangte zu einem dritten Freunde des Vaters, einem Schuster, der im Geruche tiefen Verstandes und eines gewaltigen Politikers lebte. Seit dem Tode meines Vaters war er durch die Zeitereignisse in eine strenger demokratische Richtung hineingetreten. Nach mißlaunischer Anhörung des Berichtes und des Erfolges der gestrigen Bemühungen brach er barsch los:
Die Frau Lee ging aber nicht sonderlich erbaut fort und murmelte vor sich her: »Schlag du nur deine hölzernen Zwecke ein, bei mir erreichst du deinen Zweck nicht, Herr Schuster, ungehobelter Mann! Bleib nur bei deinem Leisten und warte, bis mein Kind kommt, dir Gesellschaft zu leisten! Draht ist nicht Rat! Wenn du Gott fürchten würdest, so brauchtest du nicht vor dem Gerber zu fliehen! Wer Pech angreift, besudelt sich!« Unter solchen Sarkasmen, welche sie nachher wiederholte, sooft sie auf diese Unterredung zu sprechen kam, zog sie die Klingel an einem hohen und schönen Hause, welches der Vater einst für einen vornehmen Herrn gebaut hatte. Es war ein feiner und ernster Mann, der in den Staatsgeschäften stand, nicht viele Worte machte, jedoch für uns einige Geneigtheit bezeigte und schon mehrmals mit entscheidendem Rat an die Hand gegangen war Als er vernommen, worum es sich handelte, erwiderte er mit höflich ablehnenden Worten:
Diese Rede, indem sie meiner Mutter eine ganz neue Aussicht eröffnete, warf sie gänzlich in Ungewißheit zurück, ob sie nicht ernstlich mich zur Änderung meines Sinnes bestimmen solle. Denn hier war noch mehr als beim Fabrikanten die Bürgschaft eines angesehenen und seiner Worte sichern Mannes zur Hand, welcher einen großen Teil unserer Verhältnisse ebenso klar durchschaute als mit beherrschte und imstande war, diejenigen über dem Wasser zu halten, die sich seinem Rate anvertrauten.
Dieser Brief war überschrieben »Mein lieber Sohn!«, und das Wort Sohn, das ich zum ersten Male hörte von ihr, rührte mich und schmeichelte mir aufs eindringlichste, daß ich für den übrigen Inhalt sehr empfänglich und dadurch an mir selbst irre und in Zweifel gesetzt wurde. Ich fühlte mich ganz allein und wehrlos mit meinen grünen Bäumen gegenüber dem ernsten kalten Weltleben und seinen Lenkern. Aber während ich schon begann, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, auf immer vom geliebten Walde zu scheiden, gab ich mich nur um so inniger der Natur hin und schweifte den ganzen Tag in den Bergen, und die drohende Trennung ließ mich manches angehende Verständnis sicherer ergreifen, als es sonst geschehen wäre. Ich hatte schon viele Studien des Junker Felix nachgezeichnet und dadurch einige Ausdrucksweise gewonnen, so daß meine Blätter wenigstens ordentlich weiß und schwarz wurden von Stift und Tusche.
Oft, am Morgen oder am Abend, stand ich auf der Höhe über dem tiefen See, wo unten der Schulmeister mit seinem Töchterchen wohnte, oder ich hielt mich auch einen ganzen Tag an einer Stelle des Abhanges auf, unter einer Buche oder Eiche, und sah das Haus abwechselnd im Sonnenscheine oder im Schatten liegen; aber je länger ich zauderte, desto weniger konnte ich es über mich gewinnen hinabzugehen, da mir das Mädchen fortwährend im Sinne lag und ich deshalb glaubte, man würde mir auf der Stelle ansehen, daß ich seinetwegen käme. Meine Gedanken hatten von der feinen Erscheinung Annas plötzlich so vollständigen Besitz ergriffen, daß ich alle Unbefangenheit ihr gegenüber im gleichen Augenblicke verlor und mit vorwitziger Ziererei von ihrer Seite sofort das gleiche voraussetzte. Indem ich jedoch mich nach dem Wiedersehen sehnte, war mir die Zwischenzeit und meine Unentschlossenheit gar nicht peinlich und unerträglich, vielmehr gefiel ich mir in diesem gedanken- und erwartungsvollen Zustande und sah einem zweiten Begegnen eher mit Unruhe entgegen. Wenn meine Basen von ihr sprachen, tat ich, als hörte ich es nicht, indessen ich doch nicht von der Stelle wich, solange das Gespräch dauerte, und wenn sie mich fragten, ob es denn nicht ein allerliebstes Kind sei, erwiderte ich ganz trocken: »Ja, gewiß!«
Auf meinen Wegen war ich häufig am Hause der schönen Judith vorübergekommen und,
da ich eben deswegen, weil sie ein schönes Weib war, auch einige Befangenheit
fühlte und Anstand nahm einzutreten, von ihr gebieterisch hereingerufen und
festgehalten worden. Nach der Weise der aufopfernden und nimmermüden alten Frauen
und auch aus unentbehrlicher Gewohnheit befand sich ihre Mutter beinahe immer auf
dem
So war ich eines Abends, vom Berge kommend, bei ihr eingekehrt; sie saß hinter dem
Hause am Brunnen und hatte soeben einen Korb grünen Salat gereinigt; ich hielt
ihre Hände unter den klaren Wasserstrahl, wusch und rieb dieselben wie einem
Kinde, ließ ihr kalte Wassertropfen in den Nacken träufeln und spritzte ihr solche
endlich mit unbeholfenem Scherze ins Gesicht, bis sie mich beim Kopfe nahm und ihn
auf ihren Schoß preßte, wo sie ihn ziemlich derb zerarbeitete und walkte, daß mir
die Ohren sausten. Obgleich ich diese Strafe halb und halb bezweckt hatte, wurde
sie mir doch zu arg; ich riß mich los und faßte meine Feindin, nach Rache
dürstend, nun meinerseits beim Kopfe. Doch leistete sie, indem sie immer sitzen
blieb, so kräftigen Widerstand, daß wir beide zuletzt heftig atmend und erhitzt
den Kampf aufgaben und ich, beide Arme um ihren weißen Hals geschlungen, ausruhend
an ihr hangen blieb; ihre Brust wogte auf und nieder, indessen sie, die Hände
erschöpft auf ihre Knie gelegt, vor sich hinsah. Meine Augen gingen den ihrigen
nach in den roten Abend hinaus, dessen Stille uns umfächelte; Judith saß in tiefen
Gedanken versunken und verschloß, die Wallung ihres aufgejagten Blutes bändigend,
in ihrer Brust innere Wünsche und Regungen fest vor meiner Jugend, während ich,
unbewußt des brennenden Abgrundes, an dem ich ruhte, mich arglos der stillen
Seligkeit hingab und in der durchsichtigen Rosenglut des Himmels das feine,
schlanke Bild Annas auftauchen sah. Denn nur an sie dachte ich in diesem
Augenblicke; ich ahnte das Leben und Weben der Liebe, und es war mir, als müßte
ich nun das gute Mädchen alsogleich
Sie war, da sie mit den Töchtern meines Oheims einen lebhaften Taubenverkehr
führte, mit einem Körbchen voll junger Täubchen angekommen, was hauptsächlich das
Heraufrufen des vorbeiziehenden Geigers veranlaßt hatte. Nun wurde verabredet, daß
die Tanzübungen mehrere Male wiederholt werden sollten. Für jetzt aber war es
notwendig, da es dunkel geworden, daß jemand die Anna nach Hause begleite, und
dazu wurde ich ausersehen. Diese Kunde klang mir zwar wie Musik; doch drängte ich
mich nicht sonderlich vor; denn es erwachte ein Stolz in mir, der es mir fast
unmöglich machte, gegen das junge Ding freundlich zu tun, und je lieber ich es in
meinem Herzen gewann, desto mürrischer und unbeholfener wurde mein Äußeres. Das
Mädchen aber blieb immer gleich, ruhig, bescheiden und fein und band gelassen
seinen breiten Strohhut um, auf welchem eine Rose lag; der Nachtkühle wegen
brachte die Muhme einen prachtvollen weißen Staatsshawl aus alter Zeit, mit Astern
und Rosen besäet, den man um ihr blaues, halb ländliches Kleid schlug, daß sie mit
ihren Goldhaaren und dem feinen Gesichtchen aussah wie eine junge Engländerin aus
den neunziger Jahren. So wandte sie sich nun anscheinend ganz ruhig zum Gehen,
gewärtig, wer sie begleiten würde, aber sich deswegen nicht unentschlossen
aufhaltend. Sie lächelte, durch den Mutwillen der Basen belebt und gedeckt, über
meine Ungeschicklichkeit, ohne sich nach mir umzublicken, und vermehrte so meine
Verlegenheit, da ich gegenüber den zusammenhaltenden und verschworenen Mädchen
allein dastand und fast willens war, im Saale zurückzubleiben. Doch erbarmte sich
die älteste Base meiner und rief mich noch einmal entschieden heran, so daß es mit
meiner Ehre verträglich war, mich wenigstens dem Zuge anzuschließen, der sich vor
das Haus bewegte. Wir gingen gemeinschaftlich bis an das Ende des Dorfes, wo der
Berg anhub, über welchen Anna zu gehen hatte. Dort
Am nächsten Morgen legte ich denselben Weg, der von Tau und Sonne funkelte und
blitzte, mit meinem Geräte beladen, zurück und sah bald den See unter dem
Morgendufte hervor leuchten. Haus und Garten waren vom jungen Tag übergoldet und
warfen ihr kristallenes Gegenbild in die Flut; zwischen den Beeten bewegte sich
eine blaue Gestalt, so fern und klein wie in einem Nürnberger Spielzeuge; das Bild
verschwand wieder hinter den Bäumen, um bald desto größer und näher hervorzutreten
und mich in seinen Rahmen mit aufzunehmen. Schulmeisters
Nach dem Frühstücke war der Vater mit der alten Magd in seinen Weinberg gestiegen,
um von den reifenden Trauben das Laub zu brechen, welches den Sonnenstrahlen den
Zugang versperrte. Die Besorgung des Weinberges war, nebst dem Schlagen und
Kleinmachen des Holzes, seine Hauptarbeit in seinem beschaulichen Leben. Ich aber
sah mich nach einem Gegenstande meiner Tätigkeit um. Anna hatte eine mächtige
Wanne voll grüner Bohnen der Schwänzchen zu entledigen und an lange Fäden zu
reihen, um sie zum Dörren vorzubereiten. Damit ich in ihrer Nähe bleiben konnte,
gab ich vor, ich müßte nun zur Abwechslung einmal Blumen nach der Natur malen, und
bat sie, mir einen Strauß derselben zu brechen. Der Zusammenstellung wegen
begleitete ich sie in den Garten, und nach einer guten halben Stunde hatten wir
endlich eine hübsche Menge beisammen und setzten sie in ein altmodisches Prunkglas
und dieses auf einen Tisch, der in einer Weinlaube hinter dem Hause stand; Anna
schüttete ihre Bohnen rings darum her, und wir setzten uns einander gegenüber, bis
zur Mittagsstunde arbeitend und von unseren beiderseitigen Lebensläufen erzählend.
Ich war nun ganz erwärmt und heimisch geworden und begann bald mit der
Überlegenheit eines Bruders dem guten Kinde mit wichtigen Urteilen, eingestreuten
Bemerkungen und Belehrungen
Darüber verfloß die Zeit schnell und leicht und brachte den Abend, indessen ich mit Liebe die Zeichnung nach meiner Einsicht vervollkommnete und überall ein Blatt oder einen Stiel ausbesserte und einen Schatten verstärkte. Die Neigung für das Mädchen lehrte mich dies gewissenhafte Fertigmachen und Durchgehen der Arbeit, welches ich bis dahin noch nicht gekannt; und als ich gar nichts mehr anzubringen sah schrieb ich in eine Ecke des Blattes »Heinrich Lee fecit« und unter den Strauß mit gotischer Schrift den Namen der künftigen Eigentümerin.
Der Weinberg mußte inzwischen noch ein großes Stück Arbeit gegeben haben, denn
schon schwebte die Sonne dicht über dem Waldrande und warf ein feuerfarbenes Band
über das dunkelnde Gewässer her, und noch hörte ich nichts von meinen Gastfreunden
Ich setzte mich auf die Stufen vor dem Hause; die Sonne ging hinab und ließ eine
tiefe Goldglut zurück, welche auf alles einen Nachglanz verbreitete und das Bild
auf meinen Knien wunderbar verklärte und etwas Rechtem gleichsehen ließ. Da ich
sehr früh aufgestanden war und in diesem Augenblicke auch sonst nichts Besseres zu
tun wußte, schlief ich allmählich ein, und als ich erwachte, standen die
Zurückgekehrten in der vorgerückten Dämmerung bei mir und am dunkelblauen Himmel
wieder die Sterne. Meine Malerei wurde nun in der Stube bei Licht besehen, die
Magd schlug die Hände über dem Kopf zusammen und hatte noch nie etwas Ähnliches
erblickt; der Schulmeister fand mein Werk gut und belobte meine Artigkeit gegen
sein Töchterchen mit schönen Worten und freute sich darüber; Anna lächelte
vergnügt auf das Geschenk, wagte aber nicht, es anzurühren, sondern ließ es auf
dem flachen Tische liegen und guckte nur hinter den anderen hervor darüber hin.
»Es ist nicht wahr«, behauptete Katherine, »Heinrich bekommt einen Kuß von dir, du Hexe!«
»Ei, schäme dich doch, so zu lügen, Katherine«, sagte das verlegene Kind, und die unerbittliche Magd erwiderte: »Sei dem, wie ihm wolle, der Berg ist gefallen, ehe du dich dreimal gedreht hast, und du bist dem Herrn Heinrich einen Kuß schuldig!«
»Den will ich auch schuldig bleiben«, rief sie lachend, und ich, selbst froh, der feierlichen Zeremonie entflohen zu sein und doch die Sache zu meinem Vorteile lenkend, sagte: »Gut, so versprich mir, daß du mir immer und jederzeit einen Kuß schuldig sein willst!«
»Ja, das will ich!« rief sie und schlug leichtsinnig und mutwillig auf meine
dargebotene Hand, daß es schallte. Sie war jetzt überhaupt so lebendig, laut und
beweglich wie Quecksilber
Und als das Liedchen zu Ende war, lagen unsere Lippen dicht aufeinander, aber ohne sich zu regen; wir küßten uns nicht und dachten gar nicht daran, nur unser Hauch vermischte sich auf der neuen, noch ungebrauchten Brücke, und das Herz blieb froh und ruhig.
Nach Tisch machte ich mich endlich bereit zur Rückkehr; Anna erinnerte sich, daß
heute wieder Tanzübung stattfinde, und erbat sich die Erlaubnis, gleich mit mir
gehen zu dürfen. Zugleich verkündete sie, daß sie bei ihren Basen übernachten
würde, um nicht wieder so spät über den Berg zu müssen. Wir wählten den Weg längs
des Flüßchens, um im Schatten zu gehen; und da dieser Pfad öfter feucht war und
von Wasserpflanzen und Gesträuchen beengt, schürzte sie das hellgrüne, mit roten
Punkten besetzte Kleid, nahm den Strohhut der überhängenden Zweige wegen in die
Hand und schritt neben mir her durch das Helldunkel, durch welches die heimlich
leuchtenden Wellen über rosenrote, weiße und blaue Steine rieselten. Ihre
Goldzöpfe hingen tief über den Nacken hinab, ihr Gesicht war von einer weißen
Krause von eigener Erfindung eingefaßt, und dieselbe bedeckte noch die jungen
schmalen Schultern. Sie
Als wir im Dorfe anlangten, hieß es, man habe eine Bande Heimatloser in der Gegend
gesehen und man würde dieselben nächster Tage aufsuchen, um sie über die Grenze zu
bringen. Anna und ich konnten uns nun die Erscheinung erklären; es mußte doch ein
geheimer Weg dorthin führen, welcher nur unter dem unglücklichen Volke, das solche
Schlupfwinkel braucht,
So lebten wir, unbefangen und glücklich, manche Tage dahin; bald ging ich über den Berg, bald kam Anna zu uns, und unsere Freundschaft galt schon für eine ausgemachte Sache, an der niemand ein Arges fand, und ich war am Ende der einzige, welcher heimlich ihr den Namen Liebe gab, weil mir einmal alles sich zum Romane gestaltete.
Um diese Zeit erkrankte meine Großmutter, nach und nach, doch immer ernstlicher,
und nach wenigen Wochen sah man, daß sie sterben würde. Sie hatte genug gelebt und
war müde; solange sie noch bei guten Sinnen war, sah sie gern, wenn ich eine
Stunde oder zwei an ihrem Bette verweilte, und ich fügte mich willig dieser
Pflicht, obgleich der Anblick ihres Leidens und der Aufenthalt in der Krankenstube
mich ungewohnt und trübselig dünkten. Als sie aber in das eigentliche Sterben kam,
welches mehrere Tage dauerte, wurde mir diese Pflicht zu einer ernsten und
strengen Übung. Ich hatte noch nie jemanden sterben sehen und sah nun die
bewußtlose oder wenigstens so scheinende Greisin mehrere Tage röchelnd im
Todeskampfe liegen, denn ihr Lebensfunke mochte fast nicht erlöschen. Die Sitte
verlangte, daß immer mindestens drei Personen in dem Gemache sich aufhielten, um
abwechselnd zu beten und den fremden Besuchern, welche unablässig eintraten, die
Ehren zu erweisen und Nachricht zu geben. Nun hatten aber die Leute, bei dem
goldenen Wetter, gerade viel zu arbeiten, und ich, der ich nichts versäumte
Ich konnte mich gar nicht mehr nach Anna umsehen, obschon sie mein süßester Trost in meiner asketischen Lage war; da erschien sie, schüchtern und manierlich, unversehens auf der Schwelle der Krankenstube, um die ihr sehr entfernt Verwandte zu besuchen. Das junge Mädchen war beliebt und geehrt unter den Bäuerinnen und daher jetzt willkommen geheißen, und als sie sich, nach einigem stillen Aufenthalte, anbot, mich im Gebete abzulösen, wurde ihr dies gern gestattet, und so blieb sie die noch übrige Sterbenszeit an meiner Seite und sah mit mir die ringende Flamme verlöschen. Wir sprachen selten mit einander; nur wenn wir uns die geistlichen Bücher übergaben, flüsterten wir einige Worte, oder wenn wir beide frei waren, ruhten wir behaglich nebeneinander aus und neckten uns im stillen, da die Jugend einmal ihr Recht geltend machte. Als der Tod eingetreten und die Frauen laut schluchzten, da zerfloß auch Anna in Tränen und konnte sich nicht zufriedengeben, da sie doch der Todesfall weniger berührte als mich, der ich als Enkel der Toten, obgleich ernst und nachdenklich, trockenen Auges blieb. Ich wurde besorgt für das arme Kind, welches immer heftiger weinte, und fühlte mich sehr niedergeschlagen und betreten. Ich führte sie in den Garten, streichelte ihr die Wangen und bat sie inständigst, doch nicht so sehr zu weinen. Da erheiterte sich ihr Gesicht, wie die Sonne durch Regen, sie trocknete die Augen und sah mich urplötzlich lächelnd an.
Wir genossen nun wieder freie Tage, und ich begleitete Anna zur Erholung sogleich
nach Hause, um dort zu weilen bis zum Leichenbegängnis. Ich blieb die Zeit über
ziemlich ernst, da der
Der Mann der toten Großmutter tat nun, während er sich bequem fühlte, als ob er sehr viel verloren und seine Frau im Leben wertgehalten hätte. Er ordnete eine pomphafte Leichenfeier an, woran über sechzig Personen teilnehmen sollten, und ließ es an nichts fehlen, alle alten Gebräuche in ihrem vollen Umfange zu beobachten.
Am bezeichneten Tage begab ich mich mit dem Schulmeister und mit Anna auf den Weg; er trug einen feierlichen schwarzen Frack mit sehr breiten Schößen und eine gestickte weiße Halsbinde, Anna ebenfalls ihr schwarzes Kirchengewand und eine ihrer eigentümlichen Krausen, worin sie aussah wie eine Art Stiftsfräulein. Den Strohhut hingegen ließ sie zu Hause und trug ihre Haare besonders kunstreich geflochten, dazu durchdrang sie heut eine tiefe Frömmigkeit und Andacht, sie war still und ihre Bewegungen voll Sitte, und dieses alles ließ sie in meinen Augen in neuem, unendlichem Reize erscheinen. In meine traurig festliche Stimmung mischte sich ein süßer Stolz, mit diesem liebenswürdigen und seltenen Wesen so vertraut zu sein, und zu diesem Stolze gesellte sich eine innige Verehrung, daß ich meine Bewegungen ebenfalls maß und zurückhielt und mit eigentlicher Ehrerbietung neben ihr herging und ihr dienstbar war, wo es der unebene Weg erforderte.
Wir machten vorerst im Hause meines Oheims halt, dessen Familie schon gerüstet war
und sich, als die Totenglocke läutete, uns anschloß. Im Sterbehause wurde ich von
meinen sämtlichen Begleitern getrennt, da meine Stellung als Enkel die Gegenwart
unter den nächsten Leidtragenden mit sich brachte,
Zuletzt erschöpfte sich doch die Frauenwelt, und wir traten vor das Haus, wo eine unabsehbare Schar bedächtiger Männer harrte, um mit uns, die wieder eine Reihe bildeten, den gleichen Gebrauch vorzunehmen. Sie machten es zwar bedeutend kürzer und rascher als ihre Weiber, Töchter und Schwestern, allein dafür gebrauchten sie ihre schwieligen harten Hände wie Schmiedezangen und Schraubstöcke, und aus mancher Faust brauner Ackermänner glaubte ich meine Hand nicht mehr heil zurückzuziehen.
Endlich schwankte der Sarg vor uns her, die Weiber schluchzten, und die Männer
sahen bedenklich und verlegen vor sich nieder; der Geistliche erschien auch und
machte seine Würde geltend, und ohne viel zu wissen, wie es zugegangen, sah ich
mich endlich an der Spitze des langen Zuges auf dem Kirchhofe und dann in die
kühle Kirche versetzt, welche von der Gemeinde ganz angefüllt wurde. Ich hörte nun
mit Verwunderung und Aufmerksamkeit den ursprünglichen Familiennamen, die
Abstammung, das Alter, den Lebenslauf und das Lob der Großmutter von der Kanzel
verkünden und stimmte von Herzen in das Versöhnungs- und Ruhelied, welches zum
Schlusse gesungen wurde. Als ich aber die Schaufeln klingen hörte vor der
Kirchentür, drängte ich mich hinaus, um in das Grab zu schauen. Der einfache Sarg
lag schon darin, viele Menschen standen umher und weinten, die Schollen fielen
hart auf den Deckel und verbargen ihn allmählich; ich sah erstaunt hinein und kam
mir fremd und verwundert vor, und die Tote in der
Der eingeladene Teil der Versammlung begab sich nun wie der nach dem Trauerhause, dessen Räume alle von den Vorrichtungen des Leichenmahles belebt waren. Als man zu Tische saß, versetzte mich die Sitte wieder an die Seite des finstern Witwers, wo ich zwei volle Stunden aushalten mußte, ohne mit jemandem sprechen zu können, solange die erste herkömmliche Essenszeit mit allen ihren unvermeidlichen Gerichten dauerte. Ich sah die lange Tafel hinunter und suchte den Schulmeister und sein Kind, welche auch anwesend waren; sie mußten aber im anstoßenden Zimmer sein, denn ich fand sie nicht.
Anfänglich wurde mäßig und bedächtig gesprochen und die Speisen in großer Ehrbarkeit eingenommen. Die Bauern saßen aufrecht an ihre Stühle oder an die Wand gelehnt, in beträchtlichem Abstand vom Tische, und stachen die Fleischbissen mit feierlich ausgestrecktem Arme an, die Gabel am äußersten Ende haltend. So führten sie ihre Beute auf dem weitesten Wege zum Munde und tranken den Wein in kleinen, züchtigen, aber häufigen Zügen. Die Aufwärterinnen trugen die breiten Zinnschüsseln in erhobenen Händen in der Höhe ihres Gesichtes heran, mit gemessenem Paradeschritt, die Hüften gewaltig hin und her wiegend. Wo sie die Tracht auf den Tisch setzten, mußten die beiden Zunächstsitzenden einen Wettstreit beginnen, indem sie ihnen ihre Gläser zum Trinken boten und jeder wenigstens zwei gute Witze flüsterte; dieser kleine Kampf wurde dann dadurch geschlichtet, daß die Aufwärterin aus jedem Glase nippte und mehr oder weniger zufrieden mit der Ausführung dieser Etikette sich zurückzog.
Nach Verfluß zweier langen Stunden näherten sich die Roheren
Ich fand nun endlich Raum, meinen Platz zu verlassen und umherzugehen. Im nächsten Zimmer fand ich an einer kleineren Tafel Anna neben ihrem Vater sitzen, welcher im Kreise einiger Klugen und Frommen die weise und fröhliche Ergebung in das Unvermeidliche mit ausgezeichneter Kunst übte. Er machte einigen bejahrten Frauen den Hof und wußte jeder noch zu sagen, was sie vor dreißig Jahren gern gehört; dafür schmeichelten sie der kleinen Anna, lobten ihre Manieren und priesen den Alten glücklich. Zu dieser Gruppe setzte ich mich und horchte neben Anna auf die beschaulichen Reden der Alten. Dabei hielten wir zwei, denen nun erst vergnüglich zu Mute wurde, noch eine kleine Mahlzeit aus der gleichen Schüssel und tranken zusammen ein Glas Wein.
Auf einmal fing es über unseren Köpfen an zu brummen und zu pfeifen. Geige, Baß und Klarinette wurden angestimmt, und ein Waldhorn erging sich in schwülen Tönen. Während der rüstige Teil der Versammlung aufbrach und nach dem geräumigen Boden hinaufstieg, sagte der Schulmeister: »So muß es also doch getanzt sein? Ich glaubte, dieser Gebrauch wäre endlich abgeschafft, und gewiß ist dies Dorf das einzige weit und breit, wo er noch manchmal geübt wird! Ich ehre das Alte, aber alles, was so heißt, ist doch nicht ehrwürdig und tauglich! Indessen mögt ihr einmal zusehen, Kinder, damit ihr später noch davon sagen könnt; denn hoffentlich wird das Tanzen auf Leichenbegängnissen endlich doch verschwinden!«
Nachdem wir lange Zeit zugeschaut, fortgegangen und wiedergekommen waren, sagte Anna errötend, sie möchte einmal probieren, ob sie in der großen Menge tanzen könne. Dieses kam mir sehr gelegen, und wir drehten uns im selben Augenblicke in den Kreisen eines Walzers dahin. Von nun an tanzten wir eine gute Weile ununterbrochen, ohne müde zu wer den, die Welt und uns selbst vergessend. Wenn die Musik eine Pause machte, so standen wir nicht still, sondern setzten unsern Weg durch die Menge fort in raschem Schritte und fingen mit dem ersten Tone wieder zu tanzen an, wir mochten gerade gehen, wo es war.
Mit dem ersten Tone der Abendglocke aber stand auf einmal der Tanz still mitten in
einem Walzer, die Paare ließen ihre Hände fahren, die Mädchen wanden sich aus den
Armen der Tänzer, und alles eilte, sich ehrbar begrüßend, die Treppe hinunter,
setzte sich noch einmal hin, um Kaffee mit Kuchen zu genießen und dann ruhig nach
Hause zu gehen. Anna stand, mit glühendem Gesichte, noch immer in meinem Arme, und
ich schaute verblüfft umher. Sie lächelte und zog mich fort; wir fanden ihren
Vater nicht mehr im Hause und gingen weg, ihn beim Oheim aufzusuchen. Es war
Dämmerung draußen, und die allerschönste Nacht brach an. Als wir auf den Kirchhof
kamen, lag das frische Grab einsam und schweigend, vom aufgehenden goldenen Monde
bestreift. Wir standen vor dem braunen, nach feuchter Erde duftenden Hügel und
hielten uns umfangen; zwei Nachtfalter flatterten durch die Büsche, und Anna
atmete erst jetzt schnell und stark. Wir gingen zwischen den Gräbern umher, für
dasjenige der Großmutter einen Strauß zu sammeln, und gerieten dabei, im tiefen
Grase wandelnd, in die verworrenen Schatten der üppigen Grabgesträuche. Da und
dort blinkte eine matte goldene Schrift aus dem Dunkel oder leuchtete ein Stein.
Wie wir so in der Nacht standen, flüsterte ich
Als Anna mit ihrem Vater noch spät sich verabschiedete, war ich in dem Augenblicke nicht zugegen, und sie konnte mir daher nicht Lebewohl sagen. Obgleich ich schmerzlich betroffen war, sie nicht mehr zu finden, überwog doch mein junges Seelenglück; auf meiner Kammer lag ich noch eine volle Stunde unter dem Fenster und sah die Gestirne ihren fernen Gang tun, und die Wellen unter mir trugen das Mondensilber auf ihren klaren Schultern hastig und kichernd zu Tal, als ob sie es gestohlen hätten, warfen hier und da einige Schimmerstücke ans Ufer, als ob sie ihnen zu schwer würden, und sangen fort und fort ihr mutwilliges Wanderlied. Auf meinem Munde lag es unsichtbar, aber süß und warm und doch frisch und taukühl.
Als ich schlafen ging, spukte und rauschte es die ganze Nacht auf meinen Lippen,
durch Traum und Wachen, welche oft und heftig wechselten; ich sank von Traum zu
Traum, farbig und blitzend, dunkel und schwül, dann wieder sich erhellend aus
dunkelblauer Finsternis zu blumendurchwogter Klarheit; ich träumte nie von Anna,
aber ich küßte Baumblätter, Blumen und die lautere Luft und wurde überall
wiedergeküßt; fremde Frauen gingen über den Kirchhof und wateten durch den Fluß
mit silberglänzenden Füßen; die eine trug Annas schwarzes Gewand,
So ging es in den hellen Morgen hinein, und beim Erwachen war ich wie von einem heißen Quell der Glückseligkeit durchtränkt und berauscht.
Ich ging, noch immer trunken und träumend, unter meine Verwandten und fand in der Wohnstube den benachbarten Müller vor, welcher mit einem leichten Fuhrwerke meiner harrte, um mich mit nach der Stadt zu nehmen. Meine Rückkehr war nämlich, seit einiger Zeit bestimmt, an die Geschäftsreise dieses Mannes geknüpft und verabredet worden, da das Fahren mit ihm einige Bequemlichkeit bot. Ich fragte nach dieser ohnehin nicht viel, der Müller erschien zudem unerwartet und früher, als man geglaubt, mein Oheim und seine Sippschaft forderten mich auf, ihn fahren zu lassen und zu bleiben, in meinem Herzen schrie es nach Anna und nach dem stillen See – aber ich versicherte ernsthaft, daß meine Verhältnisse geböten, diese Gelegenheit zu benutzen, frühstückte eilig, nahm meine Sachen zusammen und von den Verwandten Abschied und setzte mich mit dem Müller auf das Wägelchen, welches ohne Aufenthalt zum Dorfe hinaus- und bald auf der Landstraße dahinrollte. Dies alles tat ich in der Verwirrung, zum Teil weil ich wähnte, man würde mir auf der Stelle ansehen, daß ich wegen Anna bliebe und daß ich sie wirklich liebe, und endlich auch aus unerklärlicher Laune.
Sobald ich hundert Schritte vom Dorfe entfernt war, bereute ich meine Abreise; ich
wäre gern vom Wagen gesprungen, drehte den Kopf immerwährend zurück nach den
Höhen, welche um den See lagen, und schaute sie an, ohne zu gewahren, wie
Ich konnte mich in den ersten Tagen meiner Rückkehr kaum zurechtfinden. Im Angesichte der großartigen Landschaft, welche die Stadt umgibt, schwebte mir nun die verlassene Gegend wie ein Paradies vor, und ich fühlte erst jetzt jeden Reiz ihrer einfachen und anspruchlosen, aber so ruhigen und lieblichen Bestandteile. Wenn ich auf der höchsten Höhe über unserer Stadt in das Land hinaussah, so war mir der kleine versteckte Strich blauen Fernegebietes, wo das Dorf und nicht weit davon des Schulmeisters See zu vermuten waren, die schönste Stelle des Gesichtskreises, die Luft wehte reiner und glücklicher von dorther, der mir unsichtbare Aufenthalt Annas in jener entlegenen bläulichen Dämmerung wirkte magnetisch über alles dazwischenliegende Land her; ja wenn ich, in der Tiefe gehend, jenen glücklichen Horizont nicht sah, so suchte und fühlte ich doch die Himmelsgegend und sah mit Heimweh und Sehnsucht das dorthin gehende Stück Himmel von näheren Bergen begrenzt.
Indessen erneuerte sich die Frage über meine Berufswahl und machte sich täglich dringender geltend, da man mich nicht länger müßig und planlos sehen konnte. Ich war einmal an den Türen des Fabrikgebäudes vorbeigestrichen, wo der eine Gönner hauste. Ein häßlicher Säuregeruch drang mir in die Nase, und bleiche Kinder arbeiteten innerhalb und lachten mit rohen Grimassen. Ich verwarf die Hoffnungen, die sich hier darboten, und zog es vor, lieber ganz von solchen halbkünstlerischen Ansprüchen fernzubleiben und mich dem Schreibertume entschieden in die Arme zu werfen, wenn einmal entsagt werden müsse, und ich gab mich diesem Gedanken schon geduldig hin. Denn nicht die mindeste Aussicht tat sich auf, bei irgendeinem guten Künstler untergebracht zu werden.
Da gewahrte ich eines Tages, wie eine Menge der gebildeten Leute der Stadt in
einem öffentlichen Gebäude aus und ein
Es wurde mir kaum möglich, endlich vor einem Werke stillzustehen, und als dies geschah, da vergaß ich mich vor demselben und kam nicht mehr weg. Einige große Bilder der Genfer Schule, mächtige Baum-und Wolkenmassen in mir unbegreiflichem Schmelze gemalt, waren die Zierden der Ausstellung; eine Menge Genrebildchen und Aquarellen reizten dazwischen als leichtes Plänklervolk, und ein paar Historien und Heiligenscheine wurden auch bewundert. Aber immer kehrte ich zu jenen großen Landschaften zurück, verfolgte den Sonnenschein, welcher durch Gras und Laub spielte, und prägte mir voll inniger Sympathie die schönen Wolkenbilder ein, welche von Glücklichen mit leichter und spielender Hand hingetürmt schienen.
Ich stak, solange es dauerte, den ganzen Tag in dem wonniglichen Saale, wo es fein
und anständig herging, die Leute sich höflich begrüßten und vor den glänzenden
Rahmen mit zierlichen
So trieb sie endlich einen Mann auf, welcher in einem alten Frauenklösterlein vor
der Stadt, wenig beachtet, einen wunderlichen Kunstspuk trieb. Er war ein Maler,
Kupferstecher, Lithograph und Drucker in einer Person, indem er, in einer
verschollenen Manier, vielbesuchte Schweizerlandschaften zeichnete, dieselben in
Kupfer kratzte, abdruckte und von einigen jungen Leuten mit Farben überziehen
ließ. Diese Blätter versandte er in alle Welt und führte einen dankbaren Handel
damit. Dazu machte er, was ihm unter die Finger kam, sonst noch, Taufscheine mit
Taufstein und Gevattersleuten, Grabschriften mit Trauerweiden und weinenden
Genien; wenn dazwischen ein Unkundiger gekommen wäre und ihm gesagt hätte: »Könnt
Ihr mir ein Bild malen, so schön es zu haben ist, das unter Kennern zehntausend
Taler wert ist? Ich möchte ein solches!« so würde er die Bestellung unbedenklich
angenommen und sich, nachdem die Hälfte des Preises zum voraus bezahlt, unverweilt
an die Arbeit gemacht haben. Bei diesem Treiben unterstützte ihn ein tapferes
Häuflein Gerechter, und der Schauplatz ihrer Taten war das ehemalige Refektorium
der frommen Klosterfrauen. Dessen beide Langseiten waren jede mit einem halben
Dutzend hoher Fenster versehen mit runden Scheibchen, die das Licht wohl ein, aber
bei ihrer wellenförmigen Oberfläche keinen Blick hinausließen, was auf den Fleiß
der hier waltenden Kunstschule wohltätigen Einfluß übte. Jedes dieser Fenster war
mit einem Kunstbeflissenen besetzt, welcher, dem Hintermanne den Rücken zukehrend,
dem Vordermanne ins Genick sah. Das Haupttreffen dieser Armee bildeten vier bis
sechs junge Leute, teils Knaben, welche die Schweizerlandschaften blühend
Es herrschte ein streng ausgeschiedener Geist in den Ansprüchen und Hoffnungen des
Refektoriums. Der Kupferstecher und der Lithograph waren fertige Leute, die
selbständig in die Welt schauten, bei Meister Habersaat um einen Gulden täglich
ihre acht Stunden arbeiteten und sich weiter weder um ihn was bekümmerten noch
große Hoffnungen nährten. Mit den jungen Koloristen hingegen verhielt es sich
anders. Diese lustigen Geister gingen mit wirklichen, leichten und durchsichtigen
Farben um, sie handhabten den Pinsel in Blau, Rot und Gelb, und das um so
fröhlicher, als sie sich um Zeichnung und Anordnung nichts zu bekümmern hatten und
mit ihrem buntflüssigen Elemente obenhin über die düstern Schwarzkünste des
Kupferstechers wegeilen durften. Sie waren die eigentlichen Maler in
Von irgendeiner Seite her war meiner Mutter angeraten worden, sich mit ihm zu
besprechen und sein Geschäft einmal anzusehen, da es wenigstens für den Anfang
eine Zuflucht zu weiterm Vorschreiten böte, zumal wenn man mit ihm übereinkäme,
daß er mich nicht zu seinem Nutzen verwende, sondern gegen genügende Entschädigung
nach seinem besten Wissen unterrichte. Er zeigte sich gern bereit und erfreut,
einen jungen Menschen einmal als eigentlichen Künstler heranzubilden, und belobte
meine Mutter höchlich für ihren kundgegebenen Entschluß, die nötigen Summen hieran
wenden zu wollen; denn jetzt schien ihr der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo die
Frucht ihrer unablässigen Sparsamkeit geopfert und auf den Altar meiner Bestimmung
gelegt werden müsse. Es wurde also ein Vertrag geschlossen auf zwei Jahre, welche
ich gegen regelmäßige Quartalzahlungen
Einer der Koloristen mußte nun seinen Platz am Fenster räumen und sich neben einen
andern setzen, indessen ich dort eingerichtet wurde; und hierauf, als ich,
erwartungsvoll der Dinge, die da kommen sollten, vor dem leeren Tische stand,
brachte Herr Habersaat eine landschaftliche Vorlage aus seinen Mappen hervor, den
Umriß eines einfachen Motives aus einem lithographierten Werke, wie ich es schon
in den Schulen vielfach gesehen hatte. Dies Blatt sollte ich vorerst aufmerksam
und streng kopieren. Doch bevor ich mich hinsetzte, schickte mich der Meister
wieder fort, Papier und Bleistift zu holen, an welche ich nicht gedacht, da ich
überhaupt keinen Begriff von dem ersten Beginnen gehabt haue. Er beschrieb mir das
Nötige, und da ich kein Geld bei mir trug, mußte ich erst den weiten Weg nach
Hause machen und dann in einen Laden gehen, um es gut und neu einzukaufen, und als
ich wieder hinkam, war es eine halbe Stunde vor Mittag. Dieses alles, daß man mir
für diesen Anfang nicht einmal ein Blau Papier und einen Stift gab, sondern
fortschickte, welche zu holen, ferner das Herumschlendern in den Straßen, das Geld
fordern bei der Mutter und endlich
Jedoch wurde es bald von diesem Eindrucke abgezogen, als die unscheinbaren Aufgaben, die mir gestellt wurden, mir mehr zu tun gaben, als ich mir anfänglich eingebildet; denn Habersaat sah vor allem darauf, daß jeder Zug, den ich machte, genau die gleiche Größe des Vorbildes maß und das Ganze weder größer noch kleiner erschien. Nun kamen aber meine Nachbildungen immer größer heraus als das Original, obgleich in richtigem Verhältnisse, und der Meister nahm hieran Gelegenheit, seine Genauigkeit und Strenge zu üben, die Schwierigkeit der Kunst zu entwickeln und mich behaglich fühlen zu lassen, daß es doch nicht so rasch ginge, als ich wohl geglaubt hätte.
Doch fand ich mich wohl und geborgen an meinem Tische (die Abwesenheit von
Staffeleien, die ich mir als besondere Zierde einer Werkstatt gedacht, empfand ich
freilich) und arbeitete mich tapfer durch diese kleinlichen Anfänge hindurch. Ich
kopierte getreulich die ländlichen Schweinställe, Holzschuppen und derlei Dinge,
aus welchen, in Verbindungen mit allerlei magerm Strauchwerk, meine Vorbilder
bestanden und die mir um so mühseliger wurden, je verächtlicher sie meinen Augen
erschienen. Denn bei dem Eintritte in den Saal des Meisters hatte sich mit der
Pflicht und dem Gehorsame zugleich der Schein der Nüchternheit und Leerheit über
diese Dinge ergossen für meinen ungebundenen und willkürlichen Geist. Auch kam es
mir fremd vor, den ganzen Tag, an meinen Platz gefesselt, über meinem Papiere zu
sitzen, zumal man nicht im Zimmer umhergehen und unaufgefordert nicht sprechen
durfte. Nur der Kupferstecher und der Lithograph führten einen bescheidenen
Verkehr unter sich und den betreffenden Druckergesellen und richteten das Wort
auch an den Meister, wenn es ihnen gutdünkte, ein bißchen zu plaudern. Dieser
aber, wenn er guter Laune
Ich erhielt nach einiger Zeit das Recht, meine Vorlagen selbst hervorzuholen und die vorhandenen Schätze durchzugehen. Sie bestanden aus einer großen Menge zufällig zusammengeraffter Gegenstände, aus leidlichen alten Kupferstichen, einzelnen Fetzen und Blättern ohne Bedeutung, wie sie die Zeit anhäuft, Zeichnungen von einer gewissen Routine, ohne Naturwahrheit, und einem übrigen Mischmasch. Handzeichnungen nach der Natur, Blätter, die um ihrer selbst willen da waren und denen man angesehen hätte, daß sie freie Luft und Sonne getrunken, fanden sich nicht ein einziges Stück vor; denn der Meister hatte seine Kunst und seinen Schlendrian innerhalb vier Wänden erworben und begab sich nur hinaus, um so schnell als möglich eine gangbare Ansicht zu entwerfen. Eine gewandte, obschon falsche Technik war das eigentliche Wissen meines Meisters, und er legte alles Gewicht seines Unterrichtes auf diesen Punkt.
Anfänglich hielt er mich eine Weile in Abhängigkeit, indem ich den Unterschied
zwischen einem transparenten scharfen und einem rußigen stumpfen Vortrage nicht
recht begriff und mehr auf Form und Charakter sah; doch endlich, durch das
fortwährende Pinseln, geriet ich hinter das Geheimnis, und nun fertigte ich in
einem fixen Jargon eine Menge Tuschzeichnungen an, ein Blatt ums andere. Schon sah
ich nur auf die Zahl des Gemachten und hatte meine Freude an der anschwellenden
Mappe; kaum daß bei meiner Wahl die wirkungsvollsten und auffallendsten
Gegenstände mir noch eine weitere Teilnahme abgewannen. So war, noch ehe der erste
Winter ganz zu Ende, meines Lehrers Vorrat an Vorlagen von mir beinahe
durchgemacht, und zwar auf eine Weise, wie er selbst ungefähr
Doch legte sich durch diese Arbeit in mir ein Grund edlerer Anschauung, und die
schönen und durchdachten Formen, die ich vor mir hatte, hielten dem übrigen
Treiben ein wohltätiges Gegengewicht und ließen die Ahnung des Bessern nie ganz in
mir verlöschen. Auf der anderen Seite aber heftete sich an die Errungenschaft
sogleich wieder ein Nachteil, indem sich die alte voreilige Erfindungslust regte
und ich, durch die einfache Größe der klassischen Gegenstände verführt, zu Hause
anfing, selber dergleichen Landschaftsbilder zu entwerfen, und diese
Daß aber das Heulen mit den Wölfen mir nicht Schaden tat, wie ich glaube, verhütete der freundliche Stern Anna, der immer in meiner Seele aufging, sobald ich in dem Hause meiner Mutter oder auf einsamen Gängen wieder allein war. An sie knüpfte ich alles, wessen ich, über den Tag hinaus bedurfte, und sie war das stille Licht, welches das verdunkelte Herz jeden Abend erleuchtete, wenn die Sonne niederging, und in der erhellten Brust wurde mir dann immer auch unser gute Freund, der liebe Gott, sichtbar, der um diese Zeit mit erhöhter Klarheit begann, seine ewigen Rechte auch an mir geltend zu machen.
Ich hatte, nach Büchern herumspürend, einen Roman des Jean Paul in die Hände bekommen. In demselben schien mir plötzlich alles tröstend und erfüllend entgegenzutreten, was ich bisher gewollt und gesucht oder unruhig und dunkel empfunden. Diese Herrlichkeit machte mich stutzen, dies schien mir das Wahre und Rechte! Und inmitten der Abendröten und Regenbogen, der Lilienwälder und Sternensaaten, der rauschenden und blitzenden Gewitter, inmitten all des Feuerwerkes der Höhe und Tiefe, in diesen saumlosen schillernden Weltmantel gehüllt der Unendliche, groß, aber voll Liebe, heilig, aber ein Gott des Lächelns und des Scherzes, furchtbar von Gewalt, doch sich schmiegend und bergend in eine Kinderbrust, hervorguckend aus einem Kindesauge wie das Osterhäschen aus Blumen! Das war ein anderer Herr und Gönner als der silbenstecherische Patron im Katechismus!
Als der Frühling kam, welchen ich voll Ungeduld erwartet hatte, begab ich mich in
den ersten warmen Tagen ins Freie, ausgerüstet mit der erworbenen Fertigkeit, um
an die Stelle der papiernen Vorbilder die Natur selbst zu setzen. Das Refektorium
sah voll Achtung und mit geheimem Neide auf meine umständlichen Zurüstungen; denn
es war das erste Mal, daß eines seiner Mitglieder die Sache so großartig betrieb,
und das Zeichnen »nach der Natur« war bisher ein wunderbarer Mythus gewesen. Ich
selbst ging nicht mehr mit der unverschämten, aber gutgemeinten Zutraulichkeit des
letzten Sommers vor die runden, körperlichen und sonnebeleuchteten Gegenstände der
Natur, sondern mit einer weit gefährlicheren und selbstgefälligen Borniertheit.
Denn was mir nicht klar war oder zu schwierig er schien, das warf ich, mich selbst
betrügend, durcheinander und verhüllte es mit meiner unseligen Pinselgewandtheit,
da ich, an statt bescheiden mit dem Stifte anzufangen, sogleich mit den
Abgesehen von seinem Grundsatze der Reinlichkeit und Durchsichtigkeit des
Vortrages hegte er nur noch eine einzige Tradition, die er mir zu überliefern für
angemessen hielt, nämlich die des Sonderbaren und Krankhaften, was mit dem
Malerischen verwechselt wurde. Er ermunterte mich, hohle, zerrissene
Weidenstrünke, verwitterte Bäume und abenteuerliche Felsgespenster aufzusuchen mit
den bunten Farben der Fäulnis
Der Sommer war nun auf seine volle Höhe geschritten, als ich meinem geheimen
Verlangen nach der anderen Heimat, dem entlegenen Dorflande, nachgab und mit
meinen Siebensachen hinauszog. Die Mutter blieb wieder zurück in entsagender
Unbeweglichkeit und Selbstbeschränkung, ungeachtet aller freundlichen
Aufforderungen, die Wohnung doch ganz zu schließen
Die zahlreichen, kräftig geschwärzten Blätter verursachten im Hause meines Oheims allerdings einige Verwunderung, und im allgemeinen sah man die Sache mit ziemlichem Respekt an; als jedoch der Oheim die Zeichnungen betrachtete, welche ich nach der Natur gefertigt haben wollte (denn ich glaubte als eine Art Münchhausen nachgerade selbst daran, vorzüglich weil die Sachen doch unter freiem Himmel entstanden waren), da schüttelte er bedenklich den Kopf und wunderte sich, wo ich denn meine Augen gehabt hätte. In seinem realistischen Sinne, als Land-und Forstmann, fand er trotz aller Unkunde in Kunstdingen den Fehler schnell und leicht heraus.
»Diese Bäume«, sagte er, »sehen ja einer dem andern ähnlich und alle zusammen gar keinem wirklichen! Diese Felsen und Steine könnten keinen Augenblick so aufeinanderliegen, ohne zusammenzufallen! Hier ist ein Wasserfall, dessen Masse einen der größeren Fälle verkündet, die aber über kleinliche Bachsteine stürzt, als ob ein Regiment Soldaten über einen Span stolperte; hiezu wäre eine tüchtige Felswand erforderlich; indessen nimmt es mich eigentlich wunder, wo zum Teufel in der Nähe der Stadt ein solcher Fall zu finden ist! Dann möchte ich auch wissen, was an solchen verfaulten Weidenstöcken Zeichnenswertes ist, da dünkte mich doch eine gesunde Eiche oder Buche erbaulicher« usf.
Die Frauensleute hingegen ärgerten sich über meine Vagabunden, Kesselflicker und
Fratzengesichter und begriffen nicht, warum ich im Felde nicht lieber ein artiges
vorübergehendes Landmädchen oder einen anständigen Ackersmann abgebildet habe, als
mich fortwährend mit solchen Unholden zu beschäftigen; die Söhne belachten meine
ungeheuerlichen Berghöhlen, die unmöglichen und lächerlichen Brücken, die
menschenähnlichen
Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft stellte mir der Oheim, um mich wieder auf eine reale Bahn zu leiten, die Aufgabe, seine Besitzung, Haus, Garten und Bäume, genau und bedächtig zu zeichnen und ein getreues Bild davon zu entwerfen. Er machte mich aufmerksam auf alle Eigentümlichkeiten und auf das, was er besonders hervorgehoben wünschte, und wenn seine Andeutungen auch eher dem Bedürfnisse eines rüstigen Besitzers als demjenigen eines Kunstverständigen entsprachen, so ward ich doch dadurch genötigt, die Gegenstände wieder einmal genau anzusehen und in allen ihren eigentümlichen Oberflächen zu verfolgen. Die allereinfachsten Dinge am Hause selbst, sogar die Ziegel auf dem Dache, gaben mir nun wieder mehr zu schaffen, als ich je gedacht hatte, und veranlaßten mich, auch die umstehenden Bäume in gleicher Weise gewissenhafter zu zeichnen; ich lernte die aufrichtige Arbeit und Mühe wieder kennen, und indem darüber eine Arbeit entstand, die mich in ihrer anspruchlosen Durchgeführtheit selbst unendlich mehr befriedigte als die marktschreierischen Produkte der jüngsten Zeit, erwarb ich mir mit saurer Mühe den Sinn des Schlichten, aber Wahren.
Inzwischen erfreute ich mich des Wiederfindens alles dessen, was ich im letzten
Jahre hier verlassen, beobachtete alle Veränderungen, welche etwa vorgefallen, und
harrte im stillen auf den Augenblick, wo ich Anna wiedersehen oder wenigstens
zuerst ihren Namen hören würde. Aber schon waren einige Tage verflossen, ohne daß
die geringste Erwähnung fiel, und je länger dies andauerte, desto minder brachte
ich die Frage nach ihr hervor. Man schien sie völlig vergessen zu haben, als wäre
sie niemals dagewesen, und, was mich innerlich kränkte, niemand
Endlich wurde ich gefragt, warum ich den Schulmeister nicht besuche? und da ergab es sich zufällig, daß Anna schon seit einem halben Jahre nicht mehr im Lande sei und daß man meine Kunde hierüber vorausgesetzt habe. Ihr Vater hatte, in seiner steten Sehnsucht nach Bildung und Feinheit der Seele und in Betracht, daß nach seinem Tode sein Kind, das einmal für eine Bäuerin zu zart sei, verlassen in der rauhen dörflichen Umgebung bleiben würde, sich plötzlich entschlossen, Anna in eine Bildungsanstalt der französischen Schweiz zu bringen, wo sie sich bessere Kenntnisse und Selbständigkeit des Geistes erwerben sollte. Er ließ sich, als sie ihre Abneigung dagegen aussprach, durch ihre Tränen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung seiner Wünsche bedacht, und begleitete das ungern scheidende Kind in das Haus des fernen, vornehm-religiösen Erziehers, wo sie nun noch wenigstens ein volles Jahr zu bleiben hatte. Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag aus blauem Himmel.
Ich ging nun alle Tage zu ihrem Vater, begleitete ihn auf seinen Wegen und hörte
von ihr sprechen; oft blieb ich mehrere Tage dort, alsdann wohnte ich in ihrem
Kämmerchen, wagte mich jedoch fast nicht zu rühren darin und betrachtete die
wenigen einfachen Gegenstände, welche es enthielt, mit heiliger Scheu. Es war
klein und enge; die Abendsonne und der Mondschein füllten es immer ganz aus, daß
kein dunkler Punkt darin
Wenn ich nach malerischen Gegenständen umherstreifte, so suchte ich vorzüglich die Stellen auf, wo ich mit Anna geweilt hatte; so war die geheimnisvolle Felswand am Wasser, wo ich mit ihr geruht und jene Erscheinung gesehen, schon von mir gezeichnet worden, und ich, konnte mich nun nicht enthalten, auf der schneeweißen Wand des Kämmerchens ein sauberes Viereck zu ziehen und das Bild mit der Heidenstube, so gut ich konnte, hineinzumalen. Dies sollte ein stiller Gruß für sie sein und ihr später bezeugen, wie beständig ich an sie gedacht.
Diese fortwährende Erinnerung an sie und ihre Abwesenheit machten mich insgeheim immer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde; ich begann lange Liebesbriefe an sie zu schreiben, die ich zuerst verbrannte, dann aufbewahrte, und zuletzt wurde ich so verwegen, alles, was ich für Anna fühlte, auf ein offenes Blatt zu schreiben, in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen, und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, das es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende Tat für mich und ein Bekenntnis meines Geheimnisses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte unterwegs doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte.
Ich kehrte diesmal früher nach der Stadt zurück, mit einer tiefen Sehnsucht im Gemüte, welche sich nun gänzlich ausgebildet hatte und alles umfaßte, was mir fehlte und was ich in der Welt doch als vorhanden ahnte.
Mein Lehrer führte mich jetzt auf die letzten Stufen seiner Kunst, indem er mir
die Behandlung seiner Wasserfarben mitteilte und mich mit aller Strenge zu deren
sauberer und flinker Anwendung anhielt. Da jedoch die Natur wieder nicht in Frage
kam, so lernte ich bald gefärbte Zeichnungen hervorbringen, wie sie ungefähr im
Hause verlangt wurden, und ehe das zweite bedungene Jahr zu Ende war, sah ich
nicht viel mehr zu lernen, ohne doch etwas Rechtes zu können. Ich langweilte mich
in dem alten Kloster und blieb wochenlang zu Hause, um dort zu lesen oder Arbeiten
zu beginnen, die ich vor dem Meister verbarg. Dieser suchte meine Mutter auf,
beschwerte sich über meine Zerstreutheit, rühmte meine Fortschritte und schlug
vor, ich sollte nun in ein anderes Verhältnis zu ihm treten, in seinem Geschäfte
für ihn arbeiten, fleißig und pünktlich, aber
Diese Worte waren sehr verständig, obgleich sie auf einigem Eigennutze beruhen mochten; allein sie fanden keinen Anklang bei mir. Ich verabscheute jeden Gedanken an Tagelohn und kleine Industrie und wollte allein auf dem geraden Wege ans Ziel gelangen. Das Refektorium erschien mir mit jedem Tage mehr als ein Hindernis und eine Beengung; ich sehnte mich darnach, in unserm Hause mir eine stille Werkstatt einzurichten und mir selbst zu helfen, so gut es ginge; und eines Morgens verabschiedete ich mich, noch vor Beendigung meiner Lehrzeit, bei Herrn Habersaat und erklärte der Mutter, ich würde nun zu Hause arbeiten; wenn sie verlange, daß ich etwas verdienen solle, so könne ich dies auch ohne ihn tun, zu lernen wüßte ich nichts mehr bei ihm.
Vergnügt und hoffnungsvoll schlug ich meinen Sitz zuoberst im Hause auf, in einer
Dachkammer, welche über einen Teil der Stadt weg weit nach Norden hin sah, deren
Fenster am frühen Morgen und am Abend den ersten und letzten Sonnenblick
auffingen. Es war mir eine ebenso wichtige als angenehme Arbeit, hier eine eigene
Welt zu schaffen, und ich brachte
Ich war nun ganz mir selbst überlassen, vollkommen frei und unabhängig, ohne die
mindeste Einwirkung und ohne Vorbild noch Vorschrift. Ich knüpfte abwechselnden
Verkehr an mit jungen Leuten, an denen mich ein verwandter Hang oder ein
freundliches Eingehen anzog, am liebsten mit ehemaligen Schulgenossen, die in der
Zeit ihre Studien fortsetzten und mir, mich in meiner Klause besuchend, getreulich
Bericht erstatteten von ihren Fortschritten und von allem, was in den Schulen
vorkam. Diese Gelegenheit benutzte ich, noch ein und andere Brocken
aufzuschnappen, und sah öfter schmerzlich durch die verschlossenen Gitter in den
reichen Garten der reiferen Jugendbildung, erst jetzt recht fühlend, was ich
verloren. Doch lernte ich durch meine Freunde manches Buch und manchen
Anknüpfungspunkt kennen, von wo aus ich weitertappte am dürftigen Faden, und das
Gefundene verschmelzend mit dem phantastischen Wesen meiner Abgeschiedenheit,
gefiel ich mir in einer komischen, höchst unschuldigen Gelehrsamkeit, welche meine
Beschäftigungen seltsam bereicherte und vermehrte. Ich schrieb am frühen stillen
Morgen oder in später Nacht hochtrabende Aufsätze, begeisterte Schilderungen und
Ausrufungen
Und ungeachtet meines äußerlich stillen Lebens trat doch manche frühe Trübung hinzu, welche mich sorgenvoll oder leidenschaftlich bewegte.
Ich hatte um die Zeit einen feurigen und lebhaften Freund, welcher meine Neigungen
stärker teilte als alle anderen Bekannten, viel mit mir zeichnete und poetisch
schwärmte und, da er noch die Schulen besuchte, reichlichen Stoff von da in meine
Kammer brachte. Zugleich war er lebenslustig und trieb sich ebensooft mit flotten
Leuten in Wirtshäusern herum, von deren Herrlichkeiten und energischen Gelagen er
mir dann erzählte. Ich blieb meistens wehmütig zu Hause, da mich meine Mutter in
dieser Beziehung äußerst knapp hielt und keine Notwendigkeit einer geringsten
Ausgabe solcher Art einsah. Darum schaute ich dem froh sich Herumtummelnden nach
wie ein gefangener Vogel einem in der Höhe fliegenden und träumte von der Freiheit
einer glänzenden Zukunft, wo ich eine Zierde der Zechgelage zu werden mir vornahm.
Inzwischen aber mißbilligte ich, wie der Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind,
öfter die Wildheit meines Freundes und suchte ihn mehr an meine stille Wohnung zu
fesseln. Dies verursachte manche Mißstimmung zwischen uns, und ich freute mich
endlich innerlich seiner Abreise in die Ferne, welche zu einem feurigen
Briefwechsel die willkommene Gelegenheit gab. Wir erhoben nun unser Verhältnis zu
einer idealen Freundschaft, nicht getrübt von dem persönlichen Zusammensein, und
boten in regelmäßigen Briefen die ganze Beredsamkeit jugendlicher Begeisterung
auf. Nicht ohne Selbstzufriedenheit suchte ich meine Episteln
Da fiel mir eines Tages Zimmermanns Buch über die Einsamkeit in die Hände, von
welchem ich schon viel gehört und das ich deshalb nun mit doppelter Begierde las,
bis ich auf die Stelle traf, welche anfängt: »Auf deiner Studierstube möchte ich
dich festhalten, o Jüngling!«, Jedes Wort ward mir bekannter, und endlich fand ich
einen der ersten Briefe meines Freundes hier wortgetreu abgeschrieben. Bald darauf
entdeckte ich einen andern Brief in Diderots unmaßgeblichen Gedanken über die
Zeichnung, welche ich bei einem Antiquar erworben, und fand so die Quelle jener
Schärfe und Klarheit, die mich so erregt
Mit solchen Sternen hatte ich ohnmächtig gerungen; ich war wie vom Blitz getroffen, ich sah im Geiste meinen Freund über mich lachen und konnte mir seine Handlungsweise nur durch eigenen Unwert erklären. Doch fühlte ich mich schmerzlich beleidigt und schrieb nach einigem Schweigen einen anzüglichen Brief, mittelst dessen ich seine angemaßte geistige Herrschaft abzuwerfen, doch nicht unsere Freundschaft aufzuheben, vielmehr ihn zu treuer Wahrheit zurückzufahren gedachte. Allein mein verletzter Ehrgeiz ließ mich zu heftige und spitze Ausdrücke wählen; mein Gegner hatte sich nicht über mich lustig machen, sondern nur mit wenig Mühe meinem Eifer die Waage halten wollen, wie er sich auch nachher, in ernsteren Dingen, immer mit solchen Mitteln zu helfen suchte, obgleich er die Talente zu wirklichem Streben in vollem Maße und daher auch Selbstgefühl besaß. So kam es, daß er, um seine Verlegenheit zu bedecken und ärgerlich über meine Auflehnung, noch gereizter und beleidigter antwortete. Es stieg ein mächtiges Zorngewitter zwischen uns auf; wir schalten uns rücksichtslos, und je mehr wir uns zugetan gewesen, mit desto mehr Aufwand an tragischen Worten kündeten wir uns die Freundschaft auf und bestrebten uns blindlings, jeder der erste zu sein, der den andern aus seinem Gedächtnis verbanne!
Aber nicht nur seine, sondern auch meine eigenen harten Worte schnitten mir ins
Herz; ich trauerte mehrere Tage lang, indessen ich den Geschiedenen zu gleicher
Zeit noch achtete, liebte und haßte; ich empfand nun zum zweiten Male, in
vorgerückterm
Der Frühling war gekommen; Schlüsselblümchen und Veilchen waren im erstarkten
Grase verschwunden, niemand beachtete ihre kleinen Früchtchen. Hingegen breiteten
sich Anemonen und die blauen Sterne des Immergrün um die lichten Stämme junger
Birken aus, am Eingange der Gehölze; die Lenzsonne durchschaute und überschien die
Räumlichkeiten zwischen den Bäumen; denn noch war es hell und geräumig, wie in dem
Hause eines Gelehrten, dessen Liebste dasselbe in Ordnung gebracht und aufgeputzt
hat, ehe er von einer Reise zurück kommt und bald alles in die alte tolle
Verwirrung versetzt. Bescheiden und abgemessen nahm das zartgrüne Laubwerk seinen
Platz und ließ kaum ahnen, welcher Überdrang in ihm heranwuchs. Die Blättchen
saßen symmetrisch und zierlich an den Zweigen, zählbar, ein wenig steif, wie von
der Putzmacherin angeordnet, die Einkerbungen und Fältchen noch höchst exakt und
sauber, wie in Papier geschnitten und gepreßt, die Stiele und Zweigelchen rötlich
lackiert, alles äußerst aufgedonnert. Frohe Lüfte wehten, am Himmel kräuselten
sich glänzende Wolken, es kräuselte sich das junge Gras an den Rainen, die Wolle
auf dem Rücken der Lämmer, überall bewegte es sich leise mutwillig; die losen
Flocken im Genicke der jungen Mädchen kräuselten sich, wenn sie in der
Frühlingsluft gingen,
Um diese Zeit hörte ich ein flüchtiges Wort, Anna sei in ihre Heimat
zurückgekehrt. Ich hatte sie nun seit zwei Jahren nicht gesehen; wir beide gingen
unserm sechszehnten Geburtstage entgegen. Sogleich rüstete ich mich zur
Übersiedelung nach dem Dorfe und machte mich eines Sonnabends wohlgemut auf
Doch nur die älteren Personen waren sich eigentlich ganz gleichgeblieben; das junge Volk führte einen etwas veränderten Ton in Scherz und Reden. Als nach dem Nachtessen sich die Älteren zurückgezogen und einige junge Dorfbewohner beiderlei Geschlechtes dafür ankamen, um noch einige Stunden zu plaudern, bemerkte ich, daß die Liebesangelegenheiten nun ausschließlicher und ausgeprägter der Stoff der neckischen Gespräche geworden, aber so, daß die Jünglinge mit etwas spöttischer Galanterie den Schein tieferer Empfindung zu verhüllen, die Mädchen eine große Sprödigkeit, Männerverachtung und jungfräuliche Selbstzufriedenheit an den Tag zu legen bemüht schienen; und an der Art und Weise, wie die sich kreuzenden Scherze und Angriffe da reizten, dort scheinbar verletzten, war nicht zu verkennen, daß hier die Kristallelemente zusammenzuschießen auf dem Punkte waren.
Ich war anfangs still und suchte mich in den mehr wort- als sinnreichen
Scharmützeln zurechtzufinden; die Mädchen betrachteten mich als einen
anspruchlosen Neutralen und schienen einen frommen und bescheidenen Knappen an mir
gewinnen
Eine Magd trug gerade ein Becken mit Wasser hinein; sie tauchten ihre Finger in
das Wasser und spritzten mir dasselbe ins Gesicht, während sie mit ihren
brennenden Lämpchen mir um Haar und Nase herumzündeten und mich hart bedrängten.
»Mit Feuer und Wasser«, sagten sie, »weihen wir dich zu
Mit sehr ungewohnten Empfindungen machte ich vorsichtig das Fenster zu und suchte in meinem boshaften Leinwandlabyrinth Mädchen, Liebe, Mainacht und Verdruß zu vergessen.
Noch gemischtere Gefühle jedoch kehrten zurück, als ich am Morgen meine nächtlichen Erfahrungen bedachte. Zuerst befiel mich eine bekümmerte Entrüstung gegen meine Basen und ihre Liebhaber. Es machte mir den Eindruck, wie wenn in einem verschlossenen Garten allerlei Freimaurerei getrieben würde und ich als ein Verhöhnter vor dem Tore stände.
Indessen beschloß ich, als es darauf ankam, in die große Wohnstube zu gehen und
mein nächstes Benehmen zu ordnen, vorderhand gänzliche Verschwiegenheit zu üben,
und dieser Entschluß kam mir so edel und großmütig vor, daß ich, ganz aufgebläht
davon, wähnte, die Mädchen müßten mir meine Großmut auf der Stelle ansehen, als
ich in die Stube trat. Ich erregte jedoch nicht die mindeste Aufmerksamkeit; wohl
aber sah ich an einem der Fenster eine schlank aufgewachsene jungfräuliche Gestalt
stehen, umgeben von meinen drei Basen. An ihren eigentümlichen Zügen und der
veränderten und doch gleich lieblich gebliebenen Stimme erkannte ich sogleich
Anna;
Heute ging das ganze Haus zur Kirche, wohl Anna zu Ehren, und nur ich allein blieb
zurück. Durch das Fenster sah ich dem Zuge nach, welcher sich durch die Wiesen
unter den Bäumen hinbewegte und dann auf der Höhe des Kirchhofes zum Vorschein
kam, um endlich in der Kirchentür zu verschwinden. Diese wurde bald darauf
geschlossen, das Geläute schwieg, der Gesang begann und hallte deutlich und schön
her über. Auch dieser schwieg, und nun verbreitete sich ein Meer von Stille über
das Dorf, nur hie und da, wie von Möwenschrei, durch einen kräftigern Ruf des
Predigers unterbrochen. Das Laub und die Millionen Gräser waren mäuschenstill,
trieben aber nichtsdestominder mit Hin- und Herwackeln allerlei lautlosen Unfug,
wie mutwillige Kinder während einer feierlichen Verhandlung. Die abgebrochenen
Töne der Predigt, welche durch einen offenen Fensterflügel sich in die Gegend
verloren, klangen seltsam und manchmal wie hollaho! manchmal wie juchhe! oder
hopsa! bald in hohen Fisteltönen, bald tief grollend, jetzt wie ein nächtlicher
Feuerruf und dann wieder wie das Gelächter einer Lachtaube. Während der Pfarrer
predigte und ich Anna in Gedanken aufmerksam und still dasitzen sah, nahm ich
Papier und Feder und schrieb meine Gefühle für sie in feurigen Worten nieder. Ich
erinnerte sie an die zärtliche Begebenheit auf dem Grabe der Großmutter, nannte
sie mit ihrem Namen
Wir zogen also aus und gingen dem Flüßchen nach durch den Wald. Ich blieb still,
und als wir, durch die Enge des Weges getrennt, hintereinander gehen mußten,
marschierte ich als der letzte hintendrein, dicht nach Anna, aber immer in tiefem
Schweigen. Meine Augen hingen mit Andacht und Liebe an ihrer Gestalt, immer
bereit, sich abzuwenden, sobald sie zurückschauen würde. Doch tat sie dies nicht
ein einziges Mal; hingegen bildete ich mir mit innerlichem Vergnügen ein, daß sie
hie und da mit einer kaum sichtbaren Absicht zu gefallen sich
Der Schulmeister begrüßte uns mit Freuden und vor allen seine Tochter, die er
sehnlich zurückerwartet. Denn sie war nun die Erfüllung seines Ideales geworden,
schön, fein, gebildet und von andächtigem, edlem Gemüte, und mit dem bescheidenen
Rauschen ihres Seidenkleides war, nicht in schlimmem Sinne, eine neue schöne Welt
für ihn aufgegangen. Er hatte zu seinem bisherigen Vermögen noch eine gute
Erbschaft gemacht und benutzte diese, ohne Vornehmtuerei, sich mit allerhand
anständigen Bequemlichkeiten zu umgeben. Was seine Tochter nach den aus Welschland
mitgebrachten Bedürfnissen irgend wünschen konnte, schaffte er augenblicklich an
und überdies eine Anzahl schöner Bücher für seine eigenen Wünsche. Auch hatte er
seinen grauen Frack mit einem feinen schwarzen Leitrock vertauscht, wenn er
ausging, und im Hause trug er einen ehrbaren talarartigen Schlafrock, um mehr das
Ansehen eines würdigen, halbgeistlichen Privatgelehrten zu gewinnen. Was irgend
mit einer Stickerei geziert werden konnte an seiner Person oder an seinem Geräte,
das zeigte diesen Schmuck in allen Manieren und Farben, da ihm solcher ausnehmend
gefiel und Anna reichlich dafür sorgte. In dem kleinen Orgelsaale stand nun ein
prächtiges Sofa mit buntgestickten Kissen, und vor demselben lag ein großblumiger
Teppich von Annas Hand. Diese reiche
Die Bursche klopften in die Hände und riefen: »Oho, steht es so? Der Maler hat gewiß etwas gesehen, freilich, freilich, freilich! Wir haben's schon lange gemerkt!« und nun nannten sie die begünstigten Liebhaber der beiden Dämchen, welche uns den Rücken wandten mit den Worten: »Larifari! ihr seid alle verlogene Schelme und der Maler ein recht böser Hauptlügner!« Lachend und flüsternd unterhielten sie sich hierauf mit den anderen beiden Mädchen, die nicht recht wußten, woran sie waren, und alle würdigten uns keines Blickes mehr. So hatte ich das Geheimnis, das ich am Morgen großmütig zu verschweigen gelobt, noch vor Untergang der Sonne ausgeplaudert. Dadurch war der Krieg zwischen mir und den Schönen erklärt, und ich sah mich plötzlich himmelweit von dem Ziele meiner Hoffnungen gerückt; denn ich dachte mir alle Mädchen als eng verbündet und gleichsam eine Person, mit welcher man im ganzen gut stehen müsse, wenn man ein Teilchen gewinnen wolle.
Um diese Zeit wurde der zweite Lehrer des Dorfes versetzt, und an seine Stelle kam
ein blutjunges Schulmeisterlein von kaum siebzehn Jahren, welches bald ein Aufsehn
in der Gegend
Er fand sich auch im Hause meines Oheims ein, wo eine gute Anzahl Mädchen und
junger Bursche, die durch vielfältigen Besuch noch verstärkt wurde, für seine
Aufführungen empfänglich war. Ich gesellte mich dem Philosophen bei, einesteils
von seinem Philosophieren angezogen, andernteils von seinem Weiberkriege, da
dieser gerade mit meiner schiefen Lage zu den Mädchen zusammentraf. Wir machten
große Spaziergänge, auf welchen er mir die Systeme der Reihe nach vortrug, wie er
sie im Kopfe hatte und wie ich sie verstehen konnte. Es kam mir alles äußerst
wichtig und erbaulich vor, und ich ehrte bald, gleich ihm, jede Lehre und jeden
Denker, gleichviel ob wir sie billigten oder nicht. Über den christlichen Glauben
waren wir bald einig und machten in die Wette unsern Krieg gegen Pfaffen und
Autoritätsleute
Allein wer konnte wissen! Ein Sperling in der Hand ist besser als ein Adler auf
dem Dache! Lieber noch dies stumme Nahsein sicher behalten, als durch die
beleidigte Ehre genötigt zu sein, auf immer zu scheiden! Dadurch wurde ich immer
mehr und mehr verhärtet und endlich unfähig, das gleichgültigste Wort an Anna zu
richten; so kam es, als sie auch nichts zu mir sagte, daß nach einer sehr
stillschweigenden Übereinkunft wir
Ich brachte die Tage im tiefen Walde zu, mit meinem Handwerkszeuge versehen; allein ich zeichnete nur wenig nach der Natur, sondern wenn ich eine recht geheime Stelle gefunden, wo ich sicher war, daß niemand mich überraschte, zog ich ein schönes Stück englisches Papier hervor, auf welchem ich Annas Bildnis aus dem Gedächtnis in Wasserfarben malte. Es war für mich das allergrößte Glück, wenn ich mich an einem klaren Spiegelwässerchen unter dichtem Blätterdache so wohnlich eingerichtet hatte, das Bild auf den Knien. Ich konnte nicht erheblich zeichnen, daher fiel das Ganze etwas byzantinisch aus, was ihm bei der Fertigkeit und dem Glanz der Farben ein eigenes Ansehen gab. Jeden Tag betrachtete ich Anna verstohlen oder offen und verbesserte danach das Bild, bis es zuletzt ziemlich ähnlich wurde. Es war in ganzer Figur und stand in einem Blumenbeete, dessen hohe Stengel und Kronen mit Annas Haupt in den tiefblauen Himmel ragten; der obere Teil der Zeichnung war bogenförmig abgerundet und mit Rankenwerk eingefaßt, in welchem glänzende Vögel und Schmetterlinge saßen, deren Farben ich noch mit Goldlichtern erhöhte Alles dies sowie Annas Gewand, welches ich phantastisch erfand und schmückte, war mir die angenehmste Arbeit während vieler Tage, die ich im Walde zubrachte, und ich unterbrach diese Arbeit nur, um auf meiner Flöte zu spielen, welche ich beständig bei mir führte. Auch des Abends, nach Sonnenuntergang, ging ich oft mit der Flöte noch aus, strich hoch über den Berg, bis wo der See in der Tiefe und des Schulmeisters Haus daran lag, und ließ dann meine wildgewachsenen Weisen oder auch ein schönes Liebeslied durch Nacht und Mondschein ertönen.
So gingen die Sommermonate vorüber; ich verbarg das Bild sorgfältig und gedachte
es noch lange zu verbergen, da es von
Als ich eintrat und fragte, was sie begehrten, lächelten und kicherten sie eine Zeitlang verlegen, daß ich trotzig schon wieder umkehren und weggehen wollte. Jedoch Margot ergriff das Wort und rief: »So bleib doch hier, wir werden dich nicht essen!« und nachdem sie sich geräuspert, fuhr sie fort:
»Es sind mannigfaltige Klagen über dich angesammelt, und wir haben daher uns als eine Art Gerichtshof hierher gesetzt, um dich zu richten und ins Verhör zu nehmen, lieber Vetter! und wir fordern dich hiemit auf, uns auf alle Fragen treu, wahr und bescheiden zu antworten! Erstlich wünschen wir zu wissen – je, was wollten wir denn zuerst fragen, Caton?«
»Ob er gern Aprikosen esse«, erwiderte diese, und Lisette rief: »Nein, wie alt er sei, müssen wir zuerst fragen, und wie er heiße!«
»Bitte, macht euch nicht gar zu unnütz«, sagte ich, »und rückt heraus mit eurem Anliegen!«
Doch Margot sagte: »Kurz und gut, du sollst einmal sagen, was du gegen die Anna hast, daß du dich so gegen sie benimmst?«
»Wieso?« antwortete ich verlegen, und Anna wurde ganz rot und sah auf ihre Leinwand.
Ich erwiderte, daß ich die Gründe für mein Benehmen gegen Anna angeben könne, sobald sie mir diejenigen für ihr eigenes Verhalten mitteilen wolle, indem ich mich ebensowenig eines an mich gerichteten Wortes rühmen dürfe. Auf diese Rede ward mir vorgehalten ein Frauenzimmer könne immer noch tun, was sie wolle; jedenfalls müßte ich den Anfang machen, worauf dann Anna sich verpflichten würde, in einem gesellschaftlich freundlichen und zuvorkommenden Verkehr mit mir zu leben wie mit anderen.
Dies ließ sich hören und schien mir ganz in dem Sinne gesagt zu sein, in welchem
ich die Frauen als eine verschworene Einheit betrachtet hatte; es klang mir wie
ein angenehmer Beweis davon, daß es gut sei, wenn sie eine Sache wohlwollend an
die Hand nähmen. Ihre hochtrabenden Worte beirrten mich nicht, und ich bildete mir
gleich ein, daß man mich sehr nötig habe. Lächelend erwiderte ich, daß ich mich
einem vernünftigen Wort gern füge und daß ich nichts Besseres verlange, als mit
aller Welt in Frieden zu leben. Nun stand ich aber wieder da, ohne Anna weiter
anzusehen, welche emsig nähte. Lisette ergriff nun das Wort und sagte: »Um einen
Anfang zu machen, gib nun der Anna die Hand und versprich ihr mit deutlichen
Worten, jedesmal, wo du mit ihr zusammentriffst, sie mit ihrem Namen
Ich näherte mich Anna, hielt meine Hand hin und sprach eine verworrene kleine Rede; ohne aufzusehen, gab sie mir die Hand, wobei sie die Nase ein bißchen rümpfte und ein wenig lächelte.
Als ich hierauf mich aus der Laube entfernen wollte, begann Margot wieder: »Geduld, Herr Vetter! Es kommt nun der zweite Punkt, welcher zu erledigen ist.« Sie schlug die Tücher, welche den Tisch bedeckten, auseinander und enthüllte mein Bild Annas.
»Wir wollen«, fuhr sie fort, »nicht lange erörtern, wie wir zu diesem geheimnisvollen Werke gelangt sind; es ist entdeckt, und wir wünschen nun zu wissen, mit welchem Recht und zu welchem Zweck harmlose Mädchen ohne ihr Wissen abkonterfeit werden?«
Anna hatte einen flüchtigen Blick auf das bunte Wesen geworfen und saß ebenso verlegen und unruhig da, als ich beschämt und trotzig war. Ich erklärte, daß das Blatt mein Eigentum und ich keiner sterblichen Seele eine Verantwortung darüber schuldig wäre, gleichviel ob es ans Tageslicht getreten oder noch im verborgenen liege, wo ich künftig meine Sachen zu lassen bitte. Damit wollte ich meine Zeichnung ergreifen; allein die Mädchen deckten sie schleunig mit Leinwand zu und türmten die ganze Aussteuer darauf.
Es könne ihnen nicht gleichgültig sein, sagten sie, ob ihre Bildnisse heimlich und zu unbekanntem Zwecke angefertigt würden. Ich müßte also bestimmt erklären, für wen ich besagtes Werk angefertigt habe oder was ich damit zu machen gedenke; denn daß ich es für mich behalten wolle, sei nach meinem bisherigen Verhalten nicht wohl anzunehmen; auch wäre dies nicht zu gestatten.
Durch diese Ausflucht beraubte ich mich zwar selbst des Bildes, das mir auch der Mühe und Arbeit wegen lieb geworden war; zugleich aber schnitt ich der unbequemen Verhandlung den Faden ab, indem die Mädchen hiegegen nichts mehr einzuwenden wußten und meine aufmerksame Gesinnung für den Schulmeister noch zu loben veranlaßt wurden. Doch beschlossen sie, die Malerei aufzubewahren bis zum bestimmten Tage, wo wir sie sämtlich dem Schulmeister feierlich überbringen würden.
So kam ich um meinen Schatz, verhehlte aber meinen Verdruß, indessen die kleine Caton, noch nicht zufrieden, wieder anfing: »›Ihm verschlägt es nichts!‹ ob er das Haus zeichne oder Anna, sagte er! Was soll das wohl heißen?«
Und Margot erwiderte: »Das soll heißen, daß er ein hochmütiger Gesell ist, welchem ein Haus und ein schönes Mädchen gleich unbedeutend sind! Hauptsächlich aber soll es heißen Glaubt ja nicht etwa, daß ich das mindeste besondere Interesse an diesem Gesichtchen hatte, als ich es malte! Dies ist eine neue Beleidigung, und der armen Anna gebührt eine glänzende Genugtuung!«
Margot zog nun ein zusammengelegtes Blatt aus dem Busen, entfaltete es und
beauftragte Lisette, es laut und feierlich vorzulesen. Ich war sehr begierig, was
es sein möchte; Anna wußte ebenfalls nicht, was das bedeute, und sah ein wenig
auf; nach den ersten Worten aber erkannte ich, daß es meine Liebeserklärung aus
dem Bienenhause war. Es wurde mir kalt und heiß
»Nun? weiter?« sagte Margot etwas verblüfft, denn sie wußte nun ihrerseits nicht, wo es hinaussollte.
»Wo habt ihr das gefunden?« fuhr ich fort, »das ist ein Stück Übersetzung aus dem Französischen, das ich schon vor zwei Jahren hier im Hause gemacht habe. Die ganze Geschichte steht in dem alten vergoldeten Schäferroman, der im Dachstübchen liegt bei den alten Degen und Folianten; ich habe damals statt des Namens Melinde den Namen Anna hingesetzt zum Spaße. Hole einmal das Buch herunter, kleine Caton! ich will euch die Stelle französisch vorlesen.«
»Hol einmal selbst, kleiner Heinrich, wir sind gerade gleich alt!« versetzte die
Kleine, und die übrigen machten ganz enttäuschte Gesichter, da meine Erfindung zu
natürlich und wahrhaft aussah. Nur Anna mußte wissen, daß die Erklärung doch
ausschließlich an sie gerichtet war, weil sie allein an der Berufung auf das Grab
der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und Datum neu waren. Sie rührte sich
nicht. So war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch noch an seine rechte
Bestimmung gelangt, und ich konnte seine Wirkung sich selbst überlassen, ohne mit
meiner Person unmittelbar dazu zu stehen und ohne daß die Mädchen einen Triumph
davon hatten. Ich wurde so sicher und kühn, daß ich das Papier nahm,
zusammenfaltete
»Da man dieser Stilübung einmal einen höhern Zweck zugeschrieben hat, so geruhen Sie, verehrtes Fräulein! dem irrenden Blatte ein schützendes Obdach zu geben und dasselbe als eine Erinnerung an diesen denkwürdigen Nachmittag von mir anzunehmen!«
Sie ließ mich erst eine Weile stehen und wollte das Papier nicht nehmen; erst als ich eben links abschwenken wollte, nahm sie es rasch und warf es neben sich auf den Tisch.
Mein Witz war indessen zu Ende, und ich suchte mit guter Manier aus der Laube zu kommen. Mit einer zweiten scherzhaften Verbeugung empfahl ich mich; sämtliche Mädchen standen zierlich auf und entließen mich unter spöttisch-höflichen Verneigungen. Der Spott kam von ihrem weiblichen Grolle, daß sie mich nicht gedemütigt und untergekriegt hatten, die Höflichkeit von der Achtung, welche ihnen mein Benehmen einflößte; denn während das Bild sowohl wie das beschriebene Blatt von dem Vorhandensein einer bestimmten Neigung zeugten, hatte ich trotz der Öffentlichkeit der Verhandlung das Geheimnis so zu schützen gewußt, daß unter dem Mantel des Scherzes nicht nur ich, sondern auch Anna die volle Freiheit behalten hatte, anzuerkennen, was ihr beliebte.
Höchst zufrieden zog ich mich in das Dachstübchen zurück, wo ich meinen Sitz
aufgeschlagen hatte, und verträumte dort eine kleine Stunde in der größten
Seligkeit. Anna kam mir so liebenswert und köstlich vor wie noch niemals, und
indem mein eigensüchtiger Sinn sie sich nun unentrinnbar verfallen dachte,
bedauerte ich sie in ihrer Feinheit beinahe und fühlte eine Art zärtlichen
Mitleidens mit ihr. Doch machte ich mich bald wieder auf die Beine und schlich, da
die Septembersonne sich schon zu neigen begann, dem Garten zu, um dem Tage die
Krone aufzusetzen und zu sehen, ob ich Anna nach Hause geleiten könnte, zum ersten
Male wieder seit den schönen Kindertagen. Sie aber
Die nächsten Tage kam sie nicht zu uns, und ich getraute mir auch nicht zum
Schulmeister zu gehen; sie hatte jetzt ein schriftliches Geständnis von mir in den
Händen, weswegen wir nun unser beider Freiheit verloren und deshalb unser Benehmen
schwieriger schien, weil ich die Gewaltsamkeit einer solchen Erklärung wohl
fühlte. Wie nun ein Tag nach dem andern vorüberging, verschwand meine vergnügte
Sicherheit wieder, besonders da ich gar keinerlei Erwähnung und Spuren von dem
Vorgange in der Laube erfuhr, und ich war eben wieder auf dem Punkte, in meinem
Herzen trotzig zu verstocken, als der Namenstag des Schulmeisters, welchen ich in
der Not angerufen hatte, wirklich da war und die Bäschen erklärten, wir würden auf
den Abend alle hingehen, um ihn zu beglückwünschen. Erst jetzt bekam ich mein Bild
wieder zu sehen, welches ganz fein eingerahmt war. An einem verdorbenen
Kupferstiche hatten die Mädchen einen schmalen, in Holz auf das zierlichste
geschnittenen Rahmen gefunden, welcher wohl siebenzig Jahr alt sein mochte und
eine auf einen schmalen Stab gelegte Reihe von Müschelchen vorstellte, von denen
eins das andere halb bedeckte. An der inneren Kante lief eine feine Kette mit
viereckigen Gelenken herum, die äußere Kante war mit einer Perlenschnur umzogen.
Der Dorfglaser, welcher allerlei Künste trieb und besonders in verjährten
Lackierarbeiten auf altmodischem Schachtelwerk stark war, hatte den Muscheln einen
rötlichen Glanz gegeben, die Kette vergoldet und die Perlen weiß gemacht und ein
neues klares Glas genommen, so daß ich höchst erstaunt war, meine Zeichnung in
diesem Aufputze wiederzufinden. Sie erregte die Bewunderung aller ländlichen
Beschauer, und besonders meine, Blumen und Vögel sowie die Goldspangen
Ich mußte das Werk eigenhändig tragen, als wir fortgingen, und wenn die Sonne sich in dem glänzenden Glase spiegelte, so erwies es sich recht eigentlich, daß kein Fädelein so fein gesponnen, das nicht endlich an die Sonne käme. Auch machten die Mädchen reichliche Witze, wenn sie sich nach mir umsahen, der den Rahmen sorgfältig in acht nehmen mußte und daher aussah, als ob ich eine Altartafel im Schweiße meines Angesichts über den Berg trüge. Aber die Freude, welche der Schulmeister bezeugte, entschädigte mich reichlich für alles sowie über den Verlust des Bildes, zumal ich mir vornahm, für mich selbst noch ein viel schöneres zu entwerfen. Ich war der Held des Tages, als das Bild nach genugsamem Betrachten über dem Sofa im Orgelsaale aufgehängt wurde, wo es sich wie das Bild einer märchenhaften Kirchenheiligen ausnahm.
Doch dies alles trug dazu bei, meine Annäherung an Anna zu erschweren; es war mir
unmöglich, die Gelegenheit zu benutzen und mit ihr schönzutun; ich begriff, daß
sie jetzt eben sich sehr gemessen benehmen mußte, und ich erkannte, daß es
Indessen war die Ernte längst vorüber, und ich mußte an die Rückkehr denken. Mein Oheim wollte mich diesmal nach der Stadt bringen und zugleich seine Töchter mitnehmen, von denen die zwei jüngeren noch gar nie dort gewesen. Er ließ eine alte Kutsche bespannen, und so fuhren wir davon, die Töchter in ihrem besten Staate, zum Erstaunen aller Dorfschaften, durch welche wir kamen. Der Oheim fuhr am gleichen Tage mit Margot zurück, Lisette und Caton blieben eine Woche bei uns, wo die Reihe an ihnen war, die Blöden und Schüchternen zu spielen, denn ich zeigte ihnen mit wichtiger Miene alle Herrlichkeiten der Stadt und tat, als ob ich dies alles erfunden hätte.
Nicht lange nachdem sie fort waren, kam eines Morgens ein leichtes Fuhrwerk vor
unser Haus gerollt, und heraus stiegen der Schulmeister und sein Töchterchen,
letzteres durch einen fliegenden grünen Schleier gegen die kühle Herbstluft
geschützt. Eine lieblichere Überraschung hätte mir gar nicht widerfahren können,
und meine Mutter hatte die größte Freude an dem guten Kinde. Der Schulmeister
wollte sich umsehen, ob für den Winter eine geeignete Wohnung zu finden wäre,
indem er doch allmählich sein Kind mit der Welt mehr in Berührung bringen mußte,
um ihre Anlagen nach allen Seiten sich entwickeln zu lassen. Es sagte ihm jedoch
keine Gelegenheit zu, und er behielt sich vor, lieber im nächsten Jahre ein
kleines Haus in der Nähe der Stadt zu kaufen und ganz überzusiedeln. Diese
Aussicht erfüllte mich zwar mit plötzlicher Freude; aber ich hätte mir Anna doch
lieber für immer als das Kleinod jener grünen entlegenen Täler gedacht, die mir
einmal so lieb geworden. Indessen hatte ich das heimliche Vergnügen, zu sehen, wie
meine Mutter Freundschaft schloß mit Anna und wie diese ebenso tiefen Respekt als
herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu meiner allergrößten Genugtuung gern
zu zeigen schien. Wir wetteiferten nun förmlich, ich, dem Schulmeister meine
Achtung darzutun,
Nun rückte der Winter heran und mit ihm das Weihnachtsfest. Wöchentlich dreimal früh um fünf Uhr mußte ich in das Haus des Pfarrhelfers gehen, wo in einer langen schmalen riemenförmigen Stube an vierzig junge Leute zur Konfirmation vorbereitet wurden. Wir waren Jünglinge, wie man uns nun nannte, aus allen Ständen; am oberen Ende, wo einige trübe Kerzen brannten, die Vornehmen und Studierenden, dann kam der mittlere Bürgerstand, unbefangen und mutwillig, und zuletzt, ganz in der Dunkelheit, arme Schuhmacherlehrlinge, Dienstboten und Fabrikarbeiter, etwas roh und schüchtern, unter denen wohl dann und wann eine plumpe Störung vorfiel, während weiter oben man sich mit Anstand einer ruhigen Unaufmerksamkeit hingab. Diese Ausscheidung war gerade nicht absichtlich angeordnet, sondern sie hatte sich von selbst gemacht. Wir waren nämlich nach unserm Verhalten und nach unserer Ausdauer geordnet; da nun die Vornehmsten von Haus aus zum äußern Frieden mit der Kirche streng erzogen wurden und die meiste Sicherheit im Sprechen besaßen und dies Verhältnis durch alle Grade herunterging, so war dem Scheine nach die Rangordnung ganz natürlich, besonders da die Ausnahmen sich dann von selbst zu ihresgleichen hielten und durchaus nicht sich unter die anderen Stände mischen wollten.
Schon das pünktliche Aufstehen und Hingehen am kalten dunklen Wintermorgen, an
regelmäßigen Tagen, und das Hinsitzen an einen bestimmten Platz war mir
unerträglich, da ich seit der Schulzeit dergleichen nicht mehr geübt. Nicht daß
ich gänzlich unfügsam war für irgendeine Disziplin, wenn ich einen notwendigen und
vernünftigen Zweck einsah; denn als ich zwei Jahre später meiner Militärpflicht
genügen und als Rekrut mich
Was unter fernen östlichen Palmen vor Jahrtausenden teils sich begeben, teils von
heiligen Träumern geträumt und niedergeschrieben worden war, ein Buch der Sage,
das wurde hier als das höchste und ernsthafteste Lebenserfordernis, als die erste
Bedingung, Bürger zu sein, Wort für Wort durchgesprochen und der Glaube daran auf
das genaueste reguliert. Die wunderbarsten Ausgeburten menschlicher Phantasie,
bald heiter und reizend, bald finster, brennend und blutig, aber immer durch den
Duft einer entlegenen Ferne gleichmäßig umschleiert, mußten als das gegenwärtigste
und festeste Fundament unseres ganzen Daseins angesehen werden und wurden uns nun
zum letzten Male und ohne allen Spaß bestimmt erklärt und erläutert, zu dem
Zwecke, im Sinne jener Phantasien ein wenig Wein und ein wenig Brot am richtigsten
genießen zu können; und wenn dies nicht geschah, wenn wir uns dieser fremden
wunderbaren Disziplin nicht mit oder ohne Überzeugung unterwarfen, so waren wir
ungültig im Staate, und es durfte keiner nur eine Frau nehmen. Von Jahrhundert zu
Jahrhundert war dies so geübt, und die verschiedene Auslegung der symbolischen
Vorstellung hatte schon ein Meer von Blut gekostet; der jetzige Umfang und Bestand
unseres Staates war größtenteils eine
Das erste, was uns der Lehrer als christliches Erfordernis bezeichnete und worauf er eine weitläufige Wissenschaft gründete, war das Erkennen und Bekennen der Sündhaftigkeit. Nun war die Aufrichtigkeit gegen sich selbst, die Kenntnis der eigenen Fehler und Untugenden mir keineswegs fremd, das Andenken an die kindlichen Übeltaten und moralischen Schulabenteuer noch so frisch, daß ich auf dem Grunde meines Bewußtseins sogar deutlich ein angehendes Sünderlein herumgehen sah, welches mir demütige Reue verursachte. Dennoch wollte mir das Wort nicht gefallen; es hatte einen zu handwerksmäßigen Anstrich, einen widerlich technischen Geruch wie von einer Leimsiederei oder von dem säuerlich verdorbenen Schlichtebrei eines Leinewebers. Daß die göttliche Manipulation mit dem Sündenfall in dem muffigen Wesen fortmüffelte, kam mir damals nicht recht zum Verständnis, weil uns die letzten Feinheiten der theologischen Gemütlichkeit noch nicht zugänglich waren. So ließ ich die Sache ohne Hochmut und in dem Gefühle auf sich beruhen, daß es jedenfalls sich um einen schwierigen Punkt handle und es bedenklich wäre, gelegentlich etwa aus dem Kreise der Rechtschaffenen und Braven wegzufallen. Auch dämmerte mir wohl die Ahnung auf, daß selbst der Gerechte manchen Unordentlichkeiten ausgesetzt sei und jede derselben ihr eigenes Maß der Verantwortung in sich habe.
Nach der Lehre von der Sünde kam gleich die Lehre vom Glauben, als der Erlösung
von jener, und auf sie wurde eigentlich das Hauptgewicht des ganzen Unterrichtes
gelegt; trotz aller Beifügungen, wie daß auch gute Werke vonnöten seien,
Dennoch liegt in dem Worte Der Glaube macht selig! etwas Tiefes und Wahres,
insofern es das Gefühl unschuldiger und naiver Zufriedenheit bezeichnet, welches
alle Menschen umfängt, wenn sie gern und leicht an das Gute, Schöne und
Merkwürdige glauben, gegenüber denjenigen, welche aus Dünkel und Verbissenheit
oder aus Selbstsucht alles in Frage stellen und bemäkeln, was ihnen als gut, schön
oder merkwürdig erzählt wird. Wo das religiöse Glauben bei mangelnder
Überlegungskraft seinen Grund in jener liebenswürdigen und gutmütigen
Leichtgläubigkeit hat, da sagt man mit Recht, es mache selig, und denjenigen
Unglauben, welcher aus der anderen Quelle herrührt, kann man billig unselig
nennen. Allein mit der eigentlichen dogmatischen Lehre vom Glauben haben beide
rein nichts zu tun; denn während es christlich Gläubige gibt, welche in allen
anderen Dingen die unangenehmsten Bezweifler und Bemäkler sind, gibt es ebenso
viele Ungläubige, sogar Atheisten, welche sonst an alles Hoffnungsvolle und
Erfreuliche mit allbereiter Leichtigkeit glauben, und es ist ein beliebtes
Argument der
Es lebte in unserer Stadt ein fremder Mann namens Wurmlinger, welcher sich ein
Vergnügen daraus machte, den Leuten, welche sich mit ihm abgaben, allerlei
Erfindungen und Aufschneidereien vorzutragen, um sie nachher ihrer
Leichtgläubigkeit wegen zu verhöhnen, indem er erklärte, die Geschichte sei gar
nicht wahr. Jemand anders aber mochte erzählen, was er wollte, so stellte der Mann
es in Abrede, und er hatte eine ganz eigene tückische Manier, die Treuherzigkeit,
mit welcher ihm etwas gesagt wurde, ins Lächerliche zu ziehen, auf die gleiche
Weise, wie er die Treuherzigkeit derer, welche ihm glaubten, spöttisch zu machen
wußte. Er aß keine Krume Brotes, die er sich nicht durch eine Lüge verschafft;
denn er wäre lieber Hungers gestorben, eh er in ein auf gradem Wege erworbenes
Stück Brot gebissen hätte. Aß er aber sein Brot, so sagte er, es sei gut, wenn es
schlecht war, und schlecht, wenn es gut war. Überhaupt ging sein ganzes Streben
dahin, sich immer für etwas anderes zu geben, als er war, was ihm ein
fortgesetztes Studium verursachte, so daß er, der eigentlich nichts tat und nie
etwas genützt
Eines Tages ging er mit einer lustigen Gesellschaft über eine Felsenhöhe am
Seeufer. Er war ursprünglich gut gewachsen; doch die andauernde Verdrehtheit
seiner Seele hatte seinen Körper ganz windschief gemacht, daß er aussah wie ein
verbogener Wetterhahn. Sein schöner Wuchs war aber ein Lieblingsthema seiner Rede,
und jeden Augenblick war er bereit, sich auszukleiden und ihn zu zeigen, während
er an allen Sterblichen etwas auszusetzen hatte, ungefragt diesem einen Höcker
andichtete, jenem krumme Beine. Als er nun etwas verstimmt vor den übrigen
Gesellen herging, die ihn schon verschiedentlich aufgezogen hatten, rief plötzlich
einer, welcher ihn zum ersten Mal genauer ins Auge faßte: »Sie! Herr Wurmlinger!
Sie sind eigentlich verteufelt krumm!« Erstaunt kehrte er sich um und sagte: »Sie
träumen wohl, oder soll das ein Witz sein?« Der andere wandte sich aber zur
Gesellschaft und forderte sie auf, ihn ebenfalls näher zu betrachten; man hieß ihn
einige Schritte vorwärts gehen; er tat es, und jedermann bestätigte
Die dritte Hauptlehre, welche der Geistliche uns als christlich vortrug, handelte
von der Liebe. Hierüber weiß ich nicht viel Worte zu machen; ich habe noch keine
Liebe betätigen können, und doch fühle ich, daß solche in mir ist, daß ich aber
auf Befehl und theoretisch nicht lieben kann. Schon die unmittelbare
Das Heiterste und Schönste war mir die Lehre vom Geiste, als welcher ewig ist und alles durchdringt. Freilich fürchte ich, daß ich die Lehre ein wenig mißverstand und nicht von dem rechten, geistlichen Geiste ergriffen war. Denn Gott schien mir nicht geistlich, sondern ein weltlicher Geist, weil er die Welt ist und die Welt in ihm; Gott strahlt von Weltlichkeit.
Alles in allem genommen, glaube ich doch, daß ich unter Menschen, welche in einem
geistigen Christentum lebten, zu bestehen vermöchte, und wenn ich dies Annas
Vater, dem Schulmeister, einräumen mußte, forderte er, das Wunderbare und die
Glaubensfragen einstweilig freisinnig beiseite setzend, mich
Der geistliche Unterricht ging nun zu Ende; wir mußten auf unsere Ausstattung
denken, um würdig bei der Festlichkeit zu erscheinen. Es war unabänderliche Sitte,
daß die jungen Leute
Am Weihnachtsmorgen mußten wir wieder im vereinten Zuge zur Kirche gehen, um nun
das Abendmahl zu nehmen. Ich war schon in der Frühe guter Laune; noch ein paar
Stunden, und ich sollte frei sein von allem geistigen Zwange, frei wie der Vogel
in der Luft! Ich fühlte mich daher mild und versöhnlich gesinnt und ging zur
Kirche, wie man zum letzten Mal in eine Gesellschaft geht, mit welcher man nichts
gemein hat, daher der Abschied aufgeräumt und höflich ist. In der Kirche
angekommen, durften wir uns unter die älteren Leute mischen und jeder seinen Platz
nehmen, wo ihm beliebte. Ich nahm zum ersten und
Er war seit dem Tode des Vaters, also viele Jahre, leer geblieben, oder vielmehr
hatte sich ein armes Männchen, das sich keines Grundbesitzes erfreute, darin
angesiedelt. Als er herankam und mich in dem Gehäuse vorfand, ersuchte er mich mit
kirchlicher Freundlichkeit, »seinen Ort« räumen zu wollen, und fügte belehrend
hinzu, in diesem Reviere seien alles eigengehörige Plätze Ich hätte als ein grüner
Junge füglich dem bejahrten Männchen Platz machen und mir eine andere Stelle
suchen können; allein dieser Geist des Eigentums und des Wegdrängens mitten im
Herzen christlicher Kirche reizte meine kritische Laune; auch wollte ich den
frommen Kirchgänger für seine gemütliche Anmaßung bestrafen, und endlich tat ich
dieses nur in dem Bewußtsein, daß der Abgewiesene alsobald wieder und für immer
seinen gewohnten Platz einnehmen könne, und dieser Gedanke machte mir das größte
Vergnügen. Als ich ihn meinerseits auch belehrt und ihn ganz verblüfft und traurig
eine entfernte Stelle unter den unstet herumwandernden Besitzlosen aufsuchen sah,
nahm ich mir vor, ihm am andern Tage anzudeuten, daß er sich immerhin meines
Stuhles bedienen solle, indem ich denselben nicht brauche. Einmal aber wollte ich
darin sitzen und stehen, wie es mein Vater getan. Derselbe besuchte an allen
Festtagen die Kirche, denn alle hohen Feste erfüllten ihn mit heiterer Freude und
tapferm Mute, indem er den großen und guten Geist, welchen er in aller Welt und
Natur sich erfüllen sah, alsdann besonders fühlte und verehrte. Weihnachten,
Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten waren ihm die herrlichsten Freudentage, an
welchen es mit Betrachtungen, Kirchenbesuch und frohen Spaziergängen auf grüne
Berge hoch herging. Diese Vorliebe für Festtage hatte sich auf mich vererbt, und
wenn ich an einem Pfingstmorgen auf einem Berge stehe in der kristallklaren Luft,
so ist mir das Glockengeläute in
Der Freiheitssinn meines Vaters in religiöser Hinsicht war vorzüglich gegen die
Übergriffe des Ultramontanismus und gegen die Unduldsamkeit und Verknöcherung
reformierter Orthodoxen gerichtet, gegen absichtliche Verdummung und Heuchelei
jeder Art, und das Wort Pfaff war bei ihm daher öfter zu hören. Würdige Geistliche
ehrte er aber und freute sich, ihnen Ergebenheit zu zeigen, und wenn es womöglich
ein erzkatholischer, aber ehrenwerter Priester war, welchem er Ehrerbietung
beweisen konnte, so machte ihm dies um so größeres Vergnügen, gerade weil er sich
im Schoße der Zwinglischen Kirche sehr geborgen fühlte. Das Bild des humanen und
freien Reformators, der auf dem Schlachtfelde gefallen, war meinem Vater ein
geliebter sicherer Führer und Bürge. Ich aber stand nun auf einem andern Boden und
fühlte wohl, daß ich bei aller Verehrung für den Reformator und Helden doch nicht
eines Glaubens mit meinem Vater sein würde, während ich seiner vollkommenen
Duldsamkeit und Achtung für die Unabhängigkeit meiner Überzeugung gewiß war.
Dieses friedliche Ausscheiden in Glaubenssachen
Meine Stimmung wurde immer heiterer; endlich fand das Abendmahl statt; aufmerksam
verfolgte ich die Zurüstungen und beobachtete alles sehr genau, um es nicht zu
vergessen; denn ich gedachte nicht mehr dabei zu erscheinen. Das Brot besteht aus
weißen Blättern von der Größe und Dicke einer Karte und sieht feinem glänzendem
Papiere ähnlich. Der Küster backt es, und die Kinder kaufen sich bei ihm die
Abfälle als einen unschuldigen Leckerbissen, und ich selbst hatte mir manchmal
eine Mütze voll erworben und mich gewundert, daß man eigentlich doch nichts daran
äße. Zahlreiche Kirchendiener teilen es aus, den Reihen entlang, worauf die
Andächtigen eine Ecke davon brechen und die Blätter weitergeben, während andere
Beamtete den Wein in hölzernen Bechern nachfolgen lassen. Manche Leute, besonders
die Frauen und Mädchen, behalten gern ein Blättchen zurück, um es andächtig in ihr
Gesangbuch zu legen. Auf ein solches, das ich im Buche einer meiner Basen
gefunden, hatte ich einst ein Osterlämmchen gemalt mit einem Amor, der darauf
reitet, und bei der Entdeckung ein strenges Verhör nebst Verweis zu bestehen
gehabt; als ich jetzt mehrere
Als ich den Becher in der Hand hielt, blickte ich fest in den Wein, ehe ich trank; aber es rührte mich nicht, ich nahm einen Schluck, gab die Schale weiter, und indem ich, mit den Gedanken schon weit auf dem Wege nach Hause, den Wein hinabschluckte, drehte ich ungeduldig mein Sammetbarett in der Hand und mochte kaum das Ende des Gottesdienstes abwarten, da es anfing, mich gewaltig an den Füßen zu frieren und das Stillstehen schwierig wurde.
Als die Kirchentüren sich auftaten, drängte ich mich geschmeidig durch die vielen
Leute, ohne die Freude meiner Freiheit sichtbar werden zu lassen und ohne jemanden
anzustoßen, und war bei aller Gelassenheit doch der erste, der sich in einiger
Entfernung von der Kirche befand. Dort erwartete ich meine Mutter, welche sich
endlich in ihrem schwarzen Gewande demütig aus der Menge hervorspann, und ging mit
ihr nach Hause, gänzlich unbekümmert um meine geistlichen Unterrichtsgenossen. Es
war kein einziger darunter, mit welchem ich in näherer Berührung stand, und viele
derselben sind mir bis jetzt noch gar nicht wieder begegnet. In unserer warmen
Stube angekommen, warf ich vergnügt mein Gesangbuch hin, indessen die Mutter nach
dem Essen sah, welches sie am Morgen in den Ofen gesetzt hatte. Es sollte heute so
reichlich und festlich sein, wie unser Tisch seit den Tagen des Vaters nie mehr
gesehen, und eine arme Witwe war dazu eingeladen, die der Mutter manche kleine
Dienste leistete und sich jetzt pünktlich einfand. Am
Einige Wochen nach Neujahr, als ich eben den Frühling herbeiwünschte, erhielt ich
vom Dorfe aus die Kunde, daß mehrere Ortschaften jener Gegend sich verbunden
hätten, dieses Mal zusammen die Fastnachtsbelustigungen durch eine großartige
dramatische Schaustellung zu verherrlichen. Die einstige katholische
Man legte der Aufführung Schillers Tell zugrunde, welcher in einer
Volksschulausgabe vielfach vorhanden war, darin nur die Liebesepisode zwischen
Berta von Bruneck und Ulrich von Rudenz fehlte. Das Buch ist den Leuten sehr
geläufig, denn es drückt auf eine wunderbare Weise ihre Gesinnung und alles
Weitaus der größere Teil der spielenden Schar sollte als Hirten, Bauern, Fischer, Jäger das Volk darstellen und in seiner Masse von Schauplatz zu Schauplatz ziehen, wo die Handlung vor sich ging, getragen durch solche, welche sich zu einem kühnen Auftreten für berufen hielten. In den Reihen des Volks nahmen auch junge Mädchen teil, sich höchstens in den gemeinschaftlichen Gesängen äußernd, während die handelnden Frauenrollen Jünglingen übertragen waren. Der Schauplatz der eigentlichen Handlung war auf alle Ortschaften verteilt, je nach ihrer Eigentümlichkeit, so daß dadurch ein festliches Hin- und Herwogen der kostümierten Menge und der Zuschauermassen bedingt wurde.
Ich erwies mich als brauchbar bei den Vorbereitungen und wurde mit manchen
Geschäften betraut, welche in der Stadt zu besorgen waren. Ich stöberte alle
Magazine durch, wo sich etwa Flitter- und Maskenwerk vorfinden mochte, und suchte
das Tauglichste vorzuschlagen, besonders da andere Beauftragte geneigt waren,
zuerst nach dem Grellen und Auffallenden zu greifen. Ja, ich kam sogar mit den
Beamten der Republik in Berührung und fand Gelegenheit, mich als einen tapfern
Vertreter meiner Landesgegend zu zeigen, da mir die Auswahl und Übernahme der
alten Waffen übergeben wurde, welche die Behörde unter der Bedingung treuer
Sorgfalt bewilligte. Weil aber gerade diesmal mehrere ähnliche Feste stattfanden,
so mußten beinahe alle Vorräte geräumt werden, und nur die wertvollsten Trophäen,
an welche sich bestimmte Erinnerungen knüpften, blieben zurück. Überdies stritten
sich die Abgeordneten der Gemeinden um die Waffen; alle wollten dasselbe haben,
obschon es nicht für alle sich schickte; eine Anzahl großer Schlachtschwerter und
Morgensterne, welche ich für meine Eidgenossen ausgesucht, wollte mir von einem
Gegner durchaus abgerungen
Dann hatte ich wieder auf dem Lande vollauf zu tun und begab mich mit einigen Paketen Farbstoff und mächtigen Pinseln hinaus, um ein neues Bauernhaus an der Straße noch völlig in Stauffachers Wohnung umzuwandeln mittelst bunter Zieraten und Sprüche; denn nicht nur sollte da die Unterredung zwischen Stauffacher und seinem Weibe stattfinden, sondern der Zwingherr vorher selbst heranreiten und seine böse Harangue loslassen.
Im Hause des Oheims war ich ein eigentliches Faktotum und eifrig bestrebt, die
Kleidung der Söhne so historisch als möglich zu machen und die Töchter, welche
sich sehr modern aufputzen wollten, von solchem Beginnen abzuhalten. Mit Ausnahme
der Braut wollten sich alle Kinder des Oheims beteiligen, und sie suchten auch
Anna zu überreden, welche überdies von dem leitenden Ausschusse dringend
eingeladen war. Allein sie wollte sich durchaus nicht dazu verstehen, ich glaube
nicht nur aus Zaghaftigkeit, sondern auch ein wenig aus Stolz, bis der
Schulmeister, für diese Veredlung der alten roheren Spiele langher begeistert, sie
entschieden aufforderte, auch das Ihrige beizutragen.
Meinen eigenen Anzug hatte ich längst in Ordnung gebracht und denselben grün und jägermäßig gewählt, da dadurch eine größere Einfachheit möglich war für meine geringen Mittel. Doch war er noch erträglich getreu, eine große zimmetfarbene Decke, ohne Beschädigung in einen faltenreichen Mantel umgewandelt, verhüllte die Unvollkommenheiten; auf dem Rücken trug ich eine Armbrust und auf dem Kopfe einen grauen Filz. Allein da der Mensch immer eine schwache Seite haben muß, so schnallte ich den langen Toledodegen aus der Dachkammer um; ich hatte alle anderen zu historischer Treue ermahnt, zeitgemäße Waffen in Menge selbst aus dem Zeughause geholt, und doch wählte ich diesen spanischen Bratspieß, ohne daß ich mir heute klarmachen kann, was ich mir dabei dachte!
Vor dem Dorfe sahen wir es bunt und schimmernd von allen Seiten her sich bewegen, und als wir eine Viertelstunde weit geritten waren, kamen wir an eine Schenke an einer Kreuzstraße, vor welcher die sechs barmherzigen Brüder saßen, die den Geßler wegtragen sollten. Dies waren die lustigsten Bursche der Umgegend; sie hatten sich unter den Kutten ungeheure Bäuche gemacht und schreckliche Bärte von Werg umgebunden, auch die Nasen rot gefärbt; sie gedachten den ganzen Tag sich auf eigene Faust herumzutreiben und spielten gegenwärtig Karten mit großem Hallo, wobei sie andere Spielkarten aus den Kapuzen zogen und statt der Heiligen an die Leute verschenkten. Auch führten sie große Proviantsäcke mit sich und schienen schon ziemlich angeglüht, so daß wir für die Feierlichkeit ihrer Verrichtung bei Geßlers Tod etwas besorgt wurden.
Im nächsten Dorf sahen wir den Arnold von Melchthal ruhig einem Stadtmetzger einen
Ochsen verkaufen, wozu er schon seine alte Tracht trug; dann kam ein Zug mit
Trommel und Pfeife und mit dem Hut auf der Stange, um in der Umgegend das
höhnische Gesetz zu verkünden. Denn dies war das Schönste, daß man sich nicht an
die theatralische Einschränkung hielt, daß man es nicht auf Überraschung absah,
sondern sich frei herumbewegte und wie aus der Wirklichkeit heraus und wie von
selbst an den Orten zusammentraf, wo die Handlung vor sich ging. Hundert kleine
Schauspiele entstanden dazwischen, und überall gab es was zu sehen und zu lachen,
während doch bei den wichtigen
Schon war unser Zug ansehnlich gewachsen, um mehrere Berittene und auch durch Fußvolk verstärkt, was alles zu dem Ritterzuge gehörte; wir kamen an eine neue Brücke, die über den großen Fluß führt; von der anderen Seite näherte sich ein starker Teil der Bergfahrt, um das Vieh nach Hause zu bringen und nachher wieder als Volk zu erscheinen. Nun war ein knauseriger Zolleinnehmer auf der Brücke, welcher durchaus von Kühen und Pferden den Zoll erheben wollte, gemäß dem Gesetze, weil die Tiere nach seiner Behauptung auf dem Transport begriffen seien; er hatte den Schlagbaum heruntergelassen und ließ sich durchaus nicht bereden, diesmal von seiner Forderung abzustehen, indem man jetzt nicht eingerichtet und aufgelegt sei, diese Umständlichkeiten zu befolgen. Es entstand ein großes Gedränge, ohne daß man jedoch wagte, mit Gewalt durchzukommen.
Da erschien unversehens der Tell, welcher mit seinem Knaben einsam seines Weges
ging. Es war ein berufener fester Wirt und Schütze, ein angesehener und
zuverlässiger Mann von etwa vierzig Jahren, auf welchen die Wahl zum Tell
unwillkürlich und einstimmig gefallen war. Er hatte sich in die Tracht gekleidet,
in welcher sich das Volk die alten Schweizer ein für allemal vorstellt, rot und
weiß mit vielen Puffen und Litzen, rot und weiße Federn auf dem eingekerbten rot
und weißen Hütchen. Überdies trug er noch eine seidene Schärpe über der Brust, und
wenn dies alles nichts weniger als dem einfachen Weidmann an gemessen war, so
zeigte doch der Ernst des Mannes, wie sehr er
Endlich gelangten wir in den Marktflecken, welcher für heute unser Altorf war. Als
wir durch das alte Tor ritten, fanden wir die kleine Stadt, welche nur einen mäßig
großen Platz bildete, schon ganz belebt, voll Musik und Fahnen, und Tannenreiser
an allen Häusern. Eben ritt Herr Geßler hinaus, um in der Umgegend einige Untaten
zu begehen, und nahm den Müller und den Harras mit; ich stieg mit Anna vor dem
Rathause ab, wo die übrigen Herrschaften versammelt waren, und begleitete sie in
den Saal, wo sie von dem Ausschusse und den Anwesenden Gemeinderatsfrauen
bewunderungsvoll begrüßt wurde. Ich war hier nur wenig bekannt und lebte nur in
dem Glanze, welchen
So erging es auch mir, als ich einiges zu sprechen hatte; ich wurde aber
glücklicherweise durch einen komischen Vorgang unterbrochen. Es trieben sich
nämlich ein Dutzend Vermummte der alten Sorte herum, arme Teufel, welche weiße
Hemden über ihre ärmlichen Kleider gezogen hatten, ganz mit bunten Läppchen
besetzt; auf dem Kopfe trugen sie hohe kegelförmige Papiermützen, mit Fratzen
bemalt, und vor dem Gesicht ein durchlöchertes Tuch. Dieser Anzug war sonst die
allgemeine Vermummung gewesen zur Fastnachtzeit und in derselben allerlei Spaß
getrieben worden; auch liebten die armen Butzen die neueren Spiele nicht, da sie
in dieser seltsamen Maskierung sich Gaben zu sammeln gewohnt und daher für deren
Erhaltung begeistert waren. Sie stellten gewissermaßen den Rückschritt und die
Verkommenheit vor und tanzten jetzt wunderlich genug mit Pritschen und Besen
umher. Besonders zwei derselben störten das Schauspiel, als ich eben reden sollte,
indem sie einander am Rückteile des Hemdes herumzerrten, welches mit Senf
bestrichen war. Jeder hielt eine Wurst in der Hand und rieb sie, eh er einen Biß
tat, an dem Hemde des andern, während sie fortwährend sich im Kreise drehten wie
zwei Hunde, die einander nach dem Schwanze schnappen. Auf diese Weise tanzten sie
zwischen Geßler und Tell vorbei und glaubten wunder was zu tun in ihrer
Unwissenheit; auch erfolgte ein schallendes Gelächter, weil das Volk im ersten
Augenblicke seinen alten Nücken nicht widerstehen konnte. Doch alsobald erfolgten
auch derbe Püffe und Stöße mit Schwertknäufen und Partisanen; die erschrockenen
Spaßmacher suchten sich unter die Zuschauer zu retten, wurden aber überall mit
Gelächter zurückgestoßen, so daß sie längs der fröhlichen Reihen kein Unterkommen
fanden und ängstlich umherirrten, mit zerzausten Mützen und furchtsam
Hier war seit undenklichen Zeiten, wenn bei Aufzügen die Tat des Tell auf alte Weise vorgeführt wurde, der Scherz üblich gewesen, daß der Knabe während des Hin- und Herredens den Apfel vom Kopfe nahm und zum großen Jubel des Volkes gemütlich verspeiste. Dies Vergnügen war auch hier wieder eingeschmuggelt worden, und als Geßler den Jungen grimmig anfuhr, was das zu bedeuten hätte, erwiderte dieser keck: »Herr! Mein Vater ist ein so guter Schütz, daß er sich schämen würde, auf einen so großen Apfel zu schießen! Legt mir einen auf, der nicht größer ist als Euere Barmherzigkeit, und der Vater wird ihn um so besser treffen!«
Als der Tell schoß, schien es ihm fast leid zu tun, daß er nicht seine Kugelbüchse zur Hand hatte und nur einen blinden Theaterschuß absenden konnte. Doch zitterte er wirklich und unwillkürlich, indem er anlegte, so sehr war er von der Ehre durchdrungen, diese geheiligte Handlung darstellen zu dürfen. Und als er dem Tyrannen den zweiten Pfeil drohend unter die Augen hielt, während alles Volk in atemloser Beklemmung zusah, da zitterte seine Hand wieder mit dem Pfeile, er durchbohrte den Geßler mit den Augen, und seine Stimme erhob sich einen Augenblick lang mit solcher Gewalt der Leidenschaft, daß Geßler erblaßte und ein Schrecken über den ganzen Markt fuhr. Dann verbreitete sich ein frohes Gemurmel, tief tönend, man schüttelte sich die Hände und sagte, der Wirt wäre ein ganzer Mann, und solange wir solche hätten, tue es nicht not!
Auf die Mittagsstunde machte sich aber alles bereit, auf dem Rütli einzutreffen, wo der Bund beschworen wurde, mit Weglassung der Schillerschen Stellen, die sich auf die Nacht bezogen. Eine schöne Wiese an dem breiten Fluß, von ansteigendem Gehölz umschlossen, war dazu bestimmt, wie der Fluß auch überhaupt den See ersetzen mußte und den Fischern und Schiffleuten zum Schauplatz diente. Anna setzte sich zu ihrem Vater in das Gefährt, ich ritt nebenher, und so begaben wir uns gemächlich auf den Weg dahin, um als Zuschauer auszuruhen und ausruhend zu genießen. Auf dem Rütli ging es sehr ernst und feierlich her; während das bunte Volk auf den Abhängen unter den Bäumen umhersaß, tagten die Eidgenossen in der Tiefe. Man sah dort die eigentlichen wehrbaren Männer mit den großen Schwertern und Bärten, kräftige Jünglinge mit Morgensternen und die drei Führer in der Mitte. Alles begab sich auf das beste und mit vielem Bewußtsein, der Fluß wogte breit glänzend und zufrieden vorüber; nur tadelte der Schulmeister, daß die Jungen und die Alten bei der feierlichen Handlung kaum die Pfeifen aus dem Munde täten und der Pfarrer Rösselmann unaufhörlich schnupfte.
Als der Schweizerbund unter donnerndem Zuruf des lebendigen Berges umher
beschworen war, setzte sich die ganze Menge, Zuschauer und Spieler
untereinandergemischt, in Bewegung; der größte Teil wogte wie eine Völkerwanderung
nach dem Städtchen, wo ein einfaches Mahl bereitet und fast jedes Haus in eine
Herberge umgewandelt war, sei es für Freunde und Bekannte, sei es für Fremde gegen
einen billigen Zehrpfennig; denn so unbefangen, wie wir die Aufzüge des Stückes
Auf einmal kehrte sich Anna um und bat mich, ihr die Karten aufzubewahren; sie bemerkte lächelnd, ich möchte ja recht Sorge dazu tragen, und als ich sie einsteckte, war mir, als ob ich alle vier Helden in der Tasche trüge.
Während man nun von allen Seiten aufbrach, hatte sich in unserer Nähe, wo der
Statthalter, Wilhelm Tell, der Wirt, und andere Männer von Gewicht saßen, eine
bedächtige Unterhaltung entsponnen. Es handelte sich um die Richtung einer neuen
Landstraße, welche von der Hauptstadt her durch diese Gegend an die Grenze geführt
werden sollte. Zwei verschiedene Pläne standen sich in bezug auf unser engeres
Gebiet entgegen, welche mit gleichwiegenden Vorteilen und Schwierigkeiten
verbunden waren; die eine Richtung ging über eine gedehnte Anhöhe, fast
zusammenfallend mit einer älteren Straße zweiten Ranges, mußte aber im Zickzack
geführt werden und stellte bedeutende Kosten
Und doch war er kein unabhängiger Mann; einer reichen, aber verschwenderischen Familie entsprossen und in seiner Jugend selbst ein lustiger Vogel, kehrte er mit erlangter Besonnenheit gerade in das väterliche Haus zurück, als dasselbe in Verfall geriet; so sah sich der junge Mann genötigt, gleich ein Amt zu suchen, und war endlich unter vielen Wechseln und Erfahrungen einer von denen geworden, die ohne ihr Amt Bettler und also Regierungspersonen von Profession sind. Er konnte aber als eine Ehrenrettung und Verklärung dieser verrufenen Lebensart gelten; den ersten Schritt hatte er in der lugend und in der Not getan, und als es nachher nicht mehr zu ändern war, zog er sich wenigstens mit Ehre und wahrer Klugheit aus der Sache. Der Schulmeister pflegte von ihm zu sagen, er sei einer von den wenigen, die durch das Regieren weise werden.
Doch alle Weisheit half ihm jetzt nicht, den Holzhändler und den Wirt zu einer
Verständigung zu bringen, damit er der Regierung berichten könne, welcher Zug der
Straße in der Gegend allgemein gewünscht werde. Jeder der beiden Männer
verteidigte hartnäckig seinen Vorteil; der Holzhändler hielt sich schlechtweg an
den Vernunftgrund, daß die Wahl zwischen einer ebenen und graden Linie und
zwischen einem Berge heutzutage unzweifelhaft sein müsse, und barg so seinen
eigenen Vorteil hinter die Vernunft; auch ließ er merken, daß er als Mitglied
Schon fing die Gelassenheit an zu weichen und bei den beiderseitigen Anhängern
Worte wie Starrsinn und Eigennutz! laut zu werden, als ein fröhlicher Haufe den
Tell zur Fortsetzung seiner Taten abholte, denn er sollte noch auf die Platte
springen und den Vogt erschießen. Etwas zornig brach er auf, indes auch die
übrigen sich zerstreuten und nur Anna mit ihrem Vater und ich sitzen blieben. Die
Unterredung hatte einen peinlichen Eindruck auf mich gemacht; besonders am Wirt
verletzte mich dies unverhohlene Verfechten des eigenen Vorteiles, an diesem Tage
und in so bedeutungsvollem Gewande; solche Privatansprüche an ein öffentliches
Werk, von vorleuchtenden Männern mit Heftigkeit unter sich behauptet, das
Hervorkehren des persönlichen Verdienstes und Ansehens widersprachen durchaus dem
Bilde, welches von dem unparteischen Wesen des Staates in mir lebte und das ich
mir auch von den berühmten Volksmännern gemacht hatte. Ich äußerte diesen Eindruck
in vorlauten Worten gegen Annas Vater, hinzufügend, daß mir der Vorwurf der
Kleinlichkeit, des Eigennutzes und der Engherzigkeit, welcher den Schweizern
zuweilen gemacht würde, nun bald gerecht erschiene. Der Schulmeister milderte in
etwas meinen Tadel und forderte mich zur Duldsamkeit auf mit der menschlichen
Unvollkommenheit, welche auch diese sonst wackeren Männer überschatte. Übrigens,
meinte er, sei nicht zu leugnen, daß unsere Freiheitsliebe noch zu sehr ein
Gewächs der Scholle sei und daß
Nach dieser Rede schüttelte uns der Statthalter die Hände und entfernte sich. Ich
war indessen nicht überzeugt worden, sowenig als dem Schulmeister die Wendung des
Gesprächs zu behagen schien. Doch kamen wir darin überein, daß er ein
liebenswürdiger Mann sei, und indem ich ihm, mich durch seine Ansprache geehrt
fühlend, wohlwollend nachblickte, pries ich ihn gegen den Schulmeister als einen
verdienstvollen und daher gewiß glücklichen Mann. Der Schulmeister schüttelte aber
den Kopf und meinte, es wäre nicht alles Gold, was glänze. Er hatte seit einiger
Zeit angefangen, mich zu duzen, und fuhr daher jetzt fort: »Da du ein
nachdenklicher Jüngling bist, so gebührt es dir
»Aber zum Teufel!« sagte ich, »sind denn unsere Herren Regenten zu irgendeiner Zeit etwas anderes als ein Stück Volk, und leben wir nicht in einer Republik?«
»Allerdings, mein lieber Sohn!« erwiderte der Schulmeister; »allein es bleibt eine wunderbare Tatsache, wie besonders in neuerer Zeit ein solches Stück Volk, ein repräsentativer Körper durch den einfachen Prozeß der Wahl sogleich etwas ganz merkwürdig Verschiedenes wird, einesteils immer noch Volk und andernteils etwas dem ganz Entgegengesetztes, fast Feindliches wird. Es ist wie mit einer chemischen Materie, welche durch das bloße Eintauchen eines Stäbchens, ja sogar durch bloßes Stehen auf geheimnisvolle Weise sich in ihren Verbindungen verändert. Manchmal will es fast scheinen, als ob die alten patrizischen Regierungen mehr den Grundcharakter ihres Volkes zu zeigen und zu bewahren vermochten. Aber lasse dich ja nicht etwa verführen, unsere repräsentative Demokratie nicht für die beste Verfassung zu halten! Besagte Erscheinung dient bei einem gesunden Volke nur zu einer wohltätigen Heiterkeit, da es sich mit aller Gemütsruhe den Spaß macht, die wunderbar verwandelte Materie manchmal etwas zu rütteln, die Phiole gegen das Licht zu halten, prüfend hindurchzugucken und sie am Ende doch zu seinem Nutzen zu verwenden.«
Den Schulmeister unterbrechend, fragte ich, ob denn der Statthalter als ein Mann
von solchen Kenntnissen und solchem Verstande sich nicht reichlicher durch eine
Privattätigkeit ernähren
Ich empfand eine große Teilnahme für den Statthalter und ehrte ihn, ohne mir darüber Rechenschaft geben zu können; denn ich mißbilligte höchlich seine Scheu vor der Armut, und erst später wurde es mir klar, daß er das Schwerste gelöst habe eine gezwungene Stellung ganz so auszufüllen, als ob er dazu allein gemacht wäre, ohne mürrisch oder gar gemein zu werden. Indessen waren mir die Reden des Schulmeisters über das Erwerben und über den rechten Tick keine liebliche Musik; es wurde mir fraglich, ob ich diesen auch erwischen würde, da ich einzusehen begann, daß für alles dies rüstige Volk die Freiheit erst ein Gut war, wenn es sich seines Brotes versichert hatte, und ich fühlte vor den langen, nun leeren Tischreihen, daß selbst dieses Fest bei hungrigem Magen und leerem Beutel ein sehr trübseliges gewesen wäre.
Ich war froh, daß wir endlich aufbrachen. Annas Vater schlug vor, wir beide
sollten uns zu ihm ins Fuhrwerk setzen, damit wir zusammen dem Schauspiele
nachführen; doch gab sie den Wunsch zu erkennen, lieber den ausgeruhten Schimmel
zu besteigen und noch ein wenig umherzureiten, da es später unter keinem Vorwande
mehr geschehen würde. Hiemit war der Schulmeister auch zufrieden und erklärte so
wolle er wenigstens mit uns fahren, bis er etwa Gelegenheit finde, einer bejahrten
Person den Heimweg zu erleichtern, da ihn die Jungen alle im Stiche ließen. Ich
aber lief mit frohen Gedanken nach dem Hause, wo unsere Pferde standen, ließ
dieselben auf die Straße bringen, und als ich Anna in den Sattel half, klopfte mir
Dies traf auch ein, obgleich noch auf andere Weise, als ich es gehofft hatte. Wir waren noch nicht weit aus dem Tore, als der gastliche Schulmeister sein Wägelchen schon mit drei alten Leutchen beladen hatte und in lustigem Trabe vorausfuhr, der angenommenen hohlen Gasse zu. Still ritten wir nun im Schritte dahin und grüßten sehr beflissen die fröhlichen Leute, denen wir begegneten, links und rechts, bis wir in die Nähe der wogenden und summenden Menge kamen und dieselbe beinah erreichten. Da stießen wir auf den Philosophen, dessen schönes Gesichtchen vor Mutwillen glühte und den tollen Spuk verkündigte, welchen er schon ausgeübt. Er war in gewöhnlicher Kleidung und trug ein Buch in der Hand, da er nebst einem andern Lehrer das Amt eines Einbläsers übernommen, um überall zur Hand zu sein, wenn einen Helden die Erinnerung verlassen sollte. Doch erzählte er jetzt, wie die Leute gar nichts mehr hören wollten und alles von selber seinen ziemlich wilden Gang ginge; er habe daher, rief er, nun die schönste Muße, uns beiden zu der Jagdszene zu soufflieren, die wir ohne Zweifel auszufahren so einsam ausgezogen wären; es sei auch die höchste Zeit dazu und wir wollten uns ungesäumt ans Werk machen!
Ich wurde rot und trieb die Pferde an; aber der Philosoph fiel uns in die Zügel;
Anna fragte, was denn das wäre mit der Jagdszene, worauf er lachend ausrief er
werde uns doch nicht sagen müssen, was alle Welt belustige und uns ohne Zweifel
mehr als
Indem ich sie so gewaltsam an mich gedrückt und geküßt und sie in der Verwirrung dies erwidert, hatten wir den Becher unserer unschuldigen Lust zu sehr geneigt; sein Trank überschüttete uns mit plötzlicher Kälte, und das fast feindliche Fühlen des Körpers riß uns vollends aus dem Himmel. Diese Folgen einer so unschuldigen und herzlichen Aufwallung zwischen zwei jungen Leutchen, welche einst als Kinder schon genau dasselbe getan ohne alle Bekümmernis, würden vielen närrisch vorkommen; uns aber dünkte die Sache gar nicht spaßhaft, und wir saßen mit wirklichem Grame an dem Wasser, das um keinen Grad reiner war als Annas Seele. Den wahren Grund der schreckhaften Begebenheit ahnte ich gar nicht; denn ich wußte nicht, daß in jenem Alter das rote Blut weiser sei als der Geist und sich von selbst zurückdämme, wenn es in ungehörige Wellen geschlagen worden. Anna hingegen mochte sich hauptsächlich vorwerfen, daß sie nun doch für ihr Nachgeben, dem Feste beizuwohnen, bestraft und ihre eigene Art und Weise gröblich und roh gestört worden sei.
Ein gewaltiges Rauschen in den Baumkronen ringsumher weckte uns aus der
melancholischen Versenkung, die eigentlich schon wieder an eine andere Art von
schönem Glück streifte; denn meiner Erinnerung sind die letzten Augenblicke, ehe
uns der starke Südwind wachrauschte, nicht weniger lieb und kostbar
Die Pferde hatten längst zu trinken aufgehört und standen verwundert in der engen Wildnis, wo sie zwischen Steinen und Wasser beinahe keinen Raum fanden, sich zu regen; ich legte ihnen das Gebiß an, hob Anna auf den Schimmel, und denselben führend, suchte ich auf dem schmalen, oft vom Flüßchen beeinträchtigten Pfade so gut als möglich vorwärtszudringen, während der Braune geduldig und treulich nachfolgte. Wir gelangten auch wohlbehalten auf die Wiesen und endlich unter die Bäume vor dem alten Pfarrhause. Kein Mensch war daheim, selbst der Oheim und seine Frau waren auf den Abend fortgegangen, und alles still um das Haus. Dieweil Anna sogleich hineineilte, zog ich den Schimmel in den Stall, sattelte ihn ab und steckte ihm sein Heu vor. Dann ging ich hinauf, um für den Braunen etwas Brot zu holen, da ich auf ihm noch dem Schauspiele zuzueilen gedachte. Auch forderte mich Anna gleich dazu auf, als ich in die Stube kam. Sie war schon umgekleidet und flocht eben ihr Haar etwas hastig in seine gewohnten Zöpfe; über dieser Beschäftigung von mir betroffen, errötete sie aufs neue und wurde verlegen.
Ich ging hinab, den Braunen zu füttern, und während ich ihm das Brot vorschnitt
und ein Stück um das andere in das Maul steckte, stand Anna an dem offenen
Fenster, ihr Haar vollends aufbindend, und schaute mir zu. Die gemächliche
Beschäftigung unserer Hände in der Stille, die über dem Gehöfte lagerte, erfüllte
uns mit einer tiefen und von Grund aus glücklichen Ruhe, und wir hätten jahrelang
so verharren mögen; manchmal biß ich selbst ein Stück von dem Brote, ehe ich es
dem Pferde gab, worauf sich Anna ebenfalls Brot aus dem Schranke holte und
Gleich vor dem Dorfe kam der Schulmeister gefahren mit dem oheimlichen Ehepaar,
denen ich sagte, daß Anna schon zu Hause sei; und ein Stück weiter stieß ich auf
des Müllers Knecht, welcher dessen Pferd nach Hause führte. Da ich vernahm, daß
schon alles bei der Zwinguri versammelt und dort ein großes Hallo sei, auch der
Weg dahin nicht mehr weit war, gab ich meinen Gaul auch dem Knecht und eilte zu
Fuß weiter. Zur Zwinguri hatte man eine verfallene Burgruine bestimmt, welche auf
dem höchsten Punkte einer Bergallmende steht und eine weite Aussicht ins Gebirge
hinüber gewährt. Die Trümmer waren durch einiges Stangen- und Brettergerüst so
bekleidet, als ob sie eben im Aufbau statt im Verfalle wären, und mit den Kränzen
der triumphierenden Tyrannei behangen. Die Sonne ging eben unter, als ich ankam
und sah, wie das Volk das Gerüste zusammenbrach und mit den Kränzen auf einen
gewaltigen Holz- und Reisighaufen warf und diesen anzündete. Hier ging auch die
Verherrlichung des Tell vor sich, statt vor seinem Hause, doch nicht mehr nach der
geschriebenen Ordnung, sondern infolge einer allgemeinen Erfindungslust, wie der
Augenblick sie in den tausend Köpfen erweckte, und der Schluß der
Die Stimmen der Weiber waren mit der Nacht lauter geworden; während die älteren schon fortgegangen und die verheirateten Männer sich zusammentaten, um vertraute Zechstuben aufzusuchen, begannen die Mädchen ihre Herrschaft unbefangener auszuüben, erst in lachenden Kreisen, bis zuletzt alles beieinander war, was zusammengehörte, und jedes Paar auf seine Weise sich zeigte oder verbarg. Doch als das Feuer zusammenfiel, lösten sich die verschlungenen Menschenkränze und begannen in großen und kleinen Gruppen dem Städtchen zuzuziehen, wo auf dem Rathause sowie in einigen Gasthäusern Trompeten und Geigen sie erwarteten. Ich hatte mich in dem Gedränge unstet herumgetrieben und vergnügte mich nun an der verlöschenden Glut, um welche außer einigen Knaben nur noch jene Fratzgestalten herumtanzten, weil der Spaß sie nichts kostete. Sie sahen in den flatternden Hemden und mit den hohen Papiermützen aus wie Gespenster, die dem grauen Gemäuer entstiegen Einige zählten auch die Münzen, welche sie etwa erhascht, andere suchten aus dem Feuer noch ein verkohltes Holzscheit zu ziehen, und besonders einen sah ich, welcher sich zu den tollsten Sprüngen angestrengt und den ich für einen jungen Taugenichts gehalten, nunmehr nach der Entlarvung als ein eisgraues Männchen zum Vorschein kommen und sich hastig mit einem rauchenden Fichtenklotze abquälen.
Ich wandte mich endlich hinweg und ging langsam davon, unschlüssig, ob ich nach
Hause kehren oder dem Städtchen zusteuern solle. Mein Mantel, der Degen und die
Armbrust waren
Unversehens war ich in dem Flecken angelangt, welcher von Musik ertönte, und als
ich in einen übervollen Saal trat, in welchem die blühenden Paare sich drehten, da
klopfte mein Blut immer unwilliger und heißer; ich bedachte nicht, daß wir die
einzigen sechszehnjährigen Leutchen gewesen wären, die sich im offenkundigen
Vereine zeigten, noch weniger, daß unsere heutigen Erlebnisse zehnmal schöner
waren als alles, was diese lärmende Jugend hier genießen konnte, und daß ich mich
in der Erinnerung derselben reich und glücklich genug hätte fühlen sollen. Ich sah
nur die Freude der Volljährigen, der Verlobten und Selbständigen, und maßte mir
ihr Recht an, ohne im mindesten zu merken, daß mein prahlerisches Blut, sobald ich
Anna wirklich zur Seite gehabt hätte, augenblicklich wieder zahm geworden wäre. Es
gereicht mir auch nicht zur Ehre, daß es ihrer leibhaften Gegenwart bedurfte, mich
zur Bescheidenheit zurückzuführen. Doch als ich von meinen Vettern und Bekannten
als ein verloren Geglaubter tapfer begrüßt und in den Strudel gezogen wurde,
blendete mich das Licht der Freude, daß ich mich und meinen Ärger vergaß und der
Reihe nach mit den drei Basen tanzte. Ich erhitzte mich immer mehr, ohne zufrieden
zu sein; die Lust, welche im ganzen soviel Geräusch machte, ging
Doch schon im nächsten Tanzhause, in das wir traten, verlor ich einen um den
andern meiner neuen Freunde, indem sie hier fanden, was sie wahrscheinlich gesucht
hatten, und ich setzte allein, aber rastlos, den Streifzug fort. Hie und da
schaute ich einen Augenblick zu, erwiderte ungesäumt die Späße, die man
Etwas entfernt von ihnen saß am gleichen Tische die Judith, welcher die Brüder der Sitte gemäß ein Glas geboten. Sie schien sich ganz allein bei dem Feste umgesehen und nun ein Gefallen daran zu haben, die Witze und Verfänglichkeiten dieser Herren schlagfertig zurückzugeben und sie in Respekt zu halten, wozu es keiner geringen Gewandtheit und Kraft bedurfte. Sie saß ebenso lässig da, zurückgelehnt und halb abgewandt, und warf ihre Erwiderungen gleichmütig hin. Die Mönche hatten die Flachsbärte abgelegt und die gefärbten Nasen gewaschen; nur der älteste, welcher einen angehenden Kahlkopf und eine natürliche Feuernase besaß, prangte noch mit dem hohen Rot derselben. Dies war der Unnützeste und rief mir zu, als ich vorübergehen wollte: »Heda, Grünspecht! wo hinaus?« Ich stand still und erwiderte: »Guter Freund! Ihr habt vergessen, den Zinneber von Eurer Nase zu wischen, wie die anderen Brüder doch getan! Ich mache Euch hiemit aufmerksam, damit Ihr nicht etwa Euer Kopfkissen rot macht.«
Das Gelächter der übrigen nahm mich sogleich in den holden Bund auf; ich mußte mich setzen und ein Glas annehmen, worauf sie sagten: »Und dennoch, könnt Ihr glauben, daß dieser Kerl es noch für nötig befunden hat, heut seine Nase zu schminken?«, – »Das war freilich«, erwiderte ich, »ebenso töricht, als wenn man eine Rose schminken wollte!«
»Und dazu viel gefährlicher«, versetzte ein anderer, »denn eine Rose schminken
heißt ein Werk Gottes verbessern wollen,
So ging es fort; sie verhandelten nun seinen Kahlkopf, wobei ich aber bald weit zurückblieb, indem sie über diesen Gegenstand allein wohl zwanzig verschiedene Witze machten, welche in der Phantasie die lächerlichsten Vorstellungen erregten und von denen einer den andern an Neuheit und Kühnheit der Bilder überbot. Judith lachte, als die Taugenichtse über sich selbst herfuhren, und als der Angegriffene dies sah, suchte er sich aus dem Feuer zu retten, indem er sich gegen sie wendete. Sie saß da in einem schlichten braunen Kleide, die Brust mit einem weißen Halstuche bedeckt, welches ein wenig ihren prächtigen Hals sehen ließ; um diesen lag eine feine Goldkette und verlor sich im Halstuche; sonst trug sie keinen Putz als ihr schönes braunes Haar. Der Kahlkopf blinzelte mit den Augen und sang:
Judith erwiderte schnell: »Damit Ihr meinen weißen Hals einmal vergeßt, will ich Euch auch ein Lied von etwas Weißem berichten!« und sie sang nicht, sondern sagte einfach wohlklingend:
Der Rhythmus dieses Gesummes war so verführerisch, daß ich mit einstimmte und eine stolze Glückseligkeit empfand, mit den Spöttern singen zu dürfen hm hm hm! hm hm hm! – es war still und feierlich in der nur noch schwach erleuchteten Stube, und mit feierlicher Behaglichkeit setzten wir die seltsamen Takte fort. Judith lachte hell auf und rief: »O ihr Kindsköpfe!« Da brachen wir laut aus: »Ha ha ha! – ha ha ha!«
Der Gehöhnte aber spähte umher, zog unversehens dem lautesten Spötter ein
hervorguckendes Blatt aus der Kutte und las dessen Überschrift: »Christliche
Wochenbötin, ein konservatives Volksblättlein.« Der Spott entlud sich nun auf den
Überraschten, dessen schwache Seite sein Konservatismus war, den er weder genugsam
zu erklären noch zu verteidigen vermochte. Diese Benennung war erst seit einiger
Zeit im Umlauf und fing einige Leute, welche vorher im Nebelhaften geschwebt. Der
Kahle forderte den Konservativen auf, er solle einmal sagen, was er sich
eigentlich darunter denke, wenn er behaupte, konservativ zu sein. Dieser wollte
tun, als ob er hierin keinen Spaß verstehe, und wünschte mit wichtigem Gesicht,
nicht zu politisieren!
Wie in einer ganz anderen Welt war ich hier als bei dem Schulmeister; und doch fühlte ich mich gleich zu Hause und schlürfte die starken und rücksichtslosen Redensarten, die spöttischen und wilden Einfälle ebenso andächtig ein wie die gewählten ruhigen Worte von Annas Vater. Ich schien mir dort ein anderer und hier ein anderer und doch immer der gleiche zu sein. Ich freute mich, daß mein Leben eine Seite um die andere vor mir auftat, und war stolz darauf, indem ich mir einbildete, daß diese lustigen Männer mich ihrer Gesellschaft würdig achteten und ihre Witze vor mir nicht zurückhielten. Mit Vergnügen dachte ich an den Schulmeister und wie ich fürder ernsthaft und anständig mit ihm disputieren wolle, während ich doch noch von was anderm wüßte; denn es schien mir nun darauf anzukommen, nirgends ausgeschlossen zu sein und alles zu übersehen.
Die barmherzigen Brüder waren durch die Politik wieder rüstig und munter geworden
und hatten die Flaschen neu füllen lassen,
»Ach was!« sagte sie, »Ihr seid ja ebensogut mein Vetter und könnt mich von Rechts wegen wohl heimsuchen, wenn Ihr wollt! Damals, wo Ihr so jung gewesen, habt Ihr mich so gern gehabt, und Ihr seid mir immer ein wenig lieb; aber jetzt habt Ihr ein Schätzchen, in welches Ihr verliebt seid, und meint, keine andere Frau mehr ansehen zu dürfen!«
»Ich ein Schätzchen?« erwiderte ich, und als sie diese Behauptung wiederholte und
Anna nannte, leugnete ich die Sache auf das bestimmteste. Wir waren unversehens
beim Dorfe angekommen, in welchem noch viele Stimmen laut wurden und die jungen
Leute über die Gasse gingen; Judith wünschte ihnen aus dem Wege zu gehen, und
obgleich ich nun füglich meine Straße hätte ziehen können, leistete ich doch
keinen Widerstand und folgte ihr unwillkürlich, als sie mich bei der Hand nahm und
zwischen Hecken und Mauern durch ein dunkles Wirrsal führte, um ungesehen in ihr
Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Äcker verkauft und nur einen schönen Baumgarten
nächst dem Hause behalten, in welchem sie ganz allein wohnte. Der genossene Wein
erhöhte die Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir so durch die engen Wege
hinschlüpften, und als, bei dem Hause angekommen, Judith sagte: »Kommt herein, ich
will noch einen Kaffee kochen!« und ich hineinging und sie die Haustüre fest
hinter uns verriegelte, da klopfte mir das Herz mit ungewisser Furcht, während ich
mich übermütig des Abenteuers freute und mich vermaß, dasselbe zu meiner Ehre,
aber verwegen zu bestehen. An Anna dachte ich gar nicht,
In diesem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hause, welche wir als diejenigen der vier Männer erkannten. Sogleich löschte sie das Licht aus, daß wir im Dunkeln saßen; doch die unten begehrten nichtsdestominder Einlaß, indem sie riefen: »So macht doch auf, schöne Judith, und wartet uns mit einer Tasse heißen Kaffees auf! Wir wollen uns ehrbar benehmen und noch ein vernünftiges Wort sprechen! Aber macht auf, zum Lohn dafür, daß Ihr uns so an geführt habt; es ist Fastnacht, und Ihr dürft ohne Gefährde einmal die vier ruhmwürdigsten Kumpane des Landes bewirten!«
Wir hielten uns aber ganz still; schwere Regentropfen schlugen an die Scheiben, es wetterleuchtete sogar, und in der Ferne donnerte es, daß es klang, als wäre es Mai oder Juni. Um Judith kirre zu machen, sangen die Männer mit heuchlerischer Sorgfalt ein vierstimmiges Lied, so schön sie konnten, und ihr überwachter Zustand gab ihren Stimmen wirklich etwas gerührt Vibrierendes. Als dies alles nichts half, fingen sie an zu fluchen, und einer kletterte am Spalier zum Fenster empor, um in die dunkle Stube zu sehen. Wir bemerkten wohl seine spitzige Kapuze, die er über den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit einem Mal ein Blitz die Stube, und der Späher konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen erkennen.
»Die verwünschte Hexe sitzt ganz aufrecht und munter am Tisch!« rief er gedämpft
hinunter; ein anderer sagte: »Laß mich einmal sehen!« Doch während sie sich
ablösten und die Stube wieder finster war, huschte Judith schnell zu ihrem Bett,
nahm
Judith aber flüsterte mir ins Ohr: »Der Schelm hätte dich jetzt ganz gewiß erblickt, wenn wir sitzen geblieben wären!«
Doch die gewaltigen Regengüsse, Blitz und Donner, die nun hereinbrachen, vertrieben den Späher vom Fenster; wir hörten, wie sie ihre Kutten schüttelten und auseinandersprangen, um im Dorfe ein Unterkommen zu suchen, da sie alle weit von Hause waren. Als wir nichts mehr von ihnen hörten, saßen wir noch eine Weile ganz still auf dem Bette und lauschten auf das Gewitter, welches das Häuschen erzittern machte, so daß ich mein eigenes leises Zittern nicht recht davon unterscheiden konnte. Ich umfaßte Judith, um nur dies beklemmende Zittern zu unterbrechen, und küßte sie auf den Mund; sie küßte mich wieder, fest und warm; doch dann löste sie meine Arme von ihrem Hals und sagte: »Glück ist Glück, und es gibt nur ein Glück; aber ich kann dich nicht länger hierbehalten, wenn du mir nicht gestehen willst, daß du und des Schulmeisters Tochter einander gern habt! Denn nur das Lügen macht alles schlimm!«
Ohne Rückhalt begann ich nun, ihr die ganze Geschichte zu erzählen von Anfang bis
zu Ende, alles, was je zwischen Anna und mir vorgefallen, und verband die beredte
Schilderung ihres Wesens mit derjenigen der Gefühle, die ich für sie empfand. Ich
erzählte auch genau die Geschichte des heutigen Tages und klagte der Judith meine
Pein in betreff der Sprödigkeit und Scheue, welche immer wieder zwischen uns
traten. Nachdem ich lange so erzählt und geklagt, antwortete sie auf meine Klagen
nicht, sondern fragte mich: »Und was denkst du dir jetzt eigentlich
Ich erschrak sogleich über diese Worte und entdeckte zugleich, daß sie nichts weniger als übertrieben, sondern ganz der Empfindung gemäß waren, die ich von jeher für Judith unbewußt getragen.
Mit meinen Liebkosungen plötzlich innehaltend, ließ ich die Hand auf ihrer Wange
liegen, und in diesem Augenblicke fühlte ich eine Träne darauf fallen. Zugleich
seufzte sie und sagte: »Was tue ich mit deinem Blute! – Oh! nie hat ein Mann
gewünscht,
Betrübt sagte ich: »Aber ich könnte doch nicht dein ernsthafter Liebhaber oder gar dein Mann sein?« – »Oh, das weiß ich wohl und fällt mir auch gar nicht ein!« erwiderte sie, »ich will dir auch sagen, was du von mir zu denken hast! Ich habe dich zu mir gelockt, erstens, weil ich wieder einmal ein wenig küssen wollte, was ich auch gleich hernach tun will, du bist mir dazu gerade recht! Zweitens wollte ich dich als ein hochmütiges Bürschchen ein wenig in die Schule nehmen, und drittens macht es mir Vergnügen, in Ermangelung eines andern, den Mann zu lieben, der noch in dir verborgen ist, wie ich dich schon als Kind gern gesehen habe.« Mit diesen Worten packte sie mich und fing an, mich zu küssen, daß es mir glutheiß wurde und ich, nur um die Glut zu kühlen, ihre feuchten Lippen festhalten und wiederküssen mußte. Als ich Anna geküßt, war es gewesen, als ob mein Mund eine wirkliche Rose berührt hätte; jetzt aber küßte ich eben einen heißen, leibhaften Mund, und der geheimnisvolle balsamische Atem aus dem Innern eines schönen und starken Weibes strömte in vollen Zügen in mich über. Dieser Unterschied war so spürbar, daß mitten im heftigen Küssen Annas Stern aufging, eben als Judith mehr wie für sich flüsterte: »Denkst du nun auch an dein Schätzchen?« – »Ja«, erwiderte ich, »und ich geh nun!« und wollte mich losmachen.
»So geh!« sagte sie lächelnd, doch löste sie ihre weichen bloßen Arme auf eine so
sonderbare Weise auseinander, daß es mir schneidend weh tat, mich frei zu fühlen,
und eben wieder im Begriffe war, in dieselben zu sinken, als sie aufsprang, mich
noch einmal küßte und dann von sich stieß, indem sie leise sagte: »Nun pack dich,
es ist jetzt Zeit, daß du heimkommst!« Beschämt suchte ich meinen Hut und eilte
davon, daß sie laut lachte und mir kaum nachkommen konnte, um mir die Haustüre auf
zumachen. »Halt«, flüsterte sie, als ich davonlaufen wollte, »geh da oben durch
den Baumgarten hinaus und ein wenig ums Dorf
Es kam mir gar nicht in den Sinn, über diese Drohung zu lachen oder dieselbe zu verachten; vielmehr versprach ich, so schnell ich konnte, in Judiths Hand, daß ich wiederkommen wollte, und eilte davon.
Ich lief zu, ohne zu wissen wohin; denn der strömende Regen tat mir wohl; so war ich bald aus dem Dorfe und auf eine Höhe gekommen, auf welcher ich weiterging. Der Morgen graute und warf ein schwaches Licht in das Unwetter; ich machte mir die bittersten Vorwürfe und fühlte mich ganz zerknirscht, und als ich plötzlich zu meinen Füßen den kleinen See und des Schulmeisters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den grauen Schleier des Regens und der Dämmerung, da sank ich erschöpft auf den Boden und brach gar jämmerlich in Tränen aus.
Ich schlief fest und traumlos bis zum Mittag; als ich erwachte, wehte noch immer
der warme Südwind, und es regnete fort. Ich sah aus dem Fenster und erblickte das
Tal auf und nieder, wie Hunderte von Männern am Wasser arbeiteten, um die Wehren
und Dämme herzustellen, da in den Bergen aller Schnee schmelzen mußte und eine
große Flut zu erwarten war. Das Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich
daher; für unser Haus war gar keine Gefahr, da es an einem sicher abgedämmten
Seitenarme lag, der die Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die
Wiesen zu schützen, und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher
ging ich auch hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlossen bei der
Arbeit, als sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz
und Steinen, standen bis über die Knie in Schlamm und Wasser, schwangen Äxte und
trugen Faschinen und Balken umher, und wenn so acht Mann unter einem schweren
langen Baume einhergingen, konnte man glauben, sie hielten wieder einen Aufzug;
doch der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabakspfeifen sah. Ich
konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege; nachdem ich daher eine
Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert, kehrte ich oben durch das Dorf zurück
und sah auf diesem Gange die Tätigkeit auf allen ihren gewohnten Wegen. Wer nicht
am Wasser beschäftigt war, der fuhr ins Holz, um die dortige Arbeit noch schnell
abzutun, und auf einem Acker sah ich einen Mann so ruhig und aufmerksam
So stürmisch und mühevoll dieser war, legte ich doch die bedeutende Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Innern erwachten alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich unversehens in der Stadt zu befinden. Als ich vor unser Haus kam, merkte ich an den dunklen Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heimkehrenden Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer, und am Morgen tat meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet zum Vorschein kommen sah.
Ich bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen
war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter billigen Preises von
einem Bekannten gekauft, der es nicht mehr unterzubringen wußte; es war von der
größten Einfachheit, leicht gebaut und nur mit weiß und grünem Stroh überflochten
und doch ein ganz artiges Möbel. Aber auf ihm lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an
die fünfzig Bändchen, alle gleich gebunden, mit roten Schildchen und goldenen
Titeln auf dem Rücken versehen und durch eine starke vielfache Schnur
zusammengehalten. Es waren Goethes sämtliche Werke, welche ein Trödler, der mich
mit alten Büchern und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes
Schuldentum
Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube verließen, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah mich um und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten. Ich machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des einzelnen zu eigennützigem Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt, sie steht auch höher als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und dauernde Glut zu geben. Es kam mir nun alles und immer neu, schön und merkwürdig vor, und ich begann nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben. Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief, so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen vierzig Tagen, so wie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich zuzuschreiben sind.
Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist
innerlich ruhig und still, und so muß es auch der Mann sein, der sie verstehen und
als ein wirkender Teil von ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an,
Unruhe
Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. Ich hatte
mir, ohne zu wissen wann und wie, angewöhnt, alles, was ich in Leben und Kunst als
brauchbar, gut und schön befand, poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände
meines erwählten Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern
immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche mich anregend
berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der Ordnung, denn es ist das
gleiche Gesetz, welches die verschiedenen Dinge poetisch oder der Widerspiegelung
ihres Daseins wert macht; aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch
nannte, lernte ich nun, daß das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche
und Überschwengliche nicht poetisch ist und daß, wie dort die Ruhe und Stille in
der Bewegung, hier nur Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten
herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas
Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen, mit einem Wort, daß die sogenannte
Zwecklosigkeit der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt
Denn wie es mir scheint, geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung, Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf einen Lebensgrund, und in diesem Bestreben das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst; darum unterscheiden sich die Künstler nur dadurch von den anderen Menschen, daß sie das Wesentliche gleich sehen und es mit Fülle darzustellen wissen, während die anderen dies wiedererkennen müssen und darüber erstaunen, und darum sind auch alle die keine Meister, zu deren Verständnis es einer besonderen Geschmacksrichtung oder einer künstlichen Schule bedarf.
Ich hatte es weder mit dem menschlichen Wort noch mit der menschlichen Gestalt zu tun und fühlte mich nur glücklich und zufrieden, daß ich auf das bescheidenste Gebiet mit meinen Fuß setzen konnte, auf den irdischen Grund und Boden, auf dem sich der Mensch bewegt, und so in der poetischen Welt wenigstens einen Teppichbewahrer abgeben durfte. Goethe hatte ja viel und mit Liebe von landschaftlichen Sachen gesprochen, und durch diese Brücke glaubte ich ohne Unbescheidenheit mich ein wenig mit seiner Welt verbinden zu können.
Ich wollte sogleich, anfangen, nun so recht mit Liebe und Aufmerksamkeit die Dinge
zu behandeln und mich ganz an die Natur zu halten, nichts Überflüssiges oder
Müßiges zu machen und mir bei jedem Striche ganz klar zu sein. Im Geiste sah ich
schon einen reichen Schatz von Arbeiten vor mir, welche alle hübsch, wert- und
gehaltvoll aussahen, angefüllt mit zarten und starken Strichen, von denen keiner
ohne Bedeutung war. Ich setzte mich ins Freie, um das erste Blatt dieser
vortrefflichen Sammlung zu beginnen; aber nun ergab es sich, daß ich eben da
fortfahren mußte, wo ich zuletzt aufgehört hatte, und daß
Da überschattete sich plötzlich der weiße Bogen auf meinen Knien, der vorher von der Sonne beglänzt war; erschrocken schaute ich um und sah einen ansehnlichen, fremd gekleideten Mann hinter mir stehen, welcher den Schatten verursachte. Er war groß und schlank, hatte ein bedeutsames und ernstes Gesicht mit einer stark gebogenen Nase und einem sorgfältig gedrehten Schnurrbart und trug sehr feine Wäsche.
In hochdeutscher Sprache redete er mich an: »Darf man wohl ein wenig Ihre Arbeit
besehen, junger Mann?« Halb erfreut und halb verlegen hielt ich meine Zeichnung
hin, welche er einige
Dies bestätigte sich auch, als er mich auf meine Hauptfehler aufmerksam machte, die Studie, welche ich gerade vorhatte, mit der Natur verglich und mir an letzterer selbst das Wesentliche hervorhob und mich es sehen lehrte. Ich fühlte mich überglücklich und hielt mich ganz still, wie jemand, der sich vergnüglich eine Wohltat erzeigen läßt, als er einige Laubpartien auf meinem Papiere mit ihrem Vorbilde zusammenhielt, Licht und Formen klarmachte und auf dem Rande des Blattes mit wenigen mühlosen Meisterstrichen das herstellte, was ich vergeblich gesucht hatte.
Er blieb wohl eine halbe Stunde bei mir, dann sagte er: »Sie haben vorhin den wackern Habersaat genannt; wissen Sie, daß ich vor siebzehn Jahren auch ein dienstbarer Geist in seinem verwünschten Kloster war? Ich habe mich aber beizeiten aus dem Staube gemacht und bin seither immer in Italien und Frankreich gewesen. Ich bin Landschafter, heiße Römer und gedenke mich eine Zeitlang in meiner Heimat aufzuhalten. Es soll mich freuen, wenn ich ihnen etwas nachhelfen kann; ich habe manche Sachen bei mir, besuchen Sie mich einmal, oder kommen Sie gleich mit mir nach Hause, wenn's Ihnen recht ist!«
Ich packte eilig zusammen und begleitete in feierlicher Stimmung den Mann und mit
nicht geringem Stolze. Ich hatte oft von ihm sprechen gehört; denn er war eine der
großen Sagen des Refektoriums, und Meister Habersaat tat sich nicht wenig
Als wir in seiner Wohnung anlangten, welche aus ein paar eleganten Zimmern in
einem schönen Hause bestand, setzte Römer sogleich seine Mappen auf einen Stuhl
vor das Sofa, hieß mich auf dieses neben ihn sitzen und begann die Sammlung seiner
größten und wertvollsten Studien eine um die andere umzuwenden und aufzustellen.
Es waren alles umfangreiche Blätter aus Italien, auf starkes grobkörniges Papier
mit Wasserfarben gemalt, doch auf eine mir ganz neue Weise und mit unbekannten
kühnen und geistreichen Mitteln, so daß sie ebensoviel Schmelz und Duft als
Klarheit und Kraft zeigten und vor allem aus in jedem Striche bewiesen, daß sie
vor der lebendigen Natur gemacht waren. Ich wußte nicht, sollte ich über die
glänzende und angenehm nahetretende Meisterschaft der Behandlung oder über die
Gegenstände mehr Freude empfinden, denn von den mächtigen dunklen Zypressengruppen
der römischen Villen, von
Als wir mit dieser Mappe zu Ende waren, ließ mich Römer noch flüchtig in einige
andere blicken, von denen die eine einen Reichtum farbiger Details, die andere
eine Unzahl Bleistiftstudien, eine dritte lauter auf das Meer, Schiffahrt und
Fischerei Bezügliches, eine vierte endlich verschiedene Phänomene und Farbenwunder
wie die Blaue Grotte, außergewöhnliche Wolkenerscheinungen, Vesuvausbrüche,
glühende Lavabäche und 50 weiter enthielten. Dann zeigte er mir noch im andern
Zimmer seine gegenwärtige Arbeit, ein größeres Bild auf einer Staffelei, welches
den Garten der Villa d'Este vorstellte. Dunkle Riesenzypressen ragten aus
flatternden Reben und Lorbeerbüschen, aus Marmorbrunnen und blumigen Geländern, an
welchen eine einzige Figur, Ariost, lehnte, in schwarzem ritterlichen Kleide, den
Degen an der Seite. Im Mittelgrunde zogen sich Häuser und
»Genug für heute!« sagte Römer, »kommen Sie öfter zu mir, alle Tage, wenn Sie Lust haben; bringen Sie mir Ihre Sachen mit, vielleicht kann ich Ihnen dies und jenes zum Kopieren mitgeben, damit Sie eine leichtere und zweckmäßigere Technik erlangen!«
Mit der dankbarsten Verehrung verabschiedete ich mich und sprang mehr, als ich ging, nach Hause. Dort erzählte ich meiner Mutter das glückliche Abenteuer mit den beredtesten Worten und verfehlte nicht, den fremden Herrn und Künstler mit allem Glanz auszustatten, dessen ich habhaft war; ich freute mich, ihr endlich ein Beispiel rühmlichen Gelingens als einen Trost für meine eigene Zukunft vorführen zu können, besonders da ja Römer ebenfalls aus Herrn Habersaats kümmerlicher Pflanzschule hervorgegangen war. Allein die siebzehn in der weiten Ferne zugebrachten Jahre, welche zu diesem Gelingen gebraucht worden, leuchteten meiner Mutter nicht sonderlich ein; auch hielt sie dafür, daß es noch gar nicht ausgemacht wäre, ob der Fremde sich wirklich wohl befinde, indem er als solcher so einsam und unbekannt in seiner Heimat angekommen sei Ich hatte aber ein anderweitiges geheimes Zeichen von der Richtigkeit meiner Hoffnungen, nämlich das plötzliche Erscheinen Römers, unmittelbar nachdem ich gebetet hatte, da ich ungeachtet meines unkirchlichen Rebellentums noch immer ein richtiger Mystosoph war, sobald es sich um mein persönliches Wohl oder Weh handelte.
Hievon sagte ich aber nichts zu meiner Mutter; denn erstens war zwischen uns nicht
herkömmlich, daß man viel von solchen Dingen sprach; und dann baute die Mutter
wohl fest auf die Hilfe Gottes, aber es würde ihr nicht gefallen haben, wenn ich
mich eines so merkwürdigen und theatralischen Falles gerühmt
Ich wartete ungeduldig einen Tag und ging dann am darauffolgenden mit einer ganzen
Last meiner bisherigen Arbeiten zu Römer. Er empfing mich freundlich zuvorkommend
und besah die Sachen mit aufmerksamer Teilnahme. Dabei gab er mir fortwährend
guten Rat, und als wir zu Ende waren, sagte er, ich müßte vor allem die
ungeschickte alte Manier, das Material zu behandeln, aufgeben, denn damit ließe
sich gar nichts mehr ausrichten. Nach der Natur sollte ich fleißig vorderhand mit
einem weichen Blei zeichnen und für das Haus anfangen, seine Weise einzuüben,
wobei er mir gerne behilflich sein wolle. Auch suchte er mir aus seinen Mappen
einige einfache Studien in Bleistift sowie in Farben, welche ich zur Probe
kopieren sollte, und als ich hierauf mich empfehlen wollte, sagte er: »Oh! bleiben
Sie noch
Rasch kopierte ich die Blätter, die Römer mir mitgab, mit aller Lust und allem Gelingen, welche ein erster Anlauf gibt, und als ich sie ihm brachte, sagte er: »Das geht ja vortrefflich, ganz gut!« An diesem Tage lud er mich ein, da das Wetter sehr schön war, einen Spaziergang mit ihm zu machen, und auf diesem verband er das, was ich in seinem Hause bereits eingesehen, mit der lebendigen Natur, und dazwischen sprach er vertraulich über andere Dinge, Menschen und Verhältnisse, welche vorkamen, bald scharf kritisch, bald scherzend, so daß ich mit einem Male einen zuverlässigen Lehrer und einen unterhaltenden und umgänglichen Freund besaß.
Bald fühlte ich das Bedürfnis, immer und ganz in seiner Nähe zu sein, und machte
daher immer häufiger von meiner Freiheit, ihn zu besuchen, Gebrauch, als er eines
Tages, nachdem er gründlich und schon etwas strenger eine Arbeit durchgesehen, zu
mir sagte: »Es würde gut für Sie sein, noch eine Zeit ganz unter der Leitung eines
Lehrers zu stehen; es würde mir auch zum Vergnügen und zur Erheiterung gereichen,
Ihnen meine Dienste anzubieten; da aber meine Verhältnisse leider nicht derart
sind, daß ich dies ganz ohne Entschädigung tun könnte, wenigstens wenn es nicht
durchaus sein muß, so besprechen Sie sich mit Ihrer Frau Mutter, ob Sie monatlich
etwas daranwenden wollen. Ich bleibe jedenfalls einige Zeit hier, und in einem
halben Jahre hoffe ich Sie so weit zu bringen, daß Sie später besser vorbereitet
und selbst imstande, einigen Erwerb zu finden, Ihre
Ich wünschte nichts Besseres zu tun und lief eiligst nach Hause, den Vorschlag meiner Mutter zu hinterbringen. Allein sie war nicht so eilig wie ich und ging, da es sich um Ausgabe einer erklecklichen Summe handelte und ich selbst einen Teil des an Habersaat Bezahlten für verlorenes Geld hielt, erst jenen vornehmen Herrn, bei dem sie schon früher einmal gewesen, um Rat zu fragen; denn sie dachte, derselbe werde jedenfalls wissen, ob Römer wirklich der geachtete und berühmte Künstler sei, für welchen ich ihn so eifrig ausgab. Doch man zuckte die Achseln, gab zwar zu, daß er als Künstler talentvoll und in der Ferne renommiert sei; über seinen Charakter jedoch hüllte man sich ins Unklare, wollte nicht viel Gutes wissen, ohne etwas Näheres angeben zu können, und meinte schließlich, wir sollten uns in acht nehmen. Jedenfalls sei die Forderung zu groß, unsere Stadt sei nicht Rom oder Paris, auch hielte man dafür, es wäre geratener, die Mittel für meine Reisen aufzusparen und diese desto früher anzutreten, wo ich dann selbst sehen und holen könne, was Römer besäße.
Das Wort Reisen war nun schon wiederholt vorgekommen und war hinreichend, meine
Mutter zu bestimmen, jeden Pfennig zur Ausstattung aufzubewahren. Daher teilte sie
mir die bedenklichen Äußerungen mit, ohne zuviel Gewicht auf die den Charakter
betreffenden zu legen, welche ich auch mit Entrüstung zunichte machte; denn ich
war schon dagegen gewaffnet, indem ich aus verschiedenen rätselhaften Äußerungen
Römers entnommen, daß er mit der Welt nicht zum besten stehe und viel Unrecht
erlitten habe. Ja, es hatte sich schon eine eigene Sprache über diesen Punkt
zwischen uns ausgebildet, indem ich mit ehrerbietiger Teilnahme seine Klagen
entgegennahm und so erwiderte, als ob ich selbst schon die bittersten Erfahrungen
gemacht oder wenigstens zu fürchten hätte, welche ich aber festen Fußes erwarten
und dann zugleich mich und ihn rächen wollte.
Ich entschloß mich kurz und sagte zur Mutter, ich wolle das Gold, welches in meinem ehemals geplünderten Sparkästchen übriggeblieben, für die Sache opfern. Hiegegen hatte sie nichts einzuwenden; ich nahm also die Schaumünze und einige Dukaten, welche dabei waren, und trug alles zu einem Goldschmied, welcher mir den Wert in Silber dafür bezahlte, brachte das Geld zu Römer und sagte, das sei alles, was ich verwenden könnte, und ich wünschte wenigstens vier Monate seines Unterrichtes dafür zu genießen. Zuvorkommend sagte er, das sei gar nicht so genau zu nehmen! Da ich tue, was ich könne, wie es einem Kunstjünger gezieme, so wolle er nicht zurückbleiben und ebenfalls tun, was er könne, solange er hier sei, und ich solle nur gleich morgen kommen und anfangen.
So richtete ich mich mit großer Befriedigung bei ihm ein. Den ersten und zweiten
Tag ging es noch ziemlich gemütlich zu; allein schon am dritten begann Römer einen
ganz anderen Ton zu singen, indem er urplötzlich höchst kritisch und streng wurde,
meine Arbeit erbarmungslos heruntermachte und mir bewies, daß ich nicht nur noch
nichts könne, sondern auch lässig und unachtsam sei. Das kam mir höchst wunderlich
vor; ich nahm mich ein wenig zusammen, was aber nicht viel Dank einbrachte; im
Gegenteil wurde Römer immer strenger und ironischer in seinem Tadel, den er nicht
in die rücksichtsvollsten Ausdrücke faßte. Da nahm ich mich ernstlicher zusammen,
der Tadel wurde ebenfalls ernstlich und fast rührend, bis ich endlich mich ganz
zerknirscht und demütig daranmachte, mir bei jedem Striche den Platz, wo er
hinsollte, wohl besah, manchmal ihn zart und bedächtig hinsetzte, manchmal nach
kurzem Erwägen plötzlich
So lernte ich endlich die wahre Arbeit und Mühe kennen, ohne daß sie mir lästig wurde, da sie in sich selbst den Lohn der immer neuen Erholung und Verjüngung trägt, und ich sah mich in den Stand gesetzt, eine große Studie Römers, welche schon mehr ein Bild zu nennen war, vornehmen zu dürfen und so zu kopieren, daß mein Lehrer erklärte, es sei nun genug in dieser Richtung, ich würde ihm sonst seine ganzen Mappen nachzeichnen; dieselben seien sein einziges Vermögen, und er wünsche bei aller Freundschaft doch nicht, eine förmliche Dublette in anderen Händen zu wissen.
Durch diese Beschäftigung war ich wunderlicherweise im Süden weit mehr heimisch
geworden als in meinem Vaterlande.
Einen besondern Reiz gewährten mir die Trümmer griechischer Baukunst, welche sich da und dort fanden. Ich empfand wieder Poesie, wenn ich das sonnige Marmorgebälke eines dorischen Tempels vom blauen Himmel abheben mußte. Die horizontalen Linien an Architrav, Fries und Kranz sowie die Kannelierungen der Säulen mußten mit der zartesten Genauigkeit, mit wahrer Andacht, leis und doch sicher und elegant hingezogen werden; die Schlagschatten auf diesem goldenen edlen Gestein waren rein blau, und wenn ich den Blick fortwährend auf dies Blau gerichtet hatte, so glaubte ich zuletzt wirklich einen leibhaften Tempel zu sehen. Jede Lücke im Gebälke, durch welche der Himmel schaute, jede Scharte an den Kannelierungen war mir heilig, und ich hielt genau ihre kleinsten Formen fest.
Im Nachlasse meines Vaters fand sich ein Werk über Architektur, in welchem die
Geschichte und Erklärung der alten Baustile nebst guten Abbildungen mit allem
Detail enthalten waren. Dies zog ich nun hervor und studierte es begierig, um die
Trümmer besser zu verstehen und ihren Wert ganz zu kennen. Auch erinnerte ich mich
der Italienischen Reise von Goethe, welche ich gelesen; Römer erzählte mir viel
von den Menschen und Sitten und der Vergangenheit Italiens. Er las fast keine
Bücher als die deutsche Übersetzung von Homer und einen italienischen Ariost. Den
Homer forderte er mich auf zu lesen, und ich ließ mir dies nicht zweimal sagen. Im
Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl alles schön, aber das Einfache
und Kolossale war mir noch zu ungewohnt, und ich vermochte nicht lange
nacheinander auszuhalten. Aber Römer machte mich aufmerksam, wie Homer in jeder
Bewegung und Stellung das einzig Nötige und Angemessene anwende, wie jedes Gefäß
und jede Kleidung, die
Inzwischen war es gut, daß das Interesse Römers, hinsichtlich des Kopierens seiner
Sammlungen, sich mit dem meinigen vereinigte; denn als ich nun, gemäß seiner
Aufforderung, mich wieder vor die Natur hinsetzte, erwies es sich, daß ich Gefahr
lief, meine ganze Kopierfertigkeit und mein italienisches Wissen zu einer
wunderlichen Fiktion werden zu sehen. Es kostete mich die größte Beharrlichkeit
und Mühe, ein nur zum zehnten Teile so anständiges Blatt zuwege zu bringen, als
meine
Weil ich die mir durch den Aufenthalt Römers zugemessene Zeit wohl benutzen mußte,
so konnte ich nicht daran denken, das Dorf zu besuchen, obschon ich verschiedene
Grüße und Zeichen von daher erhalten hatte. Um so fleißiger dachte ich an Anna,
wenn ich arbeitete und die grünen Bäume leise um mich rauschten. Ich freute mich
für sie meines Lernens und daß ich in diesem Jahre so reich an Erfahrung geworden
gegen das frühere
Der Herbst war gekommen, und als ich eines Mittags zum Essen nach Hause ging und in unsere Stube trat, sah ich auf dem Ruhbettchen einen schwarzseidenen Mantel liegen. Freudig betroffen eilte ich auf denselben zu, hob das leichte angenehme Ding in die Höhe und untersuchte es von allen Seiten. Ich eilte damit in die Küche, wo ich die Mutter beschäftigt fand, ein besseres Essen als gewöhnlich zu bereiten. Sie verkündigte mir die Ankunft des Schulmeisters und seiner Tochter, fügte aber sogleich mit besorgtem Ernst bei, daß leider dieselben nicht zum Vergnügen gekommen wären, sondern um einen berühmten Arzt zu besuchen. Während die Mutter in die Stube ging und den Tisch deckte, deutete sie mir mit einigen Worten an, daß sich bei Anna seltsame und beängstigende Anzeichen eingestellt hätten, der Schulmeister sehr bekümmert sei und sie, die Mutter, selbst nicht minder; denn nach der ganzen Erscheinung des armen Mädchens könne es sich ereignen, daß das zarte Wesen nicht alt werde.
Ich saß auf dem Ruhbette, hielt den Mantel fest in meinen Händen und hörte ganz
verwundert auf diese Worte, die mir so unerwartet und fremd klangen, daß sie mir
mehr merkwürdig als erschreckend vorkamen. In diesem Augenblicke ging die Tür auf,
und die ebenso geliebten als wahrhaft geehrten Gäste traten herein. Überrascht
stand ich auf und ging ihnen entgegen, und erst als ich Anna die Hand geben
wollte, sah ich, daß ich immer noch ihren Mantel hielt. Sie errötete und lächelte
zugleich, während ich verlegen dastand; der Schulmeister warf mir vor, daß ich
mich den ganzen Sommer über nie sehen lassen, und so vergaß ich über diesen
Begrüßungen die Mitteilung der Mutter, an welche mich auch nichts Auffallendes
erinnerte. Erst als wir am Tische saßen, wurde ich durch eine gewisse vermehrte
Ich wußte hierauf rein nichts zu erwidern noch meine Teilnahme zu bezeugen; vielmehr wurde ich ganz rot und schämte mich nur, nicht auch krank zu sein. Anna hingegen sah mich bei den Worten ihres Vaters lächelnd an, als ob sie Mitleid mit mir hätte, so peinliche Dinge hören zu müssen.
Nach dem Essen verlangte der Schulmeister, von meinen Beschäftigungen zu wissen
und etwas zu sehen; ich brachte eine wohlgefüllte Mappe herbei und erzählte von
meinem Meister; doch verweilte er nicht lang dabei, sondern machte sich bereit,
einige Gänge zu tun und Einkäufe zu besorgen. Meine Mutter
Plötzlich sagte sie: »Unsere Tante im Pfarrhaus läßt dir sagen, du sollest mit uns sogleich hinausfahren, sonst sei sie böse! Willst du?« Ich erwiderte: »Ja, jetzt kann ich schon!« und setzte hinzu: »Was fehlt dir denn eigentlich?« – »Ach, ich weiß es selbst nicht, ich bin immer müde und leide manchmal ein wenig; die anderen machen mehr daraus als ich selbst!«
Meine Mutter und der Schulmeister kamen zurück; neben den fremdartigen pharmazeutischen Paketen, die er mit einem verstohlenen Seufzer auf den Tisch legte, brachte er einige Geschenke für Anna mit, gute Kleiderstoffe, einen großen warmen Shawl und eine goldene Uhr, als ob er mit diesen kostbaren und auf die Dauer berechneten Sachen eine günstige Wendung des Geschickes erzwingen wollte. Als Anna darüber erschrak, sagte er, sie habe die Dinge schon lange verdient und das bißchen Geld hätte gar keinen Wert für ihn, wenn er nicht ihr eine kleine Freude dadurch verschaffen könnte.
Er zeigte sich zufrieden, daß ich mitfahre; meine Mutter sah es auch gern und
legte mir einige Sachen zurecht, indessen ich das Gefährte aus dem Gasthause
holte, wo es eingestellt war. Anna sah allerliebst aus, als sie wohlvermummt und
verschleiert dem Schulmeister zur Seite saß. Ich nahm den Vordersitz und hatte das
Leitseil des gutgenährten Pferdes ergriffen, das
Es glänzte ein sonniger Herbstnachmittag auf dem Lande. Wir fuhren durch Dörfer und Felder, sahen die Gehölze und Anhöhen im zarten Dufte liegen, hörten die Jägerhörnchen in der Ferne, begegneten überall zahlreichem Fuhrwerke, welches den Herbstsegen einbrachte; hier machten die Leute die Gefäße zur Weinlese zurecht und bauten große Kufen, dort standen sie reihenweise auf den Äckern und hoben die Wurzelfrüchte aus; anderswo wieder pflügten sie die Erde um, und die ganze Familie war dabei versammelt, von der Herbstsonne hinausgelockt; überall war es lebendig und zufrieden bewegt. Die Luft war so mild, daß Anna ihren grünen Schleier zurückschlug und ihr liebliches Gesicht zeigte. Wir vergaßen alle drei, warum wir eigentlich auf diesen Wegen fuhren; der Schulmeister war gesprächig und erzählte uns viele Geschichten von den Gegenden, durch welche wir kamen, zeigte uns die Wohnungen, wo berühmte Männer hausten, deren wohlgeordnete saubere Hofstätten die weise Klugheit ihrer Besitzer verkündeten. Da und dort wohnte eine hübsche Tochter oder deren zwei, von denen etwas zu erblicken wir im Vorüberfahren uns bemühten, und wenn dies gelang, so grüßte Anna mit dem bescheidenen Anstande derjenigen, welche selbst Blumen des Landes sind.
Doch dunkelte es eine geraume Weile, ehe wir ans Ziel gelangten, und mit der
Dunkelheit fiel es mir plötzlich ein, daß ich Judith das Versprechen gegeben, sie
jedesmal zu besuchen, wenn ich ins Dorf käme. Anna hatte sich wieder verhüllt, ich
saß nun neben ihr, da der Schulmeister, welcher die Wege besser kannte, die Zügel
genommen; und weil wir der Dunkelheit
Je untunlicher es mir schien, mein Versprechen zu halten, je weniger ich das Wesen, welches ich mir zur Seite fühlte und das sich nun sanft an mich lehnte, auch nur in Gedanken beleidigen mochte, desto dringender ward auf der anderen Seite die Überzeugung, daß ich am Ende doch mein Wort nicht brechen dürfe, da mich Judith nur im Vertrauen auf dasselbe in jener Nacht entlassen, und ich zögerte nicht, mir einzubilden, daß der Wortbruch sie kränken und ihr weh tun würde. Ich mochte um alles in der Welt gerade vor ihr nicht unmännlich als einer erscheinen, welcher aus Furcht ein Versprechen gäbe und aus Furcht dasselbe bräche. Da fand ich einen sehr klugen Ausweg, wie ich dachte, der mich wenigstens vor mir selbst rechtfertigen sollte. Ich brauchte nur bei dem Schulmeister zu wohnen, so war ich nicht im Dorfe, und wenn ich am Tage dieses besuchte, so mußte ich Judith nicht sehen, welche sich nur meinen nächtlichen und geheimen Besuch während eines Aufenthaltes im Dorfe ausbedungen hatte.
Als wir daher in des Schulmeisters Haus ankamen und dort die Muhme mit einem Sohne
und zwei Töchtern vorfanden, welche uns erwarteten und mich mit dem Fuhrwerk
gleich mitnehmen wollten, erklärte ich unversehens, hierbleiben zu wollen, und die
alte Katherine eilte, mir ein Unterkommen zu bereiten, indessen Anna, die ganz
ermüdet und angegriffen war und von Husten befallen wurde, sich sogleich zu Bett
begeben mußte. Sie führte mich an einen artig eingerichteten Tisch, auf welchem
ihre Bücher und Arbeitssachen, auch Papier und Schreibzeug lagen, setzte Licht
darauf und sagte lächelnd: »Mein Vater bleibt alle Abend bei mir, bis ich
eingeschlafen bin, und liest mir manchmal etwas vor. Hier kannst du dich
vielleicht so lange beschäftigen. Sieh, hier mache ich etwas für dich!« und sie
zeigte mir eine Stickerei zu einer kleinen Mappe, welche sie nach jener
Blumenzeichnung verfertigte, die ich vormehre ren Jahren in der
Einige Augenblicke nachher, als sie gegangen, kam der Schulmeister herein, und ich sah, daß er ein schön eingebundenes Andachtsbuch mitnahm, als er sich wieder entfernte, um in Annas Zimmer zu gehen. Ich hingegen beschaute alle Sächelchen, welche auf dem Tische lagen, spielte mit ihrer Schere und konnte mir gar nicht ernstlich denken, daß irgendeine Gefahr für Anna sein sollte.
Da ich in dem Hause meines Liebchens zu Gaste war, so erwachte ich am Morgen sehr früh, noch eh eine Seele sich regte. Ich machte das Fenster auf und sah lange auf den See hinaus, dessen waldige Uferhöhen vom Morgenrote beglänzt lagen, indessen der späte Mond noch am Himmel stand und sich ziemlich kräftig im dunklen Wasser spiegelte. Ich sah ihn nach und nach erbleichen vor der Sonne, welche nun die gelben Kronen der Bäume vergoldete und einen zarten Schimmer über den erblauenden See warf. Zugleich aber begann die Luft sich wieder zu verhüllen, ein leiser Nebel zog sich erst wie ein Silberschleier um alle Gegenstände, und indem er ein glänzendes Bild um das andere auslöschte, daß sich rings ein Reigen von aufleuchtendem Scheiden und Verschwinden bewegte, wurde der Nebel plötzlich so dicht, daß ich nur noch das Gärtchen vor mir sehen konnte, und zuletzt verhüllte er auch dieses und drang feucht an das Fenster. Ich schloß dieses zu, trat aus der Kammer und fand die alte Katherine in der Küche an dem traulichen hellen Feuer.
Endlich zeigte sich der Schulmeister, welcher, da seine Tochter nun des Morgens im
Bette bleiben mußte und länger schlief als sonst, sich des frühen Aufstehens auch
nicht mehr freute und in seiner Zeiteinteilung ganz nach derjenigen seines kranken
Kindes richtete. Nach einer guten Weile erschien auch Anna und nahm ihr besonders
vorgeschriebenes Frühstück, indessen wir das gewöhnliche verzehrten. Es
verbreitete sich dadurch eine gewisse Wehmut über den Tisch, welche nach und nach
in eine ernste Beschaulichkeit überging, als wir drei sitzen blieben und uns
unterhielten. Der Schulmeister nahm ein Buch, die Nachfolge Christi von Thomas a
Kempis, und las einige Seiten daraus vor, indessen Anna ihre Stickerei vornahm.
Dann hob ihr Vater über das Gelesene ein Gespräch an und suchte mich an demselben
zu beteiligen und nach der herkömmlichen Weise meine Urteilskraft: zu prüfen, zu
mildern und zu gemeinsamer Erbauung auf einen belehrenden Vereinigungspunkt zu
lenken.
Sie hatte wohl ausgeruht und schien ziemlich munter zu sein, so daß kein großer Unterschied gegen ihr früheres Wesen während des Tages bemerklich war. Das machte mich so froh, daß ich aufbrach, um am hellen Tage, vor Judith sicher, ins Pfarrhaus zu gelangen und von da zurückzukehren.
Als ich in den dichten Nebel hinausging, war ich sehr guter Dinge und mußte lachen
über meine seltsame List, zumal das verborgene Wandeln in der grau verhüllten
Natur meinen Gang einem Schleichwege noch völlig ähnlich machte. Ich ging über den
Berg und gelangte bald zum Dorfe; doch verfehlte ich hier des Nebels wegen die
Richtung und sah mich in ein Netz von schmalen Garten- und Wiesenpfaden versetzt,
welche bald zu einem entlegenen Hause, bald wieder gänzlich zum Dorfe
hinausführten. Ich konnte nicht vier Schritte weit sehen; Leute hörte ich immer,
ohne sie zu erblicken, aber zufälligerweise traf ich niemanden auf meinen Wegen.
Da kam ich zu einem offenstehenden Pförtchen und entschloß mich, hindurchzugehen
und alle Gehöfte gerade zu durchkreuzen, um endlich wieder auf die Hauptstraße zu
kommen. Ich geriet in einen prächtigen großen Baumgarten, dessen Bäume alle voll
der schönsten reifen
»Sieh, sieh! du gescheites Bürschchen!« sagte sie froh lachend, »du bist heute gekommen und machst dir gleich den Nebel zunutze, mich noch vor Nacht heimzusuchen; das hätte ich dir nicht einmal zugetraut!« – »Nein«, erwiderte ich, zur Erde blickend, »ich bin gestern gekommen und wohne beim Schulmeister, weil Anna krank ist. Unter diesen Umständen kann ich jedenfalls nicht zu Euch kommen!« Judith schwieg eine Weile, die Arme übereinandergeschlagen, und sah mich klug und durchdringend an, daß mein Blick in die Höhe gezogen und auf den ihrigen gerichtet wurde.
»Das wäre allerdings noch gescheiter, als wie ich es meinte«, sagte sie endlich,
»wenn es dir nur etwas helfen würde! Doch weil unser armes Schätzchen krank ist,
so will ich billig sein und unsere Übereinkunft abändern. Der Nebel wird sich
wenigstens eine Woche lang täglich mehrere Stunden auf dieselbe Weise zeigen Wenn
du jeden Tag zu mir kommst, so will ich dich für die Nacht deiner Pflicht
entbinden und dir zugleich versprechen,
Sie ging mir voran zu einem Baume, dessen Äste und Blätter edler gebaut schienen als die der übrigen, stieg auf einer Leiter einige Sprossen hinan und brach einige schön geformte und gefärbte Äpfel. Einen davon, der noch im feuchten Dufte glänzte, biß sie mit ihren weißen Zähnen entzwei, gab mir die abgebissene Hälfte und fing an, die andere zu essen. Ich aß die meinige ebenfalls und rasch; sie war von der seltensten Frische und Gewürzigkeit, und ich konnte kaum erwarten, bis sie es mit dem zweiten Apfel ebenso machte. Als wir drei Früchte so gegessen, war mein Mund so süß erfrischt, daß ich mich zwingen mußte, Judith nicht zu küssen und die Süße von ihrem Munde noch dazuzunehmen. Sie sah es, lachte und sprach: »Nun sage bin ich dir lieb?« Sie blickte mich dabei fest an, und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und bestimmt an Anna dachte, nicht anders und sagte: »Ja!« Zufrieden sagte Judith: »Dies sollst du mir jeden Tag sagen!«
Hierauf fing sie an zu plaudern und sagte: »Weißt du eigentlich, wie es mit dem
guten Kinde steht?« Als ich erwiderte, daß ich allerdings nicht klug daraus würde,
fuhr sie fort: »Man sagt, daß das arme Mädchen seit einiger Zeit merkwürdige
Träume und Ahnungen habe, daß sie schon ein paar Dinge vorausgesagt, die wirklich
eingetroffen, daß manchmal im Traume wie im Wachen sie plötzlich eine Art
Vorstellung und Ahnung von dem bekomme, was entfernte Personen, die ihr lieb sind,
jetzt tun oder lassen oder wie sie sich befinden, daß sie jetzt ganz fromm sei und
endlich auf der Brust leide! Ich glaube dergleichen Sachen nicht, aber krank ist
sie gewiß, und ich wünsche ihr aufrichtig alles Gute, denn sie ist mir auch lieb
um deinetwillen.
Während ich ungläubig den Kopf schüttelte, durchfuhr mich doch ein leichter Schauer, und ein seltsamer Schleier der Fremdartigkeit legte sich um Annas Gestalt, welche meinem innern Auge vorschwebte. Und fast in demselben Augenblicke war es mir auch, als ob sie mich jetzt sehen müsse, wie ich vertraulich bei der Judith stand; ich erschrak darüber und sah mich um. Der Nebel löste sich auf, schon sah man durch seine silbernen Flöre den blauen Himmel, einzelne Sonnenstrahlen fielen schimmernd auf die feuchten Zweige und beglänzten die Tropfen, welche sich fallend ablösten; schon sah man den blauen Schatten eines Mannes vorübergehen, und endlich drang die Klarheit überall durch, umgab uns und warf, wie wir waren, unser beider Schlagschatten auf den matt besonnten Grasboden.
Ich eilte davon und hörte in dem Hause meines Oheims die Bestätigung dessen, was mir Judith mitgeteilt; wohl aufgehoben in dem lebendigen Hause und beruhigt durch das vertrauliche Gespräch, lächelte ich wieder ungläubig und war froh, in meinen jungen Vettern Genossen zu finden, welche sich auch nicht viel aus dergleichen machten. Doch blieb immer eine gemischte Empfindung in mir zurück, da schon die Neigung zu solchen Erscheinungen, der Anspruch darauf mir beinahe eine Anmaßung zu sein schien, die ich der guten Anna zwar keineswegs, aber doch einem mir fremden und nicht willkommenen Wesen zurechnen konnte, in welchem ich sie jetzt befangen sah. So trat ich ihr, als ich abends zurückkehrte, mit einer gewissen Scheu entgegen, welche jedoch durch ihre liebliche Gegenwart bald wieder zerstreut wurde, und als sie nun selbst, in Gegenwart ihres Vaters, leise anfing von einem Traume zu sprechen, den sie vor einigen Tagen geträumt, und ich daher sah, daß sie willens sei, mich in das vermeintliche Geheimnis zu ziehen, glaubte ich unverweilt an die Sache, ehrte sie und fand sie nur um so liebenswürdiger, je mehr ich vorhin daran gezweifelt.
Ich lag im Bette, als mir diese Gedanken klar wurden und ich der Unschuld und Redlichkeit Annas gedachte, als welche doch auch zu berücksichtigen wären; und nicht so bald befiel mich diese Vorstellung, so streckte ich mich anständig aus, kreuzte die Hände zierlich über der Brust und nahm so eine höchst gewählte und ideale Stellung ein, um mit Ehren zu bestehen, wenn Annas Geisterauge mich etwa unbewußt erblicken sollte. Allein das Einschlafen brachte mich bald aus dieser ungewohnten Lage, und ich fand mich am Morgen zu meinem Verdrusse in der behaglichsten und trivialsten Figur von der Welt.
Ich raffte mich hastig zusammen, und wie man des Morgens Gesicht und Hände wäscht,
so wusch ich gewissermaßen Gesicht und Hände meiner Seele und nahm ein
zusammengefaßtes und sorgfältiges Wesen an, suchte meine Gedanken zu beherrschen
und in jedem Augenblicke klar und rein zu sein. So erschien ich vor Anna, wo mir
ein solch gereinigtes und festtägliches Dasein leicht wurde, indem in ihrer
Gegenwart eigentlich kein anderes möglich war. Der Morgen nahm wieder seinen
Verlauf wie gestern, der Nebel stand dicht vor den Fenstern und schien mich
hinauszurufen. Wenn mich jetzt eine Unruhe befiel, Judith aufzusuchen, so war dies
weniger eine maßlose Unbeständigkeit und Schwäche als eine gutmütige Dankbarkeit,
die ich fühlte und die mich drängte, der reizenden Frau für ihre Neigung
freundlich zu sein; denn nach der unvorbereiteten und unverstellten
Unter solchen Sophismen machte ich mich auf, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf Anna zu werfen, an welcher ich aber keinen Schatten eines Zweifels entdeckte. Draußen zögerte ich wieder, fand aber den Weg unbeirrt zu Judiths Garten. Sie selbst mußte ich erst eine Weile suchen, weil sie, mich gleich am Eingange sehend, sich verbarg, in den Nebelwolken hin und her schlüpfte und dadurch selbst irre wurde, so daß sie zuletzt stillstand und mir leise rief, bis ich sie fand. Wir machten beide unwillkürlich eine Bewegung, uns in den Arm zu fallen, hielten uns aber zurück und gaben uns nur die Hand. Sie sammelte immer noch Obst ein, aber nur die edleren Arten, welche an kleinen Bäumen wuchsen; das übrige verkaufte sie und ließ es von den Käufern selbst vom Baume nehmen. Ich half ihr einen Korb voll brechen und stieg auf einige Bäume, wo sie nicht hingelangen konnte. Aus Mutwillen stieg ich auch in die oberste Krone eines hohen Apfelbaumes hinauf, daß ich im Nebel verschwand. Sie fragte mich unten, ob ich sie liebhätte, und ich antwortete gleichsam aus den Wolken mein Ja. Da rief sie schmeichelnd: »Ach, das ist ein schönes Lied, das hör ich gern! Komm herunter, du junger Vogel, der so artig singt!«
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu, eh ich zu meinem Oheim ging; wir
sprachen dabei über dies und jenes, ich erzählte viel von Anna, und sie mußte
alles anhören und tat es mit großer Geduld, nur damit ich dabliebe Denn während
ich in Anna den
Oft drang ich auch in sie, mir von ihrem Leben zu erzählen und warum sie so einsam sei. Sie tat es, und ich hörte ihr begierig zu. Ihren verstorbenen Mann hatte sie als junges Mädchen geheiratet, weil er schön und kraftvoll ausgesehen. Aber es zeigte sich, daß er dumm, kleinlich und klatschhaft war und ein lächerlicher Topfgucker, welche Eigenschaften sich alle hinter der schweigsamen Blödigkeit des Freiers versteckt hatten. Sie sagte unbefangen, sein Tod sei ein großes Glück gewesen. Nachher bewarben sich nur solche Männer um sie, welche ihr Vermögen im Auge hatten und sich schnell anderswohin richteten, wenn sie ein paar hundert Gulden mehr verspürten. Sie sah, wie blühende, kluge und handliche Männer ganz windschiefe und blasse Weibchen heirateten mit spitzigen Nasen und vielem Gelde, weswegen sie sich über alle lustig machte und sie schnöde behandelte. »Aber ich muß selbst Buße tun«, fügte sie hinzu, »warum hab ich einen schönen Esel genommen!«
Nach acht Tagen kehrte ich zur Stadt zurück und nahm meine Arbeit bei Römer
wieder auf. Da es mit dem Zeichnen im Freien vorbei und auch nichts weiter zu
kopieren war, leitete mich Römer an, zu versuchen, ob ich aus dem Gewonnenen
Mit der ersten Probe ging es ganz ordentlich; ebenso mit der zweiten und dritten. Die frische Luft, die Einfachheit des Gegenstandes und Römers sichere Erfahrung ließen die Gründe sich wie von selbst aneinanderfügen, das Licht wurde ohne Schwierigkeit verteilt und jede Partie in Licht und Schatten vernünftig und klar ausgefüllt, so daß keine nichtssagenden und verworrenen Stellen übrigblieben. Großes Vergnügen gewährte es mir, wenn ich einen oder einige Gegenstände, zu denen die vorliegenden Studien im Licht gehalten waren, in Schatten setzen mußte oder umgekehrt, wo dann durch eigenes Nachdenken und Berechnung ein Neues und doch einzig Notwendiges bezweckt wurde, nach den Bedingungen der Lokalfarbe, der Tageszeit, des blauen oder bewölkten Himmels und der benachbarten Gegenstände, welche mehr oder weniger Licht und Farbe zurückwerfen mußten. Gelang es mir, den wahrscheinlichen Ton zu treffen, der unter ähnlichen Verhältnissen über der Natur selbst geschwebt hätte – was man gleich sah, indem ein wahrer Ton immer einen ganz eigentümlichen Zauber übt – , so beschlich mich ein stolzes Gefühl, in welchem mir meine Erfahrung und das Weben der Natur eins zu sein schienen.
Allein das Vergnügen erwies sich schwieriger, als umfang- und inhaltsreichere
Sachen unternommen wurden und, durch diese Tätigkeit hervorgerufen, meine
Erfindungslust wieder auftauchte
»Es gibt allerdings«, sagte Römer, »eine Richtung, deren Hauptgewicht auf der
Erfindung, auf Kosten der unmittelbaren Wahrheit, beruht. Solche Bilder sehen
aber eher wie geschriebene Gedichte als wie wirkliche Bilder aus, wie es ja
auch Gedichte gibt, welche mehr den Eindruck einer Malerei machen möchten als
eines geistig tönenden Wortes. Wenn Sie in Rom wären und die Arbeiten des alten
Koch oder Reinharts sähen, so würden Sie, Ihrer deutlichen Neigung nach, sich
entzückt den alten Käuzen anschließen; es ist aber gut, daß Sie nicht dort
sind, denn dies ist eine gefährliche Sache für einen jungen Künstler. Es gehört
dazu eine durchaus gediegene, fast wissenschaftliche Bildung, eine strenge,
sichere und feine Zeichnung, welche noch mehr auf dem Studium der menschlichen
Gestalt als auf demjenigen der Bäume und Sträucher beruht, mit einem Wort ein
großer Stil, welcher nur in dem Werte einer ganzen reichen
Ich fügte mich diesen Reden aber nicht, weil ich ihm schon abgemerkt hatte, daß das Erfinden nicht seine Stärke war; denn schon mehr als einmal hatte er, meine Anordnungen korrigierend, Lieblingsstellen in Bergzügen oder Waldgründen, die ich recht bedeutsam glaubte, gar nicht einmal gesehen, indem er sie mit dem markigen Bleistifte schonungslos überschraffierte und zu einem kräftigen, aber nichtssagenden Grunde ausglich. Wenn sie auch störten, so hätte er meiner Meinung nach wenigstens sie bemerken, mich verstehen und etwas darüber sagen müssen.
Ich wagte daher zu widersprechen, schob die Schuld auf die Wasserfarben, in
welchen keine Kraft und Freiheit möglich sei, und sprach meine Sehnsucht aus
nach guter Leinwand und Ölfarben, wo alles schon von selbst eine respektable
Gestalt und Haltung gewinnen würde. Hiemit griff ich aber meinen Lehrer in
seiner Existenz an, indem er glaubte und behauptete, daß die ganze und volle
Künstlerschaft sich hinlänglich und vorzüglich nur durch etwas weißes Papier
und einige englische Farbentäfelchen betätigen und zeigen könne. Er hatte seine
Bahn abgeschlossen und gedachte nichts anderes mehr zu leisten, als er schon
tat; daher beleidigte ihn, wie ich nun zu erkennen gab, daß ich das durch ihn
Gelernte nur als eine Staffel betrachte und bereits mich darüber hinweg zu
etwas Höherem berufen fühle. Er wurde um so empfindlicher, als ich einen
lebhaften und wiederholten Streit über diesen Gegenstand hartnäckig aushielt,
von meinen Hoffnungen nicht abließ und seine Aussprüche, wenn sie ins
Allgemeine gingen, nicht mehr unbedingt annahm, vielmehr ungescheut bestritt.
Hieran war hauptsächlich der Umstand schuld, daß seine sonstigen Gespräche und
Mitteilungen immer sonderbarer und auffallender geworden und meine Achtung
Schon seit einiger Zeit wurden seine Äußerungen über Menschen und Verhältnisse immer härter und zugleich bestimmter, indem sie sich ausschließlicher auf politische Dinge bezogen. Er ging alle Abende in einen Lesezirkel unserer Stadt, las dort die französischen und englischen Blätter und pflegte sich vieles zu notieren, so wie er auch in seiner Wohnung allerlei geheimnisvolle Papierschnitzel handhabte und sich oft über wichtigem Schreiben betreffen ließ. Vorzüglich machte er sich mit dem Journal des Débats zu schaffen. Unsere Regierung nannte er einen Trupp ungeschickter Krähwinkler, den Großen Rat aber ein verächtliches Gesindel und unsere heimischen Zustände im ganzen dummes Zeug. Darüber ward ich stutzig und hielt mit meinen Zustimmungen zurück oder verteidigte unsere Verhältnisse und hielt ihn für einen malkontenten Menschen, welchen der lange Aufenthalt in fremden großen Städten mit Verachtung der engen Heimat angefüllt habe. Er sprach oft von Louis Philippe und tadelte dessen Maßregeln und Schritte wie einer, der eine geheime Vorschrift nicht pünktlich befolgt sieht. Einst kam er ganz unwirsch nach Hause und beklagte sich über eine Rede, welche der Minister Thiers gehalten. »Mit diesem vertrackten kleinen Burschen ist nichts anzufangen!« rief er, indem er ein Zeitungsexzerpt zerknitterte, »ich hätte ihm diese eigenmächtige Naseweisheit gar nicht angesehen! Ich glaubte in ihm den gelehrigsten meiner Schüler zu haben.« – »Zeichnet denn der Herr Thiers auch Landschaften?« fragte ich, und Römer erwiderte, indem er sich bedeutungsvoll die Hände rieb: »Das eben nicht! lassen wir das!«
Doch bald darauf deutete er mir an, daß alle Fäden der europäischen Politik in
seiner Hand zusammenliefen und daß
Mein Erstaunen gewann nicht Zeit, sich aufzuhellen, indem ich ferner erfuhr, daß Römer, während er der verborgene Mittelpunkt aller Staatsregierungen, zugleich das Opfer unerhörter Tyranneien und Mißhandlungen war. Er, der vor aller Augen auf dem mächtigsten Throne Europas hätte sitzen sollen von mehr als eines Rechtes wegen, wurde durch einen geheimnisvollen Zwang gleich einem gebannten Dämon in Verborgenheit und Armut gehalten, daß er kein Glied ohne den Willen seiner Tyrannen rühren konnte, während sie ihm täglich gerade so viel von seinem Genius abzapften, als sie zu ihrer kleinlichen Weltbesorgung gebrauchten. Freilich, wäre er zu seinem Recht und zu seiner Freiheit gekommen, so würde im selben Augenblicke die Mäusewirtschaft aufgehört haben und ein freies, lichtes und glückliches Zeitalter angebrochen sein. Allein die winzigen Dosen seines Geistes, welche nun so tropfenweise verwendet würden, sammelten sich doch langsam zu einem allmächtigen Meere, indem es ihre Art sei, daß keine davon wieder vergehen oder aufgehoben werden könne, und in jenem allbezwingenden Meere werde sein Wesen zu seinem. Rechte kommen und die Welt erlösen, daher er gerne seine körperliche Person wolle verschmachten lassen.
»Hören Sie diesen verfluchten Hahn krähen?« rief er, »dies ist nur ein Mittel
von tausenden, die sie zu meiner Qual anwenden; sie wissen, daß der
Hahnenschrei mein ganzes Nervensystem
Ich sah mich im Zimmer um und versuchte einige Einwendungen zu machen, welche jedoch durch seine stechenden, geheimnisvollen und wichtigen Blicke und Worte unterdrückt wurden. Solange ich mit ihm sprach, befand ich mich in der wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe halbgläubig das Märchen eines Erwachsenen anhört, welcher ihm lieb ist und seiner Achtung genießt; war ich aber allein, so mußte ich mir gestehen, daß ich das Beste, was ich bisher gelernt, aus der Hand des Wahnsinns empfangen habe. Dieser Gedanke empörte mich, und ich begriff nicht, wie jemand wahnsinnig sein könne. Eine gewisse Unbarmherzigkeit erfüllte mich, ich nahm mir vor, mit einem klaren Worte die ganze unsinnige Wolke gewiß zu zerstreuen; stand ich aber dem Wahnsinne gegenüber, so mußte ich seine Stärke und Undurchdringlichkeit sogleich fühlen und froh sein, wenn ich Worte fand, welche, auf die verirrten Gedanken eingehend, dem Leidenden durch Mitteilung einige Erleichterung gewähren konnten. Denn daß er wirklich unglücklich und leidend war und alle eingebildeten Qualen auch fühlte, konnte ich nicht verkennen.
Ich verschwieg Römers Tollheit lange gegen jedermann und selbst gegen meine
Mutter, weil ich meine eigene Ehre dabei beteiligt glaubte, wenn ein so
trefflicher Lehrer und Künstler als verrückt erschien, und weil es mir
widerstrebte, den schlimmen Gerüchten, die über ihn im Umlauf waren,
entgegenzukommen. Doch verlockte mich einst ein gar zu lächerliches Vorkommnis
zum Plaudern. Nachdem er nämlich öfter bedeutungsvoll bald von den Bourbonen,
bald von den Napoleoniden, bald
Wenn ich nun die umlaufenden Nachreden auch nicht für bare Münze nahm und den Mann gegen das Gerücht verteidigte, so beeinträchtigte es doch mein Vertrauen und den jugendlich ehrerbietigen Aufblick zu dem Lehrer, und ich wurde bis zu einem gewissen Grade mit gegen ihn eingenommen, nur mit dem Unterschiede, daß ich seinen Wert als Künstler nach wie vor hochhielt.
Nachdem ich vier Monate unter seiner Leitung zugebracht, wollte ich mich
zurückziehen, indem ich die bezahlte Summe nun als ausgeglichen betrachtete.
Doch er äußerte wiederholt, daß es hiemit nicht so genau zu nehmen und die
Studien deshalb nicht abzubrechen wären; es sei ihm im Gegenteil ein angenehmes
Bedürfnis, unsern Verkehr fortzusetzen. So arbeitete ich zwar nicht mehr in
seiner Wohnung, besuchte ihn aber zuweilen und empfing seinen Rat. Weitere vier
Monate vergingen so, während welcher er, durch die Not gezwungen, aber
leichthin und beiläufig mich anfragte, ob meine Mutter ihm mit einem etwelchen
Darlehen auf kurze Zeit aushelfen könne? Er bezeichnete ungefähr eine gleiche
Summe wie die schon empfangene, und ich brachte ihm das Geld noch am gleichen
Tage. Im Frühjahr endlich gelang es ihm, mit Mühe wieder einmal eine Arbeit zu
verkaufen, wodurch er etwas reichlichere Mittel in die Hände bekam. Mit diesen
beschloß er nach Paris zu gehen, da ihm hier kein Heil blühen wollte und ihn
sonst auch der Wahn forttrieb, durch Ortsveränderung ein besseres Los erzwingen
zu können. Denn trotz allem scharfsinnigen Instinkte, den ein Irrsinniger und
Unglücklicher hat, ahnte er von ferne nicht, daß sein wirkliches Geschick viel
schlimmer als sein eingebildetes Leiden und daß die Welt übereingekommen
Ich fand ihn, wie er seine Sachen zusammenpackte und einige Rechnungen bezahlte. Er kündigte mir seine Abreise an, die am andern Tage erfolgen sollte, und verabschiedete sich zugleich freundlich von mir, noch einige geheimnisvolle Andeutungen über den Zweck der Reise beifügend. Als ich meiner Mutter die Nachricht mitteilte, fragte sie sogleich, ob er denn nichts von dem geliehenen Gelde gesagt habe?
Ich hatte bei Römer einen entschiedenen Fortschritt gemacht, mein ganzes Können und meinen Blick erweitert, und es war gar nicht zu berechnen und schon nicht mehr zu denken, wie es ohne dies alles mit mir hätte gehen sollen. Deswegen hätten wir das Geld füglich als eine wohlangewandte Entschädigung ansehen dürfen, und dies um so mehr, als Römer mir die letzte Zeit nach wie vor seinen Rat gegeben hatte. Allein wir glaubten nur einen Beweis von der Richtigkeit jener Gerüchte zu sehen und wußten auch dazumal noch nicht, wie kümmerlich er lebte; wir dachten ihn im Besitze guter Mittel, denn er hatte seine Armut sorgfältig verborgen. Meine Mutter bestand darauf, daß er das Geliehene zurückgeben müsse, und war zornig, daß jemand von dem zum Besten ihres Söhnleins bestimmten kleinen Geldvorrate sich ohne weiteres einen Teil aneignen wolle. Was ich gelernt, zog sie nicht in Betracht, weil sie es für die Schuldigkeit aller Welt hielt, mir mitzuteilen, was man irgend Gutes wußte.
Ich dagegen, teils weil ich zuletzt auch gegen Römer eingenommen war und ihn
für eine Art Schwindler hielt, teils weil ich meine Mutter zur Herausgabe der
Summe beredet, und endlich aus Unverstand und Verblendung, hatte nichts
einzuwenden und empfand eher eine Genugtuung, mich für alle Unbill zu rächen.
Als daher die Mutter ein Billett an ihn schrieb und ich einsah, daß er, wenn er
entschlossen war, das Geld zu behalten,
Ich glaube, wenn Römer sich eingebildet hätte, ein Nilpferd oder ein Speiseschrank zu sein, so wäre ich nicht so unbarmherzig und undankbar gegen ihn gewesen; da er aber ein großer Prophet sein wollte, so fühlte sich meine eigene Eitelkeit dadurch verletzt und waffnete sich mit den äußerlichen scheinbaren Gründen.
Nach einem Monate erhielt ich von Römer folgenden Brief aus Paris:
Ich bin Ihnen eine Nachricht über mein Befinden schuldig, da ich gern annehme,
mich Ihrer ferneren Teilnahme und Freundschaft erfreuen zu dürfen. Bin ich
Ihnen doch meine endliche Befreiung und Herrschaft schuldig. Durch Ihre
Vermittlung, indem Sie das Geld von mir zurückverlangten (welches ich nicht
vergessen hatte, aber Ihnen in einem freiern Augenblicke zurückgeben wollte),
bin ich endlich in den Palast meiner Väter eingezogen und meiner wahren
Bestimmung anheimgegeben!
Ihr wohlgewogener Freund.
Dies nur in Eile, ich bin zu sehr beschäftigt!«
Erst später erfuhr ich, daß Römer in einem französischen Irrenhause verschollen
sei. Wie es dazu kam, wird in obigem Briefe ziemlich klar. Meine Mutter,
welcher ich alles verhehlte, konnte keine Schuld treffen als diejenige aller
Frauen, welche aus Sorge für ihre Angehörigen engherzig und rücksichtslos gegen
alle Welt werden. Ich hingegen, der ich gerade zu dieser Zeit mich gut und
strebsam glaubte, sah nun ein, welche Teufelei
Diese Demütigung traf mich um so stärker, als ich, in Annas Träumen und Ahnungen rein und gut zu erscheinen, den Winter über ein puritanisches Wesen angenommen hatte und nicht nur meine äußerliche Haltung, sondern auch meine Gedanken sorgfältig überwachte und mich bestrebte, wie ein Glas zu sein, das man jeden Augenblick durchschauen dürfe. Welche Ziererei und Selbstgefälligkeit dabei tätig war, wurde mir jetzt erst bei dieser gewaltsamen Störung deutlich, und meine Selbstanklage wurde noch durch das Gefühl der Narrheit und Eitelkeit verbittert.
Anna hatte während des Winters streng das Zimmer hüten müssen und wurde im Frühling bettlägerig. Der arme Schulmeister kam in die Stadt, um meine Mutter abzuholen; er weinte, als er in die Stube trat. Wir schlossen also unsere Wohnung zu und fuhren mit ihm hinaus, wo meine Mutter wie ein halbes Meerwunder empfangen und geehrt wurde. Sie enthielt sich jedoch, alle die Orte, die ihr teuer waren, aufzusuchen und ihre gealterten Bekannten zu sehen, sondern eilte, sich bei dem kranken Kinde einzurichten; erst nach und nach benutzte sie günstige Augen blicke, und es dauerte monatelang, bis sie alle Jugendfreunde gesehen, obgleich die meisten in der Nähe wohnten.
Ich hielt mich im Hause des Oheims auf und ging alle Tage an den See hinüber. Anna
litt morgens und abends und in der Nacht am meisten; den Tag über schlummerte sie
oder lag schweigend im Bette, und ich saß an demselben, ohne viel zu wissen, was
ich sagen sollte. Unser Verhältnis trat äußerlich zurück vor dem schweren Leiden
und der Trauer, welche die Zukunft nur halb verhüllte. Wenn ich manchmal ganz
allein auf eine Viertelstunde bei ihr saß, so hielt ich ihre Hand, während
Der Frühling blühte nun in aller Pracht; aber das arme Kind konnte kaum und selten ans Fenster gebracht werden. Wir füllten daher die Wohnstube, in welcher ihr weißes Bett stand, mit Blumenstöcken und bauten vor dem Fenster ein breites Gerüste, um auf demselben durch größere Töpfe möglichst einen Garten einzurichten. Wenn Anna an sonnigen Nachmittagen eine gute Stunde hatte und wir der warmen Maisonne das Fenster öffneten, der silberne See durch die Rosen und Oleanderblüten hereinglänzte und Anna in ihrem weißen Krankenkleide dalag, so schien hier ein sanfter trauernder Kultus des Todes begangen zu werden.
Manchmal aber wurde Anna in solchen Stunden ganz munter und verhältnismäßig
redselig; wir setzten uns dann um ihr Bett herum und führten ein gemächliches
Gespräch über Personen und Begebenheiten, bald heiterer Natur und bald ernster, so
daß Anna Bericht erhielt von dem, was unsere kleine Welt bewegte. Eines Tages, als
meine Mutter in das Dorf gegangen war, fiel das Gespräch auf mich selbst, und der
Schulmeister wie seine Tochter schienen es auf diesem Gegenstande so wohlwollend
festhalten zu wollen, daß ich mich äußerst geschmeichelt fühlte und aus
behaglicher Dankbarkeit die größte Aufrichtigkeit entgegenbrachte. Ich benutzte
den Anlaß, mein Verhältnis zu dem unglücklichen Römer zu erzählen, über welches
ich seit jenem Briefe mit niemanden gesprochen, und ich brach in die heftigsten
Klagen über den Vorfall und mein Verhalten aus. Der Schulmeister verstand mich
aber nicht recht; denn er wollte
Plötzlich aber bekam Anna, welche sich bisher still verhalten, aufgeregt durch meine Erzählung und durch mein Gebaren, einen heftigen Anfall ihrer Krämpfe und Leiden, daß ich das arme zarte Wesen zum ersten Mal seiner ganzen hilflosen Qual verfallen sah. Große Tränen, durch Not und Angst erpreßt, rollten über ihre weißen Wangen, ohne daß sie dieselben aufhalten konnte. Sie war ganz durch die Bewegungen ihrer Leiden beschäftigt, so daß bald alle Rücksicht und Haltung verschwinden mußten, und nur dann und wann richtete sie einen kurzen irrenden Blick auf mich, wie aus einer fremden Welt des Schmerzes heraus; zugleich schien sie dann eine zarte Scham zu ängstigen, so maßlos vor mir leiden zu müssen; und ich muß bekennen, daß meine Verlegenheit, so gesund und ungeschlacht vor dem Heiligtume dieser Marterstätte zu stehen, fast so groß war als mein Mitleiden. Überzeugt, daß ich ihr dadurch wenigstens einige Befreiung verschaffe, ließ ich sie in den Armen ihres Vaters und eilte bestürzt und beschämt davon, meine Mutter herbeizuholen.
Nachdem diese mit einer Nichte sich fortbegeben, um das kranke Kind zu pflegen,
blieb ich den Rest des Tages im Hause des Oheims, mir Vorwürfe machend über mein
plumpes Ungeschick. Nicht nur mein Unrecht gegen Römer, sondern sogar das
Bekenntnis desselben und seine heutigen Folgen warfen einen gehässigen Schein auf
mich, und ich fühlte mich gebannt in einer jener dunklen Stimmungen, wo einem der
Zweifel aufsteigt,
Dann stand sie still, sah mich an und sagte: »Weißt du wohl, Heinrich, daß du allbereits ein Menschenleben auf deiner grünen Seele hast?«
Diesen Gedanken hatte ich mir noch nicht einmal klargemacht, und ich sagte betroffen: »So arg ist es wohl nicht! Im schlimmsten Falle wäre es ein unglücklicher Zufall, den ich herbeizuführen nie wähnen konnte!«
»Ja«, erwiderte sie sachte, »wenn du eine einfache, sogar grobe Forderung gestellt hättest! Durch deinen saubern Höllenzwang aber hast du ihm förmlich den Dolch auf die Brust gesetzt, wie es auch ganz einer Zeit gemäß ist, wo man sich mit Worten und Brieflein totsticht! Ach, der arme Mann! Er war so fleißig und gab sich Mühe, aus der Patsche zu kommen, und als er endlich ein Röllchen Geld erwarb, nimmt man es ihm weg! Es ist so natürlich, den Lohn der Arbeit zu seiner Ernährung zu verwenden; aber da heißt es Gib erst zurück, wenn du geborgt hast, und dann verhungere!«
Wir saßen beide eine Weile düster und nachdenklich da; dann sagte ich: »Das hilft nichts, geschehene Dinge sind einmal nicht zu ändern. Die Geschichte soll mir zur Warnung dienen; aber ich kann sie nicht ewig mit mir herumschleppen, und da ich mein Un recht einsehe und bereue, so mußt du es mir endlich verzeihen und mir die Gewißheit geben, daß ich deswegen nicht hassenswert und garstig aussehe!«
Ich merkte nämlich erst jetzt, daß ich darum hergekommen und allerdings bedürftig
war, durch Mitteilung und durch die Vermittlung eines fremden Mundes die
Vertilgung eines drückenden Gefühles oder Verzeihung zu erlangen, wenn ich mich
auch gegen des Schulmeisters christliche Vermittlung sträubte. Aber Judith
antwortete: »Daraus wird nichts! Die Vorwürfe
Diese seltsame Äußerung in Judiths Munde machte mich tief betroffen und verursachte mir ein langes Nachsinnen; je länger ich sann, desto gewisser wurde es mir, daß Judith das Rechte getroffen, und ich gelangte zu einem Schluß, welcher, indem er zugleich zu einem Entschluß wurde, nämlich das Bewußtsein des begangenen Unrechtes nie mehr vergessen und immer in seiner ganzen Frische tragen zu wollen, mir die einzig mögliche Ausgleichung zu sein schien.
Es ist merkwürdig, daß die Menschen immer nur große Dummheiten, die sie begangen, nicht glauben vergessen zu können, sich bei deren Erinnerung vor den Kopf schlagen und kein Hehl daraus machen, zum Zeichen, daß sie nun klüger geworden; begangenes Unrecht aber machen sie sich weis allmählich vergessen zu können, während es in der Tat nicht so ist, schon deswegen, weil das Unrecht mit der Dummheit nahe verwandt und ähnlicher Natur ist. Ja, dachte ich, so unverzeihlich mir meine Dummheiten sind, wird es auch mein Unrecht sein! Was ich an Römer getan, werde ich von nun an nie mehr vergessen und, wenn ich unsterblich bin, in die Unsterblichkeit hinübernehmen, denn es gehört zu meiner Person, zu meiner Geschichte, zu meinem Wesen, sonst wäre es nicht geschehen! Meine einzige Sorge wird sein, noch so viel Rechtes zu tun, daß mein Dasein erträglich bleibt!
Ich sprang auf und verkündete der Judith diese Ausführung und Anwendung ihrer
einfachen Worte; denn es dünkte mir ein wichtiges Ereignis, so für immer auf das
Vergessen einer
Sie gab mir sogleich eine Ohrfeige, doch wie es mir schien, mehr aus Vergnügen als aus Zorn, und sagte: »Du bist ein recht unverschämter Gesell und glaubst wohl, du brauchst deine schändlichen Gedanken nur einzugestehen, um von mir absolviert zu sein! Freilich sind es nur die beschränkten und vernagelten Leute, welche nie etwas eingestehen wollen; aber die übrigen machen deswegen damit auch nicht alles gut! Zur Strafe gehst du mir jetzt gleich zum Tempel hinaus und machst, daß du nach Hause kommst! In der künftigen Nacht darfst du dich wieder zeigen!«
Ich begab mich nun, sooft es anging, des Nachts zu ihr; sie brachte den Tag
meistens allein und einsam zu, während ich entweder weite Streifzüge unternahm, um
zu zeichnen, oder in des Schulmeisters Haus, als in einer Schule des Leidens, mich
still und gemessen halten mußte. So hatten wir in diesen Nächten vollauf zu
plaudern und saßen oft stundenlang am offenen Fenster, wo der Glanz des
nächtlichen Himmels über der sommerlichen Welt lag; oder wir machten dasselbe zu,
schlossen die Läden und setzten uns an den Tisch und lasen zusammen. Ich
Noch mehr glaubte ich selbst der Gegenstand eines poetischen
Zu diesen so ganz entgegengesetzten Aufregungen der Tage und Nächte kamen im Sommer noch verschiedene Auftritte im ländlichen Familienleben, welche bei aller Einfachheit doch den gewaltigen Wechsel des Lebens und sein unaufhaltsames Vor übergehen ins Licht stellten. Der Haushalt des jungen Müllers ließ seine Heirat nicht länger aufschieben, und es wurde also eine dreitägige Hochzeit gefeiert, bei welcher die spärlichen Überreste städtischen Gebrauches, so die Braut aus ihrem Hause mitbrachte, gar jämmerlich dem ländlichen Pomp unterliegen mußten. Die Geigen schwiegen nicht während der drei Tage; ich ging mehrmals hin und fand Judith festlich geschmückt unter dem Gedränge der Gäste; ein und das andere Mal tanzte ich bescheiden und wie ein Fremder mit ihr, und auch sie hielt sich zurück, obgleich wir während der geräuschvollen Nachte Gelegenheit genug hatten, uns unbemerkt nahe zu sein.
Kaum war die Hochzeit vorüber, so erkrankte die Muhme, welche noch nicht fünfzig
Jahre alt war, und starb in Zeit von drei Wochen. Sie war eine starke Frau, daher
ihre Todeskrankheit um so gewaltsamer, und sie starb sehr ungern. Sie litt heftig
und unruhig und ergab sich erst in den letzten zwei Tagen; und an dem Schrecken,
der sich im Hause verbreitete, konnte man erst sehen, was sie allen gewesen. Aber
wie nach dem Hinsinken eines guten Soldaten auf dem Felde der Ehre die Lücke
schnell wieder ausgefüllt wird und der Kampf rüstig fortgeht, so erwies sich die
Art des Lebens und des Todes dieser tapferen Frau auch auf das schönste dadurch,
daß die Reihen ohne Lamentieren rasch sich schlossen; die Kinder teilten sich in
Arbeit und Sorge und versparten den beschaulichen Schmerz bis auf die Tage der
Ruhe, wo man die Marksteine des Lebens deutlicher
So war in kurzer Zeit die Gestalt des oheimlichen Hauses verändert und durch die verschiedenen Vorgänge alles älter und ernster geworden. Von der traurigen Schaubühne ihres Krankenbettes sah die arme Anna diese Veränderungen, aber schon mehr als äußerlich getrennt von den Ereignissen. Sie hatte eine geraume Zeit im gleichen Zustande verharrt, und alle hofften, daß sie am Ende wieder aufleben würde. Aber da man es am wenigsten dachte, erschien eines Morgens im Herbste der Schulmeister schwarz gekleidet bei dem Oheim, welcher selbst noch schwarz ging, und verkündete ihren Tod.
In einem Augenblicke war nicht nur das Haus von Klagen erfüllt, sondern auch die benachbarte Mühle, und die Vorübergehenden verbreiteten das Leid im ganzen Dorfe. Seit bald einem Jahre war der Gedanke an Annas Tod großgezogen worden, und die Leute schienen sich ein rechtes Fest der Klage und des Bedaurens aufgespart zu haben; denn für eine allgemeine Totentrauer war dieser anmutige, schuldlose und geehrte Gegenstand geeigneter als die eigenen Verluste.
Ich hielt mich ganz still im Hintergrunde; wenn ich auch bei freudigen Anlässen laut wurde und unwillkürlich eine anmaßende Rolle spielte, so wußte ich dagegen, wo es traurig herging, mich gar nicht vorzudrängen und geriet immer in die Verlegenheit, für teilnahmlos und verhärtet angesehen zu werden, und dies um so mehr, als mir von jeher nur die aus Schuld oder Unrecht entstandenen Mißstimmungen, die innere Berührung der Menschen, nie aber das unmittelbare Unglück oder der Tod Tränen zu entlocken vermochten.
Auf dem Wege faßte der Schulmeister sein Leid zusammen und gab ihm durch die nochmalige Schilderung der letzten Nacht und des Sterbens, das gegen Morgen eintraf, Worte. Ich hörte alles aufmerksam und schweigend an; die Nacht war beängstigend und leidenvoll gewesen, der Tod selbst aber fast unmerklich und sanft.
Meine Mutter und die alte Katherine hatten die Leiche schon geschmückt und in
Annas Kämmerchen gelegt. Da lag sie, nach des Schulmeisters Willen, auf dem
schönen Blumenteppich, den sie einst für ihren Vater gestickt und man jetzt über
ihr schmales Bettchen gebreitet hatte; denn nach solchem Dienste gedachte der gute
Mann diese Decke immer zunächst um sich zu haben, solange er noch lebte. Über ihr
an der Wand hatte Katherine, deren Haar nun schon ganz ergraut war und die aufs
heftigste und zärtlichste lamentierte, das Bild hingehängt, das ich einst von Anna
gemacht, und gegenüber sah man immer noch die Landschaft mit der Heidenstube,
welche ich vor Jahren auf die weiße Mauer gemalt. Die beiden Flügeltüren von Annas
Schrank standen geöffnet, und ihr unschuldiges Eigentum trat zutage und verlieh
der stillen Totenkammer einen wohltuenden Schein von Leben. Auch gesellte sich der
Schulmeister zu den beiden Frauen, die vor dem Schranke sich aufhielten, und half
Indessen verweilte ich ruhig bei der Leiche und beschaute sie mit unverwandten Blicken; aber ich ward durch das unmittelbare Anschauen des Todes nicht klüger aus dem Geheimnis desselben oder vielmehr nicht aufgeregter als vorhin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich sie zuletzt gesehen, nur daß die Augen geschlossen waren und das blütenweiße Gesicht beständig zu einem leisen Erröten bereit schien. Ihr Haar glänzte frisch und golden, und ihre weißen Händchen lagen gefaltet auf dem weißen Kleide mit einer weißen Rose. Ich sah alles wohl und empfand beinahe eine Art glücklichen Stolzes, in einer so traurigen Lage zu sein und eine so poetisch schöne tote Jugendgeliebte vor mir zu sehen.
Meine Mutter und der Schulmeister schienen stillschweigend mir ein nahes Recht auf die Verstorbene zuzugestehen, als man verabredete, daß fortwährend jemand bei der Toten weilen und ich die erste Wache halten sollte, damit die übrigen sich in ihrer Erschöpfung einstweilen zurückziehen und etwas erholen konnten.
Ich blieb aber nicht lange allein mit der Anna, da bald die Basen aus dem Dorfe kamen und nach ihnen manche andere Mädchen und Frauen, denen ein so rührendes Ereignis und eine so berühmte Leiche wichtig genug waren, die drängendste Arbeit liegenzulassen und dem ehrfurchtsvollen Dienste des Menschengeschickes nachzugehen. Die Kammer füllte sich mit Frauensleuten, welche erst einer feierlich flüsternden Unterhaltung pflagen, dann aber in ein ziemliches Geplauder gerieten. Sie standen dichtgedrängt um die stille Anna herum, die jungen mit ehrbar aufeinandergelegten Händen, die älteren mit untergeschlagenen Armen. Die Kammertür stand geöffnet für die Ab- und Zugehenden, und ich nahm die Gelegenheit wahr, mich hinauszumachen und im Freien umherzuschlendern, wo die nach dem Dorfe führenden Wege ungewöhnlich belebt waren.
Erst nach Mitternacht traf mich die Reihe wieder, die Totenwache zu versehen,
welche wir seltsamerweise nun einmal eingerichtet. Ich blieb nun bis zum Morgen in
der Kammer; aber so schnell mir die Stunden vorübergingen, wie ein Augenblick,
sowenig wüßte ich eigentlich zu sagen, was ich gedacht und empfunden. Es war so
still, daß ich durch die Stille hindurch glaubte das Rauschen der Ewigkeit zu
hören; das tote weiße Mädchen lag unbeweglich fort und fort, die farbigen Blumen
des Teppichs aber schienen zu wachsen in dem schwachen Lichte. Nun ging der
Morgenstern auf und spiegelte sich im See; ich löschte die Lampe ihm zu Ehren,
damit er allein Annas Totenlicht sei, saß nun im Dunkeln in meiner Ecke und sah
nach und nach die Kammer sich erhellen. Mit der Dämmerung, welche in das reinste
goldene Morgenrot überging, schien es zu leben und zu weben um die stille Gestalt,
bis sie deutlich im hellen Tage dalag. Ich hatte mich erhoben und vor das Bett
gestellt, und indem ihre Gesichtszüge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber
nur hauchend und tonlos; es blieb totenstill, und als ich zugleich zaghaft ihre
Hand berührte, zog ich die meinige entsetzt
Wie dies abstoßende kalte Gefühl meinen ganzen Körper durchrieselte, ließ es mir nun auch plötzlich das Gesicht der Leiche so seelenlos und abwesend erscheinen, daß mir beinahe der erschreckte Ausruf entfuhr: »Was hab ich mit dir zu schaffen?« als aus dem Saale her die Orgel in milden und doch kräftigen Tönen erklang, welche nur manchmal in leidvollem Zittern schwankten, dann aber wieder zu harmonischer Kraft sich ermannten. Es war der Schulmeister, welcher in dieser Morgenfrühe seinen Schmerz und seine Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum Lob der Unsterblichkeit zu lindern suchte. Ich lauschte der Melodie; sie bezwang meinen körperlichen Schrecken, ihre geheimnisvollen Töne öffneten die unsterbliche Geisterwelt, und ich glaubte derselben durch ein neues Gelöbnis mit der Entschlafenen um so sicherer anzugehören. Das schien mir wiederum ein bedeutungsvoller und feierlicher Vorgang zu sein.
Aber zugleich wurde mir nun der Aufenthalt in der Totenkammer zuwider, und ich war
froh, mit dem Gedanken der Unsterblichkeit hinauszukommen ins lebendige Grüne. Es
erschien an diesem Tage ein Schreinergesell aus dem Dorfe, um hier den Sarg zu
machen. Der Schulmeister hatte vor Jahren schon eigenhändig eine saubere Tanne
gefällt und zu seinem Sarge bestimmt. Dieselbe lag in Bretter gesägt hinter dem
Hause, durch das Vordach geschützt, und hatte immer zu einer Ruhebank gedient, auf
welcher der Schulmeister zu lesen und seine Tochter als Kind zu spielen pflegte.
Es zeigte sich nun, daß die obere schlanke Hälfte des Baumes den schmalen
Totenschrein Annas abgeben könne, ohne den zukünftigen Sarg des Vaters zu
beeinträchtigen; die wohlgetrockneten Bretter wurden abgehoben und eines nach dem
andern entzweigeschnitten. Der Schulmeister vermochte aber nicht lange
dabeizusein, und selbst die Frauen im Hause klagten über den Ton der Säge. Der
Am folgenden Tage wurde die Ärmste in den Sarg gelegt, von allen Blumen umgeben, welche in Haus und Garten augenblicklich blüheten; aber auf die Wölbung des Sarges wurde ein schwerer Kranz von Myrtenzweigen und weißen Rosen gebreitet, welchen die Jungfrauen aus der Kirchgemeinde brachten, und außerdem noch so viele einzelne Sträuße blasser herbstlicher Blüten aller Art, daß die ganze Oberfläche davon bedeckt wurde und nur die Glasscheibe frei blieb, durch welche man das weiße zarte Gesicht der Leiche sah.
Das Begräbnis sollte vom Hause des Oheims aus stattfinden, und zu diesem Ende hin
mußte Anna erst über den Berg getragen werden. Es erschienen daher Jünglinge aus
dem Dorfe, welche die Bahre abwechselnd auf ihre Schultern nahmen, und unser
kleines Gefolge der nächsten Angehörigen begleitete den Zug. Auf der sonnigen Höhe
des Berges wurde ein kurzer Halt gemacht und die Bahre auf die Erde gesetzt. Es
war so schön hier oben! Der Blick schweifte über die umliegenden Täler bis in die
blauen Berge, das Land lag in glänzender Farbenpracht rings um uns. Die vier
kräftigen Jünglinge, welche die Bahre zuletzt getragen, saßen ruhend auf den
Tragewangen derselben, die Häupter auf ihre Hände gestützt, und schauten
schweigend in alle vier Weltgegenden hinaus. Hoch am blauen Himmel zogen
leuchtende Wolken und schienen über dem Blumensarge einen Augenblick stillzustehen
und neugierig durch das Fensterchen zu gucken, welches fast schalkhaft zwischen
den Myrten und Rosen hervorfunkelte im Widerscheine der Wolken. Wenn Anna jetzt
die Augen hätte aufschlagen können, so würde sie ohne Zweifel die Engel gesehen
und geglaubt haben, daß sie hoch im Himmel schwebten. Wir saßen, wie es sich traf,
umher,
Als wir ins Dorf hinuntergestiegen, läutete die Totenglocke zum ersten Mal; Kinder begleiteten uns in Scharen bis zum Hause, wo man den Sarg unter die Nußbäume vor die Tür hinstellte. Wehmütig gewährten die Verwandten der Toten das Gastrecht bei dieser letzten Einkehr; es waren nun kaum anderthalb Jahre vergangen, seit jener fröhliche Festzug der Hirten sich unter diesen selben Bäumen bewegte und mit bewundernder Lust Annas damalige Erscheinung begrüßte. Bald war der Platz voll Menschen, welche sich herandrängten, um der Seligen zum letzten Mal ins Angesicht zu schauen.
Nun ging der Leichenzug vor sich, der außerordentlich groß war; der Schulmeister,
welcher dicht hinter dem Sarge ging, schluchzte fortwährend wie ein Kind. Ich
bereute jetzt, keinen schwarzen ehrbaren Anzug zu besitzen; denn ich ging unter
meinen schwarzgekleideten Vettern in meinem grünen Habit wie ein fremder Heide.
Nachdem die Gemeinde den gewohnten Gottesdienst beendigt und mit einem Choral
beschlossen, scharte man sich draußen um das Grab, wo die ganze Jugend,
außergewöhnlicherweise, einen sorgfältig eingeübten Grabgesang mit gemäßigter
Stimme sang. Jetzt ward der Sarg hinabgelassen; der Totengräber reichte den Kranz
und die Blumen herauf, daß man sie aufbewahre, und der arme Sarg stand nun blank
in der feuchten Tiefe. Der Gesang dauerte fort, aber alle Frauen schluchzten. Der
letzte Sonnenstrahl leuchtete nun durch die Glasscheibe in das bleiche Gesicht,
das darunter lag; das Gefühl, das ich jetzt empfand, war so seltsam, daß ich es
nicht anders als mit dem fremden und kalten Worte »objektiv« benennen kann,
welches die Gelehrsamkeit erfunden hat. Ich glaube, die Glasscheibe tat es mir an,
daß ich das Gut, was sie verschloß, gleich einem hinter Glas und Rahmen gebrachten
Teil meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener und feierlicher Stimmung,
Der Schieber wurde zugemacht; der Totengräber und sein Gehilfe stiegen herauf, und bald war der braune Hügel aufgebaut.
Am andern Tage, als der Schulmeister zu erkennen gab, daß er nun seinen Schmerz in der Einsamkeit allein mit seinem Gott überwinden wolle, schickte ich mich an, mit der Mutter nach der Stadt zurückzukehren. Vorher ging ich zur Judith und fand sie beschäftigt, ihre Bäume zu mustern, da die Zeit wieder gekommen war, wo man das Obst einsammelte. Der Herbstnebel traf gerade heute zum ersten Mal ein und verschleierte schon den Baumgarten mit seinem silbernen Gewebe. Judith war ernst und etwas verlegen, als sie mich sah, da sie nicht recht wußte, wie sie sich zu dem traurigen Erlebnis stellen sollte.
Ich sagte aber ernsthaft, ich wäre gekommen, um Abschied von ihr zu nehmen, und
zwar für immer; denn ich könnte sie nun nie wiedersehen. Sie erschrak und rief
lächelnd, das werde nicht so unwiderruflich feststehen; sie war bei diesem Lächeln
so erbleicht und doch so freundlich, daß der Zauber mich beinahe umkehrte, wie man
einen Handschuh umkehrt. Doch ich bezwang mich und fuhr fort daß es ferner nicht
so gehen könne, daß ich Anna von Kindheit auf gern gehabt, daß sie mich bis zu
ihrem Tode wahrhaftge liebt und meiner Treue versichert gewesen sei. Treue und
Glauben müßten aber in der Welt sein, an
Als Judith diese Worte hörte, erschrak sie noch mehr und wurde zugleich schmerzlich berührt. Es waren wieder von den Worten, von denen sie behauptete, daß niemals jemand zu ihr solche gesagt habe. Heftig ging sie unter den Bäumen umher und sagte dann: »Ich habe geglaubt, daß du mich wenigstens auch etwas liebtest!«
»Gerade deswegen«, erwiderte ich, »weil ich wohl fühle, daß ich an dir hange, muß ein Ende gemacht werden!«
»Nein, gerade deswegen mußt du erst anfangen, mich recht und ganz zu lieben!«
»Das wäre eine schöne Wirtschaft!« rief ich, »was soll dann aus Anna werden?«
»Anna ist tot!«
»Nein! Sie ist nicht tot, ich werde sie wiedersehen, und ich kann doch nicht einen ganzen Harem von Frauen für die Ewigkeit ansammeln!«
Bitter lachend stand Judith vor mir still und sagte:
»Das wäre allerdings komisch! Aber wissen wir denn, ob es eigentlich eine Ewigkeit gibt?«
»So oder so«, erwiderte ich, »gibt es eine, und wenn es nur diejenige des Gedankens und der Wahrheit wäre! Ja, wenn das tote Mädchen für immer in das Nichts hingeschwunden und sich gänzlich aufgelöst hätte, bis auf den Namen, so wäre dies erst ein rechter Grund, der armen Abwesenden Treue und Glauben zu halten! Ich habe es gelobt, und nichts soll mich in meinem Vorsatz wankend machen!«
»Nichts!« rief Judith, »o du närrischer Gesell! Willst du in ein Kloster gehen? Du
siehst mir darnach aus! Aber wir wollen
»Ich seh es jetzt schon« erwiderte ich, »du wirst mich nie wieder sehen und sprechen, dies schwöre ich hiemit bei Gott und allem, was heilig ist, bei dem bessern Teil meiner selbst und –«
»Halt inne!« rief Judith ängstlich und legte mir die Hand auf den Mund; »du würdest es sicher noch einmal bereuen, dir selbst eine so grausame Schlinge ge legt zu haben! Welche Teufelei steckt in den Köpfen dieser Menschen! Und dazu behaupten sie und machen sich selber weis, daß sie nach ihrem Herzen handeln. Fühlst du denn gar nicht, daß ein Herz seine wahre Ehre nur darin finden kann, zu lieben, wo es geliebt wird, wenn es dies kann? Du kannst es und tust es heimlich doch, und somit wäre alles in der Ordnung! Sobald du mich nicht mehr leiden magst, sobald die Jahre uns sonst auseinanderführen, sollst du mich ganz und für immer verlassen und vergessen, ich will dies über mich nehmen; aber nur jetzt verlaß mich und zwinge dich nicht, mich zu verlassen; dies allein tut mir weh, und es würde mich wahrhaft unglücklich machen, allein um unserer Dummheit willen nicht einmal ein oder zwei Jahre noch glücklich sein zu dürfen!«
»Diese zwei Jahre«, sagte ich, »müssen und werden auch so vorübergehen, und gerade
dann werden wir beide glücklicher sein, wenn wir jetzt scheiden; es ist nun gerade
noch die höchste Zeit, es ohne spätere Reue zu tun. Und wenn ich dir es deutsch
heraussagen soll, so wisse, daß ich mir auch dein Andenken, was immer ein Andenken
der Verirrung für mich sein wird, doch noch so rein als möglich retten und
erhalten möchte, und das kann nur durch ein rasches Scheiden in diesem Augenblicke
geschehen. Du sagst und beklagst es, daß du nie teilgehabt an der edleren und
höheren Hälfte der Liebe! Welche bessere
»Oh, alles Luft und Schall!« rief Judith; »ich habe nichts gesagt, ich will nichts gesagt haben! Ich will nicht deine Achtung, ich will dich selbst haben, solange ich kann!«
Sie suchte meine beiden Hände zu fassen, ergriff dieselben, und während ich sie ihr vergeblich zu entziehen mich bemühte, indes sie mir ganz flehentlich in die Augen sah, fuhr sie mit leidenschaftlichem Tone fort:
»O liebster Heinrich! Geh nach der Stadt, aber versprich mir, dich nicht selbst zu binden und zu zwingen durch solche schreckliche Schwüre und Gelübde! Laß dich –«
Ich wollte sie unterbrechen, aber sie verhinderte mich am Reden und überflügelte mich:
»Laß es gehen, wie es will, sag ich dir! Auch an mich darfst du dich nicht binden, du sollst frei sein wie der Wind! Gefällt es dir –«
Aber ich ließ Judith nicht ausreden, sondern riß mich los und rief:
»Nie werd ich dich wiedersehen, so gewiß ich ehrlich zu bleiben hoffe! Judith! leb wohl!«
Ich eilte davon, sah mich aber noch einmal um, wie von einer starken Gewalt gezwungen, und sah sie in ihrer Rede unterbrochen dastehen, die Hände noch ausgestreckt von dem Losreißen der meinigen, und überrascht, kummervoll und beleidigt zugleich mir nachschauend, ohne ein Wort hervorzubringen, bis mir der von der Sonne durchwirkte Nebel ihr Bild verschleierte.
Eine Stunde später saß ich mit meiner Mutter auf einem Gefährt, und einer der
Söhne des Oheims führte uns nach der Stadt. Ich blieb den ganzen Winter allein und
ohne allen Umgang; meine Mappen und mein Handwerkszeug mochte ich kaum ansehen, da
es mich immer an den unglücklichen Römer
Jedoch brachte der Frühling eine kräftige Erlösung aus diesem unbehaglichen
Zustande; ich hatte nun das achtzehnte Jahr überschritten, war militärpflichtig
geworden und mußte mich am festgesetzten Tage in der Kaserne einfinden, um die
kleinen Geheimnisse der Vaterlandsverteidigung zu lernen. Ich stieß auf ein
summendes Gewimmel von vielen hundert jungen Leuten aus allen Ständen, welche
jedoch bald von einer Gruppe grimmiger Kriegsleute zur Stille gebracht, abgeteilt
und während vieler Stunden als ungefüger Rohstoff hin- und hergeschoben wurden,
bis sie das Brauchbare zusammengestellt hatten. Als sodann die Übungen begannen
und die Abteilungen zum ersten Mal unter den einzelnen Vorgesetzten, welches
vielumhergeratene Soldatennaturen waren, zusammenkamen, wurde mir, der ich nichts
bedacht hatte, unter Gelächter mein langes Haar dicht am Kopfe weggeschnitten.
Aber ich legte es mit dem größten Vergnügen auf den Altar des Vaterlandes und
fühlte behaglich die frische Luft um meinen geschorenen Kopf wehen. Jetzt mußten
wir aber auch die Hände darstrecken, ob sie gewaschen und die
Es galt nun, sich einer eisernen Ordnung zu fügen und sich jeder Pünktlichkeit zu befleißen; obgleich dies mich aus meiner vollkommenen Freiheit und Selbstherrlichkeit herausriß, so empfand ich doch einen wahren Durst, mich der Strenge hinzugeben, so komisch auch ihre nächsten kleinen Zwecke waren, und als ich einigemal nahe an der Strafe hinstreifte, und zwar nur aus Versehen, überkam mich ein wahrhaftes Schamgefühl vor den Kameraden, welche sich ihrerseits ganz ähnlich verhielten.
Als wir soweit waren, mit Ehren über die Straße zu marschieren, zogen wir jeden
Tag auf den Exerzierplatz, welcher im Freien lag und von einer Landstraße
durchschnitten wurde. Eines Tages, als ich mitten in einem Gliede von etwa
fünfzehn Mann nach dem Kommando des Instruktors, der unermüdlich rückwärts vor uns
herging, schreiend und mit den Händen das Tempo schlagend, so schon stundenlang
den weiten Platz nach allen Richtungen durchmessen hatte, kamen wir plötzlich
dicht an die Landstraße zu stehen und machten dort halt und Front gegen dieselbe.
Der Exerziermeister, welcher hinter der Front stand, ließ uns eine Weile
regungslos verharren, um einige Ausstellungen
Glücklicherweise ging man nun auseinander, und indem ich mich sogleich entfernte und die Einsamkeit suchte, fühlte ich, daß jetzt der erste Teil meines Lebens abgeschlossen sei und ein anderer beginne.
Wie lang ist es her, seit ich das Vorstellende geschrieben habe. Ich bin kaum derselbe Mensch, meine Handschrift hat sich längst verändert, und doch ist mir zu Mut, als führe ich jetzt fort zu schreiben, wo ich gestern stehenblieb. Dem unveränderlichen Lebenszuschauer sind Stern und Unstern gleich kurzweilig, und er zahlt seinen wechselnden Platz unbesehen mit Tagen und Jahren, bis seine fliehende Münze zu Ende geht.
Der Wendepunkt, welcher mit dem Entschwinden der ersten Jugendzeit und der Judith unvermerkt genaht war, zeigte sich in der Notwendigkeit, meine Kunstübungen nunmehr einem Abschluß entgegenzuführen. Es galt, jenen Weg in die weite Welt anzutreten, nach welcher so viele tausend Jünglinge täglich ausfahren, von denen so mancher nie mehr wiederkommt. Diese alltägliche Angelegenheit war meinesteils so beschaffen, daß ich für eine beschränkte Zeit ohne Nahrungssorgen noch dem Lernen obliegen konnte, mit der Aussicht jedoch auf einen bestimmten Tag, an welchem ich auf mir selber zu stehen hatte.
Eine von Vatersseite vor Jahren mir zugefallene geringe Erbsumme lag nach
gesetzlichen Vorschriften in der Verwaltung des Oheims, welcher mir zum Vormunde
bestellt war, obgleich er sich selten im meine Sachen mischte. Da fragliches Geld
aber den Aufenthalt an der Künstlerschule ermöglichen sollte, die ich in
herkömmlicher Weise gewählt, so war eine vormundschaftliche Verhandlung nötig, um
dasselbe flüssig machen und aufbrauchen zu dürfen. Der Fall war im ländlichen
Heimatorte ganz neu, und niemand vermochte sich zu erinnern, daß jemals die
schlichten Landmänner der Waisenbehörde darüber zu Gericht gesessen seien, ob ein
junger Musensohn sein Vermögen zusammenpacken und aus dem Lande fahren dürfe, um
es buchstäblich zu verzehren. Dagegen hatten sie seit einiger Zeit das
Wie nun ein einziger Unhold dieser Art eine ganze Gegend verwüsten und alle Herzen
gegen das Musenzeug aufbringen kann, so war auch mir der Schlangenfresser nicht
zur guten Stunde im Dorfe aufgetaucht, als ich mich jetzt einfand, um der
Dieses Gespenst rumorte offenbar in den Köpfen der drei oder vier Gemeindevorsteher, welche als Waisenamt um einen Tisch versammelt saßen und meine Person mit vorsichtiger Neugier einen Augenblick betrachteten; denn der Oheim hatte für gut gefunden, mich selbst einzuführen und vorzustellen, damit ich im Notfall seinen Vortrag ergänzen und näher beleuchten möge. Die Männer schienen mir aber Gesichter zu machen wie solche, die eine unliebsame Sache halb und halb kommen sahen und nun sagen Da haben wir's! Sie mochten wohl mit Verwunderung beobachtet haben, wie ich schon seit Jahren allsommerlich Feld und Wald durchstreifte und da oder dort den weißen Leinwandschirm aufspannte, ohne daß ihre Gemarkung dadurch zu besonderm Rufe zu gelangen schien oder fremde Reisende kamen, das merkwürdige Land aufzusuchen. Die Frage, ob ich bei dem lustigen Handwerk eigentlich etwas verdiene und mein Brot erwerbe, hatten sie einstweilen auf sich beruhen lassen, da niemand etwas von ihnen verlangte; jetzt kam der Handel an den Tag.
Sie benahmen sich zwar anfänglich sehr zurückhaltend, als der Oheim die Sache
dargelegt und erklärt hatte. Keiner mochte zuerst einen Mangel an Verstand und
Einsicht beurkunden oder sich als einen unbescheidenen Verächter dessen zeigen,
was ihm unbekannt war. Nichtsdestoweniger prägten sie sich deutlich ein,
Es scheine doch, hieß es, nicht ratsam, das einzige und wenige, was man besitze
und sicher in der Hand habe, an ein Ungewisses zu tauschen, da es keineswegs
verbürgt sei, daß ich meinen Zweck erreichen und das Gewünschte wirklich erlernen
werde. Für diesen Fall wäre es vielleicht klüger, jetzt schon anzunehmen, ich
besäße das Geld nicht, und mir sonstwie zu behelfen. Dann würde es für Tage der
Krankheit, der Not oder Verarmung einst plötzlich willkommen sein und mit Vorsicht
verwendet werden können. Man habe auch etwa gehört, daß bedeutende Gelehrte oder
Künstler, von frühsten Jahren an in die Welt gestellt, sich durch ihren
Arbeitsfleiß haben er nähren und ihre Kunst dabei zugleich erlernen und großmachen
müssen, ja daß gerade die dadurch angewöhnte unablässige Tätigkeit und Emsigkeit
solchen Leuten ihr Leben lang zustatten gekommen
Die Männer, welche also verhandelten, saßen um einen runden Tisch herum und hatten ihr Glas dünnen säuerlichen Weines vor sich stehen; ich dagegen, als der Gegenstand der Beratung, saß allein an einem langen Tische, dessen Ende sich in der Gegend der Türe im Halbdunkel verlor. In dieser Dämmerung hockte der Schlangenmann, der sich unbemerkt hereingeschlichen hatte, während ich mich oben im hellern Lichte befand, ein Fläschchen dunkelroten Weines vor mir. Das war freilich ein großer Taktfehler, obgleich er der Gemeindewirtin zur Last fiel, die mir den Wein vorgesetzt und die ich abzuweisen nicht besonnen genug war. Der Oheim, der bei den Vorstehern saß, trank von dem nämlichen Weine, eines kleinen Magenleidens wegen, wie er den Bauern sagte.
Einer der letztern, der sein Stückchen Weißbrot wie Marzipan behandelte und die auf den Tisch gefallenen Krümchen mit dem Handbissen so sorglich auftupfte, als ob es Goldstaub wäre, fuhr nun fort:
Er verstehe nichts von der Sache, aber allerdings schiene es ihm auch zweckmäßiger
gewesen zu sein, wenn der junge Mann, statt sich auf das kleine Erbe zu verlassen,
die Jahre her, da er bei der Mutter gelebt, sich auf den Erwerb eingeübt und auf
die bequemlichste Weise der Welt diejenige Summe zusammengespart hätte, deren er
nun bedürfe. So wäre nun bereits für die Zukunft gesorgt; denn wer sich bei guter
Zeit angewöhnt habe, an den kommenden Tag zu denken und keine Arbeit ohne Hinblick
auf ihren Wert zu verrichten, der könne von dieser Gewohnheit gar nicht mehr
lassen und wisse sich überall zu helfen, wie ein Soldat im Felde. Das sei auch
eine gute Kunst, die je früher, je besser erlernt werde; er möchte deshalb
geradezu raten, daß ich mich frischen Mutes mit einem bescheidenen Reisegelde und
dem Vorsatze auf den Weg mache, mich jetzt
Auf diese Frage, welche ebenso richtig wie unrichtig gestellt war, wendete sich alles und blickte nach, mir herüber. Der Schlangenfresser war aus seiner Dämmerung allmählich in meine Nähe gerutscht und belauerte aufmerksam meinen Wein und die Verhandlung zugleich; so wurden wir auch alle drei, der rote Wein, der Schlangenfresser und ich, ins Auge gefaßt, und ich fühlte, daß ich so rot wurde wie der Wein, als eine vielsagende Stille eintrat. Das wackere Getränke zeugte gegen meine Bescheidenheit und Sparsamkeit, der Genosse an meiner Seite gegen meine Lebenspläne, und zwar so laut, daß niemand für nötig hielt, ein Wort hinzuzufügen.
Es blieb deshalb, nachdem der Eindringling hinausgeschickt worden, noch ein gutes Weilchen still, bis der Oheim das Wort ergriff, um das festgefahrene Schifflein wieder flottzumachen. Man könne das nicht so nehmen, wie die Herren Vorsteher meinen, sagte er; das wäre, wie wenn ein Bauer sein Scheffel Korn, anstatt es zur Aussaat zu verwenden, aufbewahren wollte, bis eine Hungersnot käme, und dazwischen bei andern Leuten auf Tagelohn ginge. Zeit sei bekanntlich auch Geld, und es wäre nicht wohlgetan, einen jungen Menschen zu zwingen, jahrelang sich mühselig durchzuschleppen, um das zu erlernen, was er in kürzerer Zeit erreichen könne mit frischem Einsatz eines kleinen Erbgutes. Auf dieses sei man nicht planlos verfallen, sondern man habe von Anfang an darauf gerechnet, es zur rechten Zeit zu verwenden; übrigens möge man den Neffen selbst auch hören und derselbe vorbringen, was er etwa zu bemerken wisse.
Der Vorsitzende gab mir hierauf das Wort, mit welchem ich, halb schüchtern, halb
empört, einige Prahlereien zustande brachte. Die Zeit sei längst vorbei, da die
Kunst mit dem Handwerk verbunden gewesen und der Scholare von Stadt zu Stadt
Wie es das Schicksal des guten Landvolkes ist, daß es in seiner Gläubigkeit immer
wieder den großen Worten zuversichtlicher Menschen unterliegt, so wurden auch die
Männer durch meine Reden unsicher, wenn nicht etwa gar gelangweilt. Es fand aber
mals eine kurze Pause statt, während welcher das Gehörte lakonisch beräuspert
wurde, worauf der Obmann unversehens sagte, er wolle gewärtigen, ob der Oheim als
Vormund auf seinem Antrage beharre; denn am Ende liege es in dessen Befugnis und
sei er auch der Mann dazu, ein maßgebendes Wort zu sprechen. Der Oheim bestätigte
nochmals seine Meinung mit dem Beifügen Fort müsse ich, das sei notwendig; allein
weder sei vorgesehen worden, noch eigne ich mich dazu, wie die Dinge ständen, ohne
Mittel auf die Wanderschaft zu gehen und ohne weiteres sofort mein Brot zu suchen.
Wären die Mittel nicht da und ich überhaupt ganz verwaist und ohne Freunde, so
würde ich mich, das traue er mir zu, frischen Mutes dem Schicksal unterziehen;
Auf die Umfrage des Vorsitzenden erwiderten die andern Vorsteher, sie hätten ihre Ansicht nach ihrem Sachverstande geäußert und fühlten sich nicht gedrungen, einen besondern Widerstand zu leisten, zumalen man gern auf Begabung, Fleiß und tugendhafte Führung des in Rede stehenden Herren Vögtlings vertrauen wolle, der freilich, wenn er die Pforte des Wohlergehens zu durchschreiten gedenke, sich vorderhand abgewöhnen müsse, gleich vom bessern Wein zu trinken, wo er absitze.
Während ich diese Andeutung verschluckte, wurde über die Herausgabe des kleinen Vogtgutes Beschluß gefaßt, derselbe zu Protokoll gebracht und von meinem Oheim mit unterschrieben.
Die Schirmlade, in welcher die Wertschriften der unter Vormundschaft Stehenden aufbewahrt wurden, befand sich anderer Geschäfte wegen bereits zur Stelle, und die Behörde erklärte, es sei am besten, das Stück jetzt gleich herauszunehmen, so sei man dieser Angelegenheit hoffentlich für immer enthoben.
Der hölzerne, mit drei Schlössern versehene Kasten wurde auf den Tisch gestellt und geöffnet, indem der Vorsitzende, der Seckelmeister und der Schreiber jeder einen Schlüssel aus der Tasche zog, in das entsprechende Loch steckte und bedächtig umdrehte. Der Deckel ging auf, und da lag nun an einem Häuflein das Vermögen der Witwen und Waisen, gleich einer kleinen Schafherde in der Ecke zusammengedrängt, wie es das Tragen und Rütteln des Kastens gefügt hatte. »Es ist schon viel Schicksal durch diese Lade gegangen!« sagte der Schreiber, als er die Überschriften der verschiedenen Pakete zu lesen begann; es bezogen sich nicht alle auf Frauen und Minderjährige, auch die Vermögensteile von gefangenen, verschwenderischen oder geisteskranken Männern waren dabei. Endlich stieß er auf ein kleines Wesen, las »Lee, Heinrich, Rudolfen sel.« und reichte es dem Vorsitzenden.
»Seit dreihundert Jahren«, fuhr er fort, »ist dieser ehrwürdige Brief von Geschlecht zu Geschlecht gegangen und hat immer fünf vom Hundert Zinsen getragen!«
»Wenn wir sie nur hätten«, warf mein Oheim lachend ein, um die abermals auf mich gerichtete Aufmerksamkeit zu stören; »mein Neffe besitzt das Brieflein ja erst seit etwa zehn Jahren, und vor nicht vierzig Jahren noch gehörte es dem Kloster, dessen Abt es zur Zeit der Revolution verkaufte. Man kann überhaupt nicht auf solche Weise rechnen; es ist ebenso unrichtig, wie wenn man immer sagt, diese drei Greise sind zusammen 270 Jahre oder jene zwei Eheleutchen 160 Jahre alt! Nein, jene Greise sind alle drei zusammen nur neunzig Jahre alt, Mann und Frau achtzig, da es genau dieselben Jahre sind, die sie verlebt haben. So vertut der junge Künstler hier nicht die Zinsen von drei Jahrhunderten, wenn er das Brieflein verkauft, sondern nur den einfachen Betrag desselben!«
Das wußten die Männer freilich wohl; weil aber jeder von ihnen auf seinem Hofe
solche uralte unablösliche Schuldverpflichtungen hatte und sich selbst als den
Bezahler aller der ewigen Zinsen betrachtete, so hielten sie die nehmende Hand der
wechselnden Gläubiger für etwas ebenso Unsterbliches und legten dem betreffenden
Instrumente einen geheimnisvoll höhern Wert bei, als ihm zukam. So fiel endlich
das Wichtigkeitsgefühl der Verhandlung auch auf mich nieder und beengte mir den
Sinn Ich sah mich als Gegenstand ernster Anrede und rechtlichen
Das alte Pergament war nun an einen Sammler solcher Stücke mit einigem Vorteil
verkauft worden und die Zeit gekommen, wo die Abreise wirklich vor der Türe stand.
Am letzten Tage des Monats April, welcher auf den Sonnabend fiel, packte ich die
mitzuführenden Habseligkeiten zusammen, was in unserer Wohnstube einen
niegesehenen Auftritt gab und meine Mutter in Aufregung setzte. Eine große Mappe
mit den zweifelhaften Früchten meiner bisherigen Tätigkeit lehnte schon in
Wachstuch gewickelt an der Wand, zu einigem Troste wenigstens von bedeutendem
Gewicht; mitten im Gemache aber stand der geöffnete Koffer, eine kleine Arche von
Tannenholz. Auf dem Boden derselben hatte ich bereits eingeschichtet, was ich an
Büchern mitnehmen wollte, und mit ihnen auch ein festes Verlies für einen
Totenschädel gebaut, damit er sicher auf dem Grunde verwahrt sei. Dieser Schädel
diente seit einiger Zeit zur Zierde meiner Arbeitskammer sowie auch zum angehenden
Studium der menschlichen Gestalt, das für einmal freilich gleich mit dem
Unterkiefer ein Ende genommen hatte, so daß ich vorläufig bloß die verschiedenen
Kopfknochen zu benennen wußte. Ich hatte den Überrest in der Ecke eines Friedhofes
bemerkt, wo ihn der Totengräber seiner Wohlerhaltenheit wegen hingelegt haben
Es handelt sich, soviel entwirrbar ist, um den Bastardsohn eines Zwiehans, der lange Jahre in Asien zugebracht hatte und dort verstorben war. Die holländische Person, mit welcher er den Sohn gezeugt, besaß aber von einem verschollenen Menschen noch einen andern unehelichen Knaben, namens Hieronymus, den sie mehr liebte als den jungen Zwiehan, und aus Liebe zu ihr und von ihr überredet, adoptierte er diesen andern Knaben in rechtlicher Form an Kindesstatt, während er hinwieder verabsäumte, das Weib nachträglich zu ehelichen und sein eigenes Kind zu Ehren zu ziehen. Der adoptierte Bastard aber entfernte sich, als er größer geworden, aus dem Hause und verscholl gleich seinem eigenen natürlichen Vater spurlos, und als endlich der alte Zwiehan und seine Beihälterin bald nacheinander das Zeitliche segneten, befand sich der erblos gebliebene Sohn Albertus allein bei dem herrenlosen Hause und Gute und zögerte nicht, sich auf geschickte Weise an Stelle des allein erbberechtigten Adoptivsohnes zu setzen, von dem erworbenen Vermögen des Alten zusammenzuraffen, was er konnte, und die asiatische Kolonie rasch zu verlassen, um die alte Heimat seines Vaters aufzusuchen.
Da er einst geträumt hatte, sein Halbbruder sei im Meere untergegangen, und fest
an seine Träume glaubte, so tat er alles dies nicht gerade mit bösem Gewissen,
obgleich er schlau genug war, in der alten Vaterstadt, die ihn noch nie gesehen,
sein eigenes Dasein zu verschweigen und sich auf Grund der mitgebrachten
Es war ein nicht eben schönes, aber mit lachenden Augen begabtes längliches Wesen,
das vor dem Überraschten stand und ihn von der bestehenden Servitut unterrichtete,
als die Nachbarin seine Unwissenheit bemerkte. Auch er müsse einen Schlüssel zu
dem Pförtchen besitzen, sagte sie ihm; er holte einen Kasten mit allerlei alten
Schlüsseln herbei und fand mit ihrer Hilfe richtig denjenigen heraus, welcher in
das Schloß paßte. Wie sie so mit spitzen weißen Fingern sich bemühte, betrachtete
er mit Wohlgefallen den mägerlichen Wuchs, der durch sehr knappes Gewand fast
einen Eindruck von geschmeidiger Fülle machte. Jetzt aber, indem sie ihn mit
seinem Namen grüßte und ihm den ihrigen nannte, der auf jenes wohlklingende
Cornelia hinauslief, gab sie ihr Anliegen kund. Sie beanspruchte höflich das
Recht, von dem reich mit Wasser versehenen Brunnen in seinem Hofe eine bewegliche
Leitung nach ihrer Waschküche anzulegen, um für die vorzunehmende große
Halbjahrwäsche das Hauptelement zu gewinnen, gemäß dem verbrieften Herkommen. Da
Albertus ebenso höflich bat, sich ganz nach Bequemlichkeit einzurichten, eilten
alsbald auf ein Zeichen der Cornelia mehrere Waschfrauen herbei mit hölzernen und
blechernen Rinnen und Rohren, fügten sie zusammen und stellten einen schwebenden
Aquäduktum her, mit welchem sie wieder im Gebüsche verschwanden, aus dem sie
hervorgebrochen waren. Auch die Cornelia schlüpfte hindurch, nachdem sie sich
verneigt hatte, und Herr Zwiehan, stand einsam an dem Gerinnsel seines schönen
Brunnenwassers und wünschte, mit hinübergehen zu können. Am andern Tage jedoch
erschienen abermals die Wäscherinnen, brachen die Wasserleitung ab und machten
einer großen schweren Frau Platz, welche sich jetzt durch das Pförtchen arbeitete.
Sie gewährte eine tröstliche Vorstellung davon, wie stattlich dünne Fräuleins mit
der Zeit bei guter Nahrung werden können; denn sie gab sich als die Frau Mutter
der bewußten Cornelia
In großer Aufregung zog er sich nach getaner Arbeit in seine
Einige Tage später wurde er von den Nachbarinnen förmlich zum Kaffee eingeladen,
um den Dank für seine Gefälligkeit zu empfangen. Zum ersten Mal betrat er den
jenseitigen Garten und fand den Tisch in einem offenen Sälchen gedeckt, das hinter
der Jasminwand verborgen war. Die alte und die junge Dame beflissen sich auf das
freundlichste um ihn, und nachher mußte er noch in ihre Wohnung hinaufsteigen und
sich mit einem kleinen Nachtmahl bewirten lassen. Natürlich erwiderte er solche
Höflichkeiten und lud die Nachbarinnen seinerseits zu einer Gastlichkeit ein, so
gut er diese mit Hilfe einer alten Küchenmagd aufzubieten vermochte; kurz, es
entstand ohne weitern Verzug ein häufiger Verkehr, und das Fräulein sowohl wie
Albertus Zwiehan trugen den Schlüssel zum Durchgangstürchen beständig bei sich.
Bald ließ die Mutter ihre Tochter allein mit dem Fremden, und sie verloren sich in
hundert trauliche Gespräche; Cornelia fragte nach allem, was Albertus je erlebt
oder ihn sonst betraf; er dagegen fühlte sich durch diese Neugierde und Teilnahme
geehrt und beglückt und vertraute ihr alles, um ihre Freundschaft zu erwidern und
gewissermaßen sich ganz hinzugeben, ohne allen Rückalt, sein Herkommen,
Die neue Freundschaft verfehlte nicht, ruchbar und als eine bereits abgeschlossene oder wenigstens bevorstehende Verlobung angesehen zu werden. Das bewiesen dem Verliebten einige nicht unterschriebene Briefe, die er nacheinander erhielt und die ihn vor der Verbindung warnten, welche er einzugehen im Begriffe stehe.
Die beiden Frauenzimmer, hieß es, seien nur scheinbar in guten Umständen; in Wirklichkeit hätten sie nichts oder nicht viel mehr als einen großen Fleiß im Geldborgen, das sie allerdings aus dem Grunde verständen. Sie wüßten es allerwärts so einzurichten, daß man nicht davon spreche, indem sie sich immer edeldenkende und verschwiegene Opfer aussuchten, auch im Notfall hie und da etwas zurückzahlten auf Kosten dritter Leute; allein die Sache sei dennoch ein öffentliches Geheimnis, und man könne nicht zusehen, wie ein so ausgezeichneter Mitbürger, dem die besten Häuser sich auftäten, in sein Verderben renne. Denn wo eine Untugend hause, sei die zweite und dritte nicht weit, und der Geldmangel sei aller Sünden Angel. Mehr wolle man nicht andeuten.
Als Albertus diese Briefe gelesen, wurde er weder betrübt noch zornig, sondern
fröhlichen Herzens, weil er sie für Ausflüsse des Neides hielt und als ein Zeichen
betrachtete, daß er nur zuzugreifen brauche, da eine Heirat in der öffentlichen
Meinung für so wahrscheinlich und nah bevorstehend galt. Von zärtlichem Mitleide
bewegt, wünschte er einen angeblichen Notstand der beiden Frauen als wirklich
bestehend herbei, um sich als Hilfespender recht weich in die Arme dankbarer Liebe
betten zu können. Selbst für den Fall, daß jene in der Tat etwas viel Geld
brauchen sollten, entwarf er sofort Pläne, seine Mittel nach Notdurft zu
vermehren; er hatte ja ohnedies die Absicht, seine Kenntnis der östlichen
Handelsbeziehungen zu verwerten und
Hiemit lösten sich auch seine vorhinnigen Pläne und Luftschlösser in nichts auf,
und Albertus hatte sie in diesem Augenblicke schon so vollständig vergessen, als
ob statt einiger Minuten hundert Jahre verflossen wären. Er stand und starrte
hinüber, wo der Abendschein im Hintergrunde allmählich verblich und die Dämmerung
das Zimmer füllte, bis es völlig dunkel
Eine unaussprechliche Vorstellung überfiel ihn mit diesen Worten; er eilte
beklemmten Herzens, seine Gönnerinnen aufzusuchen und sich nach der Bedeutung des
soeben erlebten Vorganges zu erkundigen. Lächelnd teilten sie ihm mit, die
Neuigkeit werde just überall besprochen es heiße, die Afra Zigonia sei nach
Sachsen verreist, um in die Brüdergemeinde zu Herrnhut aufgenommen zu werden und
dort ihr Leben zu verbringen. »Das ist mein Traum!« sagte er sich; »sie wandelt
mit dem Lichte durch die Nacht in den Morgenstern hinein, aber ich lasse mich
nicht zurückhalten von dieser Cornelia, sondern folge ihr diesmal nach!« Mit
verstellter Ruhe blieb er noch ein paar Tage in dem Bade; dann aber begab er sich
ohne Abschied eines frühen Morgens nach Hause, übergab seine
Vermögensangelegenheiten dem öffentlichen Notarius, das Haus der Köchin, auch
versah er sich mit Geldmitteln und verschwand darauf aus der Stadt, seinem
Traumbilde nachzujagen. Da ihm aber die geographischen Verhältnisse der
abendländischen Welt nicht geläufig waren und er das Ziel seiner Reise niemandem
verraten mochte, gelangte er erst nach einigen Irrfahrten in die Gegend von
Herrnhut. Er umkreiste diese Niederlassung der Gottseligen immer näher, drang
endlich hinein und bewarb sich um die Aufnahme in ihre Gemeinschaft. Weil er nun
weder in seinem Äußern noch in seiner Sprache, weder in seinen Blicken noch in
Er mußte nun auf die rechte Art lesen, beten, singen lernen, bescheiden, still und
arbeitsam sein und vor allem aus über sein
Mit offenem Munde und totenbleich saß Albertus, und nur seine Unfähigkeit, auch
nur aufzuatmen oder zu seufzen, verhinderte, daß er eine Aufmerksamkeit erregte.
Nachdem alles vorüber, schlich er lautlos auf sein Lager und brachte eine
schreckliche Nacht zu; seine ungeschulte, unwissende Selbstsucht würgte ihm wie
eine ringelnde Schlange fast das Herz ab; dazwischen sah er immer die Afra mit dem
Missionär an der Hand davonschweben das war also das Licht, welches sie in jenem
trügerischen Traume in der Hand getragen hatte! Ganz abgemattet und
niedergeschlagen kam er andern Tages zum Vorschein, so daß er als zum Durchbruche
reif erachtet wurde. Um ihn in eine erfrischende Bewegung und Tätigkeit zu
versetzen, wurde er zum dienenden Gehilfen eines andern Missionsbeamten bestimmt,
welcher auf dem Punkte war, die Niederlassungen in Grönland, Labrador und der
Kalmückei zu bereisen. Ohne jeglichen Widerstand ließ er sich dazu vorbereiten und
fuhr mit seinem geistlichen Seelenmeister davon, ohne daß er die Afra wieder zu
sehen bekommen hätte. Nur ein schön gebundenes kleines, dickes Büchlein hatte sie
ihm zum Andenken gesendet; es enthielt für jeden Tag im Jahr einen Spruch oder ein
Gedicht, und überdies war ein Stäbchen von Elfenbein zum prophetischen
Zwischenstechen daran befestigt.
Durch die letzteren Zeilen wurde er zuerst halb und dann ganz munter; plötzlich
sah er den Garten hinter seinem Hause und in demselben die schlanke Nachbarin
Cornelia durch die Jasminbüsche schlüpfen, und obgleich das Büchlein, das er in
der Hand hielt, schon seit manchem Jahre gedruckt war, hielt er doch den
Liedervers sogleich für eine unmittelbare Eingebung oder vielmehr für einen durch
die Afra wunderbar bewirkten Aufruf zur Heimkehr und Heirat mit der Cornelia, die
ihm mit jedem Augenblicke, den er darüber nachdachte, wieder wünschenswerter
erschien. Aber auch gegen Afra Zigonia empfand er, zum ersten Male seit dem
Abenteuer des Losziehens, ein dankbares Wohlwollen, überzeugt, daß sie weiser sei
als er und ihn schließlich auf den Weg geleitet habe, den er nie hätte verlassen
sollen. Das sei der Sinn ihres Wegganges im Traume und des Lichtes, das sie ihm
aufgesteckt. Er packte in der Nacht seine Habseligkeiten zusammen, lief seinen
Vorgesetzten davon, fuhr mit einem Walfischfänger südwärts und strebte
unaufhaltsam der Heimat zu, wo er an seinem Hause eines Abends anschellte,
»In mein Haus will ich!« antwortete dieser verwundert, »ich bin der Herr Hieronymus Zwiehan!«
»Der bin ich selbst«, sagte jener barsch und schlug die Türe zu.
Noch einige Minuten stand Albertus, bis ihm einfiel, er wolle den Notar aufsuchen,
der wohl wissen werde, von welchem Insassen sein Haus besetzt sei. Allein der
öffentliche Schreiber, der an seinem Abendessen gestört wurde, sah ihn groß an und
rief ob er sich endlich sehen lasse, nachdem er so lang nichts von sich habe hören
lassen? (Denn damals gab es noch nicht die vielen Publikationsmittel, um einen
unbekannt Abwesenden aufzurufen.) Im Hause sitze kein anderer als der Adoptivsohn
und einzige Erbe des verstorbenen Zwiehan, oder wenigstens einer, der sich
gleichmäßig dafür ausgebe wie Albertus und ganz die gleichen Schriften besitze.
Bereits habe die Mamsell Cornelia Soundso, die man für die Verlobte des letztern
gehalten, gerichtlich bezeugt, daß sie von Albertus selbst auf dem Wege des
Vertrauens das Geheimnis erfahren habe, wie er nicht sein Halbbruder, der
ertrunkene Hieronymus, sondern der eigene natürliche Sohn des alten Zwiehans sei.
Auf dieses Zeugnis hin habe man dem unvermutet angekommenen Hieronymus
Albertus hatte zwar wenig Ursache mehr, auf seine Träume zu bauen; allein die grimmige Notwendigkeit zwang ihn, diesmal noch den Hieronymus für ertrunken zu halten; verwirrt und aufgebracht stotterte er, das sei alles nicht wahr und nicht möglich und werde sich leicht aufklären; aber der Notar zuckte die Achseln und ließ sich kaum herbei, dem Unglücklichen aus dem ihm anvertrauten Vermögen etwas weniges an Geld zu verabreichen, damit er eine Herberge suchen konnte. In der Tat war der verschollen gewesene Bruder bald nach der Abreise des Albertus in Ostindien unversehens erschienen und den Spuren des letztern nach der Schweiz gefolgt. Wo er die vielen Jahre sich umgetrieben, wurde nie völlig klar, unterderhand aber behauptet, er sei bei den Piraten gewesen und habe einen ordentlichen Beutel voll Dukaten zusammengerafft.
Es kam nun zum gerichtlichen Austrag des Streites, welcher von den beiden
Halbbrüdern und Bastarden der Adoptivsohn des leichtsinnigen toten Vaters sei.
Jeder von ihnen hatte einen Advokaten, der sich um die zu erhoffende Beute tüchtig
wehrte, und eine Zeitlang schien bei der Entfernung des ursprünglichen
Schauplatzes und dem Mangel an Zeugen der Kampf innezustehen, bis der Advokat des
Hieronymus, nach Anleitung der Cornelia, einige ältere Männer herbeibrachte,
welche den alten Zwiehan in seinen jüngeren Jahren, vor der Zeit der Auswanderung,
noch wohl gekannt hatten. Diese Männer bezeugten, daß Albertus der eigene Sohn des
Alten sein müsse, weil er demselben ihrer deutlichen Erinnerung nach so ähnlich
sehe wie ein Ei dem andern, wodurch der Streit zugunsten des wahren Hieronymus
entschieden und dieser in das ganze Erbe, wie Albertus
Durch das Abschreiben lernte Albertus erst Ansehen und Würde der Familie kennen,
aus welcher er abstammte und nun verstoßen war; denn nicht einmal seine
Eigenschaft als illegitimer
Um wenigstens eine Spur von seinem Dasein zu hinterlassen, schrieb er heimlich sein Schicksal in das Original der Aufzeichnungen hinein, wozu eine Reihe leergebliebener Blätter genügenden Raum bot, und brachte das Buch nach beendigter Arbeit sofort jener Alten zurück. Sie las die eingeschaltete Geschichte mit aller Teilnahme, besonders da sie den neuen Stammhalter nicht leiden konnte, und als Albertus Zwiehan bald darauf aus Verdruß über den Verlust seines Daseins, ja seiner Person und Identität krank wurde und starb, ließ sie ihm einen Grabstein setzen und schrieb in die Chronik, mit ihm sei der letzte wirkliche Zwiehan begraben worden, und was allfällig in Zukunft noch unter diesem Namen herumlaufen werde, sei die Abkommenschaft eines landstreicherischen fremden Seeräubers.
Es war eine warme Sommernacht, als ich mich dazumal über die Kirchhofmauer schwang
und den Schädel, den ich mir bei Anlaß eines Leichenbegängnisses gemerkt, abholte.
Er lag in einem hohen grünen Unkraut, die Kinnlade daneben, und war inwendig von
einem schwachen bläulichen Lichte erhellt, das leise durch die Augenhöhlen drang,
wie wenn das leere Kopfhäuschen des Albertus Zwiehan, insofern es wirklich das
seinige gewesen, noch von nichtigen Traumgeistern bewohnt wäre. Zwei Glühwürmchen
saßen nämlich darin, vielleicht in Hochzeitsgeschäften; ich nahm jedoch an, es
seien die Seelen der Cornelia und der Afra, und steckte sie zu Hause in ein
Fläschlein mit Weingeist, um ihnen endlich den Garaus zu machen; denn ich
Nachdem der Grund des Reisekastens mit dem eingemauerten Totenkopfe dermaßen gelegt war, kam die Mutter heran, um die neue Leibwäsche in gebührlicher Weise hineinzuschichten und mir die solchen Dingen zukommende Sorgfalt einzuprägen. Alles, was sie zum Vorschein brachte, hatte sie selbst gesponnen und weben lassen, eine Anzahl feinere Hemden noch in jungen Jahren; denn da der Anwachs des Hauses so früh abgebrochen worden, so waren die Vorräte ihres Fleißes zum guten Teile verschont geblieben, und ich nahm auch von diesem wiederum nur einen Teil mit, indessen die Mutter das übrige für meine, wie sie hoffte, rechtzeitige Rückkehr zur Erneuerung bereithielt.
Dann kam ein Feiertagskleid, zum ersten Mal in anständigem Schwarz; galt es ja nun, nicht durch Verletzung der Sitte vom Wege des guten Fortkommens abgedrängt zu werden; überdies glaubte die Mutter, daß ich durch den Besitz eines Sonntagskleides eher im Zusammenhange mit der göttlichen Weltordnung leben würde, wie sie sich auch nicht vorstellen mochte, daß ich in fremden Ländern einstmals sonn- und werkeltags im gleichen Rocke herumlaufen könnte. Sie wiederholte daher während des Packens die schon oft erteilten Ermahnungen über das Instandhalten der Kleider, wie mit einer einmaligen Vernachlässigung, einem kurzen Mißbrauche schon der frühe Untergang eines Stückes eingeleitet würde und wie wenig ehrenhaft es sei, einen weggelegten Rock später aus Armut doch wieder anziehen zu müssen, anstatt ihn von Anfang an zu schonen und möglichst lang in einem ordentlichen Mittelstande zu erhalten. Hiedurch verschaffe man dem Schicksal genügenden Spielraum, sich zu wenden, während beim schnellen Ruinieren eines Kleides ja gar nichts Rechtes vorgehen könne, eh es abgetragen und verlöchert sei.
Die stieg denn auch mit dem schönsten Maientag herauf, als ich bei dem ersten
Morgengrauen erwacht und aus der Stadt auf eine benachbarte Anhöhe gelaufen war,
nur um in meiner Ungeduld die Zeit zu verbringen und den letzten Blick auf die
Heimat zu werfen. Ich stand unter den Vorbäumen des Waldes; hinter demselben lag
der Osten mit dem erschimmernden Morgenrot; zugleich aber erglühten die obersten
Spitzen, Kämme und Wände des Hochgebirges im Süden, die dem Osten zugekehrt waren,
in ungewohnten Formen, da ich sie zufällig nie so gesehen. Abstürze und Klüfte,
allmählich auch ganze hochliegende Gefilde und Ortschaften kamen zum Vorschein,
von denen ich keine Vorstellung gehabt; und als endlich auch die alten Kirchen der
mir zu Füßen liegenden Stadt durch irgendeinen Bergeinschnitt östlich beglänzt
wurden, dazu ein wolkenloser Äther sich über das Land ergoß und rings um mich her
der Gesang der Vögel ertönte, da erschien mir diese Heimat so neu und fremdartig,
als ob ich sie, statt sie zu verlassen, erst jetzt kennenzulernen hätte. Es war
einer jener Fälle, wo ein Altgewohntes, Naheliegendes erst in dem Augenblicke, in
welchem
Zuunterst hauste ein Spenglermeister, ein Bearbeiter jenes nützlichen Materials,
das an sich fast wertlos, nur durch unendliches Schneiden, Klopfen und Löten etwas
wird und nie zum zweiten Male gebraucht werden kann. Es beruht somit alles auf der
zuwege gebrachten Form, mit welcher tausend hohle Räume umschlossen werden, und,
da wegen des geringen Stoffes niemand viel Geld daranwenden will, auf einer von
früh bis spät andauernden rastlosen Arbeit, damit durch die Menge des Gehämmerten
ein bedürfnisgemäßer Ertrag ermöglicht wird. Hiedurch sowie durch die erste
Vorsicht, welche beim gefährlichen Anschlagen von Dachrinnen erforderlich ist, war
der Meister ein etwas grämlicher Formalist geworden, der, streng gegen seine
Gesellen, mit Frau und Kindern auch nicht freundlich tat. Aus mißtrauischer
Bescheidenheit hatte er nie gewagt, etwa einen Verkaufsladen zu eröffnen und sein
Geschäft auszudehnen,
Bedächtig schritt er unversehens zu seinem Schreibtisch, nahm ein Papierchen
heraus, in welches ein Brabantertaler gewickelt war, und überreichte es mir als
bescheidenes Reisegeschenk, wie er sagte, mit der Aufforderung, es mit guter
Gesundheit fröhlich zu verzehren. Ich durfte es nach der Sitte nicht ablehnen,
Auf dem nächsten Stocke, den ich nun besuchte, wohnte ein kleiner Mechanikus,
welcher mit allerlei volkstümlichen Genauigkeitswerkzeugen, wie Waagen, Maßstäben,
Zirkeln, dann mit Kaffeemühlen, Waffeleisen, Äpfelschälmaschinchen handelte,
dergleichen auf Verlangen auch ausbesserte mit Hilfe eines alten Arbeiters.
Zugleich aber bekleidete er das Amt eines Eichmeisters über einen Kreis, prüfte
Maß und Gewicht und kerbte, schlug und schliff die Zeichen in die betreffenden
Gegenstände. Vorzüglich mit den vielen Schenkwirten führte er einen beständigen
Krieg, wenn sie mit allen Ränken und öfterm Wechsel ihres Glasgeschirres das
Gesetz zu umgehen suchten. Nun trieb ihn die Leidenschaft, nicht nur darüber zu
wachen, daß das Geschirr richtig geeicht sei, sondern auch darüber, daß es gehörig
gefüllt werde, und er zog von einem Wirtshaus ins andere, um nachzusehen, wo das
Getränke unter dem Strich blieb und die Gäste sich das gefallen ließen. Bei dieser
Gelegenheit verlor er selbst das Maß und verfiel einem Trinken unzähliger halber
Schöppchen, aus dem er sich nicht mehr losnesteln konnte, so genau und scharf er
auch jedes einzelne betrachtete, bevor er es zu sich nahm. Noch unrasiert und im
Werktagshabit wartete er jetzt auf seinen Morgenkaffee, welchen
»Ich bin Euerer Mutter, Herr Lee, noch den letzten Hauszins schuldig; es wäre
daher nicht schicklich, wenn ich Euch ein noch so bescheidenes Reisegeschenk
anbieten wollte. Dafür will ich Euch aber einen guten Rat auf den Weg geben, der
Euch, insofern Ihr ihn befolget, nützlich sein wird. Haltet immer auf rechte
Gesellschaft und einen fröhlichen Sinn; aber Ihr möget reich oder arm, beschäftigt
oder müßig, geschickt oder ungeschickt sein, geht niemals am Tage ins Wirtshaus,
sondern wartet den Abend ab! Das ist der Standpunkt eines gesitteten und
gebildeten Mannes, was ich leider nicht mehr bin! Und auch am Abend gehet eher
spät als früh; es gibt nichts, das so ehrbar und angenehm wäre als der zuletzt
erscheinende Gast, vorausgesetzt, daß er nicht aus andern Wirtshäusern kommt.
Freilich kann nicht jeder nach dieser Ehre trachten, weil auch einer oder mehrere
die ersten sein müssen, andere die mittleren usw.; dann aber nehmt Euer
bescheidenes Maß ent schlossen zu Euch und brecht ebenso entschlossen wieder auf,
oder wenigstens hockt nicht mit langweiligem Geschwätz vor leeren Gläsern; lieber
lasset diese nochmals füllen, als daß Ihr dem Wirte auf so
Er holte ein längliches Futteral herbei, nahm aus demselben ein amtliches Urmaß, fein aus glänzendem Messing gearbeitet, legte es mir an den Hals und sagte:
»Bis hier hinauf und nicht weiter dürfen Glück und Unglück, Freude und Kummer, Lust und Elend gehen und reichen! Mag's in der Brust stürmen und wogen, der Atem in der Kehle stocken! der Kopf soll oben bleiben bis in den Tod!«
Da der blanke Metallstab sich kalt anfühlte, so hatte ich am Halse die Empfindung, wie wenn eine gebieterische Einwirkung in der Tat stattgefunden hätte, und ich wußte nicht, ob Torheit oder Weisheit aus dem Manne sprach. Auch lachte er gleich mir, als er sich zu seinem Frühstück setzte und ich meines Weges weiterging.
Nun kam ich an eine verschlossene Türe, was ich eigentlich hätte vermuten können.
Dort wohnte nämlich ein unverheirateter kleiner Beamter, der jeden Sonntag, wenn
das Wetter es irgend erlaubte, früh wegging und den ganzen Tag fortblieb, um ja
nicht zu irgendeiner unvorhergesehenen Verrichtung oder Arbeit geholt zu werden.
So warf er auch jeden Tag, sobald es sechs Uhr schlug, die Feder weg und verließ
das Lokal, mochte die Arbeit noch so dringend sein. Den Posten, den er bekleidete,
verfluchte er unablässig, obgleich er ihm jahrelang nachgelaufen war und fast
kniefällig darum angehalten hatte. Er nannte sich ein Opfer »enttäuschter
Grundsätze« und besuchte nur solche Gesellschaften, wo seine Vorgesetzten
geschmäht wurden, und er verbreitete dort die Meinung, daß er nicht an bessere
Stellen befördert werde, weil er den Rücken nicht zu beugen verstehe. Der
eigentliche Grund seines Sitzenbleibens war freilich die Unfähigkeit, etwas
Besseres zu leisten, wie er ja schon durch seine Redeblume der »enttäuschten
Grundsätze« bewies, daß ihm die Kenntnis des richtigen Sprachgebrauches fehlte.
Trotz
Dort harrte die Mutter mit der letzten kleinen gemeinsamen Mahlzeit, die sie
bereitet; die nächste sollte sie nun allein verzehren. Die Morgensonne erfüllte
das Gemach mit ihrem
Etwa fünf Stunden später fuhr ich über eine lange hölzerne
Ich sollte freilich auf unerwartete Weise aus solchen Träumen geweckt und meine
Weiterreise zur seltsamsten Pönitenzfahrt werden, die je einer gemacht. Denn bei
der ersten Wechselstelle der nachbarländischen Post lag auch die Zollstätte mit
dem fürstlichen Kronwappen, und während das Gepäck der übrigen Reisenden kaum
geöffnet und leichthin geprüft wurde, erregte mein unförmlicher Koffer eine
genauere Aufmerksamkeit der Zollbeamten; was am gestrigen Abend so sorglich
eingepackt worden, mußte unbarmherzig herausgenommen und auseinandergelegt werden
bis auf die Bücher am Grunde, und diese wurden erst recht abgedeckt. So kam der
Schädel des armen Zwiehan zutage und erweckte wiederum eine Neugierde anderer Art
kurz, es wurde nicht geruht, bis der ganze Inhalt meiner Kiste auf dem fremden
Boden umhergestreut lag. Mit kaltem Lächeln schauten sodann die martialischen
Grenzwächter zu, als ich hastig und bekümmert meine Habseligkeiten wieder in
Mit dem Sonnenuntergange des zweiten Tages er reichte ich das Ziel meiner Reise,
die große Hauptstadt, welche mit ihren Steinmassen und großen Baumgruppen auf
einer weiten Ebene sich dehnte. Meinen verhüllten Totenkopf in der Hand, suchte
ich bald das notierte Wirtshaus und durchwanderte so einen guten Teil der Stadt.
Da glühten im letzten Abendscheine griechische Giebelfelder und gotische Türme;
Säulenreihen tauchten ihre geschmückten Häupter noch in den Rosenglanz, helle
gegossene Erzbilder, funkelneu, schimmerten aus dem Helldunkel der Dämmerung, wie
wenn sie noch das warme Tageslicht von sich gäben, indessen bemalte offene Hallen
schon durch Laternenlicht erleuchtet waren und von geputzten Leuten begangen
wurden. Steinbilder ragten in langen Reihen von hohen Zinnen in die dunkelblaue
Luft, Paläste, Theater, Kirchen bildeten große Gesamtbilder in allen möglichen
Bauarten, neu und glänzend, und wechselten mit dunklen Massen geschwärzter Kuppeln
und Dächer der Rats- und Bürgerhäuser. Aus Kirchen und mächtigen
Gehe ich mit der Erinnerung meinem damaligen Wandel nach, so gestaltet sich derselbe erst um die Zeit wieder etwas deutlicher, wo ich gegen anderthalb Jahre am Musenorte mehr oder weniger inkognito zugebracht. Denn weder meine Vorbereitung noch meine Lebenskunde waren geeignet gewesen, mein Tun und Lassen rasch in eine feste Form zu leiten.
In diesem Übergangsschatten herumsuchend, sehe ich mich eines Nachmittags bei
guter Zeit die Palette reinigen und die Pinsel auswaschen, mit denen ich den Kampf
mit einem auf Hörensagen begonnenen Ölmalen führte. Ich sehe mich noch den
schlichten breitrandigen Hut ergreifen, den ich längst statt
Mein neuer Freund, Oskar Erikson, war jedoch eine gerade und einfache Natur. Mit
seiner ganzen langen und breitschultrigen Gestalt und in seinem dichten Goldhaar,
welches vom hoch einfallenden Lichte gestreift wurde, saß er vor einem winzigen
Bildchen, an dem er malte. Sonst war, außer einigen Skizzenbüchlein, in dem
geräumigen Zimmer nichts zu erblicken als ein paar Jagdflinten an der Wand, auf
dem Boden ausgestreckte Wasserstiefel und auf dem Tische liegende Pulverhörner und
Schrotbeutel neben einigen Büchern. Eine kurze Jägerpfeife im Munde, rückte die
Hünengestalt eben, als ich eintrat, mächtige Rauchwolken ausstoßend, auf dem
Stuhle stöhnend und brummend
Plötzlich fing er ans Verzweiflung machtvoll an zu singen:
was ihm zum Durchbruch zu verhelfen schien; denn der Pinsel saß jetzt an der rechten Stelle und arbeitete mehrere Minuten gemächlich fort, indessen Erikson die angefangene Melodie immer ruhiger und gedämpfter wiederholte und endlich verstummte und still weitermalte. Aber offenbar um Gott nicht allzulange zu versuchen, sprang er unversehens auf und betrachtete, einen Schritt zurücktretend, mit höchster Zufriedenheit den alten Dessauermarsch pfeifend, sein Werk. Dann setzte er das Gepfiffene in Worte um und sang, indem er das Rauchzeug wieder zusammensuchte: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage« usf., wobei er endlich meine Anwesenheit entdeckte.
»Sehen Sie, wie ich mich plagen muß!« rief er, mir unbefangen die Hand schüttelnd; »seien Sie froh, daß Sie ein gelehrter Komponist und Kopfmaler sind, der nichts zu können braucht, während so ein armer Teufel von Handelsmaler nicht weiß, wo er die Tausende von bargültigen Halbtönchen, Druckerchen und Lichtchen auftreiben soll, um seine kabinettsfähigen vierzig Quadratzoll nicht allzu schwindelhaft zu überstreichen!«
So war denn sein Entschluß bald verändert. Mit unbestechlich bedächtiger
Selbstkritik durchsuchte und verglich er das ganze Gebiet dessen, was in seinem
Vermögen stand, und gelangte nach reiflichem Nachdenken zu dem Ergebnisse, daß er
mit Sicherheit und Verständnis allereinfachste Landschaftsbilder im kleinsten
Maßstabe, belebt mit vorsichtig hingesetzten Figürchen, alles dies mit einem
gewissen Reiz ausgeführt, hervorbringen könne. Ohne Zaudern machte er sich daran,
und zwar mit redlichem und anständigem Sinne. Denn anstatt mit leichter Arbeit auf
falsche Effekte und irgendein manieriert modisches Gepinsel loszugehen, das sich
sozusagen von selbst
Ein solcher Erikson enthielt etwa im Vordergrunde ein helles Sandbord, einige Zaunpfähle mit Kürbisranken, im Mittelgrunde eine magere Birke, dann aber einen weiten flachen Horizont, dessen wenige Linien, mit weiser Berechnung angelegt und in Verbindung mit der einfach gehaltenen Luft, die Hauptwirkung des Werkleins hervorbrachten.
Obgleich dergestalt Erikson als echter Künstler angesehen wurde, verleitete ihn das weder zur Selbstüberschätzung noch zum Geiz; sobald seinem Ausgabenbedürfnisse genügt war, warf er Pinsel und Palette hin und ging ins Gebirge, wo er sich als Jagdgenosse so einheimisch gemacht, daß er sogar zur Bärenjagd, wenn sich eine solche auftat, zugelassen wurde. Den größern Teil des Jahres brachte er, fern von der Stadt, auf diese Weise zu.
Es gehörte nur zum Bilde des allgemeinen Lebens und seines Haushaltes, wenn ich jetzt genötigt war, dem wackern Gesellen, der sich selbst nicht für einen Meister hielt, die Geheimnisse des Handwerks abzulauschen.
»Nun ist's aber genug!« rief Erikson plötzlich, »auf die Art kommen wir nicht fort. Überdies wollen wir im Vorbeigehen einen Kameraden abholen, bei dem Sie Besseres sehen können, heißt das, wenn wir Glück haben! Kennen Sie Lys, den Niederländer?«
»Nur vom Hörensagen«, versetzte ich; »ist es der Sonderling, von dem niemand weiß, was er malt? der niemanden in seine Werkstatt läßt?«
Ich half ihm rasch sein Zeug reinigen, das er stets in so guter Ordnung hielt, daß er auch jetzt nachsah, wie ich es gemacht. »Denn es ist nicht gleichgültig«, sagte er, »ob man mit Mist malt, wenn man doch die Absicht hat, einen lautern Ton zu treffen. Wer immer Dreck in seinem Zeug hat oder das Unverträgliche mischt, ist wie ein Koch, der das Rattengift zwischen die Gewürze stellt. Aber die Pinsel sind rein, Gott segne Sie! von diesem Punkte aus kann man Sie unbescholten nennen! Sie haben eine ordentliche Mutter, oder ist sie tot?«
Nachdem wir einige Straßen zurückgelegt, betraten wir die Niederlassung des mysteriösen Niederländers, welche so gewählt war, daß die Fenster des geräumigen, von ihm allein bewohnten Stockwerkes auf den freien Horizont und offenen Himmel hinausgingen und von der Stadt selbst nichts zu sehen war als ein paar edle Architekturen und massige Baumgruppen. Befand man sich in dieser Gegend auf freier Erde, so sah man nur den unfertigen Rand einer Stadt, mit Bretterwänden, alten Baracken und Wirtschaftlichkeiten versetzt; die Fenster des Herrn Lys, welche nichts als jene in einer Flut goldenen Lichtes ruhenden idealen Gegenstände zeigten, schienen daher mit sorgfältigem Geschmacke herausgefunden zu sein. Wenigstens wirkte die glänzende Durchsicht der großen Fenster durch eine offenbar bewußte Einfachheit und Ruhe in der Ausstattung der Zimmer in doppeltem Maße.
»Ich bin mir noch den Nachmittagskaffee schuldig«, sagte er, als wir uns setzten, »halten die Herren mit?«
»Da wir vermuten, er werde nicht schlecht sein, gewiß!« antwortete Erikson für uns beide, und Lys klingelte einem jungen Menschen, der ihn bediente. Inzwischen sah ich mich immer noch im Raume um, nicht eben im Besitze des guten Tones.
»Der wundert sich auch«, rief Erikson, »wo die Staffeleien und Bilder dieses Kunsttempels seien! Nur Geduld, junger Herr von Strebsam, der Mann zeigt sie uns noch, wenn wir schön bitten! Aber wahr ist es, lieber Lys, bei Ihnen sieht's aus wie im Arbeitszimmer eines großen Publizisten oder eines Ministers!«
Etwas düster lächelnd versetzte der andere, er sei nicht aufgelegt, seine Arbeiten
heute noch zu sehen; schon zum dritten Male müsse der Bursche die Paletten
unverrichteterdinge abends wieder absetzen, und unter solchen Umständen sei es
wohl verzeihlich, daß er nicht gern ins Atelier hinübergehe, sei es allein oder
mit Fremden. Wirklich erteilte er dem Diener, als der mit
Das braune Getränke war das feinste, was ich in meinen einfachen Verhältnissen bis
anhin genossen; allein das Ungewohnte, ein so kostbares Familiengeräte bei einem
fahrenden Künstler in täglichem Gebrauche zu finden, schüchterte mich etwas ein,
und als Lys, meine abermals herumschweifenden Blicke bemerkend, mich anredete:
»Nun, Herr Lehmann, können Sie sich noch nicht mit dem unmalerischen Anblick
meiner Wohnung befreunden?« reizte mich das Vergessen oder Nichtbeachten meines
Namens sowie die Weigerung, seine Arbeiten zu zeigen, zu einem kleinen Ausfalle.
Die Art seiner Einrichtung, versetzte ich, werde vielleicht mit einem andern Wesen
zusammenhängen, das ich seit einiger Zeit beobachtet habe, nämlich die wunderliche
Manier, in welcher die verschiedenen Künste ihre technische Ausdrucksweise
vertauschen. So hätte ich kürzlich die Kritik einer Symphonie gelesen, worin nur
von der Wärme des Kolorites, Verteilung des Lichtes, von dem tiefen Schlagschatten
der Bässe, vom verschwimmenden Horizonte der begleitenden Stimmen, vom
durchsichtigen Helldunkel der Mittelpartien, von den gewagten Konturen des
Schlußsatzes und dergleichen die Rede sei, so daß man durchaus die Rezension eines
Bildes zu lesen glaube; gleich darauf hätte ich den rhetorischen Vortrag eines
Naturforschers, der den tierischen Verdauungsprozeß beschrieb, mit einer
gewaltigen Symphonie, ja mit einem Gesange der Göttlichen Komödie vergleichen
hören,
»Ich sehe schon«, rief Lys mit Lachen, »wir müssen doch noch hinübergehen, damit Sie sehen, daß wir wenigstens noch mit Farben malen!«
Er ging voran und öffnete die Türe zu einer Reihe von Räumen, in welchen je eines
seiner Bilder, an denen er arbeitete, ganz allein und in der besten Beleuchtung
aufgestellt war, so daß der Blick durch nichts anderes abgezogen und zerstreut
wurde. Die spätere Nachmittagssonne, die auf den Wolken draußen, auf der weiten
Landschaft und den tempelartigen Gebäuden lag, ließ die an sich schon leuchtenden
Bilder durch ihren hereinfallenden Reflex noch verklärter erscheinen, so daß sie
in der Stille des Raumes einen seltsam feierlichen Eindruck machten. Das erste war
ein Salomo mit der Königin von Saba, ein Mann von eigentümlicher Schönheit, der
sowohl das Hohelied gedichtet als geschrieben haben mußte Alles ist eitel unter
der Sonne! Die Königin war als Weib, was er als Mann, und beide, in reiche
Gewänder gehüllt, saßen allein und einsam sich gegenüber und schienen, die
glühenden Augen eines auf das andere geheftet, in heißem, fast feindlichem
Wortspiele sich das Rätsel ihres Wesens, der Weisheit und des Glückes herauslocken
zu wollen. Das Merkwürdige dabei war, daß der schöne
Das Bild im nächsten Raume stellte Hamlet den Dänen dar, aber nicht nach einer Szene des Trauerspieles, sondern als das von einem guten Künstler gemalte Bildnis gedacht, als das Porträt des in seine Staatsgewänder gekleideten, noch ganz jungen und blühenden Prinzen, um dessen Stirn, Augen und Mund jedoch schon das verschleierte Schicksal der Zukunft schwebte. Dieser Hamlet erinnerte ebenfalls an den Maler selbst, aber mit so großer Kunst verhüllt, daß man nicht wußte, woran es lag. In einer Ecke des Zimmers lehnte ein Schwert mit reich in Stahl und Silber gearbeitetem Korbe, welches offenbar zum Modell gedient hatte oder noch diente. Dieser vereinzelte Gegenstand erhöhte noch den Eindruck der Einsamkeit und sanften Trauer, der von des Bildes stillem Leuchten ausströmte. Im übrigen hatte das Kniestück die volle Lebensgröße.
Von diesem Raume ging es endlich in den letzten hinüber, der schon ein Saal zu
nennen war. Gleich den übrigen Bildern bereits mit dem schweren Schmuckrahmen
versehen, stand hier die größte Komposition, deren Veranlassung die Bibelworte
gegeben Wohl dem, der nicht sitzet auf der Bank der Spötter! Auf einer
halbkreisförmigen Steinbank in einer römischen Villa, unter einem Rebendache,
saßen vier bis fünf Männer in der Tracht des achtzehnten Jahrhunderts, einen
Marmortisch vor sich, auf welchem Champagnerwein in hohen venezianischen Gläsern
perlte. Vor dem Tische, mit dem Rücken gegen den Beschauer gewendet, saß einzeln
ein üppig gewachsenes junges Mädchen, festlich geschmückt, welches eine Laute
stimmt und, während sie mit beiden Händen damit beschäftigt ist, aus einem Glase
trinkt, das ihr der nächste der Männer, ein kaum neunzehnjähriger Jüngling, an den
Mund hält. Dieser sah beim
Waren nun Absicht und Wirkung dieses Bildes verneinender Natur, so war dagegen die Ausführung mit dem wärmsten Leben getränkt. Jeder Kopf zeigte eine inhaltvolle wirkliche Persönlichkeit und war für sich eine ganze tragische Welt oder eine Komödie und nebst den feinen arbeitlosen Händen vortrefflich beleuchtet und gemalt. Die gestickten Kleider der wunderlichen Herren, die altrömische Tracht des Weibes, ihr blendender Nacken, die Korallenschnur darum, die schwarzen Zöpfe und Locken, die Bildhauerarbeit an dem alten Marmortische, selbst der glänzende Sand des Bodens, in welchen sich der Fuß des Mädchens drückte, diese Knöchel im blaßroten Seidenschuh alles dies war so breit und sicher und doch ohne Manier und Unbescheidenheit, sondern aus dem naivsten Wesen heraus gemalt, daß der Widerspruch zwischen dem freudigen Glanz und dem kritischen Gegenstand des Bildes die sonderbarste Wirkung hervorrief. Lys nannte dies Bild seine »hohe Kommission«, den Ausschuß der Sachverständigen, vor welchen er sich selbst zuweilen mit bangem Herzen stelle; auch führte er etwa einen armen Sünder, dessen Wohlweisheit und Salbung nicht aus dem lautersten Himmel zu stammen schien, vor die Leinwand und beobachtete die verlegenen Gesichter, die er schnitt.
Als wir wiederholt von einem Bilde zum andern gingen, ich dazwischen auch bei
diesem oder jenem allein zurückblieb, wußte ich nicht ein Wort zu dem Gespräche
beizutragen, sondern unterlag schweigend dem Eindrucke, den ein so entschiedenes
Können auf den machte, der es nicht übersah. Erikson dagegen, welcher ein so
beschränktes und bescheidenes Arbeitsfeld besorgte, hatte so vieles geübt und
gesehen, daß er sich mit Leichtigkeit und Verständnis aussprechen konnte. Er
pflegte auch zu sagen, er verstehe nun gerade genug von der Kunst,
Ich bemerkte wohl, daß Lys mit seinen Bildern in eigentümlicher Weise durch die
Schule der großen Italiener hindurchgegangen
Er holte ein ziemlich großes Album vom besten Papier herbei, das in Leder gebunden
und mit einem stählernen Schlosse versehen war. Mit dem Schlüsselchen, das an
seinem Uhrgehänge befestigt war, geöffnet, zeigte sich Blatt um Blatt eine Welt
von Schönheit und zugleich der Verspottung derselben, wie sie nicht leicht wieder
in solcher Weise sich zusammenfinden mag. Es war die Geschichte einer Reihe von
Liebschaften, welche er erlebt und in das Buch gezeichnet hatte mit feinstem
Stifte und im solidesten deutschen Stil, als ob Dürer und Holbein, Overbeck oder
Cornelius den Dekameron illustriert und die Zeichnungen für den Grabstichel
unmittelbar fertig gebracht hätten. Eine solche Geschichte bestand je nach ihrer
Dauer aus mehr oder weniger zahlreichen Blättern; jede begann mit dem Bildniskopfe
des betreffenden Frauenzimmers und einigen Variationen desselben in verschiedener
Auffassung; dann folgte die ganze Figur, wie man wohl einer schönen Person zum
ersten Mal auf dem Markte, in der Kirche oder im öffentlichen Garten ansichtig
wird; dann entwickelte sich die Begegnung und das Verhältnis zum Helden, immer Lys
selbst, bis zum Sieg und
Lys schlug so unbefangen ein Blatt nach dem andern um, als ob er ein Schmetterlingsbuch vorwiese, und nannte nur zuweilen den Namen einer der Schönen das ist die Teresa, das die Marietta, das war in Frascati, das in Florenz, das in Venedig!
Wir schauten ebenso erstaunt als sprachlos dem Umwenden der Blätter zu, auf welchen soviel Schönheit und Talent vorüberschwirrte, und nur Erikson legte zuweilen die Hand auf ein Blatt, um dasselbe einen Augenblick festzuhalten. »Ich muß gestehen«, sagte er endlich, »es ist mir nicht ganz begreiflich, wie man soviel Genie unterdrücken oder höchstens zu geheimen Allotria verwenden kann! Wieviel Vergnügen vermöchten Sie zu verbreiten, wenn Sie all dies Können einem ernsten Zwecke zu gut kommen ließen!«
Lys zuckte die Achseln: »Genie? Wo ist es? Das ist eben die Frage! Auch das
wildeste Wesen dieses Geschlechtes muß fromm sein und einfältig wie ein Kind, wenn
es allein ist und
Wir verstanden diese Worte, die zudem im Widerspruche mit der früheren Äußerung standen, daß man alles könne, nicht sonderlich wohl, und ich selber wußte vollends nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Ich fühlte mich zu dem hübschen, ruhigen, ja ernsten Manne hingezogen, während der Inhalt des Buches auf eine gewisse Art von Ruchlosigkeit deutete, die mancher wohl sich selber verzeihen mag, aber nicht an einem ernsthaften Freunde liebt. Es war etwas von jenem schrecklichen Prinzipe, das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet, wo es heißt, Hammer oder Amboß sein, vernichten oder vernichtet werden, oder einfacher gesagt, wer sich nicht wehrt, den fressen die Wölfe.
Inzwischen waren wir beim letzten der gezeichneten Blätter angelangt, auf welches
noch einige leere folgten, und Lys wollte das Album rasch zuschlagen. Erikson
hielt ihn jedoch auf und verlangte das letzte Bild genauer zu sehen; denn alle
bisher aufgetretenen Personen waren italienischen Ursprungs, jene aber offenbar
von deutscher Art. Der Kopf war nicht, wie bei den andern, zuerst als Studie
besonders gezeichnet, sondern es erschien gleich, als ob das Haupt nicht wohl
abzusondern wäre, die ganze stehende Figur des schlanksten jungen Mädchens, dessen
in großen Zöpfen aufgewundenes Haar so reich, daß das Haupt beinah zu schwanken
schien, wie eine Nelke auf ihrem Stengel, obgleich der feingerundete Hals und
Nacken nur aus natürlicher Anmut sich leise neigte. Außer zwei unschuldigen großen
Sternenaugen war fast kein Inhalt in dem Gesicht, dessen zarte Züge kaum mit dem
Silberstifte leicht genug anzudeuten waren, den der Zeichner dazu gewählt hatte.
Desto sicherer und fester, immer zwar mit zarter Hand, wuchs die herb
jungfräuliche Erscheinung durch die strengen Gewänderfalten
»Ei der Tausend!« rief Erikson, »wo steht diese Blume?«
»Die steht hier in der Stadt!« versetzte Lys, »ihr könnt sie gelegentlich sehen, wenn ihr brav seid!«
Ich jedoch, gerührt von der elementarischen Unschuld des Gebildes, rief unbedacht und flehentlich: »Der tun Sie aber kein Leid an, nicht wahr?«
»Oho«, sagte Lys lachend, indem er mir auf die Schulter klopfte, »was sollt ich ihr denn zuleid tun?«
Auch Erikson lachte, und somit brachen wir auf, unsern Abendgang in Begleitung des Niederländers anzutreten. Im Vorübergehen sahen wir die drei schönen Bilder wieder aufleuchten, ich für meine Person zum letzten Male; denn ich bekam sie später nur in einer grauen Morgendämmerung nochmals zu Gesicht, als ich kaum darauf achten konnte. Wo sie seither geblieben sind, weiß ich nicht; sie sind niemals an die Öffentlichkeit gelangt, und Lys selber hat sich in der Folge durch ein Schwanken seines Wesens von der Kunst abgewendet. Wenn es Sterne gibt, wie gesagt wird, welche man einen Augenblick lang deutlich hat schwanken sehen, warum sollte ein schwacher Mensch nicht von seiner Bahn abweichen?
Wir gingen nun zu dritt vom nördlichen Teile der Stadt an den Westrand hinüber, um
da allmählich am Ufer des südwärts herkommenden Flusses eine behagliche Ruhstatt
aufzusuchen. Unterwegs kamen wir an dem Hause vorbei, darin ich wohnte. »Halt!«
sagte Erikson, als wir andere vorübergehen wollten, »wir wollen bei diesem auch
noch schnell nachsehen, was er schafft! Die untergehende Sonne, die ihm grad in
sein unpraktisches Fenster schaut, wird ihm zu Hilfe kommen, daß wir wenigstens
etwas Farbe vor Augen haben!« Zögernd und doch nicht ungern ging ich voran, das
Zimmer zu öffnen, und sah allerdings meine ungeheuerlichen Schildereien im
Abendrote stehen gleich einer brennenden Stadt, so daß wir alle drei
»Vortrefflich!« sagte Lys, »eine gedachte Staffage, das ist das Leichteste und Duftigste, was es gibt! Übrigens glüht Ihre Stadt in der verfluchten Himbeerbrühe dieses Abendrotes wie das brennende Troja! Doch fällt mir ein Sie müssen alles aufgetürmte Mauerwerk aus rotem Sandstein bestehen lassen, das wird den kolossalen Bäumen gegenüber und in Verbindung mit den weißglänzenden Wolken einen eigentümlichen Effekt machen! Doch was haben wir hier wieder?«
Er meinte einen gegen die Wand lehnenden kleinern Karton, der sich grau in grau
als eine Darstellung meiner Heimatsgegend zur Zeit der Völkerwanderung auswies.
Über die bekannten Landformen zogen sich Urwälder neben- und übereinander hin,
zwischen deren Furchen ein ferner Heerbann sich bewegte; auf einer Berghöhe
rauchte ein römischer Wachtturm. Doch schon hatte Lys einen zweiten Entwurf
umgedreht, eine sozusagen geologische Landschaft. Durch neuere Gebirgsarten, die
sich schulgerecht unterscheiden lassen, ist ein kronenartiges Urgebirge gebrochen,
welches mit jenen zusammen doch eine malerische Linie zu bilden sucht. Kein Baum
oder Strauch belebt
»Allerdings«, sagte ich, neugierig zu wissen, wo er hinauswolle; Erikson aber unterbrach uns, indem er zu Lys gewendet sagte: »Lieber Freund! Plagen Sie sich doch nicht immer mit der Ausreutung des lieben Gottes! Sie machen es sich wahrhaftig saurer als der ärgste Fanatiker mit der Einpflanzung desselben!«
»Ruhig, Indifferentist!« versetzte Lys und fuhr fort: »Da haben wir's also! Sie
wollen sich nicht auf die Natur, sondern allein auf den Geist verlassen, weil der
Geist Wunder tut und nicht arbeitet! Der Spiritualismus ist diejenige
Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrung
hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus
Steinen Brot machen will, anstatt zu ackern, zu säen, das Wachstum der ihren
abzuwarten, zu schneiden, zu dreschen, mahlen und backen. Das Herausspinnen einer
fingierten, künstlichen, allegorischen Welt aus
Da ich ihn nur halb verstand, indem ich doch glaubte, gearbeitet zu haben, so sagte ich ihm dies.
»Das geht so zu«, antwortete er: »Die geognostische Landschaft, die Sie darstellen wollen, haben Sie nie gesehen und werden sie, ich will wetten, auch niemals sehen. Dahinein setzen Sie zwei Figuren, mit denen Sie teils die Schöpfungsgeschichte und den Schöpfer feiern, teils aber ironisieren; das ist ein gutes Epigramm, aber keine Malerei; und endlich könnten Sie, wie man wohl sieht, die Figuren, wenigstens jetzt, gar nicht selbst ausführen, ihnen folglich nicht diejenige Bedeutung geben, die Sie sich geistreich denken; folglich stehn Sie mit dem ganzen Handel in der Luft; es ist ein Spiel und keine Arbeit! Nun aber genug hievon, und lassen Sie sich sagen, daß ich meine Predigt nicht gegen Sie, sondern gegen die ganze Gattung richte; denn an sich betrachtet, machen mir Ihre Sachen schon deswegen Vergnügen, weil sie einen Kontrast zu den meinigen bilden. Wir sind allzumal dualistische Tröpfe, wir mögen es anfangen, wie wir wollen. Was haben Sie hier für einen Schädel? Der war nie präpariert, kommt also aus der Erde?«
Er deutete auf den Schädel des Albertus Zwiehan, der in einer Ecke am Boden lag.
»Der gehörte auch einem Dualisten an in gewissem Sinne«,
Wir blieben bis tief in die Nacht alle drei beieinander und verabredeten, uns öfter zu treffen, was dann auch geschah, so daß wir bald gute Freunde und überall zusammen gesehen wurden.
Die räumliche Entfernung unserer Heimatlande untereinander, indem sie im äußersten
Norden, Westen und Süden des ehemaligen Reichsrandes liegen, verband uns mehr, als
daß sie uns trennte. Alle drei von einem gleichen innern Zuge der gemeinsamen
Abstammung beseelt und an den großen Binnenherd der Völkerfamilie gekommen,
befanden wir uns in der Lage weitläufiger Vettern, die im Gedränge eines
gastfreien Hauses unbeachtet die Köpfe zusammenstecken und sich Lob oder Tadel
dessen, was ihnen gefiel oder mißfiel, gegenseitig anvertrauen. Wir hauen freilich
schon ein und anderes Vorurteil mitgebracht, ohne unsere Schuld. Es war jene Zeit,
da Deutschland von seinen dreißig oder vierzig Inhabern so eng sinnig und
ungeschickt verwaltet wurde, daß Scharen von Vertriebenen jenseits der Grenzen
umherzogen und die Fremden im Schmähen und Schelten gegen ihr Vaterland förmlich
unterrichteten. Sie setzten Spottworte in Umlauf, welche den Nach baren bisher
unbekannt gewesen waren und nur aus dem Innern des gescholtenen Landes kommen
konnten, und da die Gaben der Selbstironie, deren Übertreibung das Phänomen am
Waren wir nun hierüber beruhigt, so plagte uns wieder ein anderes Übel, nämlich
der Gegensatz zwischen den Südlichen und Nördlichen. Bei Völkerfamilien und
Sprachgenossenschaften, welche zusammen ein Ganzes bilden sollen, ist es ein
wahres Glück, wenn sie einander etwas aufzurücken und zu sticheln haben; denn wie
durch alle Welt und Natur bindet auch da die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit,
und das Ungleiche und doch Verwandte hält besser zusammen. Das aber, was wir die
Nord- und Südländer sich vorwerfen hörten, war gröblich beleidigend und lieblos,
indem diese jenen Herz und Gemüt, jene diesen Geist und Verstand absprachen, und
so unbegründet die Tradition war, gab es nur wenige tüchtige Personen beider
Hälften, welche nicht daran glaubten. Oder jedenfalls zeigten nur wenige den Mut,
die schlendrianischen Reden solcher Art zu unterbrechen, wenn sie unter den
Ihrigen waren. Um für unser Bedürfnis den vermißten idealen Zustand herzustellen,
gaben wir uns das Wort, jedesmal wenn der Fall eintrat, als Unparteiische
aufzutreten, ob wir einzeln oder in Kompanie zugegen seien, und für den, wie wir
glaubten, mißhandelten
Unser Mittleramt wurde aber eines Tages überflüssig und zugleich schönstens belohnt, als die ganze reichgeartete Künstlerschaft die kommende Faschingszeit zu feiern sich zusammentat, um in einem großen Schau- und Festzuge ein Bild untergegangener Herrlichkeit zu schaden, nicht mit Leinwand, Pinsel und Meißel, sondern mit Einsetzung der lebendigen Person. Es sollte das alte Nürnberg wiederauferweckt werden, wie es in beweglichen Menschengestalten sich darstellen konnte und wie es zu der Zeit war, als der letzte Ritter, Kaiser Maximilian, in ihm Festtage feierte und seinen besten Sohn, Albrecht Dürer, mit Ehren und Wappen bekleidete. In einem einzelnen Kopfe entstanden, wurde die Idee sogleich von achthundert Männern und Jünglingen, Kunstbeflissenen aller Grade, aufgenommen und als tüchtiger Handwerksstoff ausgearbeitet und ausgefeilt, als ob es gälte, ein Werk für die Nachwelt zu schaffen, und es erwuchs in der sachgerechten und allseitigen Vorbereitung eine Lust und Geselligkeit, welche wohl an Macht von der Freude des Festtages überboten wurde, in der Erinnerung jedoch ein lieblich heller Teil des Ganzen blieb.
Der Festzug zerfiel in drei Hauptzüge, von denen der erste die nürnbergische
Bürger-, Kunst- und Gewerbswelt, der zweite den Kaiser mit den Fürsten,
Reichsrittern und Kriegsmännern und der dritte einen alten Mummenschanz umfaßte,
wie er von der bedeutenden Reichsstadt dem gekrönten Gast vorgeführt wurde. In
diesem letzten Teile, welcher recht eigentlich
Der Ernst und die feierliche Pracht, womit die Unternehmung von vornherein angelegt war, hatten die Teilnahme des weiblichen Geschlechtes nicht ausgeschlossen; Frauen, Töchter, Bräute der Künstler und deren Freundinnen aus den andern Ständen bereiteten demnach ihre festliche Umkleidung vor, und es gehörte nicht zu den geringsten Vorfreuden der Männer, an der Hand der alten Trachtenbücher das wichtige Geschäft zu leiten und darüber zu wachen, daß die Sammet- und Goldstoffe, die schweren Brokate und die duftigen Flore für die schlanken Gestalten richtig zugeschnitten und zusammengesetzt, die Haare in gehöriger Weise geflochten oder ausgebreitet wurden, die Federhüte, die Barette, Hauben und Häubchen aller Art Form und Stil bekamen und gut saßen. Zu diesen Beglückten zählten sich auch meine Freunde Erikson und Lys, von denen jeder in seiner Weise auf einem Liebeswege ging.
In die jährliche Verlosung, welche mit der Gemäldeausstellung verbunden war, hatte
Erikson eines seiner kleinen Bilder verkauft, und dasselbe war von der Witwe eines
großen Bierbrauers gewonnen worden, die nicht gerade im Rufe einer Kunstfreundin
stand, sondern mehr in Erfüllung einer Anstandspflicht reicher Leute sich an
diesen Dingen beteiligte. Da es öfter vorkam, daß so gewonnene Gegenstände an
zudringliche Händler verschleudert wurden, so suchten die Künstler ihr Werk in
solchem Falle wiederzuerwerben, um den Gewinn selbst zu machen. Auch Erikson hatte
bei gedachter Gelegenheit den Versuch gewagt und gehofft, das Bild um ermäßigten
Preis an sich zu bringen, um es abermals zu verkaufen und der Mühsal der Erfindung
und Ausführung eines neuen Werkleins für einmal enthoben zu sein. Denn er war
bescheiden und hielt nicht dafür, daß das Bestehen der Welt von der
Unerschöpflichkeit seines Fleißes abhänge. Er suchte also die Wohnung
Die unvermeidliche Alte führte ihn in ihr kleines Dienstgemach und ließ ihn da
stehen, um das Kunstwerkchen herbeizuholen. Dieses war aber nirgends zu finden;
immer mehr Bedienstete, Köchin, Kammermädchen, Hausknecht und Kutscher rannten
umher und suchten in Küche, Keller, Kammern und Remisen. Endlich rief das Geräusch
die Witwe herbei, und als sie, die, nach dem kleinen Bildchen urteilend, gewähnt
hatte, einen ebenso kleinen und dürftigen Urheber zu finden, nun den mächtigen
Erikson dastehen sah, dessen Goldhaar glänzend auf die breiten Schultern fiel,
geriet sie in die größte Verlegenheit, zumal er, aus einem ruhigen Lächeln
erwachend, sie mit festem offenem Blicke betrachtete wie eine Erscheinung. Sie war
aber auch des längsten Anschauens wert; von der Rosenfarbe der Gesundheit und
Lebensfrische überhaucht, kaum vierundzwanzig Sommer alt, vom reinsten Ebenmaß an
Gestalt und Gliedern, mit braunem Seidenhaar und braunen lachenden Augen, konnte
Um die gegenseitige Verwunderung und Verlegenheit zu endigen, lud die Errötende mit zurückgekehrter Geistesgegenwart den Maler ein, in das Zimmer zu treten, und wie sie dort waren, entdeckte er die kleine Gemäldekiste, welche als Fußschemel unter dem Arbeitstischchen der Witwe stand, von dieser nicht beachtet oder vergessen.
»Hier ist's ja!« sagte Erikson und zog das Kistchen hervor. Es war noch nicht einmal geöffnet worden; denn der Deckel haftete noch leicht aufgeschraubt an demselben. Erikson machte ihn mit wenig Mühe los, und das kleine Bild glänzte nun in seinem Rahmen, der nach einem alten reichen Muster gearbeitet war, mit aller Frische im Tageslichte. Inzwischen hatte die junge Frau die Lage der Dinge schnell zu erfassen gesucht und wünschte vor allem der Beschämung zu entgehen, die ihr die nachlässige Art, eine Kunstsache zu behandeln, zuziehen konnte. Von neuem errötend, sagte sie, sie habe in der Tat nicht gewußt, um was es sich handle; nun aber, obgleich sie keine Kennerin sei, scheine ihr doch das Bildchen von vorzüglichem Werte, und sie glaube den Schöpfer desselben zu beleidigen, wenn sie nicht mindestens die Hälfte des Ankaufspreises verlange. Besorgt, sie möchte ihre Forderung abermals erhöhen, beeilte sich Erikson, die Börse zu ziehen und die Goldstücke hinzulegen, indes die Dame das einfache Landschäftlein immer aufmerksamer betrachtete und die schönen Augen in dem sonnigen Gefildchen spazierengehen ließ, wie wenn sie Land und Meer des Golfes von Neapel vor sich hätte. Dann blickte sie wie verschüchtert zu dem Recken empor und begann wieder je mehr sie das Bild ansehe, desto besser gefalle es ihr, und sie müsse nun die volle Summe dafür fordern!
Seufzend bot er drei Vierteile, um wenigstens etwas zu retten.
Er strich hiemit sein Geld wieder ein und machte Anstalt, sich zu entfernen. Doch die Schöne, den Blick auf das Bildchen gerichtet, bat ihn mit einiger Verlegenheit, noch einen Augenblick zu verziehen. Erst jetzt bot sie ihm einen Stuhl an, um Zeit zu gewinnen, ihre Genugtuung für den solchem Manne angetanen Affront vollständig zu machen. Endlich besann sie sich auf den schicklichsten Ausweg und fragte Erikson mit höflichen Worten, ob sie ein Gegenstück zu dem Bilde bei ihm bestellen dürfe, das ebenso freundlich und friedlich auf das Auge wirke, so daß sie sozusagen für jedes Auge einen solchen Ruhepunkt hätte, wenn sie an ihrem Schreibtische säße, über welchem sie die Bildchen aufzuhängen gedenke. Dieser optische Unsinn erweckte eine vergnügliche innere Heiterkeit des Malers, und obgleich er hergekommen war, um eine Verminderung statt Vermehrung der Arbeit zu erzielen, bejahte er natürlich die Frage in verbindlicher Weise, worauf aber die Witwe plötzlich die Unterhaltung abbrach und den Maler mit zerstreutem Wesen entließ.
Diesen bisherigen Verlauf hatte uns Erikson am Abend des gleichen Tages als
hübsches Abenteuer selbst erzählt; in der folgenden Zeit aber kam er nicht mehr
darauf zurück, sondern beobachtete über den Gegenstand ein sorgfältiges Schweigen.
Wir errieten trotzdem an einem Zeichen, wie es stand, als er eines Tages, von dem
fertiggewordenen zweiten Bildchen sprechend, nicht vermeiden konnte, der
Bestellerin zu erwähnen, und sie dabei unvorsichtig bei ihrem Taufnamen Rosalie
nannte. Wir andere sahen uns schweigend an; denn wir mochten ihn als
Selbst einer reichen Brauersfamilie entsprossen, war das junge Mädchen in
Befolgung einer alten Hauspolitik dem Bräuherren verbunden worden, da die
Grundlage des klassischen Nationalgetränkes an sich von öffentlicher Bedeutung und
wichtig genug war, derartige Überlieferungen zu tragen. Nachdem aber der kräftige
Bräuherr unversehens von einem gefährlichen Fieber dahingerafft worden, sah sich
die Witwe mit einem Schlage in volle Freiheit und Selbständigkeit versetzt, mit
welcher sich das inzwischen gereifte Bewußtsein der Person verband. Mit jener
außergewöhnlichen Schönheit begabt, die ebenso selten als dann auch vollkommen
erscheint, von innen heraus zugleich von dem Bedürfnis harmonischen Lebens
beseelt, hatte sie sich zunächst mit den leichten und doch starken Schranken
ruhiger Absichtslosigkeit, ja Resignation umgeben, um jeder Reue bringenden
Übereilung und Gewaltsamkeit aus dem Wege zu gehen, wahrscheinlich aber doch mit
dem Vorbehalte entschiedener Wahl, sobald die rechte Stunde käme. Diese war mit
der Erscheinung Eriksons unvermutet da; in Erkennung oder Ahnung derselben hatte
Rosalie den ersten Augenblick nicht verscherzt, nachher aber mit aller Ruhe und
Umsicht sich weiter benommen. Sie wußte Erikson nach und nach Gelegenheit zu
geben, mit allerlei Rat bei ihr zu erscheinen; das gab sich ungezwungen von
selbst, da sie in der Tat begriffen war, die zufällige und bunte Art ihres
Hausrates und Wohnsitzes umzuwandeln, zu vereinfachen und doch zu bereichern. Mit
geheimer Freude bemerkte sie die ruhige Sicherheit in Eriksons Auskünften und
Hilfeleistungen und wie er ganz an seiner Stelle schien, wenn er über Mittel und
Raum in zweckmäßiger Weise verfügen konnte. Daß er von guter Familie und Erziehung
war, blieb ihr nicht verborgen, soweit sie das aus eigener Erfahrung zu beurteilen
vermochte, und so ging sie Schritt für Schritt weiter in der Absicht, den Bären zu
fangen, dessen Gefangene sie
Als jetzt das Künstlerfest vorbereitet wurde, standen die Sachen zwischen Rosalie und Erikson so, daß jene halbwegs als seine Partnerin daran teilnehmen konnte, wie man etwa der Einladung zu einem Balle folgt.
Auf einem andern Wege wandelte Lys, um seine Festgefährtin zu holen. In einem
altertümlichen Teile der inneren Stadt, auf einem kleinen Seitenplatze, stand ein
schmales Haus, von geschwärztem Backstein erbaut und nur drei Stockwerke hoch,
jedes nur von der Breite eines einzigen, freilich ansehnlichen Fensters. Nicht nur
die Fenster waren reich in ihrer Einfassung gegliedert, sondern in die Höhe
laufend unter sich mit Zierat verbunden, der wiederum verdunkelte Mauergemälde
einfaßte. So bildete das Haus einen kleinen Turm oder vielmehr ein schlankes
Monument, wie etwa Künstler vergangener Jahrhunderte mit besonderer Liebe für sich
selber erbaut haben. Über der Haustüre reichte ein Marienbild von schwarzem
Marmor, das auf einem vergoldeten Halbmonde stand, bis zum ersten Stockwerke,
Die Tochter, Agnes geheißen, war das Urbild jener letzten Zeichnung in dem Album
des schönheitskundigen Lys, der erst das Haus und sodann, das Innere desselben
beschauend, auch das Juwel entdeckt hatte, das das Kästchen umschloß; die Mutter
war nicht nur die Hüterin der Schönheit von Kind und Haus, sondern auch ihrer
eigenen, soweit sie noch in einem lebensgroßen Bildnisse von der Hand ihres toten
Eheherren erglänzte. Von einem hohen Kamme überragt, zu jeder Seite der Stirn drei
querliegende Locken, beherrschte sie im Schimmer ihres Brautstandes das Gemach,
und vor dem Bilde standen jederzeit zwei rosenrote Wachskerzen, die noch nie
gebrannt hatten. Trotz der flachen und schwächlichen Malerei machte sich die
ehemalige Schönheit geltend; es war dabei nicht zu erkennen,
Als Lys mit gewandten und angenehmen Sitten sich soweit eingeführt hatte, daß er
jene Figur zeichnen durfte, zwar nicht in das bewußte Buch, sondern vorerst in
größerer Form auf ein besonderes Studienblatt, fand er weder den Mut noch den
Anlaß, den gewohnten Zyklus durchzuführen, und es blieb bei dem einzigen Eintrag
in das Album, den er nach der Studie mit Liebe und Sorgfalt vornahm. Er verbrachte
zuweilen einen Abend bei den Frauen, führte sie auch einmal in das Theater oder in
einen Lustgarten, und wo sie erschienen, erregte die seltene Erscheinung der Agnes
ein so allgemeines und zugleich reines Wohlgefallen, daß sich keinerlei Nachrede
oder Mißdeutung vernehmen ließ. Alle ihre ruhigen Bewegungen waren einfach und
kurz nur auf den nächsten Zweck gerichtet und daher voll Anmut; ihre Augen
glänzten, wenn sie von irgendeinem Reiz angesprochen wurde, mit der treuherzigen
Unschuld eines jungen Tieres, das noch keine Mißhandlung erfahren hat, und so kam
es, daß Lys, anstatt eine seiner früheren Liebeleien anzufangen, unwillkürlich in
einen ehrenhaften ernstern Verkehr hineingeriet, der ihm zum bisher unbekannten
Bedürfnis wurde. Seine Befangenheit mehrte sich, wenn die Mutter in der Absicht,
die Bravheit des Kindes zu rühmen, in dessen Abwesenheit erzählte, wie es nie
imstande gewesen sei, die kleinste Lüge auch
Dennoch setzte er seine Besuche in dem schlanken Häuschen, drin das schlanke Wesen
wohnte, fort und hütete sich nur, etwas Verliebtes zu tun oder zu sagen. Die Augen
des Mädchens kamen ihm vor wie ein stilles Wasser, das wohl widerstandslos, aber
auch für einen guten Schwimmer nicht gefahrlos ist, da man nicht wissen kann,
welche Pflanzen oder Tiere es in seiner Tiefe verbirgt. Von der unbestimmten
Vorstellung solcher Fährlichkeiten bedrückt, geriet er in ungewohnte Sorgen und
stieß hie und da einen Seufzer aus, ohne es zu wissen;
Das Verhältnis begann für alle schwierig und bedenklich zu werden, die Mutter
ausgenommen, welche die Belebung ihres Hauses angenehm empfand und nicht
zweifelte, daß Lys eines Tages mit einem ernsten Antrage sich einstellen werde,
gerade weil er so zurückhaltend sei. Auch Erikson mühte sich, anderweitig in
Anspruch genommen, nicht stark um die Sache, und besonders wenn wir das zierliche
Haus zusammen verließen, ging er unverweilt seine eigenen Wege, während ich mit
Lys bald vor seine, bald vor meine Haustüre zu wandeln und dort noch stundenlange
zu verhandeln und zu streiten pflegte. Ich wagte zwar nicht, ihn des Mädchens
wegen offen zur Rede zu stellen; denn er war hierin kurz abgebunden und stellte
sich, je unentschlossener er sich fühlte, um so fester, als einer, der wisse, was
er tue und zu tun habe. Dafür nahm ich den Umweg durch metaphysische
Disputationen, weil ich die Leichtfertigkeit, deren ich ihn mit aufrichtigen
Schmerzen bezüchtigte,
Agnes blühte augenblicklich in neuer Hoffnung auf, als der Geliebte das Wort des Heiles an sie richtete; denn sie hatte schon in stiller Trauer dem Gedanken entsagt, im Glanze jener Festfreuden ihm auch nur nahe sein zu können. Aber sie wollte das Heil nicht berufen und fügte sich still und demütig allen seinen Anordnungen, als er mit den reichen Stoffen zu ihren Gewändern erschien, welche die schlanke Gestalt umspannen, ihren Wuchs zum Ausdrucke rein geprägter Schönheit bringen sollten. Aber während er ihre schwarzen Haarwellen, die für drei Mädchenköpfe ausgereicht hätten, vorprüfend durch die Hände laufen ließ und in neue Lagen ordnete und sie lautlos das Haupt dazu hinhielt, beschloß sie in diesem selben jungen Haupte stumm und feierlich, nur darnach zu trachten, wie sie ihn im rechten Augenblick in ihre Arme zwingen und ihr Leben unauflöslich mit dem seinigen verbinden möge. Der kühne Vorsatz konnte nur die Ausgeburt des kindlich einfachen, aber in Aufregung geratenen Wesens sein.
Das größte Theater der Residenz war in einen Saal umgewandelt und hatte, voll
erleuchtet, bereits die beiden Körper des Festheeres, die Darstellenden und die
Zuschauer, in sich aufgenommen. Während auf den Galerien und in den Logen reihen
die schauende Welt versammelt harrte und einstweilen sich selbst in ihrem Schmucke
betrachtete, summten die Seitensäle und Gänge, dicht angefüllt von den sich
ordnenden Künstlerscharen. Hier wogte es hundertfarbig und schimmernd
durcheinander. Jeder war für sich eine inhaltvolle Erscheinung und Person, und
indem er selber etwas Rechtem gleichsah, schaute er freudig den Nächsten, welcher
in der schönen Tracht nun ebenfalls so vorteilhaft und kräftig erschien, wie man
gar nicht hinter ihm gesucht hätte, trotzdem der Kern der Festgebenden nicht aus
leeren Figuranten und Lebemenschen, sondern aus schwungvollen, vom Genius
gehobenen Jünglingen und längst in gediegener Arbeit ausgereiften Männern bestand,
welche einen rechtsgültigen Anspruch besaßen, die bewährten Vorfahren
darzustellen. Außer den Malern und Bildhauern gingen im Zuge Baumeister,
Erzgießer, Glas- und Porzellanmaler, Holzschneider, Kupferstecher, Steinzeichner,
Medailleure und viele andere Angehörige eines voll ausgegliederten Kunstlebens. In
den Gießhäusern standen zwölf Ahnenbilder für den Königspalast, soeben vollendet,
jedes zwölf Fuß hoch und im Feuer vergoldet. Zahlreiche Statuen von Landes-und
Geistesfürsten eigener und fremder Nationalität, zu Roß und Fuß, samt den
Bildwerken ihrer Fußgestelle waren schon vollendet und in der Welt zerstreut,
riesenhafte Unternehmungen begonnen, und es ging in den Feuerhäusern wohl schon so
gewaltsam und kraftvoll her wie an jenem Gußofen zu Florenz, als Benvenuto seinen
Perseus goß. In Fresko und Wachs waren
Jetzt öffneten sich die Türen, und die Trompeter und Pauker, welche klangvoll erschienen, verbargen mit ihren Reihen den hinter ihnen anschwellenden Zug, so daß man erwartungsvoll harrte, bis sie vorgeschritten der reichen Entfaltung Raum gaben. Ihnen folgten zwei Zugfahrer mit dem Nürnberger Wappen, dem Jungfernadler auf den weiß und roten Röcken, und hinter diesen schritt schlank und zierlich einher, einen mächtigen Laubkranz auf dem Haupte, den goldenen Stab in der Hand, der Führer der stattlichen Zunft der Meistersänger. Alle bekränzt, ging die gute Schar derselben daher mit ihrer Spruchtafel, voran die wanderlustige Jugend in kurzer Tracht, welcher die Alten folgten, den ehrwürdigen Hans Sachs umgebend, der sich im dunkelfarbigen Pelzmantel wie ein wohlgelungenes Leben mit dem Sonnenschein ewiger Jugend um das weiße Haupt darstellte.
Aber das bürgerliche Lied war dazumal so reich und überquellend, daß es jede
Meisterschaft begleitete und hauptsächlich
Liederreich waren alle die anderen Zünfte, die nun folgten in ihren bestimmten Farben an Kleid und Banner, die Schäffler und Brauer, die Metzger in rot und schwarzem, mit Fuchspelz verbrämtem Zunftgewande, die hechtgrauen und weißen Bäcker, die Wachszieher, lieblich in Grün, Weiß und Rot, und die berühmten Lebküchler, hellbraun und dunkelrot gekleidet; die unsterblichen Schuster schwarz und grün wie Pech und Hoffnung, buntflickig die Schneider. Mit den Damast- und Teppichwirkern erschienen schon namhafte Meister des höhern Gewerbes; denn sie brachten die fürstlichen Teppiche und Tücher hervor, mit denen die Häuser der Kaufherren und Patrizier geschmückt waren.
Alle jetzt erscheinenden Zünfte waren ausgefüllt von einer wahren Republik kraftvoller, erfindungsreicher Handwerks und Kunstmänner. Die Tüchtigkeit teilte sich unter die Gesellen, welche manchen berufenen Burschen aufzuweisen hatten, wie unter die Meister. Schon die Dreher zeigten als Genossen Hieronymus Gärtner, welcher mit kindlicher Andacht, als ein Werklein zum Preise Gottes, aus einem Stückchen Holz eine Kirsche schnitzte, die auf dem Stiele schwankte, und eine Fliege, die darauf saß, so zart, daß die Flügel und die Füße sich bewegten, wenn man sie anhauchte – der aber zugleich ein erfahrener Meister in Wasserwerken und kunstreichen Brunnen war.
Die Zunft der Schwertfeger und Waffenschmiede allein umfaßte eine gegliederte Welt kunstreicher Metallarbeiter. Der Schwertfeger, der Haubenschmied, der Harnischmacher, jeder von diesen brachte den Teil der kriegerischen Rüstung, der seinem Namen entsprach, zur größten Gediegenheit und bewährte darin ein nachhaltiges Künstlerdasein. Wunderbar löste sich die strenge Einteilung in die Freiheit und Vielseitigkeit auf, mit welcher die schlichten Zunftmänner wieder zu den wichtigsten Taten und Erfindungen vorschritten und alle wieder alles konnten, oft ohne des Lesens und Schreibens mächtig zu sein. So der Schlosser Hans Bullmann, der Verfertiger großer Uhrwerke mit Planetensystemen, und der Vervollkommner derselben, Andreas Heinlein, welcher auch so kleine Uhren zuwege brachte, daß sie im Knopfe der Spazierstöcke Platz hatten; auch Peter Hele, der eigentliche Erfinder der Taschenuhren, ging hier unter dem handfesten Namen eines Schlossermeisters.
Noch seh ich auch unter den Holzschneidern ein kleines Männchen in einem
Mäntelchen von Katzenpelz, den Hieronymus Rösch, den Katzenfreund, in dessen
stiller Arbeitsstube überall jene spinnenden Tiere saßen. Und gleich hinter dem
Noch sehe ich auch einen feinen Mann, dessen Legende mich besonders rührte, unter den Kupfertreibern, den Sebastian Lindenast, der seine kupfernen Gefäße und Schalen so schön und kostbar arbeitete, daß der Kaiser ihm das Vorrecht verlieh, sie zu vergolden, was sonst keiner durfte. Welch ein schönes Verhältnis zwischen dem Werkmann und dem obersten Haupte der Nation, diese Befugnis, ein geringes Metall um der edlen Form willen zum Goldrange zu erheben!
Gleich neben diesem sah ich den Veit Stoß, einen Mann von seltsamster Mischung. Er schnitt aus Holz so holde Marienbilder und Engel und bekleidete sie so lieblich mit Farben, güldenem Haar und Edelsteinen, daß damalige Dichter begeistert seine Werke besangen. Dazu war er ein mäßiger und stiller Mann, der keinen Wein trank und fleißig seiner Arbeit oblag, immer neue fromme Bilder für die Altäre erschaffend. Aber des Nachts machte er eifrig falsche Wertpapiere, um sein Gut zu mehren, und als er ertappt wurde, durchstach man ihm öffentlich mit einem glühenden Eisen beide Wangen. Weit entfernt, von solcher Schmach gebrochen zu werden, erreichte er in aller Gemächlichkeit ein Alter von fünfundneunzig Jahren und schnitt nebenbei Reliefkarten von Landschaften mit Städten, Gebirgen und Flüssen; auch malte er und stach in Kupfer.
Doch als ein ganzer und klassischer Genoß trat nun unter dem schlichten Namen
eines Gelb- und Rotgießers Peter Vischer einher mit seinen fünf Söhnen, die
Hantierer in glänzendem
Einer, der mir nicht viel weniger gefiel, war im Zuge der Maurer und Zimmerleute Georg Weber, groß und stark heranschreitend, zu dessen grauem Kleide es einer Unzahl von Ellen Tuches bedurfte. Der war freilich ein Wäldervertilger; denn mit seinen Werkleuten, die er alle so groß und stark aussuchte, wie er selber war, mit dieser Riesenschaft arbeitete er mächtig in Bäumen und Balken, sinnreich und künstlich, und fand nicht seinesgleichen. Er war jedoch ein trotziger Volksmann und machte im Bauernkrieg den Bauern Geschütze aus grünen Waldbäumen. Er sollte deshalb zu Dinkelsbühl geköpft werden; allein der Rat von Nürnberg löste ihn wegen seiner Kunst und Nützlichkeit aus und ernannte ihn zum Stadtzimmermeister. Er baute nicht nur schönes und festes Sparren- und Balkenwerk, sondern auch Mühl- und Hebemaschinen und gewaltige lasttragende Wagen und fand für jedes Hindernis, jede Gewichtmasse einen Anschlag unter seiner starken Hirnschale. Bei alledem konnte er weder lesen noch schreiben.
So folgten sich, da man eine ganze Zeit zusammenfaßte, Scharen von ausdrucksvollen
Gestalten, die alle im Leben gestanden hatten, bis dieser Teil des Zuges mit der
Zunft der Maler und Bildhauer und der Erscheinung Albrecht Dürers abschloß.
Unmittelbar voran ging ihm der Edelknabe mit dem Wappenschilde, der in blauem
Felde drei silberne Schildchen zeigt und von Maximilian dem großen Meister für die
ganze
Nachdem nun, was eine Stadt baut und ziert, vorangegangen, trat gewissermaßen die Stadt selbst auf. Von zwei bärtigen Hellebardieren begleitet, wurde ihr das große Banner vorgetragen. Hoch trug der kecke Fähndrich die wallende Fahne, im üppig geschlitzten Kleide, die linke Faust stattlich in die Seite gestemmt. Alsdann kam der Stadthauptmann, kriegerisch prächtig in Rot und Schwarz gekleidet, mit dem Brustharnisch angetan und den Kopf mit breitem, von Federn wogendem Baretthute bedeckt. Ihm folgten Bürgermeister, Syndikus und Ratsherren, unter ihnen manch ein im weiten Reich angesehener und ersprießlicher Mann, und endlich die festlichen Reihen der Geschlechter. Seide, Gold und Juwelen glänzten hier in schwerem Überfluß. Die kaufmännischen Patrizier, deren Güter auf allen Meeren schwammen, die zugleich in streitbarer Haltung mit dem selbstgegossenen Geschütze die Stadt verteidigten und an den Reichskriegen teilnahmen, übertrafen den mittlern Adel an Pracht und Reichtum wie in Gemeinsinn und sittlicher Würde. Ihre Frauen und Töchter rauschten wie große lebende Blumen einher, einige mit goldenen Netzen und Häubchen um die schöngezöpften Haare, andere mit federwallenden Hüten, diese den Hals mit feinstem Linnen umschlossen, jene die entblößten Schultern mit köstlichem Rauchwerk eingerahmt. Inmitten dieser glänzenden Reihen gingen einige venezianische Herren und Maler, als Gäste gedacht, poetisch in ihre welschen, purpurnen oder schwarzen Mäntel gehüllt. Diese Gestalten lenkten die Phantasie auf die Lagunenstadt und von da in die Weite an alle Küsten des Mittelmeeres.
Nun wurde es aber wieder feierlicher und stiller. Vier Edelknaben mit den
Wappenschilden von Burgund, Holland, Flandern und Österreich, dann vier Ritter mit
den Bannern von Steier, Tirol, Habsburg und mit dem kaiserlichen Paniere traten
auf, dann ein Schwertträger und zwei Herolde. Nach der Flamberge tragenden
Leibwache des Kaisers kam eine Schar Edelknaben in kurzen goldstoffenen Wämsern,
goldene Pokale tragend, dem kaiserlichen Mundschenk vorauf, und ebenso gingen
Jäger und Falkoniere dem Oberjägermeister vorauf. Fackelträger mit vergittertem
Gesicht umgaben den Kaiser. Rock und Hermelinmantel von schwarzdurchwirktem
Goldstoff, einen goldenen Brustharnisch tragend, auf dem Barett den königlichen
Reif, ging Maximilian heroisch daher, das Angesicht auf das Heldenmütige,
Ritterhafte und Sinnreiche gerichtet. So konnte man selbst von dem lebenden
Konterfei sagen. Denn es hatte sich für das Bild des Kaisers ein junger
Unmittelbar hinter dem Kaiser ging sein lustiger Rat Kunz von der Rosen, aber nicht gleich einem Narren, sondern wie ein kluger und wehrbarer Held launiger Weisheit. Er war ganz in rosenroten Samt gekleidet, knapp am Leibe, doch mit weiten ausgezackten Oberärmeln. Auf dem Kopfe trug er ein azurblaues Hütchen mit einem Kranze von je einer Rose und einer goldenen Schelle; an der Hüfte indessen hing an rosenfarbenem Gehänge ein breites, langes Schlachtschwert von gutem Stahl. Wie sein Held und Kaiser war er nicht sowohl ein Dichter als selbst ein Gedicht.
Nun schritt in Stahl gehüllt und waffenklirrend einher, was von der Lüneburger
Heide bis zum alten Rom, von den Pyrenäen bis zur türkischen Donau gefochten und
geblutet hatte, die glänzende Führerschaft des Reiches der Erbschenk und
Statthalter Siegmund von Dietrichstein und der zum zeitweiligen Feldherrn
gediehene Jurist Ulrich von Schellenberg, Georg von Frundsberg, Erich von
Braunschweig, Franz von Sickingen, das Freundespaar Roggendorf und Salm, Andreas
von Sonnenburg, Rudolf von Anhalt und die übrigen, jeder mit seinen Waffen- und
Trophäenträgern, überschattet von den Fahnen mit den Namen der Schlachten und
Belagerungen, begleitet von Schilden mit kühnen oder edelsinnigen Wahlsprüchen. In
diesem Aufzuge sah man vorzugsweise schöne und kräftige Männergestalten, da hier
meistens solche ihren Platz genommen, die als die Schmiede ihres Glückes sich auf
die Höhe des Lebens und Gelingens durchgekämpft hatten und in jeder Hinsicht
geeignet waren, das Tüchtigste vorzustellen. Ich hatte mich an meinem noch
verborgenen Platze etwas vorgedrängt, um besser sehen zu können, was uns voranzog,
und verschlang alles mit den Augen wie einer, der das Zweite Gesicht hat. Meine
eigene Mitspielerschaft ganz vergessend, erlabte
Ich hätte auch beinahe übersehen, daß der lange Prachtzug des letzten Ritters zu Ende ging und, während die Scharen der bisher Vorübergezogenen im weiten Rundgange sich kreuzten, schon der Mummenschanz heranrauschte, in welchem alles sich auftat, was die Künstlerschaft an übermütigen Sonderlingen, Witzbolden, Lückenbüßern und Kometennaturen vermochte.
Auf einem störrischen Esel eröffnete der Mummereimeister den träumerischen Zug,
und hinter ihm tanzten die bunten Narren Gylyme, Pöck und Guggerillis, die
Zwergschälke Metterschi und Duweindl und viele andere Narren daher, unter welche
ich als ein ziemlich stiller Narr zurückgeschlüpft war. Dann kam der bekränzte
Thyrsusträger, welcher die behaarte, gehörnte und geschwänzte Musikbande führte.
In ihren Bockshäuten nach der eigenen Musik hüpfend und hopsend, brachten diese
Gesellen eine uralte, seltsam schreiende und brummende
Mit goldenem umlaubtem Thyrsusstabe schritt der Anfahrer des Bacchuszuges vor. Ein Kranz blauer Trauben umschattete seine glühende Stirn; von den Schultern flatterte und wallte eine festliche Last buntgestreifter Seidenbänder bis auf die Füße und verhüllte wehend den schlanken Körper. Nur die Füße waren mit goldenen Sandalen bekleidet. Halb mittelalterlich, halb antik geschürzte Winzer umschwärmten die biblischen Kundschafter aus dem Gelobten Lande, welche an tiefgebogener Stange die große Traube trugen, gefolgt von vier noch kernhafteren Männern, die zwischen vier aufrechten Fichten eine noch viel mächtigere Traube daherbrachten. Alle übrige Zubehör eines bacchantischen Getümmels mit Becken, Schalen und Stäben zog und schob den Wagen des efeubekränzten Gottes, über dem sich ein dunkelblauer Himmel von Trauben wölbte.
Dem Triumphwagen der Venus, welcher sich hierauf nahte, gingen als Diener des Mars
zwei zarte, in Landsknechttracht gekleidete Knaben mit Trommel und Pfeife vorauf,
die gekerbten Federhüte auf dem Rücken tragend, daß das bunte Gefieder auf dem
Boden schleifte. Mit schelmischer Feierlichkeit ließen sie ihren Kriegsmarsch
ertönen, wobei die mehr sanfte als schrille Flöte immer denselben sehnsüchtigen
Satz wiederholte. Könige mit Krone und Zepter, zerlumpte Bettler mit dem
Schnappsack, Pfaffen und Juden, Türken und Mohren, Jünglinge und Greise zogen den
Wagen herbei. Die auf ihm ruhende Venus war niemand anders als die schöne Rosalie,
halb liegend auf einem Rosenlager unter durchsichtiger Blumenlaube. Ihr Kleid war
von Purpurseide, aber vom Schnitte eines patrizischen Festkleides der damaligen
Zeit, wie etwa Altrecht Dürer eine mythologische Gestalt zu zeichnen liebte. Der
schwere Stoff bildete sogar getreu den prächtigen gebrochenen
Agnes war in ein Gewand von Silberstoff gekleidet, das bis an die Hüften sich
knapp anschmiegte und alle ihre geschmeidigen
Der geliebte Lys aber, der den Aufzug eines der Jagd obliegenden Assyrerkönigs gewählt, um seiner Diana zur Seite gehen zu können, hatte, sobald er die Rosalie-Venus erblickt, jene verlassen, sich unter den Triumphzug der letzteren gemischt, betrachtete sie unverwandt gleich einem Nachtwandler und wich keinen Schritt von ihrem Wagen, ohne seines Tuns bewußt zu werden.
Meinerseits hatte ich mich, meinem alten Zunamen getreu, in ein laubgrünes Narrenkleid gesteckt und um die Schellenkappe ein Geflecht von Disteln und Stechpalmzweigen mit roten Beeren geschlungen. Diese jagdverwandte Tracht benutzte ich nun, als ich sah, wie die Dinge standen oder vielmehr gingen, um ab und zu durch den wandelnden Wald zu huschen und der ärmsten Diana zur Seite zu bleiben, da sonst kein Befreundeter um sie war; denn Erikson, der wilde Mann, hielt sein Auge auf Lys und Rosalien gerichtet, ohne indessen stark aus seiner Gemütsruhe zu geraten.
Den südlich-griechischen Bildern folgte als nordisch-germanisches Märchen der Zug
des Bergkönigs. Ein Gebirge von Erzstufen und Kristallen war auf seinem Wagen
errichtet, und darauf thronte die riesige Gestalt in grauem Pelztalar, den
Hinter dem Bergkönig auf demselben Wagen schlug der Prägemeister aus Silber und blankem Kupfer kleine Denkmünzen auf das Fest; ein Drache spie sie in ein klingendes Becken, und zwei Pagen, Gold und Silber genannt, warfen die Schimmerstücke unter das schauende Volk. Ganz zuletzt und einsam schlich der Narr Gülichisch daher und schüttelte traurig den leeren Beutel.
Freilich folgte dem hinkenden Narren auf dem Fuße wieder der glanzvolle Anfang; wieder gingen die Zünfte, das alte Nürnberg, Kaiser und Reich und die Fabelwelt vorüber, und so zum dritten Male, und immer ging Lys neben dem Wagen der Venus, schritt Erikson aufmerksam dahinter her und schaute Agnes, welche in ihrem Walde nicht sehen konnte, was vorging, bald ratlos umher, bald schlug sie traurig die Augen nieder.
Die ganze Masse reihte sich nun in eine gedrängte Ordnung und ließ ein volltöniges
Festlied erschallen, um dem wirklichen Könige, in dessen Machtkreis zuletzt diese
ganze Traumwelt hing, ihre Huldigung darzubringen. Dann bewegte sich der lange Zug
an der im Logensaal versammelten Familie des
Die Prachttreppen hinunter, durch Bogengänge und Säulenhallen, über die von
Pechflammen erleuchteten Plätze, von den Wogen des Stadtvolkes angefüllt, überall
gingen die Künstler an ihren Werken vorbei, bis der Zug in dem großen Festgebäude
mündete, dessen Räume für die weiteren Taten zubereitet und geschmückt waren. Der
größte Saal war zu Bankett, Spiel und Tanz eingerichtet, und zwar ganz im Stile
des gefeierten Zeitalters, eine Reihe von Nischen und Nebengemächern für den
Aufenthalt einzelner Gruppen und Gesellschaften gartenähnlich verkleidet. Nachdem
die allgemeine Tafelfreude genugsam vorgerückt, begann auch unverweilt Tanz und
Spiel jeder Art an allen Enden. Die Meistersänger hielten bei offener Türe
Singschule in einem kleinern Saale. Es wurde nach den zünftigen Gebräuchen
wettgesungen, ein Schulfreund oder Singer zum Meister gesprochen und dergleichen
mehr. Die vorgetragenen Gedichte enthielten hauptsächlich Hecheleien der
verschiedenen Kunstrichtungen gegeneinander, Verspottung anmaßlichen oder
eigensinnigen Wesens an Leuten und Schulen, Klagen über gesellschaftliche
Übelstände, dann auch den Preis des Unbestrittenen, Anerkannten. Es war sozusagen
eine allgemeine Abrechnung, bei welcher jede Richtung und jede Größe ihren
Vertreter mit fertigem Spruche unter die Singer gestellt hatte. Der Inhalt der
lebhaften satirischen Verse nahm sich höchst seltsam aus in der Form, in welcher
er vorgebracht wurde. Denn während alle Singenden in denselben einförmigen und
hölzern trockenen Knittelversen ihre angeblichen Stollen und Abgesänge vortrugen,
wurde doch jeder einzelne unter Ankündigung einer neuen Weise aufgerufen. Da wurde
gesungen
So grobe Reden durfte die Frau Venus, die mit einem Teile ihres Gefolges der
Singschule beigewohnt, nicht anhören. Sie brach mit verstellter Entrüstung auf und
zog sich in eines der Seitengemächer zurück, wo sie ihren durch ein paar anmutige
Frauen vermehrten Hof hielt. In einer anstoßenden ganz grünen Nische hatten die
Jäger ihren Sitz aufgeschlagen, und ihrer Diana dienten einige junge Nymphen zur
Gesellschaft; sie ließen sie aber meistens allein sitzen und schwärrnten mit den
wilden Jagdgenossen auf den Tanz aus. Ich setzte mich daher öfter neben sie und
suchte ihre Verlassenheit durch Gespräch und übliche Dienstleistungen so ungesehen
als möglich zu machen, bis die zu erhoffende Wendung der Dinge herbeikäme. Erikson
ging ab und zu; er konnte seiner Wildemannstracht halber nicht wohl tanzen noch
sich in zu große Nähe der Frauen setzen. Die Rolle war ihm erst in den letzten
Tagen
Agnes hatte schon lange stumm neben mir gesessen, während die kostbare Zeit dieser Nacht unaufhaltsam vorrückte. Sie wiegte, den Busen von ungestümen Gefühlen bewegt, das schwarzgelockte Haupt, und nur zuweilen schoß sie einen flammenden Blick zu Lys und Rosalien hinüber, zuweilen auch sah sie ruhig verwundert hin, aber stets erblickte sie dasselbe Schauspiel. Zuletzt verstummte auch ich und versank in trübes Sinnen über eine so große Schwäche des von mir hochgehaltenen Freundes. Wie eine unheimliche Naturerscheinung beunruhigte mich dieser rücksichtslose Wankelmut, der zu einer Art frecher Kühnheit wurde, und ich litt unter dem Eindruck, mit welchem man im Traum einen Sinnlosen sich in den Abgrund stürzen sieht.
Ein tiefer Seufzer weckte mich auf; Agnes hatte gesehen, wie Lys mit Rosalien zum
Tanze schritt, der im nahen Hauptsaale rauschte und wogte; plötzlich forderte sie
mich auf, sie ebenfalls hinzuführen und mit ihr zu tanzen. Schon drehten wir uns
mit der buntschimmernden Menge und begegneten zweimal der rosigen Venus, deren
Purpurgewand flog und den mit ihr tanzenden Lys zeitweise halb bedeckte. Dieser
grüßte
An einem langen Seile führte Kunz von der Rosen alle vorhandenen Narren durch das Gedränge. Jeder trug auf einer Tafel geschrieben den Namen seiner Narrheit, und von den leichteren schied der lustige Rat neun schwere aus und stellte sie vor dem Kaiser als Kegelspiel auf. So standen da vor aller Augen Hochmut, Neid, Grobheit, Eitelkeit, Vielwisserei, Vergleichungssucht, Selbstbespiegelung, Halsstarrigkeit und Wankelmut. Mit einer mächtigen Kugel, welche die übrigen Narren mit komisch heftigen Gebärden herbeiwälzten, versuchte nun mancher Ritter und Bürger nach den neun Kegelnarren zu schieben, aber nicht einer wankte, bis endlich der heroische Max, welcher das ganze deutsche Volk darstellte, sie alle mit einem Wurfe über den Haufen warf, daß sie übereinanderpurzelten.
Aus dieser Niederlage entwickelte sich eine scherzhafte Auferstehung, indem Kunz dem sieghaften König als Belohnung die wiedererstandenen Bildwerke der alten Welt vor Augen brachte und zunächst die gefallenen Narren als Niobidengruppe aufrichtete, welche freilich zur Zeit Maximilians noch in der Erde lag. Aus der tragischen Darstellung löste sich unversehens die Gruppe der Grazien, von drei jungen, zierlich feinen Narren gebildet, welche sich nach einmaligem Umdrehen wieder um einen Mann verminderten und als Amor und Psyche umfingen, bis diese sich auflösten und nur ein Narzissus übrigblieb. Aber auch dieser schwand hinweg, und an seiner Stelle lag jener kleinste Zwerg als sterbender Fechter am Boden und machte seine Sache so vortrefflich, daß alle Zuschauer zu lautem Beifall gerührt wurden und die gesamte Narrenschaft herbeieilte, ihn samt der umgekehrten Fischschüssel, auf welcher er lag, emporhob und im Triumph davontrug.
Sobald er die Schlangen abgestreift hatte und frei war, stürmte Erikson durch das Haus und bettelte von zechenden Bekannten entbehrliche Gewandstücke zusammen. Wunderlich gekleidet, teilweise ein Bischof, ein Jäger und ein wilder Mann, den Kopf noch grün belaubt, suchte er die Verschwundenen auf und fand sie in dem größern Kreise, in welchem die Bacchusleute, der Hof der Venus und die Jäger sich vereinigt hatten. Er war nicht eifersüchtig und schämte sich sogar des Gedankens, daß er es je sein könnte, weil die begründete wie die grundlose Eifersucht diejenige Würde vernichtet, deren die gute Liebe bedarf. Er wußte nur, daß in der Welt alles möglich sei und das Folgenreichste oft von einer kleinen Unterlassung abhänge, welche die Dinge ohne Not verändere, und überdies war er zu dieser Zeit noch ungewiß, ob das Verraten von Ruhe oder Unruhe welches von beiden für Rosalien eher beleidigend sein könnte. Denn wenn sie sich die Mühe gab, die Bewerbungen des Niederländers so offenkundig zu ertragen, und dabei eine geheime Absicht verbarg, so mußte Erikson sich artigerweise auch die Mühe geben, einen solchen Vorgang zu verstehen.
Ich ging hin, um das schmerzlich erregte Wesen so gut möglich zu trösten und
hinzuhalten; doch war mir Erikson schon zuvorgekommen, welchem Rosalie, während
ich mit Lys gesprochen, einige Worte zugeflüstert hatte, die ihn munter zu machen
schienen. Er führte die schimmernde Gestalt in die Tanzreihen und schwang sich mit
ihr ebenso kraftvoll als leicht
Es war noch nicht der Gipfel der Ehren, die Agnes heute erlebte; der kaiserliche Weißkunig ließ sich im Vorbeispazieren von seinem Gefolge über den Auftritt Bericht geben, die schlanke Diana sich vorstellen und bat den von Sickingen mit huldreichen Worten, sie ihm für einen Rundgang zu überlassen. Unter dem Einfallen des vollen Orchesters ging sie an der Hand des festlichen Traumköniges um den Saal, während überall auf ihrem Wege die Ritter, Edeldamen und Patrizierinnen sich verbeugten, die Bürger ihre Mützen zogen.
Ihr Gesicht war blühend gerötet von Erregung und Hoffnung, als sie mit so rühmlichem Erfolge, nachdem der Kaiser sie an Sickingen, dieser an Erikson feierlich abgegeben hatte, von letzterm an ihren Platz zurückgeführt wurde. Allein der Geliebte hatte nichts von allem gesehen und nahm auch ihre Rückkehr nicht wahr. Rosalie hatte sich während der Zeit ihres breiten Federhutes entledigt und denselben Lysen zum Halten gegeben; und wie sie nun mit freiem Kopfe dasaß und ihr ambrosisches Haar mit den weißen Fingern ordnete, wirkte ihre Schönheit mit erneuter Betörung auf ihn ein.
Jetzt erblaßte Agnes, wendete sich zu mir und bat mich, ihm zu sagen, sie wünsche
nach Hause gebracht zu werden. Sogleich eilte er herbei, besorgte den warmen
Mantel des Mädchens
Zugleich verschwand er, nachdem er uns beiden die Hände gedrückt, wieder in der Menge, welche die breite Treppe auf- und niederstieg.
Da standen wir nun auf der Straße; der Wagen, welcher Agnesen mit ihrem Liebesentschlusse hergebracht, war nicht zu finden, und nachdem sie traurig an das erleuchtete Haus, in welchem es sang und klang, hinaufgesehen, kehrte sie ihm noch trauriger den Rücken und trat, von mir geführt, den Rückweg durch die stillen Gassen an, in denen der Morgen zu dämmern begann.
Sie hielt das Köpfchen tief gesenkt; in der Hand trug sie unbewußt den großen Hausschlüssel, ein altes Stück Arbeit, welches ihr Lys in der Zerstreuung anstatt mir zugesteckt hatte. Sie trug den Schlüssel fest umschlossen in dem dunklen Gefühle, daß Lys ihr das kalte, rostige Eisen gegeben; es war doch etwas, das von ihm kam, sonst hatte er heute nicht viel an sie gewendet. An dem Festmahle hatte sie beinahe nichts genossen, und das wenige, mit dem sie seither etwa ihre Lippen erfrischt, war von mir besorgt worden.
Als wir vor dem Hause angelangt, stand sie schweigend und rührte sich nicht,
obgleich ich sie wiederholt fragte, ob ich die Glocke ziehen oder vielmehr mit dem
zierlichen Meerfräulein des Türklopfers Lärm machen solle, und erst als ich den
Schlüssel in ihrer Hand entdeckte, aufschloß und sie bat hineinzugehen, legte sie
langsam beide Arme mir um den Hals und fing an, erst wie im Traume zu stöhnen,
dann mit den Tränen zu ringen, die nicht fließen wollten. Ihr Mantel sank von den
Schultern; ich wollte ihn aufhalten, umfing sie aber statt dessen brüderlich und
streichelte ihr den Kopf und den Hals, denn den
Die Sonne ging eben auf, als ich in den Saal trat. Alle Frauen und älteren Leute
waren schon weggegangen; die Menge der
Rosalie besaß in jener Gegend ein Landhaus, und sie hatte die fröhlichen Leute der Mummerei eingeladen, sich am Nachmittage dort einzufinden, bis wohin sie als bereite Wirtin ebenfalls dasein würde. Insbesondere waren dazu noch einige Frauen gebeten, und diese hatten ausgemacht, da es einmal Fasching sei, in der alten Tracht hinauszufahren; denn auch sie wünschten so lang als möglich sich des glänzenden Ausnahmezustandes zu erfreuen.
Erikson war in seine Wohnung gegangen, um sich in seine gewohnten Kleider zu werfen, die er nur etwas sorgfältiger als sonst auswählte. Da auch Rosalie später in moderner Toilette erschien, wie sie der Jahreszeit und dem Tage einfach angemessen war, ließ sich denken, daß hierin entweder eine Verständigung stattgefunden oder ein übereinstimmendes Gefühl waltete, beides schlichte Anzeichen, die von ruhigen Beobachtern nicht übersehen wurden.
Auch Lys war nach Hause geeilt, doch in entgegengesetztem Sinne. Er hatte
seinerzeit zu Studien für das Bild mit dem Salomo versuchsweise ein
altorientalisches Königskostüm anfertigen lassen; das lange Gewand war von weißem
feinem Batistleinen, in viele Falten gelegt und mit purpurfarbigen, blauen und
goldenen Borten, Troddeln und Fransen besetzt. Kopf- und Fußbekleidung entsprachen
ebenfalls dem ungefähren vorderasiatischen Stile des Altertums. Die betreffende
Studie hatte er in der Ausführung zwar nicht benutzt; jetzt aber schien ihm das
Kleid tauglich, um darin einen Scherz vorzubringen und am Hofe der Liebesgöttin
sich als gestriger Jagdkönig im Hofgewande einzufinden. Dazu ließ er Haar und Bart
mit Brenneisen und duftenden Ölen formieren und kräuseln und
Meinerseits hatte ich gar nicht geschlafen, sondern fuhr gleich in der Morgenfrühe mit der Hauptschar hinaus. Große Wagen, mit Landsknechten beladen und von deren Spießen starrend, rasselten voraus und ihnen nach eine lange Reihe von Fuhrwerken aller Art in die helle Morgensonne hinein, am Rande der schönen Buchenwälder, hoch auf den Uferhängen des Stromes, der in glänzenden Windungen um die Geschiebe- und Gebüschinseln rauschte.
Es war ein milder Februartag und der Himmel blau; die Bäume wurden bald von der Sonne durchschossen, und wenn ihnen das Laub fehlte, so glänzte das weiche Moos auf dem Boden und auf den Stämmen um so grüner, und in der Tiefe leuchtete das blaue Bergwasser.
Das bunte Volk ergoß sich über eine malerische Gruppe von Häusern, welche vom Wald
umgeben auf der Uferhöhe lag. Ein Forsthof, ein altertümliches Wirtshaus und eine
Mühle am schäumenden Waldbach waren bald in ein gemeinsames Lustlager verwandelt
und verbunden; die stillen Bewohner sahen sich von dem berühmten Feste gleichsam
in Person überrascht und umklungen und hatten genug zu tun mit Sehen und Hören,
Bewundern und Belachen alles dessen, was sie in hundert Gestalten so plötzlich von
allen Seiten umgab. Den Künstlern aber weckte die freie Natur, der erwachende Lenz
den Witz in der tiefsten Seele; die frische Luft legte die beweglichsten Fühlfäden
der Freude bloß, und wenn die Lust der entschwundenen Nacht auf Verabredung und
geplanter Einrichtung beruhte, so lockte die jetzige Tageslust zufällig und frei
zum lässigen Pflücken, wie die Frucht am Baume. Die dem phantasierenden Fühlen und
Genießen angemessenen Kleider waren nun wie etwas Hergebrachtes, das schon nicht
mehr
Auch ich geriet eine Weile in einen solchen Wolkenschatten. Ich war dem Mühlbache
nach tiefer in das Gehölz gegangen und wusch mir das Gesicht mit den frischklaren
Wellen; dann setzte ich mich auf das Holzwerk einer Wasserschwelle und überdachte
die vergangene Nacht und das seltsame Abenteuer im Hausflur der Agnes. Das sanfte
Rauschen des Wassers brachte mich in einen Halbschlummer, in welchem meine
Gedanken wie träumend in die Heimat wanderten; ich glaubte an der Seite der toten
Anna an dem stillen Waldwasser zu sitzen in der Tracht des Tellenspieles; dann sah
ich mich an ihrer Seite durch die Abendlandschaft reiten und sah alles mit ruhigem
Herzen wie eine Erscheinung verschollener Tage, welche für sich abgeschlossen und
nicht mehr zu ändern ist. Unversehens aber verlor sich und verblich das Bild vor
der Gestalt der Judith, mit der ich durch die Nacht wandelte; ich war bei ihr im
Hause, während die barmherzigen Brüder es belagerten, ich sah sie in ihrem
Baumgarten aus dem Herbstdufte hervortreten und endlich
Ich dachte an die Flucht der räuberischen Zeit, seufzte und schüttelte leise den Kopf, und erst jetzt wurden durch den Klang der Schellen meine Gedanken ganz wach und geordnet, daß ich endlich auch der Mutter gedachte, freilich nur wie eines Selbstverständlichen und Unverlierbaren, wie eines guten Hausbrotes; denn daß ein solches eines Tages am ehesten abhanden kommen kann, hatte ich noch nicht erfahren. Dennoch dachte ich mit ziemlichem Ernste an die Frau in der stillen Stube; schon ging ich in meinem zweiundzwanzigsten Jahre, und noch hatte ich ihr keine klare Rechenschaft ablegen können über den Stand meiner irdischen Aussichten, über die Frage des Fortkommens in der Welt. Rasch rückte ich das Täschchen herum, das an meinem Gurte hing und neben dem Schnupftuch und anderen Dingen einen Teil der letzten Barschaft enthielt, die ich noch zu verzehren und die mir die Mutter, wie die früheren Summen, pünktlich und getreulich vor kurzer Zeit gesendet hatte. Freilich nützte das Zählen jetzt nichts, und ich schob die Tasche wieder zurück, verhehlte mir aber nicht, daß meine kleine Hausvorsehung zu Hause die Teilnahme an dem Feste nicht billigen werde. Das Narrenkleid kostete zwar nicht viel, und ich hatte es auch hauptsächlich aus diesem Grunde gewählt; dennoch konnte die Stunde kommen, wo ich den bescheidenen Betrag bitter entbehren mußte. Doch jetzt verstand ich besser als die Mutter, was nötig und ersprießlich war für einen jungen Gesellen, besonders als ein frisches Lied aus dem Lager der Freude herübertönte. Ich schüttelte abermals den Kopf, daß die Schellen klangen, sprang auf und eilte davon.
»Ich will wetten«, unterbrach mich Erikson, »daß er das arme Ding heute sitzenläßt und nicht mitbringt. Wir sollten ihm aber einen Streich spielen, damit er zur Vernunft kommt. Nimm einen Wagen, fahre in die Stadt und sieh ein wenig zu! Findest du den Tollkopf nicht zu Hause noch bei dem Mädchen, so bring dieses ohne weiteres mit, und zwar in Rosaliens Namen und Auftrag, so kann die Mutter nichts dagegen haben; ich werde das verantworten. Zu Lys wirst du nachher einfach sagen, daß du für deine Pflicht gehalten, dem Gebote nachzukommen, da er dir die Schöne in letzter Nacht so beharrlich anvertraut.«
Ich fand diesen Einfall nur in der Ordnung und fuhr sogleich in die Stadt. Auf dem Wege begegnete ich Lys, der ganz allein in einer Kutsche saß, in einen warmen Mantel gehüllt; die kegelförmige Königsmütze mit ihren Anhängseln, der wunderlich gelockte schwarze Bart verrieten aber genugsam den festschwärmenden Nachzügler.
»Tu das, mein Sohn!« sagte Lys möglichst gleichgültig, obschon er sichtlich etwas überrascht war. Er hüllte sich dichter in den Mantel, indem er seinem Kutscher barsch befahl weiterzufahren, und ich hielt bald nachher vor Agnesens Wohnung. Das Pferdegetrampel und Rollen der Räder sowie das plötzliche Stillstehen widerhallte in ungewohnter Weise auf dem still entlegenen Plätzchen, so daß Agnes im selben Augenblicke mit strahlenden Augen ans Fenster fuhr. Als sie mich aussteigen sah, verschleierte sich der Blick wieder, doch harrte sie noch erwartungsvoll, als ich in die Stube trat.
Ihre Mutter war auch da, beschaute mich von allen Seiten, und indem sie fortfuhr, mit einer alten Straußenfeder ihren Altar, das darüber hängende Bild, die Porzellantassen und Prunkgläser, auch die Wachslichter abzustäuben und zu reinigen, fing sie an zu plaudern: »Ei, da kommt uns ja auch ein Stück Karneval ins Haus, gelobt sei Maria! Welch allerliebster Narr ist der Herr! Aber was Tausend habt Ihr denn? was hat Herr Lys nur mit meiner Tochter angefangen? Da sitzt sie den ganzen Morgen, ißt nichts, schläft nicht, lacht nicht und weint nicht! Dies ist mein Bild, Herr, wie ich vor zwanzig Jahren gewesen bin! Doch Sie haben es, glaub ich, auch schon gesehen! Dank unserm Herren und Heiland, man darf es noch betrachten! Sagen Sie nur, was ist es mit dem Kinde? Gewiß hat Herr Lys sie zurechtweisen müssen, ich sag es immer, sie ist noch zu dumm und ungebildet für den feinen Herren! Sie lernt nichts und beträgt sich unschicklich. Ja, ja, sieh nur zu, Agnes! lernst du das von mir? Siehst du nicht auf diesem Bild, welchen Anstand ich hatte, als ich jung war? Sah ich nicht aus wie eine Edelfrau?«
Agnes setzte sich mitten in die Stube, und ihre Wangen röteten sich leise von wiederaufkeimender Hoffnung. Die Mutter frisierte sie nun mit großer Geschicklichkeit. Sie führte nicht ohne Anmut den Kamm, und als ich die hochgewachsene Frau betrachtete und die immer noch schönen Anlagen und Züge ihres Gesichtes sah, mußte ich gestehen, daß ihre Eitelkeit einst berechtigt gewesen sei.
Agnes saß mit bloßem Halse, von der Nacht der aufgelösten Haare umschattet, und es gewährte mir einen lieblich ruhevollen Anblick, wie die Mutter die langen Stränge kämmte, salbte und flocht und dabei weit zurücktreten mußte. Sie sprach fortwährend, indessen wir andern schwiegen und wohl wußten warum. Ich merkte aus allen den Reden, daß Agnes ihrer eigenen Mutter von dem Unsterne der Nacht noch nichts anvertraut hatte, und entnahm daraus, wie grausam die Sache sie würgen mußte.
Endlich war das Haar ungefähr so gemacht, wie es gestern gewesen, und Agnes ging
mit der Mutter nach ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, das Dianengewand wieder
anzuziehen; sobald sie aber damit nur einigermaßen zustande gekommen, erschienen
sie wieder und vollendeten den Anzug in meiner Gegenwart, weil die Alte sich
unterhalten und soviel möglich
Jetzt mußte das duftende Getränk der genügsamen Frau zugleich das Mittagsmahl versehen, und sie ließ es sich eifrig schmecken, denn sie hatte eine ausreichende Menge gebraut; auch Agnes nahm zwei Tassen zu sich und aß ein gutes Stück Kuchen, und ich hielt vergnüglich mit, obgleich ich schon Verschiedenes genossen hatte. So erlebt der Mensch mancherlei Unterkunft in seinen Tagen; es ist mir kaum mehr glaublich, daß ich einst in solcher Tracht, in einem so kunstreich zierlichen Baudenkmälchen, zwischen der Diana und der alten Sibylle gesessen und friedlich gefrühstückt habe.
Weil das Wetter so schön war und die Alte es verlangte, um vor ihren Nachbaren zu
triumphieren, wurde die Decke des Wagens niedergelassen, als wir wegfuhren, und
sie schwenkte ihr Tuch aus dem offenen Fenster unter Abschiedsgrüßen und
Glückwünschen. Agnes aber seufzte dabei verstohlen und atmete erst etwas freier,
als wir vor dem Tore waren. Ohne der Vorfälle der letzten Nacht mit einem Worte zu
gedenken, fing sie an zu plaudern. Ich mußte berichten, wie die heutige
Lustbarkeit sich veranlaßt habe, wer draußen zu treffen sei und wann wir wieder
zurückkehrten? Denn sie wagte noch nicht, offen vorauszusetzen, wie sie hoffte,
daß sie nicht mit mir, sondern mit Lys heimfahren werde. Ich wußte noch weniger
einen Aufschluß zu erteilen und sprach, die allgemeine Vermutung aus, es werde die
ganze Gesellschaft zusammen aufbrechen, und wenn es auf mich ankomme, so gehe man
heute überhaupt noch nicht heim! Da sei sie auch dabei, sagte sie fast so
fröhlich, wie wenn es ihr Ernst wäre. Als wir schon das weiße Landhaus in einiger
Entfernung glänzen sahen, geriet Agnes aufs neue in Bewegung; sie wurde rot und
blaß, und da sich
Sie eilte, ihr Silbergewand zusammenfassend, den Stufen weg hinan und ging in das Kirchlein; der Kutscher nahm seinen Hut ab, stellte ihn neben sich auf den Bock, bekreuzte sich und betete, die fromme Muße benutzend, ein Vaterunser. So blieb mir nichts übrig, als verlegen unter die Kapellentür zu treten und zu warten, bis die unerwartete Zwischenhandlung vorüber war. An einem der Türpfosten sah ich ein gedrucktes Gebet hinter Glas gefaßt aufgehängt, welches ungefähr folgende Überschrift trug Gebet zur allerlieblichsten, allerseligsten und allerhoffnungsreichsten heiligen Jungfrau Maria, der gnadenreichen und hilfespendenden Fürbitterin Mutter Gottes. Approbiert und zum wirksamen Gebrauche empfohlen für bedrängte weibliche Herzen durch den hochwürdigsten Herren Bischof usf. Dazu war noch eine Gebrauchsanweisung gefügt, wie viele Ave und andere Sprüche herzusagen seien. Dasselbe Gebet lag auf Pappe gezogen auf ein paar alten Holzbänken umher. Sonst zeigte das Innere der Kapelle nichts als einen einfachen Altar, der mit einer verblichenen veilchenfarbigen Decke behangen war. Das Altarbild zeigte den Englischen Gruß, von roher Hand gemalt, und vor demselben stand noch ein kleines Marienbildchen im starren Reifröckchen von Seide und Metallflittern in allen Farben. Rings um den Altar hingen an der Wand geopferte Herzen von Wachs, in allen Größen und auf die mannigfaltigste Weise verziert; im einen stak ein seidenes Blümchen, im andern eine Flamme von Rauschgold, das dritte durchbohrte ein Pfeil, wieder ein anderes war ganz in rote Seidenläppchen gewickelt und mit Goldfaden umwunden, und eines war gar mit großen Stecknadeln besetzt wie ein Nadelkissen, wohl zur Schilderung der schmerzlichen Pein seiner Spenderin; dagegen schien ein mit grüner Farbe und vielen roten Röschen bemaltes Herz von der zur Zufriedenheit gelungenen Heilung Kunde zu geben.
Endlich schien Agnes sich der Hilfe der Himmelskönigin genugsam versichert zu
haben; sie erhob sich mit einem Seufzer und ging nach dem in meiner Nähe hängenden
Weihkessel. Da sah sie mich in der Türe gelehnt, wie ich sie aufmerksam
betrachtete, und erinnerte sich über meiner ganzen Haltung daran, daß ich ein
Ketzer war. Ängstlich tauchte sie den Wedel tief in den Kessel, eilte mir damit
entgegen und besprengte mir das Gesicht über und über mit Wasser, indem sie mit
dem Wedel viele Kreuze schlug. So hatte sie mich in weniger als zwölf Stunden zum
zweiten Male durchnäßt, erst mit ihren Tränen und nun mit dem Weihwasser, und ich
rückte doch den Hals etwas unbehaglich her und hin, da mir die Feuchte in den
Nacken rieselte. Das doppelt mythologische Geschöpf aber war nun über die
schädliche Einwirkung meiner Ketzerei beruhigt; sie ergriff meinen Arm und ließ
sich wieder in die Kutsche bringen, deren Lenker seine geistliche Erquickung
längst beendigt hatte und zur Weiterfahrt bereit war. Er machte ein kurios
lächelndes Gesicht gegen mich, weil er den Volksglauben kannte, der an dem kleinen
Gnadenörtchen haftete. Er
Der Landsitz, bei dem wir anlangten, war schon ziemlich belebt; in einem geräumigen Gartenland gelegen, zeigte seine gemischte Bauart, daß er früher den Zwecken einer Gastwirtschaft gedient und erst seit neuerer Zeit und jetzt noch in der Umwandlung zum Sommerhaus einer Familie begriffen war, wo ein Pächter oder Wirtschaftsführer zugleich für allerhand haushälterischen Nutzen sorgte. So kam jetzt vorzüglich der gute Rahm bei dem erquicklichen Kaffeetrinken zustatten, welches Frau Rosalie für den Empfang der Gäste veranstaltet hatte. Die Sonne schien so warm, daß mehrere den Trank im Freien, vor den Türen der neueingerichteten Gartenzimmer, genossen, während andere inwendig um die Kaminfeuer oder gar in einer alten Wirtsstube beim geheizten Ofen saßen.
Ich war nicht viel kecker als meine Schutzbefohlene und drang sachte mit ihr vor; doch wurden wir bald von der schönen Wirtin entdeckt, die jetzt in stattlichem Seidenkleide sich munter bewegte und Agnesen unverweilt ins Innere des Hauses führte.
»Die Göttertracht«, sagte sie, »will sich doch nicht recht für unser Klima schicken, besonders für uns Frauen! Gehen wir hinein, wo es ein Feuer gibt! Auch der König von Babylon oder Ninive, Herr Lys, ist drinnen; denn er würde hier erfrieren.«
Lys hatte es in der Tat mit seinen bloßen Armen und im Batisthabit nicht im Freien
ausgehalten und saß nicht eben in bester Laune an einem großen Ofen; auch der
Kaffee, für uns andere gut genug, vermochte nicht die Sorgen zu zerstreuen, die
auf seiner Stirne lagerten. Die Alltagstracht, in welcher er unerwartet nicht nur
Frau Venus, sondern auch Erikson angetroffen, hatte diese Sorgen heraufbeschworen,
und mehr noch die rüstige Tätigkeit des guten Freundes, den man bald ein
So war sie jetzt an seiner Seite, in der Heimat ihrer Liebe, und schien zu ihrem
Rechte zu kommen. Aber sie zeigte keinen Triumph, keine Überhebung, sondern atmete
nur etwas ruhiger auf, die innere Glut bis auf weiteres verschließend; denn sie
hatte in kurzer Zeit zu Schlimmes erfahren, um es schon vergessen zu können. Sie
ging vielmehr mit gesammeltem Ernste am Arme des schönen Großkönigs durch die
Zimmer, der sich scherzend für den alten Nimrod ausgab und behauptete, er habe mit
bekanntem Jägerglück die Göttin der Jagd selbst gefangen. Erst als sie an einem
großen Spiegel vorübergingen, kannte sie deutlicher seine veränderte, glänzende
Tracht und Gestalt, sah sich selber daneben und die Blicke der Anwesenden, welche
das eigentlich leuchtende Paar mit Verwunderung vefolgten. Da überflog eine
leichte heitere Röte das weiße Gesicht; allein sie hielt sich tapfer zusammen und
bewahrte das gleichmütige Aussehen, obschon sie vielleicht die einzige
Inzwischen ertönte aus den entlegeneren Räumen des Hauses eine lockende Tanzmusik, wie es von dem jungen Volke und der Karnevalszeit nicht anders zu erwarten war. In einem ehemaligen Wirtschaftssaale war noch die kleine Tribüne der Spielleute vorhanden, mit bunten Teppichen behängt und mit Topfpflanzen verziert worden. Auf diesem Gestelle saßen vier musizierende Kunstgesellen, die ihre Instrumente herbeigeschafft hatten, auf denen sie an manchen Abenden zusammen zu spielen pflegten, als unter sich verbundene, sinnig lebende Leute. Sie wurden die vier frommen Geiger genannt, weil sie teils aus Liebhaberei, teils auch um einen kleinen Nebengewinn zu erzielen, sonntags auf dem Chore einer der vielen Kirchen der Stadt mitspielten. Ihr Hauptmann war ein hübscher bräunlicher Rheinländer von etwas untersetzter Gestalt, mit heitern Augen und treuherzigem Munde, der von krausligem Barte umgeben war. Er hieß bei der Künstlerschaft der Gottesmacher, weil er nicht nur silberne Kirchengeräte von guter Form schmiedete, sondern auch Kruzifixe und Muttergottesbilder sauber in Elfenbein schnitt und zur tieferen Ausbildung in diesen Übungen vom Rheine herübergekommen war. Überall wohlgelitten, bezeigte er keineswegs eine fanatische Gesinnung und wußte eine Menge lustiger Pfaffenstücklein zu erzählen. Dergestalt logierte er in dem katholischen Wesen wie in einer alten Gewohnheit, die nicht zu ändern ist, dachte darüber niemals nach und führte übrigens stets ein Faß eigenen Weines aus der Heimat mit sich, das er schleunigst zum Füllen sandte, wenn es leer geworden.
Der Gottesmacher handhabte das Cello, und zwar in der Tracht eines Winzers aus dem
Bacchuszuge; die erste Violine spielte der lange Bergkönig, der seinen Bart
beiseite gelegt hatte und nun als ein junger Bildhauer zum Vorschein kam.
Doch heute taten die vier um der Freude willen ein übriges und lockten mit recht wohlgezogenem Tone das Volk zum Tanze. Bald drehte sich ein halbes Dutzend Paare bequemlich im weiten Raume, darunter Agnes mit Lys, in dessen Arm sie mit erwachender Glückseligkeit dahinschwebte, zum ersten Male seit dem Beginne des ganzen Festes. Das Gebet in der Kapelle schien geholfen zu haben; freilich gehörten auch so fromme Spielleute dazu, und besonders der Gottesmacher, der die Gestalt mit glänzenden Augen verfolgte, drückte jedesmal, wenn sie in seine Nähe kam, den Cellobogen mit vollerer und doch weicher Kraft auf die Saiten und gab seinem Wohlgefallen auf diese Weise den zierlichsten Ausdruck. Ich saß ausruhend bei einem Krüglein frischen Bieres an einem Tischchen, beobachtete ihn mit Vergnügen und begriff vollkommen, wie dem Arbeiter in Silber und Elfenbein das feine Wesen einleuchten mußte.
Nun ging es diesem während ein paar Stunden nach Wunsch; die frommen Geiger
spielten als Freiwillige nicht zu oft, so daß
Lys indessen ging ab und zu, sich anderwärts umzusehen; endlich aber kam er nicht mehr zurück. Wir harrten seiner beinah eine Stunde; Agnes verhielt sich schweigend und gab mir kaum eine Antwort, wenn ich das Wort an sie richtete; auch mit andern wollte sie weder plaudern noch tanzen. Zuletzt, da ich sah, daß sie des Wartens müde war und wieder zu leiden begann, schlug ich ihr vor, in die anderen Teile des Hauses zu gehen und zu betrachten, was alles dort vorfiele. Das nahm sie an, und ich führte sie langsam durch verschiedene Räume, wo sich überall einzelne Gesellschaften vergnügten, bis wir in ein Kabinett gelangten, in welchem an zwei oder drei kleinen Tischen behaglich gespielt wurde. An einem derselben saß Lys, der Hausherrin gegenüber und zwischen zwei älteren Herren, und spielte eine Partie Whist; denn die letzteren gehörten zu Rosaliens Verwandten, welchen sie die Zeit so angenehm als möglich zu vertreiben wünschte, und natürlich hatte sich Lys beeilt, das Opfer mit ihr zu teilen. Er war so glücklich und in seine Lage vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie wir dem Spiele zuschauten und sich noch andere Zuschauer sammelten.
Die Partie ging zu Ende; Lys und Rosalie hatten den alten Herren einige Louisdors
abgenommen, was den Unverbesserlichen als ein günstiges Zeichen so bewegte, daß er
seine Freude nicht verbergen konnte. Doch Rosalie nahm die Karten zusammen
»Ich habe mich«, begann sie mit artiger Beredsamkeit, »bisher arg gegen die Kunst
versündigt, indem ich, obgleich mit Glücksgütern gesegnet, soviel wie nichts für
sie getan habe! Ich bin um so tiefer beschämt, als es mir so gut unter den
Künstlern ergeht, und ich glaube auch schon meine Dankbarkeit für die ehrenvolle
Anwesenheit so fröhlicher Musenkinder am besten einigermaßen abzutragen, wenn ich
endlich beginne, etwas Nützliches zu tun. Nun aber ist es eine bekannte
Eigenschaft der Protektoren und Gutesstifter, daß sie für ihre Sache stets
Teilnehmer anwerben und möglichst ins Breite wirken müssen, damit das Gute um so
mehr Boden gewinne. So hören Sie denn, werte Freunde! Am heutigen Nachmittage, als
ich um das Haus herumging, irgendeinen Dienstboten zu rufen, fand ich in einer
verborgenen Ecke des Gartens den jüngsten und zierlichsten unserer Gäste, den
Pagen Gold des Herren Bergkönigs, der am Zuge so großmütig seine Schätze
ausgestreut hat. Der noch nicht siebzehn Jahre zählende Knabe stand bei seinem
Genossen, dem Pagen Silber, einen offenen Brief in der Hand, bleich und entsetzt
und schwere heiße Tränen in seinen hübschen Augen zerdrückend. In der offenen und
teilnehmenden Stimmung, in der wir uns ja alle befinden, konnte ich mich nicht
enthalten, hinzuzutreten und mich nach der Ursache solchen Leidwesens freundlich
zu erkundigen. Da vernehme ich, daß schon in den gestrigen Abendzeitungen die
Nachricht von einem großen Feuer gestanden hat, welches seit Tagen in der fernen
Vaterstadt des trauernden Knaben watet, während wir in unserm Freudengedränge
hievon keine Ahnung hatten. Und heute bringt der Silberpage, der in der
Morgenfrühe ordentlich schlafen gegangen ist und mittags seinen Freund abholen
wollte – denn beide sind Zöglinge unserer Akademie und arbeiten nebeneinander –,
heute nachmittags bringt
Die etwas überraschte Gesellschaft zögerte ein paar Sekunden; da setzte Lys ritterlich ein Goldstück und gewann. Rosalie zahlte ihm die Hälfte und warf die andere in eine geleerte Zuckerschale, die gerade zur Hand war.
»Schönsten Dank, Herr Lys! Wer setzt weiter?« sagte sie fröhlich und huldvoll.
Ein älterer Mann, den sie mit »Brav, Herr Oheim!« anredete, setzte ein Zweiguldenstück und gewann auch. Sie legte einen Gulden in die Schale und gab ihm den andern samt seinem Einsatz. Drei oder vier Damen, hiedurch ermutigt, wagten gleichzeitig jede ein Guldenstück und verloren, und Rosalie warf lachend für jede einen halben Gulden in das Gefäß. Die Frauen zu rächen, wie er sagte, legte Lys abermals einen Louisdor hin, worauf einige Herren sich mit doppelten Talerstücken einstellten und auch die Frauen sich wieder mit einzelnen halben, ja ganzen Gulden hervorwagten. Das Gewinnen und Verlieren wechselte ziemlich gleichmäßig, aber stets fiel etwas in die Zuckerbüchse, und wenn auch langsam, wuchs der Pensionsfonds, wie Rosalie es nannte, doch sichtbarlich an.
Doch Lys rief jetzt: »Das geht zu sachte voran!« und setzte vier Goldstücke, den
Rest des Bargeldes, das er in seiner Börse trug. »Schönen Dank abermals!« sagte
Rosalie, als sie gewann und die Hälfte in die Schale warf. Es war nicht recht
ersichtlich, ob Lys sich mit ihr freute; doch ergriff er einen Stuhl und setzte
sich der schönen Frau gegenüber, indem er rief: »Noch immer besser muß es kommen!«
Er pflegte niemals auszugehen, ohne eine größere Summe Geldes in Noten bei sich zu
tragen, einer langjährigen Reisegewohnheit zufolge. Auch jetzt hielt er die
Brieftasche in seinen Gewändern irgendwo versorgt, zog sie hervor und legte eine
Note von hundert rheinischen
»Wir haben genug!« rief sie, »tausend Gulden ohne das Bare! Mehr als fünfhundert Gulden soll ein so junger Bursch im Jahr nicht vertun. Also können wir ihn zwei Jahre durchbringen und wollen das Geld beim Bankier hinterlegen! Morgen aber soll er vorerst nach Hause reisen!«
Dann malte sie sich und uns die Erkennungsszene aus, welche zwischen der abgebrannten Mutter und dem unverhofft mit Hilfe erscheinenden Sohne stattfinden werde; sie beschrieb nochmals, wie der blühende Junge, fern von der Heimat, mitten im Jubel eines Maskenfestes von der Schreckenskunde überfallen, verzweifelt dagestanden und mit den bitteren Tränen gekämpft habe. Sie war in ihrer Freude jetzt so schön, daß sie den Höhepunkt weiblichen Reizes erreichte und einen Abglanz ihrer Schönheit auf Lysens Gesicht warf, als sie ihm über den Tisch weg die Hand bot, die seinige drückte und herzlich schüttelte, indem sie sagte: »Freuen Sie sich nicht auch an dem bißchen Sonnenschein, das wir Ihnen danken? Ohne Ihren raschen Edelmut wäre ja nicht so bald geholfen! Sie sollen auch unser Vorsteher sein und mich heut abend zu Tisch führen!«
Bei diesen Worten schienen ihre Gedanken eine andere Richtung zu nehmen; sie erhob
sich, bat um Entschuldigung und zog sich zurück. Gleich darauf eilte auch Lys
durch die gleiche
Was inzwischen vorgefallen, wurde später ziemlich im Zusammenhange denjenigen bekannt, die von den Dingen in dieser oder jener Weise berührt waren. Lys hatte mit stürmischen Schritten, mit plötzlicher Entschlossenheit die Verschwundene verfolgt und in einem einsamen Zimmer erreicht, wo sie mit einem andern als ihm eine kurze Zwiesprache zu halten dachte. Ihre beiden Hände ergreifend, erklärte er seine ernste und heilige Liebe und forderte sein Lebensglück und seine Ruhe von ihr, die einzig sie ihm geben könne. Sie sei das Weib der Weiber, die göttliche Frau, die immer nur einmal in der Welt sei, schön und hell und heiter, wie der Stern der Venus, klug und gütig und nur sich selber gleich. Er wisse jetzt, warum er sich in Irrsal und Wankelmut umgetrieben, indem er das Beste geahnt und gesucht, aber nicht habe finden können; aber nun habe er auch die unerbittliche Pflicht und das unveräußerliche Recht, es zu erringen. Keine Rücksicht dürfe ihn hindern, in so entscheidender Stunde den Schritt über die schwanke, schmale Brücke zum Dasein zu tun und ihr das ungeteilte und ganze, von keinen Zufälligkeiten getrübte Leben anzubieten, ein Leben, das die Notwendigkeit, nicht die eiserne, sondern die goldene, selbst sein würde. Denn es sei nicht möglich, daß irgendein Lebendiger sie so zu kennen und zu würdigen vermöge wie er, das fühle er untrüglich und glühend, wie ein lohendes Feuer, eine Glut, die zugleich ein Licht, das Licht des Urteils sei, das gegenseitig sein müsse.
Und was solcher großen Worte mehr sein mochten, ihm selbst ungewohnt; denn er soll
dabei so gut und begeistert, ja hinreißend ausgesehen haben, daß es Rosalien
unmöglich war,
Sie entzog ihm erschreckt die Hände, trat zurück und rief: »Bester Herr Lys! ich verstehe von Ihren geheimnisvollen Reden nur so viel, daß das Licht, das gegenseitige Urteil, von dem Sie sprechen, uns gänzlich fehlt. Ich bin nicht das Weib der Weiber, behüte mich Gott davor, da müßte ich ja die Summe aller Schwachheit sein! Ich bin ein einfaches, beschränktes Wesen und kann zunächst keine Spur einer Neigung zu Ihnen entdecken, und Sie können mich ebensowenig kennen, da Sie mich vor noch nicht vierundzwanzig Stunden zum ersten Mal gesehen haben!«
Er unterbrach sie jedoch, suchte wieder ihre Hände zu fassen und fuhr fort er kenne sie wohl, samt ihrer Vergangenheit und Zukunft. Eben daß sie in Demut und Verkennung dahingelebt, sei das Wahrzeichen ihrer Bestimmung, siegreich zur Klarheit und zum Glanze ihres Rechtes zu kommen! Das sei ja das Tiefsinnige in so vielen Götter- und Menschensagen, daß die himmlische Güte und Schönheit in Dunkelheit und Dienstbarkeit niedergestiegen und aus der rührenden Unkenntnis ihrer selbst zum Bewußtsein gerufen worden seien, das Wesenhafte sich aus dem Staube des Unwesentlichen habe befreien müssen.
Plötzlich schlug sie die Hände zusammen und rief mit klagendem Tone: »Himmel, welch ein Unglück! Hätt ich das nur vor acht Tagen gewußt – jetzt ist es wieder einmal zu spät! Ich bin verlobt, raten Sie, mit wem?«
»Mit Erikson!« versetzte er mit einiger Heftigkeit. »Ich habe mir's halb gedacht! Aber das tut nichts! Die echten Schicksalswandlungen gehen über dergleichen hinweg wie ein Morgenwind über das Gras! Vor dem Entschlusse von heute muß der verjährte Willen von gestern verbleichen.«
Sie schwieg einen Augenblick, wie um sich zu besinnen, während er mit dringlichen Reden wieder begann; doch sie unterbrach ihn abermals, als ob sie einen guten Gedanken gefunden hätte.
»Ich habe gehört oder gelesen von ausgezeichneten Frauen, welche mit unbedeutenden Männern friedlich gelebt, indessen sie aber mit höchst bedeutenden Geistern eine Seelenfreundschaft gepflegt haben, wozu jedoch für den Anfang eine beträchtliche Entfernung gehört, bis das beruhigende Alter die rechte Weihe bringt. Solche Frauen, wenn sie genugsam Kinder geboren und wohl erzogen haben, sollen alsdann nicht selten zum höchsten Verständnis jener Geister sich emporschwingen, da es ihnen nicht mehr an Zeit gebricht, den großen Dingen nachzuleben. Nun sehen Sie, wie schön wir es doch noch einrichten könnten, wenn wir nur wollten. Sollte wirklich etwas so Außerordentliches in mir sein, wie Sie mich bald glauben machen, so kann ich ja einstweilen meinen unbedeutenden Erikson heiraten, Sie entfernten sich für ein paar Jahrzehente –«
Sie schwieg nicht ohne Besorgnis, als Lys mit einem schmerzlichen Seufzer auf einen Stuhl sank und vor sich niedersah. Er merkte erst jetzt, daß die reizende Frau ihr Spiel trieb, und da er zugleich sein Kleid gewahrte, mochte er der bedenklichen Lage innewerden, in die seine Schwäche ihn geführt, vielleicht auch zum ersten Mal ihn die Empfindung von der dunklen leeren Stelle in seinem sonst so reichen Wesen überschatten.
Ungehört auf den weichen Teppichen des kleinen Zimmers war Erikson schon vor einigen Minuten eingetreten und hinter dem Freunde gestanden, und Rosalie hatte ihre schalkischen Reden in seiner Gegenwart gehalten, die sie mit keinem Zwinkern ihrer Augen verriet.
Lys schnellte sich herum und sprang auf. Zur Rechten sah er die Frau, zur Linken den Nordländer stehen, die sich zulächelten.
»Da!« sagte er mit Lippen, die nicht nur von Reue und Verlegenheit, sondern auch ein wenig von Herzenstrauer verbittert schienen, »da hab ich's nun! Das ist die Folge, sobald man sich einmal selbst hingibt. Nun erfahr ich, wie es tut, wenn einer in die Verbannung geht. Ich wünsch euch übrigens Glück!« Damit wandte er sich rasch und ging fort.
Als es später zur Tafel ging, welche zu einem mehr traulichen als prunkenden Mahle gerüstet war, und Lys nicht wieder erschien, fiel mir abermals die Sorge für die gute Agnes anheim. Sie hatte, lautlos neben mir stehend, dem Spiele zugeschaut, dann während der langen Pause meinen Arm ergriffen und war mit mir herumgegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte noch in keiner Weise mit ihr über ihre Sache und ihren Zustand zu reden gewagt und fühlte auch kein Bedürfnis oder Geschick dazu; aber ich spürte wohl, wie es in ihrem Busen fortwährend arbeitete, zornige und wehmütige Seufzer sich bekämpften und miteinander zerdrückt und hinuntergepreßt wurden.
Ich begleitete sie an den Tisch und kam an ihre Seite zu sitzen. Als jetzt Erikson
eine kurze Rede hielt, das Ereignis der Verlobung verkündigte und die Bitte
beifügte, die fröhliche Gesellschaft möchte sein Glück bei dieser guten
Gelegenheit mitfeiern helfen, hörte ich, wie Agnes mitten im Geräusch der
allgemeinen Überraschung, des Gläserklingens und Hochrufens tief aufatmete. Wie
von einer Last befreit, saß sie einige Minuten in sich gekehrt; doch da Lys nicht
wieder zum Vorschein kam, half ihr ja alles nichts; sein Abfall trat durch den
Vorgang, den sie ahnte, nur um so heller ins Licht, und ihre einfache
Rosalie war zunächst von ihren Verwandten umgeben, welche von der unerwarteten Verlobung nicht sonderlich erfreut schienen und ziemlich ernsthafte Gesichter machten; denn die kluge Frau hatte den Tag benutzt, sie in die Falle zu locken und sie zu zwingen, ihrem Verlobungsfeste in ehrbarer Weise beizuwohnen, ohne daß sie, schon der Menge der Gäste wegen, den geringsten Widerstand zu leisten vermochten mit unwillkommenen Warnungen oder Ratschlägen. Um so lieblich heiterer nahm sich die Zufriedene unter den verdrossenen Vettern und Basen aus.
Nun war es aber ein ergreifender Anblick, wie in der bunten Reihe der vielgestaltigen Gäste auch die Agnes herantrat und das verlassene Weib dem siegreichen seinen Gruß darbrachte. Sie beugte sich nieder und küßte der Braut die Hand wie das demütige Unglück dem Glücke. Rosalie sah sie betroffen an und drückte ihr dann teilnehmend die Hand. Sie hatte das Mädchen ganz vergessen, wie sie in diesem Augenblick auch den schlimmen Lys schon vergessen, und man konnte bemerken, daß sie sich irgend etwas vornahm; allein die nächste Sekunde entführte ihr das weitereilende Trauerwesen und gab sie selbst ihrer glückseligen Zerstreuung zurück.
Nachdem alle Gäste ihre Plätze wieder eingenommen und eine gleichmäßige,
schließlich auch von den doch lebelustigen Vettern geteilte Heiterkeit sich
eingestellt, gab es bald einen neuen Unterbruch. Die Kunde von dem Glückswechsel
eines Genossen war rasch in das große Lustlager im Walde gedrungen, wo die
unverwüstliche Jugend noch immer hauste. So marschierte denn jetzt mit Trommel und
Pfeife und fliegender
Ich fragte Agnes, was sie vornehmen wolle, ob sie nach Hause zu kehren oder noch zu bleiben wünsche? Mir wäre das erstere nicht unwillkommen gewesen; denn so lieblich und ehrenvoll mich die fortgesetzte Obhut eines so unschuldig reizenden Geschöpfes dünkte, empfand ich doch nach Art junger Deutschgesellen den Wunsch, das bisher Versäumte nachzuholen und die letzten Stunden doch noch unter meinesgleichen, ein Freier unter Freien, zu verbringen. Agnes zögerte mit ihrem Entschlusse; sie schauderte heimlich vor dem Alleinsein in ihrem Hause, wo sie keines rechten Trostes gewärtig war, und mochte sich auch sträuben, die Stelle zu verlassen, wo in jüngster Zeit noch der Geliebte geweilt und sie in neuer Hoffnung gelebt hatte. So führte ich sie einstweilen in den verschiedenen Gemächern, zwischen den malerischen Zechergruppen herum, überall wo es etwas Merkwürdiges zu sehen gab, wie der unermüdliche Einfall einzelner oder vieler es stets neu gebar.
Auf unserer Wanderung hörten wir einen wohltönenden vierstimmigen Gesang und
gingen ihm nach. Am Ende eines schwach erleuchteten Flures fanden wir einen
erkerartigen Ausbau, der wegen seiner Fenster zu einer kleinen Orangerie diente;
denn er war mit etwa einem Dutzend Orangen-, Granat- und Myrtenbäumen besetzt,
zwischen welche der Gottesmacher und seine Leute ein Tischchen gestellt und sich
niedergelassen hatten. Über dem Eingange hing ein altes eisernes Schenkezeichen
Agnes lauschte unverwandt, und altes, was sie hörte, schien wie für sie gemacht
und aus ihrer eigenen Brust zu kommen. Indem sie nach jedem Liede erleichternde
Atemzüge tat, wurde sie zusehends ruhiger und freier. Ein sonniger Frohsinn ging
um unsere kleine, halb verborgene Tafelrunde; es war, wie wenn
Agnes und die meisten von uns hatten noch niemals Champagner gesehen, noch weniger getrunken, und schon die nach damaliger Mode noch ganz hohen Gläser, in welchen die Perlen unaufhörlich stiegen, erhöhten unsere Stimmung bis zur Feierlichkeit. Nun kam Rosalie selbst und brachte der Agnes einen Teller süßes Backwerk und Früchte und empfahl uns, mit der feinen Diana ja recht fröhlich und galant zu sein.
Das waren wir denn auch in der besten und ziemlichsten Weise. Vor allen bezeigte sich der Gottesmacher aufmerksam und höflich gegen sie; aber auch die andern wurden ebenso aufgeräumt, als sie in heiterer Ehrerbietung verharrten, stolz darauf, daß eine so poetisch schöne Erscheinung, wie sie's nannten, ihre kleine Kompanie zierte. Als alle auf ihr Wohl mit ihr anstießen, trank sie den schlanken Kelch bis auf den Grund leer, oder vielmehr floß ihr die perlende Süße wie ein Schlänglein in den Mund, ohne daß sie es wußte; wenigstens behauptete der Gottesmacher nachher, er habe an ihrer weißen Kehle gesehen, wie es durchgeschlüpft sei. Nun fing sie an zu zwitschern und meinte, hier wäre es gut, es sei ihr zu Mut, wie wenn sie aus winterlichem Schlackerwetter in ein warmes Stübchen gekommen wäre; aber sie wisse schon, was das sei, immer machten einige gute Menschen zusammen ein warmes Stübchen aus, auch, ohne Ofen, Dach und Fenster!
»Alle guten Leute sollen leben!« rief sie und trank, als die Gläser zusammenklangen, das ihrige abermals auf einen Zug leer und setzte hinzu: »Ei, wie lieb ist dieser Wein! Der ist auch ein guter Geist!«
Als dann die Motette mit dem schwungvollen Halleluja Amen schloß und bei uns eine
plötzliche Stille eintrat, hörte man aus den übrigen Räumen her, wie aus der
Ferne, das Geräusch der summenden Stimmen, durcheinandertönender Lieder und einer
Tanzmusik, welche dunkel fortrollende Tonmasse übrigens in jeder Pause hörbar
wurde, die wir machten. In diesem Augenblicke aber machte uns die Sache durch den
Kontrast einen feierlichen Eindruck; es war, wie wenn wir den Lärmen der Welt
rauschen hörten, während wir in traulicher Beschaulichkeit in unserm Myrten- und
Orangenwäldchen saßen. Wir horchten eine Weile mit Behagen auf das wunderliche
Tosen und gerieten dann in ein unterhaltliches Gespräch, in welchem wir die Köpfe
über dem Tische zusammensteckten und jeder eine heitere oder traurige Geschichte
oder Erinnerung zum Vorschein brachte, besonders aber der Gottesmacher eine Menge
anmutiger Schwänke von der Mutter Gottes zu erzählen wußte, wie sie einmal einen
Kongreß ihrer Vertreterinnen an den berühmtesten Wallfahrtsorten der Welt
veranstaltet habe und wie es da zugegangen und ein großer Zwist entstanden sei,
wie nicht anders möglich, wo so viele Frauenzimmer zusammenkämen; was sie alles
auf der Hin- und Rückreise erlebt und verrichtet hätten; wie die eine als große
Fürstin mit verschwenderischer Pracht, die andere aber wie ein schäbiger
Agnes saß wie ein Kamerad zwischen uns, einen Arm auf den Tisch und die Wange auf die Hand gestützt. Sie konnte aber nicht recht klug daraus wer den, wie alle die heiligen Marienfrauen, die doch nur ein und dasselbe seien, als so viele unterschiedene Personen herumreisen, sich versammeln und sogar bekriegen können, und sie gab ihrem Zweifel unverhohlenen Ausdruck.
Allein der Bergkönig, der in fremdartigen Dingen um so beredter war, je weniger er mit seiner Kreuztragungsgruppe von Raffaels berühmtem Bilde wegkommen konnte, ergriff das Wort und sagte: »Die Sache bedeutet nach meiner Ansicht die ungeheure Allgemeinheit, Allgegenwart, Teilbarkeit und Wandlungsfähigkeit der Himmelskönigin; sie ist alles in allem, wie die Natur selbst, und steht dieser schon als Frau am nächsten auch in Hinsicht der unaufhörlichen Veränderlichkeit, wie sie denn auch außerdem in allen möglichen Gestalten aufzutreten liebt und sogar als streitbarer Soldat gesehen worden ist. Hierin gerade mag sie einen Zug ihres Geschlechtes bewähren, wenigstens der vorzüglicheren Mitglieder desselben, nämlich einen gewissen Hang, Mannskleider anzuziehen.«
Einer der Glasmaler lachte bei diesen Worten. »Mir fällt ein drolliges Beispiel
solcher Verkleidungskunst ein«, sagte er und erzählte: »In meiner Vaterstadt, in
welcher besonders im Herbst große Märkte stattfinden, waren wir Gassenbuben
scharenweise dahinter her, auf diesen Märkten die häufig auf die Erde rollenden
Apfel, Birnen, Pflaumen und andere Früchte, wenn sie umgeladen und ausgemessen
wurden, zu haschen und solche auch vom Haufen wegzustibitzen. Da lief dann immer
ein Junge zwischen uns mit, den keiner kannte, der aber immer zuvorderst und am
behendesten von allen war, sich die Taschen füllte, verschwand und bald wieder
erschien, um sie abermals zu füllen. Auch wenn der neue Wein von den Bauern in die
Stadt geführt und vor den Bürgerhäusern abgezapft wurde und wir mit langen hohlen
Schilfrohren unter die Wagen hockten, die Röhrchen heimlich in die untergestellten
Bütten und Kübel steckten, um den von den Küfern beim Abmessen einstweilen dorthin
gegossenen überschüssigen Most aufzusaugen, war der unbekannte Junge bei der Hand,
schluckte den Wein
Agnes ergötzte sich an der einfachen und harmlosen List der armen Frau und bedauerte nur den schlechten Ausgang. Der andere Glasmaler hingegen meldete sich auch mit einer Verkleidungsgeschichte eines Weibes, die aber grauslicher sei als die von dem weiblichen Gassenjungen.
Mit dieser derben Geschichte hatte unser Geplauder die Grenze fast überschritten,
die wir dem anwesenden Mädchen schuldig waren. Sie schüttelte schauernd den Kopf
und säumte nicht, ihr Glas auszutrinken, als wir zusammen anstießen. Während der
ganzen Unterhaltung hatte jeder seinen langen Kelch fest in der Hand gehalten,
damit er nicht umfalle und zu gelegentlichem Zuspruch dem Munde möglichst nah sei,
und
Reinhold, der Gottesmacher, hatte während der langen Plauderei von einem hinter der Agnes stehenden Orangenbäumchen blühende Zweige gebrochen, sie zu einem Kränzlein verflochten und drückte ihr jetzt dasselbe auf den Kopf. Zugleich bat er sie, ihn mit einem Tänzchen zu beglücken, zu welchem einer oder zwei von den andern aufspielen sollten.
»Nein!« rief sie, »zuerst will ich euch einmal einen Ländlertanz allein vorführen,
den ihr alle vier spielen sollt!« Die Gesellen gehorchten, nahmen die Instrumente
aus den Futteralen und stimmten sie wieder. Ich rückte zur Seite, sie spielten
einen damals sehr beliebten Volkstanz jener Gegend, und Agnes tanzte auf dem
kleinen Raume, der zwischen den Bäumchen übrig war, mit aller Anmut die langsame
und eine gewisse Sehnsucht ausdrückende Weise. Kaum war der letzte Takt
verklungen, so verlangte sie, indem sie sich das schäumende Glas geben ließ und es
mit dürstenden Lippen leerte, einen Walzer, den sie noch allein tanzen wolle. Die
guten Junggesellen geigten, so kräftig sie vermochten, und Agnes drehte sich, die
Hände in die schlanken Hüften stützend, mit glänzenden Augen um sich selber. Auf
einmal griff sie mit den Armen in die Luft, als suche sie jemanden, stand still,
nahm den Kranz vom Kopfe, besah ihn, setzte ihn wieder auf und fing darauf an zu
schwanken. Ich sprang schnell hinzu und führte sie zu ihrem Stuhle; die Musiker
hielten erschreckt inne, das arme Mädchen aber warf Kopf und Arme auf den Tisch,
daß alle Gläser umstürzten, und begann überlaut mit herzzerreißendem Jammer zu
weinen und nach ihrer Mutter zu rufen. Sie weinte und rief so durchdringend, daß
andere Gäste herbeikamen und wir in der
Endlich mußten wir uns entschließen, das arme reglose Wesen wegzutragen und im bewohnten oder zur Hilfe bereiten Teile des Hauses eine Stätte zu suchen. Der Bergkönig faßte sie unter den Armen, der Gottesmacher nahm die Füße, und so trugen sie die leichte silberschimmernde Last sorgsam davon. Ich ging voraus, und die zwei Glasmaler folgten, ihre Violinen unter dem Arm, die sie einzupacken keine Zeit fanden und doch nicht zurücklassen wollten, weil es gute Instrumente waren.
Frau Rosalie war leider in Eriksons Begleitung schon nach der Stadt gefahren, ohne von irgendwem Abschied zu nehmen, damit nicht gegen ihren Willen ein Aufbruch stattfände und die Lustbarkeit gestört würde. Um so willkommener war die Hausmeisterin oder Verwalterin, die herbeikam und unsern Trauerzug in ihre eigene Wohnstube leitete, wo die Regungslose auf ein bequemes Ruhbett und einige herbeigeholte Kissen gelegt wurde.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte die beratene Frau, als sie unsern Schreck bemerkte; »das Fräulein wird einen Rausch haben, das wird bald vorübergehen!«
»Nein, sie hat einen Kummer!« flüsterte ich ihr zu.
»Dann hat sie eben in den Kummer hinein getrunken«, versetzte sie; »wer gibt einem jungen Mädchen denn so viel zu trinken?«
Erst jetzt erröteten wir und standen in Beschämung und Verlegenheit, bis uns die
wackere Frau fortschickte, nachdem sie sich noch erkundigt hatte, wo die Erkrankte
hingehöre. »Der Wagen der Herrschaft«, sagte sie, »wird noch einmal herauskommen,
um etwa nötig werdende Dienste zu leisten; also werden wir für alles besorgt
sein.« Reinhold anerbot sich und
Ich trennte mich von den Geigern, die für Unterbringung ihrer Instrumente zu sorgen hatten, und machte mich auf den Weg. Übrigens wurde sowohl hier als am Walde drüben allgemein aufgebrochen, und die Straße war von den Wagen der Heimkehrenden bedeckt. Da ich nicht gleich eine Unterkunft fand, zog ich vor, zu Fuß zu gehen, und um nicht von den Fuhrwerken, die im Trabe fuhren und sich jagten, gefährdet zu werden, betrat ich den Seitenpfad, der sich auf dem Waldboden längs der Straße hinzog. Der abnehmende Mond erhellte den Weg einigermaßen durch die Bäume; immerhin behinderte das Gestrüppe des Unterholzes da und dort die Schritte, und ich holte denn auch einen einsamen Wandler ein, der sich mit Weißdornruten und Brombeerstauden ärgerlich herumschlug. Es war Lys, unter dessen dunklem Mantel das feine Leinwandkleid hervorschimmerte und an den Dorngeflechten hängenblieb.
Nachdem wir uns erkannt, erzählte ich das Vorgefallene in einem Tone, der ihn erraten ließ, wo ich hinauswollte. Lys, der ein ausdauernder Trinker war, aber alle Betrunkenheit schon an Männern verabscheute, empfand einen tiefen Verdruß und benutzte denselben überdies, weitere Vorwürfe oder unliebe Bemerkungen abzuschneiden. »Das ist eine saubere Geschichte!« rief er, »sind das nun euere Heldentaten, ein unerfahrenes Mädchen berauscht zu machen? Wahrhaftig, ich habe das arme Kind guten Händen übergeben!«
»Übergeben!« erwiderte ich gereizt; »verlassen, verraten willst du sagen!« und ich
übergoß ihn mit einer Flut von Vorwürfen,
Lys hatte sich indessen von den Dornen losgewickelt. Da er sah, daß er mich nicht einschüchtern konnte, ergab er sich und sagte ruhig, indem wir einer hinter dem andern weitergingen: »Laß mich zufrieden, du verstehst das nicht!«
Aufbrausend antwortete ich: »Lange genug habe ich mir eingebildet, daß in deiner Sinnesart etwas liege, was ich mit meiner Erfahrung nicht übersehen und beurteilen könne! Jetzt aber gewahre ich nur zu deutlich, daß es die trivialste Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit ist, welche dich beherrscht, so leicht erkennbar als verabscheuungswert. Oh, wenn du wüßtest, wie tief dich diese Art entstellt und deinen Freunden weh tut, du würdest schon aus der gleichen Eigenliebe dich ändern und den häßlichen Makel von dir tun!«
»Ich sage noch einmal«, erwiderte Lys, sich halb nach mir umwendend, »du verstehst das nicht! Und das ist in meinen Augen die beste Entschuldigung für deine unziemlichen Reden. Nun, du Tugendheld! hast du jemals etwas anderes getan, als was du nicht lassen konntest? Du tust es jetzt nicht und wirst es noch weniger tun, wenn du erst einmal etwas erlebst!«
»Ich hoffe wenigstens, daß ich zu jeder Zeit das lassen kann, was schlecht und verwerflich ist, sobald ich es nur als solches erkenne!«
»Du wirst jederzeit«, sagte Lys hierauf kaltblütig, indem er sich wieder vorwärts wandte, »du wirst jederzeit das lassen, was dir nicht angenehm ist!«
Ungeduldig wollte ich ihn nochmals unterbrechen; allein er übertönte mich und fuhr
fort: »Gerätst du einst zwischen zwei Weiber, so wirst du wahrscheinlich beiden
nachlaufen, wenn dir
Mehrfach beleidigt schwieg ich einige Minuten. Ohne es zu wissen, hatte Lys mit den zwei Weibern, die er mir in Aussicht stellte, etwas Wahres getroffen, insofern ich ja noch als halbes Kind schon auf ähnlichen Wegen geirrt war. Und doch wollte ich mich nicht mit ihm vergleichen lassen; der genossene Wein, die mehr als vierundzwanzigstündige mannigfache Aufregung taten auch das Ihrige, meine Streitlust zu entflammen, und ich begann daher wieder mit entschiedener Stimme: »Nach deiner vorhinnigen Äußerung zu urteilen, bist du also nicht sehr willens, dem Mädchen die Hoffnungen, die du ihr leichtsinnigerweise erregt, zu erfüllen?«
»Ich habe keine Hoffnungen gemacht«, sagte Lys, »ich bin frei und Herr meines
Willens, gegen jedes Frauenzimmer sowohl wie gegen alle Welt! Wenn ich übrigens
für das gute Kind etwas tun kann, so werde ich ihr ein wahrer und uneigennütziger
Freund sein, ohne Ziererei und ohne Phrasen! Und
»Ich werde mich aber darum kümmern!« rief ich, »entweder sollst du einmal Treue und Ehre halten, oder ich will es dir in die Seele hinein beweisen, daß du unrecht tust! Das kommt aber nur von dem trostlosen Atheismus! Wo kein Gott ist, da ist kein Salz und kein Halt!«
Lys lachte laut auf, da er antwortete: »Nun, dein Gott sei gelobt! Dacht ich doch, daß du schließlich noch in diesen Hafen der Glückseligkeit einlaufen würdest! Ich bitte dich aber jetzt, grüner Heinrich, laß den lieben Gott aus dem Spiele, der hat hier ganz und gar nichts zu schaffen! Ich versichere dich, ich würde mit ihm wie ohne ihn ganz der gleiche sein! Das hängt nicht von meinem Glauben, sondern von meinen Augen, von meinem Hirn, von meinem ganzen körperlichen Wesen ab!«
»Jedenfalls von deinem Herzen!« rief ich zornig und außer mir; »ja, sagen wir es nur heraus, nicht dein Kopf, sondern dein Herz kennt keinen Gott! Dein Glauben oder vielmehr Nichtglauben ist dein Charakter!«
»Nun hab ich genug!« donnerte Lys mit starker Stimme und kehrte sich stehenbleibend gegen mich; »obgleich es ein Unsinn ist, den du sprichst, der an sich nicht beschimpfen kann, so weiß ich, wie du es meinst; denn ich kenne diese unverschämte Sprache der Hirnspinner und Fanatiker, die ich dir nie zugetraut hätte! Sogleich nimm zurück, was du gesagt hast! Ich lasse nicht ungestraft meinen Charakter antasten!«
»Nichts nehm ich zurück! Nun wollen wir sehen, wie weit deine gottlose Tollheit
dich führt!« Dies sagte ich mit wilder Streitlust; Lys aber antwortete mit
bitterer verdrußvoller Stimme: »Genug des Scheltens! Du bist von mir gefordert!
Und zwar mit Tagesanbruch halte dich bereit, einmal mit der Waffe in der Hand für
deinen Gott einzustehen, für den du so weidlich zu schimpfen weißt. Sorge für
deinen Beistand, der meinige wird in zwei Stunden da und da zu finden sein, um
Schon vor wenigstens sechs Jahren hatte ich von einem Polen, der in unserm Hause
ein kleines Zimmer bewohnte, etwas fechten gelernt. Es war einer jener
stattlichen, hochgewachsenen Militärs, wie sie aus der Revolution von 1831 als
Flüchtlinge bekannt geworden und seither ziemlich aus der Welt oder wenigstens aus
der Emigration verschwunden sind. Von vornehmer Geburt und ein gewesener
Reiteroffizier, brachte er sich geschickt und redlich durch und fügte sich in die
bescheidenste Lebensart, in jede Arbeit, war immer heiter und liebenswürdig,
ausgenommen wenn er von den Schlachten und dem Unglücke seines Vaterlandes, von
seinem Hasse gegen Rußland sprach. Obgleich gut katholisch erzogen, rief er dann
jedesmal voll Bitterkeit, es sei kein Gott im Himmel, sonst hätte er die Polen
nicht in die Hand des Russen gegeben. Der mochte mich wohl leiden, und um mir
irgendeine Freundlichkeit oder Wohltat zu erweisen und weil er gerade nichts
anderes hatte, ruhte er nicht, bis er mir einigen Unterricht in der Fechtkunst
geben konnte. Aus eigener Tasche kaufte er zwei Stoßrapiere oder Fleurets,
Drahtmasken und andern Zubehör und ging mit mir täglich eine Stunde auf den großen
Estrich unter dem Dache, wo er mich dazu brachte, eine erste Schule notdürftig
durchzumachen, und er tat es mit solcher Liebe und
Bald kamen sie mit der Verabredung zurück, daß der Duellhandel morgens um sechs Uhr in Lysens Wohnung vor sich gehen solle. Lys habe hervorgehoben, daß er ganz allein darin hause und also keine Zeugen zu befürchten seien; ferner könne er, wenn er verwundet werde, sich gleich in sein eigenes Bett legen und in der Stille geheilt werden oder sterben, der Gegner aber mit aller Sicherheit und Muße abreisen. Treffe es aber mich, so könne ich dort an seiner Stelle mich zunächst hinlegen, indessen er sich aus dem Staube mache.
Für einen Arzt, hieß es, sei auch schon gesorgt, ebenso für die Waffen, als welche ich Stoßdegen oder sogenannte Pariser, die einzigen, die ich etwas zu führen verstand, vorgeschlagen hatte, zumal ich wußte, daß auch Lys damit umgehen konnte.
Wie er den kurzen Rest der Nacht verbracht, habe ich nicht erfahren; was mich
betrifft, so blieb ich mit meinen Ratgebern sitzen, da wir fanden, das gefährliche
Abenteuer sei besser als Schluß der ganzen Feststrapaze zu bestehen, mit der es
sozusagen in einem hinginge, als wenn ich nach unzureichender Ruhe, aus tiefem
Schlafe geweckt und ohne Zusammenhang der Gedanken, fechten müßte. So kam ich
nicht einmal dazu, den Anzug zu wechseln, und wenn mich das Geschick getroffen
Trotzdem überfiel mich die Müdigkeit; ich schlummerte ein und lag zuletzt mit dem Kopfe schlafend auf dem Tische, während die andern mit ab- und zugehenden Nachzüglern und Spätlingen eine Bowle heißen Punsch tranken. Auch ich stürzte noch ein Glas hinunter, als ich mit dem Morgengrauen aufgerüttelt wurde, mich aber durch den kurzen Schlaf keineswegs erquickt oder ernüchtert fand. Doch erinnere ich mich wie aus einem Traume, daß ich gleich den zweien, die mit mir kamen, mit tiefem Ernst durch die Straßen ging und in Lysens stille Wohnung trat, wo er mit zwei oder drei jungen Männern ebenso ernst und kalt uns erwartete.
Wir standen alle in dem geräumigsten seiner Zimmer, vor dem Bilde mit den Spöttern; die Morgendämmerung ließ die aus dem Dunkel hervorleuchtenden Figuren wie belebt erscheinen, als ob sie der Dinge gewärtig wären, die da kommen sollten.
Nun wurden aus einem langen Kistchen zwei glänzend polierte dreieckige und
nadelspitze Klingen, zwei mit Silberdraht übersponnene Griffe und zwei vergoldete
halbkugelförmige Glocken zum Schutze der Hand ausgepackt und ineinandergeschraubt.
Nachdem gefragt worden, ob keine Versöhnung oder anderweitige Verständigung
möglich sei, und keiner von uns beiden sich gerührt hatte, gab man uns die Waffen
in die Hand und wies jedem seinen Platz an. Ich warf einen Blick auf Lys; er sah
ebenso blaß und überwacht aus wie ich selbst. Jeder Zug von Wohlwollen oder
freundschaftlicher Gesinnung war aus unsern Gesichtern verschwunden, während auch
der ursprüngliche Zorn verraucht war und nur die erstarrte Menschentorheit auf den
Lippen saß. Da stand ich nun mit dem Eisen in der Hand, bereit, das Blut eines
Freundes zu vergießen, um ihm die Wahrheit meines Gottesglaubens zu beweisen, und
der Freund bedurfte meines Blutes zur Verteidigung der moralischen Ehre seiner
Weltanschauung, und jeder
Aber zu einer heilsamen Überlegung war keine Zeit mehr. Das Zeichen wurde gegeben, wir machten mit den Degen den üblichen Gruß und setzten uns in Positur, aber nicht wie geübte Duellanten, sondern mehr wie etwas unsichere Schüler. Unsere Hände zitterten fast gleichmäßig, als wir die Degenspitzen sich umeinander drehen ließen, um den Anfang zu finden, und der erste Stoß, den ich tat, war auch richtig der erste Schulstoß, wie er der Nummer nach auf dem Fechtsaale gezeigt wird. Lys parierte ihn ebenso schulmäßig, da er ihn von weitem kommen sah; er erwiderte den Ausfall, und ich wies ihn etwas schwerfälliger, aber noch gerade zeitig genug ab. Der liebe Gott, um den wir uns schlugen, mochte wissen, wie ein Paar so friedlicher Fechter in eine so gefährliche Lage geraten war. Allein gefährlich war sie nichtsdestoweniger; denn mit dem Geräusch der gleitenden Klingen wurde das Gefecht belebter und rascher, so daß schon wegen der Notwehr die Stöße zahlreicher und fester wurden. Da blitzten plötzlich Stahl und Glocken unserer Waffen mit einem rötlichen Schimmer auf, und gleichzeitig begann das Bild im Hintergrunde des Zimmers sachte zu leuchten, beides vom Glühen einer Wolke, die im Widerscheine der anbrechenden Morgenröte stand. Lys warf unwillkürlich einen Blick seitwärts auf sein Bild und sah die Blicke seiner Sachverständigen, wie er sie nannte, auf uns gerichtet. Er ließ seinen Degen sinken, und mir, der ich eben wieder auszufallen im Begriffe war, wurde ein »Halt!« zugerufen. Lys, der im übrigen vollkommen nüchtern geblieben, war der Nichtigkeit unseres Tuns durch den Anblick zuerst innegeworden.
»Ich nehme meine Herausforderung zurück«, er klärte er mit ernstem, aber ruhigem Tone, »und will das Vorgefallene vergessen, ohne daß Blut fließen soll!«
Damit ging er, nachdem er die Anwesenden gegrüßt, nach seinem Schlafzimmer, und wir verließen uns trotz der unerwarteten Aussöhnung ohne Freundlichkeit, weil wir uns eigentlich selbst beleidigt hatten und zur Stunde keiner mit sich im reinen war. Die Zeugen und der Arzt, welche in den Verlauf der Streitigkeit überhaupt keinen klaren Einblick hatten, verabschiedeten sich vor dem Hause stillschweigend, und jeder ging seines Weges, ich überdies mit einem Gefühle, wie wenn ich von der moralischen Überlegenheit eines Gegners, den ich hatte schulmeistern wollen, heimgeschickt worden wäre.
Als ich meine Wohnung betrat, wurde ich von den Wirtsleuten, die an ihrem Frühstücke saßen, als ein ausdauernder Lustigmacher begrüßt. Obschon ich erschöpft und müde war, konnte ich beinahe nicht einschlafen, und als es geschah, träumte mir, ich hätte den Freund totgestochen, blutete aber statt seiner selbst und werde von meiner weinenden Mutter verbunden. Indessen würgte ich an einem geträumten Schluchzen herum, über welchem ich erwachte. Ich fand die Augen und das Kissen zwar trocken, dachte aber über die möglich gewesenen Folgen nach, bis ich endlich fester einschlief.
Ich schlief bis in den Nachmittag hinein, und als ich erwachte, wußte ich nichts
mit mir anzufangen; die Welt und mein Kopf schienen mir beide leer und
ausgestorben. Ich dachte an das
In meiner dunkel müßigen Lage war mir der Besuch Reinholds, des Winzers und
Geigenspielers, willkommen, der mich aufsuchte und einen Liebesdienst von mir
verlangte. Er berichtete, daß der hilflose Zustand Agnesens noch stundenlange
gedauert und sie sich erst gegen Morgen soweit erholt habe, daß die Heimschaffung
möglich geworden, und zwar bereits bei Tageshelle. Allein nachteilige Gerüchte von
einem sozusagen zuchtlosen Benehmen, von einer Berauschung, in deren Folge sie von
einem reichen Bewerber sofort verlassen und aufgegeben worden sei, wären schon
vorausgedrungen, und als das Gefährt vor dem Hause angekommen und das Mädchen,
matt und niedergeschlagen, ausgestiegen sei, hätten sich die Nachbarfenster
geöffnet und die Leute mit sichtlicher Verachtung oder wenigstens Mißbilligung
zugeschaut. Er selbst habe nebst einer Magd vom Landhause die Arme begleitet, sich
aber natürlich sofort wegbegeben, ohne mit in das Haus zu treten. Aber auch dies
Erscheinen eines neuen Beschützers habe den bösen Schein noch verschlimmert, und
es liege wohl an uns, die wir das Unsrige beigetragen, den Leumund des
unschuldigen Wesens zu verteidigen. Er habe nun den Plan gefaßt und mit
seinen
»Absichtlich«, fuhr er fort, »will ich von allem, was vorausgegangen, nichts wissen, was man auch munkeln mag! Wie sie ist, in diesem Augenblicke, mit ihrem Gesichtchen, ihrer leichten Gestalt, mit ihrem ganzen Wesen und ihrem kleinen Schicksal gefällt sie mir und dünkt mich unentbehrlich! Und wenn ich mich irre, so wird es nur in dem Sinne sein, daß sie mehr ist, als ich geglaubt habe! Etwas warme Sonne, ein wenig Glück, was man so nennt, gleichsam ein Gläschen guten Rheinweins werden sie munter machen!«
»Und was soll ich hiebei tun?« fragte ich verwundert, aber auch mit Teilnahme, da mir das Vorhaben des gemütlichen Mannes als die beste Hilfe in der Not erschien.
»Was ich von Ihnen wünsche«, versetzte er, »ist, daß Sie gegen Abend in das
schmale Haus, in das Juwelenkästchen, gehen und die Frauen suchen hinzuhalten,
damit sie es nicht verlassen und doch von der Musik überrascht werden. Ferner
sollen Sie, wenn es nicht von selbst geschieht, das Gespräch auf mich bringen, in
nicht auffälliger Weise, und mich ein bißchen anrühmen, das heißt, nicht meine
Person, sondern meine Verhältnisse, ich will sagen, meinen bescheidenen Wohlstand,
der mir erlaubt, unbesorgt eine Frau heimzuführen. Ich wünsche, daß Sie das ganz
beiläufig tun, jedoch als von etwas Bekanntem, sozusagen außer Zweifel Stehendem
sprechen, so daß diese Voraussetzung bereits vorhanden ist, wenn ich komme, und
ich nicht selbst davon anfangen muß. Es ist solches wichtig und in dergleichen
Verwicklungen meistens von entscheidendem Einfluß. Und Sie werden nicht lügen,
sofern Sie nicht etwa aufschneiden,
Ich mußte innerlich lächeln über dies treffliche Stückchen Weltlauf, das sich so artig selbst berichtigte, wenn Reinholds Pläne gelangen. Gern sagte ich ihm zu, seine Wünsche zu erfüllen, so gut ich es verstände, und er eilte nach der weiter nötigen Verabredung in Hoffnung davon.
Mir konnte für den leeren öden Tag der Auftrag nur willkommen sein, so neu es mir war, eine Art Kuppelei zu betreiben. »Nachdem du fast zwei Tage lang das hintangestellte Schätzchen eines Don Juans gehütet hast«, sagte ich mir, »kannst du dies Altweibergeschäft dir auch noch gefallen lassen, es paßt zum andern, auch zu dem gefehlten Duell!«
Mit anbrechender Dämmerung begab ich mich auf den Weg und stand alsbald vor der
Stubentüre der Frauen, die in tiefster Stille saßen; denn kein Laut war zu
vernehmen. Erst auf ein Anklopfen hörte ich ein mattes »Herein!« und als ich
eintrat, sah ich in dem halbdunklen Gemache nur die Frau Mutter in ihrem
Lehnsessel, den Kopf in beide Hände gestützt. Auf dem Tische vor ihr lag ein
kleines Kästchen. Mich erkennend, sagte
»Ja«, antwortete ich kleinlaut, »es war etwas verhext und ist manchem wunderlich gegangen!«
Sie schwieg eine kleine Weile und fuhr dann geläufiger fort: »Eine schöne Wunderlichkeit! Wenn ich den Kopf vor die Türe strecke, so zeigen die Nachbaren mit Fingern auf mich! Eine Gevatterin nach der anderen, die sich sonst nie sehen lassen, ist heute eingedrungen, um sich an der Schande zu weiden! Da schleppt man das Kind zwei Nächte herum und schickt es mir betrunken nach Haus und durch fremde Leute! Und der hübsche reiche Bewerber, dieser Herr Lys, hat natürlich genug an der Aufführung, sagt ab und macht sich davon! Da sehen Sie, was wir alles erlebt haben!«
Sie zog einen Brief hervor, der unter dem Kästchen lag, und entfaltete ihn; es war aber zu dunkel, um lesen zu können. »Ich will Licht holen!« sagte sie, ging müde und verdrossen hinaus und kehrte mit einem bescheidenen Küchenlämpchen zurück, da es nicht der Mühe wert schien, einem von der schnöden Gesellschaft ein besseres Licht vorzusetzen. Ich las den kurzen Brief, worin Lys mit wenigen Zeilen anzeigte, daß er auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, abreisen müsse, für gute Freundschaft, die er genossen, herzlich dankte, Glück und Wohlergehen wünschte und die Tochter bat, ein kleines Andenken freundlich anzunehmen. Als ich das gelesen, öffnete die betrübte Frau das Kästchen, in welchem eine ziemlich kostbare Uhr mit feiner Kette glänzte.
»Ist dies reiche Geschenk«, rief sie, »nicht ein Beweis, wie ernst er gesinnt war, da er sich sogar jetzt noch so edel benimmt, trotz der Schmach, die man ihm angetan?«
»Sie irren sich!« sagte ich; »niemand hat sich etwas vorzuwerfen, am
allerwenigsten das gute Fräulein! Lys hat Ihre Tochter von Anfang an sitzenlassen
und ist einer anderen Schönheit nachgelaufen; und weil er von dieser
zurückgewiesen wurde,
Die Frau sah mich groß an; aus dem Hintergrunde des schmalen, aber tiefen Zimmers ertönte ein stöhnender Laut. Erst jetzt gewahrte ich, daß Agnes in einem Winkel neben dem Ofen saß. Ihr Haar war aufgelöst, aber nicht wieder geflochten worden und bedeckte das Gesicht und die Hälfte der gebeugten Gestalt. Überdies hatte sie ein Tuch um Kopf und Schultern geworfen und in das Gesicht gezogen; das letztere drückte sie, vom Zimmer abgewendet, an die Wand und verharrte so ohne Bewegung.
»Sie getraut sich nicht mehr am Fenster zu sitzen!« sagte die Mutter.
Ich ging hin, sie zu begrüßen und ihr die Hand zu reichen; allein sie wendete sich
noch tiefer ab und begann leise in sich hinein zu weinen. Verlegen ging ich zum
Tische zurück, und da ich von meinen eigenen Abenteuern moralisch geschwächt war,
so kamen mir selbst Tränen in die Augen. Das rührte hinwieder die Witwe, daß auch
sie anfing, wobei sich ihr Gesicht so stark verzerrte, wie man es nur an
flennenden kleinen Kindern sieht. Es war ein ganz merkwürdiger, unbehaglicher
Anblick, über welchem sich meine Augen schnell trockneten. Aber auch bei der Frau
war der Gewitterschauer wie bei Kindern rasch zu Ende, und mit ganz veränderter
Stimme lud sie mich erst jetzt zum Sitzen ein. Zugleich fragte sie, wer eigentlich
der Fremde gewesen, der Agnesen in der Frühe heimbegleitet habe? Ob der die
Unglücksgeschichte nicht noch weiter verbreiten werde? Keineswegs, antwortete ich;
denn das sei ein gutbestellter braver Mensch; und ich säumte nun nicht, mit
anscheinend gleichgültigen Worten und mit der nötigen Vorsicht diejenige
Beschreibung des Gottesmachers und seiner Verhältnisse
»Kind!« rief sie auffahrend, »hörst du? Wir bekommen Besuch; geh, zieh dich an, mache dein Haar auf, du siehst ja aus wie eine Hexe!«
Aber Agnes regte sich nicht, und auch als die Mutter hinging und sie sanft rüttelte, wehrte sie ab und bat wimmernd, sie ruhig zu lassen, oder das Herz breche ihr entzwei. In ihrer Verzweiflung begann jene den Tisch zu decken und Tee zu bereiten; sie holte ein paar Schüsseln mit kalten Speisen und eine Torte herbei und setzte alles auf den Tisch. Schon für gestern abend, klagte sie, habe sie ein Dütchen des feinsten Tees gekauft und etwas zum Knuspern bereitgehalten, da sie auf die frühzeitigere Rückkunft der jungen Leutchen gehofft habe; jetzt möge die kleine Mahlzeit uns doch noch dem erwarteten Besuch zu Ehren nützlich werden; verdorben sei nichts.
Wir saßen, und das Wasser kochte in dem blanken, wenig gebrauchten Teekesselchen
seit geraumer Zeit, und noch meldete sich kein Besuch, weil es überhaupt noch zu
früh war. Die gute Frau wurde ungeduldig; sie fing an zu zweifeln, ob Reinhold
wirklich kommen werde; ich suchte sie zu beruhigen, und wir warteten wieder eine
gute Weile. Endlich wurde sie Wartens
Wir mochten ein Stündchen einträchtig geschlummert haben, als wir durch eine volltönige, aber sanfte Musik geweckt wurden und gleichzeitig das Fenster von rotem Glanze erhellt sahen. Die überraschte Witwe und ich eilten zum Fenster. Auf dem kleinen Platze standen acht Musizierende vor einigen Musikpulten, vier Knaben hielten brennende Fackeln empor, und am Eingange des Platzes gingen zwei Polizeimänner auf und ab, welche die rasch sich sammelnden Zuhörer in Ordnung hielten. Zu den Geigern hatte Reinhold noch einige Bläser mit Horn, Hoboen und Flöte angeworben; er selbst saß auf einem Feldstühlchen und handhabte das Violoncell.
»Jesus Maria! was ist das?« sagte die erstaunte Mutter Agnesens.
»Zünden Sie Lichter an!« erwiderte ich; »das ist eben der Herr Reinhold mit seinen Freunden, der Ihrer Tochter eine Serenade bringt! Ihr gilt die Musik, um ihr vor der Welt und dieser Stadt eine Ehre zu erweisen!«
Ich öffnete einen Flügel des Fensters, indessen die Frau nach ihren Staatsleuchtern eilte und die rosenroten Kerzen entflammte, welche jetzt trefflich zustatten kamen. Das Adagio aus einem ältern Italiener floß mit dem lauen frühzeitigen Lenzhauche gar prächtig herein.
»Kind!« flüsterte die Mutter dem aufhorchenden Mädchen zu, »wir haben ein
Ständchen, wir haben ein Ständchen! Komm,
Als sie endlich das Fenster zumachte und sich umwandte, stand Reinhold in der
Stube und begrüßte sie ehrerbietig, und ich nannte zugleich seinen Namen. Dann
entschuldigte er sich wegen der Freiheit, die er sich genommen, eine so
aufdringliche Störung zu bringen, welche sie der allgemeinen Karnevalsstimmung zu
gut halten wolle; und sie erwiderte ihm mit großen Komplimenten und Danksagungen,
wobei sie in einen so glückselig singenden Ton geriet, daß es beinahe klang, wie
wenn einer in Flageolettönen auf der Geige spielen würde. Plötzlich unterbrach sie
sich, um die Tochter herbeizurufen, die ihr ungebührlich lang im Winkel zu säumen
schien. Diese war aber unbemerkt hinausgeschlüpft und kam jetzt wieder herein. Sie
hatte über ihr Morgenkleid, in welchem sie den Tag über getrauert,
Reinhold aber betete mit stummer Anschauung sein eigenes Werk an; denn,
buchstäblich zu sagen, hatte er die geknickte Blume aufgerichtet, daß sie wieder
leben konnte. Die Ehren, die er ihr gegeben, leuchteten so rein von ihrer Stirn
und um die stillen dunklen Augensterne, daß er demütig betreten nicht zu Worten zu
kommen wußte, auch als wir nun am Tische saßen und die Mutter neuen Tee machte. Es
ging etwas verlegen und einsilbig zu, bis die Alte auf die rheinische Heimat des
Gastes zu reden kam und ihn fragte, ob es wahr sei, daß sein hiesiger Aufenthalt
nicht mehr lange dauere und er dorthin zurückkehre? Das löste ihm die Zunge, indem
er dartat, wie Kirchen und Prälaten mit ihren Bestellungen seiner harrten und auf
die gewonnenen Fortschritte in der Arbeit zählten. Dann freute er sich des Lobes
der schönen Heimat. »Mein Haus«, sagte er, »liegt außerhalb des alten Städtchens
am sonnigen Abhang, wo man den Rheingau hinauf und hinunter schaut; Türme und
Felsen schwimmen in bläulichem Dufte, durch welchen das breite Wasser zieht.
Hinter dem Garten legt sich der Wein an den aufsteigenden Berg, und oben steht
eine Kapelle unserer lieben Frau, die weit über das Land hinschaut und sich
Er stockte bei diesen Worten, die er mit wachsender Wärme gesprochen, ermannte sich aber sogleich, erhob sich vom Stuhle und wendete sich an die Frauen: »Was soll ich längere Umschweife machen? Ich bin hier, um dem Fräulein ein redliches Herz anzubieten, mit allem Zubehör von Hand, Haus und Hof; kurz, ich bin gekommen, einen Heiratsantrag zu machen! Ich bitte um gütiges Gehör und bitte, sofern meine Handlungsweise allzu rasch und verwegen erscheint, zu bedenken, daß gerade solche Festivitäten, wie die soeben beendigte, nicht selten mit derartig unvorgesehenen Ereignissen abschließen!«
Die gute Witwe, an die äußerste Sparsamkeit gewöhnt, hatte soeben ein Stückehen
Zucker, das ihr wider Willen in die Tasse gefallen, mit dem Löffelchen
herausgefischt und im stillen auf die Untertasse gelegt, um zu retten, was noch
nicht geschmolzen war. Sie leckte das Löffelchen schnell und zierlich ab und
begann darauf, vor Vergnügen errötend, in ihren schönsten Tönen von der großen
Ehre zu singen, aber auch von der nötigen Bedenkzeit und Überlegung, die man sich
gestatten müsse. Allein die Tochter unterbrach sie, womöglich noch blasser als
Mit Tränen der Rührung, die ihr aus den Augen quollen, schritt sie dicht an den glücklichen Freier heran, legte die Arme um seinen Hals und drückte die sehnend geöffneten Lippen, die noch nie geküßt, auf die seinigen.
Er streichelte mit schüchterner Zärtlichkeit ihre Wangen, verwandte aber kein Auge von ihr. Erstaunt und ratlos sah die Witwe zu, und Agnes rief: »Sei nur ruhig und zufrieden, Mutter! Gestern noch habe ich zur Heiligsten Jungfrau gebetet, sie möchte meinem Herzen geben, was ihm gebührt; heute hab ich den ganzen Tag geglaubt, sie habe mich unerhört gelassen, und jetzt halt ich es doch im Arm, was mir gehört und mir besser zum Heile dient als das, was ich meinte!«
Jetzt schien mir der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich schicklich als überflüssig entfernen konnte; denn ich wußte nicht, wo ich hinblicken sollte. Schnell gab ich allen die Hand und eilte davon, ohne mich halten zu lassen oder gehalten zu werden. Auf der Straße sah ich nochmals an das Haus hinauf, wo das Mondlicht auf dem schwarzen Madonnenbilde über der Haustüre lag und den goldenen Halbmond sowie die Krone schwach beglänzte.
»Himmel, welch katholische Wirtschaft!« sagte ich zu mir selbst und schüttelte den Kopf über das krause Leben. Beim Morgengrauen dieses Tages hatte ich den spitzigen Degen auf einen Gottesleugner gezückt, und nun, da es Nacht war, lachte ich wieder über diese Heiligenanbeter.
Am nächsten Morgen war es mir weniger lächerig zu Mut, als es galt, die
unterbrochene Arbeit wiederaufzunehmen. Während die Künstlerschaft wohl in ihrer
großen Mehrheit
Fröstelnd schleppte ich, um eine Zuflucht zu suchen, einen neuen, kaum
angefangenen Karton hervor, eine auf den Rahmen gespannte graue Papierfläche von
mindestens acht Schuh Breite und entsprechender Höhe. Es war nichts darauf zu
sehen als ein begonnener Vordergrund mit je einem verwitterten Fichtenbaum zu
beiden Seiten des künftigen Bildes, dessen Idee ich damals vor Monaten aufgegeben
und die mir gänzlich aus der Erinnerung geschwunden ist. Um nur etwas zu tun und
vielleicht meine Gedanken zu beleben, machte ich mich daran, den einen der zwei
mit Kohle entworfenen Bäume mit der Schilffeder auszuführen, gewärtig, was dann
weiter werden
So arbeitete ich eines Tages wieder mit eingeschlummerter Seele, aber großem
Scharfsinn an der kolossalen Kritzelei, als an die Türe geklopft wurde. Ich
erschrak und fahr zusammen; aber schon war es zu spät, den Rahmen wegzuschaffen.
Reinhold und Agnes treten herein, und kaum hatten wir uns begrüßt,
Seine Gattin hatte inzwischen das andere Paar begrüßt und sich mit der ganz glücklichen und wohlaussehenden Agnes unterhalten. Erikson aber stand vor der Staffelei und beschaute höchst verwundert meine neuste Arbeit. Dann betrachtete er mich mit bedenklichem Gesichte, und wie ich verlegen und rot wurde, und sagte, erst den Kopf schüttelnd, dann mit demselben schalkhaft nickend:
»Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten
und begonnen, ein Problem zu lösen, welches von größtem Einflusse auf die deutsche
Kunstentwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer
von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine
Realität, durch keine Tendenz getrübt werden dürfe, sprechen und räsonieren zu
hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere,
Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter solche trivial wirkliche Dinge zum
Ausdrucke gebrauchte. Du hast hier einen gewaltigen Schritt vorwärts getan von
noch nicht zu bestimmender Tragweite. Denn was ist das Schöne? Eine
»Aber, liebster Mann, wo willst du hin!« rief Frau Erikson, die, aufmerksam geworden, sich zu uns gewendet hatte. Der Gottesmacher sperrte Mund und Augen auf; denn die schnurrigen Redensarten waren seinem einfachen Gemüt in Scherz und Ernst unverständlich und fremd. Ich selbst fühlte mich etwas erheitert durch Eriksons Munterkeit, stand jedoch verlegen am Fenster.
»Aber mein Lob«, fuhr er feierlich fort, »muß sogleich einen Tadel gebären oder
vielmehr die Aufforderung zu weiterm energischen Fortschritt! In diesem
reformatorischen Versuch liegt noch immer ein Thema vor, welches an etwas
erinnert; auch wirst du nicht umhinkönnen, um dem herrlichen Gewebe einen
Stützpunkt zu geben, dasselbe durch einige verlängerte Fäden
»Mann, hör auf!« rief Rosalie nochmals, »ich kenne dich nicht mehr!«
»Laß es gut sein!« sagte Erikson; »dieses Geschwätz sei für einmal mein gerührter Abschied von der Kunst! Von nun an wollen wir dergleichen hinter uns werfen und uns eines wohlangewandten Lebens befleißen!«
Dann nahm er mich mit ernsterm Blicke bei der Hand, führte mich hinter die große
Spinnwebe und sagte leise: »Lys kommt nicht mehr zurück; ich habe seine Bilder
zusammenrollen, in Kisten packen und ihm in die Heimat schicken müssen, ebenso
seine Bücher und Möbeln. Er hat mir geschrieben, er wolle als Kandidat für die
Deputiertenkammer seines Landes auftreten und werde nie mehr malen, weil man die
Augen dazu brauche, was ich nicht verstehe. So fällt er aus einer Torheit in die
andere, und ich möchte weinen über ihn. Und nun komme ich daher und finde dich an
einem abenteuerlichen Grillenfang stehen, wie die Welt vielleicht noch keinen
zweiten geboren hat! Was soll das Gekritzel? Frisch, halte dich oben, mache dich
heraus aus dem verfluchten Garne! Da ist wenigstens ein Loch!« Mit diesen Worten
stieß er die Faust durch das Papier und riß es kreuz
Nachdem wir hinter der Kulisse hervorgetreten und das Loch auch von vorn betrachtet hatten, wurde rasch Abschied genommen, natürlich mit dem Vorbehalte dereinstigen Wiedersehens, obgleich ich von den vier Personen keine einzige je wieder erblickt habe. Eine Minute später war es wieder totenstill in meinem Gemache, und die weißgestrichene Türe, durch welche die schönen Frauen und Männer verschwunden, flimmerte mir vor den Augen wie eine Leinwand, von welcher mit einem Zuge ein Bild warmen Lebens weggewischt worden ist.
Auf dem niedrigen Ofen meines Arbeitszimmers stand eine fast drei Fuß hohe Gipsfigur des borghesischen Fechters. Der Abguß war vorzüglich, obschon etwas angebräunt; denn er stammte von einem frühern Insassen her und ging von einem Nachfolger zum andern. Jeder übernahm den rüstigen Kämpfer gegen eine Entschädigung an die Wirtsleute, die so von der Arbeit des wackern Agasias nach zweitausend Jahren noch einen periodischen Nutzen zu ziehen wußten.
Als meine Augen von der Türe, hinter welcher Erikson und Reinhold mit ihren Frauen
verschwunden waren, hinwegglitten, fielen sie auf den danebenstehenden Fechter und
blieben an dem schönen Bildwerke haften. Ich trat ihm näher wie einem willkommenen
Hausgenossen in einsamer Stunde und schaute ihn zum ersten Male vielleicht recht
an. Rasch räumte ich Bilder und Staffeleien weg, rückte sie an die Wände, trug die
Figur in die Mitte des Zimmers auf ein Tischchen und stellte sie ins Licht. Ein
helleres Licht ging aber trotz dem geräucherten Zustande von dem Bilde aus, in
welchem das Leben im goldenen Zirkel von Verteidigung und Angriff sich selbst
erhielt. Von der erhobenen Faust des linken Armes über die Schultern weg bis zur
gesenkten des rechten, von der Stirn bis zur Zehe, dem Nacken bis zur Ferse wallte
von Muskel zu Muskel, von Form zu Form die Bewegung, der Schritt aus der Not zum
Siege oder zum rühmlichen Untergange. Und welche Formen in ihrer Verschiedenheit!
Alle diese Organe glichen einer kleinen Republik
Unversehens suchte ich einen reinen Bogen Papier, spitzte einen Kohlenstengel sorgfältig zu und begann mich in den Umrissen dieses und jenes Gliedes zu versuchen, dann, als hiemit nicht viel herauskommen wollte, den linken Arm bis in die Achselhöhle und die von da fortlaufende Bewegung bis in die linke Weichengegend in ganzer Form rasch zu packen; aber die Hand war ungeübt hiefür, und erst als die Kohle sich etwas abgestumpft hatte, wollte der Strich von selbst leibhafter werden und ein gewisses Leben in die Finger fahren. Aber nun war das Auge nicht gewöhnt, angesichts der menschlichen Gestalt der Hand rasch genug vorzuleuchten; ich mußte aufstehen und die Begrenzungen und Übergänge genauer untersuchen und, weil ich doch schon zu alt war, in einsichtsloser Art fortzufahren, über die Dinge und ihren Zusammenhang nachdenken.
So brachte ich in ein paar Tagen die ganze Figur leidlich zustande, drehte sie und bezwang sie auch von den übrigen Seiten. Da fiel mir plötzlich ein, sie in Gedanken aufzurichten und den Fechter in ruhender Stellung zu zeichnen, gleichsam als Probe der erworbenen Kenntnis. An dem anatomisch gut gearbeiteten Vorbilde hatte ich wohl gesehen, was als Knochen oder Muskel, Sehne oder Gefäß sich darstellte; als es nun aber galt, alles dies in seine veränderte Lage und Form zu bringen, mangelte mir jeder bestimmte Einblick in den Zusammenhang dessen, was unter der Haut ist und vor sich geht, und da es sich nicht um eine unklare freche Skizzierung handeln konnte, die hier keinen Zweck gehabt hätte, so sah ich mich genötigt, den Stift wegzulegen.
Das begab sich in einem Augenblicke, wo ich schon so manches Jahr der Kunst
beflissen gewesen und einem ersten Abschluß zusteuern sollte. Ich hätte diesen
Erfolg genau voraussehen können, eh ich den Stift angesetzt, und wie ich nun, die
Im Verlaufe der Zeit hatte sie nämlich wiederholt, aber immer nur nach jahrelangen
Unterbrechungen, vom Vater geträumt, vielleicht zwei oder drei Male, gleichsam zum
Wahrzeichen, wie selten solche geheimnisvolle Lichtblicke tiefsten Glückes uns
vergönnt sind. Jedesmal aber hatte sie am Morgen das Begebnis, das nach langem
Ausbleiben so unerwartet gekommen,
So war es ihr einst im Schlafe, als ergehe sie sich an einem Sonntage mit dem verstorbenen Gatten im Freien wie ehmals; aber sie fand ihn doch nicht sich zur Seite, sondern sah ihn plötzlich aus der Ferne herkommen auf einer unabsehbaren Feldstraße. Er war sonntäglich fein gekleidet, trug aber ein schweres Felleisen auf dem Rücken; in der Nähe angelangt, stand er still, nahm den Hut vom Kopfe und wischte den Schweiß von der Stirne; dann winkte er liebevoll gegen die Mutter und sagte mit wohltönender Stimme: »Es ist weit, weit zu gehen!« worauf er an seinem Stabe rüstig weiterwanderte, bis er ihren Augen entschwand. Dieses Gesicht, welches ihr statt eines Ausruhenden einen mit belastetem Rücken in unendliche Fernen Dahinziehenden gezeigt, hatte die Mutter bei näherm Nachdenken traurig gemacht, da sie ohne Aberglauben oder Traumdeuterei doch die Empfindung oder Vorstellung von einer großen Mühsal erlitt, in welcher sich der Abgeschiedene bewege. Mir hingegen erweckte jetzt das Gedenken dieses unverdrossenen Wanderns des freundlichen Geistes durch die unbekannte Ewigkeit eher das vorbildliche Anschauen eines nicht zu brechenden Lebensmutes, des rastlosen Verfolgens eines Zieles. Ich sah den Mann selbst dahinschreiten und mir zuwinken, und als das Bild allmählich sich von der Tafel der Erinnerung löste und verschwand, sagte ich mir entschlossen: Was kann es helfen! Du darfst nicht länger säumen und mußt die fehlende Kenntnis nachholen!
Ich nahm mir also vor, mich unverweilt an das Studium der Anatomie zu machen,
soweit dieselbe wenigstens zu Verständnis und Darstellung der menschlichen Gestalt
unentbehrlich ist; und da die öffentliche Kunstschule zwar etwelche unvollkommene
Gelegenheit hiefür bot, ich aber nicht zu ihren Angehörigen zählte, so suchte ich
sofort einen jener Studierenden auf, die mir in dem unsinnigen Duellhandel mit
Ferdinand Lys beigestanden.
Ich sah den kundigen Landsmann nun erst recht an und glaubte kaum, daß der
Sprecher der gleiche sei, der mir vor Wochen so bereitwillig ein Loch in die Haut
eines Menschen wollte stechen helfen. Wenn junge Leute, die sich bei
leichtsinnigem Treiben befreundet, nachher ernstere Eigenschaften aneinander
entdecken, so gereicht ihnen das immer zur Genugtuung, welche gern einem
entschiedenen Einflusse stattgibt. Ich zögerte daher nicht, dem Ratgeber zu
folgen, und betrat mit ihm das weitläufige Universitätsgebäude, auf dessen Treppen
und Flüren die eigentliche Staatsjugend der verschiedensten Länder
durcheinanderströmte. In dem betreffenden Hörsaale waren die Bänke noch leer. Die
kahle Wand, die schwarze Tafel an derselben, die zerschnittenen und beklecksten
Tische,
So mochten über hundert Zuhörer versammelt sein, welche des Vortragenden harrten, als derselbe unversehens in die Türe trat, rasch nach seinem Känzelchen eilte und dort mit anständiger Anrede begann, das Bild unserer Leiblichkeit und ihrer Lebensbedingungen zu entwerfen, wie es der damaligen Wissenschaft entsprach, die wie gewöhnlich den bisher denkbar höchsten Stand soeben erstiegen hatte. Allein dergleichen Prunk kehrte er keineswegs hervor, sondern führte seine Hörer mit ruhig und klar ohne irgendeinen Anstoß dahinfließender Rede durch das wohlgeordnete Gebiet, ohne Übereilung sowie ohne unnützen Aufenthalt, ohne das Überraschende oder etwa notgedrungen Witzige mit Reklamen der Gebärde oder des Wortes anzukündigen und zu begleiten.
Auf mich wirkte schon die erste Stunde so, daß ich den Zweck, der mich hergeführt,
und alles vergaß und allein gespannt war
Auch in mir traten die willkürlichen Voraussetzungen und
Ich wurde von Wohlwollen gegen den beredten Lehrer erfüllt, von dem ich nicht gekannt war; denn es ist wohl nicht die schlimmste Eigenschaft des Menschen, wenn er für geistige Guttaten dankbarer ist als für leibliche, und zwar in dem Maße, daß die Dankbarkeit wächst, je weniger selbst die geistige Wohltat irgendeinen unmittelbaren äußerlichen Nutzen mit sich bringt. Nur wenn leibliches Wohltun so beschaffen ist, daß es Zeugnis gibt von einer geistigen Kraft, welche dem Empfänger wiederum zu einer moralischen Erfahrung wird, erreicht seine Dankbarkeit eine schönere Höhe, die ihn selber veredelt. Die Überzeugung, daß reine Tugend und Güte irgendwo sind, ist ja die beste, die uns werden kann, und selbst die Seele des Lasterhaften reibt sich vor Vergnügen ihre unsichtbaren dunklen Hände, wenn sie wahrnimmt, daß andere für sie gut und tugendhaft sind.
Indem die Lehre von unserer Menschennatur sich zusehends abrundete, bemerkte ich
nicht ohne Verwunderung, wie die Dinge neben ihrer sachlichen Form in meiner
Einbildung zugleich eine phantastisch typische Gestalt annahmen, welche zwar die
Kraft des Vorstellens in den Hauptzügen erhöhte, hingegen das genauere Erkennen
des Einzelkleinen gefährdete.
Doch der Ernst des Lehrers und die ebenmäßige Ruhe seiner Rede überwanden
schließlich solche Störungen und stellten eine Aufmerksamkeit her, die bis zum
Schlusse andauerte, hier aber einer gewissen Betroffenheit Platz machte. Denn
nachdem er die Lehre von der Sinnesentwicklung mit der Entstehung des menschlichen
Bewußtseins abgeschlossen, endigte er, aus seiner
Je höher der Mann in meiner Achtung stand, um so eifriger machte ich mir zu schaffen, die geliebte Freiheit des Willens, welche ich von jeher zu besitzen und tapfer auszuüben glaubte, wiederherzustellen. Unter den wenigen Gegenständen, die sich aus jenen Tagen erhalten, gibt es noch ein kleines Schreibbuch. Es enthält einige hastige Aufzeichnungen, und ich lese die mit Bleistift beschriebenen Seiten jetzt mit bescheideneren Gefühlen, aber nicht ohne Rührung wieder:
»Die Verneinung des Professors ist es an sich nicht, die mich abstößt oder
erschreckt. Es gibt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, sondern auch
wissen müsse aufzubauen, welche Phrase Voll gemütlichen und oberflächlichen Leuten
allerwegs angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Tätigkeit unbequem
entgegentritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo obenhin abgesprochen oder aus
törichter Neigung verneint wird; sonst aber ist sie ohne Verstand. Denn man reißt
nicht stets nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß
nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen, welche überall sich von
selbst einfinden, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den
Dingen
Wenn die Freiheit des Willens nun bei den untern Stufen unsers Geschlechtes und verwahrlosten einzelnen auch nicht vorhanden war, so mußte sie sich doch einfinden und entwickeln, sobald die Frage nach ihr sich einfand, und wenn Voltaires Trumpf: ›Gäbe es keinen Gott, so müßte man einen erfinden!‹ eher eine Blasphemie als ein ›positive‹ gute Rede war, so verhält es sich nicht also mit der Willensfreiheit, und hier dürfte man nach Menschenpflicht und – recht sagen Lasset uns diese Freiheit schaffen und in die Welt bringen!
Die Schule des freien Willens kann man am füglichsten mit einer Reitbahn
vergleichen. Der Boden derselben ist das Leben dieser Welt, über welches auf gute
Manier hinwegzukommen es sich handelt, und er kann zugleich den festen Grund der
Materie vorstellen. Das wohlgeartete und geschulte Pferd ist das besondere, immer
noch materielle Organ, der Reiter darauf der gute menschliche Wille, welcher jenes
zu beherrschen und zum freien Willen zu werden trachtet, um auf edlere Weise über
jenen derben Grund hinwegzukommen; der Stallmeister endlich mit seinen hohen
Stiefeln und seiner Peitsche ist das moralische Gesetz, das aber einzig und allein
auf die Natur und Gestalt des Pferdes gegründet ist und ohne dieses gar nicht
vorhanden wäre. Das Pferd aber würde ein Unding sein, wenn nicht der Boden
existierte, auf welchem es traben kann, so daß also sämtliche Glieder dieses
Kreises durch einander bedingt sind und keines sein Dasein ohne das andere hat,
ausgenommen den Boden der Materie, welcher daliegt, ob jemand darüber reite oder
nicht. Nichtsdestoweniger gibt es gute und schlechte Reitschüler, und zwar nicht
allein nach der körperlichen Befähigung, sondern vorzüglich auch infolge des
entschlossenen Zusammennehmens. Den Beweis liefert das erste beste Reiterregiment,
das uns über den Weg reitet. Die Scharen
Wird aber der Steuermann, um auf ein anderes Bild zu kommen, zufälliger Stürme wegen, die ihn verschlagen können, der Abhängigkeit wegen von günstigen Winden, wegen schlechtbestellten Fahrzeuges und unvermuteter Klippen, wegen verhüllter Leitsterne und verdunkelter Sonne sagen: ›Es gibt keine Steuermannskunst!‹ und es aufgeben, nach bestem Vermögen sein vorgestecktes Ziel zu erreichen?
Nein, gerade die Unerbittlichkeit, aber auch die Folgerichtigkeit der tausend
ineinandergreifenden Bedingungen müssen uns reizen, das Steuer nicht
fahrenzulassen und wenigstens die Ehre eines tüchtigen Schwimmers zu erkämpfen,
welcher in möglichst grader Richtung über einen stark ziehenden Strom
Ja, ein verantwortlichkeitsschwangeres Wesen treibt in den Dingen und kräuselt den Spiegel der ruhigen Seele: die Frage nach einem gesetzmäßigen freien Willen ist zugleich in ihrem Entstehen die Ursache und Erfüllung desselben, und wer einmal diese Frage getan, hat die Verantwortung für eine sittliche Bejahung auf sich genommen!«
Ich erinnere mich, daß es im Monat August und in abgelegener Gegend eines öffentlichen Parkes war, als ich diese Worte schrieb. Von ihrem Gewichte nicht gerade niedergedrückt, wandelte ich nach vollbrachter Tat gemächlich weiter und gelangte an eine Hecke wilder Rosensträuche, zwischen denen die ausgespannten Netze vieler Spinnen hingen. Es war eine Art kleiner gelber Kreuzspinnen, die hier eine Kolonie zu bilden schienen und alle in wacher Tätigkeit schwebten. Die eine saß still in der Mitte ihres Kunstwerkes und lauerte aufmerksam auf einen Fang; die andere klomm geruhig an den Fäden umher, um hie und da einen Schaden auszubessern, während die dritte mit Unfrieden einen bösen Nachbar beobachtete. Denn an der Grenzmark eines jeden Netzes, im Blattwerke verborgen, saßen gleichfarbige, aber ganz dünnleibige Spinnen, welche keine eigenen Netze bauten, sondern sich darauf beschränkten, den Erwerb der fleißigen Künstlerinnen für sich zu packen. Ein leichter Wind bewegte das Gesträuche und mit demselben die luftige Stadt dieser Ansiedler, so daß der allgemeine Weltlauf auch hier in aller Stille Leidenschaft und Unruhe hervorbrachte.
Ich haschte ein Fliege und warf sie auf ein Gewebe, dessen Inhaberin reglos im
Mittelpunkte hing. Sogleich stürzte sie über das unglückliche Tier her, drehte und
wendete es einigemal zwischen den Pfoten, schnürte ihm mit vorläufigen Stricken
Da brachte ich eine neue Fliege herbei; die Spinne packte sie wie die frühere;
allein schon machte sich der erste Wegelagerer wieder herbei, dem der Hunger keine
Wahl lassen mochte; und nun, statt das neue Opfer kunstgerecht einzuwickeln, nahm
sie es kurzweg zwischen die Freßzangen und trug es, wie der Bär das Lamm, nicht
nach dem Mittelsitze, sondern aus dem Netze heraus nach einem Refugium. Sie
erreichte es nicht; denn der Feind rannte ihr den Weg ab, so daß sie eine andere
Zuflucht suchen mußte, weil sie ihren Fang nicht fahrenlassen und deshalb den
Kampf nicht aufnehmen konnte. So entwickelte sich ein noch ärgeres Irrsal für das
geplagte Tierchen, indem zu
Hierüber erstaunte ich nicht wenig; denn eine solche Entschlußfähigkeit in dem
winzigen Gehirnchen erhob sich beinahe zu der menschlichen Willensfreiheit, die
ich behauptete, oder sie zog diese zu sich herunter in den Bereich des blinden
Naturgesetzes, des leidenschaftlichen Antriebes. Um diesem zu entrinnen, erhöhte
ich sofort meine sittlichen Ansprüche, da es beim Bau von Luftschlössern auf ein
Mehr oder Weniger an Unkosten ja niemals ankommt. Ob auch Luftschlösser sich
verwirklichen oder ob sie mindestens dazu dienen, eine goldene Mittelstraße zu
schützen, wie das römische Castrum
So war ich also mit dem glänzenden Schwerte der Willensfreiheit bewaffnet, ohne aber ein Fechter zu sein. Daß ich erst beabsichtigt hatte, einige anatomische Einsicht behufs der Darstellung der menschlichen Gestalt zu holen, wußte ich fast nicht mehr und unterließ jedes weitere Vorgehen in dieser Richtung. Ohne zu wissen, wie es geschehen, war ich schon im gleichen Sommer in ein vorbereitendes Kollegium über Rechtswissenschaft geraten und hatte nur wenige Stunden versäumt, da mir bald unerträglich dünkte, das nicht zu kennen, wovon ich vor kurzem nichts gewußt und was niemand von mir verlangte. Von neuen Bekanntschaften, die ich dabei gemacht und die jetzt in die Ferien gereist, hatte ich Bücher geliehen und das eine oder andere auch selbst erworben. Darin las ich nun tage- und nächtelang, als ob eine Prüfung vor der Türe stände, und als im Herbste die Säle sich wieder auftaten, fand ich mich bei dem ersten Lehrer des römischen Rechtes als Hörer ein, keineswegs in der Absicht, etwa ein Jurist zu werden, sondern lediglich, um zu erfahren, was es mit diesen Dingen auf sich habe, und die Textur derselben zu sehen. Meines Bleibens war hier freilich nur so lange, bis ich ein vernünftigeres Gelüste nach der Geschichte des römischen Staates und Volkes überhaupt empfand, und von hier aus lag es nahe, die Hand auch nach den griechischen Geschichten auszustrecken, welche ich in ihrer ersten dürftigen Schulgestalt mitten im Kurs einst mußte fahrenlassen, als ich aus der Schule geschickt worden. Ich verhielt mich jetzt sehr still und ruhig und ließ die Herrlichkeiten mit frohem Behagen auf mich wirken, niemals ohne mir die schönen Landschaften, die Inseln und Vorgebirge zu vergegenwärtigen, wenn ihre wohllautenden Namen genannt wurden.
Unversehens aber stieß ich auf die Bände deutscher Rechtsaltertümer, Weistümer,
Sagen und Mythologie, welche damals
So phantasiegeborne Anschauungen verzogen sich jedoch bald vor Gedanken nüchterner
Art, als ich mich mehr an das Betrachten der Geschichte gewöhnte und ich wie ein
neuer Sancho Pansa beinahe mit ein paar platten Sprichwörtern ausreichte, um die
Ergebnisse zusammenzufassen. Ich sah, daß jede geschichtliche Erscheinung genau
die Dauer hat, welche ihre Gründlichkeit und lebendige Innerlichkeit verdient und
der Art ihres Entstehens entspricht. Ich sah, wie die Dauer jedes Erfolges nur die
Abrechnung der verwendeten Mittel und die Prüfung des Verständnisses ist und wie
gegen die ununterbrochene Ursachenreihe auch in der Geschichte weder Hoffen noch
Fürchten, weder Jammern noch Toben, weder Übermut noch Verzagtheit etwas hilft,
sondern Bewegung und Rückschlag ihren wohlgemessenen Rhythmus haben. Ich versuchte
daher achtzugeben auf dieses Verhältnis in der Geschichte und verglich den
Charakter der Ereignisse und Zustände mit ihrer Dauer und dem Wechsel ihrer Folge
welche Art von länger anhaltenden Zuständen z.B. ein plötzliches oder aber ein
allgemaches Ende nehmen oder welche Art von unerwarteten, rasch
Mein liebster Aufenthalt waren nun die Stätten, wo gelehrt wurde, und ich trieb
mich als eine Art von Halbstudent um, der da alles zu vernehmen und zu sehen
begehrte, gleich einem jungen Herrensohn, der zu seiner allgemeinen Ausbildung auf
der hohen Schule weilt, sonst es aber gerade nicht nötig hat. Wo von Physikern,
Chemikern, Zoologen oder Anatomen merkwürdige Demonstrationen angekündigt und von
Redemeistern besonders berühmte Kapitel abgehandelt wurden, befand ich mich stets
im Strome der Neugierigen, welche sich hinzudrängten. Und nach bestandenem
Abenteuer war ich inmitten der Studentenhaufen zu sehen, wenn sie vor Tisch ihre
burschikosen Frühschoppen tranken. Denn erst jetzt handelte ich dem Rate des
Eichmeisters zuwider, vor Abend niemals ins Wirtshaus zu gehen, weil es mich
trieb, über das Erfahrene sprechen zu hören und mich selbst auszusprechen.
Zuweilen gedieh ich im Eifer sogar zum lauten Wortführer, fast genau wie
Es gab allerdings wieder eine Sparbüchse, welche ihrer Verwendung harrte. Am Tage nach meiner Abreise vor nunmehr länger als drei Jahren hatte die Mutter sogleich ihre Wirtschaft geändert und beinahe vollständig in die Kunst verwandelt, von nichts zu leben. Sie erfand ein eigentümliches Gericht, eine Art schwarzer Suppe, welches sie jahraus, jahrein, einen Tag wie den andern um die Mittagszeit kochte, auf einem Feuerchen, welches gleichermaßen fast von nichts brannte und eine Ladung Holz eine Ewigkeit dauern ließ. Sie deckte an den Werktagen nicht mehr den Tisch, da sie nun ganz allein aß, nicht um die Mühe, sondern die Kosten der Wäsche zu sparen, und setzte ihr Schüsselchen auf ein einfaches Strohmättchen, das immer sauber blieb, und indem sie ihren abgeschliffenen Dreiviertelslöffel in die Suppe tauchte, rief sie pünktlich den lieben Gott an, denselben für alle Leute um das tägliche Brot bittend, besonders aber für ihren Sohn. Nur an den Sonn- und Festtagen deckte sie den Tisch mit reinlichem Weißlinnen und setzte ein Stückchen Rindfleisch darauf, welches sie am Sonnabend eingekauft. Diesen Einkauf selber machte sie weniger aus Bedürfnis – denn sie hätte sich für ihre Person auch am Sonntage noch mit der spartanischen Suppe begnügt, wenn es hätte sein müssen – als vielmehr, um einen Zusammenhang mit der Welt und die Gelegenheit zu haben, wenigstens einmal die Woche auf dem alten Markte zu erscheinen und den Weltlauf zu sehen.
Sobald sie es im Körbchen hatte, richtete sie ihren Gang nach dem Gemüsemarkt am
Wasser und erlabte ihre Augen an dem Grün der Kräuter, den bunten Farben der
Früchte, an allem, was aus Gärten und Feldern herbeigeschafft war. Sie wandelte
von Korb zu Korb und über die schwanken Bretter von Schiff zu Schiff, das
aufgehäufte Wachstum übersehend und an dessen Schönheit und Billigkeit die
Wohlfahrt des Staates und dessen innewohnende Gerechtigkeit ermessend, und
zugleich tauchten in ihrer Erinnerung die grünen Landstriche und die Gärten ihrer
Jugend auf, in welchen sie einst selbst so gedeihlich gepflanzt hatte, daß sie
zehnmal mehr wegzuschenken imstande war, als sie jetzt bedächtig einkaufen mußte.
Hätte sie noch große Vorräte für einen zahlreichen Haushalt zu ordnen gehabt, so
würde das ein Ersatz gewesen sein für das Säen und Pflanzen; aber auch der war ihr
genommen und die Handvoll
Das weiße Stadtbrot, das bislang in ihrem Hause gegolten, hatte sie auch abgeschafft und bezog alle acht Tage ein billigeres rauhes Brot, welches sie so sparsam aß, daß es zuletzt steinhart wurde; aber zufrieden dasselbe bewältigend, schwelgte sie ordentlich in ihrer freiwilligen Askese.
Um die gleiche Zeit wurde sie karg und herb gegen jedermann, im gesellschaftlichen Verkehr vorsichtig und zurückhaltend, um alle Ausgaben zu vermeiden; sie bewirtete niemanden oder, wenn es geschah, so knapp und ängstlich, daß sie bald für geizig und ungefällig gegolten, hätte sie nicht durch eine verdoppelte Bereitwilligkeit mit dem, was sie durch die Mühe ihrer Hände, ohne andere Kosten, bewirken konnte, jene herbe Sparsamkeit aufgewogen.
Überall, wo sie mit Rat und Tat beistehen konnte, war sie immer wach und rüstig bei der Hand, keine Ausdauer scheuend, und da sie für sich bald fertig war, so verwendete sie eine schöne Zeit zu solchen Dienstleistungen, bald in diesem, bald in jenem Hause, wo Krankheit oder Tod die Menschen bedrängten.
Aber überallhin brachte sie ihre genaue Einteilungskunst mit, so daß die
behäbigeren Leute, während sie dankbar sich die unermüdliche Hilfe gefallen
ließen, doch hinter ihrem Rücken sagten, es wäre doch eigentlich eine Sünde von
der Frau Lee, daß sie gar so ängstlich, so spröde sei und dem lieben Gott nichts
überlassen könne oder wolle. Sie hingegen überließ freilich der Vorsehung Gottes
alles, was sie nicht verstand, vorerst die Verwickelungen der moralischen Welt,
mit denen sie nicht viel zu tun hatte, weil sie sich nicht in Gefahr begab.
Mit eherner Treue hielt sie an ihrer Weise fest; weder durch Sonnenblicke der Fröhlichkeit noch durch düsteres Unbehagen, weder im Scherz noch im Ernste ließ sie sich verleiten, auch die kleinste unnötige Ausgabe zu machen. Sie legte Groschen zu Groschen, und wo diese einmal lagen, waren sie so sicher aufgehoben wie im Kasten des eingefleischten Geizes. Mit der Ausdauer des Geizes sammelte sie Geld, aber nicht zur Augenlust; denn das Gesammelte beschaute sie niemals und überzählte es nie, wenigstens nicht zum zweiten Mal, und noch weniger stellte sie sich vor, was alles dafür herbeizuschaffen und zu genießen sei.
Ich indessen war seit geraumer Zeit mit den Mitteln an ein Ende gekommen, die zu meiner Ausbildung bestimmt gewesen. Schon saß ich in einem ordentlichen Gewebe von Schuldbeziehungen gefangen und war ohne alle Schwierigkeit hineingeraten, und zwar durch den studentischen Verkehr, der sich von der Lebensart der Kunstjünger wesentlich unterscheidet. Diese sind von Anfang an auf die Benutzung des Tageslichtes durch unausgesetzte Handübung angewiesen; das bringt allein schon einen andern wirtschaftlichen Zustand mit sich, welcher den guten alten Handwerkssitten verwandt ist. Während meines Umganges mit dem reichen Lys und dem an sorgloses Leben auch gewöhnten Erikson war ich meiner bescheidenen Verhältnisse nie innegeworden. Wir sahen uns immer nur des Abends, und da lebten sie in der Regel nicht anders, als ich und ähnliche wenig bemittelte Leute auch leben durften; von einem gegenseitigen Anreize zu schädlichen Ausgaben war nicht die Rede, und was gute Laune oder ein Fest etwa an Ausnahmen herbeiführten, störte niemals in nachhaltiger Weise das Gleichgewicht.
Da ich mich eines Morgens ohne Vorbedacht und Willen von einigen Schulden belästigt sah, stellte ich nachträgliche Betrachtungen über das Vorkommnis an und setzte mich mit demselben ungefähr folgendermaßen auseinander:
Hätte ich einen Sohn mit guten Lehren zu versehen, so würde ich zu ihm sagen:
»Mein Sohn, wenn du ohne Not und sozusagen zu deinem Vergnügen Schulden machst, so
bist du in meinen Augen nicht sowohl ein Leichtsinniger als vielmehr eine niedrige
Seele, die ich im Verdachte eines schmutzigen Eigennutzes habe, einer Selbstsucht,
die andere unter dem Deckmantel traulicher Hilfsbedürftigkeit absichtlich um das
Ihrige bringt. Wenn aber ein solcher von dir borgen will, so weise ihn ab; denn es
ist besser, du lachest über ihn als er über dich! Wenn du hingegen in Not gerätst,
so borge, soviel es genaugenommen sein muß, und ebenso diene deinen Freunden, ohne
zu rechnen, und alsdann trachte für deine Schulden aufzukommen, Verluste
verschmerzen oder zu dem Deinigen gelangen zu können, ohne zu wanken und ohne
schimpflichen Zank. Denn nicht nur der Schuldner, der seine Verpflichtungen
einhält, sondern auch der Gläubiger, der ohne Zank dennoch zu dem Seinigen kommt,
beweist, daß er ein wohlbestellter Mann ist, welcher Ehrgefühl um sich verbreitet.
Bitte keinen zweimal, der dir nicht borgen will, und laß dich ebensowenig drängen;
denke
Diese großen Worte, mit denen ich mir den Rat eines weisen Vaters ersetzte, regten
mein Gewissen doch so kräftig an, daß ich Anstalt traf, die Tore des Erwerbes
aufzutun. Ohne längeres Säumen machte ich mich an den Entwurf eines
Landschaftsbildes von bescheidenem Umfang, dessen Verkauf nicht von vornherein
unwahrscheinlich war. Zugrunde lag ein ansehnliches Studienblatt aus der Heimat,
welches einen gerodeten Bergwald darstellte. Von diesem zog sich ein
stehengebliebener Saum von Eichbäumen einen höhern Grat entlang und stieg auf
demselben ins Tal herunter an einen schäumenden Waldbach, wie ein Zug schreitender
Riesen, die sich unten sammeln und Rat halten. Als ich mit dem Entwurfe fertig
war, fühlte ich das Bedürfnis, die Ansicht eines Kunstgenossen einzuholen, um
Glücklicherweise begegnete ich zu dieser Zeit einem eben im Flor stehenden Landschafter, mit dem ich in Eriksons Gesellschaft ein paarmal zusammengetroffen und auf einem gewöhnlichen Bekanntschaftsfuße stand. Der Mann besaß eine sichere und wirksame Technik; er brachte sozusagen keinen Pinselstrich zuviel oder zuwenig an, und jeder leuchtete mit ungebrochener Kraft; also waren auch seine Bilder überall gern gesehen, und er kam mit solchem Fleiße der Nachfrage entgegen, daß er schon begann, Mangel an Gegenständen zu empfinden, und mehr Gemälde lieferte, als er Ideen dazu im Vorrat besaß. Er wiederholte sich öfter und war sogar um einzelne Wolken- oder Erdformen verlegen, da er alle schon ein oder mehrere Male irgendwie gebraucht hatte, obschon er noch nicht vierzig Jahre alt war. Denn er besaß eine stattliche Frau und eine Schar Kinder, die ernährt sein wollten, und da er bei dieser Bemühung einmal im glücklichen Schusse war, so gedachte er gleich auch wohlhabend zu werden. Wenn man für die alten Tage sorgen will, pflegte er zu sagen, so muß man das in den jungen Tagen tun. Auch sei es ihm unmöglich, die einzelnen seiner Kinder in der Armut zu denken; darum müsse er sie alle dagegen schützen und zugleich hiedurch bewirken, daß sie einstmals für ihre Kinder ebenso gesinnt seien; so nähmen die Dinge auf lange hin ihren guten Verlauf, einzig infolge eines entschlossen angewandten Grundsatzes.
Er fragte mich, was ich treibe, und ich benutzte die Gelegenheit, ihn um seinen
Rat zu ersuchen. Bereitwillig kam er zu mir und sah etwas überrascht meine Arbeit
oder vielmehr die ihr zugrund liegende Naturstudie. Die Bäume, als die aus einem
ehemaligen Hochwalde ausgeschnittenen Überbleibsel, zeigten alle so eigentümlich
malerische Formen, wie man sie nicht leicht vorfindet oder zum zweiten Male
antrifft, und die
Bei der Ausführung des Bildes suchte ich nun mein Bestes zu tun und hielt mich
fleißig und hoffnungsvoll an die Arbeit, bei welcher ich so gut als möglich der
Kritik des Meisters folgte. Es wollte mir zwar nachträglich vorkommen, als ob in
der Komposition etwas allzu stark aufgeräumt worden sei für meine bescheidene
Farbengebung, bei der ich, da es sich endlich um ein ordentliches Vollenden
handelte, mit den ersten Regeln zu
So war nun der Zeitpunkt da, von welchem ich vor der ländlichen Vormundschaftsbehörde so zuversichtlich gesprochen hatte, der Beginn eines rühmlichen Erwerbes. Als ich am nächsten Sonntage die Säle betrat, in denen eine geputzte Menge sich drängte, gedachte ich deutlich jener stolzen Worte, aber jetzt mit kleinem Mute, da schon zuviel von der Sache abhing. Sobald ich das unscheinbare Bild von weitem bemerkte, getraute ich mich nicht, in der Nähe zu weilen, weil ich mir plötzlich wie ein armes Kind vorkam, das sein aus einem Flöcklein Baumwolle und etwas Flittergold verfertigtes Schäfchen am Weihnachtsmarkte mit den vier steifen Beinchen auf einen trockenen Stein gesetzt hat und ängstlich harrt, ob von den tausend Vorübergehenden einer seinen Blick darauf werfe. Das war nicht Hochmut, sondern das Gefühl, daß ich es als einen glücklichen Zufall preisen müßte, wenn sich ein geneigter Käufer für mein Weihnachtslämmchen fände.
Aber auch von einem solchen Zufall konnte schon keine Rede mehr sein; denn als ich in den nächsten Saal ging, sah ich meine Landschaft, von meinem Ratgeber ausgestellt, mit allem Glanze seines Könnens gemalt, von der Wand leuchten, umgeben von einem Rahmen, der allein mehr kostete, als ich für mein Bild zu fordern wagte. Ein daranhängender Zettel verkündete den bereits erfolgten Ankauf des gelungenen Werkes.
Eine Gruppe von Künstlern unterhielt sich vor demselben. »Woher mag nur das famose Motiv sein?« sagte einer, »er hat schon lange nicht so was Neues gehabt!«
»Dann hat er's dem gestohlen, der Spitzbube!« lachten die übrigen und gingen hin, mein Schicksal zu betrachten. Ich blieb vor der siegreichen Arbeit stehen und dachte seufzend: Wer's kann, der macht's! Wie ich aber das Bild länger studierte, glaubte ich zu entdecken, daß die von dem Maler getroffenen Abänderungen wohl für seinen technischen Standpunkt gut und nützlich, dagegen für meine platonische Art eher schädlich gewesen seien. Denn da mir der energische Glanz seines Pinsels nicht zu Gebote stand, so wäre die tiefere Innerlichkeit meines ersten Entwurfes, die nachwirkende Unmittelbarkeit der reichen Naturstudie mit ihrer Formenfülle für den Liebhaber ein etwelcher Ersatz gewesen.
Als ich im Weggehen einen Augenblick vor meinem verlassenen Bilde weilte, überzeugte ich mich, daß es, statt besser zu werden durch den Ratschlag des Meisters, förmlich verarmt, zum Beweis, daß auch in diesen Dingen der Fink nichts von der Drossel lernt.
Nach der bestehenden Ordnung mußte ich mein Werk acht Tage auf der Ausstellung lassen, während welcher keine Seele nach seinem Preise fragte. Dann holte ich es weg und lehnte es einstweilen an die Wand. Dann ging ich in das nebenliegende Schlafzimmerchen hinein und setzte mich auf meinen dort stehenden Reisekoffer, was meine Gewohnheit war, wenn ich etwas Kritisches zu überlegen hatte, weil der Koffer ein Stück heimatlichen Gerätes war. So verlief der Ausgang meines ersten Versuches, ein Stück Brot zu erwerben.
Was ist Erwerb und was ist Arbeit? fragte ich mich; hier führt ein bloßes Wollen,
ein glücklicher Einfall ohne Mühe zu reichlichem Gewinne, dort eine geordnete,
nachaltige Mühe, welche mehr wirklicher Arbeit gleicht, aber ohne innere Wahrheit,
Die Beschaffung des Mehles, die Anfertigung der Büchsen, das Verpacken und
Versenden erhält viele Arbeiter; ebenso viele werden beschäftigt durch die
zahllosen marktschreierischen Ankündigungen, mit der größten Mühe und Umsicht
betrieben. Keine Stadt der verschiedenen Kontinente gibt es, in welcher nicht
Setzer und Drucker mit der Herstellung der Inserate und Reklamen Nahrung finden,
kein Dorf, in welchem nicht ein Wiederverkäufer eine kleine Steuer darauf erhebt.
Diese läuft in tausend Äderchen zusammen und wird in hundert Bankhäusern von
ehrwürdigen Buchhaltern, lakonischen Kassieren weitergeleitet bis an die Quelle
der Idee zurück. Dort sitzen die Urheber in ihrem Comptoir mit ernster Miene in
tiefsinniger Tätigkeit; denn sie haben nicht nur das tägliche Geschäft zu
überwachen und fortzuführen, sie haben schon auch ihre Handelspolitik zu
studieren, um dem Bohnenmehl neue Bahnen zu
Doch nicht immer waltet die tiefe Geschäftsstille, die unverbrüchliche Strenge der
Arbeit in diesen Räumen; es gibt Tage der Erholung, der Freude, der sittlichen
Belohnung, welche den heiligen Ernst lieblich unterbrechen. Das Zutrauen der
Mitbürger hat das Haupt des Hauses mit magistratischen Würden geehrt, und es
findet eine anständige Bewirtung aller Schutzbefohlenen statt. Oder es wird die
Hochzeit der ältesten Tochter gefeiert, ein Ehrentag für alle, die es angeht; denn
es hat sich die durchaus ebenbürtige Verbindung mit der angesehensten Familie des
Stadtviertels vollzogen; die Reichtümer sind auf beiden Seiten so gleichmäßig
abgewogen, daß keine vernünftige Störung des ehelichen Glückes denkbar ist. Schon
am Vorabend wurden Wagenladungen von Palmen und Myrtenbäumen ins Haus gebracht und
die Blumenkränze aufgehangen; am Morgen füllt sich die Gasse mit Neugierigen, und
das Volk weicht ehrerbietig vor den Kutschen zurück, die in endloser Reihe
auffahren, wegfahren und wieder zurückkehren, bis das Festmahl unter schmetternden
Fanfaren seinen Anfang nimmt. Bald aber tritt lautlose Stille ein, als der
Brautvater an das Glas schlägt und mit bescheidener Rührung, ohne das Schicksal
herauszufordern, seinen Lebensgang schildert und das höhere Walten preist, das
ihn, den Unwürdigen, so weit geführt habe, wie jetzt allen Augen sichtbar sei. Mit
nacktem Wanderstabe, der noch im stillen Kämmerlein aufbewahrt werde, sei er einst
in diese werte Stadt gekommen und habe Schritt für Schritt mit Not und Sorge, aber
unverdrossenem Fleiße gekämpft und öfters fast den Mut verloren; allein die edle
Gattin, die Mutter seiner Kinder, zur Seite, habe er sich immer wieder
aufgerichtet und seine Blicke auf das eine, das Große geheftet, was da not getan!
Einsame lange Nächte hindurch habe er mit dem schöpferischen Gedanken gerungen,
dessen Früchte nun einer Welt zum Segen gereichen und allerdings nebenbei auch
sein
So wird aber Revalenta arabica gemacht in noch vielen Dingen, nur mit dem Unterschiede, daß es nicht immer unschädliches Bohnenmehl ist, aber mit der nämlichen rätselhaften Vermischung von Arbeit und Täuschung, innerer Hohlheit und äußerm Erfolg, Unsinn und weisem Betriebe, bis der Herbstwind der Zeit alles hinwegfegt und auf dem Blachfelde nichts übrigläßt als hier einen Vermögensrest, dort ein verfallendes Haus, dessen Erben nicht mehr zu sagen wissen, wie es vordem entstanden, oder es nicht zu sagen lieben.
Will ich nun, grübelte ich weiter, ein Beispiel wirkungsreicher Arbeit, die
zugleich ein wahres und vernünftiges Leben ist, betrachten, so ist es das Leben
und Wirken Friedrich Schillers. Dieser, aus dem Kreise hinausfliehend, zu welchem
Familie und Landherr ihn bestimmt, alles im Stiche lassend, was ihn nach ihrem
Willen beglücken sollte, stellte sich in früher Jugend auf eigene Faust, nur das
tuend, was er nicht lassen konnte, und schaffte sich sogar durch eine
Ausschweifung, eine überschwengliche und wilde Räubergeschichte, Luft und Licht;
aber sobald er dies gewonnen, veredelte er sich unablässig von innen heraus, und
sein Leben wurde nichts anderes als die Erfüllung seines innersten Wesens, die
folgerechte kristallinische Arbeit des Idealen, das in ihm und seiner Zeit lag.
Und dieses einfach fleißige Dasein verschaffte ihm endlich alles, was seinem
persönlichen Wesen genügte. Denn da er, mit Respekt zu melden, ein gelehrter
Stubensitzer war, so lag es eben nicht in ihm, ein reicher und glänzender Weltmann
zu sein. Eine kleine Abweichung in seinem leiblichen und geistigen Wesen, die eben
nicht Schillerisch war, und er wäre es auch geworden. Aber nach seinem Tode erst,
kann man sagen, begann sein ehrliches, klares und wahres Arbeitsleben seine
Wirkung und seine Erwerbsfähigkeit zu äußern, und wenn man ganz absieht von der
geistigen Erbschaft, die er hinterlassen, so muß man erstaunen
Das war ein einheitliches organisches Dasein; Leben und Denken, Arbeit und Geist dieselbe Bewegung. Aber es gibt doch auch ein getrenntes, gewissermaßen unorganisches Leben von gleicher Ehrlichkeit und Friedensfülle: das ist, wenn einer täglich ein bescheidenes dunkles Werk verrichtet, um die stille Sicherheit für ein freies Denken zu gewinnen, Spinoza, der optische Gläser schleift. Aber schon bei Rousseau, der Noten schreibt, verzerrt sich das gleiche Verhältnis ins Widerwärtige, da er weder Frieden noch Stille darin sucht, vielmehr sich wie die anderen quält, er mag sein, wo er will.
Was ist nun zu tun? Wo liegt das Gesetz der Arbeit und die Erwerbsehre, und wo decken sie sich?
Dergestalt spintisierte ich über etwas, worin ich zunächst gar keine Wahl hatte;
denn die Not und der Ernst des Lebens standen zum ersten Mal wirklich vor der
Türe. Das fiel mir auch
Indem ich dieses genauer bedachte, trat mein Vorhaben in ein sehr ungünstiges
Licht; ich ließ mutlos das Blatt sinken, das ich eben hielt, und setzte mich
wieder auf den Reisekoffer. Das sollte also das Ende so langer Lehrjahre und die
Erfüllung so großer Hoffnungen und zuverlässiger Worte sein! Der Selbstausschluß
vom Gebiete gebildeter Kunst und ein unrühmliches Verschwinden in der Dunkelheit,
wo arme Teufel mit Nichtswürdigkeiten das Leben fristen! Ich bedachte nicht
einmal, daß ich ja mit einer ernsthaften Arbeit auftreten gewollt, ein diebischer
Routinier mich aber des Erfolges beraubt hatte; ich suchte nur den Punkt meiner
Fehlbarkeit, weil ich zu hochfahrend
Da saß ich nun, den Kopf abermals in die Hände begraben, und schweifte mit den Gedanken umher, bis sie in der Heimat anlangten und mir von dort aus die neue Sorge zusandten, daß die Mutter meine Lage ahnen und sich darüber bekümmern könnte. Ich hatte ihr sonst regelmäßig und in einem heitern Tone geschrieben, ihr allerlei von den fremden Sitten und Gebräuchen erzählt, die ich sah, und manche Schwänke und Schnurren eingeflochten, um sie aus der Ferne zum Lachen zu bringen und wohl auch mit meiner Fröhlichkeit großzutun. Sie antwortete mit treulichen Berichten über den Weltlauf zu Hause, und jeden Spaß vergalt sie mit einer Hochzeit oder einem Todesfall, mit dem Schiffbruch einer Haushaltung oder dem verdächtigen Glücke einer anderen. Auch der Oheim war gestorben, und die Kinder hatten sich zerstreut im verworrenen Getümmel der Heerstraße und zogen schon ihre Kinderkärrchen hinter sich her, gleich den Juden in der Wüste. Seit einiger Zeit waren jedoch meine Briefe seltener und einsilbiger geworden; die Mutter schien sich zu scheuen, nach dem Grunde zu fragen, wofür ich ihr dankbar war, da ich doch nichts Rechtes zu melden wußte. Seit einigen Monaten hatte ich gar nicht mehr geschrieben, und sie hielt sich auch still. Als ich jetzt so in der Stille saß, klopfte es sachte an der Türe des äußeren Zimmers; ein Kind kam herein und brachte mir einen Brief, der Schrift und Siegel der Mutter zeigte.
Sie wollte die Ungewißheit oder vielmehr die Furcht nicht länger ertragen, daß es
nicht nach Wunsch und Hoffnung mit mir stehe; sie verlangte daher Aufschluß über
meine Umstände und Aussichten, besorgte, daß ich bereits Schulden habe, weil sie
von keinem Erwerb wisse und das kleine Erbe doch lange aufgebraucht sei. Für den
Fall der Not habe sie einige Ersparnisse
Das Kind, welches den Brief gebracht, stand noch da, als ich ihn schnell gelesen; ich hatte es beim Zeichnen des Jesuskindes in jener christlich-mythologischen oder geologischen Landschaft als Modell benutzt, um ihm die nötigsten Verhältnisse abzusehen, und da das Bild durch mein Herumsuchen zufällig in den Vordergrund geraten, so stand das Knäbchen vor demselben und sagte: »Das bin ich!« indem es den Finger auf das Himmelskind legte. Durch diese anmutige Fügung erhielt der Vorgang einen übernatürlichen Anklang; der kleine Träger der guten Botschaft erschien gewissermaßen als ein Abgesandter der göttlichen Vorsehung selbst, und sowenig ich an ein Wunder, etwa in Gestalt eines allgütigen Scherzes derselben, glaubte, gehe mir das kleine Abenteuer doch über die Maßen wohl und machte mir den mütterlichen Brief doppelt erquicklich. Es ist nicht anders zu sagen genau betrachtet mußte die gleiche Figur, mit der ich in dem Entwurf jenes Bildes eine tiefsinnige Ironie zu begehen der Meinung war, jetzt meine Angelegenheiten wenigstens mit einer artigen Parabel verzieren helfen, sie mit einem Bezuge auf das Unendliche veredeln.
Alles schien jetzt gut und jede Erfüllung wieder möglich, ja wahrscheinlich zu sein; keinen Augenblick zögerte ich, das Opfer anzunehmen, und schrieb meine Antwort etwas kleinlaut und doch offen und wohlgemut. Dabei ermangelte ich nicht, meiner wunderlichen Universitätsstudien zu erwähnen und dieselben als eine für die Gegenwart allerdings nachteilige, für die Zukunft aber doch irgendwie Nutzen bringende Störung darzustellen; und schließlich landete ich wieder an dem Kap der guten Hoffnungen und Verheißungen.
Als die Mutter diesen Brief empfing und ihn gelesen hatte, schloß sie die
Stubentüre zu und ihren alten Schreibtisch auf und brachte aus dessen Fächern zum
ersten Mal den Schatz ihrer Ersparnisse ans Licht. Sie fügte die Taler zu Rollen
und
Zu Hause fand die Mutter die Klappe des Schreibtisches noch geöffnet und die
Schublädchen aufgezogen, die nun leer waren; sie schloß dieselben und öffnete
beiläufig dasjenige, in welchem für ihr tägliches Bedürfnis ein unbeträchtliches
Häuflein Münze in einem Schälchen lag und verkündigte, daß zunächst nun jede Wahl
verschwunden war zwischen Gütlichtun und weiterm Darben und daß die gute Frau
jetzt mit dem besten Willen sich keine
So sehe ich sie jetzt noch, obgleich ich nicht dabei war, dank der Kenntnis ihrer Gewohnheiten, ähnlich wie der Altertumskundige mit seinen Hilfsmitteln und Anhaltspunkten die Ansicht eines zerstörten Denkmales wiederherstellt.
Das Geldpack wurde mir nicht wie der Brief von dem Hauswirtskinde, sondern von dem Postboten selbst aufs Zimmer gebracht. Sein gewichtiges Treppensteigen, das so lange ausgeblieben, belebte die Leute sofort mit einer vorläufigen Genugtuung über das ungebrochene Vertrauen, das sie mir geschenkt; mit dankbarer Gesinnung empfingen sie dann ihr ziemlich aufgelaufenes Guthaben, nachdem ich das Geld nicht ohne Mühe von den vielen Hüllen und Schnüren befreit und den neuen Brief rasch durchflogen hatte, der von unsicherer, ihren Gegenstand nicht übersehender Sorge geschrieben war.
Auch der Schneider, der Schuhmacher und die übrigen Lieferanten unterschrieben
ihre Rechnungen mit freundlicher Zufriedenheit und empfahlen sich für weitere
Kundschaft. Das machte mir alles so viel Vergnügen, als ob es mein eigenes
Verdienst wäre und ich die lieben Zahlungsmittel selbst erworben hätte. Fast
bedauerte ich, daß nicht noch mehr zu bezahlen und die Herrlichkeit so bald zu
Ende war; doch wurde der Übermut
Allein gleich am Morgen gewahrte ich, daß noch ein Ende der Kette vorhanden in Gestalt des Häufleins Taler, welches von meinem Schatze übriggeblieben war. Denn als ich denselben erst jetzt genauer berechnete und abzählte und die letzte schon angebrochene Papierhülse vollends auseinanderschlug, zeigte es sich, daß ich höchstens ein Vierteljahr daran zu leben hatte. Ich wunderte mich nicht wenig, wie die Sorge so behende wieder hereingeschlüpft, und vermutete zuletzt, sie sei gar nicht von der Stelle gegangen, gleich der Frau des Swinegels, die im Wettlaufe mit dem Hasen ruhig in der Furche saß und rief: »Ich bin allhier!«
Doch zögerte ich nicht, einen neuen Auslauf nach dem Erwerbe zu unternehmen; mit
Überlegung schlug ich, wie ich glaubte, einen klugen Mittelweg ein, indem ich ein
paar kleinere Landschaften ohne Anspruch auf geistreichen Stil oder Phantasie,
dagegen mit sorgfältiger Rücksicht auf Gefälligkeit zu malen begann, immerhin aber
eine gewähltere Naturwahrheit zugrunde legte und nicht mit Gewalt das einmal
zierlich Gewachsene ins Plumpe, das Geformte ins Formlose verwandelte. Auf diesem
Wege vermeinte ich einen glücklichern Erfolg nicht verfehlen zu können, während
mir unterderhand das angestrebte Gefällige der Ausführung nur zu einer gewissen
reinlichen
Neben der Vorsicht, die ich an die Arbeit verwandte, beschäftigte mich noch das Abwägen der fliehenden Zeit mit der täglichen Abnahme meines Barvorrates; dies alles, mit einem geruhigen Maße von Furcht und Hoffnung durchwirkt, läßt mir jene kleine Spanne Zeit samt ihren kleinen Verhältnissen als ein Stück wohlverbrachten friedlichen Daseins erscheinen, gleichmäßig erfüllt von bescheidenem Anspruch, redlicher Tätigkeit und tröstlicher Erwartung des unbekannten Erfolges. Fehlt einem solchen Zustande einstweilen das tägliche Brot nicht, während das kommende Bedürfnis doch die Seelenkräfte wach erhält, so wäre er lebenslang leicht zu ertragen. Das erkennt man erst, wenn die Hoffnungen gebrochen sind und man den frühern Zustand, wo sie noch ungewiß waren, wieder herbeiwünscht.
Als ich beide Zwillingsbilder fertig hatte, war es mit dem zufriedenen Leben vorbei, und ich mußte auf den Handel ausgehen. Sie der öffentlichen Ausstellung anzuvertrauen, konnte ich mich nach jenem plagiatorischen Unglück nicht schon wieder entschließen, was allerdings ein Zeichen des Anfänger oder Dilettantentumes war; denn eine volle Begabung kann dergleichen leicht verschmerzen und braucht sich nicht darum zu kümmern, wie das Schattenvolk sich um das Eigentum von Ideen und Erfindungen zankt.
Ich begab mich nun zu einem angesehenen Händler, Beherrscher der Auktionen und
Aufkäufer von Künstlernachlässen, welcher auch ganz neue Bilder kaufte, wenn sie
vor seiner Kennerschaft Gnade fanden oder seine Gewinnlust sonst durch
Ich brachte das Anliegen ziemlich betreten vor, im Gefühl, daß ich etwas erbitte, was kein Mensch mir zu gewähren schuldig sei, und hatte es auch kaum getan, als der Mann, ohne nur zu fragen, wer ich sei, kurz und trocken sagte, er kaufe die Sachen nicht, und sich wegkehrte.
Hiemit war mein Geschäft abgetan; ich hatte keine Veranlassung, auch nur eine Minute länger dazubleiben, und befand mich eine Viertelstunde später wieder zu Hause bei den zwei Bildchen.
Am nächsten Tage machte ich mich abermals auf den Weg, nahm aber klüglich die in ein Tuch gewickelten Bilder mit, damit sie wenigstens angesehen wurden. Ich suchte einen Händler von minderm Range auf, bei dem die Verkehrssummen schon beträchtlich niedriger standen als bei dem vorigen, obschon er mit den Gegenständen besser umzugehen, sie sogar selber zu reinigen, auszubessern und neu zu firnissen verstand. Ich traf ihn in einem ziemlich dunklen Lokale inmitten seiner Töpfchen und Gläser, wie er eben die Löcher einer alten bemalten Leinwand ausflickte. Er hörte mich aufmerksam an und stellte meine Landschaften selbst in ein möglichst günstiges Licht, und nachdem er die Hände an der Schürze abgewischt, schob er sein Samtkäppchen über den kahlen Vorderkopf zurück, stützte die Hände gegen die Hüfte und sagte sogleich, ohne sich lange zu besinnen: »Die Sachen sind nicht übel, aber sie sind nach alten Kupferstichen gemacht, und zwar nach guten!«
Erstaunt und verdrießlich erwiderte ich: »Nein, diese Bäume habe ich selbst alle nach der Natur gezeichnet, und sie stehen wahrscheinlich jetzt noch; auch das übrige existiert beinahe alles, wie es hier ist, nur liegt's etwas mehr auseinander!«
»In diesem Falle kann ich die Bilder erst recht nicht brauchen!« versetzte er, indem er die betrachtende Stellung aufgab und das Käppchen wieder zurechtrückte; »man wählt nach der Natur keine Motive, die wie aus alten Kupferstichen aussehen! Man muß mit der Zeit leben und vorwärtsschreiten!«
Da hatte ich die ganze Stilfrage in einer Nuß. Ich packte
So blieb mir für einmal die Welt des Erwerbes wie durch eine Mauer verschlossen,
an welcher ich keine Türe fand, nicht ein Schlupfloch, durch welches eine Katze
gekrochen wäre. Ich hatte freilich auf den drei Gängen gewiß nicht hundert Worte
verloren, allein auch ein hundertundeintes hätte nicht geholfen; wäre Erikson noch
dagewesen, so würde er mir die Bilder mit wenig Worten verkauft haben, indem er
hinging und sagte: »Was fällt Euch ein? Ihr müßt sie nehmen!« Oder Ferdinand Lys
hätte sie mich ausstellen lassen und mit seinem Ansehen als reicher Mann einem
andern Reichen empfohlen, und ich wäre wie hundert andere auf einen leidlich
breiten Weg geraten und auf ihm geblieben. Aber beide Freunde hatten sich von der
Kunst selbst abgewendet und lebten, wo ich nicht wußte,
Sonst besaß ich, was man gute Bekanntschaften nennt, in der Künstlerwelt nicht mehr, weil ich fast ausschließlich mit Studierenden und angehenden Gelehrten umging und als ein geselliger Hospitant ihre Spruch- und Lebensarten teilte. In demselben Maße büßte ich erst den äußern, dann auch halbwegs den innern Habitus eines Kunstjüngers ein. Während Wahl und Pflicht mich an das körperliche Schaffen banden, gewöhnte sich der Geist an das Leben in seiner eigenen Bewegung; das langsame, kaum mehr von Hoffnung beseelte Hervorbringen eines einzigen Gedankens durch die Hände schien voll unnützer Mühsal zu sein, wenn in der gleichen Zeit tausend Vorstellungen auf den Flügeln des unsichtbaren Wortes vorüberzogen. Diese verkehrte Empfindung beschlich mich um so unbewachter, als meine Teilnahme an wissenschaftlichen Dingen sich auf Hören und Lesen, auf bloßes Empfangen und Genießen beschränkte und ich die Arbeit wissenschaftlichen Hervorbringens nicht aus Erfahrung kannte. So drehte ich mich gleich einem Schatten umher, der durch zwei verschiedene Lichtquellen doppelte Umrisse und einen verfließenden Kern erhält.
Mit dieser Beschaffenheit trat ich nun abermals in den unfreien Zustand des Borgens über, als der letzte Taler wirklich ausgegeben war. Der Anfang fiel mir diesmal, als eine untröstliche Wiederholung, schwerer, der Fortgang aber machte sich wie in dumpfem Traume von selbst, bis die Zeit wieder erfüllt war und das Erwachen folgte mit der Not des Bezahlens und des Weiterlebens.
Erst jetzt entschloß ich mich, die Zuflucht nochmals zur Mutter zu nehmen, wie es
ja ein Kennzeichen des Menschengeschlechtes ist, daß das Junge, solang es immer
angeht, zum Alten zurückkehrt. Jugend, welche sich reiner Absichten und eines
guten Willens bewußt ist, weist mit ihrem allgemeinen Weltvertrauen auf ihre lange
Zukunft hin, freilich vergessend,
Die neuen Ersparnisse, die sie ohne Zweifel gemacht hatte, konnten nicht soviel betragen, als ich jetzt bedurfte; ich wollte daher gründlich zu Werke gehen und schlug ihr in einem Briefe, worin ich mich noch leichter stellte, als mir zu Mut war, die Erhebung eines Anleihens auf das Haus vor. Das sei, meinte ich, eine unverfängliche ruhige Sache, welche nach gefundenem Glücksanfang durch meinen Fleiß ebenso ruhig wieder ausgeglichen werde und höchstens einige Zinsen koste.
Die Mutter erschrak heftig über diesen Brief, an dessen Statt sie mich selber
jeden Tag sehnlich erwartete, wenn auch nicht mit rühmlichem Glücke, so doch in
zufriedenem Zustande. Sie sah alles wieder in unbekannte Ferne gerückt.
Ersparnisse besaß sie diesmal nur wenige, da sie an unsern Mietern Verluste
erlitten; denn der gute Eichmeister war seinen beruflichen Trinkproben erlegen und
mit Hinterlassung von Schulden gestorben, und der unzufriedene Beamte hatte in
einem Anfalle von Entrüstung über fortwährendes Hintansetzen eine kleine
Sportelnkasse geleert und war nach Amerika gegangen, um dort gerechtere
Vorgesetzte zu suchen. Dabei hatte er auch meine Mutter mit einem Jahreszinse im
Stiche gelassen, so daß mein Unheil sich mit diesen Unglücksfällen in unheimlicher
Weise vermengte. Dazu kam die Vereinsamung durch den Tod der Nahestehenden: nach
dem Oheim war auch Annas Vater, der Schulmeister, sowie der und jener gute alte
Freund gestorben, und noch andere waren aus der Welt gegangen, wie denn zuweilen,
wenn die Jahre vorrücken, viele auf einmal gehen, die ihre Zeit erreicht haben.
Sie hätte zwar alle diese Toten nicht befragt, was zu tun sei; allein die
Einsamkeit vergrößerte ihren Schrecken, und um nur wieder in Bewegung zu kommen
und das Lebendige zu spüren, erfüllte sie mein Begehren. Sie
Nun hatte ich, als ich meinen Brief geschrieben, im letzten Augenblicke und in der Furcht, zuviel zu verlangen, die Höhe der berechneten Summe fast auf die Hälfte heruntergesetzt und gedacht, es müsse auch so gehen. Der Betrag des Wechsels reichte daher kaum zur Bezahlung der Schulden aus, und auch so war ich genötigt, wenn ich nur auf kurze Frist etwas übrigbehalten wollte, für freundschaftlich Geliehenes da oder dort, wo kein Bedürfnis drängte, um Stundung zu bitten. An dem zögernden Gewähren merkte ich, daß die Bitte unerwartet kam, und so zwang mich die Beschämung, sie zurückzuziehen. Nur einer, der mein Erröten sah, wies das Geld zurück, obschon er in Bälde abzureisen willens war. Ich solle es ihm wiedergeben, wenn es mir leichter falle, er könne es jetzt entbehren und werde schon gelegentlich von sich hören lassen.
Durch diese Nachsicht sah ich mich auf eine Reihe von Wochen noch geborgen. Aber
der ganze Vorgang erweckte mir ein ernsteres Nachdenken über meine Lage und über
mich selbst nach der inneren Seite hin. Plötzlich kaufte ich einige Bücher
Schreibpapier und begann, um mir mein Werden und Wesen einmal recht anschaulich zu
machen, eine Darstellung meines bisherigen Lebens und Erfahrens. Kaum war ich aber
recht an der Arbeit, so vergaß ich vollkommen meinen kritischen Zweck und überließ
mich der bloß beschaulichen Erinnerung an alles, was mir ehedem Lust oder Unlust
erweckt hatte; jede Sorge der Gegenwart entschlief, während ich schrieb vom Morgen
bis zum Abend und einen Tag wie den andern, aber nicht wie ein
So gelangte ich bis zu der Stunde, da ich als Rrekrut auf dem Felde stand und die
schöne Judith auswandern sah, ohne mich regen zu dürfen. Hier legte ich die Feder
weg, weil das seither Erlebte mir noch gegenwärtig war. Die vielen beschriebenen
Blätter brachte ich unverweilt zu einem Buchbinder, um sie mittelst grüner
Leinwand in meine Leibfarbe kleiden zu lassen und das Buch in die Lade zu legen.
Nach einigen Tagen ging ich vor Tisch hin, es zu holen. Da hatte der Handwerker
mich mißverstanden und den Einband so fein und zierlich gemacht, wie es mir nicht
eingefallen war, ihn zu bestellen. Statt Leinwand hatte er Seidenstoff genommen,
den Schnitt vergoldet und metallene Spangen zum Verschließen angebracht. Ich trug
die Barschaft, die ich noch besaß, bei mir; sie hätte noch für mehrere Tage
ausreichen sollen, jetzt mußte ich sie bis auf den letzten Pfennig hinlegen, um
den Buchbinder zu bezahlen, was ich ohne weitere Besinnung tat, und anstatt zum
Mittagessen zu gehen, konnte ich mich mit dem unnützesten Werke der Welt in der
Hand nach Hause verfügen. Zum ersten Male in meinem Leben saß ich nicht zu Tisch,
wohl fühlend, daß es mit dem Borgen und Bezahlen vorbei sei. In einigen Tagen wäre
das merkwürdige Ereignis allerdings doch eingetreten; dennoch überraschte es mich
jetzt mit sehr stiller, aber unerbittlicher Gewalt. Ich verbrachte die zweite
Hälfte des Tages auf meinem Zimmer und legte mich abends, früher als gewöhnlich,
Hierüber schlief ich friedfertig ein. Zu gewöhnlicher Zeit erwachte ich, auch zum
ersten Mal ohne zu wissen, was ich am heutigen Tage essen würde. Ich hatte seit
einiger Zeit das Frühstück abgeschafft, da ich es überflüssig gefunden; nun wäre
ich froh gewesen, es noch zu bekommen, allein die Wirtsleute durften nicht
erfahren, daß ich hungerte, so wie es mir jetzt klar wurde, daß das erste
Erfordernis meiner neuen Lage die strengste Geheimhaltung sei. Weil ich als ein
Überbleibsel schon abgezogener Jugendvölker lebte, besaß ich in diesem Augenblicke
nicht einen einzigen Vertrauten, dem man eine so auffällige Tatsache eröffnen
konnte. Denn wer, ohne ein Bettler zu sein, eines Tages mitten in der Gesellschaft
faktisch nicht mehr essen kann, macht ein Aufsehen wie ein Hund, dem man den
Suppenlöffel an den Schwanz gebunden hat. Statt mich hinter meinen gemalten
Wäldern still verborgen halten zu können, war ich daher gezwungen, um die
Mittagszeit auszugehen.
Aber nun galt es wieder, im Vorübergehen das gierige Auge nicht eine Sekunde daran haften zu lassen, damit die Herrschaft des geistigen Menschen aufrechterhalten blieb, und so ging ich auch, anstatt unentschlossen zu schlendern, raschen Schrittes in eine öffentliche Gemäldesammlung, um dort die Zeit anständig mit Betrachtung der Meisterwerke zu verbringen, deren Urheber in ihren Lebtagen auch dies und jenes hatten erfahren müssen. Es gelang mir, die nagenden Naturkräfte während einiger Stunden zu bändigen und den zwischen ihnen und mir schwebenden Streithandel zu vergessen. Als die Säle geschlossen wurden, ging ich sogleich aus der Stadt und lagerte mich am Flusse in einem frischbelaubten Gehölze, wo ich in leidlicher Ruhe verborgen blieb, bis es dunkel war. Seit zwei langen Tagen an den unheimlichen Zustand schon etwas gewöhnt, beschlich mich eine traurige Geduld, welcher derselbe allenfalls erträglich schien, wenn es nur nicht ärger käme. Ich hörte, wie alle Vögel allmählich ihr Zwitschern einstellten und die Nachtruhe der Kreatur eintrat, während das Geräusch der fröhlichen Stadt herübersummte. Als aber in der Nähe plötzlich das Geschrei eines Vogels ertönte, der von einem Marder oder Wiesel erwürgt wurde, raffte ich mich auf und ging nach Hause.
Ähnlich verlief der dritte Tag, nur daß ich jetzt in allen Gliedern müde wurde,
langsamer dahinschlenderte und auch in meinen zerstreuten Gedanken zusehends
herunterkam. Eine
Erst jetzt wurde ich recht ärgerlich und etwas weinerlich und gedachte der Mutter, nicht viel anders als ein verlaufenes Kind. Wie ich aber dieser Geberin meines Lebens gedachte, fiel mir auch ihr höchster Schutzpatron und Oberproviantmeister, der liebe Gott, wieder ein, der mir zwar immer gegenwärtig war, jedoch nicht als Kleinverwalter. Und da in der Christenheit das objektlose Gebet damals noch nicht eingeführt war, so hatte ich mich auf der glatten See des Lebens aller solcher Anrufungen längst entwöhnt. Diejenige, nach welcher sich unmittelbar der unkluge Römer eingefunden, war meines Erinnerns die letzte gewesen.
In diesem Augenblicke der Not aber sammelten sich meine paar Lebensgeister und
hielten Ratsversammlung, gleich den Bürgern einer belagerten Stadt, deren Anführer
darniederliegt. Sie beschlossen, zu einer außerordentlichen verjährten Maßregel
Ein paar Minuten hielt ich die Augen geschlossen. Du wirst doch aufstehen müssen!
sagte ich mir und nahm mich zusammen. Wie ich nun so vor mich hinblickte, sah ich
aus einer Ecke des Zimmers einen kleinen Glanz herüberleuchten, wie von einem
goldenen Fingerring, nahe dem Boden. Es blinkte ganz seltsam und lieblich, da
sonst dergleichen Licht keines im Zimmer war. So stand ich auf, die Erscheinung zu
untersuchen, und fand, daß der Glanz von der metallenen Klappe meiner Flöte
herrührte, die seit Monaten ungebraucht in jener Ecke lehnte gleich einem
vergessenen Wanderstabe. Ein einziger Sonnenstrahl traf das Stückchen Metall durch
die schmale Ritze, welche zwischen den verschlossenen Fenstervorhängen
offengelassen war; allein woher, da das Fenster nach Westen ging und um diese Zeit
dort keine Sonne stand? Es zeigte sich, daß der Strahl von der goldenen Spitze
eines Blitzableiters zurückgeworfen war, die auf einem ziemlich entfernten
Hausdache in der Sonne funkelte, und so seinen Weg gerade durch die Vorhangspalte
fand. Indessen hob ich die Flöte empor und beschaute sie. Die brauchst du auch
nicht mehr! dachte ich, wenn du sie verkaufst, so kannst du wieder einmal essen!
Diese Erleuchtung kam wie vom Himmel, gleich dem Sonnenstrahl. Ich kleidete mich
an, trank ein großes Glas Wasser, an welchem ich keinen Mangel litt, und begann
die Flöte auseinanderzunehmen und die Stücke vom Staube sorgfältig zu reinigen.
Dann rieb
Es dauerte nicht lange, so stieß ich in einer Seitengasse auf den kleinen dunklen Laden eines Trödlers, hinter dessen Fenster ich neben etwas altem Porzellangeschirr eine Klarinette stehen sah; an dem andern Fenster hingen ein paar vergilbte Kupferstiche, in einem Rähmchen das verblichene Miniaturbildnis einer Militärperson in verschollener Uniform sowie eine Taschenuhr, auf deren Zifferblatt eine Schäferszene gemalt war. Hier ging ich hinein und fand inmitten seines Trödels ein seltsames ältliches Männchen, kurz und wohlbeleibt, in einen langen Hausrock gemummt und darüber noch eine weiße Frauenschürze vorgebunden. Auf dem rundlichen Kopfe trug er eine wunderliche Schirmmütze, die wie die Muschel des Papiernautilus gebaut war. Diese Figur stand eben über einen kleinen Kochherd gebückt und rührte in einem Topfe, als ich eintrat. Das Trödelmännchen sah auf und fragte mich nicht unfreundlich, was ich wünsche, worauf ich mit leiser Stimme sagte, ich hätte eine Flöte zu verkaufen. Neugierig öffnete er das Kästchen, gab es aber sogleich zurück und sagte: »Richten Sie einmal das Ding zusammen, so weiß ich ja nicht, was es ist!« Als ich die drei Bestandteile gehörig zusammengesetzt hatte, nahm er das Instrument in die Hand und betrachtete es von allen Seiten, sah auch darüber weg, ob es nicht etwa krumm oder verzogen sei.
»Warum wollen Sie's denn verkaufen?« fragte er, und ich meinte, weil ich's nicht
mehr haben wolle. »Aber tönt sie auch,
Ich blies eine Tonleiter, er wollte aber ein ganzes Stücklein hören; ich fing also, obschon mir nicht musizierlich zu Mut war, mit schwachem Atem die Arie aus der Freischützoper an:
Es war das erste Musikstück, das ich vor Jahren einst gelernt hatte und das mir daher jetzt am ehesten einfiel. Nicht nur aus Schwäche, sondern auch in einem wehmütigen Gefühle meiner Lage und der Erinnerung an jene sorglosen Zeiten fiel der Vortrag ein wenig tremulierend oder zitterhaft aus, und ich gelangte nur bis zum zehnten oder zwölften Takte. Allein das Männchen verlangte die Fortsetzung, und ich blies aus Furcht, der Handel könnte sich zerschlagen, in erbärmlicher Demütigung weiter, indessen der Trödler kein Auge von mir wandte. Ich kehrte mich ab und schaute mit bitter nassen Augen durch das Fenster.
Da blickte gleich einem Sonnenaufgang das schönste Mädchengesicht herein, heiter wie der Frühlingstag, lachte holdselig und klopfte mit feinbeschuhter Hand an die Scheibe. Es war ein offenbar vornehmes Frauenzimmer, und der Trödelgreis beeilte sich eifrig, das Fenster so weit zu öffnen, als es wegen der hinter demselben befindlichen Trödelware anging.
»Na, Mannerl, was haben's denn da für ein Konzert?« sagte sie im vertraulichen
Landesdialekt, den sie nur aus Freundlichkeit zu brauchen schien; dann aber, eh
das überraschte Männlein eine Antwort fand, fragte sie nach gewissen chinesischen
Tassen, die er zu liefern versprochen habe. Ich hatte mich inzwischen
»Schaffen's, daß ich die alten Tasserl bekomm, und jetzt können's mit der Musik fortfahren!« rief sie noch und verschwand mit anmutigem Gruße vom Fenster. Der Alte war von der unverhofften Erscheinung ganz aufgeregt; der Maienglanz dieses Gesichtes hatte ihn unzweifelhaft erwärmt und in die beste Stimmung versetzt.
»Die Flöten geht ja ganz ordentlich«, sagte er zu mir; »was wollen's denn dafür haben?«
Als ich nicht wußte, was ich fordern sollte, holte er einen und einen halben Gulden hervor, in zwei funkelneuen Stücken. »Sein's zufrieden damit?« sagte er, »machen's kein' Umständ, das ist ein schönes Geld!« Ich war zufrieden und dankte sogar in der Eile aufrichtig nach Maßgabe meines Rettungsgefühles, was in seinem Verkehre nicht oft vorkommen mochte. Er klopfte mir gemütlich auf die Achsel und ließ sich zeigen, wie die Flöte auseinanderzunehmen und in das Futteral zu legen sei. Das Kästchen stellte er sodann geöffnet hinter das Fenster.
Auf der Straße besah ich die beiden Münzen genauer, um mich nochmals zu
versichern, daß ich wirklich die Macht in der Hand halte, den Hunger zu stillen.
Der helle Silberglanz, der Glanz der vorhin gesehenen, noch nachwirkenden zwei
Augen und der Sonnenstrahl, der am Morgen kurz nach dem Gebete mir die vergessene
Flöte gezeigt hatte, schienen mir alle aus der nämlichen Quelle zu kommen und eine
transzendente Wirkung zu sein. Mit dankbarer Rührung, aller Lebenssorge ledig,
wartete ich die Mittagsstunde ab, überzeugt, daß der liebe Gott doch unmittelbar
geholfen habe. Es wird deswegen ja doch mit rechten Dingen zugehen, dachte ich in
meiner so hart
Nun aber säumte ich nicht länger, das gewohnte Speisehaus aufzusuchen, das ich seit einem Jahre nicht mehr betreten zu haben glaubte, so lang dünkten mich die drei Tage. Ich aß einen Teller kräftiger Suppe, ein Stück Ochsenfleisch mit gutem Gemüse und eine landesübliche Mehlspeise. Dazu ließ ich mir einen Krug Bier geben, das herrlich schäumte, und alles schmeckte mir so trefflich, wie wenn ich am feinsten Gastmahle gesessen hätte. Ein unverheirateter Arzt, der auch dort zu speisen pflegte, bemerkte freundlich, er habe vorhin geglaubt, ich sei krank, so übel sehe ich aus; allein da ich so frischen Appetit habe, so scheine es doch nicht gefährlich zu sein. Ich entnahm hieraus, daß ich mich wenigstens einer guten Gesundheit erfreute, woran ich bisher nicht gedacht hatte, und hiefür war ich der Vorsehung auch dankbar; denn einem kränklichen oder schwächlichen Gesellen hätte die Strapaze schlimmer ablaufen können.
Nach Tisch begab ich mich in ein Kaffeehaus, um dort bei einer Tasse schwarzen
Trankes auszuruhen und dabei die Zeitungen zu lesen und zu sehen, was in der Welt
vorging. Denn auch darin war ich die drei Tage wie in der Wüste gewesen, daß ich
mit niemand gesprochen und keinerlei Neuigkeit vernommen hatte. Ich fand auch
allerlei Nachrichten und Weltbegebenheiten, die sich in der Zeit angesammelt; über
dem behaglichen Lesen kehrten aber zusehends meine Leibes- und Verstandeskräfte
zurück, und als ich den Bericht las, wie in einer Stadtkirche das Volk
zusammenlaufe, weil ein Marienbild dort die Augen bewegen solle, kam ich betroffen
auf mein stilles Privatwunder zu denken und sagte mir nach einigem Besinnen, in
ganz verändertem Seelentenor, als ich vor
Und doch zögerte ich, mich der wohltuenden Empfindung einer unmittelbaren Vorsorge und Erhörung, eines persönlichen Zusammenhanges mit der Weltsicherheit zu entledigen.
Schließlich, um dieses Vorteils nicht verlustig zu gehen und doch das Vernunftgesetz zu retten, erklärte ich mir den Vorgang so, daß die anererbte Gewohnheit des Gebetes an die Stelle einer energischen Zusammenfassung der Gedankenkräfte getreten sei, durch die damit verbundene Herzenserleichterung jene Kräfte frei und sie fähig gemacht habe, das einfache Rettungsmittel, das bereitlag, zu erkennen oder ein solches zu suchen; daß aber eben dieser Prozeß göttlicher Natur sei und Gott in diesem Sinne ein für allemal die Appellation des Gebetes den Menschen delegiert habe, ohne im einzelnen Fall einzugreifen, auch ohne sich für den jedesmaligen unbedingten Erfolg zu verbürgen. Vielmehr habe er die Anordnung getroffen, daß, um den Mißbrauch seines Namens zu verhüten, Selbstvertrauen und Tatkraft, solange sie irgend ausreichen, Gebeteswert haben und vom Erfolge gesegnet sein sollen.
Noch heute lache ich weder über die Geringfügigkeit jener Not noch über den vorübergehenden Wunderglauben, noch über die pedantische Abrechnung, die demselben folgte. Ich würde die Erfahrung, einmal im Leben den starken Hunger gespürt zu haben, das Wunder des lieblichen Sonnenblickes nach dem Gebete und die kritische Auflösung desselben nach erfolgter Leibesstärkung nicht hergeben; denn Leiden, Irrtum und Widerstandskraft erhalten das Leben lebendig, wie mich dünkt.
Das Geldchen, das ich für die Flöte erhalten, reichte auch für einen zweiten Tag aus, da ich es klüglich eingeteilt hatte. Ich erwachte also diesmal ohne die Sorge, heute hungern zu müssen, und das war wiederum ein kleines, zum ersten Mal erlebtes Vergnügen, da diese Sorge mir früher unbekannt gewesen und ich erst jetzt den Unterschied empfand. Dies neue Gefühl, mich gegen den Untergang mangels Nahrung gesichert zu wissen, gefiel mir so gut, daß ich mich schnell nach weiteren Habseligkeiten umsah, die ich der Flöte nachsenden könne; ich entdeckte aber durchaus nichts Entbehrliches mehr als den bescheidenen Bücherschatz, der sich über meinen wissenschaftlichen Grenzüberschreitungen aufgestapelt und verwunderlicherweise noch vollständig beisammen war. Ich öffnete einige Bände und las stehend Seite auf Seite, bis es eilf Uhr schlug und Mittag heranrückte. Da tat ich mit einem Seufzer das letzte Buch zu und sagte: »Fort damit! Es ist jetzt nicht die Zeit solchen Überflusses, später wollen wir wieder Büchersammeln!«
Ich holte rasch einen Mann, der den ganzen Pack mit einem Stricke zusammenband, auf den Rücken schwang und mir auf dem Wege zu einem Antiquarius damit folgte. In einer halben Stunde war ich aller Gelehrsamkeit entledigt und trug dafür die Mittel in der Tasche, das Leben während einiger Wochen zu fristen.
Das dünkte mich schon eine unendliche Zeit; allein auch sie ging vorüber, ohne daß
meine Lage sich änderte. Ich mußte also auf eine neue Frist denken, um die Wendung
zum Bessern und den Glückesanfang abzuwarten. Die einen Menschen verhalten sich
unablässig höchst zweckmäßig, rührig und ausdauernd, ohne einen festen Grund unter
den Füßen und ein deutliches Ziel vor Augen zu haben, während es andern unmöglich
Das letzte, was ich außer meinen unverkäuflichen Bildern und Entwürfen besaß,
waren die mit meinen Naturstudien angefüllten Mappen. Sie enthielten fast den
ganzen Fleiß meiner Jugend und stellten ein kleines Vermögen dar, weil sie lauter
reale Dinge aufwiesen. Ich nahm zwei der besseren Blätter, von ansehnlichem
Format, welche ich schon im Freien als Ganzes abgeschlossen und in zufällig
glücklicher Weise leicht gefärbt hatte. Dieselben wählte ich, um wegen der
größeren Wirkung sicherzugehen, da ich keinen der oberen Kunsthändler, sondern das
freundliche Trödelmännchen heimzusuchen gedachte und von vornherein nicht einen
wirklichen Wert zu erhaschen hoffte. Vor seinem Geschäfts- und Wohnwinkel
angekommen, sah ich erst durch das Fenster und bemerkte die alten Gegenstände
dahinter, die Klarinette wie die Kupferstiche und Bildchen, dagegen nicht mehr das
Flötenkästchen. Dadurch ermutigt, trat ich bei dem Alten ein, der mich sogleich
erkannte und fragte, was ich Neues bringe. Er war günstig gelaunt und ließ mich
wissen, daß er jene Flöte längst verkauft habe. Als ich die Blätter entrollt und
auf seinem Tische so gut als möglich
Aber noch in meiner Anwesenheit befestigte der Kauz die unglücklichen Blätter an seinem Fenster, und ich machte, daß ich fortkam. Auf der Straße warf ich einen flüchtigen Blick auf das Fenster und sah die sonnigen Waldeinsamkeiten aus der Heimat wehmütig an diesem dunklen Pranger der Armut stehen.
Nichtsdestoweniger ging ich in zwei Tagen abermals mit einem Blatte zu dem Manne,
der mich munter und freundschaftlich empfing. Die zwei ersten Zeichnungen waren
nicht mehr zu sehen; das Männchen, oder Herr Joseph Schmalhöfer, wie er eigentlich
laut seinem kleinen alten Ladenschilde hieß, wollte aber keineswegs sagen, wo sie
geblieben seien, sondern verlangte zu sehen, was ich gebracht habe. Wir wurden
bald des Handels einig; ich machte zwar eine kleine Anstrengung,
Der ganze Inhalt meiner Mappen wanderte nun nach und nach in die Hände des immer
kaufbereiten Hökers. Er hing die Sachen nicht mehr ans Fenster, sondern legte sie
sorgfältig zwischen zwei Pappdeckel, die er mit einem langen Lederriem
zusammenschnallte. Ich bemerkte wohl, daß sich die Blätter, große und kleine,
farbige wie Bleistiftzeichnungen, zuweilen längere Zeit ansammelten, bis der
Behälter plötzlich wieder dünn und leer war; allein niemals verriet er mit einem
Worte, wohin meine Jugendschätze verschwanden. Sonst aber blieb sich der Alte
immer gleich; ich fand, solang ich ein Blatt zu verkaufen hatte, eine sichere
Zuflucht bei ihm, und endlich war ich froh, auch ohne Handelsverkehr etwa ein
Stündchen mit Geplauder bei ihm zu verbringen und seinem Treiben zuzusehen. Wollte
ich dann weggehen, so forderte er mich auf, nicht ins Wirtshaus zu laufen und das
Geldchen zu vertun, sondern an seinem Tische mitzuhalten, und erzwang es am Ende
auch. Übrigens war der allein lebende alte Gnom ein guter Koch und hatte stets ein
leckeres Gericht im Hafen auf dem Herde oder im Ofen seines düstern Gewölbes. Bald
briet er eine Ente, bald eine Gans, bald schmorte er ein kräftiges Gemüse mit
Schöpsenfleisch, oder er verwandelte billige Flußfische durch seine Kunst in
treffliche Fastenspeise. Als er mich eines Tages zu seiner Mahlzeit eingefangen
hatte, sperrte er plötzlich das Fenster auf, wegen der Wärme, wie er sagte, im
Grunde aber, um meinen Bettelstolz zu zähmen und mich den Vorübergehenden zu
zeigen. Das merkte ich an seinen schlauen Äuglein und scherzhaften Worten, womit
er die Anzeichen von Verlegenheit
Ich fragte auch nicht mehr darnach. Wie ich nun gestimmt war, gab ich gern alles hin für das kärgliche Brot, das die Welt mir gewährte, und empfand dabei die Genugtuung, es verschwenderisch zu bezahlen. Das konnte ich mir um so eher einbilden, als das wenige, das ich erhielt, der erste Gewinn war, den ich eigener Arbeit verdankte; denn nur der Gewinn aus Arbeit ist völlig vorwurfsfrei und dem Gewissen entsprechend, und alles, was man dafür einhandelt, hat man sozusagen selbst geschaffen und gezogen, Brot und Wein wie Kleid und Schmuck.
So erhielt ich mich ungefähr ein halbes Jahr, so wenig mir der Alte für die
mannigfaltigen Studienblätter und Skizzen gab; denn sie wollten fast kein Ende
nehmen, was freilich eines Tages dennoch geschah. Ich war aber nicht bereit,
sofort wieder zu hungern. Daher löste ich meine großen gefärbten oder grauen
Kartons von den Blendrahmen, zerschnitt jeden sorgfältig in eine Anzahl gleich
großer Blätter, die ich in einen Umschlag aufeinanderlegte, und trug diese
merkwürdigen, immer noch stattlichen Hefte eines nach dem andern zu dem Herren
Joseph Schmalhöfer. Er beschaute sie mit großer Verwunderung; sie sahen auch
wunderbar genug aus. Die große kecke Zeichnung, die ohne Ende durch alle die
Fragmente ging, die starken Federstriche und breiten Tuschen erschienen auf den
kleineren Bruchstücken doppelt groß und gaben ihnen als Teilen eines unbekannten
Als ich den Ertrag dieses letzten Verkaufes aufgebraucht hatte, war mein Latein für einmal wieder zu Ende. Versuchsweise ging ich zu dem Bild- und Kleiderhändler, um nach den zwei Ölbildern zu sehen. Sie hingen an der alten Stelle, und ich bot sie dem Manne zu Eigentum an auch für den bescheidensten Preis, den er ansetzen würde. Er war jedoch nicht geneigt, irgend etwas Bares dafür auszulegen, und ermunterte mich zur Geduld, wobei ich ja ein besseres Geschäft machen werde. Ich war das auch zufrieden und hatte somit immer noch eine kleine Hoffnung in der Welt hängen und einen schwebenden Handel. Von da ging ich weiter und kehrte bei meinem Schmalhöfer an, ihm einen guten Tag zu wünschen. Er blickte mir sofort auf die leeren Hände; ich sagte jedoch, ich hätte nichts mehr zu veräußern.
»Nur munter, Freundchen!« rief er und nahm mich bei der Hand; »wir wollen sogleich
eine Arbeit beginnen, die sich sehen lassen wird! letzt sind wir gerade auf dem
rechten Punkt, da darf nicht gefeiert werden!« Und er führte und schob mich in ein
noch dunkleres Verlies, das hinter dem Laden lag und sein Licht nur durch eine
schmale Schießscharte empfing, die in der
»In vierzehn Tagen«, lispelte und schrie der Alte abwechselnd, »wird die Braut des Thronfolgers in unsere Residenz einziehen! Die ganze Stadt wird geschmückt und verziert werden, Tausende und Abertausende von Fenstern, Türen und Gucklöchern werden mit Fahnen in unsern und den Landesfarben der Braut besteckt; Fahnen von jeder Größe werden die nächsten zwei Wochen die gesuchteste Ware sein! Schon ein paarmal hab ich die Unternehmung bestanden und ein gut Stück Geld verdient. Wer der erste, Schnellste und Billigste ist, hat den Zulauf. Drum frisch dran hin, keine Zeit ist zu verlieren! Habe mich schon vorgesehen und Stöcke machen lassen, weitere Lieferungen sind bestellt, das Zuschneiden des Tuches und das Nähen wird ebenfalls beginnen. Ihr aber, Freundchen, seid wie vom Himmel ausersehen, die Stangen anzustreichen! Bst! nicht gemuckst! Hier für diese großen gebe ich einen Kreuzer das Stück, für diese kleineren einen halben; von diesen ganz kleinen aber, welche für die Mauslöcher und Blinzelfensterchen der armen Reichsleute und Untertanen bestimmt sind, müssen vier Stück auf den Kreuzer gehen! Jetzt aber merkt auf, wie das zu machen ist, alles will gelernt sein!«
Er hatte schon mehrere Stänglein halb und ganz vorgearbeitet; nachdem der Stecken
mit der weißen Grundfarbe bestrichen, welche für beide Königreiche dieselbe war,
wurde er mit einer Spirallinie von der anderen Farbe umwunden. Der Alte legte eine
der grundierten Stangen in die Schießscharte, hielt sie in
Ohne mich einen Augenblick zu besinnen, ergriff ich einen Stab, legte ihn auf und versuchte neugierig die seltsame Arbeit, und bald ging sie gut vonstatten. Eifrig fuhr ich fort, bis um die Mittagszeit; als ich da aus dem Finsterloche hervortrat, fand ich den Alten zwischen drei oder vier Nähterinnen hausend, denen er das Fahnenzeug zumaß und hundert Lehren erteilte, wie sie zwar nicht liederlich, doch auch nicht zu gut nähen sollten, sondern so, daß die Arbeit rüstig vorrücke und die Fahnen dennoch zusammenhielten, wenn sie im Winde flatterten, ohne daß sie hinwiederum eine Ewigkeit zu dauern brauchten. Die Weiber lachten, und ich lachte auch, als ich hindurchging und das Männchen mir nachrief, in einer Stunde unfehlbar wieder dazusein. Das geschah, und ich brachte die folgenden Tage bis ans Ende mit der neuen Beschäftigung zu.
Draußen glänzte anhaltend der lieblichste Spätsommer; Sonnenschein lag auf der
Stadt und dem ganzen Lande, und das Volk trieb sich bewegter als sonst im Freien
herum. Der Laden des Meister Joseph war fortwährend angefüllt mit Leuten, welche
Fahnen holten oder bestellten, mit zuschneidenden und nähenden Mädchen, mit
Tischlern, die frische Stangen brachten; der Alte regierte und lärmte in bester
Laune dazwischen herum, nahm Geld ein, zählte Fahnen, und ab und zu kam er in das
Finsterloch herein, wo ich mutterseelenallein in dem
Er klopfte mir dann etwa sachte auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr: »So recht, mein Sohn! Dies ist die wahre Lebenslinie; wenn du die recht akkurat und rasch ziehen lernst, so hast du vieles erreicht!« In der Tat fand ich in dieser einfachen Beschäftigung allmählich einen solchen Reiz, daß mir die in dem Loch zugebrachten Tage wie Stunden vergingen. Es war die unterste Ordnung von Arbeit, wo dieselbe ohne Nachdenken und Berufsehre und ohne jeglichen andern Anspruch als denjenigen auf augenblickliche Lebensfristung vor sich geht; wo der auf der Straße daherziehende Wanderer die Schaufel ergreift, sich in die Reihe stellt und an selbiger Straße mitschaufelt, solang es ihm gefällt und das Bedürfnis ihn treibt.
Unablässig zog ich das gewundene Band, rasch und doch vorsichtig, ohne einen Klecks zu machen, einen Stab ausschießen zu müssen oder einen Augenblick durch Unschlüssigkeit oder Träumerei zu verlieren, und während sich die bemalten Stäbe unaufhörlich häuften und weggingen, während ebenso beständig neue ankamen, wußte ich doch jeden Augenblick, was ich geleistet, und jeder Stecken hatte seinen bestimmten Wert. Ich brachte es so weit, daß der ganz verblüffte Joseph mir schon am dritten Abend nicht weniger als zwei Kronentaler als Tagelohn auszahlen mußte, mehr, als er mir für die beste Zeichnung gegeben hatte. Erst sperrte er sich dagegen und schrie, er habe sich verrechnet, es sei nicht die Meinung gewesen, daß ich so viel an dem Zeug verdienen solle!
Ich dagegen verstand keinen Spaß und beharrte auf der Abrede mit der Behauptung, die erworbene Fertigkeit ginge ihn nichts an und er solle froh sein, wenn er dank derselben so viele Fahnen liefern könne; genug, ich fühlte mich hier ganz auf einem sichern Grunde und schüchterte das Männchen dermaßen ein, daß es sich schleunig zufriedengab und mich aufforderte, nur so fortzufahren, die Sache sei bestens im Gange.
Bis jetzt hatte ich das Geld immer offen in der Westentasche getragen; als ein angehender Geldhamster nahm ich mir nun vor, nie mehr ohne Beutel zu wirtschaften, und setzte eifrig meine ruhmlose und zufriedene Arbeit fort. Am Abend suchte ich dann irgendein entlegenes Gasthaus, setzte mich unter unbekanntes Volk und verzehrte ein spärliches Nachtmahl, welches ich, in meinem Beutel herumklaubend, bedächtig und vorsichtig bezahlte als einer, der weiß, woher es kommt.
Endlich war indessen der Einzugstag herangerückt. Noch in der letzten Stunde kamen einzelne ärmere oder knauserige Leute, ein Fähnchen oder zwei nach reiflichem Entschlusse zu holen, und feilschten um den Preis; dann wurde der Laden still und leer, der Alte zählte seine Einnahme, und vollauf damit beschäftigt, forderte er mich auf hinauszugehen, den festlichen Einzug der künftigen Herrscherin mit anzuschauen und mir gütlich zu tun.
»Sie machen sich wohl nichts daraus, wie?« fügte er hinzu, als er sah, daß ich
keine besondere Lust bezeigte; »sehen Sie,
Das fand ich billig und ratsam; ich durchstrich die Stadt, die sich mit einem Schlage ganz in Farben, Gold und grünes Laub gehüllt hatte, daß es von allen Enden flatterte und schimmerte. Durch die Straßen wogte eine ungezählte Menschenmenge, glänzende Reiterzüge, Fußvolk, Zünfte, Korporationen und Brüderschaften mit allen möglichen seltsamen Fahnen bewegten sich dem Tore zu, und außerhalb desselben, das ich mit durchschritt, ergoß sich dieses Freudenheer nach dem Weichbilde hin auf das freie Feld, in eine Volksmenge hinein, die es schon besetzt hielt, da Bauerschaften, ländliche Schulen, Schützen aus weitem Umkreise herangezogen waren. Dazwischen drängte sich ebenso zahlreich das zuschauende Publikum, mit welchem ich mich schieben ließ.
Plötzlich ertönte Geschützdonner, Glockengeläute über der weitgedehnten Stadt; Musikchöre, Trommelschlag und der betäubende Zuruf des Volkes verkündeten, daß die erwartete Fürstin herannahe. Ich sah im Glanze der Nachmittagssonne die Schwerter der voranrasselnden Reiter blinken und darauf in einem Blumenwagen das junge Frauenwesen vorüberschweben über den Köpfen der wogenden Menge, wie in einem Schiffe, das über ein rauschendes Meer gleitet, da ich weder Pferde noch Räder sehen konnte. Erst erfreute mich das ungeheuere Geräusch, dann aber belästigte es mich als etwas Fremdes und erweckte meine republikanische Eifersucht gegen die Macht eines monarchischen Lebens, mit dem ich nichts zu schaffen hatte, an welchem ich nichts mehren und nichts mindern konnte.
Freilich hast du geschafft und gemehrt! rief in mir die Stimme des politischen Gewissens, du hast seit Wochen davon gelebt und trägst sogar den Sündenlohn noch in der Tasche!
Die Vorstellung der Schweizerregimenter in fremden Diensten brachte wieder eine andere Phantasie hervor; ich sah im Geiste die mehreren Tausende der von mir gesprenkelten Fahnenstecken gleich einem unabsehbaren Zaune aufgestellt und mich als den Feldhauptmann der hölzernen Armee mitten vor derselben stehend, den ledernen Geldbeutel in der Hand. Der Vergleich dieses Ehrenpostens mit demjenigen eines weiland schweizerischen Marschalls im französischen oder hispanischen Heere schien zu mei nen Gunsten auszufallen, da wenigstens kein Tropfen Blut daran klebte. Mein Bewußtsein erheiterte sich wieder, sprach sich frei, und ich marschierte an der Spitze des Gewalthaufens meiner unsichtbaren Stangengeister durch die langsam zurückflutenden Massen nach der Stadt zurück.
Gemächlich wandelte ich nun durch die geschmückten Straßen und besah mir alle
Zierwerke und Veranstaltungen genauer; dann ging ich mit dem sinkenden Abend
wieder hinaus, wo alle Trinkstätten und Tanzgärten angefüllt waren. Ich hielt mich
aber nirgends auf, bis ich mit aufgehendem Monde zu einer mit hundertjährigen
Silberpappeln bewachsenen Flußinsel kam, in deren Mitte ein volkstümliches Zech-
und Tanzgebäude hell erleuchtet war und von Geigen, Pauken und Trompeten tönte. Da
suchte ich ein einsames Plätzchen unter den Bäumen und möglichst nah am Wasser,
dessen fließende Wellen im Mondlichte glänzten. Andere hatten jedoch den gleichen
Geschmack, und so ging ich vergeblich an manchen Tischen vorbei; zuletzt mußte ich
mich entschließen, an einem Platz zu nehmen, an welchem schon Leute saßen, einige
junge Frauenzimmer mit ihren Freunden oder Verwandten. Das Halbdunkel der hohen
Bäume war durch eine bunte Papierlaterne etwas erhellt, aber
Als ich, leicht den Hut rückend, mich niederließ, versicherten mich zwei der Mädchen, die zunächst saßen, mit schalkhaftem Lächeln, es sei für einen guten Bekannten und Arbeitsgenossen Raum genug vorhanden, und erst jetzt erkannte ich in ihnen zwei der Fahnennäherinnen aus Schmalhöfers Laden. Sie hatten sich gar anmutig herausgeputzt, und ich war überrascht, so hübsche Geschöpfe in ihnen zu finden, die ich während der ganzen Zeit kaum angesehen und gegrüßt, wenn ich durch den Laden in das finstre Loch ging oder aus demselben kam. Die ältere von ihnen stellte mich der Gesellschaft, welche aus jungen Arbeitsleuten verschiedener Profession zu bestehen schien, als Standesgenossen vor; denn sie hatten auch von dem Alten meinen Namen erfahren. Man hielt mich offenbar für einen wackern Tünchergesellen; die jungen Männer boten mir treuherzig ihre Bierkrüge dar, ich tat Bescheid, versah mich selbst mit einem Kruge, und froh, nach langer Einsamkeit unter Menschen zu sein, überließ ich mich der einfachen Geselligkeit, ohne meinen etwas höhern Rang zu verraten, was mir auch übel angestanden hätte.
Der kleine Kreis bestand aus drei Liebespaaren, an der Art kenntlich, wie sie sich
unbefangen umfaßt hielten. Zwischen Hoffnung und Furcht schwebend, dauernd
verbunden oder wieder getrennt zu werden, verloren sie keine Zeit, sich ihrer
Gegenwart zu versichern. Ein viertes Mädchen schien überzählig zu sein; denn es
saß ohne Galan zunächst an meiner Seite, vielleicht wegen zu großer Jugend, da es
höchstens siebzehn Jahre alt sein mochte. Ich hatte die glänzenden Augen der
Kleinen im Trödlerladen schon bemerkt, weil sie immer aufgeblickt, wenn man
durchging. Jetzt sah ich auch ihre außerordentlich feine Gestalt, in einen
ziemlich feinen weißen Sonntagsshawl gehüllt; auf dem Tische lag die zierlichste
kleine
Ich fragte sie, ob sie wirklich so heiße oder ob sie den Namen bloß angenommen habe, wie das bei Frauenzimmern des arbeitenden und dienenden Standes, dem wir angehörten, zuweilen vorkomme?
»Nein«, erwiderte sie, »ich habe den Namen nebst vier andern von meinen Eltern bei der Taufe erhalten. Es sind arme Schustersleute gewesen, die bei meiner Taufe weder einen Schmaus auszurichten noch solche Paten herbeizuziehen vermochten, von denen irgendein Angebinde zu hoffen war. Weil sie nun dennoch einen gewissen vornehmen Tick besaßen, so statteten sie mich dafür mit fünf Namen aus. Ich habe sie aber alle abgeschafft bis auf den kürzesten; denn da unsereins immer zu den Behörden laufen muß, um seine Beschreibung in Ordnung zu erhalten, so wurde ich von den Beamten jedesmal angefahren, ob meine Namen bald zu Ende seien oder ob sie vielleicht einen neuen Bogen anbrechen müßten, um sie alle aufzuschreiben.«
»Und Sie haben doch den schönsten von den fünf Namen behalten?« sagte ich, von dem Ernste belustigt, mit welchem sie die Geschichte erzählte.
»Nein, nur den kürzesten! Die andern waren alle länger und
Ich hatte meinen wohlgerundeten Geldbeutel auf den Tisch gestellt, um einen neuen Krug Bier zu zahlen, den man mir brachte, da ich durstig gewesen und mit dem ersten schon fertig geworden.
»Das ist mein Verdienst von den Fahnenstangen«, sagte ich, »ich werd's schon versorgen, wenn ich's nicht brauche!«
»Himmel! So viel haben Sie bei dem Alten verdient? Und ich hab's kaum auf vierzehn Gulden gebracht!«
»Ich hab es vom Stück, da kann man sich an den Laden legen und dem Patron die Nase lang machen!«
»Hört, Leute, der hat's vom Stück!« rief sie den anderen zu, »der verdient ein Geld! Wo stehen Sie eigentlich in Arbeit? oder sind Sie für sich?«
»Ich bin augenblicklich ohne Meister und denke es zu bleiben, solang es geht.«
»Es wird gewiß gehen, denn fleißig sind Sie ja von früh bis spät, das haben wir gesehen und oft zueinander gesagt! Wenn er nur nicht so hochmütig wäre, meinten die anderen, aber ich hielt dafür, Sie seien eher traurig oder langweilig. Haben Sie denn schon zu Nacht gegessen?«
»Noch nicht! Und Sie?«
»Auch noch nicht! Wissen Sie was, da ich allein bin, so könnten wir zusammenlegen und miteinander essen, dann stellen wir auch ein Pärlein vor!«
Ich fand diesen Vorschlag sehr angenehm und klug und wurde von einem Wohlgefühl
erwärmt, unversehens so gut untergebracht zu sein. Ich lud die artige Hulda daher
ein, mir das Traktament zu überlassen; allein sie tat es durchaus nicht anders als
auf gemeinschaftliche Kosten, und als das bestellte Essen anlangte, holte sie ein
anständig versehenes Täschchen hervor und ruhte nicht, bis ich ihren Anteil
hinnahm. So spiesen wir denn vertraulich und waren guter Dinge; nur wollte das
anziehende
»Weil sie die Woche hindurch sich fast nur von Kartoffeln nähren und davon genug bekommen!« erklärte sie. Ich drückte mein Mitleid aus, ohne zu gestehen, daß ich schon schlechtere Tage gesehen; denn das hätte mir ihre Achtung schwerlich erworben, wie ich wenigstens dachte.
Inzwischen war von der übrigen Gesellschaft bald das eine, bald das andere Paar zu einem Tanze in den Saal gegangen und wieder erschienen, wodurch unser Tisch abwechselnd leer oder wieder bevölkert wurde. Unerwartet kehrten jetzt zwei Paare in höchster Aufregung zurück und setzten am Tische einen Streit fort, der im Saale ausgebrochen sein mochte. Das eine der Mädchen weinte, die andere schalt, und die dazugehörigen jungen Männer hatten zu tun, den Sturm zu besänftigen und allerlei Angriffe von sich selbst abzuhalten.
»Da ist die Geschichte wieder los!« sagte Hulda; sich dicht an mich schmiegend, erzählte sie mir mit gedämpfter Stimme, das sei eine Liebschaft übers Kreuz. »Die eine hier hatte nämlich früher den andern zum Schatz und die andere diesen jetzigen; dann haben sie alle vier, hast du nicht gesehen, gewechselt, und es hat diese jenen und jene diesen zum Liebsten. Aber alle Fronfasten gibt's ein jammervolles Gewitter, daß beinah die Welt untergeht. Ein so überzwerches vierspänniges Zeug tut halt nicht gut, es dürfen nur zwei bei einer Sach sein!«
»Aber warum gehen sie denn zusammen, anstatt sich auszuweichen?«
»Das weiß Gott warum! Immer laufen's an die gleichen Orte hin und hocken beieinander, wie wenn sie behext wären!«
Das wurde denn auch ausgeführt; die ausgetauschten Paare kamen nach einem langen Tanze zurück, jedes der Mädchen am Arme seines alten Genossen; allein statt sich nun wieder zu trennen, nahmen beide neu ausgewechselten Parteien ihre Sachen zusammen und zogen, ohne ein Wort zu sagen, auf verschiedenen Wegen von dannen. Ganz verblüfft blickten wir Zurückbleibenden ihnen nach, bis sie verschwanden, und brachen dann in ein helles Gelächter aus. Nur Hulda schüttelte den Kopf und sagte: »Das Lumpenvolk!« In der Tat hatten sie in dem Tanze nicht die gehoffte sittliche Ausgleichung, sondern lediglich einen neuen Anreiz ihrer Willkür gefunden und mochten sich nun beeilen, nach so langer Trennung die Lustbarkeiten einer Wiedervereinigung zu genießen.
Bevor ich mich von meinem Erstaunen über die freien Sitten dieses einfachen
Völkchens erholt hatte, fühlte ich die weiche Hand des jungen Mädchens auf der
Schulter, das endlich auch einen Tanz zu tun begehrte. Obgleich ich nicht daran
gedacht, dergleichen Belustigung zu suchen oder zu finden, mußte ich dennoch
willfahren, da sie das als selbstverständlich ansah, auch Hut und Shawl schon der
Freundin anvertraute, die mit ihrem Gesellen noch da war. Erst im Lichte des
Tanzsaales, in der
Als durch das Ungeschick einiger Leute der Tanz ins Stocken geriet und Hulda an mich gedrückt wurde, verspürte sie meine klopfenden Pulse, legte die Hand an meine Brust, nickte mit großer Freundlichkeit und sagte: »Lassen's schaun, haben's wirklich ein Herz?«
»Ich glaube, ja!« antwortete ich und sah das liebreizende, ganz nahe Gesicht mit offenem Munde an. Sie nickte nochmals, und wir wollten in dem wieder gelösten Tanzwirbel dahinfahren, als Huldas Freundin uns fand, anhielt und ihr Hut und Tuch mit der Ankündigung übergab, sie wolle jetzt heimgehen, da sie in der Frühe wieder zur Arbeit müsse.
»Auch ich muß um sieben Uhr dahinter sein!« rief Hulda lachend; »denn ich habe wegen der Fahnenschneiderei meine gewohnte Kundschaft vertröstet und soll's nun nachholen! Aber ich mag doch nicht gleich jetzt nach Hause!«
»Nun, du kannst ja noch ein Weilchen bleiben«, sagte die andere, »unser guter
Bekannter und Freund geleitet dich nachher
Ich versprach gern, den Dienst zu übernehmen, worauf das letzte der Liebespaare sich verabschiedete, Hulda dagegen mit mir an den verlassenen Tisch zurückkehrte. Wir saßen nun allein unter den Silberpappeln; der Mond stand hoch am Himmel, uns daher nur noch durch den grauen Schimmer bemerkbar, der in den obersten Gewölben der Baumkronen lagerte; unten war es ziemlich dunkel, denn auch der Fluß glänzte nicht mehr an jener Stelle, und die Laterne war erloschen.
»Da wollen wir noch ein klein wenig ausruhen und dann auch gehen!« sagte sie und lehnte sich ohne Bedenken in meinen Arm, den ich um ihre Hüften legte. Ich zog indessen den Arm zurück, um ein Glas Punsch oder heißen Wein herbeizuschaffen. Allein sie verhinderte mich und stellte selbst die alte Lage wieder her.
»Nicht trinken!« sagte sie leis, »die Lieb ist eine ernstliche Sach und will nicht betrunken sein, auch wenn sie nur Scherz ist!«
»Was wissen Sie denn schon so viel von Liebe, schönstes Kind, das ja in der Tat fast noch ein Kind ist?«
»Ich? Gerade siebzehn Jahre bin ich! Seit fünf Jahren steh ich ganz einzig in der Welt und habe mich jeden Tag, vom zwölften Jahr an, mit Arbeit ehrlich erhalten und viel erfahren. Darum lieb ich die Arbeit, sie ist mir Vater und Mutter! Und nur eines gibt's, das ich ebenso liebhabe, nämlich die Liebe. Eher sterben als nicht lieben!«
»Ei, du süßes Zuckerbrot!« sagte ich und suchte den rosigen Mund zu erkennen, welcher solche Worte hervorbrachte.
»Bin ich?« flüsterte Hulda; »glaubten Sie, ich sei von dem Holz, aus welchem man Essig macht? Schon zwei Liebhaber sind in diesem Herzen gewesen!«
»Himmel, schon zwei! Wo sind sie hin?«
»Nun, der erste war noch zu jung und hier in der Fremde;
»Und läuft dieser hier in der Stadt herum?«
»Leider nicht, denn er ist eingesperrt, weil er etwas Schlechtes verübt hat, als ich ihm nichts mehr gab. Darüber hab ich mich so geschämt und gegrämt, daß ich ein halbes Jahr lang niemand anzusehen wagte!«
»Aber jetzt kann's wieder angehen?«
»Gewiß! Wer wollte sonst leben?«
Ich wurde immer verwirrter, das jugendliche Geschöpf mit solchem Bewußtsein, solcher Bestimmtheit und Leichtfertigkeit sprechen zu hören, eine so zarte, zerbrechliche Existenz sich erklären zu hören, daß sie in Arbeit und Liebe aufgehe und sonst nichts von der Welt begehre. Und doch war es wiederum wie eine Erscheinung aus der alten Fabelwelt, die ihr eigenes Sittengesetz einer fremden Blume gleich in der Hand trug. Es wurde mir zu Mut, als ob eine wirkliche Huldin sich aus der Luft verdichtet hätte und mit warmem Blute in meinen Armen läge.
Unser Reden war bereits ein leises Kosen geworden; nach einem Weilchen flüsterte sie mir zu: »Und wie steht es denn mit Ihnen? Sind Sie frei?«
»Leider ganz und gar seit Jahren!«
»Nun denn, so lassen Sie uns ganz still und gemächlich eine Bekanntschaft anfangen und ruhig sehen, wohin sie uns führt!«
Diese prosaisch gemeinen Gewohnheitsworte sagte sie aber mit der Stimme und dem
Ausdrucke eines Mägdleins, das sein erstes Geständnis preisgibt, oder
gewissermaßen mit dem Tone eines jener unsterblichen Wesen, das die Gestalt einer
armen Dienstmagd angenommen hat, um in ewiger Jugend und Neuheit
»Nun wollen wir gehen!« sagte sie; »wenn Sie so gut sein wollen, mich bis zu meiner Wohnung zu begleiten, so sehen Sie das Haus. Sonnabends kommen Sie so um die neun Uhr vor dasselbe, und wir reden alsdann ab, was wir sonntags beginnen wollen. Die Woche durch aber schaffen wir still und zufrieden drauflos! O wie lieb ist die Arbeit, wenn man dabei an was Liebes zu denken hat und sicher ist, am Sonntag mit ihm zusammen zu sein. Und wenn wir erst so weit sind, daß wir im Stübchen bleiben und uns zusammentun, so mag es regnen und stürmen, wir sitzen ruhig und lachen den Himmel aus!«
»Aber woher weißt du denn, du gutes liebes Kind, daß alles so erwünscht ausfallen und gehen wird, was mich betrifft? Woher kennst du mich denn?«
»Da sei ohne Sorge, ich kenne dich schon so ein wenig, und etwas wagen muß das Herz und früh auf sein, wenn es leben will! Wenn du wüßtest, was ich schon gesehen und erfahren habe! Und wenn es dir an Arbeit fehlen sollte, so kann ich sie dir verschaffen, ich komme weit herum und höre und sehe mehr, als mancher glaubt!«
Sie hatte sich an meinen Arm gehängt und ging fest und munter neben mir her, ein kleines Liebeslied summend und immer dasselbe wiederholend. Ich traute meinen Sinnen kaum, mitten in der Not und Bedrängnis, in die ich geraten war, auf der vermeintlich dunkelsten Tiefe des Daseins so urplötzlich vor einem Quell klarster Lebenswonne, einem reichen Schatze goldenen Reizes zu stehen, der wie unter Schutt und dürrem Moose verborgen hervorblinkte und schimmerte!
»Was studieren Sie denn so fleißig?« sagte Hulda, ihr Liedchen unterbrechend.
»Nun, ich betrachte mir eben das schöne Glück, das ich so unverhofft gefunden habe! Darüber darf man doch ein bißchen erstaunt sein?«
»Ei, was sind das für aufgeputzte Worte! Wie aus einem Lesebuch! Aber wenn ich es bedenke, so hab ich schon ein paarmal gemeint, du redest und tätest nicht wie ein richtiger Arbeitsgesell. Du hast vielleicht schon bessere Zeit gehabt und eigentlich nicht ein Handwerker werden sollen?«
»Ja, es ist so was! Aber nun bin ich zufrieden, besonders heut!«
»Komm, komm!« sagte sie, umhalste mich und küßte mich mit süßester Innigkeit, daß ich wie im Rausche weiter mit ihr ging; denn unser Weg war lang.
Ich hatte aber meine vorhinnigen Worte nicht gelogen, sondern setzte sie in Gedanken fort:
Warum sollst du nicht untertauchen in diese glückselige Verborgenheit, allem ideal- und ruhmsüchtigen Treiben entsagend? Warum solltest du nicht gleich morgen wieder solcher Arbeit nachgehen, wie du seit Wochen verrichtet hast, ein Arbeiter unter Arbeitern sein, deines bescheidenen Brotes jeden Tag gewiß und jeden Abend deine stille Ruhe findend an diesem zarten Busen, der einer so langen Jugend entgegenblüht? Schlichte Arbeit, goldene Liebe bei zufriedenem Brot, was willst du mehr! Und kann am Ende nicht noch etwas Besseres dabei herauskommen, insofern es irgend zu wünschen ist?
Als wir endlich vor der Haustüre der Hulda anlangten, war ich überzeugt, ein
echtes und glückhaftes Abenteuer erlebt zu haben, und versprach, am nächsten
Samstagabend unfehlbar
Der Mond näherte sich seinem Untergange. Ein starker Wind bewegte die Tausende von Fahnen in den stillgewordenen Straßen, daß es überall, in der Tiefe und auf der Höhe der Häuser und Türme, wallte und flatterte, wie von Geisterhänden bewegt. Aber auch in meinem Innern, durch alle Adern wogte und rauschte erst jetzt die erwachte Leidenschaft, wild und sanft, süß und frech zugleich, die Hoffnung, ja Gewißheit, in wenigen Tagen von einem Schatze geheimer Glücksgüter Besitz zu nehmen, die ich mir vor Stunden noch nicht hätte träumen lassen.
So kehrte ich in meine verödete Wohnung zurück, die ich seit der letzten Morgenfrühe nicht mehr betreten hatte.
Der Tod war in dem Hause eingekehrt, in welchem ich wohnte; ich mußte ihm
sozusagen auf der Treppe begegnet sein. Am Nachmittage war die Wirtin in die
Wochen gekommen, und nun lag sie mit zerstörtem Leben in der matt erleuchteten
Stube neben einem toten Kinde. Ich mußte an der offenen Türe vorübergehen; eine
Wehmutter und eine Nachbarin räumten auf und beschwichtigten die weinenden Kinder,
die aus ihrer Schlafkammer hervorgebrochen waren. Auf einem Stuhle saß der kurz
vor mir heimgekehrte Mann, der seit dem Mittage den Aufzügen und Lustbarkeiten
nachgegangen und erst kurz vor mir angekommen, da man ihn an den gewohnten Orten
nirgends hatte finden können. Er übte seinen Beruf außer dem Hause auf mir
unbekannte Art, und was er verdiente,
Nun saß der Mann wortlos, ratlos und bleich mitten in dem Jammer; denn die Röte der herumschweifenden Heiterkeit war gründlich aus seinem Gesichte gewichen, und statt den Schlaf suchen zu können, mußte er wach bleiben, ohne zu nützen oder zu helfen. Er betrachtete mit scheuem Blicke das in ein Tüchlein gewickelte undeutliche Wesen, welches in einem Getümmel von Schmerzen und Leiden vergangen war, noch eh es den Tag gesehen. Er schüttelte schaudernd den Kopf und schaute auf die Mutter; die lag starr und teilnahmlos, wie es einer erfahrenen Toten geziemt; weder Mann noch Kinder noch Nachbaren rührten sie; selbst das Kleine an ihrer Seite ging sie nichts an, trotzdem sie vor kurzem noch ihr Leben für dasselbe geopfert hatte.
Die Kinder, welche während der Todesnot eingesperrt und vernachlässigt worden, hungerten und schrieen mitten in ihren erbärmlichen Klagen um die Mutter nach Nahrung, bis der Mann sich aufraffte und mit gelähmten Gliedern herumtastete, wo die Frau die letzte Speise mochte besorgt oder gelassen haben. Er sah sich unfreiwillig nach ihr um, als ob sie rufen müßte Dort geh hin, da steht die Milch, dort liegt das Brot, in der Mühle steckt noch der Kaffee! Sie sagte aber nichts.
Erschüttert trat ich dem Jammer näher und fragte, ob ich irgend etwas tun könne.
Eine der Frauen sagte, die Ärzte hätten die sofortige Überführung nach dem
Leichenhause anbefohlen; es wäre gut, wenn die Leichen gleich in der Frühe geholt
würden, allein niemand sei da, wenn der Mann nicht hingehe, die Bestellung zu
machen. Ich anerbot mich, die Sache zu verrichten, und zog zehn Minuten später die
Glocke an der Wachstube des Todes. Nachdem ich dem Wächter das Nötige mitgeteilt,
blickte ich durch eine Glastüre in den Saal, wo sie von allen Ständen und
Lebensaltern ausgestreckt lagen, wie Marktleute, die den Morgen erwarten, oder
Auswanderer, die am Hafenplatz auf ihren Siebensachen schlafen. Darunter sah ich
Derselbe war aber stürmisch bewegt und unerquicklich. Bald von den traurigen Vorgängen im Hause geweckt, bald von halbwachen Traumbildern umfangen, in denen Lebendiges und Grabfertiges, buhlende Liebesworte und Totenklagen sich unablässig vermischten, atmete ich auf, als es Tag wurde und ich wenigstens meine Gedanken sammeln konnte.
Sie gerieten jedoch sofort miteinander in Streit; denn als ich mich aufrichtete und, die Hand an der Stirne, mich besann, was eigentlich geschehen und was ich zunächst tun wollte, schwankte ich, ob ich vor den ernsten Todesschatten, die mich gewarnt, zurückweichen oder dem Liebesbild dennoch folgen solle, das mich in Gestalt der arbeitenden Armut lockte. Die Verlockung blieb siegreich; es schien mir gerade das Beste zu sein, an dem weichen Busen eines jungen Lebens Trost und Vertrauen und mich selbst wiederzufinden, und je ernster das Gewissen warnte, in solcher Lage den Liebeshandel anzufangen und ein so bedenkliches Bündnis einzugehen, desto reichlicher flossen die Gründe des Worthaltens, der Ehre und Tapferkeit für die Ausführung des Vorsatzes. Ich beschloß sogar, das reizvolle Geschöpf schon am nächsten Abend aufzusuchen statt erst zu Ende der Woche, vorher aber den alten Trödler zu beraten, ob er mir ferner dergleichen anspruchlose Beschäftigung zuzuwenden wisse wie neulich.
So schritt ich mit lebensdurstigen Augen und Lippen aus der Trauerwohnung hinweg,
aus welcher schon vor Stunden die Leiche der Mutter und ihres letzten Kindes
fortgebracht worden. Ich achtete nicht der verlassenen Kleinen, die bei offener
Türe still an einem Häuflein saßen. Wie ich dann aus dem Hause trat und die Straße
hinuntereilte, stieß ich auf einen
Erfreut und erschrocken zugleich erkannte ich einen benachbarten Handwerksmann unserer Stadt, der vor Jahren ungefähr um die gleiche Zeit mit mir in die Fremde gewandert, längst zurückgekehrt und Meister geworden, sein väterliches Geschäft übernommen und ausgedehnt hatte und jetzt auf der Hochzeitsreise begriffen war. Die machte er aber nicht ohne klügliche Nebenzwecke, da die wohlhabende Bürgerstochter, die er als Gattin am Arme führte, ihm die Mittel für alle ersprießlichen Unternehmungen zugebracht.
Er richtete mir mm die Grüße meiner Mutter aus, die er zu diesem Zwecke vor der Abreise besucht hatte. Sie war mit einiger Beschämung gezwungen gewesen, dem Nachbaren zu gestehen, daß sie nicht einmal bestimmt wisse, wo ich sei oder ob ich noch am alten Orte wohne; doch wünschte sie um so sehnlicher Nachricht zu erhalten. Ich aber war ebenso verlegen, viel nach ihr zu fragen, weil ich dadurch verriet, daß ich nichts von ihr wisse; doch widerstand ich dem Bedürfnisse nicht lang und fragte fleißig, was mich zu erfahren verlangte.
»Nun, wir sprechen noch von allem«, sagte der Landsmann, indem er mich aufmerksamer betrachtete. »Ihr habt Euch aber doch ziemlich verändert, nicht wahr, Frau? Du hast doch den Herrn Heinrich früher auch gekannt?«
»Ich glaube mich zu erinnern, obgleich ich damals noch ein Schulkind war!«
erwiderte sie, während mir ihre ausgewachsene Fraulichkeit als vollkommen fremd
erschien. Indessen fühlte ich, wie ihr Auge die geringe Pracht meines Anzuges
überlief,
»So dürfen wir Sie einladen, den Tag mit uns zuzubringen? Wir sind schon gestern angekommen; da hab ich aber Geschäfte besorgt. Morgen früh reisen wir weiter, so werden Sie mit uns nicht eben viel Zeit verlieren; denn wir möchten Sie in Ihren Arbeiten keineswegs aufhalten!«
Der gute Landsmann ahnte nicht, wie schmerzlich mich diese Rede traf; ich versicherte ihn jedoch, es habe keine Gefahr und ich sei nicht so übermäßig fleißig. Nachdem ich sodann das Reisepaar während einiger Stunden herumgeführt, ging ich mit den Leutchen in das bürgerlich bescheidene Gasthaus, in welchem sie Quartier genommen, und teilte mit ihnen das Mittagsmahl. Die langentbehrte Gewohnheit, in der Mundart des Heimatlandes und von altvertrauten Dingen zu reden, ließ mich die Gegenwart um so leichter vergessen, als eine Flasche guten Rheinweines ihren Duft verbreitete. Das ruhig freundliche Benehmen des Paares, das durch keinerlei lästige Zärtlichkeiten seinen neuen Ehestand verriet, vermehrte das Behagen, welches mich wie ein flüchtiger Sonnenblick überkam aus schwül bewegtem Wolkenhimmel.
Als nun der Landsmann eine zweite Flasche bestellte und die übrigen Gäste die Wirtstafel verlassen hatten, zog sich die junge Frau in ihr Zimmer zurück, um sich ein wenig auszuruhen, wie sie sagte. Wir andern wurden um so gesprächiger, bis der gute Nachbar sich selbst unterbrach und, nach wohlgemeinten Worten suchend, begann:
»Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr Lee, daß Ihre Mutter sehr Ihrer Rückkunft
bedarf, und ich würde Ihnen raten, so bald als möglich heimzukommen; denn während
die brave
Er ergriff sein Glas und stieß mit mir auf das Wohl von Heimat und Mutter an, besann sich ein weniges und fuhr fort:
»Vorlaute und unverständige Weibsen und auch ebensolche Männer in unserer Stadt, wo es ruchbar geworden, daß Ihre Mutter gewisse Summen an Sie gewendet und ihr eigenes Auskommen bedeutend dadurch geschmälert hat, ließen es sich einfallen, dieselbe hinter ihrem Rücken hart zu tadeln und auch ungefragt ihr ins Gesicht zu sagen, daß sie unrecht getan und sowohl ihrem Sohne schlecht gedient als sich selbst überhoben habe. Jeder, der die Frau kennt, weiß, daß alles eher als dieses der Fall ist; aber das unverständige Geschwätz hat sie vollends eingeschüchtert, daß sie fast mit niemand zusammenkommt und so in Einsamkeit und Selbstverleugnung dahinlebt.
Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt; sie spinnt jahraus und – ein, als
ob sie sieben Töchter auszusteuern hätte, damit doch mittlerweile etwas
angesammelt würde, wie sie sagt, und wenigstens der Sohn für sein Leben lang und
für sein ganzes Haus genug Leinwand finde. Wie es scheint, glaubt sie durch diesen
Vorrat weißen Tuches, das sie jedes Jahr weben läßt, Ihr Glück herbeizulocken,
gleichsam wie in ein aufgespanntes Netz, damit es durch einen tüchtigen Hausstand
ausgefüllt werde, wie die Gelehrten und Schriftsteller etwan durch ein Buch weißes
Papier gereizt werden sollen, ein gutes Werk darauf
Bei diesem letztern Vergleich des wackern Redners konnte ich mich eines bittern Lächelns nicht enthalten. Das schien ihm wohl die Richtigkeit seiner Vermutungen zu bestätigen, und er fuhr fort:
»Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und blickt unverwandt in das Feld hinaus, über die Dächer weg oder in die Wolken; wenn es aber dämmert, so läßt sie das Rad stillstehen und bleibt so im Dunkeln sitzen, ohne Licht anzuzünden, und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt, so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen, wie sie immer gleicherweise ins Weite schaut.
Wahrhaft melancholisch aber ist es anzusehen, wenn sie die Betten sonnt; anstatt sie mit Hilfe anderer auf unsern Platz hinzutragen, wo der große Brunnen steht, schleppt sie dieselben auf das hohe schwarze Dach Eures Hauses, breitet sie dort an der Sonnenseite aus, geht emsig auf dem abschüssigen Dache umher, ohne Schuhe zwar, aber bis an den Rand hin, klopft die Kissen und Pfühle aus, kehrt sie, schüttelt sie und hantiert so seelenallein in der Höhe unter dem offenen Himmel, daß es höchst verwegen und sonderbar anzusehen ist, zumal wenn sie innehaltend die Hand über die Augen hält und droben in der Sonne stehend nach der Ferne hinausblickt. Ich konnt es einst nicht länger ansehen von meinem Hofe aus, wo ich bei den Gesellen stand; ich ging hinüber, stieg bis unter das Dach hinauf und hielt unter der Luke eine Anrede an sie, indem ich ihr die Gefahr ihres Tuns vorstellte. Sie lächelte aber nur und bedankte sich für die gute Meinung. Es ist daher meine Ansicht, daß Sie nach Haus reisen sollten, je eher, je lieber! Kommen Sie gleich mit uns!«
Ich schüttelte aber den Kopf; denn ich konnte mich nicht entschließen, meinen
Schiffbruch kundzutun und so aus der Schule
Dennoch hatte das Bild der in die Ferne schauenden Mutter ein starkes Gefühl von Heimweh wachgerufen, das mich bisher nur im Schlafe besuchte. Seit ich nämlich die Phantasie und ihr angewöhntes Gestaltungsvermögen nicht mehr am Tage beschäftigte, regten sich ihre Werkleute während des Schlafes mit selbständigem Gebaren und schufen mit anscheinender Vernunft und Folgerichtigkeit ein Traumgetümmel in den glühendsten Farben und buntesten Formen. Ganz wie es wiederum jener irrsinnige Meister und erfahrene Lehrer mir vorausgesagt, sah ich nun im Traume bald die Vaterstadt, bald das Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert, ohne je hineingelangen zu können, oder, wenn ich endlich dort war, mit einem plötzlichen freudelosen Erwachen. Ich durchreiste die schönsten Gegenden des Vaterlandes, die ich in Wirklichkeit nie gesehen, schaute Gebirge, Täler und Ströme mit unerhörten und doch wohlbekannten Namen, die wie Musik klangen und doch etwas Lächerliches an sich hatten.
Über den Mitteilungen des Landsmannes waren mir das Mädchen Hulda von gestern
abend und die heutigen Morgenpläne aus dem Gedächtnisse geschwunden; ermüdet eilte
ich den Schlaf zu suchen und verfiel auch gleich wieder dem geschäftigen
Traumleben. Ich näherte mich der Stadt, worin das Vaterhaus lag, auf merkwürdigen
Wegen, am Rande breiter Ströme, auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock
trug, so daß das Wasser kaum durch den ziehenden Rosenwald funkelte. Am Ufer
pflügte ein Landmann mit milchweißen Ochsen und goldenem Pfluge, unter deren
Tritten große Kornblumen
Ich jagte aber den Goldfuchs auf, bestieg ihn, da er schön gesattelt war, ritt
beschaulich am Ufer hin und sah, wie der Bauersmann in die schwimmenden Rosen
hineinpflügte und mit seinem Gespann darin versank. Die Rosen nahmen ein Ende,
zogen sich zu dichten Scharen zusammen und schwammen in die Ferne, am Horizonte
eine Röte ausbreitend; der Fluß aber erschien jetzt als ein unermeßliches Band
fließenden blauen Stahles. Der Pflug des Landmannes hatte sich inzwischen in ein
Schiff verwandelt; darin fahr derselbe, steuerte mit der goldenen Pflugschar und
sang: »Das Alpenglühen rückt aus und geht um das Vaterland herum!« Hierauf bohrte
er ein Loch in den Schiffsboden; darein steckte er das Mundstück einer Posaune,
sog kräftig daran, worauf es mächtig erklang gleich einem Harsthorn und einen
glänzenden Wasserstrahl ausstieß, der den herrlichsten Springbrunnen in dem
fahrenden Schifflein bildete. Der Bauer nahm den Strahl, setzte sich auf den Rand
Dann hieb der dicke Tell mit dem Schwerte von der Schiffswand, die nun eine Speckseite war, einen tüchtigen Span herunter und trat mit demselben feierlich in die Kajüte, einen Imbiß zu halten.
Indessen ritt ich auf dem Goldfuchs weiter und befand mich unversehens mitten in
dem Dorfe, darin der Oheim gewohnt. Ich erkannte es kaum wieder, da fast alle
Häuser neu gebaut waren. Die Bewohner saßen alle hinter den hellen Fenstern um die
Tische herum und aßen, und niemand blickte auf die menschenleere Straße. Dessen
war ich aber höchlich froh; denn erst jetzt entdeckte ich, daß ich auf meinem
glänzenden Pferde in alten anbrüchigen Kleidern saß. Ich bestrebte mich daher,
ferner ungesehen hinter das Haus des Oheims zu gelangen, das ich fast nicht finden
konnte. Zuletzt erkannte ich es, wie es über und über mit Efeu bewachsen und
außerdem von den alten Nußbäumen überhangen, so daß weder Stein noch Ziegel
Da berührte ein Hauch meine Wangen, und Anna stand vor mir und führte mich in das Haus. Ich stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der Oheim, die Tante, die Basen und Vettern sämtlich versammelt waren. Aufatmend sah ich mich um die alte Stube war sonntäglich geputzt und so sonnenhell, daß ich nicht begriff, wo all das Licht durch den dichten Efeu hindurch herkomme. Oheim und Tante waren in ihren besten Jahren, die Bäschen und Vettern blühender als je, der Schulmeister ebenfalls ein schöner Mann und aufgeräumt wie ein Jüngling, und Anna sah ich als Mädchen von vierzehn Jahren im rotgeblümten Kleide mit der lieblichen Halskrause.
Was aber sehr sonderbar war, alle, Anna nicht ausgenommen, trugen lange irdene
Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Tabak, und ich
desgleichen. Dabei standen sie, die Verstorbenen und die Lebendigen, keinen
Augenblick still, sondern gingen mit freundlich frohen Mienen unablassig die Stube
auf und nieder, hin und her, und dazwischen
Der schwere Nußbaumtisch auf seinen gewundenen Füßen war mit einem weißen Damasttuche gedeckt und mit einem aufgerüsteten duftenden Hochzeitessen besetzt. Mir wässerte der Mund, und ich sagte zum alten Oheim: »Ei, ihr scheint euch da recht wohl sein zu lassen!« – »Versteht sich!« erwiderte er, und alle wiederholten: »Versteht sich!« mit angenehm klingenden Stimmen. Plötzlich befahl der Oheim, daß man zu Tische sitze; alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden, je drei und drei, wie Soldaten ihre Gewehre. Darauf schienen sie schon wieder zu vergessen, daß sie essen gewollt; denn sie gingen zu meinem Verdrusse nach wie vor umher und fingen allmählich an zu singen:
Weiber und Männer sangen mit rührender Harmonie und Lust, und das Hallo stimmte
der Oheim mit gewaltiger Stimme an, daß die ganze Schar mit verstärktem Gesange
darein tönte und rauschte und zugleich, blaß und blässer werdend, sich in einen
wirren Nebel auflöste, während ich bitterlich weinte und schluchzte. Ich erwachte
in Tränen gebadet, und auch das Kopfkissen
In einem großen Walde fand ich mich wieder und ging auf einem wunderlichen
schmalen Brettersteige, welcher sich hoch durch die liste und Baumkronen wand,
eine Art endlosen hängenden Brückenbaues, indessen der bequeme Boden unten nach
richtiger Traumesart unbenutzt blieb. Aber es war schön, hin abzuschauen auf den
Waldgrund, da er ganz aus grünem Moose bestand, das in tiefer Dunkelheit lag. Auf
dem Moose wuchsen viele einzelne sternförmige Blumen auf schwankem Stengel, und
sie wendeten sich immer nach dem oben gehenden Beschauer; bei jeder Blume stand
ein kleines Erdmännchen oder Moosweiblein, das mittelst eines in goldenem
Laternchen strahlenden Karfunkels die Blume beleuchtete, daß sie aus der Tiefe
heraufschimmerte wie ein blauer oder roter Stern, und indem sich diese
Blumengestirne, welche oft in schönen Bildern zusammenstanden, langsamer er oder
schneller drehten, gingen die winzigen Leutchen mit ihren Laternchen um sie herum
und lenkten sorgfältig den Lichtstrahl auf die Kelche. So sah sich das kreisende
Leuchten in der Tiefe von dem hohen Balken
Entzückt ging ich auf der Hängebrücke weiter und schlug mich tapfer durch die
Buchen- und Eichenkronen, da ich begriff, ein so zierlicher Grund und Boden sei
nicht dazu da, darauf mit Füßen zu wandeln. Manchmal kam ich in eine Föhrengruppe
hinein, welche etwas lichter war; das rote, von der Sonne durchglühte, stark
duftende Holzwerk der Fichtenkronen bot einen fabelhaften Anblick und Aufenthalt,
weil es wie künstlich bearbeitet, gezimmert und mit seltsamem Bildwerk verziert
schien und doch ein natürliches Ästewesen war. Manchmal führte der Steg auch ganz
über die Bäume hinweg unter den offenen Himmel und Sonnenschein, und ich stellte
mich auf das schwanke Geländer, um zu sehen, wo es eigentlich hinausginge; allein
nichts war zu erblicken als ein endloses Meer von grünen Baumwipfeln, so weit das
Auge reichte, auf dem ein heißer Sommertag flimmerte und Tausende von wilden
Tauben, Hähern, Mandelkrähen, Spechten und Weihen herumschwärmten, und das
Wunderbare war nur, daß man auch die allerfernsten Vögel deutlich erkannte und
ihre Gestalt und Farben unterscheiden konnte. Nachdem ich mich sattsam umgeschaut,
blickte ich wieder in die dunkle Tiefe, wo ich jetzt eine Felsschlucht entdeckte,
die für sich allein von der Sonne erhellt war. Auf dem tiefsten Grunde lag eine
kleine Wiese an einem klaren Bache; mitten auf derselben saß auf ihrem kleinen
Strohsessel meine Mutter in einem braunen Einsiedlerkleide und mit eisgrauen
Haaren. Sie war alt und gebeugt, und ich konnte ungeachtet der fernen Tiefe jeden
ihrer Züge genau erkennen. Mit einer grünen Rute hütete sie eine kleine Herde
Silberfasanen, und wenn einer weglaufen wollte, schlug sie leise auf seine Flügel,
worauf einige glänzende Federn emporschwebten und in der Sonne spielten. Am
Bächlein aber stand ihr Spinnrad, das rings mit Schaufeln versehen und eigentlich
ein kleines Mühlrad war und sich blitzschnell drehte. Sie spann nur mit
Da ersah sie mich in der Höhe wie in der Luft schwebend und sehnlich zu ihr hinabblickend. Sie stieß einen lauten Freudenruf aus und huschte wie ein Geist davon über Fels und Stein, ohne zu gehen, daß sie mir immer ferner zu entschwinden drohte, während ich vergeblich rufend nacheilte und der Steg sich bog und krachte, die Baumkronen schwankten und rauschten.
Da war der Wald aus, und ich sah mich auf dem Berge stehen, welcher der
Heimatstadt gegenüberliegt; aber welchen Anblick bot diese! Der Fluß war zehnmal
breiter als sonst und glänzte wie ein Spiegel; die Häuser waren alle so groß wie
sonst die Münsterkirche, von der fabelhaftesten Bauart, und glänzten im
Sonnenschein, die Fenster mit einer Fülle von Blumen geziert, die schwer über die
mit Bildwerken bedeckten Mauern herabhingen. Die Linden stiegen unabsehbar in den
Zwischen den grünen Laubgebirgen der Linden stiegen die Münstertürme empor, während das ungeheure Steinschiff unter Hügeln von Millionen herzförmiger Lindenblätter lag und nur da oder dort eine purpurrote oder blaue Glasscheibe hervorfunkelte, von einem verlorenen Sonnenstrahl durchschossen. Die goldenen Kronen aber, welche die Turmknöpfe bildeten, schimmerten in der Himmelshöhe und waren voll junger Mädchen; die streckten ihre Lockenköpfe rings durch den gotischen Zierat in die Welt hinaus. Obgleich ich jedes Lindenblatt scharf umrissen erkannte, vermochte ich doch nicht zu sehen, wer alle diese Mädchen waren, und ich beeilte mich hinüberzukommen, da es mich sehr wundernahm, wer alle diese Mitbürgerinnen sein möchten.
Zur rechten Zeit sah ich den Goldfuchs neben mir stehen, legte ihm den Mantelsack auf und begann den jähen Staffelweg hinunterzureiten, der zur Brücke führte. Jede Staffel war aber ein geschliffener Bergkristall, und darin eingeschlossen lag ein spannelanges Weibchen gleichsam schlafend, von unbeschreiblichem Ebenmaß und Schönheit der Gliederchen. Während der Goldfuchs den halsbrechenden Weg hinunterstieg und jeden Augenblick seinen Reiter in die Tiefe zu stürzen drohte, bog ich mich links und rechts vom Sattel und suchte mit sehnsuchtsvollen Blicken in den Kern der Kristallstufen zu dringen.
»Tausend noch einmal!« rief ich lüstern vor mich hin, »was mögen das nur für allerliebste Wesen sein in dieser verwünschten Treppe?«
Ohne daß ich mich im geringsten wunderte, fing das Pferd plötzlich an zu sprechen,
indem es den Kopf zurückwandte und antwortete: »Was wird's sein? Das sind nur die
guten
»Zum Teufel!« rief ich, »ich werde gleich morgen hier herausgehen und mir einige Stufen aufschlagen!«
Und ich konnte meine Blicke nicht wegwenden von der langen Treppe, die sich schon glänzend hinter mir den Berg hinan schmiegte. Das Pferd aber sagte, das sei nur eine leichte Anschürfung, der ganze Boden stecke voll von solchen Sachen. Wir langten jetzt unten bei der Brücke an. Das war aber nicht mehr die alte Holzbrücke, sondern ein Marmorpalast, der in zwei Stockwerken eine endlose Säulenhalle bildete und so als eine niegesehene Prachtbrücke über den Fluß führte. Was sich doch alles verändert und vorwärtsschreitet, wenn man nur einige Jahre weg ist! dachte ich, als ich gemächlich und neugierig in die weite Brückenhalle ritt. Während das Gebäude von außen nur in weißem, rötlichem und schwarzem Marmor glänzte, waren die Wände des Innern mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes darstellten. Das ganze abgeschiedene Volk war sozusagen bis auf den letzten Mann, der soeben gegangen, an die Wand gemalt und schien mit dem lebendigen, das auf der Brücke verkehrte, eines zu sein; ja manche der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten unter den Lebendigen mit, während von diesen manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden. Beide Parteien bestanden aus Helden und Weibern, Pfaffen und Laien, Herren und Bauern, Ehrenleuten und Lumpenhunden; der Eingang und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange blieb und der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding zu sein.
»Nun möcht ich wohl wissen, was das für eine muntere Sache
»Dies nennt man die Identität der Nation!«
»Ei, du bist ein sehr gelehrter Gaul!« rief ich, »der Hafer muß dich wirklich stechen! Woher nimmst du derartige Brocken?«
»Erinnere dich«, sagte der Goldfuchs, »auf wem du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichtum, und Reichtum ist Einsicht.«
Bei diesen Worten merkte ich sogleich, daß mein Mantelsack statt mit Gewand jetzt gänzlich mit jenen goldenen Münzen angefüllt war. Statt zu grübeln, woher sie so unvermutet wiedergekommen, fühlte ich mich höchst zufrieden in ihrem Besitze, und obschon ich dem weisen Gaule nicht mit gutem Gewissen recht geben konnte, daß Reichtum Einsicht sei, fand ich mich doch unvermutet so einsichtsvoll, daß ich wenigstens nichts erwiderte und gemütlich weiterritt.
»Nun sage mir, du weiser Salomo!« begann ich nach einer Weile von neuem, »heißt eigentlich die Brücke die Identität oder die Leute, so darauf sind? Welches von beiden nennst du so?«
»Beide zusammen sind die Identität, sonst spräche man ja nicht davon!«
»Der Nation?«
»Der Nation, versteht sich!«
»Also ist die Brücke auch eine Nation?«
»Ei, seit wann«, rief das Pferd unwillig, »kann denn ein Vehikel, so schön es ist, eine Nation sein? Nur Leute können eine sein, folglich sind es die Leute hier!«
»So! und doch sagtest du soeben, die Nation und die Brücke machen zusammen eine Identität aus!«
»Das sagt ich auch und bleibe dabei!«
»Nun also?«
»Wisse«, antwortete der Gaul bedächtig, indem er sich auf allen vieren spreizte,
»wisse, wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen
versteht, der ist ein
»Ha! du widerspenstige Bestie!« schrie ich und stieß dem Tiere die Fersen in die Weichen, »um so mehr, du undankbarer Klepper, bist du mir zu Red und Antwort verpflichtet, da ich dich aus meinem so mühselig ergänzten Blute erzeugen und diesen Traum lang speisen und nähren muß!«
»Hat auch was Rechtes auf sich!« sagte das Pferd gelassen. »Dieses ganze Gespräch, überhaupt unsere ganze werte Bekanntschaft ist das Werk und die Dauer von kaum drei Sekunden und kostet dich kaum einen Hauch von deinem geehrten Körperlichen!«
»Wie, drei Sekunden? Ist es nicht wenigstens eine Stunde, seit wir auf dieser endlosen Brücke reiten?«
»Drei Sekunden dauert der Hufschlag des nächtlichen Reiters, der meine Erscheinung in dir hervorgerufen; mit ihm wird sie verschwinden, und du kannst wieder zu Fuß gehen!«
»Um des Himmels willen! So verliere keine weitere Zeit, sonst geht der Augenblick vorüber, eh ich über diese schöne Brücke im reinen bin!«
»Es eilt gar nicht! Alles, was wir für jetzt zu erleben und zu erfahren haben,
geht vollkommen in das Maß des wackern Pferdetrittes hinein, und wenn der richtig
denkende Psalmist den Herren seinen Gott anschrie: ›Tausend Jahre sind vor dir wie
ein Augenblick!‹ so ist diese Hypothese von hinten gelesen eine und dieselbe
Wahrheit: Ein Augenblick ist wie tausend Jahre! Wir könnten noch tausendmal mehr
sehen und hören während dieses Hufschlages, wenn wir nur das Zeug dazu in
Ich hörte nicht länger auf die Reden des Pferdes, weil ich bemerkte, daß ich von allen Seiten mit biederer Achtung begrüßt wurde; denn schon mehr als einer der Vorübergehenden hatte mit eigentümlichem Griffe meinen strotzenden Mantelsack betastet, ungefähr wie die Metzger tun, wenn sie in den Bauernställen oder auf Märkten ein Stück Rindvieh auf seine Fettigkeit prüfen und ihm Kreuz und Lenden bekneifen.
»Das sind ja absonderliche Manieren!« sagte ich endlich; »ich glaubte, es kenne mich kein Mensch hier!«
»Es gilt auch nicht dir«, meinte der Goldfuchs, »sondern deinem Quersack, deiner dicken Goldwurst, die mir das Kreuz drückt!«
»So? also das ist die Lösung und das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage, das gemünzte Gold? Denn du bist ja aus gleichem Stoffe, ohne daß dich ein einziger betastet!«
»Hm!« machte das Pferd, »das ist nicht so genau zu nehmen. Die Leute haben
allerdings ihr Augenmerk darauf gerichtet, ihre Identität, die sie in diesem Falle
Unabhängigkeit nennen, zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu verteidigen.
Nun wissen sie aber, daß ein kampffähiger guter Soldat wohlgenährt sein und ein
Frühstück im Magen haben muß, wenn er sich schlagen soll. Da dies aber nur durch
allerhand Gemünztes zu erreichen und zu sichern ist, so betrachten sie jeden, der
damit versehen, als einen gerüsteten Verteidiger und Unterstützer der Identität
und sehen ihn drum an. Da läuft es denn freilich mit unter, daß sie ihre
Privatsachen mit den öffentlichen Dingen für identisch halten, wie man denn in der
Übung jeglicher Energie nicht leicht zuviel tun kann, und so gewinnt dieser oder
jener das Ansehen eines habsüchtigen Esels. Sei dem, wie ihm wolle, ich rate dir,
dein Kapital hier noch ein
Ich griff in den Sack und warf einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe, welche sogleich von hundert in der Luft zappelnden Händen aufgefangen und weitergeworfen wurden, nachdem jeder das Gold erst besehen und an seinem eigenen Golde gerieben hatte, wodurch beide Stücke sich verdoppelten. Bald kehrten alle meine Münzen in Gesellschaft von anderm Golde zurück und hingen sich an das Pferd; es regnete förmlich Gold, welches sich klumpenweise an alle seine vier Beine setzte, gleich dem Blumenstaub, der den Bienen Höschen macht, so daß es bald nicht mehr gehen konnte. Es bildeten sich aber noch große Flügel an dem Tiere, und es glich zuletzt einer Riesenbiene und flog wie eine solche über die Köpfe des Volkes weg. Erst jetzt schütteten wir zusammen einen rechten Goldregen nieder, so daß zuletzt ein ungeheures Gesindel von Goldhungrigen hinter uns her war. Alte und Junge, Weiber und Männer purzelten übereinander, das Gold zu raffen. Diebe, die von Wächtern transportiert wurden, stürzten sich samt diesen in den Haufen; Bäckerlehrlinge warfen ihr Brot in das Wasser und füllten ihre Körbe mit Gold; Priester, die zur Kirche gingen, um zu predigen, schürzten ihre Talare wie bohnenpflückende Bäuerinnen die Röcke und schöpften Gold hinein; Magistratspersonen, die vom Rathause kamen, schlichen herbei und schoben verschämt ein paar zur Seite rollende Stücklein in die Tasche; selbst aus einem an die Wand gemalten Gerichte liefen die toten Richter vom Tische, ließen den Angeklagten stehen und stiegen herunter, um hinter mir herzustreichen, und schließlich kam der gemalte Verbrecher auch noch gesprungen, um nach Gold zu schreien.
Ganz geschwollen vom Bewußtsein des Reichtums, schwebte ich endlich aus der
Brückenhalle hinaus und schwang mich auf
»Ich bin schon da!« antwortete der dicke Wilhelm Tell, der in einer Lindenkrone verborgen saß, die Armbrust auf mich anlegte und mich mit seinem Pfeile herunterschoß. Ein neuer Ikarus, stürzte ich samt dem Goldfuchs prasselnd aufs Kirchendach und rutschte von dort jämmerlich auf die Straße hinab, woran ich erwachte und mich erschüttert fand, wie wenn ich wirklich gefallen wäre. Der Kopf schmerzte mich fieberhaft, während ich das Geträumte zusammenlas. Diese verkehrte Welt, in welcher das im Wachen müßige Gehirn bei nachtschlafender Zeit auf eigene Faust zusammenhängende Märchen und buchgerechte Allegorien, nach irgendwo gelesenen Mustern, mit Schulwörtern und satirischen Beziehungen ausheckte und fortspann, begann mich zu ängstigen wie der Vorbote einer schweren Krankheit; ja, es beschlich mich sogar wie ein Gespenst die Furcht, auf diese Art könnten meine dienstbaren Organe mich, das heißt meinen Verstand, zuletzt ganz vor die Türe setzen und eine tolle Dienstbotenwirtschaft führen.
Als ich der Sache weiter nachdachte, empfand ich die Gefahr, die darin liegt, sich
gegen Natur und Gewohnheit mit dem völlig Geistlosen beschäftigen und nähren zu
wollen, und doch
Ich trieb jetzt das halbzerbrochene und schwer mit Säcken beladene Pferd eine bergige Straße hinauf nach dem Hause der Mutter; es dauerte eine qualvolle Ewigkeit, bis ich endlich anlangte. Da fiel das Tier zusammen und verwandelte sich in die schönsten und reichsten Gegenstände und Merkwürdigkeiten aller Art, von welchen sich auch die Säcke entleerten, Dinge, wie man sie von großen Reisen als Geschenke mitzubringen pflegt. Ich stand aber peinlich verlegen bei dem aufgetürmten Haufen von Kostbarkeiten, der sich offen auf der Straße ausbreitete, und ich suchte vergeblich den Drücker der Haustüre und den Glockenzug. Ratlos und ängstlich die Reichtümer hütend, sah ich an dem Hause empor und bemerkte erst jetzt, wie seltsam es sich darstellte. Es war gleich einem alten edeln Schrank- und Täferwerke ganz von dunklem Nußbaumholz gebaut mit unzähligen Gesimsen, Kassettierungen, Füllungen und Galerien, alles auf das feinste gearbeitet und spiegelhell poliert. Es war eigentlich das nach außen gekehrte Innere eines Hauses. Auf den Gesimsen und Galerien standen altertümliche silberne Kannen und Becher, Porzellangefäße und kleine Marmorbilder aufgereiht. Fensterscheiben von Kristallglas funkelten mit geheimnisvollem Glanz vor einem dunklen Hintergrunde zwischen gemaserten Zimmer- oder Schranktüren, in denen blanke Stahlschlüssel steckten. Über dieser seltsamen Fassade wölbte sich der Himmel dunkelblau, und eine halb nächtliche Sonne spiegelte sich in der dunklen Pracht des Nußbaumholzes, im Silber der Krüge und in den Fensterscheiben.
Endlich sah ich auch, daß reichgeschnitzte Treppen zu den Galerien hinaufführten,
und bestieg dieselben, Einlaß suchend. Wenn ich aber eine Türe öffnete, so sah ich
nichts als ein Gelaß vor mir, welches mit Vorräten der verschiedensten Art
angefüllt
Sogleich erkannte ich den Jugendfeind, jenen vom Turme gestürzten Knaben Meierlein, und kletterte eilig hinunter, ihn zu verjagen. Der aber fing wütend an zu schelten und als Kindswucherer und Gläubiger aufs neue, nach so viel Jahren, seine Forderung geltend zu machen, indem er die Hand an den vom Sturze zerschlagenen Kopf drückte. Er wolle mich jetzt endlich auspfänden, rief er mit giftigen Worten, daß er zu seiner verschriebenen Sache komme; seine Rechnung sei pünktlich in Ordnung.
Von meiner trefflichen Traumeshabe war nichts mehr zu sehen als einige zertretene Reste auf dem Pflaster, welche von nichts Besonderem herzurühren schienen, und in der Hand hielt ich nichts als den meinem bösen Feinde abgerungenen Stecken.
Ich trat entsetzt auf die andere Seite der Straße und blickte kummervoll nach den öden Fenstern empor, wo ich deutlich meine Mutter, alt und grau und bleich, hinter der dunklen Scheibe sitzen sah, wie sie in tiefem Sinnen ihren Faden spann.
Ich streckte die Arme nach dem Fenster empor; als sich die Mutter aber leis bewegte, verbarg ich mich hinter einem Mauervorsprung und suchte bang aus der stillen dämmerigen Stadt zu entkommen, ohne gesehen zu werden. Ich druckte mich längs den Häusern hin und wanderte alsbald an meinem schlechten Stabe auf einer unabsehbaren Landstraße dahin zurück, woher ich gekommen war. Ich wanderte und wanderte rastlos und mühselig, ohne mich umzusehen. In der Ferne sah ich auf einer ebenso langen Straße, die sich mit der meinigen kreuzte, meinen Vater vorüberwandern mit seinem schweren Felleisen auf dem Rücken.
Als ich erwachte, fiel mir ein Stein vom Herzen, so traurig war mir dieser letzte Teil der geträumten Abenteuer.
Diese Vorstellung hatten meine emsigen Traumgeister offenbar folgenden Versen eines Unbekannten entwendet, die ich am Abend vorher in einigen zerrissenen Druckblättern gelesen:
So ging es in den Nächten zu. Wie ich die Tage damals verbracht, weiß ich mir kaum mehr vorzustellen; es war die verwunderlichste Übung der Geduld mit dem Schicksal, das will sagen, mit sich selbst. Und wie ich vorahnend gedacht, löste sich der Ausgang auf diese Weise am leichtesten von den Dingen. Es dauerte nicht viele Tage, so zeigte es sich, daß mein verwitweter Hauswirt ohne seine Frau nicht bestehen konnte und sich genötigt sah, die Haushaltung aufzulösen, die Kinder einstweilen den Eltern der Verstorbenen zuzuschicken und die Wohnung zu räumen. Schon waren die Kleinen fort, als der Mann mir mürrisch und gleichgültig anzeigte, ich habe eine andere Unterkunft zu suchen, da er selbst am nächsten Tage ausziehe.
Ich hatte nun alle die Jahre her in dem Hause gewohnt, und da ein übles Geschick meine fahrende kleine Habe auseinandergeblasen, so beschloß ich auf der Stelle, nach der Heimat zu gehen, statt einen bettelhaften Einzug in eine neue Wohnung zu halten. Ich änderte auch den Entschluß nicht, als mir nach Abtrag dessen, was ich dem Manne und andern noch etwa schuldig war, von dem bei Herren Joseph Schmalhöfer erworbenen Reichtume nicht so viel übrigblieb, womit ich hätte fahren können. Es reichte vielmehr zur Not für eine Fußwanderung hin, wenn ich das Geld genau einteilte, Tag und Nacht im Freien blieb und nur wenig Nahrung genoß.
Um nun aber in den abgetragenen Kleidern nicht völlig einem Landfahrer ähnlich zu
sehen, griff ich zum letzten Hilfsmittel, nämlich zu den Bildchen, die ich bei dem
jüdischen Kunstschneider hängen hatte. Ohne Zeit zu verlieren, ging ich zu ihm,
nahm auch jenes etwas größere, auf der Ausstellung verunglückte Stück mit und frug
ihn, ob er mich für die drei
Zu letzterm war er natürlich nicht zu bewegen; dafür fiel der Anzug leidlich gut aus, den zu liefern er nach seiner Geschäftsmaxime gleich bereit war; er ließ sich sogar zur Leistung eines festen stattlichen Hutes herbei, dessen Rand den Hals gegen den Regen zu schützen versprach. Ich fand mich bei alledem wohl bedient und beraten und schied zufrieden von dem Nothelfer, nachdem ich in einer Hinterstube die Kleider gewechselt und ihm den abgelegten Habit als Zeichen meiner Erkenntlichkeit für menschenfreundliche Behandlung überlassen.
Auf dem Rückwege schwankte ich, ob ich nicht den alten Schmalhöfer noch aufsuchen und von ihm Abschied nehmen solle. Ich besorgte jedoch, er könnte mich von neuem zu einem nichts entscheidenden und geisttötenden Arbeitsgewinne verlocken; also vermied ich sein Haus, holte bei der Behörde noch meine Ausweispapiere und eilte, da der Abend nahte, nach Hause; denn ich wollte mit angebrochener Nacht unverweilt die Wanderschaft antreten.
Das war auch geraten, da der Wirt bereits den sämtlichen Hausrat fortgebracht und
auch mein Bett weggeräumt hatte, unbekümmert, wo ich diese letzte Nacht noch
schlafen möge. Ich fand ihn, wie er ganz allein in der stillen Wohnung stand, die
von unsern Tritten und Worten einen ungewohnten Widerhall hören ließ, weil sie
gänzlich leer war. Nur etwas Kleider und kleines Geräte lagen noch beieinander,
was er nicht zusammenzupacken wußte, da es ihm an einer Kiste fehlte. Ich sagte
ihm, er könne sich meines großen Koffers bedienen, den ich zunächst nicht brauche.
Das nahm er ohne Dank an, wofür ich ihm auch einen Streich spielte. Denn als ich
nun in meine zwei Zimmer ging, in eine Reisetasche ein Restchen Wäsche und meine
schön gebundene Jugendgeschichte gesteckt hatte und mich umsah, was etwa noch zu
tun wäre, entdeckte ich zu
Erschüttert nahm ich das unselige Sphäroid, das nicht zur Ruhe kommen konnte, in die Hand und fühlte Gewissensbisse. Armer Zwiehan! dachte ich, du bist einst von Ostindien nach der Schweiz gereist, von da nach Grönland und wieder zurück, dann hierher, und nun mag Gott wissen, was aus dir wird, den ich so leichtfertig vom Friedhofe genommen habe!
Aber das half nun nichts; ich hob den Deckel meines leeren Koffers und legte den alten Schädel hinein, die weitere Fürsorge dem auf dem Sprunge stehenden Hauswirte überlassend, der sich in seinem Unstern so wenig liebenswürdig gegen mich benahm, obgleich ich seit länger als fünf Jahren an den Unterhalt seiner Familie so manchen guten Taler beigetragen.
Dann trat ich mit umgehängter Tasche aus meiner besonderen Trauerwohnung in die allgemeine hinaus, gab dem Manne rasch die Hand und stieg die Treppe hinunter. Kaum war ich aber auf dem Flur angelangt, so rief der Unhold von oben her meinen Namen und schrie: »Da, nehmen's den auch mit, der gehört Ihnen!« Gleichzeitig kollerte und polterte der Totenkopf die lange hölzerne Treppe herunter und schlug mir unsanft an die Fersen.
Ich hob ihn auf; in der vorgerückten Dämmerung ließ er erbärmlich den Unterkiefer fallen, der in Drähten hing, und schien so zu bitten, ihn nicht zurückzulassen.
»So komm mit«, sagte ich, »wir wollen wieder zusammen heimgehen! Es war eine merkwürdige Reise!«
Ich zwängte den Schädel mit Mühe in die Wandertasche, wodurch diese ein unförmliches Aussehen gewann, wie wenn ein Kommißbrot oder ein Kohlkopf darinsteckte.
Nun hatte ich noch ein einziges Geschäft zu verrichten, das mir nicht leichtfiel.
Seit dem sonderbaren und unverhofften Liebesabenteuer mit Hulda war ein Sonnabend
von mir unbenutzt verstrichen und jetzt eben der zweite da. Durch die
»Die Lieb ist eine ernstliche Sache«, sagte sie, »selbst im Scherze! Aber es gibt wenig Treu und Ehrlichkeit in der Welt. Nun, wir wollen die Bekanntschaft probieren, wenn Sie mich morgen auf den Tanz führen mögen; es wundert mein Herz, wie es ist, wenn es mit einem Herrn geht!«
Der neue Sponsierer antwortete mit leiser Flüsterstimme etwas, was ich nicht
verstand; ich hörte einen leisen Kuß, ein »Gute Nacht!« worauf das Mädchen hinter
der Haustüre verschwand
Das ist auch eine Freisprechung! dachte ich und erhob mich mit erleichtertem Gewissen, jedoch mit einer sehr krausen Empfindung. Ohne mich indessen weiter umzusehen oder eine Minute länger in der Stadt aufzuhalten, eilte ich dem Tore zu und wanderte wenige Zeit später auf der nächtlichen Heerstraße in der Richtung meines Heimatlandes fort.
Zufrieden mit der klaren und fertigen Form, welche mein Geschick nun angenommen hatte, setzte ich ohne Hast und ohne Aufenthalt Fuß für Fuß, als einziges Ziel im Auge, unter das Dach der Mutter zu treten, gleichviel ob arm oder reich. Stundenlang ging es so weiter; ich beachtete nicht, daß ich auf einem Kreuzungspunkte war und von der Hauptstraße auf eine unmerklich schmälere Seitenstraße geriet, daß sich eine solche Abzweigung nochmals wiederholte, bis ich mich auf einem ländlichen Fahrwege befand. Da ich aber nach dem Stande der Gestirne ungefähr nach der richtigen Himmelsgegend zog, so kam es mir nicht so sehr darauf an, ich rechnete eine etwelche Abirrung zu den nötigen Erlebnissen eines Landfahrers. Ich ging durch Gehölze, über Feld- und Wiesenfluren, an Dörfern vorbei, deren schwache Umrisse oder verlorene Lichter weit vom Wege lagen. Die tiefste Einsamkeit waltete auf Erden, als es Mitternacht wurde und ich über weite Feldgemarkungen ging; um so belebter waren die mit den langsam rückenden Sternbildern durchwirkten Lüfte, denn die unsichtbaren Schwärme der Zugvögel rauschten und lärmten in der Höhe. Noch nie hatte ich diesen herbstlichen Nachtverkehr des Himmels so deutlich wahrgenommen.
Ich kam in einen großen Forst, und die Dunkelheit wurde vollkommen. Still huschte
der Kauz an meinem Gesichte vorüber, und aus der Tiefe schrie der Uhu. Als ich
aber durchfröstelt und ermüdet war, stieß ich in einer Waldlichtung auf einen
rauchenden Kohlenmeiler, dessen Hüter in seiner Erdhütte
Der Wald nahm ein Ende, und ich trat in eine weite deutsche Herbstmorgenlandschaft hinaus. Waldige und dunkle Gebirgszüge streckten sich am Horizont; durch das Land wand sich ein rötlicher Fluß, weil der halbe Himmel im Morgenrot flammte und die purpurn angeglühten Wolkenschichten über Feldern, Höhen, Dörfern und einer betürmten Stadt hingen. Die Nebel rauchten an den Waldhängen und zu Füßen der schwarzblauen Berge. Schlösser, Stadttore und Kirchtürme glänzten rot; dazu entrollte sich ein hallender Jagdlärm in den Wäldern, Hörner tönten, Hunde musizierten fern und nah, und ein schöner Hirsch sprang an mir vorüber, als ich eben den Forst verließ.
Das Morgenrot verkündete freilich ein nasses Abendbrot und gab mir keine gute Aussicht. Wenn ich meinen Wanderplan innehalten wollte, so durfte ich nicht daran denken, ein Nachtlager zu suchen, weil das mich für einen Tag der Nahrung berauben konnte. Ich dachte daher mit einigem Schrecken an die kommenden Fluten und daß ich durchnäßt die zweite Nacht hindurch wandern müsse. Die Nässe und der Schmutz besiegeln jeglichen schlechten Humor des Schicksals und nehmen dem Verlassenen noch den letzten Trost, sich etwa auf die mütterliche Erde zu werfen, wo es niemand sieht. Überall kältet ihm die unerbittliche Feuchte entgegen, und er ist genötigt, aufrecht zu bleiben.
In wenigen Stunden verhüllte auch ein graues Nebeltuch alles Licht, und das Tuch
begann sich langsam in nasse Fäden
Nach einigen Stunden ging ich abermals auf einem Waldwege, immer bestrebt, die
große Hauptstraße zu erreichen, mit deren Längsachse meine Richtung allmählich
wieder zusammenfallen mußte. Als ich abseits vom Wege eine große Buche sah, deren
gelbes Laub noch genügend dicht saß, ging ich hin und fand auf einer ihrer aus dem
Boden ragenden Wurzeln eine ziemlich geschützte Ruhestelle und ließ mich nieder.
Da kam ein altes Mütterchen dahergetrippelt, welches mit der einen Hand ein
elendes Bündelchen kurzen Reisigs auf dem grauen Kopfe trug, dessen Haare so rauh
und zerzaust waren wie das Gestrüppe darauf; mit der anderen Hand schleppte sie
mühselig ein abgebrochenes kleines Birkenbäumchen hinter sich her. Mit zitternden
Schrittchen zerrte sie emsig und keuchend, viele ängstliche Seufzer ausstoßend,
den widerspenstigen Busch über alle Hindernisse weg, gleich der Ameise, die einen
zu schweren Halm nach dem Bau schafft. Ich sah dem armen Weibe voll Mitleid zu und
mußte mir gestehen, daß es dieser Kreatur
»Hast wieder Holz gestohlen, du Strolchin?«
Bei allen Heiligen beteuerte die Alte, daß sie das Birkenbäumchen also geknickt auf dem Wege gefunden habe. Er rief aber:
»Lügen tust du auch noch? Wart, ich will dir's austreiben!«
Und der alte Mann nahm die alte Graue beim vertrockneten Ohr, das unter einem verschobenen Kattunkäppchen hervorguckte, zerrte sie daran und wollte sie dergestalt mit sich fortschleppen, daß es unnatürlich anzusehen war. Durch einen plötzlichen Einfall erleuchtet, holte ich meinen Totenkopf aus der Reisetasche, stülpte ihn auf den Stock und streckte ihn durch das Laubwerk des Unterholzes, hinter welchem ich selbst verborgen war. Zugleich rief ich mit zorniger Stimme: »Laß das Weib gehen, du schlechter Kerl!« und schüttelte den Schädel ein wenig, daß die Zähne zusammenklappten und das Laub raschelte, aus welchem er hinausguckte. Es mußte für die Leutchen draußen aussehen, wie wenn der Tod in dem Busch wäre.
Der Waldhüter blickte nach dem Orte hin, woher die Stimme erscholl, erstarrte
förmlich, wurde fahl wie schlecht gebackenes Brot und ließ das Ohr des Mütterchens
fahren. Ich zog das Gespenst sachte zurück; der Waldhüter starrte bewegungslos
her; als ich es aber weiter oben aus dem Gebüsche tauchen ließ, irrten seine
rundlichen Augen ihm dorthin nach, worauf er, so schnell ihn die schlotternden
Beine tragen wollten, sich davonmachte, ohne einen Laut von sich zu geben. Erst
Meinesteils packte ich das alte gelbliche Kopfgeräte wieder ein, das so gute Dienste geleistet. Ich war von dem Scherze ordentlich erwärmt worden und ruhte noch ein Weilchen aus, wie ein Sieger auf dem Kampfplatz, mit dem erquicklichen Gefühle, daß selten einer so übel daran sei, der nicht durch irgendeine kleine Wendung über die Dinge gestellt werden könne. Ich betrachtete in Gedanken den aus dem Felde geschlagenen Unhold und bemühte mich, die Grundlage seines bestialischen Wesens aufzufinden. Ich sah die rund glänzenden Augen, die hochroten Gesichtspolster, den grauen, trefflich gepflegten Schnurrbart, die blanken Knöpfe seines Dienstrockes und glaubte zu fühlen, daß das Fundament all des anmaßlich brutalen Gebausches eine grenzenlose Eitelkeit sei, die sich, als einem dumm rohen Menschen innewohnend, nicht anders als in solcher Weise zu äußern wußte.
Dieser Kerl, dachte ich, welcher vielleicht der sorglichste Vater und Gatte ist
und ein guter Gesell unter seinesgleichen, insofern er nur nicht im Prahlen und
Ausbreiten seiner Art behindert wird, dieser Kerl gefiel sich ausnehmend wohl und
hielt sich nach Maßgabe seiner Dummheit für einen Helden, als er das schwache Weib
am Ohr zerrte. Nicht daß er etwa in der
Das ist aber nur die gröbere Hälfte, die Schar der Armen im Geiste. Die feinere
Hälfte, die Schar der Begabten und Gebildeten, irrt nicht von sich ab, die hat
einen Zaubersegen, der heißt: Wir wissen es und wollen es sein, nämlich eitel!
»Die unschuldige Eitelkeit, sie ist die gutartige Verzierung des Daseins! Das
goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das Gegengift für die grobe,
bösartige Eitelkeit! Die schöne Eitelkeit, als die zierliche Vervollkommnung und
Ausrundung des eigenen Wesens, bringt alle Keimlein zum Blühen, die uns brauchbar
und annehmlich machen für die Welt; sie ist zugleich der feinste Richter und
Regulator ihrer selbst und treibt uns
So klingt dieses schöne Lied, und diese Eitelkeit ist erst der wahre Moloch, dessen gelindes Feuer Menschen und Kieselsteine frißt. Er bleibt stets er selbst, der Moloch, und fürchtet sich nicht und lächelt sein ehernes Lächeln, während sein heißhungriger Bauch glüht. An ihm versengen sich Freundschaft, Liebe, Freiheit und Vaterland und alle guten Dinge, und wenn er nichts mehr zu fressen hat, wird er ein kalter Ofen voll Asche.
Während dieser eifrigen Predigt, die ich mir selber hielt, war ich weitergewandert, und da mir das Gedankenspinnen die kühle Zeit vertrieb, so setzte ich es fort. Ich prüfte nun mich selber und meine Manieren und untersuchte für den Fall, daß ich von dem Laster mäßig frei sein sollte oder je würde, die Stellung, in welcher man sich der eiteln Welt gegenüber befindet. Gewiß ist, dachte ich, daß die Eiteln die Sklaven der Freien sind, um deren Beifall sie buhlen; aber Sklaven empören sich und werden grausam wie die Neger von St. Domingo. In beiden Fällen gilt es, durch sie hindurchzugehen und mit ihnen auszukommen, ohne Schaden an der Seele oder am Leibe zu nehmen. Aber warum soll man sich denn von ihnen unterscheiden, sich über sie erheben? Um auf dieses Erhobensein selbst wieder eitel zu werden?
Hier befand ich mich in einer Sackgasse, und indem ich den Ausgang suchte, wurde
die Grübelei von einem Windstoße unterbrochen, der einen Baum so gewaltig
schüttelte, daß dieser seine aufgesammelten Wasser mir jählings auf Schultern und
Rücken warf. Ich schüttelte mich ebenfalls und sah mich nach einer Zuflucht um,
die aber nicht vorhanden und mir auch nicht gestattet war. Dennoch verlangte mich
nach irgendeiner Erleichterung; zuletzt fand ich dieselbe in dem Zwiehansschädel,
der mehr seiner unbequemlichen Form als seines Gewichtes
So ging es bis zur Abenddämmerung, wo die Ermüdung, Frost und jegliche Schwäche so überhandnahmen, daß ein moralischer Zusammenbruch nur durch die ärgerliche Betrachtung verhindert wurde es könne ja keine Rede davon sein, etwa umzukommen oder unterzugehen, und das schlechte Abenteuer wäre also als bloße Vexation durchaus entbehrlich. Ich raffte mich nochmals zusammen und bekam wieder die Oberhand.
Endlich trat ich aus den Forsten heraus und sah ein breites Tal vor mir, in welchem ein großes Herrengut zu liegen schien; denn schöne Parkbäume zeigten sich anstatt des Waldes und umgaben eine Dächergruppe, und weiterhin lag zwischen Feldern und Weidegründen eine weitläufige Dorfschaft zerstreut. Zunächst vor mir sah ich eine kleine Kirche stehen, deren Türen geöffnet waren.
Ich ging hinein, wo es schon ziemlich dunkel war und das Ewige Licht wie ein trübrötlicher Stern vor dem Altare schwebte. Die Kirche war offenbar sehr alt, die Fenster zum Teil noch aus gemalten Scheiben bestehend und Wand und Boden mit Grabsteinen und Mälern bedeckt.
Ich setzte mich in einen schrankartigen Beichtstuhl, in welchem ein dickes Kissen lag, und wollte eben das Vorhängelchen zuziehen, um augenblicklich einzuschlafen, als eine Hand das grüne Seidenfähnchen festhielt und der Küster, der mir in weichen Hausschuhen nachgegangen, vor mir stand und sagte:
»Wollt Ihr etwa hier übernachten, guter Freund? Ihr könnt nicht dableiben!«
»Warum nicht?« sagte ich.
»Weil ich sogleich die Kirche schließen werde! Geht nur hinaus!« erwiderte der Küster.
»Ich kann nicht gehen«, sagte ich, »laßt mich hier sitzen, nur einige Stunden, die Mutter Gottes wird es Euch nicht übelnehmen!«
»Geht jetzt sogleich!« rief er, »Ihr könnet durchaus nicht hierbleiben!«
Ich schlich also trübselig aus der Kirche, und der wachsame Seilzieher machte sich daran, die Türen zu verschließen. Ich stand jetzt auf dem Kirchhofe, welcher einem wohlgepflegten Garten glich; jedes Grab war für sich oder mit andern zusammen ein Blumenbeet, in freier Anordnung; besonders die Kindergräblein waren anmutig verteilt, bald als eine kleine Versammlung auf einer Raseninsel, bald einsam in einem lieblichen Schmollwinkel unter einem Baume, bald zwischen Gräbern der Alten, gleich Kindern, die den Müttern an der Schürze hangen. Die Wege waren mit Kies bedeckt und sorgfältig gerechet und führten ohne Scheidemauer unter die dunklen Bäume eines Lustwaldes, Ahorne, Ulmen und Eschen. Der Regen hatte nachgelassen; doch fielen noch zahlreiche Tropfen, indes im Westen ein Streifen feurigen Abendrotes lag und einen schwachen Schein auf die Leichensteine warf. Ich ließ mich unwillkürlich auf eine Gartenbank nieder, die mitten in den Gräbern stand.
»Hier könnt Ihr auch nicht bleiben, guter Freund!« redete er mich abermals an; »dieser Gottesacker gehört gewissermaßen zu den herrschaftlichen Gärten, und kein Fremder darf sich da zur Nachtzeit herumtreiben.«
Ich antwortete gar nichts, sondern sah ratlos vor mich hin; denn ich konnte mich beinah nicht entschließen aufzustehen.
»Nun, hört Ihr nicht? Auf! Steht in Gottes Namen auf!« rief er etwas lauter und rüttelte mich an der Schulter, wie man einen auf der Wirtsbank Eingeschlafenen aufmuntert.
In diesem Augenblicke kam die Dame in die Nähe und hielt ihren sorglosen Gang an, um dem Handel zuzuschauen. Ihre Neugierde war von so kindlich anmutiger Gebärde und die Person so schönäugig, soviel in der Dämmerung zu sehen, von so unverhohlener natürlicher Freundlichkeit, daß ich für den Augenblick neu belebt mich erhob und mit dem Hut in der Hand vor ihr stand. Ich schlug jedoch verlegen die Augen nieder, als sie mich in meinem durchnäßten und beschmutzten Aufzuge aufmerksam betrachtete.
Inzwischen sagte sie zu dem Kirchendiener:
»Was gibt es hier mit diesem Manne?«
»Ei, gnädiges Fräulein!« antwortete der Küster, »Gott weiß, was das für ein Mensch mag sein! Er will durchaus hier einschlafen; das kann doch nicht geschehen, und wenn er ein armer Vagabund ist, so schläft er gewiß besser im Dorf in irgendeiner Scheuer!«
Die junge Dame sagte freundlich, zu mir gewendet: »Warum wollen Sie denn hier schlafen? Lieben Sie die Toten so sehr?«
»Ach, mein Fräulein«, erwiderte ich aufblickend, »ich hielt sie für die eigentlichen Inhaber und Gastwirte der Erde, die keinen Müden abweisen; aber wie ich sehe, sind sie nicht viel vermögend und wird ihre Intention ausgelegt, wie es denen gefällt, die über ihren Köpfen einhergehen!«
»Das sollen Sie nicht sagen«, versetzte lächelnd das Fräulein, »daß wir hierzulande schlimmer gesinnt seien als die Toten! Wenn Sie sich nur erst ein bißchen ausweisen wollen und sagen, wie es Ihnen geht, so werden Sie uns Lebendige hier schon als leidliche Leute finden!«
»Darf ich Ihnen zum Anfang meine Schriften vorweisen?«
»Die können falsch sein! Verfahren Sie lieber mündlich!«
»Nun, ich bin guter Leute Kind und eben im Begriff, sosehr ich kann, zu laufen, woher ich gekommen bin! Leider geht es nicht unaufgehalten, wie es scheint!«
»Und woher kamen Sie denn?«
»Aus der Schweiz. Seit einigen Jahren lebte ich als Künstler in Ihrer Hauptstadt, um zu entdecken, daß ich keiner sei. So bin ich nun ohne bequeme Reisemittel auf dem Heimwege und glaubte, ohne jemandem lästig zu fallen, nur so durchlaufen zu können. Das hat der Regen verhindert; darum hoffte ich ungesehen die Nacht in dieser Kirche zuzubringen und in aller Frühe still weiterzuziehen. Wenn hier ganz in der Nähe ein Vordach oder ein offener Schuppen ist, denn weiter kann ich nicht mehr, so befehlen Sie großmütig, daß man mich dort ruhen läßt und tut, als ob ich gar nicht da wäre, und am Morgen werde ich dankbar wieder verschwunden sein!«
Obschon ich vor kalter Nässe schlotterte, seit ich dastand, zögerte ich doch, ihr zu folgen. Als das Fräulein mich wartend ansah, bat ich um Entschuldigung, ich sei trotz meiner wunderlichen Lage kein Bettler, und ihr Anerbieten kreuze meinen Plan, ohne fremde Hilfe nach Hause zu gelangen.
»Sie sind aber ja ganz durchnäßt und frieren wie ein Pudel, mein stolzer Herr! Wenn Sie im Freien bleiben, so können Sie bis zum Morgen das schönste Fieber haben und sind dann erst recht verhindert, ohne Hilfe und Pflege weiterzukommen. Sie sollen sich vorderhand auch nur in einem Gartenhause aufhalten, wo ich den Tag zugebracht habe und ein warmes Feuer brennt. So sperren Sie sich denn nicht länger, damit wir Sie nach Ihrem Wunsche am sichersten und aufs bäldeste wieder loswerden! Und Ihr, Küster, folgt uns als dienstbare Begleitung, zur Strafe dafür, daß Ihr diesen frommen Pilgrim so ungastlich behandelt habt!«
»Und was würde man mir sagen, gnädigstes Fräulein«, brummte der Küster ganz unwirsch, »was würde man mit mir anfangen, wenn ich nachts die Kirche offenließe oder einen Fremden darin einschlösse? Hat man noch nie von nächtlichem Kirchenraub gehört? Wurden noch keine Leuchter, Kelche und Patenen gestohlen?«
Hier mußte ich lachen und sagte: »Haltet Ihr mich für einen Shakespeareschen Bardolph, der in Frankreich wegen der gestohlenen Monstranz gehängt wurde?«
»Nachdem er schon in England einen Lautenkasten entwendet, zwölf Stunden weit getragen und für drei Kreuzer verkauft hatte?« fügte das vortreffliche Frauenzimmer bei, indem sie mit einem hellen Antwortlachen mich anblickte. Da versetzte ich meinerseits:
»Sehen Sie, so hat alles in der Welt seine gute Seite!« sagte sie und schritt vorwärts; ich ging mit, und der Küster folgte uns verblüfft und mißtrauisch durch den dunklen Park. Bald leuchteten durch die Bäume die erhellten Fenster eines geräumigen Gartenhauses, das in einiger Entfernung vom Wohngebäude stehen mochte. Wir traten in einen kleinen Saal, der nur durch eine Glastüre vom Parke getrennt war; ein schönes Feuer brannte im Kamin, die Dame rückte einen Lehnstuhl von Rohrgeflecht herbei und forderte mich auf, nunmehr auszuruhen. Ohne Säumen setzte ich mich in den Stuhl, fand mich aber durch meine unförmige Reisetasche einigermaßen belästigt.
»So legen Sie doch die Tasche ab!« sagte die Herrschaftstochter, »oder tragen Sie wirklich einen gestohlenen Lautenkasten darin herum, weil Sie sich nicht davon trennen können?«
»Es ist so was!« meinte ich dagegen, entledigte mich aber des von dem Schädel geschwollenen Umhängsels, welches der Küster auf einen Wink des Fräuleins mir abnahm und in einen Winkel lehnte. Mit der Fußspitze befühlte er dabei fast unmerklich die rundliche Erhöhung, ob nicht wenigstens eine geraubte Melone dahinterstecke, da er aus dem Lautenkasten nicht klug wurde.
Das Fräulein, das inzwischen sich zu schaffen gemacht, kam jetzt wieder, stellte sich vor mich hin und frug mitleidig: »Wie heißen Sie denn? Oder wollen Sie ganz inkognito reisen?«
»Heinrich Lee«, sagte ich.
»Herr Lee, geht es Ihnen durchaus schlecht? Ich habe keinen rechten Begriff davon. Sie sind doch am Ende nicht so arm, daß Sie auch nichts zu essen haben?«
»Aber warum tun Sie das? Wie kann man sich so der Not aussetzen?«
»Nun, mit Absicht habe ich es gerade nicht getan; da es aber einmal so ist, so nehm ich es sogar dankbar hin, insoweit der Zwang einen Dank verdient. Man lernt an allem etwas. Für Frauen sind dergleichen Übungen nicht notwendig, da sie immer nur tun, was sie nicht lassen können; für unsereinen sind so recht handgreifliche Exerzitien gut; denn was wir nicht sehen und fühlen, sind wir selten zu glauben geneigt oder halten es für unvernünftig und nicht der Beachtung wert!«
Sogleich holte sie mit Hilfe des Küsters einen kleinen Tisch herbei, auf welchem ein paar Teller mit einigem Essen standen.
»Hier ist zum Glück gerade mein Abendbrot. Nehmen Sie vorläufig etwas zu sich, bis Papa nach Haus kommt und für Sie sorgt. Geht schnell ins Haus hinüber, Küster, und laßt Euch von der Haushälterin eine Flasche Wein geben, hört Ihr? Trinken Sie lieber weißen oder Rotwein, Herr Lee?«
»Roten!« sagte ich unhöflich, weil ich jetzt wieder verlegen war, in diesem Zustande zwischen einem hilfsbedürftigen und unbekannten Landfahrer und einem gut behandelten Angehörigen der Gesellschaft das rechte Wort zu treffen.
»So soll man Euch von unserm roten Tischwein geben!« rief sie dem abgehenden Küster nach und zog dann an einer Klingelschnur, worauf ein ländlich gekleidetes Mädchen herbeigelaufen kam, welches, von meinem Anblick überrascht, stehenblieb und mich mit Erstaunen betrachtete. Es war die Tochter eines Gärtners, der unter dem gleichen Dache seine Wohnung hatte; wie sich mit der Zeit ergab, stellte sie die Dienerin und Vertraute des Fräuleins in einer Person vor und stand mit der Herrentochter auf du und du.
Ich unterdessen hatte Gabel und Messer ergriffen, um einer Schnitte kalten Bratens zuzusprechen, war aber neuerdings verlegen. Das silberne Werkzeug war ein offenbar lange gebrauchtes Kinderbesteck; auf der kleinen Gabel war in gotischer Schrift der Name »Dorothea« sauber eingegraben, und da das neuangekommene Röschen die Herrin soeben Dortchen nannte, hielt ich unzweifelhaft ihr eigenes Eßgeräte in der Hand. Ich legte dasselbe nieder; Röschen bemerkte gleichzeitig den Umstand und rief: »Was machst du denn, Dortchen? Du hast ja dem Manne dein eigenes Besteck gegeben!«
Leicht errötend sagte das sogenannte Fräulein Dortchen: »Wahrhaftig, so geht es, wenn man zerstreut ist! Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit meinen Kinderwaffen versehen habe! Sollten Sie indessen nicht davor ekeln, so dürften Sie nur ruhig fortfahren, und ich selbst gewänne das Ansehen einer heiligen Elisabeth, welche die Armen aus ihrem eigenen Teller speist.«
Auf diesen artigen Scherz wußte ich nichts mehr einzuwenden. Doch wollte es mit
dem Essen nicht recht gehen; ich empfand auf einmal keinen Appetit, vielmehr
bedrückte mich ein Gefühl, als ob ich am unrechten Orte wäre, und wünschte,
draußen auf der Landstraße und in der Freiheit zu sein, wußte aber freilich, daß
es nicht gut gehen würde. Es wurde mir etwas behaglicher zu Mute, als ich ein Glas
Wein ausgetrunken, das mir Röschen eingeschenkt, mich mit kritischen Äuglein
musternd. Dann lehnte ich mich zurück und sah dem Treiben der beiden Personen zu.
Das Fräulein hatte sich inmitten des Saales an einen großen runden Tisch gesetzt,
und die Gärtnerstochter stand neben ihr. Auf dem Tische befanden sich allerlei
Gläser und Krügelchen mit Blumen und bunten Waldsachen, wie sie der Herbst zu
bringen pflegt, rote und schwarze Beerenbüschel. Dazwischen lag merkwürdiges,
purpurrotes oder goldgelbes
Ich blickte mit einer Art einschläfernden Wohlgefallens nach dem Tische hin, sah und hörte mit halboffenen Augen und Ohren noch eine Weile, was sie taten und sprachen, ohne darauf zu merken, bis ich wirklich einschlief. Auf einem Stuhle neben sich hatte das Fräulein eine umfangreiche Mappe stehen, aus welcher sie größere und kleinere Blätter nahm, die auf Bogen starken Papieres zu heften sie beschäftigt war, daß die Blätter geschützt und mit einem breiten Rande versehen wurden. Das bewerkstelligte sie mit kleinen Papierstreifchen und etwas arabischem Gummi, und Röschen hielt ihr diese Dinge bereit.
»Nun müssen wir wieder Papier zuschneiden«, sagte sie, als der Vorrat der
Unterlagen soeben zu Ende ging. Sie schoben die hindernde Unordnung des Tisches
eifrig zur Seite, um Raum zu gewinnen, legten neue Bogen auf und begannen mit
ihren Arbeitsscheren darin zu wirtschaften, wie wenn sie Leinwand vor sich hätten
und Handtücher zuschnitten. Da das Papier keine leitenden Fäden besaß, so
schrumpfte es stellenweise auf der Klinge zusammen, oder die Scheren fuhren ins
Krumme,
»Ei, Kind«, rief Dorothea, »du machst ja lauter gefranste Ränder, Papa wird unsere Arbeit gewiß kassieren, wenn er sie sieht, und sich endlich selbst dahintermachen!«
»Und du mit deinem Augenmaß! Sieh, wie schief die Landkarte dort sitzt! Da machen wir's besser, der Vater und ich, wenn wir die Gemüsebeete abteilen!«
»So schweig doch, ich weiß es ja schon! Es sind aber auch gar zu große Dinger darunter, man kann sie gar nicht ordentlich übersehen! Da haben wir im Institut vernünftigeres Format gehabt, wenn wir unsere Blumenbildchen malten; nun, der Papa bringt die Sachen nachher schon mit Lineal und Bleistift in die Richte. Die Hauptsache ist, daß wir kein Blatt zu klein schneiden; denn er will alle von der gleichen Größe haben. Er hat schon einen Kasten dafür machen lassen, worin sie liegen sollen wie in Abrahams Schoß; auch ein paar hölzerne Rahmen mit Gläsern hat er für sein Studierzimmer bestellt, um abwechselnd dies oder jenes Blatt darin aufzuhängen, das ihm besonders gefällt. Diese Rahmen werden auf der Rückseite mit bequemen Schiebern versehen sein.«
»Was nur an diesen Sachen zu gucken ist? Zu was braucht man sie denn?«
»Ei, du Närrchen, zum Vergnügen! Man muß sie kennen oder verstehen, das ist das Vergnügen! Siehst du denn nicht, wie lustig dies aussieht, alle diese Bäume, wie das kribbelt und krabbelt von Zweigen und Blättern und wie die Sonne darauf spielt? Und alles das hat einer lernen müssen, um es hervorzubringen!«
Röschen legte die Arme auf den Tisch, neigte das Näschen gegen ein Blatt und sagte: »Wahrhaftig, ja, ich seh's! Wie meines Vaters grüne Sonntagsweste! Ist das hier ein See?«
»Warum nicht gar ein See, du Heuschreck! Das ist ja der blaue Himmel, der über den Bäumen steht! Seit wann sind denn die Bäume unten und das Wasser oben?«
»Ja, auf dem Kopf stehend! Das ist ja nur ein Stück vom Himmel, du Kind! Guck durchs Fenster, so siehst du auch nur ein solches Viereck, du Viereck!«
»Und du Fünfeck!« sagte Röschen und schlug der Herrin mit der flachen Hand sanft auf den Rücken.
Ich schlief über dem Mädchengezwitscher, das sich bis hieher ohne meine Teilnahme mir ins Gehör geschmeichelt, wirklich ein, erwachte aber einige Minuten später über einer ganz nah vor mir stattfindenden wohllautenden Ausrufung meines Namens. Die Gärtnerin hatte nämlich nach einem Weilchen, indem sie das aufgezogene Blatt weglegte, in einer Ecke desselben Namen und Jahreszahl zufällig bemerkt und gesagt: »Was steht denn hier geschrieben?« – »Was wird da stehen!« hatte Dorothea erwidert, »der Name des Künstlers, der die Studien gemacht hat; denn das nennt man Studien, Landschaftsstudien! Heinrich Lee heißt er, alles in dieser Mappe ist von ihm!« Dann hatte sie sich plötzlich selbst unterbrochen, nach mir hergesehen und gerufen: »Wie kann man so gedankenlos sein! Das sind ja meistens Schweizerlandschaften, wie Papa sagt!«
Als ich jetzt die Augen aufschlug, stand sie dicht vor mir und hielt einen großen Bogen, zierlich an den oberen Ecken gefaßt, vor der Brust, wie eine Kirchenstandarte, den schönen Mund noch geöffnet von dem Ausrufe: »Herr Heinrich Lee!«
Ich war aber schon so schlaftrunken, daß ich die ersten Augenblicke nicht wußte,
wo ich mich befand. Ich sah nur ein reizendes Wesen vor mir stehen, das mit
freundlichen Augensternen über ein Bild herblickte. Voll traumhafter Neugierde
beugte
Aber von dem Bilde weg blickte ich in das Gesicht hinauf, welches darüber
lächelte, und auch dieses erschien mir in dieser Nähe und der glänzenden
Beleuchtung des Feuers plötzlich als altvertraut; und doch wußte ich nicht, wo ich
es schon gesehen. Ich sann und sann, denn die Erscheinung reichte über diesen Tag,
dessen Erlebnisse mir übrigens auch nicht gleich gegenwärtig waren, in das
Vergangene zurück. Unversehens erkannte ich an einem grüßenden Winken der Augen
und der geöffneten Lippen das schöne Frauenzimmer, welches einst bei dem alten
Trödler ins Fenster geschaut und nach chinesischen Tassen gefragt hatte; und nun
zweifelte ich nicht länger, daß ich noch in einem jener Träume von der mißlungenen
Heimkehr begriffen sei, und hielt demnach die ganze Erscheinung für ein neckendes
Traumbild und meine Gedanken hierüber für das scheinbare Bewußtwerden des
Träumenden, der zu erwachen und sich im alten Elende zu finden fürchtet. Da ich
aber in der Tat erwacht war und mit lebendigem Verstande arbeitete, so empfand ich
alles um, so deutlicher und stärker, und als ich den Blick wieder auf die
unschuldige Landschaft wandte, in welcher ich jeden bunten Stein und jedes Gras
wiederzuerkennen mir
Nach Jahren noch entnehme ich dieser kleinen Begebenheit, daß das Erlebte zuweilen doch so schön ist wie das Geträumte, und dabei vernünftiger; und auf die Dauer kommt es ja nicht an.
Dorothea war verstummt und sah mit Rührung und Teilnahme meinem Verhalten zu; sie vermochte sich nicht zu bewegen und verharrte daher eine Minute in ihrer anmutvollen Stellung.
Endlich rief sie wiederholt meinen Namen und sagte: »So sprechen Sie doch! Sind Sie es, der dies gemacht hat?«
Von dem vollen Ton ihrer Stimme ermuntert, stand ich auf, ergriff den Bogen und nahm denselben prüfend in beide Hände. »Gewiß hab ich das gemacht«, sagte ich; »wie kommen Sie dazu?« Zugleich wurde ich nachträglich auch der übrigen Sachen vollständig gewahr, mit denen ich die Frauenzimmer im Halbwachen hatte hantieren sehen; ich ging zum Tische hin, nahm einige Blätter in die Hand, störte auch mit ein paar Griffen in der Mappe herum, alle waren es meine Zeichnungen und Studien; nichts schien zu fehlen, sie lagen beieinander, wie sie einst in meinem Besitze getan.
»Welch ein Abenteuer!« rief ich nun selbst voll Verwunderung; »wer würde glauben, dergleichen zu erfahren!«
Dann blickte ich wieder auf das Fräulein, das meinen Bewegungen mit ebenso gespannter als erfreuter Neugierde und offenen Auges folgte; und ich sagte: »Aber auch Sie hab ich schon gesehen, und ich weiß jetzt, wo Sie die Sachen geholt haben! Haben Sie nicht eines Tages dem alten Joseph Schmalhöfer ins Fenster gesehen und nach alten Tassen gefragt, als einer dort auf der Flöte blies?«
»Freilich, freilich!« rief sie; »aber lassen Sie mal sehen!«
Ohne sich zu scheuen, schaute sie mich genau an, indem sie die Hände auf meine Schultern legte.
»Wo hab ich heute nur meine Gedanken?« sagte sie mit
»›Die Sonne bleibt am Himmelszelt! es waltet dort ein heil'ger Wille, nicht blindem Zufall dient die Welt!‹ Was soll ich nun davon denken?«
»Nun, wenn wir durchaus Mythologie treiben wollen, so mag die allerliebste Gottheit des Zufalls herrschen, solange sie so artige Streiche macht! Man sollte ihr nur junge Rosen und Mandelmilch opfern, damit sie immer so leicht, so leis und so wohltätig regiert! Jetzt aber sollen Sie auch in aller Ordnung aufgenommen sein, wie es der denkwürdigen Begebenheit und den Umständen gemäß ist! Im Hause hier ist ein einfaches Gastzimmer. Ich will sogleich die nötige Vorkehr treffen, daß Sie sich vorderhand umkleiden können. Bleibe so lang hier, Röschen, daß dem ärmsten Herrn Lee niemand etwas tut!« Worauf sie forteilte.
Ich wußte nicht, ob ich diese neue Wendung für ein Glück erachten sollte, und beschaute seufzend meine Zeichnungen, die ich so unerwartet wiedergefunden, um sie abermals zu verlieren. Das gute Mädchen Rosine, welches sich schnell in die gute Laune der Herrin gefunden und mich für schüchtern halten mochte, sagte freundlich: »Machen Sie sich gar nichts daraus! Der Herr Graf und das Fräulein tun immer, was ihnen beliebt und was recht ist. Und wie sie es tun, so meinen sie es auch und kümmern sich nicht um das, was andere Herrschaften sagen.«
»Also bin ich gar noch bei einem Grafen?« versetzte ich, mehr erschrocken als angenehm überrascht.
»Das wissen Sie nicht? Beim Grafen Dietrich zu W...berg!«
Da kam nun nach allem noch die Unkunde hinzu, mit Leuten mir gänzlich fremder
Rangklassen umzugehen; ich hatte in meinem Leben nie mit einem sogenannten Grafen
verkehrt und
»Der Herr wird sich ganz gewiß verwundern und freuen, Sie so unvermutet zu finden; denn als er seinerzeit die ersten Bilder aus der Residenz gebracht und später immer noch welche anlangten, hat die Herrschaft sie alle Tage betrachtet, und die Mappe mußte immer bereitstehen.«
Nach einiger Zeit kam Dortchen zurück. »Tun Sie mir nun den Gefallen und gehen Sie eine Treppe höher!« sagte sie; »Röschen wird Ihnen hinaufleuchten und ihr Vater die weitere Handreichung tun. Machen Sie sich so bequem, als es in der Schnelligkeit möglich ist, damit Sie in guter Verfassung noch den Papa begrüßen können und ich keinen Verweis wegen versäumter Menschenpflichten erhalte!«
Ich ergriff meine Reisetasche, welche mir Röschen jedoch abnahm und nebst einem
Leuchter vorantrug, und so wanderte ich in Gottes Namen in den obern Stock des
Gartenhauses und in die Wohnstube des Gärtners. Dieser saß mit dem Küster beim
Abendtrunk und empfing mich schon als einen Ankömmling, bei dem alles in Ordnung
ist; auch der Küster betrachtete mich jetzt als einen Gast, der wohl empfohlen und
erwartet wurde, sich aber offenbar mit der Art seines Auftretens einen
eigentümlichen Scherz gemacht hat. Der Gärtner führte mich noch einige Stufen
höher, wo auf der dem Schlosse zugewendeten Rückseite des Gartenhauses ein auf
hölzernen Säulen ruhendes Sälchen hinausgebaut war. Dies angehängte Lustgebäudchen
war außen von den Säulenfüßen bis zum Dache mit purpurrotem Geißblatt bekleidet;
inwendig enthielt das
Auf Stühlen lagen schon bequemliche Kleidungsstücke bereit, deren mich zu bedienen der Gärtner die Einladung ergehen ließ. Um sie nicht anziehen zu müssen, zog ich jedoch vor, mich gleich zu Bette zu legen, zumal ich die Augen zu schließen wünschte, und ich bat den Gärtner, meine nassen Kleider zu holen, sobald jenes geschehen sei, damit sie getrocknet und gereinigt würden. Als ich nach allem diesem endlich im Dunkeln lag, hörte ich Geräusch von Pferden und Wagen, auch Gebell von Hunden. Das war ohne Zweifel der heimkehrende vornehme Herr, vor welchen heute nicht mehr hintreten zu müssen ich als schätzbaren Aufschub betrachtete.
Der Schlaf war so fest und andauernd, daß ich erst um die Mitte des Vormittags munter wurde. Meine Kleider waren in gutem Zustande längst geräuschlos in das Zimmer gebracht worden; als ich sie erblickte, pries ich den Handel, den ich mit dem freundlichen Hebräer abgeschlossen. So gibt der Augenblick den Dingen stets ihren besondern Wert: der geringe Ertrag meiner Arbeit erschien mir jetzt in Gestalt eines anständigen Kleides willkommener, als mir die doppelte oder vierfache Summe zu anderer Zeit gewesen wäre.
Während ich mit dem Anziehen beschäftigt war, klopfte jemand an der Türe. Auf mein
»Herein!« öffnete sich dieselbe weit, und ein großer schöner Mann stand darin, die
Klinke in der Hand, das Gemach samt seinem Insassen aufmerksam überschauend.
»Guten Tag! lassen Sie sich nicht stören!« sagte er mit frischem kräftigem Klang der Stimme; »ich will nur sehen, wie es meinem Gaste geht!«
»Es geht mir ja sehr wohl, Herr Graf, insofern ich die Ehre habe, in Ihnen wirklich den Herren des Hauses zu begrüßen!« antwortete ich etwas verlegen, indem ich den Kamm weglegte, den ich gerade handhabte, und mich verbeugte, so gut ich es verstand.
»Bitte, fahren Sie fort in Ihrem Geschäfte, und tun Sie nicht anders, als wenn Sie zu Haus wären! Zuerst aber seien Sie mir willkommen!«
Er trat mit diesen Worten vollends in das Zimmer und schüttelte mir die Hand, und von dem Augenblick an verlor ich ihm gegenüber jede Befangenheit, denn in seiner Hand, seinem Blicke und seiner Stimme kündigte sich der freie Mensch an, der über den zufälligen Dingen steht.
»Nun sagen Sie aber«, rief er lebhaft, indem er sich ans offene Fenster setzte, um
mir Raum zu lassen, »sind Sie in der Tat unser Mann, unser Heinrich Lee, der auf
den Zeichnungen überall geschrieben steht? Ihre Bestätigung würde mir das größte
Vergnügen machen. Ich habe nämlich in früheren Jahren selbst dergleichen
getrieben, gab es aber wegen zu großer Ungeschicklichkeit auf; dagegen freute ich
mich jedesmal, wenn es mir gelang, das eine und andere nach der Natur geschaffene
Blatt zu erwerben, was indessen nicht oft vorkommt. Nichts konnte mir daher
willkommener sein als der Besitz sozusagen eines ganzen derartigen Vermögens, das
die vollständige Entwicklung eines redlich Strebenden und zugleich eine Menge
reeller Gegenstände in sich begreift. Als wir die Gelegenheit bei dem schnurrigen
Winkelmäzenaten aufstöberten, sorgte ich sogleich dafür, daß alles in meine Hand
gelange, suchte auch
Ich hatte aus meiner Reisetasche ein Päcklein hervorgesucht, das neben den Briefen der Mutter meinen Reisepaß enthielt. Denselben entfaltend, hielt ich dem Grafen die Urkunde hin, welche meinen Namen und Stand amtlich bezeichnete.
»Es ist nicht anders, Herr Graf!« sagte ich, wohlgemut lachend; »ein romantisches Geschick vergönnt mir, die bescheidenen Früchte meiner Jugendjahre nochmals zu sehen und gut verwahrt zu wissen, eh ich dahin zurückkehre, wo sie entstanden sind.«
Der Graf nahm den Paß und las ihn aufmerksam, um sich die Tatsache recht einzuprägen und nicht aus Zweifel an meinen Worten, wie er sich ausdrückte.
»Es ist ein köstlicher Zufall«, setzte er hinzu; »nun kann aber zunächst von Weiterreisen keine Rede sein, wenn wir ihm die gebührende Ehre antun wollen! Mich wundert, wie Sie in Ihre mißliche Lage geraten sind und wie sich ein solches Leben gestaltet, was Sie ferner zu tun gedenken, und alles ist vergnüglich zu besprechen, während Sie sich bei uns, soviel als nötig ist, erholen –«
Plötzlich blickte er mit großen Augen auf den Tisch, von dem ich achtlos ein Handtuch weggenommen, um die Hände zu trocknen, die ich inzwischen gewaschen. Dieses Tuch hatte ich vorhin rasch über den Inhalt meiner Wandertasche geworfen, als an der Türe geklopft wurde, und nun lagen der Schädel und das eingebundene Manuskriptum meiner Jugendgeschichte offen da.
»Das ist ja ein mysteriöses Reisegepäck!« rief er, an den Tisch herantretend, »ein Totenschädel und ein grünseidener Quartant mit goldenem Schloß! Sind Sie ein Geisterbeschwörer und Schatzgräber?«
»Leider nicht, wie Sie sehen!« erwiderte ich und gab in wenigen Zügen die
verdrießliche Geschichte mit dem Schädel zum
»Und das Buch, was ist's mit dem?«
»Das hab ich geschrieben, als ich nichts mehr zu tun und zu leben wußte; es enthält einfach die Beschreibung meiner jungen Jahre, mit welcher ich mir eine Selbstprüfung auferlegte; es ist dann aber ein bloßes Erinnerungsvergnügen daraus geworden. An dem tollen Einband bin ich nicht schuld.«
Ich erzählte, wie ich durch das Mißverständnis des Buchbinders um meine letzten Gulden gekommen, alsdann den Hunger kennengelernt habe und durch das Flötenwunder zu dem Trödler geraten sei.
»Also das ist die Geschichte, wo Dorothea Sie die Flöte blasen hörte?« rief der Graf mit herzlichem Lachen; »aber weiter! Was ist seither geschehen?«
Ich fügte noch das Abenteuer mit den Fahnenstangen hinzu und die stille Befriedigung, die mir dasselbe gebracht, sowie den Tod der Hauswirtin und so weiter bis zum Schädelwurf des Wirtes, den ich schon erzählt hatte. Die kurze Begegnung mit Hulda und das übrige verschwieg ich.
Der Graf ergriff das Buch. »Darf man es aufmachen oder gar darin lesen?« frug er, und ich bejahte es gern, wenn es ihm nicht zu langweilig sei.
»So wollen wir jetzt hinübergehen und etwas frühstücken, denn wir essen erst in drei Stunden.«
Er nahm das Buch unter den einen Arm, mich unter den andern, und wir begaben uns
nach dem Schlosse, wie das Hauptgebäude genannt wurde, das zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts erbaut sein mochte. Der Graf führte mich in seine Zimmer im
Erdgeschosse, deren Mittelpunkt ein heller Bibliotheksaal mit geräumigen
Arbeitstischen bildete. Auf einem derselben stand ein Frühstück bereit, und da
neben lag auch schon
»Sie müssen mir die Sachen etwas ordnen«, sagte er, »und können sich zunächst die Zeit damit vertreiben. Viele der Blätter tragen kein Datum, während die Manieren und Fertigkeiten, Sorgfältiges und Nachlässiges, glücklich Gelungenes und Mißratenes, alles zugleich mit ungleicher Sicherheit oder Unsicherheit begleitet, so durcheinandergehen, daß ich die gewünschte Einordnung nach der Zeitfolge nicht recht zustande bringe. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen! Hier ist ein Blatt, welches bei unentwickeltem Können, das offenbar auf frühere Anfänge zurückweist, dennoch den Nagel auf den Kopf getroffen hat und mit anmutigem naivem Gelingen gekrönt ist; dort paart eines mit vorgeschrittener Sicherheit des Machwerks ein sichtliches Fiasko des Gewollten, kurz, alles dies ist mir interessant, und ich wünschte die Sammlung so chronologisch genau als möglich geordnet zu sehen, das heißt, dasjenige vorbehalten, was wir überhaupt darüber noch beschließen werden. Ich habe heut früh schon in dieser Hinsicht nachgedacht!«
Ich war überrascht von dem richtigen Verständnis, mit welchem er durch hervorgezogene Beispiele sein Urteil belegte. Doch holte er aus einem Schranke noch einige Hefte herbei.
»Hier ist aber noch ein Fall, aus dem ich nicht recht klug werde; sind diese Gebilde wirklich auch von Ihnen? Ich sehe, daß es zerschnittene Sachen sind, weiß sie aber nicht zusammenzubringen.«
Es waren meine gewesenen Kartonkompositionen. Das Trödelmännchen hatte aber die
Blätter der verschiedenen Hefte durcheinandergeworfen, bunte und grau in grau
gehaltene, größere und kleine jedem Hefte zugeteilt und so nach seiner Meinung
einen gleichmäßigern Wert der Mannigfaltigkeit in die tolle Sammlung gelegt. Auch
mochte der Graf dieselbe noch nicht gründlich untersucht haben, und ich begriff,
daß auf diese
Der Graf betrachtete das große Wesen stillschweigend, bis er sagte: »Also dergleichen haben Sie getrieben? Warum ist es denn zerschnitten?«
»Weil ich es nur auf diese Art dem Alten aufbinden konnte; denn er hätte mir für diesen ganzen bunten Karton kaum mehr gegeben, als ich dann für die einzelnen Bruchstücke erhielt. Auch hätte ich, offen gestanden, nicht gewünscht, daß die ungeheuerlichen Fahnen in seiner Unglücksspelunke gesehen und von da weiß Gott wohin verschlagen worden wären. Es konnte ja einem Bierwirt einfallen, seine Kegelbahn damit zu tapezieren, und ich wäre, da das Vorhandensein dieser Versuche in der Künstlerschaft nicht unbekannt geblieben ist, auf eine melancholische Weise sprichwörtlich geworden! So aber war es weniger wahrscheinlich!«
Ich nahm die Blätter wieder auf und legte die Urstierjagd hin, dann die mittelalterliche Stadt und die übrigen Erfindungen.
»Nun weiß ich doch, was Sie gewollt haben!« sagte der Graf; »Sie sind aber ein Barbar, denn wie können wir die Schilderei wiederherstellen ohne Verderbnis?«
»Man läßt beim nächsten Schreiner leichte Blendrahmen von Tannenholz anfertigen, bespannt diese mit einem billigen Gewebe und leimt einfach die Blätter darauf, wie sie gewesen sind; es wird ein Netz von feinen Fugen sichtbar bleiben, das nichts schadet. Aber was in aller Welt wollen Sie damit anfangen?«
»Über den Bücherschränken hier sollen sie hängen. Dunkelfarbig eingerahmt und übrigens teilweise nicht ganz fertig, wie sie sind, werden sie als Denkmale des Studiums und der Arbeit an ihrem Platze und für mich, zumal der Urheber selbst in diesem Hause gewohnt hat, ein stattliches Konkretum sein.«
In der Tat boten die Wände des hohen Zimmers oberhalb der eichenen Schränke noch hinlänglichen Raum; wenn ich mir die seltsamen Früchte meiner Arbeit dort aufbewahrt vorstellte, so mußte ich mich des freundlichen Geschickes erfreuen, das ihnen doch noch vergönnt war. Denn über ihnen erhob sich feierlich die halb gewölbte Decke des Saales, und einige antike Büsten, Globen und dergleichen, die auf den Eichenschränken standen, zierten und schmückten die Bilder eher, als daß sie dieselben verbargen oder verunstalteten.
Der Graf jedoch fuhr fort: »Ihre Frage muß ich Ihnen zurückgeben: Was gedenken Sie denn mit sich selbst jetzt anzufangen?«
»Das ist mir in diesem Augenblicke zum Teil klargeworden, insoweit ich jetzt mit äußerlichen Ehren, sozusagen mit versöhntem Herzen, der Halbheit, die ich betrieben, Valet sagen und mich in letzter Stunde einem Leben zuwenden kann, das mir besser ziemt, wenn es auch bescheidener ist. Was es sein wird, weiß ich freilich noch nicht; doch werde ich nicht lange zaudern.«
»Entscheiden Sie sich nicht zu früh, obgleich ich Ihre Stimmung zu verstehen glaube! Vor allem wollen wir, fällt mir ein, das Geschäft bereinigen! Wollen Sie die Studien wiederhaben, und, wenn nicht, unter welchen Bedingungen wollen Sie mir dieselben lassen?«
»Sie sind ja Ihr Eigentum!« sagte ich verwundert.
»Was Eigentum! Sie werden doch nicht glauben, daß ich, nun ich Sie kenne und in meinem Hause habe, Ihre Mappe um das geringe Geld behalten will; denn denken Sie nicht etwa, daß ich dem Kauze viel habe bezahlen müssen; er hat sich mit einem höchst bescheidenen Gewinne begnügt. Oder wollen Sie mich etwa schon beschenken?«
»Ich meine, daß die Mappe ihr Schicksal erfüllt und ihren Dienst geleistet hat.
Sie hat mir zur Zeit der Not das Leben gefristet; jeder Groschen, den sie mir
eintrug, hatte für mich
»Dies würde mir gefallen, wenn die Umstände anders beschaffen wären. So aber ist es eine Ziererei, die wir lassen wollen. Ich bin reich und würde die Sammlung um jeden annehmbaren Preis kaufen, auch wenn Sie selber gar nichts davon bekämen, also ohne Rücksicht auf Sie. Lernen Sie auf Ihrem Rechte bestehen, wenn es niemand drückt und ängstigt, auch wenn es nur ein moralisches ist, und nehmen Sie den Wert, der Ihnen gebührt, ohne Scheu; nachher können Sie damit tun, was Sie wollen! Also nennen Sie einen Preis, wie er Ihnen gut dünkt, und ich werde froh sein, die Sachen zu behalten!«
»Gut denn«, erwiderte ich lächelnd und nicht ohne geheime Lust, meine Umstände so schnell gebessert zu sehen, »so wollen wir den Handel gründlich abschließen! Es müssen ungefähr achtzig ausgeführtere gute Blätter sein, die durchschnittlich in einem ordentlichen Verkehre, bei gerechter Schätzung, jedes seine zwei Louisdors gelten dürften, einzelne mehr, andere weniger; dann werden gegen hundert geringere Abschnitzel und Skizzen dasein, die teilweise bis zur Wertlosigkeit herabreichen. Diese rechnen wir zu einem Gulden ineinander, und von der Summe, welche sich ergibt, ziehen Sie diejenige ab, die Sie dem Herren Schmalhöfer im ganzen bezahlt haben!«
»Sehen Sie«, sagte der Graf, »das ist vernünftig gesprochen! Ich kann Ihnen gleich sagen, daß ich dem Trödler für die Sachen, die Kartons mit eingeschlossen, dreihundertundzweiundfünfzig Gulden und achtundvierzig Kreuzer bezahlt habe.«
»Dann hat er wirklich nicht so viel verdient, wie ich gedacht«, versetzte ich, »da ich ungefähr die Hälfte dieser Summe erhalten habe.«
»Das macht, er hat sich eben auf diesen Zweig seines blühenden Geschäftes nicht
sonderlich verstanden! Um aber auf die Kartons zurückzukommen, die Sie beinah
vernichtet haben, so verhandeln wir dieselben später, wann sie wiederhergestellt
sind.
Ich errichtete nun zwei Haufen für die leichtere und schwerere Ware und warf die Blätter nach ihrer Beschaffenheit ohne langes Besinnen auf einen derselben. Der Graf rettete mehrmals ein zu leicht erfundenes Blatt und legte es auf die bessere Seite. Am Ende wurden beide Haufen gezählt und berechnet, worauf der Mann sich in ein inneres Zimmer begab und mit der Summe, die über anderthalbtausend Gulden anstieg, zurückkehrte. Er legte sie in Gold aufgezählt vor mich hin; ich dankte ihm mit freudeheißem Gesicht, zog mein Lederbeutelchen hervor, in welchem das kümmerliche Reisegeldchen weilte, nahm dieses heraus und tat das Gold hinein, von dem der Beutel ganz rund anschwellte. Ich wußte nun, daß ich in bessern Umständen nach Hause gehen und der Mutter einen Teil des für mich Geopferten wiederbringen konnte.
»Wie ist Ihnen jetzt zu Mut?« sagte der Graf, als er meine frohe Zufriedenheit bemerkte, da ich eine wirkliche Handvoll jenes Traumgoldes in der Tasche barg; »fahlen Sie nicht die Lust, abermals umzukehren und die Sache doch noch ein Weilchen fortzusetzen? Denn nach diesem Anfang, den herbeizuführen mir vergönnt ist, kann ja die Wendung zum Bessern leicht ihren Fortgang haben!«
»Nein, das wird sie nicht! Dazu trägt mir das ganze Abenteuer zu sehr das Gepräge einer Einzigkeit, die sich nicht wiederholt. Auch liegt mein Entschluß bereits in einer tieferen Schicht als in derjenigen des leidlichen Fortkommens; ich habe bessere Leute gesehen, als ich bin, die ihn ausgeführt haben, mitten in lohnender Tätigkeit, weil ihre Seele eben nicht recht dabei war.«
Ich erzählte ihm die Geschichte von Erikson und Lys. Er schüttelte aber den Kopf
und meinte: »Diese Fälle sind ja unter sich verschieden und beide wieder von dem
Ihrigen! Allerdings
Ich lachte, indem ich an die Kostspieligkeit eines derartigen Verfahrens für meine Umstände dachte, sagte aber hievon nichts, sondern bemerkte bloß: »Sie täuschen sich, Herr Graf! Ich habe meinen bescheidenen Höhepunkt erreicht und kann wirklich nichts Besseres machen; ich würde auch unter günstigeren Verhältnissen höchstens ein dilettantischer Akademist werden, der etwas Absonderliches vorstellen will und nicht in Welt und Zeit paßt!«
»Nicht so! Ich sage Ihnen, es war nur Ihr guter Instinkt, der Sie nicht das Gewünschte zuweg bringen ließ. Ein Mensch, der zum Bessern taugt, macht das Schlechtere immer schlecht, solang er es gezwungen macht. Denn nur das Höchste, was er überhaupt hervorbringen kann, macht der Unbefangene recht; in allem andern macht er Unsinn und Dummheiten. Ein anderes ist es, wenn er aus purem Übermut das Beschränktere wieder vornimmt, da mag es ihm spielend gelingen. Und dies wollen wir, denk ich, noch versuchen! Sie müssen nicht so jämmerlich davonlaufen, sondern mit gutem Anstand von dem Handwerk Ihrer Jugend scheiden, daß keiner Ihnen ein schiefes Gesicht nachschneiden kann! Auch was wir aufgeben, müssen wir mit freier Wahl aufgeben, nicht wie der Fuchs die Trauben!«
Zu diesen Worten schüttelte ich meinerseits den Kopf, nur darauf bedacht, mit
meiner unverhofften Beute die Heimat so
Ich wurde vorerst dem Herren bekannt gemacht, worauf wir uns nach dem bezeichneten
Orte begaben. Das Fräulein spazierte auf der Terrasse in dem milden Sonnenscheine,
der heut auf dem Lande lag. Sie begrüßte mich freundlich, sagte, wir hätten uns ja
eine Ewigkeit nicht gesehen, und frug, wie es mir gehe. Statt aber die Antwort
abzuwarten, forderte sie den Kaplan auf, ihr den Arm zu geben, was derselbe mit
einer sich immer gleichbleibenden spaßhaften Umständlichkeit tat, und so schritt
sie dem Grafen und mir voran in das Haus und die breite Treppe hinauf, bis wir in
das Speisezimmer gelangten. Schon dieser kleine Aufzug durch das stattliche
Treppenhaus und die langen Korridore ließ mich an den Pfad der Mühsal denken, den
ich vor kaum vierundzwanzig Stunden gewandelt, und als wir vier Personen nun um
den runden Tisch saßen, von einem schwarzgekleideten stillen Manne bedient, der
weiße Handschuhe trug, war ich ganz betreten von dem wunderlichen
Schicksalswechsel, der doch wiederum mit meiner Hände Arbeit und den
entschwundenen eigenen Lebensjahren zusammenhing. Das Mittagsmahl war indessen so
wenig prunkhaft und weitläufig und der Ton so frei und unbefangen, daß ich mich
bald dem
»Sie müssen nämlich wissen«, wandte er sich unversehens zu mir, »daß unsere Gnädigste mich zu ihrem lustigen Rat, zu deutsch zu ihrem geistlichen Hofnarren erkoren hat und daß ich mich diesem schwierigen Amte nur unterziehe, um doch noch dero ungläubige Seele zu erretten, was keineswegs ausbleiben wird!«
»Glauben Sie's nicht!« sagte Dorothea; »Se. Ehrwürden spielen im Gegenteil mit mir, deren Seele sie ohnehin für verloren halten, wie ein mutwilliges Kätzlein einen Schmetterling zerpflückt!«
»Laßt euch nicht zu stark auf mit eueren Witzen, Leutchen!« warf der Graf dazwischen; »unser Freund hat's auch hinter den Ohren und führt ebenfalls einen Schalksnarren mit sich, mit dem er sich sogar in die Weltregierung einmischt.«
Er teilte den Tischgenossen den Vorfall mit dem Waldhüter und dem Totenkopfe mit. Die Verwunderung und der Beifall, welchen die Begebenheit fand, verlockten mich, nun die eigentliche Geschichte des Albertus Zwiehan, wie sie mir ein für allemal als fable convenue galt, vorzubringen, namentlich, wie er durch die beiden Schönen, Cornelie und Afra, oder vielmehr durch das Schwanken zwischen ihnen um Erbe und Leben gekommen sei. Dorothea hörte mit halbgeöffnetem Munde zu, während die blühenden Lippen ein Lächeln umspielte und in der Kehle kleine abgebrochene Glockentöne ein wirkliches Lachen verrieten, das sie aber nicht aufkommen ließ.
»Dem ist aber recht geschehen!« rief sie aus, »der war ja ein schändlicher Patron!«
»Ich möchte ihn nicht so grausam verurteilen«, wagte ich zu antworten; »nach
Herkommen und Erziehung war er ja ein halber Wilder und tappte mit dem Egoismus
eines Kindes nach
Über diesen kennerhaften Ausspruch wurde ich je doch selbst ganz heiß im Gesicht und bereute sogleich, ihn zum besten gegeben zu haben; nicht nur bemerkte ich, daß der Kaplan mit seiner von einem studentischen Säbelhiebe eingedrückten Nase ein humoristisches Gesicht gegen das Fräulein machte, sondern ich fühlte auch die Schwäche meiner eigenen Lebensgeschichten, ohne welche ich ja nicht hierher verschlagen worden wäre. Ich nahm mir im stillen vor, den Stab so bald als möglich weiterzusetzen, und als nach Tisch davon die Rede war, wie der Rest des Tages zuzubringen sei, drückte ich den Wunsch aus, vor allem einen Handwerker zu finden, der die Blendrahmen für die wiederherzustellenden Kartons anfertigen könne. Der Kaplan anerbot sich, mich zum Dorfschreiner zu bringen, welcher der einfachen Arbeit ohne Zweifel gewachsen sei. Als man nun auch der Unterlage für die zusammenzufügenden Fragmente gedachte, zeigte es sich, daß in der Pfarrwohnung, deren Unterhaltungspflicht dem Grafen als Patronatsherren oblag, soeben ein Tapezierer aus der Nachbarstadt beschäftigt war, die Wohnstube des Kaplans mit einem frischen Wandschmucke zu versehen.
»Er hat genug Papierwerk bei sich, um die Rahmen zu beziehen«, sagte der Geistliche, »langes Maschinenpapier, das er unter die Tapete legt, damit ich hübsch warm bekomme!«
»Das genügt mir nicht«, versetzte der Graf, »es muß ein festes Tuch sein, damit es vorhält. Da der Mann zugleich Matratzen macht, so wird er dergleichen wohl beibringen können. Indessen macht ihm Herr Lee vorläufig die nötige Bestellung. Dann mögen beide, der Tischler und der Tapezierer, jener mit den gehobelten Leisten, dieser mit dem Tuche, hierherkommen und die Rahmen unter Aufsicht nach den genauen Maßen zuschneiden und fertigmachen!«
Der Betätigung froh, begab ich mich mit dem Kaplan auf den
Der Graf war ausgeritten; nach dem Fräulein zu fragen, hielt ich nicht für schicklich. Ich verweilte daher einsam auf der Terrasse und besah mir die Abendwolken, diese freundlichen Begleiter, die sich unermüdlich auflösen und wieder bilden, um zu Tausenden von Malen die irrenden Augen an sich zu ziehen und auf sich ruhen zu lassen. Welch ein Haus halt, dachte ich, drin das unentbehrlichste Existenzmittel zugleich einen unerschöpflichen Überfluß an Schaugebilden schafft für arm und reich, jung und alt, in allen Lagen ein Spiegel des Gemütes und sein stiller Richter, der alles sieht!
Aus dieser sanftmütigen Betrachtung weckte mich Dorotheas elastischer Schritt, der mir bereits nicht mehr unbekannt war. Sie stieg rasch die Stufen der Terrasse herauf, mein schönes grünes Buch in der Hand.
»So allein läßt man Sie?« rief sie mir entgegen; »wissen Sie, wo ich herkomme? Von dem Kirchhof, dort habe ich in Ihrem Schreibbuche gelesen, die Geschichte von der kleinen Meret, die nicht beten wollte! Durfte ich es auch, und darf ich mehr darin lesen? Papa hat ein paar Stunden heute nachmittag darüber zugebracht und mir dann das Buch gegeben, damit ich die Geschichte lese. Sehen Sie, hier hab ich ein Efeublatt von einem Kindergrabe hineingelegt! Aber nun müssen Sie unsereinem auch die Hand geben, wenn man sich begegnet; denn nun sind Sie uns schon näher bekannt!«
Nach einigen Tagen war ich mit dem Ordnen der Studienblätter und der Wiederherstellung der größeren und kleineren Kartonlandschaften zu Ende. Die letzteren waren vorläufig, bis die aus der Hauptstadt zu beziehenden Einfassungen anlangten, an die ihnen bestimmten Orte gehängt worden, wo der Graf sie abwechselnd mit Zufriedenheit betrachtete. Ohne einen größern Wert beanspruchen zu können, erhöhten sie in der Tat den malerisch ernsten Anblick des Bibliotheksaales und verschafften mir das wohltuende Gefühl, sie als Zeugnisse ehrlichen Wollens an solcher Stelle gerettet zu wissen, wie ich schon bemerkt habe. Dazu ließ es der Graf nicht an aufrichtenden Äußerungen fehlen.
»Mögen Sie die künstlerische Laufbahn fortsetzen oder nicht«, sagte er, »so werden mir die Bilder fast gleich wert bleiben, im ersten Falle als Wegezeichen eines Entwicklungsganges, im andern als Illustration oder Ergänzung Ihrer Jugendgeschichte, die ich nun durchgelesen habe. Jeder braucht Liebhabereien; die meinigen dehne ich nun aus auf das Wahrnehmen eines Lebensganges, wie der Ihrige sich darbietet. Sie sind ein wesentlicher Mensch, aber Sie leben in Symbolen, sozusagen, und das ist ein gefährliches Handwerk, besonders wenn es in so naiver Weise geschieht! Doch wollen wir darüber uns jetzt keine grauen Haare wachsen lassen, wenigstens nicht Sie; denn was mich betrifft, so kann ich dies Sprichwort leider nicht mehr gut anwenden. Was mir zunächst obliegt, ist die Vergütung, die ich Ihnen für diesen Schmuck meines Büchersaales zu leisten habe!«
»Das haben Sie ja schon getan!« sagte ich fast erschrocken, daß ich schon wieder
Geld erhalten solle, so verdächtig war mir dies ungewohnte Glück; und doch zierte
ich mich eher, als daß es mir Ernst war, ohne doch die Ziererei zu beabsichtigen.
Er rief aber: »Mädchen Sie keine Umstände, mein Lieber! Es soll nicht ein Kaufpreis sein, denn ich weiß wohl, daß solche Sachen nicht leicht an Mann zu bringen und für jedermann brauchbar wären; es ist vielmehr eine Diskretionsfrage für mich und für Sie eine Notwendigkeit. Da das also so zusammentrifft und außerdem zur Durchführung unsers ungewöhnlichen Abenteuers beiträgt, warum sollten wir demselben die Ehre nicht antun?«
Hiemit schob er mir eine Papierhülle voll Banknoten in die Brusttasche; es war, wie ich später fand, eine gleiche Summe, wie er mir schon ausbezahlt, so daß ich also schon doppelt so reich dastand als nur vor einigen Tagen.
»Nun«, fuhr er fort, »sprechen wir von der Hauptsache, davon nämlich, was Sie beginnen wollen? Ich fühle auch, daß Sie umsatteln sollten; für einen biedern Landschafter ist Ihre Einrichtung zu weitläufig, zu winkelig, zu irrgänglich und unruhig, da muß ein anderer Hausmeister hinein! Aber nicht so trübselig und unfreiwillig muß es geschehen, sondern, wie wir schon gesagt, mit dem Anstand eines freien Entschlusses, der allenfalls auch anders zu fassen war!«
»Dem Anstand ist ja schon Genüge getan durch die Aufnahme, welche Sie meinen zweifelhaften Erzeugnissen gewähren!«
»Nein, in meinem Sinne nicht! Sie müssen sich selbst noch den Beweis leisten, daß Sie, wenn auch nicht glänzend, doch mit Ehren bestehen könnten bei dem Berufe, den Sie gewählt; dann erst mögen Sie sich bedanken und daran vorbeigehen! Malen Sie bei uns ein fertiges Bild, mit gesammelter Kraft, aber leichten Herzens, keck und ohne Sorgen, und ich will wetten, wir verkaufen es!«
Ich schüttelte abermals den Kopf, da ich an die Monate dachte, welche ein solches Unterfangen noch kosten würde.
»Hören Sie an!« versetzte er, »wir wollen ohne längeres Zaudern vorgehen! Aber eine Nacht müssen Sie die Frage noch beschlafen. Machen Sie sich auf morgen früh reisefertig, der Wagen soll bereitstehen; dann bringe ich Sie je nach Ihrem letzten Worte entweder zur Station der nach der Schweiz durchgehenden Post, oder wir fahren zusammen nach der Hauptstadt, wo ich ohnedies zu tun habe und Sie die für Ihre Arbeit nötigen Einkäufe besorgen. Soll es gelten?«
Ich schlug ein, zweifelte aber nicht, daß ich den Weg in die Heimat wählen werde.
Diesen Tag sollte das Essen in dem sogenannten Rittersaale eingenommen werden, einem in den oberen Stockwerken liegenden und mir noch unbekannten Raume. Dorothea kam in die Bibliothek, uns das zu verkünden. Es sei dort vermöge der Sonnenseite heute eine so milde Temperatur, daß der Saal nicht brauche geheizt zu werden und der schöne Herbsttag zu den Fenstern hereinspazieren könne. Sie selber sah, wie ich mit stillem Erstaunen wahrnahm, einem hellen Junitage gleich; auch der Graf betrachtete sie überrascht einen Augenblick. Sie war in schwarzen Atlas gekleidet, trug um Hals und Brust eine vornehme Spitzenzierde, und in dieser verlor sich eine Perlenschnur. Die dunkle Lockenlast aber war heut mit besonderm Schwunge nach dem Nacken zurückgeworfen, während die hiedurch zutage tretenden lichten Felder der Schläfengegend dem Kopfe einen Ausdruck von Freiheit, wo nicht von Stolz verliehen.
»Was hast du denn vor, daß du dich so aufgeputzt?« sagte der Graf, »erwartest du Gäste, von denen ich nichts weiß?«
Obgleich sie diese Rede in einer halb weichmütig ernsten, halb anmutig lächelnden Weise vorbrachte, welche keine bösliche Absicht verriet, so schien mir doch das Wort Narziß eine Stichelei auf die Selbstbespiegelung meines Schreibbuches zu sein, zumal mir nicht recht wohl dabei war, es aus der Hand gegeben zu haben. Aus welcher Tiefe, sei es des Urteils oder des bloßen Scherzes, solche Stichelei aufsteigen mochte, sie dünkte mich gleichermaßen beschämend, und ich fühlte die Röte im Gesicht, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden. Sie beachtete das aber nicht und merkte nichts davon, so daß ich ihr wohl zuviel Absicht zugetraut haben mochte.
Der erwähnte Saal war wirklich bunt genug, aber mit Würde und Feierlichkeit. Ein
scharlachroter Teppich spannte sich über den ganzen Fußboden; der Plafond war in
seiner Länge und Breite von einem einzigen Freskogemälde bedeckt, der Wandraum
zwischen demselben und der etwa mannshohen dunklen Holzbekleidung durchaus mit den
Bildnissen der Vorfahren behangen. Über einem schwarzen Marmorkamine türmten sich
alte Waffen und Rüstungen empor; andere feinere Waffen glänzten in Glasschränken,
besonders kostbare Degen und Schwerter, deren Abbilder man auf manchem Bildnisse
ihrer ehemaligen Träger wiedererkannte. Aber es waren auch Waffenstücke aus
Jahrhunderten da, in welche keine Bilder zurückreichten. So zeigte ein kleiner
dreieckiger Schild noch kaum
Ich konnte mich nicht enthalten, eifrig umherzugehen und die Augen an all den schönen Dingen zu weiden; der Graf erklärte mir ein und anderes, Dorothea brachte Schlüssel herbei und öffnete die wohlverwahrten Schränklein eines großen Buffets, in welchen ein altertümlicher Silberschatz schimmerte. Andere Schränke waren in das Holzgetäfer der Wände eingelassen und enthielten Handschriften auf Pergament mit glänzenden Miniaturen, viele Urkunden mit hängenden Siegeln in Holz- oder Silberkapseln, auch ohne Kapseln und halb zerbröckelt. Der Graf zog ein paar solcher Urkunden hervor und entfaltete sie; ich konnte sie aber nicht lesen, denn sie stammten aus dem zwölften oder gar eilften Jahrhundert und waren kaiserliche Briefe, die sich auf den Fleck Landes bezogen, auf welchem wir standen. Als ich meine Verwunderung über so reiche Erinnerungen und Denkmäler bezeugte, dergleichen ich noch nie gesehen, bemerkte der Graf, er habe eben den ganzen Familienkram in diesem Saale aufgestapelt, wo derselbe sein Dasein genießen möge, ohne die Lebenden auf Schritt und Tritt zu behelligen. Seine Freude daran sei nur eine mäßige und nicht größer, als sie etwa jeder Sammler auch empfinde.
»Ei«, sagte ich, »solche Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit einer langen Vergangenheit, die sich auf uns selbst bezieht, läßt sich doch nicht willkürlich vergessen und verwischen, und man sollte sich ihrer freuen können, ohne sie unfreisinnig zu mißbrauchen!«
»Man sollte es denken; wer aber die Erfahrung davon hat, weiß, daß man unter
Umständen der sechs oder sieben Jahrhunderte müde werden kann. Ich habe mir auch
schon gewünscht, in einem freien Rechtsstaate einer erhaltenden Aristokratie
anzugehören vermöge der Abkunft, das Wort Aristokratie
»Das tu ich! Mir gefällt es einstweilen recht wohl in diesem Saale, der nicht zu unterschätzen ist!« ließ sich Dorothea mit einiger Gemessenheit vernehmen, die mich wieder verlegen machte, weil ich diese neue Laune nicht verstand und sie weder tadeln noch bewundern konnte. Indessen war der Aufenthalt in der Tat feierlich sowohl durch die hereinflutende sonnige Luft als durch den Duft eines feinen Räucherwerkes, das vorher in dem Raume verbrannt worden war. Die Farbenpracht, die uns umgab, schien hiedurch noch an Kraft und Tiefe zu gewinnen.
Nachdem wir eine Weile in mehr abgebrochener flüchtiger Unterhaltung gesessen,
wendete sich Dorothea mit freundlich
»Allerdings«, gab ich mit Selbstzufriedenheit und gelindem Trotze zur Antwort, »allerdings bin ich auch nicht auf der Straße gefunden!«
Da klatschte sie plötzlich jubelnd in die Hände, indem sie ihre gewöhnliche natürliche Art wieder aufnahm, und rief fröhlich: »Nun hab ich Sie gefangen, mein wohlgeborner Herr! Ich bin nämlich auf der Straße gefunden, wie Sie mich da sehen!«
Ich sah sie verblüfft an und wußte nicht, was das heißen sollte, indessen sie fortfuhr, sich zu freuen, und sagte: »Ja, ja, mein gestrenger Herr von braver Abkunft! Ich bin das richtigste Findelkind und heiße mit Namen Dortchen Schönfund und nicht anders, so hat mich mein lieber Pflegevater getauft!«
Nun blickte ich verwundert den Grafen an, der lachte: »Ist das also nun das Ziel deines Witzes? Wir mußten nämlich dieser Tage lachen, als wir Ihre Worte lasen: wenn Sie sich selbst bei der Nase nehmen, so seien Sie sattsam überzeugt, daß Sie zweiunddreißig Ahnen besitzen. Als wir dann weiterlasen, wie Sie sich doch nicht enthalten können, über die Vorfahren einige Betrachtungen anzustellen, schmollte unser Kind hier und klagte, daß alle, Adelige wie Bürger und Bauern, sich ihrer Abkunft freuen und nur sie allein sich schämen müsse und gar keine Herkunft habe. Denn ich habe sie wirklich auf der Straße gefunden, und sie ist meine brave und kluge Pflegetochter!«
Er strich ihr liebevoll die Locken zurück, die aus ihrer Verbannung im
wohlgebauten Nacken an den gebührenden Platz neben den errötenden Wangen
zurückstrebten. Betroffen und
»Nein«, versetzte der Graf, »wir wollen keine verwunschene Prinzessin aus ihr
machen. Der einfache Hergang ist übrigens hier jedermann bekannt, und was jedes
Kind weiß, dürfen Sie auch erfahren. Vor zwanzig Jahren, als meine Frau, die
einzige, gestorben war, trieb ich mich schmerzlich und trostlos im Lande herum.
Eines Abends stieg ich an der österreichischen Donau in einem unserer Stadthäuser
ab, das die Geliebte gern und häufig bewohnt hatte. Als ich ins Haus ging, sah ich
ein schönes zwei- bis dreijähriges Kind still auf der Steinbank neben dem Portale
sitzen, ohne seiner zu achten. Ich ging nochmals aus, um das Abendrot über dem
breiten Strome zu sehen, das die Verstorbene so oft aufgesucht; das Kind schlief
nun. Als ich eine halbe Stunde später zurückkam, weinte es leise und furchtsam.
Ich rief jetzt den Hausmeister herbei, der in seiner Teilnahmlosigkeit von nichts
wissen wollte, als daß ein Haufen Auswanderer die Stadt durchschwärmt habe, denen
das Kind wohl angehöre. Ich befahl, es ins Haus zu nehmen und zu pflegen, und da
die Sache langsam und widerwillig vonstatten ging, nahm ich es zu mir und gab ihm
von meinem eigenen Essen. Die Auswanderer waren allerdings dagewesen, aber schon
auf Flößen und Schiffen die Donau hinuntergefahren. Laut den erhobenen
polizeilichen Nachforschungen kamen sie aus Schwaben und gingen nach dem südlichen
Rußland; allein weder in ihrer alten noch in der neuen Heimat wollte jemand etwas
von dem Kinde wissen; nirgends wurde ein solches vermißt, nirgends war es in
Büchern oder Schriften der Ausgewanderten
»Bin ich nun mehr zu bemitleiden oder zu beneiden?« fragte mich das schöne Wesen mit leicht geneigtem Haupte.
»Gewiß nur zu beneiden«, sagte ich, aus meiner gerührten Verwunderung erwachend; »Sie gleichen einfach einem Stern, der aus der Tiefe des Himmels neu erschienen ist und dem man einen Namen gegeben hat. Ein Stern kann aber wieder verschwinden, während die unsterbliche Seele, die jetzt Ihren Namen trägt, nie mehr vergeht.«
Sie bewegte aber den Kopf leise wie zu einem Nein und sagte: »Mit diesem Troste wollen wir uns nicht stark brüsten! Der Findling wird sich so still wieder drücken, wie er gekommen ist!«
Als ich diese Worte nicht recht zu deuten wußte, weil ich die eigene Rede, die sie hervorgerufen, über ihrem Anblicke schon vergessen hatte, sagte der Graf zu mir: »Sie müssen nämlich wissen, es ist Dortchens Wahrzeichen, daß sie ganz auf eigene Faust nicht an Unsterblichkeit glaubt, und zwar nicht etwa infolge eingeschulter Dinge oder durch fremden Einfluß, sondern auf ursprüngliche Weise, sozusagen von Kindsbeinen auf!«
Dorothea schämte sich wie über ein verratenes Herzensgeheimnis; sie drückte das
errötende Gesicht auf den Damast des Tischtuches, daß die Locken sich auf dessen
Fläche ausbreiteten.
»Da ich nun ganz erkannt bin und durchschaut werde«, sagte sie unversehens, sich mit holdem Lächeln aufrichtend, »will ich mich zurückziehen und sorgen, daß wir einen traulichen Winkel für unsern Kaffee finden.«
Als ich später den Grafen auf seinen Geschäftsgängen begleitete, da er die Hauptaufsicht über seine Güter selber führte, befrug ich ihn um das Nähere.
»Es ist in der Tat so«, antwortete er, »seit sie ihr Urteil nur ein wenig rühren
konnte und diese Dinge nennen hörte, wir wissen die Zeit kaum anzugeben, sagte sie
mit aller Unbefangenheit, aus dem kindlichsten und reinsten Herzen heraus, daß sie
gar nicht absehen und glauben könne, wie die Menschen unsterblich sein sollten. Es
kommt allerdings nicht selten vor, daß rechtliche Leute aus allen Ständen dies
ursprüngliche schlichte Vergänglichkeitsgefühl ohne weiteres aus der Mutter Natur
schöpfen und, ohne skeptischer oder kritischer Art zu sein, dasselbe unbekümmert
bewahren wie eine harmlose Selbstverständlichkeit. Aber so lieblich und natürlich
wie bei diesem Kinde ist mir die Erscheinung noch nie vorgekommen, und ihre
unschuldige Überzeugung veranlaßte mich, der ich Gott und Unsterblichkeit hatte
liegenlassen, wie sie lagen, meinen philosophischen Bildungsgang noch einmal
vorzunehmen, und als ich auf dem Wege des Denkens und der Bücher wieder da
anlangte, wo das Mädchen von Hause aus gewesen, und Dortchen mir über die
Schultern mit in die Bücher guckte, da war es erst merkwürdig, wie sich das
gedanklich bestärkte Gefühl in ihr gestaltete. Wer sagt, daß es ohne
Unsterblichkeitsglauben weder Poesie noch Lebensweihe in der Welt gebe, der hätte
sie sehen müssen; nicht nur Natur und Leben um sie herum,
Solch anmutige Art eignete sich freilich einstweilen nur für ein so sorgloses, leidenfreies und feingebildetes Leben und für die gesunde Jugendkraft; dennoch vermehrte die Schilderung derselben meine Teilnahme und Befangenheit.
»Glaubt sie denn auch nicht an Gott?« fragte ich.
»Schulgerecht«, erwiderte der Graf, »sind allerdings beide Fragen unzertrennlich;
nach Frauenart macht sie sich jedoch nicht viel aus der Logik, da sie hier mit
ihren Begriffen nicht fertig ist. ›Du lieber Gott‹, sagt sie, ›was kann ich
ärmstes Ding wissen! Bei Gott ist alles möglich, auch daß er existiert!‹ Weiter
geht sie aber mit so drolligen Wendungen nicht, vielmehr verursacht ihr in
Gespräch und Lektüre eine zu große Freiheit oder Frechheit im Ausdrucke nur
Mißbehagen, und allzu grobe Ausfälle duldet sie nicht. Sie sehe nicht ein, sagt
sie, warum
Nach der Rückkehr von unserm Gange suchte ich mein idyllisches Quartier im Gartenhaus auf, wo ich mich zu lassen gebeten hatte, als ich nach dem Schlosse übersiedeln sollte. Ich fand jedoch das kleine Gemach bewohnt; denn Dorothea, die sich nach ihrer Übung wieder einmal im untern Saale aufgehalten, war mit der Gärtnerstochter hinaufgestiegen, um nachzusehen, ob es an nichts fehle. Als ich eintrat, sah ich, daß zwei prachtvolle hohe Schilfrohre mit ihren Blütenbüscheln kreuzweise hinter den Spiegel gesteckt waren Unter dem Spiegel, der in einem verblichenen Rahmen von versilbertem getriebenem Kupfer steckte, lag der Zwiehansschädel auf der Kommode, auf einem Postamente von grünem Moose weich gebettet, und um den Scheitel wand sich ein Kränzlein von Immergrün. Mit den Ellbogen auf das bauchig geschweifte Möbel gestützt, stand Röschen übergelehnt und betrachtete den Kopf aufmerksam mit gerümpftem Näschen und possierlich gespitztem Munde. Etwas zurück stand die Herrin, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie es schien in ernsthaften Gedanken das Werk ihrer Hände gleichfalls beschauend.
»Bewundern Sie unsere Tapezierkünste!« wandte sie sich zu mir, »wir haben Ihrem stummen Reisekameraden den Aufenthalt etwas verschönert und Sie dabei mitgemeint. Soeben bedenke ich aber, daß Sie sich des Gefährten entledigen und ihm die Ruhe gönnen sollten. Wir wollen ihn gelegentlich auf unserm Gottesacker begraben, ich habe just eine wohlgeborgene kleine Kopfstelle unter den Bäumen für ihn ausgedacht, die niemals umgegraben wird.«
Dieses »gelegentlich«, das wie ein Rosenblatt ohne alles Gewicht von ihren Lippen
fiel, erklang so gastfreundlich, daß es mir sogleich das Herz erfreute. Doch
erwiderte ich, der Schädel
»Wann gehen Sie denn?« sagte Dortchen.
»Ich denke morgen, wie ausgemacht!«
»Sie gehen nicht, sondern tun, was der Papa rät! Kommen Sie, ich zeig Ihnen was Hübsches!« Sie öffnete ein altes eingelegtes Schränkchen, das in der Ecke stand, und nahm einige sehr bunte feine und echte chinesische Täßchen aus demselben hervor. »Sehen Sie, die hab ich von Ihrem und unserm Trödelmännchen erwischt; er hat mir noch mehrere in Aussicht gestellt, aber nicht Wort gehalten bis jetzt. Wir haben sie hierhergebracht, damit Sie uns einmal zum Kaffee bei sich einladen können, oder unten im Saal, und damit auch etwas Artiges in Ihrem Zimmer ist! Schau auf, Röschen, so hat Herr Lee Flöte gespielt, als ich ihn zuerst gesehen!«
Sie nahm meinen Stock, hielt ihn wie eine Flöte an den Mund und sang dazu ein paar Zeilen der Freischützarie »Und ob die Wolke sie verhülle«, und den Stock weglegend, sang sie in beschleunigtem Tempo, sie übermütig abhaspelnd, die Schlußverzierung mit einer Schönheit und Sicherheit der Stimme, die mich in neues Erstaunen versetzte. Sie sang aber keine Note länger, als sich mit einer kurzen Aufwallung guter Laune vertrug, und das Lied verklang ebenso unerwartet, wie es begonnen. Plötzlich sah sie den Kaplan über den Platz gehen und rief ihm aus dem Fenster zu: »Ehrwürden! kommen Sie ein bißchen zu uns herauf, wir schwatzen hier, bis wir zum Tee wandern, und machen unserm herrlichen Dulder Odysseus den Hof. Röschen stellt die Nausikaa vor, Sie die heilige Macht Alkinoos', des edlen Phäakenbeherrschers, und ich die Mama Arete, Tochter des göttergleichen Rhexenor!«
»Da wären Sie ja meine Gemahlin, gnädigste Heidin!« sagte der geistliche Herr schnaufend, als er in der Tat herangestiegen kam.
»Diese Unterhaltung geht über meinen Horizont!« rief Röschen, nachdem sie dem Kaplan einen der wenigen Stühle zugerückt hatte, und zog sich zurück, indessen jener ein lustiges Plaudern begann und den Krieg mit dem Fräulein fortführte. Schließlich kam noch der Graf, um zu sehen, wo wir alle blieben, und nahm an dem Geplauder teil, bis es dunkelte und der Mond über den Parkbäumen stand, der seinen Schein in das Zimmer hereinsandte. An seiner Gestalt erkannte ich, daß nun vier Wochen verflossen seien, seit ich mit den Arbeitermädchen unter den Silberpappeln am Flusse gesessen, und wunderte mich über den Wechsel der Dinge in einem so einfachen Lebenslauf.
Im Schlosse saß die kleine Gesellschaft dann noch lange beisammen. Im Anfange schien Dortchen noch aufgeregt fröhlich; allmählich wurde sie stiller und begnügte sich, zuweilen an dem großen Flügel kurze Sätze anzuschlagen; zuletzt verschwand sie ohne Abschied.
Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden, bis der Morgen graute, ohne daß ich mich deswegen übel befand. Kaum hatte ich eine kurze Zeit geschlafen, so wurde ich geweckt, weil die Stunde der Abreise da war. Verwirrt und in Übereilung kleidete ich mich an und lief hinüber, wo der Graf schon beim Frühstücke saß, der Wagen vor der Türe stand und der Kutscher bei den Pferden. Als wir eingestiegen waren, sagte der Graf: »Nun, wohin soll's gehen?« Keine Dorothea ließ sich sehen, und doch wagte ich weder nach ihr zu fragen, da ich die Unbefangenheit allbereits eingebüßt, noch vermochte ich ohne Abschied aus dem Lande zu gehen. Ich sagte daher, nachdem ich mich eine Minute besonnen, im letzten Augenblicke, ich wolle dem Vorschlage des Herren Grafen folgen.
»Gut so!« erwiderte er und ließ die Richtung nach der Stadt einschlagen, von welcher ich, hergekommen.
Auf der Nordseite des Schlosses bezeichnete ein höheres Fenster den Raum, in welchem die Hauskapelle eingebaut war. In diesem Jahrhundert hatte sie schwerlich noch einen Gottesdienst gesehen; doch war kirchlicher Zier- und Hausrat noch an den Wänden vorhanden, das Gewölbe noch bemalt und nur der Fliesenboden längst von der Bestuhlung geräumt. Dafür stand jetzt in der Mitte desselben ein eiserner Ofen, der den Raum mit seinem Körper und seinen Rohren sattsam erwärmte, und auf einer großen Strohmatte eine Staffelei, vor welcher ich saß und ziemlich rührig arbeitete, während ein leichter Schnee auf der Landschaft lag.
Die lange Unterbrechung, die Erlebnisse, der Beschluß der Entsagung hatten ohne Zweifel eine Freiheit des Blickes und eine Neuheit der Dinge in mir bewirkt oder vielmehr aus dem Schlafe gerufen, die mir jetzt zustatten kamen. Schon während des letzten Aufenthaltes in der Residenz hatte ich alte und neue Bilder gewissermaßen mit neuen Augen angesehen; es war mir wie Schuppen von denselben gefallen und fiel so noch fort, da ich jetzt eifrig und kühl, stürmisch, sorglos und vorsichtig zugleich arbeitete, indem bei jedem Zug ich an den folgenden dachte, ohne durch Zögern den Fluß erstarren zu lassen. Die Erscheinung, daß man später etwas kann, und zwar ohne Zwischenübung, was man früher nicht zustande gebracht, sei es durch bloße Ruhe der Geisteskräfte, sei es durch Geschickeswechsel, mag wohl öfter vorkommen, als man annimmt. Hier war es der Fall, natürlich innerhalb der Grenzen, die mir überhaupt gezogen sind.
Ich hatte zwei Bilder zugleich begonnen, welche auf diese Weise ordentlich
vorwärtsschritten, von einer nachhaltig erhellten und erwärmten Stimmung
getragen. Das eigentliche
Selbst die Vernunft leistete ihr Frondienste und tat ein übriges, ihr gerecht
zu werden. Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, durch
Dortchens Augen gesehen, ließ mir die Welt bald ebenso in einem stärkern und
tiefern Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall war; ein sehnsüchtiges
Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich mir nur die Möglichkeit dachte, für
das kurze Leben mit ihr in dieser schönen Welt zusammen zu sein. Ich hörte
daher ohne alle Bedenklichkeit vom Sein oder Nichtsein jener Dinge sprechen und
fühlte ohne Freude oder Schmerz, ohne Spott und ohne Schwere die anerzogenen
Gedanken von Gott und Unsterblichkeit sich in mir lösen und beweglich werden.
Die Veranlassung solcher Freiheit war allerdings eine Unfreiheit und für einen
Mann nicht gerade rühmlich; im Gefühle hievon suchte ich mich mit Gründen zu
schulen und nahm die Zuflucht zu der Bücherei des Grafen. Ich kannte die groben
Umrisse der philosophischen Geschichte, aus denen die letzten Fragen für den
Der Graf gehörte geistig und zum Teil auch persönlich dem Verbande von Männern an, welche den begeisterten Kultus des Philosophen förderten, wenn er auch nicht die Ansicht und die Hoffnung teilte, daß er zunächst die politische Freiheit unfehlbar bringen müsse. Er hatte mich als Gastfreund nicht auf die Sache stoßen wollen; als ich aber jetzt den gewöhnlichen Anfangswiderstand gegen die neuen Einflüsse erhob und die Veränderungen untersuchte, welchen ich in moralischer Hinsicht ausgesetzt sein dürfte, begann ein gewisses Kannegießern über den lieben Gott, welches mich freilich von den Kinderschuhen an begleitet hat.
Über diese Dinge längst beruhigt, ward der Graf etwas ungeduldig und sagte:
»Es ist mir ganz gleichgültig, ob Sie an den lieben Gott glauben oder nicht!
Denn ich halte Sie für einen Menschen, bei welchem es nicht darauf ankommt, ob
er den Grund seines Daseins und Bewußtseins außer sich oder in sich verlegt,
und wenn dem nicht so wäre, wenn ich denken müßte, Sie wären ein anderer mit
Gott und ein anderer ohne Gott, so würde ich nicht das Vertrauen zu Ihnen
hegen, das ich wirklich empfinde. Dies es auch, was diese Zeiten zu vollbringen
und herbeizuführen haben nämlich vollkommene Sicherheit von Recht und Ehre bei
jedem Glauben und jeder Anschauung, und zwar nicht nur im Staatsgesetz, sondern
auch im persönlichen vertraulichen Verhalten der Menschen zueinander. Es
handelt sich nicht um Atheismus und Freigeisterei, um Frivolität, Zweifelsucht
und Weltschmerz, und welche Spitznamen man alles erfunden hat für kränkliche
Aber dahin muß die Welt gelangen, daß sie mit eben der guten Ruhe, mit welcher sie ein unbekanntes Naturgesetz, einen neuen Stern am Himmel entdeckt, auch die Vorgänge und Ergebnisse des geistigen Lebens hinnimmt und betrachtet, auf alles gefaßt und stets sich selbst gleich, als eine Menschheit, die in der Sonne steht und sagt: Hier steh ich!«
Es dauerte jedoch nicht lang, so bedurfte ich der Zurechtweisungen des freidenkenden Grafen nicht mehr, sondern wandelte selbständig auf demselben Pfade weiter und fand mich in der eintönig erregten Sprache des großen Gottesfreundes zurecht, wenn man ironischer- oder auch ernsthafterweise denjenigen so nennen darf, der sich ein Leben lang von seinem geliebten Gegenstande nicht trennen konnte. Wie alle Neubekehrten wurde ich sogar eifriger als die andern, und die Fackel, mit der ich in meine alten Gedankenwälder hineinleuchtete, brannte um so heißer, als sie an dem Feuer der Liebe angezündet war. Ich kannegießerte nun in entgegengesetztem Sinne, besonders während der länger gewordenen Abende, wo der wunderliche Kaplan, angezogen von dem Streite, sich einfand, um den neuen Abgefallenen in seiner Art zur Rechenschaft zu ziehen.
Dieser Mann war vorzüglich drei Dinge, nämlich ein leidenschaftlicher Esser und
Trinker, ein großer religiöser Idealist und ein noch größerer Humorist, und
zwar letzteres fast nur in dem Sinne, daß er alle Viertelstunden das Wort Humor
gebrauchte und es zum Maßstabe und Kriterium alles dessen machte, was irgendwie
vorfiel und gesprochen wurde. Alles, was er selbst tat, redete und fühlte, gab
er zunächst für humoristisch aus,
Er las eifrigst alle humoristischen Schriften und alle, welche vom Humor handelten, und hatte ein ordentliches System über dies Feuchte, Flüssige, Ätherische, Weltumplätschernde, wie er es nannte, aufgebaut, das ziemlich mit dem Charakter seiner Theologie zusammenhing. Cervantes führte er ebensooft im Munde wie Shakespeare, aber er fand den größten Gefallen an den unzähligen Prügeln, welche Sancho und der Ritter bekommen, an den Einseifungen, Prellereien und derben Sachen aller Art. Sowenig er die Schätze von Weisheit und Edelsinn bemerkte, die dem manchanischen Herren vom Autor in den Mund gelegt waren, in rapidem Wechsel mit den Ausbrüchen der Torheit, sowenig konnte oder wollte er den feinern Spott sehen, besonders wenn er wie auf ihn selbst gemünzt erschien, was dann zu den Versicherungen seines eigenen Humors den ergötzlichsten Gegensatz bildete. So sah er in dem Abenteuer in der Höhle des Montesinos nur eine äußerliche komische Schnurre. Den Humor, der in dem langen Seile liegt, das ganz nutzlos abgerollt wird, indessen der Ritter schon im Anfange die Augen schließt, wie alle, die sich selbst belügen und damit andere terrorisieren, und die Art, wie er sich nachher immer wieder wegen des in der Höhle Gesehenen benimmt, dies alles gewahrte er nicht oder rümpfte unmerklich die Nase dazu.
Sein Idealismus, und er nannte sich bald rühmend, bald entschuldigend einen
Idealisten, bestand darin, daß er gegenüber seinen Zuhörern, welche alles
Wirkliche und Geschehende, sofern es sein eigenes Wesen ausreichend und
gelungen ausdrückt und darstellt, für ideal hielten, eben dieses Wirkliche
Als katholischer Priester war er duldsam und über seine Kirche hinaus; hierüber schwieg er bescheiden und rühmte sich nicht. Den aufgeklärten Deismus aber, welchem er huldigte, vertrat er fanatischer als irgendein Pfaffe seine Satzungen. Er suchte einen rechten Höllenzwang auszuüben mit idealen und humoristischen Redensarten und baute seine Scheiterhaufen aus Antithesen, hinkenden Gleichnissen und gewaltsamen Witzen, auf denen er den Verstand, den guten Willen und sogar das Gewissen der Gegner zu verbrennen trachtete, seiner eigenen Meinung zum angenehmen Brandopfer.
Diese tapfere Lieblingsbeschäftigung, nebst der Gastfreundschaft des Grafen,
führte ihn häufig in das Haus, und da er zugleich ein ehrlicher Gesell und
redlicher Helfer bei wohltätigen Unternehmungen war, so gereichte er zum Nutzen
wie zur bleibenden Heiterkeit des Hauses. Besonders Dorothea wußte ihn mit der
leichtesten Anmut in den Irrgärten seines fanatischen Humors herumzuführen,
neckisch vor ihm herzuhuschen und durch die Buschwerke seines krausen Witzes zu
schlüpfen. Unergründlich war es dabei, ob mehr ein heiteres Wohlwollen oder ein
bedenklicher Mutwillen im Spiele lag; denn ebensooft, als sie dem Kaplane
Gelegenheit gab zu glänzen,
Das war nun der richtige Mann, an welchem ich meine neuen Waffen zu üben Gelegenheit fand, und ich tat es um so rücksichtsloser, als ich gegen Unarten focht, denen ich selber schon in mehr als einer Hinsicht gefrönt hatte. Nach dem ersten wehmütigen Erstaunen über meinen Abfall holte er mit verdoppelter Kraft aus, um mich niederzustrecken; da ich aber das schonende Maß, dessen er gewohnt war, mit weniger Lebensart als neophytischer Kampflust überschritt, ihm phantastische Ausfälle und humoristische Stiche in gleicher schlechter Münze zurückgab, wurde er verstimmt und ging mehr als einmal der geselligen Erholung verlustig, welche er nach tagelangem Messelesen und Ministrieren gesucht hatte. Hierüber wurde ich meinerseits betroffen; ich verwunderte mich, wie wenig der Mensch sich zu ändern imstande ist, wenn ich an das Erlebnis mit Ferdinand Lys zurückdachte, wo ich mich sogar einer schlimmeren Aufführung schuldig gemacht und mit einem Degen in der Hand auf der entgegengesetzten Seite, derjenigen des Kaplans, gestanden hatte. Ich faßte den Vorsatz, mich zu mäßigen und zu bessern, verfiel aber von neuem in den alten Fehler. Dadurch wurde ich als ein angehender Ruhestörer selbst der Schonung bedürftig, fühlte es und wurde selber betrübt.
Allein es war schon dafür gesorgt, daß dem bedrängten Kaplan eine unerwartete
Hilfe kommen sollte. Eines Tages rasselte ein offenes Fuhrwerk, bespannt mit
einem schwerfälligen Bauernpferde, vor das Schloß. Auf dem Bock saß ein
ländlicher Kutscher mit einer Tabakspfeife im Munde, in dem beckenförmigen
Kasten dagegen, wie in der Muschel der Venus, ein seltsamer Mann mit einem
großen Schlapphute, ebenfalls eine Pfeife im Munde tragend. Neben ihm lehnte
ein mannshoher Kornsack, der aber mit vielen größeren und kleineren, eckigen
und runden Gegenständen gefüllt schien und oben mit
»Dies ist mein Gepäcke, guter Freund!« sagte der Mann, »halten Sie's ein wenig, damit ich meine Empfehlungsbriefe an den Herren Grafen finden kann, den ich herbeizurufen bitte!«
Der Diener hielt den Sack, der Reisende holte ein paar Briefe aus einer dicken Brieftasche und gab sie dem Diener, worauf dieser ins Haus ging und jener den Sack wieder selbst hielt. Nach einiger Zeit erschien der Graf mit einem der Briefe in der Hand, um nach dem Ankömmling zu sehen. Dieser streckte ihm, an seiner Sacksäule stehend, die freie Hand entgegen und rief:
»Ich grüße Sie, edler Mann und Genosse! Ist es nicht eine Freude zu leben, mit Hutten zu reden?«
»Habe ich die Ehre, Herrn Peter Gilgus zu sehen, der mir hier von den Freunden empfohlen wird?« antwortete Graf Dietrich
»Gewiß! Aber machen Sie es sich doch etwas bequemer! Wollen Sie Ihr Gepäcke nicht abgeben und ins Haus treten?«
»Ich kann nicht, bevor ich ein Wort mit Ihnen gesprochen!«
Der Graf näherte sich dem Manne, der ihm eine vertrauliche Mitteilung machte, worauf jener dem Fuhrmann bedeutete, daß er werde zufriedengestellt werden und mit seinem Fahrzeuge nur vorerst nach den Wirtschaftsgebäuden gehen und samt dem Pferde etwas zu sich nehmen möge.
Hierauf wurde der Sack wohlbehalten von zwei Leuten in das Haus getragen und der Fremde vom Grafen auf sein Zimmer genommen, wo er weitere Rücksprache mit demselben pflag.
Herr Peter Gilgus war ein im mittlern Deutschland weggelaufener Schullehrer und ein Apostel des Atheismus, der im wörtlichen Sinne ausgezogen war, die Welt zu sehen und zu genießen, nachdem der liebe Gott aus derselben weggeschickt worden. Dies Ereignis hielt er für einen unberechenbaren Glücksfall, und er rief unaufhörlich, wo er hinkam: »Es ist eine Freude zu leben!« als ob die Welt in der Tat von ihrem größten Feinde und Bedrücker soeben befreit worden wäre, seit er die Werke des Philosophen gelesen. Er betrug sich demgemäß, wie wenn es fortwährend Sonntag und der Braten am Spieße wäre, oder wie die Bevölkerung eines kleinen Herzogtums, dessen Tyrann entflohen, oder wie ein Nest voll Mäuse, wenn die Katz aus dem Hause ist.
Als Schulmeister mochte er von der Geistlichkeit freilich arg gedrückt worden
sein; allein er freute sich über die Vertreibung Gottes doch mehr als billig.
Immer von neuem erstaunte er über die Herrlichkeit des Gedankens, von dem
unseligen Begriffe frei und jeder größeren oder kleineren Abhängigkeit von
demselben ledig zu sein. Immer wieder ballte er die Faust gegen die ganze lange
Vergangenheit voll anthropomorphischer Götter; aufs neue bestieg er jeden
kleinen Hügel,
Nach seinem Auszuge hatte er zuerst das Haupt der Schule, den Philosophen, aufgesucht, acht Tage lang verehrt und ihm zur Weiterreise die geringe Barschaft abgeborgt, welche der in freiwilliger Armut und Bedürfnislosigkeit lebende Weltweise gerade besaß. Derselbe gab ihm ein paar Briefe an wohlhabendere Verehrer mit, diese sandten ihn wieder an dern Freunden zu, und so zog er seit einem Jahre von Stadt zu Stadt, von einem Landgut zum andern, lebte herrlich und in Freuden und lobte die angebrochene neue Ära. Jetzt war er endlich auch zum Grafen Dietrich gekommen, der schon von ihm wissen mochte. Als er mit dem neuen Gaste zu Tisch kam, war er schon ein wenig ermüdet von dessen lauten Gesprächen und Ausrufungen; der Gast aber, indem er den Löffel in die gute Suppe tauchte, rief und sprudelte über dicke Lippen hinaus: »Es ist eine Freude zu leben!«
In mir witterte er augenblicklich einen Schützling und Mitgast des Hauses,
machte sich nach dem Essen an mich und zwang mich, ihn auf das ihm bestimmte
Zimmer zu begleiten; unter tausend Fragen begann er sich einzurichten und
seinen Sack auszupacken, der ihm als Reisekoffer diente. Neben einer Anzahl
verschiedener Kleidungsstücke, von denen keines zum andern recht paßte, kamen
die wunderlichsten Habseligkeiten zum Vorschein, und auf jedes Stück legte er
einen Affektionswert. Jeden Band in ein besonderes Tüchlein gewickelt,
Gilgus öffnete die Schachtel und nahm das Auge sorgfältig heraus, um zu sehen, ob es nicht Schaden gelitten. Es war von Wachs und Glas angefertigt und konnte zerlegt werden, um zu Unterrichtszwecken den Bau des menschlichen Auges vorzuweisen. Bei seinem Auszug hatte er das Auge aus der kleinen Naturaliensammlung seiner Schule mitlaufen lassen, und es liefen deshalb überall kleine amtliche Verfolgungen hinter ihm drein, sooft sein Aufenthalt ausgemittelt wurde; allein er gab es nicht wieder her.
Jetzt blies er den Staub davon, setzte es feierlich auf den Schreibtisch und rief: »Das ist das wahre Auge Gottes!«
Dieses Auge Gottes hatte natürlich nur die allergröbste Einrichtung, und
Gilgussens Kenntnis ging über dieselbe nicht hinaus; dennoch mußte sie ihm dazu
dienen, seine Freudenbotschaft mit dem Mantel der Naturwissenschaften zu
schmücken,
Außerdem diente ihm das Auge noch als Geheimarchiv und Schatzkammer. Er öffnete den Apfel und leerte den hohlen Innenraum, dessen Inhalt vom Fahren durcheinandergerüttelt worden. Aus einer großen Flocke Baumwolle wickelte er eine goldene Busennadel, ein silbernes Uhrkettchen, ein paar Fingerringe und zeigte mir diese Schätze mit Wohlgefallen. Auf ein Bündelchen Rechnungen, ein Punschrezept, ein Bündelchen Liebesbriefe, die er von den Stubenmädchen seiner Gastfreunde erhalten, wies er mehr andeutend hin, wogegen er ein Lotterie los mit ernster Miene entfaltete, wie wenn es eine Staatsobligation wäre, und es standen allerdings mehrere Hunderttausende in großen und kleinen Posten darauf gedruckt; eine kleine, in Papier eingeschlagene Barschaft bezeichnete er als Reservefonds, welchen er unter keinen Umständen angreife und deshalb hier aufbewahre. Ein vertrocknetes Blumensträußchen ergänzte die Sammlung und knüpfte versöhnend an das menschlich Liebenswürdige an.
Alles das war in dem Auge, und er legte das Gefüllsel nun in die leere Schachtel und verschloß diese in einer Schublade; denn er dachte das anatomische Modell in den bevorstehenden lehrreichen Gesprächen zum Vorschein zu bringen.
Gleich am ersten Abend, als der Kaplan zur Gesellschaft kam, nahm er diesen zum
Zielpunkt seines apostolischen Eifers, und es entstand ein gewaltiger Lärm, bis
der Geistliche die Karikatur in dem Ankömmling erkannte, plötzlich mit
vergnügtem Augenblinzeln seine Fechtart veränderte und dem lärmenden, mit
blasphemischen Kühnheiten um sich werfenden Peter Gilgus zu schmeicheln begann.
Er schätze sich glücklich, sagte er, eine so ausgesprochene und in ihrer Art
vollkommene Erscheinung
Der verdutzte Gilgus wußte nicht, wie ihm geschah, und suchte sich mit
sprudelnder Ungebärdigkeit zu helfen; doch der fröhliche Kaplan umwickelte ihn
so dicht mit hundert zärtlichen Späßchen, tröstete ihn, der Herrgott habe schon
längst ein Auge auf ihn und es werde noch alles gut werden, daß er sich doch
gewissermaßen geschmeichelt fühlte und sich auf den nächsten Tag zu einem guten
Pfarrfrühstück bei dem Kaplan einladen ließ. Dort lieferten sie sich zuerst
wieder eine Wortschlacht; dann zechten sie und schlossen Freundschaft, zogen
miteinander über Feld und in den Wirtshäusern herum, wo der Kaplan immer neue
Späße mit seinem Freunde anstellte; denn er blieb immer bei Sinnen und boshaft,
während Gilgus den Verstand verlor, sobald er angetrunken war, und über die
Größe seines Schicksals, über die Feierlichkeit der Zeit, wo es eine Freude zu
leben sei, jämmerlich zu weinen begann. Wenn der Kaplan ihn in solcher
Verfassung abends oder mittags ins Schloß bringen konnte, so erreichte sein
Vergnügen den höchsten Gipfel. Der Graf lächelte bald heiter, bald
verdrießlich, Dorothea dagegen lachte voll neugieriger Lustbarkeit, da sie
dergleichen noch nie gesehen, besonders wenn Gilgus vor ihr auf die Knie fiel
und weinend den Saum ihres Gewandes küßte; denn er hatte die Gärtnerstochter,
mit der er zuerst schöngetan,
War er dann nach manchem Auftritte derart wieder nüchtern geworden, so verfiel er in tiefsinnige Trauer, und um die Scharte auszuwetzen, beging er allerhand Kraftstücke. Trotz der kühlen Jahreszeit stürzte er sich badend in Teiche und Mühlbäche, so daß man in der Nähe oder Ferne unvermutet seine nackte Gestalt auf- und untertauchen sah. Mit blauem Gesicht und nassen Haaren stellte er sich dann als neu- und wiedergeboren vor, und der Kaplan sowohl als Dortchen und selbst das mutwillige Röschen fanden ihre tägliche Belustigung an seinem Treiben. Der Kaplan wußte bereits, daß die Bauern davon sprachen, den heidnischen Wassermann einmal aufzufischen und mit Haberstroh trockenzubürsten, und auch hierauf freute er sich im voraus.
Ich aber wurde durch den ganzen Vorgang nicht nur veranlaßt, die eigene Streitlust zu mäßigen, ja sogar mich stillzuhalten, sondern ich fühlte mich beschämt, neben dem sonderbaren Gesellen als ein kaum minder abenteuerlicher Gast dazustehen. Vollends die Art, wie jener sein Auge auf die Schönheit des Hauses geworfen, erinnerte mich daran, daß ich selbst ja das gleiche getan und noch tue, wenn ich auch noch nichts verraten oder zu verraten bis zur Stunde willens gewesen sei. Und das holde Gelächter, welches Dorothea in allen Züchten öfter hören ließ, verdiente ich ja selbst schon in meinem innersten Herzen. Wenn ich aufrichtig gegen mich sein wollte, so mußte ich gestehen, ich sei allein um Dorotheas willen noch dageblieben, nur besaß ich nicht den Mut, es merken zu lassen oder etwas zu hoffen. Ich war also womöglich noch närrischer als der Peter Gilgus.
Ich geriet durch all diese widersprechenden Empfindungen und Gedanken in eine
Art von Erstarrung, in welcher ich mich
Eines Vormittags kam er aufgeregt und geputzt zu mir gestürzt, als ich ziemlich gesammelt und dennoch herb wie eine alte Jungfer an meiner Arbeit saß. Er trug auf dem Leibe einen braunen Frack mit vergoldeten Knöpfen, auf dem Kopf eine hellfarbige Reisemütze, obgleich es Winter war. Die Angelegenheit mit Dorothea, rief er, müsse sich entscheiden; eine Verbindung eines Mannes wie er mit einer Person wie Dorothea wäre zu typisch, als daß sie unterbleiben dürfte; sie sei geradezu eine philosophiegeschichtliche Pflicht, denn die Erlösung der Welt von der Gottesidee müsse sich erst recht vollziehen durch die Vermählung freier Geschlechtsrepräsentanten, und so weiter. Ich war von der schlechten Gesellschaft in meiner Neigung so beschämt und vergrämt, daß ich über die Narrheit nicht einmal zu lachen imstande war. Überhaupt belustigte mich die Sache keineswegs, indem sie selbst einen leichten Schatten auf das unbefangene Dortchen zu werfen schien.
Ich fragte ihn daher unwirsch, ob er in seinem Fracke schon auf dem Weg sei, den Heiratsantrag zu machen?
»Nein«, sagte er, »heute noch nicht! Ich will mich erst einige Tage nur etwas
sorgfältiger tragen, wie es sich auf Freiersfüßen geziemt. Steht mir dieser
Frack nicht gut? Ich habe ihn von einem atheistischen Bankier geschenkt
bekommen, einem großen Gönner unsers Bundes, der freilich des Sonntags noch in
die Kirche geht; denn er hat Rücksichten zu nehmen. Oh,
»Ihr Mütterchen? Ist es tot?«
»Schon seit zwei Jahren! Sie hat die Befreiung des Menschengeschlechtes nicht mehr gesehen! Die trockenen Blumen, die ich im Auge Gottes aufbewahre, hat sie mir noch an meinem letzten Geburtstage geschenkt, den sie erlebte! Sie hat dieselben um einen Kreuzer auf dem Markte eingehandelt!«
Ein neuer Stich ging mir ins Herz; auch auf eine liebende Mutter behauptete der Narr Anspruch zu machen, und am Ende war er noch ein besserer Sohn als ich, der ich dasaß und die meinige so gut als vergaß, obschon ich wußte, daß sie meiner harrte. So ist unser Leben aus Wirrsal gewebt, daß wir dem Nächsten kaum einen Tadel zuwenden, den wir nicht, noch eh er ihn vernommen, auf uns selbst beziehen können.
Einige Minuten nachdem Gilgus fortgestürmt war, trat Dorothea mit einem Körbchen voll schöner Trauben und Birnen herein.
»Sie sind jetzt so fleißig und zurückgezogen«, sagte sie, »daß man Ihnen die kleinen Erquicklichkeiten nachtragen muß. Essen Sie von diesen Früchten, sonst werden Sie mir zu trocken! Dafür sollen Sie uns einen guten Rat geben! Malen Sie jedoch weiter, ich sehe Ihnen gerne zu!«
Sie nahm einen Stuhl und setzte sich zu mir.
»Papa schreibt Briefe«, fuhr sie fort, »mit denen er Herrn Gilgus fortschicken will; denn er mag ihn nicht mehr dahaben. Gilgus hat heute früh die Ackerleute, die auf dem Felde pflügen, angepredigt wie Jonas die Leute zu Ninive, sie sollten Buße tun und von ihrem heidnischen Gottesglauben ablassen. Das kann so nicht weitergehen. Papa will ihn heute noch wegschicken, in ziemliche Entfernung, und mit wohlmeinenden Uriasbriefen dahin wirken, daß er weiterhin versorgt und an eine vernünftige Beschäftigung gebunden wird.«
»Und was kann ich denn dazu raten?« frug ich.
Ich befürchtete zwar nicht, daß Gilgus die Koffer zurückweise, versprach aber, mein Bestes zu tun. Sie aber sagte: »Nun schau ich noch ein wenig zu, wenn es erlaubt ist!« schlug die Arme ineinander und saß eine Viertelstunde neben mir, ohne daß sie oder ich etwas dazu sprach.
Als ich endlich einen mißlungenen Stein, der im Vordergrunde meines Bildes lag, mit der Spachtel wegräumte, sagte sie »Hopsa! Weg damit!« Dann erhob sie sich, dankte mir für geneigte Audienz und zog sich zurück, indem sie mir zugleich empfahl, mich vor Tisch sehen zu lassen, um zu erfahren, wie es gehe in der bewußten Sache.
Es ging auch ohne Schwierigkeit alles vonstatten, wie man wünschte; Gilgus fuhr
ganz still und weichmütig mit wohlbepacktem Gefährte von hinnen, nach der
nächsten Posthalterei, um von dort am frühen Morgen weiterzureisen. Als der
Kaplan abends zum Tee erschien, fand er es so still und friedlich, wie wenn
eine Mühle abgestanden wäre. Er hatte in der letzten Zeit zuweilen einen der
älteren deutschen Mystiker mitgebracht, in der Absicht, das grundtiefe und
kühne Wesen solcher Geister dem neuesten Geiste gegenüberzustellen, der ebenso
tiefgehend und kühn war selbst in der verzerrten Darstellung durch Gilgus, und
da es ihm hauptsächlich um das Phantasienährende und Parabolische zu tun war,
dem er nachjagte, so gab es manche Ausbeute bald zu seinen Gunsten, bald
zugunsten der andern.
Wir baten ihn, dennoch vorzulesen, und die kleine Gesellschaft empfand die größte Freude über den vehementen Gottesschauer, seine lebendige Sprache und poetische Glut. Das wollte ihm aber auch nicht recht passen; er begann immer eifriger und nachdrücklicher zu lesen, und mit jeder Seite, die er umschlug, erhöhte sich die Teilnahme an der munteren Geisteserscheinung, bis er das Büchlein halb ärgerlich und ermüdet weglegte.
Nun nahm es der Graf in die Hand, blätterte darin und sagte dann:
»Es ist ein recht wesentliches und charaktervolles Büchlein! Wie richtig und trefflich fängt es gleich an mit dem Reimpaar:
Kann man treffender die Grundlage aller solcher Übungen und Denkarten, seien sie bejahend oder verneinend, und den Wert bezeichnen, den man von vornherein hinzubringen muß, wenn die ganze Sache erheblich sein soll? Wenn wir uns aber weiter umsehen, so finden wir mit Vergnügen, wie die Extreme sich berühren und im Umwenden eines in das andere umschlagen kann. Glaubt man nicht, unsern Ludwig Feuerbach zu hören, wenn wir die Verse lesen:
Alles dies macht beinahe vollständig den Eindruck, als ob der gute Angelus nur heute zu leben brauchte und er nur einiger veränderter äußerer Schicksale bedürfte, und der kräftige Gottesschauer wäre ein ebenso kräftiger und schwungvoller Philosoph unserer Zeit geworden!«
»Sie haben recht!« erwiderte ich, »aber nicht ganz in Ihrem Sinne. Was ihn abgehalten hätte und wahrscheinlich noch heute abhalten würde, ist der Gran von Frivolität und Geistreichigkeit, mit welcher sein glühender Mystizismus versetzt ist; diese kleinen Elementchen würden ihn bei aller Energie des Gedankens auch jetzt noch im mystagogischen Lager festhalten!«
»Frivolität!« rief der Kaplan, »immer besser! Was wollen Sie damit sagen?«
»Auf dem Titel«, versetzte ich, »benennt der fromme Dichter sein Buch mit dem Zusatz: Geistreiche Sinn- und Schlußreime. Allerdings hat das Wort geistreich im damaligen Sprachgebrauch nicht ganz die jetzige Bedeutung; wenn wir aber das Büchlein aufmerksamer durchgehen, so finden wir, daß es in der Tat auch im heutigen Sinne etwas allzu geistreich und zuwenig einfach ist, so daß jene Bezeichnung jetzt wie eine ironische Voraussage erscheint. Dann sehen Sie aber auch die Widmung an, die Dedikation, worin der Mann seine Verse dem lieben Gott dediziert, indem er ganz die Form nachahmt, selbst in der Anordnung des Drucksatzes, in welcher man damals großen Herren ein Buch zuzueignen pflegte, bis zur Unterschrift Sein allezeit sterbender Johannes Angelus.
Betrachten Sie den bitterlich ernsten Gottesmann, den heiligen Augustinus, und
gestehen Sie aufrichtig: trauen Sie ihm zu, daß er ein Buch, worin er sein
religiöses Herzblut ergossen, mit solch einer witzelnden, affektierten
Dedikation versehen hätte? Glauben Sie überhaupt, daß es demselben möglich
gewesen wäre, ein so kokett launiges Büchlein zu schreiben, wie
Ohne mich zu solchen Propheten und Kirchenvätern zählen zu wollen, kann ich doch diesen ganzen und ernstgemeinten Gott mitfühlen, und erst jetzt, wo ich ihn nicht mehr habe, erkenne ich die willkürliche und humoristische Manier meiner lugend, in welcher ich mit meiner vermeintlichen Religiosität die göttlichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich müßte mich nachträglich selber der Frivolität zeihen, wenn ich nicht annehmen könnte, daß jene verblümte und spaßhafte Art eigentlich nur die Hülle der völligen Geistesfreiheit gewesen sei, die ich mir endlich erworben habe.«
»Haha!« lachte der Priester jetzt aus vollem Halse, »da haben wir's wieder! Geistesfreiheit, Frivolität! Da zappelt der Fisch wieder an der langen Schnur und hält sich für einen Luftspringer! Bald wird er nach Luft schnappen! Den Teufel spürt das Völkchen nie! möchte man fast ausrufen, wenn's nicht den lieben Herrgott anginge, verzeih mir Gott die Sünde!«
Ärgerlich, daß ich dem humoristischen Fliegenfänger nun doch wieder ins Garn gefallen, entzog ich mich der Unterhaltung und trat schweigend an ein Fenster, wo ich die Sterne des Großen Wagens ihren stillen Weg fahren sah. Auf einmal rief Dorothea, welche inzwischen das Buch in die Hand genommen hatte:
»Beim Himmel, da steht das artigste Frühlingsliedchen, das ich je gesellen! Hört:
Sie eilte ans Klavier, spielte und sang diese Worte in einem altertümlichen Choralsatze von sehnsüchtig lockendem Tone, doch trotz der kirchlichen Form mit einem verliebt zitternden, weltlichen Ausdruck ihrer Stimme.
Obgleich noch nicht Weihnacht da war, schien gegen die Ordnung der Natur in der Tat der Lenz kommen zu wollen. Während die Worte und die Melodie von Dorotheas Frühlingslied mir in den Ohren klangen, hörte ich die ganze Nacht den Südwind wehen, den schmelzenden dünnen Schnee von den Dächern tropfen, und am Morgen lag eine unnatürlich warme Sonne auf den getrockneten Gefilden, während die Bäche voller dahinrauschten und murmelten. Nur die Blumen, die Maßliebchen und die Schneeglöckchen, fehlten. Dennoch tönte es noch fortwährend in mir: »Der Mai ist vor der Tür, du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier!«
Noch gestern hatte ich geglaubt, mit meiner verschwiegenen Verliebtheit hoch über allem zu stehen, was ich je über Liebe gedacht und empfunden, und nun mußte ich erfahren, daß ich keine Ahnung gehabt von der Veränderung, die in dieser falschen Frühlingsnacht vorging.
Das Gattungsmäßige im Menschen erwachte mit aller Gewalt seines Wesens in mir; das
Gefühl der Schönheit und Vergänglichkeit
Mit Ruhe und Arbeit war es nun vorbei; denn so wie ich etwas in die Hand nehmen wollte, verirrten sich meine Augen in das Weite, und alle Gedanken flohen dem Bilde der Geliebten nach, welches, ohne einen einzigen Augenblick zu weichen, überall um mich her schwebte, während es zu derselben Zeit schwer wie aus Eisen gegossen in meinem Herzen lag, schön, aber unerbittlich hart und schwer. Von diesem eisernen Drucke, der mir sehr neu und grausam vorkam, war ich nur in Dortchens Gegenwart frei; kaum sah oder hörte ich sie nicht mehr, so stellte er sich wieder ein, und ich konnte ihn füglich ebensowohl als ein körperliches wie als ein moralisches Übel betrachten. Die Heftigkeit des Zustandes wurde keineswegs durch das beschämende Bewußtsein gemildert, daß ich an dem eben verbannten Peter Gilgus einen drolligen Genossen besaß; wie ich überhaupt nicht viel von der Meinung halte, physische oder geistige Leiden seien leichter zu tragen, wenn sie mit andern geteilt werden. War Gilgus auch in seiner Art von mir verschieden, so standen wir uns doch darin gleich, daß beide als arme Zuflüchtige in das Haus gekommen und mit dem Begehren nach der Tochter endeten.
Der unzeitige Frühling hielt wochenlang an; in den Gehölzen blühte schon der
Zeidelbast, so daß ich am Weihnachtsabend, da ich nichts anderes hatte, eine
Handvoll der roten duftenden Zweige auf den Bescherungstisch legen konnte. Es
wurde übrigens nur den Angestellten und Dienstleuten beschert und ohne
»Wenn Ihnen die Jahrszeit nicht allzu verdächtig ist«, sagte ich, »so erbarmen Sie sich dieser zu früh gekommenen Sendboten!«
»Ei was, man muß das Gute nehmen, wie's kommt. Haben Sie Dank; wir wollen die Zweige gleich ins Wasser stellen, sie sollen uns das ganze Haus durchduften!«
Dorothea war nicht nur an diesem Abend, sondern über die ganze Festzeit aufgeräumt
und von lieblichster Laune, besonders am Neujahrstage, wo zum ersten Male, seit
ich im Hause war, sich eine größere Gesellschaft zu einem Festmahle einfand. Nicht
nur der Kaplan, sondern auch der Pfarrherr, der Arzt, ein Oberamtmann und einige
Edelleute! Jugendgenossen des Grafen, welche trotz seiner verpönten Gesinnungen
ihm zugetan blieben, waren da. Selbst ein paar aufgeweckte ältere Damen kamen
angefahren und verbreiteten sogleich den guten freien oder den freien guten Ton,
der in gewissen Zeiten oft nur noch in der Gewalt der alten Frauen steht, die
andere Tage gesehen haben und für sich nichts mehr fürchten noch hoffen. Es wurde
nichts gesagt, was der einzelne nicht hören durfte, und doch auch nichts
verschwiegen, was irgend mit wohlwollender Heiterkeit anzubringen war. Jeder fand
seine Gelegenheit, ein Wort mitzusprechen, und keiner mißbrauchte sie, weil das
Treffendere und deshalb scheinbar Neuere schon gesagt war, sofern einer darauf
ausging, dergleichen zu leisten. Selbst der Kaplan übte seine Künste mit höflicher
Mäßigkeit, und der Pfarrherr, ein rechtgläubiger, aber nicht bösartiger Katholik,
zog von vornherein eine so generose Linie des allenfalls zu Dulden den um seine
behagliche Person, daß die Überschreitung
Ungeachtet dieses heitern Daseins nahm ich meine Zeit wahr, um mich für einmal zurückzuziehen, da ich durch mein Dableiben weder aufzufallen noch zu stören wünschte. Für den Augenblick etwas ruhiger geworden, begab ich mich in die alte Hauskapelle und machte mir dort einiges mit meinen Bildern zu schaffen, die halb eingetrocknet dastanden.
Wie ich mich so in der Stille befand, kam mir plötzlich die Mutter in den Sinn,
welche in der fernen Heimat saß und nicht wußte, wo ich war, indessen es mir hier
wohlerging. Längst hätte ich ihr nun Nachricht geben können und sollen, da sich
die Umstände ja für einmal tröstlich verändert hatten; daß ich es dennoch immer
verschob, geschah aus unklar ineinanderfließenden Ursachen. Erstlich hielt ich
allerdings meine Angelegenheiten nicht mehr für so sehr wichtig und
besprechenswert, seit ich aus der Not erlöst war; dann dachte ich wieder, durch
die Freude einer unvermuteten Ankunft alles gutzumachen, bis wohin die kurze
Spanne Zeit, gegenüber den verflossenen Jahren, nicht mehr in Betracht käme;
endlich aber scheute ich mich unbewußt, bei dem jetzigen innern Zustande
irgendeinen Laut von mir zu geben, zumal die geheime Selbstliebe trotz aller
gegenteiligen Gedankengänge und Vorsätze sich doch nicht eingestehen wollte, daß
jede Entscheidung undenkbar sei. Als ich nun in einiger Ruhe dies Wirrsal
beschaute, faßte ich doch den Entschluß, die stille Stunde zu benützen und der
Mutter zu schreiben, wo ich sei, wie es mir gehe und daß ich bald heimkehren
werde. Zu diesem Zwecke ging ich nach dem Gartenhause hinüber, wo ich etwas Bücher
und Schreibzeug liegen hatte. Auf dem Wege dahin bemerkte ich, daß die
Gesellschaft sich in dem wie im Frühlingslichte ruhenden Park erging; das konnte
mir als merkwürdiges Bild eines Neujahrstages und meines Aufenthaltes gleich zum
Eingange des Briefes dienen. Kaum war ich aber in meinem Zimmer oder Schlafsälchen
angelangt,
Sie war von Seite des Fräuleins an mich abgesandt mit der Aufforderung, sogleich nebst der Botin zu ihr zu kommen und den Frauenzimmern den Ort zu zeigen, wo ich den blühenden Zeidelbast gefunden habe. Das Mädchen lächelte artig und schalkhaft bei seiner Verrichtung, seines vorteilhaften Aussehens wohlbewußt; der schöne Anblick saß mir auch fest im Auge, doch nahm ich denselben lediglich zugunsten der Herrin, deren Schönheit ich ihn zurechnete. Ohne Zögern ließ ich liegen, was ich vorgehabt, und eilte mit dem Mädchen durch Bäume und Herrschaften nach dem Kirchhofe, wo Dorothea wartete.
»Wo stecken Sie denn?« rief sie mir entgegen; »wir wollen noch mehr von dem blühenden Zeiland suchen, das kann man nicht alle Neujahrstage. Überdies sind wir die einzigen jungen Leute hier und dürfen uns auf unsere Weise auch ein bißchen des Lebens freuen!«
Sie ergriff somit meinen Arm, und wir gingen, von Röschen begleitet, nach dem
Buchenwald, den wir in acht oder zehn Minuten erreichten. Der Waldboden war
trocken wie im Sommer, und sobald wir ihn betraten, fing Dortchen an zu singen,
und zwar ein wirkliches Volkslied und im Tone, wie das Volk selber singt,
treuherzig und selbst mit den kleinen Schnörkeln verziert, die jenes anzuhängen
pflegt. Röschen fiel alsbald mit der zweiten Stimme ein, etwas tief und derb, so
daß es klang, wie wenn zwei gesunde Landmädchen durch den sonntäglichen
Als sie ihre Ernte gehalten, ging Röschen weiter, noch mehr Sträucher aufsuchend, und das Mädchen verlor sich allmählich hinter den Bäumen. Dorothea hingegen kam und ließ sich bei mir nieder, indem sie mir ihren Blütenstrauß unter die Nase hielt.
»Ist es nun nicht hübsch hier«, sagte sie, »und sind Sie nicht froh, daß wir Sie aus Ihrem Schlupfwinkel geholt haben?«
»Ich wollte an meine Mutter schreiben«, antwortete ich.
»Haben Sie ihr denn nicht schon früher auf den heutigen Tag einen Neujahrsbrief geschickt?«
»Ich habe ihr noch nicht geschrieben, seit ich hier bin; sie weiß gar nicht, wo ich lebe!«
»Sie weiß es gar nicht? Wie können Sie so was tun?«
Ich blickte seitwärts und kratzte mit den Fingern ein kleines Moosgärtlein weg, das auf der silbergrauen Rinde des Stammes saß. Dann sagte ich, daß ich einen so langen Aufenthalt nicht vorhergesehen und endlich gedacht hätte, die Mutter um so froher zu überraschen, wenn ich schließlich selber käme.
»Das muß ich sagen«, rief sie, »morgen müssen Sie aber schreiben, ich leid es
nicht länger! Wer ein solches Mütterchen hat, sollte seinem Schöpfer danken!
Wissen Sie, daß Ihr Buch
»Das wird doch nicht wohl angehen!« sagte ich.
»Warum denn nicht? O gefrorner Christ! Warum denn nicht? Darf ich Ihre Mutter nicht grüßen? Und wollen Sie nicht schreiben?«
Statt zu antworten, arbeitete ich fleißig weiter an der Ausreutung des Moosfleckes; denn das eiserne Abbild Dortchens drehte sich in meinem Herzen um, während ich neben dem Urbilde saß, was es sonst nie tat, und es war, als ob es mit furchtbarem Druck der schweren Eisenhände sich gegen die Wände seiner dunklen Behausung stemmte. Indessen ergriff sie meine Hand und wiederholte mit leiserer Stimme:
»Warum wollen Sie nicht? Oder soll ich für Sie schreiben, gleichsam in Ihrem Auftrage? Nein, das geht auch nicht! Aber diktieren will ich Ihnen, was ich denke, daß es der Mutter Vergnügen macht, und Sie brauchen bloß nachzuschreiben! Nun?«
Eh ich aber antworten konnte, war Röschen mit einer ganzen Schürze voll Märzglöckchen herbeigesprungen, die sie gefunden, und es war Zeit, zum Schlosse zurückzugehen. Dortchen ließ das Gespräch fallen. Sie nahm auf dem Rückwege meinen Arm nicht wieder, ging aber dicht neben mir her. Plötzlich sagte sie:
»Röschen, leih mir deine Jacke, wenn du sie nicht brauchst!
Es fängt doch an, mich zu frösteln!«
Röschen reichte ihr das Kleidungsstück; es fand sich aber,
»Wollen Sie sich nicht meines Rockes bedienen?« sagte ich mit unbeholfenem Scherze, und sie antwortete: »Nein, in Ihrer Haut mag ich nicht stecken, Sie kalter Fisch!«
Ins Schloß zurückgekehrt, hatte sie dem Tee vorzustehen, der noch eingenommen wurde, und nachher der Verabschiedung der einzelnen Gäste beizuwohnen. Als ich mit dem Grafen und dem Kaplane noch bei einem Glase Punsch zusammensitzen mußte, kam sie, gute Nacht zu wünschen. Sie legte dem erstern den Arm um die Schultern und sagte scherzhaft weinerlich:
»So eine Adoptivtochter fahrt doch ein elendes Leben! Nicht einmal ihrem Vater darf sie einen Kuß geben, wenn sie zu Bett geht!«
»Was fällt dir ein, du Närrchen?« sagte der Graf lachend; »das geht allerdings nicht und würde sich nicht schicken!«
Hier wendete sich das Eisen wieder in meinem Herzen und drückte mich jämmerlich die ganze Nacht. Dazu fing es an, mir den Hals zuzuschnüren, und ich konnte nicht anders Luft bekommen als durch den Ausbruch einer Tränenflut und erbärmlichen Schluchzens, zum ersten Mal in meinem Leben wegen Liebessachen. Der Unwillen über diese Schwachheit vermehrte das Übel, so wie auch die unliebsame Entdeckung, daß durch die wahre Leidenschaft, als welche ich die Geschichte ansah, die Freiheit der Person und jede vernünftige Selbstbestimmung verlorengehe, mich elend machte.
Als es endlich Tag wurde, war der falsche Lenz vorüber, und es fiel ein mit Schnee
vermischter Regen. Dortchen sagte, als ich im Schlosse erschien, nichts mehr vom
Schreiben, und ich selbst vermochte erst recht nicht, mich daranzumachen. Eine
abermalige neue Erfahrung war der Widerwillen gegen das Essen, welchen aus solchen
Ursachen zu empfinden ich nie für möglich gehalten hätte. Denselben zu verbergen,
damit er nicht auffiel und weil er ein trübseliges Aussehen mit sich brachte,
Dortchen dagegen schien nicht übel aufgelegt und sogar mit jedem Tage besser, ohne
sich stark um mich zu kümmern. Sie machte Geldstücke wie Kreisel über den Tisch
tanzen, brachte Kinder herbei und setzte ihnen Papiermützen auf die Köpfe, ließ
auf dem Hofe Hunde apportieren, und was dergleichen unschuldige Schwänke mehr
waren, und alles dünkte mich unergründlich merkwürdig, reizvoll und bestrickte
mich. Alle die kleinen Teufeleien verrieten täglich heller eine ursprüngliche
Anmut und Beweglichkeit des Gemütes und zeigten mit federleichten Wendungen, daß
sie tausend Nücken unter den Locken sitzen hatte. Wenn nun erst die offene, klare
Herzensgüte, was man so die Holdseligkeit am Weibe nennt, uns gewinnt, so bringt
uns nachher, wenn wir in unserer Einfalt entdecken, daß die Geliebte nicht nur
schön und gut, sondern auch gescheit und beweglich ist, die fröhliche
Kinderbosheit des Herzens vollends um Ruhe und Verstand; und so ging auch mir ein
neues Licht auf, und es befiel mich ein heftiger Schreck, nun gewiß nie wieder
ruhig zu werden, da ich gerade dies kurzweilige Frauenleben niemals mein nennen
könne. Denn wenn die Liebe nicht nur schön und tief, sondern auch recht eigentlich
kurzweilig ist, so erneut sie sich selbst in jedem Augenblick das bißchen Leben
hindurch und verdoppelt den Wert desselben, und nichts macht trauriger, als ein
solches Leben möglich zu sehen, ohne es zu gewinnen; ja die allertraurigsten Leute
sind die, welche glauben, das Zeug dazu zu haben, recht lustig zu sein, und
dennoch traurig sein müssen aus Mangel an guter Gesellschaft. So dachte und fühlte
ich damals, weil ich nicht wußte, daß es
Da das schöne Wesen mir mit jedem Tage anders und unbegreiflicher erschien, obgleich sie immer dieselbe war, so verlor ich zuletzt alle Unbefangenheit des Verkehrs, und um die Heilung meiner Krankheit zu versuchen, zog ich mich wie ein Einsiedler in die Wildnis zurück; d.h. unter dem Vorgeben, die Gegend, Land und Leute recht anzusehen, fing ich an, bei jeder Witterung, gut oder schlecht, den Tag im Freien zuzubringen. Ich hielt mich aber meist auf den waldigen Höhen auf, unter alten Tannenbeständen oder in verlassenen Köhlerhütten, ohne menschliche Gesellschaft, was schon aus dem Grunde gut war, weil ich, immer nur mit dem einen Gegenstande beschäftigt und die Herrschaft über mich selbst vergessend, laut zu denken und zu sprechen begann, besonders mit der Klage über den schmählichen Druck, der mir wie eine fremde Krankheit angeworfen war und den ich hundertmal mit der Hand wegzuwischen suchte.
»Ist diese Teufelei also die wirkliche Liebe?« sagte ich eines Tages laut vor mich
hin, als ich unter Bäumen einsam hockte und über das Land wegblickte. »Habe ich
nur ein Stück Brot weniger gegessen, als Anna krank war? Nein! Habe ich eine Träne
vergossen, als sie starb? Nein! Und doch tat ich so schön mit meinen Gefühlen! Ich
schwur, der Toten ewig treu zu sein; dieser Lebendigen aber Treue zu schwören wäre
mir nicht einmal möglich, da sich das ja von selbst versteht und ich mir nichts
anderes denken kann! Wenn diese schwer erkranken oder gar sterben sollte, würde
ich dann imstande sein, dem Ereignis so aufmerksam zuzusehen und es gar zu
beschreiben? O nein, ich fühle, es würde mich brechen und die Welt verfinstern!
Und welch ein praktischer Kerl bin ich dennoch gewesen, als ich so platonisch, so
ganz nach dem Schema liebte und ein grüner Junge war! Wie unverschämt hab ich da
geküßt, die Kleine und die Große, zum Morgen- und Abendbrot! Und
Dann starrte ich wieder in die Luft hinaus; doch kaum waren einige Minuten vergangen, während welcher ich neugierig eine Wolke oder einen Gegenstand am Horizont oder ein schwankendes Reis zu meinen Füßen betrachtete, so kehrten die Gedanken wieder zu ihrer alten Last zurück; denn das eiserne Bild erlaubte nicht, daß sie länger anderswo spazierengingen. Als ich eines Abends einen steilen Klippenpfad hinunterstieg, trat ich in der traurigen Zerstreutheit fehl und torkelte wie ein Sinnloser über die Felsen, daß ich nicht wußte, wie ich unten ankam, und mich zu meiner Kränkung und Beschämung ziemlich verletzte. Ein anderes Mal saß ich im Feld auf einem verlassenen Pfluge, der in der abgebrochenen Ackerfurche stand, und machte wohl ein sehr betrübt dummes Gesicht; denn ein vergnügt grinsender Feldlümmel, der mit einem irdenen Selterskrüglein, das ihm am Rücken hing, dahergeschlenkert kam, stand vor mir still, gaffte mich an und begann endlich unbändig zu lachen, indem er sich mit dem Ärmel über Mund und Nase fuhr. Schon das arme Krüglein tat mir in den Augen weh, da es so stillvergnügt und unverschämt von der Schulter dieses Burschen baumelte, der wahrscheinlich seinen Vespertrunk darin mitgeführt hatte. Wie konnte man ein solches Krügelchen herumtragen, als ob es kein Dortchen in der Welt gäbe?
Da der grobe Gesell nicht aufhörte, dazustehen und mir ins Gesicht zu lachen,
stand ich auf, trat weinerlich und leidvoll auf ihn zu und schlug ihn dergestalt
hinter das Ohr, daß der arme Kerl zur Seite taumelte; und eh er sich wieder fassen
konnte, prügelte ich all das Weh auf den fremden Rücken und zerschlug auch seinen
Krug, daß mir die Hand blutete, bis der Feldlümmel, welcher glaubte, der Teufel
sei hinter ihm her,
Von solcher Aufführung selbst angegriffen, dachte ich nicht, mich daran aufzureiben, sondern suchte den Weg, mich aus dem Irrsal zu befreien. Ich musterte und verglich alle Umstände, um feststellen zu können, daß ich nicht der Mensch sei, eine Neigung wie diejenige Dortchens erwecken zu können.
Was dem einen recht, ist dem andern billig! und: Wie du mir, so ich dir! sind zwei goldene Sprüche auch in Liebeshändeln, wenigstens für sonst verständige Menschen, und die beste Kur für ein krankes Herz ist die unzweifelhafte Gewißheit, daß sein Leiden nicht geteilt wird. Nur eigensinnige und selbstsüchtige Verfassungen laufen Gefahr, sich aufzulösen, wenn sie von denen nicht geliebt werden, die ihnen gefallen. Aber was hätte sein können und nicht geworden ist, macht unglücklich, und der Trost hilft nicht, daß die Welt weit sei und hinter dem Berge auch noch Leute wohnen; nur das Gegenwärtige, was man kennt, ist heilig und tröstlich.
Nachdem ich nun ausgemacht hatte, daß Dortchen nicht an mich denke, ward ich etwas
ruhiger und begann zu ratschlagen, ob ich zum Danke für ihre Liebenswürdigkeit ihr
die Sache entdecken wolle oder nicht. Ich gedachte im ersten Falle, gelegentlich,
eh ich abreiste, ihr lachend und manierlich zu gestehen, welchen Rumor sie mir
angerichtet, und sie zugleich zu bitten, sich nicht darum zu kümmern; denn nun sei
alles wieder gut und ich wohl und munter. Auf der anderen Seite aber tauchte die
Besorgnis auf, ein derartiges Geständnis möchte doch als schlaue Liebeswerbung
angesehen werden und mich in ein schiefes Licht bringen, der Geliebten aber einen
trüben Tag bereiten. Ich verfiel daher wieder in ein unruhiges und trauriges
Nachsinnen, ob ich es tun solle oder nicht, bis zuletzt es mir doch möglich
schien, mit unbefangenem Vertrauen ihr
Der Morgen geriet auch auf das schönste; ein wirklicher Vorfrühling lachte mit seinem wolkenreinen Himmel durch alle Fenster, und ich war trotz einiger süßen Bangigkeit doch guter Dinge, da ich meiner baldigen Freiheit und Erlösung von der schmählichen Beklemmung entgegensah und mir einbildete, nichts anderes erreichen, zu wollen. Und dennoch beruhte die ganze süße Aufregung, in welcher ich mich feiertäglich herausputzte und fortwährend auf neue Scherze sann, die ich in die bevorstehende Plauderei verflechten wollte, auf dem Selbstbetruge, mit dem ich mir verbarg, daß mich nur der Wunsch beseelte, mit Dorotheen wohl oder übel von Liebe zu sprechen.
Aber es fand sich, daß sie schon am Sonnabend meilenweit weggefahren war, um eine Freundin zu besuchen, daß sie von dort nach der Residenz gehen und überhaupt mehrere Wochen abwesend sein werde. Damit war alle meine Hoffnung zunichte und der blaue Himmel in meinen Augen schwarz wie die Nacht. Das erste, was ich tat, war, daß ich wohl zwanzigmal den Weg vom Gartenhaus nach dem Kirchhof hin und zurück ging und mich dabei auf die Seite des Pfades drückte, an welcher Dortchen mit dem Saume ihrer Gewänder hinzustreifen pflegte. Aber auf diesen Stationen brachte ich nichts heraus, als daß das alte Elend mit verstärkter Gewalt wieder da war und die Vernunft wie weggeblasen. Das Gewicht im Herzen war auch wieder da und drückte fleißig darauf los.
»Wie steht's denn mit den Bildern, Meister Heinrich?« sagte er, mir auf die Schulter klopfend, »rücken sie vor?«
»Nicht sonderlich!« erwiderte ich kleinlaut und trübselig.
»Es eilt ja nicht, Sie sind uns noch lange willkommen! Dennoch seh ich Ihnen am Gesicht an, daß es gut ist, wenn Sie von der Sache mit guter Manier bald frei werden.«
Du triffst es besser, als du weißt! dachte ich und machte mich plötzlich mit so grimmiger Entschlossenheit an die Arbeit, daß ich vor Ablauf von drei Wochen mit den Bildern fertig war. Während sie zum Trocknen an der Luft standen, bestellte ich beim Tischler die Kisten, in denen sie nach der Hauptstadt gesendet werden sollten. Dann stellte ich einige Streifereien an, um nicht stilliegen zu müssen, und als ich eines Abends spät nach Hause kehrte, sah ich vom Garten aus Dorotheens Zimmer erleuchtet. Mit dem Schlaf, den ich während der letzten fleißigen Tage wiedergefunden, war es nun abermals aus, obgleich ich noch nicht wußte, daß sie wirklich da war.
Am Morgen erschien Röschen und berief mich zum Frühstücke, welches ihrer Ankunft zu Ehren gemeinsam eingenommen werde. Als ich ins Schloß kam, erklang ihre Stimme durch das Haus; sie spielte und sang wie eine Nachtigall am Pfingstmorgen, und alles war voll Leben und Fröhlichkeit; nur ich war traurig und einsilbig, da das Scheiden nun doch vor der.
Türe stand.
Sie schien aber nichts davon zu merken, sondern trieb allerlei Mutwillen, der mich
immer wieder aufregte und verwirrte; dabei wandte sie sich immer an andere und
brauchte vorzüglich das dienstfertige Röschen als Trägerin und Gehilfin ihrer
Possen.
»Wer wird hier ausgelacht, und was willst du denn, du Gänseblümchen?« rief ich. Das blühende Kind zappelte und sträubte sich, lachte aber fort. Unversehens hielt es still und flüsterte mir ins Ohr:
»Lassen Sie uns doch lachen! Das gnädige Fräulein ist so vergnügt und zufrieden, daß sie wieder da ist! Wissen Sie warum?«
Als ich das schlimme Geschöpf verblüfft und errötend freiließ, legte es mir die Hand auf die Schulter und lispelte weiter:
»Sie war so traurig die ganze Zeit, denn sie ist verliebt! Wissen Sie, in wen?«
Ich fühlte das Herz beinah stillstehen und sagte tonlos: »Nun, in wen denn?«
»Ein Rittmeister bei den Kürassieren!« hauchte sie nun ganz leise, »himmelblaue Tracht, schneeweißer Mantel, Stahlharnisch und hoher Silberhelm, ein geschwungener Kamm darauf, und das Ganze schön wie ein Hektor, sagt sie, obgleich unser schwarzer Hund so heißt!«
Damit sprang sie davon und eilte der Herrin nach, die schon vorher entschlüpft war. Ich merkte freilich, daß Scherz getrieben wurde; allein die Schilderung eines schönen Reiteroffiziers bekam mir an sich schon nicht gut in solchem Zusammenhange.
Glücklicherweise langten die Kisten für die Bilder an, welche sofort eingepackt wurden. Ich schlug selbst die Nägel in die Deckel, daß die Kapelle von den zornigen Schlägen widerhallte; denn mit jedem Schlage nahm ich mir gewisser vor, am nächsten Tage fortzugehen, und so dünkte es mir, als nagle ich den eigenen Sarg zu. Aber nach, jedem Schlage schallte ein klangreiches Gelächter oder ein fröhlicher Triller von den Korridoren und Treppen her, die Mädchen jagten hin und wider und schlugen Türen auf und zu.
Ich fand ihn essend am Tische sitzen, über den die Nachmittagssonne wegschien.
»Ich esse hier mein Vesperbrötchen«, sagte er, »wollen Sie nicht mithalten?«
»Ich danke«, erwiderte ich; »wenn Sie es erlauben, so will ich Ihnen sonst ein wenig Gesellschaft leisten!«
»Das sind mir junge Leute heutzutage«, sagte der Hochwürdige, »das hat ja gar keinen ordentlichen deutschen Appetit mehr! Na, die Gedanken sind auch danach, da kann freilich nicht viel anderes herauskommen als nichts und wieder nichts!«
»Seit wann sind Hochwürden so materialistisch?«
»Verwechseln Sie mir nicht das Erschaffene mit dem Unerschaffenen, unseliger Adept, und nehmen Sie Platz! Ein Schluck Bier wird Ihnen mindestens nicht zu schwer sein!«
So beschäftigte er sich eifrig weiter mit der großen Schüssel, die vor ihm stand.
Dieselbe enthielt die Anhängsel und Profilstücke eines frischgeschlachteten
Schweines, die Ohren, die Schnauze und den Ringelschwanz, alles soeben gekocht und
Als ich etwa zehn Minuten dagesessen hatte, klopfte es an der Türe, und Dorothea trat, nur von dem schönen Hunde begleitet, anmutig und höflich herein, schien aber ein klein wenig befangen zu sein.
»Ich will die Herren nicht stören«, sagte sie, »und wollte nur den Herrn Kaplan bitten, heute abend bei uns zu sein, da Herr Lee morgen fortreist. Sie sind doch nicht abgehalten?«
»Gewiß werde ich kommen!« erwiderte der Pfarrer, der sich schon wieder gesetzt hatte und seine angenehme Arbeit fortsetzte, »bitte, mein Liebster, holen Sie doch einen Stuhl für das gnädige Freulein!«
Das tat ich mit großem Eifer und stellte einen zweiten Stuhl an den Tisch, mir gerade gegenüber. Dorothea dankte mit freundlichem Lächeln und sah bescheiden vor sich nieder, indem sie Platz nahm. Nun war ich doch glückselig, da ich in der wohnlichen und sonnigen Priesterstube ihr gegenübersaß und sie sich so gutmütig und still verhielt. Der Kaplan sprach essend und immer allein, und wir brauchten ihm nur zuzuhören, indes der Hund mit feurigen Augen und offenem Manne auf Schüssel, Hände und Mund des Hochwürdigen starrte.
»Ach, der arme Hund, wie es ihn gelüstet!« sagte Dortchen, »essen Sie dies auch, Herr Kaplan, oder erlauben Sie, daß ich es ihm gebe?«
Sie zeigte hiebei auf das krumme Schwänzchen, das sich manierlich auf dem Rande der Schüssel darstellte.
»Dies Sauschwänzchen?« sagte der Kaplan, »nein, mein Fräulein, das können Sie ihm
nicht geben, daß eß ich selber! Warten Sie, hier ist etwas für ihn!« und er setzte
dem lüsternen Tier einen Teller vor, in welchen er allerhand Knöchelchen und
Knorpelwerk geworfen hatte. Dortchen und ich sahen uns
Am offenen Fenster wehten die Vorhänge, sachte von der Luft bewegt, und vor demselben tanzte ein Schwarm schimmernder Mücklein in der Sonne, die einzelnen kaum erkennbar, mit einer Hast und Leidenschaft durcheinander, als ob sie die Kürze der ihnen verliehenen Frist gekannt hätten, die sich vielleicht nach halben Stunden berechnete.
In diesem Augenblick wurde der geistliche Herr von der Haushälterin abgerufen, um an Stelle des abwesenden Pfarrers einem vorbeschiedenen unfriedfertigen Ehepaar Audienz zu erteilen.
»Das muß doch immer gezankt haben, es ist ein Graus mit diesen Eheleuten!« rief der über die Störung ungehaltene Zölibatär; »räumt den Tisch ab, Therese, ich esse nachher nicht mehr!«
Damit lief er nach dem Studierzimmer des Pfarrers, ohne uns zu verabschieden, und
wir waren so veranlaßt, an dem weißgedeckten Tische sitzen zu bleiben; denn die
Wirtschafterin nahm bloß Schüssel und Teller mit und ließ das Tuch liegen. Ich
blickte wortlos auf die runde weiße Fläche, die, von der jungen Sonne beleuchtet,
zwischen uns glänzte. Das Wort »Eheleute«, das der Geistliche zuletzt
ausgesprochen, klang gleichsam noch in der Luft, da niemand sprach; denn auch
Dortchen saß schweigend da, die Hand auf den Kopf des Hundes gelegt, der mit
seinem Schmause auch fertig war. Das verfängliche Wort klang aber nicht mit seinem
Zusammenhange
Ich rang nach Worten, um das Schweigen zu unterbrechen, und Dortchen, mit dem gleichen Bestreben schneller fertig, öffnete eben den Mund, als die Wirtschafterin des Pfarrhauses wieder eintrat und nicht mehr wegging, da sie sich berufen fühlen mochte, die junge Herrschaftsdame zu unterhalten. Es dauerte nicht lang, so kehrte auch der Kaplan von seinem Geschäft zurück, das er rascher erledigt, als er gehofft hatte, und da sich nun ein haushälterisches Gespräch abzuspinnen begann, benutzte ich die Gelegenheit, grüßte und entfernte mich, um mein volles Herz hinauszuflüchten. Dortchen sah mir nach und rief mir zu, ich möge doch nicht zu spät im Schlosse erscheinen.
Nach einigem Herumstreifen gelangte ich an die Stelle, wo ich bei meiner Ankunft
aus dem Walde herausgetreten war und die abendliche Regenlandschaft mit dem Gute
und der alten Kirche erblickt hatte. Ich ging auf die Kirche zu und in dieselbe
hinein, und da ein altes Mütterchen darin kniete und ihr Gebet murmelte, schlich
ich hinter ihr weg in eine Art Krypta, welche
Vorzüglich tat dies ein Grabmal von schwarzem Kalkstein, auf welchem ein langer Ritter ausgestreckt lag, die Hände auf der Brust gefaltet. An seiner Seite, auf dem Rande des Sarkophages, stand eine fest verschlossene und verlötete Büchse von Bronze in Form einer kleinen Urne, zierlich gegossen und ziseliert und mit einer schlanken Kette vom nämlichen Metall an dem Brustharnisch des steinernen Ritters befestigt. Nach der Überlieferung enthielt die Büchse das einbalsamierte und vertrocknete Herz des Beigesetzten, und das Gefäß wie die Kette war gänzlich oxydiert und schillerte grünlich im Zwielicht der Krypta. Das Grabmal aber gehörte einem burgundischen Ritter an, der gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, von wilder und unsteter, aber ehrlicher Natur, von allerhand Unstern und Frauenmißhandlung verfolgt, durch die Länder geirrt war und bei den Vorfahren des Grafen hier seine letzte Zuflucht gefunden hatte, wo das Herz dann endlich an einem letzten Verrate gebrochen sein sollte.
Das Grabmal hatte er sich selbst gestiftet und den einsamen Platz dazu ausgebeten;
die Gruft des gräflichen Geschlechtes war schon damals in die größere Kirche
verlegt worden. An das Herz in der Büchse knüpften sich verschiedene Sagen, die
vom Volke erzählt wurden, wie zum Beispiele der »verliebt Burgauner« verordnet
habe, sein Herz solle so lang auf seinem Grab angebunden bleiben, bis lebendig
oder tot eine gewisse Dame komme und es in das Vaterland heimhole, und geschehe es
nicht, so sollte sie sowenig die ewige Ruhe finden, als er sie zu finden hoffe;
ein jedes andere Weibsstück aber, so die Büchse mit dem Herzen in die Hand zu
nehmen sich erdreiste, soll gehalten sein, dieselbe dreimal zu küssen und drei
Vaterunser zu beten, sonst werde der verliebt Burgauner ihr die Hand lahm
Dem romantischen Denkmale gegenüber saß ich in einem dunklen Winkel zwischen ausgedienten Tabernakeln und Prozessionsgerätschaften und überließ mich den Gedanken über die bevorstehende Trennung, die um so trauriger waren, als ich in dieser letzten Stunde mir sagen mußte, bei aller Abenteuerlichkeit des Erlebten werde das Glück schwerlich so weit gehen, mir auch noch mit einer Eroberung so glänzender Art aufzuwarten, wie sie mir im Sinne lag. Zu dieser planen Einsicht drängte mich die Not des entscheidenden Augenblickes, und hiezu gesellte sich die Beschämung Über die kindische Art, in die ich verfallen, sofort nach dem Glänzenden zu greifen. Mit solchen Gefühlen ringend, suchte sich dann die versöhnte Neigung, die, nichts für sich hoffend, nur dem Geliebten zugetan sein will, emporzuarbeiten, soweit sie nicht auch wieder eine verkleidete Begehrlichkeit war; kurz, ich brachte dergestalt die Zeit in der Dämmerung der Krypta zu, bis ich von der äußeren Kirche her ein Getrippel leichter Schritte und zugleich weibliche Stimmen vernahm. Aufhorchend erkannte ich sie als Dorotheas und Röschens Stimmen. Die Mädchen schienen diesmal nicht zu lachen, sondern angelegentlich etwas zu beraten. Doch bald dauerte ihnen der Ernst zu lang; denn sie kamen über die paar Stufen herunter in die Krypta gehuscht, und Dorothea rief: »Komm, Röschen, wir wollen wieder einmal den verliebten Ritter besehen!«
Sie stellten sich vor das Grabmal und schauten dem steinernen Manne neugierig in das dunkle ehrliche Gesicht.
»O Gott! ich fürchte mich«, flüsterte Röschen und wollte entfliehen. Dortchen aber hielt jene fest und sagte laut:
»Warum denn, Närrchen? Der tut niemand was zu leid! Sieh, wie es ein guter Kerl ist!«
Sie nahm das erzene Gefäß in die Hand und wog es bedächtig
»Höre die Klappernuß, wie sie raschelt!« rief sie, »da, klappre auch damit!«
Sie drückte dem zitternden Röschen das Gefäß in die Hände; aber es tat einen Schrei und ließ das Herz fallen, und Dortchen fing es mit aller Gewandtheit auf und ließ es abermals klappern.
Ich, von dessen Gegenwart sie keine Ahnung hatten, schaute ganz erstaunt dem Spiele zu.
Wart, du Teufel! dachte ich, dich will ich schön erschrecken!
Schnell trocknete ich die nassen Augen, stieß einen hohlen Seufzer aus und sprach mit einer traurigen Stimme, die ich gar nicht sehr zu verstellen brauchte, in älterm Französisch:
»Dame, s'il vous plaist, laissez cestuy cueur en repos!«
Mit einem Doppelschrei flohen die Mädchen aus der Krypta und der Kirche wie besessen, Dortchen voraus, welche mit einem schwungvollen Satz über die Stufen und die Schwelle der Kirchentüre hinaussprang, schneebleich, aber immer noch lachend ihr Kleid zusammennahm und über den Kirchhof wegeilte, bis sie zu ihrer Ruhebank kam und sich auf dieselbe warf, was ich alles durch eines der Fenster beobachten konnte, das ich rasch erklettert hatte.
Dortchen, deren Gesicht fast die Farbe ihrer weißen Zähne hatte, lehnte sich zurück, die Hände um das Knie geschlungen, und Röschen rief:
»Du großer Gott, es hat gespukt!«
»Jawohl, es spukt, es spukt!« sagte Dortchen und lachte wie eine Tolle.
»Mein Herz?« antwortete Dortchen, »ich sage dir, es ist guter Dinge!«
»Was hat es denn gerufen?« fragte Röschen, die immerfort beide Hände an ihr eignes Herz hielt und abwechselnd prüfte, ob sie noch beweglich seien; »was hat das französische Gespenst gesagt?«
»›Fräulein‹, hat es gesagt, ›wenn es Euch gefällt, so nehmt dies Herz und macht es zu Euerem Nadelkissen!‹ Geh wieder hin und sag, wir wollten uns bedenken! Geh, geh, geh!«
Sie sprang auf, als ob sie die hübsche Dienerin wirklich nach der Kirche zurückschieben wollte, umhalste sie aber unversehens und drückte ihr heftige Küsse auf die Wangen. Dann verschwanden beide unter den Bäumen.
Eine gute Weile später stieg ich auch aus meinem Schlupfwinkel hervor, um die letzten Dinge zu besorgen, die noch übrig waren. Ich ging in das Parkhaus und stellte die Reisefertigkeit vollständig her; richtig war der Schädel beim Packen des Koffers wieder vergessen worden, weshalb ich nochmals Raum schaffen mußte. Zuletzt war auch er untergebracht, und zwar als die einzige Habseligkeit von denen, die ich einst aus der Heimat in die Fremde mitgenommen hatte. Darum war mir auch, als ich es recht bedachte, die arme Scherbe erst jetzt wert; lange Jahre schon hatte sie in der heimatlichen Erde gelegen, dann mit mir die Kammer geteilt und, wenn auch als ein stummes Geräte, meine vergangenen Tage gesehen, und so kehrte ich wenigstens nicht ganz vor der alten Ausstattung entblößt zurück.
Dies verrichtet, begab ich mich zum Grafen, die Unterredung mit ihm zu halten, die
durch die letzten Stunden meines Hierseins sowie schon von der Pflicht der
Dankbarkeit gefordert wurde. Er wollte aber jetzt nichts von solchen Verhandlungen
wissen, sondern bestand darauf, mich abermals nach der Hauptstadt
Man müsse verhüten, sagte er, daß ich nicht schon nach dem ersten Anlaufe wieder einen Trödler aufsuche. Das wäre nicht zu befürchten, antwortete ich, weil ich ja nun reich genug wäre, die Bilder für einstweilen zu behalten und mit nach Hause zu bringen, wo sie sogar Zeugnis über die Art, wie ich die Zeit verbracht, ablegen könnten. Nichts da, meinte er, in der Kunststadt müßten sie ihre Wirkung tun, sonst habe mein bevorstehender Entschluß nicht die rechte Grundlage.
Vom Grafen hinweg ging ich auf die Terrasse, wo ich die kurze Zeit bis zur Stunde
der abendlichen Zusammenkunft zubringen wollte. Auf einem Tische des dahin
führenden Gemaches stand eine Schüssel mit feineren Zuckersachen, wie man sie in
buntes Papier zu wickeln und mit allerlei Sinnsprüchen oder sogenannten Devisen zu
begleiten pflegt. Dorothea hatte die Gewohnheit, dergleichen Naschwerk selber zu
wickeln und statt der gewöhnlichen trivialen Reimereien gute Sinngedichte,
Distichen und Liederstrophen einzulegen, welche sie aus allen möglichen Dichtern
und verschiedenen Sprachen zusammensuchte. Sie ließ ganze Sammlungen solcher
Zierlichkeiten auf Bogen drucken, die man nach Bedürfnis zerschneiden konnte, und
besaß das Talent, jeweilig eine so artige Auswahl zusammenzubringen, daß die
Gesellschaft beim Nachtische durch anmutig heitere oder witzige und spitzige
Vorstellungen oder auch beides abwechselnd nicht selten in angeregte Stimmung
versetzt wurde. Auch trieb sie allerhand Schwank, indem sie oft zwei Zeilen aus
verschiedenen Dichtern zusammenfügte, und man glaubte, Bekanntes zu lesen,
indessen die neue Wendung, der entgegengesetzte Sinn, welchen das
Unbekannt-Bekannte ergab, die Leser in die Irre führte. Einen Vorrat dieses so
zubereiteten Naschwerkes, in einem Körbchen von Silberdraht geordnet, das sie beim
Gebrauche noch mit Blumen schmückte, hielt sie jederzeit bereit und bot es bei
gegebener Veranlassung
Jetzt war Dortchen offenbar beschäftigt, ein solches Körbchen neu zu füllen, und wahrscheinlich von der Arbeit unerwartet abgerufen worden. Da ich mich durch den Auftritt in der Krypta und den bevorstehenden Abschied freier fühlte als sonst und mir nichts daraus machte, von der Zurückkehrenden betroffen zu werden, setzte ich mich an den Tisch und besah mir, was Dorothea heute betrieb. Sie hatte in der Tat schon eine gute Zahl süßer viereckiger Täfelchen in glänzendes Papier eingeschlagen und in das Körbchen gelegt; als ich nachschaute, was für eine Art von Versen und Epigrammen sie bereithielt, fand ich ein Büschel kleiner, auf zartes grünes Papier gedruckter Zettel, auf welchen allen dasselbe und einzige Gedichtlein zu lesen war:
Wo ich das kleine Papierbüschel sachte auseinanderschlug (es war von einem grünseidenen Bändchen zusammengehalten), überall blickten mir diese einfachen, treuherzigen und doch so aufregenden Worte entgegen. Vorsichtig griff ich das eine und andere der bereits fertigen Täfelchen aus dem Körbchen, machte es ein wenig auf und fand in jeder Hülle das gleiche grüne Liedchen. Es klang mir wie der tröstende Ruf einer Wachtel im einsamen Feld oder der leis an schwellende und traulich abbrechende halbe Gesang einer Drossel in der Tiefe des Waldes.
und denselben mit weiß Gott welcher Melodie und etwas lauter in den tiefsten Tönen verklingen ließ, deren ihre Stimme fähig war. Dann barg sie rasch den ungebrauchten Rest der feinen Zettelchen in einer Tasche ihres Kleides, besteckte das Körbchen mit den Rosen und eilte mit der ganzen reizenden Veranstaltung, den Leuchter zur Hand nehmend, aus dem Saale, und ich hatte dem lieblichen Tun durch eines der hohen Fenster zugeschaut, freilich von den Florbehängen desselben halb verhüllt.
Die vergnügliche Stimme des Kaplans ließ sich hören; ich säumte nicht, über die
Terrassenstufen hinunter- und ihm entgegenzugehen, und betrat in seiner
Gesellschaft wieder das Haus und die Räume, in welchen die Abende zugebracht
wurden.
Lachend versetzte ich, nach gewissen Weissagungen meiner Träume werde ich jedenfalls zu neuen Ideen kommen, und ich erzählte von der kristallenen Treppe, in deren Stufen die Ideen in Gestalt kleiner Frauensleutchen schliefen. Der Kaplan wunderte sich hierüber und guckte mich immer verdutzter an, als ich fortfuhr, jene Ausgeburten des Schlafes in unglücklicher Zeit zu schildern; denn hiemit bewies ich ihm, daß ich im Schlafe noch toller, das heißt idealischer sein könne nach seinen Begriffen als er im Wachen. Ich erzählte von der Brücke der Identität, von dem Goldregen, den ich auf dem fliegenden Pferde gemacht, und wie ich über das Kirchendach heruntergepurzelt und endlich in Trübseligkeit vor dem mütterlichen Hause gestanden sei, nachdem mir dasselbe erst wunderbar in die Augen geglänzt habe.
Da ich von dem feurigen Extraweine, welchen wir tranken, etwas vorlauter Laune geworden, schmückte ich diese Dinge noch mit manchen Zutaten und Hirngespinsten aus und endigte zuletzt wie ein Märchenerzähler, der dem Volke seinen blauen Dunst vorgemacht.
»Der hat ja ein Maul wie eine laufende Schuld!« sagte der Kaplan, in seiner
Verwirrung über die großartige Flunkerei zu
»Diese Beredsamkeit haben wir allerdings bisher an unserm Freunde nicht entdecken können! Ist es aber nun geschehen, so hindert mich nichts, mir zu denken, daß ich sie eines Tages zu ernsteren Dingen verwendet sehe. Wir wollen auf unser aller gute Zukunft anstoßen!«
Er schenkte die Gläser voll, und wir ließen dieselben zusammenklingen, ohne daß ich mich jedoch bemühte, über den Sinn seiner Worte klarzuwerden; denn ich sah unversehens Dorothea mit dem rosengeschmückten Körbchen herankommen.
»Auch ich will einen Spruch tun«, sagte sie, als sie mir zur Seite stand; »aber ich überlasse die Abfassung dem Zufall dieses wohlbekannten Orakelkorbes; nehmen Sie sich ein Bonbon heraus, nur eines, aber vorsichtig und bedächtig!«
Ich sah erstaunt und fragend zu ihr auf; denn ich wußte ja, daß in jedem der zierlichen Paketchen der gleiche Spruch lag.
»Welches raten Sie mir denn zu nehmen?« fragte ich mit innerer Bewegung; allein gleichmütig erwiderte sie:
»Ich darf mich nicht dareinmischen, wenn das Orakel wirken soll!«
»Soll ich dieses nehmen?«
»Ich weiß nicht!«
»Oder dieses?«
»Ich sage nichts, weder ja noch nein!«
»So nehm ich dieses und bedanke mich schönstens!« rief ich, indem ich das Papierchen öffnete und Dortchen rasch das Körbchen zurückzog.
»Nun, was steht darin?« rief der Kaplan, über welche Frage ich froh war, da ich die Verse kaum vernehmbar vorzutragen vermochte. Ich gab ihm den Zettel mit der Bitte, denselben selbst zu lesen. Das tat er mit gutem Ausdruck.
Er griff begierig nach dem Körbchen. Sie versetzte aber:
»Nächsten Sonntag dürfen Sie etwas zum Dableiben auswählen, Hochwürden! Heute bekommt nur der, welcher geht!« Damit eilte sie weg und verschloß das Körbchen sorgfältig in einem Schranke.
Als am nächsten Vormittag der Graf und ich bereits in dem bequemen Reisewagen saßen, sagte Dorothea, die uns beiden schon die Hand gegeben und jetzt plötzlich nochmals zum Wagen trat: »Nun ist doch etwas vergessen! Ihr grünes Buch, Herr Heinrich, liegt noch in meiner Verwahrung! Soll ich es rasch holen?«
»Laß nur!« sagte mein Reisegefährte; »es hält uns zu lange auf; wenn er uns, wie zu hoffen, bald schreibt, so können wir ihm das Buch wohlbehalten nachsenden, nicht so?«
Ich nickte nur froh aufatmend meine Zustimmung, da mit dem Buche ein Teil meiner selbst in der unmittelbaren Nähe Dortchens zu bleiben schien.
»Ich will es in sicherm Verschluß halten, und es soll ihm nichts geschehen!«, sagte sie und winkte mir, während wir wegfuhren, mit vollem freundlichem Blicke zu. Damals habe ich das schöne Wesen dennoch zum letzen Mal in meinem Leben gesehen.
Zwei breite Goldrahmen, im voraus bestellt, waren fertig, als wir in der Stadt
ankamen, die wir nun zum zweiten Male gemeinschaftlich
Zu meiner Verwunderung hingen auch jene zwei kleinen Bilder daneben, die von mir dem israelitischen Schneider und Gemäldehändler um ein Kleid überlassen worden. Der Graf hatte sie, da er von der Sache wußte, aufgestöbert und aus dritter Hand an sich gebracht. Jetzt waren sie mit Zetteln verziert, worauf das stattliche Wort »Verkauft« geschrieben stand. Diese List des Grafen erweckte ein günstiges Vorurteil für die ganze kleine Sammlung der vier Stücke, und in dem nächsten Kunstbericht einer verbreiteten großen Zeitung war ihrer schon in einigen aufmunternden Zeilen gedacht, wenn auch nicht mit sehr zutreffenden Worten. Kurz, nach wenigen Tagen meldete sich ein bedeutender Kunsthändler, welcher die deutschen Malerschulen bereiste, um ganze Bildersammlungen für entlegene Hinterländer zu erwerben. Durch diesen Käufer, der meine Bilder zu bescheidenem Preise anzukaufen hoffte, würde mein Name den Zusatz »Mitglied der X'er Schule« erhalten haben, eine Ehre, die ich mir nicht hätte träumen lassen. Der Graf jedoch meinte, die Bilder müßten an einen Liebhaber und nicht an einen Handelsmann verkauft werden und er sei einem solchen bereits auf der Spur.
Nach abermals einigen Tagen aber übergab mir der Kustos der Ausstellung einen für
mich aus dem Norden angekommenen Brief. Er war von Erikson, welcher schrieb:
»Lieber Heinrich,
Ich entschied mich ohne Zaudern für dies Freundesangebot, das meinen Entschluß, der Kunst zu entsagen, am leichtesten bestehen ließ; denn ein solcher Ankauf aus freundschaftlichem Wohlwollen war ja noch kein Beweis für den wahren Künstlerberuf. Der Graf mußte mir beistimmen, obgleich ich den Verdacht hegte, daß es mit seinem Verkaufsprojekte nicht viel anders beschaffen sein mochte.
Die Bilder wurden an Erikson abgesandt. In meinem Briefe, den ich wegen zu vollen Herzens nicht so ausführlich schrieb, wie er wünschte, bat ich ihn, er möge die Kaufsumme mir in die Heimat schicken, wohin ich abzugehen im Begriffe sei; so brachte ich also nicht nur eine für meine bisherigen Verhältnisse ansehnliche Barschaft mit nach Hause, sondern auch ausstehendes Guthaben, dessen Eingang aus weiter Ferne, nachdem ich selbst so wohlbehalten angekommen und das erste Aufsehen vorüber war, von erfreulichster Wirkung sein mußte.
Allein als ob das unglückliche Träumen von Gold und Gut im kleinen zur Wahrheit
werden wollte, war es hiemit noch nicht genug. Nachdem mein neuer Aufenthalt den
Behörden bekannt geworden und eben wieder zu Ende gehen sollte, erhielt
Den durchschlagendsten Nachweis konnte der Graf mit zwei Worten leisten, soweit es die Zeichnungen betraf, und für das übrige genügte seine Glaubwürdigkeit dem Gerichtsbeamten vollkommen, als er erklärte, der, welcher die Stecken bemalt, könne kein anderer sein als ich.
Also wurden mir vier öffentliche Schuldtitel von je tausend Gulden aushingegeben; der Graf verkaufte dieselben und besorgte mir gute Wechsel für den Betrag, so daß ich nun mit Vermögensteilen in dreifacher Form ausgestattet war mit barem Gelde, mit Forderungen und mit Wechseln.
»Wenn jetzt nur nicht der dicke Tell mit seinem Pfeil und das Kirchendach kommt!« sagte ich, als wir an der Mittagstafel unseres Gasthofes saßen, wo ich zum Überflusse auch noch der Gast des Grafen war; »ich muß trachten, daß ich fortkomme, sonst zerfließt mir das viele unnatürliche Glück zuletzt doch noch zu einem Traum!«
»Was spintisieren Sie mir wieder über der Kümmerlichkeit!« sagte der Graf; »bei allem, was Sie nun besitzen und was Ihnen so ungeheuer erscheint, ist nicht ein Pfennig, dessen rechtmäßige Quelle Sie nicht in sich selbst zu suchen haben! Und wie können Sie von Traum und Glücksfall reden, wo Sie gegenüber den paar Gulden mit Ihren schönen Jahren so im Verluste sind?«
»Aber die Geschichte mit dem Legat ist doch gewiß das reine Glücksabenteuer!«
»Auch dies nicht! Auch sie hat ihre Wurzel nur in Ihnen selbst! Ich habe vergessen, Ihnen ein beschriebenes Papier zu geben, das sich in den Falten eines der Schuldbriefe gefunden hat, als ich die Werttitel meinem Bankier brachte. Hier ist der Zettel, den der Alte Ihnen hinterließ!«
Der Graf gab mir ein Fetzchen Papier, auf welchem mit der mir bekannten unbehilflichen Handschrift des Trödlers, die zudem von eingetretener Körperschwäche noch verschlimmert sein mochte, zu lesen :
»Du bist nicht wieder zu mir gekommen, mein Söhnchen, und ich weiß nicht, wo Du zu finden bist. Ich möchte aber, weil ich fürchte, daß der Tod mich bei kurzen Tagen in meinem Kram heimsucht, Dir etwas erweisen und zuwenden, was ich nachher doch nicht mehr brauchen kann, leider! Ich tu es aber, weil Du alleweile mit dem zufrieden gewesen bist, was ich Dir für Deine Malerei gegeben habe, und vornehmlich, weil Du so still und fleißig bei mir gearbeitet hast. Wenn es in Deine Hände kommt, was ich in langen Jahren erspart habe mit Geduld und Vorsicht und Dir jetzt verehren tue, so genieße es mit Gesundheit und Verstand, weil ich leider davon abscheiden muß, und hiemit behüt Dich Gott, mein Männchen!«
»Es ist doch gut«, sagte ich mit neuer Verwunderung, »daß es für alle Gebarungen
zweierlei Richter gibt! Was andere mir
»Drum wollen wir auf seine Seligkeit anstoßen, weil er so gerecht gerichtet hat!« erwiderte der Graf wohlgemut; »und jetzt wollen wir unsere Freundschaft leben lassen und Brüderschaft trinken, wenn es Ihnen recht ist!« fuhr er fort, indem er die Gläser von neuem füllte.
Ich stieß an und trank aus, sah dabei aber so überrascht und verschüchtert drein, daß er es wohl bemerkte, als er mir die Hand schüttelte; denn der Unterschied des Alters und der Lebensverhältnisse hatten mich dergleichen doch nicht erwarten lassen.
»Sei nur nicht verdutzt, wenn es gilt, sich zu duzen!« sagte er fröhlich; »ich betrachte es als Gewinn, mit einem Stammesbruder aus anderer Staatsform und von jüngerm Lebensalter auf du und du zu sein. Und auch du darfst dich der guten deutschen Sitte füglich unterwerfen, nach welcher zuzeiten Jünglinge, Männer und Greise, welche auf dasselbe Ziel losgehen, Brüderschaft schließen. Nun aber wollen wir von dir allein reden! Was gedenkst du zu beginnen in deinem Lande?«
»Ich denke meine unterbrochenen Studien am borghesischen Fechter wieder aufzunehmen!« antwortete ich. Auf seine Frage, was das heiße, erzählte ich kurz, wie ich durch die so genannte Figur auf das Studium des Menschen hinübergeleitet worden sei und nun zwar nicht mehr dessen Gestalt, sondern dessen lebendiges Wesen und Zusammensein zum Berufe wählen möchte. Da mir jetzt Zeit und Mittel durch das Glück gegeben seien, so hoffe ich auf rasche und zweckmäßige Weise noch die nötigen Kenntnisse nachzuholen, um mich dem öffentlichen Dienste widmen zu können.
»So was habe ich mir auch gedacht«, sagte der gräfliche Duzbruder; »allein wie die
Dinge einmal stehen, würde ich mit besondern Studien keine Zeit mehr verlieren,
zumal ihr ja keine Hierarchie mit Zwangsfolge habt. An deiner Stelle würde
»Halt, Grave!« rief ich, da er sich in lauten Eifer hineinzureden begann und meine gegenwärtige Sache vergaß; »noch bin ich weder Konsul noch Tribun!«
»Gleichviel!« rief er jetzt noch viel lauter; »hast du aber gleichzeitig einen feigen und einen ungerechten Richter nebeneinander, so laß beiden die Köpfe abschlagen, und dann setze dem ungerechten den Kopf des feigen und dem feigen den Kopf des ungerechten auf! So sollen sie weiter richten, so gut sie können!«
Erst jetzt schwieg er, trank und sagte wieder: »Ungefähr so mein ich's, du wirst mich wohl verstehen!«
Ich hatte den sonst so ruhigen Mann nie so aufgeregt gesehen; die bloße Vorstellung, daß ich unmittelbar in eine Republik gehe und mich an deren öffentlichem Leben beteiligen werde, schien ihm andere verwandte Vorstellungen und alte Leiden der Unzufriedenheit zu erwecken.
Indessen war die Stunde des Abschiedes endlich da und kein
Als ich den Rhein überschritt und das Land betrat, war dieses gerade mit dem Getöse jener politischen Aktionen erfüllt, welche mit dem Umwandlungsprozesse eines fünfhundertjährigen Staatenbundes in einen Bundesstaat abschlossen, ein organischer Prozeß, der über seiner Energie und Mannigfaltigkeit die äußere Kleinheit des Landes vergessen ließ, da an sich nichts klein und nichts groß ist und ein zellenreicher, summender und wohlbewaffneter Bienenkorb bedeutsamer ist als ein mächtiger Sandhaufen. Beim schönsten Frühlingswetter sah ich Straßen und Wirtshäuser angefüllt und hörte das zornige Geschrei über gelungene oder mißlungene Gewalttat. Man lebte mitten in der Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen, Wahlbewegungen und Verfassungsänderungen, die man Putsche nannte, und Schachzüge waren auf dem wunderlichen Schachbrette der Schweiz, wo jedes Feld eine kleinere oder größere Volkssouveränetät war, die eine mit Vertretung, die andere demokratisch, diese mit, jene ohne Veto, diese von städtischem Wesen, jene von ländlichem, und wieder eine andere mit theokratischem Öle versalbt, daß sie nicht aus den Augen sehen konnte.
Sogleich übergab ich mein Gepäck der Postanstalt und beschloß, den Rest der Reise zu Fuß zurückzulegen, um unverweilt eine vorläufige Kenntnis der Zustände aus eigener Anschauung zu erwerben; denn gerade auf meinem Wege rauchte und schwelte es an mehreren Orten.
»Aber die Mehrheit«, rief ich vor mir her, »ist die einzige wirkliche und
notwendige Macht im Lande, so greifbar und fühlbar wie die körperliche Natur, an
die wir gefesselt sind. Sie ist der einzig untrügliche Halt, immer jung und immer
gleich mächtig; daher gilt es, sie unvermerkt vernünftig und klar zu machen, wo
sie es nicht ist. Dies ist das höchste und schönste Ziel. Weil sie notwendig und
unausweichlich ist, so kehren
Sie ist die reizende Aufgabe, an welcher sich ihr einzelner messen kann, und indem er dies tut, wird er erst zum ganzen Mann, und es tritt eine wundersame Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teile. Mit großen Augen beschaut sich erst die Menge den einzelnen, der ihr etwas vorsagen will, und dieser, mutig ausharrend, kehrt sein bestes Wesen heraus, um zu siegen. Er denke aber nicht, ihr Meister zu sein; denn vor ihm sind andere dagewesen, nach ihm werden andere kommen, und jeder wurde von der Menge geboren; er ist ein Teil von ihr, welchen sie sich gegenüberstellt, um mit ihm, ihrem Kind und Eigentum, ein Selbstgespräch zu führen. Jede wahre Volksrede ist nur ein Monolog, den das Volk selber hält. Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt als das Volk, während dieses selbst nur ein kleiner Spiegel der weiten lebendigen Welt ist und sein soll.«
Dergestalt redete ich mich in eine hohe Begeisterung hinein, je blauer der Himmel glänzte und je näher ich der Vaterstadt kam.
Freilich ahnte ich nicht, daß Zeit und Erfahrung die idyllische Schilderung der
politischen Mehrheiten nicht ungetrübt lassen
Aber auch mit diesen Schatten wäre ja das Unausweichliche und Notwendige der Mehrheit, ohne deren Zustimmung der mächtigste Selbstherrscher in Rauch aufgeht, und ihre reine Größe, wenn sie unverderbt ist, stark genug gewesen, meine Vorsätze zu tragen und den Durst nach der neuen Lebensluft nicht erlöschen zu lassen. So griffen denn meine Schritte immer kecker und Unternehmungslustiger aus, bis ich plötzlich das Pflaster der Stadt unter den Füßen fühlte und ich doch mit klopfendem Herzen ausschließlicher der Mutter gedachte, die darin lebte.
Meine Sachen mußten inzwischen auf der Post angekommen sein. Ich lenkte die Schritte zuerst dahin, um sogleich eine Schachtel an Hand zu nehmen, die meine bescheidenen Reisegrüße für sie enthielt, nämlich den Stoff für ein feineres Kleid, welches zu tragen ich sie zu überreden hoffte, und einen Vorrat aus ländischen Gebäckes, das, würzig und haltbar, ihr einen guten Mund machen sollte.
Diese Schachtel an der Hand, ging ich am noch lichten Nachmittage durch unsere
alte Straße; sie erschien mir belebter als vor Jahren; auch sah ich, daß manche
neue Verkaufsmagazine
»Seit wann sind Sie da, oder kommen Sie eben?« rief er, eilig mir die Hand reichend.
»Diesen Augenblick komm ich«, sagte ich, und er antwortete und bat mich, schnell eine Minute bei ihm drüben einzutreten, eh ich hinaufginge.
Ich tat es mit ängstlicher Spannung und fand mich in einem schönen Verkaufsladen, in dessen Hintergrund die junge Frau am Schreibpulte saß. Sofort kam auch sie mir entgegen und sagte: »Um Gottes willen, warum kommen Sie so spät?«
Erschreckt stand ich da, ohne noch erraten zu können, was es sein möchte, das die Leute so erregte. Der Nachbar aber säumte nicht, mich aufzuklären.
»Ihre gute Mutter ist erkrankt, so schwer, daß es vielleicht nicht ratsam ist, wenn Sie unangekündigt und plötzlich bei ihr erscheinen. Seit heute früh haben wir nichts gehört; nun aber ist's am besten, meine Frau geht schnell hinüber und sieht nach, wie es steht. Sie warten indessen hier!«
Ohne an eine so traurige Wendung glauben zu wollen, und doch bekümmert, ließ ich mich wortlos auf einen Stuhl sinken, die Schachtel auf den Knien. Die Frau lief über die Gasse und verschwand in der Türe, die mir wie einem Fremden noch verschlossen sein sollte. Die Augen voll Tränen, kehrte die Nachbarin zurück und sagte mit verschleierter Stimme:
Sie eilte wieder vor mir her, um hilfreich bei der Hand zu sein, wenn es not tat, und ich folgte mit zitternden Knien. Die Nachbarin erklomm rasch und leicht die Treppen; auf den verschiedenen Stockwerken standen feierlich Leute unter ihren Türen, leise sprechend, wie in einem Sterbehause. Auch vor unserer Wohnung standen solche, die ich nicht kannte; meine Führerin im alten Vaterhause eilte auch an diesen vorüber, und ich folgte ihr bis auf den Dachboden, wo ich unsern Hausrat dicht aufeinanderstehen sah und die Mutter in einem Kämmerchen wohnte. Leise öffnete die Nachbarin dessen Türe; da lag die Arme auf dem Sterbebett, die Arme über die Decke hingestreckt, das todesbleiche Gesicht weder rechts noch links wendend und langsam atmend. In den ausgeprägten Zügen schien ein tiefer Kummer auszuleben und der Ruhe der Ergebung oder der Ohnmacht Platz zu machen. Vor dem Bette saß der Diakon der Kirchgemeinde und las ein Sterbegebet. Ich war geräuschlos eingetreten und hielt mich still, bis er geendet. Die Nachbarin trat, als er das Buch sachte zuschlug, zu ihm und flüsterte ihm zu, der Sohn sei angekommen.
»In diesem Fall kann ich mich zurückziehen«, sagte er, sah mich einen Augenblick aufmerksam an, grüßte und begab sich hinweg.
Die Nachbarin trat jetzt an das Bett, nahm ein Tüchlein und trocknete sanft die feuchte Stirne und die Lippen der Kranken; dann, während ich immer noch wie ein vor ein Gericht Gerufener dastand, den Hut in der Hand, die Schachtel zu Füßen, neigte sie sich nieder und sagte ihr mit zarter Stimme, welche die Leidende unmöglich erschrecken konnte: »Frau Lee! der Heinrich ist da!«
Obgleich diese Worte bei aller Weichheit so vernehmlich gesprochen waren, daß auch
die vor der offenen Türe versammelten
Unwillkürlich schlug ich die Gardine zurück und öffnete das Fenster. Die reine Frühlingsluft und das mit ihr einströmende Licht bewegten das erstarrende ernste Gesicht mit einem Schimmer von Leben; auf der Höhe der hageren Wangen zitterte leicht die Haut; sie regte energisch die Augen und richtete einen langen fragenden Blick auf mich, als ich mich, ihre Hände ergreifend, zu ihr niederbeugte; das Wort aber, das ihre ebenfalls zitternden Lippen bewegte, brachte sie nicht mehr hervor.
Die Nachbarin nahm die Wärterin mit sich hinaus, drückte leise die Türe zu! und ich fiel an dem Bett nieder mit dem Rufe »Mutter! Mutter!« und legte den Kopf weinend auf die Decke. Ein röchelndes stärkeres Atmen hieß mich wieder emporschnellen, und ich sah die treuen Augen gebrochen. Ich nahm den leblosen Kopf in die Hände und hielt dies Haupt vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben so in der Hand, wenigstens so weit ich mich entsinnen konnte. Allein es war für immer vorbei. Es fiel mir ein, daß ich ihr wohl die Augen zudrücken sollte, daß ich ja dafür da sei und sie es vielleicht noch fahlen würde, wenn ich es unterließe; und da ich neu und ungeübt in diesem bittern Geschäfte war, tat ich es mit zager, scheuer Hand.
Die Frauen traten nach einer Weile herein, und als sie sahen, daß die Mutter
verschieden war, erboten sie sich, das Nötige zu tun und die Leiche für den Sarg
einzukleiden. Da ich einmal da war, verlangten sie von mir die Anweisung eines
Totengewandes. Ich öffnete einen der auf dem Dachboden stehenden Schränke, der
voll guter Kleider hing, die seit Jahren geschont
Die Frauen sprachen auch davon, wie wenig Mühe die Tote während ihrer Krankheit verursacht, wie still und geduldig sie gelegen und fast nie etwas verlangt habe.
Während die Frauen nun Bett und Leiche in den erforderlichen Stand brachten, folgte ich der Einladung der Nachbarin, in ihr Haus hinüberzugehen und dort auszuruhen. Der Nachbar suchte vorsichtig, eh er im Gespräche weiterging, meine Glücksumstände und Erlebnisse zu erfahren. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich zur Zeit seiner Anwesenheit in jener Stadt übel daran gewesen, ließ ihn dann aber die bessere Wendung der Dinge wissen, erzählte ihm alles, den Liebeshandel ausgenommen, und gleichsam als eine Art Rechtfertigung zeigte ich ihm unter Tränen die Geldwerte, die ich bei mir führte. Ich schob Geld und Papiere weg und stützte den Kopf wieder weinend auf den Tisch des fremden Mannes.
Betroffen und schweigend saß er da, und erst als ich mich etwas beruhigt, zeigte
er eine gewisse Entrüstung über den unglücklichen Verlauf der Dinge und konnte
sich nicht enthalten, mich damit bekannt zu machen. Nachdem die Mutter schon
längere Zeit auf meine Heimkehr oder wenigstens auf Nachrichten geharrt und schon
etwas gekränkelt hatte, erhielt
Nicht lange darauf, als sie die Zinsen für das auf das Haus entlehnte Kapital, die sie kümmerlich zusammengehalten, abtrug, wurde ihr das letztere gekündigt, und nun mußte sie mitten in ihren kummervollen Sorgen um ein neues Anleihen ausgehen. Es gelang ihr aber nicht, das Geld zu finden, denn es bestand eben die Absicht, sie vom Hause zu bringen, und es steckten Gewinnlustige hinter der Sache, unter denen der inzwischen etwas emporgekommene, immer noch im Hause wohnende Spenglermeister mitwirkte, in der Hoffnung, selber den Sitz zu erwerben. Auch hier war endlich der Bau einer Schienenstraße in Aussicht getreten, der Bahnhof mußte unfern unserer Gasse zu liegen kommen, und es begann der Wert der Grundstücke beinahe täglich zu steigen, ohne daß die Mutter in ihrer Abgeschiedenheit von diesen Dingen wußte.
Die doppelte und dreifache Sorge hat unzweifelhaft ihr Leben verkürzt; denn der Zahlungstermin rückte mit jeder Woche näher.
»Hätte ich eine Ahnung von der Sachlage gehabt«, sagte nun der Nachbar, »so hätte
ich leicht raten können; allein die Verschwiegenheit Ihrer Mutter erleichterte das
Bestreben der
Der Gedanke, daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiele gehabt, erleichterte keineswegs die Last, welche jählings auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge.
Die Aufforderung der freundlichen Nachbarsleute, das Nachtlager bei ihnen zu
nehmen, lehnte ich ab, weil es mir unmöglich schien, die Mutter allein zu lassen.
Ich ging mit der anbrechenden Abenddämmerung in unser Haus zurück. Jetzt stand
auch der schwärzliche Spenglermeister unter seiner Stubentüre; ich grüßte ihn, und
er und mich mit forschendem Blick ein, bei ihm anzukehren, was ich ausschlug,
indem ich nur um ein Licht bat. Mit einem solchen versehen, stieg ich wieder unter
das Dach hinauf, trat in das Kämmerchen und zündete das alte Messinglämpchen an,
bei dessen Schein ich sie die Jahrzehnte hindurch in den langen Winterabenden
hatte sitzen sehen. Das Lämpchen war vernachlässigt und nicht mehr blank, jedoch
mit Öl gefüllt. Da lag sie nun in ihrem Frieden, und ich, der ich so gedankenlos
gezögert, zu ihr zu kommen, fand jetzt nur noch einigen Trost an ihrer stillen
Gegenwart, an deren Aufhören
Am andern Tag kam der Bote eines Begräbnisvereines, den der Vater noch hatte gründen helfen, und traf alle Anordnungen; ich brauchte keinen Schritt zu tun. Auch die Kosten waren schon lange gedeckt durch die pünktlichen Beiträge der Mutter; es wurde nachträglich sogar noch eine kleine Rückzahlung angeboten. So war sie auch in dieser Hinsicht ohne jegliche Beschwernis für andere aus der Welt gegangen.
Als ich die betreffenden Papiere in ihrem Nachlasse suchte, mußte ich überhaupt Schrank und Schreibtisch öffnen und fand manche Heimlichkeiten, die ich noch nie gesehen. In einem mit Zinn verzierten hölzernen Kästchen lagen vergilbte Putzsachen ihrer Jugendzeit, wie künstliche Blumen, ein Paar weiße Atlasschuhe, Bänder zusammengepreßt und kaum oder nie gebraucht. Dabei einige alte vergoldete Almanache, wahrscheinlich längst verjährte Geschenke, und, was mich am meisten überraschte, ein Buch mit einer kleinen Sammlung abgeschriebener Gedichte oder Lieder, die ihr als Mädchen mochten gefallen haben. Zwischen den Blättern lag ein zusammengefaltetes loses Blatt, ebenfalls von ihrer damaligen erblichenen Handschrift, worauf zu lesen war:
Ich fand noch andere schriftliche Überbleibsel, und zwar aus den letzten Jahren, wo nicht aus letzter Zeit. In einem Mäppchen, das einen geringen Vorrat von Briefpapier enthielt, lag ein Blatt, das offenbar zu einem Briefe als Fortsetzung gehörte, indem die Schrift ganz oben in der linken Ecke anfing. Das Fragment aber lautete:
»Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sichern Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind? Wenn ich sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben und, indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird. Wo soll ich nun die Hilfe suchen?«
Hier brach die Schrift ab; denn vom nächsten Worte stand nur noch der
Anfangsbuchstabe. An wen der Brief gerichtet
So war nun der Spiegel, welcher das Volksleben widerspiegeln sollte, zerschlagen und der Einzelmann, der an der Volksmehrheit so hoffnungsreich mitwachsen wollte, rechtlos geworden. Denn da ich die unmittelbare Lebensquelle, die mich mit dem Volke verband, vernichtet hatte, so besaß ich kein Recht, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Türe.
Nachdem das Grab der Ärmsten sich geschlossen, bewohnte ich einige Zeit das
Stübchen, worin sie gestorben. Dann verkaufte ich mit dem Rate des Nachbars das
Haus und gewann in der Tat mehrere Tausende an dem Handel, so daß ich nun mit dem,
was ich hergebracht, und dem Gewinn zusammen ein kleines Vermögen besaß, aus
welchem ich bescheiden und zurückgezogen leben konnte. Das zufällige Wesen aber,
das dem winzigen Reichtum anhaftete, ließ mich seiner nicht froh werden, noch
weniger ein müßiges Leben darauf bauen; und da überdies der Mensch nicht nur von
dem leiblichen, sondern auch von einem moralischen Selbsterhaltungstriebe beseelt
ist, so nahm ich doch einige Studien vor, wie der Graf sie mir angeraten, nicht um
mich hervorzutun, sondern lediglich, soviel nötig war, mich für die Verwaltung
eines anspruchslosen und stillen Amtes vorzubereiten und die Ordnung, in welche es
eingebaut war, einigermaßen zu übersehen. Im übrigen las ich teils schwerere,
teils schönere Sachen allgemeiner Natur, um meinen befangenen und bedrängten
Gedanken einige Freiheit und Zerstreuung zu verschaffen. Denn während das Reuleid
wegen der Mutter allmählich zu einem düstern, aber gleichmäßig ruhigen
Hintergrunde
Ich trug den Spruch von der Hoffnung, auf das grüne Papier gedruckt, noch immer in meinem Brief-und Schreibtäschchen auf der Brust und las ihn zuweilen mit ungläubigem Seufzen und Kopfschütteln. Den Glücksfall vorausgesetzt, den die schlichten Worte zu verkünden schienen, war ich doch in der Lage, ihn fürchten zu müssen, und fast in der Stimmung eines Prahlers, der in der Ferne eine glänzende Schöne an sich gezogen hat, welcher er die schlechte Hütte nicht zeigen darf, darin er wohnt. Sogar zum bloßen freundlichen Verkehr in die Weite schien ich mir jetzt nicht fähig, da ich die Wahrheit meines Zustandes zu gestehen mich scheute und doch auch nicht lügen mochte. Die Zeit zu scherzhaften Flunkereien und Phantasiespielen, auch im harmlosen Sinne des Wortes, war für einmal vorbei.
Es vergingen wohl zehn Monate, bis ich über mich vermochte, an den Grafen zu schreiben, ohne unwahr zu sein oder allzu elend zu erscheinen.
Er vergalt mir die Saumseligkeit nicht mit gleicher Münze; vielmehr erhielt ich bald einen längern Brief von ihm, in welchem er meine Lage, soweit er sie begriff, mit guten Worten besprach und als den Lauf der Welt darstellte, wie er durch Paläste und Hütten gehe, Gerechte und Ungerechte heimsuche und seiner Natur gemäß unablässig sich verändere.
»Was unser Dortchen betrifft«, fuhr er fort, »so erfährt sie, und wir andere mit
ihr, in gehäuftem Maße auch ihr Teil. Seit Du weg bist, hat sich das Abenteuer
begeben, daß sie – meine blutsverwandte Nichte und nichts anderes geworden ist!
Ich kann Dir den Hergang nicht des weitern auseinandersetzen, nur mit ein paar
Strichen andeuten Von der bald nach dem Tode meines in den südamerikanischen
Händeln umgekommenen Bruders ebenfalls verstorbenen Witwe ist durch Letzten Willen
verordnet worden, es solle das Kind durch zuverlässige Leute
Nun kommt aber noch eine Betrachtung, die uns beide angeht, lieber Freund
Heinrich! Ich habe gut gesehen, daß Du
Meine eigene Ehe galt für eine Art Unicum, und die Leute sagten, es müsse so sein,
weil zwei Unica sich geheiratet haben.
Das ist eben auch ein Stück Weltlauf!«
Es bedurfte dieser traulichen Vertröstung des ältern Freundes nicht, die Geister der Leidenschaft in mir zu bannen. Die bloße Tatsache, daß Dorothea verlobt war und Isabel Gräfin zu W...berg hieß, vergegenwärtigte mir den Zustand, in welchen ich sie gebracht hätte, selbst wenn sie das Findelkind geblieben, ich weniger zurückhaltend gewesen und eine Verbindung zwischen uns erfolgt wäre. Es kam mir vor, wie wenn man einen großen Sommervogel in einen kleinen Grillenkäficht hätte setzen wollen. Die geheime Sorge, einer solchen Beschämung durch die schönste Glückserfüllung ausgesetzt zu werden, fiel mir wie ein Stein vom Herzen, und in diesem blieb nur die stille Sehnsucht nach der Verlorenen einträchtig neben der Trauer um die Mutter wohnen. Freilich kam mir dieser Weltlauf etwas teuer zu stehen; denn der Umweg über das Grafenschloß hatte mich nicht nur die Mutter, sondern auch den Glauben an ihr Wiedersehen und an den lieben Gott selbst gekostet, alles Dinge indessen, deren Wert nicht aus der Welt fällt und immer wieder zum Vorschein kommt.
Etwa ein Jahr später besorgte ich die Kanzlei eines kleinen Oberamtes, welches an
dasjenige grenzte, worin das alte Heimat Dorf lag. Hier konnte ich bei
bescheidener und doch mannigfacher
Eines Tages hatte ich mehrere Stunden auf den Straßen meines Verwaltungsbezirkes
zugebracht, um in Begleitung des Baumeisters den Zustand derselben zu untersuchen.
Nach verrichtetem Geschäfte trennte ich mich von dem Manne, da ich das Verlangen
spürte, noch einen Gang in Einsamkeit zu machen. So gelangte ich in ein enges
abgeschiedenes Tal zwischen zwei grünen Berglehnen, wo es so still war, daß man
die Luft in entfernten Baumwipfeln konnte säuseln hören. Auf einmal erkannte ich
das Tal als zu der Heimatgegend gehörig, obgleich
Ungefähr in der Mitte des Weges, der das Tälchen durchschnitt, warf ich mich an eine kleine begrünte Erdwelle und überließ mich der schmerzlichen Erinnerung an alles, was ich schon gehofft und verloren, geirrt und verfehlt hatte. Auch zog ich Dorotheens grünen Zettel einmal wieder hervor, der noch immer zwischen einer Falte meiner Schreibtafel steckte. »Hoffnung zeigt sich immerdar treugesinnten Herzen gütig!« las ich und wunderte mich, daß ich das falsche Wechselchen noch bei mir trug. Da eben ein schwacher Luftzug dicht über der sommerwarmen Erde hinwallte, ließ ich es fahren, und es flatterte gemächlich über Gras und Heideblumen weg, ohne daß ich ihm weiter nachblickte.
Am besten wäre es, dachte ich, du lägest unter die ser sanften Erdbrust und wüßtest von nichts! Still und lieblich wäre es hier zu ruhen!
Nach diesem mir nicht mehr neuen Seufzer ließ ich die Augen von ungefähr an der gegenüberliegenden Berghalde schweifen, an deren halber Höhe ein Felsband von grauer Nagelfluhe zutage trat. Ebenso von ungefähr sah ich eine leichte Gestalt von der gleichen grauen Farbe längs dem Felsbande hingleiten oder schweben, und da die Halde von der Abendsonne beleuchtet war, so sah man gleichzeitig auch den Schatten der Gestalt an der Wand mitgleiten. Ich wußte, daß ein schmaler Pfad dort das Felsgesimse entlanglief, und verfolgte mit den Augen die Erscheinung, die sich mit einem sichtlichen Rhythmus bewegte, der mich an ein irgendwo schon Gesehenes erinnerte. Als die Gestalt, die unverkennbar eine weibliche war, das Ende der Felswand erreicht hatte, wandte sie sich und kehrte denselben Weg wieder zurück; es sah aus, als ob der Geist des Berges aus dem Gestein herausgetreten wäre, um im Abendscheine auf und ab zu wandeln.
An dem Gesichte hatten die zehn Jahre keine andere Veränderung bewirkt, als daß es selbstbewußter geworden und durch einen sibyllenhaften Anhauch eher veredelt als entstellt war. Erfahrung und Menschenkenntnis lagerten um Stirn und Lippen, und doch leuchtete aus den Augen noch immer die Treuherzigkeit eines Naturkindes.
So sah ich sie, die Augen erstaunt auf sie gerichtet, mir nahe kommen und die
Schritte verlangsamen, als sie meiner ansichtig wurde. Mein Anblick mußte sich
mehr verändert haben als der ihre; denn sie schien unschlüssig, ging jetzt etwas
rascher und hielt doch wieder an sich, im Begriff, an mir vorüberzugehen.
Aber gleichzeitig überflog eine unverstellte und doch unbeschreiblich milde Freude ihr schönes Gesicht; meine Hand lag in ihrer warmen festen Hand, und nach alter Volkesweise öffnete sie dieselbe nicht so bald.
»Sind Sie es?« sagte sie, ohne meinen Namen zu nennen, und ich wagte auch nicht, den ihrigen zu wiederholen, da ich noch weniger wußte, wie ich sie eigentlich nennen sollte; denn es war durchaus nicht wahrscheinlich, daß eine solche Person allein geblieben sei. Ich fragte daher unbeholfen nur, wo sie herkomme?
»Aus Amerika!« erwiderte sie; »seit vierzehn Tagen bin ich hier!«
»Wo hier? In unserm Dorf?«
»Wo anders denn? Ich wohne im Wirtshaus, da ich sonst niemanden mehr habe!«
»Sind Sie allein da?«
»Gewiß; wer soll bei mir sein?«
Ohne daß ich irgendwie weiterdachte, machte mich diese Antwort glücklich; Jugendglück, Heimat, Zufriedenheit, alles schien mir seltsamerweise mit Judith zurückgekehrt oder vielmehr wie aus dem Berge herausgewachsen zu sein. Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weitergegangen, bald dicht aneinandergedrängt, bald eins hinter dem andern, wie es der Raum erlaubte.
»Wissen Sie, wo ich Sie das letzte Mal gesehen habe?« sagte sie jetzt, indem sie sich nach mir zurückwandte; »als ich auf einem Wagen aus dem Lande fuhr und sie als Soldat auf dem Felde standen in einer kleinen Reihe von Leuten. Da drehtet ihr euch alle, wie an einer Schnur gezogen, plötzlich um, und ich dachte Den bekommst du nie mehr zu sehen!«
Ein Weilchen gingen wir schweigend; dann fragte ich, wo sie
»Ich habe nur einen Spaziergang gemacht«, sagte sie, »und denke, ich muß jetzt wieder nach Haus. Würde es Ihnen zu weit sein, mit mir bis ins Dorf zu gehen?«
»Ich komme gern mit Ihnen und will in Ihrem Wirtshause zu Nacht essen«, antwortete ich; »nachher lasse ich mich in des Wirts kleinem Fuhrwerk heimführen; denn von dort sind es drei gute Wegstunden.«
»Oh, das ist schön von Ihnen! Ich haue doch heut früh schon eine Ahnung, daß mir etwas Gutes geschehen würde, und nun ist der Heinrich Lee bei mir, der Herr Vetter und Oberamtmann!«
Wir fanden bald einen breitern Weg und wanderten in traulichem Geplauder nach dem Dorfe; aber noch eh wir dasselbe erreichten, hatten wir uns unbewußt zu duzen angefangen, was wir als Blutsverwandte auch füglich tun durften. Das erste Haus, an dem wir vorübergingen, war das meines verstorbenen Oheimes; aber es waren fremde Leute darin, seine Kinderwaren zerstoben. Kleine fremde Kinder liefen uns nach und riefen: »Die Amerikanerin!« Einige boten ihr ehrfürchtig die Hand, und sie schenkte ihnen kleine Münzen. Als wir bei ihrem Hause vorbeikamen, standen wir einen Augenblick still. Der jetzige Besitzer hatte es umgebaut, aber der schöne Baumgarten, wo sie einst Äpfel pflückte, stand unverändert. Sie warf nur einen halben Blick auf mich, schlug ihn dann nieder und errötete sanft, indem sie eilig weiterschritt. Da sah ich, daß dieses Weib, das die Meere durchschifft, sich in einer neuen werdenden Welt herumgetrieben und zehn Jahre älter geworden, zarter und besser war als in der Jugend und in der stillen Heimat.
Das nennt man Rasse, würden rohe Sportsleute sagen! dachte ich bei dem lieblichen Anblick.
Im Wirtshause angekommen, wunderte ich mich, mit welcher Umsicht und geräuschlosen
Sorgfalt, mit wenig Worten,
Als sie nämlich mit ihren Landsleuten an Ort und Stelle der Ansiedlung gelangt und
andere dazugestoßen waren, zeigte sich fast die ganze Gesellschaft als nicht
ausdauernd und ungeschickt bei Widerwärtigkeiten, so wie sich auch die übrigen
Eigenschaften, welche die Auswanderung veranlaßt, nicht sogleich verloren. Judith,
als die meisten Mittel besitzend, hatte den größten Teil des Bodens angekauft; sie
ließ jedoch ihr Land von den andern benutzen und begnügte sich, eine Art
Handelskontor für die verschiedenen Bedürfnisse der kleinen Kolonie zu führen. Wie
sie aber sah, daß die Genossen sie am Schaden ließen und sie verarmen würde,
änderte sie das Verfahren. Sie zog ihr Land wieder an sich, ließ es um den
Tagelohn von denen bearbeiten, die für eigene Rechnung zu träg dazu gewesen, und
so brachte sie alle miteinander dazu, sich zu rühren. Sie setzte den Weibern die
Köpfe zurecht, pflegte die kranken Kinder und erzog die gesunden, kurz, der
Selbsterhaltungstrieb war mit einer großen Opferfähigkeit so glücklich in ihr
gemischt, daß sie die Leute und mit ihnen sich selbst so lange über Wasser hielt,
bis ein bedeutender Verbindungsweg in die Nähe der Ansiedlung kam und mit
demselben eine wachsende Zahl von kräftigeren Elementen, die schon geschult waren,
so daß zusehends die Wendung zum Bessern für alle eintrat. Während der ganzen Zeit
aber hatte sie die Bewerbungen um ihre Person abzuwehren,
Als aber das Kalb durch den Bach gezogen, das Gedeihen begründet und die Ansiedlung mit dem Namen irgendeiner berühmten Stadt der Alten Welt vor Christi Geburt versehen war, zog sie sich zurück und überließ sich einer ruhigeren Lebensart; denn sie war weder eine gewohnheitsmäßige Pädagogin noch eine vorsätzliche Tatverrichterin. Dagegen vervielfachte sie durch den Verkauf ihres Landes ihr ursprüngliches Vermögen und beschaute sich zuweilen während einiger Wochen das Leben in der Hauptstadt des Staates oder anderen größeren Städten, oder sie fuhr auf den breiten Flüssen, wenn sich Gesellschaft fand, landeinwärts, bis sie die wilden Indianer zu sehen bekam.
Alles das erzählte sie bruchstückweise und ungezwungen mit solcher Kurzweiligkeit, daß wir nicht müde wurden zuzuhören, zumal jedes Wort den Stempel der Wahrheit an sich trug. Inzwischen war die Zeit wie ein Augenblick für mich verstrichen, da ich seit Jahren nicht so sorglos und glücklich an einem Tische gesessen, und der Einspänner des Wirtes, der mich nach Hause bringen sollte, stand bereit, weil ich für die Morgenfrühe mehrere Amtsgeschäfte anberaumt hatte.
Ich dankte der Judith beim Abschiede für die Gastfreundschaft und lud sie ein, sich bald bei mir schadlos zu halten, wo wir zwar auch im Wirtshause essen müßten, weil ich keine Haushaltung führe.
»Ich werde schon in den nächsten Tagen angefahren kommen«, sagte sie, »in diesem gleichen Triumphwagen, und mich bezahlt machen!«
Als ich schon im Gefährte saß, drückte sie mir in der Dunkelheit schweigend die Hand und blieb lautlos stehen, bis ich weggefahren war.
Ich erwartete sie deshalb mit ebensoviel Furcht als Ungeduld, bis sie am zweiten Vormittage kam. Eine gewisse Niedergeschlagenheit war in die Freude des Wiedersehens gemischt, und zwar bei ihr wie bei mir. Nachdem sie sich in meiner Wohnung ein wenig umgeschaut, sagte sie, Hut und Überwurf weglegend:
»Es ist doch recht hübsch in diesem großen Amtsdorfe, fast wie in einer Stadt. Ich hätte Lust, hieher zu ziehen und mehr in deiner Nähe zu sein, wenn nur –«
Sie hielt verschüchtert inne, gleich einem jungen Mädchen, fuhr dann aber :
»Sieh, Heinrich, schon mehrmals bin ich seit meiner Ankunft auf dem Bergpfade gewesen, wo du mich getroffen hast, um hier herüberzuschauen, da ich mir nicht zu kommen getraute!«
»Nicht getraut! Eine so tapfere Person!«
»Sieh, das ging so zu: Du liegst mir einmal im Blut, und ich habe dich nie vergessen, da jeder Mensch etwas haben muß, woran er ernstlich hängt! Nun erschien vor einiger Zeit in unserer Kolonie ein neuer Landsmann aus dem Dorfe, der sich jedoch auch schon einige Jahre drüben herumgetrieben hat. Da von den heimatlichen Dingen gesprochen wurde, frug ich beiläufig nach dir und ob man im Dorfe nichts von dir wisse, hoffte aber nicht, etwas zu erfahren, woran ich längst gewöhnt war. Der Mann besann sich ein Weilchen und sagt: ›Ja, wartet, wie ist denn das? Ich habe davon gehört‹, und nun erzählte er.«
»Er habe gehört, daß du verarmt in der Fremde herumgezogen seist, die Mutter in Schulden gebracht und darüber habest sterben lassen und daß du dann in elendem Zustande heimgekehrt seiest und als ein Schreiberlein irgendwo dein Leben fristest. Als ich so dein Unglück vernahm, packte ich unverzüglich auf, um zu dir zu kommen und bei dir zu sein!«
»Judith, das hast du getan?« rief ich.
»Was meinst du denn? Sollte ich, die dich als grünen Knaben einst so herzlich geliebt und gekost hat, dich nun in Not und Kummer wissen, ohne zu dir zu kommen? – Aber da ich nun kam, da war alles nicht wahr! Zwar die Mutter ist gestorben, du aber bist in guten Zuständen aus der Fremde gekehrt und stehst jetzt beim Regierungswesen und in Ehr und Ansehen, wie ich wohl merke, obgleich man sagt, du seiest etwas stolz und unfreundlich! Dies letztere ist nun freilich auch nicht wahr!«
»Und du bist also meinetwegen aus Amerika aufgebrochen, obgleich du mich für schlecht gehalten hast?«
»Wer sagt das? Ich habe dich trotzdem nicht für schlecht, nur für unglücklich gehalten!«
»Das Schlimmste an dem Unglück ist aber dennoch wahr, meine Verschuldung! Ich habe wirklich meine Mutter in Kummer und Sorgen gebracht und bin eben recht gekommen, der daran Sterbenden die Augen zuzudrücken!«
»Wie ist das denn zugegangen? Erzähle mir alles, denke aber nicht, daß ich mich von dir werde abwendig machen lassen!«
»Dann hat dein Urteil keinen Wert, wenn es nur durch deine gütige Zuneigung bedingt wird!«
»Eben diese Neigung ist Urteils genug, und du mußt es anerkennen! Doch erzähle nur!«
Ich tat es in ausführlicher Weise, so ausführlich, daß ich gegen das Ende hin die
Aufmerksamkeit auf meine Rede verlor und zerstreut wurde; denn ich spürte
inzwischen den alten
»Es nützt nichts, länger zu schwatzen! Du hast mich erlöst, Judith, und dir danke ich's, wenn ich wieder munter bin; dafür bin ich dein, solang ich lebe!«
»Das läßt sich hören!« erwiderte sie mit glänzenden Augen und mit einem Ausdrucke von Zufriedenheit in ihren schönen Gesichtszügen, daß der Anblick mich in der Erinnerung immer wieder irremachte, wenn ich im Laufe der Jahre zu erwägen hatte, wie mit der Schönheit der Dinge doch nicht alles getan und der einseitige Dienst derselben eine Heuchelei sei wie jede andere. Ja, neben der Erinnerung an Dortchens Angesicht am Tische des Kaplans leuchtet mir Judiths Anblick fort wie ein Doppelstern. Beide Sterne sind gleich schön und doch nicht beide gleich in ihrem wahren Wesen.
»Nun habe ich Hunger und möchte essen, wenn du was hast!« sagte Judith; »aber richte dich ein, den übrigen Tag mit mir im Freien zuzubringen; unter Gottes freiem Himmel wollen wir unsere Sachen zu Ende führen!«
Wir stellten fest, daß ich nach Tisch mit ihr heimwärts fahre, daß wir aber am Eingange des Tales, wo wir uns zuerst getroffen, den Wagen weiterschicken und den Berg mit der Nagelfluhe besteigen wollten.
Fröhlich und zufrieden aßen wir zusammen im Herrenstübchen des Gasthauses zum
goldnen Stern. In einem der Fenster leuchtete eine zweihundertjährige gemalte
Scheibe mit den Wappen eines Ehepaares, das nun schon lange zu Staub geworden.
Über den beiden Wappen stand die Inschrift: »Andreas Mayer, Vogt und Wirt zum
gülden Stern, und Emerentia Juditha Hollenbergerin sind ehlich verbunden am 1. Mai
1650.« Der Hintergrund, auf welchem die zwei Wappen standen, zeigte ein Gartenland
mit einer Gesellschaft zechender Engelsfigürchen zwischen Rosenbüschen. Ein
geschmücktes Paar, die Handschuhe in den Händen, sah den kleinen Trinkgesellen
wohlgefällig
Die gemeinsame Quelle, aus welcher beide Schreiber, die so weit auseinander lebten, der alte Glasmaler und das Fräulein im Grafenschloß, geschöpft hatten, mußte somit ein sehr altes Buch sein.
Mich aber berührte diese Aufdringlichkeit des Zufalls, die aus der ganzen Schilderei leuchtete, eher ängstlich und beklemmend als freudig; denn dieser Machthaber schien sich förmlich zu meinem Führer aufwerfen zu wollen, und der Spruch konnte eine neue Täuschung verkünden. Judith las denselben, ohne auf das Bildwerk zu achten, und sagte lächelnd: »Welch ein schöner Vers und gewißlich wahr; man muß ihn nur richtig verstehen!«
Wir begaben uns also auf den Weg, schickten den Wagen am Fuße jenes mäßigen Berges weg und wanderten gemächlich hinauf, und zwar auf die Scheitelhöhe. Dort standen, weit in das Land ragend, zwei mächtige uralte Eichbäume, unter welchen eine Bank und ein steinerner, ganz bemooster Tisch sich befanden. Vor der christlichen Zeit sollte hier eine Kultusstätte, später eine Dingstätte gewesen sein und von letzterer Bestimmung der Tisch herrühren.
Auf der Bank im Schatten der mächtig ausgreifenden Aste sitzend, schauten wir Hand in Hand in die bläuliche Ferne der Rundsicht. Judith hatte ihren Hut und Sonnenschirm auf den Tisch gelegt. Nach einer Weile, als sie auch den Tisch betrachtet und sich die Bedeutung desselben hatte erklären lassen, sagte sie mit bedächtlichen und bewegten Worten:
»Wie nennt man's denn in den Ländern, wo es Könige gibt, wenn diese gekrönt werden und an den Altären stehen?«
Ich wußte nicht gleich, was sie meinte, und sann nach. Da ich sie aber unverwandt auf den alten Steintisch schauen sah und sie sogar Hut und Schirm wegnahm, wie um die Sache deutlicher zu machen, fiel es mir ein, und ich sagte:
»Es heißt, sie nehmen die Krone von Gottes Tisch!«
Da sah sie mich zärtlich an und flüsterte:
»Ja, so heißt es! Sieh, und nun könnten wir hier auch das Glück von Gottes Tisch nehmen, was die Welt das Glück nennt, und uns zu Mann und Frau machen! Aber wir wollen uns nicht krönen! Wir wollen jener Krone entsagen und dafür des Glückes um so sicherer bleiben, das uns jetzt, in diesem Augenblicke, beseligt; denn ich fühle, daß du jetzt auch glücklich und zufrieden bist!«
Ich schwieg erschüttert still. Doch fuhr sie fort:
»Schau, ich habe es mir schon auf dem Meere und während eines Sturmes überlegt, als die Blitze um die Masten zuckten, die Wellen über Deck schlugen und ich in der Todesangst deinen Namen ausrief, und die letzten Nächte wieder hab ich es hin und her gewendet und mir gelobt Nein, du willst sein Leben nicht zu deinem Glücke mißbrauchen! Er soll frei sein und sich durch die Lebenstrübheit nicht noch mehr abziehen lassen, als es schon geschehen ist!«
Ich schüttelte aber den Kopf und sagte betroffen: »Ich will nicht unbescheiden sein, Judith, allein ich habe es mir doch anders gedacht. Wenn du mir in der Tat gut bist, willst du nicht lieber bei mir leben, als immer so einsam sein, so allein stehen in der Welt?«
»Wo du bist, da werde ich auch sein, solange du allein bleibst; du bist noch jung, Heinrich, und kennst dich selber nicht. Aber abgesehen hievon, glaube mir, solange wir so sind wie jetzt, in dieser Stunde, wissen wir, was wir haben, und sind glücklich! Was wollen wir denn mehr?«
»Ich habe ja gesagt, ich sei dein, und will es auf jede Art sein, wie du es willst!«
Sie schloß mich heftig in die Arme und an ihre gute Brust; auch küßte sie mich zärtlich auf den Mund und sagte leis: »Nun ist der Bund besiegelt! Aber für dich nur auf Zusehen hin; du bist und sollst sein ein freier Mann in jedem Sinne!«
Und so ist es auch zwischen uns geblieben. Noch zwanzig Jahre hat sie gelebt; ich habe mich gerührt und nicht mehr geschwiegen, auch nach Kräften dies oder jenes verrichtet, und bei allem ist sie mir nahe gewesen. Wenn ich den Wohnort verändern mußte, so ist sie mir das eine Mal gefolgt, das andere nicht, aber sooft wir wollten, haben wir uns gesehen. Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest. Und wenn ich in Zweifel und Zwiespalt geriet, brauchte ich nur ihre Stimme zu hören, um die Stimme der Natur selbst zu vernehmen.
Sie starb, als eine verderbliche Kinderkrankheit herrschte und sie sich mit ihren hilfsbereiten Händen in eine ratlose Behausung armer Leute stürzte, die mit kranken Kindern angefüllt und von den Ärzten abgesperrt war. Sonst hätte sie leicht noch zwanzig Jahre leben können und wäre ebensolang mein Trost und meine Freude gewesen.
Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wiedererhalten und den andern Teil dazugefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.