Problematische Naturen. Erste Abtheilung : ELTeC ausgabe Spielhagen, Friedrich (1823-1911) ELTeC conversion Leonard Konle 225971 622 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Problematische Naturen. Erste Abtheilung Spielhagen, Friedrich Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Neue, vom Verfasser revidierte Ausgabe, Band 1, Leipzig: Staackmann, 1874. Erstdruck: Berlin (Otto Janke) 1861.

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Erstes Capitel

Es war an einem warmen Juniabend des Jahres 184, als ein mit zwei schwerfälligen Braunen bespannter Stuhlwagen mühsam in dem tiefen Sandwege eines Tannenforstes dahinfuhr.

Wird dieser Wald denn nie ein Ende nehmen! rief der junge Mann, der allein in dem Hintersitze des Fuhrwerks saß, und richtete sich ungeduldig in die Höhe.

Der schweigsame Kutscher vor ihm klatschte statt aller Antwort mit der Peitsche. Die schwerfälligen Braunen machten einen verzweifelten Versuch, in Trab zu fallen, standen aber alsbald von einem Vorsatze ab, den ihr Temperament und der tiefe Sand so wenig begünstigten. Der junge Mann legte sich mit einem Seufzer in seine Ecke zurück und fing wieder an, auf die einförmige Musik des mühsam gleisenden Fuhrwerks zu horchen, und ließ wieder die dunklen Stämme der Tannen an sich vorübergleiten, auf die hier und da ein Streifen von dem Licht des Mondes fiel, der so eben über den Forst heraufstieg. Er begann von neuem, sich den Empfang, der seiner auf dem Schlosse harrte, und die so neue Situation, in die er treten sollte, auszumalen; aber die überdies verschwommenen Bilder einer unbekannten Zukunft wurden dunkler und dunkler; die schlummermüden Augen schlossen sich, und der erste Ton, den sein Ohr wieder vernahm, war der dumpfe Hufschlag der Pferde auf einer hölzernen Brücke, die zu einem mächtigen steinernen Thorweg führte. Endlich, rief der junge Mann, sich emporrichtend und neugierig um sich schauend, als der Wagen rascher durch eine dunkle Allee riesiger Bäume fuhr auf einem mit Kies bestreuten offenen Platze einen halben Bogen machte und jetzt vor dem Portale des Schlosses hielt, auf dessen dunklen Fenstern die Mondstrahlen glitzerten.

Der schweigsame Kutscher klatschte zum Zeichen der Ankunft mit der Peitsche. Die einzige Antwort war der helle Ton einer Glocke in der Nähe, die langsam elf Uhr schlug. Als der letzte Ton verklungen war, that sich die Hausthür auf, ein Diener trat heraus an den Wagen und hinter ihm wurde die Gestalt eines alten Herrn sichtbar, dessen runzliges Gesicht von dem Schein der Kerze, die er mit der einen Hand gegen den Luftzug zu schützen suchte, hell beleuchtet wurde.

Der junge Mann sprang rasch aus dem Wagen auf den alten Herrn zu, der ihm die Rechte entgegenstreckte und mit einer Stimme, deren Freundlichkeit das Zittern des Alters und ein etwas ausländischer Accent nicht verhüllten, sagte:

Seien der Herr Doctor bestens willkommen! Der junge Mann erwiderte herzlich den Druck der dargebotenen welken Hand: Ich komme zwar etwas spät, Herr Baron, sagte er, aber –

Das thut nichts, das thut nichts, unterbrach ihn der alte Herr. Frau von Grenwitz ist noch auf. Johann, tragen Sie die Sachen auf das Zimmer des Herrn Doctor! Wollen Sie hier eintreten!

Oswald hatte auf dem mit Steinfliesen ausgelegten Vorsaal seinen Anzug flüchtig geordnet und folgte jetzt dem Baron in ein hohes, schönes Zimmer.

Als er eintrat, erhoben sich zwei Damen, die an dem Tisch vor dem Sopha, wie es schien, mit Lesen beschäftigt gewesen waren.

Meine Frau, sagte der Baron, Oswald der älteren von den beiden Damen vorstellend, einer hohen, schlanken Frau von etwa vierzig Jahren, die dem Ankömmling ein paar Schritte entgegengegangen war und jetzt mit einiger Förmlichkeit seine Begrüßung erwiderte, und dann verbeugte er sich auch vor der jüngeren, einer zierlichen kleinen Gestalt mit einem etwas scharfen, echt französischen, von langen Locken eingerahmten Gesicht, da er in dem Umstande, daß sie ihm nicht besonders vorgestellt wurde, keinen zwingenden Grund sah, diese Höflichkeit zu unterlassen.

Sie kommen spät, Herr Doctor Stein, sagte die Baronin mit einer tiefen, wohllautenden Stimme, die mit dem kalten Licht ihrer großen grauen Augen nicht ganz harmonirte.

So früh, gnädige Frau, antwortete der junge Mann heiter, als es der widrige Wind, der heute Morgen das Fährboot um mehrere Stunden aufhielt, und der Kutscher des Herrn Baron, dessen Geduld zu bewundern ich unterwegs reichlich Gelegenheit hatte, erlaubten.

Geduld ist eine schöne Tugend, sagte die Baronin, nachdem sie ihren Platz auf dem Sopha wieder eingenommen und die Uebrigen sich auf Stühlen um den Tisch gereiht hatten; eine Tugend, die Sie vor Allen schätzen müssen, da Sie dieselbe in Ihrem Berufe so nöthig haben. Ich fürchte, die beiden Knaben werden Ihnen nur zu oft Veranlassung geben, diese Tugend im vollsten Umfange zu üben.

Ich verspreche mir alles Gute von meinen zukünftigen Zöglingen und bin zum voraus überzeugt, daß die Probe, auf die sie meine Geduld stellen werden, keine Feuerprobe sein wird.

Ich will es wünschen, sagte die Baronin, eine Arbeit, die sie beim Eintritt des jungen Mannes aus der Hand gelegt hatte, wieder ergreifend; indessen werden Sie die Knaben gerade jetzt etwas verwildert finden, da sich Ihre Ankunft leider um einige Tage verzögert hat, und Ihr Vorgänger uns nicht den Gefallen thun konnte – oder wollte, seine Abreise so lange aufzuschieben.

Es hieße gering von der guten Natur der Knaben denken, erwiderte Oswald, und nicht besonders groß von dem Erziehertalente des Herrn Bauer, das mir sehr gerühmt wurde, wenn ich wirklich fürchtete, sein Einfluß auf dieselben sollte ihn nicht einmal eine Woche überlebt haben.

Nun, Herr Bauer hatte seine Tugenden und auch seine Schwächen, sagte die Baronin, die Stiche auf ihrer Arbeit zählend.

Das ist so Menschenloos, gnädige Frau, erwiderte Oswald.

Will der Herr Doctor nicht eine Erfrischung zu sich nehmen, liebe Anna-Maria? sagte hier der alte Herr; Oswald konnte nicht unterscheiden, ob aus gastfreundlicher Fürsorge, oder um dem Gespräch, das, er wußte selbst nicht wie, einen etwas lebhaften Charakter angenommen hatte, eine andere Wendung zu geben.

Ich danke, sagte Oswald trocken.

Sie haben, fuhr die Baronin, ohne diese Unterbrechung zu beobachten, fort, wenn ich den Professor Berger, der uns an Sie wies, recht verstanden habe, sich bis jetzt noch nicht mit Unterrichten und Erziehen beschäftigt, Herr Doctor?

Nein.

Sie werden mich außerordentlich verbinden, wenn Sie mir gelegentlich Ihre Grundsätze in dieser Beziehung ausführlicher darlegen wollten. Ich bin zum voraus überzeugt, daß wir in den Hauptpunkten einerlei Meinung sein werden. Auf einige Differenzen in den Nebensachen müssen wir uns wohl Beide gefaßt machen. Ich werde Ihnen meine etwaigen Wünsche und Ansichten stets unverhohlen äußern und bitte Sie, gegen mich dieselbe Rücksichtslosigkeit zu beobachten. Was den Umfang der Kenntnisse der Knaben anbelangt, so werden Sie sich darüber bald selbst ein Urtheil bilden. Auch Ihrem Urtheil über den Charakter der Kinder wünsche ich nicht vorzugreifen; nur das glaube ich Ihnen sagen zu müssen, daß Sie in Malte, unserm Sohn, einen etwas verzogenen Knaben, und in Bruno – Sie wissen, daß Bruno von Löwen ein entfernter Verwandter meines Mannes ist, den wir nach dem Tode seiner Eltern zu uns genommen haben – einen Knaben finden werden, der eben gar nicht erzogen und in Folge dessen auch zum Theil sehr ungezogen ist.

Liebe Anna-Maria, sagte der alte Herr.

Ich weiß, was Du sagen willst, lieber Grenwitz, unterbrach ihn die Baronin, Bruno ist nun einmal Dein erklärter Liebling, und unsere Ansichten über ihn werden wohl noch lange verschieden bleiben. Uebrigens magst Du auch wohl Recht haben, wenn Du behauptest, daß ich ihn nicht zu beurtheilen vermag, was übrigens weniger meine, als des Knaben Schuld ist, dessen düsteres verschlossenes Wesen alle Annäherung von unserer, wollte sagen, von meiner Seite beharrlich zurückweist.

Aber, liebe Anna-Maria, –

Nun, laß es gut sein, lieber Grenwitz, wir wollen Herrn Doctor Stein nicht gleich an dem ersten Abend, den er unter unserm Dache ist, das Schauspiel der Uneinigkeit zweier Ehegatten geben. Ueberdies wird Herr Doctor Stein der Ruhe bedürfen. Mademoiselle, wollen Sie die Güte haben, zu klingeln.

Diese letzten Worte wurden in französischer Sprache an die junge Dame gerichtet, welche während dieser ganzen Unterredung unbeweglich, ohne auch nur die Augen nach dem Ankömmling aufzuschlagen, das Buch, aus dem sie vorgelesen haben mochte, noch immer in der Hand haltend, an dem Tische gesessen hatte. Jetzt erhob sie sich und schritt nach der Thür, neben der sich der Klingelzug befand. Oswald kam ihr mit einem: Erlauben Sie, mein Fräulein, zuvor. Das Mädchen sah ihn aus großen braunen Augen mit einem halb verwunderten und halb erschrockenen Blick an, der deutlich genug verrieth, wie wenig sie an dergleichen Aufmerksamkeit gewöhnt war, und ging dann, die langen Wimpern schnell wieder senkend, zu ihrem Platz am Tische zurück.

Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag, Oswald nach dem für ihn bestimmten Zimmer zu bringen.

Ich hoffe, daß Sie vorläufig Alles nach Wunsch finden werden, sagte die Baronin, als Oswald sich mit einer stummen Verbeugung verabschiedete; wenn Eines oder das Andere vergessen, oder weniger nach Ihrem Geschmacke sein sollte, so haben Sie ja die Güte, dies auszusprechen; ich wünsche dringend in unserm eigenen Interesse, daß Sie sich in unserm Hause behaglich fühlen.

Oswald verbeugte sich noch einmal und folgte dem Diener aus dem Gemache.

Dieser führte ihn über den Hausflur, an dessen Wänden Oswald flüchtig im Schein der Kerze dunkle Portraits von alterthümlich gekleideten Herren und Damen in Lebensgröße bemerkte, eine steinerne Wendeltreppe hinauf, durch lange Corridore in eine Flucht von kleinen Zimmern und endlich in ein größeres Gemach.

Dies ist das Zimmer des Herrn Doctor, sagte der Mann, die beiden Kerzen, die auf dem mit einem grünen Teppich bedeckten großen runden Tisch in der Mitte des Gemaches standen, anzündend. Die Thür dort führt in das Schlafgemach des Herrn Doctor.

Und wo schlafen die Knaben? fragte Oswald.

Der Herr Doctor gelangen aus Ihrem Schlafgemach in das der Herren Junker. Haben der Herr Doctor sonst noch etwas zu befehlen?

Nein, ich danke.

Ich wünsche dem Herrn Doctor eine wohlschlafende Nacht.

Gute Nacht.

Oswald war allein. Er war, eine Hand auf den Tisch gestützt, nachdenklich stehen geblieben und hörte mechanisch zu, wie die Schritte des Dieners allmälig auf dem Corridor verhallten. Jetzt ergriff er eine der beiden Kerzen, ging durch sein Schlafgemach nach der Thür, von der ihm der Diener gesagt, daß sie in das Gemach der Knaben führe, öffnete sie behutsam und trat, das Licht mit der Hand schirmend, leise ein.

Die Betten der Knaben standen dicht neben einander. Vor dem einen Bette lag ein Teppich, vor dem andern nicht. Ueber dem Bette ohne Teppich hing an der Wand eine kleine silberne, über dem mit dem Teppich eine noch kleinere goldene Uhr. In dem Bette unter der goldenen Uhr lag ein Knabe von vielleicht vierzehn Jahren, mit blondem, schlichtem Haar und einem schmalen, feinen Gesicht, das in diesem Augenblick durch den halb geöffneten Mund etwas Albernes hatte; in dem Bette unter der silbernen Uhr ein Knabe, der wohl nur ein Jahr älter sein mochte, als der erste, aber mindestens um drei Jahre älter aussah und überhaupt mit jenem den sonderbarsten Contrast bildete. Während die Arme Jenes schlaff auf der Decke lagen, hatte Dieser die seinen über der Brust verschränkt. Der fest geschlossene Mund, und die in diesem Augenblick, wo ihn ein Traumbild herausfordern mochte, leise zusammengezogenen dunklen Brauen, gaben dem blassen Gesicht mit den unregelmäßigen, aber nicht unschönen Zügen einen Ausdruck von finsterem Trotz und Stolz, der einem gefangenen Königssohn wohl angestanden haben würde.

Armer Knabe, sagte Oswald bei sich, als er mit unendlichem Interesse in das räthselhafte junge Antlitz sah, Dir hat der Lenz des Lebens auch schon Thränen gebracht, wenn Du überhaupt von einem Lenze sprechen kannst.

Er fühlte sich seltsam ergriffen, er wußte selbst kaum weßhalb; aber er beugte sich über den Schlummernden und küßte ihn auf die Stirn. Da regte sich der Knabe im Schlaf, die Arme lösten sich, er schlug die großen, tiefblauen Augen auf und sah durch die Nebel des Traumes zu Oswald empor. Und da zuckte es wie ein sonniger Strahl über sein Gesicht; alles Düstre war verschwunden und ein warmes, hinreißend freundliches Lächeln spielte in den lebensvollen Zügen.

Ich habe Dich lieb, sagte der Knabe.

Und ich Dich, antwortete Oswald.

Da wandte sich Bruno auf die Seite und Oswald hörte an den tiefen, regelmäßigen Athemzügen, daß er wieder fest entschlafen sei. Hat er Dich wirklich gesehen, oder bist Du ihm nur als Traumbild erschienen? fragte sich der junge Mann, als er, voll von dem Eindruck dieser kleinen Scene, in sein Zimmer zurückschritt. Er stellte das Licht wieder auf den Tisch, trat an's Fenster, öffnete es und lehnte sich hinaus.

Der Himmel hatte sich mit Wolkendunst bedeckt, durch den der volle Mond, der schon tief am Himmel stand, nur als dunkelrothe Feuerkugel schien. Im Osten wetterleuchtete es. Die Luft war schwül und drückend. In dem Schloßgarten tief unter dem Fenster schimmerten die weißen Blüthenbäume. Tiefer finsterer Schatten lag auf den Buchen und Eichen, die von dem hohen Wall, der den Garten umgab, riesig in den Himmel wuchsen. Nachtigallen schlugen in vollen langgezogenen Tönen; ein Brunnen plätscherte leise, wie im Schlaf.

Oswald fühlte sich seltsam bewegt. Seine Vergangenheit ging in dämmernden Bildern an seinem Geiste vorüber, wie die Wolkenschleier an dem Monde vorüberwallten; Ahnungen der Zukunft zuckten dazwischen, wie das Wetterleuchten gegen Aufgang. Da rauschte es lauter in den Bäumen, die helle Glocke, die ihn bei seiner Ankunft begrüßt hatte, schlug langsam zwölf.

Er fuhr empor. Du wolltest dir ja das Träumen abgewöhnen, sprach er lächelnd zu sich selbst. So schlafe denn, da du, ohne zu träumen, nicht mehr wachen kannst.

Zweites Capitel

Oswald war jetzt eine Woche auf Schloß Grenwitz, und die Woche war ihm vergangen wie ein Tag. Es lag in seiner Natur, alles Neue mit Leidenschaft zu ergreifen, selbst das Alltägliche, so lange es neu war, und hier hatte er Neues vollauf: eine neue Situation, neue Umgebung, neue Menschen. Das Alles versetzte ihn, wie es bei sanguinischen Temperamenten zu geschehen pflegt, auf eine Zeit lang in die heiterste Stimmung, in welcher es ihm ein Leichtes war, Dinge und Menschen, und Alles und Jedes, womit er in Berührung kam, selbst die Baronin mit ihren strengen, kalten Zügen, selbst den schweigsamen Kutscher, gegen den er gleich am ersten Abend einen Haß gefaßt hatte, selbst den kriechenden, zuthulichen Bedienten mit seinem ewigen: Befehlen der Herr Doctor – ganz liebenswürdig, zum mindesten interessant zu finden. Von dieser heiteren, versönlichen Stimmung gaben auch die Briefe Zeugniß, die er um diese Zeit an seine Freunde schrieb: Da wäre ich denn nun, heißt es in dem einen, auf dieser neuen Station meines wunderlichen Lebens angelangt, und wahrlich, ich glaube es hier, bis Schwager Kronos die Pferde gewechselt hat und wieder in sein ewiges Horn stößt, trotz meiner so oft von Ihnen gescholtenen Ungeduld, wohl aushalten zu können. Ja, wenn ich nicht fürchten müßte, durch voreiligen Enthusiasmus ihren Spott herauszufordern, so hätte ich nicht übel Lust, dem guten Stern, der mich hierher geführt, ein Danklied zu singen. Ich bin durchaus in der dazu nöthigen Stimmung. Ich habe in diesen Tagen schon so viel Wald-und Seeluft geathmet, daß mein armes, vom Staube nichtsnutziger Folianten betäubtes Gehirn schier trunken ist. Wahrlich, wenn die Menschen dieses paradiesischen Aufenthaltes nicht ganz unwürdig sind, so öffnet sich mir für die nächsten Jahre eine schöne Zukunft.

Verzeihen Sie mir, mein Freund, daß ich zu dem großen Schritte, der mich hierher geführt, nicht Ihre specielle Erlaubniß eingeholt habe, wie Sie nach dem blinden Gehorsam, mit dem ich Ihrer höheren Einsicht bis jetzt immer gefolgt bin, wohl erwarten konnten. Ich war einmal entschlossen, ihn zu thun. Sie, das wußte ich, würden mir Ihre Einwilligung versagen; so wollte ich denn Ihren geharnischten Gründen ein eben so geharnischtes fait accompli entgegenstellen, und Ihrem guten Rath das uralte Vorrecht, zu spät zu kommen, nicht rauben. Ueberdies kam mir die Sache so plötzlich, und ich mußte meinen Entschluß so schnell fassen, daß ich eben nur Zeit hatte, Ihnen denselben mit wenigen Worten anzukündigen; und endlich ist es auch der Professor Berger, der die ganze Schuld trägt, wenn überhaupt von Schuld die Rede sein kann, und auf dessen Schultern ich hiermit feierlich alle Verantwortung wälze.

Wir haben uns, seitdem wir uns vor nun fast einem Jahre in der Residenz trennten; sehr selten und immer nur sehr flüchtig geschrieben. So werde ich auch wohl des Professors Berger kaum ein paar Mal Erwähnung gethan haben, und es ist daher die höchste Zeit, daß ich Sie mit diesem originellen Manne endlich bekannt mache, der in meiner jüngsten Vergangenheit eine so große Rolle gespielt hat, und dem ich es einzig und allein zu verdanken habe, daß ich in der Haupt- und Staatsaction der Tragi-Komödie – Examen genannt – keine kläglichere Rolle spielte.

Als ich damals von B. nach Grünwald zog, in der vagen Hoffnung, ich werde in dieser stillen Musenstadt, in der, wie ich mir hatte sagen lassen, das Gras in idyllischer Ruhe auf den Straßen wachse, die nöthige Sammlung finden, an der es mir in den literarischen Cirkeln, ästhetischen Thees und singenden Butterbroden der Residenz so gänzlich gebrach, erschien mir unter den fürchterlichen Männern, die mich selig machen oder verdammen konnten, Professor Berger bald als der fürchterlichste. Ich hörte von den paar Commilitonen, deren dreimal bedenkliche Bekanntschaft zu machen ich nicht umhin konnte, wahrhaft unheimliche Dinge von seiner erstaunlichen Gelehrsamkeit und allerlei Beunruhigendes über sein excentrisches Wesen, seine tolle Launenhaftigkeit und seinen großen Einfluß auf die übrigen Mitglieder der Prüfungscommission, denen er durch sein Wissen, mehr aber noch durch seinen Witz, mit dessen beißender Lauge er Jeden ohne Ansehen der Person überschüttete, gründlich imponirte. Leibhaftig hatte ich den Entsetzlichen noch nicht gesehen. Er hatte einen seiner hypochondrischen Anfälle, in welchen er sich, wie man mir sagte, bei Tage in seine Stube einschlösse und des Nachts in den Wäldern der Nachbarschaft umherschweife.

Da werde ich eines Tages von einer reichen Familie, an die ich empfohlen war, zu Mittag geladen. Die Gesellschaft war sehr zahlreich, ich führte eine der jungen Damen vom Hause zu Tisch, ein hübsches blondes Mädchen, dessen Munterkeit mich während des Anfangs der Mahlzeit hinreichend fesselte. Als aber die gewöhnlichen Themata, die man mit jungen Damen, die seit einem Jahre aus der Schule sind, abzuhandeln pflegt, durchgesprochen waren, wurde ich auf einen Herrn aufmerksam, der mir gegenüber saß. Es war ein untersetzter, schon ältlicher Mann, mit einer massiven, wie aus Granit gahauenen Stirn, unter der ein paar kluge Augen hervorblitzten. Die etwas vollen Wangen verkündeten eine Neigung zum Wohlleben, die sich denn auch in dem Eifer, mit welchem der Mann den guten Gaben der Ceres und des Bacchus zusprach, deutlich genug zu erkennen gab. Die Züge um den festen, schönen Mund waren geradezu räthselhaft: Sinnlichkeit, Witz, Schalkheit und Melancholie – Dämonen und Genien – schienen dort zu spielen.

Das Gespräch wurde an diesem Theile der Tafel bald ein allgemeines, und ich konnte mich, ohne aufdringlich zu erscheinen, hineinmischen. Man sprach über Kunst, Literatur, Politik. Ueberall schien der merkwürdige Mann zu Hause, überall überraschte er uns durch die geistvollsten Aperçus, durch blendende Antithesen und wunderliche Paradoxen. Ja, er schien seine Freude daran zu haben, wenn er so ein Tröpfchen Fegefeuer hineingesprengt hatte und die höllischen Flämmchen die guten Leute auf der Nase kitzelten. So stellte er denn auch gelegentlich die Behauptung auf, daß Revolutionen der Menschheit nie etwas genützt hätten, nie und nimmer etwas nützen würden. Sie kennen meine Ansicht über diesen Punkt, der oft der Gegenstand unserer Gespräche war. Ich nahm den Fehdehandschuh auf; ich wurde warm bei meinem Lieblingsthema, um so wärmer, als der Mann mir gegenüber mich durch Kreuz- und Quersprünge irrlichtergleich zu verwirren suchte. Ich vergaß Alles um mich her, ich wurde pathetisch, satyrisch – ich fühlte, daß ich gut sprach, wenigstens in meinem Leben nicht besser gesprochen hatte. Der Mann hatte zuletzt das Gefecht, das, wie ich später zu meiner Beschämung erfuhr, das lustigste Scheingefecht von der Welt für ihn war, aufgegeben und hörte mir, den großen Kopf ein wenig auf die rechte Schulter geneigt und mich unter den buschigen Brauen mit seinen großen klugen Augen anlächelnd und dabei ein Glas Hochheimer nach dem andern schlürfend, behaglich zu. Bald darauf wurde die Tafel aufgehoben. Als ich meine Dame in das Theezimmer führte, fragte ich sie: Und wer war denn der Herr, mit dem ich mich in ein, für Sie ohne Zweifel, sehr langweiliges Gespräch verwickeln ließ?

Wie, Sie kennen Professor Berger nicht? antwortete mir die Kleine verwundert.

Das war Professor Berger?

Nun freilich, soll ich Sie ihm vorstellen?

Um Himmelswillen nicht, rief ich mit wahrhaftem Entsetzen; o ich Kind des Unglücks!

Was ist Ihnen? fragte die hübsche Blondine, was haben Sie?

Ich aber hatte schon ihren Arm aus dem meinen gleiten lassen und suchte das entfernteste Zimmer. Dort warf ich mich in einer einsamen Ecke auf einen niedrigen Divan, um über das Unglück, das ich angerichtet hatte, melancholische Betrachtungen anzustellen. Ich hatte mich also, während ich mit einem gutmüthigen Pudel zu spielen glaubte, mit einem grimmigen Bären gerauft! Dieser Mann war mir als eben so tückisch geschildert, wie er gelehrt und witzig war. Würde er sich meiner Sarkasmen und Ausfälle nicht in jener schlimmen Stunde erinnern, wo ich hülflos auf dem Secirtisch des Examinationssaales vor ihm lag? Es war ein verzweifelter Fall.

Da hebe ich vor einem Geräusche neben mir den Kopf, den ich nachdenklich in die Hand gestützt hatte; – vor mir steht der Professor Berger. Ich fahre von meinem Sitze auf.

Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze, sagt der seltsame Mann, indem er auf dem Divan Platz nimmt und mich an seine Seite winkt. Sie gefallen mir und ich wünsche, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Ich bin der Professor Berger; mit wem habe ich die Ehre?

Mein Name ist Stein.

Sie studiren, oder vielmehr, was haben Sie studirt?

Ich wollte, Herr Professor, ich könnte auf diese Frage einfach »Philologie« antworten, da dies aber eine grobe Unwahrheit wäre, so kann ich nur sagen: ich wünsche, ich hätte Philologie studirt.

Wie so?

Weil mir alsdann die Ehre Ihrer näheren Bekanntschaft weniger bedenklich erscheinen möchte.

Ein Lächeln spielte um den Mund des Professors die Wange hinauf und verlor sich im Winkel des rechten Auges.

Sie stehen vor dem Examen?

Ja, wie – Sie kennen ja das Sprüchwort, Herr Professor.

Das Lächeln zuckte vom Auge wieder herunter zum Munde.

Und da erschrecken Sie vor mir wie Hamlet vor seines Vaters Geist?

Wenigstens erscheinen Sie mir in sehr fragwürdiger Gestalt.

Nun wohl, da sehen Sie selbst, daß wir eben deßhalb näher mit einander bekannt werden müssen. Wollen Sie morgen Abend, oder wenn Sie sonst Zeit und Lust haben, ein Glas Theepunsch mit mir trinken?

Ich sagte natürlich nicht nein.

Und dies war der Anfang meiner Bekanntschaft, ja, ich darf wohl sagen Freundschaft mit diesem außerordentlichen Manne. Wir sind von dieser Zeit an, so lange ich in Grünwald war, täglich zusammen gekommen, und ich schlage die praktischen Vortheile, die für mich aus dem Verkehr mit dem Gelehrten sich ergaben, lange nicht so hoch an, als die tiefen Blicke, die ich in dem vertraulichen Umgange mit dem Menschen in einen der räthselhaftesten Charaktere thun durfte, die mir vorgekommen sind. Es muß, fürchte ich, eine Wahlverwandtschaft zwischen seinem und meinem Wesen existiren oder wir hätten uns nicht so schnell finden, so rückhaltslos gegen einander aussprechen, so auf Wort und Wink verstehen können. Ich fürchte, sage ich; denn Berger ist ein sehr unglücklicher Mann. Die Lichter seines glänzenden Humors spielen auf einem gewitterschweren Hintergrunde. Er steht allein in der Welt, verkannt von Allen, gefürchtet von den Meisten, geliebt von Niemand. Warum dem so ist, darüber könnte ich mich selbst Ihnen gegenüber nicht auslassen, denn jede Freundschaft ist ein Tempel, zu dem einem Dritten der Zutritt versagt bleiben muß. Aber ich schaudere, so oft ich das Dunkel heraufbeschwöre, das über ihn hereinbrechen muß, wenn einst das Alter die strahlende Fackel seines Genius, die jetzt einzig und allein die schauerliche Oede seiner Seele erhellt, düstrer und düstrer brennen macht. Vielleicht – wer weiß es? – mag das auch ein Glück für ihn sein. Vielleicht mag dann das Wort, das er jetzt oft halb im grimmen Spotte und halb voll wehmüthigen Glaubens im Munde führt, das alte Wort: »Selig sind die Einfältigen«, an ihm zur Wahrheit werden.

Der vertraute Umgang mit dem gelehrten Manne hatte mich in den Augen aller Andern in einen Nimbus gehüllt, in welchem ich, wie die homerischen Helden die Gefahren der Schlacht, die Schrecknisse des Examens ungefährdet durchwandeln konnte. Am Morgen des entscheidenden Tages sagte Berger zu mir: Wissen Sie, lieber Oswald, daß ich große Lust habe, Sie durchfallen zu lassen!

Warum?

Weil ich Sie zu verlieren fürchte: doppelt zu verlieren. Du lieber Himmel, welche Wandlungen können nicht mit einem Menschen vorgehen, dem man den Großvaterstuhl eines Amtes giebt und die Schlafmütze einer Würde aufsetzt! Vielleicht kommen auch Sie noch dahin, den Horaz für einen großen Dichter zu halten, und den Cicero für einen eminenten Philosophen; vielleicht werden Sie gar in dieser engbrüstigen Zeit aus lieber langer Weile ein gelehrter Professor, wie ich.

Das Examen war vorüber; ich hatte, wie Berger sagte, die Erlaubniß erhalten, das Stroh dreschen zu dürfen. Da kommt er eines Tages mit einem Briefe in der Hand zu mir und fragt:

Haben sie Lust, in einer adeligen Familie Erzieher zu werden?

Das könnte ich eben nicht behaupten.

Glaub's wohl; aber die Bedingungen sind so vortheilhaft, daß es sich mindestens der Mühe verlohnt, die Sache in Ueberlegung zu ziehen. Sie müssen sich auf vier Jahre verbindlich machen.

Und das nennen Sie vortheilhafte Bedingungen? Vier Jahre! nicht vier Wochen!

Hören Sie nur! Von den vier Jahren haben Sie nur zwei in dem Hause zuzubringen, die übrige Zeit reisen Sie mit Ihrem Zögling. Sie wollen die Welt sehen und Sie müssen die Welt sehen, und wäre es auch nur, um sich zu überzeugen, daß die Menschen überall mit Recht die Hunde so lieben. Sie haben kein Vermögen, zum Vagabunden sind Sie zu civilisirt. Eh bien! hier haben Sie die schönste Gelegenheit, die Ihnen so vielleicht nicht zum zweiten Male im Leben geboten wird.

Und wer ist mein Alexander?

Ein junger Majoratsherr, wie der macedonische Pferdebändiger. Ich habe die noble Sippschaft im vorigen Jahre in Ostende kennen gelernt. Der Mann, ein Baron Grenwitz, ist eine Null, die Frau Baronin ein X, das ich noch nicht habe herausrechnen können. Jedenfalls ist sie eine gescheite Frau. Ich weiß, daß dies für Sie keine geringe Empfehlung ist. Sie spricht drei oder vier lebende Sprachen gut, ihre Muttersprache nicht mit gerechnet. Ich habe sie sogar in Verdacht, daß sie mit ihrem jetzigen Hauslehrer, einem gewissen Bauer, der hier studirt hat und ein grundgelehrter – Jüngling war, in aller Stille Latein und Griechisch treibt.

Und Sie, der Sie mir selber sagten, daß Sie ein Buch über den Adel und gegen den Adel geschrieben haben, das leider in Deutschland, für das es berechnet ist, nirgends gedruckt werden kann, – Sie rathen mir, der ich über die Braminenkaste dieselben Pariasideen habe, mich in das Lager unserer Erbfeinde zu begeben?

Das ist ja eben der Humor davon, sagte Berger lachend; Sie sollen hingehen wie ein Mohicaner in das Lager der Irokesen; und ich freue mich schon im voraus auf die prächtigen Zöpfe, die Sie zurückbringen werden. Die hängen wir dann als Trophäen in unserm Wigwam auf und haben unsere Freude daran.

Und wenn man mich selbst dort scalpirt, wie dann?

Dann bin ich der letzte Mohicaner und rauche meine Friedenspfeife einsam und melancholisch auf dem Grabe meines Uncas.

Er stützte den Kopf in die Hand und starrte düster vor sich nieder. Ja, ja, ich weiß es, murmelte er, die große Schlange, wenn sie es endlich müde ist, die Menschen anzuzischen, wird in einen Sumpf kriechen und da einsam verrecken.

Ich ergriff seine Hand. Das wird nicht geschehen, wenigstens nicht, so lange ich lebe.

Er schaute mich wehmüthig an.

Aber Du wirst vor mir sterben, sagte er; die große Schlange hat ein zähes Leben, und Du bist weich, viel zu weich für diese harte Welt. Doch das bei Seite. Was sagen Sie zu meinem Vorschlag?

Daß er mir nur halb und weniger als halb gefällt.

So muß ich denn doch den letzten Trumpf ausspielen, rief Berger aufspringend. So hören Sie denn, Sie Ungläubiger, daß jenes Haus, in das ich Sie senden will, einen Engel in sich schließt, in Gestalt eines wunderlieblichen Mägdeleins. Sie ist die Schwester Ihres Alexander, und Gott sei Dank, vorläufig noch in Hamburg in Pension. Ich hasse sie, denn sie hat mir viel Qual bereitet. Alle wahnsinnigen Träume meiner Jugend lebten in mir auf bei ihrem Anblick und ängstigten mich wie schöne Gespenster. Zuletzt lief ich davon, so oft ich sie unter ihrem leichten Strohhute über den glatten Sand des Strandes herankommen sah. Ja, ich will es nur gestehen, ich habe die Sonette, die ich Ihnen neulich vorlas, die Sie freundlich genug waren, liebedurchglüht und Gott weiß, was noch sonst, zu finden, und die ich in der seligen Jugendzeit vor dreißig Jahren auf Helgoland gedichtet zu haben vorgab, im vorigen Jahre in Ostende, vom Anblick der schönen Teufelin berauscht, mit meinem Herzblut geschrieben. Das sagen Sie aber Niemand wieder.

Weshalb nicht? Es würde mir ja doch keine Menschenseele glauben.

Da haben Sie freilich Recht und nun?

Nun habe ich noch weniger Lust, als vorhin. Ich wünsche nicht, die alberne Geschichte der Liebschaft eines Hauslehrers mit der Tochter des hochadeligen Hauses, eine Geschichte, die ich mir schon in so und so vielen Romanen zum Ekel gelesen habe, an mir selbst zu wiederholen. Und wenn das Mädchen wirklich so schön und liebenswürdig ist, daß –

Daß selbst das dürre Holz frische Blätter treibt, was da am grünen geschehen soll? unterbrach mich lachend Berger. Nun wohl! verlieben Sie sich! weßhalb nicht! Lieber Freund, das Buch des Lebens für Leute unseres Schlages führt denselben Titel, wie einer der Romane Balzac's: »Illusions perdues.« Jeder Tag schreibt nur ein neues Capitel hinein, und je kürzer das Buch, desto besser und interessanter ist es. Aber da es nun einmal geschrieben werden muß und nicht anders geschrieben werden kann, so ist es auch im Grunde gleichgültig, ob wir nach Westen gehen, oder nach Osten. Wir machen dieselben Erfahrungen hier wie dort. Darum sage ich noch einmal: gehen Sie nach Grenwitz!

Was sollte ich thun. Es erschien mir als eine Pflicht, den Wunsch meines Freundes, dem ich so viel verdanke, zu erfüllen. Und dann, hatte Berger nicht Recht, daß es gleichgültig sei, ob ich nach Osten gehe oder nach Westen? Genug, ich packte meine Sachen, sagte meinem Mentor Lebewohl und fuhr hinüber nach diesem Eiland. – – –

Drittes Capitel

Oswald hatte bis jetzt nur in Städten gelebt. Seine Sitten, seine Anschauungen, seine Neigungen waren die eines Städters. So kam es denn, daß, als er sich jetzt plötzlich wie mit einem Zauberschlage auf das Land versetzt sah, der unsägliche Reiz der ersten leuchtenden Sommertage in einem schönen ländlichen Aufenthalte für ihn mehr als für die meisten Menschen etwas unsäglich Anziehendes, ja Hinreißendes und Berauschendes hatte. Es war ihm Alles so neu und doch wieder so seltsam bekannt, wie wenn Jemand in eine Gegend kommt, die er schon lange vorher in seinen Träumen gesehen. War dieser blaue Dom, der sich immer tiefer und tiefer wölbte, derselbe Himmel, der sich so trostlos bleiern über das Häusermeer der Residenzstadt spannte? waren diese funkelnden Lichter dieselben öden Sterne, zu denen er, aus dem Theater oder einer Gesellschaft kommend, kaum einmal flüchtig emporgeblickt hatte? Konnte ein Sommermorgen so reich an Glanz und Pracht, ein Sommerabend so weich und wollüstig sein? Hatte er denn den Gesang der Vögel nie vernommen, daß er sich jetzt an ihren einfachen Liedern nicht satt hören konnte? Hatte er denn nie Blumen gesehen, daß er jetzt nicht müde wurde, ihre schönen Farben, und wundersamen Gestalten zu betrachten? Es war ihm zu Muthe, wie Einem, der aus schwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht. Die jüngste Vergangenheit lag wie hinter einem dichten Schleier, aber weit Entferntes, im Meer der Vergessenheit seit langen Jahren Versunkenes tauchte wie eine glänzende, zauberische Spiegelung wieder über den Horizont der Erinnerung empor. Ei, da ist ja auch Rittersporn, rief er einst in diesen ersten Tagen freudig überrascht, als er, träumend im Garten auf und ab wandelnd, diese Blume häufig auf den Beeten blühen sah.

Nun freilich, sagte Bruno, der bei ihm war, haben Sie denn noch nie welchen gesehen?

Es ist lange her, murmelte der junge Mann sich niederbeugend, und die phantastische Blume mit Rührung betrachtend. In seines Geistes Aug' sah er sich wieder in einem kleinen lauschigen Garten an der Stadtmauer herumspielen und Steinchen, Blumen und andere Seltenheiten, die er auf seinen Entdeckungsreisen fand, auf den Schooß einer schönen, jungen, blassen Frau sammeln, die ihm jedes Mal, wenn er zu ihr kam, das lockige Haupt streichelte und mit jener Geduld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, seine unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er ihr auch diese Blume gebracht und die schöne Frau hatte gesagt: das ist Rittersporn. Und dann hatte sie die Blume lange sinnend angesehen, bis ihr von dem langen Hinstarren die Thränen in die Augen kamen und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und sein Haupt stürmisch an ihre Brust gedrückt, und da mochte er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, eingeschlafen sein, denn in diesem Augenblicke zerflatterte das Bild. – Die junge, schöne Frau, das wußte er, war seine Mutter; sie war gestorben, als er noch nicht fünf Jahre alt war. – Wer hat nicht an sich selbst schon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem Gewirre des Lebens, wo eine Erscheinung die andere verdrängt, und wir stets unter der tyrannischen Gewalt des Augenblickes stehen, Alles, selbst das Theuerste, selbst die Eltern, die uns das Leben gaben, vergessen lernen. So hatte auch Oswald fast schon vergessen, daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine einfache Blume die Erinnerung an die früh Verstorbene mächtig in ihm wach. Die erste Zeit, die er in der Einsamkeit des Landlebens verbrachte, verknüpfte sich eng mit der ersten Zeit seines Lebens; denn er hatte seitdem nicht wieder der Natur so unbefangen und so tief in das holde, bezaubernde Antlitz geschaut. Auch seines Vaters, der nun gerade vor zwei Jahren, einsam, wie er gelebt hatte, gestorben war, gedachte er jetzt mit jener dankbaren Liebe, die leider immer erst dann in voller Blüthe steht, wenn diejenigen, denen sie gebührt, sich nicht mehr an ihrem Dufte laben können; seines Vaters, der wunderlichen Pygmäengestalt, die der Sohn schon als achtzehnjähriger Jüngling um zwei Köpfe überragte; des menschenscheuen Sonderlings, der in der ganzen Stadt der »alte Candidat« genannt wurde, und dessen schwarzen abgeschabten Frack, in dem er Sommer und Winter einherging, jedes Kind auf der Straße kannte; des räthselhaften Mannes, der den reichen Schatz seines Wissens und seiner Güte gegen alle Welt verschloß, nur nicht gegen den Sohn, an dem er mit unsäglicher Liebe hing, den er mit der rührenden Zärtlichkeit einer Mutter hegte und pflegte, und für den ihm, dem als Geizhals Verschrieenen, nichts zu kostbar gewesen war.

Diese lieben und doch auch wieder schmerzlichen Erinnerungen zogen durch Oswald's Seele, während er in seinen Freistunden allein, oder mit seinen Zöglingen im Garten, Feld und Wald umherstreifte, sich von Tage zu Tage mehr für das Landleben begeisterte, und wenn er des Morgens, ehe die Unterrichtsstunden begannen, noch schnell einmal in den Schloßgarten geeilt, in die thaufrischen Kelche der Blumen geschaut und sich am Gesang der Vögel entzückt hatte, schlechterdings nicht mehr begreifen konnte, wie es die Menschen in den Städten, wie er selbst es nur jemals in der Stadt habe aushalten können.

Und in der That hätte Schloß Grenwitz und seine Umgebung auch wohl einem durch landschaftliche Schönheiten verwöhnteren Auge das lebhafteste Interesse abgewinnen müssen, obgleich es von den Touristen, die alljährlich die Insel durchschwärmten, niemals aufgesucht, höchstens von Einem oder dem Andern zufällig aufgefunden wurde, der sich dann nicht genug wundern konnte, wie ein so lieblicher und in vieler Hinsicht so merkwürdiger Punkt in seinem Reisehandbuche, in welchem doch sonst jeder nichtsnutzige Gasthof verzeichnet stand, übergangen sein konnte, bloß weil er eine Meile von der großen Landstraße entfernt lag.

Das Schloß trägt noch bis auf den heutigen Tag die Spuren von dem Reichthum und der Macht des alten ritterlichen Geschlechts derer von Grenwitz, das seit undenklichen Zeiten hier begütert gewesen ist, und die Burg zu seinem Schutz und den benachbarten Baronen zum Trutz in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erbaute. Das untere Stockwerk des einen Flügels mit seinen riesigen Quadersteinen stammt noch aus dieser Zeit, ebenso wie der gewaltige runde Thurm, in welchem jetzt das alte und das neue Schloß zusammenstoßen. Das neue Schloß wurde gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts in dem bizarren Styl jener Zeit gebaut und nimmt sich mit seinen verschnörkelten Säulen und wunderlichen Ornamenten neben dem alten schmucklosen Thurm, mit welchem es jetzt in einer Front liegt, aus, wie ein zierlicher Herr aus Louis XIV. Zeit neben einem eisengeharnischten Kämpen aus den Tagen von Crecy und Poitiers.

Ein zwanzig Fuß und darüber hoher Wall, der in ein noch weit ehrwürdigeres Alter hinaufragt, als selbst der alte Thurm, umgiebt das Schloß in einem so weiten Kreise, daß es sammt den Nebengebäuden von dem eingeschlossenen Raume nur den kleinsten Theil einnimmt. Der Wall ist jetzt längst schon in eine friedliche Promenade umgewandelt, über der hohe Buchen, Nußbäume und Linden ein dichtes Laubdach bilden. Der breite Graben, der ihn in seiner ganzen Ausdehnung umzieht, ist jetzt zum Theil versumpft, mit dichtem Röhricht angefüllt, und, wo das Wasser sich noch einen Raum frei gehalten, mit einem grünen Teppich von Wasserpflanzen bedeckt, in welchem halbwilde Enten lustig schnattern. Offenbar hatte dieser Wall den Zweck gehabt, im Fall einer Fehde nicht nur die Hörigen der fehdelustigen Barone mit ihren Weibern und Kindern, sondern auch die Heerden und die Vorräthe zu schirmen; auch hatten bis zur Zeit des Neubaues die Wirthschaftsgebäude, die jetzt ziemlich entfernt vom Schlosse außerhalb des Walles lagen, innerhalb desselben gelegen. Damals hatte der Wall nur einen Durchgang gehabt, ein festes, mit einem Thurm versehenes Thor, aus dem eine Zugbrücke über den Graben nach einem Brückenkopfe führte. Jetzt war der Thurm abgetragen, die Brücke konnte nicht mehr aufgezogen werden und aus dem Brückenkopfe hatte man längst Backöfen und andere nützliche Dinge gebaut. Von diesem Hauptthor führte eine Allee vielhundertjähriger prachtvoller Linden auf das Portal des Schlosses zu. Rechts von der Allee und vor der Front des Schlosses war ein großer Rasenplatz, in dessen Mitte ein steinernes Becken mit einer Najade als Schutzpatronin stand, die, wahrscheinlich aus Schmerz, daß ihrem Brunnen schon seit einem halben Jahrhundert das Wasser fehlte, den Kopf verloren hatte.

Der ganze übrige Raum innerhalb des Walles war mit Gartenanlagen ausgefüllt, die aus der Zeit des Neubaues herrührten und mit ihren graden Gängen, kunstvoll verschnittenen Taxushecken, Buchsbaumpyramiden und ihren Sandsteingöttern, die allen Regeln der Aesthetik und allen Gesetzen der Anatomie so naiv Hohn sprachen, den Charakter dieser Zeit deutlich genug documentirten. Hier und da freilich war ein Geist der Neuerung in die Anlagen gefahren. Der Buchs hatte seine verkrüppelten Glieder, so gut es gehen wollte, in eine naturgemäße Baumgestalt auszurecken versucht; die beiden Seiten eines Heckenganges hatten gemeinschaftliche Sache gemacht und sich zu einem undurchdringlichen Gestrüpp vereinigt; ein Gärtner, der für die stumme Sprache von Taxuspyramiden kein Verständniß mehr besaß, und eine praktischere Richtung verfolgte, hatte, unbekümmert um den ästhetischen Eindruck, Aepfel-, Birnen-, Kirschen- und Pflaumenbäume gepflanzt, wo er gerade Platz fand, und hier und da seinen Gemüsebeeten den Luxus der Blumenrabatten geopfert. Eine Schwester der Najade im Hof war von Himbeer- und Stachelbeersträuchern fast überwuchert, aber sie hatte sich in ihr Schicksal zu finden gewußt, ihren Kopf behalten, und plauderte in stiller Nacht geschwätzig von der guten alten Zeit.

So hatte von dem Riesenwalle, der aus der grauen Heidenzeit stammte, bis zu den Spargelbeeten, die gestern angelegt waren, seit einem Jahrtausend jede Generation etwas zur Befestigung, Verschönerung oder Verbesserung dieses Wohnsitzes beigetragen. Vieles war spurlos verschwunden, Vieles hatte sich erhalten; Altes hatte der Zeit gespottet, Neues war mit der Zeit alt geworden; aber da selbst das Aelteste die Spuren des Lebens, der fortdauernden Nutzbarkeit trug, so war nirgends ein Sprung, ein Riß bemerkbar, und das Ganze machte den wohlthuenden Eindruck, als ob es eben nicht anders sein könnte. Zwar seinen primitiven Charakter hatte das Schloß Grenwitz gänzlich eingebüßt, und wenn Oswald des Abends, von einem Spaziergang mit seinen Zöglingen zurückkommend, auf einer Stelle des Walles stehen blieb, von der er den schattigen, grasbewachsenen Hof, den blumenreichen Garten und das Schloß überblicken konnte, um dessen graue Mauern das Zwielicht wogte und die schnellen Schwalben zwitschernd kreis'ten, da glaubte er nicht die alte Stammburg fehdelustiger Barone, sondern das stille Klosterasyl beschaulicher Mönche vor sich zu sehen.

Viertes Capitel

Und ein stilles, klösterlich stilles Leben war es denn auch – das Leben auf dem Schlosse Grenwitz. Alle Unruhe, aller Lärm waren aus dem Bereich verbannt, den der alte Wall wie eine epheuberankte Kirchhofsmauer umgab. Hier ertönte kein Hundegebell, kein Pferdewiehern; still glitten die Stunden dahin, wie die Schatten des Zeigers der Sonnenuhr über dem Portale; still, wie die Blumen im Garten dufteten und blühten. Hier schien selbst der Wind leiser in den Wipfeln zu rauschen, die Vögel leiser in den Zweigen zu singen; und was die Bewohner selbst betraf, so konnte die Wanduhr auf dem Vorsaal in ihrem Eichenschrank nicht freier von aller Neuerungssucht sein und ihr Tagewerk pünktlicher und systematischer vollbringen. Die Dienstboten thaten ihre Obliegenheiten mit der Regelmäßigkeit von Automaten. Ja in die Möbel selbst schien dieser strenge Geist der Ordnung gefahren, so daß Oswald sich des Gedankens nicht erwehren konnte, sie rückten sich in aller Stille von selber zurecht, falls einmal eines von seiner ihm angewiesenen Stelle abgekommen sein sollte. So wenig nun Oswald in seinem bisherigen Leben an eine so peinliche Ordnung gewöhnt war, und so sehr sich auch im Grunde seine Natur dagegen sträubte, so leicht wurde es ihm doch bei der Geschmeidigkeit seines Wesens und bei der versöhnlichen, milden Stimmung, in die ihn der tiefe Frieden rings umher versetzte, sich in dieselbe zu finden. Er that, was er die Leute um sich her thun sah, und erwiederte die förmlichen Verbeugungen, mit denen man sich hier begegnete, mit demselben Grade von Ernsthaftigkeit, den er auf einer Maskerade in einer Menuet zur Schau getragen haben würde.

Er hatte es in den ersten Tagen mit den Lehrstunden nicht allzu genau genommen und sich desto eifriger mit seinen beiden Zöglingen draußen umher getummelt. Sie hatten den Buchwald, der sich von Schloß Grenwitz eine halbe Stunde bis hart an das Meer erstreckte, nach allen Richtungen durchstreift, hatten ein Hünengrab und eine Höhle entdeckt, und waren oft schon von den hohen Kreideufern zum Strand hinabgeklettert, hatten dort, auf einem mächtigen Rollsteine stehend, die Fluth heranbrausen sehen und gejubelt, wenn der Donner der Brandung ihre Stimmen übertönte.

Auf diesen Streifzügen, die Oswald scherzend Vorstudien zum Homer nannte, hatte er vielfach Gelegenheit, die Naturen seiner beiden Zöglinge zu beobachten. Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar. Bruno war groß für seine Jahre, dabei schlank und geschmeidig und schnell wie ein Hirsch. Malte, der junge Majoratsherr, sah neben seinem stolzen Gefährten zurückgeblieben und verkümmert aus. Seine Schultern waren schmal, seine Brust eingesunken, und seine eckigen und unschönen Bewegungen stachen seltsam gegen die hinreißende wilde Anmuth ab, mit der Bruno ging, lief und sprang. Malte scheute vor jeder Gefahr, ja vor jeder Anstrengung, im Gefühl seiner Körperschwäche und aus angeborener oder anerzogener Feigheit zurück; für Bruno war kein Baum zu hoch, kein Felsen zu steil, kein Graben zu breit, ja es schien, als ob er geflissentlich die Gluth seiner Seele durch körperliche Ermüdung dämpfen wollte. Oswald flocht eine Krone aus Buchenlaub und drückte sie dem Knaben auf die bläulich-schwarzen Locken, um ihn einem jungen Bacchanten noch ähnlicher zu machen. Aber wie in seinem Heimathlande Schweden aus eisiger Winternacht urplötzlich der duftende, lächelnde Frühlingsmorgen hervorblüht, so wechselten Sonnenschein und Sturm in seinem Gemüthe – übermüthige Lust und an Schwermuth grenzende Niedergeschlagenheit, herzliches, fast kindisches Sichhingeben und düsterer, mehr als knabenhafter Trotz – schnell und unvermittelt, wie Lichter und Schatten auf den Hängen eines Gebirges an einem Tage, wo der Wind die Wolken pfeilschnell an der Sonne vorüberjagt. So fand Oswald den Knaben, eine Fremdling im Hause seiner Verwandten, von den Einen gehaßt, von den Andern gefürchtet, ein unergründliches Räthsel für Alle, selbst für den alten guten Baron, der dem Knaben, oft mehr aus angeborener Großmuth, als aus Ueberzeugung, stets das Wort redete. Aber für Oswald hatte ein Blick in das traumumflorte dunkle Auge des Knaben genügt, den verwandten Dämon zu erkennen, und den mystischen Bund, den sie in jenem Augenblick geschlossen, hatte jede Stunde ihres Zusammenlebens nur gefestigt. Bruno hatte ihm an dem ersten Tage den düstern Trotz entgegengebracht, den er gegen Alle zu zeigen gewohnt war. Er hatte ihn mit scheuem, durchdringendem Blick zwei, drei weitere Tage beobachtet, und dann war vor Oswald's liebevollem, freundlichem Wesen der Argwohn von ihm gewichen, wie die Nebel vor den Strahlen der Sonne; sein dunkles Auge war größer und glänzender geworden, als ob das unverhoffte Glück, einen Menschen zu finden, der ihn liebte und den er wieder lieben dürfe, ihn blende und verwirre; und dann war all die stürmische Zärtlichkeit seiner Seele, die er so lange und so sorgsam hatte verschließen müssen, hervorgebrochen, mächtig – unwiderstehlich, wie ein Bergstrom, der die Felsenschranken gesprengt hat und jauchzend in das Thal hinunterstürmt.

Wissen Sie, sagte der Knabe da zu Oswald, daß ich schon im Voraus entschlossen war, Sie zu hassen?

Warum, Bruno? Ist der Haß für Dich so süß?

Ach nein! aber ich glaubte, es seien alle Erzieher wie unser erster, und da dachte ich, was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig.

Und wie war denn Herr Bauer?

Nun, er machte seinem Namen Ehre, sagte der Knabe spöttisch.

Ei, ei, mein stolzer Junker, willst Du mir den Bauer verachten?

Gewiß nicht! rief der Knabe eifrig, mein Vater war selbst ein Bauer, trotzdem, daß er ein Edelmann war; ich habe ihn oft genug hinter dem Pfluge hergehen sehen – aber dieser Mann war roh und plump wie ein Bauer und feig dazu. Einmal, nach Tische – ich weiß nicht, was ich wieder verbrochen hatte – schlug er mich in's Gesicht, weil Tante zugegen war und er glaubte, er thue ihr einen Gefallen. Ja, er schlug mich – und das Auge des Knaben blitzte auf bei der Erinnerung an diese Schmach und die Zornesader auf seiner bleichen Stirn schwoll.

Und da, Bruno?

Da nahm ich das Messer, das vor mir auf dem Tische lag und sprang auf ihn ein, und der Elende lief vor mir, um Hülfe schreiend, zur Thür hinaus. Und als ich das sah und die bleichen Gesichter um mich her, mußte ich lachen und ging unbelästigt aus dem Saale. Und ich wäre am liebsten gleich in die weite Welt gerannt, aber Onkel kam hinter mir her und versprach mir, der Mensch solle nun und nimmer wieder Hand an mich legen dürfen. Onkel ist gut; Sie glauben nicht, wie gut er ist; aber er fürchtet sich vor der Tante; Alle fürchten sich vor ihr; aber ich habe sie doch lieb, denn sie hat Muth wie ein Mann und ich hasse nur die Feigen. Malte ist ein Feigling.

Malte ist schwach und kränklich, und Du mußt Nachsicht mit ihm haben; aber, wenn Du die Tante wirklich lieb hast, warum bist Du so unfreundlich gegen sie?

Bin ich unfreundlich? Der Knabe schwieg. Eine Wolke zog über seine Stirn, seine Nasenflügel zuckten und sein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitterwolke, als er jetzt, hastig aufblickend, sagte:

Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie soll ich anders sein? Ich esse hier im Hause Gnadenbrod, soll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich will es nicht, und wenn sie mich aus dem Hause jagten. Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünscht, man jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß sie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie tausend und tausend andere Knaben, die nicht so stark und so muthig sind, wie ich. Heute noch, als wir am Strande gingen und der Dreimaster am Horizonte auftauchte und wieder verschwand, da wünschte ich so heiß, so heiß, ich hätte mitsegeln können, als Schiffsjunge, als Matrose – nur fort, fort von hier, gleichviel wohin.

Wenn so der Knabe die geheimsten Wünsche seines Herzens rückhaltslos seinem Freunde und Lehrer offenbarte, da geschah es denn wohl, daß diesen ein Zweifel beschlich, ob er, der selbst den Weg, den er zu gehen hatte, so wenig deutlich sah, der rechte Mann sei, den wilden, leidenschaftlichen Knaben zu leiten. Aber je weniger er sich im Stande fühlte, ausschweifende Wünsche, chimärische Hoffnungen zu bekämpfen, die er selbst im Stillen theilte, desto mehr verschwand die Kluft zwischen Lehrer und Schüler, desto brüderlicher wurde nur ihr Verhältniß. Noch hatte kein menschliches Wesen einen so tiefen Eindruck auf Oswald gemacht, wie dieser wundersame Knabe. Er liebte ihn wie ein Künstler das Werk, an dem er schafft, wie ein Vater den Sohn, in welchem er zu verwirklichen hofft, was ihm selbst zu erreichen versagt war, wie eine Mutter das Kind, für das sie wachen, sorgen und schaffen muß. Allnächtlich, wenn er sich müde gelesen und gearbeitet, ging er, ehe er selbst sein Lager suchte, in das Gemach der Knaben – er hätte nicht schlafen können, ohne seinen Liebling noch einmal gesehen zu haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen verbietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen, machte ihn den Tag über karg mit Liebkosungen; aber jetzt nahm er des Schlafenden Hände und streichelte sie und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn.

Dich nennen sie lieblos, Dich, meinen Liebling, dessen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe hungert. Und wenn sie Alle Dich verkennen und hassen, ich verstehe Dich und will Dich lieben.

Fünftes Capitel

Die Wirthschaftsgebäude und Häuslerwohnungen, die zu dem Gute Grenwitz gehörten, lagen außerhalb des Walles, den man, um die Verbindung mit dem Schlosse und dem Hofe zu erleichtern, nach dieser Seite durchbrochen hatte. Ein hölzernes Gitterthor, das nicht einmal verschlossen, und eine Brücke, die nicht aufgezogen werden konnte, sprachen für den friedlichen Sinn der Nachkommen jener kriegerischen Barone, welche das massive Thor auf der andern Seite mit seiner in schweren Eisenketten hängenden Zugbrücke erbaut hatten. Der Verkehr zwischen dem Schlosse und dem Hofe beschränkte sich so ziemlich auf den Austausch oft höchst energischer diplomatischer Noten zwischen der Wirthschafterin und dem Verwalter, die über das Quantum und die Qualität der Naturalien, welche dieser oder jener zu liefern hatte, stets wesentlich verschiedener Meinung waren. Das Gut war, wie die übrigen Besitzungen der Familie, verpachtet; der Pächter, ein Herr Bader, wohnte auf einem der Nebengüter, das er ebenfalls in Pacht hatte, und kam selten nach Grenwitz, dessen Bewirthschaftung er seinem Inspector überließ.

Oswald, für den die Landwirthschaft eben so neu war, wie das Leben auf dem Lande, lenkte seine Schritte bald häufig nach dem Hofe, um sich von dem Inspector durch die Ställe und Scheunen führen und sich von demselben etwas in die Mysterien des Ackerbaues und der Viehzucht einweihen zu lassen. Der Inspector, Namens Wrampe, war ein riesiger Mann, der stets in gewaltigen Stulpenstiefeln einherging und dem Aberglauben zu huldigen schien, er werde seine ungeheure Körperkraft verlieren, wenn er seinen struppigen schwarzen Bart schöre, oder dem Regenwasser das ausschließliche Privilegium, sein sonnverbranntes Gesicht zu waschen, entzöge. Das breite Platt jener Gegend war seine Mutter- und Vatersprache, das Hochdeutsche haßte er und hielt Alle, die es sprachen, in seinem Herzen für Schelme; seine Stimme glich, aus der Ferne gehört, wesentlich dem Gebrüll eines etwas heiseren Löwen. Seine Feinde sagten ihm nach, daß er die üble Gewohnheit habe, sich von Zeit zu Zeit zu betrinken; da er dies aber jeden Monat höchstens einmal und dann immer gleich auf mehrere Tage that, um die übrige Zeit desto energischer zu sein, so drückten seine Freunde und zumal sein Brodherr über diese kleine Schwäche freundlich die Augen zu. Oswald unterhielt sich gern mit dem Manne, der in seiner täppischen Gutmüthigkeit, seinem derben, oftmals freilich auch rohen Wesen, seiner mit Sprüchwörtern reichlich untermischten Rede ein nicht schlechter Repräsentant der Landleute jener Gegend war.

So hatte er denn auch eines Nachmittags mit den Knaben einen Spaziergang nach dem Hofe gemacht. Sie fanden ihn fast ausgestorben. Die Leute und die Thiere waren auf dem Felde. In dem Pferdestall standen nur die vier schwerfälligen Braunen des Barons, die vor lieber langer Weile mit den eisernen Ketten ihrer Halfter ein melancholisches Quartett ausführten. Vor der Thür des Stalles saß der schweigsame Kutscher und starrte in den blauen Himmel, da er, wenn er seine Pferde gefüttert, auf Erden weiter nichts zu thun hatte. Um seine Füße strich spinnend ein großer schwarzer Kater, der ihn, als sein spiritus familiaris, überall hin begleitete und selbst auf dem Bocke zwischen seinen Füßen unter dem Schurzfell saß. In dem Kuhstall fanden sie nur eine Kuh, die ihr heute geborenes Kälbchen durch fleißiges Lecken in eine Verfassung zu bringen suchte, wie sie dem Ehrgeize einer respectablen Kuhmutter, die etwas auf sich und die Ihrigen hält, wünschenswerth scheinen mag. Auf dem Dünger vor dem Stalle scharrten die Hühner, unbekümmert um den Streit zweier junger Hähne, die über einen unglücklichen kleinen Käfer, der auf dem Rücken liegend in ruhiger Ergebung sein Schicksal erwartete, in Unfrieden gerathen waren. Ein alter Hahn, welcher der Vater der beiden feindlichen Brüder sein mochte, war auf die Wagendeichsel geflogen und krähte einmal über das andere, entweder aus Freude über den ritterlichen Sinn seiner Sprossen, oder um eine Wolke zu signalisiren, die eben über das Scheunendach heraufkam. Auf dem einen Ende des Daches saß eine Störchin auf ihrem Nest. Der Storch kam eben herbeigeflogen und brachte die Beute seiner Jagd, eine kleine Schlange, mit nach Hause. Die Störchin klapperte bei diesem Anblick vor Vergnügen; der Storch, im Bewußtsein erfüllter Pflicht, blieb ihr die Antwort nicht schuldig. Von dem kleinen Teiche neben dem Pferdestalle hatten die Enten unter dem Vortritt eines vielerfahrenen Enterichs einen Reihenmarsch quer über den Hof begonnen, da sich ein ziemlich gut verbürgtes Gerücht unter ihnen verbreitet hatte, es sei hinter der einen Scheune ein Sack Korn aufgegangen.

Oswald hatte mit vielem Vergnügen das Stillleben eines ländlichen Hofes an einem warmen Sommernachmittag betrachtet; Bruno den schweigsamen Kutscher über die beiden einzigen Themata, bei denen man es mit einiger Aussicht auf Erfolg konnte, über seine Pferde und seinen Kater, in eine Unterhaltung zu verwickeln gesucht; Malte sich unterdessen gelangweilt, da er überhaupt nur sehr wenigen Dingen Geschmack abgewinnen konnte, und zu diesen Dingen Enten und Hühner, wenigstens so lange sie im Licht der Sonne wandelten, sicherlich nicht gehörten. Er drang deshalb darauf, dem Spaziergang fortzusetzen, und so gingen sie denn von dem Hofe durch das Dörfchen jämmerlicher kleiner Kathen, um auf das Feld zu gelangen. In einiger Entfernung vor ihnen auf dem mit Weiden besetzten Wege schien ein Knecht seinen Wagen im Graben umgeworfen oder festgefahren zu haben. Die Pferde standen quer über den Weg und er zerrte an ihnen herum und fluchte und schimpfte, wie das Leute seines Schlages bei solchen Gelegenheiten zu thun pflegen. Zuletzt schien dem Manne die geringe Geduld, die ihm die Natur verliehen und der wahrscheinlich reichlich genossene Schnaps noch übrig gelassen hatte, vollends auszugehen. Er faßte das eine der Vorderpferde in den Zügel und trat und stieß es unbarmherzig mit seinen plumpen Füßen. Oswald wurde auf das Alles eigentlich erst aufmerksam, als Bruno mit dem Ausrufe: der Barbar, der Unmensch! wie ein Pfeil von ihm fort auf den Wagen zueilte.

Im Nu hatte er denselben erreicht und befahl dem Knecht mit einer mehr vor Zorn, als von der Aufregung des eiligen Laufes bebenden Stimme, seine Mißhandlungen einzustellen.

Ich weiß, was ich zu thun habe! rief der Knecht und trat das Pferd, das sich vor Angst immer mehr in den Strängen verwickelte, von Neuem.

Im Augenblick läßt Du das Thier, oder –

Oho! rief der Knecht, oder was?

Oder ich stoße Dir mein Messer in den Leib! –

Der Mann taumelte ein paar Schritte zurück und starrte Bruno voll Entsetzen an. Es war nicht Furcht vor dem Messer, das der Knabe in seiner erhobenen Rechten hielt – denn der Knecht war ein großer starker Mann, der seinen Gegner mit einem Schlage seiner schweren Faust hätte zu Boden schmettern können und er war überdieß betrunken – es war Furcht vor dem Dämon, der aus Bruno's dunklen Augen blitzte, Furcht vor der gewaltigen Leidenschaft, die dem Knaben das Blut aus den Wangen zum Herzen trieb und seine Nasenflügel um die feinen Lippen zucken machte.

Das Thier ist immer so tückisch, stammelte der Mann wie zur Entschuldigung.

Aber Bruno würdigte ihn keiner Antwort. Mit hastigen Händen und geschickt, als ob er im Leben nur mit Pferden umgegangen wäre, löste er die Stränge, in denen sich das Thier verwickelt hatte, wobei ihm Oswald, der jetzt herbeigekommen war, eine mehr wegen ihrer guten Absicht löbliche, als durch praktischen Erfolg ausgezeichnete Hülfe leistete. Dann sprang der Knabe nach dem Graben, schöpfte seinen mit Wachsleinen überzogenen Strohhut voll Wasser und wusch dem Pferde die Wunden an den mißhandelten Beinen.

In diesem Augenblicke setzte ein Reiter aus den Weiden an der Seite über den Graben auf den Weg. Es war der Inspector Wrampe, der die Scene von fern gesehen hatte und im Galopp über die Felder herbeigeritten war.

Nun komm' ich, sagte der Dachdecker und fiel vom Dach! Was ist denn das für 'ne Wirthschaft! Warum fährst Du durch den Graben, wenn Du zehn Schritte davon über die Brücke fahren kannst. Und die braune Lise maltraitirt – er sagte aber: maltraisirt – ich will Dir Deine Faulheit eintränken, Du Himmeltausendsappermenter!

Diese energische Rede halten, von Pferde springen, in die Hand speien, um den Griff seiner schweren Reitpeitsche fester fassen zu können und anfangen, mit derselben den breiten Rücken des Knechts nach allen Regeln zu bearbeiten, war für den diensteifrigen Inspector das Werk eines Augenblicks.

Ich lasse mich nicht schlagen, Herr Inspector, remonstrirte der Mensch.

Du läßt Dich nicht schlagen, Du Lümmel, antwortete der, unverdrossen weiterarbeitend, glaub's wohl, aber Deine Schläge kriegst Du doch.

Oswald, dem diese Scene peinlich wurde, so reichlich der Mensch seine Züchtigung verdient hatte, bat Herrn Wrampe, es nun gut sein zu lassen. Der verstattete seinem Zorn noch einen letzten kräftigen Hieb und sagte dann, wie zum Schluß einer vernünftigen Auseinandersetzung:

Na, nu komm, Jochen! wir wollen den Wagen wieder in Schick bringen!

Dann stämmte er seine mächtigen Schultern gegen das Fuhrwerk, hob und schob es zurecht, als ob es ein Kinderwägelchen gewesen wäre, die Pferde, die wieder ruhig geworden waren, zogen an und der Knecht konnte jetzt seinen Weg fortsetzen.

Fahr' langsam nach Hause und vergiß nicht, was ich Dir gesagt habe! rief ihm der Inspector nach.

Aber Sie haben ja nur durch Schläge zu ihm gesprochen! sagte Oswald lächelnd.

Ja, verstehen es die Kerle denn, wenn man vernünftig mit ihnen spricht!

Haben Sie denn je den Versuch gemacht?

Herr Wrampe schien durch diese Frage einigermaßen in Verlegenheit gesetzt. Er sagte zur Antwort: Das hat mich warm gemacht!

Dann zog er eine Branntweinflasche, die mindestens ein halbes Quart hielt, aus der Tasche, setzte den Daumen an die Stelle, bis zu welcher er den Inhalt zu leeren gedachte, trank, hielt die Flasche abermals gegen das Licht und that, da er zu finden schien, daß er seine Aufgabe nicht vollständig gelöst hatte, noch einen herzhaften Schluck. Dann bestieg er sein Pferd, das, an dergleichen Scenen gewöhnt, ruhig da gestanden hatte, wünschte freundlich guten Abend, setzte wieder über den Graben und ritt im Galopp davon.

Bei Bruno wurde Alles zur Leidenschaft. Die Gluth seiner Einbildungskraft verdichtete die Schemen der Poesie zu Menschen von Fleisch und Blut. Der Tod Hektor's entlockte ihm Thränen des Mitleids und des Zornes, und der moralische Unwille, der ihn erfaßte, wenn er vor seinen Augen eine Ungerechtigkeit, eine Grausamkeit verüben sah, war so groß, daß er in ihm ein physisches Unwohlsein zu Wege brachte.

So fand Oswald, als er in der Nacht nach diesem Vorfall an Bruno's Bett trat, daß sein Liebling gegen seine Gewohnheit noch wach war. Das mehr als sonst blasse Gesicht des Knaben und der kalte Schweiß auf seiner Stirn machten ihn besorgt, und der Knabe gestand denn auch nach einigem Zögern, daß er, nur um seinen Freund nicht zu ängstigen, sein Unwohlsein verheimlicht habe und jetzt große Schmerzen leide. Oswald wollte sogleich die Leute im Hause wecken und nach dem Doctor schicken, aber Bruno bat ihn, davon abzustehen, da dergleichen im Schlosse immer sogleich zu einer Haupt- und Staatsaction gemacht werde, und ihn die Umständlichkeit, die man bei solchen Gelegenheiten beweise, nur beängstige und noch kränker mache.

Uebrigens, sagte er, bin ich an diese Anfälle schon gewöhnt und wenn Sie die Güte haben wollen, mir etwas Thee zu bereiten und mir ein paar Tropfen von der Essenz zu geben, die der Doctor neulich für mich verschrieben hat – das Fläschchen steht auf meinem Pult – so sollen Sie sehen, geht es bald vorüber.

Oswald beeilte sich, das Gewünschte herbeizuschaffen. Er gab dem Knaben von der Medicin, er ließ ihn den Thee trinken, er rückte ihm das Kopfkissen zurecht, er holte noch eine Decke herbei, er that Alles mit jener Umsicht und Gewandtheit, mit der feinfühlende Menschen, auch wenn sie nicht daran gewöhnt sind, mit Kranken umzugehen, die professionirten Krankenwärter beschämen.

Mit Ihnen als Pfleger ist es beinahe ein Vergnügen, krank zu sein, sagte Bruno, dankbar die Hand seines Freundes drückend.

Still, still! sagte der, thue mir nur den Gefallen und habe keine Schmerzen mehr.

Ich will mein Möglichstes thun, sagte der Knabe lächelnd.

Wirklich ging Oswald's Wunsch bald in Erfüllung. Die kalten Tropfen auf der Stirn des Kranken wurden zu warmen, und alsbald umhüllte ihn die gütige Natur mit tiefem Schlaf, um still und heimlich das gestörte Gleichgewicht des Organismus wieder herzustellen. Manchmal noch zuckte die feine, schmale Hand, die Oswald in der seinen hielt; dann ließ auch das nach, und der Arzt aus dem Stegreife gratulirte sich im Stillen zu dem guten Erfolge seiner Kur. Aber er mußte doch wohl noch einige Besorgniß vor einem Rückfalle haben, denn er entzog leise seine Hand der des Knaben, holte aus seinem Zimmer einen Lehnstuhl und setzte sich zu Häupten des Bettes. Die Lampe hatte er ausgelöscht, damit die ungewohnte Helle den Schläfer nicht belästige, und so saß er denn im Dunkeln und sah das Mondlicht, das durch eine Spalte des Vorhangs fiel, langsam an der Wand hingleiten und horchte auf die regelmäßigen Athemzüge des Knaben, bis ihn selbst die Müdigkeit überwältigte.

Sechstes Capitel

Es war in den Abendstunden eines der nächsten Tage, daß in dem Gartensaale des Schlosses zwei Damen saßen, von denen die eine die Baronin Grenwitz, die andere eine junge Frau war, die vor ein paar Stunden zu Pferde von einem benachbarten Gute auf Besuch gekommen. Die Fensterthür, die aus dem Gemache in den Garten und zunächst auf einen großen, von hohen Bäumen umgebenen Rasenplatz führte, in dessen Mitte eine Flora aus Sandstein schon seit anderthalb Jahrhunderten steinerne Blumen aus ihrem Horne schüttete, war weit geöffnet. In dem Zimmer, welches nach Norden lag, war es schon dämmerig; draußen aber lag noch der Abendschein warm auf dem Rasen und den prächtigen Buchen und Eichen, und die Gestalten der beiden Damen, die an einem Tische saßen, den man in die Thür geschoben hatte, zeichneten sich scharf auf dem hellen Hintergrunde ab.

Ein größerer Gegensatz war nicht leicht denkbar. Die Baronin von Grenwitz war kaum vierzig Jahre alt, aber die Strenge ihrer männlich festen Züge, die großen, kalten grauen Augen, die sie so forschend und so lange auf den Sprecher richtete, die Gemessenheit ihrer Bewegungen, ihre hohe, weit über das gewöhnliche Frauenmaaß hinausreichende Gestalt, vorzüglich aber ihre eigenthümliche Art sich zu kleiden, ließen sie manchmal fast um zehn Jahre älter erscheinen. Sei es übergroße Einfachheit, sei es, wie Andere wollten, eine an Geiz grenzende Sparsamkeit, sie bevorzugte Stoffe, die sich, wie das Hochzeitskleid der würdigen Pfarrerin von Wakefield, mehr durch Dauerbarkeit, als durch irgend glänzende Eigenschaften empfahlen, und sie liebte einen Schnitt der Kleidung, von dem man deshalb nicht behaupten konnte, er sei nicht mehr modisch, weil er es eigentlich niemals gewesen war. Wie die Erscheinung für den ersten Augenblick auf Jeden den Eindruck der Würde machte, so bemerkte auch der aufmerksame Beobachter an ihrer, in jedem Momente musterhaften Haltung, und vor Allem an dem stets ruhigen, gleichmäßigen Ton ihrer etwas tiefen, wohllautenden Stimme und ihrer immer gewählten Sprache, die jeden vulgären Ausdruck sorgfältig vermied, daß sie sich dieses Eindrucks wohl bewußt war und ihn auf jede Weise zu erhalten suchte.

Ob die Dame, welche sich bei der Baronin befand, sich durch die stattliche Erscheinung derselben imponiren ließ, oder es für passend hielt, wenigstens den Anschein davon anzunehmen, mochte zweifelhaft sein; so viel schien sicher, daß sie sich in diesem Moment einer Haltung befleißigte, die nicht mit dem Ausdruck ihres Gesichts, ja nicht einmal mit ihrem Anzuge übereinstimmte. Sie trägt ein Reitgewand von dunkelgrünem Sammet, das hinreichend in die Höhe gesteckt ist, um sie nicht beim Gehen zu hindern und ihre schmalen Füße, die in eleganten Stiefelchen stecken, zu verhüllen. Das enganschließende Gewand hebt die schönen Formen des jugendlich-vollen Körpers vortheilhaft hervor, und der kleine runde Hut, der nebst Handschuhen und Reitpeitsche auf einem kleinen Tische in ihrer Nähe liegt, muß diesem wohlgebildeten Kopfe mit den üppigen, braunen Haaren, die, einfach in der Mitte gescheitelt, in reichen Wellen über Stirn und Ohren fallen und hinten zu einem Kranze aufgebunden sind, vortrefflich stehen. Sie sitzt der streng wirthschaftlichen und musterhaft fleißigen Baronin, die an einem Stück Leinwand, das möglicherweise eine Serviette ist, eifrig näht, gegenüber und scheint mit dem Sticken eines Namenszuges in einer schon gesäumten Serviette beschäftigt. Dies nimmt sich nun freilich bei ihrem Anzuge wunderlich genug aus, auch scheint diese Arbeit der Dame nicht eben zuzusagen, wenigstens hebt sie, als jetzt die Baronin aufsteht, um im Hintergrunde des Zimmers etwas zu suchen, schnell den Kopf in die Höhe und zeigt ein hübsches Gesicht mit kindlich-weichen Zügen und großen braunen, in feuchtem Schimmer glänzenden Augen, und dies Gesicht hat jetzt genau den Ausdruck eines übermüthigen Schulmädchens, dessen strenge Lehrerin auf einen Augenblick den Rücken wendet.

Was sagten Sie, liebe Anna-Maria? fragte die Dame, indem sie sich, als die Baronin sich umwandte, wieder über ihre Arbeit beugte.

Ich fragte Sie, liebe Melitta, ob Sie noch genug rothes Garn hätten?

Melitta machte eine Miene, als ob sie sagen wollte, mehr als zu viel; sie begnügte sich indeß zu sagen: ich denke, es wird reichen.

Die Baronin hatte sich auf ihren Platz gesetzt und nahm die für einen Augenblick abgebrochene Conversation wieder auf.

So scheint doch wenig Hoffnung auf eine vollkommene Genesung? sagte sie.

Wenig oder keine, antwortete Melitta; besonders in der jüngsten Zeit, wo die Anfälle von Tobsucht gänzlich aufgehört haben. Doctor Birkenhain schreibt mir, daß nur ein Wunder Carlo vom Blödsinn retten könnte; das heißt wohl so viel, als: er ist unrettbar verloren.

Es ist ein hartes Loos, das der Allmächtige über Sie verhängt hat, meine arme Melitta, sagte die Baronin.

Melitta antwortete nicht.

Es war in diesen selben Räumen, fuhr die Baronin, die nicht anzunehmen schien, daß das angeschlagene Thema Melitta irgendwie peinlich sein könne, ruhig fort, daß ich Berkow zum letzten Mal gesehen habe. Ich gestehe, daß ich schon an jenem Abend, als er den so ärgerlichen Streit mit Ihrem Vetter Barnewitz anfing – Baron Oldenburg suchte vergeblich, die wirklich fatale Scene abzukürzen – mich eines leisen Verdachtes nicht erwehren konnte.

Melitta von Berkow schienen diese Proben von dem vortrefflichen Gedächtniß der Baronin nicht eben zu entzücken; sie wurde unruhig und warf, augenscheinlich ohne recht zu wissen, was sie sagte, die Frage hin:

Haben Sie nichts von Oldenburg gehört?

Der Baron ist seit acht Tagen zurück.

O! rief Melitta mit einem Ausdruck, der Frau von Grenwitz von ihrer Arbeit aufsehen machte.

Was haben Sie, Melitta?

Ich bin so ungeschickt, sagte diese und preßte ein Tröpfchen Blut aus dem Daumen der linken Hand; also Oldenburg ist zurück; was bringt ihn denn auf einmal wieder her? Hat er sich in Egypten ebenso gelangweilt, wie hier?

Die Contracte mit seinen Pächtern laufen nächsten Martini ab, ebenso wie auf einigen unserer Güter. Ich vermuthe, daß ihn dies zur Rückkehr bewogen hat. Er scheint noch menschenscheuer geworden zu sein, als er es schon damals war. Griebenow, unser Förster, ist ihm im Walde begegnet; bei uns hat er sich noch nicht sehen lassen.

Nun, diese Unaufmerksamkeit des Barons werden Sie ja leicht verschmerzen, liebe Anna-Maria; Sie waren ja nie besonders gut auf ihn zu sprechen.

Ich wüßte auch nicht, daß Oldenburg mir je Veranlassung gegeben hätte, das zu thun; mir so wenig wie irgend Einem von uns. Ein Mann, welcher der Religion – ich möchte beinahe sagen, offen Hohn spricht, der die Würde seines Standes, die Interessen seiner Standesgenossen so weit vergißt, auf den Kreistagen, auf den Landtagen, bei jeder Gelegenheit die Partei der Neuerer zu ergreifen; der unsere Societät nur aufzusuchen scheint, um sich über uns lustig zu machen – ein solcher Mann hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn wir unser Interesse und unsere Theilnahme Anderen zuwenden, die es besser verdienen.

Ei, an Interesse von Seiten der Anderen hat es, däucht mir, Oldenburg schon damals nicht gefehlt, und wird es, glaube ich, ihm auch jetzt wieder nicht fehlen. Ich weiß eigentlich nicht, weshalb sich alle Welt so viel um einen Mann bekümmert, der sich an die Welt im Großen und Kleinen so wenig kehrt.

Das ist wohl sehr erklärlich, liebe Melitta. Die Oldenburgs gehören zu unseren ältesten Familien; es kann uns nicht gleichgültig sein, ob der letzte Sprosse einer solchen Familie ein Plebejer wird, oder nicht.

Oldenburg wird nie ein Plebejer werden, sagte die jüngere Dame mit einiger Wärme.

Ei, ei, liebe Melitta! Sie nehmen sich ja des Barons recht lebhaft an. Wollen Sie auch etwa seinen moralischen Lebenswandel vertheidigen, seine Liebesaffairen, mit denen er die chronique scandaleuse nicht nur unserer Gegend bereichert hat?

Ich habe nie, so viel ich weiß, etwas Unmoralisches gethan oder gut geheißen, sagte Frau von Berkow noch lebhafter wie zuvor. Und was Herrn von Oldenburg's Privatleben betrifft, so erlaube ich mir darüber gar kein Urtheil, da es mir vollkommen fremd ist. – Uebrigens, fuhr sie nach einer Pause und mit wieder ruhiger Stimme fort, sollte es mich doch wirklich wundern, wenn Oldenburg in der That der Don Juan wäre, zu dem man ihn durchaus machen will. Sie werden mir zugeben, liebe Anna-Maria, daß er weder die Schönheit noch die Gewandtheit besitzt, welche die nothwendigen Eigenschaften der Repräsentanten dieser Rolle sind.

Darüber erlaube nun ich mir wieder kein Urtheil, sagte die Baronin, nicht ohne merkliche Ironie, das müßt Ihr jungen Frauen unter Euch abmachen.

Junge Frauen, rief Melitta lachend. Sie ließ die Arbeit in den Schooß sinken und lehnte sich bequem in den Stuhl zurück, die Baronin, die unverdrossen weiter nähte, mit einem Blick betrachtend, in welchem sich ein gut Theil Schalkheit mit einem ganz kleinen Theil Böswilligkeit mischte, junge Frauen! Wissen Sie, liebe Anna-Maria, daß ich noch in diesem Jahre dreißig werde? Mein Julius wird im nächsten Monat zwölf, nur viel Jahre jünger wie Ihre Helene. Apropos, wie geht es denn dem lieben Kinde? Soll sie denn ewig in dem Hamburger Pensionat bleiben? Wie lange ist sie nun schon da? Zwei, nein, es sind ja bereits drei Jahre! Und nicht ein einziges Mal hier gewesen in der ganzen Zeit! Sie werden Ihr eigenes Kind nicht wieder erkennen, liebe Grenwitz!

Das Hamburger Pensionat ist so ausgezeichnet, wird von Allen so gerühmt, daß ich mir ein Gewissen daraus machen würde, das Mädchen nicht so lange wie möglich dort zu lassen. Uebrigens haben Sie wohl vergessen, liebe Berkow, daß wir mit Helenen im vorigen Sommer in Ostende waren, und da Sie so große Sehnsucht nach der jungen Dame zu empfinden scheinen, will ich Ihnen auch in allem Vertrauen mittheilen, daß Sie dieselbe noch in diesem Sommer auf Grenwitz werden begrüßen können.

Noch in diesem Sommer! ei, sieh! das hängt doch wohl nicht etwa mit Oldenburg's Rückkehr zusammen? Verzeihen Sie meine Indiscretion! aber ich erinnere mich, daß Sie vor einigen Jahren, als der Baron von seiner ersten großen Reise zurückkehrte, einmal äußerten, wie Ihnen eine Verbindung mit Oldenburg wohl conveniren würde.

Damals kannte ich den Baron nicht, wie ich ihn leider seitdem kennen gelernt habe. Auch würde das Grenwitz' Wünschen nicht entsprechen, der Helenen, glaube ich, nach einer andern Seite halb und halb versprochen hat.

Nach einer andern Seite? doch nicht etwa an Ihren vortrefflichen Cousin Felix?

Wie gesagt, ich weiß nichts Bestimmtes darüber; Grenwitz ist so verschlossen; aber ich vermuthe es fast daraus, daß er Felix bestimmt hat, auf ein Jahr Urlaub zu nehmen und dieses Jahr bei uns zuzubringen. Seine Gesundheit soll sehr angegriffen sein.

Hoffentlich nicht so angegriffen wie sein Vermögen, sagte Melitta trocken.

Sein Vermögen? Was wissen Sie denn von Felix' Privatverhältnissen?

Ich sage nur, was alle Welt sagt. Sie werden mir zugeben, Liebe, daß, wenn schon über Oldenburg die chronique scandaleuse nicht stumm ist, sie über Felix sehr viel zu sagen weiß, und an Stoff hat es ihr der Herr Lieutenant doch wahrlich nicht fehlen lassen.

Felix ist noch jung.

Nicht jünger als Oldenburg.

Fünf Jahre.

Das sieht man ihm wahrlich nicht an: freilich, er hat etwas schnell gelebt, der gute Felix.

Man sollte wirklich glauben, liebe Melitta, daß Felix Ihnen näher stände, als es der Fall ist. Aufrichtig, ich möchte gern wissen, was Sie von dieser Heirath denken, im Falle Grenwitz das Project nicht aufgeben sollte.

Nun denn, aufrichtig: ich würde sie für ein Unglück, für ein um so größeres Unglück halten, je schöner und unschuldiger Helene ist. Was, um Alles in der Welt, kann den Baron zu dieser Heirath bestimmen? Denn, daß eine Mutter zu solch einer Verbindung, die ihre Tochter namenlos unglücklich machen müßte, Ja sagen sollte, kann ich mir nimmermehr denken.

Melitta war aufgesprungen, hatte ihre Reitpeitsche ergriffen und hieb damit sausend durch die Luft, als wollte sie sagen: das verdient der, welcher zu diesem Bubenstück die Hand bietet. In der schlanken, hochaufgerichteten Frauengestalt hätte man kaum dieselbe wieder erkannt, die sich vorhin schüchtern über ihre Arbeit beugte, oder sich lässig in die Kissen des Stuhles schmiegte. Selbst die Züge des Gesichtes schienen anders zu werden, schärfer, älter; das Feuer in den großen Augen loderte düster auf. Offenbar hatte die Erwähnung dieser Heirath eine Seite in ihr angeschlagen, die häßlich durch ihre Seele schrillte. Sie fuhr in demselben aufgeregten Tone fort:

Felix ist ein notorischer Wüstling. Wie kann ein Wüstling Liebe fühlen? Und gesetzt, Helenens Schönheit, Unschuld und Jugend trügen für eine Zeit über seine Blasirtheit den Sieg davon, so kann dies nicht von Dauer sein. Ein gründlich Blasirter wird niemals wieder ein ganzer Mann; und kann Helene einen solchen halben Mann lieben? und ist das Leben ohne Liebe werth, daß man es lebt? und können Sie das Unheil verantworten, das aus einer so lieblosen Ehe wie Unkraut aufschießt? Ich weiß –

Die junge Frau schwieg plötzlich und ging mit schnellen Schritten in dem Gemache auf und ab. Dann nach einer kleinen Pause:

Und welch' äußere Vortheile könnte diese Ehe gewähren? Felix hat seiner ungemessenen Eitelkeit sein Vermögen, wie seine Gesundheit zum Opfer gebracht. Seine Güter sind verschuldet, über und über; und Aussichten hat er, so viel ich weiß, auch nicht – Nur daß er, wenn mein Malte stirbt, was Gott verhüten wolle, das Grenwitz'sche Majorat erbt, sagte die Baronin.

Ja so! sagte Melitta gedehnt. Die letzte Bemerkung der Baronin hatte der edelmüthigen jungen Frau die Angelegenheit in einem ganz neuen Lichte gezeigt; dem unheimlichen Lichte vergleichbar, das aus der Blendlaterne eines Diebes auf das Schatzkästlein fällt, das er stehlen will. Sie hütete sich indessen wohl, die Baronin, was in ihr vorging, merken zu lassen, sondern fuhr, sich wieder in ihren Schaukelstuhl werfend, in unbefangenem Tone fort:

Ich hoffe, Malte wird Felix' Gläubigern nicht den Gefallen thun, vor der Zeit zu sterben, er wird ja zusehends kräftiger, und wenn Sie dem Jungen nur mehr Freiheit lassen wollten –

Freiheit! sagte die Baronin; muß ich das Wort schon wieder hören! Ich lasse ihm so viel Freiheit, als ich mit einer vernünftigen Erziehung für verträglich halte. Ich meine, daß, wer wie Malte einst über ein bedeutendes Vermögen gebieten wird, nicht zeitig genug gehorchen, sich einschränken, sich Unnöthiges, Ueberflüssiges versagen lernen kann. Wir haben ja an unserm Neffen Felix das lebendigste Beispiel, wohin die allzugroße Nachsicht führt.

Das ist Alles wahr, sagte Melitta, aber –

Wir haben uns ja wohl über das Thema der Erziehung unserer Kinder ein für alle Mal des Streites begeben, sagte die Baronin mit dem Lächeln der Ueberlegenheit. Ich weiß, was ich will, und das werde ich mit Gottes Hülfe durchführen.

Apropos, habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich meinen Julius in diesen Tagen nach Grünwald auf's Gymnasium schicken will? sagte Melitta.

Wieder so ein Wagestück! antwortete die Baronin. Baron Oldenburg hat auch so eine öffentliche Erziehung, wie sie es nennen, genossen, und ich denke, die Resultate sind danach. Freilich hat man mit den Hauslehrern auch seine liebe Noth.

Sie haben ja jetzt einen neuen, nicht wahr? sagte Melitta, die aufgestanden war und sich in die Thür lehnte; wie ist er denn?

Die Baronin zuckte die Achseln.

Aber wie kann man das auch fragen, sagte Melitta lachend. Er wird sein wie alle Andern: entsetzlich gelehrt, eckig, pedantisch, langweilig. Bemperlein, Bauer – das ist Alles ein Genre. Ich will einen Hauslehrer auf hundert Schritt erkennen. Ah! wer ist der junge Mann, der da mit Bruno über die Wiese kommt?

Die Frage blieb unbeantwortet, da in diesem Augenblick Mademoiselle Marguerite in das Zimmer getreten und die Baronin aufgestanden war, ihr einige Aufträge wegen der Abendmahlzeit zu geben. Melitta wandte sich um, aber die Baronin hatte mit einem: Entschuldigen Sie mich! das Zimmer verlassen. Die junge Frau blieb allein und mußte selbst die Antwort auf ihre Frage zu finden suchen. Sie zog sich ein wenig aus der Thür zurück und musterte mit ihren scharfen Augen die Erscheinung des unbekannten jungen Mannes.

Siebentes Capitel

Oswald war mit Bruno aus den Bäumen, die den Rasenplatz umsäumten, dem Schlosse gegenüber herausgetreten. Sein rechter Arm ruhte auf des Knaben Schulter, der wiederum seinen Arm um Oswald's Hüften geschlungen hatte und lächelnd in das Gesicht des jungen Mannes aufschaute, während dieser angelegentlich zu ihm sprach. Als sie ein paar Schritte auf die Wiese gemacht hatten, blieben sie stehen. Oswald deutete mit der Hand nach der Richtung, aus der sie gekommen waren und Bruno sprang in das Gehölz zurück. Der junge Mann stand, die Rückkehr seines Freundes erwartend und köpfte mit dem Stäbchen, das er in der Hand trug, zum Zeitvertreib einige Gräser, die allzulang emporgeschossen waren. Er hatte keine Ahnung davon, daß fünfzig Schritte von ihm ein Paar eben so schöner, wie scharfer Augen jeden seiner Züge musterte, jede seiner Bewegungen sorgfältig beobachtete.

Wenn das der neue Hauslehrer ist, so ist er ein Beweis mehr für den alten Satz, daß es zu jeder Regel Ausnahmen giebt. Der sieht wahrlich nicht aus, als ob er zu der Familie der Bemperlein's gehörte. Diesen eleganten Sommeranzug haben Sie wohl mit aus der Residenz gebracht. Sehr nett, in der That, für einen Hauslehrer fast zu nett. Sie scheinen etwas eitel zu sein, mein Herr, und lange Conferenzen mit ihrem Schneider zu halten. Aber Sie sind hübsch gewachsen, das muß man Ihnen lassen, und der kleine Schnurrbart steht Ihnen ausnehmend gut. Wollen Sie nicht gefälligst einmal den Kopf in die Höhe heben; ich wünschte Ihre Augen zu sehen. So – sauve qui peut!

Melitta trat, als Oswald jetzt zufällig die Augen aufschlug, schnell zurück, so daß sie hinter der Thür verborgen war. Sie warf einen flüchtigen Blick in einen Spiegel, der sich in der Nähe befand und glättete rasch ihr üppiges Haar. Dann näherte sie sich verstohlen wieder der Thür.

Bruno kam aus den Bäumen herbeigesprungen und zeigte Oswald ein Büchelchen: Hier ist es, rief er, aber Sie bekommen es nicht. Oswald wollte den muthwilligen Knaben haschen, der ihn immer herankommen ließ, um ihm dann jedesmal durch eine blitzschnelle Wendung, oder einen Satz, dessen sich ein Uncas nicht hätte zu schämen brauchen, zu entgehen.

Melitta war, durch das hübsche Schauspiel angelockt, aus ihrem Versteck getreten. Sobald Bruno ihrer ansichtig wurde, rannte er auf sie zu, und Oswald, der, über die unerwartete Erscheinung der Dame verwundert, stehen geblieben war, sah, wie der Knabe ihre Hände ergriff und mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen drückte.

Da bist Du ja, mein Wilder! sagte die Dame und streichelte die dunklen Locken des Knaben, wo hast Du denn den ganzen Nachmittag gesteckt?

Ich bin spazieren gewesen – mit Oswald, wollte sagen, mit Herrn Doctor Stein; rief Bruno, und dann zu Oswald sich wendend, der grüßend näher getreten war, dies ist Frau von Berkow, Oswald, von der ich Ihnen nur noch heute Morgen erzählte; dies ist Herr Stein, Tante Berkow, den ich sehr, sehr lieb habe, und den Sie auch ein wenig lieb haben sollen.

Man darf seine Waare nicht zu sehr anpreisen, Bruno, sagte Oswald, sich lächelnd vor der jungen Frau verbeugend, oder der Käufer wird stutzig.

Nicht, wenn der Verkäufer so gut accreditirt ist, wie dieser Wildfang bei mir, sagte Melitta, leicht erröthend. Wie lange sind Sie schon auf Grenwitz, Herr Doctor?

Seit vierzehn Tagen etwa, gnädige Frau.

Sagte mir die Baronin nicht, daß Sie aus der Residenz kämen? fragte Melitta, die neugierig war, zu erfahren, ob sich ihre Vermuthung wegen Oswald's Anzug bestätigte.

Nicht direct, gnädige Frau; ich lebte zuletzt in Grünwald.

In Grünwald? das interessirt mich. Da könnten Sie mir ja gleich die beste Auskunft geben. Die Sache ist nämlich die – aber ich langweile Sie gewiß mit meinen indiscreten Fragen!

Bitte, gnädige Frau; ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen irgendwie dienen zu können.

Sehr gütig. Die Sache ist die. Ich will meinen Sohn – er ist ungefähr in Bruno's Alter –

Oho, Tante, drei Jahre jünger! rief Bruno, der sich jetzt in einiger Entfernung auf einer Schaukelbank wiegte.

Welch' scharfes Ohr der Junge hat, sagte Melitta, ihre Stimme senkend. Also, ich will meinen Julius nach Grünwald auf's Gymnasium schicken. Oder vielmehr, ich muß, denn sein Lehrer, ein Herr Bemperlein, der schon sechs Jahre bei ihm ist, hat eine Predigerstelle bekommen und wird uns in diesen Tagen verlassen. Nun weiß ich nicht – aber da kommt die Baronin – ich muß meine tausend und eine Frage über tausend und ein verschiedene Dinge, die mir so vollkommen fremd sind wie meinem guten Bemperlein, der längst verlernt hat, wie es in der Stadt aussieht, wenn er es überhaupt jemals wußte, auf eine gelegenere Zeit versparen. Hier kommt man ja doch nicht dazu. Wie wär's, Herr Doctor, wenn Sie mich in diesen Tagen mit Ihrem Besuche beehrten, morgen Nachmittag etwa?

Oswald verbeugte sich.

Ich habe den Herrn Doctor gebeten, mir morgen seinen Besuch zu schenken, sagte Melitta, zur Baronin gewandt, die in diesem Augenblick mit Mademoiselle Marguerite wieder in's Zimmer trat. Es ist wegen der Grünwalder Angelegenheit. Ihr habt doch nicht morgen Nachmittag etwas Besonderes vor, denn ich möchte nicht, daß der Herr Doctor Stein mir ein allzugroßes Opfer bringt.

Wir etwas vorhaben? sagte die Baronin; Sie kennen ja unser stilles Leben, liebe Melitta; im Gegentheil, ich denke, eine kleine Zerstreuung der Art wird Herrn Doctor Stein, der die Einförmigkeit eines ländlichen Aufenthalts sicher schon empfunden hat, recht willkommen sein. Ich selbst wollte Sie für morgen schon zu einem Besuche zu bestimmen suchen, Herr Stein; bei unserm Pastor, der schon empfindlich sein wird, daß Sie sich ihm noch nicht vorgestellt haben.

Nun, das läßt sich ja ganz gut vereinigen, sagte Melitta; morgen ist Sonntag, der Pastor Jäger wird entzückt sein, wenn Sie die nicht allzugroße Zahl seiner Zuhörer durch Ihre Person vermehren. Berkow ist von Faschwitz durch den Wald nur ein halbes Stündchen entfernt. Ich würde Sie gleich zu Mittag einladen, aber ich weiß, daß die Frau Pastorin Sie nicht sobald wieder fortlassen wird. Nun, was sagen Sie, Herr Doctor?

Ich kann den Damen nur meinen tiefgefühlten Dank aussprechen, daß Sie die Güte haben wollen, über meine Zeit besser zu disponiren, als ich es auf jeden Fall im Stande wäre, antwortete Oswald mit einer höflichen Verbeugung.

Das heißt: der Weise schickt sich in das Unvermeidliche, sagte Melitta lachend. Und hier kommt der Baron mit Malte, und wir können zu Tische gehen, wonach ich, offen gestanden, großes Verlangen trage.

Die Tafel war auf dem niedrigen Perron, der nach dem Garten zu dem Schlosse in seiner ganzen Länge angebaut war, unter einem Zeltdache gedeckt. Der Abend war herrlich. Die Sonne war im Untergehen. Rosige Lichter spielten in den Wipfeln der hohen Buchen, die den schattigen Rasenplatz umgaben. Schwalben schossen zwitschernd und zirpend durch die klare Luft. Ein Pfau kam, durch das wohlbekannte Klappern der Teller herbeigelockt, aus dem Gebüsch eilig über die Wiese geschritten, und sammelte die Brocken auf, die der alte Baron ihm über das Steingeländer des Perrons zuwarf.

Die Unterhaltung war heute um Vieles lebhafter, als es wohl sonst der Fall war. Die Baronin konnte, wenn sie wollte, eine sehr angenehme Wirthin machen, und sie war, trotz ihrer zur Schau getragenen Abneigung gegen weltlichen Sinn, durchaus nicht so frei von Eitelkeit, daß es ihr gleichgültig gewesen wäre, neben Melitta übersehen zu werden. Melitta aber war in der liebenswürdigsten Laune; sie scherzte und lachte, neckte und ließ necken, unbefangen, harmlos, wie ein Kind. Es fiel Oswald, während er sich dem Zauber von Melitta's reizender Erscheinung willig überließ, nicht ein, zu glauben, seine Gegenwart könne etwas zur Erhöhung ihrer Stimmung beitragen, und doch war dies in einem hohen Grade der Fall. Es giebt wenige Frauen, die vollkommen indifferent dagegen sind, welchen Eindruck sie auf ihre Umgebung hervorbringen, und Melitta gehörte durchaus nicht zu diesen wenigen Frauen, wohl aber zu jenen Naturen von leicht erreglicher Sinnlichkeit, die sich durch gefällige und schöne Formen in einer Weise bestechen lassen, die kälteren Temperamenten unbegreiflich ist. Nun war Oswald, ohne das zu sein, was man einen schönen Mann nennt, von der Mutter Natur nichts weniger als stiefmütterlich ausgestattet, und die gute Gesellschaft, in der er sich stets bewegt, hatte die natürliche Grazie seiner Manieren noch erhöht. Das Alles überraschte Melitta um so angenehmer, als sie es bei einem Manne von einer nach ihren Begriffen so untergeordneten Stellung am wenigsten erwartet hatte. Oswald erschien ihr mit jedem Augenblick bedeutender; sie fing an, ihre brüske Einladung von vorhin doch recht unpassend zu finden, und zugleich entzückte sie der Gedanke, den liebenswürdigen jungen Mann so bald bei sich zu sehen. Es schmeichelte ihr, wenn, was über Tische mehrmals geschah, Oswald's Blicke den ihren begegneten, und doch senkte sie jedesmal die Wimpern vor einem Augenpaar, das bei aller Unbefangenheit so beredt und forschend blicken konnte.

Nach Beendigung der Mahlzeit brachte die Baronin, da Melitta erklärte, noch ein Stündchen bleiben zu können, ein Reifspiel in Vorschlag; Bruno sprang fort, die Reifen zu holen, die weder verlegt, noch außer Stande waren, ein Umstand, der gewiß für die musterhafte Ordnung, die in dem Schlosse Grenwitz herrschte, beredt genug spricht; und bald hatte sich die Gesellschaft auf dem Rasen in einem weiten Kreise aufgestellt und die bunten Reifen flogen lustig durch die weiche, warme Abendluft von Einem zum Anderen. Alle, selbst der alte Baron, legten eine größere oder geringere Geschicklichkeit an den Tag, mit Ausnahme von Malte, der seinen Reif in den meisten Fällen, wo er ihm nicht unmittelbar auf den Stock geflogen kam, fallen ließ, eine Gelegenheit, die Melitta, seine Nachbarin, zum großen Aerger Bruno's, der die Spielregeln eingehalten wissen wollte, jedesmal benutzte, ihren Reif aus der Reihe einem der Mitspieler blitzschnell über den Kopf zu schleudern, wobei Oswald nicht umhin konnte, zu bemerken, daß Melitta ihn häufiger wie die Uebrigen auf diese Weise auszeichnete.

Unterdessen war der Abend tiefer herabgesunken; der alte Baron hatte eine schwache Spur von Thau auf dem Rasen bemerkt; Abendthau aber war nach seiner Meinung reines Gift für Malte, der als kleines Kind eine Zeit lang viel an der Bräune gelitten hatte, und er mahnte deshalb dringend, das Spiel einzustellen. Melitta fand, daß es hohe Zeit für sie sei, aufzubrechen, und bat, ihrem Reitknecht Befehl zu geben, die Pferde zu satteln. Bruno war fortgesprungen, den Auftrag auszurichten; die Baronin mit Mademoiselle in das Zimmer getreten; der Baron beschäftigt, Malte, der sich durchaus erkältet haben sollte, ein dickes Shawltuch um den Hals zu wickeln; Oswald und Melitta waren zum ersten Male seit ihrer unterbrochenen Conversation von vorhin allein geblieben. Melitta hatte von einem Rosenstrauch, der zu den Füßen der Flora wuchs, eine Rose gepflückt und betrachtete sinnend die köstliche Blume.

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte sie plötzlich, leise und rasch, aber ohne die Augen aufzuschlagen, daß ich vorhin die Unschicklichkeit beging, Sie ohne weiteres um einen Besuch zu bitten, der Ihnen am Ende beschwerlich fällt, aber –

Kein Aber, gnädige Frau; ich wiederhole im Ernst, was ich vorhin aus bloßer Höflichkeit sagte, daß ich mich glücklich schätzen würde, Ihnen irgendwie dienen zu können.

Sie kommen also morgen?

Wie Sie befehlen.

Nein: wie ich wünsche. – Sehen Sie nur, wie wundervoll diese Rose ist! Lieben Sie auch die Rosen so?

Ich liebe Alles, was schön ist, sagte Oswald, nicht auf die Rose, sondern auf Melitta blickend.

Sie hob die langen Wimpern und schaute dem jungen Mann tief und voll in die leuchtenden Augen.

Da! sagte sie plötzlich und hielt ihm die Rose entgegen, als ob er ihren Duft einathmen sollte; er aber fühlte nur, wie sich die schlanken Finger der Dame leicht wie ein Hauch auf seine Lippen legten.

Die Pferde sind da, Tante! rief Bruno.

Ich komme! antwortete Melitta und eilte von Oswald fort.

Die Rose lag zu seinen Füßen; er bückte sich schnell, hob sie auf und verbarg sie an seiner Brust.

Mademoiselle Marguerite brachte Melitta Federhut, Reitpeitsche und Handschuh.

Ist die Baronin im Zimmer?

Ja.

So will ich gehen, ihr Adieu zu sagen.

Der alte Baron, Oswald und die Knaben gingen durch die Gitterthür des Parks nach dem Schloßhofe, wo ein Reitknecht zwei Pferde am Zügel führte. Oswald bewunderte die Schönheit dieser Thiere, besonders das mit dem Damensattel, ein herrliches Vollblut, Melitta's Lieblingspferd: Bella.

Melitta trat, von der Baronin und Mademoiselle gefolgt, aus dem Portale rasch auf ihr Pferd zu. Der alte Baron hob sie in den Sattel.

Adieu, adieu! rief sie herunter. Allez! Bella! und so sprengte sie aus dem Schloßhof, hinein in den dämmerigen Abend.

Die Anderen waren wieder in's Haus getreten. Oswald stand, die Augen nach dem Thor gerichtet, durch das Melitta verschwunden war, in sich versunken da.

Wollen wir nicht hineingehen, Oswald? fragte Bruno, seine Hand ergreifend; es ist dunkel geworden.

Es ist dunkel geworden, wiederholte der junge Mann und folgte träumend dem Knaben.

Achtes Capitel

Der Baron hatte Oswald angeboten, ihn nach der Kirche fahren zu lassen; der junge Mann aber, der die schwerfälligen Braunen noch von dem Abend seiner Ankunft her in bösem Angedenken hielt, es abgelehnt. Bruno und Malte erwarteten heute die Knaben eines benachbarten Edelmannes zum Besuch. Bruno wäre am liebsten mit Oswald gegangen, da dieser aber selbst ihn zu bleiben bat, sagte er:

Sie sind recht froh, daß Sie mich auf ein paar Stunden los sind, aber ich weiß, was ich thue. Ich gehe in den Wald und komme vor Abend nicht nach Hause.

Das wirst Du nicht thun, Bruno!

Und weshalb nicht? fragte der Knabe trotzig.

Weil Du mich lieb hast.

Nun denn, so will ich Ihnen zu Liebe hier bleiben, den albernen Hans von Plüggen nicht prügeln und mich überhaupt so musterhaft benehmen, daß selbst Tante zufrieden sein soll.

Thue das, lieber Junge. Leb' wohl!

Leb' wohl, Lieber, Bester! reif der Knabe und warf sich stürmisch an die Brust seines einzigen Freundes, und eilte von ihm fort, in den Garten, dort mit seinem wilden Herzen allein zu sein.

Oswald ging aus dem Schloßhofe den Weg, von dem er wußte, daß er nach dem Pfarrhofe führte. Die Sonne schien hell aus dem blauen Himmel, an welchem weiße Wolkenballen unbeweglich standen. Es war nicht heiß, denn der Athem des nahen Meeres hauchte Kühlung durch die Sommerluft. Lerchen jubelten hoch droben »im blauen Raum verloren.« An dem Rande des nahen Waldes, von dem eine Ecke, Oswald zur Rechten, weit in das bebaute Land hineinschoß, zog ein Gabelweih seine Kreise. Auf den Feldern sah man keine Arbeiter; die Ackergeräthe lagen müßig. In einer Koppel, an welcher der Weg vorüberführte, lagen in satter Ruhe Kühe und Kälber; ein paar muntere Füllen kamen an den Zaun, und sahen neugierig nach dem Wanderer.

Oswald hatte schon den Hof des Gutes hinter sich. Er kam auf dem mit Weiden an beiden Seiten besetzten Wege an der Stelle vorüber, wo der Streit zwischen Bruno und dem Knechte stattgefunden hatte. Unwillkürlich blieb er stehen; die ganze Scene wurde wieder lebendig vor seinem Auge; er sah den schönen Knaben, zürnend und drohend, wie ein jugendlicher Gott; und den feigen zurücktaumelnden Knecht. Fast that es ihm leid, daß er seinen Liebling zum Zurückbleiben vermocht hatte. Er fühlte sich so leicht, so froh an diesem schönen Morgen, und es war ihm schon zur lieben Gewohnheit geworden, wenn seine Seele ein Fest feierte, den Knaben zu Gast zu haben. Du, wie Al Hafi, Wilder, Guter, Edler! sprach er bei sich, was willst Du in dieser Welt von weibischen Männern! Fürchten sie sich doch jetzt schon vor Dir, da Du ein Knabe bist, was werden sie thun, wenn Du ein Mann geworden! Ein Mann thut uns noth, schreien die Gelehrten aller Arten. Wie wollt Ihr Männer haben, wenn Haus und Schule und Leben sich gegenseitig unterstützen, die stolze Kraft im Keim zu brechen! Da schnitzeln sie an dem Bogen und schnitzeln immerfort, und wundern sich, wenn das feine Ding hernach zerbricht. Pygmäengeschlecht, das den Riesen, den ein glücklicher Zufall an ihren öden Strand geworfen, mit tausend und aber tausend Fäden regungslos an die platte Erde fesselt!

Oswald war in dem besten Zuge, sich in eine misanthrophische Stimmung hineinzureden, aber der helle, leuchtende Morgen duldete die Nachgedanken nicht. Ein Bild, das Bild einer schönen Frau, das gestern Abend, bevor der Schlummer seine Augen schloß, noch zuletzt vor seiner Seele gestanden hatte, das als ein lieber Schatten durch seine Träume geglitten war, und, wie der Nachklang einer köstlichen Musik, ihn schon den ganzen Morgen umschwebt hatte, trat wieder vor seine Seele. Aber vergebens suchte er es zu bannen. – Während er nur an Melitta dachte, nur an sie denken wollte, sah er die Baronin, Mademoiselle Marguerite, diese oder jene Dame seiner Bekanntschaft, aber die Amazone im grünen Reitkleide zerflatterte ihm immer wie neckischer Nebel. So flattre fort, Du schöner Spuk! rief der junge Mann, und suchte seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Das Terrain war bis dahin wellenförmig gewesen, jetzt wurde es eben, wie die Fläche des Meeres in der Windstille. Eine weite Haide lag vor ihm, jenseits derselben das Kirchdorf, welches das Ziel seiner Wanderung war. Andere Gehöfte bekränzten in weiter Ferne die Fläche. Die Weiden, die den Weg begleitet hatten, wurden spärlicher und verschwanden zuletzt ganz. Hier und da hatte man auf der Haide die Rasendecke entfernt, um Torf zu gewinnen, der nun in langen schwarzen Reihen zum Trocknen aufgeschichtet da lag. In den so entstandenen tiefen Gräben blinkte das Wasser. Kibitze und anderes Sumpfgevögel flatterte hin und wider. In der weiten, öden Runde sah Oswald keinen Menschen, außer einer Frau, die ein paar hundert Schritte vor ihm auf einem Grenzsteine saß. Als er näher kam, fand er, daß es eine alte, sehr alte Frau in einem armseligen, aber äußerst reinlichen Anzuge war. Sie mußte wohl, von dem Wege ermüdet, auf dem Steine eingenickt sein; denn sie richtete den tief gesenkten Kopf schnell in die Höhe, als Oswald in ihre Nähe kam und betrachtete verwundert den jungen Mann.

Guten Morgen, Mütterchen! sagte dieser stehen bleibend, ist das Dorf dort gerade vor uns Faschwitz?

Ja! sagte die Frau mit für ihr Alter auffallender Lebhaftigkeit, der junge Herr will wohl auch in die Kirche?

Ja, Mütterchen! wann fängt die Predigt an?

Die Alte warf einen Blick nach der Sonne und sagte:

Ich hab' zu lang geschlafen; für mich ist es nun schon zu spät; meine alten Beine tragen mich nicht mehr so schnell; aber Sie sind ein junger Mensch, Sie kommen schon noch zur rechten Zeit. Nichts für ungut, wie ist Ihr Name, junger Herr?

Stein – Oswald Stein.

Stein? den Namen muß ich schon gehört haben.

Wohl möglich, er ist nicht eben selten.

Stein – hm, hm; nichts für ungut, wo sind Sie her, Herr Stein?

Oswald, dem es Vergnügen machte, sich so harmlos ausgefragt zu sehen, und dem die Art der alten Frau wohl gefiel, setzte sich, da es ihn eben nicht drängte, in die Kirche zu kommen, der Matrone gegenüber, die ihn, die runzlichen Hände auf die Kniee gestemmt, aus ihren tief gesunkenen, immer aber noch ausdrucksvollen Augen forschend ansah, auf den Stamm einer umgefallenen Weide und sagte:

Aus Grenwitz, Mütterchen.

Aus Grenwitz? Sieh einmal! Da bin ich auch her. Mit Verlaub, Sie sind wohl zum Besuch auf dem Schlosse?

Nicht so eigentlich; ich bin der Hauslehrer der Knaben.

Das ist wohl nicht möglich?

Warum?

Nun, die Herren Candidaten sehen sonst ganz anders aus.

Oswald lachte.

Und Sie kommen den weiten Weg ganz allein, Mütterchen?

Ich hab' keinen Menschen, der mit mir gehen könnte. Mein Mann ist längst todt, und meine Jungens sind todt und meine Dirnens sind todt – Alles todt.

Die alte Frau strich sich die Falten ihres Rockes über den Knieen glatt, als wollte sie sagen: Alle eingescharrt, und die Erde glatt drüber gedeckt, keine Spur mehr von ihnen.

Oswald jammerte das einsame, hülflose Alter der Frau. Er sagte, um doch etwas zu sagen, wovon er glaubte, daß es der einfältigen Seele tröstlich sein könnte:

In jenem Leben werden Sie alle Ihre Lieben wiederfinden.

In jenem Leben? sagte die Alte und blickte zum blauen Himmel hinauf, daran glaube ich nicht.

Wie? daran glauben Sie nicht? fragte Oswald verwundert.

Die Alte schüttelte den Kopf.

Sie sind noch jung, Herr – wie war Ihr Name? Stein – ja – Sie sind noch jung, Herr Stein; wenn Sie erst so viele Menschen haben sterben sehen, wie ich, glauben Sie auch nicht mehr daran. Wenn ein Mensch gestorben ist, dann ist er richtig todt – richtig todt. Und dann, wo sollten wohl all' die Menschen hin bei der Auferstehung, wie sie es nennen? In unserm Dorfe lebt kein Einziger mehr von Allen, mit denen ich jung gewesen bin. Und die Anderen, die nach mir geboren sind, sind alt geworden und auch gestorben. Und so kommen immer Neue und immer Neue. Nein, auf der ganzen weiten Welt wäre kein Platz für all' die Menschen!

Aber vielleicht auf anderen Sternen? warf Oswald ein.

Wie sollen sie dort hinkommen? Nein, von der Erde kommt Keiner, aber unter die Erde kommen sie Alle – Alle, und die alte Frau strich die Falten ihres Rockes wieder über den Knieen glatt.

Die Körper wohl, aber die Seelen –

Na, ich weiß nicht, sagte die Matrone den Kopf schüttelnd, aber das weiß ich, daß wenn einer gestorben ist, er richtig todt ist, und wir sagen: nun hat die liebe Seele Ruhe. Und etwas Besseres als Ruhe kann sich auch Keiner nicht wünschen, er mag ein Edelmann oder ein Bauersmann sein, jung oder alt.

Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben? fragte Oswald.

Wer sagt das? sagte die Matrone fast entrüstet; ich glaube an Gott, wie jeder Christenmensch; und rechtschaffen und fromm muß man sein, das hat mit der Auferstehung nichts zu schaffen; und seine Pflicht muß man thun, das versteht sich von selbst. Und nun, junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es wird sonst gar zu spät. Ich will nur wieder umkehren. Adjes! Damit stand sie auf, ergriff einen Eichenstock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte, streckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die dieser nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und begann den Weg, den sie gekommen war, langsam zurückzuwandern.

Das ist eine merkwürdige Frau, sprach der junge Mann bei sich, während er rascher weiter schritt; ich muß mich näher nach ihr erkundigen. Wer hätte geglaubt, daß die Sätze der Philosophen vom neuesten Schlage, Sätze, die freilich nur uralte Münzen mit etwas anderem Gepräge sind, selbst in diesen Schichten des Volkes cursiren. Nun, nun, wenn selbst die Einfältigen und Friedfertigen anfangen, sich zu besinnen, daß sie Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben, so ist ja wohl der letzte Tag der Dunkelmänner gekommen.

Neuntes Capitel

Das Dorf Faschwitz ist ein Experiment der Regierung. Das Gut, eines der größten der Gegend, war, wie fast alle in diesem Theil des Landes, ursprünglich im Besitz einer adeligen Familie gewesen, und beim Aussterben derselben als erledigtes Lehen an die Krone zurückgefallen. Diese hatte, um sich einen Stamm kleinerer Grundbesitzer oder freier Bauern zu schaffen an denen es dort fast ganz gebricht, hier und an anderen Orten förmliche Bauerncolonien gegründet, indem sie große Lehengüter parcellirte und die einzelnen Parcellen zu Spottpreisen an Liebhaber verkaufte. Der Faschwitzer Gemeinde hatte sie eine Kirche gebaut, einen Prediger in den Ort geschickt; es war nicht die Schuld der Regierung, wenn die Faschwitzer nicht gediehen.

Indessen stand zu wünschen, daß die Faschwitzer von den übrigen ihnen gewährten Vortheilen und Vorzügen einen besseren Gebrauch machten, als von der Gelegenheit, sich allsonntäglich geistige Nahrung zu verschaffen, denn Oswald fand, als er sich durch eine Seitenthür – die Hauptthür war verschlossen – Eingang verschafft hatte, daß die »andächtigen Zuhörer« aus einigen Kindern, die wohl zum Confirmandenunterricht gingen und also ex officio da waren, einigen alten Frauen, die der langen Gewohnheit bis an's Ende treu bleiben, und aus einigen Gutsbesitzerfamilien der Nachbarschaft, die ihren Hörigen ein gutes Beispiel geben wollten, bestand. Das Innere der Kirche bildete einen mäßig großen, wohl erhellten, nicht gewölbten Saal, in welchem Kanzel, Altar und Bänke schicklich vertheilt waren – Alles sehr neu, sehr zweckmäßig – und sehr nüchtern. Da gab es keine kleinen buntgemalten Fensterscheiben, kein Altarbild, keine pausbäckigen Engel in Bronce oder Holz, keine Votivtafeln, keine halbverwelkten Kränze, und wodurch noch sonst der Katholik seinen gemüthlichen Beziehungen zu der überirdischen Welt, zu welcher ihm die Kirche eine Vorhalle ist, einen Ausdruck zu verschaffen sucht. Das einzige Poetische in der Kirche waren die Schatten der Linden vor den Fenstern, die auf der hellen gegenüberstehenden Wand hin und her wogten, und die breiten Lichtstreifen, die schräg durch den Raum fielen und der Phantasie eine goldene Brücke bauten, aus dieser nüchternen Atmosphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der draußen warm und duftig auf Wiesen, Feldern und Wäldern lag. Von der Zuhörerschaft schien indessen Niemand dieses Weges zu bedürfen oder ihn praktikabel zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübschen zehnjährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines dicken Gutsbesitzers, der neben ihr andächtig nickte, empfinden mochte, und deswegen von der hageren Gouvernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im Uebrigen trugen die Gesichter aller Anwesenden entschieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken zu Hause gelassen haben, und im besten Falle von Menschen, die sich mit Anstand langweilen.

Und in der That, es wäre ein Wunder gewesen, wenn diese Gemeinde sich von dieser Predigt hätte erbauen lassen und von diesem Prediger. Oswald, der der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbesitzerfamilie zu sitzen gekommen war, erkannte auf den ersten Blick, den er auf den Prediger richtete, und nach den ersten Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm, daß hier zwischen Geistlichem und Gemeinde ungefähr so viel Sympathie bestehe, wie zwischen einem schriftgelehrten Missionär und einem Stamme gutmüthiger wilder Menschen. Auch schien der Prediger selbst, ein kleiner, schmächtiger Mann von etwa vierzig Jahren mit einem durch trockene Studien ausgetrockneten Gesicht, dies recht wohl zu empfinden; denn er war Oswalds, in welchem er natürlich sofort den vielbesprochenen neuen Hauslehrer von Grenwitz erkannte, kaum ansichtig geworden, als er seinen Vortrag hauptsächlich an ihn zu richten begann, als an den Einzigen, der im Stande sei, den Werth der gelehrten Perlen zu würdigen, die ihn hier, vor ungebildetes Rüsselvieh zu werfen, ein unverständiges Consistorium nöthigte.

O, meine andächtigen Zuhörer, rief er, die bebrillten Augen auf Oswald richtend, der sich, so gut es gehen wollte, hinter den blonden Lockenkopf versteckte, o, meine andächtigen Zuhörer, Ihr sehet, ein wie schwaches Ding diesen ungeheuren Fragen gegenüber die menschliche Vernunft ist. Und dennoch, dennoch, Vielgeliebte, giebt es irrende Brüder und Schwestern, die noch immer dem Nachtlicht ihrer eitlen Vernunft vertrauen, nachdem schon längst auch für sie die Sonne aufgegangen ist. O ja! dieses Stümpfchen ihrer Unschlittkerze mag ihnen hell genug erscheinen in den Tagen des Festes, der Herrlichkeit und der Freude; aber nicht also in den Tagen des kummervollen und gedankenschweren Alters. Darum gebet auf das stolze Vertrauen auf die Vernunft, und haltet fest an dem Glauben! Gebet auf die thörichte Zuversicht, auf Euren gesunden Menschenverstand, wie Ihr ihn nennt! O, meine andächtigen Zuhörer, dieser gesunde Menschenverstand ist ein kranker, ein sehr kranker Menschenverstand, ist ein Teufelsspuk und ein Irrlicht, das Euch unaufhaltsam in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt.

Oswald wurde durch diese Rede, die sich, mit Citaten aus der heiligen Schrift reichlich untermischt, noch eine halbe Stunde fortspann, auf eine eigenthümliche, aber keineswegs angenehme Weise berührt. Der Gegensatz zwischen der stillen, demüthigen Unterwerfung unter die großen, ewigen Gesetze der Natur, die aus den Worten der alten Frau und noch mehr aus ihrem ernsten, bescheidenen Wesen gesprochen hatte, und der anmaßlichen Zuversicht, mit welcher der Mann auf der Kanzel über so tief verborgene Dinge sprach, und jedes gesunde Gefühl und jede natürliche Regung der Menschenbrust als eitel Lug und Trug und Sünde verdammte, schien doch gar zu groß. Die schmucklose Weisheit der Matrone war frisch und duftig, wie ein Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, schwülen Luft eines Zimmers üppig emporgeschossen in Stiel und Blätter, aber ohne Saft und Kraft und Blüthen. Oswald war froh, als endlich der gelehrte Herr, nachdem er noch ein letztes kräftiges Anathema gegen alle Andersdenkende geschleudert und ihre Moralität gehörig verdächtigt hatte, bis zum Amen kam.

Es ist gewißlich nicht wahr! sagte der junge Mann bei sich, als er auf den Fußspitzen nach der kleinen Seitenthür schlich, durch die er eingetreten war. Und als da draußen der blaue Himmel sich wieder über ihm wölbte und der Duft der Linden ihn umwehte, da athmete er tief auf, wie Jemand, der aus der heißen, erstickenden Atmosphäre eines Krankenzimmers in die balsamische Luft eines Gartens kommt.

Ich werde die Bekanntschaft dieses Mannes nicht machen, wenn ich es vermeiden kann, monologisirte er weiter, während er den kleinen Hügel, auf dem die Kirche lag, hinunter, an mehreren herrschaftlichen Wagen, die unterdessen vorgefahren waren, vorüber, in's Dorf hineinging; was habe ich mit ihm zu schaffen! Seine Gedanken sind nicht meine Gedanken und seine Sprache ist nicht meine Sprache! wir würden uns in Ewigkeit nicht verstehen. Ich halte nichts von jener verwaschenen Humanität, die mit Jedermann gut Freund ist, und Niemanden zurückweist, weil es doch vielleicht ein fester Punkt ist, um den sich möglicherweise etwas krystallisiren könnte; nichts von jener Käferphilosophie, die jeden Fremden höflich umsummt, in der Hoffnung, die verborgene Blüthe zu finden, aus der sich eine Nahrung saugen ließe. Der kluge Kaufmann schifft der Küste vorüber, die zu arm zum Tauschhandel ist; und kommen doch die Worte: wer nicht für mich ist, der ist wider mich – aus dem erhabenen Munde, der die Liebe gepredigt hat.

Oswald war, Dies und Aehnliches bei sich überdenkend, auf's Gerathewohl, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte, in dem ihm unbekannten Dorfe, wo Häuser und Scheunen und Ställe, Mauern und Gärten, dem Fremden unentwirrbar, durcheinander lagen, umhergewandert, und wollte eben aus einem schmalen Gange an der Seite eines stattlichen Hauses auf eine breitere Straße einbiegen, als ihm der Pfarrer, der aus der Kirche kam, gegenüberstand. An ein Ausweichen war nicht zu denken, und Oswald's Versuch, höflich grüßend vorbeizukommen, mißlang gänzlich, denn der Pfarrer hatte ihn kaum erblickt, als er ihm im eigentlichsten Sinne den Weg vertrat.

Ach! ich habe gewiß die Ehre und das Vergnügen, Herrn Doctor Stein vor mir zu sehen! sagte er. Wie freundlich von Ihnen, daß Sie mich zu besuchen kommen. Aufrichtig, ich habe Sie schon seit einigen Tagen bei mir erwartet. Als ich neulich in Grenwitz war, der gnädigen Baronin meine Aufwartung zu machen, erfuhr ich leider, daß Sie mit Ihren Zöglingen einen längeren Spaziergang unternommen hätten, sonst würde ich mir die Freude nicht versagt haben, Sie auf Ihrem Zimmer aufzusuchen. Meine Frau wird sich glücklich schätzen, Sie unter unserem bescheidenen Dache zu begrüßen. Wollen Sie gefälligst näher treten? Bitte, bitte, keine Umstände!

Hier ist kein Entrinnen möglich, dachte Oswald, und ließ sich unter dem bescheidenen Dache, das nebenbei ein ganz stattliches Haus bedeckte, eine Gastfreundschaft aufnöthigen, der auszuweichen er noch eine Minute vorher entschlossen gewesen war.

Gustava! Gustave! Gustchen! rief der Pfarrer auf dem Hausflur; öffnete aber, da die Gerufene die sichere Position hinter dem mit einem Vorhang versehenen Guckfensterchen der Küchenthür nicht aufgeben mochte, bevor sie über den Charakter des Fremden und den Zweck seines Besuches genauer unterrichtet sein würde, sein Studirzimmer, und bat Oswald einzutreten, bis er sich seiner Amtstracht entledigt und seine Gustava von dem werthen Besuch benachrichtigt hätte.

Das Studirzimmer des geistlichen Herrn war ein großes, zweifenstriges Gemach, in welchem einige Bücherschränke, einige Heiligenbilder an der Wand, ein hartes, mit schwarzem, glänzendem Zeuge überzogenes Sopha, ein runder, mit Büchern bedeckter Tisch in der Mitte, ein Stehpult mit einem Drehsessel davor in einem der Fenster, und eine mit Tabacksduft reichlich geschwängerte Atmosphäre, das dem Eintretenden zuerst in die Sinne Fallende war. Die letztgenannte Eigenthümlichkeit war so ausgesprochen, daß Oswald einen Fensterflügel öffnen mußte, wobei er eine starke Anwandlung verspürte, über die niedrige Brüstung auf die sonnenbeschienene Dorfgasse zu springen und das Weite zu suchen.

Dieser Fluchtversuch wurde indessen durch die Zurückkunft des Pfarrers vereitelt. Der geistliche Herr präsentirte sich jetzt in einem Anzuge aus schwarzem, wie Fett glänzenden Sommerzeuge. Er bat Oswald, einige Augenblicke in seiner Klause verziehen zu wollen, da Gustava noch in den Küchenräumen schalte. Oswald, der alle Hoffnung, zu entrinnen, aufgegeben hatte, machte jetzt nicht einmal den Versuch, die Einladung des Pfarrers, zum Mittagessen dazubleiben, auszuschlagen.

Sie werden freilich nur paternum mensa tenui salinum finden, Urväter Hausrath auf dürftigem Tische, sagte der Pastor, der seinem Gaste zeigen wollte, daß er sein Latein noch nicht vergessen habe; aber Sie wissen: vivitur parvo bene; auch mit Wenigem lebt sich's gut. Darf ich Ihnen, bis die Mahlzeit angerichtet ist, eine Cigarre offeriren?

Oswald dankte, da er kein Raucher sei.

O, eine vortreffliche Eigenschaft das! eine klassische Eigenschaft, sagte der Pastor, seinen eigenen Witz belächelnd; die Alten rauchten nicht, und Goethe, den ein frivoler, aber witziger Schriftsteller den großen Heiden nennt, war ein abgesagter Feind der Pfeife und Cigarre. Sie erlauben, daß ich meiner Gewohnheit, nach der Predigt ein leichtes Cigarrchen zu rauchen, getreu bleibe?

Bitte dringend, Herr Pastor!

Finden Sie nicht – paff, paff! – daß das Rauchen – paff, paff! – so recht eigentlich ein germanisches, ja, um mich so auszudrücken, ein christlich-germani sches Element ist? sagte der Pfarrer, der heute auf alle Fälle geistreich sein wollte.

Sie würden durch diese Bemerkung den Spöttern der Religion eine Waffe in die Hände geben, antwortete Oswald trocken.

Wie das, Werthgeschätztester?

Besagte Spötter könnten behaupten, daß, sich selbst und Anderen einen romantischen blauen Dunst vorzumachen, allerdings ein wesentlicher Zug germanischer, besonders christlich-germanischer Natur sei.

Der Pfarrer sah Oswald mit einem schnellen, lauernden Blick halb über die Brillengläser hinweg an, als hätte er gern auf einmal heraus gebracht, wie weit er seinem Gaste trauen dürfe. Da er es aber für einen Mann von klassischer Bildung unschicklich fand, auf einen Scherz, auch wenn derselbe an's Frivole streifte, nicht einzugehen, so antwortete er mit sauersüßem Lächeln: Nicht übel, nicht übel! Aber was wäre vor den Spöttern sicher? Freilich, wir können antworten: ex fumo lucem! ex fumo lucem! Licht aus dem Rauche! – Aber setzen wir uns, lieber Freund, setzen wir uns! Wie befindet sich denn der gute, liebe Baron und die gnädige Baronin? Ach! Sie können sich glücklich schätzen, lieber Freund, in solchem Hause leben zu dürfen, unter so vortrefflichen Menschen, die mit dem Geburtsadel den wahren Adel der Seele verbinden – vor Allem die Baroneß, eine fromme und sehr gebildete Dame, die Alles ex fundamento kennen lernen will. Sie liest jetzt Schleiermachers Reden über die Religion –

Sollte sie wohl im Stande sein, die zu verstehen? bemerkte Oswald.

Der Pfarrer sah Oswald wieder mit jenem eigenthümlichen Blick über die Brillengläser an, als müsse er sich den Mann genauer betrachten, der den Muth hatte, eine Ansicht, welcher er im Stillen vollkommen beipflichtete, so ungenirt laut werden zu lassen. Er begnügte sich indessen damit, die Mundwinkel herunter und Schultern und Augenbrauen in die Höhe zu ziehen, eine Geberdensprache, die sich sein Besuch nach Belieben in: Alles Schwindel, lieber Freund! oder: die Fähigkeiten dieser Frau sind incommensurabel, übersetzen konnte.

Freilich, fuhr er fort, Grünwald werden Sie vermissen; zumal den Umgang eines Mannes von einer so umfassenden Gelehrsamkeit, wie der Professor Berger. Aber geht es mir denn anders? Auch ich kann sagen: Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli. Ich gelte hier für einen Sonderling, weil Niemand mich versteht. Unsere Gutsbesitzer sind ohne Zweifel treffliche, würdige, gottesfürchtige und treu-königlich gesinnte Männer; aber, im Vertrauen, die Bildung, ich meine natürlich nur die gelehrte, ist arg vernachlässigt. Ja, wenn die Herren sich in ihrer Jugend des unschätzbaren Glückes einer wahrhaft rationellen Erziehung zu erfreuen gehabt hätten, wie Junker Malte –

Sehr gütig, Herr Pastor, obgleich von diesem Compliment nur ein verzweifelt kleiner Theil auf meine Rechnung kommen dürfte. Ich wünsche nur, bei Malte käme die ratio nächstens mehr zum Durchbruch, denn bis jetzt ist er wahrlich eine höchst irrationelle kleine Größe.

Sie sollten Ursache haben, mit dem jungen Baron unzufrieden zu sein? sagte der Pastor im Tone Jemandes, der etwas ganz Unerhörtes, Unglaubliches vernommen hat. Ach, verstehe, verstehe! Freilich, der junge Bruno ist vielleicht in mancher Hinsicht die begabtere Natur, obgleich er, wie ich in dem Confirmandenunterricht, welchen ich den Junkern zu ertheilen die Ehre hatte, wohl bemerkte, für die Wahrheiten der christlichen Religion nicht eben sehr zugänglich ist; indessen non omnes possunt omnia – omnia, wiederholte der Pfarrer, der nicht wußte, wie er fortfahren sollte. Ja, was ich sagen wollte, dafür ist aber auch Malte wieder der Erbe eines so großen Vermögens!

Um so mehr scheint es mir wünschenswerth, daß er dereinst ein ganzer Mann wird. Ist denn übrigens das Grenwitz'sche Vermögen wirklich so bedeutend?

Ei, mein lieber Freund, rief der Pastor im Tone sanften Vorwurfs, daß Oswald eine so beklagenswerthe Unwissenheit in Betreff so hochwichtiger Dinge an den Tag legen konnte; ob es bedeutend ist! Da sind in dieser Nachbarschaft allein fünf, nein – mit Stantow und Bärwalde, die allerdings nicht zum Majorat gehören, sind es eben sieben Güter. Und in den andern Theilen der Insel – lassen Sie mich sehen – liegen noch ein, zwei, drei Güter. Das ist ein Kapital von mindestens anderthalb Millionen. Anderthalb Millionen! wiederholte er, als könne sich sein Geist von einer so erhabenen Vorstellung nicht gleich wieder losmachen.

Und das Vermögen ist ein Majorat?

Ei gewiß! Mit Ausnahme, wie gesagt, von zwei der schönsten Güter, welche dem verstorbenen Baron, dem Vetter des jetzigen, durch Erbschaft von der Mutter Seite zufielen und in dem Testamente auf eine gar besondere Weise verclausulirt sind. Denken Sie sich nur, lieber Freund, daß der verstorbene Baron, der, ganz unter uns gesagt, eine überaus wüste, unbändige Natur war, diese Güter dem Sohne einer seiner Maitreffen vermacht hat.

Aber Sie rechneten doch vorhin die beiden Güter mit zu dem Vermögen der Familie, sagte Oswald.

Nun, unter uns kann man es immerhin, sagte der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiserem Ton. Denn kein Mensch weiß, wo dieser Knabe lebt, ja, ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich ein Knabe oder ein Mädchen ist.

Das ist ja eine curiose Geschichte, sagte Oswald lachend.

Eine äußerst curiose Geschichte, sagte der geistliche Herr; eine lächerliche Geschichte, wenn Sie wollen. Denken Sie nur: der Baron Harald – sie haben Alle sonderbare Namen in der Familie – jener unbändige Mann, der zur Zeit der heiligen Vehme hätte leben müssen, entbrennt in heißer Liebe zu einem armen Bürgermädchen – ein Fall, der in seinem Leben freilich oft vorgekommen sein mag, aber niemals solche üblen Folgen hatte. Er entführt sie, halb mit Gewalt, hierher auf sein Schloß. Nach einem halben Jahre entflieht sie bei Nacht und Nebel. Ob sie ihre Schande auf dem Grunde eines unserer tiefen Moore verborgen hat, ob sie wirklich nur entflohen ist, Niemand weiß es. Der Baron ist außer sich, rasend. Er durchsucht vergebens die ganze Insel. Um seinen Gram und seine Gewissensbisse zu betäuben, trinkt und spielt und lebt er noch wilder wie gewöhnlich, so daß er denn ein paar Wochen später im Delirium stirbt. Als man das Testament eröffnet, findet man nun, daß er in einer Anwandlung von Reue, oder aus Caprice, wie Sie wollen, dem Kinde jener seiner Geliebten, gleichviel ob Knabe oder Mädchen, falls es nur bis zu dem und dem bestimmten Datum geboren ist, die beiden herrlichen Güter, der Dirne selbst aber den Nießbrauch des Vermögens auf Lebenszeit vermacht hatte. Wie finden Sie das?

Jedenfalls eignet sich die Geschichte mehr zu einer Tragödie als zu einer Komödie, sagte Oswald. Und hat man nie eine Spur von Mutter und Kind entdeckt?

Nie! obgleich testamentarisch – es ist wahrhaftig ein wahrer Skandal, und ich bedaure die gnädige Baronin von ganzem Herzen – alljährlich die Verschollene in sämmtlichen Blättern der Provinz aufgefordert wird, ihre Ansprüche geltend zu machen.

Wie lange spielt die Geschichte nun?

So ein zwanzig Jahre und darüber.

Da ist doch wohl kaum denkbar, daß die Arme noch am Leben ist.

Es denkt auch Niemand mehr daran, sagte der Pastor. Grenwitzen's würden auch nicht wenig verwundert sein, wenn plötzlich so ein junger Landstreicher sich als ergebenster Neffe vorstellte und die beiden Güter und die Zinsen seit zwanzig Jahren für sich beanspruchte, um so mehr, als die gnädige Baronin, die von Hause aus – ganz unter uns gesagt – keinen rothen Pfennig Vermögen hat, nach dem Tode des Barons, da die Grenwitz'schen Besitzungen, Gott sei Dank, Majorat sind, sammt ihrer Tochter so arm sein würde, als sie vor ihrer Vermählung war.

Sie sind ein großer Freund der Majorate?

Ei gewiß! Ich halte es für ein Glück, daß so bedeutende Vermögen nicht durch Erbtheilung zersplittert werden können, und so eine Aristokratie reicher Grundbesitzer möglich wird, die gleichsam ein Ballast sein kann für das Staatsschiff in Zeiten der Gefahr, die Gott noch lange abwenden möge von unserm theuern Vaterlande.

Nun, sagte Oswald, das Ding hat, wie alle andern, seine zwei Seiten.

Wer wollte sich das verhehlen, sagte der geschmeidige Pastor. Aber ich für meinen Theil habe zu lange die Ehre und das Glück gehabt, mit reichen, und in der schönsten Bedeutung des Wortes adeligen Familien zu verkehren, als daß ich nicht gewissermaßen ein Anhänger der Aristokratie sein sollte; und überdies habe ich neuerdings nur zu trübe Erfahrungen darüber gemacht, wie sehr der Besitz in den Händen des Plebejers, um mich dieses historischen Ausdruckes zu bedienen, Eitelkeit, Hoffarth und weltlichen Sinn hervorruft und begünstigt.

Es thut mir leid, von meinen Freunden so etwas hören zu müssen, sagte Oswald.

Von Ihren Freunden? sagte der Pastor verwundert.

Von meinen Freunden, allerdings. Denn ich fand mich stets, ohne es zu wollen und manchmal ohne es zu wissen, wo immer in der Geschichte der große Gegensatz zwischen Aristokraten und Plebejern hervortrat, auf Seite der letzteren. Ich war ein geschworner Anhänger der Gracchen und anderer römischer Demagogen; ich schlug mich mit den Independenten gegen die Cavaliere, und ich gestehe, daß ich in den Bauernkriegen viel mehr Sympathie gehabt habe für die armen, unterdrückten, gehudelten, geknechteten und in Folge dieser brutalen Behandlung meinetwegen auch brutalen Bauern, als für die hochmögenden, reichsfreiherrlichen und trotz und vielmehr wegen all' der Freiheit und Herrlichkeit nicht minder brutalen Grafen und Barone.

Der Pfarrer hörte diese Rede mit jenem ungläubigen Lächeln an, mit dem man dem Bramarbasiren junger Gelbschnäbel zuhört, die sich gern den Anstrich von vollendeten Wüstlingen geben möchten.

Sehr gut, sehr gut! sagte er. Ja, ja, wir geistreichen Leute gefallen uns in Paradoxen. Das klebt uns noch von den ästhetischen Thee's der Residenz an, und da wollen wir hübsch in der Uebung bleiben, wenn uns zur Zeit auch nur ein armer Landpfarrer hört.

Ich versichere Sie, Herr Pastor –

Weiß schon, weiß schon! Aber leben Sie erst einmal, wie ich, fünf Jahre lang unter Bauern! Glauben Sie, daß ich in der ganzen Zeit die Leute habe bewegen können, eine Glocke für unser Gotteshaus zu kaufen, die anzuschaffen sie noch dazu verpflichtet sind? Aber, wenn es darauf ankommt, einen Schmaus herzurichten und andere weltliche Zwecke in's Werk zu setzen, fehlt es nie an Geld.

Nun, sagte Oswald, der Adel hiesiger Gegend ist auch nicht eben wegen seiner Nüchternheit berühmt.

Der Adel, lieber Freund! das ist etwas ganz Anderes. Seine Devise ist und muß sein: leben und leben lassen. Aber, Sie wissen, Eines schickt sich nicht für Alle.

Und Manches schickt sich für Keinen, fügte Oswald hinzu.

Ach, hier kommt meine Gustava, rief der Pfarrer, froh, ein Gespräch abbrechen zu können, das ihm von Augenblick zu Augenblick weniger gefiel.

Die Frau Pastorin, welche soeben in das Zimmer trat, war eine Dame in dem Anfang der vierziger Jahre, mit semmelblonden Haaren, sehr hellblauen Augen und einem Gesicht, das in diesem Augenblick von dem Küchenfeuer und der Eile, mit welcher sie ihre Toilette gemacht hatte, noch von etwas lebhafter Farbe war, sonst aber kränklich, bleich, verwelkt und altjüngferlich aussah. Sie trug ein Kleid von gelber ungefärbter Seide, an dessen Gürtel eine goldene Uhr hing, und eine Haube mit gelben Bändern, so daß sie Alles in Allem auf Oswald den Eindruck eines etwas verblichenen und nicht mehr ganz gefunden Kanarienvogels, dessen Besitzer nach Norden wohnt, machte. Auch sie konnte kaum Worte (an denen es ihr übrigens nicht gebrach) finden, welche ihre Freude ausdrückten, den Freund eines so hochmögenden Hauses unter ihrem niedrigen Dache (diese Phrase schien bei beiden Gatten stereotyp) zu erblicken, um so mehr, als es ihrem armen Jäger (das war der Name des Pastors) ganz und gar an einem wissenschaftlichen und gebildeten Umgange gebrach, ein Mangel, dem durch Oswalds Ankunft in hiesiger Gegend auf die erfreulichste Weise (davon sei sie überzeugt) abgeholfen wäre.

Mein armer Jäger wird mir hier noch zum Hypochonder werden, rief sie, ihre wasserblauen Augen zärtlich auf den Gegenstand ihrer Besorgniß richtend; ich thue, was in meinen schwachen Kräften steht, daß er die Gesellschaft geistreicher und gelehrter Männer so wenig wie möglich vermißt, aber was kann eine arme, unwissende Frau denn in dieser Hinsicht Großes thun!

Sie werden mich zwingen, Ihnen zu widersprechen, sagte Oswald, bei welchem der Humor über den Unmuth, mit dem ihn bisher die Heuchelei und Gleißnerei der Gatten erfüllt hatte, endlich den Sieg davon trug. Ich möchte behaupten, daß Unwissenheit und Frau Pastor Jäger niemals Freundinnen gewesen sind, und jetzt schon seit Jahren auch nicht einmal die entfernteste Bekanntschaft zwischen ihnen existirt.

Sie sind zu gütig, wahrlich zu gütig, sagte die hocherfreute Pastorin. Ich will nicht leugnen, daß ich mich von jeher bemühte, den Vorwurf der Unfähigkeit für die Sphären höherer Bildung, welchen man uns armen Frauen –

Es ist angerichtet! rief das Dienstmädchen zur Thüre herein.

Sehen Sie, so macht das irdische Leben immer seine Rechte geltend, so oft wir versuchen, einen kühneren Flug zu nehmen, rief die Pastorin, während ihr Oswald galant den Arm bot und der Pastor das Ende seiner Cigarre so legte, daß er es nach Tische wiederfinden konnte.

Zehntes Capitel

Die Unterhaltung an der Mittagstafel, die in einem kühlen, schattigen Zimmer, das auf einen etwas kahlen und sehr sonnigen Garten sah, angerichtet war, wurde bald sehr lebhaft. Oswald's längerer Aufenthalt in Grünwald erwies sich als unerschöpfliches Thema. Die Pastorin war selbst eine Grünwalderin, eine der vielen Töchter des dort vor mehreren Jahren verstorbenen Superintendenten Gabriel Dunkelmann, der gerade noch lange genug lebte, seinem Schwiegersohn die einträgliche Pfarre von Faschwitz zu verschaffen und dann das Zeitliche segnete. Oswald machte im Stillen die Bemerkung, daß die Frau Doctor – denn der Pastor hatte sich die academische Würde durch eine grundgelehrte Dissertation über die möglicherweise vorhanden gewesenen Schriften eines bis auf den Namen verschollenen Kirchenvaters erworben – schon damals durch Jugendreiz sich nicht ausgezeichnet haben könne und wunderte sich auch nun nicht länger darüber, daß der Tisch so klein und das Haus so still war. Die Frau Doctor kannte den Professor Berger, sie kannte mehrere Familien, in denen Oswald eingeführt war. Das gab denn überreichen Stoff zu dem landesüblichen Familienklatsch, bei welchem einige Damen, die ihrer Zeit der verblühten Superintendententochter zu nahe getreten sein mochten, erfahren konnten, welche zweischneidige Waffe die Zunge einer Landpastorin unter Umständen ist.

Unterdessen war der Nachtisch aufgetragen, und der Pastor hatte, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit eine zweite Flasche entkorkt, die Pastorin aber den Tisch verlassen, um anzuordnen, daß der Kaffee heute in der Gartenlaube servirt werde. Der Pastor hatte sich eine Cigarre angezündet, einen Knopf an seiner schwarzen Weste aufgemacht, augenscheinlich nur in der Absicht, sich in der Illusion, ein sybaritisches Mahl eingenommen zu haben, zu bestärken – denn die Weste saß schon schlotterig genug auf seinem hagern Leibe. Er forderte Oswald auf, mit ihm auf das Wohl der hochmögenden Familie, in welcher er sich zu befinden das Glück habe, anzustoßen, eine Höflichkeit, die Oswald mit einem Toast auf die liebenswürdige, ebenso gelehrte, wie bescheidene Wirthin erwiderte.

Danke, danke, lieber junger Freund, sagte der geschmeichelte Pastor, Oswald's Hand zu wiederholten Malen drückend. Ja, Sie haben recht, eine gelehrte, bescheidene Frau! Haben Sie ihr angemerkt, daß sie mit mehr als einer literarischen Größe im lebhaftesten Briefwechsel steht, ja, unter dem Pseudonym Primula eine der eifrigsten Mitarbeiterinnen der Novellen-Zeitung ist?

Unmöglich! rief Oswald.

Ich versichere Sie, lieber Freund; und Sie können nicht glauben, welche Freude es mir gewährt, wenn ich wieder und immer wieder im Briefkasten lese: Faschwitz und P.V., Primula Veris, Gustava's Chiffre: Tausend Dank für Ihre liebenswürdige Sendung, oder: Sie haben uns durch Ihr reizendes Gedicht hoch erfreut, es wird schon in der nächsten Nummer zum Abdruck kommen x.

Ich kann es mir denken, sagte Oswald zerstreut. Aber wollen wir nicht der liebenswürdigen Dichterin in den Garten folgen?

Festina lente! rief der Pfarrer, dem der Wein schon zu Kopfe stieg. Wir kommen so jung nicht wieder zusammen. Ein gutes Glas Wein ist ein gutes geselliges Ding, und Gustava ist zu liberal gesinnt, uns die Freuden des Mahles zu verkürzen. Aller guten Dinge sind drei, lassen Sie uns noch eine Flasche –

Aber Jäger, der Kaffee wird ja kalt! tönte die scharfe Stimme der Primula Veris aus dem Garten durch das offene Fenster.

Wir kommen, wir kommen, Gustchen! rief der gehorsame Gatte. Gesegnete Mahlzeit, mein lieber junger Freund! (bei diesen Worten umarmte er Oswald); mein theurer Freund! (abermalige Umarmung) –

Aber wir vergessen, daß der Kaffee auf uns wartet, rief Oswald, mit Mühe einer dritten Umarmung entgehend, und den Weg nach dem Garten einschlagend, während der Pastor, ehe er seinem Gaste folgte, noch schnell den letzten Rest aus der Flasche in sein Glas schenkte und dasselbe eiligst (diesmal wahrscheinlich auf sein eigenes Wohl) austrank.

Der Garten gewährte um diese Tageszeit gerade nicht den angenehmsten Aufenthalt, denn die Anlagen waren noch sehr ung; die Bäumchen meist erst in Manneshöhe, und in Folge dessen das Ganze eine schattenlose, prosaische, nüchterne Stätte, die auffallend an die Theologie des gelehrten Herrn erinnerte, auch insofern, als hier wie dort das Nützlichkeitsprincip das oberste zu sein schien. Die Gemüsebeete waren sorgsam gepflegt, Blumen aber sah man wenig, nur einige Sonnenblumen mahnten durch ihre Farbe flüchtig an die Erscheinung der Primula Veris und durch ihre Eigenschaft, sich der Sonne zuzuwenden, aus welchem Theile des Himmels sie auch strahlen mochte, an die Lebensphilosophie ihres ausgezeichneten Gatten.

In der Laube, die glücklicherweise, von Jasmin dicht bedeckt, gegen die Sonne, welche jetzt heiß genug brannte, einen erträglichen Schutz gewährte, fanden sie die Frau Pastorin. Sie hatte neben sich auf der Bank ein Arbeitskörbchen stehen, in welchem zwischen bunten Läppchen, Docken Seide und andern Dingen ein zierliches Büchelchen lag, dessen Vorhandensein Oswald einigermaßen beunruhigte.

Weh' dir, dachte er, wenn dieses Buch eine Sammlung von Primula's in der Novellen-Zeitung und sonst erschienenen Gedichten ist!

Er suchte den Pastor bei den Gemüsebeeten festzuhalten; er mußte sich mit eigenen Augen überzeugen, wie die vom Pastor selbst erfundene Verbesserung an den Bienenkörben denn eigentlich beschaffen sei; er sprach endlich von der Nothwendigkeit, sich baldigst verabschieden zu müssen – kurz, er that, was ein Mann in seiner kritischen Lage thun kann – vergebens!

Wir sollen Sie fortlassen, bei der Hitze! rief Primula und ließ ihre Hand (von Oswald nicht unbemerkt) auf das Arbeitskörbchen gleiten. Wir sitzen hier zwar nicht im Schatten der gewaltigen Fichte und der weißen Pappel, aber doch im Schatten; und den wollten Sie vertauschen mit der Gluth und dem Staub der Landstraße? Unmöglich! Noch eine Tasse, werther Gast! Es ist kein Falerner, wie ihn der glückliche Römer in der eben citirten Ode trinkt, aber doch ein Getränk, das einigen Anspruch auf Classicität machen darf, seitdem unser lieber Voß in seiner Louise es so verherrlicht hat. Sagen Sie, lieber Gastfreund, hat Ihnen nicht der Aufenthalt unter unserem niedrigen Dache manche Reminiscenzen an die liebliche Idylle erweckt? Haben Sie nicht empfunden, daß in diesen, von dem Treiben der Menschen weit entfernten Stätten die sanfte Stimme der Poesie, die auf dem lauten Markte des Lebens ungehört verhallt, deutlich zu uns spricht?

Jetzt geschieht das Entsetzliche, dachte Oswald.

Ich bewundere, sagte er, wie Sie so sinnig Altes und Neues, Wirklichkeit und Poesie zu einem duftigen Kranze zu flechten verstehen. Mir selbst ist leider in jüngster Zeit die Prosa des Alltagslebens nah und näher getreten; ja, aufrichtig gestanden, ich habe mich, was ich früher für unmöglich hielt, mehr und mehr mit ihr ausgesöhnt, obgleich ich sehr wohl weiß, daß ich dabei die Empfänglichkeit für die Reize der Dichtkunst vollständig eingebüßt habe.

O, glauben Sie doch das nicht! rief Primula. Der Quell der Poesie in uns kann wohl zu Zeiten weniger voll strömen, aber gänzlich versiegt er nie. Sie klagen sich der Unempfänglichkeit für die Reize der Dichtkunst an. Das sollte mich eigentlich von meinem Vorhaben (hier legte sie die Hand offen an das Büchelchen in schwarzem Einband mit Goldschnitt) abbringen, Ihnen eine kleine Probe der Gedichte mitzutheilen, die ich, wie Ihnen wohl bekannt sein wird, unter dem Pseudonym Primula in der Novellen-Zeitung veröffentlicht habe. Aber mein Glaube an die Macht der Poesie, vor Allem der latenten Poesie in Ihrem Herzen, ist zu groß, als daß mich Ihre Selbstverleumdung vom Gegentheil überzeugen könnte. Darf ich einen Versuch wagen, die Richtigkeit meiner Ansicht auf die Probe zu stellen?

Wodurch habe ich so viel Güte verdient? murmelte Oswald, sich voll Resignation in die Ecke seiner Bank zurücklehnend und die Augen bis zu dem Winkel schließend, der glücklicherweise den Augen halb schlummernder und verzückter Zuhörer gemeinsam ist.

Ich habe mein Büchelchen Kornblumen betitelt, sagte Primula, hold verschämt in dem Buche blätternd, weil die meisten dieser Poesie auf den Spaziergängen durch die Kornfelder, auf alle Fälle in einer ländlichen Umgebung erblüht sind.

Wie sinnig, flüsterte Oswald.

Nach den Regeln der besten Aesthetiker und nach dem Beispiele der Griechen, welche die Tragödie der Komödie voranschickten, oder richtiger die Komödie auf die Tragödie folgen ließen, werde ich mir erlauben, Ihnen erst ein ernstes, dann ein launiges, dann wieder –

Gewiß, gewiß, das wird den Reiz der einzelnen Gedichte erhöhen, sagte Oswald, den vor dieser endlosen Perspective schauderte.

Willst Du nicht, liebe Gustava – sagte der Pastor.

Laß mich meine eigene Wahl treffen, Jäger, sagte die Dichterin in einem sanften, aber entschiedenen Tone, und dann sich räuspernd:

Auf einen todten Maulwurf –

Auf was? rief Oswald, erschrocken in die Höhe fahrend.

Nun, sehen Sie, werther Freund, sagte Primula, wie schon die Ueberschrift allein Sie elektrisirt!

Freilich, freilich! murmelte Oswald, in seine Ecke zurücksinkend.

Auf einen todten Maulwurf, wiederholte die Dichterin, den ich am Wege fand:

Wie liegst Du jetzt so ruhig da Mit Deinem glatten Fell! Dein Schicksal, ach, es geht mir nah, Du schwärzlicher Gesell! Sie schmähten Dich, Sie höhnten Dich, Sie sagten: Du bist blind! Das waren solche sicherlich, Die selber Blinde sind. Am Tage zeigtest Du Dich nicht, Gleich eitler Thoren Schaar, Doch war's in Deiner Zelle licht, In Deinem Busen klar. Und zu der Sterne hohem Lauf Am nächt'gen Himmelsdom, Sahst Du von Deinem Hügel auf, Du kleiner Astronom! Wie lebtest still und harmlos Du, Ein dunkler Ehrenmann! Bei Tag nicht Rast, bei Nacht nicht Ruh, Wer sieht Dir das nun an? Nun liegst Du, ach so ruhig da Mit Deinem glatten Fell. Dein Schicksal, o! es geht mir nah, Du schwärzlicher Gesell!

Das ist schön, sagte Oswald. Das ist die echte Lyrik, wie wir sie heute leider nur zu selten finden. Nicht die Treibhauslyrik jener Dichter, die mit Anklängen an Heine beginnen, in der Mitte einige Lenau'sche Accorde anschlagen und mit einer Freiligrath'schen Fanfare schließen. Welch' ein wahres, inniges Gefühl erwärmt diese Verse! und dabei diese kernige Kraft der Sprache: Ein dunkler Ehrenmann! das ist einfach, aber schön; das haben Sie Ihrem Goethe abgelauscht.

Sie sind wahrlich zu gütig, lieber Gastfreund! sagte Primula hocherfreut. In der That, Sie beschämen mich durch Ihr freigebiges Lob. Aber, seien Sie ehrlich, finden Sie nicht, daß, wenigstens für den modernen Geschmack, das Ganze doch ein wenig zu ideal gehalten ist?

Vielleicht für unsere Realisten, die allerdings in ihren Anforderungen etwas weit gehen, und in ihrem Bestreben, Alles recht natürlich zu machen, im Faust nächstens den Pudel auf die Bühne bringen und durch Kneifen in den Schwanz zum Bellen und Heulen veranlassen werden. Aber ich bin überzeugt, daß, wenn Sie nur wollen, Sie auch diesen Herren gerecht werden können.

Was halten Sie von diesem Gedichte? fragte die Dichterin: An meinen Haushahn. Oswald lehnte sich wieder in seine Ecke.

Gleich Richard von der Normandie, Fürcht't sich mein Held im Leben nie, Wem bangte nicht, sobald er schrie: Kikriki! Das ist naiv! sagte Oswald. Nicht wahr! sagte Primula. Am späten Abend schwärmt er nie, Doch munter ist er Morgens früh, Drum haßt ihn auch das faule Vieh. Kikriki! Für's Liebchen scheut er keine Müh', Bald kratzt er dort, bald kratzt er hie, Und fand er was, so ruft er sie: Kikriki! Und ist mein Held auch kein Genie, Und sein Gesang nicht Poesie, So stimmt mich doch, ich weiß nicht wie, Sein Kikriki!

Nun, was sagen Sie, lieber Freund?

Was soll ich sagen, erwiderte Oswald, als daß Sie Ihre Absicht vollkommen erreicht haben. Der Hörer glaubt sich auf den Hühnerhof versetzt. Die Töne, die Sie hier anschlagen, sind wahre Naturtöne, aus dem Herzen der Dinge heraus. Das Gedicht ist ein kleines Meisterstück im modern realistischen Geschmack. Aber jetzt, verehrte Frau, eine Bitte: Wie sehr es den Werth der Gedichte auch erhöht, sie aus dem wohllautenden Munde der Dichterin zu hören – ich möchte mir den Eindruck dieses letzten Gedichtes nicht gern verwischen lassen. Was auch noch kommen mag, dies war die Grenze des Erreichbaren.

Nur dieses Eine müssen sie mir noch erlauben. Es bildet mit den beiden andern gleichsam eine Trilogie, ein Summarium dessen, was ich den Thieren abgelauscht. Darf ich beginnen?

Bitte!

An einen Maikäfer, der auf dem Rücken lag. O Du Bacchant der lust'gen Maiennacht! Hast Du geschwelget in den Blüthendüften, Hast Du gebadet in den weichen Lüften Vom Abend, bis der neue Tag erwacht? Und hast des Lebens Kürze nicht bedacht? Nicht: wie so bald in dunklen Grabesgrüften Ruh'n zarte Knöchel, ach! und üpp'ge Hüften, Und Lippen, die nur eben keck gelacht? Jetzt liegst Du matt auf Deinem Flügelschild. Ich lese stumm in Deinen ernsten Zügen, Und dunkle Runen seh' ich dort geschrieben. Ach! nur ein Taumel war Dein bestes Lieben! Drum, die Du liebtest, mußten Dich betrügen, Des Maies Käfer, falscher Liebe Bild.

Die schöne Vorleserin war zu Ende. Da tönte in das entzückte Schweigen, in welches Oswald versunken schien, und Primula jedenfalls versunken war, das Rollen eines Wagens, der denn auch alsbald vor dem Hause still hielt.

Frau Pastorin, Frau Pastorin! schrie das Dienstmädchen mit ängstlichen Tönen in den Garten hinein.

Oswald athmete auf. Hier kam Besuch und mit dem Vorlesen war es auf alle Fälle vorbei. Vielleicht konnte er auch seinem Besuch bei dieser Gelegenheit ein Ende machen.

Es sind Plüggens, liebe Gustava, sagte der Pastor, der durch die Gartenhecke den Wagen recognoscirt hatte. Die gnädige Frau und zwei Fräulein Töchter. Willst Du nicht eilen –

Entschuldigen Sie mich, werther Gastfreund, sagte die Dichterin, eiligst das Buch schließend; aber Sie wissen, so oft wir versuchen, einen kühneren Flug zu nehmen –

Frau Pastorin, Frau Pastorin! schrie es immer ängstlicher von der Gartenthür her.

Ich komme! rief die verstörte Primula und eilte den sonnebeschienenen Gartenweg entlang dem Hause zu.

Wollen wir nicht ebenfalls – sagte der Pastor.

Entschuldigen Sie mich, wenn ich bitte, mich jetzt entfernen zu dürfen, unterbrach ihn Oswald.

Aber weshalb, lieber Freund? Frau von Plüggen ist eine höchst vortreffliche Dame und die Töchter, wenn auch nicht schön –

Und wären sie schön wie die Engelein, ich müßte auf das Vergnügen verzichten, sie jetzt zu sehen. Adieu, adieu! Entschuldigen Sie mich bei Ihrer Gemahlin! Nicht wahr, die Pforte dort ist nicht verschlossen?

Und damit eilte Oswald von dem Pfarrer, der viel zu gut von sich und seiner Primula dachte, als daß er den eiligen Rückzug des Gastfreundes nicht einzig aus dessen Scheu, mit der unbekannten hochadeligen Familie zusammenzutreffen, hätte erklären sollen, fort aus dem Garten durch die Pforte auf die Dorfstraße, von der Dorfstraße hinaus auf die Felder; und gönnte sich nicht eher Rast, als bis die Bäume des Waldes, hinter welchem, wie er wußte, das Gut Melitta's lag, über seinem Haupte sich wölbten.

Elftes Capitel

Der Waldweg, auf dem jetzt Oswald leicht und fröhlich dahinschritt, schien wenig betreten und noch weniger befahren. Im Winter mochte es ein verzweifelter Weg sein, desto schöner und poetischer war er nun im Sommer. Hier und da wucherten Gras und Lattig von einem der schlecht gehaltenen Gräben bis zum andern quer drüber hin; an manchen Stellen überwölbten ihn die hohen Buchen und Eichen mit ihren breiten Kronen. Je tiefer Oswald in die grüne Wildniß drang, desto heimlicher und stiller wurde es um ihn her – so heimlich und still, daß er in dem Liede, welches er vorhin lustig angestimmt hatte, plötzlich abbrach, als fürchtete er, den Wald im Schlaf zu stören.

Denn in dieser heißen Nachmittagssonne schläft der Wald. Das grüne Blättermeer rauscht nicht in schwellenden Wogen; still und unbeweglich trinkt es die Gluth der Sonne. Kaum, daß es hier oder dort leise in einem der Bäume raschelt. Das erweckt dann wohl einen oder den anderen der schlafenden Nachbarn, oder sie raunen nur dem Störenfried zu, daß jetzt keine Zeit zum Plaudern sei, und träumen weiter. Die Vögel harren, im dichtesten Laube versteckt, der Abendkühle. Das Weibchen schlummert auf dem Nest über den halbflüggen Jungen; das Männchen sitzt auf dem Zweige daneben, hat das Köpfchen unter den Flügel gesteckt und schlummert, müde von dem frühen Aufstehen, dem jubelnden Gesang den lieben langen Morgen hindurch und der eifrigen Jagd auf Mücken und Würmchen. Die wissen, daß es jetzt gute Zeit für sie ist, und tanzen lustig in den rothen Sonnenstrahlen, die heimlich durch die Zweige schlüpfen, und kriechen und krabbeln und hasten sich durch das warme, weiche Moos. Tiefe Ruhe! da tönt ein sonderbarer heiserer Schrei in kurzen, wie in Aerger schnell hintereinander ausgestoßenen Tönen. Das ist der Falk, des Waldes Förster. Er ist ein schlimmer Gesell, den sein böses Gewissen nicht schlafen läßt, und deshalb klingt auch sein Ruf so grell und schrill, wie er jetzt stolz und einsam hoch droben in der blauen Luft über dem stillen Blättermeer, seinem Revier, die wunderlichen, mystischen Kreise zieht.

Ein blondköpfiger Junge, der am Rande des Waldes ein paar Gänse hütete, hatte Oswald gesagt, daß der Weg nach Berkow durch das Holz kaum eine halbe Stunde und nicht zu verfehlen sei. Daß er dabei die schweigende Voraussetzung gemacht hatte, der Wanderer werde auf dem Wege bleiben und des Weges achten, war natürlich. Da Oswald aber, wie es seine Gewohnheit war, weder das Eine noch das Andere gethan hatte, alle Augenblicke über den Graben gesprungen und in den Wald hineingelaufen war, wo das Unterholz weniger dicht wucherte, und die hohen Hallen zwischen den mächtigen Stämmen gar zu verführerisch lockten, und auf Alles geachtet hatte, nur nicht auf den Weg – so mochte er es sich denn auch nun selbst zuschreiben, als er aus dem Dickicht heraus, statt auf den Weg, den er bisher gegangen war, zu gelangen, auf einen schmalen Waldpfad kam, und, denselben in falscher Richtung weiter gehend, immer tiefer in den Forst gerieth.

Oswald stand still und lauschte, ob er nicht die Stimme eines Menschen, das Pochen einer Axt vernehmen werde, aber er hörte nichts als den Schrei des Falken und das Klopfen seines eigenen Herzens. Lustig rief er in den Weg hinein: Wo geht der Weg nach Berkow, Falk? – Falk, hallte das Echo zurück.

Endlich wurde es lichter zwischen den Bäumen. Schon glaubte er, den Saum des Holzes erreicht zu haben. Statt dessen trat er auf eine Lichtung heraus, die fast ganz von einem kleinen, zum Theil mit hohen Binsen bedeckten See eingenommen wurde. An dem Rande entlang schreitend, scheuchte er ein Sommer-Entenpaar auf, das aus dem Röhricht hervorbrach und mit wunderbarer Hast über den Sumpf fort in den Wald flog. Dann wieder lautlose Stille.

Kommt Zeit, kommt Rath, sagte Oswald bei sich. Vorläufig will ich mich aber ein wenig ausruhen, denn ich finde, daß ich nachgerade müde werde.

Er hing seinen Strohhut an einen Zweig, breitete sein Taschentuch über eine der mit dichtem Moos bewachsenen Wurzeln einer vielhundertjährigen Buche und streckte sich behaglich in das Haidekraut.

Der Platz ist wie zum Schlafen gemacht, sprach er bei sich, träumerisch den Libellen zuschauend, die über dem dunklen Wasser des Sumpfes, bald stillstehend, bald pfeilschnell fortschießend, ihr wunderliches Wesen trieben. Wer weiß? Vielleicht ist dies ein Zauberwald, so ein von der Cultur übersehenes Stück Romantik, ein kleiner stehen gebliebener Rest von den großen, großen Wäldern, die in Musäus' Märchen rauschen, von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte, der seine Töchter verkaufte, wenn er die Wechsel am Verfalltage nicht einlösen konnte, – eine Manier, seine Schulden zu bezahlen, die selbst noch heutzutage in Schwung sein soll. Und wer nun in diesem Walde einschläft, wozu ich große Lust verspüre, schläft so ein paar hundert Jährchen, ehe er's sich versieht, und wenn er aufwacht, wallt ihm ein schneeweißer Bart bis zum Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Erstaunen, und er fragt den ersten Bauer, der ihm begegnet, ob er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne? Berkow? antwortet der Angeredete höflich. Habe nie von einem solchen Orte gehört. Ich meine das Schloß im Walde, wo Melitta wohnt! Melitta? aber, guter Herr, das ist ja nur ein altes Märchen. Ein Märchen? Nun gewiß! meine alte Großmutter hat es mir, wer weiß wie oft erzählt. – Vor vielen, vielen hundert Jahren stand in dieser Gegend ein großer Wald; und in dem Walde hauste eine Fee, die hieß Melitta. Sie hatte so wunderschöne lichtbraune Augen, wie ein Menschenkind gar nicht haben kann, und eine honigsüße Stimme, und deswegen nannten die Leute sie Melitta. Sie war die beste und schönste Fee von der Welt und hatte nur die eine kleine Schwäche, von Zeit zu Zeit Jemand in ihren Wald zu locken, damit er sich unter den hohen Buchen und Eichen, von denen die eine immer aussah wie die andere, verirrte. Darüber hatte sie dann ihre Freude. Wenn sie aber so einen armen Schelm verlocken wollte, setzte sie sich auf ihr Pferd Bella (denn an dieser Fee war Alles schön, selbst ihr Pferd), ritt in's Land hinein und suchte unter Männern, bis sie den dümmsten fand. Die hatte sie am liebsten. Den bezauberte sie dann mit ihrer Schönheit, ihrem lieben, holden, neckischen Wesen und ihrer honigsüßen Stimme; und um den Zauber fest zu machen, schenkte sie ihm etwas – eine Rose etwa. Nahm er die nun in seiner Dummheit, so mußte er am nächsten Tage in den Wald, er mochte wollen oder nicht. Da kommt er denn natürlich bald vom Wege ab und läuft die Kreuz und Quer herum, bis er sich endlich am Fuße einer uralten Buche schlafen legt. Und wenn er nun so daliegt und sieht, wie die rothen Sonnenstrahlen in den grünen Zweigen Versteckens spielen und die blauen Libellen Haschens auf dem schwarzen Wasser, und hört, wie es in dem Röhricht flüstert und droben in den Wipfeln der Bäume rauscht, und weht und rauscht – – – Melitta, kommst Du endlich? Steige herab von Deiner Bella! Du siehst ja, daß ich hier festgewachsen bin. O, Du Liebe, Holde, Angebetete! Melitta, Süße! einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und Du willst fort, jetzt fort – aber was ist das? was will die braune Hexe? Nein, nein – Du bist nicht Melitta!

Oswald stützte sich auf den Ellbogen und starrte schlaftrunken in das braune Gesicht, das sich über ihn beugte: Was willst Du von mir?

Nichts Schlimmes, schmucker, junger Herr. Sah den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob schlafend oder todt; ist gefährlich, zu schlafen in dem Wald, am Sumpfesrand, wenn man's nicht gewohnt ist von Kindesbeinen.

Oswald, der sich wieder vollkommen zurechtgefunden hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm stand, genauer und erkannte denn alsbald in ihr eine jener Zigeunerinnen, wie sie hier zu Lande nicht selten, wahrsagend, hausirend, musicirend, bettelnd, gelegentlich auch stehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen. Diese hier mochte nach dem Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten Armen und der straffen Haltung des schlanken hohen Leibes zu schließen, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und Kummer, vielleicht auch schlimme Leidenschaften, hatten arge Verwüstungen in dem einstmals schönen Gesichte angerichtet, den Zügen eine unangenehme Schärfe gegeben, die Augenhöhlen übermäßig vertieft, ja schon hier und da einzelne graue Streifchen in das üppige, blauschwarze Haar gestreut, das mit seinen dicken Flechten ein besserer Schutz für den edelgeformten Kopf war, als der Lappen rothen Zeuges, den sie turbanartig herumgewunden hatte. Ihre Kleidung war sehr ärmlich und vielfach geflickt, ihre Füße nackt. Oswald sah jetzt auch, daß an einem der nächsten Bäume ein wunderlich geformtes Instrument hing und allerlei Geräth umherlag. Ein mit einem rothen Federbusch und einer bunten Decke geschmückter Esel strich langsam durch die Stämme und ließ sich das harte Waldgras vortrefflich schmecken.

Sind Sie ganz allein, gute Frau? fragte Oswald.

Nein, mein Bub' ist bei mir, der Cziko; er ist in den Wald gangen, Wasser zu holen; dies taugt nur für Frösch' und Kröten.

Und wie kommen Sie hierher an diesen abgelegenen Ort?

Kenne den Platz schon seit vielen Jahren. Mache stets hier Rast, wenn ich in diese Gegend komme. Schläft sich billiger im Walde, als in der Dorfschenke, guter Herr.

Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach Berkow zeigen. Ist es noch weit von hier?

Gar nit weit, der Bub', der Cziko, soll Sie führen.

Das Weib legte die Hände an den Mund und ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuschendste nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller Falkenschrei, und nicht lange darauf kam ein Kind herbeigesprungen, das, wie es den Fremden erblickte, scheu und mißtrauisch unter den Bäumen stehen blieb. Einige Worte indessen, ihm von seiner Mutter in einer Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm Muth. Es trat, Oswald das Blechgefäß mit Wasser, das es in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran und sagte: Willst Du trinken, Herr?

Das Gefäß war nicht besonders reinlich, aber der es anbot, viel zu schön, als daß Oswald es hätte zurückweisen können selbst wenn er weniger durstig gewesen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn Jahre alt, aber auch er sah älter aus. Der feuchte Nebelwind, der über die herbstlichen Felder fegt, und der Schneesturm, der durch den Hagedorn saust, hatten alle Jugendfrische von des Kindes wunderbar schönem Gesicht gewischt und den tiefdunklen Gazellenaugen einen Ausdruck halb des Kummers und halb des Trotzes gegeben, daß man nicht ohne Wehmuth hineinschauen konnte.

Mit dem doppelt scharfen Blick der Bettlerin und der Mutter sah das Weib wohl, welch tiefen Eindruck ihr Kind auf den Fremden machte.

Ja, er ist ein braver Bub', der Cziko, sagte sie, flink wie ein Eichhorn und tapfer wie eine wilde Katz', und das Cymbal schlägt er wie Keiner.

Ist das ein Cymbal, was dort am Baum hängt? fragte Oswald, einigermaßen erstaunt, daß dies Instrument noch anderswo, als in Lenau'schen Gedichten existire.

Geh', Cziko, zeig' dem Herrn, was Du kannst, sagte die Frau.

Das Kind nahm das Instrument herab, legte es auf einen Baumstamm zurecht und die Klöpfel ergreifend, begann es, erst langsam, dann schneller und immer schneller hämmernd, eine wunderliche Musik. Sein Herz schien voll von Musik; seine magern, braunen Wangen rötheten sich, die dunklen Augen, die es manchmal träumend zu den Wipfeln erhob, leuchteten. Dann fiel es in ein anderes Tempo und eine andere Melodie, und nach den ersten Tacten begann die Frau, die während dessen unter einem Kessel ein Reisigfeuer entfacht hatte, in tiefer, wohllautender Stimme, an dem Kessel schaffend und ab- und zugehend, eines jener slavischen Volkslieder, deren süß-melodi sche Klage uns Wehmuth in's Herz und Thränen in die Augen lockt. Oswald saß da, den Kopf in die Hand gestützt und hörte und schaute zu, wie im Traum. Es war, als ob die nie zuvor gehörten melancholischen Töne ganz neue Gefühle in ihm wach riefen, ein tiefes Mitleid mit seiner, mit aller Wesen Existenz und doch auch ein Sehnen und Schmachten nach einem unendlichen, namenlosen Glück.

Das Lied war zu Ende. Oswald fuhr empor. Er sah auf seine Uhr. Schon drei Stunden waren vergangen, seitdem er den Wald betreten; er durfte, wollte er noch heute Melitta sehen, keinen Augenblick zögern.

Kann mich der Cziko den Weg nach Berkow führen? sagte er, auf die Frau zutretend und ihr ein paar Geldstücke bietend. Die Zigeunerin strich das Geld aus der flachen Hand, als ob es ihr nur darauf ankomme, die Linien derselben genauer zu sehen, und sie an den Fingerspitzen festhaltend, schien sie eifrig darin zu lesen.

Nun, sagte Oswald lächelnd, da steht wohl nicht viel Gutes?

Viel Gutes, viel Schlimmes, sagte die Zigeunerin, den Kopf schüttelnd.

Das ist meistens so im Leben, sagte Oswald, und worin bestände denn das Gute?

Viel Gutes, viel Schlimmes, wiederholte die Zigeunerin. Jede gute Linie von einer schlimmen durchkreuzt; kann das Gute nicht nennen, ohne das Schlimme.

Nun, so nenne es, wie es kommt, sagte Oswald, der anfing, ungeduldig zu werden.

Viel zum Glück, und doch nicht glücklich, murmelte die Zigeunerin. Männern Feind und Frauen Freund; rasch im Hassen, rasch im Lieben; buntes Leben, früher Tod.

Nun, sagte Oswald, das läßt sich ja noch hören. Aber wie war das mit den Frauen? das interessirt mich.

Viel Gutes, viel Schlimmes, wiederholte das Weib, den Kopf noch tiefer beugend, als sollte ihr auch die feinste Linie nicht entgehen; viel, sehr viel Liebe und doch wenig, ach! so wenig Glück!

Liebe ich jetzt?

Ja.

Und wen?

Eine sehr vornehme, sehr schöne und sehr reiche Dame.

Hm! und liebt sie mich auch?

Mehr, viel mehr, als Du sie!

Und wo steckt denn das Schlimme?

Viel, viel Schlimmes; denn Du kannst nicht treu sein.

Woher weißt Du das?

Die Wahrsagerin zuckte mit den Achseln. Hier steht noch eine Dame und hier noch eine – Du liebst sie alle; das sollte nicht sein; bringt Dir kein Glück.

Aber mit dem bunten Leben und dem frühen Tode hat es doch seine Richtigkeit? Nun denn, so kann ja auch das Unglück so groß nicht sein. Und hier hast Du noch etwas zum Lohn für die gute Kunde.

Danke, nehme nur für das Glück, das ich verkünde, nichts für das Unglück.

Da wundert es mich freilich nicht, daß Sie so arm sind, gute Frau! So nehmen Sie's als Botenlohn für den Cziko.

Die Zigeunerin nahm mit wirklichem oder nur geheucheltem Widerstreben das Geld und rief dem Kinde, das während dieser Zeit fortwährend, in sich versunken, auf seinem Instrument leise phantasirt hatte, in ihrer Sprache ein paar Worte zu. Das Kind sprang auf, trat vor Oswald und sagte: Willst Du kommen, Herr?

Adieu, liebe Frau! sagte Oswald, nicht ohne Theilnahme dem Zigeunerweib in die dunklen, glänzenden Augen schauend; wenn Sie nach Grenwitz kommen, vergessen Sie nicht, nach dem Doctor Stein zu fragen.

Die Frau kreuzte die Arme über dem vollen Busen und neigte sich tief. Oswald ergriff seinen Hut und folgte dem Kinde, das schon hinter den Bäumen fast verschwunden war.

Zwölftes Capitel

Nicht so schnell, Cziko! rief Oswald, den Schooß seines Rockes von den Dornen eines Busches los machend; nimm Rücksicht auf meinen civilisirten Zustand.

Das Kind ging langsamer, hielt sich aber immer in scheuer Entfernung von dem Fremden. Vergebens suchte es Oswald in ein Gespräch zu verwickeln, während er mühsam die Büsche auseinander drückte, durch die der kleine Zigeuner wie eine wilde Katze schlüpfte. So waren sie vielleicht eine Viertelstunde gegangen, als sie plötzlich aus dem dichten Wald in ein Gehölz gelangten, das schon zu dem Parke von Berkow gehören mußte. Reinlich gehaltene Wege, hier und da eine grüne Bank oder eine verwitterte Hermensäule; überall die Spuren ordnender Menschenhand. Dann traten sie auf einen breiteren Fahrweg, der wohl die Fortsetzung desselben Weges sein mochte, von welchem Oswald abgekommen war, und der mit einem eisernen Gitterthor endigte, das unmittelbar auf den Hof des Gutes führte. Cziko blieb stehen, deutete stumm auf das Thor; dann, nachdem er sich vor Oswald mit verschränkten Armen verneigt hatte, sprang er in die Büsche zurück und war im nächsten Augenblicke verschwunden.

Ein geheimnißvoller Anfang, sprach der junge Mann bei sich, während er langsam, fast zögernd auf das Thor zuschritt. Ist es die Nachwirkung der seltsamen Zigeunerwirthschaft, oder die Vorahnung dessen, was mir hier in diesem Schloß der Zauberin begegnen soll – aber mir ist wunderlich zu Muthe. Ich hätte am Ende doch besser gethan, den Wagen, welchen mir gestern der alte Baron anbot, nicht auszuschlagen. Ich wäre dann vielleicht dem Pastor und seiner Primula entgangen, und auf jeden Fall käme ich jetzt, in stattlicher Würde, von den schwerfälligen Braunen gezogen, angefahren, und nicht zu Fuß in bedeutend derangirter Toilette wie ein reisender Handwerksbursch. Ei nun! Kleider machen wohl Leute, aber keine Männer, und Melitta, wenn mich nicht Alles trügt, verkehrt mit Männern lieber, als mit – Leuten.

Er klinkte das unverschlossene Gitterthor auf, und trat in den Hof. Ein mächtiger Neufundländer Hund, der im Grase gelegen hatte, richtete sich langsam empor, als er die Thür in den Angeln kreischen hörte und kam Oswald wedelnd entgegen. Nun, das ist wenigstens ein freundlicher Willkommen! sprach der junge Mann bei sich, während er, das prachtvolle Thier streichelnd, weiter schritt. Rechts blickte er über ein niedriges Stacket in einen blühenden Garten. Mit dem Stacket in einer Linie war die Front des Herrenhauses, eines zweistöckigen schmucklosen Gebäu des, das sich indessen mit seiner altersgrauen Farbe, dem großen steinernen Balcon über der Thür und den zwei gewaltigen Linden davor, recht stattlich ausnahm. Die drei anderen Seiten des geräumigen Platzes waren von den Wirthschaftsgebäuden eingenommen. Ein Stacket und eine Reihe junger Obstbäume war parallel mit dem Wohnhause quer über den Platz gezogen, als Schranke zwischen dem Hofe und dem Rasenplatz vor dem Hause. Oswald blickte, an der Front des letzteren hinschreitend, durch die offenen Fenster in schöne Zimmer. Es war Niemand darin. Er blickte durch die ebenfalls offenstehende Hausthür auf den mit Steinfliesen ausgelegten Flur. Eine große Wanduhr schwatzte in der lautlosen Stille. Auch auf dem Hofe regte sich nichts. Der ganze Platz war wie ausgestorben, nur die Spatzen zwitscherten und lärmten in den Linden, und die Schwalben schossen an den Mauern hin zu ihren Nestern unter dem Dache, die Jungen zu füttern, und schossen ebenso eilig wieder davon.

Es wird Niemand zu Hause sein, dachte Oswald. Du hast den langen Weg vergebens gemacht. Oder kannst Du mir sagen, wo Deine Herrin ist, Neufundländer? Sollen wir einmal im Garten nachsehen?

Der Hund, als ob er es verstanden, was man von ihm wolle, trabte von Oswald fort nach einer Thür, die rechts neben dem Hause in den Garten führte; und blickte, dort stehend, sich nach dem Fremden um.

Also wirklich im Garten?

Oswald drückte die Thür auf. Der Hund lief vor ihm her an Blumenbeeten vorüber in einen schmalen Heckengang bis zu ein paar Stufen, die rechts durch die Hecke auf eine Art Terrasse führten. Dort sah er sich noch einmal nach Oswald um. Dann sprang er die Stufen hinauf. Oswald folgte.

Zwischen hohen blühenden Sträuchen war das Thier verschwunden. Indessen hatte der junge Mann kaum einige Schritte gethan, als sich seinen Blicken ein Bild zeigte, das ihn regungslos an seine Stelle bannte. Er sah auf einen kleinen offenen Platz, der auf beiden Seiten von den hohen Hecken, welche die ganze Terrasse umschlossen, eingerahmt war. In der Mitte schoß ein hochstämmiger, breitästiger Tannenbaum wie eine Lanze machtvoll in die Höhe. An dem Fuße des Baumes auf dem Teppich brauner Nadeln stand ein runder Gartentisch und ein paar Stühle. In einem der Stühle, umflossen von dem weichen, träumerischen Licht des Sommernachmittags, saß Melitta, den Kopf in die eine Hand gestützt, während die andere mechanisch die treue Dogge streichelte, die sich dicht an die Herrin drängte. Sie trug ein weißes Kleid, das in anmuthigen Linien den schlanken Leib umfloß und Busen und Schultern nur zu verhüllen schien, um die schönen Formen desto reizender zu umschreiben. Auf dem Tisch lagen Handschuh, ein breiträndriger Strohhut und ein aufgeschlagenes Buch.

Sie saß so in sich versunken da, daß sie den leichten Schritt Oswald's nicht vernahm, bis er vor ihr stand. Da hob sie schnell den Kopf empor und unterdrückte nur mit Mühe einen Ruf freudigster Ueberraschung, den Mann leibhaftig vor sich zu sehen, mit dem ihre Gedanken soeben beschäftigt gewesen waren. Für einen Augenblick stockte ihr das Blut im Herzen, und dann mit Macht hervorbrechend, übergoß es die bleichen Wangen mit hoher Purpurgluth.

Sieh' da! sagte sie, sich rasch erhebend, und Oswald die Hand entgegenstreckend.

Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte der junge Mann, die schöne zitternde Hand, die jetzt in der seinen ruhte, ehrfurchtsvoll an die Lippen führend, wenn ich unangemeldet –

Aber nicht unerwartet Ihr dolce far niente störe – und so weiter, und so weiter – unterbrach ihn Melitta. Kommen Sie, von Ihnen will ich keine Redensarten hören. Ueberlassen Sie das unsern hohlköpfigen Junkern. Setzen Sie sich und bedanken Sie sich zuvörderst, daß Sie mich überhaupt noch finden. Bemperlein und Julius sind, an Ihrem Kommen verzweifelnd, vor einer halben Stunde auf Besuch in die Nachbarschaft gefahren. So müssen Sie denn mit mir allein vorlieb nehmen. Das ist Ihre gerechte Strafe.

Wenn die Strafe gerecht ist, so ist sie auch auf alle Fälle sehr mild, antwortete Oswald heiter, und ich unterwerfe mich ihr mit der Demuth, die dem reuigen Sünder ziemt.

Sie sehen auch wahrhaftig wie ein reuiger Sünder aus! Aber warum kommen Sie so spät, und –

Und in so derangirter Toilette? Im Ernst, gnädige Frau, ich konnte nicht früher und nicht anders erscheinen. Wenn man, wie ich, den weiten, unbekannten Weg zu Fuß zurücklegt –

Wie kommen Sie aber auch auf diesen närrischen Einfall?

Ich leide sehr an närrischen Einfällen, gnädige Frau.

Da theilen Sie mit mir dasselbe Schicksal. Weiter!

Und wenn man sich unterwegs von einer alten Frau eine Vorlesung über Unsterblichkeit, von einem Landpastor eine Predigt über dasselbe Thema und von dessen geistreicher Gemahlin erzählen lassen soll: was sie den Thieren abgelauscht –

Ach, Sie Unglücklicher! rief Melitta, die Hände zusammenschagend.

Wenn man sich darauf im Walde verirren, am Rand eines Sumpfes einschlafen, bei der Gelegenheit allerlei süßes, närrisches Zeug träumen, beim Erwachen sich von einer Zigeunerin wahrsagen, sich von deren Buben auf den rechten Weg bringen, und bei der An kunft in diesem verzauberten Schloß Niemanden finden soll, der den Fremden zur Chatelaine führt, als diesen liebenswürdigen Hund, der so aufmerksam zuhört, daß man glauben möchte, er verstände unsere Unterhaltung, so werden Sie mir zugeben, daß man mindestens eben so viel Zeit braucht, dies Alles zu thun, als zu erzählen.

Der Hund legte vertraulich den ungeheuren Kopf auf der Herrin Schooß und blinzelte zu ihr empor. Bist mein braver Boncoeur, sagte sie, den Liebling tätschelnd, machst Deinem Namen Ehre. Siehst in Haus und Hof hübsch nach dem Rechten; weißt wohl, daß es außer Dir und dem Baumann doch Niemand thut. – Wissen Sie, daß mich Ihr Zusammentreffen mit der braunen Gräfin, ich meine der Zigeunerin, und der Czika, denn es ist ein Mädchen, wie ich Ihnen zum Ruhme Ihres Scharfsinnes nur sagen muß, sehr interessirt?

Ein Mädchen, der Cziko?

Die Czika, ein Mädchen – verlassen Sie sich darauf; aber wo trafen Sie die Beiden?

Eine Viertelstunde von hier im Walde, bei demselben Zaubersee, an dessen Rande ich eingeschlafen war.

Also doch auf dem Berkower Gebiet – das freut mich.

Sie scheinen sich in der That für die schöne Mutter und die schönere Tochter – ich finde jetzt allerdings, daß das Kind für einen Knaben viel zu schön war – sehr zu interessiren, gnädige Frau. Wie kommt die Zigeunerin zu dem Namen: die braune Gräfin?

Ach! sagte Melitta, das ist eine lange Geschichte und ein Beispiel jener närrischen Einfälle, von denen ich, wie Sie, heimgesucht werde, und die freilich bei mir meistens an das Gebiet der dummen Einfälle streifen. Vor sechs Jahren kam die Isabell zum ersten Male in unsere Gegend. Sie war damals vielleicht zwanzig Jahre – vielleicht, denn genau weiß sie es selbst nicht. Ihr Kind, die Czika, war vier Jahre alt; das wußte sie, denn es war wirklich ihr eigenes Kind und keine gestohlene Prinzessin oder dergleichen.

Woher wissen Sie das?

Aus der frappanten Aehnlichkeit zwischen Mutter und Kind, die Ihnen doch auch aufgefallen sein muß. Beide waren damals bildschön, so schön, wie ich nie wieder etwas gesehen habe. Ich glaube, kein Mensch hätte ungerührt bleiben können bei dem Anblick dieser jugendlichen Mutter mit ihrem prächtigen Kinde, das in seiner wunderlichen Tracht und in seinen üppigen dunklen Locken so gut für einen Knaben wie für ein Mädchen gelten konnte. Ich habe nur auf Murillo's sonnegetränkten, leidenschaftdurchglühten Bildern später etwas Aehnliches gesehen. Ich, die ich die Schwäche habe, mich auf malerische Schönheit verstehen zu wollen, und selbst ein wenig in dieser herrlichen Kunst pfusche, zeichnete und malte damals vom Morgen bis in den Abend Zigeunerköpfe. Ich vergaß nämlich, zu sagen, daß ich die Beiden ein paar Tage lang hier in Berkow festhielt. Zufällig mußte ich damals eine große Gesellschaft geben. Und – jetzt kommt der dumme Einfall – um unserer albernen Sippe einen Possen zu spielen, denn das war doch der eigentliche Grund, kleide ich die Isabell in das prächtigste Kleid, das ich in meiner Garderobe auffinden kann, lasse die Czika von meiner Kammerfrau herausputzen, und präsentire sie der Gesellschaft als Gräfin von Kryvan mit ihrem Töchterchen Czika, die ich im vorigen Jahre in Marienbad kennen gelernt habe und die so eben aus dem fernen Ungarland mich zu besuchen gekommen sei.

Und was sagte die Gesellschaft?

Sie war entzückt. Ich hatte ihr vorher angekündigt, daß Isabella von dem streng nationalen ungarischen Adel sei, der sich das Wort gegeben habe, nie etwas Anderes, wie die Nationalsprache und außerdem nur noch Lateinisch zu sprechen.

Glaubte die Gesellschaft denn das? und versuchten die Herren nicht, eine lateinische Conversation zu beginnen?

Unserer Gesellschaft kann man Alles aufbinden, und was unsere Herren betrifft, so ist lateinisch ihnen spanisch. Isabella, das muß man ihr lassen, füllte ihren Platz auf dem Sopha mit wahrhaft königlichem Anstande aus, und die Griebens, die Trantows, die Bülows überschütteten die Standesgenossin mit Aufmerksamkeiten und bedauerten einmal über das andere ihre Unkenntniß der lateinischen Sprache, die es ihnen unmöglich mache, sich mit der fremden Dame in eine, jedenfalls höchst geistreiche und interessante Conversation einzulassen. Die kleine Czika wanderte von einem Schooß auf den andern, und wurde mit Leckerbissen und Küssen bald erstickt. – Kurz, die Komödie spielte zu meiner größten Zufriedenheit bis zu Ende, und in den nächsten Tagen war die ganze Nachbarschaft voll von der braunen Gräfin, wie man die Freundin Melitta's von Berkow kurzweg zu nennen beliebte. Nun, wie gefällt Ihnen die Geschichte?

Offen gestanden, nur halb, gnädige Frau. Ihrer vornehmen Gesellschaft gönne ich diese Mystification von ganzem Herzen, aber es thut mir weh, wenn ich sehe, wie der Arme und Hülflose, eben weil er arm und hülflos ist, sich zum Spielding der Reichen und Mächtigen hergeben muß.

Melitta sah Oswald voll in die Augen und antwortete, ohne die mindeste Spur von Empfindlichkeit:

Sehen Sie, das ist hübsch, daß Sie so denken; und noch hübscher finde ich es, daß Sie es mir so geradezu sagen. Aber ich habe Ihnen ja von vornherein zu gestanden: es war ein dummer Streich, den ich nachher aufrichtig bereute und dessen böse Folgen ich, soweit ich vermochte, wieder gut zu machen mich bemühte. Denn, hören Sie nur, wie die Sache weiter verlief. Der braunen Gräfin hatte ich natürlich die Sachen geschenkt, die sie und die Czika bei der Komödie getragen. Das arme Weib, das mit dem Plunder nichts anfangen konnte, wollte ihn in der nächsten Stadt verkaufen. Man glaubte, sie habe die Sachen gestohlen, und verlangte, sie solle sich über den ehrlichen Erwerb derselben ausweisen. Sie vermochte es nicht, denn sie hatte meinen Namen und den Namen meines Gutes vergessen, und überdies konnte kein Mensch aus ihrem Kauderwelsch klug werden. Die Herren vom Gericht beschlossen deshalb in ihrer Weisheit, die braune Gräfin als Landstreicherin und Diebin einzusperren, bis sich die Sache auf eine oder die andere Weise aufklären würde. Unglücklicherweise war ich ein paar Tage zuvor in ein benachbartes Bad gereist, und während ich dort die frische Seeluft in vollen Zügen einsog, mußte die Aermste wochenlang in dem dumpfen Gefängnisse schmachten. Ach! und diesen Leuten ist die Freiheit Alles! Sehen Sie, das werde ich mir nie vergeben! – Erst nach meiner Rückkehr erfuhr ich durch einen Zufall das Unglück, welches ich angerichtet hatte. Natürlich that ich sofort die nöthigen Schritte. Ich fuhr selbst nach B. und öffnete den Ker ker meiner armen braunen Gräfin. Aber, wie fand ich sie wieder! Bleich, abgemagert, verhärmt, um so viele Jahre gealtert, als sie Wochen gefangen gesessen hatte. Die kleine Czika sah womöglich noch schlimmer aus. Ich nahm sie mit hierher nach Berkow; ich pflegte sie, ich tröstete sie, ich beschenkte sie, ich that, was ich konnte. Aber die Reue kam hier, wie überall, zu spät. Der kleinen Czika war die Kerkerluft bis in's Herz gedrungen. Sie verfiel, kaum hier angekommen, in ein hitziges Fieber, und ich danke Gott noch heute, daß sie mit dem Leben davon kam. Was hätte ich anfangen sollen, wenn sie gestorben wäre!

Melitta schwieg und in ihrem Auge glänzte etwas, wie eine Thräne. Aber im nächsten Momente lachte sie schon wieder und sagte:

Nun, sie starb ja nicht, sondern wurde wieder munter und frisch wie vorher, und spielte sich mit meinem Julius hier wieder helle Augen und rothe Backen. Die Kinder hatten sich sehr lieb gewonnen, und ich hätte die Kleine gar zu gern hier behalten, sie mit Julius zusammen erziehen zu lassen. Das Kind zeigte die köstlichsten Anlagen, besonders ein überraschendes Talent für Musik. Die braune Gräfin wollte ich zu meiner Kammerfrau machen, oder wozu sie wollte. Ich stellte ihr frei, ihr Leben nach Belieben einzurichten, und bat sie nur, zu bleiben. Aber es war die alte Geschichte von dem Frosch und dem goldenen Stuhl. Ein paar Wochen hielt sie das zahme Leben aus; und eines schönen Morgens war sie verschwunden – sie und die Czika. Später sind sie wiederholt in diese Gegend gekommen, aber hierher zu mir kommen sie nicht mehr. Die Isabell grollt mir entweder noch, oder sie ist eifersüchtig auf mich und fürchtet, ich werde ihr die Czika stehlen. Und doch muß sie einsehen, daß ich es gut mit ihr meine. Die Leute im Dorf haben Befehl, ihr, wenn sie vorspricht, jede Gefälligkeit zu erweisen; der Förster hat den Auftrag, sie unbelästigt im Walde zu lassen, und ich versage mir das Vergnügen, sie aufzusuchen, weil ich fürchte, sie ganz zu verscheuchen. Das ist meine Geschichte von der braunen Gräfin. Sind Sie mir noch bös?

Welches Recht hätte ich dazu?

Nun, Sie machten vorhin ein so finsteres Gesicht, daß ich mich ganz als arme Sünderin fühlte.

Sie belieben zu scherzen. Was kann Ihnen an meinem Urtheil gelegen sein?

Mehr, als Ihre jedenfalls halb erkünstelte Bescheidenheit zu glauben vorgiebt. Eine Frau hält stets große Stücke auf eines Mannes Urtheil, weil sie instinctiv fühlt, daß des Mannes Kopf besser, das heißt nicht schneller, aber gründlicher, sicherer denkt, als ihr leichtsinniges Frauengehirn. Und vor Euch gelehrten Herren haben wir noch einen ganz besonderen Respect. Ihr habt Alle um die Augen und um die Mundwinkel herum so etwas Mystisches, Unergründliches, so etwas –

Oswald mußte laut auflachen.

Ja, lachen Sie nur. Ihnen mag das nicht so erscheinen; aber wir fürchten uns vor Eurem Wissen, auch wenn wir Einen oder den Andern unter Euch, der gutmüthig genug ist, sich dazu herzugeben, zur Zielscheibe unseres Spottes machen. Da ist mein Bemperlein, mein guter, treuer Bemperlein. Nun, er ist wahrhaftig kein Genie, und kennt die Welt gerade so gut, wie ich das Griechische; und dennoch ziehe ich, wenn wir uns streiten, jedesmal den Kürzeren. Das ist doch ärgerlich. Nehme ich dagegen unsere Landjunker. Es sind hübsche, sehr hübsche Männer darunter, die in Landwehrlieutenants-Uniform sich mit ihren blonden Schnurrbärten, sonnengebräunten Gesichtern und hellen blauen Augen prächtig ausnehmen; aber in Civil sehen sie dumm aus. Sie haben das Stupide, Leblose von schönen Pferde- und Hundegesichtern. Der einzige von ihnen, der studirt hat, sieht aus, als wäre er aus einer andern Welt.

Wer ist dieser Phönix?

Baron Oldenburg.

Ein Schatten fiel über Melitta's lebensvolles Antlitz, wie wenn eine Wolke über eine sonnenhelle Landschaft jagt. Sie starrte auf ein paar Augenblicke vor sich hin, wie wenn sie den Faden des Gesprächs verloren hätte. Dann, wie aus einem Traum erwachend:

Ja, was ich sagen wollte – und darum will ich, daß mein Julius studirt. Aber ich schwatze und schwatze und frage nicht einmal, ob Sie nicht hungrig und durstig und müde sind, wozu Sie doch nach Ihren Kreuz-und Querfahrten das vollkommenste Recht haben. Kommen Sie, wir wollen hineingehen und sehen, ob wir nicht Jemand auftreiben können, der uns einige Erfrischungen besorgt. Mich verlangt ebenfalls danach, denn es fällt mir ein, daß ich eigentlich nichts zu Mittag gegessen habe. Sind Sie noch gar nicht in dem Hause gewesen?

Doch, wenigstens in dem Hausflur. Ich fragte eine große Wanduhr, ob ich Frau von Berkow meine Aufwartung machen könne, aber sie antwortete: Schnick-Schnack, Schnick-Schnack! Da ging ich wieder fort!

Melitta hatte sich erhoben und ihren Strohhut aufgesetzt, ohne sich weiter um die Bänder zu kümmern, von denen das eine über den Busen, das andere über den Rücken lief, und sagte lächelnd, während Oswald im Aufstehen das Buch ergriffen und nach dem Titel gesehen hatte:

Für Sie spricht auch wohl jedes Ding seine Sprache?

So ziemlich. Dies Buch zum Beispiel sagt mir: Frau von Berkow könnte mich auch ungelesen lassen, da es so viel bessere Bücher zu lesen giebt.

Ja, du lieber Himmel, wir auf dem Lande lesen, was uns die Leihbibliothekare und die Buchhändler zu schicken belieben. Aber, was haben Sie gegen diese Mystères?

Erstens ärgere ich mich, daß ich auf das Buch stoße, wo ich gehe und stehe. In Grünwald lag es auf jedem Tisch; kaum war ich zwei Tage in Grenwitz, verfolgte es mich auch dahin, und nun muß ich es auch gar bei Ihnen finden. Ich habe es nicht bis über den zweiten Band hinaus bringen können, und Sie sind zu meinem Erstaunen schon im vierten. Wie können Sie sich für diesen Chourineur, diesen Maître d'école, diese Chouette, und wie das Gesindel sonst noch heißt, interessiren? Wahrlich, doch kaum so viel, wie für Bestien in der Menagerie. Denn diese sind doch wenigstens Gottes Geschöpfe, während jene nur die Ausgeburten der wüsten Phantasie eines verbrannten Dichtergehirns sind.

Sie mögen recht haben, sagte Melitta, während sie jetzt von der Terrasse in den Garten hinabstiegen. Es ist vielleicht ein Unglück, daß solche Bücher geschrieben werden, und ein noch größeres Unglück, daß wir, und besonders wir Frauen, in unserer Erziehung und Bildung so verwahrlost sind, um an diesen Büchern doch eine Art von Geschmack zu finden. Uebrigens nehme ich Alles, was Sue von jenem Gesindel erzählt, auf Treu und Glauben hin, wie die Berichte eines überseeischen Reisenden von den Wundern, die er zu Wasser und zu Land erlebte, um so mehr, als er die Sphären der Gesellschaft, die ich kenne, zum Theil sehr wahr, sehr treu schildert.

Ist etwa Rudolphe, Grand Duc régnant de Gerolstein, auch nach dem Leben?

Das weiß ich nicht, aber so viel weiß ich, daß Geschichten, wie die des Marquis d'Harville und seiner Frau so oder ähnlich alle Tage im Leben vorkommen.

Oswald antwortete nicht; es fiel ihm ein, was er über das Verhältniß Melitta's zu ihrem Gemahl gehört hatte, wie Herr von Berkow nun schon seit sieben Jahren in unheilbarem Wahnsinn lag. Eine Ahnung der trauervollen Scenen bis zum Hereinbrechen der furchtbaren Katastrophe überkam ihn; es that ihm weh, daß unversehens an den Vorhang eines so dunkeln Familiendrama's gerührt hatte. Aber zugleich erfaßte ihn eine unendliche Theilnahme für die reizende Frau, die hier in dieser grünen Wildniß die schönsten Jahre ihres Lebens einsam vertrauern sollte. Was hilft ihr Jugend, Schönheit und Reichthum ohne Liebe! und wird sie wohl so geliebt, wie sie geliebt zu werden verdient, und sie geliebt zu werden wünscht, sie, durch deren sanfte, schmachtende Augen man in unergründliche Tiefen von Zärtlichkeit und Leidenschaft blickt?

Während Oswald so das Schicksal der schönen Frau beklagte, fühlte er, wie ein Quell schmerzlich süßer Gefühle warm aus seinem Herzen hervorbrach, und es bald bis zum Zerspringen füllte. Mit tiefen Athemzügen sog er die weiche, blumenduftgetränkte, warme Luft des üppig blühenden Gartens ein. Wollüstige Schatten erfüllten die lauschigen Boskets; träumerisch lag der Nachmittagssonnenschein auf den grünen Rasenplätzen; in den dichten Kronen der Bäume jubelten die Vögel, Schmetterlinge wiegten sich über den sonnentrunkenen Blumenwäldern der Beete.

Langsam wandelten die schlanken Gestalten durch das grüne Revier, oft still stehend, hier einen Rosenbusch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke prangte als seine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen zuzuschauen, das sich lustig von Ast zu Ast und von Zweig zu Zweig schwang. Immer mehr überkam Oswald das Gefühl, als wandele er in einem herrlichen Traum; als träume er nur diesen Sonnenschein, diesen Blumenduft, diesen Vogelgesang; als träume er nur Melitta's süße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen – und auch Melitta war es, als ob sie heute mit ganz anderen Augen sehe, mit ganz anderen Ohren höre. Der fremde Mann, den sie durch ihre Besitzung führte, war ihr so vertraut, als kenne sie ihn schon seit vielen, vielen Jahren, als habe sie ihn immer gekannt; und was sie seit Jahren tagtäglich gesehen, erschien ihr jetzt beinahe fremd. Ihr Herz, das seit Jahren nur mit oberflächlichen Neigungen, mit leeren Coquetterien hingehalten war, schmachtete nach einer wahren, tiefen Leidenschaft; und sie fand die halb erfurchtsvollen, halb kühnen, aber immer aufrichtig bewundernden, zärtlich liebkosenden Blicke, mit denen der junge Mann an ihr hing und sie wie mit einem unsichtbaren Zaubernetz, dessen Maschen sich dichter und immer dichter woben, umspann, viel zu süß, als daß sie dem, der ihr dies süße Glück gewährte, nicht von Herzen hätte dankbar sein sollen.

Sie fühlte sich unsäglich glücklich, und dennoch ernster gestimmt, als es wohl sonst ihre Gewohnheit war. Der Sturm der Leidenschaft, der in ihrer Seele langsam heraufzog, warf schon seine dunkeln Schatten über ihr sonnenhelles Gemüth, und sein erster Anhauch zerriß den leichten Schleier, den die Zeit mühsam über so manches düstre Bild vergangener Tage gewebt hatte. Während Oswald den Bildungsgang, den er für Julius am geeignetsten hielt, entwarf, dabei auf sein eigenes Leben zu sprechen kam, und die schöne Frau, gleichsam als ein Zeichen seiner Liebe und Verehrung, so manchen Blick in das tiefgeheimste Leben seiner Seele thun ließ, fühlte sie sich mehr wie einmal auf das sonderbarste ergriffen. Manche Gedanken, die der junge Mann in seiner lebhaften Weise mit gefälliger Beredtsamkeit vortrug, hatte sie, oft fast in denselben Worten, schon früher einmal gehört von einem Manne, der ihr sehr theuer gewesen war, dessen dämonische Natur ihren regen Geist angelockt und gefesselt, und dessen rauhe Schroffheit ihren weichen Sinn abgestoßen und beleidigt hatte. Hier fand sie die Rosen wieder, an deren üppigem Duft sie sich damals berauscht, aber ohne die Dornen; hier fand sie, was sie dort so schmerzlich vermißt hatte: Schönheit der Formen, Grazie der Bewegung und Anmuth der Rede.

Dreizehntes Capitel

Im eifrigen Gespräch in den Gängen zwischen den Beeten auf- und abwandelnd, wurden sie an ihre Absicht, in das Haus zu gehen, erst erinnert, als sie sich demselben zum zweiten Male näherten. Sie traten durch die offene Thür in einen Saal, dessen harmonische Verhältnisse und einfache, geschmackvolle Decoration auf Oswald sofort den angenehmsten Eindruck machten. Die hohen Kastanienbäume, unmittelbar vor den Fenstern, hielten den Raum kühl und schattig. Das gedämpfte Licht that dem Auge wohl nach dem verschwenderischen Sonnenschein draußen im Garten. Bequeme Sessel in mancherlei Formen und Größen, amerikanische Rocking-chairs, französische Causeusen, ein großer Flügel, Tische mit Büchern und Bilderwerken bedeckt, hier und da in dem weiten Gemache schicklich vertheilt, gaben demselben bei allem Reichthum etwas ungemein Wohnliches, das auf das liebenswürdigste mit der steifstelligen Ordnung, die in dem Innern des Schlosses Grenwitz herrschte, contrastirte.

Ich bin doch neugierig, ob Jemand auf mein Klingeln kommen wird, sagte Melitta, ihren Hut auf den Tisch werfend und nach der Klingelschnur gehend. Unmöglich ist es gar nicht, daß wir uns höchstselbst in die Speisekammer werden verfügen müssen, notabene, wenn wir den Schlüssel auftreiben können.

Sie klingelte und wandte sich wieder zu Oswald, der eines der Marmorbilder, welche die Wände des Saales schmückten, betrachtete.

Wie finden Sie diese Maske?

Sehr schön; es ist die Rondanini'sche Meduse.

Ah! ich sehe, Sie sind ein Kenner.

Höchstens ein Liebhaber. Ich habe in der Residenz oder sonst wo manches gesehen; meistens freilich nur Gypse. Seit meinen Knabenjahren war es mein sehnlichster Wunsch, einmal in das gelobte Land Italien zu wallfahren, um dem hohen Gott Apollo von Belvedere persönlich meine Huldigung darbringen zu können.

Nun, das ist doch kein so unbescheidener Wunsch.

Wenn es unbescheiden ist, zu wünschen, was uns nicht beschieden – doch.

So wäre es unbescheiden, daß wir etwas zu vespern wünschen, denn das scheint uns auch nicht beschieden; sagte Melitta mit komisch-klagendem Ton. Aber wird uns nicht oft gerade etwas beschieden, weil wir es lebhaft, heiß, unbescheiden wünschen? Das Schicksal gewährt uns unsern Wunsch, wie eine Mutter dem bettelnden Kinde das Stückchen Kuchen, nur, um uns los zu werden.

Das Schicksal ist kein launisches Weib, sondern ein harter felsenherziger Gott, und wenn wir etwas von ihm haben wollen, müssen wir es ihm abtrotzen.

Das ist es für Euch Männer, und vielleicht ist es gut, daß dem so ist – Ihr würdet sonst zu übermüthig. Wir Frauen aber – Du lieber Himmel, was sollte aus uns werden, wenn wir uns das bischen Glück ertrotzen sollten. Wir legen uns lieber auf's Bitten und Betteln, und wenn wir eben alle Hoffnung aufgeben wollen und ganz am Glück verzweifeln – dann, gerade dann – sehen Sie, da kommt der Baumann und mit ihm die Aussicht auf unser Vesperbrod.

Die Thür öffnete sich und die Gestalt eines langen, hagern Mannes, dessen altem, runzligen Gesichte mit den buschigen Augenbrauen eine tiefe Narbe, die über die kahle Stirn am Auge vorbei bis tief in die Wange lief, und ein langer eisgrauer Schnurrbart etwas ungemein Martialisches gaben, erschien auf der Schwelle.

Gnädige Frau? sagte er mit einer Stimme, die aus einer tiefen Höhle zu kommen schien.

Ach, Baumann, es sind wohl außer Ihm Alle ausgegangen?

Zu Befehl.

Das habe ich aber gar nicht befohlen. Wo ist die Mamsell?

Drüben in Faschwitz.

Und der Johann?

Bei Försters.

Und die Mädchen?

Im Dorf.

Bester Baumann, wir möchten gern etwas Abendbrod haben.

Zu Befehl.

Kann Er uns denn etwas verschaffen?

Schwerlich.

Oder wenigstens den Speisekammerschlüssel auftreiben?

Wird sich kaum bewerkstelligen lassen.

Lieber guter Baumann, seh' Er doch einmal zu, was sich thun läßt.

Zu Befehl.

Damit machte die seltsame Gestalt Kehrt und marschirte wieder zur Thür hinaus.

Nun, was sagen Sie zu meinem maître d'hôtel?

Daß der Mann auf jeden Fall ein Original ist; aber weshalb hat er mich so unverwandt mit seinen alten klugen Augen angesehen?

Melitta lachte.

Sie müssen wissen, daß der alte Baumann schon Diener bei meinem Vater war, in dessen Regiment er die Feldzüge gegen Napoleon mitmachte. Er hat mich, als ich ein Kind war, auf seinen Knieen geschaukelt, mich nimmer seitdem verlassen und wird mich nicht verlassen, bis ich sterbe oder er stirbt.

Zweimal hat er mir das Leben gerettet, und, ohne daß ich es wollte oder wußte, im Stillen jeden Schmerz mit mir getheilt, ich möchte sagen, auch jede Freude. Wenn ich zu ihm spräche: Baumann, Er muß morgen für mich nach Australien reisen, so würde er sagen: zu Befehl! würde über Nacht seine Sachen packen und vor Sonnenaufgang schon unterwegs sein; und wenn ich sagte: es ist nicht anders, Baumann, Er muß für mich sterben, so und so – er würde sagen: zu Befehl! und nicht mit den grauen Wimpern zucken; aber wenn ich zu ihm sagte: hören Sie, Baumann, statt: höre Er, Baumann – so würde er das für eine Aufkündigung unserer Freundschaft halten. Jetzt ist er böse, daß ich ihm nicht gesagt habe, wer Sie sind. Weiß er das, und weiß er, daß ich Sie gern bei mir sehe, dann ist er zufrieden. Nun passen Sie auf, was geschieht. Er kommt zurück und sagt uns, daß er schlechterdings nichts für uns thun könne. Darauf gebe ich ihm die gewünschte Auskunft, und mache Miene, selber zu gehen. Dann wird Friede geschlossen. Sie müssen ihn aber gütig ansehen, wenn ich von Ihnen zu ihm spreche.

Keine Sorge, gnädige Frau: ich will so freundlich und mild lächeln, wie ein Engel von Guido Reni.

Abermals öffnete sich die Thür. Der alte Diener erschien, marschirte in das Gemach, blieb genau auf demselben Platze wie das erste Mal stehen und sagte, wiederum Oswald fixirend:

Keine Menschenmöglickeit nicht, gnädige Frau.

Aber Baumann, das ist ja jammerschade. Der Herr Doctor Stein ist eigens aus Grenwitz, und noch dazu zu Fuß herübergekommen, um mit Herrn Bemperlein über Julius zu sprechen. Und nun sind die Beiden fortgefahren, und wir können ihm nicht einen Bissen, nicht ein Glas Wein vorsetzen; und ich selbst habe heute Mittag, wie Er selbst gesehen hat, gar nichts gegessen und komme nun bald um vor Hunger.

Oswald mußte sich sehr zusammennehmen, daß sich das ihm anbefohlene Lächeln nicht in ein schallendes Gelächter verwandelte, als er sah, wie die Miene des alten Mannes bei jedem Worte, das Melitta sprach, heller und heller wurde, wie er den vorher auf den Gast fixirten Blick von diesem zu jener, von jener zu diesem wandte, als wollte er sagen: Na, seht Ihr, junges Volk, daß Ihr ohne den alten Baumann nicht fertig werden könnt! und zuletzt sagte:

Nun, was den Kellerschlüssel anbetrifft, so habe ich selbigen wie immer in meiner Tasche, gnädige Frau.

Ja, das ist ja auch wahr, und wie ist es mit dem Speisekammerschlüssel?

Eine Menschenmöglichkeit ist es noch, daß Mamsell ihn wieder unter den Abstreicher gelegt hat, trotzdem ich sie schon oft dieserhalb verwarnt habe.

Will Er denn einmal nachsehen, Baumann?

Zu Befehl.

Sobald sich die Thür hinter dem alten Manne geschlossen hatte, warf sich Melitta lachend in einen Schaukelstuhl.

Habe ich es nicht gesagt? rief sie, sich hin- und herwiegend, lustig wie ein Kind, das seinen Willen durchgesetzt hat; habe ich es nicht gesagt?

Oswald hatte sich ihr gegenüber an den großen runden Tisch gesetzt, auf dem ein aufgeschlagenes Album und allerlei Zeichenmaterialien lagen. Seine Hand spielte mit einer Bleifeder, während er Melitta, in Gedanken verloren, anschaute.

Wollen Sie mich zeichnen?

Ich wollte, ich könnte.

Warum nicht, da liegt mein Album.

Das hilft mir nichts. Lehren Sie mich erst die Kunst, unmittelbar mit den Augen malen zu können.

Sehen Sie, das ist gerade, was ich immer wünsche. Wie oft, wenn mich eine Landschaft, eine Gestalt, ein Gesicht interessiren, denke ich: jetzt mußt du's treffen, und will ich nun auf das Papier bannen, was mir so klar vor den Augen steht, wird's eine Stümperei.

Ich bin überzeugt, Ihr Album wird das Gegentheil beweisen; darf man es besehen?

Nein, man darf es nicht; aber Sie dürfen es. Im Grunde hat es nur Werth für mich; denn für mich steht nicht nur das darin, was ich gezeichnet habe, sondern auch, was ich habe zeichnen wollen. Ueberdies ist mir mein Album eine Art von Tagebuch. Dieses hier werde ich kurz vor meiner italienischen Reise angefangen haben.

So waren Sie in Italien?

Vor zwei Jahren mit meinem Vetter Barnewitz und seiner Frau. Ich wollte, Sie wären auch von der Partie gewesen; einmal Ihrethalben, denn Sie sind es werth, Italien zu sehen, und sodann meinethalben, die ich dann hoffentlich nicht allein, oder in Begleitung von Wachspuppen durch die herrlichsten Gegenden und die reichsten Galerien hätte wandern müssen. Damals, wie stets, war es das Album, dessen geduldigem Papier ich Alles sagte, was sonst Niemand hören wollte.

Melitta hatte sich erhoben und sich neben Oswald gestellt, der aufstehen wollte, ihr einen Stuhl heranzurücken. Sie aber, ihn daran zu verhindern, legte die Hand leicht auf seinen Arm und ließ sie dort ein paar Augenblicke ruhen, – ein paar Augenblicke, und doch lange genug, daß Oswald's Hand zitterte und seine Stimme bebte, als er jetzt, die ersten Blätter umwendend, sagte:

Diese Skizzen sind noch vor der italienischen Reise gezeichnet. Hier ist der geheimnißvolle Teich, an dessen Rand ich heute Nachmittag geschlafen und geträumt habe.

Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie geträumt haben.

Doch, ich sagte Ihnen ja: süßes, närrisches Zeug.

Von einer Dame natürlich?

Ja.

So wäre es indiscret, mehr wissen zu wollen.

Ach, wie reizend! rief Oswald, als er das nächste Blatt umschlug. Wie heimlich versteckt liegt dieses Häuschen im Walde! Gleich treuen Riesenwächtern umstehen es die alten Fichten. Wie eine schützende Gottheit breitet die Buche ihre mächtigen Aeste darüber hin. Als wollten sie sagen: Du bist unser! klettern die Schlingpflanzen daran hinauf und schaukeln sich vor den niedrigen Fenstern. Und wie träumerisch schleicht der Bach zwischen hohen Binsen und Farrenkräutern hier durch die saftige Wiese im Vordergrund! – das ist wunderschön gedacht, sagte Oswald, von dem Blatt zu Melitta emporblickend.

Und weil Sie Alles so hübsch nachempfunden haben, so will sich Sie noch heute an Ort und Stelle führen.

Wie? so ist dies keine Phantasie?

Bewahre! höchstens die Enten hier, die sich vor dem Habicht in die Binsen ducken. Das Bächlein ist der Abfluß Ihres geheimnißvollen Sees im Walde.

Also nur eine Fortsetzung meines Traumes, sagte Oswald weiterblätternd.

Ein loses Blatt kam ihm zunächst in die Hände. Der Kopf eines Mannes im Profil war in schönen, kühnen Linien darauf gezeichnet. In einer Ecke standen die Buchstaben A.v.O. und ein Datum.

Das Blatt wird verloren gehen, sagte Oswald.

Mag es! antwortete Melitta.

Der Ton, in welchem sie diese beiden Worte sprach, war so eigenthümlich, so ganz ohne die gewöhnliche Süßigkeit ihrer Stimme, daß Oswald unwillkürlich zu ihr aufschaute. Er sah, daß ihre schönen Brauen wie im Schmerz zusammengezogen waren und ihre Lippen zuckten. Er senkte sogleich seinen Blick und wollte das Blatt umschlagen. Melitta legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte leise:

Wie finden Sie den Kopf?

Ein Sturm brauste durch Oswald's Seele. Er hätte sich von dem Sessel zu Melitta's Füßen werfen und ausrufen mögen: ich liebe Dich ja, Melitta! Wie kannst Du mein Urtheil hören wollen über den Mann, den Du geliebt hast, vielleicht noch liebst ... Aber er bezwang sich und sagte mit scheinbarer Ruhe:

Es ist der Kopf eines Mannes, auf den mir Tasso's Worte zu passen scheinen:

Und haben alle Götter sich vereinigt, An seiner Wiege Gaben darzubringen, Die Grazien sind leider ausgeblieben –

Dieser Mann wird niemals glücklich sein, weil er niemals wird glücklich sein wollen.

Und darum, sagte Melitta, ist dieser Mann aus meinem Leben losgelöst, wie dies Blatt aus dem Album. Wenn man die Erinnerung tödten könnte, wie man ein Blatt vernichten kann, so läge es nicht mehr hier. Da das aber nicht geht, so mag es bleiben, wo es ist. Weiter!

Der Sturm in Oswald's Seele war vorübergebraust. Wie lindes Wehen des Frühlings überkam ihn der Gedanke: Sie könnte und würde dir das nicht sagen, wenn sie dich nicht ihres Vertrauens und ihrer Freundschaft für würdig erachtete. Und ein Gefühl unsäglichen Glücks durchbebte ihn bei diesem Gedanken.

In dieser seligen Stimmung durchmusterte er die folgenden Blätter, die Melitta auf ihrer italienischen Reise gezeichnet hatte: Landschaften mit heiteren klaren Linien, Skizzen aus Städten: Paläste, Straßen, Ruinen, zwischendurch ein keckes Lazzaronigesicht oder ein träumerisches Mädchenantlitz. Dann folgten Studien nach der Antike, zum Theil sehr fleißige Studien, denn Manches war wieder und wieder gezeichnet, bevor es dem regen Schönheitssinn Melitta's genügt hatte. Besonders schön war der Kopf der Venus von Milo. Auf einem der nächsten Blätter war die ganze Gestalt.

Wo haben Sie das gezeichnet? fragte Oswald; doch unmöglich nach einer Copie?

Nein, nach dem Original selbst. Ich war damals in Italien eine halbe Katholikin geworden, und als ich in Paris im Louvre die hohe Gestalt sah, da sagte ich zu mir: diese oder keine ist deine Heilige. O, Sie glauben nicht, wie schön sie ist! wie schön und wie gut! und dieser Ausdruck himmlischer Güte, den die Milonische Venus nicht nur vor allen anderen Venusbildern, sondern auch vor sämmtlichen antiken Köpfen voraus hat, rührte mich fast noch mehr als ihre göttliche Schönheit. Vor der Milonischen Venus habe ich es zum ersten Male begriffen, wie es möglich sei, vor einem Bilde, das Menschenhand geschaffen, zu beten, aufrichtig, inbrünstig zu beten. Warum stützen Sie den Kopf so nachdenklich in die Hand? Hier, nehmen Sie diesen Bleistift und schreiben Sie mir unter das Bild, was Sie eben gedichtet haben; denn ich habe es Ihnen angesehen, daß Sie Verse machten.

Oswald nahm den Griffel, den ihm Melitta halb im Scherz und halb im Ernst bot, und schrieb, während die schöne Frau ihm über die Schulter blickte, mit zitternder Hand:

Fern zu Paris, im hohen Louvresaale, Inmitten all' der göttlichen Gestalten, Der marmorschönen, ach! und marmorkalten, Da thront sie hoch auf dem Piedestale; Sie, die im stillverschwieg'nen Bergesthale, Als träumerisch die duft'gen Nebel wallten, Anchises einst in seinem Arm gehalten, Bis sie entschwand im ersten Morgenstrahle. Die Göttin starb. Man fand die schöne Leiche, Und trug sie still in heil'ge Tempelhallen; So herrscht die Todte nun im Todtenreiche. Und, keinem, keinem von den Gläub'gen allen Neigt gütig sie das Angesicht, das bleiche; Taub bleibt ihr Ohr für frommer Beter Lallen.

Oswald legte den Griffel aus der Hand und schaute zu Melitta empor. Sein Blick begegnete dem ihrigen. Für ein paar Momente ruhten ihre Augen in einander, als ob sie Eines in des Andern Seele lesen wollten.

Da erschien in der Thür zum Nebenzimmer, aus dem man schon seit einiger Zeit das Klappern von Tellern gehört hatte, der alte Baumann mit einer Serviette unter dem Arm und sagte feierlich, wie der Comthur im Don Juan:

Gnädige Frau, es ist angerichtet.

Schnell, kommen Sie, ehe unser Habermus kalt wird, rief Melitta.

Nur noch die paar Blätter erlauben Sie, sagte Oswald; ich sehe, es ist gleich zu Ende.

Es ist nichts von Bedeutung mehr darin, sagte Melitta fast ungeduldig.

Ei, da ist ja der Park von Grenwitz, rief Oswald, indem er, vom Sessel sich erhebend, das letzte Blatt aufschlug. Der Rasenplatz hinter dem Schlosse. Hier die Flora, dort Bruno im vollen Lauf –

Und hier sind Sie!

Wo?

Dort.

Dieser Nebelstreif? sagte Oswald, auf eine Stelle rechts neben der Flora deutend, wo man von einer Figur, die mit Gummi wieder weggewischt war, noch eben die Umrisse erkennen konnte.

Dieser Nebelstreif! antwortete Melitta lachend. Ich wollte Sie erst in Ihrer wirklichen Gestalt zeichnen, konnte aber nicht damit zu Stande kommen. Jetzt sollen Sie als Erlkönig figuriren, der den Knaben Bruno hascht; das heißt Bruno's Leib, denn seine Seele gehört Ihnen schon. Wie haben Sie es nur angefangen, den jungen Leoparden in den paar Tagen vollständig zu zähmen?

Durch ein Bischen aufrichtige Liebe. Shakespeare nennt als untrügliches Mittel, die Menschen zu fangen, die Schmeichelei; ich finde, daß die Liebe ein noch viel sicheres und dabei viel edleres ist.

Und ist nicht die Liebe die größte Schmeichelei?

So sprachen Oswald und Melitta, während sie in das Nebenzimmer gingen, ein hohes, schönes, mit alterthümlichen Möbeln ausgestattetes Gemach, in dessen Mitte auf einem runden Tischchen allerlei Erfrischungen gar einladend servirt waren. Hinter dem einen der reichgeschnitzten, hochlehnigen Stühle stand kerzengerade, die Serviette unter dem Arm, der alte Baumann, einer Anerkennung seiner ausgezeichneten Verdienste und fernerer Befehle gewärtig.

Nun, was bietet uns denn unser Tischlein-decke-dich? sagte Melitta, sich setzend, und Oswald mit einer Handbewegung einladend, ihrem Beispiele zu folgen.

Kalten Braten – Eingemachtes – ganz charmant, Baumann! Mamsell wird sich ärgern, daß wir ohne sie fertig geworden sind.

Mamsell ist vor einigen Minuten von Faschwitz retournirt, sagte Baumann, der an einem Nebentisch eine Flasche entkorkte.

Ich wette, sie ist gar nicht fortgewesen, flüsterte Melitta lächelnd Oswald zu. Was haben wir denn für unsern Gast zum Trinken, Baumann?

Steinberger Cabinet, zweiundvierziger, sagte Baumann, Oswald's Glas mit dem goldigen Weine füllend.

Und für mich?

Frisches Brunnenwasser, etwa mit Himbeersaft, antwortete Baumann kaltblütig, die Flasche mit dem Stöpfel darauf vor Oswald hinstellend.

Damit bin ich heute schlechterdings nicht zufrieden, Baumann! Wie steht es denn mit unserm Champagner?

Rein alle, gnädige Frau.

Aber wir haben ja doch neulich erst eine Kiste bekommen?

Steht noch nietennagelfest im Keller.

Ach, das ist ja jammerschade, klagte Melitta. Und ich komme fast um vor Durst, und muß nun gerade heute ein solches Verlangen nach Champagner haben.

Nu, nu, tröstete Baumann, wird sich ja noch bewerkstelligen lassen.

Damit schritt er zur Thür hinaus.

Sehen Sie, so muß ich mir in meinem eigenen Hause Alles zusammenbetteln, sagte Melitta, aber Sie essen ja nicht! Und was für ein Stück Sie sich da genommen haben! Das schlechteste auf dem ganzen Teller. Gott, was seid Ihr Männer doch für hülflose, unpraktische Geschöpfe! Ich merke schon, daß ich für Sie sorgen muß.

Und sie begann trotz Oswald's Versicherung, daß er gar keinen Hunger habe, seinen Teller mit dem Besten, was sie auf dem Tisch entdecken konnte, zu füllen.

Es schmeckt Ihnen nicht, sagte sie endlich fast traurig, als sie sah, daß der junge Mann selbst jetzt die Speisen kaum berührte. Sie sind krank?

Ich befand mich im Leben nicht wohler. Aber sind Sie nie in der Stimmung gewesen, wo man Essen und Trinken für das Ueberflüssigste von der Welt, und die himmlischen Götter selbst, die doch noch des Nektars und der Ambrosia bedurften, für sehr armselige Götter hält!

O gewiß kenne ich solche Stimmungen, antwortete Melitta; genau so war mir zu Muthe, als ich von meiner Tante zum ersten Mal auf den Ball geführt wurde. Aber das ist lange, undenkbar lange her; seitdem hat meine Stimmung, so viel ich weiß, mit meinem Appetit nie wieder etwas zu thun gehabt.

Trotz dieser Prahlerei indessen blieb auch für Melitta außer ein paar eingemachten Früchten Alles auf der Tafel Schaugericht. Das süße Feuer, das ihren Busen höher wallen und ihre schönen Augen in noch zärtlicherem Lichte strahlen machte, bedurfte zu seiner Nahrung nicht der Gaben der Ceres. Zum ersten Male an diesem Nachmittage gerieth das Gespräch in's Stocken. Von dem, was ihre Herzen zum Zerspringen füllte, wagte Keiner zu sprechen; und Alles sonst erschien so gleichgültig, so nüchtern! Eine Verlegenheit, die sie vergebens hinter dem Anschein der Unbefangenheit zu verbergen sich bemühten, über kam sie. Beide fühlten, wie eine starke, unsichtbare Hand ihnen die Masken, mit denen wir auf dem Carneval des Lebens unsere wahren Gesichter vor einander verhüllen, langsam, langsam abstreifte.

Aus dieser wunderlichen Lage erlöste sie der alte Baumann, der jetzt das närrische Kind der Champagne in seiner silbernen, mit Eis gefüllten Wiege herbeibrachte, und vor Oswald auf den Tisch stellte. Wie er es in den wenigen Minuten bewerkstelligen konnte, aus dem tiefen Keller und der nietennagelfesten Kiste das Gewünschte herbeizuschaffen, war eines der Räthsel, in die sich der gute alte Mann zu hüllen liebte, und die er für jedes sterbliche Auge undurchdringlich hielt. Mit kunstgerechter Hand die Flasche entkorkend, füllte er den perlenden Wein in die langen zierlichen Kelche, die er vom Büffet genommen, und schaute, wohlgefällig lächelnd, zu, wie seine Herrin fast gierig den süßen Trank schlürfte und ihm das geleerte Glas hinhaltend rief: Encore, Baumann! und schenke Er sich auch ein Glas ein und trinke Er es auf das Wohl unseres Gastes!

Der alte Diener that, wie ihm geheißen; füllte sich am Büffet ein Glas, und dann, auf zwei Schritt an den Tisch herantretend, rief er:

Zuerst auf Ihr Wohl, gnädige Frau! denn das geht mir doch über Alles. Und möge der liebe Gott Ihre Augen allezeit so fröhlich blicken lassen, wie zu die ser Stunde! Und sodann auf Ihr Wohl, junger Herr! und möge der Himmel Ihren Eingang in dies Haus gesegnen, daß nichts als Frieden und Freude daraus komme. Und das wünscht Ihnen der alte Baumann!

So sprach er und leerte langsam das Glas, den Kopf zurückbiegend, bis sein Auge auf den bausbackigen Engelskopf in der Stuckatur der Decke gerade über seinem Scheitel traf; und das geleerte Glas dann wieder auf das Büffet setzend, trat er an's Fenster, dem Paar am Tisch den Rücken zuwendend, wie um die Unterhaltung nicht weiter zu stören.

Die Gegenwart des alten Dieners und der belebende Wein hatten ihre Zungen wieder gelöst und ihre Blicke kühner gemacht. Sie schwatzten, scheinbar unbefangen, über allerlei gleichgültige Dinge, bis Oswald Melitta an ihr Versprechen, ihn noch heute nach dem Häuschen im Walde zu führen, erinnerte.

Habe ich Ihnen das versprochen? sagte Melitta. Nun so muß ich es auch wohl thun, obgleich es mir beinahe jetzt leid ist, denn Sie glauben nicht an meine Heilige und sind deshalb nicht würdig, ihre Kapelle zu betreten.

Ihre Heilige?

Die hohe Frau von Milo. Ich muß Ihnen jetzt auch nur erzählen, wie weit meine Schwärmerei für die Göttliche ging. Nach meiner Rückkehr verfolgte mich die Erinnerung an das schöne Bild im Louvre so, daß ich nicht ruhte, bis ich mir von Paris mit nicht geringen Kosten eine ausgezeichnete Copie verschafft hatte. Weil ich aber nicht wagte, meine Heilige hier im Hause aufzustellen, brachte ich sie nach dem Häuschen im Walde, das so meine Waldkapelle wurde, zu der ich jedes Mal, wenn Besuch in Berkow ist, den Schlüssel verloren habe; und wo ich oft ganze Tage und Nächte zubringe, wenn die dummen Menschen mich einmal mehr als gewöhnlich geärgert haben, und ich, da ich keine Gesellschaft haben kann, wie ich sie wünsche, wenigstens ganz einsam sein will.

Und da machen Sie dann mit dem Harfner im Wilhelm Meister die traurige Erfahrung, daß, wer sich der Einsamkeit ergiebt, bald allein ist; aber Ihnen hätte ich solche hypochondrische Grillen am wenigsten zugetraut.

Warum nicht mir?

Weil Sie so gut und so heiter blicken – blicken können.

Und wissen Sie nicht, daß gerade die heitern Augen am leichtesten weinen?

Ich möchte Sie um Alles in der Welt nicht weinen sehen; ich glaube, das könnte mir das Leben auf immerdar verleiden.

Und wieder ruhten ihre Blicke in einander, und ihre Seelen küßten sich.

Nun denn, so kommen Sie! sagte Melitta.

Es zieht ein Gewitter herauf, bemerkte der alte Baumann vom Fenster her, ohne sich umzuwenden.

Bis es herauf ist, sind wir längst drüben, sagte Melitta, die sich schon erhoben hatte. Und wenn Sie sich vor einem Gewitter nicht mehr fürchten, als ich – oder fürchten Sie sich vor einem Gewitter? –

Oswald lächelte.

So soll uns das wahrlich nicht abhalten. Uebrigens sehe ich vom Gewitter keine Spur; sagte sie schon an der Thür des Gartensaales.

In diesem Augenblick zog ein blauer Schatten über den Garten, und eine Schaar Schwalben schoß zirpend und schreiend dicht über die Erde streifend, an der Thür vorbei.

Wollen wir doch lieber bleiben? sagte Melitta, die schon den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, zu Oswald zurückgewandt.

Ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter, antwortete Oswald, nicht nach dem Himmel, sondern in ihre Augen blickend.

Und im Walde ist es gerade am schönsten im Sturm und Gewitter! rief Melitta. Adieu Baumann! Wenn der Wagen von Grenwitz kommt, schicke Er ihn nach der Försterei. Der Kutscher soll sich im Waldhäuschen melden. Baumann schaute den Enteilenden nach, bis Melitta's weißes Kleid zwischen den Büschen verschwunden war.

Wer ihn so auf der Schwelle des Hauses stehen sah, den alten, hohen Mann mit dem weißen Bart und dem narbenvollen Gesicht, die noch immer starken Arme über der treuen Brust verschränkt und die klugen, treuen Augen nachdenklich in die Ferne gerichtet – der mochte wohl denken, daß ein besserer Wächter nicht könnte gefunden werden. Aber ach! das Haus war leer; die geliebte Herrin war davon geeilt, hinein in den gewitterschwülen Abend mit dem Fremden, dem Manne, den sie seit gestern kannte. Und er, der treue Diener, seufzte tief, während er mit gesenktem Haupte durch den Saal in das Eßzimmer zurückschritt und langsam den Tisch aufzuräumen begann. Die guten Gottesgaben kaum berührt, murmelte er, das gefällt mir nicht. Wenn junges Volk keinen Hunger im Magen hat, hat es Narrenspossen im Kopf. Und an dem Wein haben sie auch nur genippt. Da steht die Flasche noch halb voll – und morgen ist er nicht mehr zu trinken ... morgen ... Der alte Mann setzte sich an den Tisch und stützte sein sorgenvolles, graues Haupt auf die runzlige Hand. Aber an Morgen denkt das junge Volk nicht. Morgen ist der junge Mann mit seiner weichen Stimme und seinen großen blauen Augen wieder in Grenwitz, und wer weiß, wo er übermorgen ist. Aber der alte Baumann ist hier – morgen und übermorgen; und wenn die Gäste fort sind, sieht das Haus ganz anders aus, und beim Auskehren da findet es sich ... Ja, ja, der alte Baumann sieht, was die Andern nicht sehen, und hört, was die Andern nicht hören. – Ach, Baumann, ich wollte, ich wäre todt! ach, Baumann, warum hat Er mich damals aus dem Feuer getragen! – Jetzt sagt sie: ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter und: schicke Er uns nur den Wagen nach, Baumann! Hm, hm! ich hätte es eigentlich nicht zugeben sollen; ich hätte sie bei Seite nehmen sollen und zu ihr sagen: Höre Kind, so und so! denke an das und das! ... Aber wenn ich die Kleine so glücklich sehe, so fröhlich, wie damals, als ich sie zuerst auf dem Pony reiten sah, ein zwölfjähriges Ding, und sie sagte: bitte, bitte, lieber Baumann, nun laß Er uns einmal ordentlich jagen, da konnte ich auch nicht nein sagen, und fort ging es, was die Thiere laufen wollten. Gerade so große, strahlende Augen hatte sie heute Abend wieder und gerade so rosig und frisch sah sie wieder aus. Das arme, arme Kind ... Ja so, du wolltest ja nachsehen, ob oben die Fenster alle ordentlich schließen, es ist von wegen des Gewitters.

Vierzehntes Capitel

Fröhlich wie Kinder aus der Schule eilten Oswald und Melitta aus dem Hause durch die grünen Laubgänge des Gartens nach der Pforte, die aus diesem heraus auf die Wiese führte. Hinter der allmälig aufsteigenden Wiese ragte der Wald. Gleich neben der Pforte und ein Stück am Garten hin lag ein halb versumpfter, hie und da am Rande mit Weiden besetzter Teich, da sich das Wasser des Waldbaches an dieser tiefer gelegenen Stelle abermals staute, um dann an dem Gutshof vorüber und hernach durch das Dorf lustig hinabzuplätschern. Auch die Wiese war schon zum Theil versumpft, mochte auch wohl im Frühjahr ganz unter Wasser stehen; jetzt dienten große Steine als rohe Brücken über gar zu nasse Stellen.

Der Weg ist für Stadtherrn ein wenig sehr ländlich, nicht wahr, Herr Doctor? sagte Melitta, leicht wie eine Gazelle von Stein zu Stein hüpfend: wir Naturkinder freilich sind an dergleichen gewöhnt. Ich hätte Sie auch den längern Weg durch den Park und den Wald führen können; aber Sie müssen Berkow auch von seiner Schattenseite kennen lernen.

Nun wahrlich, gnädige Frau, wenn dies eine Schattenseite von Berkow ist, so verlangt mich nicht nach den Sonnenseiten, sagte Oswald lächelnd, indem er auf einem der Blöcke stehen blieb und seinen Hut abnahm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen; denn die Luft war schwül, der blaue Schatten war vorüber gezogen, die am Rande des Holzes stehende Sonne schoß glühende Strahlen, und sie waren schnell gegangen.

Schon müde? sagte Melitta, ebenfalls stehen bleibend und sich den Hut abnehmend, um ihr reiches, braunes Haar nach hinten zu schütteln; kommen Sie, je schneller wir laufen, desto früher kommen wir in den schattigen Wald. Ich zähle eins, zwei, drei – und wer zuerst ankommt –

Nun?

Das wird sich finden. Eins, zwei, drei – o!

Melitta war von dem Stein, auf welchem sie stand, auf einen anderen, niedrigeren gesprungen, und sank mit einem Ausruf des Schmerzes in die Kniee. Im Nu war Oswald an ihrer Seite.

Mein Gott, was ist Ihnen, gnädige Frau?

O, nichts, nichts! Ich habe mir im Springen den Fuß etwas vertreten, es wird gleich besser sein.

Sie stützte sich auf Oswalds Arm; blaß und vor Schmerz die Unterlippe zwischen den Zähnen pressend. Aber die Farbe kam ihr wieder, als sie zu Oswald aufschaute.

Seien Sie unbesorgt, sagte sie – und ihre Stimme klang süßer als je – Ihre Wette haben Sie doch gewonnen. So! jetzt wird es schon wieder gehen!

Sie wollte ihren Arm aus Oswalds Arme ziehen; aber er mochte die schöne Beute nicht so bald wieder fahren lassen.

Sie können, ohne sich zu stützen, noch nicht gehen, und mißgönnen Sie mir die Freude, Ihnen diesen geringen Dienst leisten zu dürfen?

Ich fürchte nur, der Weg ist bei der Sonnengluth für Sie selbst beschwerlich genug. O!

Ein falscher Tritt ließ Melitta abermals zusammensinken.

Wir werden stehen bleiben müssen, sagte sie.

Ich will Sie die paar Schritte bis an den Wald hinauftragen; Sie können sich da wenigstens im Schatten ausruhen.

Melitta lächelte. Ich bin nicht so leicht wie eine Puppe.

Und ich nicht so schwach wie ein zehnjähriges Mädchen, rief Oswald, umfaßte Melitta's schlanken Leib und sie emporhebend, trug er sie sicher, wie die Mutter ihr Kind, über die letzten Steine hinauf bis an den Waldrand, wo die breiten Kronen der Buchen Schatten und Kühlung spendeten. Dort ließ er sie sanft aus seinen Armen auf das dichte Moos gleiten, indem er selbst vor ihr stehen blieb. Melitta hatte sich von dem Augenblicke an, wo der kühne junge Mann sie emporhob, nicht weiter gesträubt; sie fühlte als bald, daß er stark genug sei, sie zu tragen; aber sie hielt es für thöricht, ihm die Last nicht so viel wie möglich zu erleichtern und hatte sich dicht in seine Arme geschmiegt.

Wie stark Sie sind, sagte sie jetzt, bewundernd zu ihm aufschauend.

Oswalds Herz hämmerte und seine Brust wogte, mehr vor innerer Erregung, als in Folge der Anstrengung. Er fühlte noch immer die elastischen Glieder, die er in seine Arme gepreßt, das weiche Haar, das sein Gesicht umspielt, den süßen Athem, der seine Stirn umweht hatte.

Unter solchen Umständen wäre es eine Kunst, nicht stark zu sein, antwortete er.

Aber angegriffen hat es Sie doch, gestehen Sie es nur. Kommen Sie und setzen Sie sich zu mir; auf diesem Moossopha ist Platz für mehr als zwei.

Oswald ließ sich neben Melitta, die sich an den Stamm der Buche lehnte, in das weiche Moos sinken, stützte den Kopf auf den Arm und schaute sinnend empor in ihr heiteres Antlitz. – Nahte sich der Traum am Sumpfesrand der Erfüllung? wird sich das liebe, holde Gesicht zu ihm niederbeugen und ihn küssen, wie die Traumgestalt? Oder ist dies wieder ein Traum? ... Es überkam Oswald das wunderliche Gefühl, als habe er dies Alles schon einmal erlebt; als kenne er diesen Platz: hier den dunklen Hochwald, aus dem das Klopfen eines Spechtes ertönte – vor ihm die Wiese, über deren langes Gras rothe Abendlichter wogten, – drüben den stillen Garten, aus dessen grünem Revier Melitta's graues Schloß hervorragte – seit vielen, vielen Jahren; – als habe er Melitta selbst in seinem früheren Leben oft gesehen, als Knabe schon, wenn er sich recht tief in ein schönes, lauschiges Märchen hineingelesen hatte, so daß zuletzt die holde Prinzessin ordentlich leibhaftig vor ihm stand ... und auch Melitta mußte Aehnliches empfinden, denn vollkommen unbefangen, als wäre er ihr Bruder oder Gatte, nahm sie ihm den Hut vom Haupt und drückte ihm ihr feines, duftendes Taschentuch wiederholt auf die perlende Stirn und die blauen, träumerischen Augen.

Oswald ergriff die liebe Hand und preßte sie an seine Lippen.

Die Hand muß ich Ihnen freilich lassen, sagte er; aber das Tuch kann ich Ihnen wahrlich nicht wiedergeben.

So behalten Sie es als Andenken an diese Stunde. Aber jetzt wollen wir weiter. Wir haben bis zur Waldkapelle doch noch eine ziemliche Strecke und der Himmel sieht in der That drohend aus.

Melitta lehnte sich auf Oswalds Arm, als sie jetzt den schmalen Pfad einschlugen, der erst durch Buchen, dann zwischen einer Schonung jungen Laubholzes auf der einen und hochstämmigem Nadelholze auf der andern Seite tiefer in den Wald führte. Die Sonne goß über die niedrigen Büsche fort ihre letzten Strahlen purpurn auf die Wipfel der Tannen; ein Vöglein strömte in weichen, klagenden Tönen, als wenn es Abschied nähme von der Sonne und vom Leben, seine süßen Abendlieder aus. – Dann erlosch die Purpurgluth droben, das Vöglein verstummte und Schatten und Stille umfing die Liebenden. Aber der Schatten wurde düsterer und drohender, und die Stille wurde seltsam unterbrochen von dem Knarren und Stöhnen der Tannenriesen, die ihre starken Glieder reckten und dehnten, als wollten sie prüfen, ob ihre Kraft noch ausreiche, dem Gewittersturm, der über den Wald heraufzog, zu trotzen. Und jetzt begann es in den Büschen unheimlich zu zischeln und zu flüstern, dürres Laub flog, wie in toller Angst, her vor der Windesbraut, die sausend in das Blättermeer schlug, die Kronen der Buchen wie wahnsinnig durcheinander peitschte, die hohen Wipfel der Tannen mächtig bog und den Wald bis in die tiefsten Gründe aus seiner Ruhe schreckte. Das fahle Licht eines Blitzes zuckte auf; schon fielen große warme Tropfen durch die Blätter.

Melitta hatte sich dicht an Oswald geschmiegt, dessen Herz mit dem Sturm aufjauchzte. Die Geliebte mit dem einen Arm an sich drückend, streckte er wie zum Kampf den andern zum gewitterschwarzen Himmel auf. Nur zu, nur zu! murmelte er durch die zusammengepreßten Zähne; ich fürchte Dich nicht! ... Wie, gnädige Frau, ist Ihr Muth schon zu Ende? O, es ist schön im stürmenden, donnernden Walde!

Melitta sprach kein Wort; die Augen nicht vom Boden erhebend, eilte sie weiter, schneller und immer schneller, bis der Wald sich zu einer weiten Lichtung öffnete; und da lag vor ihnen, in diesem Augenblick von dem röthlichen Lichte eines Blitzes hell erleuchtet, die Waldkapelle. Nur ein paar Schritte noch und sie langten unter dem weit vorspringenden Dache des im Schweizerstyl allerliebst ausgeführten Häuschens an. Rasch erstieg Melitta die Stufen, die zu der niedrigen Veranda hinaufführten; sie nahm einen kleinen Schlüssel aus der Tasche ihres Kleides, drehte das Schloß auf, aber, anstatt die Thür zu öffnen, lehnte sie sich zitternd gegen die Pfosten. Sie war bleich; ihre Kraft schien gänzlich erschöpft; sie drückte die Hand auf das Herz. So sah sie Oswald, als er den Blick von der im Regen dampfenden Wiese – ein Anblick, der ihn stets mit einer eigenthümlichen Lust erfüllte – zu ihr wendete.

Mein Gott, gnädige Frau, was ist Ihnen? was haben Sie?

O, nichts, nichts! sagte sie, beim ersten Ton seiner Stimme sich aufraffend; es ist der schnelle Lauf; jetzt ist es schon wieder besser; kommen Sie!

Sie öffnete die Thür und trat ein; Oswald folgte. Aber er fuhr entsetzt zurück, als er in dem mystischen Halbdunkel, das in dem Gemache herrschte, eine hohe weiße Gestalt erblickte, die aus der Wand hervorzuschweben schien.

Was ist das? rief er im ersten Schrecken.

Was? sagte Melitta, welche die Fenster öffnete, um die frische Luft in das heiße, blumendufterfüllte Gemach strömen zu lassen.

Die Venus von Milo! rief Oswald, und ein wollüstiger Schauder durchrieselte ihn.

Meine Heilige! ich sagte es Ihnen ja. Nun, wie finden Sie die Kapelle?

Es war ein nicht sehr großes, aber verhältnißmäßig hohes Gemach; rechts und links je ein Fenster, das auf die Veranda führte, der Thür gegenüber stand in einer Nische auf einem niedrigen Piedestale das Bild der Göttin. Bequeme Gartenstühle, eine Chaise longue, ein Tisch, auf dem Bücher, Papiere, Zeichenmaterialien, eine angefangene Stickerei, Reitpeitsche und Handschuhe durcheinander lagen – waren die einfache, schickliche Ausstattung.

Sind Sie sehr naß geworden? fragte Melitta, ihren Hut auf den Tisch werfend, ohne die Antwort auf ihre vorige Frage abzuwarten. Und dann:

Gehen Sie da vom Fenster fort, Sie werden sich erkälten. Kommen Sie hierher, oder nein! setzen Sie sich auf die Chaise longue und erholen Sie sich!

Und wieder:

Wenn ich nur etwas für Sie herbeischaffen könnte! – Aber es ist wahr, ich kann ja Thee bereiten. Wo sind nur gleich die Sachen? Hier – nein, dort in dem Schrank.

Das Alles sagte sie hastig, wie gedrängt von einer in ihr wühlenden Unruhe, mit raschen, ungleichen Schritten im Gemache hin und her schreitend.

Oswald ergriff ihre Hand.

Sorgen Sie nur erst für sich selbst, liebe, gnädige Frau; mir schadet das bischen Regen wahrlich nichts. Ihr Kleid ist feucht und ihre dünnen Stiefel sind auch keine Fußbekleidung für das nasse Gras der Wiese.

O, für mich ist leicht Rath geschafft. Ich habe nebenan Alles, was ich brauche.

Nebenan?

Sagte ich Ihnen nicht, daß ich hier oft selbst die Nächte zubringe? Die Thür dort führt in meine Garderobe.

So gehen Sie sogleich hinein und kleiden Sie sich um.

Melitta zog ihre Hand aus der des jungen Mannes, und ging, ohne ein Wort zu erwidern, von ihm fort und verschwand durch eine Thür, die sich neben der Statue befand, und die Oswald jetzt zum ersten Male bemerkte.

Er warf sich in einen der Lehnstühle und stütze den Kopf in die Hand; dann sprang er wieder auf, lehnte sich in's Fenster und starrte mit düsteren Augen hinein in den Sturm und Regen; dann ging er mit hastigen Schritten in dem Gemache auf und ab; endlich warf er sich vor dem Piedestale der Göttin nieder und legte seine heiße Stirn auf ihre Marmorfüße.

Das Rauschen eines Gewandes dicht neben ihm schreckte ihn aus seinem Fiebertraum.

Melitta! rief er mit Thränen der Wonne im Auge zu ihr aufschauend, Melitta!

Sie beugte sich zu ihm nieder und küßte ihn zärtlich auf die Stirn; dann aber eilte sie von ihm fort, warf sich in einen der Lehnstühle und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Oswald fiel vor ihr nieder; er umfaßte ihre Kniee; er drückte sein glühendes Gesicht in ihren Schooß; er küßte ihr Gewand, ihre Hände. Melitta! süße, holde, weine nicht! Wie kannst Du weinen, da Du mich so namenlos glücklich machst! Melitta, liebe, liebe Melitta! Deine Thränen tödten mich. Nimm lieber mein Herzblut, Tropfen für Tropfen. Mein Blut, mein Leben, meine Seele sind ja Dein! Melitta, für diesen Augenblick will ich Dir ewig danken, hörst Du, Melitta, ewig –

Um Gotteswillen, schwöre nicht! rief Melitta, auffahrend und ihm die Hand auf den Mund legend. Dann ergriff sie seinen Kopf und küßte ihn leidenschaftlich auf Stirn und Augen und Mund.

Und wieder sprang sie empor und eilte, wie von Dämonen verfolgt, in dem Gemache auf und ab. O, mein Gott, mein Gott! rief sie, die Hände ringend. Sie eilte auf die Thür zu, als wollte sie entfliehen, aber, ehe sie dieselbe erreichte, brach sie zusammen. Oswald fing sie in seinen Armen auf; er trug sie nach dem Sopha; er bedeckte ihre kalten Hände, ihre bebenden Lippen mit glühenden Küssen; ein Freudenschrei entrang sich seiner gepreßten Brust, als die starre Gestalt sich endlich wieder zu regen begann.

Sie richtete sich halb empor und ihre Augen mit dem Ausdruck unendlicher Liebe auf ihn heftend, sagte sie leise – leise und fest, wie ein Kranker, der seinen Arzt fragt, ob Leben oder Tod das Ende sein wird –

Oswald, höre mich an! liebst Du mich jetzt, in diesem Augenblick, so, wie Du glaubst, daß Du ein Weib auf Erden lieben kannst?

Ja, Melitta!

Nun denn, Oswald, so liebe ich Dich – jetzt und immerdar.

Das Gewitter war vorübergebraust; schweigend ruhte der regenerquickte, duftende Wald; und über dem Wald erglänzte aus dem purpurnen Abendhimmel der Venus leuchtender Stern.

Fünfzehntes Capitel

Als Oswald am nächsten Morgen nach einem kurzen, unruhigen Schlaf erwachte, war es ihm, als hätte sich ein trüber Lethestrom über die Erinnerungen des vergangenen Tages gewälzt. Was sich ereignet hatte bis zu dem Augenblicke, wo ihm das Venusbild in der dämmrigen Waldkapelle entgegenschwebte – er hatte es vergessen; was nachher geschehen war, als er Melitta, die ihm bis in die Nähe des Wagens durch den Wald das Geleit gegeben, zum letzten Male in seine Arme gepreßt hatte – er wußte es nicht mehr. Aber die Küsse, die er gegeben und empfangen, brannten noch auf seinen Lippen; aber der süße Athem, der sich mit dem seinen vermischt, umkoste ihn noch; aber die liebetiefen Augen, die in den seinen geruht, sie strahlten ihm noch immer. O, diese Augen, diese zärtlichkosenden leidenschaftblitzenden Augen! wie zwei helle Sterne, die selbst das Frühroth nicht verlöschen kann, schimmerten sie und leuchteten sie, und verfolgten ihn allüberall. Er sah sie, wenn er die eigenen Augen schloß: er sah sie, wenn er aus dem Fenster, in dem er lehnte, in den hellen Morgenhimmel schaute; er sah sie, wenn er den Blick in die blauen Schatten senkte, die zwischen den hohen Bäumen lagen, unten in dem stillen, thaufrischen Garten. Es war ihm, als ob er sich todt weinen könnte, als ob er laut aufjauchzen müßte vor seligem Schmerz und schmerzlicher Seligkeit, als ob sein ganzes Wesen sich auflösen, wie ein Ton in der Harmonie des Alls verklingen müßte. Daß er einen Körper hatte, erschien ihm wie Hohn.

Er schlich sich auf den Fußspitzen in die Kammer der Knaben: er wollte wenigstens ein liebes Antlitz, Bruno's Antlitz sehen. Das erste Frühroth drang durch die geschlossenen Gardinen: im Zimmer war es auffallend kühl. Bruno hatte wieder einmal nach seiner Gewohnheit das Fenster die ganze Nacht hindurch offen gelassen. Oswald schloß es, denn die Morgenluft wehte herein und Bruno's Gesicht war von einem unruhigen Traum erhitzt. – Wieder lag er da, wie in jener Nacht, als Oswald ihn zum ersten Mal erblickte – mit über der Brust verschränkten Armen, düstern Trotz auf dem dämonisch-schönen Angesicht. Aber als Oswald ihn heute auf die Stirn küßte, öffnete er nicht, wie damals die Augen, ihn voll Traumseligkeit anzulächeln; öffnete er nicht, wie damals die Lippen, ihm das rührende Wort zuzuflüstern: ich habe Dich lieb! die dunklen Brauen zogen sich nur noch finsterer zusammen, und schmerzlich zuckte es um den stolzen Mund. – Zu jeder andern Zeit würde Oswald dies für einen Zufall angesehen haben; aber jetzt in seiner augenblicklichen weichen Stimmung schmerzte es ihn innig. – Zürnt er dir noch, dachte er, daß du ihn gestern zu Hause ließest? Ahnt er, daß seit gestern ihm nicht mehr all' deine Liebe gehört? und doch, liebe ich ihn jetzt nicht nur noch mehr? Er streichelte dem Knaben sanft das dunkle Haar aus der finstern Stirn; er hüllte die leichte Decke fester um den schlanken Leib und schlich wieder aus dem Gemach mit viel weniger leichtem Herzen, als er es betreten hatte. Eine bange Ahnung von schwerem Leid, das ihm selbst und Bruno und auch ihr! aus all' der Himmelslust erwachsen werde, durchbebte ihn. Er eilte in den Garten hinab, um im Freien freier athmen zu können, und schweifte umher in den dunklen Laubengängen und zwischen den Beeten, und schüttelte den Thau von den Zweigen in sein heißes Gesicht und schaute mit den düstern verwachten Augen in die frommen Kinderaugen der Blumen. – An den Gemüsebeeten fand er den Gärtner beschäftigt. Es war doch wenigstens ein Mensch. Oswald sehnte sich darnach, die Stimme eines Menschen zu hören. Er redete den Mann an; er erkundigte sich, was er nie zuvor gethan, nach seinen Verhältnissen: ob er verheiratet sei? ob er Kinder habe? ob er die Kinder liebe? Der Mann gab ihm schiefe, halbe Antworten; redseliger wurde er, als er auf seine Pflanzungen zu sprechen kam, die bei dem köstlichen Wetter, wo herrlichster Sonnenschein mit warmem Gewitterregen abwechselte, gar üppig gediehen. Aber Oswald hörte nur mit halbem Ohre hin und verließ plötzlich mit einem flüchtigen Gruße den Alten, der, sich die Mütze aus der Stirn rückend, ihm verwundert nachschaute, mit dem Kopfe schüttelte, und wieder zum Spaten griff. – Oswald setzte seine rastlose Wanderung durch den Garten fort, dann aber wurde es ihm auch hier zu eng in dem von dem hohen Walle rings eingeschlossenen Raum. Er eilte aus dem Garten über den Hof in das Feld, aus dem Felde in den Wald, weiter und weiter, dem Brausen entgegen, das zuerst dumpf, dann lauter und lauter an sein Ohr drang.

Da trat er heraus aus den Buchen, deren breite Kronen sich über seinem Haupte wölbten, auf das hohe Kreideufer, und weit, unermeßlich lag es vor ihm da, das heilige, ewige Meer. Dort in der Ferne blitzten die weißen Kämme der Wogen auf, die, sich unaufhaltsam heranwälzend, tief unter seinen Füßen zwischen den gewaltigen Steinen des schmalen Strandes mit unaufhörlichem Donner brandeten – Woge auf Woge, immer neue und immer neue, unzählig, sinnverwirrend, wunderbar. Kein Segel war zu sehen in der ungeheuren Runde; nur ganz am Horizont zog eine Rauchsäule von Osten nach Westen. Sie kam aus dem Schlot eines Dampfers, der seine einsame Bahn, wer weiß, woher und wohin rastlos verfolgte. – Ueber der schäumenden Brandung unter ihm flatterten weiße Möwen und stürzten sich kreischend in die Salzfluth und schwangen sich wieder auf und flatterten wieder hierin und dorthin. Hoch oben in der blauen Luft zog ein Seeadler seine majestätischen Kreise, höher und immer höher, bis er Oswald's Blicken nur noch als ein schwarzer beweglicher Punkt erschien. – Aber selbst das erhabene Schauspiel des Meeres vermochte heute nicht seine Seele auszufüllen, und wie köstlich sie auch Oswald sonst dünkte, die Musik der Wogen, er hatte vor wenigen Stunden eine köstlichere Musik gehört. Nur den Adler droben beneidete er. Ein Schlag deiner mächtigen Schwingen, und du schwebst über Wälder und Felder fort bis zu Melitta's Haus.

Er sprang empor, er eilte zurück in's Schloß, hinauf auf die Zinne des Thurmes; vielleicht konnte er von dort Melitta's Wohnung sehen; und er jauchzte laut auf vor freudiger Ueberraschung, als er wirklich, den spähenden Blick nach jener Seite richtend, den obersten Giebel ihres Hauses eben noch über den Rand des Waldes emporragen sah. Ein wonnevoller Schauer durchrieselte ihn; es war ihm, als hätte er den Saum ihres Gewandes berührt. –

Die Zeit, in der Oswald seine Unterrichtsstunden zu beginnen pflegte, war herbeigekommen; er ging in sein Zimmer; er fand die Knaben nicht, die gegen die Gewohnheit noch unten beim Frühstück waren. Sein eigenes Frühstück stand auf dem Tische.

Da klopfte es leise an die Thür und herein trat der alte Baron, mit einem Bündel Papiere in der Hand. Nach den ersten Begrüßungen und nachdem er sich wegen seines ungewöhnlichen Besuches entschuldigt hatte, sprach er:

Sie könnten uns einen rechten Gefallen erweisen, Herr Doctor.

Ich vermuthe, Herr Baron, daß es sich um die Papiere handelt, die Sie dort in der Hand haben.

Ja, ja. Sie wissen, daß Grenwitz und Stantow zu Martini aus der Pacht kommen. Nun möchten wir gern, daß die Güter neu vermessen würden, da die Flurkarten, die vor fünfundzwanzig Jahren angefertigt wurden, sehr schlecht sind. Der erste Brief also, den wir Sie zu schreiben bitten würden, wäre an unseren Feldmesser. Er heißt Albert Timm und wohnt in Grünwald. Sie würden ihn bitten, zu einer vorläufigen Besprechung sofort herüberzukommen. Der zweite Brief ist an unseren Advocaten, ebenfalls in Grünwald. Anna-Maria wünscht seine Revision der Pachtcontracte. Hier ist eine Abschrift der jetzigen. Anna-Maria hat am Rande verzeichnet, was wir in den neuen Entwurf aufgenommen wünschen. Wenn Sie auch dieses Schriftstück mundiren wollten – es ist freilich etwas viel –

Geben Sie nur, Herr Baron. Zu wann wünschen Sie die Sachen geschrieben?

Wenn es Ihnen bis Mittag möglich wäre? Wir haben den Knaben schon vorläufig angekündigt, daß sie mich auf einer Fahrt nach Stantow begleiten sollen. Sie haben doch nichts dagegen?

Ich denke, es wird wohl so das Beste sein.

Nun, dann leben Sie wohl, lieber Herr Doctor, und entschuldigen Sie, daß wir Sie mit diesen Sachen belästigen. Aber Sie wissen, Anna-Maria –

Keine Entschuldigung, Herr Baron –

Der alte Mann verließ das Zimmer, Oswald warf sich auf das Sopha und schloß die Augen, um von Melitta zu träumen. Aber je eifriger er sich ihr geliebtes Bild vorzustellen suchte, desto eigensinniger steckte sich das runzlige Gesicht des alten Barons dazwischen. Das verwandelte sich dann wieder in das Antlitz der braunen Gräfin, dann zog ihm der Pastor Jäger eine Fratze, und plötzlich stand Bruno im Zimmer, gehüllt in lange, wallende, weiße Gewänder. Oswald wollte lachen über die tolle Maskerade, aber als er einen Blick in das Gesicht des Knaben warf, erstarb das Lachen auf seinen Lippen. Ein Schauer durchrieselte ihn, seine Haare bäumten sich – die wachsbleiche Farbe, die so seltsam von den blau-schwarzen Haaren abstach, die weiten starren Augen, ein namenloses Etwas in dem Ausdruck dieser glanzlosen, gebrochenen und doch so wunderbar beredten Augen – das war nicht Bruno, das war der Tod, der leibhaftige Tod in Bruno's vielgeliebter Gestalt ... Mit einem wilden Schrei fuhr Oswald in die Höhe. Das schreckliche Bild war verschwunden, aber es bedurfte mehrerer Minuten, bis der junge Mann sich überzeugen konnte, daß es wirklich nur ein Bild gewesen. So deutlich hatte er mit geschlossenen Augen jedes Möbel im Zimmer, den Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel, die Staubatome, die in dem Strahle tanzten – Alles, Alles gesehen.

Da hörte er das Knallen einer Peitsche und das Knirschen von Rädern in dem Sande vor dem Portal des Schlosses. Der Baron fuhr eben mit den Knaben fort.

Oswald ging mit hastigen Schritten in seinem Gemache auf und ab.

Warum heute, gerade heute das fürchterliche Bild! Muß Bruno sterben, zuvor mir sterben, damit ich Melitta lieben kann! Ist es nicht möglich, einen Bruder und eine Geliebte zu lieben zu gleicher Zeit, mit gleicher Gluth der Seele? Ist das Menschenherz so klein, daß eine Empfindung, um darin wohnen zu können, die andere verdrängen muß? und ist die Treulosigkeit Naturgesetz?

Der junge Mann war wieder ruhiger geworden, aber die ambrosische Schönheit des Sommermorgens war verschwunden. Die Sonne hatte keinen Glanz mehr für ihn, der Gesang der Vögel keine Süßigkeit; der übermüthig sprudelnde Quell der Lust in seinem Busen war versiegt.

Du bist jetzt in der rechten Stimmung für die trockene Arbeit, sagte er bitter und holte das Packet wieder aus der Ecke hervor, in die er es vorhin geschleudert hatte. Er setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Zuerst den Brief an den Geometer – das ging noch; auch der Brief an den Advocaten kam, obgleich nicht ohne einige heimliche Verwünschungen, glücklich zu Ende; aber die Abschrift der beiden Kontrakte zu fertigen, mußte er seine ganze Geduld zusammennehmen. Mehr noch als die Langweiligkeit der Arbeit selbst, ärgerten ihn die von der Hand der Baronin eingestreuten Bemerkungen, in welchen sie die in den Contracten von ihr beliebten Veränderungen in den Augen des Advocaten, vielleicht auch in ihren eigenen, zu motiviren suchte. Die Höhe der Pacht war in beiden Fällen fast um das Doppelte gesteigert, was Oswald um so mehr Wunder nahm, als er den Inspector Wrampe wiederholt hatte sagen hören: Herr Pathe, der Pächter der beiden Güter, ein außerordentlich fleißiger, strebsamer und ökonomischer Mann, sei so gestellt, daß ihn eine einzige Mißernte ruiniren müßte. In einer Notiz der Baronin hieß es: Herr P. ist ein nachläßiger Monsieur und sein sauberer Inspector W. ist nicht besser. Je humaner man gegen dergleichen Menschen ist, desto fauler werden sie. In einer andern: die dem Schlosse von dem Gute Grenwitz zu leistenden Naturallieferungen müssen auf jeden Fall doublirt werden, denn daß wir doch nur die Hälfte von dem bekommen, was uns zusteht, und diese Hälfte unter den langen Fingern unserer Leute noch mehr zusammenschrumpft, ist von vornherein anzunehmen. Durchstrichen, aber nicht so, daß man sie nicht noch hätte lesen können, waren die folgenden Worte: Sollte ja etwas übrig bleiben, so können wir ja den Rest alle Sonnabende in B. (dem nächsten Landstädtchen) auf dem Wochenmarkte verkaufen. An einer andern Stelle: Kann nicht contractlich ausgemacht werden, daß die Verwalter, Statthalter (Großknechte), Ausgeberinnen u.s.w. der Pächter jedesmal von dem Baron bestätigt werden müssen? Man wüßte dann doch, mit was für Subjecten man es zu thun hat, und behielte den Griff fester in der Hand.

Und das Vermögen dieser Menschen beträgt Millionen! rief Oswald und warf die Feder zornig auf den Tisch. Schreibe ein Anderer das Gewäsch! Soll ich mich zum ergebensten Werkzeug dieser egoistischen, hochmüthigen, herzlosen Aristokratenbrut hergeben?

Und trüber und trüber ward es in des jungen Mannes Seele. Nicht zum ersten Male wurde er heute daran gemahnt, wie schief, wie unhaltbar doch seine ganze Stellung sei. Und was hatte ihn in diese Stellung getrieben, wenn nicht seine Freundschaft zu dem Professor Berger, dessen Rath er gegen seine bessere Ueberzeugung gefolgt war? Es fiel ihm ein, daß er den letzten Brief seines wunderlichen Freundes noch nicht beantwortet hatte. So setzte er sich denn wieder hin und schrieb:

Es giebt kein Unrecht als den Widerspruch – das ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Ihrer Lieblingsmaximen, und die Cardinalregel, nach der Sie das Thun und Lassen der Menschen beurtheilen! Nun denn! So hatten Sie doppelt und dreifach unrecht, mich in diese Situation hineinzureden und hineinzulachen, denn sie ist, wie ich sie auch betrachten mag, aus Widersprüchen zusammengesetzt. Ich ein Erzieher Anderer, der ich mich selbst noch zu erziehen habe! Ich, der Aristokratenfeind, der Adelshasser in dem Schooße einer aristokratischen Familie, halb der Freund und halb der Diener dieser hochadeligen Sippe! Und was mich noch abscheulicher dünkt, ist, daß ich an den Genüssen dieses aristokratischen Lebens so harmlos Antheil nehmen kann, als hätte mich nie ein Schauer der Ehrfurcht erfaßt, wenn ich in der Schrift an die Stelle kam: Des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege! Sind diese Worte denn nicht auch für mich geschrieben, für mich, dem kein Kissen zu wollüstig, kein Teppich zu weich, keine Speise zu lecker, kein Wein zu kostbar dünkt? für mich, der ich, weit entfernt, mich von diesem Luxus angeekelt zu finden, ihn nicht gierig verschwelge, wie der Sklave seine kurzen Augenblicke der Freiheit, sondern ruhig und bedächtig durchkoste und genieße, ihn hinnehme, wie etwas, was sich von selbst versteht, wie etwas, zu dem man geboren und erzogen ist. Soll die gnädige Frau Baronin recht haben, die neulich hochmüthig behauptete, von allen sogenannten Volksfreunden früher und jetzt habe nur noch jeder seinen persönlichen Vortheil im Auge gehabt. Der Eine verkaufe seine Grundsätze ein wenig theurer als der Andere – der Eine lasse sich seine Apostasie mit Geld, ein Zweiter mit Ehrenstellen, ein Anderer wieder anders bezahlen – das sei aber auch der ganze Unterschied. Damals widersprach ich natürlich lebhaft – es war gleich zu Anfang meines hiesigen Aufenthalts – ich weiß nicht, ob ich noch heut dazu den Muth hätte. Denn, mein Freund, ich denke an Marie Antoinette, und denke, wenn eine andere Frau, so schön und so geistreich, wie die unglückliche Königin, eine Frau mit den Augen und dem Schmelz der Stimme und dem Liebreiz, wie – nun wie mein Ideal, die Frau, die ich lieben könnte, lieben müßte – zu mir spräche: Das Abschwören Deiner Grundsätze ist der Preis meiner Gunst! – Gott, sie wird es nicht sagen, sie kann es nicht sagen, denn ich will glauben, daß in dem schönsten Körper die schönste Seele wohne; aber, wenn sie dennoch in den Vorurtheilen ihres Standes so befangen wäre – wie dann? O, ich fühle, nein, ich weiß, daß ich ihren Worten, ihren Thränen nicht widerstehen könnte; daß vor der Gluth ihrer Küsse, dem Feuer ihrer Blicke die stolze Kraft hinschmelzen würde, wie Wachs; daß, wenn sie ihre weichen Arme um mich schlänge, ich nicht im Stande wäre, mich loszureißen; daß aus der gepreßten Brust kein Wort des Zornes, kein Wort des Hohnes sich losringen würde, nein! nur das eine Wort: ich liebe Dich!

Sie lächeln, o mein Freund, daß mich eine bloße Hypothese, ein bloßes Problema so in Aufregung versetzen kann. Sie denken, in der kühlen Luft der Wirklichkeit gedeihen dergleichen phantastische Treibhauspflanzen nicht. Nun wohl, das Ganze ist nur ein Problema, und wollte Gott, es bliebe problematisch! ...

Sechszehntes Capitel

Gott zum Gruß, lieber Herr College! Viele Empfehlungen von Frau von Berkow, und hier schickt sie Ihnen den Bemperlein und den Julius zur gefälligen Ansicht, aufgeschnittene Exemplare werden nicht zurückgenommen.

So sprach lächelnd ein kleiner, blasser, schwarzhaariger, Brille tragender, etwas unmodisch, aber sehr sauber und nett gekleideter Herr von etwa dreißig Jahren, der am Nachmittag desselben Tages, einen Knaben an der Hand führend, in Oswalds Zimmer trat.

Seien Sie bestens willkommen! sprach dieser, sich hastig aus der Sophaecke erhebend, in welcher er, in Sinnen und Brüten versunken, gesessen hatte, und reichte dem Eintretenden nicht ohne einige Verwirrung die Hand. Mit unendlichem Interesse blieb sein Blick auf dem Knaben haften, dem Sohn der Frau, die er liebte. Julius von Berkow war eine reizende Erscheinung. Die Blouse von dunkelgrünem Sammet, die er mit einem breiten Riemen um den schlanken Leib gegürtet trug, gab ihm das Aussehen eines allerliebsten kleinen Pagen. Dunkle Locken wallten in weichen Ringeln von dem edelgeformten Kopfe, sein Gesicht war mädchenhaft schön und zart, und Oswald zuckte zusammen, als er die warme, weiche Hand des Knaben für einen Augenblick in der seinen hielt, und in die großen lichtbraunen, träumerischen Augen schaute. Es war ihm, als hätte er Melitta's Hand berührt, als hätte er in Melitta's Augen geschaut.

Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Bemperlein, sagte er, seine Verwirrung bemeisternd, daß Sie noch die Zeit gefunden haben, herüber zu kommen. Aufrichtig, ich habe Sie heute halb und halb erwartet, um so mehr, als Bruno es für eine Unmöglichkeit hielt, Julius könne abreisen, ohne vorher von ihm förmlichen Abschied genommen zu haben.

Da sprang die Thür auf und herein stürzte Bruno, ein mächtiges Butterbrod in der Hand. Hurrah, Julius, Zuckerpuppe! schrie er, Dein Glück, daß Du gekommen bist! Ich wäre Dir sonst nach Grünwald nachgelaufen, Dich auf offener Straße durchzuprügeln. Hier, beiß ab! Das letzte Butterbrot, das wir für lange Zeit mit einander theilen! Und nun komm! wir wollen noch einmal durch den Garten in den Wald laufen. Sie bleiben doch zu Abend hier, Herr Bemperlein?

Non, Monseigneur! erwiderte hier, der sich auf einen Stuhl gesetzt hatte und sich den Schweiß von der Stirn trocknete; unsere Augenblicke sind gezählt. Sie würden mich verbinden, wenn Sie Ihre Excursionen nicht über den Garten ausdehnten und vor allem, wenn Sie Julius nicht wieder in den Graben würfen, wie das letzte Mal.

Julius, habe ich Dich in den Graben geworfen?

Nein, aber herausgezogen, nachdem ich hineingefallen war.

Nun, so komm mein Zuckerpüppchen! rief Bruno, hob den schmächtigen Knaben in seinen Armen empor und trug ihn zur Stube hinaus.

Ist das ein Junge! sagte Herr Bemperlein; Herr meines Lebens, ist das ein Junge! Wahrlich, Herr Colega, ich bewundere Sie.

Weshalb?

Weil ich Sie in einen leichten Sommerrock gekleidet sehe, und nicht umhüllt mit dreifachem Erz, wie der erste Schiffer des Horaz, und wie, meiner Meinung nach, der Mann gepanzert sein muß, der es mit solch' einem Seeungeheuer, so einem Hayfisch, so einem stachlichen Rochen – ich meine Bruno – zu thun hat.

Um Himmelswillen, Herr Bemperlein, sagen Sie mir nicht, wenn wir Freunde werden wollen, daß Sie Bruno nicht leiden können.

Ich ihn nicht leiden können! Ich liebe ihn wie einen Sturm auf der See, den ich vom Ufer aus beobachten kann, wie ein wildes Pferd, das mit einem Andern durchgeht, wie ein Gewitter, das eine Meile von mir einschlägt. – Apropos! das war gestern ein entsetzliches Gewitter. Wir sind erst um elf Uhr nach Hause gekommen. Frau von Berkow sagte mir, Sie seien vollständig eingeregnet gewesen in dem Waldhäuschen.

Wollen Sie in der That schon morgen abreisen? sagte Oswald, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Ob ich will? sagte Herr Bemperlein in weinerlichem Tone; ob ich will? durchaus nicht, Werthgeschätzter; aber muß! Das ist es ja eben. Ach, wenn ich könnte, wie ich wollte, ich ginge im Leben nicht weg von Berkow; und auch im Tode nicht, denn ich würde mir als letzte Gunst erbitten, dort begraben werden zu dürfen. – Und wie es mit mir werden soll, wenn ich nun doch weggehe, daran, lieber College, mag ich gar nicht denken. Leben Sie einmal, wie ich, sieben Jahre an einem und demselben Ort, und lassen Sie diesen Ort Berkow sein, und wachsen Sie fest an diesem Ort mit allen Wurzeln Ihres Wesens, daß Sie jeden Spatz, der über Ihrem Fenster nistet, persönlich kennen, und mit jedem Pferde in dem Stalle auf Du und Du stehen; und dann versuchen Sie, sich loszureißen – und Sie werden empfinden, wie weh das thut.

Der gute Mann griff wieder nach seinem Taschentuche und fuhr sich unter dem Vorwande, den Schweiß von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paar Mal über die nassen Augen.

Ich begreife das vollkommen, sagte Oswald mit ungeheuchelter Theilnahme.

Sie können das nicht begreifen, lieber Collega! Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr angefangen, mir einen Epheu in meinem Fenster zu ziehen, und mich den ganzen Sommer und Winter darauf gefreut, wie hübsch es in diesem Herbst sich ausnehmen würde, wenn das Fenster von unten bis oben berankt wäre, und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und mein Laubfrosch, uns hinter den breiten Blättern verstecken könnten – denn Sie glauben nicht, wie breite Blätter ich gezogen habe – so groß, wie Weinblätter – und in diesem Herbst wird mein Fenster mit grünen Ranken ganz vergittert sein; aber meine Stube wird leer stehen, und die Sonnenstrahlen werden durch die Blätter schimmern und die Regentropfen daran herunterrinnen, und keine Menschen- und keine Thierseele wird sich darüber freuen.

Ich glaube, ich kann Ihnen das nachfühlen, sagte Oswald.

Unmöglich, lieber Collega, unmöglich! seufzte der Andere. Ich sage Ihnen, so ein Fenster giebt es auf der weiten Welt nicht mehr. – In der tiefen Nische steht ein Lehnstuhl, mit schwarzem Leder überzogen, den mir Frau von Berkow vor zwei Jahren zu meinem Geburtstage geschenkt hat; – eine Schlummerwalze, die sie mir zu meinem letzten Geburtstage selbst gehäkelt hat, hängt an der Lehne – na, das läßt sich eben nicht beschreiben. Aber da so zu sitzen an einem Sommerabend, wenn die Stimme von Frau von Berkow und Julius aus dem Garten zu mir herauf tönen und der Rauch meiner Cigarre in blauen Streifen durch die Blätter hinauszieht –

Bei diesen Worten blies Herr Bemperlein zwei mächtige Rauchwolken aus seiner Cigarre durch das geöffnete Fenster, an dem er saß, und schüttelte wehmütig den Kopf, als wollte er sagen: das bringt hier nicht die mindeste Wirkung hervor; das sollten Sie einmal von meinem Lehnstuhle aus sehen.

Ja, ja, – schaltete Oswald ein.

Nein, lieber Collega, Sie können sich unmöglich in meine Stimmung versetzen. Sie wissen nicht, welch ein liebenswürdiger Knabe Julius ist. Sieben Jahre bin ich nun bei ihm, aber wenn er mir in allen diesen Jahren auch nur eine böse Stunde, ja nur Minute gemacht hat, so will ich nicht Anastasius Bemperlein heißen. Und nun die Frau von Berkow – Sie kennen Sie nicht, lieber Collega –

Oswald wandte sich ab, denn er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß –

Sie haben keine Ahnung, welch ein Engel von Güte diese Frau ist. Was verdanke ich ihr nicht! Bevor ich nach Berkow kam, wußte ich von Luft und Sonnenschein, und allem Schönen auf der Welt gerade so viel, wie ein Maulwurf – ich war ein richtiger Bär, ein vollständiges Nilpferd, und daß ich jetzt einigermaßen einem Menschen ähnlich sehe, verdanke ich nur ihr. Und wie hat sie sich meiner in jeder andern Beziehung angenommen! Einmal, erinnere ich mich, lag ich viele Wochen lang am Thyphus darnieder. Die ersten Wesen, die ich deutlich erkannte, als ich aus meinem Torpor erwachte, waren die gnädige Frau und der alte Baumann. Es war ein Sommernachmittag wie heute. Meine Bettvorhänge waren halb zugezogen, Baumann und die gnädige Frau standen ein paar Schritte entfernt am Tisch. Wenn ich nicht selbst krank werden will, so muß ich heute Nachmittag eine halbe Stunde spazieren reiten, Baumann, sagte Frau von Berkow, daß Er mir den Bemperlein unterdessen nicht sterben läßt. Zu Befehl, sagte der alte Baumann. Aber damit Sie nicht etwa glauben, lieber Herr Collega, daß ich in dieser Behandlung von Seiten der gnädigen Frau eine Bevorzugung erblicke, die meinen ganz besonderen Verdiensten zu Theil würde, so setze ich hinzu, daß ich Frau von Berkow dieselbe Huld und Gnade an viele Andere, zum Theil ganz gleichgültige Personen habe verschwenden sehen, so daß ich wahrlich glaube, das Herz dieser Frau ist aus durchaus edlerem Stoffe, als sonst die Menschenherzen sind, und daß sie Gutes thun und Andere beglücken muß, gerade wie ein Kanarienvogel singt und ein Eichhörnchen springt, weil's eben so ihre schöne Natur ist, und sie nicht anders kann. Verzeihen Sie, lieber Collega, daß ich mit diesen Dingen, die Sie nicht interessiren und nicht interessiren können, Ihre Zeit in Anspruch nehme, aber mein Herz ist wirklich zu voll, als daß es nicht überfließen sollte, und ich habe das Vertrauen zu Ihnen, daß Sie mich deshalb nicht für einen sentimentalen Gesellen halten werden.

Ich kann Sie nur versichern, daß Sie Ihr Vertrauen keinem Unwürdigen schenken, Herr Bemperlein, auch wenn Sie mir nicht erlauben, mit Ihnen zu sympathisiren.

Ich Ihnen das nicht erlauben? Es ist mein innigster Wunsch, daß Sie das vermöchten, um so mehr, als ich, offen gestanden, hauptsächlich in der ganz egoistischen Absicht herübergekommen bin, Sie in einer für mich hochwichtigen Angelegenheit um Rath zu fragen.

Mich?

Ja, Sie! Ich will Ihnen auch ganz offen sagen, wie Sie dazu kommen, bei mir die Stelle des weisen Einsiedlers im Walde, zu dem sich die vom Zweifel geplagte Creatur flüchtet, einzunehmen. Sie sind zu diesem verantwortlichen Amte durch eine Stimme erhoben, gegen die für mich kein Appell existirt; ich meine durch die Stimme der Frau von Berkow. Ich versuchte ihr heute Morgen auseinanderzusetzen, was ich Ihnen alsbald mit Ihrer gütigen Erlaubniß mittheilen will; sie hörte mich mit himmlischer Geduld von Anfang bis zu Ende an und sagte dann, ihre Hand für einen Augenblick auf die meinige legend: Lieber Bemperlein, sagte sie, wollen Sie meinen Rath hören. Natürlich, gnädige Frau! sagte ich. Nun denn, sagte sie, lieber Bemperlein, gehen Sie hinüber nach Grenwitz, bringen Sie Herrn Doctor Stein eine Empfehlung von mir, und erzählen Sie ihm ganz ausführlich, was Sie mir eben gesagt haben; und was er Ihnen dann antwortet, das nehmen Sie als meine Antwort.

Auf Oswalds Lippen schwebte ein stolzes Lächeln. Er sah in dieser Demuth Melitta's eine ihm dargebrachte Huldigung; er fühlte, daß sie ihrer Liebe keinen reineren Ausdruck geben konnte, als durch dieses Geständniß, wie fortan ihre Existenz in der ihres Geliebten aufgehe.

Wie Sie sich aus dieser Verlegenheit ziehen werden, fuhr Herr Bemperlein fort, ist Ihre Sache: die Rolle des Vertrauten ist Ihnen einmal zugetheilt, und Sie müssen dieselbe herunterspielen, so gut Sie können. Die Sache ist nämlich einfach die, oder vielmehr gar nicht einfach, sondern sehr complicirter Weise, auf alle Fälle indessen ist die Sache die: Ich bin nämlich – ich habe nämlich – aber hier kann ich Ihnen das nicht erzählen, ich muß dazu den Himmel über mir haben, denn unter dem blauen Himmel sind mir die Gedanken gekommen, die eine solche Revolution in meinem Innern hervorbrachten. Sie thäten mir also einen Gefallen, Herr Collega, wenn Sie mir nach Berkow das Geleit geben wollten. Unterwegs lege ich Ihnen meine Beichte ab. Jetzt will ich gehen, Julius zu rufen, und mich bei den Herrschaften zu empfehlen. Machen Sie sich unterdessen zurecht; aber lassen Sie mich um Himmelswillen nicht lange warten. Zehn Minuten reichen vollkommen zu, und länger halte ich auch ein tête-à-tête mit Ihrer Baronin nicht aus. Also à revoir in zehn Minuten, es schadet nichts, wenn es auch nur neun sind.

Als Oswald nach unten kam, complimentirte sich gerade Herr Bemperlein vor dem alten Baron zur Thür der Wohnstube hinaus.

Keinen Schritt weiter, Herr Baron! Uff! – Nun lassen Sie uns machen, daß wir wegkommen, Herr Collega. Wo ist mein Julius?

Auf dem Hofe fanden sie die Knaben. Bruno saß auf dem Rand des Brunnens der kopflosen Najade, und schlichtete Julius, der zwischen seinen Knieen stand, das lange lockige Haar.

Wie willst Du denn ohne den Pony fertig werden, Julius?

Ja, ich will sehen, vielleicht lasse ich mir ihn nachschicken.

Du Glücklicher, ich glaube, Du läßt Dir auch Deine Mama und Herrn Bemperlein nachschicken, wenn's ohne sie nicht geht. – Ich wollte, ich könnte mit Dir nach Grünwald, und sähe dies verdammte Nest im Leben nicht wieder.

Mama sagte mir, Du hättest Herrn Stein so lieb, ist das wahr?

Ich ihn lieb? sagte Bruno, den Kopf trotzig in die Höhe werfend; weshalb sollte ich ihn lieb haben? er ist mir ganz gleichgültig. Er bekümmert sich viel um mich! Er! Gestern ist er den ganzen Tag ohne mich umhergelaufen, und heute hat er mich noch keines Blickes gewürdigt – er ist mir ganz gleichgültig; hörst Du? sag' das nur Deiner Mama, ganz gleichgültig! – Und damit verbarg er sein Gesicht in Julius Locken und schluchzte.

Was ist Dir, Bruno?

Mir? nichts! was sollte mir sein!

Bruno, ich begleite Herrn Bemperlein! rief Oswald herüber.

Herr Doctor, ich begleite Julius! rief Bruno zurück.

Wo ist Malte?

Soll ich Maltes Hüter sein?

Malte ist auf dem Zimmer des Barons, sagte Herr Bemperlein; er ist von der Fahrt sehr angegriffen; die Baronin meint, er fiebere etwas, und der Baron hat ihm auf dem Sopha ein Lager zurecht gemacht, wie einer jungen Katze. Welchen Weg nehmen wir?

Ich denke, wir gehen durch den Wald, sagte Oswald.

Sie gingen über die Zugbrücke, die seit zwei Jahrhunderten nicht mehr aufgezogen werden konnte, durch die Lindenallee in den Wald, Herr Bemperlein und Oswald voran, Bruno und Julius folgten in einiger Entfernung. Bruno hatte den Arm um Julius' Nacken geschlungen, er hatte heute, oder wollte heute für nichts Interesse haben, als für seinen Freund, den er immer sehr geliebt und auf dessen braune Augen er mehr als ein Gedicht gemacht hatte, und den er jetzt in der Trennungsstunde mit stürmischen Zärtlichkeiten überhäufte.

Du wirst fortreisen, Julius, klagte er, und wenn Du drei Tage fort bist, wirst Du mich vergessen haben.

Ich werde Dich nie vergessen, Bruno.

So? weißt Du das gewiß? Da hast Du ein besseres Gedächtniß, als Oswald – ich meine Herrn Doctor Stein. Der hat mir auch gesagt, daß er mich lieb hätte wie einen Bruder, und seit vorgestern Abend weiß er nicht mehr, daß ich auf der Welt bin. Jetzt erzählt er wahrscheinlich Herrn Bemperlein, daß er ihn wie seinen Bruder liebt; sieh nur, wie er ihm vertraulich den Arm giebt! Nach mir sieht er sich nicht einmal um. O, ich hasse ihn, ich hasse Alle, Alle – nur Dich nicht, Julius!

Während so der unglückliche Knabe seine Liebe und seinen Kummer in den Busen seines Freundes schüttete und wohl fühlte, daß auch der ihn nicht verstände, und daß er allein, ganz allein sei auf dieser für ihn so freudelosen Erde, sprach Herr Bemperlein also zu Oswald:

Siebzehntes Capitel

Wie gesagt, lieber Collega, mein Vater war ein Pastor, mein Großvater, ja was sage ich: meine beiden Großväter waren Pastoren, denn meine Mutter war eine Pfarrerstocher; mein Urgroßvater väterlicher Seits war wenigstens ein Küster, der die Tochter eines Schäfers, also auch eines Pastors heirathete. Weiter habe ich meinen Stammbaum nicht verfolgen können – aber ex ungue leonem! Sie sehen, daß bis auf mich herab das eigentliche Geschäft meiner Vorfahren das Weiden von Heerden, – Menschen- oder Schaafherden – gewesen ist. Auch auf mir scheint der Geist meiner Ahnen zu ruhen. Thiere auf die Weide bringen, war von jeher meine Leidenschaft, und noch jetzt kann ich Stunden lang an das Gatter einer Koppel gelehnt stehen und den Kälbern und Füllen zusehen, – es ist ohne Zweifel etwas Paradiesisches in diesem Zustand behaglichen Genusses, der uns an die Urzeit der Menschen, mich zum wenigsten sehr lebhaft an meine Jugendzeit erinnert. Denn mein erster Freund war ein Gänsejunge, später war ein kleiner Schweinehirt mein Pylades, und der vertraute Umgang mit diesem Eumaeus posthumus hat mich aus der Lectüre gewisser Gesänge der Odyssee einen Genuß schöpfen lassen, der Anderen, welche ohne meine gründliche Vorbildung daran gehen, ganz unerklärlich sein muß. Als mein Pylades zum Rinderhirten avancirte, verließ ich weinend mein Heimathsdorf, um nach Grünwald auf's Gymnasium zu gehen, wo ich sogleich in die Tertia eintrat und von Lehrern und Schülern als ein kleines Ungeheuer angestaunt wurde, von Letzteren in Anbetracht meiner fabelhaften Toilette, in welcher ein Paar Hosen, die bis zum Knie hinauf aus gutem Rindsleder bestanden, noch nicht das merkwürdigste Stück war, – von Ersteren wegen meiner nicht weniger fabelhaften Gelehrsamkeit. Ich wußte den halben Virgil auswendig, las das neue Testament in der Ursprache so fließend, wie meine Mitschüler Luthers Uebersetzung – und das Alles mit dreizehn Jahren! Mir graut jetzt selbst, wenn ich daran denke. Damals indessen kam mir das Alles sehr zu statten; denn mein Vater, der eine zahlreiche Familie zu ernähren hatte, und so arm war, wie die Mäuse in seiner Kirche, konnte mir außer seinem Segen und sechs Empfehlungsbriefen an eben so viele mitleidige Familien, die sich jede zu einem Freitisch wöchentlich verstanden, – den siebenten Tag, an welchem ich keinen Freitisch hatte, setzte ich nothgedrungen zum Fasttage ein für alle Mal ein – so gut, wie nichts mit in die Stadt geben. Ich war also gänzlich auf mich angewiesen; aber ich hatte durchaus keine kostbaren Gewohnheiten, statt dessen aber das Talent, von einem Butterbrode satt zu werden, bei einem Thranlämpchen lesen und mit zugespitzten Schwefelhölzern schreiben, meine sechs Schulstunden absitzen und noch eben so viele Privatstunden geben zu können, so daß ich nicht nur die Miethe für mein Dachstübchen und alles unumgänglich Nothwendige pünktlich bezahlte, sondern auch schon nach zwei Monaten meine ledernen Hosen mit einem Paar von städtischerem Stoff und Schnitt vertauschen durfte. Den Spitznamen Lederstrumpf indessen, den meine Mitschüler mir gegeben hatten, und den bei dieser Gelegenheit los zu werden, meine stille Hoffnung und die eigentliche Veranlassung meines Luxus gewesen war, behielt ich nach wie vor; und das war meine gerechte Strafe. Daß mir es im Uebrigen in der Schule gut ging, verdankte ich besonders einer nicht ungeschickten Politik, die ich unausgesetzt verfolgte. Ich hatte nämlich bald herausgefunden, daß die Stärksten und Größten in der Klasse auch zugleich immer die Dümmsten und Faulsten waren. Ich verfehlte also niemals, mit ihnen ein Schutz- und Trutzbündniß abzuschließen, das hauptsächlich auf folgende zwei Bedingungen basirt war: ich mache Dir Deine Arbeiten und dafür prügelst Du mich weder selbst, noch giebst Du zu, daß mich ein Anderer prügelt; und ich muß gestehen, daß dieser Vertrag stets unverbrüchlich gehalten wurde. Als ich siebzehn Jahre alt war, fand mein Lehrer, daß ich schon seit einem Jahre zur Universität reif sei, wenn darunter nämlich verstanden wird, daß man mit Schulkenntnissen aller Art angefüllt ist, wie ein Ei voll Dotter, im Uebrigen aber so unwissend und hülflos, wie ein Küchlein, das eben aus der Schale kroch. Daß ich Theologie studirte, stand natürlich für mich so fest, als daß ich einmal sterben müßte. Söhne von pensionirten Hauptleuten werden in's Cadettencorps gesteckt, und Söhne von armen Landpastoren in's theologische Seminar geschickt: das ist so selbstredend, wie irgend ein anderes Stück der Naturgeschichte. – Wohl; ich studirte also Theologie, das heißt, ich ging fleißig in's Colleg und schrieb ganze Wagenladungen voll der abstrusesten Gelehrsamkeit. Im Uebrigen setzte ich so ziemlich mein Leben so fort, wie ich es von der Schule gewohnt war, selbst mein Dachstübchen hatte ich behalten und Privatstundengeben war mein Erwerbsquell nach wie vor, um so mehr, als jetzt einer meiner jüngeren Brüder bei mir lebte, dem ich das kleine Stipendium, das ich von der Universität erhielt – Sie wissen, daß in Grünberg ein Student ohne Stipendium eine rara avis ist – überließ, sowie die Freitische, die ich jetzt entbehren konnte, da die Caravanserei des Convicts mir ihre gastlichen Thore geöffnet hatte. So verging das Triennium in etwas monotoner, aber nicht unbehaglicher Weise. Ein Tag sah so ziemlich aus wie der andere; nur der Mittwoch hatte für mich eine etwas finstere Physiognomie, weil es an demselben Erbsen mit Schweinefleisch im Convict gab, ein Gericht, an das ich mich, trotz meiner liberalen Grundsätze in dieser Beziehung, niemals haben gewöhnen können. Ich mußte jedesmal, wenn die Schüssel zu mir kam, an die schönen Sommermorgen denken, die ich im Eichwalde zugebracht hatte, wenn mein Eumaeus posthumus seine Heerde weidete, und ich die Eclogen des Virgil dazu las; und dann blieb mir der Bissen im Munde stecken. Sie werden das wahrscheinlich sehr sentimental finden, aber es hat ja Jeder seine Schwächen. – Vom Leben sah ich während dieser Zeit ungefähr so viel, wie ein Kameel in der Menagerie von der Wüste. Mein Umgang war äußerst beschränkt, er richtete sich wesentlich nach meinen Mitteln; wie ich denn überhaupt glaube, daß zwischen diesen Beiden eine Art Wechselverhältniß stattfindet; wenigstens bemerkte ich, daß die wohlhabenderen Studenten immer heerdenweise angetroffen wurden, während die ärmeren einzeln durch die Gassen schlichen! Ich weiß nicht, ob das im Leben auch so ist. Vor diesen wohlhabenderen Studenten – denn es giebt deren selbst in Grünwald, und in meinen Augen war ein Jeder, der einen sicheren Wechsel von fünfzig Thalern jährlich hatte, ein Krösus – empfand ich übrigens allen möglichen Respect. Diese schnurrbärtigen, gestiefelten Kater erschienen mir als sehr absonderliche Geschöpfe Gottes, und ich konnte nie recht begreifen, wie eine, doch sonst auf die Ruhe ihrer Unterthanen so eifersüchtige Regierung, sie in ihrer ganz uncivilisirten Freiheit umher laufen lassen könne. Ich muß gestehen, daß ich die drei Jahre hindurch in einer beständigen Furcht vor einer Herausforderung lebte. Nicht, als ob es mir an persönlichem Muth gebräche! Ich habe glücklicherweise hernach ein paar Mal im Leben Gelegenheit gehabt, mich vom Gegentheil zu überzeugen; ich fürchtete nur die Schiefheit der Lage, in die ich mich bei einer solchen Eventualität versetzt sehen würde. Den ganzen sogenannten Comment hielt ich nämlich von jeher für den abominabelsten Unsinn, verderblich für die Gesundheit, viel verderblicher aber noch für die Moral, denn er zwingt die jungen Gemüther ihr eigenes Denken und Fühlen heroisch dem Moloch eines barbarischen Ehrbegriffs, der lächerlichsten Carricatur eines Codex der Moral, der je erfunden ist, zu opfern, und gewöhnt sie auf diese Weise systematisch an jenes blinde, katholische Gehorchen, welches mir die eigentliche Sünde gegen den heiligen Geist zu sein scheint. Ich weiß nicht, ob wir hierin einer Ansicht sind, Herr Collega?

Vollkommen, antwortete Oswald. Und nun rechnen Sie zu den Uebelständen dieses modern-mittelalterlichen Studentenlebens, daß die Jünglinge gerade in einer Zeit, wo der Mensch am empfänglichsten ist für die Eindrücke der Außenwelt, sich hermetisch in ihrer leidigen Kneipe abschließen, anstatt die gute Gesellschaft aufzusuchen, die ihnen den Schliff geben könnte, der ihnen wahrhaftig so sehr fehlt, daß sie in den Jahren, wo selbst später sehr bornirte Aristokraten für Freiheit schwärmen, sich der exclusivesten Exclusivität befleißigen, und in dem Glanz ihrer bunten Kappen und kindischen Troddeln noch verächtlicher auf den Philister herabsehen, als der Gardelieutenant auf den Civilisten; daß sie in der Periode, wo sie anfangen sollten, sich als Mitglieder eines großen Ganzen, als angehende Bürger zu fühlen, anfangen, einen Staat im Staate zu errichten: so haben Sie wahrlich beisammen, was einem nur halbwegs verständigen Jüngling den Geschmack an solchem albernen Studentenleben gründlich verleiden könnte.

Ja, sagte Bemperlein, und es ist ganz auffallend, wie lange der Rausch, den sich die jungen Leute während ihrer glorreichen Studentenzeit trinken, anhält. Da ist hier in der Nähe unser Landrath – ein Herr von Sylow, ein Mann von vierzig Jahren – der seit mindestens zehn Jahren verheiratet ist. Gestern nun, als ich mit Julius dort meinen Abschiedsbesuch machte – die Kinder sind von jeher sehr viel zusammen gewesen – kam der Landrath nach dem Abendessen auf seine Universitätszeit zu sprechen, und gab uns, das heißt seinem Hauslehrer und mir, einen Abriß seiner studentischen Heldenthaten. Glücklicherweise war mein College seiner Zeit ein flotter Bursch in Halle gewesen, und konnte dem Landrath auf seine Fragen über den heutigen Stand des Comments die nöthige Auskunft geben. Und nun hätten Sie den edlen Herrn sich sollen ereifern hören über die Versunkenheit des heutigen Studentenlebens, über die geringe Zahl der Paukereien, die unwürdig kleine Quantität Biers, so während eines Abends vertilgt würde, und so weiter und so weiter. Dabei glänzten seine Augen bei der bloßen Erinnerung an die versunkene Herrlichkeit, und er sprach sich in solche Rührung hinein, daß er schließlich den sentimentalen Wunsch äußerte, alle die rheinischen Demokraten, wie er sie nennt, die auf dem letzten Provinzial-Landtage wiederum die alten gotteslästerlichen Petitionen um Preßfreiheit, Freizügigkeit u.s.w. eingebracht hätten, möchten nur einen Hals haben, damit – er machte eine bezeichnende Handbewegung – des Geschreies endlich einmal ein Ende würde.

Natürlich, sagte Oswald, wenn die Herren jung sind, singen sie: »Freiheit, die ich meine«, das klingt sehr poetisch, wenn man es hört, und sie selbst singen sich dabei in eine gelinde Rührung hinein, in welcher sie halb und halb glauben, sie hätten in der That eine Meinung. Das ist aber eine reine Einbildung, oder im Falle ja einmal einer wirklich etwas meint, so ist es die Freiheit, den Philister verhöhnen, Fenster einwerfen, die öffentlichen Locale unsicher machen, und andere Heldenthaten ungestraft verrichten zu können, und dann die spätere Freiheit, als ganz gehorsamster Endesunterzeichneter in tiefunterthänigster Demuth zu ersterben, wenn man es nur bis zum Subalternbeamten, und die Subalternbeamten und die ganze übrige Menschheit en canaille behandeln zu können, wenn man es bis zum Verwaltungschef gebracht hat. Aber wir sind von unserem Thema abgekommen. Die böse Alternative, entweder gegen Ihre persönliche Ehre, oder gegen die Standesehre verstoßen zu müssen, wurde Ihnen hoffentlich erspart?

Ja, Dank der Vorsicht, die ich anwandte, vor den gestiefelten Katern meine Mauseexistenz möglichst geheim zu halten. Als das Triennium vorbei war, und ich mein erstes theologisches Examen bestanden hatte, war es mit meiner Besorgniß ohnedies vorbei, denn einem ehrsamen Candidaten des Predigeramtes verdenkt es schon Niemand, wenn er nichts von Terzen und Quarten wissen will. Ich hätte jetzt am liebsten sogleich auf dem Lande eine Stelle als Hauslehrer angenommen, aber mein Bruder war erst nach Prima gekommen, und ich wollte ihn die zwei Jahre, die er noch auf dem Gymnasium bleiben mußte, nicht allein lassen, da ich ihn in der Kunst, mit Schwefelhölzern zu schreiben und in den übrigen Geheimnissen des Lebens eines Dorfpfarrersohnes in der Stadt nicht so perfect sah, wie es im Interesse der Familie wünschenswerth schien. Denn dieser zweite Bruder sollte an seinem jüngeren Bruder die Stelle vertreten, die ich an ihm vertreten hatte, und dieser jüngere Bruder mußte um dieselbe Zeit auf die Tertia des Gymnasiums kommen, wenn jener die Universität bezog; ebenso wie ich anfing zu studiren, als er nach Tertia kam.

Aber wie ist denn das möglich, sagte Oswald erstaunt.

Ja, sehen Sie, Werthgeschätzer, antwortete Herr Bemperlein, wie es möglich ist, kann ich Ihnen nicht sagen, daß es aber der Fall ist, kann ich beschwören. Ich bin der Aelteste meiner Geschwister, und am zweiundzwanzigsten März geboren; dann kommt eine Schwester, genau zwei Jahre jünger, denn sie ist am einundzwanzigsten März geboren, darauf ein Bruder, darauf wieder eine Schwester, darauf wieder ein Bruder, und wieder eine Schwester. Wie viel sind das?

Ein halbes Dutzend, sollte ich meinen, sagte Oswald lächelnd.

Ganz richtig, ein halbes Dutzend, alle zwei Jahre auseinander und alle im März geboren, mit Ausnahme meiner jüngsten Schwester, die am ersten April zur Welt kam. Sie ist aber auch eine kometenhafte Erscheinung in unserem Planetensystem und so zu sagen: das Wunderkind der Familie. Denken Sie sich, sie ist erst achtzehn Jahre und schon verlobt.

Ich sehe bei der ohne Zweifel großen Liebenswürdigkeit Ihres Fräulein Schwester nichts Außerordentliches darin, bemerkte Oswald.

Nichts Außerordentliches? rief Herr Bemperlein; nichts Außerordentliches? Ein solches Kind? Heirathen! mit achtzehn Jahren! Ich weiß wirklich nicht einmal, ob das überhaupt psychologisch und physiologisch zulässig ist; – Sie lachen? Mag sein: ich habe mich auf die Weiber nie verstanden, und wüßte auch nicht, wie ich zu dieser Kenntniß gelangt sein sollte; der Herr müßte sie mir denn, von wegen meiner absonderlichen Einfalt, im Traum geschenkt haben. Also ich blieb noch fast zwei Jahre in Grünwald, gab Privatstunden, hielt Repetitorien mit jungen Studenten, die vor dem Examen standen, und mit Commersbuche besser Bescheid wußten, als in den Kirchenvätern, und verdiente so viel, daß ich nicht nur selbst sehr gut leben konnte – den Fasttag hatte ich aus reiner Gewohnheit beibehalten – sondern auch meinen Bruder pflichtschuldig unterstützte. Dieser Bruder machte mir damals einigermaßen Sorge – die sich hernach als unnöthig erwiesen hat, denn er ist jetzt in seinem vierundzwanzigsten Jahre schon wohlbestallter Hülfsprediger, aber er lernte etwas schwer, hatte schwache Augen und war gegen Hunger und Kälte auf eine mir unbegreifliche Weise empfindlich. Ich sah deshalb ein, daß es eine Barbarei sein würde, ihm die Sorge für meinen jüngsten Bruder, der jetzt auf die Schule kam, zuzumuthen, zumal dieser ein sehr schwächlicher Knabe war – er ist jetzt ein kräftiger Bursche von zwanzig Jahren, ein braver, fleißiger Junge, der nächstens sein erstes theologisches Examen machen wird – ja, was wollte ich sagen: richtig, er war damals ein schwächlicher, kränklicher Knabe und bedurfte größerer Pflege. Für Beide aber das nöthige herbeizuschaffen –

Und für Sie selber, schaltete Oswald ein.

Nun, das war das wenigste, aber ich sah ein, daß es so nicht länger ging, und da kam mir denn die Hauslehrerstelle in Berkow, die mir zu der Zeit angeboten wurde, gerade recht. Vollkommen freie Station, ein fabelhaftes Gehalt – ich war überglücklich. Jetzt hatte ich beide Arme frei und konnte endlich einmal etwas für die Familie thun.

Ich dächte, Sie hätten das stets nach Kräften, oder über Ihre Kräfte gethan, sagte Oswald.

Ach, Spaß, sagte der Andere; die Lust war groß, aber die Kraft gering, und jetzt war die Unterstützung nöthiger, als je. Meine gute Mutter hatte schon lange gekränkelt, jetzt verfiel auch mein Vater in eine schwere Krankheit, die seine eiserne Natur so untergrub, daß er sich nie wieder ganz vollständig erholte, so daß das Schlimmste zu befürchten stand. Dabei waren meine drei Schwestern noch unversorgt. Welches Glück also, daß ich das prinzliche Einkommen von Zweihundert Thalern Gold hatte! Ich gab die eine Hälfte meinen Brüdern –

Und die andere Hälfte meinen Schwestern, schaltete Oswald ein.

Und die andere Hälfte meinen Schwestern – fuhr Bemperlein fort und rieb sich vergnügt die Hände.

Aber was behielten Sie denn für sich?

Für mich? erwiederte Bemperlein erstaunt. Sagte ich Ihnen nicht, daß ich vollkommen freie Station hatte? Und nun hören Sie nur! Ich war ein Jahr auf Berkow gewesen, da läßt mich eines Tages die gnädige Frau zu sich rufen, und nachdem wir über Dies und Jenes gesprochen, sagte sie:

Sie sind nun ein Jahr bei uns, lieber Bemperlein, nun sagen Sie einmal aufrichtig, ob es Ihnen bei uns gefällt. – Das bedarf wohl keiner Frage, gnädige Frau, antwortete ich. – Nun, das freut mich, sagte sie, aber haben Sie nicht noch irgend einen speciellen Wunsch? – Das ich nicht wüßte, sagte ich. – Aber Ihr Gehalt ist doch offenbar zu gering, sagte sie mit dem freundlichsten Lächeln. Ich war so erstaunt über diese Worte, daß ich keine Antwort zu finden wußte.

Ich will Ihnen nur gestehen, fuhr sie mit himmlischer Güte fort, daß ich die Zeit, die Sie jetzt hier sind, nur als Probezeit angesehen und Ihren Gehalt darnach berechnet habe. Es ist mir niemals eingefallen, zu glauben, daß ein Mann, dem ich die Erziehung meines Kindes mit vollkommener Sicherheit anvertrauen kann, überhaupt mit Geld zu bezahlen sei; und wenn ich Sie jetzt bitte, mir zu erlauben, das geringe Gehalt, das Sie bis jetzt bezogen haben, zu verdoppeln, so bemerke ich dabei ausdrücklich, daß ich mich nach wie vor als Ihre Schuldnerin fühle.

War ich vorher noch nicht erstaunt gewesen, so war ich es jetzt; oder vielmehr ich war so gerührt – weniger durch das großmüthige Geschenk selbst, – als über die unbeschreibliche Liebenswürdigkeit, mit der es mir von der edlen Frau geboten wurde, daß mir die Thränen über die Backen liefen. Ich stammelte etwas von unmöglich annehmen können und dergleichen, da aber wurde sie ordentlich zornig, daß ich nur schnell einlenkte und sagte: ich nähme das Geschenk nicht für mich, was unverantwortlich wäre, sondern nur, weil ich für Andere sorgen müßte, die für sich selber noch nicht sorgen könnten. – Machen Sie damit, was Sie wollen, sagte sie schon in der Thür, aber bedenken Sie auch, daß Sie gegen sich selbst Verpflichtungen haben. Damit war die Sache zu Ende, aber noch nicht Frau von Berkow's Güte, die grenzenlos ist. Doch ich wollte Ihnen eigentlich ganz etwas Anderes erzählen; nämlich, wie ich dazu kam, den Fehler zu entdecken, der sich in die Rechnung meines Lebens eingeschlichen hat, und welches dieser Fehler ist.

Achtzehntes Capitel

In diesem Augenblicke kam ein Reiter, der vor einigen Minuten aus einem Seitenwege auf den Hauptweg gebogen war, im Galopp an ihnen vorüber. Ein großer Neufundländer, den Oswald zuerst für Melitta's Dogge hielt, galoppirte in langen Sprüngen neben dem Pferde her, einem herrlichen rabenschwarzen Vollblut, dessen Brust mit weißen Schaumflocken benetzt war. Der Reiter, so weit man es in der Eile bemerken konnte, war ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, lang und dürr, gegen die Gewohnheit der Gutsbesitzer hier zu Lande in langen Beinkleidern statt der Stulpenstiefeln; seine Haltung zu Pferde durchaus die Haltung der Herren, welche man lateinische Reiter zu nennen pflegt. Aber es war das wohl mehr Nachlässigkeit und die Gewohnheit, sich gehen zu lassen, als wirkliche Ungeschicklichkeit, denn, als er fast unmittelbar vor den ihm Entgegenkommenden war, die er, in Nachdenken oder Träumereien verloren, jetzt erst bemerkte, warf er seinen Renner mit einer Kraft und Gewandtheit auf die Seite, die den tüchtigen Reiter bekundeten. Excusez, messieurs! rief er, flüchtig an den Hut greifend und weiter galoppirend.

Kennen Sie den Herrn? sagte Oswald stehen bleibend und dem Manne nachschauend, dessen Züge ihm fremd und bekannt zu gleicher Zeit erschienen waren.

Tiens! sagte Herr Bemperlein, ebenfalls stehen bleibend, das muß der Baron Oldenburg gewesen sein. Ja, gewiß ist's der Baron! rief er, als der Reiter jetzt bei den Knaben, die in der Entfernung von ein paar hundert Schritten folgten, angekommen, still hielt, und ihnen vom Pferde herab die Hand reichte. Ich hätte ihn kaum wieder erkannt mit seinem schwarzen Bart und seinem gelben Gesicht. Er sieht ja aus wie ein wahrer Kabyle. Seit wann mag er denn wieder im Lande sein?

Ist er auf Reisen gewesen? fragte Oswald mit angenommener Gleichgültigkeit.

Er ist seit zehn Jahren eigentlich fortwährend auf Reisen, erwiderte Herr Bemperlein; vor drei Jahren trafen ihn Frau von Berkow und Herr von Barnewitz und dessen Gemahlin in Rom, und sie sind dann mit ihm durch Süd-Italien gereist. In Sicilien haben sie sich getrennt. Die Herrschaften traten die Rückkehr an, und der Baron ging weiter nach Aegypten, Nubien, und Gott weiß, wohin ihn sein unruhiger Geist noch sonst getrieben haben mag. Aber wir sind schon wieder von unserm Thema abgekommen.

Herr Bemperlein fing mit der ihm eigenthümlichen Redseligkeit abermals zu erzählen an, aber wenn Oswald schon vorher nur mit halbem Ohr zugehört hatte, so schweiften seine Gedanken jetzt noch viel weiter ab ... Das war also der Mann, der einst in Melitta's Leben eine so große Rolle gespielt hatte! Eine so große Rolle! Eine wie große Rolle? Sie hatte ihn nie wahrhaft geliebt – vielleicht, – gewiß nie wahrhaft geliebt – aber ist denn wahre Liebe immer der letzte Preis der höchsten Gunst einer Frau? Giebt es nicht so dergleichen, wie Begierde ohne Liebe? oder auch Liebe ohne Begierde, oder der Wunsch, den Geliebten auf jede Weise an sich zu fesseln, auch durch die Lust und die Erinnerung der Lust – – Und so hätte sie doch an der Seite des Mannes, an dessen Wiege die Grazien ausgeblieben waren, geruht; wohl ohne Ruhe, ohne die tiefe Seligkeit zu finden, die sie hoffte, – aber doch geruht? O, in dem Gedanken war Höllenqual ...

So raunte und flüsterte ihm der Dämon der Eifersucht wilde, schlimme Gedanken in's Ohr, die sein Blut sieden machten und ihm kalte Tropfen auf die Stirn trieben – was Wunder, wenn er so Herrn Bemperlein's Erzählung wie im Traume hörte. Nur so viel begriff er, daß der wunderliche brave Mann erst jetzt, nachdem die Noth des Lebens für ihn vorbei war und er in der grünen Einsamkeit von Berkow frei von aller Sorge aufathmen durfte, zum ersten Mal über seine sogenannte Wissenschaft, die zu prüfen, ihm bis dahin die Zeit gefehlt hatte, nachzudenken begann; daß er jetzt zum ersten Male mit den Heroen der neueren Literatur, vor allem mit Shakespeare Bekanntschaft machte, daß er von den Dichtern auf die Philosophen kam, und wie ihm vor allem in Spinoza eine Welt aufging, von der er, der Zögling theologischer Scholastik, keine Ahnung hatte; daß er von Spinoza, später von Schopenhauer angeregt, sich auf das Studium der Natur, auf Botanik, Mineralogie, Physik geworfen, sich mit Hülfe des alten Baumann ein kleines Laboratorium eingerichtet und fleißig experimentirt habe, und daß auf seinen Retorten und Tiegeln der Glaube an die alleinselligmachende Kraft der Professoren-Religion, den ihm die Lectüre der Philosophen noch etwa gelassen hatte, vollkommen verdampft sei.

Das ging nun so, so lange es ging, sage Herr Bemperlein, allein es kam nicht zum Sterben, aber doch zu dem Augenblick, wo ich mich entschließen mußte, ob ich meinen heimlichen Abfall von dem Glauben meiner Väter offen erklären wollte oder nicht. Eine sehr einträgliche Pfarrstelle in hiesiger Gegend, von der ein Onkel der Frau von Berkow, der ältere Herr von Barnewitz Patron ist, wurde durch den Tod des Inhabers erledigt. Herr von Barnewitz glaubte seiner Nichte einen Gefallen zu erweisen, wenn er mir diese Stelle anbot, ich hatte weiter nichts zu thun, als am nächsten Sonntag eine Predigt in dem Pfarrdorfe zu halten, und die Sache war abgemacht. Nun müssen Sie wissen, daß ich, als mir Herr von Barnewitz die Sache vorstellte, im ersten Schrecken, halb aus Ueberraschung, halb, um den guten Mann nicht zu kränken, und dann auch, weil wir (das heißt Frau von Berkow und ich) Juliu's Uebersiedlung nach Grünwald beschlossen hatten, und so meines Bleibens in Berkow doch nicht länger sein konnte, »Ja« gesagt und mich wirklich hingesetzt habe, eine Predigt auszuarbeiten. Ich hatte mich seit ein paar Jahren glücklich um jede Gelegenheit, wo mein theologisch-declamatorisches Talent sich hätte zeigen können, herumzudrücken gewußt, und jetzt fühlte ich zu meinem Schrecken, daß ich die Kanzelsprache, und noch mehr als die Sprache, die Kanzellogik vollständig verlernt hatte. Drei Abende hinter einander setzte ich mich zu der Sisyphusarbeit hin; aber nie kam ich auch nur über »meine andächtigen Zuhörer« hinaus. Die contradictio in adjecto peinigte mich, ich wußte aus eigener Erfahrung, wie es mit der Andacht der Zuhörer bestellt ist. Andächtig kommt von Denken! Da, in der dritten Nacht, als ich mich voller Verzweiflung zu Bette gelegt hatte und voller Kummer eingeschlafen war, erwägend, was wohl mein guter Vater und mein würdiger Großvater, den ich auch noch gekannt hatte, sagen würden, wenn sie den Unglauben ihres in so trefflichen Grundsätzen erzogenen Sohnes und Enkels sähen, hatte ich folgenden kuriosen Traum, zu dessen Erklärung ich vorher bemerken muß, daß Frau von Berkow mir an jenem Tage viel von den Museen des Louvre erzählt hatte.

Mir träumte also, ich trat in einen gewaltigen hohen und weiten Saal, an dessen Wänden Sculpturen und Gemälde standen und hingen. Da saß Gott Vater selbst, ein schöner bärtiger alter Mann, und reckte die Hand aus und schuf Himmel und Erde, dann kamen Adam und Eva, in weißem Marmor: Eva, ziemlich wohl erhalten – Adam aber hatte den Kopf verloren; darauf »Kain's Brudermord«, ein großes Oelgemälde, ebenso wie ein darauf folgendes: »Adam und Eva finden die Leiche des ermordeten Abel«; auf welchem die Gestalt des todesblassen Jünglings der wie eine gebrochene Lilie anzuschauen war, mich fast zu Thränen rührte. So ging es weiter und weiter: Statue an Statue, Gemälde an Gemälde. Ich war nicht allein im Saale, im Gegentheil, viele Menschen bewegten sich an den Wänden und durch den Wald von Statuen hin. Vor einzelnen besonders hervorragenden Werken, zum Beispiel dem Durchzug der Kinder Israel durch das rothe Meer – einer riesengroßen Freske – standen ganze Gruppen – auch vor andern, die sich weniger durch historische Bedeutung, als durch das Pikante der dargestellten Situation auszeichneten. So mußte ich mich über das Betragen einer Schaar junger Mädchen ärgern, die vor einem Gemälde, darstellend: »Lot, von seinen Töchtern trunken gemacht« die Köpfe zusammensteckten und kicherten. Ueberhaupt erschien mir das Benehmen der Gesellschaft in hohem Grade anstößig. Die Frauen lachten und schwatzten und kokettirten, die Herren schwatzten, lachten und lorgnettirten, und einige mit langen Beinen und langen Zähnen – wahrscheinlich Engländer – hatten gar den Hut auf dem Kopf. Fast Alle hielten ein Buch in der Hand, in welches die Gewissenhafteren von Zeit zu Zeit hineinsahen, wenn sie sich über eins der Kunstwerke Auskunft holen wollten. Dies Buch schien mir der Katalog des Museums zu sein, und da ich einen solchen ebenfalls zu haben wünschte, weil ich die Reihenfolge der Propheten vergessen hatte, und nun nicht wußte, ob der alte bärtige Mann, Nr. 8, Habakuk, und der Jüngling, Nr. 9, Zephanga, oder umgekehrt sei, so wandte ich mich an einen alten Herrn, den ich mit einem Fliegenwedel an den Statuen beschäftigt gesehen hatte, und den ich in Folge dessen für einen der Custoden hielt. Als ich näher trat, wandte sich der Mann um, und ich erschrak nicht wenig, als ich meinen eigenen Großvater erkannte. Was wünschen Sie, junger Mann? sagte er in strengem Ton. Ich wiederholte schüchtern meine Frage. Hier haben Sie einen Katalog, sagte er, von einem Tische, auf welchem eine große Menge jener Bücher lag, eins nehmend und mir reichend, kostet fünfzehn Silbergroschen. – Ich schlug das Buch auf; ich wünschte einen Katalog, sagte ich, Sie haben mir – Ganz richtig, sagte der alte Mann mit melancholischer Stimme, dies ist der Katalog für das alte Museum; der Eingang in das neue Museum, in welchem die Kunstwerke von dem Jahre Eins christlicher Zeitrechnung bis zum Jahre 1793, wo die christliche Religion abgeschafft, und die Göttin Vernunft auf den Thron gesetzt wurde, aufgestellt sind – ist dort! Er wies auf eine schöne breite Treppe, die aus dem Saale hinaufführte in andere Räume. Sie werden gut thun, sich dort ebenfalls einen Katalog zu kaufen. Er kostet zehn Silbergroschen und Sie haben sich deshalb an Ihren Vater zu wenden, welcher in jenem Theile des Gebäudes dasselbe Amt versieht, welches ich hier versehe. Und damit wandte mir der alte Mann den Rücken, und fing wieder an, mit seinem langen Wedel die Statuen und Bilder abzustauben. Entschuldigen Sie, lieber Großvater, sagte ich. – Ich bin Ihr Großvater nicht, antwortete der alte Mann, ruhig in seiner Beschäftigung fortfahrend. Nun, Herr Custos? fragte ich. Ja wohl, Custos, nichts weiter, nichts weiter, murmelte der Greis. Wo haben denn, Herr Custos, fuhr ich fort, die Kunstwerke, die seit jener Zeit entstanden sind, ihre Stelle gefunden? Seit jenem denkwürdigen Jahre, sagte der Alte, hat nichts Gescheidtes mehr zu Stande kommen wollen. Zwar haben sich noch einige Künstlerschulen gebildet, aber es hat Alles kein rechtes Leben, und ihre Productionen können auf eigentlichen Kunstwerth keinen Anspruch machen. Den Künstlern selbst fehlte der rechte Glaube, und ohne den läßt sich nun einmal nichts Ordentliches malen oder meißeln oder schreiben, – bei diesen letzten Worten maß er mich mit einem strengen Blicke. – Oder schreiben, wiederholte ich kleinlaut, an meine ungeschriebene Probepredigt denkend – Oder schreiben, fuhr er fort, – und dann ist das Publikum selbst in neuester Zeit sehr gleichgültig geworden, und die Kritik sitzt den Künstlern zu unbarmherzig auf dem Nacken, und das verdirbt ihnen die naive Unbefangenheit und nachtwandlerische Sicherheit, ohne welche nun ein für alle Mal, – aber jetzt muß ich Sie ersuchen, sich zu entfernen, die Glocke hat schon lange geläutet, Sie sind der Allerletzte. Er begleitete mich bis zum Ausgange des Saales, öffnete mir die Thür und lud mich mit einer steifen Verbeugung ein, hinauszuspazieren. – Ich that es – die Thür fiel donnernd hinter mir zu, und – ich erwachte.

Seit jenem Traum, fuhr Bemperlein fort, machte ich keinen neuen Versuch mehr. Ohne Glauben läßt sich keine Predigt schreiben, sagte ich zu mir, und wenn sich auch noch zur Noth eine schreiben läßt, so läßt sie sich doch nicht halten, wenigstens nicht von einem Manne, der, wie Du, ein Stück Gewissen und weder Kind noch Kegel hat, die manchen ehrlichen Kerl schon Dinge haben schreiben und sagen machen, die er nur so, und auch kaum so, vor Gott und der Welt verantworten kann. Daß ich nicht mehr Pastor werden könnte, stand bei mir fest, und ich schrieb also heute Morgen an Herrn von Barnewitz, mich für die mir zugedachte Ehre zu bedanken, von der ich keinen Gebrauch machen könne, – da – ich mich entschlossen hätte, Julius nach Grünwald zu begleiten. Der Einfall kam mir nämlich, wie ich die Phrase schrieb, und ich lief sogleich zu Frau von Berkow, und theilte ihr meinen Entschluß mit, worüber sie eine lebhafte Freude zu erkennen gab. – Nun sagen Sie mir, mein vortrefflicher Freund, der Sie die Güte gehabt haben, diese lange Geschichte anzuhören, was würden Sie thun, wenn Sie in meiner Lage wären? Bedenken Sie dabei, daß ich bereits achtundzwanzig Jahre alt bin, aber noch meine sämmtlichen achtundzwanzig Zähne habe. – Die Weisheitszähne sind ausgeblieben, sei es aus einer Vergeßlichkeit der Natur, sei es aus einer weisen Vorsicht des Schicksals, das daran dachte, wie ich so manchmal im Leben wenig genug zu beißen haben würde.

Was ich thun würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre? sagte Oswald, wenn ich, wie Sie, ein wackrer, gewissenhafter, fleißiger –

Bitte, bitte, Herr Collega; sagte Bemperlein über und über roth werdend.

Ich sage, gewissenhafter, fleißiger Mann wäre? Nun, die Frage ist sehr leicht zu beantworten. Ich würde thun, was Sie bereits gethan haben; ich würde dem Paradies naiver Gedankenlosigkeit und harmlosen Glaubens wohlgemuth den Rücken kehren, nachdem ich einmal vom Baum der Erkenntniß gekostet, und mich, so wenig wie Sie, in den Stall sperren lassen, in welchem die Heuchler, die schnöden Hunde im Schafspelze der Demuth, so ohrenzerreißend und markerschütternd winseln und heulen.

Ganz wohl, ganz wohl! sagte Herr Bemperlein, sich vergnügt die Hände reibend, und was würden Sie dann thun, Werthgeschätztester?

Dann, sagte Oswald, wenn ich Sie wäre, würde ich mich erinnern, welche Mühsal ich schon als schwacher Knabe erduldet, und welchen Fleiß und welche Ausdauer ich bewiesen habe, blos um mir einen Wust von Kenntnissen anzueignen, den ich jetzt froh bin, wieder vergessen zu können – dessen, sage ich, würde ich mich erinnern, und mir eine Wissenschaft zu eigen machen, die ich nicht wieder vergessen möchte, weil ich ihr Jünger sein darf, ohne vorher die freie Vernunft zu knebeln, und weil diese Wissenschaft fruchtbar für mich und fruchtbar für meine Mitbrüder ist.

Vortrefflich, vortrefflich, sagte Herr Bemperlein, weiter, weiter!

Ich würde also mit einem Wort, fuhr Oswald fort, mich mit aller Macht auf die Wissenschaften werfen, in denen Sie sich ja schon versucht haben, und würde mich sobald als möglich nochmals in Grünwald inscribiren lassen, diesmal aber nicht, um Theologie, sondern etwa, um Medicin zu studiren.

Die medicinische Facultät in Grünwald ist ausgezeichnet, sagte Herr Bemperlein.

Sie ist anerkanntermaßen eine der besten in Deutschland, fuhr Oswald fort. Dann würde ich noch ein paar andere Universitäten besuchen, wenn das Geld reicht –

Geld wie Heu, Geld wie Heu, rief Herr Bemperlein, sechs Jahre lang ein prinzliches Einkommen und freie Station, ich bitte Sie, Theuerster, ich habe für ein halbes Jahrhundert zu leben.

Dann würde ich ein berühmter Arzt –

Wissen Sie, sagte Herr Bemperlein, stehen bleibend und sich nach den Knaben umsehend, im Flüsterton: Ich habe schon ein Paar von Julius' Kaninchen heimlich mit Blausäure vergiftet und hernach secirt, und die Frösche in dem Sumpf hinter unserm Park haben keine Ursache, meine Freunde zu sein.

Bravo! lachte Oswald, und dann heirathete ich.

Wirklich? fragte Bemperlein.

Nun natürlich, und erzeugte ein halbes Dutzend kleiner Bemperleins, die in der Folge Alle große Bemperleins und Alle Leuchten und Fackeln der modernen Wissenschaft würden.

Auch die Mädchen? sagte Bemperlein lachend.

Die Mädchen heiratheten wieder tüchtige, wahrheitsliebende Männer, und so hülfe ich theoretisch und praktisch die Zeit herbeiführen, wo die Freiheit erscheinen wird, die wir meinen.

Ja, ja, rief Herr Bemperlein, so gehts, so gehts. Dank, tausend Dank, mein trefflicher Freund, daß Sie die letzten Wolken des Zweifels durch Ihre muthigen Worte zerstreut haben. Morgen reise ich mit Julius nach Grünwald.

Ich will Ihnen einen Empfehlungsbrief an Professor Berger mitgeben, sagte Oswald; er steht mit allen naturwissenschaftlichen Größen in Verbindung.

Er riß ein Blatt aus seiner Brieftasche, schrieb ein paar Worte an Berger darauf und übergab es Bemperlein.

Dank, besten Dank! sagte dieser, das Blatt einsteckend. Die Bekanntschaft dieses Mannes kann mir sehr nützlich werden.

Auf jeden Fall. Sprechen Sie durchaus offen gegen ihn, ohne allen und jeden Rückhalt, dann dürfen Sie aber auch versichert sein, daß er mit seiner Herzensmeinung nicht hinter dem Berge halten wird. Vielleicht empfiehlt er Ihnen, sogleich auf eine größere Universität, etwa nach der Residenz zu gehen. Folgen Sie dann seinem Rath.

Nous verrons, nous verrons! rief Herr Bemperlein. Aber da sind wir bei unserm Parkthor angekommen. Sie treten doch näher!

Nein, nein! sagte Oswald hastig, ich möchte nicht gern so spät nach Grenwitz zurückkommen.

Nun, dann leben Sie wohl! In ein paar Tagen, wenn ich Julius in Grünwald installirt, und mich über mich selbst bei Berger ordentlich informirt habe, bin ich wieder hier, um definitiv Abschied zu nehmen. Leben Sie wohl so lange, mein werthgeschätzter Freund!

Adieu, Adieu! sagte Oswald, hastig Bemperlein und Julius die Hand drückend, und Bruno mit sich zurück in den Wald ziehend, als hielte ein Engel mit dem flammenden Schwerte Wache über dem Parkthore von Berkow.

Neunzehntes Capitel

Der Knabe und er gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu stolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte beginnen sollen, der ihn ganz vergessen zu haben schien, und Oswald war mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt. In dem krystallhellen Spiegel von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte er sein eigenes Gesicht erblickt – aber wie erblickt? von Leidenschaft zerrissen, von Zweifel verdüstert, so daß er vor sich selbst erschrak. Und dieser Mann, sprach er bei sich, kommt zu Dir, sich von Dir Rath zu holen; der Sehende zu dem Blinden, der Gesunde zu dem Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung seines Lebens, und er setzt sich hin und rechnet und rechnet und ruht nicht, bis das Facit stimmt, und Alles wieder schier und glatt ist, und Du taumelst durch's Leben, wie ein leichtsinniger Kaufmann, Schuld auf Schuld häufend, von einer tollen Speculation in die andere rennend, unbekümmert darum, wie es am Zahlungstage werden soll. Jener Mann würde sich eher die Hand abhauen, als sie nach etwas ausstrecken, das er nicht verdient hätte im Schweiße seines Angesichts. – Du nimmst die Gaben der goldigen Aphrodite und was Dir sonst ein günstiges Geschick gewährt, hin, wie Dein gutes Recht und murrest nur, daß es nicht mehr ist. Jetzt bist Du schon nicht mehr zufrieden mit Melitta's Liebe, für die Du ihr auf den Knieen danken müßtest; jetzt verlangst Du, sie sollte Dich geliebt haben, ehe sie Dich kannte, sie sollte wenigstens mit ihrer Liebe auch die Erinnerung an diesen Mann verloren haben. Wenn ich die Erinnerung tödten könnte, sagte sie. Nun, was uns gleichgültig ist, vergißt man gar leicht, und was man nicht vergißt und nicht vergessen kann – das ist uns nicht gleichgültig. Also haßt sie diesen Mann? Aber der Haß ist der wilde Bruder der holden Schwester Liebe! Vielleicht liebt sie ihn noch! – Und woher kam er eben? Von ihr! ohne Zweifel. – Bruno, führt dieser Seitenweg noch sonst wohin, außer nach Berkow?

Nein, und ich finde den Weg wirklich nicht interessant genug, um ihn zweimal an einem Tage zu gehen. Hier ist ein anderer, der uns aus dem Walde herausführt und dann immer am Rande hin bis beinahe nach Hause; wollen wir den nicht einschlagen?

Meinethalben, sagte Oswald, sogleich wieder in seinen bösen Traum zurückfallend. Also wirklich von ihr! Doch das ist ja nicht möglich? »Ein rollend Rad des Weibes Brust hat gedrechselt; die Lilienhöhen decken, was wankt und wechselt« – das kann der Baron so gut wie Du in der Frithjofssage gelesen haben. Er ist ja auch ein Schriftgelehrter und dabei Baron und reich. – Dem Manne kann es gar nicht fehlen; aber Melitta soll mir Rede stehen; sie soll mir sagen, daß ich Ursache habe, den Mann zu hassen, wie ich ihn hasse.

Bruno war, durch die Breite des Weges von ihm getrennt, schweigend neben Oswald hergegangen. Er bemerkte wohl dessen Aufregung; er sah, wie sein Gesicht sich immer mehr verdüsterte, wie schmerzlich seine Lippen zuckten, wie seine Hand sich krampfig ballte; er sah, daß sein Freund nicht glücklich war. Mehr bedurfte es bei dem großmüthigen Knaben nicht, ihn alle seine persönliche Empfindlichkeit, seine eignen Klagen vergessen zu machen; er kam leise an Oswald heran und seine Hand ergreifend, sagte er:

Was fehlt Dir, Oswald? Warum sprichst Du nicht? Zürnst Du mir?

Ich Dir! mehr antwortete der junge Mann nicht; aber der Ton, mit dem er diese Worte sprach, und der Blick, mit dem er sie begleitete, waren genug, um Bruno von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen, und sie so lange zurückgestaute Fluth seiner Liebe in wildem Ungestüm hervorbrechen zu machen. Er umschlang Oswald und drückte und herzte ihn unter Thränen und Schluchzen.

Bruno, Bruno, was ist Dir? rief Oswald, durch die stürmische Zärtlichkeit des Knaben erschreckt.

Ich glaubte, Du liebtest mich nicht mehr, schluchzte Bruno, und sieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht mehr lieben willst, dann muß ich sterben.

Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen in seinem fieberhaft erregten Zustande so entsetzlich deutlich geträumt hatte, trat wieder vor seine Seele und gab dem leidenschaftlichen Worte des Knaben eine fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog er den Weinenden an sein Herz, und wiederholte sich im Stillen das Gelöbniß, diesem armen, verlassenen Knaben ein Bruder zu sein.

So standen sie, sich eng umschlungen haltend. Rothe Abendlichter spielten in den Wipfeln der Tannen; aus dem Walde tönte der sanfte klagende Gesang eines Vögeleins.

Da schlugen aus geringer Entfernung wüste, häßliche Töne an ihr Ohr, laute drohende Stimmen von Männern, die in einem heftigen Wortwechsel begriffen schienen – Schelten, Fluchen – dann auf einen Augenblick tiefe Stille und plötzlich der laute Ruf: Herr Gott! Hülfe! ist denn Niemand da! Hierher!

Oswald und Bruno, die einen Augenblick athemlos gelauscht hatten, eilten jetzt im vollen Lauf der Stelle zu, von wo der Hülferuf ertönte. Sie kamen auf einen Platz, hart am Rande des Waldes, wo Holz gefällt wurde, und zwischen den einzelnen noch stehenden Bäumen hier und da Klafter aufgeschichtet waren. Neben einem halb beladenen, mit vier Pferden bespannten Wagen lag ein Mann auf der Erde, mit Händen und Füßen um sich schlagend, ein anderer hatte sich über ihn gebeugt, ihn mißhandelnd oder beschwichtigend – man konnte es nicht unterscheiden. Als die Beiden herankamen, erhob sich dieser Letztere – es war der Inspector Wrampe – und schrie ihnen entgegen: Schnell, Herr Doctor, um Gotteswillen! Der Kerl stirbt mir unter den Händen.

In der That, das Aussehen des Mannes auf der Erde war entsetzlich genug. Das Gesicht verzerrt, die Augen verdreht, daß man nur das Weiße sah, Schaum vor dem Munde, die Fäuste geballt, der Körper in Krämpfen zuckend – kaum, daß Oswald den riesigen Knecht wieder erkannte, der damals durch seine Grausamkeit gegen seine Pferde den Zorn Bruno's herausgefordert hatte.

Oswald war an der Seite des Menschen niedergekniet, er wischte ihm den Schaum vom Munde, er band ihm die steife Binde ab, er suchte ihm eine bessere Lage zu verschaffen.

Haben Sie nichts ihm unter den Kopf zu legen? rief er dem Inspector zu, dessen rohes, bärtiges Gesicht die hülflose Angst unaussprechlich albern machte.

Unter den Kopf? unter den Kopf? hier! und dabei zog er seinen Rock aus und stopfte ihn als Kissen unter den Kopf des Mannes.

Ist kein Wasser in der Nähe? rief Oswald weiter.

Wasser in der Nähe? Nein – aber in dem Rock steckt eine Flasche – da – das mag auch wohl helfen – Herr Jesus. – –

Oswald wusch mit dem Branntwein die Stirn des Kranken, der allmälig etwas ruhiger wurde.

Wie ist denn dies gekommen? fragte er.

Ja, ich weiß es nicht, rief der Inspector mit kläglicher Stimme. Ich komme hierher geritten, weil der Kerl mir zu lange im Holz trödelt, um ihm ein bischen den Marsch zu machen. Da sitzt er bei seinem Wagen auf dem Baumstamm und regt sich nicht. Was hast Du hier zu sitzen? fragte ich. Warum soll ich hier nicht sitzen? sagte er. Bist Du wieder besoffen, Jochen? sagte ich, denn ich sah, daß er ganz wäss'rige Augen hatte und seine Schnapsflasche leer neben ihm lag. Selber besoffen, sagte er. Du bist ein ganz infamer Schlingel, sagte ich. Selber Schlingel, sagte er. Na, Herr Doctor, so was kann man sich doch nicht gefallen lassen. So ich runter vom Pferde und meinem Kerl ein paar aufgezählt. Er in der größten Wuth auf mich los – mit einem Mal fällt er, wie ein Ochs, auf die Erde – und fängt an – ach, Herr Jesus, da geht es wieder los. So was hab' ich mein Lebtag nicht gesehen.

Der Knecht bekam wieder einen Krampfanfall; Oswald selbst befürchtete das Schlimmste. Schnell, schnell, rief er, das Holz vom Wagen herunter, wir müssen ihn langsam nach Hause fahren. Unterdessen reitet einer nach dem Arzt.

Ja, ja, ich will nach dem Doctor reiten, rief der Inspector, froh, fortzukommen, und schon mit einem Fuß im Bügel.

Hier geblieben, herrschte ihn Oswald an; wie kann ich ohne Sie den Mann fortschaffen? Schämen Sie sich nicht, Herr Wrampe, daß Sie ein solcher Hasenfuß sind? Nehmen Sie sich ein Beispiel an Bruno.

Bruno hatte Oswald nach Kräften unterstützt, jetzt stand er auf dem Wagen und warf mit vollen Armen das schon aufgeladene Holz herab. Ich will zu dem Doctor reiten, Oswald! rief er herabspringend.

Es wird wohl das Beste sein, Bruno, sagte dieser. Du kennst den Weg und ich kann hier nicht fort. Schnallen Sie ihm die Bügel kürzer, Herr Inspector.

Gleich, gleich, sagte dieser, aber schon hatte Bruno es selbst gethan; mit einem Satze, ohne den Bügel zu berühren, saß er im Sattel und hatte die Zügel ergriffen. Das feurige Thier, die ungewohnte leichte Last fühlend, bäumte sich.

Es wird Sie abwerfen, Junker! sagte der Inspector.

Keine Furcht, rief der Knabe! Ihre Peitsche her! Hopp, allez! und damit hieb er das Pferd über den Hals und sprengte im Galopp davon. Oswald sah nur noch, wie er, am Rande des Waldes angekommen, über den breiten Graben setzte auf den Weg, von dem Weg über den andern Graben auf eine Wiese, um, über diese weggaloppirend, schneller die Landstraße zu gewinnen, die nach Faschwitz und von dort weiter nach dem Städtchen führte, in welchem der Doctor wohnte.

Zwanzigstes Capitel

Unterdessen hatte der Inspector und Oswald, nicht ohne einige Schwierigkeit – denn Herrn Wrampe's Riesenkraft schien durch den Schreck vollkommen paralysiert zu sein – den Kranken auf den Wagen geladen, nachdem sie zuvor von dem Heu der nahen Wiese und einigen Kleidungsstücken eine Art von Lager darauf bereitet hatten. Oswald stieg mit hinauf, um den Kranken, der sich jetzt in einem ganz lethargischen Zustande befand, nöthigenfalls zu stützten, und der Inspector lenkte die Pferde. Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht lange, da die Häuslerwohnungen auf der ihnen zugekehrten Seite der Landstraße von Grenwitz nach Faschwitz, den Wirthschaftsgebäuden gegenüber, also bedeutend näher als das Schloß selbst lagen.

Sie wissen doch, wo der Mann wohnt? fragte Oswald, als sie sich dem Dorfe näherten.

Gleich in dem ersten Hause, antwortete Herr Wrampe, sich in dem Sattel umdrehend und mit dem Peitschenstiel auf ein Häuschen zeigend, das eher einem großen Hundestall als einer kleinen Menschenwohnung glich.

Ist er verheirathet?

Gewesen, antwortete Herr Wrampe; er hat das arme Weib – hier unterbrach er sich, einen scheuen Blick auf das blasse Gesicht des Mannes werfend, als wollte er sagen: von Todten und Todtkranken darf man nur das Beste sprechen.

Hat er Kinder?

Zwei, da sind sie vor der Thür mit Mutter Clausen. Mutter Clausen, he! der Jochen hat das böse Wesen gehabt, bringen Sie doch die Kinder in's Haus, daß sie sich nicht erschrecken. So rief der Inspector, den das Gefühl seines Unrechts außerordentlich zartfühlend gemacht hatte, einer alten Frau zu, die im letzten Abendsonnenschein vor der Thür der Hütte saß, während zwei kleine Kinder zu ihren Füßen im Sande spielten.

Als die alte Frau aufblickte, erkannte Oswald dieselbe Alte, mit welcher er auf dem Wege zur Kirche gestern Morgen auf dem Moor die sonderbare Unterredung über Unsterblichkeit gehabt hatte. Die Alte warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk, ergriff die Kinder, führte sie in's Haus, und kam wieder heraus, als der Wagen eben vor der Thür still hielt.

Ist er toht? fragte sie, an den Wagen tretend.

Nein, Mütterchen! sagte Oswald.

Ah, sieh, der junge Herr von gestern! Na, das gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit den armen Menschen. – Tragt ihn nur hier herein, ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht.

Der Inspektor und Oswald hoben den Mann, der vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn, nicht ohne sich zu bücken, durch die Hausthür über den kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett. Die Alte folgte, hieß den Inspektor, ihr den Mann entkleiden helfen und sagt ihm dann:

So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und ich wollen schon mit dem Jochen fertig werden.

Der Inspektor ließ sich diese Erlaubnis nicht zweimal sagen; mit einigen unverständlichen Worten drückte er sich aus dem Staube, und Oswald sah nur durch das Fenster, wie er draußen, eher er das Sattelpferd bestieg, einen langen, langen Schluck aus seiner Flasche that, als ob er nach solcher geistigen und körperlichen Anstrengung einer Erquickung ganz besonders bedurfte.

Oswald hatte sich am niedrigen, offenen Fenster auf einen Schemel gesetzt, und schaute sich in dem Zimmerchen um. Man erkannte auf den ersten Blick, daß hier in diesem Häuschen ein guter Geist waltete, der aber sicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde dort auf dem Bett seine Wohnung aufgeschlagen hatte. Das Bett war frisch überzogen, die Zimmerdecke, die Wände waren sorgfältig gereinigt, der Fußboden mit Sand bestreut. Die Luft im Zimmer war frisch, die kleinen Fensterscheiben so klar, wie es ihre grünliche Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clausen hatte am Bett gesessen, und, wie Oswald aus einigen wunderlichen Manipulationen schloß, irgend eine magnetische Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt in einen erquickenderen Schlaf zu fallen schien. Sie stand auf und sagte: Ich will die Kinder zu Bett bringen, Sie bleiben doch so lange hier?

Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte sie davon, kam nach einer Viertelstunde wieder und setzte sich zu dem jungen Mann an das Fenster. Sie hatte ein Strickzeug in der Hand und strickte mit einer für ihr Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinderstrümpfchen. So saß sie da, halb nach dem Kranken horchend, bald die Maschen an ihrem Strumpfe zählend, bald Oswald aus ihren grauen, tiefliegenden Augen forschend und freundlich ansehend.

Ich weiß nicht, was das ist, sagte sie plötzlich, als ein rother Streifen der untergehenden Sonne durch das Fenster auf Oswald's Gesicht fiel, ich muß Sie schon mal gesehen haben.

Nun ja, sagte Oswald, gestern Morgen auf der Haide.

Nein, nein – nicht gestern, vor einigen Jahren, so vor vierzig – fünfzig etwa und darüber.

Wie alt sind Sie denn, Mütterchen? fragte Oswald verwundert, fünfzig Jahre und darüber als einige Jahre verzeichnet zu hören.

Nächstes Christfest werde ich zwei und achtzig Jahr, antwortete die Alte, wieder emsig strickend, als erinnere sie diese Frage, daß sie keine Zeit mehr zu verlieren habe.

Zwei und achtzig Jahre! rief Oswald erstaunt; und haben Sie während der Zeit hier stets im Dorfe gelebt?

Ja, immer hier; hier und auf dem Schlosse. Dort bin ich geboren, am heiligen Christabend im Jahre Eintausend Siebenhundert Vierundsechzig, an demselben Tage und zur selbigen Stunde, wie der Vater von dem verstorbenen Baron –

Wie lange ist der nun toht?

Nun, es ist jetzt so ein vierzig Jahre her, er wäre jetzt ebenso alt wie ich, zwei und achtzig Jahre, hm, hm, zwei und achtzig Jahr – wie der wohl aussähe – auch so verschrumpft? und war ein schmucker Bursch – ei, das war ein schmucker Bursch!

Die Erinnerung an den drittletzten, längst verstorbenen Baron von Grenwitz schien der Alten eine besonders merkwürdige zu sein; sie ließ die magern, braunen Hände mit dem Strickzeug in den Schooß sinken, und starrte gedankenvoll vor sich hin. Ein schmucker Bursch, murmelte sie noch einmal, und die verschrumpften Züge erhellte ein freundliches Lächeln, dann traten zwei große Thränen aus den gesenkten Wimpern und rollten langsam über die runzligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände ... Was mochte sie in diesem Augenblicke erschauen, die alte Frau? Sah sie sich wieder, wie sie vor fünfundsechzig Jahren war, ein schlankes, bildhübsches Ding mit großen grauen, blitzenden Augen und prächtigem reichen, dunkel-blondem Haar, so wie sie damals war, als sie sich des Nachts heruntergestohlen hatte in den Schloßgarten, um dem Junker ein Stelldichein zu geben, dem wilden Junker, mit dem sie zusammen aufgewachsen war, wie eine Schwester, und den sie wie einen Bruder liebte und wie ihren Herzallerliebsten, und der ihr schwur, er wolle sie zur gnädigen Frau machen, so bald er einmal der Herr sei in Grenwitz. Damals war sie jung gewesen und er war jung gewesen; und die Sonne hatte in jener alten Zeit so warm und mild geschienen in ihr junges, morgenfrisches Herz, und die Lerchen hatten so lieblich ihr Triliri gesungen und der Mondschein war auf so leisen Füßen im Park herumgeschlichen, daß er nicht einmal die Nachtigall störte, die in dem Gebüsche so klagte und schluchzte, als ob ihr das kleine volle Herz brechen wolle vor Liebessehnsucht und Liebespein – denn ach! der Junker war dann fortgereist, weit, weit fort – über's Meer, von seinen Eltern nach Schweden geschickt zu seinen Verwandten, damit die dumme Geschichte mit der Lise ein Ende nehme; und er sandte ihr kein Wort, keinen Gruß ein, zwei, drei Jahre lang, und als er wieder kam von Schweden – da, heiliger Gott! war er nicht allein – eine schöne, junge Frau saß bei ihm im Wagen, und die alten Herrschaften waren glücklich, und die Dienerschaft schrie Hurrah – und sie tanzten und jubelten. – Aber in dem dichtesten Gebüsch des Schloßgartens hatte sich ein Mädchen versteckt, die hübscheste von allen Dirnen weit und breit, und die schluchzte leise, leise vor sich hin, wie Thräne auf Thräne über ihre Wangen rollte, und von den vielen Thränen waren ihr die schönen Augen tief in den Kopf gesunken, und die blonden Haare waren grau geworden, und – und da saß sie nun, eine alte, steinalte Frau – und noch immer flossen ihr die Thränen über die runzligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände.

Ein schmucker Bursch, sagte sie, wie ich mein Lebtage keinen wieder so schmuck gesehen habe, bis gestern Morgen, als Sie plötzlich auf der Haide vor mir standen. Da kamen Sie mir gleich so bekannt vor, und nun weiß ich auch, warum. Mit Verlaub, Junker, wie alt sind Sie jetzt?

Drei und zwanzig Jahr.

Drei und zwanzig Jahre, ja ja, ich wußte es wohl, drei und zwanzig Jahre – Du bist jung geblieben und bist noch immer so gut und schön.

Wieder sah sie Oswald an, aber nicht mit dem spürenden, suchenden Blick, wie vorher, sondern klar und deutlich, wie eine Ahne blickt, die einen Enkel an ihrem Lehnstuhle spielen sieht. Auf einmal stand sie auf, trat an Oswald heran, und ihm die welken, zitternden Hände auf's Haupt legend, sagte sie langsam und feierlich mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören, die aus einer andern Welt herüberzuschallen schien: Der Herr segne und behüte Dich, Oskar! Dann setzte sie sich wieder auf ihren niedrigen Schemel und strickte wieder emsig, emsig, daß die Nadeln klapperten und dazu nickte sie mit dem grauen Haupte, und lächelte selig vor sich hin, als erzählte ihr eine Stimme, die nur sie allein hörte, ein altes, längst verschollenes, wunderherrliches Märchen von Jugend und Liebe und Nachtigallengesang.

Einundzwanzigstes Capitel

In dem niedrigen Zimmer begann es zu dunkeln; die Nadeln der Alten klapperten immer hastiger, die Schwarzwälder Uhr in der Ecke pickte lauter und lauter in der tiefen Stille, und Oswald saß noch immer am offenen Fenster, den Kopf in die Hand gestützt, wie im Traum.

Das Geräusch eines Wagens, der die Dorfgasse hergefahren kam, erweckte ihn. Ein mit zwei Pferden bespannter leichter Holsteinerwagen hielt vor der Hütte still, ein Mann stieg rasch hinab und trat alsbald in die Stube.

Guten Abend, sagte eine klare, etwas scharfe Stimme. Herr Doctor Stein? – freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. – Mein Name ist Braun. Bruno hat mir schon erzählt, daß ich hier einen barmherzigen Samariter finden würde – wo ist denn unser Patient – ach! dort im Bett, – wie wär's, liebe Alte, wenn Sie uns etwas Licht verschafften, unterdessen ist Herr Doctor Stein so gut, und erzählt mir, was er von dem Falle weiß, nicht wahr?

Oswald gab, so gut er es vermochte, eine Schilderung dessen, was er gesehen hatte.

Ich dachte es mir schon, sagte Doctor Braun; es ist ein Anfall von Epilepsie. Hat Ihr Sohn sonst schon an diesen Zufällen gelitten, fragte er die Alte, die jetzt, ein dünnes Talglicht mit der Hand schützend, so daß nur ein schwacher Schimmer desselben auf ihr runzliges Gesicht fiel, wieder in das Stübchen trat.

Es ist nicht mein Sohn, auch war seine Frau nicht meine Tochter, sagte Mutter Clausen, das Licht auf einen Schemel vor das Bett setzend; aber seine Kinder sind meine lieben Enkelchen.

Der Doctor warf einen forschenden Blick in das Antlitz der alten Frau – und dann schweifte sein Auge fragend zu Oswald hinüber – aber er hielt die Bemerkung, die er auf den Lippen hatte, zurück, nahm das Licht und leuchtete in das Gesicht des Kranken.

Oswald nahm es ihm aus der Hand; erlauben Sie, daß ich Ihnen leuchte.

Danke, sagte der Doctor, den Kranken untersuchend.

Während dessen betrachtete Oswald sich den Ankömmling genauer. Es war ein Mann zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren, schlank und etwas dürr, in einen einfachen, bequemen, aber eleganten Sommeranzug gekleidet. Der Kopf war außerordentlich wohlgeformt, und mit sehr dunklem Haar bedeckt, das zu dicht zu sein schien, um sich locken zu können und jetzt in einer eigenthümlichen, nicht unschönen Weise wie ein niedriges Barret um die feste, über die Augen etwas vorspringende Stirn stand. Die Nase war in keine bestimmte Kategorie zu bringen, aber fein und ausdrucksvoll, ebenso wie der Mund, dessen Lippen scharf und zart zugleich geformt waren, als ob sie sich zu einem hübschen, geistreichen Wort vollends öffnen würden. Kinn und Wangen umzog ein dichter, glänzender Bart, der mit dem Haupthaar harmonirte, und den männlich-schönen Ausdruck des Gesichts vollendete. Auch bemerkte Oswald, während der Doctor die Augenlider des Kranken hob, daß seine Hände von einer fast frauenhaften Zartheit und Schönheit waren.

Es ist, wie ich dachte, sagte Doctor Braun, sich emporrichtend, ein epileptischer Anfall. Ich kann nichts verschreiben, da die Natur sich hier selbst hilft. Für den Augenblick ist nur Ruhe nöthig. Morgen wird der Mann noch etwas schwach, sonst aber wieder ganz gesund sein.

So sind dergleichen Zufälle nicht gefährlich? fragte Oswald.

Sie können letal werden, antwortete der Doctor, zumal wenn, wie ich stark vermuthe, der Kranke ein Potator ist. An eine radicale Heilung ist nicht zu denken, wenigstens nicht unter diesen Verhältnissen, da die Kur eine sehr langwierige ist.

Ich hatte mich schon darauf gefaßt gemacht, einen Theil der Nacht hier bleiben zu müssen, sagte Oswald, das ist denn also wohl nicht nöthig?

Gott bewahre! Ruhe, wie gesagt, ist die einzige Erforderniß. Der Mann ist Wittwer? sagte er, sich in der Stube umsehend.

Die Anne ist todt, sagte Mutter Clausen. Aber ich will schon wachen über den Jochen. Alte Leute, wie ich, brauchen nicht viel Schlaf; wir werden bald Zeit vollauf dazu haben. Gehen Sie nur ruhig nach Hause, Junker. Du bist brav, das hab' ich ja immer gesagt. Adjies, Herr Doctor, schönen Dank für den Jochen, da er sich nicht selber bedanken kann, und sich vielleicht auch nicht einmal bedankte, selbst wenn er könnte. Adjies Junker.

Damit leuchtete sie den Beiden zur Thür und zum Hause hinaus.

Wollen Sie mich nicht noch eine Strecke begleiten? sagte der Doctor, als sie vor der Thüre standen. Ich fahre von hier über Berkow, wo ich noch im Dorfe einen Besuch machen muß, nach Hause, und Sie können ja absteigen, wo Sie wollen. Der Abend ist wahrhaft ambrosisch, und in Grenwitz kommen Sie zum Abendbrod doch schon zu spät, wie ich Ihnen aus bester Quelle berichten kann, da ich selber dort zu Abend gegessen habe.

Sie dort zu Abend gegessen? sagte Oswald, sich zu dem Doctor in den Wagen setzend; hat Sie denn Bruno nicht von B. geholt?

Der arme Junge hat den Weg vergeblich gemacht; denn während er ventre à terre dorthin jagte, saß ich schon ruhig in Grenwitz.

Und was führte Sie denn nach Grenwitz? wenn man fragen darf.

Der Doctor lachte. O tempora, o mores – da sieht man es! Der Mentor beschützt und hütet anderer Leute Kinder, und weiß nicht, daß sein lieber Telemach todtkrank zu Hause liegt.

Sie belieben zu scherzen.

Allerdings scherze ich; Malte ist so gesund, wie ein Junge, der morgen die Schule schwänzen will, nur sein kann. Aber da der Baron und die Baronin in der Erschöpfung, welche bei einem solchen Zuckerpüppchen nach einer längeren Promenade sehr natürlich ist, die Anzeichen eines heranziehenden Typhus zu erkennen glaubten, und keine Stimme im hohen Rathe sich dagegen erhob, so mußte denn natürlich schleunigst zu dem Unglücklichen geschickt werden, der das wenig beneidenswerthe Vorrecht hat, allen Unsinn, der den Leuten durch den Kopf geht, ausbaden zu müssen – ich meine, zum Arzt. Und während ich nach dem Abendbrod – welches, wie Sie wissen, oder wie die Baronin sagt, wenigstens wissen müßten – in Grenwitz stets pünktlich um acht Uhr servirt wird, eben in den Wagen steigen wollte, kommt der Prachtjunge, der Bruno, wie der Georg in Götz von Berlichingen in voller Carrière auf den Schloßhof gesprengt. – Sie hätten das Entsetzen des Barons und der Baronin sehen sollen! – Die guten Leute hätten nicht mehr erschrecken können, wenn der Raugraf aus der Bürger'schen Ballade mit Holla und Hussassa über den Hof geritten wäre – und verkündete in athemloser Hast, der Jochen läge auf den Tod und Doctor Stein wäre bei ihm, und er bäte mich, doch so schnell wie möglich zu kommen. – Aber Apropos, wie ist das? Die Alte nannte Sie Junker, ich vermuthe daraus, daß ich in Zukunft Herr von Stein werde sagen müssen.

Weshalb nicht gar Freiherr! lachte Oswald, dem die Weise seines neuen Bekannten sehr gefiel. Nein, ich bin eben so wenig adelig, wie Mutter Clausen eine Königin ist, und ich habe keine Ahnung, weshalb die gute Alte, die ich übrigens gestern zum ersten Male gesehen habe, durchaus einen Junker aus mir machen will.

Das ist eine sonderbare alte Frau, sagte der Doctor. Sehen Sie, wie schön der Mond sich dort über den Waldrand erhebt, und wie duftig der Nebel über den Wiesen liegt! – eine sonderbare Frau. Ich erinnere mich jetzt, daß sie mir auch sonst schon aufgefallen ist, sie sieht aus wie – nun, wie nur gleich?

Wie eine alte, alte Frau aus irgend einem Grimm'schen Märchen, die sich gelegentlich in die allerschönste Prinzeß von der Welt verwandelt.

Ja, ganz recht, sie hat ein wunderbares Feuer in ihren eingesunkenen Augen. Es ist einem, als ob das alte Gesicht nur eine Maske für eine noch immer jugendliche Psyche sei.

So ist es auch, sagte Oswald, und er erzählte dem Doctor die sonderbare Unterhaltung, die er mit Mutter Clausen gestern Morgen auf der Haide gehabt, und wie ihm die Rede der alten Frau so natürlich und wahr erschienen sei, wie der Gesang der Haidelerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach die Predigt des eitlen Pastors auf ihn gemacht habe.

Ja, ja, sagte der Doctor, Goethe's Wort bleibt ewig wahr: Es ärgert die Menschen, daß die Wahrheit so einfach ist. Um den Leuten weiß zu machen, sie sei ein wunder wie großes Wunder, behängen sie dieselbe mit allerlei bunten Fetzen und Lappen, und führen sie dann in Prozession umher. Solche Menschen aber, wie unsere Alte da, lesen nur ein Capitel in dem großen Buche des Alls, aber sie lesen wieder und immer wieder, sechzig, siebzig Jahre lang, bis sie es auswendig wissen. Und da das Ganze ja doch aus einem Geiste geschrieben ist, so kommen sie schließlich weiter, wie die große Heerde der Halb-Viertel- und Achtel-Gebildeten, die in unruhiger Hast das Buch von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern, überall etwas heraus klauben und am Ende denn doch so klug oder so dumm bleiben, wie sie im Anfang waren.

Ja wohl, sagte Oswald, ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung ist zum Beispiel die Baronin von Grenwitz. Was hat diese Frau nicht alles gelesen: deutsch, französisch, englisch, schwedisch; Heiliges und Profanes, die besten und die dümmsten Bücher. Einmal treffe ich sie über Rousseau's Confessions, das andere Mal über einem Romane von Van der Velde; heute liest sie Schleiermachers Reden über Religion und morgen die letzte Schauergeschichte von Dumas oder Eugen Sue – sie urtheilt in einzelnen Dingen vollkommen richtig; aber so wie die Rede auf die summa arcana, die höchsten Geheimnisse des menschlichen Denkens kommt, oder so wie sie auch nur die Menge einzelner richtiger Beobachtungen in einem allgemeinen Satze formuliren soll, beginnt sie zu faseln und bringt so alberne, abgedroschene, aristokratische Gemeinplätze zu Tage, daß einem Hören und Sehen vergeht.

Diese Disposition der gnädigen Frau kann, deucht mir, gerade nicht zur Erhöhung der Annehmlichkeit Ihrer Stellung in Grenwitz beitragen, bemerkte der Doctor.

Allerdings, sagte Oswald leichthin; ich suche indessen diesen Zusatz von Wermuth dadurch abzuschwächen, daß ich den philosophischen Expectorationen der Dame so viel als möglich ausweiche, und mich überhaupt in meinem Verhältnisse zu der übrigen Familie auf das Nothwendige beschränke.

Sollten Sie die Grenzen, die Sie sich dabei im Interesse Ihrer Zeit und Ihrer guten Laune ziehen zu müssen glaubten, nicht etwas zu eng gesteckt haben? sagte der Doctor, die Asche seiner Cigarre an der Lehne des Wagens abklopfend.

Wie das? fragte Oswald nicht ohne einige Verwunderung.

Sie verzeihen meine Indiscretion, sagte der Andere, sich noch etwas mehr zu Oswald herüber wendend, und ihn mit seinen hellen, klugen Augen voll ansehend. Sie wissen, daß wir Aerzte, wir mögen wollen oder nicht, zu der leidigen Rolle des Vertrauten in allen Familien, wo wir ein- und ausgehen, verdammt werden. Auf einem oder dem anderen Punkte hängt schließlich alles mit der physischen Natur, die wir zu controliren haben, zusammen, und so kommt denn nach und nach auch Alles vor unser Forum, selbst solche Dinge, die vor jedes andere eher zu gehören scheinen, als vor das ärztliche. Und wenn die Sache schließlich in gar keinem Zusammenhange mit der Diätetik des Leibes und der Seele steht, so denken die Leute: hast du ihm so viel gesagt, kannst du ihm das auch noch sagen. So konnte denn auch heute die Baronin die Bemerkung nicht unterdrücken – ich bin hier nicht darauf aus, Ihnen etwas Schmeichelhaftes oder Unangenehmes zu sagen, sondern einen Wink zu geben, den Sie beachtet oder unbeachtet lassen mögen, wie es Ihnen gut erscheint, – daß also Sie, der Sie die Gabe angenehmer Unterhaltung – ich brauche hier die Worte der Baronin – in einem so hohen Grade besäßen, und sich in den Formen des Umgangs mit solcher Leichtigkeit bewegten, es verschmähten, von diesen Gaben den rechten Gebrauch zu machen, was um so mehr zu bedauern wäre, als durch diese Zurückhaltung – ich spreche immer noch in den Worten der Baronin – Malte, der nun einmal ein häuslicher Knabe sei und sich im Schooße der Familie am wohlsten fühle, um einen Theil der Vortheile käme, die er aus Ihrer Gesellschaft und aus dem intimen Verhältnisse mit Ihnen ziehen könnte und ziehen würde.

Es ist doch sonderbar, sagte Oswald nach einer kleinen Pause, welch' sonderbare Käuze wir Adamskinder sind. Das, was Sie mir da sagen, hab' ich mir schon mehr als einmal gesagt; habe mir gesagt, daß, nachdem ich mich einmal dazu verstanden habe, dem Wohle einer Familie meine Zeit und meine Kraft zu verkaufen, ich mich auch wohl zu anderen Concessionen würde verstehen müssen – und jetzt, da ich dasselbe von Ihnen höre, berührt es mich doch unangenehm ... Aber seien Sie versichert, daß ich wahrlich nicht Ihnen, daß ich einzig und allein mir zürne, und zwar deshalb zürne, weil mich ein in so freundlicher Absicht ertheilter Wink auch nur einen Augenblick stutzig machen konnte.

Ich war gewiß, sagte der Doctor, daß ich es mit einem Manne zu thun hatte, der die Spreu vom Weizen zu sondern weiß; wäre ich das nicht gewesen, seien Sie überzeugt, ich hätte geschwiegen.

Wiederum trat eine Pause in dem Gespräch der jungen Männer ein; der Doctor bereute im Stillen, daß ihm seine Gutmüthigkeit, wie schon so oft, das undankbare Geschäft des ungebetenen Rathgebers aufgenöthigt hatte; Oswald verfolgte den in ihm angeregten Gedanken und schien ganz vergessen zu haben, daß die hohen Stämme der Tannen sehr schnell an ihm vorüberglitten und die raschen Pferde des Doctors den Weg zwischen Grenwitz und Berkow fast schon zurückgelegt hatten. Er fuhr erschrocken in die Höhe, als er rechts vom Wege durch die Zweige ein Licht schimmern sah. Er wußte, es kam aus dem Fenster der Försterwohnung von Berkow. Auf der entgegengesetzten Seite führte ein schmaler Pfad zu der Lichtung im Walde, auf der Melitta's Eremitage stand. An derselben Stelle des Weges, an der sie eben jetzt anlangten, hatte ihn gestern der Wagen des Barons erwartet.

Bitte, lassen Sie hier halten, sagte er hastig zum Doctor. Ich sehe zu meinem Schrecken, daß wir beinahe bis Berkow gekommen sind. Es ist die höchste Zeit, daß ich zurückkehre.

Der Wagen hielt; Oswald stieg aus.

Ich hoffe, sagte er, dem Doctor die Hand reichend, daß dies nicht die einzige und nicht die längste Strecke gewesen ist, die wir auf unserem Lebenswege zusammen fahren oder gehen werden.

Ich hoffe und wünsche dasselbe, antwortete der Andere, es scheint mir, als ob wir in unserm Denken und Fühlen manches Gemeinsame haben, und einer wahlverwandten Natur zu begegnen, ist ein viel zu kostbares Glück, als daß man es leicht verscherzen dürfte. Jedenfalls komme ich bald wieder in diese Gegend. Leben Sie wohl indessen.

Der Wagen rollte davon, bald verhallte der Hufschlag in der Ferne; das Licht in der Försterwohnung erlosch – Oswald war allein mit der Nacht und dem Schweigen.

Und alsbald trat das Bild Melitta's vor seine Seele und glitt vor ihm her den schmalen Waldpfad entlang, auf dem er jetzt heimlich und leise, wie ein Wilddieb, hinschritt. Da trat er hinaus auf die Lichtung, und blieb erschrocken, wie wenn ein Blitz an seiner Seite eingeschlagen hätte, stehen – aus dem Fenster der Eremitage schimmerte Licht! Melitta, die er auf dem Schlosse glaubte, war hier, hier – fünfzig Schritte von ihm entfernt – er brauchte nur über den Wiesenteppich zu gehen und die paar Stufen der Treppe zu er steigen – die Thür zu öffnen – Oswald lehnte an dem Stamm der Buche, sein wild schlagendes Herz ein wenig zu beruhigen. Und wenn ihn hier Jemand sähe, wenn er Melitta's Ruf leichtsinnig auf's Spiel setzte! Athemlos horchte er in die dunkle Nacht hinein. Nichts vernahm er, als die wunderlichen geheimnißvollen Stimmen, die man am Tage niemals hört, und die mit der Nacht geboren werden: ein Raunen und Flüstern oben in den Zweigen, ein Rascheln und Knistern in dem trocknen Laub am Boden – das dumpfe Gebell eines Hundes drüben aus dem nahen Dorfe. Ein Nachtaar kam auf seinem wirren Fluge bis dicht an sein Gesicht geflattert und schoß dann wieder davon. Sonst rings umher tiefe drückende Stille. Da schlug ein dumpfer, drohender Laut an sein Ohr. Er kam aus der breiten Brust von Melitta's Dogge, die vor dem Eingange der Eremitage Wache hielt. Der treue Wächter mußte die Nähe eines Fremden gespürt haben, denn er erhob sich, sprang die Treppe hinab und umkreiste das Haus, wie ein Schäferhund seine Hürde.

Bonceur, rief Oswald leise, als das Thier in seine Nähe kam, ici!

Das kluge Thier stutzte bei dem wohlbekannten Ruf, den es so oft aus seiner Herrin Munde vernommen, und kam, Oswald erkennend, in raschen Sprüngen auf ihn zu, und legte ihm als Willkomm die mächtigen Tatzen auf Brust und Schulter.

So, sagte Oswald, das schöne Thier streichelnd: so, Bonceur, Du erlaubst also, daß ich zu Deiner Herrin gehe? Komm?

Den Hund an den zottigen, langen Haaren festhaltend, schritt Oswald über die Wiese. Auf der Treppe übertönten die Tatzen Bonceurs den leichten Schritt Oswald's; so schlich er sich auf der Galerie, die sich um das Häuschen zog, hin, bis er an das Fenster kam. Das Fenster stand auf, durch den venetianischen Epheu hindurch, mit dem es dicht berankt war, sah Oswald hinein in das Zimmer. Auf dem Tisch brannte eine Lampe, deren Glocke mit einem rothen Schleier bedeckt war, so daß der Venus heiliges Bild in dem warmen Licht wie lebend erschien. Zu den Füßen des Bildes saß Melitta, Oswald halb das Gesicht zukehrend an dem Tische. Sie hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen, aber offenbar las sie nicht; die feine Hand, auf die sie den Kopf stützte, in dem dunklen reichen Haar begraben, schien sie in tiefe Träumereien versunken. Ein unaussprechlich rührender Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und halb von unaussprechlicher Seligkeit lag auf ihren reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es kaum über sich, das einzig schöne Bild, das sich ihm in dem Rahmen des kleinen Fensters zeigte, zu zerstören. Endlich nannte er leise ihren Namen.

Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen Augen auf das Fenster heftend, lauschte sie einen Moment. Aber dann lächelte sie wehmüthig, als wollte sie sagen: es war nur ein Traum und stützte das Haupt wieder in die Hand.

Melitta, ich bin's. –

Diesmal hatte sie es nicht geträumt. Mit einem Freudenschrei fuhr sie empor, nach der Thür, Oswald entgegen – sie schlang ihren Arm um seinen Hals, preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf seinen Mund, sie legte ihren Kopf an seine Brust – sie schaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: Sieh, Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte: wenn er Dich liebt, so wird, so muß er heute kommen, und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald, nicht wahr, Du liebst mich? nicht, wie ich Dich liebe, aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?

Sprachlos vor Rührung und Seligkeit umschlang Oswald das geliebte Weib.

Melitta, Du bist so grenzenlos gut und schön, daß, wer Dich liebt, Dich grenzenlos lieben muß!

Vor der Thür der Eremitage, auf einer Strohdecke, den riesigen Kopf zwischen den Vordertatzen, liegt Boncoeur. Die schnelle Bewegung seiner Ohren, sobald ein Geräusch aus dem Walde herübertönt, zeigt, daß er gute Wache hält. Er würde den, der es wagte, in dies Heiligthum der Liebe zu dringen, zerreißen.

Zweiundzwanzigstes Capitel

Es waren seit diesem Abend einige Tage verflossen.

Bemperlein war mit Julius nach Grünwald abgereist und hatte von dort aus schon an Melitta und an Oswald geschrieben, der Ersteren, um zu melden, daß sein Zögling in der sehr liebenswürdigen Familie eines Beamten, der zwei Söhne fast in demselben Alter, wie Julius habe, glücklich untergebracht sei; an Oswald, daß er eine höchst interessante Unterredung mit dem Professor Berger gehabt habe, deren Inhalt er seinem neuen Freunde mittheilen wolle, wenn er in nächster Woche nach Berkow zurückkäme, um definitiv Abschied zu nehmen. Nur so viel wolle er sagen, daß er in seinem Entschlusse fester als je sei und kaum die Zeit erwarten könne, sich Hals über Kopf in seine neuen Studien zu stürzen.

Den Tag nach Herrn Bemperlein's Abreise war der Geometer von Grünwald in Grenwitz angekommen, aber nur ein paar Stunden geblieben, um mit dem Baron und der Baronin zu conferiren, und dann nach dem zweiten Gute, das vermessen werden sollte, gefahren, wo er für's Erste sein Wigwam aufschlagen müßte, wie er zu Oswald sagte. Oswald hatte in dem Geometer einen sehr lebhaften, witzigen und, wie es schien, sehr belesenen und vielfach gebildeten, noch jungen Mann kennen gelernt, und er freute sich, diese Bekanntschaft fortsetzen zu können, da Herr Timm in kurzer Zeit nach Grenwitz kommen mußte, um die Karten und Pläne zu zeichnen. Schon waren von der stets weit vorausschauenden Baronin zwei Zimmer in demselben Flügel des Schlosses, in welchem Oswald wohnte, für ihn bestimmt und schicklich eingerichtet.

Auf den Sonntag waren die Herrschaften von Grenwitz nebst Herrn Doctor Stein zu Herrn von Barnewitz, dem Vetter Melitta's eingeladen. Oswald hatte große Lust gehabt, diese Einladung rundweg auszuschlagen, und hatte sich nur auf Melitta's Zureden bewegen lassen, von der Partie zu sein.

Was soll ich dort? hatte er zu Melitta gesagt, man ladet mich nur ein, entweder, weil es an Tänzern fehlt, oder, um dem alten Baron eine Höflichkeit zu erweisen, in keinem Fall um meiner selbst willen. Ich werde in der Gesellschaft wie ein Mohikaner unter den Irokesen, wie ein Spion im Lager angesehen werden. Ich kenne den Adel. Der Adelige ist nur höflich und liebenswürdig gegen den Bürgerlichen, so lange er mit ihm allein ist; sind mehrere Adelige bei einander, so fließen sie zusammen wie Quecksilber und kehren gegen den Bürgerlichen den esprit de corps heraus. Ich sage Dir, Melitta, ich kenne die Adeligen und hasse die Adeligen.

Aber Du liebst doch mich, Oswald, und ich gehöre doch auch zu der verfehmten Klasse.

Leider, sagte Oswald, und es ist das der einzige Fehler, Du Holde, den ich an Dir habe entdecken können. Aber dann bist Du so engelgut und lieb, und da gehst Du durch diesen Schwefelpfuhl, ohne auch nur den Saum Deines Gewandes zu beflecken. Und so sehr Du auch im Vergleich mit diesen eiteln, dummen Pfauen gewinnen mußt, so fürchte ich doch, daß von dem feurigen Haß, den ich gegen die ganze Sippschaft habe, unversehens auch ein Funken auf Dich spritzen könnte. Jetzt bist Du mir eine Königin, eine Chatelaine, die aus ihrem Schloß sich weggestohlen hat, den Herzallerliebsten flüchtig zu umarmen, und ich vergesse Deinen Rang, Deine Hoheit hier in dieser traulichen Waldeinsamkeit, Du bist mir nur das geliebte, angebetete Weib, die Krone der Schöpfung, bist, was Du mir auch im Gewande der Bettlerin sein würdest – dort aber im kerzenhellen Saale, umgeben von Deinen Granden, von Allen gehuldigt und gefeiert, kann ich meine Augen vor dem Glanze nicht verschließen, und werde schmerzlich daran erinnert werden, daß ich aus meiner Niedrigkeit nicht hätte wagen sollen, sie zu solcher Höhe zu erheben.

Sieh, Oswald, sagte Melitta, und ihre Augen ruhten fest in den seinen; ist das nun gut von Dir? Spottest Du nicht meiner, indem Du so sprichst? Höre ich es nicht in dem herben Ton Deiner Stimme, sehe ich es nicht an dem unruhigen Blitzen Deiner Augen, das so seltsam mit ihrem sonstigen tiefen, klaren Licht contrastirt, daß Du recht wohl fühlst, wie Du kraft Deines Geistes, kraft Deiner stolzen männlichen Schönheit und Stärke unter uns Andern einherschreitest, wie der geborene Herrscher? – Ich habe mich Dir ergeben mit Leib und Seele, Du bist mein Herr und Gebieter, ich würde mich selbst Deiner tollsten Laune willig fügen, ich würde von Dir das Bitterste ertragen, von Deiner Hand würde mir der Tod nicht grausig sein – aber weshalb auch nur einen Tropfen Wermuth in den Kelch der Liebe mischen, aus dem ich mit so vollen, durstigen Zügen schlürfe. Oswald, spotte meiner nicht!

Ich spotte Deiner nicht, Melitta; ich bin von Deiner Liebe überzeugt, trotz dem, daß ich sie wenig genug verdiene; ich weiß, daß Deine Liebe demüthig ist, wie es die Liebe ist, die Alles duldet und Alles glaubt, und nimmer aufhören wird – aber sieh, Du Theure, das ist ja eben der Fluch dieser verruchten Institutionen, daß sie Haß und Zwietracht und Mißtrauen säen in die Herzen der Menschen, selbst in solche Herzen, die von Gott für einander geschaffen scheinen. Und dieser giftige Samen wuchert auf und überwuchert der Liebe rothe Rosen. Ich schelte Dich nicht, daß dem so ist, ich schelte überhaupt keinen Einzelnen, der ja, ohne es vielleicht zu wissen, unter dieser naturwidrigen Trennung ebenso leidet wie ich. Aber daß dem so ist, davon sei überzeugt. Nie wird der Katholik in dem Protestanten, der Adelige in dem Bürgerlichen, nie der Christ in dem Juden und umgekehrt wahrhaft seines Gleichen sehen – seinen Bruder! Nathan's frommer Wunsch, daß es dem Menschen doch endlich genügen möge, ein Mensch zu sein, ist noch lange nicht erfüllt. Wer weiß, ob er in Jahrhunderten erfüllt sein, ob er sich auch nur jemals erfüllen wird.

Und bis dahin, sagte Melitta in ihrem gewöhnlichen schalkischen Ton, Oswald das Haar aus der Stirn streichend, bis dahin, Du träumerischer Träumer und unverbesserlicher Weltverbesserer, wollen wir die kurzen Augenblicke genießen, und deshalb mußt Du morgen nach Barnewitz kommen. Bitte, bitte, lieber Oswald, ich will auch nur mit Dir sprechen, nur mit Dir tanzen – ich muß in diese eine Gesellschaft gehen, um das Recht zu gewinnen, zehn andere auszuschlagen, in denen ich – mich weniger frei fühlen würde, wie gerade in dieser. Und ohne Dich habe ich nicht den geringsten Genuß davon, im Gegentheil, ich werde traurig sein, wie ein Vögelchen, das man der Freiheit beraubt und in ein enges Bauer gesteckt hat. Wenn Du aber da bist, liebes Herz, so will ich fröhlich sein, und tanzen und – singen – nein, singen nicht, aber hübsch will ich sein – sehr hübsch, und Alles Dir zu Ehren; soll ich weiß gehen? mit einer Camelie im Haar, oder einer Rose? Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie Du mich am liebsten siehst? Gott, welch' hölzerner Ritter Du bist.

Am nächsten Tage, es war ein Sonntag, Nachmittags um fünf Uhr, hielt der Staatswagen vor dem Portale des Schlosses in Grenwitz. Die schwerfälligen Braunen hatten das beste Geschirr mit den neusilbernen Beschlägen aufgelegt bekommen; der schweigsame Kutscher hatte sich seine Galalivrée angezogen, der Baron den schwarzen Frack, in dessen Knopfloch das Band des Ordens, den er bei irgend einer geheimnißvollen Gelegenheit von irgend einem der deutschen Duodezfürsten bekommen hatte, und die Baronin selbst ausnahmsweise eine Toilette gemacht, die sie denn doch nur fünf Jahre älter erscheinen ließ, als sie wirklich war. Nachdem der nöthige Ballast von Mänteln und Shawls für die Rückfahrt eingenommen war, und die Baronin noch einmal vom Wagen aus Mademoiselle Marguerite, die, wie es Oswald schien, viel lieber mitgefahren wäre, feierlich mit der Würde einer Castellanin belehnt und ein kurzes Examen von zehn Minuten angestellt hatte, um zu prüfen, ob die hübsche kleine Französin auch noch alle die Verhaltungsmaßregeln für gewisse, genau stipulierte Fälle ordentlich im Kopfe habe – setzte sich das Fuhrwerk mit demjenigen Tempo in Bewegung, welches dieser feierlichen Gelegenheit, dem Temperament der Braunen und den Grundsätzen des schweigsamen Kutschers entsprach. Als sie unter der Brücke wegfuhren, brachte Bruno, der Malten und ein paar Bauernknaben, die im Garten Unkraut gäteten, hier postirt hatte, den Davonziehenden ein solennes dreimaliges Hurrah, ein Einfall, der selbst die Lippen der Baronin zu einem Lächeln zu bewegen vermochte. Ueberhaupt war diese Dame, wahrscheinlich, um sich auf die Gesellschaft vorzubereiten, heute in der besten und mittheilsamsten Stimmung. Sie fand das Wetter herrlich, nur ein wenig zu warm, den Weg vortrefflich, nur ein wenig zu staubig; sie freute sich schon auf die Abendkühle beim Heimwege, nur fürchtete sie, daß sich bis zu der Zeit ein Gewitter zusammengezogen haben würde, da ihr eine Wolke am westlichen Horizont ein sehr verdächtiges Aussehen zu haben schien. Darauf wurde die Frage erörtert, ob Fräulein Marguerite, wenn wirklich ein Gewitter ausbrechen sollte – ein Fall, für den sie keine Instructionen hatte – wohl die Fenster in den Gesellschaftsräumen im obern Stock schließen lassen und überhaupt ihre Schuldigkeit thun würde. Da es nicht möglich war, eine Stimmenmehrheit zu erzielen, indem die Baronin die aufgeworfene Frage entschieden verneinte, Oswald sie eben so entschieden bejahte, und der alte Baron sich keine bestimmte Ansicht zu bilden vermochte, so gab man die Debatte über diesen Punkt auf und ging zur Erörterung des nicht weniger wichtigen Problems über, ob sich der Graf Grieben von seinem akuten Rheumatismus wohl so weit erholt haben würde, um an dem heutigen Zauberfest in Barnewitz Theil zu nehmen, oder nicht. Von dem Rheumatismus des Grafen Grieben kam man dann auf die Gicht des Barons von Trantow und von dieser ganz allmälig in jenen Familienklatsch, von welchem Oswald behauptete, daß er unter dem hohen und höchsten Adel eben so im Schwunge sei, wie bei Gevatter Schneider und Handschuhmacher, nur daß man dort über von Hinz und von Kunz und hier schlechtweg über Hinz und Kunz spräche. Oswald hatte sonst die Gewohnheit, sobald das Gespräch auf das beliebte Thema kam, nicht länger aufzumerken, und er hatte es in dieser wichtigen Kunst, zu hören und doch nicht zu hören, während der kurzen Zeit seines Aufenthalts in Grenwitz schon zu einer bedeutenden Fertigkeit gebracht; heute aber, da er die Persönlichkeit, von denen er schon so oft vernommen hatte, selber sehen sollte, war die Sache nicht mehr ganz so uninteressant für ihn, wie sonst, um so weniger, als Melitta's Namen zu wiederholten Malen genannt wurde. Er erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß Herr von Barnewitz und Melitta Geschwisterkinder wären, Melitta's Vater, der Bruder des alten Herrn von Barnewitz, welcher Herrn Bemperlein die Pfarre zugedacht hatte, Officier in schwedischen Diensten gewesen, als solcher die Feldzüge gegen Napoleon mitgemacht und bald nach der Vermählung Melitta's mit Herrn von Berkow gestorben sei.

Uebrigens weißt Du, Grenwitz, sagte die Baronin, Melitta wird heute nicht da sein.

Oswald horchte hoch auf.

Woher weißt Du das, liebe Anna-Maria? entgegnete der Baron.

Ich habe mir von dem Bedienten die Einladungsliste geben lassen, wie ich das immer thue, um zu wissen, wen man denn finden wird, und sie sorgfältig durchgelesen. Frau von Berkow war nicht darauf verzeichnet.

Das wird ein Versehen gewesen sein.

Ich glaube nicht; Du weißt, Melitta und ihre Cousine sind gerade nicht die größten Freundinnen; es wäre nicht das erste Mal, daß man Melitta übergangen hätte; aber dafür wird eine andere merkwürdige Persönlichkeit zu finden sein; rathe einmal, Grenwitz.

Der Fürst von P., sagte der alte Baron halb erschrocken, und bedauerte schon heimlich, nicht den Orden selbst und bloß das Ordensband angelegt zu haben, doch nicht der Fürst von P.?

Nein! Rathen Sie einmal, Herr Doctor.

Der Mann aus dem Monde?

Eine beinahe nicht weniger merkwürdige Person: der Baron Oldenburg; sein Name stand, wie es sich gehört, auf der Liste gleich nach unserem Namen.

Die Oldenburgs sind ein alter Adel? fragte Oswald, der den Sinn jener Reihenfolge schon vermuthete.

Die Oldenburgs sind nach den Grenwitzen's der älteste Adel hier im Lande, sagte die Baronin mit einem unendlichen Selbstgefühl. Die Grenwitzen's können ihren Stammbaum bis in den Anfang des zwölften Jahrhunderts verfolgen, die Oldenburg's sind erst aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo Adalbert, der Stammvater des Geschlechts, von dem Kaiser zum Reichsbaron erhoben wurde.

Woher der Name Oldenburg? fragte Oswald.

Den Oldenburgs fehlt bloß die Legitimität, um heut zu Tage so gut souverän zu sein, wie viele Andere, die ursprünglich auch nur reichsfrei waren, wie wir.

Und was macht den Baron, abgesehen von seiner erlauchten Abstammung, zu einer so merkwürdigen Persönlichkeit? fragte Oswald.

Die Baronin kam durch diese Frage einigermaßen in Verlegenheit. Das, was in ihren Augen vor allem merkwürdig am Baron erschien, nämlich seine souveräne Verachtung gegen Rang und Stand, sein sarkastisches, höhnisches Wesen seinen Standesgenossen gegenüber, deren Verehrung vor seinem altehrwürdigen Adel dadurch manchmal auf eine harte Probe gestellt wurde – dieser merkwürdige, ja in ihren Augen geradezu unnatürliche Zug eignete sich nicht zum Gegen stand der Unterhaltung mit einem Bürgerlichen. Sie begnügte sich also mit der vieldeutigen Antwort:

Der Baron hat über die meisten Dinge die sonderbarsten Ansichten von der Welt, so daß man manchmal wirklich für seinen Verstand bange wird.

In diesem Augenblicke kam ein Reiter im Galopp aus einem Seitenwege heraus und parirte sein Pferd vor dem vorbeifahrenden Wagen. Es war ein junger Mann mit hübschem, braunem Gesicht, dem ein blonder Schnurrbart sehr gut stand.

Ah, gnädige Frau, Herr Baron – freue mich unendlich, rief er, den Hut ziehend und an den Wagenschlag heranreitend – habe in einer Ewigkeit nicht das Vergnügen gehabt –

Das kommt daher, mon cher, sagte die Barnnin mit holdestem Lächeln, weil Sie sich seit einer Ewigkeit nicht bei uns auf Grenwitz sehen ließen.

Ah, sehr gütig, gnä-ge Fra', sehr gütig; gnä-ge Fra' hatten noch nicht die Gnade, mich mit dem Herrn bekannt zu machen – Baron Felix? nicht wahr? fuhr der Dandy fort, den Hut gegen Oswald lüftend.

Herr Doctor Stein, sagte die Baronin, der Erzieher meines Sohnes – Herr von Cloten –

Ah, ah, in der That, sagte Herr von Cloten, freue mich außerordentlich – ja, ja, was ich sagen wollte, gnä-ge Fra', wohin geht es, wenn man fragen darf?

Nach Barnewitz –

Ah, wollte ebenfalls dorthin – ruhig, Robin, ruhig!

Aber Herr von Cloten, es ist große Gesellschaft, sagte die Baronin, auf des Junkers Stulpenstiefel und Jagdrock anspielend.

Unmöglich, gnä-ge Fra'; Barnewitz sagte mir gestern, als ich ihn zufällig traf, ich möchte zu einer Partie Boston hinüberkommen, aber von einer Gesellschaft hat er mir kein Wort gesagt.

Es ist ein Scherz von Barnewitz; verlassen Sie sich darauf.

Ah, ja, sehr wahrscheinlich; Barnewitz hat immer so tolle Einfälle; ruhig, Robin! – Teufelskerl, der Barnewitz – sich schon gefreut, mich in Stulpenstiefeln in Salon treten zu sehen – Freude verderben – Beschwöre Sie, gnä-ge Fra', meine Herren, erzählen Sie Niemand, daß Sie mich gesehen haben. In einer Viertelstunde in Barnewitz.

Damit warf der junge Mann sein Pferd herum und sprengte in voller Carrière in der Richtung fort, aus der er gekommen war.

Bald darauf fuhr der Wagen über einen etwas holperigen Steindamm, der quer über den Gutshof von Barnewitz bis zu dem kiesbestreuten Platze vor dem Herrenhause führte.

Ein Diener trat an den Wagen, den Schlag herunterzulassen; in der Thür erschien die Gestalt eines breitschulterigen, bärtigen Mannes, der schön zu nen nen gewesen wäre, wenn nicht Wohlleben und Indolenz die Harmonie der regelmäßigen Züge wesentlich beeinträchtigt hätte. Es war Melitta's Vetter, Herr von Barnewitz.

Sie sind die Allerersten, wie Sie sehen, sagte er, die Gäste in einen dreifenstrigen Saal rechts vom Flur führend, wo sie von Frau von Barnewitz, einer hübschen Blondine, begrüßt wurden.

Sie wissen, daß ich die Pünktlichkeit über Alles liebe, erwiderte die Baronin, den ihr angebotenen Platz auf dem Sopha einnehmend.

Vortreffliche Eigenschaft das, antwortete Herr von Barnewitz, ganz mein Grundsatz – stets gewesen – im Leben und auf der Jagd die Hauptsache – Schnepfe aufgestoßen – Baff – liegt – pünktlich – Hahaha.

Wie ist es? sagte die Baronin zur Frau von Barnewitz gewendet, werden wir heute eine zahlreiche Gesellschaft haben?

Nun vierzig bis fünfzig höchstens.

Das heißt, so ziemlich unser ganzer Cirkel.

So ziemlich, ja.

Und – wir sprachen schon unterwegs darüber – wird Ihre liebe Cousine erscheinen?

Da müssen Sie meinen Mann fragen, der die Einladungen besorgt hat.

Ha, ha, ha lachte Herr von Barnewitz. Köstlicher Spaß, meine Herrschaften, muß Ihnen erzählen, bevor die Andern kommen. Sie wissen, daß wir mit Melitta durch Italien reisten, und daß sich uns dort der Baron Oldenburg anschloß. Wir lebten sehr vergnügt zusammen – denn Oldenburg kann sehr liebenswürdig sein, wenn er will. Auf einmal war das gute Einvernehmen zum Teufel – entschuldigen, gnädige Frau – der Eine ging hier hin, der Andere dort hin. Melitta und Oldenburg sagten sich nur noch Malicen, und eines schönen Morgens war Oldenburg fort – verschwunden – Billet zurückgelassen: er fände die Luft in Sicilien zu drückend als angehender Schwindsüchtiger, und wollte einen kleinen Abstecher nach Aegypten machen. Seit der Zeit sind drei Jahre verflossen; jetzt ist Oldenburg wieder hier; ist aber nur bei mir gewesen, um mir, wie er sagte, oder meiner Frau, wie ich sage –

Aber Karl –

Nun, liebe Hortense, unter Freunden muß ein Scherz erlaubt sein; also um uns Beiden seine Aufwartung zu machen. Als ich ihn neulich vorläufig einlade, sagt er: ja, wenn Deine Cousine nicht kommt; als ich vor ein paar Tagen Melitta begegne und sie frage, antwortet sie: ja, wenn Dein Freund Oldenburg nicht kommt. Natürlich versicherte ich Beiden, daß sie ganz ruhig sein könnten, sie würden dem Gegenstande ihrer Abneigung nicht begegnen. Um die Sache noch glaublicher zu machen, schicke ich zwei Kerls aus mit zwei verschiedenen Listen, auf deren einer Melitta und der anderen Oldenburg stand. Und nun kommen sie alle Beide, – ist das nicht ein Hauptspaß? – Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, ich höre so eben einen Wagen vorfahren.

Allmälig füllte sich der Saal und die daran stoßende Flucht hoher, schöner Zimmer, die auf der Hinterseite des Hauses wieder in einem Saal endigte, aus dem zwei Flügelthüren ein paar Stufen hinab in den Garten führten.

Oswald hatte sich, nachdem er einigen Herren und Damen vorgestellt war, die seine Verbeugung mit kühler Höflichkeit erwiderten, in eine der Fensternischen des Saales gestellt, von wo aus er die Ankommenden draußen und die Gesellschaft drinnen zugleich beobachten konnte. Es wurde ihm trüb und trüber zu Sinn. Er fing an bitter zu bereuen, daß er sich von Melitta hatte bereden lassen, dieser Gesellschaft beizuwohnen, als ein junger Mann mit einnehmenden hübschen Zügen und blauen, freundlichen Augen sich zu ihm gesellte.

Ich habe das Vergnügen, mit Herrn Doctor Stein zu sprechen? Oswald verbeugte sich.

Mein Name ist von Langen. Ich höre, daß Sie während der letzten Jahre in Berlin studirten. Haben Sie dort vielleicht die Bekanntschaft eines Herrn P. gemacht? Er war Philolog und von der Schule her mein sehr intimer Freund; es interessirt mich, zu erfahren, was aus ihm geworden ist.

Zufällig kannte Oswald den Betreffenden, und konnte so Herrn von Langen die gewünschte Auskunft geben. Die aufrichtige Theilnahme, die dieser junge Mann für einen Menschen an den Tag legte, der, wie Oswald wußte, außer vortrefflichen Anlagen und einem rastlosen Fleiß keine anderen Empfehlungen auf Erden hatte, machte auf Oswald einen sehr angenehmen Eindruck. Es sah es daher, trotz seiner innern Unruhe, nicht ungern, daß Herr von Langen große Lust zu haben schien, das angefangene Gespräch fortzusetzen; auch that es ihm wohl, in dieser Menge unbekannter Menschen einen zu haben, der seine Bekanntschaft gesucht hatte.

Wie wär's, Herr von Langen, sagte er nach einigem Hinund Herreden, wenn Sie mir für die Auskunft, die ich Ihnen über einen Abwesenden geben konnte, Auskunft über einige Anwesende gäben. Wer ist zum Beispiel der alte Herr dort im blauen Frack mit den weißen Haaren und dem rothen Gesicht, der so entsetzlich schreit, als ob er sich Jemand, der auf der anderen Seite eines tosenden Wildbaches steht, verständlich machen wollte?

Das ist Graf Grieben, einer unserer reichsten Edelleute. Sie kennen doch die hübsche Anecdote, die ihm vor einigen Jahren mit dem König passirt ist?

Nein, wollen Sie sie mir erzählen?

Der König besucht auf einer Reise die nahe Hafenstadt. An der Landungsbrücke, wo sich die Spitzen der Behörden, der Adel und so weiter zu seinem Empfange eingefunden haben, hält des Grafen mit sechs herrlichen Braunen bespannte Equipage, auf jedem der Sattelpferde ein Jockey in der gräflichen Livrée. Der König bewundert die schönen Thiere. Alles eigene Zucht, Majestät, schreit der Graf mit einer kühnen Handbewegung. Die Jockey's auch? antwortete der witzige Monarch.

Nicht übel, sagte Oswald, und wer ist die große starke Dame mit den männlich-kühnen Zügen, die eben mit den drei schönen Mädchen in den Saal tritt?

Eine Baronin von Nadelitz mit ihren Töchtern. Sie ist eine Katharina von Rußland im Kleinen. Ursprünglich hütete sie die Gänse des Barons, ihres nachherigen Gemahls. Sie soll so wunderbarer schön gewesen sein, daß sich jeder Mann in sie verlieben mußte, und dabei so guten Herzens, daß nicht leicht Jemand, ohne gehört zu werden, von ihr ging. So soll die Ehe nicht die glücklichste gewesen sein.

Die Töchter sind auf alle Fälle sehr hübsch, sagte Oswald. Der Baron ist also todt?

Ja; seitdem hat sie, wie man zu sagen pflegt, die Hosen angezogen, das heißt diesmal in des Wortes ernstester Bedeutung. Ich selbst habe sie in Stulpenstiefeln und Inexpressibeln mit ihrem Inspector auf einem Felde gehen sehen, auf dem man bei jedem Schritt bis über die Knöchel einsank.

Wer sind die beiden hübschen Mädchen, die jetzt Arm in Arm durch den Saal kommen?

Emilie von Breesen und Lisbeth von Meyen; sie sind erst letzte Ostern eingesegnet, und tragen, so viel ich weiß, heute zum ersten Mal lange Kleider. Soll ich Sie vorstellen?

Oswald antwortete nicht; denn in diesem Augenblick ging die Thür auf und von Herrn von Barnewitz begleitet, dessen Gesicht in der Erwartung der von ihm so fein eingefädelten Ueberraschung vor Freude glänzte, trat ein Mann in den Saal, dessen Erscheinung offenbar einige Sensation erregte. Die laute Stimme des Grafen Grieben verstummte, einzelne Herren steckten die Köpfe zusammen, und in dem Kreise der Damen um Frau von Barnewitz auf dem Sopha wurde es verhältnißmäßig still. Der Ankömmling war ein Mann von hohem, aber allzu schlanken Wuchs, dessen äußerst nachlässige Haltung das Mißverhältniß zwischen Höhe und Breite nur noch mehr hervortreten ließ. Auf dem langen Leibe saß ein kleiner Kopf, dessen wohlgerundeter Schädel mit einem kurzen, starken, schwarzen Haar bedeckt war. Ein Bart von derselben Beschaffenheit zog sich um Kinn und Wangen und Mund, so daß nur die obere Hälfte seines Gesichts dem Physiognomen zur ungehinderten Beobachtung blieb. Aber auf dieser Hälfte stand schon des Räthselhaften genug. Die Stirn war eher hoch als breit, aber von außerordentlich zarten und zugleich kühnen Linien umschrieben. Ein Paar wie mit dem Pinsel gezeichnete Brauen zogen sich in einer leichten Krümmung über einem Paar grauer Augen hin, deren Ausdruck in diesem Momente wenigstens, wo sie rasch über die Versammlung flogen, mindestens nicht angenehm war, eben so wenig wie das Lächeln, das wie Wetterleuchten an der feinen, geraden Nase mit den beweglichen Flügeln hinzuckte, und des Mannes ganze Antwort auf das lustige Geschwätz zu sein schien, mit dem Herr von Barnewitz ihn überschüttete, während er ihn von der Thür bis zu dem Platze der Dame vom Hause auf dem Sopha begleitete. Frau von Barnewitz erhob sich, den Ankömmling zu begrüßen, der ihr die Hand küßte und nach einer leichten Verbeugung gegen die anderen Damen sich auf einen leeren Stuhl neben ihr sinken ließ und alsbald, ohne die Uebrigen weiter zu beachten, eine lebhafte Unterhaltung mit ihr begann.

Oswald hatte den Ankömmling mit dem Auge des Indianers, der den Spuren seines Todfeindes nachspürt, beobachtet, denn er hatte auf den ersten Blick jenen Reiter wieder erkannt, der ihm und Bemperlein im Walde begegnete. Es war der Baron Oldenburg.

Nun geben Sie Acht, sagte Herr von Barnewitz, auf Oswald zutretend und sich vergnügt die Hände reibend.

Ich bin ganz Auge, sagte Oswald mit einem nicht eben sehr natürlichen Lächeln.

Worauf sollen Sie Acht geben? fragte Herr von Langen, während Barnewitz sich zu einer andern Gruppe wandte.

Herr von Barnewitz hatte die Güte gehabt, mich auf Baron Oldenburg, der eben eintrat, als auf einen höchst interessanten Mann aufmerksam zu machen.

Ah, das ist Oldenburg? sagte Herr von Langen, ich kannte ihn noch nicht.

Da fuhr ein Wagen vor und Oswald erkannte in der Dame, die ausstieg, Melitta. Es war ein Glück für ihn, daß Herr von Langen in diesem Augenblicke die Sopharegion lorgnettirte, denn er hätte unmöglich seine Aufregung verbergen können. Die paar Minuten, die Melitta in dem Toilettenzimmer zubrachte, erschienen ihm wie eine Ewigkeit. Endlich trat sie durch die offene Thür herein, und Oswald schien plötzlich der ganze Saal mit Licht und Rosen angefüllt. Melitta trug ein weißes Kleid, das Busen und Schultern züchtig verhüllte, und den schlanken, schönen Hals mit einer feinen Krause umschloß. In weichen Wellen fiel ihr dunkles Haar auf die runden Schultern. Eine dunkelrothe Camelie, das war ihr ganzer Schmuck. Aber welches Schmuckes bedarf Schönheit und Anmuth – und Melitta's Erscheinung war so schön und anmuthig, daß ihr Eintreten eine noch größere Sensation erregte, als Oldenburgs. Die älteren Herrn unterbrachen ihr Gespräch, sie mit Herzlichkeit zu begrüßen; einige jüngere Herren eilten ihr entgegen, um womöglich den zweiten Walzer, die erste Polka – nur einen Tanz, gleichviel welchen, zu erbetteln, und sie lächelte Alt und Jung freundlich zu, beantwortete hier eine Frage, verwies dort einen Stürmischen zur Geduld – während sie quer durch den Saal nach dem Sopha ging, sich den anderen Damen anzuschließen. Baron Oldenburg war, als Frau von Barnewitz aufstand, ihrer Cousine entgegenzugehen, ruhig, und ohne sich nach dem Gegenstand der allgemeinen Sensation umzusehen, den einen Arm über die Stuhllehne gelegt, sitzen geblieben. Da mußte Melitta's Name, von einer der Damen am Sopha ausgesprochen, sein Ohr getroffen haben; denn er sprang in die Höhe, wandte sich um – und stand Melitta, die von ihrer Cousine an der Hand geführt wurde, Angesicht gegen Angesicht gegenüber. Oswald war wie von einer magnetischen Kraft aus der Fensternische bis nahe an die Stelle gezogen worden, so daß ihm kein Wort, kein Blick entging. Er sah, daß Melitta erblaßte und ihre dunkeln Augen wie im Zorn aufflammten, als Oldenburg sich tief vor ihr verbeugte.

Ah, gnädige Frau, sagte er mit einem eigenthümlichen Lächeln, als wir uns zuletzt sahen, schien uns die Sonne Siciliens, und jetzt –

Scheint der Mond – wollen Sie sagen, entgegnete Melitta, und um ihre Züge spielte ein höhnisch-bitterer Zug, den Oswald noch nicht an ihr gesehen hatte, – umgekehrt, lieber Baron, als wir uns zuletzt sahen, schien der Mond, wissen Sie wohl noch, in dem Garten der Villa Serra di Falco bei Palermo? – und, da wir uns wiedersehen, scheint die Sonne, mir wenigstens.

Der Sinn dieser letzten Worte mußte wohl Jedem verborgen bleiben, nur nicht dem, für welchen sie gesprochen waren. Melitta hatte, indem sie sich halb umwandte, Oswald bemerkt, und ihm so freundlich zugelächelt, daß Herr von Barnewitz, der neben ihm stand, sich an der Ueberraschungsscene, die er so mühsam arrangirt hatte, zu weiden, ihn fragte: Kennen Sie meine Cousine schon?

Ja, sagte Oswald, von ihm weg auf Melitta zutretend, und sie ehrfurchtsvoll begrüßend.

Ah! Herr Doctor, rief Melitta mit vortrefflich gespielter Ueberraschung, das ist ja köstlich, daß ich Sie hier finde. Denken Sie, Bemperlein hat schon geschrieben, Julius befindet sich sehr wohl – aber setzen Sie sich doch zu mir, daß ich Ihnen in aller Muße erzählen kann – Julius befindet sich vortrefflich – und ist in den fünf Tagen, wie Bemperlein schreibt, ein vollkommener Dandy geworden. Er hat schon einen großen Kinderball mitgemacht und mit der schönsten Dame, das heißt derjenigen, die ihm am besten gefiel, den Cotillon getanzt, den Cotillon – merken Sie wohl! trotz des heftigen Widerspruchs von einem halben Dutzend junger Herren.

Der Unglückliche, sagte Oswald, er wird sich dadurch eben so viele Duelle zugezogen haben.

Möglich, aber Sie wissen, Julius ist tapfer wie ein Löwe, und wird für die Dame seines Herzens Alles wagen. – Ah, Herr von Cloten! Sind Sie es wirklich? Ich hörte ja, Sie und Robin hätten sich auf der letzten Fuchsjagd die Hälse gebrochen!

Quelle idée, gnä'ge Fra'! Jedenfalls wieder Erfindung von Barnewitz. Teufelskerl, der Barnewitz! Befinde mich vortrefflich. Ah! ja – wollte gnä'ge Fra' um einen Tanz bitten, wo möglich Cotillon. Muß noch einen Versuch machen, ob gnä'ge Fra' nicht bewegen kann, mir den Brownlock zu verkaufen.

Non, mon cher, zu diesem liebenswürdigen Zweck bekommen Sie keinen Tanz, am wenigsten den Cotillon. Wenn Sie mir aber den Brownlock in Frieden lassen wollen, so sollen Sie den ersten Contretanz haben. Zum Cotillon bleibe ich so wahrscheinlich nicht hier. Sind Sie zufrieden.

Ah! gnä'ge Fra' – zufrieden! quelle idée! glück lich – selig.

Mein Gott, Herr von Cloten, beruhigen Sie sich nur. Haben Sie schon ein vis-à-vis?

Nein, gnä'ge Fra – gleich suchen!

Hier, bitten Sie den Doctor Stein – erlauben die Herren daß ich Sie –

Ah, hatte schon das Vergnügen, sagte der Dandy, Oswald, der einen Schritt von ihm entfernt gestanden hatte, scheinbar zum ersten Male bemerkend.

Desto besser, sagte Melitta, die Herren sind also einig?

Von Cloten und Oswald verbeugten sich gegen einander, und dann vor Melitta, die sie mit einer graziösen Handbewegung verabschiedete, um mit den zunächst sitzenden Damen ein leichtes Geplauder über die neuesten Moden anzufangen.

Oswald war wieder zu Herrn von Langen getreten, der ihm zu der Bekanntschaft mit Melitta gratulirte: Ich bewundere Sie, sagte der junge Mann, daß Sie so ungenirt mit ihr sprechen können; ich hätte nicht den Muth dazu.

Sie scherzen.

Auf Ehre, nein. Die Frau hat etwas in ihrem Blick und in ihrer Stimme, was einem um das Heil seiner Seele bange machen möchte. Ich weiß, es geht mir nicht allein so.

Vielleicht bin ich um das Heil meiner Seele weniger bekümmert, sagte Oswald.

Unterdessen hatte Oldenburg, während er sich unbefangen mit einigen Herren zu unterhalten schien, in einem hohen Spiegel die Gruppe um Melitta genau beobachtet.

Sieh da, Cloten! wie geht's, mon brave! sagte er, sich schnell zu dem Angerufenen umwendend, als dieser in seine Nähe kam.

Baron Oldenburg! Auf Ehre, hätte Sie kaum erkannt mit dem horribeln Bart.

Horribel, mon cher! Machen Sie mich nicht unglücklich; ich pflege ihn nun schon drei Jahre und habe ihn mich wenigstens eine Million kosten lassen.

Ah, Spaß, sagte der Dandy, seinen blonden Schnurrbart streichend.

Upon my word and honour, sagte Oldenburg; die Sache ist einfach die: Ich lernte in Cairo eine englische Familie kennen, mit der ich noch mehrmals auf dem Nil zusammentraf; ich war so glücklich, ihr einige nicht unwesentliche Dienste leisten zu können. Die Familie bestand aus Vater, Mutter und einer einzigen Tochter – aber welcher Tochter! mon cher, ich sage Ihnen –

Ah, ich verstehe! sagte Herr von Cloten; reines Vollblut. Diese englischen Misses jottvoll – schön – sah mal eine in Baden-Baden, werde mein Lebtag nicht vergessen.

Gerade so sah meine Mary auch aus, sagte Oswald.

Nicht möglich!

Verlassen Sie sich drauf. Alle englischen Misses gleichen sich wie eine Lilie der andern. Eh bien! Das Mädchen verliebt sich in den Retter ihres Lebens. Der Vater ist mir geneigt, die Mutter günstig. Ich war zwar kein Millionär, wie Mr. Brown, dafür war er aber auch nur ein in Ruhestand getretener Eisenhändler; und ich ein alter, deutscher, weiland reichsfreier Baron. Genug, wir werden Handels einig. Da sagt Mary eines Abends – es ist mir, als wäre es heute – wir saßen im Mondschein auf der Terrasse des Tempels von Philä und blickten träumend über den stillen Fluß und leerten Tropfen um Tropfen den diamantgeränderten Becher der Liebe. Da sagte sie, ihre weichen Arme um mich schlingend, – o Gott, wie deutlich ich noch immer diese Stimme höre! – Adalbert, sagte sie. – Was, Holde, sagte ich. – Adalbert, pray dearest love, cut off your horrible beard – it's so vulgar.

Ah, ja, jottvoll, jottvoll – diese englischen Misses; aber was heißt's denn eigentlich?

Es heißt: Adalbert, mein Junge, laß Dir den Bart scheren, Du siehst schauderhaft gemein darin aus.

Verdammt.

Das sagte auch ich. Sie bat, sie beschwor mich; endlich lag sie sogar vor mir auf den Knieen. Ich blieb fest, wie der Koloß Memnons. Da sprang sie empor, und sich bewaffnend mit dem ganzen Stolze Englands, die Hand zum sternengeschmückten Himmel erhebend, rief sie: Sir, either you cut off your beard, or I must cut your acquaintance.

Then, cut my acquaintance! sagte ich.

Famos, sagte von Cloten; was sagte sie?

Mein lieber Herr, sagte sie, Sie scheren sich entweder den Bart, oder Sie scheren sich zum Teufel.

Verdammt; und Sie?

Ich sagte: Fräulein, ich habe geschworen, daß ich das Weib verachten und mit dem Manne auf Leben und Tod kämpfen will, der mir mit Worten oder in Wirklichkeit an meinem Bart zupft.

Merkwürdig; das Alles sagten Sie in den drei Worten?

Ja, die englische Sprache, wissen Sie, ist wunderbar kurz. Apropos, wer ist denn der junge Mann, mit dem Sie vorhin sprachen, er steht jetzt dort an der Thür zum andern Zimmer mit dem alten Grenwitz.

Ja, rathen Sie einmal.

Wie kann ich das rathen? Ich vermuthe, daß es Felix von Grenwitz, sein Neffe, ist.

So dachte auch ich. Und nun denken Sie, cher Baron, der Mensch ist ein Bürgerlicher, heißt Stein, Doctor Stein, glaube ich, und ist, nun rathen Sie einmal!

Nach dem Entsetzen, das sich in Ihren Zügen malt, zu schließen, vermuthe ich, daß der junge Mann der Scharfrichter von Bergen ist.

Scharfrichter! Quelle idée! Welch' sonderbare Einfälle Frau von Berkow und Sie immer haben. Nein – Hauslehrer bei Grenwitz – ist das nicht wunderbar?

Ich kann nicht besonders Wunderbares in der Sache finden. Es muß auch Hauslehrer geben, wie es Arbeiter in den Arsenikgruben geben muß, obgleich ich für mein Theil weder das Eine noch das Andere sein möchte.

Aber der Mensch sieht beinahe genteel aus?

Beinahe genteel? Lieber Freund, er sieht nicht nur beinahe genteel aus, sondern ausnehmend genteel, genteeler, als irgend einer der Herren hier im Saale, Sie selbst und mich nicht ausgeschlossen.

Ah, Baron, Sie sind heute wieder einmal in einer jottvollen Laune.

Meinen Sie? freut mich. Das verhindert mich indessen nicht, den Mann ausnehmend genteel aussehend zu finden. Ja, was in Ihren Augen wohl noch mehr ist, er hat nicht nur das Characteristische, welches die geborenen Vornehmen auf der ganzen Erde auszeichnet, sondern den speciellen Typus des Adels dieser Gegend.

O, in der That, ich denke Typus ist eine Krankheit.

Typhus, mon cher! Typus ist, wenn mehrere Leute dieselben Nasen, Stiefel, Augen und Handschuhe haben. Nun sehen Sie selbst, ob nicht Alles und noch mehr bei dem Doctor Stein stimmt; zum Beispiel im Vergleich mit Ihnen, der Sie doch gewiß alles Specifische des Adels in der höchsten Potenz in und an sich entwickelten. Er ist schlank und gut gewachsen, wie Sie, nur einen halben Kopf höher und ein paar Zoll breiter in den Schultern, er hat dasselbe hellbraune gelockte Haar, nur daß Sie sich Ihre Haare entschieden brennen lassen, und die seinen, wie mir scheint, natürlich gelockt sind; er hat blaue Augen, wie Sie, und Sie werden selbst zugeben, daß diese Augen groß und ausdrucksvoll sind.

Ah, ja – ich gebe zu, daß er ein verdammt hübscher Kerl ist, sagte der ärgerliche Dandy, einen scheelen Blick auf den Gegenstand seiner unfreiwilligen Bewunderung werfend.

Nun, und was sein Auftreten anbelangt, fuhr Oldenburg fort, so gäbe ich meinestheils eines meiner Güter darum, wenn ich mich mit diesem Anstande, dieser Grazie bewegen könnte.

Das ist stark, weshalb?

Weil die Weibsen in einen schmalen Fuß, ein wohlgeformtes Bein und so weiter vernarrt sind. Solche hübsche Puppen, wie der Doctor, sind geborene Alexander; sie fliegen von einer Eroberung zur andern, und sterben auch meistens jung zu Babylon.

Gott, Baron, welch' liebenswürdiger Mensch Sie sein würden, wenn Sie nur nicht so schauderhaft gelehrt wären!

Meinen Sie? Möglich! Es ist ein Erbfehler; meine selige Mutter hat während ihrer Schwangerschaft außer dem Rennkalender des betreffenden Jahres auch noch einen oder den anderen Roman gelesen. So erklären sich die paar menschlichen Züge in meiner Natur.

Wollt Ihr Herren meine neuen Pistolen mit einschießen helfen? fragte Herr von Barnewitz, der eben herantrat.

Ich denke, es soll getanzt werden, antwortete Cloten.

Später. Du kommst doch mit, Oldenburg?

Versteht sich! Du kennst ja meinen Wahlspruch: aux armes, citoyens!

Dreiundzwanzigstes Capitel

Die jetzt vollständig versammelte Gesellschaft hatte sich allmälig aus den Zimmern in den Garten begeben, da der herrliche Sommernachmittag unwiderstehlich in's Freie lockte. Die älteren Herren und Damen promenirten in den schattigen Gängen, oder besichtigten die schönen Gewächshäuser; die jungen Leute suchten auf einem schönen runden Rasenplatze, der zum Theil von hohen breitkronigen Bäumen überschattet war, gesellschaftliche Spiele zu arrangiren; aus einer Ecke des Parkes, wo ein Schießstand eingerichtet war, ertönte von Zeit zu Zeit der scharfe Knall der neuen Pistolen. Melitta hielt sich, eingedenk der bewährten Regel, daß der Ruf junger Frauen in der Gesellschaft von den alten Damen gemacht wird, und wohl wissend, daß sie die Freiheiten, die sie sich während des Balles zu nehmen gedachte, durch einige vorhergehende Opfer erkaufen müsse, in der Gesellschaft der Gräfin Grieben, der Baronin Trantow, der Frau von Nadelitz, der Baronin Grenwitz und der andern ältern Damen. Oswald hatte sich zuerst der Jugend angeschlossen, bei der ihn Herr von Langen einführte, und hatte mit einigen Reminiscenzen aus den Gesellschaften in der Residenz und einigen geschickten Combinationen verschiedene gesellschaftliche Spiele befürwortet und arrangirt, die mit allgemeinem Beifall angenommen und mit sichtlicher Zufriedenheit der Theilnehmer ausgeführt wurden. Als er aber sah, daß Melitta, gegen seine Hoffnungen, sich durchaus nicht in den Kreis der Spielenden mischen wollte, benutzte er eine schickliche Gelegenheit, sich selbst aus demselben zurückzuziehen. Herr von Langen war ihm gefolgt und holte ihn in einem Heckengange ein, wo Oswald sich der harmlosen Beschäftigung des Stachelbeerpflückens hingab.

Gott sei Dank, sagte Herr von Langen, Oswald's Beispiele folgend und einen Johannisbeerbusch, der voll dunkelrother Früchte hing, plündernd. Diesem Unheil wären wir glücklich entronnen. Fluch dem Ersten, der gesellschaftliche Spiele erfand. Sind die Stachelbeeren reif?

Köstlich!

Sie müssen mich auf jeden Fall in nächster Zeit besuchen. Mein Gut liegt nur ein Stündchen von Grenwitz. Meine Frau, die mich erst vor ein paar Wochen mit einem allerliebsten kleinen Mädchen beschenkt hat, und sich noch nicht kräftig genug fühlt, so große Gesellschaften mitzumachen, wird sich freuen, Sie kennen zu lernen. Wenn Sie mir einen Tag bestimmen wollen schicke ich Ihnen meinen Wagen.

Ich nehme Ihre Einladung mit Dank an, sagte Oswald, der sich einigermaßen durch die liebenswürdige Freundlichkeit eines Mannes aus dem von ihm so sehr gehaßten Stande beschämt fühlte. Sollen wir sagen, nächsten Sonntag?

Sie sind jeder Zeit willkommen; wenn Sie die Knaben mitbringen wollen, thun Sie es ja; ich habe ein Paar Ponys, die den Jungen besser gefallen werden, als Cornel und Ovid zusammen. – Ach, Herr des Himmels! Incidit in Scyllam, qui vult vitare Charybdim! Dort biegt die Gräfin Grieben an der Spitze ihrer Suite um die Ecke. Sauve qui peut!

Die jungen Männer schlugen einen andern Gang ein, der den ersten rechtwinklig durchschnitt, und waren bald den herankommenden Damen aus den Augen. Oswald seinerseits wäre eben so gern geblieben, denn er hatte in der »Suite« auch Melitta bemerkt und gehofft, wenigstens im Vorübergehen einen Blick von ihr zu erhaschen; aber er hielt es für seine Pflicht, gute Kameradschaft mit seinem neuen Freunde zu halten, der ihm im Laufe des Nachmittags schon mehr als eine Gefälligkeit erwiesen hatte.

Sie scheinen die Gesellschaft nicht besonders zu lieben, Herr von Langen, sagte er lächelnd über die Eilfertigkeit des jungen Mannes.

Die große Gesellschaft – nein! Ich bin in fast absoluter Einsamkeit aufgewachsen. Mein Vater, der nicht eben reich ist, schloß sich in dem Interesse seiner Kinder von dem geselligen Leben des hiesigen Adels fast gänzlich ab. Hernach kam ich auf die Schule. Ich hätte gern studirt; aber der Vater bedurfte meiner für die Wirthschaft, welche er bei zunehmendem Alter nicht mit derselben Rüstigkeit leiten konnte; so mußte ich denn von der Schule abgehen, als ich ein Jahr in Prima gesessen hatte. Seitdem ist der gute Vater gestorben und ich habe die paterna rura kaum verlassen. Sind Sie Jäger?

Nein, ich habe bis jetzt nicht die mindeste Gelegenheit gehabt, die Nimrodnatur, die möglicherweise in mir schlummert, zu cultiviren.

Ah, das ist schade; aber das findet sich – wir haben eine recht hübsche Hühner- und Hasenjagd. Sie sollten vorläufig etwas mit der Pistole schießen. Man lernt dabei visiren und bekommt eine sichere Hand.

Nun, mit Pistolenschießen habe ich im Leben leider beinahe zu viel Zeit verbracht, antwortete Oswald. Mein Vater, ein Sprachlehrer und im Uebrigen ein sehr friedfertiger Mann, hatte eine wahre Leidenschaft für das Pistolenschießen; es war seine einzige Erholung. Er schoß, wie ich nie im Leben wieder Jemand habe schießen sehen, mit einer fast wunderbaren Geschicklichkeit. Ich habe nie den Grund dieser seltsamen Leidenschaft erfahren können. Einmal fiel es mir ein, ihn zu fragen, wie er dazu gekommen sei? Ich werde den Ton nie vergessen, in welchem er mir antwortete: Es gab eine Zeit, wo ich hoffte, mich durch eine Kugel an einem Manne rächen zu können, der mich tödtlich beleidigt hatte. Als ich meines Zieles vollkommen sicher war – starb der Mann. Seitdem schieße ich in Gedanken auf ihn; jedes Aß, das meine Kugel trifft, ist ein falsches, grausames Herz. Ich drang in ihn, mir den Mann zu nennen. Das kann ich nicht, antwortete er; aber wenn Du Dir auch etwas bei der Sache denken willst, nimm an, jedes Aß sei das Herz irgend eines beliebigen Adeligen.

Mon Dieu! sagte Herr von Langen; und haben Sie diesen fanatischen Haß Ihres Vaters gegen meinen Stand geerbt?

Nur zum Theil, sagte Oswald, ebenso wie ich auch nur einen Theil seiner Fertigkeit mit der Pistole geerbt habe. – Wollen wir einen Augenblick nach dem Schießstande gehen? ich höre an dem Knall, daß wir ganz in der Nähe sein müssen.

Bravo, bravo! erschallte es von dem Schießstande herüber. Cloten, ich parire auf Sie.

Ich parire auf Breesen, rief eine andere Stimme.

Sie fanden auf dem Schießstande ein halbes Dutzend Herren etwa, alle in größtem Eifer, mit Ausnahme des Baron Oldenburg, der, die Hände in den Taschen seiner Beinkleider, an einen Baum gelehnt, die Schützen betrachtete, und Strophen aus der Marseillaise dazu zwischen den Zähnen summte.

Bravo, Cloten, wieder Centrum – der Kerl schießt verteufelt, schallten die Stimmen durcheinander.

Hat sonst Jemand von den Herren Lust zu pariren? sagte Herr von Cloten, mit einem wunderbar selbstgefälligen Lächeln sich umsehend.

Ich, wenn Sie erlauben, sagte Oswald.

Sie? erwiderte der Dandy mit einem Blick sprachlosen Erstaunens.

Ich parire einen Louis auf den Herrn, sagte Baron Oldenburg grinsend. Wer hält?

Ich, ich! riefen mehrere Stimmen.

Ich halte Alles, sagte Oldenburg, dem die Sache einen köstlichen Spaß zu machen schien.

Unser Einsatz ist bisher ein Thaler gewesen; es ist Ihnen doch recht? sagte Herr von Cloten zu Oswald.

Natürlich.

Aber Doctor Stein kennt die Pistolen nicht, sagte von Langen, und Cloten muß sich bereits vollständig eingeschossen haben. Die Partie ist ungleich.

Wenn nur mein Geld auf dem Spiele stände, sagte Oswald, so würde ich den Versuch wagen. Da aber auf mich gewettet ist, so möchte ich bitten, mir vorher einen Schuß zu erlauben.

Natürlich, rief Herr von Breesen; das versteht sich von selbst, Herr von Barnewitz.

Wird nicht viel helfen, sagte von Cloten leise zu einem Andern.

Sehen Sie den Tannenzapfen dort, Herr von Langen? sagte Oswald, nachdem ihm eine geladene Pistole gereicht war, den an dem äußersten Ende des Zweiges.

Ja, aber das sind mindestens fünfzig Fuß.

Thut nichts. Diese Pistolen scheinen mir noch auf weitere Distancen einen sichern Schuß zu erlauben.

Oswald hob die Pistole. Aller Augen waren gespannt auf den Tannenzapfen gerichtet.

Ja so, sagte Oswald, die erhobene Pistole sinken lassend. Wollen Sie nicht die Güte haben, Herr von Barnewitz, mich dem Herrn vorzustellen, der ein so günstiges Vorurtheil für meine sehr fragliche Fertigkeit im Schießen an den Tag gelegt hat.

Hatte ganz vergessen; bitte um Entschuldigung. Baron Oldenburg – Doctor Stein.

Ah, Baron Oldenburg! sagte Oswald, mit der linken Hand den Hut abnehmend. Sie sehen doch den Tannenzapfen, Herr Baron.

Vollkommen deutlich, sagte Oldenburg, sich höflich verbeugend.

Oswald hob die Pistole wieder, zielte eine Secunde – der Tannenzapfen kam in Stücken zur Erde.

Famos! schrie Herr von Barnewitz; Cloten, Du findest Deinen Meister.

Nous verrons, sagte Herr von Cloten. Sie haben den ersten Schuß, Herr Doctor.

Oswald nahm die andere Pistole, und schoß, ohne scheinbar auch nur zu zielen.

Centrum! schrie der Bediente an der Scheibe, eine Reverenz nach dem Schützen machend, bevor er das Loch mit einem Pflaster verklebte.

Cloten, zahlen Sie Reugeld! rief Oldenburg, mit dem Gelde in seiner Tasche klappernd.

Centrum! ertönte es von der Scheibe.

Sehen Sie? sagte von Cloten, Herrn von Barnewitzens Jäger die Pistole zum Laden gebend.

Ich denke, wir nehmen eine größere Distance, oder ein anderes Ziel, sagte Oswald, bei diesem thalergroßen Centrum auf vierzig Schritt werden Herr von Cloten und ich wohl noch lange ohne Entscheidung fortschießen können. Sind keine Karten zur Hand?

Ich bin's zufrieden, sagte von Cloten.

Hast Du Karten mitgebracht, Friedrich? rief Herr von Barnewitz.

Ja, Herr!

Nimm die Scheibe ab und nagle ein Aß an den Baum.

Natürlich gilt nur die Kugel, die durch das Aß schlägt oder es wenigstens berührt hat, sagte Oswald.

Natürlich, sagte von Cloten.

Jetzt kommt die Sache in Gang, rief der junge Breesen und rieb sich vor Vergnügen die Hände.

Cloten, zahlen Sie Reugeld, sagte Oldenburg wieder und durch die Zähne murmelte er:

Tannenzapfen – Herzenaß – Ei, mein Schätzchen, merkst Du was? Ist es Liebe? ist es Haß?

Von Cloten zielte lange, aber sei es, daß das neue Ziel ihn verwirrte, sei es, daß seine Hand schon unruhig geworden war – seine Kugel traf nur den oberen Rand der Karte. Oswald trat vor; sein Auge schweifte über die Schaar der Edelleute, die um ihn herum stand. Denke Dir, das Aß sei das Herz irgend eines beliebigen Adeligen, hörte er eine wohlbekannte Stimme flüstern ... Sein Schluß krachte. An der Stelle des Asses war das Loch der Kugel in der Karte.

Trösten Sie sich, Cloten, sagte Oldenburg. Non semper arcum tendit Apollo – zu deutsch: Vorbeischießen muß auch sein.

Wirklich meisterhaft, sagte von Barnewitz, die Karte herum zeigend; das Aß rein herausgeschossen.

Wollen Sie Revanche haben, Herr von Cloten?

Nein, danke, ein andermal. Fühle, daß meine Hand nicht mehr sicher –

Warum haben Sie nicht Reugeld gezahlt, Cloten? sagte Oldenburg, das gewonnene Geld lachend in die Tasche steckend.

Hier sind sie! hier sind sie! riefen da auf einmal helle Mädchenstimmen, und um das Gebüsch herum, das den Schießstand vom Wege trennte, kamen Emilie von Breesen, ihre Cousine Lisbeth von Meyen und eine von den jungen Fräulein von Nadelitz, wie eben soviel weiße Schmetterlinge.

Sie sind allerliebste Herren – Spielverderber – im Augenblick kommen Sie wieder zurück – so schallten die Stimmchen durcheinander.

Du könntest auch etwas Besseres thun, Adolph, als hier den ganzen Nachmittag bei dem alten dummen Schießen zubringen, sagte Emilie von Breesen zu ihrem Bruder.

Er muß auch mit, rief Lisbeth, wir nehmen sie gefangen. Du Emilie, nimm den Doctor, Du bist die Stärkste und er ist der Rädelsführer – Natalie, Natalie, halt Herrn von Langen fest! er will davon laufen.

Meine Herren, rief Oswald, jeder Widerstand wäre Hochverrath! – Meine Damen! wir ergeben uns auf Gnade und Ungnade, und er bot Fräulein von Breesen den Arm.

Die beiden andern Herren folgten seinem Beispiele; die drei hübschen Pärchen eilten lachend und scherzend davon.

Eine Entführung in optima forma, sagte Oldenburg.

Wir gehen auch wohl, Ihr Herren, rief Barnewitz; denn ich fürchte, wenn wir warten wollen, bis wir von den jungen Damen abgeholt werden, so können wir lange warten.

Allons enfants de la patrie! sang Oldenburg in möglichst falschen Tönen mit einer Stimme, die wesentlich dem Krähen eines heisern Hahnes an einem regnerischen Tage glich, und faßte von Cloten unter den Arm.

Cloten, mon brave, wir werden alt, sagte er, während sie in einiger Entfernung hinter den Andern dem Hause zuschritten. Wenn wir nicht bald machen, daß wir unter die Haube kommen, so ist uns jede Hoffnung auf eheliches Glück, legitime Vaterfreuden und ein seliges Ende, Amen, abgeschnitten.

Ah, Spaß! Baron, Sie sind mindestens fünf Jahre älter als ich.

Das hindert nicht, daß die jungen Damen einen wie den andern en canaille behandelt haben.

Die kleine Emilie ist ein verdammt hübscher Backfisch.

Si Signore, und was für ein Paar große, graue, verliebte Augen sie dem Doctor machte! Mit sechszehn Jahren! wahrhaftig alles Mögliche!

Verdammte Puppe!

Wer? – Fräulein Emilie?

Ah, – der Mensch, der Doctor!

Ja, so! Ich hab's Ihnen ja gleich gesagt! Die Mägdelein reißen sich um ihn! Und wie der Kerl schießt, Cloten! Möchte ihm nicht fünf Schritte Barrière, und zehn Distance gegenüberstehen!

Ah! danke für ein Duell mit so einem Bürgerlichen. Partie ist zu ungleich. Meinen Sie nicht auch, Baron?

Vielleicht ist der Mann die Frucht einer Liaison zwischen einem Sohn des Himmels und einer Tochter der Erde.

Was heißt das?

Wissen Sie nicht, daß vor Abraham die Kinder von Adeligen mit Bürgermädchen so bezeichnet wurden?

Nein, habe nie gehört! Sohn des Himmels – famos! Uebrigens traue Schrift nicht. Müssen doch selbst zugeben, Baron, diese Idee, alle Menschen von einem Paare abstammen zu lassen – Adelige und Bürgerliche – geradezu abgeschmackt, horribel – lächerlich! Habe mir immer gedacht: daß Schrift von diesen Bürgerlichen in ihrem Interesse zurecht gemacht ist. Hat mich stets geärgert, wenn Hauslehrer mir die alte Geschichte erklären wollte.

Cloten, sagte Oldenburg stehen bleibend und seinem Begleiter die Hand auf die Schulter legend! Cloten, Sie sind ein großer Mann. Dieser Gedanke bringt Sie in eine Reihe mit den tiefsinnigsten Denkern aller Jahrhunderte.

Ah, wah – reden Sie nun im Ernst, Baron, oder scherzen Sie, wie gewöhnlich?

Lieber Cloten, sagte Oldenburg, seinen Arm wieder unter den seines Begleiters steckend und weiter gehend: lassen Sie sich ein für alle Mal gesagt sein, daß es mir immer um das, was ich sage, fürchterlicher Ernst ist, und der Gegenstand, von dem wir sprechen, ist wahrlich von zu ungeheurer Bedeutung, als daß er eine scherzhafte Behandlung vertrüge. So hören Sie denn – aber machen Sie keinen ungeeigneten Gebrauch von der Sache, Cloten –

Gott bewahre – parole d'honneur!

So hören Sie denn, daß dieselbe Frage, deren richtige Beantwortung Sie mit dem sichern Tacte des Genies sofort fanden, mich jahrelang beschäftigt hat. Auch ich sagte mir: der Unterschied des Namens, des Standes – er ist ein Unterschied des Blutes, des Gemüthes, der Seele – enfin: der ganzen Natur. Wie können nun zwei so verschiedene Wesen von demselben Menschenpaare abstammen? Wo bleibt der Unterschied, wenn sie von einem Menschenpaare abstammen? Der Geist verwirrt sich in diesem schauderhaften Widerspruch.

Gott, Baron, endlich sprechen Sie doch einmal wie –

Wie ein Baron. Hören Sie weiter. Diese Frage beschäftigte mich so unausgesetzt, daß ich endlich beschloß, sie zu lösen, es koste, was es wolle. Ihr habt Alle über mein einsames Leben, über mein Studiren und so weiter gespottet. Wissen Sie, Cloten, was ich studirte, während Ihr Euch auf der Jagd oder beim Pharao amüsirtet?

Nein – auf Ehre –

Aramäisch, chaldäisch, syrisch mesopotamisch, hindostanisch, gangobramaputraisch – sanscrit –

Herr Gott des Himmels! Das ist ja schauderhaft! Wozu?

Weil ich die feste Ueberzeugung hatte, daß sich in den Klöstern Armeniens, in den Katakomben Aegyptens, oder sonst irgendwo im Orient eine alte Handschrift, welche die Sache aufklärte, entdecken lassen müsse. Als ich alle jene Sprachen und Dialecte so fertig wie deutsch und französisch sprach, trat ich vor drei Jahren meine letzte große Reise nach dem Orient an. Im Vorübergehen durchstöberte ich die Bibliotheken Italiens. In Rom traf ich Barnewitzens. Dies Zusammentreffen war mir im Grunde sehr unangenehm. Aus Höflichkeit mußte ich sie bis Sicilien begleiten. In Palermo aber machte ich, daß ich davon kam.

Ah, das erklärt Ihr plötzliches Verschwinden – das unterbrochene Opferfest, ha ha ha!

Unterbrochenes Opferfest – der Ausdruck stammt nicht von Ihnen, Cloten.

Nein, auf Ehre – ist' ne Erfindung von Hortense, wollte sagen, von der Barnewitz, verbesserte sich der junge Edelmann. Sie behauptet – entre nous, Baron – daß Euer Zusammentreffen in Rom gar nicht so absichtslos von Ihrer Seite und die ganze Reise von Rom nach Palermo – heißt ja wohl, Palermo? – ein reiner Triumphzug für die Berkow gewesen sei; Opferfest – unterbrochenes Opferfest! Ha! ha!

Aber ich verstehe Sie gar nicht, Cloten.

Na, entre nous, Hortense weiß von der Reise allerlei Geschichten zu erzählen. So eine Scene auf der Ueberfahrt von Ciproda –

Procida, verbesserte Oldenburg. –

Procida, meinetwegen, der Teufel mag all' die verrückten Namen behalten, von Procida nach Neapel.

Nun?

Aber zum Teufel, Baron, Sie fragen Einem auch die Seele aus dem Leibe. – Sie hatten einen kleinen Fischerkahn, und es kam ein richtiger Sturm auf – die Wellen gingen haushoch, und Sie mußten jeden Augenblick erwarten, daß das Boot kenterte. Da sollen Sie auf italienisch –

Die Barnewitz versteht kein Wort italienisch, so viel ich weiß, sagte Oldenburg.

Hortense nicht, aber die Schiffer, die sie hernach ausgefragt hat –

Hm, murmelte Oldenburg. Nun?

Da sollen Sie zu der Berkow gesagt haben: Liebe Seele, mit Dir zusammen zu ertrinken, ist mehr werth, als mit Deiner Cousine, oder irgend einer andern Frau hundert Jahr zusammen zu leben.

In der That? erzählt Hortense ihren guten Freunden so hübsche Geschichten? Nun, Cloten, ich will Ihnen einen guten Rath geben: Glauben Sie jedem Kuß, den Sie von Hortense's Mund schon geküßt haben, oder noch küssen werden –

Ah, dummes Zeug, Baron, sagte der Dandy mit jenem Lächeln, das bescheiden sein soll und doch so entsetzlich unverschämt ist.

Aber glauben Sie keinem Wort, das aus ihrem Munde geht. Können Sie wirklich denken, daß ich nichts Besseres zu thun hatte, als Melitta von Berkow den Hof zu machen, während so ernste, ja so zu sagen heilige Dinge meine Seele beschäftigten? Lassen Sie sich erzählen: Ich reiste also von Sicilien nach Aegypten hinauf bis Abu Simbul, zurück nach Kairo, von da nach Palästina, Persien, Indien; – durchsuchte jeden Tempel, jede Ruine, jede Felsenspalte – ich fand nicht, was ich suchte. Endlich – als ich schon an dem Erfolge verzweifelte, als ich schon auf der Rückreise war, da – in der Bibliothek des Klosters auf dem Vorgebirge Athos –

Wo ist das, Baron?

Zwischen dem Indus und dem Oregon – dort in der Kloster-Bibliothek entdeckte ich endlich das langgesuchte Manuscript. Da stand denn die ganze Geschichte.

Was stand da?

Da stand im reinsten Hoch-bramaputraisch, daß – ich übersetze Alles in unsere modernen Begriffe und Ausdrücke –

Ja, machen Sie's um's Himmelswillen so, daß ich es verstehe.

Daß gleich von vornherein zwei Menschenpaare geschaffen wurden, wie es auch gar nicht anders sein kann: ein adeliges und ein bürgerliches. Der Name dieses ersten adeligen Geschlechts ist aus dem Manuscript nicht zu ersehen. Gerade an der einen Stelle, wo er ausgeschrieben gestanden hat, ist ein großer Klecks. So viel ist sicher, Oldenburg hat es nicht geheißen; es war noch ganz deutlich ein C zu erkennen, und in der Mitte ein t.

Vielleicht Cloten, sagte der Andere.

Es ist möglich, aber beschwören kann ich es nicht. Auch was für eine Geborene seine Gemahlin gewesen ist, die schlechtweg Fräulein genannt wird, ist nicht ersichtlich.

Aber ich denke, sie ist aus der Rippe des Mannes gemacht und gar nicht geboren.

Ah, lassen Sie sich doch kein dummes Zeug einreden, Cloten. Sie wird ausdrücklich Fräulein genannt, dann muß sie doch auch ein Fräulein von so und so gewesen sein.

Das ist ja aber eine verflucht verwickelte Geschichte.

Gar nicht so sehr, wie Sie glauben. Genug, der Herr und das Fräulein, das bald genug zur gnädigen Frau wurde, hatten ein Landgut, welches Paradies hieß; – warum soll ein Landgut nicht Paradies heißen, Cloten?

Verdammt schnurriger Name, indessen.

Warum? Nennt doch einer sein Gut Solitude, der Andere Sanssouci, der Dritte Bellevue, warum soll nicht einmal Einer das seine Paradies genannt haben? Eh bien! Der Bediente des Herrn hieß Adam. Vortrefflicher Name für einen Bedienten. Als er steif und lahm wurde, schimpften sie ihn den alten Adam – haben Sie je von einem Adeligen gehört, der Adam geheißen hätte, Cloten?

Im Leben nicht.

Sehen Sie, da haben Sie wieder den schönsten Beweis.

Er rief also seinen Kerl Adam, und die Zofe seiner Gemahlin Eva, Evchen – allerliebster Kammerzofenname das. Meine Mutter hatte ein Kammermädchen »Evchen«, ein bildhübsches Ding. Der Adam war aber ein großer Schlingel, wie die Bedienten das bekanntlich bis auf den heutigen Tag sind. Das Ding, die Eva, war auch nicht viel besser. Zuletzt trieben es die Beiden zu arg. Schließlich ergriff der Herr denn einmal die Hetzpeitsche und jagte die Beiden vom Hofe. In das Gesindebuch schrieb er: Entlassen wegen Unehrlichkeit, Putzsucht und Arbeitsscheu. Das ist so in großen Umrissen der eigentliche Verlauf der Geschichte.

Wirklich merkwürdig – ganz famos, auf Ehre! Haben Sie das Buch mitgebracht, Baron?

Nein; aber eine von dem dortigen Landrath beglaubigte Abschrift.

Giebt's denn dort auch Landräthe?

Aber, lieber Freund, wie kann denn ein Land ohne Landräthe bestehen?

Natürlich; aber es wäre doch besser, wenn wir das Buch selber hätten.

Vielleicht macht es sich. Die Mönche sind entsetzlich obstinat; ich hatte schon vor, sie alle mit Blausäure zu vergiften. Wahrscheinlich thue ich das auch noch, wenn ich wieder in die Gegend komme. Bis dahin müssen wir uns mit der Copie begnügen.

Hören Sie, Baron, können Sie mir nicht auch so eine Copie geben? ich meine natürlich in deutscher Uebersetzung, nicht in bramaputraisch, oder wie der verdammte Jargon heißt.

Hm; aber versprechen Sie mir, es Niemand zu zeigen.

Verlassen Sie sich d'rauf!

Höchstens Einem oder dem Andern aus unserm Cirkel.

Das also darf ich?

Meinetwegen; aber nennen Sie meinen Namen nicht. Sagen Sie, es wäre eine bloße Hypothese von Ihnen –

Eine was?

Eine bloße Vermuthung, die noch der Bestätigung bedürfe; wenn wir dann hernach das Original in die Hände bekommen, so ist das Ihr Triumph und der Triumph der guten Sache zu gleicher Zeit.

Vierundzwanzigstes Capitel

Die Sommersonne war bereits seit einer Stunde hinter den Bäumen des Parks untergegangen; dunkle Schatten lagerten sich in den dichteren Boskets, hie und da zirpte noch ein Vogel, ehe er zur Ruhe das Köpfchen unter den Flügel steckte; sonst war es still geworden in dem vor kurzer Zeit noch so belebten Garten. Aber desto lauter war es jetzt in dem Schlosse. Das blendende Licht von hundert Wachskerzen auf Kronleuchtern und Girandolen strahlte aus den Fenstern auf den weiten Rasenplatz vor dem Gartensaale. Musik erschallte aus den geöffneten Flügelthüren; und an Thüren und Fenstern vorüber sahen die Dorfleute, die sich in ehrfurchtsvoller Ferne im Park hielten, die Paare der Tanzenden schweben. In den Zimmern, die an den Tanzsaal stießen, waren für die älteren Herrschaften Spieltische arrangirt und des Grafen von Grieben kreischende Stimme wurde mehr als einmal vernommen, wenn der alte Baron Grenwitz, der nur ein sehr mittelmäßiger Bostonspieler war, auf drei Asse zum Mitgang gepaßt, oder sonst, durch seine Zaghaftigkeit verleitet, einen jener horribeln Fehler begangen hatte, die das Gemüth eines methodischen Spielers so schmerzlich berühren. Herr von Barnewitz und seine Gemahlin wechselten im Spiele ab, damit stets eines von ihnen entweder bei den Tanzenden oder Spielenden war und sich so jede Partei gleicher Gunst erfreute. Hortense hatte ursprünglich den ganzen Ball mitmachen wollen; aber schon nach den beiden ersten Tänzen ärgerte sie sich so über die Huldigungen, die ihrer schönen Cousine von allen Seiten gezollt wurden, daß sie ihrem Gemahl jenes Arrangement vorschlug, in welches er sich um so williger schickte, als er, trotz seiner Corpulenz gern und gut tanzte, und auf alle Fälle ein sehr eifriger Bewunderer hübscher Mädchen und Frauen in Balltoilette war. Und an solchen fehlte es in dem Saale wahrlich nicht. Es war ein Kranz von lieblichen und schönen Gestalten, der auch wohl ein sinnigeres Auge als das des wüsten Edelmannes entzückt haben würde. Die lieblichste und schönste aber war nach dem ausgesprochenen oder schweigenden Urtheil der Herren wenigstens – die Ansicht der Damen über diesen Punkt war allerdings sehr getheilt – Melitta. Die sonst etwas bleichen Wangen vom lebhaften Tanz geröthet, die großen Augen strahlend von Licht und Leben, die schlanken elastischen Glieder der herrlichen Gestalt mit wunderbarer Anmuth in rhythmischem Schwunge bewegend – so schwebte sie über den glatten Boden des Saals wie die Muse des Tanzes selbst. Neben dieser blendenden Erscheinung wurden die hübschen Frauen ihres Alters zu Wachsfiguren und die jüngeren Mädchen zu allerliebsten Marionetten. So dachte wenigstens Oswald, wenn er sie im Walzer an sich vorbeifliegen sah oder sie ihm im Contretanze entgegen schwebte. Ein wunderbares Gemisch widersprechender Empfindungen erfüllte seine Seele. Seit jenem Augenblick, wo er in Melitta's Album das Bild des Baron Oldenburg zum ersten Mal gesehen hatte, war er unablässig von dem Gedanken verfolgt worden: in welchem Verhältniß stand sie zu diesem Mann? Aber so oft auch schon die Frage auf seinen Lippen geschwebt hatte, nie hatte er sie auszusprechen gewagt, und je höher die Sonne seiner Liebe stieg, desto blasser war der drohende Schatten geworden. Heute aber hatte Barnewitzens Erzählung, das Erscheinen des Mannes selbst, Melitta's Benehmen in der ersten Begegnung – die halb entschlafenen Zweifel furchtbar geweckt. Wieder drängte sich das Wort auf seine Lippen und immer wieder kroch es scheu zum Herzen zurück. Er zürnte Melitta, daß sie ihn diese Qualen dulden ließ; er zürnte sich selbst, daß er sich von der Geliebten hatte bestimmen lassen, ihr in diese Gesellschaft zu folgen, diese Junkerwelt, in die er nicht gehörte, in welcher er sich nur geduldet wußte, in diese Welt frivolen Genusses und hochmüthigen Dünkels, diese lärmende, blendende Welt, die so grausam mit der Romantik seiner Liebe contrastirte, und der wonnigen, liebeverklärten Waldeinsamkeit von Melitta's Kapelle Hohn zu sprechen schien. Es kam ihm wie ein halb verklungenes Märchen vor, daß dies wunderbare Weib in seinen Armen geruht, daß er – wie oft schon! – seinen Mund auf diese rosigen Lippen gedrückt hatte. Sie erschien ihm so fremd, so ganz verwandelt; er konnte sich nicht überreden, daß dies Melitta sei, seine Melitta, sie, die hier mit dem jungen Breesen lachte und schwatzte, die dort die faden Complimente von Clotens mit so huldvoller Miene beantwortete – und dann wieder, wenn ihr leuchtendes Auge das seine traf, wenn ihre Hand bei den Touren des Contretanzes seine Hand so traulich drückte, wenn bei dieser Gelegenheit ein: süßes Herz! Du Lieber! – nur ihm vernehmbar geflüstert, sein Ohr traf – ja, dann war es doch wieder Melitta, seine Melitta! – Und immer wieder jagten sich Zweifel, die sich zu wahnsinniger Angst steigerten, und Gewißheit, die ihn mit unsäglichem Entzücken erfüllte, durch seine Seele, wie tiefdunkle Schatten und heller Sonnenschein über eine Sommerlandschaft jagen, und um dieser süßen Qual, dieser bittern Wonne zu entgehen, schlürfte er mit hastigen, gierigen Zügen den berauschenden Trank, der, aus blendenden Lichtern, jubelnden Tönen und wollüstigen Düften so seltsam gemischt, in einem Ballsaal die Sinne der Tanzenden bis zum bacchantischen Taumel aufregt und das Gehirn umnebelt.

Oswald lachte und scherzte wie von der tollsten Laune ergriffen: hier ein übermüthiges, keckes Wort, dort eine feine Schmeichelei; hier eine satyrische Bemerkung, dort eine Sentimentalität ... Die Damen schienen vollkommen vergessen zu haben, daß ein so unermüdlicher und gewandter Tänzer, ein so hübscher Mann, der ihnen so viele hübsche Sachen zu sagen wußte, doch nur ein Bürgerlicher sei, der auf alle diese Vorzüge eigentlich gar keinen Anspruch machen durfte, und wenn ja eine der hochadeligen Mütter dem Töchterchen ihr unpassendes Benehmen mit dem jungen Menschen, dem Doctor Stein, verwies, so fiel das goldene Wort diesmal auf ganz unfruchtbaren Boden und die hübsche Kleine beruhigte ihr aufgeschrecktes adeliges Gewissen mit dem tröstlichen Gedanken: es ist ja nur für heute Abend! – Es steht sehr zu vermuthen, daß das Glück, welches Oswald an diesem Abend bei den Damen machte, mehr als ein junkerliches Gemüth auf das Tiefste indignirte; aber der Ausdruck dieser feindseligen Stimmung beschränkte sich auf einige höhnische Worte, von denen aber keins bis zu Oswalds Ohr drang, und auf einige ärgerliche Blicke, die, wenn er sie bemerkte, nur zur Erhöhung seiner tollen Laune beitrugen. Daß er sich auf einem sehr glatten Boden bewegte, wußte er sehr gut; aber die Nähe der Gefahr, welche die schwachen Geister lähmt, läßt starke Herzen nur desto muthiger pochen; und das Bewußtsein, wie er sich jeden Augenblick einer impertinenten Beleidigung versehen könne, gab seinem Benehmen den Junkern gegenüber eine Kühnheit, seinem Auftreten eine Sicherheit, die, wenn sie einerseits den Unwillen dieser Herren herausforderte, andererseits für sie die Kluft zwischen Wollen und Vollbringen geradezu unübersteiglich machte. Und übrigens muß zur Ehre dieser jungen Adeligen bemerkt werden, daß sich in einer Schaar von zwölf oder vierzehn denn doch zwei oder drei fanden, welche von Vorurtheilen nicht so sehr befangen waren, daß sie Oswalds ritterliches Wesen nicht gern hätten gelten lassen. So Herr von Langen, welcher seinen Arm vertraulich unter den Oswalds schob, und in der Pause mit ihm im Saale freundlich plaudernd auf- und abschritt; so der junge von Breesen, der hübscheste und gewandteste von der Schaar, welcher Oswald bat, ihm ein paar Lectionen im Pistolenschießen zu geben, und als seine Schwester durch Unachtsamkeit eine Verwirrung im Tanz angerichtet hatte, zu ihm kam, ihn im Namen der jungen Dame um Entschuldigung bat und ihn zu ihr führte, damit sie sich selbst entschuldigen könne; so endlich selbstredend Baron Oldenburg, der die Tugenden Oswalds, als Tänzer und Schütze gegen mehr als Einen bis in den Himmel erhob, wobei es nur nicht ganz ersichtlich war, ob er dies aus aufrichtiger Ueberzeugung oder mehr in der Absicht that, seine jungen Standesgenossen gründlich zu ärgern.

Dieser dankbaren Aufgabe konnte er sich mit um so größerem Behagen unterziehen, als er auf Herrn von Barnewitzens Frage, ob er spielen wolle, geantwortet hatte: ja, wenn Pharao gespielt wird; und auf Lisbeths von Meyen Bemerkung, ob er denn nicht zu tanzen gedenke, geäußert hatte: Meine Gnädige, in diesem Augenblicke bedaure ich zum ersten Male in meinem Leben, daß mich mein Tanzlehrer nie dahin bringen konnte, die erste Position von der zweiten, und mein Musiklehrer eben so wenig, einen Walzer von einem Choral zu unterscheiden. So trieb er sich denn bald zwischen den Spieltischen umher, und weckte den leicht erreglichen Zorn des Grafen von Grieben dadurch, daß er in alle Karten der Reihe nach sah, und Jedem guten oder vielmehr möglichst schlechten Rath ertheilte; bald war er im Tanzsaal und schaute mit den Augen eines gutgelaunten Katers, der weiße und schwarze Mäuschen auf der Scheundiele munter spielen sieht, auf die tanzenden Paare. In dieser angenehmen Beschäftigung störte ihn Herr von Barnewitz, der eilfertig zur Thür des Tanzsaales hereinkam.

Oldenburg, da Du ja doch hier nichts zu thun hast –

Nein, guter Freund, ich habe in der That hier nichts zu thun.

So komm mit hinauf in den Speisesaal und hilf mir beim Arrangiren der Plätze. Willst Du?

Das Vertrauen, welches Du zu meinem organisatorischen Talente hast, ehrt mich hoch, mon ami, sagte Oldenburg und folgte dem Voraneilenden über den Flur, die breite, mit Teppichen belegte Treppe hinauf in den glänzend erleuchteten Speisesaal, wo die Bedienten eben mit der Herrichtung der Tafel fertig geworden waren.

Hier, Oldenburg, sind die Zettel, alle schon ausgeschrieben; nun sage mir, sollen wir –

Werthgeschätzter, sagte der Baron zu einem Bedienten, könnten Sie mir wohl, behufs der Entkorkung dieser Flasche, das passende Instrument besorgen? – So, danke – Festina lente, Barnewitz, auf deutsch: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden. Auf Dein Wohl, mein Junge! dieser Knabe Cliquot gehört zu den tugendhafteren seines weit verbreiteten Geschlechts. Wirklich genießbar! und dabei schlürfte er ein Glas nach dem andern. So, jetzt stehe ich vorläufig zu Deinen Diensten. – Stellen Sie die Flasche dort auf den kleinen Tisch, lieber Tressenrock! es sind noch ein paar Gläser drin. – Gräfin von Grieben – Baron Oldenburg, Baronin von Nadelitz, – bist Du des Teufels, Barnewitz? ich soll zwischen den alten Schachteln zwei Stunden lang eingeklemmt sitzen? lieber will ich mit aufwarten helfen! Nein! wir wollen die Sache so machen. Die ganze alte Litanei setzen wir an das eine Ende des Tisches und das junge Deutschland an das andere. Geh' Du mit Deiner Heerde von Widdern und Mutterschafen nach Osten, und ich will mit den Böcklein und Zicklein nach Westen gehen.

Das wird wohl auch das Beste sein, sagte Barnewitz, hier sind Deine Zettel.

Die Bedienten hatten den Saal verlassen; die beiden Herren fingen, jeder auf seinem Ende, an, die Zettel zu vertheilen.

Fräulein Klauß, sagte Oldenburg, einen Zettel in die Höhe haltend; wer, bei allen Olympiern, ist Fräulein Klauß?

Unsere Erzieherin. Hast Du sie nicht bemerkt, das hübsche kleine Ding mit den hochverrätherischen Augen? sagte Barnewitz, eifrig sortirend. Wir konnten sie nicht in ihrer Kinderstube lassen. – Herr des Himmels, da sitzen ja schon wieder Mann und Frau zusammen! – weil sonst eine Tänzerin zu wenig gewesen wäre. Du kannst sie mit dem Doctor Stein zusammen setzen. Gleich und gleich gesellt sich gern.

Schön, sagte Oldenburg.

Wer soll denn die Berkow führen?

Zum Kukuk, laß mich in Ruhe! Du, meinetwegen!

Bon, sagte Oldenburg und trank ein Glas Champagner.

Nach einer kurzen Pause eifrigen Arrangirens:

Wer soll die Ehre haben, bei Deiner Frau zu sitzen?

Heiliges Kreuz – ja freilich, das ist wichtig. Weißt Du was, Oldenburg, nimm den Unbedeutendsten; dagegen kann Niemand etwas einwenden.

Will's schon machen, sagte Oldenburg und suchte unter den Zetteln, bis er den rechten gefunden hatte. Dir will ich Deine unverbürgten Schiffernachrichten eintränken, murmelte er zwischen den Zähnen.

Bist Du fertig, Oldenburg?

Gleich! – So.

Nun, weißt Du was, Baron, geh' Du in den Tanzsaal und sage jedem Herrn, welche Dame er führen soll; ich will dasselbe bei den Spielern thun.

Ainsi soit-il, sagte Oldenburg, dem Davoneilenden folgend.

Als er in den Baalsaal trat, fing man so eben einen Contretanz zu arrangiren an. Unmittelbar nach diesem Tanze sollte gespeist werden.

Die Gelegenheit ist günstig, murmelte er und ging, einem schwarzgefiederten, langbeinigen Vogel zu vergleichen, der sich auf der Wiese Frösche sucht, mit wunderbarer Gravität hinter der Linie der Tanzenden hin, den schicklichen Moment benutzend, jedem der Herren den Namen der Dame, die er ihm zugetheilt hatte, in's Ohr zu flüstern. Oswald tanzte mit Frau von Barnewitz, die in aller Eile für Fräulein Klauß eingetreten war, welche noch schnell eine Commission in die Küchenregion auszurichten hatte, vis-à-vis Melitta und Herrn von Cloten. Oldenburg hatte schon sämmtlichen Herren ihr Schicksal verkündet, das Allen mehr oder weniger günstig zu sein schien, denn Jeder nickte mit zufriedener Miene. Ganz zu allerletzt trat er zu Cloten und raunte ihm zu:

Cloten, ich habe Ihnen die Barnewitz gegeben.

Dann zu Oswald: Herr Doctor, Sie werden Frau von Berkow führen.

Darauf entfernte er sich eiligst.

Hortense, flüsterte der überglückliche Cloten dieser Dame zu: Weißt Du, wer Dich führen wird?

Doch nicht Du, Arthur? rief diese erschreckend.

Ja, mein Engel.

Unmöglich, Arthur. Du gehst gleich nachher zu Oldenburg und sagst, daß Du mich nicht haben willst.

Aber –

St! nicht so laut – Du bist ein Narr, ich sage Dir, daß Barnewitz unser Verhältniß mehr als ahnt, dies fehlte noch gerade.

Changez les dames!

Melitta, ich werde Dich zu Tisch führen.

Unmöglich, Oswald. Du mußt das zu redressiren suchen.

Weshalb? flüsterte Oswald und seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

Sieh nicht so finster aus, liebes Herz! ich will Dir Alles erklären.

Fräulein Klauß erschien in dem Nebenzimmer. Sobald Oldenburg sie bemerkte, trat er auf sie zu und seine hohe Gestalt ehrfurchtsvoll neigend, sagte er in einem Ton, dessen Milde sonderbar mit der sonstigen Herbheit seiner Rede contrastirte:

Mein Fräulein, ich werde das Vergnügen haben, Sie zu Tisch zu führen.

Die arme Kleine stand wie vom Blitz getroffen. Baron Oldenburg, der stolze, unheimliche Baron, sie zu Tische führen!

Mit einem wunderbar fragenden Gesicht blickte sie zu ihm auf.

Ich habe die Plätze selbst arrangirt, mein Fräulein; wenn Sie einen besonderen Wunsch haben, sprechen Sie ihn frank und frei aus; ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen gefällig sein zu können.

Gott bewahre, Herr Baron –

Eh bien, so sind wir einig. Wollen Sie mir Ihren Arm geben; ich sehe, die Paare arrangiren sich.

In diesem Augenblicke kam Cloten athemlos herbei.

Auf ein Wort, Oldenburg. – Sie verzeihen, Fräulein; – Oldenburg, Sie müssen mir eine andere Dame verschaffen; ich kann unmöglich Hortense führen.

Pourquoi pas, mon cher?

Weil – zum Henker, weil –

Je suis au désespoir, mon brave; aber Barnewitz hat Sie selbst vorgeschlagen.

Ist das gewiß?

Verlassen Sie sich darauf.

Mit vor Freude strahlendem Gesicht, eilte der Andere zu seiner Dame zurück.

Oswald, sagte Melitta, ich hab' mir's überlegt. Es ist doch besser so – aber mit der Aussicht auf den Cotillon ist es vorbei. Nun komm, gieb mir Deinen Arm und sei wieder gut.

Die älteren Herrschaften waren zuerst in den Speisesaal getreten, und hatten sich bereits hinter ihren Stühlen gereiht; die Gesellschaft aus dem Tanzsaal kam hinterdrein. Herr von Barnewitz kam für einen Augenblick von jener Seite herüber, zu sehen, ob Alles in Ordnung sei. Seine Stirn verfinsterte sich, als er seine Frau an Clotens Arm, Melitta neben Oswald stehend bemerkte, und endlich Oldenburg selbst, seine kleine Dame wie eine Prinzeß von Geblüt führend, in den Saal trat.

Oldenburg, zum Teufel, was hast Du denn da angerichtet, flüsterte Barnewitz heftig. Ich will nicht, daß Cloten meine Frau führt, sie reden so schon genug über die Beiden.

Ja, lieber Freund, Du sagtest, ich sollte den Unbedeutendsten wählen; da war ja gar kein Zweifel möglich.

Und Melitta mit dem Doctor, Du mit der Klauß – das ist geradezu lächerlich.

Ja, Barnewitz, das ist nun einmal geschehen; und nun würdest Du mir einen ausnehmenden Gefallen erweisen, wenn Du nicht desavouirtest, was ich in Deinem Auftrage gethan habe, und Dich ruhig an Deinen Platz verfügtest; die Gräfin Grieben sucht Dich überall mit ihren großen Eulenaugen.

Ich wasche meine Hände in Unschuld, grollte Barnewitz, davoneilend.

Und ich will eine Flasche Champagner auf meinen gelungenen Staatsstreich trinken, murmelte Oldenburg, an der Seite der kleinen Erzieherin, gegenüber Oswald und Melitta, in unmittelbarer Nähe von Cloten und Hortense, Platz nehmend.

Meine Damen und Herren, sagte er; ich hoffe, daß Sie mit mir in ein stilles begeistertes Hoch auf das Wohl des Mannes einstimmen werden, der Jedem von uns seinen Platz anwies, und der, während er nur das Gemeinwohl vor Augen zu haben schien, doch die geheimen Wünsche jedes Einzelnen zu erfüllen wußte. Ich gebe Ihnen zu bedenken, meine Damen und Herren, daß ein Mangel an Enthusiasmus in diesem feierlichen Augenblick nicht nur die Gefühle jenes Mannes schmerzlich berühren, sondern auch die Empfindungen eines Ihrer Nächsten auf's Tiefste verletzen würde, Ihres Nächsten, den mindestens wie sich selbst zu lieben, Sie schon die Religion der Liebe verpflichtet, zu der wir uns ja Alle ohne Ausnahme bekennen. Meine Damen und Herren, trinken Sie mit mir auf das Wohl Ihres und meines besten Freundes, auf das Wohl Adalberts von Oldenburg.

Man kann sich denken, daß, so weit als des Barons mäßig erhobene Stimme schallte, Wenige Lust hatten und Niemand es wagte, sich von diesem ironischen Toast auszuschließen. Die krystallenen Gläser klangen aneinander, und bald flackerte eine lebhafte Unterhaltung um den ganzen Tisch herum auf, wie das Feuer in einem Haufen Stroh, der an allen Ecken und Enden zugleich angezündet ist; jene schwirrende, summende, kichernde, lachende, lärmende, flüsternde Unterhaltung, wo der geistreichste Einfall und die albernste Bemerkung zuletzt als gleich werthvolle oder werthlose Münze coursiren.

Achte auf Deine Augen, Oswald, sagte Melitta, in jener rapiden Weise, wo die Rede sich kaum vom Hauch unterscheidet und doch jede Sylbe deutlich gehört wird. – Deine holden Liebesbriefe werden von profanen Augen unterwegs aufgefangen, erbrochen und gelesen.

Von Cloten hatte Hortense vergeblich zu überreden gesucht, es sei ihres Gemahls eigener Wunsch gewesen, daß er sie zu Tische führe.

Sei doch nicht so einfältig, Arthur, sagte die junge Frau. Es ist eine Intrigue von Oldenburg, verlaß Dich darauf. Hast Du je mit Oldenburg über mich gesprochen?

Nein, Hortense – parole d'honneur.

Ich bin überzeugt, Du hast es gethan; Du wirst mich noch unglücklich machen mit Deiner albernen Schwatzhaftigkeit.

Aber, Hortense –

Still, Oldenburg beobachtet uns fortwährend.

Cloten! rief der Baron.

Was? Baron!

Wollen Sie in diesem Herbst mit mir nach Italien reisen? Sie wissen, in der bewußten Angelegenheit.

Ginge rasend gerne mit, Baron; aber Sie wissen, tausend Gründe dagegen; erstens Jagd, zweitens Pferderennen, drittens hasse Reise, viertens verstehe kein Wort italienisch.

Nun, das ist das Wenigste. Was man nothwendig wissen muß, beschränkt sich auf Si Signora, Anima mia dolce, das Andere läßt man sich von den Fischern sagen.

Von Cloten erröthete bis in die Stirn hinauf, denn, wie Oldenburg diese Worte lachend sprach, fühlte er Hortensens Fuß auf dem seinen und hörte ihre von inneren Thränen fast erstickte Stimme: Siehst Du, Arthur; habe ich es nicht gesagt?

Auch Melitta, die, seitdem sie den Baron sich gerade gegenüber sah, sehr still geworden war, schien über diese Bemerkung sichtlich betroffen. Sie senkte plötzlich die langen Wimpern, wie wenn sie verbergen wollte, was jetzt in ihrer Seele vorging.

Ich rufe Sie zum Zeugen auf, gnädige Frau, rief Oldenburg. Hat Ihnen Ihr Italienisch viel genützt?

Im Gegentheil, sagte Melitta und ihre dunklen Augen flammten auf; ich habe so nur manches falsche, lügnerische Wort mit anhören müssen, das mir sonst unverständlich geblieben wäre.

Ja, ja, die Italiener lügen viel, lachte der Baron.

Sagen wir lieber, es wird in Italien viel gelogen, replicirte Melitta.

Zum zweiten Male abgefallen, murmelte der Baron. Das Weib ist noch immer schön, wie ein Engel und klug, wie die Schlange. Ja, sie ist schöner, als früher. Ihre Augen sind noch größer und leuchtender, ihre Schultern noch runder; ihre Stimme ist noch weicher und wohllautender – und das Alles in majorem Dei Gloriam, das heißt, dem hübschen Fant an ihrer Seite zu Liebe! Hm! – Herr Doctor, wollen Sie mir die Ehre erweisen, ein Glas Champagner mit mir zu trinken? Ich dächte, es läge eine Wolke auf Ihrer Stirn. Verscheuchen Sie dieselbe. Sie wissen: dulce est decipere in loco.

Was für eine verzweifelte Sprache ist denn das nun wieder. Baron? rief von Cloten.

Platt-bramaputraisch, mon cher. Auf Ihr Wohl, Cloten.

Je mehr sich die Mahlzeit ihrem Ende nahte, und je schneller sich die von den Bedienten stets wieder gefüllten Champagnergläser leerten, desto lärmender und wüster wurde die Unterhaltung, so daß selbst die Stimme des Grafen Grieben, die man bisher wie das Kreischen eines großen Papagei's in einer Menagerie immer durchgehört hatte, übertönt wurde. Der dünne Firniß äußerlicher Cultur, aus welchem die ganze sogenannte Bildung dieser bevorrechtigten Klasse bestand, begann von den Strömen Weines, die unaufhörlich flossen, in einer erschreckenden Weise heruntergespült zu werden, und die nackte, trostlos dürftige Natur kam überall zum Vorschein. Die jungen Herren erzählten den jungen Damen ihre Abenteuer auf der Jagd, bei den Pferderennen, ihre Heldenthaten während ihrer militairischen Dienstzeit, oder gefielen sich in Unterhaltungen, die scherzhaft und galant sein sollten, und die für jedes feinere weibliche Gefühl einfach plump und zweideutig waren. Indessen schienen die jungen Damen leider an diese Sorte Unterhaltung viel zu sehr gewöhnt zu sein, als daß dieselbe irgend einen unangenehmen Eindruck auf sie hätte hervorbringen können. Im Gegentheil, sie ließen sich ein Glas Champagner nach dem andern aufnöthigen, sie wollten sich todtlachen über die reizenden Einfälle der jungen Herren, besonders des jungen Grafen Grieben, eines sehr langen, sehr dünnen und sehr blonden Jünglings, dessen Erscheinung flüchtig an eine Giraffe erinnerte, und der, wenn er, wie diesmal, nicht in unmittelbarer Nähe Oldenburg's sich befand, gern den starken Geist spielte und eine gewisse Autorität über seine Kameraden ausübte. Oldenburg selbst schien entweder ein feuriger Verehrer des Gottes Bacchus zu sein, oder ein ganz besonderes Vergnügen darin zu finden, den bacchantischen Taumel um sich her geflissentlich zu vermehren; denn er trank und sprach unaufhörlich und forderte die Andern unausgesetzt zum Trinken auf. Besonders hatte er dabei von Cloten im Auge, der im Anfang der Mahlzeit durch Hortense's Vorwürfe aufgeschreckt, sehr still und verlegen gewesen war, kaum aber eine Flasche getrunken hatte, als er die schönen Vorsichtsmaßregeln, die ihm seine Geliebte in aller Eile für diesen kritischen Fall gegeben, vergaß, und ihre abwehrenden Blicke mit desto feurigeren, und ihr geflüstertes: Aber Arthur, nimm Dich doch zusammen; mit einem fast hörbaren: Aber, Kind, was willst Du nur? es achtet kein Mensch auf uns, beantwortete. Ja, der junge Edelmann trieb die Unvorsichtigkeit so weit, bei einer Gelegenheit, unter dem Vorwande ein Tuch aufzuheben, Hortense's herabhängende Hand zu küssen, ein andermal ihr Glas mit dem seinen zu vertauschen; mit einem Worte, er benahm sich so, daß, wer das Verhältniß der Beiden noch nicht kannte, es heute Abend kennen lernen, und wer es ahnte, in seinem Verdacht bestätigt werden mußte.

Ich werde sogleich nach Tische fahren, Oswald, sagte Melitta zu diesem, der in der letzten Viertelstunde sich fast nur mit Emilie von Breesen, seiner Nachbarin auf der andern Seite, unterhalten hatte.

Ich wollte, Du wärst gar nicht gekommen, oder hättest mich zu Hause gelassen, sagte der junge Mann bitter.

Schilt mich nur noch, sagte Melitta, und schmerzlich zuckte es um den reizenden Mund. Ach, Oswald, ich wollte, ich könnte Dich mitnehmen – für jetzt und für immer.

Hoffentlich erlaubt es Baron Oldenburg, antwortete Oswald, der bemerkte, wie die grauen Augen des Barons, während er sich lebhaft mit dem kleinen Fräulein Klauß unterhielt, unausgesetzt Melitta und ihn selbst beobachteten.

Melitta antwortete nicht, aber die Thräne, die plötzlich an ihren dunkeln Wimpern erglänzte und die sie mit einer schnellen Bewegung ihres feinen Taschentuchs sogleich trocknete, war Antwort genug.

Verzeih' mir, Melitta, murmelte Oswald, aber ich bin sehr unglücklich.

Ich bin es nicht minder, vielleicht noch mehr – und darum gerade möchte ich, daß Du ganz glücklich wärest, wünschte ich, ich könnte Dich ganz glücklich machen.

Du kannst es durch ein Wort!

Was ist es, Oswald?

Sage, daß Du mich liebst.

Oswald; so fragt die Liebe nicht, so fragt die Eifersucht.

Giebt es eine Liebe ohne Eifersucht?

Ja, die echte Liebe, die nichts fürchtet und Alles glaubt.

So wäre meine Liebe nicht die echte? Freilich, wie können wir, die wir nicht von Adel sind, auch Anspruch auf irgend etwas Echtes machen! Unsere Mütter und Schwestern tragen böhmisches Glas statt Diamanten, wir selbst haben keine echte Ehre, keine echte Liebe – das ist sonnenklar.

Wenn Oswald, indem er diese wahnsinnigen Worte sprach, in Melitta's Herz hätte sehen können, ja, wenn er nur einen Blick in ihr Gesicht geworfen hätte, er würde vor Scham haben vergehen müssen. Melitta antwortete nicht; sie weinte auch nicht, sie blickte nur starr vor sich hin, als könne sie das Ungeheure nicht begreifen, daß die Hand, die zu küssen sie sich niederbeugte, sie in's Antlitz geschlagen, daß der Fuß, den mit Narden zu salben, sie niedergekniet war, sie grausam zurückgestoßen habe ... Wie hatte sie sich gefreut auf diesen Abend, wie schön hatte sie es sich gedacht, mitten im Lärm der Gesellschaft allein zu sein mit dem Geliebten, seinen Worten zu lauschen, seine Hand verstohlen zu drücken, und während hübsche Frauen und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in seinen Augen zu lesen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta! Und über diesen Abend hinaus hatte eine rosige Zukunft vor ihren Blicken sich aufgethan – ein Land der Hoffnung – nicht in deutlichen Umrissen, aber voll Ruhe und Liebe und Sonnenschein ... Aber da hatte sich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein grauer, giftiger Nebel, und hatte das sonnige Land der Zukunft immer dichter und dichter verschleiert ... Und jetzt erschien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz des Geliebten wie von Haß verzerrt, und seine Stimme drang seltsam fremd zu ihrem Ohr. War das sein Antlitz? war das seine Stimme, die jetzt die Worte sprach: Gnädige Frau, man hebt die Tafel auf, darf ich um Ihren Arm bitten?

Während sie in den Reihen der Uebrigen die Treppe hinunterschritten, sagte Melitta kein Wort: auch Oswald nicht. Als sie unten im Saale angekommen waren, verbeugte er sich tief vor ihr, und als er den Kopf hob, schaute er auf einen Augenblick in ihr Antlitz. Er sah, wie schmerzlich es um ihre Lippen zuckte; er sah, welch' rührende Klage aus ihren großen dunklen Augen sprach – aber sein Herz war verschlossen, und er wandte sich zu einer Gruppe junger Mädchen und Herren, die das abgebrochene übermüthige Tischgespräch noch eine Weile fortsetzen zu wollen schien. Melitta sah ihm noch für einen Moment nach, sah, wie die hübsche Emilie von Breesen sich lebhaft zu ihm wandte, wie er ihr mit einem Scherze entgegentrat, sie lachend etwas erwiederte und ihn mit ihrem Fächer auf den Arm schlug. Weiter sah sie nichts mehr; als sie sich wiederfand, saß sie in der Ecke ihres Wagens. Auf die Bäume und Hecken an der Wegseite, die an dem Fenster vorübertanzten, fiel das helle Licht der Laternen, aber Melitta sah Alles nur wie durch einen Nebelflor, denn ihr Herz und ihre Augen waren voll Thränen.

Fünfundzwanzigstes Capitel

Mit Melitta schien der gute Genius aus der Gesellschaft gewichen und allen Dämonen freies Spiel gegeben. Immer lauter kreischten die Geigen, immer feuriger wurden die Blicke der Herren, immer frivoler ihre Rede, immer üppiger und leidenschaftlicher die Bewegungen der Tänzerinnen. Und noch immer floß der Champagner in Strömen. Frische Lichter waren während des Abendessens überall auf den Kronleuchtern der Säle und rings in den Zimmern aufgesteckt – es schien, als ob die Lust kein Ende nehmen solle, nehmen könne. Auch die älteren Herrschaften hatten sich wieder an die Spieltische begeben; aus einem kleinen Nebenzimmer, in welches fünf oder sechs Herren sich zurückgezogen hatten, hörte man das Klingen von Goldstücken und ein gelegentliches: Faites votre jeu, messieurs!

Oswald hatte sich vor dem Beginn des zweiten Tanzes nach Herrn und Frau von Grenwitz umgesehen, denn er hatte nicht bemerkt und erfuhr erst jetzt, daß diese die Gesellschaft schon vor dem Abendessen verlassen hatten, und daß der Wagen wiederkommen würde, ihn abzuholen. Er hatte Melitta, da sie nicht in dem Ballsaal erschienen war, in einem der andern Zimmer vermuthet. Ein Diener, der mit einem Präsentirbrette voll Weingläser an ihm vorübereilte, antwortete auf seine Frage, ob er Frau von Berkow nicht gesehen habe? die gnädige Frau ist soeben fortgefahren. Befehlen Limonade oder Champagner? Oswald nahm ein Glas Wein und leerte es auf einen Zug. Fortgefahren – ohne Abschied! Vortrefflich, murmelte er, indem er sich in den Ballsaal zurückbegab.

Und immer nächtiger wurde es in seiner Seele. Jetzt zürnte er nicht mit sich, daß er die Geliebte so schnöde gekränkt und sie so gekränkt hatte ziehen lassen, sondern ihr, daß sie fortgegangen war, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sie um Verzeihung zu bitten. Ihm war zu Muthe, wie einer Seele zu Muthe sein könnte, die in ihren Sünden zur Hölle gefahren ist, weil sie des Priesters Absolution verschmähte, und die nun gegen sich selbst und gegen den unschuldigen Priester wüthet. Tolle Gedanken wirbelten durch sein überreiztes Gehirn – es wäre ihm eine Wollust gewesen, wenn einer von diesen jungen Adeligen, durch seinen Uebermuth beleidigt, ihm feindlich entgegengetreten wäre. Ja, er legte es darauf an, er witzelte und spöttelte auf die übermüthigste Weise; aber entweder verstanden die Halbberauschten ihn nicht oder sie hatten noch so viel Verstand behalten, einzusehen, daß ein Duell mit einem Manne, dessen Kugel unfehlbar war, eine Sache sei, die wohl bedacht sein wolle. Er suchte sich zu überreden, daß von den anwesenden Damen mehr als eine vollkommen so schön und liebenswürdig sei wie Melitta – daß es lächerlich sei, sich um die Abwesende zu grämen, da ihn hier mehr wie ein feuriges Auge zu entschädigen versprach ... Warum sollte er sich nicht in Emilie von Breesen verlieben? Warum nicht? Sie war eine Knospe, die zu einer wundervollen Rose aufblühen mußte. Warum sollte er nicht den ersten Blick in dieses schwellende Knospenleben thun? sich nicht zuerst an dem Duft dieser frischen Blume berauschen? Und war sie nicht schlank und geschmeidig wie ein Reh? und war ihr rosiger Mund nicht schon zu einem wollüstigen Kusse halb geöffnet? und blickte sie nicht mit so großen, grauen, halb scheuen, halb kecken, halb neugierigen und halb verständnißklaren Augen zu ihm auf, wie er jetzt über die Lehne ihres Stuhles gebeugt mit ihr schwatzte?

Sie müssen uns ja besuchen, Herr Stein! Ich lade Lisbeth noch dazu, und dann reiten wir zusammen spazieren.

Lassen Sie Fräulein von Meyen nur zu Hause. Ich ziehe die Duetts den Terzetts bei weitem vor.

Ist das wahr? Aber meine Cousine ist ein sehr hübsches Mädchen. Finden Sie nicht?

Fräulein Lisbeth ist ein reizendes Wesen, das nur den einen Fehler hat, Sie zur Cousine zu haben, und nur den einen Fehler begeht, sich zu häufig neben Sie zu stellen.

Warten Sie, das sage ich ihr wieder –

Sie würden mich dadurch dem Haß der jungen Dame aussetzen und mir dafür eine Entschädigung schuldig sein.

Und liegt diese Entschädigung in meiner Macht?

Nein, in Ihren Augen.

Sie Spötter, kommen Sie, die Reihe ist an uns.

Oswald hatte sich in der folgenden Pause zwecklos in den Zimmern umhergetrieben. Als er in den Ballsaal zurückkam, sah er sich vergeblich nach Emilie von Breesen um. Halb und halb sie suchend und auch wieder ohne Plan, von seinen bösen Gedanken gejagt, weiter irrend, gerreth er in eine andere Flucht von Zimmern, die an der den Spielzimmern entgegengesetzten Seite an den Ballsaal stieß und in welchen er bis jetzt noch nicht gewesen war. Nur hie und da brannte noch ein halb verlöschendes Licht auf einem Wandleuchter oder vor einem Spiegel und zeigte ihm wie in einem bösen Traum ein altes gebräuntes Familienportrait oder sein eigenes bleiches Gesicht. Die Stühle standen wirr durcheinander. Die Fenster waren mit Vorhängen verhüllt. Durch die Spalten schimmerte der Mond, der jetzt aufgegangen war, herein und zeichnete hier und da einen hellen Streifen auf die Teppiche des Fußbodens. Oswald trat, um frische Luft zu schöpfen, an eins dieser Fenster. Als er den dunkelrothen, schweren Vorhang zurückschlug, fuhr eine weiße Gestalt, die in der tiefen Nische des Fenster auf einem niedrigen Rohrsessel gesessen und den Kopf in die Hand gestützt hatte, scheu empor und stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Oswald wollte den Vorhang wieder fallen lassen und sich zurückziehen, als die Gestalt einen Schritt auf ihn zutrat und die Hand lebhaft nach ihm ausstreckte. Und ein Paar weiche Arme umschlangen ihn und ein knospender Busen wogte stürmisch an seiner Brust; zwei glühende Lippen preßten sich auf seinen Mund und eine leise Stimme hauchte: Oswald, o mein Gott, Oswald!

Ein Knabe, der mit seinem Schwesterchen gespielt und aus Unachtsamkeit das Kind schwer verletzt hat, kann nicht bestürzter und erschrockener sein, wenn er das Blut der Kleinen fließen sieht, wie es Oswald war, als er die Thränen des Mädchens auf seiner Wange fühlte. Sein wahnsinniger Rausch von Liebe und Eifersucht war in einem Augenblicke verflogen. Was hatte er gethan? Er hatte die schnöde Rolle des listigen Finklers gespielt; er hatte das arme Vögelchen mit Schmeichelworten und Liebesblicken gelockt, bis es zu ihm herangeflattert kam und sich an seinen Busen schmiegte.

Mein Fräulein, flüsterte er, indem er sanft den Kopf des Mädchens, das jetzt leise an seiner Brust schluchzte, emporzuheben suchte, Emilie, theures Kind, um Gotteswillen, beruhigen Sie sich! Bedenken Sie, wenn Jemand Sie hier sähe, oder hörte –

Was gehen mich die Andern an, ich liebe Dich, murmelte das Mädchen.

Mein bestes Fräulein, ich beschwöre Sie, kommen Sie zu sich, machen Sie sich nicht unglücklich –

So lieben Sie mich nicht, sagte das leidenschaftliche Mädchen, sich schnell emporrichtend, so lieben Sie mich nicht? Gut, ich gehe –

Sie machte einen Schritt nach dem Vorhang hin, aber die Leidenschaft hatte ihre Kräfte aufgezehrt. Sie schluchzte laut auf und wäre zu Boden gestürzt, hätte Oswald sie nicht in seinen Armen aufgefangen. Seine Lage war so peinlich wie möglich. In jedem Augenblick fürchtete er, Stimmen in dem Zimmer zu hören, den Vorhang zurückschlagen zu sehen – und wiederum, die Aermste in diesem Zustand halber Ohnmacht zu verlassen, zumal da er ihr schicklicherweise Niemand zu Hülfe senden konnte, war ihm unmöglich. Und doch mußte er sich losreißen, denn er fühlte, wie das für einen Augenblick zurückgedrängte Fieber seiner Sinne, je länger diese wunderliche Situation währte, wieder heiß und immer heißer durch seine Adern zu rieseln begann. – Zärtliche, liebevolle, leidenschaftliche Worte mischten sich, er wußte selbst nicht wie, in seine leisen Bitten; eine unwiderstehliche Gewalt drückte ihm den jugendlichen Leib fester und fester in die Arme, ließ seine Lippen flüchtig die Lippen, die Augen, das Haar des holden Geschöpfes berühren. Mehr, als alle Worte es vermocht hätten, brachten diese Zeichen der Liebe das leidenschaftliche Kind wieder zu sich.

So liebst Du mich also doch, Oswald? flüsterte sie, sich innig an ihn schmiegend.

Ja, ja, Holde, wer könnte so grausam sein, Dich nicht zu lieben. Aber bei Ihrer Liebe beschwöre ich Sie, verlassen Sie mich jetzt, ehe es zu spät ist. Ich sehe Sie im Saale wieder.

Das Mädchen legte noch einmal ihren Kopf an seine Brust, als ahnte ihr, daß er da zum ersten und zum letzten Male geruht, und hob noch einmal den Mund zum Kusse zu ihm empor, als wüßte sie, daß so süße verstohlene Küsse sie nun und nimmer wieder im Leben geben und empfangen würde. – Die weiße, schlanke Gestalt war verschwunden und nur der Mondschein flimmerte auf dem dunkelrothen Vorhang, der das Fenster von dem Zimmer trennte. Und jetzt, als Oswald die Hand an den Vorhang legte, sich womöglich auf einem Umwege wieder in den Ballsaal zurückzubegeben, hörte er die Stimme zweier Männer, die soeben in das Gemach traten.

Sechsundzwanzigstes Capitel

Wer zum Teufel war denn das, sagte die eine Stimme – es war die Stimme des Baron Oldenburg – war das nicht die schlanke Emilie? Wonach hat denn die kleine Menschenfischerin hier im Trüben geangelt? – Aber jetzt, Barnewitz, sage ich mit Hamlet: Wo führst Du mich hin? Red', ich geh' nicht weiter. Zweimal habe ich schon in dem verdammten Clairobscur, das in diesen Räumen herrscht, meine freiherrlichen Schienbeine mit einem groben Schemelbeine in unangenehme Berührung gebracht. Gott sei Dank, hier ist eine Causeuse: eh bien, mon ami, causons!

Ich bitte Dich, Oldenburg, sei für einen Augenblick ernsthaft, sagte Herr von Barnewitz, und seine Stimme klang seltsam gepreßt – mir ist wahrhaftig nicht lächerlich zu Muthe.

Ihr seid seltsame Menschen! Du und Deines Gleichen. Ihr glaubt, ein ehrlicher Kerl könne kein ernsthaftes Wort vorbringen, ohne eine Leichenbittermiene dabei zu machen. Der Humor ist Euch ein unbekannter Luxus. Nun wohl, mein ernsthafter Freund, was hast Du?

Höre, Oldenburg –

Still! wir sind doch hier unbelauscht? Mir war, als hörte ich eine Ratte hinter den Tapeten!

Es war nichts.

Eh bien, so verkünde mir in möglichst verständlichen Worten Deine Trauermähr.

Die Stimmen der Redenden wurden leiser, aber nicht so sehr, daß Oswald nicht jedes Wort deutlich hörte. Er verwünschte seine Situation, die ihm die Rolle des Lauschers aufzwang; aber er sah keine Möglichkeit zu entrinnen. Da Oldenburg Fräulein von Breesen erkannt hatte, würde er die Ehre dieser jungen Dame preisgegeben haben, wäre er jetzt aus seinem Versteck hervorgekommen. Er versuchte, ob er nicht geräuschlos das Fenster öffnen könne, um mit einem kühnen Sprunge über die Stachelbeerhecke fort, die sich unter demselben hinzog, in den Garten, und von dort durch die offene Thür des Ballsaales in diesen zurückzugelangen, aber er stand von diesem Vorhaben, als zu gewagt, ab, und ergab sich, nicht ohne heimlich seinen Unstern zu verwünschen, in die halb lächerliche, halb ärgerliche Situation.

Oldenburg, sagte Barnewitz, hat Dich Cloten gebeten, ihn zu meiner Frau zu setzen, oder war es blos ein Einfall von Dir?

Wie kommst Du auf diese seltsame Frage?

Gleichviel! beantworte sie mir nur?

Nicht, bevor ich weiß, wo dies Alles hinaus soll!

Ich will eine Antwort und keine Ausflucht, sagte der wüthende Edelmann.

Euer Drohen hat keine Schrecken, Cassius, antwortete Oldenburg mit einem Tone, dessen königliche Ruhe sonderbar mit dem heisern, leidenschaftlichen Ton der Stimme des Andern contrastirte. Ich sage Dir noch einmal, Barnewitz, entweder Du sagst mir, was meine Aussage in dieser Sache für eine Bedeutung hat, oder ich verweigere, Dir Rede zu stehen.

Nun wohl, die Sache ist kurz und bündig die: Cloten liebt Hortense!

O! und vice versa: liebt Deine Frau auch diesen liebenswürdigen Jüngling?

Der Teufel soll ihn holen.

Ein höchst christlicher Wunsch, dem ich mich von ganzem Herzen anschließe. Seit wann spielt dieses romantische Verhältniß?

Seit wir von unserer Reise zurück sind.

Und welche Beweise hast Du?

Tausend!

Und was gedenkst Du zu thun?

Herr Gott des Himmels, Oldenburg, Du fragst, als ob es sich um eine Whistpartie handelte! Umbringen will ich den Schuft, mit der Hetzpeitsche will ich ihn von meinem Hofe jagen, ihn und seine Maitresse!

Bon! Und willst Du mir einen dieser tausend Beweise nennen?

Nun, ich dächte, der heutige Abend wäre Beweis genug. Erst läßt sie sich von ihm zu Tische führen, hernach coquettirt sie mit ihm auf eine unverschämte Weise –

Halt, wer hat Dir das gesagt?

Der junge Grieben.

Dann sage dem jungen Grieben, daß er sein Spatzengehirn zu etwas Besserem verwenden könnte, als so alberne Geschichten zu erfinden und sie Dir zuzutragen. Ich habe näher gesessen, als er, und bin mindestens kein schlechterer Beobachter, und ich sage Dir, daß Deine Frau und Cloten sich über Tische so anständig benommen haben, wie – man es nur von einem Edelmann und einer Edelfrau erwarten kann. Und dann bedenke doch gefälligst, daß das ganze Arrangement nur ein Einfall, und wie ich jetzt sehe, ein schlechter Einfall von mir war.

Ich kann mich darauf verlassen, Oldenburg?

Ich meine gewöhnlich, was ich sage.

Aber es ist doch wahr! knirschte von Barnewitz.

Lieber Freund, ich kann darüber gar nicht urtheilen, und Du würdest mich also ausnehmend verbinden, wenn Du mich aus dem Handel ließest. Willst Du aber meinen freundschaftlichen Rath, so steht er Dir gern zu Diensten.

Was soll ich thun?

Deine Hetzpeitsche an der Wand hängen lassen, und auf jede Weise einen Scandal vermeiden, in welchem sich derjenige immer am meisten blamirt, auf dessen Kosten der ganze Spectakel schließlich aufgeführt wird, c'est à dire: der Ehemann. Sodann rathe ich Dir, zu bedenken, daß unsere chronique scandaleuse überreich ist an dergleichen Geschichten, und daß, wenn alle gekrönten Häupter unter uns bei jedem neuen Ende, das ihrem Schmucke angesetzt wird, zur Hetzpeitsche greifen wollten, schließlich keine Seiler und Riemer im Lande mehr aufzutreiben sein würden. Drittens erlaube ich mir, Dir den unmaßgeblichen Rath zu ertheilen: schaffe die Hälfte von Deinen Jagdhunden, und Deine sämmtlichen Maitressen ab. Lasse die Hasen ihren Kohl in Ruhe fressen, und die Bauerbengel ihre Schätze in Frieden küssen; bekümmere Dich mehr um Hortense, die, wie alle Frauen, nichts Besseres verlangt, als geliebt zu werden, und die eine viel zu kluge Dame ist, als daß ihr, wenn sie die Wahl zwischen Dir und Cloten hat, Deine Vorzüge nur einen Augenblick verbogen bleiben könnten. Und schließlich, laß uns wieder unter Menschen gehen, denn dieses philosophische Gespräch in dem mystischen Halbdunkel hat mich außerordentlich angegriffen, und mich verlangt herzinnig nach einem Glase Champagner.

Ja, das ist wahr, sagte der halb betrunkene Barnewitz; ich bin ein ganz anderer Kerl, als dieser verdammte Hasenfuß, dieser Cloten. Und Hortense weiß das auch recht gut, ha, ha, ha! S'ist auch wahr: ich habe in der letzten Zeit ein bischen flott gelebt. Weißt Du, unsere italienische Reise hat mich eigentlich so liederlich gemacht. Die verdammten Weibsen mit ihren schwarzen glänzenden Augen – Ja und à propos, glänzende Augen. Was ich Dich immer fragen wollte: ist es denn jetzt ganz vorbei mit Dir und der Berkow?

Mit mir und Frau von Berkow? Welch' tolle Blasen treibt denn Dein Gehirn nun schon wieder? Was soll vorbei sein zwischen ihr und mir?

Aber Oldenburg, Du wirst einem alten Fuchs wie mir doch nicht einreden wollen, daß Du die süßen Trauben nur immer fein säuberlich aus der Ferne bewundert hast?

Höre, mein Schatz, sagte Oldenburg, und seine Stimme klang scharf wie ein zweischneidiges Messer; Du weißt, ich verstehe Scherz, wie Einer; wer es aber wagt, Melitta's Ehre zu begeifern, beim allmächtigen Gott: er stirbt von meiner Hand.

Nun sieh', wie heftig Du gleich wieder wirst.

Ich heftig? Ich bin so kühl wie Champagner in Eis. – Ja, was ich sagen wollte, versprich mir, Barnewitz, daß Du weder heute, noch morgen, überhaupt nicht, bevor Du mit mir Rücksprache genommen, etwas in dieser Angelegenheit thust; vor allem Dir gegen Deine Frau nicht das Mindeste merken läßt; hörst Du, Barnewitz, nicht das Mindeste.

Ja, der gute Rath kommt nur zu spät, sagte Barnewitz; ich habe schon im Vorübergehen ein paar Worte gegen Hortense fallen lassen; ich sage Dir: sie wurde bleich wie die Wand. Der verdammte Hallunke!

Das war sehr unrecht und sehr unritterlich, mein Ritter von der traurigen Gestalt, sagte Oldenburg; alte Weiber schwatzen, Männer handeln; solche Scenen zwischen einem heulenden Weibe und einem polternden Ehemanne finde ich über alle Begriffe plebejisch und gemein, und das Bewußtsein, daß wir im Rechte, der andere im Unrechte ist, sollte uns doppelt mild, zartfühlend und nachsichtig machen. Im Unrecht sein, und es noch dazu eingestehen müssen, ist an sich schon Unglück genug.

Ach Oldenburg, das ist Alles für mich zu hoch. Und dann, Du kennst die Weiber nicht, wenn Du glaubst, sie nehmen sich dergleichen so sehr zu Gemüth. Zum einen Ohr hinein, zum andern wieder heraus. Komm Oldenburg, und überzeuge Dich, ob Du Hortense ansehen kannst, daß ich ihr vor zehn Minuten gesagt habe, ich würde Cloten die Knochen im Leibe entzwei schlagen, wenn die verdammte Geschichte nicht sofort ein Ende nähme.

Ja, ja, Du bist der wahre Othello! Und ich in meiner gutmüthigen Dummheit versuche diesen brutalen Mohren zu einem civilisirten Europäer zu waschen! Quelle bêtise!

Als Oswald die Stimmen der Redenden nicht mehr vernahm, und die Musik, die aus dem Saale herübertönte, zeigte, daß der Tanz wieder begonnen hatte, kam er aus seinem Versteck hervor. Er vermuthete, daß diese Flucht von Zimmern auf einem langen Corridor enden müsse, den er beim Hinaufgehen in den Speisesaal bemerkt hatte. Er hatte sich nicht getäuscht. Schon aus dem nächsten Zimmer führte eine Thür auf den Corridor. Aus demselben gelangte er auf den Hausflur und von dort, ohne irgend Aufsehen zu erregen, in den Empfangsaal und die Gesellschaftszimmer. Hier und da wurde noch gespielt, aber die meisten Herrschaften hatten sich nach dem Ballsaale begeben, wo demnächst der Cotillon getanzt werden sollte. Dahin begab sich denn auch Oswald. Sein Auge suchte und fand alsbald Emilie von Breesen. Er traute seinen Augen kaum, so ganz schien sie ihm verwandelt; aus dem wilden Mädchen von heute Nachmittag war eine Jungfrau geworden. Sie erschien ihm größer und bedeutender; ihr vorher rosiges Antlitz war jetzt bleich, aber ihre Augen leuchteten mit einem ganz ungewöhnlichen Feuer, und für die Scherze ihres Tänzers hatte sie kein Lächeln mehr. Sobald sie Oswald ansichtig wurde, zuckte ein Freudenblitz über ihr Gesicht. Eifrig wandte sie sich zu ihm, als er in ihre Nähe trat.

Auf ein Wort, Herr Doctor! – und dann im leisen Ton: Ich tanze den Cotillon mit Ihnen, ich weiß, Sie sind noch nicht engagirt; ich habe den Grafen Grieben so zur Verzweiflung gebracht, daß er soeben mit seinen Eltern fortgefahren ist. Er vermuthet wahrscheinlich, das werde großen Eindruck auf mich machen, der Narr! Entschuldigen Sie, Herr von Sylow, ich bin noch zu angegriffen. Tanzen Sie eine Extratour mit meiner Cousine. Sie schmachtet nach Ihnen. – Gott sei Dank, daß er fort ist! – Oswald, liebst Du mich? liebst Du mich wirklich? Ich kann es kaum glauben. Mir schwindelt der Kopf; ich möchte laut aufjauchzen vor Wonne. O, bitte, bitte, sieh' mich nicht so an, ich muß – muß Dir sonst um den Hals fallen und Dich küssen, wie vorhin. Bist Du mir bös, Oswald? Es war wohl recht schlecht von mir. Aber sieh, ich konnte nicht anders. Warum sprichst Du nicht Oswald?

Weil es so süß ist, Ihrem Geplauder zuzuhören.

Ich bin wohl ein rechtes Kind, nicht wahr? Aber warum nennen Sie mich nicht Du?

Glaubst Du denn, Holde, daß man nur die liebt, die man Du nennt?

Nein, aber daß man die Du nennt, die man liebt. O, ich finde dies Du so himmlisch. Gott sei Dank, der Tanz ist zu Ende. Komm, wir wollen uns einen guten Platz suchen, den dort in der Ecke am Fenster.

Die Herren waren eifrig beschäftigt, nach den vorher von ihren Damen eingeholten Instructionen, die Stühle zu arrangiren; schon war der Kreis fast geschlossen, als plötzlich durch das Plaudern und Lachen der übermüthigen Jugend, und das Quinquiliren der armen gequälten Musiker auf ihren seit einiger Zeit sehr widerspänstigen, Instrumenten, und das Klappern der Gläser und Tassen auf Präsentirtellern und in den Händen der Durstenden – Stimmen aus dem Nebenzimmer ertönten, die nichts weniger als festlich klangen – laute, von Wein und Wuth heisere Stimmen, drohende Worte hinüber und herüber – nur ein paar Worte, aber gerade genug, um wenigstens alle, die sich auf dieser Seite des Saales befanden, für einen Moment aus ihrem Freudentaumel aufzuschrecken. Freilich auch nur für einen Moment, denn ein mit unfeinen Worten geführter Streit war der hier versammelten Gesellschaft nichts Unerhörtes und dauerte nicht immer so kurze Zeit, wie diesmal. Auch dieser Vorfall würde, wie so viele andere ähnliche, kein weiteres Aufsehen erregt haben, wenn nicht ein zweiter Vorfall, der sich in dem Ballsaale ereignete, dem ersteren eine eigenthümliche, und für die Scharfsinnigeren wenigstens keineswegs räthselhafte Bedeutung gegeben hätte. Kaum waren nämlich die drohenden, heiseren Stimmen nebenan von einer dritten, die eine große Autorität über die trunkenen Lapithen ausüben mußte, zum Schweigen gebracht, als Hortense von Barnewitz, die mit dem jungen Herrn von Süllitz den Cotillon tanzen sollte, den Arm dieses Herrn faßte, der, ihre Blässe bemerkend, schnell einen Stuhl herbeizog, auf welchen sie ohnmächtig niedersank. Die Bestürzung der Gesellschaft war natürlich sehr groß. Trotzdem, daß ein Dutzend Riechfläschchen sofort zur Hand waren, und mit dem Inhalt derselben die Stirn, die Augen, die Schläfe der schönen Ohnmächtigen reichlich benetzt wurden, dauerte es doch einige Minuten, bis Hortense nur so weit zu sich kam, um mit blassen Lippen den sie umgebenden Damen ihren Dank zuzulächeln, und sie mehr mit Blicken, als mit Worten zu bitten, sie aus dem Ballsaale zu führen, was denn auch alsbald geschah. Die Zurückbleibenden sahen einander an, als wenn sie fragen wollten, was hatte denn das zu bedeuten?

Mit dem Balle ist es nun wohl vorbei? fragte Adolf von Breesen, der mit seiner jungen Cousine Lisbeth, welche er anbetete, zum Cotillon engagirt war, kleinlaut Oswald, der neben ihm stand.

Ich fürchte, ja, antwortete dieser.

Wir tanzen doch weiter? fragte eine dritte Stimme.

Unmöglich, sagte Herr von Langen, ich habe schon anspannen lassen.

Was war denn das eigentlich vorhin für eine Geschichte zwischen Barnewitz und Cloten? fragte ein Anderer.

Was wird's sein? Sie haben Beide ein Glas über den Durst getrunken. Das ist Alles, sagte von Langen.

Es sollte mich sehr freuen, wenn das Alles wäre, sagte von Breesen; aber ich fürchte, dahinter steckt mehr. Ich hörte, daß Cloten über Hals und Kopf davon gefahren ist.

Herr von Barnewitz erschien an Oldenburgs Seite in dem Ballsaal. Das Gesicht des Barons war so ruhig wie immer, aber das des andern Edelmanns war von Aufregung, Zorn und allzureichlich genossenem Wein purpurroth; seine Augen schwammen, und seine Stimme war etwas lallend, als er jetzt den Herren, die ihm in den Weg kamen, zuredete, den Ball fortzusetzen.

Aufhören, nach Hause fahren – dummes Zeug – lasse keinen Menschen vom Hofe – Heda! Champagner hierher! – Nach Hause? Warum? meine Frau wird alle Augenblicke ohnmächtig mit und ohne Grund – da könnte ich gar keine Gesellschaft geben. Musik anfangen!

Aber trotz dieser gastfreundlichen Worte, deren Wirkung durch das allzusichtlich aufgeregte Wesen des Sprechenden wesentlich beeinträchtigt wurde, und trotz der ersten Töne der Instrumente, die mit einem schauerlichen Accord einsetzten, waren nur sehr Wenige bereit, den unterbrochenen Ball wieder aufzunehmen. Alle Uebrigen fanden plötzlich, daß es schon sehr spät sei, daß man zu lange bei Tisch gesessen habe, daß es unverantwortlich wäre, ein Fest nicht zu beenden, an welchem die Wirthin selbst nicht mehr theilnehmen könnte – und was dergleichen Phrasen denn mehr sind, durch die eine Gesellschaft, die einmal aufbrechen will, ihren Rückzug zu motiviren sucht. Schon hörte man einen Wagen nach dem andern vorfahren. Mütter suchten ihre Töchter, diese ihrer Shawls und Tücher – überall ein Aufbrechen, Abschiednehmen, hier ein übermüthiger Scherz, dort eine böswillige Bemerkung, hier ein verstohlenes Liebeswort. – Oswald sah nicht viel Anderes, als die Gestalt des hübschen, leidenschaftlichen Kindes, das ihm so schnell so theuer geworden war.

Hatte er doch noch vor wenigen Minuten ihre Lippen geküßt, sah er doch ihre jungen, strahlenden Augen voller Seligkeit zu sich aufgeschlagen, vernahm er doch ihre leise, liebedurchglühte Rede. Was Wunder, wenn er in der kurzen Frist, die ihm mit dem süßen Kinde noch beisammen zu sein vergönnt war, Liebe für Liebe gab; wenn er dem Augenblicke, der sie trennen würde, mit kaum geringerer Angst entgegensah, als das Mädchen selbst, welches bei der Ankündigung, der Wagen sei vorgefahren, fast in Thränen ausbrach. Emilie hatte den Augenblick, wo Oswald sie nach dem Tanze zu ihrer Tante zurückführte, wahrgenommen, ihn dieser Dame, die bei ihr Mutterstelle vertrat, vorzustellen. Ein paar gewandte, witzige Worte hatten ihn schnell bei der Matrone, die mit dem besten Herzen von der Welt gern auf Kosten Anderer lachte, in Gunst gesetzt. Auch sie lud Oswald ein, doch ja recht bald einmal nach Candelin (dem Gute von Emiliens Vater, der Vater litt für den Augenblick an der Gicht und hatte deshalb zu Hause bleiben müssen) herüber zu kommen.

Ja, und dann wollen wir etwas nach der Scheibe schießen, sagte Adolf von Breesen, der herantrat, um den Damen anzukündigen, daß der Wagen da sei. Ich lade noch ein paar Herren dazu, damit Sie sich nicht allzusehr bei uns langweilen.

Ich besitze das Talent, mich zu langweilen, nur in einem sehr bescheidenen Maße, und überdies glaube ich, daß die Gegenwart dieser Damen, und Ihre eigene, Herr von Breesen, ein besseres Präservativ gegen diese Krankheit ist, als eine Gesellschaft von hundert Personen, sagte Oswald mit höflicher Verbeugung.

Siehst Du, Adolf, rief die lebhafte alte Dame, Herr Stein sagt dasselbe, was ich Dir schon tausendmal gesagt habe: nur langweilige Menschen langweilen sich; zum Beispiel Du und Deine Schwester, die Ihr jeden Tag hundertmal vor langer Weile sterben wollt.

Ich langweile mich nie, Tante, rief Fräulein Emilie eifrig.

Kind, Du beginnst irre zu reden, es ist die höchste Zeit, daß wir nach Hause kommen. Also à revoir, Monsieur.

Ich bitte um die Gnade, Sie bis zum Wagen begleiten zu dürfen, sagte Oswald, der alten Dame den Arm bietend.

Vous êtes bien aimable, Monsieur, erwiderte sie, den dargebotenen Arm annehmend. Sind Sie überzeugt, Herr Stein, daß Sie nicht von Adel sind?

Wie von meinem Dasein, gnädige Frau. Weshalb?

Hm; Sie haben in Ihrem ganzen Wesen etwas Chevalereskes, das man heut zu Tage nur selten und nur bei unsern jungen Leuten aus den besten Familien findet. Adolf kann in dieser Hinsicht noch sehr viel lernen. Hörst Du, Adolf?

Ich höre stets auf das, was Sie sagen, liebe Tante, antwortete der junge Mann, der mit seiner Schwester folgte, auch wenn ich, was Sie sagen, schon ein oder das andere Mal von Ihnen gehört haben sollte. Emilie, Kind, wo hast Du denn die Augen, Du wärst um ein Haar unter das Rad gekommen!

Die Damen waren eingestiegen, Adolf von Breesen gab dem Kutscher auf dem Bocke noch eine Instruction über den einzuschlagenden Weg. Oswald stand an der geöffneten Thür, die Tante hatte sich schon bequem in ihrer dunkeln Ecke zurecht gesetzt, Emilie hatte sich etwas nach vorn gebeugt. Das Licht von den Laternen auf dem Bocke und vor der Hausthür fiel auf ihr Gesicht. Ihre Blicke hingen unverwandt an Oswald; aber sie sah ihn wohl kaum, denn ihre großen Augen waren von Thränen verschleiert; sie wagte nicht zu sprechen, aber ihr leise zuckender Mund war beredt genug. Ihr Bruder sprang in den Wagen und zog die Thür hinter sich zu. Fort! die Pferde zogen an. Eine kleine Hand in weißem Handschuh winkte aus dem Fenster. Das war das letzte Liebeszeichen. Im nächsten Augenblick stand ein anderer Wagen auf dem Platze.

Oswald kehrte in das Haus zurück. Die Gesellschaft war schon sehr zusammengeschmolzen; unter den Wenigen, die noch da waren, und, in Mäntel und Shawls gehüllt, auf ihre Equipagen warteten, war Niemand von denen, welche Oswald im Lauf des Tages näher kennen gelernt hatte. Herr von Langen war der Erste gewesen, der aufgebrochen war, nachdem er seinen neuen Freund auf das dringendste wiederholt zu einem Besuche aufgefordert hatte. Oswald hatte sich draußen erkundigt, ob der Wagen von Grenwitz wieder da sei, aber eine verneinende Antwort erhalten. Je mehr die Gesellschaft sich lichtete, desto unangenehmer wurde ihm dies ganz unbegreifliche Ausbleiben. Er sah schon im Geiste, wie er der letzte von Allen sein würde, und hatte schon beschlossen, lieber vorher zu Fuß aufzubrechen, als schließlich auf die Gastfreundschaft des Herrn von Barnewitz angewiesen zu sein. Da kam der Baron Oldenburg aus dem Nebenzimmer und schien Jemand mit den Augen zu suchen. Sobald er Oswald bemerkte, lenkte er seine Schritte auf diesen zu.

Wie ist es, Herr Doctor, sagte er, ich dächte, es wäre Zeit, nun abzufahren.

Ich wäre schon auf und davon, antwortete Oswald, nur fehlt es mir vorläufig noch an Roß und Wagen; ich vermuthe, daß des Barons Kutscher und Pferde, die mich abholen sollen, unterwegs eingeschlafen sind.

Ich mache mir ein besonderes Vergnügen daraus, Ihnen einen Platz in meinem Wagen anzubieten, sagte der Baron. Der kleine Umweg, den ich machen muß, um Sie vor dem Thore in Grenwitz abzusetzen, wird mir durch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft doppelt und dreifach entschädigt.

Ich nehme Ihr freundliches Anerbieten mit Dank an.

Eh bien, partons!

Auf dem Flure trafen sie Herrn von Barnewitz, der augenscheinlich seinen Pflichten als Wirth nur noch mit der größten Mühe nachkam. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Stimme war auf eine unangenehme Weise rauh und heiser. Er schwatzte allerlei tolles Zeug durcheinander, während er den einzelnen Gästen, die er bis an den Wagen begleitete, eine höfliche Phrase mit auf den Weg zu geben bemüht war. Wollen schon fort – na, bleiben Sie gut nach Hause – Johann! Deinen Wagen für Frau von Poggendorf – gnädige Frau müssen noch einen Augenblick anspannen lassen. Empfehle mich Ihrem Herrn Gemahl! Ah! Poggendorf, alter Junge, hatte Dich gar nicht gesehen, laß Deine Frau in Teufels Namen allein fahren, wollen Glas Champagner – Oldenburg, Doctor, auch schon fort? – Unsinn! freue mich Ihre Bekanntschaft zu machen – schießen wie der Teufel – ist recht, daß Sie den Cloten blamirt haben – ist ganz recht; bist ein famoser Kerl, Doctor, (zärtliche Umarmung), bist mein Herzensfreund, (Schluchzen), mein bester Freund, (neue Umarmung), hättest ihn todtschießen sollen, den Hallunken.

Komm, Barnewitz, ich habe Dir etwas mitzutheilen, sagte der Baron, Herrn von Barnewitz ziemlich derb auf die Schulter schlagend und ihn ein paar Schritte von dem Wagen fortführend. Entschuldigen Sie auf eine Minute, Herr Doctor; Karl! Platz machen, daß die andern Wagen vorfahren können.

Die Beiden gingen eine Weile im Gespräch auf und ab, bald in dem Dunkel des Hofes fast verschwindend, bald in den lichten Kreis, der das Haus umgab, tretend. Oswald konnte sich wohl denken, wovon zwischen den Beiden die Rede war. Ein paar Mal erhob Herr von Barnewitz seine Stimme, aber er senkte sie auch alsbald wieder vor einem St! oder bist Du nicht gescheut? Oldenburgs, wie eine wilde Bestie in der Menagerie aufbrüllt und sofort schweigt, wenn der Blick oder die Peitsche des Herrn sie trifft. Dieser Mann übt eine magische Gewalt über die Andern aus, sagte Oswald bei sich, während er die lange Gestalt des Barons neben dem um einen Kopf kleineren Barnewitz, wie das personificirte Gewissen neben einem armen Sünder hin und herschreiten sah – ich selbst verspüre schon seine Einwirkung. Es ist ein Dämon in dem Manne, ein Dämon, den man entweder lieben oder hassen, oder vielmehr lieben und hassen muß, denn ich möchte diesen Menschen gern hassen und kann es nicht. Und was hat er dir denn auch schließlich gethan? Wenn er Melitta noch immer liebt, wie ich glaube, so bin ich für ihn ein schlimmerer Feind, als er für mich. Aber warum hat mir Melitta nicht gesagt, wie ihr Verhältniß mit dem langen Gespenst dort war und ist? ich hätte sie heute nicht gekränkt. Arme Melitta! wie sie mich ansah – und was würde sie sagen, wenn sie die Scene in der Fensternische gesehen hätte? – Das süße, herzige Mädchen! – und auch ihre Augen waren voll Thränen, als sie im Wagen saß und mich so unverwandt anblickte. O! wer könnte so grausam sein, die Liebe dieses holden Geschöpfes zurückzuweisen? Und dennoch:

All' dies Neigen von Herzen zu Herzen – Ach, wie so eigen schaffet es Schmerzen.

Heiliger Goethe, bitt' für mich! Du hast ja auch die Lilie nicht verschmäht, weil die Rose so schön ist, und deshalb umgiebt nun ein Kranz von Rosen und Lilien Dein ambrosisches Haupt. Du hättest die kleine Emilie an Dein großes Herz genommen und hättest ihr sanft die üppigen Haare aus der Stirn gestreichelt und hättest sie zärtlich auf die zärtlichen Augen geküßt. O, ihr ewigen Sterne, wie reizend das Kind in dem Augenblicke war! Denn Alles in Allem ist es doch nur ein Kind, und morgen wird sie in ihrem Daunenbettchen erwachen und glauben, daß sie die Scene in dem Erker geträumt hat.

So suchte Oswald sein Gewissen zu beschwichtigen – für den Augenblick gelang es ihm auch.

Darf ich jetzt bitten einzusteigen, Herr Doctor? rief der Baron, der mit Herrn von Barnewitz herantrat. Es bleibt also dabei, Barnewitz?

Verlaß Dich darauf! sagte dieser, dem die Unterredung mit seinem Mentor und die kühle Nachtluft sehr wohl gethan zu haben schienen. Verlaß Dich d'rauf. Ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß ich –

St! sitzen Sie bequem, Herr Doctor? Adieu, Barnewitz! fort, Karl!

Siebenundzwanzigstes Capitel

Die Pferde zogen im Galopp an, der leichte Holsteiner-Wagen rasselte über den etwas holprigen Damm des Hofes. Im Nu lag das Schloß mit seinen noch immer lichterhellten Fenstern, die dunklen Scheunen und Ställe, die kleinen Häuslerwohnungen hinter ihnen, und sie befanden sich draußen zwischen den nickenden Kornfeldern und den nebelverhüllten Wiesen. Die kurze Sommernacht ging zu Ende. Im Osten verkündete ein hellerer Streifen den neuen Tag; die Dämmerung breitete über Alles gleichmäßig ihren grauen Schleier. Gerade vor ihnen nach Norden wetterleuchtete es von Zeit zu Zeit aus den trüben, dichten Dunstmassen. Alles war noch still auf den weiten Feldern, selbst die Lerche, die Tagverkünderin, säumte noch. Oswald hatte sich in eine Ecke zurückgelehnt, und sah träumend in die Dämmerung hinaus, nur manchmal, wenn der Dampf von des Barons Cigarre an ihm vorbeifuhr, wandte sich sein Blick auf diesen, der den Hut etwas in den Nacken gesetzt, den Kragen seines Rockes in die Höhe geschlagen, die langen Beine von sich streckend, in Nachdenken versunken schien. So mochten sie wohl eine Viertelstunde lang schweigend neben einander gesessen haben, als der Baron plötzlich sagte:

Sie rauchen ja nicht?

Nein.

Darf ich Ihnen eine Cigarre anbieten?

Ich danke: ich bin kein Raucher!

Das ist wunderbar.

Weshalb?

Weil ich nicht begreifen kann, wie es ein Mensch im neunzehnten Jahrhundert aushalten kann, ohne Tabak oder Opium zu rauchen, Haschisch zu kauen oder sonst auf irgend eine Weise das katzenjämmerliche Gefühl seiner elenden Existenz in etwas abzuschwächen. Und gerade von Ihnen begreife ich es am wenigsten.

Warum gerade von mir?

Weil, wenn mich nicht Alles täuscht, Sie vor Sehnsucht nach der blauen Blume tödtlich erkrankt sind, und in dieser unbefriedigten Sehnsucht auch eines schönen Tages sterben werden. Sie erinnern sich doch der blauen Blume in Novalis' Erzählung? der Blume, nach der Heinrich von Ofterdingen's armes Herz verschmachtete? Die blaue Blume! Wissen Sie, was das ist? das ist die Blume, die noch keines Sterblichen Auge erschaute, und deren Duft doch die ganze Welt erfüllt. Nicht alle Creatur ist fein genug organisirt, diesen Duft zu empfinden; aber die Nachtigall ist von ihm berauscht, wenn sie beim Mondenschein oder in der Dämmerung des Morgens singt und klagt und schluchzt, und all die närrischen Menschen waren es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und aus dieser Krankheit ist keine Rettung – keine, als der Tod. Wer nur einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine ruhige Stunde mehr in diesem Leben. Als wäre er ein verruchter Mörder, als hätte er den Herrn von seiner Schwelle gestoßen, so treibt es ihn weiter, und immer weiter, wie sehr ihn auch seine wunden Füße schmerzen und es ihn verlangt, das müde Haupt endlich einmal zur Ruhe zu legen. Wohl bittet er, von Durst gequält, in dieser oder jener Hütte um einen Labetrunk, aber er giebt den leeren Krug ohne Dank zurück; denn es schwamm eine Fliege in dem Wasser, oder das Gefäß, und wäre es von Asbest, war nicht reinlich, und so oder so – Erquickung hatte er sich nicht getrunken. Erquickung! Wo ist das Auge, in das wir einmal geschaut haben, um nie wieder in ein anderes, glänzenderes, feurigeres schauen zu wollen; wo ist der Busen, an dem wir einmal ruhten, um nie wieder das Pochen eines anderen, wärmeren, liebedurchglühteren Herzen hören zu wollen? wo? ich frage Sie, wo?

Der Baron schwieg; Oswald fühlte sich auf die seltsamste Weise bewegt. Was der sonderbare Mann an seiner Seite in einem fast elegischen Tone, der auffallend mit seiner sonstigen herben, rauhen Weise contrastirte, wie träumend, wie mit sich selbst redend, sprach, das waren so ganz seine eigenen Gedanken, die er oft und oft, als Knabe schon, und immer wieder im Leben gehabt, daß ihm fast ein Grauen ankam vor dieser geistigen Doppelgängerei. Er fand keine Antwort auf eine Frage, die er selbst aufgeworfen zu haben schien.

Es hat mir immer viel zu denken gegeben, hub der Baron wieder an, daß der Mensch sich selbst, seine Existenz erst mehr oder weniger vergessen muß, bevor er in den Zustand kommt, den wir in Ermangelung eines andern Wortes mit glücklich bezeichnen, und daß wir ihn um so glücklicher nennen müssen, je tiefer diese Vergessenheit ist. The best of life is but intoxication, sagt Lord Byron; ja wohl! die Liebe, die Romeo- und Julieliebe, für die man in den Tod geht, wie zu einem heitern Fest, ist auch nur ein Rausch! Schlafen ist besser als wachen, sagt die Weisheit der Inder; das Beste von Allem aber ist der Tod.

Und doch tödten sich im Verhältniß so wenig Menschen – warf Oswald ein.

Ja, das ist merkwürdig genug, sagte der Baron, besonders heut' zu Tage, wo die Meisten sich selbst vor den Hamlet-Träumen, die uns in jenem ewigen Schlafe kommen möchten, nicht mehr fürchten.

Sollte dies nicht ein Beweis dafür sein, daß es mit dem vielgeklagten Unglück dieser Leute so sehr arg nicht sein kann?

Vielleicht; vielleicht beweist es aber auch nur, wie schwer es dem Menschen wird, die letzte Hoffnung schwinden zu lassen. Warum schleppt sich der verirrte Wanderer mechanisch weiter durch den tiefen Schnee? warum späht der arme Schiffbrüchige auf Salas y Gomez ein halbes Jahrhundert über die öde Wasserwüste nach dem rettenden Segel? warum zerschellt sich der auf Lebenszeit Eingekerkerte nicht den Kopf an der Wand seines Kerkers? warum erhängt sich der arme Schelm, der morgen früh hingerichtet werden soll, nicht heute Nacht schon in seinen Ketten? – weil ihr Unglück so groß nicht ist? Pah, glauben Sie doch das nicht – einzig und allein, weil noch immer ein schwacher Schimmer von Hoffnung, von Rettung durch die Hölle ihrer Leiden dämmert, wie dort der blasse Streifen im Osten. Wenn auch dieser matte Schimmer einmal verlöschte, dann, ja dann muß die alte Mutter Nacht ihr armes, verirrtes Kind wiedernehmen, die milde, gute, liebevolle Todesnacht.

Nach einer kurzen Pause, während welcher der Baron mächtige Dampfwolken aus seiner Cigarre geblasen hatte, fuhr er in etwas ruhigerem Tone fort:

Ich bin ein paar Jahre älter als Sie, und das Geschick verstattete mir, in kürzerer Zeit ein größeres Stück vom Leben zu sehen, als es sonst wohl dem Menschen gegeben ist. Ich habe das, wovon der graue Freund dem jungen Wolfgang in Leipzig eine möglichst große Portion wünschte: Erfahrung. Ich könnte, müßte wenigstens mittlerweile erfahren haben, daß für mich und meinesgleichen keine Hoffnung mehr im Leben ist, und dennoch, trotzdem daß ich sage: ich habe keine Hoffnung mehr, hoffe ich im Stillen doch immer auf ein mögliches Glück, wie der Schwindsüchtige auf Genesung. Nehmen Sie zum Beispiel eine Gesellschaft, wie die, aus der wir eben kommen. Ich weiß, wie hohl die Freuden dieser Menschen sind; ich weiß, wie kummervolle Gesichter, welch' erbärmliche Armensündermienen sich hinter den lachenden Gesellschaftsmasken verstecken – ich weiß, daß dieses hübsche Mädchen in zehn Jahren eine unglückliche Frau oder eine Idiotin ist, daß dieser prächtige Junge, der den Kopf so hoch trägt und aussieht, als ob er sämmtliche zwölf Arbeiten des Herkules an einem Tage verrichten könne, ein plumper Landjunker sein wird, der gegen die Bauern das jus primae noctis geltend macht und nebenbei seine Frau womöglich prügelt – das weiß ich, und weiß noch mehr, und habe es tausend- und aber tausendmal im Leben gesehen, und doch bin ich noch so wenig blasirt, daß diese trügerische Fata Morgana eine zauberische Wirkung auf mich hat, bin so wenig ernüchtert, daß jede hübsche Mädchenblume die Hoffnung in mir erweckt, ich könnte wirklich einmal im Leben lieben oder geliebt werden, daß jede jugendlich schöne männliche Erscheinung mich wieder an Freundschaft glauben macht. Hätten Sie mir solchen Unsinn zugetraut?

Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so denken, so fühlen könnten.

Und darin hatten Sie vollkommen Recht, sagte der Baron; ich denke und fühle so auch nur, wenn ich, wie jetzt, complet betrunken bin. – Was war das?

Ein greller Schrei tönte aus geringer Entfernung durch den stillen Morgen zu ihnen herüber, – und noch einmal, schriller, verzweifelnder, wie wenn ein Weib – denn es war eines Weibes Stimme, das Messer in des Mörders Hand blinken sieht. Vor ihnen in geringer Entfernung lag ein Stück Waldland; der Weg führte daran herum, das Geschrei mußte von der andern Seite kommen, die jetzt noch durch ein paar einzeln stehende Eichen und durch dichtes Unterholz verdeckt war.

Zu, Karl! zu! schrie der Baron.

Der Kutscher hieb kräftig in die Pferde. Die edlen Thiere, wie voll Entsetzen über eine so unwürdige Behandlung, stürmten mit einer Schnelligkeit dahin, die den Insassen des Wagens leicht hätte gefährlich werden können. Im Nu war die Waldecke erreicht. Sobald sie einen Blick auf die andere Seite werfen konnten, bot sich ihnen das befremdendste Schauspiel dar. – Ein seltsam gekleidetes, braunes Weib, um deren bläulich schwarze Haare ein Stück rothes Zeug turbanartig gewunden war, lief kreischend her hinter drei Reitern, die ihre Rosse zur größten Eile spornend, im nächsten Augenblick schon in einer neuen Biegung des Weges hinter den Bäumen verschwunden waren. Als der Wagen des Barons herandonnerte, sprang das Weib auf die Seite, und rief mit gellender Stimme, die Hände flehend erhebend: Mein Kind – mein Kind! sie haben mir mein Kind geraubt!

Nur mit Mühe konnte der Kutscher die Pferde zum Stehen bringen. Oswald, der in dem Weibe sofort die braune Gräfin erkannt hatte, war vom Wagen herabgesprungen.

Rette mein Kind, Herr! rette mein Kind! schrie die Zigeunerin, sich vor ihm niederwerfend und seine Kniee umklammernd.

Der Baron lachte.

Eine ungeheuer romantische Situation, Herr Doctor, rief er vom Wagen herab. Morgendämmerung, Wälderrauschen, Zigeuner, des Königs Hochstraße, – wahrhaftig: reiner Eichendorff! Unterdessen, daß Sie die schöne Beraubte trösten, will ich den Räubern nachsetzen, die übrigens nur Schafe in Wolfskleidern, das heißt ein paar unserer hohlköpfigen Junker sein werden, die das Ganze für einen genialen Spaß halten.

Der auf dem Schimmel war der junge Herr von Nadelitz, sagte der Kutscher, der die wilden Pferde kaum halten konnte, über die Schulter gewandt.

Zu! rief der Baron, wir wollen die Junker Mores lehren! Der Wagen donnerte weiter.

Die Zigeunerin hatte sich wieder erhoben. Sie sah dem Wagen nach, der in rasender Schnelligkeit auf dem höckrigen Waldweg dahinfuhr und jetzt hinter der vorspringenden Ecke verschwand. Ein seltsames Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie, in athemloser Aufmerksamkeit lauschend, dastand. Dann, als ihr scharfes Ohr das Rollen des Wagens nicht mehr vernahm, kreuzte sie die nackten Arme über der vollen Brust, deren unruhiges Wogen einzig von dem Sturm, der eben noch ihren ganzen Organismus erschüttert hatte, zeugte, und starrte, in tiefes Nachdenken versunken, düster vor sich nieder. Plötzlich hob sie den Kopf und sagte, die großen glänzenden Augen auf Oswald heftend:

Kennst Du den schwarzen Mann, der mir die Czika wiederbringt?

Ja, Isabell.

Ist er Dein Freund?

Nein.

Aber er wird es einst sein?

Vielleicht.

Ist er gut?

Ich halte ihn dafür.

Gedenkst Du noch des Nachmittags am Sumpfesrand, Herr?

Ja, Isabell.

Kannst Du die Stelle wiederfinden?

Ich glaube, ja; – weshalb?

Willst Du, wenn wiederum der volle Mond, wie heute Nacht, am Himmel steht, den schwarzen Mann an diese Stelle führen? O, sage: ja! bei Deiner Liebe zu der schönen, guten Frau, bei den Gebeinen Deiner Mutter beschwöre ich Dich, sage: ja!

Die Zigeunerin hatte sich abermals vor Oswald auf die Kniee geworfen, und blickte, die Hände über den Busen kreuzend, flehend zu ihm empor.

Steh' auf, Isabell; sagte der junge Mann: ich will Deinen Wunsch erfüllen, wenn ich kann.

Die Zigeunerin ergriff seine Hände, die er nach ihr ausstreckte, sie vom Boden zu heben, und küßte sie mit leidenschaftlicher Dankbarkeit. Dann sprang sie empor, eilte über die Breite des Weges dem Walde zu, und war im nächsten Augenblicke schon in dem dichten Gestrüpp, durch das sie mit der Kraft und Schnelligkeit des Hirsches sprang, verschwunden.

Ehe sich Oswald von dem sprachlosen Erstaunen, in welches ihn das räthselhafte Betragen der braunen Gräfin versetzt hatte, erholen konnte, vernahm er schon das Rollen des Wagens, der in derselben Eile, mit der er sich vorhin entfernt hatte, zurückkam. Aber bevor das Fuhrwerk die vorspringende Waldecke, hinter der es verschwunden war, erreicht hatte, hielt es plötzlich, und um die Büsche herum kam der Baron, im bloßen Kopf, die kleine Czika auf dem Arm tragend.

Wir haben gejagt, wir haben gefangen! rief er schon von Weitem. Die feigen Wölfe ließen, sobald sie sahen, daß sie verfolgt wurden, die schöne Beute fahren, und machten, daß sie davon kamen. – So, Du kleiner Ganymed, nun sieh' zu, ob Dich Deine Füße wieder tragen –

Der Baron ließ das Kind aus seinen Armen auf den Boden gleiten. Aber wo ist denn die Mutter geblieben, oder wer sonst das braune Weib war? fragte er, erstaunt, Oswald allein zu finden.

Oswald theilte ihm in kurzen Worten mit, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte.

Nun, das ist nicht übel, sagte der Baron; ein Sache wird immer romantischer. Vollmond, Sumpfesrand, ein schlaues ägyptisches Weib und zwei gute deutsche Jungen, die sich nasführen lassen! – was sollen wir denn mit der Czika, wie Sie die kleine Prinzessin nennen – denn ich wette, es ist ein gestohlenes Königskind – unterdessen anfangen?

Wenn wir sie nicht auf der offenen Landstraße zurücklassen wollen, werden wir uns wohl entschließen müssen, sie mit uns zu nehmen.

Aber das Kind wird nicht mit uns gehen wollen. Höre, kleine Czika, willst Du mit mir gehen?

Ja, Herr, sagte das Kind, das bis jetzt, ohne eine Spur von Besorgniß, Furcht oder Angst zu verrathen, ruhig da gestanden hatte.

Hm! sagte der Baron, da komme ich ja zu einem Adoptivkinde, ich weiß nicht wie.

Er war mit einem Male sehr ernst geworden. Er streichelte der Czika die blauschwarzen seidenen Locken von der feinen Stirn und betrachtete sie lange unverwand.

Wie schön das Kind ist! murmelte er; wie wunderschön! Und wie groß es geworden ist! – komm mit mir, kleine Czika, Du sollst es gut, sehr gut bei mir haben; ich will Dich mehr lieben, als Deine Mutter, die Dich so schnöde verlassen, Dich je geliebt hat.

Mutter verläßt die Czika nicht; sagte das Kind, ruhig zum Baron emporblickend; Mutter ist, wo Czika ist; Mutter ist überall.

Sich von den Männern abwendend, legte es die Händchen an den Mund; und in den stillen Wald hinein gellte ein Schrei, dem Ruf des jungen, hungrigen Falken täuschend ähnlich.

Das Kind neigte den Kopf und lauschte; der Baron und Oswald hielten unwillkürlich den Athem an.

Da tönte aus dem Walde, aber offenbar schon aus größerer Entfernung, die Antwort: der helle, wilde Schrei des alten Falken, wenn er aus seiner luftigen Höhe, tief unter sich, die sichere Beute erspäht hat.

Siehst Du, Herr, sagte das Kind; Mutter verläßt die Czika nicht; wenn Du die Czika mit Dir nehmen willst, die Czika will mit Dir gehen.

Nun denn, so komm, Du junge Falkenbrut! sagte der Baron, das Kind bei der Hand ergreifend. Kommen Sie, Doctor! Ich glaube, daß Karl den Riemen, der vorhin riß, wohl wieder zusammengeflickt haben wird. Da kommt er schon. Alles in Ordnung, Karl?

Ja, Herr!

Die Herren stiegen ein, und nahmen das Kind zwischen sich.

Fort! rief der Baron; scharfen Trab!

Bald kamen sie aus dem Walde auf die weite Haide, die sich zwischen Faschwitz nach Grenwitz hinzieht, dieselbe Haide, auf der Oswald die alte Frau aus dem Dorfe getroffen hatte. – Es war noch eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Am östlichen Himmel legte sich ein Purpurstreifen über den andern. Die Luft wehte vom Meer kühl her über das feuchte Moor.

Die kleine Czika hatte sich dicht an den Baron geschmiegt und war fest eingeschlafen.

Wie leicht das Kind gekleidet ist, sagte dieser; es wird sich erkälten in der scharfen Morgenluft.

Er richtete sich in die Höhe, zog seinen Ueberrock aus, hüllte die Kleine hinein, nahm sie auf den Schooß, und legte ihren Kopf an seine Brust.

So, so! sagte er gütig, so so! und dann zu Oswald, der in Nachdenken über den räthselhaften Charakter des Mannes an seiner Seite versunken, schweigend dagesessen hatte: Ich komme Ihnen ein ganz klein wenig toll vor; nicht wahr, Doctor?

Nein, sagte dieser, den Kopf emporhebend; nicht im mindesten.

Das kommt, weil Sie an derselben Krankheit laboriren.

Was Andere vor Erstaunen sprachlos macht, erscheint uns ganz natürlich; und was die guten Leute und schlechten Musikanten für ganz selbstverständlich halten, kommt uns oft geradezu fabelhaft vor. Ihnen wird es wohl nicht unglaublich erscheinen, wenn ich Ihnen sage, daß mir dieses Kind hier nun schon zum dritten Male im Leben begegnet, und daß ich so abergläubisch bin, in dieser dreimaligen Begegnung viel mehr zu sehen, als einen bloßen Zufall, wie ich denn überhaupt mit Wallenstein der Meinung bin, daß es keinen Zufall giebt.

Und wo und wann glauben Sie die Czika gesehen zu haben?

Das erste Mal vor vier Jahren in England. Ich ritt mit einem paar meiner englischen Freunde in dem abgelegensten Theile eines Parks. Als wir im Galopp um eine Ecke auf die Landstraße biegen, steht ein Kind da – ein braunes Kind mit großen, glänzenden, schwarzen Augen – und hebt die Händchen bittend empor. Ich achtete seiner, in lebhaftem Gespräch begriffen, kaum. Als wir ein paar hundert Schritte weiter geritten sind, packt es mich plötzlich wie mit Geisterhand. Ich kann die Empfindung, die mich überkam, nicht beschreiben. Mir war, als hätte ich, an diesem holden, hülflosen Geschöpf gleichgültig vorüberreitend, einen Frevel begangen, der mich zu dem erbärmlichsten aller Menschen machte. Ich warf mein Pferd herum und jagte, wie wahnsinnig, nach dem Orte zurück. Das Kind war verschwunden. Ich rief nach ihm; ich stieg ab; ich durchsuchte die nächsten Gebüsche; die Freunde halfen, trotzdem sie über meine Tollheit, wie sie es nannten, lachten. Vergebens.

Das zweite Mal sah ich das Kind in Aegypten. Es sind jetzt gerade zwei Jahre. Wir, das heißt, eine kleine Caravane von Nilfahrern, die sich zufällig zusammengefunden hatten, durchzogen, auf Eseln reitend, die engen, winkligen Straßen Asyuts. Neben einer offenen Thür, durch die wir auf den stillen, schattigen Hof einer Moschee blickten, stand in der Nische der Mauer ein Kind, älter wie das Kind aus dem Park, und jünger wie das, welches hier in meinen Armen ruht, aber dasselbe braune Kind mit den blauschwarzen Locken und den leuchtenden Gazellenaugen. Wieder streckte es die Händchen bittend nach den Vorübergehenden aus, und rief den Ruf, den Sie überall in Aegypten hören: Backschisch, Howadji, Almosen, o Kaufleute! Ich sah das Kind, und sah es auch wieder nicht, denn ich war in einer jener verzweifelten Stimmungen, wie sie mich manchmal überkommen, wo ich Ohren und Augen offen habe, und dennoch weder sehe noch höre. Als wir um eine Ecke in die nächste Straße biegen, erfaßt mich genau dasselbe Gefühl, wie damals im englischen Park, ich springe vom Esel herab, laufe, was ich kann, nach der Stelle zurück. – Die Nische war leer. Die Thür zum Hofe der Moschee stand, wie gesagt, offen. Der Hof hatte auf der andern Seite eine zweite, ebenfalls nicht verschlossene Thür, die auf eine der Hauptstraßen führte, in der sich um diese Stunde – es war in der Abenddämmerung – Menschen, Kameele und Esel durcheinander drängten. Das Kind war und blieb verschwunden, und mit schwerem Herzen kehrte ich zu meiner Gesellschaft zurück, die sich mein Davonlaufen menschenfreundlichst durch die Annahme, ich sei urplötzlich toll geworden, erklärt hatte. – Halten Sie es für möglich, daß dieses Kind, das ich zuerst im englischen Nebel und das zweite Mal unter dem warmen Himmel Aegyptens gesehen habe, mir jetzt in dem deutschen Buchenwalde zum dritten Male begegnet?

Und wäre es nicht dasselbe Kind, und – offen gestanden, ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß es dasselbe ist; antwortete Oswald; es müßte Ihnen dasselbe sein. Ich glaube an den Weltgeist, den ewig gleichen, der sich hinter den Dingen verbirgt, den ewig wechselnden; ich glaube, daß jene Lerche, die dort aus dem Haidekraut aufsteigt, und singend zum Himmel schwebt, dieselbe Lerche ist, zu der ich als Kind entzückt emporschaute, bis sie den scharfen Augen im blauen Raum verloren war: ich glaube, daß alle Helden Brüder sind und daß jeder Unglückliche eben derselbe Nächste ist, den, wie uns selbst zu lieben, Vernunft und Herz gleich gebieterisch von uns heischen. – Ob dieses Kind dasselbe ist, nach dem Sie nun schon zweimal vergeblich suchten – darauf kommt es nicht an; wohl aber darauf, daß Sie nach ihm suchten, daß der Ruf des armen verlassenen Geschöpfes jedesmal durch das Erz, mit dem Sie geflissentlich ihre Brust umpanzern, bis zu Ihrem Herzen drang. – Verzeihen Sie einem Manne, den Sie an Erfahrung und an Geist so weit überragen, diese Sprache, zu der ihn nichts berechtigt, als die Hochachtung, die er, halb gegen seinen Willen, vor Ihnen empfindet. Und verstatten Sie mir noch das eine Wort! Wenn Sie sich entschließen könnten, dies Kind zu lieben, so wäre es für Sie ein Geschenk, köstlicher und reicher, als Aladins Wunderlampe. Liebe ist allenthalben, außer in der Hölle, lautet ein tiefsinniges Wort Wolframs von Eschenbach; das heißt: wo keine Liebe ist, da ist die Hölle. Die Liebe ist der Duft der blauen Blume, der, wie Sie vorhin sagten, die ganze Welt erfüllt, und in jedem Wesen, das Sie von ganzem Herzen lieben, haben Sie die blaue Blume gefunden, nach der Sie Ihr Leben lang vergeblich suchten.

Ein unsäglich wehmüthiges Lächeln umspielte des Barons Lippen, während Oswald diese Worte sprach.

Sie lösen so doch das Räthsel nicht, sagte er leise und traurig, denn eben die Bedingung, daß wir von ganzem Herzen lieben müssen, wollen wir die Qual los werden, die uns das Leben zur Hölle macht, können wir ja nicht erfüllen. Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? Wir Alle sind so abgehetzt und müde, daß wir weder die Kraft noch den Muth haben, die zu einer wahren, ernsten Liebe gehören, zu jener Liebe, die nicht ruht und rastet, bis sie jeden Gedanken unseres Geistes, jedes Gefühl unseres Herzens, jeden Blutstropfen unserer Adern sich zu eigen gemacht hat. Wenn Sie noch jung und gut und gläubig genug zu einer solchen Liebe sind – wohl Ihnen! Von mir kann ich nur wiederholen, was ich vorhin schon sagte: ich habe es aufgegeben, die blaue Blume zu finden, die wunderholde Blume, die nur dem Glücklichen blüht, der noch mit ganzem Herzen lieben kann. – Doch hier sind wir vor dem Thore von Grenwitz, und wir müssen ein Gespräch abbrechen, daß ich in allernächster Zeit und Ihnen fortsetzen zu können hoffe und wünsche. Leben Sie wohl, und erkundigen Sie sich recht bald persönlich nach dem Befinden des kleinen Wesens, das ja Ihr Schützling fast noch mehr ist, als der meine.

Der Wagen entfernte sich rasch. Oswald schaute ihm noch lange nach; dann schritt er, gesenkten Hauptes, über die Brücke und über den Hof dem Schlosse zu. Die Sonne war aufgegangen und badete die grauen Mauern in Frührothlicht; in dem thaufrischen Garten jubelten die Vögel, – aber für Oswald lag ein grauer Schleier über dem köstlichen Morgen, denn in seinem Ohr klangen die Worte des Barons: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz?

Achtundzwanzigstes Capitel

Hat Dir das Schläfchen gut gethan, lieber Grenwitz? fragte die Baronin.

Ich danke, liebe Anna-Maria, recht gut, erwiederte der alte Baron.

Es war in der Nachmittagsstunde des Tages nach dem ereignungsreichen Balle in Barnewitz; die Redenden befanden sich in demselben, nach dem Garten hinaus liegenden Zimmer des Schlosses, in welchem vor ungefähr acht Tagen die Unterredung zwischen der Baronin und Melitta stattgefunden hatte. Die Baronin saß wieder, wie damals, in der Nähe der geöffneten Flügelthür, die nach dem großen Rasenplatz führte, auf welchem Melitta's Augen Oswald zum ersten Male erblickten, und wieder nähte die musterhaft fleißige Frau emsig und unverdrossen, als müßte sie sich ihr tägliches Brod mit der Nadel verdienen. Der Baron saß ihr gegenüber in demselben Schaukelstuhl, in welchem sich Melitta gewiegt hatte. Er erwachte soeben aus einem erquickenden Nachmittagsschlaf und schaute mit den alten, glanzlosen Augen freundlich durch die offene Thür auf den Rasenplatz, wo sein Liebling, der Pfau, das prächtige Gefieder im Sonnenschein erglänzen ließ.

Recht gut! wiederholte er, die Glieder streckend.

Aber Du siehst doch sehr angegriffen aus; sagte die Baronin, die großen, kalten grauen Augen forschend auf die verwitterten Züge des Barons heftend; diese anspruchsvollen, lärmenden Gesellschaften sind wahres Gift für Dich; und ich habe mir schon, während Du schliefst, im Stillen rechte Vorwürfe gemacht, daß ich gestern nicht früher zum Aufbruch mahnte.

Aber ich versichere Dich, liebe Anna-Maria, ich befinde mich vortrefflich, das heißt, nicht schlechter als gewöhnlich, ober doch nicht viel schlechter, sagte kleinlaut der gute alte Mann.

Du mußt Dich in dieser Zeit noch recht in Acht nehmen, sagte die Baronin, wieder emsig nähend; heute über acht Tage spätestens müssen wir reisen, und Du wirst zu den Strapazen einer so großen Tour Deine ganze Kraft nöthig haben. Wollte Gott, wir wären Alle schon glücklich wieder hier! Ich entschließe mich wahrlich höchst ungern dazu. Deine angegriffene Gesundheit – die Gefahren einer Seereise – und dann: wird Dir das Bad in Helgoland auch wirklich gut thun? Doctor Braun versichert es freilich, aber wer kann den Aerzten trauen? Schlägt eine Kur an, triumphiren sie, und schlägt sie nicht an, sind nicht sie daran Schuld, sondern der Patient, der sich nicht ordentlich gehalten hat. Und was kümmert es den Herrn Doctor, ob Du gesund oder krank zurückkommst, ob Du lebst oder stirbst – aber ich, aber wir, – o Grenwitz, was sollte wohl aus uns werden, wenn Du uns genommen würdest!

Die Baronin blickte von ihrer Arbeit empor, und in ihren Augen blinkte etwas, das man bei einer andern Frau für eine Thräne gehalten haben würde.

Der alte Baron erhob sich von seinem Stuhl, trat auf seine Frau zu und küßte sie zärtlich auf die Stirn.

Du mußt Dir nicht solche Gedanken machen, liebe Anna-Maria, sagte er gütig. Der liebe, Gott wird mich noch nicht so bald sterben lassen; ich bete jeden Morgen zu ihm und danke ihm für jeden neuen Tag, den er mir schenkt, nicht meinethalben, denn ich bin ein alter Mann und sterben müssen wir ja Alle einmal – sondern Deinethalben, weil ich weiß, wie sehr Dich mein Tod schmerzen würde, und auch, weil ich noch gern, bevor ich sterbe, Deine und Helenen's Zukunft gesichert sehen möchte.

Der alte Mann hatte sich wieder gesetzt und aus einer goldenen Dose, die neben ihm auf einem runden Tischchen stand, eine Prise genommen, um die Rührung, in die er sich hineingesprochen hatte, schneller zu überkommen; die Baronin nähte wieder eifrig an ihrer Arbeit.

Du bist so gut, sagte sie, viel zu gut, denn Du bist es selbst gegen die, welche Deine Güte in keiner Weise verdienen, und Du hast Dir dadurch manche schwere Sorge bereitet, deren Du mit ein wenig mehr – ich will nicht sagen: Egoismus, denn ich hasse das Wort – aber mit etwas mehr Discretion überhoben gewesen wärest. Du bist jetzt für meine und Helenens Zukunft besorgt, mit Recht besorgt. Diese Sorge wäre unnöthig, hättest Du nicht, als Du vor vierundzwanzig Jahren das Majorat erbtest, die Güter zu wahren Spottsummen an Leute verpachtet, die jetzt auf Deine Kosten reich geworden sind und noch dazu die Unverschämtheit haben, uns als habsüchtig zu verschreien, weil wir im nächsten Jahre die Contracte nicht unter den alten Bedingungen erneuern wollen; und hättest Du nicht – was ich nie habe begreifen können und nie begreifen werde, – damals ohne alle Noth die enormen Schulden Harald's übernommen deren Abtragung Alles verschlang, was Deine und später unsere Sparsamkeit von unsern Renten erübrigen konnte.

Dem alten Baron schien das von seiner Gemahlin angeschlagene Thema nicht besonders angenehm; er nahm, während sie sprach, eine Prise über die andere und antwortete, als sie jetzt schwieg, nicht ohne einige Lebhaftigkeit:

Ich kann Dir nicht ganz Unrecht geben, liebe Anna-Maria, aber auch nicht ganz Recht. Die alten Contracte sind allerdings den Pächtern sehr günstig, aber die Zeiten waren damals auch andere; das Geld war nach dem Kriege äußerst knapp, die Güter im Allgemeinen standen sehr niedrig im Werth, und unsere Güter waren, allerdings durch Harald's Schuld, in Grund und Boden gewirthschaftet. Die Pächter hatten wahrlich im Anfang ihre liebe Noth, und wenn sie jetzt mit der Zeit reich und unverschämt geworden sind, so bin ich an dem einen so wenig Schuld, als an dem andern. Ich habe es gut mit ihnen gemeint, das weiß der liebe Gott. Was aber mein Benehmen Harald's Gläubigern gegenüber anbetrifft, so weiß ich wirklich noch heute nicht, wie ich es hätte anders einrichten sollen. Die Ehre meiner Familie erforderte, daß ich seine Schulden übernahm, denn nicht dem Baron Harald von Grenwitz, der, das wußten die Leute recht gut, bei der Unantastbarkeit des Majorats niemals seine Schulden bezahlen konnte, hatten sie creditirt, sondern der Familie Grenwitz, die nicht zugeben würde, daß einer aus der Familie ehrlos werde. Und dann hatte ich gegen meinen Vetter Pflichten der Dankbarkeit. Als er und ich junge Officiere im Regimente waren, und auch im späteren Leben, hat er stets wie ein Bruder gegen mich gehandelt. Es ist wahr, ich habe seine Güte nie gemißbraucht, und für jedes Hundert Thaler Schulden, die er für mich bezahlt hat, habe ich Tausend für ihn bezahlt, aber er würde mich, davon bin ich überzeugt, aus jeder Verlegenheit gerissen haben, denn seine Freigebigkeit kannte keine Grenzen.

Du ereiferst Dich ohne Noth, lieber Grenwitz, ganz ohne Noth, sagte die Baronin ruhig, während der alte Mann von der ungewohnt langen und lebhaften Rede erschöpft, in den Stuhl zurückgesunken war, es fällt mir nicht ein, Dir Vorwürfe machen zu wollen. Du weißt, wie wenig Werth ich selbst auf Reichthum lege, wie gering meine persönlichen Bedürfnisse sind, und daß, wenn ich mir über die Zukunft Sorgen mache, es nicht meinethalben, sondern der Kinder wegen ist.

Ich weiß es, liebe Anna-Maria, sagte der Baron; ich weiß es. Ich habe Dir nicht weh thun wollen, und ich bitte Dich wegen meiner Heftigkeit um Verzeihung.

Eine Pause in dem Gespräche der Gatten erfolgte. Die Baronin nähte emsiger denn je, der Baron hatte sich seine Brille aufgesetzt, ein Zeitungsblatt ergriffen, das der Postbote vor einer Stunde gebracht hatte, und begann, die Lippen leise bewegend – denn Lesen und Schreiben war des guten Mannes Sache nie gewesen – sich in die Lecture desselben zu vertiefen.

Personalveränderung in der Armee, murmelte er; der Oberst von –, der Major von –, lauter alte Bekannte. Der junge Grieben schon Premierlieutenant – das geht schnell. Dem Secondelieutenant Felix von Grenwitz – Ersuchen – Abschied – ei der Tausend; ich dachte, Felix wollte nur um Urlaub einkommen, und hier lese ich, daß er seinen Abschied genommen hat.

In der That! sagte die Baronin, die betreffende Stelle in dem Blatte, das ihr der Baron hinreichte, lesend, nun das freut mich, freut mich sehr. Ich will nur gestehen, lieber Grenwitz, daß ich Felix selbst diesen Rath ertheilt, und seinen Austritt aus der Armee mit zu den Bedingungen gerechnet habe, die er erfüllen müßte, bevor wir ihm unsere Helene geben könnten.

Aber warum das? fragte der Baron erstaunt.

Warum? antwortete die Baronin. Nun, ich dächte, lieber Grenwitz, der Grund wäre doch klar genug. Ich dächte, es wäre die allerhöchste Zeit, daß Felix ein anderes Leben beginnt, und darauf möchten wir wohl lange vergeblich warten, so lange er in denselben Kreisen und denselben Verhältnissen bleibt, wo er seine Lebensweise nicht ändern könnte, selbst wenn er wollte. Ich sehe aus diesem Schritt, der auch mich überrascht – denn ich glaubte nicht, daß er sich so schnell dazu entschließen würde – daß es ihm wirklich ernstlich um die Hand Helenens zu thun ist; und, wie gesagt: ich freue mich, freue mich sehr darüber.

Aber, liebe Anna-Maria, sagte der Baron, sich hinter dem Ohr reibend, fast verdrießlich; wir laden uns auf diese Weise Verpflichtungen auf, die wir am Ende gar nicht erfüllen können. Wenn unser Kind, wenn Helene nun –

Nicht will – meinst Du? unterbrach ihn die Baronin, sich in ihrem Stuhl in die Höhe richtend, und die Augenbrauen zusammenziehend; o, ich denke, sie wird wollen; ich denke, sie wird nicht vergeblich gelernt haben, daß ein Kind den Eltern Gehorsam schuldig ist.

Aber wenn sie den Felix nun nicht lieben kann! sagte der alte Mann bekümmert.

Aber, Grenwitz, ich begreife Dich nicht; erwiderte die Baronin; diese Heirath ist seit langer Zeit unser liebster Wunsch gewesen. Helene hat, die paar tausend Thaler, die wir bis jetzt zurückgelegt haben und die Ersparnisse, die wir in den kommenden Jahren etwa noch machen können, abgerechnet, kein Vermögen; denn Stantow und Bärwalde gehören vorläufig noch nicht uns, sondern – Dank der Freigebigkeit des freigebigen Barons Harald – jedem beliebigen Abenteurer, der unverschämt genug ist, mit ein paar gefälschten Zeugnissen in der Hand, die Güter für sich zu beanspruchen. Felix' Güter sind allerdings sehr verschuldet, ich gebe es zu; aber er kann, wenn er nur will, und ich bin überzeugt, daß er jetzt zur Vernunft gekommen ist, sich mit unserer Hülfe wieder herausreißen, und wenn Malte, was der Allgütige verhüten wolle! – aber in solchen Dingen muß man Alles, selbst das Aeußerste bedenken, und Malte's Gesundheit macht mir unbeschreibliche Sorge – wenn, sage ich, Malte ja vor der Zeit sterben sollte, so ist Felix Herr von Grenwitz und ich dächte, es müßte Dir ein lieber Gedanke sein, Deine Tochter so gleichsam an Malte's Stelle treten zu sehen.

In diesem Augenblick öffnete sich langsam die Thür, ein bebrilltes Gesicht schaute vorsichtig herein, und eine quäkende Stimme fragte:

Darf ich näher treten, Gnädigste?

Ah, sieh, der Herr Pastor! sagte der Baron, aufstehend und dem Eintretenden entgegengehend, seien Sie bestens willkommen! Wollen Sie nicht ablegen?

Bitte, bitte Herr Baron – bemühen Sie sich doch ja nicht – ich kann ja selbst – danke verbindlichst! sagte Pastor Jäger, Hut und Stock auf einen Stuhl legend; ich wollte mich gar nicht aufhalten; – danke verbindlichst – ich würde einen Rohrstuhl vorziehen – danke! – ich wollte mich nach dem Befinden der gnädigen Herrschaften erkundigen, denn ich hörte heute Morgen, daß Sie das Zauberfest in Barnewitz gestern mit Ihrer Gegenwart beehrt haben. Recht gut bekommen? Nicht sonderlich? O! die Frau Baronin sehen in der That etwas angegriffen aus – und der Pastor blickte, den Kopf wie ein kranker Papagei auf die rechte Schulter neigend, mit dem Ausdruck des innigsten Bedauerns auf die Baronin.

Ich befinde mich leidlich, sagte diese, die Arbeit, die einen Augenblick geruht hatte, wieder ergreifend; aber Grenwitz scheint die Tour weniger gut bekommen zu sein.

O, in der That! sagte der Pastor, den Kopf schnell auf die linke Schulter neigend. Darf ich Ihnen von meinen Tropfen offeriren, Herr Baron, sechs bis zwölf auf Zucker?

Sie sind doch der wahre Arzt für Seele und Leib, sagte die Baronin, während der Pastor auf eine abwehrende Bewegung des Barons sein Fläschchen wieder in das Papier wickelte und in die Tasche steckte.

Ja, ja; mens sana in corpore sano, ein gesunder, das heißt ein frommer Geist in einem gesunden Körper, – das habe ich als Knabe in der Schule gelernt, und suche es jetzt als Mann zu üben. – Wo sind denn aber die lieben Knaben? Noch beim Unterricht? Ja, ja, der Herr Doctor Stein scheint ein recht strebsamer, fleißiger junger Mann, unter dessen Anleitung die Junker es mit Gottes Hülfe recht weit bringen werden.

Nun glaubte der Pastor Jäger mit diesen, Oswald gespendeten Lobsprüchen etwas dem Baron und mehr noch der Baronin besonders Wohlgefälliges gesagt zu haben. Oswald ruhiges, sicheres Auftreten hatte ihm gewaltig imponirt; Primula Veris, deren Urtheile über Dinge und Menschen ihm Evangelien waren, hatte seit acht Tagen nur das Lob des jungen »Gastfreundes« gesungen, der ihr in einer Stunde mehr Verbindliches gesagt hatte, als ihr sonst vielleicht in einem Jahr gesagt wurde; heute Morgen hatte Frau von Plüggen, die Nachbarin und gute Freundin Primula's, dieser einen Besuch gemacht, um ihr von dem gestrigen Balle den pflichtschuldigen Bericht abzustatten. Frau von Plüggen, eine Dame, die schon erwachsene Töchter hatte, aber noch immer gern die Jugendliche spielte, war entzückt von Oswald, welcher ihr mit scheinheiliger Miene versichert hatte, sie könne sich getrost für ihre jüngste Tochter ausgeben. Sie erzählte der horchenden Primula, welche Sensation Oswalds Geschicklichkeit im Schießen unter den jungen Männern hervorgebracht, welche Anerkennung seine schöne Gestalt, seine feinen Manieren in der Damenwelt gefunden; wie er mit Hortense getanzt, Frau von Berkow zu Tische geführt habe; und eigentlich, Alles in Allem, der Löwe des Tages gewesen sei. Schon, daß Oswald an einer Gesellschaft, deren exclusive Tendenzen dem Pastor sehr wohl bekannt waren, überhaupt hatte Theil nehmen dürfen, war in den Augen des Letzteren ein merkwürdiges, tief bedeutungsvolles Zeichen. Und zu alle diesem kam noch ein Umstand, welcher dem hochwürdigen Herrn Oswalds Gunst und Freundschaft vorzüglich wünschenswerth erscheinen ließ. Der Pastor war nicht ohne Ehrgeiz. Er glaubte sich zu größeren Dingen berufen, als den Bauern von Faschwitz das Evangelium zu predigen. Er wollte nicht umsonst sich bei der Lectüre alter Manuscripte der Grünwalder Universität die Augen verdorben, nicht umsonst über die verschollenen Fragmente der verschollenen Schriften eines verschollenen Kirchenvaters eine grundgelehrte Dissertation geschrieben haben. Er war Doctor, er wollte Professor sein, Professor in derselben Musenstadt, die ihn vor zwanzig Jahren als verkümmerten Studiosus der Theologie in abgeschabtem Röckchen durch ihre Gassen hatte schleichen sehen.

Er wollte es um so mehr, als seine Primula es wollte, Primula, welche die ländlichen Gefilde, in denen ihre »Kornblumen« erblüht waren, herzlich satt hatte, und sich im Geiste als geniale Gemahlin des gelehrten Professors an den ästhetischen Theetischen der Musenstadt glänzen sah. – Zur Erreichung dieses höchsten Ziels konnte dem Pastor der Professor Berger, den er wegen seines offen zur Schau getragenen Voltaireanismus, Spinozismus, Atheismus gründlich verabscheute, und dessen Protection er doch schon oft vergeblich erstrebt hatte, außerordentlich nützlich werden. Oswald aber war der erklärte Günstling des großen Mannes, der erste Schüler des alten Meisters. Eine Empfehlung Oswalds war mehr werth, als eine gelehrte Dissertation – folglich Oswalds Freundschaft ein Ziel, »auf's innigste zu wünschen,« und ein gelegentliches Lob, das ihm doch wohl wieder zu Ohren kommen konnte, gar »keine schlechte Theologie.«

So dachte, so rechnete der Pastor.

Wie erstaunt war er daher, als die Baronin mit einem Ton der Stimme, der nicht viel Gutes verhieß, seine huldvolle Phrase mit der Frage beantwortete:

Sagen Sie einmal aufrichtig, Pastor Jäger, was halten Sie von dem jungen Menschen?

Den Schüler Bergers, den Günstling Primula's, den Löwen vom gestrigen Junkerfest schlechtweg als einen »jungen Menschen« bezeichnen zu hören! der Pastor traute seinen Ohren kaum. Er schoß über die runden Brillengläser fort einen forschenden Blick auf die Baronin, ob ihr Gesicht etwa einen Commentar zu der räthselhaften Frage geben möchte. Da er sich in dieser Hoffnung getäuscht sah, und schlechterdings nicht wußte, was er antworten solle, griff er zu dem Mittel, zu welchem er in solchen kritischen Fällen stets seine Zuflucht nahm: er zog die Schultern und die Augenbrauen möglichst in die Höhe und die Mundwinkel möglichst tief herunter, und überließ es dem indiscreten Frager, aus der Miene zu machen, was er wollte und konnte.

Sie zögern mit Ihrer Antwort! sagte die Baronin; ich gebe zu, es ist nicht ganz leicht, über Herrn Stein in's Klare zu kommen. Er hat unleugbar manche schätzenswerthe Eigenschaften. Seine Manieren sind für einen Menschen von so niedriger Extraction wirklich überraschend gut; noch gestern glaubte die Gräfin Grieben im Anfang, ich wollte sie mystificiren, als ich ihr sagte: der junge Mann, der mit uns gekommen, sei unser Hauslehrer. Aber mit einer erträglichen Tournüre, mit gewandter Rede und dergleichen ist es nur leider nicht gethan, und ich bin heute noch immer nicht mit mir einig, ob wir an dem jungen Manne eine gute Acquisition gemacht haben oder nicht.

Aber liebe Anna-Maria, sagte der Baron; warum sollen wir uns nicht auf den Professor Berger verlassen –

Lieber Grenwitz, ich verlasse mich auf Niemand, als auf mich selbst. Der Professor kann sich durch Stein's einnehmendes Wesen so gut haben bestechen lassen, wie Du und viele Andere; und gesetzt auch, seine wissenschaftliche Bildung sei wirklich ausreichend –

Nun, darüber dürfte wohl kein Zweifel obwalten, Gnädigste, sagte der Pastor, der, wenn er Oswald, wie er jetzt wohl einsah, fallen lassen mußte, sich wenigstens nach dieser Seite sichern wollte. Es ist durchaus nicht anzunehmen, daß der Professor, dem Niemand, man mag über seine – ich will nicht sagen, unchristliche, aber wenig kirchliche Gesinnung denken, wie man will, einen durchdringenden Scharfblick, eine eminente Gelehrsamkeit absprechen kann, sich in dem intimen Umgange eines Ignoranten wohl gefühlt haben sollte.

Ich erlaube mir in wissenschaftlichen Dingen kein Urtheil, sagte die Baronin; und so mag meinetwegen Herr Stein neben dem Pistolenschießen, worin er ja, wie ich höre, brilliren soll, auch noch zu streng wissenschaftlichen Studien Zeit gefunden haben; aber es kann Jemand gute Manieren haben und Gelehrsamkeit dazu, und doch ein unmoralischer Mensch sein.

Aber liebe Anna-Maria, sagte der alte Baron ganz erschrocken, während der Pastor die Mundwinkel herunterzog und beistimmend nickte.

Ich bleibe dabei, fuhr die Baronin fort, ein unmoralischer Mensch. Hätte ich gewußt, was ich leider zu spät erfuhr, daß der Professor bei aller seiner vielgerühmten Gelehrsamkeit in dem Geruche eines Demokraten oder Atheisten – ich weiß nicht, welches von beiden das Schlimmere ist, denn wer seinen Gott nicht ehrt, kann auch seinen König nicht ehren und umgekehrt – ich sage, hätte ich gewußt, daß der Professor ein Freidenker und ein Mann der Umsturzpartei ist, ich würde ihm nimmermehr bei der Wahl eines Erziehers für meinen Sohn eine entscheidende Stimme eingeräumt haben.

Aber liebe Anna-Maria, sagte der Baron; es ist doch möglich, daß Du in Betreff Steins ungegründeten Befürchtungen Raum giebst. Ich erinnere mich nicht, je ein Wort von ihm gehört zu haben, in welchem man mit Sicherheit die Bestätigung eines so schrecklichen Verdachtes hätte finden können.

Nun, Pastor Jäger, sagte die Baronin, sind Sie auch von der Unschuld des jungen Mannes so fest überzeugt?

Ich würde nicht der Wahrheit die Ehre geben, sagte dieser mit der Miene und dem Ton herzinnigen Bedauerns, wollte ich leugnen, aus seinem Munde Aeußerungen vernommen zu haben, die an das Gebiet des Frivolen, ja, ich möchte, sagen: Unheiligen nahe genug streiften, um mich, ich darf wohl sagen – recht schmerzlich zu berühren. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß auch ein späterhin trefflicher Wein in der Zeit der Gährung unschmackhaft und trübe ist, und vertraue der Allgüte dessen, der aus dem Saulus einen Paulus machte.

Das ist sehr schön und christlich, sagte die Baronin, beruhigt mich aber keineswegs. Wenn die Seele meines Kindes einmal vergiftet ist, kann es mir gleichgültig sein, ob der Vergifter später seinen Frevel bereut; und ich gestehe: nach den Ereignissen des gestrigen Tages hat sich der Verdacht, den ich, ohne Uebertreibung, von dem ersten Augenblicke an gegen Stein nährte, fast bis zur Gewißheit gesteigert.

Ist etwas Besonderes vorgefallen, Gnädigste? fragte der Pastor, mit seinem Stuhle einen halben Zoll näher rückend.

Ich spreche nicht gern darüber, antwortete die Baronin, und wenn ich es doch thue, so ist es, weil ich Sie als einen langjährigen Freund unseres Hauses kenne, und zu Ihrer Discretion –

Meine Pflicht und Schuldigkeit, Gnädigste, rief der Pastor, die Hand auf's Herz legend und den Rücken krümmend.

Sie, kennen den Baron Oldenburg, fuhr die Baronin fort.

Nicht persönlich, Gnädigste, nur nach dem, was ich in vertraulichen Unterredungen der gnädigen Herrschaften, denen ich beiwohnen zu dürfen gewürdigt wurde, über den Herrn Baron zu hören nicht umhin konnte.

Sie wissen also, in welchem Ruf – Gott sei es geklagt – der Baron steht; Sie wissen, daß wir den Kummer haben, sehen zu müssen, wie der letzte Sproß einer unserer ältesten, berühmtesten Familien mit sehenden Augen – denn der Baron ist ein außerordentlich begabter Mann – in's Verderben rennt.

Aber, liebe Anna-Maria, sagte der Baron, der in seinem Stuhle hin- und herrückte, ich dächte, der Gegenstand dieses Gespräches eignete sich nicht besonders –

Ich kenne die Rücksichten, die ich unserm Stande schuldig bin, sagte die Baronin, und werde sie zu beobachten wissen. Der Abfall des Barons von dem Glauben seiner Väter ist leider zu notorisch, als daß ich einem Freunde des Adels (der Pastor krümmte den Rücken), einem Freunde unseres Hauses (Se. Ehrwürden legte die Hand auf's Herz) gegenüber mit dem schmerzlichen Geständniß der Wahrheit zurückhalten sollte. – Sie wissen, Pastor Jäger, daß der Baron unsere Gesellschaft flieht, um die von allerlei sonderbaren Menschen, denen man sonst geflissentlich ausweicht, mit Vorliebe aufzusuchen, daß er die gottlose Phrase von den sogenannten Rittern vom Geist beständig im Munde führt, und daß von ihm ausgezeichnet zu werden – namentlich, wenn diese Auszeichnung Jemanden trifft, dessen gesellschaftliche Stellung so himmelweit von der seinigen verschieden ist – beinahe so viel heißt, als ein verlorener Mensch sein. Nun hat der Baron gestern Abend Herrn Stein in einer ganz auffallenden, um nicht zu sagen, anstößigen Weise ausgezeichnet; er hat nicht nur sein Möglichstes gethan, ihn bei der Gesellschaft zu introduciren, sondern ihn vollkommen wie seines, wie unsers Gleichen behandelt, und um diesem Benehmen, für das ich keinen Ausdruck suchen will, die Krone aufzusetzen, ihn, als der Wagen von Grenwitz, der Herrn Stein von Barnewitz abholen sollte – wir waren schon vor dem Souper aufgebrochen – nicht gleich zur Stelle war, in seinem eigenen Wagen bis vor unser Hofthor mitgenommen, das heißt, ihm zu Gefallen einen Umweg von fast einer Meile gemacht.

Aber, liebe Anna-Maria, das würde auch jeder Andere –

Verzeihe, lieber Grenwitz, das würde nicht jeder Andere gethan haben, und vor Allem würde es der Baron, dessen schroffes, ungefälliges Wesen, selbst den Standesgenossen gegenüber, sprüchwörtlich ist, nicht gethan haben, wenn er nicht in Herrn Stein auch so einen Ritter vom Geist, das heißt, einen Gesinnungsgenossen, einen Freidenker und Freiheitshelden, enfin einen unmoralischen Menschen, um das Wort zu wiederholen, das vorhin Deinen Unwillen erregte, lieber Grenwitz, und von dem Du mir jetzt zugeben wirst, daß es leider das passende ist – gefunden zu haben glaubte.

Die Baronin schwieg, in dem wohlthuenden Bewußtsein, ihre Ansicht siegreich verfochten zu haben; der Pastor schwieg, die edle Gönnerin in diesem Genusse nicht zu stören und der Baron schwieg, weil er schlechterdings nichts zu sagen wußte. In dieses dreifache Schweigen hinein ertönte vom Hausflur her, auf welchen die Thür des Zimmers führte, das Miauen einer Katze, dem sofort das laute zornige Kläffen eines Hundes folgte. Diese Töne waren im Schlosse Grenwitz, wo weder Hunde noch Katzen geduldet wurden, etwas so Unerhörtes, daß die im Zimmer Befindlichen sich erstaunt ansahen.

Was bedeutet denn das? sagte der Baron aufstehend und die Thür öffnend.

Ah, sieh da, Herr Baron! ertönte eine helle, klare Stimme.

Es ist Herr Timm! sagte dieser zu den im Zimmer Befindlichen zurückgewandt, und dann zu dem draußen:

Wollen Sie nicht näher treten, Herr Geometer?

Neunundzwanzigstes Capitel

Der, welcher dieser Aufforderung des Barons sofort folgend, in das Zimmer trat, war ein junger Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, obgleich die frische Farbe seines hübschen bartlosen Gesichtes ihn kaum dem Jünglingsalter entwachsen scheinen ließ. Der wohlgeformte Kopf war mit einem schlichten, blonden Haar bedeckt, das lang genug war, um nach hinten gestrichen zu werden, und die weiße Stirn frei zu lassen, die keck und fest sich über einem Augenpaare wölbte, dessen Farbe, so weit man es durch die Gläser der Brille, die der junge Mann trug, erkennen konnte, ein mattes Blau war. Seine Gestalt war mittelgroß, aber breitschultrig und sein gedrungener, muskulöser Körper augenscheinlich zur Ertragung von Strapazen aller Art ausnehmend geeignet. Auf sein Aeußeres schien der junge Mann sehr wenig zu geben. Seine Kleidung bestand aus einem hellen Sommerrock von zweifelhafter Farbe, der schon manchen Sturm erlebt zu haben schien, und aus Beinkleidern von demselben Stoff und derselben Farbe und Beschaffenheit. Seine Wäsche war, als sie aus den Händen der Wäscherin kam, jedenfalls saubrer gewesen. Seine Haltung entsprach seiner Kleidung, das heißt, sie war weniger elegant als bequem, und hatte noch das mit jener gemein, daß Herr Timm sie offenbar unter Umständen mit einer besseren vertauschen konnte.

Bitte tausendmal um Entschuldigung, sagte er lachend, indem er sich vor der Baronin ohne alle Förmlichkeit verbeugte und dem Pastor vertraulich zunickte, daß ich die Unterhaltung der Herrschaften durch mein lyrisches Intermezzo stören mußte, aber ich wußte mir wirklich nicht anders zu helfen, da ich nicht die Ehre habe, Frau Baronin, Ihre Bedienten namentlich zu kennen, trotz alles Suchens keinen Klingelzug auf dem Flur entdecken konnte, und schon vergeblich in vier Thüren hineingesehen hatte. Hätte ich ahnen können, daß diese fünfte, welche ich übrigens gar nicht bemerkte, von dem Herrn Baron selbst geöffnet werden sollte, so würde ich mir natürlich meinen musikalischen Vortrag erspart haben, der allerdings nur für das weniger empfindliche Ohr eines in der Nähe befindlichen dienstbaren Geistes berechnet war. – Wie befinden Sie sich, Frau Baronin? Angegriffen von der Hitze? Wäre kein Wunder – fünfundzwanzig Grad im Schatten – reine Treibhaus-Temperatur. – Ich soll Sie von Ihrer Frau Gemahlin grüßen, Herr Pastor; sprach sie vor einer Stunde in Faschwitz. Sie wird gegen Abend mit dem Einspänner herüberkommen, Sie abzuholen. – Mit der Vermessung von Sassitz wären wir fertig, Herr Baron. Wenn es Ihren recht ist, will ich jetzt sogleich die Karten zeichnen, wenn die Frau Baronin die Güte haben will, mir ein Zimmer des Schlosses einzuräumen.

So sprach Herr Timm und griff in die Tasche nach seinem Taschentuche, um sich die von Schweißtropfen perlende Stirn abzutrocknen. Da er sich aber noch zur rechten Zeit darauf besann, daß das betreffende, so überaus nützliche Stück der Toilette sich für den Augenblick bei ihm in einem keineswegs salonfähigen Zustand befand, so ließ er es, wo es war, fuhr mit der Hand über Stirn und Haar und schaute so vergnügt um sich, als ob ihm die Grenwitzer Besitzungen, die er im Schweiße seines Angesichts vermessen mußte, erb- und eigenthümlich gehörten.

Gewiß; sagte die Baronin, bei der Herr Timm wegen seiner auffallenden Anspruchslosigkeit in großer Gunst stand und die unwillkürlich einen Mann schätzen mußte, der sich durch nichts imponiren ließ, und den nichts aus der Fassung zu bringen vermochte; gewiß, Herr Timm. Sie wissen, daß Sie uns zu jeder Zeit willkommen sind. Sie werden hier, wo Sie nichts stört, besser arbeiten können, als in der Stadt, und es ist ja zu unserm beiderseitigen Vortheil, daß die Arbeit möglichst schnell beendet wird. Sie haben doch Ihre Sachen gleich mitgebracht, Herr Timm?

Steht Alles schon auf dem Hausflur, wo es der ländliche Jüngling, welcher die Oeländer lenkte, die mich im Hundetrab von Sassitz hierher kutschirten, deponirt hat; sagte Herr Timm, dessen »Sachen« aus einem kleinen melancholisch aussehenden Koffer bestanden, in welchem etwas reine und nicht viel schmutzige Wäsche und die sonstigen Stücke seiner nicht eben luxuriösen Garderobe in chaotischer Verwirrung durcheinander lagen, und aus einer großen Mappe, die seine Zeichenmaterialien und Flurkarten enthielt. Ich bedarf nur noch der Anweisung auf einen Ihrer dienstbaren Geister, der mich auf das mir von Ihnen gütigst angewiesene oder anzuweisende Zimmer führt, um mich sofort häuslich einrichten zu können.

Wollen Sie die Güte haben, jenen Klingelzug zweimal zu ziehen, sagte Anna-Maria mit huldvollem Lächeln.

Mit Vergnügen, sagte Herr Timm, diese instrumentale Methode des Beschwörens dienstbarer Geister ist viel bequemer, als meine vocale, und auch viel wirksamer, wie ich sehe.

Der eintretende Bediente erhielt den Auftrag, Herrn Timm auf sein Zimmer zu führen.

Es steht schon seit Wochen für Sie bereit, Herr Geometer; sagte die Baronin.

Sie sind umsichtig und gütig, wie die Vorsehung selbst, gnädige Frau; sagte Herr Timm aufstehend und der Baronin ohne Umstände die Hand küssend; auf Wiedersehen, meine Herrschaften, bis zum Abendessen, bei dem Sie hoffentlich wie ich erscheinen werden, das heißt mit guter Laune und noch besserem Appetit; und er folgte leichten Schrittes dem Bedienten aus dem Gemache.

Wirklich ein charmanter Mensch, der Herr Timm, sagte die Baronin, so harmlos, unbefangen, anspruchslos, so ganz sich seiner Stellung in der Gesellschaft bewußt, und nicht stets oben hinauswollend, wie gewisse andere Leute.

Ei, ja wohl, bestätigte der Pastor, ein äußerst charmanter, bescheidener junger Mann, und der sowohl was seine Talente betrifft, die wirklich überraschend sind, als auch wegen der angesehenen Familie, aus welcher er stammt, Beachtung verdient. Gustava kennt seine Familienverhältnisse genau: auch ich erinnere mich aus meiner Grünwalder Zeit her sehr wohl seines Herrn Vaters, eines ausgezeichneten Advocaten, der sein bedeutendes Vermögen kurz vor seinem Tode in einer unglücklichen Speculation verlor. Seine Verwandten befinden sich zum Theil in ganz respektablen Stellungen. Ein Onkel von ihm ist Major. Auch Herr Timm war anfangs einer militärischen Carrière bestimmt, und war, so viel ich weiß, schon Fähndrich, als er in Folge der großen Verluste seines Vaters diese Laufbahn aufgab, um sich dem Baufach zu widmen. Er wünscht sehnlichst, die Akademie in der Residenz beziehen zu können, nur fehlt es ihm leider – der Pastor machte mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand eine bezeichnende Bewegung.

Das ist ja jammerschade, sagte die Baronin; wer doch dem armen Menschen helfen könnte: kann ihm denn sein Onkel, der Major, nicht ein paar hundert Thaler vorschießen? aber freilich, die Herren vom Militär haben meistens genug mit sich selbst zu thun. – Ah, mademoiselle, vous arrivez bien à propos! Veuillez avoir la bontè – Die Baronin war aufgestanden, um der eben entretenden Mademoiselle Marguerite eine Instruction zu ertheilen.

Wollen Sie meine Bienenstöcke einmal ansehen, Pastor Jäger? sagte der Baron.

Mit dem größten Vergnügen; erwiederte dieser, Hut und Stock ergreifend.

Bleiben die Herren nicht zu lange, sagte die Baronin; wir wollen heute etwas früher soupiren. – Que voulais-je dire? Ah, oui! du chocolat, mais pas si énormement sucrè que la dernière fois, et particulièrement prenez garde – – –

Der Abend war gekommen, mit ihm Frau Pastor Jäger auf dem Einspänner. Primula trug dasselbe Kleid von ungefärbter Seide, in welchem sie Oswald an jenem Sonntag Morgen erschien, und sah, von der übergroßen Hitze des Tages angegriffen, mehr denn je wie ein kranker Kanarienvogel aus. Ihr Gatte hatte, sobald der langathmige Selam zwischen ihr und der Baronin vorüber war, die erste schickliche Gelegenheit ergriffen, ihr zuzuraunen, von dem »Gastfreunde« weniger entzückt zu erscheinen, als sie und er sich vorgenommen hatten, da »der junge Mensch« keineswegs in besonderer Gunst bei der Baronin zu stehen scheine – eine Nachricht, welche Primula in ein solches Erstaunen versetzte, daß, als Oswald kurz vor dem Abendessen erschien, sie seine höfliche Begrüßung nur mit einer sehr förmlichen Verbeugung zu erwiedern vermochte.

Dies wunderliche Benehmen der vorher für den »Gastfreund« so begeisterten Dichterin würde wahrscheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswald guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt bemerkt hätte. Aber er befand sich heute Abend in einer Stimmung, in welcher man, wie Oldenburg es ausdrückte, Ohren und Augen offen hat und doch weder sieht noch hört. Die Schatten der Ereignisse des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch auf seiner Seele und auf seiner Stirn. Seine gewöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholischen Ruhe gewichen; er sah bleich und nachdenklich aus, aber so schön und vornehm, daß Primula's zart besaitete Seele alsbald den Zauber, welchen die Erscheinung des jungen Fremden bei der ersten Begegnung auf sie ausgeübt hatte, wiederum zu fühlen begann, und sie die Warnung ihres vorsichtigen Gatten um so lieber vergaß, als sie sah, mit welcher ausgesuchten Höflichkeit und Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denselben Mann behandelten, der ihr so eben als eine gefallene Größe denuncirt war. Sie bereitete sich schon im Stillen auf eine Strafpredigt vor, die sie auf der Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der »wieder einmal nach seiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen nicht gesehen hatte.« Der würdige Geistliche selbst war für den Augenblick durch den vollkommenen Widerspruch zwischen den Worten und der Handlungsweise der Baronin aus der Fassung gebracht. Er wußte indessen besser als irgend Einer, daß die Menschen nicht immer scheinen, was sie sind, und nicht immer sind, was sie scheinen, und hielt es auf alle Fälle für das Gerathenste, das Benehmen seiner Gönnerin möglichst treu zu copiren, was ihm gerade nicht schwer fiel.

Indessen würde trotz des scheinbaren guten Einvernehmens der Gesellschaft die Unterhaltung bei der Abendmahlzeit, die auf der Terrasse im Freien eingenommen wurde, sehr einsilbig gewesen sein, hätte Herrn Timm's Gemüth die Eigenschaft gehabt, die Farbe seiner Umgebung anzunehmen. Dies war indessen durchaus nicht der Fall.

Herr Timm hatte sein Versprechen, bei Tische mit guter Laune und noch besserem Appetit zu erscheinen, wahr gemacht. Er fand die Chocolade, die dies mal keineswegs énormement sucré war, vortrefflich, das Brot vortrefflich, die Butter vortrefflich, Alles vortrefflich. Und wie köstlich war der Einfall, sich an diesem lieblichen Abend nicht in die Stube einzuschließen! wie glücklich der Gedanke, die Tafel gerade auf diesem Punkte der Terrasse zu decken, von dem man einen so herrlichen Blick auf den Garten hatte! wie wundervoll waren die Schatten und Lichter in den hohen Bäumen drüben jenseits des Rasenplatzes! wirklich ein Gemälde von Claude Lorraine! Wahrhaftig, Herr Baron, wenn ich nicht Diogenes wäre, so möchte ich wohl Alexander sein! Aber freilich, wir können nicht Alle in Schlössern hausen, es muß auch Tonnenbewohner geben, und wohl dem Manne, dem sein Schloß nicht wie eine Tonne, oder dem seine Tonne wie ein Schloß erscheint! Sie sollten diesen Gedanken zu einem Epigramm verwerthen, Frau Pastorin! Sie haben ein ganz entschiedenes Talent für diese Gattung, selbst in Ihren hoch-lyrischen Gedichten findet sich oft eine epigrammatische Wendung. So in dem reizenden Sonett auf den Maikäfer. Wie heißt doch noch der Schluß? »Des Maies Käfer, falscher Liebe Bild –« das ist an und für sich schon ein tiefsinniges Epigramm. Wissen Sie, daß man in Grünwald Ihre Uebersiedelung nach Faschwitz noch immer nicht verschmerzen kann? Erst neulich sagte Professor Lichtscheu, den ich in einer Gesellschaft beim Kanonikus Schwarz traf: es sei unverantwortlich, daß ein gewisser Gelehrter, den ich nicht nennen will, den reichen Schatz seines Wissens in der Einsamkeit eines Dorfes, dessen Namen mir entfallen ist, vergraben solle; worauf ich ihm erwiderte: es sei nicht minder unverantwortlich, daß die Dichterin der »Kornblumen« noch immer unter Kornblumen wandle.

So ging es mit unendlicher Zungenfertigkeit fort, dabei war Alles, was Timm sprach, so augenscheinlich ohne jegliche Absicht, witzig und gestreich sein zu wollen, – trotzdem es manchmal geistreich und witzig genug war – gesagt, daß man ihm zuhören konnte wie einem lustigen und in seiner Lustigkeit freilich etwas überlauten Kanarienvogel, dem die Morgensonne in das Bauer scheint und der dabei auf den Einfall kommt, sich einmal ordentlich auszusingen. Nur kam es Oswald manchmal vor, als ob Herrn Timm's Humor durchaus nicht so natürlich sei, als es den Anschein hatte; als ob Herr Timm nur eine wohleinstudirte und fein berechnete Rolle, allerdings mit vollendeter Naturwahrheit spiele, und als ob der gutmüthige Bonvivant und anspruchslose Naturbursche bei Licht besehen die ganze Gesellschaft, die er mit dem Feuerwerk seines Witzes unterhielt, gründlich verhöhne und nasführe. Er wurde in diesem Verdacht um so mehr bestärkt, als Herr Timm, sobald er zu ihm sprach, stets einen andern Ton anschlug, als wollte er sagen: Dir darf ich mit solchen Narrenspossen nicht kommen, aber für den andern Pöbel sind sie gut genug.

Diesen Verdacht, auf den Oswald übrigens um so leichter verfallen mußte, als er selbst nur zu oft die Gesellschaft, gegen die er eine so gründliche Verachtung empfand, zum Besten hatte, schien von den Andern Niemand zu theilen, es hätte denn Bruno sein müssen, der heute noch düsterer und verschlossener wie gewöhnlich auf seinem Platze neben Oswald saß, und seinen stolzen Mund nicht ein einziges Mal zu einem Lächeln verzog, obwohl er Alle um sich her – selbst Oswald nicht ausgenommen – lachen sah, zumal als gegen das Ende der Mahlzeit Herr Albert Timm mit seiner Nachbarin, Mademoiselle Marguerite, eine Conversation begann, in welcher er französisch und deutsch auf die possirlichste Weise durcheinander mischte. Die hübsche scheue Genferin hatte sich die größte Mühe gegeben, Herrn Timm's Kreuz-und Quersprüngen in der Unterhaltung zu folgen, und sich alle Augenblicke mit einem rapiden: qu'est ce qu'il dit? que veut dire cela? an Malte, ihren Nachbar auf der andern Seite gewandt, der ihr die Antwort um so häufiger bleiben mußte, als er selbst von Allem, was der unerschöpfliche Albert vorbrachte, kaum die Hälfte begriff, bis dieser mit ihr zu kauderwälschen anfing, um mit vielem Tacte den Scherz sofort abzubrechen, als er merkte, daß die hübsche Kleine durch das Gelächter der Andern in Verlegenheit gerieth.

Es war bereits dunkel geworden, als die Baronin die Tafel aufhob, und Herr und Frau Pastor Jäger, die sich jetzt unter vielen Danksagungen für den so angenehm verbrachten Abend empfehlen wollten, einlud, mit ihr und dem Baron noch ein gemüthliches kleines Boston – in der alten Weise, wissen Sie, Pastor Jäger, wie es sich für solide Leute schickt – in dem Salon zu spielen.

Malte war zu Bett gegangen. Oswald und Bruno, Albert und Mademoiselle Marguerite promenirten paarweise um den Rasenplatz und in den zunächst gelegenen Gängen des Gartens.

Du hast mir noch gar nicht gesagt, Oswald, sagte Bruno – er nannte jetzt seinen Freund, wenn sie allein waren, stets mit dem brüderlichen Du – ob Du Tante Berkow gestern gesehen hast?

Ja, Bruno.

Sah sie schön aus?

Wie immer.

Läßt sie mich grüßen?

Natürlich.

Weißt Du, Oswald, daß ich glaube, Tante Berkow mag Dich sehr gern leiden?

Warum, Du Närrchen?

Sie sah Dich an dem Abend, als sie hier war, immer mit so glänzenden Augen an – so recht lieb und freundlich, wie sie mich manchmal anblickt, wenn sie mir das Haar streichelt, aber doch anders – so –

Ach, Du weißt ja nicht, was Du sprichst, Bruno.

Ich weiß es recht gut, aber ich kann mich nur nicht so ausdrücken, wie Ihr klugen, großen Leute. Ich bin an dem Abend ordentlich eifersüchtig auf Dich gewesen, denn früher war sie gegen mich am freundlichsten. Ich nicht wissen, wie Tante Berkow aussieht, wenn sie Jemanden gern hat? ich weiß es sehr wohl! sagte Bruno trotzig.

Und ich weiß auch noch mehr, fuhr er nach einer Pause fort. Ich sollte es eigentlich nicht sagen, denn Tante hat es mir verboten, aber ich glaube jetzt, es ist ihr gar nicht Ernst mit dem Verbot gewesen.

Was war es? fragte Oswald mit angenommener Gleichgültigkeit.

Das war es, sagte Bruno. Ich war am Sonnabend Nachmittag, als Du Briefe schriebst, allein in den Wald gegangen, nach Berkow zu, weil das mein liebster Weg ist. Da kommt mir auf einmal Tante entgegen, zu Pferde, ganz allein, nicht einmal der Boncoeur war bei ihr. Sie ritt den Brownlock, den sie immer reitet, wenn sie schnell reiten will, und schnell mußte sie geritten sein, denn Brownlocks Brust und Hals und selbst Tante's Kleid waren voller weißer Schaumflocken. Sieh da, Bruno! sagte sie, mir vom Pferde herab die Hand reichend, wo willst Du hin? – Nirgends hin, Tante, wie gewöhnlich, sagte ich, aber wo wollen Sie hin? – Auch nirgends! antwortete sie lachend, da können wir ja zusammen unsern Weg fortsetzen. – Wenn Sie Schritt reiten wollen, sagte ich, sonst nicht. – Und da sind wir wohl eine halbe Stunde zusammen durch den Wald gezogen, und haben die ganze Zeit von nichts als von Dir gesprochen, und Tante fragte mich, ob ich Dich lieb hätte, worauf ich natürlich mit Nein antwortete; ob Du viel studirtest? und noch hunderterlei, was ich wieder vergessen habe. Zuletzt trug sie mir auf, Dich zu grüßen und zu fragen, ob Du die Kupferstiche noch nicht hättest, von denen Du ihr neulich gesprochen, und ob Du sie ihr nicht schicken wolltest – und dann rief sie mich wieder zurück und sagte: ich solle Dich lieber doch nicht daran erinnern, Dir auch nicht sagen, daß ich sie gesprochen hätte – aber wie gesagt, ich glaube jetzt nicht mehr, daß es ihr Ernst gewesen ist.

Warum jetzt nicht mehr, Bruno?

Weil, – der Knabe schwieg; plötzlich sagte er in gedämpftem Ton, als fürchtete er, die dunklen Gebüsche neben ihnen könnten es hören:

Sage mir, Oswald, wie ist das, wenn man Jemand liebt?

Wie meinst Du das, Bruno? antwortete Oswald, den die Frage in nicht geringe Verlegenheit setzte.

Ich meine: was ist das für eine Liebe, von der so oft in den Büchern die Rede ist? Ich habe Dich lieb, sehr lieb; aber es ist mir, als müßte es noch eine andere Liebe geben. So habe ich immer nicht verstanden, warum der Marquis Posa so bestürzt ist, als Don Carlos sagt: ich liebe meine Mutter. –

Weshalb soll er seine Mutter nicht lieben? Ich habe meine Mutter nie gekannt, und so weiß ich gar nicht, wie man seine Mutter liebt, aber ich denke sie mir immer so jung und schön, wie Tante Berkow. Für die könnte ich Alles, Alles thun! Ich wünschte manchmal: sie fiele vor meinen Augen in's Wasser, und ich könnte ihr nachspringen; oder wie neulich: Brownlock bäumte sich, und ich faßte ihm in den Zügel und kämpfte mit ihm, und ließe nicht los, und wenn er mich auch mit seinen Hufen zerträte. – Warum kommen mir solche Wünsche nie, wenn ich in Deiner Nähe bin, Oswald, oder wenn ich, von Dir getrennt, an Dich denke?

Weil ich ein Mann bin, Bruno, und Du weißt, daß ich mir selbst helfen könnte und helfen würde. In die Liebe aber, die wir für eine Frau empfinden, mischt sich noch das Gefühl, daß wir sie, die sich selbst nicht schützen kann, mit unserer größeren Kraft und unserm kühneren Muthe schützen müssen, und das macht unsere Liebe zärtlicher, inniger, mitleidiger; und dann noch ein Gefühl, von dem ich Dir jetzt nur so viel sagen will, daß es ein Ausfluß der ewigen Kraft ist, welche das Weltall schafft und trägt, ein Gefühl, welches rein ist, wie alle Natur, aber auch eben so keusch, und das deshalb, vor der Zeit wachgerufen, dem Voreiligen so verderblich werden kann, wie seine Kühnheit dem Jüngling, den des Wissens Drang nach Sais und in den Tempel trieb, wo sie in dichtem Schleier verhüllt thronte, Isis, die heilige, keusche Göttin der Natur.

Ich verstehe Dich nicht ganz, Oswald.

Die Welt und das Leben sind voller Räthsel, Bruno. Das Leben ist die Sphinx und wir sind der Oedipus. Und es ist der Fluch des Oedipus, daß er das Räthsel lösen muß, und ihn doch des Räthsels Lösung unglücklich macht.

Du bist mir nicht böse, Oswald?

Ich Dir böse, liebes Herz? weshalb?

Daß ich Dir mit solchen wunderlichen Fragen komme.

Du sollst mich fragen, Bruno; nach Allem fragen, was Dich in Erstaunen und in Verwirrung setzt. Deine Seele muß offen vor mir liegen, wie ein Buch, in dem ich blättern und immer wieder blättern kann. Wollte Gott, ich möchte nur Weises und Gutes auf die reinen Blätter schreiben.

Du bist stets so gut, so unendlich gut gegen mich, Oswald; und ich vergelte Dir all' Deine Güte nur mit Undankbarkeit und Trotz.

Das thust Du nicht – und dann: sind wir nicht Brüder? Brüder müssen sich untereinander lieben und tragen und stützen, und dürfen nicht rechten um Mein und Dein. Sieh' Bruno, wenn der fromme Glaube, der die Geister der Verstorbenen die auf Erden zurückgelassenen Lieben umschweben läßt, der meine wäre, so würde ich sagen: dort oben, von dem leuchtenden Sternenhimmel, schauen unsere Mütter auf uns hernieder und freuen sich der Vereinigung und Liebe ihrer Kinder. Laß uns zusammenstehen in diesem wirren Kampfe des Lebens zu Schutz und Trutz. Wie lange wird es dauern und Du bist ein Mann, wie ich, und wollte Gott, ein besserer Mann. Dann wird auch der letzte Unterschied, der Unterschied der Jahre von uns nicht mehr empfunden werden, wie ich ihn denn jetzt kaum noch empfinde. Dann werde ich vielleicht zu Dir aufschauen, wie Du jetzt zu mir; dann wirst Du mir doppelt und dreifach das Wenige bezahlen, das ich jetzt für Dich thun kann; dann werde ich – und wie gern! – Dein Schuldner sein.

O, das wird nie geschehen, sagte Bruno; Du wirst immer unerreichbar weit von mir vorauseilen: ich werde nie auch nur das werden, was Du jetzt schon bist.

Du Närrchen! sagte Oswald und streichelte liebevoll Bruno's Haar; Du sitzt jetzt im Parterre vor der Bühne des Lebens, und der Felsen von Pappe erscheint Deinem begeisterten Auge ein Urgebirge, und all' die Trödlerwaare ächt. Wenn Du erst selbst auf die Bühne trittst, wird Dir der holde, rosige Schleier der Illusion von den Augen fallen und Du wirst Deinen Irrthum erkennen. Aber wenn auch! Du wirst, wenn Du von Deinem ersten schmerzlichen Erstaunen Dich erholt hast, begreifen, daß es nicht anders sein kann, und Deinen Bruder nicht verachten, weil Du siehst, daß sein stolzer Rittermantel von verschossener Seide und arg geflickt ist, und seine Sporen eitel Messing – doch still! da kommen uns Herr Timm und Mademoiselle entgegen. Es scheint, Herr Timm will die gute Gelegenheit, seine Aussprache des Französischen zu cultiviren, nicht unbenutzt lassen. Wir wollen ihn in diesem edeln Streben nicht stören. Laß uns in diesen Gang einbiegen.

Herr Timm, der jetzt Arm in Arm mit Mademoiselle Marguerite, ohne Oswald und Bruno zu bemerken, eifrig sprechend und seine helle Stimme dabei sorgfältig dämpfend, vorüberstrich, hatte in der That »die gute Gelegenheit«, obgleich in etwas anderer, als in der von Oswald abgedeuteten Weise, zu nutzen verstanden. Auf seine Aussprache des Französischen legte der junge Mann sehr wenig Gewicht, desto mehr aber auf den soliden Vortheil, den ihm die Gunst der jungen Dame, welche dem innern Hauswesen des Schlosses vorzustehen schien, während eines, voraussichtlich mehrere Wochen lang dauernden Aufenthalts in Grenwitz gewähren mußte; und sich diese Gunst, die auch vielleicht in anderer Weise die Monotonie des Landlebens in angemessener Weise mildern konnte, möglichst schnell zu erwerben, war Herr Albert Timm in dem allerliebsten verschwiegenen tête-à-tête mit der kleinen Französin eifrigst bedacht gewesen. Die Unterhaltung war von beiden Seiten, ohne einem gelegentlichen französischen Worte das Dasein zu verkümmern, deutsch geführt worden, da Mademoiselle das Deutsche ziemlich und Herr Timm das Französische sehr schlecht sprach, und dem jungen, aufrichtigen, wahrheitsliebenden Mann nichts verhaßter war, als der Gedanke, nicht verstanden oder gar mißverstanden zu werden.

Und sind Sie schon lange hier? fragte er.

Drei Jahre.

Der Tausend! und Sie sind vor langer Weile noch nicht gestorben. Sie müssen eine famose Natur haben.

Plait-il?

Ich meine, das muß doch zum Verzweifeln langweilig sein, Jahr aus Jahr ein in diesem öden Nest zu hocken, und noch dazu in so ausnehmend interessanter Gesellschaft. Aber Sie haben wohl viel zu thun?

Enormèment! Ich muß arbeiten comme un forçat –

Comme was?

Vous ne savez pas ce que c'est qu'un forçat?

Nein – schadet aber nichts. Wollen einmal sagen: wie ein Pferd; das wird wohl auf dasselbe herauskommen. Also: Sie müssen arbeiten wie ein forçat?

Justement! ich muß aufschließen und zuschließen alle Schlösser –

Hat auch sein Angenehmes, bemerkte Herr Timm.

Ich muß hören den ganzen Tag: Mademoiselle, thu Sie dies, Mademoiselle, thu Sie das! Und des Abends, wenn ich bin müde, daß ich nicht kann offen halte die Augen, ich muß lesen aus die alte dumme Bücher, bis Madame hat die Güte zu sagen: c'est assez! – Non, madame, ce n'est pas assez, c'est trop – mille fois trop, sagte die lebhafte kleine Dame und stampfte mit dem Fuße.

Sie scheinen in einer allerliebsten Stimmung, sagte Herr Timm; doch das ist recht, sprechen Sie sich aus – das erleichtert das Herz – aber, wenn die Baronin Ihnen ein solches Vertrauen schenkt, so müssen Sie doch auch in großer Gunst bei ihr stehen.

Au contraire! Sie mich braucht, weil sie muß. Sie würde mir heute geben mon congé lieber als morgen. Sie mich hat gern, weil ich nicht nöthig habe viel Schlaf und weil ich esse wenig.

Na, da werde ich nie ihr Liebling werden, sagte Herr Timm. Aber Sie armes Kind, da sind Sie ja in einer schauderhaften Situation. Viel Arbeiten und keinen Dank dafür; früh aufstehen und dafür spät zu Bette gehen; den ganzen Tag dreschen müssen, wie das gutmüthige Thier in der Bibel, ohne die demselben verstattete Freiheit – das halte ein Anderer aus. Sie sollten sich verheirathen, Mademoiselle.

Marguerite zuckte die Achseln; wer wird wollen mich 'eirathen? Je suis si pauvre et si laide!

Was ist das?

Ich sage: ich bin arm und ich bin 'äßlich.

Das Erstere will ich zugeben, sagte Herr Timm; das Zweite ist aber eine arge Verleumdung. Sie häßlich! Au contraire: Sie sind hübsch, Mademoiselle, très hübsch, belle, sehr belle. –

Vous plaisantez, Monsieur!

Ohne Spaß! sagte Herr Timm, Sie sind wirklich ein auffallend hübsches Mädchen. Erstens haben Sie eine reizende Gestalt –

Trop petite, sagte Marguerite.

Nicht die Spur, versicherte Herr Timm; zweitens haben Sie wunderhübsche braune Augen; eine reizende Hand, einen entzückend niedlichen Fuß –

Mais monsieur!

Was denn? es ist ja wahr; was wahr ist, darf man sagen. Ich wette, daß Monsieur le docteur Stein voll kommen meiner Meinung ist. Lieben Sie den Doctor?

Ich ihn lieben? sagte die kleine Französin mit großer Lebhaftigkeit; ich ihn lieben? – ich ihn 'asse!

Na, na! sagte Herr Timm; warum denn, er ist doch ein sehr schöner Mann.

C'est un bel homme, mais c'est un fat.

Un was?

Er ist ein Narr, oui ein Narr, qui est monstrueusement amoureux de lui-même; mais avec toute sa fierté je me moque de lui, je me moque de sa fierté, oui, je m'en moque, moi!

Bitte, ereifern Sie sich nicht, und sprechen Sie vor allen Dingen deutsch, wenn Sie wünschen, daß ich Sie verstehen soll. Was hat Ihnen denn der Unglückliche gethan?

Lui? malheureux? Il n'est pas malheureux, ce monsieur-là. Tout le monde le flatte, le cajole –

Aber so sprechen Sie doch um Himmelswillen deutsch!

Glauben Sie, daß er hat gesprochen zehn Worte mit mir, seitdem daß er hier ist?

Das ist freilich abscheulich! Ah! da habe ich mir schon wieder den Fuß an eine so verdammte Baumwurzel gestoßen. Ich bin im Dunkeln so blind, wie ein Maulwurf. Sie thäten wirklich ein Werk der Barmherzigkeit, wenn Sie meinen Arm annehmen und mich ein wenig führen wollten.

Très volontiers, Monsieur!

Also so ein eitler Herr ist dieser Doctor Stein, sagte Herr Timm, den Arm der hübschen Marguerite in den seinen legend und dabei ziemlich fest an seine Brust drückend; ei, wer hätte das gedacht! Na, wissen Sie was, liebe Marguerite – welch' ein reizender Name das ist: Marguerite! – ich darf Sie doch Marguerite nennen? – Ja, was ich sagen wollte: ärgern Sie sich nicht über den albernen Menschen, liebe Marguerite! Wenn er nicht mit Ihnen sprechen will, so ist das sein eigener Schade, und wenn er Sie nicht hübsch findet, so finden Sie dafür andere Leute desto hübscher; ich zum Beispiel, obgleich ich sehr kurzsichtig bin, besonders hier in diesem Baumgange, wo es so dunkel ist, daß man wahrhaftig nicht die Hand vor den Augen sehen kann. – Fürchten Sie sich, kleine Marguerita? Nein? warum klopft denn Ihr Herz so? oder hätten Sie mich gar aus Versehen ein bischen lieb? Haben Sie mich ein bischen lieb, Marguerite? Geniren Sie sich gar nicht; mir kann man Alles sagen. Oder sagen Sie lieber nichts und geben Sie mir einen Kuß! Sie wollen nicht – so! das ist vernünftig: Ihr Franzosen und besonders Ihr Französinnen seid eine charmante Nation. Aber warum weinst Du denn, kleiner Narr? Ist es bei Euch denn ein Staatsverbrechen, einem ehrlichen Kerl einen Kuß gegeben zu haben, und noch dazu im Dunkeln ... Verdammt, da kommt der alberne Mensch, der Doctor mit seinem Grasaffen ... Bon soir, meine Herren, wir können hier Begegnen spielen.

Oder Blindekuh, sagte Oswald, und noch dazu ohne Binde. Ich dächte, wir gingen hinein. Wenn ich nicht irre, hat die Baronin schon nach Mademoiselle gerufen.

Herr und Frau Pastor Jäger hatten sich unter vielen Danksagungen und Freundschafts- und Ergebenheitsversicherungen empfohlen, um auf dem Einspänner in die idyllische Ruhe von Faschwitz und unter »ihr niedriges Dach« zurückzukehren; Oswald und Herr Timm – Bruno hatte sich schon einige Minuten vorher entfernt – stiegen die Wendeltreppe des Thurms hinauf, um sich auf ihr Zimmer zu begeben.

Das ist Ihr Zimmer, so viel ich weiß, Herr Timm, sagte Oswald, vor einer der vielen Thüren stehen bleibend, die auf denselben Corridor gingen, welcher Stufen auf, Stufen ab, in vielfachen Biegungen durch alten Theil des Schlosses, wo Oswald und die Knaben wohnten und mehrere der weniger stattlichen Gastzimmer lagen, führte.

Und wo ist denn Ihre Bude, Herr Doctor?

Ein paar Thüren weiter.

Sind Sie sehr müde?

Nicht besonders.

So erlauben Sie mir, noch ein paar Minuten mit zu Ihnen zu kommen. Ich empfinde das sehr natürliche Bedürfniß, nach all dem Unsinn, den ich geschwatzt, und habe schwatzen hören, in vernünftiger Gesellschaft eine gute Cigarre zu rauchen.

So kommen Sie, sagte Oswald, der viel lieber allein geblieben wäre, aber eine zu hohe Meinung von der Pflicht der Gastfreundschaft hatte, um eine so indirecte Anrufung derselben zurückzuweisen; ob Ihnen freilich meine Cigarren gut und meine Gesellschaft vernünftig genug –

Um Gotteswillen, für heute nicht noch mehr Complimente! rief Herr Timm; ich bin mit dem bereits Genossenen vollkommen zufrieden. Bitte! spazieren Sie voran –

Eine reizende Bude, sagte Herr Timm, als sie in das Zimmer getreten waren, und Oswald die Lampe auf dem runden Tisch vor dem Sopha entzündet und ein Kistchen mit Cigarren aus seinem Secretair geholt hatte; eine allerliebste Tonne für einen Cyniker, der gelegentlich bei den Sybariten in die Schule geht; wirklich famos behaglich, für meinen Geschmack fast zu behaglich. Der große Lehnstuhl in der tiefen Fensternische, von dem man auf der einen Seite so bequem in den Garten, und auf der andern »still und bewegt« nach dem schönen Apollokopfe dort auf dem Schranke blicken kann, Natur und Kunst vis-à-vis, und man selbst mitten dazwischen, wie der Mann sagte, als er aus dem Luftballon fiel. – Die Cigarre ist superb, wirkliche Havannah und keine Stinkadores – rauchen Sie nicht? nein? und halten sich für Ihre Freunde und Bekannten ein solches Blatt! – Edelster der Menschen! der heilige Crispinus ist ja ein Straßenräuber im Vergleich mit Ihnen! Was haben Sie denn da in der höchst verdächtig aussehenden Flasche oben auf dem Bücherbrett? ich glaube gar Cognac –

Und noch dazu alten, echten, sagte Oswald, wenigstens versichert es mein Freund, der Inspector Wrampe, der mir diese, jedenfalls geschmuggelte Flasche aufgenöthigt hat –

Und noch nicht einmal entkorkt – Me herculem! Da müssen wir doch einmal untersuchen, ob der Inspector Sie nicht belogen hat. Trinken Sie auch ein Glas Grog?

Ich nicht, aber lassen Sie sich dadurch nicht abhalten, sagte Oswald gutmüthig, die Flasche herabnehmend und entkorkend; ich will auf meiner Maschine Wasser heiß machen –

Bewahre! wozu die Umstände! kaltes Wasser thut dieselben Dienste, besonders in geringer Quantität – das ist ja ein reizender Abend, sagte Herr Timm, sich vergnügt die Hände reibend. Nun setzen Sie sich gefälligst in die Sophaecke, damit ich die Ueberzeugung gewinne, daß Sie sich so behaglich fühlen, wie sich Jemand, der nicht raucht und trinkt, überhaupt fühlen kann; ich werde mir den Lehnstuhl heranrücken – was der Kerl für eine Wucht hat! – und nun lassen Sie uns eins plaudern, wie es sich für zwei ehrliche Kerle geziemt, die dem ganzen Blödsinne der sogenannten guten Gesellschaft ein Schnippchen schlagen.

So sprach Herr Timm, zog mit dem Fuße noch einen Rohrstuhl herbei, um seine Beine darauf zu legen, und streckte sich behaglich, den Kopf etwas hintenübergebogen, um dem Rauch seiner Cigarre bequemer und länger nachschauen zu können.

Der Schein der Lampe fiel ihm dabei voll ins Gesicht und Oswald bemerkte jetzt zum ersten Male, daß Herrn Timms Züge, besonders im Profil gesehen, wo die kecken, saubern Linien zur vollen Geltung kamen, wirklich überraschend hübsch und interessant waren. Diese Entdeckung war für Oswald durchaus nicht gleichgültig. Er ging noch einen Schritt weiter als Voltaire, und hielt dafür, daß nicht nur von den Büchern, sondern auch von den Menschen das genre ennuyeux das schlimmste sei, und bei einem überaus regen und durch Studien vielfach gebildeten Formensinn ließ er sich von seiner leidenschaftlichen Liebe für malerische und plastische Schönheit in einer Weise herrschen, daß sein Gefühl des Wahren und Guten dabei Gefahr lief, nicht unterdrückt, aber doch getrübt zu werden. So war es in diesem Falle. Herrn Timm's formenloses Wesen und nur dünn verschleierter derber Realismus hatten ihn im Laufe des Abends ein paar mal recht empfindlich beleidigt, und er war schon entschlossen gewesen, den Verkehr mit dem übermüthigen Gesellen während dessen Verweilen in Grenwitz auf das Unvermeidliche zu beschränken; aber während er jetzt die Umrisse des hübschen Gesichtes im Geiste nachzeichnete, hatte er den kaum gefaßten Vorsatz schon halb und halb vergessen.

Wollen Sie einmal ein paar Minuten so sitzen bleiben? sagte er, unwillkürlich nach einem Bleistift greifend, und auf dem ersten Blatte, das ihm auf den mit Büchern und Papieren bedeckten Tische in die Hände fiel, anfangend, Albert's Profil zu skizziren.

Eine halbe Stunde, wenn Sie wollen, sagte dieser; ich liege vortrefflich; wenn ich nur dabei rauchen, sprechen und gelegentlich einen Schluck dieses irdischen Nektars nehmen darf.

Lassen Sie sich gar nicht stören, sagte Oswald, eifrig zeichnend.

Es ist doch ein merkwürdiger, alter Kasten, dies Schloß, phantasirte Albert; ich glaube, ich habe verdammt wenig Sinn für Romantik, aber ich brauche nur den Fuß auf die Wendeltreppe zu setzen, die in diesen Flügel führt und mich umwehen Schauer des Mittelalters. Selbst meine Sprache wird eine andere, wie Sie hören, und kriegt einen Beigeschmack von van der Velde und Tromlitz. Welche Mauern! man würde jetzt ein Dutzend daraus machen. Wenn es damals, wie zu vermuthen steht, auch Leute gegeben hat, mit denen man Thüren und Wände einrennen konnte, welche dicken Schädel müssen die gehabt haben!

Wollen Sie gefälligst einmal die Brille abnehmen? sagte Oswald.

Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter gelebt, würde ich mir nicht an der Lectüre schlecht gedruckter Schmöker die Augen verdorben haben. Wenn das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unserer Zeit hatte, so ist es der, daß die Leute nichts zu lernen brauchten. Denken Sie sich: keine Schulen, keinen Cornelius Nepos, keine Geschichte des Mittelalters, keine Examina; blos ein paar Fechtstunden bei einem alten Haudegen von Knappen, der, wie der Klosterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt und von dem einen noch immer ein hübscheres Schelmenstückchen zu erzählen weiß, als von dem andern; und dann etwa, wenn man Anspruch auf höhere Bildung machte, ein paar Lectionen auf der Laute bei einem lustigen, fahrenden Gesellen, der voller hübscher Lieder und toller Schwänke steckt, der vor tausend Thüren gesungen und eben so viel schöne Mädchen geküßt hat – das muß doch ein famoses Leben gewesen sein! Und vor Allem diese Leichtigkeit der Ortsveränderung, diese unbedingte, oder höchstens durch ein paar handfeste Bursche, die einem in dem ersten besten Hohlweg den Schädel ein ganz klein wenig einschlagen, bedingte Freizügigkeit! George Sand hat einmal ein hübsches Wort gesagt, das einzige, das ich aus allen ihren vielen Romanen behalten habe, wahrscheinlich weil es mir aus der Seele geschrieben war: »Was giebt es schöneres, als eine Landstraße?« Ist das nicht prächtig? Ist das nicht die ganze Poesie, zum wenigstens die Poesie des Abenteuerlichen, in einem Worte? Ich könnte die Frau küssen für das Wort, obgleich sie ein Blaustrumpf ist, und ich die blauen Strümpfe hasse, wie den Teufel, oder vielmehr ärger als den Teufel, der doch im Grunde nur ein verkanntes Genie ist und als solches auf die Sympathie jedes Gebildeten Anspruch machen kann. Aber wenn Einen in unserer Zeit der Teufel und seine Helfershelfer und Diener auf Erden, die Gläubiger, plagen, wo soll man hinfliehen vor ihrem Angesicht? Damals, in der guten alten Zeit, packte man eines schönen Morgens vor Sonnenaufgang sein Ränzel, oder in Ermangelung dessen, sich selbst, marschirte zum Thor hinaus und war, wenn man nach einer Stunde das Weichbild der Stadt hinter sich hatte, in Sicherheit, und, ehe der Abend kam, mußte einem schon so viel Abenteuerliches begegnet sein, daß man die alte Stadt und das hübsche braune Mädel darin, für die man gestern noch leben und sterben wollte, bis auf die Erinnerung vergessen hatte. – Sind Sie fertig? Na, lassen Sie einmal sehen. Hm! Sie zeichnen, wie der Maler Conti in der Emilia Galotti, nicht, was die Natur geschaffen hat, sondern was sie hätte schaffen sollen, wenn sie in dem betreffenden Augenblicke nicht unglücklicherweise blind gewesen wäre. Sehr hübsch in der That, aber das Original ist mir doch lieber. Und Dichter sind Sie auch, wie ich sehe.

Wie so?

Nun, die andere Seite des Blattes ist ja von oben bis unten mit Versen beschrieben. Und noch dazu Sonette, die ich über Alles liebe. Ich darf sie doch lesen?

Es ist nicht des Lesens werth, sagte Oswald, den Alberts Frage sichtbar verlegen machte. – Die Verse waren an Melitta, waren in der Erinnerung an die erste köstliche Zusammenkunft im Waldhäuschen geschrieben! Er glaubte das Blatt sicher in seinem Pult verwahrt, und bereute bitter seine Unvorsichtigkeit, die es jetzt seinem übermüthigen und, wie er fürchten mußte, keineswegs sehr discreten Gast in die Hände gespielt hatte. Glücklicherweise war Melitta's Name nicht genannt.

Nicht des Lesens werth? sagte Albert; das wollen wir gleich einmal sehen. Dichter haben kein objectives Urtheil über ihre Producte. Denken Sie einmal, ich hätte der Verse gemacht und fühlte mich gedrungen, sie Ihnen verzulesen. Hören Sie zu!

Sie liebt mich!

Der Anfang ist weniger originell, als wahr. Aber Sie werden mir zugeben, daß man ein so uraltes Thema nicht immer wieder neu behandeln kann. Also:

Sie liebt mich! Herz, hör' auf so wild zu schlagen! Halt aus, mein Herz! Du darfst nicht auch zerspringen, Weil er zersprang, der erste von den Ringen, Die Du so lange Jahre hast getragen! Sie liebt mich! wie die Wolken eilend jagen Da droben auf des Nachtwinds feuchten Schwingen! Die Wälder rauschen und die Quellen klingen, Und Wolken, Wälder, Quellen – Alle sagen: Sie liebt mich! O, noch schwebt auf meinem Munde Der süße Kuß, den sie mir hat gegeben In dieser holden, gnadenreichen Stunde; Noch fühl' ich ihre Brust an meiner beben – Die stumme, wunderbar beredte Kunde Von ihres Herzens tiefgeheimstem Leben.

Wie finden Sie das? Ich dächte, ich hätte das erste, stürmische Entzücken eines Liebenden in dem Augenblicke, wo er sich der Gegenliebe des angebeteten Wesens versichert hat, gar nicht so übel gezeichnet. Aber hören Sie weiter, wie das Allegro in ein Adagio verklingt:

O sterngeschmückte, milde, heil'ge Nacht! Du grabesstiller, tiefer Gottesfrieden! Du heilst die Kranken und erquickst die Müden Nach ihrer wirren, tollen Lebensjagd. Und Du hast mich so überreich bedacht, Du hast mir gnädiglich ein Glück beschieden, Wie es so groß und schön noch nie hienieden Der Erdenkinder einem hat gelacht. O Mutter Nacht, die Du uns hast geboren, Die Du uns trugst in Deinen weichen Armen, An deren Brust wir Kraft und Ruhe trinken – O, ginge einst mein holdes Glück verloren, Dann, große gute Mutter, üb' Erbarmen, Dann laß zurück in Deinen Schooß mich sinken!

Albert hatte die Verse ohne alle Affection klar und verständig, ja mit einem gewissen Anflug von Wärme vorgetragen. Oswald wußte ihm Dank dafür. Er hatte schon gefürchtet, die Gedichte, auf die er freilich nur in sofern Werth legte, als sie ein treuer Ausdruck seiner Empfindungen waren, von dem frechen Spötter ihm gegenüber schonungslos profanirt zu sehen. Er war froh, so leichten Kaufs davon gekommen zu sein.

Machen Sie nie Verse? fragte er, indem er das Blatt nahm und in ein Heft legte, das noch andere Poesien zu enthalten schien.

Ich? sagte Herr Timm, einen tiefen Schluck aus seinem Glase thuend; bewahre! dazu bin ich viel zu praktisch. Die praktische Weltanschauung und die poetische vertragen sich wie Hund und Katze. Wenn das Kätzchen Poesie gerade am zärtlichsten miaut, bellt der Hund Prosa mit seiner groben Stimme dazwischen und die kleine Schwärmerin verstummt. Warum wollen Sie zum Beispiel Knall und Fall sterben, wenn Ihnen das »holde Glück«, wie Sie es nennen, verloren geht? Das ist doch so unpraktisch wie möglich. Warum sagen Sie nicht statt: »Dann laß zurück in Deinen Schooß mich sinken« – »Dann laß mich schnell in andere Arme sinken« – oder dergleichen, wodurch das Gemüth des Hörers beruhigt und vor seinem Auge eine höchst angenehme Perspective aufgethan würde. Was habt Ihr Poeten denn überhaupt davon, einem das bischen Vergnügen, das man sich noch allenfalls auf diesem melancholischen Planeten verschaffen kann, geflissentlich zu verkümmern! Aber freilich, ich spreche davon, wie ein Blinder von der Farbe. Vielleicht befindet Ihr Euch dort oben in Wolkenkukuksheim, Alles in Allem, doch besser, als wir auf der höckrigen Erde, wo man von Hühneraugenschmerzen und anderen irdischen Empfindungen, die Euch luftigen Gesellen erspart sind, gar viel zu leiden hat. Ich habe mir schon manchmal gewünscht, ich hätte ein bestimmt ausgesprochenes Talent für diese oder jene Kunst: Poesie, Musik, Hühneraugenoperiren, Malerei, Grimmassenschneiden, Plastik, Gliederverrenken – gleichviel, nur irgend einen Sparren, an dem man sich halten kann, wenn einem die Wellen des Lebens über den Kopf zusammenschlagen. Ich erinnere mich, einmal in einer Thierbude an einem Dachs gesehen zu haben, welcher Segen im Unglück ein solches Talent ist. Die übrigen talentlosen Bestien liefen wie verrückt in ihren Käfigen umher, oder brüllten vor Wuth und Hunger, oder ergaben sich im besten Falle einer stummen Verzweiflung. Meister Dachs dagegen, seinem angeborenen künstlerischen Triebe folgend, arbeitete unverdrossen an einer imaginären Höhle in dem Boden seines Käfigs, kratzend, kratzend, immer kratzend, vom Morgen bis zum Abend. Er vergaß dabei augenscheinlich Hunger und Kälte, vergaß, daß er gefangen war; in der Ausübung seines Talents, selbst unter so verzweifelt ungünstigen Verhältnissen, seine Seligkeit findend. Ich wollte, ich wäre so ein Dachs! – Der Cognac ist wirklich superb, Sie sollten auch ein Glas trinken, Doctor, um die Wolken von Ihrer Apollostirn zu verscheuchen. – Aber ich habe zu Allem Talent, das heißt zu Nichts. In meiner Jugend war ich weit und breit als ein Wunderkind verschrieen, weil ich wie ein Staarmatz Alles nachpfiff, was mir die Andern vorpfiffen. Der Junge wird's einmal weit bringen, sagten die albernen Menschen, wenn ich wieder einmal so eine erstaunliche Probe meines Gedächtnisses, in welchem alles Dumme und Kluge gleich fest haftete, zum Besten gab. Ich wollte, ich hätte sitzen und schwitzen müssen, wie die andern armen Jungen, denen ich damals die Exercitien machte und die dafür jetzt gemachte Leute sind, während ich nicht viel Besseres bin, wie ein Vagabund. Aber, vive la joie et vive la bagatelle! Es muß auch Vagabunden geben, aus dem einfachen Grunde, weil es sonst keine soliden Leute gäbe. Die Vagabunden sind das Salz der Erde, oder wenigstens der fliegende Same, der die sonst fest am Boden klebende, und am Boden verrottende Cultur über die ganze Erde verbreitet. Vagabunden gründeten Karthago. Vagabunden gründeten Rom. Was soll ein ehrlicher Kerl, der in Europa nicht mit einer echten Havannah-Cigarre im Munde geboren ist, an ders thun, als nach Amerika auswandern, wenn er das sehr natürliche Bedürfniß empfindet, einmal eine echte Cigarre zu rauchen, und sie nicht gerade stehlen will, oder nicht das Glück hat, einen so liebenswürdigen Menschen aufzutreiben, wie Sie, der Sie sich echten Cognac und echte Cigarren für Ihre Bekannten halten und dabei noch die Gutmüthigkeit haben, dem Geschwätze dieser Bekannten zuzuhören, obgleich Ihnen die Augen beinahe vor Müdigkeit zufallen. Der Tausend! Der Inhalt der Flasche hat sich fast um den dritten Theil seines Volumens verringert. Wie vergänglich doch alles Irdische ist! Buona notte, Don Oswaldo! dormite bene und träumen Sie dolce von den bei occhi della donna bella, amata, immaculata Ihrer Sonette. Ich für mein Theil will, wie Hamlet, beten gehen, denn nicht einmal zum Schlafen habe ich Unglücklicher Talent, geschweige denn zum Träumen. Gute Nacht, Dottore!

Gute Nacht! sagte Oswald, sich schlaftrunken aus seiner Sophaecke erhebend und Albert bis zur Thür begleitend.

Keinen Schritt weiter, Dottore! sagte dieser, Alles hat seine Grenzen! und als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte, blieb er noch einen Augenblick stehen, legte den Daumen seiner rechten Hand an die Nase, die übrigen vier Finger schnell bewegend – eine Geste, die für Oswald weniger schmeichelhaft, als für das kindlich-harmlose Gemüth des Herrn Timm bezeichnend war.

Dreißigstes Capitel

Der drückenden Hitze, die in der letzten Zeit geherrscht hatte, folgten einige kühle regnerische Tage.

An solchen Tagen erschien Schloß Grenwitz noch öder und einsamer, als gewöhnlich. Sonst kam, wenn auch Niemand anders, doch wenigstens der Sonnenschein zum Besuch, und blieb bis zum Abend und drang in alle Räume, selbst in die verschlossenen Gesellschaftszimmer des oberen Stocks, wo er flüchtig über die Stühle und Sophas mit den kostbaren, obgleich ein wenig verblichenen Damastüberzügen weghuschte und hier und da ein Bild an der Wand begrüßte, das er schon seit hundert Jahren und darüber kannte. Sonst waren, wenn weiter auch Niemand, doch wenigstens die Spatzen lustig und guter Dinge, die in den Löchern des alten Thurmes und in den Stuckornamenten des Neubaues nisteten und schon vom frühesten Morgen sich so ungenirt über ihre Angelegenheiten unterhielten und zankten, als ob das Baronenschloß ihnen nicht mehr Achtung abnöthigte, als eine Bauernscheune. Und wem es trotz alledem zu einsam und öde im Schlosse wurde, der konnte in den Garten hinabgehen, wo die Blumen in noch viel schöneren und vor allem frischeren Farben prangten, als die Tapeten und die Stühle und die Sophas drinnen in den Prunkzimmern, wo über den bunten Blumen sich bunte Schmetterlinge wiegten, wo die Vögel jubilirten, die Bienen geschäftig summten und für den, welcher Augen hatte, zu sehen, und Ohren, zu hören, allüberall ein wundersames, still geschäftiges, an Leiden und Freuden reiches Leben herrschte.

Das war nun Alles anders an Regentagen. Da konnten sich die Bilder an der Wand ohne Furcht vor dem neugierigen Sonnenschein mit den Stühlen und Sophas alte, gemeinsam erlebte Geschichten erzählen, so viel sie wollten; da ließen selbst die Spatzen ihre ewigen Streitigkeiten für den Augenblick ruhen, oder bissen sich in aller Stille um die besten und trockensten Plätze; und in dem Garten ließen die Blumen die regenschweren Köpfchen hangen; und all' das bunte, reiche Leben schien erstorben. In den nassen Gängen und über die Beete weg spielten die Winde Haschens und zerzausten dabei mitleidslos die armen Blumen, und warfen die Bohnenstangen um und fuhren die Bäume hinauf, und schüttelten und rüttelten an den Aesten, daß die schlanken Zweige hinüber und herüber rauschten.

Dies melancholische Wetter paßte nur zu gut für Oswalds Stimmung. Seit dem Tage in Barnewitz war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, die er sich selbst kaum zu erklären wußte. Es war, als ob ihm plötzlich ein dichter Schleier über die Augen gefallen wäre, durch den hindurch ihm Alles farblos und reizlos erschien; es war, als ob ihm eine feindliche Hand Wermuth in den Kelch des Lebens gemischt hätte, aus welchem er in der letzten Zeit mit so vollen, gierigen Zügen getrunken. Selbst das Bild der schönen lieben Frau, die in dem Allerheiligsten seines Herzens thronte, schien seine Wunderkraft verloren zu haben. Wo war all' die Seligkeit geblieben, die ihn sonst bei der Erinnerung an sie und an die einzig wonnigen Stunden, die er mit ihr verlebt hatte, erfüllte? wo die ruhelose Sehnsucht nach ihrem Anblick, nach dem Ton ihrer Stimme? wo die fieberhafte Ungeduld, mit der er die Sonne in ihrem Lauf verfolgte und die Nacht herbeiwünschte, unter deren Schutz er sich die enge Treppe, die dicht neben seinem Zimmer in den Garten führte, hinabstahl, um zu ihr zu eilen, die seiner in der verschwiegenen Kapelle harrte; ihm oft schon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und der Einsamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernsten, finstern Bäumen entgegenkommen war! – Und doch wußte er, daß sie jetzt einsam um ihn trauerte, daß sie ihm längst vergeben hatte, was sein knabenhafter Trotz und seine kindische Laune an ihr gefrevelt: daß kein strafendes Wort, kein vorwurfsvoller Blick ihn empfangen würden, wenn er zu ihr zurück käme; daß sie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach! nicht an ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an sich selbst, an seiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten, wie Grabgesang tönten ihm noch immer die letzten Worte Oldenburg's: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz? und eine Stimme, die er nicht zum Schweigen bringen konnte, raunte ihm zu, wo er auch ging und stand und selbst des Nachts in seinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! – In den Linien Deiner Hand steht es ja geschrieben! Das braune Weib im Walde sah es ja auf den ersten Blick: Du kannst nicht treu sein: Du nicht! Du nicht! – Und als Du zu Melitta's Füßen sankst, und den Schwur der Liebe und Treue stammeltest, schloß sie Dir den Mund, ängstlich, hastig, als wollte sie Dir das Verbrechen des Meineids ersparen: o, schwöre nicht! Ich kann Dir Liebe schwören nun und Treue auf immerdar, aber Du nicht! Du nicht! –

Regenwetter! wie der Wind die Tropfen gegen die Fensterscheiben jagt, daß sie trüb werden wie verweinte Augen! wie schwer und tief die Wolken schleppen, die grauen Trauermäntel, als würden sie mit dem Saum die Wipfel der Pappeln drüben auf dem Schloßwalle streifen! Wer doch da draußen läge in der schwarzen nassen Erde, überhoben aller Qual des Zweifels und der Reue! Wer doch Theil haben könnte an dem ewigen Frieden der Natur! wer doch Eines sein könnte mit den Elementen! mit dem Winde über die Erde brausen, mit der Flamme zum Himmel lodern, mit dem Wasser des Stromes im Ocean verrinnen könnte!

Hat die schwermüthige Weisheit der Inder Recht? und ist das ganze Menschenleben nur ein ungeheurer Irrthum? sind wir Alle, Alle nur verlorne Söhne, die das Haus des guten alten Vaters verließen, um uns von Träbern zu nähren? Und ist es wahr, daß wir zu jeder Zeit zu ihm zurückkehren können? daß wir zurücksinken können in den Schooß der lieben Mutter Nirwana, der uranfänglichen Nacht, wenn wir es nur von ganzem Herzen wünschen? Von ganzem Herzen? Wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz zum Leben und zum Sterben? Du nicht! Du nicht! – O, wer sich selbst vertrauen könnte! Wie in eine Götterwolke gehüllt, würde er die Gefahren des Lebenskampfes unverletzt durchwandeln, und, wenn er fällt, als Held fallen, mit der Todeswunde auf der stolzen Stirn, in der muthigen Brust. So aber ringst du mit dem feigen Zweifel, dem jähen Schwindel, der uns auf steiler Felsenhöhe packt, unser Blut gerinnen macht, die Kraft unserer Sehnen löst, und uns zuletzt rettungslos in den Abgrund schleudert.

Oswald hob seufzend den Kopf von dem Fensterkreuz und lauschte. Eine helle Tenorstimme sang ein lustiges Wanderlied.

Wohl Dir, murmelte Oswald; der Du singend die Straße des Lebens einherziehst und der Gefahren des Weges spottest.

Er schwankte einen Augenblick, dann ging er, seinen munteren Stubennachbar aufzusuchen.

Albert brauchte nicht mehr Zeit, sich an einem fremden Orte einzurichten, wie ein Araber, um sein Zelt aufzuschlagen. Und von einer Einrichtung konnte eigentlich bei ihm keine Rede sein. Er überließ es jeder seiner Sachen, deren nicht viele waren, sich in seinem Zimmer einen Platz zu suchen. Wollte der eine Stiefel lieber auf dem Stuhle stehen und der andere mit dem Absatz nach oben auf der Erde liegen – er hatte nichts dagegen. Fand es der Frack, das einzige, einigermaßen respectable Kleidungsstück, dessen er sich erfreute, behaglich, in einer Ecke des kleinen, melancholisch aussehenden Koffers zu einem unförmlichen Bündel geballt, zwischen schmutziger Wäsche sein Dasein zu vergessen, – er wollte ihn in seinem Vergnügen nicht stören. Und er selbst, der glückliche Besitzer all' dieser emancipirten Herrlichkeiten, stand trotz des kühlen Wetters in Hemdsärmeln über ein großes Reißbrett gebeugt und pfiff und sang und zeichnete, und lachte Oswald wegen seiner Leichenbittermiene, wie er es nannte, aus.

Dottore, Dottore! rief er, Sie sehen aus, als ob Sie von dem Grog, den ich gestern Abend getrunken, den wildesten Katzenjammer gehabt hätten! Wahrhaftig, Sie beschämen das Wetter! Die Wolken draußen sind ja verglichen mit denen auf Ihrer Stirn in hundert bunten Farben schimmernde Seifenblasen! Haben Sie je als Junge an einem schönen hellen Sommermorgen in der Bodenluke gesessen und aus einem kleinen Stummel von Thonpfeife bunte Seifenblasen in die blaue Luft hinausgesandt, während unten zwischen den bleiernen Soldaten auf dem großen Tisch der Kinderstube ein angefangenes lateinisches Exercitium lag, für dessen fragmentarischen Zustand Sie ein paar Stunden darauf von Ihrem Lehrer die schönsten Prügel besahen: Sehen Sie, das ist das Bild des Lebens. Unser Wissen ist Stückwerk, und unsere besten Exercitien bleiben Stückwerk, die buntesten Seifenblasen zerplatzen, und die derbsten Prügel fühlt man eine Stunde nachher nicht mehr. Es ist Alles eitel, vor allem aber unser Grämen darüber, daß Alles eitel ist. Zum Kukuk! Ich habe die Welt nicht gemacht und Sie, so viel ich weiß, auch nicht. Weshalb sollten wir Beide uns also darüber den Kopf zerbrechen? Ich zerbreche mir über nichts den Kopf, über gar nichts, zum Beispiel auch nicht über diese Linie, die ich offenbar zu kurz gemessen habe, und die ich nun nach Gutdünken mit Grazie verlängern muß, bis sie diese Ecke hier trifft, – nebenbei eine höchst romantische Waldecke, wo ich eine allerliebste stumpfnäsige, rothbäckige, hochgeschürzte Bauerndirne traf, die jedenfalls diese ganze Confusion veranlaßt hat. Na, schadet nicht. Die Rechnung kann ja nicht immer rein aufgehen, wozu wären denn sonst die Brüche da, und das Grenwitz'sche Majorat bleibt darum doch, was es ist: eine ausgezeichnet schöne Erfindung, besonders für den Spatzenkopf, den Malte. Ist der Junge wirklich so dumm, wie er aussieht?

Durchaus nicht, sagte Oswald, der mit einem Stiefelknecht und einer Botanisirkapsel, aus der ein Strumpf von blauem Garn schamhaft hervorlugte, das Sopha im Zimmer theilte. Malte kann nicht blos bis fünf, sondern sehr viel weiter zählen. Er hat zu Manchem ein ganz entschiedenes Talent, besonders zum Rechnen, worin er Bruno, der sehr wenig Sinn dafür hat, weit vorausgeeilt ist.

Ja, die Vorsehung ist wunderbar weise, sagte Albert, in einem kleinen Näpfchen schwarze Tusche anreibend; wem sie die Schildkrötensuppe des Reichthums zugedacht hat, bescheert sie gleich den silbernen Löffel dazu, und wem sie den Schiffszwieback der Armuth darreichte, versieht sie freundlichst mit hohlen Backenzähnen, damit er sich nicht lange über die trockene Kost zu ärgern braucht. Ich für mein Theil habe aus Versehen vortreffliche Zähne bekommen und so mundet mir mein Zwieback ausgezeichnet, so ausgezeichnet, daß ich mich nicht einmal über die hohlköpfigen, dickbäuchigen, silberne Löffel führenden, Schildkrötensuppe essenden, verzogenen rechten Kinder der Stiefmutter Natur erbosen kann. Aber eines sollte mich doch freuen, und das wäre, wenn sich zu dem Codicil im Testamente des vortrefflichen, im Delirium verstorbenen, und jetzt in Abraham's Schooße seinen Rausch ausschlafenden Baron Harald ein Liebhaber fände.

So kennen Sie auch die traurige Geschichte? sagte Oswald.

Wer sollte die nicht kennen, erwiderte Albert, sich eine Cigarre anzündend und sich auf die Lehne eines Stuhles setzend, so daß seine Füße auf dem Sessel standen. Wird doch die Geschichte durch die testamentarisch vorgeschriebene Publication zum fürchterlichsten Aerger der hochmüthigen und ebenso geizigen wie hochmüthigen Anna-Maria alljährlich in den Zeitungen aufgewärmt, obgleich ich glaube, daß es in den letzten Jahren gar nicht einmal mehr geschehen ist.

Es wundert mich, sagte Oswald, daß ich von der Sache niemals hörte, bis ich hierher kam, und auch in den Blättern nie davon gelesen habe.

Wer bekümmert sich denn um die Publikandas, Steckbriefe und sonstigen heitern Bekanntmachungen, wenn man, wie wir, von denselben weder etwas zu fürchten, noch zu hoffen hat! Ich wüßte wahrscheinlich von dem originellen Streich, den Vetter Lüderlich Cousine Gieremund gespielt hat, auch nicht mehr, wie Sie, wenn mein Vater, den als Juristen die Sache interessirte, und der, glaube ich, irgendwie dabei betheiligt war – möglicherweise war er dem Vetter Lüderlich bei der Abfassung des Testamentes behülflich gewesen – nicht manchmal davon gesprochen hätte. Uebrigens war die Aufforderung in ziemlich vagen Ausdrücken abgefaßt und lief ungefähr darauf hinaus, daß die betreffende junge Dame, oder ein von ihr bis zum Ende, ich erinnere mich nicht mehr, welchen Jahres, geborenes Kind, gleichviel ob masculini oder feminini generis, sich bei den unterzeichneten Testamentsexecutoren – natürlich unter Beibringung der nöthigen Legitimations-Urkunden – schleunigst melden möchten, da ihnen von dem zu seinen Vätern – die jedenfalls ebenso saubere Kunden waren, wie der würdige Sohn – versammelten Baron Harald ein bedeutendes Legat vermacht sei. Worin dies Legat besteht, ist nicht gesagt. Ich aber weiß, und es wissens auch noch Viele, daß damit nichts weniger als zwei der schönsten Güter hier auf der Insel: Stantow und Bärwalde, die ich ganz genau kenne, da ich sie im vorigen Sommer vermessen habe, gemeint sind.

Es müßte allerdings eine reizende Ueberraschung für unsere liebenswürdigen Freunde sein, wenn der im Testament vorgesehene Fall einträte, sagte Oswald.

Na ob! erwiderte Albert; leider ist dazu nur noch sehr wenig Aussicht, da das Legat nur fünfundzwanzig Jahre in suspenso bleibt und dann an die Familie zurückfällt. Von den fünfundzwanzig müssen aber mindestens zwei- oder gar schon dreiundzwanzig verflossen sein, denn ich bin jetzt sechsundzwanzig und erinnere mich, daß ich mich jedesmal ärgerte, nicht das testamentarische Alter zu haben.

Warum?

Um mich wenigstens in der reizenden Ungewißheit wiegen zu können, ob ich nicht am Ende doch der Ivanhoe wäre, der, aus seinem väterlichen Erbe vertrieben, unbekannt im Lande umherirrt, trotz seiner ritterlichen Abstammung mit Schweinehirten Freundschaft schließen und von alten schmutzigen Juden borgen muß, bis er endlich das Incognito fallen lassen und die schöne Rowena als sein eheliches Gemahl heimführen kann, obgleich ich für mein Theil auf den letzten Punkt weniger Gewicht legen würde.

Haben Sie Ihrem Herrn Vater, wenn Sie sich mit ihm von der mysteriösen Angelegenheit unterhielten, auch diesen für denselben so äußerst schmeichelhaften Wunsch mitgetheilt?

Ich erinnere mich nicht; indessen, wenn ich es gethan habe, so hat der Alte meine kindliche Regung wahrscheinlich sehr natürlich gefunden, denn er war ein sehr aufgeklärter Mann. Einen Vater muß doch nun einmal jeder Mensch haben, obgleich diese so äußerst weise Einrichtung der Natur auch manchmal, zum Beispiel, wenn man einen dummen Streich ausgeführt hat, oder auszuführen gedenkt, ziemlich unbequem ist; und da sehe ich nicht ein, weshalb ich einem Vater, der mir zwei prachtvolle Güter hinterläßt, nicht einem andern, der mich in die Welt laufen läßt, wie ein Krokodil sein Junges ins Wasser, das heißt mit zwei Reihen ausgezeichneter Zähne und nichts zum Beißen dazu, nicht den Vorzug geben sollte, auch wenn der Erstere in Betreff gewisser, bei christlichen Nationen landesüblicher Gebräuche mehr orientalisch-muhamedanischen Ansichten huldigte.

Das ist Geschmackssache, sagte Oswald.

Gewiß; erwiderte Albert; obgleich ich überzeugt bin, daß von hundert Menschen, wenn ihnen die Alternative nicht blos als Problem, sondern in greifbarer Wirklichkeit gestellt würde, sich neunundneunzig, versteht sich, mit obligatem schamhaften Erröthen, zu meiner Ansicht bekennen, oder sich auch noch immer zu Ihrer Ansicht bekennen, jedenfalls aber mit beiden Händen zugreifen würden. Verspürte doch selbst der große Göthe ähnliche Gelüste, obgleich er natürlich vermöge seiner Größe noch ein paar Zweige höher nach den goldenen Aepfeln schielte, und gern eines Kaisers Sohn gewesen wäre, während ich schon mit einem Papa Baron zufrieden bin.

Der große Göthe war, als er diese Gelüste verspürte, eben noch nicht der große, sondern ein ganz kleiner Göthe, und hatte, wie andere Kinder, kindische Einfälle.

Na, ich weiß nicht, ob dem alten Geheimerath die beiden Güter nicht auch willkommen gewesen wären; denn in gewisser Hinsicht, zum Exempel darin, daß uns gebratene Aepfel besser schmecken, als Pell-Kartoffeln, bleiben wir Alle Kinder, und wenn wir Methusalems Alter erreichten. Indessen, dem sei, wie ihm wolle. Wenn Sie ein besonderes Gewicht darauf legen, Ihres Herrn Vaters Sohn zu sein, so wäre es Unrecht von mir, Ihnen dies kindliche Vergnügen zu verleiden. – Wie wär's, Dottore, wenn wir unser philosophisches Gespräch als Peripatetiker im Freien fortsetzten? Der Himmel sieht freilich noch immer aus wie ein nasser Scheuerlappen, aber es hat doch wenigstens für den Augenblick aufgehört zu regnen, und ich meinestheils will lieber in die Sündfluth hineinschwimmen, als den ganzen Tag in dieser langweiligen Arche Noah sitzen, wo man sogar gegen alle Natur- und biblische Geschichte gezwungen ist, ohne das betreffende weibliche Exemplar der Species, die man selbst repräsentirt, leben zu müssen. Sie können doch schwimmen?

O ja, sagte Oswald lächelnd.

Nun, dann setzen Sie sich eine Mütze auf und kom men Sie; die Jungen sind jetzt unten beim Vesperbrod und werden ihren Mentor wohl auf eine Stunde entbehren können.

Die beiden neuen Freunde gingen die enge Treppe, die dicht neben Oswald's Zimmer durch die gewaltige Mauer des unteren Stocks in den Garten führte, hinab. Es regnete nicht mehr, auch der Wind hatte aufgehört zu wehen, aber der ganze Himmel war mit schweren, trüben Wolken bedeckt, die mit jedem Augenblick tiefer zu sinken schienen. Aus den Kelchen der Blumen tropften die Regenperlen wie helle Thränen aus überströmenden Kinderaugen. Dann und wann ertönten leise klagende Vogellaute aus den breiten Kronen der Bäume, sonst tiefe Stille allüberall.

Eine unaussprechliche Wehmuth bemächtigte sich Oswald's Herz. Das Leben erschien ihm wie ein dumpfer, beängstigender Traum, durch den geliebte Gestalten mit verhülltem Antlitz glitten. Er gedachte Melitta's, aber wie einer Todten.

Auch Albert war still geworden in dem stillen Garten. Lassen Sie uns weiter gehen, sagte er; es ist hier wie auf einem Friedhof.

Sie gingen aus dem alten verfallenen Thore über die Zugbrücke in den Wald, den Weg nach Berkow, denselben Weg zwischen den hohen ernsten Tannen, den Oswald an dem Abend seiner Ankunft auf Schloß Grenwitz daher gefahren kam, und den er seitdem mit wie verschiedenen Empfindungen nun schon so oft zurückgelegt hatte.

Jener Abend hatte eine Kluft in sein Leben gerissen, deren Tiefe er jetzt erst inne ward. Seit jenem Abend war die weite Welt draußen hinter den stillen Wäldern für ihn versunken, und eine neue Welt war für ihn emporgeblüht, eine paradiesische Welt voll Liebe und Sonnenschein; und jetzt war es ihm, als versänke ihm auch diese Welt unter den Füßen, und die alte Welt draußen jenseits der stillen Wälder läge ihm weit, unerreichbar weit. Würde er je mit frischen, muthigen Sinnen in diese Welt zurückkehren? nicht sich stets zurücksehnen nach der blauen Blume, die ihm hier nahe wie noch nie geblüht hatte, so nahe, daß ihm der Duft bis in's Herz gedrungen war? Was war aus den stolzen Ideen geworden, denen nachzudenken sonst die Freude seines Lebens gewesen? aus den kühnen Plänen, mit denen er sich schon Jahre lang getragen? war Alles nun dahin? und dahin um eines Weibes willen, um der Liebe willen zu einer Frau, die nie die seine werden konnte?

Nein und tausendmal nein! Er mußte sich losreißen aus dieser sinnverwirrenden Zauberwelt, und sollte es ihm das Herz zerreißen! Ihm! was war an ihm gelegen! er hatte ja kein ganzes Herz mehr zu verlieren! aber sie – was sollte dann aus ihr werden?

Ich glaube, Ihre Melancholie steckt an, Dottore, sagte Albert, als sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander hergegangen waren; wie kann sich nur ein so geistreicher Mann wie Sie von den Einflüssen der Witterung, oder was Ihnen sonst in den Gliedern steckt, so gänzlich beherrschen lassen! Ihr melancholischen Genies seid doch pudelnärrische Menschen. Immer heißt es bei Euch: hie Welf! oder: hie Waiblingen! Die aurea mediocritas des Horaz ist für Euch umsonst gepredigt. Ihr wollt nicht darauf hören, weil Euch der Stolz nicht erlaubt, jemals mittelmäßig zu sein, und doch müßtet Ihr einsehen, daß wir mittelmäßigen Kinder der Natur uns zehntausendmal wohler in unserer Haut fühlen, als Ihr. Wahrhaftig, Dottore, Sie können sich porträtiren und unter die Familienbilder der Grenwitze, oben im Saale, hängen lassen; es findet Sie Keiner als einen Fremden heraus. Die haben auch Alle so verteufelt melancholische Gesichter. Mir däucht, man sieht es der Race an, daß Jeder von ihnen so oder so zum Teufel gehen mußte, wie sie es denn auch, so viel ich weiß, bis jetzt ohne Ausnahme gethan haben. Die Gesichter – ich habe sie heute nach Tische der Reihe nach durchgemustert – können alle als Titelkupfer zu grauslichen Räuber- und Rittergeschichten gestochen werden. Die Gesichter erzählen von tausend übertollen Streichen, von durchzechten Nächten, und vor allem: von vielen, vielen schönen Weibern, die sich an ihnen den Tod küßten. Denn für die Weiber, wie ich sie kenne, müssen Kerle mit solchen Fratzen unwiderstehlich sein, vor allem, wenn die Kerle, wie in diesem Falle, reiche Barone sind. Besonders ist mir der Harald, dieser Rattenfänger von Hameln, aufgefallen. Er ist nicht so schön, wie sein Vater Oskar, mit dem Sie nebenbei, wenn Sie so finster aussehen, wie eben, ohne Schmeichelei eine merkwürdige Aehnlichkeit haben – aber er scheint mir mit seinen großen, verführerischen blauen Augen, seinen so feinen und doch so wollüstigen Lippen der wahre Typus dieser hochadeligen und hochgefährlichen Race.

Sie thun mir wahrlich eine unverdiente Ehre an, wenn Sie mich so ohne weiteres mit dieser noblen Sippschaft zusammenstellen; sagte Oswald.

Nein, Scherz bei Seite, erwiderte Albert, Sie haben wirklich in Ihrer Physiognomie den verhängnißvollen Grenwitzer Zug; ich will Ihnen damit nicht etwas Angenehmes sagen, denn Andere, ich für mein Theil zum Beispiel, ziehe es bei weitem vor, denselben nicht zu haben. Ja, ich gehe noch weiter. Ich wette meine Karten der Grenwitzer Güter gegen die Güter selbst, daß Sie, im erb- und eigenthümlichen Besitz dieser Güter, dasselbe Leben führen würden, das den Grenwitzern bis auf die jetzt regierende Seitenlinie, die gänzlich aus der Art geschlagen ist, erb- und eigenthümlich war.

Sie verpflichten mich in der That durch die so überaus wohlwollende Meinung, die Sie zu meinen Fähigkeiten und Neigungen haben, zu dem lebhaftesten Dank.

Ironisiren Sie, so viel Sie wollen; ich bleibe dabei, Sie würden es gerade so machen, wie die tollen Barone, gegen die Sie eine so gründliche Antipathie zu haben vorgeben, vielleicht auch wirklich haben, etwa so wie eine Dogge, die an den Karren gespannt ist, eine Antipathie gegen die andere hat, die frei umherläuft.

Aber was, um's Himmelswillen, bringt Sie, – was berechtigt Sie zu diesen wunderlichen Hypothesen?

Meine tiefsinnigen und eben so oberflächlichen, wie tiefsinnigen Studien in der Physiognomik, erwiderte Albert. Ich war ein Adept dieser Wissenschaft von Kindesbeinen an, ja ein Märtyrer derselben, denn ich habe mir für den allzugroßen Eifer, mit dem ich ihr oblag, oft sehr derbe Prügel geholt, wenn ich in den Schulstunden, anstatt aufzupassen, die geistreichsten Carricaturen von den Spatzen-, Affen-, Schafs-und anderen Köpfen um mich her zeichnete; denn Ihnen brauche ich natürlich nicht zu sagen, daß man das Charakteristische eines Gesichts, einer Gestalt am Schnellsten faßt, wenn man sie zu carrikiren versucht. Aus Ihrem Gesicht nun, wenn ich das Charakteristische stark betone, wird das schwermüthige, und das bei aller Schwermuth so verführerisch-sinnliche Gottseibeiuns-Gesicht der Grenwitzer, – Gottseibeiuns-Gesicht, nämlich aus der armen Seele oder für die arme Seele der Mägdelein gesprochen, die sich darin vergaffen. Ich will mich hängen lassen, wenn Sie nicht noch im Leben ein rasendes Glück bei den Weibern machen, – und schon gemacht haben.

Und wenn ich Ihnen nun das Gegentheil versicherte?

So ist der Baron Harald kein Rattensänger, sondern ein Nachtwächter gewesen, und nicht an seiner allzugroßen Neigung für junge schöne Weiber und guten alten Wein, sondern von vielem Studiren gestorben; so hat die kleine Marguerite – die nebenbei ein bildhübsches und auch nicht allzusprödes Kind ist – gelogen, die mich gestern versicherte: sie hasse Sie, was doch auf deutsch so viel heißt, als: sie sei sterblich in Sie verliebt, und so hat die Fama gelogen, die Ihren Namen mit dem einer anderen und allerdings zu höheren Ansprüchen, als die kleine Marguerite berechtigten Dame in Verbindung bringt.

Was meinen Sie? fragte Oswald, welcher fühlte, daß ihm das Blut in die Schläfen schoß.

Nichts, mein Prinz, nichts! erwiderte Albert lachend; muß man denn immer etwas meinen, wenn man etwas sagt? Ich wollte nur auf den Busch klopfen, ob die Vögel vielleicht herausflögen. Denn daß an Ihrer Melancholie nicht blos das Wetter schuld ich, das zu sehen, braucht man nicht einmal, wie ich, eine Brille zu tragen und ein Physiognom trotz Lavater und Lichtenberg zu sein. Wenn unser Einer melancholisch ist, sind immer ein paar schwarze oder blaue Augen mit im Spiele. Die schwarzen Augen der kleinen Marguerite sind es aber nicht, denn ich habe selbst gesehen, mit welcher souveränen Gleichgültigkeit Sie das arme Ding behandeln, folglich sind es ein paar andere Augen; und folglich, wenn es ein paar andere Augen sind, müssen diese Augen doch irgend wem gehören; und wenn sie irgend wem gehören –

Genug, genug! sagte Oswald, trotz seiner bösen Laune über das lustige Geschwätz des wunderlichen Gesellen an seiner Seite lachend; Sie werden mir noch nächstens beweisen, daß ich der Mann im Monde bin und vor Liebe zu einer schönen Prinzessin, die auf dem Sirius wohnt, mich kopfüber in den Weltraum hineinstürze.

Warum nicht? sagte Albert; ich bin Merlin der Weise. Ich kenne alle Raupen, die ein Mensch im Kopf haben kann; ich höre einen Bären, besonders wenn ich ihn selber angebunden habe, schon von weitem brummen, und prophezeie, daß, wenn wir nicht in fünf Minuten unter Dach und Fach kommen, wir so ausgewachsen werden, wie man es nur im Interesse seiner Reinlichkeit wünschen kann.

Die Beiden befanden sich jetzt, nachdem sie aus dem Walde getreten waren, auf dem offenen Felde zwischen dem Walde und den Häuslerwohnungenn von Grenwitz. Albert's Prophezeihung schien in Erfüllung gehen zu sollen. Die trüben, schweren Dunstmassen senkten sich tiefer und tiefer, daß es trotz der nicht allzuspäten Stunde beinahe Nacht wurde; schon fielen einzelne große Tropfen.

Sauve qui peut, rief Albert. Wie wär's mit einem kleinen Dauerlauf, Dottore, bis zu jenem Häuschen?

Nur zu! sagte Oswald.

Na, das war noch gerade vor Thorschluß, sagte Albert, als sie unter dem vorspringenden Dache der Hütte angelangt waren, und schüttelte sich wie ein Pudel. Meinem Rock hätte die Wäsche freilich nichts geschadet, aber ich bin hier doch lieber. Nein, wie das regnet! wollen wir nicht in das Innere dieses Pallazzo dringen, Dottore, oder glauben Sie, daß das alte Weib, das da zum Fensterchen hervorlugt, dieselbe Hexe ist, die dieses Hexenwetter gemacht hat?

Guten Tag, Mutter Clausen! sagte Oswald, der seine alte Freundin vom Kirchgang nach Faschwitz erkannte.

Schön Dank, Junker! sagte Mutter Clausen und nickte freundlich mit dem grauen Haupte; ich habe Dich schon erwartet. Komm nur herein, und der Andere auch, wenn er Dein Freund ist.

Na, was bedeutet denn das? fragte Albert verwundert.

Folgen Sie mir nur, erwiderte Oswald; Sie sollen eine merkwürdige alte Frau kennen lernen.

Und sie traten, nicht ohne sich zu bücken, durch die niedrige Thür der Hütte.

Einunddreißigstes Capitel

Nur hier herein, sagte Mutter Clausen, Oswald bei der Hand ergreifend, und ihn von dem dunklen Flur in ein einfenstriges Stübchen ziehend, das der größeren Stube auf der andern Seite, welche Oswald mit dem Inspector Wrampe den kranken Knecht an jenem Abend getragen hatte, gegenüber lag, während sie sich um Albert nicht weiter bekümmerte, als wüßte sie, daß dieser junge Mann das Talent hatte, seinen Weg auch im Dunkeln zu finden; ich habe schon nach Dir ausgeschaut, denn ich weiß von Alters her, daß Du nur zu gern in solchem Wetter umherläufst, das heiße junge Blut ein bischen abzukühlen. Bist wohl wieder durchgeweicht, wie gewöhnlich? Nun, das geht ja heute noch. Da, setze Dich in den großen Stuhl. Es hat Niemand von Euch darauf gesessen, seitdem Baran Oscar heute vor dreiundvierzig Jahren darin gestorben ist.

Für abergläubische Gemüther keine besondere Empfehlung, sagte Albert, auf einer großen hölzernen Lade im Hintergrunde des Stübchens Platz nehmend, während die alte Frau Oswald in den Lehnstuhl drängte, und sich zu seinen Füßen auf einen niedrigen Schemel setzte; indessen Ehre, wem Ehre gebührt. Sie nehmen sich auf dem einzigen Prunkmeubel in diesem sonst äußerst prunklosen Gemach ganz famos aus, Dottore, besonders bei dieser Rembrandt'schen Beleuchtung und mit der alten Frau à la Murillo zu ihren Füßen: wie ein vertriebener König, der bei einer alten Fee im Walde Schutz sucht und findet, während sein getreuer Eckart im Hintergrunde sitzt und nickt. Ich glaube wirklich, das Laufen hat mich müde gemacht, und ich könnte ein paar Minuten schlafen. Wecken Se mich, Dottore, wenn es aufgehört hat zu regnen – und Albert streckte sich der Länge nach auf der Lade aus, legte die Hände unter den Kopf und schien trotz der, für jeden Andern wenigstens, höchst unbequemen Lage nach wenigen Minuten, während dessen nur das monotone Tik-tak der alten Schwarzwälder-Uhr in der Ecke und das Rauschen des noch immer in Strömen herabfallenden Regens die lautlose Stille in dem kleinen Gemache unterbrachen, alles Ernstes eingeschlafen zu sein.

Mutter Clausen hatte ihr Strickzeug zur Hand genommen, und stricke wieder wie neulich an einem winzigen Kinderstrümpfchen, emsig, emsig, daß die Nadeln klapperten. Nur von Zeit zu Zeit schaute sie zu Oswald empor und nickte ihm freundlich zu, als freute sie sich, daß er gar so bequem in dem alten weichen Lehnstuhl säße, hier in der trocknen Stube, während es draußen so unbarmherzig regnete.

Nicht wahr, Junker, es sitzt sich gut in dem Stuhl? sagte sie, für einen Augenblick das Strickzeug in den Schooß und die rechte Hand auf Oswalds Knie legend. Die gnädige Frau hat ihn mir geschenkt, als der Baron gestorben war. Sie konnte den Anblick nicht ertragen, sagte sie, denn sie müsse dabei stets an den Augenblick denken, wo die Leute ihn hereintrugen, als er mit dem Wodan gestürzt war, und hier in diesen Stuhl setzen; und Harald kam herbeigelaufen, und schrie, als er den Vater so bleich und entstellt sah, und sie selbst lief im Zimmer umher und rang die Hände und ich stand neben dem Baron, und wischte ihm den Todesschweiß von der Stirn. Ich hatte damals keine Zeit zum Weinen, ich wußte es wohl, daß ich hernach Zeit genug dazu haben würde.

Und wie alt war Baron Harald, als sein Vater starb? fragte Oswald.

Zehn Jahre, antwortete Mutter Clausen; und ihm wäre besser gewesen, er wäre an dem Tage gestorben, – ihm und manchem Andern.

Die Alte hatte das Strickzeug, das in ihrem Schooß müßig gelegen hatte, wieder zur Hand genommen und strickte emsiger wie zuvor, als müsse sie die verlorene Zeit einholen.

Ja, ja, sagte sie, es wäre besser gewesen. Damals war er ein bildhübscher, unschuldiger Junge mit Augen, blau wie Veilchen und rosenrothen Wangen; und als er starb –

Die Alte schwieg – die Nadeln klapperten und der Regen latschte gegen die Scheiben.

Nun, sagte Oswald, und als er starb –

Da starb ein böser Mann, und es war ein böses, böses Sterben. Ich weiß es allein, denn ich war allein mit dem Unseligen, als der Tod ihn packte mit seiner eisernen Faust. Da rangen sie Beide, der starke Harald und der starke Tod, und gräßlich genug war es anzusehen, so gräßlich, daß die Andern davon liefen – aber ich wollte ihn nicht verlassen in seiner letzten Noth, denn er war, böse wie er war, doch Oscar's Sohn und ich hatte ihn, als er ein unschuldig Kind war, auf meinen Armen getragen und auf meinen Knieen gewiegt. So hielt ich aus und betete, während er sich und Gott verfluchte, bis der Tod ihm auf's Herz schlug, daß er laut aufschrie und auf sein Kissen zurückfiel. Da war es aus mit ihm und seine arme Seele hatte Ruhe.

Und hatte der Baron keinen Freund, der ihm in seiner letzten Stunde hätte beistehen können?

Freunde genug, und es waren Männer dabei, die sich vor einem Sterbebette nicht fürchteten; aber vor Harald fürchteten sie sich; er hätte den erwürgt und zerrissen, der ihm in dieser Stunde vor die Augen getreten wäre. Ja, ich möchte, sie wären gekommen, Einer nach dem Andern; es verdiente Jeder von ihnen, daß ihm der Hals wäre umgedreht worden.

Und wer waren diese schlimmen Freunde?

Zuerst Herr von Barnewitz, nicht der auf Süllitz, der noch lebt, der Vater von dem jungen Herrn von Barnewitz – das ist ein guter Mensch, dem Keiner nichts Böses nachsagen kann, – sondern der auf Schmittow, der hernach all' sein Geld an Herrn von Berkow verspielte, und ihm dafür seine Tochter verkaufte.

Melitta! stöhnte Oswald und seine Hände griffen krampfig nach den Lehnen des Stuhls.

Was hast Du, Junker, sagte die Alte.

Nichts, nichts; murmelte Oswald, mit übernatürlicher Anstrengung das aus Abscheu, Mitleid, Haß und Rachedurst grauenhaft gemischte Gefühl niederkämpfend, das in seiner Brust aufkochte, als er der Geliebten heiliges Bild so in den Schmutz gemeiner Leidenschaften geschleift sah. – Melitta verkauft, von ihrem eigenen Vater einem Manne verkauft, den sie nicht liebte, dem sie sich nur vermählte, ihren Vater von der Schande zu retten – Oswald fühlte, daß dieser Gedanke ihn wahnsinnig machen würde, wenn er ihn bis zu Ende verfolgte; und zugleich fürchtete er, der scharfsinnige Albert, von dessen festem Schlaf er keineswegs überzeugt war, obgleich ein gelegentliches leichtes Schnarchen von der Lade her ertönte, könne seine Aufregung bemerken. So zwang er sich denn, sitzen zu bleiben und mit scheinbarer Ruhe zu fragen:

Gehörte Herr von Berkow auch zu den Freunden des Barons? war er damals nicht noch zu jung?

Er war der Jüngste, sagte Mutter Clausen, und auch der Beste. Er that, was er die Andern thun sah, ohne weiter zu überlegen, ob es Recht sei, oder Unrecht. Auch hatte er nicht die mächtige Natur der Andern. Wo er eine Flasche trank, trank Harald drei, und dabei blieb Harald bei Besinnung und Berkow lag unter dem Tisch.

War es ein hübscher Mann? fragte Oswald.

Nicht so hübsch, wie Harald und lange nicht so hübsch wie Du, Junker. Er war kleiner und schwächlicher wie Ihr, und Harald hätte es mit sechs solchen Männern zugleich aufnehmen können. Aber es war auch weit und breit Niemand so stark und so kühn, wie Harald. Er konnte das wildeste Pferd im Lauf aufhalten und zahm und folgsam machen, wie einen Hund, und in den Sattel sprang er, ohne den Bügel zu berühren. Sie erzählten sich Wunderdinge von seiner Riesenkraft, aber es war just so, wie sie sagten. Wenn er zornig war, und er war es nur zu oft, zerbrach er einen schweren eichenen Stuhl oder Tisch, als wären sie von Glas. Dann schwollen ihm die Adern auf der Stirn an, wie Aeste, und er preßte die weißen Zähne knurrend an einander, daß es gräulich anzusehen und anzuhören war; aber wenn er lachte und freundlich that, da mußte man ihn doch wieder lieb haben. Da konnte er so schön thun, und so gute Worte geben, daß kein Mensch nicht glauben konnte, wie böse er war. Denn böse war er bei alledem; was ihm gefiel, das mußte er haben, es mochte kosten, was es wollte, und wenn Alles darüber zu Grunde ging.

Waren Sie denn während dieser ganzen Zeit noch auf dem Schlosse?

Warum nennst Du mich Sie, Junker? Du hast es ja sonst nie gethan – ja wohl war ich auf dem Schlosse. Mein Mann war ja gestorben und die Jungen und die Dirnen waren gestorben und ich war ja die einzige, die nach dem Tode der gnädigen Frau Mutter noch ein bischen auf Ordnung sah. Ich war nicht gern da, das weiß der Himmel, denn im Schlosse ging es zu wie zu Sodom und Gomorrha. Alle Tage die saubern Freunde, und oft noch ein halb Dutzend dazu und dann gespielt und gezecht bis an den hellen Morgen.

Kamen denn nie Damen auf's Schloß?

Nein, selbst die frechsten und übermüthigsten fürchteten sich vor diesen wilden Männern. Und es waren die meisten von ihnen auch noch nicht verheirathet, wie Herr von Berkow; oder ihre Frauen waren gestorben, wie dem Herrn von Barnewitz seine Frau; so konnten sie denn ihr böses Leben ganz ungestört führen. Freilich, an Weibern fehlte es nie auf dem Schlosse, aber sie blieben niemals lange und es waren immer nur solche, an denen nichts zu verderben war, bis auf Eine, bis auf Eine –

Und wer war diese Eine?

Die Letzte – ein schöner, unschuldiger Engel, der auch die Teufel hätte bekehren können, aber Harald und seine Gesellen waren schlimmer als die Teufel.

Wie hieß sie? woher kam sie?

Wir nannten sie nur Fräulein Marie; woher sie kam, habe ich nie erfahren, und eben so wenig, wohin sie ging.

So hat sie sich das Leben nicht genommen, wie die Leute sagen?

Nein, denn dazu war sie zu fromm und gut; sie hätte ihr Kreuz bis Golgatha getragen. O, sie war so jung und schön und so sanft und so lieb, wie meine alten Augen nie, weder vorher noch nachher, etwas gesehen haben. Wenn ich gewußt hätte, daß sie gemeint war, als Baron Harald über dem Weine mit Herrn von Barnewitz um, ich weiß nicht, wie viel Tausend Thaler wettete: das Mädchen solle ihm freiwillig nach Grenwitz folgen und freiwillig auf dem Schlosse bleiben – ich hätte sie Alle, wie sie da saßen, mit Gift vergeben, wie schnöde Ratten.

Und wie fing es der Baron Harald an, seine Wette zu gewinnen?

Es ist eine lange Geschichte, Junker, und ich will sie Dir erzählen. Ich sage Dir, wenn alle Tropfen, die draußen fallen, Thränen wären, und alle um das arme Kind geweint würden – ich würde sagen: es sind eben nur genug.

Als Harald mit Herrn von Barnewitz die schlimme Wette machte, war er vorher zwei oder drei Wochen mit ihm zusammen verreist gewesen; ich weiß nicht wohin; ich glaube in eine große Stadt, weit von hier, und da hatten sie, denke ich, das arme Kind gesehen. Bald darauf reiste er wieder fort und diesmal blieb er zwei Monate aus. Endlich schrieb er, er komme zurück, aber nicht allein. Seine Tante Grenwitz komme mit; ich solle die Zimmer der verstorbenen gnädigen Frau auslüften und die Möbel gut ausklopfen lassen und Alles zu ihrem Empfang herrichten. Nun wußte ich wohl, daß der Baron eine Großtante hatte, die Schwester seines Großvaters; aber sie mußte nach meiner Rechnung achtzig Jahre und drüber sein; sie war zu meinen Lebzeiten nie in Grenwitz gewesen, und hatte sich nie um Harald bekümmert, so wenig, wie er sich um sie. Deshalb war ich nicht wenig erstaunt über den sonderbaren Entschluß, noch in so hohen Jahren eine so weite Reise zu unternehmen, denn sie wohnte viele, viele Meilen von hier; aber ich that, was mich der Baron geheißen hatte. Sie kamen auch an dem von ihm bestimmten Tage; ich empfing sie und wunderte mich, wie rüstig die alte Dame noch war, trotzdem sie an einem Stock ging und silbergrane Haare und Augenbrauen hatte. Harald war voller Respect gegen sie; er führte sie an seinem Arm durch alle Zimmer des Schlosses und zeigte ihr Alles ganz genau, besonders die Familienbilder im großen Saale, wo auch ihr eigenes hing, wie sie als achtzehnjähriges Mädchen gewesen war. Davor blieben sie stehen und wollten sich todtlachen, und die Alte kriegte den Husten und Harald klopfte sie derb auf den Rücken. Ich wußte nicht, weshalb sie so lachten – ich glaubte, weil aus dem schönen Mädchen ein so häßliches Weib geworden war, denn damals ahnte ich noch nichts von dem schöndlichen Spiel.

Am Morgen de nächsten Tages ließ der Baron wieder anspannen und die Tante setzte sich zu ihm in den Wagen. Wir kommen heute Abend wieder, sagte er, wenn es auch spät werden sollte. Wir bringen noch eine junge Dame mit, die Gesellschafterin bei Tante Grenwitz ist. Sie muß das Zimmer nebenan haben, hörst Du, Alte? Aber Herr, sagte ich, in der rothen Stube ist die Baronin gestorben und es liegt und steht noch Alles so darin, wie an ihrem Todestage. So laß Alles ausräumen, sagte er, hörst Du, Alles, und schaffe es in ein anderes Zimmer und setze dafür andere Möbel hinein. Die junge Dame muß in Tante Grenwitz's Nähe schlafen. Was sagst Du, lieber Harald? fragte die Tante, die auf dem einen Ohre taub war, und auf dem andern auch nicht besonders hörte, so daß sie mich durchaus nicht verstehen konnte, so laut ich auch schrie. Nichts, nichts, liebe Tante! sagte der Baron; fort Jochen!

Es war spät in der Nacht, als sie wieder kamen. Ich hatte alle Leute zu Bett gehen lassen mit Ausnahme des neuen Kammerdieners, den der Herr von seiner Reise mitgebracht hatte. Die junge Dame war mit im Wagen. Als sie auf den Flur traten und der Schein des Lichtes, das der Baptiste, so hieß der Mensch, in der Hand trug, auf das rosige Gesichtchen der jungen Dame fiel, verzog sich sein Gesicht zu einem recht widerlichen Lachen. Aber ich sah, daß Harald die Stirn runzelte, und mit den Augen winkte, da war Baptiste gleich wieder ganz Ernst und Diensteifer.

Führe die Damen auf ihre Zimmer, Alte! sagte Harald zu mir, und dann verbeugte er sich stattlich vor den Frauen und wünschte ihnen wohl zu schlafen.

Wollen Sie mir Ihren Arm geben, liebe Marie? sagte die Tante, als ich mit dem Licht vor ihnen her die Treppe hinaufging; meine alten Glieder sind doch etwas müde von der heutigen Fahrt. Wie soll ich Ihnen Ihre Güte danken, gnädige Frau! sagte das Mädchen mit einer so weichen, süßen Stimme, daß ich mich unwillkürlich umsehen mußte. Die Alte und das Mädchen standen auf dem Absatz der Treppe. Der Schein von den Kerzen auf dem Armleuchter, den ich trug, fiel hell auf die Beiden und ich werde den Anblick nie vergessen, und sollte ich noch einmal achtzig Jahre verleben. So widerlich häßlich war mir die Tante noch nie erschienen, und so etwas Holdes und Schönes, wie die junge Dame, hatte ich im Leben noch nicht gesehen. Sie wissen es am Besten, liebes Kind, sagte die Alte, und dabei zog sie eine Fratze, die sie wo möglich noch häßlicher machte. Ich habe nur noch einen Wunsch auf Erden; es steht bei Ihnen, ob mir dieser Wunsch erfüllt werden soll, oder nicht. Das Mädchen antwortete nicht, aber die hellen Thränen traten ihr in die Augen, und dann beugte sie die schlanke hohe Gestalt nieder und küßte der alten Hexe die Hand. Nun, nun, sagte die, Sie sind ein gutes Kind, wir werden uns schon verstehen, und mein Harald, mein Augapfel, wird noch glücklich werden. Lassen Sie sich den Leuchter geben, liebe Marie; ich kenne das Schloß meiner Ahnen noch recht gut, obgleich ich es nun seit sechzig Jahren nicht gesehen habe. Gehe Sie zu Bett, liebe Clausen; ich bemühe die Leute nicht gern unnöthiger Weise.

Und das mußte man der Tante lassen; wir bekamen nur sehr selten ihre Klingel hören. Sie zog sich selbst an und aus; freilich brauchte sie mehrere Stunden dazu, aber Keiner von uns durfte ihr die geringste Hülfe leisten; ja, seitdem eins der Mädchen einmal, während sie sich anzog, in ihre Stube gekommen war, schloß sie stets hinter sich ab. Sie hatte sonderbare Gewohnheiten, die alte Frau. So konnte sie des Abends nicht müde werden, und ich sah sie manchmal noch bis zum hellen Morgen in ihrem Zimmer umherwandern, dafür schlief sie aber bis in den Nachmittag hinein. Bei Tische hatte sie nie Appetit, aber auf ihrem Zimmer konnte sie desto mehr essen und trinken, manchmal zwei, drei Flaschen alten Wein an einem Tage. Aber was das Merkwürdigste war, sie schien heute fünfzig und morgen achtzig Jahre alt zu sein; sie konnte in dieser Minute das leiseste Wort hören und in der nächsten war sie stocktaub; sie schleppte sich das eine Mal nur so an ihrem Stocke fort und das andere Mal kam sie die Treppen schneller hinab, als ich, obgleich ich damals erst sechzig Jahre und noch vollkommen rüstig war. Mir war es ganz unheimlich bei der alten Frau, und ich war froh, wenn ich ihr möglichst weit aus dem Wege gehen konnte.

Und wie lebte Fräulein Marie unterdessen?

Sie war fast immer in Harald's Gesellschaft. Ich sah sie des Morgens zusammen zwischen den thaufrischen Beeten des Gartens unherschweifen, Arm in Arm, sie, die Augen verschämt niederschlagend, und Harald, eifrig und leise zu ihr sprechend. Ich sah sie des Nachmittags in den kühlen Zimmern, die nach dem Park hinausliegen, sitzen, sie, mit einer Arbeit beschäftigt, die aber oft müßig in ihrem Schooß lag; ihn, aus einem Buche vorlesend, noch öfter aber den Arm auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, während sie selig lächelnd zu ihm emporschaute, sie mit glühenden Blicken verschlingend und ihr von Zeit zu Zeit das seidenweiche braune Haar aus der schönen Stirn streichend. Ich sah sie des Abends wieder draußen herumschweifen, oder in den hellerleuchteten Zimmern, Arm in Arm, langsam auf- und abwandeln, während Tante Grenwitz auf dem Sopha saß und las, oder doch that, als ob sie läse. – Ach! es war eine köstliche Zeit für das arme Kind; und sie sah stets so glücklich und selig aus, daß es einem angst und bange wurde, wie das enden solle; und wenn sie mich traf, hatte sie stets ein freundliches Wort für mich: Wie geht's, liebe Frau Clausen? oder: kann ich Ihnen nicht helfen, liebe Frau Clausen? Sie lassen es sich gar so sauer werden. Ich schäme mich, daß ich hier so müßig gehe.

Eines Nachmittags begegnete sie mir im Garten. Es war ein sonniger heißer Tag; sie hatte ein weißes Kleid an und ein Strohhut mit breitem Rande hing an ihrem schönen runden Arm. Der Baron war ausgeritten, seit langer Zeit zum ersten Male, die Tante war noch nicht aufgestanden. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, wenn es die Gelegenheit erlaubte, ein Wort mit dem Mädchen zu sprechen und ihr die Augen zu öffnen. So faßte ich mir denn ein Herz, als sie mit einem: Guten Tag, Mutter Clausen, wie geht's? an mir vorüber wollte, und sagte: Schön Dank, Fräulein Marie; haben Sie einen Augenblick Zeit? ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen sprechen! – Recht gern; sagte sie, und als sie in mein Gesicht sah, das wohl recht ernst und traurig sein mochte, rief sie: Um Gotteswillen, es ist doch kein Unglück passiert? – Nein, Fräulein Marie, sagte ich, aber es könnte leicht eins passiren, wenn Sie sich nicht besser vorsehen; und das sollte mir herzlich leid thun, denn Sie sind so jung und sehen so gut und rein und unschuldig aus. – Was meinen Sie? sagte das arme Kind und wurde dunkelroth. – Kommen Sie hierher, Fräulein Marie, sagte ich und zog sie in einen Buchengang, wo wir vom Schlosse aus nicht gesehen werden konnten, ich will Ihnen Alles sagen, was ich auf dem Herzen habe. Ich bin eine alte Frau und Sie sind ein junges Ding, das viel weiß, wie's in der Welt aussieht, und wie es hier in Grenwitz zugeht. Und nun schilderte ich ihr das Leben auf dem Schlosse, wie es bis zu ihrer Ankunft gewesen war, und welch' ein wilder, wüster Mensch Harald sei, und daß er falsch und grausam sei, wie ein Tiger. Sie hörte mir mit glühenden Wangen und die langen dunkeln Wimpern nicht von den schönen blauen Augen aufschlagend, ohne mich nur einmal zu unterbrechen, ruhig zu, dann sagte sie leise: ich danke Ihnen, liebe Frau Clausen – aber was Sie mir da sagen, das weiß ich Alles schon. – Ich war wie vom Donner gerührt. Sie wissen das, rief ich, und haben gnädigen Tante hierher folgen können? Sie wissen das und sind noch hier? Sie wissen das, und fürchten sich nicht, mit dem Baron stundenland, halbe Tage lang allein zu sein? O, Kind, Kind, was soll ich von Ihnen denken! – Denken Sie nichts Schlechtes von mir, gute Frau, sagte sie, mir die Hand auf die Schulter legend. Und denken Sie auch nicht so schlecht vom Baron. Er wird nie wieder so wild und bös sein, wie er vormals gewesen ist. – Woher wissen Sie das, Fräulein? sagte ich. – Weil er es mir versprochen hat. – Und glauben Sie, daß er dies Versprechen hält? – O, gewiß. – Warum? – Weil er mich liebt. – O, Kind, Kind, rief ich, um Gotteswillen, es ist die höchste Zeit: fliehen Sie, oder Sie sind rettungslos verloren. Unglückliche, die Sie seinen Schwüren glauben! Er schießt das Pferd todt, das ihm nicht länger gefällt und er bricht den Schwur, der ihm lästig wird. Was er Ihnen geschworen hat, ist ein altes Lied; er pfeift es, wie ein Staar sein Stückchen pfeift, ohne etwas dabei zu denken. Was er Ihnen schwur, hat er schon hundert Andern geschworen, von denen freilich die Meisten nicht viel besser waren, als er selbst, und sich einen Treubruch schon gefallen ließen, wenn er nur gut bezahlt wurde. – Hören Sie auf, rief Fräulein Marie heftig; ich kann und darf Sie nicht länger anhören. Und dann setzte sie lächelnd hinzu: Sie werden bald einsehen, gute Frau, wie bitter Unrecht Sie meinem Harald – wie sehr Sie dem Baron Unrecht gethan haben. – Ihrem Harald? sagte ich, armes Kind, er wird nie Ihr Harald. Der nimmt, was ihm der Zufall in den Weg führt, und weil Sie nun einmal zufällig hier sind – Und wenn ich nicht zufällig hier wäre? sagte sie, schelmisch lachend; wenn ich nun nicht der alten Baronin, sondern die alte Baronin meinethalben hier wäre? und wenn ich nun gar nicht wieder fort ginge und gar hier bliebe. – In diesem Augenblick kam Harald plötzlich in den Baumgang, in welchem wir redend auf- und ab gingen. Er stutzte, als er mich mit dem Mädchen allein sah. – Fräulein Marie, sagte er, ich glaube, die Tante wünscht Sie zu sprechen. Und als das Mädchen fort war, trat er an mich heran und sagte leise durch die weißen Zähne: Was hast Du ihr gesagt, Alte? – Daß Du sie an der Nase führst, Harald, antwortete ich. – Ich werde Dir dafür den Hals umdrehen, sagte er und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll. – Immer noch besser, als wenn Du dem armen Dinge das Herz brichst, sagte ich. – Höre, Alte, sagte er, und wenn ich es nun diesmal wirklich ehrlich meinte; wenn ich das wüste Leben, bei dem man ja doch früher oder später zum Teufel gehen muß, herzlich satt hätte; wenn ich nun das Mädchen heirathete, wie dann? – Ist sie von Adel? sagte ich. – Harald lachte: Eines Schneiders Tochter ist sie. Ich werde die Scheere und das Bügeleisen in unser Wappen zeichnen lassen müssen. – Wenn sie nicht von Adel ist, sagte ich, wirst Du sie nie heirathen, und es wäre auch nur eine Grausamkeit mehr. Das arme Geschöpf würde unter Deinem Spott und dem Hohn Deiner Freunde verbluten, wie ein gehetzter Hirsch unter den Zähnen der Hunde. Schicke das Mädchen fort; ich beschwöre Dich, Harald, heute lieber, als morgen. Und die alte Baronin auch; setzte ich hinzu. – Er sah mich groß an und dann lachte er und sagte: Du bist doch dümmer, als ich gedacht habe, Alte. – Damit wandte er mir den Rücken und ging trällernd in das Schloß.

Ich wußte nicht, was ich von dem Allen denken sollte. Hatte Harald dem Mädchen die Ehre versprochen, glaubte sie alles Ernstes, daß er – von dem sie sagte, daß sie sein früheres Leben kenne – dies Versprechen halten würde? Sie schaute so klug und verständig aus ihren großen blauen Augen, wie konnte sie sich ein solches Märchen aufbinden lassen? Wie hatte es Harald angefangen, ihre Klugheit so ganz zu umnebeln? Was meinte das Mädchen damit, daß die Tante ihrethalben hier sei? Mir ging das Tag und Nacht im Kopf herum, daß ich fast darüber wurde. Ich hätte das arme, unschuldige Lamm so gern gerettet, und dem Harald diese Sünde erspart – hatte er doch schon genug auf dem Gewissen! Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräulein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des heißen Wetters den Kopf stets dicht in Tücher eingewickelt. Harald hatte schon seit Tagen kein Wort mehr mit mir gesprochen. Er schien wirklich ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Er war, so lange Fräulein Marie auf dem Schlosse war, nicht ein einziges Mal betrunken gewesen; hatte keinen der Leute geprügelt; kein Pferd zu Schanden geritten, während doch sonst kein Tag hinging, wo er nicht diesen oder jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er sonst bei der geringsten Veranlassung tobte und fluchte und sich wie ein Rasender gebehrdete, so war er jetzt gegen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich, weil er wußte, daß er sich vor mir nicht verstecken konnte, die ihn von Kindesbeinen an kannte – und gegen den neuen Kammerdiener. Das war ein widerwärtiger Mensch, der beständig lächelte, und immer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu thun, als mit den Händen in den Taschen umherzuschlendern und Grimassen zu schneiden. Für den Baron that er gar nichts, im Gegentheil, seitdem Harald ihm einmal einen Fußtritt gegeben, daß er noch vierzehn Tage nachher hinkte, ging er ihm überall aus dem Wege. Kein Mensch konnte begreifen, weshalb ihn der Baron nicht wieder fortjagte. – Während dieser ganzen Zeit war keiner von den Herren, die sonst bei uns aus- und eingingen, zum Besuch auf dem Schlosse gewesen. Ich hatte immer gehofft, es sollten welche kommen, damit ich Gelegenheit bekäme, mit Fräulein Marie zu sprechen, der Harald jetzt gar nicht mehr von der Seite ging. Wenn sie vorher schön mit einander gethan hatten, so war das jetzt noch viel schlimmer geworden. So wie sie sich unbeobachtet glaubten, lagen sie einander in den Armen, und das war ein Herzen und ein Küssen! – Du lieber Himmel, das ist unter Liebesleuten so der Brauch, und ich hatte es nicht besser gemacht, als ich ein so junges Ding war, und ich wußte am besten, wie die Grenwitzer Barone einem armen hübschen Mädchen schön thun und schmeicheln können; aber ich wußte auch, daß man jeden ihrer Küsse mit tausend Thränen bezahlen muß. – Und eines schönen Morgens, als ich Fräulein Marie wieder einmal begegnete, und fragte: wie geht's Fräulein Marie? gut geschlafen? da wurde sie purpurroth und konnte vor Verlegenheit kein Wort hervorbringen und stand da, und zitterte, wie ein Espenblatt. Und als ich das sah, wußte ich auch, was geschehen war, und da wurde mir das Herz so centnerschwer, daß ich mich auf eine Bank setzte und weinte. Als das Fräulein Marie sah, fing sie auch an zu weinen und setzte sich zu mir, schlang ihren Arm um meinen Hals und sagte schluchzend: Weinen Sie nicht, gute Mutter Clausen! Es wird noch Alles gut werden! – Das gebe Gott, Kind, sagte ich; aber ich glaube es nicht. – Aber, sagte sie, Sie sehen ja selbst, wie gut und freundlich der Baron jetzt ist, und er ist doch nur so, weil er mich liebt, und wenn er mich nicht heirathen wollte warum hätte er dann die Tante mitgebracht? und wenn die Tante nichts dagegen hat, die so stolz und hoffärtig ist, wie Harald sagt, da können ja die andern Verwandten doch auch nicht nein sagen! – So sind Sie nicht Gesellschafterin bei der alten Baronin? fragte ich verwundert. – Nein, sagte sie, ich habe sie hier zum ersten Mal gesehen. – Aber um's Himmelswillen, Kind, rief ich, wie kommen Sie denn hierher, wenn Sie nicht der Baronin gekommen sind? – Die Kleine weinte noch stärker, als zuvor. Ich darf es Ihnen nicht sagen, rief sie, ich habe dem Baron versprochen, gegen Jedermann zu schweigen, bis wir uns öffentlich – sie schwieg, als hätte sie schon zuviel gesagt. Ich darf nicht sprechen, wiederholte sie; aber glauben Sie mir, ich bin kein so schlechtes Mädchen, wie Sie denken. – Damit küßte sie mich auf die Stirn und eilte von mir fort ins Schloß.

Seit diesem Tage sah ich Fräulein Marie oft mit verweinten Augen; und wohl mochte sie Ursache zum Weinen haben, das arme Kind. Harald that, was ich schon längst gefürchtet hatte: er fing sein altes Leben wieder an; freilich nur allmälig. Die Freunde kamen noch immer nicht aufs Schloß aber er selbst ritt aus, und blieb halbe und manchmal ganze Tage lang fort. Wenn er wieder kam, war er oft in seiner bösen Weinlaune, in welcher er die Diener mit Fußtritten und Stockschlägen tractirte, und die armen unschuldigen Möbel zerschlug. Doch war es noch immer golden, im Vergleich mit sonst, und er war auch noch immer zärtlich gegen Fräulein Marie, besonders wenn er sah, daß seine wüthende Heftigkeit sie bis zum Tode erschreckt hatte. Mit der Tante verkehrte er beinahe gar nicht mehr, seitdem sie sich des Abends, wenn Fräulein Marie zu Bett gegangen war, ein paar Mal im Salon gezankt hatten, daß wir es draußen hörten. Ich glaubte, die Alte setzte ihm den Kopf zurecht und da schickte ich ihr gern so viel Braten und Wein auf ihr Zimmer, wie sie haben wollte, obgleich es unglaublich war, was sie verzehren konnte.

Da geschah es, daß, als ich einmal in der Nacht, nachdem Alle zu Bett waren, die Runde durchs Haus machte, wie ich es immer that, um zu sehen, ob die Lichter überall ausgelöscht waren, mir auf einmal auf dem Corridor, der von dem Thurm aus in das alte Schloß führt, wo die Damen logirten, ein heller Schein entgegenleuchtete. In dem ersten Schrecken und ohne noch zu wissen, ob die Gefahr groß oder klein war, schrie ich Feuer! Feuer! so laut ich konnte. Zugleich lief ich den Corridor entlang nach der Stelle zu, wo es brannte. Auf einmal war Harald an meiner Seite. Ich wußte nur zu gut, aus welcher Thür er gekommen war, obgleich ich ihn nicht hatte kommen sehen. – Still, Alte, rief er, Du siehst ja, es brennt nur die Gardine vor dem Fenster. Und damit fing er an, die brennenden Fetzen herabzureißen und mit den Füßen auszutreten. Plötzlich öffnete sich die Thür, die zu dem Zimmer der Baronin führte, und die dem brennenden Fenster gerade gegenüber lag, und heraus stürzte die alte Hexe mit einem großen Bündel unter dem Arm, und der Kammerdiener mit einem noch größeren Bündel auf der Schulter, kam hinterher. Sie hätten uns beinahe umgerannt, aber Harald packte den Kammerdiener und schleuderte ihn so gewaltig zurück, daß der Mensch sammt seinem Packet zu Boden stürzte. Steckt Ihr wieder einmal bei einander, Lumpenpack? herrschte er die Alte an, die, als sie den Baron so wüthend sah, am ganzen Leibe zitternd stehen geblieben war; scheert Euch in die Stube zurück, oder ich will Euch auf den Marsch bringen. Auf einmal fing er laut zu lachen an, denn er sah, und ich bemerkte es auch erst jetzt, daß die Alte in der Eile vergessen hatte, sich die Perrücke aufzusetzen, und ihr eigenes rothes Haar in nicht allzu kurzen Zöpfen aus der schmutzigen Haube herabhing. Den Stock hatte sie natürlich auch stehen lassen, und sah überhaupt so verändert aus, daß ich meinen Augen kaum traute. – Scheer' Dich zum Teufel, alte Hexe, rief Harald, noch immer aus vollem Halse lachend, und laß Dich erst wieder anstreichen, sonst sieht man doch gar zu deutlich, woher Du stammst. – Die Alte murmelte etwas, das ich nicht verstand, und ging in das Zimmer zurück; der Kammerdiener hatte sich unterdessen wieder aufgerafft und war die kleine Treppe, die von dem Corridor in den Garten führte, hinab, davongeschlichen. – Geh zu Bett, Alte, sagte der Baron zu mir, und denke, Du hast dies Alles geträumt, oder denke auch, was Du willst, mir gilt es gleich. Die Komödie kann ja doch ewig dauern.

Und die Komödie war denn nun auch vorbei. Am nächsten Morgen waren die Alte und der Kammerdiener verschwunden und Niemand von uns hat je wieder etwas von ihnen gesehen oder gehört; Keiner jemals erfahren, woher sie kamen. Nur das eine war sicher, daß die Alte so wenig des Barons Tante gewesen war, wie ich seine Mutter. Die Leute lachten, und der Baron lachte, trotzdem die Beiden an Silberzeug und Kostbarkeiten mitgenommen hatten, was sie forttragen konnten, aber ich lachte nicht, und da war noch eine Andere, die auch nicht lachte. Das arme herzige Kind! se wollte es zuerst gar nicht glauben, daß der Baron sie so schändlich habe betrügen können. Sie ging mit weiten, starren, thränenlosen Augen umher, und wenn sie mir begegnete, sah sie mich an, so angstvoll, so kummervoll, daß es mir in's Herz schnitt. Ach, ich konnte ihr ja nicht helfen; ich konnte nur mit ihr weinen und das that ich denn redlich, als das arme Kind sich von ihrem ersten Entsetzen erholt und wieder Thränen gefunden hatte. Wir waren jetzt oft beisammen, denn seit jener Nacht kümmerte sich Harald nicht mehr viel um Fräulein Marie. Er ritt alle Tage aus, und nun kamen auch die Herren wieder auf's Schloß, wie sonst, und das alte Leben fing wieder an. Ob Harald seine Gewissensbisse zum Schweigen bringen, ob er die verlorene Zeit nachholen wollte, er war jetzt wilder und unbändiger, als ich ihn je gesehen hatte, und die Leute gingen ihm aus dem Wege, wo sie konnten.

Eines Abends, als die Herren wieder einmal zu Besuch auf dem Schlosse waren, – es war gegen sieben und sie hatten seit drei Uhr bei Tische gesessen – Fräulein Marie war bei mir auf dem Zimmer, wo sie jetzt die meiste Zeit zubrachte – kam Harald plötzlich zur Thür herein. Ich sah auf den ersten Blick, daß er betrunken war. Sein Gesicht glühte und seine Augen funkelten, wie die einer wilden Katze. Als er Marie erblickte, die im Fenster gesessen hatte und bei seinem Eintritt voller Schrecken aufgesprungen war, lachte er und sagte: Treffe ich Dich hier? ich habe das ganze Schloß nach Dir durchsucht. Komm, Schatz, ich will Dich den Herren vorstellen; einen davon kennst Du schon – Du mußt aber hübsch artig und freundlich sein, hörst Du?

Marie war bei diesen Worten bleich wie der Tod geworden und zitterte an allen Gliedern; ich sah, wie sie die Lippen bewegte, um etwas zu erwidern, aber sie brachte keinen Laut hervor. Ich konnte es nicht länger mit ansehen.

Schämst Du Dich nicht, Harald, sagte ich, das arme, unschuldige Lamm so zu quälen. Pfui, Harald, – daß Du schlecht warst, habe ich immer gewußt, aber für so schlecht hätte ich Dich nicht gehalten! – Er sprang mit einem Satze auf mich zu und packte mich mit seinen Eisenhänden an der Kehle. – Sprich noch ein Wort, knirschte er zwischen den Zähnen, und ich breche Dir das Genick, verdammte Hexe! – Ich wußte, daß er seine Drohung ausführen könnte, aber ich fürchtete mich nicht vor dem Tode. – Thu', was Du willst, sagte ich ruhig, aber so lange ich noch einen Athemzug habe, will ich es Dir in's Gesicht sagen, Du bist ein Elender. – Ich sah ihm fest in's Auge; ich sah, wie der Zorn immer wüthender in ihm aufkochte, und fühlte, daß seine Finger sich wie eiserne Klammern um meine Kehle schlossen. Ich glaubte meine letzte Stunde gekommen. – Da stand Marie plötzlich neben uns; sie legte ihre Hand auf Harald's Arm und sagte ganz leise; laß sie los, Harald; ich will mit Dir gehen. – Weiter sagte sie nichts, aber es war genug, selbst ein so wildes Herz wie Harald's zu rühren. Er ließ die Arme sinken und starrte Marie an, als ob er aus einem schweren Traum erwachte. Plötzlich fiel er vor ihr auf die Kniee, verbarg sein glühendes Gesicht in den Falten ihres Kleides und schluchzte: Vergieb mir, Marie; vergieb mir! Dann sprang er auf, und als er sah, daß sie durch Thränen ihn anlächelte, hob er sie in seinen Armen empor, wie ein Kind, trug sie in der Stube auf und ab und herzte und küßte sie. Endlich setzte er sie hier in den Lehnstuhl, auf dem Du jetzt sitzt, und kniete vor ihr nieder, ihre Hände und ihre Kleider küssend, und wandte sich zu mir und rief: Geh', Alte, und sage dem Karl: er solle die Pferde satteln lassen. Ich sei krank geworden, oder was sie wollen, aber ich könnte sie heute nicht mehr sehen und morgen auch nicht. Ist es so gut, lieb' Herz? nicht wahr, ich bin nicht so schlecht, wie die Alte sagt? – Ich ging vor Freude laut weinend, aus der Stube und dachte: es kann doch vielleicht noch Alles gut werden.

Aber das wurde es nicht. Schon nach wenigen Tagen war Alles wieder beim Alten. Aehnliche Scenen kamen noch manchmal vor, aber Harald's gute Vorsätze hielten immer nur wenige Tage Stand, und wir mußten jede Spottrede der Herren mit bitteren Thränen bezahlen. Ich sage: wir, denn ich hatte die süße Dirne so lieb, also ob sie mein eigen Kind gewesen wäre. Und jetzt hatte die Aermste Trost und Liebe nöthiger als je. Sie wußte schon seit Monaten, daß sie die Frucht ihrer Liebe zu Harald unter dem Herzen trüge, und das Schicksal dieses Kindes, ihres und seines Kindes, bekümmerte sie tausendmal mehr als ihr eigenes. – Was aus mir werden soll, sagte sie, was ist mir daran gelegen? Ich stürbe lieber heute als morgen: aber meines Kindes halber muß ich leben und will ich leben. Und ich will auch nicht mehr weinen und klagen: es hilft ja doch zu nichts, und Harald sagt ja, daß ihm nichts so verhaßt sei, als verweinte Augen. – Ich fragte sie, ob sie keine Eltern, keine Verwandte, keine Freunde hätte, zu denen sie ihre Zuflucht nehmen könnte. – Sie schüttelte traurig den Kopf; ich habe Niemand auf der weiten Welt, Niemand, als Sie, liebe Mutter Clausen, und noch Einen, der Alles für mich thun würde, wenn er wüßte, wo ich wäre; aber er weiß es nicht und soll es auch nie erfahren. – Ueber ihr früheres Leben sprach sie nie; ich habe dem Baron versprochen, darüber zu schweigen, bis er sich öffentlich mit mir verlobe; und, setzte sie wehmüthig lächelnd hinzu, da sehen Sie selbst, daß ich wohl ewig werde schweigen müssen.

Sie kam fast nicht mehr von meiner Seite, und was Harald betrifft, so schien er in der letzten Zeit ganz vergessen zu haben, daß Marie noch auf dem Schlosse war. Nur manchmal, wenn ich mit ihm allein war, erkundigte er sich in kurzen, abgerissenen Fragen nach ihr, aus denen ich sah, daß er über ihren Zustand vollkommen unterrichtet war.

So standen die Sachen. Der Sommer war zu Ende; der Herbst kam mit Sturm und Regen, und die dürren Blätter wehten von den Bäumen. Es war an einem Nachmittage, Harald war ein paar Tage verreist gewesen; ich war mit Marie im Garten und suchte ihr Trost zuzusprechen, da sie heute ganz besonders traurig war. Da schaute plötzlich ein Schacher-Jude über das Stacket und schrie, als er uns erblickte, in den Garten hinein: nichts zu handeln? nichts zu handeln? Ich rief ihn. Er kam. Es war ein alter, schmutziger, schlottriger Mensch, mit einem weißen Bart und einer Brille von blauen Gläsern über den Augen. Er kramte seine Waaren aus, und weil die Sachen hübscher waren, wie sie diese Leute sonst wohl führen, so kauften Marie und ich ihm Verschiedenes ab. Er forderte einen mäßigen Preis, aber es war doch mehr, als wir bei uns hatten, und so ging ich in's Schloß, das Uebrige zu holen. Zufällig konnte ich den Schlüssel zu meiner Commode nicht gleich finden, und als ich ihn gefunden hatte, fiel mir ein, daß ich in der Küche nothwendig etwas besorgen mußte; so verging wohl eine halbe Stunde, bis ich wieder in den Garten kam. Ich traf Marie allein. Wo ist der Jude? sagte ich. – Er will morgen wieder kommen, antwortete sie. – Was haben Sie, Kind? sagte ich, denn ich sah, daß sie rothgeweinte Augen hatte und ganz verstört aussah. – Da fiel sie mir um den Hals und weinte, aber so sehr ich sie auch bat, mir zu sagen, was vorgefallen sei, ich konnte nichts aus ihr herausbringen.

Der Jude kam am nächsten Tage nicht, aber Baron Harald kam. Er brachte ein paar Herren mit. Sie waren auf der Jagd gewesen und tüchtig müde geworden. So gingen sie heute früher zu Bett, nachdem sie ein paar Flaschen Wein getrunken hatten.

Ich mochte wohl schon ein paar Stunden im Bett gelegen haben, ohne einschlafen zu können, denn es regnete und stürmte in dieser Nacht gar heftig und die Laden klappten und die Jagdhunde heulten. – Da hörte ich einen leisen Schritt auf dem Gange vor meiner Stube, eine Hand suchte nach dem Drücker der Thür und als ich mich erschreckt im Bett emporrichtete, ging die Thür auf; es trat Jemand herein und kam auf mein Bett zu. – Wer ist da? rief ich. – Ich bin's, Mutter Clausen, sagte eine leise Stimme. Es war Marie. – Sind Sie krank geworden, Kind? sagte ich. – Nein, sagte sie, sich zu mir auf's Bett setzend, ich wollte nur Abschied nehmen, und Ihnen für all' die Liebe und Güte danken, die Sie an mir gethan haben. – Ich glaubte, sie wollte sich das Leben nehmen, und sagte voller Entsetzen: Um Gotteswillen, Kind, was hast Du vor? – Fürchten Sie nichts, Mutter Clausen, sagte sie, und dabei umarmte und küßte sie mich unter vielen heißen Thränen; ich will fort, aber nur fort von hier. Ich habe es schon längst gewollt und jetzt ist die Stunde gekommen. – Warum jetzt? sagte ich; wo willst Du hin mitten in der Nacht? und noch dazu in solcher Nacht! Hörst Du nicht, wie Wind und Regen mit den Hunden um die Wette heulen? Und Du kennst weder Weg noch Steg – Du rennst ja gerade in's Verderben, und wenn Du nicht an Dich denkst, so denke wenigstens an das Kind, das Du unter dem Herzen trägst. – An das eben denke ich, sagte sie. Es soll nicht hier, wo seine Mutter so grenzenlos elend gewesen ist, das Licht erblicken. Es soll nie erfahren, wer sein Vater war. Leben Sie wohl, liebe Mutter! möge der allgütige Gott Sie behüten! und fürchten Sie nichts für mich! Ich gehe nicht allein; es ist Jemand bei mir, der mich beschützen und über mich wachen wird, und der sein Leben für mich lassen würde – Weißt Du das auch gewiß, Kind? sagte ich; ich dächte, Du hättest jetzt gelernt, was den Männern ihre Schwüre werth sind. Wer ist es? – Ich darf es nicht sagen, antwortete sie; und jetzt muß ich fort, es ist die höchste Zeit. – Sie hatte sich von dem Bett erhoben. Warte, sagte ich, ich will Dir wenigstens das Geleit aus dem Schlosse geben.

Sie bat mich inständig, zu bleiben; aber ich kehrte mich nicht daran. Schnell hatte ich ein paar Kleider übergeworfen; ich war fest entschlossen, sie nicht eher fort zu lassen, bis ich mich überzeugt hatte, daß sie wußte, was sie that. Ich fürchtete noch immer, sie wolle sich das Leben nehmen.

Als sie sah, daß ich von meinem Vorsatz nicht abzubringen war, half sie mir, mich vollends ankleiden und sagte: So kommen Sie, Mutter Clausen; er sieht dann doch, daß ich auch hier nicht ganz verlassen gewesen.

Wir gingen, uns an den Händen haltend, auf den Zehen durch die Corridore, dann die Treppe hinab, die aus dem alten Schlosse in den Garten führt. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Mond schien auf Augenblicke durch die schwarzen, treibenden Wolken. Ich hatte noch immer Mariens Hand in der meinigen; sie eilte, mich mit sich ziehend, durch die wohlbekannten Wege. Als wir vor einer Bank vorüberkamen in einem der dichteren Baumgänge, wo ich sie oft mit Harald hatte sitzen sehen, blieb sie einen Augenblick stehen, und ich fühlte, wie ihre Hand zuckte. Aber sogleich raffte sie sich wieder auf: Nein, nein, murmelte sie, er hat Recht; Harald hat mich nie geliebt und darum darf ich auch nicht länger bleiben.

Wir gingen aus dem Garten in den Hof, aus dem Hof durch das große Thor in den Wald hinein, die Straße nach Berkow. Als wir ein paar hundert Schritte gegangen waren, kam uns ein Mann entgegen. Er ist es; sagte Marie; Sie müssen mich jetzt verlassen, Mutter Clausen; ich habe ihm versprochen, allein zu kommen, und keinem zu sagen, daß ich fortgehe. Du hättest das nicht versprechen sollen, Kind, sagte ich; ich glaube, ich habe das Recht, zu wissen, wo Du bleibst. –

Unterdessen war der Mann herangekommen. Bist Du's, Marie? sagte er; warum kommst Du nicht allein? – Weil ich sie nicht losgelassen habe; sagte ich, und sie auch nicht loslassen will, bis ich weiß, wo sie bleibt. – In Gottes Hut, und unter dem Schutz eines Freundes; sagte der Mann. Das klang so treu und gut, daß all' meine Angst und Sorge in einem Augenblick verschwunden war.

Der Mond trat aus den Wolken hervor, und ich konnte den Mann, der jetzt neben uns herging, etwas deutlicher sehen. Er war klein und nicht mehr jung; und hatte eine Brille auf der Habichtsnase, wie der Jude von gestern Morgen. Er hatte einen langen Ueberrock an, und als der Wind denselben auseinander wehte, sah ich beim Schein des Mondes den Lauf einer Pistole blinken, die in einem Gürtel steckte, den er um den Leib geschnallt trug.

Einige Schritte weiter hielt eine mit zwei Pferden bespannte Kutsche. Es ist die höchste Zeit; sagte der Mann auf dem Bocke. Er sprach plattdeutsch, und mir war, als ob ich die Stimme kannte. Schnell, schnell, sagte der kleine Mann mit der Brille und drängte Marie nach dem herabgelassenen Wagentritt. Adieu, Adieu, schluchzte Marie, mich noch einmal umarmend, und als ihr Kopf für einen Augenblick auf meiner Schulter lag, flüsterte sie mir in's Ohr: Sagen Sie ihm, daß ich ihm Alles, Alles vergeben habe! Schnell, schnell, Marie; rief der Mann und stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Er hing ihr einen weiten Mantel um und half ihr in den Wagen; dann wandte er sich zu mir: Wenn Sie das unglückliche Mädchen wirklich so lieb haben, sagte er, schweigen Sie zweimal vierundzwanzig Stunden. Ich bin freilich auf Alles gefaßt, aber ich möchte um Mariens willen gern, daß es ohne diese hier abginge. Er schlug mit der Hand an die Pistole. – Verlassen Sie sich auf mich, sagte ich, und ich will mich auf Sie verlassen. – Thun Sie das, sagte er, es sind ja nicht alle Menschen Schurken.

Er sprang in den Wagen und schlug die Thür zu. Die Pferde zogen im Galopp an, und schon nach wenigen Minuten hörte ich nur noch das Sausen des Windes in den Tannen.

Ich ging langsam in das Schloß zurück; und gelangte auf mein Zimmer, ohne von Jemand gesehen zu werden. Ich schloß hinter mir ab; dann warf ich mich auf mein Bett, und weinte, als ob mir ein liebes Kind gestorben wäre; und doch war ich glücklich und dankte Gott, daß er sich des armen Kindes erbarmt und sie aus dieser Hölle erlöst hatte.

Als ich am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Es war ein heller, kühler Morgen und Harald ging mit seinen Gästen auf die Jagd. Ich war froh darüber; so konnte ihm doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigstens verschwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich schon gegen Mittag sagen, daß Fräulein Marie nirgends zu finden sei, und ob sie sie nicht gesehen hätten? Die waren nicht wenig erschrocken, denn da war Keiner, der das sanfte, schöne Mädchen nicht gern gehabt hätte. Sie durchsuchten das Haus, die umliegende Gegend, den Wald bis zum Strande und selbst den Wallgraben, denn daß sich die Aermste das Leben genommen habe, darüber waren sie Alle einig.

Spät am Abend kam Harald zurück. Er war allein. Als er in das Haus trat, sah er auf den ersten Blick an den verstören Gesichtern der Leute, daß etwas vorgefallen sein müsse. Sein böses Gewissen sagte ihm gleich, was. Ist sie todt? fragte er und wurde weiß wie Kalk. Wir wissen es nicht, Herr, sagte der alte Jochen; wir haben den ganzen Tag gesucht, aber haben sie noch nicht gefunden.

Er ging, ohne ein Wort zu erwiedern, an den Leuten vorbei nach seinem Zimmer. Als er in der Thür war, drehte er sich um, und winkte mir, ihm zu folgen.

Er schritt in dem Gemach auf und ab, endlich blieb er vor mir stehen und sagte mit dumpfer Stimme: Hat Dir Marie je gesagt, sie wolle sich das Leben nehmen? – Nein, sagte ich. War sie in der letzten Zeit besonders traurig? – Ja.

Wieder ging er im Zimmer hin und her, mit ungleichmäßigen Schritten und unverständliche Worte durch die Zähne murmelnd. Dann blieb er abermals vor mir stehen. Und wenn sie sich das Leben genommen hätte, so wäre ich ihr Mörder; murmelte er. – Wer sonst? antwortete ich.

Er zuckte zusammen, als ob ihm ein Messer in die Brust gestoßen wäre. Es kann nicht sein, sagte er mit bleichen Lippen, es wäre zu gräßlich.

Ich wußte, welche Qualen er in diesem Augenblicke ausstand, aber ich wußte auch, daß der stolze Mann sie doch noch lieber dem Tod, als einem Andern gönnte, und überdies hatte ich zu schweigen versprochen. So blieb ich still und wartete ab, was er beginnen würde.

Er hieß mich klingeln und die Leute hereinrufen. Sie kamen.

Wer von Euch zu müde ist, mag zu Bette gehen; sagte er, wer noch weiter mit mir suchen will, soll dafür haben, was er verlangt.

Es meldeten sich Alle, nicht des Lohnes wegen, sondern weil doch Keiner vor Angst und Aufregung hätte schlafen können.

Er ließ so viel Lichter anzünden, als nur aufzutreiben waren und nun fing das Suchen von Neuem an, unten in den Kellern, durch alle Zimmer, Trepp auf, Trepp ab, auf den Böden, bis hinauf auf den Thurm, – Harald immer voran, jeden Winkel durchspähend, überall die Augen habend, mit fester Stimme Befehle ertheilend, unermüdlich, bis der Morgen kam.

Nun mußten sich die Frauen zu Bett legen, aber von den Männern nahm er, was sich noch auf den Beinen halten konnte. Mit denen durchsuchte er jedes Gebüsch im Garten, und den Wallgraben von der Zugbrücke an bis wieder zur Zugbrücke. Es regnete an dem Tage, was nur vom Himmel wollte, und die Leute fielen beinahe um vor Müdigkeit, aber Harald gab ihnen – wohl zum ersten Male in seinem Leben – gute Worte und bat und beschwor sie, nicht nachzulassen und versprach ihnen Geld, so viel sie wollten. So hielten sie bis gegen Mittag aus; da konnten sie nicht mehr. Nun nahm Harald die Anderen, die sich ausgeruht hatten und mit denen ging er auf das Moor von Faschwitz und in den Wald nach Berkow und bis an den Strand.

Gegen Abend kamen sie wieder, triefend von Regen und dem Moorwasser, in welchem sie stundenlang herumgewatet hatten. Die Männer waren so müde, daß sie im Gehen schliefen, aber Harald's Kraft war noch nicht gebrochen. Er hieß mich ein paar Flaschen Wein holen, und während er sie hinuntergoß, sagte er zu mir: Höre, Alte, ich glaube nicht, daß sie sich ertränkt hat. Es wäre zu gräßlich, ich müßte verrückt werden über dem Gedanken. So grausam hat sie sich nicht an mir rächen können; dazu war sie viel zu gut und hatte mich viel zu lieb. Hat sie nie gesagt, sie wolle mich verlassen? hat sie nie von einem Manne gesprochen, der alle Zeit bereit sei, sie bei sich aufzunehmen?

Ich dachte, daß ich Harald einen Funken Hoffnung lassen müsse, und sagte: ja, Marie hätte öfter und besonders in der letzten Zeit so geredet.

Siehst Du? sagte er und stieß das Glas, aus dem er getrunken hatte, auf den Tisch, daß es zerbrach; jetzt kommt die Meute endlich auf die Spur. Nun wollen wir eine richtige Hetzjagd machen.

Er riß an der Klingel, daß ihm der Griff in der Hand blieb. Anspannen lassen, schrie er dem alten Jochen, der eintrat, entgegen, sofort!

Ich bat ihn, ein paar Stunden wenigstens zu schlafen, denn ich sah, daß seine Augen im Fieber glühten und seine Glieder flogen. Pah, sagte er, schlafen? Ich habe mehr zu thun, als zu schlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich fortbleibe, Alte; aber ich komme entweder mit ihr zurück oder – wird's bald? schrie er auf den Flur hinaus, ich will Euch Beine machen, Ihr verdammten Hallunken!

So fuhr er ab, ohne auch nur die Kleider gewechselt zu haben. Er blieb vier Wochen fort; Keiner wußte, wo er geblieben war. Eines Abends spät kam er wieder. Die erste Frage, die er an mich richtete, war: Hast Du Nachricht von ihr? – Er sah so bleich und verfallen aus, daß ich ihn kaum wieder erkannte. Seine Augen waren tief in den Kopf gesunken und hatten das alte Feuer verloren, und blitzten dann wieder manchmal auf wie glühende Kohlen. Ich habe sie nicht gefunden; sagte er, als wir Beide in seinem Zimmer allein waren; gieb mir Wein, Alte; ich muß das höllische Feuer, das in mir brennt, ersäufen.

Mich jammerte des unglücklichen Mannes, denn jetzt erst fühlte ich, wie sehr ich ihn liebte. Ich sagte ihm Alles, was ich von der Flucht Mariens wußte. Gegen mein Erwarten blieb er ruhig: Es kommt auf eins heraus, sagte er, ob sie gestorben ist, oder nicht; für mich ist sie doch todt; sie konnte nicht anders, als mich verlassen; sie war zu stolz, um sich wie einen Hund behandeln zu lassen. Ich habe sie behandelt wie einen Hund, schlimmer wie einen Hund, ich Elender!

Er schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn; dann warf er sich in einen Lehnsessel, legte den Kopf in die Hände und schluchzte: Und doch habe ich sie geliebt! und doch liebe ich sie! o, mein Gott, mein Gott!

Es war schrecklich, den wilden Harald weinen zu sehen. Ich hob seinen Kopf in die Höhe, er legte ihn an meine Brust und weinte, wie er oft als Knabe in meinen Armen geweint hatte. Ich bat ihn, sich zu beruhigen, ich sagte ihm, daß Mariens letzte Worte gewesen seien: ich vergebe ihm Alles.

Und wenn sie mir auch vergeben hat, ich werde mir nie vergeben, rief er. Geh' zu Bett, Alte. Wir wollen morgen weiter darüber sprechen.

Aber als der alte Jochen am nächsten Morgen zu ihm kam, lag Harald in hitzigem Fieber. Das währte neun Tage, neun fürchterliche Tage und Nächte. Da war es aus mit Harald von Grenwitz.

Die alte Frau schwieg; strich den Strumpf, an dem sie gestrickt hatte, über den Knieen glatt, legte ihn zusammen und sagte:

So, Junker, nun mach', daß Du nach Hause kommst. Ich muß nach den Kindern sehen, die drüben auf dem Jochen seinem Bette schlafen. Es hat eben aufgehört zu regnen, aber es wird bald stärker anfangen. Deshalb halte Dich nicht auf unterwegs. Adjies.

Kommen Sie; sagte Oswald zu Albert, der sich so eben, gähnend und sich reckend, von seinem harten Lager erhoben hatte. Es ist die höchste Zeit, wenn wir noch zum Abendessen auf dem Schlosse sein wollen. Adieu, Mutter Clausen.

Adjies, adjies, Junker! sagte die Alte, schon in der Thür.

Als die beiden jungen Männer auf der schmutzigen Dorfgasse standen, deutete Albert mit dem Daumen über die Schulter nach dem Häuschen, das sie soeben verlassen und sagte: Schnurrige alte Dame das! War die Geschichte nicht famos, Dottore?

Haben Sie denn nicht geschlafen?

Nicht die Spur. Ich wollte anfänglich, aber Ihr ließt einen ja nicht dazu kommen, und hernach, als die Geschichte von Baron Harald anfing, war so an Schlafen nicht mehr zu denken. Aber ich blieb ruhig liegen, und schnarchte von Zeit zu Zeit, um die Alte sicher zu machen, die die Geschichte jedenfalls nur ihrem »Junker« erzählen wollte. Weshalb nennt die alte Dame Sie Junker, Dottore, und Du?

Ich weiß es nicht; sagte Oswald.

Oder wollen es nicht wissen; erwiederte Albert; na, schadet nicht. Man darf auch nicht Alles wissen wollen. Warum wollte Baron Harald wissen, wo das hübsche Ding, die Marie geblieben war? Ohne diese überflüssige Neugierde könnte er noch heute seinen Burgunder trinken. Merkwürdig, daß ein so vernünftiger Mann solche verrückte romantische Grillen im Kopf haben konnte! Können Sie das begreifen, Dottore?

So ziemlich, sagte Oswald; aber sprechen wir von etwas Anderem.

Wie Sie wollen, Theuerster. Was halten Sie zum Beispiel von der Unsterblichkeit!

Zweiunddreißigstes Capitel

Am nächsten Tage hatte sich der Himmel wieder aufgeklärt. Die Morgensonne war in dichten Nebel verhüllt gewesen, aber einige Stunden später zerriß sie den grauen Schleier und goß ihr goldenes Licht verschwenderisch auf die regengetränkte Erde. In dem Schloßgarten war es so paradiesisch frisch und duftig, wie am ersten Schöpfungstage. Die Blumen hoben die Köpfe wieder und wenn noch hier und da Tropfen an den bunten Kelchen hingen, so glichen sie jetzt in dem funkelnden Sonnenschein hellen Freudenthränen; die Vögel jubilirten in den dichten Laubkronen der Bäume, und das kleine Gewürm, das so ruhig in den Ritzen, unter den Blättern, unter den Steinen auf Sonnenschein gewartet hatte, regte sich wieder in seiner ganzen geschäftigen Emsigkeit.

Und um die grauen Mauern des Schlosses, die jetzt im rosigen Licht gebadet waren, schossen eilige Schwalben, und auf den Dächern, in den Dachrinnen, in den Stuckornamenten setzten die zanksüchtigen Spatzen die ununterbrochenen Streitigkeiten wieder fort. In dem großen Saal, wo an den Wänden die Porträts der Grenwitzer Barone und Baronessen hingen in langer Reihe von dem halb fabelhaften Sven von Grenwitz bis hinab auf die Bilder der Großtante Grenwitz, »wie sie als achtzehnjähriges Mädchen gewesen war,« und Oskar's, »der mit dem Wodan stürzte,« und Harald's, »dem es besser gewesen wäre, er hätte sich am Sarge seines Vaters todt geweint« – tanzten die Staubatome, welche aus den alten Prunkmeubeln mit den verblichenen Damastüberzügen aufstiegen in den schrägen Lichtsäulen, die durch die drei hohen Bogenfenster fielen.

Unten im Wohnzimmer nahmen der Baron und die Baronin ein frugales Frühstück ein. Sie sahen reisefertig aus und Anna-Maria hatte sogar schon einen Hut mit weit vorspringenden Flügeln, wie sie in den zwanziger Jahren Mode gewesen waren, auf dem Kopfe. Denn der große Reisewagen hielt schon vor der Thür. Die vier schwerfälligen Braunen wedelten sich bedächtig mit den langen Schweifen die Fliegen ab, und der schweigsame Kutscher klatschte regelmäßig alle fünf Minuten mit der Peitsche, aus purer Gewohnheit und nicht etwa, um die Reiselustigen zur Eile zu ermahnen, was dem seiner Herrschaft schuldigen Respect ebenso sehr widersprochen hätte, wie seinem phlegmatischen Naturell.

Ich wußte es ja schon vorher, sagte die Baronin, ihrem Gemahl ein Glas halb voll Moselwein schenkend – trink das, lieber Grenwitz, es wird Dich zu der langen Fahrt stärken – ich wußte es ja vorher. Er schlägt unsere freundschaftliche Einladung aus, weil er sich nicht ganz wohl fühle! lächerlich!

Er sieht wirklich, seitdem wir in Barnewitz waren, recht angegriffen aus, liebe Anna-Maria, sagte der alte Baron, und dann ist es auch wohl nicht ganz in der Ordnung, daß wir ihn auffordern, mitzufahren in dem Augenblicke, wo der Wagen schon vor der Thüre steht. Wir hätten das auch wohl früher thun müssen.

Ich begreife Dich nicht, lieber Grenwitz, sagte die Baronin; Du thust doch gerade, als ob Herr Stein unsers Gleichen wäre! Da ist es gar kein Wunder, wenn der junge Mann sich vor Hochmuth nicht zu lassen weiß. Zu einer Fahrt in die Nachbarschaft ihn eine Woche vorher auffordern! Das fehlte noch! Haben wir doch selbst über die Helgoländer Reise noch nicht einmal mit ihm gesprochen!

Ich hätte es längst gethan, wenn Du nur einen bestimmten Entschluß hinsichtlich seiner fassen könntest: sagte der alte Herr, sich hinter dem Ohr krauend.

Ich habe jetzt meinen Entschluß gefaßt, sagte die Baronin gereizt; in diesem Augenblick gefaßt. Wenn er uns nicht einmal auf einer dreitägigen Fahrt in die Nachbarschaft begleiten will; wenn es ihm zu umständlich ist, bei unsern Bekannten, die ihm alle mit der größten Herablassung entgegengekommen sind, mit uns einen Abschiedsbesuch zu machen, so zeigt er ja deutlich, daß er gar nicht Abschied zu nehmen gedenkt, und so mag er denn bleiben, wo er will.

Aber liebe Anna-Maria, sagte der Baron, das ist doch am Ende nicht ganz dasselbe, und dann, wo soll er unterdessen bleiben? und wie sollen wir mit den beiden Knaben allein fertig werden?

Ich sage Dir ja, lieber Grenwitz, entgegnete die Baronin, es ist mir ganz gleich, wo er bleibt, ganz gleich. Er geht ja im Allgemeinen so gern seine eigenen Wege, so mag er es auch in diesem Fall. Er kann eine Fußreise durch die Insel machen, oder seinen Freund Oldenburg besuchen, oder schlimmsten Falls hier bleiben, obgleich sein Hierbleiben allerdings Umstände machen würde. Uns ist er auf der Reise, die so schon kostspielig genug ist, eine ganz überflüssige Last. Er wird sich wie gewöhnlich nur um Bruno bekümmern und die Sorge um Malte gütigst uns überlassen. Bleibt er hier, so muß Bruno schon nothgedrungen sich mehr an Malte anschließen, und da es sich während dieser Zeit doch nur um die Aufsicht der Knaben handelt, so übergebe ich die unserm Johann eben so gern und lieber noch als Herrn Stein. Ja, wir können auf der Rückreise, wenn wir Helene noch bei uns haben, nicht einmal alle in einem Wagen fortkommen. Nein!, nein! er bleibt hier; ich bin jetzt mit mir darüber ganz im Reinen – vollkommen im Reinen.

Ich weiß nicht – sagte der alte Herr verdrießlich.

Aber ich weiß es, sagte die Baronin aufstehend; das pflegte Dir ja sonst genug zu sein, lieber Grenwitz. Komm, es ist die höchste Zeit, daß wir aufbrechen, wenn wir zu Mittag noch beim Grafen Grieben sein wollen. Da kommt Malte. Bist Du auch warm angezogen, lieber Junge? Wo steckt denn der Bruno?

Oben beim Doctor. Er will nicht mit, wenn der Doctor zu Hause bleibt.

Siehst Du, lieber Grenwitz, da haben wir's, eine vortreffliche Erziehung, in der That! Sogleich gehe hinauf, Malte! Bruno soll sich sofort fertig machen, hörst Du: sofort!

Ich werde mich wohl hüten, erwiederte Malte, das magst Du ihm selber sagen.

Das werde ich, sagte die Baronin und zog die Schelle. Ich lasse Herrn Doctor Stein bitten, sagte sie zu dem eintretenden Bedienten, auf einen Augenblick zu mir zu kommen.

Der Bediente verschwand, die Baronin ging mit schnellen Schritten in dem Gemache auf und ab.

Nur um Himmelswillen keine Scene, liebe Anna-Maria, sagte der alte Herr, der ebenfalls aufgestanden war, ängstlich.

Die Baronin antwortete nicht, denn in diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und herein traten Oswald und Bruno, Bruno mit düsterem, trotzigen Gesicht und die Spuren eben geweinter Thränen in dem dunklen Auge, aber vollkommen reisefertig, den mit Wachsleinen überzogenen Strohhut in der Hand.

Sie befehlen, gnädige Frau? sagte Oswald, sich vor der Baronin verbeugend.

Die Baronin war durch diese unerwartete Lösung der schwierigen Frage ein wenig aus der Fassung gebracht.

Ich hörte, Bruno weigere sich, uns zu begleiten, sagte sie, und da wollte ich –

Verzeihen Sie, gnädige Frau, unterbrach sie Oswald, von einer Weigerung Bruno's, einem ausdrücklichen Wunsche Ihrerseits nachzukommen, kann wohl selbstverständlich nicht die Rede sein. Bruno hätte mir gern Gesellschaft geleistet, das ist Alles. Es bedurfte natürlich nur eines Wortes, ihn daran zu erinnern, daß er meinethalben nicht die Rücksichten aus den Augen setzen dürfe, die er gegen Sie und den Herrn Baron zu nehmen hat.

Nun, das dachte ich mir doch gleich, sagte die Baronin, die im Innern sehr froh war, der »Scene« mit Oswald, vor dem sie, ohne es sich selbst gestehen zu wollen, eine sie demüthigende aber unüberwindliche Scheu empfand, überhoben zu sein. Es wird ihn nicht gereuen, sich unseren Wünschen accomodirt zu haben. Das Wetter ist herrlich, und wir werden, denke ich, recht vergnügt sein. Wie Schade ist es, lieber Herr Doctor, daß Sie nicht von der Partie sein können! Nun, wir hoffen, Sie bei unserer Rückkehr, die in zwei bis drei Tagen erfolgen wird, wieder in vollem Wohlsein zu treffen. – Ah, Mademoiselle! ist Alles bereit? Dann laß uns aufbrechen, lieber Grenwitz. Adieu, lieber Herr Doctor! Adieu, mademoiselle, n'oubliez pas! – Ah, Herr Timm! wahrhaftig, ich hätte Sie beinahe vergessen –

Eben so schmeichelhaft, wie natürlich, sagte Herr Timm, der mit der Reißfeder hinter dem Ohr und etwas stark derangirter Toilette so eben erschienen war, um sich den Herrschaften zu empfehlen, und jetzt der Baronin in den Wagen half. Bon voyage! grüßen Sie den alten Grafen Grieben bestens von mir! famoser alter Herr, der einen capitalen Rheinwein führt. All right! Hott, Brauner – und Herr Timm versetzte dem ihn zunächst befindlichen Pferde einen derben Schlag mit der flachen Hand, und warf dann den Insassen des Wagens, der sich jetzt in Bewegung setzte, eine Kußhand zu.

Gott sei Dank, sagte er, als die Kutsche vor dem Thor verschwunden war, und rieb sich vergnügt die Hände. Nun sind wir doch einmal unter uns Mädchen! Was fangen wir nun vor Entzücken an? Qu'en dites vous, Monsieur le Docteur? qu'en dites-vous, Mademoiselle?

Ich habe ein paar Briefe zu schreiben, und werde mich deshalb auf mein Zimmer begeben; sagte Oswald in das Haus gehend.

So wollen wir eine französische Lection im Garten nehmen, kleine Marguerite; sagte Herr Timm, den Arm der jungen Dame ohne Umstände in den seinen legend.

Ich nicht 'abe den Zeit! sagte die hübsche Französin, und versuchte ihren Arm loszumachen.

Dummes Zeug! sagte Albert, wenn Du nicht jetzt hast den Zeit, wo die alte Vogelscheuche fort ist, wann wollen Sie denn Zeit haben? Kommen Sie! Venez! komm Du kleiner Zieraffe! Wir haben schon so schöne Fortschritte gemacht in der Conjugation von aimer: J'aime, tu aimes – nous aimons –

Und Albert zog die sich nicht allzusehr sträubende Marguerite in den Garten, und wer sich für dies romantische Paar interessirte, konnte es bis zum Mittag daselbst Arm in Arm umherschweifen sehen, und die Beobachtung machen, daß es den verschiedenen Boskets und den dichteren Baumgängen entschieden den Vorzug vor den offenen Plätzen gab, was bei der großen Hitze des Tages am Ende auch ganz natürlich war.

Es war am Nachmittage und Oswald saß wieder an seinem Schreibtische, den er nur, um mit Albert und Marguerite ein kurzes und von seiner Seite sehr schweigsames Mittagsmahl einzunehmen, verlassen hatte, als ihm ein Billet gebracht wurde. Oswald war, seitdem er auf Grenwitz lebte, so wenig gewohnt, dergleichen zu empfangen, daß er den Bedienten, der es ihm einhändigte, ganz erstaunt fragte: von wem?

Von Baron Oldenburg, erwiederte dieser; des Barons Wagen hält vor der Thür.

Oswald erbrach das Billet und las:

Lieber Freund! Wenn Sie die lernbegierige Brut loswerden können und sonst nichts Besseres zu thun haben, wollen Sie nicht einem einsamen Hypochonder auf ein paar Stunden Gesellschaft leisten und sich bei dieser Gelegenheit überzeugen, wie gut unserm Haideblümchen die Versetzung in das fremde Erdreich bekommt! Mein Kutscher ist der Ueberbringer dieses. Er hat den Auftrag, mit Ihnen, oder auf Ihnen zurückzukommen. Also – wählen Sie! Ihr Oldenburg.

Oswald schwankte, was er thun sollte. Mit dem Sonnenschein war die Sehnsucht nach Melitta mächtig in seinem Herzen erwacht. Er konnte es nicht begreifen, daß er drei volle Tage hatte vorüber gehen lassen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sie zu sehen. Und dennoch, trotzdem er wußte, daß die Wolke, die sich in dem Ballsaal zwischen sie und ihn gelagert hatte, längst verschwunden war, trotzdem er ihr sein Unrecht tausend und tausendmal im Herzen abgebeten hatte, scheute er sich, den ersten Schritt zur Versöhnung zu thun.

Er nahm einen Briefbogen, um dem Baron zu schreiben, daß er seiner Einladung nicht Folge leisten könne, und schon im nächsten Augenblick hatte er seinen Hut ergriffen und eilte hinab. Derselbe elegante Holsteiner, in welchem er von dem Baron von Barnewitz zurückgekommen war, hielt mit den zwei feurigen Rappen bespannt vor dem Portale. Der Kutscher, ein hübscher Mann mit einem ungeheuren Bart, lächelte ihm, in Erinnerung des neulich erhaltenen schweren Trinkgeldes freundlich zu. Als er einstieg, rief Albert über die Gartenmauer:

Können Sie mich nicht mitnehmen, Monsieur le docteur?

Nicht wohl! sagte Oswald.

Nun, dann fahren Sie allein! rief Albert, zum Teufel, setzte er hinzu, als der Wagen davon rollte. Du hast Recht, Marguerite, sagte er zu der kleinen Französin, die jetzt aus dem Gebüsch, in welchem sie sich vor Oswald versteckt hatte, hervorkam: Der Doctor ist wirklich ein fat, wie Du sagst, und ich werde nächstens auch anfangen, ihn zu 'assen.

Unterdessen rollte der Wagen durch das kleinere Thor dem Waldweg zu, der um den Wall herum in den Buchwald führte, welcher sich von hier bis den Strand zog, und den man passiren mußte, wenn man von Grenwitz nach Cona, dem Stammgut der Oldenburger, wollte. Es war eine köstliche Fahrt in den hohen, kühlen Buchenhallen, wo durch die dichten grünen Baumkronen der blaue Himmel leuchtete, und links, wenn zwischen den mächtigen Stämmen das Unterholz weniger üppig wucherte, von Zeit zu Zeit das blaue Meer herüberblitzte, im Anfang selten und nur auf Augenblicke, dann, je näher sie dem Saum des Waldes kamen, öfter und länger, bis es plötzlich bei dem Ausgang des Waldes da lag, blau und unermeßlich, blitzend im prächtigen Sonnenschein.

Der Weg führte auf der Höhe des Ufers hin, manchmal sich so dem Rande nähernd, daß man das Branden der Wogen zwischen den großen Steinen des Strandes deutlich vernahm, dann wieder auf weitere Entfernungen zurückweichend. Rechts streifte das Auge über ungeheure Kornbreiten, die den Rücken des Plateaus bedeckten. Die langen kräftigen Halme bogen sich unter der Last der Aehren, und wehten hinüber und herüber vor dem lauen Wind, der von dem Meere über sie dahinfuhr. Hier und da flatterte eine Lerche, deren Nest allzudicht am Wege war, empor und stieg singend in den blauen Himmel.

Dann senkte sich der Weg in ein muldenförmiges Thal, durch das ein ziemlich bedeutender Bach, der Abfluß des Faschwitzer Moores, dem Meere zueilte. An dem Bach entlang und bis hart an's Meer lag ein Dorf, das von Fischern bewohnt wurde, die dem Baron Grenwitz zinspflichtig waren. Der Wagen mußte das Dorf passiren, das mit seinen kleinen sauberen Häuschen und den kleinen mit Muscheln eingefaßten Gärtchen vor den Thüren einen freundlichen Eindruck machte. Vor der Thür eines der größeren Häuser, das sich durch ein Schild, auf welchem ein Schiff mit vollen Segeln durch grasgrüne schaumgekrönte Wogen fuhr, als Wirthshaus ankündigte, hielt ein Reiter auf einem wundervollen braunen Vollblutpferde. Er trug einen langen Ueberrock, und Oswald konnte das Gesicht nicht sehen, da der Reiter sich eben niederbeugte, ein Glas Branntwein entgegenzunehmen, das eine blauäugige, blonde Schifferdirne mit einem allerliebsten Stumpfnäschen ihm präsentirte.

Das Pferd ist unter Brüdern seine zweihundert Louisd'or werth, sagte der Kutscher, welcher ein Kenner war.

Wer ist der Herr? fragte Oswald.

Weiß nicht, ich konnte sein Gesicht nicht sehen.

Hinter dem Fischerdorfe stieg der Weg ziemlich schnell zu einer bedeutenderen Höhe, als von welcher er auf jener Seite herabgesunken war. Auch nahm die Landschaft hier einen anderen Charakter an. Das Terrain war weniger eben; statt des gelben nickenden Kornes bedeckte braunes Haidekraut den Boden, der hier und da auf große Strecken eine mit kleinen und großen Steinen und graugrünem kurzen Grase bedeckte Wüste war. Auch die Luft schien weniger warm, und man hörte, da sich der Weg näher am Rande des hohen steilen Ufers hinzog, deutlicher das Brausen des Meeres. Ein Seeadler zog oben in der hellen Luft seine Kreise, einigemal schwebte sein schwarzer Schatten über den sonnebeschienenen, steinigen Weg.

Ist es noch weit bis Cona? fragte Oswald.

Der Hof liegt dort hinaus, sagte der Kutscher, mit dem Peitschenstiel rechts über die Haide deutend; Sie können ihn von hier aus nicht sehen. Ich fahre den Herrn Doctor nach dem Schweizerhäuschen.

Und wo liegt das?

Gerade vor uns, in den Tannen.

Ein Waldweg von hohen Tannen krönte den höchsten Punkt des Ufers, zu dem jetzt der Weg, der immer steiler und steiniger wurde, ziemlich rasch hinaufführte. Als Oswald sich, um die zurückgelegte Strecke zu überschauen, im Wagen umwandte, erblickte er in einiger Entfernung den Reiter, der vorhin vor dem Wirthshause gehalten hatte. Er ritt mit derselben Geschwindigkeit, in welcher der Wagen fuhr, und als dieser zufällig hielt, weil eine Schnalle an dem Riemzeug aufgegangen war, hielt er ebenfalls sein Pferd an, so lange, bis das Fuhrwerk sich wieder in Bewegung setzte. Oswald, dem dies Benehmen aufgefallen war, bat den Kutscher, nach einigen Minuten abermals zu halten. Er wandte sich um: der Reiter hielt ebenfalls. Er ließ das Manöver noch ein paar Mal wiederholen, stets mit demselben Erfolg.

Das ist doch sonderbar, sagte Oswald.

Ja, sagte der Kutscher; ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat.

In diesem Augenblick verließ der Reiter den Weg und trabte quer über die Haide nach der Richtung fort, in welcher, wie der Kutscher sagte, hinter dem Kamm des Plateaus der Gutshof von Cona lag.

Der Wagen hatte jetzt die Tannen erreicht, die so dicht standen, daß man vom Meere nichts mehr sehen und nur noch sein Brausen hören konnte, das sich mit dem Wehen des Windes in den hohen Bäumen vermischte. Dann blitzte es bei einer Wendung des Weges wieder auf und vor ihnen, auf einem freien nach dem Meere zu offenen Platze lag ein aus Holz im Schweizerstyl aufgeführtes Haus, Oldenburg's Sommerwohnung.

Dreiunddreißigstes Capitel

Als der Wagen auf dem von hohen Bäumen umragten und mit braunen Nadeln wie mit einem Teppich überdeckten Platze vor der Thür hielt, erschien Oldenburg oben auf der Gallerie, welche die zwei Stockwerke trennte und sich um das ganze Haus zog, und grüßte freundlich hinab. Im nächsten Augenblick war er an der Thür und schüttelte Oswald mit Herzlichkeit die Hand.

Also doch! sagte er; ich fürchtete schon, es wäre Ihnen ergangen, wie den meisten Leuten, die, wenn sie einmal mit mir zusammen gewesen sind, für alle Ewigkeit genug haben.

Ich weiß nicht, Herr Baron, ob Sie sich den meisten Leuten so zeigen, wie Sie sich mir gezeigt haben, sagte Oswald; wäre dies der Fall, so habe ich für mein Theil nicht den Geschmack der meisten Leute.

Wahrlich, ein Selam in optima forma! sagte Oldenburg lächelnd; ein paar alte graubärtige Söhne Mohameds könnten es nicht besser. Es fehlt blos noch, daß wir zum Schluß unsere eigenen Fingerspitzen küssen! Aber kommen Sie in's Haus, da können wir die Sache noch bequemer haben.

Sie betraten einen kleinen Flur, von welchem man auf einer niedrigen breiten Treppe in das obere Stockwerk zu einer Entrée gelangte, die von oben Licht empfing. Aus dieser gingen sie in ein weites, ziemlich hohes Gemach, zwischen dessen zwei Fenstern eine Glasthür auf die breite Gallerie führte, die eine unbeschränkte Aussicht auf das Meer gewährte, und obgleich noch ziemlich dreißig Fuß zwischen dem Hause und dem scharf abfallenden Rande des Ufers lagen, unmittelbar über der Brandung, welche tief unten zwischen den Rollsteinen und auf den Kieseln des Strandes murmelte, zu hangen schien.

Von diesem erhabenen Standpunkte schweifte der Blick auf das blaue unermeßliche Meer und auf das hohe weiße Kreideufer, das sich, nach links in einen weiten Halbmond hinziehend, zuletzt in einem Vorgebirge endigte, welches der Buchwald von Grenwitz krönte. Oswald konnte einen lauten Ruf der Bewunderung nicht unterdrücken.

Nicht wahr? sagte Oldenburg, sich neben ihm auf die Brüstung der Gallerie lehnend, es war ein gescheidter Einfall meines würdigen Großvaters, an diesem Punkte, nebenbei einem der höchsten der ganzen Insel, ein Haus zu bauen. Ich habe den alten Mann mit seinem langen eisgrauen Barte noch gekannt, und sehe ihn im Geiste noch hier auf dieser Gallerie sitzen und, wie der König von Thule, mit seinen verlöschenden Augen auf das heilige Meer schauen, das er verehrte, wie ein Enkel seine alte Großmutter ehrt, und liebte, wie ein Jüngling die Geliebte seiner Seele liebt. Ich wollte, er hätte mir außer seiner Figur auch seine unermeßliche Fähigkeit, für Naturschönheit schwärmen zu können, vererbt. Leider bin ich in der letzten Beziehung in demselben Grade zu kurz gekommen, wie in der ersten zu lang.

Ist das Ihr Ernst? sagte Oswald.

Wahrhaftig, sagte Oldenburg, und ich habe mich nicht auf meinen Reisen oft genug deshalb geschämt, und meine ästhetische Verstocktheit verwünscht, die mich auf den schönsten Punkten, wo Andere vor Vergnügen Purzelbäume schlugen oder sentimentale Thränen weinten, geradezu nichts empfinden ließ. Vergebens, daß ich, wie die englischen Misses an meiner Seite: beautifully, very fine indeed! seufzte, vergebens, daß ich Tag und Nacht die herrlichsten Naturschilderungen von Byron und Lamartine las, bis ich sie auswendig wußte – es half Alles nichts. Ich brachte es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die ewige Natur wie ein lackirtes Bildchen erschien; und ein paar Bettelbuben, die sich auf dem Sande des Strandes balgten, und ein armer Fellah, der sein Wasserrad drehte, waren mir interessanter, als der Golf von Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menschen und Menschentreiben meine Freude – von der Natur verstehe ich ein für alle Mal nichts.

Aber warum verbannen Sie sich denn in diese Einsamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch haben können, anstatt hier an diesem nordischen Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capucines, oder in London auf dem Pall-Mall?

Aus demselben Grunde, aus welchem man den Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt, vierundzwanzig Stunden fasten läßt – um meinen Hunger nach meiner Lieblingsspeise zu schärfen. Wenn ich hier ein paar Wochen gehaust habe, sind meine Sinne wieder frisch und empfänglich, und das Schauspiel des Menschentreibens hat wieder seinen alten Reiz für mich.

Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu bleiben?

Ich weiß noch nicht. Meine Solitude – so taufte nämlich mein Großvater diesen seinen Lieblingsort – gefällt mir diesmal besser, als sonst wohl. Ich habe in den letzten Jahren ein etwas buntes Leben geführt und unzählige Adamskinder der verschiedensten Racen und Culturzustände durcheinander gesehen. Zuletzt sah einer genau so aus, wie der andere; meine Sinne waren vollkommen abgestumpft und eine längere Hungercur nöthig. Daß ich nicht ganz verhungere, dafür sollen Sie und die Czika sorgen.

Und wo ist denn unser kleiner Findling?

Irgendwo auf der Haide, wo sie sich in den blühenden Ginster legt und in den Himmel starrt, oder am Strande, wo sie zwischen den Felsblöcken umherklettert und vor Vergnügen in die Hände klatscht, wenn eine höhere Welle ihre nackten Füße benetzt. Bis zu Schuhen hat sie es nämlich noch nicht gebracht, das heißt: ich habe sie noch nicht dazu bringen können. Ich lasse ihr überhaupt absolute Freiheit, seitdem sie mir gleich am zweiten Tage, als ich sie bei dem schauderhaften Wetter nicht herauslassen wollte, sehr energisch erklärte: Czika stirbt, wenn Czika nicht in den Regen darf.

Sehnt sie sich denn nicht nach ihrer Mutter zurück?

Glauben Sie wirklich, daß das braune Weib, das ich übrigens nur ganz flüchtig gesehen habe, des Kindes Mutter ist?

Unbedingt. Die Aehnlichkeit zwischen Czika und der braunen Gräfin ist unverkennbar.

Von wem habe ich doch diesen Ausdruck schon gehört? sagte Oldenburg nachdenklich, von Ihnen neulich, ohne Zweifel aber er kam mir gleich so bekannt vor. Stammt das Wort von Ihnen?

Nein, von Frau von Berkow, sagte Oswald, den Blick fest auf Oldenburg richtend.

So so; sagte der Baron.

Es war das erste Mal, daß Melitta's unter den beiden Männern Erwähnung geschah, und es war bezeichnend genug, daß sofort eine Pause in dem Gespräch eintrat.

Bei welcher Gelegenheit hat denn Frau von Berkow die Bekanntschaft der Zigeunerin gemacht? fragte der Baron nach einiger Zeit.

Oswald erzählte in kurzen Zügen die Geschichte von der braunen Gräfin, so wie sie ihm Melitta mitgetheilt hatte.

Oldenburg lächelte. Ja, ja, sagte er, jetzt erinnere ich mich. Frau von Berkow hatte mir die Anekdote schon vor ein paar Jahren erzählt. Die Geschichte ist allerliebst, besonders für den, welcher sich für Frau von Berkow interessirt, weil sie den liebenswürdigen, aus Muthwillen, Schalkheit und Gutmüthigkeit wunderbar gemischten Charakter dieser Dame so vortrefflich charakterisirt.

Der Baron sagte das einfach und ruhig, als hätte es niemals eine Zeit gegeben, wo er für ein Lächeln dieser Dame sein Leben auf's Spiel gesetzt haben würde.

Aber wollen wir nicht hineingehen, fuhr er fort, ich sehe, Hermann, mein Rabe und Factotum, hat einen Tisch mit allerlei Appetitlichem gar zierlich gedeckt, und dort kommt auch Thusnelda, seine Gemahlin und meine Amme, um uns feierlich zum Vesperbrod zu laden.

Eine alte, würdig aussehende Frau von stattlichem Umfange erschien in der Glasthüre, machte einen tiefen Knix und sagte:

Herr Baron, es ist servirt.

Schön, sagte Oldenburg; hast Du die Czika nicht gesehen?

Ich dachte, sie wäre beim Herrn Baron, antwortete die Matrone, ängstlich umherblickend.

Nein. Bring' sie doch herauf, wenn sie unterdessen kommen sollte. Du kannst Dich einmal nach ihr umsehen. Kommen Sie, Doctor, ich hoffe, der weite Weg hat Sie hungrig, zum mindesten durstig gemacht: Thusnelda hat für beide Fälle gesorgt.

Während sie an dem mit Erfrischungen aller Art reichlich besetzten Tische Platz nahmen, schaute Oswald sich in dem Zimmer um. Der weite Raum wurde durch einen großen Schreibtisch von Eichenholz und durch Stühle und Sophas von mancherlei Formen, die den Platz häufig zu verändern schienen, wesentlich verringert. An den Wänden standen Eichenschränke mit Büchern angefüllt. Bücher lagen auf dem Boden. Einige Büsten nach der Antike, und ein paar große Kupferstiche waren der einzige Schmuck des Zimmers, das im Uebrigen offenbar auf Eleganz nicht den mindesten Anspruch machte; zwischen zwei der Schränke, wo ein Kupferstich hingehörte, war eine grünseidene Gardine, die entweder ein ungeschickt angebrachtes Fenster oder ein Bild verdeckte, welches der Besitzer aus diesem oder jenem Grunde dem Blicke neugieriger Besucher nicht ausgesetzt wünschte.

Sodann wurde seine Aufmerksamkeit wieder von dem Baron selbst in Anspruch genommen, der ihm heute in einem kurzen gelben, leinenen Rock, welcher seiner langen, hagern Figur gar seltsam stand, ein ganz Anderer zu sein schien. Mehr aber noch, als der veränderte Anzug war es der veränderte Ausdruck des Gesichtes, der Oswald auffiel. Der höhnische Zug um den Mund, den selbst der dichte Bart nicht ganz verdecken konnte, die scharfen kleinen Fältchen auf der hohen Stirn, um die Augen und die Nasenflügel – Alles war von einem freundlichen Lächeln ausgelöscht, das den grauen, sonst so stechenden Augen einen Ausdruck von Milde und Gutmüthigkeit gab, den Oswald, soweit er auch von seinem Vorurtheil gegen den Baron zurückgekommen war, niemals für möglich gehalten haben würde. Ja, der Gedanke, daß ein Weib diesen seltsamen Mann von ganzem Herzen lieben könnte, schien ihm nicht mehr so wunderlich, wie auf dem Balle von Barnewitz. Er dachte an das Blatt in Melitta's Album, er dachte an seine eigenen Worte: Dieser Mann wird niemals glücklich sein, weil er niemals wird glücklich sein wollen, und an Melitta's Antwort: Darum ist dieser Mann aus meinem Leben losgelöst, wie sein Bild aus diesem Album, und er sagte jetzt: er hätte glücklich sein können, wenn er gewollt hätte; warum wollte er es nicht? was trennte diese Beiden? wer von ihnen sprach das Wort, das sie – wie es scheint – auf ewig trennte?

Diese Gedanken erweckten heute in Oswald nicht mehr jene wilde Eifersucht, die sein Herz an dem Tage, wo er dem Baron zuerst im Walde begegnete, und hernach auf dem Balle in Barnewitz, zerfleischt hatte – aber das geheimnißvolle Dunkel, welches über diesen Vorgängen lag, das er nicht lüften konnte und, was schlimmer war, nicht einmal zu lüften wagte, erfüllte seine Seele mit tiefer Trauer.

Oswald suchte dieser trüben Stimmung Herr zu werden; es war ihm, als wenn des Barons scharfe Augen lesen könnten, was in seiner Seele vorging. Indessen schien dieser vollkommen unbefangen und ganz von dem Thema ihres Gesprächs in Anspruch genommen, das, wie erklärlich, sich hauptsächlich um Czika und die braune Gräfin drehte. Beide Männer versuchten ihren Scharfsinn vergeblich an der Lösung der vielen Räthsel dieser wunderbaren Angelegenheit. Was hatte die braune Gräfin bestimmt, ihr Kind, an welchem sie doch mit so großer Liebe zu hängen schien, so ohne Weiteres fremden Männern zu überlassen? Woher nahm sie zu dieser Entsagung den Muth in dem Augenblicke, wo sie durch die brutalen Scherze der jungen Edelleute (der Reitknecht des jungen Grafen Grieben hatte Oldenburg's Kutscher die Sache erzählt) und durch den, allerdings blos scherzhaft gemeinten Raub der Kleinen so außer sich gebracht war? Hatte sie das Kind Oswald, oder dem Baron, oder hatte sie es Beiden geschenkt? oder hatte sie es ihnen nicht geschenkt, sondern verkauft, und hatte sie nur den Zahlungstermin einen Monat hinausgeschoben, in der Hoffnung, daß die beiden Männer, oder auch einer von ihnen, das schöne Kind während dieser Zeit lieb gewinnen und demnach gern einen höheren Preis zahlen würde.

Meine größte Furcht, sagte Oldenburg, ist, daß die braune Gräfin der noch nicht einmal abgeschlossene Handel gereut und sie das Kind wieder raubt, oder auch die Czika selbst der Sehnsucht nach ihrem Wanderleben nicht widerstehen kann und eines schönen Morgens verschwunden ist. Ich gestehe, daß es ein harter Schlag für mich sein würde. Ihre Prophezeiung, daß ich in der süßen Dirn einen Schatz gefunden habe, köstlicher als Aladin's Wunderlampe, scheint in Erfüllung zu gehen. Ich sage mit dem weisen Nathan: ich bliebe, oder richtiger: ich wäre des Mädchens Vater doch so gern! ich möchte so gern dieser bis jetzt stummen Seele eine Sprache entlocken, und in dieser Sprache meinen eigenen Gedanken veredelt und verschönert wieder hören! ich möchte sie an mich ketten mit allen Banden, durch die ein Vater an seine Tochter, eine Tochter an ihren Vater gefesselt sein kann – versteht sich, um sie nachträglich alle diese Bande zerreißen und sich dem ersten besten Gelbschnabel in die Arme werfen zu sehen, dem der Rock um einen Grad besser sitzt, als seinen Nachbarn. Aber bis dahin möchte ich wenigstens, daß sie mein wäre. Ich stehe jetzt in den Jahren, wo man sich, wenn man nicht zufällig ein Swift ist, der bekanntlich die Kinder hätte fressen mögen, aber nicht aus Liebe, – nach Kindern sehnt, wie ein müder Wanderer nach einem Stab, die erschlaffenden Glieder zu stützen. Wenn wir fühlen, daß wir den höchsten Punkt auf unserem Lebenswege erreicht haben und es nun unaufhaltsam bergab geht, und das Land unserer Jugend hinter dem Kamm des Hügels allgemach verschwindet, da möchten wir fröhliche Kinderstimmen von drüben ertönen hören, die uns unsere eigene selige Jugendzeit wieder in die Erinnerung rufen. Sie werden mich fragen, weshalb ich denn dieser spießbürgerlichen Tendenz nicht nachgebe und heirathe? oder Sie werden mich das auch nicht fragen, denn Sie werden sich selber sagen, daß für Jemand, der sich die zehn besten Jahre seines Lebens in allerlei liaisons dangereuses oder innocentes unausgesetzt bewegt hat, das Heirathen eine moralische Unmöglichkeit ist. Ich will keine Frau, die so blasirt wäre, nicht von mir hören zu wollen: ich liebe Dich! und wie kann ich das, ohne mir selbst lächerlich vorzukommen, zu ihr sagen, wenn ich es schon so und so vielen anderen in allen mir bekannten Sprachen gesagt habe? Nein, nein! mit solchen Gesinnungen mag man Türke werden und sich einen Harem anschaffen, aber für die monogamische Ehe im höchsten, reinsten Sinne, wo sie eine wunderbare Alchymie ist, die aus den Zweien Eines macht, für diese Ehe, die auch ich heilig halte, ist man wahrlich zu schlecht.

Und doch, sagte Oswald, liegt in der wahren Liebe eine reinigende und heiligende Macht, vor der alle Zweifel an uns selbst verschwinden, wie der Nebel vor den Strahlen der Sonne. Die wahre Liebe wischt, wie der echte Haß »von der Tafel der Erinnerung weg alle thörichten Geschichten« und macht uns mit einem Schlage aus wüsten Barbaren zu zartfühlenden, feinsinnigen Helenen. Die rohe Kraft, die vorher sich nur bethätigen wollte, gleichviel, ob sie schaffte, oder zerstörte, nimmt jetzt Form an; und wo sie früher einen Siva schuf, dessen glühender Blick alle Creatur verzehrt, schafft sie jetzt einen olympischen Zeus, der Alles, was ist, mit Vateraugen segnet.

Sehr schön gesagt, erwiderte der Baron, wollen Sie nicht diese Liebfrauenmilch versuchen, der Wein macht seinem Namen Ehre – sehr schön gesagt, auch wohl wahr – nur nicht für problematische Naturen.

Was nennen Sie problematische Naturen?

Es ist ein Goethe'scher Ausdruck und kommt in einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat. Es giebt problematische Naturen, sagt Goethe, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug thut. Daraus, fügt er hinzu, entsteht der ungeheure Widerstreit, in dem sich das Leben ohne Genuß verzehrt. – Es ist ein grausiges Wort, denn es spricht in olympischer Ruhe das Todesurtheil über eine, besonders, in unseren Tagen, weit verbreitete Gattung guter Menschen und schlechter Musikanten. – Da ist Czika!

Wo?

Hinter Ihnen.

Oswald wandte sich um. In der offenen Thür, die auf den Balcon führte, stand das schöne Kind, vom rothen Licht der untergehenden Sonne umflossen. Ihr üppiges, tiefschwarzes Haar fiel von beiden Seiten über die feine Stirn auf die Schultern, die aus einer blauen Blouse hervorschauten, welche mit einem dünnen, rothseidenen Shawl um die schlanke Hüfte gegürtet war. Weite seidene Beinkleider reichten bis zu den mit Sandalen bekleideten, sonst nackten Füßen. Als sie einen Fremden in dem Zimmer erblickte, hatte sie sich leise, wie sie gekommen war, wieder wegstehlen wollen, bis der Ausruf des Barons sie bannte und Oswald sich umgewandt hatte. Bei seinem Erblicken flog ein freudiges Lächeln über ihr ernstes, dunkles Gesicht, und die braunen Gazellenaugen schauten beinahe zärtlich zu ihm empor, als er ihr jetzt, eine ihrer Hände in den seinen haltend und mit der andern ihr das üppige Haar schlichtend, vor ihr stand.

Czika kennt Dich, sagte sie; Du bist sehr gut. Du hast die Armen lieb, die Armen haben Dich lieb.

Eine Liebeserklärung! sagte Oldenburg, der am Tische sitzen geblieben war, lachend, die wievielste, Doctor, in den letzten acht Tagen! Doctor, Sie sind ein gefährlicher Mensch und ich werde mich genöthigt sehen, Ihnen mein Haus zu verbieten.

Warum bist Du nicht immer hier? sagte Czika, ihre großen Augen von dem Baron wieder zu Oswald wendend. Czika will mit Dir an dem großen Wasser sitzen, Czika will Dir Blumen auf der Haide pflücken. Warum bist Du nicht immer hier?

Er kann nicht immer hier sein, Czika, sagte der Baron, aber er wird recht oft herkommen. Nicht wahr, Doctor?

Die Thür nach dem Vorsaal wurde geöffnet und Madame Müller, oder Thusnelda, wie sie der Baron nannte, schaute herein.

Ich kann sie nicht – ah! da ist sie ja. Wo bist Du denn gewesen, mein Herzenspüppchen? komm, ich will Dich ein wenig zurecht machen. Wie Du wieder aussiehst – ganz voll Haidekraut, wie gewöhnlich; was sollen die Herren von uns denken.

So sprach die Matrone, das Kind mit sanfter Gewalt an der Hand aus dem Zimmer führend.

Sie müssen wissen, daß eine große Liebe zwischen den Beiden besteht, sagte der Baron. Meine alte Amme hat viel blühende Kinder gehabt, die alle frühzeitig gestorben sind. Anderer Frauen Herz wird durch solches Unglück oft verhärtet, aber Thusnelda's Herz ist weich geblieben, und jetzt liebt sie die Czika, als wäre sie ihr Letztgeborenes. Das ist aber nun gerade, als wenn eine Taube einen Falken ausgebrütet hätte. Czika's Tendenzen zu einem möglichst ungebundenen Dasein bringen die arme alte Dame alle Tage zehnmal in die größte Noth und Verzweiflung. Und dann ist noch ein Umstand. Thusnelda ist gut kirchenfromm – und Czika hat – horribile dictu – gar keine Religion – es müßte denn irgend ein geheimnißvoller Sterndienst sein, den sie begeht, wenn sie sich des Nachts von ihrem Lager stiehlt und auf der Höhe des Strandes im Mondenscheine tanzt, wie Thusnelda es mit Grausen und Schaudern gesehen zu haben schwört. Uebrigens glaube ich, Thusnelda hat in diesem Falle Recht. Ich habe wenigstens schon früher die Beobachtung gemacht, daß, wenn die Zigeuner Gegenstände der Anbetung haben, es Sonne, Mond und Sterne sind.

Haben Sie auf Ihren Reisen öfter Gelegenheit gehabt, mit diesem interessanten Volke in nähere Berührung zu kommen?

O ja, sagte der Baron, sogar in sehr nahe Berührung; besonders einmal – in Ungarn vor zwölf Jahren etwa.

Der Baron schwieg, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es in mehreren Absätzen langsam aus, die Augen auf die Tischdecke geheftet, wie Jemand, dessen Gedanken von einer Erinnerung ganz in Anspruch genommen sind.

Nun, sagte Oswald, wie war das?

Was? sagte der Baron, wie aus einem Traum erwachend; ja so, Sie wollen wissen, was ich in Ungarn mit den Zigeunern zu thun hatte.

Ich vermuthe, es steckt dahinter eine romantische Geschichte.

Allerdings, sagte der Baron; ich selbst stand damals noch in den Jahren, wo jeder Mensch, er müßte denn zufällig ein geborner Stockfisch sein, ein lebendiges Stück Romantik ist. Ich schwärmte für Eichendorff's mondscheindurchleuchtete Zaubernächte, für Brunnen und Wälderrauschen, und vor allem schwärmte ich für schlanke Mägdelein mit und ohne Guitarre am blauen Bande.

Meine ganze Weltanschauung war in einem eminenten Grade romantisch, vor allem meine Moral. Das ganze Leben hatte für mich nicht mehr Bedeutung, als ein Schattenspiel an der Wand, und das einzige Reelle, was ich gelten ließ, war die souveräne Ironie. Mit einem Worte, ich war ein charmanter Kerl, und wenn man mich an den ersten besten Galgen gehangen hätte, so wäre das nur »mir zur gerechten Straff, andern aber zum abscheulichen Exempul« gewesen.

Ich hatte damals das sogenannte Studiren in Bonn und Heidelberg gerade herzlich statt. Ich hatte in tausend Büchern vergeblich nach der Lösung des Räthsels gesucht, über dem sich schon so viel bessere Köpfe als ich den Kopf zerbrochen haben, und wollte es nun einmal auf andere Weise anfangen. Ich schrieb an meinen Vormund und drückte ihm den Wunsch aus, ein paar Jahre zu reisen. Der Vormund billigte diesen Plan höchlichst, wie er denn Alles billigte, was mein Spatzenkopf ausheckte – nur um mich loszuwerden – schickte mir Wechsel und Empfehlungsbriefe, und ich begab mich auf die Wanderschaft. Ich reiste durch Süd-Deutschland, die Schweiz, Ober-Italien. Wenn Sie einen aber auch nur oberflächlichen Bericht dieser Reise von mir verlangten, so käme ich in die größte Verlegenheit. Ich weiß von den Gegenden noch gerade so viel, wie von den Landschaften, die man im Traume sieht. Zuletzt war ich in Ungarn. Der Zufall, der überhaupt mein Reisemarschall war, hatte mich dort hingeführt. Ich war in Wien mit einem jungen ungarischen Edelmann bekannt geworden, dessen Vater am Fuße des Tetragebirges reich begütert war. Er hatte mich eingeladen, mit ihm zu kommen; ich war dieser Einladung gefolgt. Wir führten ein sehr idyllisches Leben, dessen Hauptingredienzien Würfel, Wein und Weiber waren. Herr von Kryvan hatte ein paar sehr schöne Schwestern, in die ich mich der Reihe nach verliebte. Sodann begeisterte ich mich für die französische Gesellschafterin der alten Frau von Kryvan, die eben frisch von Paris gekommen war, und die jungen Ungarinnen durch die Grazie ihrer Manieren, ihr Conversationstalent und ihren Geschmack in Sachen der Toilette beschämte.

Als ich einst, voll von dem Bilde dieser Huldin, die ich nebenbei einige Jahre darauf in Paris unter wesentlich anderen Verhältnissen wieder traf – für den Augenblick glaubte ich an die Echtheit ihrer Perlen und ihrer Tugend – als ich einst, sage ich, träumend in dem Walde umherlief, der sich von Kryvan weit in das Gebirge hinauf erstreckte, führte mich mein Reisemarschall: der Zufall auf eine Lichtung im Walde, die sich eine Zigeunerbande zum temporären Wohnort erwählt hatte. Kleine Hütten aus Lehm und Reisig in archaischem Style aufgeführt, eine Feuerstelle, an der ein altes Mütterchen einen Marder briet, Thierfelle und Lumpen an den Zweigen der Bäume zum Trocknen aufgehängt – das war das Bild, das sich meinen erstaunten Blicken darbot. Die ganze Bande war abwesend, mit Ausnahme besagter alter Hexe, einiger ganz kleiner Kinder, die sich in paradiesischer Nacktheit im Sande wälzten, und eines Zigeunermädchens von fünfzehn Jahren etwa –

Der Baron schenkte sich ein Glas voll und trank es mit einem Zuge aus.

Von fünfzehn Jahren etwa – vielleicht war sie auch älter – es ist das Alter von Zigeunermädchen schwer zu bestimmen. Sie war schlank, und geschmeidig, wie ein Reh, und ihre dunklen Augen leuchteten in einem so magisch sinnlich-übersinnlichen Feuer, daß mich ein Schauder des Entzückens packte, als ich tief und tiefer hineinschaute, während sie unter allerlei Manipulationen mir aus der flachen Hand mein Schicksal verkündete. Mein Schicksal war in ihren Augen viel deutlicher zu lesen, als in meiner Hand. Ich war entzückt, berauscht, außer mir; die Welt war für mich versunken. – Sie erinnern sich, daß ich damals zwanzig Jahre und Romantiker von reinstem Wasser war – und daß ein Zigeuner sein, sich von Mardern nähren und sich in den Augen eines Zigeunermädchens sonnen, der Weisheit letzter Schluß und das höchste Ziel menschlichen Strebens sei, war für mich über allen Zweifel erhaben. Ich blieb bei den Zigeunern – ich weiß nicht, wie viel Tage. Meine Freunde im Schlosse glaubten, die Wölfe hätten mich zerrissen. – Da, eines Abends – die Sonne war schon hinter die Bergwand gesunken, die unsern Lagerplatz nach Westen schirmte – die Bande war noch nicht von ihrem Streifzuge zurück – ich saß mit der Zingarella am Fuß einer alten Eiche und war selig in meiner jungen Liebe – da –

Ich glaube gar, wir bekommen noch Besuch – unterbrach sich der Baron; war das nicht eine fremde Stimme?

Ich hoffe nicht, sagte Oswald.

Die Thür wurde geöffnet, der alte Hermann schaute herein und sagte:

Herr von Cloten wünscht seine Aufwartung zu machen, Herr Baron; sind Sie zu Hause?

Bewahre, sagte der Baron; aber freilich, ich kann ihn nicht gut abweisen; er kommt um mich – hm, hm!

Lassen Sie sich durch mich in der Ausübung Ihrer Gastfreundschaft nicht stören, sagte Oswald, aufstehend.

Bleiben Sie! bleiben Sie! sagte der Baron; er wird sich hoffentlich nicht lange aufhalten. Er kommt in einer gewissen Angelegenheit, in welcher er meinen Rath haben will. Das ist Alles. Führe ihn herauf, Hermann!

Einen Augenblick darauf trat Herr von Cloten ein. Er war in Reitfrack und Stulpenstiefeln und schien einen weiten Ritt gemacht zu haben. Wenigstens sah er sehr erhitzt aus. Oswald's Anwesenheit schien ihn zu ärgern, oder verlegen zu machen; wenigstens begrüßte er ihn mit auffallender Förmlichkeit, nachdem er dem Baron die Hand geschüttelt hatte.

Sehr warm heute, sagte er, auf einem Stuhl, den ihm der Baron anbot, am Tische Platz nehmend; Robin trieft von Schweiß; habe Ihrem Reitknecht gesagt, ihn mit Stroh abzureiben. Conservirt die Pferde merkwürdig. Angenehmer Wein, – Liebfrauenmilch? – famoser Wein – hatten neulich auch welchen in Barnewitz – nicht halb so gut. Apropos, Barnewitz – gut bekommen, Baron? War etwas vor der Zeit fortgefahren – Hitze wirklich abominabel –

Wollen Sie nicht ablegen, Cloten?

Danke, danke! Will gleich wieder fort; wollte nur einmal, weil gerade in der Nähe – war auf Grenwitz – Alles ausgeflogen dort – vorsprechen, zu sehen, wie es steht.

Aber Sie werden doch ein paar Minuten Zeit haben.

Keinen Augenblick – auf Ehre, sagte Herr von Cloten, sein Glas leerend und aufstehend, spreche morgen vielleicht wieder vor. Adieu, Baron.

Von Cloten verbeugte sich wiederum sehr förmlich vor Oswald und schritt, von dem Baron begleitet, nach der Thür.

Bitte, bitte, derangiren Sie sich nicht, sagte Cloten.

Ich will mir nur Ihren Robin einmal ansehen, sagte den Baron und dann zu Oswald: entschuldigen Sie mich für ein paar Augenblicke, Herr Doctor.

Oswald war allein; das auffallend kühle Benehmen des jungen Edelmanns hatte, wie sehr er denselben auch verachten zu dürfen glaubte, doch seinen verletzlichen Stolz beleidigt. Er ging erregt in dem Gemache auf und ab. Sein Adelhaß hatte wieder neue Nahrung bekommen; auch Oldenburg's Benehmen schien ihm während Cloten's Visite weniger herzlich gewesen zu sein.

Ich sage es ja, murmelte er durch die Zähne, wo zwei zusammen sind, ist der Kastengeist mitten unter ihnen und sie fließen zusammen wie Quecksilber.

Sein Blick haftete auf den grünseidenen Vorhang, zwischen den beiden Bücherschränken, der seine Aufmerksamkeit schon vorhin erregt hatte.

Welches ist denn dies verschleierte Bild? irgend ein wollüstiger Correggio vermuthlich; auf jeden Fall ein Beitrag zur intimeren Kenntniß dieses wunderlichen Mannes. Sie entschuldigen meine Neugierde, Monsieur le Baron!

Oswald zog mit einem Ruck der seidenen Schnur den Vorhang zurück; und der Jüngling zu Sais, der den Schleier von dem heiligen Bilde der Isis hob, kann kaum mehr erschüttert gewesen sein, als es Oswald war, wie er jetzt anstatt eines farbetrunkenen italienischen Gemäldes in einer Nische eine Büste aus keuschem weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem Haarschmuck und ein wenig idealisirt, nichts war, als ein sprechend ähnliches Portrait Melitta's. Das war ihr reiches, welliges Haar, das war ihre schöne zarte Stirn, die feine gerade Nase, das waren die weichen, selbst noch im Marmor thaufrischen Lippen!

Ehe sich Oswald von seinem Erstaunen, dem Bilde der Geliebten sich so plötzlich gegenüber zu sehen, nur so weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.

Entschuldigen Sie meine Indiscretion, sagte Oswald, sich schnell fassend; aber wer heißt Sie auch, verschleierte Bilder in einem Sanctuarium aufstellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt gewähren.

Sie haben Recht, sagte der Baron, ohne eine Spur von Verwirrung; dieser grüne Schleier ist, wie andere Schleier auch, geradezu provocirend, und nebenbei ist es sehr thöricht, die Copie zu verhüllen, da Jedermann das Original unverhüllt sehen kann, wenn er sich die Mühe giebt, nach Palermo zu reisen, und sich eine Erlaubniß verschafft, die Villa Serra di Falco besuchen zu dürfen.

In der That! sagte Oswald, den die unverwüstliche Ruhe, mit welcher ihm der Baron dies Märchen aufzuheften suchte, ein wenig ärgerte: also bei Palermo? ich war schon versucht, das Original weniger weit zu suchen.

Sie meinen im Berliner Museum? sagte der Baron; es existirt dort allerdings eine Muse, die mit diesem Bilde große Aehnlichkeit hat, aber der Unterschied ist doch, wenn Sie genauer vergleichen, sehr bedeutend.

Allerdings, sagte Oswald; die Nase ist an jenem Bilde energischer; auch ist die Haltung des Kopfes eine andere, und überhaupt die Aehnlichkeit mit Frau von Berkow, die an dieser Büste so frappant ist, weniger auffallend.

Finden Sie? sagte der Baron, aufstehend und vor das Bild tretend. Wahrhaftig, Sie haben Recht. Es ist wirklich eine flüchtige Aehnlichkeit zwischen diesem Bilde und Frau von Berkow. Nun, das macht mir das Bild nicht schlechter, denn ich gestehe, daß es wenige Damen auf der Welt giebt, an die ich mich so gern erinnern ließe, als an diese, ebenso liebenswürdige wie geistreiche Frau.

Der Baron zog den Vorhang wieder über das Bild, als wünschte er, jetzt das Gespräch darüber abzubrechen.

Kommen Sie, Doctor, sagte er, setzen Sie sich wieder und thun Sie, als ob Cloten, dieser geistreichste Jüngling, nicht hier gewesen wäre.

Ich glaube, es ist die höchste Zeit, daß ich aufbreche, sagte Oswald; die Sonne ist im Untergehen – ich möchte gerade heute nicht spät nach Hause kommen.

Wie Sie wollen, sagte der Baron; man soll den kommenden Gast willkommen heißen und den davoneilenden nicht halten. Ich habe große Lust, Sie eine Strecke zu begleiten. Sind Sie Reiter?

Ein wenig.

So wollen wir reiten, wenn es Ihnen recht ist. Ich nehme einen meiner Leute mit. Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick. Ich will nur ein wenig Toilette machen und die nöthigen Befehle geben.

Sie sitzen gut zu Pferde, Doctor, sagte der Baron, als sie eine Viertelstunde später auf der Höhe des Strandes langsam dahinritten. Es ist wirklich merkwürdig, welch' wunderbares Talent Sie in diesen Dingen zeigen. Ich glaube, es giebt keine körperliche Geschicklichkeit, in der Sie es nicht in kurzer Zeit zur Meisterschaft bringen könnten.

Es ist das um so merkwürdiger, sagte Oswald, weil ich doch eigentlich in Folge meiner plebejischen Geburt und Erziehung gar keine Ansprüche auf diese aristokratischen Vorzüge machen kann.

Schade, daß ich nicht Cloten bin, sagte der Baron.

Weshalb?

Weil ich dann die Ironie in Ihren Worten nicht im Entferntesten ahnen, im Gegentheil durch Ihre rührende Bescheidenheit von der an Haß grenzenden Abneigung gegen Sie zurückkommen würde.

Ist Herr von Cloten so gegen mich gesinnt?

Denken Sie denn, daß einem Dandy lieb ist, wenn ein Anderer sich im Pistolenschießen, Tanzen, Courmachen, kurz in Allem überlegen zeigt, was der größte Stolz seiner kleinen Seele ist? Weiber und weibische Männer verzeihen dergleichen nie. Ich habe mich an dem Abend in Barnewitz königlich über die Gesichter amüsirt, die, natürlich hinter Ihrem Rücken, von einigen dieser geistreichen Jünglinge geschnitten wurden, und mir leider den billigen Spaß gemacht, durch allerlei kleine Teufeleien diese Püppchen noch mehr in Harnisch zu bringen.

Warum leider? ich versichere Sie, daß mir an der guten oder schlechten Meinung dieser Herren sehr wenig gelegen ist.

Ohne Zweifel, aber Sie sind, so lange Sie in dieser Gegend bleiben, genöthigt, mit diesen Herren zu verkehren, und es ist eine Regel der allergewöhnlichsten Klugheit, daß man seine Mitreisenden nicht geflissentlich auf die Hühneraugen tritt. – Wer zum Teufel kommt denn da querfeldein von Cona her?

Dieser Ausruf des Barons galt dem geheimnißvollen Reiter, welchen Oswald bei seiner Ankunft bemerkt hatte, und der jetzt wieder quer über die Haide herantrabte, und ungefähr tausend Schritte vor ihnen auf den Weg gelangte.

Oswald erzählte dem Baron, was ihm mit dem Reiter begegnet war.

Das müssen wir doch untersuchen, sagte der Baron; lassen Sie uns einmal Trab reiten.

Sie hatten kaum ein paar Schritte zurückgelegt, als der Reiter vor ihnen, wie auf Verabredung, sein Pferd ebenfalls in Trab setzte. Es schien, als ob er sich einige Male verstohlen umschaute; doch war dies bei dem Dämmerlichte, das jetzt herrschte, nicht mehr deutlich zu erkennen.

Versuchen wir es einmal mit Galopp, sagte Oswald; ich sehe, der Geheimnißvolle macht es gerade so, wie heute Nachmittag.

Sie befanden sich jetzt auf der weiten ebenen Fläche, die sich allmälig zum Fischerdorf senkend, dem steinigen und weniger ebenen Terrain des Vorgebirges, auf welchem Oldenburg's Villa lag, folgte. Der mit einer nur dünnen Erdschichte, in welcher spärliches Haidekraut wuchs, überkleidete felsige Boden erdröhnte vom Hufschlag der Pferde, die jetzt wacker ausgriffen.

Der Geheimnißvollen war, so wie sein Ohr den schnelleren Hufschlag vernahm, dem Beispiele gefolgt und galoppirte jetzt, immer in derselben Entfernung, vor seinen Verfolgern her.

Stern chase is a long chase, sagte Oldenburg, dem die Sache großes Vergnügen zu machen schien. Der Bursche ist übrigens ausgezeichnet beritten. Sehen Sie nur, wie das Thier den Boden kaum mit den Hufen zu berühren scheint. Weißt Du nicht, Karl, wer es sein kann?

Nein, Herr, sagte der Reitknecht, der jetzt in einer Linie mit den beiden Herren ritt; es kann Niemand aus unserer Gegend sein, sonst müßten wir ihn schon eingeholt haben.

Karl schmeichelt sich nämlich mit dem Gedanken, daß er die besten und schnellsten Pferde weit und breit unter seinem Commando hat, bemerkte der Baron.

Er hält es auch nicht lange mehr aus, Herr, sagte Karl.

Das müssen wir abwarten, meinte der Baron.

Sollen wir nicht, um dem Dinge ein Ende zu machen, die Pferde einmal laufen lassen? sagte Oswald nach einigen Minuten; es muß sich dann ja zeigen, ob wir ihn einholen können oder nicht.

Meinetwegen, sagte Oldenburg, en avant!

Die drei Reiter ließen ihren Pferden die Zügel. Die edlen Thiere, wie entzückt über die ihnen gewährte Freiheit, und als wüßten sie, daß ihr Ruf als beste Renner der ganzen Gegend heute auf dem Spiele stand, stürmten mit gewaltiger Geschwindigkeit dahin, zuerst Brust an Brust, bis Oldenburg's Rappe die Spitze nahm und behauptete, so oft auch eins der beiden andern Pferde ihm den Rang streitig zu machen suchte.

Der Geheimnißvolle hatte, als seine Verfolger ihre Pferde in Carriere setzten, sie bis auf fünfhundert Schritt herankommen lassen. Schon glaubten sie die Jagd ihrem Ende nahe und der Reitknecht seine und seiner Pferde Ehre gerettet, als plötzlich der Mann vor ihnen seinem Renner die Sporen gab und seinen Kopf tief hinab bis fast auf die Mähne des Thieres beugend mit einer Schnelligkeit dahinschoß, die bald die Unmöglichkeit ihn einzuholen selbst dem wüthenden Reitknecht klar machte.

Ich glaube, es ist der Teufel selber, sagte er durch die Zähne.

Oldenburg lachte; ich glaube es auch, rief er; wir wollen die Sache aufgeben.

Es dauerte einige Zeit, bis die aufgeregten Pferde sich beruhigen konnten. Der Geheimnißvolle stürmte mit unverminderter Geschwindigkeit weiter und war schon nach wenigen Minuten in dem Hohlwege, der nach dem Fischerdorfe hinunterführte, verschwunden.

Eine halbe Stunde später langten sie vor dem Thore von Grenwitz an. Oswald stieg ab und übergab die Zügel seines Pferdes dem Reitknecht, um dem Baron die Hand zu schütteln.

Wenn Sie sich nicht allzusehr gelangweilt haben, sagte dieser, so wollen wir das Experiment in den nächsten Tagen wiederholen. Leben Sie wohl!

Oswald gelangte auf seine Stube, ohne auf dem stillen Hofe, in dem stillen Hause auch nur einem Menschen begegnet zu sein. Als er sich an das offene Fenster lehnte und in den schon vom Abenddunkel erfüllten Garten hinabsah, bemerkte er zwei Gestalten, die flüsternd und kosend in den Gängen auf- und abschritten. Es waren Albert und Marguerite. Sie hatten offenbar die schöne Gelegenheit, in der Conjugation von aimer weiter zu kommen, nicht unbenutzt verstreichen lassen.

Vierunddreißigstes Capitel

Mein Herr! Nach allen Seiten gleichmäßig zu reüssiren, gelingt Keinem, selbst nicht dem vom Glück am meisten begünstigten Ritter. Werden Sie es daher begreiflich finden, wenn Jemand, der mit einigem Staunen die Fortschritte beobachtet hat, die Sie in der Gunst einer gewissen Dame machten, das Geheimniß des Zaubers Ihrer Persönlichkeit kennen zu lernen und zu dem Zwecke die Ehre Ihrer näheren Bekanntschaft wünscht? Und würden Sie wohl, um ihm dies Vergnügen zu gewähren, die Güte haben heute Abend 11 Uhr einen Spaziergang aus dem kleinen Thore von Grenwitz zu unternehmen? Sie würden im Schatten der alten Buche auf dem Wege nach Berkow einen Wagen treffen, in den Sie nur zu steigen brauchten, um an den Ort des Rendezvous zu gelangen. Dort sollen Sie Alles finden, was zur Anknüpfung eines intimeren Verhältnisses nöthig ist.

Es ist wohl nicht besonders nothwendig, Sie daran zu erinnern, daß diese delicate Angelegenheit in Geheimniß gehüllt bleiben muß. Der Lenker des Wagens wird aus der Antwort Moi auf seinen Anruf: qui vive? hören, daß Sie der Rechte sind. A revoir, Monsieur!

So lautete der Inhalt eines expressen Briefes, den der Postbote aus dem nächsten Städtchen am Abend des folgenden Tages Oswald brachte.

Er las das sonderbare Schreiben mehrmals, bevor er sich von seinem Erstaunen erholen konnte. Wer war der »Jemand«, der seine nähere Bekanntschaft zu machen wünschte? wer die Dame, um die es sich handelte? War das Geheimniß der Waldcapelle entweiht worden? hatte Jemand die Scene in der Fensternische auf dem Balle in Barnewitz belauscht? Konnte Herr von Cloten der Herausforderer sein? Das auffallend kühle Benehmen dieses jungen Edelmannes bei der zufälligen Begegnung gestern schien dafür zu sprechen. Oder war diese Begegnung nicht zufällig, und stand der geheimnißvolle Reiter damit in Verbindung? war es nur ein Spion Clotens? Aber war die Unterredung zwischen Herrn von Barnewitz und dem Baron, bei welcher Oswald ein so unfreiwilliger Zeuge gewesen war, nicht Beweis genug, daß Cloten nach einer ganz andern Seite hin in Anspruch genommen und mit seinen eigenen Angelegenheiten vollauf beschäftigt war?

Oswald ließ die Reihe der jungen Edelleute, die er auf dem Balle in Barnewitz kennen gelernt hatte, an seinem Geiste vorübergehen, und sein Verdacht blieb schließlich auf dem jungen Grafen Grieben haften, jenem langen, blonden Jüngling, der so komische Anstrengungen machte, den starken Geist zu spielen und sich die Gunst der übermüthigen Emilie zu erwerben, und in beiden Bemühungen so unglücklich gewesen war. Er konnte am ersten der Erfinder der Phrase von dem »vom Glück begünstigten Ritter« sein.

Was sollte er thun? Sollte er sich der vielleicht nichts weniger als edlen Rache der jungen Edelleute aussetzen? sollte er in einen Kampf gehen, in welchem er die Wahl der Waffen, der Zeugen, des Ortes, kurz Alles seinem Gegner zu überlassen gezwungen war? Konnte es ihm ein billig denkender Mann verargen, wenn er die Herausforderung eines Namenlosen unbeachtet ließ?

Aber hatte er es denn mit billig denkenden Männern zu thun? hatte er nicht längst erfahren, bewies nicht Alles, was er sah und hörte, daß in diesen bevorzugten Kreisen subjectives Belieben für Recht galt und die frivolste Laune des Augenblicks die Richtschnur des Handelns war? Fand sich dieser Zug nicht selbst bei denen, welche Geist und Charakter so hoch über den gewöhnlichen Troß ihrer Standesgenossen erhob: bei Oldenburg und Melitta?

Und würde ihm ein Ablehnen der Herausforderung nicht als Feigheit, nicht als ein Mangel jenes feinen Ehrgefühls ausgelegt werden, auf welches sich dieser Adel so viel zu Gute that?

Nein, nein; er mußte den Fehdehandschuh aufnehmen, wie verächtlich auch die Hand sein mochte, die ihm denselben aus dem Dunkel heraus vor die Füße geschleudert hatte. Er mußte den Junkern zeigen, daß er sich nicht fürchtete, allein, ohne Freunde, waffenlos ihrer Rache gegenüber zu treten.

Sein Blut kochte. Er ging erregt im Zimmer auf und ab.

Nur zu, nur zu! murmelte er durch die Zähne; ich wollte, sie stellten sich mir gegenüber, einer nach dem andern, mein Haß würde mir die Kraft geben, sie Alle niederzuschmettern. Es ist ganz recht so, ganz recht! Was habe ich hier zu thun unter diesen Wölfen? Zerrissen werden oder zerreißen – das hätte ich mir von vornherein sagen können.

Oswald fühlte, wie aus dem tiefsten Grunde seiner Seele, in den sein Auge noch nie gedrungen war, es aufstieg mit dämonischer Gewalt. Eine wilde Leidenschaft, ein heißer Durst nach Rache, ein wahnsinniges Verlangen, zu zerstören, zu vernichten, erfaßte ihn; der ganze fanatische Haß gegen den Adel, den er als Knabe empfunden, wenn er seinem Vater in dem Garten hinter der Stadtmauer die Pistolen lud, mit denen jener auf die Asse schoß, die eben so viele Herzen von Adeligen bedeuteten; wenn er auf der Schulbank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier las, oder auf seiner Stube die thränenreiche Geschichte der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen! Hier in diesem Schlosse, vielleicht in denselben Zimmern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adeliger Grausamkeit verblutet: hier hatte die arme, unglückliche, schöne Marie mit tausend heißen Thränen die Thorheit bezahlt, den Worten des adeligen Verführers geglaubt zu haben!

Sie war als Opfer gefallen, denn sie war ein schwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen, Thränen, die kein Erbarmen fanden. Diese Thränen waren noch nicht gesühnt. Wie? wenn er als Rächer für sie aufstände, wenn er diese Thränen eines Bürgermädchens sühnte in dem Blut eines Adeligen?

Solche Gedanken wirbelten durch Oswald's Gehirn, während er für den Fall eines schlimmen Ausgangs – den er übrigens sonderbarer Weise kaum für möglich hielt, so schnell hatte er sich in die Rolle eines Rächers gefunden – einige flüchtige Vorbereitungen traf, das heißt, die Briefe, von denen er nicht wünschte, daß sie jemals in fremde Hände fielen, verbrannte, und überhaupt etwas Ordnung in seine Papiere brachte; schließlich auch ein paar Zeilen an Professor Berger schrieb, die er aber hernach wieder zerriß und in den Ofen warf.

Das Volk ist nicht werth, daß man seinethalben so viel Umstände macht; sagte er bei sich.

Mit Ungeduld erwartete er die bezeichnete Stunde.

Es schlug zehn auf der Schloßuhr. Er hörte, daß die Leute zu Bette gingen, auch aus Albert's Zimmer schimmerte Licht in den dunklen Garten hinab. Es schlug halb elf. Oswald machte sorgfältig Toilette, nahm eine Rose aus einem Blumenstrauß, den er sich heute im Garten gepflückt hatte, und steckte sie in's Knopfloch.

Dann ging er leise aus seinem Zimmer die enge Treppe, auf welcher Marie in jener stürmischen Herbstnacht sich aus dem Schloß gestohlen hatte, hinab in den Garten, durch den Garten nach dem Gitterthor, welches neben dem Schloß auf den Hof führte und von dem man nur noch ein paar Schritte zu dem kleinen Thore hatte, vor welchem ihn der Wagen erwarten sollte.

Der nächtliche Himmel war mit Wolkendunst bedeckt, durch welchen nur spärliche Sterne leuchteten; es war so finster, daß Oswald, bis sich sein Auge an das Dunkel gewöhnt hatte, den so bekannten Weg mit Vorsicht gehen mußte, um nicht rechts oder links in den Graben zu gerathen.

Plötzlich tauchte ein großer Gegenstand vor ihm auf, und in demselben Augenblick rief eine tiefe rauhe Stimme: qui vive!

Moi, antwortete Oswald.

Er sah die undeutlichen Umrisse einer langen Gestalt, die ihm die Thür des Wagens öffnete und den Schlag herabließ.

Sobald er eingestiegen war, wurde die Thür hinter ihm geschlossen und sofort zogen auch die Pferde an; er konnte nicht erkennen, ob die Gestalt neben dem Kutscher Platz genommen hatte, oder der Kutscher selbst war.

Kutscher und Pferde mußten den Weg sehr genau kennen, oder in dunkler Nacht so gut sehen können, wie am hellen Tage; denn der Wagen bewegte sich mit einer Schnelligkeit, gegen die selbst ein ungeduldiger Liebender nichts hätte einwenden können. Der Weg war gut, und wenn auch hie und da ein Stein im Geleise lag, so hing der Wagen in so vortrefflichen Federn, daß man den dadurch verursachten Stoß kaum spürte.

Oswald lehnte sich in die schwellenden Kissen. Der weiche Sammet schien einen feinen Wohlgeruch auszuströmen, der den engen Raum erfüllte, wie das Boudoir einer hübschen Frau. Ja, es war Oswald, als ob es dasselbe Parfüm sei, das Melitta immer benutzte. Und plötzlich war es ihm, als säße Melitta neben ihm, als berühre ihre warme weiche Hand seine Hand, als fühlte er das Wehen ihres Athems an seiner Stirn, als legten sich ihre Lippen leicht wie ein Hauch auf seinen Mund.

Und vor diesem wonnigen Traum sank die Wirklichkeit in Nichts. Oswald vergaß, was er vorhatte; er dachte nicht daran, was seiner harrte; er wußte nicht mehr, wo er war – und nur sie, sie allein erfüllte seine Seele. Wie eine Sturmfluth von Seligkeit überkam ihn die Erinnerung an ihren Liebreiz, ihre Güte, ihre holde Rede und ihren süßen Kuß. Mit wunderbarer Klarheit zogen die köstlichen Bilder der einzig wonnigen Stunden, die er an ihrer Seite, zu ihren Füßen verlebt hatte, durch seine Erinnerung, von jener ersten Begegnung auf dem Rasenplatze hinter dem Schlosse von Grenwitz bis zu dem Augenblick, wo sie, mit Thränen in den lieben Augen, sich von ihm wandte in jener Nacht unseligen Angedenkens, wo der Dämon der Eifersucht die scharfen Krallen in sein zuckendes Herz schlug.

Vergieb mir, Melitta; vergieb mir! stöhnte er, seinen Kopf in die Kissen drückend.

Da plötzlich hielt der Wagen. Die Thür wurde aufgerissen; die lange Gestalt, die ihm den Schlag herabgelassen hatte, half ihm aussteigen, reichte ihm die Hand, führte ihn einige Stufen hinauf zu einer großen Fensterthür, durch deren rothe Vorhänge ein mattes Licht schimmerte. Die Thür that sich auf, und Oswald sah sich in dem Gartensaal von Melitta's Schloß und Melitta schlang ihre Arme um seinen Hals und Melitta's Stimme flüsterte: vergieb mir, Oswald! vergieb mir!

Du Grausamer! sagte Melitta, als der erste wilde Sturm des Entzückens mit seinen Thränenschauern der Wonne vorübergebraust war; wie hast Du nur so viele Tage Dein Herz vor mir verschließen können, und wußtest doch, daß ich da draußen stand und um Einlaß bettelte! Aber ich will Dich nicht schelten. Du bist ja hier und nun ist Alles wieder gut.

Sie legte ihren Kopf an seine Brust und schaute durch Thränen lächelnd zu ihm empor; nicht wahr, lieb' Herz, nun ist Alles wieder gut? nun ist Melitta wieder, was sie Dir vorher war, was sie Dir ewig sein wird, trotz aller hübschen sechszehnjährigen Mädchen, sie mögen Emilie heißen oder –

Melitta!

Oder Melitta! denn es giebt nur eine Melitta und wenn tausend so hießen und diese eine bin ich. Und daß Du diesen wichtigen Umstand vergessen konntest, welche Umstände hast Du mir dadurch bereitet, mir und dem alten armen Baumann! Ich will von mir nichts sagen, denn Leid will Freud und Freud will Leid haben, und wenn man rechtschaffen liebt, kommt es auf ein paar Thränen, ein paar durchwachte Nächte, ein paar angefangene und wieder zerrissene Briefe mehr oder weniger nicht an; aber der arme Baumann! Denke Dir nur! ich war am ersten Tage ganz ruhig, denn ich dachte: er wird schon kommen, und Dich um Verzeihung bitten; als Du aber nicht kamst, nicht am zweiten, nicht am dritten Tage, da sank mir der Muth und ich mag wohl recht trostlos ausgesehen haben, denn wie ich hier, den Kopf aufgestützt, saß, fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und als ich aufschaue, steht der gute alte Baumann da und sagt: soll ich einmal nachsehen, wo er so lange bleibt? – Ach ja, lieber Baumann, sagte ich. Da ging die treue Seele, ohne weiter ein Wort zu sagen fort, und kam erst spät am Abend wieder. Hat Er ihn gesehen? – Zu Befehl; er ist wohl und munter; ich bin mit ihm in die Wette geritten.

So war der alte Baumann der geheimnißvolle Reiter?

Natürlich, und er lachte in seiner stillen Weise, wie er erzählte, daß Ihr ihn gejagt hättet, als wollte er sagen: diese Kinder! dachten, sie könnten mich überholen auf dem Brownlock!

Das war der Brownlock, von dem mir Bruno schon so viel vorgeschwärmt hat, ja freilich! nun erklärt sich Alles!

Nicht wahr? nun erklärt sich auch, weshalb sich Baumann hinsetzte und nach meinem Dictat den Brief schrieb. Der Alte wollte nicht und sagte: ein Duell ist kein Kinderspiel und das heißt den Scherz zu weit treiben; aber ich lachte und weinte bis er es doch that, und heute Morgen noch einmal auf den Brownlock stieg und in die Stadt ritt und heute Abend nach Grenwitz fuhr.

Und wenn ich nun der Herausforderung nicht gefolgt wäre?

Das deutete auch Baumann an und ich antwortete ihm: schäme Er sich, Baumann, so etwas zu sagen.

Oswald lachte: Natürlich! wir müssen uns jedesmal schämen, so oft wir etwas sagen oder thun, was nicht in die Welt paßt, wie sie sich in Euren Köpfen malt.

Melitta antwortete nicht und Oswald sah, daß ein Schatten über ihr Gesicht flog. Er ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und sagte, ihre herabhängende Hand ergreifend:

Habe ich Dich beleidigt, Melitta?

Nein, sagte sie; aber diese Bemerkung hättest Du vor acht Tagen nicht gemacht.

Wie meinst Du das?

Komm, steh auf! laß uns ein wenig in den Garten gehen. Es ist so schwül in den Zimmern; mich verlangt nach der kühlen Nachtluft.

Sie gingen hinab in den Garten und wanderten Arm in Arm zwischen den Beeten, bis sie zu der niedrigen Erdterrasse gelangten, wo Oswald, als er an jenem Sonntag Nachmittag den Besuch auf Berkow machte, Melitta getroffen hatte. Sie setzten sich unter den Tannenbaum, der seine Aeste schützend über sie breitete, auf eine der Bänke. Die Nacht war lautlos still; die Bäume standen unbeweglich, wie in tiefem Schlaf; würziger Blumenduft erfüllte die warme thaulose Luft; Glühwürmchen irrten wie leuchtende Sterne durch das Dunkel.

Du hast mir auf meine Frage immer noch nicht geantwortet, Melitta? sagte Oswald, was haben denn die letzten acht Tage an mir verändert? bin ich nicht mehr derselbe, der ich war, nur daß die bittere Reue, Dir weh gethan zu haben, meine Liebe zu Dir noch tiefer und inniger gemacht hat?

Melitta antwortete nicht: plötzlich sagte sie schnell und leise:

Bist Du seit dem Sonntag in Barnewitz oft mit ihm zusammengewesen?

Mit wem, Melitta?

Nun mit – mit Baron Oldenburg. Gott sei Dank, endlich ist es heraus! Es ist recht kindisch und thöricht, daß ich mich bis jetzt stets gesträubt habe, Oldenburgs zu erwähnen, und Dir zu sagen, welches meine Beziehungen zu dem Manne waren, und doch fühlte ich, daß Du ein Recht hattest, es zu wissen, und daß ich die Pflicht habe, von meiner Vergangenheit, wo sie Dir dunkel scheinen muß, den Schleier zu heben. Dies Gefühl wurde zuletzt, besonders, als ich seit gestern wußte, daß Du mit dem Baron auf einem intimen Fuße standest, so stark, daß ich Dich um jeden Preis hier zu haben wünschte, und da verfiel ich denn auf den kindisch dummen Einfall.

Ich habe nicht, wie Du sagst, das Recht zu einer solchen Neugier, Melitta; antwortete Oswald. Für die Liebe, die Du mir gewährst, muß ich dankbar sein und bin ich dankbar, wie für eine holde Gnade des Himmels. Ja, ich gestehe, es gab eine Zeit, wo meine Liebe noch den Zweifel kannte, aber da war sie noch nicht die echte Liebe. Jetzt ist es mir nicht denkbar, ich könnte je aufhören Dich zu lieben, und Deine Liebe könnte jemals aufhören. Ja, es ist mir, als ob diese Liebe, wie sie ewig sein wird, auch schon von Ewigkeit gewesen wäre. Ob Du schon früher geliebt hast, ich weiß es nicht; es ist möglich, aber ich verstehe es nicht und würde es nicht verstehen, wenn Du es mich auch ausdrücklich versichertest.

Und ich versichere Dich, sagte Melitta, sich zärtlich an den Geliebten schmiegend; ich habe nie geliebt, bis ich Dich sah; denn, was ich früher Liebe nannte, war nur die unbefriedigte Sehnsucht nach einem Ideal, das ich im tiefsten Herzen trug, das sich mir niemals zeigen wollte, und das, jemals zu finden, ich schon seit Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte.

Und Du glaubst, ich sei dies verkörperte Ideal? Arme Melitta! wie bald wirst Du aus diesem Traum erwachen! Erwache, Melitta! erwache – noch ist es Zeit!

Nein, Oswald, es ist zu spät. Es giebt eine Liebe, die stark ist wie der Tod, und aus ihr giebt es kein Erwachen. Nein! kein Erwachen! Ich fühle es, ich weiß es. Und wenn Du Dein Antlitz von mir wendetest, und wenn Du mich von Dir stießest – Dir gegenüber habe ich keinen gekränkten Stolz, keine verletzte Eitelkeit – nur Liebe, unergründliche, unermeßliche, unerschöpfliche Liebe. Bis jetzt wußte ich nur, daß ich lieben könne; wie sehr ich lieben könne, hast Du mich erst gelehrt.

Und so kann ich auch ruhig über die Zeit sprechen, in der ich Dich noch nicht kannte – denn jenes Leben war nur ein Scheinleben – und Alles, was ich fühlte und dachte, ein unbestimmtes Träumen ohne Zusammenhang und Sinn. Jetzt weiß ich es, jetzt, wo ich in dem Sonnenstrahl Deiner Liebe die Augen aufschlug und nun das Leben so durchsichtig klar vor mir liegt, daß mir die dichte Nacht, die uns umgiebt, heller dünkt, wie sonst der lichteste Tag, und die dunkelsten Räthsel meines Herzens gelöst sind. Jetzt kann ich von der Melitta der früheren Zeit sprechen, wie von einem fremden Wesen, für dessen Thun und Lassen ich mich nicht verantwortlich fühle; jetzt kann und will ich Dir erzählen, was es für eine Bewandtniß mit dem Bilde in meinem Album hat, dem losgelösten Blatt, dessen Vorhandensein Dich damals so erschreckte, liebes Herz. Ja, ja, ich hab' es wohl bemerkt – Du entfärbtest Dich und konntest nicht fassen, wie ich Dich um Dein Urtheil über den Mann befragen konnte, den Du für meinen Geliebten halten mußtest. Und doch war das Oldenburg nie, oder es müßte in der Liebe tausend Grade geben, von denen der niedrigste von dem höchsten so weit entfernt ist, wie die Erde von dem Himmel.

Ich kannte Oldenburg schon von meiner frühesten Kindheit an. Salchow, das Gut meines Vaters, grenzt an Cona, wo Du gestern warst. Meine Tante, die nach dem frühen Tode meiner Mutter meine Erziehung leitete, und Oldenburg's Mutter waren sehr gute Freundinnen und kamen fast täglich zusammen. Natürlich auch wir Kinder. Oldenburg war ein paar Jahre älter als ich, aber da die Mädchen den Knaben stets in der Entwicklung voraus sind, so wurde der Unterschied des Alters von uns nicht empfunden, wir spielten und arbeiteten zusammen und hielten gute Kameradschaft – für gewöhnlich; denn es kam auch manchmal zu heftigem Wortwechsel und Zank und Thränen. Ich gab selten Veranlassung dazu, denn ich war wenig rechthaberisch und stets zum Nachgeben bereit, aber Adalbert war über die Maßen, empfindlich, störrisch und eigenwillig. Die Doppelnatur seines Wesens, die er später auszugleichen sich bemühte und vor weniger Scharfsichtigen auch meistens zu verbergen mußte, lag damals offen zu Tage. Es war unmöglich, sich nicht für ihn zu interessiren, aber ich glaube, es gab Niemand, der ihn wirklich liebte. Er fühlte das, und dies Gefühl, welches er wie eine geheime Wunde stets mit sich herumtrug, machte ihn schon sehr früh zu einem Hypochonder und Menschenfeind. Was half es ihm, daß Jedermann seine eminenten Gaben bewunderte, daß Niemand an seinem Muth, seiner Wahrheitsliebe zweifelte! sein störrisches, eigensinniges Wesen stieß Alle zurück, verletzte Alle! ja selbst seine lange, unschöne Gestalt und seine täppischen, linkischen Bewegungen trugen dazu bei, die Herzen der Menschen von ihm zu wenden. Wenigstens war es so bei mir, die ich mich von Jugend auf zu Allem, was schön und anmuthig war, unwiderstehlich hingezogen fühlte, und einen wahren Abscheu vor dem Häßlichen und Formlosen hatte. Ich konnte mich nicht überwinden, Adalbert zu lieben, obgleich er mit großer, aber freilich stets hinter Schroffheit und Kälte sorgsam versteckter Zärtlichkeit an mir hing und manchmal, wenn seine Leidenschaftlichkeit über die künstliche Ruhe, die er zur Schau trug, siegte, mir in den herbsten, bittersten Ausdrücken meine Lieblosigkeit, meinen Leichtsinn, meinen Wankelmuth vorwarf.

Dies Verhältniß blieb, bis Adalbert mit sechszehn Jahren das Gymnasium bezog. Er hatte es bei seinem Vormunde – seine Mutter war jetzt auch gestorben – durchgesetzt, daß er studiren durfte. Nur selten noch kam er und immer nur auf wenige Tage nach Cona. Dann war ich zwei Jahre lang in Pension. So kam es, daß wir uns, bis er nach Heidelberg ging, nur im Vorübergehen sahen. Als er von der Universität und seiner größeren Reise zurückkehrte, war ich schon zwei Jahre verheirathet gewesen.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis er einen Besuch auf Berkow machte. Unser Wiedersehen war eigenthümlich genug. Er schien den ganzen, so veränderten Zustand nur als ein fait accompli anzunehmen, dem man sich beugt, weil man muß. Er belästigte mich nicht mit Fragen; er verlangte keine vertrauliche Mittheilung, auf die der einzige Freund meiner Kinder-und Mädchenjahre doch wohl Anspruch hatte. Er machte mir auch keine Vorwürfe; er sagte mir nicht, daß er mich geliebt, daß er auf meine Hand gehofft hatte, obgleich ich nachher erfuhr, daß dies doch der Fall gewesen, und daß er, als ihn die Nachricht von meiner Verheirathung in Heidelberg traf, fast in Raserei gefallen war und wochenlang, monatelang an einer unbesieglichen Schwermuth gekrankt hatte. Er suchte sich durch eigene Beobachtung ein möglichst klares Bild meines jetzigen Verhältnisses zu verschaffen. Ich sah, daß ihm nichts entging, daß keine meiner Aeußerungen von ihm unberücksichtigt, keine meiner Mienen von ihm unbeachtet blieb. Das Bewußtsein, unter der Controle eines so scharfsichtigen Auges zu stehen, war nichts weniger als behaglich, zumal wenn, wie in diesem Falle, so Vieles hätte anders sein können, anders sein müssen. Es trat bald wieder dasselbe Verhältniß ein, welches früher zwischen uns geherrscht hatte, nur daß die heftigen Scenen wegblieben, die damals durch seine Leidenschaft gelegentlich herbeigeführt wurden. Wie er mir früher alle hübsche Muscheln, Steine und Blumen, die er am Strande, zwischen den Klippen, auf den Wiesen gefunden hatte, zutrug, so theilte er mir jetzt alles mit, was er Interessantes auf den vielen Feldern des Wissens, auf denen sich sein unersättlicher und unermüdlicher Geist umhertrieb, entdecken konnte: bald ein schönes Gedicht, bald eine tiefsinnige Sentenz, – und er empfand es jetzt nicht weniger schmerzlich, daß ich mit diesen Schätzen nicht haushälterischer umging, als mit den Blumen, die ich vertrocknen ließ, und den Steinen und Muscheln, die ich wegwarf. Ich wußte, daß ich keinen treueren Freund hatte, als ihn, und er, daß sich in das Gefühl, welches ich für ihn empfand, auch nicht die mindeste Liebe mischte; um so uneigennütziger war seine Freundschaft, und um so unverantwortlicher der Wankelmuth, mit dem ich ihn behandelte.

Seine Freundschaft sollte bald eine traurige Gelegenheit finden, sich zu bethätigen. Die Schwermuth, in die Carlo kurz nach Julius Geburt gefallen war, nahm einen immer krankhafteren Charakter an. Ausbrüche einer unberechenbaren Laune, die Vorboten der letzten fürchterlichen Katastrophe, wurden immer häufiger. Er wollte jetzt Niemand um sich haben, als Adalbert, was um so auffallender war, als er, der Lebemann, den tiefsinnigen, melancholischen, und um so viel jüngeren Baron – den Jüngling von Sais nannte er ihn – früher stets verlacht, verspottet und eigentlich wohl gehaßt hatte. Jetzt begleitete er ihn auf Tritt und Schritt, jetzt war Oldenburg's Stimme die einzige, welche die finsteren Dämonen, die um sein Haupt die Flügel schlugen, auf Augenblicke wenigstens verscheuchen konnte. Und die Aufopferung, mit der Oldenburg sich diesem Liebesdienst unterzog, ist nicht hoch genug anzuerkennen und ich müßte sie ihm, so lange ich lebe, danken. Dann kam die Katastrophe. Oldenburg stand mir in diesen Tagen treu zur Seite; oder genauer: er nahm alle Last und Verantwortung so ganz auf sich und leitete Alles mit solcher Energie und Umsicht, daß ich nur immer Ja zu sagen hatte.

Carlo war in eine Anstalt in Thüringen gebracht und ich war allein hier auf Berkow, mich ganz der Erziehung meines Julius, der damals fünf Jahre alt war, und dem ich auf Oldenburg's Rath schon jetzt in Bemperlein einen Freund und Lehrer gegeben hatte, widmend. Oldenburg kam jetzt seltener, als früher, aber doch noch immer sehr häufig, wie mir schien. Ich glaubte zu bemerken, daß sich ein Ton von Zärtlichkeit in die Freundschaft mischte, die ich einzig von ihm wünschte und erwartete: und kaum hatte ich diese Bemerkung gemacht, als ich mich schon berechtigt glaubte, ihn, so schonend wie möglich freilich, auf die allzugroße Häufigkeit seiner Besuche aufmerksam zu machen. Es war dies vielleicht sehr undankbar von mir; aber uns Frauen wird es auch sehr schwer, gegen den dankbar zu sein, den wir nicht lieben.

Den nächsten Tag schon war Oldenburg abgereist; Niemand wußte wohin. Dann wollte ihn ein halbes Jahr später Einer in London gesehen haben; ein Anderer sah ihn ein Jahr darauf in Jerusalem. Er war bald hier, bald dort, ruhelos umhergetrieben von seinem wilden Herzen und seinem unersättlichen Wissensdurst.

So waren vier Jahre verflossen, die in meinen Verhältnissen sehr wenig geändert hatten. Oldenburg's gedachte ich selten und immer wie eines Verstorbenen. Da – es ist nun drei Jahre her – ließ ich mich von meinem Vetter und meiner Cousine bereden, sie auf einer Reise nach Italien zu begleiten. Als wir eines Abends im Mondschein das Coliseum besuchten, stand plötzlich Oldenburg vor uns. »Endlich!« sagte er leise, indem er mir die Hand drückte. Er wollte uns ganz zufällig getroffen haben; hernach gestand er mir, daß er, ich weiß nicht wie und durch wen? unsern Reiseplan erfahren, uns schon von München aus verfolgt und immer verfehlt habe, bis es ihm endlich hier gelang, uns einzuholen. Ich muß gestehen, ich freute mich aufrichtig über dies Zusammentreffen und empfand es mit einiger Genugthuung, daß es kein zufälliges war. Es vereinigte sich Alles, um Oldenburg bei mir einen guten Empfang zu bereiten. Man schließt sich auf Reisen selbst an Fremde leicht an; wie sollte uns der Freund unserer Jugend, wenn wir ihn plötzlich in fremden Landen treffen, nicht willkommen sein? Oldenburg hatte Italien schon mehrmals bereist und kannte jeden Meister von jedem Altargemälde in jeder Klosterkirche und Kapelle. Seine lehrreiche Unterhaltung stach gegen das banale Geschwätz meiner Verwandten gar sehr zu seinem Vortheile ab, und dazu kam, daß Oldenburg durch die vielfache Berührung mit der feinsten Gesellschaft jetzt die schroffen und rauhen Seiten seines Wesens bedeutend abgeschliffen hatte. Sein Auftreten war, wie Du es jetzt siehst, das heißt, bei aller bis an Nachlässigkeit streifenden Ungezwungenheit, doch im schönsten Sinne des Wortes vornehm. Mit einem Worte: er machte jetzt einen Eindruck auf mich, den ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es war nicht Liebe, was ich für ihn empfand, aber es war doch auch mehr als die kühle Freundschaft, welche ich ihm bis jetzt entgegengebracht hatte. Aber seltsam, in demselben Maße, in welchem ich die geheime Antipathie, die ich schon von meinen Kinderjahren her gegen ihn empfand, einer beinahe herzlichen Zuneigung weichen fühlte, wurde sein Benehmen gegen mich schroffer und kälter. Er richtete seine Unterhaltung, wenn wir beisammen waren, fast ausschließlich an meine Cousine und behandelte mich wie ein verzogenes Kind, dem man den Willen thut, nur damit es nicht anfängt zu weinen. Das verletzte meine Eitelkeit und dieser verletzten Eitelkeit und der Eifersucht, die ich gegen meine Cousine empfand, zu Liebe, legte ich es ernstlich darauf an, mir Oldenburg's Zuneigung, die ich durch eine unbekannte Ursache verloren zu haben glaubte, wieder zu gewinnen. Das bewirkte alsbald eine völlige Umwandlung in Oldenburg's Betragen. Er überschüttete mich jetzt mit Aufmerksamkeiten, er schien Hortense vollkommen vergessen zu haben, und sobald wir allein waren, zeigte er eine Leidenschaft, die mich zuerst in Verwunderung und dann in Schrecken setzte. Dabei wußte er jeder eigentlichen Erklärung sorgfältig auszuweichen und mich stets im Zweifel zu erhalten, ob dies nur eine seiner tollen Launen war, die er gelegentlich annimmt und ablegt, wie ein Kleid, oder der Ausdruck einer wirklich tiefgewurzelten Neigung. Es war unmöglich, Oldenburg in dieser Zeit nicht zu bewundern. Sein Genius zeigte sich glänzender, als je zuvor; die Fülle von Geist, die er verschwenderisch entfaltete, war in der That außerordentlich. Er war die Seele jeder Gesellschaft; man riß sich förmlich um ihn, und da er französisch, englisch, italienisch und ich weiß nicht, wie viele Sprachen außerdem, so gut wie deutsch spricht, so schien jede Nation ihn als einen der Ihrigen ansehen zu dürfen und zu wollen. Wenn er mich nun zur Königin jedes Festes machte, wenn er Alle zwang, mir zu huldigen, wenn er alle Schätze seines reichen Geistes nur entfaltete, um sie mir zu Füßen zu legen, so ist es wohl natürlich, daß ich dagegen nicht gleichgültig bleiben konnte, daß ich mir eine kurze Zeit lang einbildete, ihn zu lieben. Ohne ihn geradezu aufzumuntern, ließ ich es mir doch gefallen, daß er mich in Augenblicken, wo wir allein waren, mit dem vertraulichen Du unserer Kinderjahre anredete, daß er in Gesellschaft mir jene Aufmerksamkeit erwies, die man sonst nur von einem erklärten Liebhaber entgegenzunehmen gewohnt ist.

Still, Melitta, mir war, als hörte ich Jemand im Garten.

Ich hörte nichts.

Sind wir hier auch vor jeder Störung sicher?

Vollkommen. Indessen, laß uns in's Haus zurückkehren; mir däucht, der Nachtthau beginnt zu fallen.

Sie erhoben sich und gingen Arm in Arm nach der Treppe, die von der Terrasse in den Garten führte. Als sie die letzte Stufe hinabstiegen, stand plötzlich ein Mann vor ihnen. Das Zusammentreffen war für Oswald und Melitta so unerwartet, daß sie unwillkürlich zurückzuckten. Indessen war an ein Ausweichen nicht mehr zu denken, und überdies hatte Herr Bemperlein sie schon erkannt, denn die Sterne leuchteten jetzt in voller Pracht, und aus den Fenstern des Gartensaales fiel ein Lichtschimmer den Gang hinab, gerade in die Gesichter der Beiden.

Mein Gott, gnädige Frau, wie kommen Sie hierher? rief Herr Bemperlein.

Ich gebe die Frage zurück, sagte Melitta, und dann zu Oswald, dessen Arm sie nicht losgelassen hatte: Sei ruhig, lieb Herz: er verräth uns nicht.

Es ist doch Julius kein Unglück zugestoßen? Sprechen Sie, lieber Bemperlein, ich habe keine Geheimnisse vor – Oswald.

Herr Bemperlein ergriff Oswald's Hand und drückte sie, als wollte er sagen: ich weiß jetzt Alles, rechnet auf mich.

Nein, sagte er, Julius ist wohl und munter, aber ich bekam heute einen Brief von Doctor Birkenhain, dem zufolge es mit dem Befinden Herrn von Berkows sehr schlecht steht; man erwartet täglich sein Ende. Daß er vor seinem Ende noch einmal zum Bewußtsein kommen könnte, ist natürlich nicht anzunehmen; aber Doctor Birkenhain hielt es für seine Pflicht, Ihnen diese Lage der Dinge mitzutheilen. Jedenfalls wird dies der Inhalt des eingelegten Briefes an Sie sein. Ich habe ihn selbst gebracht, damit Sie sofort über meine Dienste verfügen könnten, im Falle Sie sich zu einer Reise entschließen sollten. Der Wagen, in welchem ich gekommen bin, wird jetzt wohl schon vor dem Hause halten; ich hatte den kürzeren Weg durch den Garten vorgezogen.

Die Drei waren in den Gartensaal getreten. Melitta hatte Oswald's Arm losgelassen und sich der Lampe genähert, den Brief zu lesen, welchen Bemperlein ihr überbracht hatte. Oswald sah, daß sie sehr blaß geworden war, und daß ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte. Bemperlein stand, den Blick von Melitta auf Oswald, von Oswald auf Melitta wendend, da, wie Jemand, der, aus einem schweren Schlaf erwachend, sich noch nicht von der Wirklichkeit dessen, was er vor seinen Augen sieht, überzeugen kann.

Melitta hatte den Brief gelesen: Da, Oswald, sagte sie, lies und sage, was soll ich thun.

Oswald durchflog das Schreiben, welches, wie Bemperlein schon gesagt hatte, Melitta aufforderte, sich sofort auf den Weg zu machen, falls sie den sterbenden Gatten noch einmal zu sehen wünsche.

Du mußt reisen, Melitta, ohne Frage, sagte Oswald, den Brief wieder zusammenfaltend.

Melitta warf sich stürmisch in die Arme ihres Geliebten: Es war von vornherein mein Wille zu reisen: ich wollte ihn nur von Dir bestätigt hören, sagte sie. Ich reise noch in dieser Nacht, noch in dieser Stunde. – Wollen Sie mich begleiten, lieber Bemperlein.

Ich bin in dieser Absicht hierher gekommen, gnädige Frau, sagte Herr Bemperlein, und habe den Reiseplan schon entworfen. Wenn wir in einer Stunde etwa aufbrechen, sind wir noch vor Sonnenaufgang an der Fähre. Drüben nehmen wir Extrapost bis Passow, von da Eisenbahn. So sind wir übermorgen spätestens an Ort und Stelle.

Sie guter, treuer Freund, sagte Melitta, Bemperleins beide Hände in die ihren nehmend und herzlich drückend.

Bitte, bitte, gnädige Frau! rief Herr Bemperlein, ganz im Gegentheil, wollte sagen, nur meine Pflicht und Schuldigkeit.

Ich will mich sogleich zur Reise fertig machen, sagte Melitta, ein Licht ergreifend. Bleibe ruhig hier, Oswald. Wenn Jemand von den Leuten Dich sehen sollte, bist Du mit Bemperlein gekommen; es wird Dich aber Niemand sehen.

Melitta hatte das Zimmer verlassen. Bald hörte man in dem eben noch so stillen Hause das Geräusch von eiligen Schritten, von Thüren, die hastig auf- und wieder zugemacht wurden, von dumpfen Stimmen, die durcheinander sprachen.

Von den beiden Männern wagte in den ersten Minuten keiner das Schweigen zu brechen. Beide fühlten das Wunderliche der Situation, in die sie so urplötzlich gerathen waren; vor allem Bemperlein, der sich innerlich noch immer nicht von seinem tiefen Erstaunen erholen konnte. Melitta stand in seinen Augen so unerreichbar hoch da, daß er schlechterdings nicht zu begreifen vermochte, wie es irgend einem Sterblichen gelingen könnte, sich zu dieser Höhe zu erheben; und auf der andern Seite war er seit vielen Jahren so daran gewöhnt, Alles, was sie that, für gut und recht und unverbesserlich zu halten, daß er von dieser Regel selbst jetzt eine Ausnahme zu machen nicht den Muth hatte.

Wir sehen uns auf eine gar seltsame Weise wieder, Herr Bemperlein, sagte Oswald endlich.

Ja wohl, ja wohl! sagte Herr Bemperlein. Mein Kommen weder erwartet, noch erwünscht, ich begreife das vollkommen – die arme gnädige Frau: aber welchen Muth sie hat, welche Schnelligkeit des Entschlusses! ich habe es ja immer gesagt: sie ist aus besserem Stoffe, als wir anderen Menschenkinder. Ein wahres Glück, daß der Doctor Birkenhain den gescheidten Einfall hatte, nicht direkt an sie zu schreiben. So kann ich, wenn auch nicht viel, doch wenigstens etwas zu ihrer Unterstützung thun.

Sie Glücklicher! sagte Oswald. Sie dürfen für sie wirken und schaffen; und ich kann nichts thun, nichts, als ihr eine glückliche Reise wünschen und sodann die Hände müßig in den Schooß legen.

Ich bedauere Sie von ganzem Herzen, wahrhaftig, sagte Herr Bemperlein. Es ist eine schwere Aufgabe, die Ihnen zugemuthet wird; aber wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Wir werden fleißig schreiben – Sie sollen von jedem Schritte, den wir thun, Nachricht erhalten. Und dann hoffe ich, daß unsere Reise nicht lange dauert, und vor allem, daß Herr von Berkow schon gestorben ist, wenn wir in Fichtenau angekommen.

Das hoffen Sie? und doch scheinen Sie diese Reise für nothwendig zu halten?

Gewiß, sagte Herr Bemperlein. Es giebt gewisse traurige Pflichten, die man erfüllen muß, nicht der Welt wegen, die uns nicht schelten könnte und schelten würden, wollten wir sie unerfüllt lassen; nicht des Andern wegen, dem unsere Opferfreudigkeit zugute kommt, und den wir vielleicht weder lieben noch achten, sondern um der Achtung willen, die wir vor uns selber haben. Doch was demonstrire ich Ihnen noch lange vor, was Sie so gut und besser wissen als ich. Sie haben ja auch zu dieser Reise gerathen, obgleich Sie doch am meisten dabei verlieren. Es muß eine schauerliche Empfindung sein, so plötzlich aus allen seinen Himmeln gerissen zu werden. Seltsam! seltsam! je länger ich über dies Alles nachdenke, desto begreiflicher wird es mir. Ja, ja – daß Sie die herrliche Frau lieben, das ist ja so natürlich, so – ich möchte sagen: logisch – das Gegentheil würde baarer Unsinn sein: Es muß sie Jeder lieben, und um so mehr lieben, je edler sein Herz, je empfänglicher seine Seele für das Gute und Schöne ist. Ihr Herz ist edel, Ihre Seele klingt harmonisch mit allem Schönen zusammen; so müssen Sie auch die schönste und beste Frau von ganzem Herzen, von ganzer Seele lieben. Und auf der anderen Seite: ist sie nicht frei? wenn auch nicht vor den Menschen, so doch vor dem Richter, der in's Verborgene sieht? hat sie ihren Gemahl jemals geliebt? konnte sie ihn lieben, dem sie verkauft wurde um schnödes Geld – verkauft von dem eigenen Vater, als sie noch viel zu jung und zu unschuldig war, das Bubenstück auch nur zu ahnen, geschweige denn zu durchschauen? O! mein Blut kocht, wenn ich daran denke! nein, nein! sie durfte Sie lieben, sie mußte Sie lieben, sie, deren Herz ganz Liebe und Güte ist. Ich freue mich, daß es so gekommen ist, ich wünsche Ihnen Glück von ganzem Herzen. Ich bin ein einfacher, unbedeutender Mensch und würde im Gefühl dieser meiner Unbedeutenheit nimmer den Blick zu solcher Höhe zu erheben wagen; aber, wenn ich einen Andern kühn und stolz auf dieser Höhe wandeln sehe, so erfüllt das meine Brust mit Bewunderung, die von Neid, frei, ganz frei ist, und noch einmal: ich wünsche Ihnen Heil und Segen von ganzem Herzen!

Herr Bemperlein ergriff Oswald's beide Hände und drückte sie mit Lebhaftigkeit. Die Augen standen ihm voll Thränen; er war innerlichst erschüttert.

Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen, sagte Oswald gerührt. Der Beifall eines Mannes, den ich so hoch achte, ist mir tausendmal mehr werth, als das Urtheil der dummen, blinden Welt. Die Welt wird unsere Liebe verketzern und verdammen, aber die Welt weiß nichts von Gerechtigkeit.

Nein, sagte Herr Bemperlein, und dennoch ist sie unsere Richterin, deren Ausspruch wir uns fügen müssen, wir mögen wollen oder nicht. Und dieser Gedanke ist es, welcher für meine Augen einen tiefen Schatten auf das sonnige Bild einer so reinen, uneigennützigen Liebe wirft. Doch ich will Ihr Herz, das in diesem Augenblicke schon schwer genug ist, nicht noch schwerer machen. Dem Starken und Muthigen hilft das Glück. Sie sind ja stark und muthig, und sind es doppelt und dreifach, weil Sie lieben. Es soll ja der Glaube Berge versetzen können. Was dem Glauben gelingt, kann der Liebe nicht unmöglich sein. Doch still, da kommt die gnädige Frau.

Die Thür wurde geöffnet und Melitta erschien im Reiseanzug. Der alte Baumann war bei ihr.

Ich bin bereit, lieber Bemperlein, sagte sie zu diesem, und dann, sich in Oswald's Arme werfend: Leb wohl, liebes Herz! leb wohl!

Fünfunddreißigstes Capitel

Die Baronin Grenwitz war aus mehr denn einem Grunde fest entschlossen, Oswald auf der projectirten Badereise nach Helgoland nicht mitzunehmen, und sie hatte während der dreitägigen Visitentour vielfach bei sich überlegt, wie sie, ohne sich doch selbst gar zu viel zu vergeben, diesen Entschluß ausführen könnte. Wie erfreut war sie deshalb, als Oswald bei ihrer Zurückkunft (es war den Tag nach Melitta's Abreise) ihre leiseste Anspielung, ob es ihm nicht lieber wäre, diese Zeit ganz zu seiner Erholung zu verwenden, begierig ergriff; als er erklärte, während dieser Zeit nicht einmal auf dem Schlosse bleiben, sondern eine Reise, vielleicht durch die Insel, die er noch nicht kannte, vielleicht nach der Residenz zu seinen Freunden machen zu wollen. Anna-Maria freute sich so sehr über dieses ganz unerwartete Entgegenkommen, daß sie nicht einmal über die Motive, die Oswald dazu bestimmt haben mochten, nachdachte, eben so wenig wie über sein düsteres zerstreutes Wesen, und über die Gleichgültigkeit, mit denen er den Vorbereitungen zur Reise zusah und schließlich am Tage der Abreise von Allen, selbst von Bruno Abschied nahm. Vielleicht ärgerte er sich, daß man ihn nicht mitnahm, vielleicht wußte er nicht, wo er bleiben sollte. Gleich viel, wenn er nur nicht auf dem Schlosse blieb, wenn er nur, wie er es wirklich that, in demselben Augenblicke, wo die Familienkutsche, bespannt mit den vier schwerfälligen, von dem schweigsamen Kutscher gelenkten Braunen, langsam und würdevoll zu dem Hauptthor hinausfuhr, den leichten Ränzel auf dem Rücken, durch das andere Thor in die weite Welt hineinwanderte.

Aber Herr Albert Timm durfte bleiben! Er machte nicht so lächerliche Ansprüche, wie der hochmüthige Oswald; er war mit Allem zufrieden! und dann konnte er in der Einsamkeit des Schlosses so ungestört arbeiten, und die schleunige Vollendung der Flurkarten war von so großer Wichtigkeit! Mademoiselle war angewiesen, es Herrn Timm an nichts fehlen zu lassen. Daß es vielleicht nicht ganz schicklich sei, ein junges Mädchen von zwanzig Jahren und einen jungen Mann von sechsundzwanzig unter der Aufsicht einiger Dienstleute, über welche das junge Mädchen das Commando führte, auf einem einsamen Schlosse zurückzulassen, war sonderbarer Weise der so überaus strengen Baronin gar nicht in den Sinn gekommen. Die tugendhafte Frau würde die Nase gerümpft, würde es unverantwortlich, unverzeihlich gefunden haben, wenn sie gehört hätte, daß der junge Graf Grieben mit Fräulein von Breesen fünf Minuten nur in einem Zimmer allein gewesen sei, aber der Geometer Timm und ihre Wirthschafterin Marguerite Roger – du lieber Himmel! sich um das Schicksal solcher Leute auch noch den Kopf zu zerbrechen – das ist offenbar zu viel verlangt! Und Marguerite hatte nicht einmal Eltern, denen man vielleicht verantwortlich gewesen wäre – sie hatte gar keine Verwandte – wie kann man für Jemand verantwortlich sein, der ganz allein in der Welt dasteht! Man hatte Frau Pastor Jäger gebeten, sich von Zeit zu Zeit zu überzeugen, daß den Befehlen der Frau Baronin strenge Folge geleistet würde – Frau Pastor Jäger war eine vortreffliche Frau, die kleine Marguerite stand unter vortrefflicher Aufsicht.

Die kleine Marguerite stand unter so vortrefflicher Aufsicht, daß Albert die weise Fürsorge, welche die Baronin getroffen hatte, nicht genug loben konnte.

Ich wollte, sie kämen nicht wieder, sagte er zu der hübschen Genferin, während sie Arm in Arm im Garten umherspazierten; ich wollte, sie kippten zwischen Helgoland und der Düne, wo es am tiefsten ist, mit dem Boote um, und wir könnten hier, wie jetzt, herrlich und in Freuden leben bis an unser seliges Ende. Was meinst Du, kleine Marguerite, möchtest Du wohl Frau Rittergutsbesitzerin Timm von Grenwitz auf Grenwitz sein? Das wäre doch famos! Dann wollte ich Dir Wagen und Pferde halten, ja, und auch eine Wirthschafterin, die Du eben so quälen könntest, wie Du jetzt gequält wirst.

Ich bin schon zufrieden mit Wenigem, wenn ich es nur kann theilen mit Sie.

Sehr edel gedacht, aber besser ist besser, und übrigens heißt es in diesem Falle, nicht Sie, sondern Ihnen, oder vielmehr Dir, denn bei uns zu Lande nennen sich Leute, die sich lieben, Du, besonders wenn sie die respectable Absicht haben, sich gelegentlich zu heirathen.

Und Sie mich wirklich wollen 'eirathen? Ach, ich kann es glauben kaum! Was will ein Mann, comme vous, dem die ganze Welt ist offen, 'eirathen ein armes Mädchen, die nicht einmal ist 'übsch.

Das ist meine Sache. Und nebenbei bist Du jedenfalls 'übscher und reicher als ich. Dreihundert Thaler –

Dreihundert fünfundzwanzig Thaler, sagte Mademoiselle Marguerite eifrig.

Desto besser – das ist immer schon etwas für den Anfang. Wenn ich mein baares Vermögen dazu rechne – Herr Timm griff in die Tasche und brachte einige Münzen zum Vorschein – haben wir dreihundert fünfundzwanzig Thaler, siebenzehn Silbergroschen und acht Pfennige. Das ist ein ganzes Kapital.

Wir uns dafür werden kaufen ein kleines Haus.

Versteht sich.

Ich werde geben Unterricht im Französischen.

Natürlich.

Und Du wirst sein fleißig und arbeiten.

Comme un forçat – o, es wird ein charmantes Leben werden, und Herr Timm faßte die kleine Französin um die Taille und walzte mit ihr in der Laube, in welcher sie sich befanden, umher.

Ich nun muß hinein, den Leuten zu geben Vesperbrod; sagte Marguerite, sich losmachend.

So lauf, Du kleiner Grasaff'; aber komm bald wieder, sagte Herr Timm.

Herr Timm sah der Enteilenden nach. Dummes kleines Frauenzimmer, sagte er; glaubt wahrhaftig, ich werde sie heirathen. Das fehlte auch noch – für dreihundert Thaler, die ich früher an ein paar Abenden verspielt habe! Es ist wirklich großartig, was sich diese Mädchen nicht alles einbilden! Und dabei ist diese gar nicht so dumm, wie sie aussieht, und scheint trotz ihres fürchterlichen Deutsch den Goethe gründlich studirt zu haben: »thut keinem Dieb nur nichts zu Lieb', als mit dem Ring am Finger –« hm, hm! ich werde ihr wahrhaftig einen Ring kaufen müssen. Die dreihundert Thaler wären freilich so übel nicht. Diese verdammten Gläubiger! nicht einmal in diesem Winkel lassen sie einen ungeschoren.

Herr Timm faßte in die Brusttasche und holte einige Briefe von verdächtigem Aussehen hervor, die er, nachdem er sich in die Ecke einer Bank gesetzt, einen nach dem andern entfaltete und eifrig studirte. Sein sonst so lustiges Gesicht verdüsterte sich dabei zusehends. Verdammt, murmelte er, die Kerle werden wirklich unverschämt. Wenn ich den brummenden Bären doch nur so ein paar hundert Thaler in den Rachen werfen könnte, so schweigen sie doch für eine Weile wenigstens. Die dreihundert, welche die kleine Marguerite im Sparkassenbuche hat, kämen mir wirklich gelegen. Es wäre am Ende nur zu ihrem Vortheil, wenn ich sie darum ärmer machte. Denn daß ich mein Versprechen, sie zu 'eirathen, ohne die dringendste Noth nicht halten werde, liegt doch für jeden Verständigen auf der Hand. Fühle ich mich nun ihr gegenüber nicht nur moralisch, sondern auch anderweitig verpflichtet, so hat sie immerhin eine Chance mehr. Ich kann ihr ja sagen, ich könne das Geld besser anlegen oder dergleichen. Wenn die dummen Dinger verliebt sind, glauben sie ja Alles, was man ihnen aufbindet. Und kann sie das Geld besser anlegen, als wenn sie sich damit einen charmanten Kerl von Mann erkauft, der sie im andern Falle nicht 'eirathen würde. Me herculem! ich fühle mich ordentlich gehoben durch den Gedanken, auf diese Weise der Wohlthäter des Mädchens zu werden. Ich will die Kleine doch einmal in's Gebet nehmen. Weigert sie sich, so werde ich sie freilich ihrer Klugheit wegen achten müssen, aber mit unserer Liebe ist es aus.

Albert erhob sich und ging, die Hände auf dem Rücken, wie es seine Gewohnheit war, wenn sein scharfsinniger Kopf an der Lösung eines Problems arbeitete, langsam nach dem Schlosse. Marguerite schaltete noch in der Küchenregion; Albert verfügte sich auf sein Zimmer, um noch einige Minuten ungestört über seine Aufgabe nachzudenken.

Er beugte sich über die Karte, die auf dem großen Reißbrett aufgespannt war, und an der er seit der Abreise der Familie nicht das Mindeste gearbeitet hatte.

Wenn das so fortgeht, wird sich Anna-Maria über meine Fortschritte wundern, murmelte er. Die kleine Marguerite ist doch nicht allein daran Schuld? richtig, jetzt besinne ich mich – ich brauchte eine Karte aus der Registratur und ließ mir schon vor acht Tagen den Schlüssel dazu geben. Die muß ich mir wenigstens holen, sonst – bei meiner heißen Liebe zur kleinen Marguerite! – bleibt diese angefangene Karte ein Fragment in Ewigkeit.

Albert ging in die Registratur, ein großes Gemach in dem Erdgeschoß des alten Schlosses, dessen Wände von oben bis unten mit Repositorien voll ganz oder halb vergilbter Acten und Schriftstücke der verschiedensten Art bedeckt waren, deren gar manches für einen fleißigen Alterthümler von hohem Interesse gewesen wäre. Während er in einem der Repositorien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wohl, wie schon einige andere ähnliche, in das Versteck, aus welchem er sie unversehens hervorgeholt hatte, zurückgeschleudert haben würde, wenn nicht die Aufschrift: »An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren, auf Grenwitz« seine Neugierde erregt hätte. Herr Timm löste ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem die Briefe zusammengebunden waren, und begann dieselben einen nach dem andern zu lesen – eine Beschäftigung, die ihn so ausnehmend interessirte, daß er alles Andere darüber vergaß und selbst das Rollen eines Wagens überhörte, der vor dem Portale still hielt und dessen höchst unerwartete Ankunft eine nicht geringe Sensation in dem Schlosse hervorrief.

Sechsunddreißigstes Capitel

Während der acht Tage, die seit der Abreise der Familie verflossen waren, hatte Oswald in der Einsamkeit des Fischerdorfes Sassitz, von allem Verkehr mit der Welt abgeschlossen, gelebt. Wie er nach Sassitz gekommen war, wußte er selbst kaum.

Seit ihm Melitta so plötzlich geraubt war, hatte ihn eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegen Alles ergriffen, was nicht in irgend einer Beziehung zu ihr stand, die jetzt seine ganze Seele erfüllte. In dieser Apathie hatte er sich selbst von Bruno ohne Schmerz getrennt. Auf die Wünsche der Baronin ging er um so bereitwilliger ein, als er sich in seiner augenblicklichen Stimmung nach Einsamkeit sehnte, wie ein Kranker nach Ruhe. So sagte er denn zu Allem: Ja, und als er den Wagen, welcher die Familie entführte, sich in Bewegung setzen sah, fiel es ihm wie eine schwere Last vom Herzen. Er wünschte den Zurückbleibenden, Herrn Timm und Mademoiselle, flüchtig Lebewohl und wanderte, einen leichten Ränzel, der noch aus seiner Studentenzeit stammte, auf dem Rücken, zum andern Thore hinaus, wie der Held eines Märchens, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin er seine Schritte lenken sollte, und wo er heute Nacht sein Haupt zur Ruhe legen würde.

Die Sonne brannte heiß; es fiel ihm ein, daß es im Walde frisch und kühl sein müsse. So bog er denn rechts vom Wege ab und bald rauschten über ihm die Tannen des Forstes, der halb zu Grenwitz und halb zu Berkow gehörte. Das Rauschen der hohen Bäume lullte ihn in süße Träume. Träumend wanderte er weiter, bis er plötzlich auf die Lichtung heraustrat, wo in dem Schutze der vielhundertjährigen, breitastigen Buche Melitta's Kapelle lag.

Die Thür des Häuschens war verschlossen, die grünen Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, die Treppe und die Veranda waren sorgsam gefegt, wie es die strenge Ordnungsliebe des alten Baumann, der jetzt das Regiment in Berkow führte, erheischte. Oswald setzte sich auf die Stufen der Treppe und stützte den Kopf in die Hand. So saß er in Nachdenken versunken, während in den Zweigen der Buche über ihm ein Waldvögelein sein eintöniges Lied mit dem stets gleichen melancholischen Refrain ertönen ließ. Wie einsam er sich fühlte – wie einsam und wie verlassen! Dem Kinde gleich, das auf weitem öden Moore den Weg zum Hause der lieben Eltern verloren hat. Hier an dieser selben Stelle hatte er in der Nacht vor der Gesellschaft in Barnewitz mit Melitta gesessen – sie hatte den Kopf an seine Brust gelehnt gehabt und süßeste, köstlichste Worte der Liebe hatte ihr Mund geflüstert. Jetzt war es still um ihn her. Sehnsüchtige Gedanken an die Entfernte glitten durch seine Seele, wie Vögel die den Süden suchen, durch den weiten Himmelsraum.

Ein Sonnenstrahl, der heiß und stechend durch das Laubdach auf ihn fiel, mahnte ihn, daß es Zeit sei, aufzubrechen. Eile hatte er freilich nicht, es war noch früh am Nachmittage, und irgend einen, gleichviel welchen Ort, wo er sein Quartier für die Nacht aufschlagen konnte, mußte er immer noch erreichen. So schlenderte er durch den Wald auf einem Wege hin, den er noch nicht betreten hatte und der ihn, ehe er sich's versah, an den Strand des Meeres führte. Nun wanderte er am Strande fort, bald auf der Höhe des Ufers, wenn die See, wie es häufig geschah, unmittelbar den Fuß der Kreidefelsen bespülte, bald auf dem festen körnigen Sande des schmalen Vorstrandes. Hier und da hatte einer der kurzen wasserreichen Bäche, die aus dem Innern der Insel dem Meere zueilen, das Ufer durchbrochen und eine Schlucht gehöhlt, die mit einer fast südlich üppigen Vegetation bedeckt war. Aber mit Ausnahme dieser wenigen grünen Oasen zeigte sich dem Auge nichts als kahler Fels, nackter Sand, das eintönige blaue Meer, auf dem hier und da ein weißes Segel schwamm, und der eintönige blaue Himmel, an dem hier und da eine weiße Sommerwolke unbeweglich stand. Und zu diesem eintönigen Bilde die einförmige Musik der brandenden Wellen und dann und wann der grelle Schrei der Möve oder das melancholische Pfeifen der kleinen Strandläufer.

Die Monotonie dieser Linien, dieser Farben, dieser Töne wäre für ein glückliches, lebensfrohes Gemüth unerträglich gewesen, aber sie paßte wunderbar zu Oswald's Seelenzustand. Seine Schwermuth harmonirte mit dieser tief-ernsten Natur, die von Glück und Freude nichts zu wissen schien, desto mehr aber von dem Jammer und der Qual des Lebens. Klang der grelle Schrei, das schrille Pfeifen der Meeresvögel nicht wie Klaggesang? war es nicht, als ob das Meer in den Wellen, die sich in monotonen Cadenzen unaufhörlich am Strande brachen, das verworrene Räthsel der Existenz wie im halben Wahnsinn vor sich hinmurmelte? Und sein eigenes Leben kam ihm so ziel- und zwecklos vor, wie dies sein Umherirren zwischen den Uferklippen. Glich es nicht seinem Fußtritte auf dem harten Sande, wo die nächste Welle schon die leichte Spur gänzlich verwischte? Warum geboren werden, Anderen und sich selbst Schmerzen und Sorgen ohne Zahl bereiten, wenn Alles doch zu nichts führt? wenn die Vergangenheit sich hinter uns aufthürmt wie das steile unersteigliche Ufer, die Zukunft uns angähnt, wie das öde wüste Meer, und die Gegenwart ein schmaler Strand ist, den die unbarmherzig glühende Sonne nur deshalb so grell zu erleuchten scheint, um ihn in seiner ganzen trostlos dürftigen Nacktheit zu zeigen? Und wenn wirklich einmal das Glück uns zu lächeln scheint, so scheint es eben nur; so ist es eben nur eine trügerische Spiegelung, die eine schadenfrohe Fee aus dem unwohnlichen tückischen Meere aufsteigen läßt, damit sie in dem Augenblicke versinkt, wo wir das palmengeschmückte, palastumsäumte Ufer zu berühren glauben.

Ein Dörfchen, dem sich Oswald mit raschen Schritten näherte, lag in dem innersten Winkel einer tiefen, von mäßig hohen Uferfelsen umschlossenen Bucht, wo das Wasser so still und glatt war wie in einem Gartenteich. Einige der Hütten lagen hart am Strande, andere waren an den Ufern eines Baches, der sich an dieser Stelle in's Meer ergoß, in der tiefen breiten Schlucht, die er sich gewühlt hatte, erbaut. Vor den Thüren waren kleine mit Muscheln eingefaßte Gärtchen; auf den mit weißem Sande ausgefüllten Gängen zwischen den Häusern hingen Netze zum Trocknen an langen Stangen; ein paar rothhaarige Buben waren eifrigst mit Antheeren eines umgestülpten Bootes beschäftigt; vor einer der größeren Hütten saßen ein paar Frauen, Netze flickend.

Oswald näherte sich den Frauen, die, als sie seinen Schritt vernahmen, neugierig von ihrer Arbeit aufsahen, und fragte sie begrüßend, ob es ihm verstattet sei, sich hier etwas auszuruhen, und ob er einen Trunk Wasser und ein Stück Brod haben könne?

Stine, sagte die ältere von den drei Frauen, eine Matrone von stattlichem Umfang und einem überaus gutmüthigen, wettergebräunten Gesicht, zu einem der beiden jungen Mädchen an ihrer Seite; steh auf und laß den Herrn sitzen. Siehst Du nicht, daß er müde und ausgehungert ist? Geh in's Haus, und bring was wir haben. Setzen Sie sich, junger Herr. Sie sind gewiß auch ein Maler?

Warum meinen Sie das? fragte Oswald, den angebotenen Platz annehmend.

Nun, ein vernünftiger Mensch klettert nicht bei der Hitze am Strande herum; nichts für ungut, Herr Maler. Ich hab' schon einen von Ihren Kameraden bei mir wohnen gehabt, der zwei Wochen hier geblieben ist; und wenn Sie ein eben so ordentlicher, ehrlicher Mensch sind, so können Sie auch bei Mutter Karsten wohnen; aber die Wände dürfen Sie nicht vollkritzeln, das sage ich Ihnen gleich im voraus.

Oswald mußte lächeln, als er so ohne Umstände zu einem auf einer Studienreise begriffenen Landschafter gemacht wurde. Wie? wenn er sich die harmlose Rolle, die ihm aufgenöthigt wurde, gefallen ließ? Es war ihm ja so gleichgültig, wo er blieb – Alles, was er wollte, war Einsamkeit – und konnte er eine tiefere Einsamkeit finden, als hier in dieser stillen Bucht unter diesen gutmüthigen, kindlichen Menschen, die nichts dagegen haben würden, wenn er halbe Tage lang zwischen den Felsen des Strandes umherirrte? Und dann war er doch hier in der Nähe von Berkow, von dem er sich nicht allzuweit entfernen durfte. Er hatte mit Melitta verabredet, daß, im Fall sich ihre Abwesenheit in die Länge zöge, der alte Baumann, der in Berkow zurückgeblieben war, die Correspondenz zwischen ihnen übermitteln sollte.

So wollen Sie mich ein paar Tage hier behalten? fragte er.

Ja, aber die Wände dürfen Sie nicht vollkritzeln, sagte Mutter Karsten.

Das verspreche ich, sagte Oswald lächelnd.

Dann können Sie bleiben, so lange Sie wollen. Das ist recht, Stine, rücke den Tisch näher an den Herrn; und, hörst Du, hol auch von dem alten Cognac, den der Clas Jochen aus England mitgebracht hat, das bloße Wasser thut nicht gut bei der unvernünftigen Hitze.

Oswald war beinahe schon acht Tage in Sassitz und er bereute keinen Augenblick, der Einladung Mutter Karsten's gefolgt zu sein. Er stand in sehr großer Gunst bei Mutter Karsten. Er hatte stets ein freundliches Wort für Jeden, selbst für den steinalten, halb blödsinnigen Vater von Mutter Karsten, der den ganzen Tag in seinem Lehnstuhle in der Sonne saß und unverwandt auf das Meer hinausstarrte, wenn ihm nicht, was freilich oft geschah, die alten noch immer scharfen Augen vor Müdigkeit zufielen. Mutter Karsten erklärte, daß Oswald ein eben so »ordentlicher, ehrlicher« Mensch sei, wie sein Vorgänger, daß es aber bei ihm hier (mit einer bezeichnenden Bewegung des Fingers nach der Stirn) noch weniger richtig sei, als bei jenem. Was Mutter Karsten zu diesem Ausspruch veranlaßte, war der allerdings verdächtige Umstand, daß der junge Mensch, welcher doch nun einmal verrückt genug war, eine in ihren Augen so überflüssige Hantirung zu treiben, nicht nur nicht die wieder übertünchten Wände seiner Schlafkammer mit Kohlenskizzen von Schiffen unter vollem Segel, einsamen Klippen, über denen Möven flatterten, und originellen Matrosengesichtern bedeckte, wie sein Vorgänger weiland, sondern überhaupt gar nicht zeichnete und malte, sondern den lieben langen Tag nichts that, als am Strande umherlaufen, oder auf einem der kleinen Ruderboote mutterseelenallein so weit auf's Meer hinausfahren, daß man ihn vom Strande aus kaum noch sehen konnte. Wie und womit er sich auf diesen stundenlangen Spaziergängen und Fahrten die Zeit vertrieb, war Mutter Karsten ein unergründliches Räthsel, würde selbst dann für sie noch immer ein Räthsel gewesen sein, wenn sie gesehen hätte, daß Oswald, sobald er sich allein wußte, einen Brief, den ihm vor ein paar Tagen ein alter, sonderbar aussehender Mann gebracht hatte, aus der Tasche nahm und ihn wieder und immer wieder studirte, als ob er ihn nicht schon längst Buchstab für Buchstab und Zeichen für Zeichen auswendig gewußt hätte. Der sonderbar aussehende alte Mann, der »so ein hochbeiniges, langhalsiges Pferd ritt, wie sie der Clas Jochen in England gesehen hatte,« war nämlich Niemand anders gewesen, als der alte Baumann auf dem Brownlock. Oswald hatte ihm gleich am nächsten Tage nach seiner Ankunft in Sassitz mitgetheilt, daß er sich entschlossen habe, bis auf weiteres hier zu bleiben (auch nach Grenwitz hatte er dieselbe Botschaft geschickt, mit der Bitte, ihm etwa ankommende Briefe nachzusenden), und einen Tag später konnte die treue Seele schon einen Brief der vielgeliebten Herrin in Oswalds Hände legen. Es waren wenige Worte nur, auf der Reise, in einer Stadt Mitteldeutschlands, kurz vor dem Schlafengehen in einem Hotel geschrieben – wenige Worte, verwirrt und traurig, aber süß und köstlich, wie Küsse von geliebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung. Er hatte Baumann seine Antwort mitgegeben und erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine freudige war.

Er hatte an sich selbst die schlimme Entdeckung machen müssen, wie tief verborgen der Verrath in einem Herzen lauert, daß sich bis in seine geheimsten Tiefen ganz von Liebe erfüllt glaubt. Zwar hatte er sich über die Scene in der Fensternische auf dem Balle in Barnewitz mit der Entschuldigung zu trösten gesucht: ich war außer mir; ich wußte nicht was ich that; aber kann Eifersucht eine Entschuldigung für Treulosigkeit sein? Und dann: war diese Eifersucht denn nun wenigstens todt? war sie nicht, als er Melitta's Bild in dem Zimmer des Barons hinter dem Vorhang entdeckte, in hellen Flammen aufgeschlagen? Hatte er nicht der Erzählung Melitta's mit athemloser Spannung gelauscht, immer fürchtend, daß jetzt – jetzt ein Umstand erwähnt werden möchte, der seinen Verdacht, daß sie den merkwürdigen Mann dennoch – vielleicht ohne es selbst zu wissen – geliebt habe, bestätigen würde? hatte sie nicht gesagt: ich glaubte ihn zu lieben? – und nun gerade in dem Augenblicke, wo die Erzählung bis zu der Katastrophe gekommen war, die Alles und auch die Feindschaft, die jetzt offenbar zwischen ihr und dem Baron herrschte, erklären mußte – wird ihr eine Botschaft gebracht, so sonderbarer, so unheimlicher Art, so ganz geeignet, Oswald's ohnedies schon verstörtes Gemüth ganz und gar zu verwirren! Nicht genug, daß ihm in Baron Oldenburg ein Nebenbuhler, den zu verachten unmöglich war, in Fleisch und Blut gegenüber stand – hier kommt ein Gemahl, das Gespenst eines Gemahls, aus einer sieben Jahre langen Wahnsinnsnacht emporgetaucht und winkt sie zu sich an sein Sterbebett – sie, seine Geliebte, seine Melitta – – Oswald fühlte, daß er selbst wahnsinnig werden würde, wollte er diesen Gedanken zu Ende denken. Er hatte es so ganz und gar vergessen, daß Melitta jemals vermählt gewesen war, daß sie jemals in den Armen eines andern Mannes, gleichviel, ob sie ihn geliebt – und um so gräßlicher, wenn sie ihn nicht geliebt – geruht, daß sie jemals die Liebkosungen eines andern Mannes entgegengenommen hatte – er zerknitterte den Brief Melitta's, er hätte laut aufschreien mögen vor wildem Schmerz, er hätte sein Haupt an den Felsblöcken zerschellen mögen. Warum dieses Gift in den köstlichen Trank seiner Liebe? warum mußte das leuchtende Gewand seines Engels in dem Schmutz des Lebens schleifen? warum mußte die duftige Blüthe vom schnöden Wurm benagt werden? – und wäre sie denn nur jetzt wenigstens frei – aber sie ist es nicht – selbst dann nicht, wenn jenes Gespenst aus der Nacht des Wahnsinns in die Nacht des Todes sinkt. Sie ist die Mutter ihres Kindes – seines Kindes, und diese Rücksicht, die sie jetzt für einen Augenblick vergessen hat, wird in den Vordergrund treten und mich wird sie aufgeben – aufgeben müssen. Und wozu soll es auch führen? so lange dies heimliche Verhältniß dauert, das ein tückischer Zufall seines Geheimnisses berauben kann, steht ihr guter Ruf auf eines Messers Schneide – und kann aus diesem Verhältnisse jemals ein anderes werden? kann ich, der pfenniglose Abenteurer, der Freiheitschwärmer, jemals daran denken, die reiche Aristokratin zu heirathen? daran denken, mich in die Gesellschaft der verhaßten Menschen zu drängen, die den Parvenü stets über die Achsel ansehen würden? nie! nie! Lieber leben, wie die armen Fischer, die täglich mit Gefahr des Lebens dem grausamen Meer den kärglichen Unterhalt abringen müssen! –

So irrte Oswald's Geist in einem Labyrinth von schmerzlichen Zweifeln ruhelos umher, wie er selbst zwischen den Uferklippen auf dem öden Strande ruhelos umherirrte, als plötzlich ein Ereigniß eintrat, das ihn sehr gegen seine Vermuthung und seinen Wunsch zwang, in die Gesellschaft, die er jetzt so gründlich haßte, zurückzukehren.

Siebenunddreißigstes Capitel

Als er nämlich an einem der folgenden Tage gegen Abend nach einer Abwesenheit von mehreren Stunden sich wieder dem Dorfe näherte, sah er vor der Thür von Mutter Karsten's Wohnung einen mit zwei Pferden bespannten Wagen halten. Dies war etwas so ganz Außerordentliches in dem von allem Verkehr abgeschnittenen Sassitz, daß Oswald sich wohl denken konnte, es müsse auch etwas Besonderes sich unterdessen ereignet haben. Um den Wagen und an die Thür des Häuschens drängten sich Frauen und Kinder und die paar Männer, die nicht mit auf dem Fischfang waren. Sie wollten wissen, ob der alte Steffen, Mutter Karsten's Vater, diesmal wirklich sterben müsse, oder ob es dem jungen Doctor, nach dem Mutter Karsten vor einigen Stunden die rasche Stina geschickt hatte, gelingen werde, ihn noch einmal von seinem bösen Stickhusten zu curiren.

So erzählten sie Oswald mit verstörten Mienen und gegen die Gewohnheit redselig, als er fragend unter sie trat. Denn Vater Steffen war der Patriarch des Dorfes, von Allen geehrt. Oswald eilte auf diese Nachricht hin, ohne sein Incognito zu bedenken, in das Haus und die Wohnstube. Der silberhaarige Greis saß in seinem Lehnstuhl, matt und bleich, aber, wie es schien, der Gefahr entrissen – Dank der rechtzeitigen Hülfe des Doctor Braun, der so eben von den Danksagungen der tief gerührten Mutter Karsten, ihrer Töchter und eines halben Dutzend anderer Frauen nach der Thür retirirte.

Gut, daß Sie kommen, rief er dem eintretenden Oswald entgegen; ich habe einen Auftrag an Sie; wollen Sie mir erlauben, daß ich mich desselben, da meine Zeit kurz gemessen ist, sogleich entledige?

Der Doctor ergriff Oswald ohne Umstände unter dem Arm, ihn mit sich fort zum Hause hinaus ziehend.

Entschuldigen Sie mein Ungestüm, sagte er, als sie, Arm in Arm, am Strande hinschritten; aber einmal treffen Sie mich in voller Flucht vor den Danksagungen der guten Leute, und zweitens betrachte ich Sie, trotzdem wir uns leider bis jetzt nur einmal gesehen, als einen alten Bekannten, denn ich habe mich seitdem in Gedanken sehr viel mit Ihnen beschäftigt. Aber nun zu meinem Auftrag! Sie wissen jedenfalls noch nicht, daß die Familie Grenwitz von der großen Badereise, auf die ich sie vor ein paar Tagen geschickt hatte, wohlbehalten, wieder zurück ist?

Nein! sagte Oswald mit nicht geringer Verwunderung.

Wie sollten Sie auch in diesem von aller menschlichen Cultur abgeschnittenen Dorfe der Ichthyophagen! Genug, die Familie ist wieder da. Der Baron (so erzählt die glaubwürdige Anna-Maria) hatte in Hamburg einen fürchterlichen Fieberanfall. Der herbeigerufene Arzt erklärte es für Wahnsinn, unter diesen Umständen die Reise über's Meer anzutreten und rieth zur Umkehr. Sein Rath wurde von Anna-Maria, die von vornherein gegen die Reise war, höchlichst gebilligt – bref! sie packten sich sammt und sonders, und Fräulein Helene dazu, die sie aus der Pension abholten, in die große Familienkutsche und sind wieder hier seit gestern Abend. Es wurde natürlich sofort nach mir geschickt. Ich bin heute Nachmittag dort gewesen, und da ich zufälliger Weise erwähnte, ich müsse noch nach Sassitz, bat mich die Baronin, die von Ihrem hiesigen Aufenthalte unterrichtet war, Ihnen zu sagen, daß man sich in Grenwitz ganz ausnehmend freuen würde, Sie möglichst bald wieder innerhalb des Schloßwalles zu sehen. Ich erwiederte, wie mir die Ausführung dieses Auftrages zu ganz besonderem Vergnügen gereiche und daß ich Ihnen zur Rückfahrt meinen Wagen und meine Gesellschaft anbieten würde – was ich denn, hochachtungsvoll und ergebenst, hiermit gethan haben will.

So sprach Doctor Braun, freundlich und lebhaft, wie es seine Gewohnheit war, die grauen Augen mit den braunen leuchtenden Sternen forschend auf Oswald heftend. Ich komme Ihnen recht ungelegen, gestehen Sie es nur! setzte er hinzu.

Durchaus nicht! erwiederte Oswald, das heißt, ich weiß, wie Achill, als man ihm die Brisäis raubte, den Boten von seiner Botschaft wohl zu unterscheiden.

Und wer ist die schöne Brisäis, die ich Ihnen, oder der ich Sie entführe? fragte der Doctor.

Die Einsamkeit, erwiederte Oswald.

Nun, daraus mache ich mir kein großes Gewissen, sagte der Andere lachend; die Einsamkeit ist wie der Duft mancher Giftpflanzen, süß, aber betäubend, und mit der Zeit geradezu verderblich, selbst für die stärksten Constitutionen. Wollen Sie meinem Rathe folgen? lassen Sie die schöne Brisäis Einsamkeit in Gottes Namen ziehen, zu wem sie will; setzen Sie sich zu mir in den Wagen und kutschiren Sie mit mir nach Grenwitz, wo Sie überdies ein Mädchen finden sollen, bei deren Erblicken Sie ausrufen werden: hier ist mehr denn Brisäis!

Fräulein Helene?

Fräulein Helene, auch ein griechischer Name, und der einen bessern Klang hat, wie der andere. Aber die Sonne, oder vielmehr Helios, senkt seinen Wagen, und meine Pferde werden ungeduldig. Sie kommen doch mit?

Ohne Zweifel, sagte Oswald.

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen mit den beiden jungen Männern bereits auf der Höhe des Ufers nach Grenwitz zu, das nur eine Stunde Weges entfernt war. Oswald hatte Mutter Karsten hoch und theuer versprechen müssen, bald wieder nach Sassitz zu kommen, und die große Herzlichkeit, mit der sich beim Abschied Alt und Jung um ihn drängte und ihm ihr Adjies, Herr Maler! nachrief, zeigte, daß er sich während seines kurzen Aufenthaltes, ohne es darauf anzulegen, die Gunst des harmlosen Völkchens in einem hohen Grade erworben hatte.

Der Abend war wunderschön. Der rothe Sonnenball hing am Horizonte und goß einen Zauberschimmer über die öde Küstenlandschaft. In dem hohen Haidekraut rechts und links vom Wege zirpten die Cikaden; Schwalben schossen hoch oben in der überaus klaren, weichen Luft. Oswald fühlte sich zum ersten Male seit langer Zeit beinahe heiter, und er mußte im Stillen dem klugen Manne an seiner Seite recht geben, daß man die Freuden der Einsamkeit doch zu theuer erkaufe.

Wie leid thut es mir, sagte er, daß wir unserem Vorsatz, uns häufiger zu sehen, so wenig treu geblieben sind.

L'homme propose et Dieu dispose, erwiederte Doctor Braun. Wir wollen es in Zukunft besser zu machen suchen. Sie bleiben ja, wie ich höre, noch lange in dieser Gegend, und ich werde auch wohl meinen Plan, nach Grünwald überzusiedeln, noch so bald nicht ausführen können.

Sie wollen nach Grünwald?

Vorläufig wenigstens. Ich concurrire hier mit einem trefflichen Mann, der jedenfalls ein viel gewiegterer Praktiker ist, wie ich Gelbschnabel, trotzdem aber durch mich in den Schatten gestellt wird, weil ich das Glück gehabt habe, ein paar gute Kuren zu machen, wie sie's nennen, und weil die Leute immer nach dem Neuen laufen, auch wenn es nicht das Bessere ist. Zwei Aerzte aber trägt die Gegend nicht, und mein College ist alt und hat eine zahlreiche Familie zu ernähren; ich bin jung und vorläufig nur verlobt, folglich werde ich ihm den Platz räumen.

Das ist sehr edel.

So scheint es, aber scheint auch nur. Ich gieße das reine Wasser nur fort, weil ich noch reineres in Aussicht habe. Mein Schwiegervater ist einer der bedeutendsten Aerzte in Grünwald. Die Hälfte seiner Praxis ist mir, wenn er sich zur Ruhe setzt, wozu er sich noch immer, trotz seiner wankenden Gesundheit, nicht entschließen kann, gewiß; und da meine Braut eine Grünwälderin ist, jedes Fischlein sich aber in seinem Teich am wohlsten fühlt, ich überhaupt die Gesellschaft der Cyklopen und Ichthyophagen, mit denen ich hier verkehren muß, herzlich satt habe, so – sehen Sie, daß mein Edelmuth die Grenzen des Erlaubten noch keineswegs überschreitet.

Ist es indiscret, nach dem Namen Ihrer Fräulein Braut zu fragen?

Bewahre: Sophie Robran.

Ich hatte während meines Aufenthaltes in Grünwald leider nicht das Vergnügen, mit Fräulein Robran in Gesellschaft zusammenzutreffen. Mein würdiger Freund, der Professor Berger, nannte sie den einzigen Schwan in einer gewaltigen Heerde von Gänsen.

Sie waren längere Zeit in Grünwald?

Ich komme eben von dort, nachdem ich ein halbes Jahr in den schattig-stillen Straßen der trefflichen Stadt ein äußerst idyllisches Leben geführt, und unter Berger's Auspicien meine Examina absolvirt hatte.

Aber – Sie werden jetzt mit größeren Recht über meine Indiscretion klagen – was bestimmte Sie, wenn Sie diese Brücke der Lahmen und Blinden hinter sich haben, der Wirksamkeit in einem größeren Kreise, für die Sie doch offenbar vorzüglich befähigt sind, das Stillleben eines Hauslehrers in einer adeligen Familie vorzuziehen, wo es Ihnen geradezu unmöglich wird, Ihre Kräfte frei zu entfalten?

Was mich dazu bestimmte? antwortete Oswald, ich weiß es selbst kaum. Einmal wohl der gründliche Abscheu vor dem, was die Menschen mit jenem, für ein planetarisches Gemüth so äußerst bedenklichen Ausdruck: eine feste Anstellung, bezeichnen; sodann der Einfluß Berger's, der mir dringend rieth, mich nicht vor der Zeit zu binden, sondern noch ein paar Jahre in der Welt herumzusinbadesiren, wozu ich jetzt, wenn meinen Zöglingen die Flügel erst noch ein wenig gewachsen sein werden, sogar contractlich verpflichtet bin.

Wissen Sie, daß ich fürchte, oder vielmehr hoffe, Sie werden nicht im Stande sein, diesem Rath Ihres wunderlichen Freundes bis zum Ende zu folgen?

Weshalb?

Weil – Sie erlauben, daß ich ganz offen bin – weil Sie sich hier in einer schiefen Stellung befinden, die über kurz oder lang unleidlich für Sie werden muß. Eine solche Stellung ist nur gut für Jemand, der, weil er nicht auf eigenen Füßen stehen kann, gezwungen ist, sich an Andere anzulehnen; der von Jugend auf gewohnt ist, seinen Willen, seine Meinung dem Willen Anderer unterzuordnen, oder besser noch, der überhaupt gar keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung hat. Von dem Allen ist bei Ihnen das Gegentheil der Fall. Sie sind viel zu bedeutend für diese unbedeutenden Menschen. Sie ärgern sich über diese Menschen, und vice versa. Das ist einmal nicht anders, wo so heterogene Elemente eine Verbindung eingehen sollen. Sie halten die Baronin für das, was sie ist, für eine dünkelhafte, adelsstolze, trotz ihrer Belesenheit bornirte, engherzige, geizige Person, die Baronin hält Sie für das, was Sie nicht sind: für einen unendlich in sich verliebten, hochmüthigen Narren. Sie leben in einem Hause, Sie essen an einem Tisch, und haben doch so wenig Berührungspunkte, als ob Sie durch eine Welt getrennt wären; Sie bleiben bei einander, weil Keiner aus diesem oder jenem Grunde das Wort der Trennung sprechen will, bis ein Augenblick kommt, der den Einen und den Andern gebieterisch zur Entscheidung drängt. Habe ich recht?

Ich kann es nicht in Abrede stellen.

Sehen Sie. Und die Sache wird, glaube ich, jetzt noch schlimmer werden.

Warum jetzt?

Bis jetzt hatten Sie in diesem Narrenhause nur ein edles Geschöpf, das Sie lieben und bemitleiden konnten: den köstlichen Bruno; jetzt, wenn Sie zurückkehren, werden Sie noch einen zweiten Clienten, oder vielmehr eine zweite Clientin finden. Ich fürchte, das arme Kind ist, um die erste Rolle einer Familientragödie zu übernehmen, aus der Idylle ihres Hamburger Pensionats hierher nach Grenwitz geschleppt worden. Ich fürchte, es steht eine schwere Gewitterwolke über dem schönen Haupt des unglücklichen Mädchens. Sie werden, wie ich Sie kenne, versuchen wollen, den Schlag abzuwenden, und untröstlich sein, daß Sie es nicht vermögen. Sie blicken mich mit großen Augen fragend an, und ich sehe, daß Sie von den Geheimnissen der Familie, in der Sie schon seit einem Viertel jahr leben, noch so gut wie gar nichts wissen. Die Sache ist die: Anna-Maria lebt in beständiger Furcht vor dem Tode des alten Barons, weil, wenn der Baron stirbt, sie nicht nur einen alten Gemahl, sondern auch die angenehme Aussicht verliert, sich aus dem Ueberschuß der Revenüen nach und nach ein bedeutendes Vermögen zurücklegen zu können. Deshalb ist ihr Malte lange nicht so wichtig. Dennoch fürchtet sie auch für den, da bei seinem Tode das Majorat ganz außer dieser Linie heraus an eine noch jüngere fallen würde, die durch Felix von Grenwitz, einen Ex-Lieutenant und notorischen Roué, repräsentirt wird. Und nun kommt die Teufelei: um, wenn auch der Baron und selbst Malte vor der Zeit sterben sollten, doch immer noch, so zu sagen, die Hand im Spiele zu haben, hat Anna-Maria eine Heirath zwischen Fräulein Helene und dem ausgezeichneten Vetter Felix projectirt. Das arme Kind weiß nichts von diesem interessanten Plan, desto mehr aber fürchte ich, der ausgezeichnete Felix, der in wenigen Tagen nach Grenwitz kommen wird, um fern von dem aufregenden städtischen Treiben in der Stille des Landlebens ganz seiner angegriffenen Gesundheit zu leben, wie die Baronin sagt. Mit einem Worte: es ist die alltägliche Misère von Soll und Haben, das ganz gemeine Brimborium, durch welches ein unschuldiges Püppchen geknetet und zugerichtet wird, und Ihnen wird das Glück zu Theil werden, diesem erhabenen Schauspiel als unbefangener Beobachter beiwohnen zu dürfen.

Das wird nimmermehr geschehen, rief Oswald.

Sie wollen also Ihre Stelle aufgeben?

Eine Sturmfluth von Leidenschaft brauste durch Oswald's Seele. Er dachte an die unglückliche Marie, die jetzt oft mit auf der Brust gefalteten Händen, wie eine schmerzensreiche Heilige, durch seine Träume glitt; er dachte an Melitta, die verkauft worden war von ihrem eigenen Vater! Jetzt sollte sich das Bubenstück wiederholen – vor seinen Augen –

Nimmermehr, nimmermehr! rief er, wenigstens nicht, bevor ich, so oder so, die Ausführung dieses schurkischen Planes vereitelt habe; bevor ich gethan habe, was ich konnte, ihn zu vereiteln!

Aber was werden Sie thun können? lieber Freund, die Großmuth ist eine Tugend, der wir genau auf die Finger sehen müssen, damit sie uns nicht die Heldenkrone, von der wir träumen, in eine klingende Schellenkappe verwandelt. Denken Sie an den edlen Junker aus der Mancha, und wie sein ritterlicher Leib geschunden und geprügelt wurde für die Wallungen seines guten Herzens! – Und dann: wissen Sie denn, ob die Andromeda, deren Perseus Sie werden wollen, überhaupt befreit sein will? Ich kenne den Baron Felix nicht – vielleicht ist er besser, als sein Ruf; ich habe nicht drei Worte mit Fräulein Helene gesprochen – vielleicht ist sie keineswegs so lieb und gut, wie sie schön ist.

Sie ist es, sie ist es, verlassen Sie sich darauf, rief Oswald eifrig.

Gut, daß Sie noch nicht dreißig Jahre alt sind; sagte der Doctor lachend.

Weshalb?

Sie wissen, was den Schwärmern, nach Goethe's Ausspruch, in dem bezeichneten Lebensalter zukommt? der Tod – an demselben Kreuze, welches sie bis dahin keuchend durch das Leben schleppten. – Aber da sind wir schon nahe am Thore. Wollen Sie mir erlauben, daß ich Sie hier absetze? Ich habe noch einen Besuch im Dorfe zu machen und dieser Weg führt direct hin, während ich über den Schloßhof einen langen Umweg machen muß. Uebermorgen komme ich wieder nach Grenwitz. Hoffentlich geht Ihr Puls dann ruhiger. Ich sagte Ihnen ja gleich: die Einsamkeit ist reines Gift für Ihre Natur. Adieu!

Achtunddreißigstes Capitel

Es war ein köstlicher Anblick, den der Schloßhof von Grenwitz in dem Augenblick gewährte, als ihn Oswald durch das finstere Thor betrat, ein Anblick, wohl geeignet, ein schmerzlich zuckendes Herz zur Ruhe zu wiegen. Während die höchsten Kuppen der gewaltigen Linden, die auf das Portal des Schlosses zuführten, und die Zinne des Thurmes noch vom rothen Abendlichte angestrahlt waren, lag schon tiefer Schatten unter den Bäumen, neben dem Walle, über dem langen Grase, das überall zwischen den Steinen des Pflasters emporwuchs. Aus den Kronen der Linden, die mit weißem Blüthenschnee überdeckt waren, strömte ein süßer Duft, der die ganze Atmosphäre erfüllte. Rings umher war es so still, daß man deutlich das geschäftige Summen der Insecten vernahm; auf dem Rand des Brunnens mit der kopflosen Najade saß ein Vöglein und sang der untergehenden Sonne nach; hoch oben in der rosigen Luft schossen noch immer einzelne Schwalben, als könnten sie sich heute, wo es doch gar so wunderschön sei, gar nicht entschließen, zur Erde zurückzukehren.

Langsam, fast zögernd, schritt Oswald dem Schlosse zu. Er fühlte tief den Zauber dieser Abendstunde und wußte, daß das erste Menschenwort denselben zerstören würde. Aber er begegnete Niemandem. Der ganze Hof war wie ausgestorben. Er stieg die Wendeltreppe hinauf und ging durch die langen Corridore, die von seinem Fußtritt wiederhallten, auf sein Zimmer.

Die Fenster waren geöffnet, und der Lehnstuhl in der Nische hatte den rechten Platz, auf dem Tische vor dem Sopha stand eine Vase, angefüllt mit frischen Blumen, der Kopf des Apollo von Belvedere hatte sich eine schmale Krone von Epheu gefallen lassen müssen. Es war aufgeräumt in dem Zimmer, aber so, wie es nur von Jemand geschehen kann, der die Eigenheiten des Bewohners ganz genau kennt. Offenbar hatte hier Bruno's Hand gewaltet.

Oswald fühlte sich durch das stumme und doch so beredte Willkommen auf das angenehmste berührt. Es war wie eine warme Hand, die freundlich die seine drückte, wie ein Hauch, der liebevoll seinen Namen flüsterte. Der Sturm in seiner Seele, welchen die Worte des Doctors erregt hatten, war vorübergebraust, und an die Stelle des wilden Zornes eine schwermuthsvolle Trauer getreten, daß die Menschen dieser herrlichen Erde nicht werth seien und in ihres Sinnes Thorheit sich, gegen das Geschick, Schmerzen und Qualen ohne Zahl bereiteten.

Er hatte, den Kopf in die Hand gestützt, am Fenster gesessen. Dann erinnerte er sich, daß es wohl an der Zeit sei, die Gesellschaft aufzusuchen und zu begrüßen. Er kleidete sich um, nahm eine Nelke aus dem Blumenstrauß und ging hinunter.

Als er die Thür des Wohnzimmers öffnete, aus welchem die Fensterthür nach dem Rasenplatze führte, hörte er Stimmen und als er ein paar Schritte in das leere Zimmer hinein gethan hatte, sah er auch schon einen Theil der Gesellschaft, die auf dem Rasen mit dem Lieblingsspiel der Baronin, dem Reifenspiel eifrigst beschäftigt war. Er näherte sich leise der Thür und blieb auf demselben Platze stehen, von welchem aus Melitta an jenem Nachmittage ihn zum ersten Male erblickt hatte, als er Arm in Arm mit Bruno unter den Bäumen hervortrat.

Die Gesellschaft bestand aus dem Baron und der Baronin, Mademoiselle Marguerite und Herrn Timm, Malte und Bruno und einer jungen Dame, die Oswald den Rücken zugewandt hatte, so daß er nur die schlanke leichte Gestalt, deren reizende Formen ein einfaches weißes Gewand gar anmuthig hervortreten ließ, und das üppig dichte, leicht gekräuselte, blauschwarze Haar bemerken konnte, welches in der Mitte gescheitelt und hinten lose zusammengesteckt, die Linien des wundervoll schön geformten Kopfes in weichen Umrissen nachzeichnete.

Oswald's Blicke waren, wie von einem Zauber, an diese jugendliche Gestalt gefesselt, die, ohne den Platz zu verlassen, beinahe regungslos dastand, und nur in regelmäßigen Zwischenräumen die Arme hob, um den Reif aufzufangen, den Bruno, ihr Nachbar, mit nie fehlender Sicherheit stets so schleuderte, daß er in einem Halbbogen unmittelbar auf ihren Stock herabschwebte, oder den eben aufgefangenen Reif weiter zu schicken an Malte, der ihn ein jedes zweite Mal fallen ließ und sich bitter beklagte, Helene werfe so schlecht, und Helene thue es ihm nur zum Aerger und es müße ein Anderer an Helenen's Stelle treten.

So komm' hierher, Helene, sagte die Baronin, Du wirfst auch wirklich sehr schlecht.

Mutter und Tochter tauschten mit den Plätzen, und Oswald konnte jetzt voll in's Antlitz sehen.

Es war eins der Gesichter, die man nie wieder vergißt, wenn man einmal mit fühlenden Augen hineingeschaut, an die sich noch der Greis über ein halbes Jahrhundert weg mit wehmüthiger Freude erinnert, wie er sich an einen warmen Sommerabend erinnert, als er – ein kleiner Schulknabe – mit den Brüdern im Garten spielte und aus der Laube das Lachen der großen Mädchen klang: eins der Gesichter, die uns, wenn wir noch so traurig sind, anlächeln, wie ein Sonnenblick an einem düstern Herbsttage, die, wenn es in unserm Herzen noch so öde ist, uns wieder an Poesie und Alles, was schön und göttlich ist, glauben machen.

Oswald stand in Bewunderung verloren, wie man vor einem wunderherrlichen Gemälde anbetend stehen bleibt. Es war nicht das liebliche Oval des reizenden Gesichtes; es waren nicht die großen, dunkeln, träumerischen Augen, die aus den langen schwarzen Wimpern mit einem so zauberischen Lichte leuchteten; es waren nicht die vollen rosigen Lippen, die so freundlich lächeln konnten; es war nicht das dunkle Incarnat des sammetweichen Teints – es war eben Alles in Allem. Wer kann die Sonnenstrahlen fangen? wer die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die Schönheit zergliedern? Oswald versuchte es auch nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im Leben gesehen habe, nie wieder sehen werde, und es war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich gesucht, nun endlich gefunden sei.

Er wollte die Gesellschaft begrüßen, aber es war, als ob sein Fuß an den Boden gefesselt wäre. Eine ihm unerklärliche Angst ergriff ihn, ein banges Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geschehen müsse, als werde in diesem Augenblick von geheimen Mächten des Schicksals über das Wohl und Wehe seines Lebens entschieden; er hätte fliegen mögen, weit, weit fort, in die tiefste Einsamkeit.

Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreise ausgeschieden war und sich dem Hause näherte. Er raffte sich gewaltsam empor und trat durch die Fensterthür dem Kommenden entgegen. Sein Erscheinen wurde natürlich sofort bemerkt und ein allgemeines: ah, Herr Stein! sieh da, Herr Doctor! bewillkommnete ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn umarmt hatte, ehe er an Jene herangetreten und sie begrüßen konnte.

Das ist ja charmant, Herr Doctor; sagte die Baronin mit ihrem gnädigsten Lächeln. Wir waren schon untröstlich bei dem Gedanken, Sie noch wochenlang entbehren zu müssen und nun sind Sie schon wieder in unserer Mitte. Was sagen Sie denn, daß wir so bald wieder umkehren mußten! Der arme Grenwitz, er ist recht krank gewesen! Geh hinein, lieber Grenwitz; es ist wirklich schon recht kühl draußen. Wir wollen Alle hineingehen. – Und unser kleiner Kreis hat sich unterdessen vergrößert. Wo ist denn Helene, – Hélène, venez ici, ma chère!

Lassen Sie mich Ihnen meine Tochter Helene vorstellen; ich habe ihr Hoffnung gemacht, daß Sie die Güte haben wollen, ihr zu helfen, die vielen, vielen Lücken in ihren Kenntnissen etwas auszufüllen, denn Sie glauben nicht, welch eine Stümperei eine solche Pensionats-Erziehung in wissenschaftlicher Hinsicht ist! Nicht wahr, Sie werden die Kleine in die Zahl Ihrer Schüler aufnehmen? Wollen wir hineingehen? Ich denke, wir bleiben Alle etwas im Salon beisammen.

Ohne Zweifel, sagte Herr Timm, der gegen seine Gewohnheit bis jetzt sehr still gewesen war; saure Wochen, frohe Feste, Tages Arbeit und Abends eine gemüthliche Bowle, wie der alte Geheimrath sagt. Das soll keine Anspielung sein, gnädige Frau, bei Leibe nicht!

Aber es wäre Ihnen doch nicht unlieb, wenn ich es für eine Anspielung nähme, sagte die Baronin, die heute Abend entschlossen schien, Alle zu bezaubern.

Ich müßte lügen, wollte ich das Gegentheil behaupten, sagte Herr Timm, die Hand auf's Herz legend; und Sie wissen, gnädige Frau, daß mir alle Lüge in den Tod verhaßt ist.

Eh bien! sagte die Baronin, und Sie sollen die Ingredienzien selbst bestimmen; wollen Sie sich darüber mit Mademoiselle in Einvernehmen setzen?

Famos, sagte Herr Timm, gnädige Frau, ich muß Ihnen die Hand küssen; und nachdem er den Worten die That hatte folgen lassen, zog er die kleine Französin bei Seite, ihr das Recept zu einer »famosen Bowle« mitzutheilen.

Man war vielleicht eine Stunde plaudernd im Salon beisammen gewesen, Herr Timm hatte einige komische Lieder eigener Composition am Clavier recht hübsch vorgetragen, einige burleske Scenen, in denen er zu gleicher Zeit als zwei oder drei verschiedene Personen auftrat und mit zwei oder drei verschiedenen Stimmen redete, ausgeführt, kurz, er hatte Alles, was in seinen Kräften stand, gethan, um die nach den ersten zehn Minuten ziemlich einsilbig gewordene Gesellschaft zu unterhalten, und trotz alledem die von ihm selbst gebraute Bowle auch ziemlich allein ausgetrunken – als die Baronin zum Aufbruch mahnte. Herr Timm erbat sich als einzigen Ehrensold für seine Bemühungen am heutigen Abend die Erlaubniß, den Damen vom Hause die Hand küssen zu dürfen, eine Erlaubniß, die ihm von der Baronin mit gnädiger Bereitwilligkeit, von Fräulein Helene aber nicht zugestanden wurde, die kurz und trocken, und die schönen Brauen ein wenig zusammenziehend, bemerkte, der Künstler müsse seinen Lohn in sich selbst tragen. Herr Timm wollte dagegen Einwendungen erheben, aber Oswald schnitt die weiteren Auseinandersetzungen ab, indem er »gute Nacht« wünschte und mit Bruno (Malte hatte sich schon früher entfernt) das Zimmer verließ und so Herrn Timm, der in demselben Theile des Schlosses wohnte, zwang, sich ebenfalls zu empfehlen. Ueberhaupt hatte Oswald seinen neuen Freund heute Abend nicht gerade freundlich behandelt, wodurch sich dieser in keiner Weise stören ließ, sondern in seinem übermüthigen Geschwätz fortfuhr, bis sie sich, vor ihren Thüren angekommen, trennten.

Gott sei Dank! sagte Oswald, als er sich mit Bruno in seinem Zimmer allein sah; endlich sind wir den lästigen Schwätzer los. Und ich habe Dich noch gar nicht um Verzeihung bitten können, daß ich neulich beim Abschied so kalt und gleichgiltig war; Dir noch nicht danken können, daß Du brüderlich Alles vergessen hast – mir ein so freundliches Willkommen bereitet hast. Nicht wahr, diese Blumen sind von Dir?

Ja –

Und der Epheukranz dort um die Stirn des Apollo ist von Dir?

Ja –

Und Du hast den Lehnstuhl an die rechte Stelle gerückt?

Ja –

Du lieber, lieber Junge! komm, wir wollen uns Beide hineinsetzen, und nun sollst Du mir von Deinen Irrfahrten erzählen, von den Städten, die Du gesehen, von den Cyklopen, die Du geblendet, von den Leiden, die Du erduldet hast in Deiner lieben Seele – Alles der Ordnung gemäß, weißt Du, wie Polyphem seine Schafe melkt.

Oswald hatte sich in den Stuhl geworfen und Bruno zu sich gezogen. So saßen sie; und der Knabe schmiegte sich innig an seinen einzigen Freund, und fing an zu erzählen, erst mit satyrischer Laune die Hinfahrt schildernd, wie bald der Baron und bald Malte nicht hatten rückwärts fahren können, wie zuletzt Beide auf dem Bock gesessen hatten, und der Diener im Wagen – und wie er, Bruno, vergnügt gewesen sei, als immer neue Städte und neue Dörfer vor seinen Blicken auftauchten, und nun zuletzt das große Hamburg.

Dann nahm seine Erzählung einen andern Ton an. Er schilderte mit allem Ernste den Eindruck, welchen die Stadt auf ihn gemacht hatte, die vielen stattlichen Häuser, das Gedränge in den Straßen, das Treiben im Hafen, die vielen Schiffe, das Alsterbassin, in welchem sich die vielen Lichter spiegelten und welche zauberische Wirkung das hervorbringe, wenn man langsam am Rande hinspaziere, und wie er einmal beinahe in's Wasser gefallen wäre, wenn ihn Helene nicht gehalten hätte. Und nun, nachdem Helenens Namen erst einmal genannt war, tauchte er immer wieder auf, wie ein leuchtender Stern aus treibenden Wolken, wie Helene geweint habe, als sie von Hamburg abreisten, wie sie auf das Wort ihrer Mutter: es scheint Dir nicht viele Freude zu machen, zu Deinen Eltern zurückzukehren, die Thränen getrocknet, aber auch auf der ganzen Reise kaum einmal wieder gelächelt habe. Denn sie sei sehr stolz, aber auch sehr, sehr gut gegen Alle, die sie lieb habe, zum Beispiel gegen ihren Vater, und auch gegen ihn, obgleich er durchaus nicht behaupten wolle, daß sie ihn lieb habe – so arrogant sei er durchaus nicht – aber so viel sei gewiß, daß sie eines Abends, als es schon sehr spät war und er, von dem vielen Fahren müde, die Augen nicht mehr aufhalten, vor all dem Rütteln und Schütteln aber nicht zum Schlafen kommen konnte, es sich ruhig gefallen ließ, als sein Kopf in der Schlaftrunkenheit auf ihre Schulter sank, und dort wohl eine halbe Stunde liegen blieb. Das werde er ihr nie vergessen und wenn er einmal Gelegenheit haben sollte, ihr einen Dienst zu leisten, dann wünsche er nur, daß es dabei um Hals und Kragen gehe, sonst hätte es doch keine rechte Art.

So sprach der Knabe und seine Worte fielen dicht wie Feuerfunken aus einem Gebäude, das in hellen Flammen steht, und seine Wangen glühten. Oswald bemerkte wohl, daß das schöne Mädchen einen großen Eindruck auf den wilden Knaben gemacht hatte; aber wie groß, wie allmächtig dieser Eindruck war, welche Revolution in dieser frühreifen, übermächtigen Natur eine erste, wie ein Lavastrom hereinbrechende Liebe hervorgebracht hatte – das ahnte er nicht. Er scherzte über seines Lieblings feurigen Enthusiasmus, um so witziger und feiner, als er denselben in nicht geringem Grade theilte, und Bruno, der sich von Oswald Alles gefallen ließ, lachte mit und lächelnd und scherzend sagten sie sich gute Nacht. Bruno ging in seine Kammer, Oswald setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl.

Auf dem Tisch vor dem Sopha brannte die Lampe, dennoch bemerkte Oswald das Flimmern des Mondes, der eben über die Buchen des Walles heraufstieg; ein einzelner Stern in der Nähe der Mondsichel schimmerte aus dem tiefen Blau des nächtlichen Himmels. Durch das offene Fenster strömte die weiche balsamische Nachtluft – es war so still, daß man die fallenden Thautropfen hörte. Und jetzt, während Oswald saß und lauschte, klangen, wie die Töne einer Aeolsharfe, auf einem Flügel mit kunstgeübter Hand angeschlagene Accorde zu ihm herüber, erst leise, leise als fürchte man die Nacht aus dem Schlafe zu wecken, dann ganz allmälig lauter. Die Accorde flossen zusammen zu der Melodie eines Liedes, und bald begann eine weiche Altstimme das Lied zu der Melodie zu singen. Oswald konnte die Worte nicht vernehmen, aber sie schienen sanft und traurig zu sein, wie die Melodie, deren einfache rührende Klage wunderbar zum Herzen sprach.

Diese Musik zu dieser Stunde würde Oswald entzückt haben, auch wenn er nicht hätte ahnen können, wer die Sängerin war. Jetzt aber, wo er wußte, daß es Niemand sein konnte, als das schöne Mädchen, vor dem sich heute Abend, wie vor einer überirdischen Erscheinung, seine Seele anbetend geneigt hatte, bei dessen Anblick es über ihn gekommen war, wie die Offenbarung einer höheren Welt – klangen die tiefsten Saiten seines Herzens mit, und wie der Gläubige, was in ihm wogt und drängt, in ein Gebet zu gießen versucht, so fühlte Oswald den Drang, in Worten auszusprechen, was seine Seele so mächtig erregte. Er erhob sich wie trunken aus dem Sitz am Fenster; er schritt an den Tisch und schrieb, kaum wissend, was er schrieb:

Nie, seit der wunderbaren heil'gen Stunde, Die Milton's keuscher Dichtermund besang, Als von des ersten Menschen reinem Munde Das erste süße Wort der Liebe klang, – Und alle Vöglein sangen's in der Runde, Und jedes Blümlein aus der Knospe sprang – Nie ist ein Weib auf Erden je erschienen, Dem, so wie Dir, die Engel sichtbar dienen. O, Du bist lieb! lieb, wie der Gott der Träume, Der uns Vergessenheit der Schmerzen bringt; So hold, wie Mondschein der durch Blüthenbäume In unser lauschig dunkles Zimmer dringt – Süß, wie Dein Sang, der durch die stillen Räume In tiefer Nacht zu mir herüberklingt – Du bist so schön, daß man wie sie Dich nannte, Für die der Krieg um Troja einst entbrannte. Doch Krieg und Wunden ziemen nicht dem Schönen! Als unser Heiland ist es uns gesandt. Es soll uns wieder mit uns selbst versöhnen, Die wir zu stürmisch durch die Welt gerannt; Und wie mit seiner Harfe gold'nen Tönen, Isai's Sohn des Saulus Weh gebannt, So wird aus Deinen liebetiefen Augen Manch' düstrer Blick sich Licht und Hoffnung saugen Aus Deinen holden Augen! wo sie strahlen In ihrer dunklen, märchenhaften Pracht, Da sind vergessen alle Erdenqualen, Da wird es hell in tiefster Leidensnacht, Wo sie erglänzen, wird in kummerfahlen Gesenkten Stirnen Leben neu entfacht Tiefmüder Pilger, die in allen Landen Die blaue Blume suchten und nicht fanden. O Blume, Mädchen! nie leg ab die Krone, Die jetzt auf Deinem jungen Haupte ruht, Gieb nimmer Raum dem frevelhaften Hohne, Daß, was so engelschön, nicht engelgut! Wie heute, stets, in heil'ger Unschuld, wohne, In aller guten Geister treuer Hut, Auf daß getrost in trüber Erdenferne Verirrte Wand'rer folgen Deinem Sterne.

Oswald trat wieder an's Fenster; der Mond und der Stern waren von einer schweren Wetterwolke bedeckt, die hinter ihnen her über den Wall heraufgezogen war; der Gesang war verstummt, lauter rauschte der Nachtwind in den Bäumen.

Er schloß das Fenster und suchte sein Lager auf, aber es dauerte lange, bis der Schlaf das fieberhafte Wogen seines Blutes sänftigte.

Neununddreißigstes Capitel

Als Oswald am nächsten Morgen unter den Papieren auf seinem Schreibtisch kramte, fiel ihm ein Briefchen in die Hände, das er gestern Abend übersehen hatte. Er erkannte sogleich die Handschrift, welche mit ihren bald kühnen und großartigen, bald kritzlich verworrenen Zügen so problematisch war, wie der Charakter des Schreibers. Das Billet war von Oldenburg und lautete:

So eben erhalte ich eine Nachricht, die mich nöthigt, sofort eine größere Reise anzutreten, von der ich nicht zu bestimmen vermag, wie lange sie dauern wird. Unter acht Tagen schwerlich. Ich schreibe diesen Brief, um ihn auf Grenwitz abzugeben, im Falle ich Sie nicht persönlich sprechen sollte, was mir sehr leid thun würde, da ich Ihnen Vieles zu sagen hätte. Unsere Czika nehme ich mit, da mir die Solitude während meiner Abwesenheit kein sicherer Aufenthalt für das Kind scheint. Bis zu dem Termin, den uns die Zigeunerin gestellt hat, bin ich jedenfalls zurück. Bis dahin leben Sie wohl!

In großer Eile und noch größerer Freundschaft

A.v.O.

Oswald fühlte sich durch diesen Brief eigenthümlich berührt, denn er ahnte irgend einen Zusammenhang zwischen dieser plötzlichen Abreise Oldenburg's und der Abreise Melitta's. War es, daß er in der letzten Zeit wiederum so viel über das Verhältniß der Beiden, das ihm durch Melitta's in der Mitte abgebrochene Erzählung in einem ganz neuen Lichte erschienen und doch noch lange nicht hinreichend aufgehellt war, nachgedacht hatte; war es nur der Umstand, daß der Brief Oldenburg's so dunkel gehalten war – genug, Oswald empfand es als eine Art Beleidigung, daß er nach dieser Seite fort und fort auf Räthsel stieß. Er nahm sich vor, noch heute nach Berkow hinüberzugehen und beim alten Baumann anzufragen, ob ein Brief Melitta's an ihn da sei.

Dann nahmen seine Gedanken eine andere Richtung, als sein Auge auf die Verse fiel, die er gestern Abend geschrieben hatte. Er mußte lächeln, als er sie jetzt durchlas. Da hat Dir Deine leidige Phantasie wieder einmal einen dummen Streich gespielt; sprach er bei sich. Es braucht Dir nur Jemand von einem hübschen Mädchen zu erzählen, das einen Andern, als Deine Hoheit, heirathen soll, und Du geräthst in einen Paroxysmus des Mitleidens mit dem jungen Mädchen und einen Paroxysmus des Hasses gegen den jungen Mann. Und hernach brauchst Du das Mädchen nur selber zu sehen und zu finden, daß sie große dunkle leuchtende Augen hat und überhaupt interessanter aussieht, als die Backfische im Allgemeinen, und ein Knabe braucht Dir nur eine halbe Stunde von besagtem Backfisch vorzuschwärmen, so fühlst Du Dich gemüßigt, so überschwängliche Verse zu schreiben wie diese hier, die ich in das Feuer des Ofens stecken würde, wenn wir uns nicht unglücklicher Weise in den Hundstagen befänden.

Indessen stellte Oswald das Autodafé nicht an, obgleich die Flamme eines Lichtes dieselbe Wirkung gethan haben würde, wie das Feuer im Ofen, sondern legte das Blatt ganz sorgfälltig in sein Pult.

Der Morgen grüßte so freundlich aus dem thaufrischen Garten herauf, daß er dem Verlangen, ein wenig zwischen den blumenreichen Beeten und in den schattigen Laubgängen umherzuschlendern, nicht widerstehen konnte. Ueberdies war es noch sehr früh – noch beinahe zwei Stunden Zeit bis zum Beginn des Unterrichts – die Knaben schliefen noch.

Oswald eilte und suchte seinen Lieblingsplatz auf, den mächtigen Wall, der Schloß und Garten und Hof umfaßte und auf welchem es sich unter den Buchen und Nußbäumen gar anmuthig promenirte, besonders am Morgen, wenn die rothen Sonnenstrahlen durch die wehenden Zweige blitzten und die halbwilden Enten noch lustiger als sonst auf dem grün überwachsenen Graben ihr Wesen trieben.

Er schlenderte langsam dahin, die reizenden Einzelnheiten des wonnigen Morgens mit allen Sinnen genießend, heute um so mehr, als die Lieblichkeit, die sanfte Schönheit; die ihn hier rings umher anlächelte, gar seltsam mit der öden Monotonie der Meeresküste, die er in der letzten Zeit beständig vor Augen gehabt hatte, contrastirte. Heute Morgen war es ihm beinahe unbegreiflich, wie er sich von seiner düstern Laune so ganz habe beherrschen lassen können. Der Doctor hatte recht: die Einsamkeit ist ein süßes berauschendes und zuletzt tödtliches Gift. Ich muß den Doctor öfter zu Rathe ziehen. Ein klarer Kopf, der die Dinge und Menschen und Verhältnisse stets in dem rechten Lichte sieht. Aber in Betreff der zwischen Fräulein Helene und ihrem Vetter projectirten Heirath irrt er sich doch. Erstens ist sie noch viel zu jung, zweitens ist sie viel zu schön und drittens will ich es nicht! Hören Sie, Madame la Baronne: ich will es nicht! Sie werden Ihr sauberes Project nicht ausführen, wenn Sie auch noch so sehr Ihre großen herrschsüchtigen Augen rollen und sich zu Ihrer ganzen stattlichen Höhe emporrichten.

Es war ein Glück, daß Oswald diese Worte nur leise durch die Zähne murmelte, denn wie er eben um eine Ecke des Walles bog, die durch ein dichtes weit vorspringendes Gebüsch noch schärfer gemacht wurde, fand er sich plötzlich Fräulein Helene, die von der andern Seite kam, gegenüber. Dies Zusammentreffen war für beide Theile so überraschend, daß das junge Mädchen nur mit Mühe einen leisen Schrei unterdrückte, und Oswald in seiner Verlegenheit nicht wußte, ob er die junge Dame anreden, oder grüßend stumm vorübergehen solle.

Aus diesem Zweifel wurde er durch Fräulein Helene befreit, die es ganz begreiflich fand, daß der junge Hauslehrer, von dessen Unterhaltungsgabe sie gestern Abend keine besonders große Meinung bekommen, nicht die Geistesgegenwart besitze, aus dem Stegreife eine Conversation zu beginnen; und deshalb glaubte, eine Bemerkung ihrerseits über den schönen Morgen dürfte das für die Situation Passendste sein.

Der schöne Morgen hat Sie auch herausgelockt, wie ich sehe.

Ja, mein gnädiges Fräulein, der Morgen ist in der That sehr schön.

Köstlich. Haben Sie immer so herrliches Wetter in der letzten Zeit gehabt?

Immer; das heißt, einige Regentage ausgenommen.

Wenn man den Himmel so blau sieht, sollte man schlechtes Wetter für ein Märchen halten, meinen Sie nicht auch?

Gewiß.

Fräulein Helene mochte glauben, daß diese geistreiche Unterhaltung nun lange genug gedauert habe, und da sie zufällig an einer Stelle angelangt waren, wo eine schmale Treppe von dem Wall hinab in den Garten führte, so hielt sie es in ihrem und ihres einsilbigen Begleiters Interesse für gerathen, diese Gelegenheit, die Scene abzubrechen, nicht unbenutzt zu lassen.

Haben Sie eine Ahnung, welche Zeit wir haben?

Halb sieben.

Schon? Da muß ich eilen, in's Schloß zurückzukommen, ehe Mama meine Abwesenheit bemerkt.

Fräulein Helene nickte vornehm mit dem Kopfe, stieg leicht die Treppe hinab und ging langsam zwischen den Blumenbeeten dem Hause zu.

Dem Glücklichen schlägt keine Uhr, sagte Oswald bei sich, als er der jugendlich schlanken Gestalt nachschaute, glücklich habe ich sie also durch meine meteorologische Bemerkungen nicht gemacht; und ihre Eile, in's Schloß zu gelangen, war weniger groß, als die von mir fortzukommen. Jedenfalls scheint sie noch Zeit genug zu haben, sich ein reizendes Bouquet zu pflücken. Ohne Zweifel für mich. Ich habe augenscheinlich eine vollständige Eroberung gemacht. Wie sie mich mit ihren wunderbaren Augen, so mitleidig halb und verächtlich, anblickte, als wollte sie sagen: ich thue Dir wohl einen großen Gefallen, wenn ich Dich mit Deiner Blödigkeit allein lasse! Sie ist stolz, sagte Bruno; gewiß, aber wie köstlich steht ihr dieser Stolz; wie kann ein Mädchen mit diesem Gesicht, diesen Augen, diesem Haar anders als stolz sein. Es ist die Atmosphäre, in die sie so nothwendig gehört, wie ein Adler in die höchsten Lüfte. Der Adler ist auch stolz und kein Mensch nimmt es ihm übel. Wie schön das Mädchen ist! eine prächtige Schönheit, die das helle Sonnenlicht nicht zu scheuen braucht, die nur noch schöner zu werden scheint, je köstlicher der Rahmen ist, der sie umgiebt. Eine unheimliche Schönheit, die uns fesselt und erstarren macht, wie die der tödtlich schönen Muse. Dies Mädchen eine Blume? wo waren meine Augen gestern? sie ist kein lyrisches Gedicht voll Vogelsang und Sonnenschein, sie ist eine schwermüthige Ballade, in der Schwerter klirren und Herzen verbluten, während oben aus dem Thurme ein weißes Tüchlein weht. – Und halt! jetzt weiß ich's: es ist das leibhaftige Gottseibeiunsgesicht der Grenwitz, wie Albert vortrefflich sagt – Zug für Zug! es ist das Gesicht Harald's, in's Weibliche übersetzt, dieselben dämonischen Augen, derselbe berauschend sinnliche Zug in den vollen, fast zu vollen Lippen, dieselbe Kraft in dem üppig dichten blauschwarzen Haar, das sich über der breiten festen Stirn aufkräuselt! – Vortreffliche Frau Mama! Sie irren sich sehr, wenn Sie glauben, daß diese Stirn sich so gutwillig unter Ihre Beschlüsse beugen wird; ausgezeichneter Baron Felix, Sie müssen Ihrem Namen wahrhaftig Ehre machen, wenn Sie in diesem Falle reüssiren wollen! Der Morgen ist in der That köstlich, und man sollte wirklich, wenn man den Himmel so blau sieht, schlechtes Wetter für ein Märchen halten.

Die Baronin war erstaunt über das Interesse, mit welchem Oswald heute bei Tisch, und mehr noch in einer längeren Unterredung, die sie nach der Mahlzeit hatten, auf ihre Gedanken einging und verschiedene von ihr aufgeworfene Fragen betreffs des Unterrichts erörterte: ob es nicht bei der großen Hitze zweckmäßiger sei, die Lectionen um sieben, statt wie bisher um acht zu beginnen? ob man die Nachmittagstunden nicht lieber ganz ausfallen lassen wolle? ob die Bücher, aus welchen Helene bis jetzt Geschichte und Literatur studirt habe, für sie noch brauchbar seien? ob zwei Lectionen wöchentlich für Helenen's Fortbildung hinreichen? und ob er den Morgen oder den Abend für die geeignetere Zeit halte?

Auch der alte Baron war auf das angenehmste überrascht, als er an Oswald einen aufmerksamen Zuhörer der langen Geschichte seiner kleinen Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn stets mit vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann gehalten, trotz des entschiedenen Widerspruchs seiner Anna-Maria und der mindestens zweifelhaften Zustimmung des Pastors Jäger; und er war ordentlich froh, daß er dieser Gesinnung heute, wo auch die Baronin sie zu theilen schien, endlich einmal einen Ausdruck geben konnte. Ueberhaupt schien die Reise einen sehr günstigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu haben. Mademoiselle Marguerite, der man in dieser Beziehung wohl ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete gegen Albert, sie ist verändert totalement, sie hat mich nicht gescholten ein einziges Mal, den ganzen Tag; worauf Albert erwiderte: ja, ich finde selbst, der alte Drache ist heute beinahe genießbar. Mit einem Worte, es herrschte heute ein so gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Gesellschaft auf Schloß Grenwitz. Jeder schien die Gründe, die er hatte, mit Diesem oder Jenem weniger zufrieden zu sein, vergessen oder doch in den Hintergrund geschoben zu haben, und da aus der Stimmung ein für Alle angenehmes Resultat hervorging, nahm man bereitwilligst für baare Münze, was der Andere dafür bot – natürlich, um sich das Recht zuzusprechen, Jenen mit derselben Münze zu bezahlen.

Oswald hatte die Begegnung mit Fräulein Helene am Morgen nicht vergessen und sich des Eindrucks, den er dabei auf die stolze, junge Dame gemacht haben mußte, wohl bewußt, sah er es nicht ungern, daß ihm im Laufe des Tages mehr als eine Gelegenheit wurde, seine natürlichen Vorzüge geltend zu machen. Bei Tische um eine Erzählung dessen, was ihm während der Abwesenheit der Familie begegnet war, gebeten, gab er eine Schilderung seines einsamen Lebens in Sassitz, wobei er sich eine halb humoristische, halb sentimentale Rolle zutheilte, natürlich ohne das romantische Dunkel, welches über seinem dortigen Aufenthalte lag, im mindesten zu lüften. Die derbe Mutter Karsten wurde zu einer Uhland'schen Meeres-Königin, ihre rothhaarigen Töchter, Stine und Line, zu Heineschen Wassernixen und der halb blödsinnige Vater Steffen zu einem weisen Merlin; die Kreidefelsen der Küste wuchsen in's Ungeheure und die Brandung donnerte zwischen den Klippen des Strandes mit wahrhaft Ossianischer Majestät. Die Gesellschaft, obgleich sie die Uebertreibungen bald herausfühlte, horchte mit Aufmerksamkeit, ja Spannung, und Oswald empfand es als den schönsten Lohn seiner phantastischen Improvisation, daß die großen, glänzenden Augen Helene's während seines Vortrages mit einem Ausdruck halb der Verwunderung und halb des Zweifels unverwandt auf ihn gerichtet waren.

Er war so ganz die Seele der Gesellschaft geworden, daß man es ihm ernstlich übel zu nehmen schien, als er gleich nach der Abendmahlzeit erklärte, den verabredeten Spaziergang durch den Buchenwald nach dem Strande nicht mitmachen zu können, da morgen Posttag sei und er einige sehr wichtige Briefe zu schreiben habe. Indem Oswald sich so in dem Augenblicke aus der Gesellschaft zurückzog, wo er sich ihr unentbehrlich gemacht hatte, durfte er mit der beabsichtigten Wirkung zufrieden sein. Fräulein Helene ließ sich herab, ihn direct zum Bleiben aufzufordern, und wandte sich, als er bei seinem Vorhaben beharrte, so kurz von ihm weg, daß ihr Unmuth nur zu ersichtlich war.

Dennoch hatte der funkelnde Stern, der soeben über seinem Horizonte aufgegangen war, ihn nicht so verblendet, daß er das Gestirn, welches nun schon so lange mit nimmer verlöschendem, stets gleichem, treuem, lieblichem Licht auf ihn herabblickte, darüber vergessen hätte. Er hatte schon gestern in Sassitz mit Bestimmtheit auf einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Baumann noch am Abend, als er mit dem Doctor weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt habe. Wohl hatte er Mutter Karsten gesagt, daß er nach Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der alte Baumann einen Brief Melitta's, der so leicht in andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch hatte er eine unendliche Sehnsucht nach dem längst erwarteten Brief.

So stahl er sich denn, gleich nachdem die Gesellschaft den Schloßhof verlassen hatte, durch den Garten nach dem großen Thor, aus dem man fast unmittelbar in den Tannenwald zwischen Grenwitz und Berkow gelangte. Es dunkelte schon unter den hohen Bäumen mit den weit überhangenden Aesten. Das von der Hitze des Tages durchwärmte Holz strömte jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem weiten Revier herrschte eine fast unheimliche Stille.

Und jetzt in dieser feierlichen Abendstunde, in diesem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre hohe, und bei aller lieblichen Fülle so jungfräuliche Gestalt, ihr reiches, braunes Haar, das in weichen Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre dunkeln, zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftigkeit, ihr liebliches neckisches Wesen – und ach! vor allem ihre unendliche Güte und Liebe – wie deutlich ihr Bild vor seiner Seele stand! wie heiß er sich gelobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur in Gedanken untreu zu werden, und komme, was da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu erwiedern.

Da ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der in raschem Trabe daher kam. Oswald durchfuhr ein freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten Baumann auf dem Brownlock erkannte.

Ein Brief? Haben Sie einen Brief? rief er mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur Seite springen machte.

Ruhig, Brownlock, ruhig, sagte der Alte, dem Pferde den schlanken Hals klopfend; guten Abend, junger Herr! Ich habe Sie schon in Sassitz gesucht, allwo ich erfahren, daß Sie sich am gestrigen Abend nach Grenwitz begeben. Nun wollte ich soeben dorthin reiten –

Aber wenn Sie mich nicht selbst getroffen hätten? und unter welchem Vorwande wollten Sie sich bei mir einführen lassen? Doch gleichviel – wo ist der Brief?

Hier! sagte der Alte, der unterdessen vom Pferde gestiegen war, ein nicht unbedeutendes Packet aus der tiefen Tasche seines langen Ueberrocks ziehend.

Geben Sie!

Nur Geduld, junger Herr! Ich habe an Alles gedacht. Dies Packet ist, wie Sie sehen, wohl zugebunden und versiegelt, und trägt die Aufschrift: Hierbei die bewußten Bücher mit bestem Dank zurück. Die andern wird Ihnen Baumann zustellen, sobald ich sie durchgelesen habe – und die Unterschrift: Ihr ergebenster B. – das kann ja wohl so gut Bemperlein als Baumann heißen, nicht wahr?

Der alte Baumann hatte, während er sprach, die Schnur um das Packet gelöst und aus einem der drei Bücher, die es enthielt, einen Brief genommen, den Oswald hastig erbrach und gegen das Licht hielt, um ihn zu lesen, aber das Dunkel unter den hohen Bäumen war bereits zu dicht; er vermochte nur noch die Ueberschrift: liebstes Herz, mit Mühe zu entziffern.

Ich kann nichts mehr sehen, sagte er traurig.

Wären Sie in Sassitz sitzen geblieben, wie Sie neulich wollten, oder hätten Sie gestern dem alten Baumann ein Wort zukommen lassen, so wären Sie noch bei guter Tageszeit in Besitz dieses Briefes von meiner gnädigen Frau gewesen.

Oswald fühlte wohl den Vorwurf, der in diesen sehr ruhig gesprochenen Worten lag und es wurde ihm nicht schwer, dem treuen Diener und Freunde Melitta's sein Unrecht einzugestehen.

Verzeihen Sie mir, sagte er, daß ich Ihnen die zweifache Mühe gemacht habe, ich habe meine Unbesonnenheit den ganzen Tag hindurch schon verwünscht und ich bin schwer genug dafür bestraft, denn hier halte ich den theuren Brief in den Händen und kann doch nicht erfahren, wie es ihr, wie es Frau von Berkow geht, ob sie wohl ist, ob sie glücklich in Fichtenau angekommen ist, und tausenderlei, was ich Alles wissen möchte und was ohne Zweifel hier steht – und versuchte noch einmal den Brief zu lesen.

Nu, nu! sagte der alte Baumann; wegen meiner haben Sie nun schon keine Sorge nicht; so eine Meile oder zwei mehr oder weniger, darauf kommt es mir und dem Brownlock eben nicht an. Und was die Nachrichten betrifft, die Sie zu haben wünschen, so weiß ich davon auch eine oder die andere mitzutheilen, sintemalen Herr Bemperlein mir einen Schreibebrief übersandt hat, in welchem die Reise und was sich bei der Ankunft zugetragen, Alles ausführlich berichtet ist. Der alte Mann hatte den Zügel über den Arm gehängt und ging neben Oswald her, der seine Schritte beeilte, um möglichst bald nach Grenwitz und auf sein Zimmer zu kommen.

Die gnädige Frau – Gott behüte sie, sagte der Alte, ist mit Herrn Bemperlein nach Verlauf von drei Tagen glücklich in Fichtenau angekommen. Herr Bemperlein hat sich sogleich mit Doctor Birkenhain in Vernehmen gesetzt und erkundet, daß Herr von Berkow noch lebe, aber so schwach sei, daß man stündlich seiner Auflösung entgegensehe. Das hat nun so gedauert bis zum Tage vor dem Abgang des Briefes, allwo die gnädige Frau in Begleitung des Herrn Bemperlein und des Herrn –

Der Alte unterbrach sich und hustete.

Nun, wessen? fragte Oswald, dessen Verdacht in Betreff des Baron Oldenburg wieder erwachte.

Nun, des Herrn Doctors natürlich, wessen sonst, sagte der Alte; ja, was wollte ich doch gleich sagen, Sie haben mich durch Ihre Frage ganz aus dem Context gebracht – richtig: also in Begleitung des Herrn Bemperlein und – hm, hm: des Herrn Doctors auf wenige Minuten nur bei dem Herrn Baron gewesen sind. Der gnädige Herr soll sich so verändert haben, daß er der gnädigen Frau, wie sie selbst gesagt hat, wie ein vollkommen fremder unglücklicher Mann erschienen ist. Gesprochen hat er auch ein paar Worte, von denen aber kein einziges zu verstehen gewesen ist. Dann sind sie wieder fortgegangen, und alsbald ist der gnädige Herr wieder in sein Bett zurückgesunken und in tiefen Schlaf gefallen und der Doctor meinte, das werde wohl nun bis zu seinem Ende so fortgehen, – welches denn der Herr Gott in seiner Gnade recht bald möge eintreten lassen, damit der arme Mann von seiner Qual befreit ist und die arme gnädige Frau endlich einmal wieder frei aufathmen kann!

Amen; sagte Oswald.

Denn sehen Sie, junger Herr, fuhr der Alte fort – und seine tiefe Stimme hatte einen eigenthümlich erregten Klang – die gnädige Frau hat nicht viel Freude gehabt ihr liebes Leben lang, und das thut mir weh, denn ich habe sie lieb, als wäre sie mein eigenes Kind, und wohl noch lieber. Denn ich habe freilich selbst nie welche gehabt, aber ich sehe doch, wie es andere Väter mit ihren Kindern machen, und daß sie sich nicht schämen, nicht blos wie kein Vater, sondern nicht einmal wie kein Christenmensch nicht an ihren Kindern zu handeln. Und der Vater von der gnädigen Frau – nun, es war mein gnädiger Herr, und ich habe unter ihm die Campagne mitgemacht, und von den Todten soll man nicht Uebles reden – aber zu Ihnen darf ich es schon sagen, weil Sie uns doch nun nicht mehr fremd sind – ja, das war ein böser Herr, oder auch eigentlich nicht böse, aber wild und leichtsinnig, wie der jüngste Offizier in seinem Regiment. Je toller ein Streich war, desto lieber war es ihm; na, und tolle Streiche und schlechte Streiche, die sehen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich. So dachte er sich nichts Böses dabei, wenn er, noch als Verheiratheter, den Frauenzimmern gerade so nachstellte, wie er es sonst gethan, aber der armen gnädigen Frau, welche eine gar gute, liebe Dame war, brach darüber das Herz, und sie starb, als ihr einziges Kind erst zwei Jahre alt war. Da gab es nun eigentlich Niemand, der für das arme Ding sorgte, als den alten Baumann. Ich hab's herumgetragen und habe mit ihm gespielt, und hernach, als es größer wurde, habe ich mit ihm schreiben und lesen gelernt, was ich damals noch nicht konnte, und ein bischen Französisch und was noch sonst in meinen alten Kopf hineinwollte. Und hernach habe ich sie reiten gelehrt, daß ihr nun wohl so leicht keine darin gleichkommt; und so bin ich wieder mit ihr jung gewesen und hab' mich nie nach Kindern gesehnt, denn sie war ja mein liebes, herziges Kind, obgleich ich nur ein armer unwissender Reitersmann und sie ein fürnehmes, hochadeliges Fräulein war. Und ich habe manchmal so in meinem Sinn gedacht: ob sie es nicht besser im Leben gehabt hätte, wenn sie wirklich mein Kind gewesen wäre. Denn vornehm sein und reich sein, das ist Alles recht gut, aber ich meine doch, wen Gott lieb hat, den läßt er arm geboren werden. Ich wäre nie auf den Gedan ken gekommen, mein eigen Fleisch und Blut um schnöden Mammon zu verkaufen; ich hätte nie vor meinem Kinde auf den Knieen gelegen und geflennt: Dein Vater ist ehrlos, wenn Du nicht den und den heirathest, von dem ich wohl weiß, daß Du ihn nicht liebst, der aber so viel Geld hat, daß er alle meine Schulden bezahlen kann und doch noch genug für euch Beide behält. Und es stand gar nicht einmal so schlimm mit Herrn von Barnewitz. Was er im Spiel verloren hatte, konnte er auch im Spiel wieder gewinnen, und hat's auch hernach zum Theil wiedergewonnen, so daß er später, wenn er zu viel getrunken, oft zu mir gesagt hat: hätte ich gewußt, Baumann, daß ich noch solch Glück im Pharao haben würde, da hätte der – es war ein häßliches Wort und ein ordentlicher Mensch bringt es nicht gern über die Lippen, – da hätte ich Herrn von Berkow auch etwas anderes gegeben, als meine Tochter. Mein einziger Trost ist nur, daß er's nicht lange mehr treibt, und dann kann sie ja noch immer einen andern heirathen. Nun, der gnädige Herr trieb es selbst nicht lange mehr, aber doch noch lange genug, daß er das Unglück, welches er angerichtet hatte, mit seinen leiblichen Augen sehen konnte. Er hätte viel drum gegeben, um ungeschehen zu machen, was geschehen war; aber wer sich mit dem Teufel einläßt, darf sich nicht wundern, wenn der liebe Gott nichts von ihm wissen will. So war die schöne junge Frau eine Wittwe und war es doch auch wieder nicht. Reichthum hatte sie nun, die Hülle und Fülle; aber mir däucht, sie wäre glücklicher gewesen, wenn sie unter einem Strohdach mit einem braven Mann gelebt hätte, als so mutterseelenallein in dem großen, öden Hause. Nun war freilich der Julius da, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein Kind ist noch immer keine Familie. Sehen Sie, junger Herr, das hat mein altes Herz oft bluten machen, und wenn ich die liebe gnädige Frau so des Abends allein durch den einsamen Garten wandeln sah, da habe ich oft den lieben Gott gebeten, er solle den armen Herrn von Berkow in Gnaden zu sich nehmen, und verstatten, daß die arme gnädige Frau doch einmal in ihrem Leben glücklich wird, wie andere Frauen, die nicht werth sind, daß sie ihr die Schuhriemen lösen. Reich braucht der Mann nicht zu sein, denn sie hat, wenn's doch ja Reichthum sein soll, genug für Beide, – aber Kopf und Herz muß er auf dem rechten Fleck haben und lieb muß er sie haben, mehr als seinen Augapfel. Und wenn ich einen solchen Mann wüßte, und ihr einen solchen Mann verschaffen könnte, und ich sähe sie nun glücklich an der Seite dieses Mannes, da wollte ich auch beten: Herr, lasse Deinen Diener in Frieden fahren. – Aber da sind wir ja schon am Thore. Nun, wohlschlafende Nacht, junger Herr! Wenn Sie morgen früh vielleicht eine Antwort auf den Brief von der gnädigen Frau fertig haben, so will ich einen Büchsenschuß weiter in den Wald hinein zwischen fünf und sechs darauf warten. Die gnädige Frau würde sich doch freuen, wenn Sie recht bald schrieben.

Ich werde pünktlich um fünf dort sein, sagte Oswald.

Na, auf eine halbe Stunde kommt es schon nicht an, sagte der alte Baumann, sein Pferd besteigend. Die Post geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich wünsche nochmals wohlschlafende Nacht.

Der alte Mann faßte salutirend an seine Mütze, lenkte den Brownlock herum und trabte durch die Tannen zurück nach Berkow.

Oswald eilte auf seine Stube, ohne Jemand zu begegnen, da die Gesellschaft von ihrem Spaziergang noch nicht heimgekehrt war. Mit zitternder Hand öffnete er den Brief und durchflog ihn mit athemloser Hast, um ihn dann langsam wieder und wieder zu lesen, wie man Briefe liest, von denen jedes einzelne Wort uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.

Als er sich spät am Abend hinsetzte, die Antwort zu schreiben, ertönte derselbe Gesang, der ihn gestern Abend in so überschwängliche Begeisterung versetzt hatte; heute aber schloß er das Fenster, denn er fühlte, daß seine Bewunderung für das schöne Mädchen im Grunde ein Verrath seiner Liebe zu Melitta sei, obgleich er die anklagende Stimme seines Gewissens möglichst zu überhören versuchte.

Vierzigstes Capitel

Oswald konnte es sich nicht versagen, noch ein wenig im Garten zu promeniren, als er am nächsten Morgen aus dem Wald zurückkehrte, wo Baumann den Brief entgegengenommen hatte. Er wollte eigentlich nur einige Minuten bleiben, nur eben einmal auf dem Wall die Runde um den Garten machen; aber er hatte die Promenade nun schon zweimal vom großen Thor bis wieder zum großen Thor gemacht – und begann sie eben zum dritten Male, denn der Morgen war allerdings köstlich, und, wenn ihn seine Augen nicht täuschten, so schimmerte durch die Büsche und Bäume auf der andern Seite ein helles Gewand. Ohne Zweifel eines der Mädchen aus dem Dorfe, die im Garten arbeiteten. Wie erstaunt war er deshalb, als er bald darauf in der ihm Begegnenden Fräulein Helene erkannte. An ein Ausweichen war nicht zu denken. Es führten von dem Wall nur sehr wenig schmale Treppen in den Garten hinab. So blieb ihm freilich nichts übrig, als, die Hände auf dem Rücken, und die Vögel, die über ihm durch die Zweige flatterten und die Enten auf dem Graben mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtend, langsam weiter zu schlendern, und ein ganz klein wenig überrascht zu sein, Fräulein Helene genau um dieselbe Zeit und an derselben Stelle, wie gestern, zu begegnen.

Fräulein Helene erwiederte seinen Gruß mit jener vornehmen Ruhe, die dem etwas düstern Charakter ihrer Schönheit so gut stand, obgleich sie für ein Mädchen von diesem jugendlichen Alter fast zu kalt und vornehm schien. Und doch wäre ihr Gruß nicht ganz so förmlich gewesen, wenn Oswald selbst nicht jede Spur einer freudigen Erregung geflissentlich unterdrückt hätte. Eine kurze, nichts weniger als geistreiche Unterhaltung über das Wetter, ein paar gleichgiltige Fragen Oswald's über den Spaziergang von gestern Abend und ein paar kurze Antworten Helene's folgten. Darauf abermalige höflich kühle Begrüßung von beiden Seiten. Fräulein Helene setzte ihren Spaziergang fort, Oswald hatte seine Promenade, die er »regelmäßig zwischen sechs und sieben auf dem Walle mache« – eine Angabe, die mit der Wahrheit nicht besonders genau übereinstimmte – beendet und begab sich auf sein Zimmer. Schade, daß diese prächtige Schönheit doch nur die Hülle einer ziemlich alltäglichen Psyche zu sein scheint, sprach er bei sich. Was Professor Berger wohl sagen würde, wenn er seine liebliche Knospe jetzt zu einer dunkelrothen Rose entfaltet sähe? ob er wieder einen Sonettenkranz flechten und auf das üppige Haar drücken würde? Edler Berger, war es ein Stück des guten oder bösen Engels, die sich ewig in Deiner großen Seele bekämpfen, daß Du mich hierher in's Lager unserer Feinde schicktest? Ich sollte Dir viel ruhmreiche Trophäen zurückbringen, Scalps erschlagener Irokesen, die wir in unserem Wigwam aufhängen wollten, um unsere Freude daran zu haben – wie würdest Du erstaunen, wenn Du hörtest, wie oft schon Dein Unkas nur mit genauer Noth dem Scalpirtwerden entgangen ist! Aber das eine Versprechen will ich halten: ich werde mich nicht in diese frühbesungene Schönheit verlieben – nein, und wenn sie eben so geistreich wäre, wie sie schön ist.

Als Oswald zur Mittagstafel nach unten kam, wurde er auf's angenehmste durch die Gegenwart des Doctor Braun überrascht, der vor einigen Minuten angelangt war und die Einladung der Baronin, zu Mittag auf dem Schlosse zu bleiben, angenommen hatte.

Der Doctor erwies sich in dem größeren Kreise als ein eben so bequem geselliger, feingebildeter Mann, wie ihn Oswald bis dahin gekannt hatte; ja, dieser hatte jetzt noch mehr Gelegenheit, die ausgezeichnete Unterhaltungsgabe und die sichere Haltung des jungen Arztes zu bewundern. Und was ihn noch mehr für Doctor Braun einnahm, war, daß jener sich seiner Vorzüge nicht bewußt zu sein schien. Nichts lag ihm offenbar ferner als ein Geltendmachen seiner Person; im Gegentheil, es schien ihm nur darum zu thun, Andere zur Entwickelung ihrer Ansicht zu bringen; und so zeigte er sich als ein ebenso geduldiger und guter Zuhörer, wie gewandter Sprecher.

Oswald sah mit einigem Erstaunen, daß, wenn der Doctor irgend Jemand in der Gesellschaft auszeichnete, es nur Fräulein Helene sein konnte, und mit nicht minder großer Verwunderung, daß die junge Dame dem Doctor gegenüber einen Theil ihrer vornehmen Kälte ablegte. Sie hatten schon vor Tische eine Sonate à quatre mains gespielt; sodann hatte Helene einige Lieder gesungen, die ihr der Doctor begleitete. Bei Tische saßen sie nebeneinander und unterhielten sich lebhaft über die verschiedenen Style in der Musik, wobei der Doctor eine sehr detaillirte Kenntniß des Generalbasses und Fräulein Helene zum mindesten ein lebhaftes Verständniß für musikalische Dinge entwickelte; und als er sich gleich nach Tisch empfahl, bedauerte sie seine Eile so lebhaft, bat sie ihn so dringend, ihr die versprochenen Noten recht bald zu schicken – nein, lieber selbst zu bringen, damit sie dieselben gleich zusammen durchgehen könnten, daß der Doctor, wenn er es darauf angelegt hatte, einen möglichst günstigen Eindruck auf die junge Dame zu machen, mit seinem Erfolge ganz wohl zufrieden sein durfte.

Sie sind nicht musikalisch? fragte er Oswald, dem er noch für ein paar Minuten, bis die Pferde angeschirrt wurden, auf sein Zimmer gefolgt war.

Nein, und die Eintracht süßer Töne lockt mich so wenig, daß ich gestern Abend, als Fräulein Helene die Barcarole sang, von der Sie so entzückt waren, sogar das Fenster schloß.

Das ist in der That merkwürdig. Ich erinnere mich nicht, eine so weiche – ich möchte sagen – mystische Altstimme gehört zu haben.

Sollte die Schönheit der Sängerin nicht die Reinheit des Urtheils in etwas trüben?

Nein, ich versichere Sie, daß ich ganz objectiv urtheile; obgleich ich gern zugebe, daß eine so dämonische Schönheit mehr in das Reich der Träume, als in die reale Welt zu gehören scheint.

Der Doctor hatte sich in Oswald's Lehnstuhl gesetzt und blies den Rauch der Cigarre, die er sich eben angezündet, in blauen Wolken durch das offene Fenster.

Es ist eine Schönheit, sagte er, die einen Maler zur Verzweiflung bringen könnte, weil sie sich gerade in ihrer duftigsten Blüthe durch Linien und Farben gar nicht mehr ausdrücken, sondern nur durch Musik übersetzen läßt. Ich wollte Beethoven hätte sie gesehen, oder Robert Schumann; und dann sollten Sie die geisterhafte, dämonische Composition hören, zu welcher diese Erscheinung die Beiden begeistert hätte.

Aber wer von uns Beiden ist denn nun der Schwärmer? fragte Oswald lächelnd; Sie oder ich?

Sie, sagte der Doctor, denn der höchste Grad der Extase ist tiefes Schweigen. Wer Worte für seine Begeisterung findet, hat die Zügel noch in der Hand. Und dann kann ich ein schönes Mädchenbild sehen, und auch dafür schwärmen, ohne daß mir die Cigarre auch nur einen Grad weniger gut schmeckte. Sie aber sind im Stande, darüber Essen und Trinken und Alles zu vergessen und sich, Hals über Kopf, in die Charybdis Ihrer Begeisterung zu stürzen, ohne auch nur daran zu denken, ob Sie im Stande sein werden, jemals wieder zum rosigen Lichte aufzutauchen.

Wissen Sie das so gewiß?

Ganz gewiß; ich habe Ihnen in der letzten Zeit ein eingehendes Studium gewidmet, und gefunden, daß Sie eines der vortrefflichsten Exemplare einer in unseren Tagen ziemlich weit verbreiteten Species generis humani sind, Nachkommen des weiland vom Teufel geholten Doctor Faustus, Faustuli posthumi, so zu sagen, die den langen Docentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen Rittercostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im Uebrigen aber auf gut faustisch von Begierde zum Genuß taumeln, und im Genuß nach Begierde verschmachten.

Problematische Naturen, nennt sie der Baron Oldenburg, bemerkte Oswald.

Eine sehr gute Bezeichnung, sagte der Doctor. Freilich, der Baron muß es wissen, der ist selbst von der Brüderschaft und ich vermuthe, daß er einen ziemlich hohen Grad einnimmt. Wenigstens nach Allem, was ich von ihm höre, denn gesprochen habe ich ihn nie, und nur einmal flüchtig gesehen.

Es dürfte sehr schwer halten, sich über den Baron ein richtiges Urtheil zu bilden.

Wäre er sonst eine problematische Natur? Ich höre, Sie sind einer seiner speciellen Freunde, einer von den wenigen, die er, wie es heißt, besitzt. Und gerade deshalb spreche ich offen. Ich kann es nicht billigen, daß ein Mann von den eminenten Gaben des Barons sein Leben in Müßiggang verdämmert – in einem geschäftigen Müßiggang, der schwerste Vorwurf, der meiner Meinung nach einen Mann in unserer Zeit treffen kann, wo es wahrlich so viel, so viel zu thun giebt.

Was kann der arme Baron dafür, daß ihm das Brod des Alltagslebens nicht schmeckt?

Glauben Sie denn, daß es mir schmeckt? sagte Doctor Braun, und seine Wangen rötheten sich und seine Augen leuchteten! glauben Sie, daß der herrliche Gott Apollo, als er die Rinder des Admet weidete und im Schatten der Eiche das schnöde Sklavenmahl verzehrte, sich nicht zurücklehnte nach der Ambrosia und dem Nektar auf den goldenen Tischen im Hause des Vaters? Dennoch trug er sein Loos und duldete das Verhängniß, wie der noch viel herrlichere Jesus von Nazareth das seinige. Und ich muß gestehen, mir erschien es immer als eine grobe Inconsequenz, daß des Menschen Sohn von allen, zum wenigsten von den stärksten menschlichen Banden los und ledig dargestellt wird. Sollte er den Leidenskelch wirklich bis auf den letzten bittersten Tropfen leeren, so mußte er durch die stille Nacht auf dem Oelberge die Stimmen eines angebeteten Weibes, geliebter Kinder zu hören glauben, die ängstlich nach dem Gatten, dem Vater riefen. Denn menschlich allem Menschlichen ergeben sein, und dennoch die himmlische Abkunft nicht vergessen und dennoch bis an den Tod mit den reißenden Wölfen der Tyrannei und Lüge kämpfen und das schwere Kreuz des ganz Gemeinen und ewig Gestrigen, das auf uns lastet, bis nach Golgatha tragen – das erscheint mir als das eigentliche Loos des Menschensohnes!

Der Doctor ging ein paar Mal mit raschen Schritten in dem Gemache auf und ab, dann blieb er vor Oswald stehen, streckte ihm mit herzgewinnender Freundlichkeit die Hand entgegen und sagte: Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie durch dies oder jenes Wort, das vielleicht weniger überlegt war, gekränkt haben sollte. Aber ich gerathe jedesmal in Aufregung, wenn ich eine hohe Intelligenz feiern, oder in einer falschen Richtung thätig sehe. Das erste ist die Sünde gegen den heiligen Geist, die unserer Sünden größte ist, die zweite ist nicht ganz so groß, aber kommt jener fast gleich. Von jener spreche ich Sie los, dieser erkläre ich Sie für schuldig. Sie wissen, wie ich über Ihre Stellung hier schon neulich dachte: jetzt, nachdem ich Sie zum ersten Male in dem Kreise selbst gesehen habe, finde ich das Verhältniß noch viel bedenklicher. Geben Sie es auf, ehe es zu spät ist! Es mag eine entsetzliche Indiscretion sein, daß ich mir erlaube, so zu Ihnen zu sprechen; aber Sie wissen, wir Aerzte haben einmal das Recht, indiscret zu sein. Sind Sie mir bös?

Ich wäre der lächerlichste Narr, wenn ich es wäre, antwortete Oswald. Im Gegentheil, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir eine Theilname zeigen, die ich sogar nicht verdient zu haben mir bewußt bin. Aber ich glaube, Sie sehen die Dinge ein wenig zu schwarz –

Blos zu schwarz? sagte der Doctor lachend; ich sehe sie weder grau noch schwarz, ich sehe sie gar nicht; ich bin blind, stockblind auf beiden Augen. Adieu, mon cher, adieu. Wenn Sie sich über kurz oder lang nicht mehr so kerngesund fühlen sollten, wie zu dieser Stunde – so schicken Sie nur zu mir! Sie sollen sehen, daß ich nicht nur ein Arzt für die Gesunden bin, sondern auch für die Kranken.

Mit diesen Worten eilte der Doctor zur Thür hinaus, und einen Augenblick später hörte Oswald das Knirschen der Räder seines Wagens auf dem Kies vor dem Portale.

Einundvierzigstes Capitel

Daß der Rath des Doctors vortrefflich sei, konnte Oswald um so weniger entgehen, als er noch vor kurzer Zeit über seine schiefe und ganz unhaltbare Situation in der Grenwitz'schen Familie nicht viel anders gedacht hatte. Aber einen Ausweg aus diesem Labyrinth vermochte er nicht zu entdecken; wenigstens nicht für den Augenblick. Er hatte in der letzten Zeit über seine Liebe zu Melitta alles Andere vergessen und an eine Veränderung, die ihn sofort von der Geliebten entfernen mußte, dachte er nicht, ja die Möglichkeit einer solchen hatte er immer als das größte Unglück angesehen. Und auch jetzt, wo durch Melitta's Reise und durch den wahrscheinlichen Tod des Herrn von Berkow die Gegenwart und die Zukunft gleich dunkel und verworren schienen, konnte er sich unmöglich über einen Punkt entscheiden, der für Melitta nicht weniger wichtig war, als für ihn selbst. Und dann, ganz abgesehen von seinem Verhältniß zu Melitta, hatte er so gar keinen stichhaltigen Grund, die Stellung, zu der er sich auf mehrere Jahre verpflichtet hatte, aufzugeben, daß er einen Bruch hätte gewaltsam herbeiführen müssen. Ein solcher kecker Schritt aber würde zu jeder Zeit für Oswald's Natur etwas Peinliches und Widerliches gehabt haben, und jetzt, wo die Baronin, gegen die er sich doch in einem solchen Falle wenden mußte, offenbar bemüht war, mit ihm, ebenso, wie mit aller Welt, in Frieden und Freundschaft zu leben, fehlte es ihm sogar an dem Allerwichtigsten, an einem Gegner, welcher den von ihm hingeschleuderten Fehdehandschuh hätte aufnehmen können und mögen.

Ueberdies hatte er noch ganz kürzlich der Baronin den Gang des Unterrichts der Knaben bis zu der Zeit, wo er mit ihnen die projectirte große Reise durch England, Frankreich, die Schweiz, Italien, vielleicht auch Aegypten antreten würde, ausführlich geschildert, mit einem warmen Interesse, das, wenn es seine Absicht war, die Ausführung dieses Planes einem Andern zu überlassen, mindestens unerklärlich schien. Auch auf den Wunsch der Baronin, mit Fräulein Helene die durch ihren Fortgang von der Pension unterbrochenen Studien wieder aufzunehmen, war er bereitwilligst eingegangen; und morgen schon sollten diese Lectionen, an denen auch die lernlustige Baronin manchmal theilzunehmen versprach, ihren Anfang nehmen.

Und abgesehen von dem Allen, so hätte er doch, ging er von Grenwitz fort, auch Bruno verlassen müssen, Bruno, den er brüderlich liebte, dessen glänzende Fähigkeiten zu entwickeln ihm eine so köstliche Aufgabe däuchte, den in die Wissenschaft und hernach in das Leben einzuführen, bisher einer seiner liebsten Wünsche gewesen war!

Die kurze Reise schien, wie auf Alle, so auch auf Bruno, einen sehr wohlthätigen Einfluß gehabt zu haben. Er hatte viel von seinem trotzig düstern Wesen abgelegt; er suchte jetzt die Gesellschaft, die er früher im Verein mit Oswald gemieden hatte, und gab auch Oswald gute Worte, an Spaziergängen und an andern gemeinsamen Vergnügungen Theil zu nehmen. Er ahnte nicht, daß Oswald ihm durchaus kein großes Opfer brachte, wenn er diesen Bitten nachgab, ja, daß dieser sich nur zum Schein bitten ließ, um vor sich selbst die Inconsequenz, deren er sich in dieser Beziehung schuldig machte, zu beschönigen. Bruno, von Oswald mit seinem Interesse an Dingen und Personen, die ihm sonst gleichgültig oder verhaßt gewesen waren, geneckt, sagte, er wisse nicht, was mit einem Male über ihn gekommen sei; ihm sei zu Muthe, wie einem Vogel, der, aus seinem Käfig entflogen, die Freiheit wieder erlangt habe; wie einer Blume, wenn nach Sturm und Regen die Sonne wieder scheine. Und wirklich, Bruno war munter wie ein Vogel und, in dieser seiner Munterkeit, schön wie eine Blume, die eben dem Lichte den vollen Kelch erschließt. Es war unmöglich, den herrlichen Knaben nicht zu bewundern: seine Freundlichkeit war eben so hinreißend liebenswürdig, wie sein Trotz abstoßend und oft gerade zu beleidigend war. Alle waren miteinander darüber einig, daß eine merkwürdige Veränderung mit Bruno vorgegangen sei; was aber diese Veränderung hervorgebracht hatte – das wußte, das ahnte Keiner.

Dennoch hätte der Grund derselben einem scharfsinnigen Beobachter nicht entgehen können, und würde auch wohl Oswald nicht entgangen sein, wenn er mit seinen eigenen Herzensangelegenheiten nicht so vollauf beschäftigt gewesen wäre. Schon die Unterhaltung mit Bruno am ersten Abend hätte ihm einen Aufschluß geben müssen. Wie Helene's Name dort wieder und immer wiederkehrte, so ließ sich jetzt Alles, was der Knabe sagte und that, schließlich auf Helene zurückbeziehen, obgleich er allerdings, dem Vogel gleich, der durch Hin- und Herflattern den Verfolger von seinem Nest fortzulocken sucht, sorgfältig darauf bedacht war, Andere vorzuschieben und sich für Helene gerade am wenigsten zu interessiren schien. Was ist nur mit dem Knaben? fragten sich die Andern, wenn sie sahen, wie seine dunkeln Augen leuchteten, wie stolz und kühn seine Haltung, wie elastisch sein Schritt war; wenn sie seine Stimme hörten, die bald so weich war, wie ferner Gesang, bald in der Aufregung des Spiels, oder wenn sonst etwas seine Energie herausforderte, klar und scharf und machtvoll wie Drommetenton.

Und wenn es wirklich manchmal schien, als ob Bruno nur seiner schönen Cousine zu Liebe dem Einsiedlerleben entsagt habe, so konnte dies um so weniger auffallen, als Alle mehr oder weniger seit der Reise sich verändert hatten, und Alle mehr oder weniger dem neu aufgegangenen glänzenden Stern huldigten. Oder weshalb war die Baronin jetzt ganz Freundlichkeit und Güte? Weshalb erschien sie bei Tisch jetzt stets mit einem lächelnden Gesicht und bemühte sich, die Unterhaltung während der Mahlzeit nicht in's Stocken gerathen zu lassen? weshalb ließ der Baron, zum großen Aerger des schweigsamen Kutschers, sobald nur der Wunsch ausgesprochen war, diesen oder jenen weiter gelegenen Punkt zu besuchen, die schwerfälligen Braunen anspannen – während so Etwas vor der Reise geradezu ein Ereigniß hatte genannt werden müssen? weshalb hatte Herr Timm jetzt zum ersten Male seinen Frack aus der Ecke des melancholischen Koffers hervorgesucht und mit dem Frack, wie es schien, eine etwas weniger nachlässige Haltung und eine etwas weniger burschikose Sprache? Weshalb klang der Ton von Mademoiselle Marguerite's Stimme jetzt etwas weniger scharf, wie sonst? und weshalb hatte sie sich gerade jetzt darauf besonnen, daß sie ein paar recht hübsche seidene Schleifen besitze, die schon seit Jahren in ihrer Commode müßig gelegen hatten? weshalb gab sich jetzt selbst Malte beim Reifenspiel Mühe, die Spielregeln zu beobachten und den ihm zugeschleuderten Reifen womöglich aufzufangen?

Ob Fräulein Helene wußte, daß sie die Ursache aller dieser großen und kleinen Veränderungen war? Es war sehr schwer, zu sagen, ob Fräulein Helene etwas bemerkt hatte oder nicht; ja, ob sie sich über etwas freute oder nicht; ob sie heiter war oder nicht; ob Jemand in der Gesellschaft für sie vorhanden war oder nicht. Ihre stolze ruhige Miene veränderte sich sehr selten, und das Lächeln, zu dem sie sich gelegentlich herabließ, war, obgleich außerordentlich reizend, doch so flüchtig, daß man nicht wohl den Antheil, den ihr Herz etwa dabei hatte, bestimmen konnte. Sie war gegen ihre Eltern ganz die gehorsame, aufmerksame Tochter, gegen ihren Bruder die ältere Schwester, die, wenn sie die Schwächen des Bruders schonen soll, auch ihrerseits respectirt zu werden wünscht; gegen Mademoiselle Marguerite ganz die freundliche Herrin, die sich in jedem Augenblicke des Unterschiedes der Stellung bewußt bleibt; gegen Oswald und Albert ganz die vornehme junge Dame, welche von der Pension her noch sehr gut weiß, wie tief die Verbeugung vor Herren in niedrigen Lebensstellungen sein muß, und nur für Bruno schien sie eine herzliche Zuneigung zu haben, nur ihm gegenüber ließ sie ein wenig von der ruhig vornehmen Haltung nach, die sie im Uebrigen so wenig ablegen zu können schien, wie die dunkle Farbe ihres reichen Haares, oder den tiefen Glanz ihrer großen grauschwarzen Augen.

Aber wenn selbst die Baronin sich gegen ihren Gemahl über Helene's fast allzu schroffes Wesen beklagte, wenn sie die Bemerkung machte, die lange Abwesenheit scheine denn doch Helene ihrer Familie etwas entfremdet zu haben, so war dies freilich nur zu wahr, aber die Schuld daran traf weniger die junge Dame, als die Baronin selbst. Sie war es gewesen, auf deren Wunsch Helene so lange Jahre fern von ihrem elterlichen Hause gewesen war; sie hatte dem schwachen Gemahl, wenn er sich nach der geliebten Tochter sehnte, auseinandergesetzt, wie vortheilhaft für die äußere und innere Bildung einer jungen Dame es sei, wenn sie so früh wie möglich in die strenge Schule eines Musterpensionats komme und so lange wie möglich dort bleibe; sie hatte schon vorher, wenn die Kleine sich liebevoll an sie schmiegen wollte, nur eine kalte Miene und ein paar kühle französische Redensarten für sie gehabt, bis das Kind, größer geworden, die Hoffnungslosigkeit des Versuchs, einen Weg zum Mutterherzen zu finden, einsah und sie fortan mit Liebkosungen, die nicht erwidert wurden, verschonte. Die arme Kleine mußte das Unrecht, kein Knabe zu sein und nichts zur Sicherung des Majorats in der Familie thun zu können, schwer büßen, und sie hätte wohl noch lange, von der Mutter halb vergessen, in der Verbannung leben können, wenn diese nicht endlich auf den Gedanken gekommen wäre, ob Helene durch eine Heirath mit ihrem Cousin Felix, dem Majoratserben der Grenwitz'schen Güter nach Malte's Tode, nicht doch vielleicht mittelbar zur Erhaltung der Herrschaft beitragen könne. Daß dieser Gedanke sich würde ausführen lassen, daran zweifelte die energische Frau nicht. Felix hatte nicht nur das Projekt höchlichst gebilligt, sondern schon alle Schritte gethan, die ihm die Baronin als nothwendige Vorbereitungen zum abzuschließenden Heirathscontract bezeichnete. Er hatte seinen Abschied genommen; er hatte die Garnisonsstadt, den Schauplatz seiner Heldenthaten, verlassen und sich auf seine Güter begeben, vermuthlich, um sich die Stellen anzusehen, wo einst die schönen Waldungen standen, die er erbarmungslos hatte umhauen lassen, die dringendsten Gläubiger zu befriedigen. Baron Felix hatte die Gewohnheit, Jedem, der ihm Geld lieh, Alles zu versprechen, was man verlangte – warum sollte er nicht der Baronin versprechen, ihre Tochter zu heirathen, wenn sie sich anheischig machte, seine Schulden, die drückendsten wenigstens, zu bezahlen und ihm zu helfen, die in Grund und Boden gewirthschafteten Güter wieder nutzbar zu machen? Von dieser Seite sah die Baronin also nicht das geringste Hinderniß der Ausführung ihres Projects. Von Seiten Helene's erwartete sie eben so wenig einen ernstlichen Widerstand, oder genauer, hatte sie bis zu diesem Augenblick einen solchen nicht erwartet. Sie hatte vergessen, daß sie ihre Tochter drei Jahre lange nicht gesehen, daß drei Jahre viel zu ändern vermögen und aus einem trotzigen, aber doch aus Furcht und Gewohnheit gehorsamen vierzehnjährigen Mädchen eine siebenzehnjährige stolze junge Dame machen können, die unterdessen verlernt hat, vor ihrer Mutter zu zittern, und unter Leitung einer strengen, aber hochherzigen Erzieherin viel zu selbstständig geworden ist, um ihren Willen so ohne Weiteres dem eines Andern, er sei auch, wer er sei, unterzuordnen.

Dies erkannte die Baronin fast auf den ersten Blick, als sie im Empfangssaale der Pension ihre Tochter zur Thür hereintreten sah. An der Haltung der jungen Dame, die ohne Hast, aber auch nicht zu langsam, auf die Mutter zuschritt, ihr die dargebotene Hand küßte und dann einen Schritt zurücktretend, wie weiterer Befehle gewärtig, in ruhiger Haltung stehen blieb, war sicher nichts auszusetzen; aber die großen Augen blickten so stolz und gelassen, und die Worte fielen so gemessen von den ausdrucksvollen Lippen, daß die Mutter fühlte, bei dieser ihrer Tochter, die ihr so fremd erschien, könne sie auf kindlichen Gehorsam, auf einen Gehorsam aus Liebe, mit Sicherheit nicht rechnen. Das große Project, welches sie so ganz fertig im Kopfe trug, erschien ihr plötzlich in sehr ungewissem Lichte, und die ersten Worte, die sie nach der Begegnung zu ihrem Gemahl sprach, waren: Ich glaube, lieber Grenwitz, wir werden in der Heirathsangelegenheit sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen. Du würdest mich verpflichten, wenn Du mir die Sache vollkommen überließest. Eine ungeschickte Einleitung, ja nur eine Andeutung zur unrechten Zeit könnte leicht Alles verderben. – Der gute alte Mann kam dieser Aufforderung um so lieber nach, als selbst sein felsenfester Glaube an die Unfehlbarkeit seiner Anna-Maria nicht im Stande gewesen war, die Bedenken, welche er gegen das Heirathsproject hatte, gänzlich zu beseitigen.

Die Baronin sah ein, daß, im Falle Cousin Felix vor Helenes Augen keine Gnade finden sollte – und dieser Fall war zum mindesten nicht unmöglich – durch Einschüchterung, durch Gewaltmaßregeln nichts ausgerichtet werden könnte, und daß Güte nicht nur der sicherste, sondern auch der einzige Weg sei.

So war sie denn gütig, nach ihren Begriffen äußerst gütig gegen die schöne Tochter, und damit die Andern nicht merkten, worauf dies Alles hinausging, oder auch nur um in der Uebung zu bleiben, war sie es gegen diese auch. Seltsamerweise indessen schien gerade die, für welche diese Gnadensonne leuchtete, am wenigsten dadurch erwärmt zu werden. Helene veränderte ihre ruhig abgemessene Haltung, ihr höflich kühles Wesen auch nicht im mindesten: die von der Baronin stets so gerühmte Pension hatte in der Erziehung Fräulein Helene's offenbar ein Meisterstück geliefert.

Und dennoch war dieses junge Herz, das so kalt, so unzugänglich schien, warmer Gefühle wohl fähig. Sie hatte, als sie von ihrer Freundinnen und der hochverehrten Lehrerin Abschied nahm, heiße Thränen geweint, die sie freilich, als die Mutter eine Bemerkung darüber machte, sofort trocknete; sie erwies dem Vater manche Aufmerksamkeiten, auf welche die bloße Höflichkeit nie verfällt; sie konnte ein armes Kind nicht blos beschenken, sondern auch an die Hand nehmen und freundlich mit ihm sprechen. Ihre Freundinnen, deren sie allerdings nur sehr wenige besaß, hatten niemals Ursache gehabt, über Lieblosigkeit von Seiten Helene's zu klagen; und die Briefe, die sie von Grenwitz aus nach Hamburg schrieb, waren der Beweis, daß sie wenigstens gegen die, welche sie liebte, weder kalt noch verschlossen war. So schrieb sie unter Anderem an Mary Burton, eine junge schöne Engländerin, die sie von allen Freundinnen am meisten liebte und die einen großen Einfluß auf sie ausgeübt hatte:

Doch das sind tempi passati, meine gute Mary! Ich muß nun lernen, mich an der Musik zu ergötzen, ohne sie zusammen mit Dir zu hören, und eine Gesellschaft erträglich zu finden, in der ich nicht Deinen holden Augen begegne. Bis jetzt freilich fehlst Du mir überall, und auch die Andern; bis jetzt halte ich es nur für eine Möglichkeit, auch ohne Euch froh sein zu können. Glaube indessen nicht, daß man mir hier unfreundlich begegnet! im Gegentheil, ich muß gestehen, daß mir die Meinigen über all mein Erwarten liebenswürdig entgegen gekommen sind. Von meinem Vater hatte ich es nicht anders erwartet, aber – Du hast ja die Briefe meiner Mama gelesen! Du meintest, sie glichen sich, wie eine Schneeflocke der anderen – auch sie ist viel weniger streng, als ich sie von früher her kannte und als sie in ihren Briefen erscheint. Sie läßt mir alle nur möglichen Freiheiten; ich kann – was wir uns in der Pension immer als das Höchste dachten – thun und lassen, was ich will. Meine Zimmer liegen im Erdgeschoß des alten Schlosses, dicht über dem Garten, in welchen aus meinem Salon eine Thür mit ein paar Stufen hinabführt. So lebe ich ganz ungestört, obgleich ich mit wenigen Schritten über die Corridore in die Wohnzimmer gelangen kann. Du weißt, ich fürchtete schon, hier nicht meiner großen Leidenschaft, des Abends spät, wenn Alles rings um mich her still ist, zu musiciren, folgen zu können. So bin ich dieser Sorge vollkommen überhoben, und ich habe auch schon jeden Abend von dieser Freiheit den ausgedehntesten Gebrauch gemacht. Ich störe Niemand, es müßten denn einige Herren sein, die ebenfalls in diesem Theile des Schlosses irgendwo über mir hausen, und glücklicherweise zur Kategorie derer gehören, die man in Eurer aufrichtigen Sprache mit dem Ausdruck Nobody bezeichnet. Es sind nämlich der Hauslehrer, ein gewisser Herr Stein, und ein Geometer, der für Papa arbeitet, und den aristokratischen Namen Timm führt. Sie können beide für hübsche Männer gelten, oder, um ganz aufrichtig zu sein, ich vermuthe fast, daß Du den Herrn Stein handsome and very gentlemanlike indeed finden würdest; aber Du brauchst deshalb nicht zu glauben, daß sie, oder einer von ihnen, einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hätten. Ich habe eine Antipathie gegen Leute in dergleichen untergeordneten Stellungen wie etwa gegen Kattunkleider und böhmische Diamanten. Das mag recht gut sein für Bürgermädchen und Gouvernanten, aber für uns paßt es nicht. Ich sehe die Herren des Mittags, des Abends – im Uebrigen existiren sie nicht für mich. Herrn Stein begegne ich außerdem noch jeden Morgen früh im Garten, denn die Vögel singen hier so dicht unter meinen Fenstern, daß man aufstehen muß, man mag wollen oder nicht. Ich wäre diesen Begegnungen gern überhoben, aber was läßt sich thun? Ich kann dem armen Menschen, der hernach von sieben bis elf den Knaben Unterricht ertheilt, nicht wohl verbieten, die einzige freie Morgenstunde, die er hat, zu benutzen, und wenn ich selbst später ginge, so käme ich wieder um den schönsten Genuß; also: ich muß es mir gefallen lassen – non son' rose senza spine! Uebrigens ist dieser Stein, trotzdem er nur ein böhmischer Diamant ist, so fein geschliffen, daß ihn ein weniger geübtes Auge leicht mit einem echten verwechseln könnte. Er hat, was man bei Leuten aus den unteren Ständen so selten findet, viel Haltung und Selbstbeherrschung. Er hat eine Weise, mit der ruhigsten Miene von der Welt, Jemand, er sei, wer er sei, eine Schmeichelei oder eine Malice zu sagen, die wirklich in Erstaunen setzt.

So sagte er gestern, als wir uns zum dritten Male zur selben Zeit und an demselben Orte auf dem Walle begegneten und dasselbe Gespräch über das Wetter geführt hatten, ob wir nicht in Zukunft bis eine Veränderung des Wetters einträte, ganz einfach: wie gestern; sagen wollten? Wir wären denn doch nicht ganz stumm an einander vorüber gegangen, was für Hausgenossen immer etwas Peinliches habe, und dabei wären doch die Kosten der Conversation beinahe bis auf Null reducirt, eine Ersparniß, die selbst für den Geistreichsten – hierbei eine halb ironische Verbeugung – nicht ganz unbedeutend sei. – Das war doch ziemlich stark; aber wie gesagt, er bringt dergleichen mit so ruhigem Lächeln vor, daß man niemals weiß, ob er es im Scherz oder im Ernst sagt. Auch scheinen Alle, selbst Mama, einen ziemlichen Respect vor ihm zu haben. Zwischen Bruno und ihm existirt ein ganz eigenthümliches Verhältniß, gar nicht wie zwischen Lehrer und Schüler, sondern wie zwischen Freunden, die innigst verbrüdert sind, etwa wie Orest und Pylades; und wirklich, es ist ein reizender Anblick, wenn man sie Arm in Arm zusammen durch den Garten schlendern sieht. Diese rührende Freundschaft hindert indessen Bruno nicht, sich bei jeder Gelegenheit als mein Ritter zu geriren. Der Junge sieht mir wahrlich an den Augen ab, was ich will und wünsche; oder vielmehr er ahnt und weiß es, ohne daß er mich nur anzusehen braucht. Es ist mir manchmal ordentlich unheimlich dabei. Wenn ich auf dem Spaziergange denke, Du könntest auch wohl ohne Tuch gehen, sagt Bruno sicher: soll ich Dir das Tuch ein wenig tragen, Helene? Bei Tisch, wo er neben mir sitzt, reicht er mir nur, was ich gern habe, anderes läßt er vorübergehen und sagt: das issest Du doch nicht, Helene! Er ist ein lieber Junge, obgleich eigentlich dieser Name nicht mehr recht auf ihn paßt, denn er wird nächstens sechszehn Jahr, und ist groß und stark und schön, wie ein junger Achill. Ich glaube, er würde für mich durch's Feuer gehen; in's Wasser wenigstens ist er gestern schon für mich gesprungen. Wir gingen des Abends auf dem Wall spazieren und ein plötzlicher Windstoß warf meinen runden Strohhut – Du kennst ihn ja – in den Graben. Mein armer Hut: rief ich. – Willst Du ihn wieder haben? fragte Bruno. – Ei natürlich, sagte ich, – aber nur im Scherz, denn ich weiß, daß der Graben sehr tief ist und an dieser Stelle war er noch dazu wohl zwanzig Schritt breit, und der Hut schwamm mitten drauf. Aber Bruno war mit zwei Sprüngen den Wall hinab und in's Wasser hinein. Ich war wirklich erschrocken und ich glaube, ich stieß sogar einen leichten Schrei aus. Beruhigen Sie sich, sagte Herr Stein – außerdem war glücklicherweise Niemand zugegen – Bruno schwimmt wie ein Neufoundländer, und selbst wenn er nicht wieder herauskäme, so ist er ritterlich im Dienste der Damen gestorben. Das ist immer ein Trost. – Glücklicherweise kam Bruno nach ein oder zwei ängstlichen Minuten wieder an's Land geschwommen, und Herr Stein half ihm beim Heraussteigen, dann gingen sie Beide lachend von dannen und ließen mich mit dem nassen Hut in der Hand – ein rührendes Bild – ganz allein stehen. – Uebrigens scheint mir Herr Stein doch übel genommen zu haben, daß ich seinen Liebling in diese Gefahr brachte. Wenigstens ist er heute Morgen nicht auf der Promenade erschienen, bei Tische sehr einsilbig gewesen und hat die Literaturstunde, die er mir wöchentlich zweimal giebt, absagen lassen, »weil er Kopfschmerz habe,« was ihn freilich, wie ich von meiner Stube aus beobachten kann, nicht hindert, in der glühenden Nachmittagssonne draußen im Garten mit unbedecktem Haupt eine halbe Stunde lang, die Arme untereinander geschlagen, auf einem Fleck zu stehen und in das Wasserbecken eines Brunnens zu starren, von dem eine Najade aus Sandstein lächelnd auf ihn herabschaut – es ist ein wunderlicher Heiliger.

Zweiundvierzigstes Capitel

Es war an dem Abend desselben Tages, an welchem Helene von ihrem Schreibtische aus Oswald am Brunnen der Najade beobachtete, daß in einem Zimmer des »Kurhauses« in Fichtenau, berühmt durch Doctor Birkenhain's große Heilanstalt für Geisteskranke, zwei Personen, eine Dame und ein Herr, in der Nähe der geöffneten Balkonthür saßen. Es dämmerte bereits; Kurgäste kamen bestäubt von ihrer Nachmittags-Promenade zurück, von Zeit zu Zeit rollte eine elegante Kutsche vorüber, in welcher, vornehm in die schwellenden Kissen gedrückt, schön geschmückte Frauen saßen. Dann wurde es stiller auf der Straße; drüben über den Gärten schimmerte der Abendstern aus dem safranfarbenen Himmel. Die Dame in der Thür des Balkons hatte die Augen auf den Stern gerichtet, der Herr, der tiefer im Zimmer saß, die seinen auf das Antlitz der Dame. Die Beiden hatten seit einer halben Stunde kaum ein Wort gesprochen; jetzt stand der Herr auf, trat nahe an den Stuhl der Dame und sagte leise:

Ich will fort, Melitta!

Wann kommen Sie morgen wieder?

Ich komme morgen nicht wieder; ich will fort von Fichtenau, heute Abend noch.

Melitta stand auf und blickte, sich für einen Augenblick auf das Geländer des Balkons lehnend, in die schon dunkle Straße hinab. Dann trat sie wieder in das Zimmer zurück und sagte:

Reisen Sie direkt nach Cona zurück?

Nein, ich will die Zeit, die mir noch bleibt, zu einer kleinen Reise benutzen; vielleicht komme ich wieder über Fichtenau.

So lassen Sie mir die Czika bis dahin; es soll ein Pfand sein, daß Sie hierher zurückkommen.

Wünschen Sie es, Melitta?

Sie sind wieder einmal sehr gut gegen mich gewesen.

Also bloße Dankbarkeit?

Und – Freundschaft.

Leben Sie wohl, Melitta!

Reisen Sie glücklich, Oldenburg!

Der Baron ging mit langsamen Schritten nach der Thür; dort angelangt, blieb er stehen, dann kam er noch einmal zurück und sagte:

Haben Sie immer geglaubt, daß ich Ihr Freund sei, Melitta?

Ja.

Haben Sie je geglaubt, daß ich Sie liebe?

Melitta schwieg.

Nie? zu keiner Zeit? fragte der Baron mit dumpfer Stimme.

Lassen Sie das Vergangene vergangen sein!

Nein, Melitta, lassen Sie uns davon sprechen. Ich finde ja eine Gelegenheit wie diese vielleicht nicht zum zweiten Mal im Leben wieder; nein, nein! Denn das alte gute Verhältniß zwischen uns ist todt, seitdem ich unsinnig genug war, Ihnen zu zeigen, daß ich Sie liebte – und über diesen Schlund, der da zwischen uns aufklaffte, giebt es keine Brücke. Für den Augenblick hat uns die Noth zusammengeführt, oder, wenn Sie lieber wollen: mein alter Aberglaube, ich müsse zu Ihnen eilen, an Ihrer Seite stehen, wo und wann Sie in Noth, in Bedrängniß irgend welcher Art sind; sobald ich aus diesem Zimmer gehe, sind wir uns wieder Fremde. Melitta, um unserer alten Freundschaft willen, bei der Erinnerung an die gemeinsam verlebte selige Jugendzeit, sagen Sie mir, haben Sie nie geglaubt, daß ich Sie liebe?

Ich weiß es nicht –

Das ist hart, sagte der Baron leise; das ist hart. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, stützte den Arm auf die Lehne und verbarg sein Gesicht in der Hand.

Und wenn ich nicht an Ihre Liebe glaube, sagte Melitta, wer ist denn schuld daran? wer hatte die Scene im Garten der Villa Serra di Falco arrangirt? ich oder Sie?

Wie? sagte der Baron sich emporrichtend, sind Sie wirklich ein solcher Neuling in der Liebe, daß ich Ihnen in allem Ernst die Erklärung zu dieser Farce geben muß? Glauben Sie wirklich, daß ich – dem doch sonst so leicht nichts entgeht – Sie nicht schon länger hinter den Myrthengebüschen bemerkt hatte, ehe ich zu Hortense's Füßen sank, und die Sonne, obgleich sie untergegangen war, und der Mond, obgleich er nicht schien, und die Sterne, die es besser wußten, zu Zeugen meiner heißen Liebe anrief? das hätten Sie auch nur einen Augenblick für Ernst gehalten?

Was war es denn?

Eine Allegorie. Ich wollte Ihnen zeigen: sieh! dies bleibt mir übrig, wenn Du meine Liebe verschmähst! Du zwingst mich, der ich immerdar vor einer Heiligen anbeten möchte, in den Armen einer Buhlerin Vergessenheit zu suchen. Melitta, Melitta, gestehe es! Du wußtest recht gut, daß dies eine Farce war; aber es war Dir bequem, sie für Ernst zu nehmen. Du wolltest von mir befreit sein, selbst um den Preis – eines Mißverständnisses!

Und wenn dies mein Wille gewesen wäre? – und ich will annehmen, es war mein Wille – ist es nicht des Mannes Pflicht, den Willen einer Frau, noch dazu einer Frau, die er liebt, zu ehren?

Habe ich es nicht gethan? bin ich nicht noch in derselben Nacht auf ein Wort, ja auf einen Wink hin, abgereist, bin ich nicht drei lange Jahre wie Ahasver ruhelos durch alle Lande geirrt, und habe ich, als ich dann endlich zurückkehrte – zurückkehrte, weil mir eine Ahnung sagte, daß Dir ein Unglück bevorstände – nicht jede Gelegenheit, mit Dir zusammenzutreffen, sorgfältig vermieden? war es mein Wille, daß ich Dich auf dem Balle in Barnewitz traf? ist es mein Wunsch gewesen, der uns hier zusammenführte? Nein, Melitta, Du kannst nicht über mich klagen. Ich habe meine Liebe zu Dir lange, lange Jahre – denn ich liebe Dich, seitdem ich denken kann, seitdem ich weiß, daß Nachtigallengesang und Sonnenschein und Wogenrauschen köstlich sind – tief versteckt im Herzen getragen; und wenn ich einen Augenblick thöricht genug war, die Hoffnungslosigkeit dieser Leidenschaft zu vergessen, so habe ich diese Thorheit schwer genug gebüßt. Wußte ich doch schon als Knabe, daß Du Dein Pferd und Deinen Hund lieber hattest, als mich; und doch zwang ich den schwer verletzten Stolz, und doch demüthigte ich mich wieder und immer wieder vor Dir; ich, der ich nie in meinem Leben eine Bitte über die Lippen bringen konnte!

Der Baron war aufgesprungen und setzte seine ruhelose Wanderung durch das Zimmer eine Zeit lang schweigend fort, dann blieb er abermals vor Melitta stehen und sagte:

Ich habe mich noch tiefer gedemüthigt. Ich habe gesehen, daß das Weib, nach dem sich meine Seele sehnt, wie der Gekräuzigte nach einem Labetrunk, von einem Andern geliebt wird; habe gesehen, daß sie diesen Andern wieder liebt mit jener Liebe, um die ich Gott auf meinen Knieen tausend und tausendmal mit heißen Thränen gebeten habe – und habe nicht mit der Wimper gezuckt; ich habe der Schlange Eifersucht den Kopf zertreten – ja, und mehr! ich habe redlich versucht, diesen Glücklichen nicht zu hassen, ich bin ihm entgegengekommen mit Gruß und Handschlag, ich habe mir sein Vertrauen, seine Liebe zu erwerben gesucht, nicht, um zum Verräther an ihm und an Dir zu werden, sondern weil ich fühlte, daß mir Dein Glück theurer war, als Alles, und daß der, welchen Du liebtest, auch von mir geliebt werden oder von meiner Hand sterben müsse.

Sie sind fürchterlich, Oldenburg! rief Melitta, sich halb vom Stuhle erhebend; soll denn nicht der geheimste Winkel meines Herzens vor Ihnen verborgen bleiben?

Ich bin nicht fürchterlich, sagte der Baron; ich bin nur unbequem; das ist das Recht des Freundes. Glaube nicht, daß ich mich auf krummem Wege in Dein Geheimniß gestohlen habe! Ich habe nur die Augen nicht geschlossen, das ist Alles. Oder glaubst Du, man lerne nicht zuletzt die leiseste Regung in einem Gesicht verstehen, das man stets im Wachen und ach, wie oft im Traume! vor sich sieht? Und dann, wenn man die Hoffnung, je geliebt zu werden, aufgegeben hat, so will man wenigstens die Ueberzeugung haben, daß derjenige, welchem dieses Glück zu Theil wird, auch kein Unwürdiger ist.

Oldenburg!

Er ist kein Unwürdiger, aber – ich bin Dein Freund, Melitta! Deiner würdig ist er nicht. Er hat viele große und schöne Eigenschaften, ich weiß es wohl; aber sein Charakter ist noch nicht im dreimal heiligen Feuer des Unglücks gestählt, und so weiß er auch das Glück noch nicht zu schätzen. Er hat eine unendliche Empfänglichkeit für Alles, was schön und anmuthig ist, und deshalb betet er Dich an; aber, weil er seiner Natur nach eben für Alles empfänglich ist, wird es ihm unendlich schwer, nicht über dem Anmuthigeren und Schöneren das Schöne und Anmuthige zu vergessen; das heißt: treu zu sein. Er ist ein Dichter, und des Dichters Liebe ist das Ideal. Er wird das köstlichste Gefäß bei Seite schieben, weil sein feines Auge doch irgendwo einen Flecken daran bemerkt hat; er wird Alles, was ihm die Erde bietet, gierig ergreifen und verächtlich wieder fortwerfen, weil es eben irdisch, weil es, und wäre es noch so himmlisch, doch immer mit einem Erdenrest behaftet ist.

Sie sagen mir nichts, Oldenburg, was ich mir nicht schon hundert und tausendmal selbst gesagt hätte.

Ich weiß es. Die Beurtheilung solcher Naturen kann Ihnen nicht schwer werden, denn auch Sie sind diesem Dämon unterthan. Aber Sie sind ein Weib, und über Euch hat der Dämon nicht, wie über uns, unbedingte Gewalt. Ihr, und wenn ihr Euch auch noch so sehr sträubt, laßt Euch zuletzt doch in der Liebe Fesseln schlagen und seid stolz auf diese Fesseln; der Mann, und wenn er im Anfang noch so sehr mit dem neuen Schmucke prunkt, schleudert ihn zuletzt doch von sich. Und so wird es geschehen.

Nein, nein!

Ja, Melitta; es wird geschehen und das ist das Unglück, das ich über Deinem theuren Haupte wie eine finstre Wetterwolke schweben sah. Glaube es mir, der Schlag wird über kurz oder lang auf Dich niederschmettern, und wenn Du dann zerschmettert am Boden liegst und nicht mehr leben magst und doch nicht sterben kannst – dann, Melitta, dann vielleicht wirst Du die Qualen begreifen, die ich erduldet; dann wirst Du mir im Herzen das Unrecht abbitten, das Du mir gethan! Wollte Gott, Du kämest nie zu dieser Erkenntniß! Der Preis ist ungeheuer! aber Du wirst ihn bezahlen müssen. Leb' wohl, Melitta! verzeihe, daß ich Dir weh gethan habe; es wird nicht wieder geschehen: es ist das erste, und es ist das letzte Mal, daß ich so zu Dir geredet. Leb' wohl, Melitta!

Melitta hatte das Gesicht in die Hände gedrückt; bei der Dämmerung, die in dem Gemache herrschte, waren nur noch eben die Umrisse ihrer Gestalt zu er kennen. – Sie wollte oder konnte nicht antworten.

Gott segne Dich, Melitta! sagte der Baron, und die Stimme des stolzen Mannes klang weich und mild wie eines Vaters Stimme.

Als Melitta die Thür sich hinter ihm schließen hörte, sprang sie von dem Stuhle auf, und that rasch einige Schritte, als wollte sie ihn zurückrufen. Aber mitten im Zimmer blieb sie wieder stehen.

Nein, nein! murmelte sie, es ist besser so, ich darf ihm keinen Schimmer von Hoffnung lassen.

Sie ging langsam zu ihrem Stuhl zurück. Sie setzte sich wieder, sie bedeckte das Gesicht wieder mit den Händen. Und nun brachen die lange zurückgehaltenen Thränen in Strömen aus ihren Augen. Ich weiß es ja, daß es so kommen wird; murmelte sie; aber weshalb den kurzen Traum des Glücks so grausam stören.

Dreiundvierzigstes Capitel

Der Postbote, welcher am Abend den Brief Helene's nach der Stadt trug, war am Morgen desselben Tages schon einmal dagewesen. Er hatte Oswald ein Schreiben aus Grünwald von einem seiner dortigen Bekannten gebracht, der auch zu gleicher einer von den Wenigen war, mit dem Professor Berger in einem intimiren Verhältnisse stand. Der Bekannte, ein Docent an der Universität, schrieb Oswald, daß er ihm die schleunige Nachricht von einem Ereignisse schuldig zu sein glaubte, das seit gestern Nachmittag die ganze Stadt in die größte Bestürzung versetzt habe. Professor Berger sei ganz plötzlich, zum wenigsten ohne daß irgend Jemand eine Ahnung von seiner Krankheit gehabt habe, wahnsinnig geworden. Er sei um vier Uhr, wie gewöhnlich, in seine Vorlesung über Logik gekommen, habe angefangen zu dociren, scharfsinnig, geistreich, wie immer. Dann hätte seine Rede begonnen, verworren und immer verworrener zu werden, so daß ein Student nach dem andern die Feder niedergelegt und den Nachbar voll Verwunderung und Schrecken angestarrt habe. Wissen Sie, meine Herren, habe Berger gerufen, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier hob, der das große Geheimniß barg, – das große Geheimniß, welches der Schlüssel sein sollte zu den verworrenen Räthseln des Lebens? Sehen Sie, meine Herren, hier nehme ich meinen Kopf auseinander, die eine Hälfte in diese, die andere in jene Hand – was erblicken Sie in dem Kopfe des berühmten Professor Berger, zu dessen Füßen Sie sitzen, seinen weisen Worten zu lauschen, und sie mit abscheulich kritzelnden Federn in Ihre langweiligen Hefte zu schreiben? was erblicken Sie? – genau dasselbe, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier von der Wahrheit hob: Nichts! absolut nichts, nichts für sich, nichts an sich, an und für sich: nichts! und daß dieses hohle, öde Nichts des Pudels Kern sei, daß all unser bestes Streben nichts sei, wir unser Herzblut an nichts und wieder nichts setzen, sehen Sie, meine Herren, das hat den Jüngling von Sais toll gemacht, das hat mich verrückt gemacht, und wird auch Sie um den Verstand bringen, wenn Sie irgend welchen aus Ihren Spatzenköpfen zu verlieren haben. Und nun, meine Herren, machen Sie Ihre dummen Hefte zu, damit das abscheuliche Kritzeln endlich einmal aufhört und stimmen Sie mit mir in das tiefsinnige und erhebende Lied ein; O, da sitzt 'ne Flieg' an der Wand! Berger habe darauf mit lauter Stimme, und das Katheder mit den Fäusten bearbeitend, angefangen zu singen, sei dann im Auditorium an den Wänden entlang gelaufen, nach imaginären Fliegen haschend, habe dann jedesmal die Hand geöffnet, hineingeschaut und triumphirend gerufen: Nichts, meine Herren, sehen Sie, nichts und wieder nichts!

Der Bekannte schloß den Brief mit der Mittheilung, daß Professor Berger sogleich am folgenden Tage auf den Rath seiner Aerzte nach Fichtenau in die berühmte Heilanstalt des Doctor Birkenhain transportirt sei; er habe Alles gutwillig mit sich geschehen lassen, nachdem man ihm vorgeredet: man wolle ihm das große Ur-Nichts zeigen.

Oswald war durch den Inhalt dieses Briefes tief erschüttert. Er hatte in Berger seinen Freund geliebt und geehrt; er hatte sich des wunderlichen Mannes Liebe in hohem Grade erworben; er hatte tiefere Blicke, als wohl irgend Jemand sonst, in diesen reichen Geist gethan. Wie oft hatte er dem Außerordentlichem mit entzücktem Schweigen zugehört, wenn dieser, von einem scharfsinnigen und genau formulirten Satze ausgehend, plötzlich aus dem Gebiete der Logik in eine Welt gerieth, die sich ihm nur durch eine höhere Intuition erschließen konnte, und nun Traum an Traum und Gesicht an Gesicht reihte, so phantastisch, so märchenhaft, aber auch so schön und rein, daß Oswald alles Andere darüber vergaß und leibhaftig in dieser Fata Morgana umherzuwandeln glaubte, bis der Magier mit einem Worte höhnenden Schmerzes und wilder Verzweiflung die köstliche Spiegelung versinken ließ; Und nun war dieser reiche Geist zerstört! und diese hohe Intelligenz in des Wahnsinns öde Nacht versunken! – Oswald erschien dies so ungeheuer, so unfaßbar, daß ihm war, als sei die Welt aus den Fugen gegangen: als müsse jetzt, nachdem diese erhabene Säule gestürzt, Alles in grause Trümmer zerfallen. Wenn dies geschehen konnte, was war dann noch unmöglich? Dann war ja auch wohl Freundschaft ein Märchen und Liebe eine Fabel – dann mochte ja auch wohl etwas mehr hinter dem Zufall zu suchen sein, der ihn heute Morgen den augenblicklichen Aufenthaltsort Oldenburgs verrieth. – Als Oswald nämlich einen Blick auf die Aufschriften der Briefe warf, welche der Postbote aus seiner Tasche genommen hatte und durch die Hand laufen ließ, um den für Oswald bestimmten herauszusuchen, fiel ihm einer auf, auf welchem die Adresse offenbar von Oldenburg's höchst eigenthümlicher und schwer mit einer andern zu verwechselnder Handschrift war. Der Brief war an des Barons Verwalter in Cona adressirt. Weshalb sollte der Baron nicht an seinen Verwalter schreiben dürfen? Aber Oswald erfuhr zugleich durch den Poststempel den Ort, von welchem aus dieser Brief abgesandt war; dieser Ort war derselbe, wohin man Berger geschickt hatte, derselbe, wo Herr von Berkow seit sieben Jahren – und wo Melitta seit vierzehn Tagen war, das heißt, zwei Tage länger, als die geheimnißvolle Reise Oldenburg's gedauert hatte! In dem ausführlichen Briefe Melitta's, den Oswald vor einigen Tagen durch Baumann erhielt, hatte sie des Barons Anwesenheit mit keinem Worte erwähnt; Baumann selbst aber mußte durch Bemperlein davon unterrichtet gewesen sein, denn er war in Verlegenheit gerathen, als er die Personen nannte, die bei dem Besuche, welchen Melitta ihrem sterbenden Gemahl machte, zugegen gewesen waren. Warum dieses geheimnißvolle Wesen bei einem Manne, der die Gradheit und Offenheit selbst schien? war er dazu beauftragt, oder hatte er, der die Verhältnisse der Herrin so genau kannte, seine besonderen, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu verheimlichen?

Dies waren die schlimmen Gedanken, die durch Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittagssonnenschein barhaupt an dem Brunnen der Najade stand und bewegungslos in das Wasser starrte, während Fräulein Helene an ihrem Schreibtisch Betrachtungen darüber anstellte, ob sie selbst vielleicht die Ursache dieser Verstimmung sei. Ehe sie indessen darüber zu einem Resultat gekommen war, klopfte es an ihre Thür. Das junge Mädchen schloß sofort ihre Schreibmappe und schien ganz in Lamartine's voyage en Orient vertieft, als sich auf ihr Herein! die Thür öffnete und die Baronin in's Zimmer trat.

Störe ich Dich, liebe Helene?

Durchaus nicht, liebe Mama! sagte das junge Mädchen aufstehend und ihrer Mutter entgegengehend.

Du bleibst heut so außergewöhnlich lange auf Deinem Zimmer, daß ich doch sehen wollte, was Dich denn so lange fesselte. Lamartine's voyage? nun, ein recht hübsches Buch, aber ein wenig überspannt, wie mir scheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man eine etwas andere Ansicht von dem Leben, und so auch von den Büchern und Menschen. Aber ich freue mich, daß Du nicht müßig bist, daß Du das Talent hast, Dich zweckmäßig zu beschäftigen. Ich fürchtete schon, die Monotonie unseres Lebens hier würde doch gar zu sehr von dem muntern Treiben in der Pension abstechen, und Du würdest diesen Unterschied schmerzlich empfinden. Wir können Dir hier so wenig bieten! das war immer mein Refrain, wenn der gute Vater darauf drang, Dich endlich einmal aus der Pension zu nehmen.

Aber ich versichere Dich, liebe Mama, Du hast Dir ganz unnöthige Sorge meinethalben gemacht, sagte Fräulein Helene, die dargebotene Hand der Mutter an die Lippen ziehend; ich fühle mich hier sehr glücklich, und wie wäre das auch anders möglich! Bin ich nicht im elterlichen Hause, wo mir Alle mit Liebe oder doch mit Freundlichkeit entgegen kommen? habe ich nicht Alles, was ich nur wünschen kann? Ich wäre wahrlich sehr, sehr undankbar, könnte ich das auch nur einen Augenblick vergessen.

Du bist ein gutes, verständiges Kind, sagte die Baronin, ihre schöne Tochter auf die Stirn küssend, ich werde noch recht viel Freude an Dir erleben. Das ist meine sichere Hoffnung, wie es mein tägliches Gebet ist. Ach, meine liebe Tochter, glaube mir, ich bedarf gar sehr dieses Trostes, wenn ich nicht den vielen Sorgen, die auf mich einstürmen, unterliegen soll.

Die Baronin hatte sich auf ein kleines Sopha gesetzt; sie schien sehr erregt und trocknete sich mit dem Taschentuche die nassen Augen.

Was hast Du, liebe Mama? sagte Fräulein Helene mit wirklicher Theilname; ich bin nur ein unerfahrenes Mädchen, aber wenn Du Vertrauen zu mir haben kannst, theile Dich mir mit. Wenn ich Dir auch nicht rathen und helfen kann, so vermag ich doch vielleicht Dich zu trösten, und das würde mir eine große Freude bereiten.

Liebes Kind, sagte die Baronin, Du bist lange – komm, setze Dich her zu mir und laß uns einmal recht vertraulich mit einander reden – Du bist so lange vom elterlichen Hause entfernt gewesen und warst noch so jung, als Du es verließest, daß Du nothwendigerweise von unsern Verhältnissen so gut wie gänzlich ununterrichtet bist. Du glaubst, wir seien reich, sehr reich; aber es ist beinahe das Gegentheil der Fall, für uns Frauen wenigstens. Das ganze große Vermögen fällt nach des Vaters Tode – den der allgütige Gott in seiner Gnade noch recht lange verhüten möge – an Deinen Bruder. Mir bleibt, außer einer sehr geringen Wittwenpension, nichts – und Du, mein armes Kind, gehst gänzlich leer aus.

Aber, Mama, ich hörte doch immer, daß Stantow und Bärwalde dem Vater gehörten, und daß er darüber ganz frei verfügen könne?

Du irrst, mein Kind; die beiden Güter gehören nicht dem Vater. Sie werden ihm vielleicht einst gehören, wenn sich der eigentliche Erde bis zu einer gewissen Zeit nicht meldet. Ich kann über diesen Punkt nicht ausführlich sein, liebes Kind, weil ich dabei gewisse Verhältnisse Deines Onkels Harald berühren müßte, über die man mit einem jungen Mädchen lieber nicht spricht. Genug, auf die Güter können wir nicht mit Bestimmtheit rechnen. Alles, was uns bleibt, sind einige tausend Thaler, die Dein Vater und ich bis jetzt von unserer Rente haben erübrigen können.

Liebe Mama, mache Dir meinethalben keine Sorge, sagte Fräulein Helene; ich bin in Hamburg nicht verwöhnt, und der Luxus, mit dem mich hier Deine Liebe umgeben hat, ist mir etwas ganz Neues. Ich werde auch mit Wenigem zufrieden und glücklich sein können – und dann, der gute Vater ist ja jetzt, Gott sei Dank, wieder so munter und rüstig, hat sich von dem Fieberanfall in Hamburg so auffallend schnell erholt, daß wir uns seiner Liebe und Fürsorge gewiß noch recht lange werden erfreuen können.

Das gebe Gott! sagte die Baronin; aber ich fürchte, wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Der Vater ist keineswegs so rüstig, wie Du glaubst. Er kränkelt fortwährend, obgleich er es uns so wenig wie möglich merken läßt. Der Hamburger Arzt schilderte mir des Vaters Zustand als sehr bedenklich. Sollte er uns entrissen werden, dann würdest Du leider Gelegenheit erhalten, die Stichhaltigkeit Deiner Grundsätze zu erproben. Aber, mein Kind, Du kennst das Leben nicht. Es läßt sich leicht von Armuth sprechen, wenn man sie nur von Hörensagen kennt. Ich kenne sie aus Erfahrung; ich war ein armes Mädchen, als mich Dein Vater heirathete; ich weiß, was es heißt, ein Kleid wenden und wieder wenden, weil man kein Geld hat, ein neues zu kaufen; ich weiß, welchen tausendfachen Demüthigungen ein armes Mädchen von Adel ausgesetzt ist.

Es wird anders und besser kommen, als Du denkst, theuerste Mama. Ich weiß nicht, ist es meine Jugend, oder ist es der schöne leuchtende Sommertag – ich kann unsere Lage nicht in dem trüben Lichte sehen. Ich werde – Mich mit einem reichen und würdigen Mann verheirathen? sagte die Baronin mit einem Lächeln, das ihr sehr sonderbar stand.

Aber Mama –

Ich weiß es wohl, daß Du etwas Anderes sagen wolltest, meine Tochter. Es ist ein Scherz von mir, aus dem hoffentlich ein recht erfreulicher Ernst wird. Du stehst in den Jahren, wo es einem jungen Mädchen wohl erlaubt ist, in Zucht und Ehren einem solchen Gedanken in ihrem Herzen Raum zu geben. Wohl ihr, wenn sie ihre Wahl auf einen Würdigen lenkt, besser noch, wenn sie dieselbe ihren Eltern überläßt, die nur ihr Glück wollen und durch die reiche Erfahrung eines langen Lebens in diesem Bemühen unterstützt werden.

Aber Mama, bis dahin hat's noch lange Zeit.

Sehr wahrscheinlich, mein Kind; indessen man kann nicht wissen, was der Himmel über Dich beschlossen hat, ihm muß man in diesen, wie freilich auch in den andern Dingen des Lebens, Alles anheimstellen. – Aber wer ist nur der Mann, welcher dort so lange unbeweglich am Baume steht; ich habe meine Lorgnette in meinem Zimmer gelassen.

Es ist Herr Stein, Mama; er steht dort schon seit einer halben Stunde mindestens; ich glaube, er ist festgewachsen.

Ein wunderlicher Mensch, dieser Stein; sagte die Baronin. Er hat für mich geradezu etwas Unheimliches. Es ist schlechterdings unmöglich, aus ihm klug zu werden. Wie gefällt er Dir, liebe Helene?

Aber, Mama, ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht; und bei solchen Leuten kann doch von Gefallen oder Mißfallen kaum die Rede sein. Ich dächte, sie wären sich Alle gleich oder wenigstens sind die Unterschiede so gering, daß man sie nicht wohl bemerken kann; – der Eine heißt Stein, der andere Timm – das ist doch im Grunde Alles.

Du hast Recht, liebe Tochter, sagte die Baronin. Diese Leute sind Statisten, man sieht sie nur, wenn die handelnden Personen einmal abgetreten sind. Glücklicherweise kann ich Dir in allernächster Zukunft eine andere und bessere Gesellschaft versprechen.

Und die wäre?

Dein Cousin Felix. Ich erhielt so eben einen Brief von ihm – der Postbote ist noch draußen in der Küche, Du kannst ihm einen Brief mitgeben, wenn Du vielleicht ein paar Zeilen nach Hamburg schreiben willst – er meldet uns seinen Besuch auf morgen oder übermorgen an. Aber war das nicht Deines Vaters Stimme? Adieu, liebes Kind; mache Dich zurecht, wir wollen etwas früher essen und dann noch eine Visite bei Plügens machen.

Die Baronin küßte ihre Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Fräulein Helene holte eilig den auf die Seite geschobenen Brief wieder hervor, um noch dazu zu schreiben: Mama, die mich soeben verläßt, ist doch wirklich sehr gut und freundlich zu mir. Sie kündigte mir einen Besuch an: Cousin Felix (der Lieutenant). Es wird wohl durch ihn etwas mehr Leben nach Grenwitz kommen, denn auf Herrn Stein scheint man nicht mehr rechnen zu können. Er steht noch immer am Brunnen. Adieu, dearest, dearest Mary!

Vierundvierzigstes Capitel

Wer sich für Albert Timm specieller interessirte, konnte bemerken, daß diesem Herrn in den letzten Tagen irgend etwas Besonderes zugestoßen sein mußte. Zwar ließen sich der schwarze Frack, den er jetzt beständig trug, die größere Sorgfalt, die er auf seine Toilette verwandte, und andere mit seinem äußeren Menschen geschehene Veränderungen füglich durch die Anwesenheit Fräulein Helene's und die gehobenere Stimmung, welche durch dieselbe in die Gesellschaft auf Schloß Grenwitz gekommen war, erklären, aber wie sollte man den Ernst deuten, der jetzt häufig auf seiner weißen Stirn und in seinen hellen blauen Augen lag? wie die Schweigsamkeit, zu der er, der sonst keine Minute still sein konnte, sich oft auf Stunden verurtheilte? wie vor allen Dingen den rastlosen Fleiß, mit welchem er jetzt halbe Tage lang über sein Reißbrett gebeugt stand und zeichnete und tuschte? Allerdings hatte Herr Timm während der kurzen Abwesenheit der Familie nur den harmlosen Freuden eines angenehmen ländlichen Aufenthaltes gelebt bis zu dem Augenblicke, wo er, von einer plötzlichen Anwandlung von Fleiß ergriffen, in die Registratur ging, die alten Flurkarten zu holen, und bei dieser Gelegenheit ein kleines, mit einem rothseidenen Faden zusammengebundenes Packet Briefe fand, in deren Lectüre er durch das Rollen des Wagens, welcher die Familie Grenwitz so unverhofft zurückbrachte, gestört wurde. Indessen, es war ganz gegen Albert's Natur, über einen Müßiggang, dem er sich längere oder kürzere Zeit hingegeben, Reue zu empfinden; und überdies arbeitete er so schnell und gewandt, daß es ihm ein Kleines war, auch größere Versäumnisse in sehr kurzer Zeit nachzuholen. Die Flurkarten, die neuen oder die alten, waren es sicher nicht, über denen er sich den Kopf zerbrach. Davon würde man sich überzeugt haben, wenn man an dem Nachmittage einen Blick in sein Zimmer geworfen hätte, das er, sehr gegen seine Gewohnheit, hinter sich abgeschlossen.

Herr Timm saß auf dem kleinen Sopha in seiner Stube, ein Bein untergeschlagen, den Kopf in die Hand gestützt, und aus seiner Cigarre mächtige Wolken blasend, offenbar in tiefes Nachdenken verloren. Neben ihm auf dem Sopha lagen die Briefe, die er in dem Repositorium der Registratur gefunden. Es waren ihrer nicht viele, alle von derselben zierlichen Hand auf ziemlich graues Papier geschrieben, wie man es noch vor einigen Jahrzehnten ganz allgemein selbst zu Briefen benutzte. Die Briefe mußten wohl dieses Alter haben, denn die Tinte war ganz vergilbt und konnte so einigermaßen das Datum ersetzen, das in sämmtlichen Briefen fehlte.

Es muß sich etwas mit diesen Briefen anfangen lassen, sagte Albert, leise mit sich selbst redend, ich weiß nur nicht gleich was. Wenn es mir gelänge, die Antworten dazu zu finden, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein so schlauer Kopf, wie der meine, dem großen Geheimniß nicht bis in seine verborgenste Höhle nachspürte. Auf der richtigen Spur, denke ich, bin ich schon jetzt. Daß Mutter und Kind gestorben sein sollten, ist so unwahrscheinlich wie möglich. Die Marie war allem Anschein nach ein wahres Kernmädel und das bischen Jammer und Kummer wird ihr das Herz schon nicht gebrochen haben. Das Kind aber aus dieser wilden Ehe hat sich jedenfalls des legitimen Vorrechts aller illegitimen Sprößlinge, weniger hoch-, als wohlgeboren zu sein, zu erfreuen gehabt. Die Mutter also, oder das Kind, oder Beide leben noch. Leben sie aber – und ich wünsche und hoffe es – so wissen sie entweder nichts von dem kostbaren Codicill zum Testamente des seligen Bruder Lüderlich, oder sie sind davon unterrichtet. In dem letzteren Fall, der nicht sehr wahrscheinlich ist, – denn vor einer so fetten gebratenen Taube den Mund zu verschließen, überstiege doch Alles, was ich von menschlicher Dummheit bis jetzt gehört und gesehen habe, und das will sehr viel sagen, – müßte man sie zu bestimmen suchen, von ihrem guten Rechte Gebrauch zu machen; in dem ersten Fall, dem bei weitem wahrscheinlicheren, müßte man ihrer erbarmungswürdigen Unwissenheit freundlichst zu Hülfe kommen; in jedem Falle – und da liegt der Hase im Pfeffer – müßte man erst wissen, wo sie denn überhaupt zur Zeit sich befinden. Daß sie sich in allzugroßer Nähe einen Zufluchtsort gesucht haben sollten, ist nicht wohl anzunehmen. Denn einmal würde sie Harald, der jedenfalls kein Mittel unbenutzt ließ und das Geld nicht schonte, nach der Flucht gefunden haben, zweitens pflegen die Leute bei solchen Gelegenheiten so weit zu laufen, als es irgend möglich ist, und drittens scheint dieser Monsieur d'Estein ein viel zu schlauer Fuchs gewesen zu sein, um sich vor dem Löwen, der ihm auf der Fährte war, nicht sicher mit seinem Täubchen zu verstecken. Ueberhaupt ist dieser Monsieur eine sehr irrationale Größe, die sich in meiner Rechnung als ein äußerst störender Factor erweist. Wenn er nicht bald nachher gestorben ist, so hat er jedenfalls noch viel Unsinn angerichtet, vielleicht gar die kleine Marie geheirathet, das Kind adoptirt und die Beiden zurück nach Frankreich, oder nach Amerika oder sonst wohin geführt, wo für mich die Welt mit Brettern zugenagelt ist, und mir so den ganzen Spaß verdorben. Das wäre schändlich, denn die Geschichte könnte wirklich über alle Begriffe spaßhaft werden. Ich möchte wohl die Gesichter von den Beiden sehen, wenn ich vor sie träte und sagte: meine armen Schelme, was gebt Ihr mir, wenn ich Euch zu einem hübschen Vermögen von einigen hunderttausend Thälerchen verhelfe? oder auch – und das wäre nicht minder bequem, ja vielleicht ein gut Theil bequemer – wenn ich mich eines schönen Nachmittags bei der guten Anna-Maria introducirte und sagte: Entschuldigen Sie, meine Gnädigste, wenn ich störe; aber ich habe – unter den Papieren meines Vaters, der, wie Sie wissen, mit Ihrem verstorbenen Vetter Harald in Geschäftsverbindung stand, gewisse Papiere aufgefunden, die mich in den Stand gesetzt haben, die rechtmäßigen Besitzer von Stantow und Bärwalde mit Gewißheit angeben zu können. Mein Rechtlichkeitsgefühl und die specielle Verehrung, die ich für Sie und Ihr Fräulein Tochter empfinde, liegen sich nun sehr bedeutend in den Haaren. Das erstere befiehlt mir, von meiner Entdeckung den pflichtschuldigen Gebrauch zu machen, die letztere heißt mich, die Sache zu vertuschen. Wie wär' es, hochverehrte Frau, wenn Sie meiner vollkommen uneigennützigen Verehrung mit einigen tausend Thalern, die ich, auf Ehre, sehr nothwendig brauche, zu Hülfe kämen?

Dieser Gedanke schien für Herrn Timm etwas Begeisterndes zu haben. Er sprang vom Sopha auf, und ging mit raschen Schritten, lebhaft gesticulirend, in seinem Gemache auf und ab. Das könnte eine wahre Schatzgrube für mich werden, murmelte er; ich wollte das stolze Weib ängstigen, daß ihre großen grauen Augen noch einmal so groß würden; ich wollte ihr Daumschrauben ansetzen und jedesmal, wenn ich Geld brauchte, die Schraube etwas fester anziehen. Sie würde Alles und Jedes thun, ehe sie es auf einen Prozeß ankommen ließe. Dann wäre ich so ein Stück von Herr im Hause: dann könnte ich die Narrenmaske fallen lassen und mich einmal in meiner wahren Gestalt zeigen. Dann könnte ich bestimmen, wen Fräulein Helene heirathen soll, ja könnte sie selber heirathen, wenn ich wollte, und jedenfalls der Ankunft meines guten Freundes Felix, die mir die gute Anna-Maria in allem Vertrauen mittheilte, mit aller Ruhe entgegen sehen. Zwar bin ich auch so nicht besonders unruhig darüber, denn Freund Felix war der würdige Schüler seines Meisters und schlug die Bolte nicht schlechter als ich, und wenn ihn sein alter Adel nicht geschützt hätte, so wäre es ihm wahrscheinlich nicht besser ergangen. So freilich kam der Fähndrich Baron Felix von Grenwitz mit einer Warnung davon und der Fähndrich Albert Timm mußte springen. Ich bin doch neugierig auf unser Wiedersehen. Vielleicht kennt er mich nicht mehr; vielleicht wird er versuchen, den unbequemen Gast möglichst bald aus dem Hause und sich aus den Augen zu schaffen. Ha, wie sollte das Blatt sich wenden, wenn diese verdammten Briefe nicht so frauenzimmermäßig gerade über die wichtigsten Punkte flüchtig weghuschten!

Albert setzte sich wieder auf das Sopha und begann die Briefe, obgleich er sie jetzt schon so ziemlich auswendig wußte, noch einmal der Reihe nach – er hatte sie sorgfältig numerirt – zu lesen.

Nr. 1. Mein Herr! Ich kenne Sie nicht und wenn Sie derselbe sind, der sich vor einigen Wochen im Thiergarten so unaufgefordert in die Unterhaltung mischte, die ich mit meinem Begleiter führte und sich von dem letzteren eine so derbe Zurechtweisung zuzog; derselbe, der mich jetzt allabendlich, wenn ich aus dem Geschäft nach Hause gehe, verfolgt – so werden Sie es begreiflich finden, daß ich sehr wenig Lust verspüre, Sie kennen zu lernen. Ich bitte, verschonen Sie mich mit Ihren Zudringlichkeiten, zu welchen ich vor allem auch Ihre Briefe rechne. Ich würde diesen, wie die andern, unbeantwortet gelassen haben, wenn ich nicht fürchtete, durch fortgesetztes Schweigen Ihre Kühnheit zu begünstigen. Sollte es wirklich Männer geben, welche der directen Bitte einer Frau, und noch dazu einer unbeschützten und schutzlosen Frau, wiederstehen können?

Marie Montbert.

Nr. 2. Mein Herr! Sie scheinen allerdings die Wege zu kennen, durch die man sich die Verzeihung einer Frau, die man beleidigt hat, gewinnt. – Welches auch die Motive waren, von denen Sie bei Ihrer Handlung geleitet wurden, – Sie haben viel Thränen getrocknet, Sie haben eine ganze Familie von der Verzweiflung gerettet. Ich selbst konnte nichts mehr für meine armen Landsleute thun – als nur Gott bitten, ihnen einen Retter zu senden. Er hat Sie gesandt. Beweisen Sie sich dieser Gnade würdig! Bedenken Sie, daß, wer Lohn begehrt, seinen Lohn dahin hat, und lassen Sie nicht Ihre Linke wissen, was Ihre Rechte that.

Ihre ergebene Dienerin

Marie Montbert.

Nr. 3. Was wissen Sie von dem Schicksal meines Vaters? um Gotteswillen, mein Herr, spielen Sie nicht mit dem Herzen eines Kindes! Sie wollen von einem Obrist der großen Armee, in dessen Regiment er den Feldzug nach Rußland mitmachte, ganz genaue Einzelnheiten über ihn während der Campagne und die näheren Umstände bei seinem Tode kurz vor dem Uebergang über die Beresina erfahren haben. Es klingt dies Alles so unwahrscheinlich – und doch, woher könnten Sie es wissen, wenn nicht aus sicherer Quelle? – auch der Name des Obristen, wie ich aus Briefen meines Vaters an meine Mutter ersehe, stimmt. Ich weiß nicht, was ich glauben soll – aber weshalb mir diese Mittheilungen, die, ich gestehe es, von unendlichem Werth für mich sind, nicht in meiner Wohnung – ich will sagen: in der Wohnung der guten Frau, die bei mir seit langen Jahren Mutterstelle vertritt? Weshalb dieses geheimnißvolle Rendezvous? Weshalb ein Kind, das Nachricht von dem Tode seines Vaters erwartet, zwingen, einen Schritt zu thun, den dieser Vater, wenn er lebte, niemals billigen würde? Ich werde nicht umsonst an Ihr Herz appeliren; ich weiß, daß es der Großmuth fähig ist.

Meine Wohnung ist Marienstraße 21. Wenn Sie die drei engen Treppen nicht scheuen, so werde ich morgen, Sonntag, zwischen 10 und 12 Uhr zu Ihrem Empfang bereit sein.

Ihre ergebenste Dienerin

Marie Montbert.

Nr. 4. Sie bestehen auf dem Rendezvous, das, wie Sie sagen, durchaus kein geheimnißvolles sei, denn es fände auf offener Straße, an einem der lebhaftesten Punkte der Stadt und zu einer Zeit, wo die Straßen noch von Fußgängern schwärmten, statt. Sie wollen mir die Gründe, die Sie bestimmen, meinen Wunsch, »so schmerzlich es Ihnen auch sei,« nicht zu erfüllen, selbst sagen, und Sie schwören mir, ich werde diese Gründe, wenn ich sie erfahren, billigen. Sind Sie dessen so gewiß! – Aber freilich, Sie sind der Geber – ich die Empfängerin – ich muß mich wohl Ihren Wünschen fügen; daß Sie mich täuschen wollten, will ich, kann ich nicht denken. Sie sind einmal so großmüthig gegen Arme und Hülflose gewesen, Sie können das andere Mal gegen ein armes, hülfloses Mädchen nicht so ungroßmüthig sein.

M.M.

Nr. 5. Herr Baron! Nochmals meinen innigsten, herzlichsten Dank! Dank auch für die Zartheit, mit welcher Sie Alles eingeleitet hatten! Wie bitter Unrecht habe ich Ihnen gethan? Aber konnte ich ahnen, daß Sie mich dem Herrn Obristen von St. Cyr selbst bekannt machen würden? daß ich aus dem Munde dieses Veteranen in meiner geliebten Muttersprache den Heldentod meines Vaters sollte erzählen hören? Sie wollten nicht, daß der Obrist die Tochter eines Helden, den letzten Sproß einer einst reich begüterten, angesehenen Familie in so dürftigen Verhältnissen fände; Sie wollten mir die Verlegenheit ersparen, den Grafen von St. Cyr und den Baron von Grenwitz in einer Dachkammer zu empfangen. Sie zogen es vor, mich als Erzieherin in einer Ihnen nahe verwandten Familie vorzustellen – und es war am Ende recht und billig, daß ich in Ihrer Gesellschaft den kranken und von der Reise angegriffenen alten Herrn in seinem Hotel aufsuchte. Nochmals vielen, vielen Dank! auch dafür, daß Sie auf dem langen Rückweg vom Hotel bis zu meiner Wohnung den frischen Schmerz durch ein Schweigen ehrten, das Ihnen bei Ihrem lebhaften Naturell gewiß nicht leicht geworden ist. Wodurch habe ich denn nur das Interesse, welches Sie an meinem Schicksal nehmen, verdient? Ich bin doch wahrlich recht unartig und unfreundlich gegen Sie gewesen! Sie fragten mich zuletzt, ob ich jetzt glaube, daß Sie es gut mit mir meinen? Dieser Brief mag Ihnen darauf Antwort geben. Sie verlassen morgen die Stadt – reisen Sie glücklich, und lassen Sie sich durch die beifolgende kleine Arbeit – ich habe sie in dieser Nacht gefertigt – manchmal erinnern an

Ihre dankbare Marie Montbert.

Nun ist das Püppchen geknetet und zugerichtet, sagte Albert, der mit einem gar seltsamen und unheimlichen Eifer – wie ein Beschwörer, der die Recepte eines Nebenbuhlers in der schwarzen Kunst studirt – die schon mehrmals gelesenen Briefe wieder las. Dieser Harald, das muß man ihm lassen – war der richtige Rattenfänger. Ich möchte nur wissen, was für eine Sorte von Obrist das gewesen sein mag, der dem dummen Dinge das Märchen von der Beresina aufband. Vielleicht der Teufel Oberster, jedenfalls einer seiner Helfershelfer – die Sache muß dem braven Harald ein schmähliches Geld gekostet haben. Indessen, es wurde zweckmäßig verthan, denn in Nr. 6 hat er schon sehr bedeutende Progressen gemacht.

Nr. 6. Kaum kann ich zu mir selbst kommen! Sie wieder hier um meinetwillen! hier, weil die Sehnsucht nach mir Ihnen keine Ruhe ließ! Mein Gott, mein Gott! wohin soll dies führen! Sie sind ein reicher Edelmann – ich bin ein blutarmes Mädchen, das, mögen meine Ahnen gewesen sein, wer sie wollten – mit seiner Hände Arbeit sich das tägliche Brod verdient. Meine Vernunft sagt mir, daß aus dem Allen für mich nur Unglück über Unglück erfolgen kann, daß ich Sie fliehen muß – ich weiß nicht, was ich Ihnen gestern gesagt, was ich Ihnen versprochen habe – geben Sie mir mein Wort zurück! Ich kann Sie heute – ich darf Sie nie, nie wieder sehen. Ich beschwöre Sie, reisen Sie wieder ab. Sie müssen es, wenn Sie mich wirklich lieben. Leben Sie wohl viel tausendmal!

Ihre Marie.

Was so ein acht Tage Abwesenheit nicht Alles bewirken können, sagte Albert, sich die Cigarre, die ihm in dem Eifer des Lesens ausgegangen war, wieder anzündend, Ihre Marie! ausgezeichnet! wie sich der biedere Harald wohl in's Fäustchen gelacht haben mag, als er diese thränenreiche Epistel – denn hier sind noch die Spuren davon – las. Aber weiter!

Nr. 7. Nehmen Sie den köstlichen Schmuck, den heute ein unbekannter Mann für mich abgegeben hat, wieder. Womit habe ich es verdient, daß Sie so niedrig von mir denken? Daß ich Sie liebe, liebe, trotzdem meine Vernunft mir deshalb die entsetzlichsten Vorwürfe macht, Sie wissen es, ich habe es nicht länger vor Ihnen verbergen können, verbergen wollen; aber weshalb mir nicht wenigstens den Trost lassen, daß diese meine Liebe rein von jedem unedlen Nebengedanken ist! Diese kostbaren Rubinen, dieses rothe Gold – es brennt in meiner Hand wie glühende Kohlen – lassen Sie mich, wie Sie mich fanden! Wenn das arme schmucklose Mädchen Ihre Liebe gewinnen konnte, so sehen Sie ja selbst, daß Armuth und Dürftigkeit sich recht gut mit Liebe verträgt.

M.M.

Sehr hübsch gesagt, äußerte Albert, diesen Brief zu den andern legend; aber doch sehr dumm! Armuth und Liebe vertragen sich gerade so gut, wie Wasser und Feuer. Ich möchte die feurige Liebe kennen, die nicht ausginge, wenn ihr ein Eimer Armuth über den Kopf geschüttet wird! Pah, das muß ich besser wissen! Ich glaube, ich wäre albern genug, die kleine Marguerite zu heirathen, wenn ich ein Mann in Amt und Würden mit vom Staat garantirter guter Beköstigung wäre, aber da ich nichts weiter bin, als ein armer Teufel, mit einem famosen Appetit und wahrem Patent-Magen, so wäre es doch reiner Selbstmord, wollte ich die schon knapp genug zugemessene tägliche Ration noch mit einem Andern theilen! Liebe! Unsinn! Liebe ist höchstens ein ganz wünschenswerthes Dessert zum Diner des Lebens. Ein gutes Diner ohne Dessert – bon! ein Diner mit Dessert – noch besser, aber ein Dessert ohne Diner! – nun, für Frauenzimmer mag auch das genügen; aber mit meiner Constitution verträgt es sich nicht. Ob die gute Marie, wenn sie noch lebt, wie ich sehr stark hoffe, jetzt nicht doch manchmal beklagt, daß sie die kostbaren Rubinen und das rothe Gold anderen jungen Damen, die es weniger verdienten, zugewandt hat? Im nächsten Brief wird die tugendhafte kleine Person sogar ganz übermüthig.

Nr. 8. Sieh, sieh, mein Lieber; also auch eifersüchtig können Sie sein! wer hätte dem Baron Harald von Grenwitz solche bürgerliche Schwäche zugetraut! Ich soll eine andere Wohnung beziehen; weshalb? Damit ich im Winter nicht vor Frost und im Sommer vor Hitze umkomme; nicht alle Tage ein paar Mal Gefahr laufe, mir auf den engen, steilen Treppen den Hals zu brechen? bewahre! nur weil die Madame Schwarz, bei der ich wohne, dem gnädigen Herrn nicht gefällt, und weil der gnädige Herr in Erfahrung gebracht hat, daß ein junger Franzose, ein Monsieur d'Estein, mit mir auf demselben Flur wohnt, daß ich mit besagtem Monsieur auf einem vertrauten Fuße stehe, ja mit demselben, selbst des Abends spät, Arm in Arm, auf der Straße gesehen worden bin! Entsetzlich! Aber im Ernst, theuerster Harald, Sie haben wahrlich keine Ursache, sich zu beklagen. Die Madame Schwarz ist eine sehr ehrbare, ausgezeichnete Frau, der ich unsäglich viel verdanke, und die, so lange ich denken kann, eine Mutter für mich gewesen ist; und was Monsieur d'Estein anbetrifft, so wird Ihre Eifersucht sich wohl wieder schlafen legen, wenn ich Ihnen sage, daß es derselbe kleine, ältliche Herr ist, an dessen Arm Sie mich zum ersten Mal im Thiergarten sahen. Monsieur d'Estein könnte den Jahren nach mein Vater sein, wie er denn auch der Freund meines Vaters war. Er stammt wie wir aus einer Familie französischer Refugiés und wäre wohl schon längst in das geliebte Land seiner Väter zurückgekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht einmal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort, wo alle Welt die Sprache spricht, in der er hier Unterricht ertheilt, Hungers zu sterben. Er ist sehr wunderlich, aber das bravste Herz von der Welt. Er würde für mich durch's Feuer gehen und au désespoir sein, wenn er nur die leiseste Ahnung von unserem Verhältnisse hätte. – Dies Alles würde ich Ihnen schon gestern Abend gesagt haben; aber ich wollte einmal sehen, ob Sie auch Widerspruch vertragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden?

A revoir, monsieur le Baron.

Votre très-méchante Marie M.

Dies ist die einzige Notiz über diesen Monsieur d'Estein, sagte Albert, den Brief auf den Schooß sinken lassend und nachdenkliche Wolken aus seiner Cigarre blasend; ohne Zweifel derselbe, welcher in der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auftritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und hernach die Entführung der bedrängten Unschuld bewerkstelligt. Ich fürchte, es sind hier einige Briefe verloren gegangen, denn, als der nächstfolgende geschrieben wurde, waren die Affairen schon sehr weit gediehen.

Nr. 9. So eben erhalte ich den – was soll ich es verschweigen! – längst erwarteten Brief Ihrer Frau Tante. Sie schreibt mir mit zitternder, aber doch leserlicher Hand, daß sie das Lebensglück ihres geliebten Großneffen höher stelle, als die Ruhe der wenigen Tage, die sie noch zu leben habe; ja, daß sie sich freue, eine so dringende Veranlassung zu haben, nach dem Stammsitz ihrer Väter, dem Orte ihrer Geburt, wo sie denn nun auch zu sterben gedenke, eine Reise, die letzte vor der großen Reise, anzutreten. Sie werde am 13. von St. abreisen, und bereits vor mir in Grenwitz angekommen sein, »da Sie ein tête-à-tête mit meinem wilden Neffen so sehr fürchten, liebes Kind.« – Ich kann nicht sagen, wie unaussprechlich mich so viel Güte und Liebe rührt! wie dankbar ich der alten herrlichen Dame bin, wie ich mich freue, ihr die welken, lieben Hände zu küssen! Ja, Harald, wenn sie, die Greisin, die Aelteste Deines ritterlichen Geschlechts, mich Deiner würdig gefunden hat, wenn sie unsere Liebe segnet, dann will ich mit tausend Freuden die Deine sein. Nur eines schmerzt mich, daß ich bei Nacht und Nebel wie ein Dieb von hier, von der Frau, die ich wie eine Mutter liebe, von dem Manne, der mir Vater und Bruder gewesen ist, fortschleichen soll. Und doch – es geht nicht anders. Du hast recht: sie würden mir den Abschied nur noch schwerer machen; sie würden das Ganze ein romantisches Abenteuer schelten. Sie kennen Dich ja nicht, Sie wissen ja nicht, wie treu und gut Du bist. Aber Lebewohl darf ich ihnen doch wenigstens schriftlich sagen! ihnen in ein paar Worten für alle Güte und Liebe danken und sie über den Schmerz, den ich ihnen jetzt bereiten muß, auf eine fröhliche Zukunft vertrösten. Ach, wäre diese Zukunft doch erst Gegenwart! Ihr neuer Kammerdiener, der mir übrigens viel weniger gefällt, als der alte mit dem treuen, ehrlichen Gesicht, meldete mir gestern Abend, daß alle Vorbereitungen auf übermorgen früh getroffen seien. Es ist mir lieb, daß ich in Ihrer Equipage und in Begleitung Ihrer Leute fahren soll; der Gedanke einer so weiten Reise hat so viel weniger Peinliches für mich. Auf baldiges, köstliches Wiedersehen, Du Vielgeliebter!

M.M.

Nun ist das Vögelchen in's Garn gegangen, sagte Albert, diesen Brief, den letzten, zu den andern legend, und alle wieder sorgfältig mit dem rothseidenen Bande zusammenbindend; das Uebrige könnte man sich zur Noth denken, wenn man es nicht aus der langen Geschichte der alten Hexe, der guten Freundin meines ausgezeichneten Freundes Stein, wüßte. Ich glaube, die Alte könnte noch mehr erzählen, wenn sie wollte. Ich muß mir ihre Gunst zu erwerben suchen und mir freien Zutritt in ihre Salons verschaffen. Sollte sie nicht noch Manches aus dem Nachlasse von Fräulein Unschuld in ihrem Besitz haben, das zu weiteren Entdeckungen führen könnte? Die Kleine hat jedenfalls bei der eiligen nächtlichen Flucht ihre Kisten und Kasten nicht so sorgfältig ausgekramt, und die Alte eine gute Nachlese an Bändern, Strümpfen, Schuhen und warum nicht auch Briefen gehalten. Das Alles mag in sicherer Ruhe in der großen, hölzernen Lade, auf der ich mir an jenem Nachmittag die Rippen wund gelegen habe, seiner Auferstehung entgegensehen. Das ist ein Gedanke!

Albert war aufgestanden und hatte sich vor den Spiegel gestellt, um zu sehen, wie sich ein so geistreicher Kopf denn eigentlich ausnehme. Das ist ein Gedanke, und er warf seinem Spiegelbilde eine Kußhand zu, welche dieses in Anbetracht der Vortrefflichkeit des Originals freundlich erwiederte – ein ganz famoser Gedanke, den ich ausführen muß, es koste, was es wolle. Vielleicht war der Schacherjude ein wirklicher rechter Israeliter und Abgesandter des Monsieur d'Estein; vielleicht hat er der Kleinen nur einen Brief überbracht, in welchem der Plan der Flucht entworfen war, und dieser Brief fände sich, und mit dem Briefe in der Hand könnte man der Flüchtigen auf die Spur kommen.

Herr Timm hielt plötzlich in seinem Monologe inne und sein Gesicht verdüsterte sich: Verdammt, murmelte er, nun fehlt es wieder am Besten, an dem nervus rerum, an der Wünschelruthe, mit der ich den Schatz heben könnte. Offenbar werde ich zur Erreichung meines Zweckes einige Reisen machen müssen, zum Mindesten in die Residenz, um Marienstraße No. 21 drei Treppen hoch im Hofe gewisse Erkundigungen anzustellen; aber Reisen kosten Geld und mein actives Vermögen besteht jetzt aus 5 Silbergroschen, von denen einer, glaube ich, nicht einmal echt ist. Ich muß eine Zwangsanleihe bei der kleinen Marguerite machen. Es geht wahrlich nicht anders. Ich wollte es ja auch neulich schon, als plötzlich die interessante Familie wieder einrückte und unserem idyllischen Leben ein Ende machte. Freilich diese verdammten Karten müssen erst fertig; sonst läßt mich Anna-Maria nicht aus ihren Klauen. Ich muß schon in den sauren Apfel beißen.

Und Herr Timm zündete sich eine frische Cigarre an, entriegelte die Thür, beugte sich über sein Reißbrett, und zeichnete mit einem Eifer, als ob er in der Welt keine anderen Pläne kenne, als die, mit welcher sich ein tüchtiger Geometer von Berufswegen abgeben muß.

Fünfundvierzigstes Capitel

Baron Felix war angekommen – mitten in der Nacht. Er war bei guter Zeit von dem Fährdorfe in seinem eigenen Wagen aufgebrochen, als es dem Kammerdiener schwer auf's Herz fiel, der Toilettenkasten seines Herrn möchte sich nicht bei dem übrigen Gepäck befinden, da er denselben unter die Bank des Bootes zwischen seine Füße gestellt, und wahrscheinlich stehen gelassen hatte. Schüchterne Hindeutung Jean's auf die Möglichkeit dieses Falles – großer Zorn von Seiten des Barons Felix und Androhung von Ohrfeigen, Stockprügeln und Entlassung – auf offener Landstraße angestellte Nachforschung – schließlich, da sich das corpus delicti wirklich nicht fand, Umkehr. Leider war unterdessen das Fährboot mit dem hochwichtigen Kasten unter der Bank bereits abgesegelt. Bis es wieder an der Landungsbrücke anlegte, vergingen mehrere Stunden, denn es war unterdessen Windstille eingetreten und die Leute hatten sich mit den schweren Rudern – zur Verzweiflung des Baron Felix, der sie vom Strande aus durch ein Taschentelescop beobachtete – Zoll um Zoll hinüber arbeiten müssen. So war der Abend bereits tief hereingesunken, als der Baron zum zweiten Male – diesmal mit dem Kasten – von dem Fährdorfe aufbrach. Er war in einer fürchterlichen Laune. Er hatte versprochen, heute noch auf Grenwitz einzutreffen, da er »den Augenblick, seine schöne Cousine zu sehen, nicht erwarten könne.« Eine Verzögerung seiner Ankunft konnte ihm leicht übel ausgelegt werden. Besser also, in tiefer Nacht, als gar nicht kommen. Auf der andern Seite aber war eine nächtliche Fahrt durch Wald und feuchtes Moor – noch dazu in einem offenen Wagen keineswegs nach dem Geschmacke des jungen Ex-Lieutenants, der – jedenfalls in Folge der ungeheuren Strapazen auf dem Exerzierplatze und bei den Paraden – sehr an Rheumatismus litt und eine Erkältung wie die Pest fürchtete. Er wählte also von den zwei Uebeln, sich dem Verdacht der Gleichgültigkeit, oder der Gefahr einer Erkältung auszusetzen, das kleinere und drohte nur, daß er von der Größe seines Schnupfens morgen früh die Größe der Strafe für Jean's Nachlässigkeit werde abhängen lassen.

Es war deshalb eine nicht unbedeutende Beruhigung für Jean, als sein Herr am nächsten Morgen (man hatte die nächtliche Ruhe des Schlosses so wenig wie möglich gestört und sich von einem der herausgepochten Bedienten die schon längst bereit stehenden Zimmer anweisen lassen) mit sehr guter Laune erwachte, seinen Cacao wie gewöhnlich im Bett zu trinken begehrte und nachdem er sich halb hatte ankleiden lassen – die zweite, wichtigere Hälfte besorgte er eigenhändig – ihn fortschickte, um Herrn Timm, dessen Anwesenheit auf dem Schlosse er erfahren hatte, bitten zu lassen, ihn auf ein paar Minuten auf seinem Zimmer zu besuchen.

Ah voilà, lieber Timm, wie geht es Ihnen? sagte Baron Felix, das letzte Wort auffallend markirend, als der Angeredete bald darauf eintrat. Sie entschuldigen, daß ich Ihnen so früh lästig falle: aber ich – zum Teufel, nun hat der Esel von Jean wieder heißes statt warmes Wasser gebracht – entschuldigen Sie! – Jean, warmes Wasser, Nilpferd! – nun sagen Sie, wie geht es Ihnen, lieber Timm? freue mich, Sie hier so zufällig zu treffen. Wie geht es Ihnen? und der Baron streckte dem Angeredeten einen der Finger seiner linken Hand, die er eben abgetrocknet hatte, entgegen.

Danke, Baron, passabel! sagte Albert, den dargebotenen Finger sehr flüchtig mit etwa zwei Fingern seiner Hand berührend; ich glaubte schon, Sie würden mich gänzlich vergessen haben.

Bewahre, sagte Felix, freute mich, wie gesagt, heute Morgen sehr, als Jean mir die Gesellschaft hier herzählte, und ich Ihren Namen hörte. Aber wie gottvoll Sie sich in Civil ausnehmen! wirklich gottvoll, auf Ehre! und Felix blieb, eine Bürste in der einen und einen kleinen Toilettenspiegel in der andern Hand, vor Albert stehen, ihn von Kopf bis zu den Füßen wie ein fremdes merkwürdiges Thier ansehend.

Meinen Sie? sagte Albert trocken; freut mich, kann Ihnen leider das Compliment nicht zurückgeben, da ich erst die folgenden Stadien Ihrer Toilette abwarten muß. Aber das Eine kann ich Ihnen sagen – jünger sind Sie unterdessen nicht geworden. Haben Sie nicht noch eine Cigarre?

Dort auf dem Tisch! sagte Felix; in dem Ebenholzkästchen – Sie müssen die Feder nach unten drücken – nicht jünger geworden? aber hoffentlich doch auch nicht älter, ich meine auffallend – zum wenigsten erfreue ich mich, wie Sie sehen, noch meiner sämmtlichen Zähne und zum mindesten fünf Sechstel meiner Haare – und Felix bürstete mit unendlichem Wohlgefallen die allerliebsten kurzen braunen Locken, die noch ziemlich üppig seinen wohlgeformten Kopf bedeckten.

Nun, mit den Haaren mag's noch gehen, sagte Albert, der jetzt auf einem Sopha Platz genommen hatte und den vor dem Spiegel eifrig beschäftigten Felix mit heimlicher Schadenfreude musterte; aber wo haben Sie nur alle die Falten in Ihrem Gesicht her bekommen? die scharfe Morgenbeleuchtung ist wirklich nichts mehr für Sie. Ich machte Ihnen früher das Compliment, Sie hätten eine frappante Aehnlichkeit mit Byron; aber jetzt sehen Sie wenigstens wie Byron's Vater aus. Und dann – Sie waren niemals durch Fülle ausgezeichnet, jetzt sind Sie auf ein Minimum reducirt.

Je schlanker, desto eleganter, meinte Felix; und übrigens kommt das wieder; ich wurde in der letzten Zeit etwas knapp gehalten.

Das alte Leiden?

Nun, wenigstens eine neue Auflage.

Vermehrt und verbessert?

Es ging noch; aber damit ist es jetzt vorbei. Wir sind solid geworden; wir werden uns zur Ruhe setzen – wie finden Sie diese Beinkleider? ist es nicht eine geistreiche Combination des militairischen und des Civilschnitts? ganz meine Erfindung! – wir werden heirathen –

Das sollten Sie bleiben lassen, Baron!

Weshalb?

Wenigstens sollten Sie eine ältere, verständige Dame heirathen.

Weshalb?

Weil Sie, fürchte ich, über kurz oder lang doch einer mütterlichen Freundin bedürftiger sein werden, als einer anspruchsvollen jungen Gemahlin.

Pah, mon cher, ich habe die Ehre, aus einer Familie zu stammen, in der man ungestraft lüderlich sein darf. Ein bischen Rheumatismus – das ist das Aeußerste. Was sagen Sie zu diesem Rock?

Gar nichts; Sie wissen, ich war nie ein Kenner in diesen Dingen.

Freilich, Sie waren stets das unsaubere Gefäß, in welches sich die Schale des Zorns unseres guten Obristen leerte. Wissen Sie, daß sich der arme Teufel erschossen hat?

Nein, weshalb?

Weil er die Schande nicht hat überleben wollen, daß bei der letzten großen Parade die zweite Compagnie mit Tuchhosen statt mit weißen Hosen angerückt kam, und er deshalb vom Commandirenden ob dieser »Schweinerei« einen fürchterlichen Rüffel besah.

Gott hab' ihn selig!

Amen. Apropos! wie lange sind Sie denn schon hier auf Grenwitz? ich höre seit Wochen; da müssen Sie die Gesellschaft ja aus- und inwendig kennen. Ja, was ich eigentlich wissen wollte: Wie befindet sich denn mein würdiger Onkel und meine vortreffliche Frau Tante? und wie hat sich denn meine Cousine – haben Sie schon eine solche Uhr gesehen? doppelter Secundenzeiger – der Zeiger oben zeigt Monat und Datum – direct aus London – ich glaube, es ist die erste, die auf dem Continent getragen wird. Apropos! wer kann denn heute Nacht das hübsche, schwarzäugige, kleine Ding gewesen sein, das wir auch aufgestört hatten und das im allerliebsten Nachtcostüm über den Flur huschte – es schien eine Art Wirthschafterin oder dergleichen. Ihr habt doch weiter keinen Besuch auf dem Schlosse?

Nein –

Also ganz en famille? Wollen Sie gefälligst die Klingel über Ihrem Kopfe ziehen? Ich dächte, ich sähe heute ganz ausnehmend wohl aus – Jean! habe ich Dir nicht gesagt, Kameel, daß Du diesen Rock hier nicht tragen sollst – gleich zieh' den neuen an! und dann geh' und frage bei der gnädigen Herrschaft an, ob ich jetzt meine Aufwartung machen dürfe.

Die Frau Baronin haben schon zweimal nach dem Herrn Baron gefragt.

Nun, dann sag', ich würde gleich kommen. – A revoir, lieber Timm, ich hoffe, Sie an der Mittagstafel zu sehen – und Felix warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, goß etwas Eau de Cologne auf sein weißes Taschentuch und schritt durch die Thür, welche ihm Jean öffnete, davon, ohne sich weiter nach Albert, der ihm auf dem Fuße folgte, umzusehen.

Dieser schaute dem Enteilenden mit einem höhnischen Lächeln auf den schmalen seinen Lippen nach: lieber Timm, murmelte er; ich will Dir den lieben Timm und das Sie anstreichen, Du Affe!

Es war am Abend desselben Tages. Man hatte so eben die Mahlzeit, die bei gutem Wetter jetzt stets auf der Terasse eingenommen wurde, beendet und bereitete sich zu einem gemeinschaftlichen Spaziergange, den man, auf den Vorschlag der Baronin, durch den Buchwald nach dem Strande machen wollte. Oswald hätte sich ausschließen mögen, da ihm in seiner augenblicklichen Stimmung die Gesellschaft peinlich war, aber Felix, der ein großes Gefallen an dem schweigsamen, ernsten Mann zu finden schien, hatte ihn so lange gebeten, kein Störenfried und Spielverderber zu sein, daß er sich endlich, zu Bruno's großer Freude, zum Mitgehen entschloß. So brach man denn auf und gelangte bald in den schönen Wald, wo in den grünen Zweigen noch die rothen Abendlichter spielten und die Vögel sangen. Felix hatte der Baronin den Arm gegeben; Fräulein Helene ging an ihres Vaters Seite; Oswald, Albert und die Knaben und Mademoiselle Marguerite gingen voran oder folgten, bald einzeln, bald paarweise, wie der schmale Waldweg es eben erlaubte. Felix, den sein Arzt besonders vor Erkältung gewarnt hatte, fand es im Wald doch kühler und feuchter, als er vermuthet, und er wünschte im Stillen sehnlichst, daß die Partie sich nicht zu sehr in die Länge ziehen möchte. Indessen hielt er es natürlich für gerathener, seinen geheimen Wünschen keine Worte zu leihen, sondern dem reizenden Einfall »dieses romantischen Spazierganges« ein Compliment zu machen.

Es freut mich, wenn ich damit Ihrem Geschmack entsprochen habe, lieber Felix, sagte Anna-Maria: ich gestehe, ich hätte Ihnen so viel Sinn für die einfachen Freuden das Landlebens nicht zugetraut. Wie gut trifft es sich, daß auch Helene diesen Geschmack theilt. Ihr werdet einmal ein recht verständiges, solides Leben führen, wie es sich für Eure Verhältnisse schickt.

Nun, meine Verhältnisse, liebe Tante –

Werden sich bessern, ich bin davon überzeugt; aber Sie werden viel zu thun haben, lieber Felix, bis Sie ganz frei aufathmen können. Wie lange hat es gedauert, bis selbst wir nur die allergrößten Hindernisse aus dem Wege geräumt hatten! und von einer wirklichen Beherrschung der Situation können wir erst in ein paar Jahren sprechen, wenn Stantow und Bärwalde uns hoffentlich nicht mehr länger vorenthalten werden können und die übrigen Güter in neuen und, ich denke, besseren Pacht kommen. Sie sollten Ihre Güter auch neu vermessen lassen, lieber Felix. Sie finden in Timm einen fleißigen und geschickten Arbeiter. Ich bin ganz überrascht, daß Sie den jungen Mann schon von früher her kennen; von der Cadettenschule, nicht wahr?

Ja, liebe Tante; er war ein großer –

Liebling – ich glaube es gern; ist er es doch auch hier bei uns Allen.

Das wollte ich nun eigentlich nicht sagen, versetzte Felix lachend; indessen man hatte ihn allerdings im Allgemeinen sehr gern. Er war der unermüdlichste Spaßmacher; und wenn es sich um einen Geniestreich handelte, so stand er sicher an der Spitze. Indessen, man thut gut, ihm den Daumen etwas auf's Auge zu halten; er gehört zu den Leuten, die, wenn man ihnen den kleinen Finger giebt, die ganze Hand nehmen.

In der That! sagte Anna-Maria, die Augenbrauen in die Höhe ziehend; ich habe den jungen Menschen bis jetzt stets für die Bescheidenheit selbst gehalten; für viel bescheidener, als etwa unsern Herrn Stein.

Wirklich? meinte Felix; ich hätte nun gerade gedacht, daß Herr Stein sich seiner Stellung vollkommen bewußt ist.

Nun, Sie werden ihn noch näher kennen lernen. Er ist einer der arrogantesten Menschen seines Standes, die mir je vorgekommen sind.

Wir wollen ihm das austreiben, sagte Felix, seinen äußerst winzigen Schnurrbart drehend; mit solchen Leuten muß man kurzen Prozeß machen. Ich kenne das. Diese Leute sind sich alle gleich. Sobald sie merken, daß wir sein wollen, was wir von Rechtswegen sind – die Herren im Staat und im Haus – kriechen sie zu Kreuz. Sie werden nur übermüthig durch unsere Schuld. Man muß sie fortwährend in dem Bewußtsein ihrer Stellung halten. Sie sind zu gut gegen den Menschen gewesen; das ist Alles. Ich wunderte mich, offen gestanden, schon heute Mittag, mit welcher Nachsicht sich Fräulein Helene seine Zurechtweisung – ich weiß nicht mehr, um was es sich handelte – gefallen ließ.

Nun, Helene ist sonst nicht gerade seine Freundin; wie sie denn überhaupt eine wahrhaft aristokratische Antipathie gegen alles Plebejische hat. Nähren Sie diese Grundsätze ja! ich glaube, Sie werden so den nächsten Weg zu ihrem Herzen finden.

Nun, ich denke, dieser Weg wird ja wohl nicht so übermäßig schwer zu entdecken sein; sagte Felix mit selbstgefälligem Lächeln: ich habe einige Erfahrung in diesem Capitel, ma chère tante!

Die Sie in diesem Falle brauchen werden, lieber Felix. Helene ist ein sehr eigenthümlicher, schwer zu berechnender Charakter. Ich gestehe, daß ich noch nicht gewagt habe, ihr unser Project offen darzulegen. Ich wollte erst die Wirkung abwarten, die Sie ohne Zweifel auf ihr Herz hervorbringen werden. Sie haben hier die beste Gelegenheit, sich ihr in dem liebenswürdigsten Lichte zu zeigen; ja nicht einmal einen Nebenbuhler haben Sie zu fürchten. Wir leben sehr zurückgezogen, und ich werde mit Eifersucht darüber wachen, daß diese Zurückgezogenheit auch während Ihres Aufenthaltes so wenig wie möglich gestört wird.

Verzeihen Sie, liebe Tante, wenn ich in diesem Punkte anderer Meinung bin, sagte Felix; ich müßte mir wahrlich mein theures Lehrgeld wiedergeben lassen, wenn ich den Vergleich mit den jungen Standesgenossen hier auf dem Lande scheuen zu müssen glaubte. Im Gegentheil: Jeder, den ich aus dem Sattel hebe, ist ein Schritt näher zu meinem Ziele, wenn es denn wirklich so sehr weit gesteckt sein sollte. Nein! bitten Sie so viel Gesellschaft wie möglich. Machen Sie meine und Helenens Anwesenheit zu einer Veranlassung, kleine Diners, Soupers, Thees zu geben; und hernach fassen wir Alles in einen großen Ball zusammen, auf welchem dann unsere Verlobung der ganzen Gesellschaft mitgetheilt wird, die dann natürlich über ein Ereigniß, das sie seit Wochen erwartet hat, in ein obligates Staunen geräth.

Sie sind kühn, lieber Felix, sagte die Baronin, der diese Methode, auch der Kopfspieligkeit wegen, nur halb gefiel.

Wozu hätte ich denn sonst des Königs Rock so lange Jahre getragen? erwiederte Felix, seiner Tante galant die Hand küssend.

Während dessen von der Baronin und Felix so ruhig über Helene's Schicksal debattirt wurde, hatte zwischen dieser und ihrem Vater ein Gespräch stattgefunden, das die feingesponnenen Pläne der Baronin und den vermeintlich raschen Siegeslauf des jungen Ex-Lieutenants auf eine gar eigenthümlich naive Weise durchkreuzte.

Der alte Baron liebte seine schöne Tochter mit aller Liebe, deren sein braves Herz fähig war, liebte sie um so mehr, als er über die Gerechtigkeit der Bestimmungen, welche das junge Mädchen von dem Majoratsvermögen ausschlossen, von jeher nicht geringe Zweifel gehabt hatte. Dazu kam, daß er die Zurücksetzung, welche die Tochter von Seiten der Mutter bis dahin erfahren hatte, sehr wohl empfand, wenn er auch zu schwach gewesen war, Maßregeln dagegen zu ergreifen, und vor allem der Hamburger Verbannung ein Ende zu machen. Auch dem Heirathsproject hatte er seine Zustimmung nur gegeben, weil ihm Anna-Maria eingeredet hatte, so könne die Ungleichmäßigkeit in dem Schicksal der beiden Kinder am besten ausgeglichen werden, da Helene, als die Gattin Felix', nach Malte's etwaigem Tode, dann gewissermaßen zur Erbschaft gelangte, wenigstens in den vollen Genuß des Vermögens käme. Aber auch hier hatte er Helenens vollkommen freie Zustimmung als unumgängliche Bedingung stipulirt, wogegen er sich wieder verpflichtet hatte, die Leitung der Angelegenheit den geschickten Händen seiner Gemahlin zu überlassen und vor allem sich vor einer vorzeitigen Enthüllung des Planes in Acht zu nehmen.

Nun aber hatten die Eindrücke in der letzten Zeit an diesen Vorsätzen und Entschlüssen arg gerüttelt. Zuerst war ihm in Hamburg, als ihn ein plötzlicher Fieberanfall auf das Krankenlager warf, der Gedanke gekommen, er könne in nächster Zeit sterben und Helene dann ganz verlassen dastehen, ohne seinen Rath, ohne sein Veto, das er, im äußersten Falle, der Ausführung der Pläne Anna-Maria's entgegenzusetzen, fest entschlossen war. Er hatte seine Tochter immer geliebt, jetzt betete er sie an. Sie war so schön, so stolz, und gegen ihn, den alten Vater, so freundlich bescheiden, daß sein Herz, wenn er dachte, er könnte aus dem Leben gehen, ohne das Schicksal dieses seines Lieblings sicher gestellt zu haben, Angst und Trauer zugleich empfand. Wäre nun Felix der Mann gewesen, wie er sich den Gemahl seiner Tochter wünschte, so hätte noch Alles gehen mögen. Aber das war Felix keineswegs. Der alte Baron war seiner Zeit auch ein junger Baron und war, wie Felix, Offizier gewesen. Er wußte sehr wohl, welchen Versuchungen ein junger und reicher Edelmann in dieser Lage ausgesetzt ist; er selbst war diesen Versuchungen nicht immer entgangen und hatte in seinem reiferen Alter, als sein von jeher ernst gestimmter Geist die naturgemäße Richtung erlangt hatte, mit bitterer Reue die Sünden seiner heißblütigen Jugend beklagt. Er hatte an seinem Vetter Harald das lebendige Beispiel gehabt, wohin die ungezügelten Leidenschaften zuletzt führen, und sein durch die Liebe zu seiner Tochter und durch die Erfahrung in diesem einen Falle doppelt scharfes Auge erkannte sofort, daß sein Neffe Felix in einem hohen Grade der Sklave dieser Leidenschaft gewesen sein mußte, vielleicht noch war. Er hatte den jungen Mann vor ein paar Jahren gesehen, als dieser eben die Cadettenschule verließ. Damals hatte er eine angenehme Erinnerung an den schlanken, kräftig gebauten Jüngling mit dem frischen hübschen Gesicht und den lebhaften hellen Augen davongetragen; jetzt sah er von dieser allerliebsten Erscheinung nur noch einen traurigen Schatten. Eine gespenstige Magerheit, tiefe Furchen in dem jugendlich-alten Gesicht, die großen blauen Augen gläsern oder von einem fieberhaften Glanze leuchtend und stets mit dem starren, frechen Blick, der deutlicher spricht, als eine lange Lebensbeschreibung – die Bewegungen haftig und fahrig, offenbar in der Absicht, die innere Mattigkeit und Schlaffheit zu verdecken, die Rede vorlaut und über Alles mit derselben souveränen Oberflächlichkeit weghuschend – das ganze Wesen von einer krankhaften Eitelkeit wie zerfressen – so oder ungefähr so erschien ihm Felix, trotzdem seine Menschenfreundlichkeit hier wie überall die schlimmsten Flecken des Bildes gutmüthig vertuschte.

Es that ihm leid, daß er sich von seiner Gemahlin das Versprechen hatte abnehmen lassen, in dieser Angelegenheit nicht selbstständig handelnd aufzutreten. Es kam ihm vor, als ob er sich mit diesem Versprechen doch übereilt habe, und auf jeden Fall hielt er dafür, daß eine geschickte Sondirung, wie denn Helene selbst in diesem Punkte denke, kein Bruch des Versprechens sei. So sagte er, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren, ihren Arm in den seinen legend:

Wie befindest Du Dich, meine Tochter?

Ich danke, Vater, gut, weshalb? erwiederte Fräulein Helene, etwas überrascht über diese plötzliche Frage.

Ich dächte, Du sähest etwas blaß aus.

Das kommt nur von der ungünstigen Beleuchtung hier unter den grünen Bäumen, antwortete das junge Mädchen heiter; ich befinde mich aber wirklich ganz wohl.

Ich fürchtete immer, der plötzliche Wechsel der Luft, der Lebensweise, des Umgangs würde Dir schädlich sein. Du bist zu lange vom Hause fortgewesen.

Das ist nicht meine Schuld, lieber Vater.

Ich weiß es wohl, ich weiß es wohl; aber meine Schuld ist es auch nicht; ich habe stets der Abkürzung der Pensionszeit das Wort geredet, aber –

Nun, ich bin ja endlich hier und wir wollen das Versäumte möglichst nachholen. Wir wollen recht viel zusammen spazieren gehen; ich will Dir aus Deinen Lieblingsbüchern vorlesen; es soll ein reizendes, stillvergnügtes Leben werden, und das junge Mädchen nahm die Hand ihres Vaters und führte sie an ihre Lippen.

Du bist ein gutes liebes Kind, sagte der Baron und seine Stimme zitterte etwas: gebe Gott, daß ich mich Deiner noch recht lange zu erfreuen habe.

Aber, bester Vater, schon wieder solche hypochondrische Gedanken! Du bist ja jetzt, Gott sei Dank, wieder so rüstig, wie immer. Weshalb sollten wir nicht noch lange glücklich zusammen leben!

Aber wenn Du uns verließest.

Ich sterbe fürs erste noch nicht, deshalb sei nur ganz unbesorgt; sagte Fräulein Helene lachend.

Das wolle auch Gott verhüten! aber Eltern und Kinder werden ja nicht blos durch den Tod getrennt. Wenn Du nun heirathest, so müssen wir uns doch darauf gefaßt machen, Dich abermals zu verlieren, nachdem wir Dich kaum wieder gewonnen haben.

Aber, Papa, Du sprichst ja gerade, als ob ich womöglich morgen schon heirathen soll! Ich denke gar nicht daran. Auch die Mutter fing gestern davon an. Wollt Ihr mich denn wirklich so gerne wieder fort haben?

So, so, also Deine Mutter hat schon mit Dir gesprochen, hm, hm! sagte der alte Baron, der natürlich nicht anders dachte, als daß die Baronin mit dem längst besprochenen und vorbereiteten Plan endlich hervorgetreten sei, und der die Zeit, den Tag vor Felix' Ankunft, auch ganz passend gewählt fand; so, so! hm, hm! Nun, und wie gefällt Dir denn Dein Cousin?

Wer? Felix? fragte Helene, die für den Augenblick in ihrer Unbefangenheit den Zusammenhang dieser Frage mit dem Vorgehenden nicht einmal ahnte.

Ja.

Er kommt mir vor, wie der Champagner, den wir heute Mittag tranken. Die ersten Tropfen schmeckten recht gut, als ich das Glas eine Weile hatte stehen lassen, fand ich den Wein sehr fade und abgeschmackt. – Aber Ihr habt mich doch nicht etwa für Cousin Felix bestimmt? fragte Fräulein Helene, der dieser Gedanke jetzt erst durch den Kopf schoß, mit großer Lebhaftigkeit.

Bewahre, das heißt: ganz wie Du willst; ich will sagen: es wird Deinem Willen in dieser Hinsicht nie ein Zwang auferlegt werden, erwiederte der alte Baron, der weder die Wahrheit sagen durfte, noch lügen wollte, mit ziemlicher Verwirrung.

Helene antwortete nicht, aber der angeregte Gedanke arbeitete in ihrem lebhaften Geiste weiter. Sie verglich das gestrige Gespräch, das sie auf ihrem Zimmer mit ihrer Mutter gehabt hatte, mit dem so eben geführten. Es bedurfte nicht einmal eines so scharfsinnigen Kopfes, als der ihre war, um den Zusammenhang zwischen diesen beiden Unterredungen und den Sinn der hingeworfenen Andeutungen zu entdecken. Ihr stolzes Gemüth empörte sich, wenn sie dachte, daß man, ohne sie zu fragen, ohne ihre Meinung einzuholen, im Voraus über ihr Schicksal entschieden und ihre Hand versprochen habe; daß dieser Felix, vor dem ihr reines keusches Herz sie instinctiv warnte, vielleicht schon in diesem Augenblick sie als die Seine betrachtete! Diese Gedanken nahmen sie so ganz in Anspruch, daß sie nicht einmal in das bewundernde: Ah, wie schön, wie herrlich! einzustimmen vermochte, in das die übrige Gesellschaft ausbrach, als man einige Minuten später aus dem Walde auf den Rand des hohen Ufers hinaustrat.

Die Sonne war soeben in das Meer gesunken und schien die in allen Schattirungen von Roth und Gold prangenden Wolken wie in einem Strudel hinter sich herzuziehen. Von dem Punkte, wo sie untergegangen war, schossen lichte Streifen durch die Wolken nach allen Seiten bis hoch hinauf in den durchsichtig blauen Himmel. Die See war nach dem Horizonte hin ein Feuermeer, und auf einzelnen höheren Wellen zitterten die goldenen Funken bis zum Strand herüber. Das hohe vielfach zerklüftete Kreide-Ufer und der Buchwald, der es krönte, waren von dem rothen Abendschein, wie von einer bengalischen Flamme angestrahlt. Rings umher tiefe feierliche Stille, nur unterbrochen von dem dumpfen Rauschen der Wogen unten auf den Kieseln des Strandes, und dann und wann von dem grellen Schrei einer Möve, die über den erregten Wassern flatterte.

Die Gesellschaft stand, in Betrachtung des herrlichen Schauspiels, das mit jedem Augenblicke wechselte, verloren, gruppenweis da. Oswald, dem die ewigen Ausrufe der Bewunderung, an denen sich besonders die Baronin und Felix überboten, nachgerade langweilig wurden, hatte sich etwas von den Uebrigen entfernt und sich auf die bloßliegende Wurzel einer mächtigen Buche gesetzt.

Haben Sie noch einen Platz für mich? fragte Helene, die ihm gefolgt war.

Ich räume Ihnen gern den meinigen ein, sagte Oswald aufstehend.

Nur für einen Augenblick; ich weiß nicht, der Spaziergang hat mich außergewöhnlich müde gemacht.

Sie sind heute Morgen vielleicht zu lange im Garten gewesen.

Nein, aber à propos, wie kommt es, daß ich Sie heute und auch schon gestern nicht gesehen habe?

Bloßer Zufall.

Das freut mich.

Weshalb?

Ich fürchtete, aufrichtig gestanden, ich hätte Sie aus dem Garten vertrieben; ich dachte, dies ewige Sichbegegnen mit derselben bewußten Person wäre Ihnen unleidlich geworden.

Sie denken in der That äußerst bescheiden von der bewußten Person.

Nein, spotten Sie nicht; ich dachte es im Ernst – ja und noch mehr: Sie sind seit vorgestern Abend sehr still und, wie mir vorkam, besonders kurz gegen mich. Sie haben mir auch gestern meine Literaturstunde, auf die ich mich so sehr freute, nicht gegeben. Bin ich vielleicht unwissentlich die Veranlassung –

Wie meinen Sie?

Nun, ich rede manchmal, was vielleicht hart und anmaßend klingt; wenigstens ist mir dieser Vorwurf oft gemacht worden; aber ich meine es wirklich nicht so –

Und Helene blickte mit ihren großen dunkeln Augen freundlich zu Oswald empor, der in Bewunderung ihrer Schönheit und in Erstaunen über diese plötzliche und unerklärliche Milde und Theilnahme verloren, vor ihr stand.

Was sehen Sie mich so seltsam an?

Daß sich so viel Güte hinter so viel Stolz verstecken kann!

Ist es denn die Welt werth, daß wir ihr unser Herz zeigen?

Eine sonderbare Frage in dem Munde eines so jungen Mädchens.

Freilich, wir dürfen ja über nichts nachdenken. Wir sind, wenn's hoch kommt, hübsche Puppen, mit denen man spielt und die man an den ersten Besten verschenkt, der merken läßt, daß er uns gern haben möchte.

Cousine, rief Felix, wir wollen zum Strande hinabgehen; wollen Sie mit?

Nein! sagte Helene, ohne sich nach dem Sprechenden umzuwenden.

Es ist eine reizende Partie; rief Felix.

Möglich; erwiederte das junge Mädchen kurz, ohne ihre Stellung zu verändern.

Felix kam zu dem Platze, auf dem sich Oswald und Helene befanden, herüber und sagte:

Aber, Helene, Sie werden doch diese erste Bitte, die ich an Sie richte, nicht abschlagen?

Weshalb nicht? erwiederte diese und der Ton ihrer Stimme klang eigenthümlich scharf und bitter; ich kann das Bitten und die Bittenden nicht leiden, das können Sie nicht früh genug lernen.

Haben Sie sich den Fuß vertreten, theuerste Cousine?

Weshalb?

Weil Sie so unbeweglich sitzen und in so schauderhafter Laune sind; erwiederte Felix lachend und ging ohne ein Zeichen, daß ihn das Benehmen Helenens irgend verletzt habe, zu den Uebrigen.

Wollen Sie sich nicht der Gesellschaft anschließen, Herr Doctor! fragte Helene, auf deren Wangen noch die Erregung der letzten kleinen Scene brannte, als jetzt die Andern den ziemlich steilen Weg, der zum Strand führte, hinabzusteigen begannen.

Sie wünschen allein zu sein?

Nicht doch; im Gegentheil, ich freue mich, wenn Sie hier bleiben wollen. Nach der geistreichen Unterhaltung von heute Mittag und heute Abend fühlt man das Bedürfniß, endlich einmal ein verständiges Wort zu sprechen. Sie haben mir noch immer nicht gesagt, ob ich Ihnen, ohne es zu wissen und zu wollen, durch irgend eine unvorsichtige Bemerkung vielleicht, weh gethan habe?

Nein, durchaus nicht. Ich habe vorgestern Abend eine Nachricht erhalten, die mich sehr betrübt. Erinnern Sie sich des Professor Berger von Ihrer Badereise nach Ostende vor drei Jahren?

Ei gewiß! wie könnte man den vergessen! Mir ist, als ob ich ihn gestern gesehen hätte, so deutlich steht er vor mir mit seinen geistvollen Augen unter den buschigen Brauen und stets mit einem Bonmot auf den Lippen. Was ist mit ihm? er ist doch nicht gar todt?

Nein, schlimmer als das – er ist wahnsinnig geworden.

Um Gottes Willen! der Professor Berger – dieses Bild der Klarheit und Geisteshoheit! Wie ist das möglich? Wissen es die Eltern schon?

Nein, und bitte, sagen Sie auch nichts; ich könnte es jetzt nicht ertragen, daß darüber gesprochen würde.

Sie hatten den Professor wohl recht lieb?

Er war mein bester, vielleicht mein einziger Freund.

Wie beklage ich Sie, sagte Helene, und auf ihrem schönen Antlitz war die Theilnahme, die sie empfand, deutlich zu lesen; ein solcher Verlust muß fürchterlich sein. Und Sie stehen hier ganz allein mit Ihrem Kummer und Keiner nimmt Theil an Ihrem Schmerz.

Ich bin das von jeher gewohnt gewesen.

Haben Sie denn keine Eltern, keine Geschwister, Verwandte?

Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war; mein Vater vor mehreren Jahren; Geschwister habe ich nie gehabt; Verwandte, wenn ich welche habe, nie gekannt.

Helene schwieg und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms Linien in den Sand.

Plötzlich hob sie den Kopf und sagte in einem Ton, der halb wie eine Klage und halb wie eine Herausforderung klang:

Wissen Sie, daß man Eltern und Geschwister und Verwandte haben und doch recht allein sein und sich recht einsam fühlen kann? Und Sie haben es noch immer gut; Sie sind ein Mann; Sie können für sich selbst handeln, während –

Das junge Mädchen brach ab, als fürchtete sie, sich von ihren Empfindungen zu weit hinreißen zu lassen. Sie stand auf und trat einige Schritte von Oswald weg dicht an den Rand des steilen Ufers. – Es war ein wundersam schönes Bild, diese stolze, schlanke Gestalt auf dem lichten Hintergrunde des goldenen Abendhimmels, der ihr herrliches Haupt wie mit einem Glorienschein umgab. Und wie ein Engel des Himmels erschien sie Oswald, in dessen krankes Herz ihre guten mitleidigen Worte wie milder Regen auf eine welke Blume gefallen waren. Und nun zum ersten Male erinnerte er sich wieder des Gespräches, das er am Tage seiner Zurückkunft von Saffitz mit dem Doctor gehabt hatte. Also wirklich! dies holde, herrliche Geschöpf sollte auch verkauft werden, wie Melitta verkauft worden war! Sie sagte es selbst! aus ihrem eigenen Munde hatte er es nur eben gehört: sie hatte keinen Freund! sie stand allein da in der Welt! sie konnte nicht für sich selbst handeln! Und sie hatte noch Mitleid und Trost für ihn, sie, die sie selbst des Mitleids und des Trostes – nein, thätiger Hülfe – so sehr bedurfte!

Da gellte von dem Strande, auf dem die Uebrigen jetzt angekommen waren, ein Schrei empor – und wie Helene, die sich vom Schwindel ganz frei wußte, noch einen Schritt näher an den Rand trat und sich über den Abhang beugte, ein zweiter, noch greller, noch schriller, noch angstvoller.

Um Himmelswillen, rief Helene; was kann denn da geschehen sein? Mir däucht, es war Bruno's Stimme. Lassen Sie uns hinab!

Der Weg zum Strande, der sich im Zickzack an den Kreidefelsen hinwand, war trotz seiner Steilheit im Nu von den jungen Leuten zurückgelegt. Als sie athemlos unten ankamen, sahen sie Bruno ohnmächtig, von Albert gehalten, während die Anderen rathlos umherstanden.

Holen Sie Wasser, schnell! sagte Oswald, Albert den Knaben abnehmend und diesem das Halstuch abknüpfend und die Kleider öffnend, woran noch Niemand gedacht hatte.

Wie ist denn dies gekommen? fragte Helene, die kalten Hände Bruno's in ihre Hände nehmend, und angstvoll in sein schönes blasses Gesicht starrend.

Es weiß es Niemand von uns, sagte die Baronin.

Es wird ein Anfall von Schwindel sein, meinte Felix.

Unterdessen hatte Oswald von dem Wasser, welches Albert – in Bruno's Hut – gebracht hatte, des Knaben Stirn und Schläfen und Brust reichlich benetzt. Helene erinnerte sich, daß sie ein Fläschchen Eau de Cologne bei sich führe, und half Oswald in seinen Bemühungen. Es gelang ihnen in Kurzem, den Ohnmächtigen wieder zu sich zu bringen. Er schlug langsam die großen Augen auf, sein erster Blick fiel auf Helene, die sich über ihn beugte.

Bist Du todt, ganz todt? murmelte er, die Augen wieder schließend.

Man glaubte, er habe den Verstand verloren.

Komm zu Dir, Bruno! sagte Helene, den Knaben mit leiser Hand über Stirn und Augen streichelnd.

Bruno ergriff diese Hand und drückte sie fest auf seine Augen, durch deren geschlossene Wimpern sich zwei große Thränen drängten. Dann richtete er sich mit Oswald's Hülfe vollends auf.

Mir ist wieder ganz wohl! sagte er; ich bin wohl gar ohnmächtig gewesen? Wie lange habe ich so gelegen?

Nur ganz kurze Zeit, sagte Oswald, Bruno's Gesicht mit seinem Taschentuche abtrocknend und den Anzug wieder in Ordnung bringend.

Du hast uns einen rechten Schrecken verursacht; was hattest Du denn nur? fragte die Baronin.

Ich weiß es nicht, antwortete der Knabe, dessen blasse Wangen plötzlich hohe Purpurgluth bedeckte; es kam so plötzlich. Danke, danke, ich glaube, ich kann jetzt mit Herrn Steins Hülfe ganz gut weiter kommen.

Wir wollen wieder umkehren, sagte die Baronin. Daß einem doch jedes, auch das bescheidenste Vergnügen durch irgend einen Unfall verleidet wird!

Man stieg langsam das Ufer wieder hinauf und trat, ziemlich einsilbig und verstimmt, den Rückweg durch den Wald an. Felix, der sich zu erkälten fürchtete, ermahnte zu größerer Eile; Oswald bemerkte trocken, er wolle die übrige Gesellschaft nicht aufhalten, man möge ihm indessen erlauben, mit Bruno langsam zu folgen. Helene erklärte, daß sie bei Bruno bleiben würde; der alte Baron, der bei dem ganzen Vorfall eine große, wenn auch thatlose Theilnahme an den Tag gelegt hatte, schlug vor, die Gesellschaft sollte sich in einen Vortrab und einen Nachtrab theilen, er selbst wolle bei dem letzteren bleiben.

Du wirst Dir den Schnupfen holen, lieber Grenwitz, sagte die Baronin; ich dächte, Du kämest mit uns.

Nein, ich werde bei den Anderen bleiben, sagte der alte Baron mit einer Bestimmtheit, die Alle überraschte.

Er gab seiner Tochter den Arm, blieb aber in der Nähe Oswald's und Bruno's, eine harmlose Unterhaltung, wie er sie liebte, mit ihnen führend und sich von Zeit zu Zeit nach des Patienten Befinden erkundigend.

Ich befinde mich wohl, ganz wohl, versicherte dieser ein Mal über das andere; doch fühlte Oswald, daß er sich fest auf seinen Arm stützte und daß seine Hände kalt waren.

Sie kamen, lange nach den Anderen auf dem Schlosse an. Der alte Baron wünschte gute Besserung, als Oswald sich sofort mit Bruno auf dessen Zimmer begab, wo er den Knaben sich sogleich zu Bett legen ließ.

Du bist kränker, Bruno, als Du zugeben willst, sagte er, sich zu ihm auf's Bett setzend, nicht wahr, Du hast Deine alten Schmerzen?

Ja, sagte Bruno, dessen Zähne zusammenschlugen und auf dessen Stirn der kalte Schweiß stand.

Oswald beeilte sich, die alten Hausmittel, wie jenes erste Mal, herbeizuschaffen; und es gelang seinen Bemühungen auch jetzt, das Uebel zu heben, wenigstens die Schmerzen in kurzer Zeit zu lindern.

Wirst Du auch mir nicht sagen, Bruno, was Dich so bewegt hat? fragte Oswald da.

Doch! sagte der Knabe, ich wollte es nur nicht in der Anderen Gegenwart, weil ich ihr albernes Gelächter schon im voraus hörte. – Ich war etwas hinter den Anderen zurückgeblieben und durch einen Vorsprung des Ufers von ihnen getrennt. Ich

dachte immer, Ihr würdet nachkommen und deshalb ging ich so langsam und blickte oft nach oben. Da sah ich plötzlich Helene ganz nahe an den Rand des Ufers treten, das an dieser Stelle wohl hundert Fuß und darüber lothrecht hinabfällt. Ich schrie laut auf in entsetzlicher Angst, da trat sie noch näher – bog sich sogar herüber – und da wurde es mir schwarz vor den Augen – nun und das Uebrige weißt Du ja. Aber ich höre Malte kommen. Gute Nacht, Oswald.

Gute Nacht, Du Wilder!

Oswald küßte seinen Liebling auf die Stirn und ging nachdenklich auf sein Zimmer. Er lehnte sich in das offene Fenster und schaute lange, in Sinnen und Brüten verloren, in den Garten hinab. Die Nacht war finster, nur hier und da schimmerte ein Stern auf Augenblicke durch den Wolkendunst. Manchmal rauschten die Bäume lauter auf, als sprächen sie ängstlich in einem wirren, unruhigen Schlaf; der Brunnen der Najade plätscherte dazwischen, leise und abgebrochen.

Dein Leben gleicht dieser Nacht, sprach Oswald bei sich: hier und da ein Stern, der so bald wieder verschwunden ist, und sonst Alles chaotisches Dunkel. Du hast recht, guter Berger: unser Leben ist ein hohles Nichts, und wer nur überhaupt einen Verstand zu verlieren hat, muß ihn darüber verlieren. Wolltest Du, daß Dir Dein Schüler sobald als möglich nachfolgen könnte, als Du mich hierher schicktest? Da bist Du nun an demselben Orte, wo Melitta ist und auch Oldenburg. Vielleicht siehst Du sie, wenn sie Arm in Arm an Deiner Zelle vorübergehen; vielleicht kommt Dir bei der Gelegenheit der Verstand wieder, den andere Leute bei dem Anblick verlieren würden. Ich könnte ja auch eine kleine Reise nach Fichtenau machen, meine guten Freunde zu besuchen; wer weiß? vielleicht gefällt mir der Ort so sehr, daß ich gleich da bleibe.

Wie geht es Bruno? tönte eine Stimme aus dem Garten herauf. Es war Helene's Stimme. Oswald sah ihr helles Gewand durch das Dunkel heraufschimmern.

Ich danke, gut! antwortete er hinab.

Schlafen Sie wohl!

Und das helle Gewand verschwand in den Büschen.

Nein, das Leben ist mehr als ein hohles Nichts, murmelte Oswald, indem er das Fenster schloß; hätte Berger dieses Mädchen gesehen, er hätte wieder an das Leben geglaubt. Und doch! er hat sie ja gesehen, gesehen und bewundert und besungen, und ist doch wahnsinnig geworden! Oede Alles und dunkel und gespenstisch und in dem öden gespenstischen Dunkel eine holde, freundliche Stimme, die uns schlafen gehen heißt.

Sechsundvierzigstes Capitel

Eine Zeit fieberhafter Spannung war für die vor Kurzem noch so stille Gesellschaft auf Schloß Grenwitz hereingebrochen. Bruno's plötzlicher Unfall, von dem er sich übrigens schon am nächsten Tage erholte, hätte für den Scharfsichtigeren ein Symptom von dem sein können, was da Alles unter der glatten Hülle geselliger Höflichkeit und peinlich genau beobachteter Formen in der Tiefe gährte und kochte: geheime Liebe und tief versteckter Haß! Feindschaften unter der Maske trefflichsten Einvernehmens und guter Kameradschaft! herzliche Sympathieen, die sich unter dem Anschein von Gleichgültigkeit, ja Abneigung verbargen! Selbst die Physiognomie des äußeren Lebens war verändert. Die tiefe, fast beängstigende Stille, die sonst in dem weiten Raume herrschte, welchen der Schloßwall einschloß, wurde jetzt gar vielfach gestört. Baron Felix mochte es sich nicht versagen, wenigstens einer oder der andern seiner gewohnten Beschäftigungen in der Einsamkeit von Schloß Grenwitz nachzuhängen. Am Tage nach seiner Ankunft waren seine beiden schönen Reitpferde glücklich angelangt, und so konnten bei den weiteren Ausflügen wenigstens zwei der Herren beritten gemacht werden. In einem entlegeneren Theile des Gartens war unter seiner Leitung ein kleiner Schießstand hergerichtet worden, und in den späteren Nachmittagsstunden ertönte jetzt sehr oft (zu der Baronin geheimen Entsetzen) der kurze, scharfe Knall gezogener Pistolen bis in die geheiligte Stille der nach dem Garten gelegenen Wohngemächer. Oswald, Albert und selbst Bruno waren in keinem Augenblick vor Felix sicher, der fortwährend auf der Jagd nach einem Gefährten zu dieser oder jener Unternehmung war, und stets so lange bat und quälte, bis man sich wohl oder übel seinen Wünschen fügte.

Mit der Aenderung seines Lebens, über die er mit der Baronin so viel correspondirt hatte, war es ihm keineswegs Ernst. Das Garnisonsleben war ihm langweilig geworden; die Schaar der Gläubiger immer dringender und seine Situation der Art, daß, als er betreffenden Orts um längeren Urlaub einkam, man ihm zu verstehen gab, er thäte, wenn seine Gesundheit wirklich so angegriffen sei, vielleicht besser, sogleich seinen Abschied zu nehmen. Gerade in dieser kritischen Zeit machte ihm die Baronin von Grenwitz ihre Anerbietung betreffs Helene's. Felix, der hier einen Ausweg fand, an den er noch gar nicht gedacht hatte – denn Anna-Maria's Gemüthlosigkeit in Geldangelegenheiten war ihm aus Erfahrung bekannt – griff mit beiden Händen zu, obgleich eine Heirath nicht eben nach seinem Geschmacke war. Indessen war er bereit, sich auf jeden Fall auch in diese Bedingung zu fügen. Wie angenehm war er deshalb überrascht, als ihm in seiner Cousine, die er bis dahin nicht gekannt hatte, ein Wesen entgegentrat, schöner, anmuthiger, als irgend eine der Damen, die er bisher mit seiner Neigung beehrt hatte – ein Wesen, das, die Seine zu nennen, den Stolzesten der Stolzen entzückt haben würde. So waren denn nicht zwei Tage vergangen, als Felix für seine schöne Cousine in seinem Herzen eine Leidenschaft fühlte, die freilich, genau betrachtet, bloße Eitelkeit war, ihm selbst aber wie ein Wunder vorkam; und so konnte er denn nicht müde werden, die Baronin von seiner Liebe zu unterhalten und sich auch gegen die Uebrigen, besonders Oswald, über die Herrlichkeit eines auf das Höchste gerichteten Strebens auszulassen. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß seine Leidenschaft erwidert werde. Hatte er nicht bis jetzt noch überall reüssirt? war sein Glück bei den Frauen nicht sprüchwörtlich selbst unter den Kameraden, von denen sich doch so ziemlich jeder Einzelne für einen Paris oder Adonis hielt? und hatte er nicht schon so oft erfahren, daß sich die Liebe hinter dem Anschein der Gleichgiltigkeit, ja der Abneigung verbirgt? Freilich trieb seine schöne Cousine die Komödie ziemlich weit; freilich behandelte sie ihn mit einer Kälte, einer Geringschätzung, die manchmal geradezu beleidigend war – aber er ließ sich dadurch in dem felsenfesten Glauben an seine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit nicht beirren und verspottete die Baronin, wenn diese ihn wieder und wieder zur Vorsicht ermahnte. Denn Anna-Maria sah, da keine persönliche Eitelkeit die Klarheit ihres Blickes trübte, in dieser Angelegenheit viel schärfer als Felix. Sie, die an sich selbst die Energie des Charakters so hoch schätzte, mußte im Stillen die consequente Gleichmäßigkeit in Helenens Betragen, die bescheidene Festigkeit, mit der sie ihre Ansichten aussprach und behauptete, bewundern. Es war ein Etwas in der stolzen Schönheit ihrer Tochter, wovor sie sich unwillkürlich beugte.

Helene war nach jenem Abend am Strande wo möglich noch stiller und zurückhaltender geworden. Sie flüchtete, wenn sie irgend konnte, in die Einsamkeit ihres Zimmers. War sie in der Gesellschaft, schloß sie sich am liebsten an ihren Vater an, oder suchte es auf den Spaziergängen so einzurichten, daß Bruno ihr Begleiter war. Sie hatte stets einen kleinen Dienst für ihn: bald mußte er ihr den Hut, bald die Mantille tragen; bald hatte er ihr eine Blume zu pflücken, die auf der andern Seite des Grabens wuchs; bald ihr an einer steileren Stelle des Ufers die Hand zu reichen. Bruno unterzog sich dem Dienste mit einem milden Ernst, der freilich den Spott des Baron Felix zuweilen herausforderte, für Jeden aber, der sich für den Knaben interessirte, und die wilde Unbändigkeit seiner Natur kannte, etwas unendlich Rührendes hatte. Sein Wesen schien, sobald Helene's Blick auf ihm ruhte, wie umgewandelt. Er war dann sanft und freundlich, dienstfertig und zuvorkommend; ein Wort von ihr, ein Wink nur ihrer langen, dunklen Wimper genügte, ihn, wenn er sich ja einmal von seiner alten Heftigkeit hinreißen ließ, sofort zu besänftigen. Diese Heftigkeit machte sich vor allem gegen Felix Luft, gegen den er einen Haß und eine Verachtung empfand, die er sich kaum zu verbergen bemühte. Stets hatte er ein höhnisches, bitteres Wort für ihn in Bereitschaft; die mancherlei kleinen Blößen, die jener sich in seiner maßlosen Eitelkeit der Gesellschaft gegenüber gab, fanden in Bruno einen unerbittlichen, grausamen Verfolger, der um so lästiger war, als seine Jugend ihn nicht als ebenbürtigen Gegner erscheinen ließ, gegen den man nicht mit anderen Waffen kämpfen konnte, als höchstens mit einem von oben herab geführten Hiebe, der meistens ganz vortrefflich parirt wurde. Felix selbst empfand dies einigermaßen, und wenn ihm der Knabe auch nicht gefährlich erschien, so war er ihm doch im hohen Grade unbequem. Wo Helene war, da war auch Bruno, und traf es sich ja einmal auf den Spaziergängen, daß sie allein zurückgeblieben war, und war Felix eben im besten Zuge, von der Liebe im Allgemeinen – denn weiter war er noch nicht gekommen – zu sprechen, so gesellte sich wie auf Verabredung Bruno zu ihnen, und Felix, der von Botanik und Mineralogie nicht das Mindeste verstand, blieb nichts übrig, als die Beiden ihren naturwissenschaftlichen Bestrebungen zu überlassen. Wie würde er sich gewundert haben, wenn er gehört hätte, daß diese Verhandlungen abgebrochen wurden, sobald er aus dem Gehörkreise war; daß Bruno, die Blume, über die sie so eben gesprochen hatten, zerraufend, durch die Zähne sagte: Sieh, Helene, so zerreißest Du mein Herz, wenn Du schwach genug bist, diesen Felix zu lieben! – Das alte Lied, Bruno? – Ja, das alte Lied; und ich will Dir es singen, so lange ich noch Athem in der Brust habe: Meinst Du, ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn Tante und Felix die Köpfe zusammen stecken und von Zeit zu Zeit verstohlen auf Dich blicken? O! mein Auge ist scharf, und mein Ohr ist es nicht minder. Gestern, als ich an ihnen vorüberstrich, meinte der saubere Herr: sie wird schon zur Vernunft kommen! sie – das bist Du: und zur Vernunft kommen, heißt: sie wird ihren Stolz so weit vergessen, und einen solchen jämmerlich eitlen Pfau, wie ich bin, heirathen. – Aber wie kommst Du nur auf diesen Gedanken, Bruno? – Nun, ich dächte, sie lägen nahe genug; und Dir gehen sie auch durch den Kopf, oder weshalb blicktest Du oft so in Dich versunken vor Dich hin und dann plötzlich zu Felix oder zu Oswald hinüber, als ob Du sie mit einander verglichest. Ja, vergleiche sie nur immer! Du wirst dann den Unterschied entdecken zwischen einem Manne und – einem Affen. – Du hast wohl Herrn Stein sehr lieb, Bruno? Ist er denn immer so still und traurig, wie jetzt? – Bewahre, er kann so ausgelassen sein, wie ein Füllen, ich weiß nicht, was ihm fehlt, oder ich weiß es wohl, aber – Aber? – Aber ich darf es nicht sagen; oder ja, Dir darf ich es sagen, denn Du bist nicht wie die anderen Menschen. Mir ist immer, als müßtest Du mir in's Herz sehen dürfen, wie sie sagen, daß uns Gott in's Herz sieht. – Bruno, ich will nicht, daß Du ein Geheimniß verräthst. – Ich verrathe nichts, denn Oswald hat mir nie ein Wort gesagt. Ich weiß nur, daß er so still und traurig ist, seitdem Tante Berkow fort ist. Es wurde doch heute Mittag darüber gesprochen, wie lange sie wohl noch fortbleiben, ob sie wohl nach Herrn von Berkow's Tode wieder heirathen würde, und da sah ich, wie Oswald sich entfärbte und während des ganzen Gespräches die Augen nicht von seinem Teller hob. Und dann, als Felix meinte, daß Baron Oldenburg, der ja auch, wie er ganz zufällig durch einen Freund erfahren, nach Fichtenau gereist sei, vielleicht darüber nähere Auskunft geben könnte, hob er schnell, mit einem zornigen Blick zu Felix hinüber, den Kopf und öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte; aber er sagte nichts und biß sich in die Lippen; und heute Abend ist er noch ganz besonders verstimmt. – Und das Alles heißt? – Das Alles heißt, daß Oswald Tante Berkow sehr lieb hat und daß er nicht mag, wenn über sie gesprochen wird; eben so wenig wie ich es mag, wenn Tante und Felix über Dich sprechen. – Ach, Du weißt ja nicht, was Du redest. – Natürlich, das ist immer das Ende vom Liede; ich weiß nichts; ich bin ein dummer Junge; heisa, heisa, hopsasa! ich habe keine Ohren zu hören, keine Augen, zu sehen? warum? weil ich erst sechszehn Jahre alt bin und mein Bart noch einiges zu wünschen übrig läßt.

Ob Helene über diese Mittheilung im Stillen nicht doch eine Art von Enttäuschung empfand, ob sie die Melancholie in Oswald's großen blauen Augen nicht doch anders erklärt hatte, – darüber hätte sie selbst keine Rechenschaft zu geben vermocht; auf jeden Fall aber wurde das Interesse, welches sie seit dem Abend am Strande für Oswald zu empfinden begonnen, bedeutend erhöht. Sie fing an, ihn genauer als vorher zu beobachten; sie war aufmerksam auf jedes seiner Worte; sie sang und spielte vorzugsweise gern die Lieder und Musikstücke, die seinen Beifall hatten; sie freute sich, als er wieder, wie früher, des Morgens in den Garten kam, und empfand es mit einiger Genugthuung, daß der jetzt so Schweigsame bei diesen Gelegenheiten stets gute freundliche Worte für sie hatte und auf jedes von ihr angegebene Thema, bald ernst, bald launig, immer aber mit dem herzlichen Ton eines älteren Bruders, der einer lieben Schwester gern von seinem reicheren Wissen mittheilt, einging. Und wenn das stolze, für alles Schöne und Edle tief empfängliche Herz des jungen Mädchens sich dem Zauber von Oswald's Persönlichkeit nicht zu entziehen vermochte, so war es auf der andern Seite Opposition gegen die ihr immer deutlicher werdenden Pläne ihrer Mutter, was sie gerade jetzt an einem Manne, über welchen ihr aristokratisches Auge doch sonst wohl weggeblickt hätte, ein höheres Interesse nehmen ließ. Die verschiedenartigsten Empfindungen bekämpften sich in ihrem Herzen, wie oft an einem tiefblauen Sommerhimmel leichte graue Wolken durcheinander treiben und fließen, bis der Sturm in seiner Vollgewalt hereinbricht.

Siebenundvierzigstes Capitel

Die Baronin hatte dem von Felix geäußerten Rath, sich an dem geselligen Leben des Adels der Umgegend lebhafter zu betheiligen, nach reiflicher Ueberlegung folgen zu müssen geglaubt, und es dauerte nicht lange, als fast kein Tag verging, an welchem nicht die Familie entweder in die Nachbarschaft gebeten war, oder, was noch häufiger geschah, selbst Besuch zu empfangen hatte. Man schien entzückt, daß Schloß Grenwitz, früher wegen seiner Gastlichkeit mit Recht weit und breit berühmt, wieder der Vereinigungspunkt der geschäftigen Müßiggänger werden sollte: man billigte höchlichst Anna-Maria's Entschluß, das klösterlich stille Leben mit einem neuen glänzenderen und einer so alten ruhmreichen Familie würdigeren zu vertauschen; man sagte ihr so viele Schmeicheleien über ihre Unterhaltungsgabe, über ihr Talent, große Gesellschaften zu arrangiren, daß sie die Kosten, welche diese ihr ganz ungewohnte Gastfreundschaft veranlaßte, vor ihrem eigenen Gewissen durch die unumgängliche Nothwendigkeit der Maßregel, so gut es gehen wollte, zu entschuldigen suchte.

Oswald hatte auf diese Weise schon mehrere der ihm vom Balle in Barnewitz her bekannten Gesichter wieder gesehen; aber noch keines von denen, die ihm ein vorzüglicheres Interesse abgewonnen hatten. Es war ein eigenthümlicher Zufall, daß an einem Nachmittage, theils gebeten, theils ungebeten, sich beinahe Alle zusammenfanden, die damals für ihn mehr oder weniger merkwürdig geworden waren. Mit sehr verschiedenen Empfindungen sah er nach und nach Barnewitz mit seiner Gemahlin Hortense, Cloten, den Grafen Grieben und Andere eintreten und sein Interesse wurde geradezu ein peinliches, als zuletzt ganz unerwartet noch ein Wagen vorfuhr, aus welchem Adolph und Emilie von Breesen und die Tante Breesen stiegen, deren zahnlosen Mund und spitze Zunge er noch sehr wohl in Andenken hatte.

Hierher, mein feiner, junger Herr! rief die alte Dame, als sie nach den ersten Begrüßungen ihn erblickte; warum sind Sie nicht uns zu besuchen gekommen, wie Sie versprochen hatten? habe ich Sie deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muster eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß, was er alten Damen schuldig ist, vorgestellt? habe ich deshalb Ihre Aussprache des Französischen meiner naseweisen Nichte als mustergültig gerühmt? Schämen Sie sich! ich beehre Sie mit meiner Ungnade!

Ich verdiene diese durchaus nicht, gnädige Frau! sagte Oswald. Ich konnte nicht kommen, wie ich wollte, und gesetzt, ich hätte wirklich eine Unterlassungssünde begangen, so bin ich doch wahrlich, auch ohne Ihre Ungnade schwer genug gestraft.

Ja, ja – schöne Redensarten, daran fehlt es Ihnen nicht. Sind Sie auch im Herzen nicht weniger unartig, wie die andern jungen Leute, so sind Sie doch manierlicher, und schon deshalb muß ich Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand; und nun sehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig werden, ohne daß sie Ihnen die hübschen Augen auskratzt.

Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den Rücken und ließ ihn allein mit der hübschen Emilie, die, ohne die Augen von dem Boden zu erheben, mit leicht gerötheten Wangen und unruhig wogendem Busen vor ihm stand.

Oswald war fest entschlossen, das kindische und doch gefährliche Spiel mit dem leidenschaftlichen Mädchen nicht wieder zu beginnen. Er wünschte und hoffte, daß sie selbst zur Besinnung gekommen sei, und er sah es deshalb nicht ungern, als Fräulein Emilie einige gleichgiltige Worte, die er an sie richtete, scheinbar unbefangen beantwortete und sich sodann zu einer Gruppe junger Mädchen gesellte, die sich um Helene geschaart hatte, den modischen Schnitt eines weißen Kleides zu bewundern, das sie heute zum ersten Mal trug.

Auch seine Begegnung mit Herrn von Cloten war weniger unerquicklich, als er nach ihrem letzten unverhofften Zusammentreffen auf Oldenburg's Solitude erwarten konnte. Der junge Edelmann that sehr erfreut, ihn nach so langer Zeit wieder zu sehen, erkundigte sich angelegentlich nach Oldenburg, erinnerte an das Pistolenschießen in Barnewitz, und fragte, ob Oswald ihm heute Revanche geben wollte.

Oswald war einigermaßen gespannt zu sehen, wie sich Cloten und Barnewitz gegen einander benehmen würden. Zu seiner nicht geringen Verwunderung schien zwischen diesen beiden Herren das vollkommenste Einvernehmen zu herrschen. Oldenburg hatte sich in dieser Angelegenheit als ein ausgezeichneter Diplomat bewiesen. Er hatte Jedem der Beiden eingeredet, daß der Andere nach seinem Blute lechze, und so die beiden Männer, die, nicht ohne alle Ursache, das Leben, welches sie führten, viel zu behaglich fanden, um ohne gewichtige Veranlassung daraus zu scheiden, für seine Vermittelungsvorschläge geneigt gemacht. Herrn von Barnewitz hatte er Cloten's Liebeshandel mit Hortense als eine ganz unschuldige Tändelei dargestellt, und geschworen, wie er überzeugt sei, daß dieser junge Mann mit jener Dame zu keiner Zeit einem intimeren Verhältniß gestanden habe, als viele andere Bekannte, zum Beispiel er selbst. Dem jungen ländlichen Don Juan dagegen hatte er den Rath gegeben, in Barnewitz' Gegenwart ein paar Mal ungezogen gegen Hortense zu sein, und vor Allem sich irgend eine der Damen ihres Cirkels auszuwählen, um ihr möglichst auffallend den Hof zu machen. Cloten, äußerst froh, sich so leichten Kaufs aus dem fatalen Handel zu ziehen, hatte Oldenburg's Rath pünktlich befolgt und von Stund an begonnen, Fräulein von Breesen in seiner läppischen Weise zu huldigen. Er war indessen bisher in seinen Bemühungen sehr wenig glücklich gewesen, hatte im Gegentheil viel Spott und Hohn aus dem Munde des übermüthigen Mädchens über sich ergehen lassen müssen. Seine Liebesversicherungen wurden mit ironischen Bemerkungen zurückgewiesen und seine Ritterdienste mit einer Gleichgiligkeit entgegen genommen, die ihn, wenn es ihm wirklich Ernst gewesen wäre, zur Verzweiflung gebracht haben würden. Und es war ihm, wie es in solchen Dingen zu gehen pflegt, nach und nach wirklich Ernst mit der anfänglich so leichtsinnigen Tändelei geworden. Fräulein Emilie war so reizend selbst in ihrem Uebermuth, so liebenswürdig selbst in ihrer Ungezogenheit, daß der unglückliche Vogelsteller sich von Tag zu Tag tiefer in die Netze, die er selber gelegt hatte, verstrickte, und jetzt Alles darum gegeben haben würde, ein freundliches Wort aus dem angebeteten Munde zu erhalten. Wie überrascht war er deshalb, wie außer sich vor Entzücken, als ihm Fräulein Emilie, die er kaum noch anzureden wagte, heute mit der größten Freundlichkeit entgegen kam, ihn auf dem Spaziergang, den man durch den Garten machte, zum Begleiter erwählte, ihren Sonnenschirm von ihm tragen, sich Blumen von ihm pflücken, ein im Saale vergessenes Taschentuch von ihm holen ließ, mit einem Worte, scheinbar Alles that, die ihm in den letzten Wochen zugefügten Beleidigungen in einer Stunde wieder gut zu machen.

Cloten war überglücklich; seine wasserblauen Augen strahlten; er drehte ohne Aufhören seinen kleinen blonden Schnurrbart und lächelte dumm vergnügt, so oft ihm eine Aeußerung, wie: nun, Cloten, kann man gratuliren? oder: recht so, Cloten, nur nicht ängstlich! und ähnliche in's Ohr gezischelt wurden.

Oswald wußte nicht, was er von dieser Komödie denken sollte. Im Anfang glaubte er, Emilie wolle ihm nur zeigen: sieh! es fehlt mir nicht an Bewunderern. Er konnte nicht annehmen, daß ein so geistvolles und – mochten ihre Fehler sein, welche sie wollten – immerhin liebenswürdiges, und jedenfalls sehr hübsches Mädchen sich ernstlich für einen so faden Menschen, wie Cloten, interessiren könnte. Als der Abend aber hereinbrach, die Gesellschaft sich aus dem Garten allmälig in die nach dem Rasenplatz führenden Zimmer zurückzog und zuletzt nur noch Emilie mit Herrn von Cloten unermüdlich draußen promenirten, mußte er sich wohl der Meinung der Gesellschaft, daß die Verlobung zwischen Cloten und Fräulein von Breesen nicht mehr lange auf sich warten lassen werde, anschließen. Es that ihm leid um das Mädchen, daß sich so wegwerfen konnte; dann aber dachte er wieder: Du brauchtest Dir wahrlich wegen eines so leichtsinnigen Geschöpfes keine so großen Gewissensbisse zu machen. Sie sind im Grunde Eines des Andern vollkommen würdig. Ob sich dieser Cloten nicht schämt, vor den Augen der Frau, die er liebte, ein solches Schauspiel aufzuführen?

Er wandte sich zu Hortense von Barnewitz, die in einer Fensternische des Saales ganz allein stand. Die hübsche Blondine schien, sehr gegen ihre Gewohnheit – denn sie war eine der gefeiertsten und verwöhntesten Damen – diese Vernachlässigung von Seiten der Herren heute gern zu sehen.

Werden Sie heute nicht tanzen, gnädige Frau? fragte Oswald.

Soll denn getanzt werden? antwortete Hortense, wie aus einem Traume erwachend.

Gewiß. Die Baronin läßt das Klavier in den Saal schaffen. Herr Timm hat sich erboten, zu spielen; ich wollte mir erlauben, die gnädige Frau um den ersten Tanz zu bitten, im Fall Sie sich noch nicht versagt haben.

Ich mich versagt? Bewahre! die Zeiten sind vorüber, wo ich auf Wochen voraus zu jedem Tanz engagirt war. Ich überlasse das jetzt den Jüngeren.

Sie belieben zu scherzen.

Keineswegs. Sie sind der Erste, und weil ich fürchte, daß Sie auch der Letzte sein werden, will ich lieber gar nicht anfangen, sondern Sie bitten, sich ein wenig zu mir zu setzen, und die Zeit, die Sie mit mir vertanzen wollten, in aller Ruhe zu verplaudern. Ist es Ihnen recht?

Die Frage beantwortet sich selbst, sagte Oswald, Hortense einen Stuhl herbeiziehend.

Setzen Sie sich auch! sagte diese. Ich höre, Herr Doctor, Sie haben ein großes Talent zur Satyre; lassen Sie mich eine Probe dieses Talentes hören; an Stoff kann es Ihnen ja nicht fehlen, wenn Sie von unserm Standpunkt aus einen Blick auf die Gesellschaft hier im Saale werfen. Welche von den Damen halten Sie für die hübscheste?

Sie meinen die am wenigsten häßliche?

Sie Spötter! Freilich, außer einigen erträglichen Toiletten ist nicht viel Hübsches wahrzunehmen. Wie finden Sie Helene Grenwitz?

Ich finde sie gar nicht, trotzdem ich sie überall mit den Blicken suche.

Dort rechts von der Thür. Sie spricht mit ihrem Cousin Felix. Wie steht denn die Angelegenheit? hat Felix sich noch immer nicht erklärt?

Jedenfalls nicht gegen mich.

Das glaube ich gern. Aber glauben Sie, daß er sich erklären wird?

Nein.

Weshalb?

Weil ich die Sache für unerklärlich halte.

Schwärmen Sie etwa für Fräulein Helene?

Ganz unendlich.

Sie interessiren sich überhaupt wohl besonders für junge Mädchen, die eben aus der Pension kommen?

Nur, wenn sie wirklich interessant sind.

Nicht immer; oder Sie wollen doch nicht behaupten, daß Emilie Breesen dies Beiwort verdient?

Ich habe noch nie für Fräulein von Breesen geschwärmt.

Desto mehr die Kleine für Sie. Lisbeth von Meyen ist die Vertraute von Emiliens Liebeskummer geworden und Lisbeth hat natürlich die ganze Sache ausgeplaudert.

Aber das ist ja unmöglich!

Beruhigen Sie sich nur! Sie sehen ja, das gute Kind hat sich schnell genug wieder getröstet. Heute schwärmt sie für Cloten; ein ander Mal wird sie für einen Andern schwärmen. Die Kleine hat Talent, sie kann es noch weit bringen. Mich dauert nur der arme Cloten.

Aber weshalb begiebt er sich in die Gefahr?

Freilich, und noch dazu ohne seinen Mentor.

Wer ist das?

Baron Oldenburg. Er wird den Rath seines edlen Freundes mißverstanden haben und die kleine Emilie aus purem Mißverständniß heirathen.

Sie belieben in für mich unergründlichen Räthseln zu sprechen, gnädige Frau.

Ich bitte um Verzeihung. Sagen Sie, Sie sind wirklich, wie die Fama sagt, in der kurzen Zeit der Busenfreund des Barons geworden.

Die Fama hat in diesem Falle, wie stets, aus der Mücke einen Elephanten gemacht.

Glauben Sie, daß ich es gut mit Ihnen meine? sagte Hortense und sie blickte Oswald voll in die Augen.

Ich habe keinen Grund, das Gegentheil anzunehmen; antwortete dieser, den das Gespräch, welches er ganz absichtslos angeknüpft hatte, auf eigenthümliche Weise zu interessiren begann.

So folgen Sie meinem Rath: hüten Sie sich vor dem Baron, wie vor Ihrem schlimmsten Feind!

Weshalb?

Weil er falsch ist bis in das innerste Herz hinein.

Sie kennen den Baron genau?

Leider!

Und – verzeihen Sie mir, wenn ich eine so schwere Beschuldigung eines Mannes, den ich – ich gestehe es – bis jetzt hoch geachtet habe, nicht sofort zu glauben vermag – haben Beweise Sie von des Barons Falschheit?

Tausend für einen.

Geben Sie nur einen.

Es bleibt unter uns, was ich Ihnen erzählen werde?

Das verspreche ich.

So hören Sie. Sie kennen meine Cousine Melitta. Nun, sie hat ihre Schwächen wie wir Alle, aber sie ist doch im Grunde eine charmante Frau, die ich sehr lieb habe, und um die es mir leid thun sollte, wenn sie sich, wie es den Anschein hat, wieder in dieselben schlechten Hände giebt, aus denen ich sie mit so viel Mühe glücklich erlöst zu haben glaubte. Wenn Melitta nicht so gut ist, wie sie sein könnte – Oldenburg allein hat es auf dem Gewissen. Er hat ihr, als sie noch ein junges Mädchen war, mit seinen tollen Ideen den Kopf verdreht, daß sie zuletzt nicht mehr Recht von Unrecht unterscheiden konnte. Er hat, als sie endlich die ausgezeichnete Partie mit Herrn von Berkow gemacht hatte, das ganze, im Anfang so schöne Verhältniß zerstört; und wenn Berkow zuletzt vor Eifersucht toll geworden ist, es kann Niemand verwundern, der es, wie ich, mit angesehen hat, wie es die Beiden trieben. Endlich gelang es mir, bei Melitta auszuwirken, daß sie Oldenburg auf einige Zeit wenigstens fortschickte. Er ging; aber, als wir vor ein paar Jahren Italien bereisten, stellte sich Oldenburg wieder ein – ob zufällig, ob von Melitta herbeigerufen – ich lasse es unentschieden. Nach ihrem Benehmen sollte ich freilich das Letztere vermuthen. Das alte Lied begann von Neuem. Einsame Promenaden, Austausch von Liebesschwüren, wobei sie sich selbst durch die Anwesenheit dritter Personen nicht geniren ließen – mit einem Worte: es war für Jemand, die, wie ich, etwas streng in solchen Sachen denkt und die, wie ich, Melitta noch dazu so aufrichtig liebte, ein recht häßliches Schauspiel. Vergebens bat und beschwor ich Melitta, an ihren kranken Gemahl, an ihr Kind zu denken. Ich predigte tauben Ohren. Da entschloß ich mich zu einem verzweifelten Mittel. Um ihr Oldenburg's Treulosigkeit – von der mir von anderen Seiten die fabelhaftesten Dinge erzählt waren – zu beweisen, ließ ich mich herbei, ihn glauben zu machen, ich selbst interessire mich für ihn. Es gehörte dazu nicht viel, denn der Baron ist eben so eitel, wie er verrätherisch und zügellos in seinen Leidenschaften ist. Bald verfolgte er mich jetzt mit seinen Huldigungen – natürlich, ohne sich Melitta gegenüber zu verrathen. Dabei sprach er so lieblos, so schlecht von meiner armen Cousine, daß ich kaum im Stande war, die Maske, die ich vorgenommen hatte, festzuhalten. Und doch mußte ich es, bis Oldenburg von seiner Leidenschaft hingerissen, blind in das Netz rannte, das ich ihm stellte. Ich wußte es so einzurichten, daß er – es war im Garten der Villa Serra di Falco bei Palermo – mir eine feurige Liebeserklärung machte, während Mellitta sechs Schritte davon hinter einem Myrthengebüsche stand. Die Arme! es war eine schmerzliche Operation, aber ich konnte ihr nicht anders helfen. Oldenburg war natürlich am andern Morgen verschwunden. Ich suchte Melitta zu zerstreuen, so gut es ging, und ich muß gestehen, sie zeigte sich gefaßter, als ich nach einer so schmerzlichen Enttäuschung, einer so tiefen Demüthigung für möglich gehalten hätte. Ich hoffte, daß diese grausame Lehre, die sie empfangen, ihr ein für alle Mal über Oldenburg die Augen geöffnet hätte; hoffte es um so mehr, als der Baron ihr durch mehrjährige Abwesenheit Zeit genug zur Besinnung ließ. Da plötzlich taucht er vor einigen Wochen ganz unerwartet wieder auf. Mir ahnte sofort nichts Gutes – denn das Erscheinen dieses Mannes ist immer von etwas Außergewöhnlichem begleitet. Wie er es angefangen hat, sich wieder Melitta's Gunst zu erwerben, wie es möglich ist, daß Melitta schwach genug sein konnte, ihm wieder ihre Gunst zu gewähren – ich weiß es nicht – denn Beide haben in einem hohen Grade das Talent, ihre Handlungen den Blicken der Menschen zu entziehen. So viel steht fest: eine Aussöhnung – von der wir bei einem so erfahrenen Paare annehmen müssen, daß sie eine vollständige war – kam zu Stande, und damit die Feier dieser Aussöhnung möglichst geheim bleibe, machen sie eine gemeinschaftliche Badereise; und wohin? nach Fichtenau, dem Orte, wo der Gemahl Melitta's seit sieben Jahren krank liegt! Wahrlich, ich bedauere Melitta. Wenn sie darauf ausging, ihren Ruf zu ruiniren, sie hätte es hier bequemer haben können. Denn gesetzt auch, Berkow's tödtlilche Krankheit ist nicht fingirt, was hat denn Oldenburg, der diese Krankheit jedenfalls mit veranlaßt hat, dabei zu thun? und glaubt denn Melitta, daß der Baron sie nach dem Tode Berkow's heirathen wird? Du lieber Himmel! wenn Oldenburg alle Frauen heirathen sollte, denen er in seinem Leben Liebe geschworen, er müßte sich ein Serail anlegen, in welchem alle Stände von der Herzogin bis zur Kammerjungfer, alle Nationen und ich glaube auch alle Racen vertreten wären. Aber mein Gott, was ist Ihnen? Sie sind ja ganz blaß geworden! Sind Sie nicht wohl?

Es ist nur die übergroße Hitze, sagte Oswald, sich erhebend; ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie so plötzlich verlasse. Ich will versuchen, ob die frische Abendluft mich wieder herstellt.

Er machte Hortense eine sehr förmliche Verbeugung und entfernte sich, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Nun, was bedeutet denn das? fragte diese, indem sie dem Forteilenden verwundert nachsah. Hat meine vortreffliche Cousine auch hier eine Eroberung gemacht? und habe ich, ohne es zu wissen und zu wollen, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen? Ich glaube, aus dem jungen Menschen wäre etwas zu machen. Freilich – ich muß jetzt etwas vorsichtig sein; Barnewitz ist nach der letzten Affaire mit Cloten ein wahrer Othello – da kommt ja das Ungethüm – nun, lieber Barnewitz, siehst Du Dich auch einmal nach Deiner verlassenen kleinen Frau um? ich sitze hier nun schon den ganzen Abend und schmachte nach Dir.

Warum tanzt Du denn nicht?

Meinst Du, daß es mir Vergnügen macht, wenn Du nicht dabei bist?

Ich habe mit dem jungen Grieben und Anderen ein kleines Jeu arrangirt; aber ich kann schon einmal mit Dir herumspringen! Komm! sie fangen eben einen Walzer an. Das ist so meine Force!

Und das Paar trat in die Reihe der Tanzenden.

Unterdessen irrte Oswald ruhelos in dem Garten umher. Aus den offenen Fenstern und Thüren der Zimmer strahlten die Lichter; um den Rasenplatz herum hatte Anna-Maria Laternen von buntem Papier aufstellen lassen, die der helle Mondschein ziemlich überflüssig machte. Von Zeit zu Zeit traten einzelne Paare auf den Platz hinaus und promenirten in der balsamischen Nachtluft. Es war eine festliche, heiter schöne Scene, die Oswald's verdüstertes Gemüth beleidigte. Er erstieg den Wall, setzte sich auf eine Bank und starrte, den Kopf in die Hand gedrückt, in das Wasser des Grabens, auf dem die Mondesstrahlen unheimlich glitzerten.

Wäre es nicht besser, Du machtest Deinem elenden Dasein ein schnelles Ende, murmelte er, als daß Du Dir zur Qual und Keinem zur Freude die Bürde des Lebens weiter schleppst? Willst Du denn fortvegetiren, bis Dir jede Illusion zerstört ist, bis Du Alles und Jedes, was Du werth und heilig hieltst, über Bord geworfen hast, über Bord hast werfen müssen? willst Du denn warten, bis Dir die Geduld vollends ausgeht, wie dem edlen, großherzigen Berger? So also sieht das Bild der Frau aus, vor der Du wie vor einer Heiligen gekniet hast? das ist der Mann, dessen Hand in der Deinen zu halten, Dir eine Ehre schien? Du warst ihr nichts als ein Spielball ihrer hochadligen Laune, und er hat seinen allerliebsten freiherrlichen Scherz mit Dir getrieben? Aber das ist ja nicht möglich! nicht möglich? warum denn nicht? ist die Welt, in der sich diese Menschen bewegen, nicht durch und durch verfault und verrottet? ist ihr ganzes Leben nicht eine gemeine Intrigue? betrügt hier nicht die Gattin den Gatten? und dieser jene? verkauft nicht der Vater die Tochter? verkuppelt nicht die Mutter ihr eigen Fleisch und Blut? verräth nicht der Freund den Freund? plaudert eine Kokette nicht die Geheimnisse der andern aus? weshalb wähnst Du denn, sie würden mit Dir, dem Plebejer, dem Arbeiter für Lohn und Brot besser verfahren? und doch, und doch! es ist entsetzlich! Das Weib, das Du angebetet, wie eine Gottheit, die Maitresse eines Andern, ihn betrügend, Dich betrügend, um von ihm wieder betrogen zu werden? Und Du, gutmüthiger Narr, kämpfst wie ein Wahnsinniger mit Deiner Leidenschaft für das holde, herrliche Geschöpf, die einzig Reine in diesem Hexensabbat, denn sie ist rein und gut, oder es giebt nichts Reines auf dieser Welt. Nein, nein! und wenn Alles um Dich her Lug und Trug ist, und schwarzer, tückischer Verrath – auf diesen einen hohen Stern willst Du Dein Auge heften – es ist Dein Stern! Nur das unerreichbar Hohe ist Deiner Liebe werth! Um die Irrlichter, die auf dem Sumpfe tanzen, mögen sich die Molche mit den Kröten zanken.

Ein leichtes Geräusch an seiner Seite machte ihn aus seiner gebückten Stellung auffahren. Eine schlanke Mädchengestalt in einem weißen Gewande stand vor ihm. Durch eine Lücke in dem Laubdache oben fiel ein Mondenstrahl auf die schlanke, weiße Gestalt.

Es war Emilie von Breesen.

Still! sagte sie, als Oswald sich mit einem leisen Ruf der Verwunderung erhob; ich sah Sie aus dem Saale gehen; ich bin Ihnen gefolgt, weil ich Sie sprechen will, sprechen muß. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es bedarf nur eines Wortes, eines einzigen Wortes, das über mein Leben entscheiden soll. Liebst Du mich? ja? oder nein?

Das junge Mädchen hatte Oswald's Hand ergriffen, die sie mit krampfhafter Heftigkeit preßte. Ja? oder nein? wiederholte sie in einem Tone, der die Leidenschaft, die in ihr wühlte, deutlich genug verrieth.

Aber Oswalds Ohr war taub gegen diesen Ton; sein Herz verschlossen, wie das Haus eines Mannes, den die Diebe in der Nacht zuvor bestohlen haben.

Sie irren sich ohne Zweifel in der Person, sagte er mit schneidendem Hohne. Ich heiße Oswald Stein; Herr von Cloten ist, so viel ich weiß, drinnen im Saale; und er suchte seine Hand aus der des Mädchens loszumachen.

Habe ich das verdient? rief Emilie mit von Thränen fast erstickter Stimme, und sie ließ die Arme wie in Verzweiflung sinken.

Die Nacht ist kühl, sagte Oswald, der Thau beginnt zu fallen; Sie werden sich in dem leichten Anzug erkälten. Darf ich die Ehre haben, Sie in den Saal zurückzubegleiten?

O mein Gott, mein Gott! murmelte Emilie, das ertrage ich nicht! Oswald stoße mich nicht so von Dir! wie hab' ich mich nach diesem Augenblick gesehnt! wie habe ich mir tausend und tausendmal wiederholt, was ich Dir Alles sagen wollte! wie habe ich gehofft, daß Du mich wieder in die Arme nehmen würdest – o, mein Himmel, was rede ich? Oswald, habe Mitleid mit mir! Du kannst meinen Uebermuth von heute Abend nicht so grausam strafen wollen. Ich wollte Dich ein wenig necken; ich dachte jeden Augenblick, Du würdest zu mir treten, und da wollte ich Dir Alles sagen. Aber Du kamst und kamst nicht; und ich mußte die Komödie weiter spielen, so schwer es mir wurde.

Sind Sie sicher, mein Fräulein, daß Sie nicht selbst noch in diesem Augenblicke Komödie spielen?

Emilie antwortete nicht. Sie sank mit einem leisen Stöhnen auf die Bank, preßte ihr Gesicht in die Hände und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Oswald trat dicht vor die Unglückliche und sagte in milderem Ton:

Wollen Sie mir ein paar Augenblicke ruhig zuhören?

Emiliens einzige Antwort war ein krampfhaftes Schluchzen.

Glauben Sie mir, fuhr er fort; ich bedaure von ganzem Herzen, daß eine solche Scene wie diese möglich wurde, und ich fühle, daß ich einzig und allein die Schuld davon trage. Hätte ich Ihnen an jenem Abend gesagt, was ich Ihnen heute sagen muß, Ihr Stolz würde Alles längst entschieden haben. – Ich kann Sie nicht lieben; das klingt sehr wunderlich gegenüber einem so holden, liebenswürdigen Geschöpf, aber es ist dennoch wahr. Warum wollen Sie nun Ihre Liebe an Jemand verschwenden, der sich des kostbaren Geschenkes so ganz unwürdig zeigt? warum nicht Jemand damit beglücken, der mehr Talent zum Glücklichsein und zum Beglücktwerden hat, als ich? – Ich bin gerade jetzt in einer sehr gedrückten

Stimmung, die mich wohl noch mehr wie gewöhnlich unfähig macht, die Dinge und die Menschen in dem rechten Lichte zu sehen. Verzeihen Sie mir daher, wenn ich Sie vorhin durch bittere, unüberlegte Worte gekränkt habe, zu denen ich kein Recht habe und die ich nicht hätte brauchen dürfen, selbst wenn ich im Rechte gewesen wäre. Ich bitte, ich beschwöre Sie: vergessen Sie, was zwischen uns vorgefallen ist! und lassen Sie sich vor Allem durch diese Kränkung nicht zu Entschlüssen verleiten, die Sie später und zu spät bereuen würden. Sie haben gesehen, was es heißt, seine Liebe einem Unwürdigen schenken. Sollte Ihnen diese Erfahrung in der Wahl, die Sie über kurz oder lang treffen werden, zu Statten kommen, so will ich gern für den Augenblick von Ihnen verkannt sein, gern Ihren Haß, selbst Ihre Verachtung auf mich geladen haben.

Emilie hatte, während Oswald sprach, allmälig zu weinen aufgehört. Jetzt stand sie auf und sagte in beinahe ruhigem Ton:

Es ist genug! Ich danke Ihnen, Sie haben mir die Augen geöffnet. Sie sollen nie wieder von mir belästigt werden. Sagen Sie mir nur noch dies Eine: werde ich einer Anderen geopfert? lieben Sie eine Anrede?

Ja, sagte Oswald nach kurzem Bedenken.

Es ist gut! Und nun hören Sie dies! Wie ich Sie geliebt habe, mit aller Gluth meines Herzens, so hasse ich Sie jetzt; und wie ich noch vor wenigen Minuten mein Leben freudig für Sie dahingegeben haben würde, so heiß wünsche ich jetzt mich für diese Schmach an Ihnen zu rächen. Und ich werde mich rächen; ich werde –

Wiederum brach sie in ein leidenschaftliches Weinen aus; aber sie bezwang sich sogleich wieder.

Sie sind es nicht werth, daß ich so viel Thränen um Sie weine. Nun setzen Sie Ihrem Benehmen die Krone auf und folgen Sie mir auf dem Fuße in den Saal, damit doch ja die Welt erfahre, welche Närrin ich gewesen bin!

Und sie eilte von Oswald fort, den Wall hinab, an dem Rasenplatze vorüber nach dem Saal, wo noch immer eifrigst getanzt wurde. Von Cloten, der sie überall in den Zimmern vergeblich gesucht hatte und jetzt melancholisch an einen Thürpfosten gelehnt stand, erblickte sie sofort und kam eiligst auf sie zu.

Mein gnädiges Fräulein! haben mich in wahre Todesangst versetzt! war bei Gott au désespoir! glaubte wahrhaftig, der Himmlischen Einer habe Sie mir entführt.

Ich habe in aller Stille über das, was Sie mir vorhin sagten, nachgedacht, Herr von Cloten, antwortete Emilie.

Wahrhaftig! Sie sind ein Engel! und ich darf hoffen? fragte von Cloten, der die gerötheten Augenlider und das aufgeregte Wesen des jungen Mädchens natürlich zu seinen Gunsten auslegte.

Gehen Sie zu meiner Tante!

Wirklich? wahrhaftig? ich kann es nicht glauben! rief der junge Mann und sein freudiger Schrecken war keineswegs gemacht.

So gehen Sie nicht! antwortete Fräulein Emilie in einem sonderbaren Ton.

Mein Gott, Emilie, Engel, zürnen Sie nicht! ich eile, ich fliege –

Und Herr von Cloten entfernte sich in augenscheinlichster Verwirrung, um Emiliens Tante aufzusuchen.

Emilie blieb auf demselben Platze stehen, bleich, die Arme verschränkt, die großen Augen starr auf die Gruppen der Tanzenden geheftet, ohne mehr zu sehen, als wenn sie die Blicke in's Leere gerichtet hätte.

Sie sind klüger, als wir Andern! sagte eine Stimme dicht neben ihr.

Es war Felix von Grenwitz; er hatte sich auf einen Stuhl geworfen und trocknete sich mit einem Batisttaschentuche die nasse Stirn.

Lächerlich, bei der Hitze herumzuspringen, ich dächte, wir hörten endlich einmal auf. Und nun hat noch gar Helene Herrn Timm am Clavier abgelöst; das Mädchen hat doch wahrlich wunderliche Einfälle. Meinen Sie nicht auch, Fräulein Emilie?

Vielleicht fehlt es ihr an einem Tänzer.

Unmöglich.

Nun, vielleicht an dem rechten Tänzer.

Das heißt?

An dem, mit welchem sie gern tanzt.

Ich bin stets hier gewesen.

Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß Sie der Glückliche sind?

Wer denn sonst?

Wissen Sie nicht, wo Herr Stein geblieben ist?

Nein, weshalb?

Ich frage nur Fräulein Helenens halber. Bemerken Sie nicht, wie sie die großen, stolzen Augen fortwährend ruhig, aber unaufhörlich durch den Saal schweifen läßt?

Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein?

Weshalb denn nicht? Ist Herr Stein nicht ein sehr hübscher Mann? und hat nicht Helene, wie Sie selbst sagen, wunderliche Einfälle?

Mein Fräulein, sagte Felix ernst; wollen Sie mir die

Gnade erweisen, mir zu sagen, ob Sie besondere Gründe zu dieser eigenthümlichen Vermuthung haben?

Natürlich habe ich besondere Gründe.

Und wollen Sie die Güte haben, mir diese Gründe zu nennen?

Nein.

In diesem Augenblick kam Herr von Cloten mit vor Freude strahlendem Gesicht.

Mein gnädiges Fräulein, sagte er; Ihre Frau Tante wünscht Sie zu sprechen. Darf ich die Ehre haben, Sie zu ihr zu begleiten?

Sogleich! sagte Emilie, und dann zu Felix: Verlassen Sie sich auf das, was sich Ihnen sagte; ich habe scharfe Augen und Ohren.

Sie nahm Cloten's Arm.

Der Sache muß ich auf den Grund kommen, sagte Felix bei sich, als die Beiden sich entfernt hatten. Helenens Benehmen in den letzten Tagen ist wirklich auffallend.

Er trat an das Klavier: Soll ich Ihnen die Blätter umschlagen, Helene?

Danke; antwortete Helene trocken; ich spiele aus dem Kopf.

Nach einer kleinen Pause: Bitte Cousin, gehen Sie fort; es ängstigt mich, wenn Jemand so dicht hinter mir steht.

Ich dächte, Doctor Stein hätte gestern eine halbe Stunde lang hinter Ihnen gestanden, ohne daß Sie irgend welche Angst verrathen hätten.

So werde ich aufstehen; sagte Helene, griff ein paar schnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ach! der mitten im Tanze Gestörten zu beachten, von dem Klavier fort.

Das ist stark, sagte Felix bei sich.

Weshalb hörte denn Helene so plötzlich auf zu spielen? fragte die Baronin, welche die Scene aus der Entfernung beobachtet hatte, herantretend.

Ich weiß es nicht; sie wird mir wohl etwas übel genommen haben. Sie ist doch eigensinniger und launischer, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch, Tante, daß der Mensch, der Stein, mit seinen corrupten Ansichten einen schädlichen Einfluß nicht blos auf Bruno, sondern auch auf Helene ausübt?

Ich habe Ihnen ja immer gesagt, daß ich dem Menschen nicht im mindesten traue.

So jagen Sie ihn fort.

Ohne alle Veranlassung?

Pah, die findet sich. Wollen Sie mir die Erlaubniß geben, eine zu suchen?

Aber ohne daß ein Scandal daraus wird.

Lassen Sie mich nur machen.

Es muß so eingerichtet werden, daß er selbst um seine Entlassung bittet.

Weshalb?

Ich habe meine Gründe – und Felix, sagen Sie Grenwitz nichts davon. Er ist in der letzten Zeit so rechthaberisch und eigensinnig geworden! Ich fürchte sogar, er sinnt darauf, unser Project mit Helene zu stören. Ich bitte Sie, Felix, seien Sie vorsichtig! Ich wäre außer mir, wenn die Sache sich zerschlüge, nachdem ich sie schon unter der Hand nach allen Seiten als ein fait accompli dargestellt habe.

Pah! Tante, schon wieder ängstlich? Vertrauen Sie mir: ich pflege zu Ende zu bringen, was ich anfing.

Achtundvierzigstes Capitel

Als Oswald, nach der peinlichen Scene mit Emilie von Breesen auf sein Zimmer kam – denn zur Gesellschaft zurückzukehren, war ihm unmöglich – sah er auf seinem Tische ein versiegeltes Packet liegen, das während seiner Abwesenheit dort hingelegt sein mußte. Schon der Zusatz der Adresse: »Hierbei die bewußten Bücher mit vielem Dank zurück. Ihr getreuer B.« sagte ihm, von wem dieses Packet gebracht worden war, und was es enthielt. Und seltsam! er zögerte, die Siegel zu lösen. Es war ihm, als ob er kein Recht mehr zu Melitta's Briefen habe, seitdem sein Herz ihr nicht mehr ganz gehörte; als ob vor allem sie, deren Herz er nie vollständig besessen, nie das Recht gehabt, ihm diese Zeichen der Liebe zu geben. Endlich, fast mechanisch, öffnete er das Packet. Es waren drei Bücher darin. Aus dem mittleren fielen zwei Briefe – der eine von Melitta, der andere von Bemperlein. Melitta's Brief enthielt nur wenige herzliche Worte, die »über die lange Trennung klagten, in welcher sich mit dem weiten Raum auch noch so vieles Andere zwischen die Herzen, die einst voller Seligkeit aneinander geschlagen, drängen könnte;« und schließlich die Hoffnung eines recht baldigen Wiedersehens ausdrückten. Der Brief trug keine Unterschrift. Er könnte ja in fremde Hände fallen; sagte Oswald bitter. Ich will noch großmüthiger sein, ich will diesen Zeugen eines Verhältnisses, dessen sie sich zu schämen beginnt, vernichten; und er verbrannte das Papier an der Flamme des Lichtes. Der Brief von Bemperlein war ausführlicher, aber er handelte fast nur von Professor Berger. Bemperlein war während seines kurzen Aufenthaltes in Grünwald sehr viel in der Gesellschaft des Professors, an welchen ihn Oswald so warm empfohlen hatte, gewesen, und hatte sich die Gunst des wunderlichen Mannes im hohen Grade erworben, ebenso wie er sich seinerseits für den genialen Gelehrten begeisterte. Man kann sich daher sein Entsetzen vorstellen, als Doctor Birkenhain ihm eines Tages mittheilte, soeben sei der Professor Berger in das Krankenhaus abgeliefert worden. Bemperlein schrieb Oswald, daß er sogleich um die Erlaubniß gebeten habe, Berger besuchen zu dürfen; daß ihm diese Erlaubniß gegeben sei, und daß er seitdem jeden Tag viele Stunden bei dem Kranken zugebracht habe, der seine Gesellschaft jeder andern vorziehe. Berger spreche größtentheils vollkommen vernünftig, nur komme er bei der geringsten Veranlassung auf seine fixe Idee des Nichts zurück. Er finde es ganz in der Ordnung, daß man ihn in eine Irrenanstalt gebracht habe, denn, sagte er, der Unterschied zwischen den Leuten draußen und denen drinnen bestehe nur darin, daß jene das werden könnten und eigentlich werden müßten, was diese schon seien. Wenn zum Beispiel Doctor Birkenhain nur einmal seinen Kopf auseinander nehmen wollte, so würde er die absolute Hohlheit desselben mit eigenen Augen wahrnehmen und sich in seinem Hause ein behagliches, sonniges Zimmer anweisen lassen, um in aller Stille über das große Ur-Nichts nachzudenken. Bemperlein schrieb, daß Doctor Birkenhain Berger's Wahnsinn nur für temporär halte und die bestimmte Hoffnung habe, den ausgezeichneten Mann in kurzer Zeit seinen Freunden und Schülern geheilt zurückzusenden.

Was uns selbst angeht, schloß Bemperlein, so wird Ihnen die gnädige Frau ja wohl Alles der Ordnung gemäß berichtet haben. Ich füge nur noch hinzu, daß unsers Verbeleibens hier, Gott sei Dank, nun wohl nicht mehr lange sein wird. Herr von Berkow wird täglich schwächer; die Schwindsucht macht reißende Fortschritte. Birkenhain giebt ihm nur wenige Tage. Wir bleiben auf jeden Fall, bis Alles entschieden ist. Ich sehe diesem Augenblick mit einer Ungeduld entgegen, die ganz rein von Selbstsucht ist. Aus dem Tode dieses Unglücklichen, der nun seit Jahren kaum noch zu den Lebenden gehört, wird für zwei Menschen ein neues Leben erblühen – zwei Menschen, die mir unendlich werth und theuer sind.

Wirklich? sagte Oswald, den Brief auf den Schooß sinken lassend. Bist Du dessen so gewiß, guter Bemperlein? Freilich, was ahnt Dein reines Herz von adeligem Betrug und freiherrlicher Tücke? – Und doch! weshalb erwähnt auch er Oldenburg's Anwesenheit nicht? was hat er davon, ein Factum zu verschweigen, von dem er wissen mußte, daß es mich interessiren würde? So ist auch er in dem Complot? Wohl; so wirst du fortan dich auf Niemand verlassen, als auf dich selbst! Unter den Wölfen muß man heulen, und der ist ein Narr, der unter Betrügern und Lügnern den ehrlichen Mann spielen will. Heuchelt Ihr – ich kann es auch; spielt Ihr Komödie – ich will nicht im Parterre sitzen; lacht Ihr Euch in's Fäustchen – ich werde nicht weinen, und wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Ich freue mich, Sie in so ausgezeichneter Laune zu treffen; sagte eine Stimme hinter ihm.

Oswald fuhr von seinem Stuhle empor und starrte die lange Gestalt, die plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihm stand, erschrocken an.

Ich bitte um Entschuldigung, sagte Baron Oldenburg, Oswald die Hand, welche dieser zögernd ergriff, entgegenstreckend; daß ich wie Nikodemus in der Nacht bei Ihnen erscheine. Aber ich komme diesen Augenblick erst von meiner Reise zurück und hörte von einem Bedienten, der mit einem Präsentirbrett voll Gläser und Tassen an mir vorbeirannte, Sie seien auf Ihr Zimmer gegangen. Der Mann hatte eben nur noch Zeit, mir den Weg zu beschreiben, und klapperte mit seinen Gläsern weiter. Da bin ich denn nun, und, wie gesagt, freue mich, Sie in guter Stimmung zu finden, denn sonst hätte ich kaum den Muth, Ihnen zu sagen, weshalb ich da bin. Wissen Sie, wo wir heute Nacht vor einem Monat waren? Es ist die Nacht, welche uns die braune Gräfin zum Rendezvous bestimmte. Nehmen Sie noch so viel Interesse an mir und unserer kleinen Pflegebefohlenen, um mich zu dem bewußten Platze zu begleiten?

Ich stehe in wenigen Minuten zu Ihrer Verfügung, sagte Oswald; erlauben Sie nur, daß ich mich ein wenig zu unserer Fahrt zurecht mache.

Er nahm eins der beiden Lichter, die auf dem Tische brannten und ging in die Nebenstube.

Ziehen Sie sich ja warm an; rief ihm Oldenburg nach; es ist jetzt sehr kühl gegen Morgen, noch dazu im Walde.

Hm! murmelte er, als Oswald verschwunden war; er sieht bleich und angegriffen aus, und war weniger freundlich, als seine Gewohnheit ist. Er wird doch nichts von meinem Aufenthalte in Fichtenau, den ich ihm so sorgfältig verheimlichte, erfahren haben? Ich muß ihn ein wenig aushorchen. Es wäre fatal, denn ich spreche mit Niemand gern über mein Verhältniß zu Melitta, mit ihm am wenigsten.

Unterdessen sagte Oswald, während er sich umzog, vor sich hin: Jetzt gilt es klug sein, wie die Schlange. Spielt Ihr mit mir, so will ich mit Euch spielen.

Er trat wieder in's Zimmer. Ich bin bereit.

So wollen wir aufbrechen. – Mein Wagen hält vor dem Thor; sagte der Baron, während sie die Treppe, die nach dem Garten führte, hinunterstiegen; die Czika sitzt, in meinen Mantel gehüllt, darin. Meinen Sie nicht auch, daß es gerathen ist, das Kind zu der Zusammenkunft mitzunehmen? Wenn die Zigeunerin wirklich des Kindes Mutter ist, so sind wir ihr wohl diese Aufmerksamkeit schuldig. In jedem Fall kann sie sich überzeugen, daß das Kind lebt und gesund ist und sich in seinen neuen Verhältnissen wohl befindet. – Aber was bedeutet denn dies rege Leben im Schloß? Anna-Maria ist doch sonst keine Freundin von Festgelagen. Ist Malte vielleicht fortgelaufen gewesen und wieder zurückgekehrt und wird dem Kalbe jetzt ein Kalb geschlachtet?

Es handelt sich nicht um einen verlornen Sohn, sondern um eine wiedergefundene Tochter, sagte Oswald, sich zu einem scherzhaften Tone zwingend; Fräulein Helene ist aus der Pension zurück. Seitdem reiht sich Fest an Fest.

Tempora mutantur; sagte Oldenburg: das muß ja eine Circe von Mädchen sein, die solche Metamorphosen zu Wege bringen kann. Ist sie schön?

Mir erscheint sie so.

Lassen Sie uns einmal an die Fenster treten, sagte Oldenburg, als sie im Garten über den Rasenplatz gingen; ich bin unendlich neugierig, dies Wunder zu sehen. Es wird uns ja Niemand bemerken.

Er schritt nach der Treppe, die auf den Perron hinaufführte. Oswald folgte. Die Thüren war jetzt, wo es draußen kühler wurde, geschlossen, auch die Fenster; aber die Vorhänge waren nicht heruntergelassen; man konnte von diesem Standpunkte aus Alles beobachten, was in den blendend hell erleuchteten Zimmern vorging.

Als sie an das Fenster traten, saß ihnen gerade gegenüber Helene am Klavier, Felix stand hinter ihrem Stuhl. Er beugte sich über sie und schien eifrig mit ihr zu sprechen. Oldenburg's falkenscharfes Auge hatte sogleich die Gruppe erfaßt:

Wer ist der junge Mann? fragte er.

Oswald antwortete nicht; die Unterlippe zwischen die Zähne gepreßt, die starren Augen nicht von den Beiden am Klavier wegwendend, stand er da. Felix beugte sich noch tiefer; Oswald preßte die Lippe, daß das Blut durch die Haut sprang. Da erhob sich Helene plötzlich, und schritt durch die Gruppen der Tänzer, die durch das Aufhören der Musik wie am Boden gefesselt waren, oder lachend weiter zu tanzen versuchten, hindurch, gerade auf das Fenster zu, vor welchem Oldenburg und Oswald sich befanden, die ein paar Schritte zurück in den Schatten traten. Sie blieb, in der Fensternische angelangt, stehen, die Arme über dem Busen verschränkt, die großen, dunklen Augen auf den Mond gerichtet, dessen goldene Scheibe draußen an dem tiefblauen nächtlichen Himmel schwamm. Ihr von der Aufregung der eben mit Felix gehabten Scene noch leidenschaftlich erregtes, in dem Strahl des Mondes geisterhaft bleiches, von dem herrlichen blauschwarzen Haare eingerahmtes Gesicht gemahnte den Baron an die schönste der antiken Medusen. Ein Herr – es war Adolf von Breesen – trat an sie heran, und sprach zu ihr. Sie antwortete ihm kurz, ohne die Stellung zu verändern, ohne kaum die Lippen zu regen. Er verbeugte sich und trat zurück. – Dann, als ob sie sich eines Andern besonnen hätte, wandte sie sich und schritt wieder zum Klavier zurück, setzte sich und begann von Neuem zu spielen. Wie von einem Zauberstabe berührt, kamen die Paare der Tanzenden wieder in Bewegung – und das bunte Bild, das Oldenburg und Oswald zuerst erblickt hatten, war wieder hergestellt.

Wer war der Fant, welcher dieses Intermezzo veranlaßte? fragte Oldenburg, als sie wieder in den Garten hinabgingen.

Felix von Grenwitz, ihr Cousin.

Ein allerliebstes Püppchen; und die junge Schönheit soll die Puppe zum Gemahl haben; nicht?

Ich glaube.

Und wie erscheint Ihnen das?

Wie die Welt dem Hamlet: ekel, schal und flach und unersprießlich.

Meine böse Ahnung geht in Erfüllung; murmelte Oldenburg durch die Zähne.

Sie sagten?

Ich dachte eben daran, ob Carl wohl den Wagen in die Höhe geschlagen hat, damit meine kleine Czika nicht ganz unter freiem Himmel sitzt. Freilich, ihr wäre es am liebsten, wenn sie nie eine andere Decke über sich hätte. Auf unsrer Reise jubelte sie jedesmal, so oft wir in die Nacht hineinfuhren, und sie die vielgeliebten Sterne über sich leuchten sah.

Und – darf man fragen, was Sie so plötzlich aus unserer Nähe riß? fragte Oswald und seine Stimme bebte.

Eine Angelegenheit, die eigentlich nur indirect für mich von Bedeutung ist. Die Krankheit eines Mannes, dessen Tod auf das Geschick einiger Personen, die mir werth sind, von großem Einfluß sein kann.

Der Baron wartete, ob Oswald etwas erwiedern würde.

Ich war eitel genug, zu glauben, daß meine Abreise einige Sensation in der Gesellschaft hier erregen würde, fügte er hinzu, als Oswald schwieg, dies scheint indessen nicht der Fall gewesen zu sein.

Man ist seit so langen Jahren gewohnt, Sie unvorbereitet kommen und gehen zu sehen, daß man sich nachgerade daran gewöhnt hat, sagte Oswald, doch da hält Ihr Wagen, glaube ich.

Wo ist Czika, Karl? fragte der Baron.

Sie liegt im Wagen fest eingeschlafen, antwortete der Kutscher, der vom Bocke gestiegen war, den Tritt herabzulassen, ich habe sie sorgfältig zugedeckt.

Wir wollen sie zwischen uns nehmen, wie damals, als wir, von Barnewitz kommend, sie auf der Landstraße fanden.

Der Baron war schon im Wagen.

Bist Du es, Herr? fragte das Kind, aus dem Schlaf erwachend.

Ja, mein Herz.

Wer ist der Mann bei Dir?

Dein Freund, der Mann mit den blauen Augen.

Er soll bei uns bleiben, murmelte Czika schlaftrunken, sich an Oswald, der nun auch eingestiegen war, schmiegend. Czika ist müde; Czika will in Deinen Armen schlafen.

Ich glaube, sagte der Baron, als sich der Wagen in Bewegung setzte, Sie haben einen unauslöschlich tiefen Eindruck auf Czika gemacht. Sie spricht sehr oft von Ihnen und fragt, warum der Mann mit den blauen Augen – so bezeichnet sie Sie stets – nicht wieder kommt? Es ist doch ein wunderlich Ding, das Menschenherz; ein unergründliches Räthsel, zu dem der Weiseste der Weisen keinen Schlüssel hat. Wer erklärt uns das Wunder der Sympathien und Antipathien? Welche Mühe habe ich mir gegeben, das Herz dieses Kindes mir zu eigen zu machen! Ich möchte so gern etwas auf der Welt mein eigen nennen! Und ist es mir gelungen? Ich weiß es nicht. Sie folgt mir, aber nur wie ein Kind, dem die Mutter gesagt hat: geh mit dem Herrn und sei hübsch artig! Ich bin ihr heute noch, was ich ihr am ersten Tage war. Ich habe sie mit der zärtlichsten Sorge umgeben. Sie nimmt Alles hin, wie eine Gabe, die man nicht ausschlägt, um den Geber nicht zu beleidigen.

Aber machen es nicht alle Kinder mehr oder weniger so? erwiederte Oswald; ist es nicht ihr gutes Recht, sich lieben zu lassen, ohne weiter dankbar dafür zu sein? Und dann, was ist am Ende eine Liebe, die auf Dank rechnet? Heißt es nicht auch hier: wer Lohn begehrt, der hat seinen Lohn dahin?

Mögen Sie das nie an sich selbst erfahren? sagte der Baron mit bewegter Stimme, und mögen es Andere nie durch Sie erfahren. Wüßten Sie, was hoffnungslose Liebe ist, wüßten Sie auf der anderen Seite, was es heißt: das Gefühl mit sich herumtragen, Liebe, warme aufrichtige Liebe mit Kälte, mit Gleichgültigkeit erwiedert zu haben – Sie würden so nicht sprechen. Nein, nein! grausam gewesen zu sein gegen ein Herz, das uns liebt, ist eine Erinnerung, die auf unserm Gewissen brennt, und die keine neue Liebe, und wäre sie wirklich reiner, als die, welche wir damals fühlten, wieder auslöscht?

Und haben Sie diese Erfahrung an sich selbst gemacht?

Leider, ja! Ich habe in meinem Leben viele Verhältnisse angeknüpft und wieder gelöst, ohne daß ich darüber Gewissensbisse empfunden hätte. Wußte ich doch nur zu wohl, daß die guten Herzen nicht brechen würden! Es waren Conta meta Geschäfte, bei denen Jeder seine Rechnung gefunden hatte, oder die, schlimmsten Falls, den einen oder den anderen und meistens beide Partner so bettelarm ließen, wie sie vorher gewesen waren. Nur einmal – und ich war damals noch ziemlich jung und das gereicht mir einigermaßen zur Entschuldigung – nur einmal habe ich mich des Frevels schuldig gemacht, ein Wesen, von dem ich überzeugt sein konnte, daß es mich treu und aufrichtig liebte, mit schnödem Undank zu belohnen. Die Geschichte würde mir unvergeßlich sein, auch wenn sie nicht durch die Begegnung mit der braunen Gräfin auf eine wunderliche Weise mir wieder in die Erinnerung gerufen wäre. Habe ich Ihnen nicht erzählt, wie ich einst sonst vor vielen Jahren im fernen Ungarlande, als ich mich auf dem Gute eines Bekannten zum Besuch aufhielt, ganz zufällig ein Zigeunermädchen fand –

Ja, sagte Oswald; ich erinnere mich Ihrer Erzählung, die durch das Hereintreten Herrn von Cloten's unterbrochen wurde, sehr wohl. Ich vergaß hernach, Sie um die Fortsetzung zu bitten. War es nicht so? Sie hatten das Mädchen, als Sie, fern von der Wohnung, in dem Walde umherschweiften, in einem Zigeunerlager, das für den Augenblick von der übrigen Bande verlassen war, gefunden. Sie erblicken und sie lieben, war eins. Sie verlebten mit ihr in der romantischen Einsamkeit mehrere glückliche Tage. Die Geschichte schloß mit folgendem Tableau: Zigeunerlager im Walde – Sonnenuntergang – unter dem überhangenden Dache einer breitastigen Buche ein liebendes Paar auf schwellendem Moosteppich –

Ihr Gedächtniß ist gut, sagte der Baron, auch haben Sie die Stimmung, welche ich damals dem Bilde gab, getreu reproducirt. Ich werde nur nachträglich noch einige Schlagschatten hineinzeichnen müssen. – Ich saß also mit der Zingarella – Xenobi war ihr süßer Name – in der von Ihnen angedeuteten Situation. Ich sang das alte Finklerlied von der Liebe, die nimmer enden würde, und das holde Vögelchen traute der alten falschen Weise und schmiegte sich innig und inniger an mein Herz. Da plötzlich ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und das Lachen und Schwatzen einer fröhlichen Cavalcade. Ich hatte kaum noch Zeit, die Kleine unsanft von meinem Schooß zu stoßen und mich zu erheben, als die Schaar schon unter den hohen Bäumen hervor auf den Platz gesprengt kam. Es waren meine Wirthe: der junge Graf Cryvany mit seinen Schwestern und mehrere Herren und Damen aus der Nachbarschaft. Sie können sich die nun folgende Scene denken. Ich wurde sofort umringt und mit Fragen überschüttet: Wo ich gewesen? wie ich hierher gekommen sei? – Ich dachte, die Wölfe hätten Sie zerrissen! rief der Eine; oder Sie hätten sich aus unglücklicher Liebe erschossen, ein Anderer. – Ich habe des Räthsels Lösung! schrie ein Dritter: Liebe freilich ist im Spiel, aber bei Liebe keine unglückliche. Sehen Sie dort! und er deutete mit dem Stiel seiner Reitpeitsche auf meine arme Xenobi, die sich bei der Annäherung der Cavalcade scheu hinter dem dicken Stamm der Buche versteckt hatte. – Ein allgemeines Gelächter belohnte den Witzbold. Nur ein Gesicht blickte finster drein. Es war die jüngste und hübscheste der Schwestern, der ich noch zuguterletzt den Hof gemacht hatte und die, glaube ich, in ihrer Weise – was freilich nicht viel sagen will – mich mit ihrer Neigung beehrte, mir wenigstens schon einige nicht mißzuverstehende Zeichen ihrer Gunst gegeben hatte. Ich schämte mich plötzlich meiner armen Xenobi ganz entsetzlich und hatte nur den einen Wunsch, mich aus der Affaire zu ziehen, ohne die stolze Georgina zu beleidigen. Ich spielte den Entrüsteten, ich behauptete, tagelang im Wald umhergeirrt, und nur eben erst auf das Zigeunerlager gestoßen zu sein. Woher hat denn das Mädchen die goldene Kette um den Hals, die wir kürzlich noch an Ihnen bewunderten? fragte Georgina. – Ich hätte Georgina ermorden können. Xenobi kam dem Fassungslosen zu Hilfe. – Hier, Herr! sagte sie, nimm, was ich Dir gestohlen habe und sie reichte mir das Geschmeide. Ich werde die zitternde Hand, das von Schmerz und Zorn entstellte Gesicht des armen Geschöpfes nie vergessen. – Machen wir, daß wir nach Hause kommen! rief Herr von Cryvany; es zieht ein Wetter herauf. – Ich bestieg das Pferd eines der Bedienten, und fort ging es durch den dämmrigen Wald. Ich wagte nicht, mich nach Xenobi umzublicken. Georgina, an deren Seite ich ritt, würde es mir nie vergeben haben. Ich hatte mir die Gunst der Dame vollständig wieder erobert, aber um welchen Preis! Als ich am Abend des folgenden Tages – früher konnte ich mich nicht von der Gesellschaft losmachen – in den Wald gerannt war, mein Unrecht wieder gut zu machen, fand ich wohl nach vielem Suchen den Platz, aber nicht mehr Xenobi. Die Bande hatte, als sie ihren Schlupfwinkel verrathen sah, ihre Zelte abgebrochen und war wer weiß wohin gezogen. Von Xenobi habe ich nie wieder eine Spur entdecken können.

Der Baron schwieg und blies den Rauch seiner Cigarre in mächtigen Wolken in die Luft.

Sehen Sie, hub er nach einer langen Pause wieder an, ich bin fromm genug, oder abergläubisch genug, wenn Sie wollen, um anzunehmen, daß ich durch diese That einen Fluch auf mich geladen habe, den keine Reue wieder sühnt. Und nun werden Sie auch begreifen, was mir Czika ist – ein Engel im eigentlichsten Sinne des Wortes, ein holder Bote des Himmels, der mir Friede! Friede! in das kranke Herz singt. Hat mir das Bild des Kindes doch schon seit Jahren vor der Seele geschwebt, glaubte ich doch die Erfüllung meiner Träume schon zweimal leibhaftig vor mir zu sehen. Hier ist die rothe Rose Xenobi noch einmal, aber in dem Morgenthau süßester Unschuld. Die rothe Rose hat nun der Sturm des Lebens wohl schon lange geknickt, und hätte ich sie auch damals treuer bewahrt – was würde die Welt, die kalte, freche, lästernde Welt aus der romantischen Liebe eines Barons und einer Zingarella zuletzt gemacht haben! Damals war ich zu jung und hätte die Geliebte vor dieser schnöden Welt nicht vertheidigen können; jetzt bin ich ein Mann geworden und habe blos ein Kind, einen Findling zu schirmen und zu schützen. Ich werde der Zigeunerin geben, was sie verlangt, und wärmsten, aufrichtigsten Dank in den Kauf. Ich hoffe, sie hat die Verabredung nicht vergessen. Halt, Karl! – Wir müssen hier aussteigen, um durch den Wald zu gehen. Ich kenne den Pfad von früher her noch ziemlich gut. Es ist die Stunde, welche uns die braune Gräfin bestimmte. Wir kommen gerade zur rechten Zeit.

Wollen wir nicht doch die Kleine lieber hier lassen? sagte Oswald.

Weshalb? fragte der Baron, der schon aus dem Wagen gestiegen war.

Das Kind hängt sehr an der Frau, die ja am Ende doch seine Mutter ist. Vielleicht wird es bei ihrem Anblick von der alten Liebe zum Waldesleben erfaßt, und es giebt zum mindesten eine peinliche Scene.

Oswald sprach die Worte leise, denn Czika regte sich in seinen Armen.

Czika will mit, sagte das Kind plötzlich; Czika will in den Wald und den Mond und die Sterne durch die Zweige tanzen sehen. Czika kennt jeden Baum und jeden Busch.

Sie stand auf dem feuchten Waldboden und klatschte vor Vergnügen in die Hände und tanzte und lachte und rief:

Kommt, kommt! Du, Herr und Du, Mann mit den blauen Augen! Czika will Euch einen schönen Platz zeigen, Czika kennt jeden Baum und jeden Busch im weiten Wald.

Sie huschte auf einem schmalen Pfad, der sich von dem Wege, auf dem der Wagen hielt, seitwärts in den dichtesten Forst schlug, worauf, wie eine wilde Katze durch die Büsche schlüpfend, deren dünne Zweige wieder hinter ihr zusammenschlugen. Nur mit großer Mühe folgten die beiden Männer. Czika war nicht zu bewegen, ihren Lauf zu hemmen. Ihre einzige Antwort auf das: nicht so schnell, nicht so schnell, Czika! nimm uns mit, Czika! war der helle, lustige Schrei des jungen Falken, den sie wieder, lauter und schriller, wie Antwort heischend, erschallen ließ. Plötzlich ertönte die Antwort durch den stillen Wald, derselbe stolze Schrei, dessen sich Oldenburg und Oswald noch so deutlich von jenem Morgen erinnerten, als die Zigeunerin aus der Ferne den Ruf der Kleinen erwiderte.

Da leuchtete ein rother Schein, der mit jedem Augenblick heller und heller wurde, durch die hohen Stämme der Bäume. Wir sind gleich am Ziele, sagte der Baron, welcher voranging.

Wirklich traten sie nach wenigen Minuten auf die Lichtung heraus, die Oswald von dem Nachmittage, als er sich auf dem Wege zu Melitta verirrt hatte, so unvergeßlich war. Auf derselben Stelle, nicht weit vom Rande des Sumpfes, wo damals die Zigeunerin ihre Mahlzeit kochte, brannte jetzt wieder ein Feuer, aber groß und mächtig, wie um die Scene in das hellste Licht zu setzen. Die Kronen der mächtigen Bäume glühten purpurroth oder tauchten in schwere Schatten, je nachdem die Flamme des Holzstoßes emporloderte oder zusammensank; von dem dunklen Wasserspiegel des Sumpfes erglänzte der Wiederschein – und, umflossen von dieser magischen Beleuchtung, erblickten die Männer, als sie athemlos den Saum der Lichtung erreichten, die braune Gräfin auf den Knieen vor Czika, die sie mit Küssen und Liebkosungen überhäufte; während das Kind sich vergeblich bemühte, sie vom Boden empor zu ziehen und sich endlich zu ihr auf die Kniee warf, ihr Haupt an dem Busen des Weibes verbergend.

Schweigend und regungslos standen die beiden Männer, tief ergriffen von dem Schauspiel einer so leidenschaftlichen Zärtlichkeit.

Da erhob sich die Zigeunerin und das Kind an die Hand nehmend, trat sie auf die Beiden zu und sagte zu Oldenburg, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte:

Kennst Du mich, Herr?

In diesem Augenblick leuchtete die Flamme hoch auf und jeder Zug in dem edelstolzen Gesicht des ägyptischen Weibes und jede Linie ihres schlanken, hohen Leibes war wie vom Tageslicht erhellt.

Xenobi! schrie der Baron, seine Arme ausbreitend, Xenobi!

Das braune Weib stürzte sich mit einem Geschrei wahnsinnigen Entzückens an seine Brust und klammerte sich an ihn, als ob sie sich nie wieder von dem geliebten Manne trennen wolle. Aber im nächsten Moment schon riß sie sich los, trat ein paar Schritte zurück und stand da, unbeweglich, die Hände über dem vollen Busen faltend. Czika stand zwischen ihr und dem Baron, die großen dunklen Augen voller Verwunderung von diesem zu jener, von jener zu diesem wendend.

Der Baron nahm sie bei der Hand und sagte, näher an die Zigeunerin tretend, in einem Tone, der, so sehr er sich auch zu beherrschen suchte, deutlich die ungeheure Erregung, die in ihm wühlte, verrieth:

Xenobi, ist dieses Kind –

Er vermochte nicht weiter zu sprechen; er rang mühsam nach Worten. Endlich stammelte er:

Dein und mein Kind?

Ja, Herr! sagte die Zigeunerin, ohne sich zu regen; die dunkeln glänzenden Augen fest auf das Antlitz des Barons heftend.

Oldenburg hob das Kind in seinen Armen empor und drückte es an seine Brust. Oswald fühlte, daß er die Drei allein lassen müsse und zog sich bis an den Rand des Waldes zurück. Dort setzte er sich. Es war dieselbe Stelle, auf der er an jenem Nachmittage gelegen hatte, als er den köstlichen Traum von Melitta träumte, und von wo aus er hernach Czika auf dem Cymbal hatte spielen hören, während die braune Gräfin am Feuer schaffte und mit ihrer tiefen, weichen Stimme die ungarische Volksweise sang. Wie vieles hatte sich nicht seit jenem Tage geändert! was hatte er nicht Alles gewonnen und wieder verloren! Damals hatte sein Herz der schönen Frau so sehnsuchtsvoll entgegengeschlagen; heute erfüllte die Erinnerung an sie seine Seele mit Trauer und Schmerz. Warum hatte sie ihn so unendlich glücklich gemacht, wenn ihre Liebe doch nur die souveräne Laune eines Augenblicks war, nur ein hübsches Spiel, der Stunden Einerlei auszufüllen, über den momentanen Bruch ihres Verhältnisses zu Oldenburg besser hinwegzukommen? Würde die hochgeborene Dame, die stolze Aristokratin, ihn über kurz oder lang nicht verleugnen, verleugnen müssen, wie der Mann da das arme Zigeunermädchen vor seinen Freunden verleugnet? Und hatte er diesen Gedanken nicht immer schon mit sich herumgetragen? hatte sich dieser Gedanke nicht selbst in den sonnigsten Augenblicken der Liebe wie ein düsterer Schatten zwischen ihn und die reizende Frau gestohlen? Hatte er nicht, als der Name Oldenburg's zum ersten Male sein Ohr berührte, in diesem Manne, wie von einem Dämon getrieben, seinen Nebenbuhler erkannt! Und mußte er sich nicht eingestehen, daß dieser Mann Alles besitze, in dem Herzen einer stolzen Frau eine heroische Leidenschaft zu entflammen? Rang und Reichthum, eminente Gaben, den Muth des Ritters ohne Furcht und Tadel, und gerade genug vom Libertin, um ein Web, welches nicht ganz reinen Herzens ist, zu bestricken?

Und wie gut stand ihm sein Weltschmerz und die Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte, nicht glauben, er werde nächstens in die Wüste gehen und sich von Heuschrecken nähren? Jetzt wird er die Zigeunerin mit sich auf seine Solitüde nehmen, damit die Einsamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas weniger einsam sei!

So wühlte sich Oswald geflissentlich tief und tiefer in die bittersten Empfindungen hinein. Er hatte ein dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie abgehetzt und müde, wie unfähig, über sich selbst zur Klarheit zu kommen. Er wäre am liebsten gestorben, um all dem Wirrsal zu entfliehen, wie ein Schwimmer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlassen, und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn ist, sich in den Abgrund sinken läßt. Er drückte das Gesicht in seine Hände, um nichts mehr zu sehen und zu hören.

Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, riß ihn aus seinem wirren Traum. Es war Oldenburg. Der Baron war allein. Das Feuer des Holzstoßes flammte nur noch auf Augenblicke empor und drohte zu verlöschen. Der Mond, über den graue Wolkenschleier zogen, flimmerte geisterhaft in dem dunklen Wasser des Sumpfes. Unheimlich zischelte und flüsterte der Wind in den langen Binsen des Ufers.

Wo ist Czika? fragte Oswald.

Fort, erwiderte der Baron; lassen Sie uns aufbrechen. Es ist spät.

Wird sie nicht wieder kommen?

Ich weiß es nicht.

Und Sie haben zugegeben, daß dies Kind, Ihr Kind, der Zigeunerin folgt in die weite Welt!

Was sollte ich thun? Ist es nicht ihr Kind tausendmal mehr als meines? hat sie es nicht mit Schmerzen geboren, es genährt und gepflegt und beschirmt alle diese Jahre, durch Regen und Sonnenschein, in Noth und Armuth, im wilden Wald, auf der offenen Landstraße? Hat sie nicht für dies Kind gebettelt und gestohlen und vielleicht gethan, was noch schlimmer ist? Was habe ich für mein Kind gethan, nichts – nichts, als seine Mutter vor den Augen eines vornehmen Pöbels wie einen verlaufenen Hund von mir verjagt, einer elenden Kokette zu Liebe! Nein, nein! ich habe kein Anrecht an diesem Kinde!

Während der Baron so sprach, stieß er mit dem Fuße die halb verkohlten Feuerbrände aus dem Holzstoß in den Sumpf, daß sie zischend verlöschten.

Weshalb hat denn die braune Gräfin Sie aufgesucht? weshalb Ihnen das Kind in die Hände gespielt? weshalb dieses Rendezvous selbst herbeigeführt?

Sie wollte den Geliebten ihrer Jugend, den einzigen Mann, den sie vielleicht je geliebt hat, noch einmal sehen; sie wollte ihm das Kind, sein Kind, in die Hände legen und zurücktauchen in ihre Waldesnacht. Aber sie kann ohne das Kind nicht leben und das Kind nicht ohne sie. So mußte ich denn Beide ziehen lassen.

Aber weshalb nicht Beide mit nach Cona nehmen?

Soll ich den Falken an die Kette legen? Der Falke fühlt sich nur wohl in dem unermeßlichen Aethermeer; er stirbt in der dumpfen Stubenluft. Kommen Sie! es ist für uns civilisirte Menschen die höchste Zeit, daß wir in's warme Bett kommen.

Der Baron stieß den letzten Brand hinunter in's Wasser; und wandte sich, zu gehen.

Zwischen den hastig treibenden Wolken hervor blickte der Mond trübäugig in das schwarze Wasser des Sumpfes, und Oswald war es, als ob die langen Binsen, die am Rande wuchsen, flüsterten: hier ist kühle Ruh' für alles Erdenleid.

Neunundvierzigstes Capitel

So! aus der Verlegenheit wären wir glücklich! sagte Albert, ein Packet Werthpapiere in eine voluminöse, abgetragene Brieftasche stopfend, die unter andern auch verschiedene Schreiben in kaufmännischer Hand enthielt, welche, obgleich die meisten darunter von nicht ganz neuem Datum, noch immer nicht beantwortet waren. Es ist doch Alles in Allem ein gutes kleines Frauenzimmer; nicht übermäßig gescheit – aber das ist in diesem Falle nur eine Tugend mehr. Ich glaube wirklich, ich könnte meine Natur so weit verleugnen, die kleine Samariterin zu heirathen. Vielleicht führe ich gar nicht so schlecht dabei. Wer weiß? am Ende steckt noch irgendwo in einem verborgenen Winkel meines Innern der Keim zu einem soliden Spießbürger, der nur der Wärme des häuslichen Heerdes bedarf, um sich glorreich zu entwickeln. Die Sache ist freilich, wie ich mich kenne, äußerst problematisch, aber so ganz und gar unmöglich ist sie denn doch nicht. Ich sehe mich schon im Geist an der Seite der kleinen Frau des Sonntags Nachmittags ehrsam durch die Felder wandern, das Lied der Spatzen und die Philippiken der treuen Ehehälfte gegen die steigende Unverschämtheit der Bäcker und Fleischer mit langen Ohren einsaugend, während vor uns her zwei junge Weltbürger watscheln, die eine flüchtige Aehnlichkeit mit einer mir sehr werthen Person haben, und hinter uns aus einem, von einem Mädchen für Alles gezogenen Wägelchen ein feines Stimmchen erschallt, welches den beredtesten Commentar zu den staatsökonomischen Abhandlungen der kleinen Frau liefert!

Albert stöhnte, als ob er sich auf dieser imaginären Promenade den Fuß an einen sehr reellen Stein gestoßen hätte. Er sprang von dem Sopha auf und ging, die Arme auf dem Rücken, nachdenklich im Zimmer auf und ab. Die Karten sind fertig, sagte er, vor seinem Zeichentische stehen bleibend: Anna-Maria hat mich abgelohnt; ich habe eigentlich hier nichts mehr zu thun, und die Frage der gnädigen Frau, wenn ich abzureisen gedächte, war auch ziemlich deutlich. Wie ich diese stolze, nichtsnutzige Brut hasse – Alle, keinen und keine ausgenommen, nicht einmal die schöne hochnasige Helene, die mich immer mit so kühler Verachtung aus ihren großen Augen ansieht; und am wenigsten meinen edlen Freund Felix, der, glaube ich, nicht übel Lust hätte, mir Hörner aufzusetzen, ehe ich noch zu diesem Schmuck ein legitimes Recht habe. Könnte ich doch Euch Allen, wie Ihr da seid, einen recht gründlichen Schabernack spielen, daß Ihr Euer Leben lang an mich denken solltet! Euch zum Beispiel den Erben von Stantow und Bärwalde in der Person – ja, in welcher Person? hic haeret aqua.

Aus den Briefen, die ich habe, ist wohl etwas, aber nicht viel zu machen. Ich kann noch nicht einmal die vortreffliche Anna-Maria damit in's Bockshorn jagen. Fände ich nur Gelegenheit, den Koffer der alten Mutter Clausen durchzustöbern! Es ist bei mir zur fixen Idee geworden, daß da etwas zu finden sein muß. Aber vergebens, daß ich die Gelegenheit gründlich studirt habe, daß ich Tag und Nacht um's Haus geschlichen bin, einen Moment abzuwarten, wo die Alte sich einmal daraus entfernt; sie sitzt darin fest wie eine Kröte unter dem Stein. – Ad vocem dieses liebenswürdigen Jünglings! Ich habe schon daran gedacht, ob man ihn nicht nolens volens zum Prätendenten machen könnte; denn die ganze Farce als einen lustigen und nebenbei lukrativen Maskenscherz anzusehen, wird ihm wohl seine dumme Ehrlichkeit nicht erlauben. Es ist merkwürdig, wie ehrlich die Leute sind, denen es an nichts fehlt! Und dieser Stein ist gar nicht einmal so glücklich situirt. Er hatte kein Vermögen – warum sollte er sich sonst mit anderer Leute Kindern plagen? Er wäre gerade der Mann, ein anständiges Vermögen durchzubringen. Und es paßt so weit Alles. Er hat genau das erforderliche Alter; er hat, wie er mir gesagt hat, seine Mutter kaum und andere Verwandte, excepto patre, gekannt. Und überdies hat er eine zufällige, aber frappante Aehnlichkeit mit der älteren Grenwitzer Linie. Ich wollte, ich wäre er, das heißt mit meinem Hirn dazu. In welcher fragwürdigen Gestalt wollte ich bald vor Euch hintreten.

Ein schüchternes Klopfen an der Thür unterbrach Albert's Meditationen. Da auf sein Herein! Niemand eintrat, ging er selbst und öffnete. Ein kleiner, blondköpfiger, barfüßiger Bauerknabe stand da, und schaute mit nicht allzu klugen Augen fragend zu ihm auf.

Zu wem willst Du, Kleiner?

Sind Sie der Candidat auf dem Schlosse?

Ja wohl! sagte der alle Zeit zu Scherz und Kurzweil aufgelegte Albert.

Mutter Clausen hat mich hergeschickt –

Wer?

Mutter Clausen hat mich hergeschickt –

Komm herein, Kleiner; sagte Albert, den Knaben bei der Hand in das Zimmer führend, und die Thür hinter ihm schließend:

Was will denn Mutter Clausen von mir?

Mutter Clausen liegt auf den Tod, und hat mich hergeschickt zu dem Herrn Candidaten, er soll doch noch einmal zu ihr kommen.

Der Knabe athmete tief auf, als er die Bergeslast seiner Commission vom Herzen hatte. Albert griff nach seiner Mütze.

Ich komme gleich mit Dir, oder lauf nur voran, und sag': ich käme gleich. Und höre! wenn Dich Jemand im Schlosse fragt, woher Du kommst, sag' nur: Du hättest Deine Bestellung schon ausgerichtet. Hier hast Du einen Silbergroschen und nun mache, daß Du fortkommst!

Der Knabe entfernte sich, über Albert's großmüthigem Geschenk Albert's wohlüberlegten Befehl, sich möglichst schnell davon zu machen, vergessend. Er setzte sich, unten auf dem Schloßhofe angekommen, auf den Rand des Brunnens der Najade, und überlegte, den Groschen in der Hand herumdrehend, ob er sich jetzt gleich die ganze Welt, oder vorläufig nur den Stieglitz kaufen sollte, welchen ihm ein anderer Bauerknabe heute Morgen angeboten hatte?

Er mochte wohl eine Viertelstunde da gesessen haben, bis er zuletzt, vom vielen Umherlaufen ermüdet, einnickte. So fand ihn Oswald, der von einem einsamen Spaziergange zurückkehrte. Da das Bild des auf dem Rande des Brunnens schlafenden zerlumpten Knaben ihn interessirte, trat er näher. Der Knabe fuhr in die Höhe und rieb sich verwundert die Augen.

Wie kommst Du hierher, Kleiner? fragte Oswald.

Mutter Clausen hat mich hergeschickt! sagte jener, der in diesem Augenblicke nicht wußte, ob er seine Bestellung schon ausgerichtet hatte, oder nicht.

Was ist mit Mutter Clausen? fragte Oswald, der sofort ahnte, es müßte seiner alten Freundin etwas zugestoßen sein.

Mutter Clausen hat mich hergeschickt, wiederholte der Knabe; sie liegt auf den Tod, und läßt dem Herrn Candidaten sagen, er möchte –

Mehr hörte Oswald nicht. – Die gute, alte Frau, an der er im Anfang so lebhaftes Interesse nahm und die er doch in der letzten Zeit so ganz vergessen hatte, im Sterben, vielleicht allein, ohne Hülfe, ohne daß ihr eine freundliche Hand das Kissen glättete – er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte, denselben Weg, welchen Albert eine Viertelstunde zuvor, mit nicht geringerer Eile zurückgelegt.

Albert war, als der Knabe sich entfernt hatte, durch den Garten nach dem kleinen Thor geschlichen. Niemand hatte ihn fortgehen sehen. Die Familie war ausgefahren; Oswald glaubte er auf seinem Zimmer.

Fortes fortuna juvat; dachte er, während er unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg besetzt war, hinlief. Es ist jetzt noch Alles auf dem Felde. Die Alte hätte sich keine passendere Stunde zum Sterben aussuchen können. Ich will nur hoffen, daß sie schon todt ist, wenn ich komme, und ich so aller unnöthigen Auseinandersetzungen überhoben bin.

In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht; aber er vermied die Hauptstraße, sondern lief an den Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis er zu der Wohnung Mutter Clausens kam. Hier sprang er über den niedrigen Zaun und trat durch die offene Hinterthür auf den kleinen Flur. Er horchte, ob sich etwas im Hause rege. Er hörte nichts, als das Ticken der großen Schwarzwälder-Uhr aus der Stube Jochen's, und von der Dorfstraße her das Lachen von ein paar Kindern – Mutter Clausen's kleinen Pflegekindern – die sich in der Abendsonne im Sande balgten.

Jetzt nur um Himmelswillen keine mitleidige Seele bei der Kranken in der Stube, murmelte Albert, leise die Thür, die zu dem Stübchen der Alten führte, aufdrückend.

Er trat auf den Fußspitzen ein. Es dunkelte schon in dem niedrigen engen Raum. Alberts erster Blick fiel auf die große Lade, die noch wie damals in der Ecke stand; sein zweiter auf die Gestalt der Alten. Sie saß auf dem großen Lehnstuhle, »in welchem Baron Oscar gestorben war.« Sie hatte ihren Sonntagsstaat angelegt; ihr Eichenstock lehnte neben ihr – man hätte glauben sollen, sie hätte sich bereit gemacht, nach Faschwitz in die Kirche zu gehen und sei nur eben noch ein wenig eingenickt, sich auf den langen, langen Weg vorzubereiten.

Bist Du es, Junker! sagte sie mit zitternder Stimme, und sie hob das Haupt mit dem schneeweißen Haar empor und blickte nach der Thür. Tritt näher – ganz nahe, daß ich Dich mit der Hand berühren kann. Wo bist Du? Es ist dunkel um mich her, ich sehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond durch die Bäume? hörst Du, wie die Nachtigall singt? horch! wie süß, wie schön! Oscar, Du darfst die Liese nicht verlassen; sie weint sich sonst die alten Augen aus. Und dem Harald mußt Du sagen: daß er die arme Marie nicht so quält. Sonst muß sie hinaus in die wilde Nacht. Leb' wohl, liebes Kind! Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt sicher in der Lade. Mutter Clausen kann nicht lesen; es kommt der Rechte schon zur rechten Zeit.

Der Kopf der Sterbenden sank herab auf die Brust. Albert glaubte sie todt. Er trat an die Lade, hob den schweren Deckel und durchwühlte hastig und doch methodisch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider darin, die nicht der Mutter Clausen gehört haben konnten, städtische Kleider, wie sie junge Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumensträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmucksachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines goldenes Kreuz an einem schwarzen Sammetbande. Das Alles mochte für einen Andern von hohem Interesse sein, aber für Albert hatte es nicht das mindeste. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück nach dem andern herausnehmend, nichts von dem fand, was er suchte. Endlich – da! auf dem Boden des Koffers, in der Ecke, unter einer schwarzseidenen Robe versteckt – ein ziemlich bedeutendes Packet – Briefe, Papiere – das war's! – Er ließ es in die Tasche seines Rockes gleiten; er nahm mit beiden Armen, was er aus dem Koffer genommen hatte, stopfte es hinein, so gut es gehen wollte, drückte den Deckel wieder zu – und, wie er sich jetzt von den Knieen aufrichtete, waren das nicht Schritte, die eilig näher kamen? Im Nu war er an dem Fensterchen, das von der Stube aus in das Gärtchen hinter dem Hause führte. Er riß es auf, er zwängte sich mit einer Schnelligkeit hindurch, die dem gewandtesten Gauner zu hoher Ehre gereicht haben würde; kroch auf allen Vieren durch die Johannisbeerbüsche, sprang über den niedrigen Zaun und war im nächsten Augenblick in den goldenen Wogen eines Roggenfeldes verschwunden.

Als Albert seinen Rückzug durch das Fenster eben bewerkstelligt hatte, trat Oswald, athemlos von seinem raschen Lauf, in das Zimmer. Er glaubte schon zu spät zu kommen, er kniete neben der Alten nieder und nahm ihre welken, erkalteten Hände in die seinen.

Und diese Berührung schien die Sterbende noch einmal zum Leben zu erwecken. Sie richtete sich gerade auf und sagte, dem vor ihr Knieenden die Hände auf's Haupt legend, mit einer Stimme, die schon von jenseits des Grabes herüberzutönen schien: Der Herr segne und behüte Dich! der Herr gebe Dir Frieden!

Amen! murmelte Oswald.

Die Hände der Alten glitten sanft auf ihren Schooß. Oswald blickte empor. Der Schein der untergehenden Sonne fiel durch das niedrige Fenster; das Antlitz der Alten war wie verklärt in dem rosigen Licht. Aber das rosige Licht verschwand; und der graue Abend schaute herein auf das bleiche Antlitz einer Todten.

Oswald drückte ihr die Augen zu. – Von drüben her schallte durch die offene Thür das monotone Tik-tak der Wanduhr; von der Straße tönte das Lachen und Jauchzen der spielenden Kinder. Was weiß das Leben vom Tode? was der Tod vom Leben? was die Ewigkeit von Beiden? murmelte Oswald, als er sich nach einigen Minuten von der Seite der Todten aufrichtete, und die Thränen abwischte, die ihm heiß von den Wangen rollten.

Fünfzigstes Capitel

Am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück war Herr Timm abgereist. Er hatte den Baron gebeten, ihn bis nach B., dem nächsten Städtchen fahren zu lassen, von dort wolle er Extrapost nehmen. Der gastfreundliche Baron fragte: ob es denn so große Eile habe? ob er sich nicht ein paar Tage von seiner angestrengten Arbeit ausruhen wolle? Da Albert indessen gestern Abend einen bedeutenden Auftrag erhalten zu haben vorgab (der Postbote hatte ihm in der That einen Brief gebracht), so ließ sich dagegen allerdings nichts einwenden, und der Baron befahl dem schweigsamen Kutscher, die schwerfälligen Braunen anzuspannen. Herr Timm sagte Allen flüchtig Lebewohl und fuhr von dannen. Es vermißte ihn Niemand – Niemand, mit Ausnahme der kleinen Genferin. Aber sie vergoß ihre heißen Thränen in der Stille ihres Stübchens und die Gesellschaft sah von ihrem Kummer nichts, als die rothgeweinten Augen, die sie durch heftigen Kopfschmerz erklären zu können hoffte, wenn sie Jemand darnach fragte. Es fragte sie aber Keiner.

Hatten doch Alle genug mit sich selbst zu thun! war doch Jeder vollauf mit dem, was ihm zunächst am Herzen lag, beschäftigt!

Der Tod der alten Frau war für Oswald ein neuer Schlag. Es war, als ob sein verdüstertes Gemüth nicht zur Ruhe kommen, als ob an seinem Himmel der letzte helle Streifen verschwinden, und gänzliche Nacht ihn umgeben sollte! Er hatte Mutter Clausen nur selten gesehen, aber es war jedesmal unter so eigenthümlichen Verhältnissen gewesen; er hatte jedesmal einen so tiefen, ja erschütternden Eindruck von diesen Begegnungen davongetragen, daß ihm jetzt war, als hätte er eine Ahne verloren, deren zärtliche Liebe er mit Gleichgültigkeit und Undank vergolten hatte. Wie bestimmt hatte er sich vorgenommen, als er das letzte Mal mit Albert in ihrer Hütte gewesen war, die alte Frau nicht wieder aus den Augen zu verlieren; nachzufragen, ob er ihr in irgend einer Weise dienen, irgendwie ihr einsames Alter erfreuen könne? Sie hatte seiner in ihrer letzten Stunde gedacht; er hatte in allen diesen Tagen keine Minute Zeit gehabt, an sie zu denken. Sie hatte nicht sterben mögen, ohne ihm ihren Segen zu geben: was hatte er im Leben Gutes gethan, diesen Segen zu verdienen? – Was half es nun der Todten, daß er für ihr Begräbniß Sorge trug? daß er mit Bruno hinter dem Leiterwagen herging, auf dem man ihren schmucklosen Sarg über die Haide nach Faschwitz fuhr, ihn auf dem dortigen Friedhofe in die Gruft zu senken? daß er nach Grünwald schrieb und eine kleine Marmortafel bestellte, auf daß ihr Grab nicht wie einer Geächteten Grab sei? Wie hätte ihm die Lebende für den geringsten Theil all der Mühe, die er sich jetzt um die Todte gab, so herzlich gedankt!

Und war es, weil er ihn so wenig verdient hatte, daß der Segen der Sterbenden nicht in Erfüllung ging? Der Frieden, den sie für ihn herabflehte mit dem letzten Hauch ihres Mundes, wollte nicht einziehen in sein Herz. Wie ein Verzweifelter kämpfte er mit der rasenden Leidenschaft, die sich wie ein Orkan über ihn gestürzt hatte, aber jeder neue Tag mußte ihn nur immer mehr von seiner Ohnmacht überzeugen. Brachte ihn doch jeder neue Tag oft auf lange Stunden in die Gesellschaft des schönen Mädchens; trat sie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den stolzen Lippen entgegen, sobald der leuchtende Sommermorgen die kurze und für ihn so lange Nacht verdrängt hatte; saß er ihr doch bei Tische gegenüber; brachten die Unterrichtsstunden, gemeinsame Spaziergänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem so kleinen Kreise auf dem Lande beinahe unvermeidlich sind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung!

Und wohl mochte es einem leidenschaftlichen Herzen schwer fallen, von so viel Schönheit, Anmuth und Geist nicht gerührt zu werden. Empfanden doch Alle, die mit Helene in Berührung kamen, den wunderbaren Zauber ihrer Persönlichkeit; schien es doch fast un möglich, nicht mit Heftigkeit für oder gegen sie Partei zu nehmen; gab es doch selbst in der Gesindestube unter den Leuten lebhafte Scenen, da der schweigsame Kutscher, auf die junge Baronesse anspielend, brummte: es sei nicht Alles Gold, was glänze, worauf die alte brave Köchin erwiederte: zu schlechten und mißgünstigen Menschen kämen die lieben Engel allerdings nicht, was denn eine unerquickliche Debatte über schlechte Menschen im Allgemeinen und Besondern herbeiführte, bei der es von beiden Seiten ziemlich scharf herging und verschiedene helle Streiflichter auf die Familienangelegenheiten der gnädigen Herrschaft geworfen wurden. Denn selbst in diesen Regionen war man so ziemlich darüber einig, daß der Baron Felix sich nicht blos zum Vergnügen so lange auf Schloß Grenwitz aufhielt; ja Felix' Kammerdiener behauptete: es gäbe gewisse Leute, die über gewisse Dinge eine ziemlich gewisse Auskunft geben könnten, daß aber Verschwiegenheit die erste Pflicht eines guten Bedienten sei. Er wolle nur so viel sagen, daß sein Herr eine Sache, die er angefangen habe, auch zu Ende bringe, und daß er selbst der unmaßgeblichen Meinung sei, es gebe kein Mädchen auf Erden, das seinem Herrn auf die Dauer widerstehen könne – eine Behauptung, die von dem weiblichen Theil der Gesellschaft mit großer Entrüstung zurückgewiesen wurde.

Was den Blicken dieser Leute nicht entging, konnte Oswald's durch die Liebe hundertfach geschärftem Auge nicht verborgen bleiben. Mußte er doch täglich wahrnehmen, wie Baron Felix Alles aufbot, sich die Gunst seiner schönen Cousine zu erwerben: alle Gewandtheit, die er sich in tausend Intriguen auf den glatten Parquets großstädtischer Salons angeeignet, allen Witz, mit dem ihn die Natur keineswegs kärglich versehen hatte; alle Vortheile, die ihm sein Verhältniß als naher Verwandter gestatteten. Mußte er doch sehen, mit welcher Umsicht die Baronin diese Bemühungen auf jede Weise unterstützte, und Felix in jeder Hinsicht eben so unermüdlich wie geschickt secundirte. Zwar sagte er nein! oder schwieg, wenn Bruno nach Tische, nach einem Spaziergang mit zornigem Antlitz diese oder jene Frechheit von »dem Affen, dem Felix« erzählte; aber er wußte recht gut, daß der Knabe nicht falsch gesehen oder gehört hatte, und sein einziger Trost war, daß Helene's Stolz in die Verbindung mit einem ihrer so ganz und gar unwürdigen Mann nun und nimmermehr willigen werde.

Was Fräulein Helene selbst betraf, so ging sie ihren stillen Weg, ohne scheinbar weder nach rechts noch links zu blicken, nur daß in der letzten Zeit ihr Betragen noch zurückhaltender, ihre Miene noch vornehmer, ihr Lächeln noch seltener geworden war. Sie wußte sehr wohl, daß sie in dem Kampfe, der ihr drohte, vergeblich an das Herz der kalten, egoistischen Mutter, vergeblich an die Einsicht des alten, schwachen Vaters, vergeblich an die Ritterlichkeit des frivolen, zügellosen Felix appeliren würde, und daß sie sich auf Niemand verlassen könnte, als auf sich selbst. Aber dieses Bewußtsein diente nur dazu, den Muth des hochherzigen Geschöpfes anzuschüren und zu entflammen. Die Annäherung, die zwischen ihr und der Mutter stattgefunden hatte, war nur eine scheinbare gewesen. Zwischen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht übertriebenen, immer aber hochsinnigen Idealismus huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung möglich.

Das sprach Helene wiederholt in den Briefen aus, welche sie jetzt häufig an ihre liebste Freundin und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Hamburg schrieb. Dearest Mary, hieß es in einem derselben, wie oft hast Du Dich über das grausame Geschick beklagt, welches Dich mit Reichthum überschüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern, Geschwister, Cousins und Cousinen – alle jene Freunde und Freundinnen, die uns die Natur selbst mit auf den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mädchen, es giebt noch ein schlimmeres Loos, als das Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken erfaßt, allein dazustehen in der Welt, ist nicht ohne eine gewisse Süßigkeit. Wie oft sprachst Du mit Entzücken von Deinem Bruder Harry, der Dir in der Blüthe seiner Jahre geraubt wurde, von Deiner Schwester Kitty, der holden Blume, die so frühverwelkte – Du sagtest, sie seien Dir nicht gestorben, könnten Dir nicht sterben, denn sie lebten schöner und herrlicher in Deiner Erinnerung fort. Die Schatten der lieben Todten umschwebten Dich überall, sie seien Dir eine liebe Gesellschaft, in der Du Dich unendlich wohler fühltest, als oft, sehr oft in der kalten, egoistischen, die Dich umgiebt. O gewiß: das Leben ist der Güter höchstes nicht; aber die Liebe ist es. Das Leben ohne Liebe ist ganz werthlos. Deine Verwandten sind gestorben, aber sie leben Dir; meine Verwandten leben, aber für mich sind sie todt. – Es ist ein grauses Wort, theuerste Mary, aber ich streiche es dennoch nicht wieder aus, denn es ist wahr, und wir haben ja geschworen, uns nie die Wahrheit zu verhehlen, koste uns ihr Bekenntniß noch so viel. Ja, sie sind todt für mich, meine Verwandten, und ob ich gleich die Hälfte meines Lebens hingeben möchte, sie ins Leben zu rufen – mit frommen Wünschen ist hier nichts gethan. Wer leidet denn für uns? Doch nur die, in deren Herzen wir allezeit eine sichere Zufluchtsstätte finden vor allem Leid, das uns bedrängt, vor allen Zweifeln, die uns ängstigen; die nichts wollen, als unser Glück, und unser Glück nicht in der Erfüllung ihrer eigenen Wünsche, in der Befriedigung ihrer eigenen Selbstsucht erblicken. Und ist dies nicht der Fall bei den Meinigen? kann ich ihnen mein Herz erschließen? muß ich nicht stets fürchten, bei ihnen anzustoßen, wenn ich spreche, wie ich denke? fragen sie nach meinen Neigungen? ängstigen sie mich nicht vielmehr mit Zumuthungen, mit Andeutungen, die mir das Blut erstarren machen? Freilich mein guter alter Vater – er würde, wenn es zum Aeußersten käme, mich nicht verlassen; aber großer Gott, ist denn die Furcht, es könne bis dahin kommen, nicht schlimm genug? und ist denn der Beistand, den man sich ertrotzen muß, etwas, worauf wir mit vollem Vertrauen, mit gläubiger Zuversicht blicken können? Ach, Mary, ich kann Dir nicht sagen, wie fremd, wie unheimlich mir der Geist ist, der in meinem elterlichen Hause waltet, wie sehr ich mich zurücksehne nach unserm stillen Pensionsleben, wo wir, wenn uns auch die Welt draußen verschlossen war, in unseren Träumen und ach! vor allem in unserer herzlichen Freundschaft eine schönere und reichere Welt fanden. Hier hab' ich Niemand, dem ich einen Blick in diese Welt verstatten möchte, Niemand, als einen Knaben, bei dem ich auf Verständniß nicht rechnen kann, und einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unübersteigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich spreche. Ich will Dir nicht verschweigen, daß ich in letzterer Zeit an diesem Mann ein Interesse genommen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte – ein Bekenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unseres Covenant, schuldig bin. Vielleicht fühle ich mich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich ist. Er steht, wie Du, allein, ganz allein in der Welt; seine Mutter hat er kaum gekannt, seinen Vater schon vor Jahren verloren, Brüder und Schwestern nie gehabt. Er ist noch jung, aber reiche Herzen erleben viel in kurzer Zeit und er muß viel erlebt und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth auf seiner hohen Stirn, in seinen tiefblauen großen Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat; manchmal zuckt es so schmerzlich um seinen Mund, daß ich viel, sehr viel darum geben könnte, dürfte ich zu ihm treten und sprechen: sage mir, was Dich quält; vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch das nicht, kann ich doch mit Dir fühlen. Wir Beide, theure Mary, sind in der Ueberzeugung aufgewachsen, daß die unteren Stände mit dem Adel der Geburt auch des Adels der Gesinnung entbehren, daß wir bei ihnen auf ein Verständniß dessen, was uns hoch und theuer ist, in keinem Falle rechnen können. Ich gestehe, daß ich seit meiner Ankunft in Grenwitz von diesem Vorurtheil – denn so muß ich es jetzt bezeichnen – in manchen Punkten zurückgekommen bin, daß ich wenigstens jetzt eingesehen habe, wie sich zu der Regel doch auch Ausnahmen finden. Stein ist eine solche Ausnahme. Ich habe noch kein Wort aus seinem Munde gehört, das den Plebejer verrathen hätte, dagegen viele, sehr viele, die mir aus der Seele gesprochen waren, die ein lautes Echo in meinem Herzen fanden. Er spricht mit einer Anmuth, wie ich es noch von keinem Menschen gehört habe, mit einer reichen Modulation der Stimme, die wie Musik in meinem Ohre klingt, so daß ich oft noch stundenlang nachher versuche, die Art und Weise, den Tonfall, mit dem er dieses oder jenes sprach, in meiner Erinnerung zurückzurufen. Es liegt für mich ein unendlicher Zauber in einer schönen klangreichen Stimme; es ist mir immer, als sprächen die Menschen mit dem Herzen; als könnte ich, oft schon nach wenigen Worten, sagen: dies ist ein guter, dies ist kein guter Mensch. Und bei Stein wenigstens trifft es zu. Ich habe schon manche Proben von seiner Herzensgüte gesehen. So starb vor ein paar Tagen in unserem Dorfe eine alte Frau, die früher Wirthschafterin auf dem Schlosse gewesen war und von dem Vater eine kleine Pension hatte. Niemand kümmerte sich um sie, nur Stein, der auch nach ihrem Tode für ihr Begräbniß Sorge trug, ja, sie zu ihrer letzten Ruhestätte, mit Bruno, den weiten Weg bis zum Friedhofe begleitet hat. Das ist ihm im Schlosse sehr übel ausgelegt worden und ich mußte sehr lieblose Bemerkungen darüber mit anhören; besonders von einer gewissen Person, die Gott danken sollte, wenn er sie nur einmal auf den Gedanken einer so guten That kommen, geschweige denn eine solche wirklich ausführen ließe. Aber ich will dieser Person nicht die Ehre anthun, noch mehr Worte über sie zu verlieren. Ich habe beschlossen, daß sie in Wirklichkeit für mich nicht existiren soll, und so soll sie es auch nicht in Worten.

Dieser Brief, in welchem sich Fräulein Helene so unumwunden über die Personen ihrer Umgebung aussprach, wurde nie beantwortet, denn er gelangte nie an seine Adresse.

Einundfünfzigstes Capitel

Es war in der Nachmittagsstunde. Der alte Baron schlief in dem Wohnzimmer. Er saß in dem großen Schaukelstuhl; die Zeitung, in welcher er gelesen hatte, war ihm aus der welken, herabhängenden Hand geglitten. Er sah recht verfallen aus in diesem Augenblicke; recht wie ein alter Mann, der nicht mehr viele Jahre zu leben hat und dessen Leben die leichteste Krankheit ein rasches Ende machen kann. – So dachte Anna-Maria, die ihm gegenüber auf ihrem gewöhnlichen Platze gesessen und ihn eine geraume Zeit, in tiefes Nachdenken verloren, aufmerksam betrachtet hatte. Jetzt erhob sie sich leise und trat vor die Pendeluhr über dem Kamin. Es war bald vier, die Stunde, in welcher nach der unwandelbaren Ordnung des Hauses der Kaffee getrunken werden mußte – im Garten, wie stets, wenn das Wetter es erlaubte. Die Baronin stand im Begriff ihren Gemahl zu wecken, sie besann sich indessen eines anderen, schritt durch die offene Thür in den Garten hinab, und fragte den Bedienten, welcher das Kaffeeservice in die Laube trug, ob Baron Felix schon gerufen sei? – Noch nicht, gnädige Frau! – So gehen Sie hinauf; ich ließe ihn bitten, doch, wo möglich, sogleich zu kommen, und hören Sie! sagen Sie Mademoiselle, ich wollte heut' selbst den Kaffee serviren, sie möge nur in der Wäschkammer bleiben. – Zu Befehl, gnädige Frau. – Und was ich sagen wollte, Sie brauchen die Anderen noch nicht zu rufen. – Zu Befehl, gnädige Frau.

Der Mann ging seine Aufträge auszurichten. Anna-Maria schritt an der Laube vorüber in einen langen, ganz überwölbten Buchengang, der von dem großen Rasenplatze aus mehrere hundert Schritte bis an ein Gehölz führte, in welchem eine kleine verfallene Kapelle stand. Sie schien ganz vergessen zu haben, daß sie Felix in die Laube beschieden hatte, denn sie ging immer weiter, die Augen auf den Boden geheftet, bis sie das Ende des Ganges und die Kapelle erreicht hatte.

Es war eine liebliche, süß melancholische Stelle. Uralte Riesenbäume umwölbten den Platz mit ihren breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenstrahl sich hineinstehlen konnte. Der Boden war mit dichtem Moos bedeckt; langes Gras wuchs zwischen den umhergestreuten Steinfliesen; die weitklaffenden Spalten des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu übersponnen; hier und da ragte ein hoher blühender Busch aus den Ruinen. Auf dem morschen Kreuz in einer der leeren Fensternischen saß ein Vögelchen und sang. Das war der einzige Laut, den man vernahm. Er schien die Stille rings umher nur noch stiller zu machen.

Einen Liebhaber der Einsamkeit würde der Platz entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum einmal die Augen vom Boden, sich flüchtig umzusehen. Sie hatte überhaupt sehr wenig Sinn für Sonnenstrahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für blaue Schatten und andere Requisiten landschaftlicher Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geist von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen. Sie setzte sich auf eine Steinbank unmittelbar unter der leeren Fensternische, in welcher das Vögelchen sang, nahm aus der Tasche ihres Kleides einen Brief und begann denselben noch einmal zu lesen.

Es war der Brief, den Helene heute Morgen in dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, sie werde sich nie um ihre Correspondenz kümmern, eine Wahrheit sei, geschrieben, und in dem vollen Vertrauen auf die Heiligkeit des Briefgeheimnisses ihrem Kammermädchen übergeben hatte mit dem Auftrage, ihn in die Küche zu tragen, wo der Postbote sich an einer Tasse Kaffee erquickte. Das Mädchen war der Baronin auf dem Flur begegnet, und von dieser gefragt worden, von wem der Brief sei? Auf die Antwort: von dem gnädigen Fräulein, hatte die Baronin sich den Brief geben lassen, mit der Weisung, den Postboten hernach zu ihr auf's Zimmer zu senden, sie selbst habe noch mehrere Aufträge für ihn.

Und hier saß sie nun auf der steinernen Bank neben dem alten Gemäuer unter der Fensternische, in welcher das Vögelchen so lustig zwitscherte und studirte den Brief, den unseligen Brief, den sie nun schon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem Baume der Erkenntniß, die sie so freventlich gestohlen, war bitter, sehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie geliebt; jetzt aber haßte sie ihre Tochter. Also wirklich! ihr schlimmster Verdacht bestätigt! für alle ihre Güte mit schwarzem Undank belohnt! des Egoismus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen ihren Plänen von diesem Starrkopf durchkreuzt! Helene im besten Einverständniß mit den beiden Verhaßten! Fräulein von Grenwitz in Liebe zu einem Miethling, einem gemeinen Menschen, der bei ihren Eltern in Lohn und Brod stand! Denn was bedeuteten zuletzt all die schönen Phrasen von Oswald's Herzensgüte, von dem Antheil, den sie an seinem geheimen Kummer nahm? Die Baronin verstand sich freilich schlecht auf die Sprache der Liebe; so viel aber wußte sie, die Gleichgültigkeit spricht so nicht. Dahin also war es gekommen! Helene wollte Krieg! gut – sie sollte ihn haben. Es sollte sich zeigen, wer die Stärkere war: die Mutter oder die Tochter. Jetzt zurückweichen? zugeben, daß dieses ungerathene Kind ihren Willen durchsetzt? den jahrelang erwogenen Vorsatz einer thörichten Mädchenlaune opfern? Nimmermehr!

Aber was jetzt thun? noch einmal es mit scheinbarer Güte versuchen? oder die Maske fallen lassen und befehlen, wo mit Bitten nichts anzurichten war? Und vor allem: wie weit Felix in das Geheimniß einweihen? würde sich nicht sein Stolz regen, wenn er erführe, wie tief er in den Augen Helenens stand, wie sehr sie ihn verachtete? Konnte er nicht zurücktreten? und setzte dann Helene nicht doch ihren Willen durch? triumphierte die Tochter dann nicht doch über die Mutter?

Ehe die Baronin über diesen Punkt mit sich in's Klare kommen konnte, vernahm sie Schritte ganz in ihrer Nähe. Sie faltete eiligst den Brief zusammen und verbarg ihn hastig in der Tasche ihres Kleides.

Felix hatte Niemand in der Laube gefunden, und zufällig einen Blick in den Buchenwald werfend, die Baronin in der Tiefe desselben zu erblicken geglaubt.

Also doch, sagte er, als sich die Baronin bei seiner Annäherung erhob; ich wußte wahrlich nicht, ob Sie es waren. Der Kaffee steht in der Laube; aber, wie König Philipp auf dem Thron, einsam und allein. Es scheint sich alle Welt, wie ich, verschlafen zu haben.

Setzen Sie sich hierher zu mir, lieber Felix, sagte die Baronin; es hat mit dem Kaffee keine so große Eile. Wir können hier ungestörter sprechen als dort.

Ein allerliebst verschwiegenes Plätzchen zu einem ehrbaren Rendezvous, erwiederte Felix lachend, neben der Baronin auf dem Bänkchen Platz nehmend.

In diesem Augenblick verstummte das Vögelchen, das oben in der Fensternische gesessen hatte und flog in einen der Bäume. Das bleiche, von dunkeln Locken eingerahmte Gesicht eines Knaben erschien in der Höhlung und schaute herunter, um sofort, nachdem es die Beiden erblickt hatte, wieder zu verschwinden.

Daß Sie doch noch immer zum Scherz aufgelegt sind, lieber Felix! sagte die Baronin.

Noch immer? erwiederte Felix, was ist denn geschehen, weshalb ich weinen sollte? Sie können wohl nicht vergessen, was ich neulich Abends sagte? Pah! ich habe mich lange von dem Schreck erholt; es war ein blinder Schuß, glauben Sie mir!

Ich wollte, ich könnte Ihre Zuversicht theilen, lieber Felix; aber ich habe meine guten Gründe, anderer Meinung zu sein. Ich habe Helene seitdem genauer beobachtet; ich kann mich von dem Gedanken nicht losmachen, daß doch etwas an der Sache ist.

Aber, verzeihen Sie mir, Tante; Sie haben ein bewunderungswürdiges Talent, Alles schwarz zu sehen. Es war ein kindischer Einfall von der kleinen Breesen; sie wollte mich ärgern – voilà tout! Ich kann Helenen nicht zutrauen, daß sie mir einen Schulmeister vorzieht. Es wäre ja lächerlich, horriblement lächerlich, sagte der Ex-Lieutenant und betrachtete wohlgefällig seine lackirten Stiefel.

Und gesetzt auch, Helene könnte sich nicht so weit vergessen, – daß es nur die thörichte Laune eines Augenblicks wäre, versteht sich ohnehin von selbst – sind Sie denn mit ihrem Betragen, Ihnen gegenüber, zufrieden?

Sie wird ihr Betragen ändern, sobald sie sieht, daß wir Ernst machen.

Und wenn sie sich nicht ändert?

Nun, so sind wir Gott sei Dank noch nicht verheirathet; sagte Felix in der Bewunderung seiner Stiefel verloren, wahrscheinlich nicht genau wissend, was er sagte.

Dann dürfen wir ja auch unser Gespräch abbrechen, sagte die Baronin sich erhebend; wenn Sie mit einer solchen Gleichgültigkeit von dem Scheitern eines Planes sprechen können, an dessen Ausführung, sollte ich denken, uns Beiden gleichviel gelegen sein muß, so verlohnt es sich auch nicht der Mühe, weiter darüber zu reden.

Aber theuerste Tante, sagte Felix aufspringend und der Baronin die Hand küssend; Sie sind auch wahrlich heute in einer schauerlichen Laune. Wie können Sie ein Wort, bei dem ich mir, auf Ehre, nicht das Mindeste gedacht habe, so übel nehmen? Es fuhr mir so heraus. Sie wissen ja, daß meine Zunge Vieles spricht, was ich bei Leibe nicht verantworten möchte. Setzen Sie sich wieder, ich bitte Sie. Sie sagten, wenn Helene ihr Betragen nicht ändert? meine ernste Antwort ist: so heirathe ich sie doch. So etwas findet sich, wenn man nur ernst im Wagen sitzt; auf der ersten Station wird geweint: auf der zweiten wird geschmollt; auf der dritten fängt man an zu lächeln; auf der vierten –

Genug! sagte die Baronin, Sie sind ein unverbesserlicher Leichtfuß, der –

Ueberall da hingelangt, wo er hingelangen will. Und deshalb lassen Sie Ihre Bedenken fahren und uns zum Kaffee gehen, der sonst wahrlich kalt wird.

Nicht so schnell! sagte die Baronin; wozu rathen Sie denn nun?

Wozu ich immer gerathen habe. Sagen Sie Helenen – da ich ja doch einmal mich auf keinen Fall direct in die Sache mischen soll – Du heirathest Deinen Vetter, Baron Felix von Grenwitz, und zwar binnen hier und irgend einer beliebigen Zeit. Abgemacht, Sela.

Ist das Ihr Ernst?

Mein wohlerwogener Ernst. Wann wollen Sie den großen Ball geben?

Uebermorgen.

Gut. Das ist eine vortreffliche Gelegenheit, der Gesellschaft unsere Verlobung anzukündigen. Sagen Sie Helene: wenn Du am Donnerstag Abend nicht Felix' Verlobte bist, gehst Du am Freitag früh in die Pension zurück. Sie sollen sehen: das hilft.

Ich fürchte, die Drohung dürfte den entgegengesetzten Erfolg haben. Man hat Helene in Hamburg viel zu sehr verwöhnt. Ich glaube, sie ginge lieber heute zurück, als morgen.

Eh bien! so schicken Sie die kleine Widerspenstige nach Grünwald in die Musterpension von Fräulein Bär. Es ist das freilich, wie mir die kleine Breesen, die dort erzogen ist, neulich mittheilte, eher eine Strafanstalt als eine Pension; aber je schlimmer, desto wirksamer – ich meine, die Drohung, denn daß es ma chère cousine nicht zum Aeußersten kommen lassen, sondern sich, genau zur rechten Zeit, besinnen wird, darauf hin will ich mich hängen lassen. Verzeihen Sie, Tante; ich weiß, Sie lieben die starken Ausdrücke nicht.

Es ist wirklich eine recht üble Angewohnheit von Ihnen, sagte die Baronin, sich erhebend, während Felix ihrem Beispiele folgte.

Die ich Ihnen zu Gefallen ablegen werde, erwiederte er, der Baronin den Arm bietend.

Noch eins, sagte diese, stehen bleibend; glauben Sie, daß Grenwitz darein willigen wird?

Ob ich das glaube? rief Felix mit einem für den alten, guten Baron wenig schmeichelhaften Lachen; ob ich das glaube? Ma foi, chère tante, da müßte mein sehr würdiger Onkel doch nicht beinahe zwanzig Jahre unter Ihrem Commando gestanden haben. Wie lange habe ich denn die Ehre, unter Ihnen zu dienen? ein paar Wochen, und ich dächte, ich wäre schon ganz passabel gedrillt.

Sie sind ein Schmeichler, sagte die Baronin gütig, aber man kann Ihnen nicht bös sein.

Und das Paar entfernte sich, Arm in Arm.

Als die Stimmen nicht mehr zu vernehmen waren, schaute das Knabengesicht wieder vorsichtig zu der Fensternische heraus. Es war noch bleicher, als vorhin. Der Knabe streckte nach den Davongehenden drohend den Arm aus, und seine Lippen murmelten einen grimmigen Fluch. Dann, als die Beiden nicht mehr zu sehen waren, ließ er sich aus der Fensternische herab auf die Bank, wo sie gesessen hatten. Neben der Bank, in dem dicken Moose, lag ein schlecht zusammengefalteter Brief, den die Baronin aus der Tasche verloren hatte. Der Knabe hob ihn auf und als er sah, daß er von Helenens Hand war, drückte er ihn mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen. Dann verbarg er ihn sorgsam in seiner Brusttasche, blickte sich noch einmal vorsichtig um, und war im nächsten Augenblick im dichten Gebüsch verschwunden.

Zweiundfünfzigstes Capitel

Die Behauptung von Felix' vielgewandtem Kammerdiener betreffs der Unwiderstehlichkeit seines Herrn in Liebesaffairen war zwar als eine Beleidigung des schönen Geschlechts im Allgemeinen und des in der Küche versammelten, weiblichen Dienstpersonals im Besonderen von diesem letzteren auf's heftigste bestritten worden, der Vielgewandte indessen hatte dazu nur geheimnißvoll gelächelt, sich, nach der Weise seines Herrn, in den Stuhl zurückgelehnt, die Beine von sich gestreckt und mit einem vielsagenden Zwinkern seines rechten Auges auf die geblickt, welche in dem unerquicklichen Disput die höchste moralische Entrüstung und die größte Zungenfertigkeit zeigte. Die hübsche Luise war auf diesen Blick hin sehr roth geworden und so plötzlich verstummt, daß es selbst die Aufmerksamkeit des schweigsamen Kutschers erregte und ihn zu der Wiederholung seiner früheren Bemerkung veranlaßte: es sei nicht Alles Gold, was glänze. Darauf hatte die hübsche Luise zu weinen angefangen, die alte, brave Köchin sich ihrer aber angenommen und gemeint: der Herr Kammerdiener solle sich schämen, durch gehässige »Insinuationen« und »mechante« Blicke ein armes Mädchen in schlechten Ruf zu bringen; der Vielgewandte, welcher bemerkte, daß er zu weit gegangen sei, sich sodann zu der Erwiederung genöthigt gesehen: wie es ihm nicht eingefallen sei, auf irgend eine der anwesenden Damen direct anzuspielen, und daß er mit seinem Zwinkern schlechterdings gar nichts habe sagen wollen. Diese Erklärung hatte denn schließlich den so freventlich gestörten Frieden der um den Küchenheerd versammelten Gesellschaft wieder hergestellt.

Indessen verhielt sich die Sache genau so, wie der Vielgewandte angedeutet hatte. Baron Felix war noch nicht vierundzwanzig Stunden auf dem Schlosse gewesen, als er schon Mademoiselle Marguerite und die hübsche Luise als diejenigen Personen herausgefunden hatte, welche besonders dazu geeignet sein dürften, ihm die Langeweile des Landlebens und die Unbequemlichkeit einer Brautwerbung tragen zu helfen. Er hatte Albert, den buon camerata so vieler ähnlicher Heldenthaten in der Cadettenzeit, über Mademoiselle auszuholen versucht und seinem Jean den Auftrag ertheilt, die Moralität der hübschen Luise gelegentlich auf die Probe zu stellen. Albert war einen Augenblick in Zweifel gewesen, ob er Felix' saubern Plan nicht wenigstens so weit begünstigen sollte, um einen Grund zu haben, auf den er sich stützen könnte, wenn es ihm später vielleicht einmal darauf ankäme, mit Marguerite zu brechen. Dann aber hatten die Eifersucht und der Haß, welchen er gegen seinen früheren Kameraden empfand, doch den Sieg davon getragen. Er hatte Felix erzählt, wie er ganz bestimmt – von Mademoiselle selbst – wisse, daß sie – »mit einem Candidaten der Theologie, der Himmel weiß wo? ich glaube in Grünwald« – verlobt sei, daß er selbst versucht habe, sich die Gunst der schwarzäugigen Genferin zu erwerben, und also von der gänzlichen Hoffnungslosigkeit – »nach dieser Seite hin etwas auszurichten« vollkommen überzeugt sei.

Felix, obgleich er sonst nicht der Mann war, sich durch dergleichen Mittheilungen einschüchtern zu lassen, tröstete sich um so leichter über das Fehlschlagen dieses seines Planes, als ihm der Vielgewandte gesagt hatte, daß eine sofort angestellte forcirte Recognoscirung nach der andern Seite durchaus von dem günstigsten Erfolg gekrönt worden sei, und daß er seinem Herrn schon im voraus zu dieser Acquisition gratuliren zu können glaube. Don Juan Felix hatte darauf unter Beistand des Vielgewandten nach allen Regeln langgeübter Kunst das Vögelchen in das Garn zu locken versucht, und sich denn auch nicht weiter gewundert, als es schon nach wenigen Tagen in die kunstgerecht aufgestellten Netze flatterte.

Die Einrichtung des Schlosses mit seinen labyrinthischen Corridoren, seinen vielen großen und kleinen Treppen, auf denen man unversehens in Etagen gelangte, in die man gar nicht wollte, mit seinen unzähligen Thüren, von denen die eine aussah wie die andere, machte für Jemand, der die Localität nicht ganz genau kannte, die Durchführung eines galanten Abenteuers zu einer äußerst schwierigen und bedenklichen Sache. Das hatte auch Felix erfahren, indem er sich einige Mal auf seinen nächtlichen Wanderungen gründlich verirrte und nur mit der äußersten Mühe und nach stundenlangem, vorsichtigem Umhertappen sein Zimmer wieder gewann. Er zog es deshalb vor, in dem Garten, der sich mit seinen schattigen Gängen und still verschwiegenen Lauben auch ganz vortrefflich dazu eignete, und in den man sowohl aus der Leutewohnung, wie aus dem Herrenhause ohne große Mühe gelangen konnte, den angesponnenen Roman weiter zu führen.

So hatte er sich denn auch in dieser Nacht aus dem Schlosse gestohlen, und harrte, in den dichten Boskets, von denen aus man die Seitenfront des alten Schlosses und die Leutewohnung, die in einer Linie daran gebaut war, beobachten konnte, seines armen Opfers. Die Schloßuhr schlug zwölf – die Stunde, welche er zum Rendezvous bestimmt hatte. Der Mond schien hell, die Thautropfen auf den Blumen und Blättern glitzerten in seinen Strahlen; Felix konnte auf seiner Uhr sehen, daß die Schloßglocke eine Viertelstunde zu spät geschlagen hatte. Die Lichter im Schloß waren erloschen; nur in zwei der Fenster des hohen Parterres schimmerte durch die rothen Vorhänge der Schein einer Lampe. Es war Helenens Zimmer. Felix sah in regelmäßigen Zwischenräumen die undeutlichen Umrisse ihrer Gestalt hinter dem Vorhang – offenbar schritt sie im Zimmer auf und ab. Dann mußte sie sich wieder an das Clavier gesetzt haben, denn einzelne Töne, den Lauten des Vogels gleich, der im hellen Mondschein träumend sein Lied zu singen versucht, irrten durch den stillen Garten; die Töne flossen zusammen zu Accorden und endlich strömte in vollen rauschenden Wogen Beethoven's herrliche Sonate pathétique, wie der Gesang eines Engels, der um Mitternacht mit ausgebreiteten Flügeln über die Erde schwebt, und alles Erdenleid und alle Erdenqual in seinem göttlichen Herzen sammelt und ausströmt in ein feierliches Lied voll unendlicher Schwermuth und himmlischer Süßigkeit.

Felix empfand in diesem Augenblick, wo er, den Arm auf eine Urnensäule gelehnt, lauschend dastand, eine Art von Gewissensbiß darüber, daß er, der Wüstling, der Unreine, die Hand auszustrecken, die Augen zu erheben wagte zu ihr, der Keuschen, Reinen. Er nahm sich in diesem Augenblicke vor, ein anderes Leben zu beginnen, die Thorheiten abzustreifen, und er glaubte alles Ernstes, daß er nur zu wollen brauche, um zu können. Er hörte mit einer gewissen Andacht der Musik zu. Er war Kenner genug, um zu fühlen, daß die Sonate nicht schöner, nicht seelenvoller gespielt werden konnte, er sagte bei einzelnen Passagen leise bravo! bravo! als ob er sich in einem Concertsaale befände. Aber Helene und Beethoven, Tugend und Musik und was noch sonst Alles in diesen Minuten durch sein Hirn gezogen sein mochte – Alles war im Nu versunken, wie eine Fata Morgana, als sein Ohr jetzt den leisen Schritt eines Menschen vernahm. Der Schritt kam von einer anderen Seite, als Felix erwartete. Indessen die hübsche Luise mochte ja einen Umweg gemacht haben, um die breiteren, von dem Mondschein allzu hell beschienenen Gänge in der unmittelbaren Nähe des Schlosses zu vermeiden. Der Schritt kam näher und näher, und Felix, der auf den Einfall gerieth, sich ein wenig suchen zu lassen, drückte sich dicht in die Gebüsche. Wie groß aber war sein Erstaunen, als er statt der hübschen Luise Bruno an sich vorüberschleichen sah. Im ersten Augenblick mußte Felix über diese Enttäuschung lachen; im nächsten aber schon fiel ihm ein, daß durch diese Dazwischenkunft sein Rendezvous mehr wie bedenklich werde, und daß es unter diesen Umständen wohl das Gerathenste sein möchte, sich in das Schloß zurückzustehlen. Wer weiß, wie lange sich der Junge hier herumtreiben wird; am Ende ist er gar verliebt, oder er ist verrückt, oder beides, denn er sieht nach beidem aus; oder er ist mondsüchtig und geht so ein paar Stunden hier spazieren. Der verdammte Bengel! überall steht er im Wege; ich hätte große Lust, ihm nächstens einige fühlbare Beweise meiner freundschaftlichen Gesinnung zu geben. Auf jeden Fall will ich ihm das Feld räumen. Jetzt kann man noch als verspäteter Liebhaber eines Mondscheinabends auftreten; später geht das nicht mehr gut. Aber der Tante wollen wir doch von diesen nächtlichen Excursionen der Zöglinge des Herrn Stein erzählen.

Felix hatte den Weg nach dem Schlosse fast zurückgelegt, ohne Bruno zu sehen, und schon hoffte er, daß der Knabe sich aus dem Garten entfernt habe und sein Rendezvous doch noch zu Stande kommen könne, als er, über einen kleinen offenen Platz schreitend, der halb vom Mondschein erhellt und halb im Schatten lag, Bruno auf einer Bank sitzen sah, die Augen nach Helenens Fenster gerichtet, aus denen noch immer die Tonwellen rauschten. Der Knabe schien so in andächtiges Zuhören verloren, daß er Felix erst bemerkte, als dieser schon ganz nahe war.

Weshalb treibst Du Dich denn hier noch so spät umher? sagte Felix, dessen Aerger sich mindestens in einigen unfreundlichen Worten Luft machen mußte; ich werde es der Tante sagen.

Bekümmere Dich um Deine eigenen Angelegenheiten, sagte Bruno, der in der ersten Ueberraschung aufgesprungen war und ein paar Schritte auf den Platz gethan hatte, trotzig stehen bleibend, als er in dem Herankommenden den verhaßten Felix erkannte.

Du bist ein naseweiser Bursche, sagte Felix.

Und Du ein gemeiner Schurke, erwiederte Bruno.

Der Dich für Deine Unverschämtheit züchtigen wird, sagte Felix, dem mit untereinandergeschlagenen Armen vor ihm stehenden Knaben einen Backenstreich versetzend.

Bruno taumelte ein paar Schritte zurück; Felix sah, nicht ohne leichten Schauder zu empfinden, wie die Augen des Knaben buchstäblich glühten; dann brach ein dumpfer, röchelnder Schrei aus seiner Kehle – ein mächtiger Sprung, wie eines Leoparden, der sich auf seine Beute stürzt – und im nächsten Moment lag Felix am Boden und die starken Hände Bruno's schlossen sich wie eiserne Klammern um seine Kehle. Er rang wie ein Verzweifelter, den Knaben von sich abzuschütteln und wieder in die Höhe zu kommen, aber vergebens. So oft er sich auch mit dem Körper emporbäumte, so oft er Bruno von sich fortzudrücken versuchte, jedesmal fühlte er seine Anstrengungen von einer unwiderstehlichen Kraft paralysirt, und fester und fester schlossen sich die schlanken Finger um seinen Hals.

Laß mich los, Bruno, stöhnte er.

Befiehl Deine Seele Gott, denn Du mußt sterben, knirschte Bruno.

Felix fühlte, wie seine Kräfte ihn verließen, während die seines Gegners mit jedem Augenblick zu wachsen schienen. Todesangst ergriff ihn. Er wollte um Hülfe rufen, aber kein Laut entrang sich seinen bebenden Lippen; er fühlte ein dumpfes Sausen in den Ohren, das immer lauter und lauter wurde; vor seinen Augen wurde es Nacht, durch die Millionen kleiner Sterne schossen – wüste Gedanken jagten wie vor dem Sturmwind treibende Wolken durch sein Gehirn – plötzlich, als ihn der letzte Schimmer von Bewußtsein zu verlassen drohte, fühlte er, wie die entsetzliche Last von seiner Brust verschwand – und als er endlich die Kraft fand, sich vom Boden zu erheben und um sich zu blicken, war er allein. Der Mond schien hell vom tiefblauen Himmel; das Licht in Helenens Zimmer war erloschen; die Musik war verstummt. Felix hätte glauben können, den Kampf mit Bruno geträumt zu haben, wenn nicht die heftigen Schmerzen, die er an mehr als an einer Stelle des Körpers fühlte, seine über und über mit Sand bedeckten Kleider und der rings umher aufgewühlte Boden ihm zur Genüge bewiesen hätten, daß dies Alles nur zu wirklich gewesen war.

Mit einem von Wuth erfüllten Herzen schleppte er sich in das Schloß, wie ein Wolf, der die Hürde beschleichen wollte, aber von einer edlen Dogge zerzaust und zerbissen in den Wald zurückhinkt.

Dreiundfünfzigstes Capitel

Die Baronin hatte noch an demselben Abend den Brief Helenens vermißt. Diese Entdeckung erfüllte sie mit nicht geringer Unruhe. Wie leicht konnte der Brief in fremde, das heißt: in Hände fallen, die ihn Helenen wieder auslieferten, und wie viel hatte sie sich dann dem stolzen, unbeugsamen Mädchen gegenüber vergeben! Jeder Vortheil, den sie durch die genaue Kenntniß von dem Gemüthszustand ihrer Tochter über diese errungen, und den sie durch Anspielungen, Drohungen so geschickt auszubeuten gedacht hatte, war unwiederbringlich verloren. Es war fatal, äußerst fatal!

Die Baronin erinnerte sich ganz genau, den Brief in die Tasche ihres Kleides gesteckt zu haben, als Felix den Gang herauf kam. Wahrscheinlicherweise hatte sie ihn also an der Kapelle verloren. Sie erinnerte sich, daß sie während der Unterredung mit ihrem Neffen einmal das Taschentuch gezogen hatte, um die Beleidigte mit noch größerer Würde zu spielen. Indessen war es heute Abend zu spät, noch Nachforschungen anzustellen; sie mußte es sich gefallen lassen, eine beinahe schlaflose Nacht zuzubringen und den Morgen mit einem heftigen Kopfweh herandämmern zu sehen. Sie ging alsbald in den Garten nach der Kapelle. Der Brief war nicht da; auch nicht in dem Buchengange, oder in der Laube. Im höchsten Maße verdrießlich über diesen bösen Zufall kehrte die Baronin in's Schloß zurück.

Dort erwarteten sie andere Unannehmlichkeiten. Oswald schickte herunter, um zu melden, daß Bruno sich nach einer schlechten Nach sehr unwohl fühle, und daß er bitte, man möge einen reitenden Boten zu Doctor Braun senden. Auch ließ er bitten, Malte für heute unten zu behalten, da er, bis der Doctor käme, Bruno nicht gern allein lassen möchte. Die Baronin ließ zurücksagen: sie hoffe, daß es mit Bruno's Unwohlsein nicht viel auf sich habe und daß die in dem Unterricht eintretende Pause nicht zu lange dauern werde. Uebrigens würde heute im Laufe des Vormittags noch so wie so in die Stadt geschickt.

Ein paar Stunden später ließ Felix sich entschuldigen, wenn er heute nicht zum Frühstück komme; er fühle sich nicht ganz wohl; gedenke indessen, an der Mittagstafel zu erscheinen.

Felix verspürte in der That noch einige unangenehme Folgen seines Kampfes mit Bruno. Zuerst und vor allem die brennende Scham, einem Knaben unterlegen zu sein, vielleicht nur einem Zufall, einer plötzlichen Anwandlung von Großmuth sein Leben zu verdanken zu haben. Sein ganzer Leichtsinn gehörte dazu, ihm über diesen unangenehmen Gedanken wegzuhelfen. Er suchte sich einzureden – und nach und nach gelang es ihm auch – die Sache sei so ernsthaft nicht gewesen, und wenn er nicht, als Bruno sich so unerwartet über ihn stürzte, ausgeglitten wäre, und wenn dann sein »verdammter Rheumatismus« ihm nicht die Arme gelähmt hätte, würde er ja »den Jungen abgeschüttelt haben, wie eine Fliege, ihm eine tüchtige Tracht Schläge obendrein gegeben haben.« Daß vorläufig er die Schläge bekommen und daß die Fliege fest zuzupacken verstand, das bewiesen die blauen Flecken, die er auf der Brust, am Halse, an den Armen aus dem Kampfe als sicheres Zeichen der Niederlage davongetragen hatte. Der Vielgewandte gerieth in einiges Staunen, als er seinen Herrn in einem Zustande sah, der nur zu sehr an die selige Cadettenzeit erinnerte, wo Franzbranntwein und aqua Gourlardi zu den nothwendigsten Toiletterequisiten gehörten. Der Vielgewandte bewies, daß er die Kunst, Beulen und blaue Flecke zu behandeln, eben so wenig verlernt habe, als sein Herr das Talent eingebüßt hatte, sich solche zu holen, und schon gegen Mittag sah er sich in einem salonfähigen Zustande. Dennoch zweifelte er, ob er bei der Tafel erscheinen solle oder nicht. Der Gedanke, Bruno gegenüberzutreten, des Knaben dunkle Augen voll Hohn und Schadenfreude auf sich ruhen zu sehen, vielleicht gar in Oswald's Blicken wahrzunehmen, daß er von den Ereignissen der verwichenen Nacht vollkommen unterrichtet sei, war ihm äußerst peinlich. Es fiel ihm daher ordentlich eine Last vom Herzen, als Jean berichtete, die Tafel werde heute sehr klein sein, denn Junker Bruno und der Herr Doctor würden nicht erscheinen. So warf er denn noch einen Blick in den Spiegel, goß sich etwas Eßbouquet mehr als gewöhnlich auf sein Batisttaschentuch und schritt leicht und frei durch die Thür, die ihm der Vielgewandte pflichtschuldigst öffnete.

Auch die Baronin fühlte sich nicht wenig erleichtert, als sie im Laufe des Morgens keine Veränderung in Helenens Betragen oder auf ihrem Gesicht, in ihren großen Augen zu erblicken vermochte. Die Baronin war heute Morgen ganz besonders zuvorkommend gegen Helene.

Indessen war das Mittagsmahl nichts weniger als belebt, obgleich Felix sein ganzes Unterhaltungstalent aufbot. Der alte Baron hatte sich persönlich nach Bruno's Befinden erkundigt und war ärgerlich, daß noch immer nicht nach dem Doctor geschickt war; wenn auch heute Nachmittag ein Wagen in die Stadt führe, verschiedenes zu der großen Gesellschaft morgen Benöthigtes zu holen, so sei das kein Grund, weshalb nicht einer von den Leuten heute Morgen hätte hinreiten können. Die Baronin war verstimmt über diesen ihr in Gegenwart der Andern ausgesprochenen Tadel, und meinte, sie habe freilich nicht bedacht, daß es sich um Bruno handle, der allerdings größere Ansprüche machen dürfe, wie zum Beispiel sie selbst, die an einem sehr heftigen Kopfweh leide, oder Felix, der ebenfalls die ganze Nacht und den ganzen Vormittag unwohl gewesen sei. Helene hob die Augen kaum von ihrem Teller und öffnete kaum einmal den Mund; und die Augen der kleinen Marguerite waren heute noch verweinter, als in den vorhergehenden Tagen. Felix und Malte sprachen sich nach und nach auch aus, und zuletzt war es so stumm um den Tisch her, daß die Diener nicht wußten, wie sie nur leise genug auftreten sollten.

Die Baronin und Felix blieben nach Tische allein, da der Baron sich ausnahmsweise auf sein Zimmer zurückgezogen. Felix hatte während der Mahlzeit überlegt, ob er nicht doch besser thäte, das Ereigniß von gestern Abend – natürlich nach seiner Auffassung – zu erzählen, bevor Bruno Gelegenheit habe, sich gegen irgend Jemand, Oswald ausgenommen, darüber zu äußern. So benutzte er denn das tête-à-tête mit der Baronin, ihr mitzutheilen – versteht sich, lachend und mit der Bitte, die curiose Geschichte nicht weiter gelangen zu lassen – wie er gestern Abend durch den hellen Mondschein verlockt worden sei, noch etwas im Garten zu promeniren, wie er Bruno in einer höchst eingenthümlichen Weise um die Fenster Helenens habe schleichen sehen, wie er den Jungen zu Bett geschickt habe, darüber mit ihm in Streit gerathen, mit dem Fuße ausgeglitten, hingefallen und für einen Augenblick der Besiegte gewesen sei. Natürlich nur für einen Augenblick, dann habe Bruno die verdienten Schläge erhalten, und die würden wohl auch der Grund seiner heutigen Krankheit sein.

Die Baronin fühlte sich durch diese humoristische Schilderung einer sehr ernsten Begegnung auf das unangenehmste berührt. Ihre Befürchtungen betreffs des Briefes regten sich wieder. Bruno zur Nachtzeit unter Helenens Fenster? was hatte er da zu thun? Der Umstand sah sehr verdächtig aus. Wenn Bruno den Brief gefunden hätte! wenn er gestern Abend die Absicht gehabt hätte, ihn Helenen wieder zuzustellen! Die Baronin stöhnte bei diesem entsetzlichen Gedanken.

Was haben Sie, liebe Tante?

O nichts. Ich seufze nur über das Unglück, welches uns dieser Stein in's Haus brachte. Wenn ich etwas in meinem Leben bedaure, so ist es, den Menschen nicht am ersten Abend wieder fortgeschickt zu haben, wie ich wirklich große Lust hatte. Es hat nicht leicht Jemand einen so unangenehmen Eindruck auf mich gemacht, wie dieser junge Mann.

Aber Tante, so holen Sie doch nach, was Sie an jenem ersten Abende leider versäumten: jagen Sie ihn fort. Ich begreife wahrhaftig nicht, weshalb Sie so viel Umstände mit ihm machen.

Die Baronin wollte nicht sagen, daß sie die tausend Thaler nicht verschmerzen würde, welche Oswald contractlich zu fordern hatte, wenn ihm im ersten Jahre seines Engagements gekündigt würde. Ehe sie indeß eine Antwort bereit hatte, ertönte auf dem Flur die quäkende Stimme des Pastor Jäger, der sich nach »der gnädigen Herrschaft« erkundigte.

Einen Augenblick später trat seine Hochehrwürden an der Seite seiner Gemahlin in's Zimmer.

Es bedurfte keines besonders scharfsinnigen Auges, um sofort zu sehen, daß etwas ganz Außerordentliches dem würdigen Paar begegnet sein mußte. Der Pastor trug den ganz neuen schwarzen Frack, den er nur bei den feierlichsten Gelegenheiten anzuziehen pflegte, und Primula hatte eine äußerst malerische Verzierung von Kornähren an ihrem gelben Strohhute, so daß sie heute noch eine Schattirung gelber aussah, wie gewöhnlich. Der Blick des Pastors suchte vergeblich die gewohnte Demuth zu heucheln; die runden Brillengläser selbst glitzerten triumphirend; und was Primula betrifft, so hatte sich ihr poetisches Gemüth jetzt von allem Erdenrest befreit; sie durfte scheinen was sie war.

Ich komme, gnädige Baronin, sagte der Pastor, Anna-Maria galant die Hand küssend, einmal, mich nach Ihrem und der lieben Ihrigen werthen Befinden pflichtschuldigst zu erkundigen, sodann, Ihnen die Mittheilung eines Ereignisses zu machen, das wir – ich darf ja wohl sagen wir, meine edle Gönnerin? – schon lange freilich erwarteten, erhofften, will ich lieber sagen, dessen endliches Eintreffen uns indeß doch wohl Alle überrascht. Ich bin als Professor nach Grünwald berufen worden.

Vorläufig extraordinarius, sagte Primula, aber der ordinarius wird wohl nicht lange auf sich warten lassen.

Auch ist mir die Stelle eines Vormittags-Predigers an der Universitätskirche so gut wie gewiß.

Warum nicht: gewiß? Jäger; sagte Primula; ich dächte, das Schreiben des Professors Dunkelmann ließe nur eine Auslegung zu.

Ei, das sind ja herrliche Nachrichten, meine lieben Freunde; sagte die Baronin; erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Neffen, Baron Felix, vorstelle – Herr und Frau Pastor, wollte sagen: Professor Jäger, lieber Felix – das sind ja herrliche Nachrichten. Also endlich! Nun, ich habe es ja immer gesagt; über kurz oder lang mußte es doch kommen; freilich wir verlieren viel; aber das Glück der Freunde muß uns theurer sein, als der eigene Vortheil. Nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch entgegen.

Auch den meinigen, sagte Felix.

Danke, meine gnädige Frau; danke, Herr Baron, danke, danke! sagte der Pastor, sich vergnügt die Hände reibend; ja, ja! unverhofft kommt oft, und gehofft kommt auch wohl einmal. Als meine letzte größere Schrift, in welcher ich den eigentlichen Wortlaut des Titels eines verloren gegangenen Werkes des Kirchenvaters Philochrysos bis zur Evidenz nachwies, in allen kritischen Journalen eine so – ich darf wohl sagen – außerordentliche Anerkennung fand, konnte ich den Erfolg mit ziemlicher Gewißheit zum voraus angeben.

Wann werden Sie uns denn verlassen?

Nun zu Michaelis spätestens; wahrscheinlich aber noch früher; ich werde für das Wintersemester drei private Vorlesungen, eine publice und gratis, und endlich eine über die verloren gegangenen Schriften des Philochrysos, privatissime und gratis ankündigen.

Du nimmst Dir zu viel vor, Jäger, zu viel! hauchte Primula in zärtlichen Tönen: o diese Männer, diese Männer! jeder ist ein Prometheus, der den Himmel stürmen möchte.

Wer hat mich denn zu meinem kühnen Streben begeistert, wenn nicht Du? sagte der Pastor, Primula dankbar die Hand drückend.

Schießen Sie mit der Pistole? fragte Felix, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Nun, ein wenig; ich will sagen: so viel wie gar nicht. Ich war wohl früher auf der Hasen- und Hühnerjagd nicht ganz unglücklich – omen in nomine, ha, ha, ha! – aber seitdem das Consistorium sich sehr energisch gegen diese lärmenden Vergnügen ausgesprochen hat, liegt das Eisen müßig in der Halle – um mit dem Dichter zu sprechen.

Du kannst jetzt in Deiner Eigenschaft als Professor der edlen Waidmannskunst wohl wieder obliegen, Jäger; sagte Primula. Ha, ich denke es mir herrlich, so mit vorgestreckter Pistole einem Wildschweine gegenüberzutreten.

Ich würde indessen Ihrem Herrn Gemahl rathen, sich zu dieser Jagd mit einer Büchsflinte, und wo möglich auch einem Hirschfänger zu versehen, sagte Felix lachend; aber im Ernst, Herr Professor, wollen Sie ein wenig mit mir nach der Scheibe schießen?

Gewiß, gewiß! rief der Pastor aufspringend; ich stehe zu Ihren Diensten, zu Ihren Diensten.

Der Pastor war blaß geworden; aus seiner Aufregung zu schließen, hätte man glauben sollen, es handle sich um ein Duell auf Leben und Tod.

Willst Du nicht doch lieber bleiben? sagte Primula, welcher plötzlich die Sache in einem sehr bedenklichen Lichte erschien. Du bist heute nicht so ruhig wie sonst; wenn Dir ein Unglück passirte, gerade jetzt, wo Du dem Ziel Deiner Wünsche so nahe bist; Jäger, ich ertrüge es nicht; und die Dichterin brach in Thränen aus und klammerte sich an ihren Gemahl an, dessen Anstrengungen, sich von der süßen Last zu befreien, keineswegs sehr energisch waren.

Gustava, murmelte er; liebes Gustchen, es ist weniger gefährlich, als Du denkst. Sind Ihre Pistolen mit einem Stecher versehen, Herr Baron?

Allerdings; sagte Felix, den diese Scene nicht wenig amüsirte. Wenn sie gestochen sind, dürfen Sie nicht niesen, oder ich stehe für nichts.

Bleibe, bleib', mein Jäger; flehte Primula.

Es wird nicht so gefährlich sein, sagte der Pastor mit bleichen Lippen.

Das meinte neulich auch Kamerad von Schnabelsdorf, sagte Felix; nehmen Sie sich in Acht, Schnabelsdorf, sagte ich. – Dummes Zeug, sagte Schnabelsdorf, und faßt die Pistole an der Mündung. Im nächsten Augenblick war er um einen Finger ärmer.

Dies entscheidet; sagte Primula, sich emporrichtend; Jäger, Du bleibst, ich befehle es Dir. Befasse Dich nicht mit Dingen, die Du nicht verstehst. Pistolenschießen ist kein Kinderspiel.

So triftigen Gründen wußte selbst ein so geistreicher Kopf, wie der des Pastors, nichts entgegenzusetzen. Er ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken und sagte, sich den Schweiß mit dem Taschentuch von der Stirn wischend:

Sie sehen, Herr Baron: Ehestand ist Wehestand. Wenn Sie einmal erst verheirathet sind, wird der glänzende Cavalier auch vor dem umsichtigen Hausvater zurücktreten müssen. Aber, wie ist mir denn, man darf ja wohl gratuliren?

Und der Pastor ließ den Kopf erst auf die rechte Schulter sinken, um die Baronin anzulächeln; sodann auf die linke, um Felix dieselbe Gunst zu erweisen.

Fragen Sie in ein paar Tagen wieder nach; erwiederte die Baronin ausweichend. Was ich sagen wollte: so ist ja jetzt durch Ihre Ernennung der Verlust, welchen die Universität durch Berger erlitten hat, mehr als ausgeglichen. Ihre Vocation steht doch mit jenem Ereigniß in keinem Zusammenhang?

In keinem directen wenigstens, sagte der Pastor, obgleich ich nicht in Abrede stellen will, daß Berger seinen Einfluß nicht zu meinen Gunsten angewendet haben würde, und somit immerhin seine Erkrankung für mich ein nicht ungünstiges Zusammentreffen der Umstände genannt zu werden verdient.

Hat man denn gar keine Vermuthung, wie dies so plötzlich gekommen ist? fragte die Baronin.

Nun, meine Gnädigste, plötzlich können wir wohl so eigentlich nicht sagen; erwiederte der Pastor, sein Gesicht in die ernstesten Falten legend und seine Mundwinkel herabziehend; ich gestehe, daß mich dies Ende in keiner Weise überrascht hat und daß ich den Professor im Grunde stets für mindestens halb wahnsinnig gehalten habe. Wer mit Berger behauptet, daß alle sogenannten Beweise von dem Dasein Gottes, des allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erden, auf einen Trugschluß, eine petitio principii hinausliefen, der ist schon wahnsinnig, auch wenn er noch scheinbar wie ein Vernünftiger spricht. Wer über die geheiligten Institutionen des Königthums von Gottes Gnaden und des Erbadels freventlich spotten, sie Ueberreste einer barbarischen Zeit, die hinter uns liegt, nennen kann, der ist schon toll, obgleich er Professor ist und Collegia vor einem überfüllten Auditorium liest. Ich weiß es wohl, daß geschrieben steht: richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet; aber ich kann mich dennoch, diesen Fall erwägend, nicht entbrechen zu sagen: Dies ist der Finger des Herrn.

Wie wär's mit einer Partie Kegel, Herr Pastor? sagte Felix, der in der offenen Thür gestanden und nicht zugehört hatte.

Mit Vergnügen, rief der Pastor, auf diese Kugeln verstehe ich mich. Ich war meiner Zeit in Grünwald ein famoser Kegelschütze.

Nach dem Kaffee, lieber Felix, sagte die Baronin; ich habe noch mit dem Pastor über einige ernste Dinge zu sprechen. – Ist es nicht entsetzlich, lieber Pastor Jäger, daß wir den Zögling eines so abscheulichen Menschen in unserem stillen Hause haben? daß ich die unschuldige Seele meines Kindes solchen Händen anvertrauen soll? Um Himmelswillen! rathen Sie mir, wie werde ich den Menschen auf eine passende Weise wieder los?

Sie können ihn nicht ohne Weiteres fortschicken?

Wir haben uns gegenseitig auf vier Jahre verbindlich gemacht, und wenn wir nun also –

Ich versteh', ich verstehe, sagte der Pastor, der Anna-Maria's Geiz sehr wohl kannte; hm, hm! wir müßten einen Grund haben, hm, hm! es ist jetzt eine Verordnung vorbereitet, nach welcher die Hauslehrer ein Zeugniß des Pfarrers ihres betreffenden Kirchspiels über ihre Religiosität und Moralität beizubringen haben. Wir wollen es Herrn Doctor Stein schwer machen, ein solches beizubringen; und der Pastor lächelte schlau.

Wissen Sie schon das Neueste, meine Herrschaften, rief Felix, ein Billet, das ihm soeben von dem Bedienten, welcher das Kaffeeservice in die Laube trug, übergeben war, in der Hand haltend: Cloten hat sich mit der kleinen Breesen verlobt; hier schickt er mir, als seinem besten Freunde, die erste Karte; die Anderen kriegen erst morgen welche.

Ich kann Ihnen ein Paroli biegen, sagte der Pastor. Wer, denken Sie, gnädige Frau, daß seit gestern Abend wieder hier ist?

Nun?

Frau von Berkow.

Nicht möglich!

Ich weiß es ganz genau. Sie hat, einem schon vor seiner Krankheit geäußerten Wunsch ihres Gemahls zufolge die Leiche desselben von Fichtenau hierher schaffen lassen. Der Sarg kommt noch in dieser Nacht, um morgen von mir auf dem Faschwitzer Kirchhof eingesegnet zu werden.

Dann können wir die schöne Frau wohl nicht zu unserem Ball morgen einladen.

Aber Felix! sagte die Baronin mit einem vorwurfsvollen Blick.

Der Kaffee steht in der Laube, meldete der Bediente.

So kommen Sie, meine Lieben! sagte die Baronin.

Vierundfünfzigstes Capitel

Unterdessen hatte Oswald an Bruno's Bette böse, angstvolle Stunden verlebt. Bruno's aufgeregtes Wesen in der letzten Zeit hatte ihn schon mehr als einmal ernstlich besorgt gemacht. Die Ausbrüche leidenschaftlicher Heftigkeit, wie Oswald sie an Bruno von den ersten Wochen ihres Zusammenlebens kannte und die dann eine Zeit lang fast gänzlich aufgehört hatten, waren jetzt häufiger und gewaltiger als je. Ein Widerspruch, das Mißlingen eines Unternehmens, einer Arbeit, eine verletzende Aeußerung über Tisch aus dem Munde der Baronin – waren hinreichend, die Dämonen in ihm zu entfesseln. Vergebens, daß Oswald ihn bat und beschwor, diese Heftigkeit abzulegen, durch die er sich seinen Feinden gegenüber so viel vergebe, die es seinen Freunden oft unmöglich mache, für ihn Partei zu ergreifen – ich kann nicht anders, war seine stete Antwort; es kommt über mich mit einer Gewalt, der ich nicht zu widerstehen vermag. Es kocht in mir auf, es nagt an meinem Herzen, es hämmert in meinen Schläfen und dann weiß ich nicht mehr, was ich spreche oder thue. – Wenn dann Oswald sagte, er könne, wenn er nur wolle, so antwortete er trotzig: schilt mich nur auch, wie die Anderen; mache nur gemeinschaftliche Sache mit den An deren. Ich will keine halben Freunde; wer nicht für mich ist, der ist wider mich. – Dann, wenn er sah, wie er Oswald durch diese und ähnliche Reden gekränkt hatte, warf er sich stürmisch in seine Arme und bat ihn unter heißen Thränen um Verzeihung. – Habe Mitleid mit mir, rief er. Du weißt nicht, wie grenzenlos unglücklich ich bin. – Vergebens, daß Oswald in ihn drang, zu sagen, ob er irgend etwas Besonderes auf dem Herzen habe? ob die wilde Sehnsucht in die Ferne, von der er früher so gefoltert wurde, jetzt wieder in ihm übermächtig sei? – Ich weiß es selbst nicht, sagte Bruno; ja, ich möchte fort, weit, weit von hier, um nimmer wieder zu kehren; und dann möchte ich doch auch wieder nicht fort, nein, nicht fort, nicht um Alles in der Welt; ich weiß es nicht: ich glaube, ich möchte am liebsten sterben.

Oswald rieth hin und her, was denn nur die Ursache dieses sonderbaren Zustandes sein möchte; aber wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimnisses, das der Knabe in der tiefsten Tiefe seines Herzens vor Jedem, vielleicht vor sich selbst, scheu verbarg, entdeckte er doch nicht.

Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Uebergangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu sein pflege, und daß bei so mächtigen Naturen, wie Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger sein müsse. Er hatte oft mit Bruno über Verhältnisse gesprochen, die dem erschlossenen Auge nicht länger verborgen bleiben können, denn er hielt es für die heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in diesem Punkte der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfsinn des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür zum Heiligthum der Natur lieber zu erschließen, als zuzugeben, daß der Jünger durch Schuld zur Wahrheit gelange. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel und sein Herz rein. Er war nach dieser Seite hin vollkommen ruhig; er ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war, mit allen Kräften seiner starken Seele, mit der ganzen Gluth der eben erst erwachten Sinnlichkeit, mit der stummen Verzweiflung einer ersten Leidenschaft, die keine Erwiederung findet und finden kann, seine schöne Cousine liebte.

Er hatte Helene nie vorher gesehen. Als er vor drei Jahren etwa in das Haus seiner Verwandten kam, war das junge Mädchen schon in der Pension. Es wurde selten in der Familie von ihr gesprochen, und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der Umstand, daß, wenn man von ihr sprach, es meistens in sehr kühlen Ausdrücken geschah, Bruno's Aufmerksamkeit. Der Verlassene ahnte in der Verbannten eine Leidensgefährtin. Nach und nach gestaltete sich für ihn das sehr undeutliche Bild der Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff von allem Schönen und Herrlichen, das seine reiche Phantasie erträumte. Der Name Helene, in dessen weichem Klang er sich berauschen konnte, wie in dem Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm diese Gestalt seiner Einbildungskraft lieb und theuer zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo er dem Cultus der schönen Unbekannten untreu geworden war, wo er in Tante Berkow den höchsten, vollendeten Ausdruck des »ewig Weiblichen« zu erkennen glaubte, wo er sich durch ein freundliches Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge! für ein Streicheln seiner Haare von ihrer lieben weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr gestürzt haben würde. Gerade in der ersten Zeit von Oswald's Anwesenheit in Grenwitz hatte seine Liebe zu Tante Berkow in der Blüthe gestanden. Melitta's um ein paar Jahre jüngeren Knaben hatte er ebenso wie einen jüngeren Bruder behandelt, wie ihm die jugendlich schöne Mutter oft nur wie eine ältere Schwester erschienen war. Da Melitta gerade in jener Zeit häufig nach Grenwitz herüberkam, und Bemperlein, um seinem Julius Gesellschaft zu verschaffen, den Umgang der Knaben auf's eifrigste protegirte, so fehlte es Bruno nicht an Gelegenheit, Tante Berkow zu sehen, ihr hundert kleine Pagendienste zu leisten, ihr in den Sattel zu helfen, Bella oder Brownlock eine halbe Stunde umher zu führen, mit der Reitpeitsche, dem Federhut und den Handschuhen hinter ihr zu stehen, wenn sie danach fragte. Tante Berkow war in dieser Zeit sein drittes Wort, und Oswald hatte es sich gern gefallen lassen, wenn ihm Bruno lange Geschichten erzählte, in denen Tante Berkow immer die erste Rolle spielte.

Melitta hatte vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, daß Bruno in Monaten ein Stadium der Entwickelung zurücklegte, zu welchem weniger feurige Naturen fast eben so viele Jahre brauchen. Sie hatte sich in ihrer Harmlosigkeit des Irrthums schuldig gemacht, zu glauben, daß sie einen Knaben, der schon beinahe Jüngling war, noch als Kind behandeln dürfe, daß sie sich mit ihm kleine Freiheiten erlauben könne, die schon in ganz kurzer Zeit ganz große Freiheiten gewesen sein würden. Sie hatte nicht bedacht, daß die Sinnlichkeit in dieser Zeit ein Schlaf in der Morgendämmerung ist, den die leiseste Störung verscheuchen kann; daß die Begierde in dieser Periode wie ein Feuer ist, das in grünem Holze langsam fortglüht und bei dem geringsten Windstoß in heller Lohe emporflammt. Sie würde außer sich gewesen sein, wenn man ihr gesagt hätte, daß sie in aller Unschuld einer Unschuld gefährlich gewesen sei. Und doch war es der Fall.

Melitta selbst sah zuletzt ein, daß sie Bruno nicht länger, wie sie es bisher gethan, mit Julius oder auch nur mit Malte auf eine Stufe stellen dürfe; und wenn sie jetzt »von den Knaben« sprach, so meinte sie damit vorzüglich die beiden letzteren. Sie hatte angefangen, Bruno wie einen Freund, wie einen jungen Bruder zu behandeln, wie einen Pagen, den man noch halbe Frauendienste thun läßt, von dem man aber weiß, daß man sich im Fall der Noth auf sein muthiges Herz und seinen starken Arm verlassen könnte. Und in der That, ein Kenner würde in einem Ringkampf, in irgend einer athletischen Uebung unbedingt auf Bruno gegen viel ältere und scheinbar gefährlichere Gegner gewettet haben. Die classische Statue eines Merkur, oder jugendlichen Bacchus konnte nicht zarter gegliedert, nicht ebenmäßiger geformt sein, als Bruno's schlanker und bei aller Schlankheit starker Körper. Für Oswald war es schon eine Lust, den Knaben nur gehen zu sehen. Er war entzückt, wenn er Bruno beim Baden am Strande des Meeres beobachten durfte, wie der Knabe von einem Felsblock zum andern sprang, mit einer Sicherheit, die das Gefühl der Furcht gar nicht aufkommen ließ, bis er den am weitesten hinausliegenden erreichte, von dem er sich kopfüber in die Wellen stürzte. Dabei war für Bruno eine Gefahr nicht vorhanden, oder vielmehr: er wollte nicht, daß dergleichen für ihn existire. Wenn es irgend etwas auszuführen gab, das Andere auszuführen Anstand nahmen: ein durchgehendes Pferd aufzuhalten, eine Kirsche von dem obersten Gipfel eines hohen Baumes zu holen, über einen Graben zu springen, der ohne Brücke nicht passirbar schien, – Bruno mußte das Wagstück unternehmen; er zitterte vor Verlangen, seine Wange glühte, er warf einen bittenden Blick auf die, welche er lieb hatte, und man mußte ihn gewähren lassen und ließ ihn gewähren, weil man sich sagte: er kann mehr als die Uebrigen.

So war Bruno: ein Jüngling mehr, wie ein Knabe, mit einem Herzen, an dessen Feuer sich eine todte Welt hätte beleben können.

So sah er Helenen.

Und alle Melodien, die in ihm geschlummert hatten, erklangen, und Alles, was er bisher Schönstes und Lieblichstes geträumt hatte, stand wahr und wirklich, verkörpert vor ihm. Der Knabe traute seinen Augen kaum; er war wie geblendet, wie trunken; er war wie Jemand, der aus einem schönen Traum zur schöneren Wirklichkeit erwacht und nicht zu sprechen, ja kaum zu athmen wagt, um das, was er noch immer halb und halb für eine Sinnestäuschung hält, nicht zu verscheuchen. So ging er in den ersten Tagen nach der Rückkehr der Familie wie im Traum umher, gegen die Gewohnheit mild und freundlich gegen Alle. Dann aber verschwand die Traumesseligkeit und das Entzücken über die köstliche Wirklichkeit wurde zum Schmerz. Ruhe hatte er nie gehabt, und leicht war sein Herz nie gewesen; aber jetzt folterte ihn eine Unrast, die ihm Schlaf und Hunger und Durst verscheuchte, die wie ein wildes Fieber in ihm brannte, und sein armes Herz war wie ein Mann, der, was er Liebstes und Theuerstes hat, auf seinen Schultern vor dem verfolgenden Feinde davonträgt und schaudernd dem Augenblick entgegensieht, wo er unter der Last zusammenbrechen wird. Er wagte Helenens Namen nicht mehr auszusprechen, aus Furcht, sein Geheimniß zu verrathen; er wagte nicht mehr, die Augen zu ihr aufzuschlagen. Und dennoch sah er Alles, was um ihn her vorging, und der Plan der Baronin blieb für ihn nicht lange ein Geheimniß. Sein Haß gegen Felix kannte keine Grenzen, und er gab sich wenig Mühe, diesen Haß zu verbergen. Er forderte den Roué bei jeder Gelegenheit durch höhnische und satyrische Bemerkungen heraus, immer in der Hoffnung, Felix werde doch endlich einmal den hingeworfenen Handschuh aufheben; aber dieser ließ sich, wie Alle, welche im Grunde sich und die ganze Welt verachten, sehr viel gefallen und erwiederte des Knaben grausame Sarkasmen mit mehr oder weniger guten Witzen, so daß er die Lacher meistens auf seiner Seite behielt. Und dann hatte er auf der andern Seite doch auch wieder eine viel zu gute Meinung von sich, um sich mit einem Gegner, den er so tief unter sich glaubte, in einen ernstlichen Streit einzulassen. Wäre er gestern nicht auf Bruno, der ihm sein Rendezvous gestört hatte, nicht so ärgerlich gewesen und hätte Bruno sich nur ein wenig glimpflicher ausgedrückt, es wäre auch selbst jetzt noch nicht zum Aeußersten gekommen.

Und Felix konnte von Glück sagen, daß der Kampf keinen schlimmeren Ausgang für ihn genommen hatte. Er war dem Tode näher gewesen, als er wohl selber glaubte. Bruno's Haß war durch die Vorgänge des Tages zur Raserei geworden, und Felix' brutale thätliche Beleidigung machte das Gefäß des Zornes und Hasses überlaufen. Und nun, nachdem der Lavastrom den Krater durchbrochen – was konnte ihn in seinem vernichtenden Laufe aufhalten? Daß Felix von seiner Hand sterben müsse, daß ihn Gott in seine Hände geliefert habe, damit er, koste es, was es wolle, das Weib, das er anbetete, von dem Scheusal, das er so glühend haßte, befreie, – das war in den kurzen und doch so langen Minuten, wo er mit Felix rang und auf Felix' Brust kniete, der einzig blutigrothe Lichtschein in der Nacht seiner Seele. Wenige Secunden nur – und Felix stand nicht wieder auf.

Da war Bruno durch einen Schrei dicht neben ihm von seiner fürchterlichen Arbeit aufgeschreckt worden. Emporblickend, hatte er flüchtig eine weibliche Gestalt gesehen, die er im ersten Augenblick für Helene hielt. Er hatte sein Opfer losgelassen und war aufgesprungen. Die Gestalt hatte sich eilig entfernt, er war ein paar Schritte gefolgt, bis jene in der Richtung nach dem Leutehause verschwunden war und er seinen Irrthum eingesehen hatte. Sich wieder über seine Beute stürzen, nachdem er einmal weggescheucht war, war ihm unmöglich; er sah, wie Felix nach einigen vergeblichen Versuchen sich in die Höhe richtete. Das war ihm genug gewesen; er konnte sich in seine Kammer und in sein Bett stehlen, ohne einen Mord auf dem Gewissen zu haben.

Und doch war er kaum weniger erregt. Sein Herz hämmerte, seine Pulse flogen; glühende Hitze und Fieberfrost wechselten mit einander ab. Das verworren klare Bild der Kampfesscene drängte sich immer wieder in den Vordergrund; der Triumph, seinen Todfeind so gänzlich besiegt zu haben, wurde durch den Gedanken verbittert, daß Helene trotzdem noch immer nicht frei sei. Das quälte ihn fast noch mehr, als die heftigen Schmerzen, die er, sobald er nur einigermaßen zur Ruhe gekommen war, in der Seite empfand, und die gar nicht nachlassen wollten, ja, wie es schien, nur immer heftiger wurden und sich von einem anfänglich kleinen Punkte aus immer weiter verbreiteten.

Es war eine lange, bange Nacht für den unglücklichen Knaben, diese kurze Sommernacht. Gegen Morgen ließ ihn die Müdigkeit in einen Zustand verfallen, der sich vom Wachen nur dadurch unterschied, daß noch fürchterlichere Bilder durch sein Gehirn jagten. Er fuhr, vom Schmerz geweckt, wieder auf; er versuchte sich zu erheben, um Oswald zu wecken, der in dem Zimmer nebenan schlief – Malte schlief schon seit Wochen unten – aber er vermochte es nicht. Endlich – es dauerte lange, bis sein Stolz sich dazu entschließen konnte – rief er Oswald's Namen. Ein paar Augenblicke später war Oswald an seinem Bette.

Er erschrak, als er den Knaben erblickte, in dessen Gesicht diese eine Nacht furchtbare Verwüstungen angerichtet hatte. Das schwarze Haar hing in verworrenen Locken über das bleiche Gesicht, die dunklen Augen waren tief in den Kopf gesunken und glühten im Fieber.

Gieb mir Wasser! rief Bruno, sobald Oswald in seine Kammer trat.

Um Gotteswillen, was ist dies, Bruno? sagte Oswald, während der Knabe gierig von dem Wasser, das er ihm reichte, trank. Warum hast Du mich nicht früher gerufen; so schlimm ist ja der Anfall noch nie gewesen.

Es ist nicht der alte Schmerz, sagte Bruno; aber es wird wieder vorübergehen; es ist schon jetzt bedeutend besser. Aengstige Dich nicht, Oswald; sieh, wenn ich so liege, fühle ich es weniger, fast gar nicht; es war nur in der Nacht so bös; jetzt, da Du hier bist und die Sonne scheint, wird es gleich besser.

Es soll sofort Jemand zu Doctor Braun reiten! sagte Oswald aufspringend.

Nein, nein! bat Bruno; thue es nicht; Du weißt, wie fatal mir das immer ist. Jetzt ist überdies noch Niemand im Hause auf; Du würdest Dich vergeblich bemühen. Und dann – ich wollte Dich um etwas bitten. Komm! setze Dich wieder zu mir auf's Bett; ich fühle, daß ich nicht aufstehen kann und es ist die höchste Zeit, daß der Brief in Helenens Hände kommt.

Oswald glaubte, Bruno delirire; er faßte unwillkürlich nach des Knaben Stirn.

Bruno lächelte. Es war ein schwermüthiges Lächeln.

Nein, nein! sagte er; fürchte nichts, ich bin noch vollkommen bei Sinnen. Höre selbst, ob Alles, was ich Dir sagen werde, nicht ausgezeichnet zusammen paßt.

Bruno erinnerte nun Oswald, wie er vom Anfang an behauptet habe, Felix sei gekommen, sich mit Helene zu verloben. Bis gestern habe er allerdings keinen unumstößlichen Beweis dafür gehabt; seit gestern sei aber auch dafür gesorgt. Er erzählte nun weiter, wie er am Nachmittage die alte Kapelle im Garten, seinen Lieblingsplatz, wo er am ungestörtesten seinen Grillen nachhängen konnte, aufgesucht habe, und durch Stimmen in seiner Nähe aus dem Schlaf, in welchen ihn der schwüle Tag versenkt, aufgeweckt wor den sei; wie er nothgedrungen das Gespräch zwischen der Tante und Felix habe belauschen müssen, wie er, als sie fortgegangen, den Brief Helenens gefunden habe. Wie es ihm gestern nicht möglich gewesen, ihr den Brief zuzustellen; wie er den Plan gehabt, ihr denselben in der Nacht, wenn sie wie gewöhnlich bei offenem Fenster spiele, mit ein paar Zeilen, worin er ihr sagte, wo und wann er den Brief gefunden, in ihr Zimmer zu werfen. Wie er sie nicht habe erschrecken wollen und gewartet habe, bis sie an's Fenster treten würde, es zu schließen, um ihr mit ein paar Worten zu sagen, um was es sich handle; und wie er von Felix überrascht sei und wie es ihm leid thue, daß er den Elenden nicht vollends erwürgt habe.

Die leidenschaftlichen und doch so klaren, so überzeugenden Worte Bruno's machten auf Oswald den fürchterlichsten Eindruck. Morgen schon sollte das Entsetzliche geschehen; allem Anschein nach ahnte sie nichts davon. Man wollte sie durch Ueberraschung zwingen; ihr ein Wort abnöthigen, das sie hernach zurückzunehmen zu stolz sein würde. Und welche Bewandtniß hatte es mit diesem Brief, von dem Bruno und Oswald nur die Aufschrift kannten, der mit Helenens Petschaft zugesiegelt gewesen war und den die Baronin doch offenbar verloren hatte. Daß hier Verrath im Spiele sei, daß dieser Brief den Zwecken der Baronin hatte dienen müssen, daß es nothwendig sei, diesen Brief wieder in Helenens Hände gelangen zu lassen, damit sie erfuhr, welcher Waffen man sich gegen sie bediene, und sie diese Waffen in dem nöthigen Augenblick, der morgen schon eintreten mußte, gegen ihre Gegner richten könne – das Alles war natürlich auch Oswald sofort klar, und nur über den einzuschlagenden Weg konnten sie sich anfänglich nicht einigen. Bruno wollte, daß Oswald Helenen nicht nur den Brief gebe, sondern ihr auch den Inhalt des Gesprächs zwischen der Baronin und Felix mittheile. Oswald erklärte, daß das Letztere schlechterdings unmöglich sei; Bruno in seiner Eigenschaft als Verwandter und als erklärter Günstling Helenens, dürfe sich schon eher eine solche Indiscretion erlauben, ihm, dem Fremden, verbiete die Schicklichkeit jede Anspielung auf so delicate Verhältnisse.

Aber, rief Bruno, ich denke, Du bist ihr Freund; ich denke, Du hast sie lieb! Wie kannst Du Dich denn nur durch solche Bedenken, ob dies oder das auch nach den Regeln des Complimentirbuches erlaubt sei oder nicht, abhalten lassen, wenn es sich um das Wohl oder Wehe ihres ganzen Lebens handelt. Denke, wenn man ihr durch Ueberraschung das Ja abpreßt; ich würde verrückt, ich ertrüge es nicht –

Und dennoch, Bruno, ich muß über diesen Punkt schweigen; ich kann darüber nicht reden – ich nicht.

Weshalb Du nicht?

Weil – ich sagte Dir ja schon, weil ich ein Fremder bin; weil sie mir sagen könnte, sagen würde: mein Herr, was geht dies Alles Sie an? Den Brief will ich ihr geben; es ist ihr Eigenthum; sie kann verlangen, daß der Finder es ihr sobald wie möglich wieder zustellt – und bedenke doch, Bruno, dies einzige Factum spricht ja laut genug. Sie wird dann wissen, wessen sie sich von jener Seite zu versehen hat, und der Angriff trifft sie auf ihrer Hut.

So willst Du ihr den Brief geben?

Das will ich und zwar sofort. Ich denke, Helene wird heute wie gewöhnlich ihre Morgenpromenade machen. Aber wie steht es mit Dir?

Besser, viel besser; sagte Bruno, der von den heftigsten Schmerzen gefoltert wurde, aber fürchtete, daß Oswald in der Sorge um ihn die einzige Gelegenheit, Helenen zu sehen und zu sprechen, versäumen könnte; viel besser, wenn ich die Hand so in die Seite drücke, fühle ich beinahe gar nichts. Mache nur, daß Du in den Garten kommst, und höre! grüß' sie von mir und sage ihr nicht, daß ich krank bin, nur ein wenig unwohl – ich bin ja auch eigentlich nicht krank –

Der Knabe sank auf sein Lager zurück und gab und sich Mühe, Oswald freundlich anzulächeln. Aber es war ein schmerzliches Lächeln trotz alledem, und als die Thür sich hinter Oswald geschlossen hatte, verbarg Bruno sein Gesicht in dem Kissen, um das dumpfe Stöhnen zu ersticken, das ihm die Qualen seiner Seele eben so auspreßten, wie die Schmerzen seines Körpers.

Fünfundfünfzigstes Capitel

Oswald hatte vergeblich über die Stunde hinaus, in welcher Helene in dem Garten zu erscheinen pflegte, gewartet. Gerade heute kam sie nicht. Er ging mehrmals an ihrem Fenster vorüber, ohne sie zu sehen. Er kehrte endlich, da es im Hause lebhafter zu werden begann, zu Bruno zurück, der ihn mit der größten Ungeduld erwartete. Bruno war außer sich, daß dieser Versuch mißlungen war; Oswald suchte ihn zu beruhigen, indem er hervorhob, wie aller Wahrscheinlichkeit nach die Baronin und Felix die Durchführung ihres Planes bis auf den letzten Augenblick verschieben würden, es also auch morgen früh noch immer Zeit sein würde, den Brief in Helenens Hände gelangen zu lassen.

Und jetzt, sagte Oswald, muß ich Anstalten treffen, daß nach dem Doctor geschickt wird, denn die Ungewißheit über Deinen Zustand ist mir unerträglich.

Leider sollten Oswald's Bemühungen ohne Erfolg bleiben. Der Bediente, welcher ihm die Antwort der Baronin, »es werde im Laufe des Vormittags so wie so ein Wagen in die Stadt fahren,« überbringen sollte, hatte nicht gewagt, ihm diese Bestellung zu machen, sondern gesagt: es solle sogleich ein Bote hingeschickt werden. So vertröstete er sich bis gegen Mittag. Da kam der alte Baron, sich persönlich nach Bruno's Zustand zu erkundigen. Er sagte: so viel er wisse, sei noch gar nicht in die Stadt geschickt; er wolle indessen sogleich dafür sorgen. Der alte Herr war ordentlich böse geworden über diese »unverzeihliche Saumseligkeit;« Oswald glaubte jetzt bestimmt, daß man sich beeilen werde, das Versäumte nachzuholen. Indessen verging Stunde auf Stunde, der Abend brach herein, und noch immer wollte sich kein Doctor Braun blicken lassen. Er ging selbst hinunter, sich zu erkundigen, was denn nun geschehen sei? Der Wagen, der gegen Mittag in die Stadt gefahren war, war eben zurückgekommen; auch hatte der mit der Bestellung Beauftragte dieselbe ausgerichtet; »aber der Herr Doctor sind auf vierundzwanzig Stunden verreist, und das Mädchen sagte: sie solle Alle, die kämen, an Dr. Balthasar – den Collegen Braun's – weisen. Nun wußte ich aber nicht, ob ich dahin gehen sollte.« Oswald gerieth in Zorn über diese abermalige Verzögerung. Er begab sich sofort zum Baron, den er bei der übrigen Gesellschaft im Garten fand; sagte ihm, was vorgefallen sei und bat um die Erlaubniß, selbst in die Stadt reiten zu dürfen, damit endlich einmal etwas in dieser Sache geschehe.

Ich verlasse Bruno ungern, sagte er, aber ich sehe kein anderes Mittel.

Die Krankheit wird ja so gefährlich nicht sein, sagte Anna-Maria.

Das zu beurtheilen vermag ich so wenig wie Sie; erwiederte Oswald scharf; mir erscheint Bruno's Zustand bedenklich und ich halte es für meine Pflicht, diese meine Ansicht zur Geltung zu bringen, bis ich von Jemand, der ein Urtheil darüber hat, eines Andern belehrt werde.

Kommen Sie! sagte der alte Baron; wir wollen den Jochen fortschicken. Sie brauchen nicht von Bruno zu gehen. Jochen ist ein verständiger Mensch; man kann sich auf ihn verlassen.

Oswald machte der Gesellschaft eine sehr förmliche Verbeugung und entfernte sich mit dem Baron.

Es ist hübsch, wenn ein junger Mann ein so sicheres, festes Auftreten hat, sagte Pastor Jäger ironisch.

Der Apoll von Belvedere! sagte Primula, man wußte nicht recht, ob ebenfalls ironisch, oder in einem Anfall poetischer Extase.

Ich denke, seine Hoheit wird nächstens von dem Piedestal herabsteigen, sagte Felix.

Die gestrengen Herren regieren bekanntlich nicht lange, sagte die Baronin mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Pastor, welchen dieser mit einem schlauen Zwickern seines rechten Auges über das runde Brillenglas sofort beantwortete.

Bruno fehlt auch alle Tage etwas Anderes, sagte Malte, sich Zucker über seine Erdbeeren streuend.

Helene sagte nichts. Sie saß da, den Blick fest auf die Erde geheftet. Jetzt stand sie auf und ging, ohne ein Wort zu sagen aus der Laube dem Schlosse zu.

Du kommst doch wieder, Helene? rief ihr die Mutter nach.

Ich glaube kaum, antwortete Helene, sich umwendend; es wird mir etwas zu kühl hier draußen.

Sie setzte ihren Weg fort. Die Baronin und Felix warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

Der in die Stadt geschickte Jochen war in der gehörigen Zeit zurück, um zu melden, daß er Dr. Balthasar nicht getroffen habe. Derselbe sei auf ein entferntes Gut gefahren, wo sich ein Mann den Arm gebrochen. Man wolle ihm indessen, sobald er zurückkomme, was wohl vor Einbruch der Nacht nicht geschehen werde, die Bestellung ausrichten, und zweifle nicht, daß er derselben Folge leisten werde, wenn er selbst nicht zu angegriffen sei.

Dabei mußte sich denn also Oswald beruhigen, so gut er es vermochte. Bruno's Zustand war so ziemlich derselbe geblieben. Die Schmerzen hatten vielleicht etwas nachgelassen, aber sich über eine größere Fläche verbreitet. Er gab sich die größte Mühe, Oswald, dessen Angst mit jeder Stunde wuchs, je später es wurde, ohne daß ärztliche Hülfe erschien, seine Befürchtungen auszureden. Es ist nichts; es wird morgen schon wieder besser sein; daß der Brief noch immer in unseren Händen ist, macht mir viel größere Sorge, als meine Krankheit. Könntest Du nicht einen Versuch machen, Oswald, ihn, wie ich gestern wollte, durch's Fenster in ihr Zimmer zu werfen? Wenn Dir Felix begegnet, sag' ihm nur, er solle an gestern Nacht denken, dann wird er sich schon aus dem Staube machen; oder besser, sage nichts, und thu', was ich leider nicht gethan habe, erwürge ihn auf der Stelle.

Endlich, als Oswald die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, kam Dr. Balthasar. Es war ein alter Mann, den die vielen Geschäfte des Tages verdrießlich gemacht hatten und der etwas von »Lappalien, derenwegen man die Leute um ihre Ruhe bringe,« durch die Zähne murmelte. Er untersuchte Bruno kaum, sagte: es würde sich schon von selbst geben, übrigens wolle er morgen wieder kommen und eine Einreibung mitbringen.

Nun sind wir auch noch so klug, wie vorher, sagte Oswald, als der Doctor wieder fort war.

Ich sagte Dir ja gleich, es hat nichts zu bedeuten. Leg' Dich schlafen, Oswald, Du brauchst es eben so nöthig, wie ich.

Indessen, die Beiden fanden nicht viel Ruhe in dieser Nacht. Oswald hatte sein Sopha neben Bruno's Bett stellen lassen, und blieb angekleidet, um jeden Augenblick bereit zu sein. Bruno's Zustand blieb derselbe, nur daß seine Unruhe immer größer wurde, und er in immer kürzeren Zwischenräumen zu trinken verlangte. Gegen Morgen war Oswald eingeschlafen; Bruno weckte ihn, als die Sonne eine Stunde über dem Horizont war.

Oswald, ich kann Dich nicht länger schlafen lassen, so leid es mir thut, Du mußt in den Garten, es ist die höchste Zeit. Wenn Du Helene auch heute nicht triffst, so stehe ich auf und gehe zu ihr, und wenn ich darüber sterben sollte.

Wie geht es Dir?

Besser.

Das sagst Du stets.

Mache nur, daß Du fortkommst.

Oswald ging in den Garten und suchte die Wallpromenade auf, wo er nun schon manchen Morgen mit nicht leichtem Herzen dem schönen Mädchen begegnet war. Aber so schwer wie heute war ihm das Herz nie gewesen. Bruno's Krankheit, die jetzt hereindrohende Katastrophe in dem Familiendrama, dessen Entwickelung er mit so schmerzlichem Interesse verfolgt hatte, und in welchem er jetzt die zweideutige Rolle eines Zwischenträgers zu spielen verdammt war – das Alles lastete auf seiner Seele und machte, daß er von dem wonnigen Morgen nichts empfand, nichts bei dem warmen Sonnenschein und den bläulichen Morgenschatten, nichts bei dem Duft der unzähligen Blumen, nichts bei dem Schwirren und Tanzen der Myriaden von Insecten, nichts bei dem Jubiliren der Vögel in den Bäumen. Konnten ihm die Blumen seinen Liebling wieder gesund machen? konnten ihm die Vögel Helenen herbeisingen?

Doch da! da schimmerte ihr Kleid zwischen den Bäumen des Walles herüber. Das mußte sie sein. Sie schritt rascher vorwärts, sobald sie ihn bemerkt hatte – es schien ihr selbst daran gelegen, ihn zu sprechen.

Gott sei Dank, daß Sie kommen, rief sie ihm schon von weitem entgegen; ich habe fast die ganze Nacht vor Sorge und Angst nicht geschlafen. Es geht gut – nicht wahr? Sie würden ihn ja auch sonst nicht verlassen haben?

Es geht besser, wenigstens sagt Bruno so; aber ich fürchte, nichts weniger als gut. Sie wissen, er ist ein Held, auch im Ertragen von Schmerzen.

Ja, das ist er! sagte Helene; ich liebe ihn wie einen Bruder; nein! viel, viel mehr, als einen Bruder. Der Gedanke, ihn zu verlieren, ist für mich entsetzlich. Sie glauben nicht, wie ich mich seinetwegen quäle.

Gewiß nicht mehr, als er sich Ihrethalben; sagte Oswald.

Wie das? fragte Helene, ihre großen Augen forschend auf Oswald's Gesicht heftend.

Ich will nicht durch eine lange Einleitung die kostbaren Augenblicke, in denen ich ungestört mit Ihnen sprechen kann, verlieren; sagte Oswald. Diesen Brief hier, dessen Aufschrift von Ihrer Hand ist, der Ihnen also ohne Zweifel gehört, hat Bruno vorgestern Abend gefunden, an der Kapelle, unmittelbar nach einer Unterredung, welche die Frau Baronin mit Baron Felix über Familienangelegenheiten auf derselben Stelle gehabt hatte, und die Bruno, der sich zufällig in der Kapelle befand, mit anzuhören nicht umhin konnte. Er hat mich gebeten, Ihnen Ihr Eigenthum wieder zuzustellen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es von dem Augenblick an, wo es in Bruno's Hände gelangte, heilig gehalten worden ist.

Helenens Verwirrung war mit jedem Worte, das Oswald sprach, größer geworden. Purpurgluth wechselte auf ihrem schönen Angesicht mit einer geisterhaften Blässe. Ihr Busen wogte; ihre Hand zitterte, als sie den Brief, den ihr der junge Mann überreichte, und auf den sie nur einen Blick zu werfen brauchte, um ihn als denselben zu erkennen, den sie gestern Morgen an Mary Burton geschrieben hatte, entgegennahm. Entsetzen über den schwarzen Verrath, den man an ihr geübt; jungfräuliche Scham, ihre innersten, geheimsten Gedanken schonungslos profanirt zu sehen; der Unwille, daß Jemand, er sei wer er sei, erfahren habe, wie sie von den Ihrigen, von ihrer eigenen Mutter schmachvoll behandelt worden sei – Alles stürmte auf sie ein, wie ein Orkan, vor dessen Gewalt jeder Widerstand vergeblich ist.

Und dies letzte Gefühl des beleidigten Stolzes fand zuerst einen Ausdruck.

Ich danke Ihnen, sagte sie, sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe emporrichtend, für Ihren Eifer, mir zu dienen. Indessen, Sie und Bruno haben der Sache, wie es scheint, ein weit größeres Gewicht beigelegt, als sie in der That verdient. Ich habe diesen Brief, weil Einiges darin stand, was ich nach reiflicher Ueberlegung nicht gutheißen konnte, geflissentlich nicht abgehen lassen; ich werde ihn aus der Tasche verloren haben. Ich erinnere mich, daß ich gestern Abend in der Nähe der Kapelle war; ich –

Weiter vermochte sie nicht zu sprechen; die Thränen, die sie so lange zurückgehalten, brachen gewaltsam hervor, und rollten über ihre Wangen. Sie wandte sich ab, sie fühlte, daß sie sich nicht länger würde beherrschen können, und winkte Oswald mit der Hand, sie allein zu lassen.

Oswald war vielleicht nicht weniger außer sich, als Helene. Seine Liebe zu dem schönen, stolzen Mädchen, für das er so freudig sein Leben hingegeben hätte und von dem er jetzt so verkannt zu werden fürchten mußte, wogte wie ein frei gewordener Quell in ihm empor, und erfüllte seine Brust bis zum Zerspringen. Er hätte ihr zu Füßen stürzen, ihr Alles, Alles, was er so lange vor ihr verborgen, gestehen mögen; aber er bezwang sich und sagte so ruhig wie er vermochte:

Ich versichere Sie, mein Fräulein, daß diese Scene Ihnen kaum peinlicher sein kann, als mir selbst, und daß ich dieselbe um keinen Preis herbeigeführt haben würde, wenn mir Bruno's fieberhafte Ungeduld, die ich durch eine Weigerung zu steigern fürchten mußte, eine Wahl gelassen hätte. Es ist mir schmerzlich, sehr schmerzlich, von Ihnen verkannt zu werden; ich ahnte es gleich, daß es Ihnen unmöglich sein würde, den Boten von seiner Botschaft zu trennen.

Er verbeugte sich vor dem noch immer weinenden Mädchen, und wandte sich, zu gehen.

Nein, nein! rief sie, wie, um ihn zurückzuhalten, die Hand nach ihm ausstreckend; Sie dürfen so nicht gehen. Mögen es Die verantworten, welche mich zum Aeußersten getrieben haben, wenn ich die Ehre meiner Familie, die Ehre der Meinigen preisgeben muß. Ja, Sie haben mir einen Dienst geleistet, einen großen Dienst. Dieser Brief ist nur durch Verrath in die Hände derer gekommen, die ihren Raub so schlecht zu bewahren verstanden. Dieser Brief trennt mich auf immer von den Meinigen; er soll mich nicht auch von Bruno trennen, den ich so herzlich liebe, von Ihnen, der Sie stets so gut und freundlich zu mir gewesen sind. Ich habe Sie immer für einen Freund gehalten, Sie immer hoch geschätzt und geehrt – wie hoch, das möge Ihnen dieser Brief selbst beweisen. Lesen sie ihn! Wenn alle Welt weiß, wie ich über Sie denke, so dürfen Sie es am Ende ja wohl auch wissen.

Und das junge Mädchen reichte Oswald den Brief hin. Ihr Antlitz glühte, aber nicht mehr vor Zorn und Scham. Ihre dunkeln Augen leuchteten, aber wie einer Heldin, die sich für eine heilige Sache zu opfern im Begriff steht.

Lesen Sie nur! sagte sie mit einem eigenthümlichen Lächeln, als Oswald sie ungläubig anstarrte; fürchten Sie nicht, daß es mich hinterher reuen wird. Ich weiß, daß Ihr Herz einer Andern gehört, die seit gestern wieder in unserer Nähe ist. Bruno, der Alles weiß, hat es mir verrathen. Ich will von Ihnen nichts, als was ich schon habe – Ihre Freundschaft. Lesen Sie den Brief, und wenn Sie ihn gelesen haben, verbrennen Sie ihn in Gottes Namen.

Ehe Oswald sich von seinem grenzenlosen Erstaunen über diese wunderbare Rede nur so weit erholen konnte, ein einziges Wort über die Lippen zu bringen, war das junge Mädchen schon die Treppe, die von dieser Stelle in den Garten führte, hinab und eilte durch die blumenreichen Beete dem Schlosse zu.

Was ist das? fragte Oswald bebend; narrt mich denn ein Traum? Melitta zurück? und jetzt zurück – gerade jetzt!

Es war ein schauerliches Lachen. Oswald sah sich erschrocken um, ob ein Anderer gelacht habe – ein schadenfroher Dämon, der sich an seiner Qual weidete.

Er hielt den Brief noch immer in seiner Hand. Es war ihm, als ob er erst, wenn er diesen Brief lese, Melitta ganz verlieren, erst jetzt das letzte Band, das ihn an Melitta fesselte, zerreißen würde. Für einen Augenblick erschien ihm Helene wie eine schöne Teufelin, die an ihn herangetreten sei, ihn zu versuchen. Wenn er diesen Brief ungelesen verbrannte? konnte dann nicht Alles gut werden? Konnte ihm Melitta nicht doch erhalten bleiben?

Und indem er so dachte, hatte er den Brief entfaltet und ihn zu lesen begonnen.

Er war mit der Lectüre zu Ende und saß nun, den Kopf in die Hand gestützt, in der Ecke der Bank, auf die er sich, ohne zu wissen, was er that, gesetzt hatte. Vor ihm auf dem Erdboden spielten die Lichter mit den Schatten; in den dichten Laubkronen über ihm flüsterte der Morgenwind und sangen die Vögel, in dem Garten unten wiegten sich bunte Schmetterlinge über den Blumenwäldern der Beete; er sah das Alles, er hörte das Alles, aber er empfand nichts dabei, nichts, als das Eine, daß, wenn es ein Paradies auf Erden für ihn gegeben hatte, er jetzt auf immerdar daraus vertrieben sei.

Sechsundfünfzigstes Capitel

Es war einige Stunden später. Die Baronin saß in ihrem Zimmer auf ihrem gewöhnlichen Platze in der Nähe der geöffneten Fensterthür. Sie hatte eine Stickerei auf dem Schooße; aber ihre Hände waren müßig; nur, wenn sich Schritte der Thür, die nach dem Flure führte, näherten, nahm sie schnell die Arbeit auf, und nähte ein paar Stiche, um sie, sobald der Schritt vorüber war, wieder in den Schooß sinken zu lassen. Das wiederholte sich mehrmals, denn es war heute ein sehr lebhaftes Treiben im Schlosse. Die Vorrichtungen zu dem Ball heute Abend hielten Alles in Athem, und machten es der wirthschaftlichen Baronin sehr schwer, hier so müßig zu sitzen, während ihre Gegenwart in Küche und Speisekammer so nöthig war. Aber sie hatte Fräulein Helene bitten lassen, wenn sie mit ihrem Klavierspiel fertig sei, zu ihr zu kommen, und Helene sollte sie ruhig, gelassen, zu einem freundschaftlich ernsten Gespräch aufgelegt finden.

Aeußerlich wenigstens. In ihrem Herzen sah es freilich anders aus. Zwar die Sorge um den Brief schien sich als unnöthig erwiesen zu haben. Offenbar war er noch nicht wieder in Helenens Hände gelangt und das war für den Augenblick die Hauptsache. So konnte man doch alle Pfeile, die man aus der Lectüre gesammelt hatte, abschnellen, ohne fürchten zu müssen, daß sie auf den Schützen zurücksprängen. Nichtsdestoweniger hatte die kluge und muthige Frau nie einer Unterredung mit irgend Jemand – und sie hatte doch, da die ganze Last der Verwaltung des großen Vermögens fast ganz allein auf ihren Schultern lag, manche wichtige Verhandlung zu führen gehabt – so voll Unruhe entgegen gesehen. Sie gab sich alle Mühe, diese Unruhe zu bekämpfen, ja, wenn irgend möglich, in einer versöhnlichen, friedlichen, freundschaftlichen Verfassung zu sein. Sie gerieth sogar bei diesem Versuch in eine Art larmoyanter Stimmung. Vielleicht waren, Alles in Allem, Thränen das beste Mittel, das edle Herz der Tochter zu rühren und sie für ihre selbstischen Zwecke zu gewinnen.

Da klopfte es an die Thür. Die Baronin griff schnell nach ihrer Arbeit. Auf ihr »Herein!« trat Helene in das Zimmer. Die etwas kurzsichtige Frau bemerkte nicht gleich, daß das edelstolze Antlitz des jungen Mädchens sehr bleich war, aber nicht von jener krankhaften Farbe, wie sie die Feigheit auf die Wangen malt, sondern von jener Marmorblässe, die sich sehr wohl mit Augen verträgt, aus denen eine heroische Seele leuchtet.

Es thut mir leid, liebe Tochter, sagte die Baronin, daß ich Dich heute in Deinem Morgenfleiße stören muß Ich habe Dich rufen lassen, um über eine Sache von der äußersten Wichtigkeit recht ruhig, recht freundschaftlich mit Dir zu sprechen. Aber setze Dich doch! dort mir gegenüber auf den Stuhl, in welchem Dein Vater zu sitzen pflegt.

Ich danke, sagte Helene, stehen bleibend.

Der abgemessene, fast kurze Ton, in welchem das junge Mädchen diese beiden Worte aussprach, machte die Baronin von ihrer Arbeit jäh in die Höhe blicken. Sie bemerkte jetzt zum ersten Male die blassen Wangen ihrer Tochter, und ihre eigenen Wangen entfärbten sich.

Du fühlst Dich doch nicht unwohl? sagte sie, und ihre Stimme war weniger fest als sonst. In diesem Falle wollen wir unsere Unterredung auf eine gelegenere Zeit verschieben. Du wirst so schon für heute Abend Deine Kräfte nöthig haben.

Ich fühle mich vollkommen wohl, erwiederte das junge Mädchen; ich stand sogar eben im Begriff, Dich um eine Unterredung bitten zu lassen, da auch ich Dir eine Sache von Wichtigkeit mitzutheilen habe.

Du mir? sagte die Baronin, ihre großen, tief liegenden Augen spürend auf das bleiche Antlitz ihrer Tochter heftend. Du mir? was kann das sein? laß doch hören!

Es ist dies! sagte Helene. Ich fand vorgestern Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief –

Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen einen Blick zu, in welchem Bestürzung, Zorn, Furcht und Trotz auf eine seltsame Weise gemischt waren.

Einen Brief, fuhr Helene fort, den ich vorgestern Morgen geschrieben und Luisen zur Besorgung übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich ihn Luisen gab, versiegelt, als ich ihn wiederfand, war er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luise, die mir überdies zugethan scheint, ein solches Interesse an meiner Correspondenz nimmt, um sich auf die Gefahr hin, ihren Dienst zu verlieren, eines solchen Vergehens schuldig zu machen, muß also annehmen, daß irgend Jemand sonst im Schloß es der Mühe werth hält, meinen Geheimnissen nachzuspüren. Nun war es meine Absicht, zu fragen, was Du mir in dieser Sache zu thun räthst.

Die Baronin hatte, während Helene sprach, sehr eifrig genäht. Jetzt blickte sie wieder auf und sagte:

An wen war der Brief?

An Mary Burton.

Hast Du Dich in dem Briefe frei geäußert?

Wie man an eine Freundin eben schreibt.

Standen Sachen darin, von denen Du nicht gerne möchtest, daß sie Anderen zu Gesicht kämen?

Allerdings.

Auch nicht Deinen Eltern?

Helene schwieg.

Auch nicht Deinen Eltern?

Ja.

Zum Beispiel, daß Deine Eltern für Dich todt sind, eben so wie Deine übrigen Verwandten?

Du hast den Brief gelesen?

Wie Du siehst.

So habe ich nichts weiter zu sagen und zu fragen.

Helene verbeugte sich und wandte sich, zu gehen.

Bleib, sagte die Baronin; wenn Du nichts weiter zu sagen hast, so habe ich noch mehrere Fragen an Dich richten, die Du mir gütigst beantworten wirst. Was den Brief betrifft, so beruhige Dich. Wenn Eltern ihren Kindern die Erlaubniß geben, frei zu correspondiren, thun sie's in der Erwartung, daß die Kinder dieser Erlaubniß würdig sind. Sehen sie sich in dieser Erwartung betrogen, nehmen sie ihre Erlaubniß zurück. Darin liegt nichts Außerordentliches. Das aber ist außerordentlich, wenn ein Kind, das von seinen Eltern nur Liebe erfahren hat, sich von seinen Eltern lossagt; das ist außerordentlich, wenn ein Kind die Stirn hat, dies zu denken, eine Hand, es niederzuschreiben, den Muth, dieses schriftliche Bekenntniß ihrer Armuth Anderen unter die Augen zu bringen. Was hast Du darauf zu erwiedern?

Nichts.

Und wenn nun dieses Kind die Gefühle der Liebe, die sie ihren Eltern, der Zuneigung, die sie ihren übrigen Verwandten zum mindesten schuldet, nur verleugnet, um Fremde damit zu beglücken, eine sogenannte Freundin zum Beispiel, die weiter kein Verdienst hat, als mit ihr in einer Pension gewesen zu sein; einen Knaben, der aus Gnade und Barmherzigkeit in dem Hause ihrer Eltern aufgenommen wurde; einen bezahlten Diener ihrer Eltern – ja wohl, mein Fräulein! einen bezahlten Diener, mit dem die Eltern nebenbei im höchsten Grade unzufrieden sind – was hast Du darauf zu erwiedern?

Nichts.

Und wenn nun Deine Eltern Dir doch verzeihen; wenn Deine Verwandten, obgleich Du es nicht verdienst, Dir ihre Liebe dennoch nicht entziehen wollen; wenn Du siehst, daß Eltern und Verwandte sich die Hand reichen, mit vereinten Kräften Dich, die schon mehr als halb verloren ist, zu retten; wenn Deine Eltern Dir in der Person eines Gemahls einen Freund und Beschützer geben wollen, der Dich in Zukunft vor solchen Thorheiten – ich will einmal einen milden Ausdruck wählen – vor solchen Thorheiten, wie Du sie an Mary Burton geschrieben hast, bewahren wird; und wenn einer Deiner liebenswürdigsten Verwandten die Güte haben will, dieses schwierige Amt eines Gatten, Freundes und Lehrers bei Dir zu übernehmen, wirst Du darauf wieder nichts zu erwiedern haben?

Doch! sagte Helene, die, ohne eine Miene zu verändern, bleich und still dagestanden hatte, die großen dunkeln Augen mit dem Ausdruck unerschütterlichen Muthes auf ihre Mutter richtend, welche bei den letzten Worten aufgestanden war und ihr jetzt gegenüber stand, doch! ich habe darauf zu erwiedern, daß ich tausendmal lieber sterben, als Felix' Gattin werden will.

Sie sagte das ruhig, langsam, gleichsam jede Sylbe wägend.

Und wenn Deine Eltern es befehlen?

So kann ich nicht und so werde ich nicht gehorchen.

Und wenn sie heute Abend der versammelten Gesellschaft Deine Verlobung mit Felix ankündigen?

So werde ich der versammelten Gesellschaft sagen, was ich Dir so eben gesagt habe.

Ist das Dein wohlerwogener Entschluß?

So wahr mir Gott helfe: ja!

Nun denn! so sage ich mich von Dir los, wie Du Dich von mir losgesagt hast! so gehe denn hin und wirf Dich dem Bettler in die Arme! Aber nein! noch giebt es Mittel, diese Schande wenigstens vor der Welt zu verbergen. Morgen packst Du Deine Sachen; übermorgen gehst Du in die Pension zurück.

Ein Strahl wie von Freude brach aus Helenens dunklen Augen und ein zartes Roth flog über ihre bleichen Wangen.

Ich gehe gern, sagte sie.

Aber nicht nach Hamburg, sagte die Baronin, und es lag eine grausame Ironie in Ton und Wort: ich habe genug von Mary Burton. Du gehst nach Grünwald. Ich habe schon an Fräulein Bär geschrieben. Sie ist nicht ganz so nachsichtig wie Madame Bernhard, aber mit der Zeit der Güte und Nachsicht ist es jetzt auch vorbei. Begieb Dich auf Dein Zimmer. Um sechs Uhr wünsche ich Dich zum Ball angezogen zu sehen. Ueberlege Dir noch einmal, was Du thun willst. Ich gebe Dir bis dahin Bedenkzeit. Du kannst gehen.

Helene ging, ohne ein Wort zu erwiedern, nach der Thür. Als sie dieselbe fast erreicht hatte, trat der alte Baron herein.

Wo willst Du hin, mein Mädchen? sagte er, die Hand freundlich nach ihr ausstreckend.

Helene ergriff die Hand; drückte sie an ihre Lippen und sagte:

Verurtheile mich nicht, Vater, ohne mich gehört zu haben.

Dann eilte sie aus dem Zimmer.

Was hat das Mädchen? sagte der alte Herr, ihr voller Erstaunen nachsehend.

Komm, Grenwitz, sagte die Baronin, ich habe über eine Sache von Wichtigkeit mit Dir zu sprechen.

Siebenundfünfzigstes Capitel

Die Unterredung zwischen der Baronin und ihrem Gemahl dauerte eine geraume Zeit, aber Anna-Maria war heute nicht glücklich in ihren diplomatischen Bemühungen. Eben so wenig, wie sie im Stande gewesen war, den Stolz ihrer Tochter zu beugen, vermochte sie den sonst so fügsamen Gatten diesmal zu ihren Ansichten zu bekehren. Schon öfters in den langen Jahren ihrer Ehe hatte sich in dem Gatten, der ihrer höheren Einsicht sonst so blindlings vertraute, der mit einer Art von abgöttischer Verehrung an ihr hing, ein Geist des Widerspruchs geregt, oft, wo sie es am wenigsten erwartete. Sie hatte durch kluge, rechtzeitige Nachgiebigkeit dann jedes Mal dergleichen Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen gewußt, was ihr um so leichter geworden war, als es sich meistens um höchst gleichgiltige Dinge handelte. Heute aber hatte sie nicht bedacht, daß der Baron ja am Ende doch sein Kind lieben und dann natürlich ihr Glück, ihre Ruhe höher anschlagen könnte als alle weltlichen Vortheile. Und nun geschah wirklich das Unglaubliche. Der alte Herr erklärte mit großer Entschiedenheit, daß er die Vortheile, welche allen Betheiligten aus einer Verbindung zwischen Felix und Helene erwachsen könnten, durchaus zu würdigen wisse; daß er sich sehr gefreut haben würde, wäre diese Verbindung zu Stande gekommen, daß es aber schließlich doch die Ruhe und das Glück Helenens sei, um die es sich handle, und daß, wenn Helene erkläre, Felix nicht lieben zu können, die Sache damit ein für alle Mal abgemacht sei. Dabei blieb er, mochte Anna-Maria sagen, was sie wollte. Und Anna-Maria ließ es an Worten, ja selbst an Thränen nicht fehlen. Vergebens, daß sie Helenens Trotz, Helenens unkindliches Benehmen in der eben stattgehabten Unterredung mit den schwärzesten Farben schilderte; vergebens, daß sie dem alten Mann mit dem Aeußersten drohte, ihm drohte, daß er nur zu wählen habe zwischen seiner treuen Gattin und seiner ungehorsamen Tochter, daß sie in ihrem eigenen Hause nicht die Schmach erleben wolle, ihr eigen Kind über sich triumphiren zu sehen – der alte Herr behauptete die einmal eingenommene Position mit einer zähen Hartnäckigkeit: Helene sei nicht schlecht; sie habe sich in ihrer Heftigkeit vergessen können, aber sie sei nicht schlecht, sie werde die Mutter um Verzeihung bitten, wenn sie dieselbe beleidigt habe; aber gesetzt, sie sei nicht so gut, wie er glaube, gesetzt, sie habe sich gegen ihre Mutter vergangen, so sei das doch immer kein Grund, sie in eine ihr verhaßte Ehe zu zwingen. – Alles, was die Baronin erlangen konnte, war, daß, wenn Helene sich nicht nachgiebig zeigen sollte, sie das elterliche Haus auf einige Zeit verlassen müsse. Der Baron willigte darein, weil er diese Trennung für das beste Mittel hielt, Mutter und Tochter wieder zusammen zu bringen, wenn sich die Leidenschaft nur erst auf beiden Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald anstatt nach Hamburg schicke, da er so viel öfter Gelegenheit hatte, seine Tochter zu sehen, und er überhaupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Provisorium hielt, dessen vermuthlich sehr kurze Dauer die lange Reise nach Hamburg gar nicht verlohne. – Anna-Maria ihrerseits mußte sich nothgedrungen mit diesem Resultat zufrieden geben, um so mehr, als sie fürchtete, daß Helene, wenn man sie zum Aeußersten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem Briefe zur Sprache bringen werde. Dieser Gedanke hatte sie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger energisch erscheinen lassen, als wohl sonst ihre Gewohnheit war. Das böse Gewissen hatte sie feig gemacht und diese Feigheit dem Baron seinen Sieg wesentlich erleichtert. Er küßte seine Gemahlin auf die Stirn, wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer Uneinigkeit stets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre Bereitwilligkeit, sich seinen Ansichten und Wünschen zu accommodiren, und sprach die Hoffnung aus, daß in kurzer Zeit der gestörte Familienfrieden vollkommen wieder hergestellt sein werde.

Es drückt mir das Herz ab, wenn ich sehe, daß die, welche ich am meisten liebe auf Erden, unter sich uneins sind; sagte der gute alte Mann und die Thränen standen ihm in den Augen. Ich habe Gott alle Tage gebeten, er möge mich erleuchten, daß ich in dieser Sache das Rechte thue, wie ich es denn gern in allen Dingen thäte. Es schmerzt mich, wenn ich Dich gekränkt haben sollte, liebe Anna-Maria, denn ich weiß, zu welcher Dankbarkeit ich Dir verpflichtet bin; aber ich habe auch Pflichten gegen meine Tochter und darf nicht zugeben, daß Du sie mit dem besten Willen von der Welt unglücklich machst. Gott weiß, daß ich nur Euer Aller Bestes will; und nun, liebe Anna-Maria, laß uns zu Tisch gehen, denn, wenn ich nicht irre, hat Johann schon zweimal gerufen.

Die Baronin sollte heute nicht zur Ruhe kommen.

Das melancholische Mittagsmahl, an welchem weder Oswald, der Bruno nicht verlassen wollte, noch Helene, die sich mit Kopfschmerzen entschuldigen ließ, Theil genommen hatten, war vorüber und der Baron eben fortgegangen, um sich mit Helenen auszusprechen und sich nach Bruno's Befinden zu erkundigen. Die Baronin war mit Felix allein geblieben und jetzt in der äußerst peinlichen Lage, ihm sagen zu müssen, daß ihr gemeinsames Project an dem hartnäckigen Widerstand Helenens und der Unbeugsamkeit des Barons gescheitert sei. Und das sollte sie eingestehen, sie, die sich so viel auf die unbeschränkte Herrschaft, welche sie über ihren Gemahl, über alle ihr Näherstehenden ausübte, zu gute that; sie, die diese ganze Unterhandlung nicht nur geleitet, sondern auch den ersten Impuls dazu gegeben, Felix zuerst den Vorschlag gemacht, Felix die Bedingungen gestellt hatte – Bedingungen, denen jener zum Theil schon nachgekommen war!

Wie bereute sie es jetzt, den Brief unterschlagen zu haben! Sie hatte nicht viel mehr daraus gelernt, als was sie so schon wußte, und wie viel hatte sie sich vergeben! Sie durfte jetzt nicht mit voller Strenge gegen Helene auftreten; durfte ihre »unkindliche Gesinnung,« ihre »lächerliche Bevorzugung – um die Sache nicht schlimmer zu bezeichnen – dieses Stein« dem Baron gegenüber nicht zu sehr hervorheben. Sie wußte, daß er – besonders in seiner jetzigen Stimmung – einen solchen Vertrauensbruch niemals sanctioniren würde. Ja selbst gegen Felix, ihren Vertrauten, durfte sie nicht ganz offen sein. Sie mußte ihm sagen, daß sie die Schlacht verloren habe, und hatte nicht einmal den Trost, ihm beweisen zu können, daß es nur durch einen unglücklichen Zufall geschehen sei.

So mußte also der bittre Kelch geleert werden. Felix traute seinen Ohren kaum. Er, Felix von Grenwitz, ausgeschlagen, zurückgewiesen, mit Verachtung behandelt und in dem einzigen Fall, wo er wirklich ernste Absichten gehabt hatte? von einem Mädchen, das eben aus der Pension kam? und möglicherweise wem geopfert? einem obscuren Menschen, dessen ganzes Verdienst darin bestand, beinahe wie ein Gentleman auszusehen? Felix that, als ob der Untergang der Welt durch diese Zeichen verkündet sei. Und Helenen zu verlieren – darüber würde sich Felix noch zur Noth getröstet haben; aber auch die Aussichten auf Bezahlung seiner Schulden, oder genauer auf eine so wesentliche Erhöhung seines Credits – das war das Schlimmste, das, worüber Felix von Grenwitz nicht so leicht hinwegkam. Helenens Aussteuer, die Summe, welche ihm sein Onkel vorschießen wollte, den zu Grunde gewirthschafteten Gütern wieder aufzuhelfen, – nein! so konnte man nicht mit ihm spielen wollen. Er hatte Alles gethan, was in seinen Kräften stand, er hatte seinen Abschied genommen; er war von der Baronin autorisirt worden, vor der Gesellschaft seine Bewerbung um Helene nicht zu verschweigen – jetzt war Dienst, Braut, Ehre – Alles verloren.

Ich werde mir eine Kugel durch den Kopf jagen! rief Felix.

Die Baronin suchte den Aufgeregten zu beruhigen und es gelang ihr, nachdem sie ihm die feierliche Versicherung gegeben, daß trotz der Erfolglosigkeit seiner Bewerbung die übrigen Verabredungen nicht rückgängig gemacht werden sollten.

Nachdem sie sich über diesen äußerst wichtigen Punkt geeinigt, konnten sie mit größerer Ruhe über einige andre sprechen, vor allem über den eigentlichen Grund von Helenens Weigerung. Zu Felix' nicht geringem Erstaunen behauptete die Baronin heute geradezu, daß ein geheimes Liebesverhältniß zwischen Oswald und Helene bestehe. Sie wollte nicht sagen, was sie veranlaßte, eine frühere Vermuthung jetzt für Gewißheit auszugeben; aber sie blieb bei ihrer Behauptung, bis Felix zugab, daß die Sache freilich lächerlich, aber doch nicht geradezu unmöglich sei. – Der Mensch ist ein schlauer Intrigant, sagte er. Timm hat mich gleich im Anfang vor ihm gewarnt; ich habe nicht viel darauf gegeben, weil die Beiden auf einem sehr guten Fuß zu stehen scheinen. Indessen, ich sehe doch ein, Timm hat recht gehabt.

In diesem Augenblick wurde der Baronin ein expresser Brief aus Grünwald eingehändigt.

Von Herrn Timm, sagte sie erstaunt, den Brief erbrechend; ich bin doch neugierig, was mir der zu schreiben hat. Er hat doch sein Geld richtig erhalten. Entschuldigen Sie, lieber Felix.

Das Erstaunen, die Bestürzung, der Schrecken, welche sich, während die Baronin las, auf ihrem Gesicht malten, waren so ausgeprägt, daß Felix nicht umhin konnte, zu sagen:

Aber Tante, was haben Sie? Sie sind ja wie die Wand so weiß geworden?

O, es ist schändlich! sagte die Baronin; es ist schändlich, diese Buben! es ist eine abgekartete Sache! ein gemeines Complot! diese Buben!

Aber um Himmelswillen, was giebt es denn? rief Felix.

Hier, lesen Sie! sagte die Baronin, ihm mit zitternder Hand den Brief hinreichend.

Felix nahm den Brief und las:

Gnädige Frau! Es ist nicht meine Schuld, wenn Ihnen der Inhalt dieses Schreibens mißfallen sollte. Sie wissen, mit wie großer Verehrung ich an Ihnen und Ihrer ganzen Familie hange, mit welchem Eifer ich Ihnen stets meine geringen Dienste gewidmet, wie dankbar ich für die liebenswürdige Gastfreundschaft gewesen bin, die Sie mir stets und besonders in den letzten, so glücklich verlebten Tagen bewiesen haben. Wenn ich daher etwas sage oder thue, was mit diesen Gefühlen im Widerspruch zu stehen scheint, so können Sie mit Bestimmtheit annehmen, daß dieser Widerspruch eben nur scheinbar ist, und daß mich ein höheres Princip als persönliche Freundschaft und individuelle Hochachtung zum Handeln zwingt: nämlich die Achtung vor der Gerechtigkeit, die wir Allen schuldig sind.

Dieses mir inwohnende Rechtlichkeitsgefühl aber (ein Erbstück ohne Zweifel meines seligen Vaters) will, daß ich Ihnen eine höchst eigenthümliche Entdeckung, die ich in diesen Tagen gemacht habe, und die für Sie von einer gewissen Bedeutung sein dürfte, nicht einen Augenblick länger vorenthalte.

Sie wissen, daß mein verstorbener Vater die Stellung eines Advocaten in Grünwald bekleidete, daß seine Praxis eben so groß war, wie der Ruf seiner Rechtlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Klugheit, und daß die angesehensten Familien des Landes zu seiner Clientel gehörten. Unter andern stand er auch mit dem verstorbenen Herrn Baron Harald von Grenwitz in steter Geschäftsverbindung, aus der sich, wie mir mein seliger Vater oft erzählt hat, wenn er auf vergangene Zeiten zu sprechen kam, eine Art von Freundschaft entwickelte. Wenigstens behauptete mein Vater, daß der verstorbene Baron ihn selbst in den delicatesten Familienangelegenheiten wiederholt consultirt habe. Die Wahrheit dieser Behauptung wird bestätigt durch die Entdeckung, von der ich eben spreche.

Sie besteht in der ganz zufälligen Auffindung mehrerer Bündel Briefe und Papiere, die sämmtlich dem Herrn Baron Harald gehörten und die dieser meinem Vater zu einem Zwecke, der nicht angegeben (denn es befindet sich dabei keine Erläuterung weder von der Hand meines Vaters, noch der des Barons) übermacht hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach sollten sie meinem Vater dienen, ihm die Auffindung jenes Kindes, welchem der Herr Baron in dem Codicill seines Testaments das bewußte Legat aussetzte, zu erleichtern oder überhaupt möglich zu machen. So viel wenigstens steht fest, daß eine solche Recherche nur mit Hülfe dieser Briefe und Papiere angestellt und zu einem glücklichen Resultat gebracht werden kann. Auch bin ich überzeugt, daß nur sein plötzlicher Tod meinen Vater verhindert hat, dieses Resultat herbeizuführen, und daß ein geschickter Jurist noch zu jeder Zeit die Fäden, welche der Hand meines Vaters entfielen, wieder aufnehmen könnte.

Die Schriftstücke sind a. ein Bündel Briefe einer gewissen Mademoiselle Marie Montbert an Baron Harald von Grenwitz; b. ein dito des Herrn Barons an Mademoiselle Montbert; c. mehrere Briefe eines gewissen Monsieur d'Estein an Mademoiselle Montbert; d. verschiedene Familienpapiere der Mademoiselle Montbert; e. eine vollständige Abschrift des von dem Herrn Baron Harald hinterlassenen Testaments nebst dem Codicill, in welchem, wie Ihnen bekannt ist, nicht nur die Bedingungen angegeben sind, welche der Herr Erblasser an die Auslieferung des Legats geknüpft hat, sondern auch die Mittel und Wege, welche am wahrscheinlichsten zu einer Entdeckung des zu jener Zeit noch ungeborenen Kindes resp. dessen Mutter führen könnten. Sie wissen, daß in diesem Erläuterungsbericht die Namen der Mademoiselle Montbert und des Monsieur d'Estein vorkommen und es versteht sich von selbst, daß die genannten Personen mit denen, welche jene Briefe schrieben, identisch sind.

Bis hierher hat Alles, was ich Ihnen berichtete, für den Unbefangenen und Unbetheiligten wenigstens, nichts besonders Ueberraschendes. Was ich Ihnen aber jetzt zu sagen habe, ist so außerordentlich, daß ich um die Erlaubniß bitten muß, Ihnen darüber mündlichen Bericht erstatten zu dürfen. Ich will nur so viel andeuten, daß in den Briefen des Mr. d'Estein der Name vorkommt, welchen dieser Herr, nachdem er die Flucht der Mademoiselle Montbert von Grenwitz bewerkstelligt haben würde, für die Zukunft annehmen zu wollen erklärt, und daß dieser Name (Sie brauchen nur das d' und E wegzulassen) mit dem Namen eines Herrn, welcher seit einiger Zeit in Ihrer Familie lebt, übereinstimmt. Ich füge hinzu, wie ich für mein Theil von der Identität dieser Person mit dem noch immer unbekannten Erben von Stantow und Bärwalde (besonders auch in Folge von Mittheilungen, welche mir die bewußte Person über ihre Familienverhältnisse und frühesten Erinnerungen machte) durchaus überzeugt bin.

Doch ist diese meine individuelle Ueberzeugung natürlich noch immer nicht beweisend, und ich nehme daher Anstand, sie, wie ich wohl müßte, der bewußten Person mitzutheilen, um nicht Hoffnungen in ihr zu erregen, die doch möglicherweise nicht realisirt werden könnten.

Ich breche hier ab, um meinem mündlichen Referat (kommen Sie vielleicht in nächster Zeit nach Grünwald? oder befehlen Sie, daß ich Ihnen in Grenwitz aufwarte?) nicht zu viel vorweg zu nehmen und dem Papiere nicht unnöthigerweise noch mehr anzuvertrauen.

Genehmigen Sie, gnädige Frau, den Ausdruck u.s.w.

Hier ist noch ein Verte! sagte Felix, das Blatt umwendend.

P.S. Ich habe die Absicht, sämmtliche Papiere, da sie mir in meiner Wohnung nicht sicher genug verwahrt scheinen, einem Advokaten zu übergeben, im Falle Sie nicht (was aber schleunigst geschehen müßte) anders darüber verfügen sollten.

Da schaut der Fuchs zum Loche heraus! sagte Felix. Im Falle Sie nicht anders darüber verfügen sollten, unterstrichen; d.h. haben Sie die Güte, mir die Summe zu nennen, welche Sie für diese Papiere zahlen zu können glauben, und die Sache bleibt unter uns. – Ja, ja, der Timm ist ein geriebener Bursche, das habe ich schon vor heute gewußt!

Also glauben Sie, daß er wirklich diese Papiere gefunden hat? fragte die Baronin erstaunt.

Warum nicht? sagte Felix; ich finde das Ding äußerst wahrscheinlich, und rathe Ihnen, sich die Papiere in aller Eile zu kaufen, ehe sie im Preise steigen.

Und glauben Sie auch, daß dieser – daß dieser Mensch – ich kann es kaum über die Lippen bringen, daß dieser Stein wirklich Haralds Sohn ist?

Möglich ist es immer; sagte Felix.

Nein, es ist nicht möglich, rief die Baronin mit großer Heftigkeit; es ist Alles ein höllischer Lug und Trug, ein abgekartetes Spiel zwischen den beiden Gaunern. Die Briefe sind gefälscht, sind von Beiden, während sie hier die Köpfe zusammensteckten, geschmiedet und geschrieben worden. Es ist eine pure Erfindung, um uns einen Schrecken einzujagen und Geld abzuschwindeln – oder gar! jetzt hab' ich's! Sehen Sie denn nicht Felix, wo das Alles hinaus will? auf Helene haben sie es abgesehen! dem Einen Geld, dem Andern das Mädchen! wahrhaftig! trefflich, trefflich! schade, daß Helene nicht auch darüber an Mary Burton geschrieben hat, denn ich wette, sie ist mit im Complott! Aber nichts sollen sie haben! nichts, nichts! nicht einen Thaler – keinen Groschen!

Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht, Tante! sagte Felix, Timm ist ein sehr gewitzter Bursche, und wenn die Briefe wirklich gefälscht sind, so können Sie sich darauf verlassen, daß es keine Stümperarbeit ist, und uns sehr viel zu schaffen machen kann. Wollen Sie meinen Rath hören?

Nun?

Lassen Sie mich morgen, oder wann es ist, nach Grünwald gehen und mit Timm sprechen. Ich habe in früheren Zeiten schon manche absonderliche Unterhandlungen mit ihm geführt; er weiß, daß er mir kein X für ein U machen kann. Ohne Geld kommen wir freilich nicht los; aber ich kriege die Papiere billiger, als Sie, oder ein Anderer.

Und was soll mit Herrn Stein geschehen?

Den jagen wir mit Schimpf und Schande fort. Wollen Sie mir auch dies Geschäft überlassen?

Ja, thun Sie, was Sie wollen, aber befreien Sie mich von diesem Menschen!

Ich will es schon machen. Es findet sich heute Abend wohl eine Gelegenheit. Mit je mehr Eclat es geschieht, desto besser. Es soll ihm schon die Lust vergehen, mit uns noch einmal anzubinden. Sie werden doch dem Onkel nichts von alledem sagen?

Um Himmelswillen nicht! rief die Baronin. Er wäre im Stande, heute noch Herrn Stein als unsern lieben Verwandten der Gesellschaft vorzustellen. Er ist ja schon beinahe kindisch! ich kann mich von heute an in nichts mehr auf ihn verlassen.

Nun denn! sagte Felix, seiner Tante die Hand küssend; so verlassen Sie sich auf mich. Wir wollen die Sache schon glücklich zu Ende bringen. – Aber ich glaube, liebe Tante, es ist die höchste Zeit, daß wir Toilette machen. Um Himmelswillen! fünf Uhr! und um sechs fängt die Gesellschaft an – wie soll ich in einer Stunde fertig werden!

Achtundfünfzigstes Capitel

Wagen auf Wagen rollten durch das große Thor auf den Schloßplatz, und hielten vor dem Portale still. Geputzte Damen und Herren stiegen aus und wurden von den Dienern vorläufig in die Garderobezimmer gewiesen, um einige Minuten später in der weit geöffneten Flügelthür, die in die Gesellschaftsräume im Erdgeschoß führte, von dem alten Baron und Felix empfangen zu werden.

Nach und nach versammelte sich so ziemlich der gesammte Adel der Umgegend. Schon die glänzenden Equipagen, in welchen man heute gekommen war – die meisten waren mit vier, einige sogar mit sechs herrlichen Pferden bespannt, Vorreiter in allen möglichen bunten Livreen nicht zu vergessen – noch mehr aber der gewählte Anzug der Herren, die glänzende Toilette der Damen bewiesen, daß man sich auf ein Fest im größesten Styl vorbereitet hatte. Man glaubte auch mit ziemlicher Gewißheit angeben zu können, um was es sich heute eigentlich handelte; hatten doch die Baronin und Felix es an Hindeutungen auf ein Ereigniß, das möglicherweise in nicht allzu langer Zeit eintreten könnte, keineswegs fehlen lassen! Die Baronin und Felix hatten sich durch diese voreiligen Anspielungen, wie es schien, einen schlimmen Tag bereitet, und sollten jetzt die Erfahrung machen, daß es viel leichter ist, den Mund der Fama zum Reden als zum Schweigen zu bringen. Sie hatten alle Mühe, die bedeutungsvollen Mienen der Bescheideneren, die zarten Andeutungen der Neugierigen, die direkten Fragen der Zudringlichen zu übersehen, zu überhören, ausweichend zu beantworten, und bei diesem Fegefeuer doch noch die officielle gesellschaftliche Freundlichkeit und Höflichkeit zu bewahren. Die Gesellschaft schien im Allgemeinen entschlossen, an dem Glauben einer Verlobung zwischen Felix und Helene festhalten zu wollen, und vertröstete sich auf die Abendtafel, wo man ja doch endlich mit der Wahrheit hervortreten werde. Nur einige wenige Scharfsinnige wollten aus gewissen Anzeichen schließen, daß die Aussicht auf das bewußte Ende wohl nicht so ganz ungetrübt sei, wie die Meisten anzunehmen schienen. Sie machten darauf aufmerksam, daß das Benehmen der Baronin heute um vieles förmlicher sei, wie gewöhnlich, ja in manchen Augenblicken geradezu verlegen; daß der alte Baron außerordentlich zerstreut sei, und keineswegs den Eindruck eines glücklichen Familienvaters mache; und was das Brautpaar selbst betreffe, so sei es zum mindesten auffallend, daß Baron Felix sich unausgesetzt in großer Entfernung von seiner Cousine halte, und Fräulein Helene, obgleich sie sich nie durch große Lebhaftigkeit auszeichne, heute offenbar mehr wie eine schöne kalte Marmorstatue, als ein junges Mädchen an ihrem Verlobungstage aussehe.

Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft wurde für einige Zeit von diesem problematischen Brautpaare abgelenkt, als jetzt, nachdem die ganze Gesellschaft fast versammelt war, ein wirkliches Brautpaar erschien, dessen Verlobung in den letzten Tagen eine so ungemeine Sensation erregt hatte: Fräulein Emilie von Breesen an dem Arme Arthur's von Cloten. Das junge Paar hatte zwar schon die üblichen Visiten gemacht; aber die Nachbarschaft war groß. Zu Einigen hatte man beim besten Willen noch nicht kommen können, Andere hatte man zu seinem größten Bedauern nicht zu Hause getroffen – es gab noch eine Menge Gratulationen in Empfang zu nehmen und zu erwiedern. Fräulein von Breesen, Herr von Cloten bildeten den Gegenstand und Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit hier im Kreise der Damen, dort im Kreise der Herren. Herr von Cloten schien überglücklich; er lachte und schwatzte unaufhörlich, und es schien ein halbes Wunder, daß von seinem blonden Schnurrbart auch nur ein einziges Härchen übrig geblieben war – so unausgesetzt wirbelte und drehte er denselben durch die Finger. Fräulein Emilie schien ihr Glück mit größerer Gelassenheit zu tragen; ja, jene Minorität der Scharfsichtigen wollte eine trübe Wolke auf ihrer Stirn bemerken, so viel Mühe sich auch ihr reizender Mund gab, freundlich zu lächeln; man behauptete, daß ihr Auge oft ruhelos über die Gesellschaft schweife, ohne auf ihrem glücklichen Bräutigam auch nur einen Moment zu verweilen.

Es gab heute überreichen Stoff zu pikanten Klatschereien.

Das Verhältniß von Cloten's zu der ebenso liebenswürdigen, wie gefährlichen Hortense von Barnewitz war in dieser Gesellschaft, in welcher es von Geschichtenträgern und Geberdespähern wimmelte, durchaus kein Geheimniß geblieben, und die letzte große Gesellschaft in Barnewitz, auf welcher es zwischen Cloten und dem Gemahl Hortense's zu einer so unerquicklichen Scene kam und Hortense die Unvorsichtigkeit beging, gerade in diesem Augenblicke in Ohnmacht zu fallen, hatte den letzten dünnen Schleier von dem Verhältniß fortgezogen. Nun war man äußerst neugierig, zu beobachten, wie sich Hortense in ihren Verlust schicken werde, und vor allem, ausfindig zu machen, wen die blonde Menschenfischerin zum glücklichen Nachfolger ihres treulosen Galan erkoren habe. Die Einen riethen auf den Grafen Grieben, die Andern auf Adolf von Breesen. Beide bewarben sich eifrigst um die gefährliche Gunst der Circe. Für Jenen sprach der Umstand, daß er ein verschmähter Bewerber der koketten Emilie, und als solcher ganz besonders zum Nachfolger Cloten's sich zu qualificiren schien: für diesen, daß er bei weitem der Hübscheste, Gewandteste und Kühnste der ganzen Schaar war – lauter Eigenschaften, welche die kluge Hortense sehr wohl zu schätzen wußte.

Ich parire auf Grieben, sagte der junge Sylow; zwölf Flaschen Champagner! wer hält?

Ich, rief von Nadelitz; pah! da müßte ich Breesen nicht kennen.

Sechs Flaschen Reugeld bis zum Cotillon heute Abend?

Ha, ha! hört Ihr's? Er verliert die Courage schon; aber angenommen; angenommen!

Wirklich ein famoses Weib, die Barnewitz! sagte Hans von Plüggen; ich wollte, ich stände auch auf der Candidatenliste.

Nun, zu der Ehre ist leicht zu gelangen; meinte ein Anderer.

Ich weiß nicht, was Ihr an der Barnewitz findet; sagte von Sylow. Da ist doch die Berkow eine ganz andere Erscheinung. Ich wollte, die Berkow wäre hier.

Das wollten wohl noch Mehrere! sagte ein Anderer; aber Ihr wißt doch, daß Berkow todt und Melitta seit vorgestern zurück ist?

Eine alte Neuigkeit.

Auch daß sie sich in Kurzem mit Oldenburg verloben wird?

Unsinn!

Ihr könnt Euch drauf verlassen; ich habe es von der Barnewitz. Die wird es doch wohl wissen.

Kommt denn Oldenburg heute nicht?

Ich hörte von Felix, daß er zugesagt habe; aber Oldenburg hat ja seine besonderen Gewohnheiten.

Melitta's Rückkehr und der Tod Herrn von Berkow's wurden nicht blos im Kreise der Jüngeren lebhaft debattirt. Melitta war eine der gefeiertsten Damen der Gesellschaft und hatte trotzdem merkwürdigerweise wenig Neider und Feinde. Hin und wieder wurde ihr ein etwas excentrisches Wesen, eine Neigung zum Besondern, Ungewöhnlichen zum Vorwurf gemacht; dieser meinte, sie sei ihm zu gebildet; jener, sie kokettire mit dem Liberalismus – aber im Allgemeinen wurde ihre Liebenswürdigkeit, ihre Gutmüthigkeit und Anspruchslosigkeit doch willig anerkannt; abgesehen davon, daß der Zauber ihrer Erscheinung über allen Widerspruch erhaben war. Man freute sich, daß sie endlich von dem Alp, der so lange auf ihrem Herzen gelastet, erlöst sei, und war äußerst begierig zu wissen, wen sie demnächst mit ihrer Hand beglücken werde. Denn daß eine so junge, lebenslustige Frau jetzt, da sie sich wieder frei fühlen durfte, nicht lange unvermählt bleiben könne, schien unzweifelhaft. In der allerletzten Zeit war, man wußte nicht recht durch wen? das Gerücht verbreitet worden, Baron Oldenburg habe bei weitem die meisten Aussichten; ja, ganz unter der Hand erzählte man sich, eine Intimität zwischen dem Baron und Melitta habe von jeher bestanden, und Herr von Berkow habe zu sehr gelegener Zeit den Verstand verloren. Man trug sich sogar mit gewissen Details aus der Geschichte dieses geheimnißvollen Verhältnisses, die, wenn sie begründet waren, den Ruf Melitta's einigermaßen compromittiren mußten. Man wußte nicht, von wem diese Gerüchte ausgegangen waren. Die scharfsichtigere Minorität meinte: von Hortense Barnewitz, und das Ganze sei eine Rache an Oldenburg für einen gewissen guten Rath, den er seinem Freunde Cloten vor einiger Zeit gegeben, und den Cloten so blindlings befolgt habe, daß er sich, als er die Augen aufthat, zu den Füßen Emiliens von Breesen wieder fand.

Unterdessen war die achte Stunde, in welcher der Ball beginnen sollte, herbeigekommen. Die Baronin eröffnete denselben an der Hand des Grafen Grieben. Graf Grieben hatte trotz des schmetternden Kreischens seiner Stimme alle Mühe die Musik zu überschreien, die auf seinen speciellen Wunsch voranging, da er auf den geistreichen Einfall gekommen war, die lange Reihe der tanzenden Paare nicht nur durch die Säle des Schlosses, sondern auch um den großen Rasenplatz und weiter in die dichtesten Theile des Gartens hinein und aus demselben wieder zurück in den Ballsaal zu führen, wo er die Polonaise mit einem feierlich langsamen Walzer schloß.

Das ist so gute alte Sitte, gnä'ge Frau! kreischte er vergnügt der Baronin in's Ohr; mein Vater selig hielt's so und mein Großvater selig. Die Alten kannten den Rummel. Jugend hat keine Tugend. Meinen Sie nicht auch, gnä'ge Frau?

Ja wohl, ja wohl! sagte die Baronin.

Tanz reihte sich an Tanz. Die Geigen quinquilirten, der Baß brummte dazwischen. Die Gesichter der Tänzer fingen an, sich zu erhitzen; die Damen begannen ihre Fächer häufiger zu benutzen; die Diener, welche in den Pausen mit Erfrischungen umher gingen, sahen die Präsentirbretter immer schneller geleert – aber die rechte Lust wollte sich doch nicht entzünden; es war, als ob ein Schleier über der Gesellschaft hing.

Weiß der Teufel, was das heute ist, sagte der junge Grieben, sich die Stirn wischend, als er in einer der Pausen an eine Gruppe von Herren, die mitten im Saale stand, herantrat: man tanzt sich fast die Beine ab, aber es geht nicht; man kommt nicht in Zug.

Nun, Sie können lange tanzen, bis Sie Ihre Beine abgetanzt haben, sagte von Sylow; aber Sie haben Recht; ich habe schon ein paar Flaschen getrunken; je mehr ich trinke, desto melancholischer werde ich.

Mir geht es eben so; sagte ein Dritter; ich weiß nicht, woran es liegt; der Ball in Barnewitz neulich war viel amüsanter.

Woran es liegt? sagte von Breesen. Nun, ich dächte, das wäre klar genug. Der alte Baron sieht aus wie ein Hahn, wenn's regnet; die Baronin wie eine entthronte Hekuba – heißt ja wohl Hekuba? – Felix fängt mit Jedem Händel an, der in seine Nähe kommt, und Fräulein Helene hat, glaube ich, den ganzen Abend noch nicht drei Worte gesprochen. Und dabei soll ein Mensch vergnügt sein? Mir ist, als ob eine Leiche im Haus wäre.

Nun, einen Kranken zum wenigsten giebt's; sagte von Plüggen. Der alte Baron erzählte mir's eben: Bruno liegt schon seit gestern zu Bett.

Deshalb ist auch wohl der Doctor Stein nicht unten; sagte Graf Grieben; ich glaubte er habe noch ein Exercitium zu corrigiren und werde später erscheinen, ha, ha, ha!

Seien Sie still, Grieben; meinte Hans von Plüggen; Sie haben neulich ganz anders über den Doctor gesprochen.

Ich habe gesagt, daß er ein verdammter Geck sei, dem ich bei nächster Gelegenheit seinen Standpunkt klar machen würde, und das sage ich noch.

Das ist wörtlich, was auch Felix vorhin sagte – der Doctor scheint ja im Allgemeinen recht hübsch bei den Herren anschrieben zu sein.

In desto höherer Gunst steht er bei den Damen, bemerkte von Nadelitz ironisch.

Ja wohl; sagte von Breesen; er soll neulich auf dem Balle drei Schwestern auf einmal unglücklich gemacht haben.

Wenigstens haben sie sich nicht die Augen ausgeweint, wie man sich von Fräulein von Breesen erzählt; erwiederte Nalitz, welchen die Anspielung Breesens auf seine drei Schwestern ärgerte.

Ich verbitte mir dergleichen! sagte von Breesen auffahrend.

Was Einem recht ist, ist dem Andern billig.

Ich habe keine Namen genannt.

Weil ohnehin Jeder wußte, wen Sie meinten.

Aber, Ihr Herren, tant de bruit pour une omelette! sagte von Plüggen, ich glaube, Ihr werdet Euch noch dieses Menschen wegen in die Haare fahren, damit die, welche behaupten, daß er Fortune bei unseren Damen mache, doch ja Recht behalten.

Wißt Ihr schon das Allerneueste, sagte von Cloten, plötzlich seinen blonden Schnurrbart in die Gruppe steckend.

Nun?

Denkt Euch, dieser Stein – doch st! da kommt Grenwitz – kein Wort, wenn ich bitten darf.

Nun, meine Herren, sagte Felix; wollen Sie nicht die Güte haben, zum Contretanz anzutreten; ich habe schon zweimal das Zeichen geben lassen.

Felix sagte das in einem beinahe gereizten Tone. Sein sonst nicht gerade blühendes Gesicht war stark geröthet. Augenscheinlich hatte er der Flasche schon mehr als räthlich zugesprochen.

Als der Tanz zu Ende war, fanden sich die Herren, welche vorhin durch Felix' Dazwischenkunft in ihrer Unterhaltung gestört waren, wie auf Verabredung wieder zusammen.

Nun, wo ist Cloten mit dem Allerneuesten? fragte von Sylow.

Hier! sagte Cloten herantretend. Denkt Euch, dieser Stein – wir sind doch entre nous?

Ja, ja, nur weiter!

Hat die Frechheit, – nun rathet einmal mit wem? ein Verhältniß anzuknüpfen –

Aber, Cloten, Sie sind unerträglich! werden Sie endlich einmal mit Ihrer Neuigkeit zu Platz kommen?

Mit Helene Grenwitz; sagte von Cloten in einem hohlen Geisterton.

Nun, das wäre nicht übel; sagte von Sylow.

Das sieht dem Burschen ähnlich; meinte von Grieben.

Hinc illae lacrimae! sagte Breesen.

Und was das Schönste ist, fuhr Cloten fort; Fräulein Helene hat gar nichts dagegen; au contraire, ist bis über die Ohren in ihn verschlossen. Ist das nicht allerliebst?

Von wem hast Du denn diese Mordgeschichte, Cloten? fragte Adolf von Breesen.

Aus sehr guter Quelle; erwiederte Cloten mit einem bedeutungsvollen Zwinkern nach der Gegend des Saales, wo eben Emilie von Breesen, mit Helene sprechend, stand.

Hm, hm! sagte Breesen.

Die Geschichte ist nicht unwahrscheinlich, meinte von Sylow. Nun erklärt sich die Leichenbittermiene, die Grenwitzens heut' ohne Ausnahme machen.

Ich sagte ja gleich, daß hier irgend etwas los sei; meinte von Breesen. Es ist mir übrigens sehr lieb, daß ich mich mit dem Burschen nicht tiefer eingelassen habe, wozu ich anfänglich – ich gestehe es offen – wirklich einige Lust hatte. Der Mensch hat wahrlich etwas ungemein Bestechendes.

Er schießt famos, sagte Sylow nachdenklich.

Famos oder nicht, sagte Cloten; ich glaube gar, Ihr Herren, wir lassen uns so viel von dem Menschen gefallen, weil er nicht schlecht schießt. Nein, Ihr Herren, das geht nicht, geht wahrhaftig nicht! Ich schlage vor, wir suchen unsern Fehler wieder gut zu machen und behandeln den Menschen, wenn er sich wieder unter uns blicken läßt, mit der insignesten Geringschätzung – wahrhaftig!

Auf Ehre! sagte Graf Grieben, Cloten hat Recht. Ich werde den Burschen das nächste Mal mit der Reitpeitsche tractiren.

Schade, daß er nicht hier ist, damit Sie Ihre Drohung gleich in Anwendung bringen können; sagte von Breesen ironisch.

Quand on parle du loup – sagte von Sylow; da kommt er ja! Und sein Pylades Oldenburg natürlich bei ihm.

Wirklich zeigten sich in diesem Augenblick durch die weitgeöffnete Flügelthür Oswald und Oldenburg in dem Nebenzimmer. Sie sprachen einige Minuten mit einander; dann trat Oldenburg in den Saal, während Oswald von dem alten Baron draußen festgehalten wurde.

Neunundfünfzigstes Capitel

Oswald hatte während des ganzen Tages Bruno's Bett nur auf Augenblicke verlassen, nachdem er von jener denkwürdigen Unterredung mit Helene zurückgekommen war. Er hatte in der Pflege des lieben Kranken sich selbst zu vergessen gesucht.

Bruno selbst vergaß seine Schmerzen, als ihm Oswald erzählte, er habe Helene gesprochen und den Brief in ihre Hände gelegt; ja er bemerkte nicht einmal Oswald's bleiches Gesicht und verstörtes Wesen.

Nun ist Alles gut, rief er, jetzt weiß sie, woran sie ist. Jetzt können sie ihr nichts mehr anhaben; jetzt ist sie auf ihrer Hut. O, der eine Gedanke schon hat mich gesund gemacht.

Leider war das aber nicht der Fall. Die Schmerzen in der Seite stellten sich schon nach wenigen Minuten mit desto größerer Heftigkeit wieder ein. Oswald hoffte mit Bestimmtheit, daß Doctor Balthasar sein Versprechen halten und im Laufe des Vormittags kommen werde. Aber der Vormittag verging und kein Doctor ließ sich sehen. Bruno's Zustand wurde nicht schlimmer, aber auch nicht besser, und Oswald war zu sehr Laie, um sich zu sagen, daß ein Zustand, der nicht besser wird, sich eben verschlimmert. Indessen ließ es ihm keine Ruhe, bis gegen Mittag, wo der Arzt noch immer nicht gekommen war, ein reitender Bote in die Stadt geschickt wurde. Der Bote brachte freilich die von Doctor Balthasar verordnete Einreibung aus der Apotheke mit, meldete aber, daß der Doctor selbst nicht in der Stadt gewesen sei, und Doctor Braun erst heute Abend zurückkommen würde. Er sei selbst in der Wohnung des Letzteren gewesen und habe dem Mädchen gesagt, daß der Herr Doctor, wenn irgend möglich, doch ja noch kommen möchte. Oswald war dem verständigen Menschen, der selbst an Bruno's Krankheit den lebhaftesten Antheil nahm, sehr dankbar für diese Umsicht. Er athmete ordentlich auf, als er hörte, daß Braun, auf den er ein felsenfestes Vertrauen hatte, nicht mehr fern sei. Unterdessen vergaß er nicht, das von dem Collegen desselben verschriebene Mittel anzuwenden, welches indessen sich ohne allen Erfolg zeigte, bis Bruno endlich bat, von dieser nutzlosen Kur abzustehen.

So vergingen, eine nach der andern, die langen, langen Stunden, die nur der Kranke kennt, der sich ruhelos auf seinem Lager wälzt, und der, welcher, die Seele voll unaussprechlicher und ach! so hülfloser Angst an diesem Lager sitzt und auf den Arzt harrt, der nicht kommen, und auf das kleinste Symptom der Besserung, das sich nicht zeigen will.

Der alte Baron schickte einige Male hinauf und ließ sich nach Bruno's Befinden erkundigen; kam auch am Nachmittage selbst; dankte Oswald mit großer Herzlichkeit für seine Sorge, klopfte Bruno auf die heißen Wangen und sagte: wenn er recht bald gesund würde, sollte er auch das Reitpferd haben, das er sich schon so lange gewünscht hätte.

Es thut mir leid, sagte er zu Oswald, als dieser ihn zur Thür hinaus begleitet hatte, daß gerade heute die Gesellschaft sein muß. Es wäre mir schrecklich, denken zu müssen, daß hier im Schlosse ein Fest gegeben wird, während einer der Meinigen gefährlich krank liegt.

Oswald suchte, so gut er es vermochte, den guten alten Herrn zu beruhigen, obgleich sein eigenes Herz voll schwerer Sorge war. Auch wagte er nicht, dem Baron gerade jetzt einen Entschluß mitzutheilen, der in diesen letzten Stunden bei ihm zur Reife gekommen war.

Es stand jetzt für ihn fest: daß seines Bleibens in diesem Hause nicht länger sein dürfe.

Wie er fürder ohne Bruno würde leben können; wie er sich von der Seligkeit, Helenen täglich zu sehen, würde lossagen können – er wußte es nicht. Er wußte nur das Eine: Du mußt fort.

Das wiederholte er sich immer, während er Bruno's Kissen glättete, Bruno's heiße Hände in die seinen nahm, ihm das üppige Haar aus der Stirn strich, seine glühenden Lippen netzte.

Wenn meine Mutter lebte, sie könnte mich nicht besser pflegen, sagte Bruno, ihm dankbar die Hand drückend.

Du hast Deine Mutter nie gekannt, Bruno?

Kaum, ich war erst drei Jahre, als sie starb. Aber von meinem Vater weiß ich noch. Und nun fing der Knabe mit fieberhafter Lebendigkeit an von seinem Vater zu erzählen: wie schön und groß und stark er gewesen sei, nicht so schlank wie Du, aber noch breiter in den Schultern, und mit langen dunklen Locken, die ihm bis auf die Schultern wallten, wie den König Harfagar. Und von dem kleinen Gute, hoch oben in Dalekarlien, das der Vater mit noch zwei Knechten ganz allein bewirthschaftet habe. Und wie geschickt der Vater in Allem gewesen sei, und wie er die Axt zu führen verstanden habe, trotzdem er in seiner Jugend Page an dem Hofe der Königin gewesen war und ihr die lange seidene Schleppe getragen hatte bei den prunkenden Festen. Und von Thor, dem schnellen Traber, den der Vater vor den Schlitten spannte, und von den nordischen Winternächten, wenn die Sterne an dem schwarzen Himmel funkelten wie Diamanten, Rubinen und Smaragden, so hell, daß der Schnee in ihrem Scheine glitzerte. Und von dem Nordlicht, wie es plötzlich am Horizont aufflammt und seine Feuerarme bis zum Zenith hinaufstreckt.

Wir müssen zusammen einmal nach Schweden reisen, sagte er; der Winter hier ist nur Kinderspiel; da sollst Du einmal Schnee und Eis zu sehen bekommen! Hier ist es heiß, unerträglich heiß – ich wollte, ich läge in Eis und Schnee.

Und der Knabe warf sein Haupt ruhelos auf dem Kissen umher und verlangte zu trinken.

Da tönte Musik herauf aus dem Garten.

Was ist das? sagte Bruno, in die Höhe fahrend.

Oswald trat an's Fenster.

Es ist die ganze Gesellschaft, sagte er, sie kommen eben zwischen den Bäumen heraus. Graf Grieben und Deine Tante eröffnen den Zug. Sie wollten hier an unserem Fenster vorüber, aber der Baron, der mit der Gräfin Grieben folgt, bedeutet ihnen, den anderen Weg einzuschlagen. Die ersten Paare verschwinden schon wieder; aber immer neue Paare tauchen auf.

Ist Helene schon vorüber? fragte Bruno, sich in die Höhe stemmend.

Nein, noch nicht.

O, daß ich nicht aus dem Bette kann! rief Bruno, von der Anstrengung und dem heftiger gewordenen Schmerz ermattet zurücksinkend.

Da ist sie.

Doch nicht mit Felix?

Nein, mit einem jungen Mann, den ich noch nicht gesehen habe.

Gleichviel, sagte Bruno; mit Allen, nur nicht mit Felix.

Jetzt sind die Letzten vorüber; sagte Oswald, sich wieder zu Bruno an's Bett setzend.

Bruno's Unruhe schien durch diese directe Erwähnung Helenens, die Beide, wie auf Verabredung, seit dem Morgen vermieden hatten, erhöht. Er fing wieder an, von Helene zu sprechen. Oswald sollte ihm erzählen, was sie angehabt, ob sie schön, sehr schön ausgesehen habe, viel schöner, als alle übrigen Damen? ob sie gelächelt habe, ob sie einen Blick nach dem Fenster emporgeworfen?

O, könnte ich doch nur aufstehen! könnte ich sie doch nur noch einmal sehen!

Du wirst sie ja bald wieder sehen, Bruno.

Ich weiß es nicht; gerade heute möchte ich sie nur einmal, nur auf einen Augenblick sehen. Es ist mir, als ob ich ihr etwas zu sagen hätte, was mir das Herz abdrückt. Und dann, wenn sie den Felix fortschickt, und sie wird es thun – so soll sie ja wieder in die Pension zurück, und da kann es lange dauern, bis ich sie wieder sehe. Aber ich bleibe auch nicht hier, wenn sie fort ist. Komm mit, Oswald, wir wollen nach Hamburg. Du bist ja so klug und geschickt, Du wirst schon eine Beschäftigung finden, und ich auch – irgend eine, gleichviel welche, wenn ich nur in ihrer Nähe sein darf, sie nur von Zeit zu Zeit sehen darf.

Er verfiel in eine Art von Halbschlaf, aus dem er plötzlich wieder emporfuhr.

Warum ist Helene fortgegangen?

Du träumst, Bruno; sie ist nicht hier gewesen.

Auch Tante Berkow nicht?

Nein, Bruno.

Wie deutlich ich Beide gesehen! Sie kamen Hand in Hand zur Thür herein; Helene in weiß, mit einem Kranz von dunkelrothen Rosen im Haar; Tante Berkow in schwarz, das Haar, wie sie es immer trägt. Tante Berkow führte Dir Helene zu, und Ihr sankt Euch in die Arme und weintet und küßtet Euch; und dann trat Tante Berkow an mein Bett und sagte: so, Bruno, nun kannst Du schlafen gehen. Da fielen mir die Augen zu; es wurde Nacht um mich her, ich sank mit dem Bett tiefer und tiefer und schneller und immer schneller – darüber bin ich vor Schreck aufgewacht.

Fühlst Du Dich kränker, Bruno? fragte Oswald, den die Phantasien besorgt machten.

Im Gegentheil, erwiederte Bruno; der Schlaf hat mir sehr wohl gethan. Meine Schmerzen sind bedeutend geringer; aber ich fühle mich sehr matt. Ich glaube, ich könnte schlafen.

Er legte sein Haupt auf die Seite; aber schon nach wenigen Augenblicken fuhr er wieder auf:

Oswald, willst Du mir einen recht, recht großen Gefallen thun?

Gewiß! was soll ich?

Bitte, zieh Dich an und gehe hinunter in die Gesellschaft.

Um Alles in der Welt nicht!

Bitte, bitte, thu's! thu's mir zu Liebe. Sieh! ich fühle mich ja jetzt viel besser und möchte gern schlafen und werde auch schlafen. Da kannst Du mir ja doch nicht helfen.

Aber was soll ich unten?

Sieh, Oswald, sagte Bruno; ich möchte doch Helene so unbeschreiblich gern sehen. Und ich kann nicht auf; ich fühle gar keine Kraft in meinen Gliedern. Wenn nun Du sie siehst, so ist mir, als hätte ich sie auch gesehen. Bitte, bitte! geh hinunter! Du brauchst ja Niemand zu sprechen; nur, wenn es möglich ist, sage Helenen, ich ließe viel tausendmal grüßen – und wenn Du das gesagt hast, und sie hat vielleicht geantwortet: und grüßen Sie Bruno auch von mir! dann komme schnell, recht schnell wieder, daß Du den Ton, in dem sie es gesagt hat, nicht vergissest. Und höre, Oswald, da ich gerade daran denke: es könnte ja doch sein, daß ich einmal plötzlich sterbe, nein, – lache nicht! ich rede im Ernst – dann gieb nicht zu, daß man mich umkleidet; ich will so, wie ich gestorben bin, in den Sarg gelegt werden. Sieh! – Du weißt, daß ich stets ein Medaillon auf dem Herzen trage; es ist von meiner Mutter, aber nicht deshalb allein halte ich es so heilig! Es liegt eine Locke von Helenens Haar darin, die ich ihr gleich in der ersten Zeit einmal im Scherz abgeschnitten habe. Wenn mir das Medaillon genommen würde – ich glaube, ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh! es wird sonst so spät.

Oswald wußte nicht, was er thun sollte. Gab er dem Verlangen des Knaben nicht nach, so mußte er fürchten, dessen fieberhafte Unruhe, die sich jetzt fast gänzlich gelegt zu haben schien, wieder hervorzurufen. Auf der andern Seite war ihm der Gedanke, ihn, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlassen, sehr peinlich. Und doch hätte er auch Helenen so gern gesehen – nur für einen Augenblick – mußte sich doch in diesen Stunden Alles entschieden haben.

Bruno machte seinen Zweifeln ein Ende.

Du hast es mir versprochen! sagte er traurig, und nun willst Du nicht, Du hast mich nicht lieb!

Oswald ging in das Nebenzimmer, sein Schlafgemach, und kleidete sich um. Er hatte sich wohl noch nie in einer solchen Stimmung zu einer Gesellschaft angekleidet. Das Ganze erschien ihm eine schauerliche Ironie. Er erschrak, als er sein bleiches, verwüstetes Gesicht im Spiegel betrachtete. In diesen letzten Stunden schien er um eben so viele Jahre gealtert zu sein.

Er trat wieder an Bruno's Bett.

Laß Dich doch einmal betrachten, sagte der Knabe, sich halb aufrichtend. Wie stattlich Du aussiehst! wie schön! – küsse mich, Oswald!

Oswald nahm den Knaben in seine Arme und küßte ihn auf die schönen, stolzen – jetzt ach, so bleichen Lippen. Dann ließ er ihn sanft auf das Kissen gleiten.

Ich fühle mich sehr, sehr wohl; sagte Bruno; beeile Dich nicht, ich werde, bis Du zurückkommst, köstlich schlafen.

Sechzigstes Capitel

Auf dem Vorsaal unten begegnete er dem Baron Oldenburg.

Ich hätte große Lust, wieder umzukehren, sagte Oldenburg nach der ersten, von beiden Seiten ziemlich förmlichen Begrüßung; ich glaubte nicht, daß die Gesellschaft so groß sei, bin zu Pferde gekommen und, wie Sie sehen, nicht ganz etiquettemäßig angeputzt. Wer ist denn Alles da?

Ich komme selbst erst in diesem Augenblick von oben; erwiederte Oswald; Bruno ist seit vorgestern unwohl; jetzt hat er mich fortgeschickt, weil er schlafen will.

O, das thut mir ja leid, sagte Oldenburg; der Junge wird hoffentlich nicht ernstlich krank werden. Sagten Sie mir nicht, daß er ein großer Liebling von Ihnen sei?

Ja. Haben Sie keine Nachricht von –

Von meiner Czika? nein.

Oldenburgs Gesicht verdüsterte sich. Wollen wir eintreten? fragte er.

In einem der Nebenzimmer zum Ballsaale begegneten sie dem alten Baron. Oldenburg ging nach einer kurzen Begrüßung in den Saal, Oswald mußte dem alten Herrn einen ausführlichen Bericht über Bruno's Befinden während der letzten Stunden machen.

Nun, das ist ja schön, recht schön, sagte er, daß wir noch so mit einem blauen Auge davonkommen; ich fürchtete schon, es würde ein Nervenfieber werden. Gehen Sie doch auch zu meiner Tochter und sagen Sie ihr: daß es sich mit Bruno bessert; sie hat sich schon ein paar Mal nach ihm erkundigt.

Oswald trat in den Saal. Man fing eben wieder einen Tanz an, den letzten vor der großen Pause, in welcher in den Sälen oben gespeist werden sollte. Er blieb in der Nähe der Thür auf dem Tritt des niedrigen Divans, der sich um den ganzen Saal herumzog, stehen. Die Paare der Tanzenden wechselten; bald kamen diese, bald jene in seine Nähe. Einmal stand Emilie von Breesen, die mit ihrem Bräutigam tanzte, dicht vor ihm. Sie that, als ob sie ihn nicht bemerkte; sie lachte und scherzte, vielleicht etwas zu laut – von Cloten dagegen machte von dem Vorrecht der Leute in seiner Situation, die gleichgültigsten Dinge im Flüsterton mit obligatem bedeutungsvollen Lächeln in die Ohren zu raunen, den ausgedehntesten Gebrauch.

Oswald hatte von der plötzlichen Verlobung dieser Beiden gehört; er wußte wohl am besten, wie dieselbe zu Stande gekommen war. Er erinnerte sich, wie wegwerfend Emilie an dem Abend in Barnewitz sich über Cloten geäußert hatte. Jetzt war sie seine Braut. – Es wird eine unglückliche Ehe werden, dachte Oswald, und er mußte sich sagen, daß er nicht den kleinsten Theil der Schuld an diesem Unglück trage.

Ein paar Augenblicke später kam Helene in seine Nähe. Sie tanzte mit von Sylow. Oswald hatte sie schon längere Zeit beobachtet und bemerkt, daß sie schweigend und kalt, wie eine Marmorstatue neben ihrem Tänzer stand, der die Hoffnungslosigkeit seiner Bemühungen, eine Conversation zu Stande zu bringen, eingesehen zu haben und den Kronleuchtern eine specielle Aufmerksamkeit zu widmen schien. Sobald sie Oswald erblickte, flog ein Strahl des Lebens über die schönen ernsten Züge. Sie winkte ihm mit den Augen zu sich heran.

Wie geht es Bruno?

Danke! besser; er wollte schlafen.

Bleiben Sie hier?

Nein! ich werde sofort wieder hinaufgehen.

Grüßen Sie Bruno – und hier! nehmen Sie ihm diese Rosenknospe mit.

Helene nahm eine Rosenknospe aus dem Bouquet, welches sie in der Hand trug, und gab sie Oswald, der sie mit einer Verbeugung entgegennahm. Er bemerkte, daß von Sylow's Aufmerksamkeit sich plötzlich von den Kronleuchtern abgewandt hatte, und daß die Augen des jungen Edelmannes mit einem Ausdruck, der ihm durchaus nicht gefiel, auf ihm hafteten.

Im nächsten Moment stand ein anderes Paar auf der Stelle.

Hast Du Deinen alten Anbeter nicht gesehen, Emilie? sagte Cloten.

Wen?

Dort drüben, den Doctor Stein. Er stand vorhin dicht hinter uns.

Ach da! – meinen alten Anbeter! Du bist wohl toll, Arthur!

Nun, nun! sei nur nicht bös! ich glaube ja kein Wort von der ganzen Geschichte. Aber um Himmelswillen, sieh doch nur! Er spricht jetzt mit Helene Grenwitz; sie giebt ihm eine Rose. Nein, da hört doch aber Alles auf! wahrhaftig, Alles!

Ich sagte Dir ja, daß die Beiden vollkommen einig seien. Er sticht Euch Alle aus.

Wahrhaftig – es ist stark! aber ich habe dafür gesorgt, daß die Geschichte unter die Leute kommt.

Was hast Du gethan?

Nun, ich habe weiter erzählt, was Du mir vorhin unter dem Siegel der Verschwiegenheit mittheiltest. Der ganze Saal weiß es schon.

Aber das hatte ich Dir nicht erlaubt.

Ich glaubte in Deinem Sinne zu handeln. Herr Stein wird es bereuen, wenn er sich nicht schleunigst mit seiner Rosenknospe entfernt.

Was hast Du vor?

O, wir wollen nur dem Burschen seinen Standpunkt klar machen. Es wird eine gottvolle Geschichte, wahrhaftig! Ich erzähle sie Dir nachher.

Der glückliche Bräutigam führte seine Braut, da der Tanz zu Ende war, nach ihrem Platz zurück und wandte sich zu von Sylow, der auf ihn zukam.

Hast Du gesehen, Cloten?

Na ob!

Es ist ein wahrer Scandal.

Ich bedaure nur den armen Felix.

Das müssen wir ihm doch erzählen. Weißt Du nicht, wo er ist?

Er sagte vorhin, das Tanzen langweile ihn; er wollte zu den Spielern gehen. Barnewitz hat, glaube ich, eine Bank aufgelegt. Wir können auch hin; es wird nicht mehr getanzt vor Tische. Es ist gerade noch Zeit, ein paar Louis zu gewinnen. Kommst Du mit?

Natürlich.

Emilie von Breesen hatte die Unterredung der Beiden aus der Ferne beobachtet. Sie sah, wie sie lachend, Arm in Arm, den Saal verließen. Auch Oswald sah sie nicht mehr. Eine entsetzliche Angst ergriff sie. Sie hatte in ihrer eifersüchtigen Wuth zuerst Oswald's Namen mit dem Helenen's in Verbindung gebracht; sie hatte, sich an Oswald zu rächen, schon vor einigen Tagen Felix die Entdeckung, die sie gemacht zu haben glaubte, mitgetheilt. Sie hatte heute Abend wieder davon angefangen, um den geistlosen Neckereien Clotens ein Ende zu machen. Jetzt erst merkte sie, daß sie zu weit gegangen sei und daß sie vielleicht Oswald, den sie trotz alledem noch mit der ganzen Kraft ihres leidenschaftlichen Herzens liebte, einer großen Gefahr ausgesetzt habe. Sie hätte ihn vielleicht in der Raserei ihrer Eifersucht mit ihren eigenen Händen tödten können – aber ihn den brutalen Mißhandlungen Clotens und der Anderen aussetzen – der Gedanke war ihr fürchterlich. Sie blickte wie hülfesuchend im Saale umher.

Ihr Bruder kam in ihre Nähe. Sie rief ihn.

Was willst Du, Kleine?

Hast Du den Doctor Stein schon gesehen?

Ja, weshalb?

Du wolltest ihn ja während der Jagdzeit auf ein paar Tage zu uns einladen. Es wäre doch unartig, wenn wir uns jetzt gar nicht um ihn kümmerten.

Emilie war sehr roth geworden, als sie das sagte; ihre ganze Geistesgegenwart schien sie verlassen zu haben.

Ihn zu uns einladen? rief Adolf von Breesen, nun, das fehlte wahrhaftig noch! damit die albernen Klatschereien, die Lisbeth über Dich und ihn aufgebracht hat, doch ja unsterblich werden – ihn zu uns einladen? lieber wollte ich –

Ich bitte Dich, Adolf! sei still, der halbe Saal kann ja hören, was Du sagst.

Kleine! sagte der junge Mann in leisem, aber bestimmten Ton. Das gefällt mir nicht. Du weißt, ich habe Dich lieb, wie ein Bruder nur seine Schwester lieben kann; aber gerade deshalb muß ich dafür sorgen, daß Du Dich in keine solche Thorheiten tiefer einläßt. Und ich werde dafür sorgen, verlaß Dich d'rauf!

Damit wandte er ihr den Rücken und ging den Anderen nach zum Saal hinaus.

Emilie hatte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten. Ihre Angst wuchs mit jeder Secunde. Es mußte Rath geschafft werden – so oder so.

Sie ging auf Helene zu, die nicht weit von ihr mit andern Damen auf dem Divan saß und sagte:

Auf ein Wort, Helene!

Was ist's? sagte Helene, aufstehend.

Komm ein wenig weiter hierher. – Helene, Du hast den Doctor Stein lieb, nicht wahr?

Wie kommst Du darauf? erwiederte Helene und die Gluth schoß ihr in die bleichen Wangen.

Gleichviel, ich habe ihn auch lieb; ich habe ihn sehr lieb, wenn Du willst – und deshalb bitte ich Dich, sage ihm – Du kannst es, ich kann es nicht, sonst würde ich es selber thun – er solle sich aus der Gesellschaft entfernen. Cloten und mein Bruder und die Anderen sind sehr aufgebracht über ihn. Ich fürchte, sie führen etwas gegen ihn im Schilde. Bitte, bitte, Helene, sage ihm: er solle fortgehen – gleich – ich wäre außer mir, wenn ihm auch nur die geringste Beleidigung von meinem Bruder oder von Cloten zugefügt würde.

Aber wo ist er? sagte Helene, welche die von Emilie ausgesprochenen Befürchtungen, freilich nicht ganz aus denselben Gründen, nur zu wahrscheinlich fand. Ich glaube, er ist schon wieder nach oben gegangen.

Wenn Du es nicht gewiß weißt, verlasse Dich nicht darauf. Frage doch den Bedienten da!

Haben Sie Herrn Doctor Stein nicht gesehen?

Er ist drüben, gnädiges Fräulein, in den Spielzimmern.

O, mein Gott, was sollen wir thun? sagte Emilie.

Baron Oldenburg! rief Helene; wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick hierher zu kommen?

Mit Vergnügen, mein Fräulein, sagte der Baron, der, die Hände auf dem Rücken, ein Gemälde an der Wand betrachtete.

Was hast Du vor, Helene?

Laß mich nur! Wollen Sie mir einen Gefallen thun, Herr Baron.

Mais sans doute!

Suchen Sie den Doctor Stein auf; er ist drüben in den Spielzimmern, und sagen Sie ihm: ich ließe ihn bitten, sogleich zu Bruno zurückkehren. Merken Sie wohl, Herr Baron: sogleich!

Es bedurfte nicht Oldenburg's Scharfblick, um zu sehen, daß dieser Auftrag, den ein Diener eben so gut hätte ausführen können, von tieferer Bedeutung war. Helene hatte die größte Mühe gehabt, die Worte in einem einigermaßen unbefangenen Tone hervorzubringen, und Emilien's mit dem Ausdruck der gespanntesten Erwartung auf ihn gerichtetes, von der innern Erregung blasses Gesicht, war ein sehr deutlicher Commentar zu Helenens Worten.

Ist das Alles, mein Fräulein?

Ja.

Ich gehe, Ihren Auftrag sofort und pünktlich auszurichten! sagte der Baron, sich verbeugend und mit, selbst für ihn ungewöhnlich langen Schritten den Saal verlassend.

Unterdessen hatte Oswald, nachdem Helene mit ihm gesprochen, sich zwecklos in den Zimmern umhergetrieben. Es war seine Absicht gewesen, sogleich hinauf zu gehen; der Gedanke, Bruno, wenn er wirklich, wie er hoffte, eingeschlafen sein sollte, nur zu stören; vielleicht der unbestimmte Wunsch, Helenen noch einmal zu sehen, und jene dunkle dämonische Macht, die den Menschen, unbekümmert um sein Wohl oder Wehe, seinem Schicksal entgegentreibt, ließen ihn nicht dazu kommen. Ohne kaum zu wissen, wie er dorthin gerathen war, fand er sich plötzlich in einem Zimmer auf der andern Seite des Flurs, wo sich eine Menge Herren um einen großen Tisch drängten. Einige saßen, die Meisten standen. Herr von Barnewitz saß in der Mitte und hielt Bank. Er mußte viel Glück gehabt haben.

Große Haufen von Gold- und Silberstücken und Kassenscheinen lagen vor ihm und vermehrten sich mit jedem Augenblick. Felix saß in seiner Nähe. Er pointirte sehr eifrig, aber, wie es schien, nicht besonders glücklich. Sein Gesicht war stark geröthet, seine Augen mit Blut unterlaufen, die Adern auf seiner Stirn geschwollen. Er hörte wenig auf die Herren, die hinter ihm standen und von denen einige ihn noch aufzumuntern, andere zurückhalten zu wollen schienen. Oswald kam ihm zufällig gerade gegenüber zu stehen; Felix bemerkte ihn erst nach einiger Zeit; man hätte sehen können, daß von dem Augenblicke an seine Unruhe noch größer wurde; er trank ein Glas auf das andere aus der neben ihm stehenden Weinflasche, und verdoppelte und verdreifachte seine Einsätze, ohne einen andern Erfolg, als daß er doppelt und dreifach so viel und so schnell verlor, als vorher.

Eben war wieder eine Rolle Goldstücke zu den übrigen, die vor Barnewitz aufgehäuft waren, gewandert; Felix griff in die Brieftasche, die vor ihm lag, und holte eine Kassenanweisung heraus.

Sie werden doch nicht das Ganze auf einmal setzen wollen, Grenwitz? sagte von Grieben, seine lange Gestalt zu ihm niederbeugend.

Sie sind wohl toll, Grenwitz? sagte Cloten, der mit Sylow soeben herantrat.

Ach was! sagte Felix, das Andere hält nur auf.

Faites votre jeu, Messieurs! rief Barnewitz, ein neues Spiel Karten zur Hand nehmend.

Haben Sie gesetzt, Grenwitz?

Ja wohl!

Coeurdame für mich. Damen immer für mich. Danke, Grenwitz, kommen Sie bald wieder so.

Felix schien für den Augenblick diesem Wunsche nicht entsprechen zu können. Sein wirrer Blick irrte über den Kreis derer, die den Tisch umstanden und blieb auf Oswald haften.

Sie da! rief er plötzlich überlaut; holen Sie mir doch einmal ein Glas Wein.

Oswald wurde erst, als die Augen Aller sich auf ihn wandten, inne, daß diese groben Worte an ihn gerichtet waren.

Der Mensch scheint nicht hören zu können, rief Felix. Sie sollen mir ein Glas Wein holen, verstanden!

Ich glaube, ein Glas Wasser würde Ihnen dienlicher sein, sagte Oswald, ohne seine Stellung zu verändern, mit ruhiger Stimme.

Es war so still in dem Zimmer geworden, daß man eine Nadel hätte fallen hören können.

Wie gefällt Ihnen das, meine Herren? sagte Felix, um sich blickend; mein Onkel hält sich eine allerliebste Sorte Diener, meinen Sie nicht?

Zeigen Sie ihm doch, wer Herr im Hause ist, sagte von Sylow.

Oder lassen Sie ihn eine Stunde nachsitzen, meinte von Grieben.

Oder geben Sie ihm die Ruthe, mit der er seine Buben züchtigt, sagte von Cloten.

Oder strafen Sie ihn mit der Verachtung, die er verdient, rief von Breesen.

Oswald wandte seine Augen von Einem zum Andern, wie ein Löwe, der nicht weiß, ob er sich auf die Hunde, die ihn umheulen, stürzen soll oder nicht. Seine Gestalt war hoch aufgerichtet. Vielleicht zitterte die Hand, die er auf den Tisch gelegt hatte, etwas; aber sicher nicht aus Feigheit.

Werden Sie gehen, oder nicht? rief Felix aufspringend und dicht vor Oswald tretend.

Treiben Sie die Unverschämtheit nicht zu weit, sagte Oswald, die Rosenknospe, die er für Bruno von Helene erhalten hatte, in das Knopfloch steckend; ich müßte sonst an Ihnen ein Exempel für die übrigen Bursche statuiren.

Felix faßte nach Oswald's Brust. Oswald packte ihn mit starken Armen, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn zu Boden, daß die Gläser und das Geld auf dem Tische erklirrten.

Wer hat Lust, der Zweite zu sein? rief er mit Donnerstimme; kommt heran, Ihr feigen Wölfe, die Ihr nur in Rudeln jagt!

Seine Augen blitzten vor Kampfeslust; seine Brust wogte; seine Hände ballten sich krampfhaft; er achtete in diesem Moment sein Leben keine Nadel werth.

Das sahen Alle, und Keiner wagte, seine Herausforderung anzunehmen.

Felix hatte sich wieder aufgerafft und war in die Arme der ihm zunächst Stehenden zurückgetaumelt. Er war betäubt von dem schweren Fall; Blut strömte ihm aus Nase und Mund.

Ein drohendes Murren lief durch die Schaar. Man hörte einzelne Stimmen: sollen wir das dulden? – schlagt ihn nieder! – er darf nicht lebend vom Platz!

Sie drängten an ihn heran; ein wüstes Schreien und Toben brach aus dem Haufen; Oswalds Blicke suchten den heraus, welcher zunächst an die Reihe kommen sollte.

Da stand plötzlich Oldenburg neben ihm.

Wie, meine Herren? rief er, sich zu seiner ganzen stattlichen Höhe emporrichtend, zwanzig gegen Einen? Der Kampf ist doch ein wenig zu ungleich. Wollen Sie sich nicht lieber noch ein paar Bediente zur Hülfe rufen?

Dies Wort wirkte wie ein Zauber. Es stellte für Jeden die schimpfliche Scene in das rechte Licht. Die Verständigeren wußten dem Baron Dank, daß er ihnen eine Schande erspart hatte, die der nächste Augenblick über sie gebracht haben würde. Nur Einige schienen seine Dazwischenkunft übel zu empfinden.

Die Sache geht Sie nichts an, Baron, rief Grieben trotzig.

Erlauben Sie, Herr von Grieben, erwiederte Oldenburg, die Sache geht mich aus zwei Gründen etwas an. Einmal, weil ich es für die Pflicht eines jeden Mannes halte, darauf zu sehen, daß es bei solchen Affairen anständig und ehrlich zugeht, und zweitens, weil ich die Ehre habe, Herrn Doctor Stein meinen Freund zu nennen. Wenn Sie, oder irgend einer der Herren mich für das, was ich hier gesagt habe, zur Rechenschaft ziehen zu müssen glauben, so stehe ich gern zu Diensten. Vorläufig aber verstatten Sie mir, daß die Angelegenheit meines Freundes, des Herrn Doctor Stein, wie es sich unter Männern ziemt, zu Ende geführt wird. Ich werde in wenigen Augenblicken wieder unter Ihnen sein, Ihre Aufträge entgegenzunehmen. Wollen Sie mir Ihren Arm geben, Herr Doctor?

Der Baron nahm Oswald's Arm in den seinen und führte ihn durch die Schaar der jungen Edelleute, die bereitwilligst Platz gab, hindurch zum Saale hinaus.

Draußen angelangt, sagte er: Gehen Sie nur auf Ihr Zimmer. Ich folge Ihnen in wenigen Minuten. Es versteht sich von selbst, daß Sie der Beleidigte sind.

Ja.

So werde ich Felix von Grenwitz in Ihrem Namen auf Pistolen fordern.

Ihn und wer sonst noch Lust hat einen Gang mit mir zu machen.

Wir wollen uns vorläufig mit Grenwitz begnügen. An den Andern ist Ihnen ja auch wohl so viel nicht gelegen. Wann?

Sobald wie möglich natürlich; morgen früh meinetwegen.

Bon. Zehn Schritt Distance etwa?

Oder fünf.

Zehn reicht aus. Das Uebrige überlassen Sie mir. Also à revoir in Ihrem Zimmer.

Der Baron kehrte auf den Schauplatz der letzten Scene zurück, wo natürlich die Sache von zwanzig Zeugen zugleich besprochen wurde, die bei Oldenburgs Eintreten verstummten. Oldenburg entledigte sich seines Auftrages an von Grieben, der es übernommen hatte, Felix zu secundiren. Es wurde ein Rencontre auf die fünfte Stunde des folgenden Tages (im Fall Felix sich bis dahin noch nicht erholt haben sollte, auf die zehnte) verabredet; das Rendezvous: ein kleines Wäldchen auf dem Gute Herrn von Clo ten's. Dann folgten die Herren in wenig festlicher Stimmung der schon zweimal an sie ergangenen Aufforderung, sich in den Ballsaal zu verfügen, um die Damen zur Abendtafel hinauf zu begleiten. Felix war schon vorher von Einigen auf sein Zimmer geführt worden, da er zu berauscht und von seinem Falle noch zu betäubt war, um weiter an der Gesellschaft Theil nehmen zu können. Oldenburg begab sich zu Oswald zurück.

Als er ihn nicht in seinem Zimmer fand, und ihn bei Bruno vermuthete, aus dessen Zimmer das Licht durch die halb geöffnete Thür schimmerte, ging er leise dorthin und sah Oswald über des Knaben Bett gebeugt.

Wie steht es? fragte er.

Ich fürchte, schlecht, sagte Oswald, emporblickend; sein Schlaf ist sehr unruhig und der Puls fliegt.

Lassen Sie mich sehen, sagte Oldenburg, ich verstehe mich auf dergleichen.

Er ist in der That sehr krank, sagte er nach einer kleinen Pause. Wie lange währt denn dies schon und wie hat es angefangen?

Oswald gab ihm mit fliegenden Worten eine Schilderung von Bruno's Krankheit.

Und der Schmerz hatte vor einer Stunde völlig nachgelassen? fragte Oldenburg.

Ja, fast gänzlich –

Dann machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt. Ich vermuthe, es war von Anfang zweifellos eine Entzündung und jetzt ist der Brand hinzugetreten. Einer von uns muß nach dem Doctor. – Er sah nach der Uhr. Es ist zehn; ich wollte vor Tisch wieder nach Hause reiten. Mein Almansor steht in diesem Augenblick gesattelt vor der Thür. Reiten Sie nach der Stadt. Ich bin hier vielleicht jetzt nützlicher als Sie. Sie haben hellen Mondschein. Der Weg ist gut. Nach B. ist eine halbe Meile. In zehn Minuten spätestens müssen Sie dort sein. Ziehen Sie Ihren Frack aus und einen Ueberrock an. So! Peitsche und Sporen brauchen Sie nicht. Almansor ist noch ganz frisch. Schonen Sie ihn nicht.

Der Baron hatte Oswald den Rock anziehen helfen, ihm den Hut auf den Kopf gesetzt. Oswald ließ Alles mit sich geschehen. Er fand sich erst auf Almansors Rücken wieder, als ihm der Nachtwind um die Ohren pfiff, und Bäume und Häuser, Hecken und Felder und Gärten rechts und links im Mondschein gespensterhaft an ihm vorüberflogen.

Und jetzt war er auf der weiten Haide, die sich hinter dem Dorfe bis nach Faschwitz erstreckt. Er sah den Mondschein unheimlich glitzern in dem schwarzen Wasser der tiefen Torfgräben; er hörte von Zeit zu Zeit den heisern Schrei eines Sumpfvogels, den er aus seinem Neste aufgeschreckt hatte; sonst nichts, nichts als den dumpfen Donner von Almansors flüchtigen Hufen und den Nachtwind, der seufzend und klagend über die Haide strich.

Und jetzt, als er mitten auf der Haide war – ist das nicht ein anderer Hufschlag außer dem Almansors, oder ist es nur das Echo? Es kommt näher und immer näher; Almansor spitzt die Ohren und greift aus, schneller und immer schneller, als flöhe er vor dem Tod. Und doch kommt es näher und immer näher. Oswald blickt sich um und ein Grausen packt ihn, als er jetzt dicht hinter sich eine lange schwarze Gestalt auf einem schwarzen Pferde bemerkt, dessen Hufe den Boden nicht zu berühren scheinen.

Noch eine Secunde und der schwarze Reiter ist an seiner Seite, die Pferde jagen Kopf an Kopf und schnauben sich an aus weit geöffneten Nüstern.

Was beliebt? reif Oswald, sein Grausen bemeisternd.

Nicht viel! erwiederte der schwarze Reiter mit einer tiefen Stimme. Wollte nur vermelden, daß meine gnädige Frau seit vorgestern zurück; ich dachte, der junge Herr wüßten's vielleicht nicht. Nichts für ungut, junger Herr! gute Nacht und gute Verrichtung!

Der Reiter warf sein Roß herum; Almansor stürmte weiter; im nächsten Augenblick schon war Oswald wieder allein.

War dies die Ausgeburt seines überreizten Hirns? war's Wirklichkeit? war es ein Phantom? war es der alte Baumann auf dem Brownlock gewesen? Oswald hätte es nicht zu sagen gewußt.

Und wieder flogen Bäume und Häuser, Hecken und Gärten rechts und links gespensterhaft im Mondschein an ihm vorüber. Ein Hund fuhr heulend nach Almansors Hufen. Im nächsten Augenblick schon war Alles verschwunden und unübersehbare Kornfelder wogten und zischelten auf beiden Seiten der Landstraße.

Dann schimmerten Lichter herüber, näher und näher. Eine helle Glocke schlug einen Schlag an; schon ein viertel auf elf! und wieder Häuser rechts und links, Bäume und Hecken und Gärten. Dann ein dunkles Thor, und dann den Hufschlag Almansors auf dem Straßenpflaster.

Wo wohnt der Doctor Braun?

Die Straße zu Ende; das letzte Haus links.

Vor dem bezeichneten Hause hielt ein Wagen. Aus der offenen Hausthür und den offenen Fenstern in den Parterrezimmern schimmerte Licht.

Ist der Doctor zu Hause?

Hier! sagte Doctor Braun am Fenster erscheinend. Von wo her?

Von Grenwitz. Ich bin's. Eilen Sie; Bruno liegt auf den Tod.

Wollte eben hinaus, rief Doctor Braun, schon in der Thür. Setzen Sie sich zu mir. Ich will selber fahren. Karl kann Ihr Pferd langsam zurückreiten. Sitzen Sie? ja; dann fort.

Der Wagen donnerte durch die dunklen Straßen, durch das enge Thor, hinaus in die stille Mondnacht, die über Feldern und Gärten, und Wäldern und Wiesen so duftig und träumerisch lag, denselben Weg, den Oswald vor wenigen Minuten gekommen war. Die kräftigen Pferde des Doctors griffen mächtig aus, schon waren wieder auf der Haide.

Es war nicht viel gesprochen worden von beiden Seiten. Oswald hatte von Bruno's Krankheit, wie es der Laie pflegt, Bericht erstattet, auf Nebendingen verweilend, und das Wichtigste auslassend. Doctor Braun hatte einige kurze Fragen gethan. Dann hatten sie eine Zeit lang geschwiegen.

Sie müssen sich auf das Schlimmste gefaßt machen! hub Doctor Braun an. Es ist, nach dem, was Sie mir gesagt haben, sehr wahrscheinlich, daß wir Bruno nicht mehr am Leben finden.

Oswald antwortete nicht. Ein Stöhnen brach aus seiner Brust, wie eines Gefolterten, wenn die Schrauben noch um eine Windung angezogen werden.

Der Doctor hieb auf die Pferde, die nun im Galopp weiter stürmten.

Ein paar Minuten später hielt der Wagen vor dem Portal. Das ganze Schloß schimmerte von Licht. Aus dem Speisesaale rauschte die Musik. Die Diener liefen geschäftig ab und zu.

Als sie in Bruno's Zimmer traten, erhob sich der Baron von dem Bett, über das er gebeugt stand.

Gott sei Dank, daß Sie kommen! sagte er; ich habe schon an vielen Krankenlagern gewacht; so lang aber ist mir keine Stunde geworden!

Er trocknete sich seine Stirn; sein ernstes Gesicht war bleich; er schien auf's Tiefste ergriffen.

Doctor Braun untersuchte den Kranken, dann blieb er neben dem Bett stehen, ohne die Andern anzublicken.

Ist keine Hoffnung?

Keine.

Da richtete sich Bruno halb auf:

Bist Du's Mutter? kommst mich einzulullen? wie geht doch noch die alte Weise?

Und in wunderbar süßen Tönen, leise, ganz leise, wie die Klänge einer Aeolsharfe, begann er ein schwedisches Lied zu singen, wie es ihm wohl seine Mutter vor langen Jahren gesungen haben mochte.

Er lehnte sich wieder in das Kissen zurück. Durch die tiefe Stille im Zimmer tönte nur noch das Schluchzen Oswald's; auch die Augen der beiden andern Männer standen voll Thränen.

Bist Du es, Oswald? fragte Bruno, weshalb weinst Du? guten Abend, Herr Doctor; wie kommen Sie hier her? es geht wohl zu Ende mit mir? Wo ist Baron Oldenburg? Geben Sie mir die Hand. Sie sind sehr gut gegen mich gewesen. Doctor, muß ich sterben so frisch und jung? sagen Sie es mir, ich bin kein Feigling, ich habe es schon seit gestern gewußt; muß ich sterben? – dann, Oswald, eine Bitte: ich will es Dir in's Ohr sagen.

Oswald beugte sich über ihn.

Er erhob sich und ging nach der Thür. Oldenburg war ihm gefolgt.

Ich weiß, was er will! sagte er; er hat in seinen Phantasien schon hundertmal nach ihr verlangt; ich will sie rufen. Es ist ja eines Sterbenden letzte Bitte.

Er entfernte sich, Oswald trat wieder an das Bett.

Kommt sie?

Ja.

Lege mir das Kopfkissen etwas höher, Oswald, und stelle die Lampe dahin, daß der Schein über mich weg gerade auf sie fällt. Danke, so ist es recht.

Sie kommt nicht – doch! war das nicht ihre Stimme? schraube die Lampe tiefer, Oswald – es wird so hell im Zimmer. Helene!

Ein seliges Lächeln flog über sein Gesicht.

Helene! wie bleich Du bist! und doch wie schön! gieb mir die Rose von Deinem Busen! o, weine nicht! Laß mich Deine Hand küssen, Helene!

Helene neigte sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund.

Bruno schlang seine Arme um ihren Hals.

Ich liebe Dich, Helene!

Seine Arme glitten auf die Decke zurück. Doctor Braun zog Helene sanft in die Höhe. Er beugte sich über das Bett und lauschte einen Augenblick. Indem er sich wieder aufrichtete, strich er mit der Hand leise über die Augen des Todten.

Einundsechzigstes Capitel

Es war drei Tage nach den Ereignissen dieser Nacht.

In der Frühe des Morgens hatte es geregnet; jetzt in den Vormittagsstunden blickte die Sonne auf Augenblicke aus den schweren Wolken, die sich lang und langsam vor einem feuchten Westwinde nach Osten ihr entgegenwälzten.

Auf dem Kirchhofe zu Faschwitz gingen in der Lindenallee, die von dem einen Ende bis zum andern führt, und die Gräber der Adeligen von denen der gewöhnlichen Sterblichen trennt, zwei Personen in ernsten Gesprächen auf und ab. Vor der einen Thür des Kirchhofs, aus der man unmittelbar in die Landstraße gelangt, hielt eine mit zwei Pferden bespannte elegante Kutsche. Neben der Kutsche hin und her führte ein Reitknecht zwei schöne Pferde am Zügel. Kutscher und Reitknecht unterhielten sich nur im halblauten Ton, als ob sie den alten Mann mit dem langen eisgrauen Schnurrbart, der auf einem der Prellsteine an der Kirchhofsthür saß und von Zeit zu Zeit die tiefliegenden ernsten Augen durch das Gitter der Thür auf die in dem Lindengange auf und ab Wandelnden wandte, in seinen Betrachtungen nicht stören wollten.

Die auf und ab Wandelnden waren Melitta und Oldenburg. Melitta war nicht in Trauer, aber ihr liebes schönes Gesicht hatte einen Ausdruck von Schwermuth, den man wohl früher nicht darin gesehen hatte. Selbst das Lächeln, mit welchem sie manche Bemerkung ihres Begleiters beantwortete, war nicht das alte, freudige – es war wie die Sonnenblicke heute aus den trüben melancholischen Wolken.

Und Sie wollen wirklich fort? fragte sie, eine Pause, die in dem Gespräche eingetreten war, unterbrechend.

Ich ritt nach Berkow hinüber, Ihnen meinen Abschiedsbesuch zu machen, und Sie zu fragen, ob Sie noch irgend Befehle für mich hätten. Daß dies keine leere Form war, können Sie daraus sehen, daß ich Ihnen, als ich Sie nicht fand, hierher auf den Kirchhof gefolgt bin, obgleich Kirchen und Kirchhöfe, wie Sie wissen, durchaus nicht zu den Oertern gehören, die ich mit Vorliebe aufsuche.

Und wohin wollen Sie diesmal Ihre Schritte lenken?

Ich weiß es noch nicht. Was soll ich hier? Da ich für die nicht leben kann, für die ich leben möchte, und da es in unserer engbrüstigen Zeit an jedem großen Zweck gebricht, an dessen Erreichung ein Mann sein Leben setzen könnte, so will ich denn auch, ein anderer Peter Schlemihl, meinen eigenen Schatten suchen gehen. Ich fürchte nur, daß ich ihn niemals wieder finde, oder daß, wenn ich ihn finde, er sich wieder von mir trennt, wie das letzte Mal.

Haben Sie Xenobi's Spur nicht verfolgt?

Nein. Es würde mir auch nichts geholfen haben. Wandernde Zigeuner hinterlassen keine Spuren, so wenig wie ein Schiff, daß durch die Wogen streicht. Wenn ich nicht wieder kommen sollte, Melitta, lassen Sie sich Ihre Büste, die ich in Rom von dem jungen Goldoni anfertigen ließ, und die jetzt in Cona in meinem Arbeitszimmer steht, geben. Oder wollen Sie sie sogleich haben?

Nein, sagte Melitta; behalten Sie sie immerhin. Ihre unendliche Güte verdiente wohl einen besseren Lohn als kalten Marmor.

Oder Marmorkälte! sagte Oldenburg lächelnd.

Die empfinde ich nicht gegen Sie, Oldenburg, sagte Melitta mit Wärme; wahrhaftig nicht. Ich liebe Sie wie einen um ein paar Jahre älteren Bruder, der halb und halb Vaterstelle an uns vertreten hat, und zu dem wir mit freudiger Verehrung und Dankbarkeit emporblicken. Es ist unser Schicksal, daß Sie mich mit einer anderen Liebe lieben müssen, daß ich Sie mit keiner anderen Liebe lieben kann.

Es ist unser Schicksal, Melitta, ja wohl! und nun lassen Sie uns nicht weiter davon sprechen. Gegen das Schicksal läßt sich nichts thun. Wir können nur das Haupt beugen, und die Lorbeerkrone oder den Todesstreich schweigend entgegennehmen. Das habe ich in den letzten Tagen lernen können, wenn ich es sonst noch nicht gewußt hätte. Und nun, Melitta, da Du mich selbst Deinen Bruder genannt hast, laß mich auch wie ein Bruder mit Dir sprechen. Darf ich?

Ja; sagte Melitta, die den Kopf bei diesen letzten Worten Oldenburg's gesenkt hatte, leise nach einer kleinen Pause.

Bekämpfe Deine Liebe zu Oswald! Ich kann Dir nicht rathen, den Pfeil mit einem Ruck aus der Wunde zu ziehen, denn ich fürchte, Dein Leben würde mit Deinem Blute entströmen; aber sträube Dich auch nicht gegen die Wirkungen der Zeit, die fast so allmächtig ist, wie das ewige Schicksal. Du wirst nach einigen Wochen, einigen Monaten, gleichviel: aber Du wirst in Kurzem ruhiger über das Alles denken; willst Du mir, Deinem Bruder, versprechen, diese ruhigeren und weiseren Gedanken nicht wie eine Versündigung an Deiner Liebe von Dir zu weisen?

Ja.

Denn, Melitta, er ist Dir doch verloren, auch wenn er diese seine neueste Leidenschaft überwinden sollte. Er wird sich auf seiner tollen Jagd nach dem Ideal, das er nie auf Erden außer sich finden kann, weil es nur in seinem Hirn lebt, in eine andere und wieder in eine andere Liebe stürzen; immer wähnen: dies ist, wonach Du bis jetzt vergeblich gesucht, und immer wieder das Trügerische dieser Illusion erkennen, bis er zuletzt in der Verzweiflung über sein Schlemihlthum irgend einen Schritt thut, der ihn aller weiteren Sorgen um die confuse Welt überhebt. Die letzten Tage haben ihn diesem unvermeidlichen Ziele um eben so viele Jahre näher gebracht.

Wie steht es auf Grenwitz?

Felix ist jetzt außer Gefahr, obgleich man ihn in den ersten Stunden aufgegeben hatte. Er wird aber wohl sein Leben lang ein Invalide bleiben – eine schwere Strafe für Jemand, der, wie er, »geschwelgt in der Blumen Süßigkeit und jede Blume brach.« Oswalds Kugel hat nur um eines Haares Breite ihr Ziel verfehlt. Felix wird Bruno's Tod sein Leben zu danken haben. Oswald hat während des Duells kein Wort gesprochen, seine Miene blieb unbeweglich; nur als Felix stürzte, flog eine Art von Lächeln über sein blasses Gesicht; er schien das Bild der vollkommensten Ruhe, und nur, wer ihn genauer betrachtete, sah, wie es in ihm wühlte, und bemerkte, daß von Zeit zu Zeit ein Fieberschauer durch seinen Körper zuckte. Er hat sich bei der ganzen Affaire mit einem Takt benommen, der selbst der Schaar seiner Gegner Achtung abnöthigte. Sogar Cloten fühlte sich gedrungen, in die bewundernden Worte auszubrechen: es ist wahrhaftig schade, daß der Mensch nicht von Adel ist.

Und Helene?

Sie reiste ein paar Stunden vor dem Duell mit ihrem Vater nach Grünwald. Ich glaube, man will das Mädchen dort in einer Art anständiger Verbannung lassen, bis eine Aussöhnung mit der Mutter zu Stande gebracht werden kann. Die gute Frau ist vorläufig ganz außer sich, und nur die Vorstellungen Cloten's und Anderer, daß Felix durchaus der Beleidiger gewesen ist, und durch sein Betragen das Duell unvermeidlich gemacht hat, haben sie verhindert, Himmel und Hölle und die ganze Polizei gegen Oswald in Bewegung zu setzen.

Und – Oswald?

Ich denke, er hat Dir geschrieben?

Nichts über seine Pläne für die Zukunft.

Von denen weiß ich auch nichts. Wir haben kaum drei Worte mit einander gewechselt. Ich weiß nur, daß er, um den Ausgang des Duells abzuwarten, sich während dieser letzten Tage in B. beim Doctor Braun aufgehalten hat. Ich freue mich über diese Wahl seines neuen Freundes. Braun scheint ein ebenso liebenswürdiger, wie geistreicher und verständiger Mann zu sein. Gebe der Himmel, daß er unserem Telemach ein weiserer Mentor ist, als ich ihm bei dem besten Willen zu sein vermochte. – Aber ich muß jetzt scheiden, Melitta. Mein Almansor schlägt sich sonst die Hufeisen ab. Hast Du noch etwas hier zu thun?

Nein, sagte Melitta; wir können gehen.

Wirst Du oft hierher zurückkehren?

Schwerlich. Ich habe nur sehen wollen, ob meinen Anordnungen Folge geleistet ist. Sie wissen am besten, daß der Todte hier schon seit langen Jahren nicht, ja daß er eigentlich nie für mich gelebt hat.

Dann laß uns gehen, Melitta.

Der Baron nahm den Arm der jungen Frau und führte sie die Allee hinauf. Sie sprachen weiter kein Wort. Der alte Baumann öffnete den Schlag der Kutsche. Oldenburg hob Melitta hinein und stand einen Augenblick, den Hut in der Hand, an dem offenen Fenster. Als die Pferde anzogen, reichte ihm Melitta die Hand, die er an seine Lippen drückte. Er verweilte noch ein paar Minuten und sah dem davoneilenden Wagen nach. Dann winkte er dem Reitknecht, bestieg seinen Almansor und ritt im Galopp nach der entgegengesetzten Richtung.

Diese letzte Scene hatten zwei Männer beobachtet, die in demselben Momente, als Melitta und Oldenburg den Kirchhof verließen, durch die zweite Thür, welche auf die Dorfstraße führte, eingetreten waren und auf ein frisches Grab, in der Nähe der Thür, auf der adeligen Seite, und auf ein etwas älteres, auf der andern Seite, Kränze gelegt hatten. Es waren Oswald und Doctor Braun; beide in Reisekleidern. Sie standen, Arm in Arm, auf der Treppe der Kirche und sahen der Abschiedsscene zwischen Oldenburg und Melitta zu. Als der Baron Melitta's Hand küßte, flog ein ironisches Lächeln über Oswalds bleiches, verfallenes Gesicht.

Lassen Sie uns machen, daß wir fortkommen, sagte er. Mir ist, als brennte mir der Boden unter den Füßen.

Ich bin bereit, sagte der Doctor. Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hätten Sie diese Gegend schon längst verlassen, und wenn es nach meinem Willen geht, kommen Sie nie wieder hierher zurück. Die Reise, die wir vorhaben, wird Sie wieder zu sich selbst bringen. Sie haben viel verloren, aber nichts, was sich nicht wieder gewinnen ließe. Sie haben Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, verachtet; und doch ist für Sie nur Rettung zu hoffen von eben dieser Kraft, denn – Sie erinnern sich der Worte Ihres Lieblingsdichters:

– was Amor uns entwendet, Kann Apoll nur wiedergeben: Ruhe, Lust und Harmonieen Und ein kräftig rein Bestreben – Kommen Sie! lassen Sie die Todten ihre Todten begraben! für Sie muß jetzt ein neues Leben beginnen.

Ende der ersten Abtheilung.