Judith die Kluswirtin : ELTeC ausgabe François, Louise von (1817-1893) ELTeC conversion Leonard Konle 54773 178 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Judith die Kluswirtin François, Louise von Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Leipzig: Insel-Verlag, 1918. Erstdruck in: Hausblätter, herausgegeben von editorFriedrich Wilhelm Hackländer und editorEdmund Hoefer, Stuttgart (Krabbe), 1862, 3. Band; [erste Buchausgabe in: Ausgewählte Novellen, 2. Band, Berlin (Franz Duncker) 1868.]

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Rückblick

Man ist es gewöhnt, preisend oder spottend, die altsassische Landschaft zwischen Weser und Rhein, die wir unter dem Namen Westfalen zusammenfassen, als eine Provinz strenger, steifer Erhaltung darzustellen. Und in der Tat, so wechselnd die Physiognomie ihres Bodens von den Marschen des Meeres, vorzeiten »das deutsche« geheißen, durch Dünen und Heiden, Moorstich und Sumpf, durch umwallte Korn- und Wiesenbreiten aufwärts zu rauhen Felsengipfeln und wieder abwärts in die Täler des romantischen Waldgebirges, in welchem am frühesten der deutsche Name zu Ehren gebracht worden ist, und so mannigfaltig mit diesem Wechsel des Bodens der Charakter seiner Bewohner uns entgegentritt, vom träumerischen Norden bis zum tatkräftigen Süden: die ursprünglich germanische Art und Bildung hat sich unter der ländlichen Bevölkerung dieser Gegenden unverwischt und unvermischt erhalten wie in keinem andern umfänglichen Gebiete unseres Vaterlandes. Ja, schon ehe wir gen Morgen die breite Wasserscheide überschreiten und durch das Felsentor der letzten Berge die eigentliche Rote Erde betreten, da wo das baumreiche Schaumburger Ländchen in die westfälische Vorebene übergeht, bewundern wir an Männern wie Frauen die deutsche Kraft und Schönheit der Gestalten und stoßen nicht selten auf einen Kunstjünger östlicher wie westlicher Akademien, der unter diesen urwüchsigen Bäumen und Menschen nach einem Vorwurf sucht.

Wer jene Bauern hinter ihren stattlichen Gespannen aus den Waldgehegen treten sieht, unter deren Eichen und Buchen die noch immer mit Vorliebe gezüchteten Sauenherden weiden, wer sie sieht mit schwerfälligem Gerät, langsam, harttrittig die Furche durch ihre Korn- und Flachsfelder ziehen, oder die Weiber, den Wocken im Rockgurt, selber im Gehen unermüdlich, aber gelassen die Spindel drehen, wer im umwallten Kamp ihre Höfe sieht, vereinzelt, dunkel aus Eichenholz nach unvordenklicher Weise aufgerichtet, Mundart, Hausbrauch, Hausrecht, Erbrecht, Tracht und Kost, Sitte und Unsitte unerschütterlich nach Vätertreiben; wer sie beobachtet in ihrer schweigsamen Stetigkeit, selten, aber unzähmbar von auflodernder Jachheit durchbrochen, der vermag ohne Anstrengung sich in die Anfänge unserer nationalen Kultur zurückzuversetzen, er glaubt die nämlichen alten Sassen zu finden, die vor einem Jahrtausend dem Christentum gegen einen Carolus Magnus widerstanden, deren trotzige Treue aber das widerwillig angenommene Evangelium am zähesten vielleicht unter den deutschen Stämmen gegen ein modernes Heidentum verteidigen würde.

Er konnte sie finden mindestens vor einem Menschenalter noch. Seitdem hat die Neuzeit ihr wechselndes Gepräge auch dieser Landschaft aufgedrückt, Boden wie Köpfe nach lange brachliegenden Schätzen durchwühlend, fördernd, schmelzend, bildend und zerstörend; den Hauch der heimischen Heimlichkeit verwehend. – Ein Merkmal dieses umwandelnden Geistes durfte schon vor länger denn dreißig Jahren der Wanderer auf dem nördlichen Heerwege an einem ländlichen Hause wahrnehmen, das in neusächsischer Gestalt, von Bruchsteinen aufgerichtet, hellfarbig getüncht, mit Ziegeln gedeckt und die räumlichen Fenster durch grüne Läden geschützt, seine breite, glatte Flucht der Straßenseite zukehrte. Eine Schenke, ein Krug, mitten zwischen der östlichen Grenze und der ersten namhaften preußischen Stadt, eine Viertelstunde abseit von den Nachbargehöften, bildete es den Schluß eines sich lang am waldigen Bergkamm hinziehenden Dorfes und hieß, wie manche andere des Landes, »die Klus«.

Die Insassen jenes Dorfes hatten seit Menschengedenken nach abendlicher Rast auf der Klus ihren Krug geleert, oder rückkehrend vom städtischen Markte, selten mit Maß, sich am heimischen Wacholdergeiste erlabt, die Burschen und Dirnen der Umgegend sich festtägig im »Papen van Istrum« geschwenkt, unbehelligt von dem Qualme des mächtigen Schlotfanges in der Giebeltenne, die zugleich Küche, Räucherkammer und Wohngelaß war und in welche aus den nachbarlichen Koben Pferde, Rinder und Sauen neugierig, oder verdrießlich, oder gleichgültig wie die menschlichen Zuschauer ihre Köpfe streckten. Denn die Klus war ein Bauerngehöft wie alle anderen des Landes, und wie in allen anderen wurden Viehzucht und Feldbestellung als Hauptzweck, das Schenkwesen aber nur als ein von den Altvordern überkommenes Nebenrecht beiläufig und lässig betrieben.

Eines Tages brannte die alte Eichenklus ab – wie die Sage geht, durch das Zünden des ersten Schwefelholzes, das ein ketzerischer Wandergesell gleich einem Koboldspuk in die Gegend getragen; der kinderlos verwitwete Kluswirt starb infolge seiner Brandwunden, und das wohlgeordnete Anwesen fiel seinem Bruder zu, der, obgleich sein Vatererbe freies Eigentum war, sich als jüngerer Sohn willig mit einer schmalen Abfindung begnügt hatte. Ein noch bartloses Bürschchen, war der Frobeljobst der neuentfalteten, in anderthalb Jahrhunderten allmählich seiner Gegend eingewöhnten preußischen Fahne gefolgt, just da der Haß gegen das deutschnapoleonische und die Erhebung gegen das welschnapoleonische Regiment hoch im Schwange gingen; er hatte in Deutschland und Frankreich wacker mitgekämpft, nach dem Frieden den schmucken Soldatenrock dem seiner harren den Knechtskittel vorgezogen, bis er, als Sergeant einem sächsischen Regiment zugeteilt, Herz und Hand eines munteren thüringischen Wirtstöchterchens erobert und teil an ihrem väterlichen Schenkengeschäfte genommen.

Wohlgemut, den Himmel voller Geigen, wie er ihn in fremden Landen schauen gelernt, kehrte er jetzt, da das zerstörende Element ihn so unerwartet zum Erben befördert, in die alte, neugewordene Heimat zurück und baute die Brandstätte wieder auf in dem mitteldeutschen Geschmack, der ihm bequem geworden, so wie wir sie im Vorübergehen angeschaut. Scheuern und Ställe umfaßten zu beiden Seiten den durch das stattliche Vorderhaus abgeschlossenen Hof, hinter welchem, bis zu der Berglehne des Gemeindewaldes, die dunklen Eichen und Rüstern des Kampes einem Obst- und Gemüsegarten Platz machten. Zur Rechten wie Linken setzte der Kamp, das heißt die eingehegte, dem Hofe eignende Flurmark sich fort. Diesseits bis zum nächsten Anwesen die breite Flucht der Felder; jenseits eine Forstparzelle, die, mit der Zeit gerodet, sich in einen Triftanger verwandelte. Den Raum zwischen Straße und Vorderhaus beschattete eine reinliche Laube von Ligusterhecken, und über der Tür flatterte das Schenkenzeichen des sächsischen Rautenkranzes.

Also sein Heimwesen ausstaffiert, taufte der Frobeljobst den Jahrhunderte alten Krug zu einem Wirtshause um, stolz auf die neumodische Art, die er in sich aufgenommen, leider freilich ohne die altväterische Unart in sich auszumerzen. Denn bei Wesen wie in Zeiten, die sich umbilden, gewahren wir häufig das angeborene Schlimme länger haften als das Schätzenswerte, ja wohl auch das fremde Verwerfliche leichter eindringen als das Treffliche; daher denn alle Übergangszeiten wie Mischrassen eine unbehagliche Periode haben, bis der Neuerungsprozeß vollzogen ist. Der Frobeljobst hatte jenseits des Rheins und der Elbe singen und springen, diskutieren und disputieren, seine Gäste unterhalten und manierlich bedienen lernen, er hatte aber nicht verlernt, dem heimatlichen Unholde des Wacholdergeistes huldigend zuzusprechen, der denn über seine flotte Schenkenlaune eine weit entzündlichere Herrschaft übte, als über die der bedachtsam, schrittmäßig schaffenden und rastenden Nachbarkunden.

Und diese Nachbarkunden, unter denen seit unvordenklichen Zeiten die Klus-Frobel zu den ersten und besten gezählt, weit davon entfernt, sich von der neuen Herrlichkeit blenden zu lassen, sahen auf das laute, fremde Wesen mit höhnendem Mißwollen herab. Von vornherein kehrten sie ihm den Rücken. Die Alten tranken, die Jungen tanzten in einem abgelegeneren Krug, bis dann allmählich der Platz, auf welchem schon die Altvorderen sich gelabt und geschwenkt, seine Macht behauptete und die widerborstigen Gäste einen um den andern an sich lockte. Sie kehrten zurück. Der »Steinhäger« Ein vorzüglicher Wacholderbranntwein des Landes. mundete, ob auch die Würze des Schinkenbrodems im Schornstein, wie das Publikum der braven Vierfüßler vermißt wurde; die Burschen drehten, die Dirnen ließen sich drehen, ohne sich durch blankgescheuerte Dielen und buntbekleisterte Wände die Lust vergällen zu lassen. – Wenn man aber der alten Gewöhnung zuliebe sich die neue Einrichtung gefallen ließ, die neuen Menschen, die sie aufgedrängt, ließ man sich nicht gefallen. Der »Sachsenwirt« war keiner der Ihrigen mehr, und das schwarzäugige Sachsenröschen würde es niemals geworden sein, auch wenn es nicht eine luthersche Ketzerin gewesen wäre. Sie rateten und tateten in der Gemeine ohne den Frobeljobst, keiner warnte ihn, keiner half ihm, keiner lud ihn zu Hochzeitsschmaus und Kindelbier, hinter keinem Leichenzuge sah man den Sachsen oder seine Sippe.

Und so überlustig der Frobeljobst sich anstellen mochte, von dem leeren Platze unter seinesgleichen kroch es ihm zu Herzen wie nagendes Gewürm, sooft er die heimliche Galle mit brennenden Tropfen hinunterspülte, immer von neuem wirbelte sie ihm ätzend zu Kopf. Am liebsten hätte er der Acht einen Bann entgegengesetzt und alles, was Bauer und Nachbar hieß, von seiner Schwelle gejagt. Wollten sie ihn nicht neben sich, so wollte er über sie hinaus. Er baute einen Stock auf seine neue Klus und ließ das Wirtshaus zu einem Gasthof in die Höhe steigen. Kärrner und Vorspänner kehrten bei ihm ein; Lohnkutschen, Extraposten selbst herbergten zur Nacht in der reinlichen, wohlgelegenen Wirtschaft, Spaziergänger aus der Stadt priesen Kaffee und Kuchenwerk, das kein Zuckerbäcker so meisterlich wie das Sachsenröschen zu bereiten verstand. Der Sachsenwirt triumphierte. Er hielt sich zu den Fremden, je vornehmer desto lieber; er bediente sie halb umsonst, tischte auf nach Noten, traktierte extra, schenkte auf Rechnung, die niemals oder nur gegen teure Advokatensporteln bezahlt wurde; er kleidete sich herrschaftlich, er kannegießerte, späßelte, schwänzelte hin und her, führte neumodische Tanzweisen auf, krähte wie ein Hahn und stelzte wie ein Storch seinen Gästen zum Pläsier; er trank Punsch und Grog auf ihr Wohlergehn; war er aber allein und von den Weiterziehenden verlassen, dann stürzte er Rum und Steinhäger ohne wässerigen Zusatz die Gurgel hinab, um seinen Grimm und Groll zu versengen.

Als Schlimmstes des Schlimmen aber stellte es sich heraus, daß der behende, lustige Schenkwirt ein gar schwerfälliger, unlustiger Landwirt geworden war und daß die sächsische Küchenmeisterin glücklicher in der Speisekammer als in Rauch- und Milchkammer zu hantieren verstand. Die fremden Gespanne wurden mit Kraft und Saft, die eignen Stallinsassen mit Trebern gefüttert, die Felder unregelmäßig bestellt, Korn-und Heuböden selten kontrolliert. Das gefällige Wirtspaar schenkte und zechte, backte und brodelte bis in die Nacht und träumte bis in den Tag hinein; die Tagelöhner, Knechte und Mägde, denen keiner auf die Finger sah, hielten Maulaffen feil oder schafften für den eignen Sack – die Klusschenke florierte, während der Klushof verkam.

Aber was scherte die Bauernwirtschaft den Herrenwirt? Er schenkte – sich selber am ersten und vollsten! –, verschlief seinen Rausch, wachte gähnend auf und warf die Kontobücher in die Ecke, wenn Kredit und Debet nicht stimmen wollten. Hatten andere kein Geld, so hatte er's, und hatte er selber kein Geld, so hatte er Pfand – überflüssiges Geschirr, faules Vieh in Schuppen und Stall, nutzlose Baumriesen und halbreife Ernten in seinem Kamp. Der brachliegende Acker trug seine Last. Allmählich löste sich Scholle um Scholle hinüber in fremde Hand, und ihre kernschweren Ähren nickten höhnend auf die dürren, nachbarlichen Klushalme herab. Der Sachsenwirt saß zwischen den Ligusterhecken, zechte und lachte mit den Fremden. Und das Sachsenröschen lachte nicht weniger, seufzte wohl auch ein »daß Gott erbarm!« und weinte ein Zährchen, wenn wieder eine Milchkuh vom Hofe getrieben ward oder mit den Jahren ihr Eheliebster auch gar zu toll und töricht ins Poltern geriet; bald aber rührte sie ihren Fladen ein, tunkte ein Schälchen, trällerte ein Stückchen, band eine weiße Schürze vor, rückte die bunte Bänderhaube zurecht, neckte sich, schwatzte und lachte mit den Fremden.

Der Hoferbe aber, Mosjö Gust oder »der junge Herr«, wie er sich titulieren ließ, des Sachsenpaares einziger Sohn, ei, der lachte und jubelte erst recht. Heute aus Herzenslust mit offner Hand, morgen im Ärger mit geballter Faust, am häufigsten aus Schabernack mit einem Schnippchen und fingerndem Nasendrehn. Er lachte über die Säufer von Bauern, die seinen Saufaus von Vater über die Achsel »bekiekten«; er lachte über den Saufaus von Vater, der ein Bauer war und den Herren zuliebe sein Bauernerbe durch die Gurgel rennen ließ; und er lachte über das Bauernerbe und den Fremdenschank, über Hausgenossen und Gäste, über Gott und die Welt.

Frobel, der Jüngere, wäre er unter Zucht und Beispiel wie die heimischen in jenem südlicheren, beweglicheren Landesteile aufgeschossen, den man das Irland der Roten Erde nennen dürfte, so würde sich für seine Spielart nicht unschwer eine Klasse haben finden lassen. In dem schweren, langsamen Boden des Nordens war er seinerzeit eine Pflanze ohnegleichen. Ein Hälmchen, von jedem Lufthauche hin und her geweht, seicht auf Sande wurzelnd, diesen Augenblick zu Boden knickend und im nächsten wie ein Stehauf emporgeschnellt; buntscheckig und früh erschlossen seine Blüte, von berauschendem Hauch; wen ihr Samenstaub berührte, dem juckte die Haut. Windhafer und Taumellolch nannte schon der Schulmeister den fahrigen Schüler, und die Nachbarn warnten ihre Buben vor dem Tollkraut und Teufelsgarn auf der Sachsenklus. Das Sachsenröschen aber hätschelte und tätschelte ihr Wunderhold, und dem Sachsenwirte wirbelte es zu Kopfe wie ein Kitzel der Nieswurz bei seines Sprossen absonderlichem Gebaren. Lernen – Kinderspiel, arbeiten – Unsinn, aber faulenzen, ei beileibe! Er bekleckste Papier und Wände, kratzte die Geige und krächzte zur Gitarre, er radebrechte alle Mundarten und spielte alle Rollen, die er im Fluge von seinen Gästen aufgeschnappt, er studierte die »Weistümer« seines Landes nicht in langweiliger Chronika, sondern in Ritter- und Räuberromanen, welche einer bereits abgelebten Generation die anmutigen Schauer einer Gänsehaut erregt; er war ein Reimeschmied aus dem Stegreife, immer im Rausch und niemals betrunken. Das gab ein Juchhei auf der Sachsenklus, als der Hoferbe in die Jahre kam, wo die Nachbarsöhne Wirte und Männer wurden! Schauspieler, Bereiter, Seiltänzer, Bänkelsänger und ihre Wahlverwandten, das waren die Einkehrer, seitdem das junge Genie unter dem Rautenkranze aufgeblüht. Mit ihnen wurde gezecht daheim oder in den Herbergen der Stadt – nicht in grobem, gebranntem Geist wie die Alten – in reinem, goldnem Wein, in perlendem, schäumendem Wein. Mit ihnen kreuz und quer gezogen und wieder eingesprungen, war der Säckel leer; mit ihnen gekartelt, gewürfelt, im Inland und Ausland ins Lotto gesetzt; denn Geld war die Losung, Geld ohne Müh und Hoffnung auf Geld!

Einmal nach der städtischen Jubilatemesse blieb das junge Herrchen aus; Monate vergingen, und er war fort ohne Spur. Die Mutter weinte ihre Augen wund, der Vater wurde selten mehr nüchtern aus Kummer und Angst. Urplötzlich wie er verschwunden, kehrte er heim, ein dralles Weibsbildchen in die Elternarme führend, das während der Messe im kurzen Röckchen, auf schwankem Seil als Mademoiselle Sylvia gefeiert worden war und jetzt hinter dem Schenktisch als Madame Frobel gefeiert ward. Ein munterer Zeisig Dame Sylvia, des Wanderns müde und wohlgeneigt, im Käfig Zuckerbrot zu naschen! Kläglich, daß sie, schon ehe der Frühling wiederkam und kaum daß ein armes, nacktes Vögelchen in das Nest gesetzt worden war, unter die dunkle Erde ducken mußte. Der junge Witmann zerschlug sich die Brust und zerraufte seine Locken, er reimte und deklamierte Trauerhymnen voll Schmerz und Herz, schweifte am Tage in Schlucht und Wald und lag um Mitternacht auf seiner Schönen Grabe – eine Woche lang! Dann tröstete er sich, schäkerte, kartelte, knöchelte, zechte und lachte mit den Fremden querköpfiger denn je zuvor. Der Sachsenwirt lachte hinter seiner Flasche, die Sachsenwirtin hinter ihrem Herd, der Sachsenerbe lachte hinter dem Würfelbrett, die Knechte lachten in volle Töpfe und Säckel, die Fremden lachten sich in den Bart und die Nachbarn in die Faust, alles lachte auf der Sachsenklus. Nur eine lachte nicht: Judith, die Sachsentochter, erst auf dem heimischen Hofe dem Bruder nachgeboren und in jenen Tagen des Übermuts fast noch ein Kind. Schweigend und wenig beachtet, stand sie abseits, blickte, eine Falte zwischen den ernsthaften Augen, mahnend, ja richtend auf den Verfall ihres Vatererbes, und als die Stunde seines Zusammenbruchs ausgehoben, da streckte sie die kräftige Hand, um es zu stützen.

Mehr als ein Vierteljahrhundert mochte vergangen sein, seitdem der Frobeljobst mit fremden Sitten in die alte Heimat zurückgekehrt. Der Sachsenwirt war begraben und vergessen, das Sachsenröschen lahm und grau vor der Zeit, der tolle Erbe verschollen überm Meer. Dampfende Rosse hatten den Verkehr auf der Landstraße verschlungen, neue Verbindungswege, Schenken und Gasthäuser sich geöffnet. Der Rautenkranz über der Klustür war verschwunden, die Sachsenwirtschaft keine Herberge mehr, nur noch ein einsames, stilles Gehöft, das seinen Namen, die Klus (Klause) mit Recht verdiente und allmählich wiedergewann.

Die Neuerung im landschaftlichen Verkehr war mit dem argen Ende, das der Frobeljobst genommen, fast gleichzeitig zusammengefallen; stillschweigend war das Schenkenzeichen eingezogen worden, fand sich der Bier- und Branntweinkeller in einen Milchkeller, der Tanzboden in einen Fruchtboden, die große Gaststube zum stillen Wohn- und Schlafgelaß umgewandelt. Man hantierte nach Bauernart auf den Feldern, die dem Hofe gerettet oder mit der Zeit wieder zugefügt worden waren. Man wirtschaftete knapp, emsig, stumm und streng nach Urväter Brauch mit einem einzigen Knecht und einer einzigen Magd. Von dem fremden Wesen war nur die Sauberkeit und hin und wieder ein fördernder Kunstgriff beibehalten worden. Wechsellos, klanglos, festlos gingen die Tage hin unter dem Regimente der jungen Wirtin, die zu innerlich ihres Landes Kind geblieben, um nicht zu fühlen, daß nur in dieser schweigenden, nachhaltigen Weise die Ehre ihres Standes und Hauses wiederhergestellt, die eigne Ehre unberührt von dem Moder der Vergangenheit bewahrt werden konnte.

Seine Eignerin aber verkehrte mit keinem und sprach mit keinem ein Wort ohne Not. Nur in der Kirche wurde sie allfesttägig gesehen, wenngleich die Gemeinde ohne Ausnahme dem katholischen Glauben angehörte, die Kluswirtin aber auf den mütterlichen protestantischen Glauben getauft und ihm treu geblieben war, sich auch jedes Jahr am Karfreitag samt der kranken Mutter in ihrem Zimmer das heilige Nachtmahl von einem städtischen, protestantischen Geistlichen reichen ließ. Ihren Bruderssohn, der ihr als Pflegling zurückgeblieben, ließ sie hingegen in dem väterlichen katholischen Glauben unterrichten, anfänglich bei dem Lehrer und Pfarrer der Gemeinde, später, da des Knaben stillsinnendes Wesen in einen Lern- und Büchereifer umschlug, der einen geistigen Beruf bekundete, als Kostgänger bei einem Gymnasialprofessor in der Stadt. An den Mitteln für gegenwärtigen wie künftigen Studienaufwand gebrach es bei dem Gedeihen der Wirtschaft und bei dem ledigen Stande der Pflegerin nicht.

Denn kein Werber oder Freiersmann hatte sich der Kluswirtin seit der Zeit ihrer Selbstherrschaft zu nahen gewagt, obschon sie ansehnlich von Gestalt und noch lange in den Jahren war, wo eine bäuerliche Jungfrau oder Witfrau begehrenswert gefunden wird; dazu wohlberufen, unabhängig und eine Hofbesitzerin, freilich eine Ketzerin. Aber wenn auch ihre eigenen Gemeindegenossen der andern Kirche eigneten, so war die Bevölkerung der nördlichen Umgegend doch eine nach Kirchspielen gemischte, und selbst für einen protestantischen Stadtbürger, ja Beamten würde sie nach Bildung und Sitte eine anständige Genossin gewesen sein.

Daß die schöne Kluswirtin unnahbar, gleichsam eine Mauer um sich aufgerichtet, das deutete auf einen tiefen, heimlichen Grund. Und ein tiefer Grund, ein Abgrund ist es ja, über welchem das Gewässer sich am stillsten bewegt, bis jäh ein Wettersturm die in der Tiefe verborgenen Schätze oder Schrecken zutage wirbelt.

Vorboten

Jahr um Jahr war auch über dieser neuesten Wandlung des Klushofes hingegangen, die Maienzeit wiedergekehrt; die Natur hatte in lachenden Festgewändern ihre Schaffensfreude ausgestrahlt. Die ersten gelblichen Sprossen sprengten die glänzend braunen Blatthülsen des Eichenforstes, die Apfelbäume im Garten strotzten in Blütenübermut, vor dem Hause blähten sich Tulpen und Kaiserkronen über die bescheiden am Boden verduftenden Frühlingskinder; das Auge ruhte mit Erquickung auf dem saftigen Grün der unübersehbaren Feldgebreite. – Die Nacht hatte die vorzeitige Sommerschwüle der vergangenen Tage kaum abgekühlt, und die Sonne, ohne Taufrische niedersengend, erst den weißen, dann den purpurnen Nebelschleier in die Höhe gezogen, in die sie sich gehüllt; kein Atemzug bewegte die Luft, selbst die Hausvögel schwiegen beklommen. Nur der Finke in der Buchenhecke zirpte sein Regenlied, und die Maikäfer schwirrten in schläfrigem Taumel von Baum zu Baum. »Sturm, Sturm!« surrten sie den Schmetterlingen zu. Die leichtfalterigen Luftgesellen aber saugten sich an die Kelche und lispelten: »Lasset uns nippen und naschen, denn morgen sind wir tot!«

Es war Werkeltag, aber eine sabbatliche Stille rings um das Klusgehöft. Kein Dreschflegel oder Seihrad in der Scheuer, nicht Pflug noch Spaten in Garten und Acker regten sich. Die Tiere des Hofes, nach Wirtschaftsbrauch zeitweise ihrer Stallhaft entlassen, weideten im abgeschlossenen Gehege der Waldwiese, die einstmals Forst gewesen war und jetzt ausschließlich »der Kamp« geheißen ward. Oben am Tränkquell lagerte das stattliche Roßgespann. Aber auch unter diesen Freigelassenen kein munterer Laut, schlendernd und gläsernen Auges duckten sie sich zu Boden und kauten mit Gier unter dem bleiernen Drucke der Luft. Und auch im Hause keine hörbare Bewegung. Durch die blanken Scheiben des Wohnzimmers schimmerte die Frühsonne, die weiße Sandschicht am Boden übersilbernd; nicht ein Fleckchen oder Stäubchen längs der hellgetünchten Wände und des glänzend gebohnten Eichengeräts, das ihr scharfer Strahl entdeckt; alles stand einfach, streng geordnet an seiner Stelle, nichts Überflüssiges oder Städtisches, nichts, was an die ehemalige Schenkenzeit erinnerte, aber freilich noch weit weniger an die Tage der alten Eichenklus, der die Mehrzahl der übrigen Dorfgehöfte zur Stunde selbst auf ein Titelchen ähnlich sieht.

In einem Lehnstuhle am Fenster, die steifen Glieder in weiße Wollendecken gehüllt, die schwarze Witwenhaube auf dem zur Brust hinabgesunkenen Kopfe, ruhte die alte, kranke Sachsenwirtin, die nach schweren nächtlichen Gebresten erst gegen Morgen in einen sanften Schlaf gesunken war. Sei's, daß die Sonnenwärme dem absterbenden Leib oder daß ein Traum der halberloschenen Seele ein flüchtiges Behagen zurückgab, sie lächelte im Schlummer wie ein glückgewohntes Kind, und in dieser Erquickung des Ausruhens, unter dem Hauche, welchen das Frühlicht auf die noch immer rundlichen Wangen gemalt, hätte einer wohl heute noch das Sachsenröschen wiedererkannt, das einst lachend in diesen Räumen gehaust: gutherzig, treuherzig, geschickt und tätig für einen angemessenen Betrieb. Aber in diesem leichten Gliederbau, der engen, zurückstrebenden Flucht der Stirn, dem schmalen, spitzen Näschen und seidenweichen, weißgebleichten Haar würde er auch die Anzeichen mangelnder Kraft gegen Drang und Last entdeckt und ihren Anteil an dem bösen Umschlag der Zeiten entschuldigt haben.

Der Knabe, ihr Enkel, der, etwa fünfzehnjährig, im dunklen städtischen Schüleranzuge am zweiten Fenster ihr gegenübersitzt und so früh am Tage schon emsig über seinen Heften brütet, zeigt sich von nicht minder zartem, aber bleicherem und tieferem Gepräge; kein Bauern- oder Landeskind, ein geborner Kopfarbeiter offenbar; dahingegen uns mit einem Blicke durch die nach der Küche halb geöffnete Tür die kraftvolle Natur der Tochter in ihrem ländlichen Ursprunge und Zusammenhange, wenn auch keineswegs im Alltagsausdrucke, vor Augen tritt und gar das sonntägig ausstaffierte Gesindepaar als Musterstücke urwüchsiger Leibes- und Arbeitskraft aufgestellt werden können.

Der Knecht im weißen, rotwollengefütterten, blankgeknöpften Leinenkittel und steifen Kniestiefeln, trotz der durch ein prasselndes Herdfeuer just nicht gemäßigten Schwüle die fuchsverbrämte Pudelmütze auf dem flachshaarigen Kopfe; die Magd im buntgesäumten Scharlachrock, das schwarzweiße Nackentuch über dem kurzen Mieder, die dicke Bernsteinkette um den Hals geschnürt und das Haar bis zur Stirn herab in die schwarze Kapselmütze eingepreßt, so sehen wir beide an dem Küchentische sich gegenübersitzen und mit einer rascheren Bewegung als wohl sonst die dunkeln Brotpflocken in die Schüssel schneiden, über welche die Wirtin die kochende Milch zur Morgensuppe schüttet, darauf aber, während jene taktmäßig Löffel um Löffel den mächtigen Napf bis auf den letzten Tropfen leeren, zwei pfundschwere Speck- und Pumpernickelscheiben, reinlich in Papier gewickelt, vor eines jeden Platze niederlegt. Keines redet ein Wort; Geschäft wie Genuß wird gelassen, aber ohne Aufenthalt vollzogen.

Ein Stilleben friedlich einladend also von außen her überschaut. Wer aber mit feineren Spürfäden in seinen Mittelpunkt gedrungen wäre, der hätte gleichsam in der Luft – nicht in der Schwüle der äußern Luft, welche die willenlosen Geschöpfe beklemmte, – eine Bangigkeit spüren müssen, er hätte einen Schemen ahnen müssen, der wolkengleich Licht und Laut in diesen Räumen umschleierte. Der mahnende Geist entschwundener Tage, von wem schwebte er aus? Von jener greisen, zusammengesunkenen Gestalt, die jetzt im Traume nur frohen Erinnerungen nachzulächeln scheint? Von der schuldlosen Stirn dieses Knaben, der mit frühreifem Ernst sich auf die Pflichten der Zukunft vorbereitet? Oder gar aus den kindischen Blicken der Mietlinge, die Arbeit, Ruhe und Genuß nicht über den Tag hinaus in ihre Betrachtung ziehn? – Nein; die nachzehrende Vergangenheit steht in den Zügen jenes Mädchens geschrieben, das jung noch an Jahren, wenn auch nicht jugendlich, streng, stetig und besonnen, in redlichem Schaffen sie zu sühnen trachtet; sie spielt hervor aus den Schatten unter dem großen Auge, aus der Bleiche der Haut, der Furche inmitten der fast trotzig gewölbten Stirn, aus den fest geschlossenen Lippen, welche das Lächeln nicht gekannt zu haben scheinen, aus den Trauerkleidern selbst, die streng und züchtig die markige Gestalt umhüllen.

Denn auch in der Tracht, wie in der gesamten häuslichen Einrichtung, hatte Judith, die Kluswirtin, die Landessitte ihrem eigentümlichen Wesen angepaßt. Der schwarze Wollenrock fiel in reichlichen Falten auf die Knöchel hinab; das Mieder, bis zur Nackenbiegung erhöht und durch die blendendweiße Hemdkrause geschlossen, machte das einengende Brusttuch entbehrlich, und das mattblonde Haar legte sich ohne Hülle, sauber gewunden gleich einer Krone, um das stolz und stark gebaute Haupt. Sie öffnet den Mund zu einer kurzen Anordnung, und horch! sie redet nicht in der landesläufigen, niederdeutschen Mundart, auch nicht mit den gemütlich unklaren Lauten, welche die Mutter aus der Heimat beibehalten, sie spricht das Hochdeutsch der Kanzel und Schule, das wir selber in gebildeteren Gesellschaftsschichten selten so lauter und richtig vernehmen wie da, wo es außerhalb des täglichen Verkehrs, gleichsam als Fremd- oder Festsprache, angewendet wird, und da sie nur das Erforderliche und mit tiefem, klangvollem Laut jederzeit bedachtsam spricht, erscheint es in ihrem Munde so rein, fest und voll, wie die Schriftzüge ihrer Hand auf jener Anweisung, die sie dem Knechte zur Besorgung an ihren städtischen Weber übergibt.

Denn es ist heute Markttag und zugleich der Schluß der Jubilatemeßwoche in der Stadt, und damit erklärt sich der Ferienbesuch des Schülers wie die Feierstille auf dem Hof und der festliche Schmuck des Gesindepaares, das, mit der Mehrzahl von Knechten und Mägden der Umgegend, der Lust eines freien Meßtages als einem zuständigen Rechte entgegenharrt. Zum ersten Male, seit sie der Kluswirtin dienen, sollen sie die Wanderung gemeinschaftlich antreten, und die Vorfreude einer darob erhöhten Erwartung malt sich auf den breiten, glänzenden Kindergesichtern, während wir die um eine Linie tiefer gezogene Falte zwischen den dunklen Brauen der Herrin dahin deuten, daß sie nur widerwillig einer unaufschieblichen Arbeitsnötigung im Laufe der Woche nachgegeben und in ein Abweichen von der Regel des Einzelnbesuchs gewilligt hat. Schweigend schnürt sie das Wintergespinst des Haushalts, das der Knecht bei dieser Gelegenheit an den Weber befördern soll, zu einem Bündel, und indem sie es ihm nebst jener schriftlichen Anweisung einhändigt, legt sie den üblichen Marktpfennig vor ihm auf den Tisch mit den Worten: »Zehn Mariengroschen mehr als ausbedungen, aber keinen Tropfen, Klaas, hörst du, keinen Tropfen!«

Klaas strich die Münze ein mit einer Miene, in welcher die Befriedigung über die gewohnt gewordene, von Messe zu Messe um einen Groschen sich steigernde Zulage mit dem Verdruß über das ebenso gewohnte, aber nie ohne Ärger empfundene Verbot eines kräftigen Meßtrunkes schwankte. »Jubilatemarkt, Wirtin!« knurrte er, den Löffel zwischen den Zähnen; »einmal im Jahre, Wirtin!« – »Niemals, Klaas!« versetzte sie ruhig. »Weder auf dem Hofe noch auswärts. Du bist auf den Verspruch gedingt: Branntwein niemals!« – »Der Pfarr nimmt's nicht so genau wie die Wirtin,« murmelte der Knecht, indem er sich beeiferte, mit dem Löffel nachzuholen, was er durch den unnützen Widerspruch in der Suppenschüssel eingebüßt. – Die Wirtin wußte, daß ohne ausdrücklichen, an jedem freien Tage vergeblich angestrebten Erlaß ihr Verbot nicht übertreten werden würde, sie sparte daher jedes fernere Wort und wendete sich zu dem blankgereiften Zuber, in welchem die Magd die Vorräte des Hofes zu Markt tragen sollte: Klusbutter, Klushonig, Klusspargel und Lattichsprossen, sorgfältig zwischen rein gespülte Kohlblätter geschichtet, obenauf ein dichtes Straußbündel von Frühlingsblumen werden eine gar willkommene Marktware liefern.

Die Magd, die ihre Mahlzeit beendet, blickte schmunzelnd auf die ihres Hauptes harrende Zier, wischte die runden Kirschlippen mit der flachen Hand, steckte den blauen Strickstrumpf zu gelegentlicher Verwendung für den eignen Nutzen in den Schürzenbund, schwenkte den Zuber auf den Kopf und streckte die Finger nach dem Marktpfennig aus, den ihr die Wirtin noch nicht gereicht hatte. Sie empfing die nämliche Gabe und Zulage wie der Knecht und, wie dieser das Verbot des Branntweins, mit gleich knappen Worten den Befehl: bei Sonnenuntergang auf dem Hofe zurück zu sein.

Auch an diese Hausregel war man seit Jahren gewöhnt, schien aber nach dem Zugeständnis der gemeinsamen Wanderung heute auf eine weitergehende Freiheit gezählt zu haben, denn die Dirne glotzte betreten zu dem Burschen hinüber, dem eine jähe Röte bis unter die Pudelmütze den apfelrunden Kopf überflog. Schon die Klinke in der Hand, kehrte er bei dieser Weisung zu einem Einwande in die Küche zurück. »Vor Abend heim? Jubilatemarkt, Wirtin!« sagte er rascher und lauter denn gewohnt. – »Vor Sonnenuntergang auf dem Hof,« wiederholte die Gestrenge. – »Markttag, Wirtin! Das Pläsier geht erst los, wenn's dunkel wird, Wirtin.« – »Du kannst bleiben bis Mitternacht, Klaas, die Christine ist pünktlich bei Sonnenuntergang auf dem Hof.« – »Der Hof ist versorgt, wenn die Wirtin daheim ist.« – »Es ist nicht um den Hof, es ist um die Zucht. Eine Klusmagd darf nicht bei Nacht gleich einer Landstreicherin gesehen werden.« – »Ich bin bei ihr, Wirtin, ich!« – »Desto schlimmer!«

Es lag ein Gewitter in der Luft, und ungewohnte Rede, Widerrede zumal, erhitzt; vergällte Hoffnung aber ist ein gewaltiger Blasebalg; dieses eisige »desto schlimmer« schnellte den gelassenen Burschen in einen trotzigen Zorn. – »Und wenn eine eines Schatz ist?« stieß er heraus, indem er mit der geballten Faust auf den Tisch schlug. – Die Wirtin stutzte einen Augenblick, die puterrote Dirne mit einem scharfen Blicke musternd, sagte aber darauf so ruhig wie bisher: »Zu Peter Paul ist Ziehzeit. Vier Wochen Kündigung. Ihr verlaßt den Hof.«

Die Magd, die offenen Mundes vor Wunder über ihres Kameraden Kühnheit unter der Tür gelehnt, ließ bei diesem harten Entscheid einen kurzen, bellenden Schrei vernehmen. Sie stützte mit einer Hand den schwankenden Zuber und führte mit der andern die Schürze vor die Augen in Erwartung der Tränen, die ihr gottlob nicht geläufig waren. Der Klaas hingegen fühlte es gleich einer wilden Hummel durch seinen Hirnkasten brausen; die Adern fingerdick auf der zornroten Stirn geschwollen, schleuderte er die Mütze in die Herdecke und stampfte den Boden, daß Schüssel und Löffel auf dem Tisch aneinander klappten. Er war jählings ein anderer, als er sein Lebtage gewesen und voraussichtlich sein Lebtage wieder sein wird. »Gesagt ist gesagt!« brüllte er mit einer Stimme, die er seinem Bullen abgelauscht zu haben schien. »Gesagt ist gesagt! Wir ziehen! Ja, heule nicht, Christine! Wer auf dem Klushofe futtern und buttern gelernt hat, braucht nicht Hungerpfoten zu saugen. Nein! Heule nicht, sage ich. Du bist mein Schatz, und ich bin dein Schatz. Ja! Denn warum? Ein Mensch ist ein Mensch, und ein Mensch hat ein Herz so gut wie das liebe Gottesvieh. Allein aber die Wirtin –«

»Schweig und geh!« unterbrach Judith den Sinnlosen, mit einer unwilligen Gebärde auf die Haustür deutend, nachdem sie die, welche nach dem Wohnzimmer führte, schon während des vorangegangenen Zwiegesprächs vorsichtig geschlossen hatte. Die Magd schluchzte und heulte nun wirklich; der Knecht aber fühlte blitzartig die Wehr des getretenen Insekts in seiner Brust. Ja, er hatte Stachel und Gift, und es war ein tückischer Blick, den er zu der unerbittlichen Herrin hinüberschoß. – »Heule nicht, Christine!« schrie er, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Heule nicht, sag ich! Du hast dein Erspartes, und ich habe mein Erspartes. Und dienen ist gut, ja, aber eigen Haus haben ist besser. Ja! Und Schwein und Ziege im Stall! Ja! Und zum Quatember kommt's zur Subhaste, das im Walde drüben. Denn warum? Es verfällt, und fünf Jahre hat er noch zu sitzen. Und keiner will's nicht, nein! Aber ich will's, ich! Und ich kauf's des Quellensimon ...«

Bei dem Namen des Quellensimon deutete die Magd mit einer Gebärde des Entsetzens auf die Wirtin, die plötzlich zusammenzuckte, als wäre ihr ein Messer in das Herz gestoßen worden. Die Einrede war erstickt; starr und steif ließ sie den nachströmenden Schwall wie im Traume an sich vorüberrauschen.

Die Leidenschaft hatte die Sinne des blöden Klaas gestachelt; mit trotziger Schadenfreude bemerkte er die Wucht seines Streiches und hieb und stieß darauflos, bis sein Mütchen gekühlt. Er focht wie beim Dreschen oder Mähen mit den Armen in der Luft, trat taktmäßig einen Schritt vor und einen zurück, um das ungeübte Räderwerk im Gange zu erhalten, und begleitete jeden seiner Sätze mit einer der beiden gewichtigen Silben, auf welche sich seine Willensäußerung bis heute möglichst beschränkt. Im Flusse der Rede dämpfte das Rachegeköch sich ab, die Zornesadern senkten sich allmählich, die Truthahnsröte schwand, und die blauen Augen glotzten harmlos wie allezeit; aber das Ventil war einmal geöffnet, und das Gefäß strömte über bis auf den letzten Tropfen, den das arme Hirn ihm zuzuführen imstande war.

»Des Quellensimon Haus!« wiederholte er. »Du denkst dir was dabei, Christine, ja, und die Wirtin denkt sich was dabei, ja, und die Leute denken sich was dabei, ja! Denn warum? Spuk ist Spuk, und wenn einer ist totgeschlagen worden, geht er um und sucht seinen Mörder! Und der Papiermüller ist totgeschlagen worden, ja! Und der Quellensimon ist wegen Totschlag gesetzt worden, ja! Und keiner darf reden von dem Papiermüller auf der Klus, keiner nicht, nein, und von dem Quellensimon darf einer auch nicht reden, nein! Denn warum? Der Papiermüller ist der Wirtin ihr Freiersmann gewesen, und die Wirtin hat gegen den Quellensimon ausgesagt, vor Amt und Zeugen hat sie gegen ihn ausgesagt, und derhalben dürfen wir nicht davon reden! Heule nicht, Christine! Ich will davon reden, denn fort muß ich doch! Und du denkst dir was bei dem Hause, Christine, ja! Aber ich kann mir nichts dabei denken, nein! Denn warum? Zehn Jahre ist's her, heuer zum Jubilatemarkte zehn Jahr. Und im Hause oben ist's nicht geschehen, aber unten in der Stadt, und wenn einer umgeht, geht er unten um, am Damm, und nicht hier oben vor dem Wald. Und wenn's der Simon getan hat, hat er's getan, ja. Aber er hat's auch wieder nicht getan, nein. Denn warum? Der Simon hatte einen Rausch! ›Ich hatte einen Rausch‹, hat der Quellensimon gesagt, und weiter kein Wort nicht, nein. Vor Amt und Zeugen hat er's gesagt: ›Ich hatte einen Rausch!‹ Und die Wirtin gesteht keinen Tropfen zu, nein! Nicht einmal zur Kirchweih und zu Jubilate, nein! Denn warum? Die Wirtin ist wie ein Mann, ja. Aber sie ist doch kein Mann nicht, nein! Und ein Mann verlangt seinen Tropfen, und wenn ein Mann seinen Tropfen hat, da hat er seine Courage, und er hat sein Pläsier. Außerdem ein Tropfen zuviel, und mit seiner Wissenschaft ist's aus.

Und der Quellensimon war ein Mensch wie ein Lamm. Nicht eine Sau konnte er schlachten sehn, da wurde er weiß. Und ich habe mit ihm gedient bei der Kompagnie, da die Untat geschah, und der Hauptmann, der anjetzo der Oberste im Zuchthause ist, der hat auf den Simon gehalten wie auf sein Fleisch und Blut und hat sich verschworen Stein und Bein, daß der Quellensimon es nicht getan. Denn der Quellensimon war ein Mensch wie ein Lamm. Und bloß von wegen seinem Rausch. Und das Messer, das in dem Papiermüller seinem Leibe gesteckt, ist nicht des Quellensimon sein Messer gewesen, denn warum? Der Simon hatte sein eigen Messer zugeklappt in der Hosentasche. Und der Hieb, der dem Papiermüller den Hirnkasten eingeschlagen, der ist auch nicht mit des Quellensimon Stocke geführt gewesen, denn des Quellensimon Stock hat fünfzig Schritte davon am Damme gelegen und eine erbärmliche Haselrute mit einer Krücke, weiter nichts. Allein aber der Totschlägerstock, das muß ein fremder Stock gewesen sein, oben darauf mit einem bleiernen Knopf. Und in der nämlichen Nacht ist der junge Sachsenwirt davongegangen auf der Eisenbahn übers Meer, und keine Seele hat wieder ein Sterbenswort von dem jungen Sachsenwirt gehört, und diese Jubilatemesse sind's just zehn Jahre.« –

Wie das Streiflicht eines Blitzes über eine Leiche, so zuckte es bei dem letzten Satze über die Gestalt der Wirtin; nur ein einziger Augenblick, im nächsten stand sie so unbelebt wie zuvor. Der Redner bemerkte es nicht; der Zorn war längst von seinem Siedepunkte gesunken, der Trotz des Ungehorsams gestillt, auch die Eitelkeit ward nicht gestachelt, denn die eine seiner Zuhörerinnen stand schier wie taub, und die andere fragte den Kuckuck nach dem Quellensimon und seiner Missetat, nur nach des Quellensimon verrufenem Haus, dessen Notdurft sie gegen den reichlichen Hofedienst vertauschen sollte. Der Klaas hielt bei dem verpönten Gegenstande daher nur noch aus, weil er einmal im Zuge war und zu seinem eignen Wunder eine denkwürdige Erinnerung aus einem Winkel seiner Seele in die Höhe tauchte. Der an Ordnung Gewöhnte machte bloß reinen Tisch, indem er die letzten Brocken aus seinem Gedächtnisse zusammenstrich.

»Und von wegen des Messers,« so fuhr er nach einem kräftigen Atemzuge fort, »und von wegen des Stockes und von wegen etwelchem anderem, das nicht hotte noch hü passen getan im Verhör, hätten sie dem Quellensimon nichts anhaben können vor dem Amt, nur ganz allein, daß der Quellensimon gesagt: ›Ich hatte einen Rausch, ich kann's getan haben, und ich will's getan haben‹, hat er gesagt. Allein aber an Leib und Seele sind sie dem Quellensimon nicht gegangen vor dem Amt, denn warum? Der Quellensimon lebt, und ich habe ihn gesehen, und wenn er nicht lebte, hätte ich ihn nicht gesehen, und wenn sie ihm ans Leben gegangen wären, da lebte er nicht, nein! Und er hatte nicht mehr ein Ansehen wie Milch und Blut, wie damals unter der Kompagnie, aber wie pure Milch und hager wie ein Stecken, und weiße Haare auf dem Kopf. Aber gekannt habe ich ihn auf den ersten Blick, denn der Simon hatte eine Art, die setzt sich einem ins Herz, und der Simon, das war ein Mensch wie ein Lamm. Und die Züchtlinge karrten Pflastersteine im Hof, und graue Hosen hatten sie an und Jacken von Zwilch, und der Simon hatte auch eine Hose und Jacke an von Zwilch, aber gekarrt hat er nicht. Mit den Buben vom Hauptmann hat er im Hofe gespielt, der anjetzo der Oberste im Zuchthause ist, und Klötzchen von Holz hat er den Buben geschnitzt, und der Hauptmann hat dabei gestanden und dem Quellensimon auf die Schulter geklopft. Und das Zuchthaustor stand auf, und ich habe am Tore gelehnt und es mit meinen leiblichen Augen gesehn. Und es war, wie ich die Blesse zu dem Schlächter treiben tat, und – und – und –«

Der Schwätzer stockte; er hatte noch Atem, aber der Stoff war ihm ausgegangen. Er focht ein paarmal mit den Armen in der Luft, trat von dem rechten Beine aufs linke und von dem linken aufs rechte, aber einen frischen Satz fand er nicht. – »Und damit gut, ja!« sagte er, suchte die Pudelmütze hinter dem Herdwinkel vor, faßte mit der einen Hand das Garnbündel und mit der andern das eingewickelte Morgenbrot, das er vorhin mit einer Miene, als ob er Speckscheiben und Pumpernickel niemals wieder seiner Labung würdig halten werde, auf den Tisch geschleudert, und verließ, gefolgt von seiner Schönen, die Küche.

Keine Fiber hatte an dem Leibe der Kluswirtin gezuckt; die Hände an den Tischrand geklammert, den Kopf zur Brust herab gesunken, aschfarbig, stieren Auges, so stand sie wie im Krampfe gebunden, und erst als die Tür hinter dem sich entfernenden Paare in das Schloß fiel, schreckte sie, wie erwachend, zusammen.

Eine Minute – und sie richtet sich in die Höhe, die Hände sinken schlaff am Leibe herab, mit scheuen Blicken durchspäht sie den Raum. Hat sie ein Traum genarrt, ein böser Traum, wie so oft in der Nacht? Ein verhaßter Traum, über den sie keine Herrschaft hat wie mit offnem Auge im Tageslicht? Sie sieht durch das Fenster die breiten Sonnenstrahlen und das Hantieren der Leute auf dem Hofe. Nein, es ist Wirklichkeit. Das Schauerbild ihrer Jugend ist vor ihren Augen entrollt worden, mit groben Zügen, mit plumper Hand – aber doch das Bild! Die Satzung des Hauses ist gebrochen, der Name genannt, das Schicksal heraufbeschworen worden, die in der Stille ihres Hauses und Herzens wie in einem Grabe geruht. Sie schaudert. Es gemahnt sie, als ob der Geist des Schicksals einen Vorboten entsendet habe.

Aber Judith, die Kluswirtin, ist keine Träumerin und Geisterseherin von Natur. Dreimal atmet sie bis auf den Grund, schlägt mit den geballten Händen dröhnend gegen die Brust, als ob sie den Deckel über einem Sarge verschließe, und sie fühlt sich wieder klar, fest, zum Kampfe gerüstet, wie sie sich vor wenigen Minuten gefühlt. Sie lauscht eine Weile an der Stubentür. Alles still! Die da drinnen haben nichts von dem Ärgernis vernommen. Sie sinnt einen Augenblick und schreitet dann entschlossen in den Hof hinaus. – Auch der Knecht ist wieder der alte Klaas, von dem seltsamen Eifer nichts zurückgeblieben als gezeitigter Appetit. Er sitzt auf dem Garnbündel, das er über den Kornsack auf seinen Schiebkarren geladen, und verzehrt die Brot- und Speckscheiben, die ohne die vorherige Anstrengung nicht unter etlichen Stunden an die Reihe gekommen sein würden. Die einzige Unberuhigte von den dreien scheint allenfalls die Magd, denn sie steht vor ihrem Auserkorenen mit geballter Faust und pufft auf den Kornsack unter dem Protest: »Und ich will nicht in das Mörderhaus, und ich gebe der Wirtin ein gut Wort, und ich will nicht in des Quellensimon Haus!«

Ehren-Klaas hat genugsam geschwätzt für lange Zeit, er läßt sich auf Erwiderungen nicht ein. So wenig er sich bei des Quellensimon Haus hat denken können, so wenig hat er im Ernste an das abgelegene, verrufene, verfallene Waldhaus gedacht, ja in hausväterliche Absichten überhaupt sich erst in der Galle über einen vereitelten Meßtanz hineingeredet. Er weiß, daß Knechtsbrot sicherer zu verdienen ist als Heierlingsbrot, und wie herzhaft es mundet, das glaubt er noch niemals so empfunden zu haben, wie über den saftigen Speckscheiben, die er in langsamen Bissen schnalzend zwischen seiner Zunge zerdrückt. Freilich in keinem Dienste so herzhaft als in dem zur Vergütung ihrer strengen Enthaltsamkeitsverbote reichlich lohnenden und köstigenden Kluswirtin. Indessen da der Zungenteufel ihn einmal aus dem gelobten Lande geritten, wird der Klaas sich auch an einem mageren Platze genügen lassen und noch am heutigen Tage unter den Marktgästen nach einer schicklichen Gelegenheit Umfrage halten.

Mit diesem Kern- und Schlußpunkte seiner stummen Erwägungen war der Knecht bei dem letzten Bissen des Pumpernickels angelangt, als die Wirtin ihm unerwartet gegenüberstand. »Klaas, Christine,« sagte sie so ruhig, als ob das kürzliche Zwischenspiel nicht stattgehabt, »ich dulde keine Liebesleute auf dem Hofe, ihr wißt's. Aber werdet Mann und Frau, so mögt ihr bleiben. Dort oben das Gelaß im Gartengiebel richte ich euch her. Im übrigen bleibts beim alten. Künftigen Sonntag das Aufgebot. Soll's so sein?« – Der Klaas bat dem Gottseibeiuns sein sträfliches Mißtrauen ab; er hätte an eine Wiederholung des Pfingstwunders glauben mögen, des wunderlichsten Wunders, das er den Pfarrer von der Kanzel verkündigen hören; der trockene Bissen stockte in seiner Kehle; der Christine aber flimmerte es vor den Augen, so als ob mitten in der Nacht ein Goldregen sich auf die Erde niedergelassen. »Es soll so sein, Wirtin,« sagten sie beide einmündig, nachdem sie ihrer Geister wieder Herr geworden.

Damit zog der eine seinen Karren an, die andere ihren Strickstrumpf aus dem Schürzenbund, und beide bewegten sich dem Hoftore entgegen. Die Wirtin folgte ihnen. Bevor sie den Ausgang überschritten, trat sie noch einmal zwischen sie, legte eine Hand auf eines jeden Schulter und sagte leiser und weniger zuversichtlich denn vorhin: »Über die Dinge von – damals keine Silbe wieder, Leute!« – »Keine Silbe wieder und keinen Tropfen, Wirtin!« – »Heim vor Nacht und keine Silbe, Wirtin!« beteuerten die Neugeworbenen, indem sie in die ausgestreckte Hand der Wirtin schlugen.

Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, setzten sie ihre Straße fort. Die Braut strickte an ihrem Hochzeitsstrumpf, will's Gott; in dem Bräutigam dämmerte eine Weisheit, welche der Welt vor ihm schon mehr als einmal nach einem Sturme aufgegangen. Die Weisheit nämlich, daß ein unrechtes Wort zu rechter Zeit gelegentlich einen Treffer zieht. Möglich, aber schwerlich, daß Ehren-Klaas im Verlaufe seines Lebens auch zu der weiteren Erkenntnis gelangt, nach welcher ein rechtes Wort zu unrechter Zeit allemal eine Niete ist.

Gesichte

Judith schloß das Tor und ging nach dem Hofe zurück. Sie würde nicht die planvolle Hausregentin gewesen sein, die sie war, wenn sie den Widerspruch mit ihren wirtschaftlichen Grundsätzen, in die sie durch die getroffene Entscheidung geraten, ohne Mißmut hätte empfinden sollen. Sie hatte die Ordnung des Gebietens und Gehorchens, welche ihr Werk bis heute getragen, durchbrochen, sie hatte nachgegeben und wußte, daß sie aufgeben, neue Opfer bringen, neue Anstrengungen über sich nehmen müsse.

Zu keiner Zeit hatte man verheiratete Dienstleute auf dem Klushofe gekannt. Mit einem Liebeshandel und seinen Folgen war es indessen erst unter dem gegenwärtigen spröden Regimente genau genommen worden. Wo alles noch so eng mit dem Natürlichsten zusammenhängt, in diesem nach außen ungeselligen In- und Miteinander menschlicher und tierischer Hausgenossen, der gemeinsamen, selber nächtlichen Arbeit, ist die geschlechtliche Sitte des Landes – den träumerischen, nördlichen Bischofsbezirk etwa ausgenommen – vor der Ehe eine leichte, und unter dem Schenkenzeichen des gutwilligen Sachsenröschens war sie leichter noch als in der übrigen Gegend gehandhabt worden. Wer aber eben mühsam einen Moderflecken von seinem Spiegel getilgt, der hütet ihn ängstlich vor dem ersten trübenden Hauch; und Judiths Spiegel war ihr Hof. Der Schande, dem üblen Leumund hatte sie durch ihre Entschließung vorgebeugt, der Zucht eine neue, um so festere Schranke gezogen, wenn auch voraussichtlich manche Ungehörigkeit, manchen störenden Zwischenfall in den Kauf genommen.

Indessen war sie durch die sittlichen Erwägungen doch erst in zweiter Reihe getrieben worden. Weit obenan stand das Bedürfnis der Grabesruhe über jenem Namen, jenem Schicksal, die sie in ihrem Bereiche zum Gesetz erhoben und auf diese Weise am leichtesten gesichert glaubte. Mochten dieser Name, dieses Schicksal zur Stunde in dem schweigseligen Lande verklungen sein, ein Unberechenbares konnte sie gleich einer alten Sage wieder aufleben lassen; mochten ihre Abgeschlossenheit und der Bann ihres Willens sie vor Berührungen schützen – schon die Erneuerung dieses Bannes über fremde, wechselnde Hausgenossen, die Möglichkeit einer Wiederholung des eben Erlebten erfüllten sie mit Grauen. Sie kam daher zu dem Abschluß, daß sie für eine unvermeidliche Herzensunruhe das leichtere Teil äußerer Belastung eingetauscht, dem ihre Kräfte wie Mittel gewachsen waren, drängte die demütigenden Hintergedanken zurück, und rasch, auch zu widerstrebenden Ausführungen, säumte sie nicht, das dem künftigen Ehepaare überwiesene Wohngelaß prüfend in Augenschein zu nehmen.

Die Giebelstube im Seitenbau bildete den Schluß einer Reihe kleiner Zimmer, welche zu Gasthofszeiten der Klus geringen Leuten als Herberge gedient. Ihr Bruder hatte sich den freundlichen, in das Grün des Gartens blickenden Raum seit seinen Ehetagen zur eignen Einkehr eingerichtet, und noch stand alles unverrückt, wie er es in der letzten Stunde verlassen: das Bett ungemacht, das Gerät verschoben und mit wertlosen Tändeleien beladen, vertragene Kleidungsstücke in der geöffneten Lade, im Winkel die zerbrochene Gitarre, zerlesene Scharteken wirr durcheinander auf dem Regal. Die Wand war mit bunten Klecksereien bemalt und beklebt; dort hing Sylvias Schattenriß und daneben in Lebensgröße das eigne Konterfei des verkommenen Erben, mit welchem ein Kunstbruder dereinst seine Zeche bezahlt. So gröblich die Leistung, das blitzende Augenpaar, die langflatterigen hellgelben Locken, wie das gewichste Stutzbärtchen über den lachenden Lippen und dem kurzabgeschlossenen Kinn, der stutzerhafte Schlafrocksstaat hätten einem Freunde allenfalls das Andenken Mosjö Gusts zurückrufen können. – Die Schwester hatte an jenem Morgen das Zimmer abgeschlossen und seitdem nicht wieder geöffnet. Nun aber, da sie plötzlich auch diesen Bann überschritten, wurde sie von allen Seiten in das Damals zurückgedrängt, dessen letzte Spur sie in ihrer Klus zu löschen gedachte, indem sie den gemiedenen Raum einem nützlichen Zwecke übergab. »Und in dieser Nacht ging der junge Sachsenwirt übers Meer, und keine Seele hat wieder ein Wort von dem jungen Sachsenwirte gehört!« Mit dieser Erinnerung aus ihres Knechtes Rede kehrte sie nach dem Wohnhause zurück.

Die alte Frau schlummerte, der Knabe memorierte noch wie vorhin; die außerhäuslichen Geschäfte ruhten während des heutigen Meßtages, die häuslichen waren bis zur Bereitung der Mittagskost gerüstet; die unermüdliche Wirtin durfte rasten und sinnen. Aber selber die Gegenwart der beiden achtlosen Zeugen im Wohnzimmer störte sie; sie trug das Rad in die Küche, schloß die Tür, setzte sich und spann.

Der Sagenglaube des Landes sieht die Urmutter der Natur, ein Vorbild des Fleißes, spinnend vor der Himmelstür; wer aber dieses Mädchen beobachtet hätte unter dem düsteren Rauchfang, in welchem der letzte Rest des Eichenklobens verkohlte, die kräftige trauerverhüllte Gestalt mit den reinen, festen Zügen, die wohl an ein Vor- und Urbild gemahnen durften, wie sie so unveränderlich, die ernsten Augen gleichsam nach innen gekehrt, zurücksann und dabei taktmäßig das Rad bewegte und den Faden zog: nicht an die heiterzeugende Perchta, an eine jener Schicksalsspinnerinnen würde er erinnert worden sein, welche die Gerechtigkeit einst dem Gotte des Himmels geboren, daß sie unwandelbar, unerbittlich Lohn und Strafe in einem Lebensfaden zusammendrehen. Ja, eine Parze. Aber wehe dem sterblichen Kind, dem im engen Bezirk das Amt dieser Himmlischen zuteil geworden, Liebe und Lust entweichen seiner Bahn. Denn mitten durchs Herz bohrt die Achse, deren Erdenpol Ehre heißt und der gen Himmel deutet – das Gewissen. – So saß sie still in sich verloren unter dem leisen Surren des Rades und merkte eine lange Weile nicht, daß das Schweigen im Nebengelaß unterbrochen worden war.

Die alte Frau erwachte, das Lächeln des Traumes noch auf den Lippen und über den Wangen den jugendlichen Schlummerhauch. Sie dehnte sich behaglich im wärmenden Sonnenschein, schaute in die saftgrüne Aue hinaus, grüßte nickend durch die Scheiben, als sähe sie statt der Tulpen im Beet die alten bekannten Gesichter in der Ligusterlaube. Die Lippen bewegten sich anfänglich lautlos; dann, mit schlafgestärkter Kinderstimme hoben sie eine Trällerweise an, erst leise und immer frischer und frischer: »Tanzt mit mir, tanzt mit mir, trallala, hopsasa!«

Der Knabe, welcher die Großmutter nur stumpf und für die drängendsten leiblichen Bedürfnisse empfänglich gekannt, sie vor ihrem Morgenschlummer noch in schwerem Atmungskampfe gesehen, ließ erschrocken das Buch aus den Händen fallen, und dieses Geräusch lenkte das Auge der Alten zu ihm hinüber. Sein Anblick schien sie zu erfreuen, denn sie lachte hell auf und nickte noch herzlicher denn zuvor. – »Gotts Wunder!« rief sie, mühsam die steifen Hände aneinander klappend. »Schon aus den Federn, Gust? Die Dithel wieder den Wasserkrug über den Ratzen gegossen, gelt? Der Frühauf, die Dithel, ja, die Dithel! Und gleich über der Scharteke? Dummes Zeug, Gust! 'naus, 'naus! Eine Wonne draußen, Gust, purer Balsam die Luft und die Musik, die Musik! Horch, wie sie locken und stimmen! Versteck deine Kratzfiedel, Stümperchen, die kleinen Pieplerchen droben hutzen dich aus. – Na, wird's bald, Mosjö? Klapp zu das Buch. Ein Wirtssohn muß Beine haben! Der Alte zapft Bier. Trag ihm den Stummel 'nunter, Gust. Das Morgenschälchen mundet nicht außerdem. Nur nicht gleich nüchtern einen Schluck, Frobelchen! Nur erst was Warmes gegen den Dunst, alter Jobst! Willst nicht? Schon wieder rackerig bei so tagfrüher Zeit! Herr meines Lebens, der Wacholder, der Wacholder!« – Die Alte seufzte; kaum eine Minute jedoch und der Schatten war verweht, lustig wie zuvor kicherte und blinkerte sie zu dem Knaben hinüber. »Guck, Gustel, guck,« rief sie, »wie die Bienen sich tummeln in der Kufdemath Sächsischer Provinzialism für Flieder., holterte, polterte in die Kelche hinein! Haben sich beizeiten einen Spitz gezippt! So'n Bienchen, so'n Bienchen! Ja, wenn's der Mensch ebenso gut haben tät! Nur immer zippen und nippen, und das Haus wird voll!« –

Der Enkel, der allmählich begriffen hatte, daß ein wacher Traum die Ahne weit zurück in seines Vaters Knabenzeit geführt, vermochte, seiner natürlichen Ernsthaftigkeit zum Trotz, ein leises Kichern nicht zu unterdrücken. Die Alte drohte, selber lachend, mit dem Finger. »Sachtchen, sachtchen, Goldsohn!« flüsterte sie, »der Alte ist rabiat, fuchswild, sag ich dir. Zetert und poltert in der Kammer drinnen. Nächtens der Punsch, ja der Punsch, daß Gott erbarm! – Aber pfui doch, Gust,« fuhr sie nach einer Pause ernsthafter fort, »mußt nicht so lästerliche Reden führen wider dein eigen Fleisch und Blut. Du sollst nicht aufdecken deines Vaters Scham! Denk an den Noah, Gust. Eine Seele von einem Mann, wie Vater Noah, mein Jobst, kein Neidhammel und Geizkragen nicht, Gott bewahre mich. Das Land ist schuld, nur allein das Land! Ein garstig Land hiesig, mein Lämmchen. Kein Thüringen nicht, du liebe Zeit! und kein Kanaan nicht, wo der Weinstock wächst und Milch und Honig herniederfleußt. Nur der Wacholder im Sande, und der Wacholder macht so 'nen schweren Dunst! – Lachst immer noch, Gust? Höre, du Nasenweiß, höre! Der Noah, der hatte drei Söhne, die hießen, die hießen – ei du weißt ja, wie sie heißen taten, Gust, hast's gelernt in der Kinderlehre – ach, großer Gott, in deine Hände, nein! Bist ein Katholischer, armer Sohn, darfst dich nicht stärken im Bibelbuch, armer Sohn, armer Sohn!«

Der Knabe fuhr bei dieser Wendung in die Höhe, als hätte er eine Gotteslästerung vernommen; er war kreideblaß geworden und blickte ängstlich nach der Tür, wie um zu flüchten oder Hülfe anzurufen. Die Gedanken der alten Frau hüpften indessen noch eine Weile kraus durcheinander zwischen Freud und Leid ihrer Vergangenheit, bis sie endlich erschöpft in die Lehne zurücksank und die Augen wieder schloß. Der Enkel stand unschlüssig; er hätte die Muhme suchen mögen, die er außer dem Hause beschäftigt glaubte, und scheute sich doch auch wieder, die Großmutter allein zu lassen. Jetzt, da er sah, daß sie schlummerte, schlich er auf seinen Platz zurück, schmiegte sich in die Ecke und lauschte ängstlich zu ihr hinüber. Eine Weile blieb alles stumm. Die Augen der Greisin waren halb geöffnet, ruhige Atemzüge, ein Lächeln, ein sanftes Wiegen des Haupts. Allmählich regten sich die Lippen, lautlos von Anfang, dann lispelnd, endlich frisch und deutlich wie vorhin. Sie bemerkte den Enkel nicht, und es war ein anderes Traumbild als das des Sohnes, das ihren Sinnen vorschwebte.

»Simonchen, Simonchen!« rief sie beglückt und breitete ihre Arme aus, als ob sie einen Daherstürmenden auffangen wollte. »Kind, Kind, welche Hast! Außer Atem wie ein Blasebalg, ei du gottloses Weiheengelchen! Setz die Kappe auf, Simon! Und da, hurtig ein Tränchen gegen den Verschlag! Ei, du Zipphan, du verstehst's! Gelt, das tut gut? Aber so weiß und timide, Simon! Hast Hunger, bist noch nüchtern gar, armer Schelm? Keine Mutter im Haus, und nichts Warmes im Topf! Warte, warte, habe was für dich! Speckfladen warm aus dem Ofen, mein Goldsöhnchen, Kümmel drauf und Zwiebeln und ein Eierguß. Das mundet, gelt? Verstehen's nicht, hierzuland, dummes Volk hierzuland! Der Speck saftig von der Eichelmäste und würzhaft vom Holderrauch, aber die Kunst, Simon, die Kunst! Nur grober Pumpernickel, schmählich dummes Volk hierzulande! Bist satt, Simon, dick und voll wie genudelt, he? Setz ein Gläschen drauf zur Verdauung! Schüttelst? Dummlack, wächst doch! Mannsen wie Bäume hierzuland, und das Bullchen allwegs im Sack! – Zur Schule willst du? Nur zu. Die Dithel lauert schon, Simon. Aber der Gust? Ja wo der steckt, der Sausewind! Rate mal, Bürschchen. Vorn auf dem Bock beim Postillion, zur Messe in die Stadt, schetteretäng, hui, hast du nicht gesehn! Na, nicht so kleinlaut, Simon. Kann ja schon schreiben und lesen, mein Gust, ist ein Hofesohn und der Kluswirt dermaleinst. Nur hübsch manierlich, Gustel, einen Kopfnicker hier, einen Kratzfuß da, und die Worte fein gesetzt, ein Wirtssohn muß zu leben wissen. – Hat die Exempel nicht gerechnet, der Gust, ei was, ein andermal ist auch noch Zeit! Mach zu, mach zu, Simon, die Dithel lauert in der Gartenhütte. Hat schon die Waben geschnitten, die Dithel. Das ist eine Bescherung, die du ihr angerichtet mit dem Bienenhaus mitten in der Kufdemath. Ist auch so'n Bienchen, die Dithel, lustig draußen im Klee und eifrig im Haus. Aber einen Stachel hat sie, die Dithel, daß dich, komm ihr keiner zu nah! Na, na, laß den Kopf nicht hängen, Simonchen, dich sticht sie nicht, dich nicht. Hast sie schon still gemacht, da sie noch in der Boje lag, du Weiheengelchen, und alleweile noch; vor dir ist sie still, eitel Wachs und Honigseim vor dir. Ich will dir was sagen, Simon, sachtchen, sachtchen, daß es keiner nicht hört! Und wenn du groß wirst, sprich: ›Die Sachsenwirtin hat's gesagt.‹ Bist nur ein armer Kiekinsland, Simon, und die Dithel ist eine Hofetochter und hoffärtig wie eine, aber die Dithel nimmt einstens doch keinen anderen als –«

»Haltet ein, Mutter!« unterbrach eine zitternde Stimme die gemütliche Plauderei, und Judith, wie an dem Faden dieser letzten Erinnerungen herbeigezogen, faßte krampfhaft schüttelnd der Alten Arm. Auch der Knabe schlich aus seinem Versteck hervor, mit bänglichem Zweifel von seiner Pflegerin auf die Ahne und von dieser auf die Pflegerin blickend. Der friedliche Traum war unter dem Griffe von der Tochter Hand, unter ihrem gellenden Gebot entflohn; die alte Frau starrte zu ihr hinauf, wand die gefaltenen Hände und schauerte wie im Fieberfrost. »Dithel!« rief sie scheu, »was willst du, Dithel? Was hast du, Dithel? Komm zu mir, Gust, ganz nahe, Gust, hierher, hierher, Gust!« – »Euer Geist wandert, Mutter,« sagte Judith schon wieder gefaßt. »Das ist nicht Euer Sohn, es ist Euer Enkel, der Sylv.« – »Sylvian, Sylv?« murmelte die Alte, mit leeren Blicken den Kopf schüttelnd. Judith stand ratlos. Woher dieses auflodernde Leben in dem lange abgestumpften Hirn? Ihr ahnete das Letzte; sie hätte nach Arzt und Seelsorger schicken mögen.

»Sylv, Sylv!« flüsterte die Mutter noch immer in sich hinein. »Sylvchen, ja Sylvchen hieß sie, Sylvia –« Und plötzlich, wie sich besinnend, schrie sie auf: »Die im bunten Rock, da oben am Kirchenknopf! Herr Jesus, sie schwankt, halt auf, halt auf! – Bringst sie, Gust, willkommen, Gust! Gottloses Kind, gutes Kind! Murre nicht, Dithel! Gib ihr die Hand, Dithel, – sie ist –« – Judith gab dem Knaben ein gebieterisches Zeichen, sich zu entfernen, die Alte aber rief beklommen, indem sie die zitternden Arme nach ihm ausstreckte: »Bleibe bei mir, Gust! Laß dich nicht von mir treiben, Gust! Die See ist tief, tief, und so weit, so weit! Bleibe im Lande, Gust, ersäufst Leib und Seele, Gust, bleibe bei mir, Gust!« – Sylvian kniete erschüttert neben ihrem Stuhle nieder und faßte ihre beiden Hände in die seinen. Die Angst löste sich nach und nach unter dieser leisen, warmen Berührung, der Kopf sank zurück, die Lider fielen zu, nur die Lippen flüsterten noch ein paarmal: »Sylvchen, Sylv!« – dann ruhten auch sie.

Die Tochter, die rasch in der Küche den braunen Labetrank der Mutter aufgebrüht, stand schon eine Weile sorgenvoll lauschend unter der Tür, ehe jene die Augen wieder aufschlug. Sie schauderte wie vor einem Gespenst, als sie die Tochter, die Tasse in der Hand, auf sich zutreten sah; sie riß ihre Hände aus denen des Enkels und wehrte in Todesangst die Gabe von sich ab. »Warum fürchtet sie sich vor dir?« flüsterte Sylvian, erstaunt zu der Muhme aufblickend, die er kindlich verehrte und deren geduldige Pflege er oft mit Bewunderung beobachtet hatte. Sie antwortete nicht, aber der Schatten eines unsagbaren Wehs glitt über ihr Gesicht. »Es ist Kaffee, Mutter,« sprach sie sanft, indem sie noch einmal den Versuch machte, ihr die Tasse zu reichen. – »Gift, Gift!« kreischte die Alte auf. »Hast wieder Gift gebraut, Dithel? Nur nüchtern nicht, Dithel, nur heute nicht, Dithel! Siehst nicht, wie er sich wehrt? Siehst nicht, wie er schwach wird? Es ist dein Erzeuger, Kind, hab Erbarmen, hab Erbarmen, Dithel!« – Sylvian sprang in die Höhe und starrte entsetzt der einen und der anderen in das Gesicht. »Was tatest du, Muhme?« fragte er zitternd. – »Ich tat, was recht war, Sylvian,« – entgegnete Judith mit erzwungener Ruhe und gab ihm die Tasse, sie der Großmutter zu reichen. Mit einer heftigen Bewegung schlug sie dieselbe aus seiner Hand.

»Du auch, Gust?« schrie sie auf, »du auch?« Dann, in eine flehende Weise übergehend, fuhr sie, die Hände windend, fort: »Höre nicht auf den Doktor, Gust, trau dem Pfaffen nicht, es ist ein Katholischer. Was fragen sie nach dem Fremden? Das Stümpfchen Lebenslicht, was schiert es die Fremden? Aber dein Vater, Dithel! Laß ihn leben, Dithel, nur leben! Siehst nicht, wie es ihn widert? Siehst nicht, wie er schmachtet? Nur einen Löffel voll ohne Gift, nur einen Bissen ohne Gift! Möchtest den Geist wieder aufbringen, Dithel, ihm die Ehre wiedergeben? Ach, Dithel, Dithel, hin ist hin. Vergibst den Leib, ladest Missetat auf dein Herz, hin ist hin!« Tränen rannen über die alten, je mehr und mehr erbleichenden Wangen; auch Sylvian weinte, ergriffen von ihren Jammerlauten, und Judith stand vernichtet.

Und jählings durchzuckte die Alte ein elektrischer Schlag. »Herr Jesus, wie er weiß wird!« schrie sie. »Laßt mich nicht allein mit ihm! Einen Wermut, Mann! Es schüttelt ihn, er nimmt ihn nicht. Erbarme dich, erbarme dich! Wie er sich bäumt! Da, da – er jappst nur noch – tot, tot!« Die Greisin glich dem Leichengesichte, das ihr vor Augen stand, die zitternden Lippen und Nasenflügel wurden weiß; kalt und schweißbedeckt klappten die krampfhaft zuckenden Glieder gegeneinander. Die Tochter stützte sie mit kräftigem Arm. Sie kannte die Todesboten, zählte nicht mehr auf Tröstung und Hülfe, aber sie wollte allein mit der Sterbenden sein, den letzten Kampf ohne Zeugen mit ihr durchringen. »Sattle, Sylvian!« raunte sie dem Knaben zu, »in die Stadt zum Arzt!« Doch Sylvian hörte nicht, er rührte sich nicht; auch er sah das Ende; er lag auf seinen Knieen und murmelte Kredo und Paternoster.

Die alte Frau schlug die Augen nicht wieder auf, aber ihr Kampf war noch nicht zu Ende. Ein harter Kampf und wohl der erste ernstliche im Leben, unter welchem das friedselige Sachsenröschen von hinnen schied. Sie ächzte in Pausen, in denen sie bänglich um Atem rang, ein und das andere Mal schrie sie auf in wildem Schmerz und lächelte dann wieder wie getröstet in sich hinein. Gegen das Ende steigerten sich die Gesichte zu einer Leidenschaft, die ihr im Leben fremd gewesen.

»Ich komme, Mann, ich komme!« rief sie freudig. »Halt deine Arme auf, Frobeljobst, ich komme; wollen wieder anfangen miteinander vor Gottes Thron. Hast keinem Menschen ein Leids getan, da du drunten warst. Bist kein Neidhammel und Geizkragen gewesen, hast keine Mördergrube aus deinem Herzen gemacht. Nur deinen eignen Leib hast du verbrannt, armer Mann, und der Leib bleibt drunten für das Gewürm, aber das Herze fliegt hinauf, und unser Herrgott heilt und labt. Gelt, kein Fegefeuer drüben, alter Jobst? Bringe dir Botschaft, Väterchen, Post aus dem Klushofe, gute Post! Alles still, still, auf der Klus. Kein Leumund mehr über den Saufaus, den Sachsenwirt, der sein Vatererbe hinuntergegurgelt, Tropfen um Tropfen, und dann Tropfen um Tropfen an dem Gifte verschmachten mußte. Die Dithel hat's wiederhergestellt; die Dithel hat's still gemacht auf der Sachsenklus. Die Dithel versteht's! – Wie es schwarz wird! Nacht, Nacht! Ich komme, Frobeljobst, ich komme!«

Judith sank zu Boden und umklammerte die Kniee der alten Frau. Sie wähnte sie geschieden, denn das Haupt war schlaff auf die Brust hinabgesunken. Noch aber flog der Atem, und das Herz klopfte gleich einem Hammer. Und plötzlich schnellt sie in die Höhe; in dem welken Marke ist ein Lebensfunken aufgewacht; sie steht aufrecht, die Blicke rollen wie vor einem greulichen Gesicht. »Wo dein Sohn ist, Mann? Dithel, Dithel!« kreischt sie auf, indem sie die Tochter mit beiden Armen rüttelt. »Hörst du nicht, Dithel, wie er um seinen Erstgeborenen ächzt? Munkelt ihr, zwinkert ihr, ich hör's, ich schau's! – Da drüben am Wasser – der in seinem Blut – der, der – der Simon, sagen sie, der jetzt der Quellensimon heißt? Unser Weiheengel? Erbarme dich, erbarme dich! Fort, fort, du Unglückskind, fort übers Meer! – Nein, nein, hört nicht auf ihn, den Klusengel – den Friedenbringer! O du Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt! Nicht er, nicht er! Fort, fort! Der ihn erschlug, ist –« – »Hinaus, Sylvian!« schrie Judith mit gesträubtem Haar. »Stopfe deine Ohren zu, Sylvian, sie rast!« –

Die alte Sachsenwirtin nannte den mörderischen Namen nicht. »Hilf Gott, hilf Gott!« röchelte sie und stürzte tot zu Boden in der Tochter Arme.

Erweckung

So still war es noch zu keiner Zeit in der stillen Klus gewesen als während der Stunden, welche diesem Schreckensende folgten. Ja, Totenstille! Kein Laut der Klage oder des Trostes zwischen den beiden Lebendigen, kein Seufzerhauch; nicht ein Fußtritt hörbar, die Handhabung leise wie von Geisterhänden!

Wenige Minuten besinnungslosen Entsetzens, und die Tochter erhob sich vom Boden neben der Hingeschiedenen, richtete sie in die Höhe und trug sie auf ihren Armen in die Nebenkammer. Sie drückte ihre Augen zu, netzte und kleidete sie, bettete sie auf dem gewohnten, mit frischen Linnen verhüllten Lager; alles sonder Zeugen oder Hülfe. Der Knabe saß regungslos im Zimmer, betete und brütete über das Unbegreifliche. Und da liegt sie nun, die Frau mit dem guten Herzen, in ihrem Nachtmahlsstaate, die Hände gefaltet über dem Bibelbuch auf ihrer Brust, und die Tochter sitzt neben ihr auf dem Bettrande und starrt trocknen Auges mit einem Blick des Neids, jawohl des Neids, in den Frieden, das milde Entzücken der Züge, die manchen von uns auf einem Totenantlitz zwischen den Stunden der Erlösung und Erstarrung mit Himmelreichsahnung getröstet haben.

Ohne eine Muskel zu regen, ohne deutliches Fühlen und Denken, nur einen sengenden Punkt im Herzen, saß sie lange, sie wußte nicht wie lange, als die Tür leise geöffnet ward und Sylvian in die Kammer geschlichen kam. Bleich und bebend beugte er sich über die tote Gestalt, Mund und Hände mit seinen Küssen und strömenden Tränen bedeckend. Erst dieser kindlichen Rührung gegenüber erwachte die Tochter zu dem Gefühl ihrer Verwaisung. Wohl hatte sie Mutterwillen, Mutterlehre und Schutz wenig gekannt und mütterliche Zusprache selber schon lange eingebüßt, damals, als nach der Sterbestunde des Sachsenwirts, unter mächtig andrängenden häuslichen Wirrnissen ein jäher Schlag den Geist der schwachen Frau gelähmt. Sie hatte nur den Leib noch gepflegt wie den eines kranken, hülflosen Kindes. Auch der Leib war jetzt dahin, Band und Pflicht für die Vergangenheit gelöst. Nein, nicht die Pflicht, solange die tote Gestalt noch über der Erde ruhte. Der letzte Gang ist ein Ehrengang und Vieles, Schweres herzurichten, was ihr jetzt erst klar vor die Augen tritt.

Und sie entbohrte jeder helfenden Hand. Sie würde ihrer entbehrt haben, auch wenn Knecht oder Magd nicht zufällig von dem Hofe entfernt und ihr Bruderssohn älter und erfahrener gewesen wäre. Sie, das Kind dieses Bodens, war eine Fremde unter seinen Bewohnern; sie hatte keinen Blutsfreund, keinen Glaubensgenossen in der Gemeinde, sie mußte sich selbst zu dem schweren Wege rüsten, den sie zehn Jahre lang gemieden und dessen qualvolle Eindrücke sie nach dem erschütternden Erlebnisse mit verdoppelter Schärfe im voraus fühlte. Aber sie schwankte und zögerte nicht. Entschlossen stand sie auf und verließ die Totenkammer. Sylvian folgte ihr. Zaghaft faßte er ihre Hand und fragte mit niedergeschlagenen Augen und kaum hörbarer Stimme: »Was die Großmutter im Sterben sah, Muhme Judith, was sie sagte, das Schreckliche –« – Sie ließ ihn nicht zu Ende reden. »Ein Wahn des Todeskampfes,« fiel sie ein. »Aber frage nicht weiter, Sylvian, nicht heute und morgen, da sie noch über der Erde ruht. Später.« Sie gab ihm darauf einige häusliche Anweisungen für die Stunden ihrer Abwesenheit und machte sich ohne Aufenthalt für den Gang bereit.

Sie hatte nicht erst Trauerkleider anzulegen, nur ihren Anzug säuberlich herzustellen und Kopf und Nacken gegen den Sonnenbrand durch ein weißes Linnentuch zu schützen, das ihr das Ansehen einer Nonne gab. Schon ruhte ihre Hand auf dem Drücker der Haustür, als Sylvian noch einmal hinter ihr stand. »Nur eines,« so flehte er mit aufgehobenen Händen, »eines, Muhme Judith, sage mir, – daß ich Ruhe finde. Ist eine Missetat in diesem Hause geschehen, – oder – von denen meines Bluts, – für die ich zum Heiland um seine Barmherzigkeit bitten muß?« – Ihr Blick ruhte düster am Boden, die Antwort kostete ihr einen Kampf. Nach einer Pause sagte sie mit ungewohnt hastigem und schneidendem Klang: »Bete, Sylvian, bete! Irrtum und Schmach sind reichlich in diesem Hause abzusühnen. Auch für einen Missetäter bete, – aber – nicht für einen – deines Bluts.« Sie schlug die Tür in die Angel und stürzte über den Hof, getrieben von einem bösen, ihre Worte strafenden Gesichte. Das Gesicht ihrer Mutter im Todeskampfe, das ihrer eignen Träume und tiefvergrabenen, als Frevel gebannten, nächtlichen Gedanken! Draußen im Freien atmete sie auf. Sie stand eine Weile gewaltsam mit sich selber ringend und nahm dann raschen Schrittes die Richtung nicht nach der Stadt, sondern innerhalb ihrer eignen Flur den dörflichen Feldweg entlang.

Gewohnt, wie sie war, sich zu dem Nächstliegenden zusammenzufassen, stand ihr auch heute die Reihenfolge ihrer Obliegenheiten klar vor Augen. Zuvörderst die Anmeldung bei dem Gemeindepfarrer und die Unterhandlung hinsichtlich der Begräbnisfeier. Solange sie zurückzudenken vermochte, war kein Andersgläubiger in dem katholischen Kirchspiele zur Ruhe getragen worden; sie kannte Person und Sinnesweise des Pfarrers, der seit etlichen Jahren das Gemeindeamt versah, nur von der Kanzel und aus den Lehren, welche Sylvian vom Schulunterrichte heimgetragen. Predigt wie Lehre waren die mildesten; aber Judith, die Kluswirtin, hätte auch das Herz dazu gehabt, allenfalls gegen harten Widerstand die letzte Pflicht gegen ihre Mutter – ehrendes Grabgeläut, Segen und Trauerrede eines Geistlichen ihrer eignen Kirche durchzusetzen. Denn so harmlos treuherzig wir uns die alte Sachsenwirtin im nahen wie fernen Verkehr mit Andersgläubigen vorstellen dürfen und so zutätig sie in ihrer guten Zeit den vormaligen Gemeindepfarrer mit dem Besten ihres Haushaltes bedient, sooft er als Seelsorger von Mann und Sohn auf dem Klushofe eingesprochen, nicht um die Welt würde sie dem Meßopfer in einer päpstlichen Kirche beigewohnt, ihr Knie vor einem Tabernakel gebeugt haben, unter einer Gemeinde zumal, in welcher sie um ihres reinen Bibelglaubens willen mißachtet, wohl gar, heimlich und laut, ihr, der Ketzerin, der Verfall des Erbes und der Familie zur Last gelegt worden war. Es gibt einen Punkt, auf welchem auch der Schwache unbeugsam ist, und je schwächer häufig, desto mehr.

Aber auch die freier denkende, stärkere Tochter war entschlossen, nicht von einem innerlichen Rechts- und Ehrenpunkte abzulassen, und so fühlte sie sich denn keineswegs im Unklaren überrascht, als ihr, in die Dorfstraße einbiegend, der, welchen sie aufzusuchen im Begriffe stand, scheinbar lustwandelnd entgegentrat. Vielmehr kam es ihr erwünscht, die möglicher weise peinliche Angelegenheit ohne zufällige Zeugen und, wo es ihr jederzeit am wohlsten war, unter dem freien Himmel ihres eignen Reviers abzusprechen. Sie trat zur Seite und neigte sich ehrerbietig, wie sie es jederzeit auf dem Kirchwege, den rechtmäßigen Pfarrkindern gleich, getan, redete ihn darauf in bescheidener Fassung an, indem sie das Abscheiden der Mutter meldete und um ein Begräbnis nach dem Brauche ihrer protestantischen Religionsgenossen auf dem Gemeindekirchhofe bat.

Der geistliche Herr, dem Alter näher als der Jugend, aber nach Farbe, Gestalt, Ausdruck und Habitus unverkennbar ein Sohn jenes nördlichen Gebiets der Roten Erde, dessen Lüfte den Traum der Kindheit auf dem Antlitze festzubannen scheinen, war einer der Begnadigten seines Standes, deren geistiges und leibliches Wohlgefühl ungesucht sich spröden oder zagenden Herzen mitzuteilen pflegt. Schon daß er bedächtig, in Pausen, mit den getrennten provinziellen Zischlauten redete, heimelte die rein und fließend, gleich einer Hochgeborenen sich äußernde Bäuerin vertraulich an, und der warm sich in den ihren senkende Blick des großen, ein wenig vorliegenden, hellblauen Kinderauges gab ihr die Beruhigung einer ernstgemeinten Teilnahme, ohne das Mißbehagen lästiger Neugier zu erwecken, das lebhaftere, nicht minder wohlwollende Naturen selten vermeiden, wenn sie uns fragend und forschend gegenübertreten.

»Das sächsische Mutterchen heimgeschieden, o weh!« sagte er, der Bittstellerin herzlich die Hand drückend. »Nun, Gott der Herr bereit' ihr eine gesegnete Urständ! – Euch aber, brave Tochter, fülle Er in Liebe die leere Stelle. Denn, wenn ihr unsterblich Teil auch lange vor dem sterblichen in Schlummer gefallen ist, es war doch immer noch das Mutterleben, gelt? und ein gut's End eigen Leben, ich weiß, ich weiß! – reißt mit dem alten Faden ab. – Und mein Sylv, mein Sylv!« so fuhr er nach einer Stille fort, in welcher Judith die ersten Tränen um ihre Verwaisung getrocknet, – »der noch niemalen ein Auge brechen sehen, ja, ja, ein Gebet mit seinem alten Lehrer tut dem frommen Herzchen gut. Ist's Euch genehm, Jungfer Wirtin, so wandeln wir den Weg nach Eurer Klus zurück und ratschlagen mitsammen hier unter Gottes Himmel, was in Eurer Angelegenheit zu beschaffen ist.« – So gingen sie denn zwischen den Hecken des Feldstiegs, der katholisch Geweihte und die ketzerische Gemeindetochter hart an seiner Seite; denn als die letztere bescheidentlich einige Schritte zurückbleiben wollte, winkte er sie zu sich heran und rief: »Hübsch hier neben mich, liebes Kind! Die Worte fließen noch einmal so leicht, wenn eines dem anderen dabei in das Antlitz schaut.«

Es entspann sich darauf das folgende Zwiegespräch. »Das selige Mutterchen war von Geburt – nun das versteht sich ja – ein Sachsenkind! Ich meine: sie war von Herzensgrunde eine Luthersche?« hob der Pfarrherr an, indem er nach Art seiner landsmännischen Glaubensbrüder die erste Silbe des Wortes lutherisch betonte. – »Von Geburt und Herzensgrunde, ja, Herr Pfarrer«, antwortete Judith. »Und hat die heilige Zehrung, so wie die Euren sie darreichen, mit auf den Weg genommen?« – »Am Karfreitage zum letztenmal, Herr Pfarrer.« – »Und Ihr mit ihr, Jungfer Wirtin?« – »Ich allein mit ihr in meinem Zimmer, wie alle Jahre.« – »Wie soll ich mir es aber auslegen, liebes Kind, daß ich Euch, seitdem ich diesem Amte diene, andächtig und regelmäßig an Sonn- und Festtagen, – außer denen, die wir Katholischen vor Euch voraus haben freilich, – in unserer Gemeinde wahrgenommen?« – »Herr Pfarrer, ich bete in der Christengemeinde, in die ich von Gott mit meinem Vätererbe eingestellt worden bin, und habe allezeit durch des Herrn Pfarrers Lehren mich in meiner eignen Heilsordnung gestärkt gefunden.« – »Und ist niemalen eine Anwandlung, ich meine so ein Spüren heimlicher Sehnsucht über Euch gekommen, Euch auch mit dem Bekenntnisse in Eure Vätergemeinde einzustellen?« fragte der Priester ein wenig eifriger, und das Mädchen antwortete ein wenig trotziger denn bisher: »Herr Pfarrer, ich bin dem Bekenntnisse meiner Mutter nach dem Landesgesetze vor Taufstein und Altar zugeschworen.« – »Aber der Sylv, Euer Bruderskind, bei dem Ihr Elternstelle vertretet?« forschte jener mit einem bedenklichen Seitenblick. – »Der Sohn meines Bruders steht mit dem nämlichen Rechte auf des Vaters Seite und wird ohne Anfechtung in seiner Väter Glauben herangezogen«, versetzte die Kluswirtin, ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen.

Nachdem der geistliche Herr auf diese Weise sein Gewissen beruhigt, gab er nach einigen weiteren ähnlichen Fragen seinen endgültigen Bescheid in den nachfolgenden, mildheiteren Worten: »Nun denn, liebe Tochter, so ladet Euren lutherischen Beichtiger ein, dem alten Mutterchen die letzte Erdenklus nach seinem Glauben einzusegnen; und weil Euer Bruderskind seinen leiblichen Vater nicht zur Stelle hat, so will ich, als sein geistlicher Vater, dem Verwaisten an die Gruft seiner Ahne das Geleite geben.« – Judiths Augen hatten sich gefüllt und die bleichen Wangen gefärbt. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen«, sagte sie leise, indem sie sich niederbückte, um seine Hand zu küssen. Ja, sie war einen Augenblick versucht, das Knie vor ihm zu beugen, denn das verschlossene Herz begriff in diesem Augenblicke, wie die Beichte vor einem wahrhaften Gottverkünder eine belastete Menschenseele zu erlösen vermöge. – »Laß gut sein, laß gut sein, Kind!« rief der Pfarrer, seine Hand zurück ziehend und sie freundlich auf die Schulter klopfend. »An welcher Stätte sollen Christenmenschen sich denn vertragen lernen, wenn's nicht einmal an einer Grabesstätte ist?«

Er ließ hiermit den leidvollen Gegenstand fallen und bemühte sich, die Vorstellungen seiner Begleiterin in eine erheiternde Bahn zu lenken, indem er, als ein sachverständiger Bauernsohn, wie er sich nannte, den vor allen andern wohlbestellten Stand der Klusflur, zwischen welcher sie wandelten, lobpries. »Der Tausend, wie ist nur das Schenkentöchterchen zu dieser Bauernwissenschaft gekommen?« rief er aus. – »Es hat mir im Blut gelegen, Herr Pfarrer,« versetzte Judith, »und unser Herrgott gab das Gedeihen.« – »Unser Herrgott – nun freilich, freilich! Indessen zwischen eines Menschen Neigung und dem Segen von oben liegt noch ein Spatium, das –.« – »Ich hatte meinen Kopf darauf gesetzt, Herr Pfarrer.« – Der geistliche Herr lachte. »Lutherscher Dickkopp!« sagte er, mit dem Finger drohend. »Aber nichts für ungut, Kind. Weiß gar wohl, daß Doktor Luther nicht der Töpfer gewesen für diesen Ton. Rote Erde heißt Eisenerde und gibt fest Gefäß. Nur nicht allzu fest, Jüngferchen! Dem Topfe ein Deckelchen aufgesetzt, daß das Beste nicht überläuft oder heimlich verdampft.« – »Ich verstehe den Herrn Pfarrer nicht.« – »Ei nun, ei nun, das Mütterchen hinüber, Haus und Herze leer, wie wär's mit einem Herrn, einem Oberherrn?« – »Heiraten, meinen der Herr Pfarrer?« – »Heiraten, nun freilich, heiraten, Jungfer Wirtin.« – »Ich werde niemals heiraten, niemals!« – »Halt, halt! Nichts verreden, Kind. Verreden heißt: nicht wollen wollen. Annoch ist man in den Jahren, da das Herz seine Stimme führt. Und wenn nun Gott der Herr im Herzen spricht: ich will?« – »Gott will es nicht, Herr Pfarrer«, entgegnete das Mädchen mit finsterer Stirn, aber so überzeugendem Klang, daß der fromme Mann auch diesen Gegenstand fallen ließ.

»Das schöne Anwesen,« meinte er weiterhin, »so hübsch rund beieinander! Wir Bauern bei der Arbeit denken an unsern Erben. Euer Bruder, wenn er eines Tages zurückkehrt –.« – »Er wird schwerlich zurückkehren, Herr Pfarrer.« – »Hat er so gar nichts von sich hören lassen, seitdem er von Euch geschieden?« – »Niemals ein Wort.« – »Und der Sylv ist Euer einziger Blutsverwandter hierzuland?« – »Mein einziger.« – »Der Tausend, Mosjö Sylv! Wächst die Klus so fort, wirst du ein Herrenleben führen deiner Zeit!« rief der Pfarrer, sich vergnügt die Hände reibend; aber seine Begleiterin stimmte ihn herab, indem sie trocken entgegnete: »Sylvian wird keinerzeit der Kluswirt werden, Herr Pfarrer.« – »Anjetzo bin ich's, der Euch nicht versteht, Jungfer Wirtin.« – »Er hat nicht Bauernsinn und Geschick, und wenn er es hätte – ich will es nicht. Er soll studieren.« – »Geistlich werden?« fragte der Pfarrer, merklich belebt. – »Wenn er seine Reife hat und das Herz ihn dahin treibt, meinethalben. Vorderhand soll er lernen und freie Wahl haben.« – »Lutherscher Dickkopp!« schalt der Pfarrer von neuem mit gutmütigem Lachen. »Aber warum seid Ihr so widerhaarig gegen ein Bauernleben, Jüngferchen, da Ihr doch selber von Herzen eine Bäuerin scheint? Mit dem Handwerk heißt das, mit dem Mundwerk ei bewahre!«

Judith zögerte eine Weile, ehe sie eine Antwort gab. Indessen schien sie zu fühlen, daß der geistliche Herr ein Anrecht zu der das Wohl seines Pfarrkindes betreffenden Frage gehabt, und so erklärte sie sich, anfänglich stockend und mit niedergeschlagenen Augen, in eingänglicherer Weise als bisher über diesen peinlichen Punkt. »Um seines – Vaters willen, Herr Pfarrer,« sagte sie, »und um seiner Mutter willen, die als eine – Gaukelspielerin im Lande bekannt gewesen. Schon sein Name mahnt an die Fremde, und daß er ein dunkles, schwächliches Ansehn trägt, und dann – wer kann wissen –? Nein, nein, Herr Pfarrer, die Nachbarn würden ihn nicht als ihresgleichen schätzen lernen. Es braucht einer einen harten Kopf, um als ein Fremder unter Bauern fortzukommen. Ich habe es erlebt an Vater und Mutter. Ein jeder Stand hat seine Ehre, Herr Pfarrer, und der Bauer hält auf reines Blut. Höher hinauf soll's anders sein in der Welt. Da fragen sie nicht woher, aber wohinaus? und wenn einer was hat und was kann, vergönnen sie ihm seinen Platz.«

Wie, wenn nur die erste harte Eisschicht durchbrochen, Welle für Welle das Bachwasser seinen Lauf nimmt, so mit dem lange verschlossenen Quell der Gedanken, dem Schicksal oder Anteil den ersten Tropfen entlockt haben. Ein halbschmerzliches Lächeln spielte um die Lippen der schweigsamen Wirtin, als sie nach diesem Erguß die verwunderten Blicke ihres Begleiters bemerkte. »Woher ich das genommen habe, Herr Pfarrer?« sagte sie; »die Klus war ein Wirtshaus ihrer Zeit, darin sich manches lernt, Gutes und Schlimmes; jetzt ist sie wie eine Klause, und Klausner kommen auf vielerlei Gedanken. Der Sylvian soll hinaus und mit etwas Neuem einen Anfang machen.« – »Und Ihr derweile, seltsames Mädchen?« fragte der Pfarrer. – »Ich helfe ihm zum Anfang, Herr Pfarrer,« antwortete sie, »und ich schaffe, was eines Tages Eignen oder Fremden zugute kommen wird. Ein anrüchiges Haus bringt keinen Segen.«

Beide sprachen kein Wort weiter, bis sie das Hoftor erreichten; schweigend, mit gesenkten Blicken gingen sie nebeneinander her. In dem geistlichen Herrn kämpfte ein weiterforschendes Verlangen sichtlich mit rücksichtsvoller Schonung, und auch das Mädchen rang zwischen Trieb und Scheu einer tiefer schneidenden Mitteilung; beider Gedanken steuerten, ohne daß sie es ahneten, nach dem nämlichen Ziel. Unter dem Tore hielt sie plötzlich still, indem sie krampfhaft nach dem Herzen faßte, brach aber ab, schüttelte heftig den Kopf und ging voran. – Der freundliche Gast lehnte es ab, als ihm die Wirtin das Geleit in die Räume ihres Hauses geben wollte; ein Gewitter ziehe sich zusammen, meinte er, und es sei gut, die Sache in der Stadt so bald als möglich zum Abschluß zu bringen. Als Judith aber, seinem Rate folgend, ihre Schritte nach dem Tore zurücklenkte, munterte er sie auf, den duftigen Waldweg im Schatten der Bergwand der sonnenglühenden Landstraße vorzuziehn. Sie zögerte und blickte mit einem Ausdruck zwischen Verlangen und Grauen nach der Gegend des Forstes. Ein Zufall entschied. Wirbelnde Staubwolken und der Lärm truppweise zum Markte ziehenden Volks drangen von der Straße herüber; rasch entschlossen schlug sie durch Garten und Kamp die heimlich einsame Richtung ein.

Seltsame Widersprüche kreuzten sich in ihrer Brust. Der lang gemiedene Pfad schreckte und lockte sie zu gleicher Zeit; sie fühlte ihr Herz im Schmelzen und hätte es umpanzern mögen vor den Eindrücken, die ihrer harrten; sie wollte keine Zeugen und spürte doch wieder nahezu ein Bangen nach dem tröstenden Menschen, der sie soeben verlassen. In dieser Unruhe hörte sie einen nachfolgenden Schritt, und als ob das Schicksal ihr die ausgleichende Bahn bezeichnen wolle, sah sie, kaum daß sie den Kamp betreten, den ersehnten Tröster wieder an ihrer Seite stehn. Auch er vermochte einen Anflug von Verlegenheit nicht zu verbergen, da er sich noch einmal unerwartet in diesem zweiten Gehege der Kluswirtschaft einführte; er habe, so sagte er, von der Straße aus oft mit Herzenslust den kräftigen Wiesenhang angeschaut und nehme nun die Gelegenheit wahr, sich die künstliche Berieselung, durch welche eine wüstliegende Rodung so nutzbringend verwertet worden, ein wenig in der Nähe zu betrachten.

Und in der Tat, einem Liebhaber ländlichen Wesens mochte die Waldwiese, die sie jetzt nebeneinander durchwandelten, eine anmutende Augenschau gewähren von der Berglehne im Rücken weit hinab über die Aue bis zum Flussesufer. Schmale Gerinne, aus einem Quelle am Forstsaume sickernd, befeuchteten den Grund für einen Gras- und Kleewuchs, der eben im frischesten Maiensafte stand; die Linnengewebe des vergangenen Jahres lagen, bei der sprichwörtlichen Treue der Gegend, Tag wie Nacht ohne Wächter zum Bleichen ausgebreitet; in besonderer Umhegung, von welcher ein sich absenkender Pfad nach der Tränkquelle leitete, lagerten die heute freigelassenen Tiere des Hofes, Musterstücke ihrer Art vom ostfriesischen Rind bis zum landestümlichen Borstenvieh; ein Weidengebüsch am Rande der Wassergrube, mit den niederhangenden, frühbelaubten hellen Zweigen sich gar angenehm gegen den bräunlichen Waldeshintergrund abhebend, hielt die Sonnenstrahlen fern und die Quellenkühle fest; eine also umschattete Rasenbank hätte nicht an einem einladenderen Platze der Gegend angebracht werden können.

Keine dieser Wahrnehmungen entging dem geistlichen Herrn, und für keine mangelte ihm ein anerkennendes Wort. Er klopfte über den Plankenzaun hinweg die glänzenden Weichen der Rinder, verhieß lächelnd, den Sylv zum Benetzen des Linnens anzuhalten, wenn nicht in Bälde der Himmel selber diesen Dienst übernehmen werde; vor allem aber pries er die geschickte Anlage des Borns an einer Senkung, wo die absickernden Bergwässer, statt eingeschlossen zu versumpfen, den mäßigen Quell verstärkten, und endlich, einer hinter diesem heitern Bezeigen lauernden Absicht nachgebend, fragte er mit einem raschen Blick auf seine Begleiterin: »Die Anlage rührt von dem Quellensimon, gelt?«

Das war nun zum drittenmal an diesem Tage, daß der Name des Quellensimon unerwartet wie ein Blitz in des Mädchens Seele schlug; aber wie weit weniger heftig war die Erschütterung, seitdem das Herz sich einem milden Vertrauensbedürfnis geöffnet hatte. Nur einen Moment stand sie regungslos; dann neigte sie bejahend den Kopf, und auf die weitere Frage, ob sie den Simon gekannt, antwortete sie schon gefaßt und mit bedeutungsvollem Ausdruck: »Ja, ich kannte ihn.«

»Schau, schau, wie weißschäumend diese Bläschen in die Höhe perlen«, hob nach einer Pause der geistliche Herr wieder an, indem er sich auf die Rasenbank niederließ und in den Brunnen zu seinen Füßen blickte. »Der Quell muß tief liegen, aber trefflich, trefflich, diese Leitung! Ich habe ähnliche in der Gegend gesehen, sämtlich nach des Simon Angabe. Das Volk nennt ihn einen Quellenfinder, schreibt ihm einen leiblichen Blick in die Tiefe zu, Zauberkünste wohl gar, eine Haselrute und dergleichen. Das Volk hierzulande hat noch mehr, als man denken sollte, von seinem alten Heidenglauben festgehalten. Was achtet Ihr, die Ihr ihn gekannt, wie Ihr sagt, von dieser seltsamen Gabe, liebe Tochter?« – Der Frager hatte seinen Zweck erreicht, die Befragte sich während seiner Auslassung zu erwünschter Ruhe gesammelt. Aufrecht ihm gegenüberstehend ging sie mit Besonnenheit, ja mit einem Zuge von Befriedigung auf die Erklärung ein, von welcher er Schritt für Schritt seinem Ziele näher zu kommen hoffte.

»Der Simon Lauter«, so sagte Judith, »lachte schon damals über den Aberglauben der Leute, schalt wohl auch über das, was er eine Lästerung nannte. Sie versuchen's nur nicht, meinte er. Weil von alters her kein Born an der Stelle geflossen, wo er not tut, soll und kann kein Wasser in der Tiefe sein. Zehnmal mißlingt der Versuch, glückt er aber das elfte Mal, da schreien sie über Zauberkünste. Vom Arzte gilt das nämliche. Sterben die Kranken, ist's ihnen von oben beschert gewesen, kommt einer durch, heißt der Doktor ein Wundermann. Als ob das Gute, durch Menschenfleiß und Kraft hervorgebracht, nicht erst recht eine Bescherung von oben wäre! – Schon sein Vater, der von Bergleuten aus der Fremde abgestammt, hatte dem Simon manche natürliche Kenntnis beigebracht. Im übrigen, sagte er, sei der Wald sein Lehrmeister gewesen. Das Erdreich unter den tiefliegenden Wurzeln der Eichen, die er schon als Knabe roden half, der Stand der Kräuter und Moose, das Verhalten der Tiere selber leitete ihn auf richtige Spuren. Ihm zuerst ist es aufgefallen, als er in seinen Soldatenjahren längere Zeit jenseit auf einem Hofe in Quartier lag, daß die Sauen, die sich täglich mehrmals mit Gier in einer Lache wälzten, ein vorzugsweise kräftiges Ansehn trugen. Der Schlamm wurde untersucht, und heute soll ein mächtiges Salzwerk über dem Sauenpfuhle aufgerichtet stehen. Und schon vor jener Zeit fiel ihm in ähnlicher Weise die Entdeckung der warmen Quelle zu, in welcher jetzt so viele unserer Bauern sich nach der Ernte von Fluß und Gliederreißen heil baden. Der Simon behauptete, ein Walnußbaum, der vereinzelt auf dem Wiesengrunde gewachsen und weit üppigeres Laub und größere Früchte getragen, als die sonst spärlich in unseren Gärten gedeihen, ein Trupp blauer Glockenblumen darunter, die er sonst nirgendwo wild aufschießen sehen, haben ihn auf den Gedanken des heißen Untergrundes geführt. Das mag wahr sein, Herr Pfarrer. Aber warum hatte keiner vor ihm sich über die kräftigen Früchte oder die seltene Blume verwundert? Einen besonderen Blick hatte er doch.«

»Ja, der Blick, der Blick!« rief der Pfarrer mit der begeisterten Freude eines Menschen, dem sein liebster Gedanke von einem andern bestätigt wird, – »der heimliche Sinn in die Tiefe, der die Beobachtung bannt und jedweder Kenntnis die Bahn bricht! Und nicht im sichtbaren Naturreiche allein. In der Wissenschaft von Gott heißt dieser Blick der Glaube, fällt er aber in ein Menschenherz, so nennen wir ihn Liebe. Was alle nicht sehen, sieht der Liebende, und nur der Liebende sieht recht. – Und auch Ihr, meine Tochter,« fuhr er nach einer Pause zu seinem Zwecke zurücklenkend fort, »auch Ihr scheint mit einem Blick in die Tiefe gesegnet, da Ihr in so liebreicher Weise die Gaben eines Unglücklichen ausdeutet, der schweres Herzeleid über Euch verhängt. Seine Missetat an Eurem Bräutigam –.« – »An meinem Bräutigam?« fuhr Judith auf; »mein Bräutigam, wer sagt das?« – »Euer Liebster denn oder Freiersmann, der mit der Zeit –.« – »Nimmer, nimmer! Ich verabscheute den Mann, ich haßte ihn!« – »Ihr haßtet ihn?« rief der Pfarrer mit unverhehltem Staunen, »ihn, den Gemordeten, bei dessen Leiche Ihr als Zeugin –.« – »Ich zeugte die Wahrheit,« unterbrach ihn Judith stammelnd, »die Wahrheit, – wie meine leiblichen Augen sie geschaut, – mein Herz war – für nichts in der Sache.« Sie hatte sich geisterbleich verfärbt, die Züge waren entstellt, der innerlichste Wehepunkt aufgerüttelt; ihre Füße schwankten, sie klammerte sich an einen Weidenstamm.

Der geistliche Herr, mitergriffen von dem Ausdruck einer Qual, deren Ursprung ihn je mehr und mehr verwirrte, erhob sich von seinem Sitze und faßte des Mädchens Hand. – »Ich habe diese grausamen Erinnerungen nicht aus müßiger Neugier in Euch wachgerufen, meine Tochter,« sagte er; »ich bekenne Euch im Gegenteil, daß ich lediglich um dieser Erinnerungen willen heute morgen den Weg nach Eurem Hause eingeschlagen. Indessen, da ich Eure Trauerbotschaft vernommen, war es meine Absicht, mein Anliegen auf eine gelegenere Stunde zu verschieben und zurzeit nur Euren Sinn für eine zutrauliche Aussprache vorzubereiten. Habe ich Euch wehe getan, so glaubt, es war eine christliche Absicht, die ich im Herzen trug.« – Er wendete sich zu gehen. Als er aber Judith, wie um ihn zu halten, beide Arme nach ihm ausstrecken sah, kehrte er zurück, nahm ihre Hände noch einmal in die seinen und schaute in ihre düstern Augen wie in ein Rätsel. »Ich kann es hören,« flüsterte sie, sich allmählich belebend, »alles hören, – was verlangen Sie von mir?« – Noch stand er eine Weile in zweifelndem Sinnen unter ihrem drängenden Blick, und da er sich endlich zur Rede entschloß, war es nicht in dem gemütlichen Tonfall des Alltagumgangs, sondern mit dem reinen Laut und der eindringlichen Weihe des Priesters, der sein Amt erfüllt.

»Ihr wollt es,« so hob er an, »nun denn: ich fordere Euch auf zu einer wahrheitsgetreuen Darstellung dessen, was Euch von des Simon Lauter Gemütsart und Lebensweise vor seinem Unglück bekannt geworden. Die schwerste Missetat kann schon hienieden eine Sühnung finden, und Gnade für den Reuigen ist nicht Gottes Amt allein. Der Vorsteher der Strafanstalt, welcher schon vor Jahren den Simon Lauter als militärischen Untergebenen schätzen lernte, und der dem eignen Eingeständnisse zum Trotz noch heute an seine Unschuld glaubt, findet kein Ziel, des Gefangenen gesittetes Verhalten, seinen sänftigenden, ja veredelnden Einfluß auf die rohen Mitsträflinge anzupreisen; des Fleißes, der Kunstfertigkeit nicht einmal zu gedenken, durch welche er, neben dem Aufwande für seinen eigenen Unterhalt, manchem hülflos entlassenen Bruder eine Wohltat erweist. Kaum daß seine Anstrengung der Fülle der Bestellungen von nah und fern genugzutun vermag. Man lohnt ihn reichlich, und da er von Hause aus nicht ohne Vermögen ist, hat man ihm vergönnt, die erworbene Sparsumme in jenem gütigen Sinne anzuwenden. Schaut hier dieses Heilandshaupt, das ich mir neulich bei einem Besuche des Gefängnisses unter seinen Schnitzereien ausgewählt und dessen Anblick mich jede Stunde an den unglücklichen Büßer mahnt. Betrachtet diesen Frieden, dieses himmlische Entzücken in dem Antlitze dessen, der um der Gerechtigkeit willen sein Leben dahingegeben. Und das in rohem Holz! Meine Tochter, die Hand, die dieses Bildnis meißelte, mag einen Menschen getötet haben im Wahn, im Rausch – vielleicht; aber einer, der im Geiste den Tod in solcher Herrlichkeit geschaut, glaubt es mir: nun und nimmer ist er ein Mörder von Herzensgrund.«

Judith, selber einem gemeißelten Bilde ähnlich, blickte mit starrem Auge auf das kaum handgroße, in weißem Holz geschnitzte Medaillon, das der Pfarrer aus seiner Brusttasche gezogen und in ihre Hände gelegt hatte. Auch ein minder empfängliches Gemüt als das des frommen Mannes würde von der warmen, tiefen Empfindung, von dem feinen Kunstsinn der bescheidenen Gefangenenarbeit gerührt worden sein; – ob Judith etwas anderes sah als die im Innersten aufgeregten Gesichte, der geistliche Mahner erriet es nicht.

»Der Vorsteher der Anstalt«, fuhr er fort, »bereitet mit preiswürdigem Eifer ein Gnadengesuch für seinen Schützling vor, dessen Erfolg dem Unglücklichen fünf schwere Jahre seiner Haft erlassen würde; fünf Jahre nach zehn, meine Tochter! Meine Befürwortung seines früheren Wandels dürfte nicht ohne Wirksamkeit sein, zumal ich, da der Gefangene dem lutherischen Bekenntnisse angehört, meine Stimme als Parteiloser für ihn erheben würde. Nun bin ich aber erst Jahre nach jener unseligen Tat in mein hiesiges Amt eingetreten, und mir fehlt die Berechtigung, mich eingänglich über des Gefangenen Seelenstimmung zu unterrichten. Zwar sah und sprach ich ihn während jenes Besuches der Anstalt; aber bei seinem Anblicke sank mir das Herz für eine tiefer schneidende Berührung des Vergangenen. Der so wenig mit Mördersinn gearbeitet hat, er blickte und redete noch weniger mit dem Sinn eines Mörders. Die Stimme tönt und das Auge strahlt im Frieden der Heiligung. ›Ich bin nicht unglücklich‹, sagte er lächelnd. Meine Tochter, so spricht kein Schuldbewußter oder ein Heuchler, wie es nie einen gegeben. Und doch bekennt er sich zu der Tat heute wie damals mit den nämlichen Worten. Hier ist ein Dunkel, eine Heimlichkeit, und es verfolgt mich Tag und Nacht, dieselbe zu lichten. Die Forschungen in der Gegend führten auf keine deutliche Spur. Die Älteren haben nur den Quellenfinder in ihm geschätzt oder geschmäht, die Jüngeren nicht auf ihn geachtet oder ihn vergessen. Er war ein Fremder, ohne Angehörige in der Gegend, dazu ein Andersgläubiger. Die einzigen verfolgbaren Fäden ziehen sich nach der Klus.«

Der Geistliche machte eine Pause, griff noch einmal nach des Mädchens Hand und schloß dann seine Rede mit einer warmen Ermahnung: »Ich habe Euch nur diese einzige Stunde gesehen und sprechen hören, liebe Tochter, aber ich weiß es, daß Ihr auch im Eifer, nicht Euch selber zuliebe und keinem Feinde zuleide, ein anderes als die Wahrheit sagen werdet; desselbigengleichen als Ihr vorhin gestandet: ›Ihr habet ihn gekannt‹ – da spürte ich's an Eurem Blick und Ton, daß es ein Kennen von Grund aus war, nicht nach Ansehn und Hörensagen wie die anderen, auch nicht mit deren Wahn und Aberglauben. Ihr kanntet ihn, das heißt: Ihr schautet in sein Tiefstes. Darum prüfet Euch mit dem Blick auf dieses Bild der Barmherzigkeit, das Ihr zum Angedenken dieser Stunde bewahren sollt. Sinnet zurück, sammelt, was die Zeit zerstreut, klärt, was durch erlittenes Weh getrübt; und an dem Morgen, wo wir von dem Grabgange Eurer seligen Mutter heimkehren werden, da öffnet mir Euer Herz um Gottes willen, zum Frommen einer christlichen und menschlichen Liebespflicht.« – Er trat nach diesen Worten rasch und ohne umzublicken den Rückweg an, hatte aber den Ausgang nach dem Garten kaum erreicht, als er einen hastigen Schritt sich folgen hörte und ein fester Griff seinen Arm von der Heckenpforte zurückzog. Judith stand hinter ihm mit fieberischem Auge und glühendem Gesicht, von einer Leidenschaft durchrüttelt, die ihm das Rätsel in ein neues Rätsel verwandelte.

»Nicht morgen oder später«, sagte sie kaum hörbar und mit fliegender Brust. »Zur Stunde, gleich jetzt hören Sie mich an, gleich jetzt. Ich weiß nicht, ob das, was ich zu bekennen habe, ein Licht über jene Tat ergießen wird. Ich glaube es nicht. Aber mir, mir wird es das Herz erlösen von einer Last, die es zehn Jahre lang gepreßt. Es soll so sein, ja, ja! Dreimal ist die Mahnung an mich ergangen, heute, wo es zehn Jahre ist, daß diese Tat geschah. Dem blöden Knechte löste sich die Zunge bei der Erinnerung an diese Tat, die er zehn Jahre lang vergessen. Das Sterbegesicht der alten Frau war diese Tat, von der sie nichts vernommen, noch verstanden. Und zum dritten, da kommt ein Fremder, ein Gottesbote, mit der Mahnung an diese Tat. Und seit er das erste gute Wort gesprochen, da treibt es mich: rede, rede zu ihm von dieser Tat! Und diese Quellen, die jener aus dem Erdengrunde gelockt, sie raunen mir zu: rede, rede über diese Tat! Ja, ich kannte ihn; keiner kannte ihn wie ich – und doch, doch –! Ich habe ihn – ich war – drei Jahre lang war ich – später – später! – Ich habe nicht zurückzusinnen. Hier,« sie schlug mit der Hand an ihre Brust, »hier innen, da steht's wie mit Lettern, ewig, ewig! Ich habe auch keine Missetat zu bekennen, ich bin mir keiner Schuld bewußt, und doch, – und doch –! – Setzen Sie sich, Herr Pfarrer, hier im Schatten auf die Rasenbank. Da unten der Quell. Das Wasser ist ein Heiligtum im Evangelium. Sitzen Sie, als wär's in der Beichte. Knien darf ich nicht, aber stehen will ich vor Ihnen und mein Herz ausgießen, ausgießen, als wär's vor Gott!« – Sie beugte sich nach diesen Worten zu dem Born herab und netzte ihre Schläfe und Pulse in seiner Kühle; als sie sich wieder erhob, blickte sie ruhiger, und als der Pfarrer mit väterlicher Milde über ihre Wangen strich, löste sich die Brust in einem Tränenstrom.

»So sei es denn, mein Kind,« sagte jener; »zur Stunde sei es, da das Herz Euch treibt. Aber keinen Aufenthalt an dieser Stelle. Schaut, wie der Himmel sich umzieht, kaum, daß Ihr die Stadt vor dem Unwetter erreichen werdet. Der Waldpfad ist menschenleer. Ich begleite Euch. Redet ohne Scheu, als ob Ihr neben Eurem Vater ginget.« – Sie gehorchte ohne Widerspruch, schritt voran und zog den Pflock von der Heckentür, die nach dem Forste führte. Ihr Begleiter blieb mit Absicht etliche Schritte zurück, indem er sich bückte, die am Wege stehenden Maienglocken zu pflücken. Nach einigen stummen Minuten hob die Kluswirtin gesammelt und mit sicherer Stimme ihre Mitteilung an.

Enthüllung

»Schon ehe ich auf der Welt war, ist Simon Lauter auf dem Klushofe heimisch gewesen wie ein eignes Kind. Sein Vater, der von Bergleuten aus dem Schwabenlande abstammte und seines Zeichens ein Uhrmacher war, hatte über dem Meere sein Glück zu suchen gedacht, als, des Weges ziehend, seine Frau hier vor dem Kamp von einem Fieber geschüttelt zusammenbrach. Der Mann trug sie in das Haus, sein kaum dreijähriger Bube lief ihm weinend voran. Es war just der Tag, an welchem der neue Bau eingeweiht werden sollte, und der kleine Simon, der ein holdseliges Kind gewesen sein soll, wurde das ›Weiheengelchen‹ genannt, weil er als erster Einkehrer in die Wirtschaft getreten ist. Daß es unter Tränen und mit einem Hülferuf geschah, darin hat in dem hoffnungsvollen Jubel jener Zeit keiner eine Vorbedeutung gefunden. Der Name blieb ihm, und meine Mutter hat noch in ihrem letzten Augenblick den, der ihr Liebling war, bei ihm genannt.

Keine guttätigere Hand, als die meiner Mutter, Herr Pfarrer. Sie verpflegte die fremde Frau, bis ihr letztes Stündlein geschlagen, und sorgte für Mann und Kind, bis ihre Einrichtung getroffen. Der Winter war hereingebrochen, die Fahrt übers Meer mußte bis zum Frühjahr verschoben werden. Vater Lauter fand während der Zeit für seinen Uhrenkram, mit dem er jenseits zu beginnen gedacht, hier in der Gegend lohnenden Absatz, und da er nicht wußte, wie er sich ohne Frau mit seinem Kleinen in der Neuen Welt behelfen solle, gab er den Plan in die Weite auf, kaufte für sein Reisegeld das Häuschen des Waldhegers, der vor kurzem gestorben war, und übernahm neben seinem Uhrengeschäft die Hütung des Gemeindeforstes, für welche ein Aufseher fehlte. Der kleine Simon aber, ohne Mutter im Haus, der Vater Tag für Tag im Wald oder hausierend und ausbessernd über Land, hielt sich mit Leib und Seele an die Klus, in welcher alle das Weiheengelchen gern sahen, Eltern, Bruder, Gesinde und Gäste, vor allen aber ich, die ich in dem nämlichen Jahre geboren wurde.

Ja, Herr Pfarrer, solange ich von meinem Leben weiß, habe ich den Simon liebgehabt, lieber als die meines eignen Bluts. Das laute Schenkenwesen widerstand mir von Natur, und ebenso natürlich zog es mich hinaus in Garten und Acker; der kleine Simon aber, als ich noch nicht laufen konnte, trug und führte mich ins Freie, suchte Kräuter und Blumen mit mir, lehrte mich spielend ihre Namen, die er alle schon kannte, ich weiß nicht woher, sie auch wohl spielend aus dem Stegreife nach Gestalt und Farbe erfand, wie er denn auch die erste Kenntnis des Bodens und seiner Bebauung in mir erweckte in jener späteren Zeit, wo wir beide allein, von keiner Seele vermißt oder bemerkt, wie flinke Vögel bis zur sinkenden Nacht die Gegend durchschwärmten. Denn der Simon war von Kind an wie ein Vertrauter der heimlichen Säfte, die aus dem Erdengrunde treiben, und mit der Kenntnis, die er mir eingeflößt, wuchs die Liebe, wuchsen mir auch Kraft und Geschick für die Behandlung der Scholle, so daß ich sagen muß, der Simon hat es bewirkt, wenn ich im Heranreifen den Verfall des Erbes früher und deutlicher spürte als die, welche mit Lust und Hoffnung darin hausten, und in der Zuversicht, daß mein verunreintes Heimwesen nur durch den stillen Segen der Scholle wieder zu Ehren gebracht werden könne, späterhin handelte, wie es mich trieb.

Als nun die Schulzeit diesem kindischen Schwärmen ein Ziel setzte, da wurde der Simon erst recht ein Klusgeselle, denn er holte allmorgendlich meinen Bruder zum Schulgange ab, kehrte mit ihm zurück, arbeitete mit und nach seiner gutmütigen Art wohl auch für den Flatterling, der ohne sein Zureden nimmer in eine Regel zu zwingen gewesen wäre und über welchen zu keiner Zeit ein Mensch eine stetige Herrschaft ausgeübt, als der liebreiche Simon ganz allein, nur, Gott sei's geklagt, da jenem die Flügel wuchsen, nicht Herrschaft genug gegen den Schwarm.

Wieder etliche Jahre weiter, und ich ging mit den beiden des nämlichen Wegs und strengte mich an, alles das nachzulernen, was der emsige Simon mir vorausgelernt; und wenn mir eine rasche Rechnung und deutliche Handschrift in meinem Hauswesen zugute kommen, ich auch die Schriften verstehe und liebe, die von dem Naturreiche handeln, – das heißt liebte, Herr Pfarrer, jetzt habe ich lange schon keine Stille in mir für ein Buch, – so muß ich also wiederum sagen: das hat der Simon an mir getan und keiner sonst. – Nach etlichen Jahren aber ging ich mit ihm allein zur Katechismuslehre in die Stadt, und daß wir beide die einzigen Kinder in der Gemeinde waren, die sich zu dem fremden Bekenntnisse hielten, das stiftete abermals eine Verwandtschaft zwischen uns. Alles in allem: wir zwei waren wie eines, verkehrten mit keinem Gespielen und gewöhnten uns darum auch nicht an die Mundart des Landes; alles bezog ich auf den Simon, und ich vermag es nicht mit Worten auszudrücken, wie mir zumute war, als die letzten Gedanken der alten Frau mich heute morgen an jene kindischen Zeiten gemahnten, damals, da, ohne zu ahnen was heiraten sei, wir uns lachend oder in Tränen die Treue verlobten und zueinander sagten: ›Noch ein zehn, zwölf Jahre, dann heiraten wir uns, und dann sind wir Mann und Frau, und alles ist gut.‹

So war es denn ich vor allen andern, die den Knaben in unsere Klus und, Gott sei's geklagt, – in sein Verderben lockte. Denn solch eine Schenkenwirtschaft ist eine mächtige Verführung, für einen zumal, dem ein wohlbestelltes Heimwesen gebricht, wie dem Simon. Nicht um der losen Gesellschaft willen, die er traf, nein, sein Auge und Ohr blieben ein Kinderauge und Ohr auch in den Zeiten, da er reif geworden. Der blöde Knecht heute morgen, er sagte: ›Der Simon war fromm wie ein Lamm‹, und die Mutter mit ihrem letzten Wort pries ihn als einen himmlischen Friedensboten. Ja, ja, Herr Pfarrer, das einfältige Auge und der brechende Blick, sie sahen recht: der Simon war ein Mensch nach Gottes Ebenbilde, und nur ein einziger Flecken hat an ihm gehaftet, der ihm auf der Klus ins Blut geimpft worden ist gleich einem Gift. Wenn der arme Junge im Winter, nichts Warmes auf dem Leibe und nichts darin, steif gefroren aus dem Walde zurückkehrte, da hieß es: ›Hurtig einen Tropfen für die erstarrten Glieder!‹ und wenn er in der Sommerhitze verlechzt und schweißtriefend gerannt kam, da hieß es wieder: ›Einen Tropfen gegen den Verschlag!‹ Aber ein Tropfen zieht den andern an, aus der Gewöhnung wird ein Bedürfen und aus dem Bedürfen ein Laster; in diesem Lande vornehmlich und in einer Schenke, in welcher die hitzigen Getränke ohne Obhut stehen und einer dem andern ein Prosit zutrinkt und an dem Ärgernis sein Gefallen findet. Ich aber, daß ich's von vornherein offenbare, was erst weiter hinaus in mein Bekenntnis gehört, ich fühlte vor keinem Laster solch ein Grauen wie vor dem des Trunks. In einer Wirtschaft gleich der unsrigen kehrt nicht nur die Tugend ein. Mein Bruder wurde ein Spieler unter den wüsten Gesellen, und die er seine Frau nannte, die war – sie ist tot, Herr Pfarrer, und Sylvians Mutter, darum still über sie, still! – Das sind schlimme Sitten, schlimmere vielleicht als der Trunk –!«

»Dem eignen Herzen wie dem des Nächsten verderblichere, ja gewiß, gewiß!« schaltete der Pfarrer ein. – »Aber keine, die Gottes Ebenbild mehr entstellen, wie das Trinken, Herr Pfarrer«, versetzte Judith rasch. »Und daß jene schlimmen Sitten frech in unserm Hause schalten durften, wessen war die Schuld als des Übermaßes, das meinem Vater die Herrschaft über sich selbst, wie über Hof und Kind geraubt? Darum haßte ich den Trunk, Herr Pfarrer, und darum, darum wieder habe ich späterhin gehandelt, wie es mich trieb.« – Die Erzählerin machte eine Pause, welche der Zuhörer nicht unterbrach. Nachdem sie die Wallung niedergekämpft, die während der letzten Bemerkungen in ihr aufgestiegen, und ihre Gedanken zu einer Folge geordnet, fuhr sie fort.

»Die Liebe zu den Gebildnissen des Grund und Bodens, wie die Erinnerung an seine Vorfahren hatte von Kindesbeinen ab in dem Simon einen Trieb zum Bergwesen angezündet, und wenn ich von klein auf sagte: ›Ich will eine Bauerfrau werden, wie meine Großmutter selig gewesen ist, und weiter nichts‹, so sagte der Simon: ›Ich will ein Bergmann werden, wie mein Großvater selig gewesen ist, und weiter nichts.‹ – Da nun aber die Schulzeit zu Ende ging, so wollte Vater Lauter, der ein harter und karger Mann war, wenn er auch mancherlei Kenntnis und Geschicklichkeit aufzuweisen vermochte, von seines Sohnes Lust am Bergwesen nichts vernehmen. Er hatte ein paar hübsche Flecken Rodung rund um das Waldhaus für ein billiges an sich gebracht und sie durch Rajolen und rieselnde Wasserfäden in treffliches Ackerland umgewandelt, er simulierte auf mehr und immer mehr. Der Uhren vermochte er in seiner freien Zeit kaum hinlänglich für den Anspruch im Lande herzustellen, zumal seitdem sein Sohn die kunstfertigen Rahmen und Gehäuse darum schnitzelte, die sie von allen ihresgleichen auf unsern Höfen unterscheiden. Denn die feine, bildnerische Hand, die war auch eine der Gaben, welche dem Simon, wie man zu sagen pflegt, in der Wiege eingebunden worden sind. Damals freilich, als das junge Herz sich so mächtig von dem toten Holze ins grüne sehnte, da ahnete er nicht, daß des Vaters Härte den Grund zu eigner und fremder Wohltat für lange, nächtige Jahre legen sollte.

Widerstand war nicht des Simons Sache, am wenigsten seinem Vater gegenüber. Er drückte die heimlichen Lockungen herzhaft hinunter, wurde des Alten Gehülfe in seinen mancherlei Hantierungen, blieb aber auch in diesen Jahren dem Klushofe ein Angehöriger wie zuvor. War der Vater über Land, so trug der Simon sein Werkzeug zu uns hinunter, und einmal hielt er sich wochenlang unablässig dort beschäftigt, als er die Wasserspeisung in dem gerodeten Kampe ausgetüftelt und lediglich mit seinem Ersparten vollführt, zum Dank und Denkmal genossener Wohltat, wie er sich äußerte. Es war das erste Unternehmen in dieser Art, das ihm geglückt; von allen Seiten wurde er um Ähnliches angesprochen, reichlich gelohnt und so jung noch an Jahren schier als ein Wundertäter angesehn. Als er einige Zeit später das heiße Schwefelwasser unter der Wiese aufgespürt, nannte man das Badhäuschen, das darüber aufgerichtet wurde, ›die Simonsquelle‹, und der Simon hieß seit der Zeit im Lande nicht anders als ›der Quellensimon‹ oder ›Simon der Quellenfinder‹.

Und auch in jenen halbwüchsigen Jahren gingen er und ich miteinander um wie zueinander gehörig oder füreinander bestimmt, wenn wir auch nicht mehr wie als Kinder von Heirat zusammen redeten. Ich war in dem Alter, wo ein Mädchen sich vor solchem Gedanken schämt, aber den Trieb, ihn wahr zu machen, noch nicht kennt, und einiglich, sonder Begehr hielt auch der Simon Schritt mit meinem Sinn, so daß ich die drei Jahre Unterschied zwischen uns nicht gewahr worden bin. Aber eine weit mächtigere Menschenfreundlichkeit wohnte in dem Simon als in mir. Es war just die Zeit, wo die Sylvia auf der Klus ihr Wesen trieb und meines Vaters tobsüchtige Krankheit ihren Anfang nahm. Sanftmütigkeit war nie mein Ding, – nein, nein, Herr Pfarrer, sie war nie mein Ding!« wiederholte sie mit Heftigkeit, einem Einwande ihres Begleiters vorbeugend, »nicht meine Gabe und auch nicht mein Los. Ich hatte Geduld bei der Arbeit, aber keine Duldung für die Menschen; das rohe Wesen erweckte mir Ekel, vor der Sünde schwoll mir die Galle, und mit der Schande habe ich noch heute kein Erbarmen. Zu jener Zeit würde ich von Hof und Haus und als Magd in die weite Welt gelaufen, wenn nicht gar einer Missetat an mir selber schuldig geworden sein, hätte nicht der Simon mit dem Troste des Friedfertigen neben mir gestanden, bis meine Vernunft zur Reife und der Entschluß, die Unehre meines Erbes abzuwaschen, zur Oberherrschaft in mir gekommen wäre.

Als der Simon neunzehn Jahre geworden,« nahm die Kluswirtin nach einer Weile gelassen wie zuvor den Faden der Geschichte wieder auf, »starb sein Vater jählings auf einem Gange durchs Land, und der Sohn, nachdem die ersten heißen Waisentränen getrocknet, konnte es nicht anders empfinden, als ob ihn ein Zwingherr freigelassen. Die heimliche Liebe zum Bergwesen seiner Altvordern wachte wieder auf, und er zauderte nicht, sie zur Tat zu machen. Im Grunde dachte er sich bei der Sache wohl etwas anderes, als den Stollen zu befahren und im Schachte Kohlen und Erze loszuschlagen; er meinte, das Geheime unter der Erde kennen zu lernen, wie er sich denn auch nicht minder freudig mit dem über der Erde befaßt haben und ein Kräutersammler geworden sein würde oder dergleichen mehr. Mit einem Worte, es trieb ihn, das Naturreich mit dem Kopf zu ergründen, nur etwa das Tierreich ausgenommen, für das er keine Neigung verspürte, – ich glaube, weil man es nicht ohne Tötung in seinem Innersten zu erforschen vermag. Da er aber über das Wie und Wo keine Kenntnis besaß, hielt er dafür, es zuvörderst mit den Händen anzugreifen. Ein weiteres Feld würde sich auftun, vertraute er. Und es würde sich aufgetan haben, Herr Pfarrer. Schon daß ihm sein Vater an zeitlichem Segen weit mehr, als einer erwarten durfte, hinterlassen, daß Aufseher und Beamte schnell ein Herz zu ihm faßten, daß der Fund des heißen Quells seinen Namen in der Gegend verbreitet, alles öffnete ihm Weg und Steg. Ach, Herr Pfarrer, so frohselig habe ich einen Menschen mein Lebtage nicht gesehen wie den Simon in den paar Wochen, die er drüben im Kohlenschachte arbeiten half; aber leider war die Freude kurz.

Sein Vater hatte in dem verwichenen Jahre, mit welchen Mitteln weiß Gott, denn der Simon war ein Riese und heil und gesund wie ein Fisch, bei der Aushebungsbehörde seine Zurückstellung durchgesetzt und der Simon nach seiner vertrauenden Gemütsart nicht anders gedacht, als für alle Zeit seiner Soldatenpflicht ledig zu sein. Da traf ihn denn die plötzliche Berufung für einen Vordermann, der übers Meer entkommen war, gleich einem Wetterschlag. Kein Mensch kann voraussagen, Herr Pfarrer, welchen Sinn der Eifer in einem hervorlockt, daher mag es wohl sein, daß in einer Zeit der Drangsal, aus Liebe zum Land und seinem Herrn auch der Simon seinen Abscheu vor Blut überwunden und freiwillig zu Wehr und Waffen gegriffen haben würde. Bei ruhigem Sinnen aber vermochte er nicht auf ein Kaninchen loszudrücken, und mit dem Dohnenstrich, der ihm als Waldheger zustand, hat er sich niemals befaßt, so übermächtig war sein Grauen, ein Lebendiges zu Tode zu bringen.« – »O Schicksal, Schicksal!« rief der Pfarrherr seufzend, »und sitzt nun zehn Jahre hinter Mauern und Riegel um einen Mord!« – Auch Judith ließ den Kopf zur Brust herabsinken und schloß die Augen, wie um diesen unheimlichen Widerspruch auszudenken. Es dauerte eine Weile, ehe sie ihre Mitteilung wieder aufzugreifen vermochte.

»Aber in Zeiten der Ruhe,« so fuhr sie fort, »drei Jahre lang im pressenden Rock, mit Hunderten fremder Gesellen in der Kaserne eingepfercht, die Waffen rühren lernen, die ihm so herzlich widerstanden, er, der sich gewöhnt, einsam mit seinen Gedanken in Wald und Werkstatt zu hausen und nur der stillen Gebildnisse auf Gottes Erdboden zu achten, der eben erst in Wonne und Hoffnung, frei wie ein flügger Vogel, aus dem Neste gelugt, er war wie zerschlagen, und zum erstenmal ward ich inne, daß ich aus einem andern Blute entsprossen sei als der, welchen ich bisher wie einen Teil des eignen Lebens empfunden; ja, wäre es angegangen, ich würde mit Freuden für ihn in seine Pflicht eingetreten sein.« – »Glaub's, glaub's!« sagte der geistliche Herr mit gutmütigem Spott, indem er das Mädchen auf die Schulter klopfte; »die Jungfer Kluswirtin wär schon so eine, die's mit dem Mannsvolke aufnähm auch im Waffenspiel.« – »Warum nicht, Herr Pfarrer?« versetzte Judith ernsthaft. »Wenn Drang und Schande vom Boden abzuwälzen wäre? In alten Landesbüchern ist's zu lesen, daß die Weiber mit den Männern wider den Feind gezogen sind, und mein Vater hat eine gekannt, die gegen den Napoleon im Kampfe gefallen ist, und das war nur eine Magd, Herr Pfarrer, nicht von Haus und Hof, über welche ihre Altvordern als Herren geboten haben.«

Die stolze, trotzige Kraft des Mädchens stand bei diesen Worten so deutlich in dem festen, ruhigen Blicke ihres Auges geschrieben, daß der Pfarrherr halblaut zu sich selber sagte: »Gott halte in Gnaden die Tage fern, wo solche Weibertugend dem Vaterlande ein Wall werden muß!« – Doch mahnte ihn ein Blick zum Himmel, seiner beschaulichen Neigung Einhalt zu tun. Die Sonne war hinter einen Wolkendamm zurückgetreten, die Atmosphäre drückte immer tiefer mit der bleiernen Ruhe, welche dem Kampfe vorausgeht. Er forderte daher seine Begleiterin zur unverzüglichen Fortsetzung ihrer dem Ziele noch fern scheinenden Mitteilung auf, indem er sagte: »Also der Simon scheute sich vor dem Kriegshandwerk nach seiner friedfertigen Naturanlage und vor der Vorbereitung zu derselben, weil sie einen mehrjährigen Aufschub in dem erwählten, Berufe mit sich brachte?« – Judith neigte zustimmend den Kopf und beschleunigte nach einem schweren Atemzuge ihre Rede, indem sie die Einleitung abschloß und mit der nachfolgenden Szene in die eigentliche Handlung ihrer Geschichte überging.

»Am Abend vor seiner Einkleidung kam der Simon nach der Klus gleich einem halbtoten Mann. Mich verdroß dieses verzagte Wesen, und es war das erstemal, daß mich etwas an diesem Menschen verdroß. Im Hause war just Widerwärtiges zu schlichten, ich gönnte dem Simon knapp das Wort, und er ging in die Schenkstube, wo mein Bruder in wüster Gesellschaft um den Punschnapf saß. Sie qualmten, lachten, tobten, zeterten, sangen Schelmenlieder kraus durcheinander. Der Simon setzte sich unter sie, ohne den Mund zu rühren; aber sooft ich von ungefähr in das Zimmer trat, sah ich ihn ein Glas von dem hitzigen Gebräu auf einen Zug hinunterstürzen. Ich hatte niemals ein Übermaß und selber nicht ein Wohlbehagen am Trunk bei ihm wahrgenommen; jetzt, da sich sein Gesicht immer fahler und fahler dehnte, stieg eine furchtbare Mutmaßung mir zu Kopf. Ich kam eben von meinem Vater, den ich in tobsüchtigem Taumel in seine Kammer eingeschlossen, ich bebte noch vor verhaltenem Grimm, und bei jedem Becher, den der Simon zu Munde führte, zuckte mir ein Messerstich durch das Herz. Da saß er kreideweiß, stierte in einen Winkel und merkte es nicht einmal, daß ich die Stube nicht mehr verließ und meine Augen kaum von ihm verwendete. Als ich ihn nach dem Punsch gar noch ein Glas reinen Branntweins an die Lippen führen sah, hielt ich mich nicht länger, flog an ihn heran, riß ihm das Glas aus der Hand und sagte heftig: ›Keinen Tropfen mehr!‹ Die Kumpane lachten überlaut, der Simon aber sprang einer Leiche ähnlich in die Höh und stürzte stumm, mit wirren Blicken aus der Tür.

Ich folgte ihm, sobald ich mich von den höhnenden Gesellen losgemacht. Es war im vollen Mond, die Luft klar wie bei Tageslicht. Hier oben am Kampborn erreichte ich ihn; er lag stöhnend am Boden, das Gesicht auf die Rasenbank gepreßt. ›Simon!‹ rief ich ihn an. – Er richtete sich auf, sein Auge war ruhig wie sonst. ›Sei gut, Judith‹, bat er mit der sanften Stimme aller Tage und bot mir seine Hand. – Ich zog die meine zurück. ›Simon,‹ fragte ich jetzt, ›hast du's schon öfters getrieben wie diesen Abend?‹ – ›Ich habe noch nie einen Rausch gehabt,‹ antwortete er, ›und ich habe auch heute keinen.‹ Und in Wahrheit, einen Rausch hatte er nicht; aber just, daß er keinen hatte nach dem, was er zu sich genommen, machte mir so schwere Gedanken. Er mußte an ein reichliches Maß gewöhnt sein. ›Aber du trinkst, Simon, du trinkst!‹ sagte ich. – ›Dann und wann auf der Klus, du hast es alle Tage gesehen.‹ – ›Ich habe es niemals gesehen, und du sollst, du darfst nicht trinken, Simon.‹

Er setzte sich auf die Bank und blickte ohne Erwiderung in den Born. ›Höre, Simon,‹ hob ich nach einer Stille wieder an, ›du trittst in das Soldatenwesen und in eine arge Verführung, wenn einer nicht von Grund aus einen Damm dagegen zieht. Gelobe es mir, Simon, gelobe es dir selber hier vor dem reinen Quell, den dein Blick aus dem Verborgenen gelockt, daß du deinen Leib in Ehren halten wirst. Nie einen Tropfen, Simon, niemals, niemals!‹ – ›Nie einen Tropfen?‹ wiederholte der Simon traurig, nachdem er eine Weile gesonnen. ›Ich darf nicht geloben, was ich leichtlich nicht halten könnte unter den vielen, die es anders treiben, oder wenn der Leib ernüchtert zusammenbricht und das Herz gar – ach, Judith, Judith!‹ stöhnte er. Da ich mich aber unwillig von ihm wendete, faßte er sich, indem er mit Gewalt meine Hand ergriff, und sprach in heiligem Ernst: ›Was ich dir aber gelobe, Judith, ist, daß ich nie bei einem wüsten Gelag wie diese Nacht und nimmer einen Tropfen zuviel trinken will. Bei diesem reinen Wasser, Judith, nimmer! Und wenn ich's nicht halte, sollst du mich nicht deiner wert achten und mich nicht mehr liebhaben wie bisher. Also sei's, Judith. Ich sage nicht: keinen Tropfen, aber keinen Tropfen zuviel, um deiner Liebe willen.‹

Ich legte nun freiwillig meine Hand in die seine und setzte mich in Ruhe an seine Seite. Denn ich traute seinen Worten, als wären es Gottes Worte, und ahnete nicht, daß das Böse Macht habe über einen guten Menschen gegen seinen Willen und gegen seinen Schwur. Wir saßen lange Hand in Hand und redeten kein Wort. Es lag eine warme Feuchte in der Luft; ringsum kein Laut, kein Hauch, nur der Born tröpfelte sacht wie ein Sang aus dem untern Bereich. Und wie wir so saßen und die Tränen aus Simons Augen auf meine Hände niederträufelten, da war es, als ob ein neues Leben aus seinem Herzen in meines zöge; mich überlief es heiß und wieder kalt; es drängte mich zu ihm, und ich rückte doch von ihm fort. Aber jählings schlingt er seinen Arm um meinen Leib und drückt mich an sich. ›Daß ich dich lassen soll, Judith,‹ murmelt er wie erstickt, ›daß ich von dir soll, das ist's, das ist's!‹ – Ich zitterte wie ein Rohr im Sturm, aber ich riß mich von ihm los, preßte meinen Aufruhr hinunter und redete ihm zu. ›Du gehst nicht aus dem Lande, Simon.‹ – ›Aber von dir, von dir!‹ – ›Wir werden zueinander halten wie bisher.‹ – ›Aber nicht mehr beieinander sein, in Ruhe, alle Tage, Aug in Auge, Hand in Hand. Nur selten, selten im Fluge. Dich nicht mehr sehen, Judith, dich nicht mehr haben, alles andere – aber das! Ach Judith, wie hatte ich es mir ausgemalt! Jetzt lernst du was, hatte ich gedacht, und wirst etwas, daß der fremde Mietling mit Ehren um die Hoftochter werben kann. Und wenn du was kannst und was bist – Judith, als wir Kinder waren und manchmal traurig, da trösteten wir uns, daß wir groß werden und uns heiraten, und alles war gut. Und so dachte ich wieder, daß es geschehen soll, seit mein Vater tot ist; jegliche Stunde hab ich's gedacht, im Wachen und im Traum.‹

›Und warum heute nicht mehr, Simon?‹ fragte ich, denn ich war plötzlich fest und klar geworden in mir selbst und wußte, daß wir uns liebhätten wie Mann und Weib. ›Drei Jahre Frist, was tut's, wenn einer dem andern traut?‹ – ›Wahr, Judith, wahr!‹ rief er mit frischem Leben und zog mich noch einmal an sich, und diesmal ließ ich es geschehen ohne Scheu. ›Du willst harren und mein sein, Judith, wahr, wahr?‹ – ›Ich will harren, daß ich dein sei, Simon, und wäre es zehnmal drei Jahre.‹ – Er loderte wie in Flammen, er sprach Worte, Worte, hier drinnen stehen sie mit Lettern, er – er –.« – Das Mädchen flüsterte nur noch; der Schauer einer seligen Erinnerung durchbebte sie.

So schritt sie eine lange Weile in sich versunken; sie schien ihren Begleiter vergessen zu haben, der ihr mit gesenkten Blicken folgte und sie endlich durch ein Räuspern an ihre Aufgabe erinnerte. Sie errötete, besann sich und fuhr fort: »Seine Zweifel wachten wieder auf. ›Drei Jahre,‹ klagte er, ›und du bist siebenzehn, Judith; die Männer sehen dich an mit Blicken – du merkst es nicht, aber ich, ich – diese Nacht der Papiermüller –!‹ – ›Was verschlägt's?‹ sagte ich, verdrossen über derlei Anwandlungen. – ›Er ist ein Reicher, ein Stadtbürger, und du bist eine Hoftochter, Judith!‹ – ›Was verschlägt's?‹ fragte ich noch einmal. – ›Die Wirtschaft liegt im argen; einer, der Geld hat, ist ein Fund. Sie werden dich zwingen, dein Bruder mit Spott, die Mutter mit Tränen, der Vater mit Zorn.‹ – ›Ich lasse mich nicht zwingen‹, sagte ich.

Und das ist wahr; Herr Pfarrer, ich hätte mich nicht zwingen lassen, weder mit Spott und Zorn, noch auch mit Tränen, nicht von dem einen weg und noch weniger dem andern zu. Ich hätte mich nicht zwingen lassen, auch wenn der Simon wirklich nur ein armer Mietling und ich selber noch eine Hoftochter gewesen wäre, wie sie zu Väterzeiten auf der Klus geworben worden sind.« – »Glaub's, glaub's«, murmelte der geistliche Herr. – Das Mädchen aber fuhr, ohne der Unterbrechung zu achten, fort: »›Ich lasse mich nicht zwingen‹, erklärte ich, und der Simon beruhigte sich, und wir saßen noch lange beieinander oben am Born wie Bräutigam und Braut. Dann ging der Simon fort, die letzte Nacht in seinem Hause zu schlafen – und das sind kommenden September dreizehn Jahre.«

Wieder ging Judith eine Weile schweigend voran, und der Pfarrer folgte ihr in kaum geringerer Bewegung als sie selbst. Die Zeichnung des Simon stimmte zu seinen Voraussetzungen; aber wie verändert, wie verwirrend die Lage! Wo er tödliche Kränkung, Haß, Rachegefühl wohl gar vermutet, fand er Liebe, Liebe so tief haftend, wie er sie in seinem Stilleben nimmer in einem Weiberherzen geschaut. Das Mädchen war des Mörders Braut, nicht des Gemordeten. Der fromme Mann begriff, wie der Verdacht gegen seinen Schützling unter diesem neuen Lichte wuchs, wenn die Triebfeder der Eifersucht weiteren Raum gewinnen sollte, und so hörte er mit einer fast kindlichen Spannung dem Lauf der Entwicklung zu.

»Mit dem Tage, an welchem der Simon die Nachbarschaft verlassen,« erzählte Judith, »da schien es, als ob ein guter Geist vom Klushofe gewichen sei, der die letzten Spuren von Ordnung und Frieden darin gebannt. Mein Bruder, der seinen einzigen redlichen Anhalt verloren, wirrte sich immer dichter in Teufels Garn, beim Vater kam die Krankheit zum Ausbruch, die man mit Grund einen Wahnsinn nennt; mich aber, Herr Pfarrer, mich wurmte die überschwellende Schande um so tiefer, seitdem ich einen braven Menschen mein eigen nannte, auf den sie durch die meines Blutes überging. Mein Herz verhärtete sich gegen Vater und Bruder, seitdem sein Sänftiger fortgezogen war; nur gegen die Mutter, die unschuldsvoll vertrauend, lachend diese Minute und die nächste weinend, inmitten des wüsten Getriebes stand, gegen sie steifte es sich wohl nicht; aber das Leidwesen, mit welchem ich auf die gute Frau herniederschaute, wie auf ein Kind, das keiner in seinen Nöten um Hülfe anspricht, das lag von der Härtigkeit nicht weit entfernt.«

»Eine Frage, mein Kind«, schaltete an dieser Stelle der Pfarrherr ein. »Wußten die Eurigen um das Verlöbnis mit dem Simon?« – »Nein, Herr Pfarrer«, antwortete Judith. »Ich würde es nicht verhehlt haben, hätte einer darauf gemerkt und danach gefragt; aber freiwillig bekannt habe ich es auch nicht bei der Verfassung im Haus und viele Jahre vor der Zeit, da es galt. Ich ging meinen Weg für mich, und der Weg war rauh. – Der Arzt meines Vaters, von Ihrem Vorgänger im Amt, Herr Pfarrer, unterstützt, brachte eine Behandlung in Vorschlag, die einzige, wie man sagt, die einen ausgearteten Trinker auf Maß und Vernunft zurückzuführen vermag.« – »Speise und Trank mit Branntwein zu versetzen, gelt?« fragte der Begleiter.

»Ja, Herr Pfarrer, nicht ein Tropfen und Bissen unvermischt. Eine grausame Verordnung und gefahrvoll, wenn der Leib erst verbrannt, dann verekelt, nicht allmählich eine nüchterne Kost ertragen lernt. Auch stemmte die Mutter sich mit ihren letzten Kräften gegen das Unternehmen, das sie eine Vergebung nannte; mein Bruder, gleichgültig oder schwankend, ließ mir freie Hand, und der Simon mißbilligte es zwar nicht, aber ich spürte gar wohl, daß ihm das Herz gefehlt haben würde, es gegen den Widerwillen und die wachsende Schwäche des Kranken, wie gegen Vorwürfe und Tränen der Mutter durchzusetzen. Ich hatte dieses Herz, Herr Pfarrer. Ich allein bereitete und reichte dem sich Sträubenden die ekle Nahrung, ich überwachte und wehrte es, wenn die Mutter einen unvermischten Tropfen oder Bissen unterzuschieben versuchte; ich dachte eine Seele zu retten auf Kosten und Gefahr eines halbzerstörten Leibes – und ich habe mich keiner Sünde angeklagt, als die Probe mißlang. Nein, nein!« Das Mädchen blickte düster, und ihre Stimme klang herb bei dieser Rechtfertigung. Ihr Begleiter suchte vergebens nach einem tröstenden Zuspruch, aber sein Auge feuchtete sich in jenem tiefsten Erbarmen, das uns erfüllt, wenn wir den Frieden des Herzens einem gerechten Willen zum Opfer fallen sehen.

»Kaum daß die Augen meines Vaters sich geschlossen,« fuhr sie fort, »als auch die zeitweiligen Notstützen des Hauses jach und schnöde zusammenbrachen. Die Feindseligkeiten der alten Nachbarn gegen das fremde Wesen traten mit Schadenfreude zutage, – nein, Herr Pfarrer, nimmer dürfte der Sylvian in dieser Gemeinde als Bauer hantieren! – Die neuen Freunde zeigten nur Mißtrauen gegen den verrufenen Erben, den sie selber erst in Verruf gebracht. Von keiner Seite eine helfende Hand. Drohung jagte die Drohung, Klage die Klage, Pfand das Pfand – und der Leichnam ruhte noch über der Erde. Leib und Seele der Mutter, schon durch das Krankenbett im Grunde erschüttert, brachen zusammen in diesem Sturm, den Bruder wirbelte er hierhin und dorthin wie ein mürbes Blatt, – am Ende übers Meer; ich, ich steifte mich, ich trotzte ihm, Herr Pfarrer, und ich habe ihm standgehalten.

Ich hätte jetzt gehen, die alte Frau und den Knaben zu mir nehmen und still mit ihnen leben können bis zur Vereinigung mit dem Simon, die mir als Ziel Tag und Nacht vor Augen stand. Ich arbeitete gern und besaß ein mäßiges Erbteil, das eine sächsische Muhme um meines protestantischen Glaubens und des durch ihre Patenschaft mir zugefallenen Namens willen für mich hinterlassen; ich war auf die Verwendung eines treumeinenden Anwalts in der Stadt, der die Verhältnisse durchschaute und mir auch späterhin redlich geraten hat, vor der Zeit von den Gerichten mündig gesprochen worden; kurzum, ich konnte gehen. Aber mein Sinn stand anders. Ich hatte ein Recht, auf dem Hofe zu bleiben, und ich blieb. Freilich ohne Unterlaß in Kämpfen mit meinem Bruder, in häßlichen Kämpfen, Herr Pfarrer, denn es galt das Mein und Dein zwischen Erben eines Bluts. Zuvörderst um den Nachlaß der Muhme, mit dem er sich zu retten gedachte und welchen der Pläneschmied, der nie einen sichern Untergrund gefühlt, früher noch als sein Vatererbe in eiteln Luftschlössern verschwindelt haben würde. Dann aber um die Werbung des reichen Müllers, des einzigen der windigen Kumpane, die bei ihm standgehalten, weil er sein Auge auf mich geworfen und auf unsere Not seine Hoffnung baute. Aber ich wehrte mich, Herr Pfarrer. Ich wehrte mich für mich selbst, für eine alte Mutter, für ein schutzloses Kind, für den Hof meiner Väter, vor allem jedoch für den Mann, dem ich meine Treue verlobt, und darum würde ich auch gegen einen herzhafteren Angriff die Oberherrschaft behalten haben.

Es währte nur kurze Zeit, bis er einsah, daß er den Hof nicht behaupten könne. In der wüsten Schenke herbergte nur noch wüstes Gesindel; die Landwirtschaft stand still. Es hätte klein und von Grund aus wieder angefangen werden müssen, aber Bauernarbeit ekelte ihn an, und Rat wie Tat verfingen um so weniger, weil ich es war, die sie bot. Denn, Herr Pfarrer, wir stammten aus einem Blut, aber unser Wesen widerstand sich wie Wasser und Öl; es kam zu keiner Einigung. Auch fiel ihm der Entschluß, sein Vatererbe loszuschlagen, nicht schwer. Desto schwerer die Ausführung. Er hatte auf reichliche Überschüsse gerechnet, hundert schwindelnde Pläne auf diese Überschüsse entworfen, heute diesen, morgen einen andern, – und er erhielt nicht ein Angebot, das seine Schulden gedeckt. Die Auswanderungssucht war dazumal gleich einer Krankheit selbst unter den Vermöglichen im Lande eingerissen, Grund und Boden im Wert gesunken; die begonnene Eisenbahn mußte den Verkehr auf der Landstraße verschlingen, kaum noch ein Jahr, und der Klusgasthof stand ohne Einkehr, die weitläufigen Baulichkeiten hatten keinen Zweck; ganz natürlich, daß keiner kaufen oder nur um ein Spottgeld kaufen wollte.

Meine Stunde hatte geschlagen, jetzt trat ich auf. Ich tat ein Gebot, das just die Pfandgläubiger befriedigte, und mein war das Anwesen, wie es stand und lag. Mit den Wucherern und Spielgesellen, dem Papiermüller an der Spitze, unterhandelte ich kurz und scharf auf Frist; meinen Bruder selbst, der jetzt in meine Hand gegeben, hoffte ich durch Not zur Ordnung umzuwandeln. Das Schenkenwesen wurde nur noch obenhin unterhalten, übles Gesindel unerbittlich von der Tür gewiesen, die Landwirtschaft dagegen kräftig in Angriff genommen, manches verbröckelte Ackerstück mit der Zeit wieder eingelöst. Und Wiese und Feld, Herr Pfarrer, sproßten nach der langen Brache empor, aber die Saat in dem Menschenherzen blieb ohne Keim. Er war in meiner Gewalt, und ich weiß keine Zucht, die mir zu schwer gewesen. Gute wie böse Worte verwehte der Wind; gegen den Zwang setzte er die Flucht. Freilich um wiederzukehren, denn Nachhaltigkeit war nicht seine Natur, auch nicht in der Bitternis. Ich gab den Bruder, den ältern Bruder, auf und handelte wie gegen einen Knecht, endlich wie gegen ein Kind. Ich setzte ihn auf Lohn, auf Tagelohn gar, nach dem Maß seiner Arbeit; ich ließ ihn darben, sperrte ihn aus und sperrte ihn ein; ja, ich sperrte ihn ein, hielt ihn gleich einem Gefangenen im eigenen Haus, wenn er durch Spiel oder Ausschweifung eine Strafe verwirkt, die ich mich bis zum letzten scheute vor den Gerichten öffentlich zu machen. Als aber alles nicht verschlug, wußte ich am Ende keinen Rat als den der härtesten Not, einzig auf eigene Kraft im fernen, noch unwirtbaren Land.

Der Plan der Ausführung widerstand ihm keineswegs, im Gegenteil, das fremde Leben lockte ihn. Aber vor der Ausführung zuckte er zurück. Nicht einmal, zehnmal, Herr Pfarrer, war er fort und wieder da. Nur noch diesen Glücksversuch in der Heimat, oder jenen, der ihm auf dem Wege eingefallen, nur die alte Mutter noch einmal sehen, oder sein Kind und Sylvias Grab! Und dann umklammerte er meine Kniee, weinte, raufte sich das Haar – eine Stunde später aber sang er Schelmenlieder oder knöchelte mit irgendeinem wüsten Gesellen. Gegen Sturm und Trotz hätte ich's aufgenommen, aber ich hatte weder Macht noch Duldung gegen ein windwendisches Wesen wie dieses. Seine Gegenwart brannte mich wie zehrendes Feuer, zumal seit ich gewahr ward, daß das Kind, der Sylvian, seine ernsthaften Augen dafür aufzuschlagen begann. Er mußte fort ohne Erbarmen, und so wurde denn endlich die drohende Haft des Turms, einer Wechselschuld halber, die er von neuem im Spiel eingegangen, die Rute, die ihn trieb.

Ich hatte diese Schuld eingelöst, aber ohne sein Vorwissen, Herr Pfarrer; denn mit freier Wahl würde er nimmer gegangen sein, dagegen die Heimlichkeit einer Flucht seine Einbildung kitzelte, tausenderlei Anschläge gegen abenteuernde Gefahren ihm als Kurzweil aufstiegen. So schied er. Fort aus seinem Land, fort von Mutter und Kind. ›Wenn du ihm Vater sein kannst, kehre heim‹, hatte ich gesagt. Er ist nicht heimgekehrt, und ich, ich habe ihn fortgetrieben, vielleicht in sein Verderben, vielleicht in sein Grab – erst den Vater, dann den Sohn!« –

»Ihr tatet, was recht war und darüber, arme Tochter«, sagte der Pfarrer, ihre Hand drückend, und Judith versetzte mit schneidendem Ernst: »Es war recht, und es war not, Herr Pfarrer. Aber wer also recht tun müssen, der wird nimmer wieder froh.«

»Ich habe, Herr Pfarrer,« so nahm sie nach einer gegenseitigen Stille ihre Mitteilung wieder auf, »ich habe eine lange Weile nur von mir verhandelt, und es ist doch eines andern Schicksal, das Sie zu wissen begehren. Die Wahrheit ist, daß ich den Simon während seiner Soldatenzeit nur selten und im Fluge gesehen, da bald nach seinem Eintritte das Regiment in einer entlegeneren Gegend Quartier bezog, und daß es mir lieb war, meine Anfechtungen ohne seine Zeugenschaft durchzustreiten. Allezeit aber hat er im Hintergrunde meiner Gedanken gestanden. Ich sagte wieder wie als Kind: ›Noch soundso viel Monden und du bist des Simons, und alles ist gut!‹ Ich sputete mich darum Nacht wie Tag, um alles rein und ehrbar hergestellt zu sehn, wenn er als Herr einziehen werde in meiner Väter Hof, hatte auch niemals ein Arg, daß er seinen Leib anders als rein und ehrbar erhalten haben werde nach seinem Schwur. Es war eine Zeit der Probe für ihn wie für mich; vielleicht aber, daß sie nicht ein so grausames Ende genommen, wenn ich schon damals wie später eingesehen, daß seine Aufgabe die schwerere war. Ich stritt wider die Unart der andern und schaffte für mich selbst nach eigner Art. Er hatte andern stillzuhalten gegen seine Art und zu streiten wider eigene Unart. Ich konnte mich behaupten, denn ich war richtig gestellt, aber mein harter Sinn am wenigsten würde eine Probe wie die seine bestanden haben. – Und weil ich denn nicht aus Erfahrung ein Urteil über seine Verfassung in jenen Jahren abgeben, nicht beweisen kann, ob das Laster des Trunks zu einer ständigen Gewöhnung in ihm ausgeartet oder nur in gelegentlichem Ausbruche mir vor Augen getreten ist, – wiewohl ich das letztere glaube, Herr Pfarrer, – so will ich mich nun nicht länger sträuben, Ihnen die Begegnung vorzuführen, die mich und ihn auseinandergebracht und von welcher ich nimmer geglaubt, daß meine Lippen sie gegen eines Menschen Ohr berühren würden.

Des Simon Truppe sollte in der Kürze nach der Stadt verlegt werden; zum Herbst würde er des Dienstes ledig gewesen sein; jetzt schrieben wir April, und es war an dem Tage, an welchem ich auf die drohende Wechselhaft den Plan von meines Bruders Entfernung gebaut. Rasch entschlossen, machte ich mich auf den Weg nach der Stadt, um mit dem Anwalt Rücksprache zu nehmen. Denn in der Sache war ich mit mir einig, nur über die gesetzliche Art und Weise mußte ich mir Auskunft verschaffen, zumal den Durchsteckereien des Müllers gegenüber, dessen hinterhältige Lauer ich kannte. Ich hatte meinen Bruder allein in der Schenkstube verlassen, die noch mäßig im Gange war und bis zur Vollendung der Eisenbahn bleiben sollte. Denn mit dem Geld ging es mir knapp zu der Zeit, so daß ich mich eines Vorteils nicht leichtlich entschlagen durfte. Nebenbei scheute ich mich vor einer Veränderung Knall und Fall, da die Sache in Bälde ohne Aufsehn einschlummern mußte; vor allen Stücken aber hatte ich mich darauf gesetzt, daß das urväterliche Recht nicht in dem Verruf von meines Bruders Betrieb, sondern in Anstand und Ehren seine Endschaft erreichte. – Mit schwerem Herzen schritt ich auf dem Wege, den ich heute zum ersten Male seit jenem Tage wieder betrete, und glaubte einen Boten von oben gewahr zu werden, als ich plötzlich den Simon aus seinem Waldhause treten sah.

Er trug wieder den schwarzen Bergmannskittel, an dem er in aller Eile noch knöpfte und schnallte, die bunte Soldatenmütze auf seinem Kopf aber schleuderte er hoch in die Luft und jubilierte wie eine Lerche, da er mich erkannte. Er fand kaum Worte vor Jast und Lust – er war frei und entlassen ein halbes Jahr vor der Zeit, der glückseligste Mensch auf Gottes weiter Welt! – Die gute Botschaft tröpfelte Balsam auf meine ätzenden Schrammen. Nun hatte ich ihn, durfte ihn halten und hegen, und alles Schwere schien mir federleicht. Dennoch als er Miene machte, mich nach der Stadt zu begleiten, wehrte ich ihn ab. ›Spare das Gerede,‹ sagte ich, ›bis alles in Ruhe und Ordnung ist. Geh voran zur Klus. Am Abend sprechen wir uns allein vor dem Born oder oben bei Mutter.‹ Er stutzte wohl bei dieser Zimperlichkeit, war aber zu froh zum Verdruß und flog mehr als daß er ging auf dem Kluswege zurück.

Mein Geschäft zog sich unerwartet in die Länge, die Sonne war schon gesunken, bevor ich den Heimweg antrat. Aber es war abgetan, der Simon heim und mein Herz froh wie noch nie. Ich hätte singen mögen, nur daß ich von Natur keinen Sang in Ohr und Brust gefühlt. Ich ging wieder durch den Wald. Wäre er doch mit mir gewesen! Wie reute mich jetzt meine schwachmütige Anwandlung. Hinter jedem Baum glaubte ich ihn hervorspringen zu sehn. Am Waldhause lauert er doch, hoffte ich, und als er auch am Born nicht lauerte, war ich verdrossen gegen ihn, aber weit, weit mehr gegen mich selbst. Ich flog nur noch vor Ungeduld und trat vom Hofe her in das Haus.

Aber schon im Flur höre ich ein Juchhei, daß das Herz im Leibe sich mir wendete; ich öffne und stehe auf der Schwelle wie gewurzelt. Da sitzen der Müller, mein Bruder und – der Simon um den dampfenden Napf, und keiner, auch der Simon nicht, bemerkt mich unter dem Qualm und Lärm. Ich kann nicht sagen, daß Völlerei von Grund aus meines Bruders Laster gewesen; nur wenn Gesellschaft oder Spiel ihn erhitzte, geriet er in ein Übermaß; heute aber war er trunken von außen und innen. Die Augen zuckten Blitze, Hände und Füße flogen wie die eines Gliedermannes, krause Reden und Reime schwirrten gleich Irrwischen zwischen seinen Lippen hervor. Er hatte den Freunden das, was er als eine Heimlichkeit auszuführen gedachte, enthüllt und schilderte im voraus Herzeleid und Gefahr seiner Trennung und Flucht. Mein Name wurde genannt als der einer grausamen Drängerin, der Müller wie ein Bruder und Helfer gepriesen. Dazwischen glotzte und brüllte dieser rohe Kumpan gleich einem Stier. Nur der Simon gab keinen Laut, klingte aber an bei jedem neuen Spruch und leerte das Glas auf einen Zug öfter als beide zusammen. Er sah weiß aus wie ein Geist. Die aber weiß und stumm werden im Trunk, denen staut sich das Geblüt und wirbelt die wilden Triebe in die Brust, die sonst gebannt in heimlicher Kammer ruhen.

Die Empörung brach aus, ich schlug heftig die Türe zu. Mein Bruder stürzte auf mich zu, riß mich mit Gewalt an den Tisch und preßte sein Glas an meine Lippen. – ›Mein Henkertrunk!‹ schrie er, ›du der Henker, Dithel, trinke, trinke!‹ – Ich nahm ihm ruhig das Glas aus der Hand und setzte es auf den Tisch. Meine Kehle war zugeschnürt, aber es mag wohl ein giftiger Blick gewesen sein, der statt des Wortes zu dem Sinnlosen hinüber schoß, denn er ließ mich los, starrte mich an und sagte gewichtig, als wären seine Worte Gold: ›Ja, du Macht, Weib, denn du hast Willen, ja, du hast Willen, denn du hast kein Herz. Weib ohne Herz, du umgarnst einen mit deinem Willen, wie die Spinne die Fliege mit ihrem Netz. Den eignen Mann spönnest du ein, saugtest ihn aus und spännest fort. Spinne du, Dithel, Spinneweib, Spinne!‹

Und so strömte er weiter in nichtsnutzigen Anklagen und Klagen, wie ich sie schon oftmals vernommen und überhört. Kein Mensch konnte wissen, Herr Pfarrer, was Wahrheit oder Schauspiel in dem Menschen war. Und jählings wirft er sich an die Erde, umstrickt meine Kniee, daß ich mich niedersetzen muß, um nicht zu fallen, schluchzt, daß ihm die Tränen wie Bäche über die Backen rinnen, und beginnt seine alte Litanei: ›Rette mich, Dithel!‹ stöhnte er, ›stoße dein Blut nicht von dir, Schwester! Das Meer ist tief, tief und so fern, so fern! Laß mich nicht untersinken; deine Hand, Dithel, deine Hand! Da sitzt er, der reiche Mann!‹ – Er wies auf den Müller, der lallend mit dem Kopfe nickte und seine Arme nach mir streckte. – ›Krösus heißt er, der reiche Mann, und Mammon hat er, nach dem du ankerst und mit dem du geizest, Dithel! Nimm ihn, nimm ihn, den reichen Mann. Du hast es ihm angetan, Dithel! Da, da, seine Hand! Sage ja, zerreiße den Schein, rette mich, rette mich, Dithel!‹

Ich hörte nur noch wie im Traum, blickte nur scheu nach dem Simon hinüber, der zusammengesunken, stumm und weiß wie ein Götze sein Auge in meines bohrte, – nicht mehr ein Menschenauge. Ich fürchtete mich vor ihm. Ich ertrug es nicht länger, stieß mit der Hand den Müller, mit dem Fuß den Bruder von mir, daß der Tisch mit Gläsern und Lichtern zu Boden fiel, und so im Dunkeln stürzte ich aus der Tür und in meine Kammer hinauf. – Ich warf mich zu Boden, meine Sinne vergingen.« Judith stockte, als werde ihr die Kehle zugeschnürt. »Eine Beichte, eine Beichte!« murmelte sie; »gut, gut, auch das! – Ein sengender Atem an meinem Gesicht – eine eisigkalte Hand um meinen Leib – Töne, Töne – wir rangen – ein Augenblick – Wut gegen Wut –!«

Sie machte eine Bewegung, als scheuche sie ein Gespenst. »Denken Sie's – oder nein, denken Sie es nicht. Es ist gesagt, gut, gut!« preßte sie hervor, und nach einer Pause fuhr sie fort in fliegender Hast: »›Hilf Gott, hilf Gott!‹ ächzt die Mutter nebenan. Seit ihrem Elend ihr stündlicher Jammerlaut. Der Wahnwitzige stutzt, ich reiße mich los, raffe mich auf, jage aus der Kammer und schließe die Tür. Ich lausche. Alles seelenstill. Nun hinunter. Ich hätte schreien mögen vor Wut und Qual und doch jedes Auge und Ohr verstopfen vor der Schmach, die gleich einer Wetterwolke über dem Hause gehangen. Alles war aus zwischen mir und ihm, welchen ich im Herzen zu seinem Herrn gesetzt, aber vor den andern mußte er rein bleiben!

Ich spürte umher, die Wirtsstube war leer, der Bruder mit seinem Kumpan auf und davon, das Gesinde zur Ruh. Sie schliefen im Seitenbau, keiner wußte von dem Gefangenen oben in der Kammer. Ich zündete Licht an, daß es hell leuchte über Straße und Hof; ich durfte nicht rasten, ich mußte Ordnung unten schaffen, um bei einem anklägerischen Zufall darauf hindeuten zu können, daß ich die Nacht nicht müßig in meiner Kammer verbracht. Eine Nacht, eine Nacht ohne Ende! Mehr als einmal brach ich zusammen, hoffte, daß ich's nicht überstehen werde. Aber dann steifte ich mich wieder und wollte es überstehen. Ich hatte im Leben nur einen Menschen zum Glück gebraucht – ich wollte keinen Menschen brauchen, fertig werden ganz allein. ›Bestien sind's alle, alle!‹ schrie ich auf, und kaum daß ich's ausgedacht, brach der Jammer wieder hervor, und ich preßte mein Tuch in den Mund, das Geschrei in die Brust zurückzubannen. Treppauf, treppab die ganze Nacht. Lauschen hier, lugen dort. Zehnmal wollte ich hinein, das Ungetüm zu erwecken, zu verjagen. Zehnmal prallte ich zurück. ›Das Weiheengelchen, den Friedensbringer!‹ stöhnte ich. ›Ein Augenblick der Raserei gegen zwanzig Liebesjahre!‹

Der erste graue Dämmer gen Morgen. Jetzt mußte es sein. Ich fürchtete mich nicht, aber ich zitterte; kaum daß ich den Schlüssel zu drehen vermochte. Die Kammer war leer, das Fenster offen. Ich beugte mich hinaus, tausend Messer in der Brust, – da unten muß er liegen zerschmettert in seinem Blut. Nein, nein, da unten liegt er nicht. Nicht im Rausch hat er sich hinabgestürzt, mit ernüchterten Sinnen sich über die Hecken auf die Straße geflüchtet. ›Fort, fort auf ewig!‹ schreie ich in hellem Wahnsinn und jage ihm nach über den Hof.

Oben am Born, da liegt er auf seinen Knien, taucht den Kopf in den Quell, netzt Hals und Brust und kühlt sich klar. Ein aus dem Grabe Erstandener! Mich schaudert's über den Leib, so fühle ich seinen Frost, und doch in mir ein Sud und vor meinen Augen Sternenzucken. Zurück kann ich nicht; vorwärts, reden auch nicht. Jetzt richtet er sich auf, bringt seine Kleider in Ordnung und wird mein gewahr. Ich fahre zusammen, er nicht. Aber traurig blickt er, todestraurig; in meiner letzten Stunde sehe ich ihn noch, diesen traurigen Blick. ›Lebe wohl, Judith‹, sagte er leise, daß ich's kaum verstand. Ich starrte zu Boden und hatte keinen Laut.

›Dein Treuspruch ist gelöst‹, hob er nach einer Weile wieder an. – ›Er gilt!‹ hätte ich schreien mögen – und sagte kein Wort. Er aber redete weiter, gänzlich ruhig, gänzlich gefaßt, wie einer, der auf seinem Sterbebette abgeschlossen. ›Ich kenne mich nicht mehr‹, sagte er. ›Ich bin nicht mehr ich; aber ich kenne dich, Judith, du bist du, und so wie du bist, habe ich dich liebgehabt bis heute, und so werde ich dich liebhaben bis ans Ende. Hier am Quell habe ich gelegen die Nacht hindurch, habe gerast gegen mich selbst, und jetzt sehe ich's klar, weiß es, Judith, weiß es. Wieviel Tropfen müßten aus diesem Born rinnen, ehe du's vergißt, Judith, vergißt, daß ohne Gottes Hülfe du eine warst, eine, die keinem Mann am Altar ihre Treue verpfänden konnte, – auch dem Beschimpfer nicht! Du nicht, Judith, du wahrlich nicht! Ich darf nichts geloben, denn du glaubtest mir nicht, und ich selber würde mir nicht trauen, seit ich der Unehre Raum gegönnt und meinen Schwur gebrochen. Unser Verspruch ist gelöst. Ich gehe. Aber wenn ich eines Tages dir wieder vor Augen trete, dann wisse: es ist der Simon wieder, den du liebgehabt, dann vergiß die böse Stunde, Judith, und bis dahin lebe wohl – oder für allezeit!‹ – Er wendete sich und ging, ohne mir die Hand zu reichen. Ich hätte ihm meine Arme nachstrecken mögen, ihn zurückreißen, ihn an mich reißen – und ich rührte mich nicht und ließ ihn gehen. Mit hastigen Schritten bog er in den Wald, nicht ein einzigesmal blickte er zurück. Ich lauschte, den Atem eingepreßt, und da ich den letzten Tritt verhallen hörte, stürzte ich ohne Besinnung auf den Grund.« – –

Ein stöhnender Atemzug und eine lange Stille folgten diesem martervollen Bekenntnis. Dem alten Priester zitterte das Herz. So tief war er noch niemals in den Grund einer Menschenseele gedrungen; Bilder, Triebe, Geister, die er kaum geahnt, drängten sich sichtbar und greifbar fast zwischen die Klüfte der Rede; ihn schwindelte vor diesen Wirbeln unter der glatten Decke des Alltagslebens. Und wie sie sich brachen, diese Wirbel, an der Kraft eines unantastbaren Gemüts, wie an seinem Widerstande der verunreinte Strom eines gutgeschaffenen Herzens sich klären müsse, das, so hoffte der fromme Mann zum Preise Gottes und seiner Kreatur, das werde die endliche Lösung des Rätsels sein, die er gesucht.

»Als ich,« so griff Judith ihre Darstellung wieder auf, »als ich meine Sinne zurückkehren spürte, war es Tag, aber über dem Sonnenlichte hing ein Schleier, und mich dünkt, als ob Gott der Herr ihn seit jener Stunde nimmer in die Höhe gezogen. An jenem Morgen nahm ich das Schenkenzeichen von meiner Tür, ließ die Ligusterlaube fällen, und in der Kammer oben habe ich nimmer wieder geschlafen. – Von dem Simon hörte und sah ich nichts. Mein Bruder wollte erfahren haben, daß er krank darniederliege; als er aber ging, ihn heimzusuchen, fand er das Waldhaus leer und verschlossen. Kein Mensch vermißte ihn auf der Klus; das Gesinde hatte sich seiner entwöhnt, Einkehrer wurden von der Tür gewiesen, und meinen Bruder beschäftigten auch die nächsten Menschen nur, solange er sie mit Augen sah oder allenfalls von ihnen reden hörte. Zudem waren es nur noch wenige Wochen, in denen es mit seiner Entfernung Ernst wurde. Anfangs sträubte er sich wohl noch, und Auftritte wie der jenes Abends kehrten tagtäglich wieder; da er mich aber unerbittlich fand, der drohenden Wechselhaft vorzubeugen, drängte er selber in die Weite, tüftelte Vorbereitungen und Heimlichkeiten aus und sah sich in der Einbildung riesengroß wachsen an Reichtum und Macht unter den wunderlichsten Abenteuern in einer neuen Welt.

Ich ließ ihn gewähren und traf meine Anordnungen nach dem Rate des Anwalts, der mir wie ein Freund zur Seite stand. Herr Pfarrer, möglich, daß alles anders gekommen wäre, als es kam, wenn der Mann, der unsere Lage von Grund aus kannte, nicht an dem nämlichen Tage, da mein Elend reif ward, an einem hitzigen Fieber erkrankt und bald verschieden wäre. Er hatte eine Schiffsgelegenheit unter einem strengen, aber zuverlässigen Kapitän ausgemittelt; mein Bruder sollte nach Australien zu rauher Arbeit auf noch unbebautem, menschenarmem Grund; unwissentlich sollte er es, denn ihm selber lagen nur die Verlockungen großer Städte und die Leichtigkeit einer Rückkehr von Amerika in dem Sinn. Ich gedachte ihn bis an den Einschiffungshafen zu begleiten, auf daß nicht eine fremde Hand die seine zum letzten Male auf Heimatsboden drücken, freilich aber auch, Herr Pfarrer, auf daß das Reisegeld in eigner Tasche ihn wirklich zum Ziele und nicht von neuem auf einen Abweg führen möge. Denn ich hätte es leichtlich nicht zum zweiten Male schaffen können, ich konnte es schon das erstemal nicht aus eignem Vermögen. – Es wird Sie bedünken, Herr Pfarrer, als ob diese Weitläufigkeit in meines Bruders Sache nichts mit der Schickung zu schaffen habe, nach deren Kenntnis Sie verlangen. Sie hat nichts mit ihr zu schaffen gehabt, das ist wahr, die Welt hat nichts von ihr erfahren, der Name meines Bruders ist in dem unseligen Handel nicht genannt worden, ich kann nichts beweisen – ich darf's nicht sagen – nicht denken, einmal was – aber – aber – kurzum Sie sollen auch diesen Zusammenhang kennen lernen.

Ich hatte dem Anwalt Vollmacht ausgestellt, an dem Morgen unserer Abreise die Wechselschulden meines Bruders einzulösen. Es ist geschehen. Kein Wucherer oder Lüdrian darf den, welcher den Namen ehrbarer Voreltern getragen hat, der Untreue um eines Hellers Wert bezichtigen. Am letzten Nachmittage machte ich vor Gericht an den Papiermüller eine Verschreibung auf mein Grundstück so hoch etwa, als sich die Summe des Fahrgelds und eines mäßigen Notpfennigs zum Anfang in der Fremde belief. Daß ich just diesem Menschen in die Hände fallen mußte, war das Widerwärtigste bei dem Handel. Aber das Geld war klamm in der Zeit, der Eisenbahn halber, zu deren Bau der letzte Taler gegen einen Schein verzeichnet ward; Freunde besaß ich nicht, und was die Hauptsache war, die Angelegenheit blieb unter denen, die einmal darum wußten, ohne ruchbar in der Gegend zu werden, die lange schon sattsam Ärgernis aus dem Klushofe gezogen hatte. – Aber kein lästigeres Ding, als eines Menschen Schuldner zu werden, den man mißachtet im Herzensgrunde und dem man den erlauerten Lohn nun und nimmer gewähren will. Der Müller hatte meinen Bruder in sein Verderben und mich in Verlegenheiten spielen helfen, jetzt drängte er sich mit seinen Gefälligkeiten an mich heran. Da ich sie einmal angenommen, – ich habe schwer dafür gebüßt, Herr Pfarrer, die Ängste meiner Nächte diese zehn Jahre lang sind des Zeugen! – da ich sie angenommen, konnte ein Habdank nicht verweigert werden, und als ich mit ihm in der Dämmerstunde von den Gerichten kam, wo unser Handel abgeschlossen worden, wußte ich keinen Rat, mich seiner Begleitung zu erwehren.

Ich ging nicht den Waldweg wie damals, sondern die große Straße, auf der die Menschheit wogte, indem, wie heute, die Jubilatemesse in der Stadt zu Ende lief. Ich konnte die Ratgebungen des Menschen wohl gebrauchen, denn er war mancherwärts in der Welt umhergekommen; die Reise aber, die ich morgen in der Tagesfrühe antreten sollte, war für mich ein neues und schwieriges Unternehmen. Freilich verdroß es ihn, daß ich sein Anerbieten, mir auf dem Hin- und Herwege zur Seite zu stehen, rundweg von mir wies, und mein Grauen bei seinem Vorschlag, jetzt bei Abend und mit ihm allein einen Abstecher nach seiner Mühle zu machen, um das verschriebene Geld in Empfang zu nehmen, gewährte ihm eine tückische Rache. Ich war ärgerlich gegen mich selbst, daß ich den Fall nicht vorausbedacht und auf die Auszahlung an Gerichtsstelle gedrungen. Ich mußte das Geld vor Tag haben, und so sauer es mir ankam, ich wußte keine Ausflucht, als den widerwärtigen Überbringer nach meinem Hause zu bestellen. Es konnte Nacht darüber werden, und: ›Zur Nacht also auf der Klus!‹ rief jener auch mit einer hämischen Vertraulichkeit, indem er mir zum Abschied die Hand drückte, just in dem Augenblick, als ich, halb sinnlos vor Schrecken, gegen einen Begegner taumelte, den ich im Halbdunkel und unter dem Volksgewirr auf der Straße nicht hatte herankommen sehen. Es war der Simon, der Mann, mit dem ich die Treue gewechselt, den ich von mir gewiesen, als ich nach einer Trennung von Jahr und Tag unerwartet mit ihm zusammentraf, und der mich jetzt allein, im Dunkel, auf offener Straße, in verfänglicher Bestellung mit einem als meinen Freier in der Gegend Berufenen gewahr wurde!

Einen Augenblick standen wir uns gegenüber starr und stumm. Ich sah, wie das Blut ihm zu Kopf schoß und er mit der geballten Faust nach dem Herzen faßte, dann aber mit niedergeschlagenen Augen rasch zur Seite wich. ›Ich schicke meinen Bruder nach dem Geld!‹ stieß ich hervor und rannte wie von einem bösen Geiste gepeitscht die Straße entlang. Ich hörte des Menschen heimtückisches Lachen, blickte um und sah, wie er, seinen Arm in den des Simon gelegt, den Seitenpfad nach der Mühle einschlug und bald darauf im Abenddunkel verschwamm. Auch andere haben diesen gemeinschaftlichen Weg der beiden gesehen und bezeugt, ich selbst bezeugte ihn, Herr Pfarrer, ja, auch ich – und er ist zu einem schweren Verdachtsgrunde gegen den unglücklichen Simon geworden.

Der Knecht, denn ich hielt schon damals nur einen, welchem ich die Besorgung des Gepäcks nach dem Bahnhof aufgetragen, war noch nicht zurückgekehrt, und so schickte ich denn wirklich meinen Bruder zur Empfangnahme des Geldes in die Mühle. Bei richtiger Besinnung würde ich den Knecht erwartet haben, aber: ›Daß der Mensch nicht kommt!‹ das war mein einziger Gedanke. Mit Todesangst harrte ich meines Bruders Rückkehr. Stunde auf Stunde harrte ich vergebens, schwach und immer schwächer durch die Hoffnung getröstet, daß der Simon in seiner Nähe sei. ›Er hat durch den Müller von seiner Abreise Kunde erhalten,‹ dachte ich, ›er läßt den Freund nicht ziehen ohne Lebewohl. Er wartet in der Mühle auf ihn, wenn er ihn gar nach der Klus zurückgeleitete, – oder zum letzten morgen früh an der Bahn, – ein Augenblick muß sich dann finden, wo ich unbemerkt an ihn herantreten und mein Herz gegen ihn erlösen kann. Simon, will ich dann sagen, dein, wie ich gelobt, kann ich nicht mehr sein, aber auch keines andern, keines andern, Simon, nun und nimmer!‹

Die Nacht verging, und keiner kam. Der erste Dämmer graute gen Morgen, die Glocke schlug drei. Ich durfte nicht länger zaudern, um vier sollte der Dampfzug abfahren. Ich ging allein, nein, ich flog, immer noch in der Hoffnung, einem oder dem andern auf dem Wege zu begegnen. Es war Sonntag, die Straße wie gefegt. Dort aber auf dem Querwege von der Mühle her nach der Bahn, da schritten zwei, zwei dunkle Punkte im Morgennebel – aber zwei, nicht drei.«

Des Pfarrers Blicke hingen in lebhaftester Spannung an Judiths Lippen. Sie stockte, aber nur eine Sekunde lang. »Nun zum letzten«, sagte sie mit zitternder Hast. »Und dann für immer still, still zwischen uns, Herr Pfarrer, auch über das. Hier drinnen wühlt's, – aber draußen Ruhe! – Da, wo der Weg von der Mühle mit dem von der Stadtbrücke zusammentrifft, da war's. Zur Rechten der Bahndamm, links das Weidengestrüpp im ausgestochenen Sumpf. Das erste Glockenläuten drängt von dem Bahnhof drüben; wie eine Rasende schnelle, keuche ich durch die dunkle Torfahrt unter dem Wall, und jenseits am Ausgang starre ich, als hätte sich die Hölle vor mir aufgetan. Kaum zwanzig Schritte von mir, grell beschienen von der aufsteigenden Sonne, da liegt der Müller in seinem Blut, verrenkt im Krampf, Schaum vor den Lippen, die Fäuste geballt, bläulichweiß – eine Leiche! Einen Augenblick sehe ich nur ihn, im nächsten regt's sich in den Weiden, eine Gestalt schwankt herauf, fahl wie der Tote selbst, an den sein Fuß sich stößt; feuchte Nebeltropfen, dürre Halme in dem struppigen Haar, Schrammen und Beulen, geronnenes Blut an Gesicht und Hand, die Kleider zerfetzt, die Glieder schlotternd, das Auge starr, als wäre es von Glas. Er stolpert, taumelt zu dem Toten nieder, starrt mit blödsinnigen Blicken in sein Gesicht, zieht das Messer aus seiner Brust und hält es dicht vor die eignen Augen wie im Wahn. Und da stehe ich, vermag nicht rückwärts und nicht vorwärts, ich höre die Schritte der Patrouille, die vom Tore her –.«

»Nicht weiter, nicht weiter, unglückliches Kind!« rief der Pfarrer, helle Angsttropfen im Auge und auf der Stirn. »Ich habe die Akten gelesen, ich kenne den Rest!« – »Ja, eines, noch eines,« versetzte Judith mit schrillem Ton, »das Letzte – mein Zeugnis vor der Wache und später vor Gericht!« – »Ich kenne auch dieses, meine Tochter. Ein einfaches ›Ja‹ auf die an Euch gerichteten Fragen, keine Silbe darüber, ›der Wahrheit gemäß, wie Eure leiblichen Augen sie geschaut‹, so sagtet Ihr selbst vor einer Stunde kaum.« – »Hätte ich lügen dürfen, Herr Pfarrer?« flüsterte Judith mit angstvoll gespanntem Blick, als lausche sie ihrer Absolution. »Eine Wendung erfinden, die den Verdacht von dem Unglücklichen abgelenkt?« – »Nein«, antwortete der Pfarrer entschieden. – »Oder leugnen, daß ich sah, was ich gesehn?« – »Leugnen bedeutet kaum Geringeres denn lügen, liebe Tochter.« – »Aber schweigen! Mein Verhältnis zu dem Simon bekennen und mein Zeugnis verweigern?«

Der Pfarrer blieb eine bestimmte Antwort auf diese Frage schuldig. – »Die Patrouille,« sagte er nach einigem Sinnen beruhigend, »die Patrouille hatte Euch kaum hundert Schritte durch die Torfahrt vor sich her eilen sehen. Ihr offenbartet nicht mehr, als sie selber wenige Sekunden später entdeckte, entdeckt haben würde auch ohne Eure Dazwischenkunft. Euer Zeugnis war ohne Wert für die Anklage.« – »Nicht um der Anklage willen, Herr Pfarrer, um seinetwillen, dessen Herz mein Zeugnis gleich einem Todesstreich treffen mußte.« – Des Pfarrers Augen senkten sich. Nach einer Pause setzte er der Frage eine Gegenfrage gegenüber. – »Glaubtet Ihr an seine Missetat in jenem Augenblick?« – »Ja«, sagte das Mädchen gepreßt. – »Und seitdem, und heute?«

Ihr Kopf sank tief auf die Brust herab; der geistliche Freund fühlte im eignen Herzen den doppelköpfigen Wurm, der den Frieden des ihrigen zernagte. – »Glauben, das heißt: einer unerweislichen Sache in seinem Herzensgrunde gewiß sein«, sagte er, indem er ihre Hand ergriff. »Meine Tochter, bist du noch heute seiner Missetat gewiß?« – »Nein,« antwortete Judith tonlos, wiederholte darauf aber laut und heftig: »Nein, nein, nein!« – Und: »Nein, nein, nein, aus dem auch meines Herzens!« rief der Pfarrer; »nein, nein, nein! Aller Vernunft, dem Augenschein, ja seinem eignen Zugeständnis zum Trotz! Kein stärkeres Licht als das einen guten Glaubens, meine Tochter! Flehen wir miteinander zu dem Richter aller Seelen, daß dieses Licht eine Leuchte werde, die eine dunkle Kerkernacht erhellt. Zaudern wir nicht, rasten wir nicht, forschen wir, werben wir, kämpfen wir für unsern Glauben an ein Menschenherz; ist er die Wahrheit, wird Gottes Fingerzeig uns zum Siege verhelfen. Und nun vorwärts, liebe Tochter, es ist spät geworden, und ein böses Wetter droht. Ich gehe in Euer Haus, meinen Sylv zu trösten und der erlösten alten Frau den letzten Erdenschmuck in die Hand zu legen.«

Er deutete bei diesen Worten auf den Strauß, den er im Gehen gepflückt, und schloß ihr Gespräch, ein kindlich seliges Lächeln auf den Lippen. – »Atmet diesen Duft, meine Tochter! Süß und kräftig wie keiner, dieser Hauch der kleinen weißen Glocken. Mir klingt's wie Auferweckung, saug ich ihn ein. Auferweckung der toten Herzen, Auferweckung auch der lebenden! Voran, voran, und Gott mit dir, mein Kind!«

Ein Blick

Der Pfarrherr hatte sich von seiner Begleiterin nahe einer Lichtung getrennt, aus welcher sie in früheren Jahren das Waldhaus oftmals mit freudigem Herzen hatte hervorlugen sehen. Heute entdeckte sie es nicht früher, bis sie dicht vor seinem Eingange stand. Dunkle Edeltannen und frischgrünes Strauchgeschlinge bildeten eine Laube, unter welcher die Hütte ihren Verfall verbarg; die Wallhecken waren mannshoch in die Höhe geschossen, die Stege überwuchert, Hof und Gärtchen zur Wildnis ausgeartet, zwischen deren rankendem Gestrüpp eine einzelne Blüte, eine Genziana oder Iris, an die Zeiten erinnerte, wo der Simon sie für die Liebste seines Herzens gepflegt. Die Bienen waren längst ihren Stöcken entflogen, ihr Haus lag in Trümmern, nur der Brunnen rann noch unverkümmert wie damals, und seine abspringenden Tropfen labten die saftigen Kressen, die sich an seinem Rande eingebürgert, seitdem kein Menschenwesen mehr seiner Erquickung bedurfte.

Judith blickte eine lange Weile durch das morsche Pfahlwerk der Heckenpforte. Seit sie ihr Herz vor einem andern entlastet, seit sie jenes laute »Nein« gesprochen und vernommen, empfand sie eine Leichtigkeit, ein friedliches Rastverlangen, das sie seit langen, langen Jahren entbehrt. Ihr graute nicht mehr vor dem gemiedenen Hause; Erinnerung und Hoffnung lockten sie hinein. Sie zog den Riegel von dem Gitter und setzte den Fuß in das kleine üppige Gehege. Seit sie ein Kind war, hatte sie es nicht mehr betreten, und sie dünkte sich wieder ein Kind, so neugierig verlangend spähte sie umher. Das Haus war verschlossen, das Fenster undurchsichtig verstaubt, aber sie vermochte sich nicht alsobald loszureißen; dorthin trieb es sie unter die Weimutskiefer am Wegzaun, Simons stolzen Lieblingsbaum als Knabe schon. An dieser Stelle hatte sie ihn getroffen an dem Tage, als der Vater zum erstenmal im Rausch die Hand gegen die Mutter erhoben und das Mädchen mit seinem Schreck und Schmerz zu dem jungen Freunde geflüchtet war. Er tränkte die Nadelstämmchen, welche der alte Waldheger auf den Wallrand gesät, und sagte – sie hörte es noch, denn es war wohl das letztemal, daß er den kindlichen Trostgedanken ausgesprochen: »Wenn sie Bäume sind, heiraten wir uns, und alles ist gut.« Und sie hatte ihre Tränen getrocknet, ihm das Wasser zum Begießen zugetragen, sich endlich von ihm nach dem Hause zurückführen lassen, das sie in trotziger Empörung je wieder zu betreten verschworen. Jetzt standen die Stämme breit und dicht gleich einer Wand, und der, welcher sie gepflegt –?

Noch regnete es nicht, ein glühender Gürtel schien den Niederschlag zu dämmen; aber die schieferschwarzen Wolken senkten sich tief zur Erde, über eine Weile mußten sie den Gürtel durchbrechen. Die wetterkundige Wirtin überließ sich achtlos der Ruhe eines lastfreien Augenblicks. Sie setzte sich auf den Wallrand unter die niederhängenden Zweige der Kiefer; Geißblatt und Flieder dufteten betäubend in der atemlosen Schwüle; halb im Sinnen, halb in Ermattung schlossen sich die Augen. Sie fühlte jenes elektrische Zucken der Nerven, das nach der Erregung die Schlummerruhe verkündet. »Nein, nein, nein!« flüsterte sie halb schon im Traum.

Aber noch den Laut auf den Lippen schreckt sie zusammen; sie hört einen schleichenden Schritt auf dem Stege jenseit des Zaunes, hört ein Streifen und Rauschen im Gesträuch, und das Auge nach der Richtung gewendet, fühlt sie sich wie gebannt durch einen starren, gläsernen Blick, der durch die Öffnung zweier Äste in das Gehege dringt. Ihre hastige Bewegung scheuchte den Späher. Sie sprang auf, eilte nach der Gittertür und schaute umher. Nein, es war nicht eine Täuschung des Traums, dort floh er, als werde er verfolgt auf dem Wege, der vom Waldhause nach der Landstraße hinüberführte. Sie hatte sein Gesicht nicht gesehen, den glasigen Strahl gleich einem Schlangenblick mehr empfunden als geschaut, sie sah auch jetzt nur den Rücken des Mannes, wie er dem Karren entgegenrannte, der, etwa fünfzig Schritte entfernt, an einem Baum angebunden hielt, wie er sich hinaufschwang, mit Ungestüm den armseligen Klepper antrieb und, ohne sich umzublicken, mit dem Gefährt zwischen den Hecken verschwand. Eine verkommene, höckerige Gestalt, das Bein schleppend und fremdartig ausstaffiert; im breitkrempigen federgeschmückten Hut, langen, steifen, rotgefütterten Mantel, die Zipfel des Halstuches unter dem breiten weißen Halskragen in der raschen Bewegung flügelartig flatternd. Ein Gaukler ohne Zweifel, der im planenverdeckten Wägelchen seinen Kram zu Markt fuhr. Aber was bedeutete dieser stiere, lugende Blick in das von seinem Wege abliegende fremde Gehege, was diese angstvolle Flucht? Dieser Blick, dieser Blick! – Das Mädchen fühlte einen Schauder bis in das Mark, der flüchtige Friedenstraum war verscheucht.

In mächtiger Aufregung schritt sie den Waldpfad entlang. Das Sterbegesicht ihrer Mutter, das ihrer eignen schlaflosen Nächte und – die Gestalt mit dem verglasten Blick, sie schwammen ineinander zu einem verfolgenden Gespenst. Hatte sie es mit jenem »Nein« heraufbeschworen? Lauerte ein Frevel hinter jenem Nein? Ein Frevel gegen die Natur? – Die Luft war erstickend, aber eiskalte Tropfen perlten auf ihrer Stirn.

Und jetzt steht sie an der Stelle, die sie kaum vor einer Stunde einem Fremden mit Worten vorgemalt: das dunkle Tor, der Damm, der Weidensumpf und das Schrecknis lebt auf vor ihren Augen, grell, wie keine Worte es vormalen konnten. Sie sieht den Sinnlosen, Taumelnden: und sie weckt ihn nicht; sie hört die nahenden Tritte, und sie warnt ihn nicht, scheucht ihn nicht. Hinter ihr die Mannschaft; und sie stürzt ihr nicht entgegen, schreit nicht: »Haltet ein! Dieser Mann ist meiner Treue verlobt, und seine Hand ist rein!« Starr vor Entsetzen gleich ihr selber stehen die Bewaffneten, seine eignen Kameraden, die der Zufall als Blutzeugen herbeigeführt, an ihrer Spitze der Hauptmann, dem er bis vor kurzem gehorcht, – der Unglückliche achtet ihrer nicht. Der erste, einzige Blick des Erkennens ist auf Judith, auf sie allein. Er schleudert das Messer von sich, schwankt einen Schritt ihr entgegen, – ist umringt, gefangen. Keine Regung der Abwehr, keine Antwort auf die Fragen des Führers: er starrt nur auf sie in traumhaftem Nebel. Und nun das Verhör der Zeugin und das »Ja«, das sich unwiderstehlich zwischen ihren Lippen hervordrängt. Hundertfach deucht ihr der Widerhall dieses Ja in dem dunkeln Gewölbe. Daß es nicht zusammenstürzt unter dem Schall dieses mörderischen Ja! Ja und Ja, und wieder Ja! Ja, sie kannte diesen Mann. Ja, sie hatte ihn spät am Abend allein mit dem Erschlagenen nach dessen Hause gehen sehen; ja, sie hat ihn vor wenigen Minuten unter allen Anzeichen der Schuld in der Nähe des Opfers angetroffen! Dieses Ja rüttelt den Regungslosen aus seiner Erstarrung; er preßt die Hände vor das Gesicht und steht versunken, sinnt, läßt die Arme sinken und blickt wie erwacht. »Trunken, trunken!« murmelt er, tritt auf sie zu und flüstert: »Trunken!« – Sie weicht zurück vor dem Mörderatem. »Judith, Judith!« ruft er schaudernd, verzweifelnd, und kann sich nicht fassen. Noch einmal forscht der Hauptmann in mildem Zweifel. Er schweigt; der andere drängt, und er antwortet: »Ich war im Rausch! Ich war im Rausch!« – Kein Wort darüber.

So gehen sie nach der Stadt; er der Verbrecher, sie die Zeugin, vor ihnen, hinter ihnen die Wache. Vor dem Richter die nämlichen Fragen und das nämliche »Ja«, das nämliche »Ich war im Rausch«. Keine Rechtfertigung, keine Erörterung, keine Verdächtigung eines andern, nicht ein Name wird herbeigezogen. Ohne Trotz, zerschlagen, haltungslos bleibt er bei dem einen: »Ich war im Rausch!« – Und noch einmal sieht sie ihn wieder, das letztemal. Die Halle gedrängt, Kopf bei Kopf: hier der Ankläger, hier der Verteidiger, die Geschworenen, die Richter und die Zeugen, obenan Judith, die Kluswirtin, die erste, die wichtigste. Ihr gegenüber der Angeklagte totenbleich, aber nicht mehr zerschlagen, haltungslos, nein, hoch aufgerichtet und gefaßt zu einem männlichen Entschluß. Die nämlichen Fragen, die nämliche Antwort; die Rede des Verteidigers warm aus dem Herzen, warm zu dem Herzen; hat der Angeklagte ein eignes Wort hinzuzufügen? »Nein!« spricht er aufrecht mit fester, klangvoller Stimme. »Nein, nichts weiteres. Ich war im Rausch, ich war von Sinnen. Ich kann die Tat getan haben und will sie getan haben, ja, ich will!«

So nackt und klar hatte Judith diese Szenen nicht wieder nachgelebt, weder im Wachen noch im Traum, wie jetzt im Fluge des Gedankens, als sie, alle Sinne aufgerüttelt, mit ungezügelten Schritten dem Schauplatze von damals vorüberstreifte. Hin durch das dunkle Tor, vorbei dem Gericht und dem hohen, schweigenden Gefangenenhause, hinter dessen Mauern der Unglückliche zehn Jahre lang gebüßt. Grabesstill ist es hier, kein Laut dringt hinüber von dem wimmelnden Markt. Sie hört nichts als das hämmernde »Nein«, das in ihr aufgewacht in jener Minute, als sie Simon Lauters letztes, unwiderrufliches Wort vernommen, – um seit jener Minute nimmer in ihrem Herzen zu rasten.

Nur eine Straße weiter, und sie stand im Getriebe des Tages, und von den beiden in ihr mächtigen Wesen regierte wieder jenes, dem sie vor jedem fremden Auge die Oberherrschaft eingeräumt. Sie faßte sich, zügelte ihre Schritte und erfüllte in besonnener Folge den Zweck ihres städtischen Wegs. Der Sarg für die Tote wurde bestellt, Trauerzeug eingehandelt, bei dem Lehrer Sylvians verzögerte Rückkehr bis nach dem Begräbnisse entschuldigt. Sie hatte sich bis jetzt in stilleren Nebenstraßen halten dürfen, nun war das Gedränge nicht länger zu vermeiden, denn das Haus des Predigers lag am Domhof, dem Sammelplatze des Marktvergnügens.

Als sie sich durch das Budengewühl längs der noch unbelaubten Lindenreihen wand, sah sie ein fahlgelbes Feuer hinter der Wolkenschicht zucken, die schieferfest, einer Säule ähnlich, tief, wie mit Händen zu greifen, über dem Platze hing; trotz des Menschenschwirrens hörte sie ein grollendes Rollen, spürte einen Schwefelbrodem in der atemlosen Luft. Ein Ausbruch drohte mit lange verhaltener Wucht. Doch hoffte sie vor demselben noch das Geschäft bei dem Prediger zu erledigen und in dem Laden ihrer Händlerin einen oder den andern ihrer Dienstleute anzutreffen, um, nachdem das Wetter sich gelegt, den Heimweg in ihrer Begleitung anzutreten. Denn die Dämmerung war im Hereinbrechen, und sie mußte darauf gefaßt sein, ihren Hof nicht vor der Nacht zu erreichen.

Keiner der lärmenden Marktgäste schien indessen ihre Voraussicht zu teilen; nur die fürsorglichen Krämer legten ihre Waren ein und schlossen die Buden. Gekauft wurde ohnehin wenig mehr, seitdem Hofwirte und Wirtinnen den morgendlichen Wochenmarkt verlassen. Der Nachmittag gehörte der Jugend, galt dem Spiel, dem Trunk und Tanz, dem letzten Juchhei. Das schiebt und stößt sich an den Lebkuchenbänken, den süßen Tauschplätzen ländlicher Galanterie! Der Bursche feilscht für seine Dirne um einen braunen Schatz, die Dirne für den Burschen um ein weißes Herz; und nun ein Buchstabieren und Erläutern der aufgeklebten Reime, unverblümte Neckereien, lautschallendes Gelächter, und Arm in Arm gassenbreit voran unter Lust und Schabernack, bis die Sonne sinkt und der Tanz in den Schenken im Schwange geht. Immer dichter wird der Knäuel. »Stück für Stück einen Silbergroschen!« schnarrt der billige Mann. »Stück für Stück einen Mariengroschen!« überbietet ihn sein Nachbar, und so weiter die Reihe entlang. In den Spielbuden um noch kleinere Münzen der lockendste Gewinn. Wie gierig die Blicke und glühend die Backen unter Pudel-und Kapselmütze! Die Würfel rollen und – wie tobend Enttäuschung und Jubel! Ein Pfeifenkopf, ein rosendurchwirkter Hosenträger der Magd; ein spruchgeschmücktes Strumpfband dem Knecht; Schachern, Tauschen, Höhnen, Schmunzeln und vorwärts zu neuem Glücksversuch! Die Masse lockert sich. Würzige Düfte, kreischende Anlockungen verkünden ein weibliches Bereich. Hinter mächtigen Tonnen wird der unvermeidliche Hering für den Heimweg in Stroh gewickelt; saftige Würstchen brodeln über dem Kohlenbecken, Solei und Bückling sind Leckerbissen auch bei achtundzwanzig Grad über Null und in Erwartung einer minniglichen Ballnacht; zartere Gaumen locken Magdeburger Schmalzbrocken und holländische Waffeln heiß aus der Pfanne.

Ein Schritt weiter, und das schnurrende Rad des Scherenschleifers bildet den Übergang zu den öffentlichen Schnellkünstlern des Gemeinnutzens: der Kittenjakob hier, der den zerbrochenen Krug im Handumdrehn heil lötet, der Schmierjokel dort, der den fettigsten Rockkragen wieder blank und neu bürstet. – Der Menschenstrom stockt: die Wunderschau der Raritäten beginnt. Abgerichtete weiße Mäuse und fabelhafte Siebenschläfer; plaudernde Vögel, Vögel in allen Farben des Regenbogens und an Figur doch nicht unterschieden von heimischen Elstern und Spatzen. Wehe ihrer Zierde, wenn der schwarze Kegel da oben sich entladet! Auch Freund Petz zeigt sein Geschick, Kamel und Affe fehlen nicht; an tanzende Hunde schließen sich menschliche Zauberkünstler, Bauchredner und Taschenspieler, die im Lampenqualm der Schenke am Abend ihre Stücke mit eindringlicherer Wirkung wiederholen werden.

Sie sämtlich finden indes nur ein wandelndes Publikum, das im Vorüberstreifen einen Augenblick haltmacht und, wenn der Tribut der Verwunderung gesammelt wird, mit lachender Eile vorwärts drängt. Um so brennender die Anziehung des nächstfolgenden Raums; in Tierbuden und Panoramen lösen die Schulklassen sich ab, drängen hinaus und folgen jubelnd den Lockungen der Trompeten und Pauken zu einer Rundfahrt auf dem Karussell. Todesmutig, Rippenstoß um Rippenstoß strebt und ringt die kleine Welt mit der bewaffneten Landesmacht, mit den Fäusten, die Zugstier und Dreschflegel regieren. Hoch zu Roß, die Beine ausgespreizt, triumphiert die Amazone in der Kapselmütze; den Glimmstengel zwischen den Lippen, wiegt sich der Musketier im bequemen Phaeton, an seiner Seite die ehrwürdige Kindermuhme, den flachslockigen Pflegling, das Püppchen im Arm, auf ihrem Schoß; kein leuchtenderes Augenpaar auf dem Markt als das des barfüßigen Buben, der, an den Schweif des Schimmels geklammert, sonder Schoß und Gebühr sich auf die Rundbahn geschwungen. Schmetternder Tusch! Die Reise beginnt!

Hart an seiner Seite, längs der Nordseite des alten Domes, harren ernstere Marktgenüsse. Feierlich, grauenhaft, Mark und Bein erschütternd ragen die Schauerbilder der blutigen Mordtaten alter und neuer Zeit. Das Gedränge wird lebensgefährlich, Kopf bei Kopf lauscht die Menschenmauer, starr und stumm folgen ihre unverwendeten Blicke dem Stabe des Erklärers. Kaiser und Könige, Priester und Weltbürger, stolze Ritter und zarte Frauen, aber auch arme Teufel, geringes Volk wie die Hörer und Schauer, bluten da oben aus wundenzerfleischtem Leib; Gift und Dolch werden nicht gespart; im Hintergrunde lauern Schafott und Galgen, Folter, Henker und Rad, – lauert vor allem auch die alte heimische »Wyd« des entlarvten Missetäters. Mit kläglichem Tonfall, gereimt und ungereimt wird der alte und neue Pitaval, werden die Schauerlügen der Feme in die Herzen geträufelt; zwischen Bild und Bild, unter obligater Orgelbegleitung, krächzt eine weibliche Stimme die abschließende Moral. Seufzer klagen, Tränen fließen, ein Schrei entringt sich der geängsteten Brust, das Haar sträubt sich unter Kapsel- und Pudelmütze; aber ohne Mordtaten kein Marktvergnügen, nach dem Schauerkitzel der Mordtaten erst der rechte Jubel beim Schenkentanz!

An all dieser Augen- und Ohrenschau ging die ernsthafte Kluswirtin achtlos vorüber, auch ein Schauerbild im Herzen, aber eines, das noch keinen Erklärer gefunden. So hastig das Getümmel es gestattete, steuerte sie dem Predigerhause zu, das an der Schmalseite des Platzes, dem hohen Kirchenchore gegenüber, gelegen war, eine der säkularisierten Stiftskurien, im Angesichte des katholischen Gotteshauses dem protestantischen Prediger als Dienstwohnung eingeräumt und mit ihren gemeißelten Wappenschildern inmitten der Steinbrüstung der Auffahrt an glänzendere Tage erinnernd, als sie die Nachfahren Doktor Luthers zu genießen pflegen.

Die Reihe der Schaubilder hatte mit den Rücklehnen der Kirchenpfeiler aufgehört; die schmale, stille Gasse, die bis zum abschließenden Kreuzgang den Dom zur Hälfte umkreist, mußte freigehalten werden. Hier aber, dem lutherschen Hause gegenüber, schien sich ein Nachzügler eingerichtet zu haben, dessen schmetternde Einladung einen immer dichteren und dichteren Menschenknäuel an sich zog. Noch hatte die Darstellung nicht begonnen, der vorläufigen Ankündigung folgte das Ausbieten der gedruckten Textexemplare, anlockend durch die Hälfte des üblichen Preises. Dennoch aber war das Publikum nicht geneigt, die Katze im Sack zu erstehen; keine Hand regte sich nach den vorgehaltenen Bogen, bis man sich durch den mündlichen Vortrag von seinem Grauen- oder Tränenwerte überzeugt, während dahingegen aller Augen mit einem Ausdruck der Überraschung oder Vorahnung nach dem Bilde gerichtet waren, das auf dreifüßigem Gestell vor ihnen aufgerichtet stand. Man staunte, deutete, munkelte, winkte einander herbei, schüttelte die Köpfe und drängte immer näher und näher.

Judith merkte nichts von diesem auffälligen Gebaren; das Bild wie seinen Erklärer deckte die lebendige Mauer, durch die sie sich wand, und das, was lichtscheu und lichtverlangend zugleich in ihrem Innern wühlte, stumpfte sie ab für jede Erregung der Phantasie. Von einer Menschenwoge erfaßt, wurde sie Schritt für Schritt die Rampe hinangetrieben, deren Erhöhung den günstigsten Aussichtspunkt gewährte, und hatte schon die Hausklingel gezogen, als die Stimme des Ausrufers ihr Ohr erreichte: »Freund für Freund! Eine stumme Heldentat, so auf Roter Erde sich zugetragen. Wer Ohren hat zu hören, der sperre sie auf, wer ein Herz hat zu fühlen, der öffne sein Herz! Horcht, horcht, schaut, kauft! Freund für Freund auf Roter Erde!«

Die Stimme war die eines Schwachen, der sich anstrengt stark zu sein, der Akzent ein fremdländischer, beide, Klang wie Laut, der lauschenden Kluswirtin unbekannt. Dennoch stockte ihr Atem. Der Titel, die hochgeschraubte Anlockung, ein fistulierendes Heben des Tons – sie fühlte unwillkürlich wieder den gläsernen Strahl in der Tannenwand und kämpfte mit vollen Kräften um einen freien Blick auf das Bild und seinen Erklärer. Aber sie kämpfte vergeblich; die Tür wurde durch einen Druck von oben geöffnet, und sie betrat die Predigerwohnung in so unruhiger Beklommenheit, daß sie sich eine lange Weile auf den Zweck ihrer Vorsprache besinnen mußte. – Sie fand ihren Seelsorger im Familienkreise geistlicher Amtsbrüder, welche den zerstreuten protestantischen Gemeinden im nördlichen Umkreise vorstanden und samt Frauen und Kindern stundenweit zu Marktkauf und Marktschau gekommen waren. Er hatte daher wenig Muße zu Teilnahmsbezeugungen, und die Angelegenheit war mit kurzen Worten beendigt. Der heißen Witterung halber schon am übernächsten Morgen sollte die Beerdigung stattfinden, selbstverständlich ohne ein Jota von den Ehren und Rechten eines im gereinigten Glauben verschiedenen Gemeindegliedes aufzugeben oder die Bereitwilligung des katholischen Pfarrers höher als eine zuständige Gebühr anzuschlagen.

Zu einer andern Stunde würde die sinnvolle Kluswirtin das Haus nicht verlassen haben ohne betrachtenden Vergleich dieser geschäftlichen, nur im Proteste eifrigen Abfertigung eines Zugehörigen mit der milden Eingänglichkeit des Fremden, dem sich in der ersten Stunde ihre Seele erschlossen; möglich auch, daß der Einfluß oder der Mangel an Einfluß jener sich auf das Amtliche beschränkenden Kürze auf ihr eignes Gemütsleben ihr nicht entgangen wäre. Heute dachte sie nichts als: »Hinunter, hinaus, Aug in Auge dem Bildermann des ›Freund für Freund‹.« Während ihres Verhandelns hatte sie, heimlich nach der Straße hinunterlauschend, einen einleitenden Sang vernommen, dem Wortlaute nach ihr unverständlich, heiser krächzend, und statt der üblichen Orgel von einer Violine begleitet. Sie stürmte die Treppe hinab und öffnete die Tür mit zitternder Hand; der Sang war verstummt, und die Geigenbegleitung schloß in dem Augenblick mit einer eigentümlich schrillen Figur, die das Blut in ihren Adern stocken ließ. Sie hatte diese mißtönige Melodie schon gehört, oftmals, vor langer Zeit, dann nicht wieder; wie die Zauberformel einer fremden Sprache wachte sie auf in dem unmusikalischen Ohr und spornte die Kräfte zu unwiderstehlicher Anstrengung.

Ein Platz nahe der Brüstung war errungen, der Geigenspieler aber von dem Gewühl unter der Rampe gedeckt. Ihr Blick streifte das Bild, das auf gleicher Höhe mit ihrem Stand, kaum zehn Schritt von demselben entfernt, trotz des Wolkendunkels noch deutlich erkannt werden konnte. Nicht auf Wachsleinwand, sondern in starken Umrissen auf Pappe gemalt, nahm es einen umfänglicheren Raum ein als die Nachbarstücke, wie es denn auch durch die grell aufgetragenen Farben schon von weitem in die Augen sprang. Nicht minder unterschied sich die Anordnung von der gewohnten, indem die Fläche, statt in viele kleine Felder mit liliputischen Figürchen zu zerfallen, der Breite nach eine doppelte ineinandergreifende Handlung darstellte, in welcher die nämlichen drei Gestalten in halber Lebensgröße, und daher von sich einprägender Wirkung, vorgeführt wurden. Über und unter diesem Hauptfelde boten in verjüngtem Maßstabe zwei sehr verschiedenartige Landschaftsbilder gleichsam Eingang und Abschluß. Oben: ein stattliches Ziegelhaus in sichtlichem Verfall, grüne Lauben und ein Schenkenzeichen vor der Tür, durch welche ein junger Stutzer, Stock und Wandersack in der Hand, das bunte Taschentuch vor die Augen gepreßt, mit den Gebärden der Verzweiflung seinen Ausgang nimmt. Unten: ein wildbrausendes Meer, ein strandendes Schiff, als Staffage aber an unwirtlicher Felsenklippe der nämliche Stutzer halbnackt, ein Skelett, und mit dem Unterteile bereits im Rachen einer grauenhaften Bestie, die, halb Schlange, halb Tiger, aus den Wellen lugt und den händeringenden Burschen im nächsten Augenblicke verschluckt haben wird.

Der Haupteindruck indessen, wie gesagt, wird durch das große Mittelstück hervorgebracht, auf welchem der stutzerhafte Held in Gesellschaft zweier andern in Handlung tritt. Der eine im gegürteten Faltenkittel und schwarzen Bergmannsschurz, groß, schlank, schön, die buchstäblich goldenen Locken gleich einer Cherubsglorie auf dem Haupte in die Höhe strebend; der andere kurz, dick, rot wie ein Krebs, mit violetter Kartoffelnase und hellgrauem Rock und Hut; alle drei sichtbarlich erhitzt, und zwei von ihnen, der Held und der Graurock, in einem Ringkampfe sinnloser Wut. Die Szene ist wieder im Freien. Blutiges Morgenrot, eine kahle, glatte, gradlinige Erhöhung, auf welcher zwei schwarze Streifen eine Bahnschiene bezeichnen mögen. Zu ihren Füßen spinatgrünes Gestrüpp. Der Gegenstand des Haders scheint ein weiblicher Schattenriß, welchen der Graue dem Helden zu entreißen sucht, während dieser ihn dem mit dem Schurzleder entgegenstreckt. Ein handfester Stoß des Grauen bringt den armen, auf seinen Füßen nicht sicheren Cherub in Taumel. Gnade ihm Gott! Rollt er die Anhöhe hinab, bricht er den Hals; der Held aber wird ihn rächen; schon ist sein Reisedolch gezückt nach des wütenden Graurocks Brust.

Auf der zweiten Hälfte des Bildes die nämliche Szene. Die Sonne steht hell am Himmel; unten im Gestrüpp liegt der Graue, mit Blut beschmiert, den Dolch in der Brust, eine Leiche; neben ihm kniet der Cherub, die Hände gefaltet, von einer Söldlingsschar umringt, die den lammstillen Dulder in Ketten schlägt. Am äußersten Ende der Erhöhung ein Dampfzug, voran die glühende Maschine, und der Held, gesträubten Haares, mit weitausgespreizten Schritten und den Gebärden des Ewigen Juden ihm entgegenstürzend.

Alles das, was viele Worte doch nur halb beschrieben, das Absichtliche, Übertriebene, nur für die eine Beschauerin Charakteristische der Schilderei, das war in einem einzigen Blick, einem Augenaufschlag wie mit glühender Platte ihrer Fassung eingegraben. Im nächsten Moment lag das Gestell umgestürzt am Boden. Ein Wirbelwind hatte jach die regungslose Luftschicht durchbrochen, ein krachender Stoß die leichte Budenwelt geschüttelt. Der Geigenspieler, sein Instrument unter dem Arm, stürzte hervor, das Kunstwerk zu retten. Eine verkommene, höckerige Gestalt, hinkend, in flatterndem, rotgefüttertem Mantel, den Kragen von steifem Papier breit darüber geklappt. Ein Windstoß führt den Federhut hoch in die Luft, der Kopf ist kahl wie eine Hand, das Gesicht lederartig gelb, mit bläulicher, dünner Nasenspitze und einem schwarzen Ziegenbart bis auf die Brust hinab; er hat nur ein lebendiges Auge und das nicht weniger vorstehend als das zweite, das künstlich von Glas in die leere Höhle gedrängt ist.

Wieder nur ein einziger Augenblick! – Ein gellender Schrei aus einem Weibermunde erstickte in einem donnerkrachenden Aufruhr der Natur, in tausendstimmigem Gekreisch. Es ist plötzlich Nacht geworden; der Wolkenkegel schießt zu Boden; die Domglocken rühren sich wie von Dämonenhand geläutet, der Platz zu Füßen steht verwandelt in einen See, aus welchem das Wrack des Bretterbaues emportaucht, seine Leinendächer gleich Segeln vom Sturme zerfetzt in die Lüfte wirbeln. – Im Nu war die Tür des lutherischen Hauses in Stücke getreten; Judith sah sich inmitten eines drängenden, ringenden, ächzenden, schreienden Getümmels.

Licht

Nach Art so gewaltsamer Phänomene währte der jähe Sturz kaum Minuten lang. Die Windsbraut fegte die Wolken auseinander, und Blitze zuckten, Donnerschläge grollten noch geraume Zeit gen Osten, als schon der Scheidestrahl der befreiten Sonne das Kreuz des Domturmes wieder übergoldete. Aber welcher Jammer der Zerstörung unter der vor kurzem noch so vergnüglichen Welt! O, unglückseliger Jubilatemarkt! Zuckerherzen und Wundergeschöpfe, Mordbilder, Würstchen und Waffeln, dahin treiben sie zwischen den Rossen und Kaleschen des Karussells, zwischen Brettern, Kisten und Ballen, um unter Ach und Krach in Schlamm und Sand sich aufzulösen. Petz und Konsorten schwimmen brüllend mit stummen Heringen und Bücklingen um die Wette.

Und nicht nur diese leichtgerüstete Eintagswelt, – Fenster, Dächer, Schornsteine, ganze Gebäude selber knicken ineinander in Sturm und Strom; hügelhoch sperrten Schutt und Trümmer den abfallenden Gießbächen den Lauf; stauend reißt die Flut sich Bahn selber in die höher gelegenen Höfe und Häuser, preßt von den Kellern herauf, bedroht unterwühlend die oberen Geschosse. Vom Stall bis zum Giebel angstvoller Hülferuf; ersäuft, erschlagen schwimmen die Haustiere zwischen Balken und Geröll; offene Särge, Kinder in Wiegen treiben einher, schreiende Mütter, Männer, bis unter die Arme im Wasser, arbeiten gegen die Wogen. Hier gilt es die Hülfe Tausender für Tausende. Auch denkt im ersten Entsetzen keiner der ländlichen Gäste daran, die Stätte der Verwüstung zu verlassen und dem leichtlich nicht minder gefährdeten Heimwesen zuzueilen.

Nur Judith achtete nicht auf die allgemeine Not. In ihrer Seele raste ein Wettersturm, mächtiger als der der äußern Natur; gleichgültig hätte sie wohl einer Sündflut und dem Weltenuntergange zugeschaut. Als aber die Menschenschicht, zwischen welcher sie eingekeilt gestanden, sich lockerte, da war sie die erste draußen auf der Rampe und spähte zwischen den leblosen Trümmern nach einer einzigen armen menschlichen Figur. Das Gestell hatte sich zwischen den Fugen der Brüstung festgenestelt, das Schaubild war verweht, zerweicht, zerrissen, Gott weiß, – der Geigenspieler verschwunden. Ihn muß sie suchen, finden. Auf seiner Zungenspitze ruhen Ehre und Freiheit eines Menschen, ruht der Frieden ihres eignen kommenden Lebens.

Entschlossen schritt sie vorwärts, als noch kaum einer sich unter den strömenden Himmel gewagt; oftmals bis an die Knie im Wasser, sprang sie von Stein zu Stein, wand sich horchend und lugend durch Gassen und Winkel der Niederstadt, in welcher die Schenken des Volkes gelegen sind. Bald indessen durfte sie diese Richtung aufgeben; ein Bächelchen, zum Strome angeschwellt, hat Brücken und Stege fortgerissen, kein Marktflüchtling das jenseitige Ufer erreichen können. Sie stieg die Oberstadt hinan, deren steil abfallende Straßen der Guß abgespült wie ein sauberes Geschirr und an deren festeren Gebäuden das Unwetter wenig Schaden getan. Fragend, forschend, stöbernd eilte sie auch hier von Haus zu Haus. Stunden vergingen, die Nacht war tief hereingebrochen, die halbe Mondscheibe, von dunkeln Wolken überflogen, gab nur ein schwaches Dämmerlicht. Aber Judith rastete nicht, sie verzagte nicht, sie fühlte nicht Nässe noch Ermüdung. Sie mußte ihn finden; ihr innerstes Leben pulsierte in der einzigen Leidenschaft: »Ihn finden!«

Straßauf, straßab gelangte sie endlich an die Stelle zurück, von welcher sie ausgegangen, und lenkte, einer unwillkürlichen Eingebung folgend, in die Gasse, welche die Ost- und Südseite des Domes umspannt und durch eine den Kreuzgang mit dem Kirchenschiffe verbindende, halb verfallene Kapelle abgeschlossen wird. Nur Gärten und Hinterhöfe münden in diesen stillen Winkel; auch bemerkte sie rings nicht ein lebendes Wesen und war im Begriffe umzukehren, als das Wiehern eines Pferdes sie stutzen machte. Sie ging dem Schalle nach und stieß in der Tat auf ein Gefährt, dem ähnlich, das sie auf der Straße am Waldhause wahrgenommen. Es mochte schon vor dem Unwetter unter einem offnen, Feuertonnen und Leitern als Obdach dienenden Vorbau der Kapelle angebunden sein, denn es hatte keinerlei Beschädigung erlitten, und die Mähre fraß gelassen aus dem vorgehängten Eimer.

Der Mond drang in diesem Augenblicke mit scharfem Lichte durch die Wolken. Kein Zweifel, es war der Karren von diesem Nachmittag. Wo aber war der Fuhrmann, der Geigenspieler mit dem glasigen Blick? Mit zitternder Hand hob sie die Seitenwand des Verdecks, und – so mag es dem Giftgräber zumut sein, wenn er auf die verborgene Ader stößt, die anderen Arznei werden soll und ihm selber den Tod bringen kann, wie dem Mädchen, als es den kleinen, kahlhäuptigen Mann am Boden liegend entdeckte. Seine Augen waren gebrochen, die Zähne übereinander gepreßt, die Lippen weiß beschaumt, die Glieder verrenkt. In der Rechten hielt er ein Fläschchen, dessen dunkler Inhalt noch am Barte herunterträufelte. War es Gift? War er tot? – Sie stieg in den Karren, und keine Mutter tastet mit angstvoller gespannter Seele nach Puls- und Herzschlag ihres Lieblings, als sie nach denen dieses elenden Krüppels. »Gott ist gerecht! Er lebt!« flüsterte sie. Sie löste den durchnäßten Anzug und hüllte den erstarrten Körper in trockene Kleider und Decken, die in einem Bündel im Winkel lagen. Es überraschte sie nicht, daß während dieser Bemühung der Höcker, eine künstliche Wulst, der schwarze Ziegenbart, eine Maske, zu Boden rollten. Aber welches armselige Geripp, nachdem die entstellende Hülle gefallen! Sie gab dem Kopf eine erhöhte Richtung, und nachdem sie noch eine Weile sorgsam lauschend das matte, aber gleichmäßige Atmen eines Schlafenden vernommen, schwang sie sich auf die vordere Bank, ergriff die Zügel und lenkte dem nach ihrem Dorfe führenden Tore zu.

Unbeachtet wand sich das kleine Gefährt radtief in Schlamm, Schutt und Wasserlachen, durch drängendes Volksgewirr bis zum jenseitigen Ufer. Der im Schwellen heftig rauschende Fluß hatte eine Wetterscheide gebildet; drüben nirgends eine Spur gewaltsamer Zerstörung. Während dort jedoch der Bruch der Wolken so rasch geendet als er eingetreten, war er hier bereits in einen sickernden Landregen übergegangen. Der Schlummernde lag geschützt unter dem Verdeck, die Führerin aber empfand ohne Schauer das kalte Geriesel über den von einem innerlichen Brande durchglühten Leib.

Die Straße war menschenleer. Die Kluswirtin mochte die erste sein, welche die Stadt verlassen, und die Kunde von deren Heimsuchung hatte sich noch nicht verbreitet, um Neugierige oder Hülfeleistende herbeizuziehen. Der Notruf der Sturmglocken aus den jenseitigen Dörfern verhallte im Rauschen von Regen und Wind, der Mond drang nur mit mattem Schimmer durch die dichten Wolkenlagen. Auch in Judiths Seele war es sturmdurchbrauste Nacht. Das Unbegreifliche, was diese Stunden ihr vorgeführt, es bot keinen Halt, keinen Zusammenhang, keine Lösung. Ein Klang, ein Blick, schwerlich ohne vorbereitetes Mahnen das Bild der Erinnerung erweckend und diesem Bilde in keinem Zuge ähnlich; eine abenteuerliche Schauszene, nur durch den Einklang mit ihren eignen Grübeleien, durch ihr allein verständliche Besonderheiten bedeutungsvoll! Rätsel und Zweifel, nach welcher Seite sie sann; Schmach und Qual, wenn ihre Ahnung Wahrheit wurde. Aber zwischen diesem verwirrenden Dunkel ein hellstrahlender Stern: der Stern der Gerechtigkeit, der eine ewige Leitung bekundet.

Je mehr sie sich ihrem Gehöfte näherte, zwang sie sich, ihre Gedanken auf das zunächst Erforderliche zu richten. Sie konnte darauf rechnen, ihre Leute noch nicht heimgekehrt zu finden, auch bedurfte sie der Einsamkeit – der fremde Gast mußte verborgen gehalten werden. Vor der Torfahrt stieg sie ab und lauschte nach allen Seiten; im Hofe wie auf der Straße alles still: der Fremde schlief ohne Regung. Sie spannte das Pferd aus und trieb es durch die Heckentür in den Kamp. Noch einen Blick unter die Leinenplane – keine Bewegung. Beruhigt ging sie voran. Hof und Haus standen unverriegelt, der fromme Sylv, – nein, nimmer hätte er einen Wirt gegeben! Da lag er auf seinen Knieen, den Rosenkranz in der Hand, eingeschlummert zu Füßen der toten alten Frau. »Wohl der Mutter, wehe dem Kinde!« murmelte Judith mit krampfhaft über der Brust gefaltenen Händen, als sie, leise herbeischleichend, das friedliche Bild durch die offne Kammertür überschaute. Sie wechselte im Fluge die Kleider, zündete die Laterne an, nahm den Schlüssel zu der Giebelstube, die sie heut morgen zum erstenmal seit zehn Jahren geöffnet, und ging nach dem Karren zurück. Der Fremde war erwacht. Von dem Torflügel gedeckt, beobachtete sie ihn eine Weile, wie er, aufgerichtet auf der vorderen Bank stehend, mit dem Blicke eines Schlafwandlers um sich schaute. »Die Klus!« sagte er mit verwundertem Ton; »die Klus!«

Judith trat vor, reichte ihm schweigend zum Herabsteigen die Hand und leuchtete ihm ebenso schweigend über den Hof voran. Er folgte wie im Traum. Auf der Treppe stockte er mehr als einmal, strich mit der Hand über die Stirn, schien zu erwachen, sich zu besinnen. Vor dem Eintritt in das Zimmer schreckte er zurück, und nachdem er die Schwelle überschritten, schielte er scheu in alle Winkel des Raums, über das ungeordnete Gerät, zwischen jedem Blicke aber zu der Wirtin hinüber, die, noch immer stumm, die Laterne auf den Tisch setzte und keine seiner Bewegungen unbeachtet ließ.

Sie kramte einen vollständigen Anzug aus der Lade im Hintergrunde und sah ein kindisches Lächeln des Fremden Gesicht überfliegen, als sie die bunte Troddelmütze und den türkischen Schlafrock, in welchem der eitle Gesell, ihr Bruder, vor Jahren zum Ärgernis der Nachbargäste einherstolziert, mit dem stummen Bedeuten, die durchnäßten Kleider dagegen zu vertauschen, vor ihm ausbreitete. Darauf sich entfernend und nach kurzer Weile mit einem erwärmenden Aufguß zurückkehrend, fand sie ihn umgekleidet und, einen kleinen Spiegel in der einen, die Laterne in der andern Hand, sich selber musternd und vergleichend vor dem Konterfei des einstigen Bewohners. Eine Minute lang hielt sie sich unbemerkt unter der leise geöffneten Tür. Auch ihr Auge flog prüfend von dem Bilde auf den Beschauer und von dem Beschauer auf das Bild. Jener vollockige, blitzende, übermütige Jugendkopf und dieser kahle, glasige, hohlwangige Totenschädel, konnten sie eines Menschen sein, eines Menschen Sonst und Jetzt, und dazwischen nur eine Spanne von zehn Jahren des ersten Mannesalters? – Dennoch! – »August!« rief sie, entschlossen in das Zimmer tretend. – Der Fremde schrak zusammen und stellte hastig Laterne wie Spiegel beiseite. Den Ruf schien er überhört zu haben. Er stürzte gierig mehrere Tassen hinunter, welche die Wirtin ihm einschenkte und welche ihn sichtbar belebten.

»August!« sagte sie jetzt noch einmal mit eisernem Ernst und durchdringendem Blick, und »August!« nach einer Stille zum dritten Male. – Gleich einem elektrischen Schlage zuckte es durch den Körper des seltsamen Mannes. Seine Wangen färbten sich, das eine lebendige Auge blickte mit klarem Bewußtsein, er richtete die zusammengesunkene Gestalt straff in die Höhe, von Kopf zu Fuß ein anderer, als der er bis vor wenigen Sekunden gewesen. »Ich heiße Brown, Madame«, sagte er mit tiefer, gemessener Stimme und ausländischem Akzent. »James Brown, Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika, wie der Paß in meinem Taschenbuche Ihnen beweisen kann.« – Als Judith aber nicht alsobald ein Wort der Entgegnung zu finden wußte, fuhr er geläufiger fort: »Ich bin in einem Gasthause, so scheint's. Wie ich dahin gekommen, weiß ich nicht. Ein heftiges Wetter überraschte mich auf dem Markt. Ich leide an Krämpfen, Madame, ›böses Wesen‹, irre ich nicht, nennt man es hierzuland. Böses Wesen, richtig, vollkommen richtig ausgedrückt. Sehr böses Wesen in der Tat. Ich fühlte es nahen, ich nahm meine Tropfen. Laudanum, Laudanum, Madame! Daher die Betäubung. Weiß nichts seit dieser Zeit, rein nichts. Wie lange mag es sein? Es ist Nacht. Mich dünkt, ich sei gefahren. Aber ich kann es geträumt haben. Wo ist mein Wagen, mein Pferd? wo bin ich, Madame?« – Schauspielerte der Mensch? war er wahnsinnig? Judiths Herz kämpfte zwischen Entrüstung und Zweifel. »Du nanntest die Klus; du kanntest sie wieder, August«, sagte sie nach einer Pause.

»Ich heiße Brown, Madame,« fiel er ein; »James Brown, Bürger von Massachusetts, United States. Bitte meine Papiere einzusehn. Vor wenig Tagen visiert vom königlichen Konsul in Bremen, alles in Ordnung, Madame. James Brown, so ist's. Und die Klus, die Klus! Wie ist mir denn? Ja, ja, ganz recht: die Klus, so hieß das Gasthaus an der Landstraße, aus welchem mein Schiffskamerad gestammt. Die Klus! Unglücklicher Mann, grausam unglücklicher Mann, Madame, mein Kamerad! Es ist eine Weile her, zehn Jahre mögen es sein. Wir litten Havarie. Er und ich ganz allein von der Mannschaft gespült an eine Klippe. Drei Tage lang zwischen Himmel und Ozean, ohne einen Tropfen und Bissen, schrecklich, schrecklich, Madame! Seine Lebensgeschichte gehört. Eine Beichte, sozusagen. Er war Katholik. Ich bin Protestant, Protestant, so ist's! Durfte ihn absolvieren, denn seine Reue war aufrichtig, bei Gott aufrichtig, Madame, und die Strafe grausam. Am dritten Tage verschmachtet. Ich hielt es länger aus. Wurde gerettet. Ein vorbeisegelndes Schiff, ein Wunder beinahe, ein Wunder, gehört aber nicht hierher. Die Geschichte hat sich mir eingeprägt, – sehr natürlich unter diesen Umständen! – als hätte ich sie erlebt. Brachte sie zu Papier, zu Bild. Ich bin Künstler, Madame, Maler, Rhetor, Improvisator, Schauspieler, alles bei Gelegenheit, wir lieben das drüben, Madame. Nicht steif und einseitig, Uncle Sam wie Vetter Michel im alten Land. Habe Glück mit der Geschichte gemacht. ›Leichtsinn und Edelmut‹ war sie benamst. Eine Kuriosität der letztere, der Edelmut, heißt das, für Uncle Sam. Mehr in Deutschland zu Hause, aber wohl auch kaum im Überfluß; nicht so, nicht so, Madame? Wollte das Träumervolk kennen lernen, studieren. Bin Tourist, Forscher von Natur. Habe viel unter Deutschen gelebt. Aber Quelle ist Quelle! Spreche Ihre Sprache passabel, finden Sie nicht? – Aber zurück zu meiner Geschichte. Ein Deutscher übersetzte sie für einen Dollar. Armer, dummer Teufel, wie alle Deutsche drüben, damned Dutch! für einen Dollar, bah! einen Druckbogen Verse und gereimt sehr gut, sehr gut, Madame. Vor vier Tagen gelandet, heute aus Zufall in der Stadt zum Markt; aus Zufall, so ist's. Sie waren in der Stadt, Madame, nicht so? Sie sahen das Bild, ja, ja, das Bild! – Windhose, Wasserhose, – Kinderspiel hierzuland, solch ein Sturm! – Krampf, Laudanum, Taumel; so ist's, Madame, so ist's!« –

Die unglückliche Judith stand wie verschüttet unter diesem Schwall. Hätte sie noch gezweifelt, der letzte Zweifel würde entflohen sein. Ja, das war ihr Bruder, das war der Gust! Zeit, Elend, eine fremde Welt, Laster, Krankheit und ein heimliches Verbrechen hatten die Gestalt verwandelt; der windige Geist, der Unrast, der Possenreißer war geblieben. Das Erbarmen mit einer verurteilten Seele, das Grauen vor blutigen Enthüllungen, vor Schmach und Strafe schwiegen still in ihrer Brust, sie fühlte nur die Verachtung von ehedem, fühlte einen Haß, eine Erbitterung, die ihr die Kehle krampfhaft zusammenschnürten, sah nur den ungeheuren Kampf, der ihrer wartete.

»Sie sind mir die Antwort schuldig geblieben, Madame«, fuhr der Fremde nach einer Pause fort, in welcher er die Gegenstände im Zimmer neugierig gemustert und betastet hatte. »Auf der Klus, sagten Sie. Aber wie bin ich auf die Klus gekommen? Die Klus, in der Tat, die Beschreibung trifft. Mein Kamerad war weitläufig über die Klus, schrecklich weitläufig, Madame. Heimweh nennen sie das Ding hierzuland. Kein Wort dafür drüben, nicht bekannt das Ding, Unsinn, Unsinn! Heut im Nord, morgen im Süd. Geldmachen die Losung, Geschäfte machen, sein Glück machen, wachsen, Madame, wachsen, den Baum verpflanzen, bis er sein Erdreich gefunden; nicht Wurzel schlagen, kleben an der Scholle, auf welche der Wind das Samenkorn geweht. Langweilig das, dutch, Unsinn, Unsinn! – Die Klus also, die Klus! Ist die Klus wieder ein Gasthaus, Madame? Was mag aus der jungen Wirtin geworden sein, meines Kameraden Schwester? Eine hübsche Dirne ihrerzeit, wird einen Mann genommen haben, gewiß, gewiß! Aber –« seine Stimme stockte einen Moment, und er blickte mit einem Anflug von Angst zu dem Mädchen hinüber, – »aber eine alte Mutter, irre ich nicht, eine alte Mutter – und ein Kind!« –

Eine blitzartige Eingebung fuhr bei den letzten Worten durch Judiths Hirn. Während sie indessen, noch immer regungslos, über ihre Ausführung sann, hob der Fremde mit seiner früheren Unbefangenheit wieder an: »Ihr Kaffee war gut, Madame, heiß und stark, ich liebe das. Arznei gegen den Krampf, aber satt macht er nicht. Mich hungert. Nüchtern seit morgens. Einen Imbiß, ich bitte. Ein Stück Brot und Fleisch und ein Glas Wein, wenn es sein kann. Bier und Schnaps – bah! Kommunes Getränk, der Schnaps. Ein Künstler will Wein. Keine Kunst drüben bei uns –.« – Judith unterbrach ihn, indem sie die Laterne vom Tische nahm und, ohne ein Wort zu sagen, ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Er zögerte einige Sekunden, warf einen mißtrauischen Seitenblick auf die stumme Führerin, ging aber doch hinter ihr drein, die Treppe hinunter, über den Hof, durch Küche und Wohngelaß. Unter der offnen Kammertür hielt sie still und deutete schweigend auf das vom schwachen Lampenschimmer beleuchtete Friedensbild der entseelten Greisin und des schlummernden Knaben.

Einen Augenblick steht der Fremde wie erstarrt, im nächsten stürzt er mit jähem Aufschrei über das Totenbett. – »Mutter, Mutter!« ruft er, und – »Sylv, mein Kind!« – indem er zu dem Schlafenden niedertaumelt.

Sylvian fuhr in die Höhe. Erschrocken blickte er auf den fremden Mann, dessen Arme ihn umstrickten, dann auf die Leiche, auf seine Pflegerin und wieder hinab zu dem Fremden. Er entfärbte sich, er zitterte. Der Mann schluchzte wie ein Kind, wollte reden und vermochte es nicht, wollte sich aufrichten und strauchelte. Judith umfaßte ihn, und indem sie dem Knaben gebieterisch zuraunte: »Bleib, er ist krank!« trug sie den Bewußtlosen in die Küche, deren Türe sie verschloß. Sylvians Angstblick lastete auf ihrem Herzen; sie hatte eine Probe gewagt, und die Probe war gelungen; den aber, an dem sie gemacht worden, hatte sie außer acht gelassen, und er konnte ihr Opfer werden. Er durfte den Mann nicht wiedersehen, heute nicht, nimmer! – Der Fremde mußte ihm ein Fremder bleiben.

Kaum daß sie einen Imbiß zurechtgeschnitten und ein Glas von dem Wein, der zur Stärkung für die Mutter in das Haus geschafft worden war, zwischen des Erschöpften Lippen geflößt, so nahm sie ihn, ohne seine völlige Belebung abzuwarten, von neuem in ihren Arm und zog ihn nach der Giebelstube zurück. Seine Besinnung war wiedergekehrt; er schluchzte bitterlich. – »Bruder!« sagte Judith, ihm mitleidig die Hand reichend. – »Ja, dein Bruder!« rief er unter Tränenströmen; »dein Bruder, der Heimatlose, dein Bruder, der Elende, der – der, o, du weißt es ja, Judith! ich sehe es an deinem Schauder, – dein Bruder, der Mörder!« –

Irrlicht

So war es denn Tag geworden über der dunklen Tat, Tag für die Unschuld, und Mitleid mit Abscheu, Blutesliebe mit Weibesliebe, Sieg mit Vernichtung rangen in des erschütterten Mädchens Brust.

»Lebt er noch, Judith?« fragte jener scheu und leise. – Sie neigte schweigend den Kopf. – »Gott sei gelobt!« rief er, sich in die Höhe richtend und schon wieder gefaßt, ja hoffnungsvoll um sich blickend. – »Im Kerker, August!« mahnte die Schwester. »Zehn Jahre im Kerker. Auf dein Gewissen, zehn Jahre von einem Menschenleben, zu jenem andern Leben, das –.« – »Er wird noch gute Tage sehen«, unterbrach er sie, indem er mit hastigen Schritten im Zimmer auf und nieder ging. »Er wird frei werden, er ist unschuldig. Ich, ich bin der Elende, mein Leben ist vergiftet. Weißt du, was Blut ist, Judith? Gift ist es, Gift! Das klebt, das ätzt, das sengt, das löscht kein Tropfen. Laudanum, sagen sie, Laudanum scheucht das Gespenst. Glaub's nicht, Schwester, glaube es nicht. Ja, es ruht, aber es wacht auf, es schleicht, es springt, hui! Es ist da!« – »Unglücklicher!« murmelte Judith bewegt.

»Ich wußte es nicht, Schwester,« sagte er, je mehr und mehr geläufig, »das von dem Simon meine ich. Erst vor drei Monaten erfuhr ich's durch den Löbbeke aus Nammen. Es geht dem Löbbeke schlecht, Dithel, herzlich schlecht. Warum blieb er nicht hüben, der dumme Narr. Allzu gerieben wir drüben für solchen Schlag; Pfeffer und Salz im Schädel und von Gemüt nicht die Spur. Mir ist's geglückt, Dithel. Nicht in der Südsee, – tolle Zumutung, Dithel, dein Botany-Bay. Gottlob, daß ich ihm echappiert! – aber drüben herum in Ost und West. Musik gemacht, Gold gegraben, Stuben gemalt, den Doktor gespielt, Vorlesungen, Erbauungsstunden, Tischrücken, Geisterklopfen, ein flottes Leben, Dithel, nur – nur –.« – »Nur der Wurm im Herzen!« fiel Judith ein mit bitterem Klang. – »Ich tat es nicht mit Absicht. Gewiß, gewiß nicht mit Absicht; aus Zufall, Schwester, aus Versehn –!« – »Ein Messer in der Hand, ein Zufall? Unter freiem Himmel ein Messer in eines Freundes Brust, ein Versehn?« – »Das Messer, ja, ja, das Messer, – ich hatte, – ich wollte, – die Hitze, der Ärger –! – Aber die Mutter, die arme, alte Mutter, wann ist sie gestorben, Dithel?« – »Diesen Morgen, in schweren Gebresten. Ihr letztes Gesicht war ihr Sohn, – der Mörder; ihr letzter Segen für den unschuldigen Büßer.« – »Ich ahnete es nicht, Schwester; straf mich Gott, ich ahnete es nicht. Erst durch den Löbbeke aus Nammen. Auf der Flucht, während der Fahrt – wenn der Verdacht auf ihn fiele? dachte ich wohl. Aber Unsinn, Unsinn! Ein Wort, und er ist rein. Wessen war das Messer, wessen der Stock?« – »Ein Messer und ein Stock wie tausend andere. Sie mochten des Müllers sein, ich selber habe sie für des Müllers genommen.« – »Und wenn auch Messer und Stock, aber die Tasche –.« – »Die Tasche, welche Tasche?« schrie Judith auf, von einem neuen, grellen Lichte geblendet. – »Nein, nein, nichts von einer Tasche! Ich meine – der Trunk, der Streit, der –.«

Er sprang auf einen andern Gegenstand über, auf seinen Sohn. Er pries sein Ansehn, das ihn an seine selige Schöne gemahnte. Tränen stiegen ihm in die Augen; er dankte der Schwester mit bewegten Worten für alles, was sie für die Waise getan; er baute Luftschlösser für ihre Zukunft. Seine bösen Erinnerungen waren eingeschlummert, und Judith mußte sich überwinden, sie mit Hartnäckigkeit wieder aufzurütteln, den erschütternden Auftritt von Simons Verhaftung und Selbstbeschuldigung ihm vor Augen zu führen. Sein erregbarer Sinn blieb nicht unempfänglich selber für der Darstellerin knappe, gepreßte Art, die der seinigen so ungleich war. Unter den lebhaftesten Ausbrüchen der Verzweiflung raste er im Zimmer umher, erging sich in begeisterten Ergüssen über das, was er nicht anders als ein Freundschaftsopfer erfaßte. »Herz ohnegleichen!« rief er aus, »Simon, herrliche Edeltanne! Du sollst nicht gefällt werden, nicht im Schatten des Dickichts verkümmern! Frei und hoch wird deine Krone ragen über alle, alle! Ein armer Sünder, für den du eingetreten,« er schlug mit der geballten Faust gegen seine Brust, »aber,« den Kopf stolz in den Nacken werfend, »aber ein Mann, ein Mann wie du! Kaum hört er von deinem Opfer, zehn Jahre zu spät, weh' ihm. Hinüber! ruft er, hinüber! Heute noch, diese Stunde! O, ihr blöden Richter, schwachherzige Pedanten, so handelt ein Freund, so handeln Freunde! Kein Neugebornes war schuldloser als dieser Mann, – ich, ich bin der Mörder!«

»Das wolltest du, Bruder? Dich freiwillig stellen, August?« rief Judith zweifelnd und doch mit glänzenden Augen. – »Ich wollte es, bei Gott! Noch am selbigen Abend wollte ich hinüber!« – »Und – du willst es noch?« – Die Antwort verzögerte sich etliche Sekunden; die gedämpfte Stimmung, in der sie gegeben ward, steigerte sich indessen im Verlauf wenn nicht zu dem früheren Schwunge, so doch zu einer gleichen Lebhaftigkeit. – »Es war keine Schiffsgelegenheit an dem Tage, Dithel, auch am nächsten und übernächsten nicht. Ich hatte Zeit zur Überlegung. Eine Idee schoß mir durch den Kopf, neu, einzig, noch nicht dagewesen. Ich malte das Schaubild, entwarf die Geschichte, brachte sie in Verse, setzte sie in Musik, berechnet, zugestutzt für das Volk, versteht sich, aber gelungen, Dithel, ich sage dir, gelungen. Das Gewitter kam dazwischen. Bild und Texte sind zerstört. Wir müssen auf ein neues spekulieren. Es sollte nicht sein. Ich bin Fatalist, Judith, das heißt, ich bestehe nicht auf meinem Kopf, wenn das Schicksal mir in die Quere tritt. Hätte ich die Erzählung vollenden, nur beginnen können, – es blieb beim Titel leider, aber schon der Titel wie das Bild lockten gewaltig, – der Bezug wäre mit Händen gegriffen worden. ›Der Simon!‹ hätte man geschrieen, ›Simon der Quellenfinder unschuldig, freiwillig büßend für eines andern Missetat!‹ Ort und Stunde dazu: Jubilatemarkt, der zehnte Jahrestag, – alles wohlberechnet, fein ausgetüftelt, Dithel! – Der Rumor wäre unwiderstehlich geworden. Der Täter galt für tot, – eine Seeschlange hatte ihn verschlungen laut Bild und Text. Der Erzähler war längst wieder fort zu Schiff. Die Behörden hätten eine neue Untersuchung angestellt, Simon die Wahrheit zugestanden –.«

»Hätte Simon die Wahrheit gestehen wollen, er brauchte nicht auf deine Narreteidinge zu warten«, unterbrach ihn die entrüstete Schwester. – Die Wirkung dieses Einwandes war die unerwartetste, sie hatte den erfinderischen Retter urplötzlich abgekühlt. »Warum tat er es nicht?« versetzte er, den Kopf übermütig in den Nacken werfend. »Warum gestand er die Wahrheit nicht? Der Täter war verschollen, verkommen, Gott weiß! Jedenfalls in Sicherheit. Ihm schadete er nicht, wenn er sagte: ›Jener tat's!‹ Ihm nützte es nicht, daß er sprach: ›Ich tat's im Rausch!‹ oder so ungefähr. Unsinn, Narrheit, Schwärmerei, deutsch, damned dutch, ein Schwabenstreich, Romanenheldentum! Warum tat er es?« – Judith schwieg, empört bis ins Mark. Und dennoch auch sie, und sie am allerwenigsten konnte diese Frage von sich weisen. Warum tat er es? Verdiente dieser Mensch dieses Opfer? Und was nützte es ihm, daß er es brachte, oder was schadete es ihm, hätte er es nicht gebracht? Er war kein Schwärmer, kein Romanenheld, er war eine innige, sanfte, besonnene Natur. Schwach vielleicht, aber dann ja um so weniger –! – Warum tat er es? – Sie setzte sich an das Fenster, vergrub den Kopf in die Hände und merkte nur noch mit halbem Ohr auf des Bruders irrlichternde Sprünge.

»Warum tat er es?« wiederholte derselbe, »und warum glaubte man ihm? Es lag kein Grund zutage für seine Tat, nicht Rache, Neid, – oder – oder sonst eine wilde Begier. Er mied den Streit und scheute vor Blut. Er war keines Menschen Feind. Den – den Müller kannte er kaum, hatte zum ersten Male in jener Nacht seine Schwelle betreten, und dieser Besuch selber, nicht eine Seele wußte darum. Hinten in der Kammer am Wasser hatten sie gesessen alle drei, kein menschliches Auge sie gesehen. Sie hatten getrunken, es ist wahr, und er war berauscht. Warum nicht? Es war nicht der erste Rausch, in dem man ihn gesehen, und er hatte keinen zornigen Rausch, wie der Müller, der, notabene, keinen hatte an diesem Tag. Er wurde weiß, still, traurig, wenn er trank. Jeder wußte es. Er ist neben der Leiche gefunden worden, bleich, struppig, starr und steif, mit allen Anzeichen der Seelenangst; aber er brauchte nur zu sagen: ›Der Müller hat mich den Damm hinabgestoßen, als ich die Ringenden auseinander reißen wollte. Ich lag betäubt, erwachte erst diesen Augenblick; was Wunder, sieht man mich verstört vor dem Entsetzlichen, das ich nicht geahnt? Das Messer, das ich aus seiner Brust gezogen, ist es mein Messer etwa? Nein, des andern, ich kenne es; brauchte ich einen Reisestock mit bleiernem Knopf, brauchte ihn der Müller? – Nein, der andere; seht, meine Taschen sind leer, das Geld –!‹« – Der Mensch hatte sich wie ein Advokat in einen fremden Kriminalfall hineingeredet, der zu ihm selber nicht in der entferntesten Beziehung stand. Vor dem letzten Argumente stockte er; eine Blutwoge streifte über sein Gesicht, er atmete jach auf, riß mit der Faust an den Brustklappen seines Rockes und stand ein paar Minuten wie gebannt. Dann hob er seine Wanderung durch das Zimmer wieder an und begann endlich von neuem in verändertem Tone, mit glühendem, persönlichem Eifer, so als ob er eine Heldentat im Schilde führe: »Ich komme, Freund, ich bin da! Ehe diese Woche zu Ende läuft, bist du frei. Wärst du der erste Gefangene, der hinter Mauern und Riegeln entkommen? Kinderspiel das! Ich kenne Schliche und Kniffe, tausend derlei Geschichten habe ich gelesen, gehört. Noch gestern auf dem Markt das Bild neben meinem Stand, haarsträubend, aber wahr, wahr! Vierzehn Eideshelfer gegen den Nonnenschänder, die höchste Wette harrt, die Wyd, die Freischöffen speien aus vor ihm – und doch entkommt er noch. Freilich, er wird wieder eingefangen, aber gab es Dampfschiffe und Eisenbahnen zu Femezeiten? Ich befreie dich, Simon, wir fliehen. Fort für immer aus diesem dummen, faulen Land. Du kommst uns nach, Dithel, und mein Sylv, mein Sylv! Die Mutter ist tot, du verkaufst die Klus; auch der Simon ist arm: sein Quellenblick ein unschätzbares Kapital. Eine Waldnatur, – als Knabe schon, hinüber, Simon, hinüber! Nennt ihr das Wälder hierzuland? Liliputen, verkümmerte Zwerge, erbärmliche Halme eure Eichen; jenseits, schau, schau, das ist Wald! Und die Schachte drüben! Kohlen für Millionen Jahre, Eisen und Gold, ja Gold! In das Goldland, Dithel! Ein Krösus wird er, ein Nabob! Und du, Dithel, er hat dich liebgehabt vom Buben ab: ›Ich werde sie ewig lieben!‹ sagte er noch in der letzten Nacht und weinte dazu, und, und –.« – »Genug des Irrsinns!« unterbrach ihn Judith mit so scharfem Gebot, daß in der Tat der unerschöpfliche Fluß ins Stocken geriet.

Er langte ein Buch von dem Regal, setzte sich auf den Rand seines Bettes und blätterte. Keines sprach ein Wort eine lange Pause hindurch. Plötzlich schreckte er in die Höhe, das Buch entfiel ihm, denn eine eiskalte Hand hatte in die seinige gegriffen, und die Schwester stand vor ihm leichenblaß, mit unerschütterlichem Blicke sich in den seinen bohrend. »Wirst du deine Missetat bekennen, August?« fragte sie, »einfach, öffentlich, vor Gericht und Zeugen?« – Er las einen drohenden Entschluß in ihren Zügen und sank zitternd auf das Bett zurück. Dennoch faßte er sich noch einmal und sagte entschieden, indem er nach seiner Weise den Kopf übermütig in den Nacken warf: »Die Tat bekennen, mich selber ans Messer liefern? Nimmermehr!« – »So tue ich es«, versetzte sie mit eisiger Ruhe. »Du bist ein Gefangener in diesem Zimmer, bis die Gerichte dich abholen werden.«

Er kannte seine Schwester, er wußte, daß sie nie ein Wort gesprochen als in wohlbedachtem Ernst. Todesschauer überrieselten ihn, er stürzte zu ihren Füßen und umklammerte ihre Kniee. »Deinen Bruder angeben!« schrie er, »aufs Schafott bringen deiner Mutter Sohn!« – Auch Judith schauderte. Doch sagte sie gefaßt und mit milderem Klang, als er an ihr gewohnt: »Strafe sühnt, August; was du hienieden büßest, wird dir jenseits angerechnet werden. Und nicht mit dem Leben wirst du die Untat zu büßen haben. Jahre sind über sie hingegangen, sie wurde im Eifer verübt, ohne Vorbedacht. Du bist freiwillig zur Rechtfertigung eines Freundes zurückgekehrt. Der Schuldige wird die Zelle betreten, die der Schuldlose verläßt.« – Der unglückliche Mensch wand sich am Boden wie ein Wurm; einzeln, wimmernd rangen sich die Worte aus seiner Brust, zum erstenmal zeigte seine Stimmung den Ausdruck wahrhaftiger Seelenqual. »Und die Schmach, die Schande,« ächzte er; »der Rausch entschuldigt – ein Mord schändet nicht – aber ein Raub – ein Dieb –.« – »Ein Dieb?« fuhr Judith auf. »Wer sagt ein Dieb? Wer ist ein Dieb?«

»Ich, Dithel, ich«, stöhnte er in aufrichtiger Armensünderangst und doch mit einem fast kindischen Ausdruck der Hoffnung, als ob das Schandgeständnis ihn retten müsse. »Ich, ich raubte ihm das Geld, mein Geld, dein Geld, Schwester, das er mir im Spiele wieder abgewonnen. Nun weißt du es, Dithel, nun höre, wie es kam. Der Simon wartete auf mich in der Mühle zum Abschied. Wir saßen in der Kammer hinten am Wasser alle drei. Der Müller braute einen Grog. Er vertrug ihn stark wie keiner; heißer, purer Kognak, Dithel. Von dir sprach er, als hätte er dich im Sack. Von Hochzeit und Wirtschaft sprach er. Der Simon saß stumm wie ein Geist, wollte erst nicht trinken, dann trank er doch. Auf dein Wohl ein Glas, Dithel, auf meines und dann weiter in der Verzweiflung mehr als wir beide zusammen. Ich wußte, wie ihm zumute war, er dauerte mich. Aber du hättest ihn doch nicht genommen, Dithel, einen Fremden, der Gnadenbrot auf der Klus genossen, und gegen deine anderen Freier einen armen Teufel mit seiner Waldhütte und den paar Stücken elende Rodung. Ich hielt's mit dem andern, Dithel, mit dem Reichen, du weißt es ja; du wärst mit ihm fertig geworden, und ich hatte einen Anhalt, wenn ich wiederkam. Denn ans Wiederkommen dachte ich lange, ehe ich ging. Ich stimmte ihm zu, ich munterte ihn auf; wir stießen auf Schwägerschaft an, und der Simon goß ein Glas nach dem andern in den Leib, als ob er seine Ohren totzusaufen gedächte. Der Müller brachte die Würfel, ohne die es in der Mühle nicht abging. Der Simon wollte mich abhalten, seine Hand zitterte, seine Stimme lallte nur noch. ›Um den Ring!‹ sagte der Müller. Er meinte den Trauring der sächsischen Muhme, den du mir zum Andenken in der Fremde angesteckt, Dithel. Seinen Verlobungsring nannte er ihn. Er hielt ein Goldstück dagegen. Der Simon stöberte nach einem Satz; seine Tasche war leer.

Hin war der Ring. Ich hatte Blut geleckt; weiter, weiter, Stück für Stück von dem, was ich eben in Empfang genommen! Zuletzt noch die Tasche. Alles hin! Zum ersten Male blickte ich auf. Ich war allein mit dem Müller, der Simon fort, ohne daß ich's gemerkt. Jetzt meine Angst. Ich flehte den Müller um Hülfe, er lachte mich aus. Ich wollte eine Verschreibung ausstellen, er höhnte noch lauter. Die Uhr schlägt drei. ›Es ist Zeit,‹ sagt er, ›komm!‹ streicht das Geld in meine Katze, steckt noch von dem seinigen dazu und schnallt sie um. Was er im Schilde führte, Gott weiß. Die Reise mit dir machen, Dithel, im letzten Augenblicke dein Jawort erkaufen. Einen Plan hatte er gewiß. Er ging voran, ich folgte ihm wie ein totgeschossener Mann. Ich wollte fort, ich mußte fort; ich fürchtete mich vor dem Turm und vor dir, Dithel, vor dir, nach dem, was ich zu guter Letzt noch eingebrockt; ich wußte meinem Leibe keinen Rat. Ich flehte, ich versprach; ich bedrohte ihn um betrügerisches Spiel und böswilligen Vorbedacht. Sein eiskalter Spott machte mich toll. Wir standen auf dem Querwege über dem Damm; von dem Bahnhofe herüber regte sich's. Ich stürzte ihm zu Füßen, ich betete ihn schier an; ich war außer mir. Kein Erbarmen. Der Teufel kam über mich. Es gibt einen Teufel, einen Teufel leibhaftig, glaub's, Dithel, glaub's. Er stand hinter mir, er blies mir ein, zerrte mich in die Höh, stieß mich vorwärts, gab mir Kraft, mir, dem Rohr gegen den hagebüchenen Klotz. Wie ein Strauchräuber stürzte ich über ihn und forderte das Geld mit Gewalt. Schon halte ich die Katze aufgehenkelt in meiner Hand, nur der Riemen hat sich in einem Rockknopf festgenestelt, ich greife nach meinem Messer, den Riemen loszuschneiden. In dem Augenblick springt der Simon aus den Weiden zu uns herauf. Wie er dahin gekommen, weiß Gott. Er wirft sich zwischen uns. Aber der Rausch, der Rausch, der noch nicht verflogen! Er taumelt, ein Stoß, und er prallt den Abhang hinunter, reißt den Müller, den er gepackt, im Sturze zu Boden. Ich habe Luft, ein Schnitt, die Tasche ist in meiner Hand. Er in die Höh, und über mich her wie ein Rasender. Ein Faustschlag mir ins Auge, hin ist's, hin! – Der Schmerz, die Wut – das Messer steckt in seiner Brust. Noch einmal wirft er sich über mich, ein Hieb über seinen Kopf – und fort, fort!«

»Darf ich das bekennen, Schwester?« fragte der Unglückliche nach einem schweren Atemzug. »Deines Vaters Sohn ein Straßenräuber, deines Pfleglings Vater ein Mörder und Dieb? Bekennen vor Amt und Zeugen? Das Märchen vom Schattenriß, den der scheidende Bruder dem reichen Bewerber verweigert und dem armen mit seinem Segen zum Andenken verehrt, der Sang von Liebe und Eifersucht, den ich zurechtgestutzt, herzbeweglich für gemeines Volk, aber vor Gericht und Zeugen – Unsinn! Die Kreuz- und Querfragen, Dithel; das Gurtende am Knopfloch, über das man sich so schwer zur Ruhe gegeben! Den Simon traf kein Verdacht der Beraubung; er hatte den Platz nicht verlassen und keinen Pfennig in der Tasche. Aber ich, verschrieen als Spieler, die Nacht außer dem Hause, im Augenblicke der Flucht – der geständige Mörder ist entlarvt, ein Dieb.«

Das Geständnis war zu Ende; wahr, klar, anschaulich, unter dem Zeugnis der Seelenangst des Bekenners, der sich nicht von seinen Knieen erhoben und schwerlich im Leben in so einfältiglicher Weise geredet hatte. Aber Judith, die Ehrenstolze, Ehrenreine, saß noch lange wie von einem Keulenschlage betäubt. Den Argwohn des Mordes hatte sie im Laufe der Jahre ertragen lernen, er war von dem geliebten Manne auf den nächsten im Blut zurückgewichen, ja zurück. Aber ein Dieb! Wahrheit die heimliche Ahnung, die sie nimmer auszudenken gewagt! Zu dem Verbrechen die Schande über ihrer Väter Haus! Zu viel, zu viel! – Und dennoch! – »Es muß sein«, sagte sie, sich erhebend, mit Todeskälte.

Die letzte Hoffnung war dem Elenden geschwunden. »Du willst, du willst?« schrie er auf und klammerte sich an ihre Kleider, als ob er sie gleich jetzt von dem verräterischen Schritte zurückhalten müsse. »Ich bin dein Bruder, Judith, dein einziger Bruder. Du kannst einen Liebsten haben, kannst Mann und Kinder haben, aber einen Bruder nimmer! Willst du deinen Bruder anklagen, Rabenherz?« – »Es muß sein«, sagte Judith wie vorhin. – Er ließ das Gesicht auf den Boden sinken und lag eine Weile ohne Zeichen des Lebens. Jählings aber zuckt es wie elektrische Schläge durch den Leib des Zitteraals. Die Schwester fürchtet einen Rückfall seiner Krämpfe. Nein, er springt in die Höhe, katzengeschwind ist er an der Türe, er will entfliehn. Judith reißt ihn zurück, schleudert ihn zu Boden, schließt und zieht den Schlüssel ab, steht vor der Tür, ein unerbittlicher Posten. – Wieder eine Pause ohne Maß, für sie wie für ihn. Er liegt, sie steht, regungslos. Und siehe da, noch einmal richtet er sich in die Höhe, streckt sich so lang er vermag, wirft den Kopf in den Nacken, ein umgewandelter Mann; kein Zug der vorigen Zerknirschung, er lacht, ja er lacht!

»Wohl bekomm's Ihnen, Madame«, sagt er höhnend. »Ich gönne Ihnen dieses Heldentum. Ich heiße James Brown. Was schiert mich der Frobelgust vom Klushof? Er ist umgekommen im Schiffbruch, ich war dabei, ich beschwör's, ich, James Brown aus Massachusetts, United States. Was schiert mich der Klushof und seine Ehre. Sperren Sie mich ein, Madame. Lassen Sie mich arretieren, rekognoszieren, wie es Ihnen beliebt. Findet jemand eine Ähnlichkeit zwischen Mister Brown aus Massachusetts und dem August Frobel, der vor zehn Jahren von dem Klushofe verschwand? Hatte der Frobel ein Hinkebein, hatte er einen Kahlkopf, nur ein Auge etwa? Der, den ich, James Brown, als August Frobel auf dem Schiffe gekannt, ich, James Brown, der war ein schmucker Lockenkopf, heil vom Wirbel bis zur Zehe und zwei Augen, klar wie die einer Forelle. Zeugnis gegen Zeugnis, meine Herren Richter. Ein Frauenzimmer, das seinen alten Liebsten in Freiheit haben will, gegen den Bürger eines freien Staats und seinen rechtsgültigen Paß, visiert von Gesandten und Konsuln Ihres eignen Königreichs. Verurteilen Sie den August Frobel in contumaciam zu Kerker und Schwert, als Mörder, als Dieb, nach Ihrem Ermessen, meine Herren. Mister James Brown empfiehlt sich, er reist auf dem Kontinent, auf den Inseln in seinem Vaterlande drüben, wo es ihm beliebt. Salve!« – Er hob nach dieser Rede das Buch vom Boden auf, setzte sich ruhig auf den Tisch und begann zu lesen. Judith stand wie eine Säule mit vor Wut zusammengeschnürter Brust, die Lippen blutend unter dem scharfen Kniff ihrer Zähne, minuten-, stundenlang, sie wußte es nicht.

»Interessante Lektüre, wie es scheint«, erweckte sie endlich des Fremden Stimme. »Ritter Kunz von Dortmund oder der Femwrogige, ein Roman; kennen Sie ihn, Madame?« – Das Maß war voll. »Femwrogiger Schandbube!« schrie sie mit einem Haß, wie sie ihn im Leben noch nicht empfunden, indem sie das Buch aus seinen Händen schlug. »Nicht daß du's tatest, gichtmundiger Gesell, aber bekennen und leugnen in einem Atemzug, Possen reißen, Lotterschriften lesen, während ein anderer –.« – Sie konnte nicht weiter, die Brust drohte ihr zu springen; sie stürzte zum Fenster und riß es auf, ringend um Atem und Luft. In diesem Augenblicke wurde das Hoftor geöffnet, ihre Leute ohne Zweifel, die zurückkehrten. Sie verließ das Zimmer, dessen Tür sie hinter sich verschloß.

Nacht

Das am Morgen so stattlich ausstaffierte Liebespaar war es in der Tat, das jetzt, bis auf Kapsel- und Pudelmütze durchweicht und zerzaust, von seinem Meßgange heimkehrte. »Das Wetter, Wirtin!« sagten beide aus einem Munde, ihre Verspätung entschuldigend, und als ihnen Judith das Abscheiden der Mutter verkündete, äußerten sie ebenso einmütiglich: »Blix noch einmal, die alte Wirtin!« stellten sich jedes in eine Ecke, mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt, falteten die Hände und beteten ein Vaterunser, um eine Minute darauf die verspätete Nachtmahlzeit nach den unerlebten Strapazen einer Wasserhose mit doppelter Gemächlichkeit einzunehmen. Die Wirtin gab währenddessen die unerläßlichen Aufklärungen und Anordnungen. Sie beschied die Magd, für den Rest der Nacht ihren Neffen in der Leichenwacht abzulösen, da sie selber durch die Pflege eines kranken Marktfremden, auf dessen Karren sie den Heimweg aus der Stadt zurückgelegt, an dieser Pflicht gehindert sei. Einige Stunden verlängerten Morgenschlafs wurden als Schadloshaltung in Aussicht gestellt.

Der Bissen im Munde stockte der Christine, und eine Gänsehaut lief über die kirschroten Backen; der zartfühlende Bräutigam, der sich seit diesem Morgen als einen Helden und Meister der Redekunst bewährt, übernahm es, ihre heimlichen Schauer auszusprechen. Wenn es der Wirtin nichts verschlüge, meinte er, wolle er statt der Christine Wache bei der alten Wirtin halten, und wenn die Wirtin eine Stärkung extra bewillige, es solle nichts Hitziges sein, wie sich's eigentlich bei Leichenwachen gezieme, nur ein Maß Bier und ein Schmalzweck etwa, so brauche er keinen Schlaf in den Tag hinein, die Arbeit flutsche so und so. »Ich denke mir nichts dabei, Wirtin«, erklärte er mit männlichem Selbstgefühl, das er aber gleich darauf durch eine galante Wendung überzuckerte. »Ich denke mir nichts dabei. Aber Weibsen ist Weibsen, Wirtin, und wenn es Knochen hätte wie ein Stier.«

Judith, mit der Änderung einverstanden, zündete eine Laterne an und ging nach dem Karren vor dem Tor, den sie sorgfältig durchsuchte. Das Laudanumfläschchen, wie die Brieftasche, die in der Tat einen rechtsgültigen Paß auf James Brown und einige kleine Geldscheine enthielt, steckte sie zu sich; ein Bündel Texthefte verbarg sie unter ihrer Schürze, um sie später ungelesen am Herdfeuer zu verbrennen. Sie ging darauf in die Küche zurück, befahl dem Knecht, den Karren des Fremden im Schuppen unterzustellen, und öffnete das Wohnzimmer, in welchem der geängstete Sylvian schon so lange ihrer wartete. »Wo ist er? Wo ist er?« rief er ihr fiebernd entgegen.

»Der Fremde?« versetzte die Pflegerin mit erzwungener Ruhe und weichem, erbarmendem Ton, denn des Knaben Schicksal ging ihr durchs Herz – mehr als das eigene; »der Fremde? Ich habe ihn in der Gartenstube untergebracht. Er ist krank, lieber Sylvian. Ein hartes Unwetter in der Stadt hat ihn mitgenommen. Wir machten den Rückweg zusammen. Beruhige dich, mein gutes Kind.« – »Nenne mich nicht Kind, Muhme!« rief Sylvian aufgeregt. »Schone mich nicht wie ein Kind. Ich bin kein Knabe mehr seit diesem Morgen. Jahrelang habe ich gegrübelt über manches, was ich hörte und nicht verstand. Nun ist mir's klar. Ich weiß alles, kann alles ertragen. Ich kannte ihn, Muhme. Schon der Rock, in dem er mich herzte beim Abschied drüben im Giebel. Sein Gesicht sah anders aus, nicht krank und verfallen; ich habe es alle Tage im Geiste gesehen, so rot und schön. Aber wie er mich umhalste, wie ich seinen Atem spürte, seine Tränen auf meinem Gesicht, wie er rief: ›Mein Sylv, mein Kind!‹ – o, laß mich zu ihm, laß mich zu ihm, Muhme!« – »Nicht diese Nacht, Sylvian«, entgegnete Judith, der das Herz versagte, die Täuschung fortzuführen. »Er muß Ruhe haben und du auch. Geh in deine Kammer, schlafe ein paar Stunden, armes Kind.« – »Schlafen, schlafen?« rief der Knabe vorwurfsvoll. – »Ruhe mindestens. Und höre, Sylvian, sobald es Tag geworden, geh ins Dorf und bitte den Herrn Pfarrer um seinen Zuspruch, für dich, für mich und vielleicht auch für – ihn.« – »Darf ich ihm alles sagen, Muhme?« fragte Sylvian schüchtern. – »Alles, was dein Herz bedrückt!« – »Alles, Muhme, alles? Auch was nicht mich angeht?« – »Ihm, deinem Lehrer und Beichtvater alles, mein Kind.«

Sichtlich erleichtert schlich Sylvian ohne andere Leuchte als die des Mondes in seine Kammer. Der Knecht kehrte zurück. Judith schürte die Lampe am Totenbett: »Fromm und säuberlich, Klaas«, mahnte sie, auf die Leiche deutend, und verließ das Zimmer. Ehren-Klaas stand wohl eine Viertelstunde lang zwischen Stube und Kammer, unbeweglich an den Türpfosten gelehnt; dann zog er aus seiner Tasche die kurze Tabakspfeife, drehte sie eine Weile schmunzelnd zwischen seinen Fingern, mußte aber wahrscheinlich zu der Erkenntnis gelangen, daß eine »Piep« bei der Leichenwacht sich nicht säuberlich schicken möge, denn er steckte sie wieder ein und langte statt ihrer den Rosenkranz hervor, um fromm nach Gebot die Nacht hindurch auf seinem Posten auszuharren und am Morgen durch eine stattliche Trauermesse für seine Treue belohnt zu werden.

Seiner Herrin wartete ein schwerer Hüterdienst. Ihre vorige Aufregung wurmte sie. Das letzte Wort war mit dem härtesten gesagt, ein Einlenken ihrerseits unmöglich geworden. Aber der Kranke, der Gefangene bedurfte der Aufsicht, sie mußte voran. »Gichtmund, Gichtmund!« hörte sie von außen seine schreiende Stimme. »Wer hat mich femwrogig genannt? Beweis, Beweis!« Sein Blick war scheu und ängstlich, während die Türe geöffnet ward; als er aber die Schwester erkannte, rückte er keck in die Positur des Amerikaners und sprach zu ihr in der herrischen Weise des Einkehrers, der sich die Zudringlichkeiten seines Wirts verbittet.

Er hatte die vorhin gebrachte Mahlzeit bis auf den letzten Bissen aufgezehrt und fiel jetzt mit der Gier eines Heißhungrigen über das warme Gericht, das sie vor ihn auf den Tisch niedersetzte; dann griff er wieder zu dem Buch, dessen Inhalt ihn lebhaft zu beschäftigen schien; als sie aber, nachdem Bett und Zimmer geordnet, sich anschickte, den Platz am Fenster einzunehmen, nahte er sich ihr mit der höhnenden Frage: »Ist die nächtliche Gesellschaft der Hausfrau eine Zugabe zur Zeche in diesem gastlichen Lande, Madame?« – Ein Wort entrüsteter Abwehr erstickte in ihrem Munde vor einem unheimlichen Etwas, das hinter der künstlichen Dreistigkeit seines Blicks lauerte. Eine Verständigung in dieser Stimmung war undenkbar, er mußte Ruhe haben. So verließ sie schweigend das Zimmer.

Neben demselben lag eine Kammer, deren verkleidete Verbindungstür von der Stubenseite durch Gerät versetzt war. Hier wählte sie ihren Posten für den Rest der Nacht. Keine Bewegung konnte ihr durch den dünnen Brettverschlag entgehen; eine Spalte gestattete einen Lugeblick in den erhellten Nebenraum. Ihr Gefangener entkleidete sich nicht, legte sich nicht, er schloß kein Auge die Nacht hindurch. Er verriegelte die Tür von innen, spähte unruhig aus dem Fenster, setzte sich dann und griff wieder nach dem Buch, dessen Schauerinhalt er mit wachsender Bewegung verschlang. Von Zeit zu Zeit sprang er auf, rannte durch das Zimmer und führte, wie es schon als Kind seine Art gewesen, laute Gespräche mit sich selbst oder mit anderen, welche die Einbildung ihm vorführte. »Gichtiger Mund, gichtiger Mund! Wer sagt, daß ich mich femwrogig bekannt? Ein Weib ist kein Zeuge. Wo sind die Eideshelfer? Ich schwöre mich los! Ich appelliere an Kaiser und Reich! Ich habe nichts bekannt, ich habe nichts zu bekennen. Ich bin nicht ich. Ich bin James Brown, ich, ich!«

Gegen Morgen beruhigte er sich etwas, er fand seine Fassung wieder und warf sich angekleidet auf das Bett; die heimliche Wächterin jedoch ahnte mit Zittern, daß das unstete Hirn diesem Aufruhr und Zwiespalt nicht auf die Dauer zu widerstehen vermöge, daß das Unvermeidliche zur Entlastung eines Unschuldigen in kürzester Weile geschehen müsse. Aber wie den Rastlosen fassen, wie ihn halten? Sollte sie die Drohung ausführen, ihn der Schande, dem Tode vielleicht überantworten in der Stunde, da der Schoß, der sie wie ihn getragen, noch der letzten Erdenhülle wartete? Sie schauderte vor sich selbst, vor ihm, vor einem unerbittlichen Verhängnis, sie fühlte sich ratlos, wie im Leben noch nie.

So trat sie an das Fenster und blickte über den Garten, dessen Kräuter, gesättigt und frisch belebt im Strahle der Morgensonne, wie unter einem Kristallschleier zitterten. Und siehe, da unten stand auch schon der gute Sylvian, das Auge in banger Spannung nach dem Giebelzimmer gerichtet. »Sylv, mein Sylv!« hörte sie ihren Nachbar mit freudiger Stimme hinunterrufen, doch schien er sich eilig von dem geöffneten Fenster abzuwenden, als die Tritte der Magd sich vom Hofe her näherten. Der Knabe lauschte noch etliche Minuten und entfernte sich endlich auf einen Wink der Pflegerin, um seinen Pfarrgang anzutreten.

Die wirtschaftlichen Obliegenheiten ließen Judith nicht länger müßig sinnen; sie wurden auch für heute nur auf das Unerläßliche beschränkt, die Lohnarbeiter entlassen und der Knecht zur Dienstleistung in die der helfenden Hände so dringend benötigte Stadt gesendet, da bis zu einem letztgültigen Entschlusse ein Beobachten und zufälliges Erkennen ihres heimlichen Gastes vermieden werden sollte. Die Magd, deren geistige Verfassung noch weniger als die des Kameraden zu argwöhnischen Folgerungen geneigt war, betraute sie mit dem Dienst in der Giebelstube, wie auch mit dem Lugeposten an der Türspalte, sooft sie persönlich von demselben ferngehalten war.

Zwischen Frühmesse und Hauptgottesdienst kehrte Sylvian, begleitet von seinem geistlichen Freunde, zurück. Eine tiefe Erschütterung stand in den klaren, kindlichen Zügen des frommen Mannes geschrieben; sein langer, stummer Blick, sein Händedruck sagten Judith, daß sie sich eine qualvolle Aufklärung ersparen dürfe. Er berührte den Zusammenhang nicht, den er sich aus seinen eignen ahnungsvollen Vorgedanken und des Knaben Bekenntnissen zusammengestellt; er ist auch späterhin niemals zwischen ihnen mit deutlichen Worten bezeichnet worden: unverabredet behandelten sich alle drei als Eingeweihte und handelten in Übereinstimmung, aber in schonendem Schweigen. »Er muß beichten, Muhme!« rief Sylvian fieberisch aufgeregt; »er ist krank, kann sterben. Alles wird gut werden, wenn er sich mit seinem Heiland ausgesöhnt.«

»Beichten, beichten?« fragte sich Judith im stillen; »glaubt dieser flatternde Geist an die Macht eines Priesters, zu lösen und zu binden? Hat er jemals daran geglaubt?« Ein zweites drängendes Bedenken aber äußerte sie in der Frage: ob die Beichte unter allen Umständen dem Beichtiger ein unverbrüchliches Schweigen auferlege? Und als der Pfarrer diese Frage bejahte, schien das angeregte Seelenheilmittel seinen Wert in ihren Augen verloren zu haben. Sylvian dahingegen drängte mit so ängstlicher Hast nach einer geistlichen Hülfe, daß der Pfarrer sich gern bereit erklärte, noch vor dem Frühamt seine Zusprache an dem Kranken zu versuchen, wenngleich, wie er mit Absicht gegen seinen Schüler betonte, das gnadenreiche Sakrament nicht gespendet werden dürfe, solange eine Handlung der Gerechtigkeit von dem Beichtenden zu fordern sei. – »Eine Handlung der Gerechtigkeit?« flüsterte Sylvian in sich gekehrt, sich dem Garten zuwendend, der einen Blick nach dem Giebelfenster gestattete.

Auch Judith blieb in lebhafter, aber nicht hoffnungsvoller Spannung vor der Schwelle zurück, zu welcher sie den ehrwürdigen Tröster geleitet. Sie hatte nicht umsonst gefürchtet; »James Brown« lehnte mit der Erklärung, daß er Protestant sei, jede priesterliche Einmischung ab, erging sich, als der fromme Mann dennoch eine milde Mahnrede wagte, in Schmähungen über die Bekehrungssucht dieser pfäffischen Gegend und wies dem Besucher endlich mit drohender Gebärde die Tür. »Er hat auch gegen mich das Spiel des Ausländers angenommen«, sagte Judith empört, nachdem sie auf der Flur wieder mit dem Pfarrherrn zusammengetroffen war und die Tür hinter dem Gefangenen abgeschlossen hatte.

»Und wißt Ihr gewiß, daß es ein Spiel ist?« wendete jener zweifelnd ein. »Dieser starrköpfige Fremde gleicht so wenig dem Bilde, das man mir von jenem Wankelherzigen entworfen, – könnt Ihr, liebe Tochter, so wie mein durch das Sterbegesicht der Ahne aufgeregter Sylv nicht in einer Voraussetzung befangen sein?« – Als Judith aber mit unwiderleglichen Beweisen seine Zweifel beseitigte, bestätigte er ihre eignen Sorgen mit der Äußerung: »So ist er gefährdeter, als ich gefürchtet. Die Steigerung zu einer seinem Wesen so fremdartigen Beharrlichkeit kann schwerlich lange Zeit ohne Wirrnis durchgeführt werden.« – Er erklärte darauf seine Absicht, nach beendetem Meßdienst bei dem Direktor der Strafanstalt um eine Unterredung mit Simon Lauter nachzusuchen, in der Hoffnung, von dieser Seite Raum zu weiterfördernden Schritten zu gewinnen oder mindestens durch die leise angedeutete Wendung der Sachlage die Seele des Gefangenen zu beleben. – »Selbstverständlich,« fügte er mit Bedeutung hinzu, »selbstverständlich ohne mich auf Zeugen zu berufen, welchen die Natur für ewige Zeiten die Lippen versiegelt hat.« – »Und diesem Banne der Natur soll ein Unschuldiger zum Opfer fallen?« wendete das Mädchen heftig ein.

Ehe der Pfarrer einen Ausweg in dieser verzweifelten Lage gefunden, trat ihnen Sylvian entgegen. – »Nun haltet mich nicht länger«, rief er leidenschaftlich, sobald er an dem stummen Achselzucken der Pflegerin und dem bekümmerten Blicke des Seelsorgers das Scheitern seiner Hoffnungen wahrgenommen. »Nun laßt mich zu ihm! Was aus ihm werde, ich weiche nicht von ihm, und meine Liebe, ich weiß es, wird seinen Widerstand bezwingen!« – Der Pfarrer entfernte sich mit dem Bedeuten, daß dem Vertrauenden gewillfahrt werden möge, und Judith, so schwer es sie ankam, führte ihren Pflegesohn nach dem Zimmer, das er seit dem Abschied von seinem Vater nicht wieder betreten hatte. »Dein Sohn verlangt nach dir, August; darf ich ihn vor dich lassen?« fragte sie, um eine allzu jähe Überraschung zu vermeiden.

Ein kurzes heftiges Ringen zwischen Natur und Maske offenbarte sich im Mienenspiele des Mannes; als aber Sylvian, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Zimmer und in seine Arme stürzte, da war es die Natur, die zum zweiten Male mit heißen Tränen und einer leidenschaftlichen Umstrickung den angenommenen Schein durchbrach. Judith überließ Vater und Sohn einem unbelauschten Beieinander, auf dieses einzige unbeirrte Gefühl ihre letzte Hoffnung bauend. – Welche Eindrücke und Enthüllungen die Stunden dieser Wiedervereinigung füllten, darüber hat Sylvian, es sei denn in der Beichte, niemals das Leiseste angedeutet; aber ein wunderbares Leben, eine stille Missions- und Märtyrerglut war seit jenen Stunden in des Knaben Wesen angefacht, ja er schien dem verwunderten Pfarrer gewachsen, als er ihn, am Nachmittage auf dem Hofe vorsprechend, wiedersah.

Der geistliche Herr brachte tieferschütternde Eindrücke verschiedenster Art von seinem Stadtbesuche zurück. Weit über seine Mutmaßungen hatte jener kaum Minuten währende Wirbel der Elemente Zerstörungen angerichtet, welche Jahre der Menschenmühe nicht bewältigen würden. Die Au stand unter Wasser, versandet, verschlemmt, die Ernte verwüstet; der diesseitige Bahnverkehr lag unterbrochen, da der Anprall der in dem Weidenausstich sich stauenden Flut den Damm nahe jener mehrfach erwähnten Durchfahrt zerrissen hatte. Die Beschädigung an baulichem und beweglichem Eigentum in Stadt wie Land war unberechenbar, Menschenopfer selber mußten beklagt werden. Dahingegen hatten Not und Gefahr auch einen Eifer edelmütigen Selbstvergessens in Helfen und Spenden hervorgerufen, und wer mochte sagen, ob nicht der aus ihm fließende Segen des Gemüts den zeitlichen Unsegen dauernd überwand? Auch in dem Zuchthause war die Alltagsstille einer rüstigen Bewegung gewichen, der wackere Direktor an der Spitze aller Sträflinge, deren Zuverläßlichkeit er zu vertrauen wagte, die ganze Nacht in Tätigkeit gewesen. Die erhöhten tüchtigen Baulichkeiten der Anstalt zwar standen unberührt, um so ausgesetzter aber fand sich der seicht und leicht angelegte Stadtteil, der Stadtteil der Armut, der sie umgab, und hier war es, wo Simon Lauter sich in heldenmütiger Aufopferung nicht nur vor sämtlichen Mitgefangenen, sondern selber vor den gefährdeten Bewohnern hervorgetan. Bis an den Hals im Wasser, watend, schwimmend, das Boot lenkend, das Rettungsseil werfend, auf schwanker Leiter die vom Einsturz bedrohten Giebel erklimmend, vor allem aber durch seinen brüderlichen Einfluß die roheren Mitsträflinge in Zucht haltend, war er recht eigentlich der rettende Engel dieser Gegend geworden, und in einer Stunde und Lage, wo jede einzelne Stimme in einem allgemeinen Notschrei erstickte, wurde der halbverklungene Name des Quellensimon wieder als der eines Wundertäters in einem vertrauten Elemente laut gepriesen.

Hinsichtlich seines eigentlichen Zwecks indessen war der menschenfreundliche Priester ohne Ausbeute heimgekehrt, obschon er den Simon Lauter gesehen und gesprochen, als er eben im Gefangenenhofe sich wie seine Haftgenossen der Musterung und den ferneren Befehlen des Direktors gestellt, um nach kurzer Rast sein Rettungswerk von neuem anzutreten. Er hatte kraft- und lebensvoller dreingeschaut denn bei jenem früheren Besuche, und als der geistliche Herr die Hoffnung eines baldigen Gnadenerlasses, gestützt auf sein heutiges Wirken, hatte fallen lassen, da war sein Auge in freudigem Glanze aufgelodert und eine Purpurwelle bis unter das gebleichte Haar über sein Angesicht geflogen. Welch jäher Umschlag dahingegen bei der leisesten Andeutung, daß auch von seiten der Gerechtigkeit eine Wendung in seinem Schicksale nicht ohne Aussicht sei, daß eine erneuerte Untersuchung zu einem freisprechenden Urteil führen dürfe, falls die auftauchenden Spuren einer Person, die bei jener in vieler Hinsicht rätselhaften Angelegenheit einen unseligen Anteil gehabt zu haben scheine, deutlicher hervortreten sollten. Bei dieser Anspielung, wie gesagt, hatte der Gefangene mit weit aufgerissenen Augen gestutzt, er war plötzlich totenfahl geworden, ringend um Atem, eine lange Weile heftig auf und nieder geschritten, endlich aber dem Besucher ruhig und hochaufgerichtet gegenübergetreten.

»Herr Pfarrer,« hatte er mit fester Stimme und der Ausdrucksweise eines Mannes gesagt, der, wie der Pfarrer es bezeichnete, durch die glücklichsten Gaben von der Natur gesegnet, in langer Einsamkeit sich selbst gebildet, »Herr Pfarrer, ich habe diese Nacht unter Gottes Himmel, wenn auch in Zerstörung und Aufruhr, das Gut der Freiheit, dessen ich mich nahezu entwöhnt, von neuem so sehnsüchtig schätzen lernen, daß ich den edlen Menschen, die mir die Gnade meines Königs erwirken wollen, auf meinen Knieen danken möchte. Sollte es sich aber darum handeln, den Rechtsweg noch einmal zu betreten, so lassen Sie mich Ihnen im voraus erklären, daß ich keine meiner Aussagen widerrufen, diesen Aussagen keinen Buchstaben hinzusetzen kann und werde. Ich bin mir einer schweren Verschuldung bewußt, ich war meiner Sinne unmächtig: nicht mehr, nicht weniger habe ich bekannt, noch dürfte ich bekennen; jedes abweichende Zeugnis, und wenn es meine Rechtfertigung enthielte, müßte ich verleugnen. Hindern Sie also eine neue Untersuchung, von welcher Seite sie angeregt werden möge, forschen Sie,« – hier stockte seine Stimme, – »forschen Sie nicht nach einer Spur, welche die Lücken meines Bekenntnisses ausfüllt; hätte der Zufall eine derartige Spur an das Licht geweht, so eilen Sie, dieselbe zu tilgen, ehe sie Qual und Verwirrung über unschuldige Herzen verhängt. Ich wiederhole, ich büße, was ich verbrochen. Achten die, welchen Gnade auf Erden zusteht, meine Buße erfüllt, so soll es mein lebenslängliches Bestreben sein, diesem Vertrauen gerecht zu werden; erheischt meine Befreiung einen Widerruf, so möge die Strafzeit zu Ende laufen.«

»Ich hätte«, bemerkte der Pfarrer nach dieser Anführung, »einer so entschiedenen Willensäußerung keinen deutlicheren Wink entgegenzusetzen vermocht, selbst wenn ich zu einem solchen eine Berechtigung empfunden; auch verabschiedete sich der Gefangene nach dieser Aussprache schleunigst, um von neuem an sein hülfreiches Tagewerk zu gehn. Eines aber ist mir aus dem Gebaren dieses Sträflings ohnegleichen klar geworden –.« – Der Pfarrer wurde unterbrochen. Er hatte der gespannt lauschenden Judith diese Mitteilungen in der Gartenlaube gemacht und so wenig wie sie bemerkt, daß Sylvian, der ihn vom Fenster aus hatte kommen sehen, dem späteren Teile derselben am Eingang der Laube gelauscht. Jetzt stürzte er hervor, faßte mit den Worten: »Kommt, kommt, er ist bereit!« beider Hand und zog die Verwunderten die Treppe zu der Giebelstube hinan.

August Frobel, wie wir den Fremden ohne Einwurf nennen dürfen, empfing sie mit scheuen, grollenden Mienen; als aber Sylvian seine Hände flehend zu ihm erhob, raffte er sich zusammen und erklärte in einer zwischen dem Natürlichen und Angenommenen schwankenden Manier, ohne über die eigne Person einen Aufschluß zu geben, daß er, da seine Rückkehr nach Amerika bevorstehe, noch am heutigen Tage ein Dokument von Wichtigkeit abzufassen und in die Hände des Pfarrers niederzulegen gedenke, zu beliebiger Veröffentlichung, sobald die Nachricht seiner Einschiffung eingetroffen. – Alle standen betreten; am tiefsten der Sohn, der ein weitergreifendes Bekenntnis erwartet zu haben schien. Sein Auge hing an dem des seelsorgenden Freundes mit dem stummen Zweifel, ob dieser Weg der leiblichen Rettung sich mit dem des ewigen Heils vereinigen lassen werde.

Judith war die erste, welche zwischen hoffnungsvollen und mißtrauischen Erwägungen zu einem Abschlusse kam, indem sie mit der ihr eignen Zähigkeit eine rechtfertigende Erklärung mündlich vor den Gerichten forderte, auf die Gefahr hin, in eine Selbstanklage verwickelt zu werden. Er bäumte sich in künstlicher Wut und aufrichtiger Furcht, es gab einen heftigen Auftritt, den der Pfarrer durch einen vermittelnden Vorschlag zu beendigen suchte. »Legen Sie«, sagte er, »ein schriftliches Bekenntnis in die Hände dreier zuverlässiger Zeugen, Anwälten der Gerechtigkeit, Weltlichen mindestens; nicht eines Dieners der Gnade, der,« er vermied eine näherliegende Andeutung, wie den Namen »Sohn«, – »der der Beichtiger dieses Knaben ist.«

»Der auch deine Beichte empfangen und als Geheimnis bewahren soll,« ergänzte Sylvian, durch den Wortwechsel der Geschwister aufs tiefste erschüttert; »o folge ihm, Vater, tu, was er sagt, er kann nur das Rechte raten; schreibe, übergib –!« – »Und wer bürgt für die Wahrheit des Geschriebenen?« fragte Judith herbe. – »Ich, Muhme, ich!« rief der Knabe, je mehr und mehr erregt. »Ich, sein Sohn. Ja, sage es laut, daß ich dein Sohn bin, Vater, daß ich bei dir sein darf in der Stunde der Wahrheit, daß ich deine Worte lesen, deine Feder regieren darf, wenn deine Hand erlahmt. Heute noch, Vater, in dieser Stunde, und morgen –.« – »Morgen bin ich im Hafen, einen Tag später auf offner See«, fiel Frobel ein, nur von dem einzigen Gedanken der Flucht beherrscht. – »Und ich mit dir, mein Vater, ich verlasse dich nicht!« rief Sylvian begeistert; »zu dir gehöre ich, bei dir bleibe ich!« – Überwältigt riß ihn der Vater an sich. »Mein Sohn, mein Sylv, o du heiliges Kind!« schrie er auf; »o, ich elender, erbärmlicher Sünder! Ja, ja, bleibe bei mir, mein Erretter, mein Engel! Sage mir, was ich bekennen soll, sage mir, was ich schreiben soll! Was du willst, ich tu's. Morgen, heute, gleich jetzt, und dann fort, fort aus diesem Haus, fort aus diesem Land, du und ich, wir beide allein –!«

»Halte ein, August!« unterbrach ihn Judith, indem sie die Hand auf ihres Pfleglings Kopf legte und die Aufgeregten zu trennen suchte. Der Knabe aber riß sich von ihr los, schlang sich von neuem um den Vater und sprach mit einer Hast, in welcher das Fieber zitterte: »Rede mir nicht darein, Muhme; wolle mich nicht zwingen, Muhme! Hältst du mich mit Gewalt, so entweiche ich heimlich. Ich bin kein Kind mehr, ich bin sein Kind. Ich weiß, was ich will, ich weiß, was ich soll! Du bist meine Wohltäterin gewesen, er ist mein Vater! Du brauchst mich nicht; du bist stark und frei und rein, er ist krank und bedroht, er hat seinen Frieden verloren! Mein Vater, ja mein Vater! Die Handlung der Gerechtigkeit, das Sakrament der Gnade, und dann fort, fort über Land und Meer, wohin Gott uns führt!«

In den Augen der Pflegerin stand der Entschluß zu lesen, daß sie dieses Opfer zu hindern wissen werde; eine andere Macht aber ersparte ihr die Einrede: die Macht der sich rächenden überreizten Natur. Eine plötzliche, krankhafte Wandlung breitete sich über Sylvians Züge. »Mein Kopf, mein Kopf!« lallte er, indem er, sich verfärbend, in ihre Arme sank. Sie entriß ihn dem Vater, der sich mit einem Schrei der Verzweiflung über den Ohnmächtigen stürzte, und trug ihn auf ihren Armen über den Hof in seine eigne Kammer. Das Leben kehrte bald zurück, aber die Pulse flogen, und der Kopf stand in Flammen. Die Magd wurde schleunigst nach dem städtischen Arzte ausgesendet.

Judith und der Pfarrer, allein auf dem verlassenen Hofe, teilten sich in die Aufsicht von Vater und Sohn. Sylvian lag fiebernd und stumm, doch schienen kühlende Netzungen und Getränke ihm wohlzutun, und der Pfarrer eilte mit beruhigenden Nachrichten in das Seitenhaus, dessen Bewohner er je mehr und mehr in einer verwirrten und verwirrenden Stimmung fand. Er forderte Schreibzeug, warf einige Worte auf einen Bogen, sprang auf, rannte im Zimmer umher, sprach mit sich selber ohne verständlichen Zusammenhang, griff nach dem wüsten Roman, nach einem neuen Bogen, zerriß das Geschriebene, verbarg die Schnitzel in Taschen und Winkel, alles mit deutlichen Zeichen der Angst und Scheu. Der Pfarrer beobachtete dieses Treiben stundenlang, in der Nebenkammer verborgen, da er inne ward, wie der Zwang seiner Nähe die Unruhe des Gefolterten steigerte. Der gütige Mann dachte nicht daran, die schwergeprüfte Familie zu verlassen, auch als Knecht und Magd sich auf dem Hofe wieder einstellten.

Erst nach Mitternacht kam der Arzt. »Strohfeuer, zum guten Teil niedergebrannt!« erklärte er, nachdem er den Knaben beobachtet. »Die Augen fallen ihm zu, die Natur hilft sich selbst. Laßt ihn schlafen, und wenn er erwacht, gebt ihm tüchtig zu essen; der Junge wird heil sein wie ein Fisch.« – Erst jetzt dachte die Wirtin daran, daß ihr armer Pflegling in den sich überstürzenden Erregungen seit dem Tode der Großmutter, wie die Nacht ohne Schlaf, so den Tag, vielleicht den zweiten schon, ohne Nahrung hingebracht; sie beruhigte sich vollständig, als des Arztes Voraussicht in Erfüllung ging und Sylvian in einen ruhigen Schlummer versank, aus dem er erst spät am andern Tag erwachte.

Bedenklicher schienen die Eindrücke, welche der Arzt in der Giebelstube empfing. Man hatte ihn, ohne das Familiengeheimnis mit seinen Erschütterungen zu berühren, von des Fremden Zustand und Schicksal nach dem städtischen Unwetter unterrichtet, ihn bei demselben als einen zu Sylvians Hülfe herbeigerufenen Arzt eingeführt und beide miteinander allein gelassen. Er wurde mit wilden, argwöhnischen Blicken aufgenommen. »Ich bin nicht krank«, herrschte Frobel ihn an. »Wer hat gesagt, daß ich mich femwrogig bekannt? Das Weib lügt! Ich will keinen Zeugen. Laudanum, Laudanum! Ich bin gesund!« – Gleich verworren waren alle Antworten auf des Arztes Fragen, der ihn endlich kopfschüttelnd verließ. »Wenn er Fieber hätte, aber sein Puls geht im Schritt!« murmelte er, empfahl Ruhe und unausgesetzte Beobachtung bis zu deutlicheren Symptomen. Bücher wie Schreibzeug sollten ihm entzogen werden; da der Kranke aber sich ihrer Entfernung mit Heftigkeit widersetzte und mit gleicher Unruhe auf der Einhändigung seiner Brieftasche bestand, stimmte er selber dafür, ihm zu willfahren; nur das geforderte Opiumglas wurde vorenthalten.

War es Absichtlichkeit, war es, daß die Erinnerung ihm wirklich entschwunden, aber Frobel hatte des Todes seiner Mutter nicht mit der leisesten Andeutung wieder erwähnt und keiner der Seinigen, nach gemeinschaftlicher Übereinkunft, jenes Gedächtnis in ihm aufgeweckt. Auch die Begräbnisfeier sollte unbemerkt an ihm vorübergehen, der Zug sich in der Morgenfrühe durch die vordere Haustür auf der Straße bewegen, nach welcher das Seitenfenster keine Aussicht bot. Die Sorge um einen Wächter in der Stunde, wo Judith nebst dem Pfarrer und Sylvian, falls dieser genesen, dem Sarge folgen mußten, wurde erledigt, indem der Medikus sich erbot, in der Nähe des Kranken zu bleiben, bis die Leidtragenden zurückgekehrt.

Ein Unvorhergesehenes, das wir Zufall nennen und das in schweren Lagen wie die der Klusbewohner in jener Nacht als eine Kleinigkeit kaum beachtet wird, störte diese wohlgetroffenen Einrichtungen und gab mittelbar den Anlaß zu einer unheilvollen Entscheidung. Da der Sarg, in welchem die alte Frau zur Ruhe getragen werden sollte, von Stunde zu Stunde vergeblich erwartet wurde, mußte man sich entschließen, mitten in der Nacht den Knecht nach der Stadt zu schicken, denselben herbeizuschaffen, oder für den vorauszusetzenden Fall, daß seine Fertigung sich in der allgemeinen Wirrnis verzögert, den Prediger zu einer späteren Feier einzuladen. Erst in der zum Begräbnis anberaumten Stunde stellte der Klaas sich wieder ein ohne das dunkle Gehäuse, das erst am Nachmittag erwartet werden durfte. Das bereits harrende Trauergefolge mußte heimgeschickt und für die Dämmerstunde wiederbestellt werden. Auch der Arzt durfte nicht länger weilen, versprach aber, wenn irgend tunlich, gegen Abend wiederzukehren.

Judith war geneigt, Sylvians andauernden Schlafzustand auch um des Vaters willen für eine wohltätige Fügung zu halten, wenngleich eine unruhigere Spannung nicht an ihm zu verkennen war, seitdem er den sänftigenden Einfluß des Knaben entbehrte. Im Grunde aber schien er zu ausschließlich mit sich selber beschäftigt, um ihn zu vermissen oder sich von seinem Unwohlsein beängstigen zu lassen. Nur einmal fragte er die Magd, die einzige Person, der er nicht mißtraute, bei deren Eintreten er aber immer ängstlich nach der Tür lauschte, ob nicht eine andere ihren Schritten folge, – er fragte sie geheimnisvoll: »ob der junge Herr drüben schon seinen Koffer gepackt?« und als die Christine wahrheit- und vorschriftgemäß antwortete: »Der Sylv schläft, er schläft sich gesund«, – sagte er: »Laudanum, Laudanum!« beschrieb sein eignes Arzneifläschchen und meinte, man habe dem Sylv wohl Tropfen daraus eingegeben. – »Kann sein«, versetzte die Christine, die weder widerspruchssüchtig war, noch sein sollte. Damit wollte sie gehen; der Mann aber hielt sie zurück, drückte ein kleines Geldstück in ihre Hand und bedrängte sie mit neugieriger Angst nach fremden Herren aus der Stadt etwa oder Nachbarn aus dem Dorfe, Männern mit schwarzen Kleidern und ernsthaften Gesichtern, die sich mit der Wirtin unterredeten. Die Dirne, in dem Glauben, daß er das morgendliche Leichengefolge meine, das ihrer Weisung zufolge nicht erwähnt werden durfte, sagte, daß sie keine gesehen, und ging.

Am Nachmittag wurde der Sarg gebracht, und fast gleichzeitig erwachte Sylvian heil und gestärkt, wie der Arzt vorausgesagt. Nachdem ihn der Pfarrer über seinen Vater beruhigt, aß er mit dem Appetit eines dreitägig Ausgehungerten und hatte kaum noch Zeit, sich zu der Feier zu rüsten, da der städtische Prediger wie das Gefolge bereits warteten. Der Medikus hingegen, auf den man gerechnet, war ausgeblieben, und es entstand nun die Frage, wen man zur Beaufsichtigung des Gefangenen zurücklassen solle.

Man muß die Wichtigkeit in Betracht ziehen, mit welcher Landleute auch von einer mehr als gewöhnlichen Bildung den letzten Akt eines Menschenlebens, die Keimsenkung für eine jenseitige Ernte, behandeln, um weder die besonnene Kluswirtin, noch den zartfühlenden Sylvian, noch selber den gemütlichen Pfarrherrn darob anzuklagen, daß keinem von ihnen auch nur der Gedanke gekommen ist, die Ehrenpflicht gegen die tote Ahne mit dem Dienste bei dem Kranken zu vertauschen, und daß man sich zu der Auskunft entschloß, die handfeste, gehorsame Magd an der Lugespalte in der Kammer zurückzulassen. Schweren Herzens, im neuen Trauerrock an der Seite ihres Bräutigams bei einer so wichtigen Feierlichkeit zu fehlen, aber ohne Widerspruch hatte sich die Christine auf ihrem Wächterposten eingerichtet. Die Zimmertür war von außen verschlossen; in einer Stunde kaum glaubte man auf den Hof zurückgekehrt zu sein; der Arzt durfte jeden Augenblick erwartet werden; das Wesen des Gefangenen zeigte keine besorgniserregende Veränderung: man schied ohne Arg, um am Abend das Nächstgebotene miteinander zu beraten.

Die Dämmerung war im Hereinbrechen, als in der Ferne die Trauerglocke anhob und der Zug sich in Bewegung setzte. Den beiden von ihren Seelsorgern begleiteten Leidtragenden folgte die Mehrzahl der männlichen Gemeindegenossen, ein Merkmal des milden priesterlichen Einflusses sowohl, als des durch die junge Wirtin wiederhergestellten Ehrenansehns der alten Klus. Die Sonne des gestrigen Tages hatte die feuchten Luftdünste von neuem zusammengezogen, ein grauer, sickernder Nebel lag über der Gegend, kein heiteres Abendgold leuchtete in des Sachsenröschens offenes Grab.

Die Trauerrede war kurz und bündig; erbaulich hätte sie ohnehin nur für eine sein können, deren Herz in dieser Stunde in zu schweren Lebenskämpfen rang, um sich aus den Schauern des Todes in eine unsterbliche Glaubenswelt tragen zu lassen. Als das letzte Amen verhallt, trennte man sich kühl und nüchtern, ohne Einladung zum üblichen Leichenschmaus, vor der noch ungefüllten Gruft. Es war völlig Abend geworden; der Mond lag hinter fahlen Dunstwolken verschleiert, der Prediger trat unverzüglich den beschwerlichen Heimweg durch die überschwemmte Aue an, und die beiden Verwandten wendeten sich in Begleitung ihres geistlichen Freundes nach dem Klushofe zurück. Aber schon innerhalb des Friedhofgeheges beschleunigte Sylvian seine Schritte, von Sehnsucht und Sorge um den verlassenen Vater getrieben; die beiden andern gingen allein des Weges, auf welchem sich vor zwei Tagen ihre Bekanntschaft geknüpft.

Judith zögerte nicht, ihren Widerwillen gegen Sylvians gestern in der Leidenschaft gefaßten, aber vor einer Stunde am offnen Sarge der Ahne in besonnener Ruhe wiederholten Plan mit großer Entschiedenheit Ausdruck zu geben. Nun und nimmer, erklärte sie, werde sie das Kind, das sie bis heute allen Sorgen und Nöten der Wirklichkeit überhoben, der Führung eines unzurechnungsfähigen Vaters überlassen, selbst wenn dessen gegenwärtige Wirrnis sich nur als vorübergehende Folge der Aufregung oder gar als eine Maske herausstellen sollte; nun und nimmer ihn seinem Schülerberufe entreißen, alle Pläne für seine Zukunft über den Haufen stoßen. Sie sah den Schutzlosen in einer fremden Welt versinken, einem Wahne, wenn auch dem edelsten, ein neues Opfer verfallen. Ihr sonst so weichmütiger Begleiter hatte ein kräftigeres Zutrauen.

»Er ist im sechzehnten Jahre,« sagte er, »ein Alter, in welchem die Mehrzahl der Knaben sich selbständig Bahn brechen muß. Ihr werdet auch in der Ferne die Hand nicht von ihm abziehn, brieflich seine Ratgeberin bleiben, und wenn, wie vorauszusehn, in nicht allzu ferner Frist der Herr über Leben und Tod das nächste Band gelöst, ihm eine Heimat offen halten. Schüler hin, Schüler her, liebe Tochter, das Leben ist das lehrreichste Buch; die Pflicht fragt nicht nach der Flüsterstimme des Berufs, und der Segen des Gemüts entschädigt für die Opfer, die der Geist gebracht. Aber welche Pflicht, welcher Segen könnte mächtiger wirken, als die, einen Versinkenden zum Licht emporzuheben? Und wenn der Versinkende gar ein Vater ist? Wohl mag es leichter sein, einen Verstockten zur Buße als einen Flatterling zu stetigem Willen zu zwingen; die Gerechtigkeit bricht sich an solchem Rohr oder das Rohr sich an ihr; aber die biegsamere Liebe wird ihm Stütze und Stab. Denn die Gerechtigkeit ist wohl die Wurzel am Baume der Tugend, aber die Liebe ist seine Krone, die dem ermatteten Wanderer ihren Schatten spendet und in welcher des Himmels Vögel ihre Nester bauen.« Der Pfarrer hatte diese letzten Worte, mit denen er vielleicht an seines lutherischen Amtsbruders Stelle die Grabrede der alten Sachsenwirtin geschlossen haben würde, kaum vollendet, als ihnen Sylvian bleich, verstört, atemlos aus dem Hoftore entgegenstürzte. »Er ist fort, verschwunden!« Mehr vermochte er nicht zu stammeln, und mehr hätten die Entsetzten nicht zu hören vermocht, so hastig stürmten beide nach dem Giebelhause voran.

Der Eingang des Zimmers war von außen verschlossen und von innen verriegelt, das Fenster geöffnet, Hof wie Garten ohne Spur. Die Magd stand erstarrt unter der Kammertür, durch welche Sylvian, als auf sein wiederholtes Klopfen und Rufen keine Antwort erfolgte, vor einer Weile mit Gewalt seinen Eingang genommen. Er war fort, verschwunden! – Das Schicksal des Unglücklichen in dieser letzten Stunde, da man seine Mutter zu Grabe trug, kann nur mit Vermutungen erklärt werden, die wir nach den spärlichen Aussagen der Magd wie nach dem Inhalte eines für seinen Sohn hinterlassenen Briefes und einzelner zerstreuten Papierschnitzel, auf welchen die geforderte Erklärung in abweichender Fassung, aber niemals der Wahrheit getreu versucht und immer wieder vernichtet worden zu sein scheint, hier in der Kürze zusammenfassen.

Nach dem Zugeständnisse einer schriftlichen Erklärung und des Sohnes Entfernung ist dem unruhigen, durch einen selbstauferlegten scharfen Zügel zerriebenen Hirn der letzte kümmerliche Halt entwichen. Die Vorstellungen eines heimlichen und eines öffentlichen Gerichtes, dem eine grausame Drängerin ihn überantwortet, wechseln und mischen sich ineinander. Der Arzt ist kein Arzt, aber ein lauernder Zeuge oder Eideshelfer, von der Anklägerin bestellt. Er selber trägt eine Maske; so sieht auch er nur Masken, sieht sich von Spionen umstellt, festgehalten, von allen Seiten bedroht.

In dieser Stimmung hört er von seines Sohnes andauerndem Schlaf – wenn es nicht Lüge ist, ist es künstliche Betäubung, um den einzigen Retter und Helfer von ihm fernzuhalten. Am Fenster spähend, sieht er zweimal, morgens und nachmittags, im dämmernden Nebel die dunklen Gestalten der Sargträger und des Leichengefolges, einzeln, langsam vom Kamp her dem Trauerhause zuschreiten. Wieder sind es bald Zeugen und Häscher, die auf ihn fahnden, bald Freischöffen und Eideshelfer, die sich versammeln im »offnen Ding«, die »Wette« an dem geständigen Mörder zu vollziehn. Er zählt: drei, sechs, vierzehn! Und ihn zu entlasten nicht einer. Er ist verloren; er fühlt schon die »Wyd« über seinem Haupt, wie er sie die Nacht hindurch über dem des »femwrogigen Junkers von Dortmund« gefühlt. Er will appellieren an Kaiser und Reich, aber wo sind Kaiser und Reich? Keine Wahl, er muß fliehn. Mögen sie ihn verurteilen zu Kerker und Beil, ihn – bis zum letzten verwirren sich die Vorstellungen von Sonst und Jetzt, – ihn verfemen: echtlos, rechtlos, sicherlos, friedlos, – was schiert es den Geflüchteten, er ist fort, auf weitem Meer, in einem freien Land!

Aber sein Sylv! Er stockt. Das Kind kann ja nicht ewig schlafen. Er faßt sich, schreibt im Fluge das Blatt. Sylvian soll ihm folgen, heimlich, mit Gewalt, sobald er erwacht; im Hafen will er auf ihn warten, ihre Einschiffung vorbereiten. Er verabredet Ausflüchte, Verkleidungen; Sylvian soll sich Geld und Geldeswert verschaffen, seine Uhr nicht vergessen. Er denkt an alles. – Er schließt den Brief durch gekautes Brot und gibt ihn mit unbefangener Miene der den Vesperimbiß bringenden Magd zur Besorgung an den jungen Herrn augenblicklich, sobald er erwacht, nur – er drückt noch einmal eine Münze in ihre Hand –, nur daß die Wirtin es nicht gewahr werde. Darauf genießt er von der gereichten Speise, erklärt müde zu sein, ein paar Stunden ruhen zu wollen, verbittet sich Störung wie Licht und wirft sich in Gegenwart der Magd auf das Bett.

Indem die Christine das Zimmer verläßt, hört sie das anhebende Trauergeläut und kann der Verlockung nicht widerstehen, aus einer dem Garten entgegengesetzten Dachluke einen Blick auf den Leichenzug zu werfen. Kaum fünf Minuten von ihrem angewiesenen Platze fern, hat sie bis zu Sylvians Ankunft denselben nicht wieder verlassen, und da sie nicht die leiseste Regung in der Stube vernahm, den Fremden auf seinem Bett im dunklen Hintergrunde schlafend vermutet. In jenen wenigen unbeobachteten Minuten muß er daher, nachdem er die Tür verriegelt und seine gestrigen Kleider übergeworfen, durch das Fenster, sich an einem Spalier hinabwindend, entkommen sein, scheint aber den Bogen des Waldweges vermieden und sich unmittelbar auf die Landstraße gewendet zu haben. Kein Mensch erinnert sich seiner Begegnung.

Er sieht die Niederung unter Wasser und erklimmt den Damm, ohne zu ahnen, daß er nahe dem Bahnhofe durchrissen ist. Der Zug nach der nördlichen, nicht unterbrochenen Richtung, die Richtung, nach der er selber strebt, wird gerüstet, er hört das Läuten, das Zischen der Lokomotive und stürmt voran. Der Nebel hat das Abenddunkel verfrüht, er sieht nicht unter sich, nur auf die aus der Ferne glühenden Maschinenaugen. Jählings entweicht ihm der Boden, er gleitet aus, rollt hinab auf den vom Wasser überspülten Weg, sucht sich zu halten, klammert sich an das Gestrüpp, versinkt immer tiefer zwischen Wurzeln und Schlamm; die Gerten umstricken ihn, er kann nicht vorwärts, kann nicht zurück, die »Wyd«, vor der er im Wahn geflüchtet, wird ihm in Wirklichkeit zur Schlinge, das Schicksal erfüllt sich an der Stelle einer jahrelang verborgenen blutigen Tat. – An dieser Stelle fanden ihn die Seinigen; voran, von unheimlicher Ahnung getrieben, die Schwester. Er war tot.

»Der Amerikaner, James Brown, verunglückt durch Sturz und rasch eingetretene Apoplexie«, lautete der Spruch der gerichtlichen Totenschau. – So ging er unter, seiner Heimat ein Fremder, die Handlung der Gerechtigkeit unvollbracht, durch das Sakrament der Gnade nicht entsühnt.

Zwei Tage später, bei grauendem Morgen, legte man ihn zur Ruhe zwischen den Fremdlingsgräbern der alten Sachsenmutter und ihrer Schwiegertochter Sylvia. Die Kluswirtin und ihr Pflegesohn, geleitet von dem Gemeindepfarrer, waren die einzigen, die seiner Leiche folgten. Sylvian, der bis zuletzt auf seinen Knieen betend neben dem Toten gelegen, erklärte auf dem Heimwege mit großer Fassung, daß er Priester werden wolle.

Klärung

In der Mittagsstunde, welche jenem stillen Begräbnismorgen folgte, betrat ein trauerndes Weib die Zelle des Gefangenen Simon Lauter. Er saß, mit dem Rücken der Türe zugewendet, in seine kunstvolle Arbeit vertieft und blickte nicht früher auf, bis er seine Kniee krampfhaft umklammert und glühende Tränen auf seine Hände niederrieseln fühlte. Es war Judith, die stolze Kluswirtin, die sich zu Füßen des Züchtlings wand und zitternd seine Vergebung erflehte. Aber auch, als sie nach langer Stille beruhigter, ihre Hand in der seinen, ihm gegenüberstand, war ihr erstes einziges Wort: »Vergib!« Spät und mühsam rang das zweite sich hervor: »Ich habe heute morgen meinen Bruder begraben.«

Der Hauch des Glücks, der kaum die bleichen Wangen des Gefangenen überflogen, wich einem eiskalten Schatten. – »Heimgekehrt, tot?« rief er entsetzt. – »Heimgekehrt, tot!« sagte Judith; »das Erbteil seiner Schwester: einen Schuldlosen zu entlasten.« – Simon schlug die Hände vor das Gesicht und stand in heftiger Erschütterung. – »Ihr Erbteil – sein Sohn!« murmelte er ihr nach. Die letzte Versuchung mußte überwunden werden.

Des Mädchens Seele ergoß sich vor ihm, knapp, gepreßt, Silbe um Silbe; dann immer voller und voller. Nicht den Toten verklagte sie, nur sich selbst. Sie war die Schuldige, deren Kleinglaube sein Opfer bezweifelt, deren Kleinmut seine Rechtfertigung versäumt. »Simon,« sagte sie zum Schluß, »jedes graue Haar auf deinem Haupt klagt mich an um eine Stunde der Qual, aber – dieser Friedensblick deines Auges, – vergib mir, Simon, denn ich habe mehr gelitten als du!« – Ja, er blickte in Frieden; die Versuchung war überwunden, die Stunde gekommen, in der er wieder an sich selber glauben, in der er vor sie treten und sagen durfte: »Es ist der Simon, den du liebgehabt!« die Stunde auch, in welcher das Gelübde des Schweigens vor ihrem Ohr, und vor ihrem allein, sich lösen durfte. »Um dieser Stunde willen«, sagte er, »habe ich gebüßt zehn Jahre lang; nicht das Verbrechen, dessen man mich angeklagt, aber – vom Laster zum Verbrechen ist kaum ein Schritt –, aber das Laster, Judith, das uns entzweit.« Er zog sie neben sich auf die Bank, und ihre Hände in den seinen, wie einst, hob er den letzten Schleier von einer dunklen Tat.

»Als ich mit dir und jenem Unglücklichen zusammenstieß,« so lautete sein Bekenntnis, »als ich ihm nach seinem Hause folgte, um deinem Bruder Lebewohl zu sagen, da zweifelte ich nicht, daß du seiner Werbung nachgegeben; ich war zum Tode betrübt; aber ich grollte weder dir noch ihm, denn Geist und Leib waren rein. Und in derselben Nacht haßte ich diesen Mann, von dem ich nichts Böses wußte, den Mann, der dich liebte, als einen tödlichen Feind; ich hätte ihn würgen mögen, und wenn meine Hand frei vom Blut geblieben, nicht der Wille hat sie gebannt, nur die körperliche Scheu, welche die Natur mir eingebunden. Ich war ein Mörder vom Herzensgrunde, denn ich war im Rausch. Ich sah jenen anderen, der mir von Jugend ab ein Bruder gewesen, von einer bösen Leidenschaft gepackt, suchte ihn zu warnen, zurückzuhalten, – und mein Lallen verhallte. Ich sah ihn in eine unselige Verwirrung rennen, verließ ihn, um für ihn einzutreten, und statt das Geld in meinem Hause zu holen, taumelte ich in der Richtung, von welcher du kommen solltest, Judith. Da unten an der Torfahrt lauerte ich, um dich dem Feinde zu entreißen; des Freundes hatte ich vergessen – denn ich war im Rausch. –

Ich hörte und sah die Ringenden, strebte, sie voneinander zu reißen, und brach zusammen gleich einem Rohr, ich, den die Natur mit Kräften ausgerüstet, stärker als jene beiden vereint. Ich, der Ruhige, trug die Schuld eines Sinnlosen, die Schuld, die ich zu hindern vermochte und nicht verhindert habe – denn ich war im Rausch. – Und dies alles stand plötzlich klar vor meiner Seele, da ich dich neben dem blutigen Opfer erkannte, dich, Judith, der ich mein Wort verpfändet und gebrochen, die ich mehr zu lieben glaubte als mein Leben, und doch weniger liebte als den Dämon, dem ich Gewalt über Leib und Seele eingeräumt, da ich dein wahrheitzeugendes Ja wie die Posaune des richtenden Engels in meinem Herzen widerhallen hörte.

Und nun jene stillen Tage der Haft, jene Tage der Einkehr und Prüfung! Vor kurzem, als ich im Schachte arbeitete, hatte ich einen Beamten die Geschichte eines Freundes erzählen hören, eines gebildeten Mannes, der sich freiwillig das Leben genommen, weil er durch das Laster des Trunks den Widerwillen des geliebten Weibes erregt und doch von dem Laster nicht zu lassen vermochte. Das war im Freien, zwischen Himmel und Wald, und ich hoffte noch, glaubte noch an mich selber zu jener Zeit. Aber, daß ich es mit Worten aussagen könnte, wie mich die Erinnerung an dieses Schicksal in der einsamen Zelle durchschüttelte. Auch ich hatte die reine und starke Liebe eines Weibes verwirkt durch jenes Laster, auch ich konnte von dem Laster nicht mehr lassen ohne Gewalttat an mir selbst. Der Selbstmord soll eine Todsünde sein, eine Feigheit, eine Roheit der Seele. Vielleicht. Ich für mein Teil hatte einfach nicht das Blut für eine rasche Tat. Ich war ein Feigling, wenn ich jener langsamen Vergiftung des Lasters, die wohl mit größerem Rechte eine Todsünde und eine Roheit genannt wer den darf, – denn sie entquillt einem Unmaße der Lust und jene einem Übermaße des Leidens, – wenn ich dieser langsamen Vergiftung nicht einen Damm entgegensetzte. Einen Damm, wie du es einst genannt, Judith; aber einen Damm von außen, denn mein Wille, ich wußte es, war keiner.

In diesem Wirbel der Gedanken, wenige Stunden vor der Katastrophe, welche über Tag und Nacht für mich entscheiden sollte, kam es über mich gleich einer Erleuchtung von oben. Eine Mauer um mich ziehen gegen das Laster, das ich freiwillig nicht mehr zu bannen vermochte, eine Gewissenssünde sühnen, deren Unterlassung nicht mein Verdienst, von meinem Freunde und Bruder, – merke es wohl, Judith, dies letzte war nur die Folge, nicht der Ausgang meiner Erkenntnis, – von dem Sohne meiner Wohltäter eine Anklage lenken, die sich unzweifelhaft gegen ihn erheben mußte, wenn ich die stückweisen Erinnerungen jener Nacht enthüllte – Reinigung, Buße und Wohltat mit einem Worte, das ich sprach, und mit einem, das ich auch ferner zurückhielt, wie ich es bisher im traumhaften Schwanken zurückgehalten. Ich sage die Wahrheit, Judith, ich hatte die Tat nicht verüben sehen, denn ich war im Rausch.

Mein Leben, ich wußte es, schützten Zweifel und Bedenken, die sich nicht überspringen ließen. Seiner harrte das Schafott. Mochte er sich durch die Flucht diesem Äußersten entzogen haben, seine Mutter lebte, sein Kind, du lebtest, Judith, um Stunde für Stunde das schwebende Beil über seinem Haupte zu empfinden. Ich stand allein, die einzige Liebe hatte ich verwirkt. Rausch entschuldigt, ein Mord schändet nicht, wohl aber ein Raub, und Schande wird höher als Sünde angeschlagen in den Augen der Welt. Man mochte mich für einen Mörder halten, nimmer für einen Dieb. Seine Ehre war gebrandmarkt, der Name, den ein schuldloses Kind zu tragen hatte, den eine Schwester im Schweiße ihres Angesichts rein gewaschen. So sah ich's, Judith, und so sehe ich's noch heute. Es war Notwehr gegen mich selbst, es war Buße, und das, was du ein Opfer nennst, nur ein erquickender Segen, der aus jenen beiden erwuchs.

Und nun, Judith, bringe mich nicht um diesen heimlichen Lohn. Wühle nicht in ein Grab, wühle nicht in dein eignes Fleisch und Blut. Er ist dir nicht vergebens zum Bruder gesetzt gewesen; ehre den ewigen Willen, der seine Schuld mit Nacht gedeckt. Ja, tätest du's dennoch, Judith, weil starken Seelen wie der deinen das Schwerste immer das Nächste und das Übernatürliche häufig natürlich scheint, ließest du die Stimme vernehmen, die dir als Gerechtigkeit gilt, ich würde diese Stimme verleugnen, Judith, und der Schatten eines zwecklos Gezeichneten, eines, den bereits sein höchster Richter gefordert, hätte sich für ewige Zeiten zwischen dich und mich gedrängt.«

Judiths Augen hatten unbeweglich an dem Redenden gehangen wie an einer himmlischen Lichtgestalt. »Und du, Simon!« rief sie jetzt, da er geendet, erschauernd über den ganzen Leib und noch einmal zu seinen Füßen niedersinkend, »Simon, und du?« – Er richtete sie auf, zog sie an sein Herz und blickte sie an mit heiterer Ruhe, ja ein Lächeln auf den bleichen Lippen. »Ach, Judith,« sagte er, »ich werde der Gnade harren oder der Endzeit meiner Strafe. Ich fühle mich nicht unglücklich hier, ja, ich bin das Hätschelkind dieses Hauses, das dir als ein Grab erscheinen mag. Unter meinen elenden Mitbrüdern sind manche, die mich lieben; der Direktor verkehrt mit mir nahezu als einem Freund. Schau dich um, Judith, ich habe lohnende Beschäftigung, habe Schreibzeug und Bücher, glaube mir, ich wäre in der Freiheit nicht so weit gekommen. Ich war ein Schwächling, ich bedurfte der Zucht. Darum, wenn Liebe sich erklären läßt, darum liebte ich dich ja, Judith, dich vor allen andern, weil du Kraft hattest für mich mit. Die stärkende Liebe ist die stärkste, nun wohl bin ich ein Mann geworden; die Erinnerung, der Glaube an deine Liebe hat mich zum Mann gemacht. – Soll ich aber Gnade finden, dann um so größer freilich mein Glück. Die Gerechtigkeit kann ich missen. Wer sich unschuldig fühlt oder durch Buße entsühnt, sieht sich nimmer im Schatten. Sei's, daß ich mir unter Fremden eine Heimat suche,« er sah Judith erbleichen und setzte rasch hinzu, einen hellen Freudenglanz über den Augen, »oder auch hier in der alten Heimat. Mir bleiben Beschäftigung und Bücher, wie ich sie im Kerker lieben lernen, ich finde meinen Wald wieder, Gottes Himmel, – und unsre alte Freundschaft, Judith, über allem.« – So schieden sie voneinander.

Aber erst nach einer langen Unterredung mit dem Direktor und ihrem geistlichen Freunde kehrte die Wirtin in ihre Klus zurück. Mit einer Hast, die keiner an ihr gekannt, mit fliegenden Schritten und leuchtenden Blicken rüstete sie ihren Hof für einen mehrtägigen herrenlosen Selbstbetrieb und verließ ihn, in ihre Trauerkleider gehüllt, mitten in der Nacht, um eine heimliche Reise anzutreten.

Am übernächsten Abend brachte eine Nachricht des Telegraphen direkt aus dem Königlichen Kabinette der Residenz eine unerhörte Bewegung in das Getriebe der Strafanstalt, und einen Morgen später, während Simon Lauter, der Begnadigte, heiße Tränen im Auge und von manchem aufrichtigen Händedruck begleitet, aus den Mauern schied, die er sich in Wahrheit zu einem Zuchthause werden lassen, während er zum erstenmal seit zehn Jahren den Atem seines geliebten Waldes in tiefen Zügen in sich sog, verbreitete sich diese Bewegung über Stadt und Land, eine freudige Begeisterung entzündend, wie sie leider nur allzu selten den trägen Tageslauf der Herzen durchrüttelt.

»Der Simon Lauter, im Volke ›der Quellensimon‹ genannt, vor zehn Jahren des Mordes angeklagt und seit der Zeit die über ihn verhängte Strafe mit musterhaftem Betragen verbüßend, hat ohne ein Wort der Einrede jene Strafe für einen andern erduldet, den der Tod bereits vor einen höheren Richter geführt und dessen Namen, nach des Simon Lauter Wunsch und Willen, ein ewiges Vergessen decken soll. Seine Majestät der König, durch unwiderlegliche Beweise von der Wahrheit dieser seltnen Handlungsweise überzeugt, haben dem Erlasse Allerhöchst Ihrer Gnade diese rechtfertigende Erklärung hinzuzufügen befohlen. Sie beauftragen die betreffenden Kreisbehörden, dem Simon Lauter mit Rat und Tat zu seinem Fortkommen behülflich zu sein und über seine etwaigen Bedürfnisse oder Wünsche Allerhöchsten Orts zu berichten, wie Sie denn auch dem Simon Lauter für seine unerschrockene Hülfleistung und aufopfernde Rettung mehr als eines Menschenlebens bei der kürzlichen, von Sr. Majestät tiefbeklagten Heimsuchung Ihrer getreuen Stadt *** das Kreuz etc. etc. zu verleihen geruhen.« –

Also war es mit gesperrter Schrift an der Spitze des amtlichen Teiles der städtischen Zeitung verkündet und Simon Lauter über Nacht der Held seiner heimatlichen Gegend geworden. Ja, das war erst der rechte Born, der Born der Liebe, der sich dem Quellenfinder aufgeschlossen! Man wallfahrtete nach dem verrufenen Waldhause, schüttelte ihm die Hand, bot ihm Hülfe von fern. Keiner hatte von Anbeginn an seine Schuld geglaubt, jedweder im stillen auf Gottes rechtfertigenden Finger gerechnet. Man pries ihn in tausend Zungen – seine stille Geduld, sein Kunstgeschick, seinen Heldenmut, die Himmels-, nicht Teufelsgabe seines Quellenblicks und – selber das gelassene Schweigen bei allen groben wie feinen Spürversuchen nach seiner Heimlichkeit.

Simon Lauter ließ lächelnd wie ein Weiser diese volkstümlichen Huldigungen über sich ergehen; er dankte mit Hand und Mund für alle Anerbietungen von höchster Stelle bis zur niedrigsten, ohne von einer einzigen Gebrauch zu machen, lebte still in seinem Waldhause, den künstlichen Arbeiten hingegeben, die er in bösen Tagen als seinen eigentlichen Beruf erkennen und lieben lernen, oder draußen im Wald, dessen Hütung er einzig von allen angetragenen Ämtern wieder versah, gab auch wohl hin und wieder einen Rat bei den Bewässerungsanlagen der Gegend, für einen ernstlichen Wiederangriff des Bergwesens aber erkannte er den Ablauf der Jugendkraft. Alles in allem, er blieb auf seinem mäßigen Grunde, ohne sich von der Woge plötzlicher Gunst in luftige Regionen wirbeln zu lassen.

In der Nacht, die seiner Freigebung folgte, hatte er die von ihrer rätselhaften Reise heimkehrende Kluswirtin auf dem städtischen Bahnhofe empfangen, und sie, heute ohne zimperliches Zagen, ihren Arm in den seinen gelegt, um sich von ihm nach ihrem Hofe zurückgeleiten zu lassen. Schweigend gingen sie bis jenseits der Stätte ihrer dunklen Erinnerungen, dann aber sagte er mit einem herzlichen Händedruck: »Judith, Judith, und das hast du für mich getan?« – Sie aber versetzte lächelnd, so warm und glücklich wie im Leben noch nie: »Hätte ich weniger tun dürfen für einen, der die Gerechtigkeit missen kann?«

Von der Residenz ausgehend, hat sich manches fabelhafte Gerücht über die Aufnahme verbreitet, welcher sich die schöne, beherzte, westfälische Bäuerin bei dem hohen Königspaare erfreut, und der Name Judiths, der Kluswirtin, ist rühmend über ihren engen Bezirk hinausgetragen worden. Sie selber jedoch hat jener Reise und ihres Zweckes nie gegen einen andern berührt als den Pfarrherrn und den Vorsteher der Anstalt, welche das von ihr überreichte Gnadengesuch beglaubigt hatten und welche beide ihre treuen Freunde geblieben sind. Im Herzen aber und gegen den, dessen Rechtfertigung ihr kluges, vertrauendes Wort erwirkt, gedenkt sie einer erhabenen Stunde mit alter westfälischer Bauerntreue. Wenn aber auch dem, welchem das zeitliche Amt der Gnade zusteht, der Blick der Gerechtigkeit als einem Beichtiger geöffnet werden durfte, so ist doch vor allen anderen Augen das dunkle Geheimnis des Klushofes Geheimnis geblieben. Manches mag gemunkelt worden, manche Mutmaßung der Wahrheit nahe gekommen sein; laut und öffentlich wird der Name August Frobel nicht als ein Räuber- und Mördername genannt, und keine Seele ahnet, daß der verunglückte Amerikaner der einstige Sachsenwirt gewesen, der zwischen den Gräbern der eignen Mutter und der seines Sohnes den ersten sichern Erdengrund gefunden hat.

Noch vor Ablauf der anberaumten Prüfungsfrist hat Sylvians drängender Sehnsucht nachgegeben werden müssen. Vor wenigen Tagen ist er in das Seminar getreten, um durch ein priesterliches Leben das Werk der Heiligung, das seiner Liebe hienieden entrückt worden war, jenseitig im Glauben zu fördern. In einer andern Weise ist die redliche Strenge der Kluswirtin bemüht gewesen, jene unselige Verirrung ihres Blutsverwandten durch ein Werk der Barmherzigkeit auszugleichen. Da die Hinterlassenschaft des Papiermüllers Berg noch heute ohne nachweisliche Erben in gerichtlichem Verwahrsam ruht, hat Judith jene entwendete Summe, Zins auf Zins und aus ihren Ersparnissen erheblich vermehrt, zu einer Stiftung angelegt, mit welcher gleichzeitig die letzte unheilvolle Erinnerung von dem Klushofe getilgt werden soll. Das Seitenhaus mit dem Gartengiebel ist zu einer Herberge umgebaut, in welcher sechs verwaiste, der Zucht bedürftige Knaben Pflege, Unterricht und die Heranbildung zu einem ländlichen Berufe genießen. Judith schafft mit Muttertreue für diese Kinder, und der Freund ihrer Jugend, der wieder wie einst der Weiheengel des Kluslebens geworden ist, steht ihr mit seinen Erfahrungen dem Bereiche verwahrloster Herzen als Helfer und Rater zur Seite.

Rater und Helfer gegenseitig, Nachbarn und Freunde, Bruder und Schwester am Schlusse der Geschichte, – und nicht mehr? Die er von der Wiege ab geliebt, dem sie die Treue verlobt und wäre es über zehnmal drei Jahre, – und einander nicht mehr? Nein, nicht mehr. Zwölf Trauermonde sind noch nicht abgelaufen; und wie vieles mußte vergessen, wie vieles überwunden werden, was das Schicksal den Seelen eingewirkt, wie vieles auch gelernt nach zehn Jahren einsamer Gewöhnung! Auf den lange bleichen Wangen erblüht ein jugendlicher Hauch, ihre Worte sind rascher, ihre Blicke feuriger geworden; sie arbeiten lächelnd, aber – noch ist es nicht wieder Mai. Als Freunde verlassen wir sie, und so dem Erzähler seine Aufgabe gelungen, als Freunde scheiden wir von Judith, der Kluswirtin, und Simon, dem Quellenfinder.