Man ist es gewöhnt, preisend oder spottend, die altsassische Landschaft zwischen Weser und Rhein, die wir unter dem Namen Westfalen zusammenfassen, als eine Provinz strenger, steifer Erhaltung darzustellen. Und in der Tat, so wechselnd die Physiognomie ihres Bodens von den Marschen des Meeres, vorzeiten »das deutsche« geheißen, durch Dünen und Heiden, Moorstich und Sumpf, durch umwallte Korn- und Wiesenbreiten aufwärts zu rauhen Felsengipfeln und wieder abwärts in die Täler des romantischen Waldgebirges, in welchem am frühesten der deutsche Name zu Ehren gebracht worden ist, und so mannigfaltig mit diesem Wechsel des Bodens der Charakter seiner Bewohner uns entgegentritt, vom träumerischen Norden bis zum tatkräftigen Süden: die ursprünglich germanische Art und Bildung hat sich unter der ländlichen Bevölkerung dieser Gegenden unverwischt und unvermischt erhalten wie in keinem andern umfänglichen Gebiete unseres Vaterlandes. Ja, schon ehe wir gen Morgen die breite Wasserscheide überschreiten und durch das Felsentor der letzten Berge die eigentliche Rote Erde betreten, da wo das baumreiche Schaumburger Ländchen in die westfälische Vorebene übergeht, bewundern wir an Männern wie Frauen die deutsche Kraft und Schönheit der Gestalten und stoßen nicht selten auf einen Kunstjünger östlicher wie westlicher Akademien, der unter diesen urwüchsigen Bäumen und Menschen nach einem Vorwurf sucht.
Wer jene Bauern hinter ihren stattlichen Gespannen aus den Waldgehegen treten sieht,
unter deren Eichen und
Er konnte sie finden mindestens vor einem Menschenalter noch. Seitdem hat die Neuzeit
ihr wechselndes Gepräge auch dieser Landschaft aufgedrückt, Boden wie Köpfe nach
lange brachliegenden Schätzen durchwühlend, fördernd, schmelzend, bildend und
zerstörend; den Hauch der heimischen Heimlichkeit verwehend. – Ein Merkmal dieses
umwandelnden Geistes durfte schon vor länger denn dreißig Jahren der Wanderer auf dem
nördlichen Heerwege an einem ländlichen Hause wahrnehmen, das in neusächsischer
Gestalt, von Bruchsteinen aufgerichtet, hellfarbig getüncht, mit Ziegeln gedeckt und
die räumlichen Fenster durch grüne Läden geschützt, seine breite, glatte Flucht der
Straßenseite
Die Insassen jenes Dorfes hatten seit Menschengedenken nach abendlicher Rast auf der Klus ihren Krug geleert, oder rückkehrend vom städtischen Markte, selten mit Maß, sich am heimischen Wacholdergeiste erlabt, die Burschen und Dirnen der Umgegend sich festtägig im »Papen van Istrum« geschwenkt, unbehelligt von dem Qualme des mächtigen Schlotfanges in der Giebeltenne, die zugleich Küche, Räucherkammer und Wohngelaß war und in welche aus den nachbarlichen Koben Pferde, Rinder und Sauen neugierig, oder verdrießlich, oder gleichgültig wie die menschlichen Zuschauer ihre Köpfe streckten. Denn die Klus war ein Bauerngehöft wie alle anderen des Landes, und wie in allen anderen wurden Viehzucht und Feldbestellung als Hauptzweck, das Schenkwesen aber nur als ein von den Altvordern überkommenes Nebenrecht beiläufig und lässig betrieben.
Eines Tages brannte die alte Eichenklus ab – wie die Sage geht, durch das Zünden des
ersten Schwefelholzes, das ein ketzerischer Wandergesell gleich einem Koboldspuk in
die Gegend getragen; der kinderlos verwitwete Kluswirt starb infolge seiner
Brandwunden, und das wohlgeordnete Anwesen fiel seinem Bruder zu, der, obgleich sein
Vatererbe freies Eigentum war, sich als jüngerer Sohn willig mit einer schmalen
Abfindung begnügt hatte. Ein noch bartloses Bürschchen, war der Frobeljobst der
Wohlgemut, den Himmel voller Geigen, wie er ihn in fremden Landen schauen gelernt, kehrte er jetzt, da das zerstörende Element ihn so unerwartet zum Erben befördert, in die alte, neugewordene Heimat zurück und baute die Brandstätte wieder auf in dem mitteldeutschen Geschmack, der ihm bequem geworden, so wie wir sie im Vorübergehen angeschaut. Scheuern und Ställe umfaßten zu beiden Seiten den durch das stattliche Vorderhaus abgeschlossenen Hof, hinter welchem, bis zu der Berglehne des Gemeindewaldes, die dunklen Eichen und Rüstern des Kampes einem Obst- und Gemüsegarten Platz machten. Zur Rechten wie Linken setzte der Kamp, das heißt die eingehegte, dem Hofe eignende Flurmark sich fort. Diesseits bis zum nächsten Anwesen die breite Flucht der Felder; jenseits eine Forstparzelle, die, mit der Zeit gerodet, sich in einen Triftanger verwandelte. Den Raum zwischen Straße und Vorderhaus beschattete eine reinliche Laube von Ligusterhecken, und über der Tür flatterte das Schenkenzeichen des sächsischen Rautenkranzes.
Also sein Heimwesen ausstaffiert, taufte der Frobeljobst
Und diese Nachbarkunden, unter denen seit unvordenklichen Zeiten die Klus-Frobel zu
den ersten und besten gezählt, weit davon entfernt, sich von der neuen Herrlichkeit
blenden zu lassen, sahen auf das laute, fremde Wesen mit höhnendem Mißwollen herab.
Von vornherein kehrten sie ihm den Rücken. Die Alten tranken, die Jungen tanzten in
einem abgelegeneren Krug, bis dann allmählich der Platz, auf welchem schon die
Altvorderen sich gelabt und geschwenkt, seine Macht behauptete und die widerborstigen
Gäste einen um den andern an sich lockte. Sie kehrten zurück. Der »Steinhäger« Ein
vorzüglicher Wacholderbranntwein des Landes. mundete, ob auch die Würze des
Schinkenbrodems im Schornstein, wie das
Und so überlustig der Frobeljobst sich anstellen mochte, von dem leeren Platze unter
seinesgleichen kroch es ihm zu Herzen wie nagendes Gewürm, sooft er die heimliche
Galle mit brennenden Tropfen hinunterspülte, immer von neuem wirbelte sie ihm ätzend
zu Kopf. Am liebsten hätte er der Acht einen Bann entgegengesetzt und alles, was
Bauer und Nachbar hieß, von seiner Schwelle gejagt. Wollten sie ihn nicht neben sich,
so wollte er über sie hinaus. Er baute einen Stock auf seine neue Klus und ließ das
Wirtshaus zu einem Gasthof in die Höhe steigen. Kärrner und Vorspänner kehrten bei
ihm ein; Lohnkutschen, Extraposten selbst herbergten zur Nacht in der reinlichen,
wohlgelegenen Wirtschaft, Spaziergänger aus der Stadt priesen Kaffee und Kuchenwerk,
das kein Zuckerbäcker so meisterlich wie das Sachsenröschen zu bereiten verstand. Der
Sachsenwirt triumphierte. Er hielt sich zu den Fremden, je vornehmer desto lieber; er
bediente sie halb
Als Schlimmstes des Schlimmen aber stellte es sich heraus, daß der behende, lustige Schenkwirt ein gar schwerfälliger, unlustiger Landwirt geworden war und daß die sächsische Küchenmeisterin glücklicher in der Speisekammer als in Rauch- und Milchkammer zu hantieren verstand. Die fremden Gespanne wurden mit Kraft und Saft, die eignen Stallinsassen mit Trebern gefüttert, die Felder unregelmäßig bestellt, Korn-und Heuböden selten kontrolliert. Das gefällige Wirtspaar schenkte und zechte, backte und brodelte bis in die Nacht und träumte bis in den Tag hinein; die Tagelöhner, Knechte und Mägde, denen keiner auf die Finger sah, hielten Maulaffen feil oder schafften für den eignen Sack – die Klusschenke florierte, während der Klushof verkam.
Aber was scherte die Bauernwirtschaft den Herrenwirt? Er schenkte – sich selber am
ersten und vollsten! –, verschlief seinen Rausch, wachte gähnend auf und warf die
Kontobücher in die Ecke, wenn Kredit und Debet nicht stimmen wollten. Hatten andere
kein Geld, so hatte er's, und hatte er selber kein Geld, so hatte er Pfand –
überflüssiges Geschirr, faules Vieh in Schuppen und Stall,
Der Hoferbe aber, Mosjö Gust oder »der junge Herr«, wie er sich titulieren ließ, des Sachsenpaares einziger Sohn, ei, der lachte und jubelte erst recht. Heute aus Herzenslust mit offner Hand, morgen im Ärger mit geballter Faust, am häufigsten aus Schabernack mit einem Schnippchen und fingerndem Nasendrehn. Er lachte über die Säufer von Bauern, die seinen Saufaus von Vater über die Achsel »bekiekten«; er lachte über den Saufaus von Vater, der ein Bauer war und den Herren zuliebe sein Bauernerbe durch die Gurgel rennen ließ; und er lachte über das Bauernerbe und den Fremdenschank, über Hausgenossen und Gäste, über Gott und die Welt.
Frobel, der Jüngere, wäre er unter Zucht und Beispiel wie die heimischen in jenem
südlicheren, beweglicheren Landesteile aufgeschossen, den man das Irland der Roten
Erde nennen dürfte, so würde sich für seine Spielart nicht
Einmal nach der städtischen Jubilatemesse blieb das junge Herrchen aus; Monate
vergingen, und er war fort ohne Spur. Die Mutter weinte ihre Augen wund, der Vater
wurde selten mehr nüchtern aus Kummer und Angst. Urplötzlich wie er verschwunden,
kehrte er heim, ein dralles Weibsbildchen in die Elternarme führend, das während der
Messe im kurzen Röckchen, auf schwankem Seil als Mademoiselle Sylvia gefeiert worden
war und jetzt hinter dem Schenktisch als Madame Frobel gefeiert ward. Ein munterer
Zeisig Dame Sylvia, des Wanderns müde und wohlgeneigt, im Käfig Zuckerbrot zu
naschen! Kläglich, daß sie, schon ehe der Frühling wiederkam und kaum daß ein armes,
nacktes Vögelchen in das Nest gesetzt worden war, unter die dunkle Erde ducken mußte.
Der junge Witmann zerschlug sich die Brust und zerraufte seine Locken, er reimte und
deklamierte Trauerhymnen voll Schmerz und Herz, schweifte am Tage in Schlucht und
Wald und lag um Mitternacht auf seiner Schönen Grabe – eine Woche lang! Dann tröstete
er sich, schäkerte, kartelte, knöchelte, zechte und lachte mit den Fremden
querköpfiger denn je zuvor. Der Sachsenwirt lachte hinter seiner Flasche, die
Sachsenwirtin hinter ihrem Herd, der Sachsenerbe lachte hinter dem Würfelbrett, die
Knechte lachten in volle Töpfe und Säckel, die Fremden lachten sich in den Bart und
die Nachbarn in die Faust, alles lachte auf der
Mehr als ein Vierteljahrhundert mochte vergangen sein, seitdem der Frobeljobst mit fremden Sitten in die alte Heimat zurückgekehrt. Der Sachsenwirt war begraben und vergessen, das Sachsenröschen lahm und grau vor der Zeit, der tolle Erbe verschollen überm Meer. Dampfende Rosse hatten den Verkehr auf der Landstraße verschlungen, neue Verbindungswege, Schenken und Gasthäuser sich geöffnet. Der Rautenkranz über der Klustür war verschwunden, die Sachsenwirtschaft keine Herberge mehr, nur noch ein einsames, stilles Gehöft, das seinen Namen, die Klus (Klause) mit Recht verdiente und allmählich wiedergewann.
Die Neuerung im landschaftlichen Verkehr war mit dem argen Ende, das der Frobeljobst
genommen, fast gleichzeitig zusammengefallen; stillschweigend war das Schenkenzeichen
eingezogen worden, fand sich der Bier- und Branntweinkeller in einen Milchkeller, der
Tanzboden in einen Fruchtboden, die große Gaststube zum stillen Wohn- und Schlafgelaß
umgewandelt. Man hantierte nach Bauernart auf den Feldern, die dem Hofe gerettet oder
mit der Zeit wieder zugefügt worden waren. Man wirtschaftete knapp, emsig, stumm und
streng nach Urväter Brauch mit einem einzigen Knecht und einer einzigen
Seine Eignerin aber verkehrte mit keinem und sprach mit keinem ein Wort ohne Not. Nur in der Kirche wurde sie allfesttägig gesehen, wenngleich die Gemeinde ohne Ausnahme dem katholischen Glauben angehörte, die Kluswirtin aber auf den mütterlichen protestantischen Glauben getauft und ihm treu geblieben war, sich auch jedes Jahr am Karfreitag samt der kranken Mutter in ihrem Zimmer das heilige Nachtmahl von einem städtischen, protestantischen Geistlichen reichen ließ. Ihren Bruderssohn, der ihr als Pflegling zurückgeblieben, ließ sie hingegen in dem väterlichen katholischen Glauben unterrichten, anfänglich bei dem Lehrer und Pfarrer der Gemeinde, später, da des Knaben stillsinnendes Wesen in einen Lern- und Büchereifer umschlug, der einen geistigen Beruf bekundete, als Kostgänger bei einem Gymnasialprofessor in der Stadt. An den Mitteln für gegenwärtigen wie künftigen Studienaufwand gebrach es bei dem Gedeihen der Wirtschaft und bei dem ledigen Stande der Pflegerin nicht.
Denn kein Werber oder Freiersmann hatte sich der Kluswirtin seit der Zeit ihrer
Selbstherrschaft zu nahen gewagt, obschon sie ansehnlich von Gestalt und noch lange
in den Jahren war, wo eine bäuerliche Jungfrau oder
Daß die schöne Kluswirtin unnahbar, gleichsam eine Mauer um sich aufgerichtet, das deutete auf einen tiefen, heimlichen Grund. Und ein tiefer Grund, ein Abgrund ist es ja, über welchem das Gewässer sich am stillsten bewegt, bis jäh ein Wettersturm die in der Tiefe verborgenen Schätze oder Schrecken zutage wirbelt.
Jahr um Jahr war auch über dieser neuesten Wandlung des Klushofes hingegangen, die
Maienzeit wiedergekehrt; die Natur hatte in lachenden Festgewändern ihre
Schaffensfreude ausgestrahlt. Die ersten gelblichen Sprossen sprengten die glänzend
braunen Blatthülsen des Eichenforstes, die Apfelbäume im Garten strotzten in
Blütenübermut, vor dem Hause blähten sich Tulpen und Kaiserkronen über die bescheiden
am Boden verduftenden Frühlingskinder; das Auge ruhte mit Erquickung auf dem saftigen
Grün der unübersehbaren Feldgebreite. – Die Nacht hatte die vorzeitige Sommerschwüle
der vergangenen Tage kaum abgekühlt, und die Sonne, ohne Taufrische niedersengend,
erst den weißen, dann den purpurnen Nebelschleier in die Höhe gezogen, in die sie
sich gehüllt; kein Atemzug bewegte die Luft, selbst die Hausvögel schwiegen
Es war Werkeltag, aber eine sabbatliche Stille rings um das Klusgehöft. Kein Dreschflegel oder Seihrad in der Scheuer, nicht Pflug noch Spaten in Garten und Acker regten sich. Die Tiere des Hofes, nach Wirtschaftsbrauch zeitweise ihrer Stallhaft entlassen, weideten im abgeschlossenen Gehege der Waldwiese, die einstmals Forst gewesen war und jetzt ausschließlich »der Kamp« geheißen ward. Oben am Tränkquell lagerte das stattliche Roßgespann. Aber auch unter diesen Freigelassenen kein munterer Laut, schlendernd und gläsernen Auges duckten sie sich zu Boden und kauten mit Gier unter dem bleiernen Drucke der Luft. Und auch im Hause keine hörbare Bewegung. Durch die blanken Scheiben des Wohnzimmers schimmerte die Frühsonne, die weiße Sandschicht am Boden übersilbernd; nicht ein Fleckchen oder Stäubchen längs der hellgetünchten Wände und des glänzend gebohnten Eichengeräts, das ihr scharfer Strahl entdeckt; alles stand einfach, streng geordnet an seiner Stelle, nichts Überflüssiges oder Städtisches, nichts, was an die ehemalige Schenkenzeit erinnerte, aber freilich noch weit weniger an die Tage der alten Eichenklus, der die Mehrzahl der übrigen Dorfgehöfte zur Stunde selbst auf ein Titelchen ähnlich sieht.
In einem Lehnstuhle am Fenster, die steifen Glieder in weiße Wollendecken gehüllt,
die schwarze Witwenhaube
Der Knabe, ihr Enkel, der, etwa fünfzehnjährig, im dunklen städtischen Schüleranzuge am zweiten Fenster ihr gegenübersitzt und so früh am Tage schon emsig über seinen Heften brütet, zeigt sich von nicht minder zartem, aber bleicherem und tieferem Gepräge; kein Bauern- oder Landeskind, ein geborner Kopfarbeiter offenbar; dahingegen uns mit einem Blicke durch die nach der Küche halb geöffnete Tür die kraftvolle Natur der Tochter in ihrem ländlichen Ursprunge und Zusammenhange, wenn auch keineswegs im Alltagsausdrucke, vor Augen tritt und gar das sonntägig ausstaffierte Gesindepaar als Musterstücke urwüchsiger Leibes- und Arbeitskraft aufgestellt werden können.
Ein Stilleben friedlich einladend also von außen her überschaut. Wer aber mit
feineren Spürfäden in seinen Mittelpunkt gedrungen wäre, der hätte gleichsam in der
Luft – nicht in der Schwüle der äußern Luft, welche die willenlosen Geschöpfe
beklemmte, – eine Bangigkeit spüren müssen, er hätte einen Schemen ahnen müssen, der
wolkengleich Licht und Laut in diesen Räumen umschleierte. Der mahnende Geist
entschwundener Tage, von wem schwebte er aus? Von jener greisen, zusammengesunkenen
Gestalt, die jetzt im Traume nur frohen Erinnerungen nachzulächeln scheint? Von der
schuldlosen Stirn dieses Knaben, der mit frühreifem Ernst sich auf die Pflichten der
Zukunft vorbereitet?
Denn auch in der Tracht, wie in der gesamten häuslichen Einrichtung, hatte Judith,
die Kluswirtin, die Landessitte ihrem eigentümlichen Wesen angepaßt. Der schwarze
Wollenrock fiel in reichlichen Falten auf die Knöchel hinab; das Mieder, bis zur
Nackenbiegung erhöht und durch die blendendweiße Hemdkrause geschlossen, machte das
einengende Brusttuch entbehrlich, und das mattblonde Haar legte sich ohne Hülle,
sauber gewunden gleich einer Krone, um das stolz und stark gebaute Haupt. Sie öffnet
den Mund zu einer kurzen Anordnung, und horch! sie redet nicht in der landesläufigen,
niederdeutschen Mundart, auch nicht mit den gemütlich unklaren Lauten, welche die
Mutter aus der Heimat beibehalten, sie spricht das Hochdeutsch der Kanzel und Schule,
das wir selber in gebildeteren Gesellschaftsschichten selten so lauter und richtig
vernehmen wie da, wo es außerhalb des täglichen Verkehrs, gleichsam als Fremd- oder
Festsprache, angewendet wird, und da sie nur das Erforderliche und mit tiefem,
klangvollem Laut jederzeit bedachtsam spricht, erscheint
Denn es ist heute Markttag und zugleich der Schluß der Jubilatemeßwoche in der Stadt, und damit erklärt sich der Ferienbesuch des Schülers wie die Feierstille auf dem Hof und der festliche Schmuck des Gesindepaares, das, mit der Mehrzahl von Knechten und Mägden der Umgegend, der Lust eines freien Meßtages als einem zuständigen Rechte entgegenharrt. Zum ersten Male, seit sie der Kluswirtin dienen, sollen sie die Wanderung gemeinschaftlich antreten, und die Vorfreude einer darob erhöhten Erwartung malt sich auf den breiten, glänzenden Kindergesichtern, während wir die um eine Linie tiefer gezogene Falte zwischen den dunklen Brauen der Herrin dahin deuten, daß sie nur widerwillig einer unaufschieblichen Arbeitsnötigung im Laufe der Woche nachgegeben und in ein Abweichen von der Regel des Einzelnbesuchs gewilligt hat. Schweigend schnürt sie das Wintergespinst des Haushalts, das der Knecht bei dieser Gelegenheit an den Weber befördern soll, zu einem Bündel, und indem sie es ihm nebst jener schriftlichen Anweisung einhändigt, legt sie den üblichen Marktpfennig vor ihm auf den Tisch mit den Worten: »Zehn Mariengroschen mehr als ausbedungen, aber keinen Tropfen, Klaas, hörst du, keinen Tropfen!«
Klaas strich die Münze ein mit einer Miene, in welcher die Befriedigung über die
gewohnt gewordene, von Messe zu Messe um einen Groschen sich steigernde Zulage mit
dem Verdruß über das ebenso gewohnte, aber nie ohne
Die Magd, die ihre Mahlzeit beendet, blickte schmunzelnd auf die ihres Hauptes harrende Zier, wischte die runden Kirschlippen mit der flachen Hand, steckte den blauen Strickstrumpf zu gelegentlicher Verwendung für den eignen Nutzen in den Schürzenbund, schwenkte den Zuber auf den Kopf und streckte die Finger nach dem Marktpfennig aus, den ihr die Wirtin noch nicht gereicht hatte. Sie empfing die nämliche Gabe und Zulage wie der Knecht und, wie dieser das Verbot des Branntweins, mit gleich knappen Worten den Befehl: bei Sonnenuntergang auf dem Hofe zurück zu sein.
Auch an diese Hausregel war man seit Jahren gewöhnt,
Es lag ein Gewitter in der Luft, und ungewohnte Rede, Widerrede zumal, erhitzt; vergällte Hoffnung aber ist ein gewaltiger Blasebalg; dieses eisige »desto schlimmer« schnellte den gelassenen Burschen in einen trotzigen Zorn. – »Und wenn eine eines Schatz ist?« stieß er heraus, indem er mit der geballten Faust auf den Tisch schlug. – Die Wirtin stutzte einen Augenblick, die puterrote Dirne mit einem scharfen Blicke musternd, sagte aber darauf so ruhig wie bisher: »Zu Peter Paul ist Ziehzeit. Vier Wochen Kündigung. Ihr verlaßt den Hof.«
Die Magd, die offenen Mundes vor Wunder über ihres Kameraden Kühnheit unter der Tür
gelehnt, ließ bei diesem harten Entscheid einen kurzen, bellenden Schrei vernehmen.
Sie stützte mit einer Hand den schwankenden
»Schweig und geh!« unterbrach Judith den Sinnlosen, mit einer unwilligen Gebärde auf
die Haustür deutend, nachdem sie die, welche nach dem Wohnzimmer führte, schon
während des vorangegangenen Zwiegesprächs vorsichtig geschlossen hatte. Die Magd
schluchzte und heulte nun wirklich; der Knecht aber fühlte blitzartig die Wehr des
getretenen Insekts in seiner Brust. Ja, er hatte Stachel und Gift, und es war ein
tückischer Blick, den er zu der unerbittlichen Herrin hinüberschoß. – »Heule nicht,
Christine!« schrie er, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Heule nicht, sag ich! Du
hast dein Erspartes, und ich habe mein Erspartes. Und dienen ist gut, ja, aber eigen
Haus haben ist besser. Ja! Und Schwein und Ziege im
Bei dem Namen des Quellensimon deutete die Magd mit einer Gebärde des Entsetzens auf die Wirtin, die plötzlich zusammenzuckte, als wäre ihr ein Messer in das Herz gestoßen worden. Die Einrede war erstickt; starr und steif ließ sie den nachströmenden Schwall wie im Traume an sich vorüberrauschen.
Die Leidenschaft hatte die Sinne des blöden Klaas gestachelt; mit trotziger Schadenfreude bemerkte er die Wucht seines Streiches und hieb und stieß darauflos, bis sein Mütchen gekühlt. Er focht wie beim Dreschen oder Mähen mit den Armen in der Luft, trat taktmäßig einen Schritt vor und einen zurück, um das ungeübte Räderwerk im Gange zu erhalten, und begleitete jeden seiner Sätze mit einer der beiden gewichtigen Silben, auf welche sich seine Willensäußerung bis heute möglichst beschränkt. Im Flusse der Rede dämpfte das Rachegeköch sich ab, die Zornesadern senkten sich allmählich, die Truthahnsröte schwand, und die blauen Augen glotzten harmlos wie allezeit; aber das Ventil war einmal geöffnet, und das Gefäß strömte über bis auf den letzten Tropfen, den das arme Hirn ihm zuzuführen imstande war.
»Des Quellensimon Haus!« wiederholte er. »Du denkst dir was dabei, Christine, ja, und
die Wirtin denkt sich was dabei, ja, und die Leute denken sich was dabei, ja! Denn
warum? Spuk ist Spuk, und wenn einer ist totgeschlagen worden, geht er um und sucht
seinen Mörder!
Und der Quellensimon war ein Mensch wie ein Lamm. Nicht eine Sau konnte er schlachten
sehn, da wurde er
Wie das Streiflicht eines Blitzes über eine Leiche, so zuckte es bei dem letzten
Satze über die Gestalt der Wirtin; nur ein einziger Augenblick, im nächsten stand sie
so unbelebt wie zuvor. Der Redner bemerkte es nicht; der Zorn war längst von seinem
Siedepunkte gesunken, der Trotz des Ungehorsams gestillt, auch die Eitelkeit ward
nicht gestachelt, denn die eine seiner Zuhörerinnen stand schier wie taub, und die
andere fragte den Kuckuck nach dem Quellensimon und seiner Missetat, nur nach des
»Und von wegen des Messers,« so fuhr er nach einem kräftigen Atemzuge fort, »und von
wegen des Stockes und von wegen etwelchem anderem, das nicht hotte noch hü passen
getan im Verhör, hätten sie dem Quellensimon nichts anhaben können vor dem Amt, nur
ganz allein, daß der Quellensimon gesagt: ›Ich hatte einen Rausch, ich kann's getan
haben, und ich will's getan haben‹, hat er gesagt. Allein aber an Leib und Seele sind
sie dem Quellensimon nicht gegangen vor dem Amt, denn warum? Der Quellensimon lebt,
und ich habe ihn gesehen, und wenn er nicht lebte, hätte ich ihn nicht gesehen, und
wenn sie ihm ans Leben gegangen wären, da lebte er nicht, nein! Und er hatte nicht
mehr ein Ansehen wie Milch und Blut, wie damals unter der Kompagnie, aber wie pure
Milch und hager wie ein Stecken, und weiße Haare auf dem Kopf. Aber gekannt habe ich
ihn auf den ersten Blick, denn der Simon hatte eine Art, die setzt sich einem ins
Herz, und der Simon, das war ein Mensch wie ein Lamm. Und die Züchtlinge karrten
Pflastersteine im Hof, und graue Hosen hatten sie an und Jacken von Zwilch, und der
Simon hatte auch eine Hose und Jacke an von Zwilch, aber gekarrt hat er nicht. Mit
den Buben vom Hauptmann hat er im Hofe gespielt, der anjetzo der
Der Schwätzer stockte; er hatte noch Atem, aber der Stoff war ihm ausgegangen. Er focht ein paarmal mit den Armen in der Luft, trat von dem rechten Beine aufs linke und von dem linken aufs rechte, aber einen frischen Satz fand er nicht. – »Und damit gut, ja!« sagte er, suchte die Pudelmütze hinter dem Herdwinkel vor, faßte mit der einen Hand das Garnbündel und mit der andern das eingewickelte Morgenbrot, das er vorhin mit einer Miene, als ob er Speckscheiben und Pumpernickel niemals wieder seiner Labung würdig halten werde, auf den Tisch geschleudert, und verließ, gefolgt von seiner Schönen, die Küche.
Keine Fiber hatte an dem Leibe der Kluswirtin gezuckt; die Hände an den Tischrand geklammert, den Kopf zur Brust herab gesunken, aschfarbig, stieren Auges, so stand sie wie im Krampfe gebunden, und erst als die Tür hinter dem sich entfernenden Paare in das Schloß fiel, schreckte sie, wie erwachend, zusammen.
Eine Minute – und sie richtet sich in die Höhe, die Hände sinken schlaff am Leibe
herab, mit scheuen Blicken durchspäht sie den Raum. Hat sie ein Traum genarrt, ein
böser Traum, wie so oft in der Nacht? Ein verhaßter Traum, über den sie keine
Herrschaft hat wie mit offnem Auge im Tageslicht? Sie sieht durch das Fenster die
Aber Judith, die Kluswirtin, ist keine Träumerin und Geisterseherin von Natur. Dreimal atmet sie bis auf den Grund, schlägt mit den geballten Händen dröhnend gegen die Brust, als ob sie den Deckel über einem Sarge verschließe, und sie fühlt sich wieder klar, fest, zum Kampfe gerüstet, wie sie sich vor wenigen Minuten gefühlt. Sie lauscht eine Weile an der Stubentür. Alles still! Die da drinnen haben nichts von dem Ärgernis vernommen. Sie sinnt einen Augenblick und schreitet dann entschlossen in den Hof hinaus. – Auch der Knecht ist wieder der alte Klaas, von dem seltsamen Eifer nichts zurückgeblieben als gezeitigter Appetit. Er sitzt auf dem Garnbündel, das er über den Kornsack auf seinen Schiebkarren geladen, und verzehrt die Brot- und Speckscheiben, die ohne die vorherige Anstrengung nicht unter etlichen Stunden an die Reihe gekommen sein würden. Die einzige Unberuhigte von den dreien scheint allenfalls die Magd, denn sie steht vor ihrem Auserkorenen mit geballter Faust und pufft auf den Kornsack unter dem Protest: »Und ich will nicht in das Mörderhaus, und ich gebe der Wirtin ein gut Wort, und ich will nicht in des Quellensimon Haus!«
Ehren-Klaas hat genugsam geschwätzt für lange Zeit, er
Mit diesem Kern- und Schlußpunkte seiner stummen Erwägungen war der Knecht bei dem
letzten Bissen des Pumpernickels angelangt, als die Wirtin ihm unerwartet
gegenüberstand. »Klaas, Christine,« sagte sie so ruhig, als ob das kürzliche
Zwischenspiel nicht stattgehabt, »ich dulde keine Liebesleute auf dem Hofe, ihr
wißt's. Aber werdet Mann und Frau, so mögt ihr bleiben. Dort oben das Gelaß im
Gartengiebel richte ich euch her. Im übrigen bleibts beim alten. Künftigen Sonntag
das Aufgebot. Soll's so sein?« – Der Klaas bat dem Gottseibeiuns sein sträfliches
Mißtrauen ab; er hätte an eine Wiederholung des Pfingstwunders glauben mögen, des
wunderlichsten Wunders, das er den Pfarrer von der Kanzel verkündigen hören; der
trockene Bissen stockte in seiner Kehle; der
Damit zog der eine seinen Karren an, die andere ihren Strickstrumpf aus dem Schürzenbund, und beide bewegten sich dem Hoftore entgegen. Die Wirtin folgte ihnen. Bevor sie den Ausgang überschritten, trat sie noch einmal zwischen sie, legte eine Hand auf eines jeden Schulter und sagte leiser und weniger zuversichtlich denn vorhin: »Über die Dinge von – damals keine Silbe wieder, Leute!« – »Keine Silbe wieder und keinen Tropfen, Wirtin!« – »Heim vor Nacht und keine Silbe, Wirtin!« beteuerten die Neugeworbenen, indem sie in die ausgestreckte Hand der Wirtin schlugen.
Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, setzten sie ihre Straße fort. Die Braut strickte an ihrem Hochzeitsstrumpf, will's Gott; in dem Bräutigam dämmerte eine Weisheit, welche der Welt vor ihm schon mehr als einmal nach einem Sturme aufgegangen. Die Weisheit nämlich, daß ein unrechtes Wort zu rechter Zeit gelegentlich einen Treffer zieht. Möglich, aber schwerlich, daß Ehren-Klaas im Verlaufe seines Lebens auch zu der weiteren Erkenntnis gelangt, nach welcher ein rechtes Wort zu unrechter Zeit allemal eine Niete ist.
Judith schloß das Tor und ging nach dem Hofe zurück. Sie würde nicht die planvolle
Hausregentin gewesen sein, die sie war, wenn sie den Widerspruch mit ihren
wirtschaftlichen Grundsätzen, in die sie durch die getroffene
Zu keiner Zeit hatte man verheiratete Dienstleute auf dem Klushofe gekannt. Mit einem Liebeshandel und seinen Folgen war es indessen erst unter dem gegenwärtigen spröden Regimente genau genommen worden. Wo alles noch so eng mit dem Natürlichsten zusammenhängt, in diesem nach außen ungeselligen In- und Miteinander menschlicher und tierischer Hausgenossen, der gemeinsamen, selber nächtlichen Arbeit, ist die geschlechtliche Sitte des Landes – den träumerischen, nördlichen Bischofsbezirk etwa ausgenommen – vor der Ehe eine leichte, und unter dem Schenkenzeichen des gutwilligen Sachsenröschens war sie leichter noch als in der übrigen Gegend gehandhabt worden. Wer aber eben mühsam einen Moderflecken von seinem Spiegel getilgt, der hütet ihn ängstlich vor dem ersten trübenden Hauch; und Judiths Spiegel war ihr Hof. Der Schande, dem üblen Leumund hatte sie durch ihre Entschließung vorgebeugt, der Zucht eine neue, um so festere Schranke gezogen, wenn auch voraussichtlich manche Ungehörigkeit, manchen störenden Zwischenfall in den Kauf genommen.
Indessen war sie durch die sittlichen Erwägungen doch erst in zweiter Reihe getrieben
worden. Weit obenan stand das Bedürfnis der Grabesruhe über jenem Namen, jenem
Schicksal, die sie in ihrem Bereiche zum Gesetz erhoben und auf diese Weise am
leichtesten gesichert glaubte.
Die Giebelstube im Seitenbau bildete den Schluß einer Reihe kleiner Zimmer, welche zu
Gasthofszeiten der Klus geringen Leuten als Herberge gedient. Ihr Bruder hatte sich
den freundlichen, in das Grün des Gartens blickenden Raum seit seinen Ehetagen zur
eignen Einkehr eingerichtet, und noch stand alles unverrückt, wie er es in der
letzten Stunde verlassen: das Bett ungemacht, das Gerät verschoben und mit wertlosen
Tändeleien beladen, vertragene Kleidungsstücke in der geöffneten Lade, im Winkel die
zerbrochene Gitarre, zerlesene Scharteken wirr durcheinander auf dem Regal. Die Wand
war mit bunten Klecksereien bemalt und beklebt; dort hing Sylvias Schattenriß und
daneben in Lebensgröße das eigne Konterfei des verkommenen Erben, mit welchem ein
Kunstbruder dereinst seine Zeche bezahlt. So gröblich die Leistung, das blitzende
Augenpaar, die langflatterigen hellgelben Locken,
Die alte Frau schlummerte, der Knabe memorierte noch wie vorhin; die außerhäuslichen Geschäfte ruhten während des heutigen Meßtages, die häuslichen waren bis zur Bereitung der Mittagskost gerüstet; die unermüdliche Wirtin durfte rasten und sinnen. Aber selber die Gegenwart der beiden achtlosen Zeugen im Wohnzimmer störte sie; sie trug das Rad in die Küche, schloß die Tür, setzte sich und spann.
Der Sagenglaube des Landes sieht die Urmutter der Natur, ein Vorbild des Fleißes,
spinnend vor der Himmelstür; wer aber dieses Mädchen beobachtet hätte unter dem
düsteren Rauchfang, in welchem der letzte Rest des Eichenklobens verkohlte, die
kräftige trauerverhüllte Gestalt mit den reinen, festen Zügen, die wohl an ein Vor-
und Urbild gemahnen durften, wie sie so unveränderlich, die ernsten Augen gleichsam
nach innen gekehrt, zurücksann und dabei taktmäßig das Rad bewegte und den Faden zog:
nicht an die heiterzeugende Perchta, an eine
Die alte Frau erwachte, das Lächeln des Traumes noch auf den Lippen und über den Wangen den jugendlichen Schlummerhauch. Sie dehnte sich behaglich im wärmenden Sonnenschein, schaute in die saftgrüne Aue hinaus, grüßte nickend durch die Scheiben, als sähe sie statt der Tulpen im Beet die alten bekannten Gesichter in der Ligusterlaube. Die Lippen bewegten sich anfänglich lautlos; dann, mit schlafgestärkter Kinderstimme hoben sie eine Trällerweise an, erst leise und immer frischer und frischer: »Tanzt mit mir, tanzt mit mir, trallala, hopsasa!«
Der Knabe, welcher die Großmutter nur stumpf und für die drängendsten leiblichen
Bedürfnisse empfänglich gekannt, sie vor ihrem Morgenschlummer noch in schwerem
Atmungskampfe gesehen, ließ erschrocken das Buch aus den Händen fallen, und dieses
Geräusch lenkte das Auge der Alten zu ihm hinüber. Sein Anblick schien sie zu
erfreuen, denn sie lachte hell auf und nickte noch herzlicher denn zuvor. – »Gotts
Wunder!« rief sie, mühsam die steifen Hände aneinander klappend. »Schon aus den
Der Enkel, der allmählich begriffen hatte, daß ein wacher Traum die Ahne weit zurück
in seines Vaters Knabenzeit geführt, vermochte, seiner natürlichen Ernsthaftigkeit
zum Trotz, ein leises Kichern nicht zu unterdrücken. Die Alte drohte, selber lachend,
mit dem Finger. »Sachtchen, sachtchen, Goldsohn!« flüsterte sie, »der Alte ist
rabiat,
Der Knabe fuhr bei dieser Wendung in die Höhe, als hätte er eine Gotteslästerung
vernommen; er war kreideblaß geworden und blickte ängstlich nach der Tür, wie um zu
flüchten oder Hülfe anzurufen. Die Gedanken der alten Frau hüpften indessen noch eine
Weile kraus durcheinander zwischen Freud und Leid ihrer Vergangenheit, bis sie
endlich erschöpft in die Lehne zurücksank und die Augen wieder schloß. Der Enkel
stand unschlüssig; er hätte die Muhme suchen mögen, die er außer dem Hause
beschäftigt glaubte, und scheute sich doch auch wieder, die Großmutter allein zu
lassen. Jetzt, da er sah, daß sie
»Simonchen, Simonchen!« rief sie beglückt und breitete ihre Arme aus, als ob sie
einen Daherstürmenden auffangen wollte. »Kind, Kind, welche Hast! Außer Atem wie ein
Blasebalg, ei du gottloses Weiheengelchen! Setz die Kappe auf, Simon! Und da, hurtig
ein Tränchen gegen den Verschlag! Ei, du Zipphan, du verstehst's! Gelt, das tut gut?
Aber so weiß und timide, Simon! Hast Hunger, bist noch nüchtern gar, armer Schelm?
Keine Mutter im Haus, und nichts Warmes im Topf! Warte, warte, habe was für dich!
Speckfladen warm aus dem Ofen, mein Goldsöhnchen, Kümmel drauf und Zwiebeln und ein
Eierguß. Das mundet, gelt? Verstehen's nicht, hierzuland, dummes Volk hierzuland! Der
Speck saftig von der Eichelmäste und würzhaft vom Holderrauch, aber die Kunst, Simon,
die Kunst! Nur grober Pumpernickel, schmählich dummes Volk hierzulande! Bist satt,
Simon, dick und voll wie genudelt, he? Setz ein Gläschen drauf zur Verdauung!
Schüttelst? Dummlack, wächst doch! Mannsen wie Bäume hierzuland, und das Bullchen
allwegs im Sack! – Zur Schule willst du? Nur zu. Die Dithel lauert schon, Simon. Aber
der Gust? Ja wo der steckt, der Sausewind! Rate mal, Bürschchen.
»Haltet ein, Mutter!« unterbrach eine zitternde Stimme die gemütliche Plauderei, und
Judith, wie an dem Faden dieser letzten Erinnerungen herbeigezogen, faßte krampfhaft
schüttelnd der Alten Arm. Auch der Knabe schlich aus seinem Versteck hervor, mit
bänglichem Zweifel von seiner Pflegerin auf die Ahne und von dieser auf die Pflegerin
blickend. Der friedliche Traum war unter dem
»Sylv, Sylv!« flüsterte die Mutter noch immer in sich hinein. »Sylvchen, ja Sylvchen hieß sie, Sylvia –« Und plötzlich, wie sich besinnend, schrie sie auf: »Die im bunten Rock, da oben am Kirchenknopf! Herr Jesus, sie schwankt, halt auf, halt auf! – Bringst sie, Gust, willkommen, Gust! Gottloses Kind, gutes Kind! Murre nicht, Dithel! Gib ihr die Hand, Dithel, – sie ist –« – Judith gab dem Knaben ein gebieterisches Zeichen, sich zu entfernen, die Alte aber rief beklommen, indem sie die zitternden Arme nach ihm ausstreckte: »Bleibe bei mir, Gust! Laß dich nicht von mir treiben, Gust! Die See ist tief, tief, und so weit, so weit! Bleibe im Lande, Gust, ersäufst Leib und Seele, Gust, bleibe bei mir, Gust!« – Sylvian kniete erschüttert neben ihrem Stuhle nieder und faßte ihre beiden Hände in die seinen. Die Angst löste sich nach und nach unter dieser leisen, warmen Berührung, der Kopf sank zurück, die Lider fielen zu, nur die Lippen flüsterten noch ein paarmal: »Sylvchen, Sylv!« – dann ruhten auch sie.
»Du auch, Gust?« schrie sie auf, »du auch?« Dann, in eine flehende Weise übergehend,
fuhr sie, die Hände windend, fort: »Höre nicht auf den Doktor, Gust, trau dem Pfaffen
nicht, es ist ein Katholischer. Was fragen sie nach dem Fremden? Das Stümpfchen
Lebenslicht, was schiert es die Fremden? Aber dein Vater, Dithel! Laß ihn leben,
Dithel, nur leben! Siehst nicht, wie es
Und jählings durchzuckte die Alte ein elektrischer Schlag. »Herr Jesus, wie er weiß wird!« schrie sie. »Laßt mich nicht allein mit ihm! Einen Wermut, Mann! Es schüttelt ihn, er nimmt ihn nicht. Erbarme dich, erbarme dich! Wie er sich bäumt! Da, da – er jappst nur noch – tot, tot!« Die Greisin glich dem Leichengesichte, das ihr vor Augen stand, die zitternden Lippen und Nasenflügel wurden weiß; kalt und schweißbedeckt klappten die krampfhaft zuckenden Glieder gegeneinander. Die Tochter stützte sie mit kräftigem Arm. Sie kannte die Todesboten, zählte nicht mehr auf Tröstung und Hülfe, aber sie wollte allein mit der Sterbenden sein, den letzten Kampf ohne Zeugen mit ihr durchringen. »Sattle, Sylvian!« raunte sie dem Knaben zu, »in die Stadt zum Arzt!« Doch Sylvian hörte nicht, er rührte sich nicht; auch er sah das Ende; er lag auf seinen Knieen und murmelte Kredo und Paternoster.
Die alte Frau schlug die Augen nicht wieder auf, aber ihr Kampf war noch nicht zu
Ende. Ein harter Kampf und wohl der erste ernstliche im Leben, unter welchem das
friedselige Sachsenröschen von hinnen schied. Sie ächzte in Pausen, in denen sie
bänglich um Atem rang, ein und das andere Mal schrie sie auf in wildem Schmerz und
»Ich komme, Mann, ich komme!« rief sie freudig. »Halt deine Arme auf, Frobeljobst, ich komme; wollen wieder anfangen miteinander vor Gottes Thron. Hast keinem Menschen ein Leids getan, da du drunten warst. Bist kein Neidhammel und Geizkragen gewesen, hast keine Mördergrube aus deinem Herzen gemacht. Nur deinen eignen Leib hast du verbrannt, armer Mann, und der Leib bleibt drunten für das Gewürm, aber das Herze fliegt hinauf, und unser Herrgott heilt und labt. Gelt, kein Fegefeuer drüben, alter Jobst? Bringe dir Botschaft, Väterchen, Post aus dem Klushofe, gute Post! Alles still, still, auf der Klus. Kein Leumund mehr über den Saufaus, den Sachsenwirt, der sein Vatererbe hinuntergegurgelt, Tropfen um Tropfen, und dann Tropfen um Tropfen an dem Gifte verschmachten mußte. Die Dithel hat's wiederhergestellt; die Dithel hat's still gemacht auf der Sachsenklus. Die Dithel versteht's! – Wie es schwarz wird! Nacht, Nacht! Ich komme, Frobeljobst, ich komme!«
Judith sank zu Boden und umklammerte die Kniee der alten Frau. Sie wähnte sie
geschieden, denn das Haupt war schlaff auf die Brust hinabgesunken. Noch aber flog
der Atem, und das Herz klopfte gleich einem Hammer. Und plötzlich schnellt sie in die
Höhe; in dem welken Marke ist ein Lebensfunken aufgewacht; sie steht aufrecht, die
Blicke rollen wie vor einem greulichen Gesicht. »Wo dein Sohn ist, Mann? Dithel,
Dithel!« kreischt sie auf, indem sie die Tochter mit beiden Armen rüttelt. »Hörst du
nicht, Dithel, wie er um seinen Erstgeborenen ächzt?
Die alte Sachsenwirtin nannte den mörderischen Namen nicht. »Hilf Gott, hilf Gott!« röchelte sie und stürzte tot zu Boden in der Tochter Arme.
So still war es noch zu keiner Zeit in der stillen Klus gewesen als während der Stunden, welche diesem Schreckensende folgten. Ja, Totenstille! Kein Laut der Klage oder des Trostes zwischen den beiden Lebendigen, kein Seufzerhauch; nicht ein Fußtritt hörbar, die Handhabung leise wie von Geisterhänden!
Wenige Minuten besinnungslosen Entsetzens, und die Tochter erhob sich vom Boden neben
der Hingeschiedenen, richtete sie in die Höhe und trug sie auf ihren Armen in die
Nebenkammer. Sie drückte ihre Augen zu, netzte und kleidete sie, bettete sie auf dem
gewohnten, mit frischen Linnen verhüllten Lager; alles sonder Zeugen oder Hülfe. Der
Knabe saß regungslos im Zimmer, betete und brütete über das Unbegreifliche. Und da
liegt sie nun, die Frau mit dem guten Herzen, in ihrem Nachtmahlsstaate, die Hände
gefaltet über dem Bibelbuch auf ihrer Brust, und
Ohne eine Muskel zu regen, ohne deutliches Fühlen und Denken, nur einen sengenden Punkt im Herzen, saß sie lange, sie wußte nicht wie lange, als die Tür leise geöffnet ward und Sylvian in die Kammer geschlichen kam. Bleich und bebend beugte er sich über die tote Gestalt, Mund und Hände mit seinen Küssen und strömenden Tränen bedeckend. Erst dieser kindlichen Rührung gegenüber erwachte die Tochter zu dem Gefühl ihrer Verwaisung. Wohl hatte sie Mutterwillen, Mutterlehre und Schutz wenig gekannt und mütterliche Zusprache selber schon lange eingebüßt, damals, als nach der Sterbestunde des Sachsenwirts, unter mächtig andrängenden häuslichen Wirrnissen ein jäher Schlag den Geist der schwachen Frau gelähmt. Sie hatte nur den Leib noch gepflegt wie den eines kranken, hülflosen Kindes. Auch der Leib war jetzt dahin, Band und Pflicht für die Vergangenheit gelöst. Nein, nicht die Pflicht, solange die tote Gestalt noch über der Erde ruhte. Der letzte Gang ist ein Ehrengang und Vieles, Schweres herzurichten, was ihr jetzt erst klar vor die Augen tritt.
Und sie entbohrte jeder helfenden Hand. Sie würde ihrer entbehrt haben, auch wenn
Knecht oder Magd nicht zufällig von dem Hofe entfernt und ihr Bruderssohn älter und
erfahrener gewesen wäre. Sie, das Kind dieses Bodens, war eine Fremde unter seinen
Bewohnern; sie
Sie hatte nicht erst Trauerkleider anzulegen, nur ihren Anzug säuberlich herzustellen
und Kopf und Nacken gegen den Sonnenbrand durch ein weißes Linnentuch zu schützen,
das ihr das Ansehen einer Nonne gab. Schon ruhte ihre Hand auf dem Drücker der
Haustür, als Sylvian noch einmal hinter ihr stand. »Nur eines,« so flehte er mit
aufgehobenen Händen, »eines, Muhme Judith, sage mir, – daß ich Ruhe finde. Ist eine
Missetat in diesem Hause geschehen, – oder – von denen meines Bluts, – für die ich
zum Heiland um seine Barmherzigkeit bitten muß?« – Ihr Blick ruhte düster am Boden,
die Antwort kostete ihr einen Kampf. Nach einer Pause sagte sie mit ungewohnt
hastigem und schneidendem Klang: »Bete, Sylvian, bete! Irrtum und Schmach sind
reichlich in diesem
Gewohnt, wie sie war, sich zu dem Nächstliegenden zusammenzufassen, stand ihr auch
heute die Reihenfolge ihrer Obliegenheiten klar vor Augen. Zuvörderst die Anmeldung
bei dem Gemeindepfarrer und die Unterhandlung hinsichtlich der Begräbnisfeier.
Solange sie zurückzudenken vermochte, war kein Andersgläubiger in dem katholischen
Kirchspiele zur Ruhe getragen worden; sie kannte Person und Sinnesweise des Pfarrers,
der seit etlichen Jahren das Gemeindeamt versah, nur von der Kanzel und aus den
Lehren, welche Sylvian vom Schulunterrichte heimgetragen. Predigt wie Lehre waren die
mildesten; aber Judith, die Kluswirtin, hätte auch das Herz dazu gehabt, allenfalls
gegen harten Widerstand die letzte Pflicht gegen ihre Mutter – ehrendes Grabgeläut,
Segen und Trauerrede eines Geistlichen ihrer eignen Kirche durchzusetzen. Denn so
harmlos treuherzig wir uns die alte Sachsenwirtin im nahen wie fernen Verkehr mit
Andersgläubigen vorstellen dürfen und so zutätig sie in ihrer guten Zeit den
vormaligen Gemeindepfarrer mit dem Besten ihres Haushaltes bedient, sooft er als
Seelsorger
Aber auch die freier denkende, stärkere Tochter war entschlossen, nicht von einem innerlichen Rechts- und Ehrenpunkte abzulassen, und so fühlte sie sich denn keineswegs im Unklaren überrascht, als ihr, in die Dorfstraße einbiegend, der, welchen sie aufzusuchen im Begriffe stand, scheinbar lustwandelnd entgegentrat. Vielmehr kam es ihr erwünscht, die möglicher weise peinliche Angelegenheit ohne zufällige Zeugen und, wo es ihr jederzeit am wohlsten war, unter dem freien Himmel ihres eignen Reviers abzusprechen. Sie trat zur Seite und neigte sich ehrerbietig, wie sie es jederzeit auf dem Kirchwege, den rechtmäßigen Pfarrkindern gleich, getan, redete ihn darauf in bescheidener Fassung an, indem sie das Abscheiden der Mutter meldete und um ein Begräbnis nach dem Brauche ihrer protestantischen Religionsgenossen auf dem Gemeindekirchhofe bat.
Der geistliche Herr, dem Alter näher als der Jugend, aber nach Farbe, Gestalt,
Ausdruck und Habitus unverkennbar ein Sohn jenes nördlichen Gebiets der Roten Erde,
dessen Lüfte den Traum der Kindheit auf dem Antlitze festzubannen scheinen, war einer
der Begnadigten seines Standes, deren geistiges und leibliches Wohlgefühl ungesucht
»Das sächsische Mutterchen heimgeschieden, o weh!« sagte er, der Bittstellerin
herzlich die Hand drückend. »Nun, Gott der Herr bereit' ihr eine gesegnete Urständ! –
Euch aber, brave Tochter, fülle Er in Liebe die leere Stelle. Denn, wenn ihr
unsterblich Teil auch lange vor dem sterblichen in Schlummer gefallen ist, es war
doch immer noch das Mutterleben, gelt? und ein gut's End eigen Leben, ich weiß, ich
weiß! – reißt mit dem alten Faden ab. – Und mein Sylv, mein Sylv!« so fuhr er nach
einer Stille fort, in welcher Judith die ersten Tränen um ihre Verwaisung getrocknet,
– »der noch niemalen ein Auge brechen sehen, ja, ja, ein Gebet mit seinem alten
Lehrer tut dem frommen Herzchen gut. Ist's Euch genehm, Jungfer Wirtin, so wandeln
wir den Weg nach Eurer Klus zurück und ratschlagen mitsammen hier unter Gottes
Himmel, was in Eurer Angelegenheit zu beschaffen ist.« – So gingen sie denn zwischen
den Hecken des Feldstiegs, der katholisch Geweihte und die ketzerische
Gemeindetochter hart an seiner Seite; denn als die letztere bescheidentlich einige
Schritte zurückbleiben wollte, winkte
Es entspann sich darauf das folgende Zwiegespräch. »Das selige Mutterchen war von
Geburt – nun das versteht sich ja – ein Sachsenkind! Ich meine: sie war von
Herzensgrunde eine Luthersche?« hob der Pfarrherr an, indem er nach Art seiner
landsmännischen Glaubensbrüder die erste Silbe des Wortes lutherisch betonte. – »Von
Geburt und Herzensgrunde, ja, Herr Pfarrer«, antwortete Judith. »Und hat die heilige
Zehrung, so wie die Euren sie darreichen, mit auf den Weg genommen?« – »Am
Karfreitage zum letztenmal, Herr Pfarrer.« – »Und Ihr mit ihr, Jungfer Wirtin?« –
»Ich allein mit ihr in meinem Zimmer, wie alle Jahre.« – »Wie soll ich mir es aber
auslegen, liebes Kind, daß ich Euch, seitdem ich diesem Amte diene, andächtig und
regelmäßig an Sonn- und Festtagen, – außer denen, die wir Katholischen vor Euch
voraus haben freilich, – in unserer Gemeinde wahrgenommen?« – »Herr Pfarrer, ich bete
in der Christengemeinde, in die ich von Gott mit meinem Vätererbe eingestellt worden
bin, und habe allezeit durch des Herrn Pfarrers Lehren mich in meiner eignen
Heilsordnung gestärkt gefunden.« – »Und ist niemalen eine Anwandlung, ich meine so
ein Spüren heimlicher Sehnsucht über Euch gekommen, Euch auch mit dem Bekenntnisse in
Eure Vätergemeinde einzustellen?« fragte der Priester ein wenig eifriger, und das
Mädchen antwortete ein wenig trotziger denn bisher: »Herr Pfarrer, ich bin dem
Bekenntnisse meiner Mutter nach dem Landesgesetze vor Taufstein und Altar
zugeschworen.« – »Aber der Sylv, Euer Bruderskind,
Nachdem der geistliche Herr auf diese Weise sein Gewissen beruhigt, gab er nach einigen weiteren ähnlichen Fragen seinen endgültigen Bescheid in den nachfolgenden, mildheiteren Worten: »Nun denn, liebe Tochter, so ladet Euren lutherischen Beichtiger ein, dem alten Mutterchen die letzte Erdenklus nach seinem Glauben einzusegnen; und weil Euer Bruderskind seinen leiblichen Vater nicht zur Stelle hat, so will ich, als sein geistlicher Vater, dem Verwaisten an die Gruft seiner Ahne das Geleite geben.« – Judiths Augen hatten sich gefüllt und die bleichen Wangen gefärbt. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen«, sagte sie leise, indem sie sich niederbückte, um seine Hand zu küssen. Ja, sie war einen Augenblick versucht, das Knie vor ihm zu beugen, denn das verschlossene Herz begriff in diesem Augenblicke, wie die Beichte vor einem wahrhaften Gottverkünder eine belastete Menschenseele zu erlösen vermöge. – »Laß gut sein, laß gut sein, Kind!« rief der Pfarrer, seine Hand zurück ziehend und sie freundlich auf die Schulter klopfend. »An welcher Stätte sollen Christenmenschen sich denn vertragen lernen, wenn's nicht einmal an einer Grabesstätte ist?«
Er ließ hiermit den leidvollen Gegenstand fallen und bemühte sich, die Vorstellungen
seiner Begleiterin in eine erheiternde Bahn zu lenken, indem er, als ein
sachverständiger Bauernsohn, wie er sich nannte, den vor allen
»Das schöne Anwesen,« meinte er weiterhin, »so hübsch rund beieinander! Wir Bauern
bei der Arbeit denken an unsern Erben. Euer Bruder, wenn er eines Tages
zurückkehrt
Judith zögerte eine Weile, ehe sie eine Antwort gab. Indessen schien sie zu fühlen,
daß der geistliche Herr ein Anrecht zu der das Wohl seines Pfarrkindes betreffenden
Frage gehabt, und so erklärte sie sich, anfänglich stockend und mit
niedergeschlagenen Augen, in eingänglicherer Weise als bisher über diesen peinlichen
Punkt. »Um seines – Vaters willen, Herr Pfarrer,« sagte sie, »und um seiner Mutter
willen, die als eine – Gaukelspielerin im Lande bekannt gewesen. Schon sein Name
mahnt an die Fremde, und daß er ein dunkles, schwächliches Ansehn trägt, und
Wie, wenn nur die erste harte Eisschicht durchbrochen, Welle für Welle das Bachwasser seinen Lauf nimmt, so mit dem lange verschlossenen Quell der Gedanken, dem Schicksal oder Anteil den ersten Tropfen entlockt haben. Ein halbschmerzliches Lächeln spielte um die Lippen der schweigsamen Wirtin, als sie nach diesem Erguß die verwunderten Blicke ihres Begleiters bemerkte. »Woher ich das genommen habe, Herr Pfarrer?« sagte sie; »die Klus war ein Wirtshaus ihrer Zeit, darin sich manches lernt, Gutes und Schlimmes; jetzt ist sie wie eine Klause, und Klausner kommen auf vielerlei Gedanken. Der Sylvian soll hinaus und mit etwas Neuem einen Anfang machen.« – »Und Ihr derweile, seltsames Mädchen?« fragte der Pfarrer. – »Ich helfe ihm zum Anfang, Herr Pfarrer,« antwortete sie, »und ich schaffe, was eines Tages Eignen oder Fremden zugute kommen wird. Ein anrüchiges Haus bringt keinen Segen.«
Beide sprachen kein Wort weiter, bis sie das Hoftor erreichten; schweigend, mit
gesenkten Blicken gingen sie nebeneinander her. In dem geistlichen Herrn kämpfte ein
weiterforschendes Verlangen sichtlich mit rücksichtsvoller Schonung, und auch das
Mädchen rang zwischen
Seltsame Widersprüche kreuzten sich in ihrer Brust. Der lang gemiedene Pfad schreckte
und lockte sie zu gleicher Zeit; sie fühlte ihr Herz im Schmelzen und hätte es
umpanzern mögen vor den Eindrücken, die ihrer harrten; sie wollte keine Zeugen und
spürte doch wieder nahezu ein Bangen nach dem tröstenden Menschen, der sie soeben
verlassen. In dieser Unruhe hörte sie einen nachfolgenden Schritt, und als ob das
Schicksal ihr die ausgleichende Bahn bezeichnen wolle, sah sie, kaum daß sie den Kamp
betreten, den ersehnten Tröster wieder an ihrer Seite stehn. Auch er vermochte einen
Anflug von Verlegenheit nicht zu verbergen, da er sich noch einmal unerwartet in
Und in der Tat, einem Liebhaber ländlichen Wesens mochte die Waldwiese, die sie jetzt nebeneinander durchwandelten, eine anmutende Augenschau gewähren von der Berglehne im Rücken weit hinab über die Aue bis zum Flussesufer. Schmale Gerinne, aus einem Quelle am Forstsaume sickernd, befeuchteten den Grund für einen Gras- und Kleewuchs, der eben im frischesten Maiensafte stand; die Linnengewebe des vergangenen Jahres lagen, bei der sprichwörtlichen Treue der Gegend, Tag wie Nacht ohne Wächter zum Bleichen ausgebreitet; in besonderer Umhegung, von welcher ein sich absenkender Pfad nach der Tränkquelle leitete, lagerten die heute freigelassenen Tiere des Hofes, Musterstücke ihrer Art vom ostfriesischen Rind bis zum landestümlichen Borstenvieh; ein Weidengebüsch am Rande der Wassergrube, mit den niederhangenden, frühbelaubten hellen Zweigen sich gar angenehm gegen den bräunlichen Waldeshintergrund abhebend, hielt die Sonnenstrahlen fern und die Quellenkühle fest; eine also umschattete Rasenbank hätte nicht an einem einladenderen Platze der Gegend angebracht werden können.
Keine dieser Wahrnehmungen entging dem geistlichen Herrn, und für keine mangelte ihm
ein anerkennendes Wort. Er klopfte über den Plankenzaun hinweg die glänzenden Weichen
der Rinder, verhieß lächelnd, den Sylv zum Benetzen des Linnens anzuhalten, wenn
nicht in
Das war nun zum drittenmal an diesem Tage, daß der Name des Quellensimon unerwartet wie ein Blitz in des Mädchens Seele schlug; aber wie weit weniger heftig war die Erschütterung, seitdem das Herz sich einem milden Vertrauensbedürfnis geöffnet hatte. Nur einen Moment stand sie regungslos; dann neigte sie bejahend den Kopf, und auf die weitere Frage, ob sie den Simon gekannt, antwortete sie schon gefaßt und mit bedeutungsvollem Ausdruck: »Ja, ich kannte ihn.«
»Schau, schau, wie weißschäumend diese Bläschen in die Höhe perlen«, hob nach einer
Pause der geistliche Herr wieder an, indem er sich auf die Rasenbank niederließ und
in den Brunnen zu seinen Füßen blickte. »Der Quell muß tief liegen, aber trefflich,
trefflich, diese Leitung! Ich habe ähnliche in der Gegend gesehen, sämtlich nach des
Simon Angabe. Das Volk nennt ihn einen Quellenfinder, schreibt ihm einen leiblichen
Blick in die Tiefe zu, Zauberkünste wohl gar, eine Haselrute und dergleichen. Das
Volk hierzulande hat noch mehr, als man denken sollte, von seinem alten Heidenglauben
festgehalten. Was achtet Ihr, die Ihr ihn gekannt, wie Ihr sagt, von dieser seltsamen
Gabe, liebe Tochter?« – Der Frager hatte seinen Zweck erreicht, die Befragte sich
während
»Der Simon Lauter«, so sagte Judith, »lachte schon damals über den Aberglauben der
Leute, schalt wohl auch über das, was er eine Lästerung nannte. Sie versuchen's nur
nicht, meinte er. Weil von alters her kein Born an der Stelle geflossen, wo er not
tut, soll und kann kein Wasser in der Tiefe sein. Zehnmal mißlingt der Versuch,
glückt er aber das elfte Mal, da schreien sie über Zauberkünste. Vom Arzte gilt das
nämliche. Sterben die Kranken, ist's ihnen von oben beschert gewesen, kommt einer
durch, heißt der Doktor ein Wundermann. Als ob das Gute, durch Menschenfleiß und
Kraft hervorgebracht, nicht erst recht eine Bescherung von oben wäre! – Schon sein
Vater, der von Bergleuten aus der Fremde abgestammt, hatte dem Simon manche
natürliche Kenntnis beigebracht. Im übrigen, sagte er, sei der Wald sein Lehrmeister
gewesen. Das Erdreich unter den tiefliegenden Wurzeln der Eichen, die er schon als
Knabe roden half, der Stand der Kräuter und Moose, das Verhalten der Tiere selber
leitete ihn auf richtige Spuren. Ihm zuerst ist es aufgefallen, als er in seinen
Soldatenjahren längere Zeit jenseit auf einem Hofe in Quartier lag, daß die Sauen,
die sich täglich mehrmals mit Gier in einer Lache wälzten, ein vorzugsweise kräftiges
Ansehn trugen. Der Schlamm wurde untersucht, und heute soll ein mächtiges Salzwerk
über dem Sauenpfuhle aufgerichtet stehen. Und schon vor jener Zeit fiel ihm in
ähnlicher Weise die Entdeckung
»Ja, der Blick, der Blick!« rief der Pfarrer mit der begeisterten Freude eines
Menschen, dem sein liebster Gedanke von einem andern bestätigt wird, – »der heimliche
Sinn in die Tiefe, der die Beobachtung bannt und jedweder Kenntnis die Bahn bricht!
Und nicht im sichtbaren Naturreiche allein. In der Wissenschaft von Gott heißt dieser
Blick der Glaube, fällt er aber in ein Menschenherz, so nennen wir ihn Liebe. Was
alle nicht sehen, sieht der Liebende, und nur der Liebende sieht recht. – Und auch
Ihr, meine Tochter,« fuhr er nach einer Pause zu seinem Zwecke zurücklenkend fort,
»auch Ihr scheint mit einem Blick in die Tiefe gesegnet, da Ihr in so liebreicher
Weise die Gaben eines Unglücklichen ausdeutet, der schweres Herzeleid über Euch
verhängt. Seine Missetat an Eurem Bräutigam –.« – »An meinem Bräutigam?« fuhr Judith
auf; »mein Bräutigam, wer sagt das?« – »Euer Liebster denn oder Freiersmann, der mit
der Zeit –.« – »Nimmer, nimmer! Ich verabscheute den Mann, ich haßte ihn!« – »Ihr
haßtet ihn?« rief der
Der geistliche Herr, mitergriffen von dem Ausdruck einer Qual, deren Ursprung ihn je
mehr und mehr verwirrte, erhob sich von seinem Sitze und faßte des Mädchens Hand. –
»Ich habe diese grausamen Erinnerungen nicht aus müßiger Neugier in Euch wachgerufen,
meine Tochter,« sagte er; »ich bekenne Euch im Gegenteil, daß ich lediglich um dieser
Erinnerungen willen heute morgen den Weg nach Eurem Hause eingeschlagen. Indessen, da
ich Eure Trauerbotschaft vernommen, war es meine Absicht, mein Anliegen auf eine
gelegenere Stunde zu verschieben und zurzeit nur Euren Sinn für eine zutrauliche
Aussprache vorzubereiten. Habe ich Euch wehe getan, so glaubt, es war eine
christliche Absicht, die ich im Herzen trug.« – Er wendete sich zu gehen. Als er aber
Judith, wie um ihn zu halten, beide Arme nach ihm ausstrecken sah, kehrte er zurück,
nahm ihre Hände noch einmal in die seinen und schaute in ihre düstern Augen wie in
ein Rätsel. »Ich kann es hören,« flüsterte sie, sich allmählich belebend, »alles
hören, – was verlangen Sie von mir?« – Noch stand er eine Weile in zweifelndem Sinnen
unter ihrem drängenden Blick, und da er sich endlich zur Rede entschloß, war es nicht
in dem gemütlichen Tonfall des Alltagumgangs, sondern mit dem reinen Laut und
»Ihr wollt es,« so hob er an, »nun denn: ich fordere Euch auf zu einer
wahrheitsgetreuen Darstellung dessen, was Euch von des Simon Lauter Gemütsart und
Lebensweise vor seinem Unglück bekannt geworden. Die schwerste Missetat kann schon
hienieden eine Sühnung finden, und Gnade für den Reuigen ist nicht Gottes Amt allein.
Der Vorsteher der Strafanstalt, welcher schon vor Jahren den Simon Lauter als
militärischen Untergebenen schätzen lernte, und der dem eignen Eingeständnisse zum
Trotz noch heute an seine Unschuld glaubt, findet kein Ziel, des Gefangenen
gesittetes Verhalten, seinen sänftigenden, ja veredelnden Einfluß auf die rohen
Mitsträflinge anzupreisen; des Fleißes, der Kunstfertigkeit nicht einmal zu gedenken,
durch welche er, neben dem Aufwande für seinen eigenen Unterhalt, manchem hülflos
entlassenen Bruder eine Wohltat erweist. Kaum daß seine Anstrengung der Fülle der
Bestellungen von nah und fern genugzutun vermag. Man lohnt ihn reichlich, und da er
von Hause aus nicht ohne Vermögen ist, hat man ihm vergönnt, die erworbene Sparsumme
in jenem gütigen Sinne anzuwenden. Schaut hier dieses Heilandshaupt, das ich mir
neulich bei einem Besuche des Gefängnisses unter seinen Schnitzereien ausgewählt und
dessen Anblick mich jede Stunde an den unglücklichen Büßer mahnt. Betrachtet diesen
Frieden, dieses himmlische Entzücken in dem Antlitze dessen, der um der Gerechtigkeit
willen sein Leben dahingegeben. Und das in rohem Holz! Meine Tochter, die Hand, die
dieses Bildnis meißelte, mag einen Menschen getötet haben im Wahn, im Rausch –
vielleicht;
Judith, selber einem gemeißelten Bilde ähnlich, blickte mit starrem Auge auf das kaum handgroße, in weißem Holz geschnitzte Medaillon, das der Pfarrer aus seiner Brusttasche gezogen und in ihre Hände gelegt hatte. Auch ein minder empfängliches Gemüt als das des frommen Mannes würde von der warmen, tiefen Empfindung, von dem feinen Kunstsinn der bescheidenen Gefangenenarbeit gerührt worden sein; – ob Judith etwas anderes sah als die im Innersten aufgeregten Gesichte, der geistliche Mahner erriet es nicht.
»Der Vorsteher der Anstalt«, fuhr er fort, »bereitet mit preiswürdigem Eifer ein
Gnadengesuch für seinen Schützling vor, dessen Erfolg dem Unglücklichen fünf schwere
Jahre seiner Haft erlassen würde; fünf Jahre nach zehn, meine Tochter! Meine
Befürwortung seines früheren Wandels dürfte nicht ohne Wirksamkeit sein, zumal ich,
da der Gefangene dem lutherischen Bekenntnisse angehört, meine Stimme als Parteiloser
für ihn erheben würde. Nun bin ich aber erst Jahre nach jener unseligen Tat in mein
hiesiges Amt eingetreten, und mir fehlt die Berechtigung, mich eingänglich über des
Gefangenen Seelenstimmung zu unterrichten. Zwar sah und sprach ich ihn während jenes
Besuches der Anstalt; aber bei seinem Anblicke sank mir das Herz für eine tiefer
schneidende Berührung des Vergangenen. Der so wenig mit Mördersinn gearbeitet hat, er
blickte und redete noch weniger mit dem Sinn eines Mörders. Die Stimme tönt und das
Auge strahlt im Frieden der Heiligung. ›Ich
Der Geistliche machte eine Pause, griff noch einmal nach des Mädchens Hand und schloß
dann seine Rede mit einer warmen Ermahnung: »Ich habe Euch nur diese einzige Stunde
gesehen und sprechen hören, liebe Tochter, aber ich weiß es, daß Ihr auch im Eifer,
nicht Euch selber zuliebe und keinem Feinde zuleide, ein anderes als die Wahrheit
sagen werdet; desselbigengleichen als Ihr vorhin gestandet: ›Ihr habet ihn gekannt‹ –
da spürte ich's an Eurem Blick und Ton, daß es ein Kennen von Grund aus war, nicht
nach Ansehn und Hörensagen wie die anderen, auch nicht mit deren Wahn und
Aberglauben. Ihr kanntet ihn, das heißt: Ihr schautet in sein Tiefstes. Darum prüfet
Euch mit dem Blick auf dieses Bild der Barmherzigkeit, das Ihr zum Angedenken dieser
Stunde bewahren sollt. Sinnet zurück, sammelt, was die Zeit zerstreut, klärt, was
durch erlittenes Weh getrübt; und an dem Morgen, wo wir von dem Grabgange Eurer
seligen Mutter heimkehren werden, da öffnet mir Euer Herz um Gottes willen, zum
Frommen einer christlichen und menschlichen
»Nicht morgen oder später«, sagte sie kaum hörbar und mit fliegender Brust. »Zur
Stunde, gleich jetzt hören Sie mich an, gleich jetzt. Ich weiß nicht, ob das, was ich
zu bekennen habe, ein Licht über jene Tat ergießen wird. Ich glaube es nicht. Aber
mir, mir wird es das Herz erlösen von einer Last, die es zehn Jahre lang gepreßt. Es
soll so sein, ja, ja! Dreimal ist die Mahnung an mich ergangen, heute, wo es zehn
Jahre ist, daß diese Tat geschah. Dem blöden Knechte löste sich die Zunge bei der
Erinnerung an diese Tat, die er zehn Jahre lang vergessen. Das Sterbegesicht der
alten Frau war diese Tat, von der sie nichts vernommen, noch verstanden. Und zum
dritten, da kommt ein Fremder, ein Gottesbote, mit der Mahnung an diese Tat. Und seit
er das erste gute Wort gesprochen, da treibt es mich: rede, rede zu ihm von dieser
Tat! Und diese Quellen, die jener aus dem Erdengrunde gelockt, sie raunen mir zu:
rede, rede über diese Tat! Ja, ich kannte ihn; keiner kannte ihn wie ich – und doch,
doch –! Ich habe ihn – ich war – drei Jahre lang war ich – später – später! – Ich
habe nicht zurückzusinnen. Hier,« sie schlug mit der Hand an ihre Brust, »hier innen,
da steht's wie mit Lettern, ewig, ewig! Ich habe auch keine Missetat zu bekennen, ich
bin mir keiner Schuld bewußt, und
»So sei es denn, mein Kind,« sagte jener; »zur Stunde sei es, da das Herz Euch treibt. Aber keinen Aufenthalt an dieser Stelle. Schaut, wie der Himmel sich umzieht, kaum, daß Ihr die Stadt vor dem Unwetter erreichen werdet. Der Waldpfad ist menschenleer. Ich begleite Euch. Redet ohne Scheu, als ob Ihr neben Eurem Vater ginget.« – Sie gehorchte ohne Widerspruch, schritt voran und zog den Pflock von der Heckentür, die nach dem Forste führte. Ihr Begleiter blieb mit Absicht etliche Schritte zurück, indem er sich bückte, die am Wege stehenden Maienglocken zu pflücken. Nach einigen stummen Minuten hob die Kluswirtin gesammelt und mit sicherer Stimme ihre Mitteilung an.
»Schon ehe ich auf der Welt war, ist Simon Lauter auf dem Klushofe heimisch gewesen
wie ein eignes Kind. Sein Vater, der von Bergleuten aus dem Schwabenlande abstammte
und seines Zeichens ein Uhrmacher war, hatte über dem Meere sein Glück zu suchen
gedacht, als, des
Keine guttätigere Hand, als die meiner Mutter, Herr Pfarrer. Sie verpflegte die
fremde Frau, bis ihr letztes Stündlein geschlagen, und sorgte für Mann und Kind, bis
ihre Einrichtung getroffen. Der Winter war hereingebrochen, die Fahrt übers Meer
mußte bis zum Frühjahr verschoben werden. Vater Lauter fand während der Zeit für
seinen Uhrenkram, mit dem er jenseits zu beginnen gedacht, hier in der Gegend
lohnenden Absatz, und da er nicht wußte, wie er sich ohne Frau mit seinem Kleinen in
der Neuen Welt behelfen solle, gab er den Plan in die Weite auf, kaufte für sein
Reisegeld das Häuschen des Waldhegers, der vor kurzem gestorben war, und übernahm
neben seinem Uhrengeschäft die Hütung des Gemeindeforstes, für welche ein Aufseher
fehlte. Der kleine Simon aber, ohne Mutter im Haus, der Vater Tag für Tag im Wald
oder hausierend und ausbessernd über Land, hielt sich mit Leib und Seele an die Klus,
in welcher alle das Weiheengelchen gern sahen, Eltern, Bruder, Gesinde
Ja, Herr Pfarrer, solange ich von meinem Leben weiß, habe ich den Simon liebgehabt, lieber als die meines eignen Bluts. Das laute Schenkenwesen widerstand mir von Natur, und ebenso natürlich zog es mich hinaus in Garten und Acker; der kleine Simon aber, als ich noch nicht laufen konnte, trug und führte mich ins Freie, suchte Kräuter und Blumen mit mir, lehrte mich spielend ihre Namen, die er alle schon kannte, ich weiß nicht woher, sie auch wohl spielend aus dem Stegreife nach Gestalt und Farbe erfand, wie er denn auch die erste Kenntnis des Bodens und seiner Bebauung in mir erweckte in jener späteren Zeit, wo wir beide allein, von keiner Seele vermißt oder bemerkt, wie flinke Vögel bis zur sinkenden Nacht die Gegend durchschwärmten. Denn der Simon war von Kind an wie ein Vertrauter der heimlichen Säfte, die aus dem Erdengrunde treiben, und mit der Kenntnis, die er mir eingeflößt, wuchs die Liebe, wuchsen mir auch Kraft und Geschick für die Behandlung der Scholle, so daß ich sagen muß, der Simon hat es bewirkt, wenn ich im Heranreifen den Verfall des Erbes früher und deutlicher spürte als die, welche mit Lust und Hoffnung darin hausten, und in der Zuversicht, daß mein verunreintes Heimwesen nur durch den stillen Segen der Scholle wieder zu Ehren gebracht werden könne, späterhin handelte, wie es mich trieb.
Als nun die Schulzeit diesem kindischen Schwärmen ein Ziel setzte, da wurde der Simon
erst recht ein Klusgeselle, denn er holte allmorgendlich meinen Bruder zum Schulgange
ab, kehrte mit ihm zurück, arbeitete mit und nach seiner gutmütigen Art wohl auch für
den Flatterling,
Wieder etliche Jahre weiter, und ich ging mit den beiden des nämlichen Wegs und strengte mich an, alles das nachzulernen, was der emsige Simon mir vorausgelernt; und wenn mir eine rasche Rechnung und deutliche Handschrift in meinem Hauswesen zugute kommen, ich auch die Schriften verstehe und liebe, die von dem Naturreiche handeln, – das heißt liebte, Herr Pfarrer, jetzt habe ich lange schon keine Stille in mir für ein Buch, – so muß ich also wiederum sagen: das hat der Simon an mir getan und keiner sonst. – Nach etlichen Jahren aber ging ich mit ihm allein zur Katechismuslehre in die Stadt, und daß wir beide die einzigen Kinder in der Gemeinde waren, die sich zu dem fremden Bekenntnisse hielten, das stiftete abermals eine Verwandtschaft zwischen uns. Alles in allem: wir zwei waren wie eines, verkehrten mit keinem Gespielen und gewöhnten uns darum auch nicht an die Mundart des Landes; alles bezog ich auf den Simon, und ich vermag es nicht mit Worten auszudrücken, wie mir zumute war, als die letzten Gedanken der alten Frau mich heute morgen an jene kindischen Zeiten gemahnten, damals, da, ohne zu ahnen was heiraten sei, wir uns lachend oder in Tränen die Treue verlobten und zueinander sagten: ›Noch ein zehn, zwölf Jahre, dann heiraten wir uns, und dann sind wir Mann und Frau, und alles ist gut.‹
»Dem eignen Herzen wie dem des Nächsten verderblichere, ja gewiß, gewiß!« schaltete der Pfarrer ein. – »Aber keine, die Gottes Ebenbild mehr entstellen, wie das Trinken, Herr Pfarrer«, versetzte Judith rasch. »Und daß jene schlimmen Sitten frech in unserm Hause schalten durften, wessen war die Schuld als des Übermaßes, das meinem Vater die Herrschaft über sich selbst, wie über Hof und Kind geraubt? Darum haßte ich den Trunk, Herr Pfarrer, und darum, darum wieder habe ich späterhin gehandelt, wie es mich trieb.« – Die Erzählerin machte eine Pause, welche der Zuhörer nicht unterbrach. Nachdem sie die Wallung niedergekämpft, die während der letzten Bemerkungen in ihr aufgestiegen, und ihre Gedanken zu einer Folge geordnet, fuhr sie fort.
»Die Liebe zu den Gebildnissen des Grund und Bodens, wie die Erinnerung an seine
Vorfahren hatte von Kindesbeinen ab in dem Simon einen Trieb zum Bergwesen
angezündet, und wenn ich von klein auf sagte: ›Ich will eine Bauerfrau werden, wie
meine Großmutter selig gewesen ist, und weiter nichts‹, so sagte der Simon: ›Ich will
ein Bergmann werden, wie mein Großvater selig gewesen ist, und weiter nichts.‹ – Da
nun aber die Schulzeit zu Ende ging, so wollte Vater Lauter, der ein harter und
karger Mann war, wenn er auch mancherlei Kenntnis und Geschicklichkeit aufzuweisen
vermochte, von seines Sohnes Lust am Bergwesen nichts vernehmen. Er hatte ein paar
hübsche Flecken Rodung rund um das Waldhaus für ein billiges
Widerstand war nicht des Simons Sache, am wenigsten seinem Vater gegenüber. Er
drückte die heimlichen Lockungen herzhaft hinunter, wurde des Alten Gehülfe in seinen
mancherlei Hantierungen, blieb aber auch in diesen Jahren dem Klushofe ein
Angehöriger wie zuvor. War der Vater über Land, so trug der Simon sein Werkzeug zu
uns hinunter, und einmal hielt er sich wochenlang unablässig dort beschäftigt, als er
die Wasserspeisung in dem gerodeten Kampe ausgetüftelt und lediglich mit seinem
Ersparten vollführt, zum Dank und Denkmal genossener Wohltat, wie er sich äußerte. Es
war das erste Unternehmen in dieser Art, das ihm geglückt; von allen Seiten wurde er
um Ähnliches angesprochen, reichlich gelohnt und so jung noch an Jahren schier als
ein Wundertäter angesehn. Als er einige Zeit später das heiße Schwefelwasser unter
der Wiese aufgespürt, nannte man das Badhäuschen, das darüber aufgerichtet wurde,
›die Simonsquelle‹,
Und auch in jenen halbwüchsigen Jahren gingen er und ich miteinander um wie zueinander gehörig oder füreinander bestimmt, wenn wir auch nicht mehr wie als Kinder von Heirat zusammen redeten. Ich war in dem Alter, wo ein Mädchen sich vor solchem Gedanken schämt, aber den Trieb, ihn wahr zu machen, noch nicht kennt, und einiglich, sonder Begehr hielt auch der Simon Schritt mit meinem Sinn, so daß ich die drei Jahre Unterschied zwischen uns nicht gewahr worden bin. Aber eine weit mächtigere Menschenfreundlichkeit wohnte in dem Simon als in mir. Es war just die Zeit, wo die Sylvia auf der Klus ihr Wesen trieb und meines Vaters tobsüchtige Krankheit ihren Anfang nahm. Sanftmütigkeit war nie mein Ding, – nein, nein, Herr Pfarrer, sie war nie mein Ding!« wiederholte sie mit Heftigkeit, einem Einwande ihres Begleiters vorbeugend, »nicht meine Gabe und auch nicht mein Los. Ich hatte Geduld bei der Arbeit, aber keine Duldung für die Menschen; das rohe Wesen erweckte mir Ekel, vor der Sünde schwoll mir die Galle, und mit der Schande habe ich noch heute kein Erbarmen. Zu jener Zeit würde ich von Hof und Haus und als Magd in die weite Welt gelaufen, wenn nicht gar einer Missetat an mir selber schuldig geworden sein, hätte nicht der Simon mit dem Troste des Friedfertigen neben mir gestanden, bis meine Vernunft zur Reife und der Entschluß, die Unehre meines Erbes abzuwaschen, zur Oberherrschaft in mir gekommen wäre.
Als der Simon neunzehn Jahre geworden,« nahm die
»Aber in Zeiten der Ruhe,« so fuhr sie fort, »drei Jahre lang im pressenden Rock, mit
Hunderten fremder Gesellen in der Kaserne eingepfercht, die Waffen rühren lernen, die
ihm so herzlich widerstanden, er, der sich gewöhnt, einsam mit seinen Gedanken in
Wald und Werkstatt zu hausen und nur der stillen Gebildnisse auf Gottes Erdboden zu
achten, der eben erst in Wonne und Hoffnung, frei wie
Die stolze, trotzige Kraft des Mädchens stand bei diesen Worten so deutlich in dem
festen, ruhigen Blicke ihres Auges geschrieben, daß der Pfarrherr halblaut zu sich
selber sagte: »Gott halte in Gnaden die Tage fern, wo solche Weibertugend dem
Vaterlande ein Wall werden muß!« – Doch mahnte ihn ein Blick zum Himmel, seiner
beschaulichen Neigung Einhalt zu tun. Die Sonne war hinter einen Wolkendamm
zurückgetreten, die Atmosphäre drückte immer tiefer mit der bleiernen Ruhe, welche
dem Kampfe vorausgeht. Er forderte daher seine Begleiterin zur unverzüglichen
Fortsetzung ihrer dem Ziele noch fern scheinenden Mitteilung auf, indem er sagte:
»Also der Simon scheute sich vor dem Kriegshandwerk nach seiner
»Am Abend vor seiner Einkleidung kam der Simon nach der Klus gleich einem halbtoten
Mann. Mich verdroß dieses verzagte Wesen, und es war das erstemal, daß mich etwas an
diesem Menschen verdroß. Im Hause war just Widerwärtiges zu schlichten, ich gönnte
dem Simon knapp das Wort, und er ging in die Schenkstube, wo mein Bruder in wüster
Gesellschaft um den Punschnapf saß. Sie qualmten, lachten, tobten, zeterten, sangen
Schelmenlieder kraus durcheinander. Der Simon setzte sich unter sie, ohne den Mund zu
rühren; aber sooft ich von ungefähr in das Zimmer trat, sah ich ihn ein Glas von dem
hitzigen Gebräu auf einen Zug hinunterstürzen. Ich hatte niemals ein Übermaß und
selber nicht ein Wohlbehagen am Trunk bei ihm wahrgenommen; jetzt, da sich sein
Gesicht immer fahler und fahler dehnte, stieg eine furchtbare Mutmaßung mir zu Kopf.
Ich kam eben von meinem Vater, den ich in tobsüchtigem Taumel in seine Kammer
eingeschlossen, ich bebte noch vor verhaltenem Grimm, und bei jedem Becher, den der
Simon zu Munde führte, zuckte mir ein Messerstich durch das Herz. Da saß er
kreideweiß, stierte in einen Winkel und merkte es nicht einmal, daß ich die Stube
nicht mehr verließ und meine Augen kaum von ihm verwendete. Als ich ihn nach dem
Punsch gar noch ein Glas reinen Branntweins an die
Ich folgte ihm, sobald ich mich von den höhnenden Gesellen losgemacht. Es war im vollen Mond, die Luft klar wie bei Tageslicht. Hier oben am Kampborn erreichte ich ihn; er lag stöhnend am Boden, das Gesicht auf die Rasenbank gepreßt. ›Simon!‹ rief ich ihn an. – Er richtete sich auf, sein Auge war ruhig wie sonst. ›Sei gut, Judith‹, bat er mit der sanften Stimme aller Tage und bot mir seine Hand. – Ich zog die meine zurück. ›Simon,‹ fragte ich jetzt, ›hast du's schon öfters getrieben wie diesen Abend?‹ – ›Ich habe noch nie einen Rausch gehabt,‹ antwortete er, ›und ich habe auch heute keinen.‹ Und in Wahrheit, einen Rausch hatte er nicht; aber just, daß er keinen hatte nach dem, was er zu sich genommen, machte mir so schwere Gedanken. Er mußte an ein reichliches Maß gewöhnt sein. ›Aber du trinkst, Simon, du trinkst!‹ sagte ich. – ›Dann und wann auf der Klus, du hast es alle Tage gesehen.‹ – ›Ich habe es niemals gesehen, und du sollst, du darfst nicht trinken, Simon.‹
Er setzte sich auf die Bank und blickte ohne Erwiderung in den Born. ›Höre, Simon,‹
hob ich nach einer Stille wieder an, ›du trittst in das Soldatenwesen und in eine
arge Verführung, wenn einer nicht von Grund aus einen Damm dagegen zieht. Gelobe es
mir, Simon, gelobe es dir selber hier vor dem reinen Quell, den dein Blick aus dem
Verborgenen gelockt, daß du deinen Leib in Ehren halten wirst. Nie einen Tropfen,
Simon, niemals, niemals!‹
Ich legte nun freiwillig meine Hand in die seine und setzte mich in Ruhe an seine
Seite. Denn ich traute seinen Worten, als wären es Gottes Worte, und ahnete nicht,
daß das Böse Macht habe über einen guten Menschen gegen seinen Willen und gegen
seinen Schwur. Wir saßen lange Hand in Hand und redeten kein Wort. Es lag eine warme
Feuchte in der Luft; ringsum kein Laut, kein Hauch, nur der Born tröpfelte sacht wie
ein Sang aus dem untern Bereich. Und wie wir so saßen und die Tränen aus Simons Augen
auf meine Hände niederträufelten, da war es, als ob ein neues Leben aus seinem Herzen
in meines zöge; mich überlief es heiß und wieder kalt; es drängte mich zu ihm, und
ich rückte doch von ihm fort. Aber jählings schlingt er seinen Arm um meinen Leib und
drückt mich an sich. ›Daß ich dich lassen soll, Judith,‹ murmelt er wie erstickt,
›daß ich von dir soll, das
›Und warum heute nicht mehr, Simon?‹ fragte ich, denn ich war plötzlich fest und klar geworden in mir selbst und wußte, daß wir uns liebhätten wie Mann und Weib. ›Drei Jahre Frist, was tut's, wenn einer dem andern traut?‹ – ›Wahr, Judith, wahr!‹ rief er mit frischem Leben und zog mich noch einmal an sich, und diesmal ließ ich es geschehen ohne Scheu. ›Du willst harren und mein sein, Judith, wahr, wahr?‹ – ›Ich will harren, daß ich dein sei, Simon, und wäre es zehnmal drei Jahre.‹ – Er loderte wie in Flammen, er sprach Worte, Worte, hier drinnen stehen sie mit Lettern, er – er –.« – Das Mädchen flüsterte nur noch; der Schauer einer seligen Erinnerung durchbebte sie.
So schritt sie eine lange Weile in sich versunken; sie
Und das ist wahr; Herr Pfarrer, ich hätte mich nicht zwingen lassen, weder mit Spott und Zorn, noch auch mit Tränen, nicht von dem einen weg und noch weniger dem andern zu. Ich hätte mich nicht zwingen lassen, auch wenn der Simon wirklich nur ein armer Mietling und ich selber noch eine Hoftochter gewesen wäre, wie sie zu Väterzeiten auf der Klus geworben worden sind.« – »Glaub's, glaub's«, murmelte der geistliche Herr. – Das Mädchen aber fuhr, ohne der Unterbrechung zu achten, fort: »›Ich lasse mich nicht zwingen‹, erklärte ich, und der Simon beruhigte sich, und wir saßen noch lange beieinander oben am Born wie Bräutigam und Braut. Dann ging der Simon fort, die letzte Nacht in seinem Hause zu schlafen – und das sind kommenden September dreizehn Jahre.«
Wieder ging Judith eine Weile schweigend voran, und der Pfarrer folgte ihr in kaum
geringerer Bewegung als
»Mit dem Tage, an welchem der Simon die Nachbarschaft verlassen,« erzählte Judith, »da schien es, als ob ein guter Geist vom Klushofe gewichen sei, der die letzten Spuren von Ordnung und Frieden darin gebannt. Mein Bruder, der seinen einzigen redlichen Anhalt verloren, wirrte sich immer dichter in Teufels Garn, beim Vater kam die Krankheit zum Ausbruch, die man mit Grund einen Wahnsinn nennt; mich aber, Herr Pfarrer, mich wurmte die überschwellende Schande um so tiefer, seitdem ich einen braven Menschen mein eigen nannte, auf den sie durch die meines Blutes überging. Mein Herz verhärtete sich gegen Vater und Bruder, seitdem sein Sänftiger fortgezogen war; nur gegen die Mutter, die unschuldsvoll vertrauend, lachend diese Minute und die nächste weinend, inmitten des wüsten Getriebes stand, gegen sie steifte es sich wohl nicht; aber das Leidwesen, mit welchem ich auf die gute Frau herniederschaute, wie auf ein Kind, das keiner in seinen Nöten um Hülfe anspricht, das lag von der Härtigkeit nicht weit entfernt.«
»Eine Frage, mein Kind«, schaltete an dieser Stelle
»Ja, Herr Pfarrer, nicht ein Tropfen und Bissen unvermischt. Eine grausame Verordnung
und gefahrvoll, wenn der Leib erst verbrannt, dann verekelt, nicht allmählich eine
nüchterne Kost ertragen lernt. Auch stemmte die Mutter sich mit ihren letzten Kräften
gegen das Unternehmen, das sie eine Vergebung nannte; mein Bruder, gleichgültig oder
schwankend, ließ mir freie Hand, und der Simon mißbilligte es zwar nicht, aber ich
spürte gar wohl, daß ihm das Herz gefehlt haben würde, es gegen den Widerwillen und
die wachsende Schwäche des Kranken, wie gegen Vorwürfe und Tränen der Mutter
durchzusetzen. Ich hatte dieses Herz, Herr Pfarrer. Ich allein bereitete und reichte
dem sich Sträubenden die ekle Nahrung, ich überwachte und wehrte es, wenn die Mutter
einen unvermischten Tropfen oder Bissen unterzuschieben versuchte; ich dachte eine
Seele zu retten auf Kosten und Gefahr eines halbzerstörten Leibes – und ich habe mich
keiner Sünde angeklagt, als die Probe mißlang. Nein, nein!«
»Kaum daß die Augen meines Vaters sich geschlossen,« fuhr sie fort, »als auch die zeitweiligen Notstützen des Hauses jach und schnöde zusammenbrachen. Die Feindseligkeiten der alten Nachbarn gegen das fremde Wesen traten mit Schadenfreude zutage, – nein, Herr Pfarrer, nimmer dürfte der Sylvian in dieser Gemeinde als Bauer hantieren! – Die neuen Freunde zeigten nur Mißtrauen gegen den verrufenen Erben, den sie selber erst in Verruf gebracht. Von keiner Seite eine helfende Hand. Drohung jagte die Drohung, Klage die Klage, Pfand das Pfand – und der Leichnam ruhte noch über der Erde. Leib und Seele der Mutter, schon durch das Krankenbett im Grunde erschüttert, brachen zusammen in diesem Sturm, den Bruder wirbelte er hierhin und dorthin wie ein mürbes Blatt, – am Ende übers Meer; ich, ich steifte mich, ich trotzte ihm, Herr Pfarrer, und ich habe ihm standgehalten.
Ich hätte jetzt gehen, die alte Frau und den Knaben zu mir nehmen und still mit ihnen
leben können bis zur Vereinigung mit dem Simon, die mir als Ziel Tag und Nacht vor
Augen stand. Ich arbeitete gern und besaß ein mäßiges Erbteil, das eine sächsische
Muhme um meines protestantischen Glaubens und des durch ihre Patenschaft mir
zugefallenen Namens willen für mich hinterlassen; ich war auf die Verwendung eines
treumeinenden Anwalts in der Stadt, der die Verhältnisse durchschaute und mir
Es währte nur kurze Zeit, bis er einsah, daß er den Hof nicht behaupten könne. In der
wüsten Schenke herbergte nur noch wüstes Gesindel; die Landwirtschaft stand still. Es
hätte klein und von Grund aus wieder angefangen werden müssen, aber Bauernarbeit
ekelte ihn an, und Rat wie Tat verfingen um so weniger, weil ich es war, die sie bot.
Denn, Herr Pfarrer, wir stammten aus einem Blut, aber unser Wesen widerstand sich wie
Wasser und Öl; es kam zu keiner Einigung. Auch fiel ihm der Entschluß, sein Vatererbe
loszuschlagen, nicht schwer. Desto schwerer die Ausführung. Er hatte auf reichliche
Überschüsse gerechnet,
Meine Stunde hatte geschlagen, jetzt trat ich auf. Ich tat ein Gebot, das just die
Pfandgläubiger befriedigte, und mein war das Anwesen, wie es stand und lag. Mit den
Wucherern und Spielgesellen, dem Papiermüller an der Spitze, unterhandelte ich kurz
und scharf auf Frist; meinen Bruder selbst, der jetzt in meine Hand gegeben, hoffte
ich durch Not zur Ordnung umzuwandeln. Das Schenkenwesen wurde nur noch obenhin
unterhalten, übles Gesindel unerbittlich von der Tür gewiesen, die Landwirtschaft
dagegen kräftig in Angriff genommen, manches verbröckelte Ackerstück mit der Zeit
wieder eingelöst. Und Wiese und Feld, Herr Pfarrer, sproßten nach der langen Brache
empor, aber die Saat in dem Menschenherzen blieb ohne Keim. Er war in meiner Gewalt,
und ich weiß keine Zucht, die mir zu schwer gewesen. Gute wie böse Worte verwehte der
Wind; gegen den Zwang setzte er die Flucht. Freilich um wiederzukehren, denn
Nachhaltigkeit war nicht seine Natur, auch nicht in der Bitternis. Ich gab den
Bruder, den ältern Bruder, auf und handelte wie gegen einen Knecht, endlich wie gegen
ein Kind. Ich setzte ihn
Der Plan der Ausführung widerstand ihm keineswegs, im Gegenteil, das fremde Leben lockte ihn. Aber vor der Ausführung zuckte er zurück. Nicht einmal, zehnmal, Herr Pfarrer, war er fort und wieder da. Nur noch diesen Glücksversuch in der Heimat, oder jenen, der ihm auf dem Wege eingefallen, nur die alte Mutter noch einmal sehen, oder sein Kind und Sylvias Grab! Und dann umklammerte er meine Kniee, weinte, raufte sich das Haar – eine Stunde später aber sang er Schelmenlieder oder knöchelte mit irgendeinem wüsten Gesellen. Gegen Sturm und Trotz hätte ich's aufgenommen, aber ich hatte weder Macht noch Duldung gegen ein windwendisches Wesen wie dieses. Seine Gegenwart brannte mich wie zehrendes Feuer, zumal seit ich gewahr ward, daß das Kind, der Sylvian, seine ernsthaften Augen dafür aufzuschlagen begann. Er mußte fort ohne Erbarmen, und so wurde denn endlich die drohende Haft des Turms, einer Wechselschuld halber, die er von neuem im Spiel eingegangen, die Rute, die ihn trieb.
Ich hatte diese Schuld eingelöst, aber ohne sein Vorwissen, Herr Pfarrer; denn mit
freier Wahl würde er nimmer gegangen sein, dagegen die Heimlichkeit einer
»Ihr tatet, was recht war und darüber, arme Tochter«, sagte der Pfarrer, ihre Hand drückend, und Judith versetzte mit schneidendem Ernst: »Es war recht, und es war not, Herr Pfarrer. Aber wer also recht tun müssen, der wird nimmer wieder froh.«
»Ich habe, Herr Pfarrer,« so nahm sie nach einer gegenseitigen Stille ihre Mitteilung
wieder auf, »ich habe eine lange Weile nur von mir verhandelt, und es ist doch eines
andern Schicksal, das Sie zu wissen begehren. Die Wahrheit ist, daß ich den Simon
während seiner Soldatenzeit nur selten und im Fluge gesehen, da bald nach seinem
Eintritte das Regiment in einer entlegeneren Gegend Quartier bezog, und daß es mir
lieb war, meine Anfechtungen ohne seine Zeugenschaft durchzustreiten. Allezeit aber
hat er im Hintergrunde meiner Gedanken gestanden. Ich sagte wieder wie als Kind:
›Noch soundso viel Monden und du bist des Simons, und alles ist gut!‹ Ich sputete
mich darum Nacht wie Tag, um alles rein und ehrbar hergestellt zu sehn, wenn er als
Herr einziehen werde in meiner Väter Hof, hatte auch niemals ein Arg, daß er seinen
Leib anders als rein und ehrbar erhalten haben werde nach seinem Schwur. Es war eine
Zeit der Probe für ihn wie für mich; vielleicht aber, daß sie nicht ein so grausames
Ende genommen, wenn ich schon
Des Simon Truppe sollte in der Kürze nach der Stadt verlegt werden; zum Herbst würde
er des Dienstes ledig gewesen sein; jetzt schrieben wir April, und es war an dem
Tage, an welchem ich auf die drohende Wechselhaft den Plan von meines Bruders
Entfernung gebaut. Rasch entschlossen, machte ich mich auf den Weg nach der Stadt, um
mit dem Anwalt Rücksprache zu nehmen. Denn in der Sache war ich mit mir einig, nur
über die gesetzliche Art und Weise mußte ich mir Auskunft verschaffen, zumal den
Durchsteckereien des Müllers gegenüber, dessen hinterhältige Lauer ich kannte. Ich
hatte meinen Bruder allein in der Schenkstube verlassen, die noch mäßig im Gange war
und bis zur Vollendung der Eisenbahn bleiben sollte. Denn mit dem Geld ging es mir
knapp zu der Zeit, so
Er trug wieder den schwarzen Bergmannskittel, an dem er in aller Eile noch knöpfte und schnallte, die bunte Soldatenmütze auf seinem Kopf aber schleuderte er hoch in die Luft und jubilierte wie eine Lerche, da er mich erkannte. Er fand kaum Worte vor Jast und Lust – er war frei und entlassen ein halbes Jahr vor der Zeit, der glückseligste Mensch auf Gottes weiter Welt! – Die gute Botschaft tröpfelte Balsam auf meine ätzenden Schrammen. Nun hatte ich ihn, durfte ihn halten und hegen, und alles Schwere schien mir federleicht. Dennoch als er Miene machte, mich nach der Stadt zu begleiten, wehrte ich ihn ab. ›Spare das Gerede,‹ sagte ich, ›bis alles in Ruhe und Ordnung ist. Geh voran zur Klus. Am Abend sprechen wir uns allein vor dem Born oder oben bei Mutter.‹ Er stutzte wohl bei dieser Zimperlichkeit, war aber zu froh zum Verdruß und flog mehr als daß er ging auf dem Kluswege zurück.
Mein Geschäft zog sich unerwartet in die Länge, die Sonne war schon gesunken, bevor
ich den Heimweg antrat. Aber es war abgetan, der Simon heim und mein
Aber schon im Flur höre ich ein Juchhei, daß das Herz im Leibe sich mir wendete; ich
öffne und stehe auf der Schwelle wie gewurzelt. Da sitzen der Müller, mein Bruder und
– der Simon um den dampfenden Napf, und keiner, auch der Simon nicht, bemerkt mich
unter dem Qualm und Lärm. Ich kann nicht sagen, daß Völlerei von Grund aus meines
Bruders Laster gewesen; nur wenn Gesellschaft oder Spiel ihn erhitzte, geriet er in
ein Übermaß; heute aber war er trunken von außen und innen. Die Augen zuckten Blitze,
Hände und Füße flogen wie die eines Gliedermannes, krause Reden und Reime schwirrten
gleich Irrwischen zwischen seinen Lippen hervor. Er hatte den Freunden das, was er
als eine Heimlichkeit auszuführen gedachte, enthüllt und schilderte im voraus
Herzeleid und Gefahr seiner Trennung und Flucht. Mein Name wurde genannt als der
einer grausamen Drängerin, der Müller wie ein Bruder und Helfer gepriesen. Dazwischen
glotzte und brüllte dieser rohe Kumpan gleich einem Stier. Nur der Simon gab keinen
Laut, klingte aber an bei jedem neuen Spruch und leerte das Glas auf einen Zug öfter
als beide zusammen. Er sah weiß aus wie ein Geist.
Die Empörung brach aus, ich schlug heftig die Türe zu. Mein Bruder stürzte auf mich zu, riß mich mit Gewalt an den Tisch und preßte sein Glas an meine Lippen. – ›Mein Henkertrunk!‹ schrie er, ›du der Henker, Dithel, trinke, trinke!‹ – Ich nahm ihm ruhig das Glas aus der Hand und setzte es auf den Tisch. Meine Kehle war zugeschnürt, aber es mag wohl ein giftiger Blick gewesen sein, der statt des Wortes zu dem Sinnlosen hinüber schoß, denn er ließ mich los, starrte mich an und sagte gewichtig, als wären seine Worte Gold: ›Ja, du Macht, Weib, denn du hast Willen, ja, du hast Willen, denn du hast kein Herz. Weib ohne Herz, du umgarnst einen mit deinem Willen, wie die Spinne die Fliege mit ihrem Netz. Den eignen Mann spönnest du ein, saugtest ihn aus und spännest fort. Spinne du, Dithel, Spinneweib, Spinne!‹
Und so strömte er weiter in nichtsnutzigen Anklagen und Klagen, wie ich sie schon
oftmals vernommen und überhört. Kein Mensch konnte wissen, Herr Pfarrer, was Wahrheit
oder Schauspiel in dem Menschen war. Und jählings wirft er sich an die Erde,
umstrickt meine Kniee, daß ich mich niedersetzen muß, um nicht zu fallen, schluchzt,
daß ihm die Tränen wie Bäche über die Backen rinnen, und beginnt seine alte Litanei:
›Rette mich, Dithel!‹ stöhnte er, ›stoße dein Blut nicht von dir, Schwester! Das Meer
ist tief, tief und so fern, so fern! Laß mich nicht untersinken; deine Hand, Dithel,
deine Hand! Da sitzt er, der reiche Mann!‹ – Er wies auf den Müller, der lallend mit
dem Kopfe nickte und seine Arme nach mir
Ich hörte nur noch wie im Traum, blickte nur scheu nach dem Simon hinüber, der zusammengesunken, stumm und weiß wie ein Götze sein Auge in meines bohrte, – nicht mehr ein Menschenauge. Ich fürchtete mich vor ihm. Ich ertrug es nicht länger, stieß mit der Hand den Müller, mit dem Fuß den Bruder von mir, daß der Tisch mit Gläsern und Lichtern zu Boden fiel, und so im Dunkeln stürzte ich aus der Tür und in meine Kammer hinauf. – Ich warf mich zu Boden, meine Sinne vergingen.« Judith stockte, als werde ihr die Kehle zugeschnürt. »Eine Beichte, eine Beichte!« murmelte sie; »gut, gut, auch das! – Ein sengender Atem an meinem Gesicht – eine eisigkalte Hand um meinen Leib – Töne, Töne – wir rangen – ein Augenblick – Wut gegen Wut –!«
Sie machte eine Bewegung, als scheuche sie ein Gespenst. »Denken Sie's – oder nein,
denken Sie es nicht. Es ist gesagt, gut, gut!« preßte sie hervor, und nach einer
Pause fuhr sie fort in fliegender Hast: »›Hilf Gott, hilf Gott!‹ ächzt die Mutter
nebenan. Seit ihrem Elend ihr stündlicher Jammerlaut. Der Wahnwitzige stutzt, ich
reiße mich los, raffe mich auf, jage aus der Kammer und schließe die Tür. Ich
lausche. Alles seelenstill. Nun hinunter. Ich hätte schreien mögen vor Wut und Qual
und doch jedes Auge und Ohr verstopfen vor der Schmach, die gleich einer Wetterwolke
über dem Hause gehangen. Alles war aus zwischen mir und ihm, welchen ich im Herzen
Ich spürte umher, die Wirtsstube war leer, der Bruder mit seinem Kumpan auf und davon, das Gesinde zur Ruh. Sie schliefen im Seitenbau, keiner wußte von dem Gefangenen oben in der Kammer. Ich zündete Licht an, daß es hell leuchte über Straße und Hof; ich durfte nicht rasten, ich mußte Ordnung unten schaffen, um bei einem anklägerischen Zufall darauf hindeuten zu können, daß ich die Nacht nicht müßig in meiner Kammer verbracht. Eine Nacht, eine Nacht ohne Ende! Mehr als einmal brach ich zusammen, hoffte, daß ich's nicht überstehen werde. Aber dann steifte ich mich wieder und wollte es überstehen. Ich hatte im Leben nur einen Menschen zum Glück gebraucht – ich wollte keinen Menschen brauchen, fertig werden ganz allein. ›Bestien sind's alle, alle!‹ schrie ich auf, und kaum daß ich's ausgedacht, brach der Jammer wieder hervor, und ich preßte mein Tuch in den Mund, das Geschrei in die Brust zurückzubannen. Treppauf, treppab die ganze Nacht. Lauschen hier, lugen dort. Zehnmal wollte ich hinein, das Ungetüm zu erwecken, zu verjagen. Zehnmal prallte ich zurück. ›Das Weiheengelchen, den Friedensbringer!‹ stöhnte ich. ›Ein Augenblick der Raserei gegen zwanzig Liebesjahre!‹
Der erste graue Dämmer gen Morgen. Jetzt mußte es sein. Ich fürchtete mich nicht,
aber ich zitterte; kaum daß ich den Schlüssel zu drehen vermochte. Die Kammer war
leer, das Fenster offen. Ich beugte mich hinaus, tausend Messer in der Brust, – da
unten muß er liegen zerschmettert in seinem Blut. Nein, nein, da unten liegt er
nicht. Nicht im Rausch hat er sich hinabgestürzt, mit
Oben am Born, da liegt er auf seinen Knien, taucht den Kopf in den Quell, netzt Hals und Brust und kühlt sich klar. Ein aus dem Grabe Erstandener! Mich schaudert's über den Leib, so fühle ich seinen Frost, und doch in mir ein Sud und vor meinen Augen Sternenzucken. Zurück kann ich nicht; vorwärts, reden auch nicht. Jetzt richtet er sich auf, bringt seine Kleider in Ordnung und wird mein gewahr. Ich fahre zusammen, er nicht. Aber traurig blickt er, todestraurig; in meiner letzten Stunde sehe ich ihn noch, diesen traurigen Blick. ›Lebe wohl, Judith‹, sagte er leise, daß ich's kaum verstand. Ich starrte zu Boden und hatte keinen Laut.
›Dein Treuspruch ist gelöst‹, hob er nach einer Weile wieder an. – ›Er gilt!‹ hätte
ich schreien mögen – und sagte kein Wort. Er aber redete weiter, gänzlich ruhig,
gänzlich gefaßt, wie einer, der auf seinem Sterbebette abgeschlossen. ›Ich kenne mich
nicht mehr‹, sagte er. ›Ich bin nicht mehr ich; aber ich kenne dich, Judith, du bist
du, und so wie du bist, habe ich dich liebgehabt bis heute, und so werde ich dich
liebhaben bis ans Ende. Hier am Quell habe ich gelegen die Nacht hindurch, habe
gerast gegen mich selbst, und jetzt sehe ich's klar, weiß es, Judith, weiß es.
Wieviel Tropfen müßten aus diesem Born rinnen, ehe du's vergißt, Judith, vergißt, daß
ohne Gottes Hülfe du eine warst, eine, die keinem Mann am Altar ihre Treue verpfänden
konnte, – auch dem Beschimpfer nicht! Du nicht, Judith, du wahrlich nicht! Ich darf
nichts geloben, denn du glaubtest mir nicht, und ich selber
Ein stöhnender Atemzug und eine lange Stille folgten diesem martervollen Bekenntnis. Dem alten Priester zitterte das Herz. So tief war er noch niemals in den Grund einer Menschenseele gedrungen; Bilder, Triebe, Geister, die er kaum geahnt, drängten sich sichtbar und greifbar fast zwischen die Klüfte der Rede; ihn schwindelte vor diesen Wirbeln unter der glatten Decke des Alltagslebens. Und wie sie sich brachen, diese Wirbel, an der Kraft eines unantastbaren Gemüts, wie an seinem Widerstande der verunreinte Strom eines gutgeschaffenen Herzens sich klären müsse, das, so hoffte der fromme Mann zum Preise Gottes und seiner Kreatur, das werde die endliche Lösung des Rätsels sein, die er gesucht.
»Als ich,« so griff Judith ihre Darstellung wieder auf, »als ich meine Sinne
zurückkehren spürte, war es Tag, aber über dem Sonnenlichte hing ein Schleier, und
mich dünkt, als ob Gott der Herr ihn seit jener Stunde nimmer in die Höhe gezogen. An
jenem Morgen nahm
Ich ließ ihn gewähren und traf meine Anordnungen nach dem Rate des Anwalts, der mir
wie ein Freund zur Seite stand. Herr Pfarrer, möglich, daß alles anders gekommen
wäre, als es kam, wenn der Mann, der unsere Lage von Grund aus kannte, nicht an dem
nämlichen Tage, da mein Elend reif ward, an einem hitzigen Fieber erkrankt und bald
verschieden wäre. Er hatte eine Schiffsgelegenheit unter einem strengen, aber
zuverlässigen Kapitän ausgemittelt; mein Bruder sollte nach Australien zu rauher
Arbeit auf noch unbebautem, menschenarmem Grund; unwissentlich sollte er es, denn ihm
selber lagen nur die Verlockungen großer Städte und die Leichtigkeit einer
Ich hatte dem Anwalt Vollmacht ausgestellt, an dem Morgen unserer Abreise die
Wechselschulden meines Bruders einzulösen. Es ist geschehen. Kein Wucherer oder
Lüdrian darf den, welcher den Namen ehrbarer Voreltern getragen hat, der Untreue um
eines Hellers Wert bezichtigen. Am letzten Nachmittage machte ich vor Gericht an den
Papiermüller eine Verschreibung auf mein Grundstück so hoch etwa, als sich die Summe
des Fahrgelds und eines mäßigen Notpfennigs zum Anfang in der Fremde belief. Daß ich
just diesem Menschen in die Hände fallen mußte, war das Widerwärtigste bei dem
Handel. Aber das Geld war klamm in der Zeit, der Eisenbahn halber, zu deren Bau der
letzte Taler gegen einen Schein verzeichnet ward; Freunde besaß ich nicht, und was
die Hauptsache war,
Ich ging nicht den Waldweg wie damals, sondern die große Straße, auf der die
Menschheit wogte, indem, wie heute, die Jubilatemesse in der Stadt zu Ende lief. Ich
konnte die Ratgebungen des Menschen wohl gebrauchen, denn er war mancherwärts in der
Welt umhergekommen; die Reise aber, die ich morgen in der Tagesfrühe antreten sollte,
war für mich ein neues und schwieriges Unternehmen. Freilich verdroß es ihn, daß ich
sein Anerbieten, mir auf dem Hin- und Herwege zur Seite zu stehen, rundweg von mir
wies, und mein Grauen bei seinem Vorschlag, jetzt bei Abend und mit ihm allein einen
Abstecher nach seiner Mühle zu machen, um das verschriebene Geld in Empfang zu
nehmen, gewährte ihm eine tückische Rache. Ich war ärgerlich gegen mich selbst, daß
ich den Fall nicht vorausbedacht und auf die Auszahlung
Einen Augenblick standen wir uns gegenüber starr und stumm. Ich sah, wie das Blut ihm zu Kopf schoß und er mit der geballten Faust nach dem Herzen faßte, dann aber mit niedergeschlagenen Augen rasch zur Seite wich. ›Ich schicke meinen Bruder nach dem Geld!‹ stieß ich hervor und rannte wie von einem bösen Geiste gepeitscht die Straße entlang. Ich hörte des Menschen heimtückisches Lachen, blickte um und sah, wie er, seinen Arm in den des Simon gelegt, den Seitenpfad nach der Mühle einschlug und bald darauf im Abenddunkel verschwamm. Auch andere haben diesen gemeinschaftlichen Weg der beiden gesehen und bezeugt, ich selbst bezeugte ihn, Herr Pfarrer, ja, auch ich – und er ist zu einem schweren Verdachtsgrunde gegen den unglücklichen Simon geworden.
Die Nacht verging, und keiner kam. Der erste Dämmer graute gen Morgen, die Glocke schlug drei. Ich durfte nicht länger zaudern, um vier sollte der Dampfzug abfahren. Ich ging allein, nein, ich flog, immer noch in der Hoffnung, einem oder dem andern auf dem Wege zu begegnen. Es war Sonntag, die Straße wie gefegt. Dort aber auf dem Querwege von der Mühle her nach der Bahn, da schritten zwei, zwei dunkle Punkte im Morgennebel – aber zwei, nicht drei.«
Des Pfarrers Blicke hingen in lebhaftester Spannung an Judiths Lippen. Sie stockte,
aber nur eine Sekunde
»Nicht weiter, nicht weiter, unglückliches Kind!« rief der Pfarrer, helle
Angsttropfen im Auge und auf der Stirn. »Ich habe die Akten gelesen, ich kenne den
Rest!« – »Ja, eines, noch eines,« versetzte Judith mit schrillem Ton, »das Letzte –
mein Zeugnis vor der Wache und
Der Pfarrer blieb eine bestimmte Antwort auf diese Frage schuldig. – »Die Patrouille,« sagte er nach einigem Sinnen beruhigend, »die Patrouille hatte Euch kaum hundert Schritte durch die Torfahrt vor sich her eilen sehen. Ihr offenbartet nicht mehr, als sie selber wenige Sekunden später entdeckte, entdeckt haben würde auch ohne Eure Dazwischenkunft. Euer Zeugnis war ohne Wert für die Anklage.« – »Nicht um der Anklage willen, Herr Pfarrer, um seinetwillen, dessen Herz mein Zeugnis gleich einem Todesstreich treffen mußte.« – Des Pfarrers Augen senkten sich. Nach einer Pause setzte er der Frage eine Gegenfrage gegenüber. – »Glaubtet Ihr an seine Missetat in jenem Augenblick?« – »Ja«, sagte das Mädchen gepreßt. – »Und seitdem, und heute?«
Ihr Kopf sank tief auf die Brust herab; der geistliche Freund fühlte im eignen Herzen
den doppelköpfigen Wurm, der den Frieden des ihrigen zernagte. – »Glauben, das heißt:
einer unerweislichen Sache in seinem Herzensgrunde
Er deutete bei diesen Worten auf den Strauß, den er im Gehen gepflückt, und schloß ihr Gespräch, ein kindlich seliges Lächeln auf den Lippen. – »Atmet diesen Duft, meine Tochter! Süß und kräftig wie keiner, dieser Hauch der kleinen weißen Glocken. Mir klingt's wie Auferweckung, saug ich ihn ein. Auferweckung der toten Herzen, Auferweckung auch der lebenden! Voran, voran, und Gott mit dir, mein Kind!«
Der Pfarrherr hatte sich von seiner Begleiterin nahe einer Lichtung getrennt, aus
welcher sie in früheren Jahren das Waldhaus oftmals mit freudigem Herzen hatte
hervorlugen
Judith blickte eine lange Weile durch das morsche Pfahlwerk der Heckenpforte. Seit
sie ihr Herz vor einem andern entlastet, seit sie jenes laute »Nein« gesprochen und
vernommen, empfand sie eine Leichtigkeit, ein friedliches Rastverlangen, das sie seit
langen, langen Jahren entbehrt. Ihr graute nicht mehr vor dem gemiedenen Hause;
Erinnerung und Hoffnung lockten sie hinein. Sie zog den Riegel von dem Gitter und
setzte den Fuß in das kleine üppige Gehege. Seit sie ein Kind war, hatte sie es nicht
mehr betreten, und sie dünkte sich wieder ein Kind, so neugierig verlangend spähte
sie umher. Das Haus war verschlossen, das Fenster undurchsichtig verstaubt, aber sie
vermochte sich nicht alsobald loszureißen; dorthin trieb es sie unter die
Weimutskiefer am Wegzaun, Simons stolzen Lieblingsbaum als Knabe schon. An dieser
Stelle hatte sie ihn getroffen an dem Tage, als der Vater zum erstenmal
Noch regnete es nicht, ein glühender Gürtel schien den Niederschlag zu dämmen; aber die schieferschwarzen Wolken senkten sich tief zur Erde, über eine Weile mußten sie den Gürtel durchbrechen. Die wetterkundige Wirtin überließ sich achtlos der Ruhe eines lastfreien Augenblicks. Sie setzte sich auf den Wallrand unter die niederhängenden Zweige der Kiefer; Geißblatt und Flieder dufteten betäubend in der atemlosen Schwüle; halb im Sinnen, halb in Ermattung schlossen sich die Augen. Sie fühlte jenes elektrische Zucken der Nerven, das nach der Erregung die Schlummerruhe verkündet. »Nein, nein, nein!« flüsterte sie halb schon im Traum.
Aber noch den Laut auf den Lippen schreckt sie zusammen; sie hört einen schleichenden
Schritt auf dem Stege jenseit des Zaunes, hört ein Streifen und Rauschen im
Gesträuch, und das Auge nach der Richtung gewendet, fühlt sie sich wie gebannt durch
einen starren, gläsernen Blick, der durch die Öffnung zweier Äste in das Gehege
dringt. Ihre
In mächtiger Aufregung schritt sie den Waldpfad entlang. Das Sterbegesicht ihrer Mutter, das ihrer eignen schlaflosen Nächte und – die Gestalt mit dem verglasten Blick, sie schwammen ineinander zu einem verfolgenden Gespenst. Hatte sie es mit jenem »Nein« heraufbeschworen? Lauerte ein Frevel hinter jenem Nein? Ein Frevel gegen die Natur? – Die Luft war erstickend, aber eiskalte Tropfen perlten auf ihrer Stirn.
So gehen sie nach der Stadt; er der Verbrecher, sie die Zeugin, vor ihnen, hinter ihnen die Wache. Vor dem Richter die nämlichen Fragen und das nämliche »Ja«, das nämliche »Ich war im Rausch«. Keine Rechtfertigung, keine Erörterung, keine Verdächtigung eines andern, nicht ein Name wird herbeigezogen. Ohne Trotz, zerschlagen, haltungslos bleibt er bei dem einen: »Ich war im Rausch!« – Und noch einmal sieht sie ihn wieder, das letztemal. Die Halle gedrängt, Kopf bei Kopf: hier der Ankläger, hier der Verteidiger, die Geschworenen, die Richter und die Zeugen, obenan Judith, die Kluswirtin, die erste, die wichtigste. Ihr gegenüber der Angeklagte totenbleich, aber nicht mehr zerschlagen, haltungslos, nein, hoch aufgerichtet und gefaßt zu einem männlichen Entschluß. Die nämlichen Fragen, die nämliche Antwort; die Rede des Verteidigers warm aus dem Herzen, warm zu dem Herzen; hat der Angeklagte ein eignes Wort hinzuzufügen? »Nein!« spricht er aufrecht mit fester, klangvoller Stimme. »Nein, nichts weiteres. Ich war im Rausch, ich war von Sinnen. Ich kann die Tat getan haben und will sie getan haben, ja, ich will!«
So nackt und klar hatte Judith diese Szenen nicht wieder nachgelebt, weder im Wachen
noch im Traum, wie jetzt im Fluge des Gedankens, als sie, alle Sinne aufgerüttelt,
Nur eine Straße weiter, und sie stand im Getriebe des Tages, und von den beiden in ihr mächtigen Wesen regierte wieder jenes, dem sie vor jedem fremden Auge die Oberherrschaft eingeräumt. Sie faßte sich, zügelte ihre Schritte und erfüllte in besonnener Folge den Zweck ihres städtischen Wegs. Der Sarg für die Tote wurde bestellt, Trauerzeug eingehandelt, bei dem Lehrer Sylvians verzögerte Rückkehr bis nach dem Begräbnisse entschuldigt. Sie hatte sich bis jetzt in stilleren Nebenstraßen halten dürfen, nun war das Gedränge nicht länger zu vermeiden, denn das Haus des Predigers lag am Domhof, dem Sammelplatze des Marktvergnügens.
Als sie sich durch das Budengewühl längs der noch unbelaubten Lindenreihen wand, sah
sie ein fahlgelbes Feuer hinter der Wolkenschicht zucken, die schieferfest, einer
Säule ähnlich, tief, wie mit Händen zu greifen, über dem Platze hing; trotz des
Menschenschwirrens hörte sie ein grollendes Rollen, spürte einen Schwefelbrodem in
der atemlosen Luft. Ein Ausbruch drohte mit lange verhaltener Wucht. Doch hoffte sie
vor demselben noch das Geschäft bei dem Prediger zu erledigen und in dem Laden
Keiner der lärmenden Marktgäste schien indessen ihre Voraussicht zu teilen; nur die
fürsorglichen Krämer legten ihre Waren ein und schlossen die Buden. Gekauft wurde
ohnehin wenig mehr, seitdem Hofwirte und Wirtinnen den morgendlichen Wochenmarkt
verlassen. Der Nachmittag gehörte der Jugend, galt dem Spiel, dem Trunk und Tanz, dem
letzten Juchhei. Das schiebt und stößt sich an den Lebkuchenbänken, den süßen
Tauschplätzen ländlicher Galanterie! Der Bursche feilscht für seine Dirne um einen
braunen Schatz, die Dirne für den Burschen um ein weißes Herz; und nun ein
Buchstabieren und Erläutern der aufgeklebten Reime, unverblümte Neckereien,
lautschallendes Gelächter, und Arm in Arm gassenbreit voran unter Lust und
Schabernack, bis die Sonne sinkt und der Tanz in den Schenken im Schwange geht. Immer
dichter wird der Knäuel. »Stück für Stück einen Silbergroschen!« schnarrt der billige
Mann. »Stück für Stück einen Mariengroschen!« überbietet ihn sein Nachbar, und so
weiter die Reihe entlang. In den Spielbuden um noch kleinere Münzen der lockendste
Gewinn. Wie gierig die Blicke und glühend die Backen unter Pudel-und Kapselmütze! Die
Würfel rollen und – wie tobend Enttäuschung und Jubel! Ein Pfeifenkopf, ein
rosendurchwirkter Hosenträger der Magd; ein spruchgeschmücktes Strumpfband dem
Knecht; Schachern, Tauschen, Höhnen, Schmunzeln und vorwärts zu neuem Glücksversuch!
Die
Ein Schritt weiter, und das schnurrende Rad des Scherenschleifers bildet den Übergang zu den öffentlichen Schnellkünstlern des Gemeinnutzens: der Kittenjakob hier, der den zerbrochenen Krug im Handumdrehn heil lötet, der Schmierjokel dort, der den fettigsten Rockkragen wieder blank und neu bürstet. – Der Menschenstrom stockt: die Wunderschau der Raritäten beginnt. Abgerichtete weiße Mäuse und fabelhafte Siebenschläfer; plaudernde Vögel, Vögel in allen Farben des Regenbogens und an Figur doch nicht unterschieden von heimischen Elstern und Spatzen. Wehe ihrer Zierde, wenn der schwarze Kegel da oben sich entladet! Auch Freund Petz zeigt sein Geschick, Kamel und Affe fehlen nicht; an tanzende Hunde schließen sich menschliche Zauberkünstler, Bauchredner und Taschenspieler, die im Lampenqualm der Schenke am Abend ihre Stücke mit eindringlicherer Wirkung wiederholen werden.
Sie sämtlich finden indes nur ein wandelndes Publikum, das im Vorüberstreifen einen
Augenblick haltmacht und, wenn der Tribut der Verwunderung gesammelt wird, mit
lachender Eile vorwärts drängt. Um so brennender die Anziehung des nächstfolgenden
Raums; in Tierbuden und Panoramen lösen die Schulklassen sich ab, drängen hinaus
Hart an seiner Seite, längs der Nordseite des alten Domes, harren ernstere
Marktgenüsse. Feierlich, grauenhaft, Mark und Bein erschütternd ragen die
Schauerbilder der blutigen Mordtaten alter und neuer Zeit. Das Gedränge wird
lebensgefährlich, Kopf bei Kopf lauscht die Menschenmauer, starr und stumm folgen
ihre unverwendeten Blicke dem Stabe des Erklärers. Kaiser und Könige, Priester und
Weltbürger, stolze Ritter und zarte Frauen, aber auch arme Teufel, geringes Volk wie
die Hörer und Schauer, bluten da oben aus wundenzerfleischtem Leib; Gift und Dolch
werden nicht gespart; im Hintergrunde lauern Schafott und Galgen, Folter, Henker und
Rad, – lauert vor allem auch die alte heimische »Wyd« des entlarvten Missetäters. Mit
kläglichem Tonfall, gereimt und ungereimt wird der alte und neue Pitaval, werden die
Schauerlügen der Feme in die Herzen geträufelt;
An all dieser Augen- und Ohrenschau ging die ernsthafte Kluswirtin achtlos vorüber, auch ein Schauerbild im Herzen, aber eines, das noch keinen Erklärer gefunden. So hastig das Getümmel es gestattete, steuerte sie dem Predigerhause zu, das an der Schmalseite des Platzes, dem hohen Kirchenchore gegenüber, gelegen war, eine der säkularisierten Stiftskurien, im Angesichte des katholischen Gotteshauses dem protestantischen Prediger als Dienstwohnung eingeräumt und mit ihren gemeißelten Wappenschildern inmitten der Steinbrüstung der Auffahrt an glänzendere Tage erinnernd, als sie die Nachfahren Doktor Luthers zu genießen pflegen.
Die Reihe der Schaubilder hatte mit den Rücklehnen der Kirchenpfeiler aufgehört; die
schmale, stille Gasse, die bis zum abschließenden Kreuzgang den Dom zur Hälfte
umkreist, mußte freigehalten werden. Hier aber, dem lutherschen Hause gegenüber,
schien sich ein Nachzügler eingerichtet zu haben, dessen schmetternde Einladung einen
immer dichteren und dichteren Menschenknäuel an sich zog. Noch hatte die Darstellung
nicht begonnen, der vorläufigen Ankündigung folgte das Ausbieten der gedruckten
Textexemplare, anlockend durch die Hälfte des üblichen Preises. Dennoch aber war das
Publikum nicht geneigt, die Katze im Sack zu erstehen; keine Hand regte sich nach den
vorgehaltenen
Judith merkte nichts von diesem auffälligen Gebaren; das Bild wie seinen Erklärer deckte die lebendige Mauer, durch die sie sich wand, und das, was lichtscheu und lichtverlangend zugleich in ihrem Innern wühlte, stumpfte sie ab für jede Erregung der Phantasie. Von einer Menschenwoge erfaßt, wurde sie Schritt für Schritt die Rampe hinangetrieben, deren Erhöhung den günstigsten Aussichtspunkt gewährte, und hatte schon die Hausklingel gezogen, als die Stimme des Ausrufers ihr Ohr erreichte: »Freund für Freund! Eine stumme Heldentat, so auf Roter Erde sich zugetragen. Wer Ohren hat zu hören, der sperre sie auf, wer ein Herz hat zu fühlen, der öffne sein Herz! Horcht, horcht, schaut, kauft! Freund für Freund auf Roter Erde!«
Die Stimme war die eines Schwachen, der sich anstrengt stark zu sein, der Akzent ein
fremdländischer, beide, Klang wie Laut, der lauschenden Kluswirtin unbekannt. Dennoch
stockte ihr Atem. Der Titel, die hochgeschraubte Anlockung, ein fistulierendes Heben
des Tons – sie fühlte unwillkürlich wieder den gläsernen Strahl in der Tannenwand und
kämpfte mit vollen Kräften um einen freien Blick auf das Bild und seinen Erklärer.
Aber sie kämpfte vergeblich; die Tür wurde durch einen Druck von oben
Zu einer andern Stunde würde die sinnvolle Kluswirtin das Haus nicht verlassen haben
ohne betrachtenden Vergleich dieser geschäftlichen, nur im Proteste eifrigen
Abfertigung eines Zugehörigen mit der milden Eingänglichkeit des Fremden, dem sich in
der ersten Stunde ihre Seele erschlossen; möglich auch, daß der Einfluß oder der
Mangel an Einfluß jener sich auf das Amtliche beschränkenden Kürze auf ihr eignes
Gemütsleben ihr nicht entgangen wäre. Heute dachte sie nichts als: »Hinunter, hinaus,
Aug in Auge dem Bildermann des ›Freund für Freund‹.« Während ihres Verhandelns hatte
sie, heimlich nach der Straße hinunterlauschend, einen einleitenden Sang vernommen,
dem Wortlaute nach ihr unverständlich, heiser krächzend, und statt der üblichen Orgel
von einer Violine begleitet. Sie stürmte die Treppe hinab und öffnete die
Ein Platz nahe der Brüstung war errungen, der Geigenspieler aber von dem Gewühl unter
der Rampe gedeckt. Ihr Blick streifte das Bild, das auf gleicher Höhe mit ihrem
Stand, kaum zehn Schritt von demselben entfernt, trotz des Wolkendunkels noch
deutlich erkannt werden konnte. Nicht auf Wachsleinwand, sondern in starken Umrissen
auf Pappe gemalt, nahm es einen umfänglicheren Raum ein als die Nachbarstücke, wie es
denn auch durch die grell aufgetragenen Farben schon von weitem in die Augen sprang.
Nicht minder unterschied sich die Anordnung von der gewohnten, indem die Fläche,
statt in viele kleine Felder mit liliputischen Figürchen zu zerfallen, der Breite
nach eine doppelte ineinandergreifende Handlung darstellte, in welcher die nämlichen
drei Gestalten in halber Lebensgröße, und daher von sich einprägender Wirkung,
vorgeführt wurden. Über und unter diesem Hauptfelde boten in verjüngtem Maßstabe zwei
sehr verschiedenartige Landschaftsbilder gleichsam Eingang und Abschluß. Oben: ein
stattliches Ziegelhaus in sichtlichem Verfall, grüne Lauben und ein Schenkenzeichen
vor der Tür, durch welche ein junger Stutzer, Stock und Wandersack in der Hand, das
bunte Taschentuch vor die Augen gepreßt, mit den Gebärden der Verzweiflung seinen
Der Haupteindruck indessen, wie gesagt, wird durch das große Mittelstück hervorgebracht, auf welchem der stutzerhafte Held in Gesellschaft zweier andern in Handlung tritt. Der eine im gegürteten Faltenkittel und schwarzen Bergmannsschurz, groß, schlank, schön, die buchstäblich goldenen Locken gleich einer Cherubsglorie auf dem Haupte in die Höhe strebend; der andere kurz, dick, rot wie ein Krebs, mit violetter Kartoffelnase und hellgrauem Rock und Hut; alle drei sichtbarlich erhitzt, und zwei von ihnen, der Held und der Graurock, in einem Ringkampfe sinnloser Wut. Die Szene ist wieder im Freien. Blutiges Morgenrot, eine kahle, glatte, gradlinige Erhöhung, auf welcher zwei schwarze Streifen eine Bahnschiene bezeichnen mögen. Zu ihren Füßen spinatgrünes Gestrüpp. Der Gegenstand des Haders scheint ein weiblicher Schattenriß, welchen der Graue dem Helden zu entreißen sucht, während dieser ihn dem mit dem Schurzleder entgegenstreckt. Ein handfester Stoß des Grauen bringt den armen, auf seinen Füßen nicht sicheren Cherub in Taumel. Gnade ihm Gott! Rollt er die Anhöhe hinab, bricht er den Hals; der Held aber wird ihn rächen; schon ist sein Reisedolch gezückt nach des wütenden Graurocks Brust.
Auf der zweiten Hälfte des Bildes die nämliche Szene. Die Sonne steht hell am Himmel;
unten im Gestrüpp
Alles das, was viele Worte doch nur halb beschrieben, das Absichtliche, Übertriebene, nur für die eine Beschauerin Charakteristische der Schilderei, das war in einem einzigen Blick, einem Augenaufschlag wie mit glühender Platte ihrer Fassung eingegraben. Im nächsten Moment lag das Gestell umgestürzt am Boden. Ein Wirbelwind hatte jach die regungslose Luftschicht durchbrochen, ein krachender Stoß die leichte Budenwelt geschüttelt. Der Geigenspieler, sein Instrument unter dem Arm, stürzte hervor, das Kunstwerk zu retten. Eine verkommene, höckerige Gestalt, hinkend, in flatterndem, rotgefüttertem Mantel, den Kragen von steifem Papier breit darüber geklappt. Ein Windstoß führt den Federhut hoch in die Luft, der Kopf ist kahl wie eine Hand, das Gesicht lederartig gelb, mit bläulicher, dünner Nasenspitze und einem schwarzen Ziegenbart bis auf die Brust hinab; er hat nur ein lebendiges Auge und das nicht weniger vorstehend als das zweite, das künstlich von Glas in die leere Höhle gedrängt ist.
Wieder nur ein einziger Augenblick! – Ein gellender Schrei aus einem Weibermunde
erstickte in einem donnerkrachenden Aufruhr der Natur, in tausendstimmigem Gekreisch.
Es ist plötzlich Nacht geworden; der Wolkenkegel
Nach Art so gewaltsamer Phänomene währte der jähe Sturz kaum Minuten lang. Die Windsbraut fegte die Wolken auseinander, und Blitze zuckten, Donnerschläge grollten noch geraume Zeit gen Osten, als schon der Scheidestrahl der befreiten Sonne das Kreuz des Domturmes wieder übergoldete. Aber welcher Jammer der Zerstörung unter der vor kurzem noch so vergnüglichen Welt! O, unglückseliger Jubilatemarkt! Zuckerherzen und Wundergeschöpfe, Mordbilder, Würstchen und Waffeln, dahin treiben sie zwischen den Rossen und Kaleschen des Karussells, zwischen Brettern, Kisten und Ballen, um unter Ach und Krach in Schlamm und Sand sich aufzulösen. Petz und Konsorten schwimmen brüllend mit stummen Heringen und Bücklingen um die Wette.
Und nicht nur diese leichtgerüstete Eintagswelt, – Fenster, Dächer, Schornsteine,
ganze Gebäude selber knicken ineinander in Sturm und Strom; hügelhoch sperrten Schutt
und Trümmer den abfallenden Gießbächen den Lauf; stauend reißt die Flut sich Bahn
selber in die höher gelegenen Höfe und Häuser, preßt von den Kellern herauf, bedroht
unterwühlend die oberen Geschosse. Vom Stall bis zum
Nur Judith achtete nicht auf die allgemeine Not. In ihrer Seele raste ein Wettersturm, mächtiger als der der äußern Natur; gleichgültig hätte sie wohl einer Sündflut und dem Weltenuntergange zugeschaut. Als aber die Menschenschicht, zwischen welcher sie eingekeilt gestanden, sich lockerte, da war sie die erste draußen auf der Rampe und spähte zwischen den leblosen Trümmern nach einer einzigen armen menschlichen Figur. Das Gestell hatte sich zwischen den Fugen der Brüstung festgenestelt, das Schaubild war verweht, zerweicht, zerrissen, Gott weiß, – der Geigenspieler verschwunden. Ihn muß sie suchen, finden. Auf seiner Zungenspitze ruhen Ehre und Freiheit eines Menschen, ruht der Frieden ihres eignen kommenden Lebens.
Entschlossen schritt sie vorwärts, als noch kaum einer sich unter den strömenden
Himmel gewagt; oftmals bis an die Knie im Wasser, sprang sie von Stein zu Stein, wand
sich horchend und lugend durch Gassen und Winkel der Niederstadt, in welcher die
Schenken des Volkes gelegen sind. Bald indessen durfte sie diese Richtung aufgeben;
ein Bächelchen, zum Strome angeschwellt, hat Brücken und Stege fortgerissen, kein
Marktflüchtling das
Straßauf, straßab gelangte sie endlich an die Stelle zurück, von welcher sie ausgegangen, und lenkte, einer unwillkürlichen Eingebung folgend, in die Gasse, welche die Ost- und Südseite des Domes umspannt und durch eine den Kreuzgang mit dem Kirchenschiffe verbindende, halb verfallene Kapelle abgeschlossen wird. Nur Gärten und Hinterhöfe münden in diesen stillen Winkel; auch bemerkte sie rings nicht ein lebendes Wesen und war im Begriffe umzukehren, als das Wiehern eines Pferdes sie stutzen machte. Sie ging dem Schalle nach und stieß in der Tat auf ein Gefährt, dem ähnlich, das sie auf der Straße am Waldhause wahrgenommen. Es mochte schon vor dem Unwetter unter einem offnen, Feuertonnen und Leitern als Obdach dienenden Vorbau der Kapelle angebunden sein, denn es hatte keinerlei Beschädigung erlitten, und die Mähre fraß gelassen aus dem vorgehängten Eimer.
Der Mond drang in diesem Augenblicke mit scharfem Lichte durch die Wolken. Kein
Zweifel, es war der Karren von diesem Nachmittag. Wo aber war der Fuhrmann, der
Geigenspieler mit dem glasigen Blick? Mit zitternder
Unbeachtet wand sich das kleine Gefährt radtief in Schlamm, Schutt und Wasserlachen,
durch drängendes Volksgewirr bis zum jenseitigen Ufer. Der im Schwellen heftig
rauschende Fluß hatte eine Wetterscheide gebildet; drüben nirgends eine Spur
gewaltsamer Zerstörung. Während dort jedoch der Bruch der Wolken so rasch geendet
Die Straße war menschenleer. Die Kluswirtin mochte die erste sein, welche die Stadt verlassen, und die Kunde von deren Heimsuchung hatte sich noch nicht verbreitet, um Neugierige oder Hülfeleistende herbeizuziehen. Der Notruf der Sturmglocken aus den jenseitigen Dörfern verhallte im Rauschen von Regen und Wind, der Mond drang nur mit mattem Schimmer durch die dichten Wolkenlagen. Auch in Judiths Seele war es sturmdurchbrauste Nacht. Das Unbegreifliche, was diese Stunden ihr vorgeführt, es bot keinen Halt, keinen Zusammenhang, keine Lösung. Ein Klang, ein Blick, schwerlich ohne vorbereitetes Mahnen das Bild der Erinnerung erweckend und diesem Bilde in keinem Zuge ähnlich; eine abenteuerliche Schauszene, nur durch den Einklang mit ihren eignen Grübeleien, durch ihr allein verständliche Besonderheiten bedeutungsvoll! Rätsel und Zweifel, nach welcher Seite sie sann; Schmach und Qual, wenn ihre Ahnung Wahrheit wurde. Aber zwischen diesem verwirrenden Dunkel ein hellstrahlender Stern: der Stern der Gerechtigkeit, der eine ewige Leitung bekundet.
Je mehr sie sich ihrem Gehöfte näherte, zwang sie sich, ihre Gedanken auf das
zunächst Erforderliche zu richten. Sie konnte darauf rechnen, ihre Leute noch nicht
heimgekehrt zu finden, auch bedurfte sie der Einsamkeit – der fremde Gast mußte
verborgen gehalten werden. Vor der Torfahrt stieg sie ab und lauschte nach allen
Seiten; im
Judith trat vor, reichte ihm schweigend zum Herabsteigen die Hand und leuchtete ihm ebenso schweigend über den Hof voran. Er folgte wie im Traum. Auf der Treppe stockte er mehr als einmal, strich mit der Hand über die Stirn, schien zu erwachen, sich zu besinnen. Vor dem Eintritt in das Zimmer schreckte er zurück, und nachdem er die Schwelle überschritten, schielte er scheu in alle Winkel des Raums, über das ungeordnete Gerät, zwischen jedem Blicke aber zu der Wirtin hinüber, die, noch immer stumm, die Laterne auf den Tisch setzte und keine seiner Bewegungen unbeachtet ließ.
»August!« sagte sie jetzt noch einmal mit eisernem Ernst und durchdringendem Blick,
und »August!« nach einer Stille zum dritten Male. – Gleich einem elektrischen Schlage
zuckte es durch den Körper des seltsamen Mannes. Seine Wangen färbten sich, das eine
lebendige Auge blickte mit klarem Bewußtsein, er richtete die zusammengesunkene
Gestalt
»Ich heiße Brown, Madame,« fiel er ein; »James Brown, Bürger von Massachusetts,
United States. Bitte meine Papiere einzusehn. Vor wenig Tagen visiert vom königlichen
Konsul in Bremen, alles in Ordnung, Madame. James Brown, so ist's. Und die Klus, die
Klus! Wie ist mir denn? Ja, ja, ganz recht: die Klus, so hieß das Gasthaus an der
Landstraße, aus welchem mein Schiffskamerad gestammt. Die Klus! Unglücklicher Mann,
grausam unglücklicher Mann, Madame, mein Kamerad! Es
Die unglückliche Judith stand wie verschüttet unter diesem Schwall. Hätte sie noch gezweifelt, der letzte Zweifel würde entflohen sein. Ja, das war ihr Bruder, das war der Gust! Zeit, Elend, eine fremde Welt, Laster, Krankheit und ein heimliches Verbrechen hatten die Gestalt verwandelt; der windige Geist, der Unrast, der Possenreißer war geblieben. Das Erbarmen mit einer verurteilten Seele, das Grauen vor blutigen Enthüllungen, vor Schmach und Strafe schwiegen still in ihrer Brust, sie fühlte nur die Verachtung von ehedem, fühlte einen Haß, eine Erbitterung, die ihr die Kehle krampfhaft zusammenschnürten, sah nur den ungeheuren Kampf, der ihrer wartete.
»Sie sind mir die Antwort schuldig geblieben, Madame«, fuhr der Fremde nach einer
Pause fort, in welcher er die Gegenstände im Zimmer neugierig gemustert und betastet
hatte. »Auf der Klus, sagten Sie. Aber wie bin ich auf die Klus gekommen? Die Klus,
in der Tat, die Beschreibung trifft. Mein Kamerad war weitläufig über die Klus,
schrecklich weitläufig, Madame. Heimweh nennen sie das Ding hierzuland. Kein Wort
dafür drüben, nicht bekannt das Ding, Unsinn, Unsinn! Heut im Nord, morgen im Süd.
Geldmachen die Losung, Geschäfte machen, sein Glück machen, wachsen, Madame, wachsen,
den Baum verpflanzen, bis er sein Erdreich gefunden; nicht Wurzel schlagen, kleben an
der Scholle, auf welche der Wind das Samenkorn geweht. Langweilig das, dutch, Unsinn,
Unsinn! – Die Klus also, die Klus! Ist die Klus wieder
Eine blitzartige Eingebung fuhr bei den letzten Worten durch Judiths Hirn. Während sie indessen, noch immer regungslos, über ihre Ausführung sann, hob der Fremde mit seiner früheren Unbefangenheit wieder an: »Ihr Kaffee war gut, Madame, heiß und stark, ich liebe das. Arznei gegen den Krampf, aber satt macht er nicht. Mich hungert. Nüchtern seit morgens. Einen Imbiß, ich bitte. Ein Stück Brot und Fleisch und ein Glas Wein, wenn es sein kann. Bier und Schnaps – bah! Kommunes Getränk, der Schnaps. Ein Künstler will Wein. Keine Kunst drüben bei uns –.« – Judith unterbrach ihn, indem sie die Laterne vom Tische nahm und, ohne ein Wort zu sagen, ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Er zögerte einige Sekunden, warf einen mißtrauischen Seitenblick auf die stumme Führerin, ging aber doch hinter ihr drein, die Treppe hinunter, über den Hof, durch Küche und Wohngelaß. Unter der offnen Kammertür hielt sie still und deutete schweigend auf das vom schwachen Lampenschimmer beleuchtete Friedensbild der entseelten Greisin und des schlummernden Knaben.
Einen Augenblick steht der Fremde wie erstarrt, im nächsten stürzt er mit jähem Aufschrei über das Totenbett. – »Mutter, Mutter!« ruft er, und – »Sylv, mein Kind!« – indem er zu dem Schlafenden niedertaumelt.
Kaum daß sie einen Imbiß zurechtgeschnitten und ein Glas von dem Wein, der zur Stärkung für die Mutter in das Haus geschafft worden war, zwischen des Erschöpften Lippen geflößt, so nahm sie ihn, ohne seine völlige Belebung abzuwarten, von neuem in ihren Arm und zog ihn nach der Giebelstube zurück. Seine Besinnung war wiedergekehrt; er schluchzte bitterlich. – »Bruder!« sagte Judith, ihm mitleidig die Hand reichend. – »Ja, dein Bruder!« rief er unter Tränenströmen; »dein Bruder, der Heimatlose, dein Bruder, der Elende, der – der, o, du weißt es ja, Judith! ich sehe es an deinem Schauder, – dein Bruder, der Mörder!« –
So war es denn Tag geworden über der dunklen Tat, Tag für die Unschuld, und Mitleid
mit Abscheu, Blutesliebe
»Lebt er noch, Judith?« fragte jener scheu und leise. – Sie neigte schweigend den Kopf. – »Gott sei gelobt!« rief er, sich in die Höhe richtend und schon wieder gefaßt, ja hoffnungsvoll um sich blickend. – »Im Kerker, August!« mahnte die Schwester. »Zehn Jahre im Kerker. Auf dein Gewissen, zehn Jahre von einem Menschenleben, zu jenem andern Leben, das –.« – »Er wird noch gute Tage sehen«, unterbrach er sie, indem er mit hastigen Schritten im Zimmer auf und nieder ging. »Er wird frei werden, er ist unschuldig. Ich, ich bin der Elende, mein Leben ist vergiftet. Weißt du, was Blut ist, Judith? Gift ist es, Gift! Das klebt, das ätzt, das sengt, das löscht kein Tropfen. Laudanum, sagen sie, Laudanum scheucht das Gespenst. Glaub's nicht, Schwester, glaube es nicht. Ja, es ruht, aber es wacht auf, es schleicht, es springt, hui! Es ist da!« – »Unglücklicher!« murmelte Judith bewegt.
»Ich wußte es nicht, Schwester,« sagte er, je mehr und mehr geläufig, »das von dem
Simon meine ich. Erst vor drei Monaten erfuhr ich's durch den Löbbeke aus Nammen. Es
geht dem Löbbeke schlecht, Dithel, herzlich schlecht. Warum blieb er nicht hüben, der
dumme Narr. Allzu gerieben wir drüben für solchen Schlag; Pfeffer und Salz im Schädel
und von Gemüt nicht die Spur. Mir ist's geglückt, Dithel. Nicht in der Südsee, –
tolle Zumutung, Dithel, dein Botany-Bay. Gottlob, daß ich ihm echappiert! – aber
drüben herum in Ost und West. Musik gemacht, Gold gegraben, Stuben gemalt, den Doktor
gespielt, Vorlesungen, Erbauungsstunden, Tischrücken, Geisterklopfen, ein flottes
Leben, Dithel, nur – nur –.« –
Er sprang auf einen andern Gegenstand über, auf seinen Sohn. Er pries sein Ansehn,
das ihn an seine selige Schöne gemahnte. Tränen stiegen ihm in die Augen; er dankte
der Schwester mit bewegten Worten für alles, was sie für die Waise getan; er baute
Luftschlösser für ihre Zukunft. Seine bösen Erinnerungen waren eingeschlummert, und
Judith mußte sich überwinden, sie mit Hartnäckigkeit wieder aufzurütteln, den
erschütternden Auftritt
»Das wolltest du, Bruder? Dich freiwillig stellen, August?« rief Judith zweifelnd und
doch mit glänzenden Augen. – »Ich wollte es, bei Gott! Noch am selbigen Abend wollte
ich hinüber!« – »Und – du willst es noch?« – Die Antwort verzögerte sich etliche
Sekunden; die gedämpfte Stimmung, in der sie gegeben ward, steigerte sich indessen im
Verlauf wenn nicht zu dem früheren Schwunge, so doch zu einer gleichen Lebhaftigkeit.
– »Es war keine Schiffsgelegenheit an dem Tage, Dithel, auch am nächsten und
übernächsten nicht. Ich hatte Zeit zur Überlegung. Eine Idee schoß mir durch den
Kopf, neu, einzig, noch
»Hätte Simon die Wahrheit gestehen wollen, er brauchte nicht auf deine Narreteidinge
zu warten«, unterbrach ihn die entrüstete Schwester. – Die Wirkung dieses Einwandes
war die unerwartetste, sie hatte den erfinderischen Retter urplötzlich abgekühlt.
»Warum tat er es nicht?« versetzte er, den Kopf übermütig in den Nacken werfend.
»Warum gestand er die Wahrheit nicht? Der Täter war verschollen, verkommen, Gott
weiß! Jedenfalls in Sicherheit. Ihm schadete er nicht, wenn er sagte: ›Jener tat's!‹
Ihm nützte es nicht, daß er sprach: ›Ich
»Warum tat er es?« wiederholte derselbe, »und warum glaubte man ihm? Es lag kein
Grund zutage für seine Tat, nicht Rache, Neid, – oder – oder sonst eine wilde Begier.
Er mied den Streit und scheute vor Blut. Er war keines Menschen Feind. Den – den
Müller kannte er kaum, hatte zum ersten Male in jener Nacht seine Schwelle betreten,
und dieser Besuch selber, nicht eine Seele wußte darum. Hinten in der Kammer am
Wasser hatten sie gesessen alle drei, kein menschliches Auge sie gesehen. Sie hatten
getrunken, es ist wahr, und er war berauscht. Warum nicht? Es war nicht der erste
Rausch, in dem man ihn gesehen, und er hatte keinen zornigen Rausch, wie der Müller,
der, notabene, keinen hatte an diesem Tag. Er wurde weiß, still, traurig, wenn er
trank. Jeder wußte es. Er ist neben der Leiche gefunden worden, bleich, struppig,
starr und steif, mit allen Anzeichen der Seelenangst; aber er brauchte nur zu sagen:
›Der Müller
Er langte ein Buch von dem Regal, setzte sich auf den Rand seines Bettes und blätterte. Keines sprach ein Wort eine lange Pause hindurch. Plötzlich schreckte er in die Höhe, das Buch entfiel ihm, denn eine eiskalte Hand hatte in die seinige gegriffen, und die Schwester stand vor ihm leichenblaß, mit unerschütterlichem Blicke sich in den seinen bohrend. »Wirst du deine Missetat bekennen, August?« fragte sie, »einfach, öffentlich, vor Gericht und Zeugen?« – Er las einen drohenden Entschluß in ihren Zügen und sank zitternd auf das Bett zurück. Dennoch faßte er sich noch einmal und sagte entschieden, indem er nach seiner Weise den Kopf übermütig in den Nacken warf: »Die Tat bekennen, mich selber ans Messer liefern? Nimmermehr!« – »So tue ich es«, versetzte sie mit eisiger Ruhe. »Du bist ein Gefangener in diesem Zimmer, bis die Gerichte dich abholen werden.«
Er kannte seine Schwester, er wußte, daß sie nie ein
»Ich, Dithel, ich«, stöhnte er in aufrichtiger Armensünderangst und doch mit einem
fast kindischen Ausdruck der Hoffnung, als ob das Schandgeständnis ihn retten müsse.
»Ich, ich raubte ihm das Geld, mein Geld, dein Geld, Schwester, das er mir im Spiele
wieder abgewonnen. Nun weißt du es, Dithel, nun höre, wie es kam. Der Simon wartete
auf mich in der Mühle zum Abschied. Wir saßen in der Kammer hinten am Wasser alle
drei. Der Müller braute einen Grog. Er vertrug ihn stark wie keiner; heißer, purer
Kognak, Dithel. Von dir sprach er, als hätte er dich im Sack. Von Hochzeit und
Wirtschaft
Hin war der Ring. Ich hatte Blut geleckt; weiter, weiter, Stück für Stück von dem,
was ich eben in Empfang genommen! Zuletzt noch die Tasche. Alles hin! Zum ersten Male
blickte ich auf. Ich war allein mit dem Müller, der Simon fort, ohne daß ich's
gemerkt. Jetzt meine Angst. Ich flehte den Müller um Hülfe, er lachte mich aus. Ich
wollte eine Verschreibung ausstellen, er
»Darf ich das bekennen, Schwester?« fragte der Unglückliche nach einem schweren Atemzug. »Deines Vaters Sohn ein Straßenräuber, deines Pfleglings Vater ein Mörder und Dieb? Bekennen vor Amt und Zeugen? Das Märchen vom Schattenriß, den der scheidende Bruder dem reichen Bewerber verweigert und dem armen mit seinem Segen zum Andenken verehrt, der Sang von Liebe und Eifersucht, den ich zurechtgestutzt, herzbeweglich für gemeines Volk, aber vor Gericht und Zeugen – Unsinn! Die Kreuz- und Querfragen, Dithel; das Gurtende am Knopfloch, über das man sich so schwer zur Ruhe gegeben! Den Simon traf kein Verdacht der Beraubung; er hatte den Platz nicht verlassen und keinen Pfennig in der Tasche. Aber ich, verschrieen als Spieler, die Nacht außer dem Hause, im Augenblicke der Flucht – der geständige Mörder ist entlarvt, ein Dieb.«
Das Geständnis war zu Ende; wahr, klar, anschaulich, unter dem Zeugnis der
Seelenangst des Bekenners, der sich nicht von seinen Knieen erhoben und schwerlich im
Leben in so einfältiglicher Weise geredet hatte. Aber Judith, die Ehrenstolze,
Ehrenreine, saß noch lange wie von einem Keulenschlage betäubt. Den Argwohn des
Mordes hatte sie im Laufe der Jahre ertragen lernen, er war von dem geliebten Manne
auf den nächsten im Blut zurückgewichen, ja zurück. Aber ein Dieb! Wahrheit die
heimliche Ahnung, die sie nimmer auszudenken gewagt! Zu dem Verbrechen die Schande
über ihrer Väter Haus!
Die letzte Hoffnung war dem Elenden geschwunden. »Du willst, du willst?« schrie er auf und klammerte sich an ihre Kleider, als ob er sie gleich jetzt von dem verräterischen Schritte zurückhalten müsse. »Ich bin dein Bruder, Judith, dein einziger Bruder. Du kannst einen Liebsten haben, kannst Mann und Kinder haben, aber einen Bruder nimmer! Willst du deinen Bruder anklagen, Rabenherz?« – »Es muß sein«, sagte Judith wie vorhin. – Er ließ das Gesicht auf den Boden sinken und lag eine Weile ohne Zeichen des Lebens. Jählings aber zuckt es wie elektrische Schläge durch den Leib des Zitteraals. Die Schwester fürchtet einen Rückfall seiner Krämpfe. Nein, er springt in die Höhe, katzengeschwind ist er an der Türe, er will entfliehn. Judith reißt ihn zurück, schleudert ihn zu Boden, schließt und zieht den Schlüssel ab, steht vor der Tür, ein unerbittlicher Posten. – Wieder eine Pause ohne Maß, für sie wie für ihn. Er liegt, sie steht, regungslos. Und siehe da, noch einmal richtet er sich in die Höhe, streckt sich so lang er vermag, wirft den Kopf in den Nacken, ein umgewandelter Mann; kein Zug der vorigen Zerknirschung, er lacht, ja er lacht!
»Wohl bekomm's Ihnen, Madame«, sagt er höhnend. »Ich gönne Ihnen dieses Heldentum.
Ich heiße James Brown. Was schiert mich der Frobelgust vom Klushof? Er ist umgekommen
im Schiffbruch, ich war dabei, ich beschwör's, ich, James Brown aus Massachusetts,
United States. Was schiert mich der Klushof und seine Ehre. Sperren Sie mich ein,
Madame. Lassen Sie mich arretieren, rekognoszieren, wie es Ihnen beliebt. Findet
jemand
»Interessante Lektüre, wie es scheint«, erweckte sie endlich des Fremden Stimme.
»Ritter Kunz von Dortmund oder der Femwrogige, ein Roman; kennen Sie ihn, Madame?« –
Das Maß war voll. »Femwrogiger Schandbube!« schrie sie mit einem Haß, wie sie ihn im
Leben noch nicht empfunden, indem sie das Buch aus seinen Händen schlug. »Nicht daß
du's tatest, gichtmundiger Gesell, aber bekennen und leugnen in einem Atemzug, Possen
reißen, Lotterschriften lesen, während ein anderer –.« – Sie konnte
Das am Morgen so stattlich ausstaffierte Liebespaar war es in der Tat, das jetzt, bis auf Kapsel- und Pudelmütze durchweicht und zerzaust, von seinem Meßgange heimkehrte. »Das Wetter, Wirtin!« sagten beide aus einem Munde, ihre Verspätung entschuldigend, und als ihnen Judith das Abscheiden der Mutter verkündete, äußerten sie ebenso einmütiglich: »Blix noch einmal, die alte Wirtin!« stellten sich jedes in eine Ecke, mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt, falteten die Hände und beteten ein Vaterunser, um eine Minute darauf die verspätete Nachtmahlzeit nach den unerlebten Strapazen einer Wasserhose mit doppelter Gemächlichkeit einzunehmen. Die Wirtin gab währenddessen die unerläßlichen Aufklärungen und Anordnungen. Sie beschied die Magd, für den Rest der Nacht ihren Neffen in der Leichenwacht abzulösen, da sie selber durch die Pflege eines kranken Marktfremden, auf dessen Karren sie den Heimweg aus der Stadt zurückgelegt, an dieser Pflicht gehindert sei. Einige Stunden verlängerten Morgenschlafs wurden als Schadloshaltung in Aussicht gestellt.
Der Bissen im Munde stockte der Christine, und eine Gänsehaut lief über die
kirschroten Backen; der zartfühlende Bräutigam, der sich seit diesem Morgen als einen
Helden und Meister der Redekunst bewährt, übernahm es, ihre
Judith, mit der Änderung einverstanden, zündete eine Laterne an und ging nach dem Karren vor dem Tor, den sie sorgfältig durchsuchte. Das Laudanumfläschchen, wie die Brieftasche, die in der Tat einen rechtsgültigen Paß auf James Brown und einige kleine Geldscheine enthielt, steckte sie zu sich; ein Bündel Texthefte verbarg sie unter ihrer Schürze, um sie später ungelesen am Herdfeuer zu verbrennen. Sie ging darauf in die Küche zurück, befahl dem Knecht, den Karren des Fremden im Schuppen unterzustellen, und öffnete das Wohnzimmer, in welchem der geängstete Sylvian schon so lange ihrer wartete. »Wo ist er? Wo ist er?« rief er ihr fiebernd entgegen.
»Der Fremde?« versetzte die Pflegerin mit erzwungener Ruhe und weichem, erbarmendem
Ton, denn des Knaben Schicksal ging ihr durchs Herz – mehr als das eigene; »der
Fremde? Ich habe ihn in der Gartenstube untergebracht. Er ist krank, lieber Sylvian.
Ein hartes Unwetter in der Stadt hat ihn mitgenommen. Wir machten den Rückweg
zusammen. Beruhige dich, mein gutes Kind.«
Sichtlich erleichtert schlich Sylvian ohne andere Leuchte als die des Mondes in seine
Kammer. Der Knecht kehrte zurück. Judith schürte die Lampe am Totenbett: »Fromm und
säuberlich, Klaas«, mahnte sie, auf die Leiche deutend, und verließ das Zimmer.
Ehren-Klaas stand wohl eine Viertelstunde lang zwischen Stube und Kammer, unbeweglich
an den Türpfosten gelehnt; dann zog er aus seiner
Seiner Herrin wartete ein schwerer Hüterdienst. Ihre vorige Aufregung wurmte sie. Das letzte Wort war mit dem härtesten gesagt, ein Einlenken ihrerseits unmöglich geworden. Aber der Kranke, der Gefangene bedurfte der Aufsicht, sie mußte voran. »Gichtmund, Gichtmund!« hörte sie von außen seine schreiende Stimme. »Wer hat mich femwrogig genannt? Beweis, Beweis!« Sein Blick war scheu und ängstlich, während die Türe geöffnet ward; als er aber die Schwester erkannte, rückte er keck in die Positur des Amerikaners und sprach zu ihr in der herrischen Weise des Einkehrers, der sich die Zudringlichkeiten seines Wirts verbittet.
Er hatte die vorhin gebrachte Mahlzeit bis auf den letzten Bissen aufgezehrt und fiel
jetzt mit der Gier eines Heißhungrigen über das warme Gericht, das sie vor ihn auf
den Tisch niedersetzte; dann griff er wieder zu dem Buch, dessen Inhalt ihn lebhaft
zu beschäftigen schien; als sie aber, nachdem Bett und Zimmer geordnet, sich
anschickte, den Platz am Fenster einzunehmen, nahte er sich ihr mit der höhnenden
Frage: »Ist die nächtliche Gesellschaft der Hausfrau eine Zugabe zur Zeche in diesem
gastlichen Lande, Madame?« – Ein Wort entrüsteter Abwehr erstickte in ihrem Munde vor
einem unheimlichen Etwas,
Neben demselben lag eine Kammer, deren verkleidete Verbindungstür von der Stubenseite durch Gerät versetzt war. Hier wählte sie ihren Posten für den Rest der Nacht. Keine Bewegung konnte ihr durch den dünnen Brettverschlag entgehen; eine Spalte gestattete einen Lugeblick in den erhellten Nebenraum. Ihr Gefangener entkleidete sich nicht, legte sich nicht, er schloß kein Auge die Nacht hindurch. Er verriegelte die Tür von innen, spähte unruhig aus dem Fenster, setzte sich dann und griff wieder nach dem Buch, dessen Schauerinhalt er mit wachsender Bewegung verschlang. Von Zeit zu Zeit sprang er auf, rannte durch das Zimmer und führte, wie es schon als Kind seine Art gewesen, laute Gespräche mit sich selbst oder mit anderen, welche die Einbildung ihm vorführte. »Gichtiger Mund, gichtiger Mund! Wer sagt, daß ich mich femwrogig bekannt? Ein Weib ist kein Zeuge. Wo sind die Eideshelfer? Ich schwöre mich los! Ich appelliere an Kaiser und Reich! Ich habe nichts bekannt, ich habe nichts zu bekennen. Ich bin nicht ich. Ich bin James Brown, ich, ich!«
Gegen Morgen beruhigte er sich etwas, er fand seine Fassung wieder und warf sich
angekleidet auf das Bett; die heimliche Wächterin jedoch ahnte mit Zittern, daß das
unstete Hirn diesem Aufruhr und Zwiespalt nicht auf die Dauer zu widerstehen vermöge,
daß das Unvermeidliche zur Entlastung eines Unschuldigen in kürzester Weile geschehen
müsse. Aber wie den Rastlosen fassen, wie ihn
So trat sie an das Fenster und blickte über den Garten, dessen Kräuter, gesättigt und frisch belebt im Strahle der Morgensonne, wie unter einem Kristallschleier zitterten. Und siehe, da unten stand auch schon der gute Sylvian, das Auge in banger Spannung nach dem Giebelzimmer gerichtet. »Sylv, mein Sylv!« hörte sie ihren Nachbar mit freudiger Stimme hinunterrufen, doch schien er sich eilig von dem geöffneten Fenster abzuwenden, als die Tritte der Magd sich vom Hofe her näherten. Der Knabe lauschte noch etliche Minuten und entfernte sich endlich auf einen Wink der Pflegerin, um seinen Pfarrgang anzutreten.
Die wirtschaftlichen Obliegenheiten ließen Judith nicht länger müßig sinnen; sie wurden auch für heute nur auf das Unerläßliche beschränkt, die Lohnarbeiter entlassen und der Knecht zur Dienstleistung in die der helfenden Hände so dringend benötigte Stadt gesendet, da bis zu einem letztgültigen Entschlusse ein Beobachten und zufälliges Erkennen ihres heimlichen Gastes vermieden werden sollte. Die Magd, deren geistige Verfassung noch weniger als die des Kameraden zu argwöhnischen Folgerungen geneigt war, betraute sie mit dem Dienst in der Giebelstube, wie auch mit dem Lugeposten an der Türspalte, sooft sie persönlich von demselben ferngehalten war.
»Beichten, beichten?« fragte sich Judith im stillen; »glaubt dieser flatternde Geist
an die Macht eines Priesters, zu lösen und zu binden? Hat er jemals daran geglaubt?«
Ein zweites drängendes Bedenken aber äußerte sie in der Frage: ob die Beichte unter
allen Umständen dem Beichtiger ein unverbrüchliches Schweigen auferlege? Und als der
Pfarrer diese Frage bejahte, schien das angeregte Seelenheilmittel seinen Wert in
ihren Augen verloren zu haben. Sylvian dahingegen drängte mit so ängstlicher Hast
nach einer geistlichen Hülfe, daß der Pfarrer sich gern bereit erklärte, noch vor dem
Frühamt seine Zusprache an dem Kranken zu versuchen, wenngleich, wie er mit Absicht
gegen seinen Schüler betonte, das gnadenreiche Sakrament nicht gespendet werden
dürfe, solange eine Handlung der Gerechtigkeit von dem Beichtenden zu fordern sei. –
»Eine Handlung der Gerechtigkeit?« flüsterte
Auch Judith blieb in lebhafter, aber nicht hoffnungsvoller Spannung vor der Schwelle zurück, zu welcher sie den ehrwürdigen Tröster geleitet. Sie hatte nicht umsonst gefürchtet; »James Brown« lehnte mit der Erklärung, daß er Protestant sei, jede priesterliche Einmischung ab, erging sich, als der fromme Mann dennoch eine milde Mahnrede wagte, in Schmähungen über die Bekehrungssucht dieser pfäffischen Gegend und wies dem Besucher endlich mit drohender Gebärde die Tür. »Er hat auch gegen mich das Spiel des Ausländers angenommen«, sagte Judith empört, nachdem sie auf der Flur wieder mit dem Pfarrherrn zusammengetroffen war und die Tür hinter dem Gefangenen abgeschlossen hatte.
»Und wißt Ihr gewiß, daß es ein Spiel ist?« wendete jener zweifelnd ein. »Dieser
starrköpfige Fremde gleicht so wenig dem Bilde, das man mir von jenem Wankelherzigen
entworfen, – könnt Ihr, liebe Tochter, so wie mein durch das Sterbegesicht der Ahne
aufgeregter Sylv nicht in einer Voraussetzung befangen sein?« – Als Judith aber mit
unwiderleglichen Beweisen seine Zweifel beseitigte, bestätigte er ihre eignen Sorgen
mit der Äußerung: »So ist er gefährdeter, als ich gefürchtet. Die Steigerung zu einer
seinem Wesen so fremdartigen Beharrlichkeit kann schwerlich lange Zeit ohne Wirrnis
durchgeführt werden.« – Er erklärte darauf seine Absicht, nach beendetem Meßdienst
bei dem Direktor der Strafanstalt um eine Unterredung mit Simon Lauter nachzusuchen,
in der Hoffnung, von dieser Seite Raum zu weiterfördernden Schritten zu gewinnen oder
mindestens durch die leise
Ehe der Pfarrer einen Ausweg in dieser verzweifelten Lage gefunden, trat ihnen Sylvian entgegen. – »Nun haltet mich nicht länger«, rief er leidenschaftlich, sobald er an dem stummen Achselzucken der Pflegerin und dem bekümmerten Blicke des Seelsorgers das Scheitern seiner Hoffnungen wahrgenommen. »Nun laßt mich zu ihm! Was aus ihm werde, ich weiche nicht von ihm, und meine Liebe, ich weiß es, wird seinen Widerstand bezwingen!« – Der Pfarrer entfernte sich mit dem Bedeuten, daß dem Vertrauenden gewillfahrt werden möge, und Judith, so schwer es sie ankam, führte ihren Pflegesohn nach dem Zimmer, das er seit dem Abschied von seinem Vater nicht wieder betreten hatte. »Dein Sohn verlangt nach dir, August; darf ich ihn vor dich lassen?« fragte sie, um eine allzu jähe Überraschung zu vermeiden.
Ein kurzes heftiges Ringen zwischen Natur und Maske offenbarte sich im Mienenspiele
des Mannes; als aber Sylvian, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Zimmer und in
seine Arme stürzte, da war es die Natur, die zum zweiten Male mit heißen Tränen und
einer leidenschaftlichen Umstrickung den angenommenen Schein durchbrach. Judith
überließ Vater und Sohn einem unbelauschten Beieinander, auf dieses einzige unbeirrte
Gefühl ihre letzte Hoffnung bauend. – Welche Eindrücke und Enthüllungen
Der geistliche Herr brachte tieferschütternde Eindrücke verschiedenster Art von
seinem Stadtbesuche zurück. Weit über seine Mutmaßungen hatte jener kaum Minuten
währende Wirbel der Elemente Zerstörungen angerichtet, welche Jahre der Menschenmühe
nicht bewältigen würden. Die Au stand unter Wasser, versandet, verschlemmt, die Ernte
verwüstet; der diesseitige Bahnverkehr lag unterbrochen, da der Anprall der in dem
Weidenausstich sich stauenden Flut den Damm nahe jener mehrfach erwähnten Durchfahrt
zerrissen hatte. Die Beschädigung an baulichem und beweglichem Eigentum in Stadt wie
Land war unberechenbar, Menschenopfer selber mußten beklagt werden. Dahingegen hatten
Not und Gefahr auch einen Eifer edelmütigen Selbstvergessens in Helfen und Spenden
hervorgerufen, und wer mochte sagen, ob nicht der aus ihm fließende Segen des Gemüts
den zeitlichen Unsegen dauernd überwand? Auch in dem Zuchthause war die Alltagsstille
einer rüstigen Bewegung gewichen, der wackere Direktor an der Spitze aller
Sträflinge, deren Zuverläßlichkeit er zu vertrauen wagte, die ganze Nacht in
Tätigkeit gewesen. Die erhöhten tüchtigen Baulichkeiten der Anstalt zwar standen
unberührt, um so ausgesetzter aber fand sich der seicht und leicht angelegte
Stadtteil, der Stadtteil der Armut, der sie umgab, und hier war es, wo Simon Lauter
sich in heldenmütiger
Hinsichtlich seines eigentlichen Zwecks indessen war der menschenfreundliche Priester
ohne Ausbeute heimgekehrt, obschon er den Simon Lauter gesehen und gesprochen, als er
eben im Gefangenenhofe sich wie seine Haftgenossen der Musterung und den ferneren
Befehlen des Direktors gestellt, um nach kurzer Rast sein Rettungswerk von neuem
anzutreten. Er hatte kraft- und lebensvoller dreingeschaut denn bei jenem früheren
Besuche, und als der geistliche Herr die Hoffnung eines baldigen Gnadenerlasses,
gestützt auf sein heutiges Wirken, hatte fallen lassen, da war sein Auge in freudigem
Glanze aufgelodert und eine Purpurwelle bis unter das gebleichte Haar über sein
Angesicht geflogen. Welch jäher Umschlag dahingegen bei der leisesten Andeutung, daß
auch von seiten der Gerechtigkeit eine Wendung in seinem Schicksale nicht ohne
Aussicht sei, daß eine erneuerte Untersuchung zu einem freisprechenden Urteil führen
dürfe, falls die auftauchenden Spuren einer Person, die bei jener in vieler Hinsicht
rätselhaften Angelegenheit einen unseligen Anteil gehabt zu haben scheine,
»Herr Pfarrer,« hatte er mit fester Stimme und der Ausdrucksweise eines Mannes
gesagt, der, wie der Pfarrer es bezeichnete, durch die glücklichsten Gaben von der
Natur gesegnet, in langer Einsamkeit sich selbst gebildet, »Herr Pfarrer, ich habe
diese Nacht unter Gottes Himmel, wenn auch in Zerstörung und Aufruhr, das Gut der
Freiheit, dessen ich mich nahezu entwöhnt, von neuem so sehnsüchtig schätzen lernen,
daß ich den edlen Menschen, die mir die Gnade meines Königs erwirken wollen, auf
meinen Knieen danken möchte. Sollte es sich aber darum handeln, den Rechtsweg noch
einmal zu betreten, so lassen Sie mich Ihnen im voraus erklären, daß ich keine meiner
Aussagen widerrufen, diesen Aussagen keinen Buchstaben hinzusetzen kann und werde.
Ich bin mir einer schweren Verschuldung bewußt, ich war meiner Sinne unmächtig: nicht
mehr, nicht weniger habe ich bekannt, noch dürfte ich bekennen; jedes abweichende
Zeugnis, und wenn es meine Rechtfertigung enthielte, müßte ich verleugnen. Hindern
Sie also eine neue Untersuchung, von welcher Seite sie angeregt werden möge, forschen
Sie,« – hier stockte seine Stimme, – »forschen Sie nicht nach einer Spur, welche die
Lücken meines Bekenntnisses ausfüllt; hätte der Zufall eine derartige Spur an das
Licht geweht, so eilen Sie, dieselbe zu tilgen, ehe sie Qual und Verwirrung über
unschuldige Herzen verhängt. Ich wiederhole, ich büße, was
»Ich hätte«, bemerkte der Pfarrer nach dieser Anführung, »einer so entschiedenen Willensäußerung keinen deutlicheren Wink entgegenzusetzen vermocht, selbst wenn ich zu einem solchen eine Berechtigung empfunden; auch verabschiedete sich der Gefangene nach dieser Aussprache schleunigst, um von neuem an sein hülfreiches Tagewerk zu gehn. Eines aber ist mir aus dem Gebaren dieses Sträflings ohnegleichen klar geworden –.« – Der Pfarrer wurde unterbrochen. Er hatte der gespannt lauschenden Judith diese Mitteilungen in der Gartenlaube gemacht und so wenig wie sie bemerkt, daß Sylvian, der ihn vom Fenster aus hatte kommen sehen, dem späteren Teile derselben am Eingang der Laube gelauscht. Jetzt stürzte er hervor, faßte mit den Worten: »Kommt, kommt, er ist bereit!« beider Hand und zog die Verwunderten die Treppe zu der Giebelstube hinan.
August Frobel, wie wir den Fremden ohne Einwurf nennen dürfen, empfing sie mit
scheuen, grollenden Mienen; als aber Sylvian seine Hände flehend zu ihm erhob, raffte
er sich zusammen und erklärte in einer zwischen dem Natürlichen und Angenommenen
schwankenden Manier, ohne über die eigne Person einen Aufschluß zu geben, daß er, da
seine Rückkehr nach Amerika bevorstehe, noch am heutigen Tage ein Dokument von
Wichtigkeit abzufassen und in die Hände des Pfarrers niederzulegen gedenke, zu
beliebiger Veröffentlichung, sobald die Nachricht seiner
Judith war die erste, welche zwischen hoffnungsvollen und mißtrauischen Erwägungen zu einem Abschlusse kam, indem sie mit der ihr eignen Zähigkeit eine rechtfertigende Erklärung mündlich vor den Gerichten forderte, auf die Gefahr hin, in eine Selbstanklage verwickelt zu werden. Er bäumte sich in künstlicher Wut und aufrichtiger Furcht, es gab einen heftigen Auftritt, den der Pfarrer durch einen vermittelnden Vorschlag zu beendigen suchte. »Legen Sie«, sagte er, »ein schriftliches Bekenntnis in die Hände dreier zuverlässiger Zeugen, Anwälten der Gerechtigkeit, Weltlichen mindestens; nicht eines Dieners der Gnade, der,« er vermied eine näherliegende Andeutung, wie den Namen »Sohn«, – »der der Beichtiger dieses Knaben ist.«
»Der auch deine Beichte empfangen und als Geheimnis bewahren soll,« ergänzte Sylvian,
durch den Wortwechsel der Geschwister aufs tiefste erschüttert; »o folge ihm, Vater,
tu, was er sagt, er kann nur das Rechte raten; schreibe, übergib –!« – »Und wer bürgt
für die Wahrheit des Geschriebenen?« fragte Judith herbe. – »Ich, Muhme, ich!« rief
der Knabe, je mehr und mehr erregt. »Ich, sein Sohn. Ja, sage es laut, daß ich dein
Sohn bin, Vater, daß ich bei dir sein darf in der Stunde der Wahrheit, daß ich deine
Worte lesen, deine Feder regieren darf, wenn deine Hand erlahmt. Heute noch, Vater,
in dieser Stunde, und morgen –.« – »Morgen bin ich im
»Halte ein, August!« unterbrach ihn Judith, indem sie die Hand auf ihres Pfleglings Kopf legte und die Aufgeregten zu trennen suchte. Der Knabe aber riß sich von ihr los, schlang sich von neuem um den Vater und sprach mit einer Hast, in welcher das Fieber zitterte: »Rede mir nicht darein, Muhme; wolle mich nicht zwingen, Muhme! Hältst du mich mit Gewalt, so entweiche ich heimlich. Ich bin kein Kind mehr, ich bin sein Kind. Ich weiß, was ich will, ich weiß, was ich soll! Du bist meine Wohltäterin gewesen, er ist mein Vater! Du brauchst mich nicht; du bist stark und frei und rein, er ist krank und bedroht, er hat seinen Frieden verloren! Mein Vater, ja mein Vater! Die Handlung der Gerechtigkeit, das Sakrament der Gnade, und dann fort, fort über Land und Meer, wohin Gott uns führt!«
In den Augen der Pflegerin stand der Entschluß zu lesen, daß sie dieses Opfer zu
hindern wissen werde; eine andere Macht aber ersparte ihr die Einrede: die Macht der
sich rächenden überreizten Natur. Eine plötzliche,
Judith und der Pfarrer, allein auf dem verlassenen Hofe, teilten sich in die Aufsicht von Vater und Sohn. Sylvian lag fiebernd und stumm, doch schienen kühlende Netzungen und Getränke ihm wohlzutun, und der Pfarrer eilte mit beruhigenden Nachrichten in das Seitenhaus, dessen Bewohner er je mehr und mehr in einer verwirrten und verwirrenden Stimmung fand. Er forderte Schreibzeug, warf einige Worte auf einen Bogen, sprang auf, rannte im Zimmer umher, sprach mit sich selber ohne verständlichen Zusammenhang, griff nach dem wüsten Roman, nach einem neuen Bogen, zerriß das Geschriebene, verbarg die Schnitzel in Taschen und Winkel, alles mit deutlichen Zeichen der Angst und Scheu. Der Pfarrer beobachtete dieses Treiben stundenlang, in der Nebenkammer verborgen, da er inne ward, wie der Zwang seiner Nähe die Unruhe des Gefolterten steigerte. Der gütige Mann dachte nicht daran, die schwergeprüfte Familie zu verlassen, auch als Knecht und Magd sich auf dem Hofe wieder einstellten.
Erst nach Mitternacht kam der Arzt. »Strohfeuer, zum guten Teil niedergebrannt!«
erklärte er, nachdem er den Knaben beobachtet. »Die Augen fallen ihm zu, die Natur
Bedenklicher schienen die Eindrücke, welche der Arzt in der Giebelstube empfing. Man hatte ihn, ohne das Familiengeheimnis mit seinen Erschütterungen zu berühren, von des Fremden Zustand und Schicksal nach dem städtischen Unwetter unterrichtet, ihn bei demselben als einen zu Sylvians Hülfe herbeigerufenen Arzt eingeführt und beide miteinander allein gelassen. Er wurde mit wilden, argwöhnischen Blicken aufgenommen. »Ich bin nicht krank«, herrschte Frobel ihn an. »Wer hat gesagt, daß ich mich femwrogig bekannt? Das Weib lügt! Ich will keinen Zeugen. Laudanum, Laudanum! Ich bin gesund!« – Gleich verworren waren alle Antworten auf des Arztes Fragen, der ihn endlich kopfschüttelnd verließ. »Wenn er Fieber hätte, aber sein Puls geht im Schritt!« murmelte er, empfahl Ruhe und unausgesetzte Beobachtung bis zu deutlicheren Symptomen. Bücher wie Schreibzeug sollten ihm entzogen werden; da der Kranke aber sich ihrer Entfernung mit Heftigkeit widersetzte und mit gleicher Unruhe auf der Einhändigung seiner Brieftasche bestand, stimmte er selber dafür, ihm zu willfahren; nur das geforderte Opiumglas wurde vorenthalten.
Ein Unvorhergesehenes, das wir Zufall nennen und das in schweren Lagen wie die der Klusbewohner in jener Nacht als eine Kleinigkeit kaum beachtet wird, störte diese wohlgetroffenen Einrichtungen und gab mittelbar den Anlaß zu einer unheilvollen Entscheidung. Da der Sarg, in welchem die alte Frau zur Ruhe getragen werden sollte, von Stunde zu Stunde vergeblich erwartet wurde, mußte man sich entschließen, mitten in der Nacht den Knecht nach der Stadt zu schicken, denselben herbeizuschaffen, oder für den vorauszusetzenden Fall, daß seine Fertigung sich in der allgemeinen Wirrnis verzögert, den Prediger zu einer späteren Feier einzuladen. Erst in der zum Begräbnis anberaumten Stunde stellte der Klaas sich wieder ein ohne das dunkle Gehäuse, das erst am Nachmittag erwartet werden durfte. Das bereits harrende Trauergefolge mußte heimgeschickt und für die Dämmerstunde wiederbestellt werden. Auch der Arzt durfte nicht länger weilen, versprach aber, wenn irgend tunlich, gegen Abend wiederzukehren.
Am Nachmittag wurde der Sarg gebracht, und fast gleichzeitig erwachte Sylvian heil
und gestärkt, wie der Arzt vorausgesagt. Nachdem ihn der Pfarrer über seinen Vater
beruhigt, aß er mit dem Appetit eines dreitägig
Man muß die Wichtigkeit in Betracht ziehen, mit welcher Landleute auch von einer mehr als gewöhnlichen Bildung den letzten Akt eines Menschenlebens, die Keimsenkung für eine jenseitige Ernte, behandeln, um weder die besonnene Kluswirtin, noch den zartfühlenden Sylvian, noch selber den gemütlichen Pfarrherrn darob anzuklagen, daß keinem von ihnen auch nur der Gedanke gekommen ist, die Ehrenpflicht gegen die tote Ahne mit dem Dienste bei dem Kranken zu vertauschen, und daß man sich zu der Auskunft entschloß, die handfeste, gehorsame Magd an der Lugespalte in der Kammer zurückzulassen. Schweren Herzens, im neuen Trauerrock an der Seite ihres Bräutigams bei einer so wichtigen Feierlichkeit zu fehlen, aber ohne Widerspruch hatte sich die Christine auf ihrem Wächterposten eingerichtet. Die Zimmertür war von außen verschlossen; in einer Stunde kaum glaubte man auf den Hof zurückgekehrt zu sein; der Arzt durfte jeden Augenblick erwartet werden; das Wesen des Gefangenen zeigte keine besorgniserregende Veränderung: man schied ohne Arg, um am Abend das Nächstgebotene miteinander zu beraten.
Die Dämmerung war im Hereinbrechen, als in der Ferne die Trauerglocke anhob und der
Zug sich in Bewegung setzte. Den beiden von ihren Seelsorgern begleiteten
Leidtragenden folgte die Mehrzahl der männlichen
Die Trauerrede war kurz und bündig; erbaulich hätte sie ohnehin nur für eine sein können, deren Herz in dieser Stunde in zu schweren Lebenskämpfen rang, um sich aus den Schauern des Todes in eine unsterbliche Glaubenswelt tragen zu lassen. Als das letzte Amen verhallt, trennte man sich kühl und nüchtern, ohne Einladung zum üblichen Leichenschmaus, vor der noch ungefüllten Gruft. Es war völlig Abend geworden; der Mond lag hinter fahlen Dunstwolken verschleiert, der Prediger trat unverzüglich den beschwerlichen Heimweg durch die überschwemmte Aue an, und die beiden Verwandten wendeten sich in Begleitung ihres geistlichen Freundes nach dem Klushofe zurück. Aber schon innerhalb des Friedhofgeheges beschleunigte Sylvian seine Schritte, von Sehnsucht und Sorge um den verlassenen Vater getrieben; die beiden andern gingen allein des Weges, auf welchem sich vor zwei Tagen ihre Bekanntschaft geknüpft.
Judith zögerte nicht, ihren Widerwillen gegen Sylvians gestern in der Leidenschaft
gefaßten, aber vor einer Stunde am offnen Sarge der Ahne in besonnener Ruhe
wiederholten Plan mit großer Entschiedenheit Ausdruck zu geben. Nun und nimmer,
erklärte sie, werde sie das Kind, das sie bis heute allen Sorgen und Nöten der
Wirklichkeit überhoben, der Führung eines unzurechnungsfähigen Vaters
»Er ist im sechzehnten Jahre,« sagte er, »ein Alter, in welchem die Mehrzahl der
Knaben sich selbständig Bahn brechen muß. Ihr werdet auch in der Ferne die Hand nicht
von ihm abziehn, brieflich seine Ratgeberin bleiben, und wenn, wie vorauszusehn, in
nicht allzu ferner Frist der Herr über Leben und Tod das nächste Band gelöst, ihm
eine Heimat offen halten. Schüler hin, Schüler her, liebe Tochter, das Leben ist das
lehrreichste Buch; die Pflicht fragt nicht nach der Flüsterstimme des Berufs, und der
Segen des Gemüts entschädigt für die Opfer, die der Geist gebracht. Aber welche
Pflicht, welcher Segen könnte mächtiger wirken, als die, einen Versinkenden zum Licht
emporzuheben? Und wenn der Versinkende gar ein Vater ist? Wohl mag es leichter sein,
einen Verstockten zur Buße als einen Flatterling zu stetigem Willen zu zwingen; die
Gerechtigkeit bricht sich an solchem Rohr oder das Rohr sich an ihr; aber die
biegsamere Liebe wird ihm Stütze und Stab. Denn die Gerechtigkeit ist wohl die Wurzel
am Baume der Tugend, aber die Liebe ist seine Krone, die dem ermatteten Wanderer
ihren Schatten spendet und in welcher des Himmels Vögel ihre Nester bauen.« Der
Pfarrer hatte diese letzten Worte, mit denen er vielleicht an seines lutherischen
Amtsbruders Stelle die Grabrede
Der Eingang des Zimmers war von außen verschlossen und von innen verriegelt, das Fenster geöffnet, Hof wie Garten ohne Spur. Die Magd stand erstarrt unter der Kammertür, durch welche Sylvian, als auf sein wiederholtes Klopfen und Rufen keine Antwort erfolgte, vor einer Weile mit Gewalt seinen Eingang genommen. Er war fort, verschwunden! – Das Schicksal des Unglücklichen in dieser letzten Stunde, da man seine Mutter zu Grabe trug, kann nur mit Vermutungen erklärt werden, die wir nach den spärlichen Aussagen der Magd wie nach dem Inhalte eines für seinen Sohn hinterlassenen Briefes und einzelner zerstreuten Papierschnitzel, auf welchen die geforderte Erklärung in abweichender Fassung, aber niemals der Wahrheit getreu versucht und immer wieder vernichtet worden zu sein scheint, hier in der Kürze zusammenfassen.
Nach dem Zugeständnisse einer schriftlichen Erklärung und des Sohnes Entfernung ist
dem unruhigen, durch einen selbstauferlegten scharfen Zügel zerriebenen Hirn der
letzte kümmerliche Halt entwichen. Die Vorstellungen eines heimlichen und eines
öffentlichen Gerichtes, dem eine grausame Drängerin ihn überantwortet, wechseln und
mischen sich ineinander. Der Arzt ist kein Arzt, aber ein lauernder Zeuge oder
Eideshelfer, von der Anklägerin bestellt. Er selber trägt eine Maske; so sieht auch
er nur
In dieser Stimmung hört er von seines Sohnes andauerndem Schlaf – wenn es nicht Lüge ist, ist es künstliche Betäubung, um den einzigen Retter und Helfer von ihm fernzuhalten. Am Fenster spähend, sieht er zweimal, morgens und nachmittags, im dämmernden Nebel die dunklen Gestalten der Sargträger und des Leichengefolges, einzeln, langsam vom Kamp her dem Trauerhause zuschreiten. Wieder sind es bald Zeugen und Häscher, die auf ihn fahnden, bald Freischöffen und Eideshelfer, die sich versammeln im »offnen Ding«, die »Wette« an dem geständigen Mörder zu vollziehn. Er zählt: drei, sechs, vierzehn! Und ihn zu entlasten nicht einer. Er ist verloren; er fühlt schon die »Wyd« über seinem Haupt, wie er sie die Nacht hindurch über dem des »femwrogigen Junkers von Dortmund« gefühlt. Er will appellieren an Kaiser und Reich, aber wo sind Kaiser und Reich? Keine Wahl, er muß fliehn. Mögen sie ihn verurteilen zu Kerker und Beil, ihn – bis zum letzten verwirren sich die Vorstellungen von Sonst und Jetzt, – ihn verfemen: echtlos, rechtlos, sicherlos, friedlos, – was schiert es den Geflüchteten, er ist fort, auf weitem Meer, in einem freien Land!
Aber sein Sylv! Er stockt. Das Kind kann ja nicht ewig schlafen. Er faßt sich,
schreibt im Fluge das Blatt. Sylvian soll ihm folgen, heimlich, mit Gewalt, sobald er
erwacht; im Hafen will er auf ihn warten, ihre Einschiffung vorbereiten. Er
verabredet Ausflüchte, Verkleidungen; Sylvian soll sich Geld und Geldeswert
verschaffen, seine Uhr nicht vergessen. Er denkt an alles. –
Indem die Christine das Zimmer verläßt, hört sie das anhebende Trauergeläut und kann der Verlockung nicht widerstehen, aus einer dem Garten entgegengesetzten Dachluke einen Blick auf den Leichenzug zu werfen. Kaum fünf Minuten von ihrem angewiesenen Platze fern, hat sie bis zu Sylvians Ankunft denselben nicht wieder verlassen, und da sie nicht die leiseste Regung in der Stube vernahm, den Fremden auf seinem Bett im dunklen Hintergrunde schlafend vermutet. In jenen wenigen unbeobachteten Minuten muß er daher, nachdem er die Tür verriegelt und seine gestrigen Kleider übergeworfen, durch das Fenster, sich an einem Spalier hinabwindend, entkommen sein, scheint aber den Bogen des Waldweges vermieden und sich unmittelbar auf die Landstraße gewendet zu haben. Kein Mensch erinnert sich seiner Begegnung.
Er sieht die Niederung unter Wasser und erklimmt den Damm, ohne zu ahnen, daß er nahe
dem Bahnhofe durchrissen ist. Der Zug nach der nördlichen, nicht unterbrochenen
Richtung, die Richtung, nach der er selber strebt, wird gerüstet, er hört das Läuten,
das Zischen der Lokomotive und stürmt voran. Der Nebel hat das Abenddunkel
»Der Amerikaner, James Brown, verunglückt durch Sturz und rasch eingetretene Apoplexie«, lautete der Spruch der gerichtlichen Totenschau. – So ging er unter, seiner Heimat ein Fremder, die Handlung der Gerechtigkeit unvollbracht, durch das Sakrament der Gnade nicht entsühnt.
Zwei Tage später, bei grauendem Morgen, legte man ihn zur Ruhe zwischen den Fremdlingsgräbern der alten Sachsenmutter und ihrer Schwiegertochter Sylvia. Die Kluswirtin und ihr Pflegesohn, geleitet von dem Gemeindepfarrer, waren die einzigen, die seiner Leiche folgten. Sylvian, der bis zuletzt auf seinen Knieen betend neben dem Toten gelegen, erklärte auf dem Heimwege mit großer Fassung, daß er Priester werden wolle.
In der Mittagsstunde, welche jenem stillen Begräbnismorgen folgte, betrat ein
trauerndes Weib die Zelle des Gefangenen Simon Lauter. Er saß, mit dem Rücken der
Der Hauch des Glücks, der kaum die bleichen Wangen des Gefangenen überflogen, wich einem eiskalten Schatten. – »Heimgekehrt, tot?« rief er entsetzt. – »Heimgekehrt, tot!« sagte Judith; »das Erbteil seiner Schwester: einen Schuldlosen zu entlasten.« – Simon schlug die Hände vor das Gesicht und stand in heftiger Erschütterung. – »Ihr Erbteil – sein Sohn!« murmelte er ihr nach. Die letzte Versuchung mußte überwunden werden.
Des Mädchens Seele ergoß sich vor ihm, knapp, gepreßt, Silbe um Silbe; dann immer
voller und voller. Nicht den Toten verklagte sie, nur sich selbst. Sie war die
Schuldige, deren Kleinglaube sein Opfer bezweifelt, deren Kleinmut seine
Rechtfertigung versäumt. »Simon,« sagte sie zum Schluß, »jedes graue Haar auf
deinem Haupt klagt mich an um eine Stunde der Qual, aber – dieser Friedensblick
deines Auges, – vergib mir, Simon, denn ich habe mehr gelitten als du!« – Ja, er
blickte in Frieden; die Versuchung war überwunden, die Stunde gekommen, in der er
wieder an sich selber glauben, in der er vor sie treten und sagen durfte: »Es ist
der Simon, den du liebgehabt!« die Stunde auch, in welcher das
»Als ich mit dir und jenem Unglücklichen zusammenstieß,« so lautete sein Bekenntnis, »als ich ihm nach seinem Hause folgte, um deinem Bruder Lebewohl zu sagen, da zweifelte ich nicht, daß du seiner Werbung nachgegeben; ich war zum Tode betrübt; aber ich grollte weder dir noch ihm, denn Geist und Leib waren rein. Und in derselben Nacht haßte ich diesen Mann, von dem ich nichts Böses wußte, den Mann, der dich liebte, als einen tödlichen Feind; ich hätte ihn würgen mögen, und wenn meine Hand frei vom Blut geblieben, nicht der Wille hat sie gebannt, nur die körperliche Scheu, welche die Natur mir eingebunden. Ich war ein Mörder vom Herzensgrunde, denn ich war im Rausch. Ich sah jenen anderen, der mir von Jugend ab ein Bruder gewesen, von einer bösen Leidenschaft gepackt, suchte ihn zu warnen, zurückzuhalten, – und mein Lallen verhallte. Ich sah ihn in eine unselige Verwirrung rennen, verließ ihn, um für ihn einzutreten, und statt das Geld in meinem Hause zu holen, taumelte ich in der Richtung, von welcher du kommen solltest, Judith. Da unten an der Torfahrt lauerte ich, um dich dem Feinde zu entreißen; des Freundes hatte ich vergessen – denn ich war im Rausch. –
Ich hörte und sah die Ringenden, strebte, sie voneinander
Und nun jene stillen Tage der Haft, jene Tage der Einkehr und Prüfung! Vor kurzem,
als ich im Schachte arbeitete, hatte ich einen Beamten die Geschichte eines
Freundes erzählen hören, eines gebildeten Mannes, der sich freiwillig das Leben
genommen, weil er durch das Laster des Trunks den Widerwillen des geliebten Weibes
erregt und doch von dem Laster nicht zu lassen vermochte. Das war im Freien,
zwischen Himmel und Wald, und ich hoffte noch, glaubte noch an mich selber zu
jener Zeit. Aber, daß ich es mit Worten aussagen könnte, wie mich die Erinnerung
an dieses Schicksal in der einsamen Zelle durchschüttelte. Auch ich hatte die
reine und starke Liebe eines Weibes verwirkt durch jenes Laster, auch ich konnte
von dem Laster nicht mehr lassen ohne Gewalttat an mir selbst. Der Selbstmord soll
eine Todsünde sein, eine Feigheit, eine Roheit der Seele. Vielleicht. Ich für mein
Teil hatte einfach nicht das Blut für eine rasche Tat. Ich war ein Feigling, wenn
ich jener langsamen Vergiftung
In diesem Wirbel der Gedanken, wenige Stunden vor der Katastrophe, welche über Tag und Nacht für mich entscheiden sollte, kam es über mich gleich einer Erleuchtung von oben. Eine Mauer um mich ziehen gegen das Laster, das ich freiwillig nicht mehr zu bannen vermochte, eine Gewissenssünde sühnen, deren Unterlassung nicht mein Verdienst, von meinem Freunde und Bruder, – merke es wohl, Judith, dies letzte war nur die Folge, nicht der Ausgang meiner Erkenntnis, – von dem Sohne meiner Wohltäter eine Anklage lenken, die sich unzweifelhaft gegen ihn erheben mußte, wenn ich die stückweisen Erinnerungen jener Nacht enthüllte – Reinigung, Buße und Wohltat mit einem Worte, das ich sprach, und mit einem, das ich auch ferner zurückhielt, wie ich es bisher im traumhaften Schwanken zurückgehalten. Ich sage die Wahrheit, Judith, ich hatte die Tat nicht verüben sehen, denn ich war im Rausch.
Mein Leben, ich wußte es, schützten Zweifel und Bedenken, die sich nicht
überspringen ließen. Seiner harrte das Schafott. Mochte er sich durch die Flucht
diesem Äußersten entzogen haben, seine Mutter lebte, sein Kind, du lebtest,
Judith, um Stunde für Stunde das schwebende Beil über seinem Haupte zu empfinden.
Ich stand allein, die einzige Liebe hatte ich verwirkt. Rausch entschuldigt,
Und nun, Judith, bringe mich nicht um diesen heimlichen Lohn. Wühle nicht in ein Grab, wühle nicht in dein eignes Fleisch und Blut. Er ist dir nicht vergebens zum Bruder gesetzt gewesen; ehre den ewigen Willen, der seine Schuld mit Nacht gedeckt. Ja, tätest du's dennoch, Judith, weil starken Seelen wie der deinen das Schwerste immer das Nächste und das Übernatürliche häufig natürlich scheint, ließest du die Stimme vernehmen, die dir als Gerechtigkeit gilt, ich würde diese Stimme verleugnen, Judith, und der Schatten eines zwecklos Gezeichneten, eines, den bereits sein höchster Richter gefordert, hätte sich für ewige Zeiten zwischen dich und mich gedrängt.«
Judiths Augen hatten unbeweglich an dem Redenden gehangen wie an einer himmlischen
Lichtgestalt. »Und du, Simon!« rief sie jetzt, da er geendet, erschauernd über den
ganzen Leib und noch einmal zu seinen Füßen niedersinkend, »Simon, und du?« – Er
richtete sie auf, zog sie an sein Herz und blickte sie an mit heiterer Ruhe, ja
ein Lächeln auf den bleichen Lippen. »Ach, Judith,« sagte er, »ich werde der Gnade
harren oder der Endzeit meiner Strafe. Ich fühle mich nicht unglücklich hier, ja,
ich bin
Aber erst nach einer langen Unterredung mit dem Direktor und ihrem geistlichen Freunde kehrte die Wirtin in ihre Klus zurück. Mit einer Hast, die keiner an ihr gekannt, mit fliegenden Schritten und leuchtenden Blicken rüstete sie ihren Hof für einen mehrtägigen herrenlosen Selbstbetrieb und verließ ihn, in ihre Trauerkleider gehüllt, mitten in der Nacht, um eine heimliche Reise anzutreten.
Am übernächsten Abend brachte eine Nachricht des
»Der Simon Lauter, im Volke ›der Quellensimon‹ genannt, vor zehn Jahren des Mordes angeklagt und seit der Zeit die über ihn verhängte Strafe mit musterhaftem Betragen verbüßend, hat ohne ein Wort der Einrede jene Strafe für einen andern erduldet, den der Tod bereits vor einen höheren Richter geführt und dessen Namen, nach des Simon Lauter Wunsch und Willen, ein ewiges Vergessen decken soll. Seine Majestät der König, durch unwiderlegliche Beweise von der Wahrheit dieser seltnen Handlungsweise überzeugt, haben dem Erlasse Allerhöchst Ihrer Gnade diese rechtfertigende Erklärung hinzuzufügen befohlen. Sie beauftragen die betreffenden Kreisbehörden, dem Simon Lauter mit Rat und Tat zu seinem Fortkommen behülflich zu sein und über seine etwaigen Bedürfnisse oder Wünsche Allerhöchsten Orts zu berichten, wie Sie denn auch dem Simon Lauter für seine unerschrockene Hülfleistung und aufopfernde Rettung mehr als eines Menschenlebens bei der kürzlichen, von Sr. Majestät tiefbeklagten Heimsuchung Ihrer getreuen Stadt *** das Kreuz etc. etc. zu verleihen geruhen.« –
Simon Lauter ließ lächelnd wie ein Weiser diese volkstümlichen Huldigungen über sich ergehen; er dankte mit Hand und Mund für alle Anerbietungen von höchster Stelle bis zur niedrigsten, ohne von einer einzigen Gebrauch zu machen, lebte still in seinem Waldhause, den künstlichen Arbeiten hingegeben, die er in bösen Tagen als seinen eigentlichen Beruf erkennen und lieben lernen, oder draußen im Wald, dessen Hütung er einzig von allen angetragenen Ämtern wieder versah, gab auch wohl hin und wieder einen Rat bei den Bewässerungsanlagen der Gegend, für einen ernstlichen Wiederangriff des Bergwesens aber erkannte er den Ablauf der Jugendkraft. Alles in allem, er blieb auf seinem mäßigen Grunde, ohne sich von der Woge plötzlicher Gunst in luftige Regionen wirbeln zu lassen.
In der Nacht, die seiner Freigebung folgte, hatte er die von ihrer rätselhaften
Reise heimkehrende Kluswirtin auf dem städtischen Bahnhofe empfangen, und sie,
heute
Von der Residenz ausgehend, hat sich manches fabelhafte Gerücht über die Aufnahme
verbreitet, welcher sich die schöne, beherzte, westfälische Bäuerin bei dem hohen
Königspaare erfreut, und der Name Judiths, der Kluswirtin, ist rühmend über ihren
engen Bezirk hinausgetragen worden. Sie selber jedoch hat jener Reise und ihres
Zweckes nie gegen einen andern berührt als den Pfarrherrn und den Vorsteher der
Anstalt, welche das von ihr überreichte Gnadengesuch beglaubigt hatten und welche
beide ihre treuen Freunde geblieben sind. Im Herzen aber und gegen den, dessen
Rechtfertigung ihr kluges, vertrauendes Wort erwirkt, gedenkt sie einer erhabenen
Stunde mit alter westfälischer Bauerntreue. Wenn aber auch dem, welchem das
zeitliche Amt der Gnade zusteht, der Blick der Gerechtigkeit als einem Beichtiger
geöffnet werden durfte, so ist doch vor allen anderen Augen das dunkle Geheimnis
des Klushofes Geheimnis geblieben. Manches mag gemunkelt worden, manche Mutmaßung
der Wahrheit nahe gekommen sein; laut und öffentlich wird der Name August Frobel
nicht als ein Räuber- und Mördername genannt, und keine Seele ahnet, daß der
verunglückte Amerikaner der einstige Sachsenwirt gewesen, der zwischen den Gräbern
der eignen Mutter
Noch vor Ablauf der anberaumten Prüfungsfrist hat Sylvians drängender Sehnsucht nachgegeben werden müssen. Vor wenigen Tagen ist er in das Seminar getreten, um durch ein priesterliches Leben das Werk der Heiligung, das seiner Liebe hienieden entrückt worden war, jenseitig im Glauben zu fördern. In einer andern Weise ist die redliche Strenge der Kluswirtin bemüht gewesen, jene unselige Verirrung ihres Blutsverwandten durch ein Werk der Barmherzigkeit auszugleichen. Da die Hinterlassenschaft des Papiermüllers Berg noch heute ohne nachweisliche Erben in gerichtlichem Verwahrsam ruht, hat Judith jene entwendete Summe, Zins auf Zins und aus ihren Ersparnissen erheblich vermehrt, zu einer Stiftung angelegt, mit welcher gleichzeitig die letzte unheilvolle Erinnerung von dem Klushofe getilgt werden soll. Das Seitenhaus mit dem Gartengiebel ist zu einer Herberge umgebaut, in welcher sechs verwaiste, der Zucht bedürftige Knaben Pflege, Unterricht und die Heranbildung zu einem ländlichen Berufe genießen. Judith schafft mit Muttertreue für diese Kinder, und der Freund ihrer Jugend, der wieder wie einst der Weiheengel des Kluslebens geworden ist, steht ihr mit seinen Erfahrungen dem Bereiche verwahrloster Herzen als Helfer und Rater zur Seite.
Rater und Helfer gegenseitig, Nachbarn und Freunde, Bruder und Schwester am
Schlusse der Geschichte, – und nicht mehr? Die er von der Wiege ab geliebt, dem
sie die Treue verlobt und wäre es über zehnmal drei Jahre, – und einander nicht
mehr? Nein, nicht mehr. Zwölf Trauermonde sind noch nicht abgelaufen; und wie
vieles mußte