Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale : ELTeC ausgabe Raabe, Wilhelm (1831-1910) ELTeC conversion Leonard Konle 149073 406 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale Raabe, Wilhelm Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von editorPeter Goldammer und editorHelmut Richter, Berlin und Weimar: Aufbau, 1964–1966 Der Erstentwurf (1861) sollte den Titel »Robert Wildhahn« tragen. Zuerst als Fortsetzungsroman in »Westermanns Ilustrierten Deutschen Monatsheften« von Oktober 1862 bis März 1863 erschienen. Die Buchausgabe erschien wenig später in drei Bänden unter dem aktuellen Titel.

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Erstes Kapitel Die hohe Polizei nimmt ein Protokoll auf

Auch der unschuldigste, solideste Staatsbürger, der Mann des feuerfestesten Geldschrankes, der Mann des besten Gewissens, der zugeknöpfteste, strammste, schnauzbärtigste alte Herr vermag nicht, sich eines leisen Schauders zu erwehren, wenn er an dem Zentralpolizeihause vorüberwandelt. Man kann nicht wissen – es geht wunderlich zu im Leben – das Schicksal spielt oft eigen mit dem Menschen! – wer kann für die nächste Stunde und ihre Tücken gutstehen? – Man hat im Vorbeischreiten ein Gefühl, als sei es höchst angebracht, wenn man den Rockkragen in die Höhe klappe; man zieht unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern: das liegt einmal im deutschen Blut, der Herr erlöse uns von dem Übel.

Und der Novemberregen kam herunter, als habe der Himmel den Schnupfen und lasse alles laufen. Es kamen auch sehr viele Leute herunter, und zwar sehr hart; denn der Regen verwandelte sich, sowie er den Erdboden berührte, in Glatteis, und weder Mann noch Weib war vor dem Fall sicher. Sehr viel guter Humor löste sich in mürrisches Hinbrüten und ärgerliches Gebrumm auf. Die Unliebenswürdigen waren an diesem ungesegneten Tage noch einmal so unliebenswürdig als gewöhnlich. Das Wetter war wie ein Probierstein, auf welchem jede Anlage zur Liebenswürdigkeit geprüft und abgezogen wurde. Haustyrannen schlugen ihre Frauen körperlich und moralisch, Haustyranninnen explodierten bei der geringsten Reibung wie Orsinische Bomben und konnten ein ganzes Hauswesen mit Verwirrung und Verwüstung erfüllen. Auch die lieben Kleinen, das hoffnungsvolle Geschlecht einer edleren Zukunft, waren heute unartiger als sonst; sie bekamen mehr Püffe und Ohrfeigen und öfter die Rute als an andern, helleren, freundlicheren Tagen. Wehe der dienenden Jungfrau, die heut den irdenen Topf, den tönernen Napf zur Erde fallen ließ! Wehe, dreimal Wehe über alle die Unglücklichen, die bei solcher Witterung, wie auch ihr Stand und ihre Stellung sein mochten, von andern abhängig waren! Jedermann war in der Stimmung, seinen Nebenmenschen und Mitkreuzträgern das Leben und das zu tragende Kreuz so schwer und scharfkantig wie möglich zu machen, ohne meistenteils im Grunde eine andere stichhaltende Entschuldigung für seine Kratzbürstigkeit zu haben als »dieses grenzenlos niederträchtige Wetter«.

Wir wollen bei so bewandten Umständen den tellurischen und kosmischen Erscheinungen des Tages, aller dieser meteorologischen Bosheit gar nicht die Ehre antun, sie näher zu beschreiben. Selbst das Zentralpolizeihaus ist jetzt ein anmutigerer Aufenthaltsort als Straße und Markt. Flüchten wir uns mit aufgespanntem Regenschirm hinein; in Nummer Sicher sind wir hier jedenfalls.

Lange trostlose Gänge, Türen, die in dunkle Zimmer voll geheimnisvoller Akten und dumpfen unheimlichen Gesumms führen; kahle Höfe, auf welchen sich Polizeibeamte umhertreiben und auf welchen niemals ein Kind im Sande gespielt, Festungen gebaut und Pasteten gebacken hat! In den Gängen Beamte mit bunten Rockkragen und Aktenbündeln; hinter den schwarzen Türen Beamte, die mit knarrender Stahlfeder und giftiggrüner Alizarindinte die Sündenregister der Menschheit ausfüllen und, wenn sie sich harmlos beschäftigen, Pässe und Wanderbücher revidieren und unglückliche Handwerksburschen in ihrem Selbstgefühl durch überwältigende Grobheit kränken! Exekutoren mit Verhaftsbefehlen für säumige Schuldner; grimmige Gläubiger mit Pfändungsgesuchen – einmal in einem der langen Gänge Kettengeklirr und ein übelgekleidetes, übelduftendes Subjekt, welches zwischen zwei Bewaffneten einherschwankt – über allem ein unbeschreibliches beängstigendes Etwas, ein Hauch aus Niflheim, dem Reich der Toten, der Verlorenen: das ist das Zentralpolizeihaus!

Im Büro Nummer dreizehn unterhielten sich drei Personen damit, die Lebensgeschichte eines Vierten anzuhören. Die Zuhörer waren der Polizeirat Tröster, der Polizeischreiber Fiebiger und der Hauptmann a.D. Konrad von Faber, ein stattlicher Mann mit gebräuntem Gesicht, welcher es sich auf der Armensünderbank an der Tür bequem machte und die Füße weit in das Gemach hineinstreckte. Der arme Sünder selbst aber stand in der Mitte des Zimmers und erzählte. Sein Bericht füllte grade die dämmerige Stunde aus, welche dem Lichtanzünden voraufgeht.

Inkulpat Robert Wolf war angeschuldigt worden, in der Wohnung einer Dame großen Unfug angerichtet zu haben durch Zertrümmerung von Gerätschaften und Ausstoßung wilder Reden und Drohungen. Beim ersten Verhör hatte er alle Auskunft über sich verweigert; man hatte ihn eingesperrt und jetzt nach einigen Tagen enger Haft wieder hervorgeholt in der Hoffnung, den jungen Missetäter und Hausfriedensbrecher in einer zerknirschteren, weicheren Stimmung zu finden. Man täuschte sich darin auch nicht. Dunkelheit und Langeweile hatten in der gewünschten Weise auf das Gemüt des Angeschuldigten eingewirkt; ohne alles Zögern gab er alle mögliche Auskunft über seine Verhältnisse.

Der Protokollführer Fiebiger hinter seinem hohen Pult hatte bereits niedergeschrieben, daß Rubrikat Robert Wilhelm Wolf heiße, daß er achtzehn Jahre alt und auf der Forsthütte Eulenbruch, Dorfbezirk Poppenhagen, im Winzelwalde, Provinz**, geboren sei.

Wir lassen das weitere Verhör folgen.

»Also der Sohn des weiland Forstaufsehers Wolf auf dem Eulenbruch!« sagte der Polizeirat, recht wohlwollend auf seine Dose klopfend.

»Ja!« antwortete der junge Mensch mit mürrischer, halb gleichgültiger Stimme und ganz kurz.

»Auf dem Eulenbruch, im Winzelwalde – soso – hm, hm – ei, ei – schöne Gegend – hm – das einzige Kind?«

Inquisit verstand die Frage nicht im mindesten; starr und grollend blickte er den Rat an.

»Ich frage, ob Ihr noch Geschwister habt, Wolf?«

»Nein. Fritz ist ausgerissen, vielleicht nach Amerika. 's war unser Ältester. Die andern vier sind tot.«

»Hm, hm – sechs. Vier tot. Schon lange?«

»Ja. Wir waren unser sechse; drei Jungen und drei Mädchen: Fritz und ich, Franz, Riekchen, Lieschen und Linchen. Wir schliefen alle in einer großen Bettstatt voll Eichenlaub, trocken und warm. Die Mädchen hatten auch noch eine Bettdecke, wir Jungen hatten aber nichts weiter als des Vaters Soldatenmantel. Die Mutter war tot, der Vater meistens im Wald, um auf die Wilddiebe zu passen. Deren hatte er einen erschossen, und so hatte er ein bös Leben mit den andern; sie schossen oft genug wieder auf ihn, haben ihn aber nicht getroffen. Fritz war der Älteste von uns; wir mußten ganz allein für uns sorgen; wir hatten die Hunde, einen zahmen Fuchs, einen Kolkraben und noch manche andere Tiere. Linchen war die Kleinste und die Klügste von uns; die war eigentlich unsere Mutter, obgleich sie noch ganz winzig war. Wir waren wie die jungen Füchse, hatten alle auch rote Haare, die kamen von meiner Mutter; meine sind jetzt dunkler geworden. Linchen hatt ich am liebsten von meinen Brüdern und Schwestern; es hatte Augen so klar und tief wie das grundlose Wasser, das unter dem Eulenkopf steht. Einmal, zur Jagdzeit, saß es ganz still und hielt den ganzen Tag über den Kopf mit den Händen, und als es in der Nacht unter seiner alten Decke an meiner Seite lag, da fühlte ich, daß seine Hände ganz heiß waren, und doch zitterte es am ganzen Körper vor Frost und wühlte sich immer tiefer in das Laub. Am andern Tage sprach es ganz tolle Worte und schrie, der Berggeist wolle es holen und in die Erde hinabziehen. Dann packte die Krankheit den Fritz und so eins nach dem andern, zuletzt mich. Die Hunde, die sonst wohl, der Wärme wegen, zu uns in unsere Hürde krochen, wollten nun nicht mehr mit uns darin bleiben, sie sprangen heraus und krochen im Winkel zusammen. Anfangs hörte ich noch, wie der Vater ärgerlich über uns war, und ich fühlte, wie er mehr Laub auf uns warf und alle seine Röcke und den Mantel unserer toten Mutter und alle unsere Kleider. Er hatte niemand, der ihm half in dieser großen Not; denn er war nicht sehr beliebt bei den Menschen in der Gegend, weil er so wild und hart gegen die Wilddiebe und die Holzfrevler war. Sie nannten uns nur die roten Wölfe und pfiffen, wenn wir uns zeigten im Dorfe. Manchmal kam wohl eine alte Frau, welche Reisig gelesen hatte, und gab Rat; aber das geschah nur nach Bequemlichkeit und selten. So waren wir jetzt im Eulenbruch so verlassen wie die jungen Füchse, denen die Mutter weggeschossen ist. Wie das Linchen und die andern kam ich in einen Zustand, in welchem ich nichts mehr von mir wußte; aber einmal wachte ich auf und sah im Traum viele Herren mit Gewehren und Jagdtaschen vor mir. Sie starrten uns ganz merkwürdig in unserm Bette an, und einer hielt ein Paar Gläser vor die Augen. Sie flüsterten alle und schüttelten die Köpfe, und unser Vater stand auch dabei, hielt die Mütze in den Händen und drehte sie hin und her. Die Herren sprachen dann alle auf ihn ein; er sagte auch etwas, zuckte die Achseln und sah sehr wild und verzweifelt aus. Einige der Herren hatte ich wohl schon gesehen. Sie kamen öfters zur Jagd nach dem Eulenbruch. Bald wurde es aber wieder so dunkel vor meinen Augen wie zuvor, und als ich endlich von neuem aufwachte, da lag ich zwar noch in der Bettstatt, hatte auch ein ordentlich Kopfkissen, und eine alte Frau saß da mit der Brille auf der Nase und strickte und gab mir einen Löffel bitterer Medizin; aber meine Geschwister bis auf den Fritz waren nicht mehr da. Alle, alle – das Riekchen, das Lieschen, das Linchen und Franz – alle waren fort, waren tot. Wir hatten alle mitsammen die Röteln gehabt, und bis auf Fritz und mich waren die andern daran gestorben und verkommen. Zu Poppenhagen waren sie begraben, während ich bewußtlos lag – eine ganze Reihe von kleinen Gräbern. Es war zu spät gewesen, als die Herren von der Jagd uns in unserm Laub, im Fieber sahen, dem Vater Geld gaben und den Pastor Tanne aus Poppenhagen zu ihm schickten, daß er ein Einsehen tue und sich unserer mit dem Doktor Rust und der Frau Wurm aus dem Feldhüterhaus annähme. Es war ein guter Mann, der Pastor Tanne; er hat mich, nachdem mein Bruder und ich wieder gesund geworden waren, mit sich genommen nach Poppenhagen und hat mich, da er selbst keine Kinder hatte, erzogen wie seinen eigenen Sohn. Er wollte auch meinen Bruder mit sich nehmen, aber der konnte von dem wilden Leben im Forste nicht lassen. Doch in die Schule mußte er jetzt auch kommen. Jetzt ist er längst in die weite Welt gegangen; ich habe nie wieder von ihm gehört.«

Mit vielen Hm's und Ha's hatte der Polizeirat dieser Erzählung gehorcht. Mit seltsamem Ausdruck leuchteten die Augen des alten Schreibers über die Haufen von Akten und Registern auf seinem Pulte.

Der Hauptmann Faber strich den vollen Bart und murmelte:

»'s ist wenigstens der Bericht eines klaren Kopfes. Armer Teufel!« Er nickte dem Inkulpaten ermunternd zu, und der Schreiber räusperte sich ebenfalls zur Ermunterung Robert Wolfs.

Es trat in dem Büro dreizehn eine Stille von einigen Augenblicken ein, in welchen man deutlich das Picken der großen Uhr draußen in der Halle vernahm. Schon manche unbekannte Tragödie und Komödie war über den schmutziggrauen Fußboden des Büros Nummer dreizehn weggeschritten; eine rührendere Elegie hatte aber die langnäsige Büste eines verdienstvollen früheren Polizeipräsidenten, welche zwischen den beiden Fenstern von einer Konsole herabblickte, selten vernommen. Der Mann schien sich jedoch durchaus nichts daraus zu machen. Er behielt jedenfalls die Nase oben. Dagegen hatte eine andere Büste auf einer andern Konsole einen recht wehmütigen Ausdruck: sei es, daß der Künstler ihr denselben gab, sei es, daß die dämmerige Beleuchtung schuld daran war. Seine Majestät der König schien es auch in Gips in Nummer dreizehn im Zentralpolizeihause sehr ungemütlich zu finden.

Seiner Stellung gemäß unterbrach der Rat Tröster zuerst wieder das Schweigen und fragte, das glattrasierte Kinn streichelnd:

»Also der Pastor Tanne zu Poppenhagen hat Euch erzogen? Was habt Ihr gelernt, Wolf? Was seid Ihr eigentlich?«

Robert Wolf zuckte die Achseln und sagte:

»Als mein Pflegevater starb, mußte ich zurück in den Wald zu meinem eigentlichen Vater; denn damals war mein Bruder schon in die weite Welt gegangen, und mein Vater war immer krüppelhafter geworden; er hatte die Gicht in den Knochen vom Liegen im Walde und hatte meine Hülfe nötig. Ich kann schießen, die Geige spielen, ein wenig lateinische Grammatik. Ich gewöhnte mich recht gut wieder an den Wald; es kann einem schon drin gefallen, Winter und Sommer, und es gefiel mir die letzten zwei Jahre durch; wäre auch gern Forstwart geworden, wenn – – wenn nicht –«

»Nun, heraus damit! Wenn nicht?«

Robert Wolf wandte sich ab, biß die Zähne aufeinander und antwortete nicht.

»Ich frage, weshalb Ihr nicht in Eurer Stellung geblieben seid. Ich erwarte Antwort, junger Mann!« sagte der Polizeirat, soviel amtsmäßige Rauhigkeit als möglich in Ton und Gestus legend.

Der Hauptmann auf der Armensünderbank stand auf, klopfte den Knaben aus dem Walde auf die Schulter und sagte:

»Sperren Sie sich nicht, Robert; geben Sie dem Herrn offen Nachricht von Ihrem Leben. Es sind Freunde hier.«

Der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen nickte über sein Pult weg höchst energisch. Es war gleich einem elektrischen Schlag durch diese Schreiberseele gegangen, als vor einigen Tagen die Namen Poppenhagen, Eulenbruch, Winzelwald zum erstenmal auf dem Zentralpolizeihause genannt wurden, in dem Vorgehen gegen Robert Wolf wegen Hausfriedensbruch. Hätte der Rat Tröster sich plötzlich auf den Kopf gestellt und seinen Untergebenen aufgefordert, dasselbe zu tun, so würde das nicht solchen überwältigenden Eindruck auf das Gemüt des letztern gemacht haben. Wäre auf dem langen unheimlichen Korridor plötzlich der Klang eines Waldhorns erschollen, so hätte dem alten Dintenmenschen das Herz sich nicht mehr darob geregt. Mit diesen Namen drang Sonnenschein. Waldluft, Lust der Jugend und des Lebens in das Büro Nummer dreizehn. Durch die Papiere rauschte es wie durch die Zweige der Buchen und Tannen, der Aktenstaub verwandelte sich in das Gestäube des Waldbachs, wie er nahe dem Dorf Poppenhagen über die moosigen Steine stürzt und eine Mühle treibt, welche der kleine Fritz Fiebiger gebaut hat. Besagte Mühle wurde aber noch im achtzehnten Jahrhundert errichtet; 's ist lange her, und der Polizeischreiber muß sich zusammenraffen, um keine Böcke zu schießen in dem Protokoll, welches ihm über den bleichen wildblickenden Jungen. Robert Wolf aus dem Winzelwalde, in die Feder diktiert wird. Die Feder kritzelt über das Papier, aber vor den Augen des Schreibers flimmert's; seine Schriftzüge sind bei weitem nicht so fest und sicher wie sonst; – sein Vorgesetzter fragt ihn, was ihm sei, ob er Kopfweh habe. Friedrich Fiebiger schüttelt nur den grauen Kopf und murmelt etwas Unverständliches.

Robert Wolf wendete nun die zornigen, tränenvollen Augen dem Polizeirat zu; aber noch immer vermochte er nicht, ein Wort hervorzubringen. Man sah, wie es in ihm stürmte und wie er sich zwingen mußte, daß kein leidenschaftlicher Ausbruch erfolge.

Noch einen forschenden Blick warf der Rat auf den Inkulpaten; dann wandte er sich gegen den Schreiber.

»Fiebiger, nehmen Sie doch einmal das Register D zur Hand und geben Sie uns die Notizen über den Namen Dornbluth – Eva Dornbluth, Fräulein Eva Dornbluth. Wir müssen den Knaben überzeugen, daß die Sicherheitsbehörde offene Augen und scharfe Ohren hat. Lesen Sie, Fiebiger!«

Der Schreiber schlug einen umfangreichen Folianten auf, blätterte einige Augenblicke darin und las dann mit einer Stimme, die von Natur recht scharf und schneidend war, in diesem Moment aber etwas gemildert klang:

»Eva Sophie Dornbluth. Tochter des weiland Kantors und Opfermanns Otto Friedrich Karl Dornbluth zu Poppenhagen. Alter zwanzig Jahre. Ankunft in hiesiger Stadt am vierzehnten Mai 184–. Rubrikatin hielt sich anfangs im Hause der Frau Baronin Viktorine von Poppen, Kronenstraße Nummer fünfzig, auf, trat dann durch Verwendung des Barons Leon von Poppen am hiesigen Königlichen Theater ein und wohnt jetzt Lilienstraße Nummer zwölf. Bemerkungen –«

Der Schreiber las mit leiser Stimme noch einige Noten, welche die hohe Polizei über das Dasein Eva Dornbluths gemacht hatte, und beobachtete dabei über den Rand des Folianten scharf den Jüngling aus dem Winzelwalde, und nicht ohne Grund; denn ein merkwürdiges Schauspiel bot Robert Wolf dem Menschenkenner dar während dieser Vorlesung. Mit unverkennbarem Entsetzen starrte er den Schreiber und sein giftgefülltes Buch an, krampfhaft zitterten seine Lippen, er ballte die Fäuste, ward totenbleich und bedeckte zuletzt das Gesicht mit beiden Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.

Der Hauptmann, welcher sich wieder auf dem Sünderbänkchen niedergelassen hatte, trommelte mit dem Fuß einen Marsch; der Polizeirat gab seinem Schreiber einen Wink, daß er seine Vorlesung einstelle; dann wandte er sich zu dem Inquisiten:

»Seht Ihr, lieber junger Freund, die Polizei weiß alles! Soll ich dir noch mehr vortragen lassen über die Jungfer Dornbluth; oder willst du uns jetzt mitteilen, was dich in die Wohnung des Mädchens führte? Du wirst den Ruf der Dame durch eine klare Darlegung der Tatsachen nicht verschlechtern, glaube mir das, Robert Wolf.«

Die hohe Polizei war fest von der Wahrheit ihrer Notizen überzeugt, und doch stand mehr als eine Lüge in dem Folianten D über Eva Dornbluth. Der arme gepeinigte Knabe aber schluchzte noch eine Zeitlang fort und rief dann wild und in Verzweiflung:

»Ich habe sie liebgehabt – mehr als mein Leben hab ich sie liebgehabt, und ich muß sterben darum!«

»Na! na! Nicht so rasch!« brummte der Polizeirat, aber der Hauptmann sowie der Schreiber fanden, daß der junge Mensch in diesem Augenblick von überraschender Schönheit in seinem dummen, kindischen Schmerz und Zorn war. Mit immer höher gesteigerter Teilnahme beobachtete vorzüglich Friedrich Fiebiger den armen Jungen von seinem hohen Dreibein aus. Der Schreiber hatte die magern, in schäbiges Schwarz gekleideten Beine so hoch als möglich zur Brust hinaufgezogen, die schäbig schwarzen Frackzipfel hingen so tief als möglich zur Erde hernieder; von überraschender Schönheit war er sicher nicht, wohl aber glich er in überraschender Weise einem alten erfahrenen Raben, der sich auf einem Dachfirst niedergelassen hat, einem Raben mit edlen Gefühlen, einem Raben mit Wehmut in den humoristisch zwinkernden Augen, einem melancholisch-satirischen Mitgliede des höchst achtbaren, vortrefflichen und deshalb auch nicht wenig verleumdeten Geschlechts der »krähenartigen Vögel«.

Die aufgeregten Affekte Robert Wolfs machten sich jetzt in hastig übereinanderstürzenden Worten Luft.

»Als ich bei dem Pastor Tanne gewesen bin – nachdem mein Bruder in die weite Welt gegangen war –, sind Eva und ich immer zusammen gewesen. Meinem Bruder hatte sie es auch angetan; aber mir gewißlich noch mehr. O Gott, wer hätte gedacht, daß alles so kommen würde! Sie war so klug, viel klüger als ich. Viel leichter als ich konnte sie das Latein begreifen – sie hat es mit mir gelernt; sie wollte alles lernen, alles wissen. Alle Abende im Sommer saßen wir unter der Esche an der Hecke im Kantorgarten; und im Gefängnis, in welches Sie mich haben sperren lassen, mußte ich immerdar an den Sonnenschein denken, der war, als sie in ihrem weißen Kleide zur Einsegnung ging. O wie hat die Schlechte mit mir gespielt – die Sonne ist auf ewig untergegangen. Ich will nach Frankreich, nach Algier zur Fremdenlegion. Nach Amerika will ich, wie mein Bruder. O der hätte nicht gelitten, daß sie so mit ihm spielte. Der hat wohl recht gehabt, wenn er sagte, kein Mensch tauge was, und es schade gar nichts, wenn man ihnen soviel Böses schüfe, als man Macht hätte.«

»Na, na, wieder viel zu rasch!« brummte der Polizeirat. »Junger Mann, hier jedenfalls ist nicht der Ort, solche unmoralischen Grundsätze auszusprechen.«

Der Hauptmann Faber lächelte ein wenig; der Schreiber schnitt eine Feder und sich in den Finger. Robert Wolf achtete nicht im geringsten auf die Unterbrechung des Rats, sondern fuhr mit doppelter Hast fort:

»Aber mein Bruder Fritz nahm doch Eva Dornbluth aus und rechnete sie nicht unter die Schlechten; oh, er war ein wilder Narr, hätte noch ein paar Jahr daheim bleiben sollen, bis die vornehme Dame auf das Gut kam. Keinem Menschen soll man Gnade geben, keinem. Der Pastor Tanne wird sich auch wohl meiner nur angenommen haben, weil er Langeweile hatte unter den Bauern. Er starb, als ich sechzehn Jahr alt war, und ich habe an seinem Sarge geweint, wie ich an dem meines Vaters nicht weinen konnte. Er hinterließ nichts als seine Bücher, ein paar Tische und Stühle und eine Kuh. Das nahm die Haushälterin; ich mußte in den Wald zurück. Da nahm ich Abschied von Eva unter der Esche. Sie sagte, wir wollten immer wie Bruder und Schwester sein. Sie sagte, ich sollte keinen dummen Jungen aus mir machen, ihr Los sei in alle Ewigkeit bestimmt. Was mag ich ihr in der Stunde gesagt haben? Ich weiß es nicht. Oh, sie wird höhnisch genug im Innersten darüber gelacht haben. Ich möchte umkommen auf der Stelle; aber sie müßte dann auch tot hier vor meinen Füßen liegen. Meinem Vater hat's der Branntwein angetan, der hat ihm das Leben genommen. Als es zum letzten mit ihm ging und er in derselben Bettstatt lag, in welcher meine Brüder und Schwestern gestorben sind, kam ein Junge, welcher Beeren las im Wald, und brachte mir Nachricht, wenn ich Eva noch einmal sehen wolle, so möge ich eilen; sie gehe fort mit der Frau von Poppen, welcher der Poppenhof bei Poppenhagen gehört. Da schoß es mir ganz eiskalt durch die Seele und dann wieder wie Feuer; aber wie konnte ich fort von meinem Vater? Der lag und zitterte im Frost und schrie, die Wilddiebe hätten ihn zu Boden. Mit allerlei Gespenstern rang er durch Tag und Nacht und schrie nach meinen Brüdern und Schwestern, aber vorzüglich nach dem Fritz, der sein Herzensliebling gewesen war. Fast ein Jahr blieb er in diesem Zustand; zuletzt schlug er sich immer herum mit großen Scharen von kleinen Tieren, Mäusen oder Spinnen oder Fliegen; das ließ ihm gar keine Ruhe.«

»Was man so Delirium tremens nennt!« murmelte der Hauptmann.

»Ein ganzes, ganzes Jahr dauerte das«, fuhr Robert fort; »ein ganzes Jahr war Eva Dornbluth schon weg, und ich hörte nichts von ihr in der Verlassenheit auf dem Eulenbruch; sie war auch, kurz vor ihrer Abreise mit der gnädigen Frau, eine Waise geworden und mochte wohl ein hungerig Leben gehabt haben; das konnte sie nicht ertragen. So wartete sie nicht auf mich. Nun starb mein Vater, und ich brachte ihn in seinem Sarge nach Poppenhagen. Wie im Traum war ich; was mit mir werden sollte, wußte ich nicht; von Eva hörte ich nichts im Dorfe, sie hatte keine Nachricht von sich gegeben. Verstört lief ich umher oder lag im Walde, und endlich trieb's mich, daß ich meine Kleider in meines Vaters Jagdranzen packte, meines Vaters Büchse über die Schulter hing, die Hunde verkaufte und verschenkte und fortging vom Eulenbruch, aus dem Winzelwalde. Zwölf Taler, welche mir der Pastor Tanne gegeben, hatte ich ebenfalls noch, damit kam ich hierher, doch mußte ich unterwegs noch die Büchse verkaufen. Es hat mich aber der Eva nachgetrieben; aber wie es mir unterwegs ergangen ist, davon weiß ich nichts zu sagen. Mein Vater in seinen letzten Tagen war nicht verwirrter in Kopf, Händen und Füßen, als wie ich es jetzt bin. Die Leute haben mir geholfen und mich zurechtgewiesen, und so –«

»Suchtet Ihr hier Eure Jugendfreundin auf«, fuhr der Polizeirat Tröster dazwischen, »und fandet die Verhältnisse ganz anders, als Ihr Euch vorgestellt hattet. Jaja, es ist so. Statt der gnädigen Mama hat der Herr Sohn die Sorge und Vormundschaft über das junge, hübsche Ding aus dem Walddorfe übernommen. So fandet Ihr denn, Robert Wolf, die Wohnung des Mädchens aus, sagtet dem ungetreuen, leichtsinnigen Schatze die Wahrheit und gebärdetet Euch so sehr wie möglich gleich einem Verrückten. Dann kam der junge Herr Leon von Poppen dazu, und wie ein junger Wolf aus dem Walde fielet Ihr über ihn her, zerschluget ihm die Nase und hättet ihn erdrosselt, wenn nicht die Sicherheitsbehörde, die den Lärm von der Gasse aus vernahm, sich dreingelegt hätte. Ei, ei, ei, jugendlicher Romantiker!«

»Sie haben recht«, schluchzte Robert Wolf, »es war töricht und dumm von mir, daß ich mich an den Schwächling, an das zerbrechliche Bübchen hielt; mit ihr selbst hätte ich die Sache ausmachen sollen. Da lag das hübsche Messer, mit welchem sie das Buch aufschnitt, in welchem sie las, als ich vor sie trat; das Messer hätte ich ihr ins Herz stoßen sollen und mir dann auch, so wär uns beiden geholfen gewesen; – das wär am besten gewesen für uns alle beide.«

Der Schreiber schnellte mit einem merkwürdig elastischen Ruck den Kopf in die Höhe; Konrad von Faber ließ von seiner Armensünderbank her ein ausdrucksvolles Pfeifen vernehmen; der Polizeirat hob die Achseln, schüttelte den Kopf, blickte etwas verlegen in die blitzenden Augen des Knaben und sagte:

»Hm, hm, es war doch besser für Euch, Wolf, daß Ihr Euch mehr an die Ohren und die Nase des jungen Barons hieltet. Ich muß Euch übrigens bemerken, daß solche unverständige Reden an dieser Stelle – was ist das? Herein!«

Ein Klopfen hatte sich an der Tür vernehmen lassen, und auf den Ruf des Beamten trat ein Polizeidiener ein und überreichte seinem Vorgesetzten einen Brief. Nachdem der Polizeirat diesem Schreiben ein kurzes, aber nachdenkliches Studium gewidmet hatte, sagte er:

»Tretet für jetzt ab, Robert Wolf! Greiffenberger, ich werde klingeln, wenn dieser junge Mensch wieder vorgeführt werden soll.«

Greiffenberger winkte dem Inquisiten mit dem waschlederbekleideten Daumen auf eine Art, die nur bei der von Gott eingesetzten hohen Polizei sich ausbildet. Geduldig und gebrochen folgte der arme Teufel aus dem Walde diesem unnachahmlichen, charaktervollen Winke.

Zweites Kapitel Der Polizeischreiber Fiebiger setzt seinen Chef in Erstaunen; Julius Schminkert wird gebeten, sich nützlich zu machen

Als sich die Tür hinter Robert Wolf geschlossen hatte, erhob sich der Hauptmann von seinem Sitze, der Schreiber spielte nachdenklich mit seiner Feder, der Rat Tröster nahm eine Prise und sagte:

»Sie sind doch ein wunderlicher Kauz, Hauptmann. Was für ein Vergnügen finden Sie, der Sie zweimal die Welt umsegelt haben, daran, auf jener Bank zu sitzen und das Elend, mit welchem wir es zu tun haben, durchzukosten? Unsereiner ist froh, wenn er einmal den Kopf aus diesem Malebolge, diesem Teufelssumpf erheben darf, Ihnen scheint es das größte Vergnügen zu machen, darin unterzutauchen und umherzuplätschern.«

»Ein Vergnügen ist es nicht, sondern ein Studium, welches den Kopf und das Herz frei macht. Jeder Mensch soll von Rechts wegen sein Steckenpferd haben. Laßt den einen Schnupftabaksdosen sammeln, den andern verrostete Münzen, Wurzelwörter, Flaschenstöpsel oder Kerbtiere; ich treibe Naturgeschichte der Menschheit und jage mein Steckenpferd um die Erde und durch – diese Polizeistube. Die weite Welt und die Polizeistube bieten ein gleich ergiebiges Feld; der Kampf um das Dasein bleibt überall derselbe, im brasilianischen Urwalde wie in der Wüste Gobi; im ewigen Eis von Boothia Felix wie hier unter der gipsernen Nase Ihres weiland Vorgesetzten, Tröster.«

»Dann, bitte, sagen Sie mir mal, was denken Sie über den gegenwärtig vorliegenden Fall, Hauptmann?« fragte der Rat den weitgereisten Mann.

»Hm, eine gute lange Missouribüchse und ein gutes Pferd, eine hübsche kleine Prärie, fünfhundert Meilen in die Länge und die Breite, würden den Jungen wieder zurechtbringen. Es ist Kern in dem Gesellen; soll mich wundern, wie lange Sie ihn werden ins Loch stecken müssen, um einen Halunken daraus zu machen.«

Der Rat nahm eine sehr lange Prise; dann griff er nach dem überbrachten Schreiben: »Hier ist ein Brief, welcher den Inkulpaten angeht. Der Baron Poppen schreibt, man möge den Robert Wolf laufen lassen; im Interesse aller Teile sei es, wenn man ihn so bald als tunlich aus der Stadt schaffe; seinen Denkzettel habe er ja schon durch den achttägigen Arrest erhalten. Der junge Herr schließt eine Banknote von zwanzig Talern ein.«

»Und das Frauenzimmer ist vollständig einverstanden mit diesen Vorschlägen? Wohl gar erste Urheberin derselben?«

»Das glaube ich sicher«, meinte der Rat. »Man kennt diese Damen. Übrigens soll das Mädchen nicht ohne Talente sein; man spricht viel in der Gesellschaft von ihr. Trotz unserer Register sind wir hier über die Person doch noch nicht ganz im klaren.«

Die Polizei sprach da ein wahres Wort; sie hatte durchaus keine Ahnung, wer und was Eva Dornbluth war.

»Alles in allem genommen«, fuhr der Rat fort, »wird es wirklich das beste sein, was wir tun können, wenn wir den armen Teufel, diesen Robert Wolf, cito citissime in seinen Wald zurückschicken. Hier am Orte würde er jedenfalls untergehen, und ich möchte wetten, daß wir ihn an dieser Stelle noch öfters und unter gravierenderen Umständen erscheinen sähen. Ich meine, ich halte dem Jungen eine gute Rede, und wir schicken ihn fort, heute abend noch oder morgen in der Frühe, mit dem ersten Bahnzug, der nach seiner Provinz abgelassen wird.«

»Und er nahm Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk!« brummte der Hauptmann; der Schreiber aber folgte seinem nachdenklich auf und ab gehenden Vorgesetzten mit den klugen scharfen Augen aus einem Winkel des Gemaches in den andern und bewegte dabei den Kopf auf eine Art, welche dartat, daß auch er den Kasus reiflich überlege. Aus seinen Überlegungen fuhr er schnell empor, als der Polizeirat vor ihm stehenblieb und fragte:

»Was ist Ihre Meinung, Fiebiger?«

Der Angeredete zog seine Feder hinter dem Ohr hervor, legte sie neben seinem Protokoll nieder und sagte:

»Herr Rat, ich habe nun schon manch liebes, langes Jahr unter Ihren Augen diese Register« – er legte die Hand auf den vor ihm liegenden Folioband – »geführt und habe auch con amore, aber handwerksmäßig getrieben, was der Herr Hauptmann als Dilettant treibt. Ich glaube, die Zukunft des Rubrikaten Robert Wolf ist in diesem Augenblick auf eine so scharfe Kante gestellt, daß ein falscher Schub nach beiden Seiten hin ihn auf gleiche Weise in den Abgrund stürzen wird. Greift nicht eine gute Hand fest und sicher in sein Geschick, so wird er ebensowohl in seinem Walde wie hier in der Stadt untergehen. Hier in der großen Stadt mag er zum Verbrecher, mag er zuchthausreif werden, dort im Walde vielleicht auch; jedenfalls, unantastbar sicher, aber nach und nach zum brutalen, stumpfsinnigen Trunkenbold. Ich wollte mich anheischig machen, seinen Lebenslauf in der Wildnis Tag für Tag, Jahr für Jahr an den Fingern herzuzählen bis zum Verdikt des Landphysikus bei der Sektion: Ausgezeichnet schöne, weiße Säuferleber!«

Unwillkürlich mußten die beiden andern Herren lachen, und der Polizeirat meinte:

»Das ist ein böses Prognostikon, und leider ist viel Wahres daran. Was sollen wir denn aber mit dem Burschen beginnen? Was bleibt uns übrig, als ihn seinem Schicksal zu überlassen und uns – in der Tat – die Hände zu waschen wie der Landpfleger Pontius Pilatus?«

Die letzte Frage begleitete ein vorwurfsvoller Blick auf den Hauptmann, und dieser hielt es für seine Pflicht, den Rat zu beruhigen:

»Trösten Sie sich, Tröster; auch vor dem Proprätor von Syrien hat es Leute gegeben, welche unter bedenklichen Umständen nach dem Waschnapf und dem Handtuch riefen.«

»Ich hätte einen Vorschlag zu machen«, sprach der Schreiber, »möchte aber den Herrn Rat gehorsamst bitten, daß er vorher dem Knaben das Geld des Herrn von Poppen anböte.«

»Kommen Sie dabei nicht zu nahe in den Bereich der Faust des jungen Wilden, Tröster!« rief der Hauptmann von Faber, während der Chef verwundert nach seinem Untergebenen hinüberblickte.

»Meine Bitte hängt mit meinem Vorschlag zusammen«, sagte Fiebiger; der Polizeirat klingelte und befahl dem eintretenden Greiffenberger, Inquisiten wieder vorzuführen. Bevor wir jedoch den zweiten Akt des Verhörs erzählen, haben wir von einer Bekanntschaft zu berichten, welche Robert Wolf zwischen dem ersten und dem zweiten Akt im Vorzimmer des Büros Nummer dreizehn gemacht hatte.

Kaum seiner mächtig, halb unfähig zu hören und zu sehen, hatte Robert dem Winke des grimmigen lakonischen Greiffenberger Folge geleistet. Er wäre fast zu Boden getaumelt, hätte ihn nicht die Hand im grauweißen waschledernen Handschuh, die fast so gut zu deuten verstand wie jene an der Wand im Saal des Königs Belsazar, auf eine niedrige Bank gedrückt, auf welcher er sitzen blieb, das Gesicht mit den Händen verdeckend, zu gleicher Zeit schluchzend und mit den Zähnen knirschend. Ein junger Uhu, welchem man das erste Nest zerstörte und den man zugleich aus seiner dunkeln Verborgenheit in die helle scharfe Sonne reißt, würde ungefähr ähnlich fühlen wie Robert Wolf in diesen Augenblicken. Das unzurechnungsfähige Gebaren des unglücklichen Knaben erregte denn auch sogleich aufs äußerste die Aufmerksamkeit eines Individuums, welches bis jetzt, mit dem Rücken dem Zimmer zugewendet, an einer Fensterscheibe getrommelt hatte und welches in Wesen und Erscheinung einen wunderlichen Gegensatz zu dem gepeinigten Robert bildete.

Besagtes Individuum trug zu einer Zeit, wo der Herbst schon sehr bedenklich in den Winter überging, einen hellen Sommeranzug, der seinerzeit höchst elegant und in den Hundstagen gewiß auch sehr angenehm gewesen war, welcher aber jetzt durchaus nicht mehr irgendeinen Anspruch auf Neuheit, Eleganz und Zweckmäßigkeit machen konnte und den jedes wärmer bekleidete Menschenkind nur mit Schauder und Frösteln ins Auge fassen konnte. Hellblau war seine Farbe! Gentile Schäbigkeit umhauchte die ganze Erscheinung, und etwas Unwägbares, Unfaßbares, Unfühlbares, welches seinen Sitz ebensogut in dem lockern Halstuch wie in den hellblauen Zeugstiefelchen haben konnte, verkündete unwiderleglich, daß der Gegenstand unserer Schilderung mit mehr Phantasie als Verstand begabt sei und daß er nicht zu jenen soliden Klassen und Stützpfeilern der Gesellschaft gehöre, auf welche das Auge des Nationalökonomen mit Wohlgefallen blickt.

Julius Schminkert war ein Künstler, ein Künstler in des Wortes verwegenster Bedeutung, und nur deshalb kein Genie, weil er die eine Grundbedingung der Genialität, Selbstvertrauen, in zu hohem Grade, und die andere, Konzentrationsfähigkeit, in zu geringem Maße oder, besser gesagt, gar nicht besaß. Er konnte alles – Komödie spielen, Verse machen, einen Pudel scheren, einen Menschen frisieren, mehrere Instrumente spielen sowie jedes beliebige Kartenspiel; auf dem Billard war er Meister, sein Vertrauen auf die Langmut Gottes war unerschütterlich. Übrigens log er gern und mit Geschick; wir führen den leichtsinnigen Tropf vor, wie wir ihn auf dem Wege unserer Feder gefunden haben. Augenblicklich befand er sich in den Hallen des Zentralpolizeihauses, um Verwahrung einzulegen gegen eine Auspfändung, bei welcher man ihm außer allem andern, was sein war, aus Versehen auch seine »Rollen« mit ausgeführt hatte. Ein juristischer Freund hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß dieses dem Recht des beneficii competentiae, wonach der Gläubiger dem insolventen Schuldner das Handwerksgerät zur Erwerbung seines Lebensunterhalts lassen müsse, schnurstracks zuwiderlaufe.

»'s ist ja der reine Mordversuch gegen dich, Julius!« hatte der juristische Freund gesagt. »Reine, krasse Meuchelei ist es!« Und Julius hielt diesen Fall für eine höchst vortreffliche Gelegenheit, den Strom der Gerechtigkeit an seiner Quelle aufzusuchen, das Talent gegen die Materie zu verteidigen und in seiner beleidigten Würde als Künstler und Mensch gegen die zwingende Gewalt der gemeinen Wirklichkeit und gegen den tailleur de Paris Herrn Alphonse Stibbe, den Anfertiger des hellblauen Sommerkostüms – o holdeste Angelika Stibbe! – zu deklamieren, Protest zu erheben und – sich dabei gratis am Feuerherde der hohen Polizei zu erwärmen.

Den Stoßseufzer: O Angelika! haben wir nicht ohne Grund eingeschaltet. »Ich würde mich, um zu meinem Recht zu gelangen, inniger an Fräulein Angelika Stibbe als an irgendein Institut menschlicher Gerechtigkeitspflege halten«, hatte der juristische Freund seinen Ratschlägen und Anreizungen hinzugefügt, ohne jedoch dadurch den beleidigten Rechtssinn Schminkerts in ein anderes Bett leiten zu können; denn Julius hatte sich nur in seine wirkungsvollste Attitüde geworfen, und die linke Hand aufs Herz legend, die rechte zum Himmel emporstreckend, hatte er gerufen:

Soll ich die Schönheit dergestalt entwürd'gen, Daß sie das Gold, das in den Staub mir fiel, Im Hohn des Pöbels seufzend sucht zusammen Und kniend das Verlorene mir bietet?

Solcher idealen Anschauung zartester Verhältnisse nachgebend, befand sich Julius Schminkert in diesem Augenblick im Vorzimmer des Büros Nummer dreizehn. Manch einen verschlungenen Namenszug, manch ein vom Pfeil der Liebe durchbohrtes, manch flammenschlagendes Herz hatte er an die beschweißte Fensterscheibe gezeichnet; jetzt unterbrach er sein Trommeln an ihr, um mit untergeschlagenen Armen zu aufmerksamer Betrachtung sich vor Robert Wolf aufzupflanzen. Nach einem minutenlangen Anstarren fragte er mit Grabesstimme: »Wofür drin?«

Robert sah nicht einmal auf, regte sich nicht. Julius Schminkert legte ihm pathetisch die Hand auf die Schulter:

»Mitbruder im Pech, nenne mir das Verbrechen oder das Unglück, das dich an diesen Ort des Heulens und Zähneklapperns führt! Zu den Gezeichneten gehörst du, ich sehe das Mal auf deiner Stirn. Ich sehe auch die kalte Faust, welche dich am Rockkragen gepackt hält, dich schüttelt und dich demnächst mit Grazie in die Ecke werfen wird, wohin sie schon so manchen deinesgleichen geworfen hat. Unglücklicher, wehe dir!«

Mit offenem Munde starrte Robert jetzt den Deklamator an:

»Sind Sie verrückt?« fragte er mit stumpfem Grimm.

»Nicht mehr als alle andern vernünftigen Menschen – nur ein wenig aufgeregt«, meinte Julius Schminkert. »Unbekannter Mensch, Wanderer auf dem runden Ball der Erde, der nicht der Ball des Glückes ist; in der zweiten Person Singularis rede ich dich an, weil ich mich auf dieser Bank neben dir niederlasse. Brüder im Leiden sind alle die, welche auf diesem vierbeinigen harten Ungeheuer beieinander saßen, sitzen und sitzen werden. 's ist eine große Verwandtschaft.«

»Ich schlage Ihnen den Schädel ein, wenn Sie mir noch näher rücken!« rief Robert, die Faust erhebend und zum äußersten Ende der Bank zurückweichend.

»Ruhe dort im Winkel!« schnarrte Greiffenberger vom Ofen her. »Herr Schminkert, seien Sie doch verständig!«

»Verständig?« rief Julius. »Ich bitte Sie, Herr Wachtmeister, können Sie das von einem Menschen, der bei solchem Wetter so leicht gekleidet geht, verlangen? Verständig?! Auf dem Wege hierher begegnete mir ein Wirklicher Geheimer Rat in einem Marderpelz; man sah nichts von ihm als die Nasenspitze, und an dieser Nasenspitze sah ich sogar dem Mann bei dieser Kälte den Unverstand an. Verständig?!«

»Auch 'ne Ansicht von die Sache«, brummte Greiffenberger, und die Unterhaltung stockte einige Zeit im Vorzimmer des Büros Nummer dreizehn. Robert Wolf hatte den Kopf wieder in beide Hände genommen, Julius betrachtete ihn verstohlen von der Seite, und Greiffenberger sog mit der Schattenseite seines Ichs soviel Ofenwärme wie möglich ein und sah so gedankenlos wichtig wie möglich dabei aus.

Der Wind trieb den eisigen Regen in immer schärferen Stößen gegen die Fensterscheiben, der Nebel wurde immer dichter, die Welt im allgemeinen wie im besondern immer unbehaglicher. Schminkert gab sich den seltsamsten Körperverrenkungen auf seinem Ende der Bank hin, bis er das Möglichste, was in dieser Art zu leisten war, geleistet hatte und sein quecksilberartiges Temperament eine Veränderung der Unterhaltung erforderte. Er erhob sich, dehnte und reckte sich, gähnte entsetzlich und schritt zu dem Ofen, wo er den Polizeiwachtmeister in ein leises Gespräch verwickelte, und bald hatte er aus dem würdigen Mann alles heraus, was er über den armen Robert wußte.

Dann erklang die Glocke des Polizeirats Tröster; Greiffenberger rückte den Säbel zurecht, marschierte in ordonnanzmäßiger »Properteh« in das Heiligtum des Büros und ließ das bodenlose Genie im kopfschüttelnden Nachsinnen über den Reichtum der Welt an tollen Lebenserscheinungen zurück.

Dann hatte Robert Wolf abermals dem charakteristischen Winke der Sicherheitsbehörde Folge zu leisten. Wieder stand er vor dem Mann, welcher einen so großen Einfluß auf sein nächstes Schicksal hatte, welchen die Gewohnheit aber auch ziemlich gleichgültig gemacht hatte gegen die Frage, was das Gewicht bedeute, das er in die Waagschale warf, in der eine menschliche Existenz gewogen wurde. Glücklicherweise war in dem Büro Nummer dreizehn ein anderer gegenwärtig, der sich vorgenommen hatte, auf andere Art in das Leben Robert Wolfs einzugreifen, als der Polizeirat Tröster es vermochte.

»Wolf«, sagte der Polizeirat, »Eure Angelegenheit hat sich zum besten gewandt. Wir wollen unsererseits den achttägigen Arrest als eine genügende Strafe Eures unbesonnenen Verhaltens, Eures ungebührlichen Betragens ansehen, andererseits ist auch auf Bitten des Herrn von Poppen die Sache niedergeschlagen, und – Sie sind frei, Robert Wolf. Hier soll ich Ihnen eine Banknote geben, welche von der ebenerwähnten Seite kommt. Nehmen Sie und verwenden Sie das Geld –«

»Von ihm, von ihr meine Freiheit? Von ihm, von ihr dieses Geld?« schrie Robert Wolf, und es wurde wieder einmal deutlich, daß Maler und Bildhauer, um Charakterköpfe zu studieren, sich häufiger auf dem Polizeibüro einfinden sollten. »Herr, Herr«, rief der Knabe aus dem Walde, »o Herr, lassen Sie mich wieder in das Loch sperren! O die Schlechte! die Schändliche!«

Die Stimme versagte dem Jüngling, erstickt durch Grimm und Tränen; so sank er auf die Bank, auf welcher vorhin Konrad von Faber gesessen hatte. Der Schreiber flüsterte dem Rat etwas ins Ohr, dieser sah ihn höchst verwundert an, nickte dann mit dem Kopfe und trat von seinem Schreibtische gegen die Armensünderbank heran, die Banknote des Barons von Poppen in der Hand:

»Herr Robert Wolf –«

Mit geballter Faust sprang der Angeredete drohend wieder in die Höhe.

»Was treibt Sie, junger Mann?« fragte der Beamte würdevoll, aber doch einen Schritt zurückweichend. »Halten Sie sich ruhig. Es steht in Ihrem Belieben, dieses Geld zu nehmen oder es von sich zu weisen.«

»Auch meine Freiheit will ich nicht haben durch ihre Gunst und Gnade!« rief Robert Wolf. »Wenn es Gerechtigkeit ist, daß ich ins Gefängnis komme für das, was ich tat, so will ich eingesperrt sein, so wie es im Gesetzbuch steht, bis an meinen Tod. Denen aber will ich nichts verdanken – nichts, nichts!«

Der Hauptmann von Faber murmelte vor sich hin: »Eine Doppelbüchse, ein Roß und die Prärie«, der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen gab seinem Vorgesetzten abermals ein Zeichen, und letzterer sagte darauf ganz kurz zu dem Jüngling:

»Treten Sie noch einmal ab, Wolf! Ich werde Sie sogleich wieder rufen lassen.«

Jetzt steigt Fiebiger von seinem hohen Dreifuß, nach der Entfernung Robert Wolfs, herab und tritt – mehr in die Mitte dieser Geschichte, wenn auch grade nicht ganz in den Mittelpunkt, den eine Geschichte in dieser Zeit des breiten Lebens selten mathematisch genau haben kann.

Da stand der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen im Winzelwald, hager und, wie es schien, etwas hungerig, sehr ältlich, gelblich und blutleer, gekleidet in abgetragenes Schwarz. Da stand er und ließ die kleinen glänzenden Augen von einem der beiden anwesenden Herren zum andern gleiten. Ich suche nach einem Gleichnis, welches die Erscheinung des Mannes klarer vor die Einbildungskraft führe, und nichts fällt mir ein als ein auch dem Einfall nahes, hohes, altes, schmales Haus in der Altstadt, ein Haus, zur Seite geneigt, geschwärzt und vernachlässigt; ein Haus, in dessen zweifenstrigem Erker, den Wolken so nahe als möglich, ein Freund von mir wohnte, ein Narr, der seine Gedichte nicht niederschreiben konnte, weil er niemals einen Reim finden konnte, ein armer Teufel, der mit der Welt spielte wie Zeus, der Vater der Götter, und am Nervenfieber starb. Wie oft bin ich in spätester Nachtstunde durch das Schleichgäßchen geschlichen, aufblickend zu diesen beiden hellen Fenstern! Alles war dunkel und schmutzig dann. Nur die beiden Fenster leuchteten in der Nacht, und diesen beiden Fenstern vergleiche ich den spaßhaften Glanz in den Augen des Polizeischreibers Friedrich Fiebiger, wie ich seinen übrigen Leib leider dem wackligen Hause Nummer vierundachtzig im Schleichgäßchen vergleichen kann.

Da stand der Mann, rieb die magern Hände aneinander und sagte:

»Ich muß um Verzeihung bitten, Herr Rat, wenn ich mich bei dem, was ich zu sagen habe, nicht so kurz fassen kann, wie ich wohl möchte.«

Der Polizeirat und der Hauptmann sahen in demselben Tempo beide nach der Uhr.

»Manches Jahr habe ich«, fuhr der Schreiber fort, »an diesem Pulte verschrieben. Wie ich hoffe, zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten.«

Der Polizeirat, welcher allmählich anfing, sich nach seinem Whisttisch zu sehnen, nickte energisch, was ebensogut heißen konnte: ›Jawohl, Sie schreiben die leserlichste Hand, die mir jemals vorgekommen ist!‹ als auch: ›Ich bitte Sie inständig, fassen Sie sich so kurz als möglich.‹

»Wie der Herr Rat weiß«, sprach Fiebiger, »hat man an dieser Stelle mehr mit der Schattenseite als mit der Lichtseite des Daseins zu tun. Man atmet aber in einer Atmosphäre, die den Menschen alt werden läßt, weil sie ihm die Seele gerbt – 's ist ein fortwährendes Stahlbad, höchst gesund, fast zu gesund.«

Seufzend gab der Polizeirat seinem Protokollführer recht, und der Hauptmann strich eifriger seinen Bart.

»Ich kann's mir nicht mehr verbergen«, fuhr der Schreiber fort, »ich bin alt geworden; die allzu gesunde Atmosphäre fängt an, meine Nerven anzugreifen. Ich hätte es nimmer für möglich gehalten. Die Gespenster, welche ich in diese Register eingeschlossen habe, fangen an, sich zu rächen; sie bekommen ein kurioses Leben, kriechen hervor aus ihren Foliobänden, schlüpfen durch das Schlüsselloch und kommen nächtlicherweile vor mein Bett, ihren Spaß mit mir zu treiben. Es ist ein grimmiger Spaß, und ich bin ein alter einsamer Mensch. Als ich jung war, habe ich wohl mit Händen und Füßen um mich schlagen und treten können; da hatte das Gesindel noch Respekt. Jetzt kann ich nur die Bettdecke über den Kopf ziehen; aber die Gespenster sind schlau, sie wissen mich doch darunter zu finden. Sie machen Stimmen nach, Stimmen, welche ich seit vierzig Jahren in diesem Hause gehört habe. Sie weinen und wimmern wie Kinder, sie schluchzen und kreischen wie Weiber, sie fluchen auch wohl ein wenig. Dann kommt dazwischen ein Lachen, und das fürchte ich am meisten, es ist das echte, das wirkliche und wahre Sich-zu-Tode-Lachen. Zum Exempel, das junge Weib, welches wir neulich hier vernahmen und welches am folgenden Tage im Krankenhaus starb, lachte so. Was soll man dagegen machen?«

»Sie hätten heiraten sollen, Herr Fiebiger«, meinte der Hauptmann, welcher ein eingefleischter Hagestolz war. Der Polizeirat, welcher zu Haus eine Polizeirätin hatte, seufzte:

»Vollständig hilft das auch nicht, Faber.«

Der Schreiber blickte seinen Vorgesetzten wehmütig an:

»Um sich gegen das Alter zu schützen, muß man sich geistig an der Jugend erwärmen, wie der König David in seinen spätern Jahren sich körperlich daran wärmte. Ähnlich wie der Knabe im Vorzimmer bin auch ich vor langer Zeit aus dem Winzelwalde in dieser Stadt angekommen. Ich könnte darüber auch meine Geschichte erzählen, aber es würde zu nichts führen; ich will nur sagen, daß dieser Robert Wolf und ich Landsleute, daß wir beide Hintersassen der Herren von Poppen sind und daß mir der Junge ungemein gefällt. Er hat mir meine ganze Jugendzeit wieder lebendig gemacht, und seit ihn der Herr Revierleutnant Kirre hierher sandte, sind die oben besprochenen Gespenster in ihre Folianten zurückgekrochen; mit andern Gedanken habe ich mich umhergetragen. Ich habe den Burschen studiert, wie man ein Buch studiert, und jetzt bin ich zu einem Entschluß gekommen: Ich bitte den Herrn Polizeirat gehorsamst, mir besagten Robert Wolf aus Poppenhagen mit Haut und Haar zur weitern Verfügung zu überlassen.«

»Sie wollen also wirklich?« fragte der Polizeirat Tröster.

»Was?!« rief der Hauptmann von Faber.

»Ich fürchte mich daheim vor diesen Bänden«, sagte der Schreiber, wieder die Hand auf die Registerbände legend. »Ich habe ein zu gutes Gedächtnis für das, was ich hier eintragen muß. Ich kann nicht mehr allein sitzen in meiner Stube. Ich will die Seele dieses Knaben retten, und er soll mir das Licht der Jugend vorantragen auf dem dunkeln Wege ins Grab.«

»Fleck getroffen! Bravo!« rief Konrad von Faber, der Polizeirat jedoch meinte kopfschüttelnd:

»Haben Sie sich das wohl recht überlegt, Fiebiger? Sie bei Ihrem jämmerlichen Einkommen wollen sich eine solche Last, eine solche Verantwortlichkeit aufbürden?«

»Ich habe wenig Bedürfnisse gehabt in meinem Leben und werde den Jungen schon durchfüttern. Was die Verantwortlichkeit betrifft, so bin ich ein wenig Psycholog und glaube meinen Weg klar vor mir zu sehen. Ein Professor der Seelenkunde mag über sein Fach sehr gut dozieren können; aber ein alter Polizeischreiber wird auch immer wissen, was er dem Individuum gegenüber zu tun und zu lassen hat.«

»Das mag alles sein, bester Fiebiger, aber –«

»Ach, Herr Rat, wir tappen alle in der Finsternis umher und wissen selten, was zu unserm Besten ausschlagen wird. Ich habe nun einmal mein Herz an diesen Knaben und diesen Wunsch gehängt. Ich bitte gehorsamst, schenken Sie mir diesen Schlingel, diesen Robert Wolf aus dem Winzelwalde. Die Welt weiß in diesem Augenblick doch nichts damit anzufangen, sie würde ihn ausmustern und einen Lumpen mehr daraus machen; – ich aber will versuchen zu bewirken, daß sein Name nicht noch einmal in diesen Büchern, Folio W, erscheine.«

»Ich werde Ihrem Plan und Vorhaben gewiß auf keine Weise entgegen sein, Fiebiger. Nehmen Sie den Burschen und machen Sie daraus, was Sie wollen. Sie sind mein treuer, guter Kollege und Freund. Hier haben Sie meine Hand, wir wollen Freunde bleiben, Sie alter Humorist.«

»Geben Sie mir auch Ihre Hand, Herr Fiebiger!« rief Konrad von Faber. »Wenn ich Ihnen oder Ihrem Schützling einmal auf irgendeine Art nützlich sein kann, wird mir das zu großer Genugtuung gereichen.«

Der Schreiber lächelte, indem er dem Hauptmann die Hand entgegenstreckte:

»Sie kommen weit herum in der Welt, Herr Hauptmann; wer weiß, wo und wie Sie meinem jungen Wolf noch einmal begegnen. Wenn Sie dem Glück begegnen, so schicken Sie es mir nur zu, Musikantengasse Nummer zwölf, oder hierher, Zentralpolizeihaus, Büro Nummer dreizehn. Ich darf also die Entlassung aus dem Arrest für Robert Wolf ausfertigen, Herr Rat?«

»Tun Sie das, ich will sogleich unterschreiben.«

Beides geschah, und die Klingel erschallte wieder; zum dritten und letzten Male trat Robert Wolf in das Büro Nummer dreizehn.

»Herr Wolf, Sie sind frei«, sagte der Polizeirat. »Die Banknote wird auf Ihren Wunsch dem Herrn von Poppen zurückgesandt. Ihre Freiheit erhalten Sie nicht auf Fürbitte des Fräulein Eva Dornbluth, sondern weil die Sicherheitsbehörde nach Kenntnisnahme der Sachlage, und da keine Anklage weiter erhoben ist, es so beschloß. Hier ist das Attest; was ferner noch hinzuzufügen ist, ist, daß –«

Der Redner unterbrach sich, denn er sah klar, daß der Knabe nicht fähig war, seine Worte zu begreifen. Einen Augenblick starrte Robert wie ein Irrer das Papier an, welches der Rat in seine Hände gelegt hatte; dann stieß er einen rauhen Schrei aus, und ehe ihm jemand hindernd in den Weg treten konnte, stürzte er mit einem Sprung aus der Tür und war verschwunden.

»Ihm nach, Greiffenberger!« rief der Rat, völlig außer Fassung gebracht. »Schnell ihm nach, bringen Sie ihn zurück – dieser Tollkopf!«

»Halt, halt!« rief der Schreiber ängstlich, »nicht Sie, Greiffenberger! Herr Rat, ich bitte – der Junge stürzt sich von der ersten Brücke in den Fluß, wenn wir ihn auf diese Art wiederbekommen wollen.«

»Aber was soll geschehen? Wir dürfen dieses unbändige Waldtier doch nicht aus den Augen verlieren.«

»Wer ist noch im Vorzimmer, Greiffenberger?« fragte der Schreiber.

»Na, Sie wissen – der Schauspieler Schminkert – Herr Julius Schminkert – von wegen einer Auspfändung. Ich habe ihm schon erklärt, das gehöre nicht vor diese Stelle; aber er bleibt ein Narr und will sich nicht zurechtweisen lassen.«

»Schon gut. War der mit dem jungen Menschen zusammen draußen?«

»Ja, die ganze Zeit über. Es hätte beinahe eine Katzbalgerei zwischen ihnen gegeben.«

Der Schreiber wandte sich an seinen Vorgesetzten:

»Lassen Sie uns den Hanswurst hinter dem Flüchtling herschicken. Ich stehe dafür, er faßt ihn. Schminkert wohnt mit mir in einem Hause; ich kenne ihn. Darf ich mit ihm sprechen?«

»Sie haben volle Freiheit. Ich gebe diese Sache jetzt ganz in Ihre Hand. Rufen Sie den Herrn, Greiffenberger.«

Der Wachtmeister ging, und Julius Schminkert erschien mit seiner graziösesten Verbeugung:

»Meine Herren, ich habe die Ehre –«

»Keine Phrasen, Blumen und Verse, Julius!« rief der Schreiber. »Sie haben den Knaben gesehen, welcher soeben aus dem Zimmer stürzte?«

»Haben Sie ihm hier keinen Tritt auf die hinteren Weichteile versetzt? Nicht? Das wundert mich! Was beflügelte aber auf solche Weise seine Füße?«

»Dummes Zeug. Eilen Sie dem jungen Menschen nach, Julius; und sollten Sie die ganze Stadt nach ihm durchlaufen, Sie müssen ihn uns schaffen. Ich komme Ihnen nach; aber Ihre Beine sind jünger. Zehn Taler – leihe – ich Ihnen, wenn Sie den Jungen finden und bewerkstelligen, daß ich meine Hand auf ihn legen kann.«

»Aber –«

»Kein Aber! Eilen Sie; jeder Augenblick ist kostbar. Denken Sie an die zehn Taler.«

»Zehn Taler? – Greis, dein Wort klingt voll und schwer, ich flieg und schaff den holden Flüchtling her.«

Dem Polizeischreiber eine Kußhand zuwerfend, hüpfte der blaubekleidete Julius dem entflohenen Knaben aus dem Walde nach.

»Da läuft auch der Narr hinter dem Tollen her«, lachte der Hauptmann. »Sie haben eine seltsame Bekanntschaft, Fiebiger.«

»Es macht sich so, Herr Hauptmann. Darf ich für jetzt um Urlaub bitten, Herr Rat?«

Der Polizeirat half seinem Untergebenen eigenhändig beim eiligen Anziehen des Überrocks. Der Hauptmann reichte ihm den Regenschirm. Greiffenberger stand erstarrt und erklärte im Innersten seiner Seele den alten Fiebiger für verrückt – rein verrückt.

Der Rat Tröster blieb allein mit dem Hauptmann.

»Was denken Sie darüber, Faber?«

»Ich hab's schon gesagt, by Gad, die Polizeistube hat ihre Wunder wie die weite Welt. Ich muß ins Freie, Eccellenza. Wir treffen uns heute abend doch bei Wienand? Ich muß meinen Amerikaner daselbst vorstellen. – Komme mir noch einer und behaupte, das alte Europa sei so platt und glatt geworden, daß es nicht mehr der Mühe lohne, sich daselbst zu bewegen.«

Auch der Hauptmann ging. Die Lampen wurden angezündet in dem Zentralpolizeihause; der Rat Tröster vertiefte sich in eine dicke Akte, ein Intrigenstück voll tragischen Inhalts, wenn auch nicht in Jamben geschrieben. Als er dann eine Stunde später den Kopf wieder in die Höhe richtete, sagte er, ohne irgendwelchen Bezug auf seine Arbeit:

»Närrische alte Schreiberseele. – Soll mich wundern, was der aus dem Jungen machen wird!«

Drittes Kapitel Julius Schminkert macht sich nützlich; Robert Wolf macht die Bekanntschaft eines Wagenrades und einer jungen Dame

Wenn ein edles freies Tier Unglück gehabt hat und in die Hand des Menschen gefallen ist, wenn es dann, an dem Kasten, in welchem man es den Augen der gaffenden Menschen vorführt, eine schwache Stelle, eine lockere Eisenstange bemerkend, aus seinem qual- und schmachvollen Gefängnis hervorbricht und in eine unbekannte Welt von Mauern und Volksgewühl statt in die stille Wüste und Wildnis seiner Heimat stürzt: so mag es ungefähr ein gleiches Bewußtsein seiner Lage haben, wie Robert Wolf in dem Augenblicke, wo er aus dem Polizeihause auf die Gasse sprang, von der seinigen hatte.

Besinnung, Überlegung, alles war untergegangen in dem einen tierischen Trieb, um sich zu schlagen, körperlich sich loszureißen, körperliche Hindernisse zu Boden zu werfen. Es war die höchste Zeit, daß die so arg gepeinigte Natur des Knaben sich nach irgendeiner Seite hin Luft machte, wie flüchtig das auch sein mochte. In solcher Seelenstimmung fragt man nicht, was aus einem werde, wenn man die Hand erhebt zum tödlichen Stoß und Schlag; man wirft die Begegnenden über den Haufen, läßt sich stoßen und treiben, ohne daß man es merkt, und rennt – rennt, bis die Lungen die Brust zersprengen wollen und die Knie zusammenbrechen. Dann kann man sich halb blödsinnig an eine Ecke lehnen oder sich zu Boden werfen, sich anstarren lassen und sich – besinnen.

Der Regen hatte aufgehört, der Nebel war geblieben; im Schein des Gaslichts glänzte das übereiste Pflaster, und Robert stürmte über den gefährlichen Boden, ohne zu ahnen, daß ihm die Wendung seines Lebens und Geschickes so nah auf den Fersen war und atemlos hinter ihm herkeuchte in der Gestalt Julius Schminkerts, des darstellenden Künstlers.

Von dem verblüfften Wachtposten am Tor des Polizeihauses hatte sich Julius die Richtung, welche der Flüchtling genommen hatte, andeuten lassen und folgte ihr mit möglichster Schwung- und Schnellkraft. An der nächsten Ecke schon traf er auf einen ältlichen Herrn, welcher sich ärgerlich die Schulter rieb und Blicke und Worte des höchsten Mißfallens die Gasse hinabsandte. Diesen Worten oder Blicken konnte Julius ohne Aufenthalt nachsausen, ohne fehlzulaufen. Er tat es und stieß an der folgenden Straßenkreuzung auf eine Gruppe, die sich um einen auf dem Pflaster liegenden Korb und einen außer sich geratenen Menschen weiblichen Geschlechts gesammelt hatte. Wiederum, ohne sich damit aufzuhalten, der belfernden Furiosa die entfallenen Varia aufsammeln zu helfen, eilte Schminkert, die Gleichgültigkeit des Verfolgten gegen die Gefühle der begegnenden Menschheit segnend, weiter und traf noch auf mancherlei Zeichen, welche klar die Richtung angaben, die Robert Wolf genommen hatte, welche aber auch immer klarer bewiesen, daß derselbe die Zurechnungsfähigkeit, die man von einem polizierten Menschen verlangen kann, noch lange nicht wiedererlangt habe.

Durch manche Straße, über manchen Platz setzte der Deklamator dem Jüngling, an dessen Fersen ein Darlehen von zehn Talern hing, nach, würde aber wahrscheinlicherweise doch weder des einen noch des andern habhaft geworden sein, wenn nicht ein Zufall oder, besser gesagt, ein Unfall ihm beides zuletzt in die Hände geliefert hätte. Daß dieser Unfall bei dem Seelenzustande Roberts nicht früher eingetreten war, war fast für ein Wunder zu nehmen.

Ein Wagen, der im vollen Rossestrab um die Ecke bog, setzte dem Lauf des armen Knaben ein Ziel. Von den Pferden zur Seite geschleudert, von einem Rade gestreift, verlor Robert Wolf völlig das Bewußtsein und legte sich langhingestreckt auf das kalte, mit Eis überzogene Pflaster.

Welche Bewegung solch ein Fall in den Gassen einer größern Stadt hervorruft, wird wenigen unbekannt sein. Eine Volksmenge hat sich um den Wagen und den Verunglückten versammelt, als sei sie durch Hexenwerk aus dem Boden aufgestiegen. Man fällt dem entsetzten Kutscher in die Zügel; Weiber schlagen kreischend die Hände über den Köpfen zusammen; Männer fluchen und schreien nach der Polizei; die Polizei aber hat die größte Mühe, die schreckensbleichen Insassen des Wagens vor tätlichen Beleidigungen zu schützen. Vor Worten und Gesten kann sie dieselben nicht schützen.

Julius Schminkert kam auf der Unglücksstätte gerade zur rechten Zeit an, um dem Spektakel die Blüte abzubrechen und sich des unter den Fäusten mehrerer gutmütiger Weiber ins Leben zurückgerufenen Robert zu bemächtigen. Den Arm des niedergeworfenen Knaben aus dem Walde haltend, schickte sich der Mime eben an, im höchsten Tragödenton gegen die in donnernden Karossen über die Leichen des Plebejertums wegrasselnde Aristokratie und Plutokratie loszulegen, als ihn ein Blick auf den Wagen bewog, den Strom der beredten Rede durch ein krampfhaftes Niederschlucken zurückzudrängen und, grob und deutsch gesagt, doch lieber das Maul zu halten.

Aus dem Wagenfenster beugte sich das hübscheste Mädchengesicht, bleich vor Schrecken und Entsetzen. Eine winzige Hand im weißen Handschuh mühte sich vergeblich zitternd ab, den Schlag zu öffnen, und große angstvolle Augen baten flehentlich die Menge um Erbarmen.

Ein fetter Kommerzienrat, eine alte verrunzelte Gräfin hätten das angerichtete Unheil noch so tief empfinden und bedauern können: so rührend wie dieses junge, der Ohnmacht nahe Kind hätten sie nicht ausgesehen und also auch nicht solchen Eindruck auf die Stimmung und die Gefühle Julius Schminkerts und des übrigen Volkes gemacht.

»Erlauben Sie, mein Fräulein, ängstigen Sie sich nicht!« rief der Deklamator, höchst dienstbeflissen den Wagenschlag öffnend und der jungen Dame die Hand zum Aussteigen bietend. »Sie würden am besten tun, wenn Sie ruhig sitzen blieben«, fügte er hinzu, »es hat wirklich nichts zu sagen – eine kleine Schramme – der Tölpel wird sogleich wieder auf den Füßen stehen und Ihnen die Hand küssen.«

»O nein, nein! Bitte, lassen Sie mich aussteigen – lassen Sie mich selbst sehen! – oh, es tut mir so leid!«

Schon stand sie im Schein des Laternenlichts auf dem kalten, nassen Pflaster, stumm angestarrt von der eben noch so drohenden, so wilden Menge. Die Lieblichkeit und Zartheit der Erscheinung und ihre schmerzvolle Angst bändigten die rohesten Gemüter im Haufen, und der mutwilligste Schusterjunge unterbrach sein Pfeifen und Geschrei und hatte eine Ahnung davon, daß es ein edel Ding sei um die Schön heit.

Während der bepelzte Kutscher dem auf dem Schauplatz des Unglücks erschienenen Mann der öffentlichen Sicherheit Bericht gab über das Geschehene und erklärte, daß dieser Wagen dem Bankier Wienand gehöre und daß die junge Dame Fräulein Helene, die Tochter des Bankiers, sei, wagte Fräulein Helene selbst die wenigen Schritte, welche sie von dem armen Robert Wolf trennten, und letzterer, die Augen öffnend, sah dicht vor sich das süße Wesen, sah in die treuen, guten, mitleidigen Augen des Kindes; und in den Schmutz, das Getümmel der Gasse hauchte es hinein, als habe der Wind im vergangenen Frühling den duftigen Atem einer blühenden Waldwiese seiner Heimat aufgenommen und irgendwo aufgehoben, um ihn in diese Stunde zu tragen. Das Geflacker der unruhigen Gaslaternen ward zu dem ruhig leuchtenden Goldglanz, in welchem die alten Maler ihre Engel der Verkündigung niedersteigen lassen. Es war freilich auch tiefes Mitleid und Mitgefühl in dem Auge des alten zerlumpten Weibes, welches den Kopf des Knaben aus dem Walde im Schoße hielt und seinen Tragkorb voll Knochen, Glasscherben und rostigem Eisen achtlos dem öffentlichen Ehrgefühl anvertraute; aber die schwache Menschennatur sieht nun einmal das Gute am liebsten in der Verbindung mit dem Schönen und weiß es dann am besten zu würdigen, wenn es in anmutiger Hülle kommt. Die Hülfeleistung der alten schmutzigen Lumpensammlerin nahm Robert Wolf hin, ohne ihr großen Dank dafür zu wissen; die junge elegante Dame aber erschien ihm wie der Engel der Barmherzigkeit selbst, und als sie sich zu ihm niederbeugte und zitternd die zitternde Hand, die er gegen sie ausstreckte, berührte, da wünschte er, trotz Eva Dornbluth, in alle Ewigkeit so auf dem Straßenpflaster zu liegen in halber Bewußtlosigkeit und in solche glänzende, tränenvolle Augen zu blicken.

»Oh, wie schrecklich ist das! Oh, wie leid tut es mir! Fühlen Sie viel Schmerzen?« rief Helene Wienand, und ihre Stimme war gleich ihrer Gestalt liebreich und harmonisch. Wie Musik schlug sie an das Ohr Roberts; er konnte nichts als den Kopf auf die ängstlichen Fragen schütteln und die Fragerin anstarren. Er war in einer seltsamen Phantasmagorie befangen; die durch den vorhergegangenen Sturm abgespannten Nerven zitterten aus in einem physischen und psychischen Herzklopfen, während welchem das Bewußtsein von Raum und Zeit fast vollständig verlorengegangen war. Die Gestalten von Eva Dornbluth, dem Herrn von Poppen, den verschiedenen Polizeibeamten tanzten zwar noch einen gespensterhaft unheimlichen Reigen durch das Gehirn des Knaben; aber ihre Umrisse waren schattenhaft und verwirrt und flossen so sehr ineinander, daß keine Gestalt sich recht von der andern ablöste, sondern alles nur ein häßliches Gemisch und Gewirr war. Auch das Getümmel des ihn umgebenden lärmenden Volkes trug dazu bei, diese vor kurzem noch so inhaltvollen Figuren in der Seele Roberts in solcher Weise aufzulösen zu farblosen Schemen. Er blickte zu dem dunkeln, sternleeren Nachthimmel empor, in welchen das rötliche Leuchten der großen Stadt hinaufschlug, und aus diesem dunkeln Hintergrunde trat in diesem Moment einzig und allein die zarte Gestalt und das Kindergesicht Helene Wienands klar und deutlich hervor, nahm alle Gedanken des Knaben für sich in Anspruch und fing sie in dem Schleier, welchen sie von dem Rosahütchen zurückgeschlagen hatte, und in den Löckchen, die unter ebendiesem Hütchen so üppig hervorquollen.

Aber der magische Augenblick, die Verzückung verging blitzschnell. Durch die immer mehr anwachsende Menge drängte sich der Polizeischreiber Fiebiger, welchen ein dumpfes Gerücht: in der Glockenstraße sei ein junger Mensch von einem Wagen total gerädert worden – richtig zur Stelle geführt hatte. Der praktische Polizeischreiber brach den Zauber zuerst dadurch, daß er nach einem Wundarzt rief, worauf ein wohlbeleibter behaglicher Herr in einem warmen Mantel, vom Schreiber und mehr als einem in der Menge als »Doktor Pfingsten« begrüßt, hervortrat und sich mit einem vertraulichen Nicken gegen Fiebiger und einem freundlich beruhigenden Gruß gegen das Fräulein zu Robert Wolf herniederbeugte.

Nach einer kurzen Untersuchung tat er den Ausspruch: »Subjekt möge versuchen, sich auf den status quo, nämlich seine beiden Beine, zu stellen.«

Unterstützt von mehreren hülfreichen Händen, erhob sich Robert von der Erde und aus dem Schoß der alten Kehrichtdurchwühlerin und ging mit einigen unbedeutenden Schrammen und Quetschungen, einigen sehr bedeutenden Rissen in Rock und Hosen und ungemein strubbligem Haar aus dem Unglück hervor.

Fräulein Helene schlug mit einem kindlich jauchzenden Freudenschrei die Hände zusammen, der Schreiber nahm beruhigt eine Zigarre hervor; nur Julius Schminkert schien das Wohl und Wehe des »unzivilisierten Geschöpfes«, dessen Einfangung ihm übertragen worden war, ganz gleichgültig zu sein. Er hatte sogar die versprochenen zehn Taler Wildfangsgeld, er hatte die Tochter eines barbarischen Vaters, Fräulein Angelika Stibbe, vergessen. Dagegen drückte er die Hand auf die Stelle, wo er das Herz vermutete, nämlich die Stelle, wo gewöhnlich die Milz zu suchen ist, starrte unverwandt auf Fräulein Helene Wienand und murmelte etwas von »Herzschlag mit Hochdruck, Sternenaugen und komprimiertester Wehmut«, verdrehte und schloß gleich einem Automat mit mangelhafter Mechanik die Augen und seufzte:

»Perennierender Eindruck!«

Nicht den vorübergehendsten Eindruck machte er jedoch durch solches Gebaren auf die junge Dame. Sie hatte noch nicht den geringsten Begriff davon, daß ein Mensch ihretwegen die Augen verdrehen könne – eine sehr seltene und recht klägliche Unwissenheit bei dem schönsten Geschlecht aller Zeiten, dem schönen Geschlecht der so äußerst gescheiten und unterrichteten Jetztzeit.

»Guten Abend, Fiebiger – Ihr Diener, Helene. Nun, junges Fräulein, wollen wir jetzt über die Leiber unserer Mitmenschen fahren, wie wir demnächst über ihre Herzen fahren werden? Beruhigen Sie sich, liebstes Kind, dem Bengel ist kein Schaden geschehen. Schnell wieder in Ihren Wagen, oder es setzt einen Katarrh der Nasenschleimhäute oder gar eine Grippe, für welche ich dem Papa dann verantwortlich bin. Man darf die Männer der Börse in unserm Jahrhundert nicht ärgerlich machen; steigen Sie ein, Fräulein Wienand; ich wollte, meine Gliedmaßen wären in so gutem Zustande wie die des Jungen hier. Steigen Sie ein, und nehmen Sie mich mit. Sie fahren doch nach Haus, he?«

Helene bejahte die Frage des Arztes; aber sie zögerte noch, den Fuß auf den Wagentritt zu setzen. Ihr Blick schweifte immer noch mit tiefem Bedauern zu Robert Wolf hinüber.

»Nun? Eh?!« fragte der Arzt, und Helene flüsterte ihm etwas in das Ohr, indem sie ihm zugleich verstohlen ihre Börse in die Hand gleiten lassen wollte.

»Aha«, brummte der Arzt. »Was ist da zu flüstern? Geben Sie, ich will schon –«

»Lassen Sie, ich bitte, Herr Sanitätsrat«, sagte aber schnell Fiebiger. »Der junge Mann steht unter meinem Schutz und gehört mir an.«

»Das ist etwas anderes. Bitte um Entschuldigung. Guten Abend, Fiebiger. Steigen Sie ein. Helene; hier ist Ihre Börse zurück.«

Jetzt trat das junge Mädchen, Schreckhaftigkeit und Schüchternheit niederkämpfend, ganz mutig auf Robert zu:

»Es tut mir so leid – ich – ich –«

Der ungeduldige Arzt hob die zarte Gestalt fast mit Gewalt in den Wagen, ehe sie ihre Rede vollenden konnte.

Er stieg ihr auch sogleich nach und schlug den Wagenschlag zu:

»Fort nach Haus, Johann, du unvorsichtiger Tolpatsch!«

Polizeimann Schnaubert steckte die Brieftasche mit den dienstlichen Notizen über den Fall in die Brusttasche, berührte mit der Hand den Mützenrand gegen den Polizeischreiber und trat zurück unter den Chor des Volkes. Die Pferde zogen an. Noch einmal blickte ein bleiches Gesichtchen aus dem Wagenfenster auf die Unglücksstelle. Der Wagen rollte um die Ecke, und die Menge, welche zum größten Teil jetzt bedauerte, daß die Geschichte so gut abgelaufen und das Schauspiel so schnell zu Ende sei, zerstreute sich. Der Polizeischreiber, Robert Wolf und Julius Schminkert blieben allein zurück in einer kleinen Schar hartnäckiger Maulaffen.

Eine Seele ist geschieden vom Leibe, das schwere, mühselige Erdenleben liegt hinter ihr. Durch das Weltall sucht sie ihren Weg dahin, woher sie stammt. Aber das Weltall ist dunkel; das Licht klebt nur, wie wir wissen, an den kapriziösen Bällen, welche durch die ewige Finsternis ihre rätselhaften Bahnen gehen. Die arme Seele ist ratloser auf diesem Wege als auf irgendeinem andern, welchen sie auf Erden zwischen weltlichen und geistlichen Gewalten, Ver- und Geboten jemals wandelte. Schwankende Zustände mag sie auch auf ihren Erdenwegen gekannt haben; aber das war alles nichts gegen die Schwierigkeiten, welche sie jetzt vor sich findet. Sie wirbelt durch die ewige Nacht, wie ein Blatt im Winde, und erkennt die ganze schreckliche Bedeutung des horror vacui. Sie fängt an zu bedauern, daß die Seelen nicht auch, dem Lichte gleich, bloß an den Körpern kleben; – da – plötzlich – fällt ein Schein auf ihren Pfad, ein Glänzen geht blitzschnell vor ihr vorüber, und in dem Glanz ein prachtvoller weißer Engel, ein glänzender Schmetterling der Unsterblichkeit, ein echter Paradiesvogel. Verschwunden ist das Leuchten, wie es kam; aber die arme irrende Seele hat wenigstens den Glauben wiedergewonnen, daß es wirklich einen Weg zum Himmel gibt.

Ein ähnliches Gefühl erfüllte nochmals einen kurzen Augenblick hindurch die Seele Robert Wolfs, nachdem der Wagen, welcher Helene Wienand von dannen führte, um die Ecke verschwunden war. Dann gewann die vorige Verworrenheit und Dunkelheit von neuem die Oberhand, und der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger war für das Wohl des jungen Mannes fürs erste ein bei weitem wichtigerer Faktor als alle Lichterscheinungen, Engel und Heilige in und über der irdischen Welt.

Sanft nahm der Schreiber den Arm des Knaben und sagte:

»Wir wollen nicht hier in der Gasse zum Ergötzen des unbeschäftigten Publikums stehenbleiben, lieber Robert. Kommen Sie!«

Verwundert blickte der Angeredete den Alten an:

»Ich soll mit Ihnen gehen? Was wollen Sie von mir? Sie haben mich ja freigelassen, oder nicht?! Sind Sie nicht der Mann aus der Polizeistube?«

»Das kann ich leider nicht leugnen, wie gern ich es auch möchte«, sprach der Schreiber lächelnd.

»Achtenswerte Stellung, von etwas penetrantem Duft umhaucht!« brummte Schminkert drein; aber Fiebiger fuhr fort:

»Nehmen Sie an, ich sei Ihr Freund, Robert Wolf – der Freund Ihres Vaters.«

»Mein Vater hatte keine Freunde, und ich habe auch keine. Der Pastor Tanne ist tot.«

»Über alles das wollen wir später mehr sprechen; jetzt bitte ich Sie, Robert Wolf, mir zu folgen. Sie werden doch nicht einem alten Manne und Landsmann, der Ihnen ein Obdach und Nachtessen anbietet, sein gutgemeintes Wort vor die Füße zurückwerfen?«

»Seid kein Narr, edler Fremdling, krasses Beispiel moralischer und sozialer Übel«, mischte sich Julius wieder ins Gespräch. »Ich kenne Leute, welche für ein Nachtessen ihre Seele dem Teufel verkaufen würden. Werft auf die Banner, schmettern laßt Posaunen; die Mitwelt soll, es soll die Nachwelt staunen – nämlich über den Appetit, welchen ich an dem gastfreien Tische dieses hochherzigen Bürokraten, der mir, beiläufig gesagt, zehn Taler schuldig ist, entwickeln werde.«

Der Polizeischreiber warf einen bedenklichen Blick auf den Redner, dann wandte er sich von neuem an Robert:

»Sie als Schüler des Pastors Tanne müssen ja wissen: levis est dolor, qui capere consilium potest, leicht ist der Schmerz, der noch auf guten Rat hört. Sagt nicht so der Hofphilosoph des Nero, der Kaiserliche Wirkliche Geheime Hofrat, Prinzenerzieher und Professor Lucius Annäus Seneca? Na ja, so weit kamen Sie aber vielleicht noch nicht unterm Pastor Tanne in Ihren klassischen Studien. Was meinen Sie, Wolf; wie wäre es, wenn Sie versuchten, augenblicklichen guten Rat anzunehmen? Starren Sie mich doch nicht so eulenhaft an; ich will Ihre Seele weder kaufen noch verkaufen.«

»Herr – ich – ich –«

»Ich wäre ein Esel und nichts mehr, wenn ich einem alten Mann seine Bitte, einen Abend bei ihm zuzubringen, aus grundlosem Trotz abschlagen würde. Kommen Sie, Sie holen sich sonst bei Ihrem aufgeregten Zustand ebenfalls noch eine Erkältung von dieser Stelle.«

»Ich erkälte mich nicht!« sagte Robert.

»Desto besser für Sie, junges Blut. Ich aber würde mir durch längeres Verweilen einen tüchtigen Rheumatismus in dem Schreibearm zuziehen, und das ist ein bedenklich Ding in dieser dintensüchtigen Zeit.«

Das Ende dieses Hin- und Hersprechens war, daß Robert Wolf die kalte Nacht nicht obdachlos und verlassen in den Straßen zubrachte, sondern daß er zwischen dem Komödianten und dem Schreiber der Behausung derselben zuwanderte. So abgespannt und zerschlagen an Geist und Körper war er geworden, daß er sich zuletzt willenlos und gleichgültig dem überließ, was ihn schob und führte, und daß er die Verantwortung für sein armes Leben, seine todmüde Seele ganz und gar den Leuten anheimgab, welche sich damit befassen wollten.

»Sie sind doch ein sonderbarer alter Kauz, Fiebiger«, meinte Julius Schminkert. »Was wollen Sie nur mit diesem schlaftrunkenen Lümmel, der jetzt im Gehen vollständig schläft, beginnen? Wollen Sie einen Handel mit fremden Lumpen anfangen? Ein Taschendieb, der in Ihrer Tasche nach dem Taschentuch suchte, würde mehr als eine Grille und Unbegreiflichkeit damit hervorziehen.«

»Einheimische Lumpen haben wir freilich übergenug«, meinte der Alte lächelnd. »Daß Sie aber ein großer Mann, ein Weiser, ein Denker und eine Zierde der Gesellschaft sind, hat noch niemand geleugnet.«

Das Lächeln des Schreibers verstand der Denker Julius Schminkert nicht im mindesten, obgleich es viel heller war als das Licht der Gaslaterne, welche eben das faltenreiche Gesicht des Polizeischreibers beleuchtete. So hielt er sich denn an das Faktum der gewonnenen zehn Taler und war glücklich im Bewußtsein des Besitzes; denn zehn Taler in der Hand eines Toren können mehr Vergnügen gewähren als eine Million in dem Geldschranke eines Weisen.

In der Musikantengasse Nummer zwölf wohnten, wie gesagt, der Schreiber Fiebiger und Julius Schminkert in ein und demselben Hause, und viel Volk wohnte mit ihnen darin.

Es fing wieder an zu regnen; der Nordwind machte sich von neuem auf, als wolle er seine Rasiermesser an der Welt schärfen; Robert Wolf aber ward nach dem wildesten Tage seines Lebens glücklich – unter Dach gebracht.

Viertes Kapitel Treffliche Beschreibung des Hauses in der Musikantengasse und des Polizeischreibers Fiebiger im Schlafrocke

Das Haus Nummer zwölf, welches der Schreiber in der Musikantengasse bewohnte, ließ sich sehr gut mit gewissen Menschen vergleichen, die nüchtern, kalt und abgeschliffen in ein abgeschliffenes Leben hinausblicken und deren Inneres originell, warm und voll kurioser Ecken und Winkel ist. Diesen Charakteren hat die Gesellschaft eine Maske aufgelegt, und eben eine solche Maske trug das Haus Nummer zwölf.

Es war eigentlich ein altes Gebäude voll wunderlicher Baumeisterlaunen längst verlorengegangener Architekturwissenschaft. Aber über seine Vorderseite hatte die Zeit, die ebenso eine Zunge hat, wie sie Zähne besitzt, weggeleckt und alles schön modern grade gestrichen, bis an das Dach hinan. Ähnlich war es allen andern Gebäuden der Musikantengasse ergangen; aber darum blieb die Gasse nichtsdestoweniger alt, und die Häuser blieben auch alt, und aus den Fenstern der Hinterseiten sah man in die tollste Welt von schwarzen Höfen, Giebeln, Brandmauern und Schornsteinen – ein rauch- und dunstüberhängtes Durcheinander, in welchem der höchste Punkt in der Nähe der Giebel eines halb abgebrochenen Klostergebäudes war, dessen noch erhaltene Räume, bis auf den genannten Giebel, zu Warenlagern und Werkstätten eingerichtet waren.

In diesem Giebel hatte seine Wohnung und sein Observatorium Heinrich Ulex, ein halb autodidaktischer Sterngucker, den wir bald näher kennenlernen werden.

Wir steigen jetzt in Nummer zwölf der Musikantengasse naturgemäß von unten nach oben. Im Erdgeschoß wurde der Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts durch das Atelier des tailleur de Paris M. Alphonse Stibbe repräsentiert und elegantes Mitschassieren mit der Zeit und der französischen Novellistik durch die schöne Tochter des Künstlers, Fräulein Angelika Stibbe. Das erste Stockwerk bewohnte eine ungemein vornehme, wohlbeleibte Angorakatze nebst einer magern, jungfräulichen, ältlichen Dame, Tochter eines kurz nach den Befreiungskriegen an Apoplexie gestorbenen Proviantkommissars, Fräulein Aurora Pogge, eine Art weiblichen Varnhagen von Enses der Musikantengasse. Im zweiten Stock vegetierte der Hauseigentümer, Herr Mäuseler, ein kinderloser, beschaulicher Witwer, welcher den größten Teil des Tages mit halbem Leibe aus dem Fenster hing, der aber in sich selber wenig zu beschauen hatte und der mit den glücklichen Völkern das Los teilte, daß wenig über ihn zu sagen ist. Im dritten Stockwerk hauste der Polizeischreiber Herr Fiebiger, und neben ihm war der Jüngling mit der beflügelten Seele, Julius Schminkert, selten – zu Hause.

Zu diesem Hause Nummer zwölf gehörte außerdem eine Hofwohnung, aus welcher zwei fleißige Hämmer vom frühen Morgen bis spät in die Nacht klangen. Auch Sägen und andere Tischlerwerkzeuge ließen sich von dorther vernehmen, und dazwischen ertönte eine helle, frische Mädchenstimme und das Zwitschern eines Kanarienvogels. Die Schreinerfamilie Tellering, bestehend aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter, war ein herzerfreuendes Zeichen, daß auch die dunkelste Wohnung mit der Aussicht auf den engsten, schmutzigsten Hof den echten, rechten Lebensmut nicht zu ersticken vermag; und Ludwig und Luise Tellering gehörten unzweifelhaft zu den liebenswürdigsten Erscheinungen im Hause Nummer zwölf der Musikantengasse.

Unerwachsene Kinder gab es in diesem Hause leider nicht, dafür aber desto mehr davon in den nachbarlichen Wohnungen; es war sehr gut, daß sie nicht in der Luft tanzen konnten wie ein Mückenschwarm, sie hätten sonst den Weg durch die Musikantengasse zu einem sehr gefährlichen Unternehmen gemacht. Ratten und Mäuse waren im Überfluß vorhanden, und ein Eulennest wurde vor kurzem erst, nachdem es eine geraume Zeit hindurch allnächtlich einen großen Teil der Inquilinen in Bangen, Schrecken und Gespenstergrausen gestürzt hatte, in einem alten vermauerten Schornstein durch Ludwig Tellering und den Polizeischreiber Fiebiger entdeckt und zum großen Mißmut des letztern schadenfrohen Herrn ohne Gnade expropriiert. Wir erwähnen noch eine wechselnde Bevölkerung von Ausläuferinnen, Schneidergesellen und unglücklichen Lehrjungen im Erdgeschoß, eine grämliche Magd, die sich Hulda nennen ließ, im ersten Stock, eine überaus milde, durchsichtige Haushälterin, Frau Krieg, die dem Rentier Mäuseler das Leben erträglich machte, und zum Beschluß den Geist im weiß und schwarzen Mönchsgewande, welcher nächtliche Streifzüge von dem alten Kloster des heiligen Nikolaus her in das Haus Nummer zwölf unternehmen sollte und von Fräulein Aurora Pogge mit dem vergrabenen Klosterschatze, von Fräulein Angelika Stibbe aber mit einer blutigroten Liebesgeschichte in Nummer zwölf in Verbindung gebracht wurde: damit schließen wir unsere Liste der Hausbewohner, behalten uns aber natürlich vor, eine Million interessanter Einzelheiten über sie an den betreffenden Stellen einzufügen.

Dunkel, feucht und eng war die Hausflur, über welche Robert Wolf von dem Polizeischreiber und Julius Schminkert geführt wurde; dunkel war der Blick, welchen der Tailleur aus seinem gasbeleuchteten Atelier auf den Sommerbühnenmimen warf, tief und dunkel war das Auge Angelikas, welches aus einer andern Pforte dem leichtsinnigen Julius entgegenblitzte. Die steile Treppe hinauf mußte Robert Wolf mehr geschleift und getragen als geführt werden, und das dadurch entstehende Gepolter beschwor auf den Treppenabsatz wenn auch nicht den gespenstischen Mönch, so doch eine nicht viel weniger schreckliche Erscheinung, Fräulein Aurora Pogge mit ihrer Küchenlampe. Ahnte sie, daß ein neuer Charakter für ihr Memoirenbuch am Horizont des Hauses Nummer zwölf aufging? Menschenfeindlichen Blickes betrachtete sie den mit dem Schreiber an ihr vorüberschwankenden Robert und beklagte sich nachher bitterlich bei dem Hauseigentümer darüber, daß man solch wild, wüst und vagabundenhaft aussehende, verdächtige Individuen bei »nachtschlafender« Zeit in Häuser einführe, wo alleinstehende und -schlafende Damen und schutzlose Jungfrauen mit allem, was sie um und an sich hätten, den Gelüsten jedes verwegenen Verbrechers ausgesetzt seien, wie die Gerichtszeitung »tagtäglich« durch haarsträubende Berichte und Beispiele gräßlich der Welt vor die Augen stelle. Der beschauliche Hausherr jedoch, als er vernahm, daß der Polizeischreiber bei der Sache beteiligt sei, wurde in der Ruhe des sichern Bürgers nicht aufgestört durch diese Klagen. Sein Herr Fiebiger gehörte ja der Polizei an und somit der allein infallibeln Macht und Autorität auf dieser Erde; und dem Schutze und der bessern Einsicht dieser Macht darf, kann und muß man alles, was man hat und ist, kindlich vertrauend anheimstellen.

Grollend zog sich Fräulein Aurora Pogge in ihre jungfräulichen Gemächer zu ihrer Katze, ihrem Tagebuch und ihrer Magd zurück, während der Partikulier Mäuseler eine frische Pfeife stopfte und sich glücklich und sicher in dem Bewußtsein fühlte, daß andere Leute für ihn dachten und handelten; als deutscher Mann und freier Bürger fühlte er sich in dem Bewußtsein, daß ihn zum Denken und Handeln niemand zwinge.

»Himmlische Augen, wunderbare Augen – schwarzes Meer – bodenlose Tiefe – ewiger Untergang!« murmelte Julius, während der Schreiber in seinem Stockwerk nach dem Schlüsselloch tastete. Wir wollen uns aber nicht mit der Gedankenreihe beschäftigen, welche der Deklamator durch diese Ausrufe und Bilder zum Abschluß brachte, nur das wollen wir sagen, daß sie sich längst nicht mehr auf Helene Wienand bezogen.

Der Polizeischreiber fand das Schlüsselloch, Robert trat in die Behausung seines Führers, seine neue Heimat. Schminkert folgte, rezitierend:

O Venus Cypria, den kleinen Fuß Soll sie mir setzen auf den stolzen Nacken, Und höher trag das Haupt ich als ein König.

In Prosa setzte er hinzu:

»Können Sie die Lampe nicht finden, Alterchen; oder liegt's an den Schwefelhölzern? Ordnung, Ordnung, Mann der Ordnung! Wie oft soll ich Ihnen das sagen? Ordnung ist die Hauptsache im menschlichen Leben, das sehen Sie deutlich an mir. Aha – endlich! Licht wird's, und aus dem Chaos steigt die Welt.«

»Hier sind die versprochenen zehn Taler«, sagte der Schreiber. »Nun packen Sie sich auf der Stelle, Julius, und kommen Sie nicht eher heim, bis das Geld den Weg Ihrer übrigen Besitztümer gewandelt ist. Hier – nehmen Sie! – nun, warum nehmen Sie nicht?«

Der Deklamator wies mit einer majestätischen Handbewegung die dargebotenen Banknoten weit von sich, warf die Augen »graß in einen Winkel«, wie der Major von Walter in »Kabale und Liebe«, blickte dann »fürchterlich zum Himmel«, wie derselbe unzurechnungsfähige Major, und sagte mit den hohlsten Brusttönen, die er aufbieten konnte:

»Pieseke, wie kommen Sie mir vor?«

»Was fällt Ihnen ein? Nehmen Sie, und fort mit Ihnen!«

»Weder das eine noch das andere, Greis. Sie sind ein großartiger Charakter, Fiebiger; aber Julius Schminkert wird Ihnen an Erhabenheit nicht nachstehen. Ihr schnödes Geld erlaube ich mir mit legitimer Verachtung zurückzuweisen; aber ein steifes Glas Grog wollen wir uns und diesem Jüngling brauen, Alter; und ich will Euch das neueste Couplet vom Thaliatheater singen; trinken wollen wir auf die Tugend, Schönheit und Gesundheit des Engels, welcher diesen Sohn der Wildnis mit seinem Flügelschlage auf das Pflaster warf. Trinken wollen wir und – Hölle und Teufel, was soll –«

Der Polizeischreiber hatte mit einer Kraft, welche man ihm nicht zugetraut hätte, den Komödianten an den Schultern genommen und mit unwiderstehlicher Gewalt zur Tür hinausgedreht. Eilig schob er hinter dem mundfertigen Künstler den Riegel vor und sagte energisch:

»So!«

Draußen ein ärgerliches Gebrumm, untermischt mit pathetischen Tiraden aus den Werken einheimischer und fremder Dramatiker! Nun ging dieses Fluchen und Deklamieren in ein höhnisches Pfeifen über, dieses in eine lustige Opernmelodie und diese in ein Lied, in welchem der Dichter und Julius Schminkert die alles in allem doch so ernste Welt aufforderten, dem Trübsinn und der Trauer ein Schnippchen zu schlagen, die silbernen Becher anzuklingen und zu leeren auf das Wohl einer gewissen romanischen und romantischen Dame, Tochter eines hohen römischen geistlichen Würdenträgers, welche sich, wie es schien, in politischen Angelegenheiten zu Venedig aufhielt, da es in dem Liede an geheimnisvollen Anspielungen, Lagunen, Mondschein und Gondeln nicht fehlte.

Dieser Gesang entfernte sich die Treppe hinunter, drang zu den schläfrigen Ohren des Partikuliers Mäuseler und seiner Wirtschafterin, ärgerte das Fräulein Pogge und fand einen sympathischen Nach- und Widerhall nur in dem zarten Busen Angelikas, welche belesene junge Dame sich ganz dafür geeignet fühlte, ebenfalls die Tochter eines Kardinals zu sein und auf den Lagunen im Mondenschein in einer Gondel zu schweben. Ihr tragisches Ende fand die Arie erst an der nächsten Straßenecke, wo der talentvolle Sänger Don Julio Schminkertino auf dem Glatteis ausglitschte und sich mit schmerzlichem Nachdruck auf einen unnennbaren, aber durchaus nicht transzendentalen Körperteil setzte.

Wenn wir noch einmal über die Schulter nach ihm hinblicken, so bemerken wir, daß er sich – nicht die Stirn reibt. Wir überlassen ihn für jetzt seinen Gefühlen, die wir leider in des Wortes höchst materiellster Bedeutung nehmen müssen, und sprechen von dem Polizeischreiber Fiebiger in seiner Wohnung und in seinem Schlafrocke.

Kalt gewordener Tabaksrauch ist noch eine der geringeren Qualen, denen das Weib des neunzehnten Jahrhunderts ausgesetzt ist, wie zwischen den Zeilen mehr als einer schriftstellernden Makarie zu lesen ist. Die Natur des alten Polizeischreibers hatte viel vom Duft des kalt gewordenen Tabaksrauchs und sein Zimmer nicht weniger. Eine über und über mit Pfeifen von allen Formen und Größen behängte Wand bestätigte, daß der Alte ein eifriger Feueranbeter und Verehrer des stinkgiftigen Krautes sei. An der entgegengesetzten Wand fiel ein Bücherbrett ins Auge; die römischen Autoren in der Ursprache, die Griechen in Übersetzungen, deutsche, englische und französische Dichter und Philosophen in unvollständigen Exemplaren waren hier aufgestellt. Auf den ersten Blick sah man dieser Büchersammlung an, daß sie allmählich beim Antiquar und in Versteigerungen zusammengekauft war und daß viele Jahre darüber hingegangen waren, ehe sich die mehr oder weniger zerlesenen Bände an dieser Stelle zusammengefunden hatten.

Das zweifenstrige Gemach war bedeutend länger als breit, und eine Glastür führte in eine fast noch längere und schmälere Kammer, aus der man die schöne Aussicht auf die Höfe und Hintergebäude der Musikantengasse und auf den Giebel des Sternsehers genoß. In der Stube befanden sich einige Stühle, welchen man ebenfalls den Trödelmarkt ansah, ein zerlumptes Sofa, ein runder Tisch, ein Schreibtisch und ein Spiegelembryo, der nur beim hellsten Wetter zu gebrauchen war und welcher dann doch noch dem schönsten Mädchengesicht die verschrobenste Fratze zugeschnitten hätte, wenn eins hineingelächelt haben würde. In der Kammer stand ein schlechtes hartes Bett, ein Stuhl, ein Nachttisch und ein Kleiderstock. Eine Tür führte in eine leere zweite Kammer.

Wir notieren das Mobiliar der ganzen Wohnung nur deshalb gleich einem Auktionskommissarius, weil wir die Originalität des Bewohners nicht dadurch hervorheben wollen, daß wir ihn in eine originelle Umgebung versetzen. Kleider machen nicht immer Leute, den Menschen erkennt man nicht immer an seinem Umgange, nicht immer ist ein Genie nachlässig in seinem Äußern, und es kann Sonderlinge geben, die nicht mehr einen Zopf dem zwanzigsten Jahrhundert entgegentragen und die sich von außen durch nichts Auffälliges von den übrigen Menschen abheben.

Man sagt und klagt, die Sonderlinge – diese ernsthaft-spaßhaften Menschen, über die man sich so gern ergötzte – verschwänden allmählich ganz und gar, und hält auch das für ein Zeichen, daß die Welt und Zeit immer flacher werden. Ein großer Teil der Leute, welcher von dem Sterngucker Ulex weiß, möchte ihn gern unter Glas und in Spiritus setzen, samt dem alten Giebel vom Nikolaikloster, um beides so lange als möglich zu erhalten. Sollte sich die Originalität in jetziger Zeit vielleicht nicht mehr auf die innern Teile einzelner Bevorzugter werfen?

Für das Innerliche hat die Menschheit niemals ein sehr scharfes Auge gehabt, und wir wollen ihr keinen Vorwurf daraus machen; denn die Winter sind kalt, die Kartoffeln mißraten sehr häufig, und man hat seine liebe Not mit den Regierungen, den Weibern und Kindern. Achtung oder du erfrierst! Achtung oder du verhungerst! Achtung oder man stellt dich unter polizeiliche Aufsicht! Achtung oder die Frau zieht den Pantoffel vom Fuß! Achtung oder deine Tochter kriegt keinen Mann! – Zum Teufel mit der Innerlichkeit! Beim Himmel, die arme Menschheit hat wenig Zeit, sich mit ihrem eigensten Wesen zu beschäftigen.

Der Polizeischreiber Fiebiger aus Poppenhagen hatte das Leben von den verschiedensten Seiten kennengelernt. Er hatte in seiner Jugend fast soviel Inkarnationen durchgemacht wie ein indischer Gott; nun aber betrachtete er fast schon dreißig Jahre lang das Dasein von seinem hohen Dreibein im Departement der öffentlichen Sicherheit aus, und seine Philosophie war die eines geistreichen Mannes und Autodidakten, der alles benutzt hat, um zu lernen, und in Fesseln und Ketten von mancherlei Art ein freier Mann ge blieben, aber ein kaustischer Verächter aller Prätensionen menschlichen Stolzes und menschlicher Vollkommenheiten geworden ist. Er war wenig krank, und wenn er sich je unwohl fühlte, so litt er an versetzter Satire, wie andere Leute an versetzten Blähungen leiden. Dieser Natur konnte keine bessere Stellung in der Gesellschaft als die, in welcher sie sich befand, zuteil werden. Dieser Herr Fiebiger war ganz an seinem Platze im Büro Nummer dreizehn. Er behauptete, zwei Gewänder zur Bedeckung seines Ichs zu haben, einen Frack und einen Schlafrock. Im Frack sammelte der Polizeischreiber den Stoff, welchen er im Schlafrock in langen Monologen sich selber oder in kurzen Bemerkungen andern, nach seiner Art verarbeitet, zum besten gab, sich selber höchst vergnügt, andern zu Ärger, Lehre und Nutzen.

Wörtlich genommen trug der Schreiber keinen Schlafrock, sondern eine kurze wollene Jacke, in welcher er sich in diesem Augenblicke, dicht am warmen Ofen, mit seinem Schützlinge zu einem höchst frugalen Abendessen niedersetzte.

Mechanisch aß und trank Robert Wolf, ohne zu wissen was. Er sah alles durch einen gestaltenvollen Nebel und starrte seinen Wirt an wie den Beherrscher dieses Nebels, dieser Gestalten, wie ein Rätsel, welches zu lösen er sich viel zu schwach fühlte. Der Knabe war sehr weich geworden, und man sah es an seinen Augen, daß sie sich, wie die eines Kindes, bei dem geringsten Anlaß mit Tränen füllen würden.

Während des Mahles beobachtete der Wirt den Gast scharf und genau und unterwarf ihn schweigend einer nochmaligen Prüfung, die ganz zu seiner Zufriedenheit auszufallen schien; denn er schob seinen Teller zurück und stopfte seine erste Abendpfeife mit dem Ausdruck eines Mannes, der ein großes Werk zu erwünschtem Abschluß gebracht hat und vollkommen mit sich einverstanden ist.

Mit blauen Ringeln und Wolken füllte sich von neuem das Gemach; der Regen schlug in Stößen gegen die Fenster, dumpf rollten die Wagen in den Gassen. Der alte Gastfreund lehnte sich zurück in dem zerlumpten Sofa, sah noch einmal seinem Gast in die Augen, blies eine Rauchwolke gegen ihn und begann ganz ex abrupto:

»Ich heiße Friedrich Wilhelm Fiebiger, bin im Jahre 1788 zu Poppenhagen im Wirtshaus zum Drachen geboren und bin in die Welt gelaufen, nachdem mein Vater sein Wirtshaus in seiner eigenen Gaststube vertrunken, den Drachen in anderer Leute Hand, sich selber aber in die Grube gebracht hatte. Per varios casus bin ich endlich hier Polizeischreiber geworden und zugleich ein alter Gesell, der seine Stiefel selber putzt, selber seinen Kaffee kocht, grade wie Robinson Crusoe auf der Insel Juan Fernandez. Kennen Sie die Geschichte, Robert?«

Der Knabe nickte.

»Gut, so wissen Sie auch, wie der in doppelter Hinsicht verschlagene Reisende einen grünen Vogel, wenn ich nicht irre einen Papagei, fing und zu seinem Freunde und Genossen machte. Ich versuchte dasselbe, um meine Einsamkeit zu erheitern, brachte es aber nur zu einem Starmatz, von dem sein Verkäufer behauptete, es sei der gebildetste Vogel, der jemals den Unterricht des Menschen genossen habe. Mißtrauisch innerhalb der Polizeistube, bin ich der leichtgläubigste Mann außerhalb derselben. Ich kaufte den Vogel, und mein Kummer war nicht gering, als ich aus dem Schnabel des schwarzen Satans nichts als die injuriösesten Schimpfnamen, Epitheta, wie sie noch niemals einem Polizeier geboten waren, zu hören bekam. Die Katze fraß die Bestie und rächte mich – nun frage ich dich, Robert Wolf vom Eulenbruch, willst du den Versuch machen, auf dem Fuß vollkommener Gleichberechtigung mit mir Stiefel zu putzen und Kaffee zu kochen? Willst du meine Grillen und Launen ertragen und mir deine Seele geben, wie du sie der schönen Eva Dornbluth, unserer Landsmännin, gabst? Ich bin kein Onkel Zauberer, der expreß aus Afrika nach China kommt, um sich von dem dummen Schneiderjungen Aladin die Wunderlampe aus der Zauberhöhle holen zu lassen und den Armen in blinder Wütenhaftigkeit darin einzusperren. Ängstige dich nicht, Robert Wolf. Ich bin arm und kann dir keinen Glanz versprechen. Ich bin arm, und du wirst mit mir arm sein; hart wirst du arbeiten müssen, denn der Mensch ist zur harten Arbeit geschaffen. Viel Feiertage wird's nicht abwerfen, denn die Feiertage sind den Menschen deiner Art nichts nütz; Licht und Luft wirst du in dem Dasein, welches ich dir biete, nicht so unmittelbar aus der ersten Hand haben wie in deiner – in unserer waldigen Heimat. Bedenke dich – wirst du dein Leben in meine Hand legen, so will ich versuchen, mit guter Hülfe diesem Leben einen Inhalt zu geben, wie es sich für ein vernünftiges Wesen schickt!«

Zitternd rief der Jüngling:

»Sie wollen sich so meiner annehmen? Ich soll hier bei Ihnen leben? Ich soll hier in dieser Stadt wohnen?«

»Wenn du willst, so wird dem nichts entgegenstehen.«

»Ich kann mit ihr nicht in einer Stadt leben!« schrie Robert Wolf, mit der alten Energie aufspringend. »Ich könnte ihr in den Straßen begegnen, und ich würde sie dann töten. O lassen Sie mich meines Weges gehen, jetzt, jetzt gleich!«

»Ruhe, mein Junge; immer ruhig Blut«, sagte der Schreiber gemütlich, »Wir haben nun das erste Brot und Salz der Gastfreundschaft miteinander gegessen, jetzt wollen wir dir, so gut es angeht, ein Nachtlager bereiten. Ich leihe dir für diesmal einen Strohsack und einen alten Mantel. Morgen im Tageslicht wird alles ganz anders aussehen. Morgen will ich meine Fragen dir wiederholen; jetzt hast du ein wenig das Fieber und mußt ausschlafen. Komm zu Bett.«

Robert Wolf folgte dem Alten schwankend; in der zweiten Kammer wurde der Strohsack auf den Boden geworfen und ein erträgliches Lager hergestellt. Der Knabe aus dem Walde hatte zu oft auf nackter Erde geschlafen, um nicht ein solches Bett eines Königs würdig zu finden. Der Schreiber reichte ihm die Hand und sprach:

»Schlafe wohl, mein Kind; träume nicht allzu unruhig; du schläfst in der Wohnung eines Freundes. Denke nicht an das hübsche Mädchen, sondern tu mir die Liebe an und schnarch. Der Klang der Fußtritte des Glücks ist von dem Gepolter, womit das Unglück einherschreitet, oft schwer genug zu unterscheiden. Es ist immer aber hübsch von beiden, wenn sie nicht in unhörbaren Gummiüberschuhen herangeschlichen kommen. Fac, ut valeas.«

Der Alte ging mit der Lampe, und der Knabe warf sich seufzend auf das harte Lager. In der Stube schritt der Schreiber auf und ab und horchte kopfschüttelnd auf das bitterliche Weinen, in welchem sich das arme zusammengepreßte Herz des Knaben, jetzt wo es dunkel und still umher war, unaufhaltsam Luft machte.

»Armes Kind«, murmelte der Alte. »Weine nur, spül rein die junge Seele! Wer weiß, wozu du bestimmt bist? Mit harter Hand faßt das Schicksal vor allem gern seine Günstlinge; ruhig, auf makadamisiertem Pfad – alle Viertelmeile ein Meilenzeiger – läßt es nur die wandeln, welchen das Los der goldenen Mittelmäßigkeit aus der geheimnisvollen Urne fiel. Nicht in Goldwolken hüllt das Schicksal seine Erkorenen; in den dunkeln Mantel des Schmerzes, der Gebrechen, der Krankheit und jeglichen Elends hüllt es sie und reißt sie durch das Leben. Und neidisch ist das Schicksal; wie manchen hohen Geist hat es für sich behalten in dem dunkeln Mantel, wie selten fällt die Hülle von der Schulter eines Auserwählten, wie selten wird ein Individuum für die übrige Menschheit denkmalreif und ein würdiger Gegenstand für Toaste, Reime und Festessen.«

Es war gut, daß dem Alten über diesen Gedanken die Pfeife ausging; während er sie von neuem in Brand setzte, lächelte er über sich selbst, rieb sich die Stirn und brummte:

»Sieh, Fiebiger, hab ich dich wieder? Alter Knabe, wirst du die Dinge außerhalb der Schreibstube nie so sehen, wie sie alle übrigen verständigen Leute erblicken? Du setzest mich in Erstaunen, Fritze Fiebiger! Hebräer, Griechen und Lateiner sind einig, daß es vor allem übel ist, mit der Nase ein Loch in das Firmament stoßen zu wollen; man vergißt darüber die Löcher im realen Erdboden, liegt drin und wird ausgelacht. Hier haben wir den großen Redner und Oberbürgermeister Marcus Tullius Cicero, welcher keine Verse machen kann, aber sehr gern die des Ennius zitiert:

Keiner schaut, was vor dem Fuß liegt, Himmelsräum' ausspähen sie.

Und hier hebt der semitische Weise die Hände empor und hält sich mit denselben Worten über dieselben sternguckenden Naturen auf. Wir wollen beiden kein Ärgernis weiter geben, Fiebiger, wie sehr wir dich auch beneiden mögen, Heinrich Ulex. Kurz und bündig, Fiebiger, was willst du nun mit diesem Jungen, welchen du von der Straße aufgelesen hast, anfangen? 's ist doch in Wahrheit ein Brief mit fremdem Siegel und fremder Aufschrift.«

In diesem Augenblick erschien dem Polizeischreiber die Verantwortlichkeit, welche er sich aufgeladen hatte, nicht mehr so klein wie vorhin. Bedenklich nahm er seinen Weg durch das Gemach wieder auf; die Geister seiner großen Register ließen ihn vollständig in Ruhe; sie wagten sich nicht hervor aus ihren Folianten, und somit hatte der Schreiber wenigstens etwas erreicht.

Fünftes Kapitel Große Gesellschaft bei dem Bankier Wienand; Mr. Warner aus New Orleans wird dem Freifräulein Juliane von Poppen vorgestellt

Der Wagen, welcher Fräulein Helene Wienand und den Doktor Pfingsten von dannen führte, hielt in einer ruhigen, breiten Straße vor einem großen, stattlichen, ganz modernen Hause, welches sich durch nichts von seinen Nachbarn, welche ebenfalls groß, stattlich und modern waren, auszeichnete. Je weniger charakteristisch ein Gegenstand ist, desto schwerer ist er zu beschreiben; wir beschreiben deshalb das Haus des Bankiers Wienand auch nicht. Hoffentlich wird ein großer Teil der Leser selbst in ähnlichem Backstein-Mauerwerk wohnen und deshalb eine eingehende Beschreibung gähnend überschlagen. Gott segne ihn für den guten Geschmack!

Im untern Teil des Hauses befanden sich die Geschäftszimmer des Bankiers, die Räume der Dienerschaft und so weiter, im ersten Stock die Gesellschaftszimmer und das Reich Helenes. Wir haben es nur mit dem ersten Stock zu tun. Hinter dem Hause befand sich ein reinlich gepflasterter Hof mit dem Wagenschuppen, Pferdestall und so weiter. Ein zierliches eisernes Gitter trennte diesen Hof von einem kleinen Garten, mit welchem wir es im nächsten Frühling ebenfalls zu tun haben werden. Hohe Brandmauern umgaben diesen Hof und Garten von allen Seiten, so daß man glauben konnte, in letzterm vollkommen vor neugierigen Augen gesichert zu sein, was aber nicht der Fall war, wie wir ebenfalls im nächsten Frühling zu beweisen gedenken. Jetzt führen wir den Leser in den glänzend erleuchteten Salon durch ebenso glänzend erleuchtete und ausgestattete Nebenzimmer, in welchen Spieltische aufgestellt sind.

Der Bankier gab eine große Soiree; – werfen wir einen Blick auf die Gesellschaft, aber einen vorsichtigen, daß wir uns nicht kompromittieren. Mehrere Stunden waren verflossen, seit Robert Wolf von dem berichteten Unfall betroffen worden war; die Gesellschaft, welche sich bei dem Bankier Wienand versammelte, war ziemlich vollständig gegenwärtig. Zwei Diener reichten Tee umher; an den Spieltischen hörte man die gewöhnlichen Redensarten; es war ein Überfluß von altern und jüngern Damen, von weißen Westen, bunten Uniformen, schwarzen Fracks vorhanden.

Ehe wir uns den Einzelheiten hingeben, können wir den Totaleindruck in der Sprache der Zeit, der Börsensprache, charakterisieren. Wir finden, daß die Stimmung der Gesellschaft im allgemeinen eine feste war und daß das Geschäft der Unterhaltung sich auf der soliden Bahn ruhigen Fortschritts bewegte. Komplimente und Schmeicheleien fanden mit den bestehenden Gegenkomplimenten Nehmer und Nehmerinnen. Nach Skandal vielseitige Nachfrage; Stadtklätschereien aber leider loco unverändert, fest – jedoch beliebt. Politik ziemlich schwankend, in Musik und Theater lebhaftes Geschäft, günstige Stimmung für den letzten Roman; wissenschaftliche Fragen und Wahrheit still und flau. Die ältern Damen befanden sich in sehr fester Haltung, die jüngern Damen zur Notiz schwimmend und flott. Die ältern Herren unverändert – Konsumgeschäft. Die jüngern Herren in matter Haltung zur Notiz. Nach zwei Uhr sanken die Kurse der Unterhaltung; die Notierungen aus der letzten Stunde der Gesellschaft sind uns nicht zugegangen.

Wir können uns zu den Einzelheiten wenden.

Mit kindlichem Schauder haben wir in unserer Jugend in Raffs Naturgeschichte gelesen, wie in den Dschungeln, den Schilfwäldern Hinterindiens, der Elefant mit dem Rhinozeros in einen Kampf auf Leben und Tod gerät, wie das letztere Untier das erstere unterläuft, ihm mit seinem Horn den Bauch aufschlitzt und zuletzt, seinen zappelnden Gegner auf der Nase tragend, mit Triumphgeheul davonrennt, zum Ergötzen der frommen geduldigen Hindus und zum Erstaunen der langen leberkranken Engländer und der semmelblonden, langgelockten Rulebritannierinnen. In dem Salon des Bankiers Wienand stand der Elefant neben dem Ofen, wärmte als ein tropisches Tier seine Posteriora und war ein wolleerzeugender Grundbesitzer vom Lande. Das Nashorn aber trug auf der Spitze seiner Nase eine grüne Brille, welche ihm ein höchst lächerliches Aussehen gab, und wurde es Herr Kommissionsrat tituliert. Sobald der Elefant das Nashorn erblickte, ließ er die Frackschöße vom linken Arm fallen, setzte die Teetasse in die Fensterbank, ließ ein dumpfes Schnauben hören und kam seinem Gegner aus dem Ofenwinkel halbwegs entgegen. Das Rhinozeros schnob gleichfalls, und es entstand ein merkwürdiger Kampf über die Preiswürdigkeit einer Wollieferung; aber das Resultat dieses Kampfes war ein ganz anderes, als die Naturgeschichte angibt. Der Elefant besiegte das Nashorn ganz und gar; er vernichtete es vollständig, er trampelte es moralisch zu Boden, und wäre dem armen Hornträger nicht sein Hausfreund, ein besonnener Mann und Freund seiner Gattin, zu Hülfe gekommen, wer weiß, was daraus entstanden wäre. Dieser Hausfreund trug die Uniform eines Husarenrittmeisters, er schien sich vorzüglich und mit Glück auf die Kultur eines ungeheuern Schnurrbarts gelegt zu haben und sprach mit Bewußtsein, über dies haarige Ungetüm weg, durch die Nase. Sein Vetter, im Ministerium des Kultus angestellt, befand sich ebenfalls in der Gesellschaft, kultivierte aber hinter seinem Klapphut nichts weiter als sich selber in einem ununterbrochenen Gegähne. Ein Wirklicher Geheimer Rat von wohltuender Fülle der Erscheinung unterhielt sich mit einem unwirklichen, welchen man recht gut als ein Lesezeichen hätte in ein Buch legen können. Es befanden sich überhaupt viele Juristen in dieser Gesellschaft; denn der Bankier hatte viel mit ihnen zu tun. Vollständig beherrschten sie jedoch das Gespräch nicht, obgleich sie es gern gemocht hätten.

Auch ein sehr wohlgekleideter Dichter war zugegen, wurde aber, obgleich er sich durch nichts Außergewöhnliches auszeichnete, von dem anständigen und gottlob größern männlichen Teil der Gesellschaft mit mitleidiger Verachtung vermieden – omnes hi metuunt versus, odere poetas. Dieser Dichter hatte ein anerkannt vortreffliches Trauerspiel verfaßt, aber einen von der Regierung zur Beförderung der dramatischen Kunst ausgesetzten Preis von tausend Talern deshalb nicht erhalten, weil Shakespeare, Goethe und Schiller Besseres ihrerzeit geleistet hatten. Der Mann hatte an diesem Abend das Vergnügen, über die Billigkeit des Verfahrens und die Versunkenheit der Literatur mancherlei zu hören von einem nichtssagenden Herrn, welcher gestern durch eine Spekulation in Guano das Zwanzigfache des für das Drama ausgesetzten Preises verdient hatte. Harmlos und gelassen lächelnd, trug der Poet sein Mißgeschick und diese Unterhaltung; höflich war er bereit, die Verbreitung der künstlichen Dungmittel sowie des Vogelmistes als den schlagendsten Beweis der fortschreitenden menschlichen Intelligenz anzusehen.

Christliches Bankiertum mit jüdischer Legierung und jüdisches Bankiertum mit feudaler Betitelung war in der Wienandschen Gesellschaft, wie sich das von selbst verstand, am stärksten vertreten. Drei bis vier Stockbürokraten standen ebenso weitbeinig über ihrer engen Welt wie Julius Cäsar in Shakespeares Trauerspiel über der seinigen. Sie folgten jedoch zugleich äußerst ehrfurchtsvoll den Spuren einer Exzellenz, die sich in der Soiree befand. Obgleich es nur eine außer Kurs gesetzte war, so umgab sie doch ein achtungsvoller Kreis deutscher Männer auf Schritt und Tritt und horchte den seltenen Worten, die ihr entfielen, mit dienstergebenster Entzücktheit. Und doch gibt es vielleicht im Volksbewußtsein keinen Titel, der unangenehmer berührte als das abgeschmackte Wort »Exzellenz!« Es klebt ihm etwas Lächerliches und zugleich Unheimliches an. Ich weiß nicht, ist das Theater oder etwas anderes, »Kabale und Liebe« oder unsere vortreffliche Diplomatie schuld daran? Selbst Wolfgang Goethes hohe Göttergestalt läuft komisch schillernd an, wenn man auf das Piedestal: Exzellenz! schreibt.

Die Jünglinge, welche in den Urwäldern Germaniens den Ur, das Elen und den Römer jagten, trugen nicht einen Frack und nicht den Hut in der Hand; – auch meldet Tacitus nicht, daß sie ein Stück Glas in die Augen kniffen und sich so unbeschreiblich allein mit sich selber eins fühlten wie die Jünglinge im Salon des Bankiers Wienand.

Wir wollen uns zu den Damen wenden, und die heilige Zahl der Charitinnen möge uns dabei zur Seite stehen.

Ein hellglänzender Schein geht über das graue Konzeptpapier; mit Naivität gepaarte holde Anmut erscheint neben matronenhafter Würde, Vorblüte und Nachblüte schmiegen sich aneinander; Flittergold sucht echtes, treues, wahres Gold zu überfunkeln, und gelingt ihm das öfters, als man für möglich halten sollte. Alle Übergangsformationen der weiblichen Welt, vom sechzehnten bis zum sechsundsechzigsten Jahre, kommen zur Erscheinung; der Liebhaber von Frühlingssonnenschein und Blütenstaub wie der Antiquitätenliebhaber finden gleichmäßig nach Neigung und Geschmack den Stoff zur Begeisterung. Die ewige Sehnsucht des Menschen nach dem Schönen wie die ironische Lust am Häßlichen können auf gleiche Weise befriedigt werden.

Aber sollen wir uns hier auch auf Einzelheiten ein lassen?

Stille! stille! Das Auge, die Religion und die Frauen lassen nicht mit sich spaßen; das interessanteste Studium ist zugleich das mühsamste und gefährlichste, und weder leidenschaftliche Entzückung und raffaeleske Begeisterung noch zynisches Grinsen stehen uns dazu genügend zu Gebote. Hüten wir uns; was wir sagen, bedecken wir mit Rosen und besprengen es mit Kölnischem Wasser; für die Bemerkungen, welche späterhin andere Herren in diesem Kapitel machen, nehmen wir die Verantwortung nicht auf uns. Laß die Leute selbst sehen, wie sie mit den Damen zurechtkommen!

Nach dem Tee und Spiel wurde bei dem Bankier Wienand gegessen, worauf das junge Volk mit den alten Empfindungen, nach hergebrachter Weise, tanzte. Wir aber lassen die große Welt brausen und gleiten verstohlen in das Gemach Helenes, wo es am stillsten und wo die Beleuchtung gedämpfter ist; denn die junge Bewohnerin dieses Raumes hatte sich noch immer nicht recht von ihrem Schrecken erholt, und nur die Kürze der Zeit hatte überhaupt ein Absagen der Gesellschaft verhindert.

Der Bankier Wienand war ein sehr reicher Mann, welcher sein einziges Kind fast abgöttisch liebte. Keinen Wunsch konnte Helene fassen, welchem er nicht auf halbem Wege entgegenkam; mit allem, was ihr Herz verlangte, umgab er sie, und so war auch ihr Zimmer der Gegenstand des gerechten Neides mancher andern jungen Dame in der Stadt. Auf die beliebte Dekorationsmalerei wollen wir uns jedoch auch an dieser günstigen Stelle nicht einlassen; wir beschränken uns darauf, mitzuteilen, daß Teppiche, Bilder, Gerätschaften, Vorhänge usw. in vollster Harmonie miteinander waren und daß alles wiederum in Harmonie mit dem lieblichen, nur ganz wenig verzogenen Wesen war, welches in diesem duftenden Raume atmete. Die erste Regel des guten Geschmacks: nirgends zuviel, nirgends zuwenig! kam zur vollsten Geltung, in der Zimmerausstattung wie in der jungfräulichen Gestalt Helenes selbst.

Zurückgelehnt in die Kissen eines Diwans in der Nähe der Tür, welche in den Salon führte, saß Fräulein Wienand, noch recht bleich und angegriffen aussehend, umgeben von einigen nähern Freunden. Die Gesellschaft hatte den Unfall vernommen und besprochen; das junge Mädchen hatte dieselben Bedauerungsformeln, Glückwünsche mit den selbstverständlichen Variationen hundertfältig anhören und beantworten müssen; jetzt waren die Kräfte des armen Kindes vollständig zu Ende; es stützte das schmerzende Köpflein mit der weißen Hand, und der Sanitätsrat Pfingsten hatte auf Bitten des Bankiers mit ärgerlichem Gebrumm seine Karten – es waren sehr gute! – einem andern Herrn gegeben und saß jetzt wieder in einem Lehnstuhl neben der Tochter des Hausherrn. Auf der andern Seite derselben saß im Diwan eine kleine hagere Dame, welche einmal den Fuß gebrochen und deshalb einen Krückstock neben sich hatte, in schwarze Seide gekleidet war und auf dem grauen Haar ein winzig kleines Mützchen trug. Sie hatte trotz ihres Alters ein sehr weißes Gesicht, merkwürdig beweglich und ausdrucksvoll; ihre Augen waren schwarz und voll Leben und ausdrucksvoll wie ihre Züge. Diese kleine Dame war das Freifräulein von Poppen, eine Hausfreundin des Bankiers Wienand und eine Person, welche eine wichtige Rolle in dieser unwichtigen Geschichte spielt. Im folgenden Kapitel werden wir mehr über sie sagen, in dem vorliegenden lauscht sie, höchlichst interessiert, dem Bericht, welchen der Polizeirat Tröster, der jetzt in Frack und weißer Weste sehr nobel aussieht, über Robert Wolf und den Polizeischreiber Fiebiger gibt. Das Freifräulein kannte den Schreiber sehr genau – kannte mehr Menschen, als sonst die Leute ihres Standes kennen.

Der Polizeirat, welcher ebenfalls vom Spieltisch abgerufen war, erzählte, was die hohe Polizei wußte, so kurz als möglich und mit manchem sehnsuchtsvollen Blicke nach der Tür. Mit einem Seufzer der Befriedigung ließ er sich von dem Freifräulein zum Whist zurückschicken.

Juliane von Poppen schüttelte den Kopf, gleich allen andern Leuten, über die Idee des Schreibers; aber sie schien dabei zugleich innerlich recht zu lachen.

»Bitte, lieber Herr Doktor, erzählen Sie uns noch ein wenig von diesem wunderlichen Schreiber!« bat Helene Wienand, und wenngleich das Freifräulein die Achseln zuckte, so tat sie doch mündlich keinen Einspruch, sondern setzte sich nur bequemer zurecht in den Kissen des Diwans mit einer Miene, welche deutlich sagte:

›Was kann der davon wissen? Nun gut, ich will alles über mich ergehen lassen. Schwatzt zu.‹

Der Sanitätsrat rieb in der Ermangelung eines Stockknopfes die Nase mit dem Knöchel des Zeigefingers und sagte:

»Meine Damen, von allen Menschen, die mir auf meinem Lebenswege entgegengetreten sind, beneide ich diesen am meisten!«

»Weshalb?« fragte das Freifräulein.

»Er kennt die Menschen so gut wie ich; aber – er ärgert sich nicht darüber wie ich«, knurrte Pfingsten. Er horchte nach dem Salon und schüttelte die Faust nach derselben Richtung:

»Hören Sie, das war die Stimme des großen Kirchennachtlichts, des Konsistorialrats Krokisius. Sollten Sie es für möglich halten, daß dieser treffliche Herr vorhin gegen die Baronin Silberstein behauptete, Goethe habe durch die Weinszene in Auerbachs Keller jedenfalls, unbedingt und unter allen Umständen das Wunder der Hochzeit zu Kana verspotten wollen?!«

»Sie wollten uns von dem alten Fiebiger erzählen, Doktor«, sagte das Freifräulein; aber Pfingsten hielt horchend die Hand an das Ohr:

»Das war das silberne Gelächter – mehr doch Britannia- oder Christoffelgelächter – unserer reizenden Witwe Everilde von Strippelmann. Die Dame ist doch der wahre Pirat und Flibustier des Ballsaals! Wie sie mit aufgespannten Segeln einherstreicht! Wie sie Breitseiten gibt! Fräulein Helene, wenn Sie etwas lernen wollen, so studieren Sie die kecken Handstreiche weiblicher Koketterie an dieser – diesem reizenden Motiv.«

»Kommen Sie auf den alten Fiebiger, Doktor!« rief das Freifräulein, merklich bedeutungsvoll nach ihrem Handstock greifend.

»Ich bitte Sie, Gnädigste, bin ich nicht dabei? Die Gelegenheit ist günstig. Hier sitze ich im Winkel und horche auf das Wortgeplätscher dort hinter der Tür, kann auch, wenn es mir beliebt, einen Blick durch die Ritze in das Gewühl der weitärmeligen Pierrots und Harlekins, der schwarzbemäntelten Pantalons, der grämlichen Anstandsdamen, der allerliebsten flitterhaften Kolumbinen werfen. Ich ärgere mich darüber; Fritze Fiebiger würde sich nicht darüber ärgern. Ich glaube, der Mann kann zu seinem Privatvergnügen den Staub im Sonnenstrahl in ein Universum der Narrheit verwandeln, weil ihm dieser Erdball mit allem, was daran hängt, noch nicht ausgiebig genug ist.«

Das Freifräulein lächelte jetzt und nickte; der Arzt sprach weiter:

»Mir spiegelt sich die Welt am besten in einem Glase Rheinwein, dem andern strahlt sie am vorteilhaftesten aus einem schönen Auge, einem dritten aus einem klaren Waldquell; Ihr Herr Neffe, Fräulein von Poppen, sieht sie im besten Licht in dem Spiegel, welcher seine liebenswürdige Person in Lebensgröße zurückwirft, weil er nichts damit zu tun haben mag: dieser Schreiber aber legt sich so weit als möglich aus dem Fenster einer Wohnung, in der kein Student hausen möchte, raucht einen Knaster, den kein Schäfer vertragen kann, und lacht – lacht. Ich lache nicht, wenn ich mich aus dem Fenster lege! Wodurch hat sich dieser unverschämte alte Knabe in aller Welt den Göttern so beliebt gemacht? Unsereiner hat doch auch seine Verdienste, muß sich aber allstündlich halb zu Tode ärgern und kriegt höchstens ein Ordenszeichen vierter Klasse zum fünfzigjährigen Jubiläum.«

»Woher kennen Sie diesen Herrn Fiebiger so genau?« fragte das Freifräulein.

»Die Polizei und die Medizin treffen wohl einander«, brummte der Sanitätsrat. »Übrigens haben wir auch die Jahre dreizehn und vierzehn zusammen durchgemacht.«

Juliane von Poppen sagte:

»Sie stammen doch wohl aus ganz verschiedenen Lebenssphären?«

»Jene Zeit leimte die Menschen schon zusammen, heute freilich ist der Leim längst wieder aufgeweicht. Ja, wir bewegen uns in unsern verschiedenen Sphären, der Rat im Medizinalkollegium und der Schreiber in der Polizeistube.«

In immer tieferes Nachdenken versank Juliane von Poppen, während Pfingsten der andächtig lauschenden Helene noch allerlei Einzelheiten über den alten Humoristen in der Musikantengasse mitteilte.

»Ihm zunächst auf der Leiter des Glücks«, meinte er, »setze ich den großen Reisenden und Menschenfischer Faber. Der eine in seiner Dachstube hockend oder seine Tage in dem denkbar widerlichsten Amte verkritzelnd, der andere mit dem weitesten Spielraum für seine Beine durch alle Völker und Länder streifend, sind einander verwandt wie zwei gleichschenkelige Dreiecke, und der Gesichtskreis des einen ist nicht weiter als der des andern – sie haben beide gute Augen.«

»Und jetzt will er diesen armen jungen Mann, welcher beinahe durch mich getötet worden wäre, bei sich aufnehmen?«

»Tröster sagt's; so sind diese Glücklichen, wenn's ihnen zu wohl wird –«

»Sie sind ein kalter Egoist, Pfingsten«, sagte das kleine Freifräulein trocken. »Lassen Sie diesen Friedrich Fiebiger, Sie kennen doch blutwenig von ihm. Wen haben wir hier?«

»Lupus in fabula, der Hauptmann von Faber mit seinem jungen Yankee – der Papa Wienand«, sagte der Doktor und seufzte im geheimen: ›Gottlob, so komme ich endlich doch noch zu meinem L'hombre. Falsch ist alles, die Menschen und die Karten; ich ziehe aber die letzteren vor.‹

Der Bankier Wienand konnte an diesem denkwürdigen Abend, von der Sorge für seine Gesellschaft in Anspruch genommen, immer nur einige Augenblicke in dem Zimmer seiner Tochter weilen. Höchstens durfte er dann und wann den Kopf hineinstecken und sich nach ihrem Befinden erkundigen. Jetzt erschien er – ein wohlbehäbiger Herr mit stahlgrauem Haar, etwas harten Gesichtslinien und einem Zug lächelnden Selbstbewußtseins um den Mund, gleich einem Sonnenstrahl, der um einen eisernen feuerfesten Geldschrank spielt. Er kam Arm in Arm mit Konrad von Faber und einem jungen stattlichen Herrn mit rötlichem Haar und Bart, der mit sicherm Anstand vor den Damen sich verneigte und von dem Hauptmann vorgestellt wurde als:

»Herr Friedrich Warner aus New Orleans.«

Der Sanitätsrat benutzte die gute Gelegenheit, dem Boudoir Helenes zu entschlüpfen. Während er zu den Spieltischen zurückschlüpfte, murmelte er aber: »Ein prachtvoller Menschentypus, dieser junge Deutschamerikaner. Ich liebe diese breitschultrigen Gesellen mit diesen blonden Löwenmähnen und den vollen Bruststimmen. Man fühlt sich dabei in seiner Rasse noch für einige Zeit gesichert; 's ist ein Trost für einen Arzt heutiger Epoche.«

Um diese Zeit stand der Polizeischreiber Fiebiger in der Musikantengasse mit untergeschlagenen Armen vor dem Lager seines Schützlings.

»So habe ich nun«, sprach er, »den Griff in das volle Menschenleben getan. Was hab ich gepackt? Eine Handvoll Glück oder Unglück? Wir wollen sehen. Eines ist sicher; als William Shakespeare seine schönen Verse über den Mann, ›der nicht Musik hat in sich selbst‹, dichtete, da verstand er unter Musik jedenfalls nicht solche Nasallaute, wie sie der Junge hier jetzt hervorbringt. Bah, es ist besser, zu schnarchen als zu schluchzen. Soll mich doch wundern, was Ulex dazu sagen wird.«

Der Schreiber nahm die Lampe von dem Stuhl wie der auf und schlich auf den Zehen aus der Kammer. Er zog seinen Oberrock wieder an, setzte den Hut auf, schloß sorglich die Tür seiner Wohnung und versenkte den Schlüssel in seine Hosentasche und verließ das Haus.

Um die Ecke der Musikantengasse biegend, schritt er eine zweite Gasse hinab, bis in einen Winkel, wo er vor einer niedrigen schwarzen Pforte stillstand. Diese Pforte führte auf einen umfangreichen Hof voll Gerümpel aller Art; der Schreiber trat hinein, und der schwere Türflügel schlug sogleich hinter ihm zu. Ein Licht flimmerte aus der Höhe, es flimmerte in dem Giebel des Astronomen Heinrich Ulex. Es war derselbe Schein, welchen man auch aus der Kammer sah, in der jetzt Robert Wolf schlief. Tastend fand Friedrich Fiebiger seinen Weg über den Hof, und in einer Ecke desselben stieg er eine Wendeltreppe empor. Sie führte empor zum Gemach des Sternsehers.

Sechstes Kapitel Expektoration des Autors über die Einsamkeit; Lebensläufe aus vergangenen Tagen werden erzählt

O Einsamkeit, du starke Göttin, der Königlich Großbritannische und Kurfürstlich Hannoversche Leibarzt Johann Georg Zimmermann, hypochondrischen Angedenkens, hat vier dicke Bände über deine Süßigkeiten und deine Schrecknisse geschrieben; ich werde das nicht tun. Eine starke Göttin nenne ich dich, o Einsamkeit, weil die Wirkungen deiner Macht grenzenlos sind im Guten wie im Bösen. Je nachdem du dem Menschen die lichtblaue oder die dunkelfarbige Seite deines Schleiers über die Augen hängst, führst du seine Seele in die stillsten Auen irdischen Friedens, irdischer Glückseligkeit, stürzest du sein Ich in die gräßlichste Nacht der Verzweiflung und des Wahnsinns. Du bist eine gewaltige Zauberin, Einsamkeit; Mutter der Kunst, der Weisheit und des Heldentums bist du und bevölkerst doch die Welt mit Gespenstern, Fratzen, mit allem Gaukelspiel der Hölle. Mutter bist du und doch eine Jungfrau: dem einen Maria die Allbeseligende, dem andern die eiserne Gestalt des Mittelalters, deren Arme zerfleischende Messer verbergen. Deine Arme breitest du aus: Kommet her zu mir alle, die ihr betrübt, mühselig und beladen seid, ich will euch euerer Last entledigen, ich will euch trösten! Deine Arme breitest du aus: Kommet her zu mir, ihr Verstockten, ihr Fanatiker, ihr Verbrecher, ihr Unglücklichen jeder Art; das Bittere soll bitterer werden, härter das Harte, schlechter das Schlechte, giftiger jedes Gift! – Im größten wie im kleinsten wirkst du, Einsamkeit; die Flammen der Sinnlichkeit löschest du und schürst du zum verzehrenden Brande; anders erscheinst du jeglichem Menschen: dem Alter auf andere Art als der Jugend, dem Weibe anders als dem Mann, der Jungfrau anders als der Mutter. Mir bist du bona Dea, o Einsamkeit, die gute Göttin des Lebens; ich bitte dich, sei auch eine gute Göttin allen denen, welche ihr Auge auf dieses Blatt werfen; ich bin ihnen gewogen, darum zeige ihnen deine holdeste Gunst und Kraft!

Dicht am Dorfe Poppenhagen im Winzelwalde liegt das adelige Gut, der Poppenhof, welchem das Privilegium nobilitatis beigelegt war und damit die Vogtei und Untergerichtsbarkeit. Danach konnten die jedesmaligen Delinquenten »in solchen Delictis, so nicht in die peinliche Halsgerichtsordnung laufen, nach Beschaffenheit der Umstände ohngehindert mit einer Geldbuße beleget, incarceriret, auch mit Anschließung an das Halseisen, so auf dem Hofe befindlich, bestraffet werden«.

Am vierzehnten April 1803 sollte diesem Privilegio gemäß das Halseisen der Witwe Ulex aus dem Dorfarmenhause umgelegt werden. Ihr Mann war, wie der Vater Robert Wolfs, Forstwart auf dem Eulenbruch gewesen und hatte als blutjunger Mensch die Annexionskriege des Alten Fritz mitgemacht. Als Unteroffizier des Regiments Pasewalk invalid entlassen, heiratete er, indem er das erste junge weibliche Wesen aufgriff, welches ihm bei seiner Rückkehr aus dem Garnisonsdienst am Eingange des Dorfes Poppenhagen entgegenlief. Aus dieser Zufallsehe entsproß Heinrich Ulex der Sternseher.

Um das Jahr achtzehnhundertundeins starb der Forstwart an einer Wilddiebskugel, welche eine alte Wunde aus dem Bayrischen Erbfolgekriege von neuem aufriß, und die Witwe zog mit ihrem Jungen nach Poppenhagen hinab in das Siechenhaus. Sie war dem Trunke ergeben und nahm es nicht allzu genau mit dem Mein und Dein. In der Kunst, Hühner zu stehlen, hatte sie es zu einer wahren Virtuosität gebracht, und wir benutzen die Gelegenheit, unsern Leserinnen zuzuraunen, daß es nicht nur eine Kunst ist, Herzen, sondern auch eine Kunst, Hühner zu stehlen. Vergeblich suchte die fromme Wirtswitwe Fiebiger, die ebenfalls mit ihrem Sohne Fritz ihre letzten Jahre in dem Siechenhause hinbrachte, moralisch auf die Sünderin einzuwirken; das Unterfangen war zu gefährlich und trug höchstens einige Kratzwunden ein. Die Fiebigerin war aber so still und demütig, wie die Witwe des Forstwarts wild und rebellisch war; sie konnte daher am vierzehnten April 1803 nur in den Winkel kriechen und die schreckliche Aussetzung ihrer Mitgenossin im Hunger und Elend des Armenhauses mit vors Gesicht gehaltener Schürze bejammern.

So stand denn unter dem trüben Himmel des regenhaften Tages auf dem Gutshofe die Ulexin im Halseisen, während der Großvater Leons von Poppen, der Rittmeister außer Dienst Gotthelf von Poppen, mit der Tonpfeife im Fenster lag und das diebische Weib mit den greulichsten Flüchen und Schimpfwörtern überschüttete, während die Bauern, ihre Weiber und Kinder samt den Gutsknechten mit abgezogenen Hüten, wenn auch angstvoll, so doch sehr befriedigt gafften. Ein zerlumpter, verwahrlost blickender Knabe wurde neben dem Halseisen von einem etwas jüngern, wohlgekleideten Knaben geneckt und mißhandelt und suchte sich schreiend an dem Lumpenrocke des gefesselten, beschimpften Weibes zu halten. Der eine Junge war Heinrich Ulex, der Sohn der Hühnerdiebin, der andere war Theodor von Poppen, der Vater Leons. Zitternd, mit atemloser Bangnis sah Fritze Fiebiger von dem Düngerhaufen aus dem häßlichen Schauspiel zu, und dasselbe tat ein kränklich blickendes Mädchen von der Tür aus, die in den Gutsgarten führte. Juliane von Poppen hieß die Kleine; ihre Mutter war tot, ihr Vater kümmerte sich wenig um sie, er zog bei weitem seinen Sohn, der einige Jahre jünger als das Mädchen war, vor. Hübsch war die Kleine jedenfalls nicht zu nennen, sie war zu bleich dazu; aber sie war mitleidig und hatte jetzt Tränen in den großen schwarzen Augen. Es war ein für ihr Alter winziges, nervöses Ding, und als sich der heulende, zerlumpte Betteljunge vor der Gerte ihres Bruders von der Schürze der Frau im Halseisen in ihre eigene Nähe flüchtete, machte sie sich von der Hand der Bonne los und trat mit abwehrenden Armen und geballten Händen dem jugendlichen Tyrannen und Dynasten vom Poppenhof entgegen.

Der Rittmeister oben im Fenster lachte darüber aus vollem Halse; aber Junker Theodor schien nun die größte Lust zu haben, seinen Stock gegen die Schwester zu gebrauchen. Nur des Vaters ernstliches: »Laß die kleine Katze!« konnte seinem Zorn Halt gebieten, ohne ihm jedoch Einhalt zu tun. Seit den frühesten Kindertagen herrschte eine tiefe Abneigung zwischen den Geschwistern, was man leider viel häufiger findet, als man gewöhnlich annimmt.

In dem schwächlichen, magern Körper des Mädchens steckte eine starke, willenskräftige Seele, welche hielt, was sie erfaßt hatte, Kenntnisse, Zuneigung und Abneigung, Liebe und Haß. Juliane von Poppen ward von dem Tage, wo seine Mutter am Halseisen stand, die erklärte Beschützerin von Heinrich Ulex, und der arme Knabe hing ihr dagegen mit der Ergebenheit eines Hundes an. Sie nahm das ganze Armenhaus unter ihre besondere Protektion, aber vorzüglich, wie gesagt, den Sohn der Hühnerdiebin. Sie hatte noch öfters Gelegenheit, ihn gegen die Ungeschlachtheit des Vaters und die Roheit des Bruders zu schützen, und wenn es ihr auch nicht gelang, jedes Ungewitter von ihm abzuwenden, so konnte sie doch manchen Blitz und Donner unschädlich seitwärts lenken.

Es entstand allmählich zwischen dem Fräulein von Poppen und dem Sohn der diebischen Bettlerin ein eigentümliches Verhältnis. Das Mädchen hatte in der Gesellschaft ihres Vaters und Bruders traurige, freudenlose Tage hingebracht; jetzt fand sie zum erstenmal auf ihrem Lebenswege ein Wesen, welches ihr alles zuliebe tat, was sie nur irgend verlangen mochte. Unklare Gefühle, geschöpft aus einer Bibliothek sentimentaler Romane, dem einstigen Eigentum der verstorbenen Mutter, durchspukten das phantastische Köpfchen; die junge Chatelaine gebrauchte den erworbenen Einfluß, um den Knaben aus dem Armenhause an sich zu fesseln wie eine kleine geistreiche Fee einen blöden, dickköpfigen, ehrlichen Kobold. Da gab es für Heinrich Ulex Aufträge der verschiedensten Art. Seltene Blumen mußten gesucht werden in den Wäldern und auf den Bergen; auf glänzende Steine, zierliche Moose, Vogeleier und Federn mußte Jagd gemacht werden, zum phantastischen Schmuck des Zimmers des Fräuleins. Es verging kaum ein Tag, an welchem die Kinder nicht miteinander verkehrten in Wald und Feld oder hinter den Gartenhecken von Poppenhagen. Und niemand durfte etwas merken von der Vorliebe des Fräuleins für ihren Kobold als Fritz Fiebiger, der Sohn der Wirtswitwe. Er wurde von Zeit zu Zeit in allerlei wichtige Geheimnisse der beiden andern hineingezogen und ging dann und wann mit auf die Jagd nach Blumen, Steinen und Vogeleiern.

Juliane von Poppen, welche vor ihrem Vater sich fürchtete und ihren Bruder haßte, wurde in der Einsamkeit des Waldes, in der Gesellschaft der beiden Knaben zum fröhlichen, liebenswürdigen Kinde. Das altkluge Gesichtchen verlor die bleiche Farbe, der ernste Mund lernte allmählich das heitere Lachen, und die schwarzen Augen behielten wohl ihren Glanz, aber nicht ihre scheue Unstetigkeit.

Es rauscht und plätschert manch ein Bach durch den Winzelwald, und der große Forst, im Jahre 1803 noch viel wilder und dunkler als heute, bot manch ein geheimnisvolles Versteck, ganz gemacht, daselbst Märchen zu erzählen und auf Märchen zu horchen. An einem solchen Fleckchen, wo die Waldvögel in die Lektion des Fräuleins vom Poppenhof hineinsangen, wo die Sonne zitternde Schattenbilder auf das Lesebuch im Schoß der kleinen eifrigen Lehrerin warf, lernten Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger das Lesen und Schreiben. Hier füllte dem armen Heinrich das elfenhafte, phantastische Mädchen das Herz mit den Gestalten und Bildern ihrer eigenen Lektüre. Ritter und Damen, Tyrannen, Henker, schuldlose Opfer, unglückliche Verliebte, Totengerippe, Gespenster, Räuber, Riesen und Zwerge zogen vorüber; und in wonnigem Bangen lauschten die beiden Kinder geheimnisvollen Klängen in der Ferne, sahen Gestalten hinter den Stämmen in der Dämmerung des Waldes und drängten sich scheu aneinander vor den Geistern und Schauern, welche sie selbst beschworen hatten. Dem mit gefalteten Händen horchenden Heinrich war oft zumute, als werde die Lehrerin mit ihrem Waldblumenkranz und den blitzenden schwarzen Augen sich gleich selbst in solch ein verschwebendes Bild auflösen und im Waldschatten, Vogelsang und Rauschen der Wasser verschwinden.

Wie aber schreckten die Kinder auf, wenn ein Laut des wirklichen Lebens sie in ihrer Einsamkeit störte; wenn die Axt des Holzhauers in der Nähe erklang oder das Pfeifen des Hirten. Da schoß das eine hierhin ins Versteck, das andere dorthin. Und wenn dann gar der Rittmeister von Poppen mit seinen Hunden durch den Wald ritt, begegnete ihm wohl sein Töchterlein einsam auf einem verwachsenen Pfade oder trat ihm aus dem Dickicht entgegen und ließ sich, stumm die Augen niederschlagend, anschnauzen über solch albernes Umherstreifen: den Knaben gewann sie dadurch Zeit, tiefer in die Wildnis zu flüchten.

Zwei Jahre hindurch dauerte dies Verhältnis, harmlos und unschuldig. In ihrer Einsamkeit waren Heinrich und Juliane wie die Erstgeborenen der Erde, als der Baum der Erkenntnis noch unberührt stand im Paradiese. »Sie schämeten sich nicht«, wie das Buch der Erschaffung so unbeschreiblich lieblich sagt. Und so kamen sie, ohne es zu merken, der Grenze der Kindheit immer näher. Im Herbst des Jahres 1806 gelangte jedoch das süße Spiel der Einsamkeit zu einem plötzlichen jähen Ende, und der Sohn der Bettlerin und das adelige Fräulein erwachten wie aus einem hübschen Traume.

Am zwanzigsten September dieses Jahres, um die sechste Abendstunde, an einem düstern nebeligen Tage, warf ein armes Weiblein, welches im Gehölz in der Nähe des Poppenhofes Reisig für ihren Küchenherd gesammelt hatte, ihren Tragkorb mit hellem Aufkreischen weit von sich, schleuderte ihre schweren Holzschuhe von den Füßen, um schneller laufen zu können, und stürzte halb sinnlos vor Angst und Schrecken dem Dorfe Poppenhagen zu. Das Weiblein hatte ein Gespenst gesehen. Unter den Tannen war eine lange, hagere, schwarze Gestalt, stocksteif aufgerichtet, langsam und unhörbar durch die Nebeldämmerung grad auf die Holzleserin zugeschritten. Diese unheimliche Gestalt, dieses Gespenst war die Gouvernante, welche auf dem Poppenhofe angekommen war, um dem gnädigen Fräulein den Ton und die Wissenschaft der schönen Welt beizubringen.

Mademoiselle Amalie Schnubbes Blütenzeit war noch in die Blütenzeit der Sentimentalität gefallen; aber diese Epoche lag weit zurück und – sauer gewordene Mandelmilch ist ein sehr unangenehmes Getränk!

Mademoiselle Schnubbe nahm ihre Aufgabe sehr ernst, und ihre kalte knöcherne Hand zerknickte erbarmungslos die wenigen Blumen, mit welchen die arme Juliane ihr einsames verlassenes Kinderleben schmücken konnte, eine nach der andern, würdevoll, methodisch und vornehm. Freilich versuchte das Mädchen anfangs gegen die Lehren und Pflichten des bon ton sich aufzulehnen; aber ihre Kräfte erlahmten fürs erste bald, wenn das Joch auch kein dauerndes sein konnte. In dem Eishauch, mit welchem die winterliche Amalie ihre Schülerin umgab, versank das Frühlingsleben, welches die Natur in dieses junge Wesen gelegt hatte, in eine Art Winterschlaf. Die schreckliche Amalie besaß das Talent, unpassende Verhältnisse auszuspüren und zu Ende zu bringen, in einem erstaunlichen Grade. Sie spürte auch das Waldmärchen aus, welches zwischen Heinrich, Fritz und Juliane gespielt hatte, und verfehlte nicht, pflichtgemäß den gestrengen Papa davon in Kenntnis zu setzen. In einen wahren Wutanfall gerieten die beiden Poppen, Vater und Sohn, darüber; die Heftigkeit des Zornes übertraf jede Schilderung, welche davon gemacht werden könnte. Zum Glück für Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger marschierten um diese Zeit die Franzosen in Deutschland ein, und das Heilige Römische Reich, in welchem schon so lange der Schwamm gesessen hatte, stürzte mit Gekrach zusammen vor dem Fußtritt des fremden Eroberers. In dem Wirrwarr, dem Kopfunter-Kopfüber, welches die Folge der Schlacht bei Jena war, konnten sich Heinrich und Fritz leichter aus dem Staube machen und der kleinherrlichen Willkür und Roheit sich entziehen, als es bei ruhigeren Zeitläuften möglich gewesen wäre. Sie nahmen kläglichen Abschied von ihren Müttern und gingen davon mit den winzigsten Bündeln, die sich vorstellen lassen. Die beiden Mütter hatten noch viel zu dulden, bis sich der Himmel ihrer erbarmte und sie beide am Hungertyphus der deutschen Kriegs- und Lehrjahre zu sich nahm. Sie wurden auf Kosten der Gemeinde, wie es ihnen zukam, im Winkel begraben, und als nach Jahren ihre Söhne die Gräber suchten, wußte niemand mehr ihre Stelle anzugeben.

Es fand auch eine letzte Zusammenkunft zwischen Juliane und Heinrich Ulex statt, und das Fräulein von Poppen gab dem Jugendgespielen zum Gedenkzeichen an die glücklichste Zeit ihres Lebens ein Medaillon, in welchem sich Haare ihrer seligen Mutter und eine kleine Locke von der eigenen Schläfe befanden. Als die drei wieder zusammentrafen, wie war da alles anders geworden in der Welt, wie war so manche Schwungfeder im Flügel der Seele geknickt; wie waren ihre Seelen matt vom Flug über die Welt, wie waren sie bedeckt mit dem Staub aus den Gassen und von den Märkten des Lebens!

Der November des blutigen Jahres 1806 fand Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger, ohne Kenntnis der Welt, ohne Hülfsmittel, ohne Zweck, freudlos und verlassen auf der Heerstraße, welche von fremden Truppenzügen, Zügen von Gefangenen, Marodeurs und abenteuerndem Gesindel wimmelte. Die Fährlichkeiten waren groß; aber noch größer war doch das Glück der Jünglinge. Ein dunkler Trieb zog sie der Hauptstadt zu, und nach mancherlei Schicksalen langten sie vor den Toren an in einer Equipage des Kaisers Napoleon, nämlich auf einem Bagagewagen der Großen Armee. Eine Zeitlang bettelten und arbeiteten sie nach Gelegenheit, grade so heimatlos wie das ganze deutsche Volk, in den Gassen; dann liefen sie einem Mann vor die Füße, welcher fast noch übler daran war als sie. Dieser Mann war ein untergeordneter Beamter der Polizei, namens Meiners, welchen der Sturm der Zeit von seinem ziemlich bequemen Sitz im Staatsorganismus Friedrichs des Großen heruntergehoben und unsanft auf den harten nackten Erdboden niedergesetzt hatte. Der Sekretarius hatte mit weinenden Augen den roten Kragen von dem preußischblauen Frack trennen müssen; erst hatte er die Berlocken von der Uhr verkauft und dann die Uhr selbst. Ein wohlbehäbiges Bäuchlein, welches er vor der Katastrophe von Jena besaß, schaffte er gleichfalls allmählich ab; seine Frau war kränklich, und sein einziger Sohn hatte vorläufig die gelehrten Bücher in den Winkel geworfen und die Philologie an den Nagel gehängt, um seine Eltern kräftiger unterstützen zu können. Meiners, der Exbeamte, arbeitete in dem Büro eines Advokaten, und in demselben Büro fand Fritz Fiebiger eine Stelle als Ausläufer. Rudolf Meiners hatte eine Stelle bei einem Buchhändler angenommen und ebendaselbst einen Platz für Heinrich Ulex ausgemacht. Nichts führt die Menschen mehr zusammen, als wenn sie in ihnen ungewohnte Zustände geworfen werden, nichts versteht das Gleichmachen besser als dira necessitas, die harte Notwendigkeit. Um seinem Berufe nicht ganz untreu zu werden, unterrichtete der frühere Philologe Rudolf die beiden Jünglinge Fritz und Heinrich. Aber nicht bloß Latein trieben die jungen Männer miteinander. Während die französischen Trommeln durch die Straßen wirbelten, saßen sie und forschten, wie es gekommen sei, daß diese fremden Trommeln so laut werden durften im Vaterlande. Der bleiche schwächliche Rudolf war ein begeisterter Lehrer, wenn er vom Auf-und Untergang der Völker, ihren großen Helden, Weisen, Dichtern und Verbrechern redete; er hatte aber auch begeisterte Zuhörer, und vorzüglich der stille Heinrich Ulex trat ihm immer näher. So gingen die schweren Jahre hin, immer stolzer, höhnischer wirbelten die fremden Trommeln, immer eifriger dachten die drei Jünglinge darüber nach, was zu tun sei, diese frechen gehaßten Klänge zum Schweigen zu bringen. Sie waren viel früher darüber im klaren, als die Zeit, Gedachtes zu Taten zu machen, kommen wollte; aber während des Wartens erwarb Heinrich Ulex mit Hülfe Rudolfs eine tüchtige Bildung. Sein Beruf zum Gelehrten trat immer deutlicher hervor. Er vermochte es, mit Rudolf Meiners ruhig zu sitzen und zu studieren, während andere haßerfüllte junge Seelen den schleichenden Tagen voranstürmten in die Zukunft und sich in qualvoller Ungeduld fast verzehrten. Nicht weniger als die andern jedoch jauchzten Rudolf und Heinrich, als endlich die im verborgenen geschmiedeten und geschliffenen Klingen ins Sonnenlicht hinausfahren durften.

Es war eine große Stille gewesen, und es ward ein großer Sturm.

Auf einem der ersten Fuhrwerke in der langen, mit freiwilligen Kämpfern besetzten Wagenreihe, welche der nicht ohne einigen Grund bedenkliche König Friedrich Wilhelm der Dritte von den Fenstern des Schlosses zu Breslau aus ankommen sah, befanden sich Rudolf Meiners, Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger.

Im Tempo maestoso ging jetzt die Weltgeschichte ihren Gang, und die drei Freunde taten nach Kräften das Ihrige dazu, daß sie nicht wieder ins Stocken gerate. Bei Leipzig knieten die hohen Alliierten in ihren weißen Kaschmirbeinkleidern nieder und dankten Gott, daß das Geknalle, Hurrageschrei, Wut- und Wehegeheul nun endlich einmal ein Ende habe. Das erboste Schicksal legte den großen Kaiser Napoleon übers Knie und bearbeitete ihm nach Kräften einen unnennbaren Körperteil, während die allerhöchsten Herrschaften der Heiligen Allianz samt ihren Diplomaten von ferne zusahen und der Lehre das entnahmen, was – sie gebrauchen konnten.

Manch ein weites Feld durch ganz Europa hatte der Krieg viel besser gedüngt, als die rationellste Landwirtschaftslehre es vermocht hätte. Die Walkyrien machten sich mit dem Gedanken vertraut, sich pensionieren zu lassen; denn ihr Dienst, die Seelen der Gefallenen von den Walstätten abzuholen, war zu angreifend geworden.

Rudolf, Heinrich und Fritz fochten bis zum Ende mit; aber zu Paris starb Rudolf Meiners in den Armen Heinrichs. Ein Blutsturz, die Folge der übermäßigen Anstrengungen des Feldzuges, endigte sein junges Leben; er starb mit leuchtenden Augen; denn die deutsche Trommel wirbelte jetzt durch die französische Hauptstadt: die Schmach des Vaterlandes war gesühnt. Er konnte ruhig gehen.

Mit den überlebenden Siegern kehrten Heinrich und Fritz heim. Der erstere brachte den Eltern Rudolfs die letzten Grüße des Sohnes und eine Locke seines Haupthaars; es war ein traurig-stolzes Wiedersehen. Man hat nichts umsonst in der Welt.

Unter den veränderten politischen Umständen hatte der alte Meiners natürlich seine Stelle wiedererhalten und trug wiederum den roten Kragen auf dem blauen Rock; aber er war ein gebrochener Mann, saß am liebsten mit seiner weinenden Alten im Winkel und ließ sich durch Heinrich Ulex immer von neuem von dem toten, tapfern, gelehrten Sohn erzählen. Zuletzt trat Heinrich in diesem trauernden Hause fast ganz in die Stelle, die Rudolf eingenommen hatte. Er wohnte in dessen Stube, er benutzte dessen Bücher – die Alten konnten seine Gegenwart zu ihrem Dasein nicht mehr entbehren.

Dem Unteroffizier der Freiwilligen Fiebiger verschaffte der Kommissär Meiners dagegen eine Stelle bei seiner Behörde, und so wurden beide Kinder des Winzelwaldes in Stellungen hineingeführt, von welchen ihnen an ihren Wiegen nichts gesungen worden war.

Der zweite Pariser Friede war geschlossen worden; man richtete sich aufs neue »auf alle Ewigkeit« in dem zertrampelten, blutbespritzten Europa ein. Über die Blutflecke fuhren die Kongreß-Herren mit ihren Pinseln voll blauer, grüner, gelber Farbe, zeichneten Grenzen und teilten Nationen im Namen der Einen und unteilbaren Dreieinigkeit und forderten die Völker auf, demütig Gott zu preisen und ihm Lob zu singen. Sie selbst freilich priesen nur ihre eigene Schlauheit und Gewandtheit; Gott aber sah, daß nicht alles gut war.

Heinrich Ulex besuchte jetzt die Universität, welche in der Hauptstadt selbst gegründet worden war. Fritz Fiebiger erhielt bald die Stelle, in der wir ihn zu Anfang dieser Erzählung noch gefunden haben. Er ward darin nicht ein stiller, nach den Sternen sehender Weiser wie Ulex, wohl aber der kaustische, humoristische Betrachter und Beobachter menschlicher Zustände, den wir bereits etwas kennengelernt haben. Ein Bürokrat, wie ihn die Welt haßt, verspottet und fürchtet, war er nicht. Keiner seiner Vorgesetzten, selbst Tröster, der Polizeirat, nicht, hielt ihn für das Ideal eines Beamten. Es verstanden ihn wenig Leute; aber noch weniger Leute verstanden Heinrich Ulex den Sternseher und – Juliane Freifräulein von Poppen.

Das Fräulein war ihres eigenen Weges gegangen, bis sie mit den alten Jugendgenossen wieder in Verbindung trat. Mamsell Amalie Schnubbe hatte ihr Bestes getan, den frischen Geist auf das gewöhnliche Niveau gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit herabzudrücken. Es war ihr nicht gelungen; und diese tyrannische Herrschaft hatte auch nur ihre Zeit und wurde von dem beherrschten Fräulein abgeworfen bei der ersten günstigen Gelegenheit. Über den Poppenhof kamen mit der Schlacht bei Jena schwere Tage. Der alte Dragonerrittmeister war wie vor den Kopf geschlagen über dies schmähliche Ende der preußischen Heeresglorie. Immer war er grobkörnig-stolz auf den eigenen Zopf und den der Armee, welcher er angehört hatte, gewesen, und der Gedanke, daß ein schlauer Feind das »erste Kriegsheer der Welt« bei diesem selbigen Zopfe nehmen könne, war ihm nimmer gekommen. Ostwärts zu den Polacken und Russen begab sich die Armee Friedrichs des Großen auf die große Retirade und ließ den Herrn von Poppen auf dem Poppenhof unter den feindlichen Fouragierern und Marodeuren ratlos zurück. Er wurde sehr liebenswürdig gegen seine Bauern, er war sehr höflich, ungemein höflich, fast zu höflich gegen die Fouragierer und Nachzügler. Vollständig zog er sein altes Wesen ab; aber er warf es nicht fort, sondern hing es sorgsam zu seiner alten Uniform in den Kleiderschrank, um es in bessern Zeiten wieder hervorzuholen. Sein Sohn Theodor ahmte dem Vater so gut wie möglich nach und saß still zu Hause bis zum zweiten Pariser Frieden, wo er aus dem Dunkel des Winzelwaldes hervorkroch und zur Hauptstadt kam, seine militärische Karriere zu beginnen. Er wurde im Laufe der Zeit Hauptmann in der Garde, heiratete ein Fräulein Viktorine von Zieger, zeugte seinen Sohn Leon, ruinierte den Poppenhof gänzlich und starb, ohne daß durch seinen Tod der Staatsorganismus ins Stocken geraten wäre, im Jahre 1835.

In den zwanziger Jahren hatte der Papa Gotthelf das Zeitliche gesegnet, ohne daß er der Tochter die sorgsame Pflege seiner letzten Tage Dank gewußt hätte. Auch Juliane kam nach der Hauptstadt; denn auf dem Poppenhofe, unter der Regierung des Bruders, war ihre Stelle nicht mehr. Sie besaß ein Vermögen von zehntausend Talern, doch wurde die Hälfte desselben von dem Bruder zurückgehalten; sie mußte von der bleibenden Hälfte leben und einen Prozeß gegen Herrn Theodor führen. Erst einige Jahre nach dem Tode des Bruders wurde dieser Rechtsstreit zu ihren Gunsten entschieden.

In der Hauptstadt lebte Juliane ganz zurückgezogen; sie liebte es immer noch, mit den niedern Volksschichten zu verkehren und ihnen nach Kräften mit Rat und Tat zu Hülfe zu kommen. Sie hatte das Unglück, an einem dunkeln Winterabend den Fuß auf einer Leiter, die in eine elende Dachkammer führte, zu brechen; aber ihr Lebensmut konnte durch nichts gebrochen werden. Sie hinkte durch die Gassen, eine allbekannte und doch geheimnisvolle Persönlichkeit; von allen Einwohnern der volkreichen Stadt wurde sie vielleicht am meisten gegrüßt.

Aus dem Giebel des Nikolausklosters hatte Heinrich Ulex nach dem Tode des Meinersschen Ehepaares sein Observatorium gemacht; in der Musikantengasse hatte sich Fritz Fiebiger eingerichtet; sie wurden allmählich ein paar alte Junggesellen, und eine ältliche närrische Jungfer war Juliane von Poppen geworden.

In der großen Stadt kann man sich verstecken wie in dem Winzelwalde; jene hat ihre Schatten, ihre geheimnisvolle Lust und Schauer wie dieser. Wie in dem Winzelwalde fanden sich die drei frühern Genossen zusammen. Sie waren im Leben arg hin und her geworfen worden; sie suchten nunmehr die Einsamkeit und die Stille. Sie hatten alle viel gelernt; aber jeder sah die Welt auf seine Weise an; am kindlichsten war der Idealist Heinrich Ulex geblieben, am nüchternsten war Juliane von Poppen geworden; der Humorist Fritz Fiebiger bildete das verbindende Mittelglied. In dem Giebel des Sternsehers saßen sie nächtlicherweile, sahen nach den Gestirnen und beredeten den Lauf der Welt; ihnen hing die Einsamkeit die lichtblaue Seite ihres Schleiers über die Augen. Ein neues junges Geschlecht war um sie her aufgewachsen; das Weib fühlte am ersten und innigsten das Bedürfnis, mit der Jugend in Verbindung zu bleiben – Juliane hatte sich zur Pflegemutter Helene Wienands gemacht.

Das war folgendermaßen gekommen. Um das Jahr 1827 betrat das Freifräulein zum erstenmal das Wienandsche Haus. Sie kam in Geldgeschäften, vergaß aber das Kontor über dem, was sie in dem Hause selbst erblickte. Sie traf es in der allergrößesten Verwirrung und Aufregung. Der Bankier war in Geschäften verreist; am frühen Morgen war Helene geboren worden, und die Mutter war eine halbe Stunde nach der Geburt gestorben. Die ratlose Dienerschaft lief hin und her. Verwandte besaß der Bankier in der Stadt nicht; der Doktor Pfingsten selbst war auf dem Punkt, den Kopf zu verlieren. Das Kind schrie in seiner Verlassenheit, die tote Mutter war die einzige Ruhige im Hause. In diesem Wirrwarr erschien das Freifräulein wie ein Engel, gesandt vom Himmel. Nachdem sie den Sachverhalt erkundet hatte, bemächtigte sie sich sofort der Leitung der Dinge, und zwar auf eine Art, welche die höchste Bewunderung verdiente. Ihren Prozeß, ihre Geldnot, ihre jungferliche Stellung, alles vergaß das Fräulein um die unbekannte Tote und das unglückliche Kind. Sie war nur das tröstende, sorgliche, ordnende Weib; und als der Bankier Wienand zu seinem zerstörten Heimwesen zurückgeeilt war, fand er die tiefste Ruhe und Ordnung hergestellt, fand er sein Kind mit Amme und Wärterin aufs beste versorgt, fand er sein Weib im geschmückten Sarge und das Freifräulein in schwarzer Seide, die Bibel auf den Knien, feierlich ernst neben der Toten. Als der durch das plötzliche Unglück völlig betäubte Mann anfing, sich wieder zu besinnen und das Geschehene zu begreifen, als er dann von dem Doktor Pfingsten vernahm, was er der fremden Dame schuldete, da sah er ein, obgleich er von Herzen so egoistisch wie irgend jemand war, daß er dem Freifräulein auf keine Art jemals sich dankbar genug beweisen könne. Er beteuerte ihr das auch einmal über das andere, Juliane jedoch rümpfte die Nase, sagte: »Dummes Zeug, Albernheit!«, strich ihr Kleid auseinander und glatt und lud dem Bankier gleichmütig die Beaufsichtigung des großen Prozesses Poppen contra Poppen auf. Das kleine mutterlose Mädchen aber hatte sie unendlich in ihr Herz geschlossen, und es und der Prozeß bewirkten, daß kein Tag verging, ohne daß das Freifräulein in dem Hause des Bankiers erschien, die Leitung von beiden zu besprechen. Der Bankier nahm sich denn auch des Prozesses aufs beste an, sorgte für die tüchtigsten Konsulenten und Advokaten und hatte wirklich an der glücklichen Beendigung desselben einen nicht geringen Anteil.

Einen bessern Ersatz für die verlorene Mutter als Juliane von Poppen hätte der Vater Wienand seinem Kinde durch all sein Gold nicht erkaufen können. Das Freifräulein wurde der Schutzengel, welcher das kleine Mädchen in die Höhe hob, von der es frei und gesichert in das Gewühl der armen Menschheit blicken konnte. So wuchs und gedieh Helene Wienand unter diesem guten Schutz und ward zu einem an Leib und Seele schönen Jungfräulein, und der Bankier wunderte sich manchmal sehr darüber, wie die »Gnädige« es anfing, alle löblichen Eigenschaften des Kindes zu finden, zu erwecken und zur Blüte zu bringen. Der Bankier, der in ganz andern Anschauungen lebte, bekam zuletzt nicht nur Respekt vor dem hinkenden Freifräulein – das verstand sich von selbst –, sondern auch vor seinem Töchterlein. Auf diese Weise erreichte Helene Wienand ihr achtzehntes Jahr, und wir fanden sie auf dem Wege unserer Geschichte, wie wir sie im Anfange geschildert haben.

Siebentes Kapitel Auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex. Fräulein Juliane von Poppen hat eine Entdeckung gemacht

Der Polizeischreiber Fiebiger klopfte an die Tür des Astronomen Heinrich Ulex. Trotzdem es nicht leicht denkbar war, daß ein irgend Unbekannter zu dieser Zeit der Nacht sich hierher störend verlieren könne, war die Pforte doch doppelt und dreifach verriegelt und öffnete sich auch nicht so leicht wie die Tür zum Polizeibüro Nummer dreizehn oder irgendeine andere vielgebrauchte Tür. Sie öffnete sich mit Gekreisch und schloß sich mit Geknarr. Der Mann, welcher den Riegel weggeschoben hatte, sah fast aus wie der Zauberer im Märchen – ein echter Gelehrter im langen grauen Schlafrock, graubärtig und grauhaarig. Er nickte dem Eintretenden freundlich, aber kurz zu und schritt schnell zu einem Teleskop zurück, welches gegen den Nachthimmel, der allmählich ziemlich klar geworden war und an dem nur noch dann und wann eine schnelle Wolke hinjagte, gerichtet war. Unbekümmert darum ließ sich der Schreiber in der Nähe des kleinen Kachelofens in einem Lehnstuhl nieder und sah dem Forscher gleichmütig zu; ein Fremder würde sich jedenfalls verwundert in dem Gemache umgesehen haben. Mit Büchern und Instrumenten war es vollgestopft wie das Studierzimmer des Faust. Merkwürdigkeiten aus allen Naturreichen, Globen, astronomische Gerätschaften waren überall hingestopft, wo Raum war und auch nicht war, und schienen es darauf abgesehen zu haben, den Unvorsichtigen überall zum Stolpern zu bringen. Auf dem grünbehangenen schwerfälligen Tische neben der Lampe, unter ungeheuern Haufen beschriebenen Papieres stand ein zierliches Kunstwerk des achtzehnten Jahrhunderts, eine sogenannte Sphaera armillaris, das kopernikanische Weltsystem kunstreich und ganz vortrefflich darstellend. An der Wand hing eine genaue Abbildung der mensa Isiaca neben einem schönen Bildnisse Keplers. Des Jesuiten Kaspar Schotts »Magia naturalis« von 1657 lag auf einem Seitentischchen neben Hegels »Naturphilosophie«, und Vaninis »De admirandis Naturae Reginae Deaeque Mortalium arcanis libri IV« neben Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Giordano Brunos »Del infinito universo« und »Della causa, del principio ed uno« neben Schellings Buch über die Weltseele.

Eine geraume Zeit blickte der Sternseher, der Erdenwelt vollständig entzogen, durch sein Rohr, bis er sich endlich mit einem befriedigten Seufzer gegen den späten Besucher umwandte.

»Eine sehr schöne Konstellation, Fritz. Beinahe hätte die Wolke, die jetzt dort zieht, mich ihren Gipfelpunkt verlieren lassen. O die Wolken und die Mauern! Es ist ein Leiden, da hat mir dort südwärts wieder ein Mensch ein Stockwerk auf sein Haus gesetzt und mir meinen herrlichen Fomahand geraubt, der Barbar – grad am Maul des mittägigen Fisches. Der Globus aerostaticus ist auch schon fort mit den Schenkeln des Wassermannes. Wie lange wird's dauern, so verliere ich auch den Scheat, den Markab, den Algenib – den ganzen Pegasus. Sie rammen die Gerüste schon ein. Wahrlich, da möchte man wohl Bellerophon sein, um dieses Ungeheuer von aufschwellender Stadt, dieses chimärische Untier von Mörtel, Ziegel, Elend und Essenqualm niederzureiten in den Schmutz, aus dem es entstanden ist. Das ganze Firmament noch wird es mir dunkel und gierig verdecken. Ach meine schönen Sterne! Immer höher muß man steigen, je mehr das Irdische andringt. Übrigens freue ich mich, Fritz, daß du noch gekommen bist; in jetziger Jahreszeit muß man auf jeden klaren Augenblick achten und ihn benutzen. Sieh her, ich will – o weh – da sind die Wolken wieder! Ach meine schönen Sterne!«

»Laß die Sterne, sie werden in einer andern Nacht um so heller scheinen; ich habe dir etwas anderes mitzuteilen, welches auch dich angeht; denn auf dich habe ich in mehr als einer Hinsicht dabei gerechnet!«

»Nun?«

»Ich will mich verändern!«

Der Sternseher sah den Schreiber höchst verwundert an:

»Du – du – willst dich verändern – jetzt noch? – heiraten, du – o Fritz, Fritz!«

Lachend schlug Fiebiger mit beiden Händen auf die Knie:

»Sehr gut! Ausgezeichnet! Na, beruhige dich, mein Alter; ganz so schlimm habe ich es doch nicht mit mir im Sinn. In anderer Art will ich mich verändern –«

»Ausziehen?!«

Der Schreiber schüttelte den Kopf:

»Auch das nicht; ich liebe die Musikantengasse und die hintere Aussicht auf diesen wackligen, närrischen Giebel und diesen Tubus, Heinz. Ich bin mit der Laterne umhergegangen, habe gesucht und endlich den jungen Taugenichts gefunden, den ich adoptieren will. 's ist ein Landsmann aus dem Winzelwalde, Heinrich Ulex; 's ist ein Poppenhagener.«

»Also das ist's; gottlob!« seufzte der Astronom. »Erzähle mir mehr davon. Es ist ein wichtiger Schritt; hast du vorher auch nach den Sternen gesehen, Fritz?«

Der Schreiber zuckte die Achseln:

»So genau wie möglich. Wer kann ihnen aber völlig trauen? Sicherlich nicht ein Polizeischreiber, der bald sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiert.«

»Erzähle!« sagte Ulex.

Fiebiger gab nun Bericht über Robert Wolf, gab an, wie er zuerst mit dem Knaben in Berührung gekommen sei, wie er sich bemüht habe, den Charakter desselben bis in die kleinsten Einzelheiten zu erkunden, und was er gefunden. Dann erzählte er von den Vorgängen im Zentralpolizeihause, und wie er zuletzt in das Geschick Roberts eingegriffen habe.

Während der ausführlichen Mitteilungen des Freundes schüttelte der Astronom öfters den Kopf; noch öfters neigte er ihn aber auch billigend, und als Fiebiger endlich seine Erzählung beendet hatte, sagte er:

»Hundertundfünfzig Jahre früher wäre ich statt eines Sternguckers ein Sterndeuter gewesen, und du, Fritz, wärest zu mir gekommen, um das Horoskop deines Schützlings stellen zu lassen. Wir beide hätten dann der großen Kunst im Guten wie im Bösen vertraut, und alles wäre in Ordnung gewesen. Heute liest man nicht mehr der Menschen Fatum aus den Sternen. Die gehen droben ruhig ihren ewigen Weg; wir irren unruhig hienieden, hin und her getrieben wie Blätter im Winde, unsern kurzen Pfad. Wahrlich, man sehnt sich oft nach der Zeit der Astrologie zurück, man wagt nur nicht, es sich und andern zu gestehen. Übrigens will ich dich nicht tadeln, Fritz, weil du handeltest, wie dein Herz und Wunsch dich trieb. Der eine schiebt, je älter er wird, desto mehr Riegel zwischen sich und die Welt; der andere öffnet ihr, je älter er wird, desto weiter Tür und Tor. Jeder sieht und empfindet den Sonnenuntergang auf verschiedene Weise; denn jeder hat den Morgen, Mittag und Nachmittag auf eine andere Art hingebracht, hat andere Freuden, hat andere Leiden genossen und erduldet und trägt deshalb eine andere Stimmung in die letzte Stunde des Tages hinein. Du hast vielleicht ein kluges Werk getan, Fritz; ich will dir das beste Glück dazu wünschen. Morgen magst du mir deinen Schützling zeigen; wir wollen sehen, was daraus zu machen ist.«

»Du willst mir also helfen, ihn zu einem echten tüchtigen Menschen zu bilden?« fragte der Schreiber.

Der Sternseher seufzte lächelnd:

»Da haben wir es! Was helfen mir nun wieder alle meine Riegel? Ach meine stillen Sterne!«

»Willst du mir helfen, den Knaben zu erziehen?«

»Kann ich das schöne Mädchen ihm aus Sinn und Seele jagen? Latein und Griechisch will ich ihm beibringen; aber die Leidenschaft aus ihm zu treiben, ist eure Sache, ihr Kinder dieser Welt. Mit den Leidenschaften habe ich nichts mehr zu tun, seit ich mich den Sternen ergeben habe.«

»Bah, es würde ein hübsches Leben in der Welt werden, wenn wir die Leidenschaft hinauspeitschten, Ulex. Es ist doch besser, wir verstecken uns nicht alle in einem solchen Giebel wie du, Heinrich. Was würde aus diesem Erdball werden? Ein vergessener Käse, der im Küchenschrank zerfließt. Was für eine vita aequivoca würde daraus entstehen – brr! Vivant homunculi – quanti sunt! Ich hoffe, der Weltgeist braucht noch lange nicht auf ein Sparendchen gesteckt zu werden.«

Es klopfte wieder an der Tür, und Heinrich Ulex fuhr empor; ein heller Schein fuhr über sein Gesicht, als er ungemein schnell öffnete. Der Schreiber rieb die Hände, nickte grinsend und murmelte:

»O Philosophie der Entsagung; armer Heinrich!«

In das Erkerzimmer des Sternsehers trat Juliane von Poppen, und die drei alten Leute bildeten eine merkwürdige Gruppe in dem merkwürdigen Gemache.

Das Freifräulein trat ziemlich erregt ein, sie brachte aus der Gesellschaft des Bankiers Wienand eine Entdeckung mit, welche für den Polizeischreiber und dessen Schützling von der größten Wichtigkeit sein mußte. Gleich von Anfang an hatte der junge Deutschamerikaner, den der Hauptmann von Faber einführte, ihr höchstes Interesse erregt, und dieses Interesse schien auf der andern Seite ebenfalls vorhanden zu sein; denn Herr Warner wandte sich im Verlauf der Unterhaltung bei weitem am meisten an das Freifräulein, und so konnte es nicht fehlen, daß das Gespräch sich bald ziemlich zwischen ihnen abspann und die andern zu Zuhörern wurden, welche nur dann und wann ein Wort einfließen ließen.

Wie es ebenfalls nicht anders sein konnte, kreuzte das Gespräch bald die »große Pfütze«, das Atlantische Meer, wobei jedoch mehr die Poesie der See, ihr Leuchten, ihre wilden und milden Stimmungen als der Jammer der Seekrankheit berührt wurden. Vom Meer glitt die Unterhaltung hin und her über das unermeßliche Gebiet der großen Republik, und Frederic Warner zeigte sich wohlbewandert in den Antinomien derselben und sprach über Sklavenhalter und Abolitionisten, über Natives, Knownothings, Teatotaler, Locofocos, Republikaner und Demokraten mit dem kühlen Blick des philosophischen Beobachters, der sowohl Sam Slick wie Martin Chuzzlewit gelesen hatte. Aus dem Kongreßsaal zu Washington glitt das Gespräch leicht durch einen Quadronenball zu New Orleans, um sich in die feierlichen Schatten des jungfräulichen Urwaldes zu verlieren, und was man so oft in mehr oder weniger gelungenen Schilderungen, in Sealsfield oder Cooper, gelesen hatte, mußte erblassen vor dem lebendigen Wort. Der Erzähler hatte selbst alles durchgemacht, war von Indianern verfolgt, von Moskitos zerstochen worden und brachte auf das große Theater zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean so viel individuelle Züge, daß das Freifräulein und Helene Wienand lauschten wie einst die Damen von Venedig dem unsträflichen Äthiopier, dem rodomontierenden wollhaarigen Feldherrn. Wie aber war es gekommen, daß die Unterhaltung sich aus den Urwäldern der Republik in den von einer hohen Königlichen Forstverwaltung löblich kultivierten Winzelwald versetzt fand? Daran hatte das Fräulein von Poppen allein die Schuld. Das alte Fräulein, immer noch beschäftigt mit der Geschichte Robert Wolfs, heftete immer schärfere, forschendere Augen auf den jungen Amerikaner. Es waren demselben einzelne Andeutungen entfallen, welche vermuten ließen, daß der Winzelwald ihm gar nicht unbekannt sei, und hoch hatte Juliane aufgehorcht. Sonst gegen Fremde nicht sehr zur Mitteilung ihrer Gefühle geneigt, wurde sie mit einemmal ganz lebendig, ließ sich zuerst in eine Charakterschilderung der Berge und Wälder ihrer Heimat ein, sprach dann eingehend über das Dorf Poppenhagen und den Poppenhof und erwähnte zuletzt, aus dem Dunkel ihrer Diwanecke scharf nach dem Amerikaner hinüberlugend, die Forsthütte zum Eulenbruch. Immer nachdenklicher und träumerischer war Mr. Frederic Warner geworden; als aber das Freifräulein den Eulenbruch und die Familie Wolf erwähnte, schien es mit seiner Yankeeselbstbeherrschung zu Ende zu sein, und es war die höchste Zeit, daß Juliane von Poppen diesen Gesprächsstoff fallenließ. Freundlich nickte sie dem Amerikaner zu und erhob sich, um Helene Wienand zu Bett zu schicken und selbst die Gesellschaft des Bankiers zu verlassen. Man nahm Abschied voneinander, und auch der Amerikaner nahm Hut und Mantel und begleitete das Freifräulein die Treppe hinunter. Sie traten zusammen vor die Tür, und hier beugte sich der junge Fremde auf die Hand der alten Dame, küßte sie und sagte:

»Sie kennen meinen Namen – Sie wissen, was meinem armen Bruder geschehen ist. Darf ich Sie bitten, mein Geheimnis noch zu bewahren?«

Das Freifräulein lächelte gutmütig:

»Ich bin nur da eine Plaudertasche, wo es nötig ist, Herr – Herr Warner.«

In diesem Augenblick wollte ein junger Herr in einem Pelzüberrock vor der Tür des Bankiers vorbeischreiten, hielt aber an und rief mit etwas näselnder Stimme:

»Ah, ma tante – und auch Mister Warner! Gnädige Tante, ich habe das Vergnügen, Ihnen den angenehmsten Abend zu wünschen.«

»Kennen Sie meinen Neffen, Herr Warner?« fragte das Freifräulein verwundert.

»Ich habe die Ehre«, sagte der Amerikaner, sich verbeugend.

»Nehmen Sie sich vor ihm in acht; er besitzt das Talent, sich und andere lächerlich zu machen. Bösherzig ist er nicht, aber albern. Wir sind ein Geschlecht im Niedergang, Herr Warner.«

Der Amerikaner verbeugte sich, Leon von Poppen lachte.

Das Freifräulein stieß ihren Krückstock auf den Boden und rief:

»Sie lachen, Leon; aber andere Leute lachen noch lauter. Es ist nicht angenehm, Herr Warner, unter dem Gelächter einer ganzen Nation zu Grabe zu gehen.«

Damit ließ sie die beiden jungen Leute stehen und humpelte in die Nacht hinein. Sie bedurfte nie eines Wagens; überall boten sich ihr hülfreiche Hände, bei Tag und bei Nacht, auf allen ihren Wegen. Sie brachte ihre Entdeckung zu dem Giebel des Sternsehers; noch einmal ließ sie sich daselbst von dem Polizeischreiber genau die Geschichte Robert Wolfs erzählen, dann sagte sie:

»Gut gemacht, Fritz. Haltet Euch an die Jugend, so werdet Ihr selbst jung bleiben. Übrigens beginnen die Verwicklungen für Sie bereits, Fiebiger!«

»Wieso, Fräulein Juliane?«

»Ihr Schützling hat einen Bruder, welcher vor Jahren in die weite Welt ging. Er ist zurückgekommen – dem Anschein nach ganz ein Gentleman. Heute abend habe ich ihn bei dem Bankier Wienand getroffen. Er nennt sich Warner – ein hübscher Mann.«

Der Schreiber faltete kläglich-komisch die Hände und rief:

»Und die Polizei, ohne deren Wissen kein Haar vom Kopfe fallen darf, weiß nichts davon! Der Bursch hat unter andern Bürgerpflichten auch seine Militärpflicht versäumt – Einsperrung und Nachsitzen in der Soldatenschule! Aber das ist in der Tat eine merkwürdige Nachricht! Es lebe die Kaprice des Schicksals!«

»Was willst du nun tun, Fritz?« fragte der Astronom.

»Das Vernünftigste«, antwortete der Schreiber, »den morgenden Tag abwarten.«

Keiner von den drei Leuten auf dem Observatorium des Sternsehers ahnte, daß in diesem Augenblick bereits diese Verwicklung sich ohne ihr Zutun löste. Keiner von ihnen hatte an den Lebensfäden, die sich hier verschlangen, mitgesponnen.

Die Freunde trennten sich bald. Der Schreiber begleitete das Fräulein von Poppen zu ihrer Wohnung, kehrte dann nach der Musikantengasse zurück und fand Robert Wolf noch immer im unruhigen Schlummer. Als er mit der Lampe vor sein Lager trat, fuhr der Knabe erschreckt auf und starrte seinen Beschützer wild an. Der Schreiber drückte ihn sanft wieder nieder und sagte:

»Liege still, mein Junge, wir wollen schon darüber wegkommen.«

Achtes Kapitel Herr Leon von Poppen wundert sich ganz ungemein

»Wundern Sie sich nicht zu sehr über das, was Sie eben vernahmen, cher ami«, sagte vor der Tür des Bankiers Wienand Leon von Poppen zu dem Amerikaner, nachdem das Freifräulein sich entfernt hatte. »Meine Mama und meine gnädige Tante leben auf dem Kriegsfuße wie zwei Ihrer indianischen Stämme. Skalpieren werden sie sich freilich nicht, denn sie tragen beide falsche Locken – von meiner Mama weiß ich's genau und von ma tante glaube ich es sicher. Zwischen einer wohlbeleibten Douairière und dieser dürren alten Jungfer tänzele ich mit gestopfter Friedenspfeife hin und her, kann sie aber durchaus nicht anbringen – ungeheuer gute Schule für einen angehenden Diplomaten, eh?! Freut mich übrigens ungemein, Sie getroffen zu haben, cher. Soll ich Sie jetzt der Krone der Schöpfung, meiner schönen Herrin, meinem wilden Waldvogel vorstellen? Bitte, kommen Sie, ich will Ihnen meine jungfräuliche Teufelin zeigen, und Sie sollen mir als Unparteiischer sagen, ob ich nicht recht habe, mich für solch ein Wesen dem Gespött und Gelächter des ganzen diplomatischen Korps, der ganzen Garde – messieurs von der Linie nicht erwähnt – auszusetzen. Kommen Sie, wir werden noch grade rechtzeitig zum Dessert kommen, und Sie werden das schönste Mädchen der Stadt, Eva Dornbluth, sehen.«

»Führen Sie mich«, sagte der Amerikaner, und der Baron konnte den Ausdruck seines Gesichtes für Lächeln nehmen, obgleich Friedrich Warner nicht lächelte. »Sie sollen mir ein guter Führer sein«, sagte Frederic ein wenig grimmig.

Hell waren die Fenster Eva Dornbluths erleuchtet, und schon auf der Treppe, welche in das dritte Stockwerk des Hauses in der Lilienstraße Nummer zwölf führte, vernahmen die späten Besucher Lachen und fröhliche Stimmen in lautester Unterhaltung, und der Baron von Poppen sagte mit komisch-ärgerlichem Achselzucken:

»Hören Sie, Liebster, es ist unglaublich, mit welcher rapiden Schnelligkeit und Sicherheit sich jedes beliebige Weib auf die höchsten Spitzen der Kultur erhebt. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Schönheit, welche ich Ihnen jetzt zeigen werde, vor kaum nennenswerter Zeit ein linkisches Bauernmädchen in einem kleinen Waldnest, dem abscheulichsten Aufenthaltsort unter der Sonne, war. Wir besitzen daselbst ein Gut, wenn die Last der Hypothekenschulden es nicht in diesem Augenblick bereits in den Sumpf, aus welchem es aufgeschossen ist, wieder hinabgedrückt hat. Mir gebührt wohl zumeist der Ruhm, diese holde Blüte, Eva Dornbluth, in ihr rechtes Erdreich versetzt zu haben. Diable, wenn ich nur auch die Schmetterlinge und Hummeln von ihr fernhalten könnte. Hören Sie nur, welch ein Gesumm! Wie viele Insekten mögen meine Zentifolie jetzt wieder mit gespitzten Saugrüsseln umschnurren. Bah – entrons! Ich bin's, cara mia; du wirst auch immer hübscher, Kleine.«

Die letzten Worte waren an eine junge rotbäckige Magd, welche den beiden Herren entgegenkam, gerichtet; sie knickste, aber die Schmeichelworte des Barons schienen nicht den geringsten Eindruck auf sie zu machen, und einer tätlichen Liebkosung entzog sie sich auf gar nicht duldsame Weise. Durch ein Vorzimmer traten der Baron und der Amerikaner in das Gemach, aus welchem der Lärm der Unterhaltung ihnen so heiter entgegenschallte. Mr. Frederic Warner hatte die Oberzähne auf die Unterlippe gesetzt; aber der sorglose junge Diplomat Leon von Poppen glaubte ihn in der gemütlichsten Stimmung von der Welt. Eine Flut von Licht schlug ihnen hinter den dunkelblauen Portieren entgegen. An einer Tafel, welche mit den Trümmern eines reichen Nachtisches bedeckt war, saß inmitten einer ziemlich erregten Gesellschaft junger Herren der höhern Stände und junger Damen vom Theater und der Oper die schöne Eva, die Herrin des Festes. Mehrere der männlichen Gäste hatten ebenfalls erst vor kurzem den Salon des Bankiers Wienand mit dem Evas vertauscht und schienen sich hier bedeutend weniger zu langweilen.

»Schöne Seelen treffen sich!« rief der eine derselben lachend dem Amerikaner entgegen, indem er den Kork einer Champagnerflasche gegen die Decke fliegen ließ. Allgemeiner Jubel begrüßte den Baron von Poppen, und dieser faßte den Amerikaner am Arm, führte ihn gegen die sich erhebende Eva, stellte ihn vor und empfahl ihn mit einigen Scherzworten ihrer Gunst und Gnade. Niemals in seinem Leben hatten sich die Geisteskräfte Mr. Frederic Warners in solcher Verwirrung befunden wie in diesem Augenblicke, wo die hohe Gestalt sich aus dem Durcheinander der aufgeregten Gesellschaft vor ihm erhob und die Augen gegen ihn aufschlug. Es war ein Glück für den Fremden, daß die allgemeine Heiterkeit schon einen solchen Grad erreicht hatte, daß alle feinere Beobachtung zu einer Unmöglichkeit geworden war.

Einen kurzen Augenblick sahen sich Eva und Friedrich an; ein Schatten zwischen Schreck, Staunen, Zweifel und – Beruhigung glitt über das stolze, kluge, schöne Gesicht des Mädchens.

»Seien Sie willkommen, Herr; – dort ist noch ein leerer Platz!« sagte sie, und der Amerikaner griff nach der Lehne des Sessels:

»Ein leerer Sessel mitten im Fest! Störe ich auch keinen Geist von ihm auf? Ist's nicht der Stuhl Banquos im Saal zu Fores?«

Wieder fuhr der Schatten über die Stirn der Herrin des Festes; aber siegreich brach das stolze Lächeln hervor:

»Wir haben nicht den Schlaf ermordet und fürchten die Geister nicht. Setzen Sie sich, mein Herr!«

Man ließ sich wieder nieder an der Tafel, und Warner nahm seinen Platz Eva gegenüber ein. Seine hübschen und etwas albernen Nachbarinnen bemächtigten sich sogleich seiner und zogen ihn in ein lebendiges Geschwätz, während welchem er seiner Aufregung vollständig Herr ward und kalt und klar in das Gewirr der Dinge und Personen um ihn her blicken konnte.

Seine ganze Seele haftete aber nichtsdestoweniger einzig und allein an seinem Gegenüber. Da war wirklich die Schönheit, die hervorbricht gleich Heeresspitzen! Grade so mußte Kleopatra den Becher erhoben und über den goldenen Rand den Triumvir Marcus Antonius angeblickt haben. In die dunkelste Seele mußte sich dieses Auge senken wie der Blitz der Sonne in das tiefe Meer. Und diese Locken, sie waren nicht zu bändigen; in schwarzen Fluten und Wellen wehrten sie sich mit unbesiegbarem phantastischem Eigenwillen gegen die Goldbänder, welche sie zusammenhalten sollten; triumphierend rollten sie nach anmutvollem Siege über die weißen Schultern. Und diese Stimme! So bekannt und doch so verändert voll und tief. Trotz seiner Selbstbeherrschung stand der Bürger der amerikanischen Republik auf dem Punkte, sich ungeheuer lächerlich zu machen. Er griff nach dem silbernen Dessertmesser wie nach einem mexikanischen Dolch. Aber wieder gelang es ihm, das Zähnknirschen in ein sorgloses, heiteres Lachen zu verwandeln und dem Witz mit Witz zu begegnen.

›Ah, clear the wrack!‹ stöhnte er dabei in der Tiefe seiner Seele. ›Es ist alles aus, aber es wird sich finden – die Falsche, Schamlose!‹

Seine beiden holden Nachbarinnen wollten allerlei über die Theaterwelt jenseits des Atlantischen Meeres wissen, und mit komischer Kraft vertiefte sich Frederic in dies inhaltvolle Thema; gleich einem Eingeweihten, gleich dem großen Barnum selber, redete er über managers, über actors und actresses und gestand zuletzt unter lautem und allgemeinem Bravoruf, er selbst habe eine Zeitlang als Sänger money gemacht und großen Beifall errungen auf mehr als einem deutschen Theater unter dem Sternenbanner.

»Originell!« lachte der Baron von Poppen, und die übrige Gesellschaft verlangte fast einstimmig den Beweis der Wahrheit.

Eine kleine Ballettänzerin pirouettierte zu dem Pianino und öffnete es; eine Sängerin bot dem sich ruhig erhebenden Amerikaner den Arm, und einen langen Blick warf Friedrich Warner auf die Wirtin. Diese hatte die letzte Zeit hindurch nicht mehr den gewohnten glänzenden Anteil an der Unterhaltung genommen; ernst und stumm saß sie da, stützte das schöne Haupt mit der Hand und blickte starr vor sich hin. In den Lichterglanz ihres Festes, in die heiße Atmosphäre ihrer Gemächer war ein reinerer Schein gefallen, hatte sich ein berauschenderer Wohlduft gemischt. Sie sah den nämlichen Glanz leuchten, welchen der arme Robert sah, als er auf dem schmutzigen Straßenpflaster lag und Helene Wienand sich über ihn beugte. Eva Dornbluth war ihrer Umgebung entrückt; sie befand sich in ihrer Heimat, sie sah die Morgensonne durch das niedere Fenster der Hütte strahlen, sie hörte den Kuckuck der alten Schwarzwälderin am Ofen und den Kuckuck draußen am Saume des Waldes, sie atmete das frische Wehen, das aus dem Winzelwalde herüberhauchte, und dazu klang ein Lied auf dem steilen Pfade, der von den Bergen niederführte ins Dorf. Die Träumerin fuhr empor; Friedrich Warner hatte sich am Klavier niedergelassen und, nachdem er einige wilde Akkorde angeschlagen, folgendes Lied begonnen:

Es war ein Schiff aus Portugal, Das südwärts, immer südwärts fuhr, Und durch der Tropenmeere Schwall Zog leuchtend seine Feuerspur. Die Nacht war schwül und düftevoll, Und Finsternis lag auf dem Meer; Im heißen Wind das Segel schwoll, Und eilig zog das Schiff daher. Es drängt sich der Matrosen Schar: O blickt empor, o schaut empor, Wie Sternenbilder wunderbar Sich heben aus der Flut hervor! Welch nordisch Auge blickte je Auf solchen Schimmer, solche Pracht? O wundersame fremde See! O glänzend Wunder fremder Nacht! Ein stolz und glückhaft Schiff es war, Und glücklich war der kühne Mann, Der, mutig trotzend der Gefahr, Zuerst die Linie gewann. Ob fremd die See, ob fremd die Nacht, An seinem Steuer stand er da; Trauend der fremden Sterne Macht, Im Herzen jauchzend: India!

Die Gesellschaft war außer sich vor Vergnügen und gab das durch die gewöhnlichen Zeichen und Worte zu erkennen; Eva Dornbluth aber hatte die Augen noch mehr mit der Hand beschattet, hatte die Stirne noch tiefer gesenkt; der Sänger begann ein Zwischenspiel, während welchem er halb über die Schulter zu der Gesellschaft sprach:

»Well, ladies and gentlemen, ist das nicht ein Narr, mein armer Kapitän? Armer Capitano; wer glaubt, daß es sich verlohne, nach den Sternen auszusehen vom Stern des Schiffes? Ein guter Kompaß und eine gute Seekarte sind besser und treuer als alle Leiern, Löwen, Kreuze und Jungfrauen am Firmament! Go ahead!«

Und wieder begann er mit voller Stimme:

Dem kühnen Seemann gleich ich bin, Steuernd mein Herz durch wonn'ge Nacht, Hoffend auf seligsten Gewinn, Trauend auf neuer Sterne Macht. Ja, fremder Lichter fremder Lauf, Sternbild der Liebe himmlisch hehr. Stieg mir zu Häupten glänzend auf, Zieht seine Bahnen vor mir her. Nun schwebt mein Herz in Wonnen hin Durch fremde, nie geahnte Pracht; Ob ich im Traum, im Wachen bin, Wer sagt mir das in solcher Nacht? Wie ist mein Himmel sternenvoll, Wie ist mein Leben überreich; Und wenn ich morgen scheitern soll, Den ew'gen Göttern bin ich gleich!

Abermals sprach während des Zwischenspiels Frederic Warner zu der Gesellschaft:

»Sollte man es für möglich halten, daß ein Tor sich dergestalt seiner Torheit rühmen könne? Ich bitte Sie! Es ist nur gut, daß der Ozean nicht mit sich spielen läßt und Träumer hinunterreißt zu den Nixen, Sirenen und andern Wasserweibern. Hier ist eine andere Weise:

In sonniger Jugend fuhr ich hinaus, Wie blitzte das Meer, wie flammte der Mut! Viel gute Gesellen führt ich hinaus, Die hielten das Schiff mir in wackerer Hut. Die Flagge der Liebe wehte vom Mast. Es lenkte die Hoffnung das Steuer recht; Im Raume barg sich manch köstliche Last, Zu gut war kein Wind, und kein Wind war zu schlecht. Fein blank war das Schifflein, die Segel stark, Furchtlos war das Herz, das Auge war klar; An jeglicher Küste flaggte die Bark, Gefeit war sie gegen jede Gefahr.«

Der Sänger griff immer wilder in die Tasten; die Stimmung der Gesellschaft hatte sich ganz und gar geändert; man war verwundert, man sah sich an; nur Leon von Poppen konnte sich gelangweilt-lächelnd zu Eva Dornbluth beugen und fragen:

»Was hat meine Königin? Eh, eigentümlich hinterwäldlerisches Gebaren dieses Fremdlings – was? Originell, urwäldlerisch, urtümlich – eh?!«

Wirklich mit der Handbewegung einer Königin wies Eva den Schwätzer zurück, und mit derselben Handbewegung schien sie alle die andern Herren und Damen in eine unendliche Entfernung zurückzuweisen; ihre Augen flammten, ihre Lippen waren zusammengepreßt; wieder klang wild und trotzig des Amerikaners Stimme:

So hab ich geschlafen beim wilden Orkan Und Mondscheinnächte in Sorgen durchwacht, Und Freuden und Leiden und Kampf bot die Bahn, Doch nun hab die Fahrt ich zum Ende gebracht. Jetzt breiten die Nebel sich über dem Meer, Herab sanken Flagge und Segel zerfetzt; Zerbrochen das Steuer! So treib ich einher Und sinke im lustigen Tanze zuletzt. Viel besser, zu sinken im lustigen Wehn, Als liegen und faulen und modern am Strand; Viel besser, im Sturme zu Grunde zu gehn, Als langsam verkommen, versinken im Sand!

Und damit stieß der Sänger aufspringend den Sessel zurück; durch den Beifallsruf der Gesellschaft klang ein heller Schrei aus dem Munde Eva Dornbluths:

»Fritz! Fritz! O höre mich, ehe du gehst!«

Die Anwesenden standen sprachlos; die Hände, die eben noch bereit waren, ineinanderzuklatschen, sanken nieder; dem Baron von Poppen fiel das Glas aus dem Auge und die Unterlippe herab, als seine chère amie seinem cher Américain die Hände entgegenstreckte, verlangend, fordernd und bittend.

Der Fremde aber faßte das Handgelenk Evas mit eisernem Griff:

»So hast du mich zuletzt doch kennen müssen?!«

»Ich bitte die anwesenden Damen und Herren, die nötige Ruhe zu bewahren«, lispelte Leon. »Fräulein Eva, wer ist dieser amerikanische Herr? Bitte, Coralie, lassen Sie meinen Arm los.«

Und der unglückliche junge Mann versuchte vergeblich, von neuem das Glasstück vor das schwimmende Auge zu klemmen.

»Lieber Baron«, wandte sich der Amerikaner an den Verblüfften, »verzeihen Sie, daß ich außer dem von Ihnen gekannten Namen noch einen zweiten trage. Meine Herren und Damen, meine harmlose Persönlichkeit soll Ihnen kein Rätsel sein. Ich habe die Ehre, mich Ihnen hiermit von neuem vorzustellen: Friedrich Wolf aus Poppenhagen im Winzelwalde, alias Frederic Warner, Adoptivsohn von weiland Josua Jedidjah Warner von Jubilee Farm, Staat Louisiana – Komödiant, Pedlar, Pelzjäger, Farmer, Reisender in Washington Irvings Manier und so weiter und so weiter. Ich bitte die Gesellschaft, sich durch das kleine Intermezzo nicht stören zu lassen.«

Er warf die schmerzende Hand Evas von sich und flüsterte ihr finster drohend zu:

»Nachher!«

Leon von Poppen gab es auf, das Glas vor dem Auge zu befestigen, und sein geistiger Blick war nicht heller als sein körperlicher. Matt sank er auf einen Stuhl und hauchte:

»Das schlägt alles! Noch ein Wolf aus Poppenhagen? Recht patriarchalisches Verhältnis, alle meine Vasallen sammeln sich kindlich um meine Knie. Fräulein Eva, ich lege meine teuersten Prätensionen nieder zu Ihren himmlischen Füßen – gegen das Schicksal kann niemand. Mille remercîments, Coralie; hier, nehmen Sie Ihr Riechfläschchen zurück. Der Himmel segne Ihre künftigen Schritte, Eva, und mache Sie so glücklich, wie – Sie mich gemacht haben. Es ist zum Rasendwerden! Coralie, wenn Ihr Busen das winzigste Fünkchen Mitleid hegt, so nehmen Sie mich mit nach Hause. Ich fühle mich zu angegriffen, um an dem Jubel über dieses interessante, dieses überraschende – glückliche Wiedersehen ferner teilnehmen zu können. Meine Komplimente an den Herrn Bruder, Mister Warner oder Wolf oder Josua oder – ah diable, Ihren Arm, Coralie!«

Ironisch nahm der Amerikaner ein Licht von der Tafel und leuchtete dem abziehenden Baron zur Tür. Mit einer Verbeugung sagte er:

»Mit Vergnügen zu Ihrem Dienst bereit, Herr von Poppen! Hôtel des Princes, wie Sie wissen.«

»Merci, ich schieße mich nicht für ein Weib.«

»All right!« sagte der Amerikaner kalt, »ganz meine Ansicht – gute Nacht, lieber Baron – nehmen Sie sich auf der Treppe in acht. Schlafen Sie wohl, Coralie!«

Die Tänzerin drohte schalkhaft über die Schulter mit dem Fächer: »Verräter!«

»Blamiert! Inkommensurabel blamiert!« seufzte auf der Treppe in der Tiefe seiner Seele Leon Freiherr von Poppen. Seine Seele war aber nicht tief genug, so daß der Seufzer an die Oberfläche aufstieg wie eine Blase aus dem Teich, zerplatzte und der mitleidigen Coralie ein erbarmungsvolles Achselzucken ablockte.

Mr. Frederic Warner oder, wie wir ihn jetzt nennen können, Fritz Wolf trat zu der Gesellschaft zurück; doch in dieser war die Lebendigkeit auf den Nullpunkt herabgesunken, einer nach dem andern nahm Abschied von der stummen Eva, und bald fanden sich die beiden Leute aus dem Winzelwalde allein neben der Tafel, auf welcher die Lichter tief herabgebrannt waren, allein inmitten der unbehaglichen Unordnung, die in einem Gemach nach dem Aufbruch einer größern lustigen Gesellschaft herrscht.

Neuntes Kapitel Die Sterne Eva Dornbluths. Was sie sagten, wie man ihnen folgte und wozu sie führten

Mit untergeschlagenen Armen stand Friedrich Wolf inmitten dieser Verwirrung, im Duft von feinen Wohlgerüchen, Speisen, Wein und Havannazigarren. Vollständig war das Lächeln jetzt aus seinen Zügen verschwunden, es hatte schmerzhafter Bitterkeit Platz gemacht, und Eva Dornbluth blickte nicht scheu, aber doch angsthaft zu dem so traurigen, männlichen Gesicht von ihrem Sessel auf. Aber vergeblich wartete sie, daß der Mann zuerst das bedrückende Schweigen breche.

Sie konnte endlich die Stille nicht mehr ertragen und erhob sich zuletzt, trat auf den Amerikaner zu, legte ihm sanft die Hand auf den Arm und bat mit zitternder Stimme:

»O sprechen Sie zu mir, Fritz! Ich werde anfangen, mich zu fürchten, wenn Sie dieses Schweigen nicht brechen.«

»Was soll ich sagen, Eva?« seufzte endlich Friedrich Wolf. »Ich könnte um Verzeihung bitten wegen meines unberufenen Eindringens in Ihren jetzigen Lebenskreis. Ich sehe nicht ab, welches Recht mir gegeben wäre, mit Ihnen zu hadern. Ich habe kein Recht mehr an Sie, Eva. Ich habe nicht einmal mehr das Recht, Schmerz zu empfinden über das, was ich gefunden habe.«

»Sie sind sehr hart, Fritz. Oh, es liegt eine grausame Kränkung in Ihren Worten. In ein Wort fassen Sie tausend Vorwürfe zusammen.«

»Ja, ich bin toll! Ein Wahnsinniger bin ich!« rief der Amerikaner wild. »Oh, das Geschick, das Geschick! Ich habe mein Schicksal gehabt, Ihnen ist das Ihrige zuteil geworden. Die Leute sagen, mir sei das Glück recht günstig gewesen; – ach, in welchen Abgrund stürzt mich diese Stunde! Weh uns beiden, Eva, daß wir den dunkeln Heimatswald verließen – verlassen mußten. Falsch sind die Sterne gewesen, die uns lockten und verlockten. Wie arm und enttäuscht findet uns die heutige Stunde.«

»Wollen Sie mein Geschick hören, Fritz?« fragte demütig bittend Eva. Ihre Augen hatten ganz und gar die herausfordernde Siegesgewißheit verloren; schnell und bang schlug das stolze Herz und suchte sich nur zu rechtfertigen vor diesem Mann, der so plötzlich, einem Richter gleich, in den Festsaal des Lebens getreten war.

Friedrich neigte das Haupt der Frage.

»Ich will hören«, sagte er und wollte sich eben niederlassen, als Eva seinen Arm faßte und, wie er schreckt, rief:

»Nicht hier, nicht hier! Kommen Sie, Fritz. Was ich zu sagen habe, will und kann ich nicht in diesem Raume erzählen.«

Sie zog ihn mit sich fort durch ein ebenso glänzend wie das Speisezimmer ausgestattetes Gemach; dann öffnete sie eine verschlossene Tür, ließ ihn eintreten in einen kalten, dunkeln Raum und schloß die Tür sogleich wieder.

»Stehen Sie still, Fritz; es soll sogleich Licht werden!« rief sie schluchzend, und Friedrich stand verwundert, wartend in der kalten Finsternis. Er vernahm, wie Eva umhertastete; dann hörte er Stahl auf den Feuerstein schlagen, sah die Funken springen und bei dem roten, schnellen Licht der Funken das schöne Gesicht der Jugendfreundin aus der Nacht auftauchen und wieder versinken, bis ein Schwefelfaden fing und eine kleine schlechte Lampe von Blech das Gemach erhellte.

Hoch hob Eva Dornbluth diese Lampe und beleuchtete die vier nackten Wände dieser Kammer, ein ärmliches Bett, ein Tischchen von schlechtem Holz und die beiden ebenso einfachen Stühle. Ein größerer Kontrast gegen den Luxus der übrigen Räume ließ sich nicht leicht vorstellen. Unbewußt hatte das Mädchen aus dem Walde jenem Kanzler nachgeahmt, welcher in einem verborgenen Gemach das Bettlergewand und den Bettelsack und -stab seiner Jugend aufbewahrte.

»Sie sind der erste Mann, welcher diesen Raum betritt«, sagte Eva, die Blechlampe wieder niedersetzend. »Hier in dieser Armut darf ich zu Ihnen reden wie unter den Tannen unseres Waldes, wie unter dem Dach meines Vaters. Hier bin ich die wahre Eva Dornbluth, und hinter jener Tür liegt alles, was Sie an mir glauben verachten zu dürfen. Hier darf ich Ihnen die Hand bieten und, ohne die Augen niederschlagen zu müssen, sagen: Sei willkommen, Fritz Wolf; in Schmerzen habe ich auf dich gewartet; Gott grüß dich, Fritz; ich wußte wohl, daß du endlich doch kommen würdest.«

»Eva!« rief Friedrich Wolf mächtig bewegt; aber das Mädchen winkte ihm mit der königlichen Hand, zu schweigen, und sprach selbst weiter:

»In den Räumen hinter jener Tür hattest du das Recht, nach meinem Leben zu fragen; in diesem Raume antworte ich dir darauf; hier in dieser armen Kammer mußt aber auch du mir Rechenschaft geben über dich, wie deinem Gewissen. In jenen Räumen kämpfe ich mit der Welt, und dieser Raum gibt mir Kraft, sie zu besiegen und zu beherrschen. Es sind böse Gewalten, mit denen ich hinter jener Tür zu tun habe; aber ich habe mutig den Kampf mit ihnen aufgenommen und bis jetzt glücklich durchgeführt. Sie sollen Eva Dornbluth nicht zu sich herabziehen, sie ist ihnen zu stark! Oh, Fritz, auch unser Heimatswald, die Dunkelheit, die Armut und die Unwissenheit haben ihre geisttötende Macht, und der Armut, dem Mangel und der Unwissenheit wäre ich erlegen, während ich hier Siegerin bleiben konnte und immer bleiben werde.«

»Rede weiter!« sagte Friedrich. Seine Stimme war nicht mehr hart wie vorhin; sie rang sich mühsam aus tiefster Brust hervor. Der winzige Raum um ihn her dehnte sich zu einer weiten, feierlichen Tempelhalle aus, und die Jugendfreundin stand darin wie die schöne, stolze und doch demütige Priesterin der weiblichen Ehre.

»Was ich zu sagen habe, ist nicht in kurze Worte zu fassen«, fuhr Eva fort. »Setze dich dort auf den Stuhl, Lieber, und höre.«

Friedrich nickte wie im Traum und zog einen Stuhl an den kleinen Tisch, auf welchem die Lampe stand. Eva ließ sich am Rande ihres Lagers nieder und begann:

»Du warst ein häßlicher, verwilderter Knabe, Fritz vom Eulenbruch, der schlimmste der roten Wölfe – rothaarig, zerlumpt, sonnverbrannt und schmutzig! Wenn ein Kind, schwächer als du, oder ein armes Tier in deine Hand fiel, so hattest du deine Lust daran, das eine bis aufs Blut zu peinigen, das andere zu Tode zu quälen. Du warst selber zu einem verwahrlosten, boshaften Tier in dem Walde geworden, und ich, viel jünger wie du, traf auf dich, und wie du es mit den andern gemacht hattest, so wolltest du es auch mit mir machen. Du necktest, schimpftest, höhntest, schlugst mich, wo du mir begegnetest, wo du mich fassen konntest; aber ich war so wild und trotzig wie du, weinte nicht wie die andern und vergalt dir nach Kräften Böses mit Bösem. Oh, ich übersah dich bald; – denn du glaubst nicht, Fritz, wie schnell das innere Auge des Weibes sich schärft. Ich kannte deine Leidenschaften und die Art, wie sie sich Bahn brachen. Ich wußte immer im voraus, was du sagen und tun, wie du dich gebärden würdest in jedem gegebenen Augenblicke. Darin lag meine Macht über dich, und schlau benutzte ich dieses geistige Übergewicht, und du fielst in manches Unheil, manche Strafe, ohne daß du hättest sagen können, wie das kam. Zugleich hatte ich aber doch einen gewissen Respekt vor deiner rohen Körperkraft, deiner tollkühnen Verwegenheit, welche dich kopfüber in jede Gefahr stürzte. Ich habe immer den Mut und die Kraft geliebt, und wärest du nicht so stark und so tapfer gewesen, ich hätte nicht so leidenschaftlich gestrebt, dich zu überlisten. Wir waren zwei Gegner, die sich jedesmal verbündeten und fest zusammenhielten, wenn Dritte zwischen sie oder ihnen entgegen treten wollten. Weißt du wohl noch, Fritz, auf welche Weise sich endlich der kindische Haß in das Gegenteil verwandelte? Ich stieß dich in der hellen Wut vom Steg den Kaiserstein hinab, und du wurdest halbtot, mit zerschlagenen Gliedern, blutrünstig, mitten im Walde gefunden. Auf den Tod lagst du, aber keine Macht konnte dich zwingen zu gestehen, wie das Unglück gekommen war. Du logst selbst in deinen Fieberphantasien, und ich horchte am Fenster und an der Tür, und mein junges Herz wurde von Qualen zerrissen, wie nimmer vor- und nachher. Wie eine Verrückte war ich, und wenn sie mich aus deiner Nähe fortjagten, lief ich in den Wald hinaus und schrie mit heller, jammervoller Stimme unter den Tannen: Ich war's! Ich bin's gewesen! Schlagt mir den Kopf ab; ich hab ihn vom Fels gestürzt! – Endlich kamst du bleich und mager in das Leben zurück. Man trug dich zum erstenmal wieder in die Sonne, und ich stand verweint von ferne –«

»Und ich sah dich«, rief der Amerikaner in höchster Bewegung. »Im Fieber hatte ich nur dich gesehen; doch nicht so wie die wilde Katze, welche du in der Wirklichkeit warst. Ganz anders sah ich dich, und so sah ich dich auch, als ich in der Sonne saß, und starrte nach dir hinüber und –«

»Ich kroch geduckt, schluchzend, daß es mir fast das Herz abstieß, heran. Wie schlug das Herz mir, als ich den größten Schatz, den ich damals auf Erden besaß, eine alte zerzauste Puppe, welche sich vom Poppenhofe zu mir verloren hatte, dir vor die Füße warf. Wie schnell entfloh ich dann sogleich wieder, um von neuem aus einem Versteck nach dir hinüberzusehen! Als die Sonne entwich, trug man dich in das Pastorenhaus, wo du seit dem Unglück dein Krankenlager gehabt hattest, zurück, und die Puppe blieb neben der Bank liegen. In der Nacht stahl ich mich aus dem Bett, holte sie und trug sie auf die Schwelle des Pfarrhauses. Fest schloß ich das Ding in den Arm und schlief nach langem bitterlichem Weinen auf den Stufen ein.«

»Der Nachtwächter fand dich auf dem kalten Lager, wie du im Traum ängstlich meinen Namen riefest«, sagte der Amerikaner. »Er weckte verwundert deinen Vater, und da gestandest du mitten in der Nacht deine Schuld an meinem verbundenen Kopf.«

»Und am folgenden Morgen wurde ich vor dein Bett gebracht vom Vater, und wenig hätte gefehlt, daß der alte Stolz von neuem wach geworden wäre in meiner Seele; aber die Kraft war gebrochen, der Trotz verwandelte sich wiederum in Weinen, und als du mir aus den Kissen die magere Hand reichtest, da, da –«

»Da war aus der wilden Eva Dornbluth eine gar sanfte Eva geworden!«

»Nur gegen dich, Fritz vom Eulenbruch! Nur gegen dich! Gegen alle andern blieb ich dieselbe. Ja, grade weil ich dich liebte, war ich nun um so trotziger gegen alle die übrigen.«

»Von nun an teilten wir das Leben, das uns im Walde gegeben war, miteinander und hingen zusammen wie die Kletten. Wir waren das tollste Paar Rangen, welches jemals einer Gemeinde zur Last wurde. Gott segne den guten alten Pastor Tanne, den philanthropischen Weisen. Er hatte es gut mit uns im Sinn; wenn auch seine Marotte, überall große Talente zu entdecken, ihre bedenklichen Seiten hatte. Talente entdeckte er in mir und in dir, Eva –«

»Und zuletzt in deinem Bruder Robert.«

»Davon später. Du weißt, wie der Alte sich unserer annahm, seine Bücher vor uns aufschlug.«

»Ich habe mancherlei Seltsames gelernt und die Nase in Dinge gesteckt, die sonst auch höhergeborenen Mädchen verborgen bleiben. Latein und Mathematik –«

»Ich habe nur gelernt, daß die Welt erst hinter dem Walde, jenseits der Berge beginne und daß man in unserm Tal nicht lebe, sondern nur vegetiere. Doch erzähle weiter; meine Stirn brennt; – nachher ist die Reihe an mir.«

Eva Dornbluth seufzte tief und fuhr in ihrer Erzählung fort:

»Du hieltest es bei dem Pastor nicht aus wie der arme Robert; du mußtest zu deinem Vater, zu deiner Büchse und Axt zurück. Dann entliefst du ganz, und ich wußte darum. Du versprachest, auch für mich mit, das Zauberland, welches jenseits unserer Berge lag, zu erkunden und mächtig und reich heimzukehren, mich zu holen und mit dir genießen zu lassen. Ich wartete und lernte. Der Vater lehrte mich die Musik, das Spiel der Orgel. Ich begleitete an seiner Stelle den Gesang der Dorfleute in der Kirche, denn er wurde allmählich zu schwach dazu. In der Studierstube des Pfarrers saß ich dann mit Robert zusammen. An dem hatte der Alte wiederum ein Talent entdeckt, und diesmal war es ein wirkliches. Ich mußte ihm nun mit Lehrerin sein; denn der Alte ward auch allmählich müde vom Leben und saß am liebsten stundenlang auf dem Kirchhofe neben den Gräbern seiner Frau und seiner Kinder. Ich mußte mit deinem Bruder dasselbe Lexikon und dieselbe Grammatik gebrauchen; doch der Schüler übertraf bald die Lehrerin; aber die Lehrerin war eine Jungfrau geworden, und vertieft in ein anderes Sehnen, merkte sie nicht, daß der Knabe über die Bücher weg die Studiengenossin mit Blicken ansah, welche sie nicht hätte dulden sollen. Als mir klar wurde, was in Robert vorging, da war das Unglück bereits geschehen und ihm in keiner Weise mehr zu wehren. Vergeblich war's nun, daß ich die Stunden bei dem Alten ganz aufgab und nicht mehr unter die Esche kam. Vergeblich war alles gesprochen, was ich deinem Bruder sagte. Er war verblendet bis zum äußersten, und ich konnte mir und ihm auf keine Weise helfen. Obgleich ganz dein Gegenteil, Fritz, so hat dein Bruder doch ein gut Stück deiner Hartnäckigkeit zum Erbteil mitbekommen. Weder durch Vorstellungen noch durch Drohungen noch durch geheuchelte Verachtung konnte ich ihn von mir treiben. Ach, und dazu lag die Sorge um dich so schwer auf mir! Ich war älter geworden, verständiger und klüger. Mit Schrecken sah ich ein, was du in jugendlicher Unwissenheit und jugendlichem Leichtsinn gewagt hattest. So wie wir sie uns kinderhaft geträumt hatten, war die Welt jenseits der Berge nicht beschaffen. Nun war es lange zu spät, dich zurückzurufen. O was habe ich gelitten in dem Gedanken, du seiest untergegangen und verloren in der weiten Welt. Wie konnte es anders sein? Das falsche, harte Leben mußte dich, den unwissenden, starrköpfigen Knaben, zerbrechen und verschlingen. Wie manche Nacht habe ich bitter durchwacht und durchweint, wenn der Sturm an meinen Fensterladen rüttelte oder zwischen den Bergen heulte und den Schnee umwirbelte und häuserhoch die Wege verschüttete. Durch den Sturm glaubte ich dann klagende Rufe zu vernehmen; du schriest nach mir, und ich fuhr in die Höhe und schrie selber in grausamster Angst. Und dann wieder – wie oft habe ich auf der Höhe des Weges in der heißen Sonne gestanden und im törichten Hoffen auf dich gewartet. Dann hatte ich wohl unterwegs ein Körbchen oder ein Klettenblatt voll Erdbeeren gepflückt, die hielt ich dann in der Hand, und die andere Hand hielt ich über die Augen und blickte die staubige Straße entlang und dachte und träumte: Oh, wenn er jetzt käme, durstig und bestaubt, müde und traurig! Ach, wie sollte er ausruhen an meinem Herzen! Das Körbchen mit den roten duftenden Früchten und mein Herz hielt ich für dich bereit; aber du kamst nicht, wie lange ich auch ausschauen mochte von der Höhe, den Windungen der Straße nach, bis in die weiteste Ferne. Du kamst nicht! Und wie ich mein Herz keinem andern gönnte, so gönnte ich auch die Beeren niemandem: ich warf sie in das Wildwasser und sah weinend zu, wie sie lustig bergab von dannen tanzten, und zum Tode beängstigt, schritt ich durch den Wald. Der Pastor Tanne starb, und mein Vater starb auch. Ich nähete für die Bauerweiber; aber ich war ganz verlassen und wußte nicht, was ich beginnen sollte. Es war mir immer, als müsse ich hinter dir her, du verlorener Freund, in die Welt ziehen. Da brachte die Baronin von Poppen einmal wieder einen Sommer auf dem Poppenhof zu, und ihr Sohn Leon kam ebenfalls dahin. Ich sah da ein Mittel, mich zu befreien aus der Einsamkeit, aus diesem engen Tale, dessen Luft mir jetzt so erstickend schien. Den jungen Baron achtete ich nicht eines Hauches; aber ich wehrte mich nicht, als seine Mutter Gefallen an mir fand und mir vorschlug, mit ihr meine Heimat zu verlassen. Auch die Dame gefiel mir wenig; doch ich war in einer Art stumpfer Verzweiflung, einer fieberhaften Unruhe, welche mir jede Hülfe zu einem Segen Gottes machte. Ich ging mit der Baronin Viktorine, und sie behandelte mich etwas besser wie ihre Kammerfrau. Du scheinst den Herrn Leon zu kennen, Friedrich; er ist keine gefährliche Persönlichkeit; ich machte ihn vollständig zu meinem Diener und benutzte ihn, die apathische Tyrannei seiner Mutter so bald als möglich abzuwerfen; mein Weg, der Weg eines armen, schutzlosen Mädchens, ging durch Wildnisse, die viel gefahrvoller waren und mehr Mühen und Sorgen verbargen, als je eine deiner amerikanischen Wüsten, Fritz Wolf. Aber ich sah nach den Sternen, dachte an dich, schürzte mein Gewand und schritt mutig in das Leben hinein, dir nach, Fritz Wolf. Die schmutzigen Wasser mußten meinen Saum beflecken; aber meine Seele und mein Leib sind rein geblieben. Dem Schein des Bösen konnte ich nicht entgehen; aber das Böse selbst durfte mich nicht berühren. Ich bin ich selbst geblieben in allen Verhältnissen, welche meine Laufbahn mit sich brachte. Durch den Baron ward es mir leicht gemacht, mein Glück auf den Brettern zu versuchen; ich gefiel halbwegs; aber ich weiß es recht gut, daß nur mein Äußeres schuld daran hat. Recht einsam und verlassen war ich mitten im Lärm der Welt und dann am traurigsten, wenn ich am ausgelassensten zu sein schien. Sieh, Fritz, ich bin doch ein tapferes Mädchen und habe nicht an meinem Stern gezweifelt, obgleich ich nie eine Nachricht von dir erhielt. Ich wußte, daß du lebtest. Ach, ich hätte es gewiß gefühlt, wenn du gestorben wärest. Ich habe auch viel Glück gehabt, und es ist mir gut gegangen; ich habe so selten wie möglich geweint, sondern habe immer die Locken aus der Stirn gestrichen, nach den Sternen gesehen und mich nicht von dem abbringen lassen, was gut, recht und ehrlich ist. Gelernt habe ich nach Kräften und dabei gedacht: wenn er kommt, soll er mit mir zufrieden sein, soll er finden, daß ich an Bildung keinem Weibe auf Erden nachstehe. Aber wärst du zurückgekommen, treu und roh, wie du gingst, so würde ich auch Bildung, Wissen und alles das von mir geworfen haben deinetwegen, wie einst die roten Beeren in das Wildwasser. Alles, was mein in mir ist, habe ich nur dir erworben und für dich aufgehoben. Sei ein milder Richter meines Lebens! – Der größte Schmerz ist mir zuteil geworden, als dein Bruder neulich mir nachkam und plötzlich vor mir erschien. Auch ihn täuschte der Schein, auch ihm erschien ich, wie so manchem andern, als eine Verlorene. Er war gar wild und unbändig – ganz wie du, Fritz, in früherer Zeit. Die Begegnung hätte mir fast den Tod gebracht. Der arme Junge! Sein Schicksal hat mir schwer auf der Seele gelastet, obgleich der Baron mir auf seine Ehre versicherte, es sei aufs beste für ihn gesorgt und er sei nach der Heimat zurückgekehrt. Ich habe dahin an den jetzigen Pastor geschrieben und Geld geschickt, aber noch keine Nachricht erhalten.«

»Gelogen hat der Baron von Poppen«, rief Fritz Wolf. »Der arme Robert ist arg mißhandelt worden; heute abend erst habe ich erfahren, daß er in dieser Stadt ist und was er dulden mußte.«

»Was ist ihm geschehen, was hat man ihm getan?« rief Eva mit zornig flammenden Augen.

»Sie haben den armen Teufel eingesteckt. Ich kann mir ganz und gar vorstellen, wie verloren er gewesen ist in diesem Gewirr. Hab ich doch Ähnliches durchgemacht. Nun scheint er in guten Händen zu sein. O Eva, liebe, liebe Eva, auch er hat den harten Kampf mit dem Leben, den wir gekämpft haben, jetzt begonnen.«

Der Amerikaner faßte die Hand der Jugendfreundin und drückte sie an die heißen Lippen:

»Sei gesegnet für alles, was du mir gesagt hast, sei gesegnet, meine Süße, meine Stolze, du einzige Eva Dornbluth! Ja, du hast den härtesten Kampf gekämpft und den stolzesten Sieg erstritten, und vertauscht sind die Rollen zwischen uns – ich muß mich verteidigen, und du mußt richten, meine Tapfere, Treue, Liebe.«

»Du sagst liebe Eva!« rief das Mädchen, wie außer sich. »Dank Gott, o habe Dank, Fritz! Du willst mir glauben, daß ich deiner noch immer würdig bin? O Fritz, sag es mir; nimm mich an dein Herz, laß mich nicht mehr allein in der Welt, es ist so schrecklich, allein zu sein. Es ist so schwer, die rechten Sterne zu erkennen, wenn man kein helfendes Herz zur Seite hat. O Fritz, weshalb hast du mich so lange, lange allein gelassen; du bist mir viel Liebe schuldig. Sei gesegnet, daß du endlich doch gekommen bist. Ich habe in machtlosem Schweigen und mit lächelndem Munde soviel lauten und verborgenen Hohn und so viele Demütigungen ertragen müssen. O Fritz, gedenke immer daran, wenn du einmal zornig über mich werden willst. Sei willkommen und gib mir Liebe und Schutz, mein wilder Wolf aus dem Winzelwalde!«

Die kleine Lampe war dem Ausgehen nahe, und man konnte also die Tränen in Friedrichs Augen nicht sehen. Stumm hielt er die Geliebte an seiner Brust. Die Sterne Eva Dornbluths hatten doch guten Schein gegeben.

Zehntes Kapitel Die Sterne Friedrich Wolfs aus Poppenhagen. Ein Stein des Anstoßes wird aus dem Wege geräumt. Westward ho!

Die Lampe flammte noch einmal auf und erlosch. Friedrich Wolf aus Poppenhagen rief:

»Wie du zitterst, Mädchen! Es ist so kalt hier. Komm fort aus dieser Dunkelheit; komm wieder in dein hübsches, heiteres Reich; dort wie hier bleibst du meine süße, meine tapfere Eva. Ich bitte dich, stoße du mich nicht von dir, du bist viel besser als ich. Weh mir, daß ich es wagte, Rechenschaft von dir zu fordern. Willst du mir verzeihen?«

»Was wäre ich ohne dich?« flüsterte Eva, das Gesicht an der Brust des Freundes verbergend. »Nimm mich. Ich bin ganz dein und ohne dich nichts.«

Sie ließ sich von dem Freunde in das warme Gemach zurückführen. Hier hatte die junge Magd aufgeräumt, die Unordnung und der Dunst waren verschwunden, eine schöne Lampe mit mattgeschliffener Kristallkuppel brannte auf dem runden Tisch vor dem Diwan. Die Magd machte sich noch zu schaffen im Zimmer und sah verstohlen neugierig auf den Fremden. Eva nahm sie an der Hand und führte sie zu Fritz:

»Sieh, das ist meine gute Marie. Ich habe ihr viel zu danken. Sie ist mir die treueste Freundin gewesen.«

Die Kleine warf ihr keckes Stumpfnäschen in die Höhe:

»Also Sie sind der vortreffliche Herr, welcher uns soviel Sorgen und schlaflose Nächte gemacht hat? Angenehme Bekanntschaft. Sind Sie endlich doch noch gekommen? Wenn ich in der Stelle meines Fräuleins wäre –«

»Oh, Marie, sprich nicht so«, sagte Eva. »Du freust dich doch mit mir!«

»Das ist es ja eben, was mich ärgert«, rief die Kleine; das mutige Näschen senkte sich, die hübsche Schürze fuhr nach den noch hübschern Augen; dann drehte sich Marie auf den Hacken, fuhr blitzschnell aus der Tür, brach draußen in ein helles Weinen aus und lachte noch heller dazwischen. Sie saß den ganzen Abend im Winkel und erschien erst ganz spät wieder mit überaus buntgefärbtem Gesichtchen; weshalb hielt die Schürze auch nicht Farbe?

»Das Kind war ebenso verlassen wie ich; wir haben uns treu aneinandergeschlossen«, sagte Eva. »Doch nun komm, komm. Die Reihe, zu erzählen, ist jetzt an dir, Fritz. Sage nun, wie du das Leben überwunden und dich zu dieser glücklichen Stunde durchgerungen hast.«

Sie zog ihn zu dem Diwan, strich ihm lächelnd die Locken von der Stirn, küßte ihn und sagte:

»Ich horche mit ganzer Seele.«

Darauf begann der Amerikaner seinen Bericht:

»Du hast ganz recht; ich habe mehr Anlage, ein Taugenichts zu werden, auf den Weg mitbekommen als irgendeiner unserer Poppenhagener Altersgenossen. Einen tollen, eigensinnigen Kopf trage ich auf den Schultern, und mein Sinn ist von Eisen wie mein Körper. Über alles das hast du, Eva, einzig und allein Gewalt erlangt. Du bist das einzige Wesen gewesen, welches ich fürchtete und deshalb mit knabenhafter Roheit mißhandelte. Du hast mich zu deinem Sklaven gemacht, dich habe ich geliebt, dich liebe ich. Von unserer Jugend brauche ich nicht mehr zu sprechen, denn du hast das singende, klingende Märchen derselben schon selber erzählt. Oft hab ich in der fremden Wildnis, auf dem Meer, in dem Lärm der großen transatlantischen Städte Gelegenheit und ein stilles Fleckchen gesucht, um die Augen zuzudrücken und den Winzelwald, die Hütten von Poppenhagen samt ihren Bewohnern und die Königin von allen, das kleine Mädchen Eva Dornbluth, aufsteigen zu lassen. In der Nacht, in welcher ich in die weite Welt hinauslief, beginnt meine Erzählung. Auf der Bergspitze, von welcher man den letzten Blick in das Tal von Poppenhagen werfen kann, hielt ich zuerst an vom Lauf. Die Straße, der Wald und die Höhen leuchteten im weißen Mondlicht, unten aus der Tiefe, wo das Dorf lag, funkelte ein einziges Licht; ich wußte, es leuchtete von dem Sarge des Schulzensohnes, der zwei Tage vorher gestorben war. Obgleich ich mit dem Verstorbenen gar nicht gut gestanden hatte, so peinigte dieses Licht mich doch sehr und verwilderte mir das Herz, welches schon so schmerzhaft um dich, Eva, schlug, noch viel mehr. Es machte mich unendlich traurig und fast mutlos, so daß meine Knie zitterten und ich beinahe umgekehrt wäre. Aber der Gedanke an das Gelächter des folgenden Tages trieb mir das Blut in die Wangen; im vollen Lauf stürzte ich fort, bergunter – die Heimat lag hinter mir, das Los war geworfen. Ich war endlich in der weiten Welt; aber erst als der Morgen anbrach, merkte ich, wie weit sie war, wie wüst und verworren. Die ganze Nacht rannte ich durch, bis die Sterne verblichen, der graue Schein über die Berge sich legte und in der Ferne die Hähne ihn ankrähten. Mit Aufgang der Sonne stand ich auf der letzten Höhe des Gebirges, vor mir dehnte sich die Ebene mit ihren Städten und Dörfern, die Ebene, welche ich bis dahin noch nicht gesehen, von welcher ich keinen Begriff hatte. Ich setzte mich stumpfsinnig auf einen Steinhaufen, legte mein kleines Bündel neben mich und starrte ratlos in die unbekannte Weite. Ich war hungrig und durstig, ein blöd-wildes Tier. Nach kurzer Ruhe schlich ich die letzte Höhe hernieder und ein in das flache Land. Das wenige Geld, was ich besaß, war in den nächsten Tagen vertan; ich schlief unter freiem Himmel, in Schuppen oder in Ställen, wie es kam. In einer leeren Ziegelhütte, wo ich vor einem Sturm und der Nacht Schutz suchte, traf ich auf die Leute, welche meine nächsten Schritte in der Welt lenken sollten. Als ich in die Hütte kroch, fand ich den unbehaglichen Raum bereits besetzt. Ein Hund fiel mich mit wütendem Gebell an, und ein Weib kam ihm mit Hand und Mund bei dem abwehrenden Angriff zu Hülfe. Aus der Tiefe der Dunkelheit deklamierte eine äußerst helle Mannesstimme mit hohem Pathos dem Vorgang ganz unangemessene Herzensergüsse Theklas von Friedland. Ich war müde, hungrig und zornig, so daß ich weder Hund noch Weib achtete, sondern sie überwältigte und in das Innere der Hütte, an welcher ich gewiß ein ebenso gutes Recht hatte wie die zeitweiligen Bewohner, eindrang. In einer Ecke glimmten einige Kohlen, und darauf zischte ein Suppentopf. In einer andern Ecke stand ein Pierrotkasten; der Deklamator war der Puppentheaterdirektor Joseph Leppel; die Dame war Julie Leppel, seine Gemahlin, der Hund hieß Zampa und konnte mehr als bellen; er war ein Künstler, und wir wurden später die besten Freunde. Nachdem ich den Eintritt in den schützenden Raum erzwungen hatte, während der Regen draußen niederrauschte, kam es zwischen mir und der Familie Leppel zu einer Auseinandersetzung, und Signora Julia zeigte sich als eine verständige Dame, welche Vernunft annehmen konnte. Signor Joseph lud mich zu der Suppe ein, und mein Appetit ergötzte die beiden guten Leute mehr als den Hund, der an seinem Teil von der Mahlzeit beträchtlich durch den neuen Mitesser verkürzt wurde. Nach der Mahlzeit, während ich im Halbschlaf in einem Winkel mich zusammenrollte, fand eine lange flüsternde Beratung zwischen dem Ehepaar statt, und nachdem man am folgenden Morgen genau meine Lebensverhältnisse erkundet hatte, legte man mir das Resultat der Beratung vor. Der Direktor schien ein wenig engbrüstig durch seine schwierige Stellung als Dirigent und Aktor geworden und dazu sehr schlecht auf den Füßen zu sein. Er bedurfte, um den schweren Puppenkasten zu befördern, eines jüngern, kräftigeren Gehülfen. Einen solchen hatte er gehabt; aber am vergangenen Tage war ein Streit um die Gage ausgebrochen, und der Helfer hatte in Haß und Zorn seinen Abschied von der Gesellschaft genommen. Der Direktor verachtete ihn zwar, befand sich aber doch in der allergrößten Verlegenheit, und ich erschien ihm wie vom Himmel gesendet. Mit Pathos hielt er mir eine Rede, in welcher er mir auseinandersetzte, wie die Götter mich begünstigten, indem sie mir durch seine – Joseph Leppels – Hand das glänzende Reich der Kunst erschlössen. Ich solle nicht zaudern und die Götter erzürnen – sprach er –, ein Paar Stelzen, auf welchen der Vorgänger ein dankbares Publikum entzückt habe, sei vorhanden, und seine – des Redners – Frau werde mich mit Vergnügen die hohe Kunst lehren, hoch über den Köpfen der Leute zu schreiten. Ich starrte den Mann eine geraume Zeit an; die Signora malte mir gräßlich die Schrecklichkeit des Hungertodes und die Fürchterlichkeit der Polizei vor: ich nahm das Anerbieten an und war ein Gaukler und Puppenspieler geworden, fast ohne zu wissen, wie das gekommen war. Die Kunst, auf Stelzen zu tanzen, lernte ich leicht und schnell und brachte sie binnen kurzem zu einer gewissen Vollkommenheit; es gefiel mir bald gar nicht übel, so von der Höhe auf die staunenden Gesichter des Volks herabzusehen. Der Puppenkasten war eine leichte Bürde für meine Schultern; mit Bequemlichkeit trug ich ihn durch das Land und lernte ein gutes Stück Leben kennen. Mein Prinzipal war ein merkwürdiger Mensch, ein Drittel gutmütiger Vagabund, ein Drittel Spitzbube und ein Drittel Phantast. Er hatte ein eigentümliches Leben hinter sich; von begüterten Eltern geboren, hatte er gelehrte Schulen besucht; aber ein bodenloser Leichtsinn hatte ihn zuletzt zu seiner jetzigen Lebensstellung herabgebracht. Er hatte die fixe Idee, daß er noch einmal Direktor eines wirklichen Theaters werden müsse, und er ist mir immer ein leuchtendes Beispiel gewesen von der Macht solcher fixen Ideen und dem, was der Mensch dadurch erreichen kann. Signor Leppel hat durchgesetzt, was er wollte, ist jetzt zu New York Manager eines vielbesuchten Vorstadttheaters und auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. Schon als ich mit ihm zusammentraf, trug er sich mit Auswanderungsgedanken und machte von Zeit zu Zeit den Versuch, das Geld zur Überfahrt zu ersparen. Das hielt aber bei der Ungebundenheit seines Lebenswandels äußerst schwer, und ohne die Frau hätten wir's auch nicht fertiggebracht. Sie zeigte Charakter – in mancher Hinsicht sogar zuviel Charakter; hier aber war es gut, daß sie durchgriff. In kurzen zwei Jahren hatten wir das Geld zur Überfahrt zusammen und schifften uns in Bremen ein. Die See übte einen eigentümlichen Einfluß auf die Prinzipalin; das Stampfen, Schaukeln und Rollen, das Kopfüber-aus-den-Kojen-Poltern, das Salzwasser, die Erbsen und das Pökelfleisch machten sie – zärtlich; sie klammerte sich nicht nur bei Sturm und schlechtem Wetter, sondern auch bei totaler Windstille mit großer Zutulichkeit an mich, und der Prinzipal sah das mit stillem Grimm. Auf dem Meer wurde der Signor zu sehr von der Seekrankheit niedergehalten, um seinen Gefühlen Luft machen zu können; aber sowie wir den Fuß auf das feste Land setzten, brach sein Zorn gegen mich los, und es half mir gar nichts, als ich ihm versicherte, seine Gemahlin habe nicht die geringste Anziehungskraft für mich und die Zuneigung herrsche allein auf ihrer Seite. Die Eifersucht hatte ihre blutige Saat gesät, und in einer Strandschenke auf Long Island brach der alte ewige Kampf um das Weib auch zwischen Joseph Leppel und Fritz Wolf los, und jeder von beiden verlor Haare, trug blaue Flecke und zerrissene Jacken davon. Wir trennten uns, indem der eine dem andern das böseste Los wünschte und die gräßlichsten Segenswünsche nachschrie. Ich begann das Leben auf eigene Faust. Nur noch eine kurze Zeit ging ich vor den Bürgern der großen Republik auf Stelzen; aber da es ihnen kein Vergnügen machte, so hörte auch für mich der Spaß dabei auf; ich gab das Geschäft auf, wurde Zeitungsverkäufer und schrie den Broadway auf und ab die New Yorker Tribüne aus. Dann wurde ich Sänger bei einer Gesellschaft nachgemachter Tiroler, und dann – ich hatte bei dem Signor Leppel doch viel gelernt –, dann betrat ich die Bühne bei mehr als einer herumziehenden Truppe. Dabei hatte ich das wenigste Glück, wurde furchtbar ausgezischt und legte mich auf den Hausierhandel, der mich weit in das Innere des Landes führte, tief in die großen Wälder. In dem Walde fühlte ich mich seit Jahren zum erstenmal wie der so recht an meinem Platze. In den großen Wald gehörte der Knabe vom Eulenbruch. Den Hausierkasten ließ ich, wie ich den Puppenkasten gelassen hatte, griff nach der Büchse und fand mich nun endlich auf der Bahn, für welche die Natur mein ganzes Wesen bestimmt hatte. Ein wildes, freies, stolzes Leben führte ich jetzt, einsam oder im Kreise gleichgesinnter Genossen. Ich schlürfte die Lust des Abenteurertums in vollen Zügen, und dazu wirkte der Zauber des einsamen Lebens, wie ich sagen darf, veredelnd auf mich. Was das tolle, haltlose Treiben der letzten Jahre mir an Gemeinheit aufgedrückt hatte, das streifte ich jetzt allmählich wieder von mir ab; ich wurde ein ganz anderer Mensch und schämte mich mancher Stunde der Vergangenheit. Und wie mein Geist freier wurde, so sah ich jetzt auch die Zeit meiner Jugend, die Verhältnisse meiner Heimat mit andern Augen an. Dein Bild, Eva, tauchte zuerst aus dem wüsten Nebel wieder auf, und immer klarer, immer glänzender ward es wieder – in so weiter Ferne wurdest du von neuem zum Stern meines Lebens. Bei allem, was ich tat, dachte ich, von dieser Zeit an, an dich. Du warst zu jeder Stunde mein holder Schutzgeist. Ich war arm, aber unbeschreiblich glücklich, als das Ereignis kam, welches mich zum reichen Manne machte und welches mir den Namen gab, unter dem ich in dieser Stadt aufgetreten bin. – Wir lagerten in der Wildnis zwischen dem Arkansas und dem Canadian, unserer vier, ein alter Mann mit weißem Haar, Josua Warner, ein Mann vom Stamm der Chactasindianer, ein Neger und ich selbst. Der alte Warner war trotz seines Reichtums ein geschlagener Mann. Er hatte seine einzige Tochter wider ihren Willen an den Sohn eines verstorbenen Freundes verheiratet. Durch Verschwendung, leichtsinnige Spekulationen und Unachtsamkeit hatte Frank Saint-Cœur das eigene Vermögen eingebüßt und den Schwiegervater beinahe mit in das Verderben gezogen. Dann hatte er sich mit der Justiz überworfen, einen Mann im Streit erschossen und war entflohen nach dem fernen Westen, nach Texas. Seine arme Frau hatte er mit sich geführt, gleichsam als Geisel für den Vater, den er dadurch zu fernern Unterstützungen zwingen wollte. Nun folgte der verzweifelnde Alte der Spur seines Kindes, welches er selbst in das Verderben gestürzt hatte, indem er es in die Hand und Gewalt eines so rohen, harten Mannes, wie Frank Saint-Cœur war, gab. Westward ho! Niemand hier im alten Lande begreift, was für ein Zauber in diesem Worte liegt. Legionen sind auf dem Wege nach dem Westen, dem fernen, wilden Westen. Sie verlieren sich in der Unermeßlichkeit des Raumes. Hier und da wird ein Feuerherd gebaut, und aus dem Schornstein eines rohen Blockhauses kräuselt der Rauch durch die Blätternacht des Urwaldes oder steigt auf von dem Lagerfeuer inmitten der weiten Prärie. Haben die Ansiedler im Walde, die Jäger, die Emigranten auf der Ebene den Westen gefunden? Nein, nein! Immer weiter mit Büchse und Axt, mit Karren und Wagen, mit Weib und Kind, zu Pferd und zu Fuß, immer weiter gen Westen – westward ho! Wo die Axt klingt, wo die Büchse knallt, ist nicht mehr der wilde Westen; die vorschreitende Kultur hat nur ihre Grenzen ein wenig hinausgerückt, und der wilde Westen ist ein wenig weiter vor ihr zurückgewichen. Das Zauberland, über welchem allabendlich die Sonne untergeht, wo unbekannte majestätische Ströme durch unbekannte Täler rollen, wo unendliche Schätze offen und doch unerreichbar daliegen, bleibt immer in derselben Ferne; das Sehnen nach ihm bleibt immer dasselbe. Weiter, weiter, ihr Pioniere! Sie sind alle auf dem Marsche, Angelsachsen, Deutsche, Romanen und Kelten; ein jeder hört den Atem des Folgenden im Nacken und sputet sich auf seinem pfadlosen Wege. Es soll da ein Goldland liegen – alte Sagen reden davon; spanische Missionäre wollen den Fuß darauf gesetzt haben; – wo ist das Land? Westward ho! westward ho! Am Missouri liegt's nicht, nicht am Arkansas, am Roten Fluß nicht, nicht am Rio Brave, nicht am Colorado. Wo liegt's, wo liegt's? Immer weiter rückt's hinaus, wer kann's sagen, ob es nicht die Fluten des Großen Ozeans umspülen? Wer kann aber, mit solchem goldenen Glanz vor den Augen, den Fußtritt der nachfolgenden Scharen hinter sich ohne Ungeduld hören? Weiter, weiter – wer wird zuerst jauchzend Besitz von dem Dorado, dem Goldland, ergreifen, wie es Pizarro, wie es Ferdinand Cortez vergönnt war? Jedermann darf hoffen, der Glückliche zu werden, vielleicht ist auch uns beiden, Eva Dornbluth, unser Teil daran aufgehoben. Westward ho!«

»Ich folge dir, wohin du mich führst, Friedrich!« rief Eva mit leuchtenden Augen. »Geh voran, ich folge deinen Schritten überall.«

»Du bist lang genug gegangen, armes Herz; in meinen Armen will ich dich durch das Leben tragen, so wahr Gott mir helfe. Doch nun höre weiter. Wir waren dem flüchtigen Frank Saint-Cœur auf der Spur, nachdem wir ihn schon wochenlang verfolgt und gesucht hatten. Einer nach dem andern in unserer Schar war zurückgeblieben, sei's, daß dem einen das Roß stürzte, sei's, daß den andern die übergroße Ermattung zu Boden warf. So waren wir, wie gesagt, zuletzt nur noch unserer vier und lagerten in der Wildnis. Es war eine Nacht im Junius, und während der Neger und der Indianer schliefen, saß ich wachend neben dem wachenden, trostlosen Vater. Kein Windhauch regte die Blätter der Bäume; ein kleiner Strom rauschte in der Ferne, hie und da sahen wir seinen Spiegel durch die Büsche blitzen. Es war hellster Mondenschein. Tagelang waren wir bereits geritten, ohne einen Menschen zu erblicken; eine tiefere Einsamkeit kann man sich nicht vorstellen. An dieser Stelle sollte ich nun etwas erleben, welches mich heute noch in der Erinnerung wie mit Geisterhand in tiefster Seele berührt. In meine Decke gehüllt, saß ich, die Büchse griffgerecht neben mir, das Messer in der Scheide gelockert, und wieder einmal dachte ich sehnsüchtig deiner, Eva Dornbluth, und meiner Jugend; wie ein Traum war es mir, wenn ich die halbgeschlossenen Augen ganz öffnete und der Blick über das verglimmende Feuer und die schlafenden wunderlichen Gefährten glitt. Neben mir seufzte der alte Warner und murmelte: ›Vorwärts, vorwärts, da sind sie – o Lizzie! liebe, liebe Lizzie!‹ – Seit wir uns diesem unserm jetzigen Rastplatze näherten, war eine mächtige Veränderung mit dem Greise vorgegangen; eine Art verzweiflungsvoller Zuversicht auf das Gelingen unserer Jagd hatte sich seiner bemächtigt. Er stammte von schottischen Eltern: war etwas von dem second sight, dem geisterhaften ›Zweiten Gesicht‹ seiner frühern Landsleute über ihn gekommen? – Hinter uns standen die Pferde angebunden, und eins hatte den Kopf über den Hals des andern gelegt; ein anderes wieherte im Traum. Auch Pompey, der Nigger, murmelte im Schlaf, ihm träumte von der Racoonjagd; nur der Indianer lag ganz still, und sein Roß stand ebenso still abseits der andern drei. Allmählich verloren unter dem Rauschen des Flüßchens meine Gedanken ihre Bestimmtheit; wie es zu geschehen pflegt, verfiel auch ich, trotzdem ich die Wacht hatte, in einen Halbschlummer, dessen Dauer ich nicht bestimmen kann. Ein Schrei Josua Warners jagte mich empor und mit Büchse und Messer auf die Füße. Der Greis stand aufgerichtet, voll vom Mond beschienen, in unserer Mitte und starrte auf eine Lichtung, die hinaus auf die weißleuchtende Prärie jenseits des Stromes führte. Der Chactas und der Neger hatten auch ihre Waffen ergriffen, die Pferde zogen angstvoll an ihren Halftern. Nirgends war das Geringste, was Grund des Schreis und Schreckens hätte sein können, zu erblicken. Dem alten Vater war der Hut entfallen, seine Locken schimmerten silberweiß, sein Blick war starr, dem eines Schlafwandlers ähnlich, gradeaus gerichtet, und die Augen aller folgten den seinigen. Ich wollte den Träumenden beim Arm fassen, um ihn zu erwecken; aber er winkte mir und deutete auf die Lichtung:

›Still – da ist sie – seht ihr sie? Lizzie! Lizzie! Da schwebt sie fort! Lizzie! liebe Lizzie! Warte, warte, wir kommen!‹

Nichts zu sehen – kein Ton zu hören außer dem Rauschen des Wassers; in tiefster nächtlicher Ruhe lag die Natur. Ich fürchtete, das Unglück habe die Sinne des armen Vaters verwirrt; aber vergeblich suchte ich in seinen Augen nach dem irren Flackerlicht des Wahnsinns. Josua Warner war ein harter Mann, ein eisenherziger Sklavenhalter, und wie ein solcher sah er auch jetzt wieder aus. ›Kommt, Fred‹, sagte er, ›wir sind am Ziel; sie hat mich gerufen, ich habe sie gesehen, Gott segne ihr süßes Gesicht, kommt mit den Pferden.‹ – Er hing die Büchse über die Schulter, band sein Roß los und nahm es beim Zügel. Gegen den Fluß führte er uns; denn wir andern folgten seinem Beispiel, ich im leisen Grauen, der Neger kopfnickend und die glänzenden Augen rollend, Chimapatawe, der Indianer, gravitätisch und bedachtsam. Ich wollte die Büchse schußbereit in den Arm werfen; aber der Greis schüttelte das Haupt: ›Nicht nötig, Fred, arme Lizzie!‹ – Wir schritten auf die Lichtung zu und zogen durch den seichten Strom fast trockenen Fußes. Eine kurze Zeit zogen wir im Mondenlicht; dann nahm uns der Wald wieder auf, und wir schritten weiter, nach indianischem Brauch in einer Linie, der Alte voran, dann ich, dann Pompey, zuletzt der Chactas, jeder sein Pferd am Zügel führend. Eine gute halbe Stunde blieben wir nun im tiefsten Dunkel; dann hielt der Greis plötzlich an und wies auf den Boden. Der Indianer stieß den Verwunderungsruf seines Volkes aus, der Neger glotzte; wir standen vor einer Feuerstelle, um welche alles auf den längern Aufenthalt eines Reitertrupps hindeutete. Kaum acht Tage alt konnten diese Spuren sein.

›Arme Lizzie!‹ murmelte der Vater. ›Wie deine kleinen Füße so wund waren! Wie du so müde geworden bist! Schläfst du, schläfst du sanft? Still, still, daß wir sie nicht wecken.‹

Der Indianer hielt ein weißes Tuch in die Höhe; ich nahm es aus seiner Hand, es waren Blutflecke darauf bemerkbar. Es war ein feines Damentaschentuch, und an der einen Ecke trug es die gestickten Buchstaben E und W; es konnte kein Zweifel herrschen, wir waren der unglücklichen jungen Frau auf der Spur. Diese Buchstaben bedeuteten Eliza Warner; aber das Blut, das Blut?! – Ich wollte das Tuch den Blicken des Vaters verbergen; er nahm es mir jedoch ganz ruhig aus der Hand und sagte:

›Sie schläft – ihre Brust tat ihr so weh. Es ist Blut aus ihrer kranken Brust, Fred. Ich wußte es wohl, sie konnte den langen Ritt nicht ertragen, es mußte so kommen.‹

Er verbarg das traurige Zeichen an seiner Brust, nachdem er es geküßt hatte; dann führte er sein Roß weiter, ohne aufzuschauen, als wandele er auf vollständig bekanntem Wege. Der Boden senkte sich nunmehr; die Bäume standen nicht mehr so dicht gedrängt; wir traten endlich hervor aus dem Walde auf die große Prärie, hinaus in das vollste Mondlicht, und gerieten sogleich in brusthohes Gras. War dieses Gras je von menschlichen Füßen und Rosseshufen niedergetreten worden, so hatte es sich schnell wieder aufgerichtet, und keine Spur der früheren Wanderer war mehr zu erblicken. Das Haupt vorgebeugt, mit tiefatmender Brust, schritt Josua Warner dahin. Ein Rudel Hirsche jagte kaum fünfzig Schritte von uns zur linken Seite über einen Hügelrücken gen Süden. Wir waren immer noch auf dem Wege gegen Westen, den fernen, wilden, gloriosen Westen; doch nach einer Viertelstunde hielten wir an in der unermeßlichen Ebene, auch diesmal, ohne ihn gefunden zu haben. Wir hatten nur gefunden, was wir suchten. In dem wogenden Gras, inmitten der Unendlichkeit von Himmel und Wiese, trafen wir auf einen winzigen Erdhügel, auf ein ganz frisches Grab, das Grab der unglücklichen Elisabeth Warner. Eine rohe Holztafel verkündete ihren Namen und den Tag ihres Todes; die Stimme, welche den Vater von seinem Lagerplatz im Walde emporjagte, war nicht Täuschung gewesen; er hatte sein Kind wiedergefunden. Bewußtlos lag er, den Hügel mit seinen Armen umfassend; stumm standen wir andern auf unsere Büchsen gelehnt, und der rote und der schwarze Mann begriffen das Geheimnisvolle, das Erschütternde grade so gut wie der Deutsche. – Wir verfolgten den schlechten Burschen, welcher die arme Lizzie in dieses einsame Grab gestoßen, welcher diesen Hügel über ihrem Leibe aufgehäuft hatte, nicht weiter – was für eine Rache hätten wir an ihm nehmen sollen? Wir traten den langen traurigen Heimweg zum Mississippi bereits am folgenden Tage an; – vielleicht traf niemals wieder ein anderer auf dieses trostlose Grab in der Prärie. Die Hirsche und Büffel mochten ruhig um es her weiden, die Geier darüber ihre Kreise ziehen; ein menschliches Auge fiel vielleicht nie wieder auf diese Holztafel und den Namen Elisabeth Saint-Cœur. Ich lebte mit dem Vater bis zu seinem Tode; ich war der einzige, mit welchem er über das ferne Grab sprechen konnte, und durfte mich kaum von seiner Seite entfernen. Er gab mir seinen Namen und setzte mich, als er starb, zum Erben seines Vermögens ein. Für das Leben in den Sklavenstaaten war ich jedoch durchaus nicht gemacht. Für die Baumwollenpflanzung fand ich bald einen Käufer, meine Herren Sklaven führte ich nach den Neuenglandstaaten und ließ sie laufen; bis auf einige, welche durchaus nicht laufen wollten, sondern sich mit großem Geschrei an mich festklammerten und behaupteten, ich sei verpflichtet, sie, Pompey, Cäsar und Agrippina, gewöhnlich Grippy genannt – zu behalten. Zuteil war mir jetzt alles geworden, was ich mir im Winzelwalde als das höchste Glück der Welt vorgestellt und gewünscht. Seefahrer, Krieger, Jäger war ich gewesen, blutige Abenteuer hatte ich glücklich bestanden; bei mehr als einer Gelegenheit sah ich dem Tode ohne Augenzwinkern ins Gesicht. Ich war jetzt reich, der freieste Mann auf Gottes Erdboden; aber nun fehlte mir doch wieder alles; zurück in die Heimat trieb der glühende Wunsch; alles, was ich in der Weite gesucht und gefunden hatte, verblaßte jetzt gegen das, was die einst so gering geachtete Heimat zu bieten hatte. Nach dir, Eva Dornbluth, sehnte ich mich, und nicht eher hatte ich Ruhe, bis ich wieder auf dem blauen Meer schwamm. Den Hauptmann Konrad von Faber hatte ich in New York kennengelernt; er machte mit mir die Überfahrt nach Europa. Wir schlossen uns ziemlich eng aneinander, ohne daß er jedoch meinen wahren Namen erfuhr; er hat mich auch in die hiesige Gesellschaft eingeführt. In Hamburg trennten wir uns fürs erste; ich suchte dich, du Teure, zuerst natürlich im Winzelwalde. Ich war in Poppenhagen und vernahm alle die Veränderungen, welche sich dort zugetragen hatten. Man erkannte mich natürlich nicht, und ich gab mich auch nicht zu erkennen. Das war vor acht Tagen. Mein Bruder Robert war eben davongegangen wie ich, wie du. Über dich schüttelte man die Köpfe; denn dunkle, verworrene Gerüchte waren über dich in das vergessene Tal gedrungen. In toller Angst und Hast kam ich hierher – ich vernahm, was unserm Robert geschehen war; aber ich hatte gelernt, mich zu beherrschen. Mit lächelnder Miene ging ich umher, ließ mich von dem Hauptmann Faber überall vorstellen; der junge reiche Amerikaner war überall ein gern gesehener Gast. Für manche Sünde meines Lebens habe ich durch die innere Qual dieser letzten acht Tage reichlichst gebüßt; – nun verzeihe mir, verzeihe mir, Eva, meine Geliebte, meine Braut, mein Alles. Zu deinen Füßen knie ich hier, verzeihe mir, verzeihe alles, was der tolle Fritz vom Eulenbruch durch Vergessen, Zweifel und Mißtrauen gesündigt hat; ich liebe dich, habe dich immer geliebt und nie an ein anderes Weib gedacht!«

Weinend hob Eva den Freund auf:

»Sei ruhig, Herz. Ich lasse dich nicht. Die Sterne haben uns auseinandergeführt, die Sterne haben uns von neuem vereinigt. Nicht wahr, nun soll uns nur der Tod scheiden?«

»Nur der Tod!« rief Friedrich Wolf. »Sag es noch einmal, sag es mir wieder, daß du mit mir gehen willst, daß du mir immer zur Seite stehen willst!«

»Immer, immer! Deine Sterne sind die meinigen.«

»So laß uns gehen! Morgen, heute, in dieser Nacht!«

»Und dein Bruder?«

»Dürfen wir ihm jetzt entgegentreten? Wir wollen schon für ihn sorgen. In der rechten Stunde wollen wir ihn dann zu uns rufen.«

»Du sollst entscheiden.«

»Er hat auch seine Sterne. Mögen sie ihn gut und sicher führen, wie sie uns geführt haben. Fürchtest du dich aber auch nicht vor dem Meere, du Süße, Liebe?«

Eva Dornbluth schüttelte den Kopf:

»Hab ich mich vor der Welt gefürchtet? Die ist ein noch ganz anderes, viel wilderes Meer.«

Der rote Wolf zog von neuem das Mädchen aus dem Winzelwalde an seine Brust; dann warf er jubelnd und triumphierend die Hand empor:

»Westward ho! Gesegnet seien unsere Sterne!«

Elftes Kapitel Das Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse erfährt eher etwas Merkwürdiges als das Vorderhaus

Es war spät in der Nacht, und doch war noch Licht in der Werkstatt des Schreiners Tellering, im Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse. Der Kanarienvogel im Bauer hatte sein Köpfchen unter die Flügel gezogen und schlief sanft; aber Hobel und Hammer in den Händen von Johannes und Ludwig Tellering, Vater und Sohn, waren noch nicht zur Ruhe gekommen, obgleich sie ein saures Tagewerk hinter sich hatten. Der alte und der junge Handwerksmann waren beschäftigt, einen Sarg zu zimmern; und ein Sarg ist ein kurioses Stück Arbeit, welches keinen Aufschub duldet. Für die Wiege darf der Mensch als Mensch und Hausvater lange vorher, ehe sie gebraucht wird, sorgen, und die junge Braut und Frau darf sie in errötender Erwartung der Dinge, die da kommen sollen, unter ihrer Aussteuer in das Haus des Mannes bringen. Wenn aber jemand bei Lebzeiten seinen Sarg bestellen wollte, so würde das mit Recht die Verwunderung der Nachbarn und Mitlebenden erregen, und das Exempel des Kaisers Karl des Fünften würde zur Rechtfertigung solcher Schrulle durchaus nicht ausreichen. In Gedanken zimmert der fromme Christ leider freilich oft genug einen hübschen, festen, bequemen Sarg im voraus für geliebte Anverwandte, die sehr reich, oder andere, welche zu mürrisch und alt sind; aber hat man jemals wohl davon gehört, daß ein liebender Neffe einem alten Erbonkel solch ein schwarzes, solides, mit Silber beschlagenes Ruhebett zum Geburtstag oder bei einer andern festlichen Gelegenheit als Zeichen seiner Verehrung und Liebe dargebracht habe? Weder die alten noch die neuen Schriftsteller, weder die Klassiker noch die Epigonen melden von einem solchen Faktum.

Übrigens ist es immer eine traurige Arbeit, einen Sarg zu machen, in Gedanken sowohl wie in der Wirklichkeit; man kann in keiner fröhlichen Stimmung dabei sein, und so arbeiteten auch in dieser Mitternacht Vater und Sohn ernst und eifrig nebeneinander fort und sahen kaum von ihrer Arbeit auf. Jeder dachte dabei das Seinige, und ob die Gedanken aus einem grauhaarigen oder braungelockten Kopfe entsprangen, einerlei, sie waren recht melancholisch gefärbt, obgleich weder Meister Johannes noch Ludwig viel von dem Schläfer wußten, welchem sie das letzte Ruhebett bauten.

Neben der Werkstatt befand sich die Schlafkammer der Frauen der Familie. Die hübsche, lustige Luise schlief so sanft und friedlich wie der kleine Vogel im Bauer; sie lächelte im Traum und vernahm nicht das mindeste von Hobel, Hammer und Säge. Wachend lag aber die Mutter Anna, sie horchte schlaflos der fortschreitenden Arbeit des Mannes und Sohnes. Solch eine alte Frau hat mehr Sorgen als ein junges Ding von sechzehn Jahren; die Jungen und Gedankenlosen wissen gar nicht, wie glücklich sie sind.

Die beiden Fenster der Werkstatt gingen auf den Hof hinaus; das einzige Fenster der Kammer der Frauen sah in die enge schwarze Gasse, durch welche man gehen mußte, um zu dem Klosterhof von Sankt Nikolaus, um zu dem Giebel des Sternsehers Heinrich Ulex zu gelangen. Wir kennen den Weg bereits. An das Fenster der Schlafkammer klopfte plötzlich jemand ganz leise und erschreckte die Mutter Anna dadurch ungemein. Sie fuhr hochauf und horchte, ob sie sich auch nicht getäuscht und das Spiel des Windes für das Anpochen einer menschlichen Hand genommen habe. War der Tote, für welchen der Ehemann und der Sohn sich quälten, ungeduldig geworden? Kam er, um sich nach seinem letzten Hause zu erkundigen? Frau Anna warf einen Blick nach dem Lager ihrer Tochter; das junge Mädchen schlief ruhig weiter; auch Hammer und Hobel in der Werkstatt ließen sich in ihrem Werke nicht stören. Aufrecht saß die Frau im Bett; eben wollte sie sich wieder niederlegen, als sich das Anpochen wiederholte. Eine klare Stimme rief dicht vor dem Fenster:

»Ich bin's. Erschreckt nicht. Ich bin's – Marie Heil!«

»Mein Jesus!« rief die Frau. »Johannes! Ludwig! Da ist jemand draußen. Marie Heil ist draußen. Öffnet ihr doch! Luise, Kind, wach auf!«

Luise erwachte und fragte, was es gäbe. In der Werkstatt hörte das Hämmern und Pochen auf. Auf den Ruf seiner Mutter hatte sich Ludwig Tellering blitzschnell von der Arbeit emporgerichtet. Als er den Namen Marie Heil vernahm, lief er, im höchsten Grade betroffen, eiligst der späten Besucherin die Tür zu öffnen. Die Frauen kleideten sich schnell an.

Mit zitternder Hand schob Ludwig den Riegel der Haustür zurück. Der Wind blies ihm die Lampe aus, und er mußte die Hand der kleinen Familienfreundin ergreifen, um sie zu der Hofwohnung zu geleiten.

»Was ist denn geschehen, Fräulein Marie?« fragte er ängstlich. »Um Gottes willen, es ist doch kein Unglück geschehen?«

Die Stimme Maries kämpfte zwischen Weinen und Lachen, als sie antwortete:

»Ein Unglück? Nein, nein! Aber ich muß fort – ich gehe fort – weit – weit – o so weit, Herr Ludwig!«

Herr Ludwig faßte die kleine Hand noch viel fester als vorher; er ließ sie auch nicht eher los, bis die Hofwohnung erreicht war. Das Wort des Mädchens hatte den jungen Mann so erschreckt, daß ihm jedes Wort, jede Frage im Munde steckenblieb; desto lauter und vielfältiger aber drängten sich die Fragen der übrigen Familie Tellering, deren Glieder jetzt sämtlich in der gerümpelvollen, verräucherten Werkstatt, zwischen Hobelspänen, Brettern, Werkzeug aller Art und neben dem Sarge versammelt waren.

Der scharfe Wind, die Gemütsbewegung und der eilige Lauf durch die Gassen hatten die Wangen der kleinen Marie noch viel röter gemacht, als sie schon im gewöhnlichen Zustande waren. Eine geraume Zeit stand sie inmitten der verwunderten, erschreckten Freunde, ehe sie sich so weit gesammelt hatte, um Bericht zu geben über das, was sie zu so ungewohnter Stunde hertrieb. Ludwig Tellering hatte die Faust auf den halbfertigen Sarg gelegt, wiederholte im Innersten seiner Seele: ich gehe fort, weit, weit fort –, starrte das junge Mädchen mit weit offenen Augen an und sah ungefähr aus wie jemand, welcher aus einem schönen Traum vermittelst eines Waschnapfes voll kalten Wassers geweckt worden ist.

»Setzen Sie sich doch, Marie«, sagte der Meister Johannes, eine Bank mit der Handwerksschürze abstäubend; aber das junge Mädchen schüttelte energisch den Kopf:

»Ich danke sehr, Meister. Ach du liebster Gott, fürs erste werde ich wohl nicht wieder zum Sitzen kommen und noch weniger zum Liegen. Wir gehen fort, o so weit – bis an der Welt Ende; – erst nach Italien, dann nach Paris, dann nach Amerika.«

»Nach Amerika?!« rief die Familie Tellering in den verschiedensten Tonarten, und Ludwig fuhr abermals zusammen, wie vom Blitz getroffen, faßte sich aber als ein Mann sogleich wieder und stellte sich fest auf den Füßen, als wolle er im Boden Wurzeln schlagen und Blätter und Blüten treiben, gleich einer von einem allzu persönlichen Gott verfolgten griechischen jungen Dame aus der Zeit der Metamorphosen.

»Nanu?« rief der Alte.

»Ach du mein Himmel!« rief Luise.

»Nach Amerika?!« rief die Mutter Anna, auf einen Holzschemel sinkend.

Ludwig Tellering sagte gar nichts; er nahm mechanisch seine Mütze vom Tisch und setzte sie fest auf den Kopf.

»Das ist wirklich eine merkwürdige Nachricht«, rief der Meister. »Und wann soll die Reise vor sich gehen?«

»In dieser Nacht – gleich! Ich komme zu fragen, meine Herren, ob Sie uns helfen wollen beim Einpacken. Wir wollen mit fremden Leuten nichts zu tun haben. Viel nehmen wir nicht mit. Seht mich nur nicht so erschreckt an, ihr Leutchen; es geht alles mit rechten Dingen zu. Wir überlegen es uns erst recht reiflich, ehe wir uns entführen lassen.«

Die Aufregung der Familie Tellering stieg immer höher.

Luise schloß die kleine Freundin in die Arme und rief schluchzend:

»Es ist dein Ernst nicht, daß du weggehst! Oh, Marie, was soll das nur? Was soll das heißen?«

»Es ist mein völliger Ernst«, schluchzte dagegen Marie Heil. »Ich kann nicht anders, so große Angst ich auch habe. Es ist eine merkwürdige Geschichte, und ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas erleben sollte. Ich kann meine Herrin nicht verlassen.«

Die Dienerin Eva Dornbluths erzählte nun, was vorgegangen war, wie Herr Friedrich Wolf, der Bräutigam ihres Fräuleins, als ein reicher Mann heimgekehrt sei aus den fernen Mohren- und Indianerländern und wie er seine Braut sogleich mit sich fortführen wolle und wie man keinen Augenblick versäumen dürfe.

»Wir entschlossen uns kurz«, fuhr sie fort, »denn wir haben uns nie lange besonnen, das Leben ist nicht lang genug dazu. Mein Fräulein fragte mich, ob ich weiter mit ihr gehen oder ob ich hierbleiben wolle. Ich fragte sie, was sie von mir dächte, ob sie mich für ein Ding hielte, das sich vor einem Mohren oder einem Indianer oder sonst einem wilden Mann fürchte. Ich sagte, ob sie sich nicht erinnere, was sie alles an mir getan habe und wie sie mich so gut wie eine Schwester behandelt habe. Sie sagte, das sei alles recht schön; aber der Weg sei so weit, und die Welt sei so weit, und man könne nicht wissen, ob man jemals wieder zurückkomme. Der Herr sagte, er wolle auch hier gut für mich sorgen; aber ich antwortete ihm, wie er es verdiente: was er von mir dächte, ich wolle mein Fräulein doch nicht mit ihm allein zu allen Hottentotten und Russen, Chinesen und Menschenfressern ziehen lassen – dazu kennte ich ihn doch noch nicht lange genug. Und um die Sache zu einem schnellen Ende zu bringen und nicht laut herauszuweinen, sprang ich weg nach meinem Mantel und Hut, und wenn die Herren uns nun helfen wollen, unsere Koffer zur Eisenbahn zu schaffen, so soll uns das sehr angenehm und lieb sein. Was wir nicht tragen können, lassen wir zurück und kümmern uns nicht drum. Die Armen sollen es haben; denn wir sind selbst arm gewesen und mögen es überall besser wiederfinden.«

Die Aufregung der Familie Tellering war nicht zu schildern, sie hatte den äußersten Grad erreicht. Das Plötzliche und Unerwartete tat das Seinige, jedermann in die höchste Verwirrung zu bringen. Selbst der Kanarienvogel erwachte, zog den Kopf unter dem Flügel hervor, sah verwundert umher und riet mit hellem Gezwitscher der kleinen Marie, Vernunft anzunehmen und im Lande zu bleiben. Luise weinte laut, es weinte die Mutter Anna, der Alte schüttelte betrübt den Kopf, und Ludwig – Ludwig schien den Kopf vollständig verloren zu haben. Dann kam ein Augenblick, während welchem Marie und Luise einander schluchzend in den Armen lagen und beiderseitig nicht an die plötzliche Trennung glauben konnten und wollten; dann kam ein Augenblick, wo Marie Heil sich wieder zusammenraffte und eine kleine tränenerstickte Rede hielt über die Flüchtigkeit der Zeit, und wie man nie wisse, ob man nicht recht bald wieder zusammenkommen werde. Nun hatte der Meister Johannes Tellering Mütze, Jacke und Rock gefunden, und die Mutter Anna hatte weinend dem jungen Mädchen, welches so weit in die Welt gehen wollte, ihren Segen gegeben. Ludwig Tellering quälte sich vergeblich ab, mit dem linken Arm durch den rechten Ärmel in den Rock zu gelangen; es bedurfte der vereinigten Hülfe von Vater und Mutter, um seine Ausrüstung zu vollenden.

Nun ein Türöffnen und ein Türschließen: auf ihren Betten – allein in ihrer Kammer – saßen die Frau Anna und Luise; sie weinten beide und machten ihrem Kummer in abgebrochenen Ausrufen Luft. Dann war die kleine Freundin gegangen, und der Kanarienvogel in der Werkstatt, jetzt vollständig wach und munter, sang ihr sein lustigstes Leibstückchen nach. – – –

Mitten im unbehaglichen nächtlichen Getümmel am Bahnhof! Wie pfiff und heulte der kalte Wind durch die dunkle hohe Halle! Jede Laterne diente nur dazu, die Nacht noch finsterer zu machen; ungeduldig keuchte die Lokomotive und sah mit feurigen Augen in die Dunkelheit. Vor der Wagenreihe drängte sich das fröstelnde, vermummte, bepelzte Gewimmel der Reisenden; Beruf und Pflicht, Glück und Unglück kümmern sich nicht um Jahreszeit, Wetter und Stunde; sie jagen die Menschen auf und treiben sie, und die armen Menschen denken gar noch, sie seien auf der Wanderung, weil sie es wollen, weil sie es reiflich überlegt und beschlossen haben!

Eva Dornbluth saß bereits im Wagen; Friedrich Wolf drückte dem alten Meister Tellering die Hand zum Abschied; Ludwig aber zögerte mit der kleinen Marie noch immer vor der Tür, so betäubt wie je. Krampfhaft hielt er den Arm des jungen Mädchens.

»O Marie, Marie, weshalb gehen Sie fort? Bleiben Sie hier!«

»Ich darf nicht, Herr Ludwig.«

»Wollen Sie meiner Schwester immer schreiben, wo Sie sind und wie es Ihnen geht?«

»Gewiß! Ach machen Sie mir das Herz nicht noch schwerer.«

»Sie wollen uns nicht vergessen?«

»O Herr Ludwig!«

»So leben Sie wohl, Marie. Wir sehen uns wieder!« Er riß die Kleine in den Arm und küßte sie. Er tat es. Dann schob er sie in wilder Hast in den Wagen und stürzte aus der Bahnhofshalle, ohne sich umzusehen. Ihm nach klang ein leiser Ruf: »Ludwig!«, aber er vernahm ihn nicht mehr; wie konnte er hören und sehen? Friedrich Wolf gab dem Meister Johannes noch einen Brief für einen Mitbewohner des Hauses zwölf in der Musikantengasse, über welchen er mit ihm viel auf dem Wege zum Bahnhof gesprochen, von welchem er vieles sich hatte erzählen lassen.

Nun schrillte die Pfeife des Zugführers. Laut auf schrie die Lokomotive, einem wilden Tier gleich, das losgelassen wird von der Kette. Der heiße Atem füllte mit dichten Wolken die hohe Halle; der Zug setzte sich in Bewegung. Hinaus, hinaus, schnell und immer schneller hinaus in die Nacht, die Zukunft; südwärts soll es Länder geben, wo es nicht schneit, wo die Sonne keinen Winter duldet. Südwärts fuhren Fritz und Eva. Noch einmal winkte Marie Heil aus dem Fenster; kopfschüttelnd, traurig sah den Reisenden der Meister Johannes nach. Dann schritt er ebenfalls aus dem Bahngebäude und fand an der nächsten Straßenecke seinen armen Jungen.

Sie gingen nach Haus, und der Alte legte sich erschöpft zu Bett, Ludwig Tellering aber machte sich mit fieberhafter Hast von neuem an die Arbeit und vollendete den Sarg allein. Mit grimmiger Energie schlug er Nagel auf Nagel ein. Es war ein trauriges Werk; aber Todesgedanken hatte der Jüngling nicht dabei. Wir können ihm nur Glück wünschen zu seinen Gedanken; es waren mutige Gedanken, und der Mut ist ein edel Ding in dieser Welt.

Zwölftes Kapitel Julius Schminkert für immer! Schlaue Bemerkungen des Autors über die Damen im Kartenspiel

Am folgenden Morgen schien freundlich die Sonne in das Zimmer des Polizeischreibers; nach vier Uhr hatte sich der Himmel geklärt, wenn auch der kalte, schneidende Wind immer noch anhielt. Es war ein Sonntag, und selbst Protokollführer Fiebiger war ein freier Mann, welcher sich den Teufel um das Büro Nummer dreizehn kümmerte, sondern es dem Staube und den Gespenstern der Registerbücher gern und willig überließ. In dem Büro Nummer dreizehn mochten die unheimlichen Geister soviel Tänze und Sprünge machen, wie sie wollten, ruhig saß der Polizeischreiber Fiebiger mit seinem »jungen Karaiben Freitag« alias Robert Wolf beim Frühstück und betrachtete durch die Wolken seiner Tabakspfeife still und unbemerkt seinen Schützling zum erstenmal beim hellsten Tageslicht, und was er sah, konnte ihm nicht mißfallen.

Der Schmerz verleiht oft der gewöhnlichsten Physiognomie einen Reiz, von welchem sonst keine Spur in ihr zu finden ist; denn der wahre Schmerz erhebt über das Alltägliche und hat, wie die wahre Freude, eine verklärende Macht, die auch im Körperlichen zur Erscheinung kommt. Hier aber hatte der Schmerz sein Siegel auf ein schon von Natur schönes und geistvolles Gesicht gedrückt, und so war der energische Zauber unbeschreiblich.

»Sieh mich an, Robert«, unterbrach endlich der Schreiber sein stummes Studium, dem er sich fast mit Gewalt entreißen mußte. »Hätten wir gestern wohl gedacht, daß wir heute die Sonne so klar sehen würden? Es ist kaum eine Wolke zu erblicken. Sieh auf, Landsmann aus dem Winzelwalde!«

Der Knabe erhob matt das Gesicht; die Tränen traten ihm immer von neuem in die Augen.

»Ich werde es nie überwinden«, murmelte er.

»Das wirst du doch, mein Junge. Kind, du hast noch nicht erfahren, wieviel der Mensch überwinden kann und muß. Du hast erst den Kelch des Lebens an die Lippen gesetzt; jetzt betäubt dich der erste Schauder vor der Bitterkeit des Trankes; – hinunter damit – die Betäubung wird weichen. Es setzt doch niemand das Glas ab, ehe die Neige geleert ist; wer es vorher im Lebensüberdruß an die Wand geworfen hat, der ist nur in etwas hastigeren Zügen damit fertig geworden. Man erschießt sich nur, wenn der Topf leer ist.«

»Ich wollte, ich könnte Sie verstehen, aber ich kann es nicht. Mein Kopf schmerzt zu sehr, mein Hirn ist zu wüst. O bitte, schicken Sie mich in den Wald zurück, lassen Sie mich fort; ich kann mit ihr nicht die selbe Luft in dieser Stadt atmen. Was soll ich hier? Aus dem Hause darf ich nicht gehen; ich könnte ihr begegnen in den Gassen – o schicken Sie mich heim, schicken Sie mich zurück in den Wald!«

»Armes Kind, du weißt nicht, in welcher Einsamkeit du dich hier in diesem Menschengewimmel befindest. Glaube mir, deine heimatliche Wildnis wird dich und deinen Kummer nicht so gut vor den Menschen schützen und verbergen wie diese Wildnis von aufgetürmten Mauersteinen. Was willst du den Leuten zu Poppenhagen sagen, wenn du heimkehrst? Wie willst du ihnen entgegentreten, wenn sie dir mit Geschrei und aufgehobenen Händen entgegenlaufen: Petz ist wieder da!? Werden sie dich in Ruhe lassen? Werden sie dir gestatten, ein Einsiedlerleben im Winzelwalde zu führen? Rufe dir im Geist alle deine Bekannten vor die Seele, die alten wie die jungen, das ganze Nest; dann denke darüber nach, was das Völklein sagen wird, wie es lachen, wie es dir Nasen drehen wird. Dein alter Freund, der Pastor, ist tot, du kannst dich nicht in sein stilles Studierstübchen, nicht hinter seine Bücher flüchten und verstecken.«

Der Knabe ließ das Gesicht in die Hände fallen und zog die Schultern zusammen. Er fühlte, wie sehr der Alte recht habe.

»Bleibe bei mir, Robert«, fuhr der Schreiber fort. »Ich kann dich besser verbergen und will es auch. Eine Tarnkappe sollst du über die Ohren ziehen; ich will deine Seele heilen und hoffe, daß es mir gelingen wird. In Poppenhagen wirst du sitzen wie ein Uhu auf der Stange und jedermann zum Gaudium und Aufstoß dienen.«

Der Alte stellte seine Pfeife fort und ging schnellen Schrittes in seinem langen Zimmer auf und ab. Noch mancherlei sagte er dem Knaben; aber dabei war er doch innerlich in großer Angst über die Frage, auf welche Weise er ihn über die erste Zeit einer so sehr veränderten Existenz hinwegheben sollte.

Da ließ sich auf der Treppe ein dumpfer Gesang hören; wohlbekannte Töne, bei welchen der Polizeischreiber sonst die Achseln zuckte, die ihn aber jetzt ärgerlich auffahren ließen. Er machte eine schnelle Bewegung gegen die Tür, um den Riegel vorzuschieben, kam jedoch zu spät; die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien Julius Schminkert, zerzaust und übernächtig, mit einem lieblichen Gedüft von allerlei Spirituosen und Tabakssorten in den Kleidern und den verwilderten Haaren.

»Sie hätten erst anklopfen sollen, Schminkert«, brummte der Alte ärgerlich.

»Unangemeldet tritt der Geist herein!« sprach pathetisch der Schauspieler.

»Wohl wieder einmal die ganze Nacht nicht im Bett gewesen?«

»Richtig, edler Greis«, antwortete Julius mit beneidenswertem Gleichmut. »Würde auch sehr schwer gehalten haben in Anbetracht der Verhältnisse. Wäre eine recht schöne und löbliche Einrichtung, wenn die Herren vom Leihhause gestatteten, daß man daselbst – in jenen heiligen Hallen – mit den versetzten Sachen sein Quartier aufschlagen könnte.«

»Julius! Julius!« rief der Schreiber; aber der Tollkopf lachte.

»Sie reden immer von verschleuderter, verlorener Zeit, Mann der Ordnung. Wenn ich aber einmal einige Stunden der süßen Bewußtlosigkeit des Schlafs abgewinne, ist's Ihnen wieder nicht recht. O ihr Moralisten, was soll man mit euch anfangen? Übrigens habe ich Ihnen etwas mitzuteilen, würdiges Haupt. Eine Neuigkeit, eine schicksalhafte Neuigkeit will ich austauschen gegen eine Tasse Ihres mokkaähnlichen Gebräus, edler Römer. Gilt's?«

»Sie dauern mich, Julius. Es soll gelten – was haben Sie zu sagen?«

Schminkert warf einen Seitenblick auf Robert Wolf, griff nach dem Kaffeetopf und sprach:

»Die schöne Waldfee – Fräulein Eva Dornbluth – oh, noch etwas Zucker, wenn ich bitten darf – hat die Welt, die Stadt und eine hochlöbliche Theaterintendanz hinters Licht geführt. Sie ist – durchgebrannt.«

Der Schreiber ließ die Arme sinken. Robert Wolf, der bis jetzt teilnahmlos das Gesicht abgewendet hatte, sprang mit einem Schrei empor, starrte den liederlichen Julius einen Augenblick an und faßte dann mit eisernem Griff die Schulter desselben.

»Noch einmal! Was sagten Sie?«

Julius Schminkert befreite seine schmerzende Schulter von der kräftigen Hand.

»Donnerwetter! Los die Pfote, rötlicher junger Kymmerier. Ich will euch alles sagen; gebt mir aber erst eine Zigarre, ehrwürdigstes Überwachungsinstitut.«

Fiebiger deutete kraftlos auf die Zigarrenkiste im Bücherbrett; Schminkert fühlte sich als Mann der Ereignisse und benutzte das Übergewicht, welches ihm seine Nachricht verlieh. Er machte es sich bequem in dem Sessel des Polizeischreibers, setzte den erlangten Glimmstengel in Brand, stieß einige behagliche Seufzer aus und gab den Bericht, dem die beiden andern mit krampfhafter Aufregung entgegensahen, so langsam als möglich von sich:

»Im trauten Freundeskreise hatte ich einen Teil der Nacht verbracht. Auch einige Freundinnen verschönten den Kranz als himmlische Blüten; reizende Jungfrauen – Priesterinnen der Sonne, Hofdamen aller Höfe der bekannten und unbekannten Welt, Nymphen, Elfinnen, Göttinnen. O Angelika, du warst nicht zugegen! Wäre nur das Getränk nicht so verteufelt billig gewesen! 's ist eine Schande; je größer der Genius, desto erbärmlicher gewöhnlich der Spiritus, durch welchen die heilige Flamme entzündet und genährt wird!«

»Ich bitte Sie um alles in der Welt, Schminkert; seien Sie verständig, seien Sie barmherzig, kommen Sie zur Sache!« rief der Schreiber in halber Verzweiflung.

»Bin ich nicht dabei?« fragte der Erzähler würdevoll. »Unterbrechen Sie mich nur nicht, altes Haus, und Sie werden allgemach eine vollkommen klare Einsicht in die Dinge gewinnen. Gut; wir haben einen Punsch angesetzt, und allgemeine Heiterkeit ist die Losung. Mit Rosen

Ist jede Stirn bekränzt, athen'scher Geist Und heitrer Witz verschönt die schönsten Augen.

Ein wahres Symposion, meine Herren! Aristophanes, Sokrates, Xenophon, Aspasia, Lais, Diotima, Griechen und Griechinnen, Griechenlands edelste Geister waren zugegen. O Angelika Stibbe, du warst nicht da; auf weichem Pfühl der Nacht wiegtest du die zarten Glieder, o Angelika! Hellenisch ist der Punsch, hellenisch die Stimmung; da erscheint ein Mann aus späterer Zeit, Maecenas-Schwebemeier, ein Regenschirmfabrikant, jetzt Rentier und Hausbesitzer – schöne Seele – ausgezeichnet guter Magen – anerkennungswertes Vermögen. Trarararabumbum!«

Nachdem der Nachtschwärmer so weit gekommen war, brach er ab, blickte eine geraume Zeit wehmütig in den leeren Kaffeetopf und sagte dann:

»In seinem Hause wohnt – wohnte die schöne Eva. Drittes Stockwerk.«

»Weiter! weiter!« rief der Schreiber.

»›Hinter den Kulissen‹ heißt unsere Gesellschaft; ihr Versammlungsort ist in der Weißen Lilie. Wir empfangen den Mäzen in der Lilie hinter den Kulissen mit Wonne und Jubel, und die jungen Damen gehen ihm mit Grazie um den Backenbart. Schwebemeier muß eine frische Bowle stellen, Schwebemeier stellt die Bowle; von neuem flammt das heilige Feuer auf, das Kapital hat untergeheizt. Wir trinken, wir singen, wir tanzen, und der holde Wahnsinn hält jedermann und jedes Fräulein mit Rosenketten gefangen. Auch die Möbeln fangen an, an unserer Lust teilzunehmen. Zweimal steckt die hochlöbliche Polizei mit der Visage eines Ihrer bärtigen Myrmidonen, teurer Greis, ihr warnendes Medusenhaupt in die Tür und schnüffelt in die Lilie. Wir lassen uns aber nicht versteinern; wir lachen der Polizei unter die Nase. Wir kennen die Herren von der Sicherheitsbehörde, nicht wahr, Alterchen?«

Der Erzähler machte abermals eine Kunstpause. Der Schreiber lief hin und her.

»Das ist unerträglich!« schrie er. »Julius, bei meinem Zorn –«

Sehr unvermutet und plötzlich hatte sich Julius aber an den atemlosen, zähnknirschenden Robert gewandt, mit der dringend ausgesprochenen Warnung:

»Jüngling, opfere den Grazien, es gibt sonst Augenblicke in deinem Leben, Augenblicke, wo sich vor deinen Augen und im Innersten deiner Seele alles dreht; wo du nicht gewiß bist, ob du auf dem Stuhle sitzest oder ob dein Stuhl auf dir Platz genommen hat; Augenblicke, in welchen es dir zweifelhaft ist, ob du die Götter verlassen hast oder ob die Götter dich aufgegeben haben, Augenblicke, in welchen du dich an allem halten willst, aber mit Schrecken merkst, daß alle andern Gegenstände ebenso schwankend sind wie du selber. Hüte dich, Jüngling, und achte das Wort eines erfahrenen Mannes; die Erde dreht sich, aber der Mensch dreht sich auch manchmal. Oh, wie betrunken war Maecenas atavis! Was war aus den Damen geworden! Wir brechen auf, und wer allzu unselbständig geworden ist, bleibt und deckt den Walplatz schnarchend mit seinem Leibe. Wir aber, in denen das göttliche Licht der Vernunft nie ganz erlischt, stellen uns fest auf unsern Beinen, fassen den Bonhomme Schwebemeier unter die Arme und bringen – die Damen nach Haus. Wer den ersten überwältigenden Eindruck der frischen Nachtluft übersteht, ist gerettet aus den Banden der Unterirdischen; wir überstehen ihn alle und finden unsern Weg durch Sturm und Regen. Das bejammernswerteste Bild menschlicher Hinfälligkeit bietet Maecenas dar. Anfangs bezeigt er einige Lust, eine Laterne einzuwerfen, kann sich jedoch trotz aller moralischen Ermutigung, die ihm unsererseits zuteil wird, nicht auf die Höhe solch einer männlichen Tat erheben. Dagegen tritt bei ihm das Stadium unzurechnungsfähiger Krakeelsucht ein; aber noch ehe sich dasselbe unangenehm entwickeln kann, packt ihn die Reaktion mit kalter Faust – der Rentier wird weich! Meine Herren, ein betrunkener Hausbesitzer, der sich mit dem Theater, mit der Kunst in Verbindung gebracht hat und weich wird, ist ein merkwürdiges Schauspiel. Schwebemeier edite regibus zerfließt in Tränen, er beruft die Manen seines verstorbenen Weibes und beschwört die erregten Gefühle seiner gegenwärtigen Ehehälfte; er heult in allen Tonarten über die eigene Schlechtigkeit, Unsolidität, Immoralität; er macht den ihn geleitenden Damen vielen Spaß. Aber die Damen werden nach Hause gebracht; die übrigen Herren der heitern Gesellschaft verlieren sich gleichfalls in der Nacht oder vielmehr in dem grauenden Morgen; – dem gutmütigen Julius liegt der zerfließende Partikulier zuletzt allein auf den Schultern; – meine Herren, sollten Sie es für möglich halten, daß es mir selbst jetzt in solchem Augenblick unmöglich war, der zugeknöpften Hartnäckigkeit des Philisters ein kleines Darlehn auf die beste Sicherheit zu entlocken? Sollte man nicht an der Welt verzweifeln, wenn dem fühlenden Manne der brutale Instinkt dieser Tiermenschen selbst in den rührendsten Augenblicken entgegenfletscht? Ich schleppe den Regenschirmfabrikanten wie weiland Atlas die Welt; wir langen nach Überwindung übermenschlicher Schwierigkeiten vor der Tür des Mannes in der Lilienstraße Nummer zwölf an und finden sie offen. Es ist vollständig Dämmerung, und die ersten Spuren wiederkehrender Menschenwürde werden an dem Rentier sichtbar. Er findet es unerklärlich, als er seine Halsbinde nicht mehr findet, und bedenkt nicht, daß er sich mehrmals in den Kanal stürzen wollte und jedesmal an der Krawatte zurückgehalten wurde. Ich schiebe ihn die Stufen seiner Haustür hinauf, und auf der Hausflur erschreckt uns eine Gespenstererscheinung. Beleuchtet vom Schein einer Küchenlampe, taucht dicht vor uns eine Person auf – die Erd' hat Blasen, wie das Meer sie hat –, eine Person, welche in sich alle Reize der drei Macbethschen Hexen vereinigt. Schwebemeiers Gattin ist's, und die Gräßlichkeit der Erscheinung ernüchtert den Gemahl sofort vollständig und macht auch auf mich trotz meiner männlichen Gelassenheit einen überwältigenden Eindruck. Sie stürzt sich auf uns, und der holde Strom ihrer Rede überfließt uns, alle Dämme der Rhetorik durchbrechend; schreckensbleich ducken wir die Köpfe, als sie zufaßt und den Mann ihres Herzens beim Kragen nimmt. Ich wich ihr denn auch, aber erst nachdem ich aus ihrem höllischen Gezeter noch entnommen hatte, was ich euch entgegenrief, ihr Herren: Fräulein Eva Dornbluth, der Stern des Waldes, die Fee aus der Wildnis, das große und schöne Rätsel der Stadt, hat in dieser ewig denkwürdigen Nacht in der Begleitung und unter dem Schutze eines hochgewachsenen Herrn mit rotblondem Backenbart ihre Wohnung und das Haus des Partikulier Schwebemeier verlassen und sich in einem himmelblauen, sterngestickten Zauberschleier den Augen der trauernden Menschheit entzogen; – warum, wozu und wofür, habe ich noch nicht erfahren können, doch

Im schnellen Fluge folgen sich die Stunden, Der Tag ist da, die Wahrheit wird gefunden.« –

Robert Wolf knöpfte seinen Rock zu und sah sich nach seiner Mütze um, als wolle er auf der Stelle der flüchtigen Geliebten nachlaufen. Der Polizeischreiber aber hatte ein scharfes Auge auf ihn, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und rief im Innern alle Götter an, flehend, das Vernommene möge Wahrheit sein. Als der Knabe aus dem Walde die Hand auf den Türgriff legte, legte er seine Hand auf die des Knaben und rief mit spöttischem Lachen:

»Wohin willst du, mein Sohn? Willst du dich noch einmal von der Dame auslachen lassen? Ich dächte, jeder ordentliche Mann hätte an einem Male genug.«

Der Jüngling ließ unter der kalten Hand des Alten den Türgriff los und schlich zu seinem Stuhl zurück. Ein Männertritt ließ sich auf der Treppe vernehmen; Ludwig Tellering trat ein. Er trug den Brief in der Hand, welchen Friedrich Wolf in der vergangenen Nacht seinem Vater gegeben hatte. An die Überreichung desselben knüpfte er zugleich die Bitte, der Herr Polizeischreiber möge ihm – Ludwig Tellering – einen Atlas und ein Geographiebuch mit »recht viel über Italien, Paris und Amerika drin« leihen. Er erhielt das Verlangte und empfahl sich mit höflichem Gruße, um den ganzen Sonntag über eifrig sich dem Studium der Länder zu widmen, der Länder, nach welchen Marie Heil gegangen war.

Zweifelnd wog der Polizeischreiber das versiegelte Schreiben in der Hand, dann bat er in so ernstlicher Weise den gutmütigen Julius, sich zu packen, daß dieser der Bitte doch endlich nachkam. Nun erbrach der Alte den Brief; ein kleines Billett, gerichtet an Robert Wolf, fiel heraus; der Schreiber behielt es fürs erste noch in der Hand und vertiefte sich ganz und gar in die Lektüre des an ihn selbst gerichteten Briefes:

Das Schreiben lautete:

»Geehrter Herr!

Die Geschicke der Menschen, welche weit voneinander ihre Bahnen geführt werden, können sich kreuzen, und Verpflichtungen können entstehen, während die Beteiligten körperlich vielleicht niemals sich nahe treten. Der letztere Fall ist zwischen uns beiden eingetreten, und der Bruder Robert Wolfs weiß nicht, wie er seinen Dank aussprechen soll für das, was Sie an jenem armen Knaben getan haben. Ich habe alles erkundet, was die Geschichte meines Bruders betrifft; ich bin ihm in den letzten Tagen näher gewesen, als er sich träumen ließ. Ich habe überlegt und bin zu der Gewißheit gekommen, daß ich nicht vor ihm und somit auch nicht vor Ihnen, teurer Mann, erscheinen darf. Der Knabe wird mich für den Zerstörer seines Glücks, für seinen Feind ansehen; ich will ihm ersparen, daß er einst die Stunde eines unzeitgemäßen Wiedersehens verwünsche. Die Jahre werden ihn beruhigen und ihm alles das, was er jetzt durch solch ein häßliches Medium sieht, in dem wahren Lichte zeigen; dann wird der Bruder dem Bruder freudig die Arme öffnen können. Eva Dornbluth, meine Braut, die unschuldige Ursache seines Schmerzes, führe ich mit mir fort, sie gehört mir an und wird nicht mehr dem armen Robert in den Weg treten. Auch sie sagt Ihnen ihren tiefgefühltesten Dank und küßt Ihnen die Hand, die Sie so barmherzig, so schutzreich über Robert Wolf ausgestreckt haben. Wenn Sie, geehrter Herr, diesen Brief durch den Meister Tellering empfangen, sind wir weit von hier entfernt; wir werden den Winter in Italien zubringen und im Frühling die See kreuzen. Von New Orleans werde ich Ihnen weitere Mitteilungen machen.

Ich habe vernommen, daß mein Bruder Fähigkeiten gezeigt und Kenntnisse erworben hat, ich will das Meinige dazu tun, daß ihm in Zukunft alle Wege zu letzteren offenstehen sollen. Nach hiesigen Begriffen bin ich ein reicher Mann; aber wie arm fühle ich mich, wenn ich bedenke, was Sie einem unglücklichen fremden Knaben, was Sie meinem Bruder geben! Einige Wechsel auf das Haus Wienand schließe ich bei und bitte, die Summen zur Erziehung und Ausbildung Roberts nach Belieben und bester Einsicht zu verwenden.

Eva schreibt einige Worte an Robert; ich kann mir sehr lebendig vorstellen, wie der Knabe den Brief der Armen behandeln wird.

Leben Sie wohl; Sie sollen immer einen dankbaren treuen Freund finden an

Frederic Warner, alias Friedrich Wolf

aus Poppenhagen im Winzelwalde.«

Der Polizeischreiber Fritz Fiebiger nickte fünf Minuten lang mit dem Kopf; dann schloß er vorsichtig die Wechsel in seinen Schreibtisch. Dann nickte er wieder fünf Minuten hindurch mit dem Kopf, stopfte eine Pfeife, zündete sie an, betrachtete das Billett Eva Dornbluths, betrachtete den brütenden Robert Wolf und sagte zuletzt:

»Dein Bruder Fritz hat mir soeben geschrieben. Hast du gewußt, daß Fräulein Eva Dornbluth und er längst Verlobte waren, als du dich in das Mädchen verliebtest?«

Der Knabe zitterte an allen Gliedern und stammelte einige ziemlich unverständliche Worte.

»Sprich deutlich«, sagte der Schreiber.

»Ich habe es ihr nie geglaubt; sie waren ja noch Kinder, als sie zusammenlebten«, flüsterte Robert.

Der Schreiber zuckte komisch die Achseln:

»Und was bist du denn eigentlich, mein Junge – wenn ich fragen darf? Hier, da hast du einen Brief von der Dame; ich hoffe, du beträgst dich anständig und vernünftig.«

Robert Wolf griff nach dem Billett; aber schon als er die hastige und doch zierliche Handschrift erblickte, betrug er sich nicht anständig und vernünftig. Mit zitternder Hand zerriß er den Umschlag und las. Er wurde rot und bleich und murmelte zwischen den Zähnen: »Mein Bruder – sie – unschuldig – Freundschaft – Fluch ihnen!«

Er zerriß wirklich den Abschiedsbrief Eva Dornbluths! Er weinte aber nicht mehr; – jetzt war er das unbestrittene Eigentum des Polizeischreibers Friedrich Fiebiger geworden; auf wie lange, das war freilich eine andere Frage. Pique-Dame war aus dem Spiel; aber es gibt noch mehr Kronenträgerinnen zwischen den Karten; glücklich diejenigen, welchen Herz-Dame herausfällt und welche damit das Spiel gewinnen!

Dreizehntes Kapitel Blick über die Dächer. Veränderte Aussichten und Ansichten

Die verehrlichen Leser werden gebeten, sich den Erzähler vorzustellen, wie er steht, seine Historie gleich einer Frucht in der Hand hält, wie er mit bedenklicher Miene sich abmüht, den Kern aus der Schale zu lösen, und sehr in Sorgen ist über die inhaltvolle Frage: Was wird man dazu sagen?

Da gibt es Leute, die haben sehr scharfe Zähne und gebrauchen sie mit Lust, und Leute gibt's, welche gar keine Zähne haben. Wieder gibt es Leute, welche sehr leicht »lange« Zähne bekommen, und Leute, welche an hohlen leiden. Zähne »wie Perlen« sollen ziemlich selten geworden sein in der Welt, und falsche Zähne sollen im Überfluß vorhanden sein. Letzteres behaupten die bösen Zungen, und das kann dem Erzähler in einer Hinsicht angenehm sein; denn es bringt ihn auf diese nützlichen Glieder selber. O was für Zungen es in der Welt gibt! Spitze, scharfe, stumpfe, laute, leise, süße, bittere, silberne, biedere, giftige, wohlmeinende, falsche, ehrliche, glatte: – und für so viele und vielgeartete Zungen nur eine Frucht!

Das Amt eines Geschichtenerzählers ist viel schwerer, als sich die Leute meistens vorstellen, und am Ende kann der beste nicht mehr tun, als seinen Apfel schälen und sprechen: Da, nehmt, oder laßt's bleiben. Kern oder Schale, wie es euch beliebt. Haltet euch lobend an das eine oder tadelnd an das andere; oder lobt und tadelt beides oder keines von beiden. Unsereiner muß auch in manchen sauern Apfel beißen, und ihr Leute, die ihr euch über irgendein Buch ärgert, wißt gar nicht, wie glücklich ihr seid, daß ihr es nicht zu schreiben brauchtet. Aber – »Seht nach den Sternen, seht nach euern Sternen!« sagte der alte Sterngucker auf seinem hohen Giebel, wenn die Leute, welche das Glück hatten, ihn zu kennen, vor irgendeiner harten Nuß des Lebens sich scheuten, vor irgendeinem steilen Berge, über welchen ihr Weg führte, zaudernd und bedenklich standen.

»Sieh nach den Sternen, Knabe!« sprach er auch zu Robert Wolf, als der Polizeischreiber Fiebiger den Knaben zu dem wunderlichen Greise führte und dieser dem jungen Landsmann aus Poppenhagen lange in die Augen geblickt hatte. Die beiden Herren schickten dann den Knaben nach Hause, und der Schreiber fragte seinen Freund:

»Nun, Heinrich, was hast du in diesem Gesichte gelesen?«

»Es ist ein gutes Gesicht«, lautete die Antwort. »Intelligente Stirn und Augen, ziemlich charaktervolle Nase, etwas zuviel Weichheit um den Mund – alles in allem aber ein befriedigendes Gesicht! Ich will dir helfen, den Jungen zu erziehen, Fritz.«

»Dank dir – sit saluti!« sagte der Schreiber, den Seufzer, womit der Gelehrte seine letzten Worte begleitete, gern überhörend.

Dieses Gespräch fand am frühen Morgen des Montags statt, und man sah bald darauf den Polizeischreiber im kurzen Trabe durch die Gassen seinem Büro zueilen. Der Abend erst fand die drei Alten aus dem Winzelwalde bei dem Astronomen zusammen, und jetzt wurde Robert Wolf auch dem Freifräulein von Poppen vorgestellt. Die ganze Stadt hatte von dem Entweichen Eva Dornbluths und dem Verschwinden des jungen, reichen, interessanten Amerikaners gehört; Bescheid darum wußten aber nur diese vier. Das Himmelsgewölbe war auch heute durch Wolken verhangen und kein Stern sichtbar. So saßen denn die Alten wiederum in den hochlehnigen Sesseln um den Eichentisch, und Robert Wolf lauschte staunend im Winkel. Er vernahm das dumpfe Brausen der großen Stadt fast wie das Brausen seines Heimatswaldes; aber solche Stimmen, solche Worte hatte er im Walde nicht vernommen. Noch lange Zeit mußte es dauern, ehe der Knabe vollständig begriff, wer diese Lehrer waren, was sie ihm waren. Noch hielt auch die krankhafte Abspannung aller Körper- und Geisteskräfte bei ihm an und ließ ihn auch an diesem Abend in dem Halbschlummer äußerster Erschöpfung, in welcher man das Wort der Redenden nur unbestimmt, wie aus weiter Ferne vernimmt, versinken. Einmal fühlte er, wie jemand sich über ihn beugte und sagte: »Er schläft!«

Dann schlief er wirklich, und Ulex sagte:

»Da haben wir, die Entsagenden, nun diesen Jungen im Winkel! Wir haben ihn aufgenommen in unsere Mitte und mit ihm vielleicht viel Unruhe und Sorge, jedenfalls aber eine schwere Verantwortlichkeit. Was sollen wir mit ihm anfangen? Was können die Entsagenden dem Knaben, der noch an der Schwelle des Lebens steht, geben? Dürfen wir ihm das Dasein zeigen, wie wir Grauköpfe es auffassen? Der Spruch der Kartäuser: In Schweigen und Hoffen soll eure Stärke sein, ist wohl gut für die einen; aber Fiebiger mag recht haben, wenn er meint, es sei ein Verrat an der Welt, ihn jemand aufzudringen. Haben wir nicht selbst an uns erfahren, wie die Weisheit der Einsamkeit nur von selber kommt, gleich einer Erleuchtung, gleich einer Offenbarung!«

»Es ist immer schlimm, einen jungen Geist herabzudrücken«, sprach das Freifräulein. »Wir dürfen es in keiner Weise tun; die Entsagung wird auch schon früh genug von selbst kommen.«

»Sie trägt schwere Nagelschuhe«, meinte der Schreiber, welcher gar nicht entsagend aussah. »Ihr Schritt ist weit hörbar. Es ist sogar unsere Pflicht, der heranmarschierenden – wollt ich sagen, der nahenden Göttin den heitern Schild des lebendigen Lebens entgegenzuhalten und unsern Schützling dort in der Ecke damit zu decken, bis er selbst den Schild halten und tragen kann. Es steht dann in seinem Belieben, ihn niederzulegen, wann er will; eine polizeiliche Erlaubnis ist nicht nötig dazu.« –

So war nun der große Umschwung in dem Leben Roberts eingetreten; aber es dauerte eine geraume Zeit, ehe der Schützling der drei Alten am Morgen, beim Erwachen, auf der Stelle sich klar war, wo er sich befand und was mit ihm vorgegangen war. In der ersten Zeit seines Lebens in der Stadt erwachte er gewöhnlich aus einem unruhigen Schlummer, in welchem ihm der Traum die Bilder und Szenen des Daseins, das hinter ihm lag, magisch vorgaukelte, bald treu kopierend, bald wild und phantastisch durcheinanderwerfend und verwirrend. Da glaubte er den Wald und den Dorfbach vor seinem Fenster rauschen zu hören, er sah den Pastor Tanne mit dem Spitz Fidel den Morgengang durch den betaueten Garten und um das eben erwachende Dorf machen. Er hörte das dumpfe Gebrüll des Viehs, das sich aus den Ställen nach der grünen Weide sehnte. Im goldenen Glanz des Sonnenaufgangs leuchteten die Berge, und in den Sonnenaufgang hinein klang eine klare, liebliche, volle Stimme, und eine lichte Gestalt glitt durch den grünen Grasgarten unter den blütenvollen Kirschenbäumen umher. Eva Dornbluth zog die tauperlenden Blütenzweige nieder und schüttelte sie, daß die funkelnden Tropfen wie Diamantenschauer ihr über die schwarzen Locken rollten. Vor Lust zitterten die Zweige, und jeder Baum winkte dem schönen Mädchen, ihr seinen blitzenden Schmuck darbietend. Nun trat der Kuhhirt des Dorfes an die Gartenhecke, setzte das Horn an den Mund, und der unruhige Schläfer in der Musikantengasse erwachte, weil er das gewohnte Getön – nicht vernahm.

Ein anderer Traum brachte andere Bilder. Da spielte die Abendsonne im Studierstübchen des Pfarrhauses über die Bücherbretter; es hatte sich eine Wespe in das Gemach verloren und füllte es mit dumpfem Gesumm. Robert saß am Tisch des Pfarrers und folgte dem Tier mit den Augen hierhin und dahin, wie es seinen Flug nahm. Er mußte ihm folgen mit peinlichster Aufmerksamkeit; er durfte den Blick nicht abwenden von dem Tier; – hierhin, dahin schoß es, jetzt in das Dunkel der Winkel und Ecken, jetzt flimmernd in den Strahl der Abendsonne. Es war eine qualvolle Jagd, und das Summen ward immer lauter und dröhnender; immer mehr vergrößerte sich das fliegende Insekt und nahm allerlei Gestalten an, ewig wechselnde. Unheimlich und häßlich waren diese Gestalten, solange das Tier im Dunkel flog, lieblich und leuchtend, wenn es durch den Sonnenstrahl schoß, welcher in das Fenster fiel. Es trug auch wohl ein menschliches Haupt, bald unbeschreiblich schön wie das Evas, bald über alle Maßen fratzenhaft. In immer engern Kreisen umzog es den Wolf vom Eulenbruch, das Sausen seiner Flügel klang wie der lauteste Sturmwind; der angstgepeinigte Träumer erwachte nur, wenn er im Augenblick der höchsten Bedrängung das vor ihm liegende Lexikon des Pastors Tanne nach dem gespenstischen Tier warf.

Nun richtete sich Robert Wolf von seinem Lager empor und sah sich verstört in der fremden Umgebung um. Verschwunden war der Traum von der Heimat mit allen Einzelheiten. Der alte, greise, gute Pastor war fortgegangen, fort aus dem blühenden Pfarrgarten, aus dem erwachenden Walddorfe; er hatte die lange Pfeife in den Winkel neben seinem Schreibtische gestellt; so früh am Morgen war er wieder schlafen gegangen – schlafen gegangen auf dem kleinen bebuschten, grünen, hügeligen Plätzchen neben der Kirche. Unter den andern Hügeln und schwarzen Kreuzen war das letzte Bett des Pastors Tanne gemacht worden, und mit goldenen Buchstaben verkündete eine Tafel des trefflichen Alten Namen, Geburtstag und Todesstunde. Der weiße Spitz war toll geworden und erschossen in der Dorfgasse; – die schöne wilde Mädchengestalt lehnte nicht mehr unter dem Eschenbaum an der Hecke; Eva Dornbluths Stimme erklang nicht mehr in dem sonnigen Grasgarten hinter den blühenden Bäumen, hinter den Stachelbeerbüschen. Die Tautropfen hatten sich in Diamanten verwandelt, verloren hatte sich Eva Dornbluth in dem großen Walde, in der schrecklichen, geheimnisvollen Ferne und Fremde. Aber auch das summende geflügelte Tier, die Wespe, war verschwunden mit dem Erwachen. Robert Wolf rieb die Augen und warf einen Blick auf die grauen Brandmauern vor seinem Fenster, auf die schmutzigen, regennassen oder beschneiten Dächer, die qualmenden Schornsteine und Kaminröhren, welche den Dunst vermehrten und sich in ihm, in der Ferne, schattenhaft verloren. Der Qualm der Steinkohlen, der verschiedenartigen Gase füllte die Brust des Knaben, wenn er das verquollene Fenster mit Mühe geöffnet hatte. Und unter dem grauen Schleier rauschte und knarrte, pochte und kreischte und rollte das große Leben der Stadt, so fremd, so beängstigend, so erdrückend, daß Robert unwillkürlich nach der Kehle griff, gleich einem Erstickenden. Nun richtete sich aber sein Blick auf einen von den vielen Giebeln, und von dorther kam ihm der erste Trost, der erste Anhalt in dieser schwindelerregenden fremden Welt. In jenem Giebel schlief Ulex, der Sternseher, seinen langen Morgenschlaf nach ernst durchwachter Nacht. Und ein noch höheres Gefühl von Sicherheit und Dankbarkeit regte sich in der Brust des Knaben, wenn nebenan im Gemache der alte Beschützer Friedrich Fiebiger sich rührte, hustete, grunzte und nieste und ein großes Wassergeplätscher machte. Es verklang der Schmerz, den die Nacht noch immer wachrief, in dem neuen Leben, welches jeder neue Tag brachte.

Jetzt erschien Ludwig Tellering trotz der Kälte in Hemdsärmeln vor der Tür der Hofwohnung und rief dem Jüngling einen fröhlichen Morgengruß hinauf. Hell klang hinter den dunkeln Fenstern Luise Tellerings hübsche Stimme, und der Hammer des Alten begleitete das Lied ganz taktmäßig. Mit der Tischlerfamilie stand Robert bald auf sehr freundschaftlichem Fuße. Er besaß eine natürliche Anlage für das Schreinerhandwerk, hantierte gern mit Hobel und Säge, und Fiebiger legte dem nicht nur kein Hindernis in den Weg, sondern begünstigte es sogar sehr; denn er wußte recht gut, welch eine treffliche Panazee körperliche Arbeit und Anstrengung gegen alle Seelenkrankheiten sei. Manchen guten Handgriff lernte Robert Wolf von Ludwig Tellering, und große Fortschritte machte letzterer mit Hülfe Roberts in der Geographie von Europa und Amerika.

Aber es wohnten noch andere Leute in dem Hause Nummer zwölf in der Musikantengasse. Da erwachte der Hausherr, der beschauliche Herr Mäuseler, fütterte seinen Dompfaffen, stäubte das Bildnis seiner Seligen mit dem Federwedel ab und durchschlurfte in Filzpantoffeln das Haus, überall auf den Treppenabsätzen sein dummes breites Gesicht zeigend. Fräulein Aurora Pogge machte an dem jungen Tage mit den Rosenfingern den ersten Angriff auf die Augen ihrer Magd Hulda; die vornehme Angorakatze machte den ersten Buckel und zeigte sich unzufrieden mit dem Frühstück. Im Atelier des Monsieur Alphonse Stibbe regte es sich; der Lehrling erhielt seine erste Ohrfeige von dem Maître und seine ersten Fußtritte von den Herren Gehülfen. Sein Geheul klang melodisch in den Morgentraum Fräulein Angelikas. Am längsten schliefen im Hause Nummer zwölf der Musikantengasse jedenfalls Angelika Stibbe, die holdanlächelnde Jungfrau, und Herr Julius Schminkert, der treffliche, biedere und bescheidene Jüngling. Die Welt verlor dadurch nichts, und so mochten sie schlafen, solange sie wollten; wenn Julius dann mit heiserer Stimme den Morgen ansang und kläglich sein Geborensein und Dasein bejammerte, so kümmerte sich die Welt auch nicht im mindesten darum.

Aus dichten Rauchwolken hervor gab Fiebiger, der Mann der Polizei, seinem Schützling Anleitung zur Bereitung des trefflichen Kaffees und andere gute und nützliche Lehren. Immer tiefer weihte er ihn in die Geheimnisse seines Lebensgrundsatzes: Gib acht auf die Gassen, ein, im Gegensatz oder vielmehr zur Ergänzung des Axioms des alten Ulex: Sieh nach den Sternen.

Solange der Polizeischreiber und Robert zusammen waren, war von Büchern nicht die Rede. In die Musikantengasse hinab, nach den gegenüberliegenden Häusern blickten die beiden, und der Mann der öffentlichen Sicherheit wußte von Amts wegen von manchen Dingen Bescheid, die andern Menschen verborgen blieben. Er sah Individuen und Verhältnisse mit scharfen Augen, und manche Maske, unter welcher sich der Träger oder die Trägerin sehr sicher und behaglich fühlten, fiel vor dem Blick des Polizeischreibers. So konnte er in dem Gewühl, welches bunt vor den Augen Robert Wolfs vorüberzog, andeuten, aussondern und zusammenfassen und, wie kein anderer, dem Jüngling ein Bild des Lebens, wie es ist, geben. Da schwand mancher Glanz, welcher den Unerfahrenen wohl blenden konnte; da fing aber auch das Dunkle an, zu leuchten und einen hellen Schein zu geben. Das eine verlor, das andere gewann; Gegensätze glichen sich aus; was durch unendliche Fernen für immer getrennt schien, griff ineinander zu Gutem und Bösem; der Mann in Purpur und köstlicher Leinwand mußte nach der harten, mit Schwielen bedeckten Hand fassen, um sich aufrechtzuerhalten im Gewühl. Die Räder des eleganten Wagens, der in weichen seidenen Kissen die schöne vornehme Dame trug, drehten sich lange nicht schnell genug, um den Schmerz, den Kummer, die herzzerfressende Sorge hinter sich zu lassen. Je mehr das Menschenkind von den beglückenden Schleiern Fortunas umhüllt erschien, desto dunklere Hände griffen von allen Seiten nach den schützenden Hüllen, um sie herabzureißen und die arme Seele nackt, frierend und zitternd in das allgemeine Menschenlos zu ziehen. Wie die Volkswogen durch die Musikantengasse rollten, löste der Lehrer sie auf in ihre einzelnen Tropfen und zeigte, wie die Welt sich in jedem auf eine andere Art spiegele. Aber nicht im pedantischen Lehrerton gab er seine Weisheit kund. Dazu war er allzusehr Humorist und sah mit zwinkernden Augen in das Durcheinander, den Gestaltungsprozeß der Gesellschaft. Er warf sein Netz aus wie Petrus der Fischer und zog es hervor voll von Geschöpfen aller Art; er freute sich über das Gekrabbel und Gekribbel und ließ der Molluske, dem Dintenfisch und Krebs wie dem Hecht, dem Karpfen und der Forelle ihr Recht.

»Merke dir das, mein Junge«, sagte er, »erlaubt muß Dorern sein, dorisch zu sein, und Jonern ionisch; und nichts ist oft einem Tölpel ähnlicher als ein sehr gelehrter Mann. Mauerer und Zimmerleute werden sich in alle Ewigkeit hassen und große Schlachten gegeneinander führen, und das uralte Problem, alle Schuhe über einen Leisten zu schlagen, hat noch niemand gelöst. Sehr viele Menschen gelangen zu der Bezeichnung ›Ehrenmänner‹ durch wohlfeile Redensarten, ergo laß dich nicht verblüffen. An manchem Kerl ist nichts Gutes als sein Herz, von welchem die Welt nichts wissen will; halte dich an einen solchen Kerl und laß die Welt die Nase zuhalten. Es ist mehr daran gelegen, daß das Volk nach grüner Seife rieche, als daß der und der, die und die nach französischen Parfüms und Essenzen dufte. Hüte dich vor übergroßem Ekel; denn oft hängt nicht nur des Menschen Appetit, sondern auch des Menschen Seele an einem Haar. Wer mit dem Teufel glücklich kämpfen will, der stellt sich besser fest auf seine Füße und beißt die Zähne zusammen, als daß er sich unter den Rock des heiligsten Engels verkriecht. Es gibt viele Leute, welche alles das, was sie selber nicht glauben, aus allerlei nützlichen Ursachen andere glauben machen möchten; halte dich an das Wort der Königin Christine von Schweden: Man muß sich am meisten vor lebenden Heiligen hüten. – Die Heuchelei ist eine schöne Kunst und würdig, bis auf den Grund studiert zu werden. Studiere sie, es gibt kaum einen größern Genuß als die Entlarvung eines echten Heuchlers. Da schlägt es neun Uhr; vorwärts – immer mit in der Mühle! Die Zeit und die hohen Behörden lassen oft auf sich warten, warten selbst aber auf niemand.«

Damit klopfte der Gassenphilosoph seine Pfeife aus, zog den bekannten Überrock ächzend an, nahm den Regenschirm unter den Arm und begab sich nach seinem Büro, um in der Gesellschaft des Rats Tröster, der großen Register und des Wachtmeisters Greiffenberger mehr nützlich als angenehm dem Staate zu dienen.

Noch einige kurze Augenblicke mochte Robert den weisen Aussprüchen seines Beschützers, die allesamt mehr oder weniger unmittelbar mit den Vorgängen oder den Passanten der Musikantengasse zusammenhingen, nachsinnen, ehe er sich zu dem Sternseher verfügte. Für das Glänzende der neuen Welt, in der er sich jetzt bewegte, hatte er noch nicht den rechten Sinn; um so abschreckender erschien ihm dagegen der Schmutz. Wahrlich, es war etwas ganz anderes um den Schnee, welcher im Winzelwalde die Zweige der Fichten zur Erde bog, als um die unbeschreibbare Materie, welche den Kot der Musikantengasse vermehrte; es war etwas anderes um den Regen, welcher auf den Blättern vor den Hüttenfenstern rauschte, der die Waldbäche anschwellte und jeden Felsensteig in einen Wasserfall verwandelte, als um den Regen, der auf die Ziegeln niederklatschte und klopfte, und die schwarzen Ströme, welche den Steinkohlenniederschlag von den Dächern spülten.

Nur scheuen Schrittes wagte sich der Knabe auf den Gang; geduckt und schnell schlich er die Treppe hinunter unter dem krächzenden Gesang des jetzt erwachten Schminkert, angestarrt von dem Partikulier Mäuseler, furchtsam einer Begegnung des Fräulein Pogge oder der unholden Hulda ausweichend. Scheu und geduckt trat er hinaus in die Gasse, und geborgen fühlte er sich erst in dem dunkeln Gäßchen, welches an dem Telleringschen Fenster, an welches vor einigen Wochen die kleine Marie klopfte, vorüberführte. Hier erwiderte er gewöhnlich im Vorbeigehen ein freundliches Zunicken der Meisterin oder der niedlichen Luise. Erst auf der steilen Treppe des Sternsehers hob er den Kopf völlig in die Höhe.

Im Tagesschein verlor der Aufenthaltsort des Gelehrten viel von der Sonderbarkeit seiner Erscheinung, die er am Abend darbot; doch auch jetzt erkannte man immer noch, daß kein gewöhnlicher Mensch hier hause. Ein stummes Kopfnicken des Greises begrüßte den eintretenden Jüngling, welcher sich bereits recht gut in die Art des Alten gefunden hatte und ebenso stumm sich an einem ihm angewiesenen Platz am Tisch, in der Nähe des Fensters, niederließ. Die Bücher, welche am Todestage des Pastors Tanne sich für Robert Wolf für ewige Zeiten geschlossen zu haben schienen, öffneten sich ihm von neuem, und Heinrich Ulex war ein noch besserer Lehrer als der Pfarrer von Poppenhagen. Der Sternseher begnügte sich nicht damit, seinen Schüler in die Geheimnisse der lateinischen und griechischen Sprache einzuweihen; er hob ihn hoch darüber hinaus in das wundersame Reich, welches so weit über den Einzelheiten des irdischen Lebens liegt. In den Gassen wußte der Sternseher nicht so gut Bescheid wie der Polizeischreiber; er führte andere Register als dieser. Die Sterne ziehen gesetzmäßigere Bahnen als die armen Erdenbürger, deren irrwischartige Lebensläufe der Schreiber in seine Folianten eintrug. In den Gassen mochte dem Astronomen im Wege liegen, was da wollte, er trat drauf oder drein; das war nicht so in des alten Zauberers eigenem Reiche. Es war ein leuchtender Kreis, welchen er beherrschte, und dieser Kreis dehnte sich über alle Fernen, über Zeit und Raum. Was die Welt an Schönem und Erhabenem besaß, das war in diesem Kreise heimatsberechtigt. Auf das trefflichste ergänzten die Lehren Heinrich Ulex' des Sternsehers die Lehren, welche Friedrich Fiebiger der Polizeischreiber dem Knaben aus dem Winzelwalde gab. Alles Übel in der Brust des Jünglings, welches den Worten des einen nicht wich, wich den Worten des andern.

»Sieh nach den Sternen«, sagte der Greis. »Da droben ist alles Harmonie und Ordnung; nach ewigen Gesetzen wandelt jedes Glied der großen, glänzenden Gemeinschaft; selbst die regellosesten unter ihnen, die Kometen, ziehen ihren vorgeschriebenen Weg. Welch ein Kontrast gegen das Getümmel hier unten! O sieh nach den Sternen, Knabe, und wenn der dunkle Erdentag, wenn das irdische Gewölk sie dir verbirgt, so denke an sie und vergiß nie, daß sie über allen Wolken und Schatten, über allem Sturm und Ungewitter ruhig lächeln.«

In unendlicher Weise benutzte der Alte dies sein unerschöpfliches Thema; in alles verflocht er die Bilder und Lehren, welche er seiner Lieblingswissenschaft entnahm; wer ihn hörte, mußte gestehen, daß es doch etwas Schönes um den reinen Idealismus sei; und selbst diejenigen, welche ihm am wenigsten auf seinem Wege folgen konnten, blickten ihm mit einer gewissen scheuen und staunenden Bewunderung nach. Gleich einer Liederweise verhallte das frühere Leben Robert Wolfs im Anhauch solcher neuen Lebens- und Welterfahrungen. Der wilde Schmerz um die verlorene erste Liebe löste sich in sanfte Traurigkeit auf, und – ach – auch diese Traurigkeit verklang immer mehr. Die Gestalt Eva Dornbluths ward immer nebelhafter in dem Herzen Robert Wolfs; selbst im Traum quälte er sich seltener mit der Vergangenheit, selbst aus dem Traum verschwand die Gestalt und Stimme des Mädchens. Wenn der Knabe anfangs noch die Bücher nur als ein Mittel ergriff, um sich seinen Ge danken zu entziehen, wenn anfangs der Eifer, womit er sich wieder in die Wissenschaften vertiefte, zum großen Teil seinen Grund in dem Fieber hatte, von welchem er verzehrt wurde: so änderte sich auch das noch im Laufe des Winters. Es liegt eine eigene Macht in diesen magischen Rollen, welche so lange unter dem Schutt der Jahrhunderte begraben lagen. Ein Hauch überzeugendster Beruhigung kommt aus diesen Blättern, in welchen so viele und großartige tragische Geschicke, soviel Weisheit und Poesie, so viele Rezepte für jedes unruhige, kämpfende Geschlecht der Menschen niedergelegt sind.

Unter diesem Hauche und unter den inhaltvollen Worten:

Sieh nach den Sternen! Gib acht auf die Gassen!

mußte ein Geist wie der Robert Wolfs gesunden, und er gesundete auch. Doch bis aus dem Knaben ein echter, vollkommener, starker Mann wurde, mußte noch manches andere in sein Leben eingreifen. »Ein Messer wetzet das andere und ein Mann den andern.« Wir leben in einem großen Gedränge; es fehlt weder an Messern noch an Männern; wer aber vom besten Stahl ist, der kommt auch am besten weg.

Vierzehntes Kapitel Von einem grünen Gartenflecke, einer weißen Marmorbildsäule, einem Gartentisch und einer grünen Bank

Wir haben schon mehr als einmal erwähnt, auf welchen Wirrwarr von Dächern, Mauern, Giebeln, Blitzableitern, Brüstungen, Galerien, Feueressen und dunkeln Höfen man südwärts aus den Hinterfenstern der Wohnung des Polizeischreibers Fiebiger sah; von dem Giebel des Astronomen Heinrich Ulex hatte man, wiederum südwärts, eine ähnliche Aussicht; doch waren die Dächer nicht so unregelmäßig, so alt und grau. Der Häuserhaufen, den man von hier aus betrachten konnte, war in jüngerer Zeit aufgerichtet worden und wurde von den Bewohnern in bester Ordnung und Reinlichkeit erhalten. Hier begann das Stadtviertel der angeseheneren Beamten, der Großhändler, ein ruhiges, reinliches, solides Stadtviertel, auf welches die Regierung sich verlassen konnte und sich auch wirklich verließ. Da ragte hier und dort Gezweig von Zierbäumen über die Mauern, man sah sogar einen Zipfel von einem kleinen Garten, und um die Zeit, in welcher wir unsere Geschichte wiederaufnehmen, war der Winter zu Ende, waren die Bäume grün, blühten die Blumen in dem Garteneckchen. Die Katzen putzten sich auf den Dächern den Bart, der Polizeischreiber Fiebiger trug Nankingbeinkleider, Julius Schminkert trug seine hellblaue Sommerkleidung nach – dem Pfandhaus und drapierte sich in einen abgelebten Wintermantel wie ein zynischer Philosoph. Der Sternseher freute sich über die klaren Nächte, und die Sonne freute sich, daß sie keine mürrischen Wolkengebilde mehr zu bekämpfen hatte. Angelika Stibbe schwebte in Flor und Flitter, bunt wie in eine abgelegte Robe der Iris gekleidet, einher. Fräulein Aurora Pogge ward immer grämlicher, je schöner das Wetter wurde, sie gönnte es der Welt nicht; der Hausbesitzer Mäuseler kam nicht aus seiner Stimmung heraus, er vegetierte fort in der gemäßigten Zone seines Daseins. Ludwig Tellering studierte mit immer höherem Eifer und Erfolg Geographie, und es kam ein Brief aus New Orleans an die Adresse von Luise Tellering, ein sehr unorthographischer Brief, unterzeichnet Marie Heil. Der Brief verschwand spurlos, und nur der Erzähler weiß, wer ihn aus Luisens Nähkästchen stahl.

Mehr als einen Sarg und manche Wiege hatten die beiden Schreiner im Hinterhaus von Nummer zwölf der Musikantengasse angefertigt seit der Nacht, in welcher Friedrich Wolf und Eva Dornbluth die Stadt verließen. – Frühling und Sonnenschein! – Schwer hielt es, in dem jungen, ernsten, sinnenden Mann am Fenster des Klostergiebels den abgehetzten jungen Wilden aus dem Walde, Robert Wolf, wiederzuerkennen. Man sah ihm an, daß er durch seine Lehrer jetzt bereits stärker und anders gegen die Welt gerüstet war; wie der alte Ulex sagte: artibus, virtute, opere, armis. Männlicher war er geworden; das Auge, nach Milton das große Tor der Weisheit, hatte den unruhig suchenden Schimmer verloren; es war stet geworden, aber scharf geblieben; das sah man selbst jetzt, wo es sinnend träumerisch auf einem Punkte der Ferne ruhte.

Vor dem Jüngling lag der hohe Lehrmeister Virgil, der Zauberer und Dichter, aufgeschlagen; aber der Scholar beschäftigte sich heute so wenig mit ihm, daß der Astronom, der weiter weg, an einem andern Tische, über einem sonderbaren, auch den Gelehrten bis dahin gänzlich unbekannt gebliebenen Buche aus der Königlichen Bibliothek, betitelt: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, brütete, öfters kopfschüttelnd seine Verwunderung darüber kundgegeben hatte. Worte lieh er freilich seiner Mißbilligung nicht; denn der Greis gab der Zeit, der Frühlingssonne ihr Recht, den Geist zu lösen aus den Banden, ihn aus der dunkeln Nähe in die blaueste Ferne, weit über die Dächer und Mauern, weit über die äußersten Grenzen von Stadt, Feld, Dorf, Wald, weit, weit über die Berge, weit in die Ewigkeit hineinzuführen.

›Es will alles sein Recht haben‹, dachte der Weise. ›Das sind nicht die wahren Menschenerzieher, welche der ungeduldigen Seele die Zügel so fest anziehen, daß sie fort und fort gradaus nach dem Willen des Lenkers ihren Weg nehmen muß. Wehe, wenn der Zügel reißt oder das Geschick ihn plötzlich, mitten auf dem Wege, aus der Hand des Führers nimmt. Träume, mein Kind, träume, wandle zwischen den Sternen, wie du sie siehst; die Erde, wie sie ist, wird dich bald genug herabholen.‹

Heinrich Ulex war unstreitig ein weiser Mann, diesmal befand er sich jedoch in einem großen Irrtum; die Seele Roberts wandelte augenblicklich nicht von Stern zu Stern, die Sonne überstrahlte die Sterne viel zu mächtig – die Seele des jungen Menschen schwebte nicht hoch über der Erde; im Gegenteil, dicht am Boden klebte sie und erging sich zwischen dem Gebüsch der Gartenecke, die in der Tiefe vom Giebel des Nikolaiklosters aus zu erblicken war. Wie schon gesagt, der Jüngling hatte ein gutes Auge aus dem Walde in die Stadt mitgebracht, und es entging ihm keine Einzelheit des grünen, von der Sonne beschienenen Fleckchens. Da stand zwischen Holundergesträuch eine weibliche Bildsäule von weißem Marmor, welche mit beiden Händen eine Schale, aus der Schlinggewächse herabhingen, über das Haupt erhob. Im Schatten des Holunders, dicht neben der schönen Statue, stand eine zierliche Bank und davor ein ebenso zierliches Tischchen. Auf der Bank saß ein junges Mädchen, welches einen breitrandigen Strohhut neben sich gelegt hatte und in eifriger Arbeit sich über einen Stickrahmen neigte.

Solange der Winterschnee die Dächer und den Gartenabschnitt deckte, hatte Robert Wolf nicht auf diesen Erdenfleck, der seine Aufmerksamkeit jetzt sosehr in Anspruch nahm, geachtet; die Katzen, der Rauch, welcher aus den Schornsteinen aufstieg, hatten mehr Interesse für ihn gehabt als die paar kahlen Zweige und die mit Stroh umwickelte Puppe. Das hatte sich mit Eintritt der Tag- und Nachtgleiche geändert. Von seinem Lexikon aufblickend, sah Robert eines Tages da grüne Blätter und Blütenranken, wo kurz vorher nur ärmliches Gestrüpp zu erblicken war; ein sonniges Rasenstück war unter dem Schnee verborgen gewesen, und aus der Strohhülle hatte sich das weiße Bild der Götterschenkin Hebe losgewunden. Über Nacht war der Frühling auch in das Steingewirr dieses Teiles der großen Stadt gekommen; und am Morgen kam ein zierliches Fräulein, stand in einem Sonnenstrahl und gab einem Gärtner Anweisung, was nun weiter mit dem vom Frühling geübten Zauberwerk anzufangen sei. Der Jüngling am Fenster des Klostergiebels sah es stehen, achtete jedoch anfangs weniger auf das niedliche Kind als auf das grüne Gebüsch und die Baumwipfel, an welchen die Blüten sich öffneten. Jeden Fortschritt der Vegetation auf diesem winzigen Punkt inmitten der grauen Einöde beobachtete er, sozusagen, gierigen Auges. Es lag ein Trost darin, eine Art Bürgschaft dafür, daß die Welt doch noch nicht ganz zu Mauerwerk, Schornsteinen und Feueressenqualm geworden sei. Um die Gesichtszüge des jungen Mädchens, welches auf diesem sonnigen Fleckchen wandelte, mit bloßem Auge zu erkennen, war die Entfernung doch zu bedeutend.

Eines Tages aber kam der Polizeischreiber sehr ärgerlich gestimmt von dem Polizeibüro nach Hause; eine Dame, welche von einer Nachbarin in ihren heiligsten Gefühlen beleidigt war und welche an der Menschheit verzweifelte, hatte auch den Protokollführer beinahe zur Verzweiflung gebracht. Er hielt während des Mittagsmahls seinem Zögling eine donnernde Philippika gegen die Weiber, zog zur Verdauung Göckingks Gedichte aus seiner Bibliothek und trug dem gleichgestimmten Robert den beherzigungswerten Vers:

Jüngling, hüte dein Herz und dünke gegen die Schönheit Nie dich weise genug, nimmer dich stärker als sie –

nebst polizeilich angehauchtem Kommentar daraus vor. An demselben Tage richtete Robert in Abwesenheit des alten Ulex eins der Fernröhre des Astronomen auf den Gartenfleck, die Marmorbildsäule, die Laube und die junge Dame und erkannte nun das Gesicht wieder, welches an jenem Abend, wo er, von dem Wagenrade niedergeworfen, auf der kalten nassen Erde lag, sich so erschreckt, lieblich und rührend zu ihm niedergebeugt hatte. Der Garten gehörte zum Hause des Bankiers Wienand, das kleine Fräulein unter den Holunderblüten war Helene Wienand.

Wir wollen jetzt versuchen zu sagen, was und wie der junge Mensch in diesem neuen Frühling dachte und fühlte, wenn er das junge Mädchen im Grün neben der weißen Statue sitzen sah. Der ersten Überraschung folgte in der Brust des Jünglings ein gewisser Mißmut, eine Art von ärgerlichen, verbissenen Grolles; denn fürs erste sah er noch das ganze Geschlecht in der Gestalt der einen verkörpert, durch welche er solchen Schmerz erduldet hatte und noch dulden mußte. Während dieses Zustandes mußte Ulex seine wahre Freude an dem Schüler haben. Mit brennendem Eifer vertiefte dieser sich in die Bücher und machte in jeder Hinsicht solche Fortschritte, daß der Alte gegen Fiebiger sein Lob nicht laut genug aussprechen konnte.

Doch wer kann immerdar über die schwarzen Lettern, wenn sie auch noch soviel Weisheit und Poesie enthalten, sich beugen? Stets von neuem fordert das Lebendige sein Recht über das Tote, und von dem Buche mußte das Auge des jungen Mannes sich doch zuletzt wieder erheben – zum Himmel, zu den Wolken, die der Südwind über die Dächer trieb. Über die Dächer selbst mußte es schweifen, bis es wieder auf dem grünen Fleck, den es meiden wollte, haftete. Hatte der Knabe die Stelle, welche er so unwillkürlich suchte, gefunden, so fuhr er wohl ärgerlich zusammen, schlug er mit verdoppelter Energie ein Blatt der Leiden des klugen Wanderers Odysseus, des Äneas und seiner Genossen oder eine Seite im Schiffskatalog um; aber dasselbe Spiel wiederholte sich von neuem, in der nämlichen Viertelstunde, auf die nämliche Weise. Der Sternseher hatte recht, wenn er sich nun über die Unbeständigkeit der Stimmung seines Schülers wunderte; er schob dieselbe aber auf irgendeine schwierige lateinische oder griechische Konstruktion und pflegte zu sagen:

»Gemach, gemach, mein Sohn; die ruhige Hand greift am sichersten. Woran liegt es denn?«

Errötend ließ der Jüngling den Greis in seinem Irrtum und wies irgendeine klassische Schwierigkeit auf, über welche nicht fortkommen zu können er behauptete. Der Sternseher konnte unmöglich wissen, was an der Sache war; er erklärte, und zwar mit Vergnügen; um keinen Preis hätte er die begonnene Unterweisung des Schützlings Friedrich Fiebigers wieder aufgeben mögen.

Geraume Zeit dauerte der Kampf Roberts gegen die zauberhafte Anziehungskraft der weißen Bildsäule, der grünen Baumgruppe und des kleinen Menschenfigürchens drunten in der Tiefe, zwischen den hohen Brandmauern. Darauf kam eine Zeit, in welcher Robert sich nicht mehr wehrte gegen den magischen Punkt im Süden, eine Zeit, in welcher der Sternseher die Fortschritte seines Zöglings nicht mehr so wie früher zu loben hatte. Selbst ein so gescheuter Mann wie Heinrich Ulex kann nicht auf alles achtgeben, zumal wenn die Astronomie seine Lieblingswissenschaft ist, zumal wenn er den Jahren, bis zu denen die Heilige Schrift des Menschen Lebensalter ausdehnt, so nahe gekommen ist, als der Sternseher es war.

Der Polizeischreiber machte sich keine Sorge über die Zerstreutheit seines Schützlings, und noch weniger Sorge machte er sich über eine andere Umwandlung, welche im Wesen des Jünglings eingetreten war. Anfangs hatte Robert sich vor den Gassen, vor dem Gewimmel der großen Stadt sehr gescheut, fast gefürchtet, und der einzige Weg, welchen er allein ging, war der zum Giebel des Nikolaiklosters gewesen. In das Gewühl der Stadt hatte er sich nur an der Seite des Polizeischreibers gewagt, und stets war er bedrückt und verwirrt daraus heimgekehrt. Er schien auf keine Weise sich darin zurechtfinden zu können; die Häuser und Mauern wollten ihm auf den Kopf fallen, die Tausende und aber Tausende von Gesichtern waren ihm unheimlich; überall vermutete er lauernde Feinde, Spott und höhnisches Lachen.

Das änderte sich allmählich ganz und gar.

Robert Wolf wagte es, auf eigene Faust die Gassen zu durchstreifen; die Scheu, die Angst vor den Menschen verlor sich, und der Polizeischreiber Fiebiger rieb sich die Hände nach seiner Gewohnheit darüber. Der Ortssinn, welchen der Jüngling aus seinem Heimatswalde mitgebracht hatte, leistete ihm jetzt die besten Dienste; er suchte die Straße, in welcher das Haus stand, dessen Gärtchen man vom Giebelfenster des Sternsehers aus erblickte. Er fand die Straße und fand das Haus; durch Julius Schminkert erfuhr er, wem es gehöre. Robert fing an, nähere Bekanntschaft mit dem leichtsinnigen Wandnachbar zu machen; auch Schminkert gehörte zu den Lehrmeistern, welche den Jüngling in die Geheimnisse des Lebens einweihen sollten; – ein gefährlicher Lehrer war er freilich, und seine Maximen, seine Philosophie wären ohne das Gegengewicht, welches Ulex und Fiebiger in die Waagschale warfen, im höchsten Grade bedenklich gewesen. Es war die Philosophie des praktischen Zynismus, welche dem Jüngling hier entgegentrat; nicht jener Art des Zynismus, von der die Stoiker sagten, sie sei eine Abkürzung des Weges zur Tugend, sondern jener Art, welche nur eine Abkürzung des Weges zur Schenke, zu allen Ausschweifungen ist, indem sie die ganze Welt zu einer Kneipe macht und jede Tugend zu einem Schenkmädchen.

»Ich will Euch mal was sagen, Waldmensch«, meinte der treffliche Julius, »Ihr scheint mir ein ganz guter Junge zu sein; aber die Alten werden doch einen Esel aus Euch machen; Ihr seid da in die richtigen Hände gefallen. Haltet Euch stellenweise ein wenig zu mir, ich werde Euch mancherlei zeigen, von welchem selbst die hohe Polizei keinen rechten Begriff hat. Man muß sich in das Leben hineinfressen wie die Maus in die Speckseite und sich nicht gleich ins Mauseloch jagen lassen, wenn die alte Person, der Küchendragoner Moral, mit Besen und Feuerzange ein großes Gepolter macht.«

Julius Schminkert gehörte zu den Menschen, welche in der ebenso angenehmen wie leicht erklärlichen Illusion befangen sind, zu den achtungswertesten, verkanntesten, geistreichsten und unentbehrlichsten Charakteren der Gegenwart zu gehören, und welche es zugleich für ihre Pflicht halten, sich von Zeit zu Zeit ein Individuum aus der Masse der Menschheit zu wählen und es mit allen ihren in ihnen verborgenen trefflichen Eigenschaften speziell bekannt zu machen. Diese Menschen sind von der Natur mit seltsam kräftigen Anklammerungswerkzeugen ausgestattet; den Gegenstand ihrer Zuneigung halten sie fest, bis er ihnen langweilig geworden, bis sein Geldbeutel leer ist; – es sind noch lange nicht die schlechtesten Gesellen, und der schlaue alte Fiebiger ließ seinen Schützling ruhig mit dem Schauspieler gehen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Die Augen hielt er aber weit offen.

Julius Schminkert führte den Jüngling ein in den Kreis, von welchem der Rentier Schwebemeier ein so ausgezeichnetes Mitglied und kostbarer Zierat war und wo die früher schon erwähnten Damen die weibliche Grazie in der echtesten Karikatur zur Darstellung brachten. Groß war die Verwunderung Roberts über die Anschauungen und das Gebaren dieses Kreises, über die Geschichten, welche die Herren und Damen erzählten, über die Art, wie sie ihre Geschichten erzählten. Es konnte nicht fehlen, daß von Zeit zu Zeit auch die Rede auf die »durchgegangene« Eva Dornbluth kam, und Robert mußte alle Geisteskraft zusammenraffen, um nicht, wenn dieser Name mit Spott und unendlicher Heiterkeit genannt wurde, aufzuspringen und dreinzuschlagen. Eines Abends kehrte der Jüngling aus der Gesellschaft des Schauspielers heim in das stille verräucherte Gemach, wo der Polizeischreiber in Tabakswolken gehüllt bei seiner Lampe saß und las, legte mit Tränen der Reue und Wut dem Alten unaufgefordert Beichte ab und versprach ihm und sich selbst feierlich, nicht mehr den Wegen, auf welchen der lustige Julius sein Dasein vertaumelte, folgen zu wollen.

Der Alte fuhr sich komisch durch die Haare und meinte: »Hast du genug in den Topf gerochen? Ein arabisches Sprichwort sagt: Spiele nicht mit den Hunden, sie könnten sich deine Vettern nennen. – Man kann vieles in einem langen Leben lernen, aber oft noch mehr in ein paar Tagen, in einem kurzen Augenblicke. Na, beruhige dich, Bursche; ich wußte, daß es so kommen würde; man soll den Menschen nicht auf alles mit der Nase stoßen, es schadet gar nichts, wenn er sie sich selbst von Zeit zu Zeit an einer Ecke blutig rennt.«

So wurde der Knabe aus dem Walde zwischen der Weisheit, die in der Einsamkeit unter den Sternen wandelt, der Weisheit, die im Gewirr der Menschheit den festen Boden der Erde tüchtig und ernst beschreitet, und der Lebensansicht, welche im Schmutz tappt und den Fuß nur hebt, um ihn desto tiefer wieder in den Kot zu setzen, seines Weges geführt. Seine Schule begann sehr früh, und oft genug zitierte ihm der Sternseher die Worte Senecas: »Non est ad astra mollis e terris via.« Er vertiefte sich in den bittersüßen Inhalt des Buches des Lebens zu einer Zeit des Lebens, in welcher andere sich noch kindlich über den schönen goldglänzenden, bunten Einband freuen. Er war zu beneiden; aber er war auch zu beklagen. Wie wunderlich ist es doch, daß die Menschen, deren Los, alles in allem genommen, ist, hienieden beklagt zu werden, so oft und so grundlos beneidet werden und wieder andere beneiden!

Aber die Sonne lag auf dem grünen Gartenfleckchen hinter dem Hause des Bankiers Wienand, welches vom Giebelfenster des Sternsehers Heinrich Ulex zu erblicken war. Der Himmel war blau, trotzdem die große Stadt so viele schwarze Rauchwolken zu ihm emporsandte. – Robert Wolf vergaß den Zauberer Virgil über die Holunderbüsche, die weiße Statue der Hebe und die kleine Gartenbank, und der Sternseher Ulex wunderte sich darüber; wir aber wenden uns jetzt zu dem Garten inmitten des Gemäuers selbst, wir wenden uns zu dem jungen Mädchen auf der Bank unter den Holundern, neben der Bildsäule.

Die Welt, in welcher Helene Wienand geboren und aufgewachsen war, zu schildern ist kein Vergnügen. Es gibt darin selten große Verbrechen, aber fast ebenso selten große Tugenden. Es gibt darin recht hübsche, bequeme und angenehme Laster und ebenso hübsche, bequeme und angenehme Tugenden. Man liebt und haßt auf eine Art, welche uns allen leider nur zu gut bekannt ist und welche keiner Beschreibung bedarf; – durchschnittlich überwiegen die Tugenden die Laster, durchschnittlich überwiegt die Liebe den Haß, doch das ist nicht sehr hervorzuheben. Jedermann ist von seiner Vortrefflichkeit höchlichst überzeugt und verlangt, daß jedermann dieselbe Überzeugung davon habe. Der Kreis, den man übersieht, ist nicht sehr weit, und was man sieht, erblickt man durch die gefärbten Gläser der Gewohnheit, des angeborenen oder allzu schnell gefaßten Vorurteils. Man hat seine Art, der Welt gegenüber die Lorgnette vor die Augen zu halten, und es ist inkonventionell, von dieser Manier abzulassen – man würde sich allerlei mehr oder weniger spitze und stumpfe Bemerkungen und kleine, ganz winzige tödliche Verfeindungen dadurch zuziehen – man muß mit den andern leben, und man lebt gleich den andern.

Wir kennen diese Lebenskreise ziemlich genau; wirkliche Originale sind in den Grenzen, bis zu denen dieser Teil der menschlichen Gesellschaft sich ausdehnt, vielleicht am wenigsten zu finden, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil man es hier am wenigsten mit Extremen zu tun hat. Die goldene Mittelstraße hat auch ihre Schattenseiten; es ist nichts vollkommen in dieser Welt. Die aurea mediocritas erträgt auch am wenigsten gern das Vollkommene; denn wie kann sie Freude und Genugtuung darüber empfinden, daß irgend etwas sich über ein anderes zu erheben sucht oder wirklich erhebt? Ist es so angenehm, überragt, überstrahlt zu werden?

In diese Welt, wo man mehr lächelt als lacht, mehr leise haßt als laut zürnt, mehr verleumdet als schmäht und schilt, wurde Helene Wienand hineingeboren, und ihr Leben würde sich wohl wie das der andern Kinder ihres Standes entwickelt haben ohne die Dazwischenkunft der guten Fee, des alten Mütterleins im Märchen, welches wir geschildert haben. Wie gesagt, was für Robert Wolf erst der Pastor Tanne und jetzt Fiebiger und Ulex waren, das war für Helene von frühester Jugend an das Freifräulein Juliane von Poppen.

Leider müssen wir gestehen, daß die Bekanntinnen der jungen Dame nicht viel von ihr, Helenchen Wienand, hielten; sie erklärten sie für ein Gänschen, sie behaupteten, sie sei hochmütig und wisse sich nicht zu kleiden; sie erzählten kleine Geschichtchen von ihr, und manche Schwester konnte nicht begreifen, was der Bruder an dem albernen, blöden Lärvchen finde. Die Herren Brüder aber – die jungen Herren der Gesellschaft überhaupt – fanden doch mancherlei an dem reizenden, so leicht errötenden Gesichtchen, an der zierlichen elfenhaften Gestalt; es gab mehr als einen gutgekleideten und gutgestellten jungen Mann, welcher für das »kleine Mädchen« schwärmte und seufzte; es gab mehr als eine Mama, welche auf die reiche Bankierstochter »ein Auge« hatte und sie für ihren heirats- und geldbedürftigen Sohn für eine gute Partie hielt. Das »kleine Mädchen« selbst hielt sich aber durchaus nicht für eine gute Partie, dazu war es viel zu bescheiden, dazu kannte es viel zuwenig den eigenen Wert und den Wert des Geldes. Das Kind dachte gar schlimm von sich und hielt sich für recht dumm, recht unbeholfen und blöde; es hätte seinen Gespielinnen vollständig recht gegeben in ihren Behauptungen, wenn diese jungen Damen das verlangt hätten. Es liebte seinen Papa vom ganzen Herzen, aber die mütterliche Freundin doch fast noch mehr; der Vater hatte so viele wichtige Dinge, so viele Zahlen im Kopfe. Daß er sein Töchterlein vergötterte, wissen wir, aber daß der harte, gewandte Geschäftsmann ein großes Verständnis für manche Eigenschaften seines Kindes haben sollte, konnte man nicht verlangen. Der Bankier war eigentlich ein sehr eitler Mann; er prahlte zwar nicht laut und im schlechten Geschmack, aber er war doch sehr überzeugt von der Wichtigkeit seiner Stellung, dem Glanz seines Namens und Reichtums. Der Bankier war auch eitel auf seine Tochter. Sie mußte den elegantesten Wagen, die eleganteste Toilette haben; die Leute sollten überall, wo sie erschien, sagen: »Das ist die Tochter des großen Bankiers, das ist Fräulein Helene Wienand, ein reiches Mädchen, ein schönes Mädchen, ein liebenswürdiges Mädchen – dieser alte Wienand ist doch ein glücklicher Kerl, ich wollte, ich besäße sein jährliches Einkommen als Vermögen.«

»Ich würde mir doch nicht so ungeheure Mühe geben, dem Mädchen den Kopf zu verdrehen, Wienand«, sagte das Freifräulein von Poppen, »macht euch nicht lächerlich, ihr Geldaristokraten; wenn ihr euch blamieren wollt, so besorgt ihr das noch besser als wir, die wir auch mehr als billig des Ruhmes mangeln, den wir vor Gott und den Menschen haben sollten. Übrigens ist das Kind ein gutes Kind, und es wird euch nicht gelingen, eine Äffin daraus zu machen.«

Der Bankier brummte ein wenig in die weiße Halsbinde hinein und vertiefte sich von neuem in seine Kursberechnungen, seine Spekulationen mit spanischen und türkischen Anleihen, seine Betrachtungen über Russen-Stieglitz, über das Haus Arnstein und Eskeles, über das Haus Rothschild. Er fügte sich leicht, wenn das kleine lahme Freifräulein die Hand erhob, und befand sich samt seinem Hause wohl dabei. Helene Wienand aber ward ein sehr vornehmes Mädchen, und aus ihren tadelnden Altersgenossinnen sprach mehr der Neid als sonst irgend etwas. So kam der Zeitpunkt, in welchem unsere Erzählung ihren Anfang nahm; das Wagenrad warf Robert Wolf auf das Straßenpflaster, und einen unauslöschlichen Eindruck machte dieser Zufall auf die Seele des jungen Mädchens. Eine geraume Zeit hindurch erwachte sie jede Nacht aus ängstlichen Träumen, in welchen sie durch das bleiche, blutige Gesicht des Jünglings erschreckt wurde. Vergebens waren anfangs alle Beruhigungsversuche des Freifräuleins; die zitternden Nerven des Kindes mußten ihre Zeit zum Ausklingen haben. Juliane von Poppen erzählte die Geschichte Roberts, wie sie dieselbe auf dem Observatorium des Sternsehers erfahren hatte, dadurch trat eine andere Art der Teilnahme an die Stelle der Angst. Diese kurze einfache Geschichte war so rührend, war so traurig – immer von neuem mußte Helene sich ihre Einzelheiten wiederholen. Ihre lebendige Phantasie malte ihr den Wald, die Forsthütte, das Bett mit den fieberkranken Kindern und das sonstige wilde Leben und Sterben daselbst, das stille, friedliche Pastorenhaus von Poppenhagen und die schöne, die böse Eva Dornbluth mit den deutlichsten Farben. Wie ging es doch zu, daß die kleine Helene allmählich anfing, die schöne Eva recht vom Herzen zu verabscheuen, trotzdem daß das Freifräulein nicht anstand, die Arme in Schutz zu nehmen und sie für ein wackeres Mädchen zu erklären?!

Auf den schlauesten Umwegen und den verborgensten Seitenpfaden brachte die arglistige Helene das gute Fräulein immer von neuem zu Auslassungen über den Schützling des Polizeischreibers, den Schüler des Sternsehers. Und Juliane von Poppen, für welche der Gegenstand selbst von Interesse war, willfahrtete gern und sprach sich von freien Stücken aus. Nun ertappte sich Helene öfters über dem Gedanken, es sei doch recht gut, daß endlich alles auf diese Weise gekommen, recht gut, daß die wilde Eva mit dem ebenso wilden Fritz übers Meer fortgegangen sei. Das junge Ding setzte sich selber heimlich in den verständigsten altklugen Gedankenreihen auseinander, wie Robert und Eva nimmer zueinander gepaßt haben würden, wie niemals etwas Gutes aus ihrer Vereinigung entstanden wäre. Welch ein Unglück hätte schon daraus entstehen können, wenn Eva Dornbluth mit dem Jüngling in derselben Stadt zusammengeblieben wäre!

Nun erzählte Juliane von Poppen, wie fleißig Robert bei dem alten Ulex im Kloster Sankt Nikolaus studiere und wie der Gelehrte mit dem Kopfe und den Fortschritten seines Schülers so sehr zufrieden sei. Das freute das junge Mädchen unbeschreiblich, und nun kam ihr bald der Gedanke, wie sie selbst noch ein gar so dummes Gänschen sei, wie sie gar nicht Bescheid wisse in der Welt. Daraufhin hatte das gescheite Köpfchen auf dem hübschen Halse wiederum einige schlaflose Nächte, und dann sah Robert von seinem Giebel aus durch des alten Ulex Fernrohr, wie von dem Tisch in der Holunderlaube Stickrahmen, Körbchen mit bunter Seide und Wolle, Spitzenrollen, Bänder und Zeugstücke aller Art verschwanden und Bücher, Papier und ein Dintenfaß an ihre Stelle traten. Das war für den Studenten eine liebliche Aufmunterung zum Studium; wenn nur nicht zugleich eine solche Verlockung damit verbunden gewesen wäre, die eigenen Bücher ganz und gar über das Betrachten des fremden Fleißes zu vergessen.

Wenn Robert Wolf das Fräulein von Poppen neben der zarten Lichtgestalt auf der Gartenbank erblickte, so freute er sich jedesmal, daß es solch ein verbindendes Mittelglied zwischen seiner Existenz und der Helene Wienands gab. Und verstohlen sah Helene nach dem fernen Giebelfenster und war dabei in tödlicher Angst, daß das Freifräulein frage, was sie da oben zu sehen habe. Das Kind hätte wahrlich keine Aufklärung darüber geben können, so fest auch das Faktum stand. Es war ein schöner Sommer – blau war der Himmel, die Sonne leuchtete – was konnte es Besseres geben!

Und wenn das alte Fräulein das junge Mädchen überraschte, wie es selbstverloren durch die Baumzweige in den blauen Himmel sah, so berührte es wohl leise die Schulter des Kindes, um es solcher Selbstvergessenheit zu entreißen, meinte aber doch im geheimen:

›Man sollt's eigentlich nicht tun und so dazwischenfahren. Man zerreißt immer einen Blütenkranz, wie ihn der Mensch in spätern Jahren nicht mehr zu winden versteht. Die Träume und Bilder, die man zu solcher Lebenszeit hat, sind doch die schönsten; sie kommen in solcher Pracht später nicht wieder; alle Farben verblassen, auch die Farben der Träume.‹

Die Alte dachte dabei an den Winzelwald und seine grünen Verstecke im Dickicht, unter den Felsen, am plätschernden Bach; sie gedachte des Sonnen- und Mondenscheines ihrer eigenen Jugendzeit; auch die Alte blickte aus dem Garten des Bankiers Wienand nach dem Fenster der Studierstube Heinrich Ulex'; – o wie seltsam Gedanken und Seufzer der Jungen und Alten sich kreuzen in der Welt! Die größesten Wunder gehen in der größesten Stille vor.

»Du magst träumen, Knabe«, sagte der Astronom auf dem Turm, »aber du darfst das Leben nicht ganz wegträumen. Viel mußt du noch lernen, ehe du die große Kunst errungen hast, auch am Tage die Sterne zu schauen, ehe du ihren Lauf im Blauen und im klaren Schein der Sonne verfolgen kannst. Die Sonne vermag jeder zu begreifen, welcher Gefühl für Wärme und Kälte hat, wie viele aber begreifen die Sterne am Tage?« Der Schreiber fing an, über die Zerstreutheit seines Schützlings allerlei Glossen zu machen. Er sagte: »Sperre die Augen auf, Junge; wer am Tage stolpert, wird am meisten ausgelacht, und das mit Recht. Ich bitte dich inständigst, stellenweise nicht so lächerlich dumm auszusehen. Streife die Ärmel in die Höhe und greif zu mit derben Fäusten; – wer will mit genießen, der muß auch mit schießen und büßen. Kinderstubengedanken, Krankenstubengedanken haben zwar auch dann und wann ihre Berechtigung; aber sie dürfen uns nicht durch das ganze Leben begleiten, wenn es ein ordentliches, wahrhaftiges, männliches Leben sein soll.«

Auf solche Reden antwortete der Jüngling wenig, er bekam einen kleinen Rückfall in seinen Haß des weiblichen Geschlechts; derselbe hielt jedoch so wenig an, daß es nicht der Mühe wert ist, darüber ein Wort zu verlieren. Es war Sommer, und die niedergetretenen Blütenhalme richteten sich wieder auf; und das meiste kommt doch auf die Beleuchtung an! Die Sonne geht auf und beschreitet ihren glänzenden Weg; aber der arme blödsichtige Mensch schließt nur allzuoft die Laden am hellen Tage, um hinter einem Augenschirm bei einem kümmerlichen Nachtlicht, in Bitternis und Qual, ein Feind der Götter, sein Dasein zu verzürnen und zu verseufzen: vox clamans in deserto, eine Stimme in der Wüste, und zwar einer oft selbst geschaffenen Wüste.

Fünfzehntes Kapitel Herr Leon von Poppen zeigt sich als guter Sohn und liebenswürdiger Gesellschafter. Harmlose Bemerkungen des jungen Mannes. Café de l'Europe

In den Besuchzimmern, den Salons der besten Häuser der Stadt konnte man elegante Karten finden mit der feingestochenen Inschrift: Madame la baronne Victorine de Poppen, née de Zieger. Die Baronin war eine Dame, welche berechtigt war, moralisch wie körperlich einen großen Platz in der Welt einzunehmen. Ihre Beziehungen zu den ersten Familien des Landes waren bedeutend, fast noch bedeutender war ihr körperlicher Umfang. Manchen komfortablen Jahresring von Egoismus und Fleisch hatte sie seit dem Tage ihrer Geburt angesetzt – ein stattlicher Baum, der einen umfangreichen Schatten warf, in welchem aber nur ganz bestimmte Arten anderer Gewächse gut gedeihen konnten, wie zum Beispiel Herr Leon von Poppen, einige gleichgestimmte Freundinnen und männliche alte Waschweiber, Mamsell Elise, die schnippische Kammerjungfer, und Baptiste, der bunte unverschämte Lakai, welcher eigentlich Karl Quabbe hieß, aber der Eleganz wegen unter die Baptisten hatte gehen müssen. Naturen wie Juliane von Poppen konnten es jedoch in diesem Schatten nicht aushalten; – es gab keinen größern Kontrast der Persönlichkeiten als die Baronin und das alte lahme Freifräulein. In der Körperfülle der einen war die Seele mager und dürr geblieben und klapperte darin gleich dem vertrockneten, ungenießbaren Kern einer tauben Nuß; in dem kümmerlichen Leibe der andern fand die kräftige, lebensmutige, lebensfrische Seele fast keinen Raum. So fand auf beiden Seiten ein Mißverhältnis statt; doch hat der erste Fall unregelmäßiger Organisation den Vorzug, daß eine dünne Seele in einem dicken Gefäß der Gesundheit durchaus nicht nachteilig ist, während im Gegenteil ein in einem erbärmlichen Körper zu gewaltig anschwellender Geist die irdische Behausung leicht ruiniert und sie zuletzt ganz und gar vernichten und in die Luft sprengen kann. Die Baronin von Poppen liebte sich und die Ruhe à tout prix, ihren Sohn Leon tant bien que mal und die übrige Welt nur insofern, als sie sich vornehm darüber erheben oder demütig sich vor ihr neigen konnte. Das kleine Freifräulein liebte sich selbst durchaus nicht übermäßig, es machte sehr gern allerlei ironische Bemerkungen über sich, hatte dagegen für den größten Teil der übrigen Erdbewohner ein »faible«. Es erhob sich freilich weder über sie, noch knickste es grinsend vor ihnen; hülfreich sprang es ihnen nach Kräften im Unglück an die Seite und ergriff ohne Scheu jede Hand, die sich angstvoll nach ihr ausstreckte, sie mochte so schmutzig und so hart sein, als sie wollte. Nur mit der Schwägerin konnte sie sich seit dem berühmten Prozesse – eigentlich schon seit früherer Zeit – nicht vertragen. Die zwei kamen zusammen wie Feuer und Wasser, und es gab ein großes Zischen, Brausen und viel heißen Dampf bei jeder Begegnung der beiden Damen.

Das Haus, welches die Baronin von Poppen mit ihrem Sohne in der Kronenstraße bewohnte, war ein sehr ansehnliches; das Leben, welches die beiden führten, ließ nichts zu wünschen übrig; dennoch saß sowohl in dem Haus wie in dem Leben der Wurm, da sich derselbe nicht nur in den rotbäckigsten Früchten sehr wohl befinden kann. Das Vermögen der Dynastie vom Poppenhof und von Poppenhagen war im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts beträchtlich zusammengeschmolzen. Der Poppenhof war mit Hypotheken belastet und vollständig in den Händen eines schurkischen Verwalters, da der junge Baron es ganz und gar unter seiner Würde hielt, mit den eigenen Ochsen das von den Vätern ererbte Feld zu beackern. Auf das Haus in der Stadt hielt mehr als ein schwarzhaariger, krummnasiger Geschäftsmann die scharfen semitischen Augen gerichtet; es lastete auch auf seinen Ziegeln manch eine nicht unbeträchtliche Schuld. Baptiste und Elise stellten im geheimen die wehmütigsten Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen an und rüsteten sich ahnungsvoll, um mit dem Instinkt, den auch die Ratten haben sollen, im Augenblick des Zusammenbrechens des Glückes von Poppenhall sich mit dem Ihrigen aus dem Staube machen zu können. Die Menschen sind gute Rechner, wenn es gilt, den Eintritt eines dem Nachbar drohenden Unheils zu berechnen. Mamsell Elise und Herr Baptiste glaubten den Bestand des von Poppenschen Haushaltes nur noch auf zwei bis drei Jahre garantieren zu können, unvorhergesehene Zufälle nicht mit in Rechnung gezogen. Ganz so schlimm stand es freilich noch nicht; aber die Verhältnisse waren doch so verworren, daß Mutter und Sohn in manchen verlorenen Momenten gezwungen waren, sich damit zu beschäftigen und sich einige Sorgen darüber zu machen.

Das Haus Nummer fünfzig in der Kronenstraße stammte aus dem Ende des siebenzehnten Jahrhunderts; es war ein vom Alter und Rauch geschwärztes steinernes Gebäude, über dessen Fenstern behelmte Kriegerköpfe grimmig sich anlächelten, eine steinerne Balustrade lief vor dem Dache her, und auf dieser Brüstung standen vier verwitterte Statuen mit den Attributen der vier Jahreszeiten. Dem Frühling fehlte aber der Kopf, der Sommer hatte den Arm, der Herbst die Sichel verloren; nur der Winter hatte unversehrt alle Stürme der Zeit und der Witterung überdauert und blickte böse aus den unbeholfenen Falten seines Gewandes. Es war ein recht winterliches Haus, dunkel, feucht und kalt. Die Steinplatten auf der Flur wurden niemals ganz trocken, das Geländer der breiten Treppe fühlte sich immer naß an. Hier und da sah ein halbverwischtes altes Porträt aus schwarzem Holzrahmen von der Wand herab. Wo die Wände vertäfelt waren, half es nichts, das Wurmmehl wegzufegen; es rieselte immer von neuem unter der ununterbrochenen Arbeit der grabenden, wühlenden Tiere hervor und sammelte sich zu Haufen.

Die Baronin haßte dieses Haus recht von Herzen, sie nannte es einen Grabkeller und würde es gern gegen eine der modernen Wohnungen in einem modernen Viertel der Stadt vertauscht haben, wenn nur Leon damit zufrieden gewesen wäre. Diesem jungen Herrn aber war die Lage und Gelegenheit des Hauses ganz genehm; es ließen sich daselbst recht hübsche kleine Partien, ganz hinter den Leuten, geben; das aristokratische Viertel mit seinen breiten Straßen, seinen Gärtchen vor den Häusern, seinen hellen Fenstern und Gemächern hatte in dieser Hinsicht nicht den mindesten Reiz für ihn; er rühmte als hoffnungsvoller junger Diplomat der Mama das ungemein vornehme Etwas, welches in diesem alten Familiengebäude derer von Zieger sich manifestiere; die Mama seufzte, gab ihrem Sohne recht, und man blieb, wo man war – die Mutter in dem elegant ausgestatteten ersten Stock, der Sohn im zweiten Stockwerk, wo er sich so eingerichtet hatte, wie es einem zivilisierten Jüngling der Jetztzeit zukam. Das dritte Stockwerk war unbewohnt und diente den Ratten und Mäusen als geräumiger Tummelplatz; alles, was seit anderthalbhundert Jahren in der Familie von Zieger an Kleidungsstücken, Gerätschaften, Meubles abgängig geworden war, hatte hier ein Unterkommen gefunden. Wären wir mit dem Blick eines Trödeljuden begabt, wir würden uns mit Vergnügen auf eine genauere Beschreibung dieser Räumlichkeiten und ihres Inhalts einlassen; die Menschen interessieren uns aber zumeist, und so machen wir Gebrauch von unserm Privilegium, überall ungehindert eintreten zu können, und führen, ohne durch den holden Baptiste und die schöne Elise an der Tür zurückgewiesen zu werden – wir haben auch hoffentlich nicht das Ansehen von Gläubigern! – unsere Leser ein bei der Frau Baronin.

Die gnädige Frau hatte Besuch. Frau von Schellen mit ihrer Nichte und Frau von Eichel waren soeben fortgegangen, Frau von Flöte und ihre Tochter Lydda saßen noch am Teetisch der Baronin. Von den erstgenannten drei Damen wäre mancherlei Angenehmes zu sagen, wenn wir Zeit dazu hätten, für Artemisia und Lydda von Flöte aber müssen wir unbedingt einen Raum unseres Buches verwenden; wir können dafür den für die Expektorationen des alten Ulex ein wenig beschneiden oder den für die Bemerkungen des Polizeischreibers Fiebiger beschränken.

Es gibt Venusstatuen, welche der fromme Glaube vergangener Jahrhunderte so bemeißelt, beleckt und beküßt hat, bis eine echte Heilige des christlich-katholischen Himmels, eine Sancta Agnes, eine Sancta Klara, eine Sancta Katharina daraus geworden ist; ein ganz ähnlicher Prozeß war mit Artemisia von Flöte vorgegangen. Sie war jung und schön gewesen, und man hatte sie umtanzt wie einen englischen Maibaum; jung und schön war sie nicht mehr, den Rosenkranz hatte sie vom Kopfe herabgenommen, aber in der Hand behalten; sie war immer reich, sehr reich, und jetzt fromm – sehr fromm. Die arme Lydda von Flöte hatte niemals eine Zeit der Rosen gekannt; immer war sie einer Blüte zu vergleichen gewesen, welche lange in einem Gebetbuch gelegen hat und welcher Saft, Form und Duft vollständig ausgepreßt ist. Obgleich sie eine sehr gute Partie war und manch ein Elternpaar, manch ein liebevoller Papa, manch eine zärtliche Mama sie gern als Schwiegertochter an das Herz geschlossen hätten, so hatte doch keiner der Herren Söhne genug Geschmack für die medizinischen Wissenschaften, um Osteologie an dem armen magern Kind zu studieren. Wie ein vergessener vergoldeter Apfel hing sie am Weihnachtsbaum des Lebens und schrumpfelte immer mehr ein, während ihr Temperament den Umständen gemäß immer mehr litt. Auch Leon von Poppen hatte keine Lust, in den verhutzelten Apfel zu beißen, obgleich er ihm auf so wünschenswertem, wertvollem Präsentierteller unter die Nase gehalten wurde. Bis dato hatte er noch jedesmal zum großen »chagrin« seiner Mama das edle vorstehende Glied seines Gesichtes gerümpft und sich – mit seiner Jugend entschuldigt; die Baronin jedoch hatte die Hoffnung, ihren Sohn glücklich zu machen, noch lange nicht aufgegeben.

Die drei Damen saßen um den Teetisch; die Lampe warf ein magisches Dämmerlicht durch das Gemach – es fehlte nicht an Gesprächsstoff, und Lydda schickte öfters verstohlene Blicke nach der Tür, durch welche der junge Baron in jedem Augenblick eintreten konnte. Auch die Baronin sah von Zeit zu Zeit nach der Uhr und nach derselben Tür; aber Leon erschien nicht. ›Wenn er endlich doch Vernunft annehmen wollte!‹ dachte die zärtliche Mutter.

Frau von Flöte sagte:

»Liebste Freundin, die Konsistorialrätin Krokisius war heute morgen bei mir. Die arme gute Seele hat recht ihre Not. Sie wissen, Beste, was für ein christliches Haus die Leute machen, wie sie ihre Kinder erzogen haben. Nun das Unglück! Vor anderthalb Jahren ist der älteste Sohn Otto – du erinnerst dich seiner, Lydda –, ein reizender brauner Lockenkopf –«

»Ein naseweiser Schlingel –«

»Ganz richtig, mein Kind, es hat sich leider ausgewiesen, daß er nicht viel taugte. Ach die armen Eltern – Gott will die Seinen prüfen. Der junge Mensch hatte solche schöne Aussichten, der Vater ist so gut angeschrieben in den maßgebenden Kreisen. Nun ist alles nichts.«

»Was ist denn geschehen, Liebe?« fragte die Baronin, höchst gleichgültig ihren Hund streichelnd.

»Mein Gott, der junge Mensch geht, wie gesagt, zur Universität und gerät in die allerschlechteste Gesellschaft, in die allerschlechteste. Unchristliche Gesellen drängen sich an ihn; der Jüngling fällt in die Stricke der Versuchung, die Schlingen der Verführung; vergessen ist das fromme, gottesfürchtige Vaterhaus – der Herr Konsistorialrat wird nicht das Glück haben, seinen Sohn hier in Amt und hohen Würden zu sehen. Er ist unter die Philosophen gegangen – nicht der Herr Konsistorialrat; er hat eine Doktorschrift geschrieben – es soll etwas ganz Abscheuliches sein – die arme Konsistorialrätin!«

Es war ein Vergnügen zu sehen, wie bei der Berichterstatterin die Venusstatue, immer unter der Maske der Heiligen, mehr oder weniger bemerklich zum Vorschein kam; in Mienenspiel, Augenspiel und Gesten mehr als in Worten. Die Tochter hatte ein recht scharfes Auge für diese Momente und verfehlte nicht, sie jedesmal durch ein unbeschreibliches Sinkenlassen des Kopfes und Ineinanderflechten der dünnen Finger sanft, aber vorwurfsvoll zu rügen. Grund dazu hatte sie öfters, als die Mutter weiter erzählte:

»Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Der verlorene Jüngling hat es gewagt, sich zu verlieben – auf die niedrigste Art sich zu verlieben. Seine Wäscherin – ein Mädchen aus der Plebs – was weiß ich – eine –«

»Mama!«

»Ja, du hast recht, süßes Herz; wir wollen nicht weiter darüber reden; aber ich sage es immer wieder und ich habe es auch der Konsistorialrätin gesagt: das kommt alles nur von dem Umgang mit dem Krämer, dem Wechsler – was weiß ich –, dem Bankier Wienand. Was nur die fromme Seele, der Herr Konsistorialrat, mit dem Bankier zu schaffen hat? – der unglückliche junge Mensch ist auch nicht aus dem Hause fortgeblieben. Es ist ein gefährliches Haus, man findet daselbst sehr gute Gesellschaft und sehr, sehr schlechte. Ich begreife nicht –«

»Ich auch nicht!« rief die Baronin, welche der Name Wienand aus jeder Art von Schlummer und Schlaf, aus jeder Art von Apathie, aus der tiefsten Ohnmacht erweckt und in die Höhe gejagt hätte; denn mit diesem Namen war der ihrer Schwägerin aufs unzertrennlichste verknüpft. Ihr ganzer Anzug schien sich wie das Gefieder eines gereizten Truthahnes zu sträuben; alles an ihr und sie selber schwoll an, und die majestätischen Falten der schweren seidenen Robe wollten sich auf keine Weise zur Ruhe bringen lassen durch die aufgeregten fleischigen Hände.

»Ich kann es auch nicht begreifen, wie man mit den Leuten verkehren kann, die in jenem Hause ein und aus gehen«, rief die Baronin von Poppen. »Der Hausherr ist ein arroganter, aufgeblasener Geldmensch, die Tochter –«

Lydda von Flöte seufzte und lispelte:

»Kindisch, süß und albern!«

»Freifräulein Juliane von Poppen aber ist die Schwester meines Mannes, welche einen Stolz darin findet, ihren und unsern Namen in allen Gassen zum Gespött und Gelächter des Pöbels zu machen.«

Die Baronin Viktorine wußte in der Tiefe ihrer Seele sehr gut, daß der sich nicht immer lächerlich macht, von welchem man solches behauptet. Sie hatte aber einmal ihre Ansicht von der Sache, und der tausendfache Widerspruch, auf den sie dabei stieß, machte sie nur immer erbitterter gegen die Verwandte, immer giftiger in ihrem Haß.

»Weshalb«, fuhr sie fort, »stellt man solch ein armes Geschöpf nicht unter Vormundschaft; weshalb hat die Polizei nicht acht auf die Leute, von denen sie benutzt und ausgeplündert wird? Da sitzt irgendwo in der Stadt ein halb toller Mensch, ein überstudierter Narr – hahaha, eine Jugendliebschaft, wenn ich nicht irre.«

»Oh!« seufzte schamhaft Lydda von Flöte.

»Mit dem hält sie Verkehr, bringt halbe Nächte bei ihm zu.«

Sancta Venus legte sich zurück und lachte wie zu der gottlosen Zeit, als sie noch tiefst ausgeschnittene Kleider und Rosen in den Locken und nicht den Rosenkranz in der Hand trug; Lydda ließ den Kopf sinken und faltete die Hände.

»Bringt halbe Nächte mit ihm und einem schuftigen Schreiber zu, wie in den Jahrhunderten, wo man noch Gold machte und den Stein der Weisen suchte. Ich glaube fast, es gibt keine Mörder- und Diebshöhle in der Stadt, in welche sie nicht hinauf- oder hinuntergestiegen ist. Mit allem Gesindel ist sie bekannt – eine wahre Zigeunerkönigin.«

Frau von Flöte billigte jeden harten Ausdruck der erregten Dame; Lydda zog sich immer schüchterner in sich zusammen, so daß sie zuletzt alle Ähnlichkeit mit einer neunundzwanzigjährigen Jungfrau verlor. Es war ein Glück, daß in diesem Augenblick Leon von Poppen eintrat. Seine Erscheinung brachte den Redefluß der Mama zum Stillstand und errettete das Fräulein vom gänzlichen Verschwinden in ihr selbst. Lydda von Flöte raffte sich zu einer matten pikierten Lebendigkeit auf, ihre Mutter ließ den Mund hängen wie eine büßende Magdalena und neigte das Haupt zur Seite wie Lais.

»Leon, mein Sohn, ich hatte dich doch gebeten, früher zu kommen!« sagte Viktorine.

»Nicht möglich, chère maman. Unerträgliche Abhaltungen – insupportable Schwere des Daseins – starker Mann mit hundertundfünfzig Zentner Überfracht auf der Brust, und zwar kein Papiermaché – ah!«

Der junge Baron war außergewöhnlich weich und wehmütig gestimmt. Er hatte im Spiel verloren, er hatte eine Erscheinung gehabt und litt an Kopfschmerz, Weltschmerz und allgemeiner Körperschwäche. Matt sank er in einen Sessel zwischen seiner Mutter und der Mutter Lyddas, zum großen Verdruß der Jungfrau, von welcher er sich so weit, wie irgend schicklich war, entfernt hielt. Der goldene Apfel hing so lose am Zweige, daß er dem Unvorsichtigen bei der leisesten Berührung auf die Nase gefallen wäre, und Leon von Poppen hielt etwas auf seine Nase, obgleich sie weder zu den griechischen noch zu den römischen gehörte.

»Wie ist es mit der Madonna, Herr von Poppen?« fragte Lydda.

»Ah, gnädiges Fräulein – richtig, Madonna nach Murillo, gestochen von Theresa del Po – ich erinnere mich! Ich hoffe, das Blatt Ihnen verschaffen zu können; aber – ah, wenn Sie wüßten, was mir alles auf der Seele liegt!«

»Armer Baron, Sie sehen in der Tat angegriffen aus«, sagte bedauernd die Mutter Lyddas. »O wenn Sie doch recht ernstlich den Weg suchen wollten, der zur süßesten Ruhe, zum himmlischsten Frieden führt.«

Herr Leon schnitt nach innen eine gräßliche Grimasse, die sich nach außen durch einen kläglichen Seufzer kundgab. ›Der Teufel hole das Weib mit ihrer himmlischen Ruhe, ihrem ewigen Frieden‹, dachte er. ›Ich weiß wohl, was sie darunter versteht, aber ich danke.‹ Laut sagte er: »O Gnädige, wenn Sie wüßten, welche Mühe ich mir gebe, den Weg zum Heil zu finden! Vergangene Nacht träumte mir, ich sei der heilige Simon Stylites und stehe in Syrien auf einer achtzig Fuß hohen Säule ekstatisch auf einem Bein, balancez à vos dames.«

Empört fuhr die gnädige Frau rauschend empor, Lydda stieß einen pfeifenden Zorneslaut aus, die Baronin starrte mit offenem Munde den Spötter an.

»Komm, mein Kind«, rief Frau von Flöte, »wir wollen gehen; der Herr Baron ist in zu scherzhafter Stimmung für uns. Arme Poppen, der Herr gebe auch Ihnen Kraft in allen Ihren Leiden; Sie haben gleich falls an Ihrem Herrn Sohn eine sehr schlechte Erziehung gemacht. Komm, Lydda.«

Majestätisch segelten die beiden Damen aus der Tür, nachdem sie den unglücklichen Leon noch mit einer vollen Breitseite aus ihren heiligen Zorn sprühenden Augen bedacht hatten. Die Baronin wollte ihnen nacheilen; aber ein Starrkrampf schien sie auf dem Diwan festzuhalten. Ihr Hündchen heulte kläglich, sie hatte sich beim Versuch, sich zu erheben, darauf gesetzt, und sie wog nicht wenig. Leon gähnte bedeutend und schritt mit gekreuzten Armen durch das Gemach.

Den Sturm, der nun über ihn naturgemäß losbrechen mußte, abzuwenden, zu neutralisieren, ließ der Baron als geschickter junger Diplomat und Naturkundiger jetzt selbst ein kleines Gewitter los, ehe die Mama wieder zu Atem gekommen war.

»Du hast mir das Leben gegeben, Mama«, sagte er tragisch, »ich lege es dir wieder zu Füßen. Mach mit mir, was du willst; opfere mich auf jede beliebige Weise dahin, nur nicht durch diese schrecklichen Weiber. Die Kraft der menschlichen Natur hat leider ihre Grenzen, und ich verkünde hiemit feierlich, daß meine Kräfte zu Ende sind. Mama, das Leben und das Schicksal haben mich mager genug gemacht; aber ein Skelett heirate ich darum doch nicht. Steh doch endlich auf, Mama, das Hundegeheul ist zu widerlich! Armer Azor, ja winsele nur, aber das Geschick lastet nicht schwerer auf dir als auf mir; ich wollte, ich könnte mit dir tauschen.«

Die Baronin schluchzte krampfhaft in ihr Taschentuch:

»Leon, Leon, was war das? O Leon, was hast du getan? O du bist unerträglich!«

»Vraiment, maman, ganz einverstanden; aber auch du ein wenig. Komm her, Azor. Armes Tier – ganz platt – platt gedrückt, wie ich selbst.«

»Du hast die Damen aufs tödlichste beleidigt. Weißt du, daß du das getan hast?«

Leon zuckte die Achseln.

»Sie meinten es so gut mit dir.«

»Danke, ich meine es ebenso mit ihnen.«

»Sie können dir deine Karriere vollständig verderben; sie sind so einflußreich.«

»Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, sagte irgend jemand, welcher damit das Richtige traf.«

»O Leon, Leon!«

»O Mama, Mama!«

»Du bist doch sonst immer ein gutes Kind gewesen!«

»Ich hoffe es auch ferner zu bleiben; aber ich habe nicht den geringsten Sinn für das Studium der Anatomie.«

»Solch ein schönes Vermögen!«

»Ach, das Gold ist nur Schimäre.«

»Solch ein liebenswürdiger Charakter!«

»Alle Götter der Oberwelt und der Unterwelt ruf ich an, daß sie einen andern – meinen schlimmsten Feind – damit beglücken mögen.«

»Leon, du wirst bald genug einsehen, was du heute abend verloren hast.«

»Fünfzig Friedrichsdor und mein Herz«, murmelte das »gute Kind«, doch so, daß die Mama nicht verstand, was es sagte. Der Baron hatte nicht Lust, das unerquickliche Gespräch länger fortzusetzen; er schellte und überließ die tränenüberströmte Mutter den Tröstungen und der Sorgfalt der lieblichen Elise. Leise schlich er fort und ließ sich von dem Esel, dem Baptiste, zu seinen eigenen Gemächern im obern Stock leuchten. Hier, wo von den Wänden aus goldenen Rahmen die berühmtesten Tänzerinnen in allerlei gewagten Stellungen, leichtverhüllt, auf ihn herabschauten; wo bronzene Tiergruppen von ihren Konsolen aus ihren Herrn an die Freuden des Sports erinnerten; wo ein wirres Durcheinander aller möglichen und unmöglichen Gegenstände Tisch und Stuhl bedeckte, hier warf sich Leon von Poppen auf ein Lotterbett und machte es sich immer klarer, daß er rasend verliebt sei in – Helene Wienand, den reizenden Zögling der »unberechenbaren« Tante Juliane. Das war ihm heute ungemein klargeworden, und zwar auf merkwürdig einfache Weise, ohne dramatische Zufälle irgendwelcher Art. Am hellen nüchternen Tage, zwei Stunden nach dem Diner, war an dem eigentümlichen Gewächs, welches der Baron sein Herz nannte, diese neue Blüte aufgesprungen, die nun inmitten mancher verwelkten andern sehr buntfarbig und mit etwas sonderbarem Duft prangte.

Sehr oft war Leon mit Helene zusammengetroffen, ohne auf das kleine unscheinbare Mädchen zu achten. Sehr oft war im Kreise der Genossen die Rede von der Tochter des Bankiers gewesen, und der Baron hatte mit den andern die gewöhnlichen Bemerkungen und Witze darüber gemacht; – nun hatte Amor Fleck getroffen, und der goldbefiederte Pfeil zitterte in der Wunde. Hinter dem Stamm einer Linde auf der Promenade hervor hatte der geflügelte Taugenichts gezielt. Unter der Linde hielt das Coupé des Bankiers, und im Vorbeigehen hatte Leon den Papa Wienand mit seiner Tochter aus dem Wagen steigen sehen. Solide war alles an dem Geldmann: untadelhaft seine Erscheinung, untadelhaft seine Equipage und die beiden Rappen sowie der bärtige Kutscher. Über alle Beschreibung aber war die Gestalt Helenes auf dem Wagentritt und das Füßchen, welches sie im Niedersteigen zeigen mußte. Es kam über Leon von Popken gleich einer Offenbarung; hier war alles, was das Herz wünschen konnte – Schönheit, Reichtum, vornehmes Wesen, Geschmack und Bildung. Wie der Kastellan von Coucy drückte der Freiherr von Poppen die Hand auf das Herz; er grüßte tief und achtungsvoll, und verbindlich erwiderte der Bankier den Gruß, als er seine Tochter die Allee hinabführte. Wie festgewurzelt stand Leon noch einige Augenblicke.

›Bin ich denn blind gewesen?‹ dachte er. ›Sind wir alle blind gewesen? Zum Teufel, ihr Herren von der Garde, ihr Herren vom diplomatischen Korps, ich verbitte mir in Zukunft alle Lazzis über diese junge Dame. Per Bacco, allesamt sind wir mit Blindheit geschlagen gewesen.‹

Beflügelten Schrittes eilte der Baron von dannen, aber nun trat ihm allmählich allerlei vor die Seele, welches seine Gehobenheit beeinträchtigte. Die Tante Juliane stieg geisterhaft drohend aus dem Boden und erhob den Krückstock; auch an Lydda von Flöte dachte Leon von Poppen und schauderte. Die Bekannten, welche ihn zum Spieltisch zogen, hatten Grund, sich über seine Zerstreutheit zu wundern. Wir wissen, in welcher Stimmung der Erbherr des Poppenhofes aus dem Café de l'Europe in die mütterliche Behausung heimkehrte und wie er den Sperling aus der Hand fliegen ließ, der Taube auf dem Dache wegen.

In den wunderlichsten Verrenkungen und Lagen überlegte der Baron auf seinem Sofa seine Aussichten; aber wenn er sich auch auf den Kopf gestellt oder eine noch ungewöhnlichere Stellung angenommen hätte, seine Gedanken würden dadurch nicht klarer, seine Anschauungen nicht ruhiger geworden sein. Er fand keine Ruhe in seinen vier Wänden. Wiederum schlich er aus dem Hause, abermals nach dem Café de l'Europe. Letzteres war wenigstens der Wienandschen Wohnung gegenüber gelegen, und er konnte von hier dann und wann einen Blick auf die erleuchteten Fenster gegenüber werfen, bis das Licht nach elf Uhr erlosch und das große Gebäude in Dunkelheit versank. Leon von Poppen wurde wieder sehr aufgeregt und heiter in dem Kreise jüngerer und älterer Sünder, welche das bekannte Etablissement allnächtlich mit ihrer Gegenwart beehrten. Er war ungemein geistreich und witzig, aber ein ganz klein wenig weniger frivol als gewöhnlich. Man stellte die Vermutung auf, Fräulein Lydda von Flöte habe endlich – nachgegeben; man ließ es nicht an ironischen Glückwünschen fehlen. Leon ließ alles über sich ergehen; er lachte mit den Lachenden und parierte mit großem Glück manch gutgezielten Stoß, der boshaft gegen ihn geführt wurde. Er war wie in einem leichten Rausch und tat alles, diesen Rausch zu erhöhen. Je näher die Mitternacht kam, desto nervöser wurde er, desto eigentümlicher wurde seine Stimmung. Seit der Nacht, in welcher Eva Dornbluth durchbrannte, hatte er so etwas nicht gefühlt.

Dem berühmten Kaffeehause gegenüber saß der Bankier in seinem Kontor nach dem Garten hinaus vor dem Hauptbuch. Er hatte die Faust auf den gewaltigen Folianten gelegt; sein Auge blitzte Triumph. Es war eine Freude, dem breitschultrigen Mann in das charakteristische Gesicht, die eisernen, energischen Züge zu schauen. Man sah auf den ersten Blick, daß dieser Mann einen langen, mühevollen Weg voll viel Schweiß und Arbeit zurückgelegt hatte und sich nun dem Gipfel nahe fühlte. Sein Haar war grau, gefurcht die Stirn, manche Sorge war über dies Haupt hingegangen; aber es hatte sich nicht gebeugt – – Triumph!

Sechzehntes Kapitel Viel Schutt und Trümmer fallen auf Helene Wienands Gärtchen sowie in den Hof von Nummer zwölf in der Musikantengasse

Mitternacht! Dunkelheit auf Erden! Ein heftiger Wind blies seit einigen Tagen, Herbstahnungen bringend, über die Stadt; aber droben am Himmelsgewölbe gingen die Sterne ruhig ihren Gang, und wie ihr Lauf bestimmt war, so waren auch die Geschicke der Menschen bestimmt, eins durch das andere, alle durch den mächtigen Willen, welcher darüber »regiert« und welcher ad libitum den einen zum Atheisten, den andern zum Akosmisten macht. Zwischen Tag und Nacht laufen sich die Menschen zu Tode wie die Maus in der Rolle; o Mitternacht, wie feierlich und ernst klingt dein dröhnender Fußtritt ins Ohr – ein neuer Tag! – und noch immer will das Rad nicht zur Ruhe kommen. Lauf, lauf, arme Maus!

Mitternacht! Der Polizeischreiber Fiebiger hatte einen Tag voll drängender, häßlicher Arbeit zurückgelegt; der Jammer der Menschheit war ihm fast an die Kehle gestiegen und hatte ihm den Atem bis zum Ersticken geraubt. Nun lag er auf seinem harten Lager und wehrte sich wieder einmal gegen die Gebilde des Tages, welche ihn bis in den Schlummer verfolgten, gegen die Geister der großen Foliobände, die noch viel, viel inhaltvoller waren als die Folianten im Arbeitszimmer des Bankiers Wienand, obgleich auch in den Zahlen der letzteren für das Auge des Kenners, des Eingeweihten manch ergreifender Bericht über menschliches Glück oder Unglück niedergelegt war.

Robert Wolf lag wachend; er hatte sich halb aufgerichtet, indem er sich auf den Ellbogen stützte, und blickte durch die Risse im alten Fenstervorhang nach den Sternen, vor welchen der Wind die Wolken herjagte. Vor einem Jahre noch hatte er den Septemberwind durch die Bäume des Winzelwaldes rauschen gehört. Wie anders war alles seit den Tagen geworden! Der Jüngling blickte nach denselben Gestirnen, welche der Sternseher Heinrich Ulex in der nämlichen Stunde durch seinen Tubus beobachtete. Sie hatten beide das Recht zu wachen, der Forscher wie der Jüngling, jeder hatte Rätsel in sich und außer sich zu lösen. Die Liebe ist auch eine Wissenschaft, ein Streben, Forschen, Suchen nach dem Wahren, die Wissenschaft ist auch Liebe; beide blicken empor im Streben und Suchen und Sehnen – beide blicken nach den Sternen.

Aber der Wind ballte die Wolken immer mehr zusammen und jagte sie in immer schwärzern Massen vor die Sterne. Der Forscher schob sein Rohr zusammen und strich über die heiße Stirn; der Bankier Wienand schloß das schwere Hauptbuch und schrob die Lampe nieder; auch ihm fielen die Augen zu; der Polizeischreiber murmelte ängstlich im Schlaf: »Da, da, haltet ihn – zu spät – schickt nach dem Henker.« Stern auf Stern verschwand am Firmament, erregt und schmerzlich beängstigt, beobachtete Robert, wie die Finsternis ein blitzendes Licht nach dem andern auslöschte. Die späten Schwärmer im Café de l'Europe wurden allmählich immer stiller; sie gähnten in den Kissen der türkischen Diwans, streckten die Beine immer weiter von sich und bliesen immer apathischer den Rauch der feinen Zigarren von sich. Der Kellner war im Winkel eingeschlafen.

Mitternacht! Noch stand der Sternseher am offenen Fenster und atmete das wilde, aber nicht kalte Wehen ein; er lauschte den zwölf Schlägen, die eine Uhr nach der andern bis in weite Ferne wie ein Echo aufnahm und wiederholte. Robert schob den Vorhang ganz zurück; kein Stern, nicht das winzigste Fünkchen war mehr zu erblicken am Himmel und auf Erden. Das Sausen in den Lüften wurde immer stärker, es fuhr durch die Höfe, um die Ecken, es fing sich in den Winkeln, umtanzte die Wetterfahnen, klapperte mit den Ziegeln, neckisch, mutwillig und leichtfertig, doch nicht boshaft. Nun schlief der Bankier bereits sicher und fest; er war ein starker Mann, und wenn er sein Hauptbuch geschlossen hatte, so waren die Sorgen selten so kühn, sich an sein Kopfkissen zu wagen; Herz und Hirn waren bei ihm aus gleich fester Masse, sie waren beide aus dem Kitt geformt, welcher die Gesellschaft zusammenhält.

Leon von Poppen hatte wieder einmal die magern Arme auf die Marmorplatte des Tisches im Café de l'Europe gelegt und den Kopf, der ein ganz anderes Gehirn als das des Bankiers barg, auf die Arme. Er schlief einen ähnlichen Schlaf wie der abgejagte Garçon in der Ecke.

Ein Uhr! Es kam Robert Wolf ein Gedanke an den fernen Bruder, an Eva Dornbluth aus dem Kantorhaus zu Poppenhagen. Er dachte an beide jetzt nicht mehr mit dem fieberhaften Groll früherer Tage. Wo mochten sie jetzt weilen? Wie mochte es ihnen gehen? Unendliche Räume überflog der Gedanke.

Ein Uhr und ein Viertel! Schwer fing es endlich an, sich auf die Augenlider des Jünglings herabzusenken; der Schlaf wollte den Sieg über die unruhige Seele gewinnen. Der alte Ulex schloß sein Fenster; es verflossen noch fünf Minuten. Da ging plötzlich in der Ferne nicht sehr fern von dem Garten des Bankiers Wienand, neben dem hohen Schornstein und Fabrikgebäude, welche den Astronomen allnächtlich ärgerten, ein Leuchten auf, wie der Schein einer Laterne, und zitterte einige Augenblicke an einer Hauswand, ohne daß Ulex viel darauf achtete. Es verschwand, um gleich darauf von neuem und stärker emporzuzucken. Es erregte bald die ganze Aufmerksamkeit des Alten.

Nun glitt der Schein an den Fenstern einer andern Hauswand empor, nun fiel plötzlich ein feuriges Licht über die weiße Statue der Hebe neben der Holunderlaube – ein Schrei klang in der Ferne; – es zuckte ein Flämmchen über ein Dach, leckend und züngelnd. Dem Flämmchen aber nach brach die Flamme, hellodernd, blutigrot, gefräßig-gierig in der vollen Pracht ihrer furchtbaren Majestät –

Feuer! Feuer!

»Feuer! Feuer!« rief der Sternseher in den Hof von Sankt Nikolaus hinab, und in der Tiefe wiederholten Männer- und Weiberstimmen den unheilvollen Schrei. Sturmgeläut, Hörner und Trommeln ließen sich in der Ferne vernehmen; denn damals löschte man Brände noch nicht im tiefsten Schweigen wie heute. Auch auf dem Hofe von Nummer zwölf der Musikantengasse wurde es lebendig, Lichter erschienen in der Wohnung der Familie Tellering; hervor stürzten der Schreiner und sein Sohn, die blanken Äxte über der Schulter. Von seinem Lager fuhr der Polizeischreiber Fiebiger auf; Robert hatte die Kleider bereits in aller Hast übergeworfen. Der rote Schein fiel jetzt schon drohend in die Hinterfenster des Hauses des Partikuliers Mäuseler.

Wie jedes andere schlafende Haus überkam auch die Nummer zwölf der Musikantengasse der furchtbarste Schrecken bei dem plötzlichen Alarm, und es zeigte sich, daß Leute, die durchaus nicht im Rufe standen, Kopf zu haben, ihn dessenungeachtet verlieren konnten. Bei blitzschnell hereinbrechender Not und Verwirrung zeigt sich am besten, was der Mensch ist und was er kann.

Julius Schminkert, der diesmal ausnahmsweise sich vor Mitternacht im Bett befunden hatte, bewies sich in seiner ganzen Größe. Er hatte durchaus nichts von Wert zu verlieren; so fuhr er denn in Hosen und Rock, kaltblütig und besonnen, und benutzte jede Gelegenheit, sich dem Gemeinwohl des Hauses zu widmen, aufs beste. Um den Schreiber und seinen albernen Jungen bekümmerte er sich nicht; er hörte ihren gestiefelten Schritt eilig hinter der Wand neben seinem Gemach und wußte, daß beide seiner nicht bedurften. Der erste, welchem er seine Energie widmete, war der halbtote Hausherr, der Rentier Mäuseler. Besinnungslos irrte der Biedermann auf seinem Vorplatze umher, in flanellenen Unterhosen und halbangezogenem Schlafrock, den Tabakskasten unter dem linken Arm, den Waschnapf in der rechten Hand. Merkwürdigerweise bezwang der darstellende Künstler seine Lust, dem Trübsalsbilde den Waschnapf aus der Hand zu nehmen und den Inhalt desselben über das ehrwürdige Haupt des ehrenwerten Bürgers zu gießen, vollständig, bemächtigte sich dafür aber ebenso vollständig alles dessen, was vom Rentier noch übrig war, und benutzte die Gelegenheit, um sich für seine lärmenden Dienstleistungen den Erlaß der rückständigen Miete eidlich versprechen zu lassen. Die Kassette mit den Wertpapieren des Hausherrn unter dem einen Arm, den Hausherrn selbst unter dem andern, die halbohnmächtige Madam Krieg am Rockschoß nachschleifend, stieg Julius zur Wohnung des Fräulein Aurora Pogge hernieder und erschien kühl lächelnd inmitten angstvollen mausehaften Umherlaufens und durchdringendsten Gekreisches und Gepiepes von Katze, Herrin und Dienerin. Alle Türen waren geöffnet, der Fußboden aller Gemächer, der Vorplatz wie die Treppe bereits bedeckt mit Plunder aller Art, welchen die unglücklichen Frauenzimmer in ihrer Ratlosigkeit aufgegriffen und umhergestreut hatten. In dem jungfräulichen Gemache Auroras setzte der Schauspieler den Rentier auf dem grünen Sofa unter dem Bilde des seligen Proviantkommissärs nieder; und trotz ihrer Verstörtheit besaß Aurora noch schämige Kraft genug, den verwegenen Julius an den Haaren aus ihrem Schlafgemach zu ziehen, in welches er ungebeten seine vorwitzige, unheilige Nase steckte. Der Mime warf der erzürnten Schönen eine Kußhand zu, wies mit einer andern Handbewegung auf den ächzenden Hausherrn und schwebte aus dem Gemache. Hier hatte er nichts mehr zu tun, und beflügelten Schrittes eilte er die Treppe hinunter, getrieben von der süßen Hoffnung, sich der holden Angelika und ihrem Vater nützlich und angenehm zu machen. Wann hätte er eine günstigere Gelegenheit dazu finden können?

Auf den ersten Stufen der Treppe stieß sein Fuß an ein in blauen Samt gebundenes Buch, auf dessen Deckel zwei Tauben am Fuße eines Kreuzes sich schnäbelten. Er hob es auf, warf einen Blick hinein und stieß, scheu über die Schulter sehend, einen Ruf des Entzückens hervor. Er hatte ein Manuskript gefunden, von dessen Existenz das ganze Haus Nummer zwölf in der Musikantengasse eine dumpfe grauenvolle Ahnung hatte. Auf der ersten Seite des Büchleins stand in merkwürdiger Handschrift:

Thagebug

von

Aurora Pogge.

Blitzschnell glitt der Fund in die Brusttasche des glücklichen Finders; satanischen Jubels voll, schnalzte Julius Schminkert mit den Fingern, und noch warm von der zarten Berührung des jungfräulichen Busens Auroras war das himmelblaue Schatzkästlein einer edlen Seele.

»Göttlich, göttlich! Millionenfach gesegnete Stunde! Geschenk der Götter, feil für kein Königreich!« jauchzte innerlich der Taugenichts, bei jedem Ausruf sich am Geländer über sechs Stufen der Treppe abwärts hinwegschwingend.

Verwirrung, Not und Ratlosigkeit hatten ebensosehr von dem Parterre Besitz ergriffen wie von den übrigen Stockwerken des Hauses, das höchste ausgenommen, welches alle Seelen- und Körperkräfte ruhig beieinander behielt; und wir schieben die Bemerkung ein, daß an dem letztern Faktum durchaus nichts zu verwundern ist, da die klarsten Köpfe ungemein häufig dem Dache sehr nahe wohnen. Das Gehirn hält sich ja auch in dem höchsten Teile des menschlichen Körpers auf.

Niemals sah man einen zitternderen Kleiderkünstler, niemals versteinertere Lehrlinge, niemals angstvoller umherhüpfende Bekleidungsgehülfen. Die schöne Angelika, ziemlich mangelhaft bekleidet, warf sich an die Brust Schminkerts und umklammerte ihn krampfhaft mit dem Ruf: »Rette mich, rette uns, o rette mich!«

»Aus Blut und Tod, aus Trümmern und Flammen!« deklamierte Julius, zärtlich das zarte Wesen an seinem Herzen festhaltend, ohne daß der ratlose Papa sich's verbat. »Es ist die Fabrik chemischer Waren in Brand geraten; wir werden höchstwahrscheinlich so gleich allesamt in die Luft fliegen. Halten Sie sich nur recht fest an mir, Engel der Seligkeit; wenn wir einmal in die Lüfte sollen, so geschieht's am angenehmsten paarweise; – o Angelika, Herrlichste Ihres Geschlechts, ich benutze wiederum die tragische Gelegenheit, den Brand von Semmelroth und Kompanie, um Ihnen den Brand meines Herzens zu offenbaren.«

»O hören Sie nur, sehen Sie nur – die Flammen! O wie gräßlich!«

»Was fürchtest du, Geliebte? Laß den Erdkreis zusammenbrechen; – wie sagt der Altmeister Goethe?

Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zur Gottheit empor!«

»Wasser, Wasser, Wasser!« schrie der Schneider. »Herr Schminkert, ich bitte Sie um Gottes willen, was sollen wir anfangen? Raten Sie, helfen Sie –«

»Da geht die hohe Polizei, nun sind wir gerettet!« rief Julius, als eben Fiebiger im blauen Rock mit rotem Kragen, begleitet von Robert, über die Hausflur eilte und in die menschenvolle Gasse stürzte. Wir lassen den entzückten darstellenden Künstler, die schöne Angelika und den atemlosen tailleur de Paris, um dem Schreiber und seinem Zögling zu folgen. Mit kräftigen Rippenstößen drängten sich die beiden durch die Menge, und Robert Wolf zeigte sich als ein kräftiger Bahnbrecher bis zu einer Soldatenlinie, welche die Brandstätte gegen das andrängende Volk absperrte. Hier trat der rote Kragen des Polizeimannes in sein Recht, vor ihm öffnete sich bereitwillig die Reihe der Krieger, und der Schreiber fand sich bald mit Robert vor dem brennenden Wienandschen Hause.

Mit verheerender Wut hatte das Feuer um sich gegriffen und bot allen Anstrengungen der Menschen Trotz. Der Wind wühlte in den Flammen wie in einem feurigen Ährenfelde, die Hintergebäude des ganzen Stadtteiles standen in Flammen, und auch aus den Fenstern der Vorderhäuser leckten schon die roten gefräßigen Zungen. In dem Garten des Bankiers brach eine hohe Wand nieder, zerschlug die weiße Statue der Hebe, zerknickte die Holunderlaube und bedeckte mit glühenden Trümmern und Funkengewirbel die Blumenbeete, den zierlichen Tisch, die grüne Bank. Erbarmungslos griff das Feuer über das Lieblingsplätzchen Helenes weg, erbarmungslos, wie das Unglück in ihr junges Leben griff. Eine Bandfabrik wurde von den Flammen erfaßt; die Glut trieb die Bänderrollen hoch in die Lüfte und wickelte sie am dunkelroten Nachthimmel in den prächtigsten Schlangenwindungen auseinander. Aus allen Fenstern der obern Stockwerke des Wienandschen Hauses schlug das wilde triumphierende Element und spottete der Anstrengungen der Spritzen, der Pionierkompanien, der beiden Tellering, Vater und Sohn. Aus dem Café de l'Europe waren die Nachtschwärmer in die Straße gestürzt, und Leon von Poppen starrte wie blödsinnig, mit offenem Munde, in das schreckliche Lichtmeer, in welchem das Haus des Bankiers Wienand – vielleicht auch sein ganzer Reichtum – untergehen sollte.

»Das gute, alte Haus! Armer Wienand!« rief der Polizeischreiber, die Hände erhebend.

In tödlichster Angst flogen die Blicke Robert Wolfs umher. Sie, sie – wo war sie? Hatte man sie vergessen in den Flammen? War sie gerettet?

Der Jüngling stieß einen Schrei aus und sprang fort von der Seite des Schreibers. Quer über die Gasse schritt Ludwig Tellering, eine zarte leblose Gestalt in den Armen tragend. Funken, Kohlen, glühende Balkentrümmer fielen immer dichter herab, nach einer andern Seite hin wurde der alte Fiebiger gedrängt; dem vor Ermattung strauchelnden Ludwig nahm Robert Wolf die leichte liebliche Last ab; vereint trugen beide die ohnmächtige Helene in das Café de l'Europe und legten sie sanft auf einem der Diwans nieder, auf welchen sich vorhin Leon von Poppen mit seinen Genossen gestreckt hatte. Die Wirtin und ihre Tochter nahmen sich der Armen bereitwilligst an, soviel es ihnen die Hast und Aufregung erlaubte, mit welcher auch sie ihr wertvollstes Eigentum in Sicherheit zu bringen hatten. Als treuer Wächter stand Robert neben dem jungen Mädchen, welches er bis jetzt nur aus so weiter Entfernung durch die Ferngläser des Sternsehers Ulex betrachtet und beobachtet hatte. Allerlei Volk drängte sich in und aus dem Gemach; eine kräftige geballte Faust streckte Robert einmal dem Freiherrn von Poppen entgegen, und er wich erst von seinem Wachtposten, als Juliane von Poppen sich durch das Getümmel drängte und ihr armes Herzenskind ans Herz schloß. Scheu zog sich Robert nun in einen Winkel zurück und starrte von dorther auf die alte Dame und das bleiche entsetzte Kind, bis das tapfere Freifräulein halb durch Bitten, halb durch Gewalt das Gemach räumte und so auch ihn wieder in die Gasse hinaustrieb.

Eine lange Häuserreihe stand nunmehr im lichten Brande. Im hohen Erdgeschoß seines brennenden Hauses war der Bankier noch immer mit seinen Leuten und der Rettungsmannschaft in gefahrvollster Arbeit beschäftigt. Manch wichtiges Dokument, manch wertvolles Schriftstück ging verloren; immer drohender ward die Gefahr; einer der Helfenden nach dem andern verließ das Gebäude, in welchem man fast erstickte, wo die Haare in der Hitze sich kräuselten und wo die Kleider einen Brandgeruch von sich gaben. Zuletzt fand sich der Bankier nur noch mit einem kühnen Mann allein. Mit heldenmütiger Aufopferung half der alte Meister Tellering beim Aufbrechen der Schränke, bis er von einer niederstürzenden Decke getroffen und gefährlich verwundet wurde. Da trug der Bankier den Greis auf seinen breiten Schultern aus dem Gebäude und gab es verzweifelnd auf, noch mehr zu retten. Hinter den beiden stürzte das Haus in sich zusammen, und in der Gasse sank Ludwig Tellering mit wildem Angst- und Schmerzensruf neben seinem Vater nieder. Der bewußtlose Meister wurde auf einer Bahre in seine dunkle Hofwohnung zurückgetragen, begleitet und unterstützt von manchen versengten, rauchgeschwärzten Handwerksgenossen. Dicht ihm zu Häupten schritten der Polizeischreiber Fiebiger und der Sohn. An der ersten Straßenecke traf der traurige Zug auf den Wagen, zu welchem das Freifräulein von Poppen soeben Helene Wienand führte. Juliane beugte sich über den Verwundeten und winkte dem Sanitätsrat Pfingsten, an dessen Arm Helene hing. Auch der Arzt ging mit der Bahre, um sogleich Hülfe zu leisten. Der Bankier war nicht von der Brandstätte wegzubringen; er saß auf einem Stein- und Trümmerhaufen und blickte stier in das Glutmeer, dessen feurige Wogen über dem großen Buche zusammenschlugen, auf welches er in der letzten Zeit so oft so triumphierend seine Hand gelegt hatte. Aus dem Geprassel der Flammen klang es ihm wie höhnisches Lachen ins Ohr; seine Lippen zitterten, seine Zähne schlugen an einander; ein Augenblick hatte den Mann um viele Jahre älter gemacht. Die markige Gestalt war zusammengesunken; zu plötzlich war für diese berechnende Stirn das Unglück gekommen; der Bankier Wienand auf dem Trümmerhaufen lächelte wie kindisch, er fing an, an den Fingern zu zählen, und summte eintönig das Einmaleins vor sich hin. Freunde und Bekannte drängten sich teilnehmend, tröstend um ihn her; aber vergeblich waren alle Anstrengungen, den Unglücklichen vom Platze zu bringen. Auf alle Bitten und Vorstellungen schüttelte er verwirrt lächelnd den Kopf und wies auf die Flammen. Herr Leon von Poppen sah aus einiger Entfernung fast ebenso verwirrt auf ihn, schüttelte ebenfalls den Kopf und schlich mit matt niederhängenden Armen und höchst unkomfortablen Gedanken der mütterlichen Wohnung zu.

Robert Wolf sah Helene Wienand mit dem Freifräulein in den Wagen steigen, welcher sie nach der Wohnung der alten Dame führen sollte. Über ihm war der Himmel noch immer mit blutigem Schein übergossen, obgleich man jetzt allmählich des Feuers Herr ward. Um ihn her wirbelte die aufgeregte Bevölkerung der großen Stadt. Der Jüngling war wieder einmal wie bezaubert, wie berauscht. Er hatte ein ähnliches Gefühl wie an jenem Abend, wo er verwundet auf dem Straßenpflaster lag – ebenso schmerzhaft, ebenso selig. Minutenlang blickte er dem davonrollenden Wagen nach; als er schon längst verschwunden war, stand er immer noch in solcher Verzückung da. Dann eilte er hinter dem traurigen Zuge her, welchem das Gerücht unheilverkündend voranlief, um die bis dahin so glückliche Hofwohnung von Nummer zwölf der Musikantengasse mit namenlosem Entsetzen und hellem Jammer zu erfüllen.

Von seinem Giebel aus hatte der greise Sternseher bewegt und doch ruhig in das wogende Flammenmeer, welches immer gewaltiger und dräuender gegen seine Höhe heranraste, herabgeschaut; er wich weder der Hitze noch dem Qualm; all das hohe Mauerwerk, über welches er sich so oft geärgert hatte, sah er zusammenstürzen, und nach jedem donnernden Gekrach schlug die Feuersäule um so wilder himmelan.

»Steinwälzen sie auf Stein«, sagte der Alte, »den Pelion auf den Ossa. Bis an die Sterne glauben sie ihre Burgen, ihr Glück auftürmen zu können. Was für Elend und Sorgen, für Blut und Schweiß sie mit vermauern! Wie sie sich quälen und ängsten! Sie bauen im Wachen, sie bauen im Traum – tausendarmiges Gigantengeschlecht! Immer höher, immer höher. Gut wissen sie Richtmaß und Zirkel zu gebrauchen, darin liegt ihre Sicherheit, darauf sind sie stolz – arme Toren! Den Flügelschlag der unsichtbaren Verderber fürchten sie nicht, den Flügelschlag, der im Vorbeistreifen die Paläste der Könige, die Häuser der Vornehmen, die höchsten Türme und höchsten Schornsteine niederwirft. O meine Sterne, mit ihrem Mauerwerk werden sie euch nicht erreichen; die Geister, welche zwischen Himmel und Erde wandeln, dulden es nicht!«

Bis zum grauenden Morgen stand der Greis an seinem Fenster; eine weite schwarze, rauchende Brandstätte fand der neue Tag. Viele Seufzer und Wehrufe irrten um den düstern Fleck im großen Häusermeer. Viel müde Köpfe, viel elende Herzen, viel stumpfsinniges Ächzen und Brüten, viel laute wilde Flüche gab es um diesen schwarzen Fleck. Was wird aufwachsen aus dem Schutt und den Trümmern, aus dem Kummer und der Verzweiflung aller derer, welche verloren haben und welche jetzt noch so fest überzeugt sind, niemals wieder gewinnen zu können?!

Siebenzehntes Kapitel Unter dem Schutt und der Asche – unter den Trümmern!

Drei vor allen andern Unglückliche hatte der Funke gemacht, welcher in der Fabrik von Semmelroth und Kompanie in einem toten Aschenhaufen geschlafen hatte, welcher erwacht und gewachsen war, welcher sich gereckt und gedehnt und in seine feurigen Umarmungen so vieles hineingezogen hatte. Die drei vorzugsweise zu Bedauernden waren der reiche Bankier Wienand, der alte Schreiner Johann Tellering und – Fräulein Aurora Pogge aus Nummer zwölf in der Musikantengasse. In verschiedener Weise litten sie, aber alle litten schrecklich; in verschiedener Art trugen alle das Schreckliche, aber ertragen mußten sie es.

Das Feuer ließ dem Bankier viel mehr, als die meisten Menschen jemals besessen haben und besitzen werden; aber es nahm ihm auch unendlich viel; es entriß ihm den besten Teil seines Ichs, seine Energie, die Spannkraft von Körper und Geist, in welcher allein für den Unglücklichen die Hoffnung künftiger Erfolge liegt. Man sprach viel in der Stadt über dieses phänomenartige Zusammenbrechen eines so eisernen Charakters; die Ärzte machten es zum Thema mancher wissenschaftlichen Untersuchung; und es ist sogar später in ihren Zeitschriften davon die Rede gewesen. Der Sanitätsrat Pfingsten als Hausarzt des Kranken wollte lange nicht an solche Möglichkeit glauben und hielt den Zustand für eine momentane, vorübergehende Erschöpfung durch Schreck, körperliche Aufregung und Überanstrengung. Es war aber kein momentaner Zustand; – es blieb mit dem Bankier fürs erste, wie es war – er war ein geschlagener Mann. Mit lächelnder Miene wäre, wie schon gesagt, der Bankier jedem vorherberechneten Unglücksfall entgegengetreten; das Unvorhergesehene traf ihn mit vollster Wucht, ohne daß er einen Schild zur Abwehr bereiten und vorhalten konnte. Tief sollte diese kluge, klare Stirn in den Staub gedrückt werden.

Die ersten Tage nach der Feuersbrunst hatte der unglückliche Mann mit seiner Tochter in der Wohnung seiner alten Freundin, des Freifräuleins von Poppen, zugebracht; und wieder einmal zeigte sich die alte Dame als seine treueste Helferin in der Not. Sie konnte freilich dieses Mal nicht viel helfen; ihre Ermahnungen, ihre Vorstellungen, ihre Vorwürfe prallten an der krankhaften Apathie des Bankiers wie an einem Panzer ab; und es sollte noch schlimmer kommen mit ihm. Vergeblich mühten sich auch die andern Freunde, die Geschäftsgenossen des berühmten Geldmannes, ihm das Leben wieder von einer bessern Seite zu zeigen, ihm die geretteten Fonds, den unerschütterten Kredit in die Erinnerung zu rufen. Der Kranke hörte ihnen stumpfsinnig lächelnd zu, schüttelte den Kopf und fing wieder an, an den Fingern zu zählen und das Einmaleins herzusagen. Stundenlang konnte er so sitzen und in einen Winkel starren, teilnahmlos für alles, was um ihn her vorging, teilnahmlos für die Bekannten, die Kollegen von der Börse, teilnahmlos für die alte Juliane, teilnahmlos sogar für seine Tochter, die arme, bleiche, weinende Helene. Man griff zu einem neuen Mittel. Man mietete ihm in der Kronenstraße eine Wohnung – dem Hause der Baronin von Poppen gegenüber –, man richtete ihm daselbst ein elegantes Geschäftszimmer ein; – er weinte, als man ihm seine Firma auf dem blanken Messingschild an der Tür zeigte; er setzte sich vor das große leere Hauptbuch, welches man ihm auf den Arbeitstisch gelegt hatte, stützte das Haupt mit den Händen und weinte – weinte bitterlich. Es sollte aber noch viel schlimmer kommen; die Verwirrung seines Geistes hatte noch lange nicht den höchsten Grad erreicht; die fixe Idee, daß er sich und seine Tochter nicht mehr ernähren könne, daß er den Hungertod sterben müsse, griff immer mehr in seinem kranken Hirn Platz und zeigte sich auf die seltsamste, traurigste und verschiedenartigste Weise. Wir werden leider damit noch mehr zu tun haben und brechen hier ab, um den Leser zu dem zweiten Ort der Schmerzen zu führen. –

Dunkel war der Hof von Nummer zwölf der Musikantengasse, noch dunkler fast die niedere Wohnung, deren Fenster auf den engen Raum gingen, wo einem der Hut vom Kopf fiel, wenn man nach dem Stückchen blauen Himmels über den Dächern sehen wollte. Aber wieviel Sonnenschein hatten die guten Menschen, welche hier wohnten, in diese dämmerigen Räume hineingetragen! Diese dunkeln Wände hatten oft heller geglänzt als königliche Säle voll unzähliger Wachskerzen. Da war ein Winkel hinter dem Ofen, ein Winkel, in welchem ein uralter Lehnstuhl stand, und Winkel und Lehnstuhl hatten einen Schein von sich gegeben, der mit nichts zu vergleichen war. Jeder Gegenstand in der Wohnstube, der Werkstatt, den Kammern, der Küche hatte sein eigenes Leuchten gehabt; echtester, wahrster Goldglanz hatte den Hammer, den Topf, den Kessel umspielt, Fluten von Licht hatte der ärmliche Spiegel über das Gesichtchen Luise Tellerings gegossen – nun sollte alles erlöschen, alles in die tiefste Finsternis versinken. Wie die Hand der Frau Anna das verdunkelnde Tuch über den Käfig des Kanarienvogels hing, damit der kleine fröhliche Sänger den kranken Meister nicht auch noch störe im qualvollen Fieberschlummer, so warf das Geschick den schwarzen Schleier über das ganze arme Hauswesen.

Mit gesträubten Federn und eingezogenem Köpfchen saß der Vogel auf der Stange und wunderte sich über die lange Nacht, welche gar kein Ende nehmen wollte, und ebenso verstört, verschüchtert, aber viel schmerzenreicher saßen Mutter und Kinder der Familie Tellering um das Lager des unsäglich leidenden Hausvaters. Verstummt waren die hellen Stimmen; der kleine Vogel sang nicht mehr, Ludwig sang nicht mehr, Luise sang nicht mehr. Der alte Mann erduldete die größten körperlichen Schmerzen, welche es gibt, die Qualen, die das Feuer dem menschlichen Leibe zufügt, und die treueste Pflege konnte diese Pein nicht im mindesten lindern, sowenig wie die Kunst des Sanitätsrats Pfingsten es vermochte. Nur Mannesmut konnte hier helfen, und mit dem Mut des Mannes trug Johannes Tellering, was ihm auferlegt worden war.

Gewöhnlich erdulden die niedern Klassen körperliche Leiden und Anstrengungen gewisser Art mit weniger Ausdauer als die höhern, da ihnen das moralische Gegengewicht fehlt; aber hier war das nicht der Fall. Mit eiserner Kraft wehrte sich der verstümmelte Greis gegen seine Schmerzen, und nur selten verkündete ein leises Stöhnen den Seinigen, was er litt. Sie wußten es aber darum doch; denn sie kannten den Mann, den Vater; und die alte Frau rief mehr als einmal, die Hände ringend:

»Schrei doch! schrei dich doch aus, Johannes! Es lindert – schrei dich aus. O Gott, Gott, beiße die Zähne nicht so zusammen!«

Aber Johannes Tellering schrie nicht; er lächelte sogar und ächzte:

»Gute Alte – noch nicht! Vielleicht später!«

Er hatte das Augenlicht verloren; aber hinter den geschlossenen wunden Lidern tanzten noch immer die blutigen Flammen, in welche er geblickt hatte, ehe er unter dem niederstürzenden Balken die Besinnung verlor. Alles trug der alte Held standhaft, das vollständige Gegenbild zum Bankier Wienand.

Mit einem Teile der Hausgenossenschaft von Nummer zwölf wurde die wackere Familie durch das Unglück, welches sie betroffen hatte, noch fester verknüpft. Zu allen Tageszeiten sprachen der Polizeischreiber Fiebiger und sein Robert in der Hofwohnung vor, und der Schreiber war auf seine Weise ein unbezahlbarer Trostbringer am Krankenlager; seine Gegenwart half der Familie, half dem Leidenden über manche trostlosen Augenblicke hinweg. Von noch größerm Wert aber war für den Meister Tellering die Gegenwart des Sternsehers Ulex, der von seinem Giebel niederstieg und halbe Tage lang neben dem Bette des Meisters saß. Der Gelehrte und der Handwerker verstanden sich vortrefflich; – ein großes Stück Phantasie steckt im Volk und in der Philosophie, und damit bewegen beide alles, was sie erfassen. Zu den höchsten Höhen des Reichs der Geister vermag die ungeschulte Phantasie des Volkes sich zu erheben; nieder zu den Kindern und Einfältigen kann die echte Philosophie steigen; sie stehen ja doch beide vor denselben unlösbaren Fragen – Immanuel Kant, der Königsberger Professor, wie Jakob Böhme, der Görlitzer Schuster. Mit dem armen Meister Johannes hob sich der dichterische Denker über die Finsternis und den gewaltigen Schmerz empor zu jenen Regionen, in welchen es keine Finsternis und keine Schmerzen gibt. In den Momenten verhältnismäßiger Ruhe, welche dem Verwundeten zuteil wurden, erzählte der Gelehrte dem Handwerker von jenen philosophischen Helden der klassischen Welt, welche den Schmerz durch Willenskraft gebändigt, welche Armut, Sklaverei, den furchtbarsten Tod mit stoischem Gleichmut ertragen hatten. Der Mann der harten Arbeit begriff vollständig, wenn Ulex von jenem Theramenes sprach, welcher den Giftbecher lächelnd leerte und dabei sagte: dies sei dem schönen Kritias – seinem Hauptankläger – zugetrunken. Wie fest faßte Johannes Tellering die Hand des Sternsehers, als dieser vom Sokrates erzählte, wie der sich gegen die Richter wandte, nachdem er sein Todesurteil vernommen hatte: »Wohlan denn, wir gehen nun jeder seines Weges; ihr an eure fernem Geschäfte, ich zum Sterben; aber die unsterblichen Götter wissen, wem das Beste zuteil geworden ist!«

»Es ist ein großes Drängen in der Welt«, sagte der Sternseher, »was uns nicht gewaltig stößt und quetscht, das zupft uns wenigstens. Wann gehen wir den Weg, den wir gehen wollen? In der Jugend achten wir nicht darauf. Solange das Blut frisch durch die Adern rinnt, folgen wir dem Zuge des Blutes; aber nachher ...?! Drei Cherubim, drei Engel des Todes, gibt es, Schaddai, Uriel und Adonai, vor ihnen müssen alle Engel des Lebens, alle Seraphim, die glänzenden Flügel zusammenfalten; aber auch die Todesengel stehen nicht am Ende der Dinge: über allen Göttern sitzt Gott. Wer ist glücklich? Es war einmal ein großer Feldherr und zugleich ein tugendhafter Mann in einer verderbten Zeit, Phokion hieß er und war aus der Stadt Athen in Griechenland; – niemand hatte gesehen, daß er weinte, niemand hatte gesehen, daß er lachte; man behauptete, der Mann sei glücklich. Noch einen andern hat's gegeben, der wollte mit den Göttern um die Glückseligkeit streiten, vorausgesetzt, daß er Wasser und Brot hätte – man hat ihn später viel verlästert, er war sehr gut und sehr weise, Epikuros hieß er. Lieber Meister Johannes, der Himmel ist uns in jedem Augenblick, an jedem Orte gleich nah und gleich fern; – der rechte Mann berührt ihn auch in der dunkelsten Stunde mit der Hand, und keine Erdenmacht ist imstande, ihm das kleinste Stück davon zu entreißen. – Es gibt soviel Trost in der Welt, Meister, und ein nicht gering anzuschlagender liegt in folgendem, welches vor fast zweitausend Jahren gesagt wurde.«

Der Sternseher zog das »Encheiridion« des Epiktet aus der Tasche, blätterte einen Augenblick darin und paraphrasierte dann dem Kranken das dreiundzwanzigste Stück:

»Bedenke immer, das Leben sei dir gegeben, wie dem Schauspieler eine Rolle im Drama vom Dichter gegeben wird. Spiele sie ab, wie sie der große Poet geschaffen hat – kurz, wenn sie kurz, lang, wenn sie lang ist. Wenn dir die Rolle eines Bettlers gegeben wurde, so agiere sie, so trefflich du irgend vermagst; ebenso, wenn du mit der Rolle eines Kranken, eines Mannes der Schmerzen bedacht wurdest. Der Fürst muß den Fürsten spielen, der Plebejer den Plebejer. O Mitbruder auf der Bühne dieser Welt, unsere Sache ist's, die übergebenen Rollen gut darzustellen; ein anderer, Höherer, Mächtigerer, der große Dramaturg des Universums, teilt sie aus. O lieber Meister Johannes, es bekommt ein jeder den rechten Teil am gewaltigen Drama, und für jeden fällt einmal der Vorhang. Dann gibt ein jeder zurück, was ihm zur Ausführung seiner Rolle gegeben war: der König den Purpurmantel und die goldene Krone, der Bettler den Bettelsack und den weißen Stab; den schweren Sack der Schmerzen wirft der Kranke und Elende in den Winkel, und wer seinen Teil am Stück gut gemacht hat, der –«

»Wird Ruhe haben!« sagte der alte Handwerksmann mit seiner gewöhnlichen Stimme, die nur ein wenig bewegter als gewöhnlich klang. »Ja, Herr, ich danke Ihnen aus dem Grunde meines Herzens für die Mühe, die Sie sich mit mir geben. Aber glauben Sie auch fest, es müßte wunderlich zugehen und noch viel schlimmer kommen, wenn ich nicht über dies alte Knochengerüst Herr bliebe. 's ist mir nur um meine Alte, die Luise und den Jungen, die quälen sich mehr als ich. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen; aber ich weiß es, ich fühle es an ihren zitternden Händen, ich merke es an ihrem Atmen. O Herr, ich habe doch eine recht schwere Rolle zu spielen.«

»Nicht die schwerste, Meister«, sagte der Sternseher. »Gedenkt an den Mann, in dessen brennendem Hause Euch dieses Unheil betroffen hat, denkt an den Bankier Wienand.«

Der Kranke ließ die erhobene Hand schwer herabsinken:

»Es ist wahr. Gelobt sei Gott, daß das nicht auf mich gefallen ist. Wenn ich daran denke, so murre ich nicht mehr. O Herr Ulex, und das war doch solch ein starker, solch ein kluger Mann; – was sind wir in dieser Welt?«

»Da war im siebenzehnten Jahrhundert in Kopenhagen an der deutschen Pfarrkirche zu Sankt Peter ein alter Pastor Johann Lassenius, der sagt in einem Buch: ›Ich weiß nicht, ob ich das Leben mehr ein sterbendes Leben oder einen lebendigen Tod nennen sollte!‹« antwortete der Sternseher. »Ach, Meister Johannes, die Menschen, welche uns am meisten aus einem Guß zu sein scheinen, die brechen oft am leichtesten.«

»Ganz recht, Heinrich«, rief der Polizeischreiber, der, vom Büro kommend, sogleich in die Kammer des Schreiners guckte. »Solche alte gesprungene und wieder genietete, gekittete, mit Draht umwundene Töpfe halten am längsten, das weiß jede Hausfrau. Meister Tellering, wir sind alle drei solche desolaten Töpfe; haltet nur den Kopf, ich hätte beinahe gesagt den Deckel, in die Höhe; es kann noch manche Suppe in uns zum allgemeinen Besten gekocht werden.«

Der Kranke schüttelte den Kopf und sagte leise:

»Ich für mein Teil glaube es nicht; mit mir ist's aus, und kein Kitten und Löten wird mehr helfen.«

»Ärgert mich nicht, Tellering«, brummte der Schreiber. »Man hat doch schon Ärger genug in diesem Jammertal.«

Den Glauben an Wiedererlangung der Gesundheit konnte keiner der Freunde dem Schreiner wiedergeben; er fühlte zu gut und sicher, daß ein so gebrochener, zuckender Körper wie der seinige den Kampf nicht allzu lange mit Schaddai, Uriel und Adonai, den Todesgewaltigen, aushalten werde. Und eines Abends rief er, nachdem er Frau und Tochter fortgeschickt hatte, damit sie »einmal frische Luft schnappten«, seinen Sohn dicht an sein Lager und faßte seine Hand:

»Höre, mein Junge, ich habe dir etwas zu sagen, was die Weiber noch nicht zu hören brauchen. Manchen Sarg haben wir zusammen angefertigt, und du hast längst das unbehagliche Gefühl überwunden, welches dich beim ersten an den Nackenhaaren packte. Lieber Junge, wir haben manchem Fremden, aber auch mehr als einem Nachbar und guten Freunde das letzte Haus gezimmert; bei dem, welches du jetzt bauen sollst, werde ich dir nicht helfen können; aber es muß doch fertig werden. Es stehen drei gute Bohlen in der Werkstatt neben meiner Hobelbank; du hast mich oft gefragt, weshalb wir sie nicht verarbeiteten. Jetzt will ich dir's sagen: Die drei Bretter sind für mich – es sind wackere Bretter ohne Äste und Würmer, und sie haben mir schon manchen guten Dienst im Leben erwiesen und mich von mancher Dummheit abgebracht. Sie haben einen so schönen hohlen Klang, und wenn man mit der Faust daran schlägt, kann man sich dabei allerlei denken. Oft, wenn mich der Zorn überkommen wollte oder der Neid oder die Unlust, wenn ich zuviel Arbeit hatte oder zuwenig, hab ich daran geklopft und mir das Meinige gedacht. Sie werden grad reichen zu meiner Länge – fünf Fuß drei Viertel. Mach dich dran, Ludwig; aber – das Heulen laß unterwegs, und zu überarbeiten brauchst du dich auch nicht; so sehr drängt's nicht; der schwarze Kasten, den wir zimmerten in der Nacht, als uns die kleine Marie zum Bahnhof holte, mußte schneller fertig werden.«

»O Vater, lieber Vater!« schluchzte der junge Handwerker, die zitternde Hand des Alten mit heißen Tränen benetzend.

»Du bist immer ein guter Sohn gewesen, Ludwig. Ich kann's dir jetzt wohl sagen, du bist meine Freude und mein Stolz. Gott wird dir auch noch alles Glück, was du brauchst im Leben, geben, und die kleine Marie wirst du auch wiederfinden; – aber deine Mutter und deine Schwester darfst du nie verlassen. Stelle dir auch drei solche Bretter in den Winkel und schlag stellenweise mit der Faust darauf – es ist ein Klang, der tief in die Seele geht. Da kommt die Alte schon wieder – ruhig Blut, Mann, wisch die Tränen ab; die Weiber werden sonst wunder denken, was wir miteinander vorgehabt haben.«

Mit ganz fröhlicher Stimme rief der tapfere Greis der Frau Anna und der jetzt so bleichen Luise entgegen und verkündete ihnen, wie er sich augenblicklich recht wohl fühle. Die alte Frau küßte die blinden Augen ihres Ehemanns und dankte dem Himmel für den guten Mut, den ihr Johannes hatte. Luise aber suchte fragend das Gesicht des Bruders, und dieser war lange nicht genug Meister in der Verstellungskunst, um ihr alles zu verbergen, was seine Seele bewegte.

Wir haben gesagt, die Feuersbrunst habe drei vor allem Unglückliche gemacht; zwei derselben haben wir dem Leser gezeigt; von dem dritten Unglück dürfen wir in diesem Kapitel nicht sprechen; es gehört nicht zu denen, vor welchen man den Hut abnimmt oder vor denen man wenigstens scheu zur Seite tritt; es geht mehr auf dem Sokkus als auf dem Kothurn einher.

Achtzehntes Kapitel Schreckliches Unglück des Fräuleins Aurora Pogge. Der deklamierende Künstler Herr Julius Schminkert begeht eine entsetzliche Indiskretion

Der Mond schien bleich in Ruthvens Angesicht, das heißt, er beleuchtete, seinen Schein mit dem eines in eine Flasche gesteckten Dreierlichts vermischend, das heitere Gesicht Julius Schminkerts, welcher seit einiger Zeit, das heißt seit dem Brande, ungemein häuslich geworden war. Die frühere »geniale Elastizität«, auf die er sich soviel zugut tat und welche sonst sich bei ihm, zum großen Verdruß manches ehrlichen Mannes, mehr nach außen hin betätigt hatte, schien sich jetzt mehr der innern Teile seines Wesens bemächtigt zu haben. Seit der großen Feuersbrunst brachte Julius nicht mehr jede Nacht zu zwei Dritteln außerhalb des Hauses zu.

Er studierte! – –

Ja, er studierte mit allem Nachdruck, dessen ein Charakter wie der seinige fähig war.

Er studierte das Tagebuch des Fräuleins Aurora Pogge; und so sehr beschäftigten ihn die inhaltvollen Blätter desselben, daß er an nichts anderes zu denken vermochte, als was sich aus diesem himmelblauen Buch mit den schnäbelnden Tauben lernen und – was für ein Nutzen sich daraus ziehen ließ.

Wer ihn gesehen hätte, wie er saß, wühlend in den wallenden Haaren, Seufzer, unartikulierte Töne des höchsten Behagens, des Erstaunens und der allerhöchsten Verwunderung ausstoßend, der hätte sich mit Recht ebenfalls verwundert. Der Schüler des Adepten, dem in des Meisters Abwesenheit das große Buch der Geheimnisse, der Schlüssel und Dietrich aller Kräfte über und unter der Erde in die Hände fiel, mußte so ausgesehen, so in den Haaren gewühlt, solche Töne von sich gegeben haben. Es war aber auch ein Buch der Geheimnisse in die Hände Julius Schminkerts gefallen, und er schmeichelte sich, besser damit umgehen zu können als jener unglückliche Zauberlehrling, der mehr Geister beschwor, als er bändigen konnte. Was für Erfahrungen waren in diesen unorthographisch beschmierten Blättern niedergelegt! Über Diesseits und Jenseits, über die Nummer zwölf und jede andere Nummer in der Musikantengasse, über das Nächste wie das Fernste, über das Höchste wie das Tiefste ließ sich Aurora Pogge aus. Seine eigene nicht besonders schmeichelhafte Charakteristik fand Herr Julius Schminkert neben der eingehenden, wenn auch grade nicht liebevollen Charakterzeichnung der schönen und angenehmen Angelika Stibbe.

Die junge Dame schien, gleich dem größten Teil der übrigen Menschheit, nicht sehr hoch, ja noch eine Stufe niedriger als alles andere in der Achtung der Memoirenschreiberin zu stehen. Übertrieben treu ward über ihr Tun und Lassen, ihr Reden und Gebaren, ihren Gang, ihre Haltung und Kleidung, ihre Frisur, ihr Kopfschwenken, Lächeln, Lachen, ihren zu großen Fuß und ihre zu kleine Nase Buch geführt. Der geflügelte italienische Buchhalter im Büro des Jüngsten Gerichtes konnte nicht schärfer Achtung geben auf die Erde und ihre Bewohner, als Fräulein Aurora Pogge acht hatte auf das Haus Nummer zwölf in der Musikantengasse und die Musikantengasse selbst.

Jeder Mann und jedes Weib bekam sein Teil: der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger wie Robert Wolf, der tailleur de Paris Alphonse Stibbe wie seine Tochter. Auch über den Hausbesitzer und Rentier Herrn Mäuseler konnte man manches in diesen Ergießungen einer schönen Seele lesen; Makaria – Aurora Pogge redete aber gut von ihm; wir – wissen nicht weshalb.

Alle Augenblicke sprang Julius Schminkert von seinem Sitze auf, um eine Art von indianischem Tanz um den Tisch, das Dreierlicht und das Manuskript zu beginnen. In den seltsamsten Körperverrenkungen mußte er seiner Seelenaufregung Luft machen, und der Schreiber sowie Robert Wolf nebenan hörten dem Lärm, welchen er dabei hervorbrachte, mit Verwunderung zu. Der Deklamator besaß Selbstüberwindung genug, um fürs erste niemand an seinem Jubel, seinem Ärger teilnehmen zu lassen. Er wußte genau, was für ein Gebrauch im gegebenen Augenblick von diesem blauen Buch den übrigen Hausgenossen, der Verfasserin und vorzüglich dem Vater der lieblichen Angelika gegenüber zu machen war; und für jetzt zeigte sich seine Schlechtigkeit klar in der teuflischen Freude, die er über die Verzweiflung der Schriftstellerin in der Beletage hatte.

Als die Pythagoreerin Periktione ihr bezauberndes Buch »Über die Harmonie des Weibes« schrieb und dasselbe ihrem hellenischen Buchhändler in Verlag gab, hatte sie gewiß keine Ahnungen von den Disharmonien, welche der Verlust eines Tagebuchs in einer edlen Frauenseele erregen kann. Aurora Pogge trug den Verlust ihres Manuskriptes, wie eine Tigerin den Verlust ihres Jungen erträgt. War sie vorher kein Engel, so wurde sie jetzt zu einem wahren Dämon und fing an, in der Dunkelheit schweflicht zu leuchten. Zu einer Nachtwandlerin wie Lady Macbeth wurde sie, und mehr als einmal wurde sie von dem halben Leibes über das Treppengeländer hängenden Julius Schminkert beobachtet, wie sie in der tiefsten Stille der Nacht mit einer Lampe umherschlich und dunkle Winkel durchstöberte. Der Immermannsche Hofschulze, das Schwert Karls des Großen suchend, war nichts gegen Fräulein Aurora Pogge auf der Suche nach dem himmelblauen Buch mit den sich schnäbelnden Tauben. Die Vorstellung, wieviel Injurienprozesse entstehen würden, wenn diese Gedenkblätter in die rechten Hände fielen, brachte sie fast um den Verstand. Sie machte das Unmögliche möglich und wurde noch magerer, als sie bereits war. Hulda, die Camerista, die sich so manches Jahr in Geduld gefaßt hatte und welche viel ertragen konnte, sagte den Dienst auf; was und wie die Arme im Leben gesündigt haben mochte, durch die im Dienste Auroras verbrachten Jahre hatte sie alles reichlich, überreichlich abgebüßt. Selbst die Katze, die doch vor allem einen weichen Platz in dem sehr mangelhaft gepolsterten Herzen Auroras innehatte, hielt es in der unmittelbaren Nähe ihrer Herrin nicht mehr aus; sie wurde gesehen, wie sie mit gesträubtem Haar, kümmerlich, nachdenklich, melancholisch auf dem Treppengeländer saß und wehmütig-resigniert den schönen Schwanz herabhängen ließ. Es gehörte ein gutes Nervensystem dazu, dem Fräulein Pogge jetzt unbewegt entgegenzutreten; gräßlich war die Gemütsstimmung der Dame, heillos ihre Angst, grauenhaft ihre Wut, entsetzenerregend ihr Anblick. Der junge Ehemann auf der andern Seite der Musikantengasse, grad den Fenstern Auroras gegenüber, hielt den ganzen Tag die Vorhänge niedergelassen, damit das Gesicht des Gegenübers seine kleine Frau nicht zu Tode erschrecke und kaum auszudenkendes Unheil hervorbringe. –

Während der Weise im Giebelzimmer des Nikolausklosters in gewohnter Art nach seinen Sternen sieht; während der Mann aus dem Lärm der Gassen, Friedrich Fiebiger, sich träumerisch in die Wolken seiner letzten Abendpfeife hüllt; während Robert Wolf mit dem Achilleus den hellumschienten Achaiern zürnt und zwischen den Zeilen, den volltönenden Versen, immer an das schöne bleiche Gesicht denkt, welches heute zum erstenmal auch an dem Krankenlager des Meisters Tellering erschienen war, an das Gesicht Helene Wienands – während der Meister Johannes auf seinem Lager unendliche Schmerzen leidet; während das Freifräulein Juliane von Poppen die Nachtmütze aufsetzt und noch einmal den Kopf schüttelt über ihren armen Geschäftsfreund, den Bankier Wienand; während Helene Wienand in der Kronenstraße unsäglich angstvoll auf den ruhelosen Schritt im Nebenzimmer horcht: während alledem wollen wir Herrn Julius Schminkert über die Schulter blicken, um einige Stellen aus dem Manuskripte Aurora Pogges unserm eigenen Manuskripte einzuverleiben. Wir lernen daraus, daß andere Leute die Personen unserer Geschichte anders ansehen als wir selbst.

Beim idealen Lichte Lunas und beim realistischen Schein des zerfließenden, qualmenden, stinkenden Talgstümpels beginnen wir unsere Blumenlese und wissen wie Kinder auf der Wiese nicht, wohin wir zuerst greifen sollen, so reich ist das Feld, zwischen dessen Früchten wir die Wahl haben.

Auf gut Glück! Da steht in fester Handschrift, wenn auch die Rechtschreibung manches zu wünschen übrigläßt:

»1 April. Das heilige Abentmal genoßen in der Furgt des Herrn. Alle eure Sorge werfet auf ihn, er wirds wohl machen. Mamsell Stibbe wieder mit einem neuen Hut. Hochmuht kommt vor dem fall. Naseweiser Blick der dummen Triene. Dir wirt's auch noch gezeigt werden. Kalbfleisch 4 Groschen das Fund, wobei kein Mensch bestehen kann. Hulda im Verdacht von wegen Schwenzelpfennige – wäre zu arg doch. Abends Thee und Madamen Mollenkopf.

5 April. Heute waren der Herr pastor Nothzwang von der Sankt Matthaikirche bei mich: – ein rechter Leuchter des Herrn. Schokoladeh. Betrachtungen über die Sindhaftigkeid der Menschheid und vorzühglig der niedern Stände. Dem Herrn Pastor die Thür gewiesen vom alten hochnähsichen Tischler im Hofe. Pack!!! Freches Volk alle miteinander; Herr Renthier Mäuseler sollde kurzen Prozes mit sie machen. – Mimi unartig gewesen. Gescholden mit Hulda. ragout für Mimi.

Nodhabehne. Ist der junge Strolch, welchen der alte schreiber zu Wintersanfang ins Haus gebracht hat, der unnatürlige Sohn des alden Fiebicher? Heulsahme Betrachtunchen über die Lasterhafdigkeid der Menschheid.

8 April. In der Mathiaikirche Herr Pasthor Nothzwang wie ein Engel Gottes geprediget. In Schmolkes Hauspostile gelesen. große Erbauung. Ärger über die Schneidertriene, welche mich nachlacht, als ich aus dem Haus will. Was sich die Person einbilted! Aber 's ist noch nicht aller Dage Abend und der Krug geht so lange zu Wasser, bis er briecht. Bielded sich was ein auf ihr Lärvgen – Affe! Betrachtungen über Gottes Langmuth. Viehsaviehs Cigarrenladen Bankerot gemacht; erinnert mich am 25 September vergangen Jares Feifenasche auf den Kopf als ich aus dem Fenster sehe; verbitte mich das – dagegen unhöfliches Benehmen und Antword des Herrn Polizeischreibers Fiebger. Das will Bolihzei sein!

4 Uhr Nagmittags. Mimi hat einen blumentopf mid Krauseminze aus dem Venster geworfen, einen jungen Mann, auf den Kopf. Hut auf die Nahse. Thud mir Leid, aber abscheiliches Benehmen des jungen Mannes, – rühdes Eindringen in die unbeschitzde wohnung einer schuzlosen Jungfrau. Muß den Hud bezahlen, kriege das Zittern in die Bein – Füße. Krämpfe!!!

Notahbeneh Krampfstillendes Mittel.

991/2 Tropf. Arrak deh Goah oder Rhum.

1/2 Loth Zucker

Edwas Zitrohnensaft

Muß alle finf Münuten wiederhohlt werden.

10 April. Begrießung und unterhaltung mid Herrn Parthiküliegeh Mäuseler. Sehr feingebildeter und feiner Mann. Weiß eine Dame zu erkennen; steht unter dem pantoffel seiner Haushälderin. Was die kreatur sich einbilded! Betrachdungen über das sichfindenderseelen.

Nächtliche Erweckung durch den Bummler Schminkert. Kommt betrunken nach Haus fällt auf der Dreppe. Höchst arrogahnter, lümmelhafter Gesell, der längst im Zugthause sitzen sollte, wenn die Polizei besser wäre. Männliches Pandang zu Fräulein Angelika Stibbe.

Konnte nicht wieder einschlafen. Werde morgen früh Herrn Renthier Mäuseler ein Viesithe machen von wegen des Hanswursts des Schminkerts. Vergleich des Herrn Mäuseler mit dem albernen Schneider barterre. Was doch manche Menschen für eine Meinung von sich haben – Taljeur deh Paris! wird mir jedesmahl übel zu Muth, wenn ich bei dem Fips vorbeigehe. – Angstvolle Betrachtunchen über das steigen und Sinken der werthpapire. Nun wir stehen Alle in Gottes Hand. Will morgen den Herrn Renntier um seine Ansigt von die Nordbahnactien fragen. Beschlossen für die Mission unter die schwarzen Indianer drei Paar wollene Socken zu stricken. Der Herr wird die Gabe der Jungfrau ansehen.

20 April. Der strolch ist wirklich der natürliche oder unnatürliche Sohn des Schreibers Fiebiger. Herr, Du lassest Deine Sonne scheinen über Jerechte und Ungerechde! Hätte das doch nicht gedacht! Die Mutter war eine Bäckerstochter aus der Rosenstraße und hat sich ins Wasser gestürzt. Der alte Sünder ist bei die Bolizei; da hackt keine krähe die andere die Augen aus, und Mancher klemmt sich da den Finger nicht, wo ihn Mancher sich klemmt.

2 Mai. Beim Knopfmacher Semper drüben ist das achte Kind angekohmen. Das folk muß doch auch der Regierunch übern Koppf wachsen. Was für ein Ende wil das nehmen? Zähle in diesem augenblick vom Fehnster aus einundzwansig Rangen in die Gasse!!!

Eben der rechnungsräthin Huggendubel zugenickt – nicht wieder gegrüst. Abgeschmackte Perschon, ihr Vater war Kalfacter im Viehnanzministerium. Plebbs!!!

Besuch des Herrn Pastor Drönemeier. Madehra und Bisqwit. Erbauliche Betrachtungen über das Verbrechen so im Finstern schleichet. Ob ich nichts weiß über den Mann hinten im Kloster, den alten Ulex? Und ob! Hexenküche im Niclasklohster! Zauberhöhle. 's ist aber nichts so fein gesponnen, es Komt entlich ans Ligt der Sonnen. Was da ausgebrütet wirt vom alten Ulex und dem alten Fiebicher und dem alten Hinkefräulein das mag was Schönes sein. Das sie falsches Gehld machen, glaube ich nicht; daß sie aber an nichts Guten sinnd, weis ich siecher. Madam Mollenkopf meint, sie sagten aus den Sternen wahr, madam Strauß meind, sie machten eine grausame Maschinehrie, ein Perpedibum nobile. Das mag mich auch ein nobeles geschafft sein. Fräulein Jöre meint, sie stellten sich und Andere das Sthereoskrop, und ich glaube, sie thun allesmiteinander und nog viel Schlimmres dahzu; ich mach gar nicht dran denken. Den jungen Strolch des Schreibers verführen sie auch, er liecht tag und nacht im Kloster – son unglickliches Wurm!

9 Mai. Besuch vom hern Parhtikübliegeh Mäuseler, Sehr erfreid. Gans scharmanter Mann! Weiß was es ist um eine unbeschitzste Junckfrau. Schade daß son Mann von solchen Thier von Würdschafterin zu Tot geqwält wird. Beruhigung von wegen die Eisenbanahcttzien. Indereßant zu erfahren, wie mann die Feifen am behsten reinicht.

10 Juli. Große scene im Barterr. Schneider Fips in Wudh, Barohn Schleifenbein Durchgebrand mit unbezahlte Rechnung. Außerdem wigtige entdekkung von mich gemacht: Schauspielerlumpp aus die Dachkammer macht geputzten naseweisen Gans unten, Angelikah Stibbe den Hof. Mitleidiges Gefil mitn armen Stibbe. Sollte so hart doch nicht gestrafft werden.

20 Juli. Hulda hat gehört es spuke wieder hinten vom kloster her. Unterirrdischer Gang bis in unser Haus, wo weiser Mönch und schwarze Nohne umgehen. Vorne Schneidertriene, nägtliges Rumoren hinten. Mimis Unruhe in die Nacht. Miauzen. Herzspann.

Notabehne. Eine verlassene Jungfrau ist ein einsahmes unglückliges Wäsen!

21 Juli. Der junge musikande im Eckhaus hat sich todgeschossen. Auch das noch! Viel Schlimmes gehört an diesem Tage. Wird gegen des Herrn gebod wien ordendlicher Krist begraben und komt nicht nach die Anatomie und in Sphiritus! Ansicht des Herrn Pastohr Nothzwang darüber. Konnte die ganze vergangene nagt nicht schlaffen. Mimi sehr unruig.

22 August. Wenn der Schauspieler nichd auszieht, so ziehe ich. Unerträgliger Lerm in der Nacht. Kopfweh und Mihgrähneh. Besuch beim Herrn Renntier Mäuseler (natürlich im Begleitung von Hulda) Liebenswürdiger Mann – gut conversirt für seine Jare. Will sehen was mit dem Lumpp zu machen ist. Lumpp soll aus dem Hause. Begegne in die Hausflur beim Ausgehen aufgedonnerte Schneidermamsell. Ponsoseidenes Kleid, weiser seidener Schwal o deh mil flöhrs. Kann mir nicht enthalten, lasse ein Wort fallen von schminkert und was ich weiß. Gesichd was die Krabbe macht, denke an Giffd dabei. Warte nur, wolln schonst nen Stecken dabei stecken.

23 August. Krank!!! Totkrank vor Ärger Schrecken. Abscheilich, abscheilich. Krank im Bett, Mimi auf die Füße. Komme gestern Abend nach ölf Uhr aus die Betstunde, steiche die Drepp hinauf – weiße Gestalt mit feurige Augen – Ohnmacht! Erwache in die Ahrme von Fräulein Stibbe und das gantze Haus. Stehen alle um mich und lachen. Gans lacht, Schneiderbock lacht, Bolizist Fiebicher lacht, natürlicher Sohn lacht, – Histehriohne lacht auch. Kein Gespenst mehr zu sehen; schwazen alle auf mir ein, schreie ich nach Hulda nach Hausher, kommen entlich angestirzt und reißen mich aus die Hände von die Rotte Mörderrotte, auswurf von der Menschheid. – Werde von Hulda zu Bett gebracht – Krämpfe, Weinekrampf gantze Nagt, Doctor geholt – werde sterben dran. Am Morgen von Hulda ein hohler Kirbüs mit Augen, Nahse und Mund im Kellerhals gefunden und an mein Bed und zu Herr Mäuseler gebracht.

Histehrione muß weg, boshaftiche grinsende Schneidertriene muß weg, Schneider muß weg, Strolch muß weg, Bolizei muß auch weg. Alle müsen aus dem Hause.

Nodapeneh. Krampfstillendes Mittel:

Schlage ein ei zu Schaum und in ein Glas Franzbrandewein, Zucker atlibedumm, Vanillge, Wird heiß genommen.

Nhodabene. So heiß als möchlig!!

7 September. Kaffegesellschafd bey Frau Sekräterin Flenner. Weinerliche Perschon dünner Kaffeh. – Zikorijen!! Arrogans von die jötzigen jüngern dämchen. Soll wol kratziöses Wäsen sein, wenn sieh naseweis sind gegen gereifdere Dahmen; – Affen! – Allerlei erfaren. Strolch magt süße Augen nach dem jungen Geschöppff, die Togder von Banqwieh Wienand. Dreikähsehoch von Mägdchen mit Taubenblicke – man kennd daß. Bei nachhausekunft von Hulda gehörd, das Histeriohne und Schneidermamsell wieder eihn Rahngdefuß im Hausganck gehabt haben. Soll so wahr ich das laben habe das letzte sein. Will Pinnsel von Vater die Augen öffnen, daß ihn ein gantser Lightzieherladen aufgehen soll. Alter Donjuhan von Bolizeischreiber ist mir auch wieder in stichdunkle nacht mit dem alden lahmen Freilein von Poppen begegend; der Her Pastor Drönemeier« – – – – – – – –

Hier brach das Tagebuch ab. In der Nacht vom siebenten auf den achten September war das Feuer in der Fabrik von Semmelroth und Kompanie ausgebrochen, und aus dem Bette, auf den Vorplatz stürzend, hatte Fräulein Aurora Pogge, die hagere Tochter des weiland so ungemein wohlbeleibten Proviantkommissärs, ihre himmelblauen Seelenergüsse, ihre liebenswürdigen Aufzeichnungen mit allen sich schnäbelnden silbernen Tauben aus dem Busen und dem Nachtrock an der Treppe verloren.

Der, welchem sie das süße Büchlein am letzten gezeigt hätte, der Popanz ihrer jungfräulichen Seele, der »Histeriohne« Julius Schminkert hielt es in den teuflischen Klauen und hätte es, obgleich er den Wert von fünf Talern sehr wohl zu schätzen wußte, um alle Reichtümer der Welt nicht herausgegeben. Mit diesem Buche in der Hand ließen sich durch einen Schlaukopf wie er merkwürdige Resultate erzielen. Was würde zum Beispiel Monsieur Alphonse Stibbe sagen, wenn man ihm einige Bruchstücke, einige Epitheta, welche seine eigene achtungswerte Persönlichkeit betrafen, daraus vortrüge? Was würde der »Bartikuglieh« Herr Mäuseler zu einigen Stellen aus dem himmelblauen Buch sagen?

»Es ist zu himmlisch! Es ist zu göttlich! Man sollte es nicht glauben, wenn man es nicht schwarz auf weiß vor sich hätte!« rief der Schauspieler, mit der Faust auf Auroras Schatzkästlein schlagend. »Wie das Weib losgeht! Alle Teufel, wenn ich doch das Ding in der Lilie vorlesen dürfte! Aber sachte, Julius – wirf dir nicht selbst den Milchtopf um; immer ruhig und bedachtsam, wir wollen das Feuerwerk nicht am hellen Tage abbrennen. Hurra, die Schwärmer, Frösche, Feuerräder und Raketen! Wenn nur nicht die ganze Nummer zwölf und die halbe Musikantengasse mit in die Luft fliegt!«

Julius Schminkert hatte in der letzten Zeit immer mehr Terrain in dem hochromantisch blühenden Herzen Angelikas gewonnen. Die Memoirenschreiberin hatte in ihren Beobachtungen vollkommen recht: Angelika Stibbe schwärmte für die leichtsinnige Lebensart des genialen Julius. Es lag doch Poesie und Schwung darin! Angelika Stibbe liebte die Art, wie der deklamierende Künstler die struppige Mähne aus der Stirn warf, und nicht weniger gefiel ihr sein blühender Redestil und die Art der Mimik, mit welcher er seiner Rede Nachdruck gab.

Sie hatten sich »Rangdefuß« gegeben, und – sie gaben sich ferner welche.

Wieder einmal öffnete Julius Schminkert sein Fenster, sog die ambrosische Herbst- und Nachtluft in die jubelnde Brust und sang in den Hof hernieder einige Takte einer Opernarie, in welcher ein höchst verliebter Jüngling in Trikots, Mantel und Federhut einer Donna sein Nahen verkündete.

Nachdem er auf diese Art seine eigene Innamorata benachrichtigt hatte, daß er noch in der Höhe vorhanden sei, schlich er in Pantoffeln die Treppe hinunter, horchte mit teuflischem Grinsen an der Tür Auroras und schlüpfte aus der Hintertür des Hauses in den Hof, der zu jetziger Stunde einzig durch einen matten Schimmer des Krankenlämpchens des Meisters Tellering erhellt wurde.

In einer Ecke dieses Hofes über einem Regenfaß befand sich das keusche Kammerfenster Angelikas, und wenn jemand dem Zuge seines Herzens folgte und auf besagtes zugedecktes Regenfaß trat, so konnte er grade mit Bequemlichkeit die zarte weiße Hand fassen, welche ihm aus dem rosigverhangenen Kammerfenster niedergestreckt werden mochte.

Julius Schminkert kannte bereits die beste Art, sich auf die morsche Tonne zu schwingen und sich mit übervollem Herzen auf dem gefährlichen Standpunkt im Gleichgewicht zu halten. Er voltigierte, stand, balancierte, flüsterte Worte der Liebe; – das Fenster erklang, leiseste Gegenflüsterungen durchzitterten die Nacht. Mit glühenden Küssen bedeckte der Liebende die zarte weiße Hand der ätherischen Huldin, an welche er seine göttliche Seele verloren hatte. Und währenddem lag der ahnungslose Papa, der Unvergleichliche, Herr Alphonse Stibbe, der doch à Paris so viel erlebt und erfahren hatte, im tiefsten Schlummer, nur geängstigt von einem Traum, in welchem er den Baron Schleifenbein im unbezahlten Frack ausreißen sah, während er selbst festgewurzelt stand, die abgerissenen Schöße des Fracks in der Hand.

Und währenddem warf sich Fräulein Aurora Pogge, welche dem Tailleur das Liebesverhältnis seiner Tochter noch nicht verraten hatte, ruhelos auf ihrem Lager hin und her und kramte in Gedanken noch ein mal alle Schiebladen, Kasten, Kisten, Schränke, Ecken und Winkel nach ihrem verlorenen Tagebuch aus. Es war gut, daß ihre Haare sicher auf einem Haubenstock neben dem Bette standen, sie würde sie sich sonst jedenfalls ausgerauft haben. –

»O mein Julio!« flüsterte eine Stimme parterre im Hofe, über der Wassertonne.

»O meine Romea – meine einzige, ewige Liebe, mein Engel, meine Angela, Angelina, Angelika!« hauchte der Deklamator; und dann flüsterte die Schöne in ganz veränderter Tonart:

»Schminkert, ich weiß jetzt, wer dem grünen Jungen aus dem Walde, welchen der alte Narr, der Fiebiger, aufzieht, das Herz gebrochen hat.«

»Und wer, meine Seele?« fragte der Tragöde auf der Wassertonne.

»Die Tochter des Bankiers, der seit dem Brande verrückt geworden sein soll – Fräulein Wienand, die jetzt immer über den Hof zum alten Tellering zieht; der Junge weiß jedesmal, wenn das kleine Ding kommt, und ist hinter ihr her, wie – wie –«

»Wie Don Julio Schminkertino hinter Donna Angelika Stibbelini – so geht's in der Jugend. Magst übrigens recht haben, Scharfäugigste deines Geschlechts. O Gott, Gott, du hast alles wohl gemacht; aber die Weiber hast du doch zu schlau erschaffen. Na, ich will dem Mann der öffentlichen Sicherheit bei Gelegenheit einen Wink geben über die Fährte, auf welcher sein Zögling jagt. Die kleine Wienand jedoch ist ein reizendes Kind, ein allerliebster Wurm – wonnige Augen – seelenvolle Stirn – himmlische Locken – ein Entzücken, eine Selig –«

Ein Wasserguß aus dem Fenster der mit Recht empörten Angelika Stibbe ersäufte beinahe den unbedachtsamen Jüngling auf dem Fasse, welcher für eine solche Lobrede einer andern Zeit und Stelle wirklich sehr schlecht gewählt hatte. Das Gleichgewicht verlor er ebenfalls; er stürzte, die Tonne stürzte, der Deckel derselben brach – Gekrach, Geprassel – sich ergießende Fluten trüben stinkenden Wassers! Flucht des betäubten Julius ins Haus – treppauf – nasse Spur die Stiegen hinauf bis ans Dach – erschreckte gespenstische Gestalten an Fenstern und Türen! – – – – – – – –

Bedenkliche Blicke wurden am folgenden Morgen, vorzüglich von dem weiblichen Teil der Bevölkerung des Hauses, auf das umgestürzte Faß und das Fenster der armen Angelika geworfen. Auch die feuchte Spur, welche sich die Treppe hinauf verlor, verfolgte man mit Kopfschütteln und Kopfnicken, und der gute Ruf einer gewissen jungen Dame bekam dadurch abermals ein bedenkliches Loch. Der Schauspieler Julius Schminkert aber bekam den Schnupfen, und der Papa Stibbe rückte ihm »auf die Bude«, verließ sie aber in besserer Stimmung, als man sich vorstellen sollte – Julius hatte ihn bloß betrunken gemacht und noch nicht die große Reserve, die Tagebuchsblätter Aurora Pogges, ins Gefecht geführt.

Neunzehntes Kapitel Glänzende Fäden in dunkelm Gewebe

Wir haben aus dem Tagebuche Auroras erfahren, daß auch Helene Wienand – und zwar in Begleitung des Freifräuleins Juliane von Poppen – sich am Bette des alten Mannes, der in ihrem Vaterhause so grausam zu Schaden gekommen war, einfand. Sie kam aus eigenem Herzenstriebe, sie kam aber auch auf Antrieb der mütterlichen Freundin, welche es für gut hielt, daß ihr Pflegekind ein Unglück mit dem andern vergleichen lerne, daß ihr Geist sich nicht einzig und allein an den kranken Vater hefte. Am Bette des Meisters Johannes lernte Helene auch den Sternseher Ulex und den Polizeischreiber Fiebiger kennen, und es entstand in kürzester Frist eine tiefe wechselseitige Zuneigung zwischen ihr und dem Greise vom Giebel des Nikolaiklosters. Die Art des Schreibers verstand sie für jetzt noch wenig, und schüchtern hielt sie sich von ihm fern; sie mußte ihn erst besser kennenlernen.

Starr wie eine Bildsäule blieb Robert auf der Schwelle stehen, als er zum ersten Male Helene am Lager des Verwundeten sitzen sah. Welch einen Glanz gab die dunkle dumpfige Kammer wieder! Brach der liebliche Schein, der in jedem Gegenstand verborgen war, von neuem hell und lustig hervor?

Ach, nur für Robert Wolf! Für die andern blieb das Gemach trübe und traurig. Sie mußten auch fürderhin in der Dunkelheit sitzen.

Der Kranke konnte die bleiche, liebliche Trösterin neben seinem Kopfkissen nicht sehen; aber er vernahm die Trostworte, welche sie mit leiser, süßer Stimme flüsterte; er hielt die kleine Hand in seiner eigenen heißen Hand. Er ließ sich von ihrem Vater erzählen und sprach auch wieder tröstende Worte.

»Solch ein harter Stamm«, sagte er, »fällt nicht auf den ersten Schlag. Es wird noch alles gut werden, liebes Fräulein; man muß nur den Mut nicht verlieren. Solch ein stattlicher Herr –«

Aber weshalb suchte sich die kleine Hand so plötzlich seinem fieberhaften Griff zu entziehen? Weshalb wurde sie so unruhig? Weshalb fing sie an zu zittern?

Robert trat mit Ludwig Tellering gegen das Bett heran.

»Guten Tag, junger Wolf!« sagte Juliane von Poppen; »es freut mich, Euch zu sehen; ich höre, man fängt an, Eure Zerstreutheit zu tadeln. Was ist das? Nehmt Euch zusammen, Kind; arbeitet, lernt, so hat kein böser Geist Macht über Euch. Laßt Euch von der großen Stadt nicht verführen – es ist ein gefährlich Ding.«

Der Jüngling drehte verlegen seine Mütze zwischen den Händen, welche noch mehr zitterten als die Helenes. Der Sternseher und der Polizeischreiber mochten sich mit Recht über die Zerstreutheit ihres Zöglings beklagen; aber er hatte noch lange nicht ihren Gipfel erreicht. Es fand mehr als eine Begegnung zwischen Robert und Helene statt, und nach jeder derselben wurde der Schüler des Sternsehers um mehrere Grade unaufmerksamer. Die Bücher verloren für ihn wieder einmal allen Reiz; weder der kluge Odysseus noch der Männerfürst Agamemnon, weder Äneas mit seinen vagabundierenden Genossen noch Theseus und Jason hatten das geringste Interesse für ihn.

Und was gingen gar den Studenten die Scipionen, Gracchen, Fabier – die Helden der Griechen und Barbaren an? Stand nicht auf jeder Seite der Bücher: Pulvis et umbra sumus, Staub und Schatten sind wir –?

Ja, Staub und Schatten – Schatten und Staub! Robert Wolf hatte beides in jungen Jahren schon kennengelernt. Unter Staub, Schutt und Trümmern lag seine Jugend begraben, wie das Gärtchen Helenes jetzt unter schwarzem Schutt und Trümmern lag. Nun aber regten sich die verschütteten Quellen des Lebens wieder in der Tiefe und strebten, sich wieder hinaufzuringen ins holde Licht des Lebens. Sie haben eine große Kraft, diese Wasser, und vermögen viel. Den eckigen Granit schleifen sie zu glatten Kieseln, sie zerbrechen die starrsten Steinrinden – es ist ein schmerzliches Wühlen im Abgrunde; aber es ist ein Streben in die Höhe. Legt das Ohr an den Boden: ihr hört das dumpfe Rauschen immer vernehmlicher; es regen sich die dürren Ranken, sie fühlen das belebende Element an den Wurzeln; welch ein Wunder! – Gestern war noch alles tot und verwelkt; nun ist über Nacht der Frühling gekommen; ein silberheller Strahl der Jugendlust schießt empor, spielt blinkend und blitzend im Strahl der Sonne. – Wieder einmal hat das Leben den Tod besiegt; laßt den Polizeischreiber Fritz Fiebiger immer bedenklicher das kluge Haupt schütteln, laßt den Sternseher Heinrich Ulex, laßt Juliane von Poppen Worte der Mißbilligung murmeln; klug sind die Alten, weise sind sie, aber sie sind nicht jung; sie können sich täuschen über das Wühlen in der Tiefe. Julius Schminkert, der Jüngling, allzusehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, gab seine Ansicht von der Sache noch nicht zum besten; die Alten mußten sich gedulden.

Daß Helene immer stiller und träumerischer wurde, schob das scharfäugige Freifräulein allein auf die Sorge um den geisteskranken Vater; aber auch sie traf nicht das Richtige. Nicht allein die Angst um den kranken Vater beugte das holde Köpfchen ihres Pflegekindes, ein anderes erfüllte die kindliche Seele mit geheimnisvollen Schauern und Wonnen. Vor langen, langen Jahren, lange vorher, ehe in Deutschland die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth erbaut wurde, lange vor Errichtung des Bundestages hatte Juliane von Poppen in den schönen Wildnissen des Winzelwaldes dergleichen auch empfunden. Ach, die Eisenbahnen zogen die Kreuz und Quer ihre Schlangenlinien durch das grüne Deutschland, man kannte das ausgezeichnete Institut des Bundestages in seiner ganzen Vollkommenheit, die Königreiche der Griechen und Belgier waren errichtet worden, die Franzosen hatten ihren Karl den Zehnten über die Grenze komplimentiert, der brave Friedrich Wilhelm der Dritte hatte den Erzbischof von Köln auf die Festung setzen lassen, der liebenswürdige Friedrich Wilhelm der Vierte wollte den Vereinigten Landtag berufen: Juliane von Poppen und Heinrich Ulex waren sehr alt geworden.

Wieviel Bücher hat man über die Liebe geschrieben, wieviel Menschen sind über die Liebe zugrunde gegangen? Der Glaube versetzt Berge, aber die Liebe bedeckt das kahle Gestein mit Grün und Blumen, läßt die hohen Zedern und Palmen emporstreben, läßt den silbernen Glanz der Quellen hervorsprudeln.

Wenn die Religion zum Dogma versteinert, so mag sie vor den akademischen Lehrstühlen gelernt werden, aber sie ist ein anderes geworden, und die Theologie weiß oft am wenigsten Bescheid um die Religion.

Wer hat jemals versucht, die Liebe zu lehren oder sie zu fangen in einem Lehrbuche? Die Liebe kann niemals versteinern, kann niemals dogmatisch aufgebaut oder analysiert werden. Von Ewigkeit her ist sie dieselbe gewesen, und in alle Ewigkeit wird sie dieselbe bleiben. Im Flusse ist alles andere. Was Glaube heißt, heißt morgen Aberglaube; aber die Liebe – die Liebe, die wir hier meinen – verändert nicht ihr Wesen.

Wie es im Orphischen Hymnus von der Gottheit heißt:

Zeus ist der erste, Zeus auch der letzte der Götter, Zeus ist das Haupt und die Mitt', und von Zeus ist alles gegründet. Zeus ist die Wurzel der Erd' und des sternbesäeten Himmels, Zeus ein wehender Hauch, Zeus stürmender Flammen Gewaltschritt, Zeus des Meeres tief unterster Grund, ist Sonne und Mondlicht, Ist der König des Alls und urbewegende Grundkraft –

so mag es auch von der Liebe heißen. Wie an Krischna, die hohe Gottheit der Inder, ist das Weltall an sie gereiht, »wie an die Perlenschnur die Perlen«. Übrigens ist weiter nichts davon zu sagen.

Die Freundschaft zwischen Robert Wolf und Ludwig Tellering nahm auch immer mehr an Wärme zu, und eine ähnliche Neigung wie zwischen den beiden jungen Männern entstand zwischen Luise und Helene. Die mannigfachsten Bande verknüpften diese vier Kinder, welche in so verschiedenartigen Lebensverhältnissen aufgewachsen waren, immer fester miteinander.

Hart mußte Ludwig jetzt arbeiten, jetzt, wo Hammer und Hobel dem Vater durch die Flammen aus den alten, bis dahin so rüstigen Händen gerissen waren. Selten durfte der Sohn sich einen Augenblick Ruhe gönnen, wenn er den Mangel von dem kleinen Haushalt fernhalten wollte, zumal da der Stolz der Familie jede Hülfsleistung, welche die Freunde boten, fest zurückwies.

»Wir danken Ihnen aus vollem Herzen, Fräulein«, sagte der Meister Johannes zu Juliane; »aber lassen Sie den Jungen nur; 's wird eine gute Schule für ihn sein und ihm nützlich sein fürs ganze Leben. Lassen Sie ihn sich rühren; er hat tüchtige Knochen. Wenn's nicht weitergeht, sollen Sie die erste sein, die uns zur Hülfe kommen soll.«

»Ihr seid ein hartnäckiger Gesell, Tellering«, antwortete das Freifräulein, ihren Krückstock auf den Boden stoßend; »übrigens wollte ich, ich könnte dem Tropf, dem armen Wienand, etwas von Eurem Trotz in die Adern jagen; der hat's hochnötig.«

Ähnliche Antwort gab der Meister dem Polizeischreiber auf allerlei Hülfsanerbietungen, und Fiebiger brummte fast noch ärgerlicher als Juliane; Ludwigs Augen aber schössen nach solchen Worten seines Vaters stolze Blitze, und das Handwerksgerät schien in seinen Händen ein eigenes Leben zu gewinnen. Glücklich der Mann, der im Kampf gegen das Elend – in jedem Kampf des Lebens auf solche Zauberwaffen vertraut; sie zerbrechen zuallerletzt; und wenn sie zerbrechen, hat der matte Kämpfer das Recht, die Arme über der keuchenden Brust zu kreuzen und den Göttern das übrige auf den Schoß zu legen; – er hat das Seinige getan, und das ist immer ein edel und köstlich Ding in jeder bösesten Stunde.

An der Hobelbank Ludwigs vernahm Robert auch noch mancherlei von Eva Dornbluth. Der junge Tischler erzählte nach, was Mariechen Heil sonst in der Hofwohnung erzählt hatte. Oft, wenn die Nacht vorrückte, wenn der Kranke und alles ringsumher still war, sprachen die beiden Jünglinge von ihrem Leben und ließen einander offen in die Tiefe ihrer Seelen blicken. »Ein Messer wetzet das andere, und ein Mann den andern!«

Jeder von beiden hatte das Seinige erlebt; jetzt fand zum erstenmal jeder von ihnen einen Freund, dem er nichts verschwieg. Von seiner Liebe zu der kleinen Marie sprach der junge Handwerker, von seinen durch das Unglück des Vaters so plötzlich vernichteten oder doch in ferne Ungewisse Zukunft verwiesenen Hoffnungen und Plänen.

Von seiner Kindheit und ersten Jugend im Winzelwalde erzählte der Schüler des Sternsehers Ulex, von Eva Dornbluth sprach er mit zitternden Lippen.

Da war's, wo Ludwig den Hobel niederlegte und ausrief:

»O Robert, sie hat dir freilich einen großen Schmerz bereitet; aber sie hat nicht schuld daran gehabt. Ordentlichen Respekt muß man vor ihr haben; ich wollte, ich könnte besser ausdrücken, was ich fühle, wenn ich ihren Namen höre. Es ist mir immer, als sähe ich sie in der Ferne hoch hinschreiten – ihre Füße berühren den Boden nicht, es ist ein Nebel um sie, sie trägt ein langes weißes Gewand und einen goldenen Reif um die Stirn! Du hättest Marie von ihr erzählen hören sollen, die konnte es besser, als ich es verstehe. Als der Vater noch hier neben mir stand, hatte ich Freiheit, an diese beiden Mädchen zu denken; sie beide und meine Mutter und Schwester sind mir immer die höchsten aller Frauen gewesen. Ach Gott, aber nun ist's, als hätte ich einen Schlag mit dem Hammer vor die Stirn erhalten; dadrinnen liegt der Vater und stöhnt. O Marie, meine liebe Marie, verzeih, daß ich dir jetzt nicht immer auf deinen fernen Wegen mit meinen Gedanken folgen kann.«

Robert hielt die heiße Stirn mit der Hand: »Wie anders ist doch alles in so kurzer Zeit mit mir geworden! Was für eine Zauberin hat, als meine Mutter mich gebar, in der Hütte im wilden Walde ihr Wort über mich gesprochen, daß so vieles, so Wirres, Tolles mir begegnen konnte? Wenn alle Menschen soviel erleben, wie kommt's doch, daß man noch so vielen ruhigen und gleichmütigen Gesichtern in den Gassen begegnet? Aber es geht auch nicht allen so wie mir; wenn es wäre, könnte die Welt nicht so laufen, wie sie läuft; kopfunter, kopfüber müßte alles stürzen. Da komm ich aus der Wildnis, in meiner Leidenschaft blind wie ein wütendes Tier; ich weiß nichts, ich kenne nichts von der Welt, in die ich gerate; ich sehe nur die eine – eine Gestalt Evas. Von ihr geht ein blutiges Licht aus und fällt auf alles andere. Meinen Bruder hätte ich ermordet, wenn er mir entgegengetreten wäre – wie nahe war ich jedem schrecklichsten Verderben! In dem Augenblick, wo ich in den blutigen Wogen versinken will, faßt mich die Hand, welche mich retten soll. O diese Hand, diese treue Hand! Wie soll ich ihr lohnen, was sie an mir getan hat? Von allen Seiten sind mir die besten Menschen zu Hülfe gekommen; – was war ich ihnen, daß sie sich meiner so annahmen? Eine Binde nach der andern haben sie mir sanft von den Augen genommen; von dem frühern Wolf aus dem Walde ist wenig übriggeblieben. Ach könnte ich doch meinem Bruder, könnte ich seiner Eva doch sagen, wie ganz anders alles geworden ist; ich möchte ihnen schreiben; aber sie sind wie verschollen –«

»Und meine Marie mit ihnen!« seufzte der junge Tischler.

»O Ludwig, du hast recht«, fuhr Robert mit erhöhter Stimme fort, »du hast recht; in der Ferne schreitet Eva Dornbluth wie auf Wolken. Sie streckt ihre Hand lächelnd und grüßend über das weite Meer; ich möchte diese Hand fassen, drücken und küssen; und doch ist alles, alles ganz anders geworden. Ich liebe die Braut, die Verlobte, die Frau meines Bruders nicht mehr; ich sehe klar, daß ich ein Wahnsinniger war. Die Waldgeister im Winzelwalde hatten mich verzaubert, aber der Zauber ist gebrochen. Ich habe eine heiße schwüle Nacht, eine Gewitternacht voll Donner und Blitz durchlebt; nun dämmert der neue Tag wieder, die Sonne geht auf; ein frisches kräftiges Wehen fährt durch die Welt, vor welcher ich mich nicht mehr fürchte, haucht durch meine Seele, die wieder gesund geworden ist. Ich fühle mich wieder so stark; ich möchte mich in das Leben stürzen und die ganze Erde durchstreifen, ich möchte stillsitzen, alle Weisheit der Welt zu erlernen – was möchte ich nicht alles? Ich fühle, fühle, daß ich noch lebe, daß die Jugend noch nicht vorüber ist.«

Trotz des schweren Gewichtes, welches die Brust Ludwigs belastete, mußte dieser doch lächeln. Er warf einen Blick nach der Seite hin, wo die Kammer des Vaters lag. Dann sagte er:

»Ja, sie ist leisen Schrittes gekommen, wie meine Marie einzutreten pflegte. Ich habe ihr den Stuhl gebracht, auf welchem meine Marie am liebsten saß. Sie hat sich darauf niedergelassen und hat neben dem Bette des alten Mannes gesessen, wie ein kleiner süßer, trauernder und doch tröstender Engel. Sie ist sehr schön und sehr gut; es ist wahr, der Gedanke an sie mag einem wohl die Jugend und den Mut zu allem Guten und Tüchtigen zurückgeben.«

Robert hatte die Hand des Handwerkers mit eisernem Griff gepackt; seine Augen leuchteten, er atmete tief und schnell.

»Was sprichst du da? Von wem redest du? Wer hat dir das gesagt?«

»Was? Was?« fragte Ludwig lächelnd und seufzend zugleich. »Leute, welche mit gleicher Ware handeln und mit gleichen Bündeln auf der Schulter umherziehen, wissen schon umeinander Bescheid.«

»Was kannst du wissen; ich habe ja kaum acht Worte zu ihr gesprochen; wenn Eva früher in Poppenhagen an die Gartenhecke kam, wußte ich doch zu sprechen und von allem zu reden; ich bin niemals verlegen gewesen, und von allem, was ich in der Studierstube des Pastor Tanne gelesen und gelernt hatte, konnte ich ihr erzählen. Jetzt, wo ich doch von manchem viel besser Bescheid weiß, ist mir der Mund verschlossen; ich wage kaum das Auge zu erheben –«

»Grad wie ich, wenn Mariechen kam und meine Schwester besuchte!« flüsterte Ludwig. »Man hat das Seinige erfahren und weiß andere zu taxieren; ich habe dich bald herausgefunden, mein Junge.«

Die beiden Jünglinge beredeten das uralte unerschöpfte Thema noch manche Nacht; es war sehr unrecht von ihnen, daß sie das, was sie besprachen, so ganz unter sich abmachten und die Alten fort und fort im dunkeln tappen ließen.

Das Beispiel Ludwig Tellerings hatte aber auf Robert auch den guten Einfluß, daß letzterer sich ebenfalls gleichmäßiger und angestrengter seiner Arbeit widmete. Er fing an, sich seiner Laschheit zu schämen, wenn er den ungelehrten, einfachen Freund, welchen das Leben, wie er wohl fühlte, doch noch viel schwerer als ihn selber bedrängte, so tapfer, ungebrochen ringen sah mit den übergewaltigen Mächten.

Der arme Ludwig liebte auch, und das Liebchen war ihm in scheinbar unerreichbare Ferne gerückt; aber sein Arm erlahmte deshalb nicht. Er wußte, daß der Vater sich nie wieder von seinem schmerzensvollen Lager erheben werde; aber der Hobel entfiel nicht deshalb der Hand.

»Non est ad astra mollis e terris via!« zitierte Robert Wolf wie der Sternseher Heinrich Ulex. »Ich will arbeiten gleich dem armen Ludwig!« rief er. »Habe ich es nicht schon empfunden, welch eine beruhigende Kraft in der Arbeit liegt?«

Und der Sternseher bemerkte mit großer Genugtuung, wie sein Schüler sich ganz plötzlich und wirklich unerwartet mit neuer Energie in die Bücher vertiefte. Als vorsichtiger Mann wartete er erst einige Tage ab, ob dieser neue Fleiß auch von Dauer war. Dann erst teilte er dem Polizeischreiber und dem Freifräulein das erfreuliche Faktum mit.

Das Freifräulein sprach bei erster Gelegenheit am Bette des Meisters Johannes, in Gegenwart Helenes, dem eifrigen Studenten ihre Befriedigung aus, und der Student faßte diesmal Mut und blickte mit ein klein wenig geringerer Scheu nach dem jungen Mädchen. Dieses aber wurde ungemein rot, und als es gleich darauf eine Frage beantworten sollte, gab es eine ziemlich verworrene Auskunft, und seine Stimme zitterte nicht wenig.

Viele glänzende Fäden umspannen das Sterbelager des alten Johannes Tellering und verloren sich aus der dunkeln Kammer in die ebenso dunkle, geheimnisvolle Zukunft.

Zwanzigstes Kapitel Zeigt an dem Beispiel des Barons Leon von Poppen, wie leicht es ist, ein anderer, ein besserer Mensch zu werden

Gerührt lächelnd blickt der Erzähler auf die eine Seite seiner Geschichte; lächelnd sieht er auch auf die andere. Süßes Dämmerlicht voll magischer Schatten und Lichter herrscht zur Rechten, der helle, klare, nüchterne Tag zur Linken.

Wir wenden uns nach der linken Seite.

Nach der großen Feuersbrunst, welche das Haus und einen recht geringen Teil des Vermögens des Bankiers Wienand vernichtete, hatte der Freiherr Leon von Poppen, Kronenstraße Nummer fünfzig, jeden Gedanken an die Tochter des »ruinierten Menschen« aus seiner unsterblichen Seele zu verscheuchen gestrebt, und es war ihm das auch ganz gut gelungen, wenn er auch die Erinnerung nicht vollständig austilgen konnte. Er ärgerte sich über die »kleine Äffin«, und mit Recht. War es nicht eine Quelle berechtigten Mißmuts, daß er – er, Leon von Poppen, die Blume des Jockeiklubs, die schönste Blüte der menschlichen Gesellschaft – Achtung haben mußte vor der kleinen Nachbarin gegenüber der mütterlichen Wohnung? Scheu vor solch einem albernen Ding, welches sich jedesmal blitzschnell zurückzog, wenn man noch so unschuldig, mit noch so ausgesprochener Beatitude einen Blick über die Gasse schweifen ließ? Dummes Zeug! Lächerlich!

Und doch war es so: Herr Leon von Poppen, Freiherr des weiland Römischen Reiches Deutscher Nation, fürchtete sich ein wenig vor der kleinen Helene Wienand und geriet, hinfälliger als je an Körper und Geist, in einen Zustand, den er noch nicht »durchgemacht« hatte. Recht gut erkannte er den Grund der Furcht. Er fühlte seine unwürdige junge Greisenhaftigkeit aufs schärfste jener reinen Jugend gegenüber. In mancher bösen Minute hätte er mit den Zähnen knirschen mögen, und er unterließ es nur, weil er über die Hälfte seines Gebisses seit längerer Zeit allmonatlich eine Rechnung des berühmten Dentisten Karl Morand zu – den schon erhaltenen legte. Es war kein Kredit mehr von dem Zahnkünstler zu hoffen, und das Zahnknirschen war in jeder Hinsicht ein bedenkliches Unterfangen.

Mit seinen Locken ging der Jüngling aus ganz ähnlichen Gründen ebenso vorsichtig um; er hütete sich wohl, mit zu rauher Hand darein zu greifen.

Leute, die wenig oder gar kein Gewissen haben, würden auch allzu glücklich sein, wenn die ewige Gerechtigkeit es nicht so prächtig verstände, ihnen auch an mehr äußerlicher Stelle den Sachverhalt klarzumachen!

Den gewohnten Vergnügungen, der gewohnten Lebensweise gab sich Leon von Poppen wieder mit großer Energie hin; ja er machte sogar, der ewigen Klagelieder der Mama wegen, einen schwachen Versuch, die tiefgekränkte Lydda von Flöte sowie deren nicht weniger empörte Mutter zu versöhnen, und dieser Versuch wurde von den guten frommen Seelen viel besser aufgenommen, als er verdiente.

Aber was anfangs bloße Vermutung war, erwies sich immer mehr als unumstößliche Wahrheit: der arme Wienand war immer noch ein sehr reicher Mann und seine Tochter eine sehr gute Partie für einen von Gläubigern bedrängten Sprößling einer der ältesten Familien des Landes. Der kranke Bankier wurde in seine jetzige Wohnung, dem von Poppenschen Hause gegenüber, gebracht, sein Kind zeigte anfänglich das bleiche, kummervolle Gesichtchen ohne Scheu an den Fenstern, und – Herr Leon von Poppen kam, nach seinem eigenen Ausdruck, »auf die alte Fährte zurück«. Er legte sich mit seiner ganzen Grazie aus dem eigenen Fenster und lorgnettierte so schmachtend als möglich das »reizende Geschöpf« auf der andern Seite der Gasse, bemerkte aber bald zu seinem Leidwesen, daß Fräulein Helene nicht kokett genug sei, dieses Spiel der Lorgnette zu ertragen.

»Eine schöne Erziehung hat da chère tante gemacht«, brummte er, »ich wollte, ich wüßte, was ich zu tun hätte! Wenn ich nur die Mama und diese erstaunliche Tante miteinander versöhnen könnte. Rachgierige Geschöpfe, diese alten Weiber; – diable, es würde eine kräftige heiße Bouillon geben, wenn man sie zusammen in den Topf der Versöhnung packte und den Topf auf die Glut der christlichen Liebe setzte. Impossibel das; total unausführbar – kein Gedanke dran. Kein Gedanke! – O Götter, ein Königreich für einen Gedanken! Cerberus, ma tante Juliane, reine Rasse! Cerberussissima!«

Tage und Wochen hindurch hatte sich der Baron abgequält, um herauszubekommen, auf welche Art er sich am leichtesten der lieblichen Nachbarin nähern und wie er sich jenseits der Gasse am angenehmsten einführen könne. Er quälte sich vergeblich und kam nicht auf die Kosten seines Aufwandes von Nachdenken, bis er endlich, nach einem ziemlich nüchtern hingebrachten Abend ziemlich früh ins Bett steigend, den großen Gedanken faßte, sich selbst seiner Tante – angenehm zu machen.

Oft sieht man beim dämmerigen Schimmer der Nachtlampe etwas für ganz einfach und leicht ausführbar an, was am andern Morgen einem eine höchst grimmige Fratze schneidet und sich als sehr stachlicht, eckig, sehr hart und bitter zeigt.

Seine kümmerlich in Flanell gehüllte Figur aus den Kissen hebend, wunderte sich Leon von Poppen sehr, wie er den Einfall vom gestrigen Abend für eine praktische, nette und vortreffliche Idee habe halten können.

»Korrupter Gedanke!« sagte er. »In welcher Geistesverwirrung mußte ich sein, um so nahe an den Grenzen des Wahnsinns herstreifen zu können?! Schöner Gedanke, in den Bereich ihres Krückstocks zu geraten. O Helene, reizender Apfel des hesperischen Gartens, welcher Drache bewacht dich, und welcher Herkules müßte man sein, diesen Drachen zu bezwingen!«

Der junge Mann stand jetzt vor dem Spiegel, welcher ihm seine ganze Persönlichkeit mit allen ihren Mängeln trotz dem gelben Flanell zeigte.

Er wiederholte seufzend:

»Herkules?! Wahrhaftig! Muß durchaus keine Anlage zur Hypochondrie haben, würde sonst wohl recht hypochonder sein. Scheint aber jedenfalls die höchste Zeit zu sein, daß ich solide werde. Na, na, wenn ich in mich ginge, wie Mama es wünscht und es zu nennen beliebt! Wenn ich heute anfinge? Rheumatismusketten, kalt Wasser, Solidität, Revalenta arabica, Liebe der Tante, Achtung der gesitteten Welt, Helene Wienand, zehntausend Taler Rente! Blendende Gedankenassoziation! Soll ich mal Charakter zeigen? Wirklich ein halbes Jahr dranwenden; Palme erringen – Myrtenkranz der Kleinen gegenüber? Ah – eigentümliches Durcheinander, Schwindel – Zittern in den Extremitäten, äh!«

Der Abkömmling so vieler und kräftiger Ahnen sank auf den hinter ihm stehenden Stuhl und in das tiefste Brüten. Dann sprang er auf, streckte die Hand zur Zimmerdecke empor und sprach mit dumpfer Stimme:

»Ich schwöre, mich zu bessern! ... ma tante, Ihre Hand, ich bin mit Leib und Seele zu Ihrer ehrbaren Verfügung! Mein Fräulein, das Ewig-Weibliche zieht uns hinan – bitte, ziehen Sie gefälligst; und Sie – schieben Sie, teuerste Tante; Mama, ich empfehle mich Ihnen gehorsamst – ballonhaftes Emporschweben! Alles Irdische ist vollendet, und das Himmlische geht auf – Baptiste, dummer Esel, wo bleiben meine Hosen? Ah, Pardon – wollt ich sagen: Lieber Baptiste, bitte, darf ich um meine Beinbekleidungen bitten?«

Der liebe Baptiste starrte mit offenem Munde seinen Herrn an, und Leon von Poppen zog seine Hosen als ein vollständig anderer – besserer Mensch an. Als er zu den Gemächern seiner Mutter herniederstieg, begegnete ihm auf der Treppe die muntere Elise. Bei solchen Begegnungen fand sonst gewöhnlich eine kleine Szene statt, in welcher ein Morgenhäubchen verrückt oder eine Schürze, ein Halstuch verknittert wurden. Dieses Mal neigte der Herr Baron, als er mit ehrbarem, langem Gesicht langsam an der Kammerjungfer vorbeischritt, nur ein wenig das Haupt und sagte:

»Guten Morgen, Elise; – ich wünsche Ihnen einen guten, friedlichen, segensreichen Tag.«

Elise, welche eine Redensart wie: Kleine Kröte, du siehst heute wirklich außergewöhnlich verlockend aus! erwartete, blickte ihren jungen Herrn ebenso verwundert an, wie vorhin Baptiste ihn angeglotzt hatte. Sie sah ihm nach, bis ebengenannter Herr Baptiste, mit dem Schlafrock des Gebieters, ebenfalls die Treppe herabkam und den Kuß, welchen der Freiherr versäumt hatte, für sich in Anspruch nahm.

»Aber liebster Himmel, Baptiste, was soll denn dieses heißen?«

Baptiste wußte es nicht.

War Leons Benehmen auf der Treppe sehr würdig und allen Lobes wert, so ließ es im Zimmer der Mutter nicht das geringste zu wünschen übrig.

Die gute Dame hatte vollen Grund, nicht weniger erstaunt, verwundert, verblüfft zu sein als die Bedienten.

War das ihr Leon?

War das ihr Sohn? Der Stammhalter derer von Poppen? War über Nacht ein Zauber auf das »böse Kind« gefallen?

Viktorine sprach ihre Verwunderung gegen ihn aber auch aus, was Elise und Baptiste nicht getan hatten, und trieb es mit Fragen, Mimik, Interjektionen so weit, daß der gelangweilte reuige Sünder einmal fast ganz aus der Rolle fiel und der Matrone die pikante Frage vorlegte, ob sie glaube, bis dato einen Wechselbalg auferzogen und als ehelichen Sohn in der Gesellschaft präsentiert und anerkannt zu haben.

Die Baronin fand diese Frage schockant, und Leon biß sich auf die Zunge und verdoppelte die Dosis edler Gesinnungen, Pläne, Ansichten und Hoffnungen, mit welchen er die Mama überhäufte.

»O Leon, mein Kind, wenn das alles wahr ist, wie glücklich machst du mich; Frau von Flöte und Lydda werden alles vergessen und vergeben; – ich mache sie mit deiner Sinnesänderung bekannt. O Leon, es steht geschrieben, daß viel Freude im Himmel sein wird über einen Sünder, der vom bösen Wege abläßt.«

Es war dem Freiherrn zumute, als werde ihm der Boden für seine mimisch-deklamatorische Vorstellung ganz plötzlich und unwiderstehlich unter den Füßen weggezogen. Der Schlaukopf zappelte einen Augenblick mit den Beinen in der Luft und erkannte dann aber sogleich, daß er seine Rolle übertrieben habe und daß die scharfäugige Tante gewiß über das nicht Hosianna rufen würde, was die Mama ganz naiv bejubelte und bejauchzte.

»Teure Mutter«, sprach er, »ich habe in vergangener Nacht verschiedene gute Vorsätze gefaßt und werde dieselben hoffentlich ausführen; der Vorsatz, mich jenen übrigens ganz respektablen Damen wieder irgendwie zu nähern, befindet sich nicht darunter.«

Baptiste brachte jetzt ein Billett auf einem Präsentierteller herein und überreichte es seinem jungen Herrn. Dieser seufzte sowohl beim Aufbrechen als auch beim Lesen und sagte:

»Zu meinen Vorsätzen gehört, daß ich solchen Aufforderungen zu allerlei maussaden Vergnügungen nicht mehr Folge leiste. Baptiste, Dummkopf – wollt ich sagen, Baptiste, mein guter Freund, der Überbringer soll warten; ich werde Herrn von Bärenbinder schriftlich antworten.«

Und Leon von Poppen stieg wieder die Treppe hinauf und schrieb Herrn von Bärenbinder einen ziemlich langen Brief, in welchem er die Einladung desselben zu einem allerliebsten kleinen Souper im Hotel Royal dankend ablehnte und ihm als Vizepräsidenten des Jockeiklubs zu gleicher Zeit seinen Austritt aus dieser ebenso ehrenwerten wie harmlosen Vereinigung erklärte. Höchst vernünftige Gründe gab er für beides in seinem Antwortschreiben Herrn von Bärenbinder zum besten; die richtigen behielt er jedoch wohlweislich für sich.

Als der Lakai mit dem Billett abgezogen war, rieb sich der Schriftsteller grinsend die Hände:

»Wenn das nicht wirkt, so – so will ich Lydda von Flöte heiraten und Spittas ›Psalter und Harfe‹ auswendig lernen!«

Es wirkte.

Herr von Bärenbinder rieb sich über dem Billett Leons nicht die Hände, sondern die Augen gleich dem träumenden Abu Hassan. Er lief mit ihm in der Stadt umher, er legte es an demselben Abend noch im Jockeiklub vor; – allgemeine Perplexität, und kein Graf Örindur, welcher eine irgend befriedigende Lösung dieses Zwiespalts der Natur fand.

Binnen kurzem hatte sich das Gerücht dieser Umwandlung, dieser Bekehrung über die ganze Stadt verbreitet; die Spötter lachten darüber, die Frommen segneten den Herrn, der verständige Mittelschlag zuckte die Achseln. Die Achseln zog auch Juliane von Poppen in die Höhe, als sie zuerst die große Neuigkeit vernahm.

»Er ist früh mit seinem Leben fertig geworden«, sagte sie. »Es ist das alte Lied; nun mag er zu den Pfaffen laufen und sich Krankensuppen kochen lassen. Man möchte um so mehr weinen, je mehr die andern darüber so laut lachen.«

Als die alte Jungfer ihrem gebesserten Neffen zum erstenmal nach seiner Metamorphose wieder in der Gasse begegnete, streckte sie ihm den Krückstock entgegen und sprach – zu dem ehrbar den Hut Abziehenden:

»Nun, Herr Neffe, meine arme Fliege, wir kriechen wohl recht matt, mit zusammengeklebten Flügeln, aus dem Weinglase hervor? Die Poppen haben ihr Leben auf alle mögliche Art geendet, auf dem Block, am Galgen, auf dem Schlachtfelde, auf dem Misthaufen; der letzte geht unter die Betbrüder und Betschwestern und greint in einem Konventikel die Seele aus – jeder nach seinem Geschmack; – Glück auf den Weg, Neffe, meine Empfehlung an die Herren Krokisius, Drönemeier, Nothzwang und Kompanie; ich lasse –«

Aber das Freifräulein brach verwundert ab, als Leon auf ihre Rede mit einem hellen, höchst ehrlichen Gelächter antwortete.

»Entschuldigen Sie, liebe Tante«, rief er. »Glauben Sie wirklich auch an die tolle Fabel? Ich danke doch recht sehr für die Gesellschaft, in welche Sie mich zu stecken belieben. Für die frommen Leute, die Sie da nennen, bin ich doch noch nicht weich genug. Übrigens ein Wort im Ernst, Tante: Charakter und Willen kann man den Poppen nicht absprechen – Sie sind in Parenthese selbst kein übles Beispiel dafür –, ich habe den Willen, meine Lebensart ein wenig zu ändern. Ich gestatte Ihnen gern, mich so erbarmungsvoll anzusehen; ich gebe Ihnen das Recht, die Geistesänderung auf Rechnung einer angegriffenen Körperkonstitution zu setzen; nach Belieben können Sie mich einen blasierten Menschen nennen; aber bei alledem werde ich Ihnen beweisen, daß ein Poppen kann, was er will; – ich will umkehren, und wenn es auch nur der Veränderung wegen wäre. Bon jour, ma tante!«

Damit schritt Leon weiter, und das Freifräulein stand, schüttelte den Kopf, rieb die Nasenspitze und sagte:

»Merkwürdig!«

Eine Stunde später stand sie an einem ganz andern Ende der Stadt wiederum in tiefes Nachdenken verloren, kopfschüttelnd, die Nasenspitze reibend, und sagte wiederum:

»Merkwürdig!«

Sie fing an, dem Gebaren des Neffen eine bei weitem größere Aufmerksamkeit zu widmen, obgleich immer ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, um das an ihr zu erkennen. Sie suchte auf Umwegen allerlei über ihn zu erfahren; sie würdigte die Wohnung ihrer Schwägerin Viktorine öfters einer genauen Beobachtung von den Fenstern des Bankiers aus.

»Ich wollte viel darum geben, wenn Hopfen und Malz an dem Schlingel noch nicht vollständig verloren wären!« –

Leon von Poppen wandelte immer sicherer auf dem Pfade der Tugend fürbaß; er zeigte, daß in gewisser Beziehung Hopfen und Malz durchaus noch nicht an ihm verloren waren. Je ernsthafter er von außen erschien, desto mehr grinste er inwendig – soviel Amüsement hatte er sich von seiner Umwandlung nicht versprochen! Es machte dieser glücklich organisierten Natur ungemeinen Spaß, an einem Haufen seiner frühern Lebensgenossen und Lebensgenossinnen mit der Würde eines Cato vorüberzuschreiten. Wie letzte er sich an diesem Kopfzusammenstecken, diesem Geflüster, das hinter seinem Rücken anhub! Mit vorgeschnellter Zungenspitze kostete er schon im voraus die Wonne, den Jubel des Augenblicks, wo der Knoten der Komödie sich löste und der gewandte Schauspieler, beleuchtet von bengalischen Flammen, der versteinerten Creme der Gesellschaft den gewonnenen Preis unter die Nase hielt. Er malte sich dieses Schlußtableau auf das reizendste aus und verbrachte manche Stunde, um es mit immer neuen Pointen auszustatten.

Gegen Ende des Oktobers las man in den »Vermischten Nachrichten« fast aller Zeitungen der Stadt folgende rührende Geschichte:

»Wir können unsern Lesern einen Vorgang mitteilen, der wohl wert ist, das allgemeine Interesse auf sich zu ziehen. Ein junger Mann aus einem alten angesehenen Geschlecht, vor kurzem noch eins der berufensten Mitglieder des Jockeiklubs, rettete mit Gefahr des eigenen Lebens eine jüdische Familie aus äußerster Bedrängnis. Diese Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei erwachsenen Töchtern, kam am 27. dieses Monats gegen Abend von einem Ausflug heim und hatte das Unglück, am Anfange des Parks, eine halbe Stunde von der Stadt, unter einen Haufen betrunkener Soldaten, Handwerksburschen und liederlicher Dirnen zu geraten. Dieser Haufe benutzte sogleich die günstige Gelegenheit, die harmlosen Lustwandler aufs gröblichste zu beleidigen und zu beschimpfen. Die Polizei schien wie gewöhnlich anderswo beschäftigt zu sein, niemand von den wenigen andern Spaziergängern wagte es, dem bewaffneten und unbewaffneten Pöbel seine Opfer zu entreißen, und keiner wehrte es dem wütenden Haufen, von Worten zu Handgreiflichkeiten überzugehen. Am meisten waren die beiden armen Mädchen zu bedauern, die alle Qualen der Hölle duldeten, bis endlich der mutige Retter und Ritter erschien. Der Baron, Herr L. von P., kam den wild sich daherwälzenden Scharen entgegen und stürzte sich, nachdem er die Sachlage erkannt, ohne Bedenken in die Mitte des Pöbels, ihn mit Drohworten und Stockschlägen auseinandertreibend. Der Pöbel, anfangs verblüfft, ließ von seinen Opfern ab, und diese eilten halb besinnungslos auf beflügelten Sohlen fort; – der Baron blieb allein in der Mitte der Wütenden. Die Soldaten warfen sich mit gezogenen Säbeln, die Handwerksburschen mit ihren Knitteln auf den jungen tapfern Mann. Er wehrte sich nach besten Kräften, aber erhielt bald einen Säbelhieb über den Arm, der ihn kampfunfähig machte. Wer weiß, was nun das Schicksal des mutigen Schützers der Bedrängten gewesen wäre, wenn nicht endlich doch die Polizei herbeigeeilt wäre und die Übeltäter verhaftet hätte! Wir haben allen Respekt vor einem Adel der Gesinnung, der in solchen ritterlichen Taten zur Erscheinung kommt. Die Verwundung des Herrn Barons v.P. soll gottlob nicht gefährlich sein.«

Die Verwundung des Herrn Barons v.P. war gottlob nicht gefährlich, machte dagegen einen ausgezeichneten Effekt in der Stadt. Selbst die Tante Juliane konnte den »Juden« nicht so widerstehen, wie sie wohl gemocht hätte; fast wider ihren Willen beschäftigte sie sich von Tag zu Tag mehr mit ihrem Neffen, seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie wußte wirklich nicht mehr, »was sie von dem Burschen denken sollte«.

Acht Tage lang hatte Leon von Poppen mit seinem verwundeten Arm, indem er ihn in einer schwarzseidenen Binde spazierenführte, Parade gemacht, als ihm am neunten das Freifräulein wieder begegnete.

Diesmal hielt der Neffe die Tante an, indem er ihr lachend den Weg vertrat und rief:

»Die beiden Israelitinnen waren reizend, chère tante – Philanthrop vom reinsten Wasser, ma tante! Auf Ehre, ganz allerliebste Mädchen, diese schwarzlockigen Semitinnen; hätte mich für die beiden krummnasigen Alten gewiß nicht auf den Altar der Humanität gelegt!«

»Weshalb sagen Sie mir das, Leon?«

»Weil ich noch weit entfernt von den höchsten Stufen der Vollkommenheit bin, gnädigste Tante. Ich habe die Ehre –«

Der Freiherr warf der alten Dame eine Kußhand zu und tänzelte davon; Juliane sah ihm wiederum nach, und dieses Mal noch viel nachdenklicher als das erste Mal.

»Der Junge ist wenigstens kein Heuchler!« sagte sie. Vierzehn Tage nach dieser Begegnung bat der Neffe die Tante in einem höchst komischen Briefe um ein Darlehen von fünfzig Friedrichsdor, welches er mit einem kurzen Begleitschreiben erhielt und welches er wieder acht Tage später persönlich zurückerstattete.

In kürzester Frist hatte somit der junge Diplomat die bedeutendsten Fortschritte gemacht, die größten Erfolge errungen; das Freifräulein gewann allmählich den Glauben an eine würdigere Fortdauer des Geschlechtes derer von Poppen wieder, und in ihrer innersten Seele tat ihr dieser Gedanke doch recht wohl.

Nun widmete sie manche Stunde den ernstesten Betrachtungen über ihren Neffen; – wie gern hätte sie ihr kleines Vermögen, ihre ganze Existenz geopfert, wenn sie dadurch den Stammhalter der alten Familie auf dem rechten Wege hätte erhalten können!

Manche Stunde widmete Leon den ernstesten Betrachtungen seiner selbst vor – dem Spiegel. Er frisierte sich à la bonhomme, er gab seinen Halsbinden ein unbeschreiblich solides Etwas – jeden Morgen legte er seiner ganzen Person ein Bruchteil von Gesetztheit zu. Zu Anfang November hatte er sich vollständig das Äußere eines jungen Doktors der Medizin, welcher eine große Praxis ahnt, dieselbe jedoch noch nicht hat, zugelegt. Er war bewunderungswürdig! Gewichtige alte Herren aus den maßgebenden Kreisen fingen an, seinen Gruß achtungsvoll zu erwidern. Vornehme Mütter, deren Söhne noch auf den Pfaden der Sünde lustwandelten, blickten ihm mit geheimen Seufzern nach und beneideten die seligen Gefühle Viktorines von Poppen. Letztere befand sich in einem Zustande ratloser Verwirrung, welcher in der Skulptur nur durch einen offenen Mund und starre, weit geöffnete Augen ausgedrückt werden kann. Die Beglückwünschungen, welche ihr von allen Seiten zukamen, nahm sie aber fast wie Beileidsbezeigungen auf, und sie hatte recht, da solch ein edler Sohn, solch ein reuiger Sünder durchaus nicht in die engen Kreise ihrer Anschauungen paßte. Was sollte sie mit »einem solchen Leon« anfangen? Was sollte sie seinen Anspielungen auf Verwandtenliebe, Juliane von Poppen und dergleichen entgegensetzen?

Wahrlich, die Baronin Viktorine war lange nicht so zu beneiden, wie manche der betrübten Mütter aus den höhern Ständen glaubte.

Aber was war dem Baron Hekuba? Der schlechte Sohn kümmerte sich wenig um die Migräne der Mutter; immer mehr, immer offener nahm er Partei für die Tante Juliane, und diese ging mit sich zu Rat, ob sie den umgewandelten Neffen zum Kaffee einladen könne, solle und – möge.

Wir werfen einen Blick nach der andern Häuserreihe der Kronenstraße!

Die jetzige Wohnung des Bankiers Wienand lag auf der Sonnenseite der Straße; aber sie war durch niedergelassene Vorhänge so dunkel als möglich gemacht. Wie das Feuer dem Tischler Tellering die Augen des Leibes genommen hatte, so hatte es dem Bankier die Augen des Geistes verdüstert; keiner von beiden konnte mehr das Licht ertragen.

Als wir den Bankier zum letztenmal erblickten, war er ein kräftiger Mann; jetzt war er ein armer Idiot, der zusammengefallen in seinem Lehnstuhl saß, stier vor sich hin sah und die Hände wie in großer Angst aneinander rieb. Es ist ein schrecklich Ding, wenn jemand in die fixe Idee sinkt, langsam verhungern zu müssen! Wie viele reiche, überreiche Leute sind schon in dieser unglückseligen Vorstellung zugrunde gegangen! Es liegt eine unendlich bittere Ironie in diesem Spiel des Schicksals mit den Menschen.

Von Tag zu Tag hatte sich bei dem Bankier der Gedanke, daß er bankerott, daß sein Name ehrlos sei, fester gesetzt. Da half kein vernünftiges Zureden, keine Aufforderung, sich zu fassen. Am liebsten möchte sich der arme Kranke in dem tiefsten Grund der Erde verbergen, wenn nicht auch da der Hungertod so schrecklich wäre. Wer kann die gräßlichen Fratzen und Gespenster verscheuchen, die aus allen Ecken und Winkeln hohnlachen? Niemand! Niemand!

Nun treibt die Angst, die Verzweiflung den Irrsinnigen auf. Er springt empor, er durchsucht das Gemach, das Haus; Abfall aller Art, Lumpen, Papierschnitzel, zerbrochenes Glas, Bindfadenstückchen rafft er auf und trägt sie zusammen. Seine Taschen strotzen von den verschiedenartigsten Dingen; er macht Schatzkammern, Vorratskammern daraus; er hat einen Platz, wo er alles Gesammelte anhäuft, vor welchem er wacht wie der Drache vor dem verzauberten Schatze. Wagt es nicht, euch diesem Platze zu nähern; der Kranke würde Riesenstärke in der Verteidigung desselben gewinnen; er würde euch töten, wenn ihr die Hand danach ausstrecktet.

Der berühmte Bankier Wienand will auch nicht mehr essen. Wie Verschwendung, leichtsinnigste Vergeudung des letzten Notpfennigs erscheint ihm alles, was zum Leben nötig ist. Harte Brotrinden und Wasser sind das einzige, was er annimmt, und auch nach diesen greift er nur zitternd und im höchsten Hunger und Durst.

Was wäre aus der armen Helene geworden, wenn sie in Dunkelheit, Jammer und Elend nicht den Gedanken an den Schützling des Polizeischreibers Fiebiger, den Schüler des Sternsehers Ulex gehabt hätte?

Was wäre aus ihr geworden, wenn sie gewußt hätte, welche Pläne der Freiherr Leon von Poppen, gegenüber in dem großen altersschwarzen Hause, im Busen bewegte? Was wäre aus ihr geworden, wenn sie endlich gewußt hätte, wie unendlich günstig das Schicksal in diesem Augenblick auf die Pläne und Wünsche des trefflichen jungen Barons, der leider noch lange nicht der letzte seiner Art war, herablächelte?

Ja, der Baron Leon von Poppen hatte Aussichten auf Erfolg seiner Pläne. Wünschen wir ihm alles Glück dazu; denn was hilft's, wenn wir uns darüber ärgern oder gar grämen? Laissez aller!

Einundzwanzigstes Kapitel Große Krisis in Nummer zwölf – höchst tragisches Kapitel. Der Polizeischreiber Fiebiger entdeckt etwas, was andere Leute längst wissen

Der dichte Nebel eines dunkeln Vorwintermorgens lag schwer über der Stadt. Vor einer großen aufgeschlagenen Bibel saß der Sternseher Heinrich Ulex in seinem warmen Gemache und blickte ernst in die weißgraue Dämmerung, welche der neue Tag nicht hatte verscheuchen können. Es war ein Sonntagmorgen, und der Klang der Glocken, welche zur Kirche riefen, kam zum Ohr des gelehrten Greises bei der schweren feuchten Luft wie aus weitester Ferne. Man konnte fast nicht sagen, ob diese Tonwellen aus der Höhe nach der Tiefe oder aus der Tiefe nach der Höhe rollten. Geheimnisvoller als sonst sprachen die Glocken zu den Herzen der Menschen; es war, als hätten sie mehr zu sagen und mehr zu verschweigen; ihr Klingen gab viel zu bedenken; die meisten Leute dachten jedoch nicht sehr viel dabei. Der Sternseher Heinrich Ulex gehörte aber nicht zu denjenigen, welche den Sonntagmorgen nur insoweit schätzen, als man an ihm ungestört einige Stunden länger schlafen kann. Er stand im Gegenteil an diesem Tage früher als gewöhnlich auf; die ersten Stunden desselben waren dem tiefsten Nachdenken gewidmet; er ließ sich höchst ungern darin stören und verriegelte und verrammelte seine Wohnung womöglich noch fester als zu anderer Zeit.

Den wallenden Nebel schätzte er auch mehr als andere, weniger phantasiebegabte Menschen. Er konnte Bilder darin aufbauen, Gestalten darin hervorzaubern, er konnte ihn formen wie der Bildhauer den Ton, er konnte darauf zeichnen wie der Maler auf der grauen Leinwand.

So saß er denn auch an diesem gegenwärtigen Sonntagmorgen, blätterte in dem weisheitvollen Buche, ließ die Poesie des sonnigen Orients im winterlichen Norden emporsteigen und verknüpfte die Sprüche und Erzählungen der jüdischen Seher und Propheten mit den Ereignissen, den Empfindungen, den Hoffnungen und Befürchtungen, den Freuden und Schmerzen des eigenen Daseins.

Wie der Nebel über die Dächer rollte, wie er sich ballte und löste! Jetzt war die weite schwarze Brandstätte ganz verdeckt und nur die nächste Nähe, in einen feuchten Schleier gehüllt, sichtbar; – jetzt tauchten in der Ferne die Baugerüste, die sich bereits hier und da wieder inmitten der Trümmerhaufen erhoben, auf, und traurig dunkel schimmerte der Grund durch den schwankenden Dunst.

Des Alten Seele war sehr häufig an diesem Morgen in der niedrigen Kammer des Meisters Johannes Tellering, dessen Tod man nunmehr täglich, stündlich erwartete.

»Jetzt siehet man das Licht nicht, das in den Wolken helle leuchtet; wenn aber der Wind weht, so wird's klar«, las er aus dem Buche Hiob.

Wieder blickte er in den Nebel hinein und dachte an seinen Schüler, seinen jungen Wolf aus seinem Heimatswalde, und wieder schlug er ein Blatt um und las:

»Die dicken Wolken scheiden sich, daß es hell werde, und durch den Nebel bricht das Licht. Er kehret die Wolken, wohin er will, daß sie schaffen alles, was er ihnen gebeut, auf dem Erdboden, es sei über ein Geschlecht oder über ein Land.«

Lang schaute er wieder zu, wie der Dunst wogte und sich kurz vor seiner Verflüchtigung immer seltsamer gestaltete. Wieder las er:

»Alle Menschen hat er in der Hand wie verschlossen, daß die Leute lernen, was er tun kann.« Und bald dumpfer, bald heller klangen in das Sinnen des Greises die Glocken – Geisterstimmen, die aus der Höhe, die aus der Tiefe einander riefen. Wer wagte es, den Sternseher im jetzigen Augenblick zu stören?

Ein schnelles, wie aufgeregtes, ängstliches Klopfen ließ sich an der verriegelten Tür vernehmen und schreckte den Greis auf. Einige leise Runzeln mehr erschienen auf seiner Stirn, als er sich erhob und gegen die Tür schritt. Sein Verdruß ob der Störung legte sich freilich; aber seine Verwunderung stieg, als er den Polizeischreiber Friedrich Fiebiger atemlos vor sich sah. Auch der Schreiber brachte die Sonntagmorgen gern ganz still innerhalb seiner vier Pfähle zu und gab, eingehüllt in Tabakswolken, seinen innersten Gedanken Audienz oder las, auf dem Sofa liegend, seine sehr verschiedenartigen Lieblingsschriftsteller. Der Sternseher hätte in dem Störenfried jeden andern eher vermutet als seinen Freund Fritz. Nur ein wichtiges Ereignis konnte denselben zu so ungewohnter Stunde zu dem Giebel des Gelehrten hinauftreiben; und Heinrich Ulex trat, nachdem er seine Tür geöffnet hatte, einen Schritt zurück und rief mit bewegter Stimme:

»Er hat es überstanden?! Er ist tot?!«

»Wer?« fragte der Schreiber.

»Der Meister Johannes!«

Fiebiger schüttelte den Kopf, warf Hut und Stock von sich, sank auf einen Stuhl, legte die Hände auf die Knie, blickte dem Sternseher einige Augenblicke hindurch komisch, verlegen, zweifelnd ins Gesicht, zog ein Büchlein, in blauen Samt gebunden, mit silbernem Schnitt und Titel aus der Tasche und rief aufspringend:

»Privatgelehrter Heinrich Ulex, bist du am vierundzwanzigsten Juni dieses Jahres, nachmittags um vier Uhr, durch die Musikantengasse gegangen, mit der Nachtmütze statt des Hutes auf dem Kopfe?«

Der Sternseher sah den Fragenden höchst verwundert an, ohne eine Antwort finden zu können.

»Erinnerst du dich des Faktums, Ulex?«

»Ich – ich – gewiß nicht – mein Gott – was soll das heißen?«

»Hier steht es schwarz auf weiß, alter Knabe! Hier steht noch viel mehr über dich, über mich, über das Freifräulein, über Gott, den Teufel, Himmel und Erde. Welch ein Weib! O Ulex, Ulex, du auf deinem Turm hast gar keinen Begriff von den Dingen, welche eine edle Frauenseele in ihrem Tagebuch notieren kann. Und unser Robert – mein Robert Wolf – Himmel und Hölle, Heinrich Ulex – es ist heraus!«

Der Sternseher schlug seine Bibel zu und sagte:

»Ich verstehe dich nicht, Fritz. Was hast du? Was sollen die Fragen? Was soll dieses Buch? Was ist heraus? Was ist's mit unserm Zögling?«

»Er ist wieder verliebt!« rief der Polizeischreiber kläglich und setzte mit tragischem Ton hinzu: »Und ich rühmte mich meines scharfen Auges! Morgen werde ich mein Pensionierungsgesuch einreichen.«

»Sprich weniger in Rätseln, so werde ich dich verstehen«, sagte der Gelehrte.

»Ja Rätsel, Rätsel!« rief der Schreiber auf und ab laufend. »Dich trifft's so gut wie mich. Du bist ebenso blind gewesen wie ich!«

Der Sternseher setzte sich in seinen hohen Lehnstuhl wie ein Mann, der Zeit hat zu warten.

»Blind! blind! blind! O Fiebiger, o Polizei und schwarzer Star!« sprudelte der Schreiber. »Verliebt – uns vor der Nase – Fräulein Wienand – Juliane – tausendfacher Maulwurf – o Ulex, Ulex!«

Der Sternseher rührte sich nicht in seinem Lehnstuhle; er wußte, daß die hochgehenden Wogen sich ihrerzeit beruhigen würden; er wartete mit Geduld.

»Die Hexe notiert es in ihren Memoiren; Julius Schminkert weiß es länger als lange –

Was kein Verstand der Verständigen sieht, Das ahnet in Einfalt ein kindlich Gemüt –

schönes kindliches Gemüt – o Fiebiger, Fiebiger, geh heim und laß dich pensionieren!«

Wir wollen mit dem Sternseher in Geduld abwarten, bis sich der Polizeischreiber beruhigt hat, und während dieser Zeit dem Leser erzählen, was in der Nummer zwölf der Musikantengasse vor diesem merkwürdigen Sonntagmorgen vorgegangen war.

Das kalte Wasserbad, welches dem deklamierenden Künstler Julius Schminkert unter dem Kammerfenster Angelika Stibbes zuteil geworden war, hatte seine Liebe zu dem holden Kinde nicht im mindesten abgekühlt. Die Wasserfluten hatten sich gleichsam über ungelöschten Kalk ergossen: Schminkerts Seele zischte, kochte und dampfte. Der Schauspieler war in seinen jetzigen Plänen fast ebenso beharrlich wie der Freiherr von Poppen in den seinigen. Jeder von den beiden hatte ja außer der künftigen Lebensgefährtin auch den Geldkasten des Schwiegerpapas in spe im Auge, und ein voller Geldkasten ist bekanntlich ein trefflicher Gesichtspunkt auf dem stürmischen Meere des Lebens. Die größte Hälfte der Menschen hält ihn für den besten und behält ihn im Auge, wenn alle andern Leitsterne, Leuchttürme, Feuerbaken längst in die Wogen gesunken sind.

So lavierte denn Herr Julius seinem Ziel mit Ausdauer entgegen und ließ sich durch keinen ungünstigen Wind aus seinem Kurs bringen. Er gewann soviel Geschmack an diesem Kreuzen wie Leon von Poppen an dem seinigen. Man konnte Geschick und Wissen dabei zeigen und beweisen, daß man kein dummer Teufel sei.

Fräulein Aurora Pogge suchte ihr Tagebuch nicht mehr. – Wie jener wohlaffektionierte römische Regent wünschte sie aber der ganzen Menschheit nur einen einzigen Kopf, um ihn mit einem einzigen Streiche abschlagen zu können. Solange sie die Hoffnung noch nicht verloren hatte, das köstliche Manuskript wiederzufinden, war sie ungemein vorsichtig, zurückhaltend und höflich im Umgange mit jedermann gewesen; denn sie betrachtete jeden, der ihr nahe kam, mit geheimer Angst. Nachdem sie die letzte Hoffnung aufgegeben hatte, das Buch mit den schnäbelnden Tauben zurückzuerhalten, änderte sich natürlich ihre Stimmung; sie geriet in den Zustand stumpfster Gleichgültigkeit gegen alles, was die Welt denken, sagen und tun mochte. Sie heuchelte nicht mehr, sondern zeigte sich in ihrem eigensten Wesen. Die Herren Drönemeier und Nothzwang fanden die einst so gastfreundliche Tür jetzt fest verschlossen; es gab nun keinen Tee, keine Schokolade, keinen alten Madeira mehr für sie; sie segneten sich und stöhnten über das arme Schaf, das sich so plötzlich aus der Hürde verloren hatte.

Die Hausgenossenschaft vorzüglich fand oft Ursache zur Verwunderung über Fräulein Aurora Pogge. Niemand – sogar der Rentier Mäuseler nicht –, niemand entging ihren Wutanfällen; ihre kreischende Stimme erschreckte zu jeder Zeit des Tages und in der Nacht alt und jung. Mimi, die Katze, wurde immer magerer, ging eines Abends aus und – kam nicht wieder; es war ihr zuviel geworden. Hulda folgte der vierbeinigen Leidensgenossin und nahm eine Stelle in einer Privatheilanstalt für Irre an; sie hatte die Befähigung zur Ausfüllung eines solchen Platzes im Dienste Auroras vollkommen erlangt. Das Fräulein kochte »sich selber« und schlang somit immer mehr Gift hinein. Der Rentier Mäuseler – kündigte ihr die Wohnung und zerbrach damit das letzte Band, welches Aurora der Hausgenossenschaft gegenüber noch fesselte.

Sie zog jetzt alle Register ihres Grimmes; Mäuseler, der Polizeischreiber, Robert Wolf, Schminkert, die Frau Krieg, die Familie Tellering, Monsieur Alphonse Stibbe, Fräulein Angelika Stibbe wurden auf gleich schreckliche Weise von der Erinnye angefallen. Der Augenblick, wo Julius Schminkert Gebrauch von dem blauen Buche machen mußte, war gekommen. Die Götter hatten es in allgemeiner Ratsversammlung so beschlossen; Zeus der Vater hatte die ambrosischen Locken, nickend, geschüttelt, der grause Mars hatte sich zähnefletschend die Hände gerieben, Aphrodite die Liebliche hatte den Gürtel der Reize enger geschnallt und siegesfroh gelächelt:

– pasci Pugnando teneri volunt Amores,

wie Johannes Secundus ebenso schön wie wahr sagt. Am Sonnabendmorgen schwang sich Iris, da Merkurs Flügelschuhe eben beim Schuster waren, zur Erde nieder, und eine halbe Stunde später erschienen an den Ecken der Stadt riesengroße Zettel, welche das vergnügensuchende Publikum zum Maskenball und zu vorzüglichen warmen und kalten Speisen und Getränken in die Walhalla einluden.

In das lauschende Ohr Julius Schminkerts flüsterte die Götterbotin; sie flüsterte in das Ohr Angelika Stibbes. Und nicht lange, so flüsterten Julius und Angelika zusammen im Hausgange. Was hatte Iris in der Wohnung Auroras zu flüstern? Treppab schlich die rosen-näsige Bewohnerin des ersten Stocks und lauschte dem Gespräch des Jünglings und der Jungfrau.

So lauscht die Boa constrictor, ehe sie sich vom Wipfel der Königspalme niederstürzt auf das unschuldige, kosende Gazellenpaar!

»Ich will euch! ... jetzt soll's zu Ende kommen!« flüsterte Fräulein Aurora Pogge, als sie, ihre Pantoffeln in der Hand tragend, wieder treppauf schlich.

Es kam zu einem Ende; aber zu einem andern, als das hohnlächelnde Mitglied des bessern, sanftern Geschlechts sich vorgestellt hatte.

Julius Schminkert und Angelika Stibbe besuchten den Ball in der Walhalla, ohne eine Ahnung des düster über ihren leichtsinnigen Häuptern sich zusammenziehenden Gewitters. Sie tanzten, ohne, wie die französische Gesellschaft, zu wissen, daß sie auf einem Vulkan tanzten. Wie Luise Millerin genoß Angelika die Limonade, die ihr Julius präsentierte. – Wehe euch Unglücklichen, vergiftet war der kühlende Trank!

Julius Schminkert im Kostüm des Grafen Almaviva war ein Kavalier, wie ihn Angelika sich nicht eleganter wünschen konnte. Die Tochter Don Alphonso Stibbelinos als Sonnenjungfrau war unwiderstehlich, widerstand aber auch selbst nicht den schmeichelnden, überredenden, überzeugenden Beteuerungen des Conte Julio. Nach dem siebenten Walzer war das Paar einig, und Julius Schminkert schlug der Geliebten, der Verlobten vor, in Kompanie ein Parfümeriegeschäft zu etablieren und zwischen Seife, Wohlgerüchen, Haar- und Schönheitstinkturen ein wonniges, seliges, sonniges Liebesleben zu führen.

Wer aber klopfte in nächtlicher Stunde an die Tür der Schlafkammer des schlummernden Vaters, der jetzt in seinen Träumen nicht mehr angstvoll dem Baron Schleifenbein, sondern fast noch angstvoller einem neuen Schuldner, dem Kammergerichtsassessor Beutler, nachjagte –? Drückte den juristischen Stutzer die Last seiner Schuld so sehr, daß er sie jetzt in der ersten Stunde nach Mitternacht von der Seele wälzen wollte? ... Nein! Fräulein Aurora Pogges knöcherner Finger weckte den Schneider, daß er den imaginären Rockkragen des Kammergerichtsassessors losließ, sich jählings im Bett aufrichtete und hastig fragte:

»Was gibt's? Was ist's? Wer ist da?«

Und eine Stimme drang durch das Schlüsselloch, so scharf und schrill wie ein Zugwind, der es auf einen hohlen Zahn abgesehen hat.

»Stibbe, wenn ich in Ihrer Stelle wäre, so sähe ich einmal von Zeit zu Zeit nach, ob die hochnäsige, naseweise Gans, meine Tochter, im Bette sei.«

»Was?! Wer ist das? Sind Sie es, Fräulein Pogge? Wo soll meine Tochter sein?«

»Nicht auf dem Walhallaballe, Sie alter Narr!« antwortete die Zugwindstimme. »Der Schauspieler, der Vagabund vom Hahnebalken, ist auch natürlich zu Hause. Stibbe, in Ihrer Stelle guckte ich von Zeit zu Zeit einmal unvermutet in meiner Tochter Bett.«

»Tonnerre!« fluchte der tailleur de Paris, aus dem Bette springend und nach dem Feuerzeug greifend: »Fräulein, ich bitte Sie –«

Aber die Stimme wurde nicht mehr gehört. Als der unselige Vater den Kopf aus der Tür steckte, war auch nichts zu sehen, weder eine Katze noch ein Drache noch Fräulein Aurora Pogge. Nur im ersten Stock knarrte eine Tür und ließ sich ein mühsam unterdrücktes Hohngelächter vernehmen.

Im tiefsten Negligé hielt der edle Vater die Lampe über das Lager der unglückseligen Tochter und stieß einen wahren Theaterschrei aus, da er das leere Nest erblickte. Sollte er jetzt nach der Walhalla stürzen und sein sündiges Kind aus dem üppigen Kreise der Freude reißen, um es in den tiefsten Schlund der zähneklappernden Schmach hinabzuschleudern? Non! Zu großer Skandal! Impossible!

Der zürnende Vater vervollständigte aber nur um so mehr rachedürstend seine Toilette und legte sich auf die Lauer, bewaffnet mit einem Stock, der an Wucht und Elastizität selbst für Aurora Pogge kaum etwas zu wünschen übriggelassen hätte. Er zählte in schauerlicher Aufregung die langsamen Stundenschläge den Kirchuhren nach. Eins, zwei – drei – – vier – – – fünf! Sein Zorn wuchs, je mehr die Nacht wich, je ärger ihn fror und je näher der Morgen kam.

»Da sind sie! – jetzt!« ächzte er, wenn ein Tritt unter dem Fenster erschallte. Krampfhaft umspannte er den Stab Wehe!

»Wieder nicht!« seufzte er in ohnmächtiger Wut. »O die Dirne, die unverschämte Diablesse!«

Er bereitete ein Glas Punsch, um sich warm und seine Wut heiß zu erhalten.

Endlich um ein Viertel nach fünf kamen – sie! Sie kamen durch einen leisen Regen, dicht aneinandergedrängt – ganz Paul und Virginie. Der Arm des Jünglings umschlang die Jungfrau aber kaum so fest wie die Hand des Vaters der Jungfrau das hispanische Rohr. Sie konnten anfangs das Schlüsselloch nicht finden; es war, als habe selbst der Hausschlüssel eine Ahnung davon, daß jemand hinter der Tür stehe und warte.

Sie fanden endlich das Schlüsselloch und traten auf den Zehen ein; ein lautes Wehgeschrei und wildes Gefluche war die unmittelbare Folge davon. Der Stock war überall da, wo sie ihn nicht vermuteten; er hüpfte und sprang, als sei er mit Leben, Verstand und Vernunft begabt; die schmerzhaftesten Stellen suchte er sich aus, und Geschrei und Fluchen waren sehr schlechte Schutzmittel gegen ihn. Das Wehegeheul der Liebenden weckte aber das ganze Haus, und bis auf Fräulein Aurora Pogge glaubte jedermann wieder, es brenne abermals und das Haus stehe bereits in hellen lichten Flammen.

Schreckensbleich, außer sich vor Entsetzen, stürzten die Bewohner der Nummer zwölf auf den Walplatz, und von jetzt an können wir die Fortsetzung des Berichtes wieder in die guten Hände des Polizeischreibers Fiebiger legen. Er wohnte den fernern Verwicklungen und der schließlichen Lösung bei und weiß gut zu erzählen.

»Du hast wirklich nichts, gar nichts von dem Spektakel gehört, Ulex?«

Der Sternseher schüttelte den Kopf.

»Das wundert mich doch. Der Lärm war großartig und gewiß eine Stunde weit zu hören. Im hohen Diskant kreischte der Schneider, die Tochter flötete wie eine Nachtigall, der ein Mehlwurm in die unrechte Kehle gekommen ist; im sonorsten Tragödienpathos fluchte und perorierte mein Julius Schminkert dazwischen. Der Schneider hatte sich auf die beiden jungen Leute gestürzt wie der Bock auf die Haferkiste. Es gab heillose Schläge, und trotz meiner Stellung als Mann der allgemeinen Ordnung und Ruhe fühlte ich mich nicht bewogen, der Wut des Parisers Einhalt zu tun. Schade um jeden Schlag, welcher hier nebenaus ging! Es war übrigens ein vollständiges Lustspiel im Augenblick der Krisis. Alle Figuren, welche Thalia ins Feld zu führen pflegt, waren vorhanden: der gekränkte Vater, die leichtfertige Schöne, der Liebhaber, die böse Nachbarin, der mürrische Nachbar, der gleichgültige Nachbar samt dem Chor der dienenden Geister. Lustig wirbelte das alles durcheinander, und als der Liebhaber dem zürnenden Papa endlich den Stock entriß, faßte Stibbe den Hausherrn und rief alle Strafen des Himmels und der Erde – als Schneider sagte er nicht: der Hölle – auf ihn herab, wenn er den Störenfried und Don Juan Julius nicht auf der Stelle aus dem Hause werfe. Auf die Augen des Fräuleins Pogge fuhr die liebende Tochter mit ausgespreizten Fingern zu, und bald sollte ich erfahren, daß es höchst wünschenswert gewesen wäre, wenn die schöne Angelika der Megäre die Sehorgane ausgekratzt hätte. Leider legten wir uns ins Mittel und retteten das Geschöpf vor ewiger Blindheit. Ich bewunderte den Schauspieler. Er hatte sich auf das Treppengeländer geschwungen und sah jetzt aus der Höhe ungemein kaltblütig auf das Getümmel der Parteien herab; er ließ die Geister aufeinanderplatzen und schien durch kurze pikante Bemerkungen die Leidenschaften noch mehr steigern zu wollen. Der Schlingel wußte, daß er das Mittel habe, die hochschlagenden Flammen zu besänftigen; er hatte dieses himmelblaue Büchlein hier, dieses, dieses, dieses! in der Tasche und zog es hervor, als der Lärm den höchsten Grad erreicht zu haben schien. ›Man schweige!‹ rief er mit so dröhnendem Pathos, daß alle Blicke sich trotz allem auf ihn wendeten, zumal da Fräulein Aurora Pogge ein Gekreisch ausstieß, wie ich es noch nie gehört hatte und hoffentlich nimmer wieder hören werde. Sie wollte sich auf den Schauspieler stürzen; aber dieser schrie, das blaue Buch schwingend: ›Haltet sie! Laßt sie ja nicht heran! Es gibt einen Mord! Es geht um unser aller Leben! Halten Sie sie doch, Stibbe! Mäuseler, packen Sie zu!‹ – Wir griffen unwillkürlich alle zu, und Fräulein Pogge fiel fürs erste in Ohnmacht. ›Silentium!‹ wiederholte Julius Schminkert und hielt darauf ungefähr folgende Rede: ›Verehrungswürdige Anwesende beiderlei Geschlechts, süßeste Geliebte meiner Seele; Sie, Stibbe, teurer Mann, den ich bald Schwiegerpapa zu nennen hoffe; Sie, Mäuseler, edler Besitzer dieses Grund und Bodens; Sie, Herr Polizei – – erlauben Sie mir, daß ich bereits zu Anfang dessen, was ich zu sagen habe, einige Tränen der Rührung vergieße. O Angelika, möge diese feierliche Stunde unser Geschick entscheiden – Fiebiger, lassen Sie doch die Alte, sie tut nur so und hört alles! Angelika, ich liebe dich – hört es alle! Monsieur Alphonse Stibbe, ich habe, siehe Akt fünf, von einer Tante achthundert Taler geerbt und halte hiermit feierlich um die Hand Ihrer Tochter an!‹ – Der kleine Schneider im fliegenden hellgrünen Schlafrock wollte wie ein erboster Grashüpfer gegen den Redner anspringen; aber dieser wies ihn mit einer ebenfalls aus irgendeinem fünften Akt stammenden Handbewegung zurück und fuhr fort, während Aurora Pogge in meinen Armen anscheinend langsam das Bewußtsein wiedererlangte: ›Meine Herren und Damen, wer kennt die süßen Triebe nicht, durch welche die Welt besteht? Wessen Herz ist so ausgebrannt, daß kein Flämmchen mehr daraus hervorzuckt, Herr Mäuseler, sei es auch nur dem letzten Aufflammen des Rums an einem Plumpudding vergleichbar?! Meine Herren, ich liebe mit der vollen Dampfkraft der Jugend diese hier gegenwärtige Jungfrau Angelika Stibbe; sie ist und wird die Meinige mit dem Willen des Geschicks, gegen den Willen desselben!‹ Der Schauspieler warf einen Blick über die Versammlung der Hausgenossen, hob das blaue Buch, blätterte darin und fuhr fort: ›Wie aus diesem Manuskript‹ – Fräulein Pogge wand sich wie ein Aal, dem lebend die Haut abgezogen wird –, ›wie aus diesem Manuskript hervorgeht, hat hier gegenwärtige, etwas reife Jungfrau, Fräulein Aurora Pogge, ihr Auge und ihr Herz auf hier ebenfalls gegenwärtigen Jüngling, Herrn Rentier Mäuseler, geworfen und will ihn heiraten mit seinem Willen, gegen seinen Willen.‹ Der Redner machte lächelnd eine Pause, der Rentier sah sehr erschrocken und eselhaft aus; Aurora in meinen Armen fiel scheinbar abermals in Ohnmacht. In dem himmelblauen Buche blätternd, sprach Julius Schminkert mit erhöhter Stimme: ›Pagina hundertundsechs beweist, daß Herr Alphonse Stibbe, Witwer von Karoline Stibbe geborener Triller, ebenfalls bereit ist, das sanfte Joch der Ehe sich wieder aufzuladen. Gegenüber –‹ Der Schneider hing plötzlich am Halse des Deklamators und drückte ihm hastig die Kehle zu. Die schöne Angelika schlug die Hände mit lautem Geschrei zusammen: ›Steht das da, Julius? O Himmel, steht das da? Na, Papa?!‹ – ›Ich erwürge dich, wenn du den Mund nicht hältst‹, flüsterte der Schneider dem zukünftigen Schwiegersohn ins Ohr, und dieser nickte lachend: ›Ruhig, Papa; es steht hier noch manches andere über Sie geschrieben.‹ – Und Julius Schminkert fing jetzt an, wirklich Bruchstücke der Memoiren des Fräuleins Aurora Pogge uns vorzutragen. Da aber brach ein allgemeines Wut- und Rachegeschrei unter den Hausgenossen los; selbst mir sträubten sich die Haare in die Höhe. Ulex, dieses Weib ist bewunderungswürdig – eine geistige Gesche Gottfried, eine moralische Giftmischerin vom reinsten Wasser, reinster Aqua Toffana. Über uns alle ging es her, wir konnten keinen Atem mehr schöpfen unter den Ergüssen einer schönsten Seele, die sich jetzt über uns ergossen. Der Schneider fiel dem Schauspieler weinend um den Hals: ›Und du, mein Junge, hast dieses Scheusal enthüllt? Ja, dafür sollst du mein Kind haben – wie du auch bist, mein Sohn! O dieser Satan! Diese Teufelin!‹ – Aber jetzt war's wirklich Zeit, daß ich eingriff; man hätte die Schriftstellerin sonst in Stücke zerrissen; laut schreiend floh sie die Treppe hinauf, und ich und Robert deckten unten an der Treppe ihren Rückzug. Ihr nach wollte der Zorn der Empörten, der Gekränkten, Verlästerten. ›Laßt uns durch!‹ schrie der Schauspieler. ›Durch! durch! ihr nach!‹ schrien die andern in allen Tonarten; aber wir hielten gut und trieben den wohlberechtigten Ansturm zurück. ›Bahn frei, unnatürlicher Sohn der Polizei‹, rief Schminkert unsern Robert an und setzte hinzu: ›Sie sollten doch auch Partei für uns nehmen, Wolf. Vivat Helene Wienand, Pagina zweihundertdreizehn.‹ – ›Was soll Helene Wienand?‹ frage ich erstaunt, und der Schauspieler antwortet lachend: ›Fragt nur diesen Jüngling aus dem provinzialen Urwalde selber, Fiebiger. Hurra, Sturm, Sturm! Vorwärts, Schwiegerpapa! Schlagt ihr die Tür ein, hinaus mit ihr aus dem Hause! En avant, Mäuseler! Marsch, marsch, trarara! Hinaus mit ihr auf die Straße!‹ – Ich faßte jetzt denn doch den Tollkopf an den Schultern, nahm ihn, sehr ruhig geworden, beiseite und fragte ihn ernstlich, was er mit seinen Worten über das Fräulein Wienand gemeint habe; selbstverständlich war es aber unmöglich, in diesem Augenblick von ihm Ausführlicheres über die Sache zu erfahren.«

»Und Robert?« fragte der Sternseher.

»Ja Robert. Na, du hättest den Jungen sehen sollen! Erstarrt stand er, wurde abwechselnd rot und bleich, zuletzt so totenbleich, daß ich fast Furcht bekam. Glücklicherweise fing ich seine Faust, die eben den Schauspieler niederschlagen wollte, auf. Ich ließ natürlich auf dieses hin die andern ihre Angelegenheiten mit Fräulein Pogge allein ausmachen und zog unsern Zögling am Ohr die Treppen hinauf. Er ließ sich willenlos ziehen und –«

»Und?!« fragte der Sternseher.

»Und ich erfuhr, daß Julius Schminkert, daß das Tagebuch Auroras recht habe!« antwortete der Schreiber, kläglich die Hände faltend. »Was sollen wir nun mit dem Geschöpf anfangen, Ulex?«

»Erzähle mir dein Gespräch mit dem Knaben; ich werde dir dann meine Meinung sagen.«

»Der arme Junge«, seufzte Fiebiger, »eben haben wir ihn aus dem Regen glücklich ins Trockene gebracht, so gerät er unter die Traufe, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Wie ein Ölgötze stand der arme Sünder da und beichtete, was er zu beichten hatte. Es war nicht viel; aber es war genug, übergenug für mich. Ich schüttle den Erstarrten; aber es kostet Mühe und Zeit, ehe er meine Fragen beantwortet. Endlich faßt er wild meine Hände, so daß ich noch jetzt blaue Flecke davon aufzuweisen habe, und sieht sich verstört um nach dem Haufen Wüstensand, in welchen er seinen Kopf stecken kann. Unten im Hause vor der verriegelten Tür Aurora Pogges singt währenddem die wütende Hausgenossenschaft dumpf den Chor der Rächenden aus ›Lucrezia Borgia‹:

Deine Wut riß aus liebenden Armen Meinen Ohm Appian ohn Erbarmen!

Schauerlich klingt die Weise herauf, und mein Robert ringt die Hände: ›Was soll ich sagen? Ich weiß es nicht, ich habe es nicht gewußt; o Gott, ich wußte es ja selber nicht; wer hat es ihnen gesagt?‹ – Er bittet mich, ihn fortzuschicken – grade wie damals –, ich soll ihn ziehen lassen in seine Heimat, ruft er, und ich habe alle Not, ihn nur etwas zur Ruhe zu bringen. Es ist so, Heinrich Ulex, die armen Kinder haben sich öfters gesehen und gesprochen, als für ihre Ruhe gut war. Diesmal aber hat die Liebe den albernen Jungen auf eine andere Art gepackt. Die Geschichte mit Eva Dornbluth ist gar nichts dagegen. Er hat wieder merkwürdig unruhige Tage und Nächte hingebracht – daher seine Zerstreutheit –«

»Sein Mißbrauch meiner Fernröhre!« warf der Sternseher ein.

»Daher sein Maulaufsperren, sein Aufschrecken bei jeder unvermuteten Anrede! Ich habe dem Schauspieler dies himmelblaue Buch abgenommen, es steht mancherlei über das neue Verhältnis darin; aber Julius Schminkert selbst wußte doch noch mehr. Der Narr hatte schärfere Augen gehabt als wir Alten. O Himmel, Heinrich Ulex, wie sind wir hinter das Licht geführt! Der Junge liegt jetzt auf meinem Sofa und hat das Gesicht in den Händen vergraben; Ludwig Tellering ist heute morgen auch auf meiner Stube gewesen; auch der hat mehr gesehen als wir alten klugen Leute. O Heinrich, Heinrich, ich hatte die beste Hoffnung, aus meinem Knaben einen gescheiten, behaglichen Hagestolz zu machen. Nun ist die Hoffnung ins Wasser gefallen, und der Teufel mag sie wieder herauffischen. Zum Teufel; der Narr hat doch schon ein gut Stück vom Weibervolk kennengelernt! Oh, oh, oh, Heinrich Ulex, was fangen wir mit dem Jungen jetzt an?«

Der Sternseher sah in den Nebel, der jetzt bedeutend sich gelichtet hatte; er sah nach der Decke, sah auf den Boden, sah höchst bedenklich seinen Freund an. Er schüttelte den Kopf und sprach endlich: »Wir wollen das Fräulein von Poppen fragen. Ich werde zu ihr gehen.«

Zweiundzwanzigstes Kapitel Die Lebendigen wandeln in Unruhe – der Tod guckt in das Buch

Der Polizeischreiber schlug sich vor die Stirn wie jemand, dem ein großes Licht aufgeht.

»Das ist das Richtige, Heinrich!« rief er. »Geh zu ihr; die Geschichte geht sie fast noch mehr als uns an. Sag ihr, sie solle die Kleine tüchtig ins Gebet nehmen. Was hat das Mädchen meinem armen Waldteufel in den Weg zu laufen – o diese Weiber, diese Weiber!«

Der Polizeischreiber machte seinem Herzen noch lange in ähnlicher Weise Luft; der Astronom aber machte Toilette, und das war nichts Geringes für ihn. Er schwitzte jedesmal Angstschweiß dabei, suchte stundenlang Dinge, die er bereits um und an sich hatte, und stieg zuletzt doch die Treppe mit dem Gefühl herunter, daß trotz aller angewandter Mühe noch nicht alles in Ordnung sei. Weshalb wären auch sonst soviel Leute stehengeblieben, um ihm nachzublicken?

Je mehr der Sternseher sich in den Gassen fürchtete, desto gemessener, feierlicher, würdiger wurde sein Schritt. »Welch ein Pedant!« sagten die Leute, die ihm begegneten und ihn nicht kannten. »Welch eine treffliche Bühnenfigur!« sagte der Lokalpossendichter, »den Mann werde ich studieren und gut verwenden!« Er hielt nur halb Wort; freilich studierte er den komischen Kauz, aber er brachte ihn nicht auf die Bühne; tief zog er den Hut ab, wenn er und Heinrich Ulex später sich wieder begegneten. Komisch, possenhaft war der Mann doch nicht zu verwerten.

Nach elf Uhr erreichte der Gelehrte die Wohnung des Freifräuleins, die in einem durchaus nicht vornehmen Stadtviertel lag. In der Schulstraße wohnte Juliane zu ebener Erde in einem Eckhause, dessen Fenster zum Teil auf einen wimmelnden Gemüsemarkt sahen, und die Zimmer boten einen ganz andern Anblick dar wie die der Baronin Viktorine in der Kronenstraße. Die kleine, lahme, zynische Philosophin hielt nicht viel auf weiche Diwans, Fauteuils und Teppiche; aber sie liebte schöne Gemälde und Kupferstiche und hatte ihre Wände reichlich damit geschmückt. Seltsamerweise schien das Freifräulein vorzüglich eine Vorliebe für die Riedingerschen Tier- und Jagdstücke zu haben; sie besaß deren eine große Anzahl und hatte ihnen in reichen Goldrahmen fast überall die Ehrenplätze angewiesen. Das alte Junkerblut und der Winzelwald konnten sich eben nicht verleugnen.

Es gab im Haushalt des Freifräuleins keine schnippische Lisette, keinen gespreizten galonierten Baptiste. Ein kleines Mädchen, welches Juliane aus der Armenschule zu sich genommen hatte, öffnete dem Sternseher die Tür und sagte:

»'s Fräulein ist drin mit 'n Herrn.«

Ulex klopfte nochmals leise an eine zweite Tür, und diesmal öffnete das Freifräulein selbst, trat aber einen Schritt zurück, als es den alten Freund erblickte.

»Ulex?! Um des Himmels willen, wie kommen Sie – was ist geschehen? Ist der Mond heruntergefallen? Ist etwas mit der Sonne passiert? Herein mit Euch, Mann – was treibt Euch hierher?«

Der Greis wurde ins Zimmer gezogen, er wurde auf einen Stuhl gedrückt, der Hut wurde ihm abgenommen, ehe er zu Atem gekommen, ehe er seiner Verwirrung Herr geworden war.

Ein anderer, jüngerer Herr hatte sich von einem andern Stuhl erhoben.

»Mein Neffe, Leon von Poppen«, sagte das Fräulein vorstellend. »Herr Ulex, mein alter Freund.« Beide verbeugten sich voreinander, und Leon dachte: ›Bien, den Burschen hätt ich schon längst gern gekannt.‹ Laut sagte er: »Sehr erfreut, Ihnen die Hand drücken zu können, Herr Doktor –«

»Es ist eine große Ehre für Sie, lieber Neffe!« sagte das Freifräulein. »Nun, Ulex, reden Sie; was ist geschehen? Es muß etwas Außergewöhnliches sein.«

Wäre der gelehrte Mann, der weise Beobachter der Sterne nicht solch ein altes Kind gewesen, so würde er sich gewiß zweimal bedacht haben, ehe er in Gegenwart Leons von Poppen das ausgesprochen hätte, was ihn durch die Gassen trieb, was ihn zu der alten Freundin führte. Aber Heinrich Ulex bedachte sich nicht; er verstand es nicht, etwas zu verbergen, wenn er sich der Tochter des Poppenhofes, der Elfin des Winzelwaldes gegenüber befand. Er hatte keine Ahnung davon, daß der Bericht dieser einfachen Liebesgeschichte den ernsthaften, bescheidenen jungen Mann, den Neffen seiner Freundin, auch sehr interessieren könne.

Unter der Maske lächelnder Gleichgültigkeit verbarg Leon von Poppen seine Verwunderung:

›Höchst originell, überraschend merkwürdig!‹ dachte er. ›Diese Wölfe scheinen prädestiniert zu sein, mich überall zu contrecarrieren. Dieser Lümmel vorzüglich; – ausgezeichnet – Eva – Fräulein Helene Wienand! Per Bacco, der Einfall dieses Einfaltspinsels und übergeschnappten Professors, jetzt hierherzukommen, um bei ma tante Vortrag zu halten, ist anerkennungswert; nicht zu bezahlen, auf Ehre! Werde aber doch den Bauernjungen schärfer im Auge behalten und meine kleine Zukünftige auch nicht vergessen.‹

Hoch auf horchte das Freifräulein, als es die große Neuigkeit vernahm, sie nahm bedeutend mehr Prisen als sonst, und ihre Nasenspitze rieb und behandelte sie so, als sei dieselbe durchaus nicht ihr persönliches Eigentum. Dagegen unterbrach sie, ganz gegen die Gewohnheit der Weiber, die Erzählung des Alten nicht, sondern ergriff erst das Wort, nachdem der Berichterstatter mit einem Gestus, welcher nur bedeuten konnte: so, gottlob, meine Seele ist die Last los – atmend das Kinn auf den Stockknopf stützte.

Nun hob das Fräulein die kluge, spitze, rotgeriebene Nase, trommelte auf der Dose und rief:

»Das ist freilich eine tolle Nachricht, die Ihr mir bringt, Ulex. Ei, ei, also das ist's?!«

Sie versank in ein tiefes nachdenkliches Schweigen, der Sternseher rührte sich nicht, Herr Leon von Poppen betrachtete mit ungeheurer Aufmerksamkeit einen Kupferstich, auf welchem ein Fuchs geduckt einen Hühnerstall umschlich:

›Höchst angenehme Situation für einen im geheimen Liebenden – une école! Man kann doch immer etwas lernen.‹

Wieder aufschauend, sprach das Freifräulein:

»Also das ist's! Na, Gott sei Dank, Ulex; es hätte schlimmer sein können. Daß meinem Pflegekinde außer der Sorge um den närrischen Vater noch etwas anderes auf dem Herzen lag, habe ich längst gemerkt; – dies freilich ahnte ich nicht. Wir wollen jetzt nicht weiter darüber reden, Ulex; mein Neffe dort würde sich zu sehr langweilen. Erwartet mich heute abend zur gewohnten Stunde auf Eurem Turm, Alter. Wir haben Fritz zu unserer Beratschlagung ebenfalls nötig; – übrigens macht Euch keine unnötigen Sorgen, Ulex; wir wollen den Kindern schon die Köpfe zurechtsetzen.«

Der Sternseher nahm Abschied von der alten Freundin und ging auf möglichst menschenleeren und verborgenen Pfaden nach Haus. Auch der Baron von Poppen verabschiedete sich von der Tante, und diese sagte bei seinem Weggehen:

»Haltet Euch gut, Poppen; ein Narr seid Ihr und bleibt Ihr; aber ich glaube fast, es steckt doch noch ein Keim zu einem anständigen Menschen in Euch.«

»Dank für die gute Meinung, teuerste Tante«, lachte Leon, der alten Dame die Hand küssend. »Man sieht doch wenigstens, daß Sie den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren haben. Au revoir!«

Damit ging auch der Baron und legte sich im Zimmer seiner Mutter hinter der Gardine auf die Lauer; aber er bekam nicht einmal den Schatten Helenes zu Gesichte. Gegen vier Uhr nachmittags seufzte er:

»Mama!«

»Was gibt es, Leon, du böses Kind?«

»Mama, da macht soeben chère tante unserm liebenswürdigen Vis-à-vis die gewohnte Visite; darf ich ihr eine Kußhand zuwerfen?« Im geheimen setzte er hinzu: ›Könnte ich doch die alte Schachtel begleiten!‹

Victorine de Poppen, née de Zieger, welche bis dahin auf ihrem Diwan im gewohnten apathischen Halbschlummer gelegen hatte, richtete sich höchst lebendig, aufgeregt, entrüstet auf die Ansprache des Sohnes hin in die Höhe:

»Leon, ich verbitte mir jetzt ganz ernstlich diese gräßliche Art, in welcher du mir seit deiner sogenannten Umwandlung jeden ruhigen Augenblick verdirbst. Was gehen mich die Leute drüben an? Du scheinst seit einiger Zeit ordentlich Buch über ihr Tun und Lassen zu führen. Und die Person – ich sage dir, Leon, wenn du deine arme unglückliche Mutter in ein frühzeitiges Grab stürzen willst, so setze diese seit kurzem von dir angenommene abscheuliche Weise fort und ärgere mich durch Erwähnung ihres Namens. Leon, Leon, trotz deiner mirakulösen Besserung machst du mir doch Kummer genug; Frau von Flöte –«

Diesmal war an dem vortrefflichen Freiherrn die Reihe, sich die Nennung eines Namens höchlichst zu verbitten. Der junge Mann fühlte sich, nachdem er von dem Besuch bei der Tante zurückgekehrt war, wieder einmal recht hinfällig an Körper und Geist. Es gab einen Augenblick, in welchem er beschloß, seinen so energisch aufgegriffenen Plan fallenzulassen; aber eine lichte Gestalt, ein Schein, der drüben an den Fenstern des Bankiers Wienand hinglitt, litt das nicht. Herr Leon von Poppen mußte weiter auf der so kühn beschrittenen Bahn, trotz Kopfweh, Nervenzucken und Rheumatismus. Es war nicht zu verlangen, daß der Baron in der Nacht, welche auf diesen merkwürdigen Sonntag folgte, von Lydda von Flöte anders träumte als von einer Hexe, die auf einem Heiratskontrakt in viel lieblichere Traumbilder störend hereingaloppierte, während Robert Wolf und Eva Dornbluth mit einem tollen indianischen Kriegstanz um das Bett des Freiherrn sich belustigten.

Der arme Robert! Er dachte nicht im mindesten daran, Herrn Leon von Poppen irgendwie, weder geistig noch körperlich, zu belästigen. Auf der Stube des Polizeischreibers gab er sich selbst den wildesten, schwärzesten Phantasien hin, und den Schlüssel zur Stube hatte der Polizeischreiber vorsichtig ausgezogen und in die Tasche geschoben, ehe er seine Wohnung verließ, um sich zu der verabredeten Zusammenkunft auf dem Observatorium des Sternsehers zu verfügen.

Im Erker des Nikolausklosters aber sagte Juliane von Poppen:

»Ich habe alles reiflich überlegt, ihr Herren. Ich werde meinem Kinde nicht auseinandersetzen, welche Entdeckung wir gemacht haben. Die Tage des armen Herzens sind finster genug geworden; es ist kaum zu glauben, was es um den Vater leidet. Vielleicht ist es ein hohes Glück, daß diese erste Neigung dem Kinde grade jetzt gesendet wurde. Wir dürfen keinesfalls mit zu harter Hand dareingreifen. Wir wollen der armen Helene diesen blauen Fleck am dunkeln Himmel so lange als möglich lassen; und wenn wir auch schärfer Wacht halten als bisher, so wollen wir es sie doch nicht merken lassen. Den Jungen, den Schlingel, könnt Ihr freilich schon härter anpacken, Fiebiger. Redet ihm ins Gewissen, Alter. Erinnert ihn an seine Schauspielerin oder Sängerin; es schadet gar nichts, wenn Ihr ihm den leichten Sinn ein wenig niederdrückt. Der Bursche ist noch sehr jung; man hat mit seinem Herzen gespielt, nun soll er nicht mit dem meines Kindes spielen dürfen. Laßt ihn tüchtig arbeiten, laßt ihn lernen, legt ihm eine eiserne Hand auf den Kopf und zeigt ihm jetzt das Leben so nüchtern wie möglich. Wenn in dieser Neigung die rechte Kraft ist, so wird er den Kopf schon wieder aufrichten, und die Zukunft wird das Dienliche bringen! Wir wollen uns nicht zuviel Sorge darüber machen. Wann denkt Ihr den Knaben aus Eurer Schule entlassen zu können, Ulex?«

»Ich hoffe, daß wir ihn im nächsten Frühjahr auf die Universität senden können«, antwortete der Sternseher.

»Vortrefflich! Das paßt ganz. So habt denn gute Acht auf den Knaben, ihr Herren; für das Mädchen will ich schon sorgen.« –

Als Friedrich Fiebiger und Juliane von Poppen vom Turm des Sternsehers niedergestiegen und in den Klosterhof getreten waren, war der erste Schnee des Winters gefallen, und über die Stadt und weit über alles Land lag die weiße Decke gebreitet. Stumm gingen die beiden alten Leute nebeneinander, man hörte ihre Schritte nicht, weder auf dem Hofe von Sankt Nikolaus noch in der Straße, noch in dem Hofe von Nummer zwölf in der Musikantengasse. Sie sahen noch einmal in die Wohnung des Tischlers Johannes Tellering, sie beugten sich still über das Lager des Kranken. Hinter ihnen her war verhüllt ein anderer, noch lautloseren Schrittes, gegangen; er stand auch jetzt hinter ihnen und blickte ihnen über die Schultern und schüttelte wie sie den Kopf. Alle in dem dämmerigen Gemach ahnten seine Gegenwart und schauderten – – Johannes Tellering sollte nun nicht lange mehr leiden.

Als Juliane und der Schreiber aus der Hofwohnung wieder ins Freie getreten waren und mit vollen Zügen die frische Luft geatmet hatten, sagte das Freifräulein:

»Wie wunderlich, wunderlich – wie Herzen ihre Hoffnungen da aufbauen, wo ebenso viele Hoffnungen zugrunde gehen; – o Fritz, es muß doch eine tüchtige Lebenskraft in der Welt stecken! – –«

Noch einmal sahen sich Robert und Helene am Bette des Meister Johannes, und das war gut; dann endete das Leben des alten Handwerksmannes, und das war auch gut. Nun lag der wackere Kämpfer ausgestreckt, still auf seinem Lager; er hatte Ruhe – es war, als spiele ein Lächeln des Triumphes um die bleichen Lippen. In ihrer Kammer weinten Mutter und Tochter, aus der Werkstatt erschallte kraftvoll der Hammerschlag Ludwigs; der Sohn vollendete eben den Sarg des Vaters; er machte meisterliche Arbeit, es mußte der trefflichste Sarg werden, den er jemals angefertigt hatte. So maß er denn und behobelte die guten Bretter, auf denen des Vaters Augen so oft geruht hatten; es war ihm während der Arbeit, als ruhten sie noch darauf, und er bestrebte sich mit fieberhaftem Eifer, daß das Stück ohne Fehl und Tadel – ein gutes wackeres Schreinermeisterstück – zustande komme.

Wieder war es Nacht; wieder lehnte Robert Wolf an der Hobelbank neben dem Freunde, und Ludwig Tellering sagte zu ihm:

»Was hilft es alles – weiter, immer weiter; Brett zu Brett, Nagel bei Nagel, Schraube bei Schraube; – was sorgen wir uns viel um ein Leben, das zuletzt doch hiermit zu Ende ist?«

Dröhnend fiel die Faust des Arbeiters auf den Sarg, dann fuhr er fort:

»Weiter, immer weiter! Wenn ich den stillen Mann dort in der Kammer hier in dieser Kiste in die Erde gelegt haben werde, was dann? Werde ich dann können, was ich muß? Kann ich hier in dieser Werkstatt weiterhämmern und weiterhobeln in gewohnter Art? Es kommt mich ein Grauen an, wenn ich daran gedenke. Ich muß, ich muß! Sieh um dich, Robert, siehst du nichts im Dunkel der Winkel? Die Not, der Hunger kriechen gierig daraus hervor. Täglich und stündlich schlage ich sie mit dem Hammer nieder, aber sie richten immer höhnischer die Köpfe auf. Dagegen ist keine Hülfe hier. Ich denke oft, in der Ferne sei Hülfe; – aber wo? Ich zerbreche mir oft den Kopf darüber. In die Ferne möchte ich – weit, weit von hier weg; immer weiter, weiter!«

»Über das Meer, nach Amerika, zu Marie Heil«, sagte Robert, ohne eigentlich zu wissen, was er sagte. Die Ideenverbindung ergab sich von selber; aber Ludwig starrte den Freund an, als ob er etwas ganz Unbegreifliches, Überraschendes ausgesprochen hätte.

»Oh«, sagte Robert, »du bist doch noch glücklich. Wohl ist der Tod deines Vaters ein schmerzliches Ereignis, aber das schreckliche Leiden ist dadurch zu Ende gekommen; der Gute dort in der Kammer fühlt keine Schmerzen mehr, geh hinein und sieh, wie er lächelt. Du bist immer noch glücklich, Ludwig; du kannst deine Liebe aufsuchen; nichts hindert dich, morgen zu gehen, und deiner Mutter und Schwester kannst du drüben vielleicht ein besseres Los schaffen, als hier es möglich ist. Du kannst Marie suchen und wirst sie finden; ich aber – ich muß meine Liebe fliehen; – sie haben entdeckt, was ich so tief in meiner und deiner Brust verborgen glaubte; sie haben es auf die Straße gerissen, die Narren, die bösen Weiber lachen und grinsen darüber, die Freunde schütteln traurig den Kopf – was soll ich tun? Was soll ich tun?«

Die jungen Herzen schlugen laut und wild; der tote Greis in der Kammer nebenan regte sich aber nicht, das Lächeln schwand jedoch auch aus den erstarrten Zügen: Staub zu Staub, Asche zu Asche; ruhig, ruhig, ihr jungen Herzen! – –

Dreiundzwanzigstes Kapitel Es kommt Nachricht von den Wanderern. Robert Wolf läßt sich naßregnen. »Texas!«

Hoch lag der Schnee, und grau war der Himmel, als der Leichenzug des Meisters Johannes Tellering sich durch die Straßen wand; aber selten wurde der Sarg eines armen Mannes mit so schönen und teuern Blumen geschmückt zur Gruft getragen. Von seinem Turm herab war der Sternseher Heinrich Ulex gestiegen und schritt dicht hinter den Trägern des Sarges; Polizeischreiber Fiebiger hatte Urlaub vom Rat Tröster, seinem hohen Chef, genommen und ging mit Robert hinter Ludwig und dem alten Ulex. Ein langer Zug Handwerksgenossen in den langen ehrbaren Feiertagsröcken, Zitronen auf den Handwerksemblemen tragend, folgte. Juliane von Poppen und Helene Wienand blieben in der Hofwohnung bei den armen Frauen der Familie.

Der Schnee lag hoch, die Luft war dunkel, der Tag ganz geeignet zu einem Begräbnis. An der Grube auf dem Kirchhof hielten weder der Konsistorialrat Krokisius noch die Herren Seelenhirten Nothzwang und Drönemeier Lobreden auf den Verstorbenen. Aber es war viel nachdenkliches und betrübtes Volk zugegen, und das Lob, das leise und mit Tränen in den Augen geflüstert wurde, war auch ein Lob. Es zeigte sich, daß der Meister Johannes ein sehr bekannter, ein sehr angesehener Mann war, und zwar nicht nur bei den Handwerksgenossen.

Das Sprichwort meint freilich, man müsse sterben, um gelobt zu werden, wie man freien müsse, wenn man getadelt werden wolle; aber hier war das Lob so einstimmig und innig, daß wirklich nicht an der Aufrichtigkeit desselben zu zweifeln war. Selbst Julius Schminkert war an diesem Morgen recht ernst gestimmt, und niemand hörte an diesem Tage einen der gewohnten Witze von ihm. Schnell erhob sich über dem Leibe des Meisters Johannes der Hügel, und noch während der Arbeit der Spaten deckte ihn bereits der herabwirbelnde Schnee. Durch ein lustiges Gestöber schritten die Träger, die Leidtragenden nach Hause, und die, deren Heimweg lang war, vergaßen den Toten, bevor sie das erste Viertel des Weges zurückgelegt hatten. Sie hatten ihre eigene Not, ihre eigenen Bedrängnisse – dem Toten war sein Recht gegeben; wer konnte es ihnen verdenken, wenn sie nun gleich wieder an das Leben dachten? Es war für die meisten Teilnehmer am Grabgefolge doch hart genug, dieses Leben!

Durch den tiefen Schnee wateten auch die Freunde aus der Musikantengasse und der Gelehrte vom Giebel des Nikolausklosters nach Hause. Sie vergaßen den Toten nicht so schnell, nachdem die traurige Pflicht abgetan und Staub zu Staub gelegt worden war. Noch einen Augenblick saßen Ulex, Fiebiger und Robert Wolf nieder in der dunkeln Hofwohnung, inmitten der kleinen trauernden Familie, deren Haupt sie zu Grabe gebracht hatten.

Milde tröstende Worte sprach der Sternseher zu der Frau Anna und der weinenden Luise, und Helene Wienand, dicht an das Freifräulein sich schmiegend, verwandte die Augen nicht von dem ehrwürdigen Gesicht des Greises. Auf dem Heimwege aber faßte das junge Mädchen die Hand Julianes und rief mit einem plötzlichen Ausbruch:

»O er muß zu meinem Papa kommen; er muß ihn sehen, er muß zu ihm sprechen!«

»Von wem sprichst du da, Kind?« fragte das Freifräulein ganz verwundert.

»O von ihm, dem Guten, dem guten alten Mann!« rief Helene. »Er wird zu dem Vater sprechen; er wird ihn heilen; er wird tun, was der Herr Rat Pfingsten nicht kann!«

Das Freifräulein sah das Pflegekind ganz verwundert an.

»Den alten Ulex meinst du? Wahrhaftig, es könnte deinem Vater gar nichts schaden, wenn der mit ihm zusammengebracht würde. Welch eine Idee! Wir wollen noch darüber sprechen!«

Der Wagen hielt vor dem Hause in der Kronenstraße, und die Baronin Viktorine, die am Fenster stand, fuhr beim Anblick der Schwägerin, mit den Zeichen allerhöchsten Abscheus, bis in die Mitte des Zimmers zurück:

»Die Person! Schlimmer als eine Spinne, schlimmer als – eine – Maus! Elise, Elise, mein Fläschchen!«

Elise stürzte mit dem Riechfläschchen herbei und führte ihre Herrin zu dem Diwan, wo dieselbe aus einem leichten Krampfanfall dem gewohnten Schlummer anheimfiel. Im obern Stockwerk lauerte Leon hinter der Gardine auf das Füßchen Helenes. Das wenige, was er davon erblickte, setzte ihn in eine sehr gemischte Stimmung.

»Der Engel!« hauchte er und setzte grollend hinzu: »Impertinenter alter Drache von Tante! Aber nur ruhig, Leon, mein Sohn; wir machen da drüben doch noch Visite.« – –

Es spannen sich die Tage eines jeden fort durch den Winter. Zu seinem Robert sagte Polizeischreiber Fiebiger:

»Du hast dir ein hohes, schönes Ziel vorgesteckt, mein Junge, und es ist sehr zweifelhaft, ob du es erreichen wirst, ob du deinen Willen haben wirst. Eines merke dir, Junge: durch Träumen und Grillenfangen erreichst du es nicht, und wenn dir die Umstände noch so günstig wären, wenn dir – hm – das kleine Ding – hm – noch so gut wäre. Dies Fräulein Wienand ist ein ganz hübsches Mädchen; aber nicht nur vor die Tugend, sondern auch vor das Schöne setzten den Schweiß die unsterblichen Götter, wie Ulexius sagen würde. Und diese Götter sind ganz merkwürdige Persönlichkeiten: äußerlich höchst glücklich und klassisch-regelmäßig gebildet, inwendig aber voll Nücken, Tücken und Schrullen. Es amüsiert sie, die Menschen wie Kreisel tanzen zu lassen, sie wissen die Peitsche wohl zu gebrauchen, und die Göttinnen – Venus Amathusia vor allen – stehen und halten sich die Seiten vor unbändiger Heiterkeit. Ach, wir auf der Polizei erfahren viel von ihrem Wesen, mehr als alle griechischen und lateinischen Schullehrer und Professoren! Die Götter wollen sehr oft den Schweiß – Schweiß und Blut –, ohne den Lohn geben zu wollen. Versuche es aber doch und schwitze; wer weiß, was geschieht!«

Und Robert arbeitete, und die jetzt so scharfäugigen Alten waren nicht so grausam, daß sie ihn ganz von Helene getrennt hätten; sie überwachten jedoch die Zusammenkünfte der beiden jungen Leute sehr genau und gaben acht, daß kein Schaden geschehe.

Der Hammer in der Hofwohnung klang Tag und Nacht, fast ohne Aufhören. Die Säge kreischte, der Hobel fuhr über alles Rauhe, über alle Äste und Knorren: Glatte Bahn! glatte Bahn! Guten Mut, Ludwig Tellering, auch im Menschenleben räumt eine starke Hand manchen Knorren und Ast aus dem Wege und macht glatte Bahn, glatte Bahn, glatte Bahn!

Der Sternseher sah nach den Sternen, und das Freifräulein führte ihn bei dem armen Bankier in der Kronenstraße ein; aber der Kranke hatte große Angst vor dem Greise und duldete nur zitternd seine Gegenwart. Der Sanitätsrat Pfingsten sprach sich gegen das Freifräulein dahin aus: es werde endlich nichts übrigbleiben, als den Patienten in eine Irrenanstalt zu bringen, Hülfe und Heilung werde aber voraussichtlich auch da nicht zu finden sein; denn diese Art der fixen Ideen komme meistens nur mit dem Tode des Individuums zu Abschluß.

»Wenn das ist, so wollen wir den armen Mann nicht fremden Händen überlassen, Pfingsten«, sagte Juliane. »Zu Tode füttern können wir ihn auch.« Der Arzt zuckte die Achseln. –

Unter dem Getön einer höchst friedlichen Katzenmusik sämtlicher Hausgenossen verließ Fräulein Aurora Pogge die Nummer zwölf der Musikantengasse, und der Tag ihres Exodus war für die Nummer zwölf ein sehr heiterer Tag. Der satanische Julius hatte natürlich an der Tür der Schneiderwerkstatt Posto gefaßt, und die himmlische Angelika kicherte hinter dem Türvorhang. Über alles und jedes machte das holde Paar seine frivolen Bemerkungen. Nichts war den beiden unverschämten Kreaturen heilig, weder die jungfräuliche Bettstatt Auroras noch das Porträt des kriegskommissarischen Papas; ja Schminkert trieb die Verwogenheit sogar so weit, dann und wann ein Stück Hausrat anzuhalten und, zum Ergötzen des vor der Haustür versammelten Volksspiels, seinen Scherz damit zu treiben:

»Hier kommt der Thron der Grazien! Laßt den Thron der Grazien durch, Bürger von Athen!« schrie er, als ein grinsender Packträger einen kastenähnlichen Stuhl, auf welchem man grade nicht sehr graziös sich niederzulassen pflegt, hervorschleppte.

»Laß den Deckel zu! Laß den Deckel zu, glorwürdig Volk!« schrie der Schauspieler. »Hier kommt ein ganzer Waschkorb voll süßer Erinnerungen aus lang, unendlich, unermeßlich, schauderhaft lang vergangener Jugendzeit. Setzt ab die Bahr', ihr schwarzverhüllten Träger – bei allen Mächten, hineingucken muß ich, und wenn des Teufels Großmutter in eigener Person Wache davor hielte! ... Brrr! Lauter Perücken und mauserige Schmachtlocken? Lauter abgelegte imitierte üppige Körperformen? Hurra, versammeltes Volk, was sagst du hierzu?«

Mit spitzen Fingern hielt der Spötter eine vergilbte seidene Robe aus dem Anfang dieses Jahrhunderts in die Höhe, und Janhagel sperrte lachend das Maul auf:

»Donner, welch 'n Staat!«

»So trug man sich, als Fräulein Pogge ein junges Mädchen war; lang, lang ist's her!« sprach und sang der Schauspieler mit einem tiefen Seufzer und ließ den Plunder wieder fallen. Er erblickte jetzt den Hausherrn am Fenster und rief ihm mit gellender Stimme zu:

»Soll ich ein Andenken für Sie – ganz Rokoko, Herr Mäuseler –, soll ich ein Andenken zurückbehalten für Sie?«

Der Rentier schüttelte krampfhaft das ehrwürdige Haupt, und Julius Schminkert setzte seine spaßhafte Inventur zum Ergötzen der gesamten Nachbarschaft fort, bis mit dem letzten Hausgerät Fräulein Aurora Pogge selbst, grüngelb, vor Wut dem Tode nahe, das Haus verließ und mit einem allgemeinen Jubelgeschrei von der Hausgenossenschaft entlassen und von dem Haufen auf der Straße empfangen wurde.

»Jetzt Chlorkalk her!« jubelte Schminkert. »Pulver aufgeblitzt! Mit Essig den Boden gesprengt! Räucherkerzen und Königsräucherpulver! Herr Stibbe, Schwiegerpapa in spe, Sie, Herr Mäuseler, Kommerzienrat in spe: ich bitte um ein Attest darüber, daß ich mich um das Vaterland verdient gemacht habe!«

Fräulein Aurora Pogge zog aus, und Julius Schminkert blieb im Hause; sein Ansehen und Ruf war bedeutend gestiegen, seine Liebe für die liebliche Angelika blieb dieselbe. Er legte die achthundert Taler, das Vermächtnis der seligen Tante, nieder in die Hände des Tailleurs Alphonse Stibbe als Bürgschaft für künftiges gutes Verhalten. Dem Hausherrn, Herrn Mäuseler, malte er in mancher Privatunterhaltung immer schrecklicher die Heiratsfallen, welche ihm – Mäuseler dem Edlen – Aurora Pogge gelegt habe, und der Rentier erklärte ihn – Julius Schminkert – für einen recht gescheiten jungen Mann, mit dem man Nachsicht haben müsse, da er doch nichts dafür könne, daß ihn Gott in seinem Zorn zum »Kinstlär« gemacht habe.

Unter den allbekannten, oft besungenen und beschriebenen Symptomen nahm der Winter Abschied und kam der Frühling: es gab ein großes Auftauen und viel Schmutz in der Stadt sowohl wie auf dem Lande. Unglückliche Buttervögel wagten sich hervor und erfroren wieder in sehr kalten Nächten; auf dem Spaziergang kreischten die Damen hell auf, wenn harmlos der erste Frosch vor ihnen über den Weg hüpfte; irgendwo durchbohrte der erste Mückenrüssel den feinen weißen Strumpf und sog Jungfrauenblut zum hohen Unbehagen der Jungfrau. Die frommen Schwalben kamen aus ihren unbekannten Winterquartieren zurück und klebten ihre Drecknester an die Häuser, und sehr viele pietätlose Hausbesitzer stießen sie mit langen Stangen wieder herab, weil sie behaupteten, das »Viehzeug« bringe Wanzen mit. Der Landmann pflügte fluchend über die saure Arbeit und die hohen Steuern den Acker, und die Krähen hüpften hinter ihm her und fraßen mit Appetit Engerlinge; auch der während des Winters erzeugte Dünger wurde aufs Feld gefahren. Man bekam wieder einmal sehr leicht den Schnupfen und wurde ihn wieder einmal sehr schwer wieder los. Es war nicht zu verlangen, daß der Polizeischreiber Fiebiger sich sehr begeistere für den Frühling; er nahm ihn, wie er sich gab, und traute ihm nicht eher, bis er vorüber war. An einem Morgen im Frühling aber war's, als der Beschützer Robert Wolfs in den vor seiner Tür angebrachten Briefkasten griff und einen Brief hervorzog, welcher durch Vermittelung eines der bekanntern Handlungshäuser der Stadt in den besagten Kasten geworfen worden war.

Der Schreiber vergaß nicht leicht eine charakteristische Handschrift, wenn er sie auch nur ein einziges Mal gesehen hatte; der Brief kam aus weiter Ferne, kam übers Meer, der Brief war von Friedrich Wolf.

»Keine Überstürzung!« sagte der Polizeischreiber, legte das gewichtige Päckchen auf den Tisch, zündete seine Pfeife an, warf einen Blick auf Robert Wolf, der am Fenster eifrig las, zog einen Stuhl an den Tisch, setzte sich mit einem Seufzer nieder und erbrach nun erst ganz bedachtsam das Kuvert. Zwei andere Briefe fielen heraus; der eine war von Marie Heil an Luise Tellering, der andere von Eva an Robert gerichtet. Der Schreiber warf wieder einen Blick auf seinen nichtsahnenden Schützling und vertiefte sich dann in das an ihn selbst gerichtete Schreiben Friedrich Wolfs.

Es lautete:

»Wir senden aus der neuen Heimat den Freunden drüben diese Botschaft. Geschwiegen haben wir bis jetzt, weil wir das für das Bessere hielten. Die Zeit sollte erst die Wunden, welche nicht wir geschlagen hatten, verharschen machen. Wir hoffen, daß die Zeit ihre lindernde Kraft bewiesen hat!

Ich kann dem wackern Mann, der meinem armen Bruder so hülfreich die Hand reichte, nur immer von neuem danken. Eva schreibt selbst an Robert.

Ich habe meine Frau wild und weit durch die Welt geführt; die Kinder aus dem Winzelwalde haben ihr eigenes Schicksal, und wechselnde Sterne leuchten über ihnen. Nun stehen wir wieder vor einer großen Wanderung. Den Reichtum, welchen mir das Glück unaufgefordert in den Schoß warf, hat es mir in einem Anfall übler Laune wieder bis auf ein Bruchteil genommen, und meine Angelegenheiten befinden sich jetzt ziemlich vollständig, wie man hierzulande sehr geistreich sagt, out of fix. Die Stimmung haben wir uns jedoch nicht verderben lassen und bereiten uns jetzt zu einer marooning party, das heißt eine Landpartie auf mehrere Tage mit Proviant, vor; das heißt wiederum, wir gehen einige tausend Meilen weit, nach Texas. Es weht hier eine ungemein gesunde Luft, und wir atmen den Hauch des Weltmeeres zugleich mit dem Hauch des Urwaldes und der Prärie ein; man verliert dabei nicht so leicht den Mut. Die eigene Kraft, die in Europa so manches Mal nur eine Phrase ist für ein von tausenderlei Staatsgewalten gezügeltes, zurückgehaltenes, niedergedrücktes, vergebliches Abkämpfen, ist hier für den echten Mann noch immer eine Wahrheit, was auch die nächsten Zeiten bringen werden. Wenn man nur nach den Sternen sieht, so findet man immer seinen Weg; – mit frischem Mut westward ho, und – Gott befohlen!

Eva Wolf ist wohl und fröhlich, von fixings keine Spur; – sie weiß vortrefflich mit dem Revolver umzugehen und wird, eine herrliche stolze Jägerin, mit den Jägern und Handelsleuten reiten. Die Frau wird sich weitläufiger in ihrem Schreiben auslassen; meine Zeit ist gemessen, rastlos muß ich den Schleifstein drehen, auf dem ich die Waffen und Werkzeuge schärfe, welche uns den Weg weiterbahnen sollen. Die Funken springen im feurigen Kreise, das Leben wartet auf niemand; morgen sind wir auf dem Wege der Sonne vom Orient zum Okzident! Was kümmert uns die Nacht? Wir sehen nach den Sternen, an die wir glauben!

Lebt wohl!

Friedrich Wolf

New Orleans, Saint Charles Hotel, am 28. Febr. 184–.«

»So ist es!« murmelte der Polizeischreiber. »Der eine sitzt in der Höhe, zum Exempel drüben auf dem Giebel des Nikolausklosters, hoch über dem Getriebe der Menschen und sagt: Seht nach den Sternen. Der andere marschiert im Getümmel mit, tritt seinem Vordermann auf die Hacken, läßt sich von seinem Hintermann auf die Hacken treten und faßt seine Lebensweisheit in dieselben Worte zusammen. Phantasten sind sie beide; aber es ist doch ganz nobel, sich solchen Phantastereien hinzugeben. Übrigens hat der Mann im Giebel den Vorteil, daß er wenigstens so ziemlich sicher sitzt; dieser hier« – der Schreiber legte die Hand auf den Brief Friedrich Wolfs –, »dieser hier beschreitet einen gefährlichen Pfad und führt, was das schlimmste ist, ein anderes, schwächeres Wesen auf demselben Pfade mit sich fort. Es ist wahr, sie haben viel Glück, diese phantastischen Abenteurer, die in lächelnder Sorglosigkeit keinen Zweifel kennen und sich allen feindlichen Gewalten gewachsen glauben; die Welt bedarf ihrer, die Poeten, die Helden jeder Art rekrutieren sich aus ihnen. Dieses nach seinen Sternen sehende Abenteurertum schiebt die Geschichte vorwärts; überall ist es am Werk beschäftigt, hinter der Bühne und auf der Bühne. Wer zieht die Seile und haspelt an der Maschinerie, wenn die Szene sich verändern soll? Diese sternguckenden Gesellen sind es. Wenn nur ihre Sterne nicht so oft sich in Sternschnuppen verwandelten! Arme Burschen! Was ist das Ende der meisten? O Friedrich Wolf, mein tapferer, mein lieber, mutiger Junge, wohin wirst du von deinen Sternen geführt werden? Wohin wirst du dein mutiges, edelherziges Weib führen?«

Kopfschüttelnd erhob sich Fritz Fiebiger und legte den Brief Evas auf den »Phädon«, Robert Wolf vor die Nase.

Auch der Jüngling erkannte sogleich die Handschrift; er stieß einen erschreckten Laut hervor, eine hohe Röte überflog sein Gesicht, die Hand, mit welcher er das Siegel zerbrach, zitterte nicht wenig; aber dieses Mal zerriß er den Brief Evas nicht ungelesen. Das geöffnete Schreiben in der Hand, wollte er aus der Tür stürzen, als der alte Fiebiger lächelnd rief:

»Halt ein wenig! Hier ist noch eine Epistel an Fräulein Luise Tellering; nimm sie mit und gib sie ab.«

Robert griff nach dem Dargebotenen und eilte jetzt davon; den Brief an Luise legte er auf dem Hofe in die Hand Ludwig Tellerings, mit dem Schreiben Evas sprang er in die Gasse und durcheilte sie fast so schnell wie an jenem Abend, wo er von Julius Schminkert und dem Polizeischreiber gejagt wurde. Manche Straße mußte er durchlaufen, ehe er sich so weit gefaßt hatte, daß ihm die Buchstaben nicht mehr verworren vor den Augen durcheinandertanzten. Es regnete leise, aber er merkte es nicht; zuletzt stand er, an eine Hauswand gelehnt, mitten in dem an ihm vorübertreibenden Getümmel und las:

»Lieber, lieber Robert!

Ich schreibe Dir wieder einen Brief. Ein Jahr und ein halbes ist vergangen, seit wir uns zuletzt sahen, das ist eine lange Zeit für das kurze Menschenleben. Man kann darin viel Leid erdulden und viel Freude haben; man kann darin viel besser und viel schlechter werden. Man kann darin ein ganz anderes Wesen werden, und manchmal merkt man das, oft merkt man es nicht; es geschieht darum aber doch.

Es trennt uns nicht nur die Zeit, es trennen uns auch weite Räume, Land und Wasser, und oftmals mein ich noch, es sei nur ein Traum, der mich hier gefesselt halte und mir so bunte Bilder zeige. Oh, ich sehne mich gar nicht nach dem Erwachen; ich bin eine glückliche Frau geworden, Lieber; – o möge es Dir auch so gut gehen und mögest Du all das Glück finden, welches ich Dir zu jeder Stunde wünsche. Ich fühle es nun recht mit geheimem Schauder, dort bei Euch hätte ich zuletzt doch zugrunde gehen müssen; ich war wie ein armer Vogel, welchem man die Flügel abgeschnitten hat und der im Staube sein Leben, das eigentlich den blauen Lüften gehört, verhüpfen muß. Weißt Du, lieber Bruder Robert, in unserer Stube zu Poppenhagen hüpfte solch ein verstümmelter Vogel unter den Bänken, verstäubt, halb blind, mit zerzaustem Gefieder, immer in Furcht vor der Katze. Fritz hatte ihn gefangen und mir geschenkt, ich denke heute noch kummervoll an das arme Tier – die Katze hat es zuletzt doch erhascht. Mir sind jetzt die Flügel wieder gewachsen, und ich kann hoch und weit fliegen; aber den armen Hänfling vergaß ich darum doch nicht, auch nicht das Schulhaus und das Pastorenhaus, die Gräber auf dem Kirchhof, die Berge, den Poppenhof – das ganze Poppenhagen. Die Kirchglocke höre ich noch immer, und alle Dorfleute kommen mir vor die Augen, als habe ich sie erst gestern verlassen. Wenn ich hier in großer Gesellschaft bin, im englischen Sprachgewirr, wenn alles higgledy-piggledy durcheinanderzischt und -schnappt, auf dem Mississippidampfer, im Wagen oder zu Pferde: überall und immer kommen mir die alten bekannten Bilder. Und wenn mich dann irgendein kluges oder dummes Wort aufweckt und ich antworten muß, so merke ich, wie ich in meinen Träumen aus dem Getümmel so weit weg war. – Da sitze ich und frage mich, ob wohl die alte Liese noch lebe und vor der Schenke in der Sonne kauere. Ob wohl an dem Wegweiser auf dem Kaiserberge immer noch alle drei Arme fehlen. Welche Kinder mögen jetzt wohl die Abendglocke ziehen, da wir fort und so weit in der Welt zerstreut sind? Ich hätte doch nie gedacht, daß ich einmal das Heimweh nach dem Winzelwald, nach dem schmutzigen Dorf Poppenhagen bekommen würde.

Lieber Bruder, Fritz ist sehr gut gegen mich; er hat viel Unglück gehabt in der letzten Zeit. Ein großer Liner, das heißt eines der Liverpooler Paketschiffe, ist mit vielen Gütern, die uns gehörten, untergegangen, wir haben viel Geld verloren beim Bankerott einer Bank in Philadelphia. Aber Friedrich ist ein rechter Mann, der sich nicht durch Widerwärtigkeiten beugen läßt; wir werden jetzt eine große Reise antreten in ein ganz neues Land, wo es vielen gelingt, Reichtümer zu erwerben; Fritz hat die besten Hoffnungen; er summt, singt und pfeift den ganzen Tag, und sein Schritt erschüttert immer stärker den Fußboden. O wenn ich ihm nur behülflich sein könnte auf seinem Wege! Wäre meine Hand so stark wie mein Herz, er sollte auf kein Hindernis auf seinem Pfade stoßen. Nun kann ich aber nur treu an seiner Seite gehen und den Sternen, die er sieht, glauben und ihm folgen, wie er mich führt, durch Wildnis und Wüste, über Land und Meer, durch alle Not und allen Schmerz. Lieber, teurer Bruder, je fester ich mich an das Herz, welchem ich mich gegeben habe, festklammere, desto mehr muß ich mit Wehmut an den Schmerz denken, der durch mich einem andern Herzen, wenn auch ohne meine Schuld, angetan ist. O möchtest Du doch schon die gefunden haben, welche Dir zum Trost und zur Begleitung auf Deinem Lebenswege von Anfang an bestimmt wurde; – ich war es nicht, lieber Robert, das sage ich Dir immer wieder. Wir leben hier in einem herzlosen, lieblosen Getümmel; ach Robert, wenn Du doch wüßtest, was es mir sein würde, wenn ich nur mit dem einen Gefühl des Heimwehs der Heimat gedenken könnte! Gedenke Du der Wanderer im fremden Lande, dear Bob, aber sende ihnen keine harte und wilde Gedanken nach auf ihren wilden, gefahrvollen Weg.

Sei tausendmal gegrüßt und lebe wohl!

Eva Wolf«

Die Leute, welche an dem lesenden Robert vorübergingen, hatten hinreichend Grund, sich über den jungen Mann zu verwundern; er gab an seiner Hauswand eine vollständige dramatische Vorstellung dem erstaunten Publikum zum besten, und Julius Schminkert würde es nicht besser gemacht haben. Als er wieder zur Besinnung kam, entzog er sich ziemlich beschämt so schnell als möglich dem gaffenden Kreise, welcher sich um ihn gebildet hatte, und eilte ziemlich durchnäßt vom Regen heim. In der Musikantengasse stürzte ihm sein Freund Ludwig, welcher sich in einer ähnlichen Gemütsverfassung wie er selbst befand, entgegen:

»Texas! Texas! Sie geht nach Texas, hat sie der Schwester geschrieben! Und ich – wir – die Mutter und Luise – wir alle gehen ihr nach. Ich habe es lange mit mir herumgetragen; aber jetzt ist's fest beschlossen; ich gehe mit der Mutter und Luise nach Amerika. Es finden so viele Tausende, Hunderttausende ihr Glück drüben, weshalb sollten wir es nicht auch dort finden? Sie brauchen rüstige Arme und guten Mut drüben, und guten Mut und rüstige Arme habe ich. O Marie, Marie! Nach Amerika, nach Texas!«

Der Polizeischreiber in seiner Stube vernahm ein großes Gepolter draußen auf der Treppe und richtete den Kopf von seinem Buche in die Höhe:

»Na, da ist er wieder. Jetzt werden wir auch wohl erfahren, was in dem Skriptum steht. Kann's mir freilich schon denken. Na, Gott segne die Wirkung.«

Schon stürmte Robert in die Tür und reichte dem alten Freunde das Schreiben Evas.

»Lesen Sie! O lesen Sie! Was soll ich tun, um solcher Worte würdig zu werden?«

»Werde ein echter Mann, wie sie ein echtes Weib ist!« sagte Fiebiger ruhig, nahm den Brief Evas und legte dafür den Friedrichs in die Hand des Jünglings.

Am Abend wurden beide Schreiben dem Sternseher auf den Turm gebracht, und Heinrich Ulex neigte sein weißes Haupt darüber:

»Seht nach den Sternen!«

Vierundzwanzigstes Kapitel Reden der Weisen und Guten; Herr Leon von Poppen hält sich aber auch für gar nicht dumm. Perspektivische Aussicht auf einen Parfümerie- und Modewarenladen

Ein Jahr und ein halbes sind vergangen, seit die Leute dieses Buches uns zum ersten Male vor die Augen traten. Wir haben unser Bestes getan, den Leser mit ihnen bekannt zu machen. Ist uns das gelungen? – Große Tragödienfiguren konnten wir nicht aus ihnen machen und wollten es auch nicht. Keiner aus der bunten Reihe lehnt sich im tragischen Zorn gegen die Welt und die gegebenen Verhältnisse auf, um das eigene Ich, sei es im edelsten, sei es im verderblichsten Sinne, an ihre Stelle zu setzen und unterzugehen an dem großen Unterfangen.

Wir haben eine Handvoll Leben herausgegriffen aus dem Gewimmel des Daseins, wie der Schiffer aus dem leuchtenden Meer eine Handvoll lebendiger Glut schöpft. Es ist ein großes ewiges Glänzen, aber der einzelne Funken erlischt bald! Das Farbenspiel, welches im Ganzen kein Ende hat, das kommt in der noch so vollen Hand bald zum Schluß. Wir müssen uns drein ergeben; wir betrachten zappelnde Mollusken und zappeln selbst molluskenhaft zum Vergnügen anderer, bis die kurze Stunde unserer Zeit vorbei ist.

Die Frühlingssonne schien über Gerechte und Ungerechte, Kranke und Gesunde und erweckte nicht nur Flöhe, Mücken, Wanzen, das Gesindel Mephistos, sondern auch Blumen, Schmetterlinge und liebliche Hoffnungen aller Art. Es war doch, alles in allem genommen, ein recht erfreuliches und gar nicht langweiliges Ding um sie. Wenn auch der Frühling schon mehr als einmal dem Winter gefolgt war, er war doch ein lieber, gern gesehener Gast und fand überall offene Türen und sehr viele offene Herzen. Wehe den Türen und Herzen, welche ihm verschlossen blieben!

Neben dem Vater in dem verdunkelten Gemache saß Helene Wienand und nähte im Lichte des einzigen Sonnenstrahles, welcher, an dem niedergelassenen Vorhange vorbei, in das Zimmer dringen konnte. Mit angstvoller Aufmerksamkeit blickte der gebrochene Mann auf die geschäftigen Finger seiner Tochter; sie durfte unter diesem Blicke kaum innehalten mit ihrer Arbeit; denn es gehörte zu den bösen Einbildungen des Bankiers, daß sein Kind ihn, den verlorenen Bettler, mit dem Werk ihrer Hände ernähren müsse. Stundenlang konnte der reiche Mann sitzen und zusehen, wie die feinen Finger der armen Helene sich abmühten. Der Vater achtete nur auf die Finger seines Kindes, nicht darauf, daß die Augen desselben immer mehr ihren Glanz verloren, nicht darauf, daß die Wangen desselben immer mehr abzehrten. Tag für Tag, immerzu, immerzu mußte Helene jetzt unter diesem finstern, unheimlichen Blicke nähen; erst wenn die Erschöpfung den beklagenswerten Mann übermannte und ihn in einen unruhigen Schlaf versenkte, konnte sie sich Ruhe gönnen, durfte sie die Nadel sinken lassen und still weinen.

Seit dem Begräbnis des alten Tellering hatte sie die Straße nicht wieder betreten; sie wich dem Vater nicht mehr von der Seite, und selbst das Freifräulein konnte nichts dagegen tun.

Das Freifräulein war übrigens noch die einzige, welche einen Schimmer von Einfluß auf den Bankier hatte. Ohne sie wäre Helene bald ganz verloren gewesen. Täglich, stündlich kam sie, behandelte den armen Freund mit der gewohnten gutmütigen Schroffheit und jenem spottenden Humor, über den sie gut zu gebieten wußte, und umgab das junge Mädchen mit ihrer ganzen Liebe, suchte es auf jede Weise zu erheitern, trug ihm die Neuigkeiten der Stadt zu, lobte den trefflichen Neffen Leon von Poppen und erzählte von Zeit zu Zeit auch von – dem Schützling des Polizeischreibers Fiebiger.

So kam sie auch heute, um am Tage vor dem Grünen Donnerstag eine fröhliche Osterkerze in eine recht dunkle Stunde zu tragen. Herzermunternd erklang ihr Krückstock tap – tap – tap – auf der Treppe; – mit ihr drang in die Tür ein frischer Hauch des Lebens, und der einzige Sonnenstrahl in dem dämmerigen Zimmer glänzte doppelt stark darüber; – wer könnte aber die ermunternde Wirkung ihrer Stimme schildern?

»Da hocken sie wieder im Dunkeln, hab ich es mir nicht so vorgestellt?« rief sie polternd, durch das Gemach humpelnd, zog mit energischer Hand die Fenstervorhänge zurück und ließ die Frühlingssonne gleich einem Blitz in das Zimmer schlagen.

»So, Sie alte Nachteule!« sagte sie. »Kneifen Sie nur nicht die Augen zu, Wienand; es hilft Ihnen nichts, Sie müssen es ertragen. 's kostet auch kein Geld. Hören Sie, wer weiß, ob man nicht einst aus dem Sonnenschein Gold macht. Was sagen Sie dazu, Wienand? Das wäre so etwas für Sie! Nicht wahr, es wäre gar keine üble Kunst, wenn man den Sonnenschein von den Wänden kratzen und zu Louisdors umschmelzen könnte? Das ist eine Idee, denken Sie einmal darüber nach, Kommerzienrat.«

Der arme reiche Mann starrte die Rednerin mit weit offenen Augen an und rieb eifriger als je die Hände aneinander. Das Wort Gold rief immer in seiner Seele eine Reihenfolge von Gedanken hervor, der er gierig folgte, und so auch jetzt. Erst schloß er die Augen wie im tiefen Nachsinnen, dann starrte er in die Flut des Lichtes, wie sie in das Fenster drang; dann griff er mit den hagern zitternden Händen in den Strahl, als wolle er die funkelnden Stäubchen fangen und zusammendrücken und kneten zu kostbaren Barren und gerundeten Stücken.

»Wie es flimmert, flimmert!« rief er mit kreischender Stimme. »Gold, Gold, o soviel Gold in der Luft. Seht, seht, wie es flimmert; wer es doch fassen und halten könnte! Hier – da hab ich's – nein – nein, da ist die leere Hand; o wie schrecklich ist's, verhungern zu müssen, wenn so viel, viel, viel Gold in der Luft blitzt. Helene, Helene, greif du zu; vielleicht gelingt es dir besser – bankerott – bankerott – der arme Wienand hat kein Glück mehr, er wird das Gold nicht fangen!«

Weinend küßte die Tochter die gefurchte Stirn des Vaters und flüsterte:

»O lieber Papa, wir wollen es schon fangen; habe nur guten Mut, ich fange es schon, das Gold; Stück für Stück fange ich es; sieh hier, da ist schon ein Stücklein von den vielen, vielen, welche ich für dich erlangen werde.«

Sie hielt dem Kranken ein neugeprägtes, funkelndes Goldstück hin, und mit einem heisern Schrei griff der große Bankier Wienand danach, betrachtete es in höchster Aufgeregtheit, als wolle er es mit den Augen verschlingen, hielt es krampfhaft, als fürchte er, daß man ihm das blanke Metall sogleich wieder entreißen werde. Dann hob er sich aus seinem Lehnsessel und schlich auf den Zehen aus dem Zimmer, um den kostbaren Schatz an einem unbekannten Ort zu verbergen.

Helene sank in die Arme Julianes und schluchzte:

»Ich trage es nicht mehr! Es ist zu schrecklich! Es ist zu viel Schmerz!«

Auch dem alten Fräulein traten die Tränen in die Augen; aber es wischte sie resolut ab, machte sich sanft von der Umarmung des Mädchens frei und rief, die Locken des Pflegekindes streichelnd:

»'s ist recht, Kind, laß dem Weinen sein Recht; aber übertreib's auch nicht. Schau auf, mein Herz, es ist viel Unglück in der Welt, und kein Mensch kann eine Ringmauer dagegen um sich ziehen. Setze dich her, wir wollen ein Stündchen zusammen verplaudern, du arme Kleine. Sieh, da hab ich dir auch einen Strauß Frühlingsblumen mitgebracht. Stell ihn auf deinen Nähtisch in ein Glas mit Wasser. Wenn du wieder mit dem törichten Papa allein bist, so mag das hübsche Ding dich an die weite Welt erinnern, die so bunt und glänzend, so frei und unermeßlich weit um jeden Schmerz her liegt. Du wirst auch noch dein Teilchen davon haben; warte nur – auch die schwärzeste Wolke zieht vorüber; wie Meister Ulex sagt: post Phoebila nubus, oder wie es sonst heißen mag. Weißt du, von wem ich diese Blumen habe?«

Helene schüttelte den Kopf und sah das Freifräulein betrübt lächelnd an.

»Ein junger Ritter, der gestern einen gefährlichen Waffengang gut bestanden hat, gab sie mir. Du kennst den jungen Mann auch. Nun, wer mag es sein?«

»Etwa Herr Wolf, des Herrn Ulex Schüler?« fragte Helene leise, ganz leise und errötete nicht wenig dabei.

»Richtig geraten. Wie schlau wir sind! Der Junge begegnete mir, als ich hierherkam; er trug die Nase hoch zum Himmel emporgerichtet und wurde wacker gepufft und geknufft von den Leuten, welche vernünftiger waren als er und welche gradeaus auf ihren Weg sahen. Er war bestaubt und erhitzt von einem weiten Weg durch die Felder und Wiesen vor der Stadt. Er mußte nach seiner Beschreibung meilenweit gelaufen sein – Gott segne ihm seine gesunden Beine! –, um die Aufregung aus dem Blute loszuwerden. Er hat nämlich gestern ein Examen – sein Maturitätsexamen bestanden, und zwar sehr gut; der alte Ulex –«

»Ah«, rief Helene kindlich treuherzig mit glänzendem Gesicht. »Da freue ich mich! O wie ich mich darüber freue!«

»Das dachte ich mir wohl«, lächelte das alte Fräulein. »Ich freue mich auch; und der junge Mann schien ebenfalls höchst vergnügt darüber zu sein. Er behauptete, vor diesem Examen eine entsetzliche Angst gehabt zu haben; aber nun sei alles in bester Ordnung, und er habe nicht die mindeste Angst mehr. Der Meister Ulex hat ihn nun aus seiner scharfen Zucht entlassen; auch Fiebiger reibt sich die Hände, der junge Taugenichts aber benutzt seine wiedergewonnene Freiheit dazu, in den Feldern umherzustreifen und Blumen zu pflücken oder in den Gassen ältliche Damen zu erschrecken durch plötzliches Anspringen gegen dieselben. Was soll eine alte Person wie ich mit solchem Strauß solcher Blumen anfangen? Da, nimm, mein Kind – für dich passen sie recht gut und – wer weiß, was der Schlingel gedacht hat, als er sie mir in die Hand drückte. Nimm und stelle sie in frisches Wasser; – späte Ostern können recht bunt gefeiert werden. Da hast du Veilchen, Himmelsschlüssel, Anemonen – auch einen blühenden Weißdornzweig; – stich dich nicht an den Dornen, junges Blut – Birkenschäfchen, eine kleine Efeuranke – die Vergißmeinnicht mußt du dir dazudenken; sie kommen erst später.«

So plauderte die alte Dame fort, und der Wunsch, ihr Pflegekind aufzuheitern, ließ sie mehr sagen, als sie eigentlich im Willen hatte. Helene Wienand aber hielt den Strauß Robert Wolfs im Schoß, und ihre Seele war wirklich für kurze selbstvergessene Minuten so rein und licht wie in frühern, glücklichern Tagen, als sie noch das verzogene Kind des klugen, stolzen, reichen Geldmanns und nicht des unglücklichen, von jedermann bemitleideten Irrsinnigen war.

So erzählte das Fräulein von Poppen noch mancherlei und tat gar nicht, als ob sie merke, wie die Kleine immer von neuem auf allerlei feinen Umwegen das Gespräch auf den Giebel des Sternsehers, den Polizeischreiber Fiebiger und den Pflegesohn desselben zu bringen suchte. Willig ließ sie sich immer in die Musikantengasse und die Nachbarschaft derselben führen und erzählte, wie Robert die Arzneiwissenschaft studieren wolle und wie der Sterngucker und der Polizeischreiber sehr damit einverstanden seien, da diese gelehrte Kunst den Mann am selbständigsten in der Welt hinstelle. Dann erzählte das Freifräulein, daß Ludwig Tellering nunmehr fest entschlossen sei, mit seiner Mutter und Schwester nach Amerika auszuwandern, und daß der berühmte Schneider Herr Alphonse Stibbe seine Einwilligung zur Heirat der schönen Angelika und des nichtsnutzigen Julius Schminkert gegeben habe. Sie war noch daran, zu berichten, wie bereits ein Nonplusultraschild mit der Inschrift Schminkert und Komp. für den Nonplusultraparfümerieladen gemalt werde, als sie plötzlich im höchsten Grade erstaunt und nicht wenig ärgerlich emporsprang.

Gemeldet wurde:

»Herr Baron von Poppen!«, und Leon trat in das Zimmer.

Ja, da stand er, ehrbar und bescheiden, das Muster eines gebesserten Sünders! Und da er einmal da war, so konnte man ihn nicht hinauswerfen, sondern man mußte hören, was er zu sagen hatte.

Und er verbeugte sich – o so verlegen, so linkisch, so ganz überzeugt von seiner Unwürdigkeit, diesen Raum zu betreten.

»Sie hier, Leon?« rief die Tante. »Was soll das? Was wollen Sie hier?«

Und der Freiherr ließ den Hut fallen, hob ihn auf und ließ ihn wieder fallen.

»Hören Sie mich, liebste Tante! Gnädiges Fräulein, ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich – werde – sogleich – wieder gehen. Gnädigste Tante, ich war in Ihrer Wohnung und hörte, Sie befänden sich hier! Tausendmal Verzeihung – ich bin so verstört; – liebe, liebe Tante, ich mußte Sie auf der Stelle sprechen – ich bin so erfreut – so voll Jubel – ich habe die Stelle im Ministerium des Innern erhalten, die Stelle, von welcher wir sprachen. Ma tante, wir wollen der Welt zeigen, daß die Poppen doch noch nicht ganz verlorengegangen sind. Gnädiges Fräulein, wieder und wieder bitte ich um Verzeihung wegen meines tollen Eindringens; ich bin wie berauscht durch die Straßen gelaufen; ma tante –«

»Liebe Helene«, sprach die alte Dame in sehr würdiger Haltung, »dies ist mein Neffe, Baron Leon von Poppen, der jetzt ein brauchbarer, anständiger Mensch zu werden scheint. Du bist ihm vielleicht früher schon im Leben begegnet; aber es lohnte sich damals nicht, seine Bekanntschaft zu machen.«

Helene verbeugte sich in höchster Verlegenheit; Leon von Poppen aber sprach sanft lächelnd:

»Meine Tante hat ganz recht, gnädiges Fräulein; ich bin ein großer Sünder gewesen – Mitglied von allerlei verbotenen Gesellschaften, ein impertinenter Gesell, forlorn on the hill of the storm, wie Ossian es nennen würde. Aber hier stehe ich, in meines Nichts durchbohrendem Gefühl und schäme mich ein wenig. Nur ein ganz klein wenig, mein Fräulein; denn ganz bekehrt bin ich noch nicht, wie ma tante dort auch recht gut weiß. Es ist noch viel an mir zu bessern; mein Eindringen hier zeugt auch davon. Ma tante, ich küsse Ihnen untertänigst die Hand; gnädiges Fräulein –«

»Der Vater!« rief Helene, und die hagere, gebückte Gestalt des Bankiers Wienand schob sich wieder in das Zimmer. Er hatte seinen Schatz verborgen und schlich zu seinem Sessel zurück. Als er den fremden Herrn erblickte, erschrak er heftig; denn er fürchtete jetzt alle fremden Gesichter sehr.

»Es ist mein Neffe, der Baron von Poppen«, sagte das Freifräulein.

»Der Baron von Poppen, der Baron von Poppen«, wiederholte der Kranke. Er verbeugte sich vor dem jungen Mann viele Male und sagte dazu immer von neuem: »Der Herr Baron! Der Herr Baron! Der Herr Baron!«

»Was soll das nun wieder?« murmelte das Freifräulein.

»O der Herr Baron! Namen und Ehre! Ehre und Geld, viel Geld – o der Herr Baron – viel Ehre, viel Ehre! Der Herr Baron ist willkommen, sehr willkommen – armer Mann, sehr armer Mann – sehr willkommen ist der Herr Baron!« murmelte der Kranke. Er wurde immer zutraulicher gegen den jungen Freiherrn, und dieser wußte mit sicherm Takt ihn in guter Stimmung zu erhalten. Das Erstaunen des Freifräuleins wuchs von Minute zu Minute. Auch Helene horchte atemlos; so vernünftig hatte ihr Vater seit langer Zeit nicht gesprochen, so klar war sein Auge lange nicht gewesen.

Den Einfluß, welchen der Sternseher Heinrich Ulex nicht gewinnen konnte, schien Herr Leon von Poppen binnen kürzester Frist zu erlangen.

»Dies ist meine Tochter, Herr Baron, ein gutes Ding, aber arm, sehr arm – sehr armer Mann, Herr Baron!«

Das Freifräulein nahm Prise auf Prise. Helene drängte sich dicht an ihre Seite; Herr Leon ließ sich traulich neben dem Sessel des Bankiers nieder, und der Bankier hielt ihn am Rockschoß; – Herr Leon Freiherr von Poppen konnte mit dem Fortschritt, den er heute auf seinem Wege gemacht hatte, sehr zufrieden sein, und seine Gefühle waren auch gar nicht übler Art. Er fühlte sich ganz behaglich neben dem Stuhle des kranken Mannes und versprach – wiederzukommen. –

Hinauf die alte knarrende Wendeltreppe im Hofe des Nikolausklosters! Dunkel ist die Nacht, gefährlich der Weg; aber nur Mut! Hinter der schwarzen Tür leuchtet die Lampe des Sternsehers Heinrich Ulex, und die Freunde sind um sie her versammelt.

Treue Freunde umgeben den gebändigten Wolf aus dem Winzelwalde; aber mit der Morgendämmerung scheidet er aus ihrer Mitte, um in der Ferne seine Studien fortzusetzen und ein tüchtiger Arzt zu werden.

Es sprach der Sternseher:

»Die Stunde des Scheidens ist gekommen, mein Kind. Wir haben dich aufgenommen, da du krank, da du verlassen und freundlos warest; nun senden wir dich von neuem in die Welt; aber die Wunden sind geheilt, und nicht mehr gehst du einsam in wildes Gelärm und Getümmel. Freunde decken dir den Rücken bei jedem Schritt, welchen du vorwärts tust; so schreite denn mutig vorwärts und blicke dem Leben grade ins Gesicht; fürchte dich nicht und sieh nach deinen Sternen; dann wirst du nicht irren auf deinem Pfade. An der Stelle des Zornes und Schmerzes, die du in unsere Mitte mitbrachtest, ist dir eine neue tiefe Sehnsucht aufgewachsen. Wir können nicht wissen, ob dieser Sehnsucht einst Erfüllung wird; aber sie ist gut an und für sich, sie wird dich nach oben führen, wenn du ihr folgst. So folge ihr denn, folge ihr; es gibt nichts Besseres, kaum etwas Edleres, als solcher Sehnsucht zu folgen!«

Der Alte schwieg; er hatte noch manches andere sagen wollen, aber er beschattete seine Augen mit der Hand und schwieg. Juliane von Poppen ließ ihren Krückstock fallen und sah mit feuchten, liebevollsten Augen auf den Greis; dann aber faßte sie plötzlich den Arm Roberts, welcher ihr den Stab aufgehoben hatte, und rief:

»Gehe mit Gott, mein Sohn. Du hast gute und treue Lehrer gehabt, nun mache ihnen in der Ferne Ehre. Laß uns nur Gutes von dir hören. Du hast viel Glück gehabt im Leben; erkenne das dankbar an und komme nicht gleich von Sinnen, wenn dir einmal etwas nicht nach Wunsch geht. Halt den Kopf oben, mein Kind, der Meister Heinrich dort wird dir sagen, wieviel Großes und Gutes aus unerfüllten Wünschen tüchtiger Menschen entstanden ist!«

Das alte Fräulein sah bei diesen Worten sehr ernst und fast drohend drein, und Robert Wolf sah sie beide ziemlich kläglich an.

Nun sprach Polizeischreiber Fritz Fiebiger in großer Bewegung:

»Mein Junge, reise glücklich und laß bald von dir hören. Ich schmeichle mir, dir manche nützliche Lehre gegeben zu haben, laß mich noch einige hinzufügen. Vor allen Dingen laß dich niemals verblüffen. Wir Leute von der Polizei wissen Bescheid davon, wie leicht die Menschheit sich ins Bockshorn jagen und sich aus der Fassung und zu einer submissen Rückgratskrümmung bringen läßt. Ich habe dich ein wenig hinter die Kulissen blicken lassen, ziehe Nutzen davon und beuge dich nicht tiefer, als es nötig ist. Wie mit der hohen Polizei, so ist es auch mit allen übrigen Erdengottheiten; stehe also fest, wo du im Rechte bist. – Jeder macht Wind auf seine eigene Art; je größer der Blasebalg, desto stärker der Wind, desto ohrenbetäubender das Schnarren und Schnauben. Halte den Hut fest, es wird mehr als einer seine Kraft dransetzen, ihn dir vom Kopfe zu pusten. Wenn der Deckel aber einmal in der Luft fliegt, so mache dich nicht zum Gespött der Gassen und renne toll und blind hinter ihm her, sondern gehe ihm fein langsam nach und lache selbst; oft wird ein anderer ihn auffangen und dir entgegentragen; du kommst dann mit einem Dank davon. – Es bläst, greift und streicht jeder sein Lieblingsstück auf seinem Lieblingsinstrument; du, ich, das Fräulein hier im Lehnstuhl, der alte Ulex dort im Winkel, alle andern groß und klein ebenfalls. Im Grunde ist's ein heilloses Konzert; aber die Gewohnheit bewirkt, daß wir es recht gut ertragen, ja es öfters für die echte wirkliche Sphärenmusik halten. Blase dein Stückchen, mein Sohn; aber wolle deinen Takt nicht der ganzen übrigen Menschheit aufdrängen. Ich habe mehr als einmal mit Heiterkeit gesehen, wie bei solcher Gelegenheit die Instrumente zu Waffen in den Händen der Virtuosen und Dilettanten wurden und wie eine blutige Schlacht entstand. Bedenke, Robert Wolf, daß du doch nur eine ganz kleine klägliche Pfeife bläsest und daß solch ein dicker Brummbaß zu einer gewaltigen Keule wird, wenn der erboste Spieler ihn umkehrt und ihn auf den Köpfen der Orchestergenossen tanzen läßt. – Hüte dich, mein Junge, einen Menschen mutwilligerweise auf die Krähenaugen zu treten; leide es aber auch selber nicht, sintemalen es ein verflucht unangenehmes Gefühl ist. – Ereifre dich nicht über unschädliche Narrheiten der Leute, die du doch nicht ändern kannst. Stelle dir lieber dabei vor, du habest dein Eintrittsgeld zu einem schlechten Lustspiel gezahlt; gähnen magst du, aber tu es mit Anstand. Erinnere dich immer, daß du nicht der einzige Mensch in der Welt bist, der – der sich klüger dünkt als alle andern. Wenn du mir versprichst, dich daran zu erinnern, so gebe ich dir die Erlaubnis, so gut von dir zu denken, wie du willst. Mein lieber Sohn, manchem Halunken geht es wie dem frommen Storch, er hat einen bessern Ruf, als er verdient. Auch der Storch ist berühmt als Ausrotter von allerhand Ungeziefer; aber sein weiter Magen ist gefüllt mit gemordeten jungen Hasen, Rebhühnern und andern einfältigunschuldigen Delikatessen. Ein kluger Mann läßt sich nicht täuschen, es ist kein besonders behaglicher Aufenthalt im Magen eines solchen biedern Gesellen. – Ich habe manches Haus gesehen, über dessen Tür stand: salve hospes; aber auf gut deutsch hieß das nur: der Eintritt ist verboten, wer hereinkommt, wird hinausgeworfen. Merke dir das, Robert Wolf, und bitte dir, ehe du dem ›salve‹ traust, von dem Türhüter eine Übersetzung des ›hospes‹ aus. – Zum Schluß knöpfe deine Ohren so weit als möglich auf und vernimm, daß der Mensch viel schneller und früher alt wird, als er gewöhnlich für möglich halten will. Eines schönen Morgens wirst du erwachen und das klägliche Faktum dir nicht mehr verleugnen können. Sorge, daß du dich dann mit gutem Gewissen in den Großvaterstuhl setzen kannst. Ich habe gesprochen.«

Was Robert Wolf auf alle diese Reden sagte? Er sagte wenig oder vielmehr gar nichts, und was er fühlte, das gab sich in verworrenen, von Tränen erstickten Interjektionen kund. Er fühlte viel; aber es ist eigentlich nicht die Sache des erzählenden Schriftstellers, Interjektionen in seinen Text zu werfen. Wir können nur sagen, daß Robert durchdrungen war von dem Bewußtsein, daß man ihm viel, sehr viel Gutes erwiesen habe, und daß er allerlei versprach, worüber er sich in diesen Augenblicken kaum selbst hätte Rechenschaft geben können.

Die Nacht war dunkel; aber es war recht eine Nacht der Astronomen: die Sterne leuchteten hell, und wer irgend nach den Sternen sah, fand sie rein und klar an ihrer Stelle. In tiefer Finsternis begraben lag die Brandstätte, deren Schutt und Asche so schwer und dicht auf den Geist des klugen Bankiers Wienand gefallen war; wenn wir wieder dahin blicken, so werden sich viel neue stattliche Mauern, viel hohe Gebäude daselbst erhoben haben, und wieder werden viele Sternbilder dem Auge des alten Sternguckers Heinrich Ulex verdeckt sein.

Noch eine kurze Zeit saßen die Freunde im Giebelzimmer des Nikolausklosters zusammen; dann trennten sie sich, und der Alte vom Turme küßte seinen Zögling auf die Stirn:

»Lebe wohl, lebe wohl, mein Sohn; du hast mir viel Freude gemacht. Lebe wohl, sei glücklich und vergiß nicht die Sterne!«

»Kriechen Sie in Ihre Höhle, Fiebiger«, sagte das Freifräulein in der Gasse. »Robert kann mich allein nach Hause begleiten; geben Sie mir Ihren Arm, mein Sohn.«

Der Schreiber verschwand in der Tür der Nummer zwölf der Musikantengasse, und das Fräulein und Robert setzten ihren Weg fort. Leise, eindringlich und viel sprach noch auf diesem Wege Juliane von Poppen zu dem Jüngling; der Name Helene kam mehrmals in ihrem Geflüster vor, und Robert schritt gleich einem Nachtwandler an der Seite der Alten. Was sie ihm sagte, erfüllte seine Seele bald mit hohem Entzücken und stürzte ihn gleich wieder in halbe Verzweiflung.

Eine Viertelstunde später lief der Jüngling allein durch die Gasse:

»Ich soll mich ihr nicht zu nähern suchen! Sie liebt mich, aber ich soll ihr nicht nahe kommen, soll ihr nicht schreiben! O Helene, Helene, was soll ich denn tun?«

Plötzlich stand er vor dem Hause, welches der Bankier Wienand jetzt in der Kronenstraße bewohnte, und sah nach den dunkeln Fenstern desselben.

»Was soll ich tun? Was soll ich tun? O wie ich sie liebe – und ich soll sie nicht mehr sehen! Die Grausamen! Die Grausamen!«

Der Baron Leon von Poppen befand sich selbstverständlich noch nicht im Bett. Lang ausgestreckt lag er auf seinem Sofa, das neueste Meisterwerk Paul de Kodes studierend. In den Pausen seiner Lektüre sah er mit unendlichem Behagen den Wolken seiner Zigarre nach; ein Maler hätte zu einer Personifikation des guten Gewissens kein tauglicheres Vorbild finden können. Herr Leon hatte heute seine zweite Visite beim Bankier Wienand abgestattet, und diesmal in Abwesenheit der Tante Juliane. Der Kranke war in seiner Gesellschaft ganz munter und lebendig geworden, und die arme Helene mußte sich gestehen, es sei wünschenswert, daß der liebenswürdige Nachbar öfters zu dem Vater komme.

»Riesenfortschritte! Siebenmeilenstiefel!« lächelte der sinnige Träumer auf seinem Sofa. »Bah, bald werden wir die Dornen abgestreift haben vom Stengel! Bah, lächerlich, wer pflückt eine hübsche Rose mit einem Fausthandschuh? Mein lieber Baptiste, ich habe dich heute abermals im tête-à-tête mit der leichtsinnigen Elise getroffen; ich warne dich ernstlich – bedenke die Folgen!«

Baptiste empfing diese Warnung unmittelbar nach seinem Eintritt ins Zimmer, er neigte sein schuldiges Haupt und erwiderte:

»Herr Baron, ich komme soeben nach Hause – drüben vor der Tür des Herrn Bankiers Wienand steht wieder der junge Mann – Sie wissen –«

»Laß ihn stehen, Baptiste!« hauchte in ungemein gütigem Ton der Freiherr. »Wir wollen ihn ganz ruhig stehen lassen, lieber Baptiste. Was könnten wir auch sonst mit ihm anfangen, du guter Mensch?«

Und Baptiste zog sich zurück, und Robert Wolf durfte unbelästigt unter den Fenstern Helene Wienands sich die heiße Stirn vom Nachtwind kühlen lassen. Kein von Poppenscher Vasall stürzte sich mit geschwungenem Flamberg auf ihn; niemand stellte sich ihm hindernd in den Weg, als er endlich den Heimweg seufzend antrat. Von der nächsten Ecke herüber pfiff der Nachtwächter höchst unpoetisch die zwölfte Stunde. Es ist ein Jammer, die ganze Maschinerie der Romantik fällt allgemach auseinander, wir armen Teufel von Erzählern mögen noch soviel mit dem Federbart und dem Ölglase uns mühen: die Räder wollen nicht mehr, die Haken und Hebel sind zerbrochen; wie lange währt es noch, bis das Ding ganz stillsteht?

An einer andern Straßenecke stand Julius Schminkert im Schein einer Gaslaterne und betrachtete nachdenklich die Stelle, wo demnächst über dem berühmtesten Parfümerie- und Modewarenlager der Welt das Schild prangen sollte mit der Inschrift:

J. SCHMINKERT UND KOMP.

Mit übereinandergeschlagenen Armen stand der deklamierende Künstler da, trotz seines nahen Glückes düster wie die Nacht. Der Künstler wehrte sich in ihm mit aller Macht gegen den Parfümerieladen, Thalia wollte nicht das mindeste mit Putzsachen und articles de cour zu tun haben. Aber die Würfel waren geworfen.

»Gutwillig muß ich untertauchen, oder ich werde mit Gewalt niedergedrückt, Wolf!« sagte der Schauspieler tragisch, als Robert zu ihm trat. »Wie ich höre, wollen Sie uns morgen verlassen; ich wünsche Ihnen alles Glück; Freiheit liebt das Tier der Wüste, frei im Äther herrscht der Gott; na ja, ich werde einen schönen Hausvater abgeben – Schminkert und Kompanie – o süße Angelika! Hören Sie, bester Freund, was halten Sie eigentlich von Fräulein Angelika Stibbe, meiner himmlischen Anverlobten?«

Das war nun eine recht verfängliche Frage, und Robert verfing sich auch richtig.

Ganz verlegen sagte er:

»Ich – ich – würde nicht mit Herrenhandschuhen und Zigarren handeln.«

»Jüngling«, rief der Schauspieler, »welch ein Gott legte dir dieses Wort auf die reine, unschuldige Zunge? Das muß ich sagen, so ganz uneingeweiht in der Menschen Verhältnisse auf Erden scheinst du mir doch von hier nicht abzugehen. Hat dich das der alte Sterngucker gelehrt? I gucke mal! ... Kommen Sie, Robert, wir wollen nach Hause wandeln, jeder mit seinem Bündel. Ich weiß, Sie haben auch das Ihrige zu schleppen.«

Arm in Arm schritten die beiden jungen Männer nach der Musikantengasse; Julius Schminkert verstand die Kunst, sich festzuklammern; wie die andern gab auch er bereitwillig in dieser Nacht seine Ratschläge zum besten, obgleich Robert sie ihm gern geschenkt hätte. Robert Wolf konnte nicht ahnen, wie eng sein Geschick mit dem dieses angenehmen und glücklichen Individuums verknüpft war. Höchst gleichgültig, wenn nicht ein wenig widerlich, war ihm sowohl die schöne Angelika wie der treffliche Julius.

Fünfundzwanzigstes Kapitel Zwischen Himmel und Erde; Stimmen aus der Nähe und aus der Ferne. Sonnenuntergang. – Robert Wolf durchlebt seine letzte Jugendstunde Es zechen die Götter im hohen Olymp, Wir sitzen auf grünendem Hügel; In der Mitte zumal, Zwischen Äther und Tal, Da wachsen dem Herzen wohl Flügel. Nun drücket den blühenden Kranz auf das Haupt, Und jauchzet: es lebe das Leben! Und den Göttern sei Heil, Die so wonniglich Teil An Himmel und Erd uns gegeben. Hemm keiner den pochenden Herzschlag der Brust, Wir sitzen in heiliger Runde; Blickt nicht vor, nicht zurück, Denn das flüchtige Glück, Es haftet ja nur an der Stunde. Und so hebet die Becher ins Abendrot, Gold haltet dem Golde entgegen; Schlürft die selige Stund, Doch mit lästerndem Mund Nicht reizet das Schicksal verwegen. Und so klinget die vollen Pokale an; Doch weckt nicht die Götter vermessen; Denn ihr Neid hat beim Mahl Im olympischen Saal Nur minutenlang uns vergessen.

Dieses Lied wurde wirklich zwischen Äther und Tal, auf dem Gipfel eines Berges, beim roten Schein der untergehenden Sonne gesungen und hallte, kräftig, lebensmutig, aber doch mit dem Anklang von Wehmut, welcher fast keiner deutschen Melodie fehlt, durch die Waldtäler, die im üppigsten Grün des Frühlings prangten. Unter dem Gezweig einer knorrigen, kurzstämmigen Hagebuche lagerten die jugendlichen Sänger mit ihren vollen und leeren Flaschen – eine Studentenschar aus der nahe gelegenen Universitätsstadt – und begleiteten ihren Gesang, den Worten des Liedes gemäß, mit dem Klingen der Gläser. Berauschend war der Wein, berauschend das purpurne Licht des Sonnenuntergangs, berauschend war der Waldduft, der Duft der Tannen, welcher aus der Tiefe aufstieg, berauschend war aber auch der Duft des wilden Thymians auf der Höhe. Im Kreise lagerten die Musensöhne um den Vorsänger, welcher kein anderer als unser Freund Robert Wolf, der Schüler des Sternsehers Heinrich Ulexius, der Schützling des Polizeischreibers Fritz Fiebiger, war.

Zwei Jahre sind vergangen, seit wir ihn zum letztenmal Arm in Arm mit Julius Schminkert in den Gassen der Stadt erblickten; wir finden ihn nicht zu seinem Nachteil verändert wieder. Der Jüngling machte eben dem Mann Platz; das Siegel des festen Willens, welches einst der Weise vom Giebel des Nikolausklosters im Gesicht des Jünglings vermißt hatte, war ihm jetzt schon deutlicher auf die Stirn gedrückt. Robert sah jetzt seinem Bruder Friedrich ähnlicher, obgleich man nicht hätte sagen können, wo eigentlich diese Ähnlichkeit lag.

Der Sänger auf dem Berggipfel sah gewiß mit ebenso leuchtenden Augen in die schöne Welt wie die im Kreis lagernden Genossen; aber in seinen Augen lag noch etwas anderes, was in denen der übrigen nicht zu finden war. Der wehmütige Trotz schimmerte darin, der Trotz, welcher den Schicksalsmächten schon oft hat weichen müssen, der aber niemals weiter weicht, als er muß. Die volle Harmlosigkeit der Jugend hatte Robert Wolf eigentlich nie gekannt; er hatte auch nicht die volle Heiterkeit, welche das freie, sorglose Studentenleben glücklicheren Gesellen bietet, genossen. Er hatte immer erst eine schwere Last trüber Gedanken abzuschütteln, ehe er das leichte flatternde Gewand der Freude fassen konnte. Zur Heiterkeit des Daseins konnte er sich immer nur mittelbar erheben, und so ward sie ihm niemals ganz rein, ganz ungetrübt gegeben.

Die beiden Jahre, welche wir in unserer Erzählung übersprungen haben, waren nichtsdestoweniger sehr inhaltvoll für alle die Leute, mit welchen wir bisher zu tun hatten. Wer erlebt nicht etwas in zwei Jahren? Auch das beschränkteste, gleichmäßigste Dasein weiß nach zwei Jahren von irgend etwas zu erzählen. Wir müssen das Versäumte nachholen und kurz berichten, wie Lachesis an den verschiedenen Lebensfäden unserer Geschichte gesponnen hat. Der weißsilberne Faden, welcher das Dasein des Sternsehers Heinrich Ulex bedeutet, glänzt glatt und knotenlos vor unsern Augen. Der Alte vom Turm klagt wohl, daß ihm die Freunde, seine Weltlichter, in immer weitere verschwommenere Ferne zu rücken scheinen; er meint wohl, daß er die gewichtige Hand des Alters schwer auf seinem Scheitel fühle; aber er fühlt sich wohl, auch in seiner stillen, friedlichen Greisenhaftigkeit, auf seiner Höhe. Und wenn die Sterne ganz seinen dunkel werdenden Augen sich entziehen, vermag er es nicht, auf dem grauen Grunde des Nebels farbige, ideale Bilder hervorzuzaubern? Sieht er etwa nicht die Sterne auch mit geschlossenen Augen?

Von dem Sternseher Heinrich Ulex haben wir nur zu sagen, daß wir ihn wiederfinden, wie wir ihn verließen.

Da ist sein Freund, der Polizeischreiber Fritz Fiebiger, den fing das Alter an mit härterer Hand zu fassen, obgleich auch bei ihm ein Nachlassen der geistigen Fähigkeiten nicht im geringsten zu bemerken war. Die Bücher, welche der Schreiber auf dem Büro Nummer dreizehn zu führen hatte, mußten allmählich den stärksten Nacken beugen mit ihrer Wucht von Tränen, Schmach und Blut. Wir wissen, wie der Alte darüber dachte und wie er sich gegen die Geister, die aus ihnen aufstiegen, zu wehren suchte. »Du bist es mir schuldig, mein Junge«, schrieb der Schreiber vor kurzem an Robert, »du bist es mir schuldig, mein Junge, daß du mich nicht allzulange mehr allein lässest hier in der Musikantengasse. Ich weiß zwar, daß es unter den obwaltenden Verhältnissen nicht sehr angenehm für dich sein kann, hierher zurückzukehren; aber ich glaube doch, daß es trotz allem ein wenig deine Pflicht ist. Es sind außer mir noch andere Leute vorhanden, welche deine Zurückkunft sehnlichst erwarten. Denke an das arme Fräulein von Poppen! Sei fleißig, mache dein Examen und komm. Sei ein rechter Mann und komm!« –

Das »arme« Fräulein von Poppen? Ja, das arme Fräulein von Poppen! Es hatte in den zwei verflossenen Jahren das meiste und das Bitterste erlebt; Herr Leon, Freiherr von Poppen, hatte der Tante das Spiel abgewonnen. Mit ironischer Höflichkeit hatte er ihr die besten Karten aus den Händen genommen. Ebenso höflich lächelnd hatte ihr der Neffe den Stuhl, auf welchem sie im Hause des Bankiers Wienand saß, weggezogen, und verwundert, zornig, starr vor Schrecken und Angst, saß sie nun auf der platten Erde und suchte vergeblich das Gewand, die Hand Helenes festzuhalten. Anmutig trat der Baron zwischen das junge Mädchen und die alte Dame, um das Pflegekind Julianes von Poppen unter – seinen eigenen Schutz zu nehmen. Das Freifräulein konnte nichts dagegen machen, und der Bankier Wienand hatte nichts dawider.

Der Bankier Wienand? Ja, der Bankier Wienand! Es war eine große Veränderung mit dem Manne vorgegangen, und Herr Leon von Poppen hatte wenigstens teilweise vollbracht, was weder dem Sanitätsrat Pfingsten noch dem Sternseher Heinrich Ulex gelungen war. Der Kranke war geheilt von seiner fixen Idee; doch bei mehr als einer Gelegenheit mußten sich die Freunde und vorzüglich Juliane von Poppen fragen, ob es nicht für das Wohl der Welt – wenigstens soweit sie von dem Bankier abhing – besser gewesen wäre, wenn es blieb, wie es war.

Wir haben gesehen, wie sich Leon in das Haus des Bankiers einstahl, wie er sogleich festen Fuß darin faßte, wie ihn der Kranke empfing und ihn besser zu verstehen schien als irgendeinen andern Menschen. Der Verkehr dieser beiden Männer war eines der Wunder der Psychologie. Die zwei Frauen, welche, wie es nicht anders sein konnte, anfangs dem Verkehr mit dankerfüllten Herzen zusahen, fingen erst leise an zu frösteln unter dem erkältenden Hauche, der mit dem neugebackenen trefflichen Ministerialsekretär in ihr Zusammenleben eindrang; dann überkam sie der volle herzerkältende Schauder mit der vollen Gewißheit, daß Leon von Poppen Herr geworden sei im Haus. Der kranke reiche Mann begann auf den Schritt Leons zu horchen wie auf den Fußtritt des Glücks; er war nur dann zufrieden, wenn der Baron neben ihm saß, und nach und nach konnte dieser ihn führen, wie er wollte. Er führte ihn leider nicht auf jene lichten Höhen, zu welchen ihn der Sternseher Heinrich Ulex leiten wollte, sondern in jene nebelige, dämmerhafte Sumpflandschaft des Egoismus, wo tückisch leuchtende Irrlichter sich spreizen und sich für die Sterne des Lebens ausgeben. Der Bankier Wienand schlich nicht mehr im Hause umher, um allerlei Abfälle zusammenzusuchen und sie gleich den größten Kostbarkeiten zu verbergen. Er erkannte allmählich wieder den Wert, den die Dinge in der menschlichen Gesellschaft haben; die nervöse Aufregung legte sich im Laufe des ersten Jahres, und der Kranke erwachte wie aus einem bösen Traum. Der Mangel an Beurteilung machte nun einer scharfen, aber unendlich einseitigen Beurteilung Platz, und somit nahm eigentlich die dunkle Wolke, die über seinem Geiste hing, nur eine andere Farbe an. Aus dem Schwarz und Grau wurde ein unheimliches Gelb: die Welt, welche sich auch nicht wenig falsche Begriffe von den Dingen bildet, das heißt, sie so nüchtern wie möglich sieht, schickte sich an, dem berühmten Bankier Glück zu wünschen zu seiner Genesung. Aus seiner Krankheit sollte der Bankier als ein sehr harter und selbstsüchtiger Mann hervorgehen. Nun sich der Schleier vor seinem Auge lichtete, fühlte er sich tief erniedrigt durch den Zustand, in welchem er sich befunden hatte. Ein fieberhaftes Bestreben, die Erinnerung an diesen Zustand in sich und in der Gesellschaft auszulöschen, ging daraus hervor; aber leider maß der aufgeregte Geist die Dinge nur nach dem Maße, welches die Welt ihnen anlegte, und der Baron Leon von Poppen fand das rechte Feld für seine Pläne. Mit fast wilder Satire kämpfte Juliane von Poppen gegen diese Art der Lebensanschauung an. Der Makel, welchen der immer noch kranke Mann auf sich zu fühlen glaubte, brannte schärfer als das Wort der alten Freundin. Die Gier nach Ansehen und Reichtum wuchs immer mehr und überwältigte jedes andere Gefühl; – auch vor dem Brande hatten nicht viele Sterne am Lebenshimmel des großen Bankiers geleuchtet; der Wahnsinn hatte auch die wenigen ausgelöscht, die Heilung brachte den Glanz der guten Lichter nicht zurück. Der Bankier Wienand wollte nicht mehr für »verrückt« gehalten werden und vergaß nur, daß die Welt manches für verrückt erklärt, was ganz an der rechten Stelle steht und welches von alter und neuer Weisheit als sehr edel, löblich und lieblich gepriesen wird.

Seit das Kontor und das prachtvolle Hauptbuch in der Kronenstraße aus einer Fiktion wieder zu einer Wahrheit wurden, betrachtete der Bankier alles nur von dem niedrigen Standpunkte dieser beiden Gegenstände aus, und drei Vierteile der Gesellschaft hoben die Hände empor und priesen über alle Maßen dieses »energische Sichaufraffen«. Auf das Mitleid der Welt folgte die bewundernde Billigung, und Herr Leon von Poppen erlangte aus dem glücklichen Ereignis auch sein Teil Kredit in der allgemeinen Stimmung. Bald stand der Bankier als Kapitalist und scharfäugiger Geschäftsmann vollständig rehabilitiert da; er hatte ja den schwarzen grimmigen Unhold Wahnsinn in der festesten Kammer seines Hirns eingesperrt, und unablässig, Tag und Nacht, hielt er Wacht, daß er nicht wieder hervorbreche. Es war aber doch ein unheimlich Ding!

Wie arbeitete der Bankier, um sich des Preises der Menschheit würdig und zugleich sie sich dienstbar zu machen! Mit unverhohlener Kälte begegnete er der alten zürnenden, trauernden Hausfreundin; hart und kalt behandelte er auch seine arme Tochter – sie war ja auch nur ein Mauerstein, der sich gut, vorteilhaft vermauern ließ in dem Tempel seines Glückes! Der junge talentvolle Politiker, welchem er soviel zu danken hatte, gab ihm auch in dieser Hinsicht die besten Lehren. Das Haus Wienand war noch zu gewaltigen Dingen berufen.

Das Freifräulein hatte Augenblicke, in welchen ihr das Leben unerträglich schien. Sich klagte sie an, wenn sie, mit Tränen in den Augen, die arme Helene in die Arme schloß. Sich klagte sie an auf dem Giebel des Sternsehers.

»Ich hätte soviel dagegen tun können, wenn ich alte Närrin die Augen aufgesperrt hätte!« rief sie jammernd. »Oh, Ulex, wir hätten ihn doch noch auf unsere Weise geheilt; aber ich, ich bin schuld daran, daß dieser perfide Halunke, dieser Leon, uns so überlistete, daß er es jetzt wagt, die schmutzige Hand nach meinem Kinde auszustrecken. O welch eine Gans ich war, als ich mich von ihm so leicht übertölpeln ließ! Es möchte einen Stein erbarmen, daß ein altes Weib wie ich, welches ein ganzes schweres Leben hindurch den Kopf immer ehrlich und resolut aufgerichtet getragen hat, ihn zuletzt so tief beugen muß. Diesem Kopf freilich ist's ganz recht: weshalb hat er sich von dem albernen Herzen so kläglich hinters Licht führen lassen! Ach Fiebiger, Euerm Jungen verbiete ich die leiseste Annäherung an meine arme Helene aufs strengste, und diesen dummschlauen Bösewicht, diesen Leon, führe ich sozusagen selbst ihr zu! Blutige Tränen möchte ich darum weinen!« –

Traurige Ferien brachte Robert Wolf von Zeit zu Zeit, während dieser beiden Jahre, bei den Freunden zu. Er sah Helene öfters, er sah auch seinen glücklichen, höhnischen Nebenbuhler. Juliane von Poppen hätte fast den Polizeischreiber eifersüchtig gemacht, so sehr bemächtigte sie sich des jungen Studenten. Er mußte ganze Nachmittage und Abende bei ihr zubringen, und in den Gassen stützte sie sich am liebsten auf seinen Arm; – ach, sie hinkte nicht mehr so schnell wie früher einher, sie hielt es jetzt nicht mehr für unglaublich, daß sie sich noch einmal eines Wagens oder gar Rollstuhls werde bedienen müssen. Wie an eine letzte Hoffnung klammerte sie sich an den selber so ratlosen Robert.

»Was sollte aus meinem Kinde werden, wenn sie wirklich ganz und gar in die Gewalt dieses Schlingels fiele? O mein Sohn, mein lieber Sohn, der gute Gott wird das doch nicht zulassen!«

Robert rang die Hände und ballte sie ohnmächtig im andern Augenblick:

»Was sollen wir tun? Wir können ja nichts tun! Der Vater scheint diese Verbindung so fest zu wollen; Helene wird folgen müssen –«

»Sie wird sich zu Tode weinen!« rief das Freifräulein. »Am besten wäre es, ich ginge mit ihr fort – so weit als möglich fort und ließe dem alten und dem jungen Sünder das Nachsehen; aber das Kind will ja nicht; es glaubt selbst zu sündigen, wenn es gegen den Willen des Vaters das Haus verließe. O Robert, Robert, welche Demütigungen habe ich des Mädchens wegen schon auf mich genommen und wie viele werde ich noch ertragen müssen! Oh, daß ich nicht mit meiner Krücke hier dreinschlagen darf!«

Wenn Robert und Helene zusammenkamen, so drückten sie sich stumm, mit weinenden Augen und schweren Seufzern die Hände. Niemals lag vor zwei armen Kindern die Zukunft dunkler, unheimlicher, widerlicher. Ach, wie beneidete Robert seinen Freund Ludwig Tellering! Der war jetzt der Geliebten gefolgt, war nach Amerika mit seiner Mutter und Schwester ausgewandert. In die dunkle Hofwohnung in der Musikantengasse war ein Schuhmacher gezogen, der zugleich Vögel abrichtete und unglücklichen Finken und Dompfaffen die Augen ausstach – ein wilder roher Gesell, mit welchem der Polizeischreiber Fiebiger keinen Verkehr haben wollte, außer vielleicht auf dem Polizeibüro Nummer dreizehn, als Protokollführer des Rats Tröster. Von Galveston aus hatte Ludwig Tellering an den Studenten der Medizin geschrieben; er hatte sein Mädchen noch nicht erreicht; er hatte zuerst seine Werkstatt in der Hafenstadt aufschlagen müssen; aber es ging ihm und den Seinigen gut, und er schrieb freudig erregt und hoffnungsvoll.

Auch Julius Schminkert hatte den vollen blütenreichen Kranz des Lebens sich auf die erhabene Stirn gedrückt. Er hatte die holde Braut heimgeführt, und der Parfümerie- und Modewarenladen stand in voller Glorie und zeichnete sich durch geschmackvoll stilisierte Annoncen und Reklamen in allen Blättern der Stadt aus. Julius Schminkert verstand sich aufs Lärmmachen und wußte seine Phrasen elegant abzurunden. Niemals wurden Seife, Schönheitswasser und Haarfärbungsmittel, Handschuhe und Hauben geistreicher, großmäuliger und genialer ausgeschrien, als es durch die unvergleichliche Firma Schminkert und Kompanie geschah. Monsieur Alphonse Stibbe, der glückliche Schwiegervater, hatte sich wirklich aufs neue beweibt und die geheimnisvolle Person geheiratet, wegen welcher er einst in jener denkwürdigen Nacht, als die Tagebücher Aurora Pogges vorgelesen wurden, dem Vorleser die Kehle zudrückte. Es war eigentlich gar nichts Geheimnisvolles an der Person; es war nur eine Witwe, reich an Jahren, Erfahrung, Tugend; nur ein wenig zu massiv für den kleinen vertrockneten Kleiderkünstler, welchen der Polizeischreiber acht Tage nach der Hochzeit, schluchzend und sein Schicksal verwünschend, nächtlicherweile vor der verriegelten Tür der eigenen Wohnung desselben im Parterre der Nummer zwölf fand.

Jeder hatte sein Schicksal, und der arme kleine Schneider schleppte gewiß ebenso schwer an dem seinigen, wie Robert Wolf an seinem trug; wer gibt uns eigentlich das Recht, das Los des einen poetischer auf- und anzufassen als das des andern? Wie dem auch sei, wir haben das Recht und lassen es uns so leicht nicht nehmen: der jugendliche lockige Sänger, welcher auf dem frühlingsgrünen Berggipfel den Becher der untergehenden Sonne entgegenhält, ist immer eine andere Figur wie das auf der Treppe im Dunkel kauernde Schneiderlein.

Da stand der Jüngling hochaufgerichtet unter den freudigen Genossen, fest auf seinen Füßen, und heute hatten die finstern Gewalten, die ihn vor vier Jahren so verzweiflungsvoll durch die Gassen der großen Stadt getrieben hatten, nicht mehr ihre verwildernde Macht über ihn. Er trug den Schmerz und die Sorge wie ein Mann; er hatte bis jetzt die Schule des Lebens bestanden, und ruhig und ernst konnte er von der sonnebestrahlten Höhe in die schwülen, dämmerigen Täler herniederblicken. Mochte sich auch der Sturm dort unten sammeln, mochte die Nacht drohend von dorther heraufkriechen, mochte die Zukunft bringen, was sie wollte, Robert Wolf zerschlug nicht mehr die Brust, zerraufte nicht mehr das Haar in der ohnmächtigen Wut des Schmerzes. Zu einem Mann hatten ihn die Freunde, hatte ihn das Schicksal gemacht; er verstand die große Kunst, männlich zu dulden und den kommenden Tag zu erwarten.

Auf der Höhe verklang das Lied vom flüchtigen Glück und dem Neid der Götter; aber im Tal wurde es von einer einzelnen Stimme wieder aufgenommen.

»Das ist Krokisius!« riefen die Studenten, und Wolf meinte:

»Seht nach, ob noch eine volle Flasche für das alte Haus da ist.«

»Stoff die Fülle!« jubelte man; näher klang die volle Bruststimme des Kommenden. Jetzt trat er aus dem Walde drunten und schwang den Hut denen auf dem Gipfel zu:

Und so klinget die vollen Pokale an, Doch weckt nicht die Götter vermessen; Denn ihr Neid hat beim Mahl Im olympischen Saal Nur minutenlang uns vergessen.

Jauchzend begrüßten die Freunde den Freund, den braven »Doppeldoktor« Otto Krokisius, der seinem Herrn Vater soviel Kummer machte, der jetzt, nachdem er der Philosophie überdrüssig geworden war, sich der Juristerei und »leider auch« der Politik in die Arme geworfen hatte und der in so schlechtem Geruche bei Artemisia und Lydda von Flöte stand. Der junge Mann sah aber gar nicht aus wie ein verlorenes Schaf; höchst vergnüglich fächelte er sich mit einem grünen Zweige die erhitzte Stirn und leerte ein volles Glas Rüdesheimer; dann warf er Robert Wolf einen schweren Brief zu:

»Da ist etwas für dich. Da du nicht mehr zu Hause warst, hat der Briefträger seine Last guter Nachrichten, Wechsel und dergleichen angenehmer Eitelkeiten der Welt bei mir abgelegt. Möge Fortuna aus dem Paket springen – noch ein Glas, Leute! Das ist ein wonniger Abend; der Teufel hole euern melancholischen Gesang hier oben, er hat mich selbst unterwegs ganz melancholisch gemacht. Holla, Wolf – was ist? Um Gottes willen, Wolf, Wolf?«

Robert hatte den Brief, welcher von dem Polizeischreiber Fiebiger kam, sogleich erbrochen, einen zweiten, in unbekannter Handschrift überschrieben, herausgenommen und auf der Stelle angefangen zu lesen.

Es zuckte über sein Gesicht, er fuhr mit der Hand über die Augen, er wurde todbleich; er schwankte auf den Füßen und wäre zu Boden gestürzt, wenn die erschreckten Genossen nicht zugesprungen wären und ihn in ihren Armen aufrecht erhalten hätten. In dem Briefe des Polizeischreibers kam die Nachricht, daß man täglich die Verkündigung der Verlobung Helene Wienands und des jungen Barons Leon von Poppen erwarte. Das zweite Schreiben war von dem bekannten Reisenden Konrad von Faber, von San Francisco aus, an den Polizeischreiber gerichtet und erzählte in tragischer Einfachheit und Kürze von dem Tode Friedrich Wolfs in dem neuentdeckten Goldlande Kalifornien. Auch Eva lag krank in einer elenden Hütte in einem der Felsentäler der Umgebung des Sacramentoflusses, lag im todbringenden Fieber und rief um Hülfe nach der Heimat, rief nach Robert, ihrem Bruder und Jugendfreund. Es war ein trostloser Brief, welchen der Hauptmann Konrad mit seinem Namen unterzeichnete; ebenso trostlos wie der andere: diese beiden Schreiben in der zitternden Hand, nahm Robert Wolf nun wirklich für immer Abschied von seiner Jugend.

Was die Freunde wissen mußten, teilte er ihnen mit; dann nahm er auch Abschied von ihnen, dann ging er aus ihrer Mitte weg und stieg langsam den Berg hinunter in den Wald. Keiner der Genossen folgte ihm; sie standen alle stumm und blickten ihm traurig betroffen nach. Lang fiel sein Schatten über die Berglehne. Noch einmal winkte er vom Eingang des Waldpfades zurück, und sie winkten wieder; dann verbarg ihn das Gebüsch. Als er gesenkten Hauptes durch den Wald fürder schritt, vernahm er, wie sie das Lied, das er eben noch vorgesungen hatte, von neuem begannen; aber die Stimmen wurden schwächer und schwächer und gingen an der nächsten Talecke im Rauschen des Waldbaches, der nun melancholisch seinen Weg begleitete, gänzlich unter.

In derselben Nacht bereits befand sich Robert Wolf auf der Reise zu den Freunden in der großen Stadt und zugleich auf dem Wege zu Eva Wolf, die in ihrer Not aus so weiter Ferne nach ihm rief.

Sechsundzwanzigstes Kapitel Auf der alten Stelle. Zum zweitenmal soll der Schüler die Lektion aufsagen

Schwer ächzte und keuchte die Maschine, durch welche Robert Wolf der Hauptstadt und den Freunden entgegengeführt wurde. Der Morgen war frisch und sonnig, der Tau blitzte auf den Wiesen, jedes Dorf lag wie ein Idyll in seiner Feldmark; die winzigen Figürchen, die sich auf den Äckern von der frühen Morgenarbeit aufrichteten und sich einen kurzen Augenblick der Rast gönnten, um dem schnellen Zuge nachzublicken, konnten nimmer Not und Elend unter jenen lieben roten Dächern im Grün zu erdulden haben! Oder doch?! Sollte es doch möglich sein? ... Wieder ein Dorf; die Blütenzweige der Gärten streifen fast die Wagenfenster; zwischen den Gärten ein Blick in eine enge Gasse, begrenzt von grünen Hecken – ein Leichenzug – Träger und Leidtragende – ein sonnebeschienener Kirchhof – eine Gruppe von Kindern um ein offenes Grab, den schwarzen Sarg erwartend – blitzschnell allem vorbei! O wie wunderlich solch ein Blick aus dem Fenster des Dampfwagens auf solch einen Zug schwarzer Gestalten, die sich nicht von der Stelle zu bewegen scheinen – o wie wunderlich solch ein Blick im flügelschnellen Vorübersausen auf den kleinen Kirchhof und das Grab, die nicht von der Stelle kommen und denen wir auch doch nicht entgehen können!

Hussa, wie die Räder durch die lichthelle Landschaft donnern! Was gehen uns die kleinen hübschen Puppen mit den blitzenden Miniaturrechen und -spaten, was geht uns der winzige Ameisentrauerzug an? Was haben wir zu schaffen mit dem fremden Toten? – Die nächsten Sekunden reißen das alles in unendliche Ferne; die eigene Freudigkeit aber begleitet uns, der eigene Gram läßt uns nicht los, der eigene Tod ist mit uns, so schnell auch die Räder sich drehen mögen.

Dieser selbe Eisenbahnzug hatte vor dreiundeinemhalben Jahre den Knaben aus dem Winzelwalde nach der großen Stadt getragen; und wenn den jungen Mann in der Ecke des Wagens die Gefühle überwältigen wollten, so brauchte er ja nur jene Tage mit allen ihren schrecklichen Einzelheiten in die Gegenwart zurückzurufen, und die bösesten Geister duckten sich vor der Gewalt dieser Erinnerungen. Damals und jetzt – welche Ähnlichkeiten, und doch alles, alles wie verändert! Wo waren die Herbstwolken, die damals Schnee und Regen im wirren Gemisch auf die vorbeifliegende Gegend ausgeschüttet hatten? Andere Gebilde am Himmel, andere Gebilde in der Seele! Zu einer Zeit behielt man vom Zuge aus lange einen kahlen Hügel und auf diesem einen einzelnen Baum im Auge. Robert Wolf erinnerte sich ganz genau an diesen Baum, er verknüpfte keine deutliche Erinnerung irgendeines Bildes, irgendeiner Gedankenreihe damit; er wußte nur, daß er diese unfruchtbare kahle Fläche, diesen Hügel, diesen einsamen Baum schon einmal gesehen habe und daß ihm damals recht schlimm zumute gewesen sei. Und doch hatte er das Leben ertragen, hatte Leid vergessen und Freude genossen, hatte viel gelernt und war älter geworden; nun trug ihn das Schicksal wieder an diesem Baum, der damals im Regen und Nebel sich halb verbarg, vorüber, und leichte Wolkenschatten glitten über die Ebene und den Hügel – andere Gebilde am Himmel, andere Gebilde in der Seele! Wo war der Groll gegen die schöne Eva Dornbluth geblieben? Damals hätten alle Wasser, die zwischen dem Goldenen Tor und diesem einsamen Baum auf der deutschen Heide rollten, ihn nicht ausgelöscht – – und jetzt? Wie nahe gerückt waren sich jetzt die beiden Herzen, trotz all der großen Wasser, trotz all der weiten Länderstrecken, die zwischen ihnen lagen!

Vorüber an Dorf und Stadt, weiter – immer weiter! Durch Wald und Feld, weiter – immer weiter! Was hatte der tote Bruder Fritz mit den sonnedurchglänzten Wäldern, durch welche der Zug brauste, zu schaffen? Bei jedem Blick in das dicht verschlungene Grün, bei jedem Blick in die Lichtungen faßte das Gedenken an ihn, das Nachdenken über ihn – die Erinnerung den jungen Reisenden mit doppelter Gewalt. Fritz, weißt du noch? Weißt du noch, Robert? Im Wagen lachten und schwatzten die Passagiere, und ein ausgetrocknetes, gebräuntes, bärtiges Individuum sprach ein langes und breites von der Expedition in das Innere Neuhollands, an der es teilgenommen hatte, und von einer Fahrt nach Island, welche es jetzt unternehmen wollte. Halben Ohres horchte Robert auf die Erzählung und dachte an den Bruder, der auch so wild über kreuz und quer die Welt durchschweift hatte und der jetzt so still liegen sollte im Urwald am Yuba.

O über den Wald, sein Licht und seinen Schatten! O über das schwarze Eingeweide des Berges, durch welchen der Mensch seinem Feuerroß den Weg gewühlt hatte!

Vorüber an Dorf und Stadt, weiter – immer weiter! Durch Wald und Feld weiter – immer weiter! Heller Morgen, schwüldunkler Mittag – dämmernder Abend – Nacht auf den Feldern und Bergen – Lichter in den Häusern der Menschen – weiter, immer weiter!

Was hatte denn der Lichterschein aus den Fenstern der Hütten und Häuser mit Helene Wienand zu tun? Je näher die Nacht kam, je heller die Lichter schimmerten, desto mehr mußte solch ein junges Menschen kind an sein verlorenes Lebensglück denken. Ruhig, ruhig, Herz! Wie der Zug donnert über Brücken und Viadukte – du hältst ihn nicht auf durch deinen Willen, du hältst ihn nicht auf durch deine Seelenangst. Fortgerissen wirst du mit allen andern, fort, fort, bis der Haltepunkt, zu welchem dich dein Schicksal bringen will, erreicht ist.

Weiter, weiter in schwindelerregender Hast; ergib dich drein, Robert Wolf – – – – – –

Angekommen!

Da war das Gewühl am Bahnhofe, die Polizeimannschaft, das Geschrei der Packträger, die Droschkenreihe; da war die breite, menschenvolle Straße, die unendliche Linie glänzender Gaslaternen; da war aber auch Julius Schminkert, melancholisch in der Eisenbahnhalle in das Getümmel starrend, wie unschlüssig, ob er ein Billett nach den Grenzen der Erde nehmen oder ob er zu Hause bleiben solle. Wie oft platzt in die elegischste, tragischste Stimmung der Spaß herein und macht das ernste Gesicht noch ernster, das finstere noch finsterer! Julius Schminkert war da, und sein Freund und Wandnachbar konnte ihn nicht loswerden von seiner Seite. Aber der junge Mediziner erkannte den Schauspieler fast nicht wieder. Alle ungebundene geniale Liederlichkeit war aus dem Äußern des einst so jubelvollen darstellenden Künstlers verschwunden. Er trug jetzt einen soliden hohen Hut, und zwar etwas in die Stirn gezogen; er war im Besitz eines sehr anständigen Rockes, und Hosen und Weste ließen ebenfalls nichts zu wünschen übrig. Sehr respektabel sah Julius Schminkert aus; aber leider auch sehr gedrückt, sehr wehmütig; Julius Schminkert war auch nicht mehr der frühere Julius Schminkert. Vorbei war das lustige Leben in den Lüften, das Flattern von Blume zu Blume. Der leichtsinnige Schmetterling schien sich die Flügel gründlich versengt zu haben. Neben Robert schritt der Parfümeriehändler, der Chef der Firma Schminkert und Kompanie her und hielt nicht hinter dem Berge mit seinen Kümmernissen. Es schien ihm Erleichterung zu gewähren, sich jemandem, der ihn in seinem frühern, leichtern Dasein gekannt hatte, mitzuteilen unter dem Druck einer schweren Gegenwart; und schweigend, den eigenen Gedanken nachhängend, duldete der Schützling des Polizeischreibers Fiebiger das Gewinsel des einstigen Hausgenossen.

»Hören Sie, Robert«, seufzte Julius, »sehen Sie, wissen Sie, es war eine brillante Hochzeit. Ich selbst hatte alles aufs beste arrangiert – Kranzjungfern, Delikatessen, Equipagen, Aufführungen, alles comme il faut. Ich möchte den sehen, der mir natürlichen Geschmack und Erfindungsgabe abspräche! Die Musikantengasse konnte Maul und Augen, so weit sie wollte, aufsperren; es war ihr doch absolut unmöglich, die erhabenen, angenehmen, rührenden und gemütlichen Vorgänge in der Nummer zwölf in ihrer ganzen vollen Bedeutung und Glorie aufzufassen. O ich war glücklich, überglücklich – se – lig, auf – ge – löst in Won – ne. Jungfräuliche Myrten – Erröten, Tränen – o Tränen, Robert! Selbst die väterliche Schneiderseele, der teure Schwiegerpapa, Alphonso Stibbe, tailleur de Paris, vergoß etwas von jenem kostbaren Naß; mit höchsteigenen Händen hatte er mein hochzeitliches Gewand gebaut, und er saß – ich meine den Frack –, er saß magnifique. So wurde das Meisterstück der Schöpfung und der Schneiderkunst – diesmal meine ich nicht den Frack – mein. Für Zeit und Ewigkeit wurden wir miteinander verbunden. Ich sollte ihr Herr sein, meinte der ehrwürdige Herr, welcher den feierlichen Akt der unauflöslichen Verknüpfung, gegen die gesetzlichen Gebühren und nach Vorlegung der notwendigen beiderseitigen Legitimationspapiere, mit uns vornahm. Ihr Herr? O mon Dieu, Robert, Sie sind ein guter Kerl und sprechen nicht weiter davon – ihr Herr?! Nach Hause, nach dem eigenen Hause, Kranzstraße Nummer dreiunddreißig, wie Sie wissen, führte ich mein junges Glück: Parfümerien und Putzgegenstände, parterre, vorn heraus, sehr elegant, Spiegelscheiben, Samtfauteuils – hinten hinaus flitterwöchentlicher Ehestand, allerhöchste Seligkeit auf beschränktestem Raume, etwas feucht, dunkel und dumpfig – Wanzen! – Da saß ich nun, umgaukelt von Amoretten und Amorinos, und der Handel ging gut, besser, immer besser; o Robert Wolf, er ging endlich zu gut! Handschuh, Handschuh, Wolf! O dieses Handschuhanprobieren! Welcher Gott legte Ihnen damals die Warnung davor auf die jugendliche Zunge? – Haben Sie den ›Othello‹ gesehen? Ich sage Ihnen, meine Eifersucht fing klein an; aber sie wuchs mit so fabelhafter Schnelligkeit, daß man sie wachsen hörte. Ja, die Nachbarn hörten sie wachsen und machten ihre Glossen darüber. Dazu nahm meine Huldin einen Ton an – Diskantschlüssel –, der mich nicht wenig frappierte; mit unendlicher Grazie setzte sie mich auf den Mokierstuhl und – und da sitze ich noch, Robert Wolf! Sollte man nicht wünschen, daß die Firma Schminkert und Kompanie zwischen jetzt und morgen Bankerott mache? – Und er soll dein Herr sein – krasseste Ironie! Der Schwiegerpapa hat's auch nicht besser getroffen; – o Robert, was für ein glücklicher Mensch Sie sind! Doch hier ist mein Geschäft; – Julius Schminkert und ein Geschäft – auch nicht übel. Nun sehen Sie, allerneueste Pariser Neuigkeiten! Bitte, sehen Sie da! Famos! nicht wahr?«

Mit einem Seufzer wies Julius auf die hellerleuchteten Spiegelscheiben seines »Etablissements«, in dessen Schaufenstern alle die Sachen und Sächelchen, mit welchen die Firma Schminkert und – Frau handelte, so verlockend und reizend als möglich dem Publikum vor die Augen gestellt waren. Trotz seiner Bedrücktheit schien der bejammernswerte Geschäftsmann den äußern Effekt, den glänzenden Anblick mit weiter geöffneten Nasenlöchern einzuschlürfen. Für einen Augenblick verlor sein Gesicht den Ausdruck der Zusammengekniffenheit, und seine Züge legten sich auseinander wie die Blätter einer Stockrose unter einem erfrischenden Regenschauer. Aber der glückliche Augenblick ging blitzschnell vorüber, als über die Schwelle, aus dem Laden hervor, ein junger Herr trat, ein Paar neugekaufter Glacéhandschuhe fester über die Finger ziehend. Hinter ihm erschien holdlächelnd, mit der Taille einer Wespe, frisiert à l'impératrice, Madame Angelika Schminkert geborene Stibbe, in potenziertester Liebenswürdigkeit den Abschiedswink des jungen Herrn beknicksend. Der Ehemann knurrte einen Theaterfluch, Robert Wolf aber fuhr zusammen und faßte die Unterlippe mit den Zähnen: der Kunde der schönen Modewarenhändlerin war kein anderer als Herr Leon Freiherr von Poppen, der Verlobte Helene Wienands. Mit ausgesprochener Bonhomie grüßte der Baron den Gatten Angelikas, und dieser mußte den Gruß erwidern und sehr dankbar sein für die Kundschaft und Ehre. Ob der treffliche Diplomat den Zögling des Sternsehers erkannte, blieb zweifelhaft, jedenfalls zeigte er weder Freude noch Kummer dar über; – er war ein sehr brauchbarer Mensch, und seine Vorgesetzten fingen immer mehr an, ihn als ein großes Talent zu schätzen und zu verwenden; er hatte eine große Zukunft, und die Gegenwart war auch nicht zu verachten.

Er streifte Robert fast im Vorbeigehen, und dieser schlug ihn nicht zu Boden, sondern wich nur zurück wie vor einem giftigen Tier; er starrte ihm nach, wie er um die Ecke sich wandte. An der Ecke fiel der Schein der Laterne noch einmal voll auf das gelbliche Gesicht, das jetzt ein höhnisches Lächeln überflog; – jetzt berührte Leon von Poppen den Hut gegen Robert Wolf, dann verschwand er, und nur noch einmal sollte ihn Robert wiedersehen.

Die Gattin schwebte dem Gatten entgegen, Robert ließ sie beide an ihrer Ladentür ihre Gefühle austauschen und eilte schnellern Schrittes durch den Lärm der Straßen der innern Stadt, der alten, treuen Musikantengasse zu. Er kreuzte die Stelle, auf welcher er vor dreiundeinemhalben Jahre in Schmutz und Blut lag. Damals wie jetzt ging ihm ein tiefer Schmerz durch die Seele; aber das heutige Weh war fast noch schärfer, bänger als das damalige, obgleich es ruhiger ertragen wurde. Mit klopfendem Herzen stand Robert still; er sah sich im Gefängnis, er sah den bärtigen Schließer, hörte den Regen an die trüben vergitterten Scheiben schlagen, erblickte den Wachtmeister Greiffenberger und den langen Gang, der zum Büro Nummer dreizehn führte. Ganz deutlich atmete er wieder den eisig-ungesunden Hauch, welcher durch das ganze Polizeigebäude zog; – im Büro dreizehn stand er vor dem Rat Tröster: wie konnte es geschehen, daß der Hauptmann von Faber, welcher jetzt den Tod Friedrichs meldete, damals in demselben Büro auf der Armensünderbank saß? Nun tauchte plötzlich über das hohe Pult das Gesicht des Polizeischreibers Fiebiger auf, das treue geliebte Gesicht mit den klaren schlauen Augen, den hundert Falten – gesegnet sei das teure Haupt! Und neben dem Gesicht des Greisen das andere Gesicht? O Helene, Helene! Das Volk drängt sich wild im Kreis, zu Boden liegt der Knabe aus dem Winzelwalde – dunkel ist der Himmel – o das Gesicht, das Gesicht, das andere Gesicht – Helene, Helene! ...

Im jähen Schreck fuhr Robert zusammen; eine Hand legte sich ihm plötzlich auf die Schulter: der Polizeischreiber Fiebiger stand nicht mehr als Traumgebild, sondern in natura hinter ihm: so runzlig, so vertrocknet, so klaräugig wie immer. Er zog den Schützling in seine Arme:

»Da bist du! Hab ich dich wieder? Ruhe, Ruhe! Mut, Mut!«

»Mein Vater, mein Freund! O mein Vater!« rief Robert Wolf, und der Alte, unfähig, seine Erregung, seine Rührung auf andere Weise zu verbergen, stürzte sich sogleich, Hals über Kopf, in seinen gewöhnlichen Ton:

»Komm, komm, mein Junge. Der hohen Polizei ist es am wenigsten gestattet, eine Szene auf offener Straße hervorzurufen – weder tragisch noch komisch. Ist ganz, ganz gegen das Reglement! Komm nach Haus, lieber Junge, mein wackerer Junge – der arme Fritz, die arme Eva – komm fort! Doch halt, sieh, wer da kommt!«

Jetzt ließ Robert Wolf die Hand des alten Freundes los und eilte hastig einer kleinen, schwarzgekleideten Dame entgegen, welche dicht vor ihnen aus der Menge auftauchte und ebenfalls schnell auf die beiden Männer an einem Krückstock zuhinkte.

Die kleine schwarze Dame faßte ohne Scheu, vor allen Menschen, den Studenten gleichfalls in die Arme:

»Gott segne dich, mein armer Junge! Ach Robert, Robert, was muß man erleben in der Welt! Wenn man glaubt, nun sei einem alles mögliche gebrannte Herzeleid angetan, so ist immer noch ein Stück zurück, welches einem die Last schwerer und die Augen trüber machen kann. Welche traurige Botschaft ist uns übers Meer von deinem Bruder, von der schönen Eva, seiner Frau, gekommen! Aber was hilft's, auf der Straße, auf dem Markt davon zu schwatzen! Jetzt wollen wir gehen; ich meines Weges, ihr des eurigen; nachher, Fiebiger, treffen wir uns bei Heinrich: er soll uns sagen, was die Sterne darüber denken: ach Gott, 's ist immer doch nur; après la mort le médecin; wenn der Jammer ausgeflossen ist, stopft man das Loch mit Philosophie, mit schönen Redensarten zu.«

Das Freifräulein Juliane von Poppen winkte den beiden, ihr nicht zu folgen, und hinkte gesenkten Hauptes weiter; sie schämte sich zu sehr, daß sie sich von dem ausgezeichneten Neffen so kläglich hatte hinters Licht führen lassen, und für einen Charakter gleich dem ihrigen war solche Scham fast vernichtender als der Schmerz.

Der Polizeischreiber sah ihr traurig nach und sagte:

»Am liebsten würde sie einen härenen Sack anziehen und barfuß durch die Gassen gehen. Komm, Robert; und nimm dir ein Beispiel an der alten Frau, ich will es auch tun.«

In wehmütigem Schweigen setzten der Greis und der junge Mann ihren Weg zur Musikantengasse fort; und wieder einmal sah sich Robert in den grauen, tabakverräucherten Räumen, in denen er geistig soviel erlebt, in denen er soviel geträumt, soviel gelernt hatte.

Inmitten dieser alten schäbigen und doch so freundlichen Wände, inmitten dieser abgelebten, wackligen Gerätschaften – hier, inmitten seiner eigentlichen Heimat, kam ihm jetzt mit doppelt erschreckender Klarheit die Vorstellung, wie er nun wieder von allem, was er um sich her aufgebaut hatte zu seinem Glück, erbarmungslos losgerissen und in das Ungewisse, Lieblose, Fremde, Wirre und Verderbliche hinausgeschleudert sei.

»O mein Freund, mein Vater, was soll ich tun?« rief er. »Woran soll ich mich halten? Was bleibt mir in der ganzen weiten Welt?«

»Mein lieber Junge, das mußt du allgemach selber wissen!« antwortete der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen. »Vielleicht kann dir aber der Alte dahinten im Giebel etwas dazu sagen – du weißt, aus der Höhe übersieht man alles am leichtesten und besten.«

Siebenundzwanzigstes Kapitel Robert Wolf beweist, daß man auf den alten Fleck zurückkommen kann, ohne von dort die Welt in der alten Weise anzusehen. Der Baron Leon von Poppen steigt zu dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex empor

Die Sterne gaben in dieser Frühlingsnacht einen Schein so rein und klar wie selten. Wie junge Mädchen im Tanz lachten und winkten sie einander zu, und der Mensch auf dem Stern, Erde genannt, wurde darob teilweise ungemein feierlich gestimmt und fragte sich, worüber eigentlich die da droben sich unterhielten. Harmlose, naive Individuen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses, dachten bei diesem Winken und Nicken an kosmische Ballangelegenheiten, spaßhafte Vorkommnisse beim letzten Sphärenkonzert, an tölpelhafte Courschneidereien irgendeines landjunkerhaften Kometen, an das letzte Zerwürfnis zwischen Venus und Mars. War vielleicht der dicke zerstreute Oberappellationsgerichtsrat Saturnus wieder einmal in eine komische Verlegenheit geraten? War der alten boshaften Jungfer, dem Fräulein Vesta, ein gesellschaftliches Malheur begegnet? Wer kann es wissen? – Ernstere Charaktere, wie der Sternseher Heinrich Ulex, dachten freilich ernster über das Raunen und Winken in der Höhe; aber auch sie mußten den irdischen Gewalten nachgeben und sich ihren erhabenen Grübeleien entreißen, wenn es – an ihrer Tür klopfte.

Laß die Sterne, Heinrich Ulex, schieb den Türriegel zurück und tröste deinen Schüler, welcher sich an deine Brust werfen will und Trost von dir verlangt!

Still und ohne Eifersucht sah der Polizeischreiber den zärtlichen Begrüßungen, die zwischen dem alten Gelehrten und Robert Wolf stattfanden, zu. Die beiden Greise teilten sich gern in die Liebe des jungen Heimatgenossen, weil jeder den Wert dessen, was der andere gegeben hatte, bereitwilligst anerkannte.

Alles fand sich in dem Museum des Sternsehers im Giebel von Sankt Nikolaus noch am alten Fleck. Da stand die Sphaera armillaris zwischen den Manuskriptenhaufen, da hing an der Wand die mensa Isiaca zwischen den ernsten Bildnissen Keplers und Galileo Galileis. Ernst blickten von der entgegengesetzten Wand Kopernikus und Herschel hernieder; – der große Tubus am Fenster richtete immer noch die Nase nach oben. Man ahnt gar nicht, wie sehr Leute, die ganz im Geistigen zu leben und aufzugehen scheinen, von geringfügigen Äußerlichkeiten abhängen: dem Polizeischreiber Fiebiger wär's höchst gleichgültig gewesen, wenn ihm irgendein Geschick seine Häuslichkeit total durcheinandergeworfen oder ganz zerstört hätte; den Sternseher Ulex hätte eine Verschiebung der gewohnten Gerätschaften aufs ärgste verstört, ihn recht unglücklich gemacht. –

Eben fuhr der Greis über das Gesicht Roberts sanft mit der Hand:

»Fort mit den bösen Falten; sie haben noch immer nicht das Recht, sich hier finden zu lassen.«

»Ach mein Vater, ich bin so hart bedrängt von allen Seiten; die Falten kommen wie der Dieb in der Nacht; mit dem besten Willen vermag ich nichts dagegen.«

Der Greis schüttelte traurig das Haupt.

»Es ist wahr, mein armes Kind, es werden dir viel Bitternisse zuteil. Böse Nachrichten haben wir aus der Ferne vernommen, und was die Nähe bietet, häuft Leiden zu Leid. Mein armes Kind, am liebsten behielte ich dich wieder hier; du nähmest dann dort deinen Platz am Tisch – sieh, der Homer liegt noch an seiner Stelle – von neuem ein, wir schlössen die Tür und öffneten sie nur den nächsten Freunden und sähen nach den Sternen, soviel das Gemäuer, das dort auf jener Brandstätte wieder emporgeschossen ist, uns davon übriggelassen hat. O wir wollten doch noch schöne herrliche Sterne und Sternbilder finden; aber –«

»Aber es geht nicht; die Sterne wollen es nicht, Heinrich«, sagte der Polizeischreiber, »und die Sterne sind sehr mächtig und kümmern sich blutwenig um das, was die Leute, denen sie die Suppe des Lebens versalzen, dazu sagen.«

»O Fritz, die Sterne sind nie höhnisch, sind nie falsch; sie freuen sich nicht über das Elend der Erdgeborenen!« rief der Astronom. »Wer ihnen folgt, mag wohl seinen Pfad mit Tränen nehmen müssen, aber es ist doch der rechte Weg; er führt in die Höhe, und was nach oben führt, das verspottet und verachtet der Mensch nicht ungestraft. Tretet an dieses Fenster und blickt hinaus!«

Der Polizeischreiber und Robert folgten dem Wink und sahen in die klare Nacht; der Sternseher stand zwischen ihnen und deutete feierlich in die Tiefe:

»Dort unten sah ich, einige Tage nach jener großen Feuersbrunst, einen Mann stehen, welcher durch das wilde Element ein wenig von seinen irdischen Gütern verloren hatte, dem aber Gott viel Gutes erhalten hatte. Um den Mann her lagen hohe Trümmer, sein Fuß trat auf schwarzen Schutt und Staub, und hie und da wand sich noch schwarzer Qualm aus der Verwüstung. Durch mein Glas sah ich das Gesicht des Mannes ganz klar und genau, und mein Herz schlug laut und ängstlich, denn ich wußte, Gott hatte jenen auf einen Scheidepunkt gestellt. Himmel und Erde kämpften in seiner Brust, ich aber kämpfte diesen Kampf mit ihm und für ihn durch, und eine tiefere Bangigkeit ist mir auch selten durch das Herz gegangen. Wie soll ich euch beschreiben, was ich in diesen schwankenden Augenblicken für jenen Mann fühlte? Ich kann euch nur sagen, was mit ihm geschah. Er sah nicht nach oben; am Staub klebte sein Auge, die schwarzen Trümmer nahmen seine Seele gefangen, und kurz nur war das Ringen gegen die dunkle Gewalt, die uns zu Füßen liegt und die uns ewig zu sich herabziehen will. Viel schöne Namen haben wir dafür, prunkende, farbige Hüllen werfen wir darüber; aber der Staub bleibt nichtsdestoweniger Staub, und aus den glänzenden Hüllen kriecht es empor und umschlingt Glied auf Glied – nieder! nieder! Wie viele Leiber erstickte, wie viele Seelen begrub die Asche, über welche unser Fuß durch dieses Leben schreitet? Hätte jener Mann, der auf den Trümmern seines verbrannten Hauses stand, den Blick nach oben – nach den Sternen – gerichtet, er wäre gerettet gewesen! Er tat es nicht, und er ging unter – unter, erst in der Nacht des Wahnsinns; dann, als der Körper die Krankheit überwunden hatte, unter in dem Leben, welches ihr kennt. Er ist ein harter, liebloser, selbstsüchtiger Mann geworden; nur das, was den täglichen erbärmlichen Vorteil, die Ehre der Welt und das Geld bedeutet, kennt er noch; was darüber liegt, hat keinen Sinn mehr für ihn. Fragt nun seine Leute, fragt sein Kind, fragt die Arbeiter in seinen Fabriken, was das für sie bedeutet. O Friedrich, alter Freund, o Robert, lieber Sohn, sehet nicht zu Boden in der Unglücksstunde; aufwärts zu den Sternen richtet den Blick; bei den Sternen ist Heil, zu euern Füßen findet ihr nur Untergang und Verwesung.«

Robert Wolf sah den Greis mit leuchtenden Augen an; aber der Polizeischreiber zuckte doch ein wenig die Achseln und sagte:

»Du hast gut reden, Heinz. Hier sitzest du auf deinem Turm und hast Beine und Füße hoch in die Luft gezogen; aber – aber! Die Herren und Damen in der Arche mochten wohl, als dieses ausgezeichnete Fahrzeug flott wurde, mit dem Gefühl der persönlichen Sicherheit dem Jammergeschrei der ertrinkenden Mitbrüder und Mitschwestern lauschen, aber ich beneide sie darum doch nicht. Die Familie Noah nahm jedenfalls auch ihren Ballast an Erdenschuld mit an Bord: der frivole Spaßvogel Harn wie die andern. Ich meine, wir sind allesamt gleich vor dem Herrn; der Meister Noah und seine Familie wurden nur wie die Tierpärlein in ihrer Eigenschaft als Gattungsexemplare gerettet, nicht etwa als Tugendausbündler. Wir haben uns beide auf die Schmetterlingskunde gelegt, Ulexius. Du jagst den goldglänzenden Dingern mit azurblauen Flügeln, die in der reinen Luft der Höhe geboren werden und schweben, nach; ich liebe es, zu sehen, wie ähnliche Wesen auch aus dem Schlamm, aus der Verderbnis sich strahlend erheben und über dem Sumpfe flattern. Arme Dinger, wer kann sagen, ob es eure Schuld ist, wenn ihr flügelmatt, nach kaum begonnenem Flug, wieder herabsinkt, um im Schmutz zu verkommen? Es ist aber auch nicht alles Schlamm und Sumpf zu unsern Füßen; nahrhaften Acker und Gartenland, trefflichen Wiesenboden gibt es auch, und der Mann, der im Unglück sich daran hält, mag so gut sich dem Elend entringen wie der, welcher nach – den Sternen sieht. Am besten ist's, man tut das eine und läßt das andere nicht. Also, Robert, mein Rat ist: halte dich mit den Händen und im Notfall auch mit den Zähnen an dem Gewande unserer alten Mutter Erde; die Augen aber richte empor zu den Sternen des weisen Meisters Henrici Ulexii, privilegierten und patentierten Sternguckers und Platonikers im Giebel des vormaligen Klosters Sancti Nicolai. Auf der Erde halte dich an die Dinge selbst, an die Materie, mögen sie Ecken und Kanten haben, soviel sie wollen; verachte aber nicht die Ideen, welche über der Materie sind. Nachher magst du dem Ganzen Namen geben, wie du willst. Und wenn du gar kein Wort dafür finden solltest, wird der Schaden auch nicht allzu groß sein. He, Heinrich Ulex, war das nicht gesprochen, als ob der Sohn des Ariston im akademischen Biergarten vor dem Thriasischen Tor das Wort gehabt hätte?«

»Semper idem!« sagte der Astronom lächelnd; da klopfte es wieder an die Tür.

»Schiebe deinen Riegel fort, Mann des Ideals«, brummte Fiebiger, »der Schritt, welcher da sich naht, wandelt auch nicht immer auf rosigem Gewölk, sondern oft über recht holpriges Pflaster, faulende Bohlen und morsches Estrich; aber er steigt doch vielleicht auch bis zu deinen Höhen.«

Heinrich Ulex neigte, während er seine Riegel zurückstieß, das Haupt und sagte einfach und leise:

»Du hast recht, Fritz!«

Über die Schwelle des Observatoriums trat das Freifräulein Juliane von Poppen, und hinter ihr erschien – o Robert Wolf, was sagte dein Herz? –, hinter ihr erschien, bleichschüchtern, das liebliche Gesichtchen Helene Wienands.

»Seid gegrüßt, ihr Herren«, sprach das alte Fräulein ungemein feierlich. »Ich komme heute früher, dieses Kindes wegen; ich hielt es für wünschenswert, daß es diesen Abend in unserer Mitte zubringe – so ist es hier; gib dem Fräulein die Hand, Robert.«

Wie sich Robert und Helene einander in die Augen sahen, was sie bei dieser Zusammenkunft fühlten, können wir nicht beschreiben. Sie reichten sich wortlos die Hände, und die Alten sprachen zuerst ebenfalls nicht und sahen nur mitleidig auf die beiden jungen Leute. Dann nahm Heinrich Ulex die Hand der Tochter des Bankiers Wienand und führte selbst sie zu einem Sitze. Es lag etwas unendlich Zärtliches und zugleich Trauriges in der Art, wie er sich um das junge Mädchen bemühte.

Nun saßen sie alle im Kreis und bedachten den Ernst des Lebens, und die großen Astronomen, die in ihrem Leben auch soviel getragen hatten, schienen noch ernster als gewöhnlich aus ihren Bilderrahmen herabzublicken.

Es sprach das Fräulein von Poppen:

»Ich wußte eigentlich nicht recht, ob es gut sein würde, wenn ich mein Kind an diesem Abend hierher brächte; ich wäre beinahe mit ihm unten an der Treppe noch umgekehrt. Jetzt aber weiß ich, daß es gut ist; wir müssen uns gegenseitig aussprechen, und Helene Wienand darf dabei nicht fehlen; selbst ihr Vater könnte ihr das Recht, hier zu erscheinen, nicht streitig machen, und so habe ich sie hergeführt, daß sie höre und selbst spreche. Robert, du bist von allem, was uns Frauen betrifft, unterrichtet?«

Robert senkte den Kopf und sagte: »Ja. Im Kabinett des Königs liegt das Adelsdiplom des Herrn Bankiers Wienand zur Unterzeichnung vor. Sobald dasselbe ausgefertigt ist, soll – soll –«

»Soll die Verlobung meines Neffen, des Barons Leon von Poppen, mit Fräulein Helene von Wienand der Stadt verkündigt werden!« rief das Freifräulein. »Abgemachtes Geschäft – Vorteil auf beiden Seiten – nichts mehr dagegen zu machen; das Haus von Poppen hat eine gute Spekulation gemacht und das Haus Wienand keine schlechte. O arme Helene, verkaufen möchten sie dich, wie sie die eigenen Seelen verkaufen würden; aber sie sollen ihren Willen nicht haben; ich leide es nicht, ich dulde es nicht. Habe ich dich damals als winziges, erbärmliches, schreiendes Ding in meine Arme genommen und dich zu einem so hübschen, verständigen Mädchen aufgezogen, um dich armes Lamm jetzt diesem abscheulichen höhnischen Jesuiten, der leider Gottes meinen Namen trägt, geduldig zu überliefern? O sie sollen das Freifräulein von Poppen kennenlernen, diese – diese – Je – su – iten!«

Unnachahmlich war die Art, in welcher Juliane das Wort Jesuiten hervorstieß. Es war eins ihrer höchsten Worte, und sie wandte es nur in Augenblicken der zornigsten Aufregung an. Ihr Pflegekind dicht zu sich heranziehend, fuhr die alte Dame fort:

»Weine nicht, mein Herzchen, es liegt immer noch ein weiter Raum zwischen ihrem Willen und der Vollendung ihrer liebenswürdigen Pläne. Noch bist du nicht Baronin von Poppen und sollst es mit Gottes Hülfe fürs erste nicht werden. Dein Vater hat nicht das Recht, dich ins äußerste Verderben zu stürzen.«

»Ach, wie kann ich mich wehren gegen das, was mein Vater will?« rief Helene, die Hände ringend. »Er ist mein Vater, und ich habe ihn so lieb, so lieb! Wie kann ich jemals vergessen, daß er sonst so gut gegen mich war? Wenn ich abends zu Bett gegangen bin, um mich in den Schlaf zu weinen, wie muß ich dann lauschen, ob er nicht wie früher wiederkommen will, um sich, wie früher – als er noch nicht krank war –, über meine Kissen zu beugen und mir die Stirn zu streicheln zu guter Nacht. Ich denke, es kann nicht anders sein, er muß wiederkommen, es kann nicht alles, alles so anders geworden sein; er muß mich wieder an sein Herz nehmen, wie früher, er kann mich nicht so grenzenlos unglücklich machen wollen.«

»Zur Baronin Poppen will er dich machen«, rief das Fräulein. »Er hält das gar nicht für etwas Schlimmes; er verlangt ja deine ganze kindliche Dankbarkeit dafür. Ich wollte nur, ich hätte deinen Zukünftigen jeden Tag eine Viertelstunde im Bereich meines Krückstocks!«

»Solche Wünsche wie diesen, Fräulein, muß man im Leben leider nur zu oft unterdrücken«, seufzte Polizeischreiber Fiebiger. »Wir kommen durch alle Wünsche, Klagen, Hoffnungen und Befürchtungen auch nicht den kleinsten Schritt weiter, sondern geraten nur immer tiefer in Mutlosigkeit und Verwirrung. Am besten ist's, wir legen uns klar und trocken noch einmal alles auseinander, scheiden das Richtige von dem Unrechten und gehen dann ein jeder mutig, tapfer und ergeben den vorgeschriebenen Weg. Hier sind wir: die Alten, die den Kampf um das Dasein so ziemlich hinter sich haben, und die Jungen, welche soeben in den Kampf eingetreten sind und die von den Grauköpfen wissen wollen, wie sie durch den großen wilden Wald, den gnadenlosen Wald gekommen sind. Die Sache, um welche es sich handelt, ist sehr einfach und durchaus nicht neu, wie das Lied sehr richtig bemerkt. Wie oft aber auch der Knoten gelöst oder durchgehauen wurde, die jedesmal Beteiligten glauben stets, sie seien die einzigen, welche je vor solch ein Hindernis gerieten. Es gibt aber Knoten von mancherlei Art, und jeder findet sie an seinem Lebensstrick. Laßt uns die vorliegende Verwicklung betrachten. Hier ist Robert Wolf aus Poppenhagen, der Arzneikunst Beflissener, ein junger Mensch von gutem Körperbau und mannigfachen Geistesanlagen. Wir, Heinrich Ulex und Fritze Fiebiger, gleichfalls aus Poppenhagen im Winzelwalde, haben in einem gefährlichen Zeitpunkt sozusagen die Rolle der Moira, des Fatums, für besagten jungen Wolf gespielt und haben ihn durch Gut und Böse, nasses und trockenes Wetter bis zum jetzigen Augenblick taliter qualiter durchgebracht. Hier ist auf der andern Seite Fräulein Helene Wienand, die Tochter des Bankier Wienand, ein armes kleines Mädchen, welches in ähnlicher Weise eine Beschützerin gefunden hat in dem Freifräulein Juliane von Poppen, ebenfalls aus Poppenhagen im Winzelwalde; und unter unsern alten blinden Augen hat sich zwischen den beiden jungen Leuten etwas angesponnen, wovon in unserm Erziehungsplane nicht die Rede war.«

Robert und Helene schlugen die Augen nieder, erröteten und zitterten an allen Gliedern; das Freifräulein nahm Prise auf Prise, rückte immer unruhiger auf ihrem Sitze hin und her und hob jetzt abwinkend die Hand gegen den Schreiber; dieser aber schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein, lassen Sie nur das Winken, Fräulein Juliane; ich glaube, es wird am besten sein, wenn wir so offen und methodisch wie möglich zu Werke gehen; das Rührende, Gefühl- und Tränenvolle wird schon von selbst sich in die Historie stehlen; wir haben zur Hervorrufung desselben ja den Herrn Neffen, das staatsmännische Talent, welches zu so großen Dingen im Vaterlande berufen ist. Der Herr Bankier Wienand, der wenig oder gar nichts von unserm Robert weiß, zieht natürlich den hoffnungsvollen jungen Baron als Schwiegersohn bedeutend vor, und nur ein Bruchteil hiesiger Stadtbevölkerung verdenkt es ihm. Es ist nicht zu leugnen, daß der Vater in gewisser Weise das Recht hat, über die Zukunft seines Kindes zu verfügen und sich und es nach bestem Willen und Kräften glücklich zu machen. Die Frage stellt sich meiner Meinung nach jetzt einfach so: Gibt nicht der Vater, welcher den größten Teil der Seele seines Kindes einer andern Person, die treuer darüber waltet, als er selbst es vermöchte, überläßt, einen ebenso großen Teil an der Verfügung über dasselbe auf? Hat das Freifräulein Juliane von Poppen das Recht, den Teil des Herzens Helene Wienands, der ihr gehört, gegen den Willen des Vaters zu wenden? Ich kämpfe für die Seele, die ich zu vertreten habe; ich vertrete das Glück meines Sohnes Robert Wolf und beantworte die Frage mit Ja!«

Robert Wolf stieß einen leisen Schrei hervor und streckte die Hände gegen den Erzieher aus; Helene Wienand aber wurde fast noch bleicher als gewöhnlich, blickte starr, wie im höchsten Grade erschreckt, auf den Polizeischreiber und dann mit fragend gefalteten Händen auf die alte Freundin. Diese faßte die fieberheiße Hand des Kindes und rief:

»Recht, recht, Fritz; wir haben jeder eine Seele, die wir uns gewonnen haben, zu vertreten. Ja, ich habe mir diese Seele gewonnen, und ich gebe mein Recht daran gegen keinen auf. Nicht wahr, mein Liebchen, ich habe teil an dir, und du verlässest mich nicht? Habe ich um dich gesorgt und in Krankheitsnächten an deinem Bettchen gewacht wie eine Mutter? Konnte eine Mutter mehr tun, als ich für dich getan habe? Welcher Teil deines Wesens gehört dem Bankier Wienand, und welcher gehört dem alten lahmen Fräulein von Poppen?«

»O meine Mutter, meine liebe, liebe Mutter«, rief Helene, das Freifräulein umarmend, »Sie sind meine wahre Mutter. Nimmer kann ich ausdenken, wie gut, wie liebevoll Sie für mich gewesen sind. So weich haben Sie mich durch das Leben getragen. Was wäre aus mir während der letzten Jahre geworden, wenn Gott Sie nicht mir gegeben hätte? Ich bin lange nicht so gut, als Sie – als alle glauben; aber was löblich an mir ist, das haben Sie, Mutter, zum größten Teil mir gegeben, und mein Vater – o mein lieber – armer Vater –«

Das junge Mädchen vollendete seine Rede nicht; die Worte gingen ihr im krampfhaften Schluchzen unter, und Robert Wolf stürzte mit tränenvollen Augen vor ihren Knien nieder:

»Liebe, Liebe, ach quäle dich nicht so! Gegen den falschen Leon wird dich das Fräulein Juliane schützen; wir beiden aber müssen den Sternen trauen. Mein Herz blutet über dein und mein Weh; aber die Sterne, die rechten, wahren Sterne täuschen nicht. – O weiser Meister, sagt es ihr, daß sie nicht täuschen; sagt ihr, daß sie allen denen, welche ihnen trauen und treu, treu – bis in den Tod getreu zu ihnen aufblicken, den rechten Weg weisen. Meister, Meister, sprecht zu ihr, sprecht zu uns; bei Euern Sternen ist Trost; die Erde ist so wild und hart und grausam; aber Eure Sterne sind milde und geduldig. Sie gehen nicht mit dem Strauchelnden ins Gericht; sie bändigen durch Sanftmut die Leidenschaft – ich habe es erfahren! –, in aller Not ist Heil bei ihnen. Meister, Meister, sprecht zu der armen Helene und zu mir, dessen Herz in so großer Not und Qual zwischen zwei Weltteilen schwebt, sprecht zu uns von Euern Sternen und ihrem Rat!«

Das Freifräulein sah erstaunt auf den erregten jungen Mann, der Polizeischreiber kratzte sich mit vielen Hm's und Ha's nach seiner Art hinter dem Ohre und brummte:

»Da bin ich drin für die Kosten! Bei Gott, der Alte hat mit seinem Idealismus doch das längste Ende gezogen! Und ich habe dem Jungen so schöne skeptische Prinzipien vorgeritten. Da liegt der Napf im Feuer, und aus dem realen Punsch werden transzendentalblaue Flammen, die durch den Schornstein zu den – Ster – nen in die Höhe schlagen.«

Es hatte sich aber Heinrich Ulex der Sternseher emporgerichtet, und leise sprach er:

»Ich wußte es! Ja, es konnte nicht anders sein. Gesegnet seien deine Worte, Robert; mit ihnen überwinden wir das Leben, mit ihnen überwinden wir auch den Tod. Wie hinter dem Tode, so ist hinter der Geburt ein großes Geheimnis; der Sterbende tritt in das eine, das Kind, welches geboren wird, in das andere. Auch das Leben ist eine Kette von Mysterien, die hienieden oft nur zum geringsten Teil gelöst werden. Den Schoß der Mutter verläßt das Kind und weiß nichts von sich. Es hört ein unbestimmtes Geräusch und wird von einem unbekannten Licht geblendet, mit Weinen und Klagen wehrt es sich gegen beides. Mit jeder Geburt hebt der uralte Sang von der Schöpfung wieder an: wüst war es und leer, und es war finster auf der Tiefe; aber der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Im Buche der Genesis freilich wird es mit einem Male Licht; in der dunkeln Seele des Menschen jedoch kommt das Licht langsam, langsam; erst ein dämmeriger Schein, dann ein Funke hier, ein Funke da, ein Aufleuchten, welches eine mehr oder weniger fremdartige Gegend zeigt, ein Verschwinden jeglichen Scheins, wieder ein Blitz, ein Zerreißen der Finsternis, neue schwarze Wolken, und so bis zum Tode ein Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman! Dunkel ist an und für sich das Universum, und das Licht darin geht nur von den glänzenden Kugeln aus, die wir Sterne nennen; dunkel ist auch von Grund aus die Menschenseele, ein ebenso großes Mysterium wie das Weltall; auch in ihr kommt das Licht von den Sternen, und deren gibt es viele und sehr schöne. Jeder von ihnen wirft einen andern Schein in das dunkle Sein, und dem echten Menschen verbinden sie sich in jeder guten, aber viel mehr noch in jeder bösen Stunde zu heilbringenden Konstellationen. Der Mensch der Materie, der Mensch des Paradieses, der weder Gut noch Böse kennt, gibt den Steinen, Pflanzen und Tieren Namen; aber der sittliche Mensch, welchem Gott befahl – erectos ad sidera tollere vultus –, das erhobene Gesicht zu den Sternen zu richten, dieser Mensch gab den Gefühlen Namen und nannte sie: Liebe, Freundschaft, Glaube, Geduld, Barmherzigkeit, Mut, Demut, Ehre – und Jahrtausende vergingen, ehe diese Namen und so viele gleiche gefunden waren. Seht nach dem Stern der Liebe, meine Kinder; aber du, schöne Jungfrau, vergiß auch nicht den Stern des kindlichen Gehorsams; es ist ein edles Gestirn, folge ihm bis zur Entsagung, in das Verderben jedoch darfst du ihm nicht folgen. Mein Sohn, du hast eine köstliche Tramontana gefunden; aber erinnere dich, daß du schon einmal glaubtest, sie gefunden zu haben. Gedenke immer der Verzweiflung, aus welcher wir dich emporzogen; denke daran, wie du damals das Leben wegwerfen wolltest gleich einem vollgeschriebenen Blatt Papier. Es hat sich nachher auf dem Blatt immer noch Platz für mancherlei gefunden. Du glaubtest das Dasein verloren zu haben, ehe du es angefangen hattest. Damals warst du ein verblendetes Kind, heute bist du ein Mann; damals glaubtest du zu lieben, heute liebst du – ernst, schweigend, geduldig, in alle Ewigkeit. Was geschehen mag, du hast viel gewonnen; habe nur weiter acht auf die Sterne der Ehre und des Mutes. Gebet mir eure Hände, ihr beiden armen lieben Kinder; jedes von euch weiß Bescheid von dem andern – mehr Bescheid, als wir Alten wissen können. So soll nun jedes dem andern sagen, was es zu tun hat. Sprich zuerst, Robert Wolf, was verlangst du von Helene Wienand?«

Die beiden jungen Leute sahen sich in die Augen; jahrelang hatten sie nachher zu sinnen, um sich über diese flüchtige Minute Rechenschaft zu geben; in einem fliegenden Augenblick zog ihnen ihr ganzes vergangenes Sein durch die Seele; und Robert sagte mit kaum vernehmbarer Stimme:

»Habe Mitleid mit mir; traue auf mich, ich will immer mehr deiner würdig werden. Du hast es gehört, du weißt es, daß ich dir nicht ein unberührtes Herz bringen kann; ach, ich darf ja eigentlich gar nichts von dir fordern. Was du Reine mir geben willst, ist alles ein unverdientes Geschenk. Und doch verlange ich Liebe, Liebe von dir; denn trotz allem, was aus der Vergangenheit, was jetzt sich zwischen uns drängt, sind wir mit unlöslichen Ketten aneinandergeschlossen; du kannst dein Herz nicht losreißen, ohne daß es zu Tode blutet. Liebe, Liebe verlange ich von dir, doch verlange ich nicht, deine Hand zu berühren, wenn der Vater zürnend es verbietet. Geduldig will ich harren, bis du zu mir kommen darfst und ich zu dir. Viel zu sehr liebe ich dich, um je ungeduldig zu werden. So sitze still, beuge dein Haupt, weise das Schlechte und Falsche im heiligen Zorn von dir – du darfst es. Ich liebe dich, ich liebe dich, Helene Wienand; – ich liebe dich und will warten auf dich bis über den Tod!«

Der Sternseher hielt das junge Mädchen mit dem Arm umschlungen; jetzt machte es sich los und warf die eigenen Arme dem Schüler des alten Heinrich Ulex um den Nacken. Ins Ohr flüsterte sie ihm kaum vernehmlich:

»Geh zu unserer Schwester, geh zu Eva, ich will stark und treu sein wie sie. Gleichwie sie auf unsern Bruder, auf Friedrich, gewartet hat, will ich auf dich warten. Auch sie wollte Leon von Poppen in den Schmutz ziehen; aber es ist ihm nicht gelungen. Wie Eva Dornbluth wird Helene Wienand ihr Gewand; ihre Hand rein erhalten vor seiner Berührung. Gehe ruhig, ganz ruhig, du Lieber, ich will stark und treu sein, wie Eva Dornbluth.«

Der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen überließ sich wieder einmal Körperverrenkungen, welche kein Komplimentierbuch für gesellschaftlich zulässig erklärt und welche den Polizeirat Tröster mit Entsetzen erfüllt haben würden. Das Freifräulein Juliane von Poppen aus Poppenhagen ließ Tabaksdose und Krückstock achtlos zur Erde fallen, sie riß wild das Pflegekind an die Brust und schluchzte und lachte durcheinander.

Der Sternseher Heinrich Ulex aus Poppenhagen hielt still die Hand seines Schülers mit der Rechten und beschattete mit der Linken die Augen. Da klang auf der Treppe draußen das Gepolter unsicherer Tritte, als ob Leute, die mit dem Wege vollkommen unbekannt wären, emporstiegen.

Eine dünne schneidende Stimme rief:

»Vorsichtig, excelsior! Immer mit Vorsicht höher hinauf, Herr von Wienand! Beim Zeus, das ist ja eine wahre Räuberhöhle – höchst interessant – Hasenpfote als Glockenzuggriff – noch höher? Leuchten Sie doch, alte Dame, – ah, per aspera ad astra, hier sind wir – stellen Sie die Lampe auf das Geländer, gute Frau; wir kommen sogleich zurück. Mut, Mut, teurer Herr, Mut und Geduld! Ich beschwöre Sie, sich zu erinnern, daß Sie mir versprochen haben, unter allen Umständen ruhig zu bleiben! Durch Geschrei und Trompetenfanfaren mochten wohl die Mauern von Jericho einfallen; aber gegen ma chère tante richten wir damit nichts aus. Ich kenne die Gnädige.«

Achtundzwanzigstes Kapitel Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex

Der Bankier Wienand hatte das Haus in der Kronenstraße, in welchem ihm einst seine Freunde eine Wohnung mieteten, angekauft, da das Gebäude, welches er auf der Brandstätte in imposanter Pracht errichtete, immer noch nicht bewohnbar war. Es war ihm widerlich, mit andern, Gleichberechtigten unter einem Dache zu hausen; überall wollte er den Fuß auf eigenen festen Grund und Boden setzen; die krankhafte Scheu vor allem, was er »unsolide« nannte, sprach sich auch hierin aus.

Ein magisches Glück begünstigte alle seine Unternehmungen; rastlos arbeitete er Tag und Nacht. Wo eine Eisenbahn gebaut wurde, erschien das Haus Wienand an der Spitze der Aktionäre; das Feuer auf manchem Fabrikherde wurde durch Mithülfe des Hauses Wienand unterhalten; auf der Börse gab es keinen geachteteren Namen als den des Bankiers Wienand. Das Fieber des Ehrgeizes, die Gier des Erwerbs trieben den Mann mit rasender Hast vorwärts, und laut klatschte die Stadt Beifall; – der Bankier Wienand imponierte der Stadt ungemein.

Wo aber war die markige Gestalt, die einst so fest auf den Füßen stand? Wo war der helle joviale und doch so scharfe Glanz der Augen? Der berühmte Bankier bediente sich eines Krückstocks wie das Freifräulein Juliane von Poppen, und wenn er ohne Stab gehen mußte, so lehnte er sich gern auf einen fremden Arm – am liebsten auf den Leons von Poppen, wie wir leider wissen. Die Augen glänzten zwar noch, aber es war nicht mehr der frühere ruhige, klare Schein in ihnen; halb scheue, halb gierig suchende Blicke schossen sie. Es war der glasige Schimmer, den ihnen die Krankheit gegeben hatte, nur zum Teil gewichen. Einst – in jener verhängnisvollen Nacht, in welcher im Semmelrothschen Geschäft der Funke in der Asche vergessen worden war, hatte der Bankier Wienand die starke männliche Faust selbstbewußt, triumphierend auf sein Hauptbuch gelegt; wo war jetzt diese starke sehnige Hand? Magere zitterige Finger wendeten die Blätter in dem neuen Buche und reihten Zahlen aneinander.

Über das große Buch gebeugt, saß der reiche Mann und horchte zwischen seinem Rechnen auf den Schritt Leons, der allabendlich um diese Zeit auf der Treppe erklang. Helene hatte mit dem Freifräulein vor kurzer Zeit das Haus verlassen, dem Bankier war die Stille, die in demselben herrschte, unangenehm; er wartete mit Verlangen auf den Baron, während dieser auf eigene Hand das Wohl des Hauses Wienand in Obacht nahm.

Wenn auch Eifersucht grade nicht im hohen Grade zu den fehlerhaften Seelenneigungen des jungen Diplomaten gehörte, so kannte er doch seinen Vorteil viel zu gut, um nicht einiges Mißbehagen, einige Sorge beim Anblick Robert Wolfs zu empfinden. Er wußte ganz genau, daß jedesmal, wenn der »alberne Bursche aus dem Walde« während seiner Studienzeit in der Stadt anwesend war, eine Zusammenkunft zwischen demselben und Helene stattfand; er hatte nur darüber gelächelt und sogar den Bankier gehindert, etwas dagegen zu sagen oder zu tun.

»Es ist Kinderei«, hatte er gemeint, »regen wir uns und die Damen nicht unnötigerweise auf. Im gegebenen Augenblick können wir alles ganz behutsam und ohne Lärm arrangieren.«

Jetzt aber, wo seine Verlobung mit der Tochter des Bankiers, wie er meinte, so nahe bevorstand, glaubte er Grund zu haben, »die Geschichte zum Abschluß zu bringen«, und so eilte er denn, nachdem er vorhin den Nebenbuhler mild, höflich, überlegen und lächelnd begrüßt hatte, so eilig wie möglich der Kronenstraße zu, und wir betreten mit ihm abermals das Haus der Baronin Victorine de Poppen.

Noch immer grinste oder glotzte einem beim Eintritt Baptiste, der bunte Lakai, entgegen, noch immer trippelte Elise kokett treppauf und -ab oder durch die Gemächer. Zwei weitere Jahresringe hatte die Baronin angesetzt; immer weichmütiger, immer schläfriger war sie geworden, und winselnd beklagte sie die vollständige Entfremdung der beiden Freundinnen Artemisia und Lydda von Flöte. Immer rücksichtsloser wurde sie von dem »bösen Kinde«, dem eigenwilligen Leon, behandelt, und den Plänen desselben in Hinsicht auf seine Verbindung mit dem Hause Wienand konnte sie nur den allerpassivsten Widerstand entgegensetzen. Dieser Widerstand beschränkte sich darauf, daß sie von ihrem Diwan aus, mit sehr kläglicher Stimme, Klagelieder sang, die sehr einschläfernd auf den vortrefflichen Ministerialsekretär wirkten.

Leon erreichte das Haus seiner Väter; Baptiste trat ihm mit dem Licht entgegen, leuchtete ihm zu seinen Gemächern voran und wurde sanft gebeten, für einige Augenblicke in dieselben mit einzutreten.

»Lege ein Schloß vor deinen Mund, knöpfe Ohren und Augen auf, Mensch«, sagte der Baron. »Ich habe einen Taler und einen Auftrag für dich, im Notfall aber auch eine Tracht Prügel. Zeige dich als ein vernunftbegabtes Wesen, welches verdient, einen so guten Herrn, wie ich bin, zu haben.«

Baptiste verbeugte sich bei jedem Redepunkt, und der Baron fuhr fort:

»Mache dich so dünn wie möglich, Esel. Hinunter mit dir in die Gasse; gib acht auf die Tür drüben – du weißt. Ich werde am Fenster warten. Sobald ma tante, das Freifräulein von Poppen, an deinem Horizont aufgeht, das heißt an der nächsten Ecke erscheint, benachrichtigst du mich durch den bekannten Pfiff. Wenn sie drüben eintritt, achtest du darauf, ob sie mit dem gnädigen Fräulein von drüben ausgeht. Geschieht das, so folgst du den Damen so unbemerkt als möglich; du bringst mir Nachricht, wohin sie gehen – ventre à terre. Allez!«

Baptiste verdiente es, einem so guten Herrn zu dienen; er pfiff nach einer halben Stunde und kam nach einer andern halben Stunde mit der Botschaft heim: die gnädige Tante habe sich mit dem gnädigen Fräulein im Niklaskloster verloren. Leon von Poppen zog den Überrock und die Handschuh an, setzte den Hut auf und ging zum Bankier Wienand, indem er brummte:

»Wirklich, die Geschichte mit diesem jungen Waldteufel tritt aus dem Stadium der Lächerlichkeit in das der Langweiligkeit. Machen wir ein Ende.«

Er hatte eine kurze, aber lebendige Unterhaltung mit dem Bankier, und zehn Minuten später fuhren die beiden Herren ebenfalls dem Nikolauskloster zu. Auf dem Hofe des alten Gebäudes griffen sie ein altes Weib mit einer Laterne auf und gelangten unter ihrer Führung zur Tür des Sternsehers.

Heinrich Ulex öffnete ihnen, und sie fanden sich inmitten der kleinen Versammlung.

Wild suchend blickte der Bankier umher; doch ungemein verbindlich grüßte Leon und schien sich im geheimen sehr an der peinlichen Erstarrung, die sich auf den Gesichtern der überraschten Freunde malte, zu ergötzen.

»Bitte die Herrschaften tausendmal um Entschuldigung, wenn wir stören!« lächelte er und machte sogar Miene, der Tante die Hand zu küssen; aber er erhielt für diesen Versuch eine so gut angebrachte Ohrfeige, daß das Lächeln von seinen Lippen ganz verschwand und peinliche Erstarrung auch seinen Zügen sich mitteilte.

Auf seine Tochter ging der Bankier zu und faßte heftig ihren Arm:

»Was geht hier vor? Weshalb bist du hier? Bist du toll geworden, daß du dich in solcher Weise von mir suchen lassest? Komm fort – auf der Stelle!«

»O mein Vater!« schluchzte Helene; aber der Bankier unterbrach sie und sagte mit berechneter Betonung seiner Worte:

»Wer es auch sei, der dich gegen meinen Willen, ohne mein Wissen an solche Orte, in solche Gesellschaft lockt, ich habe nicht die Verpflichtung, ihm dafür dankbar zu sein. Leon, geben Sie dem albernen Geschöpf, dem törichten Mädchen Ihren Arm; ich meine, es ist nichts mehr zu sagen, und wir können gehen.«

»Es wäre noch recht viel zu sagen, wenn Sie Vernunft annehmen wollten, Wienand!« sprach das Freifräulein. »Aber Unglück und Krankheit haben Sie verblendet; Sie können nicht sehen, nicht hören. Wienand, Sie sind ein beklagenswerter Mann!«

Zornig schrie der Bankier auf:

»Wessen Mitleid verlange ich? Wer wagt es, mich zu bedauern? Gnädiges Fräulein, was verlangen Sie eigentlich von mir? Sie haben mir Gutes – Dienste – erwiesen, Sie haben sich meines Kindes angenommen zu einer Zeit, wo ich in einiger Verlegenheit war. Ich habe das immer anerkannt, und ich erkenne es auch jetzt noch an; aber ich habe auch von Ihnen mehr ertragen, als ich von irgendeinem andern Menschen erduldet haben würde. Sie haben oft, sehr oft in meinem Hause die Tyrannin gespielt, und ich habe mich Ihnen gefügt, ohne ein Wort darüber zu verlieren. In diesem Fall aber leide ich es nicht, daß Sie meinen Wünschen, meinem wohlbedachten Willen so schroff entgegentreten. Sie haben mir einen großen Teil der Neigung meines eigenen Kindes entfremdet – wollen Sie mir alles nehmen? Ich sage Ihnen, im Notfall überlasse ich Ihnen die Liebe der verzogenen Dirne, den Gehorsam derselben halte ich aber fest.«

»Vater, Vater, o höre mich!« rief Helene jammernd.

»Still, Mädchen! Zu Hause will ich zu dir reden. Fräulein von Poppen, weshalb führen Sie meine Tochter ohne mein Vorwissen zu diesem Orte? Wer sind diese Herren? Wer ist dieser junge Mensch? Ich bitte gehorsamst um Antwort; die Auskunft wird mir sehr interessant sein.«

»Dieser Ort«, sprach Juliane von Poppen ernst, fast feierlich, »dieser Ort ist für Leute Eures Schlages heiliger Boden; Ihr habt im Grunde doch großen Respekt davor, wie Ihr Euch auch stellen mögt. Und hört, Wienand; wenn das Schicksal es wollte, daß ein neuer Windstoß abermals Euer armes buntes Kartenhaus umstieße, und der böse Geist – Ihr wißt, was ich meine – abermals die Hand nach Euch ausstreckte: so klopft schnell, schnell an diese Tür und bittet um Einlaß, und wenn der Euch gewährt wird, so ziehet die Schuhe von den Füßen und tretet ein. Erinnert Euch daran, daß damals nichts Euch vor dem schwarzen Dämon schützen konnte: hier an diesem guten Ort findet Ihr vielleicht die Sicherheit, welche Euresgleichen die ganze weite Welt versagt,

Sooft der Herr der Wasser und der Erden Die Krämer beugt, daß sie nicht Fürsten werden.

Was diese Männer anbetrifft, so sind es meine Freunde, und bessere, treuere sind nimmer zu finden. Gott gebe Ihnen solche Freunde, Wienand, und dazu die Macht, sie zu erkennen und hochzuhalten. Gib mir deine Hand, Robert Wolf; – sehen Sie hier, Herr Bankier Wienand, diesem jungen Mann habe ich einst verboten, sich Ihrer Tochter, meinem Pflegekind, zu nähern, ich habe ihm meine Gründe dafür gesagt, und er hat gehorcht, obgleich er Helene liebte. Jetzt hab ich selber mein Kind, Ihre Tochter, ihm entgegengeführt, um es zu erretten vor jenem klugalbernen Laffen, Leon von Poppen, meinem Neffen, welchem Sie schwacher Mann Ihr eigen Fleisch und Blut gegen einen Pergamentfetzen verhandeln wollen. Hören Sie wohl zu, Wienand: auf mein Wort hat jetzt Helene diesem Jüngling Treue geschworen, und sie wird daran halten, solange sie lebt; aber morgen geht der junge Mensch fort von hier, nach Amerika; nie wieder wird er vielleicht zu seiner Verlobten reden, und an sie schreiben wird er auch nicht. Sie sollen einen Teil Ihres Willens haben, Wienand; Helene wird sich nicht gegen Ihren Willen verheiraten, aber diesen Burschen, der leider Gottes meinen Namen trägt, sollen Sie ihr in alle Ewigkeit nicht aufdrängen. Nun führen Sie Ihr Kind fort, Herr; für heute habe ich genug zu Ihnen gesprochen.«

»Genug, übergenug!« murmelte der Bankier zwischen den Zähnen. Dann sprach er laut:

»Fräulein von Poppen, ich übernehme von jetzt an die Leitung meines Hauses und damit auch meiner Tochter wieder allein; ich denke, das ist klar! Komm, Mädchen, fort mit dir!«

»Sie weisen mir die Tür, Herr«, sagte das Freifräulein höchst vornehm, wirklich vornehm. »Das ist eine große Ehre, die Sie mir unter den jetzigen Umständen erzeigen. Ändern werden Sie dadurch übrigens nichts! Helene Wienand, im Namen deiner toten Mutter, deren Stelle ich versehen habe und für die ich hier stehe, im Namen deiner Mutter verbiete ich, Juliane von Poppen, dir, diesem Mann, meinem Neffen Leon von Poppen, deine Hand zu geben. Wir müssen uns jetzt trennen, bleibe treu den Sternen und gedenke, mein armes Kind, daß ich dir zu jeder Stunde doch nahe, ganz nahe sein werde. Habe Mut, traue deinen Müttern, der toten wie der lebenden, sie werden ihr Kind nicht verlassen.«

Nach einer kurzen, hastigen letzten Umarmung schob das Freifräulein das verzweifelnde Mädchen dem Vater zu, indem es demselben ganz leise ins Ohr flüsterte:

»Da nehmt es, armer Mann; versucht, was Ihr erreichen könnt. Ich habe den Sarg Eurer Frau geschmückt, obgleich Ihr mich nicht gerufen hattet. Hütet Euch, daß ich nicht nochmals ungerufen Euer Haus betreten muß, um eine andere Tote in den Sarg zu legen! ... Nun, Herr von Poppen, bieten Sie dem Fräulein Wienand Ihren Arm.«

Damit wandte sich Juliane ab und griff nach der Hand Robert Wolfs, welcher sich zwischen den Baron und das junge Mädchen stürzen wollte; Herr Leon aber bot dem Fräulein Wienand nicht den Arm; er stand betäubt, »wie vor den Kopf geschlagen«. Wankend folgte er dem Vater und der Tochter und stolperte draußen über das alte Weib, welches neben seiner Laterne auf der Treppe eingeschlafen war. Atemlos hielt er sich an dem morschen Geländer und ächzte:

»Pauken und Trompeten, welch ein Weib, welch eine Suade! Ich werde mich zu Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen.«

Er fuhr nicht mit in dem Wagen des Bankiers nach Hause; er ging oder schwankte vielmehr heimwärts. Als er vor dem Café de l'Europe von einem ihm begegnenden Kollegen erfuhr, daß das Nobilitierungspatent für den Bankier Wienand von Seiner Majestät fürs erste noch zurückgelegt worden sei, machte diese Nachricht kaum einen bemerkenswerten Eindruck auf ihn.

Er kam in seinem Zimmer an und zog wirklich die Decke über den Kopf, nachdem er vorher noch dem getreuen und klugen Baptiste wieder einmal auf die alte Art, das heißt durch einen Tritt vor die Posteriora, gute Nacht gewünscht hatte. Er selbst hatte keine gute Nacht.

Im Observatorium des Sternsehers sprachen die Freunde nicht viel mehr zueinander. Was sie bewegte, ließ sich schwer in Worte fassen.

Mit heißen Tränen nahmen Juliane von Poppen und der alte Ulex Abschied von Robert Wolf; und Polizeischreiber Fiebiger war fast von allen der Weichmütigste.

Am folgenden Morgen schon reiste Robert nach Hamburg ab.

Neunundzwanzigstes Kapitel Zeigt, daß Leute, die aus dem Blick entschwinden, darum doch an der rechten Stelle wieder erscheinen können

Wer ein sorgenvolles, bekümmertes, schmerzbeladenes Herz hat, der trage es, wenn er es irgend vermag, hinaus auf die großen Wasser. Es liegt etwas Befreiendes, Kräftigendes in dem Schweben auf dem beweglichen Element; der Horizont des Menschen wird weiter auf dem Meer. Es ist ewig dasselbe und doch immer ein anderes; einfachste tiefste Harmonie ist im Sturm wie in der Windstille. Das ängstlich Kleine, welches auf der »wohlgegründeten Erde« von allen Seiten her sich aufdrängt, weicht zurück; der starke Geist empfindet lebhaft, daß es besser ist, in den Armen der lauttönenden Amphitrite erdrückt und erstickt zu werden als von vier dumpfen Mauern und einem Haufen Federbetten.

Ähnliches empfand Robert, nachdem das deutsche Ufer hinter ihm versunken war und er die Seekrankheit überwunden hatte. Noch mehr empfand er das, als nach tagelangem Kreuzen gegen widrige Winde die Küsten von England und Frankreich, die Scharen wild geschaukelter Fischerboote dem Auge sich entzogen und das gute Schiff Teutonia durch den freien Atlantischen Ozean westwärts zog. Nun hatte, gewiegt auf dem blauen Wasser, Robert die beste Zeit und Gelegenheit, über sich und seine Schicksale nachzusinnen; und mit jedem andern Erdgeborenen teilte er das Recht, Wunder über Wunder in seinem Leben zu finden. Die geheimnisvolle Tiefe, über welcher er schwebte, schien ihm nicht soviel Wunder zu verbergen wie die eigene Brust.

Seit jene Briefe ihn von jenem grünen Waldhügel aufgeschreckt hatten, auf welchem er mit den Genossen das Lied vom Glück der Menschen und Neid der Götter sang, war das alte Grübeln, das bittere Wühlen im eigensten, innersten Sein mit verdoppelter Macht zurückgekommen. In alter Weise rief er die Bilder der Vergangenheit zurück, verknüpfte sie miteinander und suchte sich über jede Lebensstunde Rechenschaft zu geben. Über sein Erwachen zum Denken im verborgenen Tal des Winzelwaldes grübelte er und suchte die ersten Anfänge der Charakter- und Geistesaufbauung mit den Anschauungen des gewordenen Mannes in Einklang zu bringen. Da wurden manche Fragen laut, auf welche es keine Antwort gab, und manch ein Rätsel blieb ungelöst dem Sinnenden. Aber auch in mancher Neigung, in mancher Tat, in manchem Gedanken des Kindes, des Knaben fand er die Wurzel des Daseins des reifen Mannes, und manches, was in dem einsamen Walddorfe in der Seele aufsproßte, war noch lebendig, trieb Ranken und trug bittere oder süße Frucht in dieser Stunde, wo das große Meer und die hohen Wogen des Lebens den Weltbürger schaukelten. Robert griff nach allen Uranfängen seiner Existenz, im Guten wie im Bösen, zurück; an allen Fäden, welche davon in die Gegenwart hineinliefen, tastete er sich zurück, und daß er das konnte, war auch einer von den Gewinnen, die er aus der Schule, durch welche er geführt worden war, gezogen hatte. Oft beobachtete er ernst das bunte Leben, welches auf dem Schiffe herrschte, und es kam ihm vor, als sei er der einzige, den nicht eine große glänzende Hoffnung über den Ozean führe. Da war niemand, jung und alt, Mann oder Weib, unter den Fahrtgenossen, der nicht von der Ferne, dem »Drüben« ein mehr oder weniger klar gedachtes fabelhaftes Glück für sich und andere erhoffte. Sie unterhielten ihn alle gern von ihren Plänen und Aussichten, denn die Hoffnung ist um so mitteilsamer, je verschlossener die Enttäuschung ist, und er horchte ihnen gern und teilnehmend. Er hatte jenseits der Wasser kein Glück zu erwarten; aber er hatte genug gelernt, um die Hoffenden, Frohlockenden nicht zu beneiden – und auch das war viel gewonnen hienieden, wo das Glück des einen selten, sehr selten den andern glücklich macht. Seines wackern Freundes Ludwig gedachte er. Wo mochte der sein? Hatte der gefunden, was er suchte? Das Grab des Bruders stieg drohend in der Phantasie hinter jeder von diesen Fragen empor.

Nach den ersten stürmischen Tagen hatten die Götter der Teutonia eine gute Fahrt gewährt. Leicht durchschnitt der schnelle Kiel die Fucusbänke von Corvo und Flores, welche am neunzehnten September des Jahres vierzehnhundertzweiundneunzig das Schiffsvolk des Christoph Kolumbus so sehr erschreckt hatten. Der kühne herrliche Genuese hatte aber das Phönikermärchen vom undurchdringlichen Meer nicht gefürchtet. Vor Märchen weicht der Genius nicht zurück – und was ist Märchen, und was ist Wahrheit in dieser Welt?

Überall findet der denkende Geist hohe Beispiele, an denen er sich aus schwerer Trübsal und peinlicher Vergrillung emporrichten kann. So lehnte Robert an der Brüstung des Schiffes, blickte hinauf in die sternenhelle Nacht, hinaus in das leuchtende Meer und sprach:

»Die Mittelmäßigkeit, welche mit wenig Kunst die Erde beherrscht, traut dem Geiste nicht, der nach den Sternen sieht. Wenn sie gnädig ist und das Höchste wagen will, gibt sie ihm eine lecke Karavelle und einen Haufen Galeerensklaven und Verbrecher zu Hülfsgenossen, auf daß ja kein ehrlicher, verständiger Mann bei dem törichten, närrischen Spaß zugrunde gehe. Aber hohe Götter halten ihre Hand über das morsche Fahrzeug, welches den Entdecker trägt. Wenn das meuterische Gesindel in seiner Angst ihm Ketten an die Hände legt, was schadet es? Auch in Ketten vorwärts! O über die tragische Ironie! Wird nicht fast alles Große mit gefesselter Faust gewonnen? Was wollen wir Kleinen uns kümmern, wenn es den Großen so geht? Für uns nicht weniger als für sie gilt das Wort: Auch in Ketten vorwärts! Auch in Ketten vorwärts!«

Aus den Wogen tauchte Rio Janeiro mit seinen Palmen, seiner buntscheckigen Bevölkerung auf wie ein wunderlicher Traum; aber auf den sonnigen Glanz der Tropen folgten die Nebel und Schneestürme am Kap Hoorn. Doch die bösen Geister der bei den Schiffern so übelberüchtigten Planetenstelle hatten keine Macht über das gute Schiff Teutonia. Glücklich umfuhr es die gefürchtete Spitze, und stolz zeigte sein Galionbild dem Stillen Ozean Schild und Schwert. Noch einmal im Hafen, ehe das Ziel erreicht ist! Das ist Valparaiso auf der westlichen Seite des amerikanischen Kontinents.

Wieder hinaus nach kürzester Frist, zu nahe winkte jetzt das Ziel, als daß man sich Zeit gegönnt hätte zum ruhigen Atemholen auf fester Erde. Als endlich, endlich abermals der Ruf: Land! erschallte, da war die Fahrt vollendet, und die langen Wellen des Großen Ozeans rollten gegen die Ufer der kalifornischen Küste. Im unbeschreiblichen Tumult stürzte die wilderregte Menge auf der Teutonia gegen die Schiffsbrüstung. Mit gierigen Augen und hochklopfenden Herzen starrte sie in die Ferne auf die Bergzacken, die duftverschleiert, mehr geahnt als gesehen, am Horizont auftauchten.

Da lag es nun vor den Augen dieser armen Menschenkinder, da lag es – das Goldland – das Dorado, nach welchem fast seit Beginn der Geschichte die Menschheit auf die verschiedenartigste Weise sich abängstete, das sie suchte im Stein der Weisen, das sie sah in den phantastischen Träumen vom Reich Ophir, vom Land Golkonda, vom Reich des Priesters Johann. Immer dasselbe Drängen auf einem andern Wege. Ach, mit welchen Blicken klammerte sich dies begünstigte Geschlecht des neunzehnten Jahrhunderts an diese toten kahlen Berge, von denen die goldführenden Ströme sich ins Meer herabstürzten!

Und rückwärts auf der Linie des Meereshorizontes tauchte Segel um Segel auf. Jedes Volk des Erdballs kam, seinen Teil zu nehmen von dem unendlichen Glück.

Auf dem Deck der Teutonia zitterte das Fernrohr in der Hand des Kapitäns. Mit toller, schwindelnder Hast führten die Matrosen die gegebenen Befehle aus – immer deutlicher trat das Land hervor; eine hohe Felswand schien den Lauf des Schiffes hindern zu wollen; aber was ihr durch Jahrtausende gelungen war, das gelang jetzt nicht mehr – das Goldene Tor öffnete sich, auf beiden Seiten traten die Felsen zurück, ein hundertstimmiges Jauchzen stieg himmelan vom Bord der Teutonia; unwillkürlich machten sich dadurch die zusammengepreßten Gefühle in jeder Brust Luft. Vor den Augen der Seefahrer dehnte sich, blitzend im Strahl der Morgensonne, die Bai von San Francisco.

Wer jetzt – jetzt, wo jene Zeit schon längst old forty-nine, alt-neunundvierzig, geworden ist – dort anlandet, der findet da eine prächtige Stadt, ein geregeltes Staatsleben, ein geregeltes Leben der Individuen. Das war damals anders. Damals setzte jedermann den Fuß des Eroberers auf diesen dürren Strand, mit dem festen Willen, niemandem zu weichen auf dem Wege zum grenzenlosen Reichtum. Jeder, nur mit sich selbst beschäftigt, sah in dem Mann zur Seite nur den gefährlichen Nebenbuhler, den Todfeind. Selten fand der Strauchelnde eine barmherzige, hülfreiche Hand; nur der Egoismus verband hie und da die einzelnen zur gemeinschaftlichen Arbeit.

Da lagen auf der Reede die Schiffe aller Nationen: die chinesische Dschunke neben der englischen Brigg, das Fahrzeug aus Honolulu neben dem Bremer Schoner, und von jedem Bord hatte sich der Strom der Abenteurer ans Land ergossen und auf dem Strande die tolle Zeltstadt San Francisco mit errichtet, leicht und wunderlich gleich den Gedanken, welche in den wilden Herzen um wirbelten. Ihren Ankerplatz fand auch die Teutonia, und auch ihre Menschenlast stürzte sich im drängenden Getümmel in die Böte, um so schnell als möglich den glorreichen Boden zu erreichen. Ein klares Denken war in diesem Augenblick eine Unmöglichkeit; möglich schien nur, daß alles dieses, was Wirklichkeit sein sollte, nur eine Vision war. Jedermann hatte das Gefühl, als könnten diese Gebirge, diese Landzunge mit der beweglichen Stadt, dieses bunte Gewühl der Völker, dieser Mastenwald sich wieder in Nebel und Nichts auflösen.

Schwindelnd stand Robert Wolf, nach mehrmonatlichem Geschaukel auf den Wogen, auf dem festen Erdreich, fast so schwindelnd wie damals, als das Geschick ihn zum erstenmal ratlos, hülflos in die große Stadt geschleudert hatte. Der Übergang war zu plötzlich. Eben befand man sich noch auf dem weiten Meer, inmitten der Gestalten, der Gesichter, der Stimmen, an die man sich wohl oder übel durch das lange Zusammensein gewöhnt, über die man sich ergötzt, geärgert, erbost, an die man sich auch wohl mit Zuneigung angeschlossen hatte – nun war man mit einem Schlag, durch einen Schritt über ein schwankendes Brett, in eine Szenerie, in ein Leben versetzt, von welchem man bis dahin nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Verschwunden waren die bekannten Figuren. In einem Augenblick hatten sie sich in dem Getümmel verloren. Das Schiff war zu einer Art von Heimat geworden; diesem unbekannten Lande, diesem unbekannten Leben gegenüber fühlte man sich vollkommen heimatlos. Für mutige Charaktere jedoch geht dieses zaghafte Gefühl, dessen sich wohl keiner anfänglich erwehren kann, schnell vorüber, und auch bei dem Schüler des Polizeischreibers Fiebiger war es nicht von Dauer. Fest stand er und blickte klar in das Wirbeln und Wogen.

Um sein geringes Gepäck brauchte er keine Sorge zu haben. Im Notfall konnte er den leichten Koffer auf den eigenen Schultern zu irgendeiner der Holz- und Leinwandbaracken tragen, welche durch ein flatterndes Banner oder durch eine flüchtig und roh bepinselte Tafel als »Hotels« dem müden Seefahrer sich ankündigten. Aber der junge Deutsche konnte sich nicht losreißen von dem merkwürdigen Schauspiel, welches vor seinen Augen fort und fort wechselte; er schrak auch nicht wenig zusammen, als er plötzlich eine gewichtige Hand auf seiner Schulter fühlte:

»Holla, Landsmann, seid Ihr nach Kalifornien gekommen, um auf offener Straße ein germanisch Tagträumen zu beginnen? Beim Plutus und Mammon, kein Platz dafür hier, Herr Wolf aus dem Winzelwalde.«

Im höchsten Grade überrascht durch die unvermutete Anrede, drehte sich Robert um und sah nun einen hohen, breitschultrigen Mann mit dunkelm, graugesprenkeltem Vollbart und sonnegebräuntem Gesicht, über dessen Stirn eine rote Narbe lief, vor sich. Ein breitrandiger Sombrero bedeckte den charaktervollen Kopf, dazu trug der Mann ein ledernes Jagdwams, hohe Stiefeln, eine Büchse, ein Weidmesser, eine indianische Tasche und unter dem Arm eine zusammengerollte mexikanische Serape. Das Plötzliche der Erscheinung und Anrede wirkte so verwirrend auf Robert, daß er einige Sekunden hindurch nicht imstande war zu sagen, wer vor ihm stehe.

Der Fremde machte dem schnell ein Ende und sagte:

»Kalkuliere, Ihr kennt mich doch wohl! Erinnert Euch an das Polizeibüro zu – na, Ihr wißt. Schickte auch neulich einen Brief nach dem alten Lande, der Euch leider anging. Gebt mir die Hand, ich wußte, daß Ihr Euch den Weg hierher nicht verdrießen lassen würdet.«

»Konrad von Faber! Der Herr Hauptmann von Faber!« rief Robert Wolf und faßte hastig die dargebotene knochige Hand des berühmten Reisenden. »Dank, Dank für die Hand, die Sie mir damals reichten, welche Sie mir jetzt entgegenstrecken!«

»Still, still«, sagte Faber, »ich freue mich herzlich, daß ich Sie sogleich traf, Mann. Ja, Sie sind ein Mann geworden, und manch einer hätte Sie nicht sofort erkannt; aber in einem Leben, gleich dem meinigen, schärft sich das Auge für Derartiges. War auch Ihr Bruder mein sehr guter Freund – wackerer Junge! –, haben zusammen an manchem Lagerfeuer gelegen, und seine Hand hat mich mehr als einmal zu Wasser und zu Land vor der letzten Unannehmlichkeit geschützt. Leider habe ich ihn jetzt nicht wieder schützen können. Es gibt Leute, die stehen zueinander, wo sie sich treffen, im Salon wie unter dem Büchsenfeuer. 's ist ein hart Ding, daß er jetzt in diesem fatalen Sande liegen muß. Das war das Ende davon, Don Roberto, und es geht manchem hier auf die Art. Man gräbt eine Grube und kratzt und wühlt sich die Finger blutig nach dem blanken Staube, und während dem Kratzen und Wühlen schleicht sich der Tod, das alte Gespenst, hinter Euch, und ein Tritt von seinem verdammten Skelettfuß stürzt Euch kopfüber in das Loch; die Kameraden werfen den Sand und das Gestein, welche Ihr mit soviel Schweiß lind Mühe aus der Grube herausgebracht habt, wieder auf Euch, und dann – dann jeder an sein Geschäft! – go ahead! Aber es ist doch ein glorioses Treiben!«

»Und Eva? Eva – meine Schwägerin?« rief Robert, von neuem die Hände Konrad von Fabers fassend.

Ein schmerzliches Zucken ging über das Gesicht des Reisenden. Mit einem heftigen Ruck riß er seine Hände aus denen des jungen Mannes, trat einen Schritt zurück und lüftete ein wenig den Strohhut, um ihn sogleich desto tiefer in die Stirn zu drücken:

»Stand firm at your post!« murmelte er, und dann rief er laut: »O Wolf, ich habe niemals mich viel um die Weiber gekümmert, es ist eine beschwerliche Last für einen Wanderer meines Schlages; – zu weichliche Kreaturen für einen Menschen, der das Stillsitzen nicht vertragen kann! Wolf, Eures Bruders Frau ist die einzige Königin, die mir auf meinem Lebenswege begegnet ist, und ich habe doch manche Damen gesehen, die sich offiziell den Titel ausbaten. Sie ist ihrem Mann keine Last gewesen. Eine Heldin ist sie, und als solche hat sie geduldet. Ach, sie wird nicht lange mehr zu dulden haben. 's ist ein weiter Weg von Texas bis zum Stillen Ozean. Die Wälder, die Prärien, die Felsengebirge, die Wüsten könnten den stärksten Mann müde und knielahm machen, Eva Wolf ist nicht müde geworden. Wenn sich wilde Gesellen im Zuge zu Boden warfen und sterben wollten, haben wir ihnen die Eva Wolf und die andere, die mit ihr war, das kleine Mädchen, ihr Mariechen, gezeigt, wir haben manchen albernen, weichfüßigen Tölpel dadurch wieder auf die Beine und zum Marschieren gebracht. Sie hat auch Glück gehabt hier auf dem goldenen Boden. Sie stieg selbst zum Spaß in solch ein Loch, in welchem nun Euer Bruder begraben liegt. In diesem Augenblick noch klingt mir ihr helles Lachen ins Ohr, als sie einen blitzenden Klumpen in die Höhe hielt und rief: ›Oro! oro! Schau, Fritz, damit kaufen wir das ganze Poppenhagen, Schloß und Dorf!‹ – Nie vergeß ich das stolze Lächeln, mit welchem Fredy auf sein mutiges Weib blickte; sie war ganz ein Weib für ihn, und nie hat sie kalt eins seiner Luftschlösser von künftigem Glück eingerissen. Welch einen Respekt alle die wilden Kerle in den Minen vor ihr hatten – es war glorreich! Aber das Fieber, das Fieber! ... Ihr werdet ja selbst sehen, Robert Wolf – sie wird Euch nichts vorwimmern; aber es ist nur um so herzzerbrechender.«

Mit sprachlosem Schmerz und Stolz hatte Robert diesem Berichte Konrad Fabers zugehört; mit hundert hastigen Fragen bestürmte er den Reisenden jetzt und erfuhr, daß Eva Wolf in einer Blockhütte weit in den Bergen auf den Tod liege.

»Zu ihr! Zu ihr!« murmelte er, und Faber nickte:

»Jawohl, morgen in der Frühe wollen wir zu ihr; der Apotheker wird seine Drugs bis dahin wohl fertig haben. Jetzt aber kommt, lieber Junge, ich will Euch zu einem Quartier und zu Landsleuten, bei denen Ihr Euch nicht fremd fühlen sollt, führen. Morgen gehen wir zum Grabe Eures Bruders, zum Weibe Eures Bruders. Dies ist Euer Gepäck?«

Robert nickte.

»Gut, packt an! Was auf dieser Seite des Erdballs der Mensch selbst schleppen kann, muß er schleppen. Ihr werdet Euch wundern über die Leute, die uns in unserm Quartier erwarten.«

Den Koffer zwischen sich nehmend, brachen die beiden Männer sich Bahn durch das Gewühl der Zeltstadt, und der Hauptmann führte den Ankömmling ziemlich bis ans andere Ende derselben, indem er ihn im Gehen auf allerlei Einzelheiten des Getümmels aufmerksam machte.

»Blickt nicht so niedergeschlagen zur Erde, junger Mann!« rief er. »Selbst im Untergehen läßt ein rechter Mann nichts Bemerkenswertes unbeachtet liegen. Blickt auf und um Euch; wenn Ihr später einmal wieder ruhig in Deutschland sitzt und über Kornfelder, Obstbäume zum Buchenwald hinüberschaut, so mag Euch die Erinnerung der heutigen Stunden wie das bunteste Zauberbild in die Seele treten. Nicht wahr, Don Roberto, das ist ein tolles Treiben? Achtet, ich bitte Euch, auf die Hautschattierungen. Seht den Burschen dort vor dem Gewürzladen, das ist ein Untertan Seiner kanakischen Majestät – eine alte Bekanntschaft von mir; der Schlingel wollte mir mit aller Gewalt seine Tochter gegen meines Großvaters alte silberne Taschenuhr verhandeln. Da ich nicht darauf ein ging, stahl er mir natürlich den Gegenstand seiner Wünsche; – heilloser Spektakel drum vor dem Königlichen Tribunal in Honolulu – französische Intervention in Ermangelung der deutschen; britische Eifersucht auf Frankreich – Reverend Mr. Shambling nahm die Uhr und die schöne Kanakin dazu, und meines Vaters Sohn hatte das Nachsehen. Hallo, schaut, Robert, da geht Paddy vom grünen Erin Arm in Arm mit Chinese-John, dem Ausreißer des himmlischen Reiches. Chilenen, Hindus, Deutsche, Mexikaner, Engländer, Yankees, Juden, Italiener, Spanier, Russen, Franzosen, alle sind da, jeder mit seinem Löffel. Kalkuliere aber, der Breitopf wird doch nicht groß genug sein.«

Einen bessern Führer durch dieses Menschengewirr als den großen Reisenden, der alle Nationen, ihre Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche im eigentlichsten Sinne persönlich kannte, hätte Robert nicht finden können. Das war wieder einer der Lehrmeister, welche ihm ein günstiges Geschick immer von neuem zur rechten Zeit in den Weg führte. Mit allen Völkern der Erde stand Konrad von Faber sozusagen auf du und du; er war ein lebendiges Lehrbuch der Ethnographie und wußte Bescheid in der Anschauungsweise eines jeden Bruchteils der Menschheit, einerlei, ob dasselbe von der Mutter in einer schwäbischen Wiege geschaukelt oder in einer Bastmatte an den Stamm einer Kokospalme gehängt worden war. Endlich aber sagte er:

»Angekommen! Kennt Ihr vielleicht den Mann dort mit der Axt, Wolf?«

Und Robert ließ sein Teil vom Koffer fallen und stürzte mit offenen Armen vorwärts:

»Ludwig! Ludwig!«

Ludwig Tellering stieß einen ähnlichen Schrei aus und warf sich an die Brust des Freundes; aus der niedern Tür des Bretterhauses blickte die Mutter Anna und eilte herzu, die Hände in der Schürze trocknend:

»O mein Jesus, Sie sind es? Ach du lieber Gott, die Freude! die Überraschung! Der Herr Hauptmann hat doch recht gehabt.«

»Eine Ahnung hab ich gehabt, daß er heute kommen würde«, sagte Konrad von Faber. »Na, Mutter, was macht der junge Bürger von Kalifornien, was macht die Frau? Alles noch immer wohlauf, hoffe ich.«

»Nach Umständen, Herr Hauptmann«, antwortete die alte Frau mit glückseligem Lächeln; »aber laßt mich nur dem Herrn Wolf –«

»Kommt, Mutter, laßt die beiden jungen Leute jetzt allein«, fiel ihr Konrad ins Wort, »und erzählt mir etwas mehr vom Enkel.«

Die Alte nickte:

»'s ist schon recht; ja, mein Ludwig mag wohl ein volles Herz haben, und Herr Robert – ach Gott, weiß er denn schon alles?«

»Alles!« sagte der Hauptmann und führte die gute Frau gegen das Haus oder vielmehr die Bretterbude.

Die beiden Freunde hatten sich währenddem lange und innig in die Augen gesehen und in den Blick viele Worte gelegt.

»So treffen wir uns hier wieder, und ich finde dich wie gewöhnlich mitten in der Arbeit und auch – ich sehe es dir an – im Glück!« sagte Robert. »Gott grüße dich, alter, lieber Gesell; – du hast gefunden, was du so heiß suchtest und ersehntest!«

»In der Arbeit und im Glück!« rief Ludwig. »Da schau!«

Ein helles Kindergeschrei ließ sich vom Haus her vernehmen, und auf der Schwelle der Baracke erschien wieder die Frau Anna mit dem Hauptmann. In den Armen der Frau aber lag das kleine Wesen, welches seine klare Stimme lustig erklingen ließ im Brausen des Völkerdurcheinanders.

»Mein Junge, mein herziger Bube!« rief der Schreiner mit strahlendem Gesicht. »Vorgestern angekommen in der Welt! O wie schade, daß ich dir jetzt meine Frau, meine Marie nicht zeigen darf; aber du weißt –«

»Ich weiß, daß du die beste, wackerste Frau hast. O sage ihr, wie ich ihr danke für alles, was sie an Eva getan hat.«

Ludwig drückte traurig dem Freunde die Hand.

»Jaja, das ist der einzige schwarze Schatten, welcher durch unser Glück geht. Ach die arme Eva! O Robert, Robert, du ahnst nicht, wie sich meine Marie quält, daß sie jetzt nicht bei ihr sein kann, jetzt, wo es am allernötigsten wäre. Wie sie im ängstlichen Schlaf ihren Namen ruft!«

»Eure Frau hat getan, was sie konnte, Meister«, sagte Konrad von Faber, »und Ihr selbst habt Euch auch als ein braver Mann gegen Fritz und Eva Wolf gehalten. Ach, freut Euch nur des Lebens und Eures Glücks, Ihr Menschenkinder, Ihr habt es in jeder Weise verdient. Es löst hienieden immer eine Pflicht die andere ab. Auf diesen Pausback hier aber könnt Ihr doppelt stolz sein, Herr. Es ist das erste deutsche Kind, welches auf diesem fremdländischen Boden geboren wurde. Eure Frau müßte eigentlich von Rechts wegen eine Prämie vom alten Lande drüben haben. Nicht wahr, Mutter, es ist ein Labsal, dieser strampelnde deutsch-kalifornische Schreihals in diesem verdammten Gewühl von ausgewachsenen Abenteurern, Schwindlern, Halunken und Narren?«

»'s ist ein Gottessegen, Herr Hauptmann!« sagte die Alte; »aber nun muß ich auch ein Wort zum Herrn Wolf sprechen. Ach du lieber Himmel, es stößt einem doch fast das Herz ab, daß man so weit von der Heimat fort ist.«

Eine heiße Träne fiel aus dem Auge der Greisin auf die Stirn des Säuglings, als sie fortfuhr:

»So weit, so unmenschlich weit von hier liegt mein Johannes. Ach Ihr Herren, Ihr könnt's mir aufs Wort glauben, ich wär doch nicht fortgegangen, wenn ich gewußt hätt, daß das Kalfonium so weit weg sei von meines Johannes Grab. Der liegt nun da so ganz allein, und niemand kümmert sich um sein Grab!«

»Denken Sie das nicht, Mutter Anna«, rief Robert. »Ist nicht der alte Ulex noch in der Heimat? Der sorgt schon für den Hügel. Und der alte Fiebiger auch. O Mutter, Mutter, wir haben treue Freunde drüben zurückgelassen.«

Die alte Frau küßte ihren Enkel heftig, und dann schluchzte sie:

»Kommen Sie herein, kommt alle herein; Sie müssen uns alles erzählen von daheim, von der Musikantengasse, von den Nachbarn. Es war doch ein ander Ding im Hof von Nummer zwölf drüben, beim Mäuseler, wenn's auch ein wenig dunkel und feucht war, als hier in dieser Bude, wo man leben muß wie die Zigeuner. Wer das mir an meiner Wiege gesungen hätte, wer das mir gesagt hätte, wenn ich sonst mit meinem Johannes aus der Kirche kam, die Straße so reinlich dalag und die Wachtparade in der Ferne spielte und Ludwig und Luise uns in der Tür entgegensprangen! Ja, unser Lieschen – Ihr werdet Euch wundern, wo das ist. Drüben im Texas ist sie geblieben und hat 'nen Landsmann gefreit, 'nen guten Mann und sehr wohlhabend; aber ich werde sie auch wohl mein Lebtag nicht wieder zu sehen kriegen. Ach, davon hätt ich mir in der Musikantengasse auch nichts geträumt.«

Neben dem Verschlag, in welchem die Wöchnerin lag, enthielt dieses kalifornische Wohnhaus nur noch ein Gemach, welches durch Vorhänge in verschiedene Abteilungen geschieden war und allen Bedürfnissen der Familie für jetzt genügen mußte. Einige Jahre später freilich erhob sich auf der Stelle ein stattliches steinernes Gebäude, und Herr Ludwig Tellering hätte die halbe Musikantengasse auskaufen können.

Die Mutter Anna tischte ein einfaches Mahl auf, von welchem jedoch keiner der kleinen Gesellschaft, den Hauptmann vielleicht ausgenommen, vor innerer Aufregung viel genoß.

Dann erzählte Ludwig dem Freunde seine Abenteuer in Texas, wie er die Karawane Friedrich Wolfs erreicht und seine Marie gefunden habe.

»Die Mutter blieb bei Luise, die, wie du schon erfahren hast, in Galveston ein Heimwesen gefunden hat. 's ist eine resolute Frau, meine alte Mutter da; sie hat sich gar nicht lange besonnen, als ich sie hierher nachkommen ließ; aber ich hoffe, ihr auch endlich ein ruhiges glückliches Alter bereiten zu können. Anfangs war ich natürlich ebenfalls in den Minen, hatte aber wenig Glück beim Goldsuchen – die tüchtige Arbeit ist doch überall das Beste, selbst hier in Kalifornien. Ein halbes Jahr vor deines Bruders Tode zog ich mit Marie hier herunter, wo mein Handwerk wirklich einen goldenen Boden hatte. Friedrich und Eva bedurften unserer damals nicht; sie waren gesund, und alles, was sie unternahmen, gelang nach Herzenswunsch. Sie hatten ihre Blockhütte damals am Joaquinfluß, und ihnen fiel das Gold, welches ich dort vergeblich suchte, wie von selber in die Hände. Ich richtete hier in San Francisco meine Werkstätte ein, und da war für den Mann des Handwerks die rechte Stelle; ich quälte mich nicht mehr umsonst. Da hörte ich einmal durch den Herrn Hauptmann hier, daß Fritz und Eva den Joaquin aufgegeben hätten und nach dem Yuba gegangen seien, und dann kam die Nachricht von deines Bruders Tode. Meine Frau lag damals todkrank, und ich konnte nicht fort von ihr; sie hat auch über ein halbes Jahr auf den Tod gelegen, und dann meldete sich der Junge. Von Zeit zu Zeit haben wir Nachricht von der armen Eva durch den Hauptmann und auch durch andere Boten erhalten. Ach, Robert, ich wollte, wir hätten mehr für sie tun können!«

Robert Wolf drückte stumm dem Schreiner die Hand und seufzte:

»Ihr konntet nicht mehr tun – Gott segne Euch.«

Konrad von Faber nahm jetzt den Hut, um die Arzneien vom Apotheker zu holen, und nun erzählte Robert dem Freunde von dem eigenen Leben. Er verschwieg ihm nichts, und zuletzt schloß er:

»Sieh, so fahre ich denn durch die Welt, wie es im Märchen heißt: Vor mir Nacht, hinter mir Nacht. Mut und Stärke habe ich; aber nicht mehr die Freudigkeit, welche das Leben zum Leben macht. Einst bin ich wild genug der armen Eva nachgestürmt; aber so tief wie jetzt hab ich damals doch nicht mich nach ihr gesehnt. Was bleibt mir auch anders in der weiten Welt als der Platz neben ihrem Krankenlager? Wenn das Ziel erreicht und wenn Gott wollte, daß auch sie davongehen sollte, zur Ruhe an meines Bruders Seite, was dann? Ach Ludwig, Ludwig, es ist ein schrecklich Ding um dieses kahle, öde Was dann! Ich finde keine Antwort darauf.«

Ludwig Tellering senkte das Haupt; er wußte keinen Trost für den Freund.

O Heinrich Ulex, weiser Meister, es ist doch oft sehr schwer, an den Sternen nicht zu verzweifeln. Vorwärts, auch in Ketten vorwärts, Wolf; es ist wenigstens ein Trost, daß der Mensch nicht all und jede Verantwortlichkeit für sein Dasein und seine Wege und das Ende seiner Wege zu tragen hat!

Dreißigstes Kapitel Robert Wolf steht an einem Grabe und tritt an ein Sterbebett; Konrad von Faber zeigt, wo und wie man Gold sucht

Die erste Nacht, die Robert Wolf auf kalifornischem Boden zubrachte, verging, ohne daß der Schlaf seine Augen geschlossen hätte. In seinen Mantel gehüllt, lag er in der Hütte des Freundes und horchte den ruhigen Atemzügen Konrad von Fabers und dem fremdartigen Lärm der wunderlichen Stadt draußen, welcher die ganze Nacht hindurch nicht zu Ende kam. Gegenüber in einer Teebude krähte bis späthin eine chinesische Sängergesellschaft ihre mißtönigen Weisen ab. Ein malaiisches Gong sandte von Zeit zu Zeit seine dumpfen dröhnenden Klänge herüber. Einmal entstand Feuerlärm in der Ferne und dann wieder blutiger Streit in einem Spielhause in der Nähe. Betrunkene Menschenhaufen wälzten sich vor der Baracke vorüber, Revolver wurden abgefeuert; Hunde heulten den amerikanischen Mond an, Pferde und Maulesel wieherten, rissen sich im plötzlichen Schrecken los und wurden von den Eigentümern mit wildem Geschrei durch die Gassen der Stadt verfolgt. Nebenan schrie der Säugling, die Mutter Anna erhob sich von ihrem Lager, und in all den Lärm mischte sich jetzt ein deutsches Wiegenlied. Ludwig Tellering richtete auch einmal im Traum sich von seinem Lager neben Robert empor und rief mit ängstlicher Stimme den Namen seiner Frau. Dazu die eigenen Gedanken und Schmerzen – das Grab des Bruders, die kranke verlassene Eva in den Bergen – es war eine böse, wirre Nacht, und mit Sehnsucht erwartete Robert den neuen Tag. Er kam, und als er kam, fielen, wie es zu geschehen pflegt, dem, welcher die ganze Nacht hindurch gewacht hatte, die Augen im ungesunden Schlummer zu. Und nun konnte selbst dieser Schlummer nicht lange dauern.

Stand up, man, stand! Free heart, free tongue, free hand. Firm foot upon the sod!

sang der Hauptmann Konrad von Faber, indem er den Schläfer an der Schulter schüttelte: »Auf, auf, Wolf, 's ist Zeit zu marschieren; in einer Viertelstunde müssen wir auf dem Wege nach den Bergen sein.«

Robert sprang auf die Füße. Alles war bereits in Bewegung in der Bretterhütte. Heißer Kaffee aus Blechschalen – ein herzlicher Gruß, welchen die Frau Marie aus ihrer Kammer schickte – ein kurzer bewegter Abschied von Ludwig und seiner Mutter, und auf dem Wege zu Eva Wolf schritt Robert mit Konrad von Faber.

Noch hingen milchweiße Nebel über dem Sacramento; als sie sich lichteten, lagen die kahlen Höhen des Meeresufers hinter den beiden Wanderern, und der dichte Wald nahm sie auf in seinen Schatten. Eichen und Riesenfichten bedeckten die Berghänge, und die Sonne brach strahlend darüber hervor und warf ihren echten Goldglanz über Hügel und Tal und auf den Spiegel des Stillen Ozeans, der blitzend zwischen den Stämmen durchschimmerte. Noch einen letzten Blick auf das weite Meer; dann tiefste Dämmerung des Urwaldes! Ein Glöckchen erklang vor den Wanderern, sie überholten einen Trupp schwerbepackter Maulesel mit ihren mexikanischen Führern. Die bunten Serapen flatterten lustig im Morgenwind, die gebräunten Gestalten nahmen die Cigaritos aus dem Mund und nickten:

»Buenos dias, Señores!«

Robert und der Hauptmann erwiderten den höflichen Gruß; aber letzterer brummte:

»Falsches, feiges Pack! Hütet Euch vor diesen Burschen, Wolf«.

Wieder Stimmen – welch eine seltsame Sprache redeten die Leute im Dickicht! Chinesen waren es; mit Schaufeln und Spaten, mit Hacken, Pfannen und Körben zogen sie zu den Minen.

»Die Langzöpfe haben ein ganz verzweifeltes Glück«, sagte der Hauptmann. »Sie scheinen das Gold unter der Erde zu wittern wie das Schwein die Trüffeln. Aber kommt, Sir, wir wollen dort jenen Vorsprung erklettern; es lohnt die Mühe.«

Sie stiegen durch das nasse Gras; und über den Wald hatten sie den ersten vollen Blick auf die Sierra Nevada. Drunten zogen Mexikaner und Chinesen weiter, und gell klang durch den Wald der ermunternde Ruf der Maultiertreiber:

»Hippah, mulah! hippah, mulah!«

Keuchend arbeiteten die Tiere, und Konrad von Faber erklärte:

»Sie schleppen eine Dampfmaschine für eine Gesellschaft Amerikaner droben am Federfluß. Die Kerle haben sich in den Kopf gesetzt, einen ganz anständigen Nebenarm des Wassers abzuleiten, und es wird ihnen mit ihrem never give up gelingen. Vorwärts, Wolf.«

An einer andern Stelle des Waldes trat ein schmutziger Indianer aus dem Gebüsch, fuhr beim Anblick der zwei Fremden erschreckt zusammen und schlich scheu in den Wald zurück, in welchem er, der Besitzer, nur noch ein kaum geduldeter Rechtloser war.

Als der Tag sich neigte und die Nacht schnell den Wald füllte, setzten sich Faber und Robert an einem Feuer nieder, welches Landsleute, die sich ebenfalls auf dem Wege zu den Minen befanden, angezündet hatten. Diesmal schlief der junge Mediziner tief und fest, sei es aus übergroßer Ermüdung, sei es, weil die Wildnis ihren Einfluß auf das Kind des Winzelwaldes, den Sohn des Forstwarts vom Eulenbruch, ausübte.

In den Sacramento ergießen sich vier größere Flüsse, der Featherriver, der Bearcreek, die American Fork und der Yuba. In diese Flüsse stürzen sich aus wilden Schluchten, Cañons genannt, Hunderte von größern oder kleinern Bergwassern, die jedoch im Sommer meistenteils versiegen und deren Betten und abschüssige Uferränder den Tummelplatz der Goldsucher bilden. Nach einem solchen Tal, aus welchem sich ein munterer Waldbach dem Yuba zudrängte, ging der Weg Fabers und Roberts, und sie vollendeten diesen Weg, ohne irgendwelche nennenswerte Fährlichkeiten zu bestehen zu haben. Allerlei Volk zog mit ihnen desselben Pfades oder kam ihnen aus den Bergen entgegen und bot die Gelegenheit, den Ausdruck menschlicher Hoffnung und Enttäuschung in allen Phasen zu studieren, im vollsten Maße. Der Hauptmann ließ es auch nicht daran fehlen, seinen Begleiter auf alle charakteristischen Vorgänge, Gestalten und Gesichter aufmerksam zu machen; aber Robert war nicht mehr fähig, mit der gehörigen Aufmerksamkeit den Glossen und Bemerkungen des berühmten Reisenden zu folgen. Je näher er dem Ende seiner langen Wanderung kam, desto heftiger und unwiderstehlicher verdrängte das eine Bild der sterbenden Eva alles andere. Er zitterte an allen Gliedern, als endlich der Hauptmann von der Ecke eines langgestreckten Bergrückens in ein Tal und auf das Dach einer Blockhütte deutete, die abseits von einer Gruppe ähnlicher Gebäude an die gegenüberliegende Bergwand sich lehnte. Es regnete leise, als die beiden Männer auf dieser Höhe standen und in das verschleierte Tal stumm hinabblickten. Aus der Tiefe schallte das Jauchzen der Goldsucher, welche lange vergeblich auf diesen Regen, der ihr mühseliges Werk nicht wenig erleichterte, gewartet hatten. Sie sangen auch in ihrer Freude, den Yankeedoodle, die Marseillaise und das Lied vom deutschen Vaterland, und das Echo tat das Seinige, die wilde Harmonie oder vielmehr Disharmonie zu verstärken.

»Das ist der Hawk-Gulch«, sagte Konrad von Faber. »In jener Hütte drüben liegt Eures Bruders Frau; zwischen jenen drei Riesenfichten, rechts von dem Blockhaus, liegt Euer Bruder. Vorwärts, Herr, nehmt Euch zusammen!«

Der Regen wurde stärker, sie stiegen nieder durch den rauschenden Wald, überschritten den Bach, und ein kurzes Steigen an der Berglehne brachte sie zu den drei himmelhohen Fichten, unter welchen der Grabhügel Friedrich Wolfs aufgeworfen war, fünfzig Schritt ungefähr von dem Blockhaus entfernt.

»Hier! hier!« murmelte Robert Wolf. »Hier, hier – das ist das Ende!«

Er griff in das regennasse Gras, welches bereits aus dem Hügel emporgeschossen war. Er fühlte in diesem Augenblick eigentlich nicht Schmerz; ein Lächeln flog über seine Züge, aber es war ein schreckliches Lächeln; die kahle, fürchterliche Gleichgültigkeit, welche aus dem Verlust alles dessen, was uns eigenst gehörte, hervorgeht, preßte ihm mit eiskalter Faust das Herz zusammen.

Gegen das Grab, wo der Bruder, der stolzeste, mutigste Ringer des Glücks, verlassen von seinen Sternen, den letzten Schlaf schlief, neigte er sich; dann wollte er auf die Blockhütte zueilen, aber Konrad von Faber faßte seinen Arm und hielt ihn zurück:

»Wartet hier noch. So dürft Ihr nicht zu ihr; ich will sie erst vorbereiten auf Eure Ankunft. Euer zu plötzliches Erscheinen könnte ihr den Tod geben.«

Er ging, und neben dem Grabe unter den Riesenfichten wartete Robert.

Es war jetzt Nacht auf der andern Hälfte des Erdballs, und auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich saßen die Alten aus dem Walde, welche für sich selbst das Leben überwunden hatten, deren Hoffnungen und Sorgen sich nicht mehr auf das eigene Dasein richteten. Der Kinder des Winzelwaldes gedachten die Alten, für die fürchteten und hofften sie. Und auch die Kinder aus dem Walde hatten sich wieder zusammengefunden; aber es war ihnen nicht so gut geworden wie den drei Alten: ein Grab, ein Krankenlager und ein von tausendfachem Weh zerrissenes Herz – das war's, was die drei Kinder aus dem Winzelwalde im wilden Wald der Welt gefunden hatten.

Der Regen rauschte immer heftiger hernieder; sein Haupt barg der gigantische Baum, an dessen Stamm Robert lehnte, in den Wolken. Der Gesang der Goldgräber im Tal verstummte, in den Wäldern gegenüber krachte ein Büchsenschuß und weckte hallend das Echo. Begriff von Zeit hatte Robert jetzt nicht; ob sich der Hauptmann von Faber seit einem Augenblick in jener Hütte befand oder ob Stunden vergangen waren, seit sich die Tür hinter dem Reisenden schloß – der Bruder am Grabe des Bruders wußte es nicht.

Durch den Raum zwischen der Fichte und der Blockhütte, welche die kranke Frau des Bruders barg, drängte sich ein verworrenes Gewühl von Figuren und Szenen aus allen Epochen seines jungen Lebens, und das Trivialste verschlang sich immer unauflöslich mit dem Ergreifendsten. Das Dorf Poppenhagen, die große deutsche Stadt, die Universität – der Eulenbruch, des Pastors Tanne Studierstübchen, das Polizeibüro mit dem Hauptmann auf der Armensünderbank, die Wohnung Fiebigers, der Giebel des Sternsehers – alle sandten Gestalten, Klänge, wahnsinnig ineinander verschlungen, über das Meer, und mit halbirrem Lachen sah Robert Wolf, während sein Herz in tödlicher Qual fast zerbrechen wollte, den Schauspieler Julius Schminkert Toilette machen und mußte sich fragen, wie es möglich sei, daß man solche Körperverrenkungen dabei zustande bringen könne.

Die Qual dieser Minuten war unerträglich; was half es, daß der Leidende alle Seelenkräfte zusammenraffte; machtlos war der eine Geist vor der Masse der Geister, welche aus dem Boden emporstiegen zwischen dem Krankenlager Eva Dornbluths und dem Grabe Friedrich Wolfs.

Nun aber öffnete sich die Tür der Blockhütte; ein junges Chinesenweib erschien auf der Schwelle und starrte nach der Fichtengruppe hinüber, Robert bemerkte jeden Zug ihrer wunderlich zusammengedrückten Physiognomie, jede Einzelheit ihres Anzuges von den Schuhen bis zu dem Pfeil im glänzend schwarzen zusammengedrehten und zurückgekämmten Haar; und doch wurde die Unerträglichkeit dieses Wartens immer fürchterlicher. Die Tochter des himmlischen Reiches zog sich wieder zurück, wie es schien, von innen gerufen, und statt ihrer trat endlich, endlich Konrad von Faber auf die Schwelle und winkte.

Vorüber war der Kampf, unter welchem Robert Wolf gelitten hatte, zerstoben war der Geistertanz; mit einem Sprunge war der Sohn des Winzelwaldes an der Seite des Reisenden – er stand in dem verdunkelten, engen, heißen Raum der Blockhütte, und von einem niedrigen Lager richtete sich bleich, hager, mit fieberglühenden Augen Eva Wolf aus Poppenhagen auf und breitete mit einem klagenden Ruf der Arme aus. So kamen Robert und Eva seit dem Tage, an welchem der Polizeileutnant Kirre sie in dem Hause des Kunstfreundes und Regenschirmfabrikanten Schwebemeier in der Lilienstraße trennte und den Baron von Poppen aus der Gefahr der Erdrosselung errettete, zum erstenmal wieder zusammen. So kurze Zeit und so großer Wechsel – neben dem Krankenbett Evas kniete Robert, und die Frau des Bruders schlang ihre Arme um seinen Hals und vermischte ihr Schluchzen mit allerlei abgebrochenen Liebkosungen und Ausrufen.

Ein stummer, tiefbewegter Mann stand der Reisende Konrad von Faber, der soviel gesehen hatte von der Welt und in der Welt, neben den beiden, und die chinesische Frau starrte verwundert an seiner Seite auf ihre Herrin und den fremden jungen Mann.

Nicht mehr die schöne, wohl aber noch die stolze, tapfere Eva hielt Robert umfangen. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr seiner Umarmung zu entziehen. Fest hielt sie ihn an ihr Herz gedrückt und küßte ihm Mund und Stirn.

»Da bist du, da bist du!« rief sie. »So – hier müssen wir uns wiederfinden. Du guter, lieber Bruder, wie danke ich dir, daß du gekommen bist! Ich fühle mich jetzt viel wohler, viel besser als damals, in jenen bösen Stunden, da ich dich rief. O solch einen weiten Weg bist du meinetwegen gekommen! Vielleicht hat dich mein Schrei um Hülfe aus dem Schoß des Glückes emporgerissen und fortgetrieben. Bruder, lieber Bruder, ich hätte dich nicht gerufen, wenn mein armer Kopf damals so klar gewesen wäre, wie er jetzt ist. Aber sieh – ich – werde dich nicht lange auf dem Wege aufhalten; Segen über dich; bald, bald sollst du wieder gehen dürfen!«

»Dein Ruf hat mich in keinem Glück gestört. Vielleicht hätte ich mich, auch ohne daß du nach mir verlangtest, zu dir geflüchtet. Vielleicht bedarf ich deiner mehr, als du mich nötig hast, du Liebe, Starke. Wir haben uns soviel mitzuteilen; von deinem Lager weiche ich nicht, bis du ganz genesen bist, und dann – dann gehen wir über das Meer zurück und suchen die Heimat wieder auf, die rechte wahre Heimat, den Winzelwald und das stillste, vergessenste Tal darin.«

Die Kranke schüttelte den Kopf:

»Und Friedrich? ... Nein, Bruder, meine Heimat, meine wahre Heimat ist hier auf dieser fremden Scholle, ist hier neben dem Grabe unter jener Fichte.«

Sie blickte durch das schmale Fenster neben ihrem Lager nach der Baumgruppe, unter welcher vorhin Robert Wolf stand.

»Ich sah dich stehen, Bruder«, fuhr Eva fort, »dort an Friedrichs Seite. Du warst ihm so ähnlich. Nun bist du hier, ich halte deine liebe Hand; dort draußen steht noch der Tote und winkt. Sie haben seinen Leib begraben unter den hohen Bäumen; aber seine Seele konnten sie nicht begraben. Seine Seele irrt um jenen Fleck und wartet auf mich, bis ich komme. Und ich komme bald, ich weiß es; der Tote hat keine Ruhe, und ich auch nicht. Wir gehören nun einmal zueinander – dort, dort, neben den Fichten, Robert, lege meinen Leib hin, daß meine Seele mit der deines Bruders fortgehen kann aus diesem traurigen Tal, wo man so arg friert und doch von giftigen Flammen verzehrt wird.«

»Schwester! Schwester!«

Die Kranke schwieg einige Minuten; dann fuhr sie mit der Hand über die Stirn, dann legte sie dieselbe Hand auf Roberts Schulter und lächelte trübe:

»Erschrick nicht, armer Bruder, wenn ich manchmal etwas toll durcheinanderspreche; ich bin nicht allein in meinem Gehirn, das Fieber sitzt mit darin, und das ist ein böser, eigenwilliger Gast. Sieh, Robert, ich sterbe doch als ein glückliches Weib; denn ich habe Fritz zu einem glücklichen Mann gemacht, solange er lebte. Und in seinem brechenden Auge habe ich noch seine Liebe gelesen, und die war so stark, daß dieser letzte Blick mich ihm nachzieht – hinaus über jenen Hügel unter den Fichten. Laß meine Hand los, Robert Wolf, soll ich deines Bruders Leib hier in der Wildnis unter den fremden, wüsten Gesichtern allein lassen? Laß meine Hand, Robert! Sei ruhig, Fritz, ich komme schon – ich bin da; Samana ist schon gesattelt. Zieh den Gurt fester an, Scipio, daß es nicht wieder geht wie vor Santa Fé, wo der Herr durch deine Schuld so sehr über mich lachte. Wie die Prärie im grünen Glanz wogt! Ready, Fred – vorwärts, meine Herren! Komm, Fritz, du mußt neben mir reiten – Galopp! Ah wie schön, so wild in die untergehende Sonne hineinzujagen!«

Immer tiefer verlor sich die Kranke jetzt in ihre Phantasien. Sie glaubte, an der Seite des geliebten Mannes über die großen Wiesen gegen die Felsengebirge zu galoppieren, indianische Krieger, kühne Jäger aus allen Nationen neben sich, vor sich, hinter sich. Manchen unbekannten Namen rief sie; die Genossen der vergangenen Tage waren lebendig um sie. Sie lachte und strich die Haare aus der Stirn; auch den Namen Marie Heil rief sie zärtlich; ihre Phantasien quälten sie nicht, sie waren nicht schreckhafter Art, sondern glänzend, lebhaft, angenehm.

Konrad von Faber faßte die Hand Roberts und zog ihn ein wenig vom Lager Evas fort.

»Kommt jetzt«, sagte er, »wir wollen aus der Hütte gehen; Loatoa ist eine gute treue Wärterin und wird der Kranken in diesem Augenblick von größerm Nutzen sein als wir beide. Selbst in ihren Träumen ist sie noch die prächtige Eva Wolf, die Waldfürstin, die Königin der Prärien. So sind ihre Phantasien immer; entweder befindet sie sich inmitten der Szenen ihrer Jugend, oder sie leidet, kämpft, jubelt und triumphiert mit dem tollen Fritz. Das Elend hat keine Macht über sie; es ist herzzerreißend, aber es ist prachtvoll. Kommt, Herr; der Anfall wird vorübergehen – morgen früh werdet ihr ruhiger miteinander reden können.«

Die beiden Männer traten aus der Hütte. Der Regen war vorüber; von allem Gestein, aus allen Schluchten, von Busch und Baum rieselte, rauschte und tropfte es. Verstummt war der Gesang der Goldgräber. Jeder war zu emsig mit seiner Arbeit beschäftigt, und die Arbeit war zu schwer, als daß man dabei hätte singen können. Nieder zur Talsohle stiegen Faber und Robert und sahen von einem Felsenstück aus dem merkwürdigen Treiben zu. Der Gegensatz zwischen der fieberhaften Aufregung, der keuchenden Hast, dem gierigen Wühlen in Schmutz und Schlamm hier und dem Aufgeben jeder irdischen Hoffnung durch das kranke Weib droben in der Hütte war überwältigend. Nimmer wurde die harte Wahrheit von der Nichtigkeit und Eitelkeit der menschlichen Dinge, an welche sowenig Leute glauben wollen, so eindringlich gepredigt wie hier im Stromgebiet des Sacramento. Wahrhaft erschütternd wirkte der Kontrast auf den Verlobten Helene Wienands; o wie hohl fühlte er diesen golddurchzogenen Boden unter seinen Füßen. Keine Macht der Welt hätte ihn in diesem Augenblick bewogen, ebenfalls zum Bett des Flüßchens niederzusteigen und einzutreten in die Reihen der Goldgräber.

Konrad von Faber las klar in den Gesichtszügen des jungen Mannes.

»Ihr habt recht«, sagte er, »man läßt am besten die Finger davon, wenn man es irgend vermeiden kann. 's ist ein Hasardspiel wie zu Baden-Baden oder Wiesbaden, und Hasardspiele sind überall und immer gefährlich. Dort, wo die Eiche niedergebrochen ist vom Sturme, habe ich der kalifornischen Fortuna mein Kompliment gemacht, und, by Gad, die Dame war gnädig genug und warf mir an einem Tage mehr vom Nerv der Dinge in den Hut als andern, die dankbarer dafür gewesen wären, in Monaten. Mit Bowiemesser und Büchse habe ich aber den Claim, das heißt das Loch, in welchem mir der Dreck bis an den Hals ging, verteidigen müssen, und nach Haus werde ich von den Schätzen nichts bringen als für ein paar neugierige junge Frauenzimmer im Osten drüben einige Schächtelchen mit blinkendem Staub, soviel als man zwischen Daumen und Zeigefinger halten kann – nicht genug zu einem Trauring für die naseweisen jungen Persönchen. Nun kommt, ich will Euch zeigen, wo Ihr für die nächste Zeit hausen werdet.«

Robert Wolf folgte dem Hauptmann abermals die Berglehne hinauf, und Faber brachte ihn zu einer Hütte, die ungefähr hundert Schritt von der Evas gebaut war.

»Mein Haus und meine Burg! Tretet ein und seid willkommen. Ich weiß, die Wölfe vom Eulenbruch sind nicht verwöhnt. Nehmt vorlieb mit dem, was ich Euch in der Wildnis bieten kann.«

Ein roher Tisch, einige leere Kisten, ein Lager aus Fellen und wollenen Decken bildeten die Ausstattung, den Hauptschmuck ein an der Wand ausgespannter riesenhafter Pelz des eigentlichen amerikanischen Waldherrn, des grauen Bären.

»Der Mensch kann geistig wie körperlich mit ungemein Wenigem auskommen, Herr«, sagte der Hauptmann. »Geistiger und körperlicher Überfluß kann zwar etwas sehr Angenehmes sein; aber das Glück wird dadurch nicht bedingt. Daß der Millionär oft seinen Schuhputzer zu beneiden hat, ist eine alte Geschichte; vielleicht findet aber auch öfters, als man für möglich hält, ein ähnliches Verhältnis des Neides zwischen dem erleuchtetsten Philosophen, dem sublimsten Poeten und dem Schuhputzer statt. Nochmals willkommen im Hawk-Gulch und unter dem Dache Konrad Fabers. Hier ist das Mehlfaß, hier der Whiskykrug, Knaster und Zigarren, hier eine Kiste mit Crakkers, Schiffszwieback, an welchem Ihr Euch aber die Zähne nicht ausbeißen dürft. Da ist auch ein Bündel getrocknetes Fleisch und hier das Dintenfaß, ein Dutzend Federn von einer wilden Gans und einige Buch Papier. Frisches Fleisch holen wir aus den Bergen und Wäldern. Hier ist noch ein Haufen trocknes Holz, hier das Feuerzeug, nun seid so gut und zündet Feuer an, ich will derweilen die Pfanne reinigen; – gebt acht, es ist unter Umständen sehr nützlich zu wissen, wie man einen flap-jack, einen amerikanischen Pfannkuchen, bäckt.«

Hals über Kopf stürzte der Wirt den Gastfreund in die Sorgen der Haushaltung; er tat es mit Absicht, um ihn zu verhindern, sich zu sehr seinen trüben Gedanken hinzugeben. Auch sich selbst schien er durch Lärmmachen in eine bessere Stimmung setzen zu wollen. Er sang ein tolles amerikanisches Tanzlied:

Here we go up, up, up, Here we go down, down, down, Here we go backwards and forwards And here we go round, round, round.

Dann unterbrach er sich und fragte:

»Was spluttert und knackt das Holz im Feuer? Spuck hinein, Bob; die alten Weiber zu Hause meinen, es gäbe noch Zank in der Wirtschaft, wenn das nicht geschehe.«

Nun gab er es wieder auf, heiter und ruhig zu scheinen, warf den Sombrero zur Seite und wischte den Schweiß von der Stirn; er legte die Hand dem jungen Gastfreund auf die Schulter:

»Es hilft nichts; zum Teufel mit der lustigen Fratze! Ja, mein Sohn, du hast recht, es ist ein traurig Ding. Ich will's nur gestehen; wenn ich in der letzten Zeit manchmal, wenn Loatoa draußen wirtschaftete, allein bei ihr saß am Bett, so sind mir die dicken Tränen in den Bart gelaufen. Mein armer Junge, es ist ein Jammer, daß das Herrlichste, was es in der Welt gibt, so zugrunde gehen muß. Der Tod en masse bedeutet gar nichts; aber das einzelne Sterben dieses Weibes ist scheußlich.«

Robert Wolf starrte in das Feuer, welches er angezündet hatte, und antwortete nicht. Die beiden Männer gingen dann noch einmal hinüber zur Hütte Evas; aber die Kranke schlief, die Chinesin saß regungslos am Bett; – die Männer konnten nicht das mindeste für das Weib Friedrich Wolfs tun.

Einunddreißigstes Kapitel Es wird ein neuer Hügel unter den drei Fichten aufgeworfen; Konrad von Faber hält eine Rede; Robert Wolf findet, was er nicht suchte

Bis zum Ende des Herbstes kämpfte Eva Wolf mit dem Tode. Anfangs machte, wie es schien, die Ankunft des Jugendfreundes einen guten Eindruck auf ihr Befinden; das Fieber ließ nach, kehrte nur in immer größern Zwischenräumen wieder, die Kräfte nahmen zu, und auch die Hoffnung Roberts wurde immer größer. Den europäischen Arzt konnte dieser Wechsel täuschen, den weitgewanderten Konrad von Faber täuschte er nicht; der Hauptmann wußte, daß die Kranke sich nicht wieder von ihrem Lager erheben, daß der Hügel unter den drei Fichten nicht allein bleiben würde. Er hatte recht; doch Robert wollte nicht daran glauben. Neben der Kranken saß der Bruder Friedrichs und redete mit ihr von der Vergangenheit und von der Zukunft. Diese beiden Menschen hatten keine Geheimnisse mehr füreinander. Alles, was uns hienieden abhält, uns einander, wie wir sind, zu zeigen, war zwischen diesen beiden nicht mehr vorhanden. Gefühle, Empfindungen, die Robert selbst den Freunden auf dem Observatorium des Sternsehers zu offenbaren gezögert hätte, legte er Eva offen dar. Ausführlich vernahm er die Geschichte seines Bruders, wie Fritz zusammen mit Eva gekämpft hatte, wie er unterlegen war; – ausführlich erzählte er selbst der Frau des Bruders den eigenen Lebenslauf, die eigene Entwickelung seit dem Tage, an welchem er sie in der großen Stadt gesucht und wieder verloren hatte, um sie jetzt in Wahrheit zu finden. Von dem Polizeischreiber Fiebiger, von dem alten Ulex, von dem Freifräulein von Poppen, von Helene, dem Baron Leon und dem Bankier berichtete er, und mit immer gesteigerter Teilnahme horchte Eva.

Als sie alles wußte, sagte sie:

»O lieber Robert, sei getrost! Aus dem, was du mir erzählst, merke ich, daß sie dich liebt, wie ein Weib lieben muß. Verzweifle nicht – ihr Herz wird nicht von dir lassen, und das ist allein das Wahre. Sie wird auch schon ausharren und dich mit ihrem Herzen erwarten. Wir Frauen sind sehr schwach; aber wir können auch sehr stark sein. Ihr Männer sagt zwar auch, daß ihr hofft; aber wie häufig täuscht ihr euch und rechnet da, wo ihr zu hoffen meint! Es ist nicht anders, und es wird auch wohl so gut sein. Große Schmerzen können wir Frauen ertragen, nur die Liebe muß dabeisein; ohne die Liebe sind wir nichts. Mein Leben ist ein kräftiges Beispiel davon, was die Liebe und die Hoffnung bei uns Frauen vermögen. Sei getrost, Bruder; ich habe dir einst gesagt, du würdest das rechte Herz finden, welches niemand dir rauben könne, welches ganz dein eigen sei; du hast es gefunden. Was sich zwischen dich und dieses Herz drängt, das sind irdische Gewalten; – die vermögen nichts, und durch irdische Gewalten können sie wieder aus dem Wege getrieben werden.«

Die Kranke schwieg eine Weile und versank in ein tiefes Nachdenken, dann sagte sie ganz leise:

»Hätte ich dich doch nicht hierher gerufen! Weiß ich es doch zu sehr, welche Qual es ist, wenn so weite Meere und Länder zwischen uns und dem schönsten Teile unseres Daseins liegen. Aber gedulde dich nur, vielleicht ist es doch gut, daß ich dich rief. Die Sterne lieben es, für uns zu wirken, während wir in der Ferne an ihnen verzweifeln wollen. Das habe ich so oft erfahren, an das glaube ich auch jetzt noch in der höchsten Not. Glaube den Sternen, Bruder, wir brauchen nun nicht lange mehr zu warten; jeder wird binnen kurzem seinen Pfad gehen – ich dahin, dort, wo der Tote lächelnd winkt, du weiter durch das Leben, zurück über das Meer, wo deine Sterne leuchten. Seit ich dich gesehen habe, seit ich deine Hand halte, ist eine unbeschreibliche Ruhe, ein Friede über mich gekommen, welche nur Gutes bedeuten können, Gutes für dich und mich; denn ich weiß sicher, ich wäre nicht so still, wenn es nötig wäre, um deine Zukunft zu sorgen.«

Robert versuchte es nicht mehr, der Schwester die Todesgedanken auszureden; aber desto mehr sprachen die beiden von ihrer Jugendzeit im Winzelwalde. Alle alten Erinnerungen riefen sie wach, während der kalifornische Herbstregen draußen vor der Hütte niederrauschte und der Sturm aus den Bergen herüberfuhr, die Gipfel der Riesentannen durchsauste und in den Wäldern hohe Zedern und Eichen wie dürres Reisig knickte. Oft fuhr Robert zusammen; doch die Kranke achtete den Orkan nicht, sie schien ihn gar nicht zu hören. Es kam ein Mann durch, welcher von gewaltigem Schneefall noch höher in den Bergen erzählte; Onion-Valley unter der Pilotenspitze sollte mit einer Bevölkerung von hundertundzwanzig Personen schon tief unter dem Schnee begraben liegen.

»Ganz so schlimm wird's hier nicht werden; aber frei werden wir auch nicht ausgehen«, meinte der Hauptmann.

Eva Wolf kümmerte sich nicht um den drohenden Winter; in ihrer Erinnerung war es Frühling – Sommer. Den Waldbach, welcher durch das Dorf Poppenhagen rauschte, durfte keine Eisrinde bedecken; grün und sonnig blieb der Grasgarten zwischen dem Kantorhaus und der Pfarre – jaja, ewigen glänzenden Sonnenschein hatte Eva Wolf aus ihrem schönen Leben in das winterlich kalte dunkle Tal in Yuba-County gerettet!

Frei und hochsinnig blieb aber dabei ihre Anschauungsweise bis zum letzten. Sie klagte nicht: Ach wären wir doch nimmer aus dem Walde herausgegangen! – Trotz allem Schmerz der Gegenwart hätte sie doch nicht, wie sie sagte, gebrochene Adlerflügel gegen gesunde Taubenfittiche vertauscht.

Hier war ein anderes Streben nach dem Gold, den Herrlichkeiten, der Ehre und der Macht der Welt als dasjenige, welches sich in dem Bankier Wienand darstellte. Rücksichtslos, aber doch frei vom kalten, kahlen Egoismus hatte Fritz Wolf nach allem, was unter dem Himmelszelt dem Menschen wünschenswert erscheinen kann, gegriffen, und noch höher als der Mann hatte sich das Weib über den Staub und Schmutz der Erde erhoben. Beide gingen sie unter; aber sie stiegen tragisch in stolze Gräber nieder; sie klammerten sich nicht jammernd an das Leben und seine Hoffnungen; lächelnd winkten sie von der Pforte der Ewigkeit zurück. Um das Dasein und seine Schätze hatten sie gespielt, doch nur der Aufregung, nicht des Gewinnes wegen; der Kampf war zu Ende, und sie gingen davon, und Gegner, Zuschauer und Freunde neigten ernst, ergriffen, klagend die Häupter.

Gegen Ende des Herbstes starb Eva Wolf aus dem Winzelwalde, und Konrad von Faber und Robert bereiteten ihr die letzte Ruhestätte unter den hohen Fichten an der Seite Friedrichs. Alle die wilden trotzigen Gesellen unterbrachen ihre gierige Jagd nach dem kostbaren Metall und folgten der Leiche zu Grabe. Als der Erdhügel sich über dem wohlgezimmerten Sarge erhoben hatte, lehnte sich Konrad von Faber inmitten der Rothemden auf den Spaten und sprach:

»Zwei neue Gräber auf dem jungen Boden! Da liegen die stillen Schläfer und horchen im Traum auf die Fußtritte des großen Volkes, welches kommt – Welle auf Welle – und einst hier wohnen wird. Ich rechne, Gentlemen, wir haben den, der sein Teil von Hitze und Kälte, von des Tages Last und Mühe getragen hat und nun ausruht, wie die beiden unter diesen Hügeln, nicht allzusehr zu bedauern. Ihr Part am Welt-business ist vorüber. Ihr Konto ist geschlossen, und drüben am andern Ufer werden die Toten das Boot loben, in welchem sie den Fluß kreuzten. Aber wenn sie auch in Sicherheit sind: der große Ladenhalter – shopkeeper der Welt – schließt darum sein Geschäft noch nicht; hat's auch fürs erste nicht nötig, denn die Fonds sind gut, und aufs Spekulieren versteht er sich. Ich sage, Gentlemen, dies ist eine gute Stelle, um zu liegen und auszuruhen und auf die Tritte der Kommenden zu horchen. Hört ihr die Schritte? Einzeln, zu zweien, zwanzigen – Tausenden, Millionen – the whole hog! Es wird eine Zeit geben, da wird die große Flagge der Zukunft hier entfaltet sein. Dann gibt es vielleicht ein England des Stillen Ozeans, welcher dann sehr lebendig sein wird. Wir nennen's heute Japan und stehen davor wie vor einem dunkeln stummen Rätsel. In jener Zeit werden gewaltige neue Nationen auf riesenhaften Schiffen zwischen den Ufern Asiens und Amerikas verkehren wie jetzt zwischen Hull und Hamburg, Dover und Calais. Da wird die Zivilisation ihren Lauf um den Erdball vollendet haben, und die alte Europa, einst eine so schöne, blühende Jungfrau, einst geliebt von Zeus dem Götterkönig, wird dann ein vertrocknetes Mütterlein sein, das uralte und alte Schätze und Andenken in altväterlichen Kommoden und Schränken und in der Schürze hält. Da werden die jungen Weltvölker kommen und sich Märchen und Historien aus vergangenen Tagen erzählen lassen. Berichten wird das Großmütterchen von Assyriern, Ägyptern, Chaldäern, Griechen, Römern und Germanen, von der Stadt Babylon und Jerusalem, vom Kampf um Troja, von der Stadt Athen, der Stadt Rom, der Stadt Berlin, der Stadt Paris und der größesten Stadt der Alten Welt, London. Und Gesänge wird sie singen von Hektor und Achill, vom Fall der Nibelungen, von Hamlet dem Dänen, Macbeth und dem alten König Lear, vom Wallenstein und Tell, und zuletzt das große tragische Leid vom Faust. Da werden die jungen Völker immer von neuem grübeln und staunen über die versunkene Welt; aber der alte modus operandi wird das junge Blut auch immer weitertreiben, und nach den Sternen sehend, wird die Menschheit ihren Weg vollenden. Vollenden? Was kümmert's uns, was geworden ist, wenn die Schlange wirklich ihre eigene Schwanzspitze erschnappt hat? – Noch eine Schaufel voll Erde auf das Grab der Frau, welche wir heute begruben! Es ist geschehen – ihr Recht haben die Toten; rührt euch, ihr Lebenden, denn auch eure Stunde kommt. Je härter der Kampf um das Dasein, desto süßer die Ruhe. Auf, auf, Robert Wolf, fort mit der Träne aus dem Auge! Ein feuchtes Auge sieht nicht klar, nicht scharf, und man hat's nötig, scharf auszuschauen, solange man noch auf den Füßen steht. Gentlemen, wir danken euch für euer Geleit zu diesem Grabe. Gut Glück einem jeden!«

Die Goldgräber, die wenig genug von des Hauptmanns Rede verstanden hatten, drückten der Reihe nach Roberts Hand und zerteilten sich im Tal, um die unterbrochene Arbeit mit verdoppeltem Eifer aufzunehmen und die verlorene Zeit einzubringen.

Eine Weile standen Faber und Robert stumm bei den Gräbern; dann sagte der erste:

»Ich kalkuliere, wir bleiben bei dem besprochenen Plan. Den Emigrantenweg nach Missouri wird in einigen Wochen der Winter versperren, in San Francisco haben wir nichts zu suchen; – so warten wir denn hier auf den neuen Frühling, und währenddem, Herr, mögt Ihr Euer Glück auf dem ›Boden der goldenen Visionen‹ versuchen. Unglück in der Liebe, Glück im Spiel! Das Goldsuchen ist auch ein Spiel, und zwar, wie schon gesagt, Hasard wie irgend etwas. Also, Mann, ans Werk mit Schaufel und Spitzhacke. Benutzt die Zeit, welche Euch noch zur Arbeit übrigbleibt. Eures Bruders Claim ist noch nicht wieder besetzt; tretet ein für den Toten, und wenn Ihr weiter nichts findet als müde Knochen und einen guten Schlaf am Abend, so ist das viel gewonnen bei Eurer jetzigen Gemütsstimmung.«

Robert sah ein, daß der Rat gut war, und so stieg er nieder in die Grube, welche sein Bruder gegraben hatte. Wasser zum Ausschlemmen der Erde hatte der Herbst in Fülle gebracht; die Handgriffe der angreifenden Arbeit waren bald gelernt, und Robert fand mehr als müde Glieder. Der Hauptmann rührte keine Hand; auf einem Stein oder Baumstamm sitzend, seine kurze Pfeife im Munde, sah er mit philosophischem Gleichmut zu, wie der junge Genosse sich abmühte und wirklich in kürzester Frist beträchtliche Schätze dem Boden abgewann.

»Es geht gut!« rief er bei jedem neuen Funde. »Nur zu, wenn Ihr auf dem Urgestein, dem Granit angekommen seid, werdet Ihr schon von selber aufhören. Teufel, mein Junge, wenn das so fortgeht, könnt Ihr drüben im alten Lande mehr als einen Affen tanzen lassen.«

Robert Wolf wühlte das Gold mit einer Art wilder Ironie aus der Erde. Einmal fiel ihm ein Stück von bedeutendem Gewicht in die Hand; er wog es in der Hand, und vor seinem Geiste empor stieg das Bild des Bankiers Wienand während der Zeit seiner Geisteszerrüttung; – schaudernd ließ er das gleißende Metall fallen und setzte den Fuß darauf, als wolle er es wieder in den Boden treten. Aber Konrad von Faber legte es zu dem übrigen und meinte:

»Eure Gedanken sind anerkennenswert, aber doch töricht. Wenn etwas jenem Spieß der griechischen Sage, der verwundete und zugleich die Wunde heilte, gleicht, so ist es das Gold. Wer weiß, welches Gewicht dieses Stückchen blankes Metall in der Waagschale Eures Glücks bedeutet? Wir leben in einer sehr realen Welt, mein Sohn, und obgleich wir keine Flügel haben, so wäre es doch durchaus ungerechtfertigt, wenn wir aus Ärger darüber auf dem Kopfe gehen wollten. Grabt nur zu, solange das Wetter gut ist, im Namen unseres alten Freundes vom Polizeibüro Nummer dreizehn, im Namen Fiebigers, grabt zu; über die Verwendung dessen, was Ihr findet, mögt Ihr nachher daheim den weisen Mann vom Giebel des Nikolaiklosters um Rat fragen.«

Bald war der junge Goldgräber im Besitz dessen, was die Amerikaner im Lager a competency, ein zulängliches Vermögen, nannten. Für deutsche Begriffe war Robert Wolf ein reicher Mann geworden, und manch ein anderer Erdensohn hätte unter solchem Anlächeln der Göttin Fortuna jeden andern Kummer vergessen und wäre sehr mit seinem Schicksal zufrieden gewesen.

Robert freute sich nur insofern, als er jetzt seinem Pflegevater, dem alten Fiebiger, das Leben behaglicher machen konnte.

Während der wenigen Wochen, in denen Robert im Schweiße seines Angesichts grub, jagte der Hauptmann, allein oder in Gesellschaft mit andern, Europäern, Amerikanern oder Pikosindianern. Nachts aber fanden sich die beiden Männer am Feuer in der Blockhütte zusammen, tauschten die Erlebnisse des Tages gegeneinander aus oder besprachen anderes, welches zugleich ferner und näher lag. Bald machte der Winter die Arbeit in den Goldgruben unmöglich, und willig ließ Robert trotz seines Glückes Schaufel, Hacke und Schwemmpfanne sinken.

Schnell verging die Zeit in dem Blockhaus, und auf den Winter folgte der neue Frühling.

»Diejenigen irren«, sprach eines Abends Konrad von Faber, »welche meinen, die Gesellschaft gehe durcheinander wie Mäusedreck und Koriander. Es ist Methode in allem, auch darin, wie die Infusionstiere in einem Wassertropfen sich gegenseitig auffressen. Je mehr man das einsieht, desto weniger ärgert man sich. Es gibt keinen Menschen in der Welt, welcher nicht einem andern im Wege steht, und darin liegt unter Umständen auch ein Trost, Bob. Da ist Euer und mein Freund Fiebiger in seiner Polizeistube; ich kalkuliere, der Mann hat Euch öfters dasselbe gesagt.«

»Sie haben recht, Herr von Faber«, sagte Robert seufzend. »Aber es ist doch sehr traurig.«

»Bah, das sagt Ihr jetzt, wo Herr Leon von Poppen die Oberhand, die beste Karte im Spiel hat; träte das Gegenteil ein, was gar nicht so unmöglich ist, so würde es freilich heißen: Was ist, ist gut, es ist nicht mehr als billig, als daß sich das Laster und der Herr Baron zu dem Spucknapf in die Ecke zurückziehen.«

»Aber Helene?!« rief Robert. »Was soll sie denn in Eurer harten, selbstsüchtigen Welt? Ich gebe Euch recht, wir haben Waffen und Rüstung und sind daher nicht zu bedauern. Aber die Waffenlosen, die Wehrlosen? Sind sie nur ein Spielball derer, die da kämpfen können?«

Der Hauptmann nickte:

»Ja, da liegt der große Jammer, und weder Fiebiger noch Konrad Faber, welche, jeder auf seine Weise, nach der besten Welt gesucht haben, haben viel Sinn in dieses dunkle Kapitel gebracht. Hat Euch der Mann im Niklaskloster, hat Euch Ulex nichts darüber gesagt?«

»Er wies nach oben und sprach: Seht nach den Sternen!«

»So tut das und laßt mich und den Polizeischreiber ungeschoren! ... Übrigens gehen wir in acht Tagen nach San Francisco, um Euer Metall gegen Wechsel umzutauschen, und dann – zu Pferde, Sir! Unsere Zeit hier ist um, der Weg nach Osten ist frei; Ihr werdet sehen, Herr, wie solch ein Ritt über den nordamerikanischen Kontinent die Brust frei macht. Nehmt Abschied von den Gräbern, Wolf, und kümmert Euch nicht, wie die alte Frau drunten in San Francisco, weil niemand für sie sorgt. Die stolzesten Grabmäler werden in den Herzen der Menschen erbaut.«

Es kam der Tag, wo Robert zum letztenmal, mit entblößtem Haupte, unter den drei Riesenfichten stand.

»Lebe wohl, Fritz«, rief er. »Lebe wohl, Bruder! Früh haben uns unsere Sterne getrennt, hochherzig und edel bist du deines Weges gegangen; und als ich – ein armer unwissender Knabe – die Sterne falsch deutete, hast du nicht gelacht und gespottet, sondern liebend hast du mir auch aus der Ferne die treue Hand geboten. Körperlich waren wir voneinander geschieden seit unserer Kindheit; aber unsere Seelen haben sich wieder zusammengefunden, als wir Männer geworden waren. Ruhe sanft, Bruder; ein leuchtend Beispiel sollst du mir sein, und vor jeder Schwierigkeit des Lebens will ich deiner gedenken! ... Lebe wohl, Eva, teure Schwester! Schwester, Schwester ...«

Tränen erstickten die Stimme des Trauernden; er ließ sich auf ein Knie neben dem Grabhügel nieder und beugte tief das Haupt. In Worten ließen sich seine Gefühle nicht ausdrücken. Konrad von Faber beobachtete den jungen Genossen aus einiger Entfernung; dann trat er auf ihn zu, und sanfter, als es sonst in seinem Wesen lag, sagte er:

»Laßt es nun genug sein, Freund! Von den Göttern wie von den Weibern mag es heißen: ferrum est, quod amant. Die Toten, welche unter diesen beiden Hügeln, Brust an Brust, begraben liegen, wollen nicht mit weinenden Augen beklagt sein. Erhebt Euch, wir müssen fort; die Maultiere warten, und Loatoa will Euch Lebewohl sagen.«

Einen letzten Blick warf Robert auf die Ruhestätten Friedrichs und Evas; dann folgte er festen Schrittes dem Hauptmann. Sie nahmen Abschied von der Chinesin, die Erbin ihres Hausstandes wurde, sie nahmen Abschied von den Bekannten, welche sie im Lager der Goldgräber gewonnen hatten, und in vier verschiedenen Sprachen wurde ihnen gut Glück auf die Reise gewünscht.

»Gut Glück auch euch, Kameraden!« rief Konrad von Faber. »Ihr Herren aus Deutschland, England, Frankreich und Spanien, ihr Herren Bürger der Union, ihr Herren Bürger von Mexiko, gut Glück! Möge im rechten Augenblick immer ein tüchtiger Platzregen auf eure Tollköpfe und Revolverzündlöcher fallen! Lebt so wohl, wie ihr könnt!«

Die Männer, welche den Wunsch verstanden, lachten. Loatoa vergoß einige Tränen; am Abend schlugen Faber und Robert ihr Lager wohl acht englische Meilen vom Hawk-Gulch im Walde auf, und in derselben Nacht wurde von einigen der Gentlemen, welchen der Hauptmann so gute Wünsche zurückgelassen hatte, der Versuch gemacht, den beiden Reisenden ihre Reise zu erleichtern und ihnen die Last ihres Goldes abzunehmen. Es fiel aber kein Regentropfen auf die Büchsen des Hauptmanns und seines Begleiters; die Herren gaben ihre freundschaftliche Absicht auf, nachdem etwas Blut geflossen war, und zogen sich fluchend über die damned Dutchmen zurück. Glücklich vollendeten Konrad von Faber und Robert ihre Reise und zogen wohlbehalten mit ihren Schätzen in San Francisco ein.

Zweiunddreißigstes Kapitel Ein Ritt vom Stillen Ozean zum Missouri; Konrad von Faber hält abermals eine Rede

Sie fanden eine vollständig veränderte Stadt. Eine große Feuersbrunst hatte einen bedeutenden Teil der leichten Bauwerke, Hütten und Zelte verzehrt; andere Straßen, andere Hütten waren auf der Brandstätte entstanden. Tausende und aber Tausende neuer Einwohner waren gekommen; es kostete viel Mühe, ehe die Familie Tellering in dem Gewimmel gefunden war, und der Zufall mußte beim Auffinden derselben das Beste tun. Bis an die Zähne bewaffnet, als eifriges Mitglied des Vigilancekomitees begegnete Meister Ludwig den beiden Reisegenossen auf der Plaza und sprang mit lautem Freudenruf ihnen entgegen. Die wichtigsten Erlebnisse tauschten sie gleich auf der Straße aus; ach, was Robert Wolf zu sagen hatte, ließ sich zuerst durch einen Seufzer, einen Blick ausdrücken und durch einen stummen Händedruck Ludwigs beantworten.

»Komm zu meiner Frau! O komm sogleich zu Marie«, rief der junge Meister dann und eilte den beiden voran, den Weg zeigend.

»Die ganze Stadt scheint ja unter Waffen zu sein. Was ist denn los, Tellering?« fragte der Hauptmann.

»Wir sind in einem neuen Lande«, sagte Ludwig achselzuckend. »Viel Menschen und etwas zuwenig von dem, was wir daheim zuviel haben, Polizeigesetz! Man sucht sich eben seiner Haut zu wehren, jeder steht Wache vor seiner Tür, und die Einsichtigen vereinigen sich zur gemeinschaftlichen Abwehr von Willkür und Raubsucht. Doch da sind wir, und da ist Marie mit dem Jungen, und da ist die Alte!«

Es ist ein eigenes trübes, wehmütiges Gefühl, selber heimatlos in einem wohlgegründeten, wohlbeschützten Heimwesen freundlich, herzlich empfangen zu werden. Robert Wolf empfand das recht, als ihm Marie Tellering mit ihrem Kinde auf dem Arm entgegeneilte, als ihm die Mutter Anna abermals treuherzig die Hand drückte.

Weinend ließ sich die kleine Frau des Freundes vom Ende ihrer einstigen Herrin erzählen und wollte sich anfangs auf keine Weise zufriedensprechen lassen.

»O wer hätte das gedacht, wenn wir sonst nach dem Theater spät zusammensaßen in der Lilienstraße und von der Zukunft sprachen! Und ich habe sie verlassen müssen in ihrer höchsten Not, und sie hat mich doch aufgenommen, als ich freundlos und hungrig war. Sie hätte mich nicht verlassen – ach, es war schlecht, schlecht, schlecht von mir – ach, hätt ich es nur anders machen können!«

»Sie haben getan, was Sie konnten!« rief Robert. »Gott segne Sie dafür. Sie haben sich keinen Vorwurf zu machen und dürfen sich Ihr Glück nicht durch solche Gedanken verbittern.«

»Ich konnte ja auch nicht anders, nicht wahr, du kleines Herz?« schluchzte die junge Mutter, ihr Kind küssend und aus tiefster Bekümmernis zum hellsten Jubel übergehend. »Da sehen Sie ihn, Robert, sehen Sie ihn, Herr Hauptmann, ist es nicht ein Liebling? Und er hat seines Vaters Augen und ganz seine Nase, obgleich Ludwig es nicht zugeben will. Ach, ich habe ihr nicht helfen können, und sie hat ohne mich in der Wildnis liegen und sterben müssen. Herr Wolf, wie oft wache ich auf in der Nacht und denke, sie hat mich gerufen; – wenn ich die Wiege nicht neben meinem Bette hätte, ich müßte mich totweinen vor Kummer und Schmerz. O nicht wahr, es ist nicht meine Schuld, daß ich sie verlassen mußte?«

Immer von neuem mußte Robert, mußten Ludwig und die Mutter der bekümmerten kleinen Frau wiederholen, daß es nicht ihre Schuld sei, wenn die arme Eva Wolf auf ihrem Sterbebette in der Wildnis von Yuba-County nicht von ihr gepflegt wurde.

Noch einige Tage brachten Konrad von Faber und Robert im Hause der wackern Freunde zu; dann waren die Geschäfte besorgt, daß Gold umgesetzt und alles bereit zu dem langen beschwerlichen Ritt nach Missouri. Vergeblich hatten sie auf der Post nach Briefen gefragt; keiner der Dampfer, die in das Goldene Tor eingelaufen waren, hatte Nachricht von den Freunden in Europa gebracht.

Nun noch eine betrübte Abschiedsstunde; aber auch sie ging vorüber! Tausend ausgesprochene und unausgesprochene Grüße an die alte Heimat jenseits der großen Wüsten und Wasser trugen die beiden Wanderer mit von dannen.

Auf Nimmerwiedersehen sagten sich die beiden Freunde aus der Musikantengasse jetzt Lebewohl; aber auch sie hatten sich gegenseitig von ihrem Wesen so viel mitgeteilt, daß sie doch immer unauflöslich miteinander verbunden waren. –

Am letzten April befanden sich die beiden Reisenden in Placerville, welches damals noch Old Hangtown hieß. Bergauf und bergunter hinab in die Ebenen zum Carsonfluß. Da ist Ragtown, die Lumpenstadt, deren Häuser aus den zerbrochenen Wagen und zerfetzten Wagendecken der Emigranten bestehen. Schrecklich deutlich ist der Weg über die Wüste vorgezeichnet. Knochen von Pferden und Lasttieren, Gräber, umgestürzte Karren, zerbrochene Ochsenjoche und Wagenräder, zertrümmertes Gerät bezeichnen den Pfad, auf welchem der Strom der Abenteurer in das Goldland hineinflutet. »Foot and Walker's Line« nennt der Hauptmann ingrimmig und ironisch diesen Pfad, als er schwitzend unter der glühenden Sonne seinen Gaul am Zügel durch den Alkalistaub am Humboldtfluß nach sich zieht. Noch ist die Wüste menschenleer, denn es ist noch früh im Jahre, und die kommenden Emigrantenzüge haben die regennassen Prärien von Iowa und Missouri noch nicht passiert. So sind denn Wolf und Geier die einzigen lebenden Wesen, die den zwei Reitern in der Einöde begegnen. Wieder folgen große Wiesen auf den dürren Sand – herrliche Jagdgründe, wo Konrad von Faber und Robert eine lange Rast halten und wo der Hauptmann dem jungen Schützen aus dem Winzelwalde zeigt, wie man den Büffel jagt. Vorwärts, vorwärts – seltsame Felsenkolosse erheben sich am Horizont; gleich einer zerstörten Stadt der Riesen steigt Castle-Rock vor den Wanderern auf. –

Am vierten Juli stieg mitten in der Prärie Konrad von Faber vom Pferde, kniete nieder und legte das Ohr auf den Boden; dann forderte er den Begleiter auf, dasselbe zu tun. Ein dumpfer Hall aus unendlicher Ferne schien sich unter der Erde fortzupflanzen bis zu den beiden Lauschern.

»Es ist die Kanonade von Fort Laramie«, sagte der Hauptmann. »Sie feiern den großen Festtag der Union. Ab eo libertas, a quo spiritus; – der Spiritus scheint nur leider allmählich auszugehen, und wer kann sagen, wie bald der Tag kommt, wo der Siegelring Jeffersons mit der schönen Inschrift auseinanderbricht? Ich rechne, die Berliner Hegelianer, welche in der großen Republik die höchste Blüte der staatlichen Entwicklung sehen und die hier zu einem so schönen Abschluß ihres Systems gekommen sind, werden sich demnächst – im Laufe der nächsten zehn oder fünfzehn Jahre vielleicht – nicht wenig wundern. Es knackt ganz bedenklich in den Sparren des Daches, welches die Herren Professoren auf das Gebäude ihrer Philosophie der Geschichte gesetzt haben. Wenn ihnen nur nicht der Giebel über Nacht auf die gelehrten Köpfe fällt!«

»Aber auch Sie meinten doch an den Gräbern meines Bruders und meiner Schwester, daß der Abschluß und das Ziel der Weltgeschichte auf dieser Seite des Erdballs liege, daß hier die Zivilisation ihren Kreislauf vollendet habe?!«

»Ich halte auch noch daran«, antwortete Faber. »Aber schwer ist die Arbeit der Selbstbefreiung der Menschheit. Wenn die unorganische Welt Millionen von Platonischen Jahren nötig hatte, um sich zu entwickeln, wie lange Zeit wird der Mensch als Gesamtheit brauchen, um das letzte Ziel zu erreichen? Weder nach der Juden noch nach Usserii Rechnung sind mehr als sechstausend Jahre verflossen, seit Gott dem einzelnen Erdenkloß seinen Atem einblies. Das ist eine kurze Zeit, Herr, und ich meine, der Spruch: Der gab die Freiheit, welcher den Hauch des Lebens gab, wird noch lange, lange nur für den einzelnen und nicht für die Gesamtheit gelten. Das Individuum freilich – Ihr, ich, der Mann in der Polizeistube, der Sternseher Heinrich Ulex –, das Individuum mag in diesem Wort alle irdischen Ketten von Hand und Fuß abstreifen: Ab eo libertas, a quo spiritus! Zu Pferd, zu Pferde, Mann; noch für unberechenbare Zeit liegt mehr Bedeutung in dem Studium der Fortpflanzung des Schalles am Boden als in der Frage nach der rechtlichen Ursache, mit welcher die Besatzung von Laramie ihre Kanonen losbrennt und sich in Regierungswhisky betrinkt.«

Sie ritten weiter und rasteten einige Tage in dem Fort Onkel Sams. Sie ritten weiter und lagen noch manche Nacht einsam an einem Feuer von »buffalo-chips«. Sie ritten über die Platte, erreichten die hohe Säule Chimneyrock, den Wegweiser nach Kalifornien. Bei Courthouserock inmitten blumiger Prärien trafen sie auf den ersten ihnen entgegenkommenden Emigrantenzug. Reiter und Wagen; Männer, Weiber, Kinder durcheinander, wälzte es sich ihnen entgegen aus dem Osten, einer Völkerwanderung im kleinen gleich.

Manch eine hastige Frage nach dem Wege, nach den streifenden Indianerhorden wurde von ängstlichen Frauen und hagern, sonngebräunten Männern an die beiden Wanderer gerichtet. Sie gaben nach Möglichkeit Bericht, und ernst und traurig sah Robert Wolf, an den Sattel seines Pferdes gelehnt, den müden, bestaubten, goldgierigen Menschenknäuel an sich vorüberziehen.

»Ab eo libertas, a quo spiritus!« murmelte er. »Ja, es ist eine schreckliche Wahrheit: gegeben wird uns das Leben; aber es zu erhalten ist unsere Sache. Ist es ein Wunder, wenn uns über dem grimmigen Kampf um die Existenz die Freiheit verlorengeht? Da werden sie hingewirbelt von Not und Sorge, vom Sturm der Leidenschaften. Wie wenige sind stark genug, sich dem Wirbel zu entziehen! Der Staub, den ihre Füße aufregen, blendet ihre Augen und zieht sie zu Boden. Wehe, wie wenige erkennen durch den Dunst und Nebel die hohen Sterne, die auf ihren Weg leuchten!«

Sie stießen noch auf manchen ähnlichen Abenteurerzug und auf manches frisch am Wege aufgeworfene Grab, ehe sie die Wälder, die deutschen Ansiedlungen am Missouri erreichten. Eine lange Zeit ritten sie mit einem Geschwader Pawneekrieger, die dem Grabe eines verehrten Häuptlings einen Besuch abgestattet hatten und welche jetzt nach ihren Jagdgründen heimzogen. Wie ein traumhaftes Wunder erschien es Robert, als er einige Tage später an der Seite des Hauptmanns in ein vollkommen deutsches Dorf hineinritt und am Abend im Wirtshaus deutsche Bauermädchen und Bauerbursche nach deutschen Tanzweisen sich drehen sah. Im Drachen zu Hickorihausen in Missouri ging's eben nicht anders zu als im Drachen zu Poppenhagen im Winzelwalde, und der Hauptmann von Faber lehnte die Büchse in die Ecke, ließ sich höchst behaglich zwischen einer Gruppe mächtig schmauchender Altväter und Leibzüchter nieder, schlug seinen Reisegenossen auf die Schulter und rief:

»Nun, mein Junge, das Schlimmste haben wir hinter uns. Wenn sie uns nicht mit einem ihrer satanischen Missouri- und Mississippidampfer in die Luft fliegen lassen, so haben wir gegründete Aussicht, gesund und nicht dümmer in New Orleans anzukommen.« –

Als die beiden Reisenden nach einigen Tagen auf dem Dampfboot Ellen Chittenden stromab den Missouri fuhren und vom Verdeck auf die gelben tanzenden Wogen hinabblickten, sagte der Hauptmann plötzlich ohne alle Veranlassung:

»Hören Sie, Wolf; das Schicksal hat doch eigentlich mancherlei Erziehungsexperimente mit Ihnen angestellt. Aus einer Hand sind Sie in die andere, aus einer Schule in die andere gegangen. Als der reine Rousseausche Naturmensch kriecht Ihr anfangs, sozusagen auf allen vieren, um Eures Vaters Hütte im Winzelwalde herum, ein höchst gesundes, schmutziges, unschuldig Geschöpf. Selbst als das kriechende Ding sich von den Händen aufgerichtet hat und auf den Füßen nach Poppenhagen in die Studierstube des Pastors Tanne hinuntersteigt, ist für es noch wenig Aussicht vorhanden, irgendwo anders als auf dem Kirchhof zu Poppenhagen, mit der alten Grabrede: Er lebte, nahm ein Weib und starb, begraben zu werden. Aber durch das Weib ist nicht nur der Tod, sondern auch das Wissen in die Welt gekommen. Eva Dornbluth schreitet glänzend durch den Gesichtskreis des Knaben und über den Gesichtskreis desselben hinaus. Er muß ihr folgen; es versinkt der Winzelwald mit dem Dorf Poppenhagen; – die erste Schule liegt hinter dem jungen Weltbürger, er hat den Becher der Erkenntnis an die Lippen gesetzt, er hat die Rudimente des Lateins gelernt, er hat jene Leidenschaft, welche die Welt erobert, kennengelernt. Jetzt steht er auf der Schwelle eines neuen Daseins; Abgründe drohen zu beiden Seiten, vor sich hat er ein Gewirr von Verhältnissen und Gestalten, die ihm vollständig fremd sind. Ihm schwindelt, und der Zorn – auch eine Leidenschaft, welche den Menschen vorwärtsbringt, bald zum Guten, bald zum Bösen –, der Zorn, der Haß schüttelt den Machtlosen, der diese unbekannte Welt mit den Fäusten, den Zähnen zerreißen möchte, weil er sie mit Herz und Hirn nicht fassen kann. Verloren ist der Schüler, wenn die Sterne nicht Hülfe senden; – sie senden sie im rechten Augenblick. Von seinem Dreibein im Polizeibüro steigt nüchtern, lächelnd Polizeischreiber Fiebiger herab und faßt die drohend erhobene Faust des jungen Wilden und zieht ihn in das unbekannte Gewühl hinein. Die Gespenster weichen, die drohenden Schatten verflüchtigen sich, wenn man ihnen mutig näher tritt; in geregelte Gruppen ordnet sich, was nur ein wirres Durcheinander schien. Kein besserer Führer durch die reale Welt als der humoristische Buchhalter im Büro Nummer dreizehn im Zentralpolizeihaus! Aber der Schüler des Lebens hat in dieser Epoche noch andere Lehrer nötig, und sie sind zur Hand. Die Sterne sorgen dafür, daß Robert Wolf inmitten der Welt des Realismus ihrer nicht vergesse. Auf dem Giebel des Nikolaiklosters sitzt Henricus Ulex aus Poppenhagen, den Lärm der Gassen tief zu seinen Füßen. Aus seiner Höhe winkt der Mann des Ideals, und empor steigt Robert Wolf; es ist eine hohe, edle Schule, in welche er genommen wird, und nur wenigen begünstigten Staubgeborenen wird ein solches Glück vom Schicksal verliehen. Abermals tritt das Weib in den Entwicklungsgang des Schülers ein; aber diesmal in anderer Gestalt, auf andere Weise. Nicht mehr als das glänzende, stolze, heldenhafte, nicht die Ausnahme von der Regel, erscheint es, sondern als die Regel selbst. Leisen Schrittes, still, sanft, geduldig und doch stark, wo es stark sein darf und muß, kommt es; und wieder bringt es für den Schüler den Kampf mit sich, nach uralter Bestimmung seit Erschaffung der Welt. Aber es ist nun nicht mehr ein Kampf mit unbekannten Gewalten; Robert Wolf kennt die dunkeln Kräfte, die sich gegen ihn bewegen, sehr gut. Der Mann aus den Gassen, Friedrich Fiebiger, hat ja seine Register vor ihm aufgeschlagen und ihm den Menschen, die Gesellschaft gedeutet, wie sie sind. Aber Friedrich Fiebiger weiß deshalb doch nicht, auf welche Weise die andrängenden bösen Mächte zu bezwingen sind; sein ironisches Lachen und das Polizeistrafgesetzbuch reichen dazu nicht aus. Der Idealist, der über den Gassen in der Höhe sitzt, kann aber nur den alten Wahlspruch der Stoiker wiederholen: Sustine et abstine, dulde und entsage. Trotz aller Lehrer, trotz aller Schulen steht der Mensch zuletzt doch immer allein seinem Schicksal gegenüber, und er allein hat mit seiner Persönlichkeit Antwort zu geben. Auch die härteste Schule soll dem Jungen aus dem Winzelwalde nicht erspart bleiben; das eigene Glück, das Glück des kleinen Mädchens sieht er zerstört; aber wieder treten die Sterne zur rechten Stunde für ihn ein. Wie das Weib am besten in der Stille und Einsamkeit das Unglück, den Schmerz überwindet, so besiegt der Mann sie am leichtesten, wenn er streitgerüstet sich in allen Lärm und Aufruhr der Welt hineinstürzt. Aber mit dem besten Willen vermag der Mensch sehr oft das nicht; von tausend Banden wird er auf dem Marterstuhl festgehalten; er klebt fest im Pech. Für Robert Wolf sorgen die Sterne besser; wieder schleudern sie ihn hinaus ins Weite, in feurigen Lettern wird ihm die große Lehre von der Nichtigkeit aller irdischen Hoffnungen, aber auch von der Nichtigkeit aller irdischen Sorgen ins Herz gebrannt. Der weite Spielraum, der den Menschen für ihre Wünsche gegeben ist, wird ihm gezeigt im Schweifen über Land und Meer; Nationen sieht er auf dem Marsche; in tausendfältigen Variationen umrauscht ihn die alte Weise vom glückseligen Land Utopia, welches jeder einzelne, jedes Volk in seiner Weise sucht und welches niemand unter den Sternen findet. Wie die Hochherzigsten im vergeblichen Streben und Ringen untergehen, lernt der Schüler an den Gräbern des Bruders und der Schwester; und wenn er dann den Kopf nicht kläglich sinken läßt; wenn er die Sterne dann nicht im ohnmächtigen Trotz anklagt; wenn er dann nicht zappelnd sich gegen das allgemeine Los wehrt; wenn er dann den Sternen auch über die Gräber hinaus glauben kann: dann – ist die Erziehung vollendet, und er mag heimgehen, sein Doktorexamen machen und den Leuten zeigen, daß er was gelernt hat.«

Mit komischem Achselzucken hatte Konrad von Faber seine Rede begonnen, mit hohem Pathos schloß er sie, indem er die ausgegangene Zigarre einem aus dem Fluß auftauchenden Alligator in den Rachen warf.

»Vollendet ist die Erziehung des Knaben aus dem Walde«, sprach Robert Wolf.

»Und gut, rechne ich«, meinte der Hauptmann. »Wer kann sagen, wie die Sterne die andern führten, während wir am Yuba uralte Wahrheiten mit Hülfe von Hacke und Schaufel studierten und edles Gold in Gräbern fanden! Die Götter halten uns nicht allein im Auge, mein lieber Junge. Jedermann hat ein Recht auf ihre Fürsorge und Berücksichtigung, Herr Leon von Poppen nicht weniger als Herr Robert Wolf aus Poppenhagen!«

Dreiunddreißigstes Kapitel Robert Wolf beschleunigt seine Heimreise; der Autor begleitet ihn und nimmt Abschied von zwei Personen, welchen er in verschiedener Weise wohlwill

Der Missouri ergoß seine schlammigen Fluten in die noch schlammigeren des Mississippi, und die Schaufelräder der Ellen Chittenden spritzten durchaus keine Diamantentropfen in die Luft, als das Schiff mit übergroßem Geschnauf und Gequalme aus dem einen Strom in den andern lief. Saint Louis war um diese Zeit aus einem jammervollen Fiebernest eine blühende Stadt von fünfzig- bis sechzigtausend Einwohnern geworden, und als eines Abends unsere beiden Reisenden daselbst landeten, fanden sie sich sogleich mitten im verwirrendsten Getümmel eines bedeutenden Handelsplatzes. Hätten nicht dicht am Ufer die Alligatoren ihre unförmlichen Köpfe aus dem Wasser hervorgesteckt und wären nicht diese riesenhaften Baumstämme aus den nicht allzufernen, ungelichteten Wäldern mitten in die blühende Zivilisation hineingetrieben, so hätte man wirklich meinen können, dieses ganze Leben schreibe sich nicht von gestern her, sondern datiere seit wenigstens tausend Jahren. Aber neu war alles hier; – neu waren die Häuser; ungemein neu waren die deutschen Einwanderer in den Gassen. Das Älteste, was es in Saint Louis zu geben schien, waren die Gesichter der Yankeekinder, die am Landungsplatz der Dampfschiffe von den Armen ihrer Mütter und Wärterinnen die Ankommenden mit nußknackerhaft-spekulierendem Augenzwinkern anstarrten. Diese vielversprechenden Säuglinge und kalomelfarbigen Natives bereits schienen das eindringende deutsche Element durch Blicke vergiften zu wollen; aber es ließ sich weder durch Blicke noch durch andere Mittel vertreiben. Es war einmal da, wuchs täglich mehr an, und die salzsauern Quecksilbergesichter mochten sich erbosen, wie sie wollten. Nirgends im ganzen Gebiet der Union schien das »Vaterland« so festen Fuß fassen zu wollen wie an dieser Stelle. Man sah fast mehr deutsche als amerikanische Firmen an den Häusern. Jedes Schiff, welches von New Orleans heraufkam, brachte neue Einwanderer aus dem alten Land zwischen den Vogesen und der Weichsel mit, und jeden Dialekt der dialektreichen Heimat konnte man in den Gassen der jungen Stadt Saint Louis hören.

Konrad von Faber machte den Reisegefährten auf alles das aufmerksam, und dann nahm ein deutsches Gasthaus, »Zum Vater Rhein«, die beiden Wanderer auf. Nach einem kurzen Mahl warf sich Robert todmüde auf sein Bett und versank sogleich in den tiefsten Schlaf, während der eiserne Hauptmann, auf den die Tausende von Meilen vom Sacramento her nicht den mindesten Eindruck gemacht hatten, sogleich wieder zur Bar, dem Schenkstand, hinunterstieg, um sich die Leute daselbst näher anzusehen, nach Bekannten auszuschauen und die – Stadtneuigkeiten zu erkunden.

Von oben bis unten war das Haus voll. Alles, was es unter des durchlauchtigsten Deutschen Bundes schützenden Privilegien nicht mehr aushalten konnte, schien sich hierher geflüchtet zu haben. Die einen nahmen die Sache leicht, die andern aber leider desto schwerer. Manch wilder Jauchzer durchschallte das leichte Gebäude; aber auch manchem bleichen, sorgenvollen, abgeängsteten Gesichte begegnete man auf der Treppe oder in den Gängen. Die Nationen, welche in der Kneipe niedersitzen, die Röcke ausziehen und die Ellbogen auf den Tisch stemmen, sind politisch nicht die gefährlichsten. Was würde aus dem s.v. ebengenannten Deutschen Bunde und denen, welche an seiner Erhaltung ein Interesse haben, werden, wenn der beschränkte Untertanenverstand anfinge, seinen unbeschränkten Durst im Stehen zu löschen?

Gottlob, noch sitzt der germanische Christ selbst in Amerika beim Bierkrug, und so gab es denn auch im »Vater Rhein« ein echt deutsches Gastzimmer, in welchem nur die obligaten Bilder der respektiven Landesväter, -mütter, -onkel, -tanten, -neffen und - nichten fehlten, um die Illusion, daß man sich mitten unter den rührenden gemütvollen Institutionen der Heimat befinde, zu vervollständigen. Daß der Wirt statt der Porträts der heimatlichen Potentaten und Potentatinnen ein Bild Robert Blums über einer Lithographie, die Stadt Kirchheim unterm Teck darstellend, mit einem Blumenkranze geschmückt hatte, zeugte freilich von einem sehr schlechten Herzen und höchst verderbten politischen Anschauungen.

Schwarzgeräuchert waren selbst in der neuen Stadt Saint Louis die Wände und die Decke des Gastzimmers, und undurchdringliche Rauchwolken füllten den Raum, wie überall an allen Orten, wo deutsches Volk sich zum Trunk versammelt; doch wurden hier mehr Doppelbüchsen als Regenschirme in die Ecken gestellt, und man sah über keiner geheiligten Tür das niederträchtige Wort »Honoratiorenstube« grinsend Dummheit und alberne Abgeschmacktheit bescheinigen.

Die Gaslichter brannten bereits in dem nebeligen Raume, als Konrad von Faber eintrat und sich vor einem Schoppen schäumenden Bieres niederließ. Groß war der Lärm der anwesenden edlen Bürger, und vorzüglich in der entgegengesetzten Ecke des Gemaches ging es hoch her. Dort jubelte, lachte und klatschte man Beifall und drängte sich in einem dichten Kreis um einen dem Hauptmann nicht sichtbaren Jemand, welcher die Aufmerksamkeit der lustigen Ecke sehr zu fesseln schien und in der Mitte des Kreises ungemein geistreich und spaßhaft sein mußte.

Der Hauptmann, nachdem er einem armen Teufel aus dem glücklichen Land Mecklenburg einen Schoppen gezahlt hatte, hielt es natürlich für seine Pflicht, zu erkunden, was es in jener fidelen Ecke auch für ihn gäbe. Er erhob sich, näherte sich jenem Kreis und legte seinen Bart über die breite Schulter eines Iowa-Farmers, der sich einen vom donnernden Lachen erschütterten respektablen Bauch hielt.

Nach einigen Augenblicken verwunderungsvollen Horchens rief Konrad von Faber:

»Ist es die Möglichkeit?! Bei allen Mächten, nanu?«

Über die Schulter des Iowa-Farmers fuhr der Arm des Hauptmanns, und das witzige Individuum inmitten des entzückten Kreises fühlte sich plötzlich, aller republikanischen Bürgerwürde zuwider, von einer kräftigen Faust beim Kragen gepackt und vom Stuhle in die Höhe gezogen.

»Bei allem, was auf dem Kopfe steht und auf dem Seile tanzt – Schminkert!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Im unerquicklichen Schlaf lag Robert Wolf. Durch seinen abgespannten Körper zuckten leise Fieberschauer. Es war der Zustand, in welchem man trotz übergroßer Müdigkeit das Bewußtsein seiner Existenz, Lage und Umgebung nur halb verliert. In jedem Augenblick wußte der Schläfer ganz genau, daß er sich im Wirtshaus zum »Vater Rhein« in Saint Louis befinde; deutlich vernahm er den Lärm der amerikanischen Stadt vor den Fenstern des überfüllten Boardinghauses, und als eine böhmische Musikbande grade unter seinem Zimmer mit dem Schmerzensschrei aller Instrumente nach dem deutschen Vaterland fragte, ging ihm kein Ton des Jammers verloren. Wie kam es nun aber, daß plötzlich der Polizeischreiber Fiebiger mitsamt seiner langen Pfeife und seinem länglichen Wohngemach sich in den »Vater Rhein« schob? Und Robert Wolf fand es ganz natürlich, als der Alte eine sarkastische Rede über die allgemeine Nichtsnutzigkeit der Welt hielt und über die besondere Verderbnis des Tabakshändlers gegenüber in der Musikantengasse, der Nußblätter statt Portorico und Louisiana verkaufe und dessen Seele so schwarz sei wie der Körper des schmauchenden Mohren vor seiner Tür. Nun saß der Träumer vor dem Tubus des Sternsehers Heinrich Ulex und blickte nach den glänzenden Gestirnen am dunkeln Nachthimmel; durch den Weltenraum glitt leuchtend das Bild der lieblichen Helene Wienand, und mit ängstlichem Entzücken folgte ihm der Blick des Liebenden; doch es verlor sich in der Ferne und der Finsternis, und der alte Ulex sagte:

»Sieh nach den Sternen!«

Aber die Sterne waren nicht mehr sichtbar, und als sich der Schüler um Hülfe an den Lehrer wenden wollte, war auch dieser von seiner Seite verschwunden, und Robert befand sich wieder in seiner Jugendheimat, im Winzelwalde. Im sonndurchglänzten Gebüsch sang Eva Dornbluth: Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus. Aber aus der Dunkelheit des Tannenwaldes hervor trat ein schwarzes, uraltes Weiblein, stützte sich auf einen Stab und hob warnend den Finger. Erst war's die Fee, die Waldfrau aus dem Märchen; dann war's das Freifräulein Juliane von Poppen. Es ging ein großes Rauschen durch den Winzelwald, und der Forst verwandelte sich in das grenzenlose Meer. Zwei Schatten, die sich umschlungen hielten, schwebten über die Wogen, und in der Ferne und Finsternis verloren sie sich aus dem Traume, wie das Bild Helenes sich daraus verloren hatte. Unbekannte Küsten tauchten auf. Zwei Gräber in der Wildnis. Ganz flüchtig gingen Ludwig und Marie Tellering durch den Traum, und die Musik vor den Fenstern des »Vater Rhein« zu Saint Louis spielte die Orgelmelodie:

O Deutschland, armes Deutschland, Wo ist dein Heiligtum? Erschossen ist, erschossen Dein treuer Robert Blum.

Robert Wolf saß aufrecht auf seinem Bett und hielt die Stirn mit den Händen. Er war völlig wach und horchte in höchster Erregung auf die mißtönig abgedudelte traurige Weise. Niemals hatte Musik einen solchen Eindruck auf ihn gemacht. Die kläglichen Töne packten ihn im Innersten seiner Seele und zerrten an allen Fibern und Fasern seines Ichs. Wenn man darüber nachdenkt, so erfährt man, wie oft es kommt, daß etwas ganz Äußerliches, ein Blick, ein Ton, ein fallendes Blatt oder der Wind, der durch die Zweige fährt, ein beliebiges Etwas, welches mit unserm freudigen oder leidenden Zustande nicht das mindeste zu schaffen hat, uns denselben so recht klarmacht. Eine Binde scheint uns dann von den Augen zu fallen; was vielleicht nur ein dumpfes Gefühl war, das erkennen wir jetzt – oft nur einen flüchtigen Augenblick hindurch – in allen seinen Einzelheiten, in allen seinen Konsequenzen. In ähnlicher Weise wirkte die Gassenmusik in dieser Minute auf Robert. Angst um die Geliebte, Sehnsucht nach der Geliebten wollten ihm fast die Brust zersprengen. Es war ihm, als habe er kurz vor dem Erwachen aus weiter Ferne ihr ängstliches Rufen vernommen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Pulse flogen, seine Hände zitterten. Dabei waren seine Gedanken ungemein klar und be stimmt; er sah ein, wie er jetzt die Zeit der wilden körperlichen und geistigen Aufregung hinter sich habe, wie er zurückkehren müsse in das ruhige bürgerliche Leben. Mit unwiderstehlicher Macht zog es ihn nach dem Vaterlande zurück, und zugleich mußte er sich sagen, daß eigentlich in der Heimat kein Platz für ihn sei. Auf dem Meere, in den kalifornischen Bergen, auf den Prärien, da ließ sich noch Atem holen. Das Leben, welches man jeden Augenblick aufs Spiel setzte, welches man in jedem Augenblick verlieren konnte, ließ sich ertragen; aber drüben, wo sich langsam ruhig Stunde an Stunde, Tag an Tag reihte, wo die Existenz durch Staat und Kirche feierlich und ziemlich sicher garantiert war, drüben mußte sie zu einer unerträglichen Last werden. Zu keiner Zeit vielleicht waren dem armen Robert alle die bösen Verhältnisse, die ihn jenseits des Atlantischen Ozeans erwarteten, in solcher grimmigen Nacktheit vor die Seele getreten. Was konnte er finden, was sollte er beginnen, wenn er den Fuß wieder auf den deutschen Boden setzte? Und hätte er sich auf dem Turme des Sternsehers wie in einem Gefängnis eingeschlossen, er würde dadurch nichts in seinem innern und äußern Leben geändert haben. Selbst unter den Freunden konnte er fürderhin nicht mehr leben. Er dachte daran, nach Poppenhagen, in den Winzelwald zurückzugehen; er konnte Armenarzt in irgendeinem abgelegenen Waldstädtchen werden; er konnte mit seinem kalifornischen Golde sich eine Hütte in irgendeinem Winkel des Vaterlandes bauen. Tausend wirre Pläne kreuzten sich mit tausend schmerzhaften Einwürfen. Seine Erziehung zum Menschen war vollendet; aber er fühlte nur desto klarer des Menschen Hülflosigkeit. Er erinnerte sich, eines Tages auf dem Observatorium des Sternsehers in den Aufzeichnungen des alten Philipp von Commines geblättert zu haben, und matt sprach er dem Mann jetzt nach:

»Comme les aultres, je suis venu à la grande mer, et la tempeste m'a noyé.«

Er sah stier in die Flamme der jämmerlichen Lampe, welche auf dem rohen Tische neben seinem Lager stand; die Musik in der Gasse hatte längst aufgehört, drunten im Hause währte der Lärm der Gäste auf die alte Weise fort.

»Ich werde sie wenigstens noch einmal sehen – ich will sie auch nicht anreden. Heim, heim!«

Er ließ das Haupt auf das Kissen zurücksinken und schloß die Augen. Vorüber war die geheimnisvolle Seelenstimmung, die Qual reizbarer Naturen; der Verstand, die Vernunft gewannen wieder die Oberhand, und ruhig ward's im Geiste Robert Wolfs.

»Was war das nun wieder?« sagte er. »Wie wenig ist doch der Mensch Herr über seine Nerven! Gottlob, daß das Leben mich gelehrt hat, mich auch solcher schwachen Momente zu erwehren! Trotz allem werde ich ruhig nach Europa zurückgehen können. Vor die Freunde werde ich treten und sprechen: Weit bin ich über die Erde gewandert, und mannigfaltige Mühen und Kämpfe der Menschen habe ich gesehen. Traurig, doch nicht gebrochen kehre ich heim zu euch; ich habe gelernt, daß allen Mühen ein Ende bereitet ist. Arbeiten und schaffen soll jeder nach seiner Art, denn darin liegt sein Heil; bauen soll er in sich und außer sich, und was ihm in der Seele, was ihm im Umkreis seines Seins von gegenwirkenden Kräften zerstört wurde, das soll er immer von neuem geduldig aufrichten, denn darin liegt sein Glück. Wer die Arme sinken läßt, der ist überall verloren, er ›zürnt ins Grab sich rettungslos‹. Wer aber jeden Schritt zum Grabe verteidigt und würdig – ohne feiges Klagen, doch auch ohne ohnmächtigen Trotz – auch die lichtesten Höhen verlassen kann, um in die dunkle Tiefe hinabzusteigen, der hat gewonnen. Als Sieger schreitet er in die Gruft, nicht wird er überwunden hinabgestürzt; Schild und Schwert schlagen die Mitstreiter über seinem Hügel aneinander, von drüben winken freudig die Götter, es lächeln vom Olymp die hohen Sterne. Ich werde heimkommen; den Armen will ich mein Leben und meine Kunst widmen; das Elend und die Krankheit will ich in ihren traurigsten Schlupfwinkeln aufsuchen und bekämpfen. Dann – dann begegnet mir vielleicht dann und wann an der Seite des Freifräuleins die Geliebte. O wir werden dann nicht von der Liebe sprechen; aber wir werden uns grüßen in der Liebe; dieselben Wege werden wir gehen, und unsere Werke werden zeigen, daß wir zueinander gehören und niemals getrennt werden können.«

Die Lampe erlosch, und nach kurzer Zeit war Robert wieder eingeschlafen. Dieses Mal war sein Schlaf ruhiger und fester, und er hörte nicht die Schritte, die sich seiner Tür näherten, er vernahm nicht das Kreischen des Schlosses; er fuhr erst empor, als Konrad von Faber seine Schulter berührte und der Schein des Lichtes, welches der Hauptmann hielt, ihm voll ins Gesicht fiel.

»Sie sind es? Was gibt's? Ist's Zeit aufzubrechen? Hab ich in den Tag hineingeschlafen?«

»Robert«, sagte der Hauptmann mit etwas zitternder Stimme, »Robert, während der Mensch schläft, schnurren die Räder und laufen die Fäden über die Spule. Es ist so, wie ich sagte: der Grashalm, der auf der Wiese nickt, glaubt allzuoft, er sei der einzige, mit welchem der Wind es zu tun habe. Ja, Herr, Ihr habt in den Tag hineingeschlafen! 's ist ein Glück, daß Ihr Euch in Wams und Hosen zu Bett gelegt habt. Zieht auch die Stiefeln an, Mann, und Sie, Schminkert, treten Sie vor und illustrieren Sie diesem hier die große Lehre von der Solidarität der menschlichen Interessen und Schicksale. Nachher wollen wir ihn mit dem Zeugnis der Reife aufs Schiff packen und nach Hause schicken. Er hat sich über seine Sterne nicht zu beklagen; – was meinen Sie dazu, Herr Schminkert?«

»Schminkert?!« Robert Wolf starrte auf die aus dem Schatten hinter dem Hauptmann hervortretende wohlbekannte Figur wie auf eine Geistererscheinung, und Julius der Edle, der, wie wir wissen, nicht leicht sich in Verlegenheit bringen ließ, sah bei diesem unvermuteten Wiederfinden auch grade nicht aus, als ob er alle fünf Sinne richtig beieinanderhabe. Der eine rieb sich die Stirn und die Augen, der andere wühlte in den Haaren, beide sperrten den Mund auf.

»Der Sohn der Wildnis! Robert Wolf! Er ist es wirklich! – o Musikantengasse und kein Ende, Kapitän, er ist es – er ist es wirklich und wahrhaftig.«

»Ju-li-us – Schmin-kert!« stammelte Robert.

»Ja, Julius Schmin-kert!« rief der Schauspieler, Parfümeriehändler und Gatte der holden Angelika. »Ja, ich bin's! bin's, den Mörder Bruder nennen – Julius Schminkert in ganzer Figur – angehender amerikanischer Bürger und angegangener Erster Liebhaber am weltberühmten, gloriosen, sternenbannerumflatterten deutschen Universaltheater zu Saint Louis am Mississippi, unter der himmelanstürmenden Direktion des Eigentümers Signor Giuseppe Leppelli; – ko-los-sal!«

Empor von seinem Lager sprang Robert Wolf, bärtig, hager, gebräunt, im zerrissenen Jagd- und Reisegewand:

»Schminkert! Julius Schminkert!«

»Ganz backwoodsmannhaft!« rief der Tragöde, den Genossen früherer Tage von oben bis unten musternd. »Etwas schmutzig, aber mokassinhaft praktisch! Neueste Urwaldsfasson – büffelartig elegant!«

Mit beiden Händen faßte Robert den Schauspieler:

»Schminkert – Julius – Sie sind es! Wie kommen Sie hierher? Wann sind Sie gekommen? Was hat Sie herübergeführt? O sprechen Sie – wie steht es drüben – sagen Sie, sagen Sie!«

»Euer Erstaunen, mich hier zu finden, ist völlig berechtigt; ich wundere mich immer noch stellenweise selber darüber. Es war einmal an meiner Wiege gesungen, junger Weltumwandler; den einen zieht das Schicksal an der Nase, dem andern stößt es die Faust in die Rippen –«

»Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, Schminkert –«

»Nur Ruhe! Drücken Sie mir das Schulterblatt nicht ein! Lassen Sie los – Donnerwetter, we are in a free country!«

»O reden Sie, Julius, erzählen Sie, spannen Sie mich nicht auf die Folter – wenn Sie wüßten – – – was macht –«

»Die hohe Obrigkeit und pflegeväterliche Sicherheitsbehörde? Danke für gütige Nachfrage – großer Tabakskonsum, höchst zerrissene Hausjacke – polizeiliche Naseweisheit in schönster Blüte.«

»Und der alte Ulex?« schrie Robert, dem unverbesserlichen Julius in alter Weise die geballte Faust unter die Nase haltend.

»Astronomissimus!« lautete die Antwort. »Ein Auge hat er auf, eins hat er zu. Mit dem offenen sieht er durchs Fernrohr nach den Sternen; das zugekniffene Sehorgan aber richtet er auf das irdische Jammertal. Origineller alter Mauerkauz.«

Mit den Zähnen knirschend, ächzte Robert:

»Und das Freifräulein von Poppen?«

»Etwas wackelig, sonst aber ausgezeichnete Verdauung und gutes Befinden. Demnächstige Erbin der Grafschaft Dingskirchen, Baronie Poppenhof da herum – drüben – na, Sie wissen ja, irgendwo im Winzelwalde.«

Wieder faßte Robert den Arm des Schauspielers:

»Was sagen Sie da? Was ist geschehen? Ist die Baronin von Poppen tot?«

Julius Schminkert schüttelte den Kopf:

»Apoplektische alte Dame – Kronenstraße Nummer fünfzig – Schlaganfall. Als ich die Ehre und das Vergnügen hatte, aus der Heimat zu verduften, vegetierte sie noch.«

»Ihr Sohn? Ihr Sohn?« rief Robert Wolf, auf den Füßen schwankend. »Leon von Poppen – wo ist ihr Sohn Leon?«

»Der Racker!« schnarrte Julius Schminkert grimmig, doch setzte er sogleich besänftigend hinzu: »Na, da er die Suppe, die er sich einbrockte, ausgelöffelt hat, so wollen wir weiter nichts mehr darüber sagen. Mortuus est – mausetot!«

Wenn auf Joseph Leppels transatlantischem Universal-Riesen-, -Roß- und -Alligator-Theater Hamlet der Däne den Schädel Yoricks des Spaßmachers wog und seinen einstigen Hirngehalt taxierte, so nahm er ganz die unmögliche Stellung an, in welcher Julius Schminkert sich der letzten tragischen Nachricht entäußerte. Die Nachricht konnte dadurch aber nichts von ihrer Wirkung verlieren.

»Steht fest, Mann!« rief der Hauptmann von Faber; aber Robert Wolf saß bereits auf seinem Bette.

»Ja, es ist furchtbar, das Blut eines Nebenmenschen auf der Seele zu haben«, sprach Schminkert hohl.

»Sie – Sie haben –«

»Nein, mein Sohn Robert, das doch nicht. Ich habe ihm bloß eine seiner Unverschämtheit angemessene Tracht Prügel gegeben. Gehauen habe ich ihn, bis er kein Glied mehr rühren konnte; aber im Grunde meiner Seele bin ich doch ein zu guter Kerl, um meine Kompetenz als beleidigter Ehemann so weit zu überschreiten. Höchst tragische Geschichte – Stoff zu einem Dutzend Trauerspielen. O die Handschuh, die Herrenhandschuh, die Glacéhandschuh, Robert! Wissen Sie, man probiert so lange, bis sie passen. Fluch und Verdammnis! Hohngelächter der Hölle –«

»Ruhe, Ruhe, Robert!« rief der Hauptmann von Faber. »Und Sie, Schminkert«, wandte er sich dann an den leichtfertigen Deklamator, »ich bitte Sie jetzt inständigst, ernste Sachen ernst zu behandeln. Sie kennen die Verhältnisse Wolfs; Sie wissen, wie sehr er bei dem, was Sie uns zu erzählen haben, beteiligt ist; – wenn Sie sein Freund sind, so reden Sie wie ein Mann und nicht wie ein Tollhäusler.«

»Ich bin sein Freund! Habe ich ihn nicht miterzogen? Habe ich nicht seine ersten Schritte auf dem Pflaster großstädtischen Lebens gelenkt? Aber ich will Ihnen den Gefallen tun, Hauptmann; ich will ruhig sein, ruhig trotz aller wogenden Weltmeergefühle. Setzen Sie sich, Kapitän, und beantworten Sie mir gefälligst die Frage: Sind Sie Vater? Haben Sie einen Sohn?«

»Nein, bei allen Teufeln, nein, nein!« ächzte Konrad von Faber.

»Gut, Sir; wenn Ihnen aber einmal einer vom Himmel geschenkt werden sollte, so nennen Sie ihn um des Himmels willen nicht Julius. Ich habe manchen Julius gekannt; aber nicht einen, welcher nicht zum ungeheuerlichsten Pech prädestiniert gewesen wäre. Überall, wo sich die Juliusse hinsetzen, bleiben sie kleben. Wo alle Friedriche, Heinriche, Roberte, Konrade und so weiter frei durchgehen, da bleiben die Juliusse neunmal unter zehnmal hängen und lassen Haare und Wolle. Wenn ein Frauenzimmer: mein Karl! ruft, so kann es das so gefühlvoll und pathetisch tun, wie es will; wenn es aber schmelzend: mein Ju-lius! lispeln soll, so weiß es recht gut, daß es Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen, und – akzentuiert danach. Es ist ein Jammer, und ich – ich Julius Schminkert – trage diesen Jammer seit meiner Taufe. Ein Julius sollte niemals heiraten; denn jeder Laffe glaubt das Recht zu haben, ihn an der Nase herumzuziehen. O Gentlemen, was habe ich ertragen, ehe ich den Glauben an mein häusliches Glück aufgab und nach dem Knüppel griff! Wie lebte ich so harmlos, so heiter in jenen seligen Tagen der Jugend, wo ich nur die Weiber, nicht aber mein Weib vergötterte. Alles, was man mir borgte, nannte ich mein; – Robert, Sir, Sie wissen es ja, welch ein idyllisches Stilleben wir führten, Musikantengasse Nummer zwölf – drei Treppen – hinten heraus. Ach Angelika, Victoria regia der Treulosigkeit, weshalb mußte sich der arme Julius auf die Nadel deiner Liebenswürdigkeit spießen? ... Meine Herren, Sie wissen, daß ich die Person heiratete, Sie wissen, daß die Kunst mich schluchzend aus ihren göttlichen Armen losließ, Sie wissen, daß ich – ich Julius Schminkert –, die Blüte meines Wesens und Seins knikkend, mich zu einem Seifen-, Parfümerie-, Hauben-, Handschuh- und Bänderladen entwürdigte. Ich habe gebüßt, meine Herren! Es liebt zwar auch die Welt, das Strahlende zu schwärzen; aber hier hatte das Strahlende mutwilligerweise sich selbst die Nase begossen, und alle Seife der Stibbe-Schminkertschen Bude reichte nicht aus, den Dreck abzuwaschen. Auf Ehre, Wolf, sogar der Eselhafteste aller Esel, Schwebemeier aus der Lilienstraße, wagte es ungescheut, vor meinen Augen meiner Frau den Hof zu machen! Meine Herren, ich habe gebüßt, wahrhaftig, ich habe gebüßt. Referendare, Studenten, Offiziere von der Linie und von der Garde – Infanterie, Kavallerie, selbst das ehrbare Geniekorps – alles, alles machte sich ein Vergnügen daraus, mich zur Raserei zu bringen. Und um das Maß meines Elends voll zu machen, zog gegenüber Fräulein Aurora Pogge – Sie wissen, Robert! – ein, faßte Posto am Fenster und grinste mich hinab in den tiefsten Abgrund des Menschenhasses. Die Megäre hatte der Tagebücher neue Folge begonnen, über alles, was in meinem Laden ein und aus flatterte, hielt sie in gewohnter Art Buch, und so notierte sie auch den Baron Leon von Poppen. Man munkelte über den Schlingel allerlei in der Stadt; seine Verheiratung mit Fräulein Wienand war verschoben; die Kleine erblickte man nirgends mehr, man sagte, sie sei bedenklich krank, spucke Blut, leide an der Leber –«

Der Hauptmann von Faber hielt den armen Robert nieder:

»Ruhe, Ruhe, mein Junge, laß den Narren ausschwatzen!«

»Leide an der Brust und dergleichen«, fuhr Schminkert fort, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Der Herr Kommerzienrat hatten infolge der politischen Verhältnisse wieder mal mancherlei Verluste erlitten. Man wußte nicht recht, ob er sich von dem Freiherrn oder ob der Freiherr sich von ihm zurückgezogen habe. Man wollte auch wissen, es sei wieder nicht so ganz richtig im Kopf des armen Herrn. Freifräulein von Poppen waren wieder wie früher täglicher Gast in dem Hause des Bankiers. Es war alles in allem eine dunkle Geschichte, und nur das eine stand für mich fest, daß der Junker Poppen mehr Eau de mille fleurs von meiner Frau kaufte, als selbst ein lieblichst zu duften wünschender Bräutigam und das Näschen der Braut konsumieren konnten. Fräulein Aurora Pogge notierte jedes Flakon und lächelte mich fast aus meiner Haut heraus; ich hätte sie aus der ihrigen heraus prügeln mögen. Klar fühlte ich, daß ich verloren sei, wenn ich nicht eine große Tat tue; – ich tat sie und – legte mich auf die Lauer. Wo, wie und um welche Zeit, will ich den Herren lieber nicht mitteilen, es könnte ihr Zartgefühl beleidigen; genug, es fand eine melodramatische Szene voll überwältigender Motivierung und schlagender Wirkung statt. Die rührenden Klagen der beiden unheilerduldenden Charaktere der Handlung brachten die ganze Nachbarschaft herbei, und unter andern erschien auch auf dem Schauplatz das junge Ehepaar aus dem ersten Stock, Herr von Bärenbinder mit seiner Frau, einer geborenen Flöte; und es zeigte sich, daß die gnädige Frau eine recht gute alte Bekannte des Barons Leon von Poppen war. Sehr delikate Beziehungen – ungemeine Verwunderung, sich in solcher Situation einander gegenüber zu finden. Auch die Frau Schwiegermama des Herrn von Bärenbinder, Madame Artemise von Flöte, kam die Treppe herunter, und da sie mit ihrer Tochter sich auf meine Seite stellte, so konnte der Herr Schwiegersohn nicht umhin, dasselbe zu tun. Was am folgenden Tage, als der Skandal die Mäuler der Leute füllte, die beiden ritterbürtigen Herren für Komplimente ausgetauscht und welche Enthüllungen sie sich gemacht haben, kann ich nicht sagen. Die Folge davon war jedoch ein Duell, in welchem Leon von Poppen eine Kugel in den linken Lungenflügel bekam und infolge dessen Herr von Bärenbinder mit Gemahlin und Schwiegermutter in Italien reist. Die Leute können es! Meine Herren, und wenn Sie mich umstülpen, mehr weiß ich nicht zu sagen; denn nachdem ich mich mit meiner eigenen Gattin so gut oder vielmehr so schlecht wie möglich auseinandergesetzt hatte, erhob ich mich auf den Schwingen freien Menschtums nach Hamburg, löste ein Passagierbillett im Zwischendeck der Hammonia, lernte die Schrecken der Seekrankheit kennen, aber verlor gottlob den unausstehlichen Duft der Seifen und Pomaden aus der Nase. In New York betrat ich, ein neugeborener Mensch, den Boden der Freiheit, und Fortuna, gerührt durch meines Geistes Heldengröße, drehte ihre Nachtseite einem andern zu und zeigte mir ihr holdes Angesicht. Signor Giuseppe Leppelli – ein recht guter alter Bekannter Eures seligen Bruders, Wolf, beiläufig gesagt –, Signor Leppelli erkannte in mir den Verkannten, das Talent, den Diamant, kurz, den Mann, den er brauchte auf einer Tour nach dem Westen! Er engagierte mich, und hier sind wir in Saint Louis und tragen im Schweiße unseres Angesichts die Kultur, die göttliche Kunst unter die Söhne der Wildnis. Meine Herren, ich habe die Ehre, das unübertroffene, alles übertreffende halb Pferd-, halb Alligatoruniversaltheater Ihrer günstigen Protektion zu empfehlen. Morgen abend: ›Fiesko oder die Verschwörung von Genua‹. Fiesko: Herr Julius Schminkert; Verrina: Herr Joseph Leppel; Julia: Mistress Julia Leppel, Kraftstück derselben, ausgeführt mit dreihundert Pfund Übergewicht! Bum, bum!«

Robert Wolf und Konrad von Faber hörten schon längst nicht mehr auf den Redeschwall des Schauspielers.

»Mit dem nächsten Dampfer nach New Orleans, Hauptmann! Hauptmann!« murmelte Robert, mit zitternder Hast seine Sachen zusammensuchend, als wolle und müsse er auf der Stelle aus dem Fenster des »Vater Rhein« auf eins der Mississippidampfschiffe steigen. Faber hatte die größte Mühe, den Aufgeregten nur ein wenig zu beruhigen, und noch dazu hinderte ihn Julius Schminkert nach allen Kräften daran. Da der treffliche Tragöde in seinem Heimwesen von niemand erwartet wurde, so zeigte er die größte Lust, den Landsleuten die ganze Nacht hindurch seine angenehme Gesellschaft zu gönnen. Aber der Hauptmann von Faber schob ihn halb freundschaftlich, halb mit Gewaltanwendung aus der Tür und schloß sie hinter ihm ab. Wir wissen, daß ihm solches öfters geschah, und so machte er sich nicht viel daraus, obgleich er auf dem Gange fürchterlich räsonierte und im hohen Tone von Menschenwürde, Bürgerwürde und Künstlerwürde sprach. Seine Stimme verhallte in der Entfernung und wird fürder in diesem Buche nicht wieder gehört werden; er hatte ja auch seine Sterne, und sie sorgten recht gut für ihn.

Von den Sternen sprachen in dieser Nacht Konrad von Faber und Robert Wolf noch vieles und Ernstes; Schlaf kam nicht mehr in ihre Augen. Aus dem wenigen, was Robert über Helene und ihren Vater erfahren hatte, wuchsen viel dunkle Sorgen, aber auch viel lichte Hoffnungen in der Brust des Liebenden auf; Ruhe gab es für ihn nicht eher, bis er die Heimat erreicht hatte.

In der Frühe des nächsten Morgens schon befanden sich die beiden Reisenden auf der Fahrt den großen Fluß abwärts. Das gewaltige Vorwärtsstreben des schnaubenden, keuchenden Schiffes genügte Robert nicht. Ihm hätte jetzt weder der Zaubermantel Mephistos noch das geflügelte Wunderroß des Zauberers aus dem Orient Genüge geleistet.

In New Orleans brachte der Hauptmann seinem jungen Freunde ein acht Wochen altes deutsches Zeitungsblatt; der Bankerott und Konkurs des Bankierhauses Wienand wurde in demselben den Gläubigern angezeigt, mit dürren, juristischtrockenen Worten. Von dem Bankier selbst stand in dem löschpapiernen Blatte nichts, wohl aber machte etwas weiter unten in demselben Blatte der Rechtsanwalt Dr. jur. Otto Krokisius zu Löffelhofen vor dem Winzelwald bekannt, daß er mit dem Verkauf des subhastierten Freiherrlich von Poppenschen Gutes Poppenhof beauftragt sei und daß der Verkaufstermin auf den fünften November des Jahres festgesetzt sei.

»Ich könnte dir jetzt ziemlich klar an den Fingern herzählen, was du drüben finden und tun wirst, mein Junge«, sagte der Hauptmann, »aber ich will es nicht; die Sterne reden deutlich genug. Grüße die Freunde, und wenn du ruhig genug geworden bist, so gedenke du auch meiner. Ich hoffe fest, daß wir uns jetzt nicht zum letztenmal die Hand drücken. Wie es aber auch komme, wir wollen den Sternen glauben in der guten wie in der bösen Stunde. Lebt wohl, Sir!«

Lebewohl winkte Robert vom Schiff. Über die Wellen, über die Wellen! Schnell war das Schiff, schnell zogen die Wolken; aber viel, viel schneller waren die Gedanken, die nach dem Heimatlande jagten und Schiff, Wolken, Vögel, Schall und Licht weit, weit hinter sich zurückließen.

»Ich werde mich die nächste Zeit hindurch ziemlich einsam fühlen. Das ist ein guter Junge und war ein wackerer Wegkamerad«, brummte Konrad von Faber, als er die Levée herabschritt. Im Gewühl der Farbigen und der Weißen verliert sich seine hohe Gestalt; wir sehen auch ihn nicht wieder. Aus unserm Gesichtskreis schreitet er hinaus, aber günstig sind ihm die Sterne; niemals hat ein Wanderer auf der Erde die Kunst primo vivere, deinde philosophari, die Kunst, erst zu leben und dann das Erlebte geistig zu verdauen, mit so guten Beinen und wakkern Muskeln vereinigt wie der Hauptmann außer Dienst, der gute, tapfere und treue Ritter Konrad von Faber. Wir wünschen ihm schon des herzerfrischenden Exempels wegen, welches er uns gibt, ein langes, fröhliches Leben. Möge er dann dereinst in seinen Stiefeln sterben! Ein zweiter Wunsch, mit welchem wir seine Meinung zu treffen gedenken.

Vierunddreißigstes Kapitel Juliane, Freifräulein von Poppen, setzt wieder einmal ihren Willen durch. Das Geschlecht derer von Poppen kommt auf den Hund

Es gab vielleicht in der ganzen Stadt keine Uhr, welche so richtig ging, so ängstlich pünktlich Sekunden und Minuten zeigte, so unerbittlich jede Viertelstunde mit schrillem Klang von der Ewigkeit abzog, als die Uhr in der Halle des Zentralpolizeihauses. Sie lief nicht vor, sie blieb nicht zurück; erbarmungslos zerhackte sie die Zeit in die möglichst kleinsten Bruchteile, das Sonnenjahr in zweiunddreißig Millionen Sekunden; und wenn manch einem armen Teufel auf dem Armensünderbänkchen oder im Vorzimmer die Sekunde sich wieder zu einem Jahr ausdehnte, so war der Uhr das ganz gleichgültig. Sie lief nicht vor, sie blieb nicht zurück; ihre Schuld war es nicht, wenn andere vorliefen oder zurückblieben, dem Vordermann auf die Hacken traten oder vom Hintermann in den Rücken geknufft wurden und somit auf die eine oder die andere Weise Gelegenheit bekamen, im Zentralpolizeihause das richtige Maß der Zeit sich in anima vili demonstrieren oder es dem lieben Nächsten vor die Seele führen zu lassen.

Die hohe Sicherheitsbehörde, welche als Gesamtheit von je eine sehr gute Meinung von sich selber gehabt hat, war natürlich überzeugt, so richtig zu gehen wie ihre Uhr, und verbat sich jeden lauten Zweifel daran aufs nachdrücklichste. Was der Rat Tröster, der Sekretär Fiebiger, der Wachtmeister Greiffenberger als Einzelwesen davon hielten, das stand auf verschiedenen Blättern. Daß der zweitgenannte Herr über viele, allgemein als unumstößlich festgestellte Glaubensartikel seine Privatansicht hatte, wissen wir, und so müssen wir leider sagen, daß er auch von der Uhr vor der Tür des Büros Nummer dreizehn eine sehr üble Meinung hatte. Gern hätte er sie verachtet; aber da sie ihm nicht die mindeste Ursache dazu gab, so haßte er sie grimmig und erklärte sie für das niederträchtigste Institut, welches je im Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit die Menschen geelendet habe; beiläufig ganz die nämliche Meinung, welche er von der Behörde hatte, der er angehörte.

Greiffenberger, der Wachtmeister, besorgte mit wahrhaft entsetzlicher Pünktlichkeit das Aufziehen des exakten Mechanismus und vergaß es seit jenem Herbstabend, an welchem unsere Geschichte ihren Anfang nahm, nicht ein einziges Mal. Ticktack – ticktack – Tag für Tag – ticktack, ticktack bei gutem wie bei schlechtem Wetter – ticktack, ticktack, wenn der Polizeischreiber seinen Hut am Morgen an den Nagel hing und stöhnend sich auf sein Dreibein setzte – ticktack, ticktack, wenn er am Abend seufzend die Feder ausspritzte und seinen großen Folianten zuschlug. Es war eine erbarmungslose Uhr; durch nichts ließ sie sich aus dem Takte bringen – ticktack, ticktack immerzu, es mochte in der Welt, im Büro Nummer dreizehn, im Gehirn des Polizeischreibers Friedrich Fiebiger vorgehen, was da wollte.

Und es ging so mancherlei in der Welt, in der Polizeistube und im Herzen und Gehirn des Polizeischreibers vor. Kronen wackelten auf den Köpfen ihrer Träger; viel Heulen und Zähnklappen wurden im Büro dreizehn vernommen. Fritz Fiebiger sah seinen Zögling in die Ferne ziehen und trug manchmal nicht leicht an seiner Sorge um ihn; – Baron von Poppen wurde vom Herrn von Bärenbinder erschossen, Kommerzienrat Wienand verlor sein Vermögen und klopfte irrsinnig in einer wilden Nacht an die Tür des Sternsehers Heinrich Ulex.

Ticktack, ticktack, ticktack, immerzu, immerzu! Auch die Uhr in der Tasche des tödlich Verwundeten auf dem Schlachtfelde pickt weiter, die Fliegen am Fenster summen lustig fort, während im Nebenzimmer ein geliebtes Wesen mit dem Tode ringt. –

Der Rat Tröster, bedeutend weißköpfiger als zu Anfang dieser Geschichte, legte bei hereinbrechender Dämmerung die Feder nieder und blickte auf seinen Untergebenen, dem eben ein tiefer Seufzer entfuhr.

»Haben Sie noch immer keine Nachricht von Ihrem Pflegesohn, Fiebiger?«

Der Angeredete schüttelte den Kopf:

»Seit er mir den Tod der Frau seines Bruders meldete, nicht. Unsere Briefe scheint er nicht erhalten zu haben. Wer weiß, was aus dem Jungen geworden ist, in welche Patsche ihn der Hauptmann von Faber geritten hat. In der Stimmung, in welcher er gewesen ist, hat er sich natürlich mehr als gern Hals über Kopf in jede Gefahr hineingestürzt, und so ist er drin steckengeblieben – skalpiert – aufgefressen – was weiß ich! Und es könnte sich jetzt alles hier so schön machen. Alles in Ordnung. O mein Junge, mein armer lieber Junge!«

»Beruhigen Sie sich, Alter. Wer weiß denn, ob wir uns nicht ganz unnötigerweise Sorge machen. Unser Herr von Faber ist ein sehr bekannter Mann, und wir würden gewiß Näheres erfahren haben, wenn ihm oder seiner Begleitung ein Unglück widerfahren wäre.«

Der Polizeischreiber entnahm der Bemerkung des Vorgesetzten allen Trost, welcher darin lag, aber behielt Kummer genug auf der Seele, um abermals recht tief zu seufzen.

Die Uhr draußen schlug sechs; Fiebiger zählte jeden Schlag nach, und der Rat benutzte die Gelegen heit, um zu bemerken:

»Die Zeit geht doch recht rasch hin. Es ist mir wie gestern, als der junge Mensch dort stand und Sie die Absicht äußerten, ihn zu adoptieren. Ich warnte Sie gleich und verhehlte Ihnen meine Meinung, daß Sie sich dadurch viel Sorge aufladen würden, nicht. Da auf der Bank saß Faber und machte seine Bemerkungen nach seiner Art; wir trafen uns nachher bei dem Bankier Wienand, und wenn ich nicht irre, war auch dort viel die Rede von Ihrem Pflegesohn, Fiebiger. Du lieber Himmel, wie sich doch die Verhältnisse ändern! Wie geht es denn dem armen Wienand?«

Der Schreiber zuckte die Achseln und sagte dann:

»Er sieht nach den Sternen! O Herr Rat, es gibt viele ernste Dinge, an denen ein gutes Auge endlich doch eine komische Seite herausfindet; hier würde das schärfste Auge danach vergeblich suchen. Wir sehen hier an dieser Stelle den Vorhang über manch ein Trauerspiel fallen; aber feierlicher, eindringlicher, wuchtiger ist niemals die Moral am Schluß eines Stückes verkündigt worden. Ja, der große Geldmann Wienand sieht nach den Sternen! Eine Rolle macht er sich täglich aus einem Papierbogen und hält sie irrsinnig vor das Auge; nur einen einzigen Menschen kennt er noch und klammert sich an ihn mit der fürchterlichen Angst des Wahnsinns. Auf den Giebel des Sternsehers Heinrich Ulex hat er sich geflüchtet; da sitzt er und hält die Hand des Weisen – o tragisch, tragisch, tragisch!«

Seufzend sagte der Polizeirat:

»Ja, Sie haben recht, Fiebiger, es ist eine tragische Geschichte. Es war ein so scharfer Mann, wir haben so manchen Robber zusammen gemacht – wer mir das damals gesagt hätte! Und nun sitzt er beim alten Ulex im Nikolauskloster und sieht mit dem närrischen Träumer durch eine Papierrolle nach den Sternen. Es ist wirklich ungemein traurig.«

»Merkwürdig traurig«, brummte Fritz Fiebiger, mit einem Blick auf seinen Chef, durch welchen er nur sagen konnte: ›Traurig aber auch, daß an der Welt doch Hopfen und Malz verloren ist. Was helfen euch Exempel, die ihr nicht versteht? Blausäure muß euch unter die Nase gehalten werden!‹

»Und das Fräulein Wienand hat jetzt vollständig seinen Aufenthalt bei dem Freifräulein von Poppen genommen?« fragte der Polizeirat.

»Vollständig. Wohin sollte das arme Kind, die Tochter des irrsinnigen Bettlers, sonst auch gehen?«

»Trübselige Verhältnisse!« meinte kopfschüttelnd der Rat. »Wir können sie leider nicht ändern. Expedieren Sie dieses an den Revierleutnant Kirre.«

Das Gespräch schloß, der Polizeischreiber Fiebiger expedierte, die Uhr in der Halle zerhackte gnadenlos noch eine Stunde. Nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät zeigte sie den Beamten in den dunkeln muffigen Stuben an, daß sie gehen könnten, und nachdem sie das getan hatte, hackte sie weiter im Interesse der Wachen und der Gefangenen.

Ein trockenes Wehen, welches seinen Ursprung fern im Osten, in den Steppen Rußlands genommen hatte, schien sich sehr für die Rockschöße des Polizeischreibers zu interessieren, als er durch die Straßen schritt; kosend hob es sie auf, überzeugte sich, daß nicht viel darunter sei, und ließ sie wieder fallen, vergaß im nächsten Augenblick, daß es nichts von Bedeutung gefunden hatte, und wiederholte das Spiel. Der Himmel war klar, der Abend hell. Nicht sehr weit von dem Polizeigebäude schlossen sich zwei Frauen dem Schreiber an; eine alte kleine lahme Dame in schwarzer Seide und ein junges Mädchen.

Die alte Dame mit der Krücke sagte:

»Heute mittag ist sie gestorben.«

Und der Polizeischreiber Fiebiger fragte nicht, wer gestorben sei, sondern sprach nur einfach:

»Es ist gut, daß es vorüber ist; möge ihr die Erde leicht sein!«

Wir, die wir mit Konrad von Faber und Robert Wolf Gold in Kalifornien gegraben haben, die wir dann mit den beiden vom Stillen Ozean bis zum Mississippi geritten sind, wir finden uns natürlich nur ganz allmählich in den Vorgängen der Heimat zurecht und erfahren erst nach und nach, wie die Fäden auch hier weiterliefen.

Die Baronin Viktorine von Poppen, geborene von Zieger, war in den Armen des Freifräuleins Juliane von Poppen gestorben.

Nach dem traurigen Ende Leons hatte das Freifräulein durch den Medizinalrat Pfingsten, und auf andere Weise, verschiedene Versuche gemacht, sich der unglückseligen Schwägerin zu nähern. Diese Versuche mißlangen jedoch alle. Auf die zugleich harte und apathische Natur Viktorines konnte das Unglück nicht mildernd wirken. Es lag leider viel Tierisches in dem Charakter der armen Frau, und wie ein verwundetes Tier gebärdete sie sich, nachdem der vernichtende Schlag gefallen war. Bald lag sie stumpfsinnig regungslos da, bald biß und schnappte sie um sich und erfüllte das Gemach mit Klagen, deren Laut fast nichts Menschliches mehr an sich hatte. Sie lästerte Gott und die Menschen; ohne die Dazwischenkunft des Medizinalrats hätte sie eines Morgens die Frau von Schellen, die ihr mehr neugierig als mitfühlend einen Besuch abstattete, fast umgebracht. Ihre Dienstboten hielten es nur bei ihr aus, weil sie im Hause schalten und walten konnten, wie sie wollten, und trefflich in dem jetzt völlig herrenlosen Hause im trüben fischten.

Eines Tages trugen Baptiste und Elise die besinnungslose Baronin von ihrem Diwan ins Bett, es wurde noch eine Wärterin gerufen, und Pfingsten brachte einen so trostlosen Bericht über die Lage der Dinge zu dem Freifräulein, daß dieses noch einmal einen Versuch machte, in das Haus in der Kronenstraße einzudringen. Wieder vergeblich. Beim Anblick der Schwägerin geriet die Kranke in einen solchen Wutanfall, daß der Medizinalrat das Freifräulein schleunigst aus dem Zimmer drängen mußte. Monatelang blieb es so, und Juliane von Poppen litt sehr dabei. Niemals hat eine ausgeschlossene Seele die Pforte des Himmels mit verlangenderen Gedanken belagert als das Freifräulein die Tür der Nummer fünfzig in der Kronenstraße. Erst in der letzten Stunde, am Abend des gestrigen Tages, sollte sie Einlaß finden. Gestern abend führte der Polizeischreiber das Freifräulein und Helene vom Turm des Sternsehers heim, und wieder schritten sie durch die Kronenstraße.

Schwer seufzte Juliane, als sie sich der Wohnung der Schwägerin näherten, und zog ihren Arm aus dem des Schreibers.

Dunkel und stumm, öde und leer lag das Haus des Bankiers Wienand; vor der Tür der Nummer fünfzig lehnte flegelhaft frech Herr Baptiste und unterhielt sich lachend mit einem gähnenden Standesgenossen.

Das Freifräulein stand still:

»Was macht die Frau Baronin?«

Baptiste sah aus, als ob er am liebsten eine unverschämte Antwort geben würde, bezwang sich jedoch, neigte ein wenig das Haupt und antwortete:

»'s steht nicht gut. Der Herr Medizinalrat waren vorhin wieder da, gaben aber wenig Hoffnung.«

»Friedrich«, rief Juliane von Poppen, »ich ertrage es nicht länger. Ich will es noch einmal versuchen, sie zu sehen. Führen Sie das Kind nach Haus – o Gott, ich werde wahrscheinlich bald genug nachkommen.«

Sie setzte den Fuß auf die Treppenstufe, und großer Selbstbeherrschung zeigte sich Baptiste fähig, als er ihr Platz machte. Der drohend erhobene Krückstock tat freilich das Seinige dazu. Die Tür schloß sich hinter dem Freifräulein und dem Bedienten, und Juliane kam nicht zurück. Nach einer Stunde sandte sie nach ihrer Wohnung am Schulplatz und ließ sagen: Fräulein Helene möge sich zu Bett legen und nicht warten, Fräulein von Poppen werde in dieser Nacht nicht heimkehren.

Als Juliane in das Haus ihrer Schwägerin eintrat, schreckte sie zusammen unter dem feuchtkalten Hauch, der ihr entgegenschlug. Es war totenstill darin. Die Köchin war zu einer Freundin gegangen, weil ihr daheim graute. Baptiste verlor sich in den untern Räumen des Gebäudes, ohne sich weiter um die Eingetretene zu kümmern. Er hatte die Kellerschlüssel in seines seligen Herrn Schreibtisch gefunden – ihm graute nicht. Langsam hinkte Juliane die Treppe hinauf, und krampfhaft fest faßte sie ihren Krückstock, als sie auf einmal aus einem Winkel ein klägliches Winseln vernahm. Das war nur der Schoßhund der Baronin, welchen die Kammerjungfer aus dem Zimmer ihrer Herrin geworfen hatte und langsam verhungern ließ. Matt, den Leib auf dem Boden hinschleifend, kroch das arme Geschöpf hervor, als wolle es Barmherzigkeit und Hülfe von der fremden Frau erbitten. Jetzt konnte das Freifräulein nicht darauf achten, obgleich ihr das Tier unendlich leid tat. Ein niederbrennendes Licht war auf den Fußboden im ersten Stock dicht an die oberste Treppenstufe gestellt und erfüllte den Korridor mit übelriechendem Qualm. Allerlei gebrauchtes Gerät, Schüsseln, Teller, Gläser samt einem Haufen schmutziger Wäsche versperrten die Tür, die in das Gemach der Baronin führte. Das Freifräulein schritt darüber fort und öffnete die Tür. Kein Laut! Die Lauscherin drückte die Hand auf das Herz, sie stand mitten im Zimmer. Die Fenstervorhänge waren niedergelassen, die gegenüberliegende Tür stand halb offen, und hinter den Portieren hervor drang mit dem Dunst der Krankenstube ein matter Schein. Dieser schwächliche Schimmer und das Licht, welches die Straßenlaternen draußen gaben, erhellten allein das erste Gemach, über dessen weichen Teppich Juliane jetzt unhörbar hinschritt. Wir kennen das Zimmer. In jenem Lehnstuhl hatte sich Leon gestreckt und gedehnt, wenn er seine Mutter durch seine Scherzreden quälte. Auf jenem Diwan hatte Viktorine von Poppen ihre Tage halb verschlummert, halb verwimmert. An jenem Tisch hatte Frau von Eichel gewitzelt, Frau von Flöte gefrömmelt, Lydda von Flöte gezimpert. Über tausenderlei Nippsächelchen und Spielereien streifte das unbestimmte Licht, und mit einer unbeschreiblichen stolzen, fast wilden Handbewegung wies das Freifräulein Juliane von Poppen, die Letzte ihres Geschlechts, diese ganze jämmerliche Welt von sich, als sie den Vorhang faßte, welcher sie von dem Sterbebett der Baronin trennte.

Noch einmal stand sie still und beobachtete, ehe sie eintrat, und wieder drückte sie die geballte Hand auf die Brust.

Elise, die elegante Kammerjungfer, hatte die beiden Fußlichter an dem großen Toilettenspiegel angezündet, betrachtete ihre liebenswürdige Figur holdlächelnd vom Kopf bis zu den Füßen und rückte zu gleicher Zeit das kokette Häubchen zurecht. Am Ofen rührte die Krankenwärterin, Frau Rosenmeier, nachlässig in einem Töpfchen; die Kranke stöhnte auf ihrem Lager, aber keines der beiden Frauenzimmer achtete im mindesten darauf.

»Wasser, Wasser! Gebt mir doch Wasser!« ächzte Viktorine von Poppen.

»Gleich, Frau Baronin!« brummte schnaufend die dicke Madam am Ofen.

»Gleich, gleich, gnädige Frau!« lispelte geziert am Spiegel Mamsell Elise, ohne sich umzuwenden.

Auf ihrem heißen Lager warf sich die Kranke hin und her. Ihre fieberglühenden schwarzen Augen leuchteten verzweifelt, unheimlich in dem dämmerigen Winkel, wo das Bett stand.

»Zu trinken! Oh, ihr laßt mich verbrennen!«

Es dauerte noch eine geraume Zeit, ehe sich eins der Weiber herbeiließ, der armen Frau das Glas an die Lippen zu halten. Die Lauscherin hinter dem Vorhang zerbiß fast die Lippen vor Wut.

Auf ihrer Decke, in ihren Kissen herum griff die Kranke.

»Ich liege so schlecht – das ist wie Stein – o Elise, so komm doch – Frau Rosenmeier! – Elise, Elise!«

»Gleich, gnädige Frau, gleich!« kreischte die Kammerzofe, und die Wärterin stürzte auf das Bett zu, schüttelte auf die roheste Weise die Kissen auf, warf die Decke zurecht und behandelte die Leidende nicht anders als ein fühlloses Stück Holz.

»Leon, Leon, hilf deiner armen Mutter! Wo bist du, Leon?« rief die Kranke im Fieberwahn, unter den rohen Fäusten sich sträubend. »Elise, Elise, ich schenke dir meine rote Samtmantille, wenn du mir hilfst. O sei nicht böse, Elise, schicke diese weg; ich will dich auch niemals wieder schelten, gewiß niemals! Bitte, bitte, bitte!«

Mamsell Elise winkte der Wärterin und hauchte:

»Aber Rosenmeiern, was machen Sie denn? Sehen Sie denn nicht, daß die gnädige Frau das so nicht leiden kann – mein Gott, wie gemein.«

Dabei ließ sich die Kreatur affektiert seufzend in eine Causeuse sinken; aber jetzt zerriß auch die Portiere in der krampfhaft zitternden Hand des Freifräuleins, zur Seite flog der Vorhang, und so unvermutet erschien Juliane in der Tür, daß die Kammerzofe im jähesten Schrecken mit abwehrenden Händen in die Höhe fuhr, daß die Wärterin die Tasse, welche sie eben zum Munde führen wollte, fallen ließ. Von ihrem Pfühl hob sich die Kranke und schrie:

»Da, da – da ist sie, ich fürchte mich nicht mehr vor ihr! Juliane, Juliane, komm her, du sollst das letzte Wort haben. Komm herein, du lebst, und ich muß sterben. Treibe die weg – die, die! Sie wollen mich umbringen. Jage sie fort, komm herein – bald – morgen, wirst du ja doch kommen, und ich werde es dir nicht wehren können!«

An die Hand ihrer Schwägerin klammerte sich die sterbende Viktorine, und mit der gewohnten Energie bemächtigte sich Juliane sogleich der Herrschaft über das Krankenzimmer. Sie hatte ritterlich schon wildere Geschöpfe gebändigt, als die Kammerzofe und die Wärterin waren, und so bezwang sie auch diese beiden Tiere. Die ganze Nacht saß sie am Bette der Verwandten, und die Baronin regte sich nicht, sondern starrte immer nur ganz fest auf die kleine schwarze Gestalt, das verrunzelte Gesicht, die spitze Nase. Gegen Morgen schlief die Kranke ein und erwachte erst, als die Sonne in das Fenster schien.

Das Freifräulein beugte sich dann über die Kissen der Leidenden und sagte freundlich und liebevoll:

»Guten Morgen, Viktorine, Sie haben einen gesunden Schlaf getan, und ich habe Sie gut bewacht. Sie zürnen mir doch darum nicht?«

Viktorine von Poppen gab keine Antwort. Sie warf die Arme unruhig umher, sie fuhr mit den Händen über das Gesicht, als wolle sie allerlei böse Gedanken von sich scheuchen.

Mit ihrer sanftesten Stimme fuhr Juliane fort:

»Bitte, bitte, liebe Viktorine, dulden Sie mich so lange um sich, als Sie krank sind. Vergessen Sie, was zwischen uns gelegen hat. – Sind Sie durstig? Hier – nehmen Sie sich Zeit. – Liebe Viktorine, sobald Sie wieder gesund sind, mögen Sie mich fortschicken. Sie liegen nicht gut, warten Sie, ich will Ihre Kissen zurechtlegen!«

Die Kranke ließ wie ein Kind alles mit sich geschehen, immer noch starrte sie das Freifräulein an; aber sie murmelte dabei fort und fort den Namen Juliane. Da trat die Kammerzofe in das Zimmer, und hinter ihr erschien die unförmliche Figur, das rote gemeine Gesicht der Wärterin. Beim Anblick dieser beiden Personen warf Viktorine beide Arme um den Hals der Schwägerin und rief in höchster Angst:

»Ich bitte dir alles ab! Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht! Ich bin schlecht gegen dich gewesen und Leon auch. Leon ist tot, o verlaß mich nicht – geh nicht von mir, solange ich noch lebe. Ich will dir alles abbitten. Schicke die fort, jage sie aus dem Hause; ich bitte dir alles ab.«

Das Freifräulein zwang sich, heiter zu lachen, obgleich sie blutige Tränen hätte weinen mögen.

»Du hast mir gar nichts abzubitten, liebe Viktorine. Du hast mir nicht mehr Püffe gegeben, als ich dir gab. Und wenn du es willst, so sollen die beiden auf der Stelle dein Haus verlassen. Ich bleibe bei dir; habe keine Angst. Um Gottes willen – Sie – Weib – nach dem Doktor, nach dem Medizinalrat Pfingsten! Sie stirbt, sie stirbt!«

Noch starb die Baronin Viktorine von Poppen nicht; aber von Stunde zu Stunde wurde sie schwächer. Sie verschied erst am Nachmittag, und die Hand Julianes ließ sie bis zum letzten Augenblick nicht los. Sie starb, indem sie flüsterte:

»Ich bitte dir alles, alles ab!«

Mit zitternden Händen drückte das Freifräulein Juliane von Poppen die blinden Augen der Toten zu. Das Gericht kam und versiegelte die Zimmer des Hauses Nummer fünfzig bis auf das, in welchem die kalte starre Leiche lag. Auf diese allein machten die Gläubiger keine Ansprüche.

Tot und öde war das alte Gebäude, wie das Haus gegenüber. Baptiste und Elise zogen mit reicher Beute und dem Entschluß, gemeinschaftlich einen Viktualienkeller zu halten, ab. Viele Gläubiger waren auf die Nachricht vom Tode der Baronin herbeigeeilt, und von dem einst so stattlichen Besitz der Familie von Poppen konnte das letzte Fräulein von Poppen nur den armen, kleinen, halbverhungerten Hund nehmen. Sie trug ihn auf dem Arme fort, und dankbar winselnd leckte er ihr die Hand.

Fünfunddreißigstes Kapitel Es gewinnt den Anschein, daß die Sterne auch ihren Willen durchsetzen werden

Ausführlich und in allen Einzelheiten teilte das Freifräulein dem Polizeischreiber alle Vorgänge der letzten vierundzwanzig Stunden mit, wenn auch nicht auf dieselbe Weise, wie wir sie unsern Lesern erzählt haben. Gesenkten Hauptes ging Helene Wienand neben den beiden Alten; aber sie trug so schwer an den eigenen Kümmernissen, daß sie nur mit halbem Ohr auf die traurige Geschichte vom Ende des Hauses Poppen horchen konnte. Ihre Seele war gefangen auf dem Turme des Sternsehers Heinrich Ulex. Dort saß der kranke Vater neben dem weisen Freunde und Lehrer des verschollenen Geliebten; nur dort gab es Ruhe für sie, nur dort fand sie Trost. Die Worte des ehrwürdigen Greises hatten denselben schmerzstillenden Einfluß auf sie, dessen Macht Robert Wolf vor Jahren so sehr empfunden hatte. Verhältnismäßig heiter konnte sie nur dann sein, wenn sie im Giebelzimmer des Nikolausklosters saß, die unruhige Hand des Vaters in ihren Händen hielt, am Nachthimmel still die Sterne ihren Weg durch die Ewigkeit gingen und der Seher der kleinen ernsten Gemeinde feierlich die erhabenen Zeichen deutete, welche für alle betrübten, suchenden, zweifelnden Menschenseelen in dem unermeßlichen Raum des Weltalls geschrieben stehen.

Der Kreis um den Sternseher zog sich immer fester. Wenn in früheren Jahren die nächtlichen Zusammenkünfte der Alten aus dem Walde nur dann und wann stattgefunden hatten, so ging jetzt fast kein Abend vorüber, ohne daß man sich in dem Observatorium des Astronomen zusammenfand. Je tiefer der Lebensabend der drei Jugendgenossen aus Poppenhagen herabsank, desto mehr fiel alles Nichtige und Äußerliche von ihnen ab; das Freifräulein verschwand aus der Gesellschaft, Friedrich Fiebiger wurde nur noch sehr selten in seiner Stammkneipe gesehen. Lange nicht mehr so häufig wie sonst erging sich der Humorist in sarkastischen Bemerkungen über die Lebens- und Weltanschauung seines Freundes. Es ist eigentlich ein bitter Ding, seine Ansicht deshalb aufgeben zu müssen, weil man zu sehr recht bekommt, weil einem das selbstaufgestellte Axiom von der lächerlichen Nichtigkeit aller irdischen Dinge an der eigenen Existenz zu klar demonstriert wird.

Der Polizeischreiber war aber der Mann, welcher sich dreinfinden konnte; – er verlor seinen Gleichmut nicht so sehr, daß er aus einem lachenden Philosophen ein grämelnder weinerlicher Murrkopf wurde. Er warf seine Violine auch nicht ganz in den Winkel oder an die Wand; er musizierte weiter, wenn auch etwas dumpfer und melancholischer als sonst. »Eintönig unkte fort der Frosch sein elendig Sumpflied!« nannte er das mit freier Benutzung eines Verses Virgils. »Was soll die Kreatur auch anders tun; das Volk hat ganz recht, wenn es meint, der Mensch sei ein Amphibibichum, könne auf dem Trocknen nicht leben und müsse im Wasser umkommen«, fügte er dann wohl hinzu und – stopfte eine frische Pfeife.

Auch jetzt folgte er den beiden Frauen auf ihrem Wege zum Nikolauskloster, stieg mit ihnen die alte Wendeltreppe hinauf. Sie brauchten nicht mehr anzuklopfen. Heinrich Ulex öffnete seine Tür, ehe sie die oberste Stufe der Treppe erreicht hatten.

Alles unverändert in dem düstern Gemach! Jedes Bild, jedes Buch, jedes Instrument an seinem Platze! Aber in dem Schatten, welchen die grüne Studierlampe vergeblich zu verscheuchen strebte, suchte sich jemand zu verbergen, der beim Beginn unserer Geschichte nicht anders als mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen und mit bedauerndem Achselzucken über sein großes Hauptbuch weg, aus dem Fenster seines Kontors, drunten gegen Süden, zu diesem Klostergiebel emporgeblickt hatte. Ja, scheu vor jedem Fußtritt wich der Bankier Wienand in die Dunkelheit zurück und wagte sich nur dann hervor, wenn der Sternseher beruhigend sagte:

»Kommt, es sind Freunde! Kommt, ich will es!«

Nach dem Wort Julianes hatte der Kommerzienrat jetzt hier Schutz gesucht. In schrecklichster Weise war die warnende Drohung erfüllt. Verspottet hatte der große Kaufmann die Sterne und war den furchtbaren Mächten, den dunkeln Geistern der Erde anheimgefallen. Milde und voll Erbarmen sind die Sterne, die lichten himmlischen Kräfte – zersprengt hatten sie die Fesseln des Unglücklichen und ihn wieder frei auf den Scheideweg gestellt. Nun hatte er zum zweitenmal im wilden Trotz die hohen Geister verachtet, und zum zweitenmal war er in die Gewalt der Dämonen gefallen. Auf Erden war keine Rettung mehr für den Bankier Wienand; zweimal ließen die Unterirdischen ihr Opfer nicht frei.

Helene eilte zu ihrem Vater und küßte ihm die Hand, diese Hand, welche noch immer die kindische Papierrolle hielt, von welcher der Polizeischreiber seinem Vorgesetzten erzählt hatte. Dem Sternseher berichtete das Freifräulein den Tod der Baronin Viktorine, und wie Fiebiger sprach auch Heinrich Ulex:

»Sie ist von einem traurigen Leben erlöst, Natur und Erziehung haben sie manchen Fehler begehen lassen; bittere Frucht hat sie aus dem Samen, welchen sie streute, geerntet. Arme Frau! Möge sie sanft ruhen.«

Nun saßen sie alle nach gewohnter Weise im Kreis, und dicht neben dem Sternseher kauerte der Irrsinnige und bewachte mit ruheloser Aufmerksamkeit jede Bewegung desselben.

Der eigentliche Gedankenaustausch über den Tod der Baronin von Poppen fand jetzt erst statt, wo jeder der drei Alten aus Poppenhagen seine Meinung darüber sagen konnte. Es konnte nicht fehlen, daß ein solches Ereignis die Jugenderinnerungen auf das lebendigste anregte. Sie erwachten auch – traurig und freudig, trübe und lieblich stiegen sie empor. Das beschränkte, wunderlich vollgepfropfte Observatorium des Astronomen wurde zu dem großen Walde, aus dem die drei Alten stammten; nur von ihrer Jugend und dem, was daraus in den jetzigen Augenblick herüberklang, sprachen die drei Alten an diesem Abend.

Ohne Scheu und Scham konnten diese greisen Köpfe jedes Angedenken zurückrufen; vor keiner Stunde ihrer Jugend mußten sie erschrecken und errötend zurückweichen.

»Ich bin nun die Letzte meines Namens«, sagte das Freifräulein, »zugrunde geht das alte Geschlecht. Als man den letzten Herrn von Poppen tot in das Haus seiner Mutter trug, hat die Welt die Achseln gezuckt, und viele haben der Verachtung Spott hinzugefügt. Die närrische Mutter hat sich um den Sohn zu Tode gegrämt; aber, ihr Leute aus Poppenhagen, den grimmigsten Schmerz habe doch ich, ich allein, um den letzten Freiherrn von Poppen getragen. O es ist so schrecklich, so kläglich, das letzte Weib von einem Geschlecht zu sein, dessen letzten Männern der Hohn und der Spott in die Gruft folgte, denen die öffentliche Meinung den adeligen ritterlichen Schild mit Lachen am Grabe zerschlug. Sie lachen! Sie lachen! Das ganze Volk lacht, in seinen Häusern, auf seinen Märkten, in seinen Gerichtsstuben, in den Versammlungen seiner Abgeordneten und Vertreter. Weh, und es hat das Recht zu lachen; es kann, es darf nicht die Unschuldigen, Tapfern und Treuen von den Jämmerlichen und Erbärmlichen scheiden, wenn es ein starkes, mannhaftes Volk bleiben will. O ihr Männer von Poppenhagen, beklagt, beklagt das arme Freifräulein von Poppen, beklagt alle die, welche ihren Namen, ihr Geschlecht, ihren Wirkungskreis, alles, alles im Hohn des Volkes untergehen sehen und welche sich vor Gott und ihrem Gewissen auf die Seite der Spötter und Lacher stellen müssen.«

Die beiden Greise neigten sich gegen die alte Jungfer, wie sich einst stolze, tapfere, selbstbewußte Vasallen vor einer unglücklichen Lehnsherrin gebeugt haben würden.

»Fräulein von Poppen«, sagte der Schreiber, »in unserer Zeit, wo die bewegende Kraft in die Massen zurückfällt, wo selbst die Größten nur das wollen dürfen, was die Allgemeinheit will, in dieser Zeit steht der einzelne, der stets und mit aller Kraft das Edle und Gute gewollt hat, freier von Verantwortlichkeit für andere da als in irgendeiner andern Epoche. Geschlechter, Stände mögen im Lachen der Menge zugrunde gehen; der tadellose, fleckenreine Schild des einzelnen wird um so heller glänzen.«

»Juliane«, sagte Heinrich, »an dem Grabe des Sohns der Baronin von Poppen zerbrach man nicht den Schild des alten Geschlechts; man zertrümmerte nur den Schild Leons von Poppen. Juliane von Poppen hat ihren eigenen Schild, und der wird ihr auf den Sarg gelegt werden, und niemand, niemand wird dabei lachen. Weinen wird man, recht von Herzen weinen, und nicht nach Ständen werden sich die Freunde um die Gruft drängen. Edelleute, Bürger und arme Proletarier werden der Geschiedenen Namen mit einer Stimme für rechtedel erklären.«

»Ich danke euch, Freunde«, rief das Freifräulein, durch Tränen lächelnd. »O es war doch damals eine schöne Zeit im Winzelwalde, als ich euch das Lesen lehrte! Wir haben uns gut durchgeschlagen und tapfer zu jeder Zeit zusammengehalten. Fast ein halbes Jahrhundert ist's her, seit die böse Mamsell Schnubbe unser Versteck im Eberkamp ausfindig machte und mein Vater mich halb tot schlug und ihr aus dem Winzelwalde davonlaufen mußtet, ihr armen Jungen. Nun sitzen wir hier, drei Grauköpfe, und sehen nach den Sternen –«

»Und die Sterne haben uns gut geführt«, sprach Ulex.

Fritze Fiebiger, der Polizeischreiber, nickte mit dem Kopfe.

»Zwei Hagestolze und ein – altes Fräulein. Die Sterne haben uns wirklich so gut als möglich geführt.«

Noch vieles sprachen Heinrich, Friedrich und Juliane von ihrer Jugend und den Sternen; der Kranke neben dem Sessel des Sternsehers schlief fest, wenn auch unruhig. Aus den Betrachtungen des Todes gelangten die drei Alten aus dem Walde allmählich immer mehr in die freundliche Helle des Lebens zurück; auch von Robert Wolf sprachen sie, von dem Jüngling aus dem Walde, und lichte Glut flog nun über Helenes bleiches abgehärmtes Gesicht. Bis jetzt hatte sie auf das Gespräch der Greise nur halb horchen können. Die eigenen Gedanken ließen sie nicht los, und wie sie sich auch abmühte, den Geist auf das Nächste zu richten, ihn in dem Kreise der Freunde, an der Seite des unglücklichen Vaters festzubannen, immer von neuem wurde ihre Seele widerstandslos entführt, hinausgewirbelt in die Weite, auf unbekannte Pfade, in fremde Wildnisse, über unermeßliche Wüsteneien von Land und Wasser. Das Brausen und Sausen um den alten Klostergiebel, jedes stärkere Anschwellendes Windes nach kurzer Ruhepause erhöhte dieses ahnungsvolle, bange, ruhelos suchende Gefühl. Ach, die Alten, welche mit dem Leben abgeschlossen hatten, hatten gut die Sterne loben!

Jetzt aber ahnte der feinfühlende Gelehrte, was im Herzen des jungen Mädchens vorging. Sanft nahm er die Hand desselben und sprach:

»Du liebes Kind, fasse Mut! Für jeden, jeden kommt die Stunde, wo er die Sterne preist – früher oder später, hier oder dort oben. Keiner bleibt ewig ausgeschlossen; für jeden, jeden kommt der Augenblick, wo alles ausgeglichen, alles gut ist. Keiner bleibt trotzend oder mit verhülltem Angesicht im Winkel stehen, während die andern vom liebenden Arm der Mutter warm umschlungen werden. Hoffe, hoffe, liebes Kind; du darfst es; die Hoffnung der Jugend liegt noch vor dem Grabe. Gib den Sternen die Deutung der Jugend, solange du jung bist. Ja, horche nur auf den Fußtritt des Glückes. In jedem Augenblick kann es kommen, dich in ein neues helles Dasein zu führen.«

Und während der Alte auf dem Turme so sprach, schritt ein Wanderer schnell durch die Gassen der Stadt. Der letzte Eisenbahnzug, der von Norden her die Stadt erreicht, hatte diesen Wanderer herübergeführt; es war Robert Wolf. Ein Wundarzt, welcher den letzten Teil der Reise mit ihm zusammen machte, hatte ihm mit aller Gewalt zur Ader lassen wollen, weil er eine Gehirnentzündung oder dergleichen bei dem jungen aufgeregten Passagier im Anzug glaubte. Eine Reisetasche mit den Buchstaben R.W. figurierte später im Verzeichnis der in den Wagen vergessenen Gegenstände.

Mit einem Satze aus dem Kupee und vorüber an den mißtrauischen Helfershelfern des Polizeischreibers Fiebiger! Mit einem Sprung aus der Halle in die Gassen. O wie die Pulse klopften, wie es vor den Augen flimmerte, wie die Gaslichterreihen tanzten!

Es ist ein weiter Weg vom Hamburger Bahnhof bis in die Mitte der Stadt, bis zur Musikantengasse, bis zum Nikolaikloster; aber keine Prämiendroschke hätte ihn schneller zurückgelegt als Robert Wolf. Erst an der Ecke der Kronenstraße mäßigte er seine Schritte; zwischen der einstigen Wohnung des Bankiers Wienand und dem von Poppenschen Hause stand er einen Augenblick ganz still. Der holde Baptiste war nicht mehr beauftragt, ihn zu überwachen; – dunkel waren die Fenster zu beiden Seiten der Häuser, zwei derselben in der Nummer fünfzig waren geöffnet, und der Wind hatte die weißen Gardinen hervorgerissen und warf sie gespenstisch hin und her. Die Straße war nicht sehr belebt, alle Vorübergehenden hätte Robert Wolf fragen mögen, ob sie nichts wüßten von den beiden dunkeln Häusern und ihren Bewohnern. Endlich riß er sich los von der Stelle, die ihn so gewalttätig bannte; weiter schritt er durch die bekannten Gassen, das Labyrinth, welches ihn vor Jahren so sehr geängstet hatte. Jetzt schreckten die aufgetürmten Steine, das Drängen des Volkes den Mann nicht mehr, der das Kap Hoorn umschifft hatte, der über die großen Prärien geritten war.

Noch eine Ecke, und da – da war die Musikantengasse, da war das Haus Nummer zwölf. Ein Heimchen zirpte laut unter der Schwelle; aber nur das mittlere Stockwerk, in welchem jetzt ein Beamter wohnte, war erleuchtet. Weiter oben war alles dunkel, der Partikulier Mäuseler befand sich im Roten Bock; der Gatte der liebenswürdigen Angelika gähnte wahrscheinlich eben auf der andern Seite der Erdkugel den jungen amerikanischen Tag an. Wo der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger sich befand, wußte Robert Wolf, und so trat er nicht ein in das Haus, sondern grüßte nur ernst und gerührt nach den höchsten Fenstern desselben hinauf.

Da war das dunkle Gäßchen und das Fenster der Kammer, in welcher der Meister Johannes Tellering gestorben war! Da war die niedere Pforte, welche in den gerümpelvollen Hof des Nikolausklosters führte, da war die steile Wendeltreppe, der Schleichweg der Mönche, wo der Schüler des Sternsehers sonst drei Tritte für einen genommen hatte! Heute stieg er Tritt für Tritt empor und hielt sich krampfhaft an dem baufälligen, knackenden Geländer; gleich einem Trunkenen schwankte er. Alle Ecken und Winkel am rechten Fleck! Auch die Ecke, an welcher man sich so leicht das Schienbein zerstieß! Tüchtig rannte Robert Wolf dagegen, aber er hatte kein Gefühl für den Schmerz. –

Und im Giebelzimmer des Sternsehers sagte eben Juliane von Poppen: »Es ist Zeit zu scheiden; wir müssen gehen, Helene!« Da richtete sich Ulex horchend auf, und Fiebiger sprang empor.

Welch ein Schritt draußen?!

Lautlos, regungslos horchte der kleine Kreis, und dann klopfte es an der Tür, und die Tür öffnete sich. Der Polizeischreiber stieß einen ganz unpolizeimäßigen Schrei aus, der Gelehrte hob die Hände; Helene Wienand erhob sich geisterbleich, zitternd an allen Gliedern, und das Freifräulein ließ den Krückstock fallen.

In den Armen hielt Friedrich Fiebiger den Pflegesohn:

»Da bist du! Da bist du! O jetzt lobe ich auch ohne Vorbehalt die Sterne. Junge, Junge, mein lieber Junge, da bist du endlich.«

Er ließ ihn nur los, um ihn dem Sternseher hinzuschieben:

»Da hast du ihn auch! Da habt ihr alle ihn! Er ist es! Die Kannibalen haben ihn nicht gefressen. Gepriesen seien die Sterne!«

»Gesegnet sei dein Eingang, liebes Kind!« rief Ulex mit hochbewegter Stimme. »Wir haben dich mit Sehnsucht erwartet, aber ich wußte wohl, daß du zu rechter Stunde kommen würdest.«

Sprachlos, mit überströmenden Augen, blickte Robert umher, er sah auch Helene und wollte auf sie zu; doch das Freifräulein trat jetzt heran, dicht heran an den heimgekehrten Wanderer. Sie hatte die Lampe vom Tisch genommen und ließ den Schein derselben ihm voll ins Gesicht fallen und sah ihm aufmerksam und prüfend in die Augen. Sie sah in das mannhafte Gesicht und sah die hellen Tränen an den Wimpern hängen, sie setzte die Lampe wieder nieder, reichte dem Jüngling die Hand und sprach:

»Du hast dich gut gehalten; – sei willkommen!«

Seine hohe Gestalt beugte Robert, um der alten Dame die Hand zu küssen; aber sie faßte ihn um den Hals und küßte ihn auf die Stirn. Dann warf sie in ihrer alten Weise den Kopf zurück und sagte mit vollständig verändertem Ton und Ausdruck:

»Nun, junger Herr, wollen Sie meinem Kinde hier kein Wort sagen? Komm her, Helene; komm aus dem Schatten, Liebchen; die Sonne will wieder in dein Leben scheinen.«

Einen Schritt trat Robert vor, doch dann blieb er stehen, wie eingewurzelt; aber Helene Wienand breitete die Arme aus, und – nun war alles gut. Der Sternseher Heinrich Ulex leitete sanft den irrsinnigen Vater zu den beiden Kindern und legte die Hand desselben auf die verbundenen Hände Roberts und Helenes. Der Bankier sah nur den Astronomen an, und als dieser das Haupt neigte, nickte er auch wohl hundertmal hintereinander und lächelte scheu blinzelnd, als freue er sich, daß er etwas tue, was dem weisen Mann gefalle.

»Seid glücklich in eurer Liebe, Kinder!« sagte der Sternseher. »Wenn in diesem Augenblick der Schleier von der Seele dieses Armen fiele, so würde er nicht mehr trennend zwischen euch treten. Preise die Sterne, Sohn; sie haben dir ein gutes Teil gegeben, und ein hohes Glück hast du gewonnen; nun halte es fest und laß es dir durch nichts rauben. Du aber, Tochter, erinnere jenen immer, wenn es not ist, daß auch hinter der Entsagung das Glück liegen kann; – und deine Kinder lehre auch, nach den Sternen zu blicken; viel schwerer als den Müttern wird es jedem andern spätern Lehrer.«

Wir sind durch alles, was nun noch an diesem Abend auf dem Giebel des Nikolausklosters besprochen wurde, selbst geschritten. Sie hatten alle im kleinen Kreise viel erlebt und wohl auch viel erduldet. Viel besser ließ sich das, was in Briefen, die auf der Fahrt ums Kap Hoorn verlorengegangen waren, gestanden hatte, mündlich sagen. Sie gaben nun ausführlich einander Bericht und verschwiegen nichts. Die beiden, welche lieber im stürmenden Meer als in einem hübschen Teich voll Wasserrosen und flüsternden Schilfs versinken wollten, schwebten durch den Raum, und alle im Kreise bis auf den Kranken grüßten in gedankenvoller Trauer die Schatten von Friedrich und Eva Wolf.

Als Robert die Erzählung seiner Abenteuer und Schicksale beendet hatte, sprach der Polizeischreiber dem König Salomo die Worte nach, welche wir diesem Buche vorangesetzt haben: »Ein Messer wetzet das andere und ein Mann den andern.« Mit einem schlauen Blick auf Helene jedoch fügte er hinzu: »Die Weiber aber wetzen tüchtig mit; – wenn die Sterne ihren Segen geben, so müssen wir am Ende wohl scharf werden.«

Von den Plänen, die Robert Wolf schon auf seiner Überfahrt von New Orleans nach Hamburg in Hinsicht auf den Poppenhof gefaßt hatte, sprach er auf dem Turm des Sternsehers nicht. Erst als er mit dem Polizeischreiber in dem alten verräucherten Gemach in der Musikantengasse allein war, teilte er sie dem Pflegevater mit, und nachdem dieser den »jungen Kapitalisten«, den »Glückspilz« aus Poppenhagen beglückwünscht hatte, fand er den Plan »räsonabel«, und man beschloß, an Otto Krokisius zu schreiben. »Ja, kaufe das alte Junkernest«, sagte der Schreiber. »Es liegt eine eigentümliche Gerechtigkeit darin. Führe dein junges Weib als Herrin an den Ort, welchen der letzte Freiherr von Poppen nicht behaupten konnte; erhalte dem letzten Fräulein von Poppen die Heimat. Wahrlich, die Bauern haben diesmal den Rittern das Spiel abgewonnen!« Der Morgen dämmerte über die Dächer – der Tabaksqualm war undurchdringlich. Man beschloß, gar nicht mehr zu Bett zu gehen, und Robert kochte, unendlich glücklich und hoffnungsreich, in alter Weise den vortrefflichen Kaffee, dessen Bereitung ihn einst der alte Heimatsgenosse gelehrt hatte.

Sechsunddreißigstes Kapitel Die Sterne setzen ihren Willen durch, ihrem Willen befiehlt der Erzähler sich und sein Buch

Es war ein stiller wolkenloser Tag in jener herrlichen Jahreszeit, wo Frühling und Sommer sich die Hand reichen. Der Hochwald stand in seiner vollsten, frischesten Pracht, Dämmerung hier, dort blendendes Licht – dort flimmernd Gemisch von Licht und Schatten. Glorreich strahlte die Nachmittagssonne; aber ahnungsvoller Duft verschleierte alle Ferne. Dicht verwachsen war der Waldweg, der eine Stunde früher als die Kunststraße, welche im Tal sich um den Kaiserberg wand, das Dorf Poppenhagen erreichte. Es kostete Mühe, sich auf diesem Pfade durchzuwinden; aber er war dafür auch mit allem lieblichen und romantischen Zauber der Wildnis aufs reichste geschmückt. Anmutiges Gerank, knorrige Stämme, Felsentrümmer, rieselndes Wasser, frischgrünes Moos und Blumen waren wie von Künstlerhand darauf verteilt; die Glut und der Staub der Heerstraße gehörten hier nur in das Reich ungemütlicher Träume.

»Noch einen Augenblick, Lieb, und wir haben die Höhe erreicht!« rief eine klangvolle Männerstimme im Gebüsch der Tiefe. »Reiche mir die Hand, armes Kind!«

Eine andere, lieblichere Stimme antwortete darauf noch ein wenig weiter zurück:

»Du beklagst mich wohl noch gar, Robert? Steig nur voran und habe keine Sorge um mich. Es ist ein wonniglich Atmen hier.«

Die Männerstimme wiederholte eine einfache, aber hübsche Melodie, die vorhin ein Waldmädchen den beiden aus der Tiefe Emporklimmenden entgegengetragen hatte; das Rauschen im Gebüsch näherte sich der Stelle, wo der Pfad den Gipfel des Berges erreichte; die zwei Wanderer traten aus dem Schatten auf die lichte Stelle, von welcher man die schönste Aussicht weit über den Winzelwald hatte, ohne jedoch nach irgendeiner Seite hin das Ende desselben zu erblicken.

Wir kennen die beiden jungen Leute, die sich aus dem Gebüsch loswanden. Es waren Robert Wolf und Helene Wienand; letztere in schwarzen Trauerkleidern, aber doch mit dem rosigen Schimmer wiederkehrender Lebensfreudigkeit auf den Wangen.

»O wie wunderherrlich!« rief die Braut, an dem Arme des Verlobten atmend ausruhend von den Beschwerden des Weges. Sie hatte tapfer mit dem Gezweig kämpfen müssen, mit neckischen Fingern hatte ihr eine mutwillige Ranke den breiten Hut vom Kopf gezogen und ihr in die Locken gegriffen; auf ihrer Schulter saß ein Marienkäfer, der sich lieber so anmutig tragen ließ als selber ging.

»Und dort hast du Poppenhagen!« sagte Robert, auf eine Turmspitze zeigend, welche zur Rechten aus einem Tal hervorlugte.

Lange blickte das junge Paar stumm nach der angedeuteten Gegend hin, dann erklärte Robert weiter:

»Die Felder, welche dort an jenem Berge emporlaufen, gehören zum Poppenhof; die eigentliche Feldmark des Dorfes kann man von hier nicht sehen. Nun bist du mitten in meiner Jugendheimat, süße Braut! Ach wie oft habe ich an dieser Stelle gelegen, den Wolken nachsehend und unbestimmte Luftschlösser in den Äther bauend. Welch ein guter alter Bekannter ist jener Baumstumpf dort! Nur jene Berglehne drüben jenseits der Landstraße war damals nicht abgeholzt; sonst ist alles heute, wie es damals war, als ich mich hier zum Robinson Crusoe träumte oder den Fahrten Sindbads des Seefahrers nachsann.«

»Der silberne Faden, welcher im Herbst so still und langsam durch die Luft schwebt, kann vieles überdauern, welchem der Mensch unendliches Dasein geben möchte. Es ist so traurig, daß der Mensch in sein dunkles Grab gehen muß, wenn die Welt in so lichtem Glanz daliegt. Sieh, welch ein schöner Schmetterling sich dort wiegt, wie er sich schaukelt und sich freut – aber immer, immer muß ich an den toten Vater denken!« seufzte Helene.

»Da unten auf der Landstraße kriecht der Wagen«, sagte Robert Wolf. »Er schleppt langsam die alten Freunde der Heimat zu. Was sollen sie tun, wenn wir so trübe und tränenvoll in all diese Schönheit blicken?«

Die Braut küßte den Verlobten:

»Du hast recht, Lieber; es ist Sünde gegen dich und Gott, jede gute Stunde durch nutzlose Klagen zu verfinstern. Du mußt recht viel Geduld mit mir haben, Robert; – o deine Heimat ist so schön! Komm, führe mich weiter hinein; glaube mir, seit wir gestern die Berge erreichten, ist mein törichtes Herz schon um vieles leichter geworden.«

»Bald wird es ganz gesunden, du Süße, Liebe!« rief Robert. »Nimm meinen Arm, einmal führe ich dich noch recht tief in den Wald, und dann steigen wir hinab in das Dorf und sehen, was die Freunde daselbst gefunden haben und wie der wackere Otto für uns gesorgt hat.«

Sie folgten dem Waldwege noch eine Viertelstunde lang, dann betrat der neue Herr des Poppenhofes mit seiner Braut einen andern engen Pfad, der wieder weiter seitwärts abführte. Trotzige Felsen ragten mitten im dunkeln Tannenforst.

»Das ist der Kaiserstein«, sagte Robert. »Von jenem Vorsprung stürzte einst Eva Dornbluth meinen Bruder. Fürchtest du dich vor der Wildnis, Herz? O du solltest den Tannenwald im Sturm, in der Winternacht sehen und hören! Das gibt ein lustig Sausen, Schwirren, Donnern und Krachen, wenn die Windsbraut mit den Waldgeistern hier ihre Tänze aufführt. Hier links, Liebchen – dort hinaus kommt Sumpf und Moor, das ist der Eulenbruch. Wart nun, gleich führ ich dich wieder ins Licht. Wer den Weg nicht kennt und in der Nacht sich hierher verliert, den können die Irrlichter tüchtig necken und verlocken. Aber die roten Wölfe vom Eulenbruch kennen den Weg und fürchten die Kobolde nicht.«

Auf den Tannenwald folgte wieder Buchenwald; plötzlich faßte Robert die Hand Helenes fester und zog sie schneller vorwärts, einen kleinen Abhang hinan. Droben stand er still, als schon die Sonne über die Berge im Westen hinabgesunken war; wortlos deutete er auf ein graues, ärmliches, niederes Gebäude, welches auf einer kleinen Wiese einsam, fern von allen andern Menschenwohnungen lag. Nirgends ein lebendes Wesen zu erblicken! Kein Laut unterbrach die Stille.

Helene Wienand umschlang den Geliebten fest, und dieser sagte:

»Da ist der Ort! Da sind alle die roten Wölfe, bis auf unsern Fritz und mich, untergegangen – verdorben, gestorben in Hunger, Jammer und Elend. Am Yuba liegt nun auch Friedrich Wolf neben Eva Dornbluth; – mich allein haben die Sterne errettet, ach und bis ins tiefste Herz hinein fühle ich, wie wenig ich selbst zu meiner Rettung, meinem Glück beigetragen habe. In tiefster Demut beuge ich mein Haupt den Sternen; sie haben mir alles erhalten, was Gutes in mir war; sie haben mir alles gegeben, was ich bedurfte; die höchsten, schönsten Wünsche haben sie mir erfüllt; o Helene, Helene, meine Braut – dort die Hütte – und dein Herz schlägt an dem meinigen – und drunten im Tal die Freunde! – o wie hat der Letzte der roten Wölfe vom Eulenbruch die Sterne zu preisen!«

»Ich will dir ein gutes Weib sein!« sagt Helene Wienand ganz leise, und dann fügte sie hinzu: »Sollen wir nun näher dort hingehen; vielleicht ist die Tür offen?!«

»Nein, nein!« rief Robert Wolf; »ich kann, ich will nicht in jene Tür treten, ich will auch nicht durchs Fenster sehen. Ach du weißt nicht, ahnst nicht, welches namenlose, gräßliche Elend jenes morsche Dach verbarg. Die Sterne haben mich darüber emporgehoben – sie haben mich gelehrt, das fremde Elend in seinen schrecklichsten Schlupfwinkeln aufzusuchen, und so Gott will, will ich keine Gelegenheit dazu leichtsinnig vorübergehen lassen. Aber die Stelle, wo ich selbst, wo meine Eltern, meine Brüder und Schwestern hülflos lagen, ohne daß sich eine Hand eher nach ihnen ausstreckte, als bis es zu spät war, die Stelle will und kann ich nicht mehr sehen.«

Helene faßte den Freund fester und flüsterte:

»Du hast recht – komm, komm! Laß uns fort, laß uns fort zu den Freunden. Es wird Abend, sieh, da ist auch schon der Abendstern.«

»Grad über dem alten Hause!« flüsterte Robert ebenso leise wie die Braut. »Wie still und friedlich alles! Wie als wenn hier nie um Hülfe geschrien worden wäre! Über der Hütte der Stern – ich will nie mehr an die eine ohne den andern denken.«

Sie gingen zurück durch den Wald, und Stern auf Stern trat am klaren Abendhimmel hervor. Auf einem breitern Wege erreichten sie kurz vor dem Dorfe die Kunststraße. Es war jetzt vollständig Nacht, eine helle warme Nacht. Bei jedem Schritte vorwärts stieß das heimkehrende Kind von Poppenhagen auf eine Jugenderinnerung, und auf alles machte Robert die Braut, die er mitbrachte aus der weiten Welt, aufmerksam. Da rauschte der Brunnen am Eingange des Dorfes noch grade so wie sonst; wie sonst trieben die Kinder auf der Gänseweide ihre Spiele.

Es herrschte große Aufregung in Poppenhagen, die Männer und Weiber steckten die Köpfe zusammen; man lief von Tür zu Tür und gestikulierte; es war aber auch ein Ereignis, die Rückkehr der »Ortsleute«.

Die drei Alten, Ulex, Fiebiger und das Freifräulein, waren freilich so ziemlich vergessen; nur ganz wenige Grauköpfe erinnerten sich ihrer. Robert Wolf vom Eulenbruch aber war noch in jedermanns Gedächtnis, und jetzt – kam der heim aus der Fremde, so reich, »daß es nicht auszusagen war«. Der Poppenhof gehörte dem roten Wolf vom Eulenbruch, welchen der Pastor Tanne seliger doch gewiß eine geheime Kunst aus seinen Büchern gelehrt hatte; sonst wäre so etwas doch gewiß nicht möglich gewesen!

Und der volle Mond stieg empor und beleuchtete Berg und Tal, das Dorf, das aufgeregte Volk, die Kirche und den Kirchhof.

Auf dem Kirchhof schritt gebückt eine Gestalt unter den Gräbern umher und suchte alte Namen auf eingesunkenen Steinen und morschen Kreuzen. Wo die Hecken des Kirchhofs, des Pfarrgartens und des Gartens der Schulmeisterei zusammenstießen unter der hohen Esche, wo einst Eva Dornbluth mit Fritz und Robert Wolf Zwiesprache gehalten hatte, lehnte jetzt eine ganz junge Schulmeisterin mit einem Kind auf dem Arm und beobachtete scheu neugierig den Greis zwischen den Gräbern, den Mann aus dem Giebel des Nikolausklosters, den Sternseher Heinrich Ulex aus Poppenhagen. Auch Robert und Helene erstiegen die ausgetretenen Stufen, welche auf den Friedhof führten. Der Greis trat ihnen entgegen und seufzte:

»Ich finde meine Gräber nicht mehr – nicht eines. Es ist wohl gut so, aber auch sehr traurig. Ach, ich hätte euch doch nicht hierher folgen sollen!«

Er stützte sich schwer auf den Arm des Schülers und ließ sich von ihm führen wie ein Vater von seinem Sohne.

Seine Gräber fand Robert Wolf noch und zeigte sie seiner Braut; nur die Stelle war bereits etwas undeutlich, wo die vier kleinen Särge, die einst im Laufe einer Woche vom Eulenbruch hergetragen wurden, beigesetzt worden waren.

Still schritten die drei wieder herab von dem Kirchhof und weiter durch das Dorf. Unter der großen Linde fanden sie den Polizeischreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen bereits im vollen lebhaften Verkehr mit der Gemeinde. Er nahm den Personalbestand des Dorfes an Menschen und Vieh auf und verfehlte nicht, den jungen Gutsherrn und seine Braut dem Kreise der dörflichen Notabilitäten vorzustellen. Der Polizeischreiber war ebenso erregt und melancholisch gestimmt wie die andern, die heute mit ihm gekommen waren; er hielt es aber für seine Pflicht, in seiner Weise der Stimmung der andern ein Gegengewicht zu geben.

Er nahm für jetzt Abschied von dem neugewonnenen Bekanntenkreise und schloß sich dem Sternseher und seinen beiden jungen Begleitern an. In ihrer Gesellschaft überschritt er den Dorfbach, und ein kurzer Weg brachte alle zum Einfahrtstor des Poppenhofes.

Hatte sich im Dorfe wenig verändert, so war hier die Umwandlung desto augenscheinlicher. Alles lag in der schlimmsten Verwahrlosung, alles war vernachlässigt und verfallen; an dem Unbedeutendsten sah man, daß lange Jahre hindurch das Auge des Herrn gefehlt haben mußte. In dem Herrenhause standen die Gemächer leer; zerschlagene Fenster und zerbrochene Dächer gab es bedeutend mehr als ganze. Düngerhaufen waren über den ganzen Hofraum verzettelt, und ein paar magere Schweine samt einigen Hühnern trieben sich, wie es schien, vollständig herrenlos darauf umher. Ein bösartiger Hofhund zerrte laut heulend an seiner Kette, als habe er die ungeheuerste Verantwortung dafür, daß nichts von dem Schmutz, dem Dünger, den Trümmern abhanden komme. Außer einem kretinartigen Kinde, welches mit einem andern kleinen ähnlichen Geschöpf auf dem Rücken vor den eintretenden Fremden die Flucht nahm, war niemand von den bisherigen Bewohnern des Gutes zu erblicken.

In der Mitte des Hofes stand im Mondenschein neben einem alten wunderlichen, halb verfaulten Pfosten noch eine Gestalt; aber diese gehörte nicht zu den bisherigen Bewohnern des Herrenhauses. Eine rostige Kette hing von dem häßlichen Pfahl, und das Freifräulein Juliane von Poppen hielt diese Kette gefaßt. Als die andern auf sie zukamen, warf sie aber dieselbe von sich, daß sie klirrend um den alten Pfosten schlug.

»Was wollen wir hier, Heinrich? Weshalb sind wir hierher zurückgekommen? Gib mir deine Hand, Heinrich, deine treue, gute, milde Hand; laß uns fortgehen, hier ist nicht unsere Stelle!«

Das letzte Fräulein von Poppen gebrauchte fast dieselben Worte, welche der Sternseher Heinrich Ulex auf dem Kirchhofe des Dorfes gerufen hatte.

Sie hatten recht, diese beiden Alten; hier war ihre Heimat nicht mehr. Ihre Füße waren zu müde geworden von dem langen, weiten, mühsamen Wege durch das Leben und trugen die Greise nicht mehr in die wilden Verstecke des Winzelwaldes, wo alle süßen Erinnerungen ihrer Jugend schliefen. Auf dem verwahrlosten Poppenhofe aber gingen nur unheimliche Gespenster aus der vergangenen Zeit um, und aus dem Schutt der Jahre sproßte nicht die kümmerlichste Blume.

»Und doch ist nur eine kurze Zeit vergangen, seit wir Kinder waren, Juliane!« schloß Heinrich Ulex laut eine lange stumme Gedankenreihe.

»Eine kurze und doch lange Zeit«, antwortete das Fräulein. »Das ist eben das Schreckliche, daß sich beides so vermischt: wir stehen hier alt und grau in einer neuen Zeit, und doch ist es mir, als sei jener Tag, an welchem deine Mutter hier stand und mein Bruder dich hier mißhandelte, erst eben zu Ende gegangen, als seien jene Sterne dort oben eben jenem Tage gefolgt.«

Auch Heinrich Ulex legte jetzt seine Hand leise auf den Schandpfahl und das Halseisen; dann aber blickte er mit feucht glänzenden Augen empor zu den himmlischen Lichtern und sprach:

»Es sind dieselben Sterne, welche jenem Tage zu Grabe leuchteten. Sie lächeln heute, wie sie damals lächelten; sie wußten, daß es damals nicht anders sein konnte; sie wissen, daß heute alles gut ist, wie es ist.«

Der Polizeischreiber Fiebiger war seit einigen Augenblicken aus dem Kreise der andern verschwunden; jetzt kam er zurück, begleitet von dem Rechtsanwalt aus Löffelhofen, Otto Krokisius, welcher letztere jetzt erst den Freund und dessen Braut begrüßte. Der Schreiber trug eine Axt und der Advokat eine Erdhacke.

»Greif zu, Arzt und praktischer Philosoph!« rief Fritz Fiebiger aus Poppenhagen, seinem Pflegesohn das Beil in die Hand drückend. »Ans Werk, Otto Krokisius, praktischer Philosoph und beider Rechte Beflissener. Nieder mit dem Dinge! Herunter damit!«

»Wohl gesprochen, Polizei! Steigt Ihnen nachher ein Ganzer!« rief lachend der verlorene Sohn des Konsistorialrats Krokisius. »Wenn Ihr's erlaubt, so wird's an uns nicht liegen, wenn dieses angenehme antediluvianische Institut noch länger sich eines aufrechten Daseins freut. Wenn es nicht unkindlich wäre, so wünschte ich, daß sämtliche Exemplare von meines Herrn Papas sämtlichen Werken dranhingen.«

Der neue Herr des Gutes arbeitete mit einer wahren fieberhaften Hast an der Zertrümmerung des Pfahls, und bald stürzte derselbe zu Boden.

»Hier wollen wir einen Brunnen graben, roter Wolf«, sagte Fiebiger. »Hoffentlich wird ein gutes, klares und heilsames Wasser aufspringen.« –

Otto Krokisius hatte sein möglichstes getan, einige Zimmer des Schlosses bewohnbar zu machen. Als die Alten und Helene sich dahin zurückgezogen hatten, saß er mit dem Universitätsfreunde noch eine geraume Zeit zusammen, und sie besprachen Nahes und Fernes.

»So hast du nun deinen Willen und das alte Räubernest auf dem Nacken«, sagte der Jurist. »Du hast viel Geld, vielleicht zu viel in den Kauf gesteckt. Du bist Arzt, aber die Mutter Erde ist eine gesunde robuste Person, hat den Doktor selten nötig und begnügt sich mit der Hebamme.«

»Darüber sorge ich nicht. Ich kenne die Wirtschaft hier im Walde; bis zum achtzehnten Jahre habe ich hier am Ort selbst tätig mit eingegriffen und weiß so ziemlich Bescheid und werde das Fehlende leicht ergänzen; auch bin ich für die ersten schwierigsten Jahre noch anderweitig gerüstet.«

Otto Krokisius kratzte sich hinter dem Ohr. »Du bist ein Glückspilz, und ich glaube wahrhaftig, das wird sich auch hier wieder zeigen. Ich habe in meinem Leben nur einen Schatz gefunden und gehoben – meine Frau. Wann willst du heiraten?«

»Wenn die Bauern Hochzeit machen, im Herbst.«

»Deine Antworten kommen Schlag auf Schlag; das ist gut. Du hast auch darin, seit wir uns auf jenem Hügel trennten, Fortschritte gemacht. Alter Junge, alles in allem genommen, freue ich mich unendlich, daß du hier sitzest und sitzen bleiben willst. Wir wollen hier zusammenhalten in guter und böser Zeit, und unsere Weiber sollen Rosen um das eherne Band winden.«

»So soll es sein!« sagte Robert Wolf vom Eulenbruch. – – –

Es gestaltete sich alles so gut, wie der Mensch eben hienieden unter den Sternen verlangen kann. Trefflich gedeiht Robert mit seiner Frau und seinen Kindern auf dem Poppenhofe. Noch leben die drei alten Freunde in der großen Stadt; aber Fritz Fiebiger allein vermag es über sich, einen Teil des Jahres im Winzelwalde zu verleben. Von seinem Dreibein im Zentralpolizeihause – Büro Nummer dreizehn – ist er heruntergestiegen; ein anderer, aber jedenfalls kein Besserer, führt die traurigen Folianten. Aus seiner alten Höhle in der Musikantengasse will aber auch er nicht weichen, obgleich Helene Wolf die längliche Stube »gar nicht hübsch« findet. Die Kinder müssen zur Stadt kommen, wenn sie den Sternseher und das Freifräulein sehen wollen, und sie wollen es oft. Heiter und friedlich geht den drei Alten aus dem Walde die Sonne unter, und durch den roten Glanz blicken immer deutlicher, klarer die hohen Sterne der Ewigkeit. Konrad von Faber ist auf seinen Siebenmeilenstiefeln neulich durch den Winzelwald geschritten und hat einen Brief von Ludwig Tellering auf dem Poppenhofe abgegeben. Ludwig ist ein angesehener, selbstbewußter Bürger des Staats Kalifornien, wie das nicht anders sein konnte. Verschollen ist Julius Schminkert; aber es ist leicht möglich, daß er irgendwo wieder auftaucht. Von der schönen Angelika wollen wir lieber schweigen, ihr Lebenslauf geht allzusehr in die Tiefe. Wenn jemand den eigenen Tod notieren und mit anmutigen Randglossen versehen könnte, so hätte es Fräulein Aurora Pogge gewiß getan; sie verschied jedoch, ohne dieses äußerste Problem der Kunst, ein Tagebuch zu führen, gelöst zu haben. Der einstige würdige Vizepräsident des Jockeiklubs, Herr von Bärenbinder, soll einer Zeitungskorrespondenz zufolge vor einigen Wochen mit Frau und Schwiegermutter in Rom zum Katholizismus übergetreten sein. Wir halten das für unwahrscheinlich, sind jedoch nicht berechtigt, es für unmöglich zu halten. Der Partikulier Schwebemeier begönnert die darstellende Kunst nicht mehr; in den Bewegungsjahren war er eifriger Bürgerwehrmann und nahm sogar eine Verhaftung vor. An der Spitze seiner Rotte arretierte er höchst unmotivierterweise den Partikulier Mäuseler, welcher für seine generalmarschkranke Haushälterin den Doktor holen wollte. Der Polizeirat Tröster hat sich pensionieren lassen und spielt jeden Abend Whist; der Sanitätsrat Pfingsten wird seine große Praxis noch lange nicht abgeben und spielt ebenfalls jeden Abend Whist.

Die Sterne wandeln ihren Weg und achten auf alle Menschen. Wenige der Erdgeborenen kümmern sich darum. Ein Messer wetzet das andere und ein Mensch den andern; die Sterne aber bringen Messer und Menschen zusammen. Nach den Sternen zu sehen, wenn die Kämpfer aufeinanderdringen und die Klingen aneinanderschlagen, ist gut und nützlich und ein Zeichen nicht gemeinen Geistes, das lehren –

Die Leute aus dem Walde.