Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt, beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.
Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein großes,
kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend,
dessen Wangen so glühend waren, daß sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut
des Kindes flammendrot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: das Kind war trotz
der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu
erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was aber seine natürliche
Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwollentuch um und
um gebunden, so daß die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in
zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe
Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.
»Bist du müde, Heidi?« fragte die Begleiterin.
»Nein, es ist mir heiß«, entgegnete das Kind.
»Wir sind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein wenig anstrengen
Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des »Dörfli« und vieler umherliegender Behausungen.
»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?« fragte jetzt die neu Hinzugekommene. »Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene.«
»Das ist es«, erwiderte Dete, »ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muß dort bleiben.«
»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk' ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!«
»Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muß etwas tun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, daß ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das Seinige tun.«
»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon«, bestätigte die kleine Barbel eifrig; »aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?«
»Nach Frankfurt«, erklärte Dete, »da bekomm' ich einen extraguten Dienst. Die
Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem
Gang gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich
konnte nicht fortkommen,
»Ich möchte nicht das Kind sein!« rief die Barbel mit abwehrender Gebärde aus. »Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muß sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, daß man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet.«
»Und wenn auch«, sagte Dete trotzig, »er ist der Großvater und muß für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu verantworten, nicht ich.«
»Ich möchte nur wissen«, sagte die Barbel forschend, »was der Alte auf dem Gewissen hat, daß er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken läßt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiß auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?«
»Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön an!«
Aber die Barbel hätte schon lange gern gewußt, wie es sich mit dem Alm-Öhi verhalte,
daß er so menschenfeindlich aussehe und da oben ganz allein wohne und die Leute immer
so mit halben Worten von ihm redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und
wollten doch nicht für ihn sein. Auch wußte die Barbel gar nicht, warum der Alte von
allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er konnte doch nicht der wirkliche
Oheim von den sämtlichen Bewohnern
»Ob er immer so war, kann ich, denk' ich, nicht präzis wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr' alt; so hab' ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wüßte, daß es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch.«
»A bah, Dete, was meinst denn?« gab die Barbel ein wenig beleidigt
»Ja nu, so will ich, aber halt Wort!« mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es mußte schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
»Jetzt seh' ich's«, erklärte die Barbel; »siehst du dort?« und sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. »Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der heut' so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad' recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir um so besser erzählen.«
»Mit dem Nach-ihm-sehen muß sich der Peter nicht anstrengen«, bemerkte die Dete; »es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab' ich schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut' kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte.«
»Hat er denn einmal mehr gehabt?« fragte die Barbel.
»Der? Ja, das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt hat«, entgegnete eifrig die Dete;
»eins der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn
und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit bösem Volk zu tun
»Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen«, erklärte Dete.
»Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels, und sowie er fertig war, kam er
heim ins Dörfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich
schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's sehr
gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem
Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und wie man den
Mann so entstellt nachhause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr
kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände gehabt, daß man nicht recht wußte,
schlief sie, oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war,
begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen
Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi
verdient habe für sein gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt und auch der
Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde
nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es ging ihm auch
jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und
komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen
im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es
war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten
etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im
Pfäfferserdorf an die
»Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete«, sagte die Barbel vorwurfsvoll.
»Was meinst du denn?« gab Dete zurück. »Ich habe das Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?«
»Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß«, entgegnete die Barbel; »ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb wohl, Dete; mit Glück!«
Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli
die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um sie da die kurzen
kräftigen Kräuter fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den
leichtfüßigen Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen schrillen
Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiß auf dem Platz. Meistens
kamen kleine Buben und Mädchen, denn die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten,
und das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er hatte zwar daheim
seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen sehr früh fort
mußte und am Abend vom Dörfli spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich
mit den Kindern unterhalten mußte, so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit,
um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken
Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob
die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu sehen seien; als dies aber nicht der Fall
war, so stieg sie noch ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter
übersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen
großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rückten die Kinder
auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wußte viele Stellen, wo allerhand Gutes
an Sträuchern und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit seiner
Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert, in
seiner schweren Rüstung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte
anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin- und hersprang, bald auf
die Geißen, die mit den dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein
und steile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, zog
sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und
hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: »Dort!« Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und oben auf war ein roter Punkt, das mußte das Halstuch sein.
»Du Unglückstropf!« rief die Base in großer Aufregung; »was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?«
»Ich brauch' es nicht«, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.
»Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine
Begriffe?« jammerte und schalt die Base weiter; »wer sollte nun wieder da hinunter,
es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter,
»Ich bin schon zu spät«, sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.
»Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk' ich, nicht weit auf die Art!« rief ihm die Base Dete zu; »komm her, du mußt etwas Schönes haben, siehst du?« Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, daß ihn die Base rühmen mußte und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.
»Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja auch den Weg«,
sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu
erklimmen, der gleich hinter der Hütte des Geißenpeter emporragte. Willig übernahm
dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm
um sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend. Das Heidi und
die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei
Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des
alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen
mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter
An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf seine Knie gelegt und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Base Dete herankletterten, denn die letztere war nach und nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Guten Abend, Großvater!«
»So, so, wie ist das gemeint?« fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen, daß Heidi ihn recht betrachten mußte. Unterdessen war auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stillestand und zusah, was sich da ereigne.
»Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi«, sagte die Dete, hinzutretend, »und hier bring' ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr es nie mehr gesehen.«
»So, was muß das Kind bei mir?« fragte der Alte kurz; »und du dort«, rief er dem Peter zu, »du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist nicht zu früh; nimm meine mit!«
»Es muß eben bei Euch bleiben, Öhi«, gab die Dete auf seine Frage
»So«, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. »Und wenn nun das Kind anfängt dir nachzuflennen und zu winseln, wie kleine Unvernünftige tun, was muß ich dann mit ihm anfangen?«
»Das ist dann Eure Sache«, warf die Dete zurück; »ich meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muß ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen.«
Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig
geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten
Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, daß sie einige Schritte
zurückwich; dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend:»Mach, daß du
hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!« Das
ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. »So lebt wohl, und du auch, Heidi«, sagte sie
schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die
innere Aufregung trieb sie vorwärts, wie eine wirksame Dampfkraft. Im Dörfli wurde
sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei;
sie kannten ja alle die Dete genau und wußten, wem das Kind gehörte, und alles, was
mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Türen
Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: »Wie kannst du so etwas tun!« und: »Das arme Tröpfli!« und: »So ein kleines Hilfloses da droben lassen!« und dann wieder und wieder: »Das arme Tröpfli!« Die Dete lief, so schnell sie konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr froh, daß sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.
Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, daß es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater schaute auf. »Was willst du jetzt tun?« fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.
»Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte«, sagte Heidi. »So komm!« und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte hinein.
»Das brauch' ich nicht mehr«, erklärte Heidi.
Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein konnten. »Es kann ihm nicht an Verstand fehlen«, sagte er halblaut. »Warum brauchst du's nicht mehr?« setzte er laut hinzu.
»Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte Beinchen.«
»So, das kannst du, aber hol das Zeug«, befahl der Großvater, »es kommt in den Kasten.« Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so leicht wiederzufinden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: »Wo muß ich schlafen, Großvater?«
»Wo du willst«, gab dieser zur Antwort.
»Hier will ich schlafen«, rief Heidi hinunter, »hier ist's schön! Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!«
»Weiß schon«, tönte es von unten herauf.
»Ich mache jetzt das Bett!« rief das Kind wieder, indem es oben geschäftig hin- und herfuhr; »aber du mußt heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man.«
»So, so«, sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und
kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch
hervor, das mußte so etwas
»Das ist recht gemacht«, sagte der Großvater, »jetzt wird das Tuch kommen, aber wart
noch« – damit nahm er einen guten Wisch Heu von dem Haufen und machte das Lager
doppelt so dick, damit der harte Boden nicht durchgefühlt werden konnte -; »so, jetzt
komm her damit.« Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte es aber
fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut, denn durch das feste Zeug
konnten die spitzen Heuhalme nicht
»Wir haben noch etwas vergessen, Großvater«, sagte es dann.
»Was denn?« fragte er.
»Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das Leintuch und die Decke hinein.«
»So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?« sagte der Alte.
»O dann ist's gleich, Großvater«, beruhigte Heidi; »dann nimmt man wieder Heu zur Decke«, und eilfertig wollte es gleich wieder an den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
»Wart einen Augenblick«, sagte er, stieg die Leiter hinab und ging an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen, schweren, leinenen Sack auf den Boden.
»Ist das nicht besser als Heu?« fragte er. Heidi zog aus Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinanderzulegen, aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen. Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor seinem neuen Lager und sagte: »Das ist eine prächtige Decke und das ganze Bett! Jetzt wollt' ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich hineinliegen.«
»Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen«, sagte der Großvater, »oder was
meinst du?« Heidi hatte über dem Eifer des Bettens alles andere vergessen; nun ihm
aber der Gedanke ans Essen kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte
auch heute noch gar nichts bekommen, als früh am Morgen sein Stück Brot und ein paar
Schlucke
»So geh hinunter, wenn wir denn einig sind«, sagte der Alte und folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin, schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt mußte ihm etwas Neues in den Sinn gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet, denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wußte, daß man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
»So, das ist recht, daß du selbst etwas ausdenkst«, sagte der Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; »aber es fehlt noch etwas auf dem Tisch.«
Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
»Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?« Auf dem einzigen Stuhl
saß der Großvater selbst. Heidi schoß pfeilschnell
»Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit unten«, sagte der Großvater; »aber von meinem Stuhl wärst auch zu kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt mußt aber einmal etwas haben, so komm!« Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch, stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin, so daß das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse darauf und sagte: »Jetzt iß!« Er selbst setzte sich nun auf die Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat es einen langen Atemzug – denn im Eifer des Trinkens hatte es lange den Atem nicht holen können – und stellte sein Schüsselchen hin.
»Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken«, antwortete Heidi.
»So mußt du mehr haben«, und der Großvater füllte das Schüsselchen noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnüglich in sein Brot biß, nachdem es von dem weichen Käse daraufgestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, daß die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl, wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk an, sprachlos vor Verwunderung.
»Was ist das, Heidi?« fragte der Großvater.
»Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig«, sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
»Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort«, bemerkte der Großvater vor
sich hin, als er nun um die Hütte herumging und hier einen Nagel einschlug und dort
einen und dann an der Tür etwas zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und
Holzstücken von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt hinter ihm her und
schaute ihm unverwandt mit der größten Aufmerksamkeit
So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die Ohren und ins Herz hinein, daß es ganz fröhlich darüber wurde und hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und mitten drin der Peter. Mit einem Freudenruf schoß Heidi mitten in den Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute morgen einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände, denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen. »Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in den Stall? Bleiben sie immer bei uns?« so fragte Heidi hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum sein stetiges »Ja, ja!« zwischen die eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte der Alte: »Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot.«
Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
»Gut' Nacht, Großvater! Gut' Nacht – wie heißen sie, Großvater, wie heißen sie?« rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und den Geißen nach.
»Die weiße heißt Schwänli und die braune Bärli«, gab der Großvater zurück.
»Gut' Nacht, Schwänli, gut' Nacht, Bärli!« rief nun Heidi noch mit Macht, denn eben
verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte
Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen
aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch hereingeflossen auf sein
Lager und auf das Heu daneben, daß alles golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute
erstaunt um sich und wußte durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: woher es gekommen war,
und daß es nun auf der Alm beim Großvater sei, nicht mehr bei der alten Ursel, die
fast nichts mehr hörte und meistens fror, so daß sie immer am Küchenfenster oder am
Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen müssen oder doch ganz
in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hören konnte.
Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So
war es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich erinnerte, wie viel
Neues es gestern gesehen hatte und was es heute wieder alles sehen könnte, vor allem
das Schwänli und das Bärli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig
Minuten alles wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig.
Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang
»Willst mit auf die Weide?« fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freuden.
»Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, daß du schwarz bist; sieh, dort ist's für dich gerichtet.« Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war. Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem Peter zu: »Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack mit.« Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
»So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein«, fuhr der Öhi fort, »denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gib acht, daß es nicht über die Felsen hinunterrällt, hörst du?« –
Nun kam Heidi hereingelaufen. »Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?« fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so erstaunlich gerieben, daß es krebsrot vor dem Großvater stand. Er lachte ein wenig.
»Nein, nun hat sie nichts zu lachen«, bestätigte er. »Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.«
Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen
weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten
drauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die
blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
»Wo bist du schon wieder, Heidi?« rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme.
»Komm nach!« rief der Peter wieder. »Du mußt nicht über die Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten.«
»Wo sind die Felsen?« fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.
»Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt.«
Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
»Jetzt hast genug«, sagte dieser, als sie wieder zusammen weiter kletterten; »sonst
bleibst du immer stecken, und wenn du alle nimmst, hat's morgen keine mehr.« Der
letzte Grund leuchtete Heidi ein, und
Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest zusammengerollt mit
den Blumen darin zum Proviantsack in die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es
sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten
im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites Schneefeld sich erheben,
hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure
Felsenmasse, und zu jeder Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig
in die Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder.
Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und weit umher war eine
Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidis Kopf.
»Peter! Peter! erwache!« rief Heidi laut. »Sieh, der Raubvogel ist da, sieh! sieh!«
Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelblau und endlich über grauen Felsen verschwand.
»Heim ins Nest«, war Peters Antwort.
»Ist er dort oben daheim? O wie schön so hoch oben! Warum schreit er so?« fragte Heidi weiter.
»Weil er muß«, erklärte Peter.
»Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist«, schlug Heidi vor.
»O! o! o!« brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter Mißbilligung hervorstoßend; »wenn keine Geiß mehr dorthin kann und der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen.«
Jetzt begann der Peter mit einemmal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen,
daß Heidi gar nicht wußte, was begegnen sollte; aber die Geißen mußten die Töne
verstehen, denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze
Schar auf der grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen Halmen,
die anderen hin-und herrennend und die dritten ein wenig gegeneinanderstoßend mit
ihren Hömem zum Zeirvertreib. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den
Geißen umher, denn
»Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen«, sagte Peter, »jetzt sitz und fang an.«
Heidi setzte sich hin. »Ist die Milch mein?« fragte es, nochmals das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend.
»Ja«, erwiderte Peter, »und die zwei großen Stücke zum Essen sind auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen vom Schwänli und dann komm' ich.«
»Und von wem bekommst du die Milch?« wollte Heidi wissen.
»Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an«,
Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun sah er, daß es ernst gemeint sei; er erfaßte sein Geschenk, nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl, wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi schaute derweilen nach den Geißen aus. »Wie heißen sie alle, Peter?« fragte es.
Das wußte dieser nun ganz genau und konnte es um so besser in seinem Kopf behalten,
da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstoß
eine nach der anderen, immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi
hörte mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte gar nicht
lange, so konnte es sie alle von einander unterscheiden und jede bei ihrem Namen
nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die einem gleich im Sinne
bleiben mußten; man mußte nur allem genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer gegen alle anderen
stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er kam, und wollten nichts von dem
»Wer ist die Alte?« fragte Heidi zurück.
»Pah, seine Mutter«, war die Antwort.
»Wo ist die Großmutter?« rief Heidi wieder.
»Hat keine.«
»Und der Großvater?«
»Hat keinen.«
»Du armes Schneehöppli du«, sagte Heidi und drückte das Tierlein zärtlich an sich. »Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen.«
Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.
Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich begegneten. –
Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen hinaufzuklettern, und jedes
hatte seine eigene Weise dabei, die einen leichtfertig über alles weghüpfend, die
anderen bedächtlich die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da
seine
»Peter«, bemerkte es jetzt dem wieder auf dem Boden Liegenden, »die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli.«
»Weiß schon«, war die Antwort. »Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall.«
Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den Geißen nach, und
das Heidi lief hinterdrein; da mußte etwas begegnet sein, es konnte da nicht
zurückbleiben. Der Peter sprang durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo
die Felsen schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein, wenn es
dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte gesehen,
wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade
recht, denn eben sprang das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des
Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und
Überraschung, daß er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen
Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie nach
Heidi, daß es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen und riß dem Distelfink
fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der
beiden. Es riß schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Füße ge kommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfaßt, an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfaßte diese von der anderen Seite und so führten die beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: »Nein, Peter, nein, du mußt ihn nicht schlagen, sieh, wie er sich fürchtet!«
»Er verdient's«, schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: »Du darfst ihm nichts tun, es tut ihm weh, laß ihn los!«
Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, daß er unwillkürlich seine Rute niederhielt. »So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst«, sagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
»Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht«, sagte Heidi zustimmend, »und Brot gebe ich dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Geiß.«
»Es ist mir gleich«, bemerkte Peter, und das war bei ihm so viel als
So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: »Peter! Peter! es brennt! es brennt! alle Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! sieh! der hohe Felsenberg ist ganz glühend! O der schöne, feurige Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! sieh doch die Felsen! sieh die Tannen! alles, alles ist im Feuer!«
»Was ist es denn?« rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, daß es überall hin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schön war's auf allen Seiten. »Was ist es, Peter, was ist es? « rief Heidi wieder.
»Es kommt von selbst so«, erklärte Peter.
»O sieh, sieh«, rief Heidi in großer Aufregung, »auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?«
»Berge heißen nicht«, erwiderte dieser.
»O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! O, und an den Felsen oben sind viele, viele Rosen! O, nun werden sie grau! O! O! Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!« Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich alles zu Ende.
»Es ist morgen wieder so«, erklärte Peter. »Steh auf, nun müssen wir heim.«
Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt angetreten.
»Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?« fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
»Meistens«, gab dieser zur Antwort.
»Aber gewiß morgen wieder?« wollte es noch wissen.
»Ja, ja, morgen schon!« versicherte Peter.
Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich aufgenommen und so
viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, daß es nun ganz stillschwieg, bis es bei der
Almhütte ankam und den Großvater
Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die Hand und versicherte ihm, daß es wieder mitkomme, und dann sprang es mitten in die davonziehende Herde hinein und faßte noch einmal das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: »Schlaf wohl, Schneehöppli, und denk dran, daß ich morgen wiederkomme und daß du nie mehr so jämmerlich meckern mußt.«
Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und sprang dann fröhlich der Herde nach.
Heidi kam unter die Tannen zurück.
»O Großvater, das war so schön!« rief es, noch bevor es bei ihm war. »Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich hier bringe!« Und damit schüttete Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr offen.
»O Großvater, was haben sie?« rief Heidi ganz erschrocken aus. »So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?«
»Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen hinein«, sagte der Großvater.
»Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht, dann sag' ich dir's.«
So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: »Warum krächzt der Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?«
»Der höhnt die Leute aus dort unten, daß sie so viele zusammensitzen in den Dörfern
und einander bös machen. Da höhnt er hinunter:
»Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?« fragte Heidi wieder.
»Die haben Namen«, erwiderte dieser, »und wenn du mir einen so beschreiben kannst, daß ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er heißt.«
Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig: »Recht so, den kenn' ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen gesehen?«
Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
»Den erkenn' ich auch«, sagte der Großvater, »das ist die Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?«
Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon gewußt.
»Siehst du«, erklärte der Großvater, »das macht die Sonne, wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schönsten Strahlen zu, daß sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wieder kommt.«
Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, daß wieder ein Tag komme, da
es hinauf konnte auf die Weide und wieder sehen,
Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, daß ihm gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der Großvater: »Heut' bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen.«
Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus, denn er sah
lauter Mißgeschick vor sich: einmal wußte er vor Langeweile nun gar nicht mehr was
anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl,
und dann waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, daß er die doppelte Mühe mit
ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis Gesellschaft gewöhnt, daß sie nicht
vorwärts wollten, wenn es nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde
niemals unglücklich,
Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er früh am Morgen
heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel über Nacht ein tiefer Schnee, und
am Morgen war die ganze Alm schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu
sehen ringsum und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi
schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun fing es wieder zu schneien
an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, daß er
bis ans Fenster hinaufreichte, und dann noch höher, daß man das Fenster gar nicht
mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen. Das kam dem Heidi so
lustig vor, daß es immer von einem Fenster zum anderen rannte, um zu sehen, wie es
denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, daß
man müßte ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und am anderen
Tag ging der Großvater hinaus – denn nun schneite es nicht mehr- und schaufelte ums
ganze Haus herum und warf große, große Schneehaufen auf einander, daß es war wie hier
ein Berg und dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren die
Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi
und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf seinem Dreifuß – denn der Großvater hatte
längst auch einen für das Kind gezimmert –, da polterte auf einmal etwas heran und
schlug
»Guten Abend«, sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, daß er da war. Heidi schaute ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es überall an ihm zu tauen an, so daß der ganze Peter anzusehen war wie ein gelinder Wasserfall.
»Nun, General, wie steht's?« sagte jetzt der Großvater. »Nun bist du ohne Armee und mußt am Griffel nagen.«
»Warum muß er am Griffel nagen, Großvater?« fragte Heidi sogleich mit Wißbegierde.
»Im Winter muß er in die Schule gehen«, erklärte der Großvater; »da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr, General?«
»Ja, 's ist wahr«, bestätigte Peter.
Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte sehr viele Fragen
über die Schule und alles, was da begegnete und zu hören und zu sehen war, an den
Peter zu richten, und da immer
Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, daß er zuhörte.
»So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm, halt mit!« Damit
stand der Großvater auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor, und Heidi
rückte die Stühle zum Tisch. Unter dessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert
worden vom Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei
Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, daß es sich überall nah zum
Großvater hielt, wo er ging und stand und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum
Sitzen und der Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi ihm auf seine
Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, daß es zu jemandem gehen sollte, aber er faßte auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am folgenden Morgen war sein erstes, daß es erklärte: »Großvater, jetzt muß ich gewiß zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.«
»Es hat zu viel Schnee«, erwiderte der Großvater abwehrend. Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter hatte es ja sagen lassen; so mußte es sein. So verging kein Tag mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: »Großvater, jetzt muß ich gewiß gehen, die Großmutter wartet ja immer auf mich.«
Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei jedem Schritt und
die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater, wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes Mütterchen und spann. Heidi wußte gleich, woran es war; es ging geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: »Guten Tag, Großmutter, jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich komme?«
Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war, und als sie diese erfaßt hatte, befühlte sie dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie: »Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?«
»Ja, ja«, bestätigte das Kind, »jetzt gerade bin ich mit dem Großvater im Schlitten heruntergefahren.«
»Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag, Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?«
Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war aufgestanden und
betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis unten; dann sagte sie: »Ich weiß
nicht, Mutter, ob der Öhi selber heruntergekommen
Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei es im ungewissen, und sagte: »Ich weiß ganz gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das ist der Großvater.«
»Es muß doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht recht«, sagte die Großmutter; »wer hätte freilich auch glauben können, daß so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!« Diese hatte das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, daß sie nun wohl berichten konnte, wie es aussah.
Unterdessen war Heidi nicht müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: »Sieh, Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, daß er wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein; sieh, sieh, wie er tut!«
»Ach, du gutes Kind«, sagte die Großmutter, »sehen kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt, und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte an der Hütte, der Peter versteht's nicht.«
»Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut, Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort.« Und Heidi zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
»Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den Laden nicht«, klagte die Großmutter.
»Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, daß es recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?«
»Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen.«
»Laß mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir, auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine Augen.«
»Aber dann doch im Sommer, Großmutter«, sagte Heidi, immer ängstlicher nach einem
guten Ausweg suchend; »weißt, wenn dann wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und
dann ›gute Nacht‹
»Ach Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie mehr.«
Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es fortwährend: »Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es niemand? Kann es gar niemand?«
Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing, dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen. Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, daß es so jämmerlich schluchzen mußte. Jetzt sagte sie: »Komm, du gutes Heidi, komm hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich seit manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter, aber der sagt nicht viel.«
Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Tränen weg und sagte tröstlich: »Wart nur, Großmutter, ich will alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht, daß die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in Ordnung machen.«
Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit großer Lebendigkeit zu
erzählen von seinem Leben mit dem Großvater und
Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: »Guten Abend, Peter!«
»Ist denn das möglich, daß der schon aus der Schule kommt«, rief die Großmutter ganz verwundert aus; »so geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?«
»Gleich«, gab der Peter zur Antwort.
»So, so«, sagte die Großmutter ein wenig seufzend, »ich habe gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin.«
»Warum muß es eine Änderung geben, Großmutter?« fragte Heidi gleich mit Interesse.
»Ich meine nur, daß er es etwa noch hätte lernen können«, sagte die
»Ich denke, ich muß Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel«, sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte; »der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne daß ich's merkte.«
Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: »Gut' Nacht, Großmutter, ich muß auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird«, und hintereinander bot es dem Peter und seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter rief besorgt: »Wart, wart, Heidi; so allein mußt du nicht fort, der Peter muß mit dir, hörst du? Und gib acht auf das Kind, Peterli, daß es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, daß es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?«
»Ich habe gar kein Halstuch an«, rief Heidi zurück, »aber ich will schon nicht frieren«; damit war es zur Tür hinaus und huschte so behend weiter, daß der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter rief jammernd: »Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muß ja erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!« Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor ihnen.
»Recht so, Heidi, Wort gehalten!« sagte er, packte das Kind wieder
Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er: »Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's.«
Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: »Großvater, morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr.«
»Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?« fragte der Großvater.
»Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst«, entgegnete Heidi, »denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so tut, und sie denkt: ›jetzt fällt alles ein und gerade auf unsere Köpfe‹; und der Großmutter kann man gar nicht mehr hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann ihr kein Mensch helfen, als du! Morgen wollen wir gehen und ihr helfen; gelt, Großvater, wir wollen?«
Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit zweifellosem Vertrauen
zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Weile
Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief ein Mal ums andere: »Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!«
Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte: »Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder.« Dann legte er den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: »Da kommt das Kind! Das ist das Kind!« und ließ vor Freuden den Faden los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das Haus, daß die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, daß sie fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: »Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!« Aber Heidi hielt sie fest um den Arm und sagte tröstend: »Nein, nein, Großmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er alles fest, daß es dir nicht mehr angst und bang wird.«
»Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns doch der liebe Gott
nicht ganz vergessen!« rief die Großmutter aus. »Hast du's gehört, Brigitte, was es
ist, hörst du's? Wahrhaftig, es ist
Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und sagte: »Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und wir haben Euch zu danken, daß Ihr uns einen solchen Dienst tut, und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher, es hätte uns das nicht gerad' einer getan, wir wollen Euch auch dran denken, denn sicher –«
»Macht's kurz«, unterbrach sie der Alte hier; »was Ihr vom AlmÖhi
Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz erfroren. Das wußte der Großvater wohl und hielt das Kind ganz warm in seinem Arm.
So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Großmutter war nach
langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel,
einer wie der andere, denn nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie
verlangen konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den trippelnden
Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann
rief sie jedesmal in lauter Freude: »Gottlob! da kommt's wieder!« Und Heidi setzte
sich zu ihr und plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wußte, daß es der
Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen, sie merkte es nicht, und
kein einziges Mal fragte sie mehr so wie früher: »Brigitte, ist der Tag noch nicht
um?«, sondern jedesmal, wenn Heidi die Tür hinter sich schloß, sagte sie: »Wie war
doch der Nachmittag so kurz; ist es
Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter, und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, daß ihr gar niemand, auch der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer wieder, daß sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so fortgefahren, hatte jedesmal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer darauf vergangen, und
ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi war glücklich und froh
wie die Vöglein des Himmels und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden
Frühlingstage, da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein hervorlocken und die
Tage der Weide kommen würden, die für Heidi das Schönste mit sich brachten, was es
auf Erden geben konnte. Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom
Großvater allerlei Kunstgriffe erlernt: mit den Geißen wußte es so gut umzugehen als
nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie treue Hündlein und meckerten
gleich laut vor Freude, wenn sie nur seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte
Peter schon zweimal vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe schon mehr als das
Alter und hätte schon im letzten Winter kommen sollen. Der Öhi hatte beide Male dem
Schullehrer sagen lassen, wenn er etwas
Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei, und gleich nachher kam es wieder, nachzusehen, denn es konnte nicht erwarten, daß alles wieder grün und der ganze schöne Sommer mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin- und herrannte und jetzt wohl zum zehntenmal über die Türschwelle sprang, wäre es vor Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich: »Du mußt nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir die Hand! du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?«
»Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz«, erklärte Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war. Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: »Guten Morgen, Nachbar.«
Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und entgegnete: »Guten Morgen
dem Herrn Pfarrer.« Dann stellte er seinen
Der Herr Pfarrer setzte sich. »Ich habe Euch lange nicht gesehen, Nachbar«, sagte er dann.
»Ich den Herrn Pfarrer auch nicht«, war die Antwort.
»Ich komme heut', um etwas mit Euch zu besprechen«, fing der Herr Pfarrer wieder an; »ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören will, was Ihr im Sinne habt.«
Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
»Heidi, geh zu den Geißen«, sagte der Großvater. »Kannst ein wenig Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme.«
Heidi verschwand sofort.
»Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter die Schule besuchen sollen«, sagte nun der Herr Pfarrer; »der Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?«
»Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken«, war die Antwort.
Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig aussah.
»Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?« fragte jetzt der Herr Pfarrer.
»Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen.«
»Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein Menschenkind.
»Ich tu's nicht, Herr Pfarrer«, sagte der Alte unentwegt.
»Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun beharren wollt?« sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. »Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar.«
»So«, sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, daß es auch in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; »und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, daß unsereiner fast in Wind und Schnee ersticken müßte, und dann ein Kind wie dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!«
»Ihr habt ganz recht, Nachbar«, sagte der Herr Pfarrer mit Freundlichkeit; »es wäre
nicht möglich, das Kind von hier aus zur Schule zu
»Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: ich weiß, wo es Holz gibt, und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer darf in meinen Schopf hineinsehen, es ist etwas drin, in meiner Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben voneinander, so ist's beiden wohl.«
»Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt«, sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. »Mit der Verachtung der Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar: sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung, wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann.«
Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals
mit Herzlichkeit: »Ich zähle darauf, Nachbar, im nächsten Winter seid Ihr wieder
unten bei uns und wir sind die alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer
machen, wenn ein Zwang gegen Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die
Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: »Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das tu' ich nicht, ich sag' es sicher und ohne Wandel: das Kind schick' ich nicht, und herunter komm' ich nicht.«
»So helf' Euch Gott!« sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Tür hinaus und den Berg hinunter.
Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: »Jetzt wollen wir zur
Großmutter«, erwiderte er kurz: »Heut' nicht.« Den ganzen Tag sprach er nicht mehr,
und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: »Gehen wir heut' zur Großmutter?« war er
noch gleich kurz von Worten wie im Ton und sagte nur: »Wollen sehen.« Aber noch bevor
die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
»Bist du bald fertig?« unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein Wort dazwischengeredet hatte.
»Pah«, gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, »Ihr tut gerade, wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch gebracht habe.«
»Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon«, sagte der Öhi trocken.
Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: »Ja, wenn Ihr es so meint, dann so will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich es meine: das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab' es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück erlangen kann, wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein, dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht. Aber ich gebe nicht nach, das sag' ich Euch, und die Leute habe ich alle für mich, es ist kein einziger unten im Dörfli, der nicht mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet, denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt.«
Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
»Du hast den Großvater bös gemacht«, sagte Heidi und blitzte mit seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
»Er wird schon wieder gut, komm jetzt«, drängte die Base; »wo sind deine Kleider?«
»Ich komme nicht«, sagte Heidi.
»Was sagst du?« fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: »Komm, komm, du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar nicht weißt.« Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor und packte sie zusammen: »So, komm jetzt, nimm dort dein Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal, setz es auf und mach, daß wir fortkommen.«
»Ich komme nicht«, wiederholte Heidi.
»Sei doch nicht so dumm und störrig, wie eine Geiß; denen hast du's abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du hast's ja gehört, daß er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor Augen kommen, er will es nun haben, daß du mit mir gehst, und jetzt mußt du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht, wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin ist der Großvater dann wieder gut.«
»Kann ich gerad' wieder umkehren und heimkommen heut' Abend?« fragte Heidi.
Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren und große Ruten suchen, nütze etwas, denn diese könne man brauchen. So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei ihm ankamen; dann sagte er: »Wo willst du hin?«
»Ich muß nur geschwind nach Frankfurt mit der Base«, antwortete Heidi, »aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet auf mich.«
»Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät«, sagte die Base eilig und hielt
das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; »du kannst dann gehen, wenn du wieder
heimkommst, komm jetzt!« Damit zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht
mehr los, denn sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen. Der Peter sprang in
die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch
los, daß alles erzitterte und die
»Was ist's denn? was ist's denn?« rief angstvoll die Großmutter, und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: »Was hast, Peterli; warum tust so wüst?«
»Weil sie das Heidi mitgenommen hat«, erklärte Peter.
»Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?« fragte die Großmutter jetzt mit neuer Angst; sie mußte aber schnell erraten haben, was vorging, die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile, machte die Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: »Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!«
Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind, es solle nur
schnell kommen jetzt, daß sie nicht noch zu spät kämen, sondern daß sie morgen weiter
reisen könnten, es könnte ja dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, daß
es gar nie mehr fort wolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja gleich
gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit heimbringen, was sie
»Was kann ich der Großmutter heimbringen?« fragte es nach einer Weile.
»Etwas Gutes«, sagte die Base, »so schöne, weiche Weißbrötchen, da wird sie Freud' haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen.«
»Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: ›Es ist mir zu hart‹; das habe ich selbst gesehen«, bestätigte das Heidi. »So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir vielleicht heut' noch nach Frankfurt, daß ich bald wieder da bin mit den Brötchen.«
Heidi fing nun so zu rennen an, daß die Base mit ihrem Bündel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, daß es so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer Hand, daß alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes willen so pressieren mußte. So rief sie auf alle die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten, nur immer zurück: »Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht stillstehen, das Kind pressiert und wir haben noch weit.«
»Nimmst's mit?« »Läuft's dem Alm-Öhi fort?« »Es ist nur ein Wunder, daß es noch am Leben ist!« »Und dazu noch so rotbackig!« So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, daß sie ohne Verzug durchkam und keinen Bescheid geben mußte und auch Heidi kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer. –
Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch und weit ins Tal hinab, wo er seine Käse verhandelte und seine Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen zusammen, und jeder wußte etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und daß er jetzt keinem Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin überein, daß es ein großes Glück sei, daß das Kind habe entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen, oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne seine Hilfe gewiß schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein, Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde. Jetzt saß es im sogenannten Studierzimmer, das neben der großen Eßstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und lagen, die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, daß man hier gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte, und daß es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der tägliche Unterricht erteilt wurde.
Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde, blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: »Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?«
Die letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und stickte. Sie hatte
eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, daß sein Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen Wunsch geschehen dürfe.
Während oben Klara zum zweitenmal mit Zeichen der Ungeduld Fräulein Rottenmeier
befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da die
»Das ist nicht meine Sache«, brummte der Kutscher; »klingeln Sie den Sebastian herunter, drinnen im Korridor.«
Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
»Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch stören dürfe«, brachte die Dete wie der an.
»Das ist nicht meine Sache«, gab der Bediente zurück; »klingeln Sie die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel«, und ohne weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
»Was ist?« fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald wieder und rief von der Treppe herunter: »Sie sind erwartet!«
Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem so fremden Boden.
Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam näher, um die
angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten.
»Wie heißest du?« fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein Auge von ihr verwandte.
»Heidi«, antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
»Wie? wie? das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe erhalten?« fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
»Das weiß ich jetzt nicht mehr«, entgegnete Heidi.
»Ist das eine Antwort!« bemerkte die Dame mit Kopfschütteln. »Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?«
»Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren«, sagte die Dete, nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für die unpassende Antwort. »Es ist aber nicht einfältig und auch nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie es redet. Aber es ist heut' zum erstenmal in einem Herrenhaus und kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig.«
»Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann«, bemerkte Fräulein
Rottenmeier. »Aber, Jungfer Dete, ich muß Ihnen doch sagen, daß mir das Kind für sein
Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen
»Mit Erlaubnis der Dame«, fing die Dete wieder beredt an, »es war mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so noch etwas dazu sein, nehm' ich an.«
»Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt«, erklärte Heidi. Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen.
»Was, erst acht Jahre alt?« rief Fräulein Rottenmeier mit einiger Entrüstung aus. »Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und was hast du denn gelernt? was hast du für Bücher gehabt bei deinem Unterricht?«
»Keine«, sagte Heidi.
»Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?« fragte die Dame weiter.
»Das hab' ich nicht gelernt und der Peter auch nicht«, berichtete Heidi.
»Barmherzigkeit! du kannst nicht lesen? du kannst wirklich nicht lesen!« rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. »Ist es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?«
»Nichts«, sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
»Jungfer Dete«, sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in denen sie nach
Fassung rang, »es ist alles nicht nach Abrede, wie
Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: »Komm hierher!«
Heidi trat an den Rollstuhl heran.
»Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?« fragte Klara.
»Ich heiße nur Heidi und sonst nichts«, war Heidis Antwort.
»So will ich dich immer so nennen«, sagte Klara; »der Name gefällt mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so kurzes, krauses Haar gehabt?«
»Ja, ich denk's«, gab Heidi zur Antwort.
»Nein, aber morgen geh' ich dann wieder heim und bringe der Großmutter weiße Brötchen!« erklärte Heidi.
»Du bist aber ein kurioses Kind!« fuhr jetzt Klara auf. »Man hat dich ja expreß nach
Frankfurt kommen lassen, daß du bei mir bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und
siehst du, es wird nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so schrecklich langweilig und
der Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr
kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr,
das ist so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe ans
Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig geworden, aber er gähnt
nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit
ihr großes Taschentuch hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie
ganz ergriffen von etwas, das wir lesen;
Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen hörte.
»Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du lesen lernen, alle Menschen müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse, und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann mußt du nur warten und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas gelernt hast, und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint hat.«
Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einläßlich sagen können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie nicht wußte, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu machen, war sie um so aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Eßzimmer hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, daß die Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte als sonst gewöhnlich – und sich mit so spöttischem Gesicht hinstellte, daß selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie anzufahren; um so mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
»Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette«, sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; »es liegt alles bereit, nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg.«
»Es ist der Mühe wert«, spöttelte Tinette und ging.
Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit ziemlichem Knall
aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber sich in Antworten Luft zu machen
durfte er nicht wagen Fräulein Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins
Studierzimmer,
Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. »Ist es die Möglichkeit!« stöhnte sie halblaut. »Nun duzt sie mir den Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!«
Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es sollte den Platz ihr
gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zutische, und es war viel Platz da; die drei
saßen auch weit auseinander, so daß Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten guten
Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes Brötchen; das Kind schaute mit
erfreuten Blicken darauf. Die Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, mußte sein
ganzes Vertrauen für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat und ihm die
gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das Brötchen und fragte: »Kann ich
das haben?« Sebastian nickte und warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein
Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die Tasche. Sebastian
machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an; er wußte aber wohl, daß ihm das
nicht erlaubt war.
»Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen«, sagte jetzt
Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. »Dir,
Adelheid, muß ich überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich«, fuhr
Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. »Vor allem will ich dir zeigen, wie man
sich am Tische bedient«, und nun machte die Dame deutlich und eingehend alles vor,
was Heidi zu tun hatte. »Dann«, fuhr sie weiter, »muß ich dir hauptsächlich
»Natürlich Klara«, sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen, und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer Unterweisung, sagte sie: »Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles recht begriffen?«
»Heidi schläft schon lange«, sagte Klara mit ganz belustigtem Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so kurzweilig verflossen.
»Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!« rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig, daß Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte Mühe, es so weit zu erwecken, daß es nach seinem Schlafgemach gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug, konnte es durchaus
nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz gewaltig seine Augen, guckte dann
wieder auf und sah dasselbe. Es saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es
einen großen, weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf, und dann kam ein
Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein runder Tisch davor, und in der Ecke
stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte.
Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, daß es in Frankfurt sei, und der ganze
gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die Unterweisungen der
Dame, so weit es sie gehört hatte. Heidi sprang nun von seinem Bett herunter und
machte sich fertig. Dann ging es an ein Fenster und dann an das andere; es mußte den
Himmel sehen und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter, um an ein Fenster
zu kommen. Aber dieses war so hoch, daß Heidi nur
Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Eßzimmer saß Klara schon lang an
ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich, machte auch ein viel vergnügteres Gesicht,
als sonst gewöhnlich, denn sie sah voraus, daß heute wieder allerlei Neues geschehen
würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz anständig
»Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus«, antwortete Klara belustigt.
»Man kann diese Fenster nicht aufmachen«, versetzte Heidi traurig.
»Doch, doch«, versicherte Klara, »nur du noch nicht, und ich kann dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so macht er dir schon eines auf.«
Das war eine große Erleichterung für Heidi, zu wissen, daß man doch die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zuhause sei, und Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide und allem, was ihm lieb war.
Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer, denn sie mußte sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem Zweck ins Eßzimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in diese hineingekommen war.
Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris geschrieben, wo er eben
verweilte, seine Tochter habe längst gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins
Haus aufgenommen werden, und
Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die Verwüstung, die allerdings nur eine Seite hatte und eine recht bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun erklärend: »Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es muß gewiß nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig, fortzukommen und riß den Teppich mit und so fiel alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie eine Kutsche gesehen.«
»Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht einen Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine Unterrichtsstunde ist, daß man dabei zuzuhören und stillzusitzen hat. Aber wo ist das unheilbringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann –«
Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft die Straße auf und ab.
»Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so davonlaufen!« fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
»Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie stehen, und höre sie nicht mehr«, antwortete Heidi und schaute enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war, das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen hatte, so daß es in höchster Freude dem Ton nachgerannt war.
»Das hast du ein Mal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder«, sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; »zum Lernen sitzt man still auf seinem Sessel und gibt acht. Kannst du das nicht selbst fertig bringen, so muß ich dich an deinen Stuhl festbinden. Kannst du das verstehen?«
»Ja«, entgegnete Heidi, »aber ich will schon festsitzen.« Denn jetzt hatte es begriffen, daß es eine Regel ist, in einer Unterrichtsstunde stillzusitzen.
Jetzt mußten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der weitere Unterricht mußte nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war heute gar keine Zeit gewesen.
Am Nachmittag mußte Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte alsdann seine
Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt.
Als nun nach Tisch Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, daß nun die Zeit da war, da es seine
Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem Heidi sehr erwünscht, denn es hatte
schon immer im Sinn, etwas zu unter nehmen; es mußte aber Hilfe dazu haben und
stellte sich darum vor das Eßzimmer mitten auf den Korridor, damit die
Persönlichkeit, die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig, nach
kurzer
Sebastian riß die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und sagte ziemlich barsch: »Was soll das heißen, Mamsell?«
»Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiß nichts Böses wie heute Morgen«, fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es merkte, daß Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Boden her.
»So, und warum muß es denn heißen Sie oder Er, das möcht' ich zuerst wissen«, gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
»Ja, so muß ich jetzt immer sagen«, versicherte Heidi; »Fräulein Rottenmeier hat es befohlen.«
Jetzt lachte Sebastian so laut auf, daß Heidi ihn ganz verwundert ansehen mußte, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: »Schon recht, so fahre die Mamsell nur zu.«
»Ich heiße gar nicht Mamsell«, sagte nun Heidi seinerseits ein wenig geärgert; »ich heiße Heidi.«
»Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, daß ich Mamsell sage«, erklärte Sebastian.
»Hat sie? Ja, dann muß ich schon so heißen«, sagte Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, daß alles so geschehen mußte, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
»Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?«
»So, gerade so«, und er machte den großen Fensterflügel auf.
Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können; es langte nur bis zum Gesims hinauf.
»Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was unten ist«, sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf wieder zurück.
»Gerade dasselbe«, gab dieser zur Antwort.
»Aber wohin kann man denn gehen, daß man weit, weit hinuntersehen kann über das ganze Tal hinab?«
»Da muß man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg.«
Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür hinaus, die
Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi
sich vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm
vor, es könne nur über die Straße gehen, so müßte er gleich vor ihm stehen. Nun ging
Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn
»Weiß nicht«, war die Antwort.
»Wen kann ich denn fragen, wo er sei?« fragte Heidi weiter.
»Weiß nicht.«
»Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?«
»Freilich weiß ich eine.«
»So komm und zeige mir sie.«
»Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst.« Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge! »Da«, sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, »willst du das?«
Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
»Was willst du denn?« fragte Heidi und steckte vergnügt sein Bildchen wieder ein.
»Geld.«
»Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel willst du?«
»So komm jetzt.«
Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe. Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der Junge stand still und sagte: »Da.«
»Aber wie komm' ich da hinein?« fragte Heidi, als es die festverschlossenen Türen sah.
»Weiß nicht«, war wieder die Antwort.
»Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?«
»Weiß nicht.«
Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kräften daran.
»Wenn ich dann hinaufgehe, so mußt du warten hier unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du mußt mir ihn dann zeigen.«
»Was gibst du mir dann?«
»Was muß ich dir dann wieder geben?«
»Wieder zwanzig Pfennige.«
Jetzt wurde das alte Schloß inwendig umgedreht und die knarrende Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert, dann ziemlich er zürnt auf die Kinder und fuhr sie an: »Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht lesen, was über der Klingel steht: ›Für solche, die den Turm besteigen wollen‹?«
Heidi antwortete: »Eben auf den Turm wollt' ich.«
»Was hast du droben zu tun?« fragte der Türmer; »hat dich jemand geschickt?«
»Macht, daß ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweitenmal!« Damit kehrte sich der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: »Nur ein einziges Mal!«
Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, daß es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: »Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit mir!«
Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder und zeigte, daß er nicht mit wollte.
Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
»Da, jetzt guck hinunter«, sagte er.
Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder; es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: »Es ist gar nicht, wie ich gemeint habe.«
»Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So, komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!«
Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran die schmalen Stufen
hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tür, die in des Türmers Stübchen
führte, und nebenan ging der Boden bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand
ein großer Korb
Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
»O, die netten Tierlein! die schönen Kätzchen!« rief es ein Mal ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
»Selbst für mich? für immer?« fragte Heidi gespannt und konnte das große Glück fast nicht glauben.
»Ja, gewiß, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast«, sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen los zu werden, ohne daß er ihnen ein Leid antun mußte.
Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die Kätzchen so viel Platz, und wie mußte Klara erstaunt und erfreut sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
»Aber wie kann ich sie mitnehmen?« fragte nun Heidi und wollte schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, daß es sehr erschrocken zurückfuhr.
»Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin«, sagte der Türmer, der die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem Turm gelebt.
»Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul«, erklärte Heidi.
Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
»Ich weiß schon«, bemerkte er; »aber wem muß ich die Dinger bringen, wem muß ich
nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn Sesemann?«
Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
»Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara, kann ich nicht?«
»So wart ein wenig«, sagte der Türmer, trug dann die alte Katze behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das Eßschüsselchen hin, schloß die Tür vor ihr zu und kam zurück: »So, nun nimm zwei!«
Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: »Welchen Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?«
»Weiß nicht«, war die Antwort.
Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wußte, die Haustür und die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den Kopf, es war ihm alles unbekannt.
»Siehst du«, fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, »aus einem Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht so« – Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die Luft hinaus.
Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben, seine Wege zu finden.
Er lief nun in einem Zug drauf los und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit
standen sie richtig vor der Haustür
Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
»Schnell, Mamsellchen«, drängte Sebastian weiter, »gleich ins Eßzimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine Mamsell an, so fortzulaufen?«
Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem ganz feierlich-ernsten Ton: »Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen, jetzt nur so viel: du hast dich sehr ungezogen, wirklich strafbar benommen, daß du das Haus verlässest, ohne zu fragen, ohne daß jemand ein Wort davon wußte, und herumstreichst bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung.«
»Miau«, tönte es wie als Antwort zurück.
Aber jetzt stieg der Zorn der Dame: »Wie, Adelheid«, rief sie in immer höheren Tönen, »du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag' ich dir!«
»Ich mache«, fing Heidi an – »Miau! Miau!«
Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
»Es ist genug«, wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. »Steh auf und verlaß das Zimmer.«
»Aber Heidi«, sagte jetzt Klara, »wenn du doch siehst, daß du Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder ›miau‹?«
»Ich mache nicht, die Kätzlein machen«, konnte Heidi endlich ungestört hervorbringen.
»Wie? Was? Katzen? junge Katzen?« schrie Fräulein Rottenmeier auf. »Sebastian!
Tinette! Sucht die greulichen Tiere! schafft sie fort!« Damit stürzte die Dame ins
Studierzimmer hinein und riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge
Katzen waren für Fräulein
»Sebastian«, sagte Klara zu dem Eintretenden, »Sie müssen uns helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und will sie fort haben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo kann man sie hintun?«
»Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara«, entgegnete Sebastian bereitwillig; »ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinterkommt, verlassen Sie sich auf mich.« Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: »Das wird noch was absetzen!« und der Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf und rief durch das Spältchen heraus: »Sind die abscheulichen Tiere fortgeschafft?«
Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute fühlte sie sich zu erschöpft nach all' den vorhergegangenen Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn sie wußten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, daß Sebastian die Treppe völlig hinunterschoß, denn er dachte: »So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muß unerwartet nachhause gekommen sein.« Er riß die Tür auf – ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
»Was soll das heißen?« fuhr ihn Sebastian an. »Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?«
»Ich muß zur Klara«, war die Antwort.
»Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen ›Fräulein Klara‹, wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein Klara zu tun?« fragte Sebastian barsch.
»Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig«, erklärte der Junge.
»Du bist, denk' ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, daß ein Fräulein Klara hier ist?«
»Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.«
»Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, daß du dahin kommst, wo du hin gehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!«
Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: »Ich habe sie doch gesehen auf der Straße, ich kann sie beschreiben: sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir.«
»Oho«, dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, »das ist die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt.« Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: »'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es gern.«
»Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas zu bestellen hat«, berichtete Sebastian.
Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
»Er soll nur gleich hereinkommen«, sagte sie, »nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muß.«
Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Eßzimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf. – Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch – wahrhaftig – sie stürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Tür auf. Da – unglaublich – da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
»Aufhören! Sofort aufhören!« rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu – aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Füßen durch – eine Schildkröte. Jetzt tat Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften: »Sebastian! Sebastian!«
Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme die Musik
übertönt. Sebastian stand draußen vor der halboffenen Tür und krümmte sich vor
Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der
»Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian, sofort!« rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfaßt hatte, drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: »Vierzig für Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht«; damit schloß er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ähnliche Greuel zu verhüten. Den Vorfall wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so bestrafen, daß er daran denken würde.
Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden, der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
»An mich?« fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das sein möchte; »zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht.«
Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann eilig wieder.
»Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt«, bemerkte Fräulein Rottenmeier.
Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie schaute sehr verlangend nach dem Korb.
»Herr Kandidat«, sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren unterbrechend, »könnte
ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu wissen, was drin ist, und dann gleich
wieder fortfahren?«
Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er für die zweie von gestern bereitet hatte.
Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der Unterrichtsstunden
»Adelheid«, begann sie mit strengem Ton, »ich weiß nur eine Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunkeln Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, daß du dir keine solchen Dinge mehr einfallen lässest.«
Aber Klara erhob einen lauten Jammer: »Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll.«
Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts einwenden, um so weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie stand auf und sagte etwas grimmig: »Gut, Klara, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen.« Damit verließ sie das Zimmer.
Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr
aus der Aufregung heraus, stündlich trat ihr die
»Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine Landstreicherin.«
»Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?« Fräulein Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. »Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wüßte! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach nicht, daß er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung, oder einen Tisch, oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? sag!«
»Nein«, entgegnete Heidi.
»Das weiß ich wohl!« fuhr die Dame eifrig fort. »Nichts fehlt dir, gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!«
»Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!« rief Fräulein Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte. »Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!« rief sie ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
»Ja, ja, schon recht, danke schön«, gab Sebastian zurück und rieb sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
»Na, schon wieder was angestellt?« fragte Sebastian lustig; als er aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: »Pah! pah! das muß sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na? immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's befohlen.«
Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar nicht wie sonst
seine Art war. Das tat dem Sebastian leid zu sehen; er
Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, daß es dem Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hinschlich.
Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die Tasche gesteckt.
Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam, winkte ihn Fräulein
Rottenmeier geheimnisvoll ins Eßzimmer herein, und hier teilte sie ihm in großer
Aufregung ihre Besorgnis mit, die Luftveränderung, die neue Lebensart und die
ungewohnten Eindrücke hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm
von Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden, was sie
noch wußte. Aber der Herr Kandidat besänftigte und beruhigte Fräulein Rottenmeier,
indem er sie versicherte, daß er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar
einerseits allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem
Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und sie beschloß, die Gewandung des Kindes durch verschiedene Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte, verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. »Was muß ich entdecken, Adelheid!« rief sie aus. »Es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen aufspeichern!« – »Tinette«, rief sie jetzt ins Eßzimmer hinaus, »schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!«
»Nein! Nein!« schrie Heidi auf; »ich muß den Hut haben, und die Brötchen sind für die Großmutter«, und Heidi wollte der Tinette nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
»Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört«,
Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es mußte auch noch mehrere Male seiner Hoffnung gewiß werden und Klara, durch die letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: »Gibst du mir so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?«
Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot-verweinten Augen, und als es sein Brötchen erblickte, mußte es gleich noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, daß es sich am Tisch ruhig verhalten mußte. Sebastian machte heute jedesmal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen: »Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt.«
Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte, lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer gewesen, als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: »Das will ich schon forttun.« Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt und aus dem bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge schöner Sachen mit nachhause.
Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten, um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich: »Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?«
»Und Heidi hat auch noch gar nie versucht, zu zanken, Papa«, warf Klara schnell ein.
»So ist's gut, das hör' ich gern«, sagte der Papa, indem er aufstand. »Nun mußt du aber erlauben, Klärchen, daß ich etwas genieße; heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm' ich wieder zu dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!«
Herr Sesemann trat ins Eßzimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Mißgeschick, wandte sich der Hausherr zu ihr: »Aber Fräulein Rottenmeier, was muß ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter.«
»Herr Sesemann«, begann die Dame mit gewichtigem Ernst, »Klara ist mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden.«
»Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie sehr Sie darauf halten, daß nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft entsprossen, so zu sagen, ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen.«
»Ich glaube zwar«, bemerkte hier Herr Sesemann, »daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße.«
»Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl«, fuhr das Fräulein fort; »ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüberziehen.«
»Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fräulein Rottenmeier?«
»Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster, als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich getäuscht worden.«
»Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich sieht mir das Kind nicht aus«, bemerkte ruhig Herr Sesemann.
»Sie sollten nur eines wissen, Herr Sesemann, nur das eine, mit was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen.«
»Mit Tieren? Wie muß ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?«
Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? eine solche konnte ja für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der Herr Kandidat angemeldet.
»Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluß geben!« rief ihm Herr
Sesemann entgegen. »Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!« Herr Sesemann
streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. »Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse
schwarzen Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich, –
Der Herr Kandidat mußte erst seine Freude über Herrn Sesemanns glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, daß er ihm Aufschluß gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Kandidat: »Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf aufmerksam machen, daß, wenn auch auf der einen Seite sich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite –«
»Mein lieber Herr Kandidat«, unterbrach hier Herr Sesemann, »Sie geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?«
»Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten«, begann der Herr
Kandidat wieder, »denn wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von
gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder weniger unkultivierten
Leben, in welchem das junge
»Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht stören, ich werde – ich muß schnell einmal nach meiner Tochter sehen.« Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kinde um: »Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell – wart einmal – hol mir mal« – (Herr Sesemann wußte nicht recht, was er bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden) – »hol mir doch mal ein Glas Wasser.«
»Frisches?« fragte Heidi.
»Ja wohl! Ja wohl! Recht frisches!« gab Herr Sesemann zurück. Heidi verschwand.
»Nun, mein liebes Klärchen«, sagte der Papa, indem er ganz nah an sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte, »sag du mir klar und faßlich: was für Tiere hat diese deine Gespielin ins Haus gebracht und warum muß Fräulein Rottenmeier denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir das sagen?«
Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von Heidis sich
verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle einen Sinn hatten. Sie
erzählte erst dem Vater die Geschichten von der Schildkröte und den jungen Katzen und
erklärte ihm dann Heidis Reden,
»Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!« rief Klara abwehrend aus. »Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag und es ist so kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und Heidi erzählt mir auch so viel.«
»Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?« fragte Herr Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
»Ja, frisch vom Brunnen«, antwortete Heidi.
»Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?« sagte Klara.
»Doch gewiß, es ist ganz frisch, aber ich mußte weit gehen, denn am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der Herr mit den weißen Haaren läßt Herrn Sesemann freundlich grüßen.«
»Na, die Expedition ist gut«, lachte Herr Sesemann, »und wer ist denn der Herr?«
»Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte: ›Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?‹ Und ich sagte: ›Herrn Sesemann.‹ Da lachte er sehr stark, und dann sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's schmecken lassen.«
»So, und wer läßt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah der Herr denn weiter aus?« fragte Herr Sesemann.
»Das ist der Herr Doktor« – »Das ist mein alter Doktor«, sagten Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf sich zuführen zu lassen.
Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit Fräulein Rottenmeier im Eßzimmer saß, um allerlei häusliche Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen Zustand und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und angenehmer, als jede andere. »Ich wünsche daher«, setzte Herr Sesemann sehr bestimmt hinzu, »daß dieses Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?«
»Ja wohl, das weiß ich, Herr Sesemann«, entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte Hilfe. –
Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zuhause, schon nach vierzehn
Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach Paris, und er tröstete sein Töchterchen,
das mit der nahen Abreise nicht
Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte, der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geschickt würde, um sie abzuholen.
Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama, daß Heidi auch anfing, von der »Großmama« zu reden, worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Mißbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich unter fortdauernder Mißbilligung der Dame. Als es sich dann später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es habe niemals den Namen »Großmama« anzuwenden, sondern wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets »gnädige Frau« anzureden. »Verstehst du das?« fragte die Dame, als Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so abschließenden Blick zurück, daß Heidi sich keine Erklärung mehr erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich bemerken, daß die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause mitzusprechen hatte und daß jedermann großen Respekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, daß, wenn auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöschen sei.
Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette stürzten die Treppe
hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn sie wußte, daß
auch sie zum Empfang der Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert
worden, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde,
denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen
wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und
Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter mit freundlicher Stimme entgegen: »Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und laß dich recht ansehen.«
Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: »Guten Tag, Frau Gnädige.«
»Warum nicht gar!« lachte die Großmama. »Sagt man so bei euch? Hast du das daheim auf der Alp gehört?«
»Nein, bei uns heißt niemand so«, erklärte Heidi ernsthaft.
»So, bei uns auch nicht«, lachte die Großmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. »Das ist nichts! In der Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl behalten, wie?«
»Ja, das kann ich gut«, versicherte Heidi, »vorher hab' ich schon immer so gesagt.«
»So, so, verstehe schon!« sagte die Großmama und nickte ganz lustig mit dem Kopfe.
Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und
Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches
heraus, daß es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem Heidi
so, daß es sie unverwandt anschauen mußte. Sie hatte so schöne weiße
»Und wie heißt du, Kind?« fragte jetzt die Großmama.
»Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will ich schon achtgeben –«; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein Rottenmeier unversehens rief: »Adelheid!« indem es ihm noch immer nicht recht gegenwärtig war, daß dies sein Name sei, und Fräulein Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
»Frau Sesemann wird unstreitig billigen«, fiel hier die eben Eingetretene ein, »daß
ich einen Namen wählen mußte, den man doch aussprechen
»Werteste Rottenmeier«, entgegnete Frau Sesemann, »wenn ein Mensch einmal ›Heidi‹ heißt und an den Namen gewöhnt ist, so nenn' ich ihn so, und dabei bleibt's!«
Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, daß die alte Dame sie beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen Lehnstuhl und schloß ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie schon wieder auf- denn sie war gleich wieder munter – und trat ins Eßzimmer hinaus; da war niemand. »Die schläft«, sagte sie vor sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
»Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? das wollte ich wissen«, sagte Frau Sesemann.
»In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte, wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter Gesellschaft kaum erzählen könnte.«
»Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße, wie
»Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!« rief Fräulein Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. »Was sollte das Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur einen Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben.«
»So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen kann«, sagte Frau Sesemann. »Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern ansehen.«
Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie mußte sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf, als es die
prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah, welche die Großmama mitgebracht
hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt
hatte; mit
Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. »Komm, komm, Kind«, sagte sie in freundlichster Weise, »nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne Geschichte dazu, die erzähl' ich heut' Abend. Und da sind noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wiedererzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen, trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, daß ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir wieder fröhlich.«
Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: »So, nun ist's gut, nun sind wir wieder froh zusammen.«
Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: »Nun mußt du mir was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?«
»O nein«, antwortete Heidi seufzend; »aber ich wußte schon, daß man es nicht lernen kann.«
»Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?«
»Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?«
»Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muß immer wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer.«
»So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muß nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muß selbst probieren. Gewiß hast du nicht recht mit all deinen Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben angesehen.«
»Es nützt nichts«, versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabänderliche.
»Heidi«, sagte nun die Großmama, »jetzt will ich dir etwas sagen: du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, daß du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun mußt du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst – du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide -; sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte, alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi, nicht?«
Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: »O, wenn ich nur schon lesen könnte!«
»Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann ich schon sehen,
Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen; komm, die schönen Bücher nehmen
wir mit.« Damit nahm die Großmama
Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und wie gut es sei, daß Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, daß es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern daß es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden, daß Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte sich aus, daß die Großmama und Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen, daß es heimgehen möchte, denn daß die Großmama, die so freundlich mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus der Hütte – da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, daß niemand es höre.
Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so undankbar zeigen, daß sie vielleicht nachher gar nicht mehr so freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: »Man kann es nicht sagen.«
»Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?« fragte die Großmama.
»O nein, keinem Menschen«, versicherte Heidi und sah dabei so unglücklich aus, daß es die Großmama erbarmte.
»Komm, Kind«, sagte sie, »ich will dir was sagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, daß er dich vor allem Bösen behüte?«
»O nein, das tu' ich nie«, antwortete das Kind.
»Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?«
»Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon lang, und jetzt habe ich es vergessen.«
»Siehst du, Heidi, darum mußt du so traurig sein, weil du jetzt gar niemanden kennst,
der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl
Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: »Darf man ihm alles, alles sagen?«
»Alles, Heidi, alles.«
Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig: »Kann ich gehen?«
»Gewiß! gewiß!« gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum Großvater. –
Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: »Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir willkommen! setzen Sie sich her zu mir, hier« – sie rückte ihm den Stuhl zurecht. »So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?«
»Im Gegenteil, gnädige Frau«, begann der Herr Kandidat; »es ist etwas vorgefallen,
das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der
»Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?« setzte hier Frau Sesemann ein.
In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an. »Es ist ja
wirklich völlig wunderbar«, sagte er endlich, »nicht nur, daß das junge Mädchen nach
all meinen gründlichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht
erlernt hat, sondern auch und besonders, daß es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
mich entschlossen
»Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben«, bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; »es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, daß das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen.«
Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einemmal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: »Ja, ja, nun gehört es dir.«
»Für immer? Auch wenn ich heimgehe?« fragte Heidi ganz rot vor Freude.
»Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi«, warf Klara hier ein; »wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du erst recht bei mir bleiben.«
Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen,
und von dem Tage an war es sein Liebstes, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder
die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
die Großmama: »Nun liest uns Heidi vor«, so war das Kind sehr beglückt, denn das
Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie
ihm noch viel schöner und verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so
vieles und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder
seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnüglich, auf
seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des
Vaters und ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber
dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die
Schweinchen hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein
noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: da kam
der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem
heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und
abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte,
die es immer wieder las, laut und leise, und es
Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn
Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier, wahrscheinlich der Ruhe bedürftig,
geheimnisvoll verschwand, sich einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon
nach fünf Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihre
Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise beschäftigt und
unterhalten. Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man
ihnen Kleider und Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und Mäntelchen, denn die
Großmama hatte immer Zeugstücke von den prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte,
durfte es auch immer wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm
die größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber wurden sie
ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und
so hatte es zu ihnen allen ein sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder,
bei ihnen zu sein. Aber so
Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, daß es auf ihre Stube komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, daß es ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: »Nun komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen?«
»Ja«, nickte Heidi.
»Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?«
»Ja.«
»Und betest du nun alle Tage, daß alles gut werde und er dich froh mache?«
»O nein, ich bete jetzt gar nie mehr.«
»Was sagst du mir, Heidi? Was muß ich hören? Warum betest du denn nicht mehr?«
»Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
»So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?«
»Ich habe alle Tage das gleiche gebetet, manche Woche lang, und der liebe Gott es nie getan.«
»Ja, so geht's nicht zu, Heidi! das mußt du nicht meinen! Siehst du, der liebe Gott
ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß, was gut für uns ist, wenn wir es
gar nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns
ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so
recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu
ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten wolltest, das war in diesem
Augenblick nicht gut für dich; der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle
Menschen auf einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe Gott und
nicht ein Mensch, wie du und ich. Und weil er nun wohl wußte, was für dich gut ist,
dachte er bei sich: Ja, das Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst
dann, wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann. Denn wenn
ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, daß es doch besser gewesen wäre,
ich hätte ihm seinen Willen nicht getan, dann weint es nachher und sagt: ›Hätte mir
doch der liebe Gott nur nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie
ich gemeint habe.‹ Und während nun der liebe Gott auf dich niedersah, ob du ihm auch
recht vertrautest und täglich zu ihm kommest und betest und immer zu ihm aufsehest,
wenn dir etwas fehlt,
Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
»Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen«, sagte Heidi reumütig.
»So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei nur getrost!« ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn, daß er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm niederschauen möge. –
Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber
die Großmama wußte es so einzurichten, daß sie gar nicht zum Bewußtsein kamen, daß es
eigentlich ein trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die gute
Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hause ein, als
Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem Buch unter dem Arm herein und sagte: »Ich will dir nun immer, immer vorlesen; willst du, Klara?«
Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als es auf einmal laut aufschrie: »O, nun ist die Großmutter tot!« und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las, war dem Heidi volle Gegenwart und es glaubte nicht anders, als nun sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer lauterem Weinen: »Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!«
Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, daß es ja nicht die Großmutter auf der
Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese Geschichte handle; aber auch, als
sie endlich dazu gekommen war, dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu
machen, konnte es sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter könne ja sterben,
während es so weit weg sei, und der Großvater auch noch, und wenn es dann nach langer
Zeit wieder heimkomme, so sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz
allein da und könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch war sein höchster
Schatz. Es trocknete in größter Eile seine Tränen und schluckte und würgte sein
Schluchzen mit Gewalt hinunter, so daß kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte
geholfen, Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal hatte es
solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und nicht aufzuschreien, daß
Klara öfter ganz erstaunt sagte: »Heidi, du machst so schreckliche Grimassen, wie ich
noch nie gesehen habe.« Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller
Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles wieder ins Geleise für einige Zeit und
war tonlos vorübergegangen. Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager
und bleich aus, daß der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so mit anzusehen
und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die schönsten Gerichte an sich
vorübergehen ließ und nichts essen wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu,
wenn er ihm eine Schüssel hinhielt: »Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel
So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wußte gar nie, ob es Sommer oder Winter sei,
denn die Mauern und Fenster, die es aus allen Fenstern
Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens schweigend und in sich
gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit der Dämmerung von einem Zimmer ins
andere, oder über den langen Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die
Ecken hin und auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte jemand
leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock zupfen. So allein ging sie
aber nur noch in den bewohnten Räumen herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die
feierlich aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen etwas zu
besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin
schallenden Widerhall gab und die alten Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so
ernsthaft und unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas von dort herauf-
oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette ihrerseits machte es pünktlich ebenso;
hatte sie oben oder unten irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian
herbei und sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas herbeizubringen sein,
das sie nicht allein tragen könnte. Wunderbarerweise
Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames und Unheimliches
vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam, stand die Haustür weit offen;
aber weit und breit war niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang
stehen konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich mit
Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu sehen, was alles
gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich im Hause verstecken können und sei
in der Nacht mit dem Gestohlenen entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es
fehlte im ganzen Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken vorgeschoben –
Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat hinaus. Im gleichen
Augenblick blies aus der offenen Haustür ein scharfer Luftzug her und löschte das
Licht aus, das der Johann in der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter
ihm stehenden Sebastian beinah' rücklings ins Zimmer hinein, riß ihn dann mit, schlug
die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüssel um, so lang er nur umging.
Dann riß er seine Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
wußte gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann stehend,
hatte er den
»Sperrangelweit offen die Tür«, keuchte Johann, »und auf der
Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten sich die beiden
ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es
auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten
die weit offenstehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein Rottenmeier
Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war auch schon zu sprechen, denn die
Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie
nun vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief
an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten hatte; er möge sich nur sogleich, ohne
Verzug, aufmachen und nachhause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann
wurde ihm das Vorgefallene mitgeteilt, sowie auch die Nachricht, daß fortgesetzt die
Tür jeden Morgen offen stehe; daß also keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei
bei dergestalt allnächtlich offenstehender Hauspforte, und daß man überhaupt nicht
absehen könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach sich ziehen
könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm unmöglich, so plötzlich alles
liegen zu lassen und nachhause zu kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr
befremdend, er hoffe auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe
geben, so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie fragen, ob sie
nicht nach Frankfurt zuhilfe kommen wollte; gewiß würde seine Mutter in kürzester
Zeit mit den Gespenstern fertig, und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht
wieder, sein Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht
Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in Schrecken
zuzubringen, und sie wußte sich zu helfen. Bis dahin hatte sie den beiden Kindern
nichts von der Geistererscheinung gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor
Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins Studierzimmer
hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte mit gedämpfter Stimme von den
nächtlichen Erscheinungen eines Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe
keinen Augenblick mehr allein, der Papa müsse nachhause kommen und Fräulein
Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und Heidi dürfe auch
nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst einmal zu ihm kommen und ihm etwas
tun; sie wollten alle in einem Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen
lassen, und Tinette müßte nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann müßten
auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, daß sie gleich schreien und das
Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa die Treppe heraufkommen
Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und schellte dergestalt
an seiner Hausglocke, daß alles zusammenlief und einer den anderen anstarrte, denn
man glaubte nicht anders, als nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine
boshaften Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halbgeöffneten Laden
von oben herunter; in dem Augenblick schellte es noch einmal so nachdrücklich, daß
jeder unwillkürlich eine Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian
hatte die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe hinunter, kam aber
unten wieder
»Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?« fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den Mundwinkeln.
»Nein, Herr Sesemann«, entgegnete die Dame ernst, »es ist kein Scherz. Ich zweifle nicht daran, daß morgen Herr Sesemann nicht mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muß vorgegangen und verheimlicht worden sein.«
»So, davon weiß ich nichts«, bemerkte Herr Sesemann, »muß aber bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Eßzimmer, ich will allein mit ihm reden.«
Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn Sesemann nicht entgangen, daß Sebastian und Fräulein Rottenmeier sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine Gedanken.
»Komm Er her, Bursche«, winkte er dem Eintretenden entgegen, »und sag Er mir nun ganz
ehrlich: hat Er nicht etwa selbst ein wenig
»Nein, meiner Treu, das muß der gnädige Herr nicht glauben; es ist mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache«, entgegnete Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
»Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich, Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut' Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden, Sebastian?«
»Ja wohl, ja wohl! der gnädige Herr kann sicher sein, daß ich's gut mache.« Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter klopfend: »Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du noch leidlich aus, Alter.«
»Nur Geduld, Alter«, gab Herr Sesemann zurück; »derjenige, für den du wachen mußt, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst abgefangen haben.«
»Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause, bei mir spukt's!«
Der Doktor lachte laut auf.
»Schöne Teilnahme das, Doktor!« fuhr Herr Sesemann fort; »schade, daß meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist fest überzeugt, daß ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten abbüßt.«
»Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?« fragte der Doktor noch immer sehr erheitert.
Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt
allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der Angabe der sämtlichen Hausbewohner,
und fügte hinzu, um für alle
Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden mußte. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten.
Nun wurde die Tür ans Schloß gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf Uhr, eh' sie sich's versahen.
»Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut' gar nicht«, sagte der Doktor jetzt.
Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
»Bst, Sesemann, hörst du nichts?«
Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloß umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit der Hand nach seinem Revolver.
»Du fürchtest dich doch nicht?« sagte der Doktor und stand auf.
»Behutsam ist besser«, flüsterte Herr Sesemann, erfaßte mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus.
Durch die weitgeöffnete Tür floß ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.
»Wer da?« donnerte jetzt der Doktor heraus, daß es durch den ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen auf die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem Erstaunen an.
»Kind, was soll das heißen?« fragte nun Herr Sesemann. »Was wolltest du tun? Warum bist du hier herunter gekommen?«
Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos: »Ich weiß nicht.«
Jetzt trat der Doktor vor: »Sesemann, der Fall gehört in mein Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört.«
Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
»Nicht fürchten, nicht fürchten«, sagte er freundlich im Hinaufsteigen, »nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes dabei, nur getrost sein.«
In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte begütigend: »So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?«
»Ich wollte gewiß nirgends hin«, versicherte Heidi; »ich bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.«
»So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, daß du deutlich etwas sahst und hörtest?«
»Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein' ich, ich sei beim
Großvater, und draußen hör' ich's in den Tannen sausen
»Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rücken?«
»O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort.«
»Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?«
»Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte.«
»So, so, und weinst du denn so recht heraus?«
»O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.«
»Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig! Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?«
»O ja«, war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher das Gegenteil.
»Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?«
»Immer auf der Alm.«
»So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?«
»O nein, da ist's so schön, so schön!« Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das langverhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus.
Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen
Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem harrenden Freunde
gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem mit gespannter Erwartung
Lauschenden: »Sesemann, dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig
unbewußt hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner
ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind
vom Heimweh verzehrt, so daß es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es
noch völlig werden würde; also
Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: »Mondsüchtig! Krank! Heimweh! abgemagert in mei nem Hause! das alles in meinem Hause! und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu' ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!«
»Sesemann«, entgegnete der Doktor ernsthaft, »bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht – du willst nicht, daß das Kind dem Großvater unheilbar, oder gar nicht mehr zurückkomme?«
Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: »Ja, wenn du so redest, Doktor, dann
ist nur ein Weg, dann muß sofort gehandelt werden.« Mit diesen Worten nahm Herr
Sesemann den Arm seines Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch
weiter zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nachhause zu
Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, daß die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte die Stimme des Hausherrn draußen: »Bitte sich zu beeilen und im Eßzimmer zu erscheinen, es muß sofort eine Abreise vorbereitet werden.«
Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit aller Kraft an jedem
Glockenzug, der je für die verschiedenen Glieder der Dienerschaft angebracht war, so
daß in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte sogleich, das Gespenst
habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dies sei sein
Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung im Hause wach
geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater setzte sich
nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und daß
Heidi nach des
Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte erst allerlei
Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb fest bei seinem Entschluß,
versprach aber, im nächsten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun
recht vernünftig sei und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, daß der Koffer für Heidi in ihr Zimmer
gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken könne, was ihr Freude mache,
was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in
großer Erwartung im Vorzimmer, denn daß sie um diese ungewöhnliche Zeit einberufen
worden war, mußte etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus
und erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe, und daß er wünsche, sie möchte das Kind
sofort, gleich heute noch, nachhause bringen. Die Base sah sehr enttäuscht aus; diese
Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der
Worte, die ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, daß sie ihm nie mehr vor die
Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann
wiederbringen, das schien ihr nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht
lange, sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig
unmöglich,
»Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian«, schloß Herr Sesemann, »und daß Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollständig, daß nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür aufmachen wollte; versteht Er das?«
»Ah! ah! ah! das war's? so war's?« stieß Sebastian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geistererscheinung.
»Ja, so war's! das war's! und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine lächerliche Mannschaft.« Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.
Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Eßzimmer ein, wo das Frühstück bereit stand, und rief: »Wo ist das Kind?«
Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm »guten Morgen« zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: »Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?«
Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
»Du weißt am Ende noch gar nichts«, lachte Herr Sesemann. »Nun, heut' gehst du heim, jetzt gleich.«
»Heim?« wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein Herz von dem Eindruck gepackt.
»Nun, willst du etwa nichts wissen davon?« fragte Herr Sesemann lächelnd.
»O ja, ich will schon«, kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden.
Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung, daß es gar nicht wußte, ob es wache oder träume, und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Haustür stehen werde.
»Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen«, rief Herr Sesemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; »das Kind kann nicht essen, begreiflicherweise. – Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt«, setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
Das war Heidis Wunsch: es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.
»Komm, Heidi, komm«, rief ihm Klara entgegen; »sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut's dich?«
Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schürzen, Tücher und
Nähgerät, »und sieh hier, Heidi«, und Klara hob triumphierend einen Korb in die Höhe.
Heidi guckte hinein und sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf
schöne, weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in ihrem
Jubel ganz, daß nun der Augenblick komme, da sie sich trennen mußten, und als mit
einemmal der Ruf erschallte: »Der Wagen ist bereit!« – da war keine Zeit mehr zum
Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer, da mußte noch ein schönes Buch von der
Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
Die beiden Kinder mußten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte, nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
»Nein, Adelheid«, sagte sie tadelnd, »so kannst du nicht reisen von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht mitzuschleppen. Nun lebe wohl.«
»Nein, nein«, sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, »das Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier.«
Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten, sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluß sagte es: »Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch vielmals danken.« Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern Abend gesagt hatte: »Und morgen wird alles gut.« Nun war es so gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: »Glückliche Reise!« und der Wagen rollte davon.
Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen Korb auf dem
Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Händen lassen, seine
kostbaren Brötchen für die Großmutter waren ja darin, die mußte es sorglich hüten und
von Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi saß
mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
»Nein, nein«, beruhigte dieser, »wollen's nicht hoffen, wird schon noch am Leben sein.«
Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da guckte es einmal in
seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der Großmutter auf den Tisch legen, war
sein Hauptgedanke. Nach längerer
»Ja wohl! Ja wohl!« entgegnete der Begleiter halb schlafend; »wird schon noch leben, wüßte auch gar nicht, warum nicht.«
Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so schlafbedürftig, daß es erst wieder erwachte, als Sebastian es tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: »Erwachen! Erwachen! Gleich aussteigen, in Basel angekommen!«
Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß wieder mit seinem
Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem Sebastian übergeben wollte; aber heute
sagte es gar nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter.
Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: »Maienfeld!«
Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat Sebastian, der auch überrascht worden
war. Jetzt standen sie draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter
ins Tal hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber so sicher
und ohne Mühe weitergereist, als daß er nun eine Fußpartie unternehmen sollte, die
dazu noch mit einer Bergbesteigung enden mußte, die sehr beschwerlich und dazu
gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb wild war, wie
Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig um sich, wen er etwa beraten
könnte über den sichersten Weg nach dem »Dörfli«. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rößlein davor; auf diesen wurden von
einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke aufgeladen, die mit der Bahn
hergebracht worden waren. Sebastian
»Hier sind alle Wege sicher«, war die kurze Antwort.
Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf die Alm geschickt werden.
»Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die Alm«, sagte hier
Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine
schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das
Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Großvater, und
erklärte
»Ich verliere sie schon nicht«, sagte Heidi zuversichtlich und steckte die Rolle samt dem Brief zu allerunterst in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wußte, er hätte eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine Mehlsäcke nachhause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie jedermann im Dörfli wußte er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich vorgestellt, er werde es mit dem vielbesprochenen Kinde hier zu tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder heimkomme, und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gespräch an: »Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war, beim Großvater?«
»So ist es dir schlecht gegangen, daß du schon wieder von so weit her heimkommst?«
»Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man es in Frankfurt hat.«
»Warum läufst du denn heim?«
»Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär' ich nicht heimgelaufen.«
»Weil ich tausendmal lieber heim will zum Großvater auf die Alm, als sonst alles auf der Welt.«
»Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst«, brummte der Bäcker; »nimmt mich aber doch wunder«, sagte er dann zu sich selbst, »es kann wissen, wie's ist.«
Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute um sich und fing
an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Bäume am Wege, und drüben
standen die hohen Zacken des Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als
grüßten sie es wie gute, alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem Schritt
vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter und es meinte, es müsse vom Wagen
herunterspringen und aus allen Kräften laufen, bis es ganz oben wäre. Aber es blieb
doch still sitzen und rührte sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie
im Dörfli ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine
Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten
auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen hatten die
Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es
eilig: »Danke, der Großvater holt dann schon den Koffer«, und wollte davonrennen.
Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle
auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer solchen Angst auf dem
Gesichte durch die Leute, daß man ihm unwillkürlich Platz
Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit mußte es
aber plötzlich stillestehen, denn es hatte ganz den Atem verloren; sein Korb am Arm
war doch ziemlich schwer, und dazu ging es nun immer steiler, je höher hinauf es
ging. Heidi hatte nur noch einen Gedanken: »Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht gestorben unterdessen?«
Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an
zu klopfen, Heidi rannte noch mehr,
»Ach du mein Gott«, tönte es aus der Ecke hervor, »so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer ist hereingekommen?«
»Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja«, rief Heidi jetzt und stürzte nach der
Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre
Hände, und legte sich an sie und konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war
die Großmutter so überrascht, daß auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr
sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und nun sagte sie ein Mal
über das andere: »Ja, ja, das sind seine Haare und es ist
»Ja, ja, sicher, Großmutter«, rief Heidi nun mit aller Zuversicht, »weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du mußt auch manchen Tag kein hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?«
Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft hatte.
»Ach Kind! Ach Kind! was bringst du denn für einen Segen mit!« rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen und immer noch eines folgte. »Aber der größte Segen bist du mir doch selber, Kind!« Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare und strich über seine heißen Wangen, und sagte wieder: »Sag noch ein Wort, Kind, sag noch etwas, daß ich dich hören kann.«
Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie mehr zu ihr gehen.
Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: »Sicher, es ist das Heidi, wie kann auch das sein!«
Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich gar nicht genug
verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um das Kind herum und sagte:
»Großmutter, wenn du doch nur sehen
»Nein, ich will nicht«, erklärte Heidi, »du kannst es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes.« Damit machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch, und nun faßte es die Hand der Großmutter und sagte: »Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm' ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.«
»Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder«, bat die Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte das Kind fast nicht loslassen.
»Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin.«
Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: »Den Rock hättest du schon anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst mußt du dich inacht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer bös und rede kein Wort mehr.«
Heidi sagte »gute Nacht« und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am Arm. Die
Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzte war auch drüben das große
Schneefeld an der Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi mußte
alle paar Schritte wieder stillestehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte
es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein roter Schimmer vor seinen Füßen auf
das Gras, es kehrte sich um, da – so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn
gehabt und auch nie so im Traum gesehen – die Felshörner am Falknis flammten zum
Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen darüber hin; das
Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder
und unten schwamm weithin das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen die Wangen
herunter, und es mußte die Hände falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut
dem lieben Gott danken, daß er es wieder heimgebracht hatte, und daß alles, alles
noch so schön sei und noch viel schöner, als es gewußt hatte, und daß alles wieder
ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so
Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erstenmal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüberfahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. »So bist du wieder heimgekommen, Heidi«, sagte er dann; »wie ist das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?«
»O nein, Großvater«, fing Heidi nun mit Eifer an, »das mußt du nicht glauben, sie
waren alle so gut, die Klara und die Großmama und der Herr Sesemann; aber siehst du,
Großvater, ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim
sein könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so hat es mich
gewürgt; aber ich habe gewiß nichts gesagt, weil es undankbar war. Aber dann auf
einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann
»Das gehört dir«, sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
»Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?« fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte einzutreten. »Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.«
»Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater«, versicherte Heidi; »ein Bett hab' ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere brauche.«
»Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal brauchen können.«
Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf – aber da stand es plötzlich still und rief in Betroffenheit von oben herunter: »O, Großvater, ich habe kein Bett mehr!«
»Kommt schon wieder«, tönte es von unten herauf, »wußte ja nicht, daß du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!«
Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten Platze, und nun
erfaßte es sein Schüsselchen und trank mit einer Begierde, als wäre etwas so
Köstliches noch nie in seinen Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug
das Schüsselchen hinstellte,
Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoß Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend, springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mitten drin der Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: »Guten Abend, Peter!« und stürzte mitten in die Geißen hinein: »Schwänli! Bärli! kennt ihr mich noch?« und die Geißlein mußten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude, und Heidi rief alle nacheinander beim Namen und alle rannten wie wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, daß er es sei.
Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu haben; es umarmte
das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
»Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!« rief ihm Heidi jetzt zu.
»Bist denn wieder da?« brachte er nun endlich in seinem Erstaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer getan hatte bei der Heimkehr am Abend: »Kommst morgen wieder mit?«
»Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muß ich zur Großmutter.«
»Es ist recht, daß du wieder da bist«, sagte der Peter und verzog sein Gesicht auf
alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann schickte er sich zur Heimfahrt an; aber
heute wurde es ihm so schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich
mit Locken und Drohen so weit gebracht hatte, daß sie sich um ihn sammelten, und
Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um Bärlis Kopf gelegt,
davonspazierte, da kehrten mit einemmale alle wieder um und liefen den dreien nach.
Heidi mußte mit seinen zwei Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst
wäre der Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte
zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und duftend,
denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz
sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust hinein
und schlief so herrlich,
Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten, die Großmutter wiederzusehen und zu hören, wie ihr die Brötchen geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang, denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: »So, nun können wir gehen.«
Denn es war Sonnabend heut', und an dem Tage machte der Alm-Öhi alles sauber und in
Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum, das war seine Gewohnheit, und heut'
hatte er den Morgen dazu genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu
können, und so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der
Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon hatte die
Großmutter seinen Schritt gehört und
Dann erfaßte sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden. Und nun mußte die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, daß sie meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen, gestern und heut' zusammen, und sie käme gewiß noch ziemlich zu Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen Weg gefunden. »Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter«, sagte es in freudigem Eifer; »ich schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiß noch einmal so viel Brötchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon.«
»Ach Gott«, sagte die Brigitte, »das ist eine gute Meinung; aber denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen.«
Jetzt schoß ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: »O, ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter«, rief es jubelnd aus und hüpfte vor Freuden in die Höhe, »jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage mußt du ein neues Brötchen haben und am Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli.«
Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: »Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz kräftig, und – o, Großmutter«, rief es mit neuem Jubel, »wenn du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiß auch wieder hell, es ist vielleicht nur, weil du so schwach bist.«
Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: »Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen; soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?«
»O ja«, bat die Großmutter freudig überrascht; »kannst du das auch wirklich, Kind, kannst du das?«
Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen solle.
»Was du willst, Kind, was du willst«, und mit gespannter Erwartung saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben.
Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: »Jetzt kommt etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter.« Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es las:
»O Heidi, das macht hell! das macht so hell im Herzen! O wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!«
Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und Heidi strahlte vor
Glück und mußte sie nur immer ansehen, denn so hatte es die Großmutter nie gesehen.
Sie hatte gar nicht mehr das alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und
dankend auf,
Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag zurück; denn daß es der Großmutter wieder hell machen konnte und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, daß es seine Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen Erlebnissen, daß es gleich dem Großvater alles erzählen mußte, was ihm das Herz erfreute, daß man die weißen Brötchen auch unten im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe, und daß es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es wieder zum ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: »Gelt, Großvater, wenn die Großmutter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, daß ich dem Peter jeden Tag ein Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?«
»Aber das Bett, Heidi?« sagte der Großvater; »ein rechtes Bett für dich wäre gut, und
nachher bleibt schon noch für manches Brötchen.« Aber Heidi ließ dem Großvater keine
Ruhe und bewies ihm, daß
Heidi jauchzte auf: »O juhe! Nun muß die Großmutter gar nie mehr hartes, schwarzes Brot essen, und o Großvater! nun ist doch alles so schön, wie noch gar nie, seit wir leben!« und Heidi hüpfte hoch auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf, wie die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernsthaft und sagte: »O wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht, und hätte ihr nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wußte; die Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. O wie bin ich froh, daß der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: es geht gewiß wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiß etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergißt.«
»Und wenn's einer doch täte?« murmelte der Großvater.
»O dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergißt ihn dann auch und läßt ihn ganz
laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht, und
»Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?«
»Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt.«
Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: »Und wenn's einmal so ist, dann ist's so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen.«
»O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte ist.«
Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung hinan – und
kaum waren sie oben angelangt, als es des Großvaters Hand losließ und in die Hütte
hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen
wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank nieder.
Heidi kam wieder herbeigerannt, sein großes Buch unter dem Arm: »O das ist recht,
Großvater, daß du schon dasitzest«, und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer
wieder gelesen, daß das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit
großer Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters
Feldern die schönen Kühe und
»Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?« fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern.
»Doch, Heidi, die Geschichte ist schön«, sagte der Großvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, daß Heidi ganz stille wurde und seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Großvater hin und sagte: »Sieh, wie es ihm wohl ist«, und zeigte mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als sein Sohn.
Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag, stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so daß das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Großvater reden mußte, denn lange, lange stand er da und rührte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!« Und ein paar große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab. –
Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der Alm-Öhi vor seiner
Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete
über Berg und Tal. Einzelne
Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück: »Komm, Heidi!« rief er auf den Boden hinauf. »Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!«
Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater, dem mußte es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und schaute ihn an. »O Großvater, so hab' ich dich nie gesehen«, brach es endlich aus, »und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du noch gar nicht getragen, o du bist so schön in deinem schönen Sonntagsrock.«
Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: »Und du in dem deinen;
jetzt komm!« Er nahm Heidis Hand in die seine, und so wanderten sie miteinander den
Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer
voller
Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte: »Hast du das gesehen? der Alm-Öhi ist in der Kirche!«
Und der Angestoßene stieß den zweiten an und so fort, und in kürzester Zeit flüsterte
es an allen Ecken: »Der Alm-Öhi! Der Alm-Öhi!« und die Frauen mußten fast alle einen
Augenblick den Kopf umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so
daß der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön aufrecht zu erhalten. Aber
als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber,
denn es war ein so warmes Loben und Danken in seinen Worten, daß alle Zuhörer davon
ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude widerfahren. Als
der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi mit dem Kinde an der Hand heraus und
schritt dem Pfarrhaus zu, und alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen
standen, schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu sehen, ob er
wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann sammelten sie sich in Gruppen
zusammen und besprachen in großer Aufregung das Unerhörte, daß der Alm-Öhi in der
Kirche erschienen war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader, oder im Frieden mit dem
Herrn Pfarrer, denn man wußte ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht hatte und
wie es eigentlich gemeint sei. Aber doch war
Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten und hatte
angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht
überrascht, wie er wohl hätte sein können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die
ungewohnte Erscheinung in der Kirche mußte ihm nicht entgangen sein. Er ergriff die
Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der größten Herzlichkeit, und der
Alm-Öhi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen
herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er sich und sagte: »Ich
komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß er mir die Worte vergessen möchte, die ich
zu ihm auf
Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich die Tür auf und trat ein. »Grüß Gott, Großmutter«, rief er hinein; »ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der Herbstwind kommt.«
»Du mein Gott, das ist der Öhi!« rief die Großmutter voll freudiger Überraschung aus. »Daß ich das noch erlebe! daß ich Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt, Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!«
Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort, indem sie die seinige festhielt: »Und eine Bitte hab' ich auch noch auf dem Herzen, Öhi: wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so straft mich nicht damit, daß Ihr noch einmal das Heidi fortlaßt, bevor ich unten bei der Kirche liege. O Ihr wißt nicht, was mir das Kind ist!« und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie geschmiegt.
»Keine Sorge, Großmutter«, beruhigte der Öhi; »damit will ich weder Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so.«
Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen, und erzählte ihm, wie es sich damit verhalte, und daß sie ja natürlich so etwas einem Kinde nicht abnehme.
Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. »Er ist gewiß mehr als zehn Franken wert, seht nur!« und in ihrer Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. »Was aber auch dieses Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?«
Dem Öhi schoß es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.
Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst mit dem Kopf so
fest dagegen gerannt war, daß alles erklirrte davon; er mußte pressiert sein. Atemlos
und keuchend stand er nun mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das
war auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift
an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli übergeben hatte. Jetzt setzten sich
alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las
ihn laut und ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben. Sie
erzählte Heidi, daß es seit seiner Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause,
daß sie es nicht lang hintereinander so aushalten könne und so lange den Vater
gebeten habe, bis er die Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst
festgestellt habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch das
Heidi und den Großvater besuchen
Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese Nachrichten, und so viel zu reden und zu fragen, da die große Erwartung alle gleich betraf, daß selbst der Großvater nicht bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, daß die Großmutter zuletzt sagte: »Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, daß wir einmal alles wiederfinden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi, und das Kind morgen schon?«
Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen entgegenglänzte.
Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiß noch manche neue Freude
und Überraschung für das Heidi wie für die Großmutter, und sicher kommt auch gleich
ein richtiges Bett auf